Scan by Schlaflos
Buch Vor langer Zeit verfügte die Erde noch über genug positive Lebensmagie, um die Mächte des Bösen...
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Scan by Schlaflos
Buch Vor langer Zeit verfügte die Erde noch über genug positive Lebensmagie, um die Mächte des Bösen in Schach zu halten. Dann ging diese Kraft jedoch verloren, und Lauren Dane ist die Einzige, die dem Triumph des Bösen noch Einhalt gebieten kann. Nur wenn es ihr gelingt, die positive Magie aus der Parallelwelt Oria auf die Erde zu lenken, kann die totale Vernichtung allen irdischen Lebens verhindert werden. Aril, der Meister der erbarmungslosen Nachtwache, erfährt von Laurens Bemühungen und sendet seine Handlanger aus, um sie zu töten. Verzweifelt bitten Lauren und ihre Schwester Molly die irdischen Wächter der Magie um Unterstützung: Aber die weigern sich hartnäckig, gegen die dunklen Götter in den Kampf zu ziehen. Als schließlich kaum noch Hoffnung zu bestehen scheint, erfolgt ein Hilfsangebot von völlig unerwarteter Seite ... Autorin Holly Lisle wurde 1960 in Salem, Ohio, geboren und wuchs in den USA, in Costa Rica und Guatemala auf. Zunächst arbeitete Holly Lisle als Musikerin, bevor sie sich in enger Zusammenarbeit mit Marion Zimmer Bradley auf das Schreiben konzentrierte und schon bald ihre ersten Erfolge als Autorin feierte. Von Holly Lisle sind bereits erschienen: DER MAGISCHE SPIEGEL: 1. Der Schlaf der Zauberkraft (26550), 2. Die Weissagung (26551), 3. Der Flug der Falken (26552) DAS GESETZ DER MAGIE: 1. Die Höllenfahrt (24126), 2. Die Torweberin (24127), 3. Götter der Finsternis (24128)
Holly Lisle
Götter der Finsternis Das Gesetz der Magie 3 Aus dem Englischen von Michaela Link blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Gods Old and Dark. The World Gates, Book 3« bei EOS, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung März 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2004 by Holly Lisle Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U. S. A. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung'. Design Team München Umschlagillustration: Luserke/Michel Bohbot und Wolfgang Sigl Redaktion: Patricia Woitynek UH ■ Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24128-6 ISBN-13: 978-3-442-24128-6 www.blanvalet-verlag. De Den wahren Wächtern, den wahren Helden: den Männern und Frauen überall um uns herum, die still und leise ihr Tagewerk verrichten und, wenn Zerstörung und Grauen über uns kommen, die die Treppen hinauflaufen, nicht hinunter; die in den vorderen Teil des Flugzeugs laufen, nicht den hinteren, die nach vorn gehen, wenn es
vorne am schlimmsten ist... ...in Liebe und Dankbarkeit 1 Siren, Wisconsin Heyr Thorrson nagelte am heißesten Augustnachmittag, den Wisconsin seit zehn Jahren gesehen hatte, Dachschindeln fest, als er plötzlich Frühling in der Luft roch. Er ließ den Hammer in seinen Werkzeuggürtel gleiten, schloss die Augen und atmete tief ein. Diesmal war der Duft, den er wahrnahm, nicht der des Frühlings, aber er ging in die gleiche Richtung. Frische und Leben und Güte - aber zerbrechlich. Sehr zerbrechlich. »Hmmm«, sagte er. Und: »Gut, verdammt.« Er rief seinem Kollegen zu: »He, Lars, ich mache Pause.« Lars, der schwitzend und mit bloßem Oberkörper seine Arbeit tat und dabei so aussah, als sei er gerade durch die Mangel gedreht worden, grunzte nur. Heyr stieg langsam Stufe für Stufe die Leiter hinunter, obwohl es leichter gewesen wäre, einfach zu springen. Er atmete immer noch tief ein, um sich davon zu überzeugen, dass es diesmal keine Einbildung war, kein Wunschdenken, weil es nicht mehr so einfach war, an einen Job zu kommen, und er keine Dummheit begehen wollte. Er hatte den Geruch immer noch in der Nase, als er zu dem Vorarbeiter hinüberging, der ihn mit einem kleinen Lächeln empfing. »Du könntest wenigstens den Anstand haben, so zu tun, als wärest du genauso erschöpft wie wir anderen. Macht diese Hitze dir denn gar nicht zu schaffen?« Heyr zuckte die Achseln. Extreme Temperaturen hatten ihm noch nie etwas ausgemacht. »Hab einfach nur Glück«, 7 sagte er. Dann holte er noch einmal hastig Atem. Der Geruch war immer noch da. »Ich lasse dich nur sehr ungern mitten in einem Auftrag hängen, Colly, aber ich muss weg.« Colly machte eine wegwerfende Geste. »Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Du hast noch nie einen Tag gefehlt, noch nie um Urlaub gebeten. Wenn du heute Nachmittag irgendwo hinmusst, dann geh nur.« »Ich meine nicht heute Nachmittag, ich meine, dass ich fort muss. Ich kündige.« Colly, dessen wirklicher Name so furchtbar war, dass Heyr ihn noch nie von irgendjemandem ausgesprochen gehört hatte, streckte die Hände aus und betrachtete die Baustelle. »Wir müssen dieses Haus und fünfzehn weitere fertig machen. Du weißt, dass du einen Job hast, bis diese Sache erledigt ist und bei jedem weiteren Projekt, das ich anschließend bekomme. Du bist mein bester Mann. Wenn du kündigst, muss ich drei andere einstellen, um dich zu ersetzen. Du kannst mich nicht einfach im Stich lassen. Mitten am Tag. Mitten in einem Dach ... Mein Gott, deine Nagelkiste liegt noch da oben und eine halbe Ladung Dachschindeln.« »Als ich bei dir eingestiegen bin, habe ich dir erklärt, dass ich so lange bleiben würde, wie ich kann. Nun - genau bis zum heutigen Tag konnte ich, länger nicht.« Colly sah ihn verärgert an. »Das hast du vor sechs Jahren gesagt. Ich dachte, du hättest dich mittlerweile entschieden.« »Das hat nichts mit mir zu tun«, erwiderte Heyr. »Ich mag dich, und ich habe gern für dich gearbeitet. Du hast mich anständig behandelt, mich und deine übrigen Männer ebenfalls, und das weiß ich zu schätzen. Ich habe nur gerade meinen Marschbefehl bekommen. Ich muss jetzt los. Jetzt sofort.« Er drehte sich um und ging davon. Colly brüllte ihm hinterher, aber Heyr setzte seinen Weg 8 über die Baustelle fort, stieg in seinen weißen Pickup und fuhr los. Er hatte ein Handy im Wagen. Sobald er auf der Straße war, griff er nach dem Telefon und drückte die Schnellwahlnummer 1. Es klingelte zweimal. Dann ertönte eine Stimme, die eine Spur zu sexy war, um professionell zu wirken: »First National Spar- und Darlehensbank, Nancy Soderlund am Apparat. Was kann ich für Sie tun?« Heyr hatte sein Fenster heruntergekurbelt. Er holte noch einmal tief Luft. Ja, der Geruch war immer noch da. »Ich muss gehen, Nancy«, sagte er. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, gerade genug Zeit für Heyr, sich zu wünschen, er wäre bei seinem Entschluss geblieben, seine Beziehungen unkompliziert zu halten. »Gehen? Wohin?« »Ich bin mir nicht sicher. Ich muss einfach nur gehen.« Wieder trat Schweigen ein. »Hm ... für wie lange?« Mach einen sauberen Schnitt, sagte er sich. Mach es schnell. »Es geht um das, was ich dir gesagt habe, als wir zusammengezogen sind, Nancy - dass ich eines Tages würde gehen müssen.« Dieser Eröffnung folgte ein sehr, sehr langes Schweigen, während Nancy versuchte, zu begreifen, wovon er redete. Dann schrie sie mitten in das Schweigen in sein Ohr: »Das war vor VIER JAHREN!« »Ich weiß.« Er würde ihr die Gelegenheit geben, ihrem Herzen Luft zu machen. Sollte sie ihn ruhig anbrüllen. Wäre die Situation eine andere gewesen, so wäre er ein letztes Mal nach Hause gefahren, damit sie ihn persönlich anschreien, ihn schlagen und vielleicht Dinge zerschmettern und nach ihm werfen konnte, aber dazu blieb keine Zeit. Was er roch, war pure Lebensmagie, zu zerbrechlich
9 und zu zaghaft, um sich nicht sofort darum zu kümmern. Er musste diese Magie so schnell wie möglich aufspüren, damit ihm kein anderer zuvorkam und die Quelle zerstörte. »Es tut mir Leid.« »Leid? Es tut dir Leid? Ich habe vier Jahre meines Lebens in uns investiert, ich habe mich um dich gekümmert und dich geliebt und ... wir streiten uns nicht einmal besonders viel, du Hurensohn, und jetzt erzählst du mir, dass du mich verlässt, und ich werde nicht einmal vorgewarnt? Was, soll ich jetzt einfach verschwinden und so tun, als hättest du nie existiert? Mir eine neue Wohnung suchen, einen neuen Mann und mich benehmen, als hätte es die letzten vier Jahre einfach nie gegeben?« »Du brauchst dir keine neue Wohnung zu suchen«, sagte er. Er hielt an einer Kreuzung, schloss die Augen und schnupperte. Versuchte, irgendwie festzustellen, aus welcher Richtung der Geruch kam. Osten, dachte er. Osten, oder vielleicht auch Süden, obwohl die Witterung aus östlicher Richtung im Augenblick am stärksten war. »Ach nein? Wie kommst du denn darauf? Ich wohne in deinem Haus, falls du das nicht vergessen hast.« »Es ist dein Haus«, sagte er. »Ich habe es für dich gekauft. Es ist ganz allein auf deinen Namen eingetragen und bezahlt. Ich wollte nicht, dass du vor dem Nichts stehst, wenn ich gehen muss.« Plötzlich weinte sie. »Was ist passiert? Hast du jemanden umgebracht? Hast du dich die ganze Zeit über versteckt? Hat die Polizei oder sonst irgendwer dich aufgespürt?« »Nancy, ich muss einfach fort. Ich habe nichts Unrechtes getan, aber ich wusste, dass ich irgendwann finden würde, wonach ich suchte, und dass ich, wenn ich es gefunden hätte, würde gehen müssen.« Weinen am anderen Ende der Leitung. Er konnte sich gut vorstellen, welche Blicke die Kunden der Bank Nancy jetzt 10 zuwarfen. Sie saß in einem dieser jämmerlichen, rundum verglasten Büros, in die alle hineinschauen konnten; es musste ein Gefühl sein, dachte er, als arbeite man in einem Aquarium im Zoo. Er selbst hätte für kein Geld der Welt Bankangestellter sein wollen, aber das Bankwesen bot geregelte Arbeitszeiten, außerdem war die Bank im Winter warm und im Sommer kühl, was für Nancy eine große Rolle spielte. »Wer ist sie?«, flüsterte Nancy. »Wie heißt sie?« Er zog in den Krieg, und sie tippte sofort auf eine andere Frau. Nun, natürlich würde sie das denken. Was wusste sie denn schon vom Krieg? Während Heyr in östlicher Richtung der Straße folgte und den Duft von frischem Leben, von neuen Anfängen und Wiedergeburt in sich aufnahm, kam ihm der Gedanke, dass es für Nancy vielleicht leichter wäre, wenn er sie tatsächlich wegen einer anderen Frau verließe - wenn sie ihren Freundinnen erzählen konnte, was für ein Mistkerl er sei, was für eine Gemeinheit es gewesen sei, direkt unter ihrer Nase eine Affäre mit einer anderen anzufangen, wenn sie ihn hassen und verleumden und sich im Recht fühlen konnte. »Ihr Name ist ... Hope«, sagte Heyr. »Du kennst sie nicht. Sie lebt draußen im Osten.« Noch mehr Schluchzen, einige Worte, von denen Heyr nicht einmal gewusst hatte, dass Nancy sie kannte, dann schien sie sich plötzlich zusammenzureißen. »Wir haben vier gute Jahre hinter uns, und ich dachte, wir hätten noch eine Menge guter Jahre vor uns. Ich mache jetzt in der Bank Schluss und sehe dich, wenn du nach Hause kommst. Dann werden wir über das alles reden. Du und ich - wir sind es wert, darum zu kämpfen.« Er seufzte. »Ich komme nicht nach Hause. Ich ... werde dich nicht wiedersehen. Es tut mir Leid. Du kannst all meine Sachen wegwerfen, wenn du willst. Oder sie verkaufen. 11 Oder sie behalten.« Er hatte den Stadtrand erreicht, und die weite Landschaft lag vor ihm, Hügel und Felder und Wald. Die Straße schlängelte sich ostwärts, schwarz, glatt und schmal wölbte sie sich am Horizont den Bäumen entgegen. »Ich muss jetzt los, Nancy. Du wirst die Besitzurkunde für das Haus und ein wenig Geld zusammen mit ein paar anderen Dingen in der roten Schatulle unter meiner Seite des Bettes finden. Der Schlüssel für die Schatulle liegt in unserem Schließfach. Auf dem Schildchen, das daran befestigt ist, steht: >Ersatzhausschlüssel<.« Heyr holte tief Luft und bot ihr eine Lüge an, weil Lügen manchmal besser waren als die Wahrheit. »Ich habe dich mehr geliebt als irgendeine andere Frau zuvor, aber jetzt liebe ich dich nicht mehr. Es tut mir Leid, Nancy. Wirklich. Ich wünsche dir das Allerbeste für dein Leben und hoffe, dass du eines Tages jemanden finden wirst, der gut genug für dich ist.« Sie schrie ihn an, aber er schaltete das Handy ab. Dann, um zu verhindern, dass sie ihn noch einmal anrief, warf er es aus dem Fenster. Er hatte das Telefon für sie angeschafft, damit sie ihn erreichen konnte, wenn sie ihn brauchte, doch jetzt gab es keine »sie« mehr. Ein sauberer Schlussstrich. Sollte sie ihn ruhig hassen. Sollte sie Grund haben, ihn zum Teufel zu wünschen, und anschließend ihr Leben weiterleben. Heyr betrachtete die Bäume, die sich oben auf dem Hügel erhoben. Besser nicht, befand er nach kurzem Nachdenken. Die Stadt war immer noch zu nah. Er fuhr an dem kleinen Wald vorbei. Eine wunderschöne Landschaft umgab ihn - gesprenkelt mit Gletscherseen, kahl gehobelt von einer lange vergangenen Eiszeit und in starker, grüner Pracht wieder erstanden. Er hatte lange in Wisconsin gelebt und sich dort wohl gefühlt. Es gefiel ihm hier - ebenso, wie es ihm an jedem anderen Ort gefallen hatte, an dem er bisher gelebt hatte. 12 Heyr seufzte. Früher oder später war immer die Zeit gekommen weiter zu ziehen. Diesmal war es eben früher
passiert. Er ließ die Straße für eine Weile unter den Reifen seines Wagens summen, bis er eine gute Stelle gefunden hatte, um vom gepflasterten Weg abzubiegen. Er lenkte den Truck über einen gefurchten Feldweg, lauschte dem Zischen hoher Gräser, die am Wagen entlangschleiften, roch das Grün des späten Sommers, das er beinahe körperlich zu fühlen glaubte, spürte die Last der Hitze und kostete den Geschmack des Staubs, der in dichten Wolken vom Weg aufstieg. Dieser neueste Geruch - dieser vom Frühling verwehte Faden des Lebens durchpulste seinen ganzen Körper, machte ihn hungrig und wach, spannte ihn an wie eine neue Bogensehne. Er nahm dem Schmerz die Schärfe, einem Schmerz, der so überwältigend war, dass er aufgehört hatte, dagegen anzukämpfen. Einem Schmerz, der so alt war, dass Heyr bis zu diesem Augenblick vergessen hatte, dass Schmerz manchmal nachließ, statt immer nur schlimmer zu werden. Geradeaus dichter Baumbestand, davor niedriges Gebüsch, das in einem Bogen über der Straße hing. Ja. Er war weit genug gefahren; diese Stelle würde seinen Zwecken genügen. Er fuhr dicht an das Unterholz heran, ließ den Motor laufen und holte eine Schnur aus seinem Handschuhfach. Nachdem er vier Armlängen abgemessen hatte, runzelte er nachdenklich die Stirn und fügte noch einmal zwei Armlängen hinzu, bevor er die Schnur mit einer einzigen knappen Bewegung entzweiriss. Dann sprang er aus dem Wagen und lief zu den nächsten beiden jungen Bäumchen hinüber, die sich zu einem Bogen formen ließen - zwei biegsame Eichen, die einander am Weg gegenüberstanden. Sie hatten beide nur einen einzigen Stamm und nur wenige Seitenäste. Heyr zog die noch weichen Bäumchen zusammen und band sie mit einem Knoten aneinander, der sich öffnen 13 würde, sobald man einmal fest an dem richtigen Ende der Schnur zog. Schließlich ließ er die Stämmchen kurz los. Sein Knoten hielt dem Zug der Eichen stand. Dann besah er sich das lange Ende der Schnur, das bis zum Boden reichte. Es war ein wenig zu kurz geraten, und er musste den Wagen bis auf einen halben Meter an seinen lebenden Torbogen heransetzen, um die Schnur an der Stoßstange festzubinden. Im Vorbeigehen klopfte er kurz auf die Motorhaube und sagte: »Wir machen einen kleinen Ausflug, Jungs«, bevor er sich vor den Bogen stellte, in dessen Öffnung starrte und seinen Blick unscharf werden ließ, so dass die Grün- und Brauntöne des Waldes zu einem flachen, fleckigen Hintergrund verschwammen. Er beschwor das Bild einer glatten Oberfläche in seinen Gedanken herauf, ohne die kleinen grünen Lichter, die nach und nach auf dieser Oberfläche auftauchten, direkt anzusehen. Die Lichter schlössen sich zusammen, bis - verlaufender Tinte gleich, die sich auf einer leeren Seite ausbreitet - ein strahlendes grünes Feuer den Bogen erfüllte und ein Tor schuf, das groß genug für Heyr und den Pickup war. Heyr starrte in diese Fläche aus Licht hinein, die von Leben und Verheißung und Energie summte. In diesem Licht suchte er nach der Quelle des zarten, süßen Duftes, der vorhin auf der Baustelle seine Aufmerksamkeit erregt hatte - und als er den Duft aufgespürt hatte, fand er ein irreführendes Gewebe, das sich von Welt zu Welt spannte, von Universum zu Universum, um an scheinbar willkürlichen Orten in anderen Universen wieder aufzutauchen. Kurzum, er stieß auf ein Durcheinander, das ganz bewusst angerichtet worden war. Das war gut. Aber das Durcheinander hatte ein Zentrum, einen starken Kern, zu dem man zu guter Letzt jeden einzelnen Faden zurückverfolgen konnte. Und das war schlecht, denn wenn er dieses Zentrum finden konnte, konnten andere das auch. 14 Das Zentrum war ein einzelnes Haus in einer kleinen Stadt im Süden. Er setzte einen winzigen magischen Marker auf das Haus und beschwor ein Bild von dessen Umgebung herauf. Auf dem Schild vor der Stadt, auf dem die Abzeichen des Lions Clubs, der Rotarier, der Freimaurer und der Handelskammer prangten, stand: »Willkommen in Cat Creek, North Carolina, der Heimat der Fighting Tigers.« Er führte seine Vision aus der Stadt heraus, wobei er die ganze Zeit über die Straße genau im Auge behielt. Er hasste es, sich zu verirren oder auf der Suche nach irgendetwas umherzustreifen. In bequemer Entfernung von der Stadt fand er ein akzeptables Wäldchen, das an weiße Baumwollfelder angrenzte. Von dort aus führte ein Feldweg direkt zu der Straße, über die er in die Stadt gelangen konnte. Das würde ihm genügen. Er drehte sich zu dem Wagen um. »Gehn wir.« Die Fahrertür öffnete sich, und der Motor ließ ein Brummen hören. Heyr sprang hinein und legte die Hände ans Steuerrad, das sich unter seinen Fingern bewegte und in einen Zügel aus hartem Leder verwandelte, als er in das grüne Licht hineinglitt. Für einen kurzen, wunderbaren Augenblick, der nicht Zeit war und doch alle Zeit, während sie sich in einen von Yggdrasils Zweigen hineinschoben, konnte er seine alten Freunde Tanngrisnir und Tanngnjöstr spüren, wie sie nach vorn schnellten. Gleichzeitig begann an seiner Hüfte Mjollnir zu singen. Heyr brüllte seine Freude in die Welt hinaus, und das grüne Feuer hüllte ihn ein, und in seinen Ohren sangen die Walküren Lieder von Helden und Festen und gewaltigen Schlachten, und der Weltenbaum trieb ihn vorwärts, umarmte ihn, hieß ihn willkommen, und ebenso schnell und langsam spie er ihn mit Blitz und Donner, Hagel und Gewitterwolken wieder aus. Heyr saß in dem Truck, das Fenster noch immer herun15 tergekurbelt, während der Regen gegen die Windschutzscheibe prasselte und Staub und Schmutz fortspülte, während überall um ihn herum Blitze einschlugen und Donnerschläge in seinen Ohren brüllten wie ein Chor von Riesen, und er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Er schrie in den Sturm hinein: »Ich bin jetzt hier, ihr elenden Feiglinge, ihr Schlangen, ihr hasenherzigen Verleumder, die ihr euch in der Dunkelheit versteckt. Ich
bin hier, und ich habe meinen Hammer mitgebracht. Kommt und spielt mit mir ... wenn ihr es WAGT!« Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria Rekkathav, der persönliche Diener von Aril, dunkler Gott der Keth und Meister der Nachtwache, trottete neben seinem Herrn einher, während dieser durch die Korridore des uralten Palasts von Baräd glitt und sich dem in seinem Herzen verborgenen Kontrollzentrum näherte. Aril war ein typischer Keth; er war doppelt so groß wie Rekkathav - groß genug, um einem Rrön in die Augen zu blicken - und gertenschlank, mit riesigen schwarzen Mandelaugen und einem winzigen Rosenknospenmund. Er hatte praktisch keine Nase und war von einer androgynen Schönheit, die dem Entsetzen, das er in anderen auslöste, einen Hauch von Ehrfurcht und Verlangen beifügte. Seine Seidenroben, die so leicht waren wie Luft, flössen um ihn herum, und das zu Tausenden von Zöpfen geflochtene mattgoldene Haar umwogte seinen Kopf, als sei es lebendig. Die Aura der Macht, die er verströmte, flößte Rekkathav Todesangst ein, obwohl er bereits mehr als zwei Jahre als Arils engster Mitarbeiter überlebt hatte, was durchaus ein Rekord war. Im Kontrollzentrum, dem wahren Herzstück aller Uni16 versen, in dem die dunklen Götter das Schicksal der Welten beobachteten und befehligten, waren bloße Assistenten so entbehrlich wie Eintagsfliegen und nötigten den Keth auch ebenso viel Interesse ab. Rekkathav hatte in den vergangenen zwei Jahren auf der scharfen Schneide eines Messers balanciert, und die Furcht war sein ständiger Gefährte gewesen. Die Nachtwache hatte inzwischen fast den Punkt erreicht, an dem sie die Erde ernten und ihren Tod trinken konnte, und wenn Rekkathav bis zu diesem Punkt überlebte, würde auch er sich gütlich tun können und seinen ersten Vorgeschmack auf die dunkle Macht bekommen, die ihre Quelle in der Vernichtung einer Welt und ihrer gesamten Bewohner hatte. Und er würde in einen höheren Rang aufsteigen; Rekkathav würde dann ebenfalls ein dunkler Gott sein und nicht mehr nur ein Anwärter. Aber fürs Erste bestand seine größte Herausforderung darin, lange genug zu leben, um an dem Festmahl teilnehmen zu können. Der Hyatvit mühte sich mit seinem Dutzend Beinen, mit dem Meister Schritt zu halten, und seine Zwillingsherzen rasten. »Du bist seit deiner Rückkehr ganz außer dir, Meister. Ist deine Inspektion nicht zu deiner Zufriedenheit ausgefallen?« Er bedauerte diese Frage sofort - es war offensichtlich, dass die Dinge sich nicht gut entwickelt hatten. Die Frage war, ob die Lage sich auf eine Art und Weise verschlechtert hatte, für die man Rekkathav verantwortlich machen konnte. »Was kann ich tun, um dir von Nutzen zu sein?«, fragte er. Aril brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Schweigen. Ruf die Feldmeister zusammen, die zurzeit nicht im Dienst sind. Bring sie ins Kontrollzentrum. Der Hyatvit, der die Kälte von Arils Gedanken und das Ausmaß seines Zorns bis ins Mark spüren konnte, nickte und ergriff in Panik die Flucht. Rekkathav sandte durch die Alarmtore an jeden der 17 Feldmeister eine Nachricht, dann eilte er, so schnell er konnte, wieder zu Aril zurück, um auf dessen nächste Befehle zu warten. Es kamen jedoch keine neuen Befehle; stattdessen bedeutete der Meister der Nachtwache Rekkathav, ihm zu folgen, und schwebte mit Furcht erregender Geschwindigkeit auf die riesigen Haupttore des Kontrollzentrums zu, dem zentralen Nervensystem der Organisation der Nachtwache. Der Meister näherte sich den Toren, starrte sie einen Augenblick lang an und sprengte sie dann mit der schieren Wucht seiner Gedanken auf. Sie explodierten in ihren Angeln und bohrten sich in den Marmorfußboden, das Metall verdreht und gekräuselt wie Apfelschalen. Alle, die im Raum anwesend waren, brachten sich mit einem schnellen Satz in Sicherheit. »Nicht ich«, wisperte Rekkathav. Er trug einen Auferstehungsring, der durch die Hautfalte hinter seinem rechten, vorderen Kraftbein getrieben worden war, aber er hatte seinen ersten Tod noch nicht durchschritten. Er klammerte sich an das Leben, ein alter Gott, aber noch kein dunkler Gott, noch nicht genährt von der Macht des Todes, und wann immer er sich mit der Möglichkeit seines eigenen ersten Todes konfrontiert sah, kamen ihm Zweifel. Die Mächte des Universums zu befehligen, die Ewigkeit in Händen zu halten - das alles wünschte er sich sehr. Er wollte eines Tages werden, was Aril war: der Meister der Nachtwache, der wahre Besitzer der Welten. Aber um sich durch die mannigfaltigen Rangstufen bis hin zum Amt des Meisters zu erheben, musste er zunächst einmal überleben. Er brauchte den Tod natürlich nicht zu meiden. Ein Meister war hundertmal oder öfter gestorben, wenn er den Gipfel der dunklen Gottesschaft erreichte. Aber es waren die Augenblicke zwischen Tod und Wiedergeburt, in denen ein dunkler Gott am verletzlichsten war. 18 Aril kannte seinen Ehrgeiz, und obwohl der Meister der Nachtwache diesen Ehrgeiz bisher einfach erheiternd fand - dass Rekkathav es wagte, seine Ziele so hoch zu stecken, obwohl er bisher nicht einen einzigen Tod gekostet hatte, nicht einmal seinen eigenen -, so konnte Arils Erheiterung sich doch genauso schnell verflüchtigen wie Rauch in einer steifen Brise. Aril glitt in das Kontrollzentrum hinein, dicht gefolgt von Rekkathav, der hinter ihm hereilte. Hinter den hohen Konsolen, die die Observations- und Interventionstore des Kontrollzentrums mit Energie versorgten, lugten jetzt die ersten Köpfe hervor. Der Erste Feldmeister, Vanak, dessen Aufgabe darin bestand, Aktivitäten in den Welten aufzuspüren, in denen die Nachtwache tätig war, kam auf den Wink des Meisters hervor und kroch wie ein geschlagener Hund auf Aril zu. Rekkathav beobachtete, wie der Meister, schweigend,
wie es seine Gewohnheit war, mit dem Finger auf Vanak zeigte. Es schien nicht mehr zu sein als eine Geste. Kein Blitz zuckte, kein Donner grollte. Und doch bog sich das Rückgrat des Feldmeisters durch, seine Finger ballten sich zu Fäusten, und seine Arme versteiften sich an seinem Körper, dann kam ein ersticktes Gurgeln aus den Tiefen seiner Kehle. Er starrte den Meister an, und sein Mund klappte auf und zu, als sei er ein Fisch, den man aus dem Wasser gerissen und zum Sterben ins hohe Gras geworfen hatte. Dann verdrehte Vanak die Augen, und er stürzte zuckend zu Boden. Seine Blase versagte als Erstes den Dienst, bevor er sich in wilden Krämpfen erbrach und schließlich auch die Kontrolle über seinen Darm verlor. Verzweifeltes Entsetzen bemächtigte sich Rekkathavs angesichts dieses Schauspiels, und mit einem Mal schien eine Horde kämpfender Reptilien in seinen Körper eingedrungen zu sein, die kalte, scharfe Zähne in seine Eingeweide schlugen. 19 Das Lebensbuch des Feldmeisters, wisperte Aril in Rekkathavs Schädel. Rekkathav sprang auf, als hätte man ihm einen Dolch ins Fleisch gerammt, und stürmte zu dem Lebensbuch hinüber. Mit zitternden Fingern legte er es nur einen Augenblick später in die ausgestreckte Hand des Meisters. Aril warf jedoch nicht einmal einen Blick auf das Lebensbuch. Er stand einfach nur da, wartete und schnupperte, als röche er die Furcht, die im Raum aufstieg wie die Hitze von Steinen nach einem sengend heißen Sommertag. An der Torwand am gegenüberliegenden Ende des Kontrollzentrums erwachten neun Tore schimmernd zum Leben, und neun Feldmeister - allesamt dunkle Götter der Nachtwache, die über ungeheuere Macht und Privilegien verfügten - traten beinahe gleichzeitig hindurch. Ihr erster Blick galt Aril, der zweite Vanak, der immer noch zuckend zu dessen Füßen lag, ohne einen Hauch von Bewusstsein oder Würde. Die Feldmeister waren zusammen etliche tausend Mal gestorben. Sie hatten schon vor langer Zeit jede Facette ihres Ichs verloren, und übrig geblieben waren Geschöpfe mit einem scharfen Verstand und einem unersättlichen Hunger nach Tod und Vernichtung und kaum etwas anderem. Aber sie waren noch immer der Angst mächtig. Angst war kein Gefühl - sie war ein einfacher Überlebensinstinkt. Geschöpfe, die keine Furcht mehr empfinden konnten, waren nicht in der Lage, Gefahren für die eigene Existenz zu erkennen und zu meiden; die meisten so gearteten Kreaturen überlebten nicht lange in einem Universum, das so gut mit scharfen Zähnen ausgestattet war. Die dunklen Götter der Nachtwache waren zum Überleben geboren. Sie starrten die grotesken Überreste ihres noch lebenden, aber bereits vernichteten Gefährten an, und sie prallten zurück. Kommt, forderte Aril sie mit einer Gedankenstimme auf, 20 die jeder innerhalb des Kontrollzentrums hören konnte, und die Feldmeister traten auf ihn zu, obwohl ihr Grauen bei jedem widerstrebenden Schritt unübersehbar war. Das einzige Geräusch, das Rekkathav im ganzen Kontrollzentrum hören konnte, war pfeifender Atem. Als die Feldmeister schließlich vor ihm standen, streckte Aril ihnen das Lebensbuch hin. Sucht mir einer nach dem anderen eure Signatur heraus, und zeigt sie mir. Auch diese Nachricht sandte er direkt in die Gedanken aller Anwesenden. Er reichte das Lebensbuch dem ersten Feldmeister zu seiner Linken, und Rekkathav beobachtete, wie dieser hastig eine Seite aufschlug, auf seine Initialen deutete und das Buch an den neben ihm stehenden weiterreichte. Das Buch machte im Raum die Runde, und jeder Feldmeister zeigte Aril seine Initialen darin, bis auch der letzte Arils Befehl gefolgt war und ihm das Lebensbuch zurückgab. Danke, sagte Aril. In dem Flüstern, das in Rekkathavs Gedanken erklang, schwang keine Spur von Dankbarkeit mit. Einen Augenblick lang tat der Meister der Nachtwache gar nichts. Dann wandte er sich zum Gehen, und Rekkathav, der noch immer die Feldmeister beobachtete, bemerkte, dass jeder von ihnen sich langsam entspannte. Überall im Raum sah Rekkathav pure Erleichterung auf den Gesichtern der rangniederen Bediensteten. Was immer geschehen war, es war vorüber - es war Vanaks Sünde allein gewesen. Und sie hatten überlebt. Was als Nächstes geschah, würde Rekkathav nie wieder aus seinem Gedächtnis löschen können. t Aril machte eine winzige Geste mit der linken Hand. Alle neun Feldmeister, einschließlich der zuckenden Hülle, die einmal Vanak gewesen war, explodierten in grünem Feuer und zerfielen zu Staub. 21 Einer von ihnen hatte so dicht neben Rekkathav gestanden, dass er den Rückstoß der Magie wie eine Welle auf seiner Haut spüren und den Staub riechen konnte, der alles war, was von Fleisch, Knochen und Blut übrig blieb. Rekkathav hörte überall im Kontrollzentrum Schreie des Entsetzens und der Angst. Er selbst schrie jedoch nicht; er konnte nicht einmal atmen. Seine Kehle schnürte sich zu, seine zahlreichen Knie gaben unter ihm nach, und er fiel in einem zuckenden, zitternden Häufchen Elend zu Boden. Der Meister schien sich weder für Rekkathav noch für die übrigen Überlebenden im Raum zu interessieren. Seine Aufmerksamkeit heftete sich auf den Ersten Feldassistenten wie Sonnenstrahlen, die durch eine Linse gebündelt werden. Rekkathav hätte Mitleid mit den anderen gehabt, wäre er nicht so erleichtert darüber gewesen, nicht an seiner Stelle zu sein. Sammle ihre Ringe ein, befahl Aril dem Assistenten. Leg sie in den Terminatorschrein.
Die Angst im Raum wurde tiefer, schärfer - bis zu diesem Augenblick hatten sie alle die Bestrafung der Feldmeister für genau das gehalten, eine simple Bestrafung, etwas, aus dem sie zurückkehren würden, sobald ihre Auferstehungsringe sie neu geschaffen hatten. Bis zu diesem Moment hatte Rekkathav geglaubt, das Ganze sei nur eine dramatische Geste gewesen, mit der der Meister der Nachtwache sein Missfallen kundtat. Stattdessen hatte Aril offensichtlich die Absicht, das Universum, wie Rekkathav es gekannt hatte, umzustürzen. Der Terminatorschrein änderte alles. Er war dazu erschaffen worden, Auferstehungsringe zu zerstören - das Gold zu Pulver zu zermahlen, die Magie, denen sie ihre Macht verdankten, auszulöschen und den übrig bleibenden Staub ins Meer zu spülen, aus dem nicht einmal der Meister selbst ihn würde zurückholen können. 22 Der Meister machte von seinem Recht Gebrauch, über Unsterbliche die Todesstrafe zu verhängen. Rekkathav wusste, dass der Terminatorschrein im Lauf der Geschichte der Nachtwache immer wieder benutzt worden war, wenn auch bei sehr seltenen Gelegenheiten. Er war davon überzeugt, dass man ihn noch nie dazu verwandt hatte, jeden einzelnen bedeutenden Mitarbeiter des wichtigsten Dienstzweiges der Nachtwache der Vernichtung anheim zu geben. Der Erste Feldassistent sah aus, als müsse er sich gleich übergeben. Dennoch warf er die Auferstehungsringe einen nach dem anderen in den Schrein. Es waren zusammen siebenundzwanzig Ringe, angefangen von kleinen Fingerringen über schwere Armbänder bis hin zu dicken, massiven Ketten. Sämtliche Feldmeister hatten sich offenkundig gegen alle Eventualitäten gewappnet und ihren eigentlichen Auferstehungsringen Ersatzringe für den Notfall hinzugefügt. Als der letzte der Ringe in dem uralten, juwelenbesetzten Schrein verschwunden war, sah der Feldassistent den Meister an; er wartete offensichtlich auf ein Zeichen, dass er die Ringe wieder herausnehmen solle - dass das Ganze nur eine Lektion für die Anwesenden hatte sein sollen. Schließe den Deckel, sagte der Meister, so dass alle im Raum ihn hören konnten. Es war also doch keine leere Geste gewesen; Aril beabsichtigte die Zerstörung der gesamten Feldkommandantur der Nachtwache. Der Erste Feldassistent schloss den Deckel, und gequälte Schreie von Metall auf Metall und Magie, die auf Magie prallte, erfüllten das Kontrollzentrum. Alle Anwesenden standen wie erstarrt da, wohl wissend, dass sie Zeugen von etwas nie Dagewesenem geworden waren, etwas, das sowohl gewaltig wie auch schrecklich war, und keiner von ihnen wagte es, auch nur die kleinste Bewegung zu machen, 23 für den Fall, dass das Grauen noch nicht vorbei war und eine Bewegung die Aufmerksamkeit des Meisters auf sich ziehen könnte. Die Sekunden, während derer der Terminatorschrein alle siebenundzwanzig Auferstehungsringe zu Staub werden ließ, waren die längsten, die Rekkathav je erlebt hatte. Als er sein Werk vollendet hatte, zeigte der Meister der Nachtwache auf den Assistenten. Du bist der neue Erste Feldmeister. Wähle dir noch heute neun Gefährten aus. Euer aller Überleben hängt von euer aller Fähigkeit ab, also wähle mit Bedacht. Dann erfuhren sie von Aril etwas so Absurdes, dass Rekkathav, hätte er die Vernichtung der Feldmeister nicht mit angesehen, geglaubt hätte, der Meister der Nachtwache habe gelogen. Auf der Erde hat sich frische Lebensmagie entwickelt. Der Planet hat unter den Augen jener, die jetzt vernichtet sind, sich selbst zu heilen begonnen, und das, obwohl wir dagegen angearbeitet haben. Die oberste Pflicht der neun Feldmeister wird darin bestehen, herauszufinden, wie das bewerkstelligt wurde, und alles und jeden zu eliminieren, der dafür verantwortlich ist. Den neun Feldmeistern wird eine begrenzte Zeit zur Verfügung stehen, den angerichteten Schaden wieder gutzumachen und die Welt auf den von uns erwählten Kurs ihrer Vernichtung zurückzuführen. Ihr habt den Preis für Versagen oder Unachtsamkeit gesehen. Sorgt dafür, dass ihr Erfolg haben werdet. 2 Cat Creek, North Carolina Eric MacAvery, der Sheriff von Cat Creek und Oberhaupt der dortigen Wächter, hatte an diesem Tag Dienst. Er saß am Rand des offiziellen Wachtors in dem Blumenladen, der inzwischen von der rundlichen, liebenswerten Betty Kay Nye geführt wurde. Bisher war seine Schicht ruhig gewesen. Das grüne Feuer des Tores umringte ihn, die Energie des Universums floss durch ihn hindurch, und er konnte die reibungslosen Abläufe in der Region spüren. In seinem Beobachtungsbereich herrschte zurzeit kein großer Verkehr - nur Lauren Dane und ihr Sohn, Jake, hatten einige Male ihr privates Tor in beide Richtungen passiert. Im Augenblick konnte Eric sie in dem alten Holzhaus sehen, das Laurens Eltern gehört hatte und das auf Oria lag, der Welt direkt unterhalb der Erde. Er wusste nicht, warum sie dort war, aber als Torweberin der Wächter musste Lauren viele Dinge im Auge behalten. Lauren Danes Beziehung zu den Wächtern war eine Weile sehr angespannt gewesen, nachdem die Eltern ihres verstorbenen Mannes ihren Sohn entführt hatten; Lauren hatte damals furchtbare Dinge erlebt, und als sie endlich mit ihrem Sohn zurückgekehrt war, hatte ein seltsamer, gepeinigter Ausdruck in ihren Augen gestanden. Ihr Haar hatte so ausgesehen, als hätte jemand es abgehackt, und sie hatte mit niemandem sprechen wollen außer mit Pete. Und selbst ihm schien sie nach den ersten Tagen kaum mehr etwas zu sagen gehabt zu haben. Lauren machte keinen glücklichen Eindruck - sie war ständig darauf bedacht, dass sie nur ja ihren kleinen Sohn
25 nicht aus den Augen verlor, und oft verschwand sie ohne Vorwarnung für viele Stunden. Sie vertraute niemandem mehr, das war Eric schließlich klar geworden. Und er vermutete, dass sie einen Grund dafür hatte. Außerdem war ihm klar geworden, dass er keinen minuziösen Bericht über ihr Tun verlangen und gleichzeitig von ihr erwarten konnte, dass sie irgendetwas zuwege brachte. Deshalb hatte er sie in den letzten Monaten nicht mehr ganz so gründlich im Auge behalten wie zuvor. An diesem Tag hatte Eric außer Lauren auch noch zwei kleine natürliche Tore aufgespürt, die in den unbewohnten Teilen seines Gebiets kurz aufgeflackert und dann wieder erloschen waren. Dieses früher einmal so seltene Ereignis kam in letzter Zeit häufiger vor, und es wäre Eric bei weitem lieber gewesen, wenn er den Grund dafür gekannt hätte. Darüber hinaus hatte er Pete Stark, seinen Deputy, Freund und Mitwächter, dabei ertappt, wie er ein Tor benutzt hatte, um sich aus seinem Kühlschrank daheim etwas zu holen, während er im Revier Dienst tat. Solange Pete sich jedoch nichts von diesem britischen Bier besorgte, das er so gern trank, war Eric geneigt, diesen kleinen Missbrauch von Magie unbeachtet zu lassen. Jetzt hörte er Betty Kay, wie sie unten einen Fleurop-Auftrag entgegennahm. Sie hatte sich als perfekter Ersatz für Nancine Tubbs erwiesen, die Wächterin, der das Blumengeschäft früher gehört hatte. Leider war sie in Erfüllung ihres Dienstes gestorben. Betty Kay war fröhlich und freundlich, und die Leute in der Stadt mochten sie, obwohl sie aus dem Norden kam. Sie ging mit den jungen Männern aus dem Ort aus, sie aß ihre Hafergrütze mit Butter, Salz und Pfeffer -und nicht, um Gottes willen, mit Milch und Zucker -, und sie arbeitete hart. Außerdem redete sie zu viel, und wann immer er sie sah, hatte sie die Nase in irgendeinem Roman von 26 Jude Devereaux stecken. Eric vermutete, dass sie Terry Mayhews unablässigen Nachstellungen zum Trotz immer noch Jungfrau war, aber es gab schlimmere Dinge, die man einem Menschen nachsagen konnte. Er hörte, wie sie das Telefon auflegte und die Treppe hinaufkam. »Möchtest du etwas zu essen?«, rief sie ihm kurz darauf zu. »Oder eine ... Toilettenpause ... oder sonst irgendetwas?« »Mir geht es gut«, antwortete er. Das änderte sich im nächsten Augenblick schlagartig. Ein Puls, der sich wie eine explodierende Atombombe anfühlte, zerriss das Gewebe der Universen und ließ Energiewellen auf Eric niederkrachen. Die letzte und härteste dieser Wellen riss ihn buchstäblich von den Füßen, schleuderte ihn durch den Torspiegel und schmetterte ihn an die gegenüberliegende Wand. Er schlug mit dem Kopf gegen den Stein, sah Sterne und blieb benommen auf dem Boden liegen, während mitten an einem friedlichen, sonnigen Nachmittag Donnerschläge krachten und die Grundfesten des alten Hauses erschütterten, in dem der Blumenladen und das Tor der Wächter lagen. Ein Blitz schlug in einen Baum neben dem Haus ein und ließ dessen Zweige durch die Luft fliegen. Unten hörte er Glas splittern und Betty Kay schreien - und dann zerschmetterte der Regen wie der Strahl eines Hochdruckrohres die Fensterscheiben. Eric rollte sich zur Seite, stützte sich mit Händen und Knien ab und versuchte aufzustehen, aber er konnte es nicht. Er war zu benommen. Dann blickte er gerade lange genug auf, um festzustellen, dass das Tor geschlossen war und ein Riss über die ganze Länge des Spiegels verlief. Er ließ den Kopf sinken und starrte auf den Fußboden zwischen seinen Händen, wo sich eine kleine Pfütze bildete. Leuchtend rot. Glänzend. Komisch - das Wasser, das durch das Dach sickerte, war für gewöhnlich nicht rot. 27 Die rote Pfütze schien, sich auszudehnen, oder vielleicht lag es nur daran, dass alles andere kleiner wurde und grau in grau verschwamm. Und er hatte das Gefühl, kopfüber in die Tiefe zu stürzen ... Natta Cottage, Ballahara, Oria »Ich weiß nicht, ob ich das noch lange durchhalte.« Molly McColl, die einst genauso menschlich gewirkt hatte wie ihre Halbschwester, Lauren Dane, stand in dem Cottage neben dem Kamin, in einer Welt, von deren Existenz noch vor einem Jahr keine der beiden Frauen etwas geahnt hatte. »Ich weiß, dass es furchtbar für dich ist. Aber wir können nicht einfach aufgeben«, sagte Lauren. »Wenn wir aufgeben, hat die Nachtwache gesiegt. Alles wird sterben.« Das kurze, dunkle Haar flog Lauren um den Kopf, während sie sich abmühte, Jake, ihren dreijährigen Sohn, festzuhalten, einen blonden kleinen Jungen mit strahlenden Augen, der aus Leibeskräften zappelte, damit sie ihn auf den Boden stellte. Jake lebte nur deshalb noch, weil Molly gestorben war, um ihn zu retten - es war ihr erster Tod gewesen und der einzige, den sie hätte verhindern können. »Du hast ja keine Ahnung, wie furchtbar«, antwortete Molly. »Seit das alles angefangen hat, bin ich fünfmal gestorben. Ich bin müde, ich habe ständig Angst, und ...« Molly wandte sich ab. »Und ich verliere mich«, fügte sie hinzu. »Es rinnt mir einfach alles durch die Finger - meine Erinnerung daran, wie es war, lebendig zu sein, real zu sein. Es ist so, als könnte ich, was von dem Menschen übrig geblieben ist, der ich einmal war, ins Licht halten und dort nichts sehen außer ein paar Fäden und Fetzen. Lumpen. Und das Komische ist, dass es nicht einmal mehr wehtut.« Lauren stellte Jake auf den Boden, ging in die Hocke und 28 sagte: »Spiel jetzt ein wenig. Leise.« Sie gab ihm seine Spielsachen, eine Plüschente, einen Teddy und einen Beutel mit Bausteinen, dann ging sie zu Molly hinüber. Als die beiden Frauen nun Seite an Seite standen, war
der Größenunterschied unübersehbar. Vor einem Jahr waren sie noch gleich groß gewesen. Lauren maß immer noch ungefähr einen Meter fünfundsechzig; Molly hatte die einsachtzig längst überschritten. Ein Beobachter hätte niemals erraten, wie ähnlich die beiden Frauen einander gewesen waren, bevor die Ereignisse Molly so verändert hatten. Lauren war Mitte dreißig und sah aus wie das typische Mädchen von nebenan, das irgendwann erwachsen geworden ist - abgewetzte Jeans, dunkle Augen und eine Attraktivität, der die Jahre nichts hatten anhaben können. Mollys Veränderung nach ihrem Tod hatte das Veyärblut in ihr hervorgebracht und es mit ihren menschlichen Zügen vermischt; ihr Haar war kupferrot mit einem metallischen Schimmer und hing ihr, zu Zöpfen geflochten, bis auf die Taille hinab, ihre Augen waren riesig und hatten die Farbe von Smaragden, und sie war so dünn geworden, dass sie geradezu ausgemergelt wirkte. Ihr Körper hatte sich auf eine fremdartige Weise umgestaltet, so dass sie nach menschlichen Maßstäben aussah, als könne ein ordentlicher Frühlingswind sie jederzeit davonwehen. Nach den Maßstäben der Veyär war sie noch immer klein und stämmig, aber Molly dachte nicht wie eine Veyär. Ihr Körper war ein Vierteljahrhundert lang durch und durch menschlich gewesen, und manchmal brachten die Umgestaltungen und die Veränderungen in ihren Bewegungen sie noch immer aus dem Gleichgewicht. »Es tut mir so Leid«, sagte Lauren und zog Molly an sich. »Ich finde es schrecklich, was du durchmachen musst. Was wir beide durchmachen müssen. Aber es ist niemand sonst da, der tun kann, was ich tue, und erst recht gibt es nieman29 den, der deine Aufgaben übernehmen könnte. Du kannst sie finden, Molly. Du kannst sie fühlen. Und du kannst sie vernichten. Die Nachtwache kann sich vor dir nicht auf die gleiche Art verstecken, wie sie sich vor allen anderen verstecken kann.« Lauren hielt inne und legte den Kopf zur Seite. »Und ich wusste bisher nur von vier Toden, die du gestorben bist.« »Von diesem letzten Tod bin ich gerade erst wiedergekehrt. Ich habe drüben auf der anderen Seite von Oria eine ziemlich starke Abteilung der Nachtwache ausgelöscht. Es ist mir sogar gelungen, ihre Auferstehungsringe zu finden. Diese verdammten Dinger verstecken sich, wenn man sie nicht schnell genug erwischt. Sie graben sich buchstäblich selbst in den Boden hinein oder in alles andere, solange es nur weich ist.« Während sie das sagte, versuchte Molly, nicht nach dem lebenden Gold zu tasten, das sie wie eine geballte Faust in ihrem Leib fühlen konnte. Sie versuchte, sich nicht mit den Ungeheuern zu vergleichen, auf die sie Jagd machte. »Den letzten Ring musste ich aus einer Matratze reißen. Ich habe zuerst die Mitglieder der Abteilung vernichtet und dann die Ringe, und als ich anschließend aufbrechen wollte, habe ich eine Todesfalle ausgelöst.« Sie tat die Erinnerungen mit einem Achselzucken ab, die Erinnerungen an Schmerz und Angst, die Erinnerungen daran, wie es gewesen war, wieder zu erwachen, nackt auf kalter Erde, in der Dunkelheit und gequält von einem Hunger auf etwas, das sie nicht beschreiben konnte. »Ich verändere mich, Lauren. Es ist immer weniger von mir da und immer mehr von ihnen. Ich kenne die Ungeheuer der Nachtwache immer besser, und abgesehen von Baanraak kann sich keines von ihnen vor mir verstecken. Aber jetzt kann ich denselben Hunger spüren, den auch sie verspüren. Dieser Hunger ist ständig da, Laurie, und er wird immer stärker, und er ist furchtbar. Während das, was ich vom Leben noch im Ge30 dächtnis habe, immer mehr versickert, dringt der Tod in mich ein, und alles, was der Tod will, ist noch mehr Tod.« Sie schloss die Augen. »Die Magie, die von der Erde nach Oria fließt - dieses Gift von Krieg und Völkermord, von Hass und Zerstörung -, diese Magie fängt an, zu ... mein Gott, wie soll ich das ausdrücken? ... Sie riecht wie ein wunderbarer Weihnachtsbraten, und ich habe nichts gegessen. Noch nie.« Molly drehte sich um, sah ihre Schwester an und las die Angst in Laurens Augen. Aber es war keine Angst vor ihr, obwohl Molly fand, dass es vielleicht so hätte sein sollen. Nein, es war Angst um sie. »Du darfst diesem Gefühl nicht nachgeben«, sagte Lauren. »Du hast eine Chance, dir eine neue Seele zu erschaffen. Wieder wirklich lebendig zu sein und nicht nur wegen dieser verdammten Kette.« Die Vodi-Kette, deren Schließe während eines von Mollys vorangegangenen Toden zerbrochen war, wand sich jetzt wie eine Schlange in Mollys Eingeweiden. Sie war das offenbar gewordene Böse, ein Ding aus Gold und Juwelen und giftiger Magie, das während einer ihrer Wiederauferstehungen unter ihre Haut gekrochen war und jetzt in ihr schlummerte. Es war ein vom Bösen beseelter Parasit, der Molly eine teuflische Art von Unsterblichkeit verlieh. Die-' se Unsterblichkeit war jedoch nicht gleichbedeutend mit Unverletzbarkeit, denn mit jedem Tod, den sie durchlitt, stahl ihr diese Magie Stück um Stück alles, was ihr am Leben teuer war. »Du hast gut reden, aber ich erlebe das Ganze von innen, und für mich ist von dieser Chance nicht das Geringste zu spüren. Und auch nichts von Hoffnung. Ich kann nichts sehen oder fühlen, nur die Dunkelheit, die mich umringt. Und wie soll sich jemand, dessen ganzer Daseinszweck die Zerstörung ist, eine Seele verdienen? Ich bin der Sensenmann, 31 Laurie. Du bist der Engel des Lichts, und ich bin der Teufel mit dem Pferdefuß.« »Ich weiß, was ... was ... ich habe keine Ahnung, wie ich es nennen soll. Gott? Den universellen Geist?« Lauren holte tief Luft und breitete die Hände aus. »Du weißt, wohin ich gegangen bin. Du hast den Fluss der Toten gespürt. Du hast es gesehen. Was immer auf der anderen Seite ist, ich habe es berührt. Und so sicher, wie ich weiß, dass ich atme, weiß ich auch, dass du eine Chance hast und dass du eine Wahl hast. Du wirst erkennen,
was das Richtige ist, und wissen, was das Falsche ist.« Sie faltete die Hände und biss sich auf die Unterlippe. »Der Weg, den du gehen musst, ist hart. Aber du kannst trotzdem das Richtige tun. Tu einfach das Richtige, Molly, und du kannst immer noch gewinnen.« Molly lächelte schwach. Sie spielte mit dem Knauf des Dolchs, den Seolar ihr kurz nach dem beinahe erfolgreichen Anschlag auf Laurens Leben geschenkt hatte. Auch Lauren trug ihren Dolch noch immer bei sich, wie Molly bemerkte. Sie waren nicht mehr unschuldig, alle beide nicht. Sie hatten schon vor einer ganzen Weile ihre naive Sicht auf die Welt verloren und mit ihr einige ihrer Illusionen und den größten Teil ihrer Hoffnungen. Und doch kämpften sie weiter, kämpften sich durch Angst und Schmerz und Verzweiflung, denn am Ende des Tunnels wartete ein Regenbogen, wenn sie nur verhindern konnten, dass all diese verfluchten Züge sie überrollten. Sie konnten ihre Welt retten. Sie konnten alle Welten retten. Dazu brauchten sie nur alles aufs Spiel zu setzen, was sie je geliebt hatten, und jeden Aspekt ihres eigenen Wesens, der ihnen jemals etwas bedeutet hatte. Molly dachte an Seolar, mit dem sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Liebe entdeckt hatte. Sie konnte sich auf eine akademische Art und Weise an die atemlose Leiden32 schaff erinnern, die sie für ihn empfunden hatte, an die Erregung in seinen Armen, das Glück, das jeder Blick von ihm, jedes Lächeln in ihr entfacht hatte. Und jetzt... Ihr lag noch immer viel an Seo. Sie war noch immer fähig zu lieben - zumindest in gewissen Grenzen, zumindest für ein Weilchen noch. Für wie lange genau, das konnte sie nicht sagen. Molly wusste, was es bedeutete, alles zu verlieren. Sie wollte es nicht ohne Grund verlieren. Sie betrachtete Jake, der gerade auf dem Fußboden aus seinen Bausteinen einen hübschen kleinen Turm baute, und sagte: »Ich muss wissen, dass ihr beide in Sicherheit seid.« Lauren bedachte sie mit einem kaum merklichen Lächeln. »Es gibt keine Sicherheit, Molly. Was wir anstelle von Sicherheit haben, ist Wachsamkeit. Und ich bin wachsam.« »Du kannst nicht auf Schlaf verzichten; du kannst nicht ständig auf der Hut sein. Das kann niemand. Ich weiß, dass es keine absolute Sicherheit für euch beide gibt. Aber du kannst die Gefahr ein wenig eindämmen. Bitte. Bitte. Tu es um meinetwillen. Geh mit Jake nach Oria. Bleibt im Kupferhaus, und lasst euch von den Soldaten beschützen. Schenk mir dieses kleine bisschen Seelenfrieden.« »Ist das der Grund, warum du mich hier treffen wolltest? Um mich darum zu bitten?« Molly nickte. »Ich bin wieder gestorben. Ohne Vorwarnung. Niemand wusste, wo ich war. Während ich tot war, warst du ohne Schutz. Und die Tatsache, dass ich die meiste Zeit auf Oria lebe und ihr beide euch ständig auf der Erde aufhaltet, macht die Dinge nicht besser.« »Wir beide haben unsere Gründe, Molly. Du möchtest Seolar nicht verlassen. Ich möchte nicht mit ansehen, wie die Magie Jake in jemanden verwandelt, den ich nicht großziehen kann. Ich muss auf der Erde bleiben; du musst hier bleiben. Aber wir kommen doch zurecht.« 33 »Wir kommen nur deshalb zurecht, weil du noch keine Aufmerksamkeit erregt hast. Das alles wird sich ändern, sobald sie die Lebensmagie zu dir zurückverfolgen können.« »Darum kümmere ich mich, wenn es so weit ist«, antwortete Lauren. Molly sagte nichts. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie nicht bereits gesagt hätte. Stattdessen umarmte sie Lauren und Jake und verließ das Haus, ohne zu wissen, wohin sie gehen oder was sie tun würde. Sie wusste nur, dass Lauren ihr keinen Frieden gegeben hatte, und Friede war das, was sie am dringendsten brauchte. Cat Creek Mitten in dem schlimmsten Unwetter, das Lauren je erlebt hatte, trat sie zusammen mit Jake durch das Spiegeltor in das Foyer ihres Hauses. In der Einfahrt stand ein Streifenwagen, und im Licht der zuckenden Blitze konnte sie erkennen, dass Pete Stark in dem Wagen saß und wartete. Der stämmige Pete mit dem offenen Gesicht und den sandfarbenen Haaren sah müde, frustriert und besorgt aus. All diese Regungen waren untypisch für ihn, obwohl Lauren sie während der letzten Monate immer häufiger auf seinem Gesicht gesehen hatte. Nun, diesmal war sie die Quelle seiner Frustration. Vor sechs Monaten war Pete sich so sicher gewesen, dass die schlimmsten Hindernisse hinter ihnen lagen und dass sie beide sich ein gemeinsames Leben miteinander würden aufbauen können. Zuerst hatte Lauren das auch geglaubt. Aber so einfach lagen die Dinge nicht. Während sie versucht hatten, einander besser kennen zu lernen, hatte sich ein gewisser Argwohn zwischen ihnen entwickelt. Lauren traf immer wieder auf Punkte in Petes Leben, über die er 34 nicht reden wollte, und Pete hatte zuerst mit Verlegenheit, dann mit Abwehr reagiert, als sie herauszufinden versuchte, was er vor ihr verbarg. Aber es steckte noch mehr dahinter. Eine Menge mehr, und für ihre schlimmsten Probleme konnte Lauren niemand anderen verantwortlich machen als sich selbst. Konfrontiert mit der Aussicht auf eine echte Beziehung mit einem Mann, der nicht Brian war, hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Sie wehrte sich innerlich gegen diesen Gedanken, tat es immer noch, hin und her gerissen zwischen dem lebenden Mann, der ihr viel bedeutete und den sie vielleicht irgendwann würde lieben können,
und dem toten Mann, von dem sie wusste, dass sie ihn für alle Ewigkeit lieben würde - und von dem sie wusste, dass auch er sie noch liebte und immer lieben würde. Und während sie versuchte, einen Weg zu finden, um Frieden zu schließen zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart, wuchsen bei Pete die Anspannung und die Frustration. Ein Donnerschlag ließ den Boden unter Laurens Füßen erbeben und schreckte sie mit Macht aus ihrem Tagtraum auf. Dann flammte in unmittelbarer Nähe ein Blitz auf, und gleich darauf kam der nächste Donnerschlag. Ganze Bäume lagen wie Streichhölzer rund um das Haus auf der Straße, die sich in einen schlammigen Fluss verwandelt hatte. Jake sah sich voller Interesse um. »Wow«, sagte er. »Wow trifft es.« Lauren erwog kurz die Möglichkeit, zusammen mit Jake wieder durch das Tor nach Oria zurückzugehen, bis das Unwetter sich gelegt hatte, aber wenn Pete in seiner offiziellen Eigenschaft auf sie wartete, war es wahrscheinlich besser zu bleiben. Sie ging zur Haustür, öffnete und winkte ihm zu. Er sah sie, stieg aus dem Wagen und rannte die Einfahrt hinauf, als hätte er Kanonenfeuer im Nacken. Obwohl er nur wenige Schritte brauchte, um die Veran35 da zu erreichen, durchnässte ihn der Regen bis auf die Haut. »Warum hast du nicht einfach im Haus gewartet?«, fragte Lauren, bevor sie ins Bad lief und ihm ein Handtuch holte. »Ich hatte gehofft, dass es bis zu deiner Rückkehr ein wenig besser werden würde«, antwortete er. Lauren runzelte die Stirn. »Wie lange hast du da draußen gesessen?« »Über eine Stunde.« »Geht das etwa schon seit einer Stunde so?« Er nickte. »Ohne Pause. So etwas habe ich noch nie erlebt.« »Haben wir eine Tornadowarnung bekommen?« »Nein. Nirgendwo sonst regnet es auch nur. Nun ja - in Laurinburg und Bennettsville regnet es ein bisschen, aber beide Städte liegen am äußeren Rand dieses Sturms. Der Rest des Staates erfreut sich eines schönen, sonnigen Tages.« »Und dieses Unwetter hängt einfach hier über Cat Creek?« Pete nickte. »Aber das ist noch nicht das Schlimmste.« »Natürlich nicht«, antwortete Lauren. Sie hätte ihn gern berührt, wie er so dastand und den Teppich im Flur nass tropfte. Wie gern hätte sie einfach einen Finger ausgestreckt und seine Unterlippe nachgezeichnet, während er mit ihr sprach. Sie sehnte sich so sehr danach, wieder diese menschliche Berührung auszukosten; sie wollte nachts in den Armen eines anderen Menschen liegen und hören, wie ihr jemand zuflüsterte, dass alles gut werden würde, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Sie wollte sogar noch mehr als das, und wenn sie Pete ansah, konnte sie den Hunger in ihrem Körper spüren. Doch zwei Geister begleiteten sie auf Schritt und Tritt. Brian, der tot war und Vergangenheit und der im Jenseits auf sie wartete, hatte sie zwar freigegeben, aber trotzdem 36 hielten sie zwei Dinge zurück: ihre Schuldgefühle, weil sie ihn überlebt hatte und einen anderen Mann begehrte, und ihre Angst, die zweite Liebe, falls sie sich gestattete, jemals wieder zu lieben, geradeso zu verlieren wie ihre erste. Also verzichtete sie darauf, die Hand auszustrecken und Pete zu berühren. Sie stand einfach nur da, die Arme schlaff neben dem Körper. »Alle Tore in der Stadt sind zusammengebrochen.« Lauren starrte ihn an. Sie war die Torweberin der Wächter von Cat Creek - einer der wenigen Menschen, die es vermochten, Verbindungen zwischen der Erde und den Welten zu sehen, die in der gleichen Dimension existierten. Diese Welten wurden durch Mächte, die sie manipulieren konnte, obwohl sie sie nicht verstand, von der Erde getrennt. Die Tore ermöglichten es den Wächtern, die Verwendung von Magie zu erkennen und nach Problemen Ausschau zu halten, die das Überleben der Erde betreffen konnten. Und im Notfall konnten die Wächter sich über die Energiegewebe zwischen den Welten bewegen, auch wenn sie diese Pfade nicht leichtfertig beschritten. Die meiste Zeit war es ganz einfach, die Tore funktionsfähig zu halten - in Cat Creek lebten weniger als tausend Menschen, und es geschah nur selten etwas Unerwartetes. Eine zahlenmäßig geringe Bevölkerung und nur minimale tägliche Veränderungen waren die Schlüsselelemente, um die Weltentore stabil zu halten. Lauren war noch nicht lange mit der Arbeit an den Toren betraut, und sie hatte noch niemals etwas erlebt, das dazu führte, dass sie alle gleichzeitig zusammenbrachen. »Was ist passiert?«, fragte sie. Pete warf ihr einen besorgten Blick zu. »Wir wissen es nicht. Alle Tore sind zusammengebrochen - selbst die kleinen wie June Bugs Handspiegel und mein Taschenspiegel. Wir sitzen blind und taub hier herum, während da draußen etwas Gewaltiges im Gange ist.« 37 »Dann wartet also Arbeit auf mich.« »Jede Menge. Und du solltest dich beeilen. Wir müssen wissen, was da los ist.«
Lauren blickte in das Unwetter hinaus. »Mein Gott, ich hasse es, Jake da rauszubringen.« Sie lief zum Garderobenschrank hinüber und holte Regenmäntel für sich selbst und Jake heraus. Nachdem sie ihm seinen angezogen und seine Kapuze festgebunden hatte, schlüpfte sie in ihren eigenen Mantel. »Hast du noch andere Dinge zu erledigen?«, fragte sie. »Ich habe noch keine Notrufe bekommen, was sich aber jederzeit ändern könnte. Am besten fahren wir mit verschiedenen Autos.« Lauren nickte. »Ich werde später für etwas anderes deine Hilfe brauchen - sobald wir diese Sache erledigt haben, muss ich wieder an meine Arbeit denken.« Sie war unwillkürlich in ihren gewohnten, mit Absicht vage gehaltenen Code verfallen, den sie benutzen musste, wenn sie ihn um Hilfe bei einem ihrer speziellen Projekte bat. Aber im Augenblick war keins der Tore in der Stadt funktionsfähig. Keiner der Wächter konnte sie belauschen. Ausnahmsweise einmal konnte sie ihm einfach sagen, was ihr im Kopf herumging. »Ich bin jetzt so weit, dass ich den Tunnel in die Oberwelt aufbauen kann, nach Kerras. Molly ...« Sie geriet ins Stocken und kam zu dem Schluss, dass sie diesmal lügen musste. Pete war Molly gegenüber bereits skeptisch - wenn sie ihm erzählte, dass Molly Zweifel an ihrer Arbeit hatte und dass sie sich gegen den Sog der dunklen Götter wehren musste, würde das nichts besser machen. »Sie ist gerade einigen Mitgliedern der Nachtwache auf der Spur und kann mich nicht begleiten. Also wird es wohl an dir hängen bleiben. Kannst du mir helfen?« Pete sah sie beklommen an. »Mein Dienst endet um sieben. Gib mir bis halb acht Zeit, um etwas gegen meinen lee38 ren Magen zu tun, dann treffen wir uns anschließend vor meinem Haus. Und bring deine Ausrüstung mit.« Lauren nickte. Pete beugte sich vor und gab ihr einen vorsichtigen Kuss. Sie hatte das Gefühl, als wollte er sie etwas fragen stattdessen hörte sie ihn jedoch nur seufzen. »Ich bin froh, dass du wieder da bist«, sagte er. »Ich auch.« Aber tief in ihrem Innern nagten die Schuldgefühle wegen dieses Kusses. Cat Creek June Bugs Haus, das nach Zigarrenqualm und English Red Oil roch, war groß, elegant und eine Spur heruntergekommen. Es befand sich seit Generationen im Besitz ihrer Familie, eine Tradition, die mit ihr enden würde. Sie und Louisa waren die letzten ihrer Linie von Tates. Der Gedanke, dass die Linie mit ihnen abreißen würde, war ihr überhaupt nicht gekommen, bis Bethellen, ihre jüngste Schwester, und Bethellens Sohn, Tom, gestorben waren. Und da war es natürlich zu spät gewesen. Noch vor einem Jahr hatte sie angenommen, dass die Familie weiter bestehen würde, und nun musste sie mit dem Wissen leben, dass es nicht so sein würde. Dieses Wissen quälte sie an Stellen, von deren Existenz sie bisher nicht einmal etwas geahnt hatte. June Bug beobachtete, wie Lauren ihren kleinen Sohn die Treppe hinauf zu ihrem Torspiegel schleppte. Lauren sah ihrer Mutter ungeheuer ähnlich und hatte nur wenig von ihrem Vater mitbekommen. June Bug schloss die Augen und dachte an Laurens Halbschwester, Molly, wie sie eines Tages in die Bibliothek spaziert war. Sie erinnerte 39 sich gut daran, dass sie damals geglaubt hatte, einen Geist zu sehen, denn Molly war ihrer Mutter, Marian, wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen. Das ganze Erlebnis hatte etwas derart Unheimliches gehabt, dass es June Bug für einen Augenblick den Atem verschlagen hatte. Und nun war auch Molly tot. Ein paar Mal war June Bug nachts zu Mollys Grab gegangen, um einfach nur dort zu stehen und sich zu wünschen, sie sei die Art Frau, die im Alter die Dinge bereute, die sie getan hatte, statt um die Dinge zu trauern, die sie nicht getan hatte. »Sobald das Tor steht, musst du unbedingt auch meinen Handspiegel in Ordnung bringen«, sagte sie und schüttelte energisch ihre Geister und ihre Reue ab. »Das Hilfstor in der Toilette der Bibliothek kann warten, schätze ich.« »Das schätze ich auch«, stimmte Lauren ihr zu. »Kann ich das haben?«, fragte Jake und zeigte auf June Bugs Zigarre, was ihr ein Lachen entlockte. »Noch nicht«, antwortete sie. »Aber sobald du einundzwanzig bist, schenke ich dir eine ganze Schachtel davon, in Ordnung?« »Nein, das wird sie nicht tun«, sagte Lauren zu ihrem Sohn. »Diese Dinger riechen wie schmutzige Schweißsocken.« Lauren warf June Bug einen Seitenblick zu, und einen Moment lang sah sie, mit dieser Mischung von Erheiterung und Ärger auf ihrem Gesicht, genauso aus wie ihre Mutter. June Bug setzte sich in einen der alten Rosshaarsessel, und die ganze Wucht von alter Trauer, frischer Trauer und erahnter zukünftiger Trauer traf sie mit Macht. Sie legte eine Hand über die Augen. »June Bug?« Ein leichter Schritt. Schlanke Finger auf ihrer Schulter und eine besorgte Stimme an ihrem Ohr. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?« Und das machte alles noch schlimmer - diese Ahnung von etwas, das sie sich ihr Leben lang verwehrt hatte, diese 40
winzige Andeutung, wie es hätte sein können, wäre da jemand gewesen, mit dem sie ihr Leben hätte teilen können. Der Kloß in ihrer Kehle machte ihr das Sprechen beinahe unmöglich. »Ich ... vermisse sie«, sagte sie, und ihre Stimme brach. »Vor allem deine Mutter, aber auch andere. Andere, die vielleicht ... und dann Molly wiederzusehen, die genauso aussah wie Marian und sich genauso anhörte wie sie und genauso ging wie sie. Und zu wissen, dass ich versucht habe, sie zu retten, und gescheitert bin.« »Molly?« »Deine Mutter.« Lauren ging in die Hocke, so dass sie mit der älteren Frau auf einer Augenhöhe war, und sagte: »Du hast versucht, meine Eltern zu retten. Du bist die Einzige, die es versucht hat, und das ist alles, was zählt.« »Aber ich habe Marian ... sie beide ... trotzdem verloren. Nicht dass ich Marian jemals besessen hätte ... aber ...« June Bug nahm einen langen Zug von der Zigarre und riss sich zusammen. »Es bricht alles einfach weg«, sprach sie nach einer Weile weiter. »Man fühlt sich welk an den Rändern und dünn in der Mitte, als könne die Sonne direkt durch einen hindurchscheinen.« »Genau das sagt Molly auch«, erwiderte Lauren, während sie die Finger auf das Glas presste und das grüne Feuer daraus heraufbeschwor. »Wer?« »M ...« Lauren brach ab, und June Bug sah, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. »Molly - das hat sie auch gesagt, bevor sie gestorben ist. Verdammt!«, murmelte sie, und das grüne Feuer erlosch wieder. »Irgendetwas stimmt da drin nicht. Einen Moment.« Lauren machte sich mit einigem Aufhebens daran, das Tor ein zweites Mal heraufzubeschwören, aber June Bug ließ sich nicht täuschen. Die erste Feststellung war die 41 Wahrheit gewesen, die zweite eine Lüge, um diese Wahrheit zu vertuschen, und der Zusammenbruch des Tors eine gezielte Ablenkung. Molly war nicht tot. Was auch immer June Bug an jenem Tag im Foyer von Laurens Haus gesehen hatte, es war Molly irgendwie gelungen, zu überleben. Irgendwo da draußen lebte sie noch immer - und Lauren stand mit ihr in Verbindung. Und das war der Grund, warum Lauren immer wieder verschwand warum sie in die Welt unter der Erde reiste, nach Oria, oder sonst irgendwohin, wo sie nicht zu erreichen war. Die beiden arbeiteten immer noch Hand in Hand. June Bug beobachtete, wie Lauren das Tor wieder aufbaute und es vorsichtig schloss, bevor sie sich June Bugs Handspiegel vornahm und auch diesen in ein kleines Tor verwandelte. »Verzweifle nicht«, flüsterte Lauren June Bug zu, als sie damit fertig war. »Wir werden alt, wir ziehen weiter, wir verlieren die Menschen, die wir lieben - aber wir haben sie nicht wirklich verloren. Wir haben sie nur für ein Weilchen verlegt.« June Bug begleitete sie mit einem höflichen Lächeln und einem aufrichtigen Dank zur Haustür, dann wandte sie sich der Treppe zu, die in ihr Zimmer hinauf und zu den Toren dort führte. Molly lebte noch. Beide Töchter, die Marian geboren hatte, waren noch am Leben. June Bug ging nach oben, um ihren kleinen Sehspiegel zu holen; sie musste wissen, was das bedeutete. Cat Creek Lauren wartete bis acht Uhr, bevor sie zu Pete hinüberfuhr, um ihn abzuholen. Der Sturm hatte sich endlich gelegt, und die Sterne und eine schmale Mondsichel warfen Schatten 42 auf seine Einfahrt. Der Kies knirschte unter den Reifen ihres Wagens, und im nächsten Augenblick schaltete sie die Scheinwerfer aus. Jake schlief in seinem Kindersitz auf der Rückbank, und das leise kleine Jungenschnarchen, das Lauren so sehr liebte, drang an ihr Ohr. Pete hatte auf sie gewartet. Er kam die Treppe hinuntergelaufen, noch bevor sie Gelegenheit gehabt hatte, den Motor auszuschalten, öffnete die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz gleiten. Während er den Sicherheitsgurt anlegte, sagte er: »Ich wünschte, wir hätten noch ein paar Leute zur Verstärkung. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich als Schutz für dich und Jake, während du arbeitest, nicht genüge. Ich kann nicht tun, was Molly tun kann. Und es steht so viel auf dem Spiel. Wenn wir dich verlieren, verlieren wir alles.« »Wir werden mich nicht verlieren. Wir gehen bis zu irgendeinem Punkt hinein, tun, was wir tun müssen, und kommen so schnell wie möglich hierher zurück. Wir haben das schon früher getan. Es ist immer alles gut gegangen.« »Ein Ausrutscher könnte alles vernichten. Ein einziger. Wenn die anderen Wächter von dir und Molly und von eurer Mission wüssten, könnten sie dir einen ganzen Trupp zur Verfügung stellen; einige dieser Leute sind verdammt gut, wenn es hart auf hart kommt.« Damit meinte er vor allem Eric. Aber Lauren konnte weder vergessen noch verzeihen, dass Eric froh gewesen war über Mollys Tod. Sie konnte nicht vergessen, dass Erics Vater einen Anteil an der Ermordung ihrer Eltern gehabt hatte. Die damalige Mission - die Mission ihrer Eltern - war dieselbe gewesen wie die heutige, und Lauren glaubte nicht, dass die Bereitschaft der Wächter, innerhalb ihrer Reihen eine abweichende Meinung oder unabhängige Initiativen zu tolerieren, heute größer war als damals. Die Wächter hatten ihre Gründe.
43 Aber auch sie hatte ihre Gründe. »Nein. Ich möchte nicht, dass Jake und ich das Opfer irgendwelcher Unfälle werden.« »Das möchte ich auch nicht.« Pete seufzte. »Trotzdem wünschte ich, wir hätten Verstärkung. Aber du hast Recht. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Wächter in dieser Angelegenheit auf der richtigen Seite stehen würden.« Er zuckte die Achseln. »Also schön, dann lass es uns einfach tun.« Sie fuhren, bis sie das Territorium der Wächter von Cat Creek verlassen hatten, und parkten in einer Art Niemandsland in den Sandhills - einer so entlegenen Einöde, dass kein Wächter zurzeit dafür zuständig war. Dort angekommen, baute Lauren einen großen Spiegel auf, den sie an einen Baum lehnte. Unterdessen entlud Pete den Kofferraum von Laurens altem Dodge Caravan - einem Ersatz für ihren vorherigen Wagen, der einige Monate zuvor den Geist aufgegeben hatte. Als er das getan hatte, setzte er Jake in den kleinen Bollerwagen, den Lauren sich zugelegt hatte, um ihren Sohn mitzunehmen, wenn er schlief. Petes Nähe, während sie das Tor aufbaute, lenkte sie ab. Ich will, dachte sie. Ich will, ich will... und ich schäme mich dafür, schwach genug zu sein, um zu wollen. Sie starrte in den Spiegel, in den Widerschein ihrer eige nen Augen, und sie griff nach der Energie, die alle Welten miteinander verband. Im nächsten Moment bekam sie das grüne Leuchten zu fassen, das eine Verbindung ankündigte. Sie entspannte Körper und Geist und konzentrierte sich auf einen Ort, der abseits von allem Verkehr lag - weit entfernt, in einer Welt weit unter der ihren und erfüllt von pulsierendem Leben. Sie brauchte einen Ort, der bereits zu ihrem Vorteil und zum Nachteil der Nachtwache funktionierte, eine lebendige Welt, noch unbesudelt von der Todesma44 gie der dunklen Götter, die ihr bester Verbündeter sein konnte. Sie wusste nicht, mit welcher Welt sie verbunden war, und es kümmerte sie auch nicht. Die wahllose Entscheidung für irgendeine Welt war ein Teil ihres Schutzes, ein Teil von dem, was ihr und Pete lange genug Sicherheit gewähren würde, um dort hinzukommen, zu tun, was sie tun mussten, und wieder zu verschwinden. In dem grünen Feuer, das in den Tiefen des Spiegels aufschimmerte, begannen sich Bilder zu formen. Eine weite, sonnige Ebene, Blumen und hohe Gräser, die sich in einem leichten Wind wiegten. In einer Richtung zeichneten sich in der Ferne niedrige, gewellte Hügel ab. Als sie sich dem Bild zuwandte, konnte sie mehr Hügel entdecken, mehr flaches Land und schließlich einen Wald. Keine Spuren von Bevölkerung, kein Hinweis auf die Anwesenheit von intelligentem Leben irgendwo in der Nähe. Sie entwickelte langsam eine gewisse Meisterschaft darin, entlegene Gebiete aufzuspüren. »Ich bin so weit«, sagte sie zu Pete. Er brachte die wenigen Werkzeuge und Waffen herbei, die sie beide brauchen würden, und zog Jake und sein kleines Gefährt hinter sich her. Sie hängten sich beide eine Waffe an ihrem Riemen über eine Schulter. Die Waffen waren von Molly entwickelt worden; sie würden auf der Erde nicht funktionieren, aber in jeder der unteren Welten würden sie große Macht entfalten, und weil Molly sie geschaffen hatte, würden sie nur einen begrenzten magischen Rückstoß zur Folge haben. Lauren griff nach dem Werkzeugbeutel, warf ihn über ihre andere Schulter und tastete dann nach Petes Hand, obwohl sie unter seiner Berührung erzitterte. Er ging durch den Spiegel voran und trat zuversichtlich in das grüne Feuer hinein, obwohl er seine Waffe in Anschlag brachte. Lauren, 45 die Petes Hand hielt und Jake hinter sich herzog, folgte ihm. Es fiel ihr schwer, sich auf das zu konzentrieren, was sie auf der anderen Seite des Tores würde tun müssen - der Pfad zwischen den Welten vibrierte in ihrem Blut und ihren Knochen; er tröstete sie und sang zu ihr, sang ein Lied, das von ihrer eigenen Unsterblichkeit handelte. Erfüllt von dieser Macht und diesem Glück, war es ungeheuer schwer, nicht zu vergessen, dass sie einen magischen Schild bereithalten musste, den sie aktivieren würde, sobald sie in die nächste Welt kamen. Das war ein heikler Balanceakt, so als versuche sie, aus dünnen Spielkarten eine Pyramide zu formen. Sie konnte sich nur deshalb überhaupt konzentrieren, weil sie sich immer wieder ins Gedächtnis rief, dass sie und Jake und Pete außerhalb der Feuerstraße nach wie vor quälend sterblich waren. Als sie in die andere Welt hinüberglitt, durchzuckte sie wie immer ein scharfer Stich des Verlustes, aber sie erholte sich schnell, nahm ihre ganze Willenskraft zusammen und formte einen engen, harten Schild um sich selbst, Jake und Pete - eine schwach glimmende, magische Kugel, die die meisten Angriffe abwehren würde. Dann dämpfte sie das Glimmen, bis es unsichtbar wurde; sie wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie glaubte nicht, dass irgendjemand oder irgendetwas in der Nähe war, aber dennoch musste sie so tun, als sei sie umringt von Feinden. Pete beugte sich über den schlafenden Jake, die Waffe immer noch im Anschlag, und sagte: »Nur zu. Ich gebe uns Deckung.« Lauren ließ sich auf Hände und Knie nieder und schloss die Augen. Die hohen Gräser strichen ihr übers Gesicht und kitzelten sie an der Nase, der Duft von zerdrückten Pflanzen stieg vom Boden unter ihr auf, und die scharfen Ränder der Blätter und Stängel unter ihren Händen bewahrten sie 46 davor, die fruchtbare, dunkle Erde darunter direkt zu berühren. Aber sie konnte die Macht dieses Ortes spüren.
Sie begab sich in einen Zustand tiefer Trance und tastete mit ihren Gedanken nach etwas Festem tief unter der Erde. Die Hände flach auf den weichen Boden gelegt, den Geist auf den Felsen geheftet, der tief darunter lag, höhlte sie eine Kugel aus, und innerhalb dieser Kugel schuf sie ein weiteres Tor, ähnlich dem, durch das sie diese Welt erreicht hatte, aber ganz klein, nicht größer als eine geballte Faust. Und in dieses Tor gab sie ihre Liebe für ihre Welt hinein, für die Menschen, die sie bewohnten, für das Leben selbst. Sie gab ihre Hoffnung hinein, ihren Überlebenswillen, ihre Träume von Ehre und Frieden und Barmherzigkeit. Nur dieses eine Mal dirigierte sie das andere Ende des Tores nicht zurück zur Erde. Stattdessen griff sie weiter aus, in eine Welt oberhalb der Erde, in den giftdurchtränkten, erstarrten Tod hinein, der noch ein halbes Jahrhundert zuvor die lebendige Welt von Kerras gewesen war. Steine waren keine Seltenheit auf Kerras; Steine und Eis war alles, was dort geblieben war. Dennoch grub sie das andere Ende ihres Tores tief in den Stein hinein. Sie konnte keine äußeren Veränderungen auf der Welt von Kerras vornehmen. Kerras lag oberhalb der Erde, Laurens eigener Welt, so dass Laurens einzige Macht dort in ihrer Fähigkeit bestand, Tore zu öffnen. Sie tastete nach einem natürlichen Steinfundament - einer Blase in dem Felsen -, und innerhalb dieser Blase verankerte sie das andere Ende ihres Tores. Dann legte sie um beide Enden einen Schild, kleine Täuschungsmanöver, die die Tore vor jenen verbergen würden, die imstande waren, Magie zu sehen. Laurens Schilde würden die Tore nicht vor jenen schützen, die bereits wussten, wo sie suchen mussten, aber sie würden genügen, um eine zufällige Entdeckung zu verhindern. Das war das Beste, was sie tun konnte. 47 Als sie sich aus ihrem Trancezustand erhob, sah sie, dass Pete mit verzweifeltem Gesichtsausdruck den Himmel absuchte. Er hatte seine Waffe an die Schulter gehoben. »Wir haben Gesellschaft«, sagte er. 3 In einer Welt irgendwo unterhalb der Erde Pete starrte die dunklen, geflügelten Gestalten am Himmel an, die sich vor die Sonne geschoben hatten. Es mussten ein Dutzend sein, dachte er. Mehr nicht. Aber er kannte die Gestalten, wusste, was diese Kälte des Bösen zu bedeuten hatte, das Klatschen gewaltiger Flügel, das wie das Aufeinanderschlagen von nassem Leder klang. Rrön. Riesig, intelligent, böse - sie waren die Quelle der irdischen Legenden, die von Drachen erzählten, und eine der treibenden Kräfte hinter der Nachtwache. Außerdem hatten sie Zugang zu einer Magie, deren Macht das menschliche Vorstellungsvermögen weit überstieg. »Bring uns hier raus. Schnell«, sagte er zu Lauren. Sie erhob keine Einwände - sie begann, ein Tor aufzubauen, während er das Feuer eröffnete. Bei den Rrön war die erste Chance auch die einzige, die er bekommen würde. Er schoss stetig in die Masse, die auf sie zukam, und sah mit Befriedigung, wie eines der Geschöpfe unkontrolliert vom Himmel stürzte. Die anderen teilten sich, brachten sich aus der Schusslinie und begannen zu kreisen. Pete erkannte, dass sie ihn, Lauren und den schlafenden Jake binnen weniger Sekunden umzingeln würden, doch er konnte nichts dagegen ausrichten. »Das Tor?«, rief er, immer noch feuernd und in der Hoffnung, einen Glückstreffer zu landen. »Probleme«, antwortete Lauren knapp. »Irgendetwas am anderen Ende ... es beobachtet uns. Es blockt mich ab.« »Du kannst kein Tor aufbauen?« 49 »Ich hätte es zuerst aufbauen sollen.« »Ja.« Lauren sagte nichts mehr. Pete landete einen weiteren Treffer, so dass noch zehn Rrön übrig blieben, immer noch zu viele. Jetzt hatten sie ihren Kreis geschlossen, und Pete sah, dass sie wieder näher kamen. »Wenn du das Tor nicht hochbekommst, nimm die Waffe«, sagte er. Er hatte das Gefühl, dass er sich im nächsten Augenblick würde übergeben müssen. »Ich hab sie«, rief Lauren, und er hörte das metallische Klicken, als sie ihre Waffe entsicherte. So. Sie saßen in der Falle. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als das hier zu Ende zu bringen. »Das ist eigentlich nicht die Art und Weise, wie ich sterben wollte.« Pete und Lauren standen jetzt Rücken an Rücken, und er konnte den Rückstoß ihrer Waffe in seinem eigenen Körper spüren. »Einen habe ich erwischt«, sagte sie, aber in ihrer Stimme lag keine Befriedigung. Dann fügte sie hinzu: »Das ist übrigens auch nicht die Art und Weise, wie ich sterben wollte. Schieß weiter. Jake hat etwas Besseres verdient als das hier.« »Scheiße. Wir haben alle etwas Besseres verdient als das hier.« Die Rrön hatten sich in der Luft kreisend außer Schussweite gebracht - bis auf den einen, den Lauren anscheinend getroffen hatte -, aber dann stieß eines der Ungeheuer plötzlich einen schrillen Schrei aus, und sie alle machten kehrt und kamen zurück. Schnell. Pete verteilte seine mit Magie umhüllten Kugeln in einem weiten Bogen um sich herum und konzentrierte seinen
ganzen Willen darauf, sämtliche Rrön gleichzeitig zu treffen, alle Ungeheuer mit einer Salve vom Himmel zu schießen. 50 Aber die Rrön besaßen ihre eigene Magie, und keiner von ihnen stürzte. »Oh Gott, bring uns hier raus«, flüsterte er. »Scheiße! Ein Tor!«, sagte Lauren, und kaum dass ihr das Wort über die Lippen gekommen war, erschienen wie aus dem Nichts schwarze Gewitterwolken direkt über ihren Köpfen und explodierten von der Stelle aus, an der Pete und Lauren standen, so als breiteten sie sich vom Zentrum einer detonierten Wasserstoffbombe her aus. Die Rrön kamen immer näher, aber sie glitten jetzt nicht mehr mit angelegten Flügeln durch die Luft. Sie kämpften gegen einen übermächtigen Wirbelsturm. Überall um Lauren und Pete herum krachten Blitze in den Boden und fuhren zischend auch in einige der Rrön. Sie zerrissen die Ungeheuer wie Stoffpuppen und holten sie einen nach dem anderen vom Himmel. Währenddessen grollten Donnerschläge, und baseballgroße Regentropfen zerfetzten den Boden unter ihren Füßen und walzten Gräser und Blumen nieder. Aber in dem winzigen Kreis, in dem Lauren, Pete und Jake standen, blieb es trocken. Pete konnte noch einen Treffer landen und tötete einen weiteren Rrön, und eine Stimme, die wie ein weiterer Donnerschlag klang, obwohl sie Worte zu formen vermochte, brüllte: »Gut. Gut. Töte sie alle, diese elenden Bastarde.« Pete drehte seinen Kopf gerade weit genug, um einen Mann mit leuchtend rotem Haar zu sehen, der gut zwei Meter groß sein musste, ein schwarzes T-Shirt, Jeans und darüber einen Zimmermannsgürtel trug. Er stand direkt hinter ihm und grinste. »Du hast dich verdammt gut gehalten«, sagte der Fremde. »Aber jetzt werden wir diesen mutterlosen fliegenden Schweinen im Handumdrehen den Garaus machen, und dann werden wir alle nach Hause gehen.« Und der große Mann drehte Pete den Rücken zu und 51 donnerte in den Wind hinein, ein wortloses Brüllen, erfüllt von Zorn und Jubel gleichzeitig, und die nächsten Blitze schlugen mit noch größerer Wucht ein, und der Donner ließ die Welt erbeben, und die Rrön fielen wie zerschmetterte Steine vom Himmel. Das Gewitter klang nicht ab. Der große Mann sah sie an und sagte: »Wir sollten wahrscheinlich zusehen, dass wir hier wegkommen. Wenn die da euch gefunden haben, wird es anderen vielleicht auch gelingen.« Mit diesen Worten legte er eine Hand auf den schmalen Metallreif, den Lauren in ihrer Werkzeugtasche mitgebracht hatte, und wob ein Tor daraus. »Frauen und Kinder zuerst«, sagte er und hob das kleine Gefährt hoch, in dem der noch immer schlafende Jake lag - wie machten Kinder so etwas bloß? -, dann schob er Jake und Lauren durch das Tor hindurch. »Du gehst als Nächster. Ich bringe das hier wieder in Ordnung, dann folge ich euch.« »Wer bist du?«, fragte Pete. »Später. Nicht hier. Wir müssen diesen Ort verlassen, bevor wir noch mehr Aufmerksamkeit darauf lenken, was sie hier getan hat.« Dann legte er Pete eine Hand auf den Rücken, und ohne dass Pete eigentlich bereit gewesen wäre fortzugehen, fiel er plötzlich zwischen den Welten hindurch, jagte durch die Musik der Universen, durch das Licht und das Glück und den Trost und trat durch den Spiegel auf der anderen Seite, um der Länge nach und mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden von Laurens Foyer zu landen. In Cat Creek war immer noch Nacht. »Pete«, flüsterte Lauren. Pete rappelte sich hoch und entfernte sich von dem Spiegel, so dass der große Fremde nicht über ihn stolperte, wenn er hindurchkam. Er legte einen Arm um Lauren und wartete, ohne den Spiegel aus den 52 Augen zu lassen, aber das Glas blieb dunkel. Der Fremde kam nicht, und nach einigen Minuten wurde Pete klar, dass er auch später nicht kommen würde. Er drehte sich um und legte die Arme um Lauren. »Wir sind noch am Leben.« »Aber wie? Wer war das? Wie hat er uns gefunden?« »Keine Ahnung. Er hat gesagt, er würde es uns erzählen, wenn er herkäme. Aber er kommt nicht.« »Nein«, sagte sie. In der Ferne hörten sie ein leises Donnergrollen - ein sanftes, beinahe tröstliches Geräusch. Pete begrub das Gesicht in Laurens Haar und zog sie fester an sich. »Unwichtig. Wichtig ist nur, dass wir noch leben.« Er war dem Tod nur mit knapper Not entronnen, ebenso wie Lauren, die jetzt genauso heftig zitterte wie er selbst. Er küsste sie, nur ein einziges Mal und sehr sanft, und sie reagierte darauf, zog ihre Finger durch sein Haar, drückte ihre Lippen auf seine, tat das alles mit einer Leidenschaft und einem Hunger, der ihn erschütterte. Heute Nacht. Vielleicht würde sie heute Nacht endlich ihre Geister hinter sich lassen können. Vielleicht konnte sie heute Nacht zu guter Letzt doch noch ihre Vergangenheit loslassen und sich einfach der Gegenwart überlassen, der Gegenwart -und ihm. Er legte ihr eine Hand ins Kreuz und zog sie fest an sich. Sie war schlank und stark; sie fühlte sich warm und
lebendig an, und sein Körper sagte: »Ja. Jetzt.« Und dann spürte er, wie sie sich von ihm löste. Genau dasselbe, was er jedes Mal spürte, im Allgemeinen eher früher als später, aber da war es also wieder. Er ließ sie los und machte einen Schritt von ihr weg. »Was?«, fragte er in der Erwartung, einmal mehr zu hören: »Ich bin noch nicht so weit«, oder: »Es ist noch zu 53 früh.« Es war jetzt bald drei Jahre her, aber sie weigerte sich, es so zu sehen. Stattdessen sah sie jetzt zu Jake hinüber, der schlafend in seinem Wägelchen lag. »Wir müssen zuerst mein Auto holen«, bemerkte sie. »Es steht irgendwo draußen in den Sandhills. Ich bin mir nicht einmal ganz sicher, wo.« Pete starrte sie an, und einen Moment lang begriff er nicht. Aber dann fluchte er leise. »Das ist nicht die Stelle, von der aus wir aufgebrochen sind.« »Nein, es ist nicht die richtige Stelle.« »Oh, Scheiße. Und mein Wagen steht vor meiner Wohnung. Genau wie der Streifenwagen.« »Ja.« »Und der einzige Kindersitz für Jake liegt in deinem Wagen.« »So ist es.« »Verdammte Scheiße.« Das hätte die Nacht sein können. Diesmal wäre es ihm vielleicht gelungen, die Barriere zu überwinden, hinter der sie sich stets verschanzte. Vielleicht hätte die Tatsache, dass sie beide nur knapp mit dem Leben davongekommen waren, ihre Abwehr gelähmt, und er wäre nahe genug an sie herangekommen, um sie den Heilig Gesprochenen Toten Ehemann vergessen, um sich von ihm lieben zu lassen. Vielleicht hätte sie so anfangen können, den lebendigen Mann an ihrer Seite zu lieben und wieder in der Gegenwart zu leben. Aber er konnte das jetzt nicht mehr herausfinden, denn sie hatte Recht. Sie mussten den Wagen zurückholen. Und zwar schnell. Sie konnten sich die Fragen nicht leisten, die sein Verlust nach sich ziehen würde. Solange Lauren vor den anderen Wächtern geheim halten musste, was sie tat - solange sie Grund dazu hatte, die Menschen zu fürchten, die angeblich ihre Verbündeten waren -, solange war es von allerhöchster Wichtigkeit, den äußeren Schein zu wahren. 54 Das war wichtiger als sie beide, er und Lauren, und seine mögliche Chance, sie in sein Bett zu bekommen, sie endlich von seiner Liebe zu ihr überzeugen zu können und - es hatte keinen Sinn, sich da etwas vorzumachen -, von seinem Verlangen nach ihr. »Alles klar«, sagte er. »Ich laufe wohl besser schnell nach Hause und hole mein Auto. Du wirst Jake mit dem Gurt in der Mitte der Rückbank anschnallen müssen. Ich tue das nur ungern, aber um diese Zeit in der Nacht dürfte der Verkehr zumindest recht schwach sein. Du bleibst hier. Ich bin in ein paar Minuten wieder da.« Er wollte gerade zur Tür hinausgehen, als ihm auffiel, dass in Laurens Einfahrt ein großer, weißer Pickup stand. »Lauren«, rief er, »woher kommt dieser Wagen?« Aus Richtung des Stadtrands näherte sich jetzt ein Van ihrem Haus. Ein wenig schneller, als es die Polizei erlaubte, ging es Pete durch den Kopf, aber nicht so schnell, dass es gefährlich gewesen wäre. Als der Van unter einer Straßenlaterne hindurchfuhr, sah er, dass er dem von Lauren sehr ähnlich war: schwarz, die Seiten des Aufbaus aus Holz, mit quadratischen Scheinwerfern und abblätterndem Lack auf der Motorhaube. Derselbe Jahrgang, dasselbe Modell. Der Wagen drosselte das Tempo, bevor er Laurens Haus erreichte, und bog in die Auffahrt ein. Es war zu dunkel, um den Fahrer zu erkennen, aber Pete war sich ziemlich sicher, dass er wusste, wer es war. Und er war sich absolut sicher, dass man den Wagen in den wenigen Minuten, die verstrichen waren, unmöglich von den Sandhills zu Laurens Haus in Cat Creek fahren konnte, ganz gleich, wie heftig der Fahrer aufs Gaspedal getreten war. »Unser mysteriöser Fremder ist wieder da«, sagte Pete, und seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren tonlos und wachsam. »Er fährt deinen Van. Damit dürfte das Problem mit deinem Wagen wohl erledigt sein.« 55 Lauren trat neben ihn, um ebenfalls aus dem Fenster zu sehen. »Der weiße Truck muss seiner sein.« »Vermutlich«, sagte Pete. »Da haben deine Nachbarn wenigstens Stoff zum Reden.« Lauren seufzte. Ihre Nachbarn zu beiden Seiten ihres Hauses waren schon recht alt und verfolgten Laurens Aktivitäten mit mehr als nur flüchtigem Interesse. Ein Jammer, dass das Fernsehen nicht vierundzwanzig Stunden am Tag Seifenopern brachte, dachte Pete; das hätte Lauren zumindest ein wenig Ruhe verschafft. »Oh, Himmel. Die stehen jetzt alle hinter ihren Gardinen, so viel steht fest. Vielleicht kann ich ja behaupten, er sei mein Vetter.« »Vielleicht«, bemerkte Pete zweifelnd. Lauren hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem großen, rothaarigen Mann. »Vielleicht kannst du den Leuten ja auch erzählen, er sei ein entfernter Vetter.« Und vielleicht haben wir ja großes Glück, und er wird schon bald erheblich weiter entfernt sein. Pete war dankbar für die Rettung gewesen. Er verdankte dem Fremden sein Leben. Aber alles an ihm kam Pete ... nun ja, es kam ihm merkwürdig vor, falsch. Seine enorme Körpergröße, seine dröhnende Stimme, seine Bodybuildermuskeln, das pure Rot seines Haares. Er war zu intensiv, zu groß, zu sehr da. Und natürlich machten Dinge wie der Sturm, der ihm durch das Tor gefolgt war, und die Blitze, die die Rrön vom Himmel geschossen hatten, die Dinge nicht gerade besser. Und auch nicht der Van, der plötzlich genau dort auftauchte, wo er
gebraucht wurde. Pete wusste, wie all diese Dinge bewerkstelligt worden waren. In den Welten unterhalb der Erde konnte auch er Ähnliches bewirken. Der Fremde war offensichtlich ein Torweber wie Lauren. Scheinbar einer von den Guten. Anscheinend ein Freund oder jemand, der ein Freund werden konnte. Es fiel ihm ziemlich schwer, jemanden, der gerade 56 den größten Teil von einem Dutzend Rrön getötet hatte, um ihnen den Hintern zu retten, als Feind zu betrachten. Aber wenn dieser Fremde ein Tor für den Van geschaffen hatte und ihn durch dieses Tor zwischen den Welten gefahren hatte und wenn er den Wagen direkt außerhalb der Stadt wieder auf die Erde zurückgebracht hatte, dann war er imstande, auf der Erde Magie zu benutzen. Und das bedeutete, dass er, was er auch sonst sein und auf wessen Seite er stehen mochte, kein Mensch war. Was ihn, zumindest in Petes Augen, zu einem Problem machte. Ungeachtet der Tatsache, dass er ihr gegenüber argwöhnisch war, wäre Pete doch bei weitem wohler gewesen, wenn er jetzt Molly hinter sich gewusst hätte. Sie repräsentierte das Vertraute. Nicht das durch und durch Bekannte, aber immerhin das Vertraute. Also, wenn Laurens fortgesetztes Überleben das Wichtigste war, was noch zwischen der Nachtwache und der Zerstörung der Erde stand, was konnte dann so bedeutsam gewesen sein, dass Molly sich ihnen nicht angeschlossen hatte? Der Berg der Kämpfer, Fael Faen, Tinhaol, Oria Seit ihrem Gespräch mit Lauren hatte Molly sich nicht noch einmal auf die Suche nach irgendeinem Nest der Nachtwache gemacht. Sie war auch nicht nach Hause gegangen - sie war einfach noch nicht bereit gewesen, sich dem Kupferhaus und seinen engen Grenzen zu stellen und Seolar, seinen Sorgen, dem unterwürfigen Personal und den Einschränkungen, die das Dasein als Vodi mit sich brachte. Vor allem aber war sie noch nicht so weit gewesen, dass sie sich der Leere stellen konnte, die sie im Kupferhaus vorfand, wo sie alles daran erinnerte, dass sie einmal leidenschaftlich 57 geliebt hatte und dass sie in der vor ihr liegenden Ewigkeit nie wieder erfahren würde, wie sich Liebe anfühlte. Statt nach Hause zu gehen, war sie umhergestreift - zuerst langsam und dann schneller; sie hatte ihren Weg mit Magie beschleunigt, hatte Abgeschiedenheit gesucht und den Frieden, der mit der Einsamkeit einherging. Und dann hatte sie sich in den Ruinen von Tinhaol wiedergefunden, eine der einstmals großen Veyär-Städte von Oria. Jetzt stand sie vor dem Begräbnishügel von Fael Faen, wo die Gebeine von zehntausend Veyär-Kriegern lagen. Sie stand ganz oben auf dem gewaltigen Hügel, dem Berg der Kämpfer, und sie spürte den Tod, der unter ihren Füßen lag. Die Geister dieses Ortes drängten um ihretwillen dicht an die Oberfläche empor; diese Geister standen vor ihr als klare Erinnerungen, die ihr Echo in Mollys Gedärmen fanden. Eine der früheren Vodi hatte hier gekämpft und war hier ihren ersten von vielen Toden gestorben - den Tod, der diese Frau ihre Seele gekostet hatte. Wenn Molly die Augen schloss, konnte sie die Flammen der einstürzenden Stadt sehen, konnte die Schreie hören, konnte den Rauch riechen - brennende Träume, brennendes Fleisch. Sie konnte den Schmerz der tödlichen Verletzung dieser Frau spüren, und, was nicht weniger quälend war, die Trauer um Verlorenes. Für Molly war es so, als sei diese Frau erst vor zehn Sekunden gestorben, nicht vor tausend Jahren. Familie und Freunde lagen unter diesem Hügel, Geliebte und Feinde, Nachbarn. Nicht Mollys Angehörige, um genau zu sein, und trotzdem gehörten diese Menschen auch zu ihr, denn sie kannte ihre Namen und ihre Gesichter und ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre verlorenen Hoffnungen. Molly saß auf dem Hügel und starrte hinab auf die verschwommenen Umrisse der verlorenen Stadt. Nichts war geblieben als einige eingestürzte Mauern, Hügel und Bodenwellen, deren Geradlinigkeit ihre Herkunft verrieten, 58 und ein Turm in einiger Entfernung, dessen Verfall noch im Anfangsstadium war. Aber wenn sie die Augen schloss, konnte sie Fael Faen sehen, wie es einst gewesen war - eine Obsidianstadt, glänzend und funkelnd in der Sonne, mit fliegenden Wimpeln, voller geschäftiger Betriebsamkeit, mit Märkten, Häusern und Kindern, die auf den Straßen spielten. In hundert Jahren oder in zweihundert würde sie eigene Orte wie diesen haben. Keine geborgten Erinnerungen von verlorenen Dingen, sondern Bruchstücke ihres eigenen Lebens, die man ihr entrissen und die man zerstört hatte. Sie würde vielleicht an Seolars Grab stehen oder den Schutt betrachten, der einst das Kupferhaus gewesen war. Wenn sie und Lauren versagten, dann würde sie die Vernichtung der Erde und all ihrer Bewohner miterleben; sie würde Schlacken und erstarrtes Ödland sehen, auf dem nichts überlebt hatte, und sie würde sich an das Grün erinnern, das dort einmal gewachsen war, an das Blau des Himmels, das Tosen des Ozeans in einer Welt mit Atmosphäre und Leben und Hoffnung, die beide zu existieren aufgehört hatten. Und die hohle Leere in ihr würde sich ausdehnen, um all der Dinge willen, die verloren waren und nicht wiedergewonnen werden konnten. Ihr Blick fing eine Bewegung unten in den Ruinen auf. Sie ließ ihren Geist zur Ruhe kommen, ließ Leere einkehren in ihre Gedanken, verlangsamte Herzschlag und Atem, und befreit von den Ablenkungen ihres Körpers, aber mit immer noch einsatzbereiter Magie für einen Kampf, konzentrierte sie sich auf den Mann, der in ihren Gesichtskreis getreten war.
Er ging entlang der Linie dessen, was einmal eine Straße gewesen war, und blieb ab und zu stehen, um sich hinzuknien, die hohen Gräser beiseite zu schieben und den Boden abzutasten. Von Zeit zu Zeit benutzte er eine kleine 59 Schaufel, die er bei sich trug, um zu graben, und einmal stand er auf und schob sich etwas in die Tasche. Molly fing seine Gedanken als ein leises, stetiges Summen auf, das sie beruhigend fand. Er hielt Ausschau nach Artefakten aus der untergegangenen Stadt. Als sie tiefer in seine Gedanken eindrang, fand sie heraus, dass er das häufiger tat und dass er bereits eine ansehnliche Sammlung besaß. Seine Familie hatte die Zerstörung Tinhaols überlebt. Wie viele Veyär hing er einem Ahnenkult an. Und ebenfalls wie viele Veyär sehnte er sich nach lange vergangenen Tagen, nach Zeiten, die sicherer und besser gewesen waren. Nach Tagen, da das Überleben der Veyär noch nicht in Frage gestanden hatte. Eine Weile ließ Molly sich von der Alltäglichkeit und Schlichtheit seines Geistes einlullen; seine Gedanken fühlten sich so viel besser an als ihre eigenen. Sie konnte sich einfach damit unterhalten, ihn zu beobachten; er würde sie oben auf dem Gipfel nicht entdecken. Niemand würde das tun, solange sie sich nicht selbst dazu entschied, sich sehen zu lassen. Aber in diesem Augenblick fühlte sie sich dem Veyär sehr nahe, mit seiner Begeisterung für Ruinen und Vergangenes. Sie empfand sich selbst als die Ruine der Frau, die sie einmal gewesen war, und noch nie hatte sie sich verlorener gefühlt. Sie war die Dunkelheit zu seinem Licht, und plötzlich wünschte sie, dass ein wenig von diesem Licht auch auf sie fallen möge, und sei es auch nur für wenige Sekunden. Sie erhob sich, schüttelte die Schilde ab, die sie verbargen, und ging den Hügel hinunter auf ihn zu. »Sei mir gegrüßt, Fremder!«, rief sie. Er zuckte zusammen und drehte sich um. Er war breiter gebaut als der durchschnittliche Veyär, muskulös, während die meisten von ihnen gertenschlank waren. Und dunkelhäutig - die Veyär, die Molly kannte, hatten einen blasseren Teint; sie neigten, was Haut und Haar betraf, zu hellen 60 Blau- und Brauntönen oder zu rosafarbenen Schattierungen, aber die Haut dieses Mannes war von einem reichen, bläulichen Schwarz. Sein kobaltfarbenes Haar, das er zu schlichten Zöpfen geflochten trug statt nach der komplizierten, höfischen Mode, schimmerte durchscheinend wie die Flügel eines Schmetterlings. Und nun richtete er seine bernsteinfarbenen Augen auf sie, um sie mit einer Mischung aus Neugier und Verblüffung zu betrachten. »Sei auch du mir gegrüßt, Fremde«, sagte er, und in seiner Stimme schwang die Lebendigkeit und Schönheit mit, die in den Stimmen aller Veyär lag. Und genau wie bei den anderen Veyär, die sie kannte, waren seine Wangen tätowiert - in seinem Falle war ein sehr blasses Pigment benutzt worden, das die Haut nur gerade so weit aufhellte, um die Zeichen lesbar zu machen. Sie selbst konnte sie jedoch nicht lesen. Sie war noch nie in der Lage gewesen, die Tätowierungen der Veyär zu entziffern. »Obwohl diese Stadt der Geister vielleicht nicht der sicherste Ort für eine Dame von einem fernen Hof ist, für ein Mysterium, wie du es bist.« Sie blieb ein gutes Stück von ihm entfernt stehen. »Wie kommt es, dass du über mich Bescheid weißt?« »Ich weiß nur wenig von dir, du Schöne. Aber das, was ich weiß, würde jeder wissen, dem du begegnest. Du bist keine Veyär - deine Augen, deine ungezeichneten Wangen und die Farbe deiner Haut und deines Haares lassen daran keinen Zweifel. Indes trägst du die Roben des Hofes von Kupferhaus und das Zeichen des Imallins Seolar auf deinem Gürtel und an deinen Gewändern; du stehst also in hoher Gunst. Auf deinem Gesicht ist nicht einmal die erste Markierung zu sehen, aber du bist zu alt, um dir noch keine Zeichen verdient zu haben, daher musst du also über der Gesellschaft der Veyär stehen und über ihren Gesetzen, nach denen wir für jedermann sichtbar unser Leben auf unseren 61 Gesichtern tragen müssen. Nach deinem Äußeren zu schließen, kommst du vielleicht überhaupt nicht von dieser Welt. Die Götter, so sagt man, haben ungezeichnete Wangen.« Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln und fügte hinzu: »Bist du eine Göttin, Kleine?« Sie dachte: Ja, das bin ich. Oder eine Teufelin - ich habe den Weg zu der Wahrheit meines neuen Ichs noch nicht gefunden. Laut sagte sie jedoch: »Würde das eine Rolle spielen? Ich bin keine Bedrohung für dich. Ich bin nur heruntergekommen, um zu sehen, was du hier treibst.« »Und ich bin keine Bedrohung für dich, sonst wärest du nicht heruntergekommen. Nur die Götter brauchen keine Angst zu haben. Das heißt, du bist also ein noch größeres Mysterium.« Sein Lächeln wurde breiter, er zog einen Beutel aus seiner Tasche, und aus dem Beutel nahm er eine kleine Statue, die nicht größer war als sein Daumen, ein abgegriffenes, schmutzverkrustetes Kunstwerk. »Das ist es, was ich getan habe. Ich habe einen Hausgott gefunden«, erklärte er. »Sobald ich ihn gesäubert habe, werde ich vermutlich feststellen, dass es sich um Podrin handelt, den Wassergott. Im Moment kann ich es nicht mit Sicherheit sagen; der Schmutz hat alle Zeichen unkenntlich gemacht, die mir seine Identität verraten könnten.« Er gab ihr die Statue und berührte dabei ihre Hand, eine Berührung, bei der sie beinahe aus der Haut fuhr. Er ... sandte Schwingungen aus, die sie mitten ins Herz trafen. Er passte zu ihr, als sei sie soeben durch die Tür des Heims getreten, das ihre Wünsche und Träume beherbergte. Oder als sei er ein bequemer Schuh, dachte sie verwirrt, der auf ihren Fuß wartete. Sie blickte in seine Augen, und obwohl die Gesichter der Veyär schwer zu deuten waren, fing sie ein Echo ihrer eigenen Überraschung darin auf.
Hastig betrachtete sie die Statue in ihrer Hand und rieb mit einem Zipfel ihres Gürtels den Schmutz weg. Unter an62 deren Umständen wäre sie vor dem Gedanken zurückgeschreckt, die schöne, schwere Seide als Putzlumpen zu benutzen, aber in diesem Moment brauchte sie eine Ablenkung. Die Statue ließ sich ohne weiteres säubern. Sie entpuppte sich als ein kleiner Elfenbeinmann in klassischen Veyär-Roben; auf seinem Gürtel und an den Schultern des Gewands verliefen Inschriften. Er hatte den typischen Körperbau der Veyär und ihre charakteristischen Gesichtszüge. Aber seine Augen waren leere Höhlen. Molly strich mit dem Finger darüber, und der Fremde sagte: »Man hätte Obsidianperlen für die Augen nehmen sollen. Oder ...«Er streckte die Hand aus, und Molly übergab ihm die Statue, wobei sie sorgfältig darauf Acht gab, ihn nicht noch einmal zu berühren. Der Veyär drehte die Statue hin und her und schüttelte den Kopf. »Nein, Obsidian wäre in diesem Fall wohl nicht das richtige Material gewesen. Smaragde. Das hier ist doch nicht Podrin. Es ist Allren, der Gott der Höhen. Einen Allren habe ich hier noch nie gefunden.« Wieder lächelte er sie an. »Er war kein heimischer Gott - er hatte nicht einmal einen Tempel hier. Diese Statue muss also einem Fremden gehört haben. Du bringst mir Glück.« Er beobachtete sie genau, während er weitersprach: »Und du beherrschst unsere Sprache erstaunlich gut. Es ist das erste Mal, dass mir jemand aus Ballahara begegnet, der Shenrin nicht mit einem schweren Akzent spricht.« Wieder erhob das Thema Sprache seinen Kopf. Molly beherrschte keine der Veyär-Sprachen, ebenso wenig wie die Sprachen anderer Völker auf Oria, was das betraf. Dennoch konnte sie sich mühelos mit allen Geschöpfen hier unterhalten und diese sich mit ihr. Die Kette, die sie tief in ihrem Bauch verborgen trug, die Vodi-Kette, die ihr sowohl Fluch als auch Segen war, war mit einem Zauber belegt. 63 Auf diese Weise hörte Molly fremdartige Worte - und häufig auch fremdartige Gedanken - in ihrer eigenen Sprache. Derselbe Zauber war es, der ihre Worte in etwas verwandelte, das ihre Zuhörer verstehen konnten. Sie zuckte die Achseln, als sei der Akzent ohne Belang. Er beobachtete sie mit einer ruhigen Eindringlichkeit, die sie seltsamerweise nicht beunruhigend fand. Sie betrachtete ihn ihrerseits mit unverhohlenem Interesse. »Warum unternehmen wir nicht einen kleinen Spaziergang. Dann kann ich dir die Sehenswürdigkeiten dieses Ortes zeigen, an dem einmal eine der prächtigsten und schönsten Städte Orias stand.« Molly wusste, dass sie seine Einladung nicht hätte annehmen sollen - aber irgendetwas an ihm zog sie unwiderstehlich an. Es war nichts Erotisches, nichts Verbotenes, nicht einmal etwas Emotionales. Sie analysierte ihre Reaktion auf ihn und kam dabei zu dem Schluss, dass es ein schlichtes Gefühl der Seelenverwandtschaft war, das sie anzog, die Ahnung, dass sie beide einander verstehen könnten. Sie gestattete sich nicht, allzu genau darüber nachzudenken, was das für ein Mann sein konnte, der etwas wie sie zu verstehen vermochte. »Das würde mir gefallen«, sagte sie und folgte ihm in die Ruinen. In den Ruinen, Tinhaol, Oria Die Flügel waren ein Problem. Sie wollten sich ständig zurückbilden, und der Rrön Baanraak, dessen Körper im Augenblick in die Gestalt eines Veyär gepresst war, brauchte einen Gutteil seiner Aufmerksamkeit, um die Kontrolle über seinen Körper zu behalten: Wann immer er sich zu sehr für Molly und ihr Tun interessierte, versuchte sein 64 Körper, seine natürliche Gestalt wieder anzunehmen. Er war aus der Übung; mehr als tausend Jahre hatte er sich vor allem damit beschäftigt, in seiner angestammten Gestalt auf sonnengewärmten Felsen zu liegen, und jetzt, nachdem er seine Knochen durch Magie und pure, finstere Entschlossenheit umgeformt hatte, bereiteten sie ihm nichts als Schmerzen. Doch Molly hatte sich ihm tatsächlich angeschlossen. Seine ursprüngliche Absicht war es gewesen, sie in seine Nähe zu locken, damit er sie abermals zu seiner Gefangenen machen konnte - aber jetzt, da sie direkt neben ihm ging, da sie lebendig war und sich mit ihm unterhielt, sang ihre bloße Nähe in seinem Blut und in seinen von der Verwandlung gequälten Knochen. Plötzlich stellte er fest, dass er nicht den Wunsch hatte, sie noch einmal zu töten. Zumindest nicht in diesem Augenblick. Er konnte mit ihrer Vernichtung warten und erst einmal deren Notwendigkeit abzuschätzen versuchen. Sie interessierte ihn, sie selbst und auch ihre Reaktion auf ihn. Und sie reagierte tatsächlich, nicht auf seine stumpfsinnige äußere Gestalt - auf die beruhigenden Lügen, die er über die Oberfläche seiner Gedanken gestreift hatte, um sie von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen -, sondern auf etwas Tieferliegendes, auf etwas, das alles andere als eine Lüge war. Sie reagierte auf ihn. Er spürte, dass sie sich zu dem hingezogen fühlte, was er war, und es keineswegs abstoßend fand. Eine beinahe quälende Neugier erfüllte ihn; wurde sie ihm auch ohne sein Zutun immer ähnlicher? Sie schlenderten über die Geister alter Straßen, über Hügel und Trümmer und durch die Knochen der Stadt, und sie redeten miteinander. »Was war das früher?«, fragte sie ihn und zeigte auf einen Schutthaufen. »Weißt du, was dort gestanden hat?« Und er wob für sie eine Geschichte über die 65 Dinge, die unter dem Gras und dem Schmutz verborgen lagen. Oder: »Es ist seltsam, aber ich spüre, wie diese Stadt gewesen sein muss, als sie voller Leute war, voller Leben und Farbe«, und er zeichnete mit Worten ein
Bild für sie, versuchte, die Stadt wieder lebendig werden zu lassen, wie er sie in Erinnerung hatte, wie er sie gesehen und erfahren hatte, zu einer Zeit, da er dieselben Straßen entlanggegangen war und dieselbe Gestalt wie heute gehabt hatte. Sie klang so sehnsüchtig, und sie kam ihm so atemberaubend schön vor. Das Echo der toten Stadt war noch ganz frisch in seinem Gedächtnis - die Stadt, wie sie gewesen war, bevor er die Rrön und seine Horden von Prakka-Sklaven in den Kampf geführt hatte, um sie zu vernichten. Er erinnerte sich auch an das, was danach aus diesem Ort geworden war. Bisher hatte er den Angriff niemals bereut; er hatte seine Gründe dafür gehabt, und es waren triftige Gründe gewesen. Aber als er die Ruinen jetzt durch Mollys Augen sah, durchzuckte ihn plötzlich ein Stich des Bedauerns darüber, dass sie diese Bilder mit ihm nicht geteilt hatte, dass sie diese Straßen nicht gekannt hatte, als sie noch unversehrt gewesen waren. Und es tat ihm Leid, dass er diese Dinge nicht zurückbringen konnte, um sie zu erheitern. Er hätte es getan, würde es in seiner Macht stehen, das wurde ihm mit einem Mal klar. Er würde die Stadt mit einem Wort, mit einem Zauber wieder aufbauen und sie von neuem mit stinkenden, wogenden Massen füllen, damit Molly durch die Straßen und Gassen wandern und sich an den leuchtenden Farben und dem Geplapper der Märkte erfreuen würde, damit sie durch die Bibliotheken und die Theater schlendern konnte. Sie sehnte sich nach der Freiheit, unbehelligt durch die prächtigsten Orte der Welt zu streifen, das konnte er in ihr spüren. Ebenso wie er spüren konnte, dass ihr erstes Leben 66 ebenso dunkel, trostlos und einsam gewesen war wie das seine reich an Wundern. Während ihrer ganzen Existenz in ihrer Heimatwelt - bevor sie zur Vodi wurde - hatte sie nie die Freiheit besessen, an Orte zu gehen, an denen Menschen zusammenkamen. Unter ihresgleichen hatte sie höllische körperliche Schmerzen gelitten: den geballten Schmerz aller, die ihren Weg kreuzten, die Gifte und Seuchen der Massen, die sie allesamt berührten, die sie formten und sie verschlangen, bis sie zu ihrem eigenen Schutz die Krankheit der anderen hatte verschlingen müssen, nur damit der Schmerz ein Ende nahm. Der Schmerz ungezählter Tode, die sie bedrängten, hatte sie schließlich in die Einsamkeit getrieben. Ein solcher Fluch war ihm noch nie zuvor begegnet. Sein eigenes erstes Leben war die reine Wonne gewesen. Er war das erste Ei des ersten Geleges einer der großen Rrön-Mütter des letzten Zeitalters seiner Welt gewesen, und es ging das Gerücht, dass er bei einer Paarung mit einem Gott oder einem Dämon in Rrön-Gestalt gezeugt worden war, ein Omen von immenser Bedeutung. Als er schlüpfte, waren die höchsten Würdenträger seines Himmelsclans zugegen gewesen; in seiner Kindheit hatte man ihn verhätschelt, sie war eine einzige Folge Glück verheißender Omen und Vorzeichen gewesen, erlebt in dem knospenden Bewusstsein des Zugangs zur Magie, den er dem Blut seines geheimnisvollen Vaters verdankte. Sein Leben als Erwachsener war eine endlose Abfolge schöner Jagden und prächtiger Feste gewesen, und er hatte von Jahr zu Jahr mehr Anerkennung und Bewunderung erfahren. Er hatte sich den Zutritt zu der kleinen Schar von Weltenwanderern verdient, und er hatte sein Potenzial für Größeres erkannt. Für eine bedeutendere, ungeheuere Magie, die allen Rrön zu Gebote stehen konnte. Bei ihm war der Schmerz erst viel später gekommen, als 67 er imstande gewesen war, damit umzugehen. Als er imstande gewesen war, auch anderen Schmerz zuzufügen. »Bitte, verzeih mir meine Dreistigkeit«, sagte Molly plötzlich, und der Klang ihrer Stimme riss ihn in die Gegenwart zurück, in die tote Stadt und zu seinen juckenden Schulterblättern. »Aber ich bin noch nie einem Veyär begegnet, der so aussah wie du.« Baanraak zuckte die Achseln. »Ich bin ein Umsiedler. Mein Clan stammt ursprünglich aus einem Gebiet, das weit entfernt von hier liegt, in südöstlicher Richtung. Wir sind Tladi, auch Wanderer genannt. Ich habe einen großen Teil von Oria bereist, stets auf der Suche nach den Überbleibseln vergangener Pracht; vor einer ganzen Weile bin ich dann hier gelandet und habe einen so großen Schatz gefunden, dass es mir nicht länger ein Bedürfnis war weiterzuwandern. Ich bin allein, aber das Alleinsein macht mir nichts aus.« »Mir auch nicht. Ich bin daran gewöhnt«, antwortete Molly. Sie zuckte mit den Schultern. »Manchmal ist es mir sogar lieber so.« »Ja«, sagte er. »Manchmal ist es das Beste, allein zu sein.« Er drehte sich zu ihr um und lächelte plötzlich. »Wir könnten zusammen allein sein, du und ich.« Er lachte leise, um ihr zu bedeuten, dass er im Scherz gesprochen hatte. Nur dass es natürlich kein Scherz war. Sie beobachtete ihn mit ruhigem, aufmerksamem Blick. »Ich habe das Gefühl, dich zu kennen. Dich ziemlich gut zu kennen«, entgegnete sie. »Es ist sehr eigenartig. Ich kenne dich natürlich nicht, aber dennoch liegt direkt unter der Haut das Gefühl eines Wiedererkennens.« Das Kribbeln in seinen Schulterblättern verstärkte sich, und er spürte jetzt deutlicher das Gewicht, das auf ihnen lastete. Sein Schwanzknochen drückte schwer auf sein Rückgrat. Er konnte spüren, wie sich die Klauen unter sei68 nen Fingerspitzen zurückbildeten, konnte spüren, wie sein Gesicht danach verlangte, sich nach vorn zu recken, konnte die Masse seines wahren Körpers spüren, dessen Moleküle und Atome in eine dichtere, kompaktere Gestalt gezwängt waren. Seine mangelnde Übung machte sich schmerzlicher bemerkbar, als er es für möglich gehalten hätte.
Er konnte von Glück sagen, wenn es ihm gelang, sich ihren Blicken zu entziehen, bevor er sein wahres Wesen verriet. Falls das geschehen sollte, würde ihnen beiden nichts übrig bleiben, als zu versuchen, den anderen zu töten. »Vielleicht können wir uns irgendwann noch einmal hier treffen«, sagte er und lächelte, in der Hoffnung, dass sein Lächeln nicht viel zu breit für die Züge eines Veyär ausfiel. »Aber jetzt muss ich mich verabschieden. Ich ermüde in letzter Zeit sehr rasch. Ich war eine Weile so krank, dass ich nicht mehr an mein eigenes Überleben geglaubt habe. Und jetzt, da es mir wieder besser geht, muss ich mit meinen Kräften haushalten.« Sie wollte etwas sagen, aber er hob die Hand. »Es war mir eine große Freude, dich kennen zu lernen, kleine Göttin. Sollten wir uns irgendwann einmal wieder begegnen, wirst du mir vielleicht die Freude machen, abermals ein Stück mit mir zu gehen.« Und dann eilte er davon, in dem plötzlichen Bewusstsein, dass sich seine Spuren zu tief in den Boden und die dichten Gräser hineingruben und seine Haut die geriffelte Beschaffenheit seiner wahren Gestalt annahm. Er brachte seine Gedanken zum Stillstand, zwang sich zu innerer Ruhe und betete zu dem Großen Ei, dass es ihm gelingen möge, aus der Reichweite ihrer Gedanken zu entkommen, bevor er seinen Körper aus diesem winzigen Veyär-Gefängnis befreien musste. 4 Tinhaol, Oria MoUy betrachtete die Stelle, an der der Fremde gestanden hatte, noch lange, nachdem er außer Sicht war. Das Gefühl, ihn zu kennen, verstärkte sich noch. Sie kannte seine Augen, sie kannte seine Stimme, sie kannte den Tonfall seiner Redeweise und den Rhythmus und die Gestalt seiner Gedanken. Er hatte ihr seinen Namen nicht genannt, ebenso wenig wie sie den ihren genannt hatte, aber hätten sie sich einander vorgestellt, davon war Molly überzeugt, wären beide Namen gleichermaßen falsch gewesen. Der Fremde war nicht der, der er zu sein vorgab. Diese wachsende Überzeugung, die in ihr aufstieg, erfüllte sie mit Neugier. Hmmm. Sie zog ihre Schilde wieder hoch, so dass niemand, der ihren Weg kreuzte, sie bemerken würde. Dann machte sie kehrt und ging langsam und tief in Gedanken versunken wieder den Berg der Kämpfer Fael Faen hinauf. Als sie den Gipfel erreicht hatte, hatte sie das Rätsel noch immer nicht gelöst, daher schloss sie die Augen, ließ die Sonne auf sich herabscheinen und löschte nach und nach alles an dem Fremden aus, was ihr nicht vertraut war. Sein Gesicht und sein Körper - fort. Die Sprache, die er sprach - fort. Seine angebliche Lebensgeschichte, sein Interesse an Antiquitäten, seine Bemerkungen über eine frühere Erkrankung - fort. Die Augen immer noch geschlossen, betrachtete sie, was übrig blieb. Augen von einem tiefen Bernsteinton, die niemals blinzelten, Augen, die ihr einen leisen Schauder über 70 den Rücken jagten. Gedanken, die sich langsam und vorsätzlich bewegten, konzentriert und zielbewusst, nicht als ein Bach, der über Kieselsteine plätscherte, sondern als ein Fluss, der zwischen tiefen, klar definierten Ufern dahinströmte. Das Gefühl von Nähe, von Seelenverwandtschaft. Die Dunkelheit. Aus einiger Entfernung drang ein Geräusch an Mollys Ohren, das nicht an diesen Ort gehörte. Einen Moment lang konnte sie es nicht identifizieren; das Einzige, was sie aus dieser Entfernung auffangen konnte, war der Rhythmus. Dann aber fügten sich dieser Rhythmus, die Augen, die Stimme, die Gedanken und das Gefühl von geistiger Verwandtschaft zusammen, und eine Gänsehaut überzog Mollys ganzen Körper, bevor sie sich heftig übergeben musste. Auf Hände und Knie gestützt, erbrach sie sich in das hohe Gras, bis ihre Muskeln schmerzten. Was sie gehört hatte, war ein Rrön gewesen, der davongeflogen war. Der Mann, mit dem sie durch die Ruinen gegangen war, war überhaupt kein Mann gewesen, sondern ein Rrön in der Maske eines Veyär. Und das Gefühl des Wiedererkennens - das hatte einen einfachen Grund: der Rrön war Baanraak gewesen, der sie bereits mehr als einmal getötet hatte. Der die Absicht hatte, sie wieder und wieder zu töten, während er sie in Besitz nahm und sie zu einem Monstrum machte, wie er selbst eins war. Sie war mit ihm spazieren gegangen. Sie hatte ihn berührt. Sie hatte es zugelassen, ihn zu mögen, und sie hatte sich so sehr von seiner Gestalt und den Gedanken an der Oberfläche seines Bewusstseins einlullen lassen, dass sie tatsächlich den Vorsatz gehabt hatte, an diesen Ort zurückzukehren, um sich abermals mit ihm zu treffen. Um abermals mit ihm durch die Ruinenstadt zu gehen. Um festzustellen, ob sie beide vielleicht Freunde werden konnten, falls eine Kreatur wie sie denn Freunde haben konnte. Er 71 hätte sie zu jeder Zeit töten können, aber stattdessen hatte er ihre Begegnung benutzt, um ... um was zu tun? Um Informationen zu sammeln? Um eine andere Methode zu ersinnen, mit der er sie gefügig machen wollte? Um sich damit zu vergnügen, ihre Abwehrmechanismen zu überlisten? Es spielte keine Rolle. Er hatte ihr bewiesen, dass er an sie herankommen konnte, dass er ihre Abwehr zu durchdringen und sie in falscher Sicherheit zu wiegen vermochte. Wenn er es einmal tun konnte, konnte er es wieder tun. Und beim nächsten Mal war sie vielleicht mit Lauren und Jake zusammen. Das nächste Mal konnte sie alles kosten, was ihr teuer war. Sie musste ihn vernichten - sie musste ihn jagen, ihn töten, seine Auferstehungsringe finden und dafür sorgen, dass sie seiner Existenz nicht nur einmal ein Ende machte, sondern für immer.
Baanraak musste sterben. Cat Creek, North Carolina Jake, der immer noch in seinem Wägelchen in der Küche lag, richtete sich auf und schob den dunkelblauen Sonnenschutz beiseite. Dann rieb er sich die Augen und fragte: »Mama, soll ich jetzt aufstehen?« Lauren beugte sich über ihn und strich ihm über die Stirn. »Noch nicht, Schätzchen. Wir werden leiser sprechen. Seht. Dreh dich um und schlaf weiter.« Er nickte sorglos, kuschelte sich in seinen Schlafsack und schlief wieder ein. »Vielleicht sollten wir wirklich etwas leiser reden«, meinte Lauren, während sie ihn beobachtete. Er war noch immer pummelig und vertrauensvoll, aber nicht mehr das 72 Baby, das er einmal gewesen war, und er sah seinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher. »Wir könnten die Lampen ausmachen und eine Kerze anzünden«, schlug Pete vor. Heyr saß ein kleines Stück vom Tisch entfernt und arbeitete sich durch die zweite Flasche von Petes geschmuggeltem, kostbarem Wychwood-Bier - diesmal war es ein Hobgoblin-Starkbier, obwohl Lauren bei ihrem letzten Besuch einen Kasten Hareraiser bei ihm gesehen hatte. Ihr entging nicht, dass Pete jeden einzelnen Schluck des Fremden zählte. »Es ist ja schön und gut, dass du behauptest, ein Wächter aus einer anderen Stadt zu sein, Heyr«, bemerkte Lauren nun, »aber wenn das so ist, warum hat man uns dann nicht von deinem Besuch verständigt? Und was hast du angestellt, das sämtliche Tore in der Stadt lahm gelegt hat?« »Und warum«, ergänzte Pete, »interessieren sich die Wächter von West Sweden für die Angelegenheiten der Wächter von Cat Creek?« »Ich komme aus Siren«, sagte Heyr. Er nahm einen langen Schluck von seinem zweiten Bier und leerte es bis auf den letzten Tropfen. »Schönes Gesöff«, bemerkte er. »Und ziemlich stark. Gibt's noch mehr davon?« »Nein«, antwortete Pete, obwohl Lauren wusste, dass das nicht die Wahrheit war. »Ah, hm. Jedenfalls um Längen besser als die hiesige Pferdepisse.« Heyr beugte sich vor. Er wirkte zu groß für den Raum - zu groß für das Haus und überhaupt für alles, das Wände hatte. Sein Haar war so rot, dass Lauren angenommen hätte, es sei gefärbt, nur dass er nicht der Typ für dergleichen Eitelkeiten zu sein schien. Er trug seinen Bart säuberlich gestutzt, seine Haut war sonnengebräunt, und seine Augen waren von jenem Oktoberhimmelblau, das man normalerweise nur bei getönten Kontaktlinsen fand. 73 Aber er schien ihr auch nicht der Typ für Kontaktlinsen zu sein. Das schwarze T-Shirt spannte sich über Muskeln, die einfach ... verdammt. Sie waren einfach nur schön. Er trug keine engen Kleider, um diesen Körper zur Schau zu stellen. Er trug lockere, praktische Arbeitskleidung, und in der Schlaufe an seinem Werkzeuggürtel hing noch immer sein Hammer, und unter dem Gürtel steckte ein Paar abgegriffener Arbeitshandschuhe. Und obwohl er ein wenig schmuddelig war und ein wenig verschwitzt, war er dennoch so abscheulich attraktiv, dass Lauren immer wieder ein wohliger Schauder überlief. »Ich bin nur deshalb hergekommen«, erklärte er jetzt, »weil wir einen Zustrom frischer Magie aufgefangen haben. Gesunde Magie - ein Zustrom aus den Welten unterhalb der Erde. Ihr wisst, dass es keine frische Magie mehr auf unserer Welt gegeben hat, seit Kerras gefallen ist und die Nachtwache sich mit Macht auf ihre Operation hier bei uns konzentriert.« Lauren nickte nervös. Die Tatsache, dass Wächter aus anderen Orten die Magie bereits aufgefangen hatten, konnte zu einem Problem für sie werden. Die Tatsache, dass einer von ihnen diese Magie bis zu ihr zurückverfolgt hatte, war ganz eindeutig ein Problem; das bedeutete, dass sie und Molly ihre Spuren nicht annähernd so gut verwischt hatten wie angenommen. Aber das waren nicht die einzigen Sorgen, mit denen sie sich in diesem Augenblick auseinander setzen musste. Heyrs Gegenwart ließ ihre Nerven hilflos vibrieren, und das Gefühl wurde stärker, je länger sie beide im selben Raum waren. Er war wie ... verdammt, ihr fiel kein guter menschlicher Vergleich ein. Aber wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich wie eine Katze vor einem Schüsselchen mit Katzenminze, und das war nicht gut. Außerdem ergab es keinen Sinn. 74 Sie räusperte sich und konzentrierte sich auf ihr schwerwiegendstes Problem. »Die Verlagerung der Lebensmagie aus einer Welt unterhalb der Erde ist nicht direkt ein offizielles Projekt«, bemerkte sie. Heyr sah ihr direkt in die Augen und sagte: »Das habe ich auch nicht angenommen. Die Wächter neigen dazu, nur sehr langsam zu reagieren, wenn sich neue Möglichkeiten auf tun. Sie analysieren dann gern zuerst einmal das Risiko. Und sie haben die Angewohnheit, einander hilfreiche Lösungen auszureden.« Pete lachte, und einen Augenblick lang konnte Lauren erkennen, dass er Heyr trotz seines ursprünglich gefassten Vorsatzes mochte. Heyr kicherte, und im selben Moment grollte ganz in der Nähe ein Donnerschlag. Der Zufall dieses Zusammentreffens beunruhigte Lauren ein wenig. »Also ... wie inoffiziell ist deine Beteiligung an dieser ... Initiative?«, fragte er. »Wir sind die Initiative«, sagte Lauren und machte eine Handbewegung, mit der sie Pete einschloss. »Er, ich und meine Schwester, die offiziell tot ist und die sich zurzeit auf Oria aufhält.«
Heyr schien beeindruckt zu sein. »Ihr zwei müsst wirklich gut sein, wenn es euch gelungen ist, einen Tod so überzeugend vorzutäuschen, dass sogar Wächter darauf hereinfallen. Dieses Manöver ist mir schon früher begegnet, wenn Leute aus der Sache raus wollten. Die Wächter fallen im Allgemeinen nicht auf solche Tricks herein.« »Die Sache wurde wahrscheinlich dadurch erleichtert, dass Molly wirklich tot war, als man sie begrub«, sagte Pete. Heyr saß lange einfach nur reglos da, während sich im Raum ein unbehagliches Schweigen ausbreitete. Er sah zuerst Pete an, dann Lauren, dann wieder Pete, bis sein Blick schließlich auf Lauren ruhte. Sie konnte sehen, dass sich die roten Haare auf seinen muskulösen Unterarmen aufgestellt 75 hatten. »Meine Schwester war tot, als sie begraben wurde. Aber jetzt ist sie es nicht mehr.« Pete sagte: »Sie ist das, was die Veyär eine Vodi nennen. Halb menschlich, halb Veyär. Sie haben sie nach Oria entführt und ihr eine goldene Kette gegeben, und als sie getötet wurde, brachte diese Kette sie ins Leben zurück.« Heyr stand auf. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. »Nein, das ist nicht wahr«, stieß er hervor. »Bei allen Höllen, Mann, ihr habt geheim gehalten, dass ihr mit einer dieser Kreaturen in Verbindung steht?« Er wandte sich von ihnen ab, und Lauren war sich, mehr als ihr lieb war, des Spiels der Muskeln an seinem Rücken bewusst, der Art, wie er die Fäuste ballte und wieder öffnete. »Deine Schwester ist tot«, sagte er und wandte sich wieder zu Lauren um. »Dieses Ding, das so aussieht wie sie, ist ein seelenloses Ungeheuer. Ein tödliches Ungeheuer. Das Gold, das sie trägt, mag zwar genug von ihr bewahrt haben, um dir vorzugaukeln, dass du sie kennst. Aber du tust es nicht. Diese Kreaturen wenden sich gegen die Menschen, die ihnen vertrauen. Früher oder später wird alles, was du an ihr kennst, erlöschen, und du wirst in die Augen von jemandem blicken, den du liebst und der im Begriff steht, dich zu töten. Oder deinen kleinen Sohn. Oder ...«Er legte die Hände auf den Tisch und starrte auf sie und Pete hinab. »Du musst dieses Ding töten, und sobald du es getötet hast, musst du den goldenen Ring vernichten, der es wieder zurückbringen könnte. Die Veyär ... Odins Auge möge auf ihnen allen ruhen, dass sie ihren Wahnsinn erkennen, bevor es zu spät ist. Sie haben schon immer gern mit Spielzeugen herumhantiert, die sie besser hätten vernichten sollen.« Er richtete sich wieder auf und dachte nach. »Ich werde euch helfen, sie zu töten«, erklärte er. »Nein, das wirst du nicht.« Jetzt erhob sich auch Lauren. »Ich weiß, was Molly ist, und so wie sie jetzt ist, vertraue 76 ich ihr nicht. Ich beobachte sie ständig, aber ich weiß aus der besten Quelle, dass sie eine Chance hat, eine Seele für ihren neuen Körper zu erschaffen. Dass sie eine Chance hat, wichtig zu sein und sich auf die Seite des Guten zu stellen. Sie kämpft mit mir zusammen darum, das Leben auf die Erde zurückzubringen. Ich bringe das Leben in die Welten zurück, und sie macht Jagd auf die Nachtwache, um sie zu vernichten.« »Sie ist die Nachtwache«, stieß Heyr hervor, und in dem kleinen Wagen neben Lauren regte sich Jake. Heyr bemerkte die Bewegung des Jungen und senkte die Stimme. »Sie weiß es nur noch nicht.« Lauren warf ihm einen harten, kalten Blick zu und sagte: »Mir ist klar, dass das alles ein schlimmes Ende nehmen könnte. Ich weiß aber auch, dass es gut ausgehen kann.« »Das weißt du, ja? Wer war deine >beste Quelle Irgendein übereifriger Veyär, der dir erzählt hat, toten Kreaturen könnten manchmal Seelen wachsen?« Lauren sah ihn wortlos an. Heyr spürte etwas von ihrem Vertrauen - von ihrer Gewissheit - und hielt inne. »Die beste Autorität. Das Oberhaupt der Wächter?« Sie sagte noch immer nichts. »Irgendein alter Gott, der seine Nase in alles Mögliche hineinsteckt und mit dem Gedanken spielt, die Metallmagie selbst einmal auszuprobieren, trotz all der Jahre schlimmer Erfahrungen mit dieser Art von Unsterblichkeit?« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Autorität, die über den alten Göttern steht. Es sei denn, du sprichst von dem, der den Baum geschaffen hat, aber der gibt keine direkten Antworten.« »Das tut er durchaus, wenn man zu ihm geht«, erwiderte Lauren. »Du müsstest über den Gjoll reisen - den Fluss der See77 len -, um zu ihm zu kommen. Und wenn du erst einmal dort bist, kannst du diesen Ort nie mehr verlassen. Nicht einmal die Götter verlassen den Hi... diesen Ort.« »Da könntest du vielleicht eine Überraschung erleben.« Heyr verdaute diese Andeutung mit einem langen Schweigen, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von Lauren abzuwenden. »Ich bin überrascht... andererseits, wenn ich mir dich so ansehe ... dann bin ich wohl weniger überrascht, als ich es erwartet hätte.« Wieder verfiel er in Schweigen, betrachtete sie nachdenklich und stand, die Daumen in seinen Arbeitsgürtel gehängt, sekundenlang stumm vor ihr. »Ich möchte, dass du eins begreifst: Molly kämpft für uns. Die Nachtwache hat heute weniger Mitglieder als
gestern, weil sie auf unserer Seite steht. Ohne sie kann ich nicht tun, was ich tun muss.« »Wenn du sagst, sie sei deinesgleichen, dann ist sie deinesgleichen. Trotzdem, wenn du mit einer der toten Kreaturen zusammen bist, wird die Nachtwache sie benutzen, um dich im Auge zu behalten. Du wirst praktisch ein offenes Buch für sie sein. Ich habe etwas in meinem Truck, das dir helfen kann.« Er drehte sich um und verließ die Küche, und Lauren und Pete schwiegen, bis sie hörten, wie die Haustür geöffnet und dann leise wieder geschlossen wurde. Kaum war die Tür zugefallen, sprang Pete plötzlich auf. »Eric muss von diesem Burschen erfahren«, erklärte er. »Ich werde ihm sagen, dass er gleich morgen eine Versammlung einberufen soll. Heute. Ich hasse es, bis spät in die Nacht auf zu sein - ich vergesse ständig, welchen Tag wir haben. Außerdem glaube ich keine Sekunde lang, dass er im Auftrag von irgendwelchen Wächtern hier ist.« »Du glaubst, er ... arbeitet unabhängig? Wie wir?« »Das dürfte noch das Mindeste sein«, antwortete Pete. 78 Die Haustür wurde wieder geöffnet, und Lauren griff nach dem Dolch an ihrer Taille. Es konnte Heyr sein, der zurückkam, oder irgendetwas, das Heyr draußen bei seinem Wagen überrascht hatte. Lauren zog es vor, das Schlimmste anzunehmen. »Ich bin's nur«, rief Heyr. Im nächsten Augenblick stand er wieder im Raum und füllte den ganzen Türrahmen aus. »Nimm das hier«, sagte er und gab Lauren ein großes Messer, das in einer Scheide steckte. »Ich habe schon eins«, erwiderte sie, ohne die Klinge entgegenzunehmen. Stattdessen klopfte sie auf den Knauf des Veyär-Dolchs. »Nein, hast du nicht. Jedenfalls kein Messer wie dieses. Das hier wurde auf einer der oberen Welten geschmiedet.« Lauren, die immer noch nicht geneigt war, ein Geschenk von diesem beunruhigenden Mann entgegenzunehmen, schüttelte den Kopf. »Ich werde die Waffe behalten, die ich habe.« Heyr seufzte. »Du hast doch die Geschichten von alten Helden gehört und von ihren magischen Schwertern und magischen Bechern und Flaschen, die sich von selbst wieder füllen, nicht wahr?« »Natürlich.« »Die Geschichten entsprechen größtenteils der Wahrheit.« Er schüttelte den Kopf, und einen Moment lang schienen diese grimmigen, blauen Augen auf etwas zu blicken, das sehr weit entfernt war. Auf eine andere Zeit, einen anderen Ort. »Die Waffen, die einen Namen tragen, sind fast alle von der Erde verschwunden und in die unteren Welten geschafft worden, wo die Helden, die sich ihrer bedienen, etwas Gutes damit auszurichten hoffen. Aber es gibt noch andere Waffen, Waffen ohne Namen ...« »So ähnlich wie nicht registrierte Pistolen«, bemerkte Pete, und Heyr sah ihn stirnrunzelnd an. 79 »Eine gewisse Parallele mag da bestehen, denke ich. Waffen, deren Vergangenheit nicht ruhmreich genug war, um ihnen einen Namen und einen Stammbaum einzutragen, oder Waffen, deren Vergangenheit sich in den Tiefen der Zeit verloren hat. Oder, wie diese Klinge, Waffen, die klein und unauffällig sind und nicht dazu bestimmt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Diese Klinge wurde auf dieser Welt von einem der alten Götter geschaffen.« »Wenn du mir erzählen willst, dass sie bläulich schimmert, wenn Ungeheuer in der Nähe sind, dann werde ich, Gott stehe mir bei, das Schüreisen vom Kamin holen und dir damit den Kopf einschlagen«, antwortete Lauren. »Kein Schimmer. Kein Gesang. Nichts so ... Protziges. Diese Klinge wird deine Hand auf die Gefahr lenken, selbst in der Dunkelheit, selbst wenn du nicht hinschaust. Und wenn du diese Klinge schwingst, wird sie deinen Hieben Kraft verleihen.« »Warum benutzt du sie dann nicht?« »Ich habe andere Werkzeuge und Waffen. Ich ... habe diese Klinge ... gefunden und sie seither bei mir getragen. Sie ist nicht an mich gebunden; sie hat keinen Besitzer, und im Augenblick gibt es niemanden, dem sie zur Treue verpflichtet wäre. Aber ich wusste, dass ich eines Tages Verwendung finden würde für eine solche besitzerlose Waffe, und dies ist offensichtlich die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe.« »Ich fahre einen zwölf Jahre alten Dodge Caravan«, erklärte Lauren, dann nahm sie das Messer entgegen und zog es aus der Scheide. Es war ein hübsches Ding - mit einem versilberten, gut in der Hand liegenden Griff, einer zweischneidigen Klinge und einem kräftigen Handschutz. In ihrer Hand fühlte es sich ... ja, es fühlte sich genau richtig an. Als sei es gerade für sie geschaffen worden. »Ich bin eine Witwe mit einem dreijährigen Kind.« Sie wog die Waffe in 80 der Hand und zeichnete damit einen Bogen in die Luft. »Ich sollte keine magische Klinge besitzen.« »Du versteckst dich hinter dem gewöhnlichen Alltäglichen«, versetzte Heyr, und seine Stimme hatte plötzlich einen seltsam vertraulichen Klang, »aber du selbst bist niemals gewöhnlich gewesen.« Sie sah in seine Augen. Ihr Herz raste, ihr Mund wurde trocken, und in ihrem Bauch krampfte sich etwas schmerzhaft zusammen. Heilige Hölle, wie machte er das? Heyr erwiderte ihren Blick, und die Welt verwandelte sich in einen Tunnel zwischen ihm und ihr, einen Tunnel, außerhalb dessen es nichts gab. »Du bindest die Waffe an dich, indem du ihr einen Namen gibst und sie dein
Blut schmecken lässt«, erklärte Heyr. Pete, der zwischen dem Messer und Lauren und Heyr hin und her blickte, sagte: »Das klingt nach einem ziemlich hässlichen kleinen Ritual.« Heyr schüttelte den Kopf, und Lauren dankte allen Göttern dafür, dass er den Blick von ihr abwandte, denn sie war sich nicht sicher, ob sie selbst sich von ihm hätte lösen können. »Es ist ein ... ein Akt der Höflichkeit«, sagte Heyr zu Pete. »Und eine Geste, mit der die beiden sich einander vorstellen. Das hier ist nicht nur ein Dolch.« Er wandte sich wieder zu Lauren um. »Du darfst es nicht vergessen. Gib ihm einen einzigartigen Namen. Etwas Kurzes, etwas Starkes und Gutes, an das du dich erinnern wirst, wenn es einmal hart auf hart kommt, wenn du einen Freund brauchst. Du wirst die Waffe schon bald sehr gut kennen lernen, aber beim ersten Mal ... nun ja, beim ersten Mal wird es dein Ziel sein, bis zum zweiten Mal zu überleben.« Lauren nickte. Ob aus Neugier oder einem inneren Zwang gehorchend - eine Frage, die sie niemals würde beantworten können -, berührte sie die Klinge mit der Spitze eines Fingers. Es war eine denkbar zarte Berührung, aber 81 dennoch zeichnete sich ein dünner Schnitt auf ihrer Haut ab, und für einen Augenblick befleckte ihr Blut die Spitze der Klinge. Dann war das Blut verschwunden und der Schnitt an ihrem Finger verheilt. Heyr nickte. »Jetzt kennt sie dich. Sie wird dich nie wieder schneiden. Man kann sie nicht gegen dich verwenden, und selbst in der Hand eines Feindes wird sie zu deinem Schutz kämpfen und zum Schutz jener, die du bewusst behütest. Solange bis du stirbst oder sie zerstörst, wird sie dir gehören.« Lauren konnte spüren, dass Heyr die Wahrheit sagte. In ihrem Blut und ihren Knochen konnte sie die Gegenwart der Klinge spüren, als sei sie ein Krieger, der an ihrer Seite stand und sie bewachte. Sie dachte an die Helden aus Kinofilmen und Büchern und versuchte, einen Namen zu ersinnen, der dem Heldengeist, den sie in ihrer Hand wahrnahm, würdig gewesen wäre. Aber nichts schien dieser Waffe gerecht zu werden. »Der Name wird dich finden«, sagte Heyr. Er blickte aus dem Fenster. »Er wird dich finden, wie die Morgendämmerung es tut und genauso schnell. Und ich denke, du wirst heute Nacht besser schlafen.« Cat Creek In der einen Sekunde schlief Lauren tief und fest, dicht an Jakes kleinen Rücken geschmiegt, in der nächsten stand sie barfuss auf dem Holzfußboden, ein Messer in der Hand und erfüllt von der absoluten Gewissheit, dass sich irgendetwas auf sie zubewegte, das hier nichts zu suchen hatte. Die Nachtwache, wisperte eine Art zweiter Stimme in ihrem Kopf. Er wird gleich durch deine Tür treten. Woher wusste sie das? Warum war sie aufgewacht? Un82 ter einer äußeren Schicht der Wachsamkeit und der Wildheit war sie noch immer eine benommene Frau mit müden Augen, die - sie warf einen Blick auf ihre Uhr - gerade einmal fünfundvierzig Minuten lang geschlafen hatte. Sie hätte um ein Haar einen lauten Fluch ausgestoßen, aber der Selbsterhaltungstrieb und der Kriegerinstinkt, der sich über ihr Wesen gestülpt zu haben schien, trieben sie stattdessen zur Tür hinüber. Wie auf ein geheimes Stichwort hin stahl sich etwas in ihr Schlafzimmer hinein. Dieses Etwas trug ein grimmig gewölbtes Messer und bewegte sich vollkommen lautlos. Der Jäger verströmte einen reptilienhaften Gestank, der im Bruchteil einer Sekunde Laurens Gehirn durchdrang. Das Ding wollte sie töten. Sie und Jake. Die Reflexe mochten von dem Messer geschärft sein, aber der Zorn war ganz allein ihrer. Lauren holte aus, trieb das Messer in die Kehle der Kreatur und spürte, wie die Klinge sich in Knochen bohrte, während gleichzeitig ein Ruck durch ihre Hand und ihren Arm ging, durch ihre Schulter und ihr Rückgrat, bis in ihr Steißbein hinunter. Sie riss das Messer aus dem Körper des Eindringlings und parierte, während ihr heißes Blut über die Hände schoss, den Angriff ihres Gegners. Ihre Klinge durchschnitt die Sehnen an seinem Handgelenk, und er ließ seine Waffe fallen. Dann stieß er ein unheimliches Gurgeln aus, das leise war und zugleich entsetzlich. Der Bauch, dachte sie und trieb das Messer, dessen Griff sie jetzt mit beiden Händen umfasste, tief in das weiche Fleisch hinein. Ein schwere, heiße Flüssigkeit ergoss sich über ihre Hände, und ein unerträglicher Gestank erfüllte den Raum. Lauren sprang zurück; ihre Haut brannte, und das Ding, das sie angegriffen hatte, stürzte zu Boden. Seine Krallen trafen sie an der linken Schulter und rissen ihr die Haut auf. Der 83 Schmerz war betäubend, und in ihrem Hinterkopf hallten die Worte vergiftete Klauen wider. Vergiftete Klauen. Sie wusste nicht, ob ihr Angreifer tot war, aber sie wusste, dass sie keine Zeit hatte, abzuwarten und es herauszufinden. Sie riss Jake aus dem Bett und schleifte ihn, obwohl er gegen die Störung und den Gestank protestierte, in das Badezimmer weiter unten im Korridor. Sie machte kein Licht - setzte nur schnell Jake auf die Toilette und sprang komplett bekleidet, das Messer noch in der Hand und ohne den Duschvorhang zuzuziehen, unter die Dusche. Dann drehte sie das Wasser voll auf, und seine Kälte schmerzte sie bis in die Zähne. »... Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße ...« Plötzlich wurde Lauren klar, dass das monotone Fluchen aus ihrem eigenen Mund kam. Der furchtbare Schmerz
in ihrem linken Arm ließ langsam nach. Das Wasser wusch die Wunde aus und schwemmte Blut und Eingeweide, Verdauungssäfte und Exkremente und andere Dinge, von denen sie gar nicht wissen wollte, was sie waren, von ihren Kleidern, ihrem Gesicht und ihrem Haar. »Mama, ich will weiterschlafen.« »Gleich, Jake.« »Du stehst mit Kleidern unter der Dusche.« »Ich weiß.« »Du bist dumm.« »Ich weiß, Jake.« »Ich muss aufs Töpfchen.« »In Ordnung. Dein Töpfchen steht gleich da drüben. Die Hose kannst du dir selber runterziehen. Aber mach schnell, ja?« »Okay«, sagte er. Meistens war sie sehr dankbar dafür, dass er endlich gelernt hatte, aufs Töpfchen zu gehen. Sie brauchte sich nicht 84 mehr mit Windeln herumzuschlagen, was angenehm war. Aber Windeln hatten einen Vorteil - wenn die Dinge außer Kontrolle gerieten und man sich beeilen musste, brauchte man niemals innezuhalten, weil ein Kind aufs Töpfchen wollte. Man konnte tun, was man tun musste, das Kind konnte tun, was es tun musste, und zu einer Zeit, die für beide Beteiligten günstig war, konnte man das Ganze wieder sauber machen. Der Schmerz war aus ihrem linken Arm gewichen und der Gestank von ihrem Körper. Sie musste sich um die Leiche in ihrem Schlafzimmer kümmern, dachte sie und versuchte, mit der linken Hand das Wasser abzustellen, weil sie mit der rechten noch immer das Messer umklammert hielt. Und das war der Punkt, an dem ihr klar wurde, dass ihr linker Arm ihr nicht mehr gehorchte. Überhaupt nicht mehr. Dass die linke Seite ihres Körpers langsam taub wurde. Das war der Augenblick, in dem Jake sagte: »Ich bin fertig. Ich hab schnell gemacht« und sie zu antworten versuchte und die Worte verzerrt und schwerfällig klangen, weil nur die eine Hälfte ihrer Zunge auf ihr Gehirn reagierte. Mit ihrem gesunden Arm, das Messer noch immer in der Hand, packte Lauren Jake. Sie hielt die Klinge von ihm weg - aber sie hoffte inständig, dass Heyr wusste, wovon er gesprochen hatte, als er sagte, das Messer würde weder ihr Schaden zufügen noch jemandem, der unter ihrem Schutz stand. Sie kümmerte sich nicht darum, dass Jakes Pyjama und seine Spiderman-Unterhose ihm noch immer um die Knöchel baumelten und er aus Leibeskräften schrie. Sie gestattete sich nicht zu denken. Sie rannte auf die Treppe zu, dankbar dafür, dass ihre Beine ihr noch gehorchten. Dann, als sie bereits auf halbem Weg nach unten war, spürte sie, dass das linke Bein langsam taub wurde, und der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, war: Mein Herz befindet sich ebenfalls auf der linken Seite meines Körpers. 85 Das Gift breitete sich immer schneller aus. Wenn es ihr Atmungszentrum oder das Nervensystem erreichte, das ihr Herz versorgte, war sie am Ende. Ihr Tor stand bereit - sie sollte in der Lage sein, es mit einem einzigen Gedanken zu öffnen und nach Oria zu gehen, in das alte Haus ihrer Eltern. Sie sollte. Aber während sie die letzten paar Treppen hinunterstolperte und sich humpelnd auf die Diele und den Spiegel zubewegte, gab ihr linkes Bein endgültig unter ihr nach, und ihr wurde klar, dass es durchaus möglich war, dass sie es nicht schaffen würde. Sie verlor das Gleichgewicht und konnte den Sturz nicht verhindern. Nur wenige Schritte von dem Spiegel entfernt fiel sie zu Boden und begrub Jake unter sich. Jake kreischte, dann rannte er zu dem riesigen alten Spiegel hinüber und legte die Fingerspitzen auf das Glas. Binnen einer Sekunde hatte er das Tor geöffnet, an dessen anderem Ende das Cottage in Oria wartete. Er packte Lauren und versuchte, sie zu dem Tor hinüberzuziehen, aber die Stärke seines dreijährigen Körpers und seine Furcht konnten den Größenunterschied zwischen ihnen beiden nicht überwinden. Aber wenn sie mithelfen könnte ... Sie tat es. Sie bewegte ihren gesunden Arm, ihr gesundes Bein und ließ sich mit letzter Kraft in das Tor fallen. Jake hielt sie umklammert, einen grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht, und schleppte sie weiter. Das grüne Feuer hüllte sie ein und verschlang ihn, und während der Augenblicke, in denen sie sich zwischen Nichts und Überall befand, schwebend in der Unendlichkeit, durchflutete sie ein tiefer Friede, und mit ihm kamen das Bewusstsein ihrer eigenen Seele und das tröstliche Gefühl, dem Unendlichen nahe zu sein. Sie hatte keinen Körper, keine Schmerzen, keine Grenzen. Sie war, zumindest für diesen Augenblick, unendlich und unsterblich, und alles war gut. 86 Dann fiel sie auf der anderen Seite aus dem Tor in das erste helle Licht der Morgendämmerung, hinein in Hitze und Feuchtigkeit und das Geräusch von Regen, der aufs Dach prasselte, und sie dachte: Ich muss mich heilen. Und dann verschlang sie die Dunkelheit. 5 Natta Cottage, Ballahara, Nuue, Oria
Jake beugte sich über sie und piekste ihr mit einem Finger ins Gesicht. »Wach jetzt auf«, sagte er. »Wach auf.« Und er lächelte sie an, dieses Kleinkindlächeln, das von Glück ohne Schatten sprach und das Lauren so sehr liebte. Ich bin nicht tot, dachte sie. Sie richtete sich auf, überrascht darüber, dass sie dazu in der Lage war. Ihre Kleider waren noch immer vollkommen durchnässt, sie konnte also nicht lange bewusstlos gewesen sein. Sie bewegte die linke Hand. Ohne Probleme. Wackelte mit dem linken Fuß. Auch er gehorchte ihr. Ihr Herz schlug immer noch, und ihre Lungen füllten sich mühelos mit Luft. »Was ist passiert?«, fragte sie Jake. »Ich habe dich wieder heile gemacht«, antwortete er. »Ich habe deinen Arm heil gemacht, und jetzt bist du wieder ganz gesund.« Jake und Magie und Oria. Diese Vorstellung jagte ihr Todesängste ein, aber sie musste anerkennen, dass sie diesmal gestorben und Jake zum Waisen geworden wäre, wenn er nicht begriffen hätte, was er tun musste. Lauren schlang die Arme um ihn und zog ihn fest an sich. »Danke«, sagte sie. Dann blinzelte sie gegen die Tränen an und versuchte, den Kloß in ihrer Kehle herunterzuschlucken. »Ich habe dich lieb.« Er hatte die Arme um sie gelegt und seine weiche Wange an ihren Hals gedrückt. »Ich hab dich auch lieb«, erwiderte er. Sie brachte sie beide nach Hause zurück. Hielt Jake mit 88 der einen Hand umklammert und das Messer mit der anderen, während sie wieder durch das Tor und in ihr eigenes Haus hineintrat, in das erste schwache Licht des irdischen Morgens. Das Haus roch grauenhaft. »Igitt!« Jake zog sich den Kragen seines Pyjamaoberteils übers Gesicht und sagte: »Gasmaskenalarm.« Dieser Ausdruck stammte aus einem törichten kleinen Spiel, das sie zusammen spielten: Wenn sie den Müll hinausbrachten, seine Windeln entsorgten oder es mit anderen üblen Gerüchen zu tun hatten, zogen sie sich immer den Kragen übers Gesicht. In diesem Falle musste sie Jake Recht geben. »Gasmaskenalarm«, wiederholte sie und ging mit ihm zusammen zum Küchentelefon. Sie rief Pete an, dessen Stimme noch schlimmer klang, als sie sich fühlte. »Ich habe ein totes oder wenigstens größtenteils totes Ungeheuer in meinem Haus«, erklärte sie. »Jemanden von der Nachtwache. Er hätte mich um ein Haar umgebracht. Ich brauche eine Putzkolonne und etwas Hilfe.« »Die Kreatur war nicht menschlich?« »Nicht mal annähernd. Dieses Messer hat sich übrigens als recht praktisch erwiesen - ohne das Ding wäre ich tot. Wäre es beinahe trotzdem gewesen.« »Ich bin sofort bei dir.« »Bring unsere Freunde mit«, sagte sie. Binnen fünf Minuten war das Haus voller Wächter. Sie alle betrachteten das tote Ding auf ihrem Schlafzimmerfußboden und gestanden, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatten, worum es sich dabei handelte. Lauren machte sie auf den goldenen Ring aufmerksam, der im Nacken des Ungeheuers steckte, und sagte: »Wir sollten den Leichnam verbrennen, alles Gold, das wir finden können, einsammeln und es zu Pulver zerstampfen.« »Und das Pulver anschließend in den Fluss streuen«, ergänzte June Bug. 89 Lauren nickte. Dann hörte sie schwere Schritte im Korridor, blickte auf und sah Heyr vor sich. Und wartete auf das Feuerwerk. »Das ist ein Beithan«, erklärte er. »Aus einer Welt, weit, weit über dieser.« Eric MacAvery drehte sich um und sah den Fremden an. Das Erschrecken, das ihn erfasst hatte, malte sich deutlich erkennbar auf seinem Gesicht ab. »Wer zum Teufel sind Sie?« Heyr streckte die Hand aus. »Heyr Thorrson. Von den Wächtern in West Sweden, oben in Wisconsin. Ich habe diesen Burschen und ein ganzes Nest von seinesgleichen aufgespürt; wir konnten sie aus unserem Gebiet verjagen, aber sie gehören zur Nachtwache und beschäftigen sich mit allen Problemen, die die Nachtwache gerade hat. Bisher hatte es den Anschein, als machten sie Jagd auf Torweber.« »Das klingt einleuchtend«, bemerkte June Bug Täte. Sie paffte eine Zigarre, was Lauren in diesem Falle nicht einmal störte, weil der Rauch den Gestank der Innereien des toten Ungeheuers überlagerte. Außerdem stellte sie fest, dass die alte Frau Darlene anfunkelte, der der Gestank nach Leichen und Unrat nichts auszumachen schien, obwohl sie es augenscheinlich missbilligte, wenn jemand in ihrer Gegenwart rauchte. »Ich würde das Ding gern fragen, warum es hier und jetzt auftaucht, aber Lauren hat ja gründlich dafür gesorgt, dass wir keine Antworten mehr auf unsere Fragen bekommen können.« June Bug sah Lauren mit einem leisen Grinsen an. »Hübsche Arbeit«, sagte sie. »Du hast Glück, dass er dich nicht umgebracht hat.« »Mehr Glück, als du ahnen kannst.« Lauren berichtete den anderen in groben Zügen von den vergifteten Klauen der Kreatur, von ihrer überstürzten Flucht nach Oria und von Jake, der sie durch das Tor geschafft und sie geheilt hatte. 90 Als sie fertig war, stand blankes Entsetzen auf allen Gesichtern, vor allem aber auf dem von Pete. Er zog sie fest
an sich und ließ sie dann schnell wieder los. »Du bist immer noch ganz nass.« »Ich hatte keine Zeit, mich umzuziehen. Oder zu schlafen. Oder sonst irgendetwas zu tun. Wir sind zurückgekehrt, ich habe dich angerufen, ihr seid alle sofort gekommen, und da sind wir nun.« Eric und Pete rollten den Leichnam in eine schwarze Plane, und während die beiden das Ding zusammen mit Heyr und Terry »Mayhem« Mayhew über die Hintertreppe hinunter in die Küche bugsierten, machten sich Darlene, Louisa Täte und Betty Kay daran, den Fußboden zu schrubben. George Mercer besah sich die Flecken, die sich mit nichts entfernen ließen. »Um diese Blutflecken loszuwerden, wirst du alles sandstrahlen müssen«, erklärte er. »Das Holz hat eine Menge davon aufgesogen.« Er sah sich im Haus um. »Und du solltest sämtliche Fußböden mit einem guten Lack streichen«, fügte er hinzu. »Du willst so eine Schweinerei doch sicher nicht noch mal erleben.« Und das, dachte Lauren, war das Furchtbarste an der ganzen Angelegenheit. Er hatte wahrscheinlich Recht. Sie brauchte besseren Lack auf ihren Fußböden, weil sie in Zukunft noch mehr Blut und Eingeweide würden abweisen müssen. Einen flüchtigen Augenblick lang erheiterte sie sich mit der Vorstellung, in Pates Baumarkt zu spazieren und sich zu erkundigen, welchen Lack man ihr dort empfehlen konnte, um ihre Fußböden gegen Flecken zu schützen, wie sie die Gedärme von Ungeheuern zu hinterlassen pflegten. Dieses Gedankenspiel wäre natürlich noch witziger gewesen, wäre die Situation, die es hervorgebracht hatte, nicht real gewesen. Lauren war übel. Sie fragte sich, ob sie ernsthaft einen Umzug ins Kupferhaus auf Oria erwägen sollte - oder an ir91 gendeinen anderen Ort, der noch weiter von zu Hause entfernt war. Magie war es, was zählte. Wenn die Kreatur, die sie angegriffen hatte, Magie benutzt hätte statt Verstohlenheit, hätte sie sich nicht verteidigen können. Es war ein Vorteil für sie, dass auf der Erde nicht mehr viel Magie zurückgeblieben war - aber genau das zu ändern war die Mission, an der sie und Molly arbeiteten. Sie holten die Magie zurück. Und je erfolgreicher sie waren, umso größer würde der Vorteil sein, den sie ihren Feinden damit verschafften. Im Blumenladen, Cat Creek »Ruhe, alle miteinander. Setzt euch und lasst uns darüber reden«, sagte Eric. Die Wächter von Cat Creek hatten sich in ihrem Raum im oberen Stockwerk des Blumenladens versammelt. Sie saßen auf ihren Klappstühlen; Mayhem versah in einer Ecke des Raumes den Tordienst. Er saß halb innerhalb des Tores und halb außerhalb und zwinkerte Betty Kay zu, wann immer sie in seine Richtung blickte, nur um sie erröten zu sehen. Eric hatte Heyr erlaubt, an der Versammlung teilzunehmen, was bei Pete auf heftigen Widerstand gestoßen war - aber Eric hatte ihn überstimmt. »Er ist derjenige, der weiß, was diese Kreaturen sind und wie es ihnen in Wisconsin gelungen ist, sie wieder loszuwerden.« Alle waren gekommen, bis auf Lauren, die sich mit der Feststellung entschuldigt hatte, dass sie vierundzwanzig Stunden lang keinen Schlaf bekommen hatte. Sie hatte den anderen versichert, dass es ihr gut gehe. Pete hatte jedoch den Verdacht, dass sie sich, kaum dass die Wächter fort waren, Jake gegriffen und sich mit ihm in den kleinen sicheren Raum zurückgezogen hatte, den sie im Innern vom Kupfer92 haus geschaffen hatte, aber diesen Verdacht würde er ganz gewiss für sich behalten. Eric lehnte an dem alten Arbeitstisch aus Eiche und sah die Wächter einen nach dem anderen an. »Die Dinge standen vorher schon schlimm, und es sieht so aus, als würde es noch schlimmer werden«, sagte er. »Einige von euch haben eine Andeutung gemacht, dass wir uns in der Endzeit befinden, und ich kann nicht behaupten, dass das eine falsche Einschätzung ist. Ich würde es gern tun, aber ich kann nicht. Und selbst wenn wir uns nicht in der Endzeit befinden, ist diese Zeit jedenfalls schlimm genug, um trotzdem unsere volle Aufmerksamkeit zu verlangen.« Er zuckte die Achseln. »Unserem Yankee-Kollegen da drüben zufolge stehen den Wächtern in Zukunft noch größere Probleme ins Haus, ganz gleich, wo sie sich befinden. Wir haben es mit Oberweltlern zu tun, die Jagd auf Torweber machen, mit alten Göttern, die die Erde verlassen, um in die Unterwelten weiterzuziehen. Und die Nachtwache sucht uns hier heim. Ich kann mich nicht auf eine einzige Gelegenheit besinnen, bei der dunkle Götter uns freiwillig in unseren Häusern, in unserer Stadt, dem Zentrum unseres Bollwerks angegriffen hätten. Ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, da sie das für notwendig hielten. Aber wir haben den Leichnam eines dunklen Gottes, der in den Kalkfässern im alten Tabaklager auf der Railroad Street kocht, und wenn sich das Fleisch vom Knochen gelöst hat, wird uns die abscheuliche Aufgabe zuteil werden, was immer wir an goldenem Schmuck bei ihm finden zu zerstören und die Magie, die von dem Gold herrührt, so zu bannen, dass der dunkle Gott nicht zurückkommen kann.« Er holte tief Luft und stand auf. »Vom einen Augenblick auf den anderen hat sich alles geändert. Wir haben versucht, unsere Stellung zu halten, aber sie ist nicht mehr haltbar. Und wir stehen in einem Krieg, den wir nicht ver93 lieren dürfen, denn wenn wir ihn verlieren, verliert die ganze Welt mit uns. Wir werden den Kampf auf dem Gebiet des Feindes austragen müssen.« Seine Stimme wurde leiser, und Pete entdeckte einen Ausdruck von Traurigkeit in den Augen seines alten Freundes, bei dem sich sein Herz zusammenzog. Eric sagte: »Und ich weiß nicht, wie wir das zuwege bringen sollen. Ich weiß nicht, wo er ist oder wo wir ihn suchen sollen oder was
wir mit ihm machen sollen, wenn wir ihn gefunden haben. Im Sezessionskrieg haben unsere Urgroßväter gegen einen Gegner gekämpft, der zahlenmäßig überlegen und besser ausgestattet war und über bessere finanzielle Mittel verfügte. Trotzdem hätten wir um ein Haar den Sieg davongetragen - weil wir für das gekämpft haben, woran wir glaubten. Wir kämpften um unsere Häuser und unser Land und unser Recht auf Selbstbestimmung. Unsere Anführer waren Männer von großer Integrität, Ehrenmänner, Männer, die Feuer im Leib hatten und Prinzipien im Herzen.« Eric starrte auf den Boden. »Der Süden weiß, wie es ist, einen Krieg von solcher Bedeutung zu verlieren. In unserem eigenen Land zu kämpfen, unsere eigenen Städte brennen und unsere eigenen Landsleute sterben zu sehen. Wir wissen, was es bedeutet, um Heim und Familie und Glauben zu kämpfen und am Ende zu verlieren. Und jetzt stehen wir einem Feind gegenüber, der größer ist als wir, der bessere Waffen hat und über Kräfte gebietet, über die wir nicht gebieten - und nicht gebieten können. Wir müssen trotzdem siegen. Wenn wir auch nur die geringste Chance haben wollen, brauchen wir Anführer - Männer von Integrität und Ehre, Männer, die Feuer im Leib haben und das Charisma von Göttern, Männer, denen die Tapferen bis in den Schlund der Hölle folgen werden. Denn in diesem Krieg könnte genau das der Ort sein, an den wir gehen müssen.« Er blickte zu den Wächtern auf, und die Traurigkeit 94 in seinen Augen brannte noch tiefer. »Ich weiß nicht, wo ich solche Männer finden kann.« »Ich werde später noch einmal mit dir reden«, sagte Heyr. »Aber vorerst solltest du einfach in einen Spiegel blicken.« »Ich bin kein Held. Ich bin ein Kleinstadtsheriff, dem mehr Macht gegeben wurde, als gut für ihn ist, und der gerade genug Verstand hat, um zu wissen, dass er davor Angst haben muss.« Heyr schüttelte den Kopf. »Helden werden gemacht, nicht geboren. Helden sind die Männer, die einen Augenblick erkennen, da sie und nur sie allein etwas ausrichten können, und die sich dazu entscheiden, genau das zu tun, obwohl ein solches Verhalten immer einen Preis hat. Ich kenne mich aus mit Helden. Sie gehören sozusagen zu meinem Repertoire. Und du hast alles, was es braucht, um Helden zu machen - und sie zu führen. Um der Erste unter ihnen zu sein.« »Ihr Jungs vergesst die Frauen«, bemerkte Betty Kay. June Bug Täte schüttelte den Kopf und beugte sich über Pete, um Betty Kay - in einem Flüsterton, den man noch in der hintersten Reihe in einem großen Theater hätte hören können - mitzuteilen: »Du bist noch jung genug, um zu glauben, das sei etwas, worüber man sich ärgern muss. Tu es nicht. Diese zwei gehören der alten Schule an, alle beide. Sie benutzen das Wort Männer, meinen aber in Wirklichkeit Menschen. Es hat etwas mit der Redekunst zu tun - wenn du jedes Mal >Männer und Frauen< betonst, ermüdet das Ohr, und der Geist sagt: >Das weiß ich doch schon, vielen herzlichen Dank, aber musst du mich denn wirklich mit dem Offensichtlichen langweilen?< Aber sie haben uns nicht vergessen. Wenn sie es täten, würden wir ihre Eier mit einem Nussknacker bearbeiten, bevor sie auch nur blinzeln könnten.« 95 Und das, dachte Pete, war die wahre alte Schule. June Bug und ihr Ich-bin-alt-und-schwerhörig-Flüstern hatten sich eigentlich gar nicht an Betty Kay gerichtet. Die Worte zielten direkt auf Eric und Heyr. Sie hatte gerade das Kunststück vorgeführt, wie man jemanden zurechtwies, während man scheinbar einer Meinung mit ihm war. Was sie auch immer von Frauen als Helden oder Kriegern halten mochten, weder Eric noch Heyr konnten ihr jetzt widersprechen, ohne als komplette Mistkerle dazustehen. Auch Pete gefiel dieses Flüstern. Er hielt es für einen hübschen Trick. Zufällig wusste er, dass June Bug eine Maus im Nebenzimmer furzen hören konnte, aber das konnte ihr niemand nachweisen. Heyr sagte: »Glaubst du, irgendjemand bezweifelt, dass Frauen Helden sein können, wenn deine Lauren und ihre Schwester den dunklen Göttern zum ersten Mal erfolgreich die Stirn bieten ...« Seine Stimme verlor sich, während die Wächter sich allesamt zu ihm umdrehten und ihn anstarrten. Pete sank innerlich in sich zusammen. Er hätte Heyr darüber informieren sollen, dass Mollys und Laurens Aktivitäten ein Geheimnis waren. Dass Mollys Existenz ein Geheimnis war. Alle starrten Heyr an. Aber dann ... dann drehten sie sich plötzlich zu Pete um. In den meisten Augen sah Pete Erschrecken oder Ungläubigkeit. Eric wirkte stocksauer. June Bug wirkte dagegen eher ... erheitert, was seltsam war. Das Schweigen, das jetzt über der kleinen Gruppe schwebte, war so schwer, dass es um ein Haar sämtliche Luft aus dem Zimmer verdrängt hätte. Dies war genau die Art Ausrutscher, die Menschen das Leben kosten konnte. Und er konnte es nicht wieder in Ordnung bringen. Schließlich richtete Eric das Wort an Pete: »Nach meinem Kenntnisstand ist Molly tot und liegt begraben auf 96 dem Friedhof. Wie es aussieht, ist mir da offenbar etwas entgangen. Aber du bist die ganze Zeit mit Lauren zusammen. Ich vermute also, dass du darüber Bescheid wusstest.« Pete holte tief Luft. »Ja. Ich wusste es. Molly ist ins Leben zurückgekehrt«, antwortete er. »In der nächstunteren Welt. In Oria.« Eric zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nun, wie praktisch für sie. Und wann hat sich dieses kleine Wunder ereignet?« »Vor drei - vier Monaten?«
»Hmmm. Und in diesen drei, vielleicht vier Monaten warst du so beschäftigt, dass du nicht die Zeit gefunden hast, um zu sagen: >Oh, übrigens, Eric, Molly McColl ist von den Toten zurückgekehrt, und sie und Lauren spielen in Oria mit Gott weiß was herum, und vielleicht möchtest du ja möglicherweise mit den beiden reden.« Er funkelte Pete wütend an. »Während all der Stunden, in denen wir auf dem Revier saßen und die Zeit totgeschlagen haben, ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass dies ein interessantes Gesprächsthema sein könnte. Oder dass ich vielleicht auch eine Idee dazu hätte. Oder - Gott behüte - eine Meinung.« »Ich weiß, was die beiden getan haben«, erwiderte Pete. »Hm. Wie schön für dich. Hättest du etwas dagegen, diese Informationen mit uns Übrigen zu teilen - da die dunklen Götter anscheinend nicht nur zum Spaß mit großen Messern und vergifteten Klauen durch Laurens Haus tappen. Wir waren bisher der Meinung, dass dies der letzte Ansturm der dunklen Götter war, um die Welt zu vernichten. Wenn es nicht so ist und wenn wir stattdessen wegen Laurens und Mollys kleinem Projekt kämpfen und sterben müssen, dann wusste ich doch, verdammt noch mal, gern, wofür wir sterben.« »Es geht um das Ende der Welt, so viel steht fest«, erklärte Heyr von seinem Platz an der Wand. »Aber die dunklen 97 Götter sind plötzlich auf Schwierigkeiten gestoßen, auf ein Hindernis.« Eric sah Heyr nur eine Sekunde lang an, dann wandte er sich wieder an Pete. Er war fuchsteufelswild. Nach dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zu urteilen, galt für die übrigen Wächter dasselbe - mit Ausnahme von June Bug. Pete hatte Lauren geraten, den anderen Wächtern reinen Wein einzuschenken. Es wäre besser gewesen - oder zumindest auch nicht schlimmer. »Sie bringen ihre Magie auf die Erde zurück«, sagte Eric. »Wir können hier keine Magie benutzen«, entgegnete Pete. »Aber die dunklen Götter können es. Und die alten Götter können es ebenfalls.« Eine dunkel rindfleischfarbene Röte überzog jetzt Erics Gesicht. »DIE ALTEN GÖTTER SIND ALLE FORTGEGANGEN!« Erics Aufschrei rüttelte sie alle auf. Pete hatte noch nie erlebt, dass Eric wirklich die Beherrschung verlor, und er hatte ihn auch noch nie so brüllen hören. Noch nie. Und dann stand Heyr auf, und mit einer Stimme, die ebenso grimmig klang wie die von Eric, wenn auch etwas beherrschter, sagte er: »Die Feiglinge unter den alten Göttern sind geflohen, das ist wahr. Und die Schwachen. Aber einige der AEsir stehen noch immer Seite an Seite mit den Menschen, und die AEsir sind nicht die einzigen der alten Götter, die noch hier sind. Nicht alle sind geflohen.« Eric ließ sich nicht einschüchtern. »Nun, vielleicht hingen ein paar von ihnen noch in der Gegend von Wisconsin herum, aber in diesem Gebiet haben sie ihre Zahnbürsten eingepackt und sind verschwunden. Vor ungefähr drei oder vier Monaten ...«Er brach plötzlich ab und starrte Pete an. »Vor drei oder vier Monaten«, wiederholte er nachdenklich. »Ungefähr zu der Zeit, als Molly hierher zurückkehrte.« Dann starrten wieder alle Wächter Pete an. 98 »Gesunde Magie - Lebensenergie, das, was das Universum zusammenhält und die Tore schafft - das ist es, was unsere Welt am Leben erhält, und das wisst ihr auch«, erwiderte Pete. »Ihr wisst es. Lauren holt die gesunde Magie wieder zurück. Molly macht Jagd auf die Nachtwache und tötet sie einen nach dem anderen. Wie könnt ihr das missbilligen?« Eric beobachtete ihn mit deutlichem Abscheu. »Wenn sie an etwas so Gutem arbeiten, warum tun sie's dann heimlich?« »Vielleicht, weil deine Leute Laurens Eltern ermordet haben, die die gleiche Mission hatten?« »Das müsste gewiss in Betracht gezogen werden. Mir war gar nicht klar, dass ich mich inmitten von Mördern befinde«, ließ sich Heyr vernehmen. »Keiner derjenigen, die Laurens Eltern getötet haben, ist noch am Leben«, erklärte June Bug. In diesem Augenblick sah sie sehr alt aus und so traurig, dass es wehtat. »Eine Hand voll Leute hier in der Gegend wusste, was geschehen würde, und tat nichts, um es zu verhindern. Ich habe ihre Eltern in die Pläne der Wächter eingeweiht, um sie zu retten; und damit habe ich sie praktisch selbst getötet. Sie sind auf meinen Rat hin geflohen - ich wusste nicht, dass man ihren Wagen manipuliert hatte.« Pete sah das Glitzern von Tränen, die ihr die Wangen hinunterliefen. »Lauren will ihr Schicksal erfüllen, aber sie möchte nicht durch die Hand irgendeines Eiferers sterben, ebenso wenig wie sie zulassen will, dass ihr Kind getötet wird«, sagte Pete. Er stand auf und ging zu dem Tisch an der vorderen Seite des Raums. Dort angekommen, verschränkte er die Arme vor der Brust und starrte Eric an. »Als sie mir berichtete, was sie würde tun müssen, habe ich sie dabei unterstützt. Und auch Molly. Die beiden tun Dinge, die ihr nicht tun könnt, Dinge, die ich nicht tun kann. Wenn sie Erfolg haben, ist unsere Welt gerettet.« 99 Raymond Smetty, der zur Verstärkung aus Enigma in Georgia gekommen war - seine Zukunft als Fußballstar am College war bei seinem letzten Spiel an der Highschool durch eine Knieverletzung zunichte gemacht worden ergriff das Wort: »Das Erste, was man von seinem Mentor lernt, ist, dass man nichts an den Wächtern vorbei macht. Oh ... aber du hattest ja keinen Mentor, Pete.« Er wandte sich an Eric. »Und genau das ist der Grund, warum gut geführte Wächtermannschaften keine Außenseiter aufnehmen. Wenn man den Ärger eliminiert, bevor
er anfängt, wird es keinen Ärger geben.« In diesem Moment begannen alle durcheinander zu schreien, und Pete dröhnte der Kopf. Wenn Heyr doch nur den Mund gehalten hätte. Ab nun wurden die einzelnen Fäden des Gesprächs extrem hässlich. Raymond Smetty, dieser erbärmliche Mistkerl, verlangte, dass Eric als Oberhaupt der Gruppe abgelöst werden sollte, verlangte, Lauren, Jake und Molly und Eric selbst vor ein Wächtertribunal zu stellen, mit der Empfehlung, dafür Sorge zu tragen, dass sie allesamt verschwanden. Und June Bug war drauf und dran, Raymond umzubringen, und Betty Kay saß weinend in der Ecke, und Darlene stellte sich zum ersten Mal überhaupt auf Raymonds Seite. Doch dann ließ Heyr seine Faust auf irgendetwas niederkrachen und brüllte: »RUHE«, und der Raum erbebte. Alle verstummten. Pete hätte Wetten darauf angenommen, dass sein Herz nicht das einzige war, das beinahe zu schlagen aufgehört hatte. Alle Wächter sahen zu Heyr hinüber. »Ich bin nicht zufällig hierher gekommen«, erklärte Heyr. Seine Stimme hatte wieder normale Gesprächslautstärke angenommen, aber sie duldete weder Widerspruch noch Unterbrechung. Pete war noch nie jemandem begeg100 net, der so überzeugend bedrohlich gewirkt hatte. »Ich bin den Spuren der ersten frischen Magie gefolgt, die seit dem Fall von Kerras diese Welt erreicht hat. Die Spuren waren sehr geschickt verborgen, aber wenn ich ihnen folgen konnte, dann können andere es auch. Es ist das erste Mal, dass jemand jemals - jemals - etwas tut, das den Schaden, den die Nachtwache gestiftet hat, umkehren kann. Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte des Universums hat eine Welt die Chance, wieder zu erstehen. Der Grund dafür ist eure Lauren. Sie tut etwas, das niemand sonst tun könnte, und sie ist verletzbar. Ich bin hierher gekommen, um an ihrer Seite zu kämpfen. Um sie zu schützen. Andere werden denselben Spuren folgen wie ich, und sie werden ebenfalls herfinden - entweder früher oder später, aber sie werden kommen -, und sie werden sich zum Pfad des Lichtes bekennen oder zum Pfad des Todes. Denn es wird Krieg geben, ihr Narren. Krieg -und keinen Krieg von Menschen, sondern einen Krieg von Göttern. Die Nachtwache hat ihren eigenen Untergang in Laurens Werk gelesen, und sie kommt ihretwegen hierher.« Zu Petes Erstaunen stand Raymond Smetty plötzlich auf, funkelte Heyr wütend an und sagte: »Und ich sage immer noch, schickt sie vor ein Tribunal und lasst sie alle drei eliminieren. Lauren, Molly und das Kind. Denn für den Fall, dass ihr es noch nicht bemerkt habt, in einem Krieg zwischen Göttern gehören sämtliche Götter hier in der Gegend zur gegnerischen Mannschaft.« Heyr sah sich in dem Raum um und lächelte - ein beängstigendes Lächeln, wie das eines Kannibalen, der gerade die Speisekarte liest. Pete bekam eine Gänsehaut. Heyrs Augen waren mit einem Mal blauer geworden, obwohl Pete das für unmöglich gehalten hätte. Auch sein Haar sah rötlicher aus. Er wirkte größer, seine Schultern wurden breiter, und seine Muskeln spannten sich zur Gänze. Draußen ex101 plodierte mitten an einem klaren, blauen Himmel ein Donnerschlag, überall um das Gebäude herum schlugen Blitze ein, und wie aus dem Nichts strömte eimerweise Regen vom Himmel. Heyr begann zu glühen, und seine Stimme hatte eine Kraft, die die Wände und den Fußboden erbeben ließ. »Seht mich an, damit ihr mich erkennt. Ich gebe mich nicht mit den schäbigen Streitereien der Menschen ab, aber in einem Krieg zwischen Göttern bin ich immer noch der Erste und Größte.« Feiner Gipsstaub regnete von der Decke herab. Pete konnte sich kaum von dem Anblick dieses Mannes losreißen, aber er zwang sich dazu und beobachtete stattdessen die anderen Wächter im Raum. Auf ihren Gesichtern las er dieselben Regungen, die auch er verspürte. Staunen. Verwunderung. Ehrfurcht. Und auf ihren Lippen lag nur ein einziges Wort. Thor. 6 Die Wildnis des südlichen Oria Baanraak grübelte. Das war eine ungewohnte Erfahrung für ihn; er war von Natur aus kein Grübler. Ein Denker, ein Planer - ja. Aber er sah keinen Sinn darin, endlos über Dinge nachzusinnen, die sich nicht ändern oder korrigieren ließen, und es gefiel ihm überhaupt nicht, dass seine Gedanken ständig zu drei Dingen zurückkehrten. Er breitete die Flügel aus und ließ sich auf einer guten, starken Thermik in weiten Spiralen in die Lüfte tragen, wo die Sonne ihn wärmte und der Wind ihm Abkühlung verschaffte, während er versuchte, in dem ruhigen Dahingleiten des Flugs ein wenig Frieden zu finden. Aber der Friede wollte sich nicht einstellen. Drei Dinge. Erstens. Er hatte Molly nicht getötet und für sich beansprucht, obwohl sie in seiner Reichweite gewesen war. Zweitens. Etwas in ihm drängte ihn fort von seiner wahren Natur. Drittens. Irgendjemand hatte seinen Wiederauferstehungsring manipuliert und das Gold mit Silber verunreinigt, und diese Verunreinigung machte er für die Punkte eins und zwei verantwortlich. Das Silber musste die ganze Zeit über da gewesen sein, oder etwa nicht? Abgesehen von seinen jüngsten Zusammenstößen mit Molly war er seit Tausenden von Jahren nicht mehr gestorben. Hätte einer von Mollys Leuten seine zahlreichen Ringe gefunden, hätte er sie nicht manipuliert -falls eine solche Manipulation überhaupt möglich war -,
103 sondern zerstört. Bei seinem letzten Tod vor seinen Kämpfen mit Molly, vor etlichen tausend Jahren, war er der Meister der Nachtwache gewesen - und auch damals hätte jeder, der sie bei dieser Gelegenheit zu fassen bekommen hätte, seine Ringe ohne zu zögern vernichtet. Oder rührte die Verunreinigung von einem Ring, den er später hinzugefügt hatte, einem, den er als Trophäe von einem würdigen Gegner betrachtet hatte? Aber diese Trophäen waren allesamt Ringe von minderer Bedeutung. Sie dienten ihm als zusätzlicher Schutz; falls er getötet und sein Hauptring zerstört wurde, konnte einer dieser später erworbenen Ringe ihn möglicherweise trotzdem ins Leben zurückbringen, wenn auch in geringerer Gestalt. Die sekundären Ringe hatten jedoch nur wenig Macht über ihn, solange er den ersten noch besaß, in dem alles, was er war, weiterexistierte. Daher glaubte er, dass die Verunreinigung ausschließlich in diesem Ring stecken musste. Und wenn das der Wahrheit entsprach, dann hatte man ihn in dem Augenblick verraten, in dem der Schmuck geschmiedet worden war. Aber warum? Und wer war der Verräter? Die Schöpfer des Rings hatten ihn gekannt. Sie hatten den Ring ganz allein für ihn gefertigt. Was hatten sie zu gewinnen gehofft, indem sie dem essenziellen Chaos des Zaubers, der ihn wiederbeleben würde, einen Faden der Ordnung beiflochten? Gold war das Metall des Chaos, Silber das Metall der Ordnung. Nur Gold konnte benutzt werden, um einen Zauber zu binden, der einen dunklen Gott erschuf - der die Erinnerungen zu bewahren und das Fleisch wieder aufzubauen vermochte, nachdem Leben und Seele einen Leichnam verlassen hatten. Eine solche Magie lief der Ordnung des Universums zuwider. Sie bezog ihre Energie aus der Zerstörung von Leben, um eine Kreatur zu erschaffen, die den äußeren Anschein von Leben hatte, in Wirklichkeit aber 104 von einem lebensfeindlichen Geist angetrieben wurde. Diese Magie schuf ein atmendes, denkendes, seelenloses Ungeheuer, das für alle Zeit nach Zerstörung lechzte, das danach trachtete, die Macht zu mehren, die es nährte, und das zu diesem Zweck Unheil stiftete und Tod verbreitete. Aus diesem Grund zogen riesige Goldschätze das Böse förmlich an - sie beschworen das Chaos herauf. Ihr Glanz, ihre Schönheit und ihr Reiz hatten ihren Ursprung in entsetzlichen Orten, und Gold wurde zu einer Besessenheit wegen dieser Energie, die es auf sich lenkte, und wegen der Macht, die es verlieh. Silber war etwas anderes. Silber kanalisierte Lebensenergien, stieß lebensfeindliche Substanz ab und trank aus dem Brunnen der Ordnung statt aus dem des Chaos. Silber haftete an Leidenschaften und Emotionen, geradeso wie Gold an Logik und Fakten haftete. Mischte man die beiden Metalle, entstand etwas Gefährliches und Unberechenbares, da die Energien, die die beiden Metalle kanalisierten, in ständig wechselnde Richtungen flössen. Silber ... brachte die Dinge durcheinander. Wie etwa sein Ziel, Molly gefangen zu nehmen, sie zu töten und immer wieder ins Leben zurückzurufen, bis alle Gefühle aus ihr herausgespült waren, bis er sie zu seiner Nachfolgerin ausbilden konnte. Seiner Erbin. Sie war in seiner Reichweite gewesen, und ein Teil von ihm zürnte, weil er sie hatte entschlüpfen lassen, statt sie mitzunehmen und den Plan wieder aufzugreifen, den ihre Schwester, eine Armee von Veyär-Soldaten und die Einmischung anderer dunkler Götter vor einigen Monaten gestört hatten. Die Thermik, auf der er emporgestiegen war, verpuffte, und Baanraak musste sich anstrengen, um in der Luft zu bleiben und zu der Stelle über einem gewaltigen, sonnengewärmten Felsen zu fliegen, der durch den Baldachin der 105 Bäume unter ihm aufragte. Er machte sich den Aufwind dort zunutze, breitete abermals die Flügel aus und zog dann weiter seine Kreise, um nachzudenken. Silber. Das war der Grund für sein Versagen, der Grund, warum er nicht nur dachte, sondern auch fühlte. Es war der Grund, warum irgendein verworrener Instinkt ihn bewogen hatte, Mollys Leben zu schonen, Seite an Seite mit ihr durch die Ruinen zu gehen, mit ihr zu reden und so etwas wie ... Heiterkeit in ihrer Gesellschaft zu finden und sie dann ziehen zu lassen. Silber war das Gift, das auch seinen Hunger tötete - das seine Lust am Tod von Welten dämpfte, die Lust an der berauschenden Macht, die dieser Tod mit sich brachte, wenn man ihn trank, wenn man ihn verschlang, wenn man sich an ihm weidete. Silber musste auch eine Rolle gespielt haben, als er die Nachtwache verlassen hatte; kein Meister vor ihm hatte sein Amt jemals freiwillig aufgegeben. Und keiner hatte es nach ihm getan. Die Meister der Nachtwache traten ab, wenn ihre Nachfolger sie ermordeten und ihre Auferstehungsringe zerstörten. Und doch hatte er, der tüchtigste und erfolgreichste Meister in der Geschichte der Nachtwache, eines Tages die Regentschaft an seinen erwählten Nachfolger übergeben und war fortgegangen. Damals war er der Meinung gewesen, dass er einfach zu lange gelebt hatte - dass er des Spiels überdrüssig geworden war und sich langweilte. Aber Langeweile und Überdruss waren beides Funktionen des Lebens, nicht der Leblosigkeit. Es waren Gefühle, keine Gedanken. Aber vor allem anderen war Baanraak in den Zehntausenden von Jahren seiner Existenz als dunkler Gott sein eigener Anker in rauer See gewesen, seine eigene Zuflucht im Sturm, sein eigener Ratgeber und einziger Vertrauter. Er war davon überzeugt gewesen, sich selbst zu kennen, jeden noch so kleinen Teil seiner selbst; er war davon überzeugt 106
gewesen, dass er genau wusste, wer und was er war, und dass er es immer wissen würde. Während der letzten paar Monate, in einem Zeitraum, der ein bloßes Augenzwinkern seiner Existenz war, hatte diese Gewissheit sich in nichts aufgelöst. Er hatte entdecken müssen, dass er nicht ein Baanraak war, sondern zwei: ein aus Gold geborener Baanraak und ein aus Silber geborener. Und der zweite Baanraak hatte Geheimnisse, die er vor dem ersten verbarg. Jetzt erregte jede Entscheidung, jeder Gedanke, jeder Impuls seinen Verdacht. Baanraak wollte nicht länger denken, zumindest für eine Weile nicht. Der Felsen unter ihm sah einladend und sicher aus, mit einem Gipfel, der vom Boden aus unerreichbar war und einen guten Ausblick auf alles gewährte, das sich ihm nähern könnte. Er ließ sich hinabsinken und landete gekonnt auf der warmen Sandsteinfläche. Baanraak war noch nie zuvor hier gewesen. Er blickte um sich und fand Gefallen an dem, was er sah: von der Sonne versengtes und von Moos bewachsenes Gestein, hie und da zart sprießendes pflanzliches Leben, das sich aus schmalen Felsspalten den Weg ans Licht bahnte, und darunter ein üppiger Wald, der den Geruch und den Klang von Leben verbreitete. Er konnte für eine Weile hier bleiben, schlafen, essen, still werden und Ruhe finden. Irgendwann würde er sich erklären müssen, was der Verrat des Silbers für ihn bedeutete, aber das war keine Aufgabe für diesen Augenblick. Zuerst schlafen. Dann essen. Alles Weitere würde sich ergeben. 107 Berg der Kämpfer Fael Faen, Tinhaol, Oria Molly hatte sich den ganzen Tag lang der Aufgabe gewidmet, geduldig Baanraaks Spuren zu verfolgen. Sie lag lang ausgestreckt auf dem Fael Faen, die Augen geschlossen und durch zarte Magie und absolute Reglosigkeit gegen eine Entdeckung abgeschirmt. Ihre Reglosigkeit umfasste nicht nur die Ruhe von Muskeln und Knochen, sondern auch die des Atems und der Gedanken, so dass jeder, der überhaupt imstande war, sie zu sehen, sie für tot gehalten hätte. Aber sie lebte. Und war hoch konzentriert. Baanraaks Gedanken flössen über sie hinweg, vielschichtig, komplex und so faszinierend wie ein Puzzlespiel. Als Beobachterin von außen konnte sie Muster in diesen Gedanken erkennen, Muster, die selbst Baanraak wohl kaum wahrzunehmen imstande war. In der oberen Schicht spannte sich kreuz und quer, was ihn besorgte. Die Angst vor einer Verunreinigung durch Silber, die Zweifel an seinem Urteil, das Unbehagen über seine Besessenheit von ihr und die Frage nach dem Ursprung dieser Besessenheit - ob es Gold oder Silber war, das ihn zu ihr hinzog. Unter dieser oberen Schicht lag eine wachsame zweite Schicht. Baanraak, der Jäger, der mit allen Sinnen seine Umgebung abtastete. Dieser Teil von ihm war so tief in ihm verwurzelt, dass er ihm kaum mehr bewusst war. Soweit sie feststellen konnte, hatte er keine anderen blinden Flecken, außer dem, auf dem sie lag. Gerade jetzt hatte er den Blick nicht nach innen gerichtet. Hätte er das getan und hätte irgendetwas ihre Konzentration gestört, wäre er auf sie aufmerksam geworden. Aber der Lärm seiner Sorgen verbarg den stillen Teich eines fremden Bewusstseins in seinen Gedanken. Schließlich waren da noch die tiefer liegenden Schich108 ten - zuerst und am machtvollsten von allen ein dunkler, kalter Fluss von Hunger, Tod, Zerstörung und Chaos, schwer und erschreckend und so breit wie der Mississippi. Molly, die in seinen Strömungen lag, konnte seinen Sog spüren, so unwiderstehlich wie die Schwerkraft. Das Echo ihres eigenen Hungers wurde scharf und gierig. Die Fähigkeit zum Chaos und die Sehnsucht, sich von Zerstörung zu nähren, lagen auch in ihr verankert, tiefer und stärker, als sie irgendjemanden wissen lassen wollte, und diese Gier würde mit jedem Tod, den sie starb, wilder. In dem Fluss von Baanraaks dunklen Strömungen sah sie ihr eigenes Spiegelbild, und sie hasste, was sie sah. Ein zweiter Strom speiste diesen machtvollen Fluss - ein dünnes, leuchtendes Rinnsal -, ein Verlangen nach Ordnung, nach Licht, nach ... Mollys Konzentration wäre um ein Haar erloschen, um ein Haar hätte sie Baanraak ihre Anwesenheit offenbart. Verzweiflung drohte sie zu verraten, und sie war diesem Abgrund sehr nahe. Das winzige Rinnsal sickerte in den reißenden Strom von Baanraaks Dunkelheit und wurde von ihm verschlungen. Molly konnte keine Spur von Güte in ihm finden, abgesehen von diesem einen Faden. Das. Das war die Wirkung des Silbers. Das war ihre Hoffnung - und sie konnte erkennen, was für eine vergebliche Hoffnung es war. Sie hätte es wissen müssen. Sie war nicht die erste Frau, die die Vodi-Kette trug, die sich diesen Veränderungen ihres Wesens stellen musste, die nach etwas suchte, an das sie sich klammern konnte, nach einem winzigen Beweis dafür, dass irgendwann vielleicht wieder mehr von ihr selbst da sein würde statt immer weniger. Ihre Schwester, Lauren, hatte von ihrer Überfahrt über den Fluss der Seelen eine Botschaft für Molly mitgebracht: Manche Menschen warfen ihre Seelen fort, und andere, 109 seelenlose Geschöpfe, konnten sich eine neue Seele erschaffen durch die Art und den Sinn des Lebens, das sie führten. Aber andererseits hatte es Lauren zufolge noch niemand wirklich geschafft. Die Möglichkeit bestand,
aber es gab keine Erfolgsgeschichten aus der Vergangenheit, die dieses Ziel auch nur annähernd erreichbar erscheinen ließen. Molly fand immer wieder irgendwelche Strohhalme, die, wenn sie daran Halt suchte, zerbrachen - sie waren nichts anderes als Gaukelbilder der Hoffnung. Am Ende hatten alle früheren Vodi die Vodi-Kette irgendwann aus freiem Willen abgelegt und sich in Situationen begeben, die zu ihrem letzten, unwiderruflichen Tod führten. Sie hatten ihre Seelen nicht zurückerobert; sie hatten den Weg von der Leblosigkeit zu wahrem Leben nie gefunden. Sie hatten nur die wenigen ihnen verbliebenen Splitter ihrer Menschlichkeit genommen und dazu benutzt, die Kraft zu sammeln, um die Kette zu entfernen, die sie zu Ungeheuern machte, und bevor sie um die letzte Ecke biegen und Chaos und Zerstörung mit offenen Armen willkommen heißen würden, hatten sie ihrer Existenz ein Ende bereitet. Das Silber hatte sie nicht gerettet. Es hätte ihre Existenz verlängern können - hätte das Überleben der brüchigen Trümmer von Menschlichkeit verlängern können, die ihnen anhafteten -aber es hatte sie nicht gerettet. Freiwillige Selbstvernichtung, dachte Molly, war für sie das glückliche Ende, die strahlendste Zukunft, der sie entgegenblicken konnte. Das unglückliche Ende für sie wäre es, sich zu gestatten, ein dunkler Gott zu werden wie Baanraak. Vom Tod einer Welt zu kosten und darin Nahrung und Sucht zu finden und ebenfalls auf das Sterben von anderen Welten hinzuarbeiten, um ihren Hunger zu stillen. Und jedes Mal, wenn sie starb, würde sie diesem Schicksal - zu dem zu werden, was Baanraak war - einen Schritt 110 näher kommen. Schon jetzt fand sie seine Sicht auf das Universum und seinen Platz darin verständlich. Sie billigte ihn nicht, und sie war nicht seiner Meinung, aber sie konnte nachvollziehen, wie er zu dem geworden war, was er war. Sie konnte sogar etwas in sich entdecken, das Mitleid mit ihm hatte um all der Dinge willen, die er hatte ertragen müssen. Irgendwann würde sie ihn ansehen und feststellen, dass ihre Gemeinsamkeiten stärker waren als alles, was sie mit den Menschen teilte, die sie einmal geliebt hatte. Wenn Liebe und Barmherzigkeit ihr verloren gingen, wenn Hunger alles war, das sie antrieb, dann würde sie wirklich und wahrhaftig verloren sein. Das Silber in seinem Ring hatte Baanraak nicht daran gehindert, zum schlimmsten und gefürchtetsten aller monströsen dunklen Götter zu werden. Genau genommen hatte das Silber zu seinem Erfolg beigetragen - diese winzige Hinwendung zur Ordnung, dieser winzige Hauch von Leben, der dem Silber anhaftete, hatte ihm vielleicht den Antrieb gegeben, den die dunklen Götter, die reines Gold trugen, nicht besaßen. Es hatte ihm vielleicht Dimensionen eröffnet, zu denen seine Gefährten keinen Zugang hatten. Es hatte ihn vielleicht gerade erst zu dem furchtbarsten der dunklen Götter werden lassen. Sie gestattete sich nicht, über ihr Tun weiter nachzudenken. Baanraak war endlich gelandet und ließ sich in einiger Entfernung von ihr auf einem warmen Felsen nieder. Sie markierte die Stelle und löste sich vorsichtig aus seinen Gedanken. Er suchte nach Stille, und sie wollte nicht, dass er sie entdeckte. Damit hätte sie das Element der Überraschung preisgegeben. Molly brachte Geist und Körper wieder in Einklang. Sie wurde sich ihres Körpers erneut bewusst, des Grases, das sie im Nacken kitzelte, ihres Atems, der wieder durch ihre Lungen strömte, und ihres sich beschleunigenden Herz111 Schlags. Einen Moment lang blieb sie noch auf dem gewaltigen Hügel liegen, starrte in den Himmel hinauf und bemerkte, dass der Abend sich bereits herabsenkte. Dann erhob sie sich und lief den Fael Faen hinunter in die Stadt zu dem steinernen Bogen, den sie zusammen mit Baanraak durchschritten hatte. Sie rannte, weil sie nicht wusste, wie lange das, was sie tun musste, dauern würde. Sie hatte es noch nie zuvor getan. Lauren war die Meisterin aller Torweber - diejenige, die den Weg in die Hölle und zurück fand, wenn sie es sich zum Ziel setzte; diejenige, die ein Wispern über viele Welten hinweg zurückverfolgen und einen Pfad schaffen konnte, der sie noch vor der Botschaft zu deren Empfänger brachte. Molly besaß diese Fähigkeit nicht. Aber Lauren hatte sie geduldig in die grundlegenden Techniken des Torwebens eingeweiht und ihr beigebracht, ein schlichtes Tor zu erschaffen, das sie auf einer einzigen Welt, in einem einzigen Universum von einem Punkt zum anderen bringen konnte. Zu zweit hatten sie endlose Übungsstunden abgehalten, bis Molly sich, wenn sie sich darauf konzentrierte, auf Oria von einem Ort zum anderen bewegen konnte, ohne sich selbst, irgendjemand oder irgendetwas anderem Schaden zuzufügen. Was den Übertritt zwischen den Welten betraf, hatte Molly sich jedoch als ein interessanter Fehlschlag erwiesen. Lauren war fest entschlossen, es ihr beizubringen, aber dazu würden sie mehr Zeit brauchen. Einstweilen konnte Molly bereits existierende Tore öffnen und benutzen, aber wenn sie versuchte, selbst eines zu erschaffen, verirrte sie sich, und die Tore wanderten nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. Sie öffnete Tore in die Vergangenheit und in die Zukunft, in Paralleluniversen und zu Orten an entlegenen Winkeln, die weder sie noch Lauren auch 112 nur begreifen konnten. Lauren war beeindruckt und entsetzt gleichzeitig gewesen. »Du bist wie ein Werfer, der einen Ball mit Tempo zweihundert völlig ziel- und wahllos in die Welt schmettert; wenn du nicht lernst, dein
Ziel unter Kontrolle zu halten, wirst du am Ende noch jemanden umbringen.« Aber im Augenblick brauchte Molly sich nicht zwischen den Welten zu bewegen. Und ihre Treffsicherheit war für das Ziel völlig ausreichend. Sie griff nach dem Dolch an ihrer Hüfte - dem, den sie seit dem Tag trug, an dem ein Verräter im Kupferhaus Lauren um ein Haar vor ihren Augen ermordet hätte - und hielt ihn, quer über beide Hände gelegt, über ihren Kopf. Mit purer Willenskraft zwang sie ihn dazu, sich zu verwandeln, und in ihren Händen wurde er zu einem mächtigen Schwert, rasierklingenscharf, zweischneidig und nadelspitz. Dann benutzte sie ihren Willen, um die Waffe mit Gift zu tränken, einem grausam starken, schnell wirkenden Nervengift, das sich im Blutkreislauf ihres Opfers ausbreiten, alle seine Muskeln binnen eines Augenblicks lähmen und es töten würde. Sie würde vorsichtig mit der Klinge sein müssen, aber wenn sie Baanraak angriff, wollte sie sicher sein können, dass ihre Werkzeuge so tödlich waren wie nur möglich. Sie war unter seinen Händen bereits mehr als einmal gestorben. Es war genug. Dies würde der letzte Tag seiner Existenz sein. Molly erwog die Möglichkeit, die Dolchscheide so zu verbreitern, dass sie Platz für diese neue Klinge bot, entschied sich dann aber dagegen. Sie würde die Waffe in ihrer gegenwärtigen Form nicht in die Scheide schieben. Sie und das Schwert würden durch das Tor gehen und Baanraak mit derselben Bewegung töten. Dann würde sie ihn zerstückeln und seine Auferstehungsringe einsammeln, denn genau wie sie trug er sie eingegraben in seinem Körper. Wenn sie sei113 nen Leichnam seziert und sie alle aufgespürt hatte, würde sie ihn verbrennen und die Ringe zerstören ... und dann würde sie ins Kupferhaus und zu Seolar zurückkehren, zu dem Ort, an dem sie sowohl erwünscht war als auch geliebt wurde. Dieser Gedanke entlockte Molly ein kleines Lächeln. Sie hatte jemanden, der sie liebte. Und ihr waren noch genug Erinnerungen an ihre Menschlichkeit verblieben, daran, wie es war, eine Seele zu haben, um ihr dieses Wissen teuer zu machen. Bilder von allen Dingen, die schief gehen konnten, flackerten vor ihr auf - das Tor konnte sich an der falschen Stelle oder mit zu viel Lärm öffnen; Baanraak konnte wach sein und sie bereits erwarten; Baanraak konnte zu einem anderen Ort weitergezogen sein. Sie schüttelte die Sorgen ab und holte tief Luft. Eine Menge konnte passieren, aber sie würde es zu verhindern wissen. Das Schwert in der Hand, legte sie die Finger auf den sonnengewärmten Stein des Bogens. Sie sah durch den Bogen hindurch und ließ ihren Blick trüb werden, so dass ihre Augen ihr nicht mehr das zeigten, was vor ihr lag, sondern Baanraak auf seinem Felsen. Sie tastete mit Herz und Verstand nach dem Sog jenes Ortes zwischen den Welten, nach jener Energie, die alles Leben miteinander verband und nährte. Lange Sekunden geschah gar nichts, und ein Anflug von Panik stieg in ihr auf; es erschien ihr mit einem Mal töricht, den Versuch zu wagen, die Straße der Götter zu ihren eigenen Zwecken heraufzubeschwören. Aber dann nahm sie das erste schwache, scharfe Knistern wahr, mit dem die Verbindung hergestellt wurde, und Macht strömte durch sie hindurch. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den ungebrochenen Durchgang, den der Bogen erschuf, und zeichnete in Gedanken das Bild eines 114 Pustefixstäbchens, das in eine Blasenlösung getaucht wurde. Vor ihrem inneren Auge zog sie es aus der Flüssigkeit und blickte in das Drahtauge, in dem ein durchsichtiger Film schimmerte; in der wirklichen Welt brannte das sanfte, hypnotisch grüne Feuer der Energie zwischen den Welten in einem gleichermaßen dünnen Film in der Öffnung des Bogens. Molly blickte in dieses Feuer hinein. Einen Moment lang konnte sie die Ruinen auf der anderen Seite des Bogens sehen, aber nachdem sie Geist und Körper entspannt hatte, zeichnete sich ein noch schärferes Bild des hohen, alten Felsens ab, der sich in einem gewaltigen, wilden Wald über die Baumgipfel erhob. Und an der höchsten Stelle dieses Felsens lag der schlafende Rrön, die Flügel angelegt, die Nase am Hals geborgen, den langen Schwanz auf eine Art und Weise um den Leib geschlungen, die Molly beunruhigend an eine Katze erinnerte. Aus einiger Entfernung betrachtet, war Baanraak beinahe ... schön. Molly verfolgte diesen Gedanken nicht weiter. Stattdessen ließ sie ihren Blick schweifen, bis sie die Stelle vor sich sah, an der sein langer, gebogener Hals mit seinem Körper verbunden war. Das war genau die richtige Stelle für einen Angriff, dachte sie. Dort würde sie auf Arterien treffen, die das Gift zügig durch seine Adern transportierten, und mit ein wenig Glück würde sie mit diesem ersten Hieb auch lebenswichtige Organe verletzen. Sie wollte ihn schnell töten, denn in einem Zweikampf hatte er alle Vorteile auf seiner Seite - Größe, Stärke, natürliche Waffen, die die Evolution dazu ersonnen hatte, ihn zu einem alptraumhaften Jäger zu machen. Außerdem hatte er Hunderttausende von Jahren Zeit gehabt, um den Einsatz dieser Waffen zu vervollkommnen. Ein weiterer tiefer Atemzug. Es wurde Zeit. Der erste Teil - ihn zu töten - würde schnell gehen. Der zweite Teil - dafür zu sorgen, dass er 115 diesmal tot blieb - würde widerwärtig und zeitraubend sein, und der Gedanke stieß sie ab. Aber wenn sie fertig war, würde das Universum von Baanraak befreit sein. Sie hob das Schwert an genau die Stelle, an der sie ihn durchbohren würde, drückte die Finger ihrer freien Hand in das Feuer des Tores und schuf im Geiste für einen winzigen Moment ein Bild, in dem sie das Pustefixstäbchen in der Hand hielt und eine Blase direkt auf Baanraak zupustete. Es war ein kindliches Bild ... aber sie spürte, wie
sich das Tor für sie öffnete, wenn auch widerstrebend. Sie trat hinein, und die Energie des Universums strömte durch sie hindurch und um sie herum - misstönend und verstörend, lebendig und vibrierend und erfüllt vom Strom einer Ewigkeit, die Molly nicht gehörte, erfüllt vom Gesang einer Unsterblichkeit, die tote Monstrositäten wie sie ausschloss. Sie gehörte nicht in dieses Universum, von dem das grüne Feuer sang, sie hatte keinen Platz darin, kein Recht, auch nur zu atmen. Sie war dort nicht willkommen, nicht willkommen, nicht willkommen, nicht - und dann brach sie auf der anderen Seite durch das Tor und landete mit gezücktem Schwert genau dort, wo sie hatte landen wollen. Die leichte Übelkeit, die der Durchtritt durch das Tor ihr beschert hatte, beachtete sie nicht, sondern rammte die Klinge direkt in die Stelle, an der Baanraaks Hals mit seinen massigen, muskulösen Schultern verbunden war. Das Schwert drang in Baanraaks Fleisch ein, als sei es Wasser. Molly bohrte die Klinge bis zum Heft in seinen Körper, drehte sie um und riss sie wieder heraus. Heißes Blut schoss aus der Wunde und durchtränkte sie. Sie holte erneut mit aller Kraft aus und durchdrang mit dem Hieb die gepanzerte Haut bis auf die Muskeln. Baanraak brüllte und sprang auf die Füße, sein Kopf fuhr herum, seine Krallen bogen sich, die Klauen streckten sich und er schrie: »Dafür wirst du sterben!« Schrie es in einer 116 Sprache, die Molly nur aufgrund der Magie der tief in ihrem Körper verborgenen Vodi-Kette verstand. Er hätte überhaupt nicht mehr in der Lage sein dürfen, sich zu bewegen, aber er bewegte sich trotzdem mühelos. Er schlug auf Molly ein, und sie schwang ihr Schwert und hieb ihm die Vorderpfote ab. Nur noch eine Sekunde, dachte sie. Nur noch eine Sekunde, und er wird fallen. Das Gift wird seine Wirkung entfalten. Sie zielte auf seinen Hals und hoffte, ihn zu enthaupten, aber er wich ihrem Schlag aus und schoss stattdessen aus seinem weit geöffneten Maul einen Feuerstrom auf den Stumpen seiner Vorderpfote. Nachdem die Wunde solchermaßen ausgebrannt war, drehte er sich um und grinste sie an; seine goldenen Augen glitzerten. »Kobragift?«, flüsterte er, und eine dünne Rauchfahne quoll ihm aus dem Mundwinkel. »Das würde bei einem Menschen wirken, aber ich bin nicht von deiner Welt.« Sein Grinsen wurde breiter, und Molly bemerkte, dass der Blutstrom an seinem Hals zu einem Rinnsal verebbt war, dass die klaffende Wunde an seiner Schulter sich vor ihren Augen schloss. Er sagte: »Ich bin natürlich ungeheuer beeindruckt, meine kleine Fährtensucherin. Du hast es fertig gebracht, mich aufzuspüren und einen Hieb zu landen, ohne dass ich deine Anwesenheit auch nur bemerkt hätte, was seit unerdenklichen Zeiten niemandem mehr gelungen ist.« Er lachte, und Molly spürte, wie eine fremde Macht ihre Hände um ihre Klinge schloss und ihre Arme verbog, bis die Waffe sich gegen sie selbst richtete. »Du bist einzigartig. Wunderbar«, sagte er. »Und wir beide, du und ich, werden ein großartiges Paar abgeben. Natürlich erst, nachdem ich dich ausgebildet habe.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich werde dich wieder töten müssen, das ist dir doch sicher klar. Wahrscheinlich viele Male.« 117 Molly begriff, dass er genau das tun würde - dass sie sich ihr eigenes Schwert in den Leib rammen würde, weil er beschlossen hatte, ihr eine Lektion zu erteilen - und in diesem Augenblick stellte sie sich eine Explosion vor, die ihn zerfetzte, die ihn in Stücke riss und diese Stücke in alle Himmelsrichtungen über den Wald verteilte, und sie zwang dieses Bild mit jeder Faser ihres Wesens, Wirklichkeit zu werden. Sie hatte keine Zeit, über die Konsequenzen nachzudenken. Die Explosion riss ihn tatsächlich in Stücke - aber ihre Wucht traf auch Molly selbst und schleuderte sie von dem Felsen hinunter, unrettbar zerfetzt, zerschmettert und sterbend. Sie hatte nur noch Zeit zu denken: Das war dumm von mir ... Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria Es war Rekkathav gerade erst gelungen, von Aril wegzukommen, in sein Bettnest zu klettern und sich tief in den Sand einzugraben, als Arils Ruf sich wie ein Dolch in sein Gehirn bohrte. Finde die Keth-Eliminatoren. Das hätte jeden aus dem Schlaf gerissen. Rekkathav rappelte sich von seinem behaglichen Bett hoch und jagte mit vom Schlafmangel schmerzendem Körper und umnebeltem Kopf zu den Dienstbüchern hinüber. Die Keth-Eliminatoren. Beim bloßen Gedanken an sie zitterten ihm die Glieder. Diese Triade der schrecklichsten unter den dunklen Göttern arbeitete in den Grenzwelten, in denen noch immer ungezügelte Lebensmagie existierte und in die sich nur wenige dunkle Götter hineinwagten. Die Assassinen waren darauf spezialisiert, den Weg für das Ein118 dringen der weniger tüchtigen dunklen Götter zu bahnen. Und sie jagten Rekkathav Todesangst ein. Er durchforstete die Dienstbücher und fand das Trio zehn Welten weiter unten, wo es Wächter eliminierte, die das Potenzial zum Torweber besaßen. In ihren Berichten klagten sie darüber, dass das Torweben auf Myr eine rezessiv vererbte Eigenschaft sei - daher würden ihnen einige Träger dieses Gens durch die Lappen gehen. Es war so viel einfacher, das Problem auf Welten unter Kontrolle zu bekommen, in denen die Fähigkeit des Torwebens dominant weitergegeben wurde. In einem Lagebericht jüngeren Datums hatte er gelesen, dass die Eliminatoren großen Erfolg mit Hexenverbrennungen hatten. Hexenverbrennungen. Rekkathav fielen Dutzende verschiedener Techniken ein, mit denen er Torweber ausmerzen würde, wäre er selbst einer der Eliminatoren. Er würde sich nicht immer nur auf religiöse Pogrome und Hexenjagden verlassen. Schließlich würden die Welten früher oder später doch begreifen, dass die Leute, die sie eliminierten, die einzigen waren, die sie retten konnten.
Aber bisher waren sie noch nicht dahinter gekommen. Und das Trio konnte beeindruckende Erfolge für sich verbuchen. Er verließ seinen Schlaf- und Arbeitsraum hinter Arils Quartier, um dem Meister die Dienstbücher persönlich zu überbringen. Wenn der Meister Informationen wollte, das hatte er gelernt, dann wollte er auch Rekkathav in der Nähe haben. Dieses Mal war es nicht anders. Aril nahm die Unterlagen entgegen, studierte sie kurz und öffnete dann ein Tor geradewegs zu dem letzten bekannten Kontaktpunkt. Binnen Sekunden sprach er mit einem der Eliminatoren, obwohl Rekkathav nicht hören konnte, was er sagte. Die beiden tauschten ihre Gedanken unter sich aus. Als sie ihr Gespräch beendet hatten, drehte Aril sich zu Rekkathav 119 um und sagte: Du wirst ihnen folgen. Komm ihnen nicht in die Quere und sorge dafür, dass sie dich nicht einmal sehen. Mein Beithan-Eliminator wird dich über die Ereignisse ins Bild setzen, und du wirst mir anschließend über den Erfolg des Trios Bericht erstatten. Hier ist dein Torring. Hüte ihn wohl; deine Aufgabe besteht darin, mir Neuigkeiten zu überbringen. Er reichte Rekkathav den winzigen Ring - der Ring würde sich ausdehnen, wenn man ihm den Befehl dazu erteilte, aber ansonsten sehr klein bleiben, um seine Stabilität zu bewahren. Nimm die Gestalt eines Einheimischen an, bevor du gehst, fügte Aril hinzu. Rekkathav griff nach dem Ring, verbeugte sich unterwürfig und wünschte sich inbrünstig, tot zu sein. Dann zwang er sich in eine menschliche Gestalt - weich, zweifüßig, verletzbar und schwach - und starrte durch das hohle Zentrum des Rings, bis das Tor des Meisters seinen Ruf auffing und zu ihm kam. Er streifte sich den Ring über, und dieser dehnte sich aus, um Rekkathav zur Gänze zu umfassen. Er stürzte durch den Tunnel aus grünem Feuer; durch den Unendlichen Gesang, den sein Volk gesungen und nach dem es sich gesehnt hatte, als es nach dem Tod seiner Welt versprengt worden war; und einen Moment lang fühlte er sich schuldig. Für ihn hatte sich die Sehnsucht seines Volkes erfüllt. Und er war - oder würde es irgendwann sein - einer derer, die das Leben seiner Rasse tranken und vernichteten. Aber er hatte seine eigene Welt nie gesehen; sie war lange tot gewesen, bevor ein Werbeoffizier der Nachtwache seine Talente im Umgang mit der Magie und seinen absoluten Mangel an Moral entdeckt und ihm vorgeschlagen hatte, eine neue Laufbahn ins Auge zu fassen. Er war dann nicht mehr jeden dritten Tag zu der Versammlung gegangen, auf der sie von der Welt aus Sand und See sangen, einer Welt der Strände, die niemals endeten, der gewaltigen Wellen, der starken Brandung und des Reichen Gezeiten120 sees. Rekkathav war aufgebrochen, nach Macht zu suchen. Und man sehe sich an, was aus ihm geworden war. Der Assistent von niemand Geringerem als dem Meister der Nachtwache. Ein entbehrlicher Assistent. Ausgesandt, um ein Trio von Keth-Eliminatoren und einen Beithan auszuspionieren. Er und sein mürbes menschliches Fleisch mit der bedrückend knappen Anzahl von Beinen stolperten aus dem Tor hinaus in das teebraune Wasser eines Zypressensumpfes, in dem es von Mokassinschlangen wimmelte, als ihm plötzlich ein Gedanke kam: Es war vielleicht doch gar nicht so übel gewesen, in einem großen Sandkasten zu sitzen und »Heil dir, Reicher Gezeitensee, Dank für die Fische zart« zu singen. Es war langweilig gewesen. Langeweile war etwas Schlechtes, hatte er geglaubt... damals. 7 Cat Creek, North Carolina Die Wächter sahen ihn immer noch mit jenem Ausdruck von Ehrfurcht und Sehnsucht in den Augen an, den Namen Thor auf den Lippen, als ein Tor sich nach Cat Creek öffnete. Heyr spürte, wie es aufgerissen wurde; im selben Moment schrie der Wächter, der in dem Spiegeltor saß, schrill auf und fiel zu Boden, durch die Luft geschleudert von loderndem, grünem Feuer und einem Schwall dunkler Energie, bei dem Heyrs Gedärme sich zusammenkrampften. Um die im Spiegeltor aufflackernde Energie hatte sich ein Rahmen aus Dunkelheit gelegt. Die Gestalt dieser Energie glitt an Heyrs Nerven entlang - finster und hässlich und unersättlich hungrig. Das Tor hatte sich irgendwo am Rand von Cat Creek geöffnet, in der Nähe der Stadt, aber nicht direkt darin. Wie Heyr machte auch dieses Problem kein Geheimnis aus seiner Ankunft. Er kannte die Gestalt und die Signatur der Kreaturen, die dieses Tor geschaffen hatten, und er war hin und her gerissen zwischen Ungläubigkeit und echter Furcht. Sie waren südlich der Stadt erschienen, dachte er. Und ihr Ziel war Lauren und alles, was zwischen Lauren und ihnen stand. »Etwas Großes«, sagte der Mann, den es vom Spiegel weggerissen hatte. »Etwas Böses.« Aber Heyr wusste, dass die Wächter nicht die Erfahrung hatten, um zu wissen, wie groß oder wie böse es war. Heyr wusste es. Die Keth hatten Cat Creek erreicht. Mjollnir, sein mächtiger Kriegshammer, kannte die Keth 122 und sang an seiner Hüfte eine Warnung, summte von Blut und Tod und Zerstörung, die er den dunklen Göttern wünschte, hungerte danach, wieder in den Kampf gegen die Verschwendung von Welten zu ziehen. Mjollnir kannte die Keth von anderen Orten, aus anderen Zeiten, von schönen Feldern und erhabenen Städten auf Welten, die jetzt luftlose Schlacken waren, verloren für das Leben, das sie einst beherbergt hatten. Auch Heyr kannte die Keth. Sie waren die Ersten, die tranken, die in jungfräuliche Welten vordrangen und die erste Ernte von Tod und Zerstörung pflanzten, die die Energie ihrer Zielwelten umformten und Tunnel und
Betten für Flüsse vergifteter Energie anlegten, die aus den oberen Welten hinunterströmte. Sie waren hier weit entfernt von ihren erwählten Jagdgründen. Es musste sie also jemand geschickt haben. Die Keth waren noch schlimmer als die Rrön. Durch die Adern der Rrön floss heißes Blut, und sterbliche Rrön unterschieden sich von den dunklen Göttern der Rrön. Sterbliche Rrön hassten die dunklen Götter ihres Volkes. Aber die Keth verdankten ihre Kälte nicht der Magie ihrer Auferstehungsringe - sie war ihre Natur. Insektenhaft und leidenschaftslos. Sterbliche Keth unterschieden sich von ihren dunklen Göttern nur dadurch, dass man sich ihrer leichter entledigen konnte. Eine Spur leichter. Heyr hatte die Keth auf jeder Welt, auf der er gegen sie in den Kampf gezogen war, verabscheut. Blutlos, gnadenlos, frei von Zorn wie von Hoffnung und außerstande, Trauer, Furcht oder Verlust zu begreifen, wussten sie nur, dass sie Ziele hatten und dass sie nichts dulden konnten, das sich zwischen sie und diese Ziele stellte. Heyr hätte lieber allein gegen eine ganze Horde von Rrön gekämpft als gegen einen einzigen Keth. Drei von ihnen näherten sich jetzt über eine Nebenstraße der Stadt. Er versuchte, sich vorzustellen, was die Bau123 ern und Lehrer und Schulkinder von Cat Creek tun würden, wenn sie einen Keth sahen, aber dann ging ihm auf, dass es keine Rolle spielte. Jeder, der in die Reichweite der Keth kam, würde sterben - die Ungeheuer würden den Menschen, denen sie zufällig begegneten, mit einer einzigen Berührung das Leben heraussaugen und dann weiterziehen. Die Keth hatten es nicht eilig. Warum auch? Sie hatten keinen Grund zu der Annahme, dass sich ihnen auf dieser Welt irgendjemand entgegenstellen würde. Er selbst hatte jahrelang vollkommen zurückgezogen gelebt und die Hoffnung aufgegeben. Jeder andere wahre Unsterbliche, der trotz des Schmerzes geblieben war und Heyr wusste nur von Loki, der keine Wahl gehabt hatte -, hatte dasselbe getan. Die dunklen Keth-Götter hatten jeden Grund zu glauben, dass ihnen auf dem Weg zu Lauren kein Hindernis begegnen würde. Sie folgten der Spur der Lebensmagie und taten es wahrscheinlich auf dieselbe Weise, wie Heyr es getan hatte. »Die Keth sind hier«, sagte Heyr. »Drei von ihnen. Sie sind gekommen, um Lauren zu vernichten und dem, was sie zu tun versucht, ein Ende zu machen. Wir müssen sie aufhalten.« Eric starrte ihn an. »Sie sind gekommen, um Lauren aufzuhalten. Lauren, die hinter unserem Rücken weiß Gott welche Probleme entlang der Weltenkette verursacht hat. Lauren, die mit ihrer toten und durch Magie wiederbelebten Schwester zusammenarbeitet. Lauren, deren Eltern Verräter waren und die eigentlich unsere Torweberin sein sollte, obwohl es jetzt den Anschein hat, als sei womöglich auch sie eine Verräterin. Sie ist diejenige, für die wir uns auf diese Granate werfen sollen? Warum? Und wichtiger noch ... wie? Wir sind keine Krieger, und die Keth sind Götter. Sie gebieten auch in unserer Welt über Magie.« »Dasselbe gilt für mich«, erwiderte Heyr, »und für euch 124 ebenfalls, wenn ich euch die Gabe verleihe. Ich wünschte, ich hätte die Zeit, sie euch allen zu verleihen ...« Er sah Eric an und dachte: Ja, er wäre vielleicht geeignet. Vielleicht auch einige der anderen. Vielleicht - je nachdem, wie sie kämpften. Und das würde er schon viel früher erfahren, als ihm lieb war. Der kleine Funken Hoffnung, den Lauren entfacht hatte, dehnte sich aus. Falls einige dieser Wächter den bevorstehenden Kampf überleben sollten, konnte er ihnen vielleicht ein Angebot machen, das seit tausend Jahren auf dieser Welt niemandem mehr gemacht worden war. »Was das Warum betrifft - bedenkt dies: Sind schon jemals Keth auf die Erde gekommen, um nach euch zu suchen?« »Nein«, antwortete Eric. »Natürlich nicht. Denn du und deine kleine Schar hier, ihr stellt keine Gefahr für die Pläne der Keth dar. Ihr redet davon, eine Stellung zu halten. Nun, ihr haltet diese Stellung seit Jahrhunderten, und die Nachtwache hat sich nie dazu herabgelassen, auf euch Jagd zu machen. Denn obwohl ihr von Bedeutung hättet sein können, habt ihr euch bis jetzt dafür entschieden, nicht von Bedeutung zu sein. Keiner der Wächter hat jemals eine Bedrohung für die Pläne der Nachtwache dargestellt. Bestenfalls habt ihr ihre Arbeit ein wenig verlangsamt. Schlimmstenfalls habt ihr den Schaden, den die dunkle Magie anrichtete, lange genug möglichst gering gehalten, um der Bevölkerung dieser Welt Zeit zu geben, sich zu entwickeln, so dass das Festmahl, wenn diese Welt schließlich doch fällt, für die dunklen Götter nur umso üppiger ausfallen wird. Sie betrachten euch weder als Feinde noch als Bedrohung. Ihr dient den dunklen Göttern gelegentlich zur Unterhaltung und zur Erheiterung. Aber Lauren hat ihre Verbindungen zur Lebensmagie zwischen den Welten erst seit einigen Monaten gewoben, und schon hat sie eine Macht auf diese Welt gezogen, die sich mit nichts vergleichen lässt, was während Tausenden 125 von Jahren hier gewesen ist. Denn das, was sie tut, funktioniert. Sie stellt eine echte Bedrohung für die Nachtwache und für alles dar, wonach es sie verlangt.« Er starrte Eric an, bis dieser den Blick senkte. »Du redest von einem Kampf, der es wert ist, gekämpft zu werden. Einem Kampf für das Rechte - einem Kampf um Heimat und Glauben und Familie. Das ist dieser Kampf. Sie wird die Welt retten, wenn es euch nur gelingt, Lauren zu retten. Begreifst du jetzt, kleiner Mann, warum sie es wert ist, dass man um ihretwillen kämpft?« Eric sagte nichts. Heyr hatte jedoch auch keine Antwort erwartet. Er deutete auf Pete. »Geh. Hol sie und das Kind, und bring sie von hier weg. Fahr mit den beiden nach Norden. Steuere die erste große Stadt an, such dir eine Gegend, die voller Menschen ist und voller Leben, und dann bleib dort. Lass deinen Torspiegel zurück und
alles andere, was dich mit der Magie verbindet. Macht euch für ein Weilchen unsichtbar. Benutz keine Tore und keine Magie, um Lauren zu erreichen, tut es auch nicht, um festzustellen, wie es uns hier ergeht - die Keth werden nach dir und Lauren suchen. Noch wissen sie nicht, wer sie ist oder wo. Aber wenn sie hier bleibt, werden sie nicht lange brauchen, um sie zu finden.« Pete nickte. Er stellte keine Fragen; er lief einfach los. Ein guter Mann. Er war ein Krieger, und Heyr gefiel es nicht, ihn wegzuschicken - aber Lauren würde einen starken Gefährten an ihrer Seite brauchen, falls die Dinge nicht gut liefen. Dann wandte er sich an die übrigen Wächter. Ein kümmerliches Häuflein, alle durch die Bank - junge Mädchen und alte Frauen und Männer, die noch nie ein Schwert in Händen gehalten hatten. Wenn ihm diese großartige Idee vor ein oder zwei Tagen gekommen wäre, wenn er eine Woche Zeit gehabt hätte ... aber diese Zeit hatte er nicht, und das Beste, was er würde ausrichten können, war wenig 126 genug: Er würde ihnen gute Waffen geben und hoffen, dass diese Menschen im Kampf standhielten. Wenn es brenzlig wurde, würden die meisten von ihnen jedoch bestimmt weglaufen. Er musste dafür sorgen, dass jeder, der blieb, wirkungsvoll kämpfte. Heyr wusste, dass er allein gegen drei Keth unmöglich den Sieg davontragen konnte. Er war auf eine Art und Weise unsterblich, wie sie es nicht waren - sie konnten ihn nicht töten, es sei denn, sie nahmen die ganze Welt mit ihm - oder sie umringten ihn, benutzten ihre Gedankenbefehle gegen ihn und schickten ihn durch ein Tor. Wenn sie in der Überzahl waren und ihn auf solche Weise gefangen setzten, wäre es um ihn geschehen. Aber diese Leute konnten zumindest ein Ablenkungsmanöver durchführen, um ihm die Möglichkeit zu geben, die Keth anzugreifen. Es waren dunkle Götter, keine Unsterblichen. Sie konnten getötet werden. Er runzelte die Stirn und dachte nach. Die AEsir hatten stets Waffenhorte angelegt, um im Notfall darauf zurückgreifen zu können: Verzauberte Klingen wie die, die er Lauren gegeben hatte, Waffen, mit denen ein Sterblicher gegen einen Gott kämpfen und vielleicht sogar siegen, zumindest aber ein Patt erzielen konnte. Solche Waffen waren auf der Erde jedoch seit sehr langer Zeit nicht mehr benötigt worden; die Erde hatte sich ganz langsam auf den Tod zubewegt, und die meisten dunklen Götter waren vor der bevorstehenden Explosion geflohen. All die wirklich großen Schlachten wurden an den Grenzen ausgefochten - auf Welten weit unterhalb der Erde und ihrem nahenden Kollaps. Und die meisten der AEsir waren den dunklen Göttern und den lohnenden Schlachten gefolgt und hatten sich, was durchaus konsequent war - eine Atempause von dem ständigen, höllischen Schmerz verschafft, den ein Unsterblicher auf einer sterbenden Welt litt. 127 Heyr liebte die Menschheit und liebte die Erde. Als die Mehrheit der AEsir weitergezogen war, hatte er mit den Zähnen geknirscht und sich entschlossen zurückzubleiben. Auch Loki war geblieben, gefesselt an die Erde als Strafe für seinen Mord an Balder. Nach Heyrs letzten Informationen unterhielt Loki noch immer einen ordentlichen Hort modernster Waffen. Heyr liebte seinen Kriegshammer und wusste eine gut geschmiedete Klinge zu schätzen; Loki bevorzugte Worte, aber wenn Worte nicht weiterhalfen, war ihm ein gutes Maschinengewehr das Zweitliebste. In diesem Augenblick war Heyr bereit, die Dinge von Lokis Warte aus zu betrachten. »Überlass mir für einen Moment dein Tor«, sagte er zu dem Wächter, der inzwischen wieder auf seinen Posten zurückgekehrt war. Der Mann machte ihm Platz, und Heyr ließ sich zur Gänze in den Aspekt seines Selbst gleiten, der Thor war. Er drückte mit einer Hand auf die Oberfläche des Spiegels und konzentrierte sich auf Loki, der sich zuletzt irgendwo in Russland herumgetrieben hatte, soviel Heyr wusste. Und da stand er - stiftete gerade Unheil mit irgendwelchen Sprengköpfen. Loki spürte, wie das Tor geöffnet wurde, und blickte überrascht von irgendetwas Elektronischem in einer Bombe auf. Als er sah, wer auf der anderen Seite des Tores stand, zeichnete sich auf seinem Gesicht ein breites Grinsen ab. »Thor!« »Ich muss dringend in den Hort der AEsir.« »Ach ja? Dann hast du also eine Schar von Helden für den letzten Kampf um dich versammelt?« »Nein. Wir haben Keth. Und ich muss mit dem arbeiten können, was ich zur Verfügung habe.« »Keth?« Loki ließ den Schraubenzieher in die Innereien der Bombe fallen und stand auf. Er drehte sich um und sagte zu jemandem, der außerhalb von Heyrs Gesichtskreis 128 stand: »Mach diese Lieferung fertig. Ich bin bald zurück.« Dann wandte er sich wieder an Heyr. »Ich werde dir den Hort drüben bei dir öffnen.« »Du willst mit rüberkommen?« »Ihr habt Keth.« Loki grinste und schob die Hände in das grüne Feuer. Heyr machte einen Schritt zurück, und Loki trat durch das Tor hinein nach Cat Creek. »Die Keth haben noch eine kleine Rechnung bei mir offen.« Wie Heyr hatte er seine AEsir-Gestalt gegen einen menschlichen Körper eingetauscht. Wie Heyr hatte er sich nicht die Mühe gemacht, allzu viel an seinem früheren Äußeren zu verändern. Er sah immer noch aus wie ein Fuchs -spitze Gesichtszüge, verschlagener Blick. Heyr sagte: »Du hast dich nicht sehr verändert.« »Ich bin Veränderung«, erwiderte Loki grinsend und fügte hinzu: »So wie es aussieht, hast du dich überhaupt nicht verändert. Trampelst da in deinem Göttergewand zwischen den Sterblichen herum und wendest dich an
mich um Hilfe, wenn es brenzlig wird.« Dann verebbte sein Grinsen ein wenig. »Keth, wie? Was zum Teufel tun die denn hier?« »Lebensmagie hat ihren Weg zurück auf diese Welt gefunden. Ich nehme an, die Keth sind hergekommen, um diese Entwicklung im Keim zu ersticken.« Alle Erheiterung wich aus Lokis Zügen. Er richtete sich hoch auf und wurde mit einem Mal größer, als er wieder nach der AEsir-Gestalt griff, die er so lange getragen hatte. »Nach all dieser Zeit hat jemand den Weg gefunden, um die Weltenkette neu zu beleben?« »Ja.« »Dann wäre diese Welt vielleicht noch zu retten?« »Ja.« Loki drehte sich ohne ein weiteres Wort um, legte die Hände flach auf den Spiegel und fuhr im Kreis über die 129 Oberfläche, bis er sie mit einem ganzen Berg schmutziger Erde bedeckt hatte. Dann schob er das Tor nach vorn, so dass es den Berg teilte, und zu guter Letzt bewegte er das grüne Feuer durch Erde und Stein und Metallschichten, bis er freien Raum gewann. Er griff hinein und machte sich daran, Dinge herauszuziehen und sie Heyr zu übergeben. »Die Dinger sind gut - alle automatisch, unbegrenzte Schusszahl, ohne jede Ladehemmung. Die Geschosse wirken sowohl mechanisch als auch magisch. Was die Keth auch immer bei sich tragen, irgendetwas von dem hier müsste eigentlich durchkommen. Schilde - wirf sie über deine Leute, damit sie einen gewissen Schutz gegen sie haben. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, womit die Keth heutzutage kämpfen - nach meinen letzten Informationen befand sich der größte Teil dieser Brut acht Welten weiter unten ...« Er hielt inne, während er etwas Großes, Sperriges durch das Tor zwängte und es im letzten Augenblick so drehte, dass es hindurchpasste. Anschließend trat er wieder einen Schritt zurück und ließ das Gerät mit einem schweren Aufprall auf den Holzfußboden fallen. Heyr konnte das Holz darunter splittern hören. »Und ich hätte nicht gedacht, dass irgendein Keth sich heutzutage überhaupt noch hier blicken lässt.« Das war Loki. Nichts konnte ihn zum Schweigen bringen. »Bisher hatten sie auch keinen Grund dazu.« »Lebensmagie.« Loki drehte sich um und betrachtete die Wächter, dann sah er Heyr an, und auf seinem Gesicht zeichnete sich deutliche Ungläubigkeit ab. »Beim kurzsichtigen Odin, Thor, du warst doch früher in der Lage, Helden auszuwählen. Was zum Teufel machst du hier? Magere Männer, kleine Mädchen und alte Damen!« »Sie sind Wächter«, erwiderte Heyr. »Meinetwegen könnten sie Nachtwächter sein, und sie wären trotzdem ...« Sein Gesichtsausdruck veränderte 130 sich; eine Augenbraue zuckte kaum merklich in die Höhe, und die Augen wurden um eine winzige Spur schmaler. »Wächter - die Wächter?« »Ja.« »Was immerhin erklärt, warum die alten Jungfern da drüben nicht tot umgefallen sind, als ich durch das Tor kam. Hallo, meine Damen«, sagte er. »Wir Jungs müssen jetzt ein paar Keth töten gehen, aber sobald wir zurück sind, nehme ich jede von euch in mein Bett, bei der Thor mir nicht zuvorgekommen ist, und auch alle, die er hatte und die von ihm enttäuscht waren.« Er grinste. Heyr stieß Loki mit dem Ellbogen in die Rippen. »Waaaaas?« Loki drehte sich zu ihm um. Im Flüsterton sagte Heyr: »Ich bin erst seit gestern hier.« Lokis Lächeln hatte plötzlich einen boshaften Zug. »Du bist gerade erst angekommen ... dann ist also das ganze Feld reif für den Pflug?«, flüsterte er zurück. »Zur Verteidigung meines Freundes«, sagte er laut, »möchte ich euch darauf aufmerksam machen, dass nicht die Größe des Hammers eines Mannes zählt, sondern das, was er damit tut.« Dann griff er sich eine Hand voll Waffen und Schilde und machte sich daran, sie zu verteilen. Heyr murmelte: »Dieser Satz war in Asgard nicht komisch.« Loki lachte. »Zumindest hast du ihn nie komisch gefunden.« Eine der alten Frauen trat vor Loki hin und sagte: »Wir werden ebenfalls kämpfen.« Loki lachte. Sie ließ sich nicht abweisen. »Wir haben schon früher gekämpft. Auch in letzter Zeit. Viele aus unseren Reihen sind gestorben, aber nicht wir. Wir beherrschen den Umgang mit Waffen wie diesen - wir haben sie in der Welt unter der Erde benutzt. Wir werden nicht weglaufen.« 131 Heyr mochte sie. Sie hätte eine gute Walküre abgegeben, wäre sie nur jünger gewesen, dachte er. Loki schien weniger beeindruckt zu sein, aber er gab der Frau einen Schild und eine Waffe und beobachtete mit unverhohlener Erheiterung, wie sie den Schildpanzer anlegte, als sei sie eine alte Veteranin. Auch Heyr beobachtete sie, aber mit weniger Zynismus. Die Älteren würden vielleicht nicht so nutzlos sein, wie man es auf den ersten Blick vermuten konnte. Was die Jüngeren betraf, würde er mit seinem Urteil noch warten. Sie statteten die Wächter schnell mit den nötigen Waffen aus, dann sagte Loki zu Heyr: »Wo sind Tanngrisnir und Tanngnjöstr? Die werden wir brauchen, um die großen Sachen zu transportieren.«
Heyr stieß einen Pfiff aus und hörte kurz darauf aus weiter Ferne ein Brüllen, mit dem die großen Ziegen ihm antworteten. Getarnt als sein Pickup, würden sie ihn auf dem Parkplatz treffen. Er und Loki packten die schwere Kiste, die Wächter griffen nach ihren Waffen, dann gingen alle zusammen zur Tür hinaus. Das Tor blieb unbewacht zurück, aber der Wächter, dessen Schicht es gewesen war, schloss es immerhin, indem er einen Kieselstein hindurchwarf, bevor auch er hinter den anderen her die Treppe hinunterlief. Heyrs Truck bog aus eigenem Antrieb auf den Parkplatz ein, Kieselsteine stoben unter seinen Reifen auf, dann kam der Wagen schlitternd zwei oder drei Zentimeter vor Heyr zum Stehen. Heyr grinste; die Ziegen waren übereifrig und in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht übermäßig bockig. »Steigt hinten ein, ihr alle«, befahl er, und die Wächter gehorchten. Er fing hier und da ein Aufblitzen von Furcht auf und einige Zweifel in Bezug auf die ganze Mission, aber es waren gute Leute, angeführt von einem guten Mann. Sie hatten ein Gefühl dafür, was wichtig war. Er kannte kampferprobte Krieger, die ihn in derselben Situation mit Ein132 wänden bombardiert, die seine Zeit mit Fragen verschwendet hätten. Diese grimmig dreinblickenden Männer und Frauen setzten sich einfach auf die Ladefläche des Trucks, die Waffen einsatzbereit in den Händen, und sahen zu, wie er und Loki die große Kiste zu ihnen hinauf auf die Ladefläche hievten. Er sprang auf den Fahrersitz, Loki nahm auf dem Beifahrersitz in der Kabine Platz, und sie fuhren los. »Was ist in der Kiste da?«, fragte Heyr. »Etwas, mit dem ich experimentiert habe. Ich weiß nicht, wie nützlich es sein wird, aber ich glaube nicht, dass es schaden kann. Es ist ein Zauber, den ich gewoben habe - er dämpft die Energiewellen dunkler Magie, während er gleichzeitig die Energiewellen von Lebensmagie verstärkt.« Heyr warf ihm einen Seitenblick zu. »Wir werden die Waffe nicht einsetzen.« Loki seufzte. »Du musst deine Abneigung gegen den Fortschritt überwinden.« »Du weißt ja gar nicht, ob es ein Fortschritt ist. Die Waffe ist noch unerprobt, stimmt's? Sie könnte sich als eine Katastrophe erweisen. Sie könnte unser Untergang sein.« »Könnte sie. Wird sie aber nicht. Vertrau mir.« Heyr lachte. »Ich kann dir nicht vertrauen, Bruder Fuchs. Das Vertrauen steht draußen vor der Tür der Halle, die wir miteinander teilen, nachdem du es mit deinem Knüppel zu einem blutigen Brei geschlagen hast, und es wird nicht wieder durch diese Tür hereinkommen.« »Vergiss Balder, ja? Das war damals; jetzt ist heute. Und die Situation hat sich geändert. Ich bin für immer an diesen verdammten Felsen gekettet; ich habe gute Gründe, dafür zu sorgen, dass dieses Mädchen überlebt. Für Sigyn ebenso wie für mich selbst. Es gibt Zeiten, da denke ich, ich könnte den Tod bereitwillig willkommen heißen, wäre da nicht 133 noch sie. Aber ich möchte, dass sie ihre Unsterblichkeit bewahren kann, und ich möchte diese Unsterblichkeit mit ihr teilen, selbst wenn wir sie hier verbringen müssen. Sie hat so viel aufgegeben um meinetwillen. Sie trägt diesen ewigen Schmerz für mich, obwohl es ihr freistünde, jederzeit fortzugehen.« »Trotzdem«, sagte Heyr, »wir mögen zwar manchmal Verbündete sein und sehr häufig auch Freunde, aber wir werden uns trotzdem an die Waffen halten, auf die wir uns verlassen können.« »Die Ragnarök stehen noch immer zwischen uns, nicht wahr?« Heyr konzentrierte sich darauf, die Keth aufzuspüren; er suchte mit Sinnen nach ihnen, die auf ihre Anwesenheit und ihren Hunger ausgerichtet waren. An Lokis Frage verschwendete er kaum einen Gedanken. »Solange Asgard tote Schlacke ist, spielen die Ragnarök keine Rolle. Wenn diese junge Frau, zu deren Schutz wir kämpfen, überlebt, um Asgard, Jotunheim, Niflheim und die anderen Welten über dieser wiederzubeleben, dann werden die Dinge anders aussehen. Dann könnten die Ragnarök möglicherweise entscheidend sein. Ich weiß, dass die Midgard-Schlange noch existiert, aber sie und ich werden nicht noch einmal dieselbe Welt teilen, bis ich meine Halle zurückhabe und die Zweige und Wurzeln des Weltenbaums nicht verwelken und sterben.« »Und doch wünschte ich, du würdest mir vertrauen - du würdest wissen, dass wir auf derselben Seite stehen.« »Das tun wir nicht. Oder zumindest werden wir es nicht tun. Jedenfalls nicht am Ende.« Sie sahen einander an, Freunde, die eine lange gemeinsame Vergangenheit verband und, irgendwo in sehr weiter Ferne, eine dunkle Zukunft. Heyr fügte hinzu: »Und wenn es uns gelingen sollte, die134 se Keth aufzuhalten - wenn es uns gelingen sollte, die Nachtwache hier aufzuhalten und sie lange genug fern zu halten, um das Sterben dieser Welt umzukehren -, dann machen wir beide auf dem Weg zu dem uns verheißenen Untergang einen großen Schritt zurück.« Loki nickte. »Und doch frage ich mich oft, ob dieser Untergang sich nicht, wie andere Untergänge auch, neu schreiben ließe. Wenn die Prophezeiung der Alten vielleicht nur ein Widerschein aus Vorder- oder Nebenwelten war und keine wahre Vorhersage kommender Ereignisse, die uns selbst betreffen.« Heyr spürte, dass sein Truck aus eigenem Antrieb das Tempo drosselte. Tanngrisnir und Tanngnjöstr spürten die Anwesenheit der Keth in der Nähe. Sie würden weit genug vor ihnen stehen bleiben, um es Heyr zu
ermöglichen, seine Krieger zu verteilen. Er berührte Mjollnir, der voller Eifer an seiner Hüfte zitterte, mit seinen behandschuhten Fingerspitzen und sagte: »Und wenn du deine eigene Zukunft neu schreiben könntest, indem du meine verrätst - obwohl wir Freunde sind -, zweifle ich keinen Augenblick daran, dass du es tun würdest.« Er spürte Lokis Blick auf sich, als er aus der Kabine sprang, und sah, wie der alte Gott durch die hintere Scheibe schaute, während er zu den Wächtern ging. »Loki und ich werden sie von hinten in die Zange nehmen und sie mit einem Überraschungsangriff überwältigen. Unsere Magie hier ist nicht so groß, wie sie es früher einmal war, aber dank Lauren wird sie beständig stärker. Ihr werdet euch im Hintergrund halten und aus der Entfernung auf die Keth feuern, um sie abzulenken. Belegt sie mit Dauerfeuer. Es ist unwahrscheinlich, dass ihr sie töten oder auch nur großen Schaden stiften werdet mit den Waffen, die ihr habt, aber wenn ihr es uns ermöglicht, sie in die Zange zu nehmen, können wir sie überwältigen.« 135 »Du wirst da oben bei den Keth sein«, meldete sich eine Frau zu Wort. »Wenn wir auf sie schießen, schießen wir auch auf dich.« Thor wusste die Sorge um ihn zu schätzen. »Die Waffen sind mit einem Zauber belegt, so dass sie nur Kreaturen treffen, die sich der dunklen Magie verschrieben haben ...« An dieser Stelle verlor sich seine Stimme. Die Waffenhorte der alten Götter waren seit jeher auf diese Weise präpariert gewesen, und Loki hatte schon immer mit einem Fuß im anderen Lager gestanden. Lokis Mätresse, Angrboda, eine Kreatur aus der Welt unterhalb von Asgard, mit der Loki drei Kinder gezeugt hatte, war selbst eine dunkle Göttin geworden, nachdem Loki sich geweigert hatte, Sigyn um ihretwillen zu verlassen. Und selbst Odin hatte gesagt, Loki liebe seine Mätresse und ihre gemeinsamen Kinder ebenso sehr wie seine treue Ehefrau. Vielleicht würden diese Waffen die dunklen Götter ja doch nicht vernichten; vielleicht würden sie nur die lebenden verletzen - die alten Götter und jene, die ihnen halfen. Aber nein. Heyr holte tief Luft. Wenn dieser Planet starb, würde Loki mit ihm sterben. Er war an die Erde gebunden, dazu verflucht, hier zu bleiben, bis er einen Weg fand, um den Fluch zu brechen - und den Alten zufolge würde der Fluch so lange bestehen bleiben, wie die Ragnarök es taten. Ganz gleich, wem seine Loyalität in der Zukunft auch gelten mochte, Loki konnte aus dem Tod dieser Welt keinen Nutzen ziehen. Heyr straffte sich und sagte: »Ihr könnt direkt auf uns beide zielen, wenn ihr auf diese Weise einen hinter uns stehenden Keth treffen könnt. Eure Kugeln werden uns keinen Schaden zufügen.« Loki stieg aus dem Truck. »Sehr gut, Donnerjunge. Dann hast du das also endlich kapiert. Ich konnte förmlich sehen, wie dein Gehirn arbeitete - gewiss ein mühsamer Prozess. 136 Und du hast endlich die richtige Antwort ausgeknobelt.« Er ging um den Wagen herum zur Ladefläche, warf sich eine der Waffen aus seinem eigenen Lager über die Schulter und sagte: »Dein Verstand ist ein bisschen schärfer geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.« Heyr nahm ihm seine Worte nicht übel. Er wusste, dass er neben Loki kein Genie war. Achselzuckend erwiderte er: »Du wirst eins von den Dingern benutzen?« »Worte können bei den Keth nichts ausrichten«, antwortete Loki. »Sie benutzen sie nicht, und sie brauchen sie nicht. Sie sind immun gegen Poesie und Prosa gleichermaßen. Und sie verstehen keine Witze - für diese Sünde allein haben die Mistkerle den Tod verdient.« Heyr sah Loki an und grinste. »Du kennst zumindest deine Prioritäten.« Die Menschen waren inzwischen ausgestiegen und sahen sich unsicher um. Loki sagte: »Du postierst die Hälfte von ihnen in einem Fächer auf der einen Seite deines Streitwagens, und ich verteile die andere Hälfte. Die Leute wissen nicht, was sie zu tun haben.« »Schnell«, stimmte Heyr ihm zu. »Dann werden wir beide auf die Flanken vorpreschen und die Keth von zwei Seiten zugleich angreifen.« »Du meinst, dass wir die Keth überraschen können?«, fragte Loki. Heyr zuckte die Achseln. »Vielleicht. Wir haben noch nichts getan, das ihre Aufmerksamkeit hätte erregen können - es gab bereits Tore an dieser Stelle, und wir haben nur eins benutzt, das schon da war.« Loki nickte. »Trotzdem wäre es vielleicht klug, davon auszugehen, dass sie mit unserem Angriff rechnen.« »Allerdings«, pflichtete Heyr ihm bei. Vorsichtig und sehr leise begann er, aus allen Himmelsrichtungen Stürme herbeizurufen. 137 Cat Creek, North Carolina Ich werde langsam zu alt für so etwas, dachte June Bug. Es ist mir nicht mehr so wichtig zu siegen. Es wird immer einfacher, an den Tod zu denken - daran, all dem hier den Rücken zuzukehren und das Kämpfen den Jüngeren zu überlassen. Vielleicht heute. Auf dem Bauch im hohen Gras liegend, fiel es ihr nicht schwer, darüber nachzudenken, dass auf der anderen Seite all dieser Angst und dieses Schmerzes ein Großteil der Menschen wartete, die sie je geliebt hatte. Ihre Eltern. Tanten und Onkel. Ihre Schwester, ihr Neffe, Freunde. Die beiden Frauen, für die sie alles riskiert hätte, die sie geliebt hätte, hätte sie den Mut dazu gehabt. Aber die Erde roch nach dem nahen Herbst, und die Luft strömte süß und erfrischend in ihre Lungen. Auf beiden
Seiten von ihr warteten Menschen, die sich auf sie verließen, die sie brauchten, denen sie etwas bedeutete. So alt war sie gar nicht. So müde war sie nicht. Also. Vielleicht doch nicht heute. Auch auf dieser Seite der Ewigkeit gab es noch vieles, wofür es sich zu leben lohnte. 8 Cat Creek, North Carolina Lauren sah Pete über den Rasen laufen, noch bevor er Zeit gehabt hatte, auf die Klingel zu drücken. Sie hätte eigentlich schlafen sollen, konnte es aber nicht. Das Entsetzen, das sie verspürte, war übermächtig; etwas war durch das Tor mit Gewalt ins Haus eingedrungen und hatte sie aus tiefem Schlaf gerissen, und sie war noch immer so erschöpft, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Mit Heyrs Klinge in der Hand lief sie barfuss immer wieder im Kreis um Jakes Bett herum, wartete und fand keine Ruhe. Sie wagte es nicht, Jake auch nur für einen Augenblick allein im Zimmer zu lassen, ob er nun schlief oder wach war. Daher hob sie, kaum dass sie Pete draußen erkannt hatte, ihren Sohn mit einiger Mühe hoch, schlang beide Arme um das immer noch schlafende Kind und eilte, das Schwert fest umklammert, durchs Haus und die Treppe hinunter. Pete verschwendete keine Zeit auf die Begrüßung. »Wir müssen sofort weg«, sagte er. Lauren stellte keine Fragen - das Warum konnte warten, bis sie in Sicherheit waren. Sie nickte nur und legte Jake Pete in die Arme. Dann griff sie nach ihren Hausschlüsseln und ihrer Tasche, schlüpfte barfuss in das übergroße T-Shirt und die schwarze Jogginghose, die Brian gehört hatte, und rannte hinter Pete durch die Tür. Sie nahm sich die Zeit, die Haustür abzuschließen, verschwendete sonst aber keinen Gedanken an irgendetwas anderes. Sie sprangen in Laurens Wagen, in dem Jakes Kindersitz bereits festgezurrt war. Pete setzte sich auf den Fahrersitz 139 und fuhr bereits rückwärts aus der Einfahrt hinaus, während Lauren noch damit beschäftigt war, Jake anzuschnallen. Sobald sie nach vorn geklettert war, schob sie die Klinge in die Scheide und legte den Sicherheitsgurt an - erst jetzt hörte ihr Herz langsam auf zu rasen. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Eine Menge.« Pete sah sie von der Seite an. Seine Haut war bleich, und er wirkte genauso verängstigt wie sie. »Erstens sind einige Keth nach Cat Creek gekommen, um dich zu töten.« Lauren lehnte sich zurück, schloss die Augen und schluckte. Sie kannte den Ruf der Keth und wusste, dass selbst die gefürchteten Rrön vor ihnen Angst hatten. »Verstehe. Was noch?« »Heyr ist einer der alten Götter.« »Das hatte ich bereits geahnt.« »Einer der prominenteren alten Götter.« Sie drehte sich leicht um und sah ihn an. Ein winziges Lächeln zuckte um seinen Mundwinkel. »Oh? Welcher denn?« »Thor.« Lauren verdaute diese Nachricht. Thor. Nun ja ... sie kannte sich nicht allzu gut aus mit nordischer Mythologie, erinnerte sich aber doch daran, dass Thor immer einer von den Guten gewesen war, wenn es um Menschen ging. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster. Ja, wenn sie ein wenig besser aufgepasst hätte, hätte sie ihn vielleicht erkannt, als er sie, Jake und Pete in jener Welt unterhalb der Erde vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Andererseits - wer rechnete schon damit, Thor zu begegnen? »Er wird die Wächter bewaffnen und sie gegen die Keth in die Schlacht führen.« Lauren schüttelte den Kopf, und Pete musste den Ab140 scheu, den sie empfand, wohl gespürt haben. »Früher einmal habe ich mein Leben verstanden. Es gab keine Tore darin, keine Goroths, keine Magie oder Besuche von Drachen oder - was zum Teufel waren die Keth eigentlich in unserer Mythologie? Ich bin davon überzeugt, dass sie einen Platz darin hatten - keinen Thor und keine magischen Schlachten, um Himmels willen.« »Aber das lag nur daran, dass du diese Dinge nicht sehen konntest - gegeben hat es sie trotzdem. Was ist besser, zu wissen oder nicht zu wissen?« Pete beschleunigte, um auf der zweispurigen Straße nach Feyetteville einen anderen Wagen zu überholen, und zum ersten Mal wurde Lauren klar, wie weit er die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritt. »Soweit es mich betrifft, möchte ich lieber Bescheid wissen. Ich möchte lieber in der Lage sein, die Gefahr zu erkennen und etwas dagegen zu unternehmen, statt zu glauben, alles sei in Ordnung, und den Ereignissen hilflos und unvorbereitet gegenüberzustehen.« Nachdem sie ein paar Minuten schweigend durch die Dunkelheit gefahren waren, verlangsamte Pete plötzlich das Tempo auf die vorschriftsmäßige Geschwindigkeit. »Da vorne steht für gewöhnlich ein Bursche mit einem Radargerät«, sagte er. Er sah in den Rückspiegel, dann wieder auf die Straße. »Was ist mit Jake? Ihr beide hättet genauso leben können wie alle anderen, unwissend und glücklich; du hättest dich an ihm erfreuen können und dir um nichts Sorgen zu machen brauchen, und eines Tages wäre die Welt um dich herum einfach in Rauch aufgegangen. Obwohl es vorher wahrscheinlich gewisse Hinweise gegeben hätte -Kriege, Seuchen und Grauen -, und dann wäre die Welt um dich herum in Rauch aufgegangen, und du wärest hilflos gewesen. Auf diese Weise
kannst du etwas tun.« Er seufzte. »Verdammt, so wie die Dinge liegen, bist du sogar der einzige Mensch, der etwas tun kann, das wirklich funktioniert. 141 Wenn es anders wäre, würden die Keth nicht Jagd auf dich machen.« »Ich bin froh darüber, dass ich vielleicht etwas ausrichten kann, trotzdem wünschte ich, ein anderer würde den Job für mich übernehmen. Ich wünschte, ich könnte glücklich und unwissend sein und mich einfach daran erfreuen, Jake heranwachsen zu sehen, während andere Menschen all die Risiken auf sich nähmen und sich mit Ungeheuern auseinander setzten, die sie zu töten versuchen. Und dieser wunderbare, mythische >andere< würde alles retten.« Sie drehte sich um und betrachtete die Landschaft, die an ihnen vorbeiglitt. Auf ihrer Seite wuchsen dicht an dicht Bäume ganz in der Nähe der Straße - ein junger Wald aus Eichen, Hartriegel und einer Menge hoher Kiefern, in die sich gelegentlich vereinzelte Platanen mischten. Lauren war immer gern als Beifahrerin im Auto mitgefahren, hatte aus dem Fenster geschaut und sich Tagträumen hingegeben. Es war eine ganze Weile her, dass sie das letzte Mal diesen Luxus genossen hatte, und sie empfand es als tröstlich, jemand anderen fahren zu lassen. Sie wünschte nur, sie hätte auch jemanden gehabt, dem sie all die anderen Dinge überlassen konnte, die sie tun musste. »Ich habe mir den größten Teil meines Lebens Abenteuer gewünscht und Magie und Wunder - und kaum habe ich sie bekommen, kann ich mich nur fragen, was zum Teufel ich mir dabei gedacht habe.« »Du hast sicherlich nicht gedacht, dass du dich mitten im Zentrum eines Spiels wiederfinden würdest, das den Titel >Lasst uns die Erde zerstören< trägt. Und ich weiß, dass du dir Normalität wünschst. Ich gäbe viel darum, wenn du ein normales Leben führen könntest; ich wünschte, jemand anderes könnte die Weltenkette retten und du wärest einfach eine junge Mutter mit einem netten kleinen Sohn. Es würde ... es würde eine Menge Dinge leichter machen.« Lauren starrte weiter aus dem Fenster und tat so, als hät142 te sie die Bedeutung seiner Worte nicht verstanden. Er sprach von ihnen beiden - oder vielmehr von der fortgesetzten Tatsache, dass es sie beide nicht gab, obwohl sie sich so offenkundig zueinander hingezogen fühlten. Als sie nach einer Weile noch immer nichts erwidert hatte, seufzte er. »Das mit uns beiden könnte wirklich gut werden, Lauren.« »Das weiß ich.« »Wo liegt dann das Problem?« Lauren sah zu Pete hinüber. Sie konnte noch immer Brians Arme um ihre Schultern spüren, als er ihr an jenem Ort Lebewohl gesagt hatte, der der Himmel sein konnte oder das Sommerland, der in Wirklichkeit aber, was auch immer er sonst noch sein mochte, der letzte Bestimmungsort und Ruheplatz für die meisten Seelen war. Sie konnte noch immer Brians Augen sehen, als er sie angefleht hatte, weiterzuziehen und ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Als er ihr gesagt hatte, er würde im Jenseits auf sie warten, dass es ihr aber in der Zwischenzeit freistünde, wieder zu lieben. Dass es im Himmel keine Eifersucht gab. Sie glaubte ihm, glaubte, dass seine Worte ebenso wahr wie richtig waren. Und trotzdem änderte das gar nichts. Sie konnte Pete mögen, sie konnte ihn begehren, sie konnte ihn sexy finden und sich vorstellen, dass er wahrscheinlich sehr gut im Bett war -aber sobald auch nur die winzigste Sehnsucht nach Pete in ihr aufflackerte, hatte sie das Gefühl, Brian untreu zu sein. Sie sah Pete bekümmert an. »Es fällt mir furchtbar schwer loszulassen«, sagte sie. »Ich weiß. Aber das ist jetzt - wie lange her? Drei Jahre?« »Fast. Oder drei Monate, je nachdem, wie man es betrachtet.« Ihre Reise über den Fluss des Todes war noch zu frisch in ihrer Erinnerung. »Ich würde es lieber als drei Jahre betrachten«, sagte Pete. 143 Lauren lächelte schwach. »Nur dass er mich vor drei Monaten in den Armen gehalten und mir Lebewohl gesagt hat. Er bat, ich solle mein Leben wieder in die Hand nehmen, und versprach, dass er auf mich warten würde, wenn ich zurückkäme. Ich kann seine Tränen noch immer auf meinem Hals spüren.« Pete seufzte. »Weißt du, wie oft ich fast dieselben Dinge zu ihm gesagt habe, wenn er in ein Flugzeug stieg, um irgendwo weit weg seinem Land zu dienen? Ich weiß es nicht mehr. Aber sehr oft. Meine Worte waren: >Geh nur. Was du tust, ist wichtig. Ich liebe dich, und ich werde dich immer lieben. Und ich werde hier sein, wenn du zurückkommst.«« Lauren legte das Gesicht an die Fensterscheibe und starrte auf den Asphalt, der unter dem Wagen dahinglitt. »Ich muss loslassen. Das weiß ich. Aber ich war einmal sehr glücklich. Ich hatte jemanden, der mich liebte und den ich liebte, und ich habe das nie als selbstverständlich betrachtet. Es gab keinen einzigen Tag in unserer Beziehung, an dem ich es bedauert hätte, mit ihm zusammen zu sein - nicht wenn wir miteinander stritten, nicht wenn wir böse aufeinander waren, nicht wenn er dienstlich fortmusste. Ich habe es nie bereut, dass wir ein Paar geworden sind. Ich habe nur bedauert, dass ich ihn verloren habe. Das ist alles.« Sie ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte gegen die Tränen, die noch immer viel zu leicht flössen. »Wie soll ich mit einem anderen Mann etwas Neues anfangen, wenn alles, was ich will, das ist, was ich einmal hatte?« »Ich weiß es nicht«, sagte Pete. »Ich werde dir helfen, es herauszufinden, wenn du willst, aber ich habe keine
Antworten für dich. Es gab in meinem Leben noch nie einen besonderen Menschen, den ich behalten wollte. Ich weiß nicht, wie man über so etwas hinwegkommt.« »Du meinst, es wird bis in alle Ewigkeit so bleiben?« 144 »Ich persönlich vermeide, in Kategorien wie Ewigkeit zu denken. Mein Leben hat mir weder viel Stabilität noch viel Sicherheit geboten. Also gab es in meinen Beziehungen immer schon ein deutlich definiertes Ende, bevor ich sie überhaupt anfing. Ich wusste es, die betroffenen Frauen wussten es ...« »Wussten sie es wirklich?« »Nun ja, die meisten von ihnen.« Sie konnte Verlegenheit in seiner Stimme hören. »Ich habe ein paar Dinge getan, die ich bedauere. Ich bin nie ein Playboy gewesen, aber ich war auch nicht immer vollkommen ehrlich.« Lauren lächelte schwach und richtete ihren Blick wieder auf die Straße. Vermutlich war er das nicht gewesen, genauso wenig wie er jetzt ganz ehrlich zu ihr war. Einmal mehr fragte sie sich, was er vor allen Wächtern, sie selbst eingeschlossen, verbarg. Er war einer von den Guten, das wusste sie, und sie hatte in diesem Bewusstsein mehrmals ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Sie spürte einfach, dass er ein guter Mensch war. Aber was auch immer er verheimlichte, es war etwas Großes. Lauren richtete sich auf und wandte sich ihm zu. »Warum erzählst du mir nicht von deinem großen Geheimnis dem Geheimnis, das du vor mir und Eric und allen anderen verbirgst?« Pete erwiderte ihren Blick, und sie sah Erschrecken in seinen Augen und hinter diesem Erschrecken einen Anflug von Furcht. »Das wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt dafür«, sagte sie. »Wir wissen, dass sie die Tore nicht beobachten; sie beobachten uns überhaupt nicht. Außer June Bug und vielleicht noch Mayhem kann uns niemand sehen, und selbst wenn sie es täten, hätten sie im Augenblick größere Probleme als uns beide. Ich glaube im Übrigen nicht, dass einer von den anderen Verdacht geschöpft hat; wenn es so wäre, 145 hätten sie dir schon lange die Hölle heiß gemacht. Und ich verspreche dir, ihnen nichts davon zu erzählen. Aber ich muss es wissen.« Er wandte sich wieder der Straße zu, und Lauren konnte seine Zweifel, seine Sorgen und auch seine Sehnsucht auf seinem Gesicht sehen. Er wollte es ihr erzählen, er hatte Angst, es ihr zu erzählen, aber da war auch noch etwas anderes. Vielleicht durfte er es ihr nicht erzählen. Lauren sah sich nach ihrem Sohn um. »Jake schläft noch«, sagte sie. »Einen besseren Augenblick als diesen werden wir wohl kaum jemals bekommen.« Pete holte tief Luft. »Hier geht es um Leben und Tod«, erwiderte er. »Wenn ich dir von dieser Sache erzähle und du mich verrätst, bin ich erledigt.« Sie war bereits zu dem Schluss gekommen, dass das, was er verbarg, etwas Ungeheuerliches sein musste. »Ich schwöre, dass ich es niemandem verraten werde. Aber du und ich, wir kämpfen gemeinsam um die Rettung von Welten. Selbst wenn unsere Beziehung niemals mehr sein sollte als das, muss ich trotzdem wissen, was du verheimlichst. Und warum.« Er nickte. »Ja. Du hast Recht. Du musst es wissen, damit du mir vertrauen kannst - obwohl ich glaube, dass du das auch jetzt schon tust.« »Ich würde dir mein Leben anvertrauen.« »Ja. Dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.« »Ich weiß.« Pete lächelte schwach. »Ich bin Special Agent beim FBI. Ich habe etliche Jahre undercover gearbeitet, zuerst in England, weil wir dort eine sehr heiße Spur verfolgten, und dann in Cat Creek, wo diese Spur mich hingeführt hat.« »Und deine Ermittlungsarbeit, worum geht es da? Drogen? Organisiertes Verbrechen?« »Außerirdische.« 146 »Oh je.« »Die Dinge, die ich dir jetzt erzählen werde, unterliegen höchster Geheimhaltung, und wenn du nicht bereits die Wahrheit hinter alledem kennen würdest, könnte ich es dir nicht erzählen. Aber du weißt viel mehr als das FBI. Also ...« »Ihr seid auf irgendetwas aus den oberen Welten gestoßen, hm?«, sagte Lauren. »Und ob. Der Roswell-Zwischenfall war echt - am 4. Juli 1947 ist ein außerirdisches Raumschiff in der Nähe von Roswell in New Mexico notgelandet. Es ist viel darüber spekuliert worden - das Militär hatte damals nicht annähernd so viel Erfahrung mit der Vertuschung von Begegnungen mit Außerirdischen wie heute. Sie waren nachlässig. Du kannst mir glauben, dass sie ihre Sache heute viel, viel geschickter machen.« »Davon bin ich überzeugt«, lachte Lauren. »Ausgehend von der vernünftigen Theorie, dass das Fahrzeug, das sie fanden, außerirdischen Ursprungs war und für die Raumfahrt geschaffen, bargen sie es, versteckten es mitsamt der Leichen, die sie darin gefunden hatten, und verwandten viel Zeit darauf, alles genau zu studieren. Die Informationen, die sie dabei sammelten, kamen unserer Wissenschaft und der militärischen Entwicklung zugute. Wir haben, was Fahrzeuge und
Waffentechnologien betraf, dadurch gewaltige Fortschritte gemacht.« Lauren dachte stirnrunzelnd über das Gehörte nach. »Dann war der Absturz also in Wirklichkeit der Setzling eines dunklen Gottes.« Pete sah sie verblüfft an. »Wie bitte?« »Ein Technologietransfer, getarnt als ein Unfall der dunklen Götter. Es ist ihr erklärtes Ziel, unsere Welt ihrer eigenen Vernichtung entgegenzutreiben. Wenn man nutzbare, fortgeschrittene Technologie an einem günstigen Ort 147 und auf verdächtige Art und Weise auftauchen lässt, wäre das das perfekte trojanische Pferd. Was wäre dem Militär anderes übrig geblieben, als das Ganze verschwinden zu lassen und genau zu studieren? Und die Militärprogramme der Sowjets haben zweifellos von ähnlichen >Unfällen Außerirdischem profitiert, die ihnen ihrerseits Zugang zu fortgeschrittenerer Technologie verschafft haben.« »In puncto Paranoia macht man dir so leicht nichts vor, wie?«, fragte er. »Deine Theorie klingt beinahe vernünftig.« Lauren grinste. Dieses Thema hatte sie schon mehr als einmal abgegrast. Brian war ein begeisterter Anhänger von Verschwörungstheorien gewesen; sie kannte wichtige Einzelheiten einiger der Theorien, die Brians Meinung nach am ehesten einen wahren Plan enthalten hatten. Der Roswell-Zwischenfall hatte ganz oben auf seiner Liste gestanden. Sie sah Pete an. »Es ist bloß die Anwendung von Ockhams Regel, des Ökonomieprinzips. Oder, einfacher ausgedrückt, die simpelste Erklärung ist im Allgemeinen die zutreffendste. Wir wissen, dass Geschöpfe aus den oberen Welten regelmäßig die Erde passieren, und dies schon seit einiger Zeit. Wir wissen, dass die dunklen Götter uns vernichten wollen, indem sie uns Technologien zuspielen und dazu verlocken, gegeneinander zu kämpfen. Wenn wir also die dunklen Götter als die Quelle für den Roswell-Zwischenfall ansehen, brauchen wir nicht wild drauflos zu raten, wie es zu dem Unfall gekommen sein könnte.« Sie wandte sich ganz zu ihm um und fügte hinzu: »Jetzt sieh dir die Außerirdische-aus-dem-Weltraum-Theorie an. Der uns am nächsten gelegene Stern ist vier Lichtjahre von der Erde entfernt, mehr oder weniger. Stimmt's?« »Stimmt.« »Wir reden hier also entweder von der Nutzung einer Wurmlochtechnologie, von einer Weltraumreise mit Über148 lichtgeschwindigkeit oder von irgendeiner anderen wirklich erstaunlichen wissenschaftlichen Entdeckung, die auf unserem Radar noch nicht aufgetaucht ist, denn wenn es sich um ein langsames Schiff handelte, müsste es erheblich größer gewesen sein, um sämtliche Vorräte und mehrere Generationen von Piloten transportieren zu können.« Pete dachte einen Moment lang über ihre Worte nach. »Ich habe da vielleicht eine einfache Erklärung, nach der es sich trotzdem um Außerirdische handeln könnte. Wie wär's, wenn man das Ding einfach mittels eines Tors von hier nach dort bringen würde?« Lauren schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das funktionieren würde. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, einen Punkt auf einem entfernten Planeten zu fixieren, um ein Tor dorthin zu schaffen.« Ihre Wangen glühten, als sie weitersprach: »Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber ich wollte für Jake einen Stein vom Mond holen. Ich dachte, es wäre doch irgendwie nett, einen zu haben, und ich bin davon ausgegangen, dass es keine Mühe sein dürfte, einen solchen Stein zu holen. Immerhin kann man einfach hinaufblicken und den Mond sehen. Ein direkter Schuss auf das Ziel.« »Klingt vernünftig.« »Das sollte man meinen«, seufzte Lauren. »Ich habe auf eine Vollmondnacht mit klarem Himmel gewartet und einen kleinen Spiegel im Fenster angebracht, der gerade groß genug war, um die Hand hindurch zu schieben und mir einen Stein von hübscher Größe herunterzuholen. Dann habe ich zum Mond aufgeblickt, um mir die Stelle, auf die ich zielte, genau anzusehen, und als ich sie hatte, habe ich versucht, ein Tor zu schaffen.« Pete sah sie verwundert an. »Ich schätze mal, es hat nicht funktioniert.« »Ich bin nicht einmal in die Nähe des Mondes gekom149 men. Im Spiegel konnte ich den Mond nicht lange genug still halten, um ihn zu sehen, geschweige denn, mich auf eine bestimmte Stelle zu konzentrieren. Je näher ich mit meinem Bild an die Oberfläche heranging, umso schneller raste sie davon. Ich konnte genauso wenig ein Tor zum Mond öffnen, wie ich zu Fuß dort hätte hingehen können.« »Das Problem sich bewegender Körper«, meinte Pete nachdenklich und mit einem Tonfall, der vermuten ließ, dass er mehr mit sich selbst sprach als mit ihr. »Was?« »Was? Oh. Was du da getan hast - das ist so, als würdest du ein feststehendes Teleskop auf ein entferntes Himmelsobjekt richten. Das Objekt würde sich natürlich aus dem Blickfeld des Teleskops entfernen. Um es im Fokus zu behalten, muss das Teleskop sich drehen und damit die Rotation der Erde ausgleichen. Aber das ist ja nicht seine einzige Bewegung. Das Objekt bewegt sich in Beziehung zur Erde. Außerdem bewegt es sich durch den Raum. Und je genauer du deine Stelle treffen willst, umso schwieriger wird das Ganze.« »Dann ist das also das Problem. Tore sind fixe Punkte mit einem genau festgelegten Weg dazwischen.«
»Und beides gibt es nicht zwischen Himmelskörpern, die sich zueinander und zur Galaxis und zum ganzen Universum bewegen..« »Also sind die Roswell-Außerirdischen nicht durch ein Tor von einem anderen Planeten hierher gekommen«, folgerte Lauren grinsend. »Übrigens vielen Dank. Ich hatte nämlich noch nicht durchdacht, warum es nicht funktioniert.« »Warum«, fragte Pete nach, »funktionieren dann die Tore zu all den Welten, die du erreichen kannst?« »Das ist ganz einfach. Alle Welten sind diese Welt. Sie sind nicht nur starr miteinander verbunden, sie sind auch 150 alle anderen Welten. Oberes Stockwerk, mittleres Stockwerk, Erdgeschoss und Keller desselben Hauses. Die Treppen funktionieren zwar während eines Erdbebens oder eines Tornados vielleicht nicht allzu gut, aber in der übrigen Zeit bereiten sie keine Probleme.« »Der orianische Tag ist länger als der Erdentag. In manchen der unteren Welten ist der Tag noch kürzer als unserer. Einige von ihnen haben einen seltsamen Orbit. Also bewegen sie sich trotzdem in Relation zueinander auf unterschiedliche Weise.« Lauren schüttelte den Kopf. »Sie sind alle ein und derselbe Planet. Die Unterschiede sind wie ... wie das Wetter. Regentage, Sonnentage, Hurrikane, Schneestürme - das sind alles äußere Faktoren, und wenn man sich im Innern befindet, kann man die Treppen trotzdem benutzen.« Sie lehnte den Kopf an ihren Sitz und legte die Arme auf die Armstützen. »Wie dem auch sei, zurück zu deinen Außerirdischen - das Problem der bewegten Körper beweist, dass die Außerirdischen nicht durch ein Tor von anderen Planeten gekommen sind. Sie mussten also sozusagen konventionell angereist sein.« »Stimmt.« »Was aber dagegen spricht, ist die Frage der Sichtbarkeit. Warum sollten Außerirdische eine solche Entfernung zurücklegen, seien es nun vier Lichtjahre oder eine Million, um hierher zu kommen? Das wäre geradeso, als würden Interkontinentalreisende sich ausgerechnet Cat Creek als Urlaubsort aussuchen. So etwas passiert einfach nicht. Aber auf der Durchreise könnte sehr wohl einmal jemand in Cat Creek landen, so dass nicht einmal diese Analogie hundertprozentige Gültigkeit hat. Unsere Galaxie ist klein, nicht gerade zentral im Weltraum, und unser Sonnensystem liegt auch in unserer eigenen Galaxie am Rand. Unsere Erde befindet sich buchstäblich mitten im Nichts. Niemand würde 151 die Erde als logischen Bestimmungsort betrachten oder auch nur als bequeme Durchgangsstation auf dem Weg zu einem anderen Ziel.« Sie sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. »Damit hätten wir also zwei Argumente gegen die Theorie von Außerirdischen aus dem Weltall.« »Es war wahrscheinlich ein Täuschungsmanöver«, stimmte er ihr zu. »Ich hasse es einfach, hinter allem eine Verschwörung zu wittern.« Lauren sah ihn an, schüttelte den Kopf und breitete die Hände aus. »Pete ... ich habe den Punkt erreicht, an dem ich glaube, dass das alles eine einzige Verschwörung ist. Sieh dir doch nur an, wo wir stehen. Was wir tun. Jede bizarre Theorie, jede verrückte Illusion und jeder alte Mythos, den ich je gehört habe, entpuppt sich als die Wahrheit. Nicht wahr im Sinne von: >Nun, die Menschen des Altertums haben einfach ihre beliebtesten Mitbürger zu Göttern gemacht, so dass sie wirklich existiert haben - irgendwie.< Wir haben Geister in den Küchen, Ungeheuer im Schlafzimmer, Außerirdische, wo immer man hinschaut, Götter und Drachen und wahrscheinlich Elfen und Türen, die sich aus dem Nichts heraus öffnen und zufällig vorübergehende Leute verschlucken, wir haben Magie und Geheimgesellschaften, die den Guten und den Bösen dienen, und ein bevorstehendes Armageddon, und das alles war die ganze Zeit über schon da, direkt unter unserer Nase ...« Langsam ging ihr der Dampf aus. Sie sah ihn einfach nur wortlos an und stieß schließlich einen schweren Seufzer aus. »Und was kommt als Nächstes?« Er nickte und lächelte, als hätte er sie verstanden. »Zweifellos die Kernschmelze im Wasserglas und Zwerge im Garten und Feen in der Milch.« Lauren schloss die Augen. »Wahrscheinlich. Es ist die große, vereinheitlichte Feldtheorie der Verschwörung alles, worüber wir je gespottet haben, ist wahr, und da drau152 ßen lauern wahrscheinlich wirklich alle, um uns zu erledigen.« »Zumindest geschieht es nicht willkürlich. Es passt alles zusammen - für das alles gibt es eine stimmige Erklärung, wenn es auch auf den ersten Blick furchtbar bizarr erscheint. Es ist etwas, das man verstehen kann, und wenn man erst weiß, warum - warum diese Dinge geschehen, warum diese Kreaturen daran beteiligt sind -, dann kann man sich das Wie vornehmen - wie sie aufhalten, wie sie besiegen, wie die Dinge in Ordnung bringen.« Er beugte sich vor und legte ihr kurz eine Hand aufs Knie. »Und du hast das getan, Lauren. Du bist dahinter gekommen. Du hast die Stücke zusammengefügt und das Wie entschlüsselt, nach dem Geschöpfe, die nicht einmal menschlich sind, vielleicht bereits in einer Zeit gesucht haben, bevor unsere Welt auch nur geboren war.« Sie hatten jetzt Raeford erreicht, und Pete verlangsamte abermals das Tempo. »Nein, so lange ist das gar nicht her. Ich glaube nicht, dass die ältesten Rrön länger existieren als zehn-, vielleicht fünf-zehntausend Jahre. Was zwar alt ist, aber eben doch nicht Milliarden Jahre. Und die Rrön waren schon dabei, als die ersten Welten starben.«
»Trotzdem. Die Leute haben schon seit sehr langer Zeit versucht, ihre Welten zu retten. Du bist die Erste, die es geschafft hat.« Lauren blickte wieder zum Fenster hinaus. »Ich wünschte, das wäre wahr.« »Natürlich ist es wahr. Wenn es nicht wahr wäre, wäre die Weltenkette nicht mehr am Sterben.« Lauren drückte die Wange an die Glasscheibe, starrte auf die Straße, die unter ihr dahinflog, und dachte an ihre Kindheit zurück und an das Gefühl von Sicherheit. »Das ist nicht die einzig mögliche Begründung«, widersprach sie. »Denk an das Ökonomieprinzip. Was ist die einfachste Erklärung 153 dafür, warum es noch nie jemandem gelungen ist, die Dinge in Ordnung zu bringen?« Sie konnte seinen Blick auf sich spüren, aber er sagte nichts. Nach einer Weile beantwortete sie ihre Frage selbst: »Vielleicht haben sie in der Vergangenheit einfach nur alle getötet, die dahinter gekommen sind.« 9 Cat Creek Eric lag auf dem Bauch im hohen Gras am Straßenrand, die Waffe auf einen herabgefallenen Baumstamm gestützt, den Finger am Abzug. Sein Mund war trocken, seine Hände schwitzten, und sein Magen rumorte. Er konnte spüren, dass sie näher kamen - er konnte das Gewicht von Magie in der Luft spüren und die panische Angst der jungen Leute links und rechts von ihm, die man, bevor sie zu Wächtern geworden waren, für viele Notfälle ausgebildet hatte, aber nicht dafür, auf dunkle Götter zu schießen. Die Wächter hatten immer mit großem Bedacht darauf geachtet, alle Kontakte zu nichtmenschlichen Wesen zu meiden, ob sie nun aus den Welten über der Erde oder darunter kamen. Sie verfolgten eine Politik der Isolation, weil ihnen das am vernünftigsten erschienen war. Die dunklen Götter verübten nur auf Leute Anschläge, die sich direkt in ihre Angelegenheiten einmischten, und da die Wächter das noch nie getan hatten, war es bisher ihre einzige Aufgabe gewesen, den Missbrauch von Magie durch Menschen zu überwachen und die Flut der Zerstörung aufzuhalten, die auf sie zurollte. Als die Baumwurzel, die sich in seinen Hüftknochen bohrte, schließlich doch Erics Aufmerksamkeit erregte, rückte er ein klein wenig zur Seite. Die Wächter waren stolz darauf gewesen, dass sie ihre Arbeit in solcher Heimlichkeit verrichteten, dass sie sich mit ihren Aktivitäten stets der Aufmerksamkeit der Feinde, gegen die sie kämpften, hatten entziehen können. Aber sie 155 waren kein Geheimnis für die Götter gewesen, weder für die alten noch für die dunklen. Sie hatten einfach zu wenig ausgerichtet, als dass sich jemand die Mühe gemacht hätte, gegen sie vorzugehen. Als dann zum ersten Mal tatsächlich jemand eine Gefahr für die Ziele der dunklen Götter dargestellt hatte, hatten sie dagegen sehr schnell reagiert. Und reagierten immer noch, nachdem ihr erster Versuch fehlgeschlagen war. Rechts von ihm musste Betty Kay niesen; sie dämpfte das Geräusch ziemlich gut, aber wahrscheinlich nicht gut genug. Zu seiner Linken zappelte Raymond Smetty mit seiner Waffe herum und blickte zu dem Truck auf, der direkt neben ihm am Straßenrand stand. Die Haare auf Erics Armen stellten sich auf. Wer hatte Smetty direkt neben dem Truck postiert? Und die Schlüssel steckten noch, nicht wahr? Thor und Loki hatten den einzelnen Wächtern ihre Positionen zugewiesen und ihnen erklärt, wohin sie schießen sollten und wann ... Aber wer hatte Smetty, den Wächter, der nach Erics Meinung am unzuverlässigsten war und im Angesicht einer echten Gefahr wohl am ehesten fahnenflüchtig werden würde, direkt neben dem Wagen postiert, der ihm bei einer Flucht helfen konnte? Wer hatte das getan? Eric ging im Geist noch einmal die letzte Viertelstunde durch und sah genau das, was er zu sehen befürchtet hatte. Es war Loki gewesen. Loki, der grinste, der sich über Raymond Smetty beugte und ihm etwas zuflüsterte, das dem jungen Mann ein Lächeln entlockte. Loki war ein Unruhestifter, ein Gauner, ein Betrüger. Loki spielte Spielchen, weil er es tun konnte, weil es ihm Spaß machte. Eric hätte Smetty gern zu sich herübergewinkt und den Platz mit ihm getauscht. Aber dafür blieb keine Zeit mehr. Die Keth waren jetzt in Sichtweite, sie kamen soeben über die Anhöhe. 156 Er hätte sie überall erkannt - er selbst hatte sich für eine Weile als Keth ausgegeben, begriff jetzt aber, dass seine Imitation eine jämmerliche gewesen war. Die Keth waren ... majestätisch. Schlank wie Schilfrohr, doppelt so groß wie ein Mensch, bewegten sie sich gazellengleich und mit nichtmenschlicher Anmut. Zwei von ihnen hatten Haar, so rot wie Flammen. Das des dritten war golden. Die Haare, die sie zu einer Million winziger Zöpfe geflochten trugen, umschwebten sie, als seien sie lebendig. Medusen, dachte er, die einen Menschen mit einem einzigen Blick in Stein verwandeln konnten. Sie hatten Gesichter von fremdartiger Schönheit -riesige Mandelaugen, so schwarz wie Gagat, winzige Rosenknospenmünder und fast unsichtbare Nasen. Außerdem trugen sie wunderschöne, raffinierte Gewänder, die hauchzart waren und leuchtend bunte Muster hatten und im leisesten Windzug wie Nebelschwaden um sie herumwogten. Verglichen mit ihnen waren Thor und Loki klobig, zwergenhaft und primitiv. Verglichen mit ihnen war er selbst
noch weniger als das. Er war jämmerlich. Abscheulich. Etwas, das man verstecken sollte - das man vernichten sollte. Langsam drehte er seine Waffe, um sie gegen sich selbst zu richten. Er verdiente es nicht zu leben. Er schämte sich seiner selbst, schämte sich, dass er Luft atmete und Nahrung verbrauchte, dass er die Welt mit seiner Existenz vergiftete. Eric drückte die Mündung der Waffe auf seine Brust. Mühte sich, einen Schuh auszuziehen, damit er mit den Zehen den Abzug betätigen konnte - als er plötzlich eine Bewegung zu seiner Linken wahrnahm und Raymond Smetty sah, wie dieser aufsprang und auf etwas auf der Ladefläche des Trucks schlug. Die Kiste, dachte er stumpf. Die Kiste, die Loki mitgebracht hatte und die Thor nicht haben wollte. 157 Dann wurde sein Verstand wieder klar, und er begriff, was er beinahe getan hätte - wozu die Keth ihn um ein Haar getrieben hätten, und das so geschickt und mühelos, dass er nicht einmal gespürt hatte, wie ihre Messer unter seine Haut geglitten waren. Er drehte die Waffe in die richtige Richtung, visierte die dunklen Götter an und begann zu feuern. Um ihn herum taten die anderen Wächter dasselbe. Sogar Smetty schoss - Smetty, von dem Loki wahrscheinlich vermutet hatte, dass er am ehesten gegen die Autorität von Thor und Eric aufbegehren würde, der am ehesten etwas tun würde, weil er es nicht tun durfte. Die Wächter trafen die Keth. Eric konnte Blut spritzen sehen, konnte den Aufprall der Kugeln verfolgen, oder was immer es war, was er und die anderen Wächter den dunklen Göttern entgegenschleuderten. Aber die Keth fielen nicht. Feuer loderte um sie herum auf, dunkel und kreisend - falsche Regenbögen, und Feuer explodierte aus ihren Körpern, harte, schnelle Bögen, die sich in sämtliche Positionen der Wächter hineinbohrten. Eric glaubte, tot zu sein. Schloss die Augen vor der blendenden Explosion von Licht um ihn herum. Hörte die Stille und drückte den Abzug durch, versuchte mit purer Willenskraft, den Tod der Keth zu erzwingen, obwohl sein Wille auf der Erde über keine Magie gebot, und schlug die Augen wieder auf, um einen hellen Schimmer zu erblicken, der ihn umringte. Der Schild, den Loki mitgebracht hatte. Er funktionierte. Eric war noch nicht tot, ebenso wenig wie seine Leute. Wieder begannen die Wächter zu schießen. Die Keth kamen näher; sie trennten sich nicht und verließen auch nicht die Straße. Das, dachte er, war echter Hochmut - sich des Sieges so sicher zu sein, dass man nichts zu seiner Verteidigung unternahm. Oder vielleicht war es auch Lokis Kiste, die sie auf irgendeine Weise daran hinderte, 158 klar zu denken. Die Regeln hatten sich verändert, das Spielfeld war frisch geharkt worden, und zwar in dem Moment, in dem Smetty den Kasten eingeschaltet hatte ... Alles klar. Die Keth wollten an den Kasten herankommen, denn wenn sie den ausschalten konnten, würden er und die anderen Wächter ihnen zum Opfer fallen. Sie feuerten, und die Kugeln trafen, aber die Keth blieben unversehrt. Sie kamen immer näher. Sie heilten ihre Wunden genauso schnell, wie er und die anderen Wächter sie rissen, und obwohl ihre einst so schönen Roben jetzt blutgetränkt und zerfetzt waren, trugen die Keth keinen dauerhaften Schaden davon. Was immer er und die anderen Wächter ausrichten konnten, es war nicht genug. Sterbt, ihr Bastarde - STERBT!, dachte er. Aber sie starben nicht. Dann wurde der helle Morgenhimmel mit einem Mal schwarz, und Donner und Blitz tobten über ihnen, blendend, ohrenbetäubend. Die Blitze trafen die Keth, hielten sie auf der Straße fest, und der scharfe Geruch von Sauerstoff und der Gestank von brennendem Fleisch erfüllten die Luft. Heyr trat auf die Straße hinter ihnen, deutlich erkennbar als Thor, mit seinem Haar, das in dem plötzlichen Wind flog, und seinem Hammer in der Hand. Er sang, sang lauter als das beharrliche Krachen der Donnerschläge - ein Kriegerlied in der Sprache eines anderen Ortes, einer anderen Zeit -, und unheilige Freude leuchtete in seinen Augen auf und strahlte auf seinem Gesicht. Er warf Mjollnir, den Kriegshammer, und der Kopf eines der dunklen Götter explodierte; der Blitz setzte den Keth binnen eines Augenblicks in Brand. Obwohl das Licht zu grell war, um irgendetwas zu erkennen - obwohl das ganze Spektakel sich in seine Netzhaut einbrannte und Eric glaubte, später blind und taub zu sein -, konnte er den Blick nicht abwenden. Thors Kriegshammer flog in seine behandschuhte Hand 159 zurück, und er warf ihn abermals, und der zweite Keth fiel, explodierte und ging in Flammen auf. Ein zweiter Treffer, ein dritter Wurf, ein dritter Tod. Die Blitze erloschen. Das ständige Dröhnen und Krachen des Donners brach ab. Eric sah nur noch die nachzuckenden Lichter auf seiner Netzhaut; hören konnte er überhaupt nichts. Er lag da in dem sintflutartigen Regen, blind und taub, blinzelte sich das Wasser aus den Augen und fragte sich, ob er es wagen durfte aufzustehen, bevor seine Sicht klarer wurde. Er hörte es, bevor er etwas sah - hörte schwache Stimmen, die lauter wurden und sich zu Namen formten. »Eric?« - »Betty Kay?« - »Darlene?« - »Ich bin hier - ich meine, Darlene.« - »June Bug?« - »Mayhem?« »George?« »Louisa?« »Raymond?« »Ich bin hier!«, rief Eric. Er hörte George Mercers gedehntes »Hier« und June Bugs Stimme und die von Mayhem. Und eine Sekunde
später machten sich auch Raymond und Louisa bemerkbar. Aber nicht Betty Kay. Dann konnte er mit einem Mal wieder sehen, obwohl die Welt seltsam ausgebleicht wirkte und geisterhafte Nachbilder der drei brennenden dunklen Götter alles umwölkten. Die anderen standen auf, die Waffen gesenkt oder auf die Schultern gelegt; alle sahen sie sich um. »Kein Wort von Betty Kay«, bemerkte June Bug. Sie hatte sich an der linken Flanke befunden, direkt am Rand des Waldes. Eric hatte geglaubt, das sei der sicherste Ort für sie - sie war noch nie an einem Kampf beteiligt gewesen, und er hatte befürchtet, dass sie von allen Wächtern am ehesten in Panik geraten würde. Heyr und Loki waren bei dem Truck und stritten sich wegen des Kastens. Raymond Smetty stand neben Loki und blickte trotzig in die Runde. Eric konnte auch alle anderen 160 sehen. Aber nicht Betty Kay. Er erinnerte sich an den ersten Angriff der Keth, die subtile Manipulation seines Geistes, und plötzlich wusste er, was ihn erwartete. Im Laufschritt machte er sich auf den Weg zu Betty Kays Position und betete, dass er sich irrte und dass er sie lebend vorfinden würde, und wusste gleichzeitig, dass es nicht so sein würde. Er fand die Stelle, an der sie sich versteckt gehalten hatte und wo das hohe Gras zertreten war. Aber von ihr selbst war nichts zu sehen. Ihre Waffe nicht und auch kein Blut, kein Leichnam. Sie war weggelaufen. Das konnte er verstehen. Sie war geflohen, bevor die Keth sie erreicht hatten. Sie war noch ein halbes Kind und vielleicht zu zart besaitet, um eine Wächterin zu sein; sie war zusammengebrochen. Auch das konnte er verstehen. Nicht jeder war dazu geschaffen, in den Krieg zu ziehen. Viele Soldaten waren nach Schlachten aufgefunden worden, ohne dass sie ihre Waffen benutzt hatten - und niemand hätte Betty Kay für einen Soldaten gehalten. Sie konnte nach Hause zurückkehren, nach Ohio, um die Ehefrau eines netten Mannes zu werden, dachte Eric. Sie würden ihre Erinnerungen an die Wächter auslöschen müssen, aber diesen Zauber benutzten die Wächter schon seit langer Zeit. Es bedeutete, dass sie weiterleben würde. Er sah im Wald nach und überlegte, wie weit sie gekommen sein mochte. Vielleicht war sie bereits wieder im Blumenladen. Vielleicht saß sie bereits zu Hause und packte ihre Sachen. »Betty Kay!«, rief Mayhem, und Eric drehte sich um. Sie stand aufrecht auf dem Rasen direkt neben der Stelle, an der die drei dunklen Götter gefallen waren. Die Waffe, die sie beiläufig an die Hüfte gedrückt hielt, zeigte nach unten - braves Mädchen, dachte er -, und sie rieb sich die Augen. 161 »Betty Kay!«, schrie er, aber sie zuckte nicht zusammen und gab auch sonst durch nichts zu erkennen, dass sie ihn gehört hatte. Wenn das ihre Position gewesen war, hatte sie direkt im Zentrum des Kampfes gestanden. Im Zentrum des Sturms, mitten in Blitz und Donner. Möglicherweise hatte einer der Blitze sie indirekt getroffen, als er in den Boden eingeschlagen war. Betty Kay sah sich um und hörte noch immer nicht, dass ihre Gefährten ihren Namen schrien. Sie trat auf die Straße hinaus, dann sammelte sie einige Dinge vom Boden auf. Eric sah ein Schimmern, ein stumpfes, wunderschönes Glitzern. Gold. Er eilte zu ihr hinüber und berührte sie an der Schulter. Sie sah zu ihm auf und grinste, und er las in ihren Zügen denselben wilden Jubel, den er bei Thor gesehen hatte, als dieser in die Schlacht gezogen war. »WIR HABEN DIE BASTARDE ERWISCHT!«, schrie sie. Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Ich höre dich.« »ICH KANN DICH NICHT HÖREN!« Sie hielt ihm hin, was sie gefunden hatte, und er starrte auf ihre Hand. Goldschmuck - wunderschön geschmiedete goldene Ringe, die dazu bestimmt waren, durch die Haut gebohrt zu werden. Piercingringe. Auferstehungsringe. Die Unsterblichkeit der drei Keth - Erinnerungen, die eine Zeitspanne von zehntausend oder mehr Jahren umfassen mochten, lagen funkelnd in ihrer Hand. Und sie waren Gift. Lange starrte Eric sie bloß an und spürte ihren Sog, ihren Ruf. Er brauchte sich nur einen davon ums Handgelenk zu legen oder ihn durch seine Haut zu bohren, und er würde niemals sterben. Er würde Wissen und Erinnerungen von Welten erlangen, die nicht mehr existierten, von Zeiten, bevor die Menschen ihre ersten Städte gebaut hatten. Er würde ein Gott sein. Er streckte 162 die Hand aus, um einen der Ringe zu berühren, und die fettige Oberfläche des Schmucks und ein grauenhafter, alles verzehrender Hunger erschütterten ihn. »WIR MÜSSEN SIE VERNICHTEN!«, brüllte er. Betty Kay zuckte zusammen. »Nicht so laut«, rief sie, aber leiser als zuvor. Ihr Gehör kehrte also langsam zurück. Die anderen Wächter scharten sich um sie, und auch die beiden alten Götter kamen herbei. »Die kannst du ruhig mir überlassen«, meinte Loki und griff nach den Auferstehungsringen, aber Betty Kay gab sie nicht her. Stattdessen schenkte sie Thor ein Lächeln, das die reine Verführung war - ein Lächeln, wie Eric es noch nie auf ihrem Gesicht gesehen hatte -, und sagte: »Du warst.... wunderbar. Hier.« Und sie überreichte ihm die Ringe. Loki stand daneben, die Hand immer noch ausgestreckt. Er blickte zwischen Betty Kay und Thor hin und her
und verlangte schließlich: »Lass mich etwas Nützliches tun. Ich schaffe die Ringe beiseite.« Heyr Thor wog die Schmuckstücke in der Hand, und Pete konnte sehen, dass er Loki einer schweigenden Musterung unterzog. Im nächsten Moment schüttelte er dann den Kopf. »Ich habe verstanden.« »Nach alledem traust du mir immer noch nicht.« »Du bist ein Bruder, ein Freund und Kamerad, und doch weiß ich, dass du mich am Ende verraten wirst, mich und uns alle. Ich weiß, wo du in den letzten Tagen stehen wirst«, sagte Thor. Lokis Stimme war plötzlich nur noch ein Knurren. »Hast du je darüber nachgedacht, dass dein Verhalten in diesem Augenblick vielleicht einen Anteil daran haben könnte, wo ich in den letzten Tagen stehen werde?« Er sah sie alle nacheinander an. »Ruf mich nie wieder, Thor. Nicht einmal 163 in der schlimmsten Not, nicht in der tiefsten Verzweiflung. Meine Ohren sind taub für dein Flehen. Jetzt zumindest werde ich mich nicht gegen dich und die Deinen stellen. Aber ich werde auch nicht länger auf deiner Seite stehen.« Und dann zeigte er auf die Straße und zeichnete aus dem Asphalt einen Bogen - eine schwarze Rebe, die sich in elegantem Schwung aus dem Pflaster erhob -, und als das Tor groß genug war, um ihm Durchlass zu bieten, beschwor er das grüne Feuer herauf und verschwand. Das Tor, das er geschaffen hatte, erlosch hinter ihm, aber der Bogen im Pflaster blieb zurück. Thor starrte stirnrunzelnd auf die Stelle, an der Loki verschwunden war. Dann tippte er mit seinem Kriegshammer auf den Bogen, und dieser zerfiel zu Staub. Eric, über dessen Schulter noch immer eine von Lokis Waffen hing, schauderte leicht. Das war nicht so gut gelaufen, wie es hätte laufen können. Thor jedoch wirkte vollkommen ungerührt. Er legte die Auferstehungsringe auf den Boden. »Tretet zurück.« Er hob seinen Kriegshammer und maß den Abstand zwischen sich und den Schmuckstücken. Alle Wächter zogen sich hastig zurück. Mjollnir krachte auf die Ringe hinab, und an der Stelle, an der sie lagen, explodierte das Pflaster in einem langen, gellenden Schrei zu einer Wolke aus schwarzem Staub. Einige Asphaltbrocken trafen Eric, der sich nicht weit genug entfernt hatte, mitten ins Gesicht. Er spürte, wie sich die winzigen Geschosse in seine Augenlider, seine Wangen, die Nase und die Lippen bohrten. Wunderbar. Er würde wahrscheinlich wochenlang damit beschäftigt sein, sich Teerbröckchen aus der Haut zu pflücken. »Waren das alle drei?«, fragte Eric. »Alle drei«, bestätigte Thor. »Alle zerbrochen, aber noch nicht hinreichend zerstört.« Er ging zu dem Krater in der 164 Straße und zog eine unregelmäßig erstarrte Goldschmelze heraus. Eric bekam während des Sommers ähnliche Muster zu sehen, wenn die Schlangen auf der Straße von Autos überfahren wurden. »Die Ringe müssen eingeschmolzen werden«, sagte Heyr Thor. »Das geschmolzene Gold wird in eine Gussform geschüttet und dort zum Abkühlen belassen. Dann muss das Gold vermählen werden, und das Pulver muss in fließendes Wasser gestreut werden. Dieses Gold kann man nie wieder benutzen. Es ist besudelt, und wenn es nicht zermahlen und verstreut wird, wird es jene, die zuzuhören bereit sind, zum Bösen rufen. Und selbst jene verwandeln, die nicht zuhören. Dieses Gold ist durch die Keth vergiftet worden, die die abscheulichsten der dunklen Götter sind - zumindest derer, die wir kennen.« Eric betrachtete das flache, wirre Gebilde. »Ich kümmere mich darum«, sagte er. Thor entgegnete ihm: »Das ist keine Aufgabe für einen Einzelnen. Im Dunkeln wird der Gott nach dir rufen. Er wird dich verbiegen. Lasst uns alle gemeinsam ans Werk gehen; wir müssen das Gold schnell zerstören und uns davon befreien.« »Dann sollten wir die Straße schnellstens verlassen und in den Wachraum zurückkehren. Auf uns wartet noch Arbeit.« Thor nickte. »Wir sollten es tun, und zwar schnell. Die Keth werden nicht die Letzten sein, die die Nachtwache hierher schickt.« Kerras Lichter kreiselten, funkelten und brachen aus der dunklen Seite von Kerras hervor, durch die von Eisschichten bedeckten Klüfte tief in den toten Abgründen. Lichter, hellblau und 165 weiß, grün und gold und rosa; sie krochen durch die luftlose Kälte, schlüpfrig und flüssig, störten die Geister dort auf mit Magie, aus der sie geboren waren, flössen in die Oberwelt, freigegeben durch eine Schlacht, die den Tod dreier dunkler Götter gesehen hatte und die ihre Vernichtung bezeugte. Veränderung. Sie waren alle in Veränderung begriffen. Bewegung von einem Ort, von dem zuvor keine Bewegung gekommen war, Energie, die in einer allen Lebens beraubten Welt wiedergeboren wurde. Die Lichter gruben sich in die tote Welt, weit unter die Oberfläche. Sie waren Potenzial, das auf einen Auslöser wartete. Aber der Auslöser war noch nicht gekommen. Cat Creek, North Carolina Rekkathav hatte einen guten Ausguck gefunden, um die Schlacht zu beobachten. Und er hatte alles gesehen. Er hatte festgestellt, dass er als Überbringer schlimmer Kunde zurückkehren würde, ganz gleich, was aus dem
Beithan-Eliminator geworden war. Nachdem er die unvorstellbare Katastrophe mit den Keth mit angesehen hatte, hatten seine Nerven leicht zu zucken begonnen, und kalte Schauder überliefen seine zarte, fremdartige Haut, wann immer er an das wahrscheinliche Schicksal des auf sich allein gestellten Beithans dachte. Aril, der Keth-Meister der Nachtwache, war niemand, der schlechte Nachrichten gut aufnahm. Er würde nicht ... angenehm sein. Als er das letzte Mal schlechte Neuigkeiten bekommen hatte, hatte er zehn Feldmeister ausgelöscht. Jetzt würde Rekkathav zu ihm gehen, um ihm zu eröffnen, dass alle drei der von ihm selbst handverlesenen Keth tot waren, vernichtet, verloren für alle Ewigkeit. Dass Thor wieder im Ge166 schäft war. Dass der Unsterbliche über genug Lebensmagie gebot, um wirkungsvoll zu kämpfen, und dass er eine Gruppe von Kampfwilligen und Kampffähigen um sich geschart hatte. Ja. Rekkathav würde Aril all das berichten, und es gab nichts, das seinen Meister würde milder stimmen können. Folglich würde er sehr kurze Zeit später dem Terminatorschrein einen Besuch abstatten. Nun, genau genommen wusste er ja gar nicht, was aus dem Beithan geworden war, oder? Und er hatte den erklärten Befehl erhalten, es herauszufinden. Den Ewigkeiten sei gedankt für die buchstabengetreue Interpretation von Befehlen. Rekkathavs Suche nach Beithan würde eine sehr gründliche Suche werden. Sehr gründlich, und wenn nötig, würde sie auch sehr lange dauern. Er würde genauso lange für die Suche nach dem Beithan benötigen, beschloss er, wie er brauchte, um genug gute Neuigkeiten zu finden, um sein erbärmliches Leben zu retten. Cross Creek Mall, Fayetteville, North Carolina Pete, der mit Lauren und einem inzwischen sehr wachen Jake in dem winzigen Restaurant des Einkaufszentrums von Cross Creek saß, spürte, dass sein Pieper vibrierte. Er führte von einer öffentlichen Telefonzelle ein kurzes Gespräch - immer noch die beste Methode, um nicht aufgespürt zu werden - und ließ sich die guten Nachrichten durchgeben. Kurze Zeit später klopfte er Lauren auf die Schulter. »Wir können nach Hause fahren.« »Ach ja?« Lauren sah ihn an. »Sie haben die Keth besiegt? Wer ist tot?« »Nur die Keth, soweit ich gehört habe. Wir müssen nach 167 Hause fahren. Du brauchst ein bisschen Schlaf. Ich werde bei dir bleiben, um Wache zu halten, während du schläfst, nur für den Fall des Falles. Und dann wirst du mit ihnen reden müssen.« »Sie werden nichts von dem hören wollen, was ich zu dem Thema sagen könnte, Pete.« »Vielleicht wollten sie bisher nichts davon hören, aber ich gehe jede Wette ein, dass sich das inzwischen geändert hat. Sie werden nicht umhinkönnen, zu begreifen, dass du etwas sehr Großes und Mächtiges getan haben musst, wenn es die Aufmerksamkeit der Nachtwache auf sich gezogen hat.« »Nun ja«, antwortete Lauren, während sie aufstand und Jake an die Hand nahm, »genauso gut können sie den Schluss ziehen, dass ich ihnen Probleme bereite, die sie noch nie zuvor gehabt haben. Diese Leute sind nicht besonders flexibel, Pete. Es sind Männer und Frauen, die von Jugend auf zu diesem Orden gehören. Man hat sie gelehrt, dass es nur den Einen Wahren Weg gibt, und sie glauben daran. Was ich tue, stellt alles in Frage, wofür sie ein Leben lang gearbeitet haben.« Pete hätte sie am liebsten in die Arme genommen und ihr versichert, dass alles gut werden würde. Dass die Wächter Laurens Seite der Dinge sehen würden und dass er, wenn sie es nicht taten, zwischen ihr und der Hölle selbst stehen würde. Aber er sagte nichts dergleichen. Er warf ihr nur ein Lächeln zu, von dem er hoffte, dass es tröstlich war, und erklärte: »Gib ihnen eine Chance. Wenn es nicht gut läuft, gebe ich dir Rückendeckung. Und Heyr ebenfalls.« Die Rückfahrt nach Cat Creek verlief ereignislos. Lauren schlief, Jake sang, blickte aus dem Fenster und redete mit Pete - oder, wenn Pete nicht antwortete, mit einem unsichtbaren Freund. Pete hätte wetten mögen, dass der unsichtbare Freund Lauren eine Heidenangst einjagte. Wie sollte man wissen, 168 ob das Kind mit nichts redete oder mit einem Geschöpf aus einer der unteren Welten, das zu Besuch auf die Erde gekommen war? Vielleicht erkannte man es an kalten Stellen, aber die Klimaanlage im Wagen funktionierte noch recht gut, so dass dieser Umstand keinen brauchbaren Hinweis lieferte. Er fuhr sie nach Hause, machte Lauren ein Bett auf dem Sofa und setzte sich mit Jake ins Esszimmer auf der anderen Seite des Flurs, um mit Autos zu spielen. Sobald Lauren schlief, rief er June Bug an. »Es ist alles gut gegangen«, berichtete sie ihm. »Eins der Greenhorns leidet unter einem schweren Anfall von Jagdlust und möchte am liebsten gleich wieder losziehen und das Ganze noch einmal machen.« »Raymond.« »Raymond ist immer noch der gleiche Esel, der er früher war, obwohl ich denke, dass er uns gerettet hat. Aber nein, nicht Raymond. Betty Kay.« Pete dachte einen Moment lang nach, dann lachte er. »Die stillen Wasser überraschen einen doch immer wieder. Ich hätte diese Rolle nicht ausgerechnet mit ihr besetzt.« »Ich auch nicht. Aber sie war ganz aus dem Häuschen und lief wie eine rollige Katze um Heyr herum. Wenn es nach ihr ginge, würden wir uns sofort wieder auf die Jagd nach weiteren dunklen Göttern und weiß der Henker was sonst noch machen. Ich fürchte, da kommt wenig Wohlgefallen auf uns zu.«
Pete versuchte, sich Betty Kay als rollige Katze vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Daher ließ er es dabei bewenden und sagte nur: »Ich muss mit dir reden. Aber erst später.« »Kein Problem. Ich werde den ganzen Tag in der Bibliothek sein und wahrscheinlich auch den größten Teil des Abends. Ich will ein bisschen recherchieren.« »Dann komme ich irgendwann vorbei.« 169 Cat Creek, North Carolina Es war schon spät, als Pete sich von Lauren verabschiedete. Er ließ Heyr als Wachtposten bei ihr zurück, was ihn eigentlich hätte beruhigen sollen, ihn in Wirklichkeit aber furchtbar nervös machte. June Bug hatte alle Türen abgeschlossen und saß im Hinterzimmer. Pete musste ans Fenster klopfen, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Also, was ist schief gegangen in deiner Welt, Pete?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung. »Dir auch einen guten Abend.« »Komm mir nicht frech, Junge. Du würdest nicht mit mir reden wollen, wenn du kein Problem hättest, und zwar eins, von dem du glaubst, dass ich es vielleicht beheben kann.« »Das ist eine ziemlich zynische Art, die Dinge zu betrachten.« »Mag sein, aber du bist noch nie zuvor hergekommen, um mit mir zu reden. Also. Worum geht es?« »Um Lauren.« »Die dich nicht so liebt, wie du sie liebst.« Pete warf June Bug einen resignierten Blick zu. »Woher wusstest du das?« »Einige deiner Geheimnisse hütest du besser als andere. In diesem speziellen Fall stellst du dich nicht allzu geschickt an.« Pete spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. June Bug lachte. »Ich habe so einiges gesehen, mein Junge. Ich habe ein langes Leben damit zugebracht, Menschen zu beobachten. Und ich habe selbst das eine oder andere Geheimnis gehütet. Ich kenne die Anzeichen.« Sie bedeutete ihm, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, auf dem sich et170 liehe Bücher stapelten. »Leg sie auf den Boden, setz dich hin und rede mit mir.« »Was für Geheimnisse?«, fragte Pete. »Wenn ich dir das sagen würde, wären es keine Geheimnisse mehr, nicht wahr?« Sie lächelte leicht. Er vermutete, dass sie zu ihrer Zeit sehr attraktiv gewesen sein musste. Sie hatte immer noch schöne Proportionen, gütige Augen und Haare, die überwiegend braun waren. Die Jahre hatten es freundlich mit ihr gemeint. Sie verströmte Selbstbewusstsein - sie wusste, wer sie war, und hatte damit Frieden geschlossen. Was mehr war, als er von sich behaupten konnte. Er lebte inmitten von Aufruhr und endlosen, quälenden Selbstzweifeln. Sie wirkte immer ein wenig traurig, aber er hatte die Geschichten über den Mann gehört, der ihre große Liebe gewesen war - den, der sie in ihrer Jugend verlassen hatte. Von den anderen Wächtern wusste er, dass sie nie wieder geliebt hatte. Es erschien ihm schwer vorstellbar, dass sie ihren Kummer so lange bewahrt hatte. Aber andererseits trauerte auch Lauren immer noch um ihren Mann. Was der Grund für seinen Besuch bei June Bug war. Er holte tief Luft. »Ich möchte mit dir über Lauren reden.« »Das hatte ich mir schon fast gedacht.« »Aber ich möchte es über einen Umweg tun - ich möchte wissen, warum du nach dem Mann, der dich verlassen hat, nie wieder geliebt hast.« June Bug brach in Gelächter aus. »Was ist?« »Nun, du kommst direkt zur Sache. Und warum zum Teufel willst du das wissen?« »Wenn ich herausfinde, warum du an jemandem festgehalten hast, der aus deinem Leben verschwunden ist, und an einer Beziehung, die nur noch eine Erinnerung war, dann finde ich vielleicht heraus, wie ich Lauren helfen kann loszulassen.« 171 June Bug seufzte und schob einige Dinge auf ihrem Schreibtisch hin und her. »Und nun kann ich dich entweder belügen oder dir ein wenig von meinem Geheimnis offenbaren und das Risiko eingehen, dass du den Rest erraten wirst.« Pete saß ganz still da und wartete. »Ich kann dir nicht helfen, Pete«, sagte sie nach einem längeren Schweigen. »Nicht, weil ich es nicht will, sondern weil die Geschichten, die du über mich und meine einzige, lange begrabene Liebe gehört hast, Lügen sind. Ich habe diese Lügen erfunden, um eine Wahrheit zu vertuschen, zu der ich mich nicht bekennen wollte. Zu der ich mich noch immer nicht bekennen will.« »Was für eine Wahrheit?«, fragte er, als sie zu lange still geblieben war. »Dass ich den größten Teil meines Lebens einen Menschen geliebt habe - einen Menschen, den ich nicht haben konnte.« »Verheiratet?«
»Ja, glücklich verheiratet. Und mit Familie. Und hätte ich die Wahrheit zugegeben, hätte diese Person es nicht verstanden. Die Wahrheit hätte unserer Freundschaft ein Ende gemacht. Und vor die Wahl gestellt zwischen Freundschaft und gar nichts habe ich mich für Freundschaft entschieden.« »Du hättest etwas sagen können. Ein Risiko eingehen können.« »Nein. Zum Ersten ist es unrecht, eine Familie zu zerstören, und zum Zweiten weiß man eben manchmal, welche Antwort man bekommen wird. Außerdem ...«Ihre Stimme geriet ins Stocken. Dann zuckte sie die Achseln und brachte ein trauriges kleines Lächeln zustande, und Pete konnte Tränen in ihren Augen aufschimmern sehen. »Nun, jetzt sind sie tot, daher spielt es keine Rolle mehr.« 172 Plötzlich dämmerte ihm etwas. Die Art, wie sie sich ausgedrückt hatte, ergab mit einem Mal einen Sinn. Diese Person. Und der falsch benutzte Plural - sie sind tot -, obwohl June Bug sich stets darum bemühte, sich korrekt auszudrücken. Sie vermied die Einzahl des Pronomens, dachte er und wagte einen Schuss ins Blaue. »Wie hieß sie?« June Bug lachte wieder. »Wie ich schon sagte, ich verrate dir einen Teil, und du erkennst das ganze Bild. Marian Hotchkiss.« »Laurens Mutter?« »Ja.« Pete massierte sich die Schläfen. »Und da sagen die Leute immer, Kleinstädte seien langweilig.« »Nicht die Leute, die genau hinsehen.« »Nein, wahrscheinlich nicht. Also du hast ... Laurens Mutter geliebt, die niemals von deinen Gefühlen erfahren hat. Aber sie ist schon sehr lange tot. Und du hast nie wieder geliebt.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Wen?« »Es wäre zu peinlich, das zuzugeben.« Pete ging im Geiste die verschiedenen Möglichkeiten durch und verfiel schnell auf die nahe liegende Antwort. »Lauren. Marians Tochter.« June Bug erbleichte ein wenig, aber Pete sah Erleichterung in ihren Augen. Also nicht Lauren. Aber er war trotzdem nahe dran gewesen. Wenn sie Schiffe versenken gespielt hätten, hätte er nur um ein einziges Kästchen daneben getroffen. June Bug sagte: »Ich denke, wir sollten jetzt für ein Weilchen über dein Problem sprechen. Oder vielleicht sollte ich mich auch wieder meinen Nachforschungen zuwenden.« »Wir sprechen über mein Problem. Unsere Unterhaltung hilft mir sehr. Ich begreife langsam, dass Lauren mich eben173 so lieben könnte, wie ich sie liebe, ohne es mir jemals zu erkennen zu geben.« »Oder sie könnte bis an ihr Lebensende an der Liebe zu ihrem verstorbenen Mann festhalten. Das kannst du nicht einfach ausschließen, und du kannst es auch nicht ignorieren. Manche Frauen lieben wirklich nur ein einziges Mal.« »Diese Möglichkeit möchte ich lieber nicht in Betracht ziehen.« »Du kannst dir vielleicht unendlichen Kummer ersparen, wenn du diese Möglichkeit im Gedächtnis behältst.« »Wahrscheinlich. Hast du dir, was Molly betrifft, Kummer erspart?« June Bugs Augen wurden schmal, und einen Moment lang sah sie gefährlich aus. »Sie war zu jung für mich aber sie sah genauso aus wie Marian und klang auch genau wie sie. Ganz genauso. Ich weiß jetzt, warum es so war, aber damals hat es mir nicht weitergeholfen. Wie dem auch sei, du bist viel zu scharfsichtig. Vielleicht sollte ich mir deine anderen Geheimnisse doch einmal etwas genauer ansehen.« »Das ist nicht nötig«, erwiderte Pete. »Ich werde deine Geheimnisse für mich behalten, wenn du dafür auch meine hütest.« »Im Augenblick kann ich dir nichts versprechen. Solange du die Wächter nicht in Gefahr bringst, kannst du dich jedoch auf mein Schweigen verlassen.« »Ich stelle keine Gefahr für die Wächter dar. Wir stehen alle auf derselben Seite - die Wächter und ich«, sagte er, und es war ihm ernst damit. Allerdings versuchte er, nicht an das FBI zu denken, das tatsächlich eine Gefahr für June Bug und ihre Geheimgesellschaft und deren Ziele darstellte. »Die Sache mit den Seiten ist heikel«, sagte June Bug. »Die Positionen können sich von einem Augenblick auf den 174 anderen ändern. Ich möchte nicht plötzlich entdecken müssen, dass du einer von den Bösen bist.« »Das wird nicht passieren.« Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Eine Weile redeten sie über die alten Götter und über die Keth, über das Gold der Auferstehungsringe, über Lauren, die die Magie auf die Erde zurückbrachte, und über Molly. »Du hast sie gesehen?« »Ja.« »Wie geht es ihr?« Pete seufzte. »Sie hat sich verändert. Sie sieht anders aus und hat eine Aura von Dunkelheit, die vorher nicht da
war. Ich kann noch immer eine Menge von der Person sehen, die sie vor ihrem Tod war, aber da ist jetzt auch noch etwas anderes. Etwas Dunkles und Fremdes und Erschreckendes.« »Der Tod verändert die Menschen«, erklärte June Bug, deren Stimme jetzt nur noch ein Flüstern war. Was, wie Pete dachte, nicht nur June Bugs Problem ziemlich gut zusammenfasste, sondern auch seines. Und Laurens. Und, was das betraf, Mollys. 10 Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria Harte Arbeit war für Rekkathav nichts Ungewohntes, doch in den vergangenen Stunden hatte er härter gearbeitet als je zuvor in seinem Leben. Und die Arbeit hatte sich gelohnt. So sehr, dass er es wagte, sich dem Meister der Nachtwache zu stellen und dabei eine gewisse Hoffnung zu nähren, dass sein Kopf noch immer auf seinem Körper sitzen würde, wenn er seine Geschichte erzählt hatte. Er machte eine tiefe Verbeugung vor Aril. »Ich habe die Informationen, um die du gebeten hast - es gibt sowohl schlechte Neuigkeiten als auch gute.« »Nun ...« »Die schlechten Neuigkeiten zuerst.« Ich will beides zugleich, sagte der Keth und drang mit der Gnadenlosigkeit, die ihn zum Meister gemacht hatte, in Rekkathavs Gedanken ein. Aber Rekkathav war noch immer ein wahrhaft lebendiges Geschöpf - er war noch nie auferstanden, hatte noch den Atem seiner Geburt in sich, und seine Seele war immer noch an sein Fleisch gebunden. Aril konnte ihn drängen, bis zu einem gewissen Maß auch Zwang ausüben, aber solange Rekkathav auf dergleichen Angriffe gefasst war und von seiner Seele beschirmt wurde, die seine Gedanken bewachte, konnte Aril in Rekkathavs Geist nicht mit derselben Brutalität eindringen, wie er es bei Vanak getan hatte. Rekkathav war imstande, Geheimnisse zu hüten - sofern er nicht versuchte, sie allzu lange zu bewahren. 176 »Die schlechten Neuigkeiten zuerst«, wiederholte Rekkathav, der an seinem Plan festhielt, als gelte es sein Leben. Oder seinen Tod, in diesem Falle. Er erzählte Aril von der Rückkehr der Unsterblichen, von der Gruppe Sterblicher, die sie um sich geschart hatten, vom Tod der Keth und des Beithan und von der Zerstörung ihrer Auferstehungsringe. Aril saß ungläubig und wie erstarrt da. Mit kaltem Todeshunger, der Regung, die bei ihm echtem Zorn am nächsten kam, starrte er Rekkathav in die Augen. Das Flüstern in Rekkathavs Geist war sanft. Rekkathav wagte es nicht, sich zu entspannen. »Ich habe die Quelle der Magie entdeckt. Die Quelle ist unglaublich verletzlich.« Der Todeshunger in den Augen des Meisters verebbte nicht. Das hätte ich auch tun können. »Ich habe mehr getan. Ich habe etwas über die Beschützerin der Quelle herausgefunden. Sie selbst konnte ich nicht aufspüren, aber ich kann dir sagen, wie du sie finden kannst und was sie ist.« Sag es mir. Rekkathav ließ ihn alles wissen, was er über die von Sterblichen abstammende Lauren und ihr Kind wusste und von Molly, die sowohl dunkle Göttin als auch Jägerin dunkler Götter war. Er bemerkte, dass Molly möglicherweise etwas mit dem Verschwinden der Abteilung der Nachtwache zu tun hatte, die in Fyre im technischen Entwicklungszentrum von Oria stationiert war. Und dass sie wahrscheinlich auch für das Verschwinden einzelner Mitglieder der Nachtwache verantwortlich war. Und was ist deine gute Neuigkeit? »Die gute Neuigkeit ist, dass sie nur zu zweit sind. Und man braucht nur eine von ihnen zu töten, um zu siegen. Unsere Feinde haben keine Rückzugsposition, keinen Ersatz, 177 der weitermachen könnte, falls ihrer Sterblichen etwas zustoßen sollte. Sie ist diejenige, um die wir uns kümmern müssen. Sie ist eine Perversion der Natur. Ein Zufallstreffer. Und sie ist verletzbar. Warte, bis unsere Feinde sich entspannt haben, bis sie glauben, diese Sache mit den Keth wäre ein ernsthafter Rückschritt für dich, und dann greifst du sie mit allem an, was uns zur Verfügung steht. Du musst darauf gefasst sein, dass die beiden Unsterblichen Verluste in deinen eigenen Reihen verursachen werden, und du darfst dich von nichts ablenken lassen, was sie deinen Leuten entgegenschleudern. Und dann wirfst du unsere gesamte Streitmacht gegen diese eine Sterbliche, wenn sie auf ihrem Heimatplaneten ist, auf dem sie über keinerlei Magie verfügt, um sich zu schützen, und sie wird sterben. Wir werden einen gewissen Preis dafür zahlen - vielleicht sogar einen hohen Preis. Aber sie werden mit allem zahlen, was sie haben.« Aril sah Rekkathav lange an, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen. Dann fragte er: Wie lange sollen wir deiner Meinung nach warten? »Zwei Wochen mindestens. Vielleicht einen Monat. Keinerlei Angriffe während dieser Zeit, dann hundert Tore gleichzeitig und alles, was uns zu Gebote steht, auf einen Schlag.« Aril nickte. Ein vernünftiger Plan. Du überraschst mich. Ich dachte, du wärest von Natur aus eher für Schreibtischarbeiten geeignet. Er hielt inne und legte den Kopf zur Seite, so dass sein Haar, das seinen Kopf in tausend lebenden Schlangen gleichen Zöpfen umwogte, in Bewegung geriet. Diese Geste jagte Rekkathav stets einen Schauder über den Rücken, und diesmal war es nicht anders.
Du darfst die Mannschaft zusammenstellen und das Kommando führen. Ich glaube - er lächelte kaum merklich, ohne seinen Blick auch nur für eine Sekunde von Rek178 kathav abzuwenden -, dass Initiative belohnt werden sollte. Im nächsten Moment entließ der Meister der Nachtwache Rekkathav mit einem Fingerschnipsen. Rekkathav eilte in sein eigenes Quartier zurück, wobei er darauf achtete, seine Gedanken sorgfältig abzuschirmen. Er lebte noch. Noch - aber der Meister hatte soeben womöglich sein Todesurteil gesprochen. Er sollte den Angriff auf Unsterbliche und gut bewaffnete Sterbliche befehligen; er, der über jede Schlacht in der Geschichte gelesen und jedes Traktat über Taktik studiert hatte, das er finden konnte, ohne selbst jedoch jemals auch nur an einem Paarungsduell teilgenommen zu haben. Er betrachtete den schweren Goldring, der durch seine Haut gebohrt war. Den Ring, der Unsterblichkeit versprochen hatte, der ihm garantiert hatte, dass er zu den Meistern der Ewigkeiten gehören würde, diesen Ring, der ihn mit den dunklen Göttern der Nachtwache vereint hatte. Als man ihm den Ring seinerzeit ins Fleisch gebohrt hatte, war er ihm wie ein zweites Paar Flügel vorgekommen. Jetzt fühlte er sich wie eine Fessel an. In der Wildnis des südlichen Oria Molly erwachte inmitten von Blättern und Schmutz, und diesmal erinnerte sie sich daran, wo sie war, und wusste, was mit ihr geschehen war. Wieder einmal gestorben. Sie stand auf und blickte empor, immer höher empor bis auf den Gipfel des Felsens, auf dem sie und Baanraak gekämpft hatten. Sie konnte dort hinaufgehen und nachsehen, ob er noch da war, ob er sich langsamer wiederbelebt hatte als sie, so dass sie einen weiteren Versuch unternehmen konnte, ihn zu vernichten. 179 Sie stand nackt in einem Wald, weit fort von ihrem Zuhause. Aber sie brauchte nicht so zu bleiben. Sie schloss die Augen, rief die Magie von Oria in ihren Körper und beschwor Jägerkleidung herauf - bequeme Jeans, kräftige Wanderschuhe und einen elastischen Strickpullover. Sie stellte sich den Dolch vor, den Seolar ihr geschenkt hatte, den, mit dem sie sich einmal selbst getötet hatte, um ihre Existenz zu retten, und ließ ihn mitsamt der Scheide und dem Gürtel in ihrer Hand erscheinen. Ihre Waffe war bedeckt mit getrocknetem Blut und auch sonst reichlich mitgenommen. Eine Berührung ihrer Hand, ein konzentrierter Befehl, und der Dolch war sauber und mit der Fähigkeit ausgestattet, sich selbst zu reinigen, und er war scharf und besaß nun auch die Fähigkeit, sich selbst zu schärfen. Eine Waffe, die einer Jägerin würdig war. Molly blickte noch einmal zu dem Felsen hinauf und schätzte die Entfernung ab. Siebzig Meter vielleicht. Möglicherweise etwas mehr. Sie konnte binnen eines Wimpernschlags dort sein. Aber was würde sie vorfinden? Sie tastete nach Baanraaks Gedanken, konnte aber keine Spur von ihnen entdecken. Als Nächstes versuchte sie, die Erinnerung an sein Fleisch heraufzubeschwören, das sie berührt und, als sie in seinen Gedanken versteckt gewesen war, sogar selbst getragen hatte. Doch auch diese Erinnerung konnte sie nicht zurückholen. Möglicherweise lag er oben auf dem Felsen, mitten im Prozess der Wiederauferstehung und hilflos. Er konnte seine Auferstehung jedoch bereits abgeschlossen haben und ihre Versuche, ihn aufzuspüren, blockieren. Sie schwebte an der Felswand empor und hoffte, dass es sich nicht gerade so verhielt. Sie wollte sich ihm nicht entgegenstellen, wenn er wusste, dass sie kam - er hatte alle Vorteile von Größe, Alter, Erfahrung und körpereigenen Waffen auf seiner Seite, und wenn er überdies mit ihrem Er180 scheinen rechnete, würde sie keine Chance haben. Andererseits konnte sie die Möglichkeit nicht unbeachtet lassen, dass seine Auferstehungsringe vielleicht oben auf dem Felsen lagen und nur darauf warteten, dass sie sie einsammelte. Sie konnte seiner Jagd auf sie ein und für alle Mal ein Ende bereiten. Aber oben auf dem Felsen lag nichts als eine einzelne schwarze Schuppe. Molly hob sie auf. Sie schimmerte in ihrer Hand, war ungefähr so groß wie ihr Daumennagel. Durchscheinend und zu schön, um Teil eines so bösen Geschöpfes sein zu können. Die Schuppe stammte jedoch von Baanraak - Molly konnte spüren, was er gewesen war, als sie die Schuppe berührte, aber sie konnte ihn nicht ertasten. Sie schob das kleine Stückchen Hörn in ihre Tasche und runzelte die Stirn. Er war wieder auferstanden und fortgegangen, oder etwas anderes war ihr zuvorgekommen und hatte sich seine Ringe geholt. Dann witterte sie unten im Wald, wonach sie gesucht hatte. Baanraaks Geist, benebelt und verwirrt, wie er ins Bewusstsein zurückkroch, aber immer noch verletzlich. Die Explosion. Sie hatte ihn vom Felsen hinuntergerissen - genauso wie Molly selbst -, und er war im Wald wieder auferstanden. Molly verschwendete keine Zeit, um über Alternativen nachzudenken - sie rannte an den Rand des Felsens, sprang in die Richtung, aus der sie den erwachenden Geist spürte, und ließ sich im freien Fall nach unten stürzen. Sie beschwor die Illusion herauf, wieder einen Fallschirm auf dem Rücken zu tragen, und breitete Arme und Beine aus, um die Richtung ihres Sturzes zu kontrollieren. Dann visualisierte sie ein Kissen, das ihren Sturz bremsen würde, platzierte es jedoch erst im letzten Augenblick, als sie durch eine Öffnung in den Baldachin der Bäume gebrochen war und Baanraak unter sich sehen konnte; einer seiner Flügel flat181
terte, seine Beine zuckten, und er hatte den Hals ausgestreckt. Er war mit seiner Auferstehung nicht ganz fertig, dachte sie und warf den Kissenzauber unter sich, direkt über ihn. Nachdem der Zauber ihr eine sanfte Landung ermöglicht hatte, riss sie ihren Dolch aus der Scheide, verwandelte ihn binnen eines Wimpernschlags in ein Schwert, legte all ihre Kraft in den Schlag, den sie auf den Übergang seines riesigen Kopfes zum gebogenen Hals führte, und befahl dem Schwert, ihren Gegner mit einem einzigen geschmeidigen Hieb zu enthaupten. Sie hatte aus Erfahrung gelernt - als Baanraaks Körper in Todesqualen zuckte, hatte sie sich bereits außer Reichweite gebracht. Nachdem die Krämpfe und das Zucken verebbt waren, überantwortete sie ihn mit bloßer Willenskraft den Flammen und verbrannte ihn zu Asche, und als das geschehen war, durchsuchte sie die Asche, bis sie zwei schwere Goldringe gefunden hatte. Lange Sekunden hielt sie die Ringe in der Hand, spürte die ihnen anhaftende ölige Dunkelheit, das Gewicht, das seinen Ursprung in der Todesmagie hatte, die schwerer war als das Gold, in das sie eingebunden war. Mit Magie allein konnte sie die Auferstehungsringe nicht vernichten - das wusste sie bereits. Sie wollte sie auch nicht mitnehmen, weil sie schon jetzt nach ihr riefen, weil ihre Macht sich mit allem mischte, was sie war, um sie der Vernichtung näher zu bringen. Also schuf sie aus dem Fels des Untergrundes einen Brennofen und beschwor die notwendigen Dinge herauf, um darin ein heißes Feuer zu entfachen. Das Feuer war allerdings nicht magischer Natur, sondern einfach nur heiß. Sie legte die Ringe hinein, die bald zu schmelzen begannen. Das Gold sammelte sich in einer kleinen, rechteckigen Mulde. Während der Schmelze umschlang sie die höllische Magie so fest, dass sie kaum mehr atmen konnte; sie konnte Baanraaks Berührung spüren, 182 seinen Hunger, seine Macht, und sie wollte all diese Dinge für sich haben. Und noch konnte sie sie haben. Sie biss die Zähne zusammen, bis ihre Kiefer schmerzten, und sie erschauerte unter Baanraaks unsichtbarer Berührung. Um dem Sog der Magie zu entgehen, konzentrierte sie sich darauf, das Mahlwerk zu schaffen, das sie später benötigen würde, und als alles Gold geschmolzen war, benutzte sie abermals Magie, um es abzukühlen und zu härten. Sie benutzte das Mahlwerk, um den Barren zu goldenem Staub zu zermahlen, und spürte, wie die Zauber, mit denen das Gold belegt war, immer schwächer wurden. Anschließend gab sie den Goldstaub in einen Beutel und versetzte sich an einen Fluss, von dem sie wusste, dass er von einem Berghang aus direkt ins Meer strömte. Den Beutel mit dem Gold in der Hand stand sie auf einem Felsen neben dem zu Tal schießenden Wasserlauf. »Es ist getan«, sagte sie zu den Schatten Baanraaks, die noch verblieben waren. »Es ist getan, und es ist vorbei.« Sie ließ das Gold ins Wasser rieseln. Der letzte Rest seiner Magie wich von ihr, und sie beobachtete, wie das Pulver glänzte und funkelte, während es weggespült wurde. Wunderschön. Quälend schön. Und unerreichbar weit fort. Nach einer ganzen Weile nahm Molly die Schuppe aus ihrer Tasche und starrte sie an. Baanraak gab es nicht mehr. Dieses winzige Ding war alles, was von ihm geblieben war. Sie hätte jubilieren sollen. Warum also fühlte sich die Leere in ihr noch schlimmer an als zuvor? Sie musste nach Hause. Sie hielt die Schuppe über das Wasser, um sie wegzuwerfen - aber im letzten Augenblick brachte sie es dann doch nicht fertig. Aus Luft und Magie wob sie eine dünne Kette aus Stahl; Stahl war kein magisches Metall und auch kein bindendes Metall wie Silber und Gold, sondern eine simple Substanz, die es ihr ermöglichen würde, die kleine 183 Schuppe bei sich zu tragen. Sie fasste sie mit einem zarten Stahlrahmen ein und hielt sie anschließend empor, um die dunklen Regenbogen darin zu betrachten, bevor sie die Kette, die sie geschaffen hatte, überstreifte. Eine Trophäe, sagte sie sich. Ein greifbares Symbol ihres Triumphs über ihren ersten großen Gegner. Molly stand oben auf der Klippe und spürte die Gischt des Wasserfalls kalt und scharf auf ihrer Haut. Sie berührte die Schuppe an ihrem Hals und suchte nach irgendetwas, das sie noch tun konnte, um das Unvermeidbare aufzuschieben. Aber sie musste zurückkehren. Sie musste Seolar wissen lassen, wo sie gewesen war, seit ... Nun, sie wusste nicht, wie lange sie fortgewesen war. Es konnten Tage gewesen sein oder vielleicht Wochen. Sie musste ihm gegenübertreten. Obwohl die Leere und die Dunkelheit in ihr sich immer weiter ausbreiteten, obwohl ihre Gefühle für ihn stumpf geworden waren und obwohl sie wusste, dass immer weniger von ihr selbst übrig bleiben würde, wie bei einer Zwiebel, der man eine Schicht nach der anderen abstreifte, bis es nur noch die Erinnerung daran gab, dass da einmal eine Zwiebel gewesen war. Von ihr war weniger geblieben; die Dunkelheit hatte sich ausgebreitet. Und so würde es weitergehen, denn auch wenn Baanraak tot war, konnte Molly nicht aufgeben und ihre Jagd auf die Nachtwache und die anderen dunklen Götter abbrechen. Sie konnte ebenso wenig aufgeben wie Lauren; das Ergebnis wäre in beiden Fällen dasselbe: Die Weltenkette würde reißen, und ihre Welt und Oria und alles, was sie je geliebt hatte, würde sterben. Und auch wenn die Fähigkeit zu lieben mit jedem Tod in ihr blasser wurde und sie mehr und mehr von ihrer Leidenschaft verlor, so konnte sie sich doch noch .... erinnern. Sie erinnerte sich daran, wie es gewesen war zu fühlen. Sie starrte auf das Meer hinaus, das glänzend wie ein rie184
siger Saphir unter ihr lag. Es war wunderschön und lebendig, und doch gab es Kräfte, die bereits auf seine Vernichtung hinarbeiteten, auf die Vernichtung ganz Orias. Ohne ihre Hilfe würde diese Welt sterben, genau wie die Erde. All die Schönheit, die sie vor sich sah, würde vergehen, während sie selbst weitermachen würde - in dem Wissen, dass sie es hätte verhindern können. Molly wandte sich nach Norden, reckte das Kinn hoch und nahm all ihren Mut zusammen. Sie würde Seolar gegenübertreten. Sie würde eine Möglichkeit finden, um mit ihm zu reden. Sie musste es tun, um ihrer beider willen. Die Wildnis des südlichen Oria -und ein Ring aus Jägergold Baanraak erwachte. Er hatte Hunger, und das Licht der späten Nachmittagssonne schien ihm in die Augen. Er blickte zu den Bäumen über sich auf, zu dem gewaltigen, natürlichen Felsturm, der sich zu seiner Rechten über den Wald erhob. Er sog den Geruch der Luft ein, tastete nach Leben. Nichts Essbares bewegte sich in seiner Nähe - irgendetwas hatte alles Wild verschreckt. Die Luft stank nach dunkler Magie und nach der Zerstörung dunkler Magie. Ganz in der Nähe war ein dunkler Gott gestorben, und das vor nicht allzu langer Zeit. Er sollte Jagd auf Molly machen, aber im Augenblick war sein Hunger übermächtig. Er würde sie ohne Mühe finden, überlegte er. Und dann würde er sie für das, was sie ihm angetan hatte, vernichten. Mit einem Mal war ihm alles klar geworden - er begriff nicht, warum er sich so schwer getan hatte mit seiner Entscheidung. Er sah sich um, fand eine Lichtung und erhob sich in die Lüfte. Er flog nach Süden. 185 Die Wildnis des südlichen Oria -und ein Ring aus Meistergold ... und Baanraak erwachte. Er hatte Hunger, und die Sonne kroch zum Horizont hinunter. Er blickte zu den Bäumen über sich auf, zu dem gewaltigen, natürlichen Felsturm, der sich zu seiner Linken über den Wald erhob. Er sog den Geruch der Luft ein und fing den Gestank von dunkler Magie auf und vom Tod eines dunklen Gottes vor einiger Zeit, ein Ereignis, das noch frisch genug war, um beunruhigend zu sein. Er atmete tief ein, spürte, wie das Leben in ihn zurückflutete, spürte das Rauschen des Blutes in seinen Adern, die Kraft in seinen Muskeln, die Biegsamkeit von Krallen und Flügeln. Die Welt war wieder klar geworden; die Alternativen lagen vor ihm, offensichtlich und logisch. Er konnte sich an seine Verwirrung erinnern, bevor Molly ihn in Fetzen gesprengt hatte, aber er begriff nicht mehr, warum er verwirrt gewesen war. Er hatte sich über die Nachtwache geärgert, über die Unfähigkeit ihrer Führung, über ihre jämmerliche Kultivierung unreifer Welten weiter unten in der Weltenkette und ihre schlampige Ernte erstklassiger Welten. Aber er hatte keinen Grund gehabt, sich zu ärgern; er hatte das Amt des Meisters freiwillig abgelegt. Jetzt wurde es Zeit zurückzukehren. Er würde zuerst essen, dann würde er seinem neuen Schicksal folgen. Er sah sich um, fand eine Lichtung und erhob sich in die Lüfte. Er flog nach Westen. 186 Die Wildnis des südlichen Oria -und ein Ring aus Anfängergold ... und Baanraak erwachte. Er hatte Hunger, und das Zwielicht des frühen Morgens begrüßte ihn. Er schnupperte und nahm den schwachen Gestank der Zerstörung von dunkler Magie wahr. Irgendjemand hatte vor einer Weile einen dunklen Gott getötet, aber die Fährte war bereits abgekühlt und würde bis zum Morgen gewiss verschwunden sein. Er wusste, wie er an den Ort gekommen war, an dem er sich befand. Er wusste, wer er war. Aber er fühlte sich unvollständig, als seien große Flächen dessen, der er gewesen war, ausgelöscht worden. Er wusste, dass er mehr gewusst hatte, aber er wusste nicht mehr, was er gewusst hatte - nur, dass er ein Gefäß war, das einst voll gewesen und jetzt fast leer war. Wilde Tiere regten sich im Wald, und sein Hunger vertrieb alle anderen Gedanken aus seinem Kopf. Er legte seine Flügel fest an und trat leichtfüßig auf den Weg, der ihn zu seinem Abendessen führen würde. Die Wildnis des südlichen Oria -und ein Ring aus Silber und Gold ... und Baanraak erwachte. Er hatte Hunger, es war dunkel und kalt, und an einem wolkenlosen Himmel glitzerten die Sterne. Noch vor dem Morgen würde Frost einsetzen. Aber der klare Himmel bescherte weder klare Gedanken, noch brachte die scharfe Kälte die Schärfe unwiderlegbarer Logik mit sich. Unter einer Last von Zweifeln lag das verworrene Netz von Alternativen vor ihm, die wenig Sinn ergaben oder noch weniger Sinn oder überhaupt kei187 nen Sinn, und er verschluss die Augen vor ihnen und verzweifelte. Kupferhaus, Ballahara, Nuue Oria Molly trat aus dem Tor, das sie geschaffen hatte, hinein in den sicheren Raum im Untergeschoss vom Kupferhaus. Sie blickte auf den Torspiegel hinab, den sie für ihre Reise benutzt hatte, und stellte ihn wieder so ein, dass er nur ihre Magie oder die von Lauren akzeptierte. Sie wusch sich in der modernen Dusche, die Lauren geschaffen hatte, als sie im Untergeschoss bleiben musste, um einen kleinen Krieg zu Mollys Rettung zu führen. Molly schwelgte genüsslich in dem endlosen heißen Regen - warme Duschen gehörten nicht zu den Annehmlichkeiten, die Oria bisher entdeckt hatte -, und als sie fertig war und sich mit einem wunderbaren, dicken, weichen Badehandtuch von der Größe eines Teppichs abgetrocknet hatte, schuf sie ein schlichtes
höfisches Gewand für sich. Grüne Seide mit einem eingepassten Mieder und einem bodenlangen Rock. Mit Überröcken oder Unterwäsche oder den Insignien ihrer Macht gab sie sich gar nicht erst ab; auf Oria war sie eine alte Göttin, und die Regeln der höfischen Hierarchie hatten keine Geltung für sie. Sie stand über diesen Regeln. Sie wollte hübsch sein, aber sie wollte auch wie jemand aussehen, der abseits stand. Sie trocknete ihr Haar, indem sie ihre Willenskraft darauf richtete, und flocht es schnell zu einem schlichten Zopf, der ihr über den Rücken fiel und fast bis zu ihren Knien hinunterreichte. Ihre Füße schob sie in Schuhe mit gutem Halt und rutschfesten Sohlen, bezogen mit grüner Seide, so dass sie annehmbar aussahen. Eine Göttin in grünen Turnschuhen, dachte sie - aber eine Göttin, die kämpfen und fliehen konnte, wenn es sein musste. 188 Molly gurtete sich ihren Dolch um die Hüften und betrachtete sich im Spiegel. Sie prüfte den Rock, um sicherzustellen, dass er ihre Bewegungen nicht einschränkte, und vergewisserte sich, dass sie den Stoff schnell aus dem Weg bekam, wenn es notwendig werden sollte. Solchermaßen zufrieden gestellt wandte sie sich von den Spiegeln ab. Ihre Aufmachung würde genügen. Aber jetzt musste sie ihren Plan in die Tat umsetzen, bevor sie den Mut dazu verlor. Sie ging durch das Untergeschoss und stellte fest, dass es nicht hinreichend bewacht wurde - sie würde Seolar davon in Kenntnis setzen müssen. Dann weiter die Rampen hinauf zur Haupthalle des riesigen Hauses, wo es plötzlich von Veyär nur so wimmelte. Mollys Erscheinen löste große Erregung unter den Veyär aus; offensichtlich waren sie alle ängstlich darauf erpicht, zu erfahren, was ihr zugestoßen war. Aber sie suchte nach Seolar. Alles andere konnte warten. Das erklärte sie den Leuten, die sie mit solch offenkundiger Erleichterung begrüßten und sich sofort unter tiefen Verbeugungen wieder zurückzogen und ihr den Weg freigaben. Als sie Seolar schließlich fand, saß er in seinem Amtsraum bei einer Besprechung mit Veyär aus dem Dorf. Sobald er sie an der Tür stehen sah, erhob er sich, entschuldigte sich bei seinen Gästen und erklärte ihnen, dass die Zusammenkunft am nächsten Morgen fortgesetzt werden würde. Sie standen auf, verließen den Raum, und Molly trat ein. Seolar kam auf sie zu und umarmte sie. Sie konnte die Qual in seinem Gesicht sehen und in seinem Körper spüren. »Eine Woche, und du bist nicht zurückgekommen. Was ist passiert?« »Ich habe einen Spaziergang gemacht«, sagte sie. »Eine Woche lang?« »Nein. Ich habe ein Nest der Nachtwache gefunden. Bin 189 bei ihrer Vernichtung getötet worden. Wieder auferstanden, dann zu meiner Schwester gegangen, um mit ihr zu reden, und habe einen Spaziergang gemacht. Der Spaziergang dauerte nur ein paar Stunden, aber währenddessen fand ich Baanraak und konnte ihn überrumpeln. Ich bin ihm gefolgt, und als der Zeitpunkt mir richtig erschien, habe ich ihn getötet.« Seolar beugte sich zurück, um ihr voll ins Gesicht zu blicken, und in seinen Augen strahlte Hoffnung. »Das Ungeheuer, das auf dich Jagd macht und das dich getötet hat -es ist vernichtet?« Molly holte tief Luft. »Als ich ihn tötete, ist es ihm gelungen, gleichzeitig mich zu töten. Während der letzten Tage bin ich ... zurückgekommen. Ich bin in einiger Entfernung von hier aufgewacht, kurz bevor er seine Auferstehung abschließen konnte. Ich tötete ihn noch einmal, diesmal zu einem Zeitpunkt, da er schwach und hilflos war. Ich vernichtete seine beiden Auferstehungsringe. Er ist für immer fort.« »Aber gleichzeitig habe ich durch dein Tun noch ein klein wenig mehr von dir verloren.« Seolar drückte sie von sich weg, und als er sich aus ihren Armen gelöst hatte, wandte er ihr den Rücken zu. »Wir haben noch ein wenig mehr von dem verloren, was wir sind.« »Das ist wahr«, sagte Molly. »Liebst du mich noch?« »Ja«, antwortete Molly. Aber schon jetzt meinte sie, wenn sie es sagte, nicht mehr dasselbe wie er. Er bedeutete ihr viel - es war ihr wichtig, was aus ihm wurde, sie wollte ihn glücklich sehen, wollte, dass er wahres Glück fand. Ihre Leidenschaft jedoch war erloschen. Ihre Erregung darüber, dass sie zusammengehörten, ihre atemlose Vorfreude auf den nächsten Moment, in dem sie beide sich ein wenig Zeit stehlen konnten, Zeit ganz für sie allein - das alles war fort. 190 Nichts, was sie tun konnte, würde ihr diese Dinge zurückbringen. »Ich liebe dich immer noch«, sagte sie. »Wie viele weitere Tode noch, bis du es nicht mehr tun wirst, Geliebte? Wie lange soll das noch so weitergehen? Bis du mich eines Tages ansiehst und ich dir nicht mehr bedeute als der Stuhl, auf dem ich sitze, oder der Fußboden, auf dem ich stehe? Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Seine Stimme brach, und er ging zu seinem Bücherregal und lehnte das Gesicht an die kühlen Bände, die darauf standen. »Ich weiß es nicht. Ich spüre, dass immer weniger von mir da ist, aber ich habe nicht die leiseste Chance, dir zu erklären, an welchen Stellen mein altes Ich sich vermindert und wo nicht. Ich spüre meine .... meine Reduzierung. Aber es ist eine vage Angelegenheit, nicht messbar, nicht stetig. Ich kann mir nicht ansehen, was ich verloren habe, und sagen: >Ich werde nur noch zehn Mal sterben können, bis ich nicht länger ich bin.< So funktioniert das nicht.« »Nun, ich sterbe unterdessen vor Angst. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, sterbe ich ein klein wenig mehr.«
Sie ging zu ihm hinüber, legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich herum. »Liebst du mich noch?« »Von ganzem Herzen und mit meiner ganzen Seele. Anderenfalls wäre es nicht so wichtig, dass du von mir fortgehst und dass du eines Tages hier sein, aber nicht länger du sein wirst. Und dieser Tag wird noch zu meinen Lebzeiten kommen, befürchte ich. Denn du gibst nicht Acht auf dich.« Er umfasste ihre Schultern. »Du hältst dich nicht von Ärger und Gefahren fern.« »Wenn das Universum weiterleben soll, Seo, dann darf ich das auch nicht tun. Ich bin nicht, wofür du mich gehalten hast, ebenso wenig wie ich das bin, was ich zu hoffen gelernt hatte. Ich bin nicht die Heilerin, die für alles Gute da ist.« Sie nahm seine Hände von ihren Schultern, legte sie 191 zusammen und hielt sie fest. Dann blickte sie in seine unergründlichen, schwarzen Augen und sagte: »Sondern ich bin die Zerstörerin des Bösen. Aber das Böse hat Zähne, und manchmal werde ich scheitern. Manchmal werde ich sterben. Damit die Weltenkette überleben kann, muss ich sterben. Niemand sonst kann tun, was ich tun kann. Niemand sonst kann die Nachtwache finden, weil er sie spürt, kann sie auslöschen, ohne schreckliche Auswirkungen der Magie in den anderen Welten auszulösen und dort Unschuldige in großer Zahl zu zerschmettern; niemand sonst kann all das tun und dabei sterben und anschließend zurückkehren, um es noch einmal zu tun. Niemand außer mir. Wenn ich aufgebe, wenn ich versage, wird kein anderer meinen Platz einnehmen können.« »Spielt das eine Rolle? Die Welt über uns ist vergiftet und wird an diesem Gift sterben. Ich habe viele berichten hören, dass es dort nur wenig gibt, was es Wert wäre, gerettet zu werden. Also, lass die Welt sterben. Bring jene, die du liebst, und jene, die sie lieben, hierher nach Oria. Bleib bei mir. Wo du in Sicherheit bist. Heile die Veyär, tu, was die anderen Vodi getan haben, gib gut Acht auf dich und hege die Liebe, die wir miteinander teilen.« »Das kann ich nicht tun.« Er schob ihre Hände weg von sich und schrie: » Warum nicht? Die anderen Vodi haben es getan. Sie haben die Kranken geheilt und die dunklen Götter von unseren Türen fern gehalten ...« »Sie haben euch Stück um Stück verkauft, haben Kompromisse geschlossen, die euch eure Ländereien und euer Volk gekostet haben, und es wird euer Schicksal besiegeln, wenn ihr diesen Weg weiter verfolgt. Du kannst nicht mit jemandem verhandeln, dessen einziges Ziel darin besteht, dich tot zu sehen. Du kannst nur eines tun: Du musst sie zuerst vernichten. Und genau das beabsichtige ich zu tun.« 192 »Aber es sind Tausende, vielleicht Zehntausende von ihnen, und auf unserer Seite ist nur einer.« »Es gibt heute weniger dunkle Götter als vor einer Woche. In zwei Wochen werden noch weniger dunkle Götter da sein als heute. Ich habe die ganze Ewigkeit Zeit, und die Zahl der dunklen Götter ist nicht unendlich. Ich werde sie einen nach dem anderen auslöschen, Seolar. Und die Veyär werden leben und gedeihen und sich wieder ausbreiten. Und die Weltenkette wird überleben.« Sie erzählte ihm nichts von der Dunkelheit in ihr, von ihrer wachsenden Sehnsucht nach all den Verlockungen der Zerstörung, von ihren Zweifeln, was ihre eigene Rolle betraf. Sie war unsicher - aber er würde ihre Unsicherheit als Zeichen dafür deuten, dass sie von ihren Plänen ablassen und sich bei ihm im Kupferhaus verstecken konnte. Was diese Möglichkeit anging, hatte sie allerdings nicht die geringsten Zweifel; sie würde sich vor nichts verstecken. Er sprach mit einer Stimme, die rau war vor Schmerz. »Wenn du den dir selbst erwählten Weg weiterverfolgen willst, dann töte mich. Hier ... jetzt ... schnell. Es wäre ein Akt der Güte. Denn ich möchte lieber jetzt sterben, da ich mir deiner Liebe sicher bin, als Stück für Stück zu sterben, während ich zusehe, wie du verblasst.« Er sah ihr in die Augen - und ihr war klar, dass es ihm mit jedem einzelnen Wort ernst gewesen war. Molly legte die Arme um ihn, hielt ihn fest umfangen und strich ihm über den Kopf. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Es tut mir so Leid - dass ich nicht die Person bin, die du dir erhofft hattest, es tut mir Leid, dass die Zeiten so dunkel und so hart sind. Dass du und ich ...« In diesem Moment breitete sich Kälte in ihr aus. Sie spürte wie aus weiter Ferne, dass ihr das Herz brach. Aber sie stand abseits von diesem Schmerz, und ihr wurde klar, dass sie früher einmal geweint hätte. Dass sie hätte weinen sol193 len. Dass sie weinen wollte, so wie er weinte, um den Tod von Träumen und Hoffnungen und Wünschen. Um den Tod der Liebe. Aber sie hatte keine Tränen. Und selbst ihr Entsetzen über die Erkenntnis, wie viel von sich selbst sie bereits verloren hatte, genügte nicht, um Tränen zu finden. 11 Hendricks, Tucker County, West Virginia - Baanraak aus Silber und Gold Baanraak blickte nach Norden zu der winzigen Stadt hinüber und sog lange und tief die Luft ein, während er überlegte, ob die Richtung, die er eingeschlagen hatte, wirklich die richtige war. Die Magie war ganz nah Lebensmagie aus einer unteren Welt, die in eine obere Welt verlagert worden war, die Quelle des Unbehagens der Nachtwache und gleichzeitig die Quelle seiner Erheiterung. Aber sie lag immer noch weiter südlich, auch wenn es nur noch ein klein wenig weiter war. Er war kurz davor, den ersten und kleinsten von Laurens Tunneln aufzuspüren, aber er konnte schon jetzt merken, dass er nicht so klein war, wie er gehofft hatte. Es war eine
Menge Magie, die dort heraufströmte. Mehr als er erwartet hätte. Mollys Schwester hatte hier etwas Machtvolles geleistet, etwas Erschreckendes. Es war ihm völlig lächerlich erschienen, dass zwei Personen allein den Kampf mit der gesamten Nachtwache aufnahmen - aber Molly war ein beängstigendes Geschöpf und würde noch Ehrfurcht gebietender sein, wenn sie in den Besitz ihrer vollen Macht kam. Im Augenblick war sie jedoch nicht einmal in der Nähe dieser Macht. Und die Schwester war aus dem gleichen Holz geschnitzt - wild entschlossen und stark und leidenschaftlich. Er konnte die Leidenschaft in der Magie spüren, die ihn umringte. Er konnte die Schwester kosten, und diese Kostprobe erschütterte ihn bis ins Mark. Er schmeckte Liebe, Liebe, die selbst ihn anrührte, Liebe, die grimmig entschlossen 195 und selbstsicher war, eine Welt oder eine ganze Weltenkette ändern zu können. Liebe war der Zauber, den sie gesponnen hatte, das begriff Baanraak jetzt. Liebe, geboren aus Verlust und Hoffnung und Angst und der Entschlossenheit zu überleben. Die Liebe zum Leben selbst, die Liebe zu der Welt und ihren Geschöpfen. Liebe zum blauen Himmel und zu Donnerschlägen und dem süßen Geruch des Regens auf Gras; Liebe zu strahlenden Lichtern von Stadtstraßen und den Menschen, die jeden Tag dort entlanggingen, ohne etwas vom Wunder ihrer eigenen Existenz zu ahnen - und Liebe zu denen, die darum wussten, und zu denen, für die jeder Atemzug ein kostbares Geschenk war. Und jeder Teil dieses Bildes fügte sich in der Magie, die er einatmete, völlig klar und scharf wie gehärteter Stahl zusammen. Die Magie drängte ihn, sie festzuhalten, drängte ihn, auch weiter für das Gute zu kämpfen, mit jeder Faser seines Seins zu Heben und Liebe durch Taten zu zeigen. Zu schützen, zu bewahren, zu verteidigen. Er war eine tote Kreatur, die wiederbelebt worden war, ein Geschöpf ohne Liebe oder Leidenschaft oder Barmherzigkeit ... oder Hoffnung ... Und dennoch erschütterte ihn die Macht dieser flehentlichen Bitte und fraß sich mit unsichtbaren Krallen in ihn hinein und zerrte ihn weinend auf die Knie, ihn, der seit einer Äone nicht mehr geweint hatte noch hätte weinen wollen. Es lag nicht nur an der menschlichen Gestalt, in die er geschlüpft war. Fleisch konnte er beiseite werfen oder ganz nach Belieben neu erschaffen - sein Fleisch unterlag seiner Kontrolle. Es konnte auch nicht seine Seele sein, die diese Bitte - dieser Befehl - erreichte, denn er besaß keine Seele. Er, der seit Jahrtausenden tot war, er, der seit Jahrtausenden frei war von Schmerz, von Trauer und Tränen. Dies war wieder einmal der Verrat des Silbers - Verrat an dem 196 Baanraak, den er während seiner gesamten Existenz gekannt hatte, Verrat durch den Baanraak, der sich in ihm versteckte und der auf irgendetwas wartete, das diesen Teil an die Oberfläche bringen möge. Er spürte das Silber jetzt, spürte, wie es seine Krallen tief in sein Herz und in sein Blut bohrte. Es war, als hätte das Silber geschlafen, sei nun aber hellwach, um gegen alles zu kämpfen, was er gewesen war, um ihn zu etwas Neuem zu machen. Etwas, das er nicht begehrte, sondern fürchtete. Schluchzend zog Baanraak sich auf die Füße. Er schauderte und schirmte sich, so gut er konnte, gegen die Magie ab, aber sie hatte sich bereits in ihn hineingedrängt und füllte nun die leeren Stellen aus. Die Natur, die kein Vakuum zulassen konnte, hatte in ihm noch nie eines gefunden. Aber ein paar achtlose Augenblicke in der Gegenwart der Magie eines Menschen hatten etwas bewerkstelligt, das die Natur während eines ganzen Jahrtausends nicht vermocht hatte. Er wünschte nur, er hätte sagen können, was dieses Etwas war. Er kehrte der kleinen Stadt Hendricks den Rücken und ging die Staatsstraße entlang nach Süden. Einige Autos fuhren vorbei, aber nicht viele. Er steuerte das Herz der Magie an. Er würde nicht noch einmal davon kosten, das nahm er sich fest vor. Er wagte es nicht. Aber dies war seine beste Hoffnung auf ein gutes Versteck. Jeder wusste, dass Lebensmagie die dunklen Götter nicht nähren konnte. Also war dies der letzte Ort, an dem irgendjemand nach ihm suchen würde. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Um sich neu zu besinnen. Seine Begegnung mit Molly, nach der er tot gewesen, aber nicht vernichtet worden war, hatte ihn zutiefst erschüttert. Er wusste nicht, wie sie ihn besiegt hatte. Er hat197 te sie in seiner Gewalt gehabt. Aber dann hatte sie irgendetwas getan, und einige Zeit später hatte er sich im Wald wiedergefunden, neu erstanden aus Humus, Moos und Stein, aus Sonne und Wasser, und einige seiner Auferstehungsringe waren fort gewesen. Der Hauptring, der verräterische, der den Silberfaden in sein böses Herz geschmuggelt hatte, hauchte ihm immer noch Leben ein, aber von den anderen hatte er keine Spur entdecken können. Es waren geringere Ringe gewesen, die nur als Unterstützung für seinen Hauptring gedient hatten. Er hatte sie von Feinden gestohlen, die er bewunderte - und er hatte sie nur zur Verstärkung seinem tragbaren Schatz der Unsterblichkeit hinzugefügt. Ohne sie konnte er durchaus weiter existieren, aber trotzdem gefiel es ihm überhaupt nicht, dass er sie verloren hatte. Und es gefiel ihm auch nicht, dass er nicht wusste, was aus ihnen geworden war. Er ging eine Meile weit und dann noch eine, und dann entdeckte er zu seiner Rechten eine Spur. Er folgte ihr und spürte, wie die Magie mit jedem Schritt stärker wurde. Hier hatte die Magie reichlich Zeit gehabt, um in den Boden zu sickern, in die Bäume und ins Wasser. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor in der Wildnis um Hendricks herum unheimliche Dinge geschahen. Wanderer auf
dem Otter-Creek-Pfad würden Feen sichten, obwohl sie das wahrscheinlich für sich behalten würden - die Menschen waren es müde geworden, von Geschöpfen wie Feen zu berichten. Aber dann würde es nicht mehr lange dauern, bis das kleine Volk sich in der ganzen Gegend verbreitet hatte. Sie waren wie Moskitos; gab man ihnen fließendes Wasser, ein günstiges Terrain und Lebensmagie, konnte man sie nicht einmal mehr mit DDT loswerden. Baanraak blickte zu dem grünen Baldachin über seinem Kopf hinauf - Sommerblätter, die noch tapfer gegen den kommenden Herbst ankämpften. Dieser Ort war wunder198 schön. Und er fühlte sich lebendig an. Die Eingeborenen jeder Welt waren von Natur aus fast blind gegen die Magie ihres eigenen Umfelds, aber die Dinge, die Mollys Schwester hierher gebracht hatte, verströmten einen unverkennbaren Duft. Die Menschen würden es bemerken, selbst wenn sie nicht wussten, dass sie es bemerkten. Diese Gegend würde sich schon bald einer gewissen Beliebtheit bei den New-Age-Anhängern und anderen Esoterikern erfreuen, und obwohl es hier Bären, Rotwild, Fasane und hübsche Rhododendronbüsche gab, würden die Leute auf der Suche nach der Magie herkommen. Und hier würden sie sie dann auch finden. Wanderer, die diesem Pfad folgten, würden von derselben wilden Liebe erfüllt werden, die auch Baanraak spürte, und diese Erfahrung würde sie verändern. Sie würden zu ... Helden werden. Aufopferungsbereit. Männer und Frauen, die noch nie zuvor an irgendjemand anderen als sich selbst gedacht hatten, würden anfangen, Risiken einzugehen, um andere zu schützen. Dies würde schon bald ein gefährlicher Abschnitt des Waldes sein er würde das Leben der Menschen verändern. Auch die Flora und Fauna, die von der magischen Ökologie der Erde übrig geblieben war, würde ihren Weg hierher finden. Baanraak fragte sich, wie viele vom kleinen Volk und vom unheimlichen Volk es geschafft hatten, lange genug auf diesem Planeten zu bleiben, obwohl die Dinge so schlecht standen. Die Pookas, die schwarzen Hunde, die Werwölfe und Wisperer - trotz ihrer großen Stärke waren sie allesamt zarte Geschöpfe. Wenn die Magie sich zurückzog, starben die meisten von ihnen aus. Falls einige dieser Geschöpfe überlebt hatten, würde dieser Ort zu einem kleinen Paradies für sie werden - sofern sie ihn erreichen konnten. Und ihre Anwesenheit hier würde die Magie bereichern, würde den Ort stärker machen. 199 Irgendwann würden dann auch die Bäume erwachen, dachte Baanraak, und anfangen, diesen Ort zu bewachen. Die Menschen, die Bäume umarmten, würden überrascht sein, wenn die Bäume ihre Umarmungen erwiderten. Und sie würden nicht loslassen. Dies waren allesamt Bäume von zweitem Wuchs - sie hatten die reiche Magie niemals kennen gelernt und würden nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollten. Sie würden wild oder töricht reagieren, es sei denn, irgendjemand bildete sie aus. Trotzdem, das alles würde erst in ferner Zukunft geschehen. Und dann, während er tiefer in den Wald hineinwanderte, spürte Baanraak, dass einer der Bäume ihn beobachtete. Seine Haut kribbelte, und er stieß einen unhörbaren Fluch aus. Dann gab es also bereits einen alten Gott hier, der diese Magie benutzte und die Genesung dieses Fleckens Erde beschleunigte. Anders war es nicht zu erklären, dass die Bäume so schnell erwacht waren. Und diese Bäume waren unheimlich - sie hatten sich ihm bisher durch nichts zu erkennen gegeben. Also waren sie bereits ausgebildet worden. Wenn er nicht ohnehin gerade über Bäume nachgedacht hätte, wäre ihm überhaupt nicht aufgefallen, dass sie ihn beobachteten. Wäre er nicht stehen geblieben, als er den Baum dabei ertappte, wäre vielleicht gar nichts passiert. Aber jetzt war seine Tarnung dahin. Er würde fortgehen müssen; Bäume ließen sich nicht von der äußeren Gestalt täuschen. Sie konnten ihn als das sehen, was er wirklich war, und sie würden es dem alten Gott berichten. Es würde ihm auch nicht weiterhelfen, diesen alten Gott zu töten. Er wollte unbemerkt bleiben und keine Aufmerksamkeit auf seine Anwesenheit lenken. Falls Molly und ihre Schwester alte Götter mobilisiert hatten, um die Erde wiederzubeleben, würden diese aufeinander aufpassen. Und wenn die Bäume schnell reagiert hatten - und er konnte jetzt schon ihre Blätter rascheln und ihre Zweige knarren 200 hören -, musste er damit rechnen, dass die alten Götter und vielleicht sogar Molly bereits von seiner Ankunft wussten. Und das Einzige, was er wollte - das Einzige -, war eine ungestörte Zeit an irgendeinem Ort, an dem niemand nach ihm suchen würde. Er drehte sich um und wandte dem Wald den Rücken zu, um nach Hendricks zurückzukehren. Dort konnte er einen Spiegel finden und ein Tor schaffen. Irgendwo anders hingehen. Er hatte geglaubt, auf der Erde werde Molly nicht nach ihm suchen, aber jetzt brauchte er einen Ort, an dem seine Anwesenheit noch unwahrscheinlicher war als hier. Baanraak vermied jedes Denken, bis er weit weg vom Wald war, weit weg von den Bäumen, die ihn beobachteten. Bis er bei einer Tankstelle eine öffentliche Toilette mit einem großen Spiegel gefunden hatte. Er würde sich kleiner machen müssen, um hindurchzupassen. Jetzt hatte er das Vehikel - nun brauchte er nur noch das Ziel. Er erwog Kerras, eine Welt über der Erde, tot und dunkel und verbrannt und erstarrt. Dort konnte er sich verstecken, während er nachdachte. Während er sich ein Bild von der veränderten Situation machte und Pläne schmiedete. Er würde eine Blase für sich erschaffen, ein wenig Luft, ein wenig Wärme. Er würde zurechtkommen. Und auf Kerras würde niemand nach ihm suchen - sowohl die alten als auch die dunklen Götter
hatten diese Welt aufgegeben. Rr'garns Klippe, Oria -Baanraak aus Meistergold Baanraak, der nach dieser letzten Wiederauferstehung frei war von Zweifeln und Mutlosigkeit, glitt lautlos durch die Luft; er umkreiste die Stelle, an der Rr'garn, Oberhaupt des orianischen Rrön-Kontingents der Nachtwache, sich auf 201 seiner Klippe zusammengerollt hatte. Rr'garn schlief nicht, denn die dunklen Götter schliefen niemals. Aber er ruhte seine Augen aus, und vor seinem viel beschäftigten, lärmenden kleinen Geist spulten sich all die Triumphe ab, die er für sich geplant hatte, wenn er Aril stürzte und zum Meister der Nachtwache wurde. Die Vernichtung der Keth, die Erhöhung der Rrön, die Demütigung Trrtrags, der sein Stellvertreter war und zu viel Tüchtigkeit und zu wenig Gehorsam erkennen ließ. Ah. Danke, Rr'garn. Trrtrag hatte ich ganz vergessen. Baanraak lauschte weiter, während er immer neue Kreise zog, und stellte zu seiner Freude fest, dass Trrtrag wirklich wachsam war - er hielt sich nicht für so groß oder Furcht einflößend, um zu glauben, gegen Angriffe immun zu sein. Sein Geist war still - nicht still genug, aber Baanraak fand dennoch etwas in ihm, das ihm dienlich sein konnte. Aus Trrtrag würde er vielleicht etwas machen können. Rr'garn war nutzlos. Ich bedarf deiner, flüsterte Baanraak in Trrtrags Gedanken. Er spürte, wie der andere Rrön innerlich aufschreckte, aber diese innere Überraschung führte zu keinerlei äußerer Regung. Gut. Trrtrags Jagdsinne waren scharf. Wer bist du? Baanraak hatte nicht die Absicht, gerade diese Information jetzt schon preiszugeben. Stattdessen sagte er: Bring deinen Geist zum Stillstand, und löse dich von deinen eigenen Gedanken - und dann lass Rr'garns Gedanken in dich hineinströmen. Trrtrag, der neugierig geworden war, blieb wachsam, kam aber trotzdem Baanraaks Aufforderung nach. Baanraak fand den Augenblick, in dem Trrtrag den Weg in Rr'garns Fantasien entdeckte, höchst amüsant; Trrtrag dagegen amüsierte sich keineswegs. Ich bin gekommen, um zu fordern, was mir gehört, sagte 202 Baanraak anschließend. Ich werde dich zu meinem Stellvertreter erwählen. Wenn ich diesen verräterischen Bastard vernichte, kann ich selbst der Erste sein, bemerkte Trrtrag durchaus vernünftig, wenn man die Umstände bedachte. Baanraak zog geduldig seine Kreise. Geduld war zur rechten Zeit und in der rechten Situation eine wunderbare Tugend. Falls du dann auch mich überlebst, sagte er. Und wer bist du, dass ich dich fürchten sollte? Baanraak. Die Position des Stellvertreters genügt mir vollkommen, versicherte Trrtrag ihm, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Baanraak zog seine Spiralen enger. Halte dich bereit. Er stieß auf Rr'garn hinab, ohne dabei das leiseste Geräusch zu machen, und trennte den Kopf des anderen mit einem einzigen, sauberen Krallenhieb und einer akkurat ausgeführten Drehung ab. Trrtrag, der in der Dunkelheit am südlichen Ende der Klippe hockte, zuckte beim Anblick von Rr'garns an ihm vorbeifliegenden Kopf zusammen und drehte sich um. »Ruf die ganze Schwadron zusammen«, befahl Baanraak ihm und machte sich zum ersten Mal sichtbar. »Wir werden uns das Meisteramt zurückholen.« Trrtrag legte den Kopf in den Nacken und stieß das lang gezogene, kehlige Brüllen aus, das zum Appell rief. Es dauerte nicht allzu lange, und Baanraak hörte die ersten Flügelschläge durch die Nacht klatschen - zu laut, zu langsam, zu nachlässig. Rr'garn mochte davon geträumt haben, das Meisteramt an sich zu reißen, aber er hatte nicht die leiseste Vorstellung davon gehabt, wie er seine Truppen ausbilden, wie er sie inspirieren und wie er sie benutzen musste. Er verwechselte Lärm mit Bedrohlichkeit. Baanraak wusste es besser. Er machte sich wieder un203 sichtbar und hielt sich im Hintergrund von Trrtrags Geist. Lass sie herkommen. Lass sie sehen, dass Rr'garn tot ist. Sei bereit. Ich bin bereit, versicherte Trrtrag ihm. Und möglicherweise war er es wirklich. Er war nicht der selbstherrliche, angeberische Narr, der Rr'garn gewesen war. Aber warum hatte er sich dann mit dem zweiten Platz zufrieden gegeben? Mangelte es ihm an Ehrgeiz? War er loyal? Die eine wie die andere Eigenschaft würde Baanraak gut zupass kommen. Oder war er schlicht und einfach träge? Die Rrön kamen, allein oder zu zweit, herbeigeflattert. Sie hatten es nicht weit gehabt, aber auch keinen Grund zur Eile gesehen. Sie erblickten Rr'garn, sie beäugten Trrtrag, und einer von ihnen fragte: »Dann hast du also endlich Farbe bekannt?«, während ein anderer lachend murmelte: »Nun, das ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.« Einer jedoch wandte sich zu Trrtrag um und stürzte sich ohne ein Wort der Warnung mit weit aufgerissenem
Maul und ausgestreckten Krallen auf ihn. Baanraak war den lärmenden Gedanken gefolgt und wusste, noch bevor der Narr zum Sprung ansetzte, was er tun würde und wie er es tun würde. Trrtrag reagierte mit zufrieden stellender Geschwindigkeit und Grausamkeit, aber Baanraak wollte nicht, dass es Trrtrag war, der die Beute erlegte. Stattdessen griff er ein und metzelte den ehrgeizigen Rrön mit wenigen sauberen Hieben nieder. Nachdem er sein Exempel statuiert hatte, ließ er sich zum ersten Mal sehen. »Ich bin Baanraak«, sagte er und versetzte die anderen Rrön mit diesen Worten in tiefe Erstarrung. »Ihr seid jetzt meine Schwadron. Wir werden morgen zum Kontrollzentrum fliegen - bis dahin werdet ihr lernen, die Dinge auf meine Art und Weise zu tun.« Er nickte Trrtrag zu. »Zerstöre ihre Ringe.« 204 Er spürte, wie die Furcht der Schwadron sich verschärfte. Er kannte einige der dunklen Götter, die mit dem Tod straften. Er gehörte nicht dazu. Wer in seinen Diensten bei einer wichtigen Aufgabe versagte, versagte für immer. In Rr'garn hatte er nichts entdecken können, was der Rettung wert gewesen wäre. Bei dem zweiten Rrön, den er getötet hatte, hatte er Verrat und eine Intriganz gefunden, die ihm nicht gefiel. Die anderen hatten eine Chance, ihren Nutzen zu beweisen - und dieselbe Chance würden sie von jetzt an jeden Tag haben, solange sie in seinen Diensten standen. Er belohnte Leistung jedoch ebenso, wie er Versagen strafte. Das - nun ... das würden die Krieger am nächsten Tag erleben. Cat Creek, North Carolina »Wir müssen deinetwegen etwas unternehmen«, bemerkte Heyr. Lauren blickte zu ihm auf, wie er da auf ihrer Veranda stand und darauf wartete, dass sie ihn einließ. Er hatte ihr das Leben gerettet. Sie vertraute ihm nicht. Was sagte das über sie aus? Argwöhnisch bat sie ihn herein. Jake begrüßte ihn mit einem Grinsen, was immerhin etwas war. Jake mochte keine Fremden. »Es ist ziemlich spät für einen Besuch«, sagte sie zu Heyr. »Ich habe den größten Teil des Tages über dich gewacht. Also dachte ich, ich komme mal auf ein kurzes Gespräch vorbei, wenn du wieder auf bist.« Sie ging wieder in die Küche. Jake folgte ihr nicht sofort, sondern trödelte im Flur herum, um lächelnd zu Heyr aufzublicken. Das sah Jake so gar nicht ähnlich. »Ich koche Jake und mir gerade etwas zum Abendessen. 205 Wenn du mitessen willst, mache ich eine Extraportion für dich.« »Vielen Dank. Das wäre schön.« Heyr setzte sich auf einen ihrer alten Stühle, der bedenklich knarrte. Lauren hoffte, dass er ihre Besorgnis deswegen nicht bemerkt hatte. Sie schnitt frischen Brokkoli auf, würfelte Kartoffeln und Möhren und hackte zwei Zwiebeln. Anschließend warf sie ein paar Bouillonwürfel in den Dampfkochtopf und gab sämtliches Gemüse sowie Wasser hinzu. Dann setzte sie sich zu Heyr an den Tisch. Er sah sie seltsam an. »Wo ist der Rest der Mahlzeit?« »Im Ofen ist noch ein schöner Laib italienisches Brot, das ich mit Olivenöl, frisch zerdrücktem Knoblauch und ein wenig Salz eingerieben habe. Ich habe den Ofen gerade erst angestellt, daher wird es wohl noch ein paar Minuten dauern, bis du etwas riechen kannst.« »Ich habe nicht von Brot gesprochen. Wo ist der Rest der Mahlzeit?« »Das ist alles - gedämpftes Gemüse, Knoblauchbrot und zum Nachtisch vielleicht ein wenig veganisches Eis. Warum?« »Bei dieser Mahlzeit fehlt das Fleisch.« »Es wird auch keins geben. Wenn ich die Wahl habe, esse ich kein Fleisch.« Er musterte sie skeptisch. »Ich bin ein Wikingergott, meine Liebe. Ein Krieger. Ich esse Fleisch und Brot, und ich trinke Bier. Gemüse ist etwas fürs Vieh.« Sie stützte das Kinn auf eine Hand und sagte: »Bei mir funktioniert das nicht, Heyr. Ich weiß, was du bist, weil ich dasselbe bin. Du bist kein Wikingergott. Du bist ein Bursche aus einer der oberen Welten. Was du unter der menschlichen Haut sein magst, weiß ich nicht...« »Ich bin ebenso sehr ein Mensch wie du.« »Egal. Wenn dir der Lebensstil der Wikinger gefallen hat, 206 schön, aber ich bin keine Wikingerin. Ich habe kein Fleisch da, und ich werde heute Abend auch keins besorgen. Außerdem habe ich keine Lust auf den Gestank im Haus. Tut mir Leid.« »Du bist eine Kriegerin. Dein Sohn ist ein Krieger - er hat jetzt schon das Auge und das Herz eines Kriegers. Kriegerblut braucht Fleisch.« Jake sah Heyr an und korrigierte ihn. »Ich bin ein Superheld.« Heyr grinste ihn an. »Das ist dasselbe, Kind.« Lauren seufzte. »Ich werde dieses Gespräch nicht noch einmal führen. Also. Warum bist du hier?« Heyr wollte Einwände erheben, aber Lauren machte schmale Augen, und er gab klein bei. »Weil ... bei Freyas Augen, du bist entzückend, wenn du wütend wirst. Du bist genauso wild und so schön wie eine Walküre. Das dachte ich schon, als ich an deiner Seite gegen die Keth gekämpft habe, aber ... oh, Lauren.«
Er sah ihr in die Augen, und Lauren spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Sie konnte den Blick nicht abwenden - sie hatte noch nie in Augen wie diese gesehen. Sie konnte Bilder darin erkennen - sie und Heyr nackt, wie sie einander berührten, wie sie sich im selben Rhythmus bewegten. Nein, dachte sie, aber dieses Nein half ihr nicht. Es lag eine Spannung zwischen ihnen in der Luft, die wie mit Händen greifbar war, eine beinahe übernatürliche Elektrizität. Eine Vision stieg in ihr auf, von ihnen beiden im Bett, erhitzt, schweißnass und hungrig ... Lauren blinzelte und rang nach Luft. »Lass das«, sagte sie. »Schalte die Lustmagie sofort ab, oder ich werfe dich aus dem Haus, und was immer du mir eigentlich sagen wolltest, kann einfach zum Teufel gehen und du mit ihm.« Er sah sie schockiert an. »Du hast es gemerkt?« 207 Sie zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. »Dass ich Magie benutzt habe ... du hast es gemerkt?« Er runzelte die Stirn. »Betty Kay hat nichts gemerkt. Und Louisa auch nicht.« Lauren richtete sich auf. »Betty Kay ... und Louisa? Du hast... ahm ...« »Ja«, antwortete er. »Ein paar Mal schon. Es ... lindert verschiedene Schmerzen. Meine, ihre, die der Wächter. Louisa zum Beispiel ist nicht mehr annähernd die Xanthippe, die sie einmal war, was ich als einen Dienst an der Allgemeinheit betrachte. Betty Kay ist...« Seine Augen blitzten. »... überrascht. Und Darlene wird es sein.« Wieder runzelte er die Stirn. »Aber du hast es gemerkt.« Lauren hatte die Magie nicht wirklich gespürt, aber sie wusste, dass sie keinerlei Verlangen hatte, mit Heyr ins Bett zu gehen. »Ich habe es gemerkt.« Er musterte sie nachdenklich. »So was ist mir noch nie passiert.« Sie widerstand dem Drang, ihm zu antworten: »Früher oder später passiert das jedem.« Sie hätte eine solche Bemerkung witzig gefunden, war sich aber nicht sicher, ob er es auch tun würde. Stattdessen sagte sie: »Vergiss es. Warum bist du nun wirklich hier?« Sie hätte sich ihre Worte ebenso gut sparen können. »Frauen haben mich immer unwiderstehlich gefunden.« »Hm, ja ... wenn du mogelst.« »Nein, nein. Nichts in der Art. Ich habe niemals jemanden zu etwas gezwungen oder jemanden überlistet. Es bedarf nur der winzigsten Andeutung, dass ich gern mit der betreffenden Frau zusammen wäre. Ich lasse sie wissen, dass ich dasselbe denke, was sie denkt.« »Und du hast noch nie zuvor eine Abfuhr bekommen?« »Noch nie so schnell oder mit so viel Nachdruck. Noch nie von einer Frau, die begriffen hat, was ich tat.« 208 »Ja, hm. Ich interessiere mich ebenso sehr für dein Geschlechtsleben wie für deine kulinarischen Vorlieben, was bedeutet, dass ich nicht das leiseste Interesse daran habe. Warum bist du hier?« »Ich habe die Absicht, bei dir zu wohnen. Was besser funktioniert hätte, wenn du und ich durch eine gemeinsame ... Leidenschaft... verbunden wären.« Lauren lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und starrte ihn an. Und dann brach sie in Gelächter aus. »Du hast die Absicht, bei mir zu wohnen? Einfach so?« »Nicht, weil ich mich so sehr zu dir hingezogen fühle, sondern weil du mich brauchst.« »Heyr, ich werde nicht mit dir schlafen, und ich werde nicht mit dir zusammenleben - aber immerhin begreife ich jetzt, warum meine Essgewohnheiten ein Thema für dich waren. Klar, wenn du geglaubt hast, du könntest bei mir einziehen. Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht, aber du kannst es gleich wieder vergessen.« Heyr sah sie jedoch mit ungebrochener Entschlossenheit an. »Du kannst dich auch von den Wächtern bewachen lassen. Nicht so, wie sie jetzt sind. Später ... vielleicht. Wir werden sehen. Aber im Augenblick verfügen sie weder über die Fähigkeiten noch über die Magie, um dich vor allem zu beschützen, was die Nachtwache dir und deinem Sohn noch entgegenschleudern wird. Aber ich bin in der Lage dazu. Und wir dürfen nicht zulassen, dass du stirbst. Deine Magie ist es, die das Leben in diese Welt zurückbringt. Und diese Welt muss gerettet werden.« Lauren betrachtete ihn nachdenklich. »Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber ... eine Frage möchte ich dir doch stellen. Warum willst du deinen Kampf ausgerechnet hier ausfechten? Du hast doch bereits eine Menge anderer Welten sterben sehen, nicht wahr?« Heyr nickte. 209 »Warum also willst du um diese hier kämpfen? Es ist bekannt, dass du immer ein Streiter für die Menschheit gewesen bist - im Gegensatz zu den anderen AEsir. Warum hältst du so zäh an der Erde und den Menschen fest?« Er seufzte. »Weil ich glaube, dass dies die letzte der menschlichen Welten ist.« Lauren legte den Kopf in den Nacken. »Der menschlichen Welten? Plural?« Heyr nickte. »Wie ich dir bereits gesagt habe, bin ich ein Mensch. So menschlich, wie du es bist. Ich habe keine fremde Gestalt angenommen, um mich auf der Erde einzufügen. Wenn ich ein Kommando führen muss, schlüpfe ich in die Maske Thors, aber ...« Er breitete die Arme aus. »Das hier, das bin ich. Ich kann ohne Magie Kinder zeugen - und habe es viele Male getan. Meine irdischen Kinder und die Kinder der anderen AEsir sowie der
anderen Menschen aus den oberen Welten haben immer noch einen gewissen Zugang zur Magie. Aber sie sind ganz und gar menschlich. Sie brauchen nicht erst mühsam dahinter zu kommen, an welcher Stelle sie in diese Welt passen, wie deine Schwester es hier und in ihrer anderen Welt, Oria, tun musste. Sie gehören hierher.« Er sah Lauren an, und ein trauriger, gehetzter Ausdruck trat in seine Augen. »Dies ist der letzte Ort, den ich noch mein Zuhause nennen kann. Die anderen AEsir glauben, dass es weiter unten in der Weltenkette noch andere menschliche Welten gibt. Ich glaube das nicht.« »Warum nicht?« »Weil es weit oben in der Weltenkette, wo ich geboren wurde, eine ganze Reihe menschlicher Welten gab. Meine Welt war Opfann, auch Asgard genannt. Direkt darunter in der Kette lag Lopei und darunter Mittelgrund. Alle drei waren menschliche Welten. Als die alten Götter dann Opfann zerstörten und jene von uns, die fliehen konnten, nach Lopei weiterzogen, blieb alles mehr oder weniger beim Alten. 210 Wir passten dorthin, obwohl wir Macht besaßen. Wir gehörten dorthin ... und als die dunklen Götter Lopei nahmen, war es mit Mittelgrund dasselbe. Eine menschliche Welt. Wir hatten nie das Bedürfnis gehabt, uns weiter unten entlang der Kette umzusehen. Wir dachten, die dunklen Götter seien so etwas wie Dämonen Verirrungen der Natur - und dass alle Welten menschliche Welten seien. Aber die nächste Welt war M'war, und sie war nicht menschlich - nicht einmal im Entferntesten. Also nahmen wir, was wir konnten, und machten uns auf die Reise nach unten. Vier Welten unterhalb von Mittelgrund fanden wir Tripwoll, das menschlich war. Aber jetzt hatten wir begriffen, dass wir nicht allein und die dunklen Götter keine einmalige Laune der Natur waren. Also brachen einige von uns zu einer Expedition in die unteren Welten auf, um herauszufinden, wo wir vielleicht mehr von unseresgleichen finden konnten.« Die Ofenuhr klingelte, und Lauren fiel wieder ein, dass sie mitten in der Vorbereitung des Abendessens war. Sie sprang auf, nahm das Knoblauchbrot aus dem Ofen und sah dann nach dem Gemüse - es war ein wenig zu gar geworden für ihren Geschmack, aber noch nicht breiig. Hastig gab sie das Essen auf drei Teller und stellte diese auf den Tisch. Sie und Jake machten sich mit großem Appetit über ihre Portionen her, während Heyr seine Mahlzeit aus Gemüse, Brot und einem großen Glas Wasser mit einem Seufzen beäugte. Aber dann aß er. Lauren lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Also, was habt ihr dort vorgefunden?« »Die nächste menschliche Welt war Raven. Elf Welten unterhalb von Tripwoll.« »Und darunter?« »Die Erde. Neunzehn Welten unterhalb von Tripwoll.« Lauren schloss die Augen. »Eins, eins, eins, vier, elf, neunzehn. Ist das eine mathematische Zahlenfolge? Ist ir211 gendjemand der Sache mal auf den Grund gegangen, um festzustellen, ob man auf diese Weise das Auftreten menschlicher Welten in den unteren Bereichen der Weltenkette berechnen kann?« Er warf ihr einen schnellen, beifälligen Blick zu. »Irgendwann haben wir das tatsächlich getan, aber es war nicht das Erste, was uns einfiel. Die Reihenfolge, die du bemerkt hast, ist übrigens nur eine von zwei möglichen Abfolgen. Die andere Abfolge lautet eins, zwei, drei, sieben, achtzehn, siebenunddreißig - die Position einer jeden Welt in Bezug zu Opfann, der ersten bekannten menschlichen Welt.« Lauren verzehrte nachdenklich ihr Essen. Nach einem kurzen Schweigen sagte sie: »Die Tatsache, dass es so etwas gibt wie eine erste Welt, macht es ziemlich wahrscheinlich, dass es auch eine letzte geben dürfte.« »So ist es, und das ist die Schlussfolgerung, zu der ich inzwischen auch gekommen bin. Diese Welt ist das letzte Bollwerk der Menschheit, und wenn wir sie verlieren, verlieren wir nicht nur unsere gesamte Spezies, sondern alles, was die Menschheit erschaffen hat. Kunst und Architektur, Wissenschaft und Musik, Literatur und Humor, Geschichte und Gesetz. Das alles endet hier. Und deshalb habe ich hier Halt gemacht. Ich werde die Erde nicht verlassen - wenn dieser Planet fällt, werde ich mit ihm fallen. Loki geht es genauso, wenn auch aus anderen Gründen. Er ist hier gefangen, obwohl diese Gefangenschaft in ihm ein Ausmaß an Loyalität entfacht hat, wie das bisher mit keinerlei vernünftigen Argumenten möglich gewesen ist.« Lauren dachte über Heyrs Worte nach. »Ich bin niemals auch nur auf die Idee gekommen, dass es noch andere menschliche Welten geben könnte. Bedeutet das, dass es auch andere Rrön-Welten gibt? Andere Keth-Welten?« »Nicht dass ich wüsste. Aber es wäre durchaus möglich, 212 dass sie weiter oben in der Kette viele eigene Welten besessen haben.« Heyr zuckte die Achseln. »Ich könnte nach Oria gehen. Die Veyär haben zumindest ein menschliches Gefühl von Leidenschaft und ein Interesse an Künsten und Wissenschaft. Man kann sie verstehen. Aber ... ich habe nicht den Wunsch, den Rest der Ewigkeit in fremdartiger Gestalt zu verbringen. Hier - hier kann ich ein Zuhause haben und eine Frau und gute, ehrliche Arbeit, bei der ich meine eigene Haut tragen darf. Ich kann ganz normal leben, ohne mich ständig fragen zu müssen, ob irgendjemandem aufgefallen ist, dass ich anders bin. Ich brauche keine Angst zu haben, dass ich mich irgendwie verrate oder dass meine Nachbarn Verdacht schöpfen und sich des Nachts in mein Haus schleichen werden, um mich zu töten.« »Ich nehme an, das hängt nicht zuletzt von der Nachbarschaft selbst ab. Aber ich verstehe, was du meinst.« »Vielleicht verstehst du es mit dem Verstand. Aber ich habe erlebt, wie es ist, jeden Morgen aufzustehen, in den
Spiegel zu schauen und das Gesicht eines Fremden darin zu sehen. Ich habe auf Welten gelebt, die nicht die meinen waren. Das Bedürfnis nach >Gleichheit< kann sehr stark werden, Lauren. Wir sehnen uns irgendwann nach Menschen, die wie wir sind. Wir wollen verstehen und verstanden werden, wollen wissen, dass wir dazugehören. Und dies ist die letzte Welt, auf der wir dazugehören können.« Lauren versuchte, sich vorzustellen, wie es sein musste, in einen Spiegel zu sehen und darin etwas Grünes, Gehörntes zu erblicken. Sie versuchte, sich vorzustellen, aus Jake ein Veyär-Duplikat machen zu müssen oder ein Goroth-Duplikat oder ... irgendetwas anderes. Sie schloss die Augen und biss sich auf die Lippe. »Ich verstehe.« »Tust du das wirklich? Dann musst du mir erlauben, bei dir zu wohnen. Ich hoffe, dass ich noch andere finde, die bereit sind, meine Bürde zu teilen - sich mir anzuschließen 213 als Unsterbliche und als Götter, aber bisher war so gut wie keiner der alten Götter dieser Last gewachsen. Sie ist unerträglich groß, und vielleicht bin ich der Einzige, der dem Grauen, das auf dich zukommt, die Stirn bieten kann. Du musst mir erlauben, dich zu beschützen. Du und dein Sohn, ihr seid ganz allein. Die größten und schlimmsten Gräuel des Universums werden Jagd auf euch machen, und selbst wenn wir sie heute besiegt haben, sie werden wiederkommen. Wenn ich es nicht verhindere, werden sie dich finden. Und dann wirst du sterben, und die Erde, die die letzte Zuflucht für die gesamte Menschheit ist, wird aufhören zu existieren. Und ein kleines Häuflein Menschen wird die Weltenkette hinunterwandern, heimatlose Flüchtlinge für alle Ewigkeit, denen nur noch Erinnerungen daran bleiben, was sie einst besessen haben.« 12 Kerras - Baanraak von Silber und Gold Baanraak kam auf der dunklen Seite von Kerras an, in der Kälte - der bitteren, bösen, luftlosen Kälte. Er hatte damit gerechnet, dass es hart werden würde, genug Lebensmagie auf dem Planeten zu finden, um eine Atmosphäre um seinen Körper zu bilden, in der er Wärme und Sauerstoff hatte. Stattdessen war die Magie, die er brauchte, bereits vorhanden, reich und lebendig und üppig. Allerdings bereitete es ihm körperliche Schmerzen, sie zu benutzen - es war offensichtlich ihre Magie, die der Schwester. Er kannte ihren Namen, fiel ihm ein Molly hatte an ihre Schwester gedacht. Lauren. Ja. Lauren, die ein Kind hatte und die Macht besaß, eine Weltenkette umzugestalten. Lauren hatte eine Möglichkeit gefunden, auf Kerras den Ausgang eines magischen Tunnels zu platzieren. Und Baanraak würde davon abhängig sein, solange er hier war. Er schloss die Augen, atmete die Luft ein, die ihn umgab, und wärmte sie. Sie schmeckte süß, unwiderruflich getränkt mit der magischen Energie, die sie verwandelt hatte. Aber er mochte süße Luft. Er mochte auch sonnengewärmte Felsen, das Rascheln hoher Gräser im Wind und den Anblick der Natur von Vraish - untergegangen vor Äonen, aber immer lebendig in seiner Erinnerung. Auf diesem luftlosen, vereisten Felsen fand er nun genug Magie, um eine kleine Blase seiner lange verlorenen Welt zu erschaffen. Er konnte sich einen Luxus gönnen, den kein anderer dunkler Gott je erlebt hatte - den Luxus, nach Hause zurückzukehren, wenn auch nur für kurze Zeit und in Form einer Illusion. 215 Er würde Lebensmagie benutzen müssen, um das zu tun, und er würde erhebliche Schmerzen verspüren. Aber, beim großen Ei, es war besser, als auf einem gefrorenen Felsen zu liegen, umgeben von nichts anderem als Eis und Schnee und heulendem Sturm. Baanraak schloss die Augen. Manche Dinge musste man tun, ohne sich übermäßig viel Zeit zum Nachdenken zu lassen - wenn er sich gestattete, darüber nachzudenken, würde er genug Gründe finden, um sich das Ganze auszureden. Es war wahrscheinlich eine sehr schlechte Idee. Aber plötzlich wurde ihm klar, dass die Luft um ihn herum genauso roch wie die auf Vraish, ein Duft, den er nicht mehr wahrgenommen hatte, seit er bei der Zerstörung seiner Welt von dort geflohen war, fest davon überzeugt, dass er sie nicht vermissen würde. Und das Heimweh überwältigte ihn. Nur eine kleine Blase, dachte er und atmete die brennende Magie tief ein, er kämpfte gegen den Schmerz, und als er ihn überwunden hatte, atmete Baanraak mit fest geschlossenen Augen eine Tasche aus Luft und Wärme aus. Er gestattete sich nicht hinzusehen, denn die Augen konnten getäuscht und das Kunstwerk zerstört werden. Er atmete ein. Hielt trotz des quälenden Schmerzes an der Magie fest. Atmete aus, vergrößerte die Sphäre aus Wärme und Luft, formte sie und kontrollierte die Lebensmagie mit derselben Geschicklichkeit und Präzision, mit der er die Todesmagie zu kontrollieren wusste. Die Techniken waren dieselben; nur die Materialien und die Resultate unterschieden sich. Im Laufe von zehn oder zwölf Atemzügen nahm er die Magie in sich auf, gab sie wieder nach außen ab und dehnte seine Blase aus, bis sie groß genug war, um ihm zu erlauben, darin zu fliegen, wenn auch nur wenig, um zu jagen, wenn auch nur wenig, und in einem hübschen, wenn auch sehr kleinen See, zu schwimmen. 216 Immer noch mit fest geschlossenen Augen begann Baanraak, Dinge zu formen. Einen Nachtwind. Das Rascheln hoher Gräser. Das Plätschern kleiner Wellen am Ufer eines Sees. Das Geräusch von Ceyrji - kleinen Nachtinsekten -, ihr Summen und Kichern. Die leisen Rufe und das Grunzen einer Herde Felka, den Beutetieren, die er besonders geschätzt hatte. Die Gerüche von Eidechsen und Vögeln und kleinen Reptilien, das Scharren und Rascheln. Und unter seinen vier Füßen das wunderbare Gefühl von Land, das sich in alle Richtungen
ausdehnte. Hier war es gut - auf eine Art und Weise, wie er es seit dem Tod seiner Welt nicht mehr gespürt hatte. Aber er war noch nicht fertig. Er drückte sich flach auf den Boden und atmete noch einmal die Magie ein, wobei er diesmal genau darauf achtete, wo sie herkam. Sie stieg aus den Tiefen des Gesteins empor, und nicht einmal genaueste Beobachtung offenbarte ihm das Versteck der Quelle. Also gut. Wenn er die Quelle nicht finden konnte, würde er einen Sammler erschaffen, der die Magie zu ihm leitete, sobald sie freigegeben wurde. So bestand keine Notwendigkeit mehr, die Quelle zu finden. Ihm stand der Sinn nicht nach ständigen Wartungsarbeiten, um seine kleine Blase am Leben zu erhalten. Wenn er sich schon für Illusionen entschied, konnte er genauso gut das ganze Paket haben und sich den Luxus gestatten, diese Zeit in seiner Welt zu verbringen, sich auf seinem Felsen in der Sonne zu aalen und wohlschmeckende Dinge zu essen, ohne unaufhörlich an die Künstlichkeit seines kleinen Verstecks erinnert zu werden, weil er ständig für dessen Aufrechterhaltung sorgen musste. Also setzte er seinen Sammler ein, um alle Magie, die er von Laurens Tunnel abziehen konnte, in sein kleines Reich zu leiten und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass es auch weiterhin Bestand hatte. Als er fertig war, legte er sich für eine Weile auf den 217 Bauch und wartete darauf, dass der sengende Schmerz, der durch den Umgang mit Lebensmagie verursacht wurde, langsam verebbte. Das Stillliegen tat gut, und die Geräusche um ihn herum erinnerten ihn an die Zeit, als er bei seiner Mutter im Nest gelegen hatte, in ihrer Umarmung, und sie einander mit Hälsen und Schwänzen liebkost hatten. Als seine rechte Flügelspitze warm wurde, hob er den Kopf und sah sich um. Die Sonne kroch zwischen den Felsen seiner Familie am östlichen Horizont empor und spiegelte sich in dem See seiner Familie wider. Das Gras wiegte sich im Wind, eine Herde Felka schlenderte vor seinen Augen vorbei; noch machte niemand Jagd auf sie, und sie setzten unbesorgt ihren Weg fort. In der Luft vollführte ein Paar Schwarztropfen seine Balzspiele. Die Luft hatte den richtigen Geruch, der Himmel sah richtig aus, das Land fühlte sich richtig an, und plötzlich war das alles zu viel für ihn. Das war es, was er und die übrigen dunklen Götter verloren hatten. Was sie freiwillig hergegeben hatten. Nein, nicht einmal das. Was sie mutwillig zerstört hatten. Diese kleine Oase von Heimat beschwor in ihm wieder erhabene Städte der Rrön herauf, die aus ganzen Bergen gehauen waren, und die gewaltigen Ebenen voller wilder Tiere - gezähmt, gehegt und mit Achtsamkeit und Ehrerbietung geerntet. Die Hallen der Dokumente, in denen Schrifttafeln mit den epischen Liedzyklen der Rrön aufbewahrt wurden. Die heiligen Höhlen, die sich tief in den Bauch der Erde hineinzogen. Wieder traten ihm Tränen in die Augen, aber er blinzelte sie weg, stand auf, erhob sich in die Luft und flog auf den Gipfel seines Felsens. Was sich als Fehler erwies. Flach auf dem Bauch auf der Erde liegend, sah seine kleine Welt unversehrt aus und fühlte sich auch so an. Aber von dem hohen Ausguck auf dem 218 Felsen aus betrachtet, konnte er ihre Grenzen sehen, die von Schneefeldern und luftlosem Gestein umrahmt waren. Und das führte ihm nur klar vor Augen, dass er nicht zu Hause war. Es grub die Klauen der Wahrheit nur umso tiefer in sein Bewusstsein - er würde nie wieder zu Hause sein. Baanraak holte tief Atem, und die Luft, die seine Lungen füllte, roch so süß, aber sie verströmte auch den brennenden Geruch nach ihr. Nach Lauren, der Schwester. Er dachte an die noch lebenden Rrön, die die Vernichtung ihres Planeten überstanden und auf die Unsterblichkeit der dunklen Gottschaft verzichtet hatten um des Lebens willen, um der Elternschaft willen und der Fortführung ihrer Art. Ob einige von ihnen sich an die Liederzyklen erinnerten? Baanraak konnte es sich nicht vorstellen. Warum sollten sie? Die Welt, die in diesen Liedern gefeiert wurde, war seit Jahrtausenden tot, zusammen mit allem, was darauf gediehen war. Aber er erinnerte sich. Er bohrte seine Krallen in das Gestein, verankerte sich dort und begann, mit den Flügeln den Rhythmus des Jagdzyklus zu schlagen. Leise sang er die Liste der heiligen Beutetiere. Felka, Khroga, Grorvash, Rrogvall, Magwe, Muurrhag, Droovna, Harrnak, Durgakar, Goforhar, Togi, Rradernak, Formino, Baghak ... Mit geschlossenen Augen gelang es ihm, all die Dinge von damals wieder real erscheinen zu lassen. Er konnte sich an die Stimmen der Sänger erinnern, an die Gurrer und Murmler, die sich im Takt stetig schlagender Flügel von Hunderten und Aberhunderten Rrön ineinander und miteinander verwoben. Die Rrön hockten auf ihrem Singfelsen, 219 während die Sonne aufging, und dann wieder, wenn sie unterging - die Hälse emporgereckt und die Augen geschlossen, verloren in der hypnotischen Wonne des Gesangs. Während Baanraak nun auf diesem Felsen saß und die alten Gesänge sang, fielen der Staub untergegangener Welten und die Besudelung durch fremde Orte, fremde Zivilisationen und fremde Völker von ihm ab, und für einen Augenblick war er wieder ein wildes Geschöpf. Ein Rrön ohne Makel und ohne Kompromisse. Ein Jäger von lebendem Wild, ein heißblütiger
Drachenrrön, den es nach den geschmeidigen, jungen Beutetieren gelüstete. Er sang das ganze Dutzend Zeilen der Liste des bevorzugten Herdenwildes und die drei Dutzend Zeilen der Liste des bevorzugten solitären Wildes, und weil seit ungezählten Zeitaltern niemand mehr den Zyklus der Jagd gesungen hatte und es respektlos gewesen wäre, nur die kurzen Listen der bevorzugten Tiere zu singen - früher einmal schlicht und einfach die Tägliche Anbetung genannt -, hängte er noch den vollen Zyklus an: die Liste der Fische, die Liste des Flugwilds, die lästige, aber notwendige Liste ungenießbarer Geschöpfe und die manchmal launenhafte Liste der geringeren Kreaturen, mit ihrem monotonen Takt und den berüchtigten Strophen mit den Beschimpfungen der Parasiten. Der Zyklus der Jagd war gleichzeitig Gebet und Feier, und Baanraak vollzog ihn mit aller Ehrfurcht, obwohl er sich nach der Verstärkung durch den gesamten Chor sehnte - nach den Gurrern, die die uralte Melodie des Zyklus trugen, und den Murmlern, die Kommentare über die beste Art und Weise beisteuerten, wie man die Tiere der verschiedenen Kategorien jagte, und Randbemerkungen über berühmte Jagdunfälle und kleine Schnitzer einflochten. Als er fertig war, schlug er die Augen auf und verneigte sich vor der Sonne, denn so wollte es die Tradition, und die 220 abschließende Huldigung des Morgens folgte. Dann erhob er sich wie ein Pfeil von seinem felsigen Ausguck und stieß mitten hinein in das Herz der Herde, um den ersten Felka seit unvordenklichen Zeiten zu töten. Er aß ihn voller Dankbarkeit und Ehrfurcht, gleich an der Stelle, an der er ihn gerissen hatte, umringt von den Geistern seiner Vorfahren und seiner Welt und voller Schuldgefühle ob seiner Rolle bei ihrem Dahinscheiden. Als er fertig war, flog er an den Rand der kleinen Oase, die er geschaffen hatte, und schob sich durch den Schild, der sie zusammenhielt, hindurch in das harte, ungeschützte, grelle Licht von Kerras. Es tut mir Leid, sagte er zu der Welt. Ich bedaure, was wir dir angetan haben. Wir waren im Unrecht. Ich war im Unrecht. Er konnte keine Vergebung spüren. Alles, was er spürte, waren die Schreie der Toten, eingefroren in das trostlose, luftlose Terrain. Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria - Baanraak vom Meistergold Das erste Licht der Morgendämmerung. Jemand hatte das Kontrollzentrum neu gestaltet. Baanraak, der hoch über dem Zentrum seine Kreise zog, studierte die zusätzlichen Tore sowie die Abkürzungen und beschäftigte sich schließlich mit einem wichtigen Vorteil, den diese neue Konstruktion ihm bot: Sie setzte auf einem der Hauptwachtürme die Sichtkraft um einige Stufen herab. Baanraak musste grinsen. Die Keth waren ein einschüchternder Trupp - mächtig, gerissen und mit telepathischen Fähigkeiten gesegnet. Sie hatten gut daran getan, ihre Schutzvorrichtungen gegen das Eindringen fremder Magie zu verbessern. Baanraak konn221 te keine Möglichkeit entdecken, ein Tor in irgendeinen Teil des Gebäudes zu öffnen; die einzige Möglichkeit war das Torzentrum in der Kontrollzentrale. Doch die Keth hatten an jedem Tor einen Trupp gut ausgebildeter Leute postiert; unerwünschte Gäste, die auf diesem Wege kamen, würden sterben, bevor ihre Körper die Feuerstraße hinter sich gelassen hatten. Aber die Keth hatten die rein topographischen Aspekte ihrer Verteidigungseinrichtungen vernachlässigt. Baanraak konnte im Umfeld des Kontrollzentrums mehr als ein Dutzend Stellen ausmachen, die er in ihrer gegenwärtigen Verfassung niemals zugelassen hätte, weil sie Feinden eine hervorragende Tarnung boten. Er markierte diese Orte und verband die Marker mit seinen Truppen. Zur gleichen Zeit bewirtete Aril eine Hand voll orianischer Staatsoberhäupter aus den angegliederten Territorien rund um das Kontrollzentrum. Das Frühstück hatte keine große Bedeutung; Baanraak vermutete, dass Aril regelmäßig verschiedene Staatsoberhäupter zu dergleichen Anlässen einlud. Aril machte den Anführern der unterworfenen Rassen einige geringfügige Zugeständnisse, und diese sorgten dafür, dass ihre Untertanen friedlich und lenkbar blieben. Mit diesem Vorgehen war Baanraak einverstanden. Der Keth-Meister betrieb das Kontrollzentrum jedoch nur mit einer minimalen Mannschaft. Ein halbes Dutzend Rebchyks, mindere dunkle Götter, deren Völker von Agrabaa stammten, sechs Welten oberhalb von Oria, hatten vor dem Vordertor demonstrativ Posten bezogen. Die Rebchyks waren groß und stämmig und sahen Furcht erregend aus. Aber sie waren nicht besonders intelligent, sie hatten nie die Kunst der Telepathie gemeistert, und sie beherrschten nur die Rudimente der Magie und keine ihrer 222 raffinierteren Varianten. Sie konnten von Glück sagen, dass sie es geschafft hatten, beim Tod ihres Planeten durch die Weltentore zu entkommen. Offensichtlich waren sie nur zu dem einen Zweck dort postiert worden, um Sterbliche zu beeindrucken, die zwischen ihren verkreuzten Pieken hindurchgehen mussten. Die sekundären Tore zum Kontrollzentrum waren verschlossen, aber unbewacht. Alle Türme bis auf die beiden vorderen lagen verlassen da. Und die Leute, mit denen man sie hätte verteidigen können, waren nach oben auf die Erde verlegt worden, da der Zeitpunkt für deren Ernte näher gerückt war - immer ein aufwändiges Unterfangen. Diejenigen, die auf Oria zurückgeblieben waren, betrieben entweder das Kontrollzentrum selbst oder hielten sich in unmittelbarer Nähe der Frühstücksgesellschaft auf, um dem Meister zu helfen, den Anschein einer übervölkerten, vitalen Machtbasis aufrechtzuerhalten. Es war nicht schwierig, die Bauerntölpel zu beeindrucken. Ebenso einfach war es, die Wohlmeinenden bei der
Stange zu halten. Aber Aril hatte vergessen, dass das Kontrollzentrum aus gutem Grund innerhalb einer massiven Festung lag: Nicht jeder, der vielleicht den Wunsch hatte, es zu betreten, war wohlmeinend oder ein Tölpel. Baanraak tastete die Gedanken an der Oberfläche von Arils Geist ab und stellte fest, dass diese Nachlässigkeit begreiflich war. In den vielen hundert Jahren, in denen Aril die Position des Meisters der Nachtwache bekleidete, war er niemals zur Verteidigung seines Amtes herausgefordert worden. Aril hatte einen verständlichen Fehler gemacht. Aber es blieb dennoch ein Fehler. Baanraak hatte die Absicht, den Keth dafür zahlen zu lassen. Baanraaks Schwadron - sechsundvierzig Rrön insgesamt - hielt sich ein gutes Stück im Hintergrund. Er gab sei223 nen Subkommandanten genaue Anweisungen, wo sie landen und welchen Wegen sie folgen sollten. Die wenigen dunklen Keth-Götter, die er eliminiert sehen wollte, kennzeichnete er mit winzigen magischen Markern und verband diese Marker mit dem Geist seiner Anhänger. Jeweils fünf Rrön teilte er einen der Keth zu; so blieben noch sechsundzwanzig übrig, mit denen zusammen er Aril einen Besuch abstatten wollte. Obwohl er das Prozedere der Übernahme vollenden konnte, bevor Aril auch nur begriff, dass er angegriffen wurde, würde Baanraak die Meisterschaft nicht einfach dadurch erringen können, dass er das gegenwärtige Regime stürzte. Ein Herausforderer, der das Amt des Meisters begehrte, musste sich einer komplizierteren Zeremonie unterwerfen. Baanraak würde die Statuten der Herausforderung erfüllen müssen, um die Anerkennung durch sämtliche dunklen Götter zu erringen; und um das zu tun, musste er Aril in der Arena des Kontrollzentrums öffentlich besiegen. Er hüllte sich in Licht und verblasste, bis er unsichtbar war. Auf meinen Befehl, erklärte er seinen Schwadronskommandeuren und stürzte auf sein Ziel zu - und auf sein Schicksal. Kupferhaus, Ballahara, Nuue, Oria Molly lag neben Seolar im Bett und beobachtete ihn, bis er aufwachte. Das Erwachen vollzog sich bei ihm mit einer wunderschönen Prozedur - ein kleines Zucken, ein anmutiges Recken und ein Gähnen. Dann drehte er sich mit einem Lächeln zu ihr um, das so voller Liebe war, dass es sich wie ein Messer in ihr Herz bohrte. »Hast du gut geschlafen?«, fragte er. 224 »Gewiss«, log sie. Sie hatte seit ihrem ersten Tod überhaupt nicht mehr geschlafen - ein Beweis für ihre nicht menschliche Verfassung, den sie vor Seolar verborgen gehalten hatte. »Ich habe von dir geträumt«, erzählte er ihr. »Und von einer Lösung, mit der ich glaube, dich retten zu können, obwohl ich weiß, dass das egoistisch von mir ist.« Molly wollte sich nicht anhören, was er zu sagen hatte, fragte aber dennoch: »Was hast du geträumt, mein Liebster?« »Dass du ablässt von der Jagd auf Ungeheuer und dieselbe Arbeit zu tun beginnst wie deine Schwester - Welten ins Leben zurückholen. Wenn ihr zu zweit wäret, würde es schneller gehen, und du würdest nicht ständig die Wege der dunklen Götter kreuzen.« Seolar sprach voller Überzeugung. Er wagte es noch immer zu hoffen, trotz allem, was er wusste, und allem, was er fürchtete, und seine Hoffnung würde ihn zerschmettern und in Stücke reißen, denn er konnte sich nicht gestatten, Molly als das zu sehen, was sie wirklich war. Molly schüttelte den Kopf. »Die Magie, die Lauren wirkt, gründet auf Gefühlen - und ich habe den Verdacht, dass sie Teile davon direkt aus ihrer Seele nimmt. Ich kann nicht einmal die Berührung der Energien ertragen, die sie bewegt, Seo. Sie verbrennen mich. Ich bin ... wie Antimaterie. Ich könnte niemals tun, was Lauren tut. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt irgendjemand außer ihr kann. Diese Verbindungen, die sie schafft, stehen ebenso sehr mit dem im Zusammenhang, was sie ist, wie mit dem, was sie tut - und niemand sonst ist je dort gewesen, wo sie war.« »Du meinst ihre Reise in das Reich des Todes? Du hast dasselbe getan.« »Nein. Nicht auf dieselbe Art und Weise, ganz sicher 225 nicht. Und das ist nicht einmal die Hauptsache, obwohl ich denke, dass es ein Teil des Ganzen ist. Sie ... sie ist direkt in das Herz des Universums hineingetreten, Seo. Sie - in Ermangelung eines besseren Ausdrucks möchte ich es einmal so formulieren: Sie hat Gott ins Auge geblickt. Und das hat sie gezeichnet. Es bereitet mir Schmerzen, ihr allzu nahe zu kommen, und genauso ergeht es mir bei Jake. Das war noch nicht so, bevor sie Jake durch die Hölle und zurück gefolgt ist, aber seit diesem Tag kann ich Dinge in ihr sehen, die ich zuvor nicht sehen konnte. Sie ist verwandelt. Sie ist einzigartig.« »Dann musst du sie beschützen. Bleib bei ihr oder halte sie hier in deiner Nähe. Hör auf, diesen Gräueln nachzujagen.« »Das kann ich nicht. Wenn ich meine Zeit als Laurens Leibwächterin verbrächte, wäre das ein Verrat an allem, was mir als Aufgabe mitgegeben wurde. Ihre Aufgabe ist die Schöpfung, Seo. Meine die Zerstörung.« »Das bist aber nicht du, meine Geliebte«, sagte er und strich ihr übers Haar. »Du hast früher geheilt. Du hast alles besser gemacht - du hast mein Volk berührt, unser Volk, und es wieder gesund gemacht. Lass ab von den Zyklen des Todes, meine Liebste, bevor es zu spät ist. Deine Eltern können nicht gewollt haben, dass du wieder
und wieder stirbst. Keine Mutter und kein Vater könnten so grausam sein. Das, was du tust - das kann nicht ihr Plan gewesen sein.« »Sie kannten mich nicht, als sie diesen Plan geschmiedet haben«, wandte Molly ein. »Ich war ... reine Theorie. Ich war jemand, der die Kette tragen und sich der notwendigen Magie bedienen konnte, um eine Aufgabe zu erfüllen - ich war zu dem Zeitpunkt noch kein Geschöpf mit einem Geist oder einem Herzen.« Sie wandte sich von ihm ab. »Oder einer Seele. Ich möch226 te nicht länger darüber reden, Seo. Es ist zu hart und zu hässlich, und es tut zu weh. Wenn ich jemals Träume gehabt habe, so existieren sie nicht mehr. Ich kann nicht zu diesen Träumen zurückkehren, ich kann sie nicht korrigieren, ich kann sie nicht leben.« »Du kannst neue Träume finden«, sagte er, aber sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich schlafe nicht mehr, Seo. Alle Träumer schlafen irgendwann einmal.« Er schwieg einen Moment lang und blickte ihr in die Augen. »Das dachte ich mir schon. Ich bin nie vor dir wach geworden ... nun ja. Ich meinte auch nicht diese Art von Träumen.« »Ich weiß. Und meine Antwort war nicht schnippisch gemeint - aber diese Tatsache bezeugt einfach eine Wahrheit, der sich keiner von uns beiden bisher stellen wollte. Ich bin nicht mehr die, die ich war - ich bin nicht die Frau, die du geliebt hast, die Frau, die bei jenem ersten Mal gestorben ist. Ich kann diese Frau nicht mehr sein, wie sehr ich es mir auch wünschte. Im Grunde bin ich nicht mehr als ein Werkzeug, um eine Aufgabe zu erledigen. Und die Aufgabe ist furchtbar, also bin ich ebenfalls furchtbar, denn alles, was nicht furchtbar wäre, würde zerbrechen.« Sie erinnerte ihn nicht daran, dass er einen gewissen Anteil daran gehabt hatte, sie zu dem Ding zu machen, das sie jetzt war. Das wusste er bereits, und sie wollte ihm nicht mehr wehtun, als es unbedingt sein musste. Aber sie drehte sich um und sah die Tränen in seinen Augen, und das erschütterte sie. Nicht dass er weinte, aber dass er weinen konnte, während sie dazu nicht in der Lage war. »Ich liebe dich«, wisperte er. »Dann beweise es mir«, sagte sie. »Liebe mich, als sei ich die Frau, die ich war, als wir einander kennen lernten.« 227 Er tat es - und sie gab sich den Anschein, als erwidere sie seine Liebe, um ihm zumindest das noch zu geben. Er war ein guter Liebhaber, und auch wenn Molly ihrer Gefühle beraubt worden war, die körperliche Erregung war davon unbenommen. Sie brauchte sich nicht allzu sehr zu verstellen, und am Ende gab es einige wenige Augenblicke, in denen sie sich überhaupt nicht mehr zu verstellen brauchte. Aber dann war es vorüber, und er lag erschöpft neben ihr und betrachtete lächelnd die weichen Laken, und sie lächelte ebenfalls und sagte Dinge, die Liebende sagen, und nicht eines davon war ehrlich gemeint. »Du siehst müde aus«, erklärte sie, und er lachte. »Ich bin gerade erst aufgewacht.« »Du siehst trotzdem müde aus.« Er rollte sich auf die Seite und legte einen Arm über sie. »Ich habe nicht gut geschlafen. Ich mache mir Sorgen um dich, wenn du nicht hier bist. Und diesmal warst du sehr lange fort. Während deiner Abwesenheit habe ich so gut wie gar nicht geschlafen.« Molly küsste ihre Fingerspitzen und drückte sie auf seine Lippen. »Dann schließ die Augen und erlaub mir, dich im Arm zu halten. Schlaf weiter. Die Welt kann warten - dein Imal und all seine Geschäfte werden nicht zusammenbrechen, wenn du ein einziges Mal die Sonne am Himmel emporsteigen lässt, bevor du aus dem Bett steigst. Nur dieses eine Mal.« Er lächelte, rollte sich vertrauensvoll auf die Seite, schmiegte sich dicht an sie und entspannte sich. Für einen winzigen Moment war sie wieder da - ihre Liebe. Sie erfüllte sie, und ihre Macht traf sie mit solcher Wucht, dass sie ihr beinahe den Atem raubte. Ihre Liebe zu ihm erfüllte sie wie Sonnenlicht aus dem Innern heraus, wärmte und erregte und tröstete sie gleichzeitig. Ihre Au228 gen füllten sich mit Tränen, als die Gefühle in ihr aufstiegen - und als sie darum kämpfte, sie festzuhalten. Vielleicht war es doch nicht vollkommen hoffnungslos. Vielleicht brauchte sie nicht alles zu verlieren. Sie fühlte sich menschlich. Ganz. Und dann war es wieder fort, als sei ihre Liebe eine Glühbirne, die noch ein letztes Mal erstrahlt war, bevor sie endgültig erlosch. Molly lag da, die Arme um Seolar geschlungen, und sie konnte eine Träne auf ihrer rechten Wange spüren, doch sie begriff nicht, warum diese Träne dort war. Sie konnte sich erinnern. Aber sie konnte es nicht verstehen. Er war eingeschlafen. Vorsichtig zog sie ihren rechten Arm unter ihm weg, um ihn nicht zu wecken, dann suchte sie hastig nach einer Robe und streifte sie über. Anschließend glitt sie aus dem Schlafraum in das Vorzimmer. Dort standen natürlich die Wachen. Sie waren immer dort. Sie nickte den drei Männern zu. »Vodi«, sagten sie und verneigten sich.
Sie zeigte auf denjenigen von ihnen, den sie flüchtig kannte, und sagte: »Hol mir Birra her und sag ihm, dass ich ihn im Arbeitsraum erwarten werde. Sag ihm, dies sei mein Befehl als Vodi. Außerdem soll er Silber aus der Schatztruhe mitbringen - reines Silber, das noch vollkommen unbearbeitet ist.« Der Wachmann nickte und lief aus dem Zimmer. Molly wandte sich von den beiden anderen ab. Sie konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen, im Bewusstsein dessen, was sie ihrem Imallin antun würde. Sie konnte ihre Blicke nicht ertragen. Auf dem kleinen Sekretär im Vorzimmer fand sie Papier, einen Umschlag und Siegelwachs. Solchermaßen ausgestattet, setzte sie sich hin und begann zu schreiben. 229 Ich liebe dich, Seo. Ich liebe dich mit allem, was in mir ist - aber alles in mir verblasst langsam, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass der Tag kommen wird, an dem ich dir ins Gesicht sehe und mich daran erinnere, was wir einst hatten, und gar nichts mehr fühle. Ich kann nicht hier bleiben. Solange du mir noch etwas bedeutest - solange wir noch den Schmerz über unseren Abschied gemeinsam tragen - muss ich gehen. Ich weiß, dass die Liebe noch immer auf dich wartet, Seo. Aber nicht bei mir. Finde dein Glück, und wisse, dass ich für deine Welt und dein Volk so viel tun werde, wie ich es vermag. Es wird Zeit, dass ich meine Pflicht erfülle. Du hast deine Pflicht dein Leben lang getan, und dafür verdienst du einen besseren Lohn als den, der ich sein kann. Und vielleicht hat Lauren ja Recht, und eines Tages werde ich den Weg zurück finden und wieder ein beseeltes Wesen sein. Vielleicht kann ich mir eine eigene Seele erschaffen. Aber nicht, wenn unsere Welten sterben und ich nichts getan habe, um das zu verhindern. Ich weiß nicht, ob Gott oder die Götter eine Zerstörerin lieben könnten, aber die Pflicht gestattet solche Fragen nicht. Die Pflicht verlangt nur, dass wir sie erfüllen - sonst versagen wir. Ich habe nicht die Absicht zu versagen. Trage den Ring, den ich dir hinterlasse. Nimm ihn niemals ab. Dies ist mein Versprechen an dich, dass ein Teil von mir immer bei dir sein wird, ganz gleich, wo ich bin. Ich werde immer über dich wachen, und wenn es in meiner Macht steht, werde ich dich vor Gefahren schützen. Lebe wohl, Seo. Wir werden uns nicht wiedersehen, denke ich. Oder nur, wenn ich eine andere sein kann. Es tut mir Leid. Was auch geschehen mag, ich werde 230 immer wissen, dass ich einst geliebt habe und wiedergeliebt wurde. Ohne dich wäre die Liebe an mir vorbeigegangen. Molly Einen Moment lang blieb sie in ihrem Sessel sitzen und überlegte, ob es nicht vielleicht besser wäre, gar nichts zu sagen, sondern einfach nur fortzugehen und nicht mehr zurückzukommen. Aber dann würde er all diese Dinge nie erfahren. Sie würde immer in seinen Gedanken sein, und er würde sich grundlos sorgen. Er würde seinen Schlaf verlieren. Furcht würde ihn zermürben. Er war ein guter Mann; er hatte etwas Besseres verdient. Molly legte ihren Brief auf das Sandtablett und verstreute etwas von dem Sand auf dem Papier, damit die Tinte trocknete. Als sie sich versichert hatte, dass die Schrift nicht bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen würde, nahm sie den Brief heraus, faltete ihn, schob ihn in einen Umschlag und versiegelte ihn mit Wachs. Ursprünglich hatte sie den Umschlag einem der Wachposten übergeben wollen, aber sie wollte nicht, dass Seo ihre Worte in Anwesenheit eines anderen lesen musste. Also hielt sie den Atem an und stahl sich vorsichtig und gerade lange genug in das Schlafzimmer, um den Brief neben ihm auf das Bett zu legen. Dann betrachtete sie ihn, wie er dalag und schlief und für einen Augenblick Frieden gefunden hatte. Und ihr Blick schweifte durch den Raum, ruhte kurz auf all den Dingen, die Zeugnis ablegten von ihr, von der Person, die sie gewesen war. Die zwölfsaitige Gitarre hing an der Wand neben dem Gitarrenhocker, der weder Rückennoch Armlehnen aufwies; das Notenpapier, das halb fertige Ölgemälde auf der Staffelei neben dem Balkon; ihre säuberlich zusammengefaltete Kleidung. 231 Sie verließ nicht nur Seolar. Sie wandte sich auch von sich selbst ab. Von der Frau, die auf Oria ein gewisses Maß an Glück gefunden hatte, das sie sich in ihrer eigenen Welt niemals hätte träumen lassen. Von der Frau, die leidenschaftlich gern Gitarre spielte und Lieder schrieb, die gern malte, gern las. Von der Frau, die geliebt hatte. Von der Frau, die geträumt hatte. Die Pflicht rief, und Molly gehorchte - wohl wissend, dass sie diese andere Frau vielleicht nie mehr wiederfinden würde. Kupferhaus Birra erwartete Molly draußen vor der Tür des sicheren Raumes, einen großen Barren Silber in der Hand. Er reichte den Barren an Molly weiter und sagte: »Ich freue mich, dich wiederzusehen, Vodi. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht, während du fort warst.« Was Birras Art war zu sagen: »Wo zum Teufel hast du gesteckt, und warum warst du nicht hier?« Molly nahm das Silber ohne ein Wort entgegen und schob sich an Birra vorbei in den sicheren Raum, in dem der Einfluss des Kupfers wirkte und sie gegen Magie abschirmte. Sie spürte wieder einmal, dass die Macht des Universums in sie hineinströmte, und sie holte tief Luft. »Vodi?«
»Es sieht nicht gut aus«, erklärte sie Birra. Er war Seolars Stellvertreter, ein ehrenhafter und aufrichtiger Veyär. Sie kannte ihn seit ihrer ersten Begegnung mit den Veyär, und sie respektierte ihn. Mehr noch, sie vertraute darauf, dass er tun würde, was getan werden musste. Also legte sie den Silberbarren auf den Fußboden und setzte sich im Schneidersitz davor. Dann legte sie die Fin232 gerspitzen auf das Metall. Es verbrannte sie, wenn sie es berührte - sie war durch Gold an das Leben gebunden, und Silber war der Gegensatz des Goldes. Aber Silber zog sich durch das Herzstück der zerbrochenen VodiKette, die sie am Leib trug. Sie glaubte, dass sie die Berührung würde ertragen können. Also flößte sie ihre Magie und ihre Willenskraft dem Silber ein, formte aus einem kleinen Teil davon zwei Ringe, beide schwer und glatt und ohne jedwede Gravuren. Einen schuf sie so, dass er an Seolars Hand passte, den anderen schuf sie für sich. Schließlich hielt sie die beiden Ringe zusammen, blickte durch sie hindurch und wob einen simplen Bindungszauber zwischen ihnen. Lauren hätte etwas Größeres zuwege bringen können, etwas Besseres und Nützlicheres. Lauren wäre in der Lage gewesen, die Ringe so zu fertigen, dass sie alles hören und sehen konnte, was der andere Ringträger tat, dachte Molly. Molly besaß dieses magische Talent nicht. Sie konnte die Ringe nur mittels eines rudimentären Zaubers aneinander binden, der es ihr ermöglichen würde, mit Seolar in Kontakt zu bleiben. Ihn aufzuspüren, wo immer er war. Solange sie ihn wiederfinden konnte, konnte sie ein kleines Tor zwischen ihm und sich öffnen - es musste nur gerade groß genug sein, um zwischendurch einmal nach ihm zu sehen. Sie hätte Gold für die Ringe benutzen können; mit Gold wäre die Arbeit für sie angenehmer gewesen, und sie hätte das Gold ohne Schmerz tragen können. Aber andererseits hätte die chaotische Natur dieses Metalls irgendwann das Wesen der Ringe verändert, und gerade dann, wenn es am wichtigsten war, dass sie ihn fand, würden die Ringe gegen sie arbeiten und sie verraten. Also würde sie das Silber und seine Einschränkungen erdulden. Sie stand auf und gab Birra den Silberbarren und den Ring, den sie für Seolar gemacht hatte. »Leg den Ring auf 233 den Umschlag und drück ihn in das Siegel hinein. Ich habe Seolar in meinem Schreiben alles erklärt.« Birra nahm den Ring entgegen und sah sie mit unergründlichen Augen an. »Du gehst fort.« »Die Situation verschlechtert sich zunehmend, Birra. Ich ... kann nicht länger hier bleiben.« »Warum nicht?« Sie lächelte ihn an, blickte ihm in die Augen und ließ ihn die Leere in ihr sehen. »Es ist im Augenblick keine angenehme Erfahrung, mit mir zusammen zu sein, Birra. Und es wird immer schlimmer werden.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, eine Vertraulichkeit, die nicht akzeptabel gewesen wäre, hätte Molly wirklich zu der Welt der Veyär gehört. Aber diese Geste hatte einen eindeutigen Nutzen für sie: Sie betonte, wie sehr Molly sich von ihm unterschied - und damit auch von Seolar, für den Birra die Welt aus den Angeln gehoben hätte. Sie senkte ihre Stimme, sah ihn mit schmalen Augen an und sagte: »Mach ihm klar, dass er ohne mich besser dran ist. Hilf ihm, über mich hinwegzukommen. Wenn es sein muss, such ihm eine andere Frau, die ihn so lieben kann, wie er es verdient. Das ist mein Auftrag an dich.« 13 Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria Rekkathav, der hinter Aril stand, wünschte sich gerade inbrünstig, dass das Frühstück endlich vorüber wäre, damit er in seinen Sandkasten zurückkehren und schlafen konnte, als plötzlich mehrere Rrön durch die Türen am Ende der langen Halle gestürmt kamen. Die bewaffneten Wachen, die entlang der Wände postiert waren, starben alle gleichzeitig, verschlungen von Flammen und mit einem einzigen Aufschrei. Auch die Gäste schrien und gingen unter dem Tisch in Deckung Rekkathav konnte sehen, dass sie sich aneinander festklammerten, obwohl sie sich nur wenige Sekunden zuvor wegen Handelsrechten und -abkommen in den Haaren gelegen hatten. Rekkathav war die Halle stets geradezu lächerlich groß erschienen, bis zu diesem Augenblick, da mehr als zwei Dutzend Rrön zu beiden Seiten des langen Banketttischs die Wände säumten. Und nun begriff er auch, nach wessen Maßstäben die Halle erbaut worden war - die Rrön gehörten ganz offensichtlich hier hinein. Einer der Eindringlinge, blutrot mit schwarzen Flügeln, schwarzen Beinen und Klauen und einem schwarzen Gesicht, sagte: »Wir sind hier, um Zeuge der Herausforderung um die Meisterschaft zu sein.« Es ging schneller, als Rekkathav es je für möglich gehalten hätte; binnen weniger Atemzüge waren die Wachen tot, und mehr als zwei Dutzend Waffen zielten auf Aril. Der Meister der Nachtwache erhob sich, erfüllt von einem kalten, wahnsinnigen Verlangen nach dem Tod all derer, die er 235 vor sich sah. Er sog sich mit Magie voll, um einen Zauber gegen alle Anwesenden im Raum zu schleudern - und, wie Rekkathav begriff, jeden Einzelnen von ihnen zu vernichten bis auf sich selbst. Aber dann kam mit langen Schritten ein Rrön in die Halle stolziert, so schwarz wie die Eingeweide der Erde selbst, und doch durchscheinend und schimmernd, als sei er überall dort, wo das Sonnenlicht ihn berührte, mit Juwelen bedeckt. Er hatte seine Flügel halb geöffnet. »Versuch es gar nicht erst, Aril«, sagte er. »Es gibt Traditionen, die befolgt werden müssen, ein Ritual, dem
Rechnung getragen werden muss. Du kannst diesen Kampf nicht durch Betrug gewinnen; du hast nur die eine Möglichkeit, es in der Arena mit mir aufzunehmen, mit deinem Sekundanten hinter dir und ich mit meinem hinter mir. Deine mächtigsten Anhänger sind allesamt tot; dafür habe ich gesorgt, bevor wir hier hereingekommen sind. Meine Anhänger jedoch werden dir den Treueeid schwören, wenn es dir gelingt, deinen Titel gegen mich zu verteidigen.« Wer bist du, dass ich deine Gedanken nicht lesen kann, dass ich dich nicht spüren konnte? Wer bist du, dass du auf solche Weise hierher kommst, um mich, Aril, herauszufordern, unter dessen Meisterschaft die Nachtwache gedeiht? »Ich bin Baanraak«, antwortete der schwarze Rrön, und Rekkathav konnte ein Zischen des Entsetzens nicht unterdrücken. Selbst er, der Neuling, der noch lebendig war und nur dem Namen nach ein dunkler Gott, bis er seinen ersten Tod und die Wiederauferstehung erlebt hatte - selbst er hatte von Baanraak gehört. Aril schien jedoch von einem anderen Baanraak gehört zu haben als Rekkathav, denn sein Tonfall war herablassend. Der Drückeberger? Ah. fetzt verstehe ich, wie du so lange überleben konntest - du verstehst dich bestens darauf, dich zu verstecken und in der Dunkelheit herumzu236 schleichen. Unglücklicherweise werden dir diese Talente in der Arena nicht viel nutzen. Komm - bringen wir die Angelegenheit hinter uns, damit ich zu meinem Frühstück und meinen Untertanen zurückkehren kann, bevor das Essen vollkommen ruiniert ist. Rekkathav fragte sich, ob Aril glaubte, sein Selbstbewusstsein würde seinen Gegner verunsichern. Baanraak wirkte jedoch keineswegs verunsichert. Er lachte nur. »Oh ja, lass uns das tun«, sagte er. »Frühstück ist eine gute Idee; ich habe schon seit einigen Jahren keine Keth mehr verspeist, und dabei seid ihr doch eine solche Delikatesse.« Aril wandte sich an Rekkathav. Du bist mein Sekundant. Wir werden jetzt in die Arena hinuntergehen. Er verließ den Tisch und ging an der langen Reihe von Rrön entlang. Rekkathav huschte hinter ihm her, und seine zahlreichen Knie bebten. Unter dem Tisch kauerten noch immer schweigend die einheimischen Fürsten und Führer der vielen umliegenden Reiche. Aber der Raum war voller dunkler Rrön-Götter, an deren Spitze der ehemalige Meister stand, der seit Jahrhunderten durch Mythen und Alpträume geisterte. Es war, als sei der Flutesser, das Ungeheuer, mit dem man bei seinem Volk den kleinen Kindern Angst gemacht hatte, plötzlich leibhaftig erschienen. Die Reihen der Rrön schlössen sich Aril und Rekkathav an, als diese durch die Tür traten. Neben diesen Bestien wirkten die beiden wie Zwerge. Baanraak trat hinaus in die Hohe Halle der Meister und wartete, und als Aril zu ihm aufschloss, teilten sich die Reihen der Rrön, um ihn, Rekkathav, durchzulassen. Er eilte an Arils Seite. Baanraak befolgte das Ritual der Herausforderung in jedem Punkt - vielleicht mit der einzigen Ausnahme, dass er zuvor Arils gesamte Riege dunkler Meister getötet hatte. Rekkathav konnte den Vorteil eines solchen Vorgehens durchaus erkennen - von einem taktischen Standpunkt aus betrachtet, wenn auch nicht von 237 seinem persönlichen, denn es machte mit ziemlicher Sicherheit ihn selbst zur nächsten Zielscheibe -, aber er hatte noch nie von irgendwelchen anderen Meistern gehört, die vor ihrer Amtsübernahme das gesamte Personal des Kontrollzentrums ausgelöscht hatten. Die Geschichte lehrte, dass dergleichen im Allgemeinen nach der Übernahme erfolgte. Die Geschichte lehrte auch, dass die Stellvertreter der Verlierer unmittelbar im Anschluss an die Herausforderung vor die heldenhafte Entscheidung gestellt wurden, von eigener Hand zu sterben - dann wurden ihre Auferstehungsringe vielleicht durch ein Zufallstor geworfen und sie selbst in die Verbannung geschickt oder durch die Hand des Siegers. Letzteres bedeutete ihre endgültige Vernichtung. Rekkathav, der noch immer sein erstes Leben lebte, fand keine der beiden Alternativen annehmbar. Dann bete, dass ich siege, sagte Aril zu ihm. Sie marschierten durch die Hohe Halle der Meister hinunter zu den Toren am südlichen Ende, die zur Arena führten. Zwei weitere Rrön hielten die gewaltigen Tore offen, und dahinter konnte Rekkathav noch mehr Rrön entdecken, die schweigend im hinteren Teil und an den Seiten des riesigen Kuppelsaals warteten. In der Arena würden Aril und er sein. Und eine Mauer aus Rrön. Aril würde ohne seine Gefolgsleute kämpfen, weil diese bereits alle tot waren. Er würde niemanden bis auf Rekkathav haben, um seinen Anspruch auf die Meisterschaft zu bekräftigen, sollte er den gewaltigen, uralten Baanraak im Kampf besiegen. Dieser Fall konnte durchaus eintreten - Rekkathav hätte darauf gewettet, dass der Meister dem Herausforderer sowohl an Gerissenheit als auch an Grausamkeit überlegen war -, aber würden die Rrön, die das Kontrollzentrum bereits in ihrer Macht hatten, dann diese Macht freiwillig an Aril zurückgeben? Deine Überlegungen sind vollkommen richtig, erklang 238 eine andere Stimme in seinem Kopf, und Rekkathav begriff, dass Baanraak zu ihm sprach. Die Frage, die du bisher nicht gestellt hast, lautet jedoch: »Wie komme ich da lebend raus?« Denn es gibt durchaus eine Möglichkeit. Rekkathav wartete, denn er wagte es nicht zu fragen, wie diese Möglichkeit aussehen könnte. Sage dich von ihm los, fuhr Baanraak fort. Leiste mir den Treueeid, und ich werde dich am Leben lassen. Dein
Meister wird nicht überleben - das kann ich euch beiden versichern. Er wird nicht mehr da sein, um dich später für deinen Gehorsam zu belohnen - oder dich für deinen Treuebruch zu bestrafen. Rekkathav hatte sich immer für einen Feigling gehalten. Er hatte gehofft, dass er seine Feigheit zu überwinden gelernt hätte, bis es in einer ungewissen, aber sicher noch recht fernen Zeit so weit wäre, dass er das Amt des Meisters übernehmen konnte. Oder dass er bis dahin zumindest hinreichend große Macht über die Mutigen erlangt haben würde, um seinen Mangel an Tapferkeit auszugleichen. Aber jetzt, beim Gang über den kalten Steinboden der Arena, umgeben vom Klackern der Krallen und Klatschen der Flügel einer Übermacht von Rrön, brachte er plötzlich einen Mut auf, der an Wahnsinn grenzte. Laut sagte er: »Ich werde den Meister nicht im Stich lassen.« Er wusste nicht, woher diese Worte gekommen waren, aber es schien ihm die richtige Entscheidung zu sein. Der Meister warf einen Seitenblick auf Rekkathav, behielt seine Gedanken jedoch für sich. Sie nahmen ihre Plätze in der Arena ein - Aril und Rekkathav am goldenen Ende, Baanraak und der rote Rrön mit der schwarzen Zeichnung am weißen Ende. Rekkathavs Aufgabe bestand darin, einen Schild um Aril zu legen und ihn bis zum Beginn des Kampfes aufrechtzuhalten. Baanraaks Sekundant würde für ihn dasselbe tun. 239 Rekkathav verstand sich gut auf Schilde. Er wusste, dass er einen starken, soliden Schild um Aril weben konnte; er würde seine Sicherheit gewährleisten können, bis das Duell eingeläutet wurde. Danach war Aril auf sich gestellt und würde seine Magie wirken - und damit über sein eigenes Schicksal und das seines Sekundanten entscheiden. Rekkathav saugte sich voll Energie - er benötigte immer noch Lebensenergie, weil ihm die Todesenergie nur unter starken Schmerzen verfügbar war. Er atmete tief ein; es war wahrscheinlich der letzte Tag, an dem er Gelegenheit dazu hatte. Falls er überhaupt überlebte, dann höchstwahrscheinlich als einer der dunklen Götter - aber auch die Chancen dafür waren denkbar gering. Er ließ seine Gedanken nicht weiter in diese Richtung schweifen. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Rrön, der sich in die Mitte der Arena begab. Rekkathav wurde übel - Aufregung, Angst und Ungewissheit wühlten seine Eingeweide auf, bis er fürchten musste, dass sich wegen der ungeheuren Anspannung sein Magen umdrehte, seinen Inhalt in alle Richtungen verteilte und ihn öffentlich demütigte. Er hatte herausgefunden, dass die anderen Lebewesen die Neigung seiner Art, unter Stress den gesamten Magen durch die harten Kiefer hindurch auszustülpen, widerlich fanden, und Rekkathav wusste, dass er, wenn es denn schon sein musste, wenigstens nicht gedemütigt sterben wollte. Also presste er die Kiefer zusammen, wappnete sich und hielt die aufgenommene Lebensenergie bereit, während der Rrön mitten in der Arena sich erst vor Aril, dann vor Baanraak verbeugte und sagte: »Nachdem offiziell von Baanraak von den Rrön, dem ehemaligen Meister der Nachtwache, an Aril von den Keth, dem gegenwärtigen Meister der Nachtwache, eine Herausforderung ergangen ist, wie es die Zeugen vernommen haben, die ihre Pflichten 240 als Zeugen kennen, ihrer eingedenk sind und erklärt haben, dass sie willens sind, diesen Pflichten zu gehorchen, wenn der Kampf entschieden ist, und nachdem nach den Vorschriften vom Herausforderer und Verteidiger ohne jeden Zwang und Druck auszuüben Sekundanten erwählt sind, die in voller Anerkenntnis ihrer Pflichten ihren Aufgaben nachkommen werden, werde ich nun die Regeln und Rituale des Kampfes darlegen. Herausforderer und Verteidiger werden im Schutz ihrer Schilde bleiben, bis die goldene Kugel in der Mitte der Fallschale auftrifft; wenn diese vernehmlich klingt, werden die Sekundanten die Schilde senken und sich in den Wartebereich begeben, der sich jeweils links von ihnen befindet...« Rekkathav schaute schnell zur linken Seite. In dem glatten Steinboden, der in ihrem Bereich mit Blattgold bedeckt war, machte er ein geräumiges rotes Feld aus - polierter Marmor möglicherweise, von einem Farbton, der stark an Blut erinnerte. »... und in dem Augenblick, da die Schilde gesenkt werden, steht es dem Herausforderer und dem Verteidiger frei, einander nach Belieben auf jede erdenkliche Weise anzugreifen, solange sie sich dabei auf den Gebrauch von Waffen beschränken, die ihrem Körper oder ihrem Geist eigen sind.« Der Rrön hatte Zähne wie Dolche, starke Klauen und war von gewaltigem Körperbau; der Keth war schmal, hatte stumpfe Zähne und nur überaus zarte Krallen an den Enden seiner Finger. Rekkathav erschien diese unterschiedliche Ausstattung furchtbar unfair. »Um zu gewährleisten, dass Herausforderer und Verteidiger diesen Regeln gehorchen, werden beide nackt, bar jeder Kleidung kämpfen.« Das war für Baanraak natürlich bedeutungslos; er trug ohnehin nichts als seine Haut. Seinen Meister hatte Rekka241 thav allerdings noch nie ohne sein komplettes Gewand gesehen. Aril zuckte die Achseln und ließ die ihn umfließende Robe fallen; ohne dass er sie weiter beseelte, lag die Seide wie ein bunter Lumpen auf dem Boden. Der Meister stand vor ihnen allen nackt da - hoch gewachsen, schlank und glatt, geschlechtslos, furchtbar blass, weich und vage in den Konturen. Er begann zu glühen, füllte sich mit einem hässlichen, schmutzigen Glimmen, so trübe wie das Licht, das einem tödlichen Sturm vorausgeht. Seine Zöpfe bildeten eine Art Heiligenschein um seinen Kopf, und das gleiche entsetzliche Licht zeichnete ihre
Konturen und blitzte zwischen ihnen, als habe Aril sich ganz mit Blitzen voll gesogen. Er lächelte kurz, aber es war nur ein Zucken seines Mundes, eine Grimasse ohne jede wirkliche Bedeutung. Rekkathav, dessen Gesicht keinerlei Regung und keines Gefühlsausdrucks mächtig war, hatte gelernt, dass Arils Gesicht zwar beweglicher war als sein eigenes, dass aber die verschiedenen Bewegungen seiner Gesichtszüge als bedeutungslos ignoriert werden konnten. Innerlich blieb Aril stets gleich - tödlich kalt und scharf wie geschliffener Stahl, vielschichtig, voller Ränke und Fallen. Die Lichtspiele beängstigten Rekkathav, schienen aber keinen der Rrön auch nur zu interessieren. Der Sprecher im Zentrum der Arena fuhr unbeeindruckt mit seiner Darlegung der Regeln fort, und während Rekkathav seinen Meister anstarrte, verlor er den Faden des Vortrags, bis er plötzlich die Worte hörte: »... und wenn sowohl der Herausforderer als auch der Verteidiger fallen sollten, wird der Kampf von den Sekundanten fortgeführt, die an ihren Plätzen warten, bis die Zeugen den Tod der beiden Hauptkämpfer festgestellt haben. Wenn bestätigt worden ist, dass sowohl der Verteidiger als auch der Herausforderer tatsächlich tot sind, dann sollen die Sekundanten beim Klang der 242 Goldkugel, die in die Fallschale fällt, durch Schilde unbedeckt in die Arena treten und sofort und ohne Sekundanten den Kampf fortführen. Der Überlebende wird der neue Meister sein.« Von der gegenüberliegenden Seite der Arena aus sah der rotschwarze Rrön Rekkathav in die Augen, grinste, zeigte all seine Zähne und zwinkerte ihm dann zu. Ohne Vorwarnung stülpte sich Rekkathavs Magen vor und spie seinen Inhalt in alle Richtungen. Das Organ hing ihm rosa, weich und blasig aus dem Maul, und die Rrön schienen vor Gelächter geradezu zu explodieren. »Das wird ein schöner Meister«, lachte einer, und ein anderer röhrte: »Zumindest haben wir jetzt seine Geheimwaffe gesehen«, und wieder brach alles in Gelächter aus. Rekkathav wäre am liebsten in den Boden versunken und vor Scham gestorben, aber die Umstände würden ihn ja ohnehin schnell genug aus seinem Elend erlösen. Also beseitigte er mit schierer Willenskraft den Unrat von dem glänzend goldenen Boden und schluckte ein paar Mal mit aller Kraft, um seinen Magen wieder in seinen Körper hineinzubefördern. Er sah Aril nicht an; er konnte den Ekel des Meisters spüren, und das war schlimm genug. Der Rrön hatte die Erklärung der Regeln beendet, und Rekkathav tat so, als ob es den Rest dieses ganzen Debakels nicht gäbe, als ob nichts auf der Welt existierte außer der Stimme des Sprechers in der Mitte der Arena, seinem Meister und dem bevorstehenden metallischen Klang einer großen Kugel aus massivem Gold, die in eine Metallschale, groß genug, um einem Rrön Schutz zu bieten, fallen würde. Rekkathav errichtete seinen Schild, als er von dem Rrön die Worte vernahm: »Schilde errichten.« Sobald die Goldkugel mit einem scharfen klaren Klang, der im ganzen Kontrollzentrum und darüber hinaus gehört werden konnte, in die Schale gefallen war, senkte Rekkathav den Schild und 243 krabbelte, so schnell ihn seine zahlreichen Füße trugen und als sei der Teufel persönlich hinter ihm her, zu dem quadratischen Feld aus blutrotem Stein und der Sicherheit, die es bedeutete. Der Kampf im Zentrum der Arena war selbst für einen wesentlich abgebrühteren Träumer als Rekkathav der Stoff, aus dem Alpträume gemacht sind. Es regnete Feuer und Blut, Blitze schlugen ein und Donner krachte, Ungeheuer erschienen aus dem Nichts, nur um sich wieder in nichts aufzulösen; Stürme tobten in alle Richtungen, rollten und brüllten; aus dem steinernen Boden wuchsen Köpfe mit Mäulern und furchtbaren Zähnen; Dunkelheit senkte sich hernieder, so tief, dass man die Klaue vor den Augen nicht mehr sah, nur um von einem Licht, so hell wie die Oberfläche der Sonne, zerrissen zu werden, das mit sengender Hitze einherging und dem wieder Schneestürme folgten und dann Explosionen, die ihrerseits in sintflutartigen Regenfällen untergingen Und dann war alles vorüber. Stille. Rekkathav merkte, dass er sich auf dem Boden zu einer Kugel zusammengerollt hatte, die Beine in der Defensivhaltung seiner Art schützend über den Kopf gelegt. Er spähte durch den Schild seiner zahlreichen Gliedmaßen und sah, dass auf der einen Seite Aril stand, blutüberströmt und von tiefen Wunden gezeichnet, aber zweifellos noch lebendig. Und auf der anderen Seite war nichts außer einem goldenen Schimmer auf dem Boden. Die Rrön hockten still und wie erstarrt auf den Rängen. Baanraaks Sekundant ließ den Kopf von einer Seite zur anderen schwingen, hielt Ausschau nach Baanraak, die Flügel flach angelegt und die Gesichtshaut steil aufgestellt. Er wirkte ... entsetzt. Rekkathav rollte sich auseinander. Wagte es, sich wieder auf seine Beine zu stellen. Kein Anzeichen von Baanraak 244 zu sehen, nichts von ihm zu spüren. Aril schien überrascht. War vorsichtig. Rekkathav spürte, dass er den ganzen Raum mit seinem Geist abtastete und herauszufinden versuchte, was geschehen war. Immer wieder kehrte sein Blick zu dem Gold auf dem Boden zurück. Ein Auferstehungsring, dachte Rekkathav. Aril, immer noch Meister der Nachtwache, befahl seine Gewänder um sich und belebte sie mit einem Fingerschnipsen. Das Licht, das ihn umgeben hatte, erlosch, und die Roben bauschten sich wieder, als seien sie lebendig; Rekkathav fragte sich, ob es dazwischen wohl eine Verbindung gab. Dann ging Aril in die Mitte der
Arena und sagte: »Ich habe gesiegt. Jetzt will ich euren Treueeid hören.« Darauf gab ihm der Rrön, der zuvor die Regeln erklärt hatte, zur Antwort: »Niemand hat gesehen, wie du Baanraak getötet hast - du hast es nicht einmal selbst gesehen. Es ist deine Aufgabe, deinen Herausforderer auf eine Art und Weise zu zerstören, die bezeugt werden kann, auf eine Weise, die es den Zeugen erlaubt, festzustellen, dass der Herausforderer tot ist. Das hast du nicht getan. Daher ist der Kampf noch nicht vorbei, und du musst jetzt Trrtrag gegenübertreten, Baanraaks Sekundanten.« Hinter Aril sagte eine Stimme: »Das wird nicht nötig sein«, und ein Licht erstrahlte rings um Baanraak, gerade rechtzeitig, dass alle sehen konnten, wie er mit weit aufgerissenem Maul herabstieß und Aril den Kopf abriss. Baanraak spie den Kopf aus; er sprang mit einem Satz wieder vom Boden hoch und rollte dann gegen die Fallschale, die einen Ton von sich gab wie ein sanft angeschlagener Gong - die Glocke meines Schicksals, dachte Rekkathav. Das Ende meines Lebens und der Ruf meines Schicksals. Baanraak blickte zu den Rängen auf und sagte: »Hat irgendeiner von euch das nicht gesehen?« Die Rrön lachten. 245 Rekkathav zwang sich, seine Zuflucht an der Wand zu verlassen; jeder Hauch von Hoffnung hatte ihn verlassen. Mit steifen Beinen machte er sich auf den Weg in die Mitte der Arena zu Baanraak und dem Rrön, der die Regeln verlesen und die Goldkugel fallen lassen hatte. Rekkathav hatte das Gefühl, dass alle Luft aus der großen Halle gewichen war und sich gleichzeitig die Schwerkraft verdreifacht hatte; er brachte kaum die Kraft auf, ein Bein vor das andere zu setzen, und doch tat er es. Er schleppte sich ins Zentrum der Arena und schaffte es, dort stehen zu bleiben, zu dem schwarzen Rrön aufzusehen und sein Schicksal zu erwarten. Baanraak sah auf ihn nieder. Dann drehte er sich zu seinen Zeugen um und sagte: »Geht jetzt. Verbreitet die Nachricht, dass Baanraak sich das Meisteramt zurückgeholt hat und die Rrön wieder im Kontrollzentrum sind.« Die Rrön jubelten, verließen ihre Plätze und stürmten nach draußen. Als sie fort waren, wandte sich Baanraak wieder Rekkathav zu. »Du hast dich immer noch in der Gewalt, wie ich sehe.« Er legte Rekkathav eine Kralle auf den Nacken und sagte: »Du trägst einen Ring - ich spüre, wie die Magie des Auferstehungsrings in dir fließt -, aber du hast deinen ersten Tod noch vor dir. Aril hat die Herausforderung zur Farce gemacht, indem er dich als Sekundanten wählte. Was hast du für ihn getan?« »Ich war sein Adjutant. Ich habe die Operationen im Feld verfolgt, über die einzelnen Missionen Buch geführt, manchmal seine Erlasse verlesen und ihm aus den Archiven herausgesucht, was er brauchte.« »Du warst sein ... Sekretär?« »So kann man es sagen.« »Hast du jemals einen Kampf ausgefochten?« »Nein.« Baanraak legte den Kopf auf die Seite und grinste. Rek246 kathav sah, dass das Gesicht des Rrön immer noch blutverschmiert war. »Willst du heute sterben?« »Nein.« »Du hast dich nicht von deinem Meister abgewandt, als du die Gelegenheit dazu hattest. Du hast dich nicht versteckt, als dein Schicksal dich erwartete. Bist du dem Toten gegenüber loyal und willst ihm in die Vernichtung folgen - oder könntest du mir gegenüber loyal sein, wenn ich dir die Gelegenheit dazu gäbe?« In Rekkathav regte sich ein Funken Hoffnung. »Ich würde dir treu und ehrlich dienen.« »Wir werden es sehen. Überzeuge mich heute von dem, was du kannst, abgesehen von deinem äußerst eindrucksvollen Erbrechen. Du amüsierst mich, aber die Rolle des Hofnarren wird deinem bemerkenswerten Ehrgeiz möglicherweise nicht gerecht.« Baanraaks Enklave, Kerras - Baanraak von Silber und Gold Baanraak brach durch die Oberfläche des Sees, einen großen Fisch zwischen den Zähnen, und verspritzte in allen Regenbogenfarben leuchtende Tröpfchen. Er schoss hoch hinauf in die Luft, zog bei jedem Flügelschlag die Schwingen weit herunter, um sich schnell emporzuarbeiten, verschluckte den Fisch im Ganzen und tauchte mit einer einzigen, eleganten Bewegung wieder in das Wasser ein. Er hatte den See zweimal vergrößern müssen - einmal, um darin schwimmen zu können, und ein zweites Mal zum Fischen. Zu diesem Zweck hatte er sein Versteck erheblich ausdehnen müssen. Aber das hatte er ohnehin vorgehabt, denn er lag nicht gern auf seinem Felsen in der Sonne, wenn er gleichzeitig über den Rand seiner kleinen Domäne hi247 naus in die Hölle dahinter blicken musste. Das zerstörte die Illusion. Also hatte er das Ganze ein wenig erweitert. Nicht so sehr, dass es irgendjemandem aufgefallen wäre. Sein Versteck maß nicht mehr als hundert Meilen im Durchmesser -ein Nichts, ein bloßes Reiskorn, verglichen mit einem ganzen Planeten. Er hatte die Magie mit einem Schild umgeben, so dass sie keine großen Spuren hinterließ, obwohl die Tatsache, dass es auf Kerras überhaupt wieder Lebensmagie gab, irgendwann die Aufmerksamkeit der Nachtwache erregen würde. Wenn das geschah, würden sie zurückkehren und die Magie wieder zerstören. Baanraak verschwendete nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Er hatte diesen Ort nur als eine zeitlich
begrenzte Zuflucht geschaffen, und er nahm sich die Freiheit, ihn zu genießen, solange er existierte. Er wollte nicht über die unausweichliche Zerstörung seiner kleinen Oase nachgrübeln, sondern würde sich in das Unvermeidliche fügen. Während er unter der Oberfläche des Sees dahinglitt und Ausschau hielt nach einem großen, wohlschmeckenden Grauen Steinfisch, um seinen Imbiss damit abzurunden, gingen ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf: Wenn es ihm gelang, seine kleine Welt intakt zu halten, wäre er vielleicht bereit, sich hundert Jahre hier zu verstecken. Oder tausend. Er hatte sich hier wunderschön eingerichtet. Er hatte den äußeren Rand seiner Enklave mit Wäldern voller Bäume gesäumt, wie er sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte, und seine Wälder mit einigen der wilden Tiere bevölkert, an die er sich am besten erinnern konnte. Er war überrascht gewesen - in den äußersten Winkeln seiner Domäne hatte er Dinge gefunden, von denen er gar nicht wusste, dass er sie geschaffen hatte. Insekten und Vögel, die zu klein waren, um sie auch nur verspeisen zu können, und 248 einige wenige Säugetiere - Säugetiere hatten sich auf Vraish nie lange gehalten, aber ein paar Arten hatte es doch gegeben. Eigentlich stellte er immer wieder fest, dass er mehr ins Leben gerufen hatte, als ihm bewusst gewesen war. Baanraak fand den Grauen Steinfisch, einen der schmackhaftesten Bewohner der Kaltwasserseen von Vraish, schließlich in großer Tiefe, dort, wo das ganze Jahr über eine Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt herrschte. Mit dicht angelegten Flügeln, vorwärts getrieben vom Peitschen seines langen Schwanzes, glitt Baanraak mit zurückgebogenem Hals auf seine Beute zu. Der Fisch erkannte die Gefahr, bevor der Rrön ihn erreichte, und schoss davon - aber Baanraak ließ seinen Kopf vorschnellen und schnappte den Fisch mit den Zähnen. Er schwamm zurück nach oben, zur Wasseroberfläche, durch die die Sonne wie ein goldener, von Schwarz und einem reichen Blaugrün gesäumter Fleck erschien. Die Welt ringsumher wurde heller, während er hinaufschoss, bis das Schimmern der gekräuselten Wasseroberfläche sein Blickfeld ausfüllte. Dann brach er daraus hervor und schwang sich wieder in die Luft empor. Er wünschte sich jemanden, der diese Welt mit ihm teilte. Jemand, der sie lieben konnte, der sie genoss. Aber keiner der Rrön, die zu dunklen Göttern geworden waren -und das waren die einzigen ihrer Art, die in seinem Refugium ihre Heimat wiedererkennen würden - würde in dieser Welt etwas anderes sehen als etwas, das um eines kurzen Tranks von Todesenergie willen zerstört werden musste. Und Baanraak kannte auch keine anderen Rrön, die überlebt hatten. Sie waren weitergezogen und hatten anderswo ihre Heimat gefunden - seine Enklave würde ihnen nichts bedeuten. Sie würden weder die Gerüche wiedererkennen noch den Geschmack der Beute; das Gewicht der Luft und die Klänge dieser Welt würden ihnen fremd sein. 249 Sie würden hier niemals heimisch werden. Ihre Kinder und Kindeskinder, wenn sie sich erst hier niedergelassen hätten, schon - aber die Erstansiedler würden diese Welt nie als ihre eigene ansehen. In jeder Welt blieben die Neuankömmlinge Fremde und ständig im Zwiespalt von Erinnerung und Wirklichkeit gefangen. Baanraak lebte in dieser Zerrissenheit schon länger, als die Menschheit existierte. Er landete auf seinem Felsen und kaute seinen Fisch, tat sich an ihm gütlich. Er war zu groß, um ihn in einem Happen zu verzehren - genau wie ein Mensch, aber bei weitem nicht so knochig und angenehmer zu schlucken. Wie alles andere auch schmeckte er genauso gut, wie Baanraak es in Erinnerung hatte. Er lebte in einer Fantasiewelt. Das wusste er, aber es kümmerte ihn nicht. Vielleicht war das ein erstes Anzeichen von Senilität oder Wahnsinn. Aber auch das machte ihm kein Kopfzerbrechen. Nach langer Wanderschaft war er endlich daheim. Es wäre noch besser hier, wenn es Familien gäbe, dachte er - Männchen und Weibchen, die sich durch die Lüfte schwangen, mit ihrer noch nicht flugfähigen Brut, die mit lautem Kreischen um Nahrung und Aufmerksamkeit bettelte. Und Sänger auf den höchsten Gipfeln in der Morgen- und Abenddämmerung. Und Baumeister, die die zinnenbewehrten Städte aus den Felsen der Berge schlugen. Und Krieger, die einander in Staub und Dunst umkreisten und freundschaftlich miteinander rangen, wenn es keine ernsten Kämpfe auszufechten galt. Und es wäre besser, wenn seine Enklave diese ganze Welt umfasste. Es wäre besser, wenn seine Welt überlebte. Er schloss die Augen und wappnete sich gegen einen Stich des Schmerzes. Jetzt gab es etwas, das er erhalten wollte, etwas, an dem er hing. Er wollte nicht, dass dieser Ort zerstört wurde. Er 250 wollte für ihn kämpfen. Er wollte ihn retten. Und die beiden Lebewesen, die ihm dabei helfen konnten, waren von allen, die im weiten Universum existierten, ausgerechnet diejenigen, die am meisten seine Auslöschung wünschten - Lauren Dane und Molly McColl. 14 Der Blumenladen, Cat Creek, North Carolina »Dies ist eine inoffizielle Anhörung der Wächter von Cat Creek. Wir vernehmen Lauren Dane im Zuge unserer Tatsachenfeststellung, um zu entscheiden, ob dieses Gremium offiziell Anklage wegen Verrats gegen sie erheben soll oder nicht und ob wir die Angelegenheit dem Rat der Wächter übergeben sollen oder nicht. Da es
hier darum geht, die Tatsachen festzustellen, ist kein Bereich von der Befragung ausgenommen und wird kein Beweismaterial als unzulässig und nicht verwertbar angesehen werden.« Eric Mac Avery blickte auf Lauren hinab und sagte: »Das bedeutet, dass wir deine Eltern und die Tatsache, dass der Hohe Rat sie des Verrats für schuldig befunden hat, in die Beweisaufnahme mit einbeziehen werden. Falls wir offizielle Anklage gegen dich erheben sollten, wird ein Mitglied des Hohen Rats zu deinem Fürsprecher bestimmt werden und deine Sicht der Dinge vertreten; dieser Fürsprecher könnte geltend machen, dass die Vergehen deiner Eltern nichts mit deinen Taten zu tun haben. Nur für den Augenblick müssen wir alles in Betracht ziehen.« Lauren nickte. Sie saß mit dem Rücken zur Wand; Eric und der Torspiegel befanden sich zu ihrer Linken und der Kartentisch zu ihrer Rechten. Man hatte ihr einen der wenigen Klappstühle aus Metall gegeben statt einen aus Holz; sie hatte den Stuhl bekommen, der keinen festen Stand auf dem Fußboden hatte, da eines der Beine kürzer war als die anderen. Daher schaukelte der Stuhl jedes Mal ein wenig, wenn sie sich bewegte. Und wie alle Klappstühle aus Metall 252 war er dazu geschaffen worden, dem Benutzer ein Maximum an Unbequemlichkeit zu gewährleisten. Hinter Lauren befand sich ein Standspiegel, den sie mitgebracht hatte - ihre Version einer Präsentationsleinwand. Im Augenblick spiegelte er den Raum und die Menschen darin wider und sonst nichts. Jake hatte auf ihrem Schoß gesessen, war dann aber unruhig geworden, noch bevor sich die übrigen Wächter vollzählig versammelt hatten. Jetzt hockte er neben ihr auf dem Fußboden, meistenteils unter dem Tisch, wo er mit einem blauen Kugelschreiber, den sie in ihrer Tasche gehabt hatte, einen kleinen Stapel des Kartenpapiers der Wächter bemalte. Die Wächter saßen ihr gegenüber in zwei Reihen, die meisten mit grimmigem Gesichtsausdruck. June Bug Täte, ihre Schwester Louisa, George Mercer sowie Darlene Fullbright hatten die Plätze in der ersten Reihe belegt. Hinter ihnen saßen Terry Mayhew, Betty Kay Nye, Raymond Smetty und Pete. Heyr hatte seinen Posten innerhalb des Torspiegels bezogen und behielt für die Dauer der Sitzung die Bewegungen zwischen den Welten im Auge. Pete hatte den Wunsch geäußert, neben Lauren Platz nehmen zu dürfen, doch seine Bitte war von Eric abgelehnt worden. Heyr hatte ihr erklärt, dass er die Stadt dem Erdboden gleichmachen und die Wächter von Cap Creek in ihre Atome zerlegen würde, bevor er zuließ, dass man sie wegen Verrats anklagte oder die Todesstrafe über sie verhängte, und Lauren stellte fest, dass sie ihm glaubte. Heyr hatte die Wächter davon in Kenntnis gesetzt, dass er während ihres Verhörs das Tor beobachten würde. Sie waren nicht glücklich darüber gewesen, hatten aber einsehen müssen, dass er einer Naturgewalt gleichkam. Wenn er das Tor im Auge behalten wollte, konnte keiner der Wächter ihn daran hindern. 253 »Hast du irgendwelche Fragen, bevor wir anfangen?«, wollte Eric nun von Lauren wissen. »Ja«, gab sie zur Antwort. Sonst sagte sie nichts. Eric wartete einen Moment lang, dann fragte er: »Nun?« »Habt ihr euch vor meiner Ankunft näher mit dieser Angelegenheit beschäftigt, oder ist meine Vernehmung euer erster Schritt?« »Deine Vernehmung ist unser erster Schritt«, sagte Eric. »Nein, das stimmt nicht«, widersprach June Bug. »Ich habe mich in meiner freien Zeit mit dem Problem beschäftigt. Die Resultate werde ich im geeigneten Augenblick vorlegen.« Lauren sah Eric an und bemerkte einen Anflug von Verärgerung auf seinen Zügen, den er jedoch hastig überspielte. Nun, er durfte sich schließlich nicht anmerken lassen, dass er parteiisch war, oder? Sie hatte den Verdacht, dass er sie und Jake aus der Stadt haben wollte - das Mindeste, was ihm für sie vorschwebte, war eine Verbannung in eine Stadt, in der sie keine Tore schaffen konnte. Sie hielt ihn prinzipiell für einen guten Mann, aber er hatte nicht viel übrig für Menschen, die außerhalb der von behördlicher Autorität gesetzten Grenzen arbeiteten. Er teilte das Universum in zwei säuberlich voneinander getrennte Kategorien ein: Die Guten und die Bösen - die Guten befolgten das Gesetz und fügten sich der Autorität, und die Bösen taten genau das nicht. Und als er eine Zuneigung zu ihr entwickelt hatte, hatte sie ihn abgewiesen; außerdem hatte sie sich mit ihrer Arbeit weit von der Billigung oder der Überwachung durch die Autorität entfernt; und zu guter Letzt waren ihre Eltern von den Wächtern als Verräter verurteilt worden. Die Tatsache, dass sie ihm einmal das Leben gerettet hatte - das war etwas, das er auf keinen Fall in seine Gleichung mit einbeziehen würde. Die Tatsache jedoch, dass ihre Eltern ihre Befugnisse überschritten hatten - das war etwas, was er 254 keineswegs vergessen würde. Es gab Zeiten, da fiel es Lauren wahrhaftig nicht leicht, Eric zu mögen. Eric räusperte sich. »Ich eröffne die Vernehmung. Jeder kann Fragen stellen«, erklärte er. Raymond Smetty, der mit über der Brust überkreuzten Armen und schmalen Augen dasaß, machte den Anfang. »Du bist verantwortlich dafür, dass wir gestern beinahe allesamt getötet worden wären - du und deine Schwester, und mir fällt auf, dass sie nicht hier ist. Wie kannst du behaupten, etwas Gutes und Nützliches zu tun, wenn du uns damit alle in Lebensgefahr bringst?« An Eric gewandt fügte er hinzu: »Wir wissen doch bereits, dass sie schuldig ist. Warum verschwenden wir überhaupt unsere Zeit mit diesem Verhör?« Lauren stand auf. Der Stuhl bescherte ihr ohnehin mörderische Rückenschmerzen, und es ging ihr langsam auf
die Nerven, dass Eric höher saß als sie. »Ich werde es euch zeigen«, sagte sie. Sie legte eine Hand auf den Spiegel und tastete nach der Lebensmagie, die jetzt in die Erde hineinströmte. Sie wollten einen Beweis dafür, dass das, was sie bereits getan hatte, von Belang war. Sie sagte: »Mit meiner Arbeit zwischen dieser Welt und einer ganzen Anzahl unterer Welten habe ich Tunnel geschaffen, die aus den Welten unter unserer Lebensmagie zu uns hinaufziehen. Diese Magie habe ich für den Augenblick in Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte verankert, und es ist mir gelungen, einige alte Götter aufzuspüren, die sich in verschiedenen Welten unter der Erde versteckt gehalten oder einfach nur dort gelebt haben. Diese alten Götter sind bereit, bei der Wiederbelebung der Weltenkette mitzuwirken. Jetzt sind sie in der Nähe der Tunnelausgänge postiert, die ich geschaffen habe, und sie benutzen die Energie, die sie auf diese Weise erreicht, um Magie zu wirken.« Sie holte tief Luft. »Hier auf der Erde hat die Lebensmagie schon seit langer Zeit nicht mehr gut funktioniert.« 255 »Praktisch überhaupt nicht«, fiel Heyr ihr ins Wort. »Aufgrund der Knappheit von Lebensenergie waren die alten Götter praktisch gezwungen, beinahe wie Sterbliche zu leben - in der Zwischenzeit sind die dunklen Götter immer mächtiger geworden. Da sie nichts hatten, womit sie arbeiten konnten, wurden die alten Götter zur Zielscheibe für ihre Feinde. Sie mussten die Erde verlassen, und von der Magie blieb immer weniger übrig. Magie schafft Magie so wie sich Gleiches zu Gleichem gesellt.« »Du bist selbst ein alter Gott«, erklärte Eric hörbar gereizt. »Ich bin ein Unsterblicher«, beschied Heyr ihm. »Das ist ein gewaltiger Unterschied.« Lauren wandte sich wieder ihrer Präsentation zu. Sie fand, wonach sie suchte, in Porth yr Ogof, Fforest Fawr, Wales, in dem Tunnelausgang, den sie dort unter einer Höhle vergraben hatte. Die Lebensenergie hatte zuerst die Höhle durchdrungen und ein hübsches Heim für den alten Gott geschaffen, der sich bereit gefunden hatte, dort zu leben und mit der Magie zu arbeiten. »Welcher alte Gott?«, wollte Eric wissen. »Tarn Lin. Er kannte die Gegend und ist mit Freuden dorthin zurückgekehrt.« »Tarn Lin? Hat die Bevölkerung dort bereits angefangen, sich zu vermehren?«, fragte Heyr. Lauren drehte sich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck war geradezu komisch. »Es gibt jetzt eine Menge .... hm ... vom kleinen Volk dort. Und ein paar Feen.« »Ich sprach von der menschlichen Bevölkerung.« »Warum?« »Tarn Lin hatte in puncto Fruchtbarkeit einiges zu bieten. Er hat wilde Rosen um sein Haus herum ausgesät und gewartet, dass hübsche Jungfern vorbeikamen, um sie zu pflücken. Als Entschädigung für die gestohlenen Blumen 256 hat er die Mädchen anschließend verführt. Er ist wie deine Schwester, musst du wissen.« »Wie sie? Ich glaube nicht - Molly hat, soweit ich weiß, niemals junge Frauen verführt.« »Ich meine, dass er ihr in anderer Beziehung ähnelt - er ist halb von dieser Welt, halb von einer Welt weiter oben an der Weltenkette. Er verfügt über eine Menge Magie, aber die Erde ist sein eigentliches Zuhause.« »Das wusste ich nicht.« »Er würde es dir wohl auch kaum erzählen. Er hat es immer vorgezogen, seine Herkunft im Dunkeln zu lassen. Aber ich wette, ein Drittel der Kelten in der Region kann seine seherischen Gaben auf eine Liebelei seiner Urururururgroßmutter in Tarn Lins Rosengarten zurückführen.« Lauren seufzte. Es gab keine Einstellungsformulare für alte Götter. Außerdem standen sie nicht gerade Schlange, um ihr zu helfen. Sie hatte sie mühsam aufspüren und um ihre Unterstützung betteln müssen. Jetzt blickte sie wieder in ihren Spiegel. In seinem Glas konnten alle Anwesenden einige vom kleinen Volk sehen, die gerade mit etwas, das sie sich zweifellos »ausgeborgt« hatten, über einen Felsen huschten. In ein paar Jahren würden sie wieder allgegenwärtig sein, wenn die Magie sich in die bevölkerten Gebiete ausdehnte. Die Menschen würden die alten Sitten wieder erlernen müssen - die Dinge, die sie jahrelang als Aberglauben abgetan hatten, würden bald wieder sehr real werden. »Kleines Volk«, sagte sie und klinkte sich in den nächsten Tunnelausgang ein, den in West Virginia. Ein weißer Hirsch schlenderte durch einen Wald, eine winzige, zierliche Frau - von nichtmenschlicher Herkunft -schritt in einem grünen Gewand neben ihm einher. »He!«, rief Heyr. »Eine Holzelfe! Ich dachte, die wären ausgestorben.« 257 »Sie bereiten gerade ihr Comeback vor«, antwortete Lauren. »Sie sind ein wenig seltener als unsere bedrohtesten Tierarten, aber ich denke, sie werden es schaffen ... wenn ich meine Arbeit fortsetzen kann.« Lauren schwieg kurz, dann fügte sie hinzu: »Auch die Nunnehi sind wieder da. Das sind die alten Götter, die noch vor den Tscherokesen die Blue Ridge Mountains bewohnten. Und es kommt noch besser.« Sie legte eine Hand auf die Oberfläche des Spiegels und suchte nach ihrem Tunnelausgang in Georgia. Diesen hatte sie unter dem Grund eines Sees installiert, unter dem lang gezogenen, südlichen Arm des Blue Ridge Lake außerhalb von Blue Ridge in Georgia. »Meerjungfrauen?«, stieß Pete hervor.
Lauren drehte sich um und blickte in den Spiegel. In der Tat, am Ufer spielten drei Nixen. Sie hatte den Spiegel auf die stärkste Magie in diesem Gebiet gerichtet und war sich nicht sicher gewesen, was sie zu sehen bekommen würden. »Ich dachte, Meerjungfrauen gehörten ins Salzwasser«, bemerkte Betty Kay Nye, aber Lauren nahm ihr den Zwischenruf nicht übel - Betty Kay war nur deshalb verwirrt, weil die Meerjungfrauen nicht da aufgetaucht waren, wo sie sie erwartet hätte. Was bedeutete, dass das prinzipielle Auftauchen von Meerjungfrauen Betty Kay keineswegs überraschte. Was wiederum Betty Kay erheblich interessanter machte, als Lauren es erwartet hätte. Eric drehte sich zu ihr um. »Wie viele weitere solcher Orte gibt es noch?« »Ich habe bisher dreiundzwanzig Tunnel gemacht.« »Und an jedem Ausgang hast du einen alten Gott postiert, der Magie benutzt, um magische Geschöpfe zu erschaffen?« »Nein. Ich habe bisher erst fünf alte Götter finden können, die bereit waren, mit mir zusammenzuarbeiten. Drei 258 von ihnen haben darauf bestanden, am selben Ort zu bleiben. Tarn Lin war einer davon.« »Technisch gesehen - zumindest von eurer Warte aus -ist er eigentlich gar kein alter Gott«, sagte Heyr, aber Lauren tat diese terminologische Pedanterie mit einem Achselzucken ab. »Er ist seiner Aufgabe gewachsen. Wie dem auch sei ... Zwei der alten Götter suchen die nicht ständig besetzten Territorien der Tunnelausgänge abwechselnd auf, arbeiten mit der dort wachsenden Magie und ziehen dann weiter. Ich brauche mehr Hilfe, aber die alten Götter verstecken sich gern - und sie machen ihre Sache sehr gut.« »Wenn es anders wäre, wären die meisten von ihnen inzwischen tot«, sagte Heyr. »Es geht hier um mehr als nur um die Erde«, antwortete Lauren, »und es geht um mehr als nur uns Menschen.« Eine Hand auf dem Glas des Spiegels, tastete sie sich weiter vor. Sie folgte den Fäden, die sie gewoben hatte, nach oben, wo die Magie hässlich und abstoßend wurde, wo sie nur noch Tod und Zerstörung, Grauen und Schmerz spüren konnte. Auf der anderen Seite des Spiegels war sie nun mit Kerras verbunden. Mit geschlossenen Augen und auf der Suche nach dem einen durchgängigen Tunnel, den sie geschaffen hatte, dem kleinen Bollwerk der Lebensmagie, sagte sie: »Es geht auch darum, unsere Weltenkette wieder aufzubauen. Den Welten über der Erde neues Leben einzuhauchen, so dass wir nicht die nächste Welt sind, die sterben wird. Es geht darum, die Nachtwache aufzuhalten - sie sogar zu vernichten -, damit diese Welten leben können.« Jetzt hatte sie ihren Tunnel gefunden; die Lebensmagie war strahlender und stärker, als sie erwartet hatte. »Das ist Kerras«, sagte sie an die anderen Wächter gewandt. »Dort gibt es noch nichts zu sehen, weil ich noch keinen alten Gott gefunden habe, der den Zorn der Nachtwache riskiert hätte, 259 um dorthin zu gehen und die Magie zu benutzen, aber selbst in ihrer rohen Form fließt die Magie die Kette hinunter zu uns zurück.« »Wovon redest du da eigentlich?«, fragte June Bug. Sie war die Wächterin, von der Lauren geglaubt hatte, dass sie sie am ehesten für sich gewinnen konnte, aber June Bug sah sie verärgert an. »Ich habe auf Kerras einen Tunnelausgang geschaffen, aus dem Lebensmagie strömt. Dieselbe Art von Verbindung, die ich von den unteren Welten zur Erde aufgebaut habe - nun ja, ich habe eine solche Verbindung auch zu der ersten Welt über der unseren geschaffen. Ich kann natürlich noch höher hinaufgehen, aber das ist im Augenblick sehr schwierig. Ich kann keine Welt überspringen.« »Das meine ich nicht«, sagte June Bug. »Wenn das Kerras ist und du noch niemanden aus einer der oberen Welten gefunden hast, der dort hinziehen und die Magie benutzen will, warum zeigst du uns dann Bilder von einer Landschaft und einem See und Sauriern? Was zeigst du uns da eigentlich?« Lauren drehte sich um und starrte das Bild unter ihrer Hand an. Was sie vor sich sah, war kein geschwärztes, totes Gestein mit einer Kruste aus Eis, sondern eine Welt voller Leben und Schönheit. Es war eine Welt, die sie noch nie gesehen hatte - hohe Gräser von einem so leuchtenden Blaugrün, dass sie schon beinahe künstlich wirkten; eine Herde kleiner, gestreifter, dinosaurierähnlicher Grasfresser, die über die Ebene zog; ein großer, funkelnder See, blau und in der Mitte schwarz, tief und so klar wie ein kostbarer Kristall; riesige Insekten, kleine Vögel, Bäume, die uralt zu sein schienen. Und auf einem hohen Felsen lag schlafend, die Nase zwischen Rumpf und Flügeln geborgen, ein riesenhaftes Geschöpf. Es war tiefschwarz und hatte große Ähnlichkeit mit einem Drachen. Oder einem Rrön. 260 Lauren zog sich hastig zurück, und das Bild im Spiegel verblasste, bis die lebendige Welt auf Kerras die ersten Ränder zeigte, sich dann zu einem perfekten Kreis zusammenzog und schließlich nur mehr ein leuchtender Punkt auf der schwarzen Schlacke des Planeten war. Die einzigen Rrön, denen sie je begegnet war, waren dunkle Götter gewesen. Die dunklen Götter hätten allerdings keine Enklave von Leben auf Kerras geschaffen - aber Lauren musste davon ausgehen, dass ein alter Rrön-Gott ebenso gefährlich war wie ein dunkler Rrön-Gott. Zumindest, wenn man ihn störte. Sie drehte sich zu den Wächtern um. »Ich weiß nicht, wer - oder was - das war. Und ich möchte es nicht wecken.« »Ich melde mich freiwillig«, sagte Pete. Er schenkte ihr ein aufmunterndes kleines Lächeln. Lauren war weniger selbstsicher. »Ich habe etwas gezeugt, das ohnehin nach Kerras gehen wollte und das bei
seiner Ankunft dort Lebensmagie vorfand und beschloss, sie zu nutzen.« »Ein dunkler Gott hätte deinen Tunnel zerstört.« Lauren nickte. »Oder hätte es jedenfalls versucht. Ich habe meine Tunnel und ihre Ausgänge sehr stabil gemacht, und ich habe sie gut versteckt. Aber ich will damit nicht sagen, dass ein dunkler Gott die Magie entdeckt hat. Ich sage nur, dass das, was die Lebensmagie dort entdeckt hat und sie benutzt, nicht zwangsläufig ... gut sein muss. Ich habe nach einem alten Gott gesucht, der Kerras wieder zu dem machen würde, was es einmal gewesen ist dieselbe Landschaft, dieselben Tiere und Pflanzen, alles, was früher einmal dort existiert hat. Wir müssen die Welt den überlebenden Kerranern zurückgeben.« »Aber das wäre wohl das Problem der Kerraner, nicht wahr?«, warf Eric ein. »Warum?«, fragte Lauren. »Sie können ihre Welt ohne 261 Magie ebenso wenig wieder aufbauen wie wir unsere. Die Regeln haben sich nicht geändert - es handelt sich nicht um eine neue Art von Magie. Als Nächstes muss ich mich auf die Suche nach einigen alten Göttern mit einer selbstlosen Neigung machen - nach solchen, die bereit sind, auf einer Welt zu arbeiten, die nicht die ihre ist. Sie müssten das Wissen ertragen können, dass sie vielleicht unter furchtbaren Gefahren fremde Welten wiederbeleben, es uns aber vielleicht niemals gelingen wird, ihren eigenen Welten neues Leben einzuhauchen. Das ist keine leichte Aufgabe.« »Es gibt noch andere Möglichkeiten«, murmelte Heyr. Und Raymond sagte: »Und ob es die gibt. Wir haben alle notwendigen Beweise, um zu belegen, dass Lauren gegen die Befehle des Rats und die Gesetze der Wächter verstoßen hat. Wir haben sichere Beweise dafür, dass sie eine Verräterin ist. Also würde ich sagen, das war's. Wir stimmen jetzt über ihre Verurteilung ab, sperren sie ein und schicken sie zur Verhandlung vor den Rat.« »Es gibt Leben auf Kerras«, fuhr Lauren unbeirrt fort. »Es mag nicht die richtige Art von Leben sein, aber ich vermute, dass sich das korrigieren lässt. Aber für den Augenblick bekommt die Erde zum ersten Mal, seit Kerras in Flammen aufging, einen natürlichen Zustrom von Lebensenergie aus der Welt über uns. Es mag noch nicht viel sein, aber es ist da, und es ist real, und es wird das, was ich mit harter Arbeit aus den unteren Welten heraufhole, vermehren. Nur dass ich in diesem Fall nichts dazu tun kann, um diese Magie auf die Erde zu bekommen.« Die meisten der Wächter sahen Lauren jetzt anders an als zu Beginn des Verhörs. Lauren vermutete, dass June Bug fest auf ihrer Seite stand. Louisa - nein. Nichts, was Lauren tun konnte, würde Louisas Meinung über sie ändern. Dasselbe galt für Raymond, dessen Widerwille gegen sie so deutlich war, dass nicht einmal die harmloseste Na262 tur ihn hätte übersehen können. George machte den Eindruck, als könne sie ihn vielleicht für ihre Sache gewinnen. Darlene sah so aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Terry ... nun ja, wenn Terry auch nur einmal für eine Sekunde aufgehört hätte, Betty Kays Brüste anzustarren, hätte Lauren vielleicht herausfinden können, in welche Richtung er tendierte. Betty Kay wirkte erregt. Pete zählte nicht - sie wusste bereits, wo er stand, und dasselbe galt für alle anderen. Sie musste sich umdrehen, um Eric anzusehen. Sein Gesicht verriet nichts - aber andererseits tat es das fast nie. Eine sehr lange Zeit verstrich, während Lauren einfach nur dastand und ihn ansah. »Gibt es sonst noch etwas, das du uns zeigen möchtest?«, fragte Eric endlich. »Nein.« »Gibt es noch irgendetwas, das du uns mitteilen willst, bevor wir unsere Fragen wieder aufnehmen?« Lauren holte tief Luft. »Ja. Meine Eltern sind für diese Sache gestorben. Es war ihr Werk, ihre Idee, ihr Kampf. Wenn ihr zu dem Schluss kommt, dass ich mit meinem Tun keinen Verrat an den Wächtern und ihren Zielen begangen habe, dann möchte ich, dass ihr anerkennt, dass auch meine Mutter und mein Vater keine Verräter waren. Dass die Wächter Unrecht getan haben, als sie sie töteten.« »Eine offizielle Erklärung dieser Art müsste vom Rat kommen«, erwiderte Eric. »Und ich bin mir nicht sicher, wie der Rat zu dem Thema stehen wird, ganz gleich, zu welcher Entscheidung wir kommen.« »Ich bitte nicht um eine offizielle Rehabilitation. Meine Bitte richtet sich lediglich an euch, die ihr jetzt in diesem Raum zugegen seid. Wenn ihr zu dem Schluss kommt, dass es richtig ist, was ich tue, dann solltet ihr gleichzeitig feststellen, dass auch meine Eltern im Recht waren. Die Mei263 nung des Rats interessiert mich nicht. Aber dein Vater, Eric, war unmittelbar an der Ermordung meiner Eltern beteiligt. Auch andere Mitglieder deiner Familie waren daran beteiligt. Es ist mir wichtig, dass der Name meiner Eltern reingewaschen wird, zumindest bei den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite.« Lauren hörte Raymond murmeln: »Das dürfte nicht mehr lange der Fall sein.« Aber er sagte es nicht laut, und keiner der anderen Wächter schien es gehört zu haben. Nach einer kurzen Bedenkzeit nickte Eric. »Wir werden das im Kopf behalten«, sagte er, bevor er sich wieder an die Wächter wandte. »Es können weitere Fragen gestellt werden.« Sie hatte noch nicht gewonnen - das konnte sie in ihren Gesichtern lesen. Aber sie glaubte, dass sie eine gute Chance hatte.
Weiße Feste, Ayem, Oria Molly trat durch einen Spiegel in den Hohen Palast der Weißen Feste, wo man sich gerade mitten in heiklen Verhandlungen befand. Sie wusste genau, wie kritisch die Situation war, denn sie hatte die Beteiligten seit einiger Zeit ausspioniert. Die Tradona von der Weißen Feste waren im Begriff, ein Geschäft mit einem Teufel abzuschließen, den sie nicht kannten. Aber MoUy kannte ihn - zwar nicht persönlich, doch sie wusste zumindest, was er war. Sie trat durch das grüne Feuer in einen Raum aus weißem Marmor, das Schwert bereits gezückt, und mit einem einzigen sauberen Hieb trennte sie der Kreatur den Kopf ab, die dem Hellen gegenüber am Tisch saß. Der Helle war der offizielle Sprecher der Tradona von der Weißen Feste. Er sprang kreischend von seinem Stuhl auf - ein kleines, pel264 ziges Geschöpf mit einem wahnsinnigen, äffischen Heulen -, als Blut ihn und seinen Schreibtisch bespritzte und auf dem Papier zu zischen und zu brodeln begann. Der Leichnam in dem Sessel kippte auf den Boden, direkt neben den Kopf, während der Helle sich rückwärts in eine Ecke manövrierte und, immer noch kreischend, versuchte, in einer massiven Marmorwand zu verschwinden - erfolglos. Molly wartete einen Moment, und das Wesen, das zu Lebzeiten als Tarnung die äußere Gestalt eines Faolshe angenommen hatte - der grauhäutigen, langarmigen der vier intelligenten Arten, die auf Oria heimisch waren -, schien zu schmelzen. Die Kreatur auf dem Fußboden stammte ganz sicher nicht von Oria, eine Tatsache, die dem in hilfloser Panik gefangenen Sprecher seines Volkes nun offenbar wurde. Der Leichnam zuckte und veränderte sich, dehnte sich aus, bis er deutlich über zwei Meter groß war und muskelbepackt. »Ein dunkler Gott«, sagte Molly zum Hellen und zeigte mit ihrer Klinge auf den Leichnam. »Du warst gerade im Begriff, ein Abkommen zu unterzeichnen, mit dem du das Leben deines Volkes gegen irgendwelche Gerätschaften eingetauscht hättest.« »Ich kenne ihn seit Jahren«, flüsterte der Helle, dessen Augen riesig und rund waren. »Nicht so gut, wie du geglaubt hast. Du hast ihm bereits sehr viel verschrieben, nicht wahr?« »Er war ... klug. Er hat Dinge geschaffen - eine Kugel, die leuchtet, wenn man an einer Kette zieht, und in der das Feuer so eingeschlossen ist, dass keine Verbrennung dadurch droht. Eine sehr schöne Dampfmaschine, die wir für Transportmittel verwenden können, mit denen wir zu Lande schneller zu reisen vermögen als zu Pferde und auf See schneller als mit einem Segelschiff. Ein Dreschapparat, der 265 unermüdlich die Spreu vom Weizen trennt, so dass unsere Leute anderes und Besseres tun können.« Er warf ihr einen angsterfüllten Blick zu. »Das alles ist böse?« Molly sah ihn an und holte tief Atem. »Nein. Technologie ist nicht böse. Sie ist auch nicht gut. Sie ist einfach wie Feuer. Man kann Feuer benutzen, um sich zu wärmen oder um sein Haus niederzubrennen.« Sie kniete auf den Boden und legte die Hände über den Leib des toten Gottes, um mithilfe ihrer Magie nach den Auferstehungsringen zu suchen. Dieser Teil ihrer Pflichten war ihr zutiefst verhasst. Aber wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hatte sie auch für alle anderen Teile ihrer Aufgabe nichts übrig. Zu töten, auch wenn es sich nicht um echtes Leben handelte, die Leichname zu verbrennen, die Auferstehungsringe zu vernichten und zu versuchen, dabei nicht zu sterben. Wer hätte sich auf diese Stellenbeschreibung schon beworben? In diesem Augenblick kamen die Wachen des Hellen, die anscheinend ein wenig langsam reagierten, durch die Türen gestürzt und zückten ihre Schwerter. Molly sah sie an, sagte: »Ihr habt aber lange gebraucht« und wandte sich wieder dem dunklen Gott zu. Er gehörte zu einer Art, die sie noch nie gesehen hatte. »Senkt die Waffen«, befahl der Helle. »Die Vodi hat das Problem bereits behoben.« Die Wachen sahen Molly abermals an und spießten einander beinahe auf, so eilig hatten sie es, ihre Schwerter in die Scheide zu schieben. Es war eindeutig ein gesellschaftlicher Fauxpas, eine Waffe gegen die Vodi zu richten. Der Helle fragte Molly: »Warum hat diese Kreatur da sich als mein Verbündeter ausgegeben? Die dunklen Götter brauchen uns nicht. Sie können sich nehmen, was immer sie wollen, ohne einen Tauschhandel anzubieten.« Molly betrachtete ihn nachdenklich. »Du kannst den dunklen Göttern von größerem Nutzen sein, wenn dein 266 Volk wächst, wenn deine Zivilisation komplexer wird und wenn sich deine Technologie im gleichen Maße verfeinert. Je besser eine Rasse zum Krieg gerüstet ist, umso größer ist der Nutzen, den sie für die dunklen Götter haben kann.« Sie schenkte ihm ein trauriges kleines Lächeln. »Aber eine Dampfmaschine ist keine Kriegswaffe, ebenso wenig wie ein Mähdrescher.« Molly hockte sich vor ihm auf den Boden und sah ihn an. »Wenn du in Zeiten der Not vom Meer aus angegriffen würdest, könntest du dann nicht eine Möglichkeit ersinnen, diese Dampfmaschine zu einer Waffe umzurüsten, die dir einen Vorteil verschaffen würde?« Der Helle kam aus seiner Ecke heraus und trat auf Molly zu. Sein Fell und seine kunstvollen Roben waren mit dem Blut eines Feindes besudelt, der nicht nur ihn, sondern seine ganze Welt tot sehen wollte. »Natürlich könnten wir das tun«, sagte er. »Techniken, die zur Konstruktion einer mechanischen Vorrichtung
erlernt wurden, lassen sich leicht für die Zwecke von einem Dutzend oder hundert anders gearteten Vorrichtungen nutzen. Deshalb war ich auch bereit, so einen hohen Preis für das Arbeitsmodell von Ruhe Langsam Sohn von Gefallen im Kampf zu zahlen. Ich hatte die Absicht, das Gerät von unseren Handwerkern auseinander nehmen und seine Arbeitsweise ermitteln zu lassen.« »Natürlich. Und deshalb arbeiten die dunklen Götter lieber mit dir als mit den Veyär zum Beispiel. Oder mit den Goroths. Du und dein Volk, ihr seid immer auf der Suche nach Verbesserungen.« »Und ist das eine schlechte Sache?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Es ist einfach eine Sache. Wie Technologie. Wie Feuer. Die Suche nach besseren Methoden bewirkt Veränderung, und jede Veränderung ist eine Chance, die von feindlichen Kräften ausgebeutet wer267 den kann. Die Veyär verändern sich nicht, daher sind sie für die dunklen Götter nutzlos. Sie dienen ihnen lediglich als Quelle für Land und Körper. Dein Volk - es verändert sich. Mit einem solchen Volk können sie arbeiten.« »Was bedeutet, dass mein Volk und ich ... schlecht sind.« Er sah sie bekümmert an. Molly griff in den Körper des dunklen Gottes hinein, und ihre Finger erstrahlten im Feuer des Universums, als sie erst einen Auferstehungsring herauszog, dann einen zweiten und schließlich einen dritten. Das Gold glitzerte in ihrer Hand, von der das Blut des dunklen Gottes auf den Fußboden tropfte. Der Gestank des Leichnams und die frische Erinnerung an die Berührung seiner Eingeweide ließ Molly würgen. Sie schloss die Augen, um die Übelkeit niederzukämpfen, und atmete ein paar Sekunden lang flach durch den Mund. Als sie sicher war, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte, erhob sie sich und wandte sich den Wachen zu. »Ihr könnt den Körper jetzt verbrennen.« Die Wachen verbeugten sich vor ihr und beeilten sich, die Leichenteile fortzuschaffen. Molly wartete, bis sie den Raum verlassen hatten, dann drehte sie sich wieder zu dem Hellen um. »Du fährst voll auf diese ganze Sache mit Gut und Böse ab, nicht wahr?« »Abfahren?« Molly hörte ihre eigenen Worte in seiner Sprache, hatte aber das ihr vertraute Englisch gesprochen - und die Magie, die es ihr ermöglichte, die Geschöpfe aus den unteren Welten zu verstehen und sich ihnen verständlich zu machen, ganz gleich, welche Sprache sie sprachen, war an einer nicht untypischen Schwierigkeit gescheitert. Der Helle hatte keine Vorstellung davon, was »auf etwas abfahren« bedeutete - daher konnte er ihre Bemerkung nur wörtlich verstehen. Und wörtlich genommen ergab sie keinen Sinn. 268 Sie seufzte. »Für dich teilt sich die Welt in Dinge auf, die gut sind, und in solche, die böse sind.« »Das liegt daran, dass die Welt eben so ist«, sagte der Helle. »Ich bin der Sprecher meines Volkes, der Meister der Weißen Feste, der Stadt des Lichtes. Ich bin der Helle - die Personifizierung von allem, was unter dem Licht der Sonne existiert. Es ist meine Pflicht, für mein Volk all das zu finden, was im Licht gut ist, und es meinen Leuten zu bringen. Ebenso ist es meine Pflicht, alles aufzudecken, was böse ist unter dem Licht, und ihm ein Ende zu machen. Dazu wurde ich geboren, dafür habe ich gelebt. Du hast auch die beiden kennen gelernt, die meinesgleichen sind, den Dunklen und den Tiefen. Sie verwalten die beiden anderen großen Städte der Tradoner, und sie sind, was ich bin - der Tiefe ist der Sprecher der seefahrenden Tradoner, und der Dunkle vertritt jene, die die tiefen Orte Orias erforschen und das Licht der Sonne nicht kennen. Wenn wir nicht ergründen, was gut ist und was böse ist, dann haben wir unserem Volk gegenüber versagt.« Er ließ den Kopf hängen. »So wie ich versagt habe.« »Du hast nicht versagt«, widersprach Molly. Sie reinigte ihre Klinge, schob sie wieder in die Scheide und sah den Hellen einen Moment lang an. »Ihr drei hattet nicht viel übrig für mich, als wir uns damals kennen lernten«, sagte sie. »Ihr habt daran gezweifelt, dass ich die wahre Vodi sein könnte.« »Ich erinnere mich. Ich war offensichtlich im Irrtum.« »Das warst du nicht. Wenn eine Vodi jemand ist, der gut ist, jemand, der kommt, um zu heilen, zu nähren und zu trösten, dann bin ich keine Vodi.« Er sah sie an. »Du trägst die Vodi-Kette.« »Das weiß ich.« »Aber du behauptest, du seiest nicht die Vodi. Was bist du dann?« 269 »Ich bin eine Jägerin. Eine Mörderin, eine Zerstörerin.« Sie seufzte. »Ich bin der Tod des Todes, jedenfalls in kleinerem Umfang. Ich jage die dunklen Götter und vernichte sie, und ich sorge dafür, dass sie nicht zurückkehren können. Ich bin ein nützliches Werkzeug, auf dieselbe Weise geschaffen wie die Ungeheuer, die ich jage.« »Aber du bist gut. Und sie sind böse.« Molly lächelte schwach. »Genau darauf wollte ich hinaus. Nicht die Dinge selbst sind gut oder böse, sondern die Art, wie man die Dinge benutzt. Ein Geschöpf - welcher Art es auch sein mag - ist nicht von Natur aus böse oder gut; es hat die Wahl, böse Dinge oder gute Dinge zu tun. Es kann selbst wählen, was es sein will, gut oder böse. Aber jedes böse Geschöpf kann zu jeder Zeit die Entscheidung treffen, etwas Gutes zu tun, genauso wie jedes
gute Geschöpf etwas Böses zu tun vermag.« »Das ist nicht die Art und Weise, wie ich gelernt habe, die Welt zu sehen.« »Ich weiß. Ich sage dir das nur, weil... nun ja ... hör nicht auf, nach dem besseren Weg zu suchen. Ihr dürft die Technologie nicht ächten oder euch vor dem Fortschritt verstecken. Ich weiß, dass du die Macht hast, dafür zu sorgen, dass dein ganzes Volk wieder in einer Stadt lebt, die nur von Feuern erhellt wird, nur noch Wagen benutzt, die von Pferden gezogen werden, und nur noch Korn isst, das von Hand gedroschen wurde.« Molly trat auf ihn zu und ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder, so dass sie auf gleicher Augenhöhe waren. »Und ich habe in dir den plötzlichen Drang gesehen, in Zukunft die Dinge zu meiden, die dir bisher so erstrebenswert schienen. Tu das nicht. Wende dich nicht von Errungenschaften ab, die Gutes bringen, nur weil sie auch für das Böse benutzt werden können. Sei einfach nur wachsam. Nicht jeder, der sich als dein Freund ausgibt, ist ein Freund. Die größten Feinde, die dir gegenüberstehen, 270 nähren sich von Tod und Zerstörung - und es schert sie nicht, ob du gewinnst oder verlierst, solange nur irgendjemand dabei stirbt.« Eine der Wachen kam wieder herein. »Der Leichnam brennt. Möchtest du zusehen?« »Nein«, sagte sie. »Ich habe, was ich brauche. Ich muss ... weiter.« Molly ließ den Hellen tief in Gedanken versunken in seinem Versammlungssaal zurück; dann ging sie allein gewundene Korridore und Treppen hinunter und verließ die runde, weiße, steinerne Stadt. Ich tue meine Arbeit, sagte sie sich. Ich ziehe weiter. Dies ist jetzt mein Leben - mein ganzes Leben. Jagen, töten, zerstören. Es ist besser so. Seolar wird besser zurechtkommen, wenn er nicht zusehen muss, wie ich langsam verblasse, und ich werde in Frieden verblassen können, ohne ständig daran erinnert zu werden, dass ich mich selbst verliere - dass ich einmal so viel mehr war, als ich jetzt bin. Die Auferstehungsringe des dunklen Gottes klimperten bei jedem Schritt, den sie machte, in ihrer Tasche und summten an ihrer Hüfte. Sie sprachen zu ihr in Liedern von Verfall und Lust und orgiastischen Festmahlen. Sie konnte das Lied der Ringe so deutlich hören, wie sie den Ruf der Dunkelheit selbst hörte. Sie konnte die Ringe reinigen. Sie für sich selbst fordern. Konnte stärker und gefährlicher werden. Sie beschleunigte ihren Schritt und zwang sich, die Verführung des Rufes zu ignorieren. »Es ist besser so«, murmelte sie. 15 Der Blumenladen, Cat Creek Eric sagte: »Wenn es keine weiteren Fragen gibt, Lauren, dann müsst ihr beide, du und Jake, jetzt für einen Moment den Raum verlassen.« Pete sah Heyr an - einer von ihnen musste mit Lauren gehen, um dafür zu sorgen, dass ihr nichts zustieß, und der andere musste bleiben und versuchen, die Abstimmung zu beeinflussen. Heyr bemerkte seinen Blick, trat aus dem Spiegel und schloss das Tor hinter sich. »Das Tor muss offen bleiben«, verlangte Eric, und Heyr grinste. »Ich weiß. Und sobald ihr abgestimmt habt, werden entweder eure Torweberin oder ich das Tor für euch wieder aufbauen.« Heyr ersparte sich den Hinweis, dass nur zwei der Anwesenden dazu in der Lage waren: er und Lauren. Ebenso wenig sprach er aus, dass er fest auf Laurens Seite stand. Das war auch nicht nötig. Es war eine Art sanfter Druck, den er auf diese Weise auf die anderen Wächter ausübte, und Pete gefiel seine Vorgehensweise. Die Wächter brauchten Lauren - sie brauchten sie viel dringender, als Lauren die Wächter brauchte. Allerdings, so vermutete Pete, war auch Lauren anscheinend ziemlich stark von ihren Gefährten abhängig. »Ich finde nicht, dass Pete hier bleiben sollte, da er in die Sache verwickelt ist und mit Lauren zusammengearbeitet hat«, erklärte Raymond. Pete ergötzte sich für einige Sekunden an der Vorstellung, das FBI einen kleinen Hintergrundcheck bei Raymond vornehmen zu lassen; vielleicht konnte 272 er seine Kollegen bitten, sich Raymonds persönliches Leben mal mit einem Mikroskop und einer Pinzette vorzunehmen, nur um festzustellen, was dabei herauskommen würde. Aber Eric bestimmte: »Pete bleibt. Ich bin mir nicht sicher, ob er mit abstimmen kann, aber er bleibt.« Kleine Triumphe. »Wirst du eine Abstimmung verlangen?«, fragte June Bug. Eric zuckte die Achseln. »Hat irgendjemand noch irgendetwas zu dem Ganzen zu sagen - etwas, das wir nicht schon bereits gehört haben?«, fragte er und sah dabei direkt zu Raymond hinüber. Nun ergriff Louisa das Wort. »Er spricht nur das aus, was viele von uns denken. Sie ist nicht gut für die Wächter, ganz gleich, was wir sonst noch entscheiden sollten, und das absolute Minimum, was wir verlangen können, ist ihre Verbannung aus Cat Creek.« »Wir werden gleich herausfinden, wie viele von uns dieser Ansicht sind, Louisa«, unterbrach Eric sie. »Versuch nicht, uns deine Meinung als die einzig mögliche aufzudrängen.« Betty Kay sah Eric an; sie hatte die Hände auf dem Schoß verschränkt. »Ich würde wirklich gern hören, was du denkst. Du bist der Einzige hier, der bisher noch gar nichts gesagt hat.« »Es steht mir nicht an, etwas zu sagen.« Eric stützte sich auf die Ecke des schweren Eichentischs. »Aber da du
schon mal gefragt hast, möchte ich euch meine Meinung zu den verschiedenen Dingen darlegen. Lauren arbeitet weit außerhalb des Mandats der Wächter und hat das auch schon seit längerer Zeit getan. Ich kann es nicht leugnen, ihr könnt es nicht leugnen, und sie hat gar nicht versucht, es zu leugnen. Das wäre also ein Punkt gegen sie.« Er hob einen Finger. »Was sie tut, ist verdammt riskant, und sie bringt Cat 273 Creek damit unmittelbar ins Kreuzfeuer von Mächten, die uns im Kampf weit überlegen sind. Und die sehr hässlich sind. Das ist der zweite Punkt, der gegen sie spricht.« Er hob einen weiteren Finger. »Die Wächter von Cat Creek sind nur semi-autonom, und bei wirklich großen Ereignissen sind wir verpflichtet, dem Rat mitzuteilen, womit wir es zu tun haben - und ich gehe jede Wette ein, dass dem Rat der Arsch auf Grundeis gehen wird, wenn er von dieser Geschichte erfährt, bitte meine Ausdrucksweise zu verzeihen.« Er nickte Darlene zu, die neben ihrer Aversion gegen das Rauchen auch noch die Neigung hatte, Sprachpolizei zu spielen und unflätige Ausdrücke als persönliche Kränkung zu betrachten. Darlene, dachte Pete, müsste dringend mal wieder flachgelegt werden. Und genau das würde ihr wahrscheinlich niemals passieren, wenn sie sich weiter so zickig gebärdete. »Wenn wir uns also auf diese Geschichte einlassen, müssen wir es ohne jede Genehmigung tun. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht erinnern, wann das letzte Mal eine ganze Gruppe einen Alleingang unternommen hat und dafür getadelt worden ist.« Er seufzte. »Das wäre der dritte Punkt, und zwar ein sehr wichtiger.« »Woher wollt ihr wissen, dass der Rat nicht begeistert sein wird, wenn er erfährt, dass es wieder Leben auf Kerras gibt?«, fragte Pete. »Ich weiß es nicht. Aber der Rat hat sich meines Wissens nach nie zugunsten einer Innovation ausgesprochen. Das Ziel der Wächter hat darin bestanden, Veränderungen zu verhindern, am Status quo festzuhalten und dafür zu sorgen, dass die Dinge stabil blieben.« »Eine ausschließlich auf Verteidigung ausgerichtete Strategie führt zwangsläufig zu einer Niederlage. Man kann keinen Krieg gewinnen, ohne Territorium zurückzuerobern«, entgegnete Pete. 274 Raymond beugte sich vor, um ihn höhnisch anzusehen. »Vielen Dank, General Patton. Aber wie Eric bereits bemerkte, haben wir einen Job zu erledigen. Dies ist nicht unser Job. Ich denke, die ganze Angelegenheit ist so simpel und offensichtlich - und ich denke, Eric hat die Gründe, warum wir an dieser Aktion keinen Anteil haben dürfen, bestens umrissen. Ich werde mich ihm bei der Abstimmung anschließen.« »Ich war noch nicht fertig«, sagte Eric nachsichtig. Raymond erstarrte wie ein Hirsch im Scheinwerferlicht. Es war direkt komisch, das mit anzusehen. »Dies sind meine drei Argumente gegen Lauren und das, was sie tut. Hier kommen nun meine Argumente zu ihren Gunsten.« Er blickte von Raymond zu Louisa hinüber und dann wieder zu Raymond, um schließlich die übrigen Wächter einen nach dem anderen anzusehen. »Ja, ich habe tatsächlich Argumente zu ihren Gunsten aufzuführen.« »Das erste lautet, dass das, was Lauren tut, tatsächlich funktioniert. Ihr habt Leben auf Kerras gesehen. Ihr habt Magie, die hier funktioniert. Gegenwärtig ist die Lebensmagie, die hier hereinkommt, auf winzige Gebiete in unbevölkerten Regionen begrenzt, aber sie breitet sich aus. Zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren - oder vielleicht noch länger - werden die Dinge hier auf der Erde besser statt schlechter. Und wir können einen Finger auf den genauen Grund legen, auf die genaue Quelle der Verbesserung, und das ist Lauren. Also, ein Argument zugunsten von Lauren. Sie tut etwas, das Dinge in Bewegung bringt, etwas, das wichtig ist.« Er hob einen Finger seiner anderen Hand. »Als Nächstes hat sie jeden Grund, ihre Arbeit geheim zu halten und uns allen zu misstrauen, und gleichzeitig hat sie jeden Grund, das Risiko einzugehen, das sie eingeht. Wenn einer von euch wüsste, wie er unsere Welt und alle Menschen darauf retten könnte, einschließlich seines eigenen Kindes, 275 würde er es dann nicht tun? Ich würde es tun, oder zumindest möchte ich gern glauben, dass ich es tun würde. Und wenn ihr dann annehmen müsstet, die Menschen, die euch eigentlich dabei helfen und beschützen sollten, würden stattdessen nach einer Möglichkeit suchen, euch wegen eurer Arbeit zu töten, würdet ihr euer Tun dann nicht vor ihnen verbergen? Ich würde es tun. Das wären dann schon zwei Argumente zu ihren Gunsten.« Er hielt inne und hob noch einen Finger. »Genau betrachtet, wären es eigentlich schon drei. Ich verstehe, dass sie sich dafür entschieden hat, etwas zu unternehmen. Und ich verstehe, warum sie ihre Taten geheim gehalten hat.« Er blickte auf seine Hände hinab; an jeder hatte er drei Finger erhoben. Ein Unentschieden, dachte Pete. Ein einzigartig nutzloses Unentschieden. Und dann holte Eric tief Luft. »Es bleibt die Frage der Beteiligung der Wächter an dem, was sie tut.« Er schüttelte den Kopf. »Wo immer sie sich aufhält, wird es Probleme geben. Aber ich bin nicht der Meinung, dass wir in dieser Sache das Sankt-Florians-Prinzip anwenden sollten.« »Sankt-Florians-Prinzip?«, fragte Pete. »Ich bitt dich, heiliger Florian, verschon mein Haus, zünd andere an.« Eric lehnte sich zurück und sah die Wächter der Reihe nach noch einmal an. »Ein beliebtes Prinzip, wenn es um Dinge geht, die gebraucht werden, die aber niemand in seinem Vorgarten haben möchte, also Kraftwerke, Müllverbrennungsanlagen, Gefängnisse und Irrenhäuser. Ich denke, es wäre falsch, Lauren wegzuschicken. Ich denke, genauso falsch wäre es, sie die ganze Arbeit allein tun zu lassen. Ich denke, wir müssen uns fragen: >Wenn nicht ich, wer dann? Wenn nicht
jetzt, wann dann?<« Er erhob sich wieder und schob die Daumen in die Taschen seiner Uniformhose. »Dies ist unsere Stunde, denke ich. Heute, wo überall um uns herum Krieg tobt und wir zum ersten 276 Mal eine Strategie vor uns sehen, die uns zum Sieg führen kann, heute sind wir dazu aufgerufen, das Unsere zu tun. Und wir können entweder kämpfen oder weglaufen.« Seine Stimme war jetzt sehr leise. »Ich bin ein Südstaatler«, fügte er hinzu. »Also«, sagte Louisa, »du bist dafür, dass die Wächter von Cat Creek gegen alle Regeln verstoßen sollen?« Eric zuckte ein wenig zusammen angesichts der Art, wie sie die Frage formulierte, antwortete jedoch: »Ich sehe nicht, dass wir eine andere Wahl hätten. Ebenso wenig, wie Lauren eine andere Wahl hatte, als sie sich dafür entschied, so zu handeln, wie sie gehandelt hat. Wir müssen tun, was richtig ist. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig.« »Dann wirst du uns also nicht abstimmen lassen? Du wirst uns einfach vorschreiben, wie wir in dieser Angelegenheit zu handeln haben?«, fragte Louisa. Pete gefiel diese Idee, aber Eric schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn wir das tun, dann müssen wir es alle tun, und wir alle müssen diese Entscheidung bejahen. Wir können niemanden in der Gruppe gebrauchen, von dem wir nicht mit Sicherheit wissen, dass er hinter uns steht denn wenn wir das tun, könnten wir uns nur noch auf uns selbst verlassen, auf niemanden sonst.« »Dann ist eine Abstimmung überflüssig«, erklärte Raymond. »Denn nichts, was du sagen kannst, wird mich davon überzeugen, dass es richtig ist, gegen die Regeln des Rats zu verstoßen. Es ist nicht richtig - das weiß ich, und im tiefsten Innern wisst ihr es auch.« »Nicht einmal, um diese Welt und all ihre Bewohner zu retten, Raymond?« Raymond verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn es wirklich die Existenz der Erde ist, die hier auf dem Spiel steht, dann kannst du die Angelegenheit ohne weiteres dem Rat vorlegen.« 277 »Dieses Risiko können wir nicht eingehen«, sagte George plötzlich. Die anderen drehten sich zu ihm. »Ach nein?« Eric sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Interesse an. »Wenn der Rat zu Laurens Gunsten entscheidet, schön. Aber wenn er gegen sie entscheidet, gibt es niemanden sonst, der tun kann, was Lauren tut. Zumindest nicht, soweit wir wissen.« Auch Darlene hatte bisher nicht viel gesagt. Jetzt jedoch ergriff sie ebenfalls das Wort. »Es geht hier nicht um eine theoretische Frage, bei der ein Komitee eine Fehlentscheidung später korrigieren kann. Der Rat kann nicht einfach irgendjemand anderen mit Laurens Aufgabe betrauen. Man darf dem Rat keine Chance geben, eine Fehlentscheidung zu treffen, denn wenn er sich tatsächlich irrt, lässt sich der Schaden nicht mehr beheben.« »Also werden stattdessen wir die Fehlentscheidung treffen«, warf Raymond ein. »Ich kann einfach nicht glauben, was hier passiert. Es ist doch ganz einfach. Es geht um Recht oder Unrecht, und ihr versucht, etwas anderes daraus zu machen. Und du auch, Darlene. Ich dachte, wir beide hätten bereits beschlossen, gegen Lauren zu stimmen.« »Zum ersten Mal seit der Kuba-Krise fließt gesunde Magie von Kerras zu uns herunter«, erklärte Darlene. »Es gibt wieder Leben auf Kerras.« Raymond warf ihr einen mörderischen Blick zu. »Und in ein oder zwei Tagen wird die Nachtwache dieselbe Entdeckung machen und dieses Leben wieder auslöschen. Und sie werden auch hier auftauchen und dich und mich und jeden anderen in dieser Stadt töten, um an Lauren heranzukommen.« Eric sah Raymond durchdringend an. »Du wirst in dieser Frage keine Vernunft annehmen? Du wirst nicht begreifen, warum das hier so wichtig ist?« 278 »Ich habe bereits Vernunft angenommen«, antwortete Raymond. »Entweder ihr verbannt Lauren, oder ihr lasst sie töten, und die Sache ist erledigt. Die Wächter brauchen sie nicht. Wir können alles tun, was diese Welt braucht, genau so, wie wir es immer getan haben. Wir brauchen keine Einzelgänger, keine Verräter und auch nicht die Kinder von Verrätern.« »Und Pete?« »Er ist ebenfalls ein Verräter. Er hat ihr geholfen. Er hat die ganze Zeit über gewusst, was sie getan hat. Das nennt man - wie? Beihilfe? Komplizenschaft?« »Das sind Begriffe aus dem Strafrecht«, sagte Eric. »Sie haben bei den Wächtern keine Gültigkeit.« Die Arme vor der Brust verkreuzt, stand er vor ihnen und dachte nach. Pete war mit einem Mal übel. Eric wollte eine einstimmige Entscheidung, und er würde sie nicht bekommen. Was bedeutete, dass das Urteil gegen Lauren ausfallen würde. Er hatte nicht geglaubt, dass das passieren würde er war davon überzeugt gewesen, dass diese Idioten Vernunft annehmen würden. Deshalb hatte er Lauren dazu überredet, bei der Verhandlung zu erscheinen und ihren Standpunkt zu vertreten - aber er hatte sich geirrt. Dabei hatte am Anfang nur eine so winzige Kleinigkeit gestanden. Heyr hatte eine völlig harmlose Bemerkung gemacht. Er hatte von Molly in der Gegenwart gesprochen -ein winziger Ausrutscher, noch dazu einer, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass es ein Ausrutscher war. Ein Ausrutscher. Pete fragte sich, ob jemals irgendjemand mit einem einzigen Wort so viel verraten hatte. Die Wahrheit drängt ans Licht. Ein altes Sprichwort, das sich auf höchst unglückliche Weise bewahrheitet hatte.
Ob man es wollte oder nicht, die Wahrheit würde zu guter Letzt ans Licht kommen. Eric blickte auf. »Eine Abstimmung ist nicht nötig. Wir 279 wissen im Voraus, dass wir nicht zu einem einstimmigen Ergebnis kommen werden, und bei einer Frage von solch ungeheueren Konsequenzen brauchen wir ein einstimmiges Ergebnis.« »Du weißt im Voraus, dass du kein einstimmiges Ergebnis zu Laurens Gunsten erzielen kannst. Aber vielleicht wird es ja ein einstimmiges Urteil gegen sie geben. Warum lässt du nicht trotzdem abstimmen?«, wollte Raymond wissen. »Weil ich sehr wohl weiß, dass es kein einstimmiges Urteil gegen Lauren geben wird. Denn selbst wenn ich der Einzige wäre, der für sie stimmt, würde mich das nicht davon abbringen. Daher können wir in dieser Frage zu keiner Übereinkunft kommen, und die Entscheidung, was wir in Bezug auf Lauren unternehmen werden, fällt mir zu. Ohne ein einstimmiges Urteil werde ich die Wächter nicht auf einen Kurs führen, der von den Regeln des Rats abweicht. Ich werde niemanden, der damit nicht einverstanden ist, zu einer solchen Vorgehensweise zwingen. Also ... können wir Lauren nicht helfen.« Pete machte Anstalten, sich zu erheben und zu protestieren. Er hatte die Fäuste geballt, und seine Arme waren stocksteif. »Setz dich hin, Pete«, sagte Eric. »Die Wächter können Lauren nicht helfen, und das tut mir Leid, und ich schäme mich zutiefst dafür, dass wir ihr unsere Unterstützung versagen. Ich schäme mich dafür, dass wir den Weg von Feiglingen einschlagen. Aber ... wenn wir uns auch gezwungenermaßen auf diesen Weg begeben, so heißt das nicht, dass wir auf ihm auch voranschreiten werden. Ich werde Lauren nicht wegschicken, ich werde dem Rat nicht melden, was sie tut, und unsere offizielle Haltung in dieser Angelegenheit ist die, dass Lauren unsere Torweberin ist und keiner von uns auch nur die geringste Ahnung davon hat, dass sie ihre Kom280 petenzen überschreitet. Keiner von uns«, wiederholte er und sah dabei alle Wächter der Reihe nach eindringlich an. »Denn was sie tut, ist wichtig, und ich werde sie nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip behandeln. Sie wird hier bleiben; wir werden die Konsequenzen tragen, die sich daraus ergeben. Und um mich ganz klar auszudrücken: Derjenige von euch, der Lauren beim Rat anzeigt, verrät uns alle. Ganz gleich, wo ihr seid, ganz gleich, was ihr tut, ganz gleich, wann ihr die Entscheidung trefft, diese Information weiterzugeben. Und wenn einer von euch es in Erwägung zieht, uns alle zu verraten, möchte ich hiermit erklären, dass wir, die Wächter von Cat Creek, gute Menschen sind. Aber wir sind keine netten Menschen. Wir werden unsere Freunde schützen, und zwar ohne Skrupel und ohne Zögern.« »Das heißt also, dass du nichts unternehmen wirst«, sagte Raymond. Sein Gesicht hatte eine hässliche, fleischige Röte angenommen. »Das heißt, dass ich nichts unternehmen werde. Und dass du nichts unternehmen wirst. Das sollte dir absolut klar sein, Raymond.« Eric sah Pete an. »Ruf Lauren herein. Sie muss wissen, wie wir entschieden haben.« Pete war übel geworden, aber er erhob sich dennoch und ging durch die Tür, die Hintertreppe des alten Hauses hinunter, vorbei an dem mit Seidenpapier, Stecknadeln, Bändern und grüner Schaummasse bedeckten Arbeitstisch hinaus ins Freie. Im Garten standen Heyr und Lauren, die sich unterhielten. Jake saß auf Heyrs Schultern. »Du kannst jetzt wieder reinkommen«, sagte Pete, und seine Stimme verriet viel zu viel. Laurens Augen weiteten sich, und sie wurde sehr blass. »Sie werden nicht lange genug leben, um dich dem Rat auszuliefern«, erklärte Heyr. Lauren entgegnete nichts, sondern ging wortlos an Pete vorbei die Treppe hinauf. Heyr folgte ihr mit Jake, und Pete bildete die Nachhut. 281 Als er den Raum betrat, stand Lauren bereits vor Eric. »Wir werden dir nicht helfen«, begann Eric gerade. »Um dir zu helfen, hätte ich ein einstimmiges Votum benötigt, und das konnte ich nicht bekommen. Wir werden jedoch auch nichts gegen dich unternehmen - du wirst hier bleiben, du wirst weiterhin unsere Torweberin sein, und keiner von uns weiß irgendetwas über deine außerplanmäßigen Aktivitäten. Mit den Auswirkungen dessen, was du tust, werden wir so umgehen, als seien es ganz normale Ergebnisse unserer Arbeit. Niemand wird dich anzeigen.« Lauren sah ihn überrascht an. »Also - man wird mich nicht aus der Stadt verbannen oder dem Rat melden?« »Nein.« »Ich bin nach wie vor die Torweberin von Cat Creek.« »Stimmt.« »Aber was ... diese andere Sache angeht ... bin ich auf mich gestellt.« »Stimmt.« Lauren nickte. »In Ordnung. Ich bin also nicht schlechter dran als vorher. Damit kann ich leben.« Sie drehte sich um, nahm Heyr Jake ab und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Heyr eilte ihr nach; es widerstrebte ihm offensichtlich, sie auch nur für kürzeste Zeit aus den Augen zu lassen. Erics Handy klingelte. Er nahm den Anruf entgegen, murmelte etwas und sagte: »Pete, ein Notfall. Du begleitest mich.« Dann warf er einen Blick auf den Spiegel, in dem ein Tor hätte sein sollen. »June Bug, du hättest die nächste Wache, nicht wahr?«
»Ja.« »Dann geh und hol Lauren, damit sie dieses Tor wieder öffnet. Die anderen brauchen nicht länger hier zu bleiben.« »Was ist passiert?«, fragte Pete Eric. »Eine Schießerei. Wir müssen uns beeilen. Die Nachbarn sind ziemlich außer sich.« 282 Die beiden liefen die Treppe hinunter und auf den geschotterten Parkplatz hinaus. »Ich möchte, dass du mit mir fährst«, sagte Eric. Normalerweise benutzten sie getrennte Autos. Aber Pete nickte und sprang auf den Beifahrersitz von Erics Streifenwagen. Mit eingeschaltetem Blinklicht, aber ohne Sirene bogen sie vom Parkplatz ab nach Norden. »Was für eine Scheißversammlung«, bemerkte Eric. »Du musst versuchen, Raymond Smetty und Louisa Täte loszuwerden«, sagte Pete. »Ich glaube, alle anderen hast du überzeugt.« »Unmöglich. Unsere Unruhestifter wissen bereits über Lauren Bescheid. Wir müssen sie hier behalten, wo wir sie beobachten können. Aber das meinte ich nicht. Ich meinte, dass die Versammlung eine reine Show war, mit dem einzigen Zweck, Raymond und Louisa einzureden, dass die Wächter von Cat Creek sich nicht einmischen werden. Auf diese Weise kommen sie uns nicht in die Quere.« Ein seltsames Kribbeln breitete sich in Petes Nacken aus. »Das war nur eine Finte?« »So ist es. June Bug ist gleich zu mir gekommen, nachdem sie gestern Abend die Lebensmagie auf Kerras entdeckt hat. Sie hat sie zurückverfolgt, die lebendige Stelle auf Kerras aufgespürt und begriffen, dass das ein Teil von Laurens Arbeit war. Wir anderen sind bereits mit von der Partie - wir werden Lauren unterstützen, wo wir nur können. Und genau das teilt June Bug gerade eben Lauren und Heyr mit. Aber du kennst doch das alte Sprichwort. Raymond möchte ich nicht als Rückendeckung haben, wenn es hart auf hart kommt. Aber ich konnte auch nicht riskieren, dass er die Stadt verlässt. Das war die einzige Lösung, die mir eingefallen ist.« Pete fühlte sich deutlich besser. Plötzlich trug er nicht 283 länger die Last des gesamten Planeten auf seinen Schultern. Er atmete tief durch und drehte sich zu Eric um. »Gut. Das ist gut. Also - was unternehmen wir jetzt wegen dieser Schießerei?« »Es gibt keine Schießerei. Wir fahren wieder zurück und kaufen unterwegs ein paar Schachteln Crispy Cremes fürs Revier. Ich brauchte lediglich eine günstige Gelegenheit, mit dir zu reden, solange ich wusste, wo alle anderen waren und was sie taten.« Pete stellte fest, dass er große Lust auf ein paar Crispy Cremes hatte. Cat Creek »Also werdet ihr mir in Wirklichkeit alle helfen.« Lauren saß am Küchentisch und beobachtete, wie Jake in dem gedämpften Gemüse, das er bisher so gern gegessen hatte, herumstocherte. Gleichzeitig versuchte sie, zu begreifen, was June Bug ihr soeben erzählt hatte. June Bug lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wir wussten, dass wir dir helfen würden. Meine Schwester ist ein Problem - sie hat fast immer Schwierigkeiten gemacht. Aber bei einer Wächterin gibt es nur zwei Möglichkeiten, mit so etwas umzugehen: Man kann ihr Gedächtnis löschen oder sie töten. Da beide Möglichkeiten nur in ... extremen Fällen Anwendung finden, umgehen wir solche Probleme nach Möglichkeit. So haben wir es immer gemacht. Zumindest ist Louisa nicht boshaft.« »Im Gegensatz zu Raymond, meinst du.« »Ich bin mir nicht sicher, ob Raymond - zumindest langfristig - ein Problem ist, das wir umgehen können. Aber im Augenblick ist keiner von uns bereit, es mit den Wächtern von Enigma aufzunehmen. Seine Eltern leben noch und 284 sind nach wie vor aktiv, und es wäre schwierig, ihnen ihren Sohn nach Enigma zurückzuschicken, nachdem wir alle Einzelheiten über die Wächter von Cat Creek aus seinem Gedächtnis gelöscht haben, zusammen mit einigen anderen Erinnerungen, die bei der Prozedur ebenfalls verloren gehen würden.« »Sie haben ihn zu uns geschickt, weil sie selbst nicht mit ihm fertig werden konnten. Ich schätze, sie hoffen, dass wir tun werden, wozu ihnen der Mut fehlte.« »Da könntest du Recht haben. Wir haben über diese Möglichkeit geredet, Eric, George und ich. Und wir sind zu folgendem Schluss gekommen: Es könnte sein, dass die Leute in Enigma nichts dagegen hätten, wenn wir Raymonds Gedächtnis manipulieren. Aber falls wir uns irren, müssten wir einen Preis für unser Tun zahlen, den wir uns im Augenblick nicht leisten können. Je unauffälliger wir uns benehmen, umso mehr können wir dir nutzen. Wenn der Rat seine Aufpasser nach Cat Creek schickt, hätten wir alle Hände voll damit zu tun, Normalität vorzutäuschen -und es wäre fatal, auf solche Weise unsere Zeit zu verschwenden.« Lauren stützte die Ellbogen auf den Tisch und fragte: »Also - wie geht es denn jetzt weiter?« »Das liegt bei dir. Wir werden dich natürlich decken - du brauchst es uns nur wissen zu lassen, wenn du wegmusst, und Eric, George, Mayhem oder ich werden immer eine Erklärung parat haben, wo du bist und was du tust, und wir werden dafür sorgen, dass wir das auch beweisen können. Wir werden dafür sorgen, dass es so
aussieht, als wärest du im Auftrag der Wächter unterwegs, so dass weder Raymond noch Louisa konkrete Informationen weitergeben können, falls sie beschließen sollten, sich über unseren Kopf hinweg an den Rat zu wenden. Wir werden für dich lügen. Wenn du willst, dass wir dich begleiten, werden wir 285 mit dir in die unteren Welten reisen und dich nach Kräften beschützen - Betty Kay leidet unter schwerem Jagdfieber, seit wir gegen die Keth gekämpft haben. Sie brennt darauf, endlich wieder eine Waffe in die Hand zu bekommen. Es dürfte dir schwer fallen, sie davon abzuhalten.« Lauren schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Die kecke kleine Betty Kay, Floristin, Einhornfan ... schieß wütige Kriegerin. Wer hätte das gedacht?« »Du wirst sicher noch so manche Überraschung erleben.« Lauren lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, streckte die Beine aus und spielte mit ihrem Pferdeschwanz. »Davon bin ich überzeugt.« Sie seufzte. »Ich würde gern sagen: >Es ist schrecklich lieb von euch, dass ihr mir helfen wollt, aber es würde mir vollkommen reichen, wenn ihr so tun würdet, als wäre alles in schönster Ordnung.<« June Bug lachte. »Aber das ist es nicht, was du sagen wirst.« »Nein. Du hast Recht. Ich brauche ein bewaffnetes Team, das mir jedes Mal, wenn ich in die unteren Welten gehe, folgt. Heyr wird dort sein, und Pete wird in aller Regel ebenfalls dort sein, aber ihr wisst ja selbst, wie schnell einmal etwas schief gehen kann.« »Ich weiß es«, sagte June Bug. »Und um einmal über etwas anderes als Ungeheuer zu sprechen ...« »Nur zu.« »Wie läuft es mit dir und Pete?« Lauren lächelte schwach. »Ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen wird. Es ist meine Schuld - ich fühle mich zu ihm hingezogen, und ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen, und habe wunderbar den Bogen raus, uns beide unglücklich zu machen.« »Ich bin nicht die Richtige, um Ratschläge zu geben, was die Liebe betrifft.« 286 »Ich habe nie begriffen, warum du niemanden gefunden hast. Es muss doch Männer gegeben haben, die sich für dich interessiert haben.« June Bug seufzte tief. »In zehn oder fünfzehn Jahren werden die Leute von dir dasselbe sagen. >Sie hatte ihre Chancen. Warum hat sie niemanden gefunden? Sie hätte nicht allein zu sein brauchend Ich war dabei, als Brian durch Jake mit dir gesprochen hat - mit den meisten Leuten könnte man über so etwas nicht reden, aber du weißt bereits, dass du einmal jemanden gehabt hast. Und dass du ihn irgendwo immer noch hast.« »Er hat mir gesagt, dass ich mein Leben weiterleben soll.« »Aber du kannst es nicht.« »So sieht es aus, ja.« »Mama, ich hasse Brokkoli«, sagte Jake plötzlich. »Ich möchte Kekse zum Abendessen.« Lauren starrte ihren Sohn an, der bisher bemerkenswert still gewesen war, und brach in Gelächter aus. »Wenn du noch vier Löffel isst, gebe ich dir ein paar Kekse.« »Vier ist igitt.« »Vier.« Lauren nahm Jake die Gabel ab und schob das Gemüse, das er noch essen sollte, auf die eine Seite des Tellers. »Das da musst du noch essen. Und dann kannst du ein paar Kekse haben.« Er machte schmale Augen und legte den Kopf schräg. »Vier Kekse?« »Mal sehen. Iss jetzt.« Lauren sah June Bug an. »Nicht gerade ein großes Plus für eine Beziehung. Ich behalte ihn bei mir. In unmittelbarer Nähe. Ständig. Ich lasse ihn niemals aus den Augen, und ich sorge dafür, dass er nie weiter als eine Armeslänge von mir entfernt ist; ich wage es nicht.« »Du tust, was du tun musst. Ich denke, Pete wäre bereit, 287 für derartige Probleme eine Lösung zu finden, und Jake ist ein wunderbarer kleiner Junge ...« »Ja«, unterbrach Jake sie. »Ich bin ein wunderbarer Junge. Und sehr bescheiden.« »Das wollte ich gerade sagen«, bemerkte June Bug zu ihm. »Iss deinen Brokkoli«, befahl Lauren ihrem Sohn, und an June Bug gewandt sagte sie: »Unglücklicherweise habe ich seine Bescheidenheit ihm gegenüber bereits erwähnt.« Sie lachte leise. »Deshalb sagt er das jetzt immer dazu. Nur der scherzhafte Unterton, in dem er den Satz bringen müsste, gelingt ihm noch nicht recht.« »Kinder sind immun gegen Ironie.« June Bug beugte sich vor und sah Lauren ernsthaft an. »Lass dir von einer alten Dame einen unerwünschten Ratschlag geben. Die Zeit vergeht schneller, als du es jemals für möglich halten würdest, und all die Dinge, die du dir für morgen vornimmst, zerrinnen dir unter den Händen. Nicht genutzte Chancen werden dich quälen - ich denke, das ist der Grund, warum alte Menschen nicht schlafen können, Lauren. Die Geister all der Chancen, die wir nicht genutzt haben, wispern durch unseren Geist, bis der Schlaf genauso unerreichbar wird wie eine zweite Jugend. Wenn du einen Fehler machst, kannst du darauf zurückblicken und wenigstens sagen: >Ich habe etwas daraus gelernt. Ich habe es versucht. Ich bin gescheitert, aber ich habe es versuchte Wenn du es nicht einmal versuchst, dann bleiben dir nur Fragen. Es hätte ein Fehler sein können, aber es hätte auch das Beste sein können, was dir je passiert ist, und du wirst es niemals wissen, weil die Chance vertan ist und es eine zweite Chance nicht gibt.«
»Du denkst, ich sollte es mit Pete versuchen.« »Ich denke, du solltest eines wissen: Wenn du alt wirst, wirst du die Dinge, die du nur aus Angst unterlassen hast, 288 eine Million Mal mehr bereuen als alle Fehler, die du gemacht hast.« June Bug starrte auf ihre Hände, bog die Gelenke durch und runzelte die Stirn. »Ich habe das Leben eines Feiglings gelebt, Lauren, weil ich Angst hatte vor meinen Träumen. Manche Dinge, die ich gern getan hätte, konnte ich nicht tun, weil ich damit andere verletzt hätte. Ich bedauere es nicht, dass ich das Richtige getan habe. Aber einige Chancen habe ich nur aus Angst nicht genutzt. Und jetzt bin ich eine von diesen Alten, die von den Geistern dessen verfolgt werden, was hätte sein können, und ich habe keine Erinnerungen an das, was war, um diese Geister zum Schweigen zu bringen.« Lauren sah die alte Frau schweigend an. Schließlich sprach June Bug weiter: »Wenn du Träume hast, die du wahr werden lassen willst, dann ist dies die Zeit, diese Träume in Angriff zu nehmen. Es gibt keinen perfekten Zeitpunkt, und es gibt keine bessere Zeit. Es gibt nur die Zeit, die du verlierst, während du Ausflüchte machst.« 16 Herb's Steakhouse, Bennettsville, South Carolina Die Wächter trafen sich - ohne Raymond und Louisa - auf Heyrs Bitte hin in Bennettsville. Heyr hatte ein Steakhouse im Norden der Stadt ausgesucht, ein großes, weitläufiges Restaurant mit rotweiß karierten Tischdecken, gebackenen Kartoffeln von der Größe von Fußbällen und Steaks, die auf dem Weg von der Küche an die Tische so laut zischten, dass Lauren um ein Haar eines bestellt hätte. Aber sie hatte bereits gegessen, Jake saß halb schlafend auf ihrem Schoß, und irgendwie glaubte sie nicht, dass es bei dieser Zusammenkunft wirklich um die Steaks ging. Es ging vielleicht darum, sie zu schützen. Heyr war seit June Bugs Eröffnung, dass die Wächter sie unterstützen würden, seltsam verschlossen gewesen. Die anderen aßen - kauten geistesabwesend an Steaks, die etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, und nippten an Bieren, die langsam warm wurden. In ihren Augen konnte Lauren Sorge erkennen, das Begreifen, dass jeder Einzelne von ihnen an diesem Tisch den vergleichsweise sicheren Hafen der Wächter verlassen hatte dass sie sich mit einem einzigen Wort, einer einzigen Entscheidung in unauslotbare, unbekannte Gewässer begeben hatten. Wie es auf alten Landkarten heißt: Hier beginnt das Gebiet der Ungeheuer, dachte Lauren. Und sie sind unterwegs, um Jagd auf uns zu machen. Keine angenehme Aussicht. Pete sah zuerst sie an, dann seinen Teller. Eric betrachte290 te seine Gabel, als sei sie das Zepter eines Königs. June Bug spielte mit den Schlüsseln an ihrem Schlüsselring. Betty Kay starrte Heyr mit nackter Begierde in den Augen an, und Mayhem starrte mit etwa demselben Gesichtsausdruck Betty Kay an. Sie litten also nicht alle unter dem vorherrschenden Gefühl der Angst. Lauren konnte sich eines kleinen Lächelns nicht erwehren. Und dann räusperte Heyr sich, und die Furcht senkte sich wie eine Kugel aus heißem Blei in ihren Magen, und ihre Arme schlössen sich automatisch fester um Jake. »Ich habe einen Vorschlag für euch«, sagte Heyr. »Er ist nicht besonders lustig, und er ist nicht angenehm - aber wenn ihr mein Angebot annehmt, werdet ihr in der Lage sein, gegen die Nachtwache anzutreten und diesen Kampf vielleicht zu gewinnen. Und ihr werdet nicht dabei sterben.« »Nicht sterben ist gut«, bemerkte Pete. »Ich bin dafür.« Eric warf ihm einen Seitenblick zu und sagte: »Ich bin geneigt, Pete Recht zu geben. Aber ich erinnere mich dunkel an ein altes Sprichwort, das den Rat gibt, den Geschenken von Göttern mit Vorsicht zu begegnen.« »Es ist kein Geschenk«, erklärte Heyr. »Es sei denn, ihr wollt es als ein Geschenk von euch an eure Welt und an eure Freunde und Verwandten betrachten - und an euch selbst. Es ist ein Opfer.« »Dann befinden wir uns ja auf vertrautem Territorium«, warf June Bug ein. »Mein ganzes Leben hat es geheißen: >Tu dies zum Wohl aller anderen. Schließ dich den Wächtern an, füge dich dem Rat, nutze dein Leben, um zu dienen - die Welt braucht dich.< Ich wüsste gar nicht, was ich mit einem Geschenk anfangen soll. Aber mit Opfern kenne ich mich aus.« Einige der anderen Wächter am Tisch kicherten leise. 291 Heyr lächelte traurig. »Vielleicht. Aber ich bitte euch, das ultimative Opfer zu bringen.« »Du willst von uns, dass wir sterben?«, hakte Betty Kay nach. »Wie heißt es so schön ... in Erfüllung unserer Pflicht?« Heyr schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass ihr lebt.« Als er die verwirrten Blicke sah, die diese Bemerkung ihm eintrug, fügte er hinzu: »Manchmal ist es einfacher zu sterben. Im Allgemeinen ist das Sterben einfacher. Und ich bitte euch darum, genau das nicht zu tun. Ich bitte euch, an meiner Seite zu kämpfen.«
Eric schüttelte den Kopf und begann zu lachen. »Klar. Kein Problem, Heyr, alter Knabe. Wir werden einfach weiterleben. Und die Nachtwache - was? Die Nachtwache wird zu Bedeutungslosigkeit verblassen, weil wir beschließen zu leben? So einfach?« »Es ist so einfach, und es ist so schwer. Ich kann jeden von euch in dieser Welt zu einem Unsterblichen machen. Ich kann euch alle zu Göttern dieser Welt machen. Aber das hat seinen Preis.« »Wir haben den Preis der Unsterblichkeit kennen gelernt«, sagte Lauren. »Seelenlosigkeit, endloses Sterben und Wiederkehren, den Verlust des eigenen Ichs und der Menschlichkeit... einen wachsenden Hunger nach Tod und Verderben.« Sie begriff nicht, wie er diese Möglichkeit auch nur aussprechen konnte. Er traute Molly nicht - wie konnte er auf die Idee kommen, dass es den Wächtern helfen oder die Welt retten würde, wenn er weitere Mollys erschuf? Heyr hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich schlage nicht vor, dass ihr euch der Nachtwache oder der Legion von Todessern anschließt. Es gibt eine andere Möglichkeit.« Sie alle sahen ihn an und warteten - obwohl sie eigent292 lieh gar nicht wissen wollten, was er zu sagen hatte, denn es würde nichts Gutes sein. Andererseits mussten sie ihn anhören, denn er hatte ihnen einen winzigen Hoffnungsschimmer angeboten. Rettet eure Freunde, rettet eure Familien, rettet eure Welt. Jakes warmer Körper auf Laurens Schoß war alles, was sie an Gründen brauchte, um Heyr anzuhören. Die Ungeheuer machten Jagd auf sie, und Heyr sagte: Du kannst leben. »Ich kann euch in die oberen Welten hinaufbringen. Zuerst nach Kerras und von dort aus weiter die Weltenkette hoch. Ich kann ... euch in das Gefüge einer oberen Welt integrieren, so dass sie zu eurer Heimatwelt wird. Ich kann euch zu alten Göttern hier auf der Erde machen. Und ihr - wenn ihr alte Götter geworden seid, dann könnt ihr euch unsterblich machen. Ihr werdet nicht sterben können, solange eure Welt lebt.« »Dann wäre dies also ein ungünstiger Zeitpunkt, um auf der Erde ein Unsterblicher zu sein«, bemerkte Eric. Heyr nickte. »Der denkbar schlechteste Zeitpunkt überhaupt. Allerdings wird es wohl keinen anderen Zeitpunkt mehr geben, wenn sich niemand dazu entscheidet, diesen Weg zu beschreiten. Dies ist unser letzter Kampf.« Mayhem zuckte die Achseln. »Aber ... das bedeutet im Klartext, dass wir Götter in unserer eigenen Welt sein können. Wir können ewig leben. Und wir können die Helden sein, die immer im letzten Augenblick angeritten kommen und alles retten. Ich bin vielleicht ein Dummkopf, aber ich begreife nicht, warum das ein Opfer sein soll.« Lauren sah ihn an, erinnerte sich an ihre Gespräche mit Molly und dachte: Nein, natürlich begreifst du das nicht. Heyr zuckte die Achseln. »Wenn die Unsterblichkeit nur Vorteile hätte, dann wären Loki und ich nicht die letzten der AEsir, die noch auf der Erde leben.« 293 Lauren strich Jake das Haar aus dem Gesicht und spürte, wie er sich enger an sie schmiegte. Sie drückte das Gesicht in sein Haar und atmete seinen Duft ein. Er roch nach Shampoo und Herbstblättern, nach Sonnenschein und Wärme. So hatte er immer gerochen. Sie hätte ihn mit verbundenen Augen überall erkannt. Sie dachte an Jake und an die Unsterblichkeit. Das Problem mit der Unsterblichkeit bestand also nicht darin, Freunde und Verwandte binnen eines Wimpernschlages alt werden und sterben zu sehen; das hatten die AEsir bereits alles durchgemacht. Sie waren Unsterbliche geblieben - und dann hatte sich irgendetwas verändert, und sie waren weitergezogen. »Um ein Unsterblicher zu werden, müsst ihr die Lebenskraft der Welt annehmen, die ihr bewohnt«, erklärte Heyr. »Ihr werdet fühlen, was eure Welt fühlt. Ihr werdet fühlen, was die Menschen eurer Welt fühlen. Was sie alle fühlen. Ihr werdet die Verderbtheit des Folterers tragen und den Schmerz des Gefolterten. Ihr werdet Anteil haben an Geburt und an Tod, an jedem Triumph und an jeder Tragödie.« Er schloss die Augen, und einen Moment lang erschien er Lauren sehr blass und beinahe zerbrechlich. Dann holte er langsam und tief Atem. »Ihr werdet nach einer Weile lernen, einen großen Teil dieser Dinge auszublenden - sie zu dämpfen. Aber diese Welt ist so voll von den Giften der Nachtwache und ihrem eigenen Tod so nahe, dass das, was übrig bleibt, immer noch schrecklich ist, auch wenn ihr fast alles ausgeblendet habt. Zuerst jedoch werdet ihr nicht in der Lage sein, den Schmerz so weit zu handhaben, dass ihr überhaupt irgendetwas ausblenden könnt, daher wird alles in euch hineinfließen, und das ist schlimm genug, um euch umzubringen, wenn ihr denn sterben könntet. Aber ihr könnt es nicht - also werdet ihr in diesem Schmerz leben. Wenn es eine Hölle gibt, dann sind es die ersten Tage oder Wochen der Unsterblichkeit, in denen der 294 ganze Schmerz dieser Welt auf euren Schultern lastet, in denen ihr jeder einzelne Mensch auf diesem Planeten seid, der um Hilfe ruft, während ihr gleichzeitig jedes einzelne Ungeheuer auf dem Planeten seid, das sich am Schmerz seines Opfers ergötzt. In dieser Zeit würdet ihr alles darum geben, dem zu entfliehen.« »Aber man kann nicht entfliehen, nicht wahr?«, fragte Eric. »Die Veränderung ist dauerhaft. Irreversibel.« »Ganz im Gegenteil«, antwortete Heyr. »Man kann jederzeit aufhören, nichts leichter als das. Es ist leichter, die Unsterblichkeit wieder umzukehren, als ihrer habhaft zu werden. Man löst einfach seine Verbindung mit dem Leben der Welt. Wenn man das tut, bleibt man ein alter Gott, aber man wird ein Sterblicher sein. Das Dasein eines alten Gottes ist reine Freude, ohne den Schmerz. Aber die Nachtwache kann alte Götter töten, und sie
machen bei jeder Gelegenheit Jagd auf sie und töten jeden, den sie finden können, damit die alten Götter nur ja nicht auf die Idee kommen, sich gegen sie zu erheben. Deshalb halten die alten Götter sich bedeckt und versuchen, keine Wellen zu schlagen. Viele von ihnen haben irgendwann einmal geglaubt, sie würden zu Helden werden. Sie haben geglaubt, sie könnten Unsterblichkeit erlangen und sich gegen die Zerstörung des Lebens stellen - aber dieser Kampf ist ein sehr harter, und auf sterbenden Welten wird er immer noch härter. Unsterblichkeit ist hart, ihre Preisgabe ist einfach - aber die einzigen Menschen, die gegen die Nachtwache antreten und den Sieg davontragen können, sind diejenigen, die bleiben.« »Wie erträgt man das?«, fragte June Bug. Heyr sah sie mit einem breiten Grinsen an. »Man lacht und trinkt und prahlt und kämpft und vögelt. Das alles lindert den Schmerz, zumindest für kurze Zeit. Man kämpft Seite an Seite mit seinen Heldenfreunden, seinen Götterfreunden, man schart eine kleine Gruppe von Kriegern um 295 sich, zieht seine Linie und sagt der Nachtwache: >Diese Linie werdet ihr nicht überschreiten^« Er starrte seine Bierflasche an, während sein Lächeln langsam erstarb. Dann nahm er einen langen Zug. Seine Stimme wurde leiser, bis es so klang, als spreche er mit sich selbst. »Welten sterben, weil der Tod so viel einfacher ist als das Leben und weil Zerstörung so viel einfacher ist als Schöpfung und weil der breite, ebene Weg so viel verlockender ist als der schmale, felsige Pfad.« Er blickte auf, sah die Wächter alle der Reihe nach kurz an und schüttelte die düstere Stimmung schließlich ab. »Aber jetzt tut Lauren etwas, was noch nie vor ihr jemand tun konnte. Sie kehrt den Tod von Welten um - und das bedeutet, dass es nicht länger eine zum Scheitern verurteilte Übung in Sachen Ethik ist, als Unsterblicher gegen die Nachtwache zu kämpfen. Es hat einen Sinn bekommen. Wir können kämpfen, und wir können siegen.« Der Haken an der Unsterblichkeit musste ja etwas Derartiges sein, dachte Lauren. Mitten in den schlimmsten Alpträumen der Welt zu leben. Sie dachte an ihre Magie, an ihre Fähigkeiten als Torweberin, daran, wie sie die Welten über der Erde und die Welten unter der Erde durch ihre Liebe miteinander verband. Und sie fragte sich, ob sie ihre Welt und die Menschen darauf auch dann noch würde lieben können, wenn sie sie allzu gut kennen lernte. Wenn sie nicht nur die Gedanken der schlechten Menschen lesen könnte, sondern auch die der guten. Denn selbst gute Menschen hatten ihre Dunkelheit, die sie in sich verbargen. Wenn der Schmerz und das Böse der Welt sie erfüllten, würde sie die Welt dann immer noch genug lieben können, um sie zu retten? Und was war mit Jake? Sie konnte nicht unsterblich werden, wenn er es nicht auch wurde. Und selbst wenn sie ihn zu einem Unsterblichen machen konnte - und Heyr zufolge war das etwas, das jeder Mensch selbst tun musste -, wie konnte sie das dann einem Kind antun? Wie konnte sie ihn 296 mit jedem Grauen auf dem Planeten belasten? Er würde auch all das Positive erfahren - aber Heyr hatte nicht gerade ausführlich über das Gute in der Welt gesprochen. Lauren sah die anderen Wächter an und fragte sich, was sie wohl sagen würden. Pete räusperte sich. »Ich kann nicht für euch andere sprechen, aber ich möchte kämpfen können. Ich will eine Chance zu siegen.« Er sah Lauren an. »Ich habe etwas, um das zu kämpfen sich lohnt.« Er drehte sich zu Heyr um. »Ich bin dabei.« »Der erste der neuen AEsir «, sagte Heyr und prostete Pete mit seinem Bier zu. »Und der zweite«, verkündete Eric und zuckte die Achseln. »Mitgefangen, mitgehangen. Ich kann mich angesichts der Opfer meiner Vorfahren und des Blutes, das sie im Kampf für Heimat und Familie, für Freiheit und Überleben vergossen haben, nicht entziehen, wenn ich selbst gefordert bin. Ich liebe mein Land. Ich liebe meine Welt. Für die Dinge, die man liebt, kämpft man auch.« »Ich bin ebenfalls dabei.« Betty Kay nickte Eric zu. »Ich habe eine Chance, etwas zu bewirken, das wirklich zählt. Ich habe Angst, und ich werde vielleicht nicht stark genug sein -aber das kann ich nur herausfinden, wenn ich es versuche.« Heyr nickte. »Du bist stärker, als du glaubst.« Betty Kay warf ihm ein Lächeln zu, das gleichzeitig glücklich und grimmig war. »Genau darauf baue ich ja.« Darlene starrte ihre Hände an, June Bug kaute an einem Daumennagel, und George hatte einen alten Rechenschieber aus seiner Aktentasche geholt und spielte geistesabwesend daran herum. Lauren verstand ihre Zerrissenheit. Im Wesentlichen hatte Heyr ihnen allen erklärt: Ihr könnt ein Gott sein und ihr könnt eure Welt retten - aber es wird verdammt hart. Kein allzu zugkräftiges Verkaufsargument. 297 Mayhem seufzte. »Ich habe das grässliche Gefühl, dass das ein furchtbarer Fehler ist. Ich hasse Schmerzen. Ich bin eine absolute Memme. Aber ich kann es nicht nicht tun.« Darlene warf ihm einen Seitenblick zu und sagte: »Ich hatte mich darauf verlassen, dass du kneifen würdest wenn du es getan hättest, hätte ich es auch tun können.« Heyr sah Mayhem und Darlene an und sagte: »Wenn ihr es nicht wollt, dann tut es nicht. Nichts, was ihr jemals tun werdet, kann härter sein oder schmerzhafter.« Aber Darlene sagte: »Genau wie Mayhem kann auch ich es nicht nicht tun. Es ist zu wichtig.« George ließ seinen Rechenschieber wieder in seine Aktentasche fallen, klappte sie zu und sah sie alle der Reihe
nach an. Lauren bemerkte Tränen auf seinen Wangen. »Ich habe eine Frau, die ich liebe. Ich habe Kinder, die ich liebe. Ich dachte, ich würde sie verlieren, als damals die Grippeepidemie ausbrach, aber sie haben es geschafft. Damals habe ich Glück gehabt, aber mehr als einmal darf ich darauf nicht vertrauen. Ich muss es für sie tun - um sie zu schützen, um ihnen eine Welt zu geben, in der sie leben können. Aber wenn ich es tue, werde ich sie verlieren. Ich werde mit ansehen müssen, wie sie alt werden und sterben und dieses Leben ohne mich verlassen, und ich sage euch hier und jetzt, dass ich nicht weiß, ob ich das kann. Ich würde vielleicht für eine Weile an eurer Seite kämpfen und dann aufgeben ...« Wieder senkte er den Blick. »Es tut mir Leid. Ich sollte stärker sein. Aber ich bin es nicht.« »Keiner von euch ist verpflichtet, es zu tun«, sagte Eric. »Als ich euch erklärte, dass unser Kampf uns vielleicht in den Schlund der Hölle führen würde, war es nicht meine Absicht, dass wir dort auf Dauer unser Quartier aufschlagen. Jetzt ... nun ja ... wir sind bereits Helden. Wir haben unser Leben bereits in den Dienst an der Menschheit gestellt. Du hast dein Opfer bereits gebracht.« 298 June Bug seufzte. »Ich bin alt. Ich bin müde. Ich möchte den Schmerz der Welt ungefähr genauso gern auf meinen Schultern tragen, wie ich wissen möchte, was ihr alle morgens beim Aufwachen denkt, was bedeutet, ich will es auf keinen Fall. Und ich möchte erst recht nicht ewig in dieser Haut leben.« Sie schloss die Augen, und einen Moment lang sah sie ungeheuer alt aus. »Was ich mir auf der ganzen Welt am meisten wünsche, ist einfach, dass ich das natürliche Ende meiner Tage erreiche und dort hingehe, wo die Menschen hingegangen sind, die ich geliebt habe, ganz gleich, wo dieser Ort ist. Ich vermisse sie.« Dann straffte sie die Schultern, hob das Kinn und sah die anderen Wächter am Tisch an. »Es kann hier nicht um mich gehen oder darum, was ich will. Ich werde dienen, weil ich es kann. Ich werde es mit der Ewigkeit aufnehmen, weil es das ist, was ich tun muss, um zu dienen.« Und damit war nur noch Lauren übrig - das einzige Bollwerk gegen die Unsterblichkeit. Alle Wächter drehten sich jetzt mit erwartungsvollen Blicken zu Lauren um. Sie wollte ja sagen - sie wollte die Heldin mit gezücktem Schwert sein, die sich kopfüber in den Kampf gegen die Feinde stürzte, ohne Rücksicht auf die Gefahr, die ihr drohte. Aber sie konnte es nicht tun. »Ich weiß nicht, ob ich die Last der Unsterblichkeit, wie Heyr sie beschreibt, tragen und dennoch tun kann, was ich tun muss«, sagte sie. »Ich verdanke einen Großteil der Magie, die die Welten wieder zusammenbindet, einem Idealismus, der mir möglicherweise verloren ginge, wenn ich alles über jeden wüsste. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Lage wäre, das Beste an einem jeden Menschen zu lieben, wenn ich ständig in ihren schlimmsten Niederungen ertränke.« Heyr nickte, als verstünde er. »Ich dachte mir schon, dass das der Fall sein könnte. Mir wäre es wohler bei dem Ge299 danken, dass die Nachtwache dir nichts anhaben kann, aber es sieht so aus, als müssten wir uns zwischen zwei Dingen entscheiden: Entweder leben wir damit, dass du in Gefahr schwebst und deine Arbeit fortführen kannst wie bisher, oder aber wir haben die Beruhigung, dich in Sicherheit zu wissen, gehen jedoch das Risiko ein, dass deine Magie zerstört wird. In diesem Falle nehme ich die Gefahr für dich in Kauf. Ich werde dich nach besten Kräften beschützen, so unvollkommen diese Kräfte auch sein mögen. Wir werden diese Sache zusammen durchstehen.« Er streckte eine Hand über den Tisch, und Lauren rückte, ohne Jake zu wecken, näher heran und ergriff sie. Pete legte seine Hand über ihre beiden - und dann taten George, Mayhem, June Bug, Betty Kay, Darlene und Eric dasselbe. »Auf die neuen AEsir «, sagte Heyr leise. »Auf die neuen Wächter«, fügte June Bug hinzu. »Auf die Angriffe, die wir unternehmen, und auf die Stellungen, die wir halten werden«, bekräftigte Eric. Und Lauren sagte: »Auf die Dinge, die es wert sind, dass man um sie kämpft - Leben und Liebe, Heimat und Familie, Freunde und Freiheit.« Von Baanraaks Domäne, Kerras, nach Research Triangle Park, Raleigh, North Carolina Baanraak von Silber und Gold Baanraak beendete die lange Version des Grußes an die Sonne zum Ende des Tages, gerade als die Sonne, eine dunkelrote Kugel vor dem von Rosa- und Purpurtönen durchschossenen Himmel, am Horizont versank. Baanraak verneigte sich und verharrte aus Respekt noch eine ganze Weile in dieser Haltung. In der Dunkelheit erhob er sich, sog die süße Luft tief in 300 seine Lungen und lauschte auf die Geräusche von Leben in der Welt, die er geschaffen hatte, und plötzlich wusste er mit absoluter Sicherheit, dass Molly schon bald Jagd auf ihn machen würde. Und aufgrund des Bandes, das sie teilten -des Bandes der Jäger, des Bandes von Silber und Gold, des Bandes von geteiltem Schmerz - würde sie ihn finden. Und aufgrund der geteilten Alpträume. Sie wanderte durch seine Träume, ihr Schwert in der Hand, um sein Leben zu fordern. Und er wanderte durch ihre Alpträume, in denen er sie zwingen wollte, ihn zu verstehen. Oder sie zu einem Teil seiner selbst machen. Seine Wünsche und Begierden brodelten
noch immer in ihm, verworren und undurchschaubar. Es war lange her, seit er sich irgendetwas gewünscht hatte, und jetzt wünschte er sich so vieles, und die meisten dieser Wünsche richteten sich auf Dinge, die nur auf Kosten seiner anderen Wünsche wahr werden konnten. Es hatte noch nie irgendjemanden - irgendetwas - wie Baanraak gegeben. In der Geschichte seines Universums und seiner Weltenkette war er einzigartig gewesen, obwohl er seine Einzigartigkeit nicht als das erkannt hatte, was sie war, bis er Molly gefunden und in seinem Spiegelbild gesehen hatte, wie sehr er sich von den anderen unterschied, die er irrtümlich für Brüder gehalten hatte. Er würde über Lauren an Molly herankommen, würde über Lauren mit ihr reden. Er konnte sich nicht direkt an sie wenden - sie würde versuchen, ihn zu töten, und zumindest einer von ihnen würde wieder sterben. Vielleicht würden sie alle beide sterben. Er brauchte einen Fürsprecher. Er brauchte Lauren. Die Zeit drängte. Mit ausgestreckten Flügeln stand er da, ergötzte sich noch für einen letzten Augenblick an der Gestalt seines Fleisches, an seiner Zugehörigkeit zu der von ihm selbst geschaffenen Welt. Dann schloss er die Augen, grub die Krallen in den Fels und zog die Macht in seinen Körper hinein, die seine Gestalt verbie301 gen und ihn zu etwas schrumpfen würde, das annäherungsweise wie ein Mensch aussah. Er machte sich keine Gedanken um die Einzelheiten - damit würde er sich ausstatten, wenn er die Erde erreichte. Für den Moment wollte er nur so viel Köpermasse wie möglich abstreifen und in groben Zügen menschliche Gestalt annehmen, so dass er, wenn er die gewünschte Identität gefunden hatte, diese mit minimalem Zeitverlust ergreifen konnte. Er konnte unmöglich einfach seine wahre Masse in die notwendige Form pressen - seine Tarnung musste perfekt sein, und Perfektion bedeutete, dass er keine zehn Zentimeter tiefen Fußabdrücke hinterlassen durfte, wenn er über einen Rasen ging, oder Stühle sprengte, wenn er sich darauf niederließ. Der Schmerz verschlang Baanraak förmlich - er verlagerte und verformte jede einzelne Zelle in seinem Körper, entledigte sich all dessen, was nicht lebensnotwendig war, und riss sich buchstäblich selbst in Stücke, Zelle für Zelle. Das Feuer verbrannte ihn und verstümmelte ihn, bis er kraftlos auf dem Felsen zusammenbrach. Zitternd und keuchend ließ er das Feuer durch sein Fleisch wüten. Als der Schmerz wieder erträglich wurde, stand er auf -eine ansatzweise menschliche Kreatur mit zwei primitiven Armen mit funktionierenden Händen und zwei primitiven Beinen mit Stummelfüßen, einem Torso, einem klobigen Kopf und rudimentären Augen. Sein Auferstehungsring war an der tiefsten Stelle seines neuen Körpers vergraben. Nachdem der Schmerz so weit verebbt war, dass Baanraak wieder denken konnte, zog er sich auf die Füße hoch. Er war klein und schwach, nicht länger nur ein getarnter Rrön, dem Körpermasse und Macht jederzeit zu Gebote standen. Amputiert in jeder Hinsicht, flügellos und schwanzlos, mit kurzem Hals und winzigem Körper nicht nur dem äußeren Anschein nach, sondern wirklich und wahrhaftig. Er musste gegen den Drang seines Körpers an302 kämpfen, in seine wahre Gestalt zurückzukehren. Also ließ er tiefe, absolute Stille in sich einkehren. Er hatte das schon einmal getan - alle Mitglieder der Nachtwache taten es, wenn sie im Geheimen arbeiteten, an Orten, an denen es nicht genügte, sich als Mensch auszugeben, an denen sie Menschen sein mussten. Es war lange her, aber Fleisch, das nicht sein eigenes war, war ihm nichts Fremdes. Er brachte Geist und Körper zur Ruhe. Während dieser Zeit, die er in seiner eigenen kleinen Domäne zugebracht hatte, hatte er auf seine gewohnte Disziplin verzichtet. Er hatte sich gestattet zu spielen und war in die Gewohnheiten seiner Kindheit zurück verfallen, um für eine kurze Zeit in einer Fantasiewelt zu leben. Damit war jetzt Schluss. Er war Baanraak, bei dessen Namen sogar die Nachtwache erbebte. Er war Baanraak, der den Tod von Welten trank. Er war Baanraak. Und er ging auf die Jagd. Er schüttelte das Gefühl der Schwäche ab, das sein neues Fleisch quälte. Er umarmte den Schmerz und akzeptierte ihn; Schmerz hatte ihn geschaffen, und Schmerz würde ihm zu guter Letzt die Dinge geben, nach denen es ihn verlangte. Er ließ das Lebensfeuer durch sich hindurchströmen, ließ sich von ihm verzehren und schuf sich einen mannsgroßen Spiegel mit silbernem Rücken, eckig und massiv. Diesen Spiegel umrahmte er mit Stein und ließ den Rahmen mit dem lebenden Fels verschmelzen, auf dem er saß. Wenn er den Spiegel nicht länger brauchte, würde er ihn zerstören. Aber es konnte nichts schaden, ein wartendes Tor parat zu haben, in das er sich im Notfall zurückziehen konnte. Er legte die Finger auf das Glas und ließ seinen Geist durch die Leere wirbeln, auf der Suche nach einem Mann mit bestimmten Eigenschaften: jung, ledig, attraktiv, reich, mächtig, angesehen, korrupt... und an einem günstigen Ort 303 musste er sich gerade befinden. Er fand diesen Mann in Hahlen Geoffrey Nottingham, einem Technologieunternehmer und Milliardär, dessen Hauptbüro im Research Triangle Park in Raleigh, North Carolina, lag. Nottingham machte Überstunden. Er hatte alles, was Baanraak brauchte. Baanraak wartete, bis Nottinghams Sekretärin, die ebenfalls Überstunden machte und in diesem Augenblick irgendeine Arbeit mit ihrem Chef besprach, in ihr eigenes Büro zurückkehrte. Dann trat Baanraak direkt vor Nottinghams Bürotür durch das Tor, zog die Tür hinter sich zu und verschloss sie. Er drehte sich um, und Nottingham starrte ihn an, einen Augenblick lang versteinert vor Schreck, Ungläubigkeit
und Entsetzen. Kein Wunder - Baanraak sah nicht aus wie ein Mensch. Er sah aus wie eine Masse aus rohem, rosafarbenem Fleisch auf einem zweibeinigen Gerüst. Nottingham holte tief Luft, um zu schreien, und in dem Sekundenbruchteil, bevor er es tat, drang Baanraak in Nottinghams Geist ein und brachte ihn zum Schweigen. Nein, sagte er in die Gedanken seines Opfers hinein. Weder das noch der Summer, um deine Sekretärin zu rufen. Er ließ Nottinghams Muskeln erstarren. Dann ging er durch das Büro, das viele Fenster hatte, einen dicken Teppich und einen riesigen Ebenholzschreibtisch, trat vor den Mann in seinem Seidenanzug und seiner Clubkrawatte, streckte seine klobigen Finger aus und legte sie auf Nottinghams Gesicht. Er ließ sich Zeit. Baanraak nahm Nottinghams Erinnerungen in sich auf: Namen und Hintergrundinformationen über Freunde und Geschäftspartner, Kenntnisse von Orten, Kontodaten und Passwörtern, Verbindungen im Geschäftsleben und schmutzige, kleine Geheimnisse. Gleichzeitig absorbierte er auch Nottinghams zelluläre Information - Körper304 Zusammensetzung, Blutgruppe, Knochenstruktur, Hautbeschaffenheit, Finger- und Netzhautabdrücke, Haarstruktur und Wachstumsmuster. Als er fertig war, war er eine perfekte Kopie von Nottingham; er wusste alles, was Nottingham wusste, konnte Nottinghams Geschäfte weiterführen, ohne den geringsten Fehler zu machen, und würde für kein normales menschliches Wesen als Betrüger zu entlarven sein. Er war Nottingham wenn Nottingham ein Gott gewesen wäre. Silber und Gold zeichneten ihn natürlich noch immer; Unsterblichkeit zeichnete ihn. Aber diese Zeichen konnte er vor den meisten derjenigen verbergen, die ihn zu durchschauen vermochten. Er konnte selbst den vorsichtigsten alten Göttern begegnen, selbst den paranoidesten dunklen Göttern. Überdies konnte er sich in Kreisen bewegen, die vornehm genug waren, um ihm praktisch absolute Handlungsfreiheit zu gewähren, umgeben von Menschen, deren Aufgabe darin bestand, ihn zu decken und ihm zu Anerkennung zu verhelfen. »Mein Problem besteht jetzt darin«, sagte er mit Nottinghams kultiviertem Oberklasseakzent, »dass ich nicht zwei von uns gebrauchen kann.« Nottinghams Augen traten aus den Höhlen, und wieder versuchte er zu schreien, aber Baanraak gestattete es ihm nicht. »Dein Geschrei würde mir Schwierigkeiten machen.« Baanraak stand nackt neben Nottinghams Schreibtisch und strich dem Mann mit einem Finger über die Wange. »Du hast dich bestens darauf verstanden, ein sehr böser Bube zu sein. Und jetzt wirst du diese Kunst noch verfeinern. Deine Freunde werden erstaunt sein. Aber du wirst leider nicht mehr da sein, um deinen Spaß daran zu haben.« Nottinghams Körper ging in Flammen dunklen Feuers auf, in einer Abwesenheit von Licht, das durch ihn hin305 durchzüngelte, während er sich krümmte und dagegen ankämpfte - allerdings lautlos. Baanraak wollte keinen Lärm, erst recht nicht, solange die Sekretärin im Nebenzimmer saß. Von draußen wurde am Türknauf gerüttelt, und Baanraak sagte, so laut, dass seine Stimme durch die Tür dringen musste: »Ich verstehe, Jim. Ich werde meinen Terminplan ändern müssen, aber Susan ist noch hier. Ich kann ihr die Sache sofort übergeben. Heute Abend fahre ich dann in die Stadt, damit wir uns morgen früh gleich als Erstes zusammensetzen können.« Er hielt inne und lächelte Nottingham an, der - hellwach und bei vollem Bewusstsein - Atom für Atom zerrissen wurde und die Höllenqualen in tödlichem Schweigen erleiden musste. Baanraak schwieg unterdessen kurz, um seinem angeblichen Gesprächspartner Zeit für eine Antwort zu geben, dann sagte er: »Ich denke, ich kann in fünfzehn Minuten aufbrechen, wenn du mich heute Abend noch sprechen willst. Du weißt, wie lange ich brauchen werde, um dort zu sein ... nein. Ich werde selbst fahren. Ich möchte lieber meinen eigenen Wagen dabeihaben, und ich würde es vorziehen, für den Augenblick sonst niemanden in die Sache einzuweihen.« Eine weitere Kunstpause. »Geht in Ordnung. Wir treffen uns dann dort, sobald ich es einrichten kann.« Nottingham, der von Baanraaks Todesfeuer fast zur Gänze verbrannt war, verblasste. Baanraak konnte sich seine Todesenergie einverleiben, konnte sich an frischem Sterben, frischer Qual gütlich tun, konnte ... konnte ... und sollte einen solchen Leckerbissen nicht verschwenden. Ein kleiner Vorgeschmack auf den Tod von Welten, aber frisch und intim, nicht sättigender als ein Donut, aber für den Augenblick ein Genuss für den Gaumen und ebenso befriedigend. Stattdessen ließ er sich den Tod entgleiten, ohne davon 306 zu kosten. Dann beschleunigte Baanraak, angewidert von sich selbst, die Auflösung von Nottinghams Fleisch, und der Körper des Mannes verschwand binnen eines Wimpernschlags, während seine Kleider unversehrt zurückblieben. Baanraak zog sie an, und der Zorn in ihm wuchs. Vergiftet vom Silber, hatte er sich einen Tod entgehen lassen, der von geradezu perfekter Süße gewesen war, gewürzt mit Entsetzen, Schmerz und Ungläubigkeit; er hatte sich nicht an der ihm von der Natur zugedachten Speise gütlich getan, obwohl sein Hunger danach so groß war, dass es schmerzte. Vergiftet vom Silber. Und er dachte daran, Molly gefangen zu nehmen und zu seiner Erbin zu machen, obwohl
er sie eigentlich hätte vernichten sollen. Sie hatte das Silber in ihm geweckt, das durch lange Zeitalter von Welten, die inzwischen tot und verloren waren, in ihm geschlummert hatte - oder das er zumindest mühelos hatte ignorieren können. Er war unversehrt, unberührt und unvernarbt durch Hölle um Hölle gegangen und hatte sich nicht nach seiner eigenen verlorenen Welt gesehnt und auch nach keiner anderen der vielen verlorenen Welten. Er hatte weder um die Toten getrauert noch an ihrem Schmerz gelitten. Bis Molly gekommen war. Silber. Das Metall der Ordnung, der Wächter des Universums gegen die Untoten und ein Brandmal, ein weiß glühendes Schüreisen, das nun in sein Fleisch gebohrt worden war, um dort unablässig zu brennen. Er schloss die Augen und ließ sich sachte in die Stille in den Tiefen seines eigenen Wesens fallen, jenen Ort, der jenseits von Atem und Wahrnehmung lag, an dem er Geist ohne Körper wurde, Vernunft ohne Ablenkung. An jenem Ort sah er sich Molly genau an. Er wollte ihre Kameradschaft, weil sie auf allen Welten das einzige Geschöpf war, das so war wie er. Und er wollte ihre Vernich307 tung, denn wenn sie nicht mehr da wäre, würde er keinen Spiegel seiner selbst mehr sehen, und er konnte wieder in der Stille leben, die er für sich geschaffen hatte und in der ihn die Welten mit all ihrem Lärm nicht erreichen konnten. Die Waage neigte sich weder zur einen Seite noch zur anderen und half ihm nicht, seinen Weg zu finden. Innerhalb seines Schweigens betrachtete er sich selbst. Er wollte Baanraak sein, wie er immer gewesen war. Und das hätte eigentlich ganz einfach sein müssen - es hätte einen klar umrissenen Weg geben müssen, auf dem er sein Ziel erreichen konnte. Nur dass er soeben wiederentdeckt hatte, was ihm vor so langer Zeit abhanden gekommen war: dass er der sterbliche Baanraak gewesen war, bevor er zum ewigen Baanraak geworden war, und dass das lebende Silber sich nach dem sterblichen Baanraak sehnte, mit einer Macht, die dem kalten Hunger des Goldes nach dem ewigen Baanraak gleichkam. Keine Orientierung. Er hatte keine Orientierung. Er war ein Kompass an einem Ort mit zwei Nordpolen, hin und her gerissen zwischen Pol und Pol, hilflos zuckend angesichts dieser schrecklichen Verschiebung im Fundament seines Universums, er, der einst unerschütterlich und niemals wankend gewesen war. Seine Welt war zerrissen. Aber er würde Lauren finden, und auch sie würde er in seine Gewalt bringen, und wenn er Molly erst in seinem Besitz hatte, würde er wissen, was zu tun war. Dann würden sie beide einander gegenüberstehen, und sie würden sich entweder anziehen oder abstoßen, und dann würde er wissen, welchem Weg er folgen musste. Baanraak atmete tief ein und kehrte in die Welt zurück, in das Büro, in das Jetzt. Es wurde Zeit weiterzuziehen. Er griff nach seiner Aktentasche, überzeugte sich davon, dass er Handy, Autoschlüssel, PDA und andere notwendige 308 Dinge eingesteckt hatte, und ging in das Büro seiner Sekretärin. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Fragen Sie nicht. Was Sie nicht wissen, kann man Ihnen nicht anlasten. Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich diesmal fortbleiben werde. Übergeben Sie Larry den Triex-Deal, verlegen Sie meine Termine, so dass die Senior-Partner sich darum kümmern können, und rufen Sie sie alle heute Abend an und sagen Sie ihnen: >Ruby Bowman hat gegen die Fusion sein Veto eingelegte Haben Sie das?« Sie war eine gute Sekretärin - sie fragte nicht nach dem Warum und Wieso. Sie notierte sich seine Anweisungen -aber nicht den Satz über Ruby Bowman, der ein Code war und im Wesentlichen so viel bedeutete wie: »Die Kacke ist am Dampfen; versteckt oder vernichtet alle Beweise und schiebt alle illegalen Geschäfte in die Warteschleife. Tut so, als wäret ihr blütensauber, bis Gras über diese Sache gewachsen ist.« Mit diesem Satz würde er verhindern, dass seine Partner nach ihm suchten, wenn er nicht wieder auftauchte. Die Partner würden vermuten, dass er nach Brasilien oder Argentinien gegangen war, dass er sich versteckt hielt und wieder auftauchen würde, wenn die Wogen sich geglättet hatten. In der Zwischenzeit würde Baanraak alle Freiheit haben, mit unbegrenztem Zugang zu Nottinghams Geld, seiner Persönlichkeit, seiner Macht und seinem wunderbaren Wagen. Er brauchte sich keine Gedanken über dürftige Lügengeschichten oder gefälschte Ausweise zu machen - er war genau der, für den er sich ausgab, und er konnte das auf jede erdenkliche Art und Weise belegen. 17 Rockingham, North Carolina Raymond Smetty wandte sich zu Louisa Täte um. »Jetzt hättest du noch die Chance auszusteigen«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist dir ganz sicher, dass wir das Büro in Fayettevil-le nicht verständigen sollen?«, hakte er nach. »Von Charlotte aus werden alle einhundert Bezirke im Staat kontrolliert. Wenn wir Fayetteville hinzuziehen, werden wir am Ende ohnehin mit Charlotte reden müssen, und auf die Weise würden wir Zeit verlieren. Wir müssen sie aus dem Weg haben.« Louisa schnaubte verärgert und sagte: »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, mein Junge.« »In Ordnung«, erwiderte er. Jetzt, da sie beide hier waren, hatte er das Vertrauen in die Idee verloren. Er war sich nicht sicher, ob er die Sache durchziehen konnte, ohne alles zu vermasseln, und er fühlte sich ernsthaft versucht, die ganze Angelegenheit Louisa zu überlassen, die ins Internet gegangen war und die Informationen
zusammengetragen hatte. Aber es war seine Idee gewesen. Eine gute Idee. Er holte tief Luft. »Gib mir die Sachen.« Sie reichte ihm einen dünnen Stapel Papiere, die an der linken oberen Ecke aneinander geklammert waren. Es handelte sich um Ausdrucke der Website des FBI von Charlotte. Raymond blätterte die Papiere durch, bis er das Blatt gefunden hatte, nach dem er suchte: FBI - Büro Charlotte Leitender Special Agent: Fred Buchanan 310 Vertretung: Loren Hammersmith Koordinator Vollzugsdienst: Dave Boehm Koordinator Datensammlung InfraGard: Patty Dawson Darunter befand sich eine Liste von Telefonnummern. Er entschied sich für die Hauptnummer und lauschte, das Herz in seiner Kehle schlagend, auf das Klingeln des Telefons am anderen Ende der Leitung. Ich könnte immer noch aussteigen. Ich könnte. Ich könnte einfach die Finger davon lassen, tun, was Eric gesagt hat, und die ganze verdammte Angelegenheit auf sich beruhen lassen ... Und dann: »FBI, Büro Charlotte, Gracie MacDeel am Apparat. Was kann ich für Sie tun?« Raymond stotterte und druckste herum, bis er schließlich hervorstieß: »Ich möchte einen M-M-Mord anzeigen. In einem Fass in Cat Creek in North Carolina liegt die Leiche eines ... eines Ausländers ... und ich weiß, wer ihn getötet und wer den Leichnam dort versteckt hat.« Eine winzige Pause entstand. »In Ordnung. Haben Sie den Vorfall der örtlichen Polizeibehörde gemeldet?« »Das kann ich nicht«, antwortete Raymond. »Einer der Leute, die den Mord begangen haben, ist bei der örtlichen Polizeibehörde. Wenn ich auch nur ein Wort sage, bin ich ein toter Mann. Der Name des Mörders ist Pete Stark, und er ist der Vertreter des Sheriffs von Cat Creek.« »Pete ... Stark. Cat Creek. In Ordnung.« Er hörte, wie mit einem Bleistift auf Papier gekritzelt wurde, dann sagte die Frau: »Bleiben Sie bitte in der Leitung.« Er tat wie geheißen, obwohl er plötzlich dringend zur Toilette musste und den heißen Wunsch verspürte, er hätte irgendeine Möglichkeit gefunden, Lauren, Pete und vielleicht auch Eric loszuwerden, ohne Gespräche mit dem FBI zu führen. Ursprünglich hatte diese Idee ihm gut gefallen 311 bis er nun in einer öffentlichen Telefonzelle stand und Louisa ihn mit ihren Fischaugen anstarrte. »Hier spricht Fred Buchanan«, sagte ein Mann am anderen Ende der Leitung, und Raymond hätte am liebsten den Hörer fallen gelassen. Der Bursche klang nicht so, als wäre er zu Spaßen aufgelegt - wahrscheinlich hatte er sich in seinem ganzen Leben noch nie einen Scherz erlaubt -, und Raymond konnte sich in seiner Vorstellung ein ziemlich gutes Bild von ihm machen. Fred Buchanan war, nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen, ungefähr einen Meter achtzig groß, wog dreihundert Pfund, die komplett aus Muskeln bestanden, und verspeiste kleine Kinder zum Frühstück. Raymonds Eier krochen in seinen Bauch hinein, um sich dort zu verstecken, und in diesem Moment wünschte er sich, er brächte den Mut auf, den Hörer einfach fallen zu lassen und der Telefonzelle schleunigst den Rücken zu kehren. Aber er konnte sich nicht aus dem Bann der Stimme lösen, die nun sagte: »Sie haben Pete Stark aufgespürt, ja? Können Sie ihn mir beschreiben?« Raymond schluckte, was nicht einfach war, da seine Zunge sich in Sand verwandelt hatte und sein Mund so trocken wie die Hölle selbst geworden war. »Ahm, ja, Sir«, antwortete er. »Er ist etwa dreißig Jahre alt und etwa einen Meter achtzig groß, schätze ich. Helles, kurzes Haar, helle Augen. Ein ziemlich kräftiger Bursche.« »Irgendwelche Narben?« »Nein, Sir. Nicht, soweit ich gesehen habe.« Er legte eine Hand über das Mundstück. »Hat Pete Stark irgendwelche Narben?« Louisa zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Lauren würde das vielleicht wissen. Apropos Lauren - vergiss nicht, ihm auch von ihr zu erzählen.« Raymond nickte. Er war ein Wächter. Er sollte sich nicht von einem x-beliebigen FBI-Lakaien einschüchtern lassen. 312 Sollte er wirklich nicht. Er holte tief Luft, gestand sich ein, dass er eingeschüchtert war, und sagte: »Keine Narben, soweit wir gesehen haben, Sir.« »Ihre Beschreibung klingt nach einem Mann, nach dem wir schon seit einer ganzen Weile suchen«, sagte der FBI-Agent. »Falls es sich um unseren Mann handelt, dann ist er gefährlich.« Eine Pause. »Kennt er Sie?« »Ja, Sir«, antwortete Raymond und warf Louisa einen verzweifelten Blick zu. »Aha. Das ist nicht gut. Er ist gefährlich. Sehr gefährlich.« »Hm, ja«, sagte Raymond. Ihm war leicht übel, aber er fühlte sich auch gerechtfertigt. Passte es nicht ins Bild, dass Pete Stark vom FBI gesucht wurde? War das nicht die Krönung des Ganzen? »Ich komme sofort zu Ihnen runter«, erklärte der FBI-Mann. »Sie können mir zeigen, wo Stark sich versteckt und wo die Leiche liegt. Außerdem können Sie mir dann auch gleich seine Komplizen nennen ...« Raymond fiel ihm ins Wort. »Wir können uns unmöglich in Cat Creek treffen. Wir haben es nicht einmal gewagt, ein Telefon in Cat Creek zu benutzen. Es ... es ist einfach nicht sicher.« Wieder folgte eine Pause. »Dann kommen Sie nach Charlotte. Wir treffen uns hier im Büro, und ich sorge dafür,
dass Ihnen beiden nichts zustößt.« Charlotte. Eine Fahrt in die große Stadt konnte funktionieren, dachte Raymond. Er und Louisa konnten sich einen Tag freinehmen, rüberfahren und mit diesem Mann reden. Raymond hielt das Mundstück zu und sagte: »Er möchte, dass wir uns in Charlotte mit ihm treffen. Pete wird vom FBI gesucht. Wir werden den Wächtern einen Gefallen tun.« Louisa dachte eine Sekunde lang nach, dann nickte sie. »Lass dir einen Termin geben.« »Heute?« 313 »Nein. Ich habe die Wache, und ich habe noch nie eine Schicht versäumt. Es wäre nicht gut, daran jetzt etwas zu ändern. Morgen?« Raymond fragte den FBI-Agenten: »Morgen? Haben Sie samstags geöffnet?« »Für Laufkundschaft ist das Büro von Montag bis Freitag geöffnet, aber ich werde morgen da sein. Ich sehe Sie also gleich morgen früh«, fügte Buchanan hinzu. »Kennen Sie sich so weit in der Stadt aus, dass Sie uns finden?« Raymond kannte sich bisher nicht einmal in Rockingham aus, geschweige denn in Charlotte. Aber Louisa hatte ihr ganzes Leben in der Gegend gewohnt, und sie konnten sich einen Stadtplan aus dem Internet ziehen. Außerdem hatte er langsam ein unangenehmes Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Er wollte das Telefongespräch so bald wie möglich beenden. Also nannte er dem FBI-Agenten hastig seinen Namen und den von Louisa, erklärte, dass sie das Büro finden würden und dass sie um zehn Uhr da sein konnten. Als er den Hörer auflegte, schwitzte er. Er drehte sich zu Louisa um und sagte: »Wir müssen diese Sache durchziehen, ohne dass irgendjemand von unserer Beteiligung daran erfährt. Wenn die Wächter jemals dahinterkommen, dass wir einen von unseren eigenen Leuten beim FBI angezeigt haben, sind wir tot.« Louisa zuckte die Achseln. »Sobald sie herausfinden, was Pete, Lauren und ... Molly« - sie spie den Namen der jungen Frau förmlich aus - »getan haben, wird es sie kaum noch interessieren, wie das FBI in die Sache verwickelt worden ist. Mach dir um uns keine Gedanken. Wir werden vorsichtig sein, bis die ganze Geschichte vorbei ist, und danach werden wir Helden sein.« 314 Cat Creek, North Carolina Pete saß neben Lauren auf ihrer Hollywoodschaukel und sah zu, wie Jake komplizierte, nicht identifizierbare Dinge aus Legosteinen zusammenbaute. »Bist du dir sicher, dass du nicht noch einmal über Heyrs Angebot, dich zu einer Unsterblichen zu machen, nachdenken willst?«, fragte er sie. In dieser vollkommen vernünftigen Frage, die er in einem beinahe beiläufigen Tonfall stellte, verbarg sich Petes eiskalte Panik, dass sie jeden Augenblick getötet werden konnte und dass er direkt an ihrer Seite sein würde und trotzdem nichts tun konnte, um sie zu retten. »Es läuft alles auf die Frage hinaus, woher ich meine Magie beziehe ...« Sie blickte auf Jake hinab. »Es geht zum größten Teil um Liebe. Und um Angst. Es geht praktisch ausschließlich um nackte Gefühle - nicht um Gefühle, an die ich mich nur erinnern kann, sondern darum, was ich in dem Augenblick, in dem ich die Verbindungen zwischen den Welten herstelle, empfinde. In gewisser Weise bin ich mit diesen Verbindungen eins - und wenn ich in Sicherheit wäre und nicht mehr um mich selbst zu fürchten hätte, weiß ich nicht, ob ich diese Verbindungen noch länger herstellen könnte.« Pete sah ihr in die Augen und strich ihr mit dem Daumen über die Wange. »Ich kann diese Liebe spüren, wenn du deine Tunnel anlegst. Ich kann die Stärke und die Leidenschaft in dir spüren.« Er holte tief Atem und beschloss, eine Frage zu stellen, die ihn seit dem Essen mit Heyr und den übrigen Möchtegern-Unsterblichen umtrieb. »Wäre es das Gleiche, wenn du ... einen anderen ... so lieben würdest? Glaubst du, dass du, wenn du dich wieder verlieben würdest, nicht mehr so viel von dir selbst in den Wiederaufbau der Magie hineingeben könntest?« 315 Sie sah ihn lange an, und ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Dann schlang sie plötzlich ohne jede Vorwarnung die Arme um seinen Hals und küsste ihn mitten auf die Lippen - es war ein heftiger, leidenschaftlicher Kuss, der sein Blut schneller durch seine Adern schießen ließ und seinen Herzschlag gewaltig beschleunigte. Bevor er jedoch reagieren konnte, löste sie sich von ihm und sagte: »Das glaube ich ganz und gar nicht. Und obwohl mir dieser Gedanke jetzt gerade eben überhaupt nicht gekommen ist, wäre mehr Liebe in meinem Leben wohl eine gute Sache. Glaube ich.« Sie runzelte die Stirn, und er wartete darauf, dass die Schuldgefühle in ihren Augen aufflackern würden. Aber nichts dergleichen geschah. Lauren biss sich auf die Unterlippe. »Ich werde noch ein wenig nachdenken müssen, Pete. Genau betrachtet werde ich sogar sehr gründlich nachdenken müssen - aber ...« Ihre Stimme verlor sich, und sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.« Pete nickte. Er wagte es nicht länger zu hoffen, aber er konnte den Kuss noch immer auf seinen Lippen spüren. »Es läuft auf Folgendes hinaus. Du wirst tun, was du tun musst, um diese Sache zu überstehen. Ich werde dir dabei helfen, so gut ich irgend kann. Ich bin für dich da, und ich werde dafür sorgen, dass ich immer für dich da sein werde.« Ich liebe dich, dachte er, aber das war etwas, das er nicht auszusprechen wagte. Noch nicht.
Sie beugte sich vor und griff nach seiner Hand. »Ich danke dir.« Er drückte sanft ihre Finger. »Heyr möchte uns so bald wie möglich nach Kerras bringen, um ... uns zu verwandeln. Er möchte, dass du uns mit Jake begleitest, damit er auf euch aufpassen kann.« Lauren nickte. »Ich werde euch begleiten, wenn ihr eure Verwandlung durchlauft.« Sie lächelte schwach. »Selbst 316 wenn ich es nicht tun müsste, würde ich es trotzdem tun wollen.« Pete sah auf seine Armbanduhr und seufzte. »In fünfundvierzig Minuten muss ich mich zum Dienst melden. Ich schätze, ich sollte vorher nach Hause fahren und mich umziehen.« Lauren nickte. »Wir sehen uns dann später.« »Wirst du zurechtkommen?« »Heyr ist da.« »Natürlich«, sagte Pete, doch in seiner Stimme schwang keine Dankbarkeit mit. Heyr konnte Laurens Sicherheit gewährleisten, während er selbst das nicht konnte - noch nicht. Aber das bedeutete nicht, dass er glücklich über die Anwesenheit des alten Gottes war. Heyr machte kein Hehl aus seinem Interesse an Lauren - ebenso wenig wie er ein Hehl aus seinem Interesse an Betty Kay oder an Darlene machte ... Die Richtung, in die seine Gedanken wanderten, gefiel Pete überhaupt nicht. Er und Lauren standen auf, er umarmte sie hastig und wartete, während sie und Jake ins Haus gingen. Dann wandte auch er sich zum Gehen. Nach seiner Schicht auf dem Revier sollte er zum Unsterblichen gemacht werden. Einen Augenblick lang erschien ihm dieser Gedanke komisch - bis ihm die Konsequenzen wieder bewusst wurden. Irgendwo weit unten in der Weltenkette - Baanraak vom Anfängergold Baanraak lag der Länge nach ausgestreckt unter einer glühenden Wüstensonne auf einem breiten, heißen Felsen und fühlte sich elend. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er fühlte sich zerrüttet. Gebrochen. Er wusste, dass er wusste, wie er seine Umrisse verblassen lassen konnte. Wusste, 317 dass er wusste, wie er sich unsichtbar machen konnte für das Opfer, das er ausspionieren wollte, denn er konnte sich daran erinnern, wie er sich früher in Licht gehüllt hatte, um sich allen Blicken zu entziehen. Er konnte sich an herrliche Stille erinnern, an das Schweigen des Geistes und an das Schweigen des Körpers. Er wusste, dass er in sich nicht nur die Beherrschung seiner eigenen Gedanken trug, sondern auch die Herrschaft über die Gedanken anderer dunkler Götter. Aber nichts, was er tat, wollte ihm gelingen. Er konnte sein Schweigen nicht finden, er konnte sich nicht unsichtbar machen, und er konnte nicht begreifen, was ihm zugestoßen war. Es war, als sei ein Teil seiner selbst verschwunden. Als sei der größte Teil von ihm verschwunden. Und genauso fühlte er sich, seit er ins Leben zurückgekehrt war. Er glaubte nicht, dass das ein Zufall war. Sie hatte ihm das angetan - was immer geschehen war, es war ihre Schuld. Sie hatte geglaubt, ihn zu vernichten, und offensichtlich hatte sie gleichzeitig den Plan verfolgt, ihn, falls sie scheitern sollte, zu einem zahnlosen Nichts zu machen. Aber er war nicht zahnlos. Beschädigt, ja - aber nicht so beschädigt, dass er nicht gewusst hätte, wie er darauf reagieren musste. Was immer sie ihm angetan hatte, hatte ihm seine Klarheit und seine Entschlossenheit zurückgegeben, auch wenn es seine Fähigkeiten als Jäger untergraben hatte. Er konnte nicht verstehen, warum er früher einmal den Wunsch gehabt hatte, sie zu besitzen; welche bizarren Winkelzüge hatte sein Geist unternommen, um auf eine derart idiotische Idee zu verfallen? Sie hatten nichts gemeinsam - er fühlte sich ihr nicht näher als jedem anderen Stück Fleisch. Was immer sie ihm angetan hatte, hatte ihn von dieser Illusion geheilt. Denn er wusste endlich ganz genau, 318 was er mit Molly, der Vodi, tun wollte. Er musste sie finden, sie töten und ihren Auferstehungsring vernichten. Wenn sie tot war und Staub, und wenn er sicher sein konnte, dass sie nicht zurückkehren würde, dann würde er in diese stille Welt tief unten entlang der Weltenkette zurückkehren. Hier würde er an den Ort zurückfinden, an dem das Schweigen war. Er würde all die Dinge, die er verloren hatte, von neuem lernen. Er würde sich das Licht zurückerobern und es wie einen Schild um sich schlingen, würde die Zuwege zu den Geistern der dunklen Götter finden, würde wieder der Baanraak werden, vor dessen Angesicht die Lebenden weinten und die dunklen Götter erschauerten. Sie würde ihn nicht bezwingen. Ihre Magie würde sie im Stich lassen, und sie würde stürzen, während er weiterexistieren würde. Er erhob sich von seinem Felsen und breitete die Flügel aus. Zeit für die Jagd. Von Cat Creek nach Kerras Es war Samstagmorgen, Cat Creek lag grau in grau und trostlos da, die Blätter fielen, die Baumstämme glänzten schwarz wie die Straßen, und kein Farbtupfer weit und breit milderte den grimmigen Eindruck des Tages. Regentropfen klatschten und spritzten, und die feuchte Kälte ging Lauren unter die Haut. Die Helden trafen sich in dem Schuppen hinter ihrem Haus, in der alten Werkstatt ihres Vaters. Sie hatte ein Tor für sie errichtet, Heyr hatte es ausprobiert, und sie beide hatten bestätigt, dass der Rrön, der die Enklave von Leben auf Kerras geschaffen hatte, fort war. »Wir haben niemanden, der die Tore bewacht«, bemerkte Eric. »Louisa ist gestern Abend nach ihrer Schicht zu ei-
319 ner kranken Cousine gefahren, und diesen Idioten, Raymond, konnte ich nicht erreichen. Daher müssen wir diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter uns bringen, damit nichts mit den Toren passieren kann, während wir fort sind. Aber ...«Er grinste schwach. »Es hat auch einen Vorteil, wenn wir uns beeilen, denn auf diese Weise werden unsere beiden Nervensägen keinen Verdacht schöpfen.« »Es wird nicht lange dauern«, erklärte Heyr. Er sah die Wächter nacheinander eindringlich an. »Denkt daran - ihr könnt eure Entscheidung jederzeit wieder umstoßen. An diesen Gedanken werdet ihr euch klammern müssen. Prägt ihn euch gründlich ein, denn nach dem heutigen Tag wird das Denken für eine ganze Weile sehr schwierig und schmerzlich sein.« Er seufzte. »Ich würde mir euch gern der Reihe nach vornehmen und euch langsam im Laufe einiger Wochen einführen, so dass ihr Zeit hättet, euch an die Veränderungen zu gewöhnen, bevor ich den Nächsten von euch auf seinem Weg begleite. Aber wir haben kein Jahr Zeit, um so langsam vorzugehen. Ich glaube nicht, dass wir überhaupt viel Zeit haben. Wochen. Vielleicht nur Tage. Ich habe das Ende von Welten schon früher miterlebt, und es fühlt sich für mich so an, als zöge die Nachtwache ihr Netz um diese Welt immer enger. Also ... wenn wir gegen sie kämpfen wollen, wenn wir um diese letzte menschliche Welt kämpfen wollen ...«Er holte tief Luft. »Dann müssen wir es jetzt tun.« Und das war es. Lauren nahm Jake auf den Arm, und die Wächter traten, einer nach dem anderen, durch das Tor. Als sie drüben waren, folgte Lauren ihnen mit Heyr. Sie waren im Begriff, die Unsterblichen einer neuer Mythologie zu erschaffen. Es war ein elender Tag, um in den Kampf zur Rettung der Welt aufzubrechen, ein Ereignis, für das es keine Vorboten gab, das niemand besonders würdigen würde, über das man keine Lieder schreiben würde. 320 Wenn sie versagten, würde nie jemand davon erfahren. Aber wenn sie Erfolg hatten ... Auch dann würde es nie jemand erfahren. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf schwebte Lauren durch Unendlichkeit und Ewigkeit und trat auf der anderen Seite in eine Welt hinaus, die ihr von ihrem letzten Besuch noch gut in Erinnerung geblieben war. Es war damals eine Welt gewesen, in der es nichts als Kälte und Dunkelheit gegeben hatte, eine luftlose Welt aus Eis und Stein. Jetzt befand sie sich in einem Zustand, wie er auf der Erde während des Jura geherrscht hatte, und sechsbeinige Dinosaurier sangen ihr seltsames, fremdartiges Lied. Lauren spürte die Liebe in dieser Welt und war zutiefst gerührt. Wer immer Leidenschaft und Hoffnung und Sehnsucht in diesen Ort hatte fließen lassen, hatte ein winziges, vollkommenes Juwel geboren. Sie alle standen nun auf dem Felsen, auf dem sie den schlafenden Rrön gesehen hatten, und einen Augenblick lang ließen sie einfach das Kunstwerk auf sich wirken, das irgendjemand aus dem Nichts geschaffen hatte. Die Sonne sah warm aus, ein sanfter Wind wehte, Insekten summten in den hohen Gräsern, überall waren Vögel, und am Fuß des Felsens grasten Tiere aller Größen oder dösten an den Ufern eines schimmernden Sees, der am Rand saphirblau schimmerte und sich in der Mitte zu einem bodenlosen Schwarz verdunkelte. Das Wasser war so klar, dass Lauren Fische unter der Oberfläche schwimmen sehen konnte, und wenn es die Größe der Tiere nicht verzerrte, hätte ein jedes davon ein ausreichendes Mittagessen für sie und Jake abgegeben. Diese Welt sah nicht so aus, als wäre sie für Menschen gefahrlos zu bewohnen, aber sie war unvorstellbar schön. Hübsche Dinosaurier, sagte Jake zu ihr. Er sprach direkt in ihre Gedanken hinein. Keiner der Wächter hatte einen festen Körper - sie alle waren Gespenster oder Musen, 321 Geister vielleicht oder belebte Schatten. Heyr war der Einzige unter ihnen, dessen Körper Substanz besaß, der Einzige, durch den Lauren nicht hindurchsehen konnte. Sie konnte auch die Luft nicht riechen oder die Wärme der Sonne fühlen. Dafür war sie nicht gerüstet. Aber sie wäre es gern gewesen. Schließlich wandte Heyr sich an Pete und sagte: »Bist du so weit?«, und Lauren konnte das schwache Wispern hören, das Petes Antwort war. »Mach schon.« Heyr streckte eine Hand aus und ließ sie durch Pete hindurchgleiten. Er trat ein kleines Stück zurück, und plötzlich füllte Pete sich von innen nach außen mit Licht - einem Licht, das so hell und so schön war, dass es Lauren gleichzeitig verblüffte und wärmte. Sie hatte solches Licht schon einmal gesehen - in dem Augenblick, als sie im Kampf um ihren Sohn die Verwalter der Hölle herausgefordert und in das Antlitz des ewigen Ich bin gesehen hatte. Dieses Licht war sichtbar gewordenes Leben, sichtbar gewordene Liebe. Es war ein Wunder. Und sie verzehrte sich danach - verzehrte sich nach seiner Berührung, nach seiner Macht und seinem Trost. Vor ihren Augen wurde Pete von einem Leuchten erfüllt, so strahlend wie ein Stern, ein Geschöpf von unvorstellbarer Schönheit. Jake streckte die Hand nach Pete aus, und Lauren verstand ihn vollkommen. Auch sie wollte auf ihn zugehen und alles in sich hineinziehen, was ihn ausmachte. Dann verblasste das Licht, und Pete war wieder Pete -aber jetzt besaß er einen festen Körper und stand deutlich sichtbar neben Heyr auf dem Felsen. Er blickte an sich selbst hinab, berührte sein Hemd, seine Hose, seine Arme und seine Hände. Strich sich übers Gesicht. »Das war's?« Er sah Heyr an. »Ich fühle mich großartig«, sagte er. »Aber ... normal.«
322 »Hier bist du auch normal. Wenn wir zur Erde zurückkommen, wirst du ein alter Gott sein. Und wenn du in das Leben der Welt hineingreifst und dich daran bindest, wirst du zu einem Unsterblichen werden. Dann ... dann kommt der Schmerz. Es ist echter Schmerz, Pete. Ich habe nichts übertrieben, um die Dinge schlimmer darzustellen, als sie sind. Du wirst ebenso verwundbar wie die Welt, an die du dich bindest. Und du wirst verwundbar sein, sobald du diese Bindung löst und zwischen den Welten hindurch in eine andere Welt gehst; und um dort unsterblich zu sein, musst du dich für die Dauer deines Aufenthaltes dort an diese Welt binden, auch wenn du nur wenige Minuten dort bleiben willst. Wenn du es nicht tust, wirst du als Mittagessen irgendeines dunklen Gottes enden. Es ist nicht einfach; es ist nicht wie die Unsterblichkeit der Nachtwache, die keinerlei Anstrengung erfordert und die diesen Kreaturen stets anhaftet. Es ist gleichzeitig besser und schlechter. Du kannst nicht getötet werden, solange deine Welt lebt. Aber sie versuchen, deine Welt zu töten, und sie sind schon sehr nahe dran.« »Das weiß ich. Ich verstehe. Und ich bin bereit, zu tun, was ich tun muss.« Heyr nickte. »Wer ist der Nächste?« Lauren sah zu, wie Heyr sie alle mit diesem Licht erfüllte, wie er sie alle veränderte. Das könnte ich auch haben. Ich könnte es für mich haben und für Jake. Wir könnten dieses Licht spüren - wir könnten es in uns selbst aufnehmen. Aber sie blieb stark. Sie gestattete sich nicht, dieser Versuchung nachzugeben. Sie blieb die ganze Zeit über standhaft, während die Menschen, die sie kannte, zu alten Göttern wurden und sie hinter sich zurückließen. Sie tat das Richtige. Sie war sich beinahe sicher, dass sie das Richtige tat. 323 Von Kerras nach Cat Creek Heyr streckte die Hand aus, und Pete spürte, wie die Lebensenergie von Kerras und Heyrs Magie ihn erfüllten und verwandelten - die Magie war frisch und vital und lebendig und voller Liebe, und sie verströmte Laurens Gegenwart, verströmte ihre Berührung. Diese Welt war Laurens Geschenk, genauso wie sie das Geschenk desjenigen war, der diesen Ort geschaffen hatte. Und die allumfassende, vertrauensvolle, optimistische Liebe, die ihn wie ein Puls durchströmte, war das, was Lauren zu verlieren fürchtete. Wenn sie es verlor, wäre das eine unvorstellbare Tragödie. Vielleicht - vielleicht hatte sie Recht, wenn sie sich nicht zu einer Unsterblichen machen ließ. Eine schwere Last legte sich über ihn, und Pete brauchte wieder Luft zum Atmen, musste wieder gegen die Schwerkraft ankämpfen, ausgestattet mit Knochen, Muskeln und Blut. Er spürte, wie er aufhörte, ein Geist zu sein, und einen festen Körper erhielt. Es dauerte nicht lange, dann floss die Magie aus ihm ab, und er fühlte sich ... normal. Und beraubt. Er wollte dieses Licht für immer in sich fühlen, aber es war nicht nur das Licht - es war die Person, die das Licht an diesem Ort geformt hatte. Er blickte zu der Geistergestalt Laurens hinüber, die Jake auf dem Arm hielt. Es war ihre Liebe. Er wollte diese Liebe für sich haben. Er wollte sie. Und das war der Grund, warum er dies tat, nicht wahr? Tief in seinem Innern, unter der noblen Regung, die Welt vor der Zerstörung retten zu wollen, gab es da nicht einen Teil von ihm, der immer noch in der Abschlussklasse der High School saß, der sich wünschte, dass Celie McDermott ihm Beachtung schenkte, und der ihre Büchertasche trug und sie aufzog, damit sie ihn bemerkte? 324 Er hätte sich gern eingeredet, dass er nicht so oberflächlich war, wie diese Überlegungen vermuten ließen. Aber der Zyniker, der er auch war, flüsterte: »Hör mal, Freundchen, du bist genauso wie jedes andere männliche Wesen auf dem Planeten - du würdest eine Möglichkeit finden, über Wasser zu gehen, wenn du glaubtest, auf diese Weise in ihr Bett zu kommen.« Er beobachtete, wie Heyr die anderen Wächter veränderte, und das war ein erstaunlicher Anblick - aber es war nicht das, was er sich erhofft hatte. Er hatte eine bestimmte Vorstellung davon gehabt, wie Odin, Thor, Freyer, Loki und die anderen Götter von Asgard sich gefühlt haben mussten. Oder was das betraf, wie Zeus, Aphrodite und die Götter des Olymp sich gefühlt haben mussten. Er wollte das Gefühl haben, als könne er es mit allem aufnehmen - als könne er die Welt auf seine Schultern nehmen und sie in Sicherheit bringen. Und er wollte das Gefühl haben, dass die Leute, die an seiner Seite kämpften, dasselbe tun konnten. Stattdessen fühlte er sich einfach wie ein Mensch. Nicht wie etwas Besonderes. Dann blickte Heyr zum Himmel auf, zu den großen Vögeln, die sich dort formierten, und sagte: »Es wird Zeit heimzukehren.« Als sie in die Kälte, den Regen und den Trübsinn des ungemütlichen Tages von Cat Creek zurückkehrten, konnte Pete noch immer keine große Veränderung bei sich wahrnehmen. Die Kälte erschien ihm nicht mehr so schneidend wie bei seinem Aufbruch, aber das konnte ebenso gut am natürlichen Tagesgang der Temperatur liegen wie an seinem neuen Status als einer der alten Götter der Erde. Lauren, Jake und Heyr waren die Letzten, die durch das Tor traten. Pete fühlte sich besser, sobald er Lauren wieder in fester Gestalt vor sich sah. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Heyr Lauren.
325 »Alles bestens«, antwortete sie. »Es war hart, alle anderen zu beobachten und zu wissen, dass ich mich euch nicht anschließen würde ... Aber es geht mir gut.« Sie küsste Jake auf die Stirn. »Es geht uns gut.« »Schön«, sagte Heyr. »Dann musst du uns jetzt allein lassen. Geh ins Haus, sorg dafür, dass du dein Messer griffbereit hast, und halte Jake in deiner Nähe. Ich komme nach, sobald ich kann, und solange ich hier draußen bin, werde ich meine Fühler nach etwaigen Problemen ausstrecken. Aber ich kann diese Leute unmöglich sich selbst überlassen, und du wirst kaum wollen, dass Jake mit ansieht, was als Nächstes passiert. Gib einfach nur auf dich Acht.« Lauren öffnete den Mund, als wolle sie Einwände erheben, unterbrach sich dann jedoch mitten im ersten Wort und nickte nur. »Ich sehe euch dann, wenn ihr fertig seid.« Als sie fort war, drehte Heyr sich zu den anderen um, und das Lächeln war aus seinen Zügen verschwunden. »Jetzt wird es hart. Im Augenblick seid ihr hier auf der Erde alte Götter«, erklärte Heyr. »Aber ihr seid keine Unsterblichen. Die Unsterblichkeit ist eine Bürde, die ihr selbst ergreifen müsst. Ich kann euch sagen, wie ihr das machen müsst, aber ich kann es euch nicht abnehmen. Und ich kann euch nicht helfen, wenn die Last sich als zu schwer für euch erweisen sollte. Ich kann euch nur noch einmal sagen, dass ihr sie nicht zu tragen braucht, dass ihr wieder das werden könnt, was ihr jetzt seid. Wir können euch entweder in das zurückverwandeln, was ihr früher wart, oder ihr könnt schnell die Weltenkette hinunterflüchten, um zu verhindern, dass die Nachtwache auf euch aufmerksam wird.« Pete und Eric tauschten einen grimmigen Blick, bevor Eric verkündete: »Ich habe für ein paar Tage eine vorübergehende Vertretung aus Laurinburg kommen lassen. Wir können diese Angelegenheit jetzt gleich hinter uns bringen, 326 sofern wenigstens einer von uns bis Dienstag in der Lage sein wird, normal zu funktionieren.« »Ein verlängertes Wochenende«, sagte Terry. »Für mich heißt es entweder jetzt oder jedenfalls sehr bald.« »Für mich wird es keinen günstigen Zeitpunkt geben«, ergriff Betty Kay das Wort. »Ich habe lediglich eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen, mit der ich mich krank gemeldet und alle Kunden an Scott verwiesen habe. Es wird den Laden ein paar Aufträge kosten, aber ... ich bin eigentlich nicht mehr um des Geschäfts willen hier, auch wenn es großen Spaß macht.« »Wir sind so weit«, sagte June Bug. »Was müssen wir tun?« »Beim ersten Mal wird es am einfachsten sein, wenn ihr euch flach auf den Boden legt. Ob mit dem Gesicht nach oben oder nach unten spielt keine Rolle. In nacktem Zustand wäre es am besten, aber solange ihr mit bloßer Haut den Boden berührt, werdet ihr in der Lage sein, den Puls der Welt zu finden. Euer Wort wird jetzt euer Wille sein - was ihr sagt, wird geschehen, gerade so, als wäret ihr in einer der Welten unterhalb der Erde.« Er seufzte. »Kommt mit nach draußen. Es ist einfacher, wenn ich es euch zeige.« »Aber ...«, wandte Darlene ein, »draußen regnet es.« Pete fand Heyrs Reaktion darauf urkomisch, denn der alte Gott beschied ihr: »Die erste Regel der Unsterblichkeit: Manchmal wird man nass.« Alle anderen lachten, und nach einem kurzen Zögern brachte sogar Darlene ein leises Kichern zustande. Sie folgten Heyr in Laurens Garten hinaus, wo das dichte Gras bereits braun geworden war. In der Ferne konnten sie das leise Zischen von Autoreifen auf nassen Straßen hören, und der Wind wehte die Stimmen von Kindern zu ihnen hinüber, die irgendwo da draußen im Regen spielten. Es war kalt und ungemütlich, aber nicht unerträglich. 327 Heyr setzte sich in das nasse Gras. »Es spielt keine Rolle, wo ihr euch hinlegt - sucht euch nur einen Platz, an dem ihr mit den Fingern durchs Gras in die Erde greifen könnt. Ihr braucht einen guten Kontakt zum Boden.« Pete ließ sich auf die Wiese fallen und legte sich der Länge nach auf den Rücken. Eric, George, Terry und June Bug folgten seinem Beispiel. Darlene und Betty Kay zögerten und sahen einander mit geteiltem Widerwillen an. Schließlich seufzte Betty Kay, setzte sich auf den nassen Rasen und legte sich hin. Nach einem kurzen Zögern murmelte Darlene: »Ach, zum Teufel« und folgte ihrem Beispiel. Die harten, scharfen Grashalme bohrten sich in Petes Hals. Er drückte die Hände fest auf den Rasen und grub die Fingerspitzen in den Schmutz. »Ich hab's«, sagte er. Die anderen erklärten der Reihe nach, dass sie ebenfalls bereit seien. »Schließt die Augen«, sagte Heyr, »und atmet aus, bis eure Lungen so leer sind, wie es nur möglich ist, und wenn ihr einatmet, atmet nicht nur Luft ein. Atmet das Leben der Welt ein. Saugt es durch eure Fingerspitzen und euren Schädel in euch hinein, durch eure Beine, durch eure Schultern, durch eure Lenden. Macht euch ein Bild von euch selbst, eingepflanzt in die Erde wie ein Baum, mit Wurzeln aus Luft - es ist sehr wichtig, dass ihr die Wurzeln aus Luft vor euch seht, oder wir müssen noch einmal von vorn anfangen. Und dann saugt euch mit Nahrung von dem Planeten voll und atmet Magie aus, so wie Bäume Sauerstoff ausatmen.« Pete machte sich daran, die Luft aus seinen Lungen zu pressen. »Und geratet nicht in Panik, wenn euch das, was in euch eindringt, Schmerzen bereitet«, fügte Heyr hinzu. »Es wird sehr weh tun - aber der Schmerz wird euch nicht umbringen. Lasst ihn einfach kommen.« 328 Wie schlimm konnte es werden? Wirklich werden? Als seine Lungen so leer waren, dass es wehtat, schloss Pete
die Augen und versuchte, Wurzeln aus Luft zu fühlen, die sich in den Boden hineingruben und Nahrung aufnahmen. Das Leben des Planeten, dachte er. Grüne, wachsende Pflanzen und Tiere in Wäldern und Fische im Wasser. Alles gute Dinge. Er zog - und die ersten scharfen Klingen des Schmerzes schoben sich unter seine Haut. Kämpf nicht gegen den Schmerz, befahl er sich. Kämpf nicht dagegen an. Lass ihn kommen. Geburt und Tod. Verrat und Betrug. Gift, das in die Luft gegeben wurde, in das Wasser, in den Boden. Die Bewegung von Panzern und U-Booten, von Raketen und Truppen, blutrot vom Krieg und brandig wie offene Wunden, zerrissene Städte und abgeschlachtete Menschen. Wälder, die lebten und atmeten, Wälder, die entwurzelt waren. Stürme, die über die Oberfläche des Planeten rasten, Vulkane, die in wilden Krämpfen die Eingeweide der Erde ausspien, Erdbeben, die den Planeten aufrissen und seinen Bewohnern das Fleisch von den Knochen meißelten. Geburt -Babys, menschliche und nichtmenschliche, die alle in die Welt hineinkamen, willkommen oder unwillkommen, aber lebendig. Lebendig. Die dünnen Fäden von Leben gaben ihm etwas, an dem er sich festhalten konnte, an das er sich klammern konnte. Das gewaltige Sterben war wie Eisenbahngleise, die in sein Fleisch getrieben wurden, in sein Blut, in seine Seele, bis er nur noch schreien wollte - oder sterben. Pete biss die Zähne zusammen. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, und der Nieselregen war kühlend, lindernd, aber nicht genug - nicht annähernd genug -, während der tobende Zorn der Welt in ihrem Aufruhr, die Zuckungen in ihren Todeskrämpfen in seinem Kopf schrien. Er war der Mörder eines Kindes, und er war das Kind selbst; er war der 329 Vergewaltiger in der schmalen Gasse, und er war das Opfer des Vergewaltigers; er war jeder Junge, der mit einer M-16 in Händen auf dem Bauch im Dreck lag und an zu Hause und an ein Mädchen dachte, und er war jeder einzelne dieser Jungen, wenn die Granatwerfer sie in Stücke rissen. Er war der Büßer, der betete: »Wer bin ich, dass du meiner achtest«, und der wütende Mann, der betete: »Lass sie leiden, diese perversen Bastarde - und wenn sie auf der Erde gelitten haben, dann lass sie für alle Ewigkeit in der Hölle brennen.« Und er war der mächtige Lügner in hohem Amt, der nach Profit gierte und mit Verträgen den Tod der Welt besiegelte, und er war der fallende Baum und die Natur, die in Flammen aufging, und er verbrannte und erfror, und das Schreien von sechs Milliarden Stimmen dröhnte in seinem Kopf, und jede einzelne dieser Stimmen hatte einen eigenen Klang und einen einzigartigen Schmerz. Er schluchzte, krümmte sich, würgte Galle, wand sich unter den Qualen, die auf ihn einstürmten, kämpfte darum, sich von etwas zu befreien, das ihn umschlang wie ein luftloser Kokon und das ihn weder atmen ließ noch freigab. Ein Donnerschlag in seinem Kopf erschütterte ihn nur noch geringfügig - gerade genug, um eine vertraute Stimme in den Vordergrund seines überwältigten Geistes zu schieben. »... Mauer, Pete. Du musst eine Mauer bauen. Wenn du sie fühlst, kannst du nicht alles andere ebenfalls fühlen. Visualisiere eine Mauer um dich herum - dünn muss sie sein, denn der Schmerz ist deine Unsterblichkeit. Du brauchst den Schmerz. Aber du kannst ihn mit der Mauer dämpfen. Wie ein Baumwollfutter oder ein Kissen den Lärm dämpft...« Die Stimme ging in einer roten Woge des Grauens unter - dem Abschlachten von Unschuldigen durch die Hand eines Despoten, irgendwo auf der Erde. Er musste dem ein Ende machen. Er musste sie retten. 330 Wieder der Donnerschlag. »... denn ich kann dir das nicht abnehmen ... Zieh die verdammte Mauer hoch, oder du wirst eine unsterbliche Memme werden ... Oder der Schmerz wird dich in die Knie zwingen, und du wirst deinen Zugriff auf die Unsterblichkeit verlieren und sterben. Genau jetzt, genau hier.« Sterben. Ja. Sterben klang gut. Aber nein, er musste Lauren beschützen. Er kämpfte mit aller Gewalt um einen letzten Zoll Raum in seinem eigenen Geist, und um diesen Zoll fügte er eine Mauer. Pete stellte sich Baumwolle vor, frisch gepflückt, visualisierte ein Bild seiner selbst, wie er händeweise Baumwollfäden mitsamt den Samen in alle Risse und Fugen seiner winzigen Mauer presste, die Löcher stopfte, durch die das Grauen hereinströmte. Zuerst war es so, als versuche er, den Ozean mit einem Baumwollbausch einzudämmen. Aber dann fand er heraus, dass er sich nicht auf jeden einzelnen Riss gleichzeitig konzentrieren musste; er konnte im Zentrum des Sturms stehen, der auf ihn eindrosch, und sich zum Auge seines eigenen Gegensturms machen. Er erschuf einen Schneesturm aus einer weißen Substanz, die sich, von ihm selbst ausgehend, in alle Richtungen ausbreitete, die gegen die Gräuel ankämpfte, die ein Teil von ihm werden würden, und langsam ließen die Angriffe nach, und das Brüllen der gequälten Welt verblasste, und er dehnte den Raum aus, den er besetzt hielt, bis er wieder hören konnte, was um ihn herum vorging, bis er seine eigenen Gedanken wieder denken konnte. Der Schmerz jedoch - der Schmerz fraß noch immer an ihm. Männer mit scharfen Messern hackten sich durch ihn hindurch einen Weg in die Freiheit, Adler rissen an seinem Fleisch, Qualen, die er weder beenden noch dämpfen konnte. »Es ist schlimm, nicht wahr?«, fragte Heyr. 331 Pete öffnete die Augen und richtete sich langsam auf. Die anderen saßen bereits - sie wirkten wie ausgestopfte Leichen, und Pete konnte sich nur vorstellen, dass er genauso schlimm aussah oder noch schlimmer. »Das ist es, was du fühlst?«, stieß er rau hervor.
Heyr nickte. »Vielleicht in ein wenig abgeschwächter Form. Aber im Wesentlichen ist es so ziemlich dasselbe. So ist es seit etwa hundert Jahren, obwohl es schon seit tausend Jahren immer schlimmer wurde. Seid dankbar dafür, dass ihr in jener Zeit nicht Loki wart. Die AEsir haben ihn für den Mord Balders bestraft, indem sie ihm seine Fähigkeit raubten, den Schmerz der Welt auszublenden. Lange Zeit war er an diesen Planeten gekettet und musste all sein Grauen in sich aufnehmen, musste die wachsende Qual und den sich ausbreitenden Tod erleiden. Und auch wenn es damals nicht so schlimm war wie heute, war es doch schlimm genug. So hat er tausend Jahre gelitten, bevor einer der AEsir Mitleid hatte und ihn befreite. Loki - Loki hat gute Gründe, die AEsir zu hassen, obwohl er sich einen großen Teil seines Schmerzes durch Gedankenlosigkeit und Verrat selbst eingehandelt hat. Odin hat immer noch Hoffnung für ihn. Auch ich selbst kann ein wenig Gutes in ihm sehen. Aber es war eine grausame Folter, der man ihn unterworfen hat.« »Wie sollen wir das ertragen?«, fragte Darlene. Sie beugte sich vor, schlang die Arme fest um ihren Oberkörper und wiegte sich hin und hier. Ihre Augen waren trüb, und ihre Haut war so grau wie der Tag. »Ich kann euch nicht sagen, wie ihr es ertragen sollt. Ich kann euch nur sagen, dass ich es ertrage, weil es wichtig ist, dass ich lebe, und weil es wichtig ist, dass ich kämpfe - obwohl ich während dieser letzten Jahre mehr oder weniger taub war gegen jene, die nach mir riefen. Die Welt lag im Sterben, und ich ging mit ihr zusammen dem Tod entgegen. 332 Ich habe den Lärm, so gut ich konnte, gedämpft, mich mit Arbeit abgelenkt und bei einer Frau versteckt, und ich -selbst ich - habe um Rettung oder Erlösung gebetet und geglaubt, dass es nichts dergleichen für diese Welt geben würde. Odin hat einmal gesagt: Streng ist die Erde, die Tod gibt für Leben Wenn die Krume dahin ist Und der Pflug bricht. Heyr stand auf. »Ich habe gelitten. Wenn ihr zu den neuen AEsir zählen wollt, werdet auch ihr leiden. Ihr werdet die Schreie jener hören, die euch brauchen, und ihr werdet nicht antworten, denn nicht einmal Götter wie ihr können überall gleichzeitig sein, können für jeden Einzelnen auf dieser Welt da sein. Früher einmal waren wir viele, und wir beantworteten die Schreie derer, die Not litten. Aber heute sind die meisten der wahren Unsterblichen weitergezogen. Der Schmerz hier ist einfach zu groß, die Not ist zu groß, und die Magie ... die Magie starb, und selbst jemand wie ich - der die Menschheit liebt - hat die Hoffnung verloren.« Der Schmerz flutete durch Pete hindurch, und er kostete von einem Tod, der schärfer war als Galle, und er war sich nicht sicher, ob er stark genug war, um zu bleiben. Wegzulaufen wäre traurig, aber es würde nicht so furchtbar schmerzen. George erhob sich taumelnd und stützte sich mit einer Hand am nächsten Baum ab. Tränen strömten ihm über die Wangen. »Ich kann das nicht«, sagte er und sprach damit Petes eigene Gedanken aus. »Ich werde euch nicht im Stich lassen, aber im Augenblick gibt es Dinge in meinem Kopf, mit denen ich einfach nicht leben kann. Es gibt Bilder hier drin, die ich nicht sehen kann, ohne den Verstand zu verlie333 ren. Ich muss wieder ein Mensch werden, ein ganz normaler Mensch.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich dachte, ich könnte ein Held sein. Aber ich habe es nicht in mir.« »Wenn du nicht wegläufst, dann bist du ein Held«, antwortete Heyr. »Wir werden jemanden von unseren eigenen Leuten brauchen, der Raymond und Louisa im Auge behält und der dafür sorgt, dass sie uns nicht in die Quere kommen. Wenn wir dich nicht hätten, George, dann müssten wir jemanden wie dich suchen. Ich werde dich nach Kerras bringen und zurückverwandeln, sobald ich weiß, wer von den anderen uns noch begleiten muss. In der Zwischenzeit schüttele den Schmerz ab. Zieh deine Wurzeln wieder zurück und lass die Erde los.« Dann wandte er sich den anderen Wächtern zu. »Wer muss sonst noch zurück? Es ist keine Schande, Leute selbst Götter, die Zehntausende von Jahren Unsterbliche waren, sind von dieser Welt geflohen, weil sie es nicht ertragen konnten. Als gesunder Mensch zu leben ist besser, als ein wahnsinniger Unsterblicher zu sein.« »Wird es immer so sein?«, fragte Betty Kay. Heyr lachte leise. »Das ist der Grund, warum Lauren so wichtig ist. Der Schmerz ist nicht mehr so schlimm, wie er einmal war. Die Verzweiflung ist... geringer geworden. Sie heilt die Wunden, lässt das Gift abfließen und bringt das Leben zurück, das die ganze Zeit über hier hätte gedeihen sollen.« »Wenn sie stirbt«, sagte Pete, »ist alles verloren.« »Deshalb werden wir eine Mauer um sie herum bilden, und wir werden sie beschützen.« Heyr stieß einen kleinen, müden Seufzer aus. »Ich wünschte mir, sie wäre ein Diamant«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort. »Hart und dauerhaft und wild - so unzerstörbar, wie irgendetwas überhaupt nur sein kann. Aber ich denke, dass sie vielmehr ein Opal ist - der weichste aller Edelsteine, zerbrechlich 334 und wunderschön und erfüllt von einem Feuer, das grobe Hände nur allzu leicht zerstören könnten. Das ein Zuviel an Schmerz und Grauen zerstören könnte. Sie ist die Einzige ihrer Art. Vielleicht kann sie einen anderen lehren, zu tun, was sie tut, aber ich glaube es nicht. Ich denke, es ist nur sie, die die Magie erschafft, die die Weltenkette aufbricht.« Nach und nach erhoben sich die Wächter vom Boden. Auch Pete stand auf. Er fühlte sich zittrig und fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Wie lange«, fragte er, »wird es dauern, bis ich wieder klar denken kann - bis ich auch nur ansatzweise wieder ich selbst sein werde?«
»Stunden oder Tage. Das hängt von dir ab.« Heyr lächelte. »Und ganz gleich, wie furchtbar du dich fühlst, du bist jetzt trotzdem ein Gott. Einer von den Unsterblichen. Du magst den Wunsch haben zu sterben, aber nichts kann dich töten, ohne die ganze Welt mit dir zu töten.« »Wird es einfacher?« »Während der letzten paar tausend Jahre ist es immer nur schwerer geworden.« Heyr zuckte die Achseln. »Wenn Lauren und Molly und wir AEsir sie besiegen können, wird es einfacher werden. Wenn Lauren die Weltenkette vom Rand des Todes zurückholen kann, werden alle wieder unsterblich sein wollen.« Er grinste schwach. »Und die Hallen der Helden werden sich wieder mit Göttern füllen, und Geschichten von Zechgelagen, Orgien und wilden Festen werden auf der Welt die Runde machen. Im Augenblick sind wir eine einsame kleine Schar, und bei unseren Geschichten handelt es sich größtenteils um Tragödien.« Heyr nahm Pete beiseite und flüsterte: »Noch ein Wort, was dich und Lauren betrifft. Du liebst sie, und du möchtest, dass sie dich liebt. Aber wenn sie niemals Unsterblichkeit für sich akzeptiert, dann wird deine Unsterblichkeit eine Mauer zwischen euch beiden sein, und diese Mauer wird im Laufe der Zeit immer dicker und höher und härter 335 werden. Ich habe es erlebt. Es ist die Hölle. Die Kluft zwischen dir und ihr wird als ein Nichts beginnen und binnen einer Hand voll Jahre, die sich anfühlen werden wie die Zeit zwischen zwei schnellen Atemzügen, unüberwindbar werden. Du kannst jetzt darüber nachsinnen, aber in einer Minute wird es vorbei sein - sie wird alt sein und sterben, und du wirst genauso sein, wie du jetzt bist. Ob sie dich jemals lieben wird oder nicht, sie wird in jedem Fall irgendwann tot sein, und du wirst sie sterben sehen.« »Du hast jemanden verloren, den du geliebt hast.« »Ich bin unsterblich. Ich habe viele verloren, die ich geliebt habe. Es wird nicht einfacher.« »Du hättest sie retten sollen.« Heyrs Augen wurden schmal, und sein Grinsen bekam etwas Wölfisches. »Versuch es. Versuch, ihr Unsterblichkeit zu geben. Jetzt, da du den Preis dafür kennst, jetzt, da du die Unsterblichkeit unter deiner eigenen Haut und in deinen Knochen trägst, versuch es, ihr die Ewigkeit zu geben.« Und Pete dachte darüber nach, wie es wäre, Lauren das anzutun - sie diesen Gefühlen auszusetzen, nur damit er sie behalten konnte -, und er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Sie wollte dies hier nicht, und nichts konnte ihn dazu bringen, es ihr aufzuzwingen. Heyr beobachtete seine Augen. »Genau. Du hast es kapiert. Und jetzt... vergiss es nicht wieder. Denn für dich ist es schwer. Aber es wird immer schwerer werden.« 18 Der Tafelberg, Oria Molly erwachte in einem kleinen Zelt, und was sie geweckt hatte, war das Trommeln eines stetigen Regens. Die Luft war so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte, und die Wärme und Weichheit ihres Schlafsacks hüllten sie ein und flüsterten ihr das Versprechen von Trost und wunderbarem Frieden zu, wenn sie nur bliebe. Sie seufzte, starrte zum Dach des Zelts empor und wusste, dass sie aufhören musste, das Unvermeidliche hinauszuschieben. Wenn sie eine dunkle Rächerin sein und den Sinn ihrer Existenz erfüllen wollte, musste sie auf die Erde zurückkehren. Die Nachtwache konzentrierte ihre Aktivitäten auf ihren Heimatplaneten, und sie durfte sich nicht auf Oria verstecken und sich um die hiesigen Probleme kümmern, während ihre erste Welt sie viel dringender brauchte. Sie hatte ein ganzes Nest der Nachtwache in Washington, D. C., aufgespürt, eine Gruppe von Lobbyisten, die jene Männer und Frauen, die die Politik bestimmten, unter ihrer Kontrolle hatten. Dunkle Götter mit finsteren Absichten, alle durch die Bank - weltgewandte Dämonen, Ungeheuer in Seidenanzügen, die beim Brunch die Zerstörung ihrer Welt planten und zu Canapes und Cocktails den Tod servierten, die mithilfe von Geldern auf Schweizer Bankkonten Feldzüge und ganze Kriege ermöglichten. Wenn sie ihren Zweck nicht erfüllte ... Das war eine ganz andere Frage. Sie lag in den Köpfen der Nachtwache auf der Lauer, während sie Jagd auf sie machte, sie sah durch ihre Augen und spürte durch ihre 337 Körper alles, was sie spürten. Sie konnte die quälende Leere im Leben dieser Ungeheuer wahrnehmen, aber sie konnte auch den Tod kosten, so wie sie ihn kosteten - als ein berauschendes Festmahl der Macht, das für kurze Zeit die Leere füllte. Wenn sie auf der Jagd war, lag vor ihr in appetitanregender Fülle ausgebreitet ein Festmahl, von dem sie bisher kein einziges Mal gekostet hatte. Aber sie wollte davon kosten. Sie hungerte, und jedes Mal, wenn sie starb, kehrte sie leerer und hungriger zurück, und das Festmahl vor ihren Augen wurde immer reicher und immer verlockender. Sie hungerte, und ihr Hunger war so scharf geworden wie eine gute Klinge. In der Zwischenzeit war ihr Verlangen, ein braves Mädchen zu sein und auf der Seite von Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, zusammen mit ihren anderen menschlichen Gefühlen immer löchriger und dünner geworden, und sie wusste, dass sie sich der Nachtwache anschließen konnte. Die Ähnlichkeit, die sie mit den Mitgliedern der Nachtwache verband, griff jedes Mal nach ihr, wenn sie eine dieser Kreaturen berührte, und unterstrich die Tatsache, dass sie in der Gegenwart der Lebenden nur Schmerz und immer mehr Schmerz spürte und eine vage, aber abstoßende Scham über ihre eigene Existenz. Die Nachtwache war ihre natürliche Welt, und es war ihre Entscheidung, sich
ihr anzuschließen. Sie brauchte ihren Vorgängerinnen unter den Vodi nicht in den Wahnsinn und die schlussendliche Selbstaufgabe zu folgen. Sie konnte Ekstase erfahren. Sie konnte ihr Leben dem Tod entreißen und eine Macht gewinnen, die ihre wildesten Fantasien überstieg. Sie konnte das Blut von Welten trinken, Baanraaks Weg gehen und schließlich ein Universum beherrschen. Sie schlüpfte aus dem Schlafsack und ließ die Kälte in ihr Fleisch eindringen. Sie atmete tief ein, spürte, wie die Käl338 te in ihren Lungen brannte, und schauderte, als sie ausatmete und ihr Atem zu weißen Wirbeln kristallisierte. Was war sie der Welt schuldig? Was war sie Lauren schuldig? Sie wusste es nicht. Sie stützte das Kinn auf die Knie und schlang die Arme um die Beine. Für sie würde es immer nur Dunkelheit geben - sie hatte keine Hoffnung mehr. Jeder Tod würde sie nur näher an den Punkt bringen, an dem sie entweder dem Ruf der Nachtwache erliegen oder sich selbst vernichten musste. Einen dritten Weg gab es nicht. Sie hatte keinen Zweifel mehr daran, warum die anderen Vodi ihre eigene Vernichtung gewählt hatten. Sie hatten in ihre Zukunft geblickt und denselben Alptraum gesehen, den Molly in ihrer eigenen Zukunft lauern sah. Und sie waren stark genug gewesen, um sich zu vernichten, statt alles zu verraten, was ihnen einmal teuer gewesen war. Dafür musste sie diese Frauen bewundern. Früher einmal hatte Molly ihre Vorgängerinnen für Feiglinge gehalten, die den einfachen Ausweg gewählt hatten. Aber auch vor ihnen hatte dieses Festmahl von Mord und Schmerz, von Folter und Tod gelegen, das Molly jetzt in ihrer Reichweite wusste, und sie hatten lieber sich selbst ausgelöscht, als daran teilzunehmen. Wie lange würde sie noch widerstehen können? Es würde eine Zeit kommen, da es ihr nicht länger wichtig war. Da sie nicht mehr würde erkennen können, warum sie so entschlossen gegen die einbrechende Dunkelheit gekämpft hatte. Die Scherben dieser Zukunft bohrten sich bereits in ihr Fleisch, und schon bald würden sie jeden Widerstand überwunden haben. Vielleicht war dies ihre letzte Chance, zu verhindern, dass sie zu dem Ungeheuer wurde, das in ihr wohnte. Vielleicht musste sie ihrer Existenz jetzt ein Ende machen. Vielleicht wäre es auch morgen noch nicht zu spät dafür. 339 Sie musste mit Lauren reden. Nicht dass Lauren sie verstehen würde, aber Lauren hatte ein Recht zu wissen, dass Molly würde fortgehen müssen. Und Lauren - Lauren kämpfte an vorderster Front, und sie hatte mehr verdient als einen kurzen Brief mit der Mitteilung, dass Molly weg war und nicht zurückkommen würde. Tod oder Selbstaufgabe - eine teuflische Entscheidung. Molly benutzte ihre Willenskraft, um ihren Körper mit einem Frühstück zu füllen - Bratkartoffeln mit Schinkenstücken, Rühreier mit einer großen Portion scharfem New Yorker Cheddar-Käse, gebratenen Zwiebeln und Paprikaschoten, ein Stapel Buttermilchpfannkuchen mit echter Butter und echtem Ahornsirup, eine Kanne Kaffee, heiß und schwarz, und zum Dessert einen Schokoladenriegel von Dove. Die Henkersmahlzeit, sagte sie sich. Ihr letzter Zugriff auf das Menschsein, bevor sie ihre Entscheidung traf. Zitternd und nackt saß sie in der Kälte, denn wenn sie die Kälte fühlte, fühlte sie wenigstens irgendetwas, und so verzehrte sie ihr Mahl. Als sie fertig war, löschte sie mit einem einzigen Wort ihr Lager aus, grub eine kleine Höhle in das lebendige Gestein des Bergs und schuf sich im hinteren Teil dieser Höhle einen Spiegel. Und in den Spiegel wob sie ein Tor - eine Verbindung zu Laurens Spiegel in der Diele ihres Hauses in Cat Creek. Sie blickte hindurch und sah, dass der Weg frei war. Dann bekleidete sie sich mit Jeans, Turnschuhen und einem T-Shirt, die allesamt schwarz waren, und holte tief Luft. Im nächsten Augenblick trat sie in das Tor und in das grüne Feuer, das sie verbrannte, das sie nicht willkommen hieß, sondern sie stattdessen an alles erinnerte, was sie verloren hatte und nie wieder besitzen konnte - und durch diese Ewigkeit hindurch trat sie in Laurens Diele ein. In die Welt ihrer Geburt. In die Welt, die einst getränkt war vom 340 Schmerz und der Krankheit und der Verzweiflung Fremder. Und sie fühlte nichts. Cat Creek, North Carolina Molly ging in die Küche, und Lauren hätte um ein Haar den Teller, den sie gerade spülte, fallen gelassen. Jake war im Kreis durch die Küche gerannt und hatte gebrüllt: »Sieh mal, Mama. Sieh mal, Mama. Sieh mich an!« Jetzt jedoch hörte er auf zu rennen, hörte auf zu brüllen und stürzte zu seiner Mutter hinüber, um sich an ihr Bein zu klammern. Kälte wehte mit Molly in den Raum, körperliche Kälte -kalte Luft von draußen, die an Molly haftete und die nach Regen, Kiefern und nahem Winter roch - und nach etwas anderem. Etwas Erschreckenderem. Wie etwa einer unvorhergesehenen Sonnenfinsternis. »Ich habe endlich beschlossen zurückzukommen«, sagte Molly statt einer Begrüßung. »Zum ersten Mal, seit...« Lauren stockte. »Seit ich hier gestorben bin. Ja. Ich nehme an, es hätte eine unangenehme Erfahrung sein sollen, durch den Spiegel wieder in deinen Flur zu treten. Aber so war es nicht.«
Molly sah genauso aus, wie sie auf Oria ausgesehen hatte. Das war ein Problem. »Du hast dich nicht verändert, als du durch den Spiegel gegangen bist«, sagte Lauren. »Verändert?« »Du siehst immer noch im Wesentlichen wie eine Orianerin aus - Haare, Augen, Knochenbau, Größe, Gewicht ...« Molly blickte an sich hinab. »Oh, Scheiße. So wird das nicht funktionieren.« Sie sah Lauren mit Augen an, die kei341 ne Wärme ausstrahlten, kein Gefühl, gar nichts. »Bin gleich wieder da. Mal sehen, ob ich das hier in Ordnung bringen kann oder ob ich noch mal zurückmuss.« Lauren war erleichtert, als Molly den Raum verließ, und entsetzt darüber, dass sie so empfand. Darüber, dass sie es fertig brachte, zu hoffen, dass Molly einfach den nächsten Teil ihres Planes, worin immer dieser bestehen mochte, in Angriff nehmen und nicht zurückkommen würde. Aber gerade als Lauren glaubte, ihr unausgesprochener Wunsch würde in Erfüllung gehen, trat Molly wieder in die Küche. Diesmal sah sie durchaus menschlich aus, wenn auch nicht so menschlich, wie sie es einmal getan hatte. »Ich konnte das hier nicht korrigieren, deshalb musste ich noch einmal nach Oria gehen. Aber eigentlich spielt es gar keine Rolle.« Sie zuckte die Achseln. »Das ist nicht das Hauptproblem. Wir müssen miteinander reden.« Laurens Magen krampfte sich zusammen. »Heyr kann dir helfen, hier über all deine Magie zu verfügen, wenn du sie brauchst, um ... um irgendwelche Dinge zu tun; er hat bereits die meisten der anderen Wächter zu alten Göttern gemacht - zu Unsterblichen.« Molly zog eine Augenbraue in die Höhe. »Interessant. Hat zwar nichts mit mir zu tun, ist aber trotzdem gut zu wissen. Ich meine, dass du nicht allein sein wirst.« Lauren nahm Jake auf den Arm und drückte ihn fest an sich. »Warum sollte ich allein sein, Molly?« »Ich habe Seolar verlassen. Ich hatte die Absicht, über ihn zu wachen. Ich habe ihm versprochen, es zu tun. Aber ... nicht einmal das wird so ohne weiteres möglich sein.« Lauren wartete schweigend und fühlte dabei die Kälte um Molly herum als ein Frösteln in ihrem eigenen Herzen. Molly verzog den Mund zu etwas, das wahrscheinlich ein Lächeln sein sollte. »Du kannst es in mir sehen, nicht wahr?« 342 »Was sehen?« »Das Ungeheuer unter der Haut. Das Ding, das nur darauf wartet, dass der letzte Rest von mir stirbt, damit es herauskommen und sich ... im Tod suhlen kann.« Sie schloss die Augen, und Lauren sah den Widerhall eines Gefühls auf Mollys Zügen. Mit geschlossenen Augen und leiser Stimme fuhr ihre Schwester fort: »Es ist fast am Ziel.« Sie blickte zu Lauren auf. »Und das Schlimme ist, dass es mir beinahe nichts mehr ausmacht. Beinahe.« Lauren sah Molly an und hätte gern geweint. Sie drückte Jake an sich und sagte: »Oh Gott, es tut mir so Leid, Molly.« Molly zuckte die Achseln. »Das ist das Problem. Mir tut es nicht Leid. Es ist wie ... es ist wie ... Alkoholismus vielleicht oder Alzheimer - das stärkste Symptom ist, dass es dir immer unwichtiger wird, was dich umbringt, je schlimmer die Krankheit wird.« Lauren dachte an die Molly, die sie vor nur wenigen Monaten das erste Mal gesehen hatte - eine Frau, vor der noch ihr ganzes Leben lag, mit Freude in den Augen und Hoffnung auf eine Zukunft im Herzen, eine Frau, die fest daran glaubte, dass es etwas gab, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Nur wenige Monate, und das alles war ausgelöscht. Was war von Molly geblieben? Ein gewisses Pflichtgefühl, das emotionslos und mit kalter Logik formuliert wurde? Vielleicht einige Splitter der Frau, die sie einmal gewesen war, aber die Molly, die jetzt vor ihr saß, hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit dieser Frau. »Ich muss eine Entscheidung treffen. Nicht dass es irgendwelche netten Alternativen gäbe, aber - bevor ich irgendetwas entscheide, wollte ich dir eine Frage stellen«, sagte Molly, und Lauren wurde mit einem Mal klar, dass sie einander über eine unbehaglich lange Zeit hinweg schweigend angestarrt hatten. 343 »Mach, dass sie weggeht«, flüsterte Jake ihr ins Ohr, und Lauren konnte spüren, wie sein Herz hämmerte und seine Muskeln zitterten, während er sich an ihr festklammerte. Sie stand auf, wiegte ihn sanft in den Armen, strich ihm übers Haar und sagte schließlich zu Molly: »Klar. Schieß los.« Und sie dachte: Was zum Teufel bist du, das meinem kleinen Sohn solche Angst macht? »Als du mit ... mit dem Geist des Universums geredet hast, mit... der kreativen Kraft...« Molly zuckte die Achseln und lachte leise, und in diesem Augenblick sah sie ganz so aus wie früher und hörte sich auch so an. »Gott... hat er mich wirklich erwähnt? Nicht meine Seele, die bereits irgendwo anders ist und dort gut zurechtkommt, sondern mich?« »Ja«, antwortete Lauren. »Er sagte, du hättest eine Chance, wieder eine Person zu werden, wenn das dein Wille sei. Er sagte, dass du dir eine eigene Seele erschaffen könntest.« Sie seufzte. »Er hat mir nicht gesagt, wie das möglich sein soll, er hat mir auch keinen noch so kleinen Hinweis gegeben. Er hat lediglich erklärt, dass es Menschen gebe, die Seelen hätten und sie aus freien Stücken wegwerfen, dass man sich andererseits auch eine
Seele wachsen lassen könne. Nicht, dass man seine Seele zurückbekäme, sondern dass man sie wachsen lassen kann.« Molly nagte an ihrer Unterlippe und starrte zu Boden. Sie war jung und wirkte verletzbar. Und dann richtete sie sich auf, und die Verletzbarkeit fiel von ihr ab, und die Leere in ihren Augen ließ sie hundert Jahre alt aussehen. »Kommt mir nicht allzu wahrscheinlich vor«, meinte sie. »Ich verliere mich schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte. Als ich herausfand, was mit mir geschah, dachte ich, es würde Jahre dauern, bis ich mich selbst verloren hätte. Ich glaubte wirklich, dass ich mich an Seolar und meine 344 Gefühle für ihn klammern könnte, zumindest solange er lebt.« Sie blickte zu Lauren auf. »Ich dachte, du seist mir wichtig, das, was wir tun ...« Sie schüttelte den Kopf und starrte wieder auf den Boden hinab. »Aber so ist es nicht. Nicht einmal die Jagd auf die Nachtwache bedeutet mir noch etwas. Es ist ein amüsanter Zeitvertreib, etwas, um die Langeweile erträglicher zu machen. Du würdest staunen, wie viel Zeit man hat, wenn man nicht schläft und nicht stirbt - zumindest nicht dauerhaft. Das sind viele Stunden, Lauren.« Molly sah durch das Fenster in den Garten. »Weißt du, was komisch ist?« »Was?« »Als ich damals aufhörte zu schlafen, nachdem ich von jenem ersten Mal zurückgekehrt bin, da sagte ich mir, dass ich zumindest reichlich Zeit haben würde, um zu malen und Lieder zu schreiben, dass ich auch ein paar neue Stücke auf der Gitarre würde lernen können.« Molly schüttelte den Kopf. »Ich hatte überhaupt nicht begriffen, dass ich auch all diese Dinge verlieren würde. Ich habe das Zeichnen nicht verlernt, ebenso wenig wie das Verseschmieden, und ich kann auch nach wie vor mühelos auf der Gitarre die richtigen Töne spielen. Aber Malerei, Poesie und Musik haben ihre Wurzeln in Gefühlen. Man kann die technischen Fähigkeiten besitzen, aber wenn man die Welt nicht ansehen und staunen kann und wenn man nicht in der Lage ist, Schmerz oder Kummer zu empfinden oder Hoffnung oder Liebe, dann ist alle Kunst zum Tode verurteilt.« Sie warf Lauren einen Seitenblick zu. »Also habe ich jetzt alle Zeit der Welt und nichts, um sie auszufüllen, außer essen und töten. Ich sehe nicht, wie mir da eine neue Seele wachsen soll, so viel steht fest.« Lauren saß da und trauerte um all das, was Molly verloren hatte, und auch um das, was sie selbst in Molly verloren hatte. 345 Dann kam Heyr durch die Küchentür gestürzt. Lauren zuckte zusammen und presste Jake fester an sich, der einen schrillen Schrei ausstieß. Dann sah sie, dass Heyr seinen Kriegshammer in der Hand hielt und sich bereit machte, ihn zu werfen. »Meine Schwester!«, kreischte Lauren, und Heyr erstarrte. Molly und Heyr musterten einander von Kopf bis Fuß, und Heyr sagte: »Das ist eine dunkle Göttin.« »Sie ist meine Schwester.« »Vielleicht ist sie eine dunkle Göttin, die die Haut deiner Schwester trägt.« »Sie ist meine Schwester.« Lauren konnte sehen, wie sich die Muskeln in Heyrs Armen anspannten und wieder entspannten. »Ich muss sie berühren«, sagte er. Molly hängte die Daumen in ihre Hosentaschen und reckte das Kinn empor. »Wenn du das tust, werde ich dafür sorgen, dass du es bedauerst.« Heyr schüttelte den Kopf. »Ich schwöre bei Odins Auge und bei meiner eigenen Seele, dass dir keine Gefahr von mir droht, solange du nicht versuchst, denen Schaden zuzufügen, die mir gehören.« Er zeigte mit dem Kopf auf Lauren und Jake, und Lauren fühlte sich stark versucht, wegen dieser Formulierung zu protestieren, hielt aber doch lieber den Mund. »Ich werde nur deine Stirn berühren und das auch nur für eine Sekunde. Du bist nicht das, was du zu sein scheinst, aber ich weiß nicht, was du bist.« Molly sah Heyr an. Es war ein Gefühl, als beobachte man zwei große Hunde, die ihren Gegner abschätzten, die sich gegenseitig beschnupperten, um zu entscheiden, ob sie einander in Stücke reißen wollten oder Frieden schließen. Molly nickte. »Du darfst mich berühren.« Sie trat vor ihn hin, ohne den Kriegshammer aus den Augen zu lassen, den 346 er immer noch in der Hand hielt. Heyr bemerkte ihren Blick und schob den Hammer in die Schlaufe an seinem Gürtel, wo er wieder wie ein ganz normales Werkzeug aussah. Heyr legte zwei Finger auf Mollys Stirn, ließ dann die Lider sinken, atmete durch den Mund ein und hechelte leise. Fast sofort brachen Schweißperlen auf seiner Stirn aus, und seine Haut wurde grau. Lauren konnte die Anspannung der Muskeln in seinen Schultern sehen, und auf seinem Hals traten die Sehnen deutlich sichtbar hervor. Er behielt seine Haltung jedoch bei, und obwohl das Ganze nur ein oder zwei Minuten gedauert haben konnte, fühlte es sich für Lauren wie eine ganze Woche an. Schließlich löste er sich von Molly und trat, immer noch grau und schwitzend, ohne ein weiteres Wort an Laurens Küchentisch, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. Er stemmte die Ellbogen auf den Tisch und begrub das Gesicht in den Händen, Er sagte nichts. Lauren sah Molly verwundert an und fand einen Ausdruck unverhohlener Neugier in den Augen ihrer Schwester.
Dann zuckten sie beide gleichzeitig die Achseln, und Lauren wandte sich an den alten Gott. »Heyr? Ist alles in Ordnung?« Dieser hob zitternd einen Zeigefinger - eine Geste, die so viel besagte wie: »Einen Moment, bitte« -, blieb aber weiter reglos sitzen, bis Lauren schließlich fragte: »Brauchst du ein Glas Wasser? Etwas gegen Kopfschmerzen? Irgendetwas?« Heyr ließ die Hände auf den Tisch sinken und blickte mit blauen, grau verschleierten Augen zwischen Lauren und Molly hin und her. »Ich weiß nicht, wie du das erträgst«, sagte er zu Molly. »Ich trage die Last der Welt, und ich tue das seit ungezählter Zeit, und doch weiß ich nicht, woher du die Stärke nimmst, um zu atmen.« Molly legte den Kopf schräg. »Was soll ich ertragen?« 347 »Das Gewicht dieses Dings in dir. Ich habe die Auferstehungsringe vieler dunkler Götter berührt, in der Halle meines Vaters vor dem Fall von Asgard, als ich noch ein Kind war, dann später als sterblicher Mann und schließlich so, wie ich jetzt bin.« Er nickte Molly zu. »Aber da war nichts, das damit Ähnlichkeit gehabt hätte. Ich kann dir eine Geschichte anbieten, wenn du sie hören willst - denn sie spricht sowohl von dem, was du bist, als auch, vielleicht, von dem, wohin du gehen wirst.« »Ich schätze, für eine kurze Geschichte hätte ich wohl Zeit.« Molly setzte sich ebenfalls an den Tisch, und Lauren, immer noch mit Jake auf dem Arm, ließ sich auf dem Stuhl neben Heyr nieder, ihrer Schwester gegenüber. Heyr sagte: »Vielen Dank.« Er holte tief Luft und sah Molly direkt an. »Ich war, was du einst warst - in meiner eigenen Welt bin ich als Halbgott geboren worden. Mein Vater Odin kam aus einer oberen Welt und meine Mutter aus Asgard. Er machte sie zu seiner Göttin und erhob sie in Asgard in den Götterstand. Und er lehrte sie den Pfad zur Unsterblichkeit, so dass sie für alle Ewigkeit beieinander bleiben konnten. Aber ich bin zur Welt gekommen, bevor er das tat, und daher war ich in Asgard für kurze Zeit ein Sterblicher und nur ein Halbgott. Aber da ich der Sohn eines Gottes war, war ich größer und stärker als die Männer von Asgard, und weil ich es war, verlangte es mich nach dem Kampf. Ein dunkler Gott, einer der Riesen aus Jotunheim und mein Feind, kam eines Nachts in die Halle meines Vaters, um mich im Schlaf zu töten. Und obwohl ich noch kein Gott war und auch kein Unsterblicher, entriss ich ihm seinen goldenen Ring und erschlug ihn mit meinem Hammer, Mjollnir, und mit der Stärke meines Gürtels, Megingjard, der meine Kraft verdoppelte, und als er tot war, sammelte ich das Gold, das er getragen hatte, vom Boden auf -und es war nicht länger an ihn gebunden. Es war frei, und 348 es wollte einen Träger, und es sang zu mir. Es ergötzte sich an Tod und Zerstörung, und es flehte mich an, es zu tragen und ihm zu gestatten, sich an mich zu binden, auf dass ich vielleicht für alle Ewigkeit die Schlacht, nach der es das Gold verlangte, als die meine anerkennen würde und dass ich vielleicht seinen Hunger stillen könnte, so wie es den meinen stillte.« Er seufzte. »Ich will nicht lügen - ich habe mich danach gesehnt, wie viele sich nach der Macht des Goldes sehnen und dem Lied lauschen, das verzaubertes Gold singen kann. Ich wusste, dass ich alles in mir hatte, was es bedurfte, um mich zu wahrer Größe zu bringen. Ich war damals kaum mehr als ein Junge, aber ich hatte bereits gekämpft wie ein Mann, und ich sang die Lieder der Männer. Für immer zu kämpfen und immer den wahnsinnigen Rausch in meinen Adern zu fühlen ...« Heyr fuhr fort: »Ich wusste, dass es falsch war. Ich wusste, dass es ein großes Übel war, und obwohl ich furchtbar an meiner Entscheidung litt, habe ich das Gold zu guter Letzt beiseite gelegt, ohne es überzustreifen. Dann kam mein Vater, nahm mir den goldenen Ring weg und vernichtete ihn. Und an jenem Tag, weil mein Vater wusste, welcher Versuchung ich widerstanden hatte, und wusste, dass ich sein wahrer Sohn war, gab er mir die Macht eines Gottes in meiner eigenen Welt, und er gab mir damals auch den Götternamen Thor, jenen Namen, den ich in allen Überlieferungen der Menschen trage, bis ich hierher kam und diese Welt ihrem Ende zuging und ich glaubte, hier sterben zu müssen. Als die Macht des Gottseins von mir abfiel, habe ich meinen Kindernamen wieder angenommen, meinen sterblichen Namen.« Lauren sagte: »Ich habe mich schon gefragt, warum du dich Heyr nennst.« »Wenn ich diese Welt nicht retten konnte, dann, so hatte 349 ich beschlossen, würde ich mit ihr sterben statt weiterzuziehen, und ich wollte nicht bis zu meinem Tod den Namen eines Gottes tragen. Es erschien mir wie eine ... Überhebung. Wenn ich weiß, dass die Welt weiterleben wird, werde ich auch meinen Gottnamen wieder annehmen.« Er lächelte Lauren und Jake kurz zu, aber als er sich zu Molly umwandte, erstarb das Lächeln. Inzwischen war die Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt, und seine Augen wirkten blauer als zuvor. Trotzdem sah er noch immer erschüttert aus. »Du stehst auf der scharfen Schneide einer Messerklinge«, sagte er zu Molly. »Auf der einen Seite kämpfst du für das, was recht ist, obwohl die Gerechtigkeit nicht mehr wichtig ist für dich. Tief in deinem Innern gibt es einen Kern, der gut ist und der noch nicht vernichtet worden ist - der weder an diese Kälte noch an das Silber gebunden ist, das dich zeichnet, sondern an etwas in dir selbst, das auch wiederholte Tode nicht berührt haben. Äußerlich bist du eine dunkle Göttin. Unter der Oberfläche liegt etwas anderes, und in diesem anderen mag noch Hoffnung sein, wenn du dich dazu entscheidest, ihm nachzugehen. Ich kann es spüren, dass du diejenige bist, die du zu sein vorgibst, dass du viel getan hast, um gegen das Böse zu kämpfen, das uns belagert. Du warst eine
Heldin, und du gehst diesen Weg noch immer. Aber der Weg ist schmal geworden, und ein kalter Wind bläst durch dich hindurch, und auf der anderen Seite der Klinge liegt der Ruf, den auch ich einmal wahrgenommen habe - der Ruf des Todes und der Zerstörung, der Ruf der Macht, die aus dem Nichtsein kommt. Und du gerätst ins Straucheln.« Molly sah ihn mit stetigem Blick an, und ihre smaragdgrünen Augen waren so kalt wie der Winter. »Ich kann den Ruf fühlen«, erwiderte sie. »Er ist inzwischen so ziemlich das Einzige, was ich fühlen kann.« Heyr nickte. »Er ist sehr mächtig. Dass du ihm noch nicht 350 verfallen bist und trotz deiner schweren Wunden weitergekämpft hast - im Hause meines Vaters hättest du höchste Achtung genossen, man hätte dich in den Stand einer Kriegergöttin erhoben und dir einen Platz an seinem Tisch gegeben. Dass du nicht vom Tod getrunken hast, obwohl er so nachdrücklich nach dir ruft, dass ich den Ruf durch dich hindurch selbst spüren kann, dass ich von diesem Hunger noch einmal kosten kann ... allein dafür würde ich dich in meiner Halle willkommen heißen, dich Heldin nennen und Schwester und Freundin. Ich könnte dich zu einer wahren Göttin hier machen. Ich könnte dir den Weg zur Unsterblichkeit zeigen, obwohl bisher noch kein dunkler Gott jemals zu einem wahren Unsterblichen geworden ist.« Heyr sah sie mit leerem Blick an. »Aber du hast bereits begonnen, auf die Dunkelheit zu lauschen und auf sie zuzukriechen - du hältst die Hände darüber, als wärmtest du sie an einem Feuer. Und dann ziehst du dich davon zurück und denkst an Selbstaufgabe und siehst nur diese beiden Richtungen, als wähntest du dich auf der Spitze eines Messers, wo du springen musst und wo zu beiden Seiten nur Dunkelheit liegt.« »Ja«, sagte Molly. »Deshalb bin ich heute hierher gekommen. Ich kann nicht mehr so weitermachen. Ich muss mich entscheiden - den kurzen Fall der Selbstaufgabe oder den langen Fall des Todes.« »Ich sehe einen dritten Weg in dir, auch wenn dessen Stimme verblasst ist.« »Ich sehe keine dritte Alternative. Ich habe keine Kraft mehr, um zu kämpfen.« »Ich denke, Kraft könnte ich dir geben, obwohl sie mit ihrer eigenen Art von Schmerz verbunden wäre. Aber wenn ich dir die Kraft gäbe, die du brauchst, und du dann beschließt, von dem schmalen, harten Pfad abzuweichen, auf dem du jetzt wandelst, dann hätte ich uns in dir den 351 schlimmsten aller möglichen Feinde geschaffen. In meinem langen Leben habe ich nur zwei andere kennen gelernt, die mein Herz mit solchem Grauen ausfüllen, wie ich es in deiner Gegenwart spüre, und einen davon habe ich erschlagen, ohne ihn jedoch töten zu können, und der andere wird eines Tages mich töten. Dieser ist die Midgard-Schlange, ein dunkler Gott von großer Stärke und großer Schläue, der durch die Welten wandert und auf das Ende der Tage wartet. Den anderen ... kennst du. Du trägst sein Zeichen.« Molly sagte: »Baanraak.« Heyr nickte. »Er ist ein Sohn der Midgard-Schlange und ihr beinahe ebenbürtig, was Schläue, Bosheit und Macht betrifft.« Dann fuhr Heyr fort: »Und du hast Baanraak getötet, hast Jagd auf ihn gemacht, obwohl er nicht gefunden werden wollte, und du hast ihn getötet, was nicht einmal ich vermocht habe. Vielleicht könntest du die Midgard-Schlange vernichten und das Ende der Tage verändern. Wenn du dich jedoch gegen uns wenden solltest, dann fürchte ich dich.« Heyr zuckte die Achseln. »Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich dich jetzt schon fürchte.« »Ihr werdet alle besser dran sein, wenn ihr mir erlaubt, mich zu vernichten. Wenn ich die Selbstaufgabe wähle, wird mich einfach das Nichts erwarten und euch zumindest nichts Schlechtes.« Lauren hatte bisher schweigend zugehört, aber jetzt schüttelte sie den Kopf. »Ohne dich wird die Welt enden.« »Das Ich, das den Kampf führen könnte, ist schon fast nicht mehr da, Lauren. Ohne mich seid ihr nicht schlechter dran, als ihr es jetzt schon seid. Mit mir ...« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich würde keine Wetten auf mich eingehen.« »Aber Lauren hat Recht - du kannst Dinge bewirken, die kein anderer der Unsterblichen zuwege bringt. Du kannst die dunklen Götter überall aufspüren - du kannst fühlen, wo sie sich verstecken, etwas, das ich nicht vermag. Du 352 könntest die dunklen Götter jagen, wie kein alter Gott vor dir es jemals tun konnte. Wenn du nur einen Ausweg finden könntest ... von dort, wo du jetzt stehst ... wenn du dich dazu bringen könntest, mit uns zu kämpfen ...« »Ich weiß ja kaum noch, wer ich bin, Heyr. Noch ein Tod, und alles in mir, das sich auch nur einen Deut um Lauren schert oder um diese Welt oder überhaupt irgendetwas anderes als die Befriedigung dieser Gier, die in mir gewachsen ist, kann verschwunden sein. Ich habe noch nie irgendetwas hingeworfen. Noch nie. Aber ich bin so ziemlich am Ende meines Ichs angelangt, und das Ding, das übrig bleiben wird, wenn ich fort bin, wird auch nicht so schnell irgendetwas hinwerfen. Es ist bestimmt nichts, an dessen Rettung euch gelegen sein sollte. Und wenn ich nicht jetzt Schluss mache ... nein. Lass uns unumwunden reden. Wenn ich nicht die verdammte VodiKette aus mir heraushole und mich töten lasse oder mich selbst töte, während ich die Kette nicht trage, dann werde ich vielleicht keine weitere Chance mehr dazu haben. Und dann wird das Ding, das ihr fürchtet, alles sein, was von mir noch übrig ist.« Molly drehte sich um und sah Lauren an. »Im Wesentlichen bin ich hergekommen, um Lebewohl zu sagen.« Lauren, die ihre Worte fürchtete, die Molly fürchtete und um Jake fürchtete, beugte sich über den Tisch und griff
nach der Hand ihrer Schwester. »Gib noch nicht auf. Wenn es sein muss, klammere dich an die Möglichkeit, die vielleicht doch noch besteht, aber gib noch nicht auf.« 19 Weltenaufwärts nach Cat Creek - Baanraak vom Anfängergold Baanraak arbeitete sich auf der Jagd nach Molly entlang der Weltenkette nach oben. Durch pure Willenskraft gelang es ihm, seinen Zorn ein wenig zu kontrollieren, zumindest so weit, dass er über die nächsten Schritte nachdenken konnte, die er unternehmen musste, um sie zu finden. Es kostete ihn eine ganze Welt, um sich begreiflich zu machen, dass er durch geteiltes Blut an sie gebunden war - denn als er explodiert war, hatte ein Teil seines Blutes auch sie berührt. Und sie hatte ihn mit ihrem Blut besudelt. Er konnte die durch dieses Blut verwobenen Verbindungen heraufbeschwören, um Molly zu finden. Er brauchte dann noch eine zweite Welt, um zu begreifen, wie er sich so weit abschirmen konnte, dass er den Einheimischen nicht auffiel. Er konnte kein Licht beugen; er konnte keine Unsichtbarkeit heraufbeschwören, und das innere Schweigen, das ihm einst so kostbar gewesen war, verweigerte sich ihm. Aber mit einem Schild durfte er zumindest hoffen, in Augenblicken, da sie abgelenkt war, nahe genug an sie heranzukommen, um sie zu vernichten. Als er die Erde erreichte, kam er sich nicht mehr so hilflos oder so verwundbar vor, konnte aber immer noch nicht verstehen, warum seine Magie so verkrüppelt war oder was Molly ihm angetan haben konnte, um ihm einen solch furchtbaren Schaden zuzufügen. Noch nie zuvor hatte er sich so sehr ... wie ein Bruchstück seiner selbst gefühlt. Blut rief nach Blut, und Molly trug das seine unter ihrer 354 Haut. Den schwachen Sog, der sie miteinander verband, spürte er auf der Erde nun zum ersten Mal. Er stand an einem kalten Ort, wo der Schnee in wilden Sturmböen um ihn herumtobte und Dunkelheit ihn umgab, die sich anfühlte, als würde sie Monate dauern, und wandte seine Nase nach Süden. Ja. Sie erwartete ihn im Süden. Baanraak wob ein Tor, trat hindurch und fand auf der anderen Seite hohe Kiefern, gewellte Sandhügel und Menschen mit Waffen, die grünbraun gescheckte Uniformen trugen, als könnten sie sich auf diese Weise ein klein wenig tarnen. Er hatte Hunger. Als die Soldaten ihn vor Entsetzen schreiend angriffen, machte er ihre Waffen mit einem Zauber unbrauchbar und verzehrte die Menschen. Menschen waren eine grässlich unbefriedigende Mahlzeit, aber besser als gar nichts, dachte er. Nachdem er sich seinen Bauch gefüllt hatte und eine große Erschöpfung über ihn kam, fand er einen schönen Sandhügel, legte sich darauf nieder und zog seine Schilde um sich herum hoch. Er konnte sich ausruhen und alles beobachten, was an ihm vorbeikam, und gleichzeitig konnte er seine Sinne für die Frage schärfen, wo Molly sein mochte, was sie tat und was zwischen ihm und ihr stand. Wenn er sich davon überzeugt hatte, dass er nicht in eine Falle laufen würde, würde er aufbrechen und sich Molly holen. FBI-Büro, Charlotte, North Carolina Raymond und Louisa fanden das Gebäude kurz nach elf Uhr morgens nach langer Suche in einem vornehmen Wohngebiet. Der FBI-Mann öffnete ihnen; er sah ganz und gar nicht so aus, wie er sich angehört hatte. Buchanan war mager und nicht viel größer als einen Meter achtzig, er trug sein Haar in einem zivilen Schnitt, und 355 er hatte ein freundliches Gesicht. Raymond schätzte, dass er ungefähr vierzig Pfund schwerer war als Buchanan, und er war außerdem jünger. Knieprobleme hin oder her, er vermutete, dass er den FBI-Mann im Kampf würde besiegen können, falls es sein musste. »Fred Buchanan«, stellte der Mann sich vor, streckte die Hand aus, und sie begrüßten einander. Dann sagte Raymond: »Raymond Smetty«, und Louisa folgte seinem Beispiel: »Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Louisa Täte«, und sie gingen zu dritt durch ein leeres, offenes Büro, in dem die Schreibtische alle blitzblank waren, hinein in ein privates Büro mit einer Tür. Fred bedeutete den beiden, auf Stühlen Platz zu nehmen, dann setzte er sich ihnen gegenüber hinter den Schreibtisch. Buchanan trug ein weißes Hemd, hatte die Ärmel hochgekrempelt und sah ganz wie ein Buchhalter aus, fand Raymond. Kein Geheimdienstler, so viel stand jedenfalls fest. Wie hätte auch eins von den hohen Tieren beim FBI Fred heißen können? Raymond hatte als Kind einen Basset mit Namen Fred gehabt. Der Hund und der Bursche vor ihm hatten dieselben Augen. Raymond entspannte sich. Fred griff nach einem dicken Umschlag und zog zwei Fotos heraus - eines zeigte eine Gruppe von Leuten, die durch eine gepflasterte Straße in irgendeiner europäischen Stadt wanderten, mit alten Häusern und Tauben, die überall herumschwirrten. Auf dem anderen waren zwei Männer zu sehen, die in einem Park standen und sich unterhielten - der Park hätte so ziemlich überall sein können. Raymond besah sich das Tauben- und Straßenfoto, während Louisa sich das andere vornahm. »Erkennen Sie irgendjemanden auf diesen Bildern?«, fragte der FBI-Agent. Raymond betrachtete die verschiedenen Gesichter. Eine 356 Gruppe ungeschlacht aussehender Männer, eine atemberaubend attraktive Frau und - auch wenn er jünger und
schlanker, sein Haar schwarz war und er einen Schnurrbart trug - Pete. Pete mit einem gefährlichen Ausdruck auf dem Gesicht, den Raymond noch nie gesehen hatte, wenn der Deputy in seinem Büro saß, die Füße auf dem Schreibtisch des Sheriffs und ein Buch in der Hand. »Ja«, sagte er, während er das Foto zurückgab. »Der Mann mit dem Schnurrbart ist Pete, aber er sieht heute anders aus.« Fred nickte. Louisa besah sich das Foto in ihren Händen und bemerkte: »Der Mann auf der rechten Seite. Der mit dem Gewehr.« »Das ist er«, erwiderte Fred. »Und Sie sagen, dass er jemanden ermordet und die Leiche in einem Fass versteckt hat?« Louisa und Raymond nickten. Buchanan legte eine topographische Karte von Cat Creek auf den Tisch. »Zeigen Sie mir, wo er wohnt, wo wir ihn und wo wir die Leiche finden können - alles, was Sie wissen. Und erzählen Sie uns, für wen er jetzt arbeitet.« Mit vereinten Kräften beschuldigten Louisa und Raymond nicht nur Pete, sondern auch Lauren, Eric und sogar June Bug. Fred nahm alles auf, notierte sich die Einzelheiten und verströmte so viel Dankbarkeit, dass Raymond sich wie ein Held vorkam, als er und Louisa sich zum Gehen anschickten. Schließlich standen sie auf und wandten sich der Tür zu, und Fred erhob sich gleichfalls und sagte: »Sie werden nicht nach Cat Creek zurückkehren können, zumindest nicht in der nächsten Zeit. Ich möchte keinen von Ihnen beiden in kleine Stücke gesäbelt irgendwo auffinden. Ich wage es nicht, Sie jetzt schon nach Hause gehen zu lassen.« 357 Raymond spürte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte. »Wir haben keine Wahl«, sagte er. »Wir müssen zurückkehren. Wir können es nicht riskieren fortzubleiben.« Er dachte an die Wächter und daran, wie kritisch sie auf unerklärtes Fernbleiben reagierten. Als Nächstes schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass diese ganze Angelegenheit aufhören würde, eine kluge Idee zu sein, wenn er und Louisa nicht rechtzeitig nach Cat Creek zurückkehren und so tun konnten, als sei nichts geschehen. Denn auch wenn ihm die Tatsache, dass Pete ein abgebrühter, international agierender Killer war, Angst machte, so erschreckte ihn das doch nicht halb so sehr wie die Vorstellung, die Wächter könnten dahinterkommen, was er getan hatte. Der Arm der Wächter war um ein Vielfaches länger als der des FBI - und im Gegensatz zum FBI waren die Wächter weder an die Gesetze ihres Landes gebunden, noch waren sie den wachsamen Augen von Menschenrechtsorganisationen wie der ACLU oder Amnesty International ausgesetzt. Wenn sie Jagd auf ihn oder Louisa machten, würde niemand die Chance bekommen, einen Anwalt anzurufen oder haufenweise Gesuche einzureichen. Und dann standen mit einem Mal vier große Kerle in der Tür, Kerle, die so aussahen, wie Raymond sich FBIAgenten vorstellte. Größer als er und stärker, mit kalten Augen und kaltem Gesichtsausdruck. Fred lächelte und erklärte: »Wir werden Ihnen beiden auf unsere Kosten für ein paar Tage ein Quartier geben, um dafür zu sorgen, dass Sie lange genug leben, bis wir Pete und seine Komplizen hochgenommen haben.« Bereits eine Minute später wurden er und Louisa in getrennte Wagen verfrachtet, und Raymond bekam es langsam mit der Angst zu tun. Aber nicht annähernd mit solcher Angst, wie er sie verspürte, als die beiden FBI-Leute ihn in ein Zimmer in einem 358 schäbigen Hotel fernab von allem Getriebe brachten und es nirgendwo in dem Raum einen Spiegel gab. Da, als es zu spät war, um auch nur noch das Geringste deswegen unternehmen zu können, ging ihm auf, dass er sich an die falschen Leute gewandt hatte. FBI-Hauptquartier, Charlotte, N. C. Fred Buchanan riss eine Ecke von einem Stück Papier ab und kritzelte hastig ein paar Worte darauf. Louisa Täte und Raymond Smetty haben versucht, dich und einige deiner Kontaktpersonen anzuzeigen. Beide inzwischen in Schutzhaft, getrennt und in Zimmern ohne Spiegel. Keine Ahnung, was da unten los ist, aber pass auf, was du tust. Fred Er gab den Zettel Wylie Blake, einem der Männer, die schon früher mit Pete zusammengearbeitet hatten, und sagte: »Bringen Sie das hier runter in die heiße Zone, ohne dass irgendjemand Sie sieht. Nicht einmal Pete, wenn Sie es einrichten können. Und dann kommen Sie so schnell wie möglich hierher zurück.« Wylie nickte. »Geht in Ordnung, Boss. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Ich kümmere mich sofort darum.« Das würde genügen müssen. Fred hoffte, dass sämtliche Verräter gleichzeitig in Aktion getreten waren; er war sich nicht sicher, ob das FBI eine große Hilfe sein würde, falls Pete unten in Cat Creek echte Probleme hatte. Fred wusste nicht, ob Pete selbst sich darüber im Klaren war, was genau man ihm da unten aufs Auge gedrückt hatte. Das FBI 359 hatte gute Leute zur Verfügung, aber gegen Außerirdische und eine Technologie, die stark nach Magie aussah ... Fred seufzte. Außerirdische interessierten ihn. Es machte ihm Spaß, in einem der interessantesten Fälle, an denen
das Bureau je gearbeitet hatte, mitten in der heißesten Region das Kommando zu führen. Allerdings hätte er gern langsam klarer gesehen, wie das alles zusammenhing, doch stattdessen wurde Petes Rolle bei dem Ganzen immer unheimlicher und beängstigender. Mit einem Mal fragte Fred sich, ob die verschiedenen Teile des Puzzles jemals ein komplettes Muster ergeben würden. Er hoffte, dass Pete die Vorgänge in Cat Creek besser im Griff hatte als er selbst. Von Raleigh nach Cat Creek - Baanraak von Silber und Gold Baanraak steuerte den schwarzen Mercedes Benz CL 600 Coupe DE ohne Aufsehen, aber nicht unbemerkt nach Cat Creek. Das war schon wegen des Wagens unmöglich. Aber er wollte auch gar nicht unbemerkt bleiben. Er wollte lediglich, dass man ihn falsch identifizierte. Auf der Fahrt von Raleigh nach Cat Creek hatte er sich reichlich Zeit gelassen, war ein wenig herumvagabundiert, hatte Nebenstraßen benutzt und gelegentlich angehalten, um sich umzusehen, ein Gefühl für das Gebiet zu bekommen und die Standorte der Nachtwache, alter Götter, Wächter und anderer Ärgernisse zu sondieren. Die meisten davon hoben sich scharf und leuchtend gegen das dumpfe Hintergrundlärmen von Sterblichen ab, von profaner Menschheit. Die Wächter verrieten sich mit ihren stehenden Toren und ihrem geradezu lachhaft wachsamen Starren in die Zwischenwelt. Zahnlos und gefesselt von lähmen360 den Regeln, alle durch die Bank. Sie mochten eine Bedrohung für die Pläne der Nachtwache dargestellt haben, aber unter Baanraaks Führung hatte die Nachtwache schon in lange vergangenen Zeiten ihren Rat infiltriert und dafür gesorgt, dass die Wächter ihre Hauptaufgabe darin sahen, die Schweinereien wieder aufzuräumen, die Dritte angerichtet hatten. Außerdem machten sie sich nützlich, indem sie ihre Welt in der Spur hielten, bis sie reif genug war, um wohlschmeckend zu sein. Von der Nachtwache hätte durchaus eine Gefahr ausgehen können, aber ihre gegenwärtigen Mitglieder hatten sich weder die Zeit genommen noch die Mühe gemacht, sich zu tarnen. Da sie seit unvordenklichen Zeiten keiner echten Bedrohung mehr ausgesetzt waren, hatten sie die Selbstgefälligkeit von Raubtieren angenommen, die ganz oben in der Nahrungskette stehen, und ihre lärmenden Gedanken, die Extravaganz, mit der sie sich sättigten, und die Unverfrorenheit, mit der sie die dunkle Magie der Welt nutzten, waren für Baanraak beim besten Willen nicht zu überhören. Mit keinem von ihnen würde er irgendwelche Überraschungen erleben. Selbst die alten Götter, gering an der Zahl, furchtsam und ständig auf der Flucht, versteckten sich nur vor der Nachtwache. Sie machten sich klein genug und leise genug, um sich vor jenen zu verbergen, deren Gedanken und Magie lauter waren als ihre eigenen. Für Baanraak, den Meister der Stille, hätten sie ebenso gut tanzen und schreien können. Als er Cat Creek erreichte, wusste er, was in seinem Rücken lag. Eine Hand voll Vorposten der Wächter, drei ängstliche alte Götter, ein Dutzend dunkle Götter von der Nachtwache. Und ein beunruhigendes Fleckchen Land in den Sandhügeln draußen beim Reservat von Fort Brack, wo er geglaubt hatte, etwas zu spüren, bei näherer Inspektion jedoch nichts gefunden hatte als vereinzelte Echos seiner eigenen Gedanken. Dieser Platz machte ihm zu schaf361 fen, aber nicht so sehr, dass er ihn wirklich aufgehalten hätte. Es war kein Problem, solange es sich nicht selbst zu einem Problem machte, befand er - und falls es sich zu einem Problem machen sollte, gab es nichts im Universum, was besser geeignet wäre als er, um dieses Problem zu lösen. Also fühlte er sich sicher in dem Wissen, dass er, was hinter ihm lag, unter Kontrolle hatte. Was vor ihm lag war jedoch ein anderes Thema. Lauren konnte er ohne große Mühe ausfindig machen. Sie war nicht laut - da sie sterblich war und für den Augenblick keinen Kontakt zur Zwischenwelt hatte, unterschied sie sich im Prinzip nicht von all den anderen Sterblichen, einmal abgesehen von jenem seltsamen Echo unsterblicher Liebe und Hoffnung, das ihr anhaftete. Es war das Zeichen ihres Zusammenstoßes mit der Seele des Unendlichen, einer Macht, die Baanraaks Horizont ebenso überstieg wie sein Verständnis oder seine Reichweite. Ihr Kind trug dasselbe schwache, reine Licht in sich. Aber selbst wenn sie nicht etwas Besonderes gewesen wäre, hätte man sie leicht finden können. Denn sie hatte Beschützer. Sie war umringt von alten Göttern, die in dieser Welt bereits so rar waren wie Pfauen auf einem arktischen Schneefeld. Aber die alten Götter um sie herum waren keine Sterblichen aus den oberen Welten, die ihre sterblichen Jahre mit selbstsüchtiger Magie und Furchtsamkeit in die Länge zogen, sondern wahre Unsterbliche. Schmerzträger, wie Baanraak sie immer genannt hatte. Geschöpfe, von denen er geglaubt hatte, sie seien schon lange von der Erde verschwunden. Im Gegensatz zu den durchschnittlichen alten Göttern waren die Schmerzträger gefährlich, sogar für ihn. Er konnte sie nicht töten, konnte ihnen keinen Schaden zufügen, konnte sie nicht einmal aufhalten, es sei denn, es gelang ihm, sie in ein Tor zu ziehen und auf diese Weise ihren Kontakt zu der sie bindenden Welt zu unterbrechen. Der Tod 362 ihrer Bindungswelt würde kurzen Prozess mit ihnen machen, aber die Vernichtung der Erde war im Augenblick nicht seine Mission, selbst wenn er die Zeit, die Möglichkeit oder das Interesse gehabt hätte, das Ende des Planeten herbeizuführen. Einen dieser Schmerzträger kannte Baanraak. Er und Thor waren sich zweimal begegnet, auf anderen Welten und in Tagen, die lange vorüber waren. Als frischgebackener Unsterblicher hatte Thor Baanraak einmal in einem
Kampf Mann gegen Mann beinahe besiegt, lange bevor dieser zum Meister der Nachtwache geworden war. Damals war Baanraak noch ein junger dunkler Gott gewesen und hatte nicht gewusst, dass ein wahrer Unsterblicher in einem einfachen Kampf einem wie ihm überlegen war. Tatsächlich war Thor der Letzte gewesen, der Baanraaks Körper erfolgreich getötet hatte - bis Molly gekommen war. Baanraaks Lehrer, Fhergass, hatte zu viel Arbeit in Baanraak investiert, um zuzulassen, dass irgendjemand all das zunichte machte. Also hatte er sich in den Kampf eingeschaltet und Thor unter großen persönlichen Risiken daran gehindert, Baanraaks Leichnam zu plündern und seine Auferstehungsringe an sich zu nehmen. Bei ihrer zweiten Begegnung, nachdem Baanraak Fhergass vernichtet und selbst die Meisterschaft der Nachtwache übernommen hatte, hatte Baanraak Thor beinahe bezwungen, indem er den alten Gott beim Durchtritt durch ein Tor überraschte, bevor dieser die Chance gehabt hatte, sich an die Welt zu binden, die er soeben betreten hatte. Thors Geschick im Umgang mit Magie und Waffen hatten nicht verhindern können, dass er schwere Verletzungen davontrug, auch wenn er unglücklicherweise überlebt hatte. Und da war er nun wieder, und er war ein Drittel des Bollwerks, das zwischen Baanraak und dem stand, was er wollte. 363 Doch Thor war nicht so stark, wie er es bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. In dieser Welt gab es nicht genug Lebensmagie, um das Ungeheuer zu nähren, das er einst gewesen war. Aber er war nach wie vor eine Größe, die man nicht unterschätzen durfte. Solange Thor nicht in eine andere Welt wechselte und es Baanraak gelang, ihn dort bereits zu erwarten, konnte er ihm nichts anhaben. Und wollte es auch gar nicht versuchen. Die anderen kamen Baanraak vertraut vor, was jedoch unmöglich war. Sie waren erst kürzlich zu Unsterblichen gemacht worden und immer noch krank vom Schmerz und geschwächt von der vollen Wucht des Sterbens ihrer Welt. Im Gegensatz zu Thor hatten sie noch nicht gelernt, Leben aus reinem Frühling zu trinken - sie hatten noch keinen der Brunnen gefunden, wo Lauren Lebensmagie geschaffen hatte. Einstweilen tranken sie nur vom Fluss der Welt, und dieser Fluss war Gift für alles, was lebte. Trotzdem - selbst schwach und frisch geschlüpft und immer noch naiv, waren selbst sie unberührbar. Baanraak stieß ein Knurren aus. Und dann war da der Gegenstand seiner Begierde und die Verursacherin seines Schmerzes. Molly. Molly, die er besitzen wollte, nach deren Vernichtung es ihn verlangte. Er konnte sie nur als einen denkbar schwachen Schimmer in der Luft wahrnehmen, da sie ihre Macht auf dieselbe Weise dämpfte, wie er es tat. Auf allen Welten war Molly die Einzige, die sein Kommen sehen, seine Absicht erraten und ihm auflauern konnte. Auf dieser Welt verfügte Molly nur über die schwache Magie, die sie ihrem doppelten Erbe verdankte. Aber in eben diesem Augenblick erörterte Thor die Vorzüge, die es hätte, wenn er sie verwandelte. Und als Baanraak sich daranmachte, in Thors Gedanken nach der Art und Weise zu forschen, wie Thor diese Ver364 Wandlung bewerkstelligen wollte, erfuhr er dabei auch, dass sein kleines Reich auf Kerras entdeckt worden war. Und es war nicht nur entdeckt worden, sondern es waren sogar einige Menschen dort eingedrungen. Die meisten der Wächter von Cat Creek waren in seinem Versteck gewesen, die meisten von ihnen waren dort zu Göttern geworden. Die Einzige, die noch nicht auf Kerras gewesen war, war Molly. Wenn sie dorthin ging, wenn Thor seine Absicht wahr machte und sie dorthin brachte - dann würde sie den Ort wiedererkennen, und sie würde seinen Schöpfer kennen. Seine Arbeit würde ihn verraten, und er würde nicht dort sein, um ihr etwas zu erklären oder ihr beizubringen, wie sie sein Werk sehen musste. Sie würde es mit anderen Augen als den seinen sehen, und sie würde es zu etwas machen, das er nicht beeinflussen und nicht kontrollieren konnte. Er begriff plötzlich, dass er nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was sie denken würde. Unwillkürlich umklammerte er das Lenkrad des Wagens so fest, dass die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten und vor Anspannung schmerzten. Er entspannte sich. Er brauchte eine Ablenkung. Schnell. Cat Creek, North Carolina Pete lag rastlos im Bett, außerstande zu schlafen, außerstande zu denken, gefoltert von einem Schmerz, den kein Medikament erreichen konnte. In seinem Kopf schrien Stimmen nach Rettung, und er konnte sie nicht retten. Verbrecher verbreiteten Tod und Entsetzen, und er konnte sie nicht aufhalten. Die Welt machte einen kleinen Schritt auf die Vernichtung zu, und er konnte sie nicht zurückreißen, konnte sich der Zerstörung nicht einmal in den Weg stellen. 365 In diesem Augenblick konnte er gar nichts tun, nicht einmal die Geräusche ausblenden. Hätte er arbeiten müssen, wäre er nutzlos gewesen, aber dann hätte er zumindest über etwas anderes nachdenken können als über sein eigenes Unglück. Er war nicht krank. Wahrscheinlich würde er nie wieder im normalen Sinne krank werden. Die Tatsache, dass er sich wünschte, tot zu sein, war eine ganze andere Angelegenheit. Er streckte seine Gedanken nach Lauren aus, weil er sich nach Trost sehnte und nach irgendetwas, an dem er sich festhalten konnte. Sie las gerade Jake vor, der sich auf ihren Schoß kuschelte. Die beiden sangen Kinderreime aus einem großen, roten Buch. Pete lächelte, schloss die Augen und ließ sich in Lauren hineingleiten. Er öffnete sich ihr, und indem er sich ausschließlich auf sie konzentrierte, gelang es ihm, die sechs
Milliarden anderen Stimmen auszublenden. Und er fand Dinge, von denen er wünschte, er hätte sie nie gesehen. Lauren und Brian, die sich in einer Bibliothek trafen und beide gleichzeitig nach demselben Roman von Theodore Sturgeon auf dem Regal griffen. Die beiden, wie sie miteinander stritten - die Streitereien waren verblüffend gewesen. Keine Gewalt, die sich gegen den anderen richtete, aber Türen, Kleiderbügeln und in Plastik gehüllten Schinken war es nicht allzu gut ergangen. Und dann die Versöhnungen nach einem Streit; das war noch schwerer zu ertragen. Die beiden waren ein wunderbares Paar gewesen; sie hatten eine Liebe erfahren, wie Pete sie sich nicht einmal vorstellen konnte. Bis zu diesem Augenblick war ihm gar nicht klar gewesen, wie viel von der Magie, die Lauren wob, durch Brians Berührung geformt worden war und durch ihre Sehnsucht nach ihm. Pete konnte Brians Gestalt noch immer in Laurens Herzen spüren, und zum ersten Mal konnte er auch ihre ozeantiefe Lie366 be für ihn wahrnehmen. Und zum ersten Mal konnte er verstehen, warum sie sich an Brians Andenken klammerte. Er nahm ihre Qual über den Verlust Brians in sich auf, als sei es sein eigener Schmerz. Und Pete sah sich selbst mit Laurens Augen und mit ihrem Herzen, und er begriff, dass er kein Brian war und es niemals sein konnte. Lauren und Brian waren in Primärfarben gemalt und mit leuchtenden, dicken Pinselstrichen. Sie hatten die Welt mit ihrer Liebe erschüttert. Nichts von dem, was die beiden miteinander geteilt hatten, war dünn oder seicht oder blass gewesen. Wenn Brian länger gelebt hätte, wäre die Liebe der beiden vielleicht ein wenig mürber geworden oder an den Rändern verblichen. Aber Brian hatte nicht länger gelebt, und als er starb, hatte er auf den Himmel verzichtet, um bei ihr zu bleiben, und schließlich einen Teil seiner Seele gegeben, um ihr gemeinsames Kind zu retten - wie zum Teufel sollte jemand damit konkurrieren? Pete konnte sehen, dass Lauren an ihm lag. Aber er war eine Art Aquarell, mit hübschen Details in blassen, stillen Farben gezeichnet. Lauren beschäftigte sich am Rande mit der Überlegung, dass sie ihn vielleicht lieben könnte, dass sie ihn vielleicht brauchen würde, dass sie in ihrem Herzen und in ihrem Leben vielleicht einen Platz für ihn finden würde. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Pete jemals mehr war als das Zweitbeste nach der Liebe und dem Leben, die sie verloren hatte. Und nachdem er nun von innen heraus sah, was sie verloren hatte, konnte er sich auch nichts anderes mehr vorstellen. Er zog sich aus ihr zurück. Besser die unpersönliche Qual von sechs Milliarden Fremden als das klare, ehrliche und schmerzhaft schonungslose Spiegelbild seiner selbst, durch die Augen der Frau gesehen, die er lieben wollte. Pete richtete sich auf. Er musste sich bewegen, musste ir367 gendetwas tun. Der Lärm in seinem Kopf war unerträglich; der Schmerz in seinem Körper schrie nach Heilung, nach irgendeiner Art von Linderung. Ihm fiel nichts anderes ein als Bewegung. Er schlüpfte in Jeans und Turnschuhe und brach zu einem Spaziergang auf. Die Daumen in seine Taschen gehängt, trabte er los, ohne Richtung und ohne Ziel. Die Straßen von Cat Creek, die selbst an Wochentagen recht ruhig waren, lagen jetzt verlassen da. Die Kälte und der Nieselregen hielten die Menschen in ihren Häusern fest - wären da nicht die Stimmen gewesen, die durch schlecht isolierte Mauern auf die Straße hinausdrangen, hätte man denken können, die kleine Stadt sei aufgegeben worden. Der Geruch von brennendem Holz aus den Häusern, in denen die Menschen wegen der Kälte ihre Kamine entzündet hatten, wirkte gemütlich - aber Pete sah Cat Creek jetzt mit neuen Augen. Die Stadt war ihm nie als ein besonders friedliches Fleckchen Erde erschienen; seine Arbeit im Büro des Sheriffs hatte ihm jede Illusion in dieser Richtung geraubt. Aber von dem stillen Schmerz hinter den Türen hatte er nichts gewusst Herzeleid und Kummer, Einsamkeit, Zorn und Verrat, die niemals bis an die Oberfläche vordrangen. All diese Dinge hatten ihn bisher nie erreicht. Er schlenderte an schönen alten Häusern vorbei und an solchen, die früher einmal schön gewesen waren, durch Straßen, in denen alte Eichen hohe Bögen formten und den Himmel aussperrten, und er versuchte, nichts von dem Schmerz an sich heranzulassen. Heyr hatte ihm geraten, nach dem Guten Ausschau zu halten, nach allem, was lebte und gesund und stark war, um aus diesen Dingen Kraft zu beziehen. Pete hatte alle Mühe, diese gesunde Macht zu finden. Aber er hörte nicht auf, danach zu suchen. »Kein angenehmes Wetter für einen Spaziergang«, bemerkte jemand, und Pete drehte sich um. Ein Mann saß im 368 Halbschatten auf der Treppe vor einem der alten Häuser. Die rote Spitze einer Zigarette glühte im Grau unter den Dachsparren. »Stimmt«, pflichtete Pete ihm bei und blieb stehen. »Kein angenehmes Wetter für irgendetwas, finde ich.« Der Mann zuckte die Achseln. »Zum Nachdenken reicht es wohl. Ärger mit einer Frau - so etwas scheint es bei jedem Wetter zu geben.« Pete lachte leise. »Willkommen im Club!« »Ah. Ein Kamerad im Leiden. Wollen Sie sich setzen? Zigarette?« Pete setzte sich auf den ihm angebotenen Platz auf der Treppe, wo er vor dem Regen geschützt war. »Ich rauche nicht«, sagte er. »Da werden Sie länger leben«, entgegnete der Mann. Pete schnaubte. »Dann sollte ich es mir vielleicht angewöhnen.« Er drehte sich um, um den Mann anzusehen - es
war jemand, den er nicht kannte. So etwas kam von Zeit zu Zeit vor. Nachdem die hochgradig ansteckende, von Magie erzeugte Grippe mehr als ein Zehntel der Bevölkerung von Cat Creek getötet hatte - weltweit waren ihr Millionen Menschen zum Opfer gefallen -, waren viele Häuser in der Stadt auf den Markt gekommen. Auf diese Weise war ihr Wert gefallen, und die Rezession hatte die Preise noch weiter sinken lassen, ebenso wie die Zinsraten. Also fanden neue Familien plötzlich irgendwelche Schnäppchen in Cat Creek und zogen ein. Pete streckte die Hand aus. »Pete Stark.« »Hahlen Nottingham«, sagte der Mann und ergriff Petes Hand. »Nennen Sie mich Hai.« Pete blickte unter dem Dach hervor. Die Veranda war bequem, die Gesellschaft Hals seltsam beruhigend, und für eine Weile saß er einfach nur da, beobachtete den Regen und fühlte die Kälte, ohne dass sie ihm wirklich zu schaffen 369 machte. Ab und zu drang der Duft von Hals Tabak an seine Nase, der weich war und gewürzt mit einem Anflug von ... Kirschen? Kein typischer Zigarettenrauch. Auch Hai schien damit zufrieden zu sein, einfach nur dazusitzen. Das Schweigen war nicht verlegen, sondern wirkte natürlich, und als Hai schließlich zu sprechen begann, war auch das vollkommen natürlich. »Also, nachdem ich länger, als ich es in Worte fassen kann, gesucht habe, habe ich endlich die perfekte Frau für mich gefunden«, sagte Hai, nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette, warf die Kippe auf die abgetretene Stufe und trat sie mit dem Absatz aus. »Nur dass sie es leider nicht so sieht. Sie ist Dunkelheit und Licht in einem. Sie passt genau zu mir. Manchmal fühlt sie sich genauso zu mir hingezogen, wie ich mich zu ihr hingezogen fühle, und manchmal kann sie nicht einmal meinen Anblick ertragen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mir den Kopf zermartert über diese Sache, bis ich nicht länger wusste, ob ich Männlein oder Weiblein bin.« »Das tut mir Leid«, sagte Pete. »Ich bin der letzte Mann auf der Welt, der irgendjemandem Ratschläge geben könnte, aber es tut mir ehrlich Leid.« »Welche Geschichte haben Sie denn zu erzählen?«, fragte Hai. »Sie ist Witwe. Er war ein besserer Mann, als ich jemals sein werde.« »Das reibt sie Ihnen wohl ständig unter die Nase, hm?« »Nein, mit keinem Wort. Niemals. Er war wirklich ein besserer Mann, als ich je sein werde. Sie fängt endlich an, mich wahrzunehmen, aber ich bin nicht er und werde es niemals sein, und das ist uns beiden ziemlich klar. Ihr war es immer ziemlich klar.« Pete zuckte die Achseln. »Also macht sie einen Schritt auf mich zu, zieht sich zurück, macht wieder einen Schritt auf mich zu und zieht sich er370 neut zurück. Sie mag mich, sie begehrt mich, sie hat ein schlechtes Gewissen deswegen, und sie wendet sich wieder ab.« Hai lachte. »Das klingt nach einem amüsanten Spiel. Bei mir läuft es etwas anders: Sie will mich, sie hasst mich, sie will mich töten. Auch sehr amüsant. In ihren Augen sehe ich alles, was ich jemals zu finden gehofft habe. Ich kann spüren, wie perfekt sie ist. Sie ist intelligent, sie ist begabt ... sie ist gefährlich.« Eine Sekunde lang schwieg er, dann fügte er hinzu: »Ich stehe auf gefährliche Frauen.« »Dann wird es vielleicht kein Happy End geben«, erwiderte Pete. »Ich habe die Leute von der Spurensicherung öfter, als mir lieb war, Knochensplitter von Hauswänden sammeln sehen.« Hai stieß ein nichts sagendes Knurren aus. Pete hätte diesen Laut dahingehend interpretieren können, dass Hai das Thema wechseln wollte. Außerdem hätte er sich jederzeit mit einer höflichen Bemerkung aus dem Gespräch zurückziehen und seinen einsamen Marsch fortsetzen können. Aber Hai war ein angenehmer Gesprächspartner. Beruhigend. Er vergrößerte die Last in Petes Gedanken nicht, und während Pete dasaß und sich mit ihm unterhielt, stellte er fest, dass Hai beinahe einen Puffer zu den schreienden Massen bildete. Er hüllte sich in Schweigen wie in eine Decke ... und er war offensichtlich bereit, diese Decke mit jemandem zu teilen. Also sagte Pete: »Wie gefährlich ist sie denn?« Hai lachte. »Wollen Sie ein Bier?« »Unbedingt.« »Ich habe keins da. Aber wenn Sie ein Lokal kennen, wo wir welches kriegen können, gebe ich eine Runde aus.« Pete dachte einen Moment lang nach. »Ein schönes Lokal? Ein runtergekommenes?« »Ein Lokal in der Nähe mit gutem Bier.« 371 »In Ordnung. Solange es Ihnen nichts ausmacht, nach South Carolina zu fahren, kenne ich ein Lokal, das den Ansprüchen genügen dürfte.« »Ich hole meinen Wagen.« 20 Fort Brack, North Carolina - Baanraak vom Anfängergold Baanraak erhob sich von seinem Ausguck auf dem Gipfel des Sandhügels, streckte beide Flügel nacheinander aus und machte den Rücken krumm. Es wurde dunkel, und Dunkelheit war ein Vorteil für ihn. Er atmete mit halb geöffnetem Maul ein, kostete die Gefahren, die zwischen ihm und seinen Zielen standen, und fand sie beträchtlich, aber nicht unüberwindbar. Alte Götter bewachten sie, aber er war schon früher mit alten Göttern fertig geworden. Er rang um Stille, die sich ihm jedoch immer noch entzog. Daher gab er sich mit einem Schild
zufrieden und passte sich der Welt an, so gut er es vermochte. Dann, mit einem Herzen, das vor Zorn und Verlangen hämmerte, und mit vor Nervosität verkrampften Gedärmen, fing er die Luft unter seinen Flügeln auf, spannte seinen Körper wie eine Katze an und stieß sich vom Boden ab, um sich auf den Weg zu Molly zu machen. Auf den Weg zu einer Lösung. Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria Nachdem es Rekkathav endlich gelungen war, alle auf der Erde stationierten Trupps zurückzurufen, näherte er sich dem neuen Meister der Nachtwache und verneigte sich. Sein Magen zuckte nervös, und er hatte furchtbare Angst 373 davor, sich noch einmal zu blamieren, was seine Chancen, eben das zu verhindern, nicht gerade vergrößerte. »Die Agenten von der Erde haben sich alle in der Arena versammelt, wie du es angeordnet hast, Meister Baanraak.« Der Rron grinste Rekkathav an, und Rekkathav krümmte sich innerlich. Die Arbeit für Baanraak, den Rron, war schlimmer als die Arbeit für Aril, den Keth, je gewesen war, dachte er. Der Keth hatte keine Loyalität gekannt, niemanden geschätzt außer sich selbst und ebenso oft aus Launenhaftigkeit wie aus Notwendigkeit Mitarbeiter vernichtet. Trotzdem hatte Rekkathav in all der Zeit, die er für Aril gearbeitet hatte, niemals den Eindruck gewonnen, dass der Meister ihn beobachtete und sich vorstellte, wie er mit einem Fässchen Wein und einer kleinen Gemüsebeilage schmecken würde. Jedes Mal, wenn Baanraak ihn ansah, fühlte Rekkathav sich wie ein Appetithäppchen. »Du verfolgst die Frau, die ich dir gezeigt habe?«, erkundigte sich Baanraak. »Ja, Meister.« »Ich muss hinunter in die Arena. Ich werde einigen unserer Agenten vielleicht neue ... Aufgaben leider ... zuweisen müssen. Da wäre immerhin die Frage der Loyalität. Während ich fort bin, verlier mir die Frau nicht aus den Augen. Sie ist der Schlüssel zu vielen Dingen.« Er ging auf die Tür zu, dann drehte er sich noch einmal um. »Wo ist sie jetzt?« »Sie ist auf die Erde gereist«, antwortete Rekkathav. »Sie besucht ihre Schwester und ist umringt von einem ganzen Nest von Unsterblichen.« Baanraak hielt inne und sah Rekkathav nachdenklich an. »Unsterbliche. Auf der Erde. Man stelle sich das vor. Kannst du da irgendjemanden identifizieren?« Rekkathav schluckte heftig, um seinen Magen an Ort und Stelle zu halten. Er hatte bereits die Unterlagen studiert, da er genau diese Frage erwartet hatte - und seine Ergebnisse 374 gingen ihm zutiefst gegen den Strich. »Die wichtigste Person, mit der wir uns beschäftigen müssen, ist Thor«, sagte er schwach. Aber Baanraak reagierte nicht so, wie Aril es getan hätte. Stattdessen zog er lediglich die Schuppen über seinen Augen in die Höhe. »Sie hat wirklich erstaunliches Geschick darin, sich mit schlechter Gesellschaft einzulassen.« Er seufzte. »Ich werde mich später darum kümmern - das dürfte nicht die Art von Situation sein, die sich von allein bereinigt, aber zunächst einmal habe ich andere Dinge zu erledigen. Behalte sie im Auge, bis ich wieder da bin.« »Wie du wünschst, Meister Baanraak.« Baanraak ging, und Rekkathav blieb gerade genug Zeit, erleichtert aufzuatmen, als der neue Meister noch einmal den Kopf in Rekkathavs Beobachtungsraum schob. »Ach, übrigens«, sagte Baanraak. »Ich sehe dich keineswegs als Hauptgang zu Wein und Salat. Du bist eher ein Bierimbiss.« Cat Creek Molly stand auf Laurens Veranda. Das Haus war sehr gemütlich - eine breite Veranda rundum und viel Schnickschnack, der dringend neu gestrichen werden musste. Die Stufen der Holztreppe waren von vielen Generationen abgetreten worden. Es war die Art Haus, nach der sie sich als Kind und als junge Frau gesehnt hatte. Die Art Haus, die ihr früher einmal das Wort »Zuhause« zugeflüstert hatte. Aber jetzt flüsterte nichts mehr »Zuhause«. Sie berührte den Ring an ihrer rechten Hand, spürte die Verbindung zu Seolar und wusste, dass er lebte, dass er in Sicherheit war. Dann öffnete sie das Nadelöhrtor, das sie mit ihm verband, gerade weit genug, um ihn für einen Au375 genblick sehen zu können. Er arbeitete - über irgendein Dokument gebeugt, auf das er mit einem Füllfederhalter Worte kritzelte. Soeben tauchte er die Feder in ein Tintenfass. Er wirkte ausgezehrt - auf seinem bis dahin faltenlosen Gesicht zeichneten sich tiefe Linien ab, und sein Kummer spiegelte sich in den Augen und der starren Haltung seiner Schultern wider. Das hatte sie ihm angetan. Sie war Gift. Im nächsten Moment ließ sie das Tor wieder auf Nadelöhrgröße schrumpfen und drehte den Ring. Lauren konnte ihn tragen. Lauren konnte über ihn wachen und dafür sorgen, dass ihm nichts zustieß. Molly würde ihm gegenüber ihr Wort nicht brechen, solange sie dafür Sorge trug, dass er nicht im Stich gelassen wurde. Es würde keine Rolle spielen, wenn nicht sie diejenige war, die über ihn wachte. Hinter ihr wurde die Gartentür geöffnet. Lauren kam heraus und trat neben sie, und gemeinsam beobachteten sie,
wie das Zwielicht die Welt um sie herum einhüllte. »Wie geht es dir?«, fragte Lauren, und Molly lachte nur. »Ich denke, wenn man erst so viele Male gestorben ist wie ich, dann könnte wohl nicht einmal der pedantischste Pfarrer einen Selbstmord, um allem ein Ende zu bereiten, als Todsünde betrachten. Dies auf deine Frage, wie es mir geht.« Laurens Augen waren dunkel vor Sorge. »Heyr glaubt, es gibt noch Hoffnung.« »Heyr betrachtet das Ganze von außen. Und nicht einmal er weiß, wie ich es ertrage - und während er mich seiner Musterung unterzog, habe ich eine Ahnung von dem bekommen, was er während der letzten Hälfte der Ewigkeit mitgemacht hat. Ich begreife wirklich nicht, warum er nicht Schluss gemacht hat.« »Nimm sein Angebot an, dich hier zu einer alten Göttin zu machen«, sagte Lauren. »Vielleicht wird dann manches 376 besser für dich.« Sie klang so hoffnungsvoll - so liebevoll. Aber so war Lauren nun einmal; sie war diejenige, deren Auftrag vorsah, dass sie lebte und ihre Seele behielt. Diejenige, die die Welt retten sollte, indem sie sie liebte. Diejenige, die Liebe fühlen durfte, statt sich nur daran erinnern zu können, wie es einmal gewesen war. Laurens Eltern hatten sie nicht noch vor ihrer Empfängnis zu einer Ewigkeit seelenloser Folter und untoter Existenz verurteilt, wie sie es bei Molly getan hatten. Molly war überrascht, festzustellen, dass sie noch immer imstande war, Verbitterung zu empfinden. Alles andere hatte sich in nichts aufgelöst, aber die Verbitterung blieb. War das nicht wieder typisch? Und dann nahm sie eine schwache Bewegung in der Luft wahr, eine Dunkelheit, die sich gleichzeitig auf sie zuund von ihr wegbewegte. Von einem Instinkt geleitet, griff sie nach der Rrön-Schuppe, die sie an der kleinen Kette um ihren Hals trug. Sie zog die Kette über den Kopf, hielt die Schuppe fest in einer Hand und konnte Baanraak spüren. Nicht Schatten dessen, was Baanraak einst gewesen war - keine Erinnerungen an Baanraak. Es war der lebende Baanraak, als sie ihn getötet hatte, als sie seine Auferstehungsringe vernichtet hatte, als sie diese Ringe zu Pulver zermahlen und in fließendes Wasser gestreut hatte, um das Gold zu versprengen. Sie konnte spüren, wie der unsichtbare Faden zwischen ihr und Baanraak Feuer fing. Sie konnte ihn spüren. Auf dieser Welt. Ganz in der Nähe. Es war unmöglich, aber er lebte. »Molly?«, sagte Lauren mit lauter Stimme. Molly zuckte zusammen und wandte den Blick von der Schuppe ab. »Was ist?« »Du hast gerade >Baanraak< gesagt. Warum?« »Er ist hier.« 377 »Aber du hast ihn doch vernichtet!« Lauren erbleichte, flüsterte »Jake« und drehte sich zum Haus um, wo Jake und Heyr warteten. Dann legte sie eine Hand auf Mollys Arm. »Hier, auf der Erde?« »Hier, in Cat Creek.« Molly versuchte, eine Verbindung zu Baanraak herzustellen, aber es gelang ihr nicht. Er war ganz nah. So nah, aber er hatte eine Möglichkeit gefunden, seine Spuren zu verwischen, so dass sie seinen genauen Aufenthaltsort nicht bestimmen konnte. Nicht einmal mithülfe der Verbindung über seine Schuppe konnte sie die Magie durchbrechen, die er benutzte. Trotzdem spürte sie überall um sich herum frische Spuren von Baanraak - am stärksten waren sie vor ihr und hinter ihr -, aber sie konnte nicht einen einzigen Punkt finden, den sie hätte markieren und sagen können: »Genau da ist er jetzt.« Er war immer raffiniert gewesen - und seit ihrer letzten Begegnung war er noch raffinierter geworden. Heyr trat mit Jake auf die Veranda und fragte: »Bist du dir sicher, dass es Baanraak ist?« »Ja«, entgegnete Molly. »Nein ...« Sie schloss die Augen und versuchte, ein klares Bild zu finden, eine klare Absicht, aber Baanraak, der nicht vollkommen still, nicht vollkommen verborgen war, entzog sich ihrer Suche. Sie streckte ihre Gedanken nach Norden aus, dann nach Süden, dann wieder nach Norden, doch die Schatten, die sie jagte, ließen sich einfach nicht zu einem klaren Bild fügen. Welche Magie hatte er entdeckt, die ihm solche Möglichkeiten gab? »Er hat es auf mich abgesehen«, sagte sie nach einem kurzen Schweigen. »Und auf Lauren. Er hat irgendetwas getan, um es mir zu erschweren, ihn aufzuspüren - die Verbindung zu ihm bleibt vage, obwohl er sich bewegt und seine Schilde nicht ganz hochgezogen hat.« »Was tut er?« »Er ...« Sie zuckte die Achseln. »Er scheint ein Echo von 378 sich geschaffen zu haben. Ich kann ihn gleichzeitig nördlich von hier wahrnehmen und südlich.« »Aber du kannst nicht herausfinden, welches der wirkliche Baanraak ist und welches das Echo?« »Nein. Beide Spuren sind sehr schwach - er ist immer vorsichtig.« »Und beide Spuren führen in diese Richtung?« »Nein. Eine kommt direkt auf uns zu, und eine entfernt sich.« Heyr sagte: »Dann wäre es sicher eine gute Idee, davon auszugehen, dass der Schatten, der auf uns zukommt, den wahren Baanraak verbirgt, und dass derjenige, der sich entfernt, die Tarnung ist.« »Wenn es darum geht, uns zu beschützen, ja«, stimmte Lauren zu. »Wir müssen davon ausgehen, dass er Jagd
auf uns macht.« Sie sah Heyr an. »Ich habe mein Messer, aber ich möchte auch eins von den richtigen Gewehren.« »Oben, in meinem Schrank. Sie sind alle an der Wand gestapelt. Natürlich verzaubert - Jake wird sie nicht anrühren können. Aber du kannst es.« Lauren lief die Treppe hinauf. Molly wandte sich an Heyr. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Wenn ich Baanraak nachspüre, kommt es mir nicht so vor, als sähe ich dasselbe Bild zweimal. Es sind zwei verschiedene Bilder. Du hast schon viel länger als ich mit Magie gearbeitet; weißt du, wie er das macht?« Heyr sah sie an. »Ich habe keine Ahnung, wie er zwei identische Bilder projizieren könnte. Und ich habe nicht einmal den blassesten Schimmer, wie er das macht, wenn die Bilder obendrein unterschiedlich sind.« »Ruf die Wächter zusammen«, sagte Molly. »Und schirm uns alle für ein paar Minuten ab. Ich brauche Stille.« Sie ging an ihm vorbei ins Haus, durch die Küche und die Diele, vorbei an dem Torspiegel ins Wohnzimmer, wo sie sich 379 aufs Sofa legte. Mit geschlossenen Augen und entspanntem Körper brachte sie ihren Geist zur Ruhe - sie verlangsamte Atem, Herzschlag und Denken, bis sie Geist ohne Körper war, schwebend, empfänglich und hochkonzentriert. Sie konnte ihre Gedanken jedoch nicht gleichzeitig in zwei Richtungen suchen lassen, so dass sie sich zuerst für den Norden entschied, für das Bild, das sich auf sie und Lauren zubewegte. Sie streifte Baanraak, indem sie sich langsam und vorsichtig bewegte. Molly drängte nicht vorwärts, versuchte nicht, irgendetwas zu erzwingen. Sie ließ sich in ihn hineingleiten, ohne zu urteilen, ohne zu reagieren; sie lag einfach nur da, still und offen. Hunger. Sie spürte diesen Hunger, hart und heiß, eine schärfere und gewaltsamere Form des ständigen Schmerzes, der auch sie erfüllte. Baanraak wollte fressen, aber feste Nahrung würde ihn nicht sättigen. Er hungerte nach Tod, nach dem Rausch, wie man ihn unweigerlich erlebte, wenn man Vernichtung getrunken hatte. Er hatte sich erst kürzlich gelabt, stellte sie fest - und dabei den Durst neu entfacht, den Schmerz, die Sucht nach Tod, die den dunklen Göttern allen gemein war, selbst jenen, die nie davon gekostet hatten. Sein Hunger schärfte ihren eigenen Hunger nur durch die Berührung, und ihr wurde klar, dass es gefährlich wäre, ihm allzu lange allzu nahe zu sein, selbst wenn er sie nicht bemerkte. Aber noch zog sie sich nicht zurück. Erjagte - sie, Lauren und Jake. Er war seiner Verwirrung entkommen, hatte eine Entscheidung getroffen. Er fühlte sich nicht länger hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sie zu behalten und sie zu vernichten; er wollte, dass sie verschwand. Kein Problem. Es war einfacher, mit ihm fertig zu werden, wenn seine Ziele simpler waren. Er war wütend über das, was sie ihm angetan hatte. Er 380 war wütend, dass er einige seiner Fähigkeiten verloren hatte. Er trug den Schild, den sie durchdrungen hatte, weil er nicht länger in der Lage war, innere Stille zu finden. Er konnte auch nicht mehr unsichtbar werden. Die Schuld daran gab er ihr. Und er hatte die Absicht, sie zu vernichten, um sie für das zu bestrafen, was sie ihm angetan hatte, und dann würde er ihren Tod verschlingen, weil er hungrig war. Und dann würde er die alten Götter um sie herum vernichten und Lauren und Jake und auch deren Tod trinken. Diese Enthüllung versetzte Molly einen leichten Schock, und sie zog sich aus Baanraak zurück, bevor ihre Reaktion ihm ihre Anwesenheit verraten konnte. Einen kurzen Augenblick lang gestattete sie sich, der Frage nachzuhängen, was zum Teufel da vorging. Die Schuppe in ihrer Hand stammte von Baanraak. Die Erinnerungen in seinem Geist stammten von ihm. Die Persönlichkeit war die seine. Aber er wusste nicht, dass die alten Götter um sie herum, Thor eingeschlossen, Unsterbliche waren. Er wusste es nicht, obwohl er gegen Thor gekämpft hatte. Zweimal. Molly verstand es einfach nicht. Sie hatte Baanraak bei ihrem ersten Versuch gefunden, aber was sie von ihm wusste, passte nicht zu dem, was sie da vorgefunden hatte. Sie streckte ihre Gedanken nach dem Schatten aus, den er geschaffen hatte, und hoffte, dass sie, wenn sie ihn finden konnte, endlich ein wenig besser begreifen würde, was er plante. Doch sie fand keine List, keinen Trick, sondern ... Baanraak. Er trug eine andere Haut, ein anderes Gesicht, aber unter einem durchaus überzeugenden Äußeren besaß er denselben Geist, den sie kannte. Niedergedrückt von Zweifeln, vernarbt von einer erschreckenden und unerwarteten Erfahrung des Verlusts, aber im Vollbesitz aller Fähigkeiten 381 und Talente und Betrugsmanöver einer Existenz, die ungezählte Jahrtausende gewährt hatte. Ihr Blut verwandelte sich zu Eis in ihren Adern, und sie erschauerte. Nein. Dieses zweite Geschöpf konnte unmöglich auch Baanraak sein. Aber er war es. Cat Creek Heyr schloss die Augen und blendete das Hintergrundgeräusch der Welt aus, um nach den einzelnen Wächtern von Cat Creek zu suchen. Er hoffte, einen oder zwei zu finden, die sich vielleicht gegen den näher kommenden dunklen Gott stellen konnten, aber es gab keine guten Neuigkeiten. Er konnte George aus dem Tor ziehen, in dem er gerade Wache hielt, doch George war sterblich und durch und
durch menschlich, und Heyr wollte ihn nicht gegen einen dunklen Gott einsetzen. Sowohl Raymond Smetty als auch Louisa Täte hätte er mit Freuden in den Kampf gegen Baanraak geschickt und in ihrer Sterblichkeit einen Vorteil gesehen. Aber sie waren beide weit fort, in einer Art Gefängnis, und beide fühlten sich verraten. Heyr durchsiebte ihre Gedanken so schnell wie möglich, erfuhr in groben Zügen, was sie getan hatten, und musste lachen. Bastarde - er kostete die Erkenntnis aus, dass sie beide über kurz oder lang bekommen würden, was sie verdient hatten. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sie den Wächtern von Cat Creek weitere Probleme bereiten würden. Aber Heyrs Unsterbliche waren aus einem ganz anderen Grund ein Problem. Pete war als Einziger bereits auf den Beinen, und er war unten in South Carolina mit dem Schatten von Baanraak, von dem Molly gesprochen hatte. Und 382 ein bizarres Feld von Energie umgab Pete, das Heyrs Versuche, ihn zu erreichen, abblockte. Von den Übrigen war Eric noch in der besten Verfassung - er lag in Fötushaltung auf seinem Bett, bewegte sich kaum und wenn, dann nur, um sich hinauszulehnen und sich in einen Mülleimer zu erbrechen. Mayhem, Darlene, Betty Kay, June Bug - sie alle waren so tief in dem Nebel des Grauens ihrer Welt verloren, dass sie noch tagelang nutzlos sein würden. Die ersten Tage der Unsterblichkeit, wenn jede kleine Unaufmerksamkeit den neuen Gott unter der ganzen Last der Welt erdrückte, waren die schlimmsten. Hätte Baanraak noch eine einzige Woche länger gewartet, hätte Heyr eine Truppe beisammen gehabt, die durchaus stark genug war, um den Kampf mit ihm aufnehmen zu können. Nur eine gottverdammte Hand voll Tage, doch stattdessen würde Heyr dies hier ganz allein ausbaden müssen, mit der Sterblichen, die er um jeden Preis retten musste, und einer dunklen Göttin, der er nicht vertraute, als einziger Verstärkung. Jetzt wünschte er, er hätte Loki nicht so wütend gemacht, dass er auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Cat Creek Um sieben Uhr abends fühlte Pete sich besser. Er hatte die Entdeckung gemacht, dass er ausgiebig trinken und die Betrunkenheit mit einer winzigen Willensanstrengung gleich wieder auslöschen konnte, so dass nur ein angenehmer Nebel zurückblieb, der den Schmerz an den Rand seines Bewusstseins drängte und stumpf werden ließ. Oder zumindest den Rest von Schmerz, der nicht bereits durch Hals Anwesenheit weitgehend gelindert wurde. Wohl gelaunt und leicht beschwipst nach weiß der Teufel 383 wie vielen Bieren, stützte er einen Ellbogen auf den Tisch und sagte mit leiser Stimme zu Hai: »Es ist nicht so, dass ich nur mit ihr schlafen will, aber bei Gott, es wäre jedenfalls schön. Du verstehst?« »Theoretisch schon. Aber abgesehen von rein theoretischen Erwägungen, habe ich so lange nicht mehr gebumst, dass ich vergessen habe, wie es geht«, antwortete Hai lachend, und Pete stimmte in sein Gelächter ein. Hals Stimme war lauter als Petes, seine Bewegungen kräftiger und quirliger, und der Teil von Pete, der Cop war, registrierte dies, ebenso wie er registrierte, dass Hai nicht mehr selbst nach Hause fahren würde. Aber Hai hatte Drink um Drink mit Pete mitgehalten, und Hai war kein Gott. Pete glaubte auch keinen Moment lang, dass Hai keinen Sex bekam. Der Bursche sah gut aus, hatte einen Wagen, von dem Pete nur träumen konnte, und er hatte offensichtlich Geld wie Heu. Die No-Sex-Geschichte war vermutlich nur eine Art trunkene Solidarität, überlegte Pete. Wenn er ihm statt von Lauren erzählt hätte, dass er in der vergangenen Woche ein Dutzend Frauen gehabt hätte, wäre Hai genau der Typ, der behauptete, selbst zwei Dutzend gehabt zu haben. Hai nahm einen langen Schluck von seinem Bier und zündete sich die nächste Zigarette an. »Bei mir geht es ... geht es eigentlich gar nicht um Sex. Es geht um ...« Er starrte ins Leere, und ein sehr seltsamer Ausdruck legte sich über seine Züge. »Weißt du, ich habe nicht den leisesten Schimmer, worum es eigentlich geht. Sie ist eine Droge für mich, und sie ist meine Krankheit und meine Sucht und meine Heilung - und wahrscheinlich mein Tod. Und länger, als ich denken kann, ist sie die Erste, die mir eine schwache Ahnung davon vermittelt, dass es auch auf der anderen Seite des Todes noch etwas gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Und ich kann daraus nur den Schluss ziehen, dass ich dies will, weil ich dumm bin.« 384 »Sie ist Magie«, sagte Pete, der plötzlich verstand. Hai nickte. »Mehr, als du ahnen kannst.« »Warum interessiert sie sich dann nicht für dich?«, fragte Pete. »Tut sie ja. Aber nicht auf eine gute Art und Weise.« Pete winkte die Kellnerin an ihren Tisch und sagte: »Noch zwei Bier.« Dann wandte er sich zu Hai um. »Jetzt gebe ich eine Runde aus. Warum tut sie das nicht?« »Deshalb.« Hai schnitt eine Grimasse. »Ich bin kein netter Kerl. Ich habe ein paar ziemlich üble Dinge in meinem Leben getan.« Pete gestattete sich nicht die kleinste Veränderung in seinen Zügen und ließ sich auch sein plötzliches Interesse nicht anmerken, aber der Bursche mit dem gebrochenen Herzen trat in den Hintergrund, und der FBI-Agent spitzte die Ohren. Geständnisse in alkoholisiertem Zustand waren nichtsdestoweniger Geständnisse, und Hai wäre nicht der Erste, der im Laufe einer langen, durchzechten Nacht das Problem irgendeines Polizisten löste. Zum ersten Mal wünschte Pete, er hätte in Hai lesen können, so wie er in allen anderen Menschen im Raum
lesen konnte. »Sie kann das nicht gutheißen?« »Einige der Dinge, die ich getan habe, habe ich ihr angetan«, erklärte Hai. »Sie ist gut. Keine hübsche Mieze, kein liebenswert süßliches Geschöpf, ich meine nicht diese Art von oberflächlichem Gutsein, bei der es nur um Äußerlichkeiten geht. Sondern tief im Innern einfach gut. Sie ... ich weiß nicht, wie das in deinen Ohren klingen wird oder ob es überhaupt Sinn ergibt, aber sie liebt das Leben, obwohl es ihr wehtut.« Hai lächelte schwach. »Sie ist ein Teufel, der auf der Seite der Engel kämpft.« »Und du bist...« »Ich komme gerade so langsam dahinter, dass ich möglicherweise dasselbe bin. Aber sie kennt mich bisher nur als 385 Teufel, und den Teil von mir, der wie sie ist, hat sie noch nicht gesehen. Ich muss ihn ihr zeigen. Ich muss sie dazu bringen, mich zu verstehen.« »Spar dir die Mühe«, sagte Pete. »Die Frauen kleben an der Vergangenheit, weißt du. Vielleicht weil sie sicherer ist als die Gegenwart. Ich weiß es nicht. Aber es ist praktisch unmöglich, eine Frau dazu zu bringen, dich im Licht der Gegenwart zu sehen.« Er schloss die Augen und dachte an Lauren und stellte fest, dass er sie selbst von dieser Bar in South Carolina aus berühren konnte. Sie hatte Angst. Er hatte nicht die Absicht gehabt, ihr nachzuspionieren, aber irgendetwas stimmte da nicht - stimmte da ganz und gar nicht -, daher verweilte er kurz in ihren Gedanken. »Baanraak«, wisperte er, und Hai sagte: »Was?« Pete schlug die Augen auf. »Wie schnell fährt dein Wagen?« »Ungefähr zweihundertfünfzig. Warum?« »Ich muss zurück nach Cat Creek. Sofort.« »Ist etwas passiert? Hast du etwas vergessen?« »Ja«, sagte Pete und verfluchte sich dafür, dass er noch immer nicht gelernt hatte, ein Tor zu weben, obwohl Lauren mehrfach versucht hatte, es ihm beizubringen. Er besaß diese Fähigkeit nicht, er würde sie nie besitzen, und die meiste Zeit kam er damit gut zurecht. Torweber waren seltene und eigenartige Geschöpfe, und er war kein seltenes oder eigenartiges Geschöpf. Er konnte seinen Geist nicht so biegen, wie es notwendig gewesen wäre, um einen Weg zwischen zwei Wirklichkeiten zu weben. »Scheiße«, murmelte er. »Und dabei hängt hier auf der Toilette ein Spiegel.« Hai stand auf. »Ein Spiegel. Und Baanraak. Und die plötzliche Notwendigkeit, mitten aus einem angenehmen Gespräch heraus irgendwo anders zu sein.« Er sah Pete in 386 die Augen, alle Trunkenheit war jetzt von ihm abgefallen, und er sagte: »Ich werde meine Karten auf den Tisch legen, wenn du es auch tust.« Ein leichtes Frösteln lief über Petes Rückgrat, eine Warnung. »Du zuerst.« »Ich bin ein Torweber. Wenn du mir erzählst, was los ist, kann ich den Toilettenspiegel benutzen. Obwohl ich später noch mal werde herkommen müssen, um meinen Wagen zu holen.« »Du bist ein alter Gott«, sagte Pete, und die einzelnen Puzzleteilchen fügten sich jetzt zu einem Ganzen zusammen. »Das ist der Grund, warum ich deine Gedanken nicht lesen kann. Das ist der Grund für die Stille um dich herum - du bist ein alter Gott, und vielleicht bist du auch ein Unsterblicher, nur dass es dir gelungen ist, all den Schmerz auszublenden.« »Ich bin kein Unsterblicher«, sagte Hai, »kein Schmerzesser. Aber ... das Tor - die Eile. Was ist los?« »In Cat Creek bereiten sie sich gerade auf einen Kampf vor. Baanraak - du weißt Bescheid über die dunklen Götter?« »Ich weiß Bescheid über diesen dunklen Gott.« »Baanraak hält sich in den Außenbezirken von Cat Creek auf. Er nähert sich der Stadt von Norden, um Lauren, Jake und Molly zu vernichten. Sie brauchen meine Hilfe. Auch deine, wenn du dazu bereit bist.« Hai wirkte nicht besonders überzeugt. »Du sagst, er hält sich nördlich von Cat Creek auf.« »Ich lese Lauren und Heyr. Molly ist ebenfalls dort, aber zu ihr kann ich nicht vordringen. Sie könnte genauso gut unsichtbar sein.« Einige Sekunden lang stand Hai einfach nur da, mit einem leeren Ausdruck auf dem Gesicht und trübem Blick. Dann runzelte er die Stirn und sagte: »Toilette. Sofort.« 387 »Du kannst spüren, was da los ist?« »Nein. Ich spüre etwas, von dem ich weiß, dass es unmöglich ist. Das ist noch schlimmer.« Pete stand auf, blickte an den wenigen anderen Gästen vorbei und sagte zu Hai: »Geh voran.« Hai ging in die Toilette, und Pete blieb draußen stehen, um sicherzustellen, dass niemand sonst hereinkam. Nach wenigen Sekunden öffnete Hai die Tür. »Das Tor ist so weit. Lass uns gehen.« Das Tor führte in einen Raum, den Pete zuerst nicht erkannte. »Ich werde da nicht hindurchgehen. Das Tor führt nicht in ihr Haus.« »Es führt in die Werkstatt hinterm Haus. Im Augenblick wäre es keine gute Idee, direkt in ihr Haus zu gehen. Sie sind alle drei bewaffnet, haben den Finger am Abzug und wirken etwas ...« Hai hielt inne, um das richtige Wort zu finden. »Nervös.« »Nervöser Finger«, meinte Pete.
»Ja.« Pete nickte, und draußen im Flur hämmerte jemand an die Tür. »Das reicht jetzt, ihr verfluchten Schwulen! Schwingt eure Ärsche sofort da raus! Und dann verlasst meine Bar - wir dulden diese Scheiße hier nicht!« »Geh«, sagte Hai. Pete stieg auf das Waschbecken, hockte sich hin und quetschte sich in das Tor, und die Geräusche der Welt verstummten. Das Universum umarmte ihn und löschte den Schmerz aus, den er in sich trug. Es brachte den milliardenfachen Kummer, der in sein Fleisch eindrang, zum Schweigen und das Gift des Todes, das seinen Weg zu ihm gefunden hatte. Für einen zeitlosen Augenblick durchströmte ihn Friede. Das Universum war, wie es sein sollte. Dies war ein Vorgeschmack auf das Paradies. Dann trat er durch das Tor in Laurens Werkstatt. 388 Der Schmerz war fort. Bis auf den letzten kleinsten Rest. Er fühlte sich leicht. Er fühlte sich wunderbar. Pete streckte sich, sah sich um und fragte sich, ob er am falschen Ort gelandet war, ob er irgendwie in einer Parallelwelt angekommen war, die in einer gesunden, von der Nachtwache unbehelligten Weltenkette lag. Dann begriff er, was geschehen war. Er war zwischen den Welten gewesen, und seine Verbindung zur Erde war unterbrochen. Er war noch immer ein alter Gott, aber kein Unsterblicher mehr. Der Schmerz wartete auf ihn wie ein schwerer Mantel, den er überstreifen musste. Er hätte am liebsten geweint. Stattdessen legte er sich auf den Lehmfußboden in der Werkstatt, das Gesicht nach oben, und breitete die Finger auf der kühlen Erde aus, um das Leben des Planeten zu suchen und es zu seinem eigenen zu machen. Der Schmerz grub sich in ihn hinein wie ein Heer hungernder Ratten, die in ihm gefangen waren, die an seinem Fleisch nagten, um hinauszukommen, und einen Moment lang war es so schlimm, dass er nichts mehr sehen konnte. Er rollte auf Hände und Knie und übergab sich, dann versuchte er, sich auf das Leben zu konzentrieren - die reinen, sauberen Ströme des Lebens, die er und Lauren in die Welt gebracht hatten. Er fand nur Schlamm - vergifteten Tod, Kriege und Korruption, Verderbtheit - und dann, wie ein Puls bei einem Sterbenden, fand er eine einzige Stelle puren, strömenden Lebens. Diesen Strom sog er in sich hinein und verband sich damit, und ein wenig von dem Schmerz verebbte. Genug, dass er zumindest wieder aufstehen konnte. Würde dergleichen jedes Mal auf ihn warten? Sein Herz hämmerte, er bewegte sich auf allen vieren und lehnte sich für einen Moment an die Wand. Es konnte nicht jedes Mal so schlimm sein. Wenn es so wäre, hätte Heyr sich niemals durch ein Tor an einen anderen Ort begeben. 389 Vielleicht wurde man im Laufe der Zeit taub dagegen. Er atmete langsam und zittrig ein und machte sich auf den Weg zum Haus. Plötzlich wurde ihm klar, dass Hai nicht mit ihm durch das Tor gekommen war. Pete drehte sich um und blickte in den Spiegel, durch den er getreten war. Das Tor war fort. Fest verschlossen. Also würde Hai nicht nachkommen. Na schön, so war das also. Der alte Gott hörte den Namen Baanraak und floh in die entgegengesetzte Richtung. Es wäre nett gewesen, ein wenig zusätzliche Hilfe zu haben, aber Pete wunderte sich im Grunde nicht darüber, dass Hai ihm nicht gefolgt war. Allein Hals Gesichtsausdruck hätte ihm sagen müssen, dass er sich nicht freiwillig für den Kampf melden würde. Nun, natürlich nicht. Die sterblichen alten Götter hielten sich nur deshalb, weil sie sich versteckten. Pete, der nun wieder an die Erde gebunden und wieder ein Unsterblicher war, unterdrückte sein Bedauern. Er hätte gern Seite an Seite mit Hai gekämpft. Aber er drehte sich um, trottete auf das Haus zu und trug in sich einen einzelnen Tropfen Himmel in einem Ozean der Hölle. Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria Rekkathav hatte die Frau beobachtet, ganz wie sein Meister es wollte. Nun gut. Schön. Er sollte sie beobachten, einfach nur beobachten, während sie schwatzte, schwatzte und schwatzte. Er beobachtete sie, er langweilte sich, aber Langeweile war kein großes Problem für ihn - schon seit einiger Zeit schwankte sein Leben zwischen den Extremen von Langeweile und Todesangst, und es gab nur wenige Abstufungen zwischen diesen beiden Polen. Doch vor die 390 Wahl gestellt zwischen dem einen oder dem anderen, bevorzugte er die Langeweile. Schwatz, schwatz. Er wurde nervös, sehnte sich nach seiner Sandkiste, wünschte sich verzweifelt, ein wenig schlafen zu können. Die Frau und der alte Gott redeten jetzt plötzlich über Baanraak - darüber, dass Baanraak in der Nähe war. Rekkathavs Magen schlingerte in seiner Kehle. Fast im gleichen Augenblick gingen die kleinen peripheren Alarmanlagen los, die er rund um das Haus installiert hatte, um ihn vor möglichen Problemen zu warnen. Langeweile oder Todesangst - in diesem Moment befiel ihn Todesangst. Er benutzte jedes Werkzeug in seinem Arsenal, jeden diagnostischen Kniff, jeden kleinen Zauberbrecher, um herauszufinden, was den Alarm ausgelöst hatte, und schließlich gelang es ihm, die Schilde eines Angreifers, der auf die beiden Frauen Jagd machte, zu durchdringen. Der Angreifer war Baanraak. »Nein«, wimmerte Rekkathav. »Nein, nein, nein ...« Baanraak würde die Frau töten. Und dann würde er Rekkathav für ihren Tod verantwortlich machen, weil
Rekkathav ihn nicht über die Gefahr, die ihr drohte, informiert hatte, denn genau damit hatte er Rekkathav betraut. Genau diesen Vorwand würde er nutzen, um sich Rekkathav mit einem Fass Bier zu Gemüte zu führen. »Läufer!«, schrie Rekkathav, und fast sofort erschien einer der kleinen sterblichen Läufer im Raum. »Lauf in die Arena. Sag Baanraak, die Frau, die ich für ihn bewachen soll, wird angegriffen und befindet sich in tödlicher Gefahr. Lauf, du elender Kerl. Flieg!« Der Läufer würde natürlich keinen Baanraak antreffen. Aber Rekkathav konnte später behaupten, er habe die Tarnung des Meisters nicht durchdringen können, er habe nur einen Rrön angreifen sehen und daher alles in seiner Macht 391 Stehende unternommen, um den Meister zu warnen, und mehr konnte man doch gewiss nicht von ihm erwarten ... Noch etwas anderes bewegte sich um das Haus herum. Etwas anderes, das eine klare Botschaft verströmte: Auch dieses Etwas machte Jagd auf die Frau. Und was immer es war, es gab sich keine besondere Mühe, sich zu verstecken, und machte seine Sache doch erheblich besser als der Meister. Es war ein weiterer dunkler Gott, einer, der eine exquisite zweite Haut aus Menschenfleisch trug und sich in Licht eingehüllt hatte. Die meisten Beobachter - die meisten dunklen Götter hätten sich täuschen lassen, aber Rekkathavs Talent, der einzige Grund, warum die dunklen Götter ihn angeworben hatten, war seine Fähigkeit, hinter allen Dingen die Wahrheit zu erkennen. Er nannte es Forschung, aber in Wirklichkeit zerlegte er jede Person und jede Situation in ihre Bestandteile, zog alle Lügen und Täuschungsmanöver ab und ermittelte, wie das, was übrig blieb, zusammenpasste. Und in diesem zweiten Eindringling konnte er schwache Schatten eines tieferen, realen Ichs erkennen, den Kern einer Persönlichkeit, der unter einer sehr schönen Maske lag und nicht die geringste Beziehung zu dieser Maske hatte. Rekkathav machte sich daran, vorsichtig und behutsam die äußeren Schichten abzustreifen - und tief im Kern des Geschöpfes begegnete er plötzlich dessen eigentlichem Ich. Dieses eigentliche Ich war Baanraak. Ein sehr viel gerissenerer, sehr viel gefährlicherer Baanraak - aber dennoch Baanraak, ganz und gar. Rekkathav schluckte seinen Magen hinunter und presste die Kieferpanzer zusammen gegen das Entsetzen, das ihn verzehrte. Da schob sich plötzlich ein riesiger Kopf über seine Schulter und starrte auf Rekkathavs Bildschirme. Ein dritter Baanraak, ein zorniger, blutverschmierter Baanraak. 392 Und es war weder der erste Baanraak, der in Rekkathavs Bildern aufgetaucht war und die Frau gejagt hatte, noch der zweite. »Was zum Teufel willst du, Appetithäppchen«, fauchte er, »und wie kannst du es wagen, mich zu stören, während ich gerade Verräter in Stücke reiße?« Rekkathav, dessen Sinne von den widersprüchlichen Eindrücken überflutet waren, tat, was jedes vernünftige Geschöpf in dieser Situation getan hätte. Er fiel in Ohnmacht. 21 Cat Creek Durch die Last ihres eigenen Schmerzes konnte June Bug die Schwierigkeiten spüren, die sich drüben in dem alten Haus der Hotchkisses Lauren und Molly näherten. Als Göttin besaß sie eine erhöhte Wahrnehmungskraft für Bewegungen und Absichten um sie herum, und obwohl sie zu schwach und zu krank war, um auf irgendetwas zu reagieren, war sie durchaus im Stande, die Situation, die sich dort drüben zusammenbraute, zu erfassen. Es war schlimm. Denn was sich da anbahnte, war noch furchtbarer als das, was Lauren oder Heyr erwartet hatten - und selbst das war schon schlimm genug gewesen. Molly hatte aufgegeben. Sie war bereit zu sterben. Sie hatte sich einen Plan überlegt, der ihrer Existenz ein Ende machen würde, und das Werkzeug, mit dem sie ihren Plan durchführen konnte, war soeben erschienen. June Bug lag in ihrem Bett, eine alte Frau, vor der sich eine Ewigkeit erstreckte, die sie nicht wollte. Sie konnte Mollys Verzweiflung zusätzlich zu ihrer eigenen spüren, und sie dachte an Mollys Mutter, Marian, die sie geliebt hatte und die sie im Stich gelassen hatte. Sie dachte an die Welt, für deren Rettung sie so lange gekämpft hatte, und sie begriff, dass sie nicht als Unsterbliche kämpfen konnte - die Ketten ihrer Unsterblichkeit fesselten sie an das Bett, auf dem sie lag. Aber Marians Tochter brauchte sie - Marians Tochter, die so viel von Marian selbst in sich trug. Marians Tochter, auf deren Schultern die halbe Zukunft der Erde lastete. 394 Ich habe hier jetzt die Magie einer Göttin, durchzuckte es June Bug. Das Alter ist eine Knechtschaft, die ich aus freiem Willen ertrage - und zum Teufel mit den Gesetzen der Wächter. Wenn sie stärker wäre, könnte sie der Last der Unsterblichkeit vielleicht besser begegnen. Vielleicht würde sie in der Lage sein, aufzustehen und zu kämpfen, irgendetwas zu tun, um Molly daran zu hindern, sich aus Furcht vor dem, wozu sie vielleicht werden würde, selbst zu vernichten. Das wäre einen Verstoß gegen ein paar Gesetze durchaus wert.
June Bug blieb lange Sekunden auf ihrem Bett liegen, sperrte so viel von dem Lärm aus wie nur möglich und füllte die kleinen Räume, die sie für sich selbst freigekämpft hatte, mit Erinnerungen daran, wie es gewesen war, jung zu sein, eine straffe, geschmeidige Haut und starke Muskeln zu besitzen, mühelos zu atmen und sich ohne Schmerz zu bewegen. Sie führte ihren Körper zurück durch die Zeit zu dem Ort, an dem sie wieder zwanzig Jahre alt war, und sie zwang ihr Fleisch, sich dieser Erinnerung anzupassen, wobei sie sich nicht auf spezielle Veränderungen konzentrierte, sondern auf eine Verjüngung des ganzen Körpers. Der Schmerz wurde zu einem Feuer in ihr, unmittelbar und furchtbar und durch nichts zu lindern, und sie verlor die Kontrolle über die Mauern, die sie errichtet hatte und aufrecht erhielt, um den Schmerz Fremder abzuwehren. Wie bei einem Dammbruch stürzten die Mauern in sich zusammen, und die Qual der Welt strömte wieder ungehindert in sie hinein. Sie krümmte sich in ihrem Bett, ihr Körper schmolz und zuckte und verwandelte sich von innen nach außen, und ein Schrei entfuhr ihrer Kehle, während sie innerhalb des Grauens um ein wenig Frieden rang. Wie eine Ertrinkende tastete sie nach irgendeinem Stück 395 Treibgut, an das sie sich klammern konnte - und sie fand einen von Laurens Tunneln, der von irgendeinem Planeten weit unten in der Weltenkette Lebensmagie in die Erde strömen ließ. Von irgendeinem Planeten, der noch voller Leben und Hoffnung war. Mit diesem Tunnel verband sie sich, und das dünne Rinnsal gesunder Magie floss in sie hinein. Es war nicht genug, aber es war immerhin etwas. Es gab ihr ein paar Planken, an die sie sich im Meer des Schmerzes klammern konnte; es half ihr, den Kopf lange genug über Wasser zu halten, um ihre Mauern wieder aufzubauen. Nachdem sie sich so viel Selbstbeherrschung zurückerobert hatte, dass sie sich wieder bewegen konnte, stand sie auf, und obwohl sie immer noch gegen den grausamen Schmerz ankämpfen musste, kroch sie zu ihrem Schlafzimmerspiegel. Sie blickte in ihre eigenen Augen und sah sich, wie sie einst gewesen und wie sie jetzt wieder war - eine hoch gewachsene, reizlose junge Frau mit mausbraunem Haar, unauffälligen Augen, einer großen Nase und schmalen Lippen. Sie seufzte und murmelte: »Weißt du was? Zum Teufel damit.« Und trotz des Schmerzes, den die Veränderung ihr verursachte, machte sie sich zu einer Schönheit. Es war oberflächlich, es war eitel, und sie wusste es. Und es kümmerte sie nicht. Als sie fertig war, kroch sie auf Händen und Knien wieder zum Spiegel und blickte hinein. Abgesehen von der Qual in ihren Augen und den Tränenflecken auf ihren Wangen sah sie ... umwerfend aus. Goldblondes Haar, das sich in weichen Locken bis über ihre Taille ergoss, volle Lippen, Augen, die den gleichen Blauton hatten wie ein Oktoberhimmel, eine kecke, gerade Nase und die Kurven einer Göttin. Sie war zu der Frau ihrer Träume geworden. Und jetzt, da sie diese Frau war, erschienen ihr ihre Träume nicht länger so weit hergeholt. Mit einem Mal hatte sie 396 nicht mehr so wenig zu bieten. »Diesmal könnte ich es versuchen«, flüsterte sie der bildschönen Frau im Spiegel zu. Sie konnte sich auf die Suche nach der Liebe machen. Sie konnte die Risiken eingehen, vor denen sie sich früher gefürchtet hatte. Sie konnte das Leben leben, das sie nie zu leben gewagt hatte - nur dass Marian tot war und Molly gern tot gewesen wäre, und June Bug konnte nicht mit dem Wissen leben, dass auch Molly aus der Welt gegangen war und sie nichts unternommen hatte, um sie zu retten. June Bug hatte den Körper eines jungen Mädchens und die Schönheit einer Göttin, aber im Geist war sie noch immer eine alte Frau. Ein langes, einsames Leben lag hinter ihr, und vor ihr lag eine Ewigkeit ohne die Hoffnung, Marian zurückzugewinnen oder sie im Jenseits zu finden - obwohl sie sich bisher tief innerlich zumindest an die Hoffnung geklammert hatte, dass sie an dem Ort jenseits des Todes vielleicht den Mut aufbringen würde, ihre Seele bloßzulegen und Marians Liebe zu gewinnen. Die Tränen strömten ihr ein wenig schneller über die Wangen, und sie brach abermals zusammen; der Schmerz überflutete die Mauern, die sie errichtet hatte, um die Welt draußen zu halten, und drückte sie zu Boden. Sie hatte einen jungen Körper - aber sie war noch immer nicht stark genug. Physische Jugend war kein Heilmittel. So konnte sie nicht kämpfen. Sie rollte sich wie ein Fötus zusammen, erfüllt von dem Wissen ihres eigenen Versagens, von dem Wissen, dass sie zu schwach war, um unter ihrer Last auch nur länger als eine Sekunde aufrecht zu stehen, während auf der anderen Seite von Cat Creek in Kürze die Hoffnung und die Zukunft der Welt von Ungeheuern angegriffen würden, die jede Chance auf einen Sieg hatten. Und die Hälfte der Zukunft dieses Planeten wünschte sich obendrein nichts sehnlicher als ihre eigene Vernichtung. 397 Cat Creek Molly wandte sich an Heyr und sagte: »Sie sind hier. Draußen vorm Haus.« Sie konnte den zornigen Baanraak spüren, wie er um das Haus kreiste, und den schwachen Schatten des ruhigen Baanraak, der alles beobachtete den anderen Baanraak, das Haus, sie. Heyr fluchte. »Wir haben keine Zeit, dich hier zu einer Göttin zu machen, keine Zeit, um irgendetwas anderes zu tun, als zu kämpfen. Und ich bin ganz allein, um euch drei zu beschützen.« Pete sprang auf die Veranda und landete mit beiden Füßen und einem Aufprall, der die Küche erschütterte, auf
der obersten Stufe. Er stürzte durch die Tür, lehnte sich dagegen und drehte keuchend mit einer Hand den Schlüssel hinter sich im Schloss. »Ihr steckt in Schwierigkeiten. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Er sah furchtbar aus. »Zumindest stehst du auf deinen eigenen Beinen«, bemerkte Heyr, aber Molly brauchte nur einen einzigen Blick auf Pete zu werfen, um sich zu fragen, wie lange das so bleiben würde. Pete nickte. Dann wandte er sich an Molly. »Ich habe von dir und Lauren etwas über ... Baanraak ... gehört?« Molly sagte: »Ich dachte, ich hätte ihn vernichtet. Aber er ist hier. Zwei von ihm sind hier. Als ich ihn in die Luft gesprengt habe, bin ich selbst ebenfalls explodiert. Ich konnte also nicht sehen, was passiert ist, aber ich denke, seine Auferstehungsringe müssen sich über den ganzen Wald von Oria verteilt haben. Als er dann wieder auferstanden ist, ist er vermutlich nicht nur als ein einziges Geschöpf zurückgekehrt. Ich habe einen Baanraak vernichtet und auch die beiden Ringe, die er in sich trug. Aber ...« 398 Heyr, Pete und Lauren tauschten besorgte Blicke. »Dann sind die beiden, die dort draußen herumlaufen, womöglich nicht die einzigen?« Molly schüttelte den Kopf. »Wie viele könnte es noch geben?« Molly zuckte die Achseln. »Hast du denn gar keinen Anhaltspunkt?«, fragte Lauren. »Baanraak ist sehr alt. Er hatte Zeit, eine Menge Auferstehungsringe zusammenzutragen und sie seiner Sammlung hinzuzufügen. Die dunklen Götter tun das anscheinend alle, wenn sie älter werden. Seine einzige Beschränkung wäre die Menge von Gold, die er im Leib tragen kann.« »Er hat Zugang zu Magie - es dürfte also keine Beschränkung geben«, meinte Heyr. »Dann ... ich schätze, da, wo diese beiden hergekommen sind, könnte es noch einige mehr geben.« »Wie tröstlich«, sagte Pete. Dann wandte er sich an Heyr. »Irgendetwas von den anderen Wächtern zu sehen?« »Sie sind zu krank, um sich zu bewegen«, antwortete Heyr. »Eric kann nicht einmal aufstehen. Wird Tage dauern, bis sie wieder auf den Beinen sind. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, dass du schon wieder so fit bist.« Er zuckte die Achseln. »Und was Louisa und Raymond betrifft...« »Nein«, sagte Lauren. »Ohne die beiden sind wir besser dran.« Pete sah zuerst Lauren, dann Molly und dann wieder Lauren an und sagte: »Ich gäbe alles darum, um jetzt bei euch zu bleiben, aber ich denke, ich bin an vorderster Front am nützlichsten. Selbst wenn sie mich verletzen können, können sie mich nicht umbringen. Und sie wollen euch beide tot sehen - also müssen wir dafür sorgen, dass ihr zusammenbleibt und euch nichts passiert.« Molly nickte. »Wir haben gute Waffen. Wir können Barrikaden errichten.« 399 Heyr stützte sich mit einer Hand an die Wand und schloss die Augen. Nach wenigen Sekunden begannen die Mauern, die Fußböden und die Decken des Hauses grün zu leuchten. »Um die Barrikaden kümmere ich mich«, erklärte er und nahm die Hand von der Wand. Das Leuchten erstarb. »Das Haus ist gehärtet. Es ist geschützt gegen Feuer, Wind und auch gegen Magie, soweit ich dafür sorgen kann. Obwohl ich nicht daran zweifle, dass es Zauber und Tricks gibt, die ich bisher noch nicht entdeckt habe und die meinen Schutz durchdringen können. Wenn wir die Türen hinter uns schließen, werden nur wir vier in der Lage sein, sie noch einmal zu durchschreiten. Ihr müsst jetzt nur noch einen Raum ohne Fenster finden, dort hineingehen und die Tür hinter euch verriegeln.« »Wenn das Haus sie draußen halten wird«, wandte Molly ein, »warum sollen wir uns dann bei verriegelter Tür in einem fensterlosen Raum verstecken?« Heyrs Stimme war tonlos. »Weil ich nicht alles weiß. Weil das, was ich nicht weiß, euch töten könnte, und ich möchte, dass ihr jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme ergreift, da ich keine Ahnung habe, welche Vorsichtsmaßnahme sich als die wichtigste erweisen wird.« »Wir werden Gewehre haben«, sagte Lauren. »Wir besitzen immer noch Lokis Waffen.« »Ein Jammer, dass wir Loki nicht mehr haben«, murmelte Pete. »Das habe ich ebenfalls schon bedauert«, erklärte Heyr. »Ich habe uns um einen wertvollen Verbündeten gebracht.« Molly drehte sich zu Lauren um. »Ich dachte nicht, dass wir uns einfach in einem verschlossenen Raum verstecken werden. Ich dachte, wir würden ... irgendeinen Beitrag leisten. Kämpfen.« Lauren berührte den Knauf des Messers, das Heyr ihr ge400 geben hatte. Dann setzte sie sich Jake auf die Hüfte und warf Molly einen undeutbaren Blick zu. »Du kannst es dir nicht leisten, noch mehr von dir zu verlieren. Wir können es uns nicht leisten, dass du noch einmal stirbst, selbst wenn du zurückkommst. Aber vor allem nicht, wenn du nicht zurückkommst. Ich ...« Sie zuckte die Achseln. »Nun, das ist offensichtlich. Aber im Augenblick helfen wir ihnen am meisten, wenn wir dafür sorgen, dass wir keine bequemen Zielscheiben abgeben.« Sie wandte sich an Pete und Heyr. »Wir werden im Badezimmer im oberen Stock sein. Dort gibt es keine Fenster.« Heyr nickte.
Pete sagte: »Ich würde bei euch bleiben, wenn ich könnte«, und Lauren schüttelte den Kopf. »Geh«, bat sie. »Du tust, was du tun musst.« Lauren verströmte strahlendes Leben, durchflutet von der offenen, unbesudelten Energie des Universums und noch mehr - von der Berührung der Unendlichkeit. Jake trug dasselbe Leuchten in sich. Allein die Nähe der beiden erinnerte Molly an alles, was sie nicht war. Aber es tat auch weh. Je länger sie sich in Laurens Gegenwart aufhielt, umso heftiger spürte Molly das Brennen dieses Lebens in ihrer Schwester. Es war, als ... als säße man zu nahe an der Sonne, überlegte Molly. Sie folgte Lauren die schmale, schwarze Treppe hinauf in ein quadratisches Schlafzimmer und dort vor einen sehr alten, verschlossenen Wandschrank aus Kirschholz. Lauren drückte auf zwei Stellen an der Oberkante und an der Seite, ein leises Klicken ertönte, und dann schwangen die Türen auf. Der Schrank war leer. »Unser Urgroßvater - der Großvater unseres Vaters - hat diesen Schrank gebaut«, erklärte Lauren. »Unsere Vorfahren väterlicherseits haben immer gern mit Holz gearbeitet.« Sie drückte auf ein zentrales Paneel, und eine versteckte Tür sprang auf. Dahinter 401 standen Waffen, die, soweit Molly erkennen konnte, nur von den alten Göttern stammen konnten. »Die werden uns genügen«, sagte Molly. Lauren nickte. »Loki hat sie hier gelassen. Sie sind vollkommen sicher - man kann damit nur auf dunkle Götter schießen ...« Sie drehte sich um, um Molly anzusehen, und ihre Augen weiteten sich. »Dann pass auf, wohin du schießt, wenn ich in der Nähe bin, ja?« Molly nahm die Waffe entgegen, die Lauren ihr reichte, und folgte ihrer Schwester aus dem Zimmer, den Flur hinunter und ins Bad. Jake beobachtete sie über die Schulter seiner Mutter hinweg mit runden Augen, in denen kein Vertrauen zu lesen war. Kluges Kind. Heyr und Pete kämpften ebenso zum Schutz dessen, was von Molly übrig geblieben war, wie sie für Lauren und Jake kämpften. Aber was von der alten Molly noch da war, war so klein und so schwach, und was darunter lag, spürte die Bewegung des lebenden Hungers draußen vor dem Haus und litt an eben demselben Hunger, der danach verlangte, gestillt zu werden. Die Dunkelheit rief nach ihr umso stärker, als sie jetzt in solch unmittelbarer Nähe des Lichtes war. Laurens Gegenwart - und die von Jake - erinnerte sie an alles, was sie nicht war und nie wieder sein konnte. Sie hockte sich auf den Rand der Badewanne, schloss die Augen, während Lauren die Tür verbarrikadierte, und fragte sich, wie sie das Kommende überstehen sollte. Cat Creek Lauren hatte ein sehr schlechtes Gefühl bei dem, was sie tat, während sie die Badezimmertür verschloss und den Stuhl unter dem Türknauf verkeilte. Als sie fertig war, stell402 te sie Jake auf den Boden, setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel und beobachtete Molly, die auf der Wanne hockte. Mollys Nähe machte ihr eine Gänsehaut. Sie wollte nicht so für ihre Schwester empfinden - für diese Frau, die ihre Partnerin im Kampf gegen das Böse war, das die Welt zu zerstören drohte. Aber die Veränderungen, die mit Molly vorgegangen waren, waren inzwischen zu klar und zu gefährlich, um sie zu ignorieren. Auch Jake konnte die Bedrohung, die von Molly ausging, offensichtlich spüren, denn er klammerte sich an Laurens Knie, drückte das Gesicht in ihre Seite und gab sich alle Mühe, seine Tante nicht anzusehen. Ab und zu konnte Lauren in den Augen ihrer Schwester etwas von der früheren Molly aufblitzen sehen, aber jetzt konnte sie auch die Lücken erkennen - die berechnende Kälte, die jede Gleichgültigkeit überstieg und die deutlich an Herzlosigkeit grenzte. Mit Molly im Badezimmer eingesperrt zu sein fühlte sich an, als sei sie auf der falschen Seite der Tür gelandet. Schlimmer noch war jedoch die Tatsache, dass sie einfach hier sitzen und darauf warten musste, dass andere sie retteten. Ihr war klar, dass sie und Molly die Zielscheiben dieses Angriffs waren. Ihr war klar, dass die Überlebenschancen ihrer Welt gleich null waren, wenn sie beide starben. Aber wie konnte sie einfach hier sitzen und gar nichts tun? Sie war eine Torweberin, mehr noch, sie konnte Dinge tun, die noch nie zuvor jemand getan hatte - sie konnte ihrer sterbenden Welt das Leben zurückbringen. Gewiss gab es doch irgendetwas, das sie tun konnte, um Heyr und Pete zu helfen, sie und ihren Sohn zu beschützen. Und Molly, was immer von Molly noch übrig war. 403 Kontrollzentrum der Nachtwache, Insel Baräd, Oria - Baanraak von Meistergold Baanraak betrachtete das mittlere Display und versuchte herauszufinden, was Rekkathav so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Zuerst sah er wenig, was die Störung seiner Zusammenkunft mit den Agenten der Nachtwache gerechtfertigt hätte. Er sah Molly, aber nichts anderes hatte er erwartet. Sie saß in einem kleinen Raum, der mit starker Magie gegen das Eindringen der Nachtwache geschützt war. Ihre Schwester und das Kind ihrer Schwester waren bei ihr. Sie taten nichts, und Baanraak überlegte bereits, ob Rekkathav ihm nicht doch als Dessert am besten dienen würde, als er plötzlich eine Bewegung auf einem der anderen Displays bemerkte. Im nächsten Moment erkannte er Thor. Ihm stellten sich unwillkürlich die Schuppen auf, und ein Knurren entfuhr seiner Kehle - er hegte einen primitiven, abgrundtiefen Hass auf diesen Bastard. Der zweite Mann neben
Thor war ebenfalls ein Unsterblicher - aber schwach wie ein Kätzchen, krank, verletzbar und dem Zusammenbruch nahe. Baanraak glaubte, dass er diesen Mann ohne große Mühe würde vernichten können, wenn es ihm gelang, für ein paar Sekunden in seinen Kopf einzudringen. Aber noch immer konnte er nichts entdecken, das seine Anwesenheit hier notwendig gemacht hätte. Er erwog den Gedanken, Rekkathav unter seinem Fuß zu zerquetschen. Dann nahm er auf einem dritten Schirm etwas wahr - auf den ersten Blick schien es nicht mehr zu sein als ein alter Holzschuppen -, und Baanraak beugte sich vor, seine Zierschuppen zogen sich zusammen, und seine Krallen krümmten sich. 404 In dem Schuppen versteckte sich ein Rrön, der das Ganze beobachtete. Kleine Schauder legten den langen Weg über sein Rückgrat zurück, und die Spitze seines Schwanzes schnippte hin und her. Jetzt fing Baanraak auch vereinzelte Gedanken seines Artgenossen auf, der um die gleiche Stille kämpfte, die Baanraak schon vor langer Zeit zu beherrschen gelernt hatte. Interessant. Er hatte geglaubt, er sei der einzige Rrön, der diesen Weg je verfolgt hatte. Vorsichtig, mit chirurgischer Präzision benutzte er das Tor als Display, um eine Verbindung zu diesem anderen Rrön herzustellen; er schob sich in die Gedanken des Fremden, neugierig darauf, zu entdecken, wer zu guter Letzt beschlossen hatte, ihm nachzueifern. Der Schock über das, was er dabei entdeckte, hätte ihn um ein Haar verraten. Er befand sich in seinem eigenen Geist. Und schlimmer noch, er war dort nicht allein. Er spürte die Gestalt eines anderen Bewusstseins in seiner Nähe, und vorsichtig berührte er dieses Bewusstsein und fand abermals sich selbst. Die Wirkung war Schwindel erregend, beinahe wurde Baanraak übel. Er sah mit seinen eigenen Augen in drei Körper, hörte seine eigenen Gedanken in drei Köpfen. Und während einerseits ein jeder dieser drei Baanraak war, war er es auch wieder nicht. Einer von ihnen fühlte sich jung an, schwach und noch verletzbar, wie er es gewesen war, als er damals zu einem dunklen Gott geworden war. Der zweite hatte sein Alter, seine Erfahrung, seine Wachsamkeit und seine Fähigkeiten, aber er war vernarbt von Silber, geschwächt von einem Gewissen, das sich zu rühren begann. Er allein war Baanraak, wie Baanraak sein sollte - aber die Anwesenheit dieser anderen bot ihm eine Chance. Er würde vielleicht nie wieder eine solche Gelegenheit bekommen. Die Unsterblichen um Molly und ihre Schwester herum 405 waren noch zu schwach, um etwas bewirken zu können. Die Aufmerksamkeit der beiden, die echten Widerstand zu bieten vermochten, richtete sich auf seine beiden Alter Egos. Und die beiden Wesen, die seinen Plänen für die Erde und die Weltenkette im Weg standen, saßen in einem selbstgemachten Gefängnis, zusammen mit einem Kind, das förmlich danach roch, dass es den beiden zusätzliche Schwierigkeiten bereiten würde. Sie waren bewaffnet, und sie waren wachsam, aber sie waren auch verletzbar. Wenn es ihm irgendwie gelang, sie aus ihrem Käfig herauszulocken ... Molly stand am Rande des langen Sturzes in die Existenz als dunkler Gott. Es war genug von ihr übrig, dass sie noch um all die Dinge wusste, die sie verloren hatte, und es war ihr noch nicht gleichgültig, dass sie sie verloren hatte. Von ihrer Menschlichkeit war genug übrig geblieben, dass sie die Unmenschlichkeit fürchtete, die sich in ihr ausbreitete - die inzwischen den größten Teil von ihr ausmachte. Sie fürchtete auch den Hunger nach der Droge Tod und das Verlangen nach Macht, das damit einherging. Beschämt von der Erkenntnis dessen, was sie war, sehnte sie sich bereits nach der vollkommenen Auflösung im Nichts. Wenn er sie näher an ihr wahres Ich führte, das danach trachtete auszubrechen, konnte er ihr helfen, die Nichtexistenz zu finden, nach der es sie verlangte. Sie war bereits nahe dran - er würde nur einen kleinen Stoß benötigen, um sie endgültig ins Nichtsein zu treiben. Er betrachtete sie für einen Augenblick. Sie und ihre Schwester und den kleinen Jungen. Das Kind war der Schlüssel, nicht wahr? Molly war für ihn gestorben und hatte sich dadurch auf ihren dunklen Weg begeben. Deshalb schlummerte noch immer ein feiner Groll gegen den Jungen in ihr. Einen Groll konnte man nähren. Fördern. Anstacheln. 406 Baanraak gönnte dem gerade wieder erwachenden Rekkathav ein undeutbares Lächeln und sagte: »Das hast du gut gemacht, Appetithäppchen. Ich denke, ich werde dich heute vielleicht doch noch nicht verspeisen.« Er verließ die Beobachtungsstation, ging zum Kontrollraum hinüber und zu einem bequemen, offenen Tor. Sein Publikum in der Arena konnte warten. Nur ein Narr würde sich eine solche Chance zwischen den Krallen durchschlüpfen lassen, und Baanraak war kein Narr. Cat Creek »Solange sie im Haus sind, sind sie in Sicherheit«, sagte Pete, als er und Heyr auf die Veranda hinaustraten. »Mehr oder weniger.« Heyr belegte die Tür hinter sich mit einem Zauber, so dass sie außer den fünf Personen, die sich im Haus befanden, niemanden durchlassen würde. Er hätte sie zur Gänze versiegelt, aber es bestand immer die Gefahr, wie gering sie auch sein mochte, dass irgendetwas seine Verbindung zur Erde zerriss und dass Baanraak triumphieren und Heyr sterben würde. Sollte das passieren, würde er nicht das Risiko eingehen, dass
die gesamte Hoffnung der Erde in diesem Haus gefangen saß. »Dann können wir also nichts anderes tun, als hier draußen zu hocken und zu warten, bis die Baanraaks begreifen, dass sie nicht ins Haus gelangen können, und wieder verschwinden.« Heyr sah Pete an. Die Lampe auf der Veranda zeigte mehr, als sie hätte zeigen sollen - Petes Haut war von einem ungesunden Grau, und trotz der Kälte des Abends leuchteten Schweißperlen auf seiner Stirn. Pete hatte noch nicht gelernt, das wenige an Lebensenergie, das auf dem Planeten verblieben war, so zu filtern, dass er nicht gleichzeitig 407 alle Gifte der Erde in sich aufnahm, und das war etwas, das Heyr ihm nicht beibringen konnte. Diese Fähigkeit erwarb man nur durch Erfahrung - und Heyr kannte keine Möglichkeit, um Erfahrung zu beschleunigen. Irgendwann würde Pete es lernen, falls er nicht vorher aufgab oder in der Zwischenzeit den Verstand verlor. Heyr runzelte die Stirn. Petes Leiden bekümmerte ihn ehrlich. »Unglücklicherweise befinden wir uns in einer Belagerungssituation«, sagte er. »Was bedeutet, dass wir im Nachteil sind. Wir wissen nicht, wie lange sie dort draußen bleiben werden, aber wir wissen, dass wir Lauren, Jake und Molly nicht für immer im Haus halten können.« »Also müssen wir die Baanraaks vernichten.« »Ja.« »Nur dass wir sie nicht sehen können.« Heyr seufzte. »Wir haben verschiedene Möglichkeiten. Wir können versuchen, sie sichtbar zu machen. Wir können sie aus ihrem Versteck locken. Wir können auf das, wovon wir glauben, dass sie es sind, schießen.« »Wir könnten mehr Leute gebrauchen.« »Wir könnten mehr Unsterbliche gebrauchen. Mehr Leute würden uns lediglich im Weg stehen und im Kampf umgebracht werden. Tatsächlich ...«Er machte eine Handbewegung und warf einen Schild über Laurens Haus und ihren Garten. Dieser Schild würde die gottlosen Ereignisse, die ihnen bevorstanden, vor Außenseitern verbergen. »Wir sollten dafür sorgen, dass wir die Sterblichen nicht auf uns aufmerksam machen.« Er zuckte die Achseln. »Von den übrigen Wächtern können wir keine Hilfe erwarten. Du bist der Einzige, der schon wieder auf seinen Beinen steht, und das auch nur mit knapper Not. Genau genommen kann ich es überhaupt nicht fassen, dass du hier bist.« »Ich konnte Lauren das nicht ohne mich durchstehen lassen.« 408 Heyr nickte. »Liebe kann Wunder wirken.« In ihrer Nähe wurde ein Tor geöffnet - leise, geschickt und beinahe unbemerkbar -, und etwas trat hindurch. Heyr gewann sofort den Eindruck von gewaltiger Größe, schrecklicher Macht, endloser Intelligenz und abgrundtiefer Bosheit. Und dann, als hätte sich eine Tür geschlossen, nichts mehr. Heyrs Herzschlag beschleunigte sich, seine Lenden spannten sich an, und sein Bauch verkrampfte sich. Ohne dass ihm klar war, dass er ihn gerufen hatte, war Mjollnir plötzlich in seiner Hand. Er kannte die Gestalt des Bösen und wusste, was für ein Gefühl es war, wenn die ganze Last dieser Intelligenz sich gegen ihn richtete. »Wir werden ein Wunder brauchen«, sagte er zu Pete. Pete warf ihm einen Seitenblick zu, und seine Augen wurden schmal. Binnen einer Sekunde hielt er seine Waffe in der Hand und löste mit dem Daumen die Sicherung. »Warum?« »Ein dritter Baanraak ist soeben erschienen, und er fühlt sich wie der Baanraak an, den ich in Erinnerung habe der, der mich einmal beinahe getötet hätte.« Cat Creek Molly saß da und versuchte, das Unbehagen auszublenden, das ihr die Nähe von Lauren und Jake verursachte. Im nächsten Moment war sie plötzlich auf eine Art und Weise hungrig, wie sie es noch nie erlebt hatte. Das Leben, das von ihrer Schwester und ihrem Neffen ausstrahlte, roch für sie plötzlich wie Nahrung. Wenn sie so viel Leben in sich haben, wie viel Tod wird dann erst in ihnen sein? Sie sind dir etwas schuldig. Du bist für diesen kleinen Bastard gestorben, und er bringt es nicht einmal fertig, dich jetzt an409 zusehen. Du hast alles für deine Schwester aufgegeben - du hast deinen Geliebten und dein Leben aufgegeben und deinen Platz in einer Welt, in die du hineingehörst, in einer Welt, in der du keinen Schmerz leiden musstest, und sie traut dir nicht einmal genug, um die Augen zu schließen, solange du im selben Raum bist. Mollys Blut brannte, ihr Magen schmerzte, ihre Haut kribbelte. Noch nie hatte sich ein Hunger wie dieser ihrer bemächtigt. Sie konnte die beiden, die jetzt so nahe waren, förmlich schmecken. Wenn sie sie angriff, würden sie nicht rechtzeitig reagieren können, um sich zu retten. Sie konnte zwar Lokis Waffe nicht gegen sie richten, aber sie trug noch immer Seolars Dolch an der Hüfte. Sie hatte den Dolch verwandelt, hatte ihn zu einer Waffe gemacht, wie sie einer Göttin würdig war, und selbst hier auf der Erde würde er diese Eigenschaften besitzen. Sie hockte auf der Badewanne, die Augen immer noch geschlossen, und sah sich selbst, wie sie Lauren und Jake tötete. Sah sich selbst, wie sie sich über die beiden beugte, die Augen in Ekstase geschlossen, während sie Tod trank und fühlte, wie die Macht einer Droge gleich in sie hineinströmte. Sie fühlte, wie sie sich ausdehnte, fühlte, wie ihr Geist durch ein Tor der Dunkelheit das ganze Universum umfasste. Sie war eine dunkle Göttin, die ihr Geburtsrecht noch nicht eingefordert hatte. Sie umklammerte mit einer Hand
die Ewigkeit; diese ganze Welt streckte sich vor ihr aus, nackt und verletzbar und reif, geerntet zu werden. Und alles, was ihr im Weg stand, wenn sie jetzt ergreifen wollte, was rechtmäßig ihr gehörte, waren zwei Menschen, die ihr etwas schuldeten - die beide einen Anteil daran gehabt hatten, sie zu der Frau zu machen, die sie nun war. Zu dem Ding, das sie war. Ihre Hand glitt zu dem Knauf des Dolches empor, und sie 410 öffnete die Augen. Lauren bemerkte es und lächelte sie an -es war ein müdes, besorgtes Lächeln. Lauren hatte Jake auf dem Schoß, wiegte ihn hin und her und tätschelte seinen Rücken. Jake schien zu schlafen. Eine Woge des Ekels überflutete Molly, Ekel über den Hunger, den sie gerade verspürt hatte, und die Gedanken, die ihr gerade durch den Kopf gegangen waren. Wie nahe war sie dem Abgrund, in den sie stürzen konnte? Zu nahe. Viel zu nahe. Sie hätte hier und jetzt abstürzen können und ihre Welt und alle Menschen darauf mit sich gerissen. Sie konnte noch immer spüren, wie der Hunger an ihr nagte. Sie sah noch immer Lauren und Jake an, als hätte sie ein zweites Paar Augen - die Augen, die sie als die Familie sahen, nach der sie sich immer gesehnt und die sie endlich gefunden hatte, und dann dieses zweite Paar Augen, das in ihnen nicht mehr sah als Nahrung, um ihren Hunger zu stillen. Molly nahm die Hand vom Knauf ihres Messers und stand auf. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Ich kann nicht hier bleiben.« Sie konnte Überraschung in Laurens Augen lesen, aber auch Wachsamkeit. »Was ist passiert?« »Die beiden da draußen versuchen, vollkommen blind zu kämpfen.« Du könntest sie jetzt haben, wisperte die Stimme in ihrem Kopf. Du könntest das Leben in ihr zu deinem eigenen machen, du könntest es trinken, du könntest dich damit sättigen. Molly schluckte. »Ich kann die Baanraaks für Heyr und Pete ausfindig machen«, sagte sie, und wieder kroch ihre Hand zentimeterweise zu dem Knauf ihres Dolchs, als hätte sie einen eigenen Willen. »Bleib mit Jake hier drin. Halt die Tür verschlossen, und mach sie nicht wieder auf, außer für Heyr oder Pete.« Sie schauderte, als sie sich vorstellte, wie sie in die untere Welt hinabstieg, sich in eine glaubwürdige Kopie von Pete verwandel411 te und hierher zurückkam, um Lauren und Jake zu töten. »Vielleicht solltest du nicht einmal für die beiden öffnen«, sagte sie und musste um jeden Schritt in Richtung Tür kämpfen, während der Hunger an ihr nagte und mit jeder Sekunde stärker und zwanghafter wurde. Sie schob den Stuhl beiseite und stieß mit zusammengebissenen Zähnen hervor: »Schieb ihn wieder unter die Klinke, sobald ich auf der anderen Seite der Tür bin.« Hinter sich hörte sie, wie Lauren, Jake immer noch auf dem Arm, aufstand. Geh weiter, sagte sie sich. Geh weiter, dreh dich nicht um. Schau nicht zurück. Hinter ihr war alles, was sie riechen konnte, Nahrung. Alles, was sie fühlte, war Nahrung. Aber irgendwie schaffte sie es trotzdem, durch die Tür zu treten; sie zog sie hinter sich zu und stand dann zitternd auf der anderen Seite. Molly hörte, wie Lauren den Stuhl wieder unter den Türknauf schob und ihn mit einem Tritt dort fixierte. Für dich würde sie die Tür wieder aufmachen, sagte ihr Hunger. Molly spürte Tränen auf ihren Wangen. Wie schwer konnte es sein, das Richtige zu tun? Beinahe unmöglich. Und es würde nur noch schlimmer werden. Das hier ... das war es, was die anderen Vodi am Ende gefühlt hatten. Das war der Augenblick, in dem sie alle, jede Einzelne von ihnen, die Kraft gefunden hatten, ein Ende zu machen. Die anderen waren stark gewesen, und sie selbst war so schwach. Sie war so hungrig. Es würde nur noch schlimmer werden. Sie musste sterben -jetzt und für immer. Sie wusste nur nicht, wie sie den Auferstehungsring aus ihrem Leib herausbekommen sollte; er schlummerte in ihrem Körper, verwoben mit ihren Eingeweiden. Manchmal konnte sie das Gewicht des Rings spüren wie einen Tumor, wie eine 412 Schlange, die darauf wartete zuzuschlagen. Manchmal konnte sie spüren, wie er schnurrte. Sie konnte ihn nicht entfernen. Aber einer der Baanraaks konnte es. Sie wusste auch, welcher. Derjenige, der mit dem einzigen klaren Ziel gekommen war. Er war gekommen, um sie zu töten - um sie zu vernichten. Er hatte keine Zweifel; er war sich vollkommen sicher. Er würde nicht zögern, wenn sich ihm eine Chance bot; er würde seine Meinung nicht im letzten Augenblick ändern. Er würde den Auferstehungsring aus ihrem noch lebenden Körper reißen, dann würde er ihren Körper töten, und der Zauber, der sie an den Ring band, wäre gebrochen, und sie selbst wäre befreit von den Lasten und den Qualen dieser Existenz. Wenn sie nicht weiterging, wenn sie seelenlos war, würde alles, was sie war, und alles, was sie gewusst hatte, ein abruptes Ende finden. Nun, das schien die beste Alternative zu sein, die sie hatte. Die beste Alternative, die sie jemals haben würde. Sie zwang sich, durch den langen Flur zu gehen, auf die Treppe zu, auf die Haustür, auf das Ende ihres Elends. 22 Cat Creek - Baanraak vom Meistergold Das ist gut gelaufen, dachte Baanraak, wenn auch vielleicht nicht ganz so gut, wie ich gehofft hatte. Lauren und
ihr Kind lebten beide noch; im Idealfall lägen sie jetzt beide tot auf dem Boden, und Molly wäre voller Entsetzen über das, was sie getan hatte, aus dem Haus geflohen. Er hatte jedoch nicht erwartet, dass die Sache den denkbar besten Ausgang nehmen würde. An Molly haftete immer noch zu viel von ihrem früheren Leben. Wieder teilte er seinen Hunger mit ihr, wobei er behutsam die Stärke der Gier erhöhte, die er in sie hineinfließen ließ. Er wollte nicht, dass sie seine Anwesenheit in den Korridoren ihres Geistes entdeckte. Seinen Interessen war am besten gedient, wenn sie wirklich glaubte, den Weg zu den dunklen Göttern schon fast zu Ende gegangen zu sein. Immerhin war sie schon so tief gefallen, dass sein Hunger einen echten Hunger in ihr wachrief - und das erheiterte ihn, weil es ihr solche Angst machte. Aber sie war noch lange nicht so weit, wie er sie hatte glauben machen. Ah, und sie glaubte es wirklich. Es war außerordentlich ergötzlich. In eben diesem Augenblick stürzte sie seinem törichten Zwillings-Ich entgegen, dem, das sich nicht einmal anständig unsichtbar machen konnte. Sie würde Baanraak, dem Törichten, erlauben, sie zu töten - würde ihm erlauben, in sie hineinzugreifen, und sich bei lebendigem Leib die Vodi-Kette aus den Gedärmen reißen lassen. Sie würde sich ihm ausliefern, damit er sie verschlingen und ihrer Existenz ein Ende machen konnte. 414 Baanraak hätte all das gern selbst getan, aber derjenige, der Molly vernichtete, würde sich mit dieser Tat den beiden Unsterblichen zu erkennen geben, die Jagd auf ihn machten. Und während Baanraak, der Törichte, nicht die Vernunft besaß, sich von den beiden Unsterblichen fern zu halten, war Baanraak, der Meister der Nachtwache, eindeutig dazu in der Lage. Sein Plan war sehr einfach: Sollten die beiden Unsterblichen sich daranmachen, den anderen Baanraak zu vernichten, würde er eingreifen, die Vodi-Kette an sich nehmen und sich unauffällig zurück ins Kontrollzentrum begeben. Dort würde er das Ding zu Staub zermahlen, denn auch wenn Mollys Existenz durch das Entfernen der Kette vor ihrem Tod endgültig beendet sein würde, könnte diese Kette eines Tages möglicherweise eine andere zur Vodi erheben, und wer brauchte schon so etwas? Baanraak zog es vor, sich gegen alle Eventualitäten abzusichern. Cat Creek June Bug, die der Länge nach auf dem Fußboden ihres Schlafzimmers lag, spürte die Veränderung in Molly. Sie spürte, wie Mollys dumpfe Sehnsucht nach ihrem eigenen Tod plötzlich scharf und unmittelbar wurde. Sie öffnete sich für Mollys Schmerz, und der Plan der jungen Frau rammte sich in June Bugs Gehirn wie ein Bahngleis. »Oh, verdammt«, murmelte June Bug und nahm ihre ganze Kraft zusammen, um sich aufzurichten. Molly bewegte sich sehr schnell, und einer der beiden ... nein, der drei ... Baanraaks erwartete sie bereits im Garten. Weder Heyr noch Pete schienen zu begreifen, was vorging; keiner der beiden würde rechtzeitig da sein, um sie zu retten. »Oh, verdammt«, sagte June Bug noch einmal, kämpfte gegen den Schmerz und die Last der Welt an und stand auf. 415 Cat Creek Durch eine Mauer purer Hölle spürte Mayhem, wie das Ende von allem auf Cat Creek zusteuerte. Er konnte es sehen - diese Dunkelheit toter Götter -, ein verschwommener Nebel vor einem Regen aus Krieg, einem Hagel aus Folter, einem Hurrikan von Völkermord und Hungersnot, und er versuchte, den dünnen Faden reinen Lebens zu finden, der ihm die Kraft geben würde, aufzustehen und zu kämpfen. Er tastete sich zu diesem Faden vor, glaubte, ihn zu fassen zu bekommen, und zog sich auf die Füße, um zum Spiegel zu gehen - zum Tor. Mollys abstoßender Hunger machte ihn blind, er verlor den Faden und ging unter, versank in tiefste Bewusstlosigkeit. Darlene spürte den bevorstehenden Kampf als einen Strom, der über sie hinweg- und durch sie hindurchfloss, und sie konnte sich nur noch fester zusammenrollen, die Augen schließen und sich hin und her wiegen, um den Schmerz zu lindern. Betty Kay versuchte es. Auf Händen und Knien kriechend, schaffte sie es bis zu dem Schrank, in dem sie das Göttergewehr aufbewahrte, wie sie es nannte. Immer wieder blinzelte sie gegen die Tränen an, die ihr die Sicht raubten. Es gelang ihr, sich das Gewehr über die Schulter zu ziehen, und obwohl es sich zwischen ihren Armen verhedderte und ihr gegen die Knie stieß, schaffte sie es zurück zum Spiegel. Aber als sie eine Hand auf ihr Spiegeltor legte, um hindurchzugehen, schlug ihr etwas mit erbarmungsloser Wucht in den Rücken, und das grüne Feuer des Tores erstarb. Sie knirschte mit den Zähnen, um den Schmerz des Rückstoßes aufzufangen, und sie musste würgen, obwohl ihr Magen sich schon lange entleert hatte. Trotzdem kroch sie verbissen auf die Schlafzimmertür zu, fest entschlossen, 416 den ganzen Weg bis zum Ort des Kampfes auf allen vieren zurückzulegen, wenn das die einzige Möglichkeit war, um dorthin zu gelangen. Cat Creek Heyr zog die Magie der Welt auf sich und schlug mit einem Krachen, das dem Himmel einen Donner entlockte, die Fäuste gegeneinander. Blitze schlugen im Garten rund um Laurens Haus ein. Der alte Gott hoffte, die Blitze würden einen der Baanraaks auslöschen oder besser noch alle beide, aber nichts dergleichen geschah. Die Woge seiner Magie brandete jedoch durch alle Tore in der Stadt, was wahrscheinlich ein Glück war. Heyr spürte, dass
die magische Schockwelle, die ganz Cat Creek erfasst hatte, sowohl Mayhem als auch Betty Kay abblockte, als sie sich bereitmachten, durch ihre Tore zu treten, was für sie beide mit Sicherheit in einer Katastrophe geendet hätte. Wenn er und Pete schon allein kämpfen mussten, war das immer noch besser, als von hilflosen, verletzbaren Mitstreitern belastet zu werden. Cat Creek Das Atmen fiel Lauren leichter, nachdem Molly auf der anderen Seite der Tür war. Aber sie saß immer noch da wie ein Burgfräulein in Nöten und wartete darauf, dass alle anderen in den Flammen umkamen, um sie zu retten. Diese Rolle gefiel Lauren nicht. Es musste etwas geben, das sie tun konnte - etwas, das die Chancen für die alten Götter verbessern oder die dunklen Götter schwächen würde; etwas, das es ihr ermöglichen würde, zu kämpfen. 417 Sie starrte den bodenlangen, ovalen Badezimmerspiegel an, der in seinem hübschen Eichenrahmen ruhte. Er war ein wenig schmal für eine Mutter mit einem Kind auf dem Arm - aber wenn sie Jake weckte, ihn an der Hand nahm und sie seitlich hindurchgingen, einer nach dem anderen ... Ja. Sie wusste, wie sie helfen konnte. »Hey, Schätzchen«, sagte sie und zerzauste Jakes Haar. Er wachte gerade weit genug auf, um die Augen zu öffnen und ihr ein süßes, vertrauensvolles Lächeln zu schenken. Sie küsste ihn auf die Stirn. »Komm. Wir haben etwas zu erledigen.« Wenn sie ihr Ziel erreicht hatten, konnte sie einen magischen Rucksack schaffen, um ihn huckepack zu tragen, und er konnte weiterschlafen. Sie ließ ihn von ihrem Schoß hinuntergleiten und hielt ihn fest, während er sich aufrichtete; er klammerte sich an ihrer Hand fest. Sie führte ihn zu dem Spiegel hinüber, drückte gegen das Glas und blickte tief in den Widerhall ihrer eigenen Augen, auf der Suche nach dem grünen Feuer, das sie mit allen Schichten der Universen verband, mit allem Raum, mit aller Zeit. Und als sie tief genug hineingegriffen hatte, fand sie den Ort, der ihr Ziel war. Sie berührte ihn und spürte die pure Macht, die von ihm ausging - mit einem solchen Ort würde sie arbeiten können. Also wob sie den Pfad zwischen ihr und diesem Ort, dann presste sie sich, Jake immer noch an der Hand, gegen den Spiegel, das Tor öffnete sich für sie, und sie trat hindurch. 418 Cat Creek Heyr und Pete verfolgten einen ihrer Feinde bis zu dem Nussbaum ganz hinten auf Laurens großem Grundstück, als in Heyrs Kopf ein leises Klicken erklang und er erstarrte. Die Vordertür von Laurens Haus hatte sich geöffnet. Das Blut gefror ihm in den Adern. Alle Hoffnungen der Welt lagen nicht nur in einem einzigen Korb, sondern bei einem einzigen Ei in diesem Korb. Und dieses Ei war soeben zu Boden gefallen und zerbrochen. »Lauf«, schrie er Pete zu, der sich umdrehte und zum Haus hinüberstarrte, ohne seine Waffe zu senken. Im nächsten Moment donnerten beide Männer durch die Dunkelheit, wichen Bäumen und Sträuchern aus und sprangen über am Boden liegende Kinderspielzeuge. Heyr verlängerte mit Hilfe von Magie seinen Schritt, um seine Muskeln zu beschleunigen und nach vorn zu tasten. Aber alles, was vor ihm lag, war Dunkelheit - er konnte ebenso wenig in die Gedanken der dunklen Götter eindringen, wie sie in seine einzudringen vermochten; die beiden Parteien standen auf gegenüberliegenden Seiten eines unaussprechlichen Abgrunds, und keine Brücke konnte diesen Abgrund überwinden. Er nahm die Gestalt Mollys draußen auf der Veranda wahr, dann folgte das zweite Klicken, als die Tür sich hinter ihr schloss und der Zauber sich abermals um das Haus legte. Anschließend spürte er, wie einer der Baanraaks seine Tarnung fallen ließ und sich mit furchtbarer Entschlossenheit vorwärts bewegte. Und dann hatte er die Hausecke erreicht, gerade rechtzeitig, um den alptraumhaften Rrön zu sehen, einen der mythischen Drachen der Erde, wie er sich aus Rauch und Dunkelheit emporwand und sich unter dem gelben Leuchten der Verandalampe enthüllte. Im nächsten Moment erreichte er 419 Molly, schlitzte sie mit der geschickten Präzision eines Chirurgen auf und riss ihr mit einem einzigen Ruck glänzendes Gold und schimmernde Eingeweide aus dem Leib. Heyr hörte Mollys Schrei, und ihr Schmerz bohrte sich wie lebendige Messer in sein eigenes Fleisch, während die Welt sich langsamer zu drehen begann. Er schrie Pete zu: »Bleib bei Molly! Lass sie nicht sterben!«, und Pete taumelte auf das Grauenhafte auf der Veranda zu, bereits selbst kurz vor dem Zusammenbruch, während Heyr sich an die Verfolgung des Rröns machte, der die Kette gepackt hatte. Er schleuderte Mjollnir und zielte dabei auf den Kopf des Ungeheuers, aber der Rrön wich dem Wurf aus, rannte weiter und umrundete das Haus mit rasender Geschwindigkeit und unglaublicher Anmut. Heyr verstand nicht, warum die Kreatur rannte, statt durch ein Tor zu springen, aber er war dankbar für diese Fehlentscheidung. Dicht auf den Fersen des Monstrums, jagte er um das Haus herum. Cat Creek Pete schleppte sich die Treppe hinauf auf Molly zu, die keuchend auf der Veranda lag. Ihr Körper war ein blutiges Gemetzel, aber sie wandte den Kopf um, starrte ihn an und flüsterte: »Lass mich sterben, Pete. Bitte,
bitte lass mich sterben, solange ich noch ich bin.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm und sah in ihre Augen. Ihr Schmerz strömte in ihn hinein, unerträglicher Schmerz, eine Trauer, die in diesen letzten Minuten durch und durch menschlich war; er konnte ihren Schmerz nicht tragen, und er wagte es nicht, sie sterben zu lassen. »Das kann ich nicht«, sagte er. Hinter ihm flüsterte eine Stimme: »Ah, du kannst sehr wohl. Und du wirst.« 420 Dann stieß etwas in ihn hinein, etwas, das sich wie Rasierklingen anfühlte. Sein eigener Schmerz verschluckte in seiner Unmittelbarkeit und Wildheit alles andere, und zuckend stürzte er zu Boden, um im nächsten Moment in die Augen der Hölle zu blicken: ein schimmernder Rrön, schwarze Schuppen mit goldenen Spitzen, ein riesiger, grinsender Mund voller Zähne, die so lang waren wie Petes Hände, goldene Augen, in denen Erheiterung glitzerte. Pete war an die Erde gebunden, daher würde er nicht sterben. Aber sein Bein lag auf der anderen Seite der Veranda, sein Blut spritzte aus seinem Körper, und das Ungeheuer grinste auf ihn hinab. Und mit den ausgebreiteten Krallen einer riesigen Vorderpfote schlitzte es Pete auf und riss ihn in Stücke. Pete versuchte, die Macht zu finden, um sich selbst zu heilen, um alles wieder zusammenzubringen, aber die Magie, die in seiner Reichweite war und die er benutzen konnte, war zu gering, zu besudelt. Er konnte sich am Leben erhalten, obwohl er es nicht wollte, aber Schmerz war die einzige Regung, die sein Denken beherrschte. Und dann brach hinter dem Baanraak, der sich über ihn beugte, grünes Feuer aus, und eine goldhaarige Göttin ein Racheengel oder eine von Heyrs Walküren oder auch irgendein anderes unwirkliches Wesen - schritt aus dem Eingang des Himmels heraus, ein Schwert, das in blendendem Feuer erstrahlte, in der einen Hand und einen silbernen Schild in der anderen. Er kannte sie, dachte Pete, obwohl er genauso sicher wusste, dass er ihr noch nie im Leben begegnet war. Vielleicht war sie das letzte Bild, das sterbende Krieger sahen, bevor sie ihren letzten Atemzug taten. Oder das erste Bild, das sie nach ihrem Tod sahen. So oder so, ihm war es recht. Und dann fiel sie über den Rrön her, der sich feuerschnaubend zur Wehr setzte. Die Walküre lachte, lenkte das Feuer mit ihrem Schild 421 auf den Rrön selbst zurück, schwang ihr Schwert und hieb dem Ungeheuer die Hälfte seines Schwanzes ab. Sie machte einen Schritt nach vorn, und Pete begriff, dass sie größer wurde - dass sie mindestens genauso groß war wie der Rrön und sich noch immer weiter gen Himmel streckte, während sie von neuem ihr Schwert erhob und ihm einen Flügel vom Leib trennte. Das Ungeheuer schrie - Wut und Schmerz in einem - und wandte sich mit seinem ganzen Zorn der Walküre zu, während sich Petes Blut mit dem von Molly mischte. Unwirklich. Pete starrte sie an, bis ihm klar wurde, was das Ding, das sie zwischen den Zähnen hielt, war. Es war kein Dolch, keine Granate oder irgendeine andere Waffe. Aus dem Mundwinkel der Göttin hing eine kalte Zigarre. Und er dachte: June Bug? Cat Creek June Bug, in der die Macht des Universums brannte und die endlich frei war von allem Schmerz, hieb mit dem Schwert, das sie für sich geschaffen hatte, auf das Ungeheuer ein. So - genau so sollte das Leben sich anfühlen. Sie formte ihren Willen und formte sich selbst neu, und mit jeder Sekunde wuchs ihre Macht, wuchs ihr Zorn. Alles, was sie als Wächterin jemals hatte tun und fühlen wollen, alles, was sie sich selbst verwehrt hatte, weil sie dem Diktat des Rats gehorsam gefolgt war, alles, was sie als menschliches Wesen hatte fühlen wollen, aber aus Furcht und Scham unterdrückt hatte, all dem ließ sie jetzt freien Lauf. Jugend und Kraft, Leidenschaft und Feuer, Magie und Liebe, Begehren und Hunger strömten mit einem leichten Beigeschmack von Furcht und Zorn durch ihre Adern, während sie mit dem dritten Baanraak kämpfte und Tod und 422 Zerstörung in ihrem Herzen sangen. Der Schmerz war von ihr abgefallen, sobald sie in das Tor getreten war, und jetzt, ohne seine Fesseln, war sie pures Licht, sie war stark, sie war wahrhaft eine Göttin. Frei. Sie war frei, sie hatte die Ewigkeit vor sich, sie hatte die Fesseln zerbrochen, die sie an Trauer, Schmerz und Scham gekettet hatten, und sie konnte schweben. Sie konnte fliegen. Sie konnte kämpfen und ihre Welt retten und die Liebe erleben, nach der sie sich so sehr gesehnt hatte. Sie konnte wahrhaft leben. So sollte sich das Menschsein anfühlen. So war sie geboren, und so sollte sie leben. Sie war in diesen Kampf gezogen, bereit zu sterben, um die Menschen zu retten, die sie liebte, aber jetzt, da sie die pure Süße des Gottseins schmeckte und leichte, starke Jugend in ihren Knochen spürte, jetzt fand sie, dass der Tod eine ganz und gar schlechte Idee war. Sie rammte dem Ungeheuer ihr Schwert in die Schulter und lauschte befriedigt seinem Schrei. Sie bohrte die Waffe tiefer in sein Fleisch und drehte mit derselben Bewegung die Klinge, und er wehrte sich mit Zähnen und Klauen, aber sie blockte ihn mit dem silbernen Schild ab, vereitelte seine Angriffe und fand eine verletzliche Stelle. June Bug schlug ihm seinen zweiten Flügel ab, brach ihm dabei einen Knochen und versengte die Schnitte mit flammendem Silber, bis sie abermals seinen gequälten Aufschrei hörte.
Ihr Herz sang. Ihr Blut sang. Und dann fauchte er: »Genug.« Genug, da war sie seiner Meinung, und sie drehte die Waffe abermals, um seine Existenz ein und für alle Mal zu beenden, um sich den nächsten Baanraak vorzunehmen und dann den letzten. Aber als sie sich umdrehte, war er verschwunden. June Bug konnte ihn nirgendwo sehen, ebenso wenig wie 423 sie seine Gegenwart spüren konnte. Das flammende Silberschwert in Händen, den silbernen Schild erhoben, stand sie da, bereit, den Rrön zu vernichten, aber sie konnte ihn nirgends finden. »Feigling«, murmelte sie. Der Schlag, der sie traf, kam von hinten - der Hieb einer Klinge, die ebenso scharf und tödlich war wie ihre eigene und die mit der ganzen Kraft eines uralten Gottes geführt wurde. Die Waffe spaltete sie in zwei Teile, und wieder spürte sie Schmerz, aber der Schmerz wurde stumpf, sobald sie ihn wahrnahm. Sie hatte genug Zeit, um Bedauern zu spüren, Zeit, um zu denken: Molly. Und: Marion. Und dann verlagerte der Fluss des Todes seine Ufer und schlug über ihr zusammen. Seine Strömung erfasste sie und riss sie mit sich, und sie stellte fest, dass sie, Göttin hin oder her, seinem Sog nicht widerstehen konnte. Die grüne Welt Mit ihrem aus Magie gewobenen Rucksack auf dem Rücken und Jake sicher darin geborgen, kniete Lauren in einer Welt aus üppigem Grün, einer Welt, in der sich noch kein denkendes Geschöpf bewegte. Sie öffnete sich zur Gänze der reichen, jungfräulichen Magie dieser Welt, spürte zum allerersten Mal die Macht von Leben, das noch nicht durch die Gifte der dunklen Götter besudelt war. Die Macht strömte in sie hinein, und sie verankerte die Füße auf dem Boden und breitete die Arme weit aus. Vor ihr wob sich ein Pfad durch Zeit und Raum und Wirklichkeit, ein Pfad, der sich Welt um Welt nach oben wand, der sich immer tiefer in das verzerrte, schmerzgequälte Grauen bohrte, das die Nachtwache und ihre Lakaien aus den weiter oben gelegenen Welten gemacht hatten. 424 Endlich erreichte sie die Erde und grub sich, so tief es ihr möglich war, in deren Zentrum hinein. Sie ließ Leben in das Herz ihrer Welt strömen, dann zog sie einen Kanal puren Lebens direkt hinauf nach Cat Creek und legte seinen Schwerpunkt unter ihr eigenes Haus, das Heyr für die Nachtwache unzugänglich gemacht hatte. Sie schuf einen Kanal mit weiter Öffnung; kein Nadelöhr diesmal, keine daumendünne Linie. Dann speiste sie den Kanal mit ihrer Liebe, ihrer Hoffnung für die Zukunft und ihrer Dankbarkeit für jene, die für sie in den Kampf gezogen waren, bereit, unerträglichen Schmerz zu erdulden und die unvorstellbare Last von an Fleisch geketteter Unsterblichkeit zu tragen, damit sie diesen Kampf ausfechten konnte. Damit sie dort stehen konnte, wo sie stand, und tun konnte, was sie tat. Damit sie alles geben konnte, was an Gutem in ihr war, um auf diese Weise die Flut des Todes zurückzudrängen. Ich liebe dich, sagte sie zu Brian, der im Fleisch verloren war, aber nicht in ihrer Seele. Ich liebe dich, sagte sie zu ihrem Sohn, um dessentwillen sie den Kampf niemals aufgeben würde. Ich liebe dich, sagte sie zu Heyr, weil du uns Hoffnung und Orientierung gebracht hast und eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen. Ich liebe dich, sagte sie zu jedem der Wächter, die ihren Traditionen und Gesetzen den Rücken gekehrt hatten und die Tadel und Schlimmeres erwartete, weil sie zu ihr standen. Ich liebe dich, sagte sie zu Pete, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte, um an ihrer Seite zu kämpfen - und der sie trotz allem ebenfalls liebte. »Ich liebe dich, Pete«, wiederholte sie und fand an diesem grünen Ort, in dieser reichen Welt, den Mut, diese Worte zum ersten Mal auszusprechen und sich selbst einzugestehen, dass sie die Wahrheit waren. »Ich liebe dich.« Leben flutete durch sie hindurch, floss in einem reißenden Strom an der Weltenkette entlang nach oben. 425 Einen Augenblick lang stand sie einfach nur da, verloren in der puren Ekstase dieser Macht, dieses Lebens, dieser Liebe. Und dann verankerte sie den Eingang des gewaltigen Tunnels in der grünen Welt und flocht ihren Willen darum, so dass er die dunklen Götter abstoßen und daran hindern würde, das Werk, das sie geschaffen hatte, zu berühren. Sie hatte die Gestalt von Heyrs Magie aufgefangen - die Abwehrzauber, die er um ihr Haus gelegt hatte -, und sie benutzte seine Kunst und seine Erfahrung, um ihren Willen und ihre Gedanken um diesen Tunnel zu weben, genauso wie er seine Entschlossenheit um ihr Haus gewoben hatte. Dann benutzte sie die Reichtümer des Lebens dieser Welt, um ihrem Werk zusätzliche Kraft zu verleihen und diesen Planeten über Raum und Zeit hinweg zu einer Zuflucht vor der Nachtwache zu machen. Als sie endlich fertig war, trat sie einen Schritt zurück. Sie spürte, wie Jake die Arme fester um sie schlang und ihr zuflüsterte: »Ich liebe dich auch, Mama.« Sie hatte getan, was sie konnte. Sie hoffte, dass es genügen würde. Cat Creek und das Meistergold Baanraak, der Schmerzen litt, wie er sie noch nie erlebt hatte, trat vor die Frau hin, um sich davon zu überzeugen, dass sie wirklich und wahrhaftig tot war und dass sie nicht noch einen Trick kannte, der ihm noch nie begegnet war und der sie vielleicht ins Leben zurückholen würde, damit sie beenden konnte, was sie mit so viel Geschick begonnen hatte.
Aber die beiden Hälften ihres Körpers lagen reglos vor ihm, während er keuchend auf sie hinabblickte. Endlich war er davon überzeugt, dass sie sich nicht selbst heilen und 426 sich ein letztes Mal auf ihn stürzen würde, sobald er ihr den Rücken zukehrte. Er starrte das Schwert und den Schild an, die sie bei sich getragen hatte. Reinstes Silber, alle beide. Früher einmal hatten die Helden gewusst, dass sie mit Silber in den Kampf gegen die dunklen Götter ziehen mussten, denn die dunklen Götter konnten solche Wunden mit nichts anderem als Zeit heilen. Später hatten sie dann das Silber zugunsten von Dingen vernachlässigt, die schneller töteten - Maschinengewehre, Granaten und Bomben -, und sie hatten die Macht vergessen, die ihnen einst mit simplen Waffen zu Gebote gestanden hatte. Das elende Weib, das ihm in die Quere gekommen war, hatte diese tödliche Legende irgendwie wiederbelebt, ob mit Glück oder durch Nachforschungen oder mit angeborener Intelligenz - und schlimmer noch, sie hatte dem alten Schmerz eine neue Tücke verliehen. Das Feuer, das sie mit ihrer Klinge entfacht hatte, brannte noch immer in ihm, breitete sich unerbittlich aus, und die Qualen, die es ihm verursachte, würden ihn bald töten, selbst wenn die Verletzungen selbst dazu nicht ausreichten. Er würde sterben, durchzuckte es ihn. In Kürze. Er fauchte, erzürnt von der Unannehmlichkeit dieses Vorgangs. Er musste an einen Ort gehen, der seinen Auferstehungsringen Nahrung gab und gleichzeitig seine Feinde daran hinderte, sich ihm in den Weg zu stellen, wenn er zurückkam. Und er musste es sehr bald tun. Es blieb ihm noch genug Zeit, um Molly, die schwer verletzt auf der Veranda lag, den tödlichen Hieb zu versetzen, dann musste er fort von hier. Aber als er sich zur Veranda hinüberschleppte, geschah etwas, das er nicht verstehen konnte. Überall um ihn herum explodierte Leben. Eine Flut von Liebe und purer Energie und Magie, die so mächtig war, dass er sie nicht er427 tragen konnte, verschlang ihn. Die Quelle dieser Flut war das Haus, und sie sprudelte daraus hervor wie Wasser aus einem gebrochenen Damm. Seit er denken konnte, hatte er niemals etwas Derartiges gespürt, und zum ersten Mal verstand er wirklich und wahrhaftig, was sich da gegen die Nachtwache stellte, und er bekam Angst. Der Sturzbach des Lebens ließ das silberne Feuer in ihm noch heller und heftiger lodern, und er begriff, dass er auf der Stelle fliehen musste, sonst würde er in diesem Garten sterben und seinen Körper und seine Auferstehungsringe seinen Feinden ausliefern. Mit dem letzten Rest seiner Stärke und Willenskraft wob er ein Tor nach irgendwohin und stürzte sich hindurch. Cat Creek mit Silber und Gold Baanraak sah sein Doppel, das unrettbar verletzt war, durch ein Tor fallen. Er konnte den verfluchten Thor im Garten hinter dem Haus mit dem anderen Baanraak kämpfen hören, diesem törichten Anfänger. Pete lag, in Stücke gehackt, hilflos auf der Veranda. Mollys Schwester und ihr Kind waren für den Augenblick verschwunden. Ihm blieb gerade noch genug Zeit. Er schälte die Dunkelheit ab, die ihn verborgen hatte, stürzte zu Molly hinüber und ging neben ihr in die Hocke. Sie schlug die Augen auf und starrte ihn an. Dann biss sie die Zähne zusammen. »Du.« »Ich«, stimmte er ihr zu und berührte sie, zwang die pure Energie, die jetzt aus diesem Haus strömte, durch seinen eigenen Körper und atmete in flachen Zügen zum Schutz gegen den furchtbaren Schmerz. Dann kanalisierte er die Lebensmagie, ließ sie in Molly hineinfließen und befahl ihr zu leben. Er drückte ihr eine Hand hart auf die Brust und ent428 riss dem anderen Baanraak unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft die Vodi-Kette, und als sie in seiner Hand erschien, presste er sie auf Mollys zerrissenen Bauch und befahl ihrem Fleisch, das goldene Kleinod wieder aufzunehmen. Er verschwendete keine Zeit darauf, sie zu heilen - das konnte er an einem sicheren Ort besser tun. Dort, wo er zu Hause war. Hinter sich hörte er Pete flüstern: »Lass sie in Ruhe, du Bastard«, und Baanraak, der zu große Schmerzen litt, um schlagfertige Antworten zu ersinnen, murmelte: »Schlaf, verdammt« und beugte sich vor, um Petes Kopf einmal kräftig auf den Bretterboden der Veranda krachen zu lassen und ihn mit einer Mischung aus Magie und simpler Gewalt bewusstlos zu schlagen. Dann zeichnete Baanraak aus der Luft einen dünnen Kreis aus Eis, wob ein Tor darin, nahm Molly auf die Arme und sprang hinein in den Ring aus grünem Feuer. Hinter ihm krachte das Eis auf die Veranda und zersplitterte. Baanraak vom Meistergolds private Quartiere, Insel Baräd, Oria Baanraak taumelte durch das Tor, das er gewoben hatte, er blutete, er starb, er wünschte gegen jede Vernunft, er hätte andere auf die Erde geschickt, um gegen die Unsterblichen und die alten Götter zu kämpfen, statt selbst dorthin zu gehen. Er lag der Länge nach auf dem Fußboden, während das Feuer des silbernen Schwertes noch immer an ihm fraß, und jetzt kam auch noch diese zitternde kleine Kröte, Rekkathav, auf ihn zugeschlittert. Seine Beine klackerten und klapperten auf dem Marmorboden. Er blickte zu seinem ersten Sekretär auf und befahl: 429
»Verlass diesen Raum, verschließ die Türen, und lass niemanden hinein, bis ich wieder herauskomme.« »Du stirbst«, sagte Rekkathav. Baanraak knurrte ihn an. »Eine vorübergehende Unannehmlichkeit, aber ich werde dafür sorgen, dass es sich für dich lohnt, meinen Befehl ausgeführt zu haben.« Rekkathav musterte ihn zuckend und gab dabei diese erregten Klicklaute von sich, deren Bedeutung Baanraak inzwischen kannte: Sein Sekretär mühte sich, seinen Magen daran zu hindern, sich vorzustülpen und allerlei halb Verdautes zu verspritzen. Er zog sich jedoch nicht zurück, und Baanraak blies ihm einen schwachen Feuerstrom entgegen und zischte: »Geh.« Aber noch immer ergriff Rekkathav nicht die Flucht. Stattdessen huschte er um Baanraak herum, kauerte sich hinter ihn und rückte Zentimeter um Zentimeter näher heran. »Was machst du da, du kleines Monstrum?«, verlangte Baanraak zu wissen. »Ich kann deinen Auferstehungsring sehen«, sagte Rekkathav. »Ich kann ihn direkt unter der Haut liegen sehen, genau da, wo dir dein Flügel abgerissen wurde.« Baanraak versuchte, den Kopf zu heben, um nach dem Hyatvit zu schnappen, aber er war zu schwach. Dem Tod zu nahe. Furcht ließ sein Blut kalt werden. Er hätte irgendwo anders hingehen sollen, irgendwohin, wo er unbemerkt hätte sterben und von wo er unbeobachtet hätte zurückkommen können. Es war zu leicht gewesen, dem einfachen Pfad zurück durch ein bereits bestehendes Tor zu folgen, in Gemächer, in denen er sich sicher gefühlt hatte. Aber jetzt fühlte er sich ganz und gar nicht mehr sicher. »Geh jetzt.« »Nein«, sagte Rekkathav. »Nein. Ich werde nirgendwohin gehen.« Seine Stimme schwoll an vor Erregung, und er 430 zirpte ein schrilles, hohes Lachen und legte zwei Paar Grabebeine auf Baanraaks Seite. Sie waren scharf; Baanraak hatte noch nie zuvor bemerkt, wie scharf sie waren. Sie waren dazu geschaffen, zu schneiden, zu graben, zu reißen und zu zerfetzen. Sie waren Waffen. Er hatte nur den feigen, schwachen Hyatvit betrachtet und die Waffen übersehen. Jetzt schärfte die Angst seinen Schmerz - er war hilflos, und der kriecherische Schwächling kroch nicht länger. Rekkathav, der Baanraaks Stimme mit überraschender Treffsicherheit nachäffte, höhnte: »Das hast du schlecht gemacht, Appetithäppchen. Ich denke, vielleicht werde ich dich doch heute fressen.« Die Grabekrallen rissen Baanraaks Haut und Knochen mit zwei scharfen, harten Bewegungen auf und zerrten den Auferstehungsring aus seinem noch lebenden Körper. Der alles verzehrende Schmerz seiner Wunden, in denen silbernes Feuer brannte, breitete sich jetzt noch schneller aus, da die Magie des Auferstehungsrings ihn verlassen hatte. In diesem Augenblick ging ihm auf, dass die vielen Ringe, die er in seinem Fleisch zu tragen geglaubt hatte, alle fort waren; Mollys Explosion, die die falschen Baanraaks geschaffen hatte, hatte ihn gleichzeitig all seiner Reserveringe beraubt. Er war mit einem einzigen Schlag zum Sterblichen gemacht worden. Er war am Ende, das wusste Baanraak. Dieser Tod würde sein letzter sein, und danach würde nichts mehr kommen. Rekkathav trat klickend und zirpend direkt vor Baanraak hin, dann ging er in die Hocke, so dass er das immer enger und blasser werdende Gesichtsfeld Baanraaks zur Gänze ausfüllte. »Sie werden dich nicht vermissen«, verkündete er. »Ich werde deine Befehle weitergeben, so wie ich es für den armen, toten Aril getan habe, und wenn es notwendig ist, 431 werde ich den dunklen Göttern Botschaften in deiner Stimme schicken, und falls jemand nach deinem Verbleib fragt, werde ich einfach auf einen der überlebenden Baanraaks zeigen und sagen, da ist er, und wenn sie sich darüber beschweren, wie du deine Geschäfte führst, dann können sie die Sache mit dir persönlich austragen.« Er kicherte. Baanraak spürte, wie er von den Rändern aus zu verblassen begann. Er fror. Er seufzte. »Sie werden dich binnen einer Stunde töten.« Rekkathav hielt den Auferstehungsring in die Höhe, dessen Piercingknebel zum ersten Mal seit Jahrtausenden geöffnet war und damit signalisierte, dass ein jeder ihn jetzt überstreifen konnte, dass sein Besitzer zu existieren aufgehört hatte. »Ich könnte diesen Ring tragen, weißt du. Ich könnte über dein gesamtes Wissen verfügen, über all deine Macht, all deine Geheimnisse. Ich könnte deine Gestalt annehmen, wenn ich es wollte, könnte mich in dich verwandeln.« Er zischte, erhob sich und drehte sich um, und Baanraak konnte ihn nicht sehen, aber er konnte ein plötzliches, schrilles Heulen hören: das Mahlen von Gold, die Zerstörung des Rings. Und er konnte die jähe, kriechende Dunkelheit der Magie spüren, die durch die Zerstörung des Rings freigegeben wurde. »Ich könnte es tun, aber ich werde es nicht tun. Und weißt du, warum nicht? Die Unsterblichen sind zäher als die dunklen Götter. Ich denke, ich werde lieber für immer leben, als wieder und wieder zu sterben und zurückzukommen.« Er schob sein Gesicht nahe an das von Baanraak, so nahe, dass Baanraak, hätte er auch nur noch einen Funken Kraft besessen, den Kopf des Hyatvits zwischen seinen Kiefern hätte zermalmen können. Rekkathav ergriff seinen eigenen Auferstehungsring und riss ihn sich aus dem Panzer. »Eine Strafe von dir, werde ich den anderen erzählen. Ich muss ihn mir erst wieder verdienen.« Sein Lachen wurde leiser, oder vielleicht schwand ja
432 auch Baanraaks Gehörsinn zusammen mit allem anderen. »Ich bin bereits ein Gott auf dieser Welt. Und jetzt kenne ich Thors Geheimnis der Unsterblichkeit. Also ... mal sehen«, flüsterte er Baanraak ins Ohr, »was ein Unsterblicher mit der Nachtwache anstellen kann. Mal sehen, wie ich sie verbiegen kann, wie ich sie brechen kann und wie ich sie benutzen kann, während ich sie glauben mache, das alles käme von dir. Der Name Baanraak wird eines Tages eine Schande für alle dunklen Götter sein.« Er erhob sich und entfernte sich aus dem winzigen Nadelöhr, zu dem das Gesichtsfeld des sterbenden Baanraak geworden war, aber er entfernte sich nicht ganz aus dessen Hörweite. »Nicht dass du dann noch da wärest, um es mitzuerleben.« Cat Creek Lauren, die Jake nach wie vor huckepack trug, trat durch den Spiegel zurück in ihr Badezimmer. Draußen spalteten Donnerschläge Bäume, Blitze krachten vom Himmel, und die Erde zitterte. Heyr-Thor hatte einen Feind gestellt und kämpfte gerade. Aber sie konnte nicht feststellen, was sonst noch passierte. Sie schloss das Spiegeltor im Badezimmer, denn sie durfte auch die minimale Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass Feinde sie von der grünen Welt hierher zurückverfolgten und Heyrs Sicherheitsmaßnahmen durchbrachen. Nachdem das Tor außer Kraft gesetzt war, nahm sie sich einen Handspiegel, legte die Fingerspitzen darauf und rief einmal mehr das grüne Feuer. Sie wartete, bis sie nach draußen sehen konnte; Heyr-Thor kämpfte allein gegen einen gewaltigen Rrön, aber während Heyr nur blutete, war der Rrön fast tot. Gut. Lauren ließ das Bild in dem Spiegel weitersuchen, um nach Molly oder Pete zu tasten. 433 Was sie als Nächstes sah, war eine Frau von überdimensionaler Größe. Sie musste gewiss einmal sehr schön gewesen sein; jetzt war sie in zwei Hälften gespalten, von denen die eine ausgestreckt in Laurens Vorgarten lag und die andere über den zerquetschten Überresten dessen hing, was einst Laurens Auto gewesen war. Lauren erkannte die Frau nicht, konnte sich auch keinen Reim darauf machen, welche Rolle sie gespielt hatte, aber dennoch erschauderte sie vor Angst. Sie vergrößerte ihren Gesichtskreis und bemerkte etwas auf ihrer Veranda. Ihr Herz schien einen Schlag aussetzen zu wollen. Pete lag dort, zerfetzt in Stücke. Ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, schrie Lauren: »Nein!« Sie zerrte den Stuhl unter der Badezimmertür weg, riss die Tür auf und stürmte durch den Korridor, die Treppe hinunter, durch die Haustür nach draußen und auf die Veranda. »Oh, Gott«, stöhnte sie und ließ sich neben Pete auf die Knie fallen. Sie hatte gerade erst begriffen, was er ihr möglicherweise bedeutete, hatte gerade erst zu akzeptieren gelernt, dass sie wieder lieben konnte, und sie hatte es zu spät herausgefunden. Aber nein. Seine Brust hob und senkte sich, wenn auch kaum merklich. Er atmete noch? Sie konnte es nicht glauben - konnte nicht begreifen, dass er so zerrissen, so grausam zerstückelt immer noch am Leben war. Aber sie würde die Möglichkeiten nutzen, die dieses Leben ihr gab. Sie öffnete die Tür mit einem Tritt und schleifte ihn - oder jedenfalls den größten Teil von ihm - ins Haus. Er war zu leicht, zu leicht. Sie machte sich nicht die Mühe zurückzukehren, um den Arm oder das Bein zu holen, die noch auf der Veranda lagen. Stattdessen zog sie ihn durch die Diele zu dem riesigen alten Spiegel im hinteren Teil des Raums, klammerte sich an ihn und flehte ihn an, nur noch 434 ein kleines Weilchen länger zu atmen. Dann öffnete sie das Tor und griff ein kleines Stück weit in die untere Welt hinein. Nur bis nach Oria, nur bis zu der kleinen Hütte, die ihre Eltern in den Urwald am Rand des VeyärReichs gebaut hatten. Die Entfernung war nicht so groß, als dass sie sie nicht mühelos hätte überwinden können, und doch groß genug, um dort die Macht eines alten Gottes zu erlangen. Als sie das Innere der Hütte vor sich sah, trat sie rückwärts in das Tor hinein, schleifte Pete hindurch und hörte ein schläfriges »He!« von Jake. Zu dritt taumelten sie durch das grüne Feuer und über die Pfade der Ewigkeit, aber während sie Jake deutlich hören und seine Nähe fühlen konnte, konnte sie von Pete nichts spüren, außer dass er noch lebte. Sie traten in das alte Schlafzimmer ihrer Eltern hinein, in eisige Kälte. Der Winter kam früh in dem Urwald im Norden Orias, und Lauren konnte einen Schneesturm draußen vor den Fenstern heulen hören. Sie ging in der Dunkelheit in die Hocke, ohne auf ihr Unbehagen zu achten, und zwang die Magie der Welten durch ihre Fingerspitzen und in Pete hinein. Sie sah ihn als unversehrten Menschen vor sich, sah ihn gesund, dann leuchtete plötzlich grünes Feuer in seinem Körper auf, und die grauenvollen, klaffenden Wunden in seinem Torso schlössen sich. Ein Arm knospte, streckte sich zu voller Länge aus und wurde immer detaillierter; aus dem schrecklichen Loch, das sein erstes Bein hinterlassen hatte, wuchs ein neues heraus. Lauren drückte die Hände flach auf Petes Brust und spürte, dass sein Herz jetzt schneller unter ihren Fingern schlug. Sie spürte, wie seine Brust sich in stetigem Rhythmus hob und senkte, spürte, wie sein Atem sich verlangsamte und tiefer wurde. Aber er öffnete noch immer nicht die Augen. Sie versuchte, in ihn hineinzugreifen, um Verletzungen aufzuspüren, die vielleicht sein Gehirn betroffen hatten, 435 aber sie konnte nichts finden. Sie beugte sich über ihn und schüttelte ihn, aber er wachte nicht auf. Tränen
stiegen ihr in die Augen, aber sie schluckte sie herunter. »Wach auf, verdammt«, sagte sie. Dann spürte sie, wie etwas in Pete einrastete, als sei ein Licht eingeschaltet worden. Er öffnete die Augen und flüsterte: »Molly«, dann wurde sein Blick klarer, und er sah zu ihr auf. »Lauren?«, fragte er. Sie warf sich über ihn, presste ihn verzweifelt an sich und hörte Jakes gedämpftes: »He! Lass das!«, da sie ihn mit ihren abrupten Bewegungen in seiner Trage herumwirbelte. Pete richtete sich auf, schlang die Arme um sie und zog sie ebenfalls an sich. Sie küsste ihn hungrig und forschte voller Sehnsucht nach Garantien dafür, dass sie diese zweite Chance doch nicht verloren hatte. Er erwiderte ihre Küsse, zaghaft zuerst und dann mit wachsender Leidenschaft. Als sie sich schließlich voneinander lösten, berührte er ihre Wange und sagte: »Ich werde deine Entscheidung nicht hinterfragen. Was immer sich für dich geändert hat, ich werde es einfach akzeptieren. Wenn du im Grunde jemanden suchst, der dir das hier ausredet, dann wird es jemand anderes tun müssen.« »Gut«, antwortete sie. »Denn das ist es keineswegs, was ich will.« Cat Creek Es gelang Heyr endlich, Baanraak zu bezwingen - ein einziger Schlag von Mjollnir zerschmetterte ihm den Schädel, und er fiel zuckend zu Boden. Heyr schickte den Donner fort und erstickte die Blitze, nachdem er ihnen ihre letzte 436 Aufgabe gestellt hatte, Baanraaks Körper zu Asche zu verbrennen. Während der Leichnam in Flammen aufging, nährte Heyr das Feuer zusätzlich mit seiner Magie. Binnen weniger Minuten lagen nur noch ein schwarzes Häufchen Asche und ein einziger glitzernder Goldring vor ihm. Heyr betrachtete das Schmuckstück eingehend. Er kannte die Stilrichtung - es war ein Art-deco-Ring, der auf der Erde hergestellt worden war. Er schätzte sein Entstehungsdatum auf 1930, aber es konnte durchaus noch später liegen. Ein einziger neuer Ring. Verdammt. Dies musste also ein geringerer Baanraak sein; ein noch unfertiger, grüner Baanraak, dem der größte Teil seiner einstigen Vollkommenheit fehlte. Nun, das erklärte zumindest den Kampfstil. Wild, grimmig und ohne jede List. Mit einem Seufzen steckte Heyr den Ring ein und ging um das Haus herum, um festzustellen, was Pete tat. Als er um die Ecke bog, blieb er wie angewurzelt stehen. Im Garten lag eine riesige Walküre von einer Frau mit gespaltenem Leib, ein prächtiges Silberschwert noch in der einen Hand und einen Schild aus massivem Silber in der anderen. Auf der Veranda entdeckte er einen Arm und ein Bein, und überall war Blut. Fußspuren im Blut, ein blutiger Handabdruck auf der Tür und blutige Schleif spuren, die ins Haus führten. Heyr umfasste Mjollnir fester, machte einen Schritt auf das Haus zu und nahm plötzlich die Macht wahr, die sich in einem reinen Strom aus dem Gebäude ergoss. Es war eine gewaltige Macht, Leben, das reich und süß war und stark genug, um nicht nur einen einzigen Unsterblichen zu nähren, sondern eine ganze Armee von Unsterblichen. Er verankerte sich in diesem Strom aus Magie, und zum ersten Mal seit Jahrhunderten spürte er mehr Leben als Tod, mehr 437 Hoffnung als Verzweiflung. Er holte tief Atem, legte den Kopf in den Nacken und rief in den Himmel hinein: »Bei den Hallen von Walhalla, bei den AEsir und den Liedern der Helden, bei allem, was recht und gut ist in einem Menschen, bin ich wieder Thor. Und ich werde mich gegen die Flut der Dunkelheit stellen, und ich werde stehen bleiben.« In dem Bewusstsein, dass er vielleicht das Schlimmste dort vorfinden würde, aber gleichzeitig nicht vergessend, dass die Lebenskraft auf die Erde zurückgekehrt war, wenn auch nur in kleinem Maße, und dass die Welt und die Menschheit wieder Grund zu hoffen hatten, ging er die Treppe hinauf und ins Haus. In der Diele traf er auf Pete, der gerade zusammen mit Lauren und Jake durch den Spiegel trat. Petes erste Worte waren: »Wir haben noch nicht gewonnen. Baanraak hat Molly mitgenommen.« Heyr versuchte, die verschiedenen Informationen gleichzeitig zu verdauen. »Was ist vor dem Haus passiert?« »Als du dich an die Verfolgung des Baanraaks gemacht hast, der Mollys Kette hatte, ist ein dritter Baanraak aufgetaucht, gerade als ich auf dem Weg zu ihr war, um sie zu heilen«, sagte Pete. »Dieser dritte Baanraak hat mich in Stücke gerissen und wollte Molly töten, aber dann ist June Bug durch ein Tor getreten ...« »June Bug?«, fragten Lauren und Thor gleichzeitig. »Ich habe sie erst erkannt, als ich die Zigarre sah. Aber es war June Bug. Sie ist durch das Tor getreten und kämpfte - sie war atemberaubend.« »Sie war nicht unsterblich«, sagte Heyr. »Ich denke, auf diese Weise ist es ihr gelungen, ihm entgegenzutreten. Jedenfalls hat sie sich nicht so benommen, als müsste sie irgendwelche Schmerzen ertragen. Sie ist einfach hier hereinmarschiert und hat ihn in Stücke gerissen.« »Sie hat ihn getötet?« 438 Pete schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Sie hat ihn verletzt. Aber nachdem er sie umgebracht hatte, war er noch stark genug, um auf das Haus zuzulaufen. Er wollte Molly töten. Und dann hat ihn irgendetwas verjagt. Ich
habe gesehen, wie er ein Tor aufmachte und hineintauchte, und eine Sekunde später stand der dritte Baanraak der Baanraak in Menschengestalt, mein Trinkkumpan - auf der Veranda und beugte sich über Molly. Dann hat er irgendetwas mit mir gemacht, und als ich das nächste Mal wieder zu mir kam, war ich in Oria, und Lauren ... hm ...« »Ich habe Petes Verletzungen geheilt«, beendete Lauren den Satz. Thor nickte; ein Blick auf die beiden, wie sie dort nebeneinander standen, genügte, um zu wissen, dass Lauren ein wenig mehr getan hatte als das. »Dann müssen wir uns jetzt auf die Suche nach Molly machen«, erklärte Lauren. »Zuerst sollten wir uns um June Bug kümmern«, widersprach Pete. Wir können sie nicht einfach so auf der Veranda liegen lassen.« »Nein«, stimmte Thor ihm zu. »Wir werden sie zu den Toren von Walhalla schicken, wie sie es verdient. Als Kriegerin.« Baanraaks Reich, Kerras Molly spürte den Schmerz des Tores und dann das Nichts des Daseins ohne körperliche Gestalt. Sie hob eine Hand und nahm sie nur als einen denkbar schwachen Schatten wahr; sie betrachtete den hellen Sonnenschein, die hohen, saftigen Gräser und die fremde Natur überall um sich herum, und sie fragte sich, wohin Baanraak sie gebracht hatte. Und warum. 439 Baanraak - ein menschlich aussehender Baanraak, aber trotzdem immer noch der Rrön, dessen Geist sie so gut kannte - stand auf einem breiten, flachen Felsen. Er war kein Schatten, sondern durch und durch körperlich. Molly war bei ihm, aber nicht aus freien Stücken. Sie konnte sich nicht bewegen. Etwas stimmte nicht mit ihr, aber sie nahm weder Schmerz noch Furcht wahr. Daheim auf der Erde war sie in Stücke gerissen worden. War sie immer noch in diesem Zustand? War sie gestorben? Vielleicht war dies ein Traum, wie man ihn kurz vor dem Tod träumte. Dann legte Baanraak sie auf den Boden, und erst jetzt wurde ihr klar, dass er sie auf den Händen getragen hatte. Und noch immer konnte sie sich nicht bewegen. Er berührte sie; sie konnte sehen, dass er es tat, obwohl sie ihn nicht spüren konnte. Und dann kehrte das Gefühl mit Macht zurück. Die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht, der Duft des Windes, die hunderttausendfachen Geräusche einer Welt, die voller Leben und Energie war. Und der Schmerz. Auch der Schmerz kehrte zurück, und obwohl sie fest entschlossen war, nicht aufzuschreien, tat sie es doch. »Warte«, sagte er. »Ich musste dich den ganzen Weg bis hierher tragen, damit ich dich heilen konnte.« Und wieder berührten seine Hände sie, aber diesmal konnte sie sie spüren. Sie waren sanft, und sie kanalisierten das grüne Feuer, das sie verbrannte - aber es war ein heilendes Brennen. Ihre Wunden schlössen sich, und im nächsten Augenblick konnte sie Arme und Beine bewegen, den Kopf drehen und sich aus eigener Kraft hinsetzen. »Wo sind wir?« »Auf Kerras.« »Kerras ist Asche.« »Der größte Teil des Planeten ist Asche«, pflichtete er ihr bei. »Aber ich habe diesen Ort geschaffen. Ich habe den 440 Tunnel deiner Schwester benutzt - die Magie, die sie hierher geleitet hat.« Molly sah sich um. »Es ist... wunderschön«, sagte sie. Sie erinnerte sich an Baanraak mit einem anderen Gesicht, an einem anderen Tag, wie sie nebeneinander hergegangen waren und über eine untergegangene Stadt gesprochen hatten, deren Bevölkerung ausgestorben war, und sie erinnerte sich daran, wie viel Freude ihr diese Kameradschaft bereitet hatte. Natürlich war sie ihm dann später am selben Tag gefolgt und hatte ihn in Stücke gesprengt - und sich selbst ebenfalls -, was die Erinnerung einigermaßen ruinierte. Trotzdem, als sie sich jetzt umsah, konnte sie etwas von der Schönheit ihrer Umgebung auch in Baanraak wiederfinden. »Der Ort passt zu dir.« Er lächelte schwach. Das Lächeln war weitaus weniger erschreckend, wenn er ein menschliches Gesicht trug. »Das stimmt«, sagte er. »Es ist die Welt meiner Geburt.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls soweit ich mich daran erinnern kann.« Ihr kam der Gedanke, dass jede Berührung mit Laurens Magie ihr wehtat, und sie betrachtete das herrliche Panorama, das sie umgab. »Wie hast du das gemacht?«, wollte sie wissen. »Wie konntest du das ertragen?« »Es hat wehgetan«, gestand er. »Aber ich habe schon früher Schmerzen ertragen. Und ... ich wollte meine Heimat wiedersehen. Ich wollte meine eigene Sonne spüren, meine eigene Luft riechen, den Geschmack von Dingen kosten, die ich seit meiner Jugend nicht mehr gegessen hatte. Es war mir wichtig, also habe ich einfach getan, was ich tun musste.« Sie sah sich um und dachte darüber nach, wie es wäre, Lebensmagie zu berühren oder mit Lebensmagie zu arbei441 ten. Sie war nie wirklich auf die Idee gekommen, dass sie vielleicht in der Lage sein könnte, etwas so Gewaltiges zu unternehmen wie den Wiederaufbau einer Welt; je mehr sie von sich selbst verloren hatte, umso größeren Schmerz bereitete ihr das Leben. Und doch hatte Baanraak - zumindest dieser Baanraak - sich zum Besseren verändert, und sie glaubte, den Grund
für diese Veränderung zu kennen: Es war dieser Ort und die Tatsache, dass Baanraak ihn selbst erschaffen hatte. Sie konnte die Anfänge von Emotionen in ihm wahrnehmen und ein schwaches Aufkeimen von Hoffnung. Und Dinge, die so selten und so schön waren, dass sie es nicht wagte, ihnen auch nur einen Namen zu geben. Es waren alles Knospen, die noch kaum die Oberfläche durchbrochen hatten, die gewiss sehr verletzbar waren und sich leicht zertrampeln und zerstören ließen. Wenn Baanraak sich nur nicht darum sorgen müsste zu sterben, dann wäre er vielleicht in der Lage, diese Welt wieder aufzubauen und irgendwie zu dem Baanraak zurückzufinden, der er gewesen wäre, wenn die dunklen Götter ihn nie berührt hätten. Er musste unsterblich werden, ging es ihr durch den Kopf, und im gleichen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: Ich weiß, wie man das macht. »Sind jemals irgendwelche dunklen Götter zu ... zu wahren Unsterblichen geworden?«, fragte sie ihn. »Nein«, antwortete er. »Etwas Derartiges hätten die Auferstehungsringe nicht zugelassen. Das Gold ...«Er sah sie an und verfiel in Schweigen. »Wir beide tragen Gold, das mit Silber durchwirkt ist«, sagte Molly. Er starrte sie an. »Hast du dich jemals nach deiner Seele gesehnt?«, wollte sie wissen. 442 Baanraak blieb lange Zeit still. Dann wandte er den Blick von ihr ab und starrte auf die mit Pflanzen übersäten Ebenen. »In letzter Zeit habe ich meine Mutter vermisst«, sagte er endlich. »Sie ist gestorben, als meine Welt starb. Und ich weiß, dass ich sie ... im Jenseits ... finden würde, wenn ich nur dorthin gelangen könnte. Aber ohne Seele ...« Er holte tief Luft, dann fuhr er fort: »Ja. Ich habe mich nach meiner Seele gesehnt.« »Wir können uns unsere Seelen verdienen«, antwortete Molly, und als sie auf die Welt blickte, die er geschaffen hatte, glaubte sie, einen Weg zu wissen, wie es ihnen vielleicht gelingen würde. »Wir könnten Unsterbliche werden - wir könnten an dem festhalten, was von uns noch übrig ist, und darauf aufbauen. Wir könnten die Nachtwache jagen und vernichten, denn niemand sonst könnte sie aufspüren, so wie es uns möglich wäre. Aber vielleicht können wir außerdem auch Dinge erschaffen. Vielleicht können wir Kräfte für das Leben sein ebenso wie für den Tod.« Er sah sie an, und seine Augen wirkten fremd und erschreckend. »Vielleicht bin ich ja voreilig, wenn ich >wir< sage. Vielleicht ... ich dachte, da du mich gesucht und hierher gebracht hast, da du mich geheilt hast...« Er griff nach ihrer Hand. »Vom ersten Augenblick an, als unsere Geister sich berührten, wusste ich, dass du Veränderungen in mein Leben bringen würdest. Ich spürte etwas in dir, das mir Grund zu hoffen gab - und Hoffnung ist etwas, von dem ich mich vor langer Zeit abgewandt habe.« Er lächelte schwach. »Jetzt kann ich mir vorstellen, dass diese Hoffnung vielleicht zu mehr werden könnte. Dass sie vielleicht Realität werden könnte.« »Würdest du an meiner Seite kämpfen? Würdest du das versuchen?« »Es wird wehtun. Der Schmerz, mit dem die Unsterbli443 chen leben, übersteigt alles, was du je kennen gelernt hast. Und wir würden überdies noch den Schmerz der Lebensmagie ertragen müssen, da wir im Grunde unseres Wesens tot sind.« »Ich weiß«, sagte Molly. »Aber ich fürchte den Schmerz nicht. Nur die Selbstauflösung.« »Ich werde an deiner Seite kämpfen. Ich werde an deiner Seite Leben schaffen. Wenn wir uns keine Seele verdienen, dann wird es nicht daran liegen, dass wir es nicht versucht haben.« Molly lächelte. Und dann lachte sie leise. »Was werden wir sein, Baanraak? Werden wir alte Götter sein? Werden wir dunkle Götter sein?« Baanraak grinste. »Wir werden die Götter sein, die die Nachtwache zu Fall bringen. Welchen Namen es dafür auch geben mag - das ist es, was wir sein werden.« »Oh«, sagte Molly. »Wir werden Helden sein.« Baanraak stand auf und blickte zu der untergehenden Sonne hinüber. »Geh und sag es deiner Schwester, ja? Ansonsten befürchte ich, dass sie und diese Horde von Unsterblichen mich mit schwerem Geschütz und schwerer Magie verfolgen und versuchen werden, mich zu Staub zu zermalmen. Und ich habe seit sehr langer Zeit keine Chance mehr gehabt, ein Held zu sein. Ich glaube, die Idee gefällt mir.« Cat Creek Nach wahrer Wikingertradition schickten die neuen Unsterblichen June Bug auf einem wunderschönen, brennenden Langschiff aufs Meer hinaus, eingehüllt in ihre schönsten Kleider und zusammen mit ihrem silbernen Schwert und dem silbernen Schild. 444 Die neuen Unsterblichen waren Darlene und Betty Kay, Eric und Mayhem, und an ihrer Seite Molly, die dunkle Göttin, die jetzt ebenfalls unsterblich war. In ihren Augen stand Schmerz, aber eine Aura der Hoffnung umgab sie, und sie hielt Baanraak an der Hand - den ersten der Baanraaks, den einzigen, der die Last der Unsterblichkeit geschultert hatte, und der für den Augenblick ein menschliches Antlitz trug. Auch George war gekommen, um June Bug zu verabschieden. Neben ihm standen Lauren und Jake. Sie mussten ihr Wikingerbegräbnis in der grünen Welt abhalten, die Lauren entdeckt hatte, denn sie
befürchteten, dass sie auf einem Planeten, der der Erde näher war, Aufmerksamkeit erregen würden. Aber sie wollten ihr ein Begräbnis, wie es einer Heldin zukam, nicht verwehren. Als das Schiff am Horizont verschwand und selbst die letzten Flammen außer Sicht gerieten, prosteten sie ihr mit silbernen Kelchen zu, und ein jeder von ihnen sprach schweigend einen Trinkspruch, der sie in die Halle der Helden begleiten sollte. Dann sagte Pete: »Möge die Liebe auf der anderen Seite auf dich warten«, und Thor fügte hinzu: »Mögest du Abenteuer finden, die einer Heldin würdig sind.« Darlene wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und murmelte: »Ich wünschte, ich wäre stark genug gewesen, um zu tun, was du getan hast. Und ... ich hoffe, es gibt da drüben Zigarren und niemanden, der sich darüber beschwert, wenn du rauchst.« Einige der Wächter kicherten, und Betty Kay bemerkte: »Ich werde sie vermissen.« Sie blieben noch eine Weile schweigend am Wasser stehen und sahen zu, wie der Rauchfaden am Horizont sich langsam in nichts auflöste. Dann küsste Lauren Pete und übergab ihm Jake, um zum Rand des Wassers hinunterzugehen und hineinzuwaten. 445 Als sie bis zur Hüfte im Meer stand, nahm sie einen Brief aus der Tasche, den sie an Brian geschrieben hatte, und las ihn laut vor. »Ich liebe dich«, las sie. »Und ich werde dich immer lieben. Und eines Tages - vielleicht sogar schon sehr bald werde ich wieder mit dir vereint sein. Du hast mir gesagt, ich sei frei, wieder zu lieben. Jetzt habe ich jemanden gefunden, den ich liebe, und obwohl ich Angst davor habe, wohin diese Liebe mich führen mag und was die Zukunft für mich bereithält, werde ich trotzdem nicht aufgeben. Jake wird dich in seinem Herzen immer als seinen Vater ansehen, und ich werde dich in meinem Herzen für immer als meine erste und größte Liebe bewahren. Gib mir deinen Segen, bis wir uns wiedersehen. Deine Laurie.« Sie schob den Brief in eine Flasche und warf die Flasche hinaus in die Wellen. Dann drehte sie sich wieder zu ihren Freunden um, zu ihren Gefährten, zu den Menschen, die an sie glaubten und die jetzt am Ufer standen und sie beobachteten. Unter ihnen war ihr bester Freund und ihre neue Liebe, Pete. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie lächelte ihn an, und er und Jake winkten ihr zu. Sie wandte sich wieder zum Meer um, dorthin, wo June Bug verschwunden war. Ich werde es wagen zu leben, versprach sie sich. Ich werde es wagen zu lieben und wagen zu kämpfen, damit mein Leben, wenn ich sterbe, ein Zeugnis der Veränderungen ist, die ich durchgemacht habe, statt nur von den Chancen zu künden, die ich aus Furcht nicht genutzt habe. Und sie flüsterte: »Danke, June Bug. Geh und finde dein Glück. Es wartet auf dich. Ich weiß es.« Dann watete sie langsam zurück ans Ufer. Danksagung Mein Dank gilt dem Blitzkorrekturteam und der Crew der Tiefpflügen Dem Blitzkorrekturteam ist es gelungen, mit Schwung und Energie in Lichtgeschwindigkeit eine erstaunliche Anzahl von Tipp-, Rechtschreib- und Sinnfehlern aufzuspüren. Sheila Kelly, Kay House, James Milton, Jim und Valerie Mills, Linda Sprinkle sowie Lazette und Russ Gifford haben innerhalb von drei Tagen zusammen 497 von mir übersehene Fehler gefunden und säuberlich in datenbanksortierbarer Form aufgeführt. Einige der Ergebnisse hatte ich bereits nach Stunden. Eure Anmerkungen waren brillant, eure Augen scharf, und ich bin euch sehr dankbar. Ihr wart wundervoll. Die Crew der Tiefpflüger hat sich lange und gründlich mit dem Text beschäftigt, sich auf das Thema und die Story eingelassen, herausgefunden, wo beides nicht ganz zusammenpasste, und mir die Erkenntnisse dazu klar und freundlich vermittelt. Die Tiefpflüger haben präzise Fragen gestellt und nützliche Vorschläge gemacht noch einmal Sheila Kelly, dann B. J. Steves, Joshua Johnston, Krista Heiser, Jinx Kimmer und David Stone. Ihr habt mich dazu gebracht, noch schärfer über die Story und das Thema nachzudenken, mir genau zu überlegen, worauf ich mit der Geschichte hinauswollte und wie ich das, was ich beabsichtigte, am besten erreichte. Wenn eure Fragen nach allen Durchsichten und Überarbeitungen immer noch nicht beantwortet sind, so trage allein ich die Schuld daran. Vielen, vielen Dank für eure Hilfe - sie hat wirklich Welten bewegt.