Ulrich Hoffmann
Grönemeyer Biografie
Hoffmann und Campe
1.Auflage 2003 Copyright © 2003 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg ISBN 3-455-09414-7
Für Uwe Peters 1934 – 2002 Du fehlst
Ein Held ganz oben Herbert Grönemeyer auf dem Gipfel des Erfolgs - und wie er damit umgeht
Herbert Grönemeyer sagt, dass ihm die Lieder manchmal erst später erzählen, wie es ihm ging, wie es um ihn stand und was ihn beschäftigte, als er sie schrieb. Gerade die Lieder auf seinem bislang erfolgreichsten Album »Mensch« mittlerweile dem bestverkauften deutschprachigen Album überhaupt - lassen seine privatesten Gefühle Musik werden. Und doch sind sie gleichzeitig allgemein gültig und -verständlich, nicht auf das Einzelschicksal begrenzt. Vielleicht ist es das, was den Schnittpunkt zwischen Kunst und Kommerzialität ausmacht: präzise genug für das Individuum, zugleich breit und offen genug für alle Zuhörer. Jeder kann sich in diesen Liedern suchen, jeder kann sich in ihnen finden. Was dabei fast übersehen wurde, ist die Qualität von Musik und Produktion: »Mensch« ist die ambitionierteste, kraftvollste, internationalste und schlicht beste Produktion Grönemeyers bislang. Wahrgenommen wird er in Deutschland vor allem durch seine Texte. Doch sie sind nicht der Mittelpunkt des Werkes: Grönemeyer selbst könnte auch gut auf sie verzichten, ihm genügen die Songs als solche. Entsprechend entstehen seine Stücke: Erst komponiert er die Musik, dann spielt er sie mit der Band vollständig ein (wobei er englische Unsinnstexte singt), und ganz am Schluss - unter Abgabedruck - schreibt er mehrere Texte pro Song, entscheidet sich schließlich für einen. Um zu verstehen, welche Einflüsse aus Kindheit und Jugend sich heute noch in Grönemeyers Werk und Arbeitsweise abzeichnen, welche Grundsätze sein Handeln und Auftreten
durchgängig bestimmen, muss man sich einige Meilensteine seiner Karriere vergegenwärtigen. Herbert Grönemeyer spielte in der Schulzeit leidenschaftlich Fußball, sang aber auch im Chor - nicht nur in seiner Schule, sondern als »Leihstimme« auch im Chor einer benachbarten Mädchenschule. Das hohe Leistungsniveau hielt an, nach dem Abitur begann er ein Doppelstudium (Jura, »damit mich im Leben niemand übers Ohr hauen kann«, und Musik) und wurde parallel musikalischer Leiter am Schauspielhaus Bochum, wo er zudem noch auf der Bühne stand. Die ersten deutschsprachigen Alben floppten, aber »Gröni« biss sich durch: 1983 landete er seinen ersten Airplay-Hit, 1984 folgte mit »Männer« der endgültige Durchbruch. In den folgenden Jahren erfand er sich - vor allem mit den Alben »Chaos« und »Bleibt alles anders« - immer wieder neu, erweiterte die Grenzen deutschsprachiger Rockmusik (ein Wunsch, der sich bereits auf den ersten Alben andeutete). Wie kaum ein anderer deutscher Star hielt er sein Privatleben aus den Schlagzeilen heraus, und selbst als seine Frau Anna starb, reagierte die Presse überraschend respekt- und rücksichtsvoll. Deutschland fühlte mit, Grönemeyer zog sich mit seinen Kindern zurück nach London - und erschuf sein vorläufiges Meisterwerk, »Mensch«. Doch viele wichtige Ingredienzen, aus denen dieses Album und diese Karriere bestehen, finden sich bereits in den frühen Jahren des Künstlers. Musikalische und textliche Motive datieren teilweise aus den frühen Jahren und reichen bis hinein in die »Mensch«-Tournee. Dass »Mensch« ein solcher Erfolg werden würde, hat wohl niemand erwartet, auch nicht Grönemeyer: »Leute, ich glaube, ich habe eine gute Platte gemacht. Ob die sich verkauft, weiß ich nicht«, sagte er, als er bei seiner Plattenfirma Capitol (vorher Emi Electrola) das neue Werk vorspielte. Der Erfolg überwältigte ihn. »Ich bin einiges gewohnt, hab schon einiges miterlebt, auch in der Erfolgsbeziehung, aber es ist sicher eine Dimension, die man erst mal sacken lassen und in Relation setzen muss«, erklärte er mittlerweile.
Für Grönemeyer zeichneten sich die Jahre 2002/2003 nicht nur durch berufliche, sondern auch durch private Erfolge aus: »Ich denke, ich bin wieder auf dem Weg nach vorne. Ich habe stark im Moment gehangen und mich sehr stark auch nach hinten bewegt. Ich denke, dass ich jetzt wieder nach vorne gucke. Ich bin zuversichtlich, und alles riecht wieder besser und schmeckt wieder besser, wobei ich akzeptiere, dass es eine Farbe gibt, die immer dableiben wird, die ich versuche immer mitzunehmen und bei mir zu behalten. Die Farbe hat keine Farbe, das ist keine Farbe, die kann man auch nicht beschreiben. Das ist einfach eine neue Farbe, die ich bis dahin nicht kannte, aber die auf der anderen Seite auch etwas Beruhigendes hat. Es ist ja ein Mensch, der nach wie vor bei mir ist, aber weil er in dem Sinne nicht mehr da ist, hat es auch etwas sehr, sehr Bleiernes. Es ist eine bleierne Farbe.« Grönemeyers Naturell bricht durch, er sieht die Welt nach dem Tod seiner Frau wieder positiv(er), das Glas ist - wie meist in seinem Leben - halb voll und nicht halb leer. Einen ähnlichen Gedanken formuliert er selbst in dem Liebeslied »Der Weg«: »Ich bin viel zu träge / um aufzugeben / es wäre auch zu früh / weil immer was geht (...) Ich gehe nicht weg / hab meine Frist verlängert / neue Zeitreise / unbekannte Welt«.
Der lange Weg
Die Grundsteine des Mythos' Grönemeyer Geboren wurde Herbert Grönemeyer am 12. April 1956, einem Donnerstag, in Göttingen. Er ist mittlerweile 180 Zentimeter groß und wiegt »80 bis 86 Kilo, wenn's gut geht, leider mehr«. Als Hobbys gibt er an: Duschen, Föhnen, Freunde treffen. Besondere Kennzeichen: »Grübchen am Kinn und ziemlich laute Stimme«. Also ein scheinbar unspektakulärer, ganz normaler Mann. Ein Herbert eben; und »so heißt kein Star«, fand zumindest der »stern« zu Beginn von Grönemeyers Karriere. »Herbert. Das klingt nach Kumpel und Currywurst, nach Opel Rekord und Blumenvase am Armaturenbrett. Der Name ist aufregend wie Selterswasser. Er passt zu Menschen, die man sofort beim Vornamen nennt«, maulten die Kritiker. Aber: »Grönemeyer ist so einer.« Und als er dann »im >Holiday Inn< in Kassel ankommt, liegt ein Brief in seinem Zimmer: >Wir sind drei Mädchen und arbeiten hier in der Waschküche. Besuch uns doch mal.< Und Grönemeyer geht in den Keller. Das ist das Phänomen. Herbert. So heißt ein Star.« Ja, so heißt ein Star eben doch und gegen alle Widrigkeiten. Grönemeyer ist ein Herbert zum Anfassen und zugleich einer zum Aufschauen, der übergroße Normalbürger. Auch eine »stern«-Leserin sah das so: »>Herbert, so heißt kein Star.< Ich meine, dass der Name sehr wohl zu ihm passt. Herbert ist ein alter germanischer Name und bedeutet >Der im Heer Glänzende<. Der gebildete Herbert Grönemeyer hat das sicher gewusst. Sonst hätte er sich vielleicht einen klangvolleren Künstlernamen zugelegt.« Wobei Grönemeyer selbst zugibt: »Ich wundere mich immer, wenn jemand Herbert heißt, und denke: Wie kann man nur so heißen.«
Grönemeyer ist ein Star, den seine Fans verteidigen, auch wenn manche finden: »Grönemeyer spielt sehr gut, textet gut, komponiert gut, interpretiert gut und überzeugt auch ganz gut. Aber eines kann er leider nicht: singen!« Dieser Leserbrief von 1986 bringt die Sache fast schon auf den Punkt: Grönemeyer überzeugte schon immer eher durch Power und Auftreten - durch die Summe seiner Fähigkeiten - als durch Glanzleistungen in einem einzelnen Bereich. Als »Grölemeister« bezeichneten ihn manche gar. Andere waren der Meinung, er könne sehr wohl singen, wenn auch vielleicht eben ganz anders als die anderen. Entscheidend aber ist: Grönemeyers Erfolg basiert nicht allein auf seiner zuckersüßen, engelsgleichen Schmachtstimme, nicht auf seinem Boyband-Äußeren, nicht auf seinen unwiderstehlichen Live-Performances, nicht auf seinen Texten oder Melodien. Sondern darauf, dass er mit viel Zeit, Mühe, Konzentration und letztlich auch Liebe daraus ein Paket geschnürt, ein Gesamtkunstwerk geschaffen hat. Kunst ist ein Bereich, in dem wir uns die Aufgaben selbst stellen, und er hat sich seine gestellt und bislang auch erfüllt. Der große Erfolg stellte sich bei ihm nicht - wie es so oft heißt - mit Eigenkompositionen oder (eigenen) deutschen Texten ein. Der scheinbare Über-Nacht-Erfolg stellte sich ein, als Grönemeyer sich selbst zu produzieren begann, als er die Zügel in die Hand nahm. Aber wie kam es überhaupt dazu, dass ein Junge aus gutem, mittelständischem Hause sich anschickte, ein Sänger zu werden? Das war schließlich damals - Ende der siebziger Jahre - kein Hit-Thema für Fernsehshows, sondern wurde eher als unnütz angesehen. Um also den Erfolg Grönemeyers zu verstehen, um die Entwicklung »von Gestern bis Mensch« (so das Motto der Tour zum Album »Mensch«) nachvollziehen zu können,
um zu erahnen, wie hart Herbert Grönemeyer für diesen künstlerischen Meilenstein gearbeitet hat, lohnt es sich zurückzudenken. »Ich bin in Göttingen nur geboren, weil meine Mutter immer ohnmächtig wurde, als sie mit mir schwanger war, wenn sie sich auf die linke Seite drehte. Das glaubte ihr keiner, und es gab in Göttingen einen Professor, Professor Martius - der war Spezialist, und der glaubte das auch nicht. Dann hat sie sich hingelegt und ist ohnmächtig geworden, und der hat mich dann zur Welt gebracht«, erklärt Grönemeyer. »Ich bin mit einem halben Jahr nach Bochum gekommen und fühle mich eher als Kind des Ruhrgebiets.« Herbert Arthur Wiglev Clamor Grönemeyer - wie er mit vollem Namen heißt - wuchs also in Bochum auf. »Umso länger der Name, umso schöner das Kind«, fand seine Mutter. Und der Name passt tatsächlich: Clamor heißt »Geschrei« auf Westfälisch. Zudem stammt seine Mutter aus Reval, »da ist Wiglev gebräuchlich«, und ein Onkel hieß auch so. Eigentlich sollte er sowieso »ein Mädchen werden und Friederike heißen, aber ich bin Herbert geworden«. Die Menschen in Bochum sind spröde, aber wenn sie erst einmal auftauen, nimmt ihr Verhalten angeblich geradezu sizilianische Züge an. Grönemeyer findet gar: »Bochum hat etwas Leichtfüßiges, Verschmitztes.« Und doch ist Bochum - einerseits »tief im Westen« gelegen, wie Grönemeyer selbst singen sollte (und noch heute heißt eine WDR-Radiosendung so), vor allem aber tief im Herzen des Molochs Ruhrgebiet - kaum mehr als eine Kleinstadt mit großen Ambitionen. Mit Bochum verhält es sich ähnlich wie mit Münster, Göttingen, Osnabrück: Dort gibt es keine Stars, dorther kommen Stars. Vielleicht ist es gerade das kleinstädtische Ambiente, das sie über den Tellerrand schauen lässt, vielleicht treibt sie der Wunsch an, hinauszukommen in die Welt? Der kleine Junge Herbert jedenfalls durchlebte eine unbeschwerte Kindheit:
»Wir waren drei Jungs zu Hause, mit meinem Vater vier, wir hatten eine große Clique, man hat viel miteinander un ternommen, ich bin sehr streng großgezogen worden, aber grundsätzlich hatte es etwas Heiteres, Verspieltes. Die Straße, wo ich groß geworden bin, da spielten wir mit vier oder fünf Jahren Olympiade und Marathonlauf.« Außerdem spielten die Kinder in den »Trümmern«: »Also, wir nannten das die Trümmer. Das waren die Ruinen, die übrig geblieben waren, weil das Ruhrgebiet ja extrem zerschossen war. Und ich bin groß geworden in einer Straße, wo Häuser noch komplett in Schutt und Asche lagen, selbst Ende der Fünfziger noch.« Zwar musste Herbert oftmals die Sachen seiner Brüder auftragen, statt in neuen Levi's zur Schule zu gehen. Aber letztlich stärkte das wohl eher das Wir-Gefühl, und zugleich lehrte es ihn, mit wenig auszukommen und nicht darauf zu warten, dass ihm gebratene Hähnchen in den Mund fliegen. »Vater Ingenieur, die Mutter Hausfrau«, beschreibt Grönemeyer seine Herkunft. »Ein typisches bürgerliches Elternhaus. Bürgerlich bedeutet Bildungsbürgertum. Reich waren wir nicht.« Der Vater »eher ein Linksliberaler. Also mit Willy Brandt und Helmut Schmidt kam er ganz gut klar, aber mit meinen Brüdern gab es harte Auseinandersetzungen. Die waren älter als ich und so richtig drauf, haben sich am Küchentisch immer über KPD/ML und KBW gestritten. Durch die Beobachtung meiner Brüder und die Auseinandersetzung mit ihnen und dem, was an der Schule, an der Uni stattfand, habe ich viel mitbekommen. Also bei den Demos, Nulltarif und Vietnam, da war ich mit dreizehn schon immer dabei. Ich habe damals schon meine Musik gemacht, auch bei Demonstrationen gespielt. Aber als besonders politisiert würde ich mich nicht bezeichnen. Ich habe nie was davon gehalten, sich als Student vor Opel hinzustellen und den Arbeitern Vorträge über Marx zu halten. Das ist doch ein falscher Zugang. Wenn man Leute politisch beeinflussen will, muss man doch auch versuchen, eine geeignete Form zu finden, mit der man an die rankommt.« Das gelang ihm später mit leicht
verständlichen Politsongs á la »Lächeln«, »Kinder an die Macht« oder auch »Mit Gott«. Grönemeyer war ein musikalischer Frühstarter, und er liebte - bei allen Erfolgen am Theater und auf der Bühne stets die Musik mehr als die Schauspielerei: »Mein Traum war immer, dass die Leute sagen, da ist einer, der heißt Grönemeyer, und der macht Musik.« Später präzisierte er: »Ich will irgendwann mal als Künstler gelten, der für sein Land steht und der dafür respektiert wird, was er singt und sagt. So wie es heute Bruce Springsteen in den USA ist oder Charles Aznavour in Frankreich oder Jacques Brel in Belgien. Die haben sich alle immer weiterentwickelt. Wenn ich merke, dass sich bei mir nichts mehr tut, dann finde ich mich selbst langweilig. Dann mag ich mich nicht mehr - und dann fühle ich mich auch nicht mehr sexy.« Mit fünf bekam Grönemeyer eine viersaitige Ukulele, mit acht - wie schon zuvor seine Brüder - Klavierunterricht, später sang er in mehreren Chören. Und bereits vor dem Schulabschluss arbeitete er als Sänger und Pianist am Schauspielhaus Bochum. Erstaunlicherweise gibt es dennoch in der Familie Grönemeyer keine bemerkenswert musikalischen Vorfahren. Mutter und Tanten sangen dem kleinen Herbert und seinen beiden älteren Brüdern zwar dreistimmig Gutenachtlieder vor, sonst gab es jedoch »nirgendwo Musiker. Aber meine Familie mütterlicherseits war sehr musisch. Mein Großvater spielte Cello, meine Großmutter hatte Gesangsunterricht und spielte Geige. Und mein Vater konnte sehr laut singen.« Überhaupt, der Vater! Er besuchte im Münsterland eine katholische Mädchenschule, »was er aber wohl nicht so schlimm fand, glaube ich«. Er erzog streng, aber fair. Und wurde - wie jeder gute Vater - zum ersten großen Vorbild seines Sohnes. »Mein Vater hat so eine Genügsamkeit. Er ruht so westfälisch, stoisch in sich und ist irgendwie mit sich zufrieden, obwohl er kein leichtes Leben hatte«, sagt Grönemeyer heute. Sehr beeindruckt hat ihn auch die konsequente Förderung seines musikalischen Talents: »Ich wollte zum Beispiel mit dreizehn aufhören, Klavier zu
spielen. Ich war sauer auf die ewige Überei, auf die Technik. Ich fand sie lähmend. Und da schenkte mir mein Vater einen Flügel. Das ist ihm sicher schwer gefallen, weil das eine große Anschaffung war für einen Bergbauingenieur mit drei Söhnen.« Insgesamt fand er seinen Vater »geradlinig, er war in seiner Sturheit und seiner Ungerechtigkeit offen, er war nie link und hat sich nie vor uns gestellt, als wäre er was Besseres oder wir müssten erst mal an ihm vorbei, sondern er hat uns immer die Wege offen gelassen. War extrem streng, aber eine Frohnatur. Meine Mutter ist eher preußisch. Mein Großvater war Erzieher am preußischen Hof, der hat also sozusagen die Kadetten am Hof mit der Peitsche erzogen. Auf der anderen Seite ist meine Mutter sehr musisch. Mein Großvater hat Cello gespielt, meine Großmutter war Sängerin. Ich bin zwischen Liebe, musischer Zuneigung und Strenge groß geworden. Also, es war ein ziemliches Spannungsfeld zwischen preußischer Zuneigung, väterlicher Frohnatur und auch ziemlicher Strenge.« Er relativiert schnell: »Es war extrem streng auf der einen Seite, und auf der anderen Seite haben meine Eltern uns auch leben lassen. Wir wurden strikt erzogen mit Manieren am Tisch und so und so lange hinterm Stuhl stehen, und man redet am besten auch nicht, wenn Erwachsene reden. Das war am Anfang so. Aber es endete damit, also, ich hatte meine Band. Wir waren bei uns zu Hause, haben da aufgebaut und konnten jede Freundin mit nach Hause bringen, die wir wollten. Das war so eine ganz eigentümliche Mischung aus Strenge und ziemlicher Offenheit.« Das Wort »Strenge« kommt in Grönemeyers Beschreibung seiner Kindheit auf alle Fälle häufig vor - nahe liegende Ursache vielleicht für seine spätere Strenge sich selbst gegenüber, die es ihm erlaubte, trotz großer Widerstände Karriere zu machen, sich musikalisch immer wieder neu zu erfinden, sich nach dem Tod seiner Frau diszipliniert um die Kinder zu kümmern, sich aufzubauen, wieder ins Studio zu gehen.
Lehrer Paul Fernkorn (Kunst, Deutsch, Englisch) erinnert sich:»Die Eltern waren - für alle drei GrönemeyerSöhne bei uns - im guten Sinne schulfreundlich und interessiert. Sie kamen gern auch zusammen zu Elternsprechtagen und Lehrersprechstunden. Das Elternhaus bot also ganz glückliche, ganz solide Voraussetzungen. Die Eltern gaben sich eben auch nicht mit Halbheiten zufrieden. Der Vater verlangte ihnen auch mit einer gewissen Strenge etwas ab, was vielleicht auch zu Widerspruch provozierte.« Was der Vater von den Söhnen verlangte, lebte er selbst auch: Er arbeitete lange als Bergbauingenieur, übte bis siebzig eine Beratertätigkeit aus. Da die beiden älteren Brüder Dietrich und Wilhelm später engagierte Achtundsechziger - bereits das angesehene »Staatliche Gymnasium« besuchten, schickten die Grönemeyers ihren jüngsten ebenfalls dorthin. Die Schule bestand damals nur aus einem imposanten, dreistöckigen Bau aus gelben Ziegeln; zum Ende von Grönemeyers Schulzeit hin wurde ein umfangreicher Neubau angefügt. Grönemeyer erinnert sich gern an seine Jugend und die frühen Jahre am Theater und im Plattenstudio: »Ich komme aus einem bürgerlichen Elternhaus, wo man auf materielle Dinge wenig Wert legte und mehr darauf achtete, die Kinder seelisch gut auszurüsten«, sagt er. Die Eltern hatten sich an den älteren Brüdern schon die Hörner abgestoßen; »ich hatte eine schöne Jugend. Meine älteren Brüder haben alles Nötige vorgefochten, und ich konnte mir in Ruhe alles anschauen und das Beste raussuchen. Dadurch habe ich mir mein sonniges Gemüt länger erhalten und konnte Rückschläge besser wegdrücken als andere. Denn in meiner ersten Zeit am Bochumer Schauspielhaus war ich für die Kritiker nur ein Alptraumschauspieler, den man von der Bühne jagen sollte. Zadek vor allem, mit dem ich viel gemacht habe, hat zu mir gehalten und gesagt: Das schaffst du schon. Das ist die Art von Zuwendung, die ein Schauspieler braucht. Und auf meinen Erfolg als Sänger
habe ich fast zehn Jahre gewartet.« Trotzdem: »Ich würde meine Jugend als Auftanken fürs ganze Leben bezeichnen. Ich hatte eine volle Batterie, und ich habe davon lange gezehrt. Im Erwachsenenleben musste ich mir dann allerdings alles sehr hart erarbeiten. Aber ich habe in meiner Kindheit gelernt, dass es sich lohnt zu leben.« Kindheit, Jugend, erste Liebe: Das alles lief bei Grönemeyer wie bei jedem anderen auch. Seine erste Liebe »war ein Mädchen in Holland. Sie hieß Yvonne. Da war ich zehn Jahre alt, und sie war bildschön. Sie hatte wunderschöne, lockige Haare. Ich spielte immer Gitarre, um ihr zu imponieren. Und sie hat mir, nachdem ich sie bedrängt hatte, eine Locke geschenkt. Die habe ich mir dann ins Portemonnaie getan.« Seine erste richtige Freundin »war Französin und hieß Josette. Das war in der Bretagne. Ich war dreizehn, und sie war sechzehn. Das war die erste Liebe, in der Körperlichkeit - in Form von Küssen - eine Rolle spielte.« Grönemeyer spielte in jenem Urlaub »den ganzen Tag am Strand Fußball. Irgendwann hakte sich Josette bei mir unter. Dann haben wir uns verliebt. Und es war sehr, sehr schön.« Allerdings wortkarg: »Das Problem war, wir konnten nicht sprechen, weil sie kein Englisch sprach und ich kein Französisch. Ich wusste nicht, wie man küsst, hab immer den Mund tierisch aufgerissen. Also, wir haben nicht viel geredet, aber wir haben uns sehr gemocht.« Inspiration vielleicht für den Song »Josie«, den Grönemeyer auf seiner ersten LP sang: »Der Abend kam / das Wasser war noch warm / der Strand hat uns allein gehört / ganz ungestört«. Schon in jungen Jahren erlebte Grönemeyer die Liebe anders - lyrischer, intensiver, emotionaler - als die meisten anderen Jungs, denen es oft nur um das Freilegen spezifischer Körperteile geht, um dann vor den Freunden damit anzugeben. Grönemeyer hingegen erinnert sich an »die Leichtigkeit - nicht Leichtfertigkeit. Es war so leichtfüßig und abenteuerlich. Ich kann das noch genau beschreiben, auch das Gefühl - ein Gefühl von
ungeheurem Glück. Sie war sehr schön anzufassen. Das bleibt und geht nie wieder weg.« Herbert Grönemeyers Jahrgang war sehr groß; bis zu 1300 Schüler besuchten das »Staatliche Gymnasium« die Schule platzte aus allen Nähten, zumal sie gerade auch für Mädchen geöffnet worden war. Deshalb entstand in Grönemeyers Schulzeit ein Anbau, der heute etwa zwei Drittel des Schulgeländes einnimmt. Zudem wurde die Schule 1974 - direkt vor Herberts Abitur - noch umbenannt. Bis zu diesem Zeitpunkt war der erste Schulträger der Staat gewesen, daher der Name. Nun wurde die Schule städtisch. Nach langen Diskussionen (unter anderem war »Bert Brecht Schule« im Gespräch) wurde die Schule schlicht »Gymnasium am Ostring« (kurz: GaO) genannt. Das »Staatliche Gymnasium« war altsprachlich orientiert: Erst bekamen die Kinder Latein, dann Englisch, schließlich standen noch Griechisch oder Französisch zur Wahl. Mitte der Siebziger war Griechisch noch sehr gefragt, denn viele Eltern gerade aus dem Universitätsbereich schätzten dieses Angebot. Sehr viele Kinder wählten die Kombination Latein/Griechisch. Herbert kam in eine Klasse mit Claude-Oliver Rudolph, der später ebenfalls Schauspieler wurde. Rudolphs Eltern besaßen ein Pelzgeschäft, und der damals schmächtige Sohn musste manchmal im Pelz zur Schule gehen. Claude-Olivers Mutter war ganz begeistert von dem netten Klassenkameraden ihres Sohnes: »Die Grönemeyer-Buben waschen zu Hause ab, nimm dir da mal ein Beispiel dran«, mahnte sie ihren Jungen. Auch andere Hausarbeiten führte Grönemeyer kompetent durch: »Ich mache alles im Haushalt«, berichtete er Jahre später, als es um seine Beziehung zu Anna ging, »ich mache Betten, wasche Teller ab, sauge Teppiche. Ich habe das in meinem Elternhaus gelernt. Die Söhne mussten alles tun.« Sogar »nähen und kochen. Mir kommen solche Arbeiten dabei nicht typisch fraulich vor.« Pünktlich und gut gelaunt erschien der kleine Herbert morgens zur ersten Stunde: »Fatalerweise war ich schon
immer ein extrem guter Frühaufsteher«, berichtet er selbstironisch. »Dass ich jeden Morgen unheimlich fröhlich in die Schule kam, ging meinen Mitschülern tierisch auf die Nerven. Wenn die mich sahen, hieß es: >O Gott, da kommt dieser Grönemeyer!< Meine El tern dachten, ich wäre nicht ganz normal, weil ich fast nur gelacht habe.« Ja, »ich war drei Jahre alt, da haben mich meine Eltern zum Therapeuten schicken wollen, weil ich immer so beängstigend fröhlich war. Die machten sich Sorgen, dass ich einen an der Waffel habe. Diese wohl etwas grundlose Lebensfreude habe ich von meinem Vater.« Natürlich fiel der kluge, freundliche Rotschopf bald auch den Lehrern positiv auf. Sein erster Klassenlehrer Theodor Zeyen erinnert sich: »Das erste Mal bin ich Herbert begegnet, da ich seinen Bruder Wilhelm im Sport unterrichtete, der fragte, ob er seinen kleinen Bruder mitbringen dürfte. Das tat er, und dann lief so ein kleiner Zwerg zwischen unseren Füßen herum. Wir mussten damals noch auf dem Schulhof spielen. Zwei Jahre später kam Herbert auf unsere Schule, ich war sein erster Klassenlehrer und unterrichtete ihn in Latein. Er war ein liebenswertes kleines Kerlchen, ein ausgesprochen guter Schüler, aus meiner Sicht. Ich habe ihn vier Jahre unterrichtet, er war einer meiner besten Schüler. Später habe ich nur mitbekommen, wie er mit Claude-Oliver Rudolph ans Theater ging, Claude-Oliver hat mit den Schauspielern die Kampfszenen trainiert, Herbert war für die Musik zuständig.« Rudolph berichtet seinerseits: .Zadek war Intendant und hat alles geholt, was Rang und Namen hatte. Deshalb war Theater für uns OberprimaSchüler unheimlich spannend.« Grönemeyer und er hätten sich einfach irgendwie »da reingewuselt«. Die Lehrer mochten Grönemeyer, und der hatte seinerseits an der Schule auch nicht viel auszusetzen, denn »wir waren ganz gut«. Außer im Deutschunterricht. Auch das ist typisch: Viele Kinder haben die größten Schwierigkeiten gerade in jenen Fächern, in denen sie später überzeugen oder gar Karriere machen.
Grönemeyer: »Ich wurde in Deutsch immer schlechter, denn unser Deutschlehrer war eine absolute Nervensäge, und ich schrieb auch ziemlichen Mist.« Aber da dank der Oberstufenreform die Arbeiten öffentlich diskutiert wurden, stand Kumpel Claude-Oliver Rudolph auf und behauptete: »Ich fand das sehr stark, sprachlich sehr rund.« Darüber kann Grönemeyer heute noch lachen. Der Deutschunterricht hatte jedoch tatsächlich nicht die gewünschten Folgen beim Schüler Grönemeyer: »Mir sind Brecht, Böll, Grass und Lenz durch den Deutschunterricht in der Schule vergällt worden. Ich erinnere mich nur noch an die grauenvollen, kleinkarierten Analysen, an das ganze Geschwafel, wie jetzt wer was gemeint hat«, berichtet er. Doch »dabei wird vergessen, dass auch Künstler ganz normale, manchmal vulgäre Menschen mit schlechten Angewohnheiten sind. Schumann beispielsweise hat Musik geschrieben, weil es ihm Spaß gemacht hat, nicht weil er Akademiker beeindrucken wollte.« Imponiert habe ihm damals nur Jim Morrison von den Doors: »Seine Stimme, seine Musik, und dann diese Anarchie, die der hatte. Der sang um sein Leben auf der Bühne.« Grönemeyer hängte sich ein Poster des Stars ins Zimmer (neben Che Guevara), wollte so aussehen wie er. »Das ist mir allerdings bis heute nicht gelungen«, gestand er Jahrzehnte später amüsiert. Ausgerechnet in Mathematik war Grönemeyer gut. »Mathe: eins, Deutsch: fünf«, erinnert er sich, denn er fand »dieses ganze Bildungsgeseiere über deutsche Bücher und Texte, den deutschen Bildungskanon, furchtbar. Aber ich war in Mathe sehr, sehr gut, ja. Ich hatte also Leistungskurs Mathe.« Außerdem ließ er sich im Abitur natürlich in Musik prüfen. Irgendwie mussten auch die Klassenarbeiten und Prüfungen überstanden werden. Claude-Oliver Rudolph erinnert sich: »Wir haben zusammen beim Abitur betrogen. Wir mussten einen Vergleich zwischen aristotelischem Theater und epischem Theater anstellen. Und da durften wir ein Suhrkamp-Bändchen aus der Brecht-Reihe mithaben, und die waren aber alle
gleichfarbig. Und meine Mutter hatte die Gesamtausgabe. Ich natürlich nicht faul, hab die ganzen 24 Bände in der Tasche gehabt, und immer wenn die Lehrer wechselten, haben wir uns schnell das neue Buch rausgeholt und haben ellenlange Zitate geschrieben, alles perfekt Brechtmäßig, das war eine der besten Deutscharbeiten, die je an diesem Gymnasium geschrieben wurden.« Doch wichtiger noch als die Prüfungsarbeiten sind ja im Leben jedes Schülers die Nachmittage, die Freizeit, die Klassenfahrten, die Hobbys. Und gerade in diesem Bereich war Grönemeyer schon damals - eben typisch Grönemeyer! Claude-Oliver Rudolph: »Immer wenn wir in die Jugendherberge fuhren, holte der so eine kleine Mandoline raus, kaum dass wir in Bochum in den Bus gestiegen sind, und nervte mit >Morning Has Broken< oder >Blackbird<.« Waren die Kinder erst mal in der Jugendherberge angekommen, so mussten sie reihum abends vor dem Essen ein Gebet sprechen. Herbert ist evangelisch, und Claude sagte ihm vor: »Lieber Gott, wir danken dir für deine Gaben / und alles, was wir von dir haben. Amen.« Amüsiert berichtet Rudolph: »Da sagte der Lehrer: >Das ist aber kurz.< Und ich sag: >Ja, Herr Zeyen, der Herbert ist doch evangelisch.<« Überhaupt hielten die beiden zusammen wie Pech und Schwefel: Als ein großer Junge den kleinen Schülern Bälle wegnahm, kniete sich Herbert hinter ihn, Claude schubste den Übeltäter, »und seitdem haben sie uns in Ruhe gelassen«. Auch den Konfirmandenunterricht durchlief Herbert reibungslos: »Er war der einzige Mitkonfirmand mit langen Haaren, 1971«, erinnert sich Doris Joachim-Storch, heute Pfarrerin in Worms. »Er war nett. Ich glaube, ich war auch die ersten beiden Volksschuljahre mit ihm in einer Klasse (bei über fünfzig Schülern!). Er wirkte kritisch und intellektuell. Ich weiß nicht, was er von den Inhalten des Unterrichtes hielt. Der junge Pastor hat das nicht schlecht gemacht, aber vom Hocker reißend war es auch nicht gerade.«
Wenn man sich Jahre später Grönemeyers Konfirmationsfoto anschaut, ist die Ähnlichkeit mit dem Erwachsenen, der aus diesem Kind wurde, verblüffend. Er trug die rötlichen Haare zwar fast schulterlang, verfügte aber schon über einen herausfordernd-kritischen Blick. Der mittlerweile pensionierte Deutsch-, Englisch- und Kunstlehrer Paul Fernkorn erlebte Herbert Grönemeyer in Vertretungsstunden und erinnert sich ebenfalls an einen interessierten, selbstbewussten, durchsetzungsfähigen Schüler: »Er ist mir vor allem unvergesslich unter einem Gesichtspunkt - was Herbert machte, das machte er mit vollem Einsatz! Da gab es kein Zurück, er brachte sich mit seiner ganzen Person ein. Er spielte auch in unserer Schul-Fußballmannschaft. Da spielte er damals den Libero. Da kriegten andere keine Schnitte! Er spielte wirklich mit ganz hohem Einsatz und in genau der richtigen Rolle, er konnte als Libero ein bisschen dirigieren, und wenn höchste Not war, ging er dazwischen. An einem ziemlich trüben, kalten Tag spielten die Jungen auf einem Platz voller Schlamm. Das war schon eine Zumutung. Aber es gab damals Banner-Wettkämpfe der Schulen in Westfalen gegeneinander. Sein großer Einsatz ging natürlich mit dem Risiko einer Verletzung einher. Er hatte also eine klaffende Wunde an der Stirn und der Lehrer wollte ihn auswechseln. Aber Herbert sagte: >Und ob ich spielen kann!< Und dann spielte er mit vielleicht sogar noch mehr Einsatz. Das galt auch für andere Fächer. Es war sicher auch die Devise der Eltern, die beide verkörperten: Man macht Dinge mit vollem Einsatz - oder überhaupt nicht. Und dass er sich über das rein Schulische hinaus zur Verfügung stellte, fiel mir auch auf. Er sang in Schulkonzerten, bei Festveranstaltungen war er der Solist. Er stellte sich solchen Aufgaben, und das war auch für ihn immer ein Erfolg. Er hatte ja auch schon während seiner Schülerzeit genug Zeit freigemacht, um am Schauspielhaus in dem Beatles-Musical aufzutreten. Andere waren Statisten dort, aber Herbert hatte schon so
auf sich aufmerksam gemacht, durch seine Ausstrahlung und diesen Einsatzwillen und absolute Zuverlässigkeit.« Was den Fußball angeht, so betrachtet Grönemeyer selbst die Zeit auf dem Bolzplatz als Lehre fürs Leben: »Fußball ist mehr als ein Tabellenstand, er ist mehr als Sieg oder Abstieg. Fußball ist für mich der sozialste Sport, den ich kenne, weil elf Leute versuchen müssen, miteinander auszukommen. Wenn es in der Mannschaft Konkurrenzen gibt, dann kann ich der weltbeste Mittelstürmer sein, es nützt mir nichts. Wenn mich der Linksaußen nicht mag, dann fehlen mir seine Bananenflanken. Und Fußball ist im Ruhrgebiet auch gelebte Kultur. Wenn die im Dortmunder Stadion nur den Rasen mähen, gehen da ja schon 30000 Leute hin. Das hat was, das ist Kulturersatz. Mit vier Jahren bin ich das erste Mal auf dem Fußballplatz gewesen. Seitdem hat mich diese Faszination nie mehr losgelassen. Popstar wollte ich nie werden, aber Fußballprofi.« Überhaupt habe er sich als Kind vor allem über seine sportlichen Erfolge definiert, und er spielte neben Fußball auch noch Tennis und Basketball. In der Schule gehörte Herbert Grönemeyer keineswegs zu denjenigen, die durch Mitgliedschaft in der Schülermitverwaltung oder anderweitig dauernd auf sich aufmerksam machten. (»Das höchste Amt, das ich innehatte, war Klassensprecher.«) »Aufgefallen ist er allenfalls durch seine langen rötlichen Haare«, sagt Lehrer Fernkorn. »Er war ein leistungsfähiger, guter Schüler mit breit gefächerten Interessen, aber überhaupt kein Strebertyp. Auch wenn er Kritik äußerte, schlug er nicht über die Stränge. Das habe ich bei anderen Schülern sehr oft erlebt. Schüler wie ihn wünscht man sich.« Grönemeyers Einsatzbereitschaft zeigte sich auch bei außerschulischen Aktivitäten. So sang er sogar aushilfsweise im Mädchenchor der Hildegardisschule Bochum - städtisches Lyzeum für Mädchen. Sylvia Sommerfeld erinnert sich: »Ich habe Anfang/Mitte der Siebziger gemeinsam mit Herbert im Chor gesungen,
denn da ich auf einer reinen Mädchenschule war, fehlten uns zu einem >richtigen Chor< natürlich die Männerstimmen. Unser damaliger Musiklehrer und Leiter des Kammerchores der Hildegardisschule Bochum, Herr Peter Laufenberg, hat sich aufgrund dieser >Misere< erfolgreich an den Nachbarschulen umgeschaut, und Herbie hat uns dann tatkräftig unterstützt - nicht nur mit >Stimme<, sondern auch mit seinem ganz hervorragenden Klavierspiel. Außer unserem Chorleiter und Herbert war nur noch der Vater einer Mitschülerin als Bass-Stimme dabei, Herbert war der alleinige Tenor. Herbert verhielt sich sehr >gesittet< und war mit Eifer dabei, er war ja damals schon mit Leib und Seele Musiker. Wir pubertierenden Mädels haben ihm das Leben allerdings nicht immer leicht gemacht ... ich hätte damals nicht mit ihm tauschen mögen. Kurze Zeit später oder vielleicht war es auch schon währenddessen, das weiß ich heute nicht mehr so genau - wurde er ja auch fürs Bochumer Schauspielhaus engagiert. 1974 spielte er im Musical John, Paul, Ringo, George and Bert< die Rolle des Erzählers Bert. Erst einige Zeit später hatte Herbie dann erste zaghafte Liveauftritte mit seiner Band Ocean, zum Beispiel vor kleinem Publikum in der Mensa der Uni Bochum während des jährlichen Unifestes.« Auch Sylvia Sommerfeld fiel schon damals auf, was die Lehrer ebenfalls bemerkten und lobten: Herbert Grönemeyers gute Erziehung. »Herbert hat mich abends nach der Chorprobe immer zur Bushaltestelle begleitet. Die Hildegardisschule liegt nämlich nicht nur neben dem Planetarium, sondern auch direkt am Bochumer Stadtpark. Und da ich immer so ein >Angsthäschen< war - und Herbert >ganz Gentleman< -, hat er sogar immer gewartet, bis ich in meinen Bus eingestiegen war. Obwohl er in die andere Richtung musste. Wir waren aber kein Paar, nur gute Bekannte. Ach ja, und ich erinnere mich noch genau, dass Herbert immer dunkelblaue Clogs ohne Strümpfe trug, sommers wie winters.« Außerdem liebte er eine rote Samthose und weiße Kuhfellstiefel. Künstler sind eigenwillig. Auch schon in jungen Jahren.
Alles Theater? Zwischen Schauspiel und Musik Herbert Grönemeyer startete noch in der Schulzeit eine der wohl ungewöhnlichsten Karrieren Deutschlands. Bereits mit dreizehn sang er in einer Band im nahen Wattenscheid: Da »gab es eine Band um den Gitarristen Johannes Vogt«, erinnert sich Grönemeyer, »der war viel älter als ich und galt schon damals als einer der besten Flamenco-Gitarristen Deutschlands, und die suchten einen Sänger. Ich war mit meiner Schülerband eine lokale Größe, und wir räumten in den Jugendzentren ab. Ganz im Gegensatz zu heute, wo alle sagen: Der Grönemeyer kann nicht singen, galt ich als guter Sänger.« Grönemeyer selbst betrachtete sich eigentlich als Sänger, wurde dann wie aus Versehen Schauspieler - und brachte es sicher auch aufgrund der Erfolge auf Leinwand und Theaterbühne schlussendlich zum erfolgreichsten deutschen Rockstar. -Ich erinnere mich noch, wie meine Großmutter immer sagte, als ich so zwölf war: >Wenn du bis zum Stimmbruch weiter beim Singen so schreist, ist die Stimme weg.< Und ich schreie immer noch«, erinnert sich Grönemeyer. »Ich hatte meine erste Band mit dreizehn, ich hab mein erstes Geld verdient, da war ich fünfzehn. Ich war schon vor dem Abitur am Theater.« Denn »die Bo-Band am Schauspielhaus suchte einen Sänger, bei denen habe ich angefangen zu singen, dann suchte ein Regisseur einen Pianisten, dem habe ich vorgespielt, und letztlich hat mich Joachim Preen, der Regisseur von >Ekel Alfred, entdeckt. Der inszenierte ein Musical über die Beatles, John, Paul, George, Ringo ... und Bert<. Ich spielte diesen Bert, den Erzähler, und dann hat Peter Zadek mich gesehen.« Das war 1974, ein Jahr vor dem Abi. Grönemeyer berichtet ganz nüchtern über die ersten
Gehversuche als Schauspieler: »Mein Einstand war ein Gitarrenspieler, der mit der Seemannsmütze auf dem Kopf über die Bühne ging. Eine brillante Darstellung.« Mit gerade achtzehn Jahren saß er auch beim Nachtkabarett »Kalte Ente« am Klavier, »Ruhrpott-Duse« Tana Schanzara gab dazu im strammen Sportdress und mit Medaillen um den schweren Hals die Rosi Mittermaier. Das Beatles-Musical war dann »wirklich ein gigantischer Erfolg, einer der größten Renner der Bochumer ZadekÄra. Ich spielte die Rolle des Erzählers, der am Schluss als Gary-Glitter-Star im silbernen Anzug eine völlig verblödete Nummer singt. Bei der Premiere hatten wir 35 Minuten stehenden Applaus.« Schön, schön, fand der junge Grönemeyer, aber genug ist genug: »Im Grunde genommen war es eine komische Mischung: Auf der einen Seite ein Schlüsselerlebnis, das mir später sehr geholfen hat. So früh erlebt zu haben, was Erfolg ist, das war wichtig für mich. Auf der anderen Seite dachte ich im Premierenapplaus irgendwann: Jetzt reicht's aber. Ich war nämlich längst mit meiner Freundin in der Theaterkneipe verabredet.« Zadek machte den jungen Mann dann bereits 1976 Grönemeyer war neunzehn - zum musikalischen Leiter am Schauspielhaus Bochum. Auch als »Till Uhlenspiegel« war er dort zu sehen und zu hören. Seinem späteren »Boot«-Co-Star Heinz Hoenig fiel er damals schon auf: »Da hämmerte der auf dem Klavier rum wie ein Derwisch«, sagt Hoenig. Er fand, »der Junge geht einfach nach vorne los, und da hab ich recht behalten.« Grönemeyer selbst erinnert sich: »Von der Entwicklung her war es ja so, dass ich als Musiker zum Theater kam. Die Schauspielerei war eigentlich ein Nebenprodukt. Die haben mich auf die Bühne gestellt und gesagt: >Nun spiel mal, das kannste vielleicht auch noch ... < Weil ich nie Schauspieler werden wollte, hatte ich dazu ein ganz eigenartiges Verhältnis. Das fanden die besonders interessant. Ich hatte das Glück, in Bochum in den
Siebzigern an ein Theater zu kommen, das fröhlich war, frech, provokant, spannend, unterhaltsam. Da habe ich so vor mich hingespielt, habe Rollen total daneben gehauen, hatte auch die Chance, mich gründlich zu blamieren. Sehr lange habe ich die Schauspielerei von dieser Spaßseite aus betrachtet. Inzwischen nehme ich das natürlich ernster. Ich beschäftige mich mit den Rollen, baue den Charakter auf und so weiter. Aber selbst Profis haben mich immer davor gewarnt, nachträglich eine Ausbildung zu machen. Das verformt nur. Da wird nur Talent strukturiert. Ich habe schwerste Vorbehalte gegen Ausbildung in puncto Kunst. Natürlich fängt man, wenn man vor der Kamera steht, irgendwann an, sich mit dem Beruf zu beschäftigen. Dennoch fühle ich mich eigentlich in der Musik zu Hause.« Das ist auch gut so, denn Grönemeyer konnte damals »so toll spielen, dass sich die Leute in den ersten Reihen wegdrehten. Speziell in den ernsten Passagen. Die Kritik schrieb dann: >Er spielte diese Rolle wie ein echter Frohsinnsbolzen. Die ernsten Stellen blieb er uns schuldig.< Das Dramatische gelang mir gar nicht.« Wenn man sich heutzutage »Das Boot« anschaut, jenen doch eher dramatischen als frohsinnigen Film, mit dem Grönemeyer 1981 seinen größten Kinoerfolg feierte, bestätigt sich diese Wahrnehmung: Drama sieht bei ihm zwar sehr dramatisch aus - sorgt aber nicht unbedingt für besorgte Schweißausbrüche beim Zuschauer. Zeitgleich mit der Arbeit am Bochumer Schauspielhaus und den ersten Filmarbeiten trat Herbert auch noch in Bochumer Kneipen auf, spielte dort am Klavier »englische Songs, soulig, rhythm'n'bluesig, nicht den glatten Popsong«, so Bernd Kowalzik, Geschäftsführer des Bochumer Musikverlages Roof Music. Grönemeyer spielte gezielt »eckige, zickige Nummern«, wie sie eben gut zu seiner Stimme passten. Lieder von Jimi Hendrix, Joe Cocker, Donovan, denn »wenn man nicht richtig verstand, was man eigentlich sang, fiel es einem leichter zu singen«, so Grönemeyer später. Hinzu kam, dass er anfangs auch praktisch kein Englisch konnte: Er habe »Songs von Taste, John McLaughlin und den Doors
gespielt. Ich sprach kaum Englisch und lernte die Texte von den Platten runter.« Und als wäre all das noch nicht genug, begann Herbert Grönemeyer quasi nebenbei noch ein Doppelstudium in Musikwissenschaft und Jura. »Ich war 23 Semester eingeschrieben und habe ungefähr sechs Semester studiert«, sagt er heute. »Ich hab ja immer gerne Recht«, aber »Jura hat mit Recht kriegen und Recht haben nicht viel zu tun. Ich wusste nicht, was ich werden sollte, aber meine Eltern wussten auch nicht, was ich werden sollte«, also drängten sie ihn nicht. Immerhin sang er, spielte am Theater - und hatte Kontakt zu einem Münchner Musikverlag aufgenommen: »Ich hatte mit achtzehn einen Vertrag in München, da wurde ich rumgereicht als >die Röhre aus dem Kohlenpott<.« Aber er hatte - schon damals typisch Grönemeyer - »als letzten Satz handschriftlich reingeschrieben: >Es passiert nichts ohne meine Zustimmung.< Ich hatte sechs Jahre den Vertrag, aber es hat nie jemand eine Platte gemacht.« Unklar ist nach all den Jahren, mit wem Grönemeyer damals eigentlich einen Vertrag hatte. Er selbst erinnert sich an eine Zusammenarbeit mit Giorgio Moroder (schrieb unter anderem »Take My Breath Away« für den Film »Top Gun« und »Flashdance - What A Feeling« für den Film »Flashdance«), aber die beiden hätten sich »nur gestritten«. Moroder hingegen sagt, er habe »nie mit Grönemeyer gearbeitet«. Manchmal heißt es auch, Grönemeyer habe damals seinen ersten Vertrag mit dem Münchner Verlag von Schlagerproduzent Ralph Siegel (»Ein bisschen Frieden«) geschlossen; Siegel bestätigt: »Da war mal so was in der Art, aber das ist soo lang her, und ich kann mich wirklich nicht so genau daran erinnern ... hätte ihn gern unter Vertrag genommen.« Aber auch der Grand-Prix-Altmeister und der auffallend kritische Deutschrocker hätten wohl wenig Freude aneinander gehabt. »Ich machte alles auf einmal«, erinnert sich Grönemeyer. »Ich studierte, machte Musik und Theater. Was ich wirklich machen wollte, wusste ich nicht.« Er gibt
zu: »Ich hab mich mit all den Dingen auch ein bisschen verfranst.« Und doch ging Grönemeyer letztlich seinen Weg. 1977 bereits holte ihn sein Mentor Zadek auch vor die Kamera, gab ihm in seinem TVKrimi »Die Geisel« eine Rolle (immerhin neben Hannelore Hoger und 0. E. Hasse). Im Jahr zuvor hatte Zadek das Stück mit Grönemeyer in einer Hauptrolle bereits in Berlin an der Freien Volksbühne aufgeführt. Nach dem Theater verzog sich der rastlose Grönemeyer dann oft noch in einen FolkPub in der Leibnizstraße und spielte im dortigen Abendprogramm eine Viertelstunde Gitarre. Er erinnert sich: »Dafür gab es ein Käsebrot und irgendetwas zu trinken umsonst.« Für ihn war das ein Cooldown nach dem Theater, sonst wäre er vor lauter Adrenalin nie ins Bett gekommen. Zadek gab seinem Schützling auch den wertvollen Rat: »Wie du das morgen schaffen willst, weiß ich auch nicht. Du nuschelst. Du solltest vor der Vorstellung einen einstündigen Waldlauf machen, damit deine natürlichen Töne nicht erst am Ende der Vorstellung kommen. Und drittens solltest du auch ab und zu mal ins Publikum gucken.« Zadek und Grönemeyer spielten natürlich außerdem auch noch zusammen Fußball in der Bochumer SchauspielhausMannschaft, unter anderem gegen die Kicker vom Hamburger Thalia Theater (unter Leitung von Jürgen Flimm); Grönemeyer verblüffte als »rasant dribbelnden Stürmer«, so Flimm - die Bochumer verloren dann aber beim Elfmeterschießen. Am 15. September 1978 eröffnete Grönemeyer unter Ivan Nagel in einer Zadek-Inszenierung von Shakespeares »Wintermärchen« als Florizel, Sohn des Königs Polyxenes von Böhmen, die Spielzeit des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg (wo er zudem als musikalischer Leiter agierte). 1979 schließlich arbeitete er mehrere Monate unter Schauspieldirektor Claus Peymann am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart, ebenfalls als musikalischer Leiter (wenige Jahre
später begann dort auch Kult-Talker Harald Schmidt, ebenfalls bei Peymann, seine Karriere). Auch wenn Grönemeyer also im Nachhinein oft als erfolgreicher Schauspieler bezeichnet wird, der dann seinen Ruhm in eine musikalische Karriere umsetzte, so verhält es sich anders: Grönemeyer kam als Musiker ans Theater, wurde dort probeweise als Schauspieler eingesetzt, war nicht schlecht, landete mehr oder weniger zufällig einige Erfolge - und hörte sofort auf zu schauspielern, als der Traum von einer Karriere als Musiker wahr wurde. Grönemeyer war nicht nur multi-talentiert, er hatte auch richtig viel Ehrgeiz und Power: Neben Uni, TV, Theater und Kneipenauftritten sang er noch im Ocean Orchestra, mit dem er auch seine erste Platte veröffentlichte: 1979 und auf Englisch! »Ocean war ein Projekt von Dieter Flimm, Schlagzeuger und Architekt«, berichtet Markus Stockhausen, Komponist und Trompeter, Sohn des weltberühmten Komponisten Karlheinz Stockhausen und damals Mitglied des Ocean Orchestra. Dieter Flimm, 2002 verstorben, war der Bruder des Regisseurs Jürgen Flimm und arbeitete mit ihm zusammen unter anderem für das »Schauspiel« in Köln, wohin Jürgen Flimm Grönemeyer holte. »Mit Ocean verwirklichte sich Dieter Flimm einen persönlichen Traum«, fährt Stockhausen fort. »Wir spielten FusionNummern, Rock-Jazz und Soul. Die anderen Musiker haben immer gesagt, Herbie singe wie David Clayton-Thomas von Blood, Sweat and Tears. Ich habe ihn erlebt als einen total engagierten Musiker, der sich bei unseren Auftritten unheimlich freuen konnte. Seine Stimme, die ja eigentlich unkultiviert war, hat er rausgepresst und sehr stark seine Emotionen gesungen. Durch seine enorme Präsenz hatte er die Leute sofort auf seiner Seite.« Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Auch Grönemeyer gibt zu: »Zehn Mann, Bläsersatz, da musste man richtig dagegenhalten können.« Aber auch heute noch gelte: »Ich präsentiere ja
nicht, dass ich singen kann, wichtig ist, dass man etwas transportiert, Farbe oder Emotionen.« Stockhausen erinnert sich an die Auftritte mit dem Ocean Orchestra: »Es ging manchmal richtig gut los, das hat Spaß gemacht, und es hat ihn wohl auch auf den Geschmack gebracht, später seine eigenen Projekte zu verfolgen. Wir haben nicht viel geprobt, es war immer chaotisch von der Organisation her, manchmal haben wir erst direkt vor dem Konzert geprobt. Wir sind zum Beispiel in der >Jazzgalerie< in Bonn aufgetreten, in Köln im >Campi< oder auch im >Subway<.« Das Ocean Orchestra war in erster Linie eine Spaß- und Liveband. »Es ging nur ums Livespielen«, bestätigt Stockhausen. In jener Zeit fiel der aufstrebende Sänger und Schauspieler Grönemeyer auch Wolfgang Niedecken von BAP auf; die beiden spielten einmal gemeinsam auf einem Sommerfest: »Ich hab draußen im Bierzelt einen Soloauftritt gemacht, 1979«, sagt Niedecken. »Er spielte in einer Band, die hieß Ocean Orchestra, die ohne Ende Chicago gecovert hat, was auch zu seiner Stimme passte.« Das Ocean Orchestra war für Grönemeyer »ein reines Versuchsfeld neben der Schauspielerei«, berichtet Stockhausen. »Er hatte damals, glaube ich, überhaupt nicht im Sinn, Sänger zu werden oder eine musikalische Karriere zu machen. Er hat sich erst im Prozess entdeckt, ist dann aber ganz zielstrebig nach vorne geprescht. Er hatte ein gutes Gespür dafür, was man machen konnte. Ich glaube, er ist sehr geschickt darin, sich selbst einzusetzen, seine Qualitäten einzubringen. Er ist jemand, der einfach das Sagen hat. Keine unkomplizierte Persönlichkeit, aber das war beim Ocean Orchestra kein Problem, weil es nur >for fun< war. Er war ein positiver, ehrlicher und umgänglicher Mensch, ganz sicher.« Der bei allem Ehrgeiz unheimlich viel Spaß hatte: »Er war fröhlich und impulsiv, sprang auf der Bühne herum mit seinem Mikrofon, er war ein äußerst lebendiger und sprudelnder Mensch. Eigenartig in seiner ganzen Erscheinung. Seine stimmliche Qualität war nicht
ausschlaggebend, sondern seine Intensität, er hat sich mit seinem ganzen Körper total hineingegeben. Er konnte sich vollkommen in der Musik ... nicht verlieren, sondern finden. Sich ganz darin ausdrücken. Später bin ich ihm ein paarmal bei der Emi begegnet, da war er sich seines Erfolges schon sehr bewusst, aber noch ganz locker. Die Zielstrebigkeit, mit der er seinen Weg gegangen ist, war ihm eigen. Da konnte man nur staunend daneben stehen.« 1978 nahm Grönemeyer erste deutschsprachige Demos auf, die bei Plattenfirmen angeboten (und regelmäßig abgelehnt) wurden. 1979 erschien das in Köln und Essen eingespielte selbst betitelte Album des Ocean Orchestra. Die Platte ist heute nicht mehr erhältlich, wird nur noch dann und wann auf Ebay angeboten (dann aber gleich für vierhundert Euro). Es erklingen darauf insgesamt elf Jazzrock/Fusion-Stücke, die allesamt leicht verhalten wirken und gut als Soundtrackmusik funktionieren. Fünf Tracks sind Instrumentals, die Übrigen singt Grönemeyer, allerdings klingt er deutlich ruhiger als später - noch fehlt ihm (zumindest bei der Studioaufnahme) die aggressive Mikropower. Mit etlichen Ocean-Orchestra-Musikern arbeitete Grönemeyer später bei seinen Soloprojekten zusammen: Markus Stockhausen spielte Trompete auf dem Album »Zwo« und Piccolo-Trompete auf »Vergiss es, lass es« (auf »Total egal«); Reiner Wiberny und Uwe Haselhorst spielten Saxophon auf dem Album »Zwo«, Helmut Kandlberger zupfte den Bass in »Ich bin ein Spieler« (auf »Grönemeyer«). Auf dem Cover der Ocean-Orchestra-LP war blauer Himmel mit weißen Wölkchen, die Sonne stellte ein orange gestreifter Sticker dar, auf dem stand: »Mit der Originalmusik und dem Titelsong >Don't Begin< aus dem Fernsehfilm >Uns reicht das nicht<, ARD, Mi. 7. 3. 79, 20.15 Uhr«. Das vollständige Tracklisting des Albums lautet:
A1l: Don't Begin A2: Do It (Instrumental) A3: The Music Is Still In My Mind A4: Skinflint (Instrumental) A5: Long Live Boogaloo B1: There's No Reason (Instrumental) B2: Places Of Mine B3: Song Of The Waves (Instrumental) B4: Can't Stop Listen To Those Wonderful Chords B5: Sunny Feelings B6: You Can't Win (Part II) (Instrumental) Sehr schön relaxt ist vor allem »The Music Is Still In My Mind« (wo Grönemeyer aber auch schon so schrill summt und kiekst wie später). Zu der Plattenproduktion kam es durch einen Film, den Jürgen Flimm mit Herbert Grönemeyer in der Hauptrolle drehte: »Uns reicht das nicht«. Flimm ließ die Band seines Bruders Dieter und seines Hauptdarstellers den Song »Don't Begin« sowie die Instrumentals »Do lt« und »You Can't Win (Part II)« zum Soundtrack beisteuern. Doch speziell dieser Film sollte Grönemeyer nicht nur seine erste LP-Aufnahme bescheren, sondern vor allem auch die Liebe seines Lebens. Denn die weibliche Hauptrolle in dem TVMovie spielte Anna Henkel, in die Grönemeyer sich verliebte. Das übrigens war sein größter Erfolg, was diesen Film anging. Grönemeyer in selbstkritischem Spott: »Ich spielte einen arbeitslosen Jugendlichen, wieder eine meiner brillanten Darstellungen. Danach schrieb ein Kritiker: >Am interessantesten an ihm waren seine fleischigen Oberarme.<« Da ist Grönemeyer die Begegnung mit Anna in deutlich besserer Erinnerung geblieben: »Ich war für Hamburger Augen so ein richtiger Ruhrgebietler, den man schlecht ertragen kann, war so als heitere Natur unterwegs und ging ihr wohl furchtbar auf die Nerven. Es war sicher keine Liebe auf den ersten Blick, aber eine monumentale auf den zweiten Blick. Wir passten von der Biographie
nicht zusammen, von der Mentalität, den äußeren Komponenten nicht, musikalisch passten wir nicht. Sie kam aus einer Hamburger Hippie-Untergrund-Szene. Ich kam mehr aus der sportlichen Ecke. Sportlich war für sie ein Reizwort.« Anna »wollte immer tief in die Emotionen einsteigen und hielt das Ruhrgebiet für Dunkeldeutschland. Da prallten zwei Welten aufeinander. Das hat uns aber auch ausgemacht.« Später erinnerte er sich: »Ich weiß noch, als ich ihr die erste Platte vorgespielt habe. Sie bekam die Goldene Zitrone für das schlimmste Cover. Da war ich vorne drauf, sah aus wie der Sohn vom Fischer, der Shanties singt. Als sie das gesehen hat, hat sie sicher gedacht: >Was habe ich mir da für einen eingefangen.< Ich habe immer gesagt: >Immer mit der Ruhe, ich komme schon.<« Gerade die Unterschiedlichkeit der Charaktere faszinierte die beiden aneinander, Gegensätze ziehen sich eben an: »Anna hatte die Vision: Es darf nie langweilig werden. Ich hatte die Vision: Lebe die Sekunde«, erklärt Grönemeyer. »Ich war nie ehrgeizig, weil ich dachte: Die Natur wächst auch langsam. Es hat dann bei uns schon richtig geknallt. Wir passten wie die Faust aufs Auge, aber es gibt schließlich nicht die eine Wahrheit, sondern im Zusammenspiel von mehreren Wahrheiten gibt es Explosionen. So war es mit uns. Wir haben uns extrem aneinander gerieben. Aber das Ziel war, authentisch zu bleiben, radikal, sich nicht selbst verratend. Das war eher die Vision.« Radikal, authentisch, lebendig - zwanzig Jahre gemeinsames Glück sollten die beiden so gestalten. Grönemeyer erklärt das Geheimnis schlicht: »Warum gehe ich eine Beziehung ein? Doch sicher, um sich gemeinsam wohler zu fühlen als allein.« Ihre Liebe bildete für ihn »so etwas wie Unterbau. Wenn man geliebt wird, wird man von unten und innen stabilisiert. Man bekommt Sicherheit.« Er bezeichnete den Beginn der Beziehung zu Anna als »>Radikalverlieben<. So was hatte ich vorher noch nie erlebt.« Dabei war es nicht ganz leicht für die beiden, zusammenzufinden: »Zwei verschiedene Mentalitäten
trafen aufeinander. Wir sahen einander an und dachten: >O Gott, mit dem Menschen soll ich jetzt ein Liebespaar spielen?<« Die Dreharbeiten begannen, »und ich glaube, ich ging ihr mit meiner Frohnatur eher auf den Keks. Nach zwei Wochen drehten wir in einem Bungalow. Unten wurde die Kulisse gebaut. Wir warteten oben auf dem Balkon. Standen nebeneinander. Und guckten. Da ist mit einem Mal wie aus heiterem Himmel ein Blitz explodiert. Das war monumental. Unfassbar«, sagt Grönemeyer. Sie hätten sich letztlich ganz einfach geküsst, »und dann war die Sache geklärt«. Außer der Liebe begleitete Grönemeyer noch etwas aus dem Film in die Zukunft: Das Ocean-Orchestra-Stück »Don't Begin« aus dem Soundtrack von »Uns reicht das nicht« schaffte es mit einem deutschen Text von Jürgen Flimm auf Grönemeyers drittes Album »Total egal«, dort heißt es »Vergiss es, lass es« und schließt ganz soft die Platte ab. Mittlerweile wohnte Herbert Grönemeyer - nach 22 Jahren in Bochum - in Köln; eine Autostunde entfernt von der Heimat und ungleich urbaner. Ende 1978 klappte es dann endlich auch mit dem Plattenvertrag für die deutschsprachigen Stücke, und so begab sich Grönemeyer kurz nach den Aufnahmen mit dem Ocean Orchestra erneut ins Studio. Dort spielten die Produzenten Horst-Herbert Krause und Ingfried Hoffmann mit ihm das erste Soloalbum »Grönemeyer« ein, das ebenfalls 1979 erschien und von dem der Künstler heute sagt: »Meine allererste Platte war ziemlich grausam.« Die Platte geht dabei durchaus in Richtung eines seiner Lieblingskünstler, Randy Newman, manchmal hat man aber auch das Gefühl, Caterina Valente oder Marianne Rosenberg kämen gleich vorbei. Damals hingen Grönemeyer die feinen, rotblonden Haare noch fast bis auf die Schultern, und er sang vom Alltag (»Guten Morgen, Morgen, hast du gut geschlafen? / Mein Mädchen wartet auf ihr Frühstück / ich hol Milch und frische Brötchen / guten Morgen, noch geht's mir gut«,
und das Ganze mit funkigen Bläsern, ein Sound-Relikt aus der Ocean-Orchestra-Zeit), er sang von »Pompeji« (»Hell war die Nacht, die dich zerstörte / ein Schrei der Angst, als es passiert / und Asche dich begrub«), er sang von der Liebe (»nach Julie wird es für mich schwer sein / zu lieben, zu leben / einen Teil von mir zu geben / nach Julie bin ich leer«) und dem Leben (»Tina kam vom Land zu uns in diese Stadt (...) und sie sagt: / hey du, spring mit mir ins wilde Leben / hey du, hörst du die Musik?«). Grönemeyer später: »Als ich bei der Intercord meine ersten Platten machte, sagten sie mir: >Du musst so Lieder schreiben wie Milva, du sollst unsere männliche Milva werden.<« Ausgerechnet »Die Welt« veröffentlichte dann eine der ersten überregionalen Kritiken, ernannte Grönemeyer zum »deutschen Julien Clerc«, feierte ihn als »Liedermacher-Entdeckung dieses Jahres«, monierte zwar die Texte, »aber Grönemeyer holt aus jedem noch so läppischen Verbalbild eine Stimmung heraus, die es in dieser Tonart unter deutschen Troubadouren bislang nicht gab«. Da war »Die Welt« ausnahmsweise mal ihrer Zeit voraus - denn die Platte floppte. Roof-Music-Geschäftsführer Bernd Kowalzik erinnert sich: »Wir kannten Herbert aus der Schulzeit und vom Fußball, wobei ich mehr mit seinen älteren Brüdern zu tun hatte. Mit meiner Band habe ich auch auf einigen Feten seiner Brüder bei Grönemeyers zu Hause Musik gemacht. Später hat man Herbert dann immer wieder bei seinen musikalischen Aktivitäten getroffen, wenn er in Kneipen gespielt hat, oder am Schauspielhaus Bochum, wo er musikalischer Leiter war. Roof Music bestand anfangs aus fünf Leuten, die alles unter einem >Dach< machen wollten. Ich war zuständig für den Vertrieb. Dann gab es auch ein Autorenpaar (Komponist/Arrangeur und Texter) Horst-Herbert Krause und Jürgen Triebel -, die Herbert natürlich auch kannten. Sie fragten ihn, ob er ihre Songs singen wollte. Für das erste Album gab es einen wunderschönen Coverentwurf, der aber von der Intercord abgelehnt wurde, weil bei einem >unbekannten Künstler
Foto und Name auf dem Cover nicht groß genug sein konnten<.« Immerhin lautete der Name noch »Grönemeyer« - die Intercord hätte Grönie lieber als »Herbie Green« oder »Glamour Green« an den Mann zu bringen versucht. Doch Grönemeyer blieb beinhart: »Schwachsinnig. Ich heiße nun mal nach meinem Großvater Herbert, und entweder mag man mich als Herbert Grönemeyer, oder man mag mich nicht.« Das Cover gefiel auch Texter Horst-Herbert Krause nicht wirklich gut: »Das ist das schlimmste Cover, das ich in meinem Leben je gesehen habe. Vor allen Dingen gab es ein anderes Cover für die Platte. Das war die Fotografie einer Plakatwand in Paris. Die Plakate waren abgerissen, und darunter sollte halb versteckt Grönemeyer zu sehen sein, als hätte sein Konzertplakat in Paris gehangen. Die Plattenfirma hat von sich aus ein anderes Cover gestaltet, das ich im Plattenladen zum ersten Mal sah.« Aus jener Zeit stammt übrigens auch das Stück »Wir werden diesen Kreis nicht schließen« (Text: Krause, Musik: Grönemeyer), das Schlagersänger Jürgen Marcus (»Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben«) mit Jack White (Roberto Blanco, Laura Branigan, Barry Manilow) produzierte. Kommentar Krause: »Wir haben auch eine Reihe Stücke geschrieben, die nicht veröffentlicht wurden. Und einen Titel hat Herbert komponiert, ich habe den Text gemacht, den hat dann Jürgen Marcus gesungen: >Wir werden diesen Kreis nicht schließen<. Jack White hat das produziert. Das war der Versuch von Jack White und Jürgen Marcus, nicht mehr weiter Schlager zu machen.« Als Grönemeyer 1998 erfuhr, dass ein Song von ihm auf einer Jürgen-Marcus-LP war, beschwerte er sich: Das Lied müsse verkauft worden sein, »ohne dass ich es mitbekam. Meine erste Platte habe ich 1978 noch nicht als eigenständiger Künstler gemacht, sondern nur als Sänger, so wie ein Studiomusiker. Zu der Zeit war ich in Bochum schon ein bisschen bekannt, weil ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr in Bands gesungen hatte. Da gab es so ein Songwriterduo, Krause-Triebel,
die haben mich irgendwann gefragt, ob ich nicht was mit ihnen aufnehmen wollte. Ja klar, hab ich gesagt, gib her! Wir sind dann ins Studio gegangen, und ich hab denen was aufs Band gesungen. Ich hab dann auch ein paar Stücke geschrieben, zu denen die die Texte gemacht haben. Dass die das weiterverkauft haben, höre ich heute zum ersten Mal.« Und Tantiemen habe er für den Song natürlich auch nie bekommen. Aber das wird er verschmerzen können. Jürgen Triebel, der Komponist der ersten deutschsprachigen Grönemeyer-Songs, erinnert sich, wie alles begann: »Wir konnten für einen geringen Etat in einem Musikstudio in Bochum arbeiten. Wir suchten Künstler und wollten was produzieren. Für Herbert Grönemeyer wollten wir was Anspruchsvolles schreiben, und Herbert hatte auch schon gleich seine Ansprüche. Der sagte: Das und das mache ich, und andere Sachen finde ich einfach affig. Wir haben letztlich mit geringem Budget eine ganze LP gemacht. Wir haben damals an Randy Newman gedacht. Ein Stück wie >Spring ins wilde Leben< nimmt kein Ende, das ist fast fünf Minuten lang, läuft aber auch heute noch ab und zu im Radio. Und >Mein Konzert< ist auch ein ganz schöner Song. Ganz peinlich ist die erste LP nicht!« Die ersten gemeinsamen Songs hießen »Pompeji« und »Ich bin ein Spieler«. Horst-Herbert Krause hatte einen direkten Künstlervertrag mit Grönemeyer und finanzierte die DemoAufnahme dieses Titels, um ihn dann bei Plattenfirmen anzubieten: »Produziert wurde vom 8. bis 14. 2. 1978. Das habe ich finanziert - meine Mutter hat mir das Geld geliehen. Das war für die damalige Zeit auch richtig teuer, die Produktion hat netto 12 500 Mark gekostet. Heute würde ich das nicht mehr wagen!« Eigentlich sollte ihm Komponist Jürgen Triebel als Produzent zur Seite stehen, doch der hatte, so Krause, »unglücklicherweise kurz vor der Produktion von >Pompeji< und >Ich bin ein Spieler< einen Unfall. Er inhalierte Lindenblüten aus einer dampfenden Schüssel, Handtuch drüber, und dann riss er den Kopf nach oben,
weil es klingelte. Mit den Verbrennungen lag er mehrere Wochen im Krankenhaus. Deshalb kam Ingfried Hoffmann als Produzent dazu.« Ein Jahr dauerte es dann noch, für Grönemeyer einen Plattenvertrag an Land zu ziehen. Krause: »Vor der Intercord haben alle anderen abgelehnt, was sicher nicht an Herbert, sondern eher an dem Titel lag.« Die Zusammenarbeit mit Grönemeyer lief in dieser frühen Phase jedenfalls problemlos: »Die Ursprungsidee war, einen Song wie >Music< von John Miles zu schreiben«, erklärt Horst-Herbert Krause. »Das Stück finde ich wahnsinnig toll. Ein Wahnsinnswerk mit einem riesigen Orchester. So was wollte ich auch mal machen. Wie ich auf >Pompeji< gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Und das mit Herbert ergab sich einfach, ich kannte ihn über das Schauspielhaus, denn ich arbeitete dort als Regieassistent, während Herbert musikalischer Leiter war. Wir haben es einfach mal probiert. Vom Herbert waren wir ohnehin alle überzeugt, da gab es gar keine Frage.« Komponist Jürgen Triebel ergänzt: »>Pompeji< war eindeutig an >Music< von John Miles angelehnt. Wir dachten, durch die musikalische Größe machen wir auch den Sänger groß, was natürlich ein Irrtum war.« Entdeckt im klassischen Sinne habe Krause Grönemeyer nicht, findet er: »Ich bin der Erste, der ihn als Herbert Grönemeyer produziert hat. Entdecken musste man den nicht. Der hat sich selbst entdeckt. Früher oder später musste man über ihn stolpern. Hier in Bochum war er bekannt, und es fehlte nur noch jemand, der ihn irgendwohin bringt. Vielleicht habe ich ihm da ein kleines Stückchen geholfen, aber mehr nicht. Ich behaupte allerdings, dass die erste Produktion, die ich gemacht habe, von den Texten her ein bisschen näher dran an Herbert Grönemeyer ist als das, was danach kam, die zweite LP. Aber richtig angefangen hat es dann eigentlich erst mit Edo Zanki als Produzent, und der war auch genau der richtige Mann dafür.« Auch Jürgen Triebel erinnert sich gern an jene Zeit: »Horst Krause ist derjenige, der das finanzielle Risiko auf
sich nahm und große Schwierigkeiten hatte, ein Label zu finden für diesen Sänger. Die A&R-Manager lehnten Grönemeyer wegen seiner Stimme ab. Deshalb schrieben wir ein Machwerk-Opus namens >Pompeji<. Zugegebenermaßen: Jetzt im Nachhinein finde ich es auch grauenhaft. Das war ein riesengroßes, orchestrales, symphonisches Rock-Pop-Werk, das sich mit den Ruinen von Pompeji beschäftigte und die ganze Stadt musikalisch zum Einsturz brachte. Sehr aufwändig produziert. Und Herbie hat es tatsächlich gesungen! Es ist schon ein bisschen abgehoben. Nachdem Horst Krause alle Plattenfirmen abgenudelt hatte, ist diese Platte Gott sei Dank bei der Intercord gelandet und dort veröffentlicht worden. Und zwar auf einer LP, aber auch als erste Single, die gefloppt ist. Das LP-Cover war herrlich bunt und sah aus wie von einem Heimatsänger. Und das Cover der Single war eine Zeichnung, Herbie starrte in irgendwelche unendlichen Weiten.« Texter Horst-Herbert Krause weiß noch, wie überzeugt er vom Erfolg seines Schützlings war: »Es gibt Leute, die ihn mögen, und welche, die ihn nicht mögen. Aber dass er was kann, das steht außer Frage. Wir schrieben damals an die Plattenfirmen: >Herbert Grönemeyer ist ein musician's musician. Ein Sänger, der weiß, was er singt. Ein Sänger, bei dem alles stimmt: sein Äußeres, seine Jugend, sein Talent.< Es haben ihn dann alle abgelehnt, bis auf die Intercord. Wir wussten musikalisch noch nicht wirklich, wo wir hinwollten. Aber eigentlich wollten wir für die zweite Produktion das machen, was Herbert dann später auch gemacht hat, nämlich mit einer richtigen Band ins Studio gehen. Die Plattenfirma aber wollte die zweite LP von Otto Draeger produzieren lassen. Der hat dann gleich noch den Arrangeur von Milva dazugeholt. Dabei ist natürlich etwas ganz anderes herausgekommen. Und ich glaube, ohne den Draeger wäre Herbert schneller da gelandet, wo er letztlich landete.« Auch Komponist Jürgen Triebel war in der ersten Zeit happy, denn Grönemeyer sang nach seinem Geschmack:
»Es ist leicht, für Grönemeyer einen Song zu schreiben, weil er über alle Facetten verfügt. Er hat eine enorme Bandbreite. Er ist ja, wenn man so will, ein Rocker, und da hab ich ihm auch immer sehr anstrengende Sachen geschrieben, die bis an die Grenze gingen. Da krähte er manchmal ein bisschen, aber mir kam das musikalisch sehr nahe. Weil ich selber in dieser Zeit ein Rocker war, kam ich mit seiner Art zu singen sofort klar. Er konnte spielend nachempfinden, wie ich mir etwas gedacht hatte. Mit seiner Stimme habe ich nie Schwierigkeiten gehabt, ich mochte sie ja auch. Es war nur so furchtbar schwer, sie zu verkaufen! Er klang nicht immer gleich, er hat diese enorme Musikalität, mit der man spielen konnte. Er ist so begabt, dass wir ihn einfach singen lassen konnten, wie er wollte. Wir trafen uns dann später irgendwann wieder, und er sagte: >Ich möchte gern die ,Curry-wurst` singen.< Das ist ein Lied nach meinem Geschmack! Ich hatte das Demo in den späten Siebzigern mit Diether Krebs zusammen gemacht, Diether hatte den Text geschrieben. Wir hatten ziemlich angeheitert im Studio gesessen und diese >Currywurst< erfunden. Und das wurde dann ein großer erster Achtungserfolg für Herbie.« Als »Currywurst«-Texter ist auf Grönemeyers drittem Album »Total egal« neben Krebs auch Horst-Herbert Krause genannt, der aber mit der fertigen Nummer gar nichts mehr zu tun hatte: »Der Text ist von Diether Krebs. Ich hatte vorher einen anderen Text für diese Melodie geschrieben. Um Probleme zu vermeiden, haben wir gesagt, wir teilen uns das Stück einfach. Deshalb stehen da beide Namen.« Schon auf der ersten LP »Grönemeyer« stammten etliche Titel - »Guten Morgen« (Text), »Verflucht - es tut mir weh« (CoKomponist), »Ich bin ein Spieler« (Musik), »Mein Konzert« (Co-Komponist) - aus der Feder Herbert Grönemeyers. »Ja, es waren schon Stücke von ihm dabei«, bestätigt auch Horst-Herbert Krause. »Es war auch immer so gedacht, und das steht auch in dem ersten Vertrag drin: Von zwölf Titeln sollte sechs er machen, und sechs sollten wir zusammen schreiben. >Bei anfallender
LP-Produktion hat der Künstler für sechs Titel die freie Wahl. Die restlichen Titel wählt der Produzent.<« Es waren erste Gehversuche eines vielseitigen Talents - das neben der Karriere auch noch die ganz normalen Sorgen eines Jugendlichen hatte. Krause: »Er wollte damals eher in Richtung Schauspiel als in Richtung Sänger. Wobei ich ihn nie für einen besonders guten Schauspieler gehalten habe. Ich weiß jedenfalls, dass er damals von einem Saab träumte. Er fuhr einen Mercedes und träumte von einem Saab.« (Fünfzehn Jahre später kurvte er, diesem Traum treu geblieben, mit einem Saab Cabrio durch Berlin.) Auch Jürgen Triebel erschien der Erfolg Herbert Grönemeyers zumindest langfristig als beinahe unvermeidlich: »Jeder aus dem Bochumer Schauspielhaus stand irgendwann mal in diesem Studio, das ebenfalls auf der Königsallee ist. Herbert war damals Schauspieler und musikalischer Leiter am Schauspielhaus. In dem Musical John, Paul, George, Ringo ... und Bert< ist Herbert natürlich sofort aufgefallen, mit Plateausohlen spielte er die Hauptrolle. Seine Stimme war wirklich gewaltig, er hatte damals schon einen Riesenfanstamm, spielte abends alleine seine Pianosachen und tingelte so durch die Lande. Er hatte dann die Möglichkeit, mit uns aufzunehmen. Sein eigenes Repertoire war noch nicht so groß, so dass wir uns als Autoren daran beteiligt haben. Deshalb schrieben wir die ersten Grönemeyer-Stücke. Wobei der große Erfolg sich ja erst einstellte, als er selber schrieb und textete und produzierte - also alles in einer Hand war.« Dabei trat Grönemeyer von Anfang an sehr selbstbewusst und zielgerichtet auf. Triebel: »Ja, das war erstaunlich. Er mochte Kitsch nicht, überhaupt nicht. Er mochte keine großen Arrangements. Ich erinnere mich an ein sehr schönes Arrangement von Ingfried Hoffmann, >Spring ins wilde Leben<, da hatte er ein ganz tolles Streichorchester drauf. Da hat der Herbie ganz einfach den Fader runtergezogen. Das war ihm zu seicht. So ist es etwas mager geblieben. Schon in jungen Jahren wusste er
genau, wo's langgeht. Durch uns hatte er vor allem die Möglichkeit, an einen Tonträger zu kommen. Wir nahmen ihm die Arbeit ab, Klinken putzen zu gehen. Und wenn man später zu den Plattenfirmen kam und einen neuen Sänger anbot, dann sagten dieselben Leute, die ihn damals abgelehnt hatten: >Machen Sie doch mal so was wie Grönemeyer. < « In der Zusammenarbeit war Gröni »sehr penibel«, erinnert sich Triebel. »Weil er wusste, was er wollte, hat er es uns eigentlich leicht gemacht. Ich habe alle Chöre auf der ersten LP gesungen, da hat er mich richtig gequält, bis ich nicht mehr konnte. Aber ich hab's mir gefallen lassen, denn es stimmte immer. Er ist wirklich sehr begabt. Wir sind sehr respektvoll mit ihm umgegangen. Zudem war ja die Gruppe Ocean damals sehr erfolgreich.« Auch wenn Grönemeyer bisher englisch gesungen hatte - neben und mit dem Ocean Orchestra auch »Boogies, Cat Stevens, diese Richtung«, wie sich Horst-Herbert Krause erinnert -, sollte nun auf Deutsch produziert werden: »Wir wollten das, das war von Anfang an klar«, sagt Triebel. »Wir haben >Pompeji< mal auf Englisch produziert, das ist ganz schrecklich.« Auch Grönemeyer dachte schon damals, es müsste »doch irgendwann mal möglich sein«, auf Deutsch zu singen »vielleicht unter anderem mir«. Das Songwriterteam habe Grönemeyer dabei aber »nichts aufoktroyiert«, betont Triebel. Auch die gesangliche Phrasierung, bis hin zu den heute noch typischen Kieksern und wilden Schreien, brachte Grönemeyer ein. »Wir haben nicht unbedingt versucht, das herauszukitzeln«, sagt Krause, »aber es war gewollt. Singen sollte er so, wie er wollte. Da haben wir keinen Einfluss genommen.« Bald jedoch trennten sich die Wege von Jürgen Triebel, Horst-Herbert Krause und Herbert Grönemeyer. Krause: »Die Intercord hat mich gefragt; sie hätten da jemanden, der würde den Herbert gern produzieren, und der hatte auch eine Fern- sehsendung dazu, was natürlich auch damals schon ganz wichtig war. Ob ich was dagegen
hätte? Wir hatten von der ersten Platte damals etwa 1400 Exemplare verkauft, das war ein Riesenflop. Da habe ich halt gesagt, wenn es jemand gibt, der es besser kann, soll er es machen. Und dann habe ich den größten Fehler meines Lebens begangen. Ich wollte eigentlich einen Overwrite haben: Wenn man aus einer Produktion aussteigt und jemand anders macht weiter, bekommt man trotzdem anteilige Zahlungen. Aber dann rief mich der A&R-Manager an und sagte, das könnten sie sich nicht leisten. Also verzichtete ich darauf, obwohl diese Overwrite-Rechte in meinem Vertrag mit der Intercord fest vereinbart waren. Ich tat dies freiwillig zugunsten einer weiteren Zusammenarbeit der Intercord mit Herbert. Ich habe es später mal ausgerechnet, das sind sicherlich 500000 Mark gewesen, die ich da verschenkt habe. Einen ähnlichen Fehler haben wir mit einem weiteren Künstler gemacht, der den englischen Text für >Pompeji< geschrieben hatte, Mick Jackson. Dessen Band hieß Jacko. Die haben einen unserer Titel aufgenommen, den eine Plattenfirma dann übernehmen wollte - allerdings nur als Song, nicht die Aufnahme. Wir bekämen dafür das Recht, einem ihrer deutschen Interpreten einen Titel zu schreiben. Wir erklärten uns einverstanden. Das Stück hieß >Blame It On The Boogie<, und gesungen haben es die Jackson 5. Da haben wir zehn Millionen Mark an Verlagsrechten verschenkt.« Komponist Jürgen Triebel allerdings kann im Nachhinein »dem Herbert den Vorwurf nicht ersparen, dass er - aus welchen Gründen auch immer - untreu ist. Wir waren seine Anfangs-Wegbegleiter und haben die schwierigen Phasen miterlebt, haben sehr viel Herzblut und Zeit investiert, und er hat einen ziemlich schnell vergessen.« Auf Grönemeyers zweitem Album »Zwo« (1981), das tatsächlich schwer in Richtung Schlager abdriftet, finden sich noch zwei mit Krause gemeinsam verfasste Titel, »Bruno« und »Helga«: »Das waren zwei Stücke, die er komponiert hatte, und dann fragte er mich, ob ich die Texte dazu schreiben könnte. Anna und ihm gefiel vor
allem das Stück >Helga<«, in dem es um eine Bahnhofsnutte geht. Von den insgesamt zehn Titeln auf »Zwo« schrieb er bereits bei allen zehn die Musik, bei fünf Tracks zudem den Text. Zwei Texte stammten von Krause, zwei vom Produzenten Otto Draeger, einer von Elke Heidenreich. (Ja, genau die Elke Heidenreich; sie war Grönemeyers Nachbarin in Köln und schrieb den Text zu »All die Jahre«, einen Song über ein Liebespaar mit großem Altersunterschied.) Auf dem Cover schnitt Grönemeyer Fratzen in die Kamera, auf der LP sang er von »Muskeln«, lieferte mit »Stau« den atmosphärischen und inhaltlichen Vorläufer zu »Mambo« (auf »Bochum«) und besang den Ami-Schlitten »Commander« ebenso liebevoll wie zwei Alben später auf »Gemischte Gefühle« den Opel »Kadett«. Bernd Kowalzik von Roof Music findet: »Die ersten beiden Platten entsprechen nicht dem, was er dann später gemacht hat. Die letzte Platte bei Intercord ist inhaltlich und von der Produktion her ziemlich nah an der ersten Emi-Veröffentlichung, also >Bochum<. Trotzdem war diese letzte IntercordProduktion nicht erfolgreich, und bei >Bochum< hat's dann - warum auch immer funktioniert. Ich kann einen Künstler gut verstehen, der sich irgendwann seiner eigenen Qualitäten besinnt und anfängt, selber zu schreiben, nachdem er mehrere Versuche unternommen hat, mit fremden Titeln erfolgreich zu sein.« Die eigenen Titel verlegte Grönemeyer bald schon in seinem eigenen Verlag, »Grönland«. Das hat für einen Songschreiber gleich zwei Vorteile: Erstens muss er keine Abgaben an einen Fremdverlag abführen, sondern kassiert selbst. Und zweitens liegen beispielsweise Freigaberechte der Songs (für Werbung, Neuproduktionen) nicht etwa beim Autor, sondern eben beim Verlag - und so konnte Grönemeyer über den Großteil seiner Songs die Kontrolle behalten. Bei Roof Music erschienen nur die ersten GrönemeyerSongs, die Krause/Triebel für ihn schrieben. Doch das ärgert Kowalzik keineswegs, denn »letztendlich
partizipieren wir auch heute noch an seinem anhaltenden Erfolg, denn die ersten verlegten Titel verkaufen sich ja immer noch«. Die zweite Langrille »Zwo« war nicht wesentlich erfolgreicher als »Grönemeyer«. Da fragt man sich zumindest im Nachhinein natürlich: Warum nahm die Intercord diesen Herbert Grönemeyer eigentlich unter Vertrag? Herbert Kollisch, von 1978 bis 1997 Geschäftsführer der Plattenfirma: »Ein Produktmanager kam mit einem Tape zu mir, darauf war der Titel >Pompeji<. Das hatte uns ein Produzent zugeschickt, Ingfried Hoffmann. Gesungen hatte Grönemeyer, der bereits als Schauspieler und Pianist begonnen hatte, sich einen Namen zu machen. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein damals üblicher Vertrag über eine Single, mit der Option auf ein Album. Aber ganz ehrlich: Ich habe nie an Grönemeyer geglaubt. Das weiß Herbert auch. Man muss sich nur mal das Stück anhören ... wer will denn so was kaufen?! In der Firma gab es damals zwei Lager, er hat stark polarisiert. Etwa die Hälfte der rund fünfzig Mitarbeiter war pro Grönemeyer, die andere Hälfte kontra. Aber wir haben gesagt, wir versuchen es einfach mal, die gesamte Albumproduktion kann damals auch nicht mehr als 50000 Mark gekostet haben.« Auch Kollisch übrigens fand die Platte optisch misslungen, vor allem das Foto: »Das Albumcover sah fürchterlich aus, aber das war damals nun mal sein Look.« Damals hielten Plattenfirmen noch etwas länger durch als heute und versuchten, einen neuen Künstler zu »breaken«, wie man sagt (heißt: seinen »Durchbruch« zum Erfolg zu erreichen). Kollisch: »Wir haben immer gehofft, dass es besser würde. Er war oft im Fernsehen, gab viele Konzerte. Dann kam irgendwann auch >Das Boot<. Wahrscheinlich haben wir den Vertrag immer nur von Album zu Album verlängert. Ingfried Hoffmann und Otto Draeger waren zudem als Produzenten völlige Missgriffe für Grönemeyer, die konnten sein Potenzial nicht ausschöpfen. Andererseits zeigte er damals auch noch keine Ambitionen, selbst zu produzieren.«
Grönemeyer selbst sagt: »Auf >Zwo< habe ich die ersten Gehversuche gemacht im Texten«, doch war er damals »noch recht textlastig, inzwischen ist, glaube ich, die Musik stärker geworden. Die Texte sind ganz anders geworden. Die Musik war damals etwas bieder, würde ich heute sagen.« 1980 blieb auch »Zwo« erfolglos, später aber wurde die Ballade »Ich hab dich lieb«, einer der ersten von Grönemeyer selbst komponierten und getexteten Songs, zu einem Evergreen der Fans - speziell in Österreich. Dort riefen Konzertbesucher jahrelang: »Herbert, i hoab di liab!« Doch Grönemeyer ging es nicht so sehr um den Erfolg, sondern ums Gefühl. Da er als Schauspieler gut besetzt wurde, konnte er es sich leisten, die Musik als Hobby zu betreiben, auch wenn er in frühen Jahren teilweise nur tausend Mark im Monat verdiente. So gab er beispielsweise auch vor fast leeren Hallen Konzerte - und hatte auch noch Spaß dabei: »Das erste Konzert ist ausgefallen, da war nur eine Karte verkauft, das war in Münster. In Kiel auch, da war auch nur eine verkauft. Und dann haben wir gespielt in München, in der Alabamahalle, da waren, glaube ich, fünf Karten verkauft, da hat der Veranstalter gesagt, wir machen das ein bisschen voller, wir stellen ein paar Bänke rein, dann sieht das nicht so leer aus. Da gehen über tausend Leute rein. Es waren zwölf oder dreizehn Leute da, wir haben vier Zugaben gegeben, das war ein schöner Abend.« Nach »Grönemeyer« und »Zwo« war nun die Zeit gekommen für einen Schritt nach vorn. Die beiden folgenden Alben »Total egal« und »Gemischte Gefühle« produzierte der Vater des deutschen Soul, Edo Zanki. Zudem formierte Grönemeyer in dieser Zeit (1981 bis 1984) seine Band und fand musikalisch und textlich seinen Stil. Zanki: »Wenn man wissen möchte, was in den zweieinhalb Jahren passierte, als ich Grönemeyer produzierte, muss man sich nur die beiden GrönemeyerPlatten davor anhören, dann weiß man das. Die Analyse ist richtig, durch die Arbeit mit mir und meiner damaligen
Band - von der ich Herbert auch erst überzeugen musste, aber klug und weitsichtig, wie er ist, hat er das schnell geschnallt - hat er selbst seine spezielle Sprache entwickelt, seinen speziellen Blick. Mit diesem Aspekt haben wir möglicherweise sehr wenig zu tun gehabt. Das war eine persönliche Entwicklung von Herbert, der sich genauer darauf eingeschossen hat, was seine Themen sind und wie er sie behandelt. Aber musikalisch haben wir in dieser Zeit den Künstler Grönemeyer miterfunden und mitgeprägt. Er kam aus der Theatermusik und hatte immer schon ein bestimmtes Wesen an sich, aber er war stilistisch noch sehr unsicher. Die erste Platte, die wir miteinander gemacht haben, war noch ein wildes Sammelsurium, das reichte von der >Currywurst
Gemischte Gefühle< war der Vorläufer jeder weiteren Platte. Das ist die eine Seite. Die andere ist: Das Publikum muss bereit sein, einen Künstler zu akzeptieren. Gerade wenn jemand ungewohnt klingt und neu definiert, was deutsche Liedermacherei bedeutet, wie Grönemeyer mit einer vollkommen ungewohnten Singweise - wo ich heute noch denke, die Hälfte davon ist eine schlechte Marotte, der Rest aber ist großartig -, dann braucht eine große Masse Menschen, die er später gefunden hat, eine Zeit, um ihn zu verstehen. So gesehen haben wir alles richtig gemacht. Schon die erste Platte, die wir gemeinsam gemacht haben, war substanziell etwas anderes als diese komischen bigbandigen SeltsamAlben, die er davor gemacht hat. Auch nach >Bochum< hat er ja noch ein paar schlechtere Alben gemacht, bevor er nun mit >Mensch< ganz auf der Höhe seines Könnens und der Höhe der Zeit die Leute auf dem richtigen Fuß erwischt.« Zanki machte Grönemeyer 1981 mit seiner eigenen Band bekannt: Norbert Hamm (Bass), Armin Rühl (Drums), Gaggy Mrozeck (Gitarre), Jakob Hansonis (Gitarre), Alfred Kritzer (Keyboards). Diese Gruppe übernahm Herbert Grönemeyer für sich - bis heute bildet
sie (bis auf Gaggy Mrozeck, der 1990 ausstieg) den Kern der Grönemeyer-Band. Edo Zanki erklärt, wie das kam: »Die Band und ich sind nach wie vor gute Freunde. Und mir passte das eigentlich ganz gut. Ich war als >Edo Zanki & Band< ein Performing Artist, sechzig bis achtzig Konzerte im Jahr haben wir gegeben. Jeden Einzelnen dieser Musiker hatte ich mit viel Zeit und Liebe zu dieser Band geführt. Und es erfüllt mich mit großem Stolz, dass jeder, der je in meinem Proberaum war, heute noch mit großem Erfolg Musik macht. Wir haben damals jeden Tag geprobt und waren sehr, sehr kreativ. Wir haben in manchen Jahren zwei Platten aufgenommen und achtzig Konzerte gespielt. Mir machen Konzerte zwar ungeheuer viel Freude, aber der kreative Prozess im Studio - der erste Moment, in dem ein Stück entsteht -, das interessierte mich viel, viel mehr, als die gleichen zwölf Stücke mit dieser unheimlich toll geölten kleinen Beatmaschine vorzutragen und aus dem Koffer zu leben, rumzureisen. Also habe ich mit meinem Bruder in unserem damaligen Proberaum ein Studio gegründet. So probte die Edo-Zanki-Band also in einem beginnenden Studio. Unter anderem habe ich in dieser Zeit Lou Lafayettes Wolfsmond produziert, was auch schön erfolgreich wurde. Und dann rief mich eines Tages der passende Intercord-A&R an, Charly Rothenburg, und sagte: >Wir haben hier so einen Schauspieler, der singt, mit dem haben wir schon zwei Platten gemacht, hör doch du dir das mal an. Ich hab mit dem gesprochen, ich glaub, der will mit dir arbeiten.< Also kamen Herbert und Rothenburg zu mir, wir redeten miteinander, und Herbert hinterließ mir jede Menge Bänder. Und auf diesen Bändern befand sich im Grunde alles, was Grönemeyer auch ausmacht: Das war so ein knödelnder Pianist, der irgendwelches Fantasie-Englisch sang.« Zanki weiter: »Ich war damals ein viel besserer Profi als er, denn ich konnte mit einer gewissen Faszination diese unglaublich tollen, mutigen Diletantennummern anhören. Obwohl er ja damals schon ein richtiger Komponist war. Aber ich konnte mich dieses Charmes nicht erwehren. Außerdem,
wenn die Intercord will, dass ich eine Platte für sie mache mit einem Menschen, der gerade >Das Boot< dreht warum nicht? Ich hatte meine Band und schlug vor, dass wir uns mit Herbert trafen. Bei der ersten Platte war Herbert noch gar nicht recht damit einverstanden, dass da jetzt die von mir empfohlene Band spielen sollte. Er befürchtete offenbar, dass seine Stücke unter die Räder kämen, wenn sich erst mal die Dynamik einer eingespielten Band entfaltete. Wir hatten auch ein paar Musiker dabei, die Herbert empfohlen hatte, und wir haben eine ganz gute Arbeit hinbekommen. In diese Zeit fiel auch die Loslösung zwischen der Band und mir. Ich wollte viel lieber mehr produzieren, die wollten ganz gern eine Band sein und weiterspielen, und sie hatten mit Recht das Gefühl, es wäre jammerschade, wenn so eine klasse Band sich zerstreut. Herberts Platte sollte präsentiert werden, da brauchte man natürlich eine Liveband, nach und nach bildete sich eine Freundschaft heraus, und dann folgte eine sehr intensive Zusammenarbeit bei unserem zweiten Album >Gemischte Gefühle<. Da war es geradezu logisch, dass sich die Band einerseits von einer Vaterfigur wie mir löste, die nicht mehr auf Tour wollte, und es war unglaublich klasse, dass da ein starker Mirnach-Typ wie Herbert um die Ecke kam, an dessen Musik sie einen großen Anteil hatte. Es passte. Manchmal, wenn zwei Boote aneinander vorbeifahren, passt es gerade unheimlich gut, dass die Mannschaft wechselt. So war es hier.« Die Band war auch nicht unzufrieden. Gitarrist Gaggy Mrozeck erinnert sich: »Unsere Band war ursprünglich von der damaligen CBS für Edo zusammengestellt worden. Als der anfing, mehr Studioarbeit machen zu wollen, versuchten wir, die Band aufrechtzuerhalten, weil wir nämlich eine klasse, eingespielte Band waren. Herbert war einer der ersten Produktionsaufträge für Edo, und so war die ganze Band bei dem Projekt wieder vereint. Es gab danach auch einige Doppelkonzerte, wo die gleiche Band erst Herbert Grönemeyer und dann Edo Zanki begleitete. Wir haben auch noch mit einem dritten Sänger
gearbeitet, Jeff Harrison, und sind als >The Rox< getourt, im Westen und in der DDR.« Grönemeyer und die Band näherten sich einander also langsam an. »Anfangs war das für uns ein ganz normaler Studiojob, wir haben ihn begleitet«, berichtet Mrozeck. »Seine Art Musik war für uns ungewohnt. Aber das waren ja zuerst nur drei oder vier Wochen im Studio und dann noch eine bescheidene Tournee. Das war unproblematisch, schon weil es zu dieser Zeit keine besonders enge Zusammenarbeit oder Bindung gab.« Letztlich gefiel der Mannschaftswechsel der nächtens aneinander vorbeiziehenden Boote auch Grönemeyer, obwohl er gerade mit einem anderen Boot eher unangenehme Erfahrungen gemacht hatte: Die Dreharbeiten zu Wolfgang Petersens »Das Boot« waren »schon am Rande des Erträglichen. Das wurde alles im Studio nachgestellt. Wenn das Boot unterging, mussten wir oben das Luk schließen, und über uns war eine Tonne mit tausend Litern Wasser, dann knallten einem tausend Liter Wasser auf den Kopf, und dann fiel man da durchs Loch, dann kam man unten an, und dann sagten die: Nö, das war noch nix. Dann ging man wieder hoch. Und wenn man das fünfzehnmal am Tag machte, hat man schon das Gefühl, man hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Grönemeyer hatte in dem Film sogar eine Art »heimliche Hauptrolle« inne, wie Kameramann Jost Vacano erläutert: »In >Das Boot< wollte ich den Film mit den neugierigen Augen des Kriegsberichterstatters Herbert Grönemeyer zeigen.« Doch danach verkauften sich weder dessen Alben besser, noch wurden ihm sensationelle Hollywoodrollen angetragen - im Gegenteil: Nichts als den blonden NaziOffizier sahen die Amis in ihm und boten »eine ziemlich hohe sechsstellige Summe«. Doch Grönemeyer lehnte ab: »Nein zu sagen habe ich schon mit siebzehn gelernt, als man mich mit viel Geld ködern wollte, Schlager nach dem Motto >Einsamkeit soll deine Zukunft sein< oder so was in der Art zu singen.« Denn »Kohle kann das nicht ersetzen, um was man sich im Hirn beschissen hat. Ich
überlege mir bei jedem Angebot sehr genau, bevor ich zusage. Da muss alles stimmen: der Stoff, der Regisseur, die Besetzung. Außerdem muss ich meine Grenzen erkennen und darf nicht glauben: Ich kann alles.« Auch Jahre später noch war die Erinnerung an »Das Boot« getrübt: »Es ist für mich nicht ganz einfach, den Film noch einmal zu sehen, weil die verschiedenen Seelenzustände, die ich während der 140 Drehtage hatte, noch einmal hochkommen. Man sagt ja nicht von ungefähr, dass sich Schauspieler bei Filmen mit über hundert Drehtagen eigentlich nur noch erschießen können. Die Zeit beim >Boot< war mein bösestes und mein schönstes Jahr als Schauspieler.« Denn »die Arbeit war faszinierend, die Produktionsbedingungen dagegen unverschämt. Die haben uns behandelt wie den letzten Dreck. Von den Arbeitsund Vertragsbedingungen her einfach lieblos.« Hinzu kam: Auf den Plakaten wurden die Schauspieler nur winzig klein gedruckt, der Filmverleih pries als wahren Star nur das titelgebende U-Boot selbst an. Grönemeyer: »Was der Verleih gemacht hat, ist eine Riesensauerei und typisch dafür, wie in Deutschland mit Schauspielern umgegangen wird. In der Werbung stand: Der Hauptdarsteller ist das Boot, die Schauspieler sind alle unbekannt. Eine Unverschämtheit. Es haben Leute wie Jürgen Prochnow und Bundesfilmpreisträger Bernd Tauber mitgespielt, und auch alle anderen« - darunter Heinz Hoenig, Martin Semmelrogge, Uwe Ochsenknecht, Klaus Wennemann, Claude-Oliver Rudolph, Jan Fedder »haben mit Liebe und Disziplin gearbeitet. Das ist für mich ein Ei, was immer noch auf diesem Film lastet. Man hätte ja wenigstens sagen können, es sind die Besten, die wir bekommen konnten, und alle haben toll gearbeitet. Schauspieler müssen geliebt werden, um Selbstbewusstsein zu entwickeln«, klagte er. Mittlerweile haben übrigens zahlreiche »Boot«-Stars ebenfalls Platten aufgenommen, allerdings keiner so erfolgreich wie Grönemeyer: Heinz Hoenig besang 2001 die »Familienbande«, Jan Fedder spielte mit seiner Band Big Balls 1998 »Aus Bock«, Uwe Ochsenknecht kann gar
auf eine echte Musikerkarriere zurückblicken, 2001 versuchte er sich als »Singer«, zuvor auch schon auf Deutsch im »O-Ton«, und bereits in den Neunzigern sang er einige englischsprachige Platten ein. In Edo Zankis Karlsdorfer »Kangaroo«-Studio - damals noch in einer ehemaligen Zigarrenfabrik untergebracht, heute direkt gegenüber in einem Ex-Kino gelegen - trafen nun also zwei echte Künstler aufeinander. Zanki brachte den deutschen Soul mit - und Grönemeyer? »Der hatte einen Song, der fing an mit: >Ich leg mein Gefühl, hou-hou-hou, lieber in den Kühlschrank<. Ich sagte: Nur über meine Leiche! Da haben wir ungeheuer lang dran rumgezogen, das wurde dann am Schluss: >Zusammen mit dir können die Tomaten ruhig fliegen, können mir die Völker zu Füßen liegen, zusammen mit dir ist mir alles total egal<, der Titeltrack. Er hasst mich heute noch dafür, dass ich gesagt habe, so ginge das auf keinen Fall. Aber ich habe eben genau die Funktion ausgeübt, die notwendig war: Ein Hindernis steht im Weg, da muss man sich jetzt mal besonders anstrengen.« Interessanterweise findet sich genau das damals verworfene textliche Motiv, das vielleicht all die Jahre in irgendeiner Tiefe des Unterbewusstseins lagerte, in »Unbewohnt« auf dem Album »Mensch« wieder: »Ich steh auf, streun durchs Haus / Geh zum Kühlschrank, mach ihn auf / er ist kalt, er ist leer ( ...) Ooh / Es tropft ins Herz / Mein Kopf unmöbliert und hohl / Ooh«. 1981 war Grönemeyer ein Alleinunterhalter. Zanki erzählt: »Da sang jemand zum Klavier und spielte alle anderen Funktionen auf dem Piano mit. Das mussten wir ihm teilweise ein bisschen abgewöhnen. Aber das sind rein handwerkliche Sachen. >Total egal< kam von einem Herbert Grönemeyer, der die Möglichkeiten einer Band noch nicht kannte. >Gemischte Gefühle< machte er schon mit der Erfahrung des vorherigen Albums.« Auch damals schon ging es natürlich um die Frage: Kann dieser Herbert Grönemeyer denn nun eigentlich singen -
oder nicht? Zanki ist sicher: »Er ist ein hochmusikalischer Mensch mit ungeheuren Marotten. Und diese Marotten sind eben stilbildend. Alles richtig machen kann nämlich auch komplett falsch sein. Im Fall Herbert Grönemeyer kann man einen Großteil dessen, was so unverwechselbar Grönemeyer ist, als technischen Mangel auslegen. Aber gerade das macht ihn zu hundert Prozent aus. In Grönemeyers Fall ist auch die teutonische Steifheit eine wichtige Zutat. Dadurch macht er vielleicht Menschen, die selbst ein bisschen steif sind, Musik erst begreifbar. Dieser Mann ist mit Schubert und Brahms und Schumann aufgewachsen, mit Ruhrpottliedern und seinem Fußballverein, und das alles ist der Filter, durch den seine Musik durch muss. Er ist ein großer Musiker und mag in den einzelnen Disziplinen nicht zur Weltspitze gehören, aber das ist auch egal. Es gibt diesen speziell deutschen Kontrollzwang, dass man alles sofort in allen Aspekten und in Gänze verstanden haben muss. Das widerspricht allem, worum es in Kunst geht: Dass man intuitiv etwas erspürt, dass man glaubt, etwas verstanden zu haben, was man nach dem zehnten Hören anders auslegt, darin besteht die besondere Faszination von Kunst und Musik. Das Gesamtphänomen ist so stark und besonders!« Speziell bei der Ballade »Vergiss es, lass es« (ursprünglich der Opener »Don't Begin« auf dem Ocean-Orchestra-Album) nuschelt Grönemeyer stark, aber Zanki erklärt: »Ich habe mich auf seine besondere Art eingelassen. Ich habe das nicht als Fehler gesehen. Manchmal habe ich gesagt, er könnte doch bei einem Liebeslied nicht einfach rumbellen und die Texte rufen zur Musik. Das verstand er überhaupt nicht. Er empfand das als superzart. >Anna<, seiner Frau gewidmet, empfindet er als total zart. In der Beziehung ist Herbert Grönemeyer eben hundertfünfzigprozentig stimmig. Der hat nie anders gesungen, als er es wollte. Und ich als Fachmann war nicht Fachidiot genug, das für falsch zu halten, sondern war Mensch und Künstler genug, das zu empfinden, was es ist.«
Tatsächlich ist »Total egal« musikalisch noch ein gut sortierter Gemischtwarenladen: »'n Bombenlied« ist soulig-funkig (die Musik stammt von Edo Zanki und seinem Bruder Vilko), die »Currywurst« ist eine klassische Liedermachernummer aus der Theatermusiktradition, »Kino« ist eine Mörderballade im Schafspelz, »Ich will's nicht« eine Antisex-Rocknummer wie aus einem schrägen Musical (die Gitarren nehmen schon den Riff von »Musik nur, wenn sie laut ist« vorweg), »Darf ich mal« ist beinahe ein Boogie. Auf dem Album fand sich zudem das Liebeslied »Anna« für Grönemeyers damalige Freundin das man nach ihrem Krebstod 1998 als eine Art Weissagung zu lesen begann: »Bist dir sicher, du wirst nicht alt / gesund zu leben lässt dich kalt / rauchst so viel, wie's eben geht«. Einen ersten Airplay-Hit zumindest im Ruhrgebiet landete Grönemeyer mit der »Currywurst« (wenn es auch noch nicht für einen echten Chart-Entry reichte): »Gehse inne Stadt / was macht dich da satt / 'ne Currywurst«, sang er. Jahrelang galt die Tatsache, dass Grönemeyer eine Currywurst besang, als Beweis dafür, wie tief verwurzelt er im Ruhrgebiet war. Das stimmt ja auch - verfasst hat aber ausgerechnet diesen Song eben nicht Grönemeyer selbst, sondern sein altes Songwriterteam Krause/Triebel. Dann schrieb Komiker Diether Krebs (»Ich bin der Martin«) in Blödellaune einen neuen Text für die Nummer - fertig war die »Currywurst«. Der inzwischen verstorbene Krebs selbst nahm das Stück erst 1998 als Herr Krups in rheinischem Akzent selbst auf. Grönemeyer erklärte, wie er an die LP-Produktion heranging: »Ich habe immer versucht, Material zu schreiben, das gut genug ist, dass ich mich damit auf die Bühne stellen kann. Über die Jahre hat es sich entwickelt, dass das so persönlich wie möglich wurde. Angefangen, selber zu texten, habe ich erst 1982 ab >Total egal<, meiner dritten Platte. Da hatte ich gemerkt, dass es für mich keine geeigneten Texter gibt. Auf meinen ersten
Tourneen habe ich alles an deutschen Liedern zusammengekramt, was ich kannte. Ich habe Sachen gesungen wie: >Ich küsse heiß den warmen Sitz, dort wo du breit gesessen bist.<« Fotografiert hat Grönemeyer - auf Edo Zankis Wunsch hin - der Berliner Starfotograf Jim Rakete. »Ich wusste überhaupt nicht, wer Herbert war«, sagt er heute. »Als ich die Plattenfirma fragte, wie denn der so singt, meinten die, singen könne man nicht wirklich sagen, da ruft einer eher so rum. Ich habe mir also die ersten Sachen angehört und fand die sehr in der >Blood, Sweat and Tears<-Tradition, Marke David Clayton-Thomas, und so hat er seine ersten Sachen ja auch gesehen. Dass er sich dann mit dem Deutsch solche Mühe gegeben hat und Themen berührte, an die sich kein anderer rangewagt hat, angefangen mit >Currywurst<, und überhaupt, das Revier zu besingen, das war ein gewaltiger Schritt. Damals hat man entweder über den Frieden gesungen oder über Beziehungskisten, und die sind halt immer aus Holz. Er war ja ein Nachkömmling. Vorher hatten schon andere versucht, Rockmusik mit deutschen Texten zu machen, unter anderem Udo Lindenberg und Marius MüllerWesternhagen. Auch Interzone, die ich damals gemanagt habe, und später auch die Nina Hagen Band und Spliff. Alles keine Neue Deutsche Welle. In diesem Umfeld hatte man nicht unbedingt auf einen wie Grönemeyer gewartet. Es fing ja auch sehr schwer an. Es war eine Zeit bedeutenden Umbruchs. Vor dieser Bewegung, bis etwa 1978, war Deutschland ganz fest in amerikanischer und britischer Hand. Außer Schlagern und Volksmusik gab es nichts aus Deutschland. Es war die Zeit der Supergruppen, Styx, Journey, Zappa, alles amerikanisch. Dann kam wie eine Explosion die Nina Hagen Band daher. Es gab dafür ein Riesenbedürfnis. Der Erfolg hat uns damals selber überrascht, genau wie später bei Nena, die ich ebenfalls einige Zeit gemanagt habe. NDW dagegen, das waren Nierentische und glänzende Anzüge, das waren Leute, die sich nicht so recht entscheiden konnten zwischen dem, was sie hassten, und dem, was sie
liebten. Ideal war so eine Band, die in einem Stück ihre musikalische Kindheit ironisch aufarbeiten konnte. Trio, die einem mit ihren Minimalismen das Fürchten lehren konnten. Oder Heinz Rudolf Kunze, intellektualisierend und kritisch. Der Herbert hatte eine ganz andere Qualität, der hatte etwas ganz Urwüchsiges an sich und hat nicht immer mit dem Finger auf irgendwas gezeigt. Der hat über ein blindes Mädchen einen Song gemacht oder über eine Currywurst, das war viel direkter und zugleich unaufhaltsamer.« Rakete fand auch das erste Fotoshooting schon sehr angenehm: »Er kam zu uns nach Berlin. Das war lustig, wie der drauf war, wir haben viel gelacht. Er fuhr schon damals einen Jaguar, trug schon damals einen Trenchcoat, und schon damals hatte er vorne langes Haar, das er immer so zurückschmeißen musste. Er hatte immer den Mut, zu sich selber zu stehen.« Und auch Grönemeyer gefielen die Aufnahmen. »Herbert hat sich, glaube ich, mit mir und später in London auch mit Anton Corbijn ganz wohl gefühlt, weil wir ihn für bare Münze nehmen. Ich habe nicht gesagt, zieh mal den Trenchcoat aus und probier den lila Skianzug, der Funken schlägt, weil der gerade modern ist«, erinnert sich Rakete. Er zeigte Grönemeyer auf dem Cover in Schwarzweiß, im Trenchcoat und mit zerzaustem Haar, sehr düster. »Eher skeptisch«, findet Rakete selbst die Bilder. »Aber so war er ja auch damals. Das finde ich total richtig. Wenn wir ihn auf einem Trampolin hätten rumspringen lassen, was hätte das gebracht? Man muss schon in seiner Arbeit Farbe bekennen, das ist man sich schuldig.« Das Covermotiv für »Total egal« bildet also ganz einfach ab, wie Rakete den Künstler kennen lernte: »Er kam erst mal an, und dann war er da und wir haben geredet, und ganz am Ende, nachdem wir ganz viel gequatscht hatten, sind wir wieder beim ersten Eindruck gelandet: Ich hab gesagt, zieh deinen Trenchcoat wieder an, machen wir doch einfach so mal ein paar Fotos. Und ich glaube, das hat auch was. Ab da machten wir das immer so.«
Rakete und Grönemeyer verstanden sich auf Anhieb. Der Fotograf: »Interessant ist immer der erste Händedruck. Ich möchte immer vorher so viel wie möglich wissen und vergesse das in genau dem Augenblick, in dem jemand zur Tür reinkommt, denn dann hilft es einem nichts mehr. Aber wie der da so reinkam ... ich fand seinen Humor und sein Selbstbewusstsein sehr bemerkenswert. Er ist jemand, der sich gern streitet, mit dem es Spaß macht, sich zu streiten. Er kann Dinge so schön zuspitzen, ist immer radikal und nie ohne Humor. In der Theaterarbeit geht es gar nicht anders. In Bochum haben sie mit Zadek mal so lange gestritten, dass Herbert von einer Probe gegangen ist. Nach einiger Zeit kam er mit eingekniffenem Schwanz wieder, weil es dann doch nicht so uninteressant gewesen war, und Zadek ließ ihn erst mal ein halbes Jahr lang Kerzenleuchter über die Bühne tragen.« So empfand auch er Grönemeyer keineswegs als jungen, unbedarften Künstler. »Nein, ganz im Gegenteil. Herbert hatte als Musiker den Fuß noch nicht auf dem Boden, als Schauspieler aber sehr wohl. Und er hat eine sehr strategische Herangehensweise an Dinge. Der Erfolg ist über ihn nicht hereingebrochen, Herbert hat immer in Betracht gezogen, dass er erfolgreich sein könnte, dass >Das Boot< landen würde. Das ist schon beachtlich. Beim Dreh zum >Boot< gab es Momente, wo die Produktion nicht mehr abgesichert war, wo die Leute nicht mehr ordentlich versichert waren, und da ist Herbert aufgestanden und hat gesagt: >Das geht so nicht, so drehe ich keine einzige Klappe mehr.< Auch wenn die Ampeln auf Rot stehen, hört Herbert nicht auf, ist nicht beeindruckt. Es ist schwer, Herbert zu beeindrucken. Er ist wirklich ein guter Typ in dem Sinne, dass er bedingungslos ist. Er zieht nicht den Schwanz ein, es sei denn, er hält die Gegenposition für klüger oder interessanter. Ansonsten setzt er sich durch.« Das schließt Raketes Meinung nach auch die schlagerhaften ersten Alben ein: »Anfangs steht man einer Maschine gegenüber, die einem gnadenlos kommuniziert, was sie will. Und viele von den Sachen, die man gesagt bekommt,
sind ja auch gut. Aber man muss sie richtig für sich ordnen. Man darf sich dabei nicht verleugnen. Ich finde nicht falsch, wenn man sich Risiken aussetzt und Dinge probiert. Aber ich finde ganz falsch, Dinge zu machen, die nicht in Übereinkunft mit den kritischen inneren Mitarbeitern stehen. Herbert hatte dafür immer ein Gefühl.« Doch trotz aller Mühen war »Total egal« noch immer nicht mehr als ein Achtungserfolg, auch wenn die »Brigitte« damals schon fand: »Vom zarten Liebeslied bis zum harten Rock-Stück gelingt es >Herbie< überzeugend, Text und Musik zu verbinden.« War Zanki denn wenigstens von Anfang an klar gewesen, auf was für ein schwer verkäufliches Projekt er sich da eingelassen hatte? »Das ist keinesfalls so«, sagt der Producer. »Ich habe noch nie eine Platte gemacht, von der ich nicht geglaubt hätte, sie würde ein Erfolg. Und wo ich nicht alles dafür getan hätte. Ich würde auch gern einmal mit dieser seltsamen >Fama< aufräumen: Diese Platten waren sehr wohl Erfolge! Heute lacht vielleicht jemand über 80000 Platten, aber für dieses Segment von Musik war das gut. Inzwischen hat sich das Segment vergrößert. Aber Erfolg für Grönemeyer ist noch nicht mal diese große Zahl von Platten, die er verkauft. Für mich besteht der Erfolg darin, dass jemand zwanzig Jahre lebendig geblieben ist, ohne dass er sich dauernd verbogen hätte. Unsere beiden Platten haben inzwischen mindestens schon Gold, aber speziell >Gemischte Gefühle< war der Anheizer für die nächsten Sachen, war inhaltlich auch schon ganz ähnlich. Die Platte sollte eigentlich bereits >Bochum< heißen, aber das haben wir ihm alle ausgeredet, warum sollte die >Bochum< heißen, die hat doch gar nichts mit Bochum zu tun? Er sagte aber: >Da ist doch der Edgar Reitz jetzt fest, das ist doch ein Thema! Der Ruhrpott, das ist mein Thema, mein Vater da unten im Bergwerk, ich will etwas über den Ruhrpott machen.< Der Gedanke war absolut richtig, zu >Gemischte Gefühle< hätte er aber wahrscheinlich wirklich nicht gepasst, und so kam
Herberts richtiger Instinkt mit der Entwicklung des Publikums gut zusammen - bei der nächsten Platte.« Grönemeyer selbst findet nach wie vor »>Gemischte Gefühle< genau so gut wie den erfolgreicheren Nachfolger >Bochum<«. Und gab sich schon damals größte Mühe mit dem Sound: Er hat seine ersten LPs noch selbst geschnitten, hat »da gesessen mit der Lupe und gesagt: Noch tiefer reinschneiden, da gibt's noch mehr Bässe, so kann man noch mehr rausholen.« Auf »Gemischte Gefühle« findet sich Grönemeyers erster amtlicher Hit: »Musik nur, wenn sie laut ist« stieg am 1. August 1983 auf Platz 22 der Airplay-Charts, auch wenn Kritiker den Sänger noch als »diesen >Currywurst<essenden Nachfolger von Udo Lindenberg« ansahen. Außerdem ist auf der Platte ein weiterer Vorläufer von »Mambo«: »Hallo, was macht'n ihr«. Edo Zanki berichtet: »Das war eine Zeit, in der ich hochsensibles, wunderschönes Zeug mit meiner Freundin Ulla Meinecke machte, >Die Tänzerin< zum Beispiel. Zur gleichen Zeit habe ich mit Grönemeyer >Gemischte Gefühle< aufgenommen. Ich fand, das darf eckig, das darf seltsam klingen. Ein Song wie >Etwas Warmes braucht der Mensch<, der seine Freundschaften in die Kölner Schwulenszene hinein verarbeitet, und sich dabei auch einen gewissen Mut herausnimmt, benötigt eine ganz andere Machart. Ich rief jemanden an, der diese komischen Simmons-Schlagzeuge hat, die so knallhart klangen. Hinterher kann ich das erklären, aber damals hätte ich nicht gewusst, warum wir das nun so machen. Da war einfach dieses Phänomen Grönemeyer, von dem ja noch keiner wusste, wo es hingehen soll, und ich folgte meinem Instinkt. Mehr hat keiner gewusst. Wir alle spürten diese ungeheure Energie, die von diesem Typen ausging, eine große Faszination. Rakete hat gesagt: >Der hat die Attraktivität eines Verkehrsunfalls. Du musst einfach hinsehen, ob du willst oder nicht, weil's halt knallt.< So ungefähr war das. Herbert war eine faszinierende Person, ein faszinierendes Phänomen, an
dem ich eine Zeit lang habe mitbasteln dürfen. Ich bin der Überzeugung, dass der Herbert durch seine Art auch ein durchsetzungsfähiger Schauspieler geworden wäre, er wäre vielleicht auch ohne uns alle ein durchsetzungsfähiger und beliebter Musiker geworden, und mit seiner Ausstattung an Kraft, Kämpfertum und Talent wäre er vielleicht auch der Chef von Esso Deutschland geworden und hätte das supererfolgreich gemacht. Ich bin überzeugt, dass der Herbert ein Mensch ist, der alles, was er angepackt hätte, supererfolgreich gemacht hätte. Der wichtigste Grund für Herbert Grönemeyers Erfolg ist Herbert Grönemeyer. Ich glaube auch, dass er ein ungeheuer exhibitionistisch veranlagter Typ ist. Wobei ihm zugleich diese seltsame deutsche Innerlichkeit eigen ist. Und gleichzeitig ist er unheimlich zeigegeil. Er möchte gern geliebt werden. Das mag man ihm nicht vorwerfen, das möchten wir alle. Jeder möchte gern geliebt werden. Jeder möchte auch für irgendetwas gehalten werden. Das ist eine der treibenden Kräfte für Herbert Grönemeyer.« Wie schon der Vorgänger »Total egal« - und anders als das kommende Album »Bochum« - wurde »Gemischte Gefühle« zügig aufgenommen: Zwei bis drei Wochen Studiozeit reichten, »man brauchte ja auch nur vierzig Minuten Musik«, sagt Zanki. Eine Art Schocker war damals der Titel »Moccaaugen«, scheinbar eine Ballade, aber mit einem sehr gewagten Text: »Ich hasse ihn, den nächsten Fick (...) Du kommst herein und siehst mich pendeln / mit einem Strick um meinen Hals / jetzt ist es aus mit süßem Tändeln / ich liebe dich und all dem Schmalz«. Grönemeyer später: »>Moccaaugen< hat von mir noch niemand im Radio gespielt. Im Südwestfunk hat es mal einer gemacht, und immer, wenn's um Ficken geht, hat er reingeredet.« Grönemeyer »hat sexuell bestimmte Anspielungen gemacht, die sich vor ihm keiner getraut hat, auch Skurrilitäten«, erinnert sich Zanki. »Von Leuten, die sich erhängen, von Schwulen, von jemand, der den Stuhl küsst, auf dem sie vorher noch saß ... diese Art von Anspielungen ist in schauspielerischen Zirkeln durchaus
okay, aber er trug sie in die Rockmusik, die immer schon genauer wusste, was nicht erlaubt ist, als was erlaubt ist. Grönemeyer hat diese Grenze ein Stück weiter geschoben. >Ich hasse ihn, den nächsten Fick<, das war natürlich ein Skandal. Was haben wir dafür gekämpft, dass das drauf bleiben konnte!« Für die künstlerische Kraft (innerlich) gekämpft hat Zankis Ansicht nach auch Grönemeyer selbst: »Ich glaube, dass die Qualität der Band und unserer Arbeit darin bestand, dass ihm zum ersten Mal Leute zugehört und auf einem Niveau geantwortet haben, so dass er zu anderem und Besserem im Stande war und sich herausgefordert sah. Er liebt ja Herausforderungen: nächster Berg, nichts wie rauf. Er kam mit Leuten in Berührung, die musikalisch ein Niveau erreicht hatten, wo er dachte: Da gehöre ich eigentlich hin, aber da muss ich noch strampeln. Das setzt bei ihm ungeheure Kräfte frei. Ich kenne niemanden, der so gut und so schnell lernt, so schnell begreift, worum es geht.« Grönemeyers Freundin Anna besuchte mehrfach die StudioSessions. Zanki: »Ich habe sie ein paarmal im Studio gehabt und dazu gebracht zu singen, was sie sich überhaupt nicht getraut hat. Sie hat das ganz kleinmädchenhaft getan; sie ist im Chor von >Kaufen< zu hören.« Und Grönemeyer stellte damals schon klar und kategorisch fest: »Meine Liebeslieder beziehen sich entweder auf Anna oder sind rein theoretischer Natur.« Und: »Ich habe, und davon zehre ich, zwar kein reges, aber doch ein gewisses Liebesleben hinter mir. Andererseits würde ich ein privates! Erlebtes nun den anderen nicht ungeschminkt mit dem Hintern ins Gesicht setzen.« Früh schon - Anfang zwanzig - entschied er sich für Anna Henkel und blieb ihr treu bis zu ihrem Tod. Er erklärte selbstbewusst: »Ich habe genug Frauen kennen gelernt.« Kommerzieller Erfolg war Grönemeyer nicht so wichtig wie künstlerischer Erfolg und kreative Freiheit. Edo Zanki und er trafen einmal Herbert Kollisch im Foyer der Intercord: »Er sagte, so toll sei das ja mit den
Plattenverkäufen nicht. Woraufhin Herbert sagte: Ich mache die Platten, die Plattenverkäufe macht ihr, und es ist an mir zu fragen, warum die Verkäufe nicht so gut sind. Und damit hat er völlig Recht.« Kollisch bestätigt: »Er war immer schon eine starke Persönlichkeit, aber nicht so rigoros wie später. Auch in den Verhandlungen war er relativ moderat. Divenhaftigkeit war in Ansätzen zu erkennen, aber noch nicht ausgeprägt.« Zanki erinnert sich noch an einen weiteren Vorfall, der zeigt, wie selbstbewusst - oder ganz einfach stur Grönemeyer schon damals war: »Der >Kölner Express< hatte eine Bühne aufgebaut, wo Grönemeyer am Klavier saß und spielte. Da drängelt sich ein Typ vor und ruft: >Hör auf, du schwule Sau!< Jeder andere hätte dem eine reingehauen oder wäre von der Bühne verschwunden. Aber Grönemeyer gibt das einen richtigen Schub, und deshalb spielte er noch zwei Songs!« Grönemeyer selbst sieht die Schuld für einen derartigen Misserfolg ohnehin nicht bei sich: »Ja, ich habe mal in Köln am Tanzbrunnen gesungen, da war ich noch nicht so bekannt, und da haben sie als Erstes gesagt: >Geh nach Hause, du schwule Sau<, und dann haben sie mir die Pedale vom Klavier geklaut, mich ausgepfiffen, ununterbrochen ausgepfiffen. Das hat mir gezeigt, das war nicht das richtige Publikum.« Nicht nur live hielt Grönemeyer durch, auch sonst tat er für seinen Durchbruch, was er konnte: Statt zur OscarVerleihung nach Hollywood zu fliegen (»Das Boot« war für sechs Goldmännchen nominiert, bekam allerdings keinen), besuchte er Thomas Gottschalks damalige Talkshow »Na, so was« und promotete seine neue LP. Und zog eine immer noch mäßig besuchte Tour durch: In Hamburg beispielsweise kamen 180 Besucher in die »Markthalle«, eigentlich traurig. Der Sänger fragte trotzdem engagiert: »Kann man meine Stimme deutlich hören und die Texte verstehen?« Und am Ende gab es reichlich Beifall für und fünf Zugaben von Grönemeyer. In Berlin besuchten sieben zahlende Zuschauer sein erstes
Konzert im Quartier Latin, im nächsten Jahr waren es an die siebzig. Obwohl Zanki und Grönemeyer einander künstlerisch bereicherten, beendeten sie nach »Gemischte Gefühle« ihre Zusammenarbeit. »Es war nie so, dass wir uns nicht leiden konnten«, erklärt Zanki. »Sieh darin vielleicht sogar eine Feigheit von mir: Ich bade gern warm. Ich umgebe mich gern mit Menschen, die ich vorbehaltlos mag. Und ich freue mich, wenn es andersherum auch so ist. Auch aus Harmonie können tolle Sachen entstehen. Dass Herbert eine Herausforderung war, in jeder Beziehung, das war natürlich auch eine große Anregung. Ich will das nicht verdammen. Ich glaube, es ist aus dieser Zusammenarbeit etwas Gutes und Interessantes entstanden. Aber ich habe mit Xavier Naidoo und den Söhnen Mannheims anderthalb Jahre an fünfzig Titeln gearbeitet - und es können hochinteressante, sehr eigentümliche Sachen passieren, ohne dass man aneinander rumbohrt. Ich glaube, es ist ein Mythos, dass Händchen haltend nur >Heidi, Heidi, deine Welt sind die Berge< entstehen kann. Herbert aber war jemand, der dauernd um die Führung stritt, obwohl er sie hatte. Ich empfinde mich als einen Unterstützer eines Künstlers, ich lasse ihn keine Prüfung ablegen. Mich störte bei der Arbeit diese ständige, eigentümliche Härte. Alles musste seltsam erkämpft werden. Aber das macht ihn auch aus; er ist, wie er ist. Ich habe diese Arbeit gern gemacht und dabei unheimlich viel gelernt, auch in der Auseinandersetzung über Texte.« Und: »Ich habe selbst und aus gutem Grund aufgehört, mit Herbert Grönemeyer und der Band zu arbeiten. Ich gönne ihnen den Erfolg mit ganzem Herzen! Aber ich habe zu Herbert Grönemeyer ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits halte ich ihn für einen der stärksten Künstlerpersönlichkeiten. Nun könnte man annehmen, dass die Stärke der Künstlerpersönlichkeit in einem speziellen inneren Charisma läge. Herbert aber erkämpft alles. Herbert ist ein kämpferischer Mensch. Auch das Produzieren war mehr Fingerhakeln mit mir als Liebe. Manchmal geht man eine symbiotische
Verbindung mit einem Künstler ein, der eine wackelt mit dem Ohr, und der andere weiß, was er meint. Herbert musste sich an mir reiben. Der brauchte immer jemanden, an dem er sich reiben konnte. Mir ist das - selbst bei einem so großen Talent wie dem Herbert - unangenehm. Ich mag Leute nicht, die so zielstrebig ihr Ziel verfolgen, dass sie auch mal bereit sind, dafür jemanden über die Klinge springen zu lassen. Ich mag solche Aspekte in der Arbeit nicht. Trotzdem ist es ja einsichtig, dass Menschen, die über eine große Kraft - auch große künstlerische Kraft, große intellektuelle Kraft - verfügen, manchmal wie ein warmes Messer durch Butter schneiden. Das findet man gut, solange man das Messer ist, aber wenn man die Butter ist, findet man das nicht so gut. Herbert ist übrigens einer der Menschen, die am besten und am schnellsten lernen, die ich je in meinem ganzen Leben getroffen habe, er hat ganz, ganz viele ungeheure Talente. Einige davon sind mir unsympathisch, auch wenn sie die Erklärung für einen Teil seines Erfolges sind. Und weil das so ist, habe ich nach der Erfahrung der zweiten Platte nicht mehr mit ihm arbeiten wollen. Besonders auch nach der Erfahrung, dass ich diese Platte als Producer begonnen habe, dann aber am Ende eine Platte in Händen halte, auf der draufsteht, Herbert und ich hätten sie produziert. Das fand ich einen bösen Vertrauensbruch. Ich hab natürlich auch sofort die Plattenfirma angerufen, den Rothenburg, der sagte: >Ach, weißt du, mach dir nichts draus, also Herbert wollte sehr gern ... er hat erzählt, er hätte so einen großen Input gehabt, und du bekommst ja auch das ganze Geld ...
Nachdem ich weiß, dass es gar kein Redaktionsfehler der Intercord ist, sondern ein Relikt aus dem Intrigenkammerl des Theaterschauspielers Herbert Grönemeyer, ist für mich der Faden gerissen, da wollt ich nicht mehr arbeiten. Möglicherweise hätte Herbert sich ohnehin einen anderen Produzenten gesucht, das steht einem Künstler ja auch vollkommen frei. Aber für mich war da der Bart ab. Ich habe Herbert nicht geliebt in seiner ganzen >BochumMensch< hingegen atmet Liebe. Und jetzt liebe ich Herbert Grönemeyer wieder einigermaßen vorbehaltlos.« Auf Nachfrage hat Herbert Grönemeyer zu seiner CoProduzentenrolle bei »Gemischte Gefühle« kein Statement abgegeben. Zeitgleich entschied sich auch Intercord-Geschäftsführer Herbert Kollisch, den Künstler zu »droppen«: »Fritz Rau veranstaltete, wenn ich mich recht erinnere, zum vierten Album eine Tournee. In München hatte Grönemeyer damals fünfzig zahlende Gäste; sie mussten die Halle mit Schulklassen auffüllen. Herberts Vertrag lief wenig später aus, und wir sprachen miteinander. Unsere Firma machte zu diesem Zeitpunkt etwa dreißig bis vierzig Millionen Mark Umsatz, und wir hatten mit ihm viel Geld verloren, sicher eine sechsstellige Summe. Ich war bereit, noch ein fünftes Album zu machen, aber nur ein Album fest, mit einer Option auf zwei weitere. Er bestand auf einen
Vertrag über drei Alben. Ich lehnte ab, also suchte er sich eine neue Plattenfirma. Und dann kam >Bochum< heraus...« Grönemeyer amüsiert sich darüber noch heute: »Meine erste Plattenfirma hat mich gekündigt ... ich soll aufhören zu singen, ich soll lieber studieren und vielleicht mal abends in einer Kneipe singen.« Kollisch gibt zu: Natürlich habe es ihn geärgert, als »Bochum« bei einer anderen Plattenfirma so einschlug. »Aber als wir miteinander sprachen, war noch keine Rede von >Männer< oder >Bochum<. Ich musste mir dann noch viele Jahre, immer wenn ich irgendetwas ablehnte, in der Firma anhören, das könnte enden >wie bei Grönemeyer<.« C'est la vie: »Wir haben sein Potenzial nicht erkannt, die Produzenten haben es auch nicht aus ihm herausgekitzelt - und er war auch noch nicht so weit. Nach dem Erfolg von >Bochum< hat er sich auch mehr zugetraut, hat sich weiterentwickelt. Bei uns hatte er seine Lehrjahre, dann kamen die Meisterjahre. Inzwischen haben sich ja auch die alten Alben noch gut verkauft, >Gemischte Gefühle< hat sogar Gold bekommen, also waren wir in der Endkalkulation trotz allem im Plus. Die Goldverleihung zu >Gemischte Gefühle< haben Herberts damalige Manager Götz und Alexander Elbertzhagen in Köln organisiert, das war sehr relaxt und er war gut drauf. Er wusste ja, dass ich in der Firma der Anführer der Anti-Grönemeyer-Fraktion gewesen war, aber da haben wir uns trotzdem gut verstanden.« Nur schweren Herzens ließ Grönemeyer die Theaterbühne hinter sich: »Theater ist schon was Tolles, das ist wie 'ne RiesenBand«, erklärte er, »die sich untereinander vielleicht nicht leiden kann, die aber, wenn sie auf den Punkt kommt, ganz toll miteinander spielen kann. Da musst du vielleicht mit vier Leuten, die sich hassen, eine Liebesszene bringen. Das ist eine Herausforderung, da ist immer was los.« Er sagt: »Ich habe meine schönsten Jahre im Theater erlebt und Glück gehabt, dabei sein zu dürfen, wie sich Künstler in der
Kantine morgens um neun abgedreht in den Armen lagen oder ihre Intrigen ausgetragen haben.« Doch für Theater blieb keine Zeit mehr - Grönemeyer nahm Platten auf, drehte Filme, spielte Konzerte. Er hatte immer schon Größeres vor, als man ahnen konnte. Für ihn war auch von Anfang an klar (auch wenn das auf den frühen Alben noch nicht so deutlich zu hören ist), dass er ein Rock- und kein Popmusiker ist: »In der Popmusik verlangt man von dir, eine Figur hochzustilisieren, die man selbst nicht ist. Da wird's irgendwie schizophren. Als Rockmusiker bleibt dir dies zumindest erspart. Er hat die Möglichkeit, Musik zu machen - auch wenn er keinen Erfolg hat. Ein klassischer Popmusiker könnte das nicht. Er muss ganz vorne in den Charts stehen, er wird an der Menge der Autogrammkarten gemessen, an seiner Medienpräsenz. Er leidet an diesem Hollywood-Syndrom.« Grönemeyer legte es nicht zwingend darauf an, in den Charts weit oben zu stehen - aber schon früh ließ er zumindest große LiveAmbitionen erkennen. Bernd Kowalzik, zugleich Geschäftsführer von Roof Music und Mitbetreiber der »Zeche«, einer renommierten Konzerthalle in Bochum, sagt: Grönemeyer »war immer sehr positiv eingestellt und sehr humorvoll. Als Mitbetreiber der >Zeche Bochum< war ich für die Programmgestaltung zuständig. Herbert wollte unbedingt dort spielen. Das war lange vor >Bochum<. Er hat genervt und gedrängelt, hatte aber leider noch nicht den Namen, um den Laden voll zu machen - da gehen über tausend Leute rein. Schließlich meinte er dann, ich solle mich nicht so anstellen: >Du hast damals auch immer bei uns zu Hause gespielt, jetzt will ich auch mal bei dir spielen.< Es kam, wie's kommen musste, dreißig Leute, große Bühne, relativ aufwändige Technik, das rechnet sich natürlich hinten und vorne nicht. Aber wir haben's halt gemacht. Bei der nächsten Tour waren's vielleicht hundertfünfzig Leute, >Bochum< war gerade erschienen. Dann kam >Männer<, und der Erfolg war nicht mehr aufzuhalten. Er hat dann noch ein paarmal hier gespielt, einmal bei einer Rockpalast-Aufzeichnung, und dann haben wir ihn als
>Zeche< auch noch in der Ruhrlandhalle präsentiert, da gehen vier- bis fünftausend Leute rein.« Aber dreißig Gäste beim ersten Auftritt in einer Halle wie der »Zeche« sind natürlich schrecklich deprimierend, und »genau das wollte ich ihm ja ersparen«, sagt Kowalzik. »Andererseits muss da eben jeder Künstler mal durch. Er aber hatte großen Spaß. Er hat sich ja auch nicht als Rockstar verstanden. Er war Pianist und Theatermusiker, aber die Möglichkeit, in der damals sehr renommierten >Zeche< aufzutreten, mit amtlicher Band und mit amtlichem Equipment, das war für ihn die Erfüllung eines großen Traums.« Und Grönemeyer revanchierte sich dann bei der Geburtstagsparty der »Zeche«: »Als die >Zeche< fünfjährigen Geburtstag feierte, November 1986, wurde auch Herbert eingeladen. Als Ehrengast. Insgeheim hoffte man natürlich, ihn mit einer All-Star-Band gemeinsam auf die Bühne zu kriegen. Herbert kam, wollte eigentlich nur dem Laden gratulieren und vielleicht noch ein paar Musikerkollegen treffen. Zunehmend aber bedrängte man ihn, doch auf die Bühne zu gehen. Auch das Publikum begann nach ihm zu rufen: Her-bert, Her-bert! Er fühlte sich genötigt, überrumpelt und wollte wieder gehen. Draußen auf dem Weg zum Taxi komme ich ihm zufällig entgegen, kann ihn beruhigen und sogar überreden. Er entscheidet: >Ich gehe nur auf die Bühne, wenn du mitkommst und singst.< Ich hatte seit Jahren nicht mehr auf einer Bühne gestanden und gesungen! Um die Situation zu retten, erklärte ich mich einverstanden. Herbert hat sich ans E-Piano gesetzt, ich habe drei oder vier Nummern mit der Bochum-Allstar-Band gesungen und habe mich dann davongeschlichen. Herbert hat dann noch ein paar eigene Titel gespielt. Der Abend war gerettet.« Noch von den ersten Konzerten her erinnert sich Kowalzik, dass Grönemeyer seine Musik von Anfang an sehr ernst nahm: »Ernst im Sinne von perfektionistisch. Herbert hatte immer hohe Ansprüche an die Technik. Es gab endlos lange Soundchecks. Da hat er keinen Spaß verstanden.« Der Hamburger Konzertveranstalter Karsten
Jahnke ergänzt: »Er macht lange Soundchecks, aber keine endlosen. Reinhard Mey beispielsweise ist da ein Phänomen, der spielt das ganze Konzert beim Soundcheck, jeden Abend.« Zwischendurch übrigens hatte der fleißige Herbert Grönemeyer auch noch einen Film - immerhin auch schon seinen fünften - gedreht: »Frühlingssinfonie« (1983). Er spielte nach monatelangen Proben den Komponisten Robert Schumann und verliebte sich in eine wunderhübsche Clara Wieck (Nastassja Kinski). Grönemeyer: »Zuerst hab ich gedacht: Ach du große Scheiße, ausgerechnet die, doch so schlimm ist sie nicht. Neurotisch zwar, aber begabt.« Peter Schamoni drehte den Film in der damaligen DDR, und »die wichtigste Zeit, was mein Deutsch-Sein angeht«, berichtet Grönemeyer, »war 1983, da hab ich ein halbes Jahr im Osten gearbeitet, zwei Filme gedreht, >Frühlingssinfonie< und >Die ewigen Gefühle<. Das war 'ne ganz zentrale Phase. Ich hab da wahnsinnig viel über mich gelernt.« Nämlich, dass der Unterschied zwischen DDR-Bürgern und BRDBürgern gar nicht so groß ist, »diesen Grundkonsens an Spießigkeit, dass wir den beide haben. Auch diesen Zug von bürgerlichem Rassismus, der uns gleich ist«. Grönemeyer fühlte sich »ständig ertappt, ich fragte mich, ob ich in der DDR genauso reagiert hätte, und mir war klar, dass ich genauso reagiert hätte. Was wir im Westen immer als Anpassung, Unterwürfigkeit, Stillhalten bezeichnet haben. Das hat mich furchtbar gestört, dass ich annehmen musste, ich wär hier genauso gewesen. Mochte ich nicht.« Kritiker urteilten über die »Frühlingssinfonie«: »Ein junger Robert Schumann von gewinnender Unmittelbarkeit und ausgeprägtem Temperament«, wenn »er am Klavier sitzt, ist er kein Schauspieler, der einen Musiker darstellt, sondern ein Musiker, der den Einblick in die Werkstatt seiner Fantasie, ins manische Musikmachen, ermöglicht«. 1983 hatte der Film Premiere in Ostberlin, aber Grönemeyer durfte nicht mit dem Publikum sprechen.
Nach der Vorführung war er noch eingeladen in den »Palazzo Prozzo«, den Regierungspalast. »Das war ein bisschen erschütternd«, sagt Grönemeyer heute. Und zweifellos sensibilisierte es ihn für die DDR und ihre Bewohner - stets äußerte er sich kompetent und deutlich über die DDR, über die Wiedervereinigung, über die deutsch/deutschen Probleme. In jener Zeit versuchte er zudem erst- und letztmalig, sich offiziell politisch zu engagieren, wollte beim Musikprogramm der Grünen mitspielen: »Das war zu einer Zeit, wo ich noch nicht ganz so bekannt war. Da gab's die >Grüne Raupe<, ich hab mich zweimal beworben«, aber dann wurde er immer wieder ausgeladen: »>Ist ja schön, dass Sie sich für den Frieden engagieren wollen, aber wir sind schon genug.« Darüber ärgern sich Joschka Fischer und seine Riege wahrscheinlich heute noch.
In der Schublade Wie Herbert G. von der Deutschrockszene vereinnahmt wird - und wie er sich von ihr emanzipiert
1984 wendete sich das Blatt - und Grönemeyer legte eine beinahe beispiellose Reihe von Erfolgsalben vor: »4630 Bochum« (so der volle Titel der meist nur »Bochum« genannten LP), zwei Jahre später (1986) folgte »Sprünge«, 1988 erschienen »Ö« sowie Grönemeyers erste englischsprachige LP »What's All This«. 1990 kam die Wiedervereinigungsplatte »Luxus« heraus, der 1992 die (gleichnamige) englische Fassung folgte. Ein Jahr darauf erschien »Chaos«, 1994 präsentierte Grönemeyer das Techno-Remix-Album »Cosmic Chaos«. Im gleichen Jahr gab Grönemeyer als erster nicht-englischsprachiger Künstler in der »Unplugged«-Serie von MTV ein Konzert (nach ihm kamen »Die Fantastischen Vier« dran), das er 1995 auf der CD »Unplugged Herbert« dokumentierte. Parallel erschienen der Konzertmitschnitt »Grönemeyer Live« sowie die englische Version von »Chaos«. In gut zehn Jahren veröffentlichte Herbert Grönemeyer somit zwar nur fünf reguläre Studioalben, blieb aber stetig im Gespräch (und in den Hitparaden). Er lieferte einen Teil des Soundtracks zum Mauerfall, dem Zusammenbruch des Ostblocks, zur Wiedervereinigung. Und im Gegensatz zu vielen Kollegen kommentierte er diese Ereignisse sowohl in seinen Songs als auch in Interviews. Im Nachhinein erklären sich die »Lücken« zwischen den Veröffentlichungen - und vor allem die fünfjährige Pause zwischen »Chaos« und dem folgenden Studioalbum »Bleibt alles anders« - vielleicht nicht nur
durch Grönemeyers inneren Produktionsrhythmus oder anderweitige Aktivitäten wie die internationalen Alben, die zum Nettoverdienst nur unwesentlich beitragen, sondern auch dadurch, dass die Grönemeyers im Geheimen bereits acht Jahre vor Annas Krebstod 1998 von ihrer Krankheit wussten. Und selbst ein Workaholic wie Grönemeyer mag dann die Möglichkeit genutzt haben, sich Frau und Familie zu widmen und mit einem Remixoder Livealbum präsent zu bleiben, statt am laufenden Band kreative Schwerarbeit zu leisten. Herbert Grönemeyer hat eine ungewöhnliche Arbeitsweise. Er schreibt zuerst die Musik, nimmt diese dann mit seiner Band auf, und erst »wenn ich dann den Druck habe, Texte zu schreiben«, so Grönemeyer, »dann muss ich das auch machen. Ich mache aber immer die Platte komplett fertig, was die Musik angeht, und fange dann an zu texten.« So war es schon bei »Total egal« und »Gemischte Gefühle«, so blieb es - mit einer Ausnahme - bei »4630 Bochum«. Ex-Produzent Edo Zanki: »Wir alle haben schon damals versucht, uns das zu erklären. Es ist merkwürdig, dass jemand, der so vom Wort kommt wie Grönemeyer, eine ganze Platte voller Songs machen kann, denen er erst ganz am Ende eine wörtliche Bedeutung abgewinnt. Das ist ein wahnsinniges Phänomen. Ich könnte es mir so erklären, dass er anfangs in Englisch sang, weil das eine Sprache war, in der er sich selber nicht kontrollierte, und damit ist man auf einer freien assoziativen Ebene. Man singt irgendwelches Zeug. Das ist eine Kreativitätstechnik, die auch andere Leute anwenden. Und wenn man ein fast fertiges Musikstück dann zum hundertsten Mal mit diesen Schimmeltexten anhört, erinnert er sich an die Emotionen, die er beim Schreiben hatte. Oder irgendeine kleine Zeile bildet den Funken, an dem sich der zugehörige Text entzündet. Wenn nicht in diesem ganzen Kauderwelsch unter Umständen der Subtext schon da ist und nur von ihm in seinem Unterbewusstsein gefunden werden muss.« Grönemeyer
sieht das mittlerweile ähnlich, beschreibt die Arbeit an den Texten so: »Ich denke mir für jeden Song fünf verschiedene aus, oder zehn, die sind völlig unterschiedlich. Irgendwann merke ich: Der passt zu dem Grundgefühl, das die Musik schon hat.« Dabei wurden die NonsensTexte von Anfang an mit aufgezeichnet, denn, so Zanki, »der Gesang von Herbert Grönemeyer ist ein wichtiger Bestandteil des fertigen Songs, also muss man diesen Faktor zumindest als grobe Skizze immer vor Augen haben. Außerdem entstehen oft das Arrangement und das Tempo eines Songs aus seiner Interpretation.« Grönemeyer erklärt: »Die Stücke, die ich schreibe, singe ich ungefähr hundertmal oder zweihundertmal, ein ganzes Jahr lang. Dann geh ich ins Studio und sing meiner Band die Sachen vor. Bei einigen Liedern sind sie meiner Meinung, dass die gut sind, die anderen finden sie furchtbar. Die, die gut sind, fangen sie dann an zu bearbeiten, indem jeder das spielt, was ihm gerade einfällt. Wir kochen dann irgendwas zusammen, hören uns das selber noch mal an, verwerfen Ideen, fangen wieder von vorne an.« Erst danach mache er sich an die Texte, doch die »gehen mir nicht so leicht von der Hand wie die Musik. Umso mehr gebe ich mir Mühe, dass sie gut werden«, durchaus auch, damit er dann später selbst Spaß beim Singen habe. »Ich schreibe für viele Lieder ganz viele Texte, ganz viele verschiedene. Es gibt Lieder, für die hab ich acht verschiedene Texte geschrieben, bis man den Text hat, der gut auf die Musik passt. Ich schreibe dabei auch über ganz verschiedene Themen. Bis ich den Text habe, wo ich sage: Der passt«, betont Grönemeyer. Spätestens bei »Bochum« wunderte man sich über die ungewöhnliche, recht verbenarme Stummelsprache Grönemeyers. Der erklärt: »Der Text muss auch auf die Zeile passen. Die Worte müssen eckig und kantig sein, dass sie eine Emotion ausdrücken, ohne dass man inhaltlich verstehen muss, worum es eigentlich geht.« Wobei manche Hörer beim Nachlesen irritiert sind, dass der Text im Booklet und der gesungene Text nicht
hundertprozentig übereinstimmen. Der Grund: verändere ständig, bis zum letzten Tag, die Texte. irgendwann müssen wir das Cover drucken, und passiert es immer wieder, dass ich einzelne Worte noch ändere.«
»Ich Aber dann doch
Nun hatte Herbert Grönemeyer zu diesem Zeitpunkt zwar mit dem »Boot« einen Kinohit gelandet, war aber gerade von seiner Plattenfirma vor die Tür gesetzt worden. Andere würden sich verkriechen und selbstmitleidig Wunden lecken. Grönemeyer nicht: Er suchte sich eine neue Plattenfirma, die Emi (2002 umbenannt in Capitol), der er bis heute treu ist. Und dann schickte er sich an, die folgende Platte von Januar bis März 1984 auch noch selbst zu produzieren, statt sich einen neuen, gerade angesagten Soundmeister zu holen. Ergebnis: »4630 Bochum« (4360 war die damalige Postleitzahl von Bochum). Gaggy Mrozeck, von 1981 bis 1990 Gitarrist der Grönemeyer-Band: »Es kam künstlerisch alles zusammen bei >Bochum<. Ich finde, dass >Gemischte Gefühle< und >Total egal< noch Entwicklungsgebiet war, nicht so kompakt. Vielleicht auch, weil alle mehr nachgedacht und mehr kooperiert haben. Wir haben die Aufnahmen gemeinsam vorbereitet, Herbert hat vor allem die Texte und die Themen noch genauer fokussiert. Auch seine Art zu texten, die gebrochenen Sätze zum Beispiel, war vorher als Stilelement noch nicht so deutlich.« Erstmals arbeiteten Grönemeyer und Band ohne externen Produzenten, verließen sich nur auf sich selbst. Mrozeck: »Das Album entstand mit einem zu diesem Zeitpunkt bereits erprobten, festen Band-Team, das ohne externen Produzenten bei der Entstehung der Aufnahmen mitgewirkt hat. Es war eine erfolgreiche Zusammenarbeit für alle Beteiligten.« Auch für »Bochum« spielte Grönemeyer in mittlerweile bewährter Manier erst alle Songs mit englischen Kauderwelschtexten ein, um ihnen anschließend deutsche Worte maßzuschneidern. »Es geht ja eher um die Melodie, den Fluss«, erklärt Mrozeck.
»Manchmal hat man die Hooks und kann die Kernatmosphäre umreißen, und ansonsten singt man einfach irgendetwas, das halt musikalisch gut klingt. Das Spezielle an dem, was entstand, ist, dass wir erst mal musikalisch gedacht haben und dass dann deutsche Texte auf eher angloamerikanisch gesungene Linien geschrieben wurden. Entscheidend war: Wie klingt es rhythmisch, atmosphärisch.« Außer »Alkohol« schrieb Grönemeyer für »Bochum« alle Songs selbst; Text und Musik zu »Alkohol« verfassten Bassist Norbert Hamm und Gitarrist Gaggy Mrozeck. Das Spektrum auf »Bochum« reicht von einigen schwachen Nummern wie »Fangfragen« oder »Erwischt« (nicht umsonst im hinteren Drittel versteckt) über Politsongs wie »Amerika« bis zu heiterem wie »Mambo« und den Hits »Bochum«, »Flugzeuge im Bauch« und vor allem »Männer«. Das Album lag auf Gedeih und Verderb nur in Grönemeyers Hand - und es gedieh. Obwohl sein Erfolg auch die neue Plattenfirma überraschte: Als er bei der Emi erstmals »Flugzeuge im Bauch« vorspielte, verstanden der Geschäftsführer und sein Marketingleiter den Text nicht. Grönemeyer gab - formal - nach, ging ins EmiStudio und kehrte nach einigen Stunden mit einer angeblich nachgemischten Version zurück. In Wahrheit hatte er nichts an dem Song verändert. Aber beim zweiten Durchhören nickten die Herren zufrieden, und dem Rest von »Bochum« stand nichts mehr im Wege. Diese kleine Geschichte illustriert nicht nur, dass es auch Musikprofis ging wie fast allen anderen Hörern: Man muss sich an Grönemeyer eben erst gewöhnen, Edo Zanki hat es ja gleich gesagt. Sie zeigt auch: Grönemeyer selbst war felsenfest davon Überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. So und nicht anders sollte sich seine Musik anhören, Zugeständnisse gab es nicht! Dass »Bochum« dann aber gleich ein Millionenseller werden sollte und fast achtzig Wochen in den Charts blieb, ahnte nicht einmal der Künstler selbst: Wie erfolgreich »Bochum« letztlich wurde, »das hat keiner geglaubt«, erinnert sich Grönemeyer. »Gemischte Gefühle« hatte sich »ja schon
etwa fünfzigtausendmal verkauft, und ich hatte höchstens gehofft, dass >Bochum< sich etwa besser verkaufen würde«. Und den Titel fand er wirklich mehr als passend: »Mein Vater hat Bergbau studiert, mein Großvater ist umgekommen beim Schlagwetter.« Außerdem sagt er: »Ich komme nun mal aus einer Gegend, da geht's nur darum, dass man morgens einfährt und hofft, dass man abends wieder rauskommt. Da erlebt man das Leben so, dass man zu differenzieren weiß, dass Erfolg und alles andere ganz lustig ist und auch Spaß macht und einem unheimlich gut tut, aber dass das Leben sich doch noch in anderen Dimensionen, in anderen Dingen abspielt. Im Ruhrgebiet sagt man, es ist nicht wichtig, was man für eine Hose anhat, sondern was für ein Herz darin schlägt.« Speziell seine abgehackten Sätze verdanke er dieser Herkunft: »Ich bin groß geworden in der Tradition einer sehr knappen Sprache. Ich komm aus dem Kohlenpott, da wird nicht viel geredet.« BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken weiß noch: »Wir haben 1984 das Album >Zwesche Salzjebäck un Bier< rausgebracht, und Herbert kam mit >Bochum<. Gleiche Plattenfirma. Wir hatten vorher zwei Doppelplatin-Platten rausgebracht, und bei der >Salzjebäck un Bierauch mal hören<. Das zündete dann aber relativ flott.« Wobei die Radiostationen sich anfangs noch weigerten, »Männer« zu spielen, weil der Text völlig unverständlich sei. Schließlich lief die Nummer aber doch im Radio - und ging ab wie eine Rakete! Die »griffige Männer-Anmache« wurde zu Grönemeyers erstem großen Hit, auch wenn »Männer« nur bis Platz sieben der Charts vorstieß (Platz eins war zu diesem Zeitpunkt »High Energy« von Evelyn Thomas). Für Niedecken ergab sich keine Konkurrenzsituation daraus, dass ein weiterer Deutschrocker bei seiner Plattenfirma untergekommen war: »Für mich war das kein Problem. Wenn einer was Eigenständiges, Gutes macht,
bin ich froh. Damals hatte man ja an den Spitzen der Musikfirmen auch noch Leute, denen es um Musik ging. Mittlerweile verkaufen die Musik ja wie Schweinebäuche. Das ist wirklich schlimm. Aber BAP oder Herbert Grönemeyer, das funktioniert ja nur mit Seele.« »Neue Männer braucht das Land« hatte Ina Deter 1982 gesungen. Höchste Zeit also für ein Lied über die Männer, das zugleich selbstkritisch, faktensicher und doch auch amüsant daherkam. Ohne Anna, sagte Grönemeyer schon damals, hätte er diesen Song nie schreiben können, sie hätte ihm in endlosen Diskussionen, durch Vorwürfe und »Breitseiten« erst richtig gezeigt, »welche Schwächen wir Männer wirklich haben«. Mit »Bochum« fand sich auf dem Album zudem endlich die lang geplante explizite Ruhrpott-Nummer. »Amerika« schrieb Grönemeyer, nachdem er in den USA das Videospiel »Germany '85« entdeckt hatte, in dem Deutschland Schlachtfeld eines Nuklearkrieges ist: »Amerika, ich hab Angst vor deiner Fantasie«, sang er schon damals in weiser Voraussicht. Zwei Golfkriege später weiß man, wie Recht er hatte. Sein Kommentar: »Man macht hierzulande -gerne den Fehler, amerikanische Unsitten blind zu übernehmen. Das wird natürlich auch von oben mitgesteuert. Okay, man argumentiert allgemein so, dass einer besiegten Nation nichts anderes übrig bleibt, als den Lebensstil der Besieger zu übernehmen, aber nach all den Jahren wirkt das auf mich so, als würde man mit 45 noch bei seiner Mutter leben.« »Mambo«, eine witzige und luftig-leichte Nummer über Parkplatzmangel, sollte viele Jahre später - als internationalisierte Coverversion der Danceband Loona noch für Ärger sorgen, war aber zu jenem Zeitpunkt nur der amüsante Abschluss eines absolut ungewöhnlichen Albums. Die Zeit war reif gewesen für Herbert Grönemeyer! Auch wenn der von seiner Plattenfirma fälschlicherweise als etwas überbrav vermarktet werden sollte: »Auf den Fotos - Hemd mit Kragen, Anzug, Haare ordentlich
gescheitelt - sieht er aus, als sei er der Kreditberater der Sparkassenfiliale, frisch aus dem Büro importiert, so unauffällig wie tausend andere jeden Morgen in U-Bahn und Bus - fehlt bloß die Aktentasche«, spottete die »taz«. Lustigerweise stammte die Idee, dem Album den ungewöhnlichen (und scheinbar provinziellen) Titel »Bochum« zu geben, vom Fotografen und Musikmanager Jim Rakete: »Herbert ist kein Konzeptionstyp. Das einzige Mal, dass ich überhaupt konzeptionell gedacht habe im Zusammenhang mit ihm, war, als ich sagte: Nenn dein nächstes Album doch mal >Bochum<. Er sagt: Wieso? Und ich sage: Na, das ist doch, wo du herkommst, nun nenn doch mal dein Album so. Dann hat er sich nicht getraut und das verschoben, aber später hat er's dann doch gemacht.« Rakete findet: »Bei ihm passte es, weil er davon was abbildet und sich überhaupt nicht schämt, was ich ganz toll finde.« Auch die beiden vorangegangenen Alben »Total egal« und »Gemischte Gefühle« - sah Rakete übrigens bereits als »Ruhrgebietsplatten« an: »Die hatten schon ein bisschen Dreck unterm Fingernagel, finde ich. Das, was ich so besonders finde an Herbert, ist eine gewisse Art von Ehrlichkeit. Bei ihm trifft es wirklich zu, dass er davon ein gerüttelt Maß hat, im Gegensatz zu allen anderen, die auf der Bühne und in der Performance immer jemand anderer sein wollen. Bruce Springsteen hat nie versucht, David Bowie zu sein, und Herbert Grönemeyer hat auch nie versucht, Peter Alexander zu sein. Und das finde ich auch ganz richtig so.« Grönemeyer stolz: »Ich möchte auch gar nicht, dass alle Leute das mögen können, was ich mache, ein Mittelding für alle zu sein, das wäre das Furchtbarste! Es muss so sein, dass Leute das auch ablehnen und sagen: >Der singt ja furchtbar. Wie das kratzt und quäkt!<« Wobei der Erfolg wie immer auch die Idioten aus den Löchern lockte; mitten in der Nacht riefen bei Anna und Herbert Leute an, um witzig zu tun: »Wie kann man Grönemeyer am besten die Füße küssen? Indem man ihn
möglichst hoch aufhängt!« Grönemeyer legte 1984 sich eine Geheimnummer zu - die erste von vielen. Nur wer weiß, woher er kommt, kann ermessen, wo er ist. Ein Standpunkt bedingt immer auch einen Standort. Insofern war die Wurzel-Besingung »Bochum« eben gerade nicht provinziell, sondern machte klar, dass da scheinbar plötzlich einer aufgetaucht war, der wusste, woher er kam. Darüber muss man sich klar sein, um vorangehen zu können, weil man sonst ja gar nicht weiß, von wo ausgehend man wohin will. Dabei stellte Grönemeyer gleich klar: »Ich bin natürlich weder der neue Bergarbeiter-Caruso, noch lasse ich mich jetzt vor'm Förderturm fotografieren. Aber besonders in den Jahren, seit ich nicht mehr in Bochum lebe, habe ich aus der Distanz erkannt, wie sehr es mich geprägt hat, dort aufgewachsen zu sein. Die Stadt war unheimlich wichtig für meine Entwicklung. Ihren Menschen habe ich viel zu verdanken. Die haben so eine unkomplizierte, gradlinige Kraft, so was Direktes. Wo sonst könnte ein Oberbürgermeister - ohne Anstoß zu erregen verkünden: >Kultur - das ist bei uns der VfL.< Und wenn die eine Sitzung haben, die mit der Bundesliga zusammenfällt, dann hängen die Ratsherren mit einem Ohr am Radio. Das gefällt mir, das macht mir das Ruhrgebiet - und der LP-Titel >4630 Bochum< ist ja nur ein Synonym für das ganze Revier - so sympathisch.« Gerade aus dem präzisen Blick für Details - nur Bochum schöpft Grönemeyer Kraft, die ein unspezifisch anbiedernder Breitwand-Song namens »Ruhrgebiet« eben nicht hätte. Wobei er ausgerechnet in dieser Stadt »die meisten Schläge« einstecken musste für den Song, denn die Ur-Bochumer empfanden ihn, den in Göttingen Geborenen nicht als einen der ihren. Erstmals übernahm Grönemeyer also die Produktion seines Albums. »Das, wodurch ich jetzt populär geworden bin, ist meine ganz persönliche Sache« - im Gegensatz zum »Boot«, wo er nur als netter blonder Junge wahrgenommen wurde, »auf den jeder seine
Vorstellungen projizieren kann«, aber auch im Gegensatz zu den bisherigen LPs, die im Grunde nur Lehrjahre für den wissbegierigen Schnelllerner Grönemeyer waren: »Selbst für alles verantwortlich zu sein, das ist mir wichtig, darauf bin ich stolz. Es war ja auch das erste Mal, dass ich selbst mit meiner Band produzieren konnte. Dadurch ist >Bochum< auch die echteste von allen LPs«, sagte er. Auch und vielleicht gerade weil man ihn noch immer nicht auf Anhieb verstehen konnte: »Ich sing halt so, wie ich denke, und bin froh, wenn ich einen Text zustande bringe. >Männer< haben die Radiostationen anfangs abgelehnt zu spielen, weil sie sagten, man versteht nichts. Ich hab immer gedacht, ich singe so, wie ich singe, und wer das mag, kann es sich anhören, und wer nicht, der lässt es halt. Man singt, wie man küsst, da gibt's keine Regeln.« Und: »Ich bin nun mal nicht Pavarotti.« Aber: »Ich kann hervorragend singen. Das ist das große Drama. Ich kann sogar ganz hervorragend singen. Ich kann auch vom Blatt singen. Wobei ich in Deutschland halt eher so gesehen werde, dass ich schreie. Das ist auch in Ordnung, weil mir auch scheißegal ist, ob man raushört, ob ich singen kann oder nicht. Ich hab Tenor gesungen, ich hab Ligeti gesungen, ich hab serielle Musik gesungen. Und ich komme auch sehr hoch. Ich komme bis zum hohen E. Also, ich komme auch über das hohe C.« Was die Themen angehe, so schreibt Grönemeyer einfach, »was mir so einfällt. Man soll bloß nicht den Mist glauben, dass da einer den ganzen Tag über nichts anderes macht, als voll genialer Einfälle immer durch die Wohnung zu rennen. Ich muss das für mich machen, was ich akzeptabel finde. Das ist die einzige Messschiene. Wenn das andere akzeptabel finden, ist das schön und gut, aber ich mach das auch noch, wenn das andere nicht gut finden. Die Jahre vorher, in denen ich Theater gespielt habe, die waren genauer, intensiver.« Ein Erfolg wie der von »Bochum« sei »doch ungreifbar, auch für einen selbst«. Locker sah Grönemeyer auch seinen Hit »Männer«, den er selbst gar nicht so bierernst nahm wie viele Fans:
»Das ist ein lustiges Stück, aber man muss auch selber dabei lächeln, was man sich da zusammengeschrieben hat.« Klar war: »Ich habe das Lied ja ganz bewusst so konzipiert, dass sich bei der ersten Strophe die Männer auf die Schulter klopfen und denken: Ja, genau, endlich. Dabei ist es ein Lied eher gegen Männer. Die zweite Strophe kippt dann um, jeder fragt, was soll denn das jetzt? Genau den Effekt wollte ich erreichen. Sicher gibt es ganz sture Kerle, die bei den nächsten Strophen weghören und am Schluss wieder einsteigen, damit sie sich bestätigt fühlen.« Aber dagegen kann man eben nichts machen. Grönemeyer selbst sah sich dabei bewusst nicht als typischen Mann: »Ich habe als Mann auch das Bedürfnis, mich anlehnen zu können. Ich unterliege nicht der Manie zu glauben, dass der Mann permanent als Starker das Kreuz hinhalten soll, bis ihn der Herzinfarkt ereilt. Weil er es geschafft hat, vierzig Jahre lang männlich zu wirken.« Wenn »ich singe >Männer sind auf dieser Welt unersetzlich<, finde ich diese Zeile schon sehr drollig«. Insgesamt beschäftige sich das Lied »allgemein mit dem sexistischen Gehabe von Männern. Aber ich wollte das Machohafte auch an mir selber formulieren und damit anprangern. Es geht sicher um die Art und Weise, wie man ein Thema anpackt ... Witzig zu sein, wenn es um ernste Dinge geht, ist irrsinnig schwer. Ich habe mal ein Lied über die Neutronenbombe geschrieben: >Lass uns einen trinken geh'n, die Bombe ließ alle Kneipen steh'n. Wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist schon einen starken Abgang wert.<« In der Botschaft sicher richtig, aber man darf schon froh sein, dass Grönemeyers letztlich veröffentlichte Politsongs doch ein klein wenig mehr Tiefe mitbrachten. Zu »Männer« bekam Grönemeyer dann eine seiner Lieblingsrezensionen: »Ich hab in Holland mal eine wunderbare Kritik gekriegt für die Nummer, die habe ich damals in Holländisch gesungen, und da schrieben die Holländer: >Der Text - so was von miserabel, aber wer ist eigentlich dieser tierische Keyboarder?< Das fand ich
sehr gut. Ich hab nie behauptet, dass >Männer< ein Glanzwurf ist.« Insgesamt jedenfalls genoss Grönemeyer die Jahre 1984 bis 1988: »Da war ich ungestüm und naiv. Das sind positiv unbeschwerte Platten, >Bochum< und >Ö<.« Bitter nur: »Den Boden unter den Füßen verliert man sowieso. Den musst du verlieren, du kannst nur hoffen, dass du eben nicht einen Meter hochgehst, sondern nur achtzig Zentimeter. Im Grunde ist es auch so, dass diese Branche von dir erwartet, dass du irgendwie einen weg hast. Das ist ja die Faszination.« Hinzu kommt: »Ich bin sicherlich auch nicht der Alte geblieben. Ich hatte immer eine schlechte Menschenkenntnis, aber das mit meinem Gemüt kompensiert. Vertrauensselig. Dieses Gemüt habe ich jetzt nicht mehr.« Vielleicht erklärt diese frühe selbstkritische Position manchen folgenden Streit, manches Missverständnis und (prophylaktische) Misstrauen. Amüsiert stellte Grönemeyer jedenfalls schon kurz nach dem Erfolg von »Männer« fest: »Die Zahl der Leute, die mit mir in eine Schulklasse gegangen sind, hat sich inzwischen bei etwa 250 eingependelt. Aber gerade darum ist es so wichtig, die Platte selbst so ehrlich, identisch und unmissverständlich wie möglich zu machen, damit alles, was darüber in die Welt gesetzt wird, immer durch den Inhalt der Musik und der Texte relativiert wird zumindest für den, der hinhört.« Schon damals achtete Grönemeyer nicht nur darauf, von den Medien korrekt zitiert und dargestellt zu werden, er mied sogar bewusst Hörerschichten, »die ich partout nicht ansprechen will. Aber das kann man ja steuern, indem man mit gewissen Medien nicht spricht oder in bestimmten Sendungen nicht auftritt.« Bis zum TV-Tod der »Hitparade« beispielsweise trat er in der Sendung nicht auf, gab »Bild«, »Bravo« oder »Quick« keine Interviews, egal ob er dadurch ein paar tausend oder auch zehntausend Singles und Alben mehr hätte verkaufen können: »Ich hab nie einen Hehl daraus gemacht, dass man diese Sendung schon 81/82 hätte sterben lassen sollen, indem man geschlossen nicht mehr
dahin gegangen wäre. Aber einen haben die immer gekriegt. Dass selbst Kunze dahin gegangen ist, hätte ich nie gedacht. Das hat mich echt deprimiert. Also ich werde jedenfalls nicht hingehen. Früher haben sie mir immer gesagt, der Grönemeyer redet so großkotzig, ist eben seine Art, aber der kommt ja sowieso nie rein, den fragt doch gar keiner. Dann kam >Männer<, und so konnte ich diese Sendung real boykottieren. Und dabei bleibt's.« Mit »Bochum« überholte sein Erfolg als Sänger den des Schauspielers Grönemeyer. Er avancierte vom singenden Schauspieler zum schauspielernden Sänger - und musste sich für dieses Doppeltalent auch noch rechtfertigen: »Ich hatte nie vor, Schauspieler zu werden, aber Musik habe ich immer schon gemacht. Meine erste Band hatte ich mit zehn; später bin ich dann als Pianist ans Bochumer Schauspielhaus gekommen. Irgendwann hat mich ein Regisseur angesprochen - übrigens der, der auch >Ekel Alfred< gemacht hat - da saß ich gerade mit der Band in der Kantine -, und er fragte, ob ich nicht in einem Musical über die Beatles mitspielen wollte. So ging's los ... Durch >Das Boot< hat dann eine Zeit lang die Schauspielerei die Musik überholt, zumindest aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit. Aber ich habe mich immer viel eher als Musiker verstanden.« Neben Songs, die verschiedenste Gefühle zum Thema haben, packte Grönemeyer auf »Bochum« auch selbstbewusst einige explizit politische Nummern an, »Amerika« und »Jetzt oder nie«: Er fordert darin auf, zu »kämpfen für ein Land / wo jeder noch reden kann / herausschreien, was ihm wehtut / wer ewig schluckt, stirbt von innen«, denn das erschien ihm als »die einzig mögliche Sprache zur Zeit. Man kann jetzt nicht mehr mit Poesie kommen. Solche anbiedernden Sachen wie >Alle, die Frieden wollen, sollen aufstehen< - furchtbar! Die Situation verschärft sich immer weiter, weil alle Inhalte aufgeweicht werden. Jeder kann über alles singen, über Frieden, über Umweltschutz - je schwammiger, desto besser, damit jeder Ja und Amen dazu sagen kann; viel schlimmer, weil effektiver als direkte Zensur, ist diese
wohl dosierte, subtile Gehirnwäsche, der wir jeden Tag erliegen, oft ohne es zu merken - wie >eine träge Herde Kühe< eben«, so eine weitere Zeile aus dem Song. Was aber sachlich nicht ganz korrekt war, wie zwei Landwirtschaftsstudentinnen in einem Brief an ihn anmerkten. Sie erklärten, »dass ihre Kühe überhaupt nicht träge seien, dafür aber sehr verschmust. Ich sollte deshalb die Kühe bei >Jetzt oder nie< durch Schildkröten ersetzen. Unterschrieben haben die beiden den Brief mit den Namen ihrer Kühe.« Interessanterweise bezog Herbert Grönemeyer damals schon seine Zufriedenheit - genau wie fast zwanzig Jahre später bei »Mensch« - nicht in erster Linie aus dem finanziellen Erfolg. »Da kommt natürlich demnächst eine ganze Menge Geld auf mich zu«, erkannte er - denn wenn man Hits als Solokünstler, Sänger, Produzent, Texter und Komponist landet, verdient man an jeder verkauften LP und Single wie auch an jedem Airplay gleich mehrfach. Branchenkenner schätzen, dass Sänger wie Westernhagen, Maffay oder Herbert Grönemeyer allein pro Album fast 3,50 Euro kassieren. »Aber«, fuhr er fort, »das ist nicht entscheidend. Was ich mache, verschenke ich nicht für Geld. Mir ging's die letzten zehn Jahre gut, und gut heißt nicht, dass ich mir alles kaufen konnte, sondern dass es mir im Kopf gut ging. Ich hab auch keine Träume, die was mit Geld zu tun haben, 'n Haus oder 'n Rolls-Royce oder so was. Das Tollste ist, eine tolle Band zu haben, mit der ich tolle Platten und tolle Konzerte machen kann. Dafür lohnt es sich, und dafür kann ich auch ganz direkt was tun. Aber ob die LP nun Nummer zwei in den Charts ist oder nicht, dafür kann ich überhaupt nichts tun, das kann ich nur zur Kenntnis nehmen, weil das viel zu weit weg ist. Das ist wie bei vielen alten Schauspielern, die selbst mit achtzig noch einmal in der Woche vor einem Publikum auf der Bühne stehen wollen. Das ist wie eine Liebesbeziehung, ein orgasmisches Gefühl, einmal auf den Punkt zu kommen, wirklich mit dem Publikum zusammen zu sein.« Und er legte auch Wert darauf, alle Fanbriefe noch selbst zu
lesen, »schließlich sind sie ja eine ganz wichtige Reaktion auf meine Musik«. Die meisten Reaktionen seien positiv, nur Harald Juhnke habe was zu meckern: »Der Tod jeder Erotik ist, wenn man bei Kerzenschein Grönemeyer auflegt, und der singt einem >Bochum< vor.« Die erste große »Bochum«-Tournee Ende 1984 genoss Grönemeyer in vollen Zügen. Völlig unverkrampft stand er auf der Bühne, gab sich mit leicht eingeknickten Knien ganz in die Musik, leistete sich eine stürmische Unbefangenheit und exaltierte Gestik - im Grunde sah ein Gröni-Konzert damals also nicht viel anders aus als heute (wenn auch weniger Zuschauer da waren und weniger Strahler an der Decke hingen). Schon in frühen Jahren trug er bei Auftritten Anzüge und Turnschuhe, mittlerweile sind diese Accessoires allerdings ein wenig teurer und schicker geworden (siehe Umschlagmotiv). Selbst ganz verblüfft, wischte er sich die damals zu seinem Markenzeichen avancierte rotblonde Strähne aus der Stirn und bemerkte: »Vor zwei Jahren, bei meinem ersten Konzert in Berlin im Quartier Latin, waren gerade mal zwölf Leute da, und jetzt war der Saal zu klein, erklären kann ich mir das auch nicht. Ich habe immer meine Musik gemacht, ohne darauf zu achten, dass sie besonders peppig ist. Vielleicht habe ich Glück, und die Leute wollen wieder mehr zuhören.« »Bochum« bekam einen zusätzlichen Schub, als Anfang 1985 »Das Boot« im Fernsehen lief, und natürlich wäre es der Emi lieb gewesen, wenn Grönemeyer noch im Fahrwasser von »Bochum« zügig eine weitere Langspielplatte veröffentlicht hätte. Das sah der zwar durchaus ein, denn »man erfährt immer wieder von den markttechnischen Zwängen und Strukturen, aber davon versuche ich mich weitgehend loszumachen, sonst fabriziert man nur noch Müll«. Also verwirrte er lieber in Interviews das Publikum mit seinem Lieblingswitz. (»Zwei Nilpferde, ein kleines und ein großes. Die kommen nach Bethlehem, am 24. Dezember. Sie klopfen. Josef kommt leicht genervt, weil in der Hütte alles drunter und drüber geht, und er sieht die beiden Nilpferde. Er fragt: >Wer
seid ihr denn?< >Wir sind die Heiligen Drei Könige, wir sollen die Geschenke abholen.<« - »Ich mag diesen Humor, wenn erst einmal gar keiner lacht.«) Und er schrieb mit Wolfgang Niedecken den Benefiz-Song »Nackt im Wind« für die deutsche Allstar-»Band für Afrika«. Organisiert hatte diesen Zusammenschluss - der in einen Auftritt bei Bob Geldofs »Live Aid« gipfelte ausgerechnet Jim Rakete, der nicht nur als Fotograf agierte, sondern zu jener Zeit auch Deutschlands wichtigster Musikmanager war (Nina Hagen Band, Spliff, Nena): »Alles musste innerhalb einer Woche stehen. Historisch hatten wir nur einen Tag zur Verfügung, an dem ganz Deutschland sammeln sollte, an dem die ARD trommeln würde, an dem überall Plakate hingen, und dazu brauchten wir den Song. Vom Timing her musste alles perfekt sein, aber alle waren in Urlaub, ich auch. Das war Weihnachten 1985. Meine Freundin und ich stritten uns am zweiten Tag unseres Skiurlaubs, und ich fuhr allein zurück nach Hause. Und fand ein Telex vor, Weihnachten war gerade vorbei, und ich habe versucht, alle im Urlaub zu erreichen und zusammenzuschweißen. Die haben sich auf irgendwelchen Hütten besucht, Niedecken hatte die Zeile im Kopf, die haben sich ans Klavier gesetzt, und danach wurde im Schweinsgalopp die Platte aufgenommen. Wolf Maahn war damals noch ein armer, kleiner Rock'n' Roller, der hat ein paar hundert Mark eingezahlt bei der Postsparkasse und mir den Abschnitt geschickt. Und Peter Maffay hat ganz locker vierzig T überwiesen, so war das einfach; es kamen alle Level zusammen, und für einen Moment ging das alles. Die Einzigen, die auf ihren Anteil nicht verzichtet haben, das war die GEMA. Ich glaube aber, die dürfen es auch per Satzung gar nicht. Es war großartig!« Wolfgang Niedecken erinnert sich ebenfalls an eine insgesamt erstaunlich angenehme, flotte und eitelkeitslose Zusammenarbeit aller beteiligten Musiker: »Ich war in Schladming, Österreich. Ich hab angefangen, einen Song zu schreiben, hatte auch Musik dazu und habe diese Musik dann nach Köln geschickt, zu den
anderen von BAP, und gebeten, dass die sich mal mit dem Arrangement befassen. Die konnten aber nichts damit anfangen. Ich bin dann zu 'nem Treffen geflogen in Frankfurt, wo der Herbert auch war, da haben sich zum ersten Mal alle getroffen. Herbert meinte: >Gib doch mal her, die Kassette.< Dann bin ich wieder nach Schladming zurück und er nach Köln. Kurz danach rief er an und sagte, das wär doch in Ordnung, was die denn hätten? Ich sagte: Komm, lass, vielleicht fällt dir ja was anderes dazu ein. Und dann hat er komponiert. Mit dem, was er gemacht hat, haben wir uns dann in München im Musicland Studio getroffen, unten im Arabella Hotel. Das Gitarrenintro kam von dem Spliff-Gitarristen dazu. Und das war's. Herbert hat praktisch zu 'nem Demo, das ich abgeliefert hab, eine eigene Musik gemacht. Darauf hat er aber nie öffentlich rumgeritten.« Auf der Alm gemeinsam den Song geschrieben haben Grönemeyer und Niedecken dann aber doch nicht: »Nein! Ich hatte meinen Sohn gut eingepackt in einem Tragetuch und war mit ihm tagelang durch die verschneite Gegend gegangen. Der war wohlbehütet, und gleichzeitig hat man in den Medien die Kinder in Äthiopien sterben sehen. Und als junger Vater ist man natürlich für so was sensibilisiert. Damit fing das Stück an. Ich bin dann tatsächlich mit dem, was ich mir zusammenkomponiert hatte, runtergefahren von der Alm nach Schladming und hab in einem Musikgeschäft gefragt, ob die ein Aufnahmegerät hätten. Da war dann einer in dem Laden, der kannte jemand aus einer Band in dem Ort, und in deren Proberaum habe ich dann dieses Demo aufgenommen - mit der Band aus Schladming.« Grönemeyer singt gleich die ersten Zeilen des Songs, »Nur ein paar Breitengrade tiefer / paar Längengrade dann nach links«, sowie den Beginn des ersten Refrains, »Nackt im Wind, der brüllt und wütet / im Orkan, der Menschen frisst«. Wer was sang, war jedoch - bei allen Eitelkeiten innerhalb der deutschen Rockszene - kein Thema. »Bei den Aufnahmen zu >Nackt im Wind< herrschte eine gute Atmosphäre im Studio«, betont Niedecken. »Da trafen sich endlich mal alle. Man sprach
ja sonst eher übereinander als miteinander.« Mit dabei waren immerhin: Alphaville, BAP, Ina Deter, Extrabreit, Geier Sturzflug, Gitte, Herbert Grönemeyer, Hans Hartz, George Kranz, Klaus Lage, Udo Lindenberg, Wolf Maahn, Peter Maffay, Ulla Meinecke, Marius MüllerWesternhagen, Münchener Freiheit, Nena, Rheingold, Rodgau Monotones, Spider Murphy Gang, Spliff, Trio und Juliane Werding. Die Single stieg bis auf Platz drei der Charts. Den TV-Auftritt der »Band für Afrika« wenige Monate später verpasste Niedecken dann allerdings - und ist nicht böse darüber: »Damals gab es noch keine Handys, und ich habe mich für drei Monate mit meiner sehr jungen ersten Familie mit dem Wohnmobil in der Türkei befunden. Als ich wiederkam, war alles vorbei, ich habe nichts von Live Aid auch nur am Fernseher mitgekriegt.« Jim Rakete erinnert sich an Aufnahmen und Auftritt voller Stolz: »Herbert und Wolfgang Niedecken mochten sich damals noch nicht sonderlich, haben aber unheimlich gut zusammen funktioniert. Marius fand plötzlich alles scheiße, und bei dem Liveauftritt waren sich gerade Nena und Grönemeyer nicht ganz grün - das war furchtbar. Aber ausgerechnet die beiden kamen dann später super klar, weil Herbert immer ganz großes Verständnis hatte für Nenas kompliziertes Privatleben mit den Kindern, das hat er sofort kapiert.« Grönemeyers eigenes Fazit zur »Band für Afrika« fällt ebenfalls positiv aus: »Die viel gehasste deutsche Gründlichkeit zeigte sich in diesem Fall von der besten Seite. Wir haben es - und ich glaube, dies gilt weltweit geschafft, eine Benefizplatte zu veröffentlichen, an der wirklich keiner verdient. Das ist vertraglich festgelegt, wird von einem Wirtschaftsprüfer gegengecheckt und wurde unter Strafandrohung gestellt - keiner außer der GEMA, die ihre Verwaltungsgebühren abzieht, darf an >Nackt im Wind< einen Pfennig verdienen. Eins plus für uns!« Im Sommer 1985 wurde dann sogar das »Time Magazine« auf Grönemeyer aufmerksam, dessen Album »Bochum« immer noch weit oben in den Charts stand;
man brachte eine ganzseitige Reportage über Gröni und seinen Status in der Deutschrockszene. Beeindruckt schrieben die Amerikaner: »An unlikely rocker takes West Germany by storm (...) Last week, >4630 Bochum< was the only German-language entry among West Germany's 20 top-selling albums.« Nach »Bochum«, dachte man, kann es mit diesem Grönemeyer eigentlich nur wieder bergab gehen. Da kam ein lauthals singender/schreiender Schauspieler aus dem »Nichts« (denn die vorigen Platten waren echte Geheimtipps), landete einen SingleHit - und etablierte sich vollkommen überraschend als feste Größe im deutschen Musikbusiness. Nach »Männer« koppelte er aus »Bochum« noch »Flugzeuge im Bauch« und »Alkohol« aus. Dabei erwies Grönemeyer sich - wie auch später - als Longseller, so dass es für die ganz hohen Chartpositionen (für die man innerhalb einer einzigen Woche möglichst viele Singles verkaufen muss) nicht reichte: »Männer« war 26 Wochen in den Charts, kam aber nur bis Platz sieben. »Alkohol« stieg auf Platz 33, blieb zehn Wochen in der Hitparade. »Flugzeuge im Bauch« brachte es auf Platz 44, blieb ebenfalls zehn Wochen in den Charts. (Ähnlich sollte es weitergehen: »Kinder an die Macht« erreichte Platz 33, blieb elf Wochen in den Charts. »Was soll das« schaffte es bis Platz drei, war zwanzig Wochen in den Charts. »Chaos« kam auf Platz zwanzig, war dreizehn Wochen in den Charts. »Bleibt alles anders« stieg auf Platz 25, war dreizehn Wochen in den Charts.)
Ganz anders die Bilanz der Alben: Titel
Höchste Position
Chartwochen gesamt
Davon Wochen in der Top 10
»4630 Bochum«
1
79
51
»Sprünge«
1
43
19
»Ö«
1
86
32
»Luxus«
1
56
22
»Chaos«
1
50
12
»Live«
3
34
5
»Unplugged« 6
32
3
»Bleibt alles anders« 1
56
16
Mit »Bochum« etablierte sich Grönemeyer endgültig als Albumkünstler: Wer ihn mochte, kaufte die ganze LP, nicht die Single. (So war es im Grunde von Anfang an; die ersten Singles hatten sich ebenfalls schlechter als die Alben verkauft.) Nach »Bochum« aber warteten nun alle auf das spektakuläre Scheitern eines MöchtegernNachwuchsstars, doch Grönemeyer enttäuschte die Zweifler. Er beugte sich nicht dem kommerziellen Druck, möglichst schnell ein Nachfolgealbum zu liefern, sondern folgte seiner inneren Stimme. Er arbeitete nicht möglichst flott, sondern möglichst gut - und präsentierte erst im März 1986 das knallpinke Album »Sprünge«. »Zwischendurch« hatte Grönemeyer noch mit Julie Christie, Burt Lancaster und Bruno Ganz unter der Regie von Bernhard Sinkel den TV-Mehrteiler »Väter und
Söhne« gedreht, die Geschichte einer Industriellenfamilie. Grönemeyer spielte den Enkel Georg, der zwar Künstler statt Chemiker wird, sich dann aber doch anpasst, bei der »Wochenschau« der Nazis arbeitet und sich mit den Mächtigen arrangiert. Gedreht wurde an Originalschauplätzen in der damaligen Tschechoslowakei, der DDR, in München, Heidelberg, Salzburg und auf dem Schloss Stein der Familie Faber-Castell bei Nürnberg. »Väter und Söhne« hatte vier Teile und war achteinhalb Stunden lang. Nach »Bochum« und der zugehörigen Tour hatte Grönemeyer sich fast sechs Monate musikalische Kreativpause verordnet, denn »du kannst ja nichts erzwingen. Es hatte ja keinen Sinn, den Leuten noch mal das Gleiche vorzusetzen.« Mitte 1985 sagte er sogar alle Produktionstermine ab, verschob die Tour, und »das war auch gut so. Ab August konnte ich dann wieder anfangen, neue Texte zu schreiben. Musik schreibe ich ja permanent, aber die Texterei bereitet mir echt Stress. Wenn ich endlich einen Text geschafft habe«, erklärte er, »lese ich ihn stolz der Anna vor und die stöhnt dann regelmäßig auf, o Gott, Müsli ... Dann ruft die Firma mal wieder an, bald ist Weihnachten, willst du uns das Geschäft versauen, mach mal voran.« Aber erst Mitte Februar 1986 hatte er den letzten Text fertig. Ein kleines weißes Männchen hopste dann fröhlich in der rechten unteren Ecke des »Sprünge«-Covers herum es erwies sich als Symbol auch für die Freude der Fans über die neue Platte. Mit »Kinder an die Macht« fand sich darauf ein Opener, der in seiner plakativen Art die Menschen sofort begeisterte und dessen Folgen Grönemeyer lange nicht loswurde: »Die Armeen aus Gummibärchen«, sang er - und noch Jahre lang warfen Fans ihm Gummibärchen auf die Konzertbühne, »da klebte immer die Bühne voll, das war ein bisschen nervig auf Dauer, und manchmal kriegte ich die auch ins Gesicht«, erklärt er. Hinzu kam, dass die Menschen den »Blödeltext« viel zu ernst nahmen: »Die Platte war fertig, es fehlte nur noch
eine heitere Nummer, denn der Rest war eher ernst: Kohl an der Macht, Rechtsruck und so weiter. Mein Bruder hatte eben ein Kind bekommen, und so habe ich >Kinder an die Macht< geschrieben. Ich wurde zu einer Radiosendung eingeladen und saß dann da mit drei Psychologen. Die fanden, das ginge doch nicht, so ein politisches Werk und dann noch über Kinder, ob ich überhaupt selbst welche hätte? Was soll man da sagen?« »Sprünge« wechselte im weiteren Verlauf stets zwischen politischen und privaten Themen ab: »Tanzen«, »Lächeln«, »Maß aller Dinge« und »Einmal« waren Grönemeyers offene Kommentare zum Zeitgeschehen, »Mehr geht leider nicht«, »Nur noch so«, »Unterwegs« und »Viel zu viel« beschäftigten sich mit Gefühlen, und der Titel »Angst« schließlich vereinte beide Stränge und malte eine politische Alptraumutopie auf persönlicher Ebene: »Angst zu verblöden / bereits mundtot zu sein ( ...) Angst braucht Waffen / aus Angst vor dem Feind / obwohl keiner so recht weiß / wer ist damit gemeint«, aber auch: »Angst, alleine zu sein / Angst vor der Angst / Wir schlafen ein«. Grönemeyer machte klare Ansagen, vertrat eindeutige Positionen: »Die Grafen da oben treffen sich, lachen sich ins Fäustchen und machen, was sie wollen, weil die Leute keinen Druck mehr auf sie ausüben«, stellte er fest. »Ich versuche für mich, ganz klare Linien zu ziehen. Südafrika muss man boykottieren! Peng! Ganz doof eigentlich, westfälisch stur, aber eine Aussage. Oder: Politiker, die gravierende Fehler machen, müssen gehen. Die habe ich gewählt - und wenn die Mist bauen: Ende. Die Kluft zwischen oben und unten ist viel zu groß.« Es sind dieselben Themen, die ihn - und uns noch immer bewegen, auch wenn Deutschland mittlerweile immerhin einen anderen Kanzler hat. »Gemischte Gefühle« hatte Grönemeyer eigentlich »Bochum« nennen wollen, »Ö« - zwei Jahre nach »Sprünge« - hätte, wenn es allein nach ihm gegangen wäre, »Dieter« heißen sollen, einfach »nur so«. Und auch »Sprünge« wollte der Künstler ursprünglich anders nennen, nämlich »Hoi«. »Das ist, wie ich von Reisen
weiß, ein Willkommensgruß in der Schweiz und in Holland«, erklärt Grönemeyer. »Mir gefiel dieser Titel gerade deshalb so gut, weil er keine tiefere Bedeutung hat. Hierzulande wird ja alles gerne mit Sinn überfrachtet.« Doch letztlich erinnerte »Hoi« ihn zu sehr an den Skinhead-Schlachtruf »Oi Oi«, und »einer solchen Assoziation wollte ich auf gar keinen Fall Vorschub leisten.« War »Bochum« auch der Durchbruch, so zeigte doch im Grunde erst »Sprünge« das Spektrum Grönemeyers im Fokus: die Kombination politischer und privater Texte mit angloamerikanisch/deutscher Musik, Gesang vom Säuseln bis zum hysterischen Schrei. »Sicher bin ich von angloamerikanischer Musik beeinflusst, aber wenn man sich meine Kompositionen mal genau anschaut, dann bemerkt man, dass ich auch von der europäischen Klassik viel gelernt habe - harmonisch und kontrapunktisch und in zig anderen Beziehungen. Außerdem gibt es da auch eine gewisse Nähe zum deutschen Volkslied«, sagt er. Andererseits hielt Grönemeyer klassischen Kompetenzaposteln entgegen: »Ich kann natürlich schon richtig singen. Ich komme bis zum hohen D, wenn das ein Maßstab sein sollte. Viele Opernsänger können das nicht. Es ärgert mich übrigens, wenn die Rocksänger als angelernte Dilettanten hingestellt werden und die Opernsänger als hehre Sänger. Es gibt Musiker, die sicher zu den größten des Jahrhunderts gehören und keine Note gelernt haben. Wie Jimi Hendrix und Stevie Wonder. Sie arbeiten aus der Intuition heraus und mit dem Gehör. Die zeitgenössische Musik ist nun mal die Rockmusik - und sicher nicht die Weiterführung der klassischen Kompositionslehre.« In seinen Texten versuche er, »auf die deutsche Situation einzugehen und jede falsche Internationalität zu vermeiden«. Unbedingt umgehen wollte Grönemeyer außerdem auch das »Modern-Talking Syndrom - egal, woher wir kommen, Hauptsache international«. Seine Themen finde er »im Alltag. Dinge, die mich bewegen, über die ich nachdenke. Wenn das dann im Trend liegt, umso besser, doch darum
geht's mir eigentlich nicht. Ich habe ein paarmal probiert, gezielt auf den Zeitgeist zu schreiben, aber das ging in die Hose. Es muss schon etwas sein, das mich direkt berührt. Wenn ich zum Beispiel unseren Kanzler immer wieder so penetrant lächeln sehe, da werde ich wahnsinnig. Und das schreibe ich mir dann von der Seele.« Denn da »kannst du mit einem Holzhammer kommen, der wird immer weiterlachen«, befand Grönemeyer, also schrieb er ein Lied, mit dem er das »Schwammige, Schlabbrige, dieses nicht mehr Greifbare« an Helmut Kohl aufzeigen wollte. Interessanterweise bemängelte Grönemeyer an Kanzler Kohl gerade Eigenschaften, die ihm selbst nicht fremd sind: Sturheit, Durchhaltevermögen. »Der Kohl hat ja schon 1972 gesagt, ich werde Bundeskanzler. Da haben sich seine eigenen Parteileute auf die Schenkel geschlagen und totgelacht. Doch der Typ hatte begriffen, dass man in Deutschland, wenn man durchhält, alles schafft.« Das galt, wenn auch auf völlig andere Art und mit anderen Inhalten (und deutlich geringeren Konsequenzen für den deutschen Alltag), ebenso für die Karriere Herbert Grönemeyers. Er hat sie sich erkämpft, ertrotzt, erarbeitet. Hat seine Kritiker ausgesessen, einfach immer weiter Platten gemacht. Typisch deutsch eben. Auch mit der eigenen Band kam er immer besser klar: »Wir haben eine seltsame Entwicklung als Band durchgemacht«, sagt er. »Ursprünglich nur als Begleitung engagiert, sind wir inzwischen zu einer intakten Einheit zusammengewachsen. Dadurch klingt >Sprünge< auch so satt; alles steht wie eine Eins.« Sehr plakativ erklärt er, wie die Band und er zu den Arrangements für das Album gelangten: »Die Platte ist eigentlich ein totes Medium, dem man so viel Leben einhauchen muss, wie's eben geht. Darum stammen die Arrangements von der ganzen Band. Das Fett wird angebraten, und jeder legt seinen Speck in die Pfanne.« Wie immer hatten ihm die Texte für »Sprünge« am meisten Mühe gemacht: »Ich kann so vor mich
hinquatschen, aber Songtexte zu machen - mein Gott, ich texte mir wirklich einen ab. Das ist für mich das Härteste überhaupt. Musik ist für mich ein Ausdruck meines Lebensgefühls, aber mit Texten hatte ich eigentlich überhaupt nichts im Sinn.« Zumal es auch nur wenige Vorbilder gibt, keine langjährige Tradition toller deutscher Texter, »eine echte Weiterentwicklung fand erst wieder mit Udo Lindenberg und Nina Hagen statt: Udo, der völlig querbeet getextet hat, und Nina, die sehr frech und provokativ war. Danach kam die Neue Deutsche Welle, die das wieder auf >Hub< und >Tut< und >Gut< reduzierte und damit die Sprache brutal entschlackt hat. Das war nicht schlecht, weil sie dem Deutschen erst einmal den ganzen Wust genommen haben.« Klar war ihm nur immer: »Der intelligenteste und klügste Text nützt dir nichts, wenn er dich nicht betrifft und den Leuten nicht in den Magen geht. Wenn man sich hinterher rechtfertigen muss und sagt: >Aber ich habe doch mein Lied so toll konstruiert, und keiner versteht es, weil sie alle doof sind!<, dann ist man selbst verblödet.« Wenn Grönemeyer Songs schreibt, hat er »zwar oft schon Themen im Kopf, aber keine konkreten Zeilen. Dazu muss ich mich erst zu Hause hinsetzen, mich tierisch betrinken, viel zu viel essen«, dann klappt's. Vier Kilo nahm er zu, bis »Sprünge« fertig war. Sein Ziel: »Ich will bewirken, dass die Menschen mehr in Frage stellen, auch sich selber und ihre Idole. Das ist wirklich ein Problem bei uns in Deutschland: Man lächelt selbstzufrieden vor sich hin und begreift gar nicht, wie gefährlich es werden kann, der Sehnsucht nach einer Leitfigur nachzuhängen.« Das gelte nicht zuletzt auch für die angeblich rebellischen Rockmusiker: »Wir sind alle sehr bürgerlich. Was die damals in Liverpool hatten, das haben wir doch alle nicht in uns. Wir kommen alle aus bürgerlichen Verhältnissen. Wir machen ganz bürgerliche Texte, ich auch. Dazu muss man sich auch bekennen. Das ist auch ein deutscher Bereich, dieses Spießbürgerliche. Das sind wir auch. So engagiert sind wir doch alle gar nicht. Unsere Radikalität endet doch ir-
gendwo. Darüber muss man doch nachdenken. Früher fand ich das immer so fürchterlich: oben auf der Bühne Herr Degenhardt, der hält dir einen Vortrag, und unten ich und das Gefühl: puh, ich bin ja so was von scheiße! Man muss nicht belehren, sondern von sich singen, von sich erzählen, wie man mit sich zu kämpfen hat.« Das Texten überhaupt, und schon gar mit derartigem Anspruch, fällt ihm zwar schwer, aber gerade deshalb gibt er sich viel Mühe, »ich reihe ja nicht bloß Sätze aneinander«, sagt Grönemeyer. Dabei findet er, Texte dürften nicht zu schwer begreifbar sein, nicht zu verkopft. Und müssten einerseits in sich, andererseits - und vor allem - auch in der jeweiligen Interpretation funktionieren: »Man kann nicht analytisch sagen: Das Lied ist so dufte, weil in dem Text hat er die geniale Zeile, und in der Musik ist er durch zwei Harmonien geflogen, dann hat er oben noch einen draufgesetzt, und hinten schreit er noch. Entweder hat er's auf den Punkt gesetzt, und das kann dann auch nur heißen >Ich hab Dich lieb< oder >Currywurst<. Da hab ich unheimlich Angst vor, dass man diesen neudeutschen Intellekt so hochstilisiert.« Und: »Unsere Provokationen sind sehr gering. Für uns ist die Versuchung ungemein groß, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, die konservativen Strömungen zu bedienen, indem wir uns zurückziehen in Richtung Neue Innerlichkeit, Liebe, Triebe, Heiterkeit. Deshalb bin ich dafür, noch mehr über die politische Wirklichkeit zu schreiben.« Am Ende gelang ihm die Balance. Grönemeyers Lieder wurden verstanden - das beweist nicht zuletzt die Reaktion gerade von Medien, die seine politische Meinungen nicht unbedingt teilen: »Nicht an Parteien orientiert, aber doch eindeutig und parteiisch Grönemeyers Argumentation ist derb und deutlich, und für die Debatte am Stammtisch oder an der Theke in seiner Heimat Bochum oder sonst wo im Lande trifft sie genau den richtigen Ton. Dass der Sänger, den sein Publikum jetzt mehr und vorbehaltloser denn je ins Herz geschlossen hat, bei dieser inhaltlichen Klarheit zuweilen
handwerkliche Schwierigkeiten mit der Form hat, kann nicht ernstlich überraschen«, murrte die eher rechts orientierte »Welt« über das »Sprünge«-Konzert im Hamburger Stadtpark. Wie zuvor, aber auch wie in der Zukunft, kalkulierte Grönemeyer die »Sprünge«-Tour ausgesprochen knapp: Sechzehn Mark kostete ein Ticket, »wir haben hart an der Grenze kalkuliert«, erklärte Grönemeyer. »Natürlich war das ein Risiko. Die örtlichen Veranstalter haben sich alle aufgeregt. Wenn ein Saal nicht zu 85 Prozent ausverkauft ist, rutscht er ins Minus. Aber es geht. Schließlich verdiene ich an den Platten, da kann ich ruhig die Tour ohne Gewinn machen.« Schon damals fand er: »Die Preise sind in Deutschland einfach zu hoch und müssen wieder gesenkt werden. Wenn deutsche Künstler Eintrittspreise von 25, 28 Mark nehmen, ist das schlicht unverschämt. Mir kann keiner erzählen, dass er unbedingt 25 Mark Eintritt nehmen muss. Bei einer soliden Kalkulation könnten die Preise rapide gesenkt werden, wie BAP das schon immer exzellent vorführt, wie Ulla Meinecke es bei ihrer letzten Tournee geschafft hat, wie wir es jetzt machen. Und ich verdiene immer noch gut an der Tour - über die Plattenumsätze, die sich daraus ergeben.« Zumal »die Leute am Hochofen weiß Gott wesentlich härter arbeiten als Herr Grönemeyer, der auf Tour geht«. Und: »Man sagt immer, eine Tour ist anstrengend, aber sie gibt einem auch eine Menge zurück. Vor allem klatschen die Leute - bei welcher Arbeit bekommst du denn sonst Beifall? Das gibt es ja in keinem Beruf, dass du rausgehst und die Leute freuen sich.« Der Konzertagent Walter Gommers aus Essen betrachtet diese Sehweise gar als einen Grund für das Erfolgsphänomen Grönemeyer: »Der ist ein absoluter Malocher, wie man hier sagt. Unter drei Stunden tritt er nie auf und bleibt doch preiswert. Amerikanische Größen wie Madonna oder Prince kosten doppelt so viel und stehen höchstens die Hälfte der Zeit von Grönemeyer auf der Bühne. Außerdem ist der sich immer treu geblieben und hat nie irgendwelchen Disco-Quark verbrochen.«
Noch immer genoss Grönemeyer den Erfolg, begriff die Öffentlichkeit seiner Person nicht als Nachteil: »Ich feile an meiner Musik, nicht an meinem Image«, erklärt er, und wenn Fans ihn dann auf der Straße ansprächen, ergäben sich daraus manchmal »sogar witzige Kontakte. Nur wenn einer besitzergreifend wird, so als hätte er mich mit den Rundfunkgebühren eingekauft, das nervt dann, und da blocke ich rigoros ab.« Allerdings bewege er sich in der Öffentlichkeit nun schon anders: »Natürlich gehe ich anders als früher durch die Straßen - stechenden Schrittes geradeaus und ohne die Leute anzugucken, aber eigentlich ist es ein gutes Gefühl, so viel Resonanz zu bekommen.« Nicht für sich persönlich empfand er die Fans als Einschränkung, wohl aber »für Menschen, denen man verbunden ist«. Denn »die fragen sich natürlich alle: Warum müssen wir derartig eingeschränkt werden, nur weil der Döskopp Erfolg hat?« Seine Brüder fühlten sich durch den Erfolg geradezu belästigt; »mir würde das ja auch auf den Keks gehen, wenn ich immer von meinem Bruder erzählen müsste«, gibt Grönemeyer zu. Immerhin: »Die Eltern aber, ja, die sind schon stolz.« Nur wenn TV-Zuschauer ihn nach Ausstrahlungen vom »Boot« auf der Straße anhielten, reagierte er gereizt: »Die interessieren sich nicht für dich, sondern die haben dich im Fernsehen gesehen; man gehört denen. Die wussten nicht einmal, wie ich heiße. Die riefen dann: >Guck mal, Mama, da geht das Boot vorbei.<«
Im Nachhinein stellte Grönemeyer fest, er hätte sich selbst in jener Phase raten sollen: »Du darfst dir nicht vorstellen, dass es so leicht ist, den Erfolg zu handhaben. Das ist ein ziemlich schweres Gewicht. Und du könntest alles auch etwas gelassener angehen. Da hätte mir eine gewisse Gelassenheit ganz gut zu Gesicht gestanden.« Aber, gibt er heute lachend zu, angenommen hätte er einen derartigen Ratschlag auch von seinem zukünftigen Ich »mit Sicherheit nicht«.
Für die Produktion des nächsten Albums, »Ö«, zogen Grönemeyer und Band sich in ein Wohnstudio in Belgien zurück, um ungestört in familiärer Atmosphäre arbeiten zu können. In aller Ruhe wurden auf einer mitgebrachten 24Spur-Maschine die neuen Songs eingespielt. Grönemeyer: Die vorigen beiden Platten »haben wir bei der Emi in Köln aufgenommen, jetzt wollten wir für uns selber eine Atmosphäre schaffen, wo wir als Band auch gemeinsam wohnen können. In Belgien gibt es viele große, alte Häuser. Draußen standen Kühe und Schafe rum, und wir hatten endlich Zeit, auch mal mit den Gitarren ordentlich zu arbeiten. Die sind bei uns früher ein wenig zu kurz gekommen.« Für Gitarrist Gaggy Mrozeck war diese Zeit ein Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit: »Es war eine schöne Phase, als wir in Belgien das >Ö
Druckvoll und gitarrenlastig kam Grönemeyer dann 1988 mit »Ö« daher und landete gleich wieder ein paar solide Hits: »Was soll das«, »Vollmond«, die Balladen »Halt mich« und »Komet«. Auch diese Songs entstanden wieder zuerst auf Englisch, in den Archiven der Plattenfirma Emi schlummern Aufnahmen von »Highway To Lovers« (später: »Vollmond«) und »I Was Born In L.A.« (Originaltitel von »Kinder an die Macht«). Besonders auffällig und beeindruckend war im LPZeitalter das Aufklappcover von »Ö«, was die Platte wertiger aussehen ließ, wie eine Doppel-LP. Der Schriftzug »Grönemeyer« zog sich rund um dieses Cover, das vergrößerte Ö des Namens bildete den Mittelpunkt der Vorderseite. Kommentar Grönemeyer: »Meine Plattenfirma hatte, ohne dass ich dies wusste, einen Grafiker gefragt, ob ihm was Passendes zu Grönemeyer einfiele. Dann kam ich zu ihm, und er hatte dieses >Ö< aus meinem Namen herausstilisiert: mit der Haartolle an der Seite, und die beiden Punkte als Augen. Tja, es gefiel mir, eine zündende Idee. Und ich sagte: okay, besser kann man es nicht machen.« Schnell vermuteten die Medien, der grün angehauchte Grönemeyer wolle mit seinem Albumtitel quasi sublime Botschaften aussenden, so wie die Beatles ja angeblich Paul McCartneys Tod verkündet und Led Zeppelin in »Stairway To Heaven« (rückwärts abgehört) satanische Botschaften verbreitet hatten: »Ö« solle für »Ökologie« stehen, hieß es. Doch Grönemeyer sagte: »Nein. Das >ö< ist der einzige Vokallaut außer dem >e< in meinem Namen, deshalb fällt er auch so heraus.« Und ein E mit Haartolle und Augen habe nun wirklich etwas komisch ausgesehen. Manchmal ist die Wahrheit genauso simpel, wie sie erscheint. (Wobei zumindest die Schweizer Probleme mit dem Umlaut hatten: Als »Oe« bezeichnete die gediegene »Weltwoche« die Platte.) Grönemeyer erklärt: »Es gibt Stücke wie >Vollmond<, das sind einfache, straighte Rock-Nummern; bei anderen Stücken merkt man schon eher, dass sie von den Keyboards her kommen. Ich wollte insgesamt eine
wesentlich gitarrenlastigere Platte machen, einfach weil ich Gitarren toll finde.« Erneut lieferten seine Texte - von Beziehungsdramen wie »Was soll das« bis zum AntiCDU-Rocker »Mit Gott« - Diskussionsstoff, der dem Musiker eigentlich gar nicht passte: »Wenn ein Text drauf ist, rezipieren wir Musik sofort ganz anders. Dabei geht uns oft genug der Spaß an der Musik flöten, wenn wir uns immer denken: Was will der Künstler uns jetzt sagen?« Wobei der Künstler eben doch eine ganze Menge zu sagen hatte, zumal über die C-Partei: »Dieses Christliche, was permanent in die Schlacht geführt wird: bäh!« Mittlerweile hatte die CDU die Goethe-Institute angewiesen, den Titel »Lächeln« von der »Sprünge«-LP nicht mehr zu spielen, weil sie ihn für deutsche Unkultur halte. Grönemeyer suchte nun aber nicht den Dialog, um Käuferschichten zu erhalten, sondern konterte mit einer inhaltlich und musikalisch härteren, bissigeren Nummer: »>Mit Gott< ist noch konkreter als >Lächeln<. Auslöser war, dass ich dies anmaßend fand, meine Lieder auf den Kulturindex zu setzen. Es geht mir nicht darum, jemandem vorzuschreiben, was er zu wählen hat. Aber das moralische Verhalten einiger Politiker der C-Partei ist in meinen Augen zynisch, wie überhaupt das Wort >christlich< in der Politik unwirklich erscheint. Davor sollte man mehr Ehrfurcht zeigen, als es auf dem Schilde zu tragen, finde ich.« Ob den Leuten dann passe, was er zu sagen habe, sei ihm relativ egal: Er habe auch schon »Sachen gemacht, die alle erst mal blöd fanden. Die letzte Instanz bin immer ich, weil meine Sachen ja immer spezifisch grönemeyerisch sein sollen. Es wäre fürchterlich, wenn meine Lieder wirklich jedem gefallen würden.« Der CDU hat jedenfalls nicht gepasst, was er in »Mit Gott« sang: »Mit Gott auf unserer Seite / Jesus in einem Boot / einer ging leider baden / doch wir warfen ihn noch rechtzeitig über Bord / mit Gott auf unserer Seite / Jesus in einem Boot / den Ablass in unserem Namen / das >C< strahlt über uns riesengroß«. Grönemeyer sagt heute noch missmutig: »Kohl hatte zumindest noch eine
spießige Werteeinstellung, war ein unheimlicher Machtsicherer, der um sich rum zensiert hat, worüber man ja auch nie redet. Die Schwarzgeldaffäre ist nicht aufgeklärt, und ich vermute auch nach wie vor, dass sie Barschel umgebracht haben.« Als die Single »Was soll das« erschien, dachten gleich alle: Ah, Grönemeyers Freundin hat eine Affäre. »Mich haben Leute nach >Was soll das< mitleidig angesprochen«, berichtet Grönemeyer irritiert, »>Ihnen muss es ja furchtbar gehen. Sie sind von einer Tour gekommen, und jetzt wohnt da wohl ein anderer bei Ihnen. Sie haben ja dann auch besoffen in der Gosse gelegen, wohl immer `Vollmond, Vollmond´ geschrien.< Die Deutschen sind so textverbissen. Die denken immer gleich, man schreibe seine Biografie.« Grönemeyer erklärt: Nicht alle seine Liebeslieder seien »zu hundert Prozent authentisch erlebt. >Was soll das< ist beispielsweise das Erlebnis eines Freundes. Aber ich mache in den Texten deutlich, wie ich zu einer Beziehung stehe, was ich denke und fühle.« Das beeindruckte sogar den Schlagersänger Roland Kaiser: »Die Zeit des klassischen deutschen Schlagerfuzzis ist vorbei, Hossa ist tot. Wenn Andy Borg lamentiert: >Adios, adios, adios amor, ich komm verlassen mir vor<, will das keiner mehr hören. Realistisch finden die Leute, wie Grönemeyer das Thema behandelt: >Was soll das? Ich hau dir in die Fresse, du Penner! Was machst du hier mit meiner Frau?<« Auch ihm selbst sei »Herbert Grönemeyer näher als Andy Borg« Insgesamt fand Grönemeyer: »Bei >Ö< ist mein Sohn geboren, das war eine sehr positive und optimistische Platte.« Wobei er später gerade auf »Bochum« und »Ö« auch etliche mäßige Songs ausmachte: »>Fangfragen< auf >Bochum< finde ich schwach. >Wieder erwischt< auf >Bochum<. Ich find >Freunde< auf >Ö< schwach.
>Herbsterwachen< von >Ö< ist okay, aber auch nicht so ganz stark.« 1988 legte Grönemeyer aber nicht nur »Ö« vor. Überschattet vom eigenen Erfolg und daher fast unbemerkt war er neben Katja Riemann in einer Nebenrolle des TV-Sechsteilers »Sommer in Lesmona« zu sehen, zu dem er auch die gesamte Filmmusik beisteuerte (für die er dann immerhin den GrimmePreis in Gold bekam). »Sommer in Lesmona« war die Verfilmung eines »Briefromanes« von Marga Berck: Gedreht wurden zwei Versionen parallel, eine sechsteilige Fassung sowie ein in sich abgeschlossenes Fernsehspiel. Regisseur Peter Beauvais arbeitete von Anfang an mit zwei Drehbüchern; im Anschluss an eine Serienszene wurde dieselbe Szene noch einmal für das Fernsehspiel gedreht, teilweise mit verändertem Dialog, anderen Requisiten und Kostümen. Rückblickend erzählt der Film von einer alten Dame, die 1940 ein Bündel Briefe aus ihrer Jugendzeit wiederfindet, entfaltet sich eine Liebesgeschichte, die zugleich die Bremer Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts porträtiert. »Sommer in Lesmona« war nicht nur der letzte Film von Beauvais, sondern auch der bislang letzte Herbert Grönemeyers wie schon »Frühlingssinfonie« und »Väter und Söhne« ein Historienstreifen, wie »Väter und Söhne« und »Das Boot« ein Mehrteiler, ein deutsches Epos. Grönemeyer hatte Ausdauer, Durchhaltevermögen - und ganz offensichtlich auch einen »klassisch« deutschen Look. Bis zu diesem Zeitpunkt also fuhr Grönemeyer im Grunde zweigleisig, verfolgte mit halbem Herzen noch seine Karriere als Schauspieler und vor allem als Filmund Theatermusiker (zumindest diesen Teil sollte er auch in den folgenden Jahren immer wieder einmal zum Leben erwecken). Er gibt auch selbst zu: »Für mich war das Theater eher ein Platz, den ich beeindruckend fand; mit welchem individuellen Wahnsinn Leute es schaffen zu sein. Das war ein Freiraum«, sich in einer »sehr menschlichen und sehr faszinierenden Art und Weise«
auszutoben und auszuleben. »Aber ich glaube, ich war nie ein großer Schauspieler, an mir ist auch keiner verloren gegangen. Also, ich war okay als Schwiegersohn, und in den Shakespearerollen war ich immer der doofe Liebhaber, immer so der Blödeste, der da herumrannte, oder in Hamburg im Schauspielhaus habe ich dann irgendwie im Silberkostüm gespielt in Pailletten, und wenn ich rauskam, pfiffen die Leute schon. Ich war gut für Rollen, die nicht so viel Facettenreichtum erfordern. Ich bin kein großer Schauspieler, ich bin okay.« Im Film sei er allerdings besser als auf der Bühne, »weil ich im Film Sachen wiederholen kann und im Theater über einen ganzen Abend eine Figur zu entwickeln und der Facetten zu verleihen, das ist nicht ganz meine Stärke. Also empfinde ich auch nicht diese unmittelbare Lust, die ein Schauspieler empfindet, wenn er auf der Bühne anfängt, eine Figur zu entwickeln und sich Dinge auszudenken.« Im Sommer 1989 schallte dann plötzlich ein Song aus den Radios, der nach Grönemeyer klang - und doch auch wieder nicht: »Grönemeyer kann nicht tanzen«! Der Stottertext stammte von Komiker Wiglaf Droste, Musik und grönemeyereske Produktion steuerte Bela B. von den »Ärzten« bei. Textauszug: »Herbert hackt Sätze. Nuschelt. Klingt lustig. Auch irgendwie kaputt. (...) Deutschland. Kindheit: Vater Pils. Mutter Putzen. Alles total kaputt ... Herbert lacht. (...) Hat den Jaul, nicht den Soul. Klingt leicht abgestochen. Aber voll da. Tanzen. Herbert kann nicht tanzen. Kein Rhythmus. Kein Körper. Sieht komisch aus. Krank. Hospitalistisch. Autistisch.« Grönemeyer konterte: »Pina Bausch, mit der ich in den Siebzigern am Bochumer Schauspielhaus ein Stück gemacht habe, hat mal gesagt: Der Herr Grönemeyer? Der konnte ganz hervorragend tanzen!« Er urteilte dennoch, die Satire »war zynisch, fand ich okay«. Denn »das Lied hat in sich eine Bissigkeit, eine Bösartigkeit, die ich gut finde. Wenn jemand findet, dass ich wie ein Tanzbär auf der Bühne herumspringe, dann finde ich das okay. Ich behaupte ja nicht, dass ich Nurejew bin.«
Direkt im Anschluss an »Ö« erschien Mitte 1989 das erste englischsprachige Album »What's All This« in Kanada - für deutsche Fans als Import erhältlich. Gitarrist Gaggy Mrozeck: »Wir haben die gleichen Stücke teilweise noch mal neu aufgenommen. Es gab neue Interpretationen, >Alkohol< zum Beispiel war dadurch der ersten Demo-Version näher.« Das Tracklisting der Platte: 1. »What's All This« (Original: »Was soll das?« von »Ö«) 2. »Full Moon« (»Vollmond« von »Ö«) 3. »Airplanes In My Head« (»Flugzeuge im Bauch« von »Bochum«) 4. »Alcohol« (»Alkohol« von »Bochum«) 5. »Angst« (»Angst« von »Sprünge«) 6. »So Far Away« (»Unterwegs« von »Sprünge«) 7. »Men« (»Männer« von »Bochum«) 8. »White Arrogance« (»Maß aller Dinge« von »Sprünge«) 9. »Bochum« (»Bochum« von »Bochum«) 10. »Hold Me« (»Halt mich« von »0«)
Oft kritisiert, erweist sich hier die Tatsache, dass Grönemeyer seine Stimme recht weit nach hinten mischen lässt (und dadurch im Deutschen nicht so leicht zu verstehen ist) als positiv. Dass Englisch nicht seine Muttersprache ist, fällt dadurch nicht so sehr auf, die Songs wirken deutlich atmosphärischer als in den Originalversionen: Musik und Stimmung rücken in den Mittelpunkt, instinktiv entfällt das stete Hörerbemühen, dem Text möglichst genau zu folgen. Wer die deutschen Fassungen im Ohr hat, muss die Platte zwar ein paarmal hören, um die automatische »innere Synchronisation« abzuschalten. Aber es lohnt sich: Die Songs entsprechen im Hörerlebnis vermutlich viel eher Grönemeyers Wahrnehmung als die gewohnten Fassungen. Schließlich schreibt er die Songs ursprünglich genau so: mit Blick auf
die musikalische Wirkung und mit (unverständlichem) englischem Text. Die Übersetzungen folgen den Originalen fast wörtlich. Aus »Sein Pyjama liegt in meinem Bett / sein Kamm in meiner Bürste steckt / was soll das?« wird »his pyjamas lie there in my bed / his comb stuck in my brush / I said what's all this?«. Statt »Männer nehmen in den Arm / Männer geben Geborgenheit / Männer weinen heimlich / Männer brauchen viel Zärtlichkeit« heißt es »men will open their arms / men assure security / men will cry in their beer / if you don't treat them tenderly«. Über Bochum heißt es ursprünglich: »Bochum / ich komm aus dir / Bochum / ich häng an dir / Glück auf, Bochum«, nun singt er: »Bochum I call you home / Bochum you're in my bones / oh, >Glück auf< - my home«. Schon 1984 hatte der Sänger sich mit dem Briten Peter Hammill zusammengetan und die Texte der »Bochum«LP übersetzt, später auch Songs der nachfolgenden Alben. Hammill spielte mit seiner Band Van der Graaf Generator in den Sechzigern einen radikalen Mix aus Jazz, Klassik und Pop, eine Frühform des Progressive Rock, wie ihn später auch Genesis zelebrierten. Das Coverfoto für diese LP schoss der holländische Fotograf Anton Corbijn, zuvor in London Musikfotograf für das Magazin NME (»New Musical Express«). Er hatte bereits U2 (unter anderem das Cover von »The Joshua Tree«) und Depeche Mode (zum Beispiel »Exciter«) aufgenommen. Corbijn und Grönemeyer freundeten sich miteinander an, und seitdem hat Corbijn mehrere Cover für Grönemeyer erstellt (»Chaos«, »Stand der Dinge«), einen Bildband über ihn veröffentlicht, Regie bei etlichen Videos geführt - und ist »bored member« von Grönemeyers Londoner Label Grönland. (Wortspiel: »board member« heißt »Mitglied des Vorstandes«, »bored member« bedeutet »gelangweiltes Mitglied«.) Grönemeyer weiß auch genau, warum er gern von Corbijn »abgeschossen« wird: »Dein Wahnsinn und deine Einsamkeit«, sagt er, »werden auf seinen Fotos gleichzeitig beschützt und enthüllt.«
Grönemeyer über »What's All This«: »Ich wollte ausprobieren, ob ich die Ausdruckskraft der deutschen Texte ins Englische transportieren konnte. Bei manchen Songs hat's geklappt, bei anderen nicht. Deswegen ist auch nur eine Auswahl auf der LP.« Klar für ihn auch: »Das ist keine >englische< Platte, es ist ein Album mit meinen Liedern, die ich jetzt mal auf Englisch singe. Deutsche Musik hat eine große Kraft bekommen, und ich will wissen, ob die Kraft ausreicht, auch in Übersee die Leute anzusprechen.« Viel schwieriger als diese Ansprache gestaltete sich jedoch die Aussprache deshalb fand sich auf dem Cover gleich die Lautschrift des Künstlernamens: »Grown-a-my-err«. Grönemeyer erklärt, wie er das Projekt »What's All This« anging: »Ich wollte das wie eine Buchübersetzung oder Filmsynchronisation angehen. Man muss auch mal was für das eigene Selbstverständnis tun, was deutsche Musik angeht, und es dann im Ausland probieren.« Den Amerikanern habe »das allerdings gar nichts gesagt, das war denen viel zu textlastig«. Die Kanadier hingegen seien »auf die Texte abgefahren«, sie hätten sogar die speziell deutschen Elemente in seiner Musik entdeckt. Auf die LP folgte eine erfolgreiche Kanada-Tournee: »Die Idee dahinter war, einen Emi-Act, Tom Cochran, in Deutschland unser Vorprogramm spielen zu lassen, und uns in Kanada bei ihm«, erklärt Gaggy Mrozeck. »In Toronto haben wir vor ein paar tausend Leuten gespielt. Als Erlebnis war das klasse! Es ist schön, sich zu beweisen, dass es auch wirkt ohne den PromotionRummel, ohne den Status, ohne diese Grundaufstellung. Die pure Musik, die Band praktisch nackt ins Wasser geschmissen.« Grönemeyer bemerkte stolz: »Die Leute haben sich hingestellt und geschrien: >Great, Herbert! Go on rocking, Herbert!< Und das in Alaska!« Er stand auf der Bühne und dachte: »Jetzt bist du da, wo du hingehörst«, gibt er zu. Zum Glück trug sicher auch bei, dass er sogar schon seine sechs Monate alte Tochter Marie dabeihatte.
Andererseits waren nicht alle Konzerte solche Toperlebnisse. »Beim ersten Gig hab ich >standing ovations< gekriegt, in Montreal auf einer Kirmes dagegen sind die Leute eingeschlafen. Ein totaler Reinfall. Aber es war sehr gesund: Ich hab gemerkt, dass ich auf der Bühne oft völlig hohle Attitüden draufhabe.« Zwei weitere Alben (»Luxus« und »Chaos«) veröffentlichte Grönemeyer später komplett auf Englisch, eine internationale Fassung von »Mensch« ist geplant. Dennoch muss man feststellen: Mehr als der kreative Freiraum eines erfolgreichen deutschsprachigen Künstlers - und allenfalls noch ein kommerzieller Achtungserfolg in Kanada - sind die englischen Versionen bislang nicht. Kritiker haben also gut lästern: Herbert Grönemeyer »versuchte vor Jahren, strategisch sorgfältig ausgetüftelt, sich mit einer englischsprachigen Veröffentlichung über Kanada an den US-Markt heranzuschleichen. Leider haben das noch nicht mal die Kanadier bemerkt«, schrieb der »Focus«. Nach den Auftritten in Kanada schließlich gab Grönemeyer am 1. September 1989 anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Einmarsches deutscher Truppen in Polen noch ein Konzert in der Danziger Waldoper, dessen Erlöse für Ökologieprojekte in Polen zur Verfügung gestellt wurden: »Das war eine Geste, ich hab's auch für mich selber gemacht«, erklärte er. »Mein Vater war damals bei dem Einmarsch dabei. Die Leute dort waren schon sehr skeptisch, denn es waren nicht nur Polen da, sondern auch viele Besucher aus der DDR. Das haben die Polen wohl nicht so gern gesehen. Ich hatte einen Simultanübersetzer auf der Bühne und auch Songs wie >Angst< oder >Tanzen< (>Wir wollen ganz leise in Polen einmarschieren<) gebracht. Die Reaktion war sehr vorsichtig, keineswegs euphorisch, was ich auch gut fand.« Wenn er nicht gerade auf Tour ist oder an einem neuen Album arbeitet, lässt Grönemeyer den lieben Gott auch gern mal einen guten Mann sein: »Ich relax schon sehr viel mit Musik, das heißt, ich sitze am Klavier und spiele
so vor mich hin. Dann gehe ich Fußball spielen. Außerdem hänge ich auch sehr gern rum und bin ein Fachmann für langes Schlafen. Ich behaupte: Der Müßiggang ist im Christentum zu sehr verteufelt worden.« Viel Gelegenheit zum Müßiggang wird er allerdings nicht gehabt haben, denn 1989 kam noch Grönemeyers Tochter Marie zur Welt, der er im folgenden Jahr einen gleichnamigen Song auf der LP »Luxus« widmete. »Wer keine Kinder in die Welt setzt«, fand Grönemeyer, der »resigniert. Ich finde es für ein Kind viel zu belastend, wenn man ihm dauernd sagt: Ich habe alles nur für dich getan. Kinder sind belebend, radikale Gegner im positiven Sinn.« Auch Grönemeyers private Weltsicht, stellt sich heraus, basiert also auf Kämpfen, in denen man wächst ähnlich beschreibt ja auch Edo Zanki die Zusammenarbeit mit dem Künstler. Grönemeyer kann zudem das Vatersein auch intensiver leben als andere, weil sein Familienleben aufgrund der doch eher unregelmäßigen Arbeitszeiten nicht in geregeltspießigen Bahnen verläuft. Anna hat zudem »jahrelang als erfolgreiche Schauspielerin auf der Bühne gestanden. Ich glaube nicht, dass wir dem klassischen Rollenverhalten entsprechen. Unser Rollenverständnis ist total gleichberechtigt, sonst wären wir nicht zusammen. Das mit der Mutterrolle sollte man nicht überbewerten.« Grönemeyer selbst habe auch »beispielsweise eine Zeit lang kein Theater gespielt«, um Anna diese Möglichkeit zu geben. »Da wir beide aus dem gleichen Bereich sind, können wir Dinge bei dem anderen viel besser einschätzen.« Er gibt auch zu: »Ich habe ja das große Glück, dass ich kein arbeitender Mensch im eigentlichen Sinn bin. Das hilft, ich muss nicht morgens um acht zur Arbeit und komme dann abends um sechs wieder. Gut, ich bin eine Zeit lang unterwegs«, aber »dafür bin ich dann das andere halbe Jahr von morgens bis abends zu Hause. Da mache ich genau den Alltag mit wie, na ja, Hausfrau klingt komisch, also wie jeder andere Mensch auch. Ich dümpel so zu Hause rum, spiele mit den Kindern, dusche, gehe einkaufen, telefoniere, spiele
Fußball. Ich habe in Aachen eine Fußballmannschaft. Und ansonsten kümmere ich mich halt um alles, was so anfällt. Ich lese Zeitung, gucke Fernsehen. Ich lebe ganz normal«, erklärte er Anfang der Neunziger. Noch bevor es fürs nächste Album ins Studio ging, kam es schließlich zu der bisher einzigen Veränderung in Grönemeyers Stammband: » 1990 habe ich auf Herberts Wunsch die Band verlassen«, erklärt Gitarrist Gaggy Mrozeck. »Ich bin zwar noch Sandmitglied, aber nehme eigene Produktionsaufträge wahr. Es gibt einige Bands, die so strukturiert sind, dass ausscheidende Mitglieder quasi immer noch mit der gemeinsamen Vergangenheit verbunden bleiben.« Die Trennung war auch in seinem Sinne, denn »die Balance in der Band war für mich nicht mehr gut«, aber »der Verlust der >Band-Familie< tut manchmal weh«. Ersetzt wurde Mrozeck durch Stefan Zobeley, der erstmals auf dem bald folgenden Album »Luxus« zu hören war. Alle übrigen Bandmitglieder haben geschlossen den Weg aus Edo Zankis Studio über Eigenproduktionen bis zu international anmutenden, in London aufgenommenen Werken wie »Bleibt alles anders« und schließlich »Mensch« mitgemacht. Mrozeck: »Das funktioniert wohl immer noch gut, es ist vor allem eine gute, eingespielte Liveband. Und auch >Mensch< klingt zwar vom Sound her anders, aber es ist trotzdem im Grundsatz eine musikalische Denke.« Im Herbst 1990 - kurz nach Matthias Reims Sommerhit »Verdammt, ich lieb dich« - erschien dann Grönemeyers künstlerisch wohl schwächstes Album »Luxus«, das jedoch - weil in Klang und Tonalität wie gewohnt - einfach durchlief und kommerziell wunderbar funktionierte: Bereits vor Veröffentlichung registrierte der Schallplattenhandel die zuvor für Deutschrocker undenkbare Zahl von 700000 Vorbestellungen. »Dieses Megatum gibt dir ein ganz eigenartiges Gefühl«, gestand Grönemeyer. »Die Leute kaufen nur noch LPs aus der Top Ten, der Rest entfällt. Wobei ich mich jetzt sicher nicht zu Hause hinsetze und weine, weil meine Konzerte ein halbes Jahr vorher
ausverkauft sind.« Allerdings beschwerten sich einige Fans, Grönemeyer sei so arrogant geworden. Heute findet er, dass sie durchaus Recht hatten. »Aber erst dachte ich, das kann nicht stimmen, eigentlich bin ich ein dufter Typ. Ich brauche immer erst zwei Wochen, um zu begreifen, dass an Kritik vielleicht doch etwas Wahres dran ist.« Dass Grönemeyer jedoch versuchte, auf »Luxus« einerseits seinen eigenen zunehmend luxuriösen Status zu thematisieren, andererseits auf die aufkeimenden Probleme der praktisch zeitgleich mit der Albumveröffentlichung am 3. Oktober 1990 vollzogenen deutschen Einheit hinzuweisen, ging fast völlig unter. Grönemeyer: »>Luxus< ist der Ausdruck meines eigenen Zwiespalts: Ich besitze viel Geld und möchte dennoch nicht abheben. Auf der anderen Seite hat es etwas mit dem Zeitgeschehen zu tun, der deutschen Gediegenheit und Gepflegtheit - Angriffsziel beispielsweise der Krawalle in Hamburg während der Premiere von >Phantom der Oper<. Im Grunde kann man sich in den Städten nur noch bewegen, wenn man Geld hat. Die Diskrepanz zwischen Reich und Arm wird immer größer.« Grönemeyer sah schon damals amerikanische Verhältnisse voraus, in denen die Reichen viel Geld dafür ausgeben, von der Armut abgeschottet (und vor dem Frust der Armen geschützt) zu sein. Im Nachhinein sagt auch er selbst über die Platte »Luxus«: »>Luxus< ... da haben wir uns ziemlich klasse gefühlt. Die hat in geringem Maße, aber von allen Platten im größten Maße einen Hauch von Arroganz. In der Platte ist das größte Maß an Anflug von Größenwahn drin.« Er »schwebte auf einer Wolke von Erfolg, die Kinder waren da, und ich glaubte, wahnsinnig viel verstanden zu haben. Das hatte was von sehr viel Glück, und ich dachte: Jetzt hat das Leben seinen Lauf!« Geld hin, Geld her, Grönemeyers persönlicher Luxus war ohnehin eher von unspektakulärer Art: »Ich gehe gern essen, hab ein schönes Auto, besitze auch einen Kaschmirpullover.« Kulinarisch war er leicht zu beglücken: »Kaviar esse ich überhaupt nicht, ich mache
mir lieber Fischstäbchen mit Kartoffelbrei.« Und auch seine persönlichen Ziele waren nachvollziehbar: »Erfolg wird zum Etikett. Wer Erfolg hat, ist der bessere Mensch. Ich finde, ein Mensch ist erfolgreich, wenn er zu sich findet.« Die FAZ bemängelte an »Luxus« dennoch nicht ganz zu Unrecht: »Obwohl Herbert Grönemeyer mit seinem spröden Charme und seiner kultivierten Kantigkeit eigentlich gar nicht zum Massenartikel taugt, ist er derzeit in Deutschland mindestens ebenso begehrt wie CocaCola, Hamburger oder Zahnpasta. Eine Steigerung seiner Popularität scheint kaum noch vorstellbar, zumal sich der Liedermacher aus dem Kohlenpott auf seinem neuen Album den Luxus gönnt, seinem Stil beharrlich treu zu bleiben.« (Die Vermutung über die Unmöglichkeit, seine Popularität zu steigern, sollte sich allerdings als krasse Fehleinschätzung erweisen.) Als »das Bemerkenswerteste an >Luxus<« bezeichnete der Kritiker dann aber, »dass sich Herbert Grönemeyer kurz vor der Veröffentlichung des Albums dazu entschlossen hat, seine lange blonde Strähne und damit sein Markenzeichen zu opfern. Seiner Musik hätte solch ein entschiedener Wandel gewiss auch nicht geschadet.« In »Hartgeld«, »Luxus« und »Freunde« geht es recht offen um Probleme der Wiedervereinigung Deutschlands. Grönemeyer messerscharf: »Wir reden immer von Bruder und Schwester, aber es gibt enorme Berührungsängste. Nicht schwärmerische Vereinigung ist jetzt gefragt, sondern langsames Sich-kennenlernen, und jeder sollte mit sein von der Partie. Und darüber sollten wir andere Freunde nicht vergessen, die uns beim Aufbau hier im Westen sehr geholfen haben, die Ausländer. Also, bei unserer deutschen Zwangsheirat werden sich die Emotionen noch später entladen.« Auch dass die vergrößerte Republik nicht umsonst zu haben war, erkannte er früher als viele Politiker: »Von mir aus können sie die Steuern erhöhen. Ich bin der Erste, der Geld geben würde, das ist gar nicht die Frage. Was
mich mehr beschäftigt, ist diese Depression, die jetzt eintritt.« Denn »die Vereinigung ist für mich eine Zwangsheirat, wo die Ehepartner nicht gleichberechtigt sind und kaum was voneinander wissen. Da habe ich schon Angst, dass man als Ventil dann Leute benutzt, die dafür nichts können - die Ausländer etwa, die ja massiv an unserem Wohlstand mitgearbeitet haben.« Zudem war ihm nicht klar, »warum es unbedingt ein Staat sein muss. Gut, da gibt es wieder das berühmte Argument: Dann wären alle hier rübergekommen - aber das glaube ich nicht. Die Deutschen haben immer daran geglaubt, dass sie die Größten sind. Dieser Größenwahn wird jetzt wieder unheimlich, und davor habe ich große Angst. Es ist nicht gesagt, dass man sein Leben mit seinen Brüdern und Schwestern fristen muss. Das Leben bewältigt man mit seinen Freunden.« Genervt registrierte er auch, dass nach »Lächeln« nun natürlich auch »Mit Gott« von der CDU auf den Index der GoetheInstitute gesetzt worden war. »Ich denke, dass ich nicht der Christ schlechthin bin. Aber wenn sich jemand eine solche Eigenschaft auf seine Fahne schreibt, muss er sich daran messen lassen. Es ist ja bezeichnend, dass die C-Partei zwei meiner Lieder, die ihr nicht in den Kram passten, per Rundschreiben an die Goethe-Institute als Zeugnisse deutscher Unkultur bewertet hat. Im Übrigen betrachte ich politische Parteien und ihre Exponenten als meine Vertreter. Wir alle sind deren Arbeitgeber. Wenn die Mist bauen, haben wir denen auf die Finger zu schlagen. Haben wir oder haben die Herren Politiker überhaupt begriffen, was Demokratie ist?« Grönemeyer selbst reflektiert hingegen sogar über die Frage, ob er seinerseits zu viel Macht über das Publikum habe: »Ich bin keiner, der den Leuten seine Meinung aufdrückt. Ich nehme mein Publikum ernst und will die Leute zum Nachdenken anregen. Ich bin mir über die Macht bewusst, aber da ich in meinen Liedern sehr viel über Macht in Beziehungen oder in der Politik singe, denke ich über das Thema auch sehr viel nach.«
In »Video« gibt Grönemeyer sich - nach »Männer« erneut feministisch korrekt und beschreibt ironisch den Einsatz leichtbekleideter Girlies in Rockvideos: »Du liegst hier in meinem Arm / du ganz nackt, ich hab noch was an / übertreib's nicht mit dem Kuss / weil ich gleich noch singen muss«. Grönemeyer dazu: »Na ja, ich bin ja im Bett nicht nur der Friedensfürst und les aus'm Buch vor. Was ich extrem chauvinistisch finde, ist der spekulative Einsatz von Frauen in Rockvideos; das ist ein reines Verkaufsvehikel und ausgesprochen frauenfeindlich. Da siehst du diese feisten Rocksänger mit ihren dicken Ärschen in engen Hosen - und neben ihnen eine pralle Frau, die blöd in der Gegend rumsteht und den Sänger anhimmelt. Das ist geschmacklos, dagegen wehre ich mich. Es geht doch nicht an, dass Rockmusik, die in ihren Anfängen gesellschaftlich etwas in Gang gebracht hat, jetzt genau ins andere Extrem umschlägt.« In dem zarten Stück »Sie« erzählt Grönemeyer von einer als Kind missbrauchten Frau: »Es liegt Ewigkeiten zurück / gelähmt, panisch, als passiert es ihr jetzt / gegenwärtig sein stierer Blick, seine Fäuste / widerwärtig sein Atem, gehetzt«. Grönemeyer selbst sieht den Song als handfeste Hilfeleistung: »Es gibt in meiner Generation Frauen, die jetzt anfangen, solche Themen anzusprechen. Ich habe daraufhin in meinem Umfeld nachgefragt und war erstaunt, wie konkret Frauen davon erzählen können. Das ist ein wichtiges Thema, da muss es so schnell wie möglich eine Öffentlichkeit beziehungsweise Ansprechpartner für die Betroffenen geben. Für mich ist das Lied mein Versuch, das Thema publik zu machen.« Problematisch sei es natürlich, ein so sensibles Stück im Konzert zu spielen - und alle klatschen und johlen begeistert. Grönemeyer: »Die Zensur von der Bühne herunter ist natürlich schwierig. Und wenn sie trotzdem mitklatschen, dann habe ich die Möglichkeit, sie aus dem Rhythmus zu bringen. Andererseits gehen wir das aber auch immer so nach vorgegebenen Normen an. Wenn man bedenkt, wie die Schwarzen Trauer
ausdrücken, leidenschaftlich und in Tänzen, dann muss man sich auch mal darüber Gedanken machen.« Grundsätzlich entstanden die Texte wie immer nach der Musik. Auch die Suche nach Themen folgte bewährten Mustern: »Es gibt viele Texte, die gehe ich an, und dann merke ich beim Schreiben, dass ich gar nicht so viel darüber weiß, doch nicht so betroffen bin oder mir ganz einfach der Zugang fehlt. Dann sage ich mir einfach: Langsam, lass es lieber, bevor du anfängst, dich an was ranzuschmeißen. Dann schreib lieber ein Lied über die >Currywurst< oder >Mambo<.« Und notfalls wusch ihm Anna den Kopf: »Die ist natürlich sehr wichtig«, gab Grönemeyer zu, »weil ich bei ihr am sichersten bin, dass da wirklich eine klare, direkte Auseinandersetzung stattfindet, ohne irgendwelche Dünkel im Kopf. Das ist unheimlich wichtig, wenn du anfängst zu spinnen oder wenn du dich verrennst.« Nicht immer würden die Lieder durch die Texte besser: »Von mir aus brauchten meine Stücke keinen Text. Wenn ich meine Lieder mit der Band einspiele, singe ich immer nur Nonsenszeilen. Und das klingt wunderbar. Wenn die Band dann das erste Mal meine fertigen Texte hört, ist es für die meistens frustrierend: >Was hast du denn jetzt gemacht, das klang vorher doch so schön.<« Grönemeyer erklärt, was ihm wichtig ist: »Liedermacher schreiben Texte und vertonen die. Das ist eine eigene Kunst. Rock 'n' Roller schreiben zuerst die Musik und nageln 'nen Text drauf. Ich bin Rock 'n' Roller. Das heißt nicht, dass ich meine Texte nicht ernst nehme. Das Ganze muss wirken. Ich behaupte, ein guter Text mit 'ner schlechten Musik, da schlafen die Leute ein. Die Musik, die Band, wie wir uns über die Jahre entwickelt haben und weiterentwickeln, das interessiert mich hauptsächlich.« Auch die »Luxus«-Tour war ein Erfolg, wie es ein Videomitschnitt vom März 1991 aus der Dortmunder Westfalenhalle eindrucksvoll vor Augen führt - selbst wenn »ein Konzertmitschnitt ist, wie wenn man sich küsst
und dabei beobachtet wird«, so Grönemeyer. Die Intimität, die direkte Nähe zwischen Künstler und Publikum fehlt. »Es ist, wie wenn man den ersten Sex mit seiner Freundin hat und Papi sitzt auf der Bettkante«, meckerte ein Kritiker der »Süddeutschen Zeitung« bei einem späteren Mitschnitt nicht ganz zu Unrecht. Ebenso hatten Journalisten am Anblick des Künstlers auf »Luxus«-Reise etwas auszusetzen: »Er sieht aus, als habe er nicht ordentlich gefrühstückt: ziemlich blass. Er tanzt, als habe er ein Rückenleiden. Er singt ... nein, eigentlich kann man das nicht Singen nennen.« Und wenn Herbert Grönemeyer »>Was soll das?< ins Mikrophon nörgelt, dann fragt man sich das manchmal unwillkürlich selbst.« Das Publikum fragte sich das jedoch nicht - und war wie immer begeistert. Für Grönemeyer selbst war es aber tatsächlich nicht leicht, auf die Bühne zu gehen: Das Lampenfieber »wird eher immer schlimmer«, früher habe er dagegen »immer noch zwei Schluck Bier getrunken, heute lasse ich mich vor dem Konzert massieren. Manchmal gehe ich auch schon vorher in die Halle, um die Atmosphäre aufzunehmen. Das ist ein Lampenfieber, als wenn man sich auf ein Rendezvous freut!« Denn »man freut sich wie ein Schneekönig, wenn man ein Lied schreibt und die Leute es in den Konzerten auch noch mitsingen. Ich sauge das auch auf - das sind Glücksmomente für mich.« Erstmals spielte Grönemeyer durchgängig in großen Hallen - und bekam wieder nur Ärger: »Ich kann dazu nur sagen, dass man das intensivere Konzert sicher in einer kleineren Halle bringt. Wir spielen jetzt fünfzig Konzerte. Bei der >Sprünge<-Tour habe ich mich nur auf kleine Kapazitäten beschränkt. Die Leute sind ausgerastet und haben uns als elitäres Pack beschimpft, das nur für den engsten Kreis spielen würde. Ein Beispiel: In Hamburg habe ich jetzt zweimal die Sporthalle mit achttausend Leuten ausverkauft; wenn ich das auf eine kleine Halle zurückschrauben würde, müsste ich fünfzehnmal in Hamburg spielen. Jetzt stell dir vor, das geht in jeder
Stadt so, da kann ich mich ja erschießen. Ich will andererseits aber keine Abkoche betreiben und versuche nach wie vor, die Preise niedrig zu halten. Diesmal wird's 24 Mark kosten, weil wir die Produktion etwas aufgestockt haben mit Vari-Lights. Aber für Springsteen zahlen die Leute ja auch fünfzig Mark und finden das ganz toll, wenn der abends mit einer Million nach Hause geht.« Pro Auftritt bekam Grönemeyer damals 200000 Mark. »Aber ich habe pro Abend auch 160000 Mark Unkosten«, erklärt er. »Ich habe fünfzig Leute, die während der Tour jeden Tag hart für mich arbeiten, ich hab meine Riesenbühne, ich hab vier Trucks, drei Busse, ich hab Hotelkosten. Das muss alles bezahlt werden.« Da bleibt zwar meistens immer noch etwas übrig, aber tatsächlich weniger als bei vielen anderen Künstlern. Außerdem könne er »die CD-Preise, die ja auch viel zu hoch sind, nicht mitbestimmen. Deshalb versuchen wir schon seit Jahren, die Preise für Konzertkarten so niedrig wie möglich zu halten.« Das funktioniere »über eine Mischkalkulation. Bei einigen Konzerten verdienen wir ganz gut, was wir in andere Auftritte dann reinstecken. Unter dem Strich bleiben für mich zwischen viertausend und achttausend Mark pro Auftritt.« Dass es Grönemeyer wirklich nicht ums Geld ging, beweist nicht zuletzt die Tatsache, dass er sich konsequent - bis zum Ende der DDR - weigerte, in Ostdeutschland aufzutreten: »Ich hatte immer das Gefühl, die Karten würden zentral verteilt.« Zwar wurden alljährlich »die Gagenangebote für Konzerte hier erhöht, 1988 waren es, glaube ich, zwei Millionen, damit wir in Weißensee spielen, wenn vor dem Reichstag Pink Floyd auftritt«. Aber »die einzige Möglichkeit, mich dem zu entziehen, blieb, hier nicht aufzutreten«. Das Prinzip der SED schien ihm zu sein: »Wir scheißen sie so lange mit Geld zu, bis sie kommen«; 1989 lag das Gebot letztlich bei drei Millionen Ostmark für ein Konzert. Grönemeyer: »Die haben gesagt: >Wir bezahlen dich mit Segelbooten, mit Klavieren und Möbeln, alles, was du haben willst. («Das reizte ihn als wahren Antiquitätenliebhaber
natürlich schon. Daraufhin schickte er ein Telex, in dem stand: »>Ich komme nur, wenn ihr zwanzigtausend jeder meiner Alben veröffentlicht.< Darauf kam am nächsten Morgen zurück: >Machen wir. Es wird das größte Konzert in Europa. Wir garantieren mindestens 350000 Zuschauer in Leipzig.< « Grönemeyer aber verzichtete auf die Antiquitäten und blieb sich treu. Er telexte zurück: »>Wollte ich nur mal wissen< und habe abgesagt.« Nach der »Luxus«-Tournee freute sich Grönemeyer mehr als je zuvor auf eine Ruhepause mit seiner Familie: »Ich denke, so ein Alltag, wie ich ihn habe, der bringt mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und lässt mich begreifen, dass das Leben nicht nur aus Hotels, rauschenden Konzerten und irgendwelchen Studios besteht. Und diese Phasen brauche ich immer öfter und immer länger. Deshalb werden auch die Abstände zwischen den Platten immer länger. Für meine Arbeit ist es einfach wichtig, dass ich nach der Tournee abschalten und wieder zurückkommen kann zu meiner Familie. Nicht in eine Idylle, sondern in einen ganz normalen Alltag. Jemand, der Erfolg hat, braucht das, um wieder auf den Boden zu kommen. Ich habe auch gemerkt, dass sich das Leben nicht nur auf der Bühne abspielt, sondern es privat im Leben auch noch ganz andere Dinge gibt.« Immerhin: »Wenn ich nicht singe und nicht rede, dann werde ich gleich ganz ruhig. Dann kann ich stundenlang rumsitzen und gar nichts machen.« Und erstaunlicherweise sehnt er sich dann auch nach einer Weile wieder nach den verplanten Zeiten im Studio oder auf Tour: Alltag »empfinde ich aber als viel anstrengender, als auf Tour zu gehen oder eine Platte zu machen. Du gehst morgens ins Studio, machst ein bisschen Musik, bist lustig, es gibt was zu essen. Alles ist organisiert. Der Alltag hat doch eine viel intensivere Dimension.« Auch wenn es aufgrund der mittlerweile bekannten Songstrukturen nicht alle bemerkten, so bezog Grönemeyer doch auf »Luxus« wieder deutlich Position, vor allem politisch-moralisch. Darüber hinaus hatte er sich
auch schon in den Jahren zuvor beispielsweise gegen FCKW engagiert, eine halbe Million Unterschriften gesammelt: Mit dem Bonner Klub »Idee e.V.« - und unterstützt durch Promis, von Otto Rehhagel bis Witta Pohl - versuchte auch Grönemeyer, »das wertvolle Gut der Demokratie zu vitalisieren. Der Klub wollte Möglichkeiten suchen, dass die Bevölkerung auch dann, wenn nicht gerade Wahlen sind, aktive Politik betreiben kann. Bei der Gründung war ich nicht dabei, aber ich hab mich beteiligt, als der Klub seine erste Kampagne startete. Dabei ging es um den FCKW-Stopp. Wir haben das Umweltministerium aufgefordert, Fluorchlorkohlenwasserstoffe radikal zu verbieten. Ich glaube, wir haben einen Teilerfolg erzielt«, immerhin verschärfte der damalige Umweltminister Töpfer »sicher auch aufgrund dieser Initiative die Gesetze gegen FCKW«. Leider nur »ist die Sache im deutschen Einheitstaumel etwas untergegangen«. Überhaupt nehme er sich nach wie vor - reich und prominent oder nicht - das Recht heraus, seine Meinung zu haben und (öffentlich) kundzutun: »Ich lebe hier und habe schon immer zu gewissen Dingen meine Meinung gesagt. Nur weil ich jetzt erfolgreich bin, muss ich nicht gleich meine Klappe halten. Ich will hier noch lange leben und habe keine Lust darauf, dass das soziale Klima so eng wird, dass man keine Luft kriegt.« Er sehe sich und seine Mitstreiter zwar nicht als außerparlamentarische Opposition, aber doch immerhin »als außerparlamentarisches demokratisches Korrektiv«. Denn man müsse doch »den Politikern das Gefühl geben, dass wir der Arbeitgeber sind und sie auch außerhalb der Wahlen kontrollieren«. Wegen der Steuerlüge - Steuersenkungen versprochen, aber nicht umgesetzt - legte er beispielsweise in ganzseitigen Anzeigen Kanzler Kohl den Rücktritt nahe, denn: »Du sollst nicht lügen«, heiße es im achten Gebot. Zumal das Steuerproblem langfristig zu Schwierigkeiten bei der Wiedervereinigung führen würde (wie es ja auch gekommen ist): »Das Steuerproblem war doch die zentrale Frage. Entweder sind Wahlen ernst zu
nehmen oder nicht. Wenn wir den Politikern erlauben, ihre Arbeitgeber so simpel hinters Licht zu führen, dann verraten wir die Demokratie. Wähler, die so verarscht worden sind, haben das Recht, sich neu zu entscheiden. Da wird den Leuten aus der DDR die offene Demokratie verkündet, und nach drei Monaten sehen sie, sie werden genauso verblödet wie früher.« Denn »in dieser vertrackten Situation« setze Kanzler Kohl »nun noch eins drauf: Er holt sich das Geld nicht von den Reichen, die es am lockersten geben könnten, sondern macht eine Reform quer durch alle Steuerklassen. Belastet die Schwachen, die er damit geködert hat, es würde nichts kosten. Das schürt doch geradezu die Wut bei denen, die das geglaubt und deshalb CDU gewählt haben.« Klug erkannt. Grönemeyer mahnte: Man sollte sich über die Erfahrungen der DDR nicht so einfach hinwegsetzen. »Wir sind uns dafür zu ähnlich. Wir treffen uns nämlich gesamtdeutsch in dem Punkt, dass wir die da oben machen lassen und gern regiert werden.« (Ein Gedanke, der es auch in den Text des Titelsongs »Luxus« schaffte: »Wir drehen uns um uns selbst / denn was passiert, passiert / Wir wollen keinen Einfluss / wir werden gern regiert«.) Auch die Arroganz im Umgang mit den Bürgern der ehemaligen DDR monierte Grönemeyer schon damals: Ihn störe vor allem, »dass sich niemand wirklich kümmert. Diese Form von Missachtung. Keine Sau interessiert sich doch hier für die Leute in der ehemaligen DDR. Das muss man mal so sagen. Es gibt ja auch Brüder und Schwestern, für die man sich nicht interessiert. Wir haben keine Ahnung vom Osten, aber wir wissen alles besser. Man kann doch den Leuten nicht den Boden unter den Füßen wegziehen und sagen: Ihr habt vierzig Jahre lang sowieso nur Mist gebaut oder das Falsche gegessen. Nun bekommen sie von uns vor allem Bevormundung und Hilfe zur Verdrängung. Und jeder Vollidiot im Westen kann noch in zwanzig Jahren für sich beanspruchen: Ohne mich hättet ihr das aber nicht hingekriegt. Als ob wir
unser Wirtschaftswunder ohne fremdes Geld erarbeitet hätten.« Er sah es so: »Leider hat es durch die Wiedervereinigung keine Zäsur gegeben. Der Westen hat einfach den Sieg des Kapitalismus behauptet. Dabei setzen die sich in ihrer Machtzentrale genauso ab. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht alle zusammen dahin entwickeln, wo die DDR schon einmal war. Sonst stellen wir vielleicht in zehn Jahren den gleichen deutschen Gehorsam, die gleiche Unterwürfigkeit fest.« Es sollte keine zehn Jahre dauern, bis der neue deutsche Rechtsradikalismus speziell in der ehemaligen DDR die Ratlosigkeit gerade der jugendlichen dort erschreckend deutlich machte. Immerhin verlor er nicht den Mut: »Man sollte nicht immer denken, dass Kultur nichts ausrichten könne. Ich bin ein moderner Narr. Man kann ärgern, nerven und auf Dinge aufmerksam machen.« Zwei Jahre nach der deutschen Fassung von »Luxus« legte Grönemeyer eine internationale Version vor, ebenfalls »Luxus« betitelt. Die Übersetzung der Texte hatte erneut Peter Hammill besorgt, wieder handelte es sich um extrem nahe Übertragungen - aber doch schon etwas freier, fantasievoller als beim ersten Versuch »What's All This«. In »Deine Liebe klebt« heißt es: »Deine Liebe klebt / du gehst mir auf den Geist / Worte wie Watte / in Harmonie eingeschweißt / du bist 'ne Tortur / so voller Gefühl / Zucker in meinem Tank / du bist mir zu viel«. In »Your Love's Like Glue« lautet die gleiche Passage: »Your love's like glue / you're driving me insane / cotton-wool sweet talk / treacle clogging up my brain / some kind of torture, how very sweet you are / sugar in my fuel tank / so 1 can't go too far / you're just too pure for me to endure«. Im Titelsong »Luxus« sang Grönemeyer: »Wir drehen uns um uns selbst / denn was passiert, passiert / wir wollen keinen Einfluss / wir werden gern regiert / wir feiern hier 'ne Party / und du bist nicht dabei«. Nun heißt
es: »We dance charmed circles / knowing what will be, will be / gladly give our Leaders / responsibility / shut up with your sermons / stop making such a fuss / we're trying to have a party / and you're not one of us«. In der englischen Fassung von »Luxus« wirkt Grönemeyers verhaltener, durch die Produktion fast wie mit Glanzlack überzogener Zorn über die Gegebenheiten (einerseits die deutsche Einheit, andererseits möglicherweise auch schon die Information über Annas Krebserkrankung) noch dramatischer - in »Young Blood« beispielsweise, der englischen Fassung von »Video«, klingt er wie ein rechtschaffen brodelnder Dampfdrucktopf kurz vor der Explosion. So ähnlich sich in diesem Falle der Sound, die Stimmung der deutschen und der internationalen Fassung der Platte sind - so unterschiedlich ist die Dramaturgie. Für die englische Version änderte Grönemeyer die Abfolge der Songs: Durch das neue Tracklisting änderte sich nicht so sehr die Dynamik der Platte, denn es wurden stets Songs ähnlicher musikalischer Coleur getauscht (also Balladen gegen Balladen, Rocknummern gegen Rocknummern). Grönemeyer stellte jedoch speziell deutsche Inhalte zurück (»Hartgeld«, »Ich will mehr«), zog allgemeiner formulierte und leichter zugängliche Themen vor. »Luxus« (deutsch) 1. Hartgeld 2. Deine Liebe klebt 3. Video 4. Ich will mehr 5. Haarscharf 6. Luxus 7. Marie 8. Freunde 9. Sie
»Luxus« (englisch) 1. So Close To Falling (Haarscharf) 2. Your Love's Like Glue (Deine Liebe klebt) 3. Young Blood (Video) 4. She (Sie) 5. Marie 6. Hard Cash (Hartgeld) 7. Luxus 8. All Your Good Friends (Freunde) 9. I Want More (Ich will mehr)
Das internationale »Luxus«-Cover folgt den Wünschen, die Intercord bezogen auf Grönemeyers erste LP geäußert hatte: großes Foto, Künstlername groß. Die deutsche Version war aufwändiger und setzte mehr auf Understatement - das ging, weil Grönemeyer hierzulande bereits eine feste musikalische Größe war. Auf der Originalversion des internationalen Albums findet sich als Bonustrack (für die zweisprachige Zielgruppe der Kanadier) eine bezaubernde französische Fassung von »Marie«, dem Liebeslied für Grönemeyers gerade geborene Tochter (Text von Jean-Paul Dreau): »Du lässt Gefühle überlaufen / mit geheimnisvoller Magie / du lässt allen Ärger abtauchen / hilflose Euphorie, Marie« »You make my emotions hit the high spot / and you're always magical to me / my anger disappears in your presence / I love you oh so much, Marie« »Tu fais vibrer tout mon espace / tu sais la magie des instants / ta chaleur peut briser méme les cceurs de glace / je t'aime ... si fort ...Marie«
Leider wurde die französische Fassung auf der aktuellen CDVersion der englischen »Luxus«-Ausgabe gestrichen. Insgesamt ist »Luxus« schon auf Deutsch eine der schwächeren Grönemeyer-Platten, von den drei bisher erschienenen englischen Alben überzeugt sie ebenfalls am wenigsten: »What's All This« bietet mehr Hits, »Chaos« ist musikalisch und textlich interessanter. »Man kann manchmal persönlicher sein, wenn man lügt«, sagt kein Geringerer als Punk-Altstar Iggy Pop. Herbert Grönemeyer sieht das ähnlich: »Ich bin sicher nicht so integer und so ehrlich, wie das in meinen Liedern klingt. Man sollte von der Kunst nie auf den Künstler schließen.« Und: »Diese vermeintliche Ehrlichkeit in den Texten, das ist eine sehr heikle Sache. Natürlich bemüht man sich, eine gewisse Aufrichtigkeit zu haben. Aber Ehrlichkeit hat immer so was Puristisches: >Ich bin integer und verkünde euch die Wahrheit.< Ich meine eher, dass Kunst die Widersprüchlichkeiten, auch die Unzulänglichkeiten von Künstlern darstellt.« Offen gibt er zu: »Ich glaube nicht, dass ich in meinen Texten vor Aufrichtigkeit strotze, aber zynisch bin ich nicht. Es ist jedoch immer eine Gratwanderung. Dinge sagen sich oft leichter, als sie empfunden werden. Ich bin in meinem echten Leben natürlich nicht so aufrichtig, so pur Gefühl wie in den Liedern.« Drei Jahre nach »Luxus« erschien das Album »Chaos«, das bislang rätselhafteste, unzugänglichste Album Herbert Grönemeyers. Heute weiß man, was ihn damals beschäftigte: Bei seiner Frau Anna war 1990 Krebs diagnostiziert worden. Doch der Künstler ging damit nicht in die Öffentlichkeit, informierte noch nicht einmal die engsten Freunde, nicht die eigene Band, »weil mein Privatleben niemanden was angeht. Wir versuchen, so die Normalität zu wahren. Es wird für meine Kinder mit Sicherheit schon schwer genug sein, mit meinem Namen rumzulaufen. Wenn ich mal fettbäuchig mit einem Schal in Helgoland in der Kurmuschel stehe, wird man zu meinem Sohn sagen: >Ganz der Herbert.< Aber das ist dann sein
Problem. Ich habe nicht das Recht, meine Kinder an die Öffentlichkeit zu zerren. Und niemand hat das Recht, sich nach ihnen zu erkundigen.« Auch Homestories lehnte er kategorisch ab: Er habe »nicht das Recht, Anna, Marie und Felix an die Öffentlichkeit zu zerren. Darum wird es auch keine Homestory über uns geben. Und mal ehrlich: Das wäre doch auch öde. Mir täten die armen Leser Leid, die sich das anschauen müssten.« Man könne ihn »nur nach dem beurteilen, was ich öffentlich sage, was in meinen Texten steht und wie ich mich verhalte. Und damit stelle ich mich öffentlich zur Debatte.« Dabei gestand er durchaus einen gewissen Überprotektionismus ein: »Wenn man bekannt ist, ist man so bekloppt, dass man denkt, alle gucken, und man krampft sich unheimlich einen weg. Dabei guckt oft kein Mensch.« Anna Henkel-Grönemeyer starb im November 1998, die Zeit bis dahin verbrachte Grönemeyer seltener als bisher im Studio, veröffentlichte weniger arbeitsintensive Liveund Remixalben, tourte auch weniger als zuvor. Fans erschien dies wie eine kreative Pause (die es ja zugleich auch war, denn »Bleibt alles anders«, das Drum'n'Bassinspirierte Studioalbum nach »Chaos«, klang nach einem ganz neuen Herbert Grönemeyer). Grönemeyer widmete sich ganz im Stillen seiner Frau, seiner Familie, als es nötig war. Zwar schrieb er keinen expliziten Song über private Probleme, denn »das hat etwas Geheimes, das gibt man auch nicht preis. Wenn ich früher Probleme hatte, habe ich mich immer in die Ecke gesetzt und Musik gemacht. Nur für mich. Das mache ich heute noch.« Trotzdem aber finden sich zahlreiche Andeutungen auch in den Texten von »Chaos«, einer insgesamt trotzigen, lauten, offensiven Platte: »Ruhe gibt's genug nach dem Tod« (»Chaos«) »Übernimm die Wacht / bring mich durch die Nacht / rette mich durch den Sturm« (»Land unter«)
»Seltsame Ruhe / der Weg bleibt dein Geheimnis / unbekannter Kurs, der Kompass schlägt nach allen Seiten / setzt zielsicher deinen Fuß, deinen Fuß / bis zum Schluss« (»Fisch im Netz«) »Was aus uns wird, wird man seh'n / wir lassen's um uns gesche'n / Weg ohne Wiederkehr (...) Es zählt nur diese Sekunde / und nicht die volle Stunde / raus aus Raum und Zeit« (»Keine Garantie«) »Ich bau dir ein Bett aus Rosen / die Wände aus Glanzpapier / das Zimmer hat einen goldenen Boden / und der Regenbogen endet genau hier ( ...) Ich werd dir die Liebe versprechen / wenn dir das Wasser bis zum Halse steht / werde ich zerrütteten Zeiten / dir ein Netz ausbreiten / stell mich mit in den Sturm, bis der Wind dreht« (»Morgenrot«) Selbst Mäkelmeister Benjamin von Stuckrad-Barre (»Soloalbum«) gibt zu: »Es ist natürlich ein Leichtes und ebenfalls sehr kitschig, im Nachhinein mit klarer Suchvorgabe ein Werk auf Hinweise auszuwringen, man wird Belege für alles finden, doch die Zahl der Vorausahnungen und Unwetterwarnungen, wörtlich wie übertragen, die Grönemeyers Lieder seit den neunziger Jahren enthalten, ist exorbitant.« Anna und Herbert hatten dem Krebs den Kampf angesagt, hofften auf den Erfolg heimlicher Operationen, Therapien. Ihm wurde deutlich: »Ich habe mich nie für ein Leben im Landschloss interessiert. Als dann auch noch Anna krank wurde, war mir klar: Es gibt wichtigere Dinge im Leben - ich konzentriere mich auf meine Familie und meine Musik.« Wie immer fand Grönemeyer sich nicht mit dem ab, was war, sondern setzte alles daran, das Schicksal zu seinen Gunsten zu wenden. Diesmal jedoch gelang es ihm nicht. In schlichte Worte fasste er damals seine Liebe: »Anna Henkel, dieser Name steht ganz für Frau. Sie ist für mich die wichtigste Frau, die ich kennen gelernt habe.« Später setzte er hinzu: »Es gibt niemanden, der mich in seiner
ganzen Klugheit und Weisheit und Haltung je mehr interessiert hat.« Er machte auch alle seine Platten (außer den Frühwerken) ganz schlicht »für Anna«. Die meisten Songs auf »Chaos« handeln von der Liebe, teilweise sind die Texte für Grönemeyers Verhältnisse fast schon kitschig. Aber: »Für mich ist Kitsch etwas Heimeliges«, erklärt der Sänger. »Schwülstiges mag ich. Das ist auch Kultur. Überschwängliche Gefühle sind gute Bestandteile des Lebens. Ja, lebensnotwendig, gerade wenn alles kopfmäßig gesteuert wird. Ich finde Kitsch klasse und habe keine Angst davor.« Er sagt jedoch auch: »Ich singe zwar: >Ich werde dir ewige Treue versprechen< - aber weiter geht es dann mit: >Ich lüg dir das Blaue vom Himmel<.« Sein »Begriff von Treue hat zu tun mit Verantwortung, Vertrauen, Geborgenheit, Verbundenheit, tiefer Sicherheit, ja, daran glaube ich«. Auf »Chaos« tauchten erneut - neben den persönlichen Songs - die Politik und die Wiedervereinigung als Themen auf: explizit in »Die Härte«, »Grönland«, andeutungsweise auch zum Beispiel in »Chaos«. Wie kaum einem anderen Texter gelang Grönemeyer hier der Mix von Mikro- und Makrokosmos: Viele Lieder ließen sich auf das eigene Leben beziehen, gleichermaßen aber auch auf die Probleme eines fusionierten Landes. Seine Metaphern und Symbole blieben so allgemein, dass sie erst in der konkreten Interpretation einen Sinn ergeben. Er versteht seine Songs zweifellos anders als jeder Hörer. Das aber macht es jedem Fan möglich, ihn nur für sich singen zu hören. Diese Allgemeingültigkeit erreicht Grönemeyer durch einen einfachen »Kniff«: Er schreibt höchst subjektiv - und oft hoch abstrahiert - nur über sich. »Ich kann nur von mir erzählen. Ich reise ja nicht rum und besuche meine Zuhörer und sage: >Erzähl mal, du hast zurzeit ein Hüftleiden? Ist klar. Ich schreibe dir einen Song über Alterskrankheiten.< Man muss so persönlich wie möglich schreiben, nur dadurch bekommt es Kraft.« Wobei er darauf achtet, nicht zu predigen: »Ich arbeite nicht
missionarisch, aber ich trage Verantwortung für das, was ich sage. Das heißt nicht, dass ich ein öffentlich angestellter Themenverarbeiter bin - und kein Didakt auf der Bühne. Sicherlich liegt eine große Versuchung darin, wenn einem so viele Menschen zuhören, darin steckt Macht. Man wird sehr schnell sein eigener kleiner Heiland. Andererseits, ich will natürlich nicht die Gelegenheit verstreichen lassen, zu bestimmten Themen meine Meinung zu sagen. Wie zum Beispiel in >Die Härte<, einem Lied gegen den rechten Mob.« Grönemeyer frustriert: »Ich habe vor der Wiedervereinigung gesagt, wir werden einen furchtbaren Rassismus kriegen. Meine Mutter ist ausgerastet, wie ich solche Sätze sagen kann.« Aber er behielt Recht. Konsequenterweise unterstützte Grönemeyer von 1994 an den »Offenen Freizeittreff Völkerfreundschaft« in Leipzig mit mehreren hunderttausend Mark jährlich. »Ohne großen Rummel« wollte sich der Sänger ab und zu dort einfinden, um die Jugendarbeit vor Ort zu verfolgen. Das Neubaugebiet LeipzigGrünau habe er unter mehreren Städten ausgewählt, da hier die Probleme besonders »brennen«. Grönemeyer: »In Leipzig gab es früher neun Jugendheime, acht sind bereits geschlossen, dieses wäre bald dran gewesen. Grünau ist einer dieser Plattenbaubezirke, achtzigtausend Menschen, davon dreißigtausend Jugendliche. Die brauchen eine Anlaufstelle. Die Jugend im Osten ist doch im Doppelsinn ärmer dran als unsere.« Die Jugendlichen würden vor allem deswegen rechtsradikal wählen, weil sie keinen anderen Ausweg wüssten: »Die Jugendlichen fühlen sich im Stich gelassen, werden zu Menschen zweiter Klasse.« Der Sänger hatte die Idee, ein Jugendheim zu unterstützen, schon »wesentlich länger. Ich finde einfach, man kann nicht immer nur irgendwelche Konzerte machen gegen Gewalt oder gegen Rechts oder gegen Ichweißnichtwas. Und aufgrund dieser doch wirklich harten Sozialpolitik unserer Regierung, gerade in solchen Bereichen wie Jugendheimen, war eben die Überlegung: Was kann man machen, speziell auch im Osten? Gibt's
da einen Ansatzpunkt mit dem Geld, was ich verdiene?« Dabei war es gar nicht so leicht, ein an der Kooperation interessiertes Jugendamt zu finden: »Ich verdiene ja in ziemlich großem Ausmaß, gerade auch an Platten, die Jugendliche kaufen. Und da sind wir an verschiedene Städte im Osten herangetreten. Leipzig hat sich zuerst interessiert. Das liegt jetzt aber schon Jahre zurück, und als der Club dann doch dichtgemacht werden sollte, hab ich mir gesagt, dass ich in die Öffentlichkeit muss damit, und ich hab das dann auf meine Single >Die Härte< draufgedruckt - und plötzlich bewegte sich was, plötzlich stellten die Sanierungsgelder zur Verfügung. Und da hab ich mich bereit erklärt, die Personal- und Sachkosten zu tragen. Ich hab die jetzt öffentlich darauf festgenagelt, erst waren es vier Komma fünf, plötzlich sechs Komma fünf oder sogar acht Millionen.« Das Vertragswerk war »sehr kompliziert, verwaltungstechnische Dinge und so, es gibt im Grunde keine Form, wie Privatleute mit 'ner Stadt so was machen. Was jetzt sicherlich nicht passieren darf, ist, dass das als Alibi benutzt wird: Grönemeyer hat was gemacht, jetzt wird die >Völkerfreundschaft< zum Aushängeschild der Jugendarbeit.« Sein Ziel war ganz klar: »Entscheidend ist, dass so viel Jugendliche wie möglich von der Straße wegkommen. Jeder sieht doch, wie der Rassismus blüht. Nicht aus politischer Überzeugung, nur aus Wut, aus Ohnmacht. Aber gewisse Segmente nutzen das, um die Verunsicherten an ideologische Gruppen zu binden und ihnen damit ein Wir-Gefühl zu geben. Man wundert sich, dass die Mächtigen solche Entwicklungen einfach laufen lassen.« Dabei war es ihm egal, ob die Jugendlichen ihn oder seine Musik mochten. »Ich bin nicht der Jesus mit Plüschohren.« Das Experiment war erfolgreich; 1998 konnte Grönemeyer vermelden: »Nach vier Jahren haben wir mit unserem Jugendclub bewiesen, dass es sich lohnt, dort Geld zu investieren. Die Kriminalitätsrate in dem Viertel ist in der Zeit deutlich gesunken, die Polizeistation wurde abgezogen. Ähnliche Projekte müsste man nicht nur im
Osten, sondern in der gesamten Bundesrepublik initiieren. Denn Perspektivlosigkeit und Arbeitslosigkeit sind Probleme von Jugendlichen in Ost und West.« »Von April 1994 bis Ende 2002 finanzierte Herbert Grönemeyer das Projekt >08/16< mit Sitz im Freizeitzentrum >Völkerfreundschaft< (>Völle<)«, erklärt Lutz Wiederanders, Sachgebietsleiter Straßensozialarbeit in Leipzig. »Er hat die Personalkosten zum Großteil und die Sachkosten ganz getragen. Das heißt, die Stadt Leipzig ist in verschiedenen Stufen in die Finanzierung eingestiegen. Das war auch so von Grönemeyer gedacht, es ging ihm darum, etwas anzuschieben. Der Eigenanteil der Stadt waren die Miet- und Betriebskosten sowie die Dienstund Fachaufsicht. Grönemeyer verbindet immer bei seinen Engagements persönliche inhaltliche Interessen mit konkreter Arbeit. Und es war sein Anliegen in der Zeit, da wir es massiv mit Rechtsradikalismus zu tun hatten, jungen Menschen ein Angebot zu eröffnen für gesellschaftspolitische und kulturelle Auseinandersetzung. Letztlich, und das ist sehr gut gelungen, konnten die Jugendlichen wieder gesellschaftlich integriert werden. Die meisten haben einen mehr oder weniger normalen Weg eingeschlagen (Ausbildung, Schule, Wohnung, keine Straftaten mehr, Abkehr von radikalen Gruppen, Familiengründung etc.). Grönemeyer war mehrmals vor Ort und hat auch selbst das Gespräch mit den jungen Leuten gesucht und geführt. Natürlich war und ist Grönemeyer nicht das Idol von rechtsorientierten Jugendlichen. Sie waren aber schon beeindruckt, dass sich ein Künstler seines Formates direkt mit ihnen auseinander setzt. Sie wurden zwar nicht zu seinen Fans, doch es wuchs der Respekt. Und sie haben es gewürdigt, indem sie sich mit ihrem Projekt identifizieren und sich aufgehoben fühlten.« Klarer als bisher trat auf »Chaos« Grönemeyers »Jetzt oder nie«-Philosophie hervor: »Ich glaube, man kann Glück und Freude nur empfinden, wenn man auch weiß,
was Leiden heißt. In der Mitte rumschwappen, das kann ich nicht. Ich schreibe meine Lieder im Extrem. So liebe ich auch, so lebe ich. So genieße ich. Und überhaupt: So bin ich, so bleib ich. So bin am ganzen Leib ich.« Zwischen den Zeilen - und damals mangels Wissen um Annas Krankheit nicht konkret fassbar, sondern nur allgemeingültig - legte Grönemeyer durchaus dar, was ihn beschäftigte: »Ich bin kein Planer. Ich denk nicht an Perspektive. Leben hat mit Chaos zu tun, es ist zu kurzfristig, um zu planen. Die existenziellen Dinge, Krankheiten oder auch Tod, kommen überraschend, ungeplant. Dagegen kann ich mich nur wehren, wenn ich das, was ich im Moment tue, so intensiv wie möglich mache.« Und eine weitere Andeutung privater Schicksalsschläge, ebenfalls im Zusammenhang mit einem eigentlich ganz anderen Thema: »Man kann sogar das Reichwerden mit Inhalten füllen. Es ist ja nicht gleich ein Makel. Ich ziehe doch nicht alle meine Platten aus dem Laden, weil es zu gut läuft. Aber das Leben hat Härten, die man mit Geld nicht aufwiegen kann. Das ist eine Relativierung, die ich von zu Hause mitgekriegt habe. Ich meine, es geht jetzt um ganz andere Frustrationen. Solange ich lebe, war es noch nie so krass. Geld verliert seine Wertigkeit. Man sollte es schnell benutzen als Instrument, um grundlegende Dinge zu lösen. Und nicht, um sich aufzuwerten.« Vielleicht war das Einspielen einer neuen Platte für Grönemeyer in jener Situation sogar ein Trost: »Musikmachen hilft enorm, Spannungen loszuwerden. Das war für mich mein ganzes Leben lang ganz, ganz wichtig«, sagt er. Schon als Jugendlicher habe er sich in Krisensituationen mit der Gitarre hingesetzt und gespielt. Auch heute noch klimpert er auf dem Klavier, fühlt sich danach besser. »Wenn's mir schlecht geht, setze ich mich ans Klavier und baue über die Musik Spannung ab. Solche Möglichkeiten machen das Leben lebenswert. Ich kann nur jedem empfehlen, ein Instrument zu spielen egal, ob gut oder schlecht.« Denn: »Musik schreiben ist wunderbar. Wenn ich was gefunden habe, dann freue ich
mich wahnsinnig. Ich hab alle meine Lieder bestimmt tausend- oder zweitausendmal vor mich hin gesungen. Wenn mir was eingefallen ist, singe ich das Lied den ganzen Tag. Ich freu mich wie ein Schneekönig.« Mühsam erklären musste »die hitzigste Stimme Deutschlands gegen Rassisten, Kleingeister und Spießer« (so die »Wochenpost«) allerdings, dass er das besungene, empfundene »Chaos« nicht als lähmend schrecklich betrachte, sondern als konstruktiv: »>Chaos< ist eines der optimistischsten Lieder auf der ganzen Platte. Es sagt, dass unsere Werte und Normen nicht mehr gelten. Dass wir uns den neuen Forderungen stellen müssen. Der Osten ist offen. Wir können nicht mehr vor uns hin dümpeln und weiter unser Geld zählen. Ein Chaos ist dafür da, alles kaputtzumachen, was war, um überhaupt neues Denken und neues Sich-Verhalten zuzulassen. Aus dem Wahnwitz entsteht eine neue Struktur: Das ist eine positive Herausforderung.« Ja, er glaubt sogar, »dass es im Chaos eine Art von Ordnung gibt. Doch es ist eine wesentlich wildere Ordnung, die sich vom menschlichen Geist nicht fassen und normen lässt. Eine Ordnung, die der Natur entspricht und auch dem Bedürfnis der Natur, sich das Terrain zurückzuholen, das der Mensch ihr bereits abgegraben hat. Durch Naturkatastrophen etwa.« Ob die Fans das verstehen, ist ihm egal: »Auch Grönemeyer Fans sagen: >Was willst du mit der Nummer?< Ich bin dickköpfig genug, das zu schreiben, was ich schön finde. Und da redet mir auch keiner rein, und das mache ich auch schon immer so. Ich bin ja kein Angestellter meiner Fans.« Er habe die Wahl: »Entweder liefere ich, was die Leute hören wollen. Oder ich mache was Persönliches und stell das zur Debatte. Wie >Chaos<, wo viele bisschen dran zu knabbern haben. Ich geh damit das Risiko ein, dass es sich vielleicht nicht so gut verkauft. Aber ich glaub, man muss die Leute fordern.« Hinzu kommt: »Ich glaube, dass alles Kreative und Neue nur aus dem Chaos entstehen kann. Nicht nur, dass ich selber so arbeite, obwohl ich relativ ordentlich wirke. Ich
arbeite in völliger Unordnung, treibe die Leute zum Wahnsinn, weil nichts geplant ist. Ich brauche den relativen Wahnsinn, um überhaupt zu Potte zu kommen.« Ja, »wir müssen uns von unserer Vorstellung einer kleinen, behüteten Welt verabschieden. Die westliche Welt, von Coca-Cola geprägt, hat keinen Fortbestand mehr. Wir können das Geld nicht in der Wohnung horten: Wir müssen radikal teilen.« Denn »die Ostdeutschen wurden überrannt. Durch den Wiedervereinigungszwang und die Schnelligkeit kommen die gar nicht dazu, ein Selbstverständnis zu entwickeln. Sie dürfen nicht einmal mehr mit ihrer Vergangenheit umgehen. Wir sagen ihnen, wie sie am Tisch zu sitzen haben, wie sie Messer und Gabel zu halten haben - das setzt sich in den Köpfen fest. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir in zwanzig Jahren eine Situation wie in Jugoslawien, weil das ein ungelöstes Bruderproblem wird. Irgendwann wird es so weit kommen, dass die dort drüben Sätze wie >Ich hab dir geholfen!<, >Ich habe dich aus der Gosse geholt!< nicht mehr aushalten. Solche Vorwürfe hält selbst eine funktionierende Beziehung nicht aus. Wer immer nur solche Sätze hört, holt spätestens nach zwanzig Jahren das Hackebeil heraus und schreit nur noch: >Wenn du noch einmal so was sagst, hau ich dir so was vor die Fresse.<« Er findet: »Wenn man gemeinsam tanzen will, dann muss man erst mal einen gemeinsamen Rhythmus finden, und das dauert sehr lange.« Er fürchtet: »Eine Individualisierung der deutschen Gesellschaft ist unglaublich kompliziert, weil wir alle diese germanische Unterwürfigkeits- und Gehorsamkeitsattitüde in uns haben. Ich auch. Deswegen muss man eigentlich daran arbeiten, dass dieses Land zerrissen bleibt.« Lieber hätte Grönemeyer gesehen, »es hätte zwei demokratische deutsche Staaten gegeben«, denn »es ist ja nicht einzusehen, warum Deutschland immer so groß sein muss«; er kann den Politfrust der Wähler nur zu gut verstehen: »Ich glaube, dass sich die Deutschen verscheißert fühlen, weil ihnen keiner klar
sagt, was auf sie zukommt. Ich glaube, jeder kann Wahrheit vertragen, auch wenn sie brutal ist. Das heißt nicht, dass er sich so wesentlich besser fühlt, aber er fühlt sich zumindest ernst genommen.« Knallhart klagte Grönemeyer den damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) an: »Für mich steckt Methode dahinter, wie Herr Rühe die Bürger auf die Asylanten hetzte. Das ist keine Blauäugigkeit, da steckt Kalkül dahinter. An so was sitzen zwanzig Planer, die Strategien und Langzeitplanungen erarbeiten.« Das »ist bis ins Detail durchgeplant worden. Und ich glaube, wenn man Herrn Rühe später darauf ansprechen würde, wird er es vielleicht sogar zugeben.« Bisher hat der derzeit stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion das allerdings noch nicht getan - vielleicht hofft er noch auf ein großes politisches Comeback? Aber wenn nun schon ein Deutschland, dann müssten auch alle umdenken, es müsse nicht einfach bloß der Osten lernen, westlich daherzustolzieren: »Wir im Westen müssen uns mit dieser Ost-Vergangenheit auseinander setzen, sonst bleibt Deutschland zwei fremde Staaten, und das endet irgendwann in einem Bruderkrieg.« Für Grönemeyer ist »Politik dasselbe wie duschen, Zähne putzen und ins Fernsehen gucken. Das ist unser Leben!« Nur ein politisches Stück nahm er aus »Chaos« heraus, »das war wild pöbelnd. >Kanzler< hieß das.« Auf die Musik des Songs schrieb er dann den selbstironischen Text »Die Welle«: »>Mit meinen Liedern auf den Lippen werden sie dich um die Ecke bringen< das kann man ja nicht gerade als tiefsinnige Lyrik bezeichnen. In >Die Welle< sind, sagen wir mal, meine derzeitigen satirischen Möglichkeiten ausgenutzt«, spottete er über den Rummel um den eigenen Ruhm. Letztlich, hofft er, werde sich aus dem herrschenden Chaos »eine neue Weltordnung ergeben. Wir werden zusammenarbeiten müssen. Wir brauchen keine Feinde mehr, weil wir genug andere Probleme haben. Ich denke, dass wir weiterhin Konkurrenzen haben werden, aber keine Feindbilder mehr. Klar, es wird nicht alles Friede,
Freude, Eierkuchen. Aber man wird feststellen, dass Feindschaften überflüssig sind. Wenn wir alle auf dieser Erde atmen wollen, sind Feindschaften viel zu lapidar.« Grönemeyer malte aber auch durchaus positive Utopien: »Ich träume gerne davon, wie etwas positiv aussehen könnte. Zum Beispiel eine Umverteilung von Geldern, dass das Sozialleben entspannter wird. Ich weiß um meine eigene Spießigkeit und Zickigkeit, ich träume nicht von einer Schrebergartenidylle. Aber ich träume von einem chaotischen Zusammenleben, das Aggressionen und Neid beinhaltet. Ich glaube nicht, dass sich alle Leute lieben werden. Der Mensch lebt mit Aggression, Dreck und Härten. Ich bin nicht der kleine Herr Jesus, und ich habe nicht nur hehre und gute Gedanken, sondern auch welche, für die ich mich schämen muss. Aber das ist okay so. Idylle finde ich grauenvoll. Ruhe gibt es genug nach dem Tod.« Früh erkannte Grönemeyer Nazi-Rechtsrock als »eine unheimlich böse, dumme, aber energiegeladene Musik«, doch »was Rechtsradikalismus ausdrückt, speziell im Osten, ist die Wut über die Arroganz des Westens«, stellte Grönemeyer fest. Ost- und Westdeutschland letztlich zu einem Ganzen zu verschmelzen »dauert bestimmt noch fünfzig oder hundert Jahre«, vermutete Grönemeyer. Zugleich entwarf er positive Utopien: »Wir müssen das selbst in die Hand nehmen, die Politiker müssen gegängelt und mehr kontrolliert werden. In fünf, sechs Jahren brauchen wir dann vielleicht gar keinen Kanzler mehr, sondern einen runden Tisch von fünf, sechs Leuten, die beraten und entscheiden.« Dabei ist für ihn - im Gegensatz zu vielen anderen klar, dass Ausländer ins Bild gehören: »Diese Ausländerdebatte ist für mich eine ganz komische Sache. Ich finde das Wort >Ausländer< schon furchtbar. Es ist eigentlich zu doof, überhaupt darüber zu reden. Das Ruhrgebiet etwa besteht weder aus Aus- noch aus Inländern. Der Pott war immer ein Schmelztiegel. Die Polen sind dort letztes Jahrhundert eingewandert und haben uns gezeigt, wie die Kohle aus den Wänden
kommt. Für mich war dieser Zustand immer ganz normal. Das waren meine Freunde, mit denen ich Fußball gespielt habe.« Und: »Ich komme aus einer Gegend, wo es keine Ausländer gibt. Für mich war ein Szymanski nie ein Ausländer. Das Ruhrgebiet bestand mehr aus den Szymanskis, den Polen und Türken als aus Deutschen. Das Wort Ausländer ist für mich ein ganz schräges Wort. Wenn die Polen nicht gekommen wären damals und uns gezeigt hätten, wie man die Kohle abbaut, hätten mir nie das Wirtschaftswunder gehabt, dann säßen wir heute noch vor einer Wand und wüssten nicht, wie die Kohle da rauskommt. Ich halte den Versuch, Deutschland von allen Asylanten abzuschotten, für absolut hilflos.« Zeitgleich mit der zunehmenden Politisierung verjüngte sich erstaunlicherweise Grönemeyers Publikum, schon Siebenjährige kamen (mit) in seine Konzerte (über sechshunderttausend Fans besuchten die »Chaos«Tour). Das wundert Grönemeyer nicht: Kinder hätten heutzutage schon ein ungeheuer komplexes Weltbild, »dagegen sind wir alte Omas. Die Kids heute wissen von Umweltbedrohung, von Aids und Arbeitslosigkeit. Die Jugend von heute als bewusstlose Hirnis abzutun macht mich richtig wütend. Als ich vierzehn war, wusste ich gerade mal, wer bei VfL Bochum im Sturm spielte.« Nach wie vor verweigerte Grönemeyer »Bild«, »Bravo« und ähnlichen Medien Interviews, ließ sich die Tournee nicht sponsern. Das sorgte in Zeiten der GolfSondermodelle »Genesis«, »Pink Floyd« und »Bon Jovi« für Kopfschütteln. Aber er blieb hart: »Ich behaupte, der politische Gegner ist so stark und clever, dass du dich nur durch Entzug schützen kannst. Man glaubt, man könnte die irgendwie unterlaufen, aber wenn ich nur >Guten Tag< sage, haben die doch schon zehn Meetings gemacht und fragen sich, was machen wir mit diesem Grönemeyer? Die kaufen dich ein, um dich zu funktionalisieren. Früher hat man mir auch gesagt: >Wenn du mit `Bravo' nicht redest, kannst du in Deutschland nicht erfolgreich sein.< Da habe ich gesagt: >Dann werde ich eben nicht erfolgreich. Dann lasse ich es halt.<«
Genauso misstrauisch betrachtet Grönemeyer die Motive der Sponsoren: »Im Grunde genommen sind Sponsoren doch nur geil auf deine Privatsphäre. Der Mensch von Pepsi-Cola will unbedingt mal gucken, wie das da so abgeht hinter den Kulissen. Der hat von seinen Kumpels gehört, dass bei Künstlern zu Hause immer doll was los ist: Sie stehen nackt am Klavier, die Frauen liegen waagerecht in der Dusche, und die Kinder hauen sich ständig auf die Fresse. Da will man hin. Ob das jetzt vierzig oder hundert oder dreihundert Millionen kostet.« Er findet schlicht: »Man darf den Mythos Rockmusik nicht so einfach verscheuern.« Selbstkritisch betrachtete Grönemeyer seinen Erfolg: »Ich glaube, jeder Künstler ist hauptsächlich mit seiner Eitelkeit beschäftigt. Und mit seinem Egoismus. Deswegen ist man Künstler. Je mehr man in seine Sachen reinpackt, desto egomanischer wird man. Ich lebe in einer Welt, wo ich heute sage: >Mir passt hier der Teppich nicht<, und schon wird ein anderer hingerollt. Das ist eine Gratwanderung. Wenn man prominent ist und immer Zucker in den Arsch geblasen bekommt, nimmt man sich schnell wichtiger, als man ist. Und das Schlimme ist, man merkt es nicht immer.« Tatsächlich galt Grönemeyer Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger branchenintern durchaus als »legendärer Streithammel«, als »launische Diva«, was er sogar einsah: »Ich kann das zumindest nachvollziehen. Launisch bin ich nicht, aber manchmal großmäulig, rechthaberisch und bollerig. Wenn ich mal mit jemandem schlechte Erfahrungen gemacht habe, will ich mit dem nichts mehr zu tun haben. Das war's dann. Das hat mit Prinzipien und Leidenschaft zu tun. Aber ich bin nicht elitär. Ich gehe schon auf die Leute zu, rede mit ihnen - bis sie mir das Taschenmesser in den Rücken stoßen.« Legendär beispielsweise seine Beschwerden über das Benefizkonzert in Wackersdorf: Im Sommer 1986 fand in Wackersdorf vor über 120000 Besuchern das »WAAhnsinn«-Festival statt, auf dem an zwei Tagen unter anderem Udo Lindenberg, Rio Reiser, BAP und
Wolfgang Ambros auftraten. Es sollte Geld für diejenigen gesammelt werden, die aktiv Widerstand gegen die AtomWiederaufbereitungsanlage Wackersdorf leisteten. Letztlich wurde das Bauprojekt tatsächlich aufgegeben. »Eigentlich eine Chance, zwei Tage lang deutsche Rockmusik zu machen. Aber das ist hinter den Kulissen einfach tragisch gescheitert. Eine Katastrophe.« An diesem Konzert sei im Grunde die deutsche Rockmusikszene auseinander gebrochen. Denn eigentlich ging es darum, »Geld zu sammeln, um Autonome zu finanzieren. Aber es endete hinter den Kulissen mit einer Schlammschlacht - wer ist der Größte, wer spielt am schnellsten. Und dann haben die Veranstalter das Geld abgegriffen. Es endete mit 140000 Besuchern, fünfzigtausend Mark sind übrig geblieben, und die mussten noch versteuert werden. Dann hat eine Catering-Frau das Geld in Plastiktüten vom Gelände schaffen wollen, hat sich einen Notarzt besorgt und sich auf die Bahre gelegt, mit den beiden Säcken. Dann ist ein Typ mit Pistole gekommen und hat gesagt: >Gib das Geld raus!< Das war alles sinnlos, da ging es nur drunter und drüber.« Warum ihn das so ärgerte, ist schnell erklärt: »Mir ging es beispielsweise beim Konzert in Wackersdorf auch nicht um die politische Sache, denn die haben ganz andere Leute viel härter und intensiver vertreten als Herr Grönemeyer, der da hingekarrt wurde. Ich wollte vielmehr, dass da Geld eingenommen wird, damit die Jungs ihre Prozesse zahlen können. Denn gegen die Leute, die sich da den Arsch aufreißen und an den Bauzaun gehen, sich gegen die Wasserwerfer schmeißen und unter die Polizeiknüppel rennen, bin ich ja ein friedlicher Freizeitrevoluzzer.« Bei aller Streitbarkeit legt Grönemeyer Wert darauf, dass er nicht jener gestrenge Oberlehrer sei, als der er oft wahrgenommen wird: »Das größte Fehlurteil ist, dass ich so ernst sei. Im Gegenteil: Ich bin extrem albern und eine extreme Frohnatur, was alle Leute in meinem Umfeld
nervt. In Insiderkreisen bin ich als unerträglich penetrante Frohnatur bekannt.« Er sagt, er lache »über alles ... Ich lache über den größten Schwachsinn. Ich lache über Otto ebenso wie über Loriot oder Benny Hill oder ... Ich bin ein unterhaltungstüchtiger, fröhlicher Mensch!« Ex-Gitarrist Gaggy Mrozeck bestätigt das: »Er ist als Charakter ernsthaft, aber nicht als Mensch, eher im Gegenteil. Er hat seine spezielle humoreske Eigenart.« Fotograf Jim Rakete stimmt ebenfalls zu: »Herbert ist einer der lustigsten Menschen, die ich kenne. Wie gesagt, er ist ein erbitterter Diskutant, aber er ist auch einer der wahnsinnig komischsten Menschen der Welt. Ich habe schon oft versucht, anderen Leuten Witze zu erzählen, die ich von Herbert habe, aber es ist mir nicht gelungen. Und Herbert hatte den Witz so erzählt, dass wir alle unter dem Tisch lagen. Das sind wirklich glückliche Momente, wenn Herbert gut drauf war und wir uns nur dummes Zeug erzählt haben. 1982 hatte ich meine allererste Fotoausstellung in Esslingen, mir war das schrecklich peinlich, und dann saßen Herbert und Edo und ich nachts in der Hotelbar, und der erzählte einen Knaller nach dem anderen. Wir haben so gelacht! Er ist wirklich ein toller Typ.« (Typisch für Grönemeyers Humor: Im Video zu »Fanatisch« trat er als schnauzbärtiger Hotelpage »Herr Bert« auf.) Grönemeyers Texte betrachtet Rakete ebenfalls als durchaus heiter, wenn auch nicht karnevalskomisch: »Es wird ja oft beklagt, dass uns Deutschen die Leichtigkeit fehlt. Und das stimmt, die fehlt uns. Aber gerade jetzt: Wo würden wir denn politisch im Moment stehen, wenn wir konsenssüchtig wären? Ich finde, das ist gar nicht so eine schlechte Eigenschaft, ein bisschen vergrübelter zu sein und mehr Sachen zu hinterfragen. Und der Herbert hat viele gute deutsche Eigenschaften, auch in seiner Zuverlässigkeit und vielen anderen Sachen, die man oft vergeblich sucht, wenn es um Pop geht. Herbert ist echt. Wenn Herbert reinkommt, kommt eine Person aus Fleisch und Blut herein. Der sieht aus, wie er aussieht, und alles ist echt. Und genauso ist es mit seinen Platten. Das mag
einen manchmal erschrecken, aber das, Ladies and Gentlemen, ist die Wahrheit. Da hat es jemand geschafft, mit der Wahrheit zu überzeugen!« Grönemeyer war nach vierzehn Jahren Köln 1993 in die neue deutsche Hauptstadt Berlin gezogen, wo das deutsch-deutsche Chaos natürlich besonders spürbar war. Allerdings lebte er fern aller West-Ost-Problemzonen in einer zweistöckigen Vierzehnzimmervilla auf einem großen Grundstück im Nobelstadtteil Zehlendorf; weißer Putz, dunkle Fensterläden, eine helle doppelte Holztür, im Garten stehen alte Bäume. »Ich bin halt dahin gezogen, wo ich was Nettes gefunden hab«, erklärte der Sänger. Ur-Kölner Wolfgang Niedecken kann den Umzug gut verstehen: »Die Kölner sind sehr selbstverliebt, und der Herbert ist natürlich auch sehr stur ... Als Westfale mit den kleinen Nickeligkeiten hier klarzukommen, ist schwierig. Die Chemie stimmte einfach nicht; dass der wegmusste hier, war mir klar. Zeitungen wie der >Kölner Express< haben den zum Wahnsinn getrieben. Das kann ich verstehen, dass so jemand woanders hingeht und sagt: Wenn ich in Erscheinung treten will, dann bestimme ich den Zeitpunkt, ich lasse mich hier nicht sozialisieren.« Alternativ hätte Familie Grönemeyer übrigens auch nach Hamburg, in Annas Heimatstadt, ziehen können: Dort hatte er nämlich 1992 ebenfalls eine Villa im Nobelvorort Blankenese erworben. Doch letztlich entschied das Paar sich für die pulsierende Hauptstadt. Die nächsten vier Jahre verbrachte die Familie zufrieden in Berlin: »Ich hab vierzehn Jahre in Köln gewohnt, und wenn man nicht weg will aus Deutschland, kann man nur nach Berlin«, befand Grönemeyer. »Ich brauchte einfach einen Ortswechsel. Berlin ist schroffer, härter, hier prallen Ost und West aufeinander.« Zudem ist er der Ansicht: »Ich glaube, dass die Menschen im Osten eine viel stärkere kulturelle Bildung haben. Sicher systemgefärbt, aber trotzdem haben die verstanden, was Kultur ausmacht für das geistige Überleben.« Außerdem sollte man »endlich mal versuchen, aus beiden Kulturen
rauszufinden, was besser war. Ich denke, vieles im Osten war auch besser als im Westen.« Darüber hinaus glaubt er: »Berlin hat eine wunderbare Luft, weil's hier keine Industrie gibt.« Und Berlin, sagte er später, sei auch eine Stadt, die ihn »zu neuen Taten inspiriert hat, in dieser Stadt, die dich aufpeitscht und dir klar macht, dass du nicht ewig in alten Kleidern rumlaufen kannst«. Schade findet Grönemeyer nur, dass die Vergangenheit vorschnell ausgelöscht oder zumindest unsichtbar gemacht wurde: »Ich denke, es wäre klasse gewesen, wenn man den Mut gehabt hätte, Teile davon um den Reichstag oder auf dem Potsdamer Platz stehen zu lassen.« Und wenn die Grönemeyers mal Pause machen wollten vom deutsch-deutschen Berliner Weltstadttrubel, flogen sie nach Mallorca: Dort besitzt Grönemeyer eine Finca im Landesinneren, in einem Bergdorf, mit Swimmingpool und umgeben von Olivenbäumen. Ein Jahr nach dem Original ließ Grönemeyer auf »Chaos« das Remix-Album »Cosmic Chaos« folgen, eine Platte ausschließlich mit Remixen in hohen BPM-Zahlen (viermal »Morgenrot«, einmal »Chaos«, einmal »Die Härte«, zweimal »Land unter«). Das ist ganz amüsant, aber am Stück kaum auszuhalten. Grönemeyer später: »Meine Plattenfirma sagte: >Das ist dein Untergang.< Ich habe es trotzdem veröffentlicht und 130000 Stück verkauft, was für ein Remix-Album sehr viel ist.« Alex Christensen, einer der Remixer, hatte unter dem Namen U96 mit »Das Boot« selbst einen fetten Hit mit einer Neuauflage von Klaus Doldingers Filmmusik zu Grönemeyers Kinoerfolg. Er sagte: »Herbert Grönemeyer ist eine deutsche Ikone, für ihn muss man einfach einmal gemixt haben.« Er habe sich zwar gewundert, als Grönemeyer bei ihm anklopfte, und wollte »Chaos« auch nur unter einer Bedingung dancefloortauglich machen: dass er lediglich drei Textzeilen benutzen und die Nummer in einer komplett anderen Geschwindigkeit
laufen lassen dürfe. »Und ihm gefällt's«, triumphiert der Soundbastler, »Hut ab vor Grönemeyer! Ich finde es erstaunlich, dass er dafür Ohren hat.« Fred Casimir, zu jener Zeit der für »Cosmic Chaos« verantwortliche A&R Manager bei der Emi Electrola, erinnert sich, dass die Plattenfirma tatsächlich arge Zweifel am Erfolgspotenzial des Albums hegte - und wie sehr Grönemeyer selbst sich für das Projekt engagierte: »Manche Kollegen dachten, die Platte würde höchstens zehntausend Einheiten verkaufen, es wurden aber über hundertfünfzigtausend. Man lernt eben nie aus. Tatsächlich aber dachten wir alle, dass als Nächstes die >Unplugged<- MTV-CD kommen soll. Herbert hat uns in einem Meeting mit der Idee für >Cosmic Chaos< überrascht. Ich glaube, Herbert ist ein kreativ-neugieriger Mensch, der neue Wege geht, der sich entwickelt, statt permanent wiederzukäuen; deswegen sind seine Alben ja auch so gut. Und ein Teil dieses Prozesses war das Remix-Album, denke ich. Meine Kollegin vom Marketing, Monika Marcowitz, und ich hatten im Verlauf des Projektes unsere Büros mit >Cosmic Chaos< Deckenhängern und -Postern dekoriert, um uns Mut zu machen und Flagge zu zeigen, denn es hat in der Tat eine Weile gedauert, bis sich das Album verkauft hat. Aber dann ging es ja doch noch sehr gut. Auf alle Fälle fand ich die Idee von Herbert sehr mutig, weil er da Leute aus einem anderen Genre an seine Songs ranließ. Die Remixer hatten teilweise sehr viel Respekt vor dem Material, aber Herbert hat immer wieder alle ermutigt, noch radikaler an die Sache ranzugehen. Mir hatten viele Leute, die das nett gemeint hatten, vor der Zusammenarbeit gesagt, wie schwierig gerade dieser Künstler sei. Aber wenn wir in den Plattenfirmen einen Künstler, der sich so klar in seiner Arbeit definiert wie Herbert Grönemeyer, als >schwierig< empfinden, sollten wir vielleicht den Job wechseln. Nicht zuletzt dadurch, dass viele Mitarbeiter von Unterhaltungsfirmen die inhaltliche Diskussion mit den Künstlern nicht mehr führen, steht die Industrie vor großen Problemen.
Insgesamt habe ich Herbert Grönemeyer als einen Künstler in Erinnerung, der klar formuliert, der weiß, was er will, und der auf mich einen sehr fokussierten Eindruck machte. Ich fand die Zusammenarbeit sehr angenehm. Wir leben von der Arbeit der Künstler, und unser Job ist es, den Künstlern ein möglichst gutes Umfeld für diese Arbeit zu schaffen. Wenn man dazu die Musik des Künstlers noch persönlich mag, hilft das natürlich.« Das Album »Cosmic Chaos« wurde so ganz überraschend ebenfalls ein Erfolg, wie mittlerweile alles, wo »Grönemeyer« draufstand. Offiziell hatte Grönemeyer mit dem Werk nur beweisen wollen, dass man seine Titel sehr wohl hip aufarbeiten kann, und »natürlich, klar würde ich dazu tanzen«, betonte er. »Allen Unkenrufen zum Trotz halte ich mich für einen bestechenden Tänzer. Nebenbei bin ich auch ein absoluter Fan von House Music und finde die Dance-Version von Alex Christensen wirklich toll. Auch wenn er den Text auseinander reißt und nur noch Fragmente übrig lässt, ist das doch ein ganz entspannter Zugang zur Musik.« Grönemeyer empfindet die Remixe als einen ganz legitimen Umgang mit Musik: Der DJ oder Remixer »ist ein Collagekünstler, der ein neues, eigenständiges Werk entstehen lässt. Und Remixe sind neue Interpretationen eines existierenden Titels. Früher nannte man so etwas >Variationen über ein Thema<.« Interessant ist Grönemeyers Begründung für die Veröffentlichung von »Cosmic Chaos«: »Ich wollte nur zeigen, dass es funktioniert. Das reichte mir.« Wieder einmal ging es um den Beweis der eigenen Fähigkeiten, die Einnahme unbestellten Terrains, die Erstbesteigung eines neuen Gipfels. Netter Nebeneffekt der Veröffentlichung: Grönemeyer verjüngte sein Image und blieb ohne großen eigenen Einsatz präsent. Er erklärte: »Also erst mal: Ich hab das nicht produziert, meine Musik ist nur die Grundlage. Aber ich steh auf House und Techno. Dann gab es immer Remixe, der erste House-Mix war von meiner LP >Luxus<, es gibt sogar einen Remix von >Männer<. Das
ist mal was ganz anderes: Man wird von außen betrachtet, man schickt seine Musik noch mal durch ein anderes Gehirn. Das entschlackt, man sieht sich selber nicht mehr so verbissen. Es ist für mich interessant, was so mit meinen Stücken passiert. Ich bin sicherlich kein House-Mann, aber die Einflüsse von Maschinen, Loops und Grooves hab ich auch - wenn auch nicht in einer Form, die so offen zutage liegt.« Sie sollten ein paar Jahre später auf dem nächsten Studioalbum »Bleibt alles anders« deutlicher hörbar werden. Nicht nur neuen Klängen, auch den neuen Medien öffnete sich Grönemeyer: Er ließ - als erster deutscher Künstler überhaupt - zu »Chaos« quasi als erweiterte Maxisingle eine CDROM erstellen, denn »die CD war bislang ein Wegwerfprodukt, unsinnlich, überteuert, künstlich hochgehalten im Preis. Wenn man alle Möglichkeiten ausschöpft Zusatzinformationen, eingespielte Videos, alles, was die CD-ROM so kann -, schafft man es vielleicht, dem Datenträger eine Sinnlichkeit zu geben.« Auf der »CD Twice« gab's »Chaos«, »Fisch im Netz«, »Land unter«, »Dance Chaos« und den Herb-Hop Long Mix with Rap von »Land unter« zu hören, zu sehen sind (nach einem gar nicht so einfachen Setup) die Videos von »Chaos«, »Fisch im Netz« und »Land unter«. Heute gibt es solche CDs in jedem zweiten Micky-Maus-Heft, aber Anfang der Neunziger war es revolutionär. Zuvor war er als einer der ersten deutschen Künstler auch online gegangen, bot unter www.groenemeyer.de Infos und Downloads an. »Ich verspreche mir vom Internet ein Medium, das es schafft, zwischen mir und Leuten, die was mit mir zu tun haben, einen Kontakt herzustellen«, verkündete Herbert Grönemeyer persönlich auf der ersten Fassung seiner Website. Und weil seine Plattenfirma Emi noch nicht im Netz hing und er ohnehin selbst die Kontrolle über seine Seiten behalten wollte, gab er selbst die Erstellung einer Homepage in Auftrag. Man fand darauf unter anderem RealAudio-Soundfiles, in denen er erzählt, was sich auf den einzelnen Seiten
befindet - bis hin zum aktuellen VfL-BochumTabellenstand! Wobei er als User dem Internet eher skeptisch gegenüberstand: »Nach der Schule bin ich früher zum Plattenladen gegangen. Ich hatte zwar kein Geld, um was zu kaufen, aber ich habe dort Freunde getroffen, mich mit denen über die neuesten Platten unterhalten. Diese Form von Kommunikation gibt es schon lange nicht mehr. Diese Megastores sind seit Jahren tote Plätze, jetzt kommt der virtuelle Schub mit den elektronischen Kaufhäusern. Aber da wird es eine Gegenbewegung geben. Die Plattenläden werden beginnen, sich zu verkleinern, und sich mehr den verschiedenen Musikrichtungen widmen, und dann kann man da sitzen und sich vom DJ etwas empfehlen lassen und wieder gehen. Im Buchhandel gibt es ähnliche Entwicklungen. Das kann mir ein Computer nicht geben. Technologie ist in Ordnung, solange sie wie ein Staubsauger funktioniert, aber sie schafft definitiv keine neue menschliche Kultur. Man kann im Internet höchstens obszöne Mails versenden.« Seine Kinder stellten sich mittlerweile zwar auch eigene CDs zusammen, »aber die gehen nur selten hin und kopieren ganze Platten«. Er selbst sei kaum im Netz unterwegs: »Nicht, weil ich das moralisch ablehne. Surfen geht mir auf die Nerven.« In Deutschland präsentierte sich Grönemeyer 1995 gleich im Doppelpack: »Live« und »Unplugged« hießen die beiden zeitgleich am 30. Oktober veröffentlichten Mitschnitt-Alben. Auf dem Cover von »Live« schlägt ein Hahn wie wild mit den Flügeln, auf dem von »Unplugged« schimmert ein blaues Ei. »Live« war auf der »Chaos«Tournee in Wien, Dortmund und Berlin mitgeschnitten worden, »Unplugged« dokumentierte Grönemeyers Auftritt in der legendären »MTV Unplugged«Reihe, aufgezeichnet in Potsdam-Babelsberg. Grönemeyer war als erster nicht-englischsprachiger Künstler für dieses Format verpflichtet worden. Das war insofern pikant, als seine Plattenfirma Emi am 1993 gegründeten MTVKonkurrenzsender »Viva« beteiligt war, aber »dass MTV
mir zutraute, mit einem deutschsprachigen Konzert Erfolg zu haben. Das hat mir und der Band viel Selbstvertrauen und Auftrieb gegeben«, sagte Grönemeyer. »In Deutschland ist es manchmal nicht leicht, sich als Popstar zu fühlen, aber wir wollen uns als Popstars fühlen. Wir holen uns die Power dazu von überall her.« Fasziniert stellte er fest: Man steht »unter einem unheimlich hohen Adrenalinpegel, man sitzt plötzlich da und hört sich selber singen.« Was sonst nicht geht, weil es so laut ist. Deshalb konnte er bei dem Akustik-Set auch mal wirklich richtig singen, sagt er. Überhaupt sei der MTV-Auftritt (später auch auf Video veröffentlicht) für ihn eine Herausforderung gewesen: »Man wird gefilmt, kann sich keinerlei Manierismen erlauben, weil man einerseits sich selbst zelebriert, zweitens natürlich auch einen Elefanten schiebt, also versucht, eine Riesen-Menschenmenge in Bewegung zu kriegen. Hinzu kam, dass ich mich eben auch gezwungen habe zu sitzen, was mir sehr schwer fällt.« Livespielen nimmt Grönemeyer sehr ernst, und gerade die Ehrfurcht, mit der er seinem Publikum begegnet, sorgt vielleicht für seinen lang anhaltenden Erfolg: »Das ganze Konzert ist ein sexueller Moment. Sie sehen die Gesichter, Sie fühlen die Atmosphäre des Stadions oder des Saals. Sie können genau checken, was passiert. Es ist wie bei einem Rendezvous mit einer Frau. Wenn Sie mit ihr flirten, werden Sie vielleicht einen wunderschönen Abend verbringen. Wenn Sie den Big Boss raushängen lassen, haben beide nichts davon.« Die Songauswahl auf den beiden CDs ist weitgehend identisch, selbst Grönemeyer gab zu, es solle sich jeder »genau überlegen, was er davon kauft, aber man braucht nur eine zu kaufen, das reicht«. Beide CDs stellten ihn korrekt dar, »das gehört alles zusammen, die Musik, mein Gesang dazu, mein Geträller«, so Grönemeyer. Ohnehin ist er der Meinung : »Der Zuhörer sollte sich das aus Grönemeyer herauspicken, was ihn interessiert.« Die zwei Live-Platten dokumentierten: »Wir sind älter geworden, wir haben die Lust nicht verloren«, fand der
Sänger. Und sie erlaubten es ihm abermals, seinen Status (»Post an Herbert Grönemeyer, Bochum. Klingt vielleicht überheblich, aber das kommt an«) aufrechtzuerhalten, ohne zusätzliche Kreativkraft für neue Songs aufzuwenden. Er kümmerte sich in dieser Zeit um sich selbst, »weil ich das Gefühl habe, ich musste erst einmal überlegen, wer ich eigentlich bin, ich hatte mich da eher vernachlässigt. Und sonst? Ich glaube, dass ich sehr wach, nervig und aufgekratzt lebe.« Und nachdenklich stellte er fest: »Ich bin nicht glücklicher geworden durch den Erfolg. Also, ich bin heute nicht glücklicher und zufriedener als damals.« Auch diese Aussagen haben mittlerweile eine neue, zusätzliche Bedeutung als Referenz auf Annas Zustand erhalten. Offen und geradeheraus sprach Grönemeyer in Interviews über sein Befinden - nur nicht über dessen Hintergrund. Er erklärte die verklausulierten Texte mit verklausulierten Antworten. Was er damals perfektionierte (und heute noch großartig beherrscht), war die gezielte, gesteuerte Mischung aus An- und Abwesenheit in der Öffentlichkeit. »Wie er mit den Medien umgeht, dieser Wechsel zwischen rar und präsent, das ist in diesem Land noch nicht da gewesen«, urteilte der damalige Chefredakteur Michael Lohmann 1999 in »TV Today«. Es lässt sich aber noch etwas ablesen an dieser Zeit, an den Texten, an den Interviews, an der öffentlichen Wahrnehmung Grönemeyers: Seine Texte, seine Aussagen hatten nun endgültig einen so hohen Grad der Abstraktion erreicht, dass sie schon wieder ohne konkrete Erklärung funktionierten. Viele konnten sich in seinen Texten, seinen Songs, seinen Antworten wiederfinden: Wer wollte seiner Liebsten nicht »ein Bett aus Rosen« bauen, »die Wände aus Glanzpapier«, wie Grönemeyer in »Morgenrot« singt? Jedem ist doch grundsätzlich klar: »Es gibt für nichts 'ne Garantie / es gibt nur jetzt oder nie« (»Keine Garantie«). Das sind einerseits Binsenweisheiten (wie sie ja auch in jedem besseren englischsprachigen Hit zu hören sind). Andererseits erscheinen sie bei
Grönemeyer durchdachter, persönlicher, authentischer als bei anderen. Sänge man seine Texte zu Schlagermusik, sie wären streckenweise vor Banalität kaum zu ertragen. Aber ein Song ist eben mindestens die Summe seiner Teile: Text, Musik, Interpretation - im besten Fall mehr. Es zeigt sich: Grönemeyers Songs waren tatsächlich keine geschickt montierten, sondern tatsächlich empfundene Binsenweisheiten. Die Wahrnehmung der Fans - Grönemeyer hat wirklich was zu sagen - war richtig. Das hatte er. Auch wenn es damals keiner richtig verstehen konnte. Das Gefühl, das er erzeugte, war dennoch authentisch, war wahrhaftig. 1996 erschien - geschickt getimet auf die Ausstrahlung des MTV-Unplugged-Konzerts - international (in Großbritannien, Skandinavien, Frankreich, Spanien, Benelux, Kanada, Brasilien, Australien) die englischsprachige Fassung von »Chaos«; diesmal stammten die Texte von XTC-Mitglied Andy Partridge. »Chaos« ist auch auf Englisch geradeaus rockig, aggressiv. Die Übersetzungen von Andy Partridge - wenn auch von diesem als eine Art Brotjob angesehen - sind freier, anspruchsvoller, fantasievoller als die bisherigen Übersetzungen von Peter Hammill. Grönemeyer singt nun beispielsweise:
Deutsch »Theorien verblassen die Propaganda ist platt nichts gilt mehr die Kirche schachmatt die Welt reißt das Tor auf, da lähmt jedes Geschwätz Durcheinander wird Gesetz« (»Chaos«)
»Verführ mich gnadenlos gönn mir keinen Aufschub gewähr mir keinen Trost lass es einfach um mich gescheh'n du weißt, wie Wunder geh'n« (»Fisch im Netz«) »Alle Fenster gehen nach Süden mit Blick auf's glitzernde Meer ich glätte täglich die Wogen tauche versunkenen Träumen hinterher« (»Morgenrot«)
Englisch »theories beer tastes flat propaganda bread's stale pray for a winner church endgame failed the world kicks its doors down info slashes with its claw confusions becoming law« (»Chaos«) »Seduce me now without delay don't waste a second don't listen when I pray >mercy< just take your witch broom and sweep me away and work your wonder today« (»Puss In Boots«) »Our south facing windows will gaze an a dazzling crystalline sea which I´ll smooth like our sheets every morning then retrieve sunken dreams carefully« (»Promise My Love«)
Das Cover änderte sich nur unwesentlich: Auf der englischen Version ist der Name »Herbert Grönemeyer« krakeliger, aber auch größer geschrieben. Dafür überarbeitete Grönemeyer auch diesmal das Tracklisting: »Chaos« (deutsch) 1. Chaos 2. Die Härte 3. Land unter 4. Fisch im Netz 5. Keine Garantie 6. Grönland 7. Ich geb nichts mehr 8. Morgenrot 9. Kein Verlust 10. Die Welle
»Chaos« (englisch) 1. Chaos 2. Promise My Love (Morgenrot) 3. Lead Me Home (Land unter) 4. Hard Heads (Die Härte) 5. Greenland (Grönland) 6. I've Had Enough (Ich geb nichts mehr) 7. Puss In Boots (Fisch im Netz) 8. Hole In My Head (Kein Verlust) 9. No Guarantee (Keine Garantie) 10. The Wave (Die Welle)
Wieder wie schon bei »Luxus« - verändert sich durch die Umstellungen nicht der emotionale Ablauf der CD, wohl aber die Gewichtung der Themen: Leichter zugängliche Songs wandern nach vorn, speziell auf Deutschland zugeschnittene Tracks (zum Beispiel »Die Härte«) kommen später. Nach »What's All This« und »Luxus« war dies die dritte und bislang letzte - englische Veröffentlichung Grönemeyers. Stolz vermerkte er später: »Inzwischen gibt es wie im Film oder in der Malerei und Literatur auch in der Musik eine spezifische deutsche Qualität. Eine meiner englischsprachigen Platten ist mal in der >New York Times< rezensiert worden: >Best lyrics of the year<, stand da, >but maybe too complicated for the American public.< Ich bekam trotzdem fünf Sterne.« »Grand Prix«Organisator Jürgen Meier-Beer sieht das ähnlich: »Die hohe Qualität von Herbert Grönemeyer, die bei uns seinen Reiz ausmacht, ist international nicht verständlich.« Und selbst wenn der Verkauf - national wie international - hinter den Erwartungen zurückblieb, so sind diese Fassungen doch vielleicht als so etwas wie die Urversionen der Songs anzusehen, als Grönemeyers ganz persönliche Interpretation seines eigenen Schaffens, denn für ihn sind die deutschen Texte ja von keiner allzu großen Wichtigkeit. Die »Chaos«-Tournee veranstaltete Karsten Jahnke. Er arbeitete bereits seit 1982 mit Herbert Grönemeyer zusammen: »Unter dem Titel >Total Egal< haben wir 1982 die erste Tour veranstaltet. Diese Tour dauerte fünf oder sechs Tage, ein Schnitt von achtzig Besuchern, aber schon mindestens fünf Zugaben. Und eine Ausnahme: In Bochum waren 330 Zuschauer! Berlin war witzig, da waren im Vorverkauf zehn Karten verkauft. Um neun sollte das Konzert beginnen. Wir haben uns zusammengesetzt und entschieden: Sollten um neun Uhr zwanzig Karten verkauft sein, spielen wir. Wenn nicht, zahlen wir zurück. Um fünf Minuten vor neun wurde die
zwanzigste Karte verkauft. Er hatte damals schon >Das Boot< gedreht und von >Total egal< zwanzigtausend Stück verkauft. Die Plattenfirma war der Meinung, schuld an den geringen Zuschauerzahlen wären natürlich wir. Deshalb ließen sie die nächste Tour von Fritz Rau veranstalten. Da kamen auch nicht mehr Leute. Mein Glück war, dass Fritz keine Zeit hatte und sich nicht um den Künstler kümmern konnte. Dann gab Grönemeyer uns ein Tape mit, da war >Bochum< drauf, und ich weiß noch, wie wir uns das angehört haben. Wir sagten: Wahnsinn, toll! Damit wird er bestimmt erfolgreich, da wird er bestimmt fünfzigtausend Stück verkaufen. Ich glaube, die Platte ist inzwischen bei drei Millionen ... Ich halte auch nach wie vor den Song >Bochum< für einen der besten, die je in Deutschland geschrieben wurden. Bei der >Bochum-Tour< hatten wir dann gleich einen Schnitt von dreitausend Besuchern, und dann haben wir das kontinuierlich gesteigert.« Nun fragt man sich: Warum organisiert jemand die Tournee eines unbekannten Schauspielers aus dem Ruhrgebiet? Jahnke: »Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht. Ich hatte das Glück, die Tourneen von Insterburg & Co. zu veranstalten. Das war ab 1967. Mit der Gruppe haben wir immer nur Geld verdient, das war ein Traumdeal. Wir konnten es uns deshalb leisten, Gruppen aufzubauen, denn anders geht es ja nicht. Und von Grönemeyer war ich absolut überzeugt.« Und er sollte Recht behalten: »Er war ja anfangs ein singender Schauspieler«, gibt Jahnke zu, aber »das hat sich natürlich geändert. Außerdem finde ich, dass seine Texte im Laufe der Jahre noch besser geworden sind.« Auch die folgende Tour »Bleibt alles anders« 1998/1999 veranstaltete Jahnke, erst »Mensch« übernahm dann die Frankfurter Agentur MLK von Marek Lieberberg. Jahnke gibt zu: »Wir haben deswegen mehrmals telefoniert und uns getroffen. Herbert hat mir erklärt, dass er nach dreißig Jahren einfach mal neue Wege gehen wollte. Einen konkreten Grund gibt es nicht. Als Profi muss man solche Entscheidungen natürlich akzeptieren, als Freund und
langjähriger Weggefährte ist so etwas trotzdem sehr schmerzlich.« Jahnke schätzt die Dimension der »Von gestern bis Mensch«Tour: »Zwölf Laster wird er auf der aktuellen Tournee schon haben. Dann braucht man pro Truck zwei Fahrer, dazu kommen Roadies für den Aufbau der Bühne und der Anlage.« Er erklärt auch, wieso alle Beteiligten mit den relativ günstigen Eintrittspreisen dennoch gut fahren: »Die Konzerte sind auch für den Veranstalter knapp kalkuliert. Aber wir haben mit Grönemeyer immer Geld verdient, da wir sicher sein konnten, dass die Konzerte ausverkauft werden.« Im direkten Umgang erlebte er Grönemeyer als durchaus anstrengend, aber angenehm ehrlich: »Er ist sehr dominant und sagt, wie er etwas haben will. Und dann wird das so gemacht. Wenn man so lange miteinander arbeitet, dann bleibt es nicht aus, dass man bei der einen oder anderen Sache auch mal unterschiedlicher Meinung ist. Wir wären nicht so weit miteinander gegangen, wenn wir diese Dinge nicht immer gleich offen und ehrlich ausgetragen und erklärt hätten. Wie gesagt, es ging nie hintenrum. Wenn ihn etwas störte, wurde es sofort ausdiskutiert. Grundsätzlich sind Künstler wie Rennpferde, wenn irgendetwas schief geht, gibt es sofort Ärger. Ich bin der Letzte, der dafür kein Verständnis hat. Schließlich sind wir Dienstleister, wenn der Künstler irgendetwas haben will, dann bekommt er es.« Das Grönemeyer-Konzert, an das Jahnke sich am intensivsten erinnert, fand in Grömitz statt: »Das aufregendste Konzert war in Grömitz, Open Air. Es herrschte Windstärke neun. Wir haben das Bühnendach schon gar nicht aufziehen können. Dann haben wir den Seewetterdienst angerufen und gefragt: Wie sieht's aus? Regnet es, oder regnet es nicht? Die haben gesagt: Es regnet nicht. Ich fragte: Können wir uns darauf verlassen? Da steht immerhin eine Anlage, die richtig Geld kostet. Die sagten: Ja, können Sie sich drauf verlassen. Also sind wir das Risiko eingegangen. Herbie und seine exzellente Band haben gespielt - und die Hosenbeine flatterten
lauter, als die Gitarren klangen! Es war über Windstärke neun, aber es gab keinen Regen, und das Konzert ist gut verlaufen. Das hat er mitgemacht und fand es eigentlich sogar unheimlich gut. Sie haben dann eben einfach mit gewaltigem Druck gespielt.« Dass man Grönemeyer in Konzerten nicht wirklich einwandfrei verstehen konnte, erstaunte Jahnke durchaus - und er betont, dass es nicht etwa an der Abmischung oder dem Sound läge. Grönemeyer selbst erklärte ihm: »Er hat gesagt, das mache er sozusagen >extra<, mit anderen Worten, man muss die Texte kennen. Ich erinnere mich an eine Tour, da ist die Platte unmittelbar vor der Tour rausgekommen, die Leute konnten die Platte vielleicht eine Woche lang hören. Und trotzdem haben sie alle Texte mitgesungen. Und auch auf den Platten ist er ja nicht einfach zu verstehen. Aber selbst wenn man findet, es war soundmäßig nicht so gelungen, muss man sagen: Die Leute gehen einfach immer zufrieden nach Hause.« Wie bei jedem Künstler, jedem starken Individuum, fällte natürlich auch Grönemeyer durchaus die eine oder andere Entscheidung, die Jahnke nicht nachvollziehen konnte. Das empfand er allerdings nicht als wirklich problematisch, sondern - schon ganz im Nachhinein - als anekdotisch: »Bei einer Tour hatte er einen Freund beauftragt, das Plakat zu erstellen. Das wurde dann ein exzellentes Designerplakat. Wirklich super, aber es kam nicht von der Säule. Ich ließ fünfzig Stück drucken. Wir trafen uns mit Herbie und seinem Manager, der ließ zwanzig Plakate plakatieren. Wir fuhren dann zu dritt im Auto ganz langsam daran vorbei; wir hatten uns zuvor geeinigt: Wenn uns das Plakat auffällt, nehmen wir's, wenn nicht, dann nicht. Künstler und Manager waren sich einig: Das Plakat war nicht auffällig genug.« Doch dann überlegte Grönemeyer es sich anders, bestand trotz allem auf »seinem« Plakat. Jahnke fand das typisch, aber erfreulicherweise »nicht besonders tragisch, da das Plakat wirklich schön war, und die Tour war trotzdem ausverkauft«.
Wunden, die das Leben schlägt Brüche und Niederlagen in Beruf und Privatleben Wer berühmt ist, hat nichts als Ärger. Erstens, weil einen die Irren nicht in Ruhe lassen: Ein Stalker drang sogar in Grönemeyers Garderobe ein und bedrohte ihn. Zweitens, weil jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird und so Probleme schnell eskalieren. Drittens aber auch, weil Sturheit und Rechthaberei notwendig sein mögen, um es ganz nach oben zu schaffen - aber eben auch manchmal sonderbare Auswüchse mit sich bringen. Was die Irren angeht, so wird Grönemeyer erfreulicherweise weniger belästigt als die Jeanettes, Britney Spears, No Angels oder J.Lo's dieser Welt. Aber was Streitigkeiten - bis hin zu Prozessen - betrifft, so hat er schon das eine oder andere Geschütz aufgefahren. Mittlerweile lässt er sich von Journalisten vertraglich zusichern, Interviews gegenlesen und korrigieren zu dürfen. TV-Talkerin Sandra Maischberger musste erleben, wie ausgerechnet die ewigen Konkurrenten Marius MüllerWesternhagen und Herbert Grönemeyer ihre Interview umfabulierten: »Die haben haarsträubend wenig von dem übrig gelassen, was sie mir im Interview erzählt hatten. Absolut souverän ist Harald Schmidt. Der hat nur ein Wort verändert. Er findet sich so großartig, dass er weiß, auch ein Interview kann an diesem Bild nichts ändern.« Auch »Die Woche« bemängelte nach einem Gespräch mit dem »Bundes-Herbie«: »Im Interview kennt der Mann nahezu kein Halten mehr: Eine gute Stunde lang wütet er gegen mediale Gegner, üble Nachredner und böswillige
Untersteller - und als ihm die Zitate hinterher vereinbarungsgemäß vorgelegt werden, will er diese nicht veröffentlicht wissen. Was bloß ist in den bleichen Deutschmeister aus Bochum gefahren? Herbert Grönemeyer ist aufgebracht. Genervt. Denkzentrale läuft Amok, Antworten unter Schock.« Der Künstler selbst weiß auch: »0 Gott, ich bin sehr impulsiv und aufbrausend. Darum komm ich manchmal sehr böllerig daher. Ich bin trotzdem kein Mensch, der das Risiko sucht, sondern eher nachdenklich ist. Außerdem bin ich wohl gutgläubig.« Bernd Kowalzik von Roof Music bezeichnet den Sänger sogar als eher konfliktscheu. Gerade die Interview-Vorverträge sprächen »vielleicht für die Konfliktscheue. Vorsichtsmaßnahmen, damit es gar nicht zu Konflikten kommt, zu der Notwendigkeit, sich mit jemandem streiten zu müssen, eine Konfliktprophylaxe sozusagen.« Wolfgang Niedecken räumt ebenfalls auf mit dem Gerücht, BAP und Grönemeyer hätten sich konstant gekabbelt: »Das kann ich so nicht sagen. Er hat immer ein großes Problem mit unserem damaligen Manager gehabt, dem Balou. Herbert hat schnell das Gefühl, er wird übers Ohr gehauen. Das war aber, soweit ich das beurteilen kann, nicht der Fall.« Typisch Grönemeyer offenbar seine Reaktion auf die vermeintlich ungleiche Behandlung bei der Plakatierung für das WackersdorfFestival 1986: »Für das Wackersdorf-Festival«, berichtet Niedecken, »wurden zweierlei verschiedene Plakate gedruckt, eins, wo Demonstranten Transparente trugen, auf denen die Namen der teilnehmenden Bands standen. Und es gab ein anderes Plakat nur mit Schrift, alles in gleich großen Buchstaben: Da nahm >BAP< natürlich weniger Platz ein als >Herbert Grönemeyer und Band<. Aber wenn man auf ein Transparent nur >BAP< draufschreibt, ist das eben größer als >Herbert Grönemeyer und Band<, weil die Transparente gleich groß gezeichnet waren. Darüber konnte der sich aufregen bis zum Abwinken. Das ist für mich eher Realsatire.«
Grönemeyer beschwerte sich auch über den Ablauf des Festivals, die Organisation. Niedecken hält dagegen: »Ich glaube, irgendwann wurden die Tore geöffnet, denn es gab auch den Zwang, nicht als die Deppen dazustehen, die ein erfolgloses Open Air veranstalten. Es musste eine sechsstellige Zuschauerzahl werden. Andererseits brauchte man natürlich das Eintrittsgeld. Bei jeder weiteren solchen Veranstaltung fragt man sich: Muss ich das haben? Der Herbert hat später oft entschieden zu spenden, statt noch Spesen für Anreise und Hotel und Band zu versenken. So kann man damit auch umgehen. Aber es geht ja um mehr als Geld, man will ja auch eine Idee weitertragen.« Gerade auch in Journalistenkreisen gilt Grönemeyer als streitbar, schwierig, unberechenbar. Doch Kollegen, die ihn für große Magazine interviewten, können das zumindest so pauschal - nicht bestätigen. Anatol Locker (www.anatollocker.de), mittlerweile Chefredakteur von »Bravo ScreenFun«, sprach für das Magazin »Wiener« mit dem Meister: »Wie üblich bei Künstlern dieses Formats war die Presseabteilung mächtig aufgeregt. Bloß nicht zu persönlich werden, bitte keine Fragen, die den Künstler irgendwie in Wallung bringen können! Da gab es im Vorfeld Telefonate, die an Hysterie grenzten. Grönemeyer selbst war wesentlich lockerer. Wir hatten ein intensives Zweistundeninterview, bei dem keine Themen ausgelassen wurden. Mit allzu Privatem oder dämlichen Fragen haben wir ihn ohnehin nicht behelligt; man kommt bei den meisten Künstlern über ihre Arbeit ohnehin aufs Private. Grönemeyer war nach leichten Anlaufschwierigkeiten gut gelaunt, messerscharf in der Analyse und bereit zu diskutieren und nicht zu referieren. Den Eindruck, den er bei mir hinterlassen hat: eine starke Präsenz, wache Augen, interessiert, nicht frei von Eitelkeit
(was er selbst während des Interviews bestätigte), aber selbstkritisch genug, um sich nicht immer ernst zu nehmen. Er schien viel Wert auf seine Kleidung zu legen (modischer Anzug, während der Rest der Musikbranche zu dieser Zeit in Grunge-Klamotten herumlief). Mir haben sein Humor und seine Klugheit gefallen - das blitzte an vielen Stellen durch. Schwierig war er nicht, da gab es andere Kandidaten (Joe Jackson und Brian Eno zum Beispiel). Aber ich kann mir vorstellen, dass er zickig wird, wenn er mit den tausendmal gehörten Fragen eines Musikjournalisten konfrontiert wird. Das Interview wurde von Plattenfirma und Künstler autorisiert. Es gab keine größeren Änderungen oder Nachfragen.« Christian Krug, inzwischen Chefredakteur von »Max«, interviewte Grönemeyer für den »stern«: »Das Interview verlief ausgezeichnet. Er war offen und herzlich. Wir saßen gemeinsam in der Küche und redeten stundenlang über alle Themen. Er ist ein hervorragender Interviewpartner, wenn er sich auf das Gespräch einlässt. Was private Themen angeht, kann ich mich nicht erinnern, irgendeine Absprache getroffen zu haben. Allerdings führten wir das Interview zu einer Zeit, in der sein Privatleben nicht besonders aufregend erschien. Das Interview wurde autorisiert. Allerdings gingen die Faxe damals im Minutentakt hin und her. Grönemeyer wollte Änderungen, wir wollten Änderungen. Am Ende waren alle völlig entnervt, und er drohte, mit einer einstweiligen Verfügung das Interview zu verhindern. Ihm gefiel ein Zitat nicht, das wir als Überschrift verwenden wollten. Ein paar Tage später saß er in einer Talkshow und wetterte über die Verbrecher vom >stern<, sprach von Fälschung und Ähnlichem. Ich war erschrocken über den völlig überzogenen Wirbel, den er damit anzettelte. Wir haben seitdem nie wieder ein Wort miteinander gewechselt, was ich sehr schade finde.« Max Fellmann, heute Ressortleiter News bei »GQ«, traf Grönemeyer (nach Annas Tod) für »Die Woche«: »Das
Interview wurde autorisiert, das verlief reibungslos. Er legte aber Wert darauf, nachträglich an Formulierungen zu feilen. Also jenseits der Aussagen auch sprachlich gut dazustehen. Das Interview selbst verlief offen. Er redete sehr viel, auch ohne Fragen. Es wurde aber deutlich, dass er zu vielen Themen ziemlich klare, vorbereitete Meinungen und Sätze hatte, die er nach Bedarf abrufen konnte. Geantwortet hat er auf alles. Insbesondere was Fragen nach seiner Frau und der Trauer anging, hat er aber verständlicherweise - sehr auf Formeln zurückgegriffen, wie bereits angedeutet. Insgesamt war es ein sehr netter Termin. Der Mann hat sich wohl gefühlt, wir haben uns wohl gefühlt.« Thomas Groß sprach für »Die Zeit« mit Grönemeyer: »Das Interview war autorisiert und hat im Wesentlichen auch so stattgefunden. Es gab wenig Probleme bei der Autorisierung, bis auf wenige Schärfen in den Aussagen, die ein wenig abgemildert wurden. Das Interview fand in einer angenehm entspannten, aber nicht laschen Atmosphäre statt, und Grönemeyer gab sich Mühe, auf alles einzugehen. Natürlich hatte er - wie alle recording artists heutzutage - ein Konzept, das er rüberbringen wollte. Es schien daneben aber noch Platz zu sein für den einen oder anderen spontanen Einfall. An allzu privaten Fragen hatten wir unsererseits kein allzu großes Interesse, weil die >Zeit< ja nicht die >Bunte< ist oder >Gala<. Alles in allem schätze ich Grönemeyer als einen der wenigen deutschen Popstars, die nicht von der >Bild<-Zeitung und/oder Dieter Bohlen erfunden wurden, und rechne dieses Gespräch zu den gelungeneren in einem ansonsten oft tristen und an Desillusionierungserfahrungen reichen Genre.« Peter Wagner, Inhaber der Agentur »poptext« und zuvor Redakteur beim »Musikexpress« und Chefredakteur vom »WomJournal«, traf Herbert Grönemeyer 1988 zu einem umfassenden Interview über das Album »Ö« für den »Musikexpress«. »Grönemeyer kam damals mit einem dunkelblauen Golf C eco zum Interview; das war der erste
Benzinspar-Golf, den es gab. Sein Vermögen muss damals schon im deutlich zweistelligen Millionenbereich gelegen haben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Golf sein einziges Auto war«, erinnert er sich amüsiert. Und erklärt: »Aus Journalistensicht ist eines der ganz großen Probleme mit Herbert Grönemeyer, dass er in einer Interviewsituation jeden Satz nur bis zu dem Punkt des Satzverlaufes spricht, an dem er selbst glaubt, dass sein Gegenüber sich den Rest dazudenken kann. Er spricht sehr schnell, sehr nuschelig, und grammatikalisch beendet er selten mal einen Satz korrekt. Für Rundfunkoder Fernsehjournalisten ist das kein so großes Problem, weil man einfach den Originalton sendet, und jeder durchschnittlich Gebildete kann sich das Satzende dazudenken. Als Printjournalist hört man das Band ab, transkribiert es und möchte die Grönemeyerschen Sätze grammatikalisch korrekt zu Ende führen, um nicht so ein Hackfleischdeutsch zu verbreiten. Das führt natürlich dazu, dass man sich sehr tief in die Sprache des Gegenübers einfühlen muss, um so unauffällig und authentisch wie möglich seine Sätze zu verlängern. Andererseits führt es auch dazu, dass sich ein Grönemeyer, wenn er das geschriebene Wort zur Autorisierung erhält, erst recht missverstanden fühlt. Das liegt am Unterschied zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort, aber auch daran, dass er sich in der offensichtlich etwas entspannteren Situation ohne Bandgerät, nur vor irgendwelchen anonymen Blättern, ganz andere Satzenden dazudenkt. Der Künstler weiß um den Zeitdruck einer Printproduktion. Problematisch wird es, wenn er eine Woche und sechs Autorisierungsdurchläufe braucht, bis er mit dem Interview zufrieden ist. Das hat dazu geführt, dass diese eine Ausgabe des >Musikexpress< zwar noch pünktlich erschien, aber auch nur, weil der Drucktermin um eineinhalb Tage verschoben wurde - die Druckerei hat letztlich nachts gedruckt. Eine solche Verschiebung kostete den Verlag damals pro Tag 25000 Mark, es war somit das teuerste Interview, das der >Musikexpress< je gedruckt hat. Wir hatten sechs
Korrekturdurchläufe, es fiel ihm immer wieder etwas Neues ein. Jeden Tag kamen neue Änderungen. Grönemeyer wusste um die Druckverzögerung und rief mich am Ende selber noch mal an und meinte, jetzt wäre alles wunderschön. Auch seine Frau würde das Interview jetzt gut finden. Er war völlig happy. Aber eine Platte später wurde für den >Musikexpress< eine Fotoproduktion durchgeführt, und der Fotograf Fred Stichnoth kam zurück und erzählte, Grönemeyer habe sich während der gesamten Foto-Session darüber ausgeweint, dass er vom >Musikexpress< und Peter Wagner über den Tisch gezogen worden wäre. Wir hätten ein Interview veröffentlicht, in dem nur Sachen standen, die er so nie gesagt habe. Jahre später hatte ich für den >Rolling Stone< um ein Interview mit Grönemeyer gebeten, aber in der Konferenz bei der Plattenfirma lehnte Grönemeyer es ab, mit mir zu sprechen. Andererseits haben wir uns in der Zwischenzeit zweimal im BackstageBereich von Konzerten getroffen und uns nett unterhalten. Eine sehr seltsame Geschichte. Eines möchte ich aber noch sagen, es gibt nämlich einen wesentlich unangenehmeren Interviewpartner, und das ist Marius Müller-Westernhagen. Und zwar einfach aus dem Grund, dass Westernhagen seit zehn Jahren jedes Frage-Antwort-Interview von einem anonymen Musikjournalisten in München auf seine Kosten komplett neu schreiben lässt. Deshalb lesen sich die zeitgleich erscheinenden Westernhagen-Interviews auch gleich. Man fragt sich, wozu man mit ihm überhaupt ein Interview führt. Ein Interview mit Grönemeyer basiert immer noch auf dem Gespräch, das stattgefunden hat.« Aber nicht nur mit den Vertretern der »großen«, für die Promotion unverzichtbaren Medien stellte Grönemeyer sich gut. Auch beispielsweise Andreas Weihs (Inhaber der AW Music Entertainment Group), der über Grönemeyer unter anderem in der »Sächsischen Zeitung« schrieb, hat Gutes zu berichten: »Zunächst muss ich deutlich machen, dass ich keine >Interviews< in dem Sinne mit Herbert gemacht habe, in der Form:
Anfrage an Management oder Plattenfirma - Termin Viertelstunde Fragen stellen - wieder weg. Vielmehr ist es so, dass ich im Lauf der Jahre einige Pressekonferenzen miterlebt und Herbert auch davor oder danach persönlich gesprochen habe. Gespräche mit ihm habe ich auch in Hotels geführt, zum Beispiel nach Konzerten. Diese Gespräche hatten nicht wirklich die Form von Interviews, ich habe allerdings mit ihm über die Dinge gesprochen, die mich als Journalisten interessierten, und es zum Teil später aufgeschrieben beziehungsweise in Artikel einfließen lassen. Aus diesen Gründen gab es nie eine >Autorisierung< und eben auch keine Probleme damit. Ich habe Herbert immer nur freundlich und entgegenkommend erlebt. Wenn man ihn erst einmal >allein erwischt<, sozusagen in privaten Momenten, auch wenn es zum Beispiel auf Tour ist, ist er und auch die Atmosphäre um ihn herum sehr entspannt und locker. So genannte private Fragen flossen zum Teil am Rande in die Gespräche ein, waren aber nie großes Thema, weil für mich die Musik mehr im Vordergrund steht. Erst während der Vorstellung seines Albums >Mensch< im letzten Jahr hat er sich - für mich das erste Mal bewusst ausführlicher über seine Frau und seine Familie geäußert. Da ich auch Fotograf bin (oder eigentlich eher Fotograf als Journalist), habe ich ihm auch Fotos, die ich machte, gezeigt, und Herbert fand einige Motive so gut, dass er mich bat, für ihn privat einige Abzüge (übrigens im Posterformat Al) zu machen. Fazit: Im Grunde kann ich über Herbert persönlich nur Gutes berichten. Er selbst war jederzeit freundlich, aufgeschlossen, witzig ... Ob das >echt< ist oder nicht, kann ich natürlich nicht beurteilen, da ich - wie viele andere, die er in der >Öffentlichkeit< trifft - ihn als Prominenten entsprechend >beobachte<, und als kluger Mensch weiß Herbert das natürlich und passt möglicherweise sein eigenes Verhalten an die Erwartungshaltung an. Vielleicht ist er aber auch wirklich so locker, offen und gesprächsbereit, wie er sich darstellt. Das Ganze relativiert sich allerdings etwas, wenn es um >offizielle< Termine geht, denn dann sind jederzeit so
viele Leute um ihn herum, die - zumindest nach dem, was ich selbst erlebte oder auch von Kollegen hörte - erst mal alles abblocken (>Das geht nicht!<) und manchmal auch nicht so freundlich sind, um nicht zu sagen: auch schon mal echt abweisend.« Als streitbarer Chef hingegen outete sich Grönemeyer seinem Ex-Drummer Detlef Kessler gegenüber, der auf »Gemischte Gefühle« und »Bochum« trommelte - dessen Name und Foto aber nach seinem Ausstieg aus der Band vom »Bochum«Plattencover getilgt wurden. Herbert Grönemeyer äußerte sich auf Nachfrage nicht zu diesem Sachverhalt. Kessler war 1981 in die Grönemeyer-Band eingestiegen, 1984 verkrachten sich die beiden. Kessler: »Er hatte mich ursprünglich an den Einspielergebnissen der LPs beteiligt, aber Musiker machen ja grundsätzlich keine schriftlichen Verträge. Er hat dann einen zusätzlichen Vergleich angeboten und mir 45000 Mark gezahlt [Aktenzeichen 2 U 26/88 am Landgericht Köln]. Außerdem darf man einmal genannte Künstler nicht einfach streichen, dafür musste die Plattenfirma Emi weitere 25 000 Mark zahlen. Mittlerweile sind die Verträge mit der Emi ausgelaufen; >Bochum< erscheint nun auf Grönemeyers GrönlandLabel und wird von der Emi nur vertrieben. Prompt wurde wieder mein Name heruntergenommen. Den entsprechenden Prozess habe ich im Frühjahr 2003 gewonnen.« Tatsächlich wird auf der aktuellen Fassung von »4630 Bochum« einfach gar kein Drummer genannt, was - wenn man mal genau hinhört - recht unwahrscheinlich wirkt. (Kessler wird weiterhin als Percussion-Solist bei »Mambo« aufgeführt.) Kessler weiter: »Wer an einem Act mitarbeitet, möchte daran auch partizipieren. Ich habe mit siebzehn Jahren mit meiner damaligen Band Panta Rhei bereits in der DDR vor vierzigtausend Leuten gespielt. Ich habe die DDR nicht verlassen, um angestellter Stripper zu werden! Grönemeyer habe ich 1981 kennen gelernt über dessen Band Ocean, die haben viele Songs von Blood, Sweat
and Tears nachgespielt. Diese Stücke kannte ich gut, denn wir haben sie auf einer DDR-Tour mit der KlausLenz-Bigband, der ehemaligen Bigband von Manfred Krug in den sechziger, siebziger Jahren in der DDR, 1976/77 ebenfalls gespielt. Ich habe vier Jahre eng mit Grönemeyer zusammengearbeitet, auch deswegen, weil er in Köln wohnte und ich in Brühl und die übrige Band im Raum Mannheim. Das war schon eine gigantische Zeit. Aber die Platte >Bochum< hat uns alle viel Kraft gekostet. Wir haben im November 1983 angefangen, die Aufnahmen vorzubereiten, teilweise bei mir im Keller in Brühl. Ein halbes Jahr lang haben wir vorbereitet, arrangiert, aufgenommen. Den kreativen Prozess geleitet haben die Musiker Norbert Hamm, Gaggy Mrozeck und ich, wofür Grönemeyer uns an den Produktionslizenzen mit jeweils einem Prozentpunkt beteiligt hat. Ich habe mein Geld allerdings erst nach einer Klage erhalten. Die Bandmusiker bekamen für die gesamte Studioarbeit an >Bochum< damals je etwa fünftausend Mark. Aber eine solche LP - und >Bochum< ist immer noch Grönemeyers erfolgreichstes Album - kann nur durch Teamwork entstehen. Aber die Musiker bekamen nur einen Apfel und ein Ei. Wir bekamen 82/83 hundert Mark pro Auftritt - und dann hatte er plötzlich einen Solovertrag! Auf der Bochum-Tour haben wir vertraglich zugesichert auch nur fünfhundert Mark pro Auftritt bekommen, immerhin aber noch eine prozentuale Gewinnbeteiligung. Aber im Verhältnis zu den Einnahmen von Künstler, Management und Veranstalter war das immer noch sehr wenig.« Dass Künstler ein gewisses Durchsetzungsvermögen, eine grundsätzliche Egozentrik mitbringen müssen, bestreitet Kessler gar nicht: »Damals konnte man sich durchaus so entscheiden, wie er es getan hat - aber man musste nicht. Er hätte auch alle beteiligen können. Gröni spendete Millionen für Greenpeace, aber uns hat er das Bier am Tisch nicht bezahlt.« (Andere langjährige Partner, beispielsweise der Hamburger Konzertveranstalter Karsten Jahnke, bezeichnen Grönemeyer als »sehr
großzügig«, er lade speziell auf Tour oft ein.) Kesslers Nachfolger, Drummer Armin Rühl, ist auch zufrieden: Von Anfang an sei er nur Mitglied einer erklärten Begleitband gewesen, und »Herbert ist ein dufter Chef. Ich habe mich noch nicht streiten müssen wegen Kohle, das lief immer alles cool.« 1993 hatte Grönemeyer dann plötzlich Flugzeuge im Kopf - und nicht im Bauch. Er war nämlich im Dezember 1992 beim Antirassismus-Konzert »Heute die! Morgen du!« aufgetreten. Durch Zufall entdeckte er einen Videomitschnitt des Konzertes, den die Lufthansa an die Goethe-Institute in aller Welt verteilen wollte: »Ich habe es auf einem Schreibtisch in der Plattenfirma gesehen. Schön eingepackt mit dem Logo der Lufthansa, wie alle Dinge, mit denen sie Reklame machen.« Grönemeyer ließ die Videos zurückholen, denn die beteiligten Musiker waren nicht einmal gefragt worden, ob sie einverstanden seien. Er erklärt: »Die Plattenbosse, allen voran der damalige WEA-Chef Gerd Gebhardt, hatten dieses Benefizkonzert an die Lufthansa verscheuert, ohne dass die Künstler, die alle umsonst aufgetreten waren, davon wussten. Es geht nicht, dass man anschließend auf ganz billige Art mit den Künstlern Werbung treibt.« Fünfhundert dieser Videos sollten an GoetheInstitute in aller Welt verschickt werden, »um zu zeigen, die Deutschen sind gar nicht so. Und vorne drauf stand >Lufthansa<, wie bei einer Erdnusstüte. Es ging einfach darum, dass die Lufthansa auf eine krumme Tour ins Pop-Sponsoring einsteigen wollte, und das mache ich nicht mit. Ich lasse mich von niemandem sponsern. Wenn ich vorher davon gewusst hätte, wäre ich nie in Frankfurt dabei gewesen.« Wohlgemerkt: »Ich habe nichts dagegen, dass unser Konzert in den Goethe-Instituten gezeigt wird. Aber es gefällt mir nicht, wenn ein Wirtschaftsunternehmen hinter dem Rücken der Künstler die Rechte erwirbt und unser Konzert missbraucht, um sein eigenes Image zu verbessern.« Verpackt waren die
Videos »wie alles von Lufthansa: in Silberpapier mit Widmung. Wäre es nur um den guten Zweck gegangen, hätten sie das Band neutral einpacken können. Das Konzert hatte ja ein Logo.« Für Grönemeyer war klar: »Hinter der ganzen Affäre stecken doch eindeutige Industrie-Interessen: Die Lufthansa versucht ins Popgeschäft einzusteigen«; zu der Zeit warb die Airline mit Twenflügen zum Depeche-Mode-Konzert in Barcelona. Christine Albert-Nyström vom Goethe-Institut Malmö schimpfte: »Ich bin wütend, entsetzt und traurig darüber, dass ein so genannter engagierter Künstler sich - offensichtlich aus Profitgier?! - so verhält. Da ist doch nicht mehr glaubhaft, was von der Bühne kommt, wenn es im richtigen Leben so zugeht.« Auch andere Leiter von Goethe-Instituten, ebenso Fans und Journalisten hackten auf Grönemeyer herum. »Diese Häme hat mich voll getroffen. Ich dachte, ich müsste auswandern«, sagte er später. »Ich habe das Gefühl, dass einige die Sache ausnutzen, um endlich mal auf mich einzuschlagen.« Man unterstellte ihm auch gleich noch, die ganze Rückrufaktion nur gestartet zu haben, weil er sich über die Auftrittsreihenfolge beim Frankfurter Konzert geärgert hätte. Grönemeyer dazu in einer Gegendarstellung: »Unrichtig ist weiterhin, dass ich verdrossen gewesen sein sollte über irgendwelche bessere Platzierungen anderer Künstler beim Frankfurter Konzert.« Schließlich hatte er die Vorwürfe satt und ging in die Offensive: Es gehe keineswegs ums Geldverdienen, zumal er seit Jahren - wenn auch bislang im Verborgenen - große Summen spende: 1991 habe er »eine Kampagne gemacht, die hieß: >Ich bin ein Ausländer!< Auf großen Wänden wurde überall in Deutschland plakatiert. Das habe ich komplett mit vier Millionen Mark finanziert, aber nie darauf hingewiesen, dass das von mir kommt.« Und so kleinkariert einem der Feldzug des Sängers auf den ersten Blick erschienen sein mag: Wo er Recht hat, hat er Recht. Dass die Lufthansa die Videos nicht (nur) verteilte, um gut Wetter für die Deutschen, sondern zumindest auch, um gut Wetter für die Lufthansa zu machen, ist
offensichtlich. Auch wenn Peter Hobel von der LufthansaPresseabteilung in Frankfurt beteuerte: »Uns ging es doch nicht um Eigenwerbung. Wir waren der Meinung, dass die Botschaft dieses Festivals weltweit gezeigt werden musste, um auch in anderen Ländern klar zu machen, dass die Mehrzahl der Deutschen gegen den Fremdenhass aufsteht.« »Ich habe nichts gegen die Lufthansa, aber dann könnten wir uns auch von Chappi vermarkten lassen«, betonte Grönemeyer. Und die Kollegen stimmten ein. BAP-Sänger Wolfgang Niedecken: »Herbert hat völlig Recht. Das ist keine Lappalie. Man darf nicht vergessen, dass die Goethe-Institute deutsche Vorzeigeeinrichtungen im Ausland sind. Was die Politiker bei uns versäumen, sollen wir Musiker dann als Pausenclowns ausgleichen, indem wir in aller Welt als gute Deutsche präsentiert werden.« Tote-Hosen-Sänger Campino stellte sich ebenfalls hinter Grönemeyer: Den gesponserten Videoversand bezeichnete er als »ätzend«. Die Künstler setzten sich auch vor Gericht durch, der Lufthansa wurde ein Ordnungsgeld von bis zu fünfhunderttausend Mark angedroht. Grönemeyer: »Alle haben auf mich eingedroschen, ohne dass jemand mit mir redete. Die dachten, sie hätten mich endlich mal erwischt. Fakt ist, dass ich völlig im Recht war. Ich habe am Ende auf eigene Kosten die Folien abreißen und die Kassetten an die Goethe-Institute zurückschicken lassen.« Wobei er zugibt: »Natürlich hätte ich diese Lufthansa-Geschichte etwas entspannter angehen können: erst mal die Kollegen anrufen, Einigkeit herstellen und dann eine Pressekonferenz einberufen. Das Ganze hätte dann zwei, drei Wochen gedauert, und in der Form wäre es sicherlich besser gewesen. Aber die Kassetten hätte ich trotzdem eingezogen. So locker werde ich nämlich nie.« Doppelt ärgerlich war die Angelegenheit für ihn, weil er eigentlich gar nicht hatte mitmachen wollen - gerade um dem Medienrummel zu entgehen: »Ich fand die ganze Aktion ziemlich peinlich, wenn nicht gar beschämend. Doch wollte ich den Klatschspalten keine Nahrung liefern.
Benefizkonzerte als Jahrmärkte der Eitelkeiten zu missbrauchen ist schon ziemlich arm. Dieser ganze Hickhack, wer denn nun der Tollste ist, interessiert mich nicht.« Immerhin: Am Ende konterte »Ritter Herbert«, das »versteinerte Monument der Selbstgewissheit« (so »Die Woche«) überraschend lässig Udo Lindenbergs Kommentar, er hätte ja auch ein bisschen lockerer mit der ganzen Sache umgehen können: »Ich bin aber nicht locker. Ich muss mir nicht von anderen Leuten vorschreiben lassen, wann ich locker zu sein habe. Ich küsse auch anders als Lindenberg. Ich schlafe auch anders mit einer Frau als Lindenberg. Und wenn eine Frau sagt, der Udo macht das aber besser als du, dann kann ich nur sagen: Dann schlaf doch mit Udo!« Er gibt auch zu: »Das Problem mit meiner großen Klappe hatte ich schon immer.« Manchmal schieße er auch über das Ziel hinaus, aber dazu stehe er. Grönemeyer: »Wenn Sachen wie mit der Lufthansa passieren, brennt natürlich das Haus.« Das Danceprojekt Loona veröffentlichte 1999 den Titel »Mamboleo«, eine spanischsprachige Dance-Version von Grönemeyers »Mambo« (der Parkplatzsuchnummer am Schluss von »Bochum«). »Das war 'ne linke Nummer«, beschwerte sich Grönemeyer. »Loona hat das einfach veröffentlicht, ohne mich zu fragen. Und da war ich tierisch sauer, und dann haben die auch noch so ein bescheuertes Video dazu gedreht«, da »hampelten die völlig dämlich am Strand auf Mallorca rum«. Grönemeyer wollte die Dance-Version seines alten Songs am liebsten verbieten lassen. »Ich sagte: Das kommt gar nicht in die Tüte. Die hatten das aber schon alles produziert und rausgebracht. Erst habe ich gesagt: Das müsst ihr vom Markt nehmen, da waren die völlig fertig. Dann habe ich gesagt: Dann dreht ihr zumindest das Video noch mal neu. Dann haben die ein unheimlich gutes Video gedreht, da habe ich ihnen selber noch den Regisseur zu geschickt. Ich fand es wirklich eine Unverschämtheit,
dass die das veröffentlicht haben, ohne meine Zustimmung, und das Gemeine war aber dann, und deswegen hat er [gemeint ist DJ Sammy von Loona] sich tierisch aufgeregt - das wusste ich aber nicht-, die Kosten fürs Video wurden ihnen abgezogen. Weil das in ihrem Vertrag so stand. Das waren ein paar Mark fuffzig, ich glaube, die haben das in Südafrika gedreht.« Seitdem seien die Loona-Macher »ziemlich stinkig. Aber die Art und Weise, wie die vorgegangen sind, war absolut unsauber, und das hat mich verdammt geärgert.« DJ Sammy, aus Spanien stammendes Mastermind hinter »Loona«, sieht das anders: »>Mamboleo< ist wirklich nicht mein einziger Erfolg. Glaube mir, wenn ich etwas nehme, frage ich vorher. Grönemeyer selbst war nicht erreichbar. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen. Er rief zurück, aber hatte auch nur meine Mailbox dran. Ich sprach dann mit seinem Anwalt in Berlin. Der sagte: >Sammy, Herbert ist begeistert, superbegeistert.< Ich habe ein >Rough Demo< von der Cover-Version gemacht, es Grönemeyers Anwalt und Manager vorgespielt, die sagten: >Das ist perfekt, mach das!< Wir haben die Konditionen verhandelt. Ich bekam für den neuen Text nur ein Bearbeitungshonorar. Liebe Menschen nennen einen als Co-Autor, nicht nur als Bearbeiter. Aber es war alles klar, wir haben das Lied veröffentlicht, und es stieg von null auf zwei in die Trendcharts ein. Doch dann kam ein Fax: Stoppt das Video, es gefällt Grönemeyer nicht. Dabei war das doch unser Video zu unserem Song! Außerdem wollte er plötzlich mehr Prozentpunkte am Einspielergebnis bekommen, und die volle GEMA. Das ist typisch für Menschen, die schon viel Geld haben - sie wollen immer noch mehr! Er hätte ja anrufen können, wir hätten darüber geredet. Aber er macht den Menschen das Leben schwer, und das ist nicht richtig. Ich hatte auch einen Termin mit seiner Managerin in Berlin, im Hotel Esplanade, bin extra aus Mallorca dorthin geflogen, aber dann rief sie an und sagte, sie habe doch keine Zeit. Das war nicht Grönemeyer selbst, aber die Menschen, die einen umgeben, repräsentieren
einen! Von mir kriegt dieser Mensch keinen Respekt mehr, keinen! Dabei habe ich die Melodie von >Mambo< geliebt, ich habe super Arbeit gemacht. Und wenn Grönemeyer jetzt sagt, er wusste von gar nichts, ist das nicht wahr: Er hat mir ja selber auf die Mailbox gesprochen.« Und natürlich treiben alle möglichen Leute auch schlicht Schindluder mit dem Status von Prominenten. So warb die Berliner »B.Z.« im Jahr 1999 mit dem Spruch »Fühlen, was geschieht« für sich - und zeigte dazu ohne Zustimmung unter anderem Herbert Grönemeyer, wie er während eines Konzerts von einem Weinkrampf gepackt wurde. »Dies ist einer der eklatantesten Fälle von unzulässiger Nutzung eines Prominentenbildnisses, die mir je begegnet sind«, sagte Presserechtler Christian Schertz dazu. Grönemeyer ließ die Poster-Werbung durch eine einstweilige Verfügung stoppen, das Berliner Landgericht gab seinem Eilantrag statt, die Plakate mussten unverzüglich wieder abgehängt werden. Auch bei der Beerdigung von Grönemeyers »Boot«-CoStar Klaus Wennemann am 22. Januar 2000 kam es zu einem Zwischenfall, wie er nur einem Promi widerfahren kann: Der Fotograf Gerd Nahke hatte sich beklagt, Grönemeyer habe sich »unvermutet und unverständliche Worte brüllend« auf ihn gestürzt. »Erst traf der Sänger meinen Kopf, dann griff er sich meine Kameraausrüstung und zertrümmerte sie mit Fußtritten am Boden. Mein Objektiv fand ich auf einem anderen Grab wieder«, berichtete der Fotograf. Er habe sich ins Krankenhaus begeben müssen. Grönemeyer konterte: »Während der Beerdigung hat ein Fotograf immer wieder direkt vor den Angehörigen von Herrn Wennemann mit Blitz fotografiert. Trotz mehrfacher Aufforderung der engsten Verwandten, dieses zu unterlassen und die Trauer nicht zu stören, ist der Fotograf immer wieder bis zu einer Distanz von einem Meter auch an mich herangetreten und hat Fotos gemacht. Erst dann bin ich auf den Fotografen
zugegangen und habe nach der Kamera gegriffen. Ich habe auch nur diese berührt. Auf Gegenwehr bin ich nicht gestoßen. Ich habe dann die Kamera genommen und auf den Boden geworfen. Falsch ist, dass ich eine Kameratasche heruntergerissen habe oder auch Objektive auf ein Grab geworfen habe. Insbesondere habe ich den Fotografen selbst körperlich noch nicht einmal berührt, also weder seine Hände noch andere Stellen seines Körpers. Ich habe ihm insbesondere nicht ins Gesicht geschlagen oder auf den Kopf. Es ist sicher, dass eine Gehirnerschütterung durch die von mir beschriebene Einwirkung ausgeschlossen ist. Im Übrigen hat der Fotograf Nahke, der behauptet, ich habe ihn geschlagen, nachdem ich ihm die Kamera weggenommen habe, eine andere Kamera herausgeholt und weiterfotografiert und begleitete die Beerdigung dann noch circa zehn Minuten weiter.« Der Fotograf zeigte Grönemeyer wegen Körperverletzung an, dieser seinerseits den Fotografen wegen übler Nachrede und falscher Verdächtigung. Im Oktober 2000 wurde die Sache sang- und klanglos beigelegt, denn »es besteht kein öffentliches Interesse an dieser Privataktion«, so die Staatsanwaltschaft Bochum. Dass Grönemeyer auf einer Beerdigung nicht fotografiert oder beobachtet werden möchte, kann wohl jeder nachvollziehen. Aber auch wenn er sich in die Öffentlichkeit begibt, auf eine Promiparty geht, möchte er gern die Spielregeln bestimmen: Auf der Party nach dem »Echo« im März 2000 schüttete er Fotografen Wasser ins Gesicht. Möglicher Grund in diesem Falle: »Herbie wollte keine Fotos, weil er sich das erste Mal nach dem Krebstod seiner Frau Anna« mit einer anderen Frau »auf einer Party zeigte. Den ganzen Abend plauderte er angeregt mit seiner schönen Unbekannten. Und alle fragten sich: Ist der Popstar wieder verliebt?«, spekulierten die Reporter. Doch wer ohne Presserummel feiern will, sollte gar nicht erst zu solchen Partys gehen. Prompt kürte die »Gala« Grönemeyer zum »Künstler mit den schlechtesten Manieren«.
Belastend und schwierig war zudem, dass Grönemeyer die Krebserkrankungen seines Bruders Wilhelm und seiner Frau Anna vor der Öffentlichkeit geheim hielt, solange es ging - gerade diese selbst auferlegte Verschwiegenheit machte die Situation sicher noch anstrengender und belastender, als sie ohnehin schon war. Denn nicht nur waren zwei Familienmitglieder todkrank, es bestand auch die Gefahr, dass dieses Geheimnis herauskam und ein Publicity-Sturm über die Grönemeyers hinwegfegte. Wer jemals untreu gewesen ist oder in einer wichtigen Angelegenheit gelogen hat, weiß, wie belastend allein schon das Aufrechterhalten der falschen Fassade ist. So verwundert es nicht, dass Grönemeyer zwischen »Chaos« und dem nächsten Studioalbum »Bleibt alles anders« satte fünf Jahre vergehen ließ. Er war mit Wichtigerem beschäftigt, als Platten zu machen. Hinzu kam, dass bereits »Chaos« einen kreativen Richtungswechsel eingeläutet hatte: Das Album war musikalisch vielseitiger und offensiver als alle zuvor. Es forderte mehr - vom Künstler, aber auch vom Zuhörer. Doch das reichte Grönemeyer nicht, er hatte wohl das Gefühl, in kreativem Treibsand zu stecken: Selbst produzieren, immer die gleiche Band - das bedeutet letztlich kreativen Stillstand, und »Stillstand ist der Tod«, wie er dann im Titelsong »Bleibt alles anders« sang. Die Kreativpause hatte er bitter nötig: »Nach >Bochum< bestanden neun Jahre aus Platte, Tour, Platte, Tour, irgendwann muss man aufpassen, dass man nicht zu seiner eigenen Karikatur wird. Man muss gucken: Wie macht man weiter, wie macht man Musik, so dass man selber das Gefühl hat, man entwickelt sich weiter«, sagte Grönemeyer. Er litt also nicht etwa an einer Art kompositorischer Ladehemmung, sondern hatte sich entschlossen, sich weiterzuentwickeln: »Musik schreibe ich immer«, erklärte er. »Das ist für mich ein ganz alltäglicher Vorgang wie Duschen oder Zähneputzen. Es gab keine Schreibhemmung, aber ich hatte das Gefühl, ich müsste
mir jetzt nach den ganzen Jahren des Erfolgs überlegen, wie es weitergehen soll. Ich hatte dreißig, fünfunddreißig Stücke fertig und musste mir grundsätzlich darüber klar werden, wie die klingen sollten. Allein anderthalb Jahre hat es gedauert, bis ich den passenden Programmierer als Partner gefunden hatte. In dem Vertrag mit meiner Plattenfirma steht drin, dass ich meine Platten machen kann, wann ich will. Wenn ich was mache, muss ich selber auch das Gefühl haben, weiterzukommen.« Grönemeyer erweiterte also seinen musikalischen Horizont, erkämpfte sich seine musikalische Freiheit mit einer bedingungslosen Sturheit, die auch dem Fotografen Jim Rakete eigen ist: »Ich wüsste nicht, wo ich geblieben wäre, wenn ich diese Sturheit nicht hätte«, sagt der. »Ich habe kein so großes Selbstbewusstsein wie der Herbert. Aber wenn es darum geht, nein zu sagen, fragt er nicht, wie viel ihn das Nein kostet. Ich denke auch, ein gewisses Maß an Komplexität muss man mitbringen, um diesen Forschungsauftrag hinzukriegen, den der Herbert für sich zum Programm gemacht hat.« Der kämpfe »entsetzlich mit Texten. Er macht es sich schwer, den richtigen Text zu finden. Er probiert da unheimlich rum. Aber er hat auch die Kraft, das auszuhalten, er steht das durch. Und genauso ist es mit der Musik. Die war früher sehr konventionell, und dann ging es irgendwann darum, den Sound zu erneuern: Da setzte er sich dann mit einem englischen DJ hin und arbeitet ein Jahr, und unter Umständen musste er 95 Prozent davon wegwerfen. Was er macht, ist nicht unbedingt das Ergebnis, sondern vielleicht nur ein Zwischenergebnis, aber es hat ihn klüger gemacht. Er kann sehr methodisch arbeiten. Er ist sehr erwachsen in seiner Arbeitskultur, und er verzettelt sich nicht.« Bei der Arbeit an »Bleibt alles anders« leistete Grönemeyer sich zudem den Luxus, das angenehme Wohn-Arbeiten mit der Band zusammen (wie schon bei »Ö« erprobt) zu wiederholen, er spielte »Bleibt alles anders« unter anderem in London, Wales und Paris ein: »Wir hatten uns nicht vorgenommen, eine Platte zu
machen, die möglichst international klingen sollte. Für die verschiedenen Orte sprachen ganz pragmatische Gründe. Es gibt in Deutschland kein Studio, in dem man auch wohnen kann. Deshalb sind wir nach Wales gefahren, weil die Band und ich dort in einem Bauernhof zusammen leben und arbeiten konnten. Nach Paris und Düsseldorf sind wir wegen einer speziellen Studiotechnik gegangen. Und am Ende habe ich dann hier in Berlin im HansaStudio mit dem Programmierer Alex Silva die Bänder bearbeitet. Diese Orte hatten sicher Einfluss darauf, wie die Stücke klingen. Eine Platte ist wie ein Schnappschuss: So siehst du in diesem Moment aus, so denkst du, und so fühlst du dich.« Der musikalische, textliche, kreative Kraftakt »Bleibt alles anders« wurde so zum ersten Grönemeyer-Album, das auch seiner Frau Anna gefiel. Das gab er auch stolz in Interviews zu. Edo Zanki kann diese Freude verstehen: »Die Person Anna spielte vom allerersten Augenblick, und auch für jeden, der sie je getroffen hat, eine große Rolle. Sie hatte einen großen Zauber. Obwohl sie klein und zart war, hatte man nie das Gefühl, ihr helfen zu müssen. Ich kann mir vorstellen, dass Herbert und Anna aneinander ein ganz besonderes Faszinosum fanden. Herbert als ein Mensch, der von sich sehr eingenommen und überzeugt ist, traf auf eine hochinteressante und künstlerisch so potente Frau, die einerseits ihre großartige schauspielerische Karriere an den Nagel hängt, um Herbert Grönemeyers Frau zu sein, gleichzeitig aber seine Musik nicht sonderlich mag. Ich war auch mal in Köln bei ihnen zu Hause, und natürlich hat sie auch manches gut gefunden und mitgeträllert. Aber fünfzehn Jahre für sie Platten zu machen, so lange, bis sie sie liebt - das ist typisch Herbert Grönemeyer. Der Berg muss bestiegen werden. Es muss gekämpft werden. Und jeder Kampf lohnt sich, um die Liebe der Königin zu erlangen. Sie muss eine sehr tiefe, sehr besondere Frau gewesen sein - an einer kleineren Herausforderung hätte der Herbert Grönemeyer auch keine Freude gehabt.«
Tatsächlich hatte Anna auch erst mit den Songs auf »Bleibt alles anders« bemerkt, dass ihr Mann im Grunde alles, was er schrieb, für sie schrieb - für sie und wieder sie. Grönemeyer: »Sie hatte mal gesagt, sie habe nie gewusst, dass ich sie so liebe, das heißt, obwohl ich mir die Seele wund schrieb, habe ich sie dennoch nie erreicht. Mit der Platte hat sie dann gemerkt, dass die Lieder doch für sie waren.« Gerade noch rechtzeitig. Grönemeyer bestätigt: »Es ging nie um Erfolg. Anna war auch Künstlerin und wusste, was es heißt, sich weiterentwickeln zu wollen. Ich hatte nie das Ziel, die nächste Platte besser zu verkaufen als die letzte.« Nach Annas Tod gestand der Sänger: »Ich habe eigentlich zur Musik ein relativ unbefangenes, ursprüngliches Verhältnis gehabt. Das hat sich ein bisschen verändert, weil eben auch diejenige, die die ganze Euphorie ausgelöst hat, nicht mehr da ist.« Ein letztes Mal war er ihr - und der ganzen Familie - mit seinen Songs, seiner Suche nach Melodien und irgendwann auch nach Texten auf die Nerven gegangen: »Wenn ich ein Lied geschrieben habe, singe ich das auch mal eine Stunde lang. Das geht einem vermutlich furchtbar auf den Senkel. Das ist, wie wenn jemand Geige übt, der's noch nicht kann. Aber ich halte mich in dem Moment für wunderbar und klasse.« Er erinnert sich: »Ich weiß noch: Das Lied >Schmetterlinge im Eis< habe ich morgens um drei geschrieben, das ging ganz schnell. Am nächsten Tag habe ich es Anna vorgespielt, und sie sagte: >Was hast du denn da geschrieben, was soll das denn sein?<« Grönemeyer erklärt seine gezielten Schritte in Richtung Internationalität: »Generell laufen wir in Deutschland dem Musiktrend immer zwanzig Jahre hinterher. Das sollte man nicht versuchen, in einem Jahr aufzuholen. Aber wir sollten selbstbewusster werden, englischsprachigen Hits zum Trotz eine eigene Identität mit deutsch betexteter Musik finden.« Rückblickend hat man leicht deuten, aber dass von Grönemeyer auf dem Cover von »Bleibt alles anders«
vornehmlich Bilder mit Sonnenbrille zu sehen waren (und seine Augen auf dem einzigen anderen Bild verschattet und halb geschlossen sind), mag darauf hindeuten, dass er in jener Zeit einerseits die Außenwelt ausschloss, sich nicht in die Augen sehen lassen wollte. Andererseits betrachtete er die Welt vielleicht seinerseits durch eine Art Schutzbrille, mied den klaren Blick auf die Wirklichkeit. Seine verstörte, abweisende Reaktion auf den Tod seiner Frau wenige Monate nach Veröffentlichung der CD (er verleugnete ihn noch tagelang, nachdem sie gestorben war) mag Hinweis darauf sein, dass er sich der Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands nicht vollständig stellte, den bevorstehenden Abschied von ihr nicht wahrhaben wollte. Er gab erst später zu: Man merke es nicht, wenn der Tod bevorstehe - »wenn man so eng mit jemandem verbunden ist, hat man dafür keinen Blick. Ich habe es erst ganz kurz vorher gemerkt.« Auf dem Cover von »Bleibt alles anders« trägt er bereits den Mantel, in den er sich auch auf Annas Beerdigung hüllen sollte. Obwohl die Texte auf »Bleibt alles anders« weitgehend persönlicher Natur sind, ließ Grönemeyer sich den künstlerischen Kommentar zur Lage der Nation nicht nehmen: »Jetzt versuche ich - etwa im Titelsong >Bleibt alles anders< - klar zu machen, dass man nicht alles auf den Staat abschieben kann, sondern in einer Demokratie selber die Verantwortung in die Hand zu nehmen hat. Und >Reines Herz< ist ein Abgesang auf unsere Einzelkämpfer- und Ellenbogengesellschaft, das kann man natürlich auch auf die Konflikte zwischen Ost und West beziehen.« Grönemeyer bemühte sich - vor allem musikalisch -, auf dem Album neue Wege zu gehen, er sei schließlich nicht der Angestellte jener Fans, die von ihm zum dreihundertsten Mal »Flugzeuge im Bauch« hören wollten: »Ich will mich nicht unbedingt selber wiederholen. Das heißt nicht, dass ich es darauf anlege, immer anders zu sein, aber ich versuche, mich weiterzuentwickeln. Die
Leute, die das mitgehen wollen, gehen das mit, und die Leute, die das nicht mitgehen wollen, lassen's halt bleiben. Ich schreibe für die Fans von mir, die auch willens sind, etwas Neues zu suchen. Ich stelle mich immer wieder zur Debatte, und dann kommen eben Platten heraus wie >Bleibt alles anders<, bei der manche sagen: >Was ist das denn?<« Die Kritiker reagierten verwundert auf »Bleibt alles anders« - nach wie vor ging es um die Verständlichkeit des Sängers, aber nicht mehr (nur) um die akustische: »Wäre es nicht ein solches Modewort, man müsste die Platte >entspannt< nennen, denn dieser Begriff trifft auch die stimmliche Verfassung des Sängers«, schrieb die »Berliner Zeitung«. »Der war immer sehr schlecht zu verstehen mit seinem gepressten Knödelgesang, jetzt meidet er das hohe C, und man kann jede Silbe verstehen. Aber was versteht man da eigentlich?« Komiker Ingo Appelt lästerte: »Wenn Grönemeyer singt, braucht man einen Simultandolmetscher.« Der »stern« fand: »Die lange Studio- und Tourneepause scheint ihm selbst besser bekommen zu sein als seinen Liedern: Er hat beachtlich abgenommen, kann richtig still sitzen, weil er seinen Scheitel nicht mehr hektisch hin und her werfen muss, und seine Stimme schnappt im Refrain nicht mehr über, weil er alles etwas tiefer singt: >Ich habe entdeckt, dass ich auch impulsiv singen kann, ohne rumzuschreien.<« « Doch »trotz neuer Sonnenbrille kann er nicht über alte Schatten springen, nennt seine traurigen Liebeslieder >optimistisch< und hält >Selbstmitleid< für ein komisches Lied, >das heiterste Werk< seines neuen Albums.« Die »Bildwoche« urteilte: Grönemeyers neues Album »wird wahrscheinlich wieder ein Riesenerfolg - obwohl seine Texte (wie auch früher schon) akustisch schwer zu verstehen sind«. Grönemeyer selbst kümmert diese Kritik nicht mehr: »Mein Traum ist es, in England, Amerika oder Kanada auf der Bühne zu stehen. Die Leute unten verstehen nichts, aber begreifen alles: Die spüren einfach, bei meiner
Musik steckt viel Emotion dahinter. Da geht es nicht nur um die Texte. Das hat vielmehr mit Gefühl und Atmosphäre zu tun.« Zur ersten Single »Bleibt alles anders« drehte Grönemeyers Freund Anton Corbijn einen schrägen Videoclip, in dem Grönemeyer von seinem Doppelgänger verfolgt wird - und sich am Ende selbst in die Luft sprengt. Kritikerkommentar: »Für sein Comeback nun hat Grönemeyer zumindest clever adaptiert: Das erste Video ist eine gut umgesetzte Kurzzusammenfassung des David-Lynch-Films >Lost Highway<, der Sänger trägt endlich die richtigen Anzüge und schaut nobel blass und dürr aus der teuren Wäsche, und sogar die Musik ist neu.« Grönemeyer selbst sah das alles lockerer: »Ich denke mir eigentlich nicht so viel dabei.« Tatsächlich sind die Texte auf »Bleibt alles anders« beim ersten Hören verwirrend, erschließen sich erst im Rückblick - dann wird aber offensichtlich, welche Themen (Verlust, Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Tod, Zweisamkeit, Überleben) die Platte durchgängig bestimmen:
»Kalte Seele, blonder Blick / Feiger Abgang, fieser Trick / kein Wieso, kein Prozess / lässt mich ertrinken im Strudel / lässt mich zurück« (»Nach mir«, getextet zusammen mit Anna Henkel) »Es gibt viel zu verlieren / du kannst nur gewinnen / genug ist zu wenig / oder es wird so, wie es war / Stillstand ist der Tod / Geh voran, bleibt alles anders / der erste Stein fällt aus der Mauer / der Durchbruch ist da« (»Bleibt alles anders«) »Ist leider nichts / leider nichts umsonst / jede Illusion hat ihren Preis / jeder Rausch ist nur auf Zeit« (»Letzte Version«)
»Wenn der Kompass nur Himmel und Hölle zeigt (...) Ich dreh mich um dich / stell mich vor den bösen Blick / deine Tränen werde ich übernehmen / alle Qualen und alle Folter überstehen / auch wenn du greinst, du dich kasteist / auch wenn du haderst, du dich zerreißt / wenn sich alles verdunkelt / bring ich dich durch die Nacht« (»Ich dreh mich um dich«) »Spring auf den letzten Zug auf / Richtung Unendlichkeit geradeaus / überhol den jüngsten Tag dabei / setz die Belohnung für dich herauf (...) lass, was gestern war, morgen sein« (»Neue Welt«) »Innerer Zirkel, eigene Welt / in einer Seifenblase, schwebend und hell / ureigener Kosmos, es kann nichts passieren / das Universum sind wir / ein Atemzug, ein Traum, ein Schwur / zwei Hände in einer, zwei Schritte, eine Spur (...) alles leicht, leicht, vielleicht viel zu leicht / reich, reich, vielleicht viel zu reich / Zeit, Zeit, unendlich viel Zeit / alle Zeit der Welt (...) wir sind wichtig, von dir bis hier / Geburt und Tod, und mittendrin wir« (»Stand der Dinge«, ebenfalls mit Anna zusammen getextet und sicher der Schlüsselsong des Albums und der Lebenssituation) »Eiskalt, das Herz ist eine Lüge / sprenge die Gefühle, überflüssiger Ballast / eiskalt, das Leben ist nur Hobby / meine eiserne Lobby / jeder für sich, erst ich / dann lange nichts« (»Reines Herz«) Anderthalb Jahre hatte Grönemeyer an »Bleibt alles anders« gearbeitet, nachdem er im Herbst 1996 den britischen Produzenten Alex Silva kennen gelernt hatte. Denn nach einem Jahr Studiozeit sei der Band und ihm klar geworden, dass sie einfach nur weitergerockt hätten wie bisher. Weil Grönemeyer aber vorankommen und sich »nicht bloß selbst kopieren« wollte, holte er Silva dazu. Der verwarf alle bisherigen Aufnahmen und machte sich daran, elektronische »Flächen« zu legen, im
»Schichtverfahren«, was man sich - so Grönemeyer »wie Kuchenbacken« vorzustellen habe. Die Band war davon nicht begeistert - »klar«, sagt Gröni. Doch er konnte auf Empfindlichkeiten von Musikern, Fans und Kritikern keine Rücksicht nehmen, machte die Platte nur für sich: »Ins Studio gehe ich mit einer Vision nicht davon, wie die Platte klingen, sondern davon, welche Reize sie auslösen soll. Es darf nicht einfach nur angenehm ins Ohr fließen, sondern es muss dich auch ein bisschen nervös machen. Dieses Ziel zu erreichen versuche ich auf allen Wegen. Ob mir dabei meine Band oder der Computer hilft, ist eher zweitrangig. Computer sind ja auch nur Instrumente, sozusagen unsere zeitgenössischen Geigen.« Für ihn schloss sich mit der Platte ein Kreis: »Mein Keyboard und ich. Ich wollte etwas machen, was auch musikalisch dem entspricht, was ich daheim höre. Und das ist Drum'n'Bass, der BristolSound, Musik von Gruppen wie Massive Attack, Rony Size und Tricky. Das ist für mich die Musik der Neunziger.« (Tricky wiederum outete sich seinerseits als großer Grönemeyer-Fan: »Der ist supercool.«) Grönemeyer hatte sein Superstarleben entschleunigt, gab sich öfter der Familie und dem Alltag hin: »Ich schlafe viel, dusche morgens lange, lese Zeitung, gehe in der Stadt rum. Ich gucke auch viel aus dem Fenster blöd vor mich hin. « Er nutzte die Zeit zum intensiven Familienleben, auch wenn - und gerade weil - das wegen Annas Krankheit nicht immer rosig aussah. Grönemeyer gab schon damals offen zu: »Es gibt innerhalb von fünf Jahren immer ein paar Minuten, in denen das Leben einfach klasse ist. Dazwischen ist Frust und Depression und Tragik und Drama. Es waren weiß Gott nicht nur rosarote Jahre.« Da immer noch keiner von Annas Krebserkrankung wusste, fragten sich Fans allerdings nur: Worüber beklagt sich Mr. Multimillionär eigentlich?
Er sagte schlicht: »Diese Pause war nötig. Ich habe die Zeit genutzt, um einfach mal über die Vergangenheit und die Zukunft nachzudenken.« Die Jahre vor »Bleibt alles anders« betrachtete der Künstler jedenfalls als anstrengend, als voller (teils bewusst selbst geschaffener) Herausforderungen. »Ich hatte in einer hochbeschleunigten Scheinwelt gelebt. Ich fuhr eine schwarze Abfahrt herunter, ohne mir den Hang anzuschauen. Da habe ich gedacht, ich müsste seitlich rausfahren und einen Stopp machen. Ich bin von Köln nach Berlin gezogen und habe angefangen, mich neu zu orientieren.« Parallel zur Veröffentlichung von »Bleibt alles anders« war die Familie aber schon wieder weitergezogen: Ursprünglich nur für ein halbes Jahr wollte sie in London leben; nach Annas Tod blieben Grönemeyer und die Kinder erst einmal dort; beide Kinder besuchten die internationale Schule. Mittlerweile sprechen sie besser Englisch als Deutsch. Steuern zahlt Grönemeyer seitdem ganz korrekt »in Deutschland und in England. Die Einnahmen für unsere Tourneen in der Heimat, die Erlöse aus den Platten in England. Der Steuersatz in England ist zwar niedriger, vierzig Prozent, dafür kann man aber nicht so viel absetzen.« Im Frühjahr 1998 gab Herbert Grönemeyer erste »Bleibt alles anders«-Konzerte. Dabei präsentierte er nicht nur die neuen Songs, sondern kleidete auch altbekannte Hits neu ein. »Männer« beispielsweise spielte er als HardrockNummer, während auf drei Projektionsflächen wahllos Satzfragmente zusammengefügt wurden: »Mönch - auch sensibel - knutscht« oder »Knecht - total geil - lügt«. Auch das zeigte Grönemeyers zunehmend lockeren, immer selbstbewussteren Umgang mit seiner Muttersprache. Er erklärt: »Meine Lieder sind sehr tief empfunden. Im Leben bin ich schnoddrig und kurz angebunden, habe aber in meinen Liedern die Gelegenheit, Dinge sehr differenziert auszuarbeiten. Es ist mir über die Jahre gelungen, die
deutsche Sprache für mich immer passender, handlicher und singbarer zu machen.« Den zweiten Teil der Tournee jedoch musste Grönemeyer dann zweimal verschieben: Erst spendete er seinem krebskranken Bruder Wilhelm Knochenmark, dann starben Wilhelm und Anna. Wilhelm war der mittlere der Grönemeyer-Brüder, in der Schule der stillste und unauffälligste der drei. Er betrieb eine Kunstgalerie in dem kleinen Kurort Bad Marienberg im Westerwald sowie ein Atelier für ökologisches Holzspielzeug. Wilhelm Grönemeyer lebte mit einem Freund und zwei Katzen in einer Schreinerei im Nachbardorf Dellingen. Über seinen Bruder Herbert sagte er: »Seine Musik spricht mich zwar an, aber sonst macht er eben ganz andere Sachen als ich.« Er selbst sei weniger politisch, nicht so gesellschaftskritisch wie sein Bruder. Im Mai 1998 wurde bei Wilhelm Grönemeyer Blutkrebs diagnostiziert. Eine erste Chemotherapie in Köln hatte die Erkrankung nicht besiegt. Herbert ließ sich nun in einem fünfundvierzigminütigen Eingriff aus dem Beckenring Knochenmark absaugen. Auch der älteste der drei Brüder, der Bochumer Radiologe Dietrich Grönemeyer, Experte für Mikrochirurgie, Tumorbehandlung und Alternativmedizin, war zur Spende bereit gewesen. Aber die Gewebemerkmale seines Knochenmarks stimmten mit Wilhelms nicht genau genug überein. Beim Eingriff unter Vollnarkose lagen Wilhelm und Herbert - die auf den ersten Blick Zwillinge hätten sein können - nebeneinander in einem OP-Saal. Es war die letzte Chance für Wilhelm Grönemeyer, zu überleben. Er gab sich optimistisch: »Ich sehe es nicht so dramatisch, ich werde es schon schaffen!« Grönemeyers damaliger Berater Jürgen Otterstein erklärte nach dem Eingriff: »Herbert hätte die Konzerte jetzt nicht durchführen können, und zwar eher aus seelischen denn aus körperlichen Gründen. Das Warten, das Hoffen, das Bangen, ob das, was man gemacht hat,
auch zum Erfolg führt, hat ihn zermürbt. Körperlich geht es ihm wieder gut. Es ist zwar eine unangenehme Sache, aber es ist mehr die Seele, die ihn belastet.« Im Kampf um das Leben des Bruders half auch Professor Dietrich Grönemeyer, selbst Krebsspezialist, denn Wilhelm befand sich in einem »absolut lebensgefährlichen Zustand. Er befindet sich in einem Zustand der Vergiftung und der Abwehrreaktion des angehenden Knochenmarks«, so Prof. Dietrich Grönemeyer. »Die Anstrengungen und die Schmerzen kann man sich gar nicht vorstellen. Was da passiert, habe ich als Arzt und Krebstherapeut in der Form noch nicht erlebt. Ohne das unglaubliche Engagement der Ärzte in Berlin und zwischendurch in Köln würde mein Bruder schon lange nicht mehr leben.« Doch der Kampf war vergebens - in der Nacht zum 1. November 1998, einem Sonntag, starb Wilhelm Grönemeyer an einem Kreislaufzusammenbruch. Kurz vor Veröffentlichung des Comeback-Albums »Bleibt alles anders« verließ der damalige Geschäftsführer der Emi Electrola Deutschland, Helmut Fest, seinen Posten, die Firma wurde führerlos. Grönemeyer machte sich Sorgen, dass sein beim ersten Hören eher etwas sperriges Album nun nicht mit entsprechendem Nachdruck präsentiert würde. Also bat er Jürgen Otterstein, zuvor europäischer Marketingleiter von Warner, Geschäftsführer der Warner Holding Germany und von East West Records als Berater hinzu. Otterstein ist derzeit Geschäftsführer von OK Visions Entertainment und Tru Note. Er berichtet: »Ich hatte einen Beratervertrag. Mich hat er zu sich geholt, weil er ganz plötzlich mit einem Problem konfrontiert wurde. Er wollte nach längerer Zeit eine neue Platte herausbringen - >Bleibt alles anders< -, und der Geschäftsführer seiner Plattenfirma Emi hatte gerade die Company verlassen. Das sorgte für entsprechende Unruhe in der Firma - und infolgedessen auch bei Herbert. Die Platte war für ihn enorm wichtig, und er sah die konsequente Vermarktung als gefährdet an. Schon beim ersten Treffen sagte ich ihm, dass ich
nicht in Rambo-Manier Terror bei seiner Plattenfirma verbreiten wollte. Mich interessierte, mit ihm neue Dinge auszuprobieren und einen Beitrag über das Standardmarketing hinaus zu leisten. So kam es zu einem sehr intensiven Kontakt.« Mit »Bleibt alles anders« hatte Grönemeyer sich musikalisch neu erfunden, und - so Otterstein - »deshalb war die Platte auch für ihn so wichtig. Er wusste, dass es eine sehr ungewöhnliche Platte war, und wollte auf keinen Fall, dass sie an personalpolitischen Problemen scheiterte.« Es stellt sich die Frage, ob nicht sowieso alles ein Hit wird, auf dem der Name Grönemeyer steht - ob Multimillionäre und Megaseller wie er flankierende Maßnahmen überhaupt noch nötig haben. Otterstein gibt zu: »Vielleicht war seine Sorge ohnehin irrational, aber Künstler sind nun mal irrational. Außerdem ist es bei so großen Projekten schon wichtig, die Maschine so zu steuern, dass alles synchronisiert läuft. Es ist auch gut, wenn jemand von außen den einen oder anderen Anstoß gibt. Ich hatte Herbert damals vorgeschlagen, in die Kinos zu gehen. Anton Corbijn hatte auf sechzehn Millimeter ein Video zu >Bleibt alles anders< gedreht, das fand ich umwerfend, das war wie ein Stück Film. Ich arrangierte also eine Zusammenarbeit mit den CinemaxX-Kinos, so dass vor einem Film wie ein Vorfilm dieses Video lief. Das fand Herbert ganz klasse, und selbst mich hat das tierisch beeindruckt, als ich es dann zum ersten Mal wirklich gesehen habe.« Die Platte konnte jedoch kaum wirken. Die künstlerische Leistung Grönemeyers wurde durch persönliche Schlagzeilen überlagert. Der Tod seines Bruders, dann - völlig überraschend für die Öffentlichkeit und letztlich wohl auch für Grönemeyer selbst - der Tod seiner Frau Anna. Berater Otterstein wurde über Nacht zum Krisenmanager: »Ja, das war eine Entwicklung, die ganz schlimm eskalierte. Er war ja nach London gezogen, wo ich fünf Jahre gelebt hatte, als europäischer Marketingchef für Warner. Ich hatte also Erfahrungen als
Branchenmann in einer der kreativsten Städte der Welt gesammelt. So hatte ich viel Verständnis für die Dinge, mit denen Herbert im Alltag konfrontiert war. Ich gehörte auch zu dem Kreis, den er damals zur Beerdigung einlud. Durch die schrecklichen Umstände empfand ich unsere Zusammenarbeit als noch vertrauensvoller. Herbert entschied, dass ich alle Anfragen zum Tod seiner Frau in den ersten Tagen beantworten sollte. Wir haben die Kernaussagen natürlich vorher abgesprochen. Das war eine ganz bewusste Maßnahme, denn das Medieninteresse war zu erwarten, und wir haben uns darauf eingestellt. Das war wirklich eine Ausnahmesituation, eine ganz harte Zeit.« Anna Brigitte Frieda Henkel wurde am 9. März 1953 in Hamburg geboren. Ihr Vater war Ingenieur bei der Lufthansa, die Mutter Hausfrau. Sie wuchs in einem bürgerlich-liberalen Elternhaus auf, ähnlich wie ihr späterer Mann Herbert Grönemeyer. 1968 starb die Mutter der damals fünfzehnjährigen Anna an Brustkrebs. »Der Tod meiner Mutter hat mich aus der Bahn geworfen«, sagte sie später. Sie beendete gerade noch die zehnte Klasse, verließ dann die Schule, wenig später stürzte sie in eine schwere Krise. Sie gestand: »Ich wollte mich mal töten. Da war ich siebzehn oder achtzehn, und ich wusste überhaupt nicht, was ich anfangen sollte.« Mit achtzehn zog sie zu ihrem damaligem Freund, einem Grafiker. Tagsüber verkaufte sie selbst gebastelte Ledergürtel, nachts trieben sich die beiden in der Hamburger Szene herum. Die neunzehnjährige Anna war die heimliche Königin der Nacht, sie faszinierte durch eine eigenartige Mischung aus Verletzlichkeit und Herausforderung. Anna arbeitete als Cutterin, ließ dann jedoch vom Hamburger Szenefotografen Günter Zint Probeaufnahmen machen, weil sie keine Lust mehr hatte, nur im dunklen Studio zu sitzen und die Filme anderer schneiden - sie wollte mehr vom Leben. Regisseur Peter Fleischmann entdeckte Anna 1974, machte sie zur
Hauptdarstellerin in seinem Ulk-Softporno »Dorotheas Rache«. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das auf dem Hamburger Kiez nach der Liebe sucht, anarchisch haltlos und sexuell provozierend. »Anna spielte diese Rolle mit einer großen inneren Sicherheit, so, als ob sie die Verletzungen und die Enttäuschungen der Liebessuche selbst kennen würde«, erinnert sich Günter Zint. In Frankreich und Italien wurde der Film als Paradestück des neuen deutschen Kinos gefeiert, Regisseure wie Chabrol und Bertolucci waren begeistert. Chabrol nannte die Hamburgerin das »größte deutsche Nachwuchstalent«. Das nächste Angebot kam von Ulrich Schamoni, der für »Chapeau Claque« ebenfalls einen »süßen Nackedei« (so die »B.Z.«) brauchte. Für ihn verkörpert sie den »Mädchentyp der siebziger Jahre, der Generation, die nach der APO kommt«. Zwei Nacktrollen, und die grazile Anna war zum Männertraum geworden. Doch sie haderte mit dem Erfolg: »Manchmal habe ich Depressionen. Die dauern immer drei Tage. Da denke ich auch mal an Selbstmord ... Bei mir ist das nämlich so: ganz euphorisch oder ganz niedergeschlagen«, erklärte sie. Auf Partys langweilte sie sich bloß: »Die haben alle nur getrunken und ziemlich ordinär über Sex geredet.« Sie träumte damals von einer besseren Welt - genau wie Herbert Grönemeyer: »Wenn ich könnte, ich würde alles gerechter verteilen auf der Welt«, sagte Anna. Ein Gedanke, den auch ihr zukünftiger Gatte mehrfach zum Ausdruck bringen sollte. Unter der Regie von Bernardo Bertolucci übernahm sie die Hauptrolle im Epos » 1900«, mit zwanzig Millionen Mark Budget der teuerste europäische Film der siebziger Jahre. Ihre CoStars: Robert de Niro und Gerard Depardieu. Anna nahm zudem in Hamburg Schauspielunterricht und trat dort 1978 am Schauspielhaus auf (»Die Wupper« nach Else LaskerSchüler). Im selben Jahr drehte sie den TV-Film »Uns reicht das nicht«, bei den Dreharbeiten lernte sie den Nachwuchsschauspieler Herbert Grönemeyer kennen. Sie verliebte sich und beendete bald ihre Filmkarriere,
stand nur noch einige wenige Male auf der Theaterbühne. Sie hatte als Ehefrau und später Mutter ihre Rolle im Leben gefunden. Grönemeyer schrieb in seinem Song »Anna«: »Rauchst so viel, wie's eben geht«, und tatsächlich verbrauchte sie drei Schachteln Zigaretten am Tag. Bei der Arbeit an »Bleibt alles anders« gewöhnte sich dann Vegetarier Grönemeyer ebenfalls das Rauchen an. Nach ihrem Tod beschrieb er ihren Wunsch nach einer (inneren) Heimat, einem friedlichen Zuhause, das sie zuletzt in der Anonymität Londons gesucht hatte: »Eine Heimat hatte Anna nie. Die Familie war dann schon ihre Heimat.« Der Umzug nach London »war der Versuch, unsere Familie da hinzuverpflanzen, wo es keine Öffentlichkeit gab, ohne Bezugspunkte. Durch diesen Neuanfang wollte sie auch positive Energien sammeln und sagen: Hurra, ich lebe noch. Es war die Hoffnung, die Familie und auch mich ganz für sich zu haben.« Die letzten gemeinsamen Monate dort waren nicht getrübt durch endlose Traurigkeit, sondern wurden eher durch eine Art fröhlich-sturen Trotz geprägt: »Das Verhältnis wurde intensiver, genauer, klarer. Wir haben geredet«, sagt Grönemeyer. »Immer. Wir haben auch viel gelacht. Wir wollten diese Krankheit mundtot machen, wollten die fünfte Person am Tisch wissen lassen: >Du hast hier gar nichts zu sagen.<« Diese Zeit war vor allem für Felix und Marie sehr wichtig: »Die Kinder haben auch ein vitales Bild von ihr. Sie haben sie nie leidend erlebt. Sie kennen ihre Mutter lustig und albern. Sie hatte in der Situation mehr Abstand zu sich selbst, ja, mehr Leichtigkeit als ich. Wenn sie lachte, sprengte das alles. Es war wie unter einem Sauerstoffzelt.« Doch Grönemeyers Trotz, das verzweifelte Aussitzen, die Operationen und Therapien - am Ende half nichts davon. »Verfluchter Krebs!«, schrieb die »Bild«-Zeitung am 10. November 1998, »wie viel Schmerz und Leid kann einem Menschen noch aufgebürdet werden?« Herbert Grönemeyer, »unfassbar getroffen vom Schicksal«: Seine
Frau Anna sei tot. »Sie starb an Krebs. Nur wenige Tage nach dem Tod seines Bruders Wilhelm«. Der wurde am Tag vor dem Erscheinen der »Bild«-Reportage in Bochum beerdigt. »Bild« weiter: »Grönemeyer, der einsamste Mensch am Grab. Herbert Grönemeyer und Anna. Eine ganz große Liebe bis in den schrecklichen Tod. Das schier unmenschliche Leid eines Mannes und seiner Familie.« Eine große, beständige Liebe hatte Herbert und Anna verbunden. Jede freie Minute verbrachte Grönemeyer mit seiner Familie. Sonntags traf man sich zu Teerunden mit den engsten Freunden; immer waren die Kinder dabei, nie wurden sie achtlos weggeschickt. Annas Mutter war bereits an Krebs gestorben, die schreckliche Krankheit vererbte sich: Auch Anna hatte Brustkrebs gehabt. Seit Jahren, stellte sich nun heraus, war sie in Behandlung gewesen: Operationen, Therapien, immer wieder Hoffnung. »Bild« spekulierte: »Für Anna war die Angst, die Trauer, die unmenschliche Belastung durch den Tod Wilhelms (...) zu viel. Der geheilt geglaubte Krebs brach wieder auf. Bösartiger als je zuvor.« Grönemeyer ließ Anna in London behandeln, in dem Krankenhaus gegenüber der Kirche, in der er »Bleibt alles anders« aufgenommen hatte, sowie in Kiel und bei seinem Bruder Dietrich Grönemeyer. Er besuchte sie schließlich jeden Tag im Krankenhaus in Kiel, saß an ihrem Bett, als sie am 5. November in der Frauenklinik der Universität Kiel starb, nur vier Tage nach seinem Bruder Wilhelm. »Es war ein schrecklicher Tod«, erzählte ein Freund dem Magazin »Bunte«, aber immerhin: »Herbert war bei ihr.« Ein Arzt, so Roger Willemsen, ein Freund der Grönemeyers, habe nach Annas Tod gesagt, sie sei würdevoll »im Stehen gestorben«. Grönemeyer erinnert sich an ihre Stärke, an die Stärke seines Bruders Wilhelm: »Die Kinder haben sie bis zuletzt nie schwach gesehen. Die haben auch das Ende nicht mitbekommen. Ein unwürdiges Siechtum wollte sie allen ersparen. Wenn ich dann auf der anderen Seite meinen
Bruder sehe, der hat das auf seine Art genauso gemacht. Wo sie den hingebeamt haben! Dreimal bestrahlt mit Tschernobyl, dann noch einmal mit Chemotherapie. Dann haben sie ihm meine Stammzellen gegeben. Vielleicht konnte er nicht mehr, das war übermenschlich.« Herbert Grönemeyer fuhr zur Beerdigung seines Bruders am 9. November 1998 auf dem Bochumer Friedhof Wiemelhauser Straße. Ein Einzelgrab, darauf ein schlichtes Holzkreuz, eingeritzt der Name W. Grönemeyer. »Wir sehen uns wieder, wenn Du wiederkommst. Anna, Herbert, Felix und Marie«, stand auf einem großen, sonnengelben Kranz. Es regnete. Herbert Grönemeyer schützte sich mit einem großen, weißen Schirm. Der Pfarrer sagte: »Der Tag bricht an, wenn die Dunkelheit am größten ist.« Anna hatte in den Monaten vor ihrem Tod zwar auffällig dünn ausgesehen, aber da sie immer schon sehr zierlich gewesen war, hatte niemand Verdacht geschöpft: »Anna besuchte ihn oft während der Tour, sah aber sehr mager aus«, sagte Grönemeyers damalige Tourpromoterin Margarita Sow. Doch Grönemeyer selbst hatte ja schon 1982 gesungen: »Anna, du bist schon nicht mehr schlank/ schon eher magenkrank / hältst konstant dein Untergewicht«. Bis zum Ende hielten die Grönemeyers das Versteckspiel durch. Das mag merkwürdig erscheinen, doch wer den Ruhm und die Medien kennt, weiß, was sonst passiert wäre: Anna Grönemeyer wäre zehn Jahre lang in jede Krebs-Talkshow eingeladen worden, Reporter hätten sie alle paar Wochen unter nettem Vorwand angerufen, um zu fragen, wie es ihr gehe. Sie wäre mitleidigen Blicken ausgesetzt gewesen, Gespräche wären bei ihrem Erscheinen verstummt. All das ahnte, wusste Grönemeyer, und er wollte es seiner Frau ersparen. Um in Frieden von ihr Abschied nehmen zu können, hatte er verbreiten lassen, er erhole sich in London von der Knochenmarkspende für seinen
Bruder, während er in Wirklichkeit in Kiel an Annas Krankenbett saß. Doch warum und wie lange wollte er den Tod seiner Frau dann noch geheim halten? Grönemeyer selbst konnte es sich im Nachhinein auch nicht recht erklären: »Mir ist da ja so ein Lapsus passiert. Ich war zu der Zeit mit Freunden bei uns in Berlin. Da klingelte es an der Tür, und ein Journalist fragt: >Wir haben gehört, Ihre Frau ist gestorben?< Ich war so überrascht, dass ich sagte: >Nein. Die ist kerngesund.< Ich war da so wie in Trance, versuchte, nüchtern zu denken, aber jede Emotion ist tiefgefroren. Ich wunderte mich plötzlich über die Kälte, die ich entwickelt habe.« Grönemeyers damaliger Berater Jürgen Otterstein ergänzt: Er habe den Tod seiner Frau nicht geheim halten wollen, aber »was er unbedingt geheim halten wollte, waren Zeitpunkt und Ort der Beerdigung. Davor hatte er regelrecht Horror. Dass da plötzlich jemand mit einem Fotoapparat auftauchte.« Zeitungen meldeten nachträglich: »Grönemeyers Frau in London beigesetzt (...) Etwa achtzig Freunde und Verwandte des Paares« seien am Freitag, dem 20. November 1998, dabei gewesen. Doch Grönemeyer ließ korrigieren: »Die Frau von Herbert Grönemeyer ist an einem geheimen Ort beerdigt worden und nicht, wie ursprünglich gemeldet, in London.« Letztlich, da muss man den wenigen Recht geben, die auf der Beerdigung waren und den Friedhof immer noch geheim halten: Es stünde wirklich Grabtourismus zu befürchten. Fans würden - sicher in bester Absicht - die letzte Ruhestätte von Grönemeyers Frau besichtigen wollen. Dass er, auch im Sinne seiner Kinder, dies nicht will, ist mehr als verständlich. Schon vor Annas Tod hatte er immer wieder betont: »Ich will meine Familie nicht den Medien ausliefern. Sonst endet es damit, dass sich die Grönemeyers vor dem Christbaum fotografieren lassen - das ist doch bekloppt.« Außerdem sei sein Privatleben doch »völlig öde. Ich besitze genau wie jeder andere eine Zahnbürste, sitze am Klo und dusche gerne.« Vor allem die Kinder versuche er
so normal wie möglich aufwachsen zu lassen, denn sie könnten ja nichts dafür, einen berühmten Vater zu haben: »Wir leben so normal es geht. Ich habe an meiner Familie sozusagen die Nachrichtensperre erprobt.« Karin Schlautmann, damals Chefreporterin bei »Bild«, heute Chefredakteurin der »Frau im Spiegel«, erinnert sich, wie »Bild« überhaupt von den tragischen Ereignissen erfuhr: »Die Krankheit von Grönemeyers Bruder Wilhelm war schon länger bekannt, und zu diesem Zeitpunkt haben wir von >Bild< unser Informantennetz natürlich enger gezogen. Ich arbeitete mich zudem intensiver in die Familienverhältnisse ein. Ich habe viel telefoniert, mit ehemaligen Mitarbeitern, ehemaligen Managern, Freundeskreis. Immer noch ging es aber darum, dass der Bruder schwer krank war und wir in Erfahrung bringen wollten: Was passiert in der Familie, was löst das aus in einem Mann? Es lag das Thema in der Luft, was man selbst für andere tun würde; Nicki Lauda hatte seinem Bruder gerade eine Niere gespendet, Grönemeyer hatte sich Knochenmark entnehmen lassen. Ein Informant wies uns schließlich darauf hin, dass nicht nur der Bruder krank war, sondern auch die Frau, sie habe schwer Krebs. Wir haben als Allererstes versucht zu klären, ob es sich um ein Gerücht oder eine Verwechslung handelt. Wir haben also nichts veröffentlicht, sondern nur immer weiter recherchiert. Das ging über Wochen. Wir erfuhren dann, dass Frau Grönemeyer gestorben sei. Also überprüften wir erneut ganz intensiv alle unsere Informationen, sprachen mit Kollegen in Berlin, die ich bat, zu Grönemeyers Haus zu fahren. Da kam es dazu, dass sie klingelten und ihr Beileid aussprachen, und Grönemeyer sagte: Wieso, was wollen Sie, meine Frau lebt, es geht ihr gut. Immer mehr Informanten aber bestätigten uns den Tod seiner Frau, es waren am Ende fünf unterschiedliche, voneinander unabhängige und zuverlässige Quellen. Schließlich waren wir absolut sicher, dass seine Frau leider verstorben war, aber nach wie vor negierten Grönemeyers Management und er selbst diese Tatsache. Wir haben diese
Information schließlich veröffentlicht - diese Entscheidung fiel, nachdem wir einen letzten, absolut sicheren Informanten hatten -, und am nächsten Tag wurde der Tod Anna Grönemeyers dann auch bestätigt.« Journalistisch war die Arbeit von »Bild« einwandfrei. Grönemeyers wohl instinktive Abwehrreaktion ist menschlich sicher verständlich, doch sind derartige Berichte nun einmal die Folge des Ruhms. Letztlich gab er später - wenn auch ohne explizite Nennung der »Bild« - zu: Es habe ihn »sehr überrascht«, wie korrekt die Medien über Annas Tod berichteten, »ich hätte nicht gedacht, dass die da so respektvoll herangehen. Vielleicht hat das einfach damit zu tun, dass sie mich ernst nehmen. Das ist auch eine Form von Gegenseitigkeit. Ich versuche auch, mit den Medien respektvoll umzugehen. Mich hat das sehr gefreut. Da war eine pietätvolle Distanz, die ich auch Anna gegenüber sehr würdig fand. Das fand ich verblüffend und sehr gut.« Herbert Grönemeyer nahm mit einer herzzerreißenden Anzeige von seiner Frau Abschied. Er ließ am vorletzten Novemberwochenende 1998 ganzseitige Anzeigen in mehreren Tageszeitungen drucken, eine Ode an Anna. Darin schrieb er unter anderem in Anspielung auf die gemeinsame Vergangenheit als Theaterschauspieler: »Deine grandiose Inszenierung war eine Ode ans Leben / Ungestüm unrastig, detailversessen, menschlich, perfekt / Gott hat eifersüchtig den letzten Vorhang abgewartet / Ungeduldig Dein Wunderwerk verfolgt / Der Himmel wird sich zu den Zugaben erheben (...) Gott wird Dir seine Loge anbieten / Dirigier zurückgelehnt, wohlwollend unsere Wacht«. Und nimmt eine Formulierung aus seinem Song »Letzte Version« (»denk auf deiner Zeitreise mal an mich«) auf: »Erzähl uns ab und zu von Deiner Reise / Wie man so fühlt, was man so tanzt, was man so trägt (...) Dein Verlust sprengt alle Dimensionen, Werte, Phantasien / Der Schmerz ist Wüste voll brutalster Wucht ( ...) Wir lieben Dich! «
Erstaunlich der Mut, die Kraft, mit einem derart persönlichen, privaten Text in die Öffentlichkeit zu gehen. Es war Grönemeyers größter öffentlicher Liebesbeweis, noch nie hatte er sich so ausführlich, so offen über seine Beziehung geäußert. Dass er dies konnte, wollte, zeigt auch, wie sehr er seine Frau geliebt haben muss. »Sie war immer mein Universum. Und das ist zerplatzt«, erklärte er später. »Denk auf deiner Zeitreise mal an mich, vielleicht bleibt was unterm Strich«, hatte Grönemeyer in »Letzte Version« gesungen - »Der Strich war gewaltig«, stellte der »Spiegel« fest. Roger Willemsen, ein Freund der Familie Grönemeyer, schluckte seinen Stolz herunter und schrieb im »Spiegel« (wo man ihn einst und nicht zu seiner größten Freude als »säftelnden Sitzzwerg« bezeichnet hatte) einen Nachruf auf Anna. Willemsen erinnerte sich: »Als ich Anna Henkel zum ersten Mal begegnete, stand sie in der Kulisse einer Rockbühne, und zwischen den Liedern kam ihr Mann, um mit ihr hinter den Boxen zu schmusen. Das sah gut aus.« Er bestätigte auch Grönemeyers Berichte, er habe sich Annas Lächeln, ihr Wohlwollen, verdienen müssen: »Sie trug ihr Lachen eben in eher unausgebildeter Form mit sich herum, selbst ein Lächeln war von ihr nicht leicht zu haben. Umso glücklicher war man also immer, wenn es entstand.« Vor allem machte er eine charakterliche Parallele zwischen Herbert Grönemeyer und Anna aus: »Wenn man eine Persönlichkeit an der Fähigkeit erkennt, sich selbst treu zu bleiben, unter allen Umständen, dann habe ich keine stärkere Persönlichkeit kennen gelernt als Anna Henkel. Aus einer schwierigen Biografie hatte sie eine heroische Vorstellung von dem gerettet, was Würde ist, und sie besaß selbst in hohem Maße, was sie an Maria Schneider - mit der sie auch einmal vor der Kamera stand - am meisten schätzte: >Kompromisslosigkeit und die Fähigkeit, sich jedem Opportunismus zu verschließen.<«
Die Frage bleibt: Warum hat Grönemeyer anfangs den Tod seiner Frau verheimlicht, bestritten? Wollte er sich und seine Kinder schützen, wollte er dem Medienrummel wenigstens bis zur Beerdigung entgehen? Wollte er Annas Tod vielleicht ganz einfach und verständlicherweise - nicht wahrhaben? Eindeutig ist: Er versuchte zumindest, den Zeitpunkt der Veröffentlichung zu beeinflussen, hinauszuzögern. Auffällig ist im Nachhinein allerdings auch, dass Grönemeyer zwar 1998 versuchte, eine Berichterstattung über seine Trauer zu verhindern - aber 2002/2003, als es galt, seine neue Platte »Mensch« zu promoten, sehr offensiv mit seiner Trauer umging, und zwar auch noch zu einem Zeitpunkt, als es bereits eine neue Frau in seinem Leben gab (die er vorerst ebenfalls verheimlichte). Grönemeyer hatte wohl auch ganz einfach verdrängt, dass sein gemeinsames Leben mit Anna zu Ende gehen könnte. Was unvorstellbar war, konnte er nicht vorhersehen, nicht verarbeiten, nicht begreifen. Er funktionierte nur noch um der Kinder willen, schwankte »zwischen überwach und Zusammenbruch. Das wechselt sich ständig ab. Es gibt Momente, wo das Gehirn präzise knattert, wo ich mich auch sehr konzentriere, aber das Potenzial für solche Phasen ist gering. Die Zusammenbrüche sind massiv.« Ihm blieb nur die Flucht in die Regelmäßigkeit: »Aufstehen, morgens um sieben Uhr, um die Kinder für die Schule fertig zu machen. Dann lege ich mich meistens wieder hin, weil ich es nicht ertrage, mich mit dem Vormittag auseinander zu setzen, weil ich auch keinen habe, mit dem ich reden kann. Meine Aufgabe ist es jetzt, den Alltag für die Kinder so erträglich wie möglich zu gestalten, so dass alles für sie in der Balance bleibt.« Wobei er auch darauf achtete, nicht der mütterliche Übervater zu sein: »Ich will ja kein Mappa werden.« Und: »Ich versuche mich auf das Vatersein zu beschränken, denn es wäre gefährlich, die Mutter ersetzen zu wollen. Ich bin in der gleichen Situation wie Millionen allein erziehende Väter auch, und ich scheitere dabei genauso
an der Schnoddrigkeit von Pubertierenden wie andere auch und hoffe, dass ich dabei so wenig Neurosen auslöse wie möglich.« Er erfuhr und beschrieb seine Trauer tiefer, aber auch bewusster, reflektierter als andere. Es liege ein massives, bleiernes Grau über allem, »es ist wie nach einer großen Explosion«, beschrieb Grönemeyer die Situation, »und man liegt da mit einer Aktentasche und guckt zu, wie alles zerstört ist. Ich versuche nach wie vor, das Leben zu erkennen, aber es ist alles auf null gebracht, wenn nicht auf unter null. Unsere Eltern wissen ja noch, was Nullpunkt heißt. Wir dagegen haben uns in einer satten, farbenfrohen Zeit entwickelt. Es ist wie ein Krieg, den ich durchmache, und ich muss warten, bis der Punkt kommt, wieder Fuß zu fassen.« Bemerkenswert: Er trug von Anfang an die Hoffnung, fast schon die Gewissheit in sich, dass er eben irgendwann tatsächlich wieder würde wieder Fuß fassen können im Leben. Ein Gedanke, der sich später wiederfindet in dem Bonustrack »Demo (Letzter Tag)« auf dem Album »Mensch«: »Das Leben fließt rot in unseren Venen / ich servier dir es auf einem goldenen Tablett / du holst mich aus dem grauen Tal der Tränen / lässt alle Wunder auf einmal gescheh'n / dass mir Hören und Sehen vergeht«. Er formulierte schon bald seine Hoffnung auf eine Wiederkehr der Lebensfreude: Die Gefühle seien »ein Brachland, wie nach einem Atombombenabwurf. Daran, dass da wieder was blüht, arbeitet man. Anna liegt tief in meinem Herzen. Andererseits will sie sicher auch, dass ich wieder glücklich werde.« Durch Ruhm, Reichtum und Erfolg hatte Grönemeyer sich nicht vor Tod und Teufel geschützt gefühlt - »das sehe ich bäuerlich« -, aber durchaus privilegiert: Erfolg »macht mir nur die Zwischenphase von Geburt und Tod lebenswürdiger«. Erfolg und das daraus erwachsende Kleingeld erlaubten es Grönemeyer auch, sich in der Trauerphase so tief fallen zu lassen, wie seine Gefühle ihn führten. Er musste sich um die Kinder kümmern, aber
nicht auch noch zwei Tage nach dem Todesfall wieder morgens um halb neun am Arbeitsplatz sitzen und seine Kraft in den Dienst einer Firma stellen. Oft legte er sich wieder ins Bett, wenn er die Kinder in die Schule geschickt hatte. Nachdem er seinen Tagesablauf öffentlich geschildert hatte, beschwerten sich Leser beim »stern«: »Dieses absolute Fallenlassen kann sich nur ein Mensch erlauben, der wirtschaftlich unabhängig ist. Wer durch tägliche Arbeit sein Einkommen verdient, wird beim Arbeitgeber auf wenig Verständnis stoßen, wenn er einen Tagesablauf, wie von Herrn Grönemeyer beschrieben, durchlebt.« Da ist sicher etwas dran. Aber andererseits bietet ein von außen aufgezwungener Tagesrhythmus auch viel Halt, der Künstlern generell fehlt, den sie sich oft selbst zu schaffen versuchen und der in Krisenzeiten regelmäßig auseinander bricht. Das Glück mag (zumindest von außen betrachtet) vielleicht strahlender erscheinen, und Geld ist sicher ein wünschenswerter Puffer zwischen Wirklichkeit und Ich. Aber Enttäuschungen wiegen in dieser Welt auch schwerer, die Eigenverantwortung ist größer, Kritik schmerzt heftiger, Unglück und Trauer können ungeahnte Dimensionen erreichen. Zudem fragte sich Grönemeyer auch, welchen Anteil möglicherweise er - seine Persönlichkeit, die Schattenseiten seines Erfolgs - an Annas Krankheit hatte: »Als wir uns kennen lernten, war ich 21. Ich war also zu dem Zeitpunkt, wo ich anfing, bewusst über mich nachzudenken, mit jemandem zusammen, der das noch verstärkt hat. Da gab es kein Entkommen. Da konnte man nicht lügen oder taktieren. Sobald ich taktierte, bekam ich von ihr was auf die Mütze. Ich hatte nie den Ehrgeiz, mit vierzehn eine Persönlichkeit zu sein. Lieber entwickelte ich mich mit meinem Tempo. Durch Anna war die Lupe aber so präzise, dass die Reflexion dadurch verstärkt wurde, und angesichts ihrer Krankheit frage ich mich schon: Wo liegt dein Anteil daran? Was hast du durch deine Dynamik und Dominanz ausgelöst?«
Er machte diese Gedanken auch zum zentralen Thema des letzten Songs auf »Bleibt alles anders«: »Hab dir viel aufgehalst / auf dir abgestellt / dein Herz umgedreht / deine Nerven zerrissen / dein Stehvermögen ausgereizt (...) was ich verdiente, hast du mir gegeben / den gerechten Preis habe ich bezahlt / brauch dich zurück zum Überleben / deine Schmetterlinge im Eis« (»Schmetterlinge im Eis«). Wenn man zurückschaue, die Jahre Revue passieren lasse, »dann fängt man an, alles zu sezieren - und dabei verheddert man sich. Man ist sauer und wütend und fühlt sich zurückgestoßen vom Leben und vom Schicksal betrogen. Ich habe gelernt, meinen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Die Dinge sind passiert. Man ist halt Mensch und macht vieles falsch«, gab Grönemeyer zu. Was genau, wissen nur Anna und er. Zugleich veränderte sich auch sein eigenes Leben, seine Wahrnehmung der Dinge: »Anna und mein Bruder sind innerhalb einer Woche gestorben, zwei Menschen aus meinem Leben, im gleichen Alter, in der so genannten Mitte des Lebens. Da wird einem klar gesagt: Du stirbst. Man steht dem Leben radikaler gegenüber.« Er habe keine Angst mehr, überfallen zu werden, oder vor Einbrechern. Der Horror des Verlustes hat die Sorgen des Alltags relativiert: »Wenn einem vieles weniger wichtig geworden ist, macht man sich nicht mehr so kirre.« Grönemeyer verschanzte sich nach Annas Tod in London, zog sich aus Deutschland, aus der Öffentlichkeit zurück. Er wollte allein sein können, unbehelligt. Er wollte aber auch die Stadt besser kennen lernen, die Anna so geliebt hatte. Wollte ihr durch diese Spurensuche näher sein. »Mein erster Gedanke war: In Berlin bin ich sicherer. Der zweite Gedanke war: Warum war Anna so gerne in London? Das will ich erst einmal rausfinden«, erklärte er. Und »ein wichtiger Faktor für uns war auch, dass wir sagten: Hier sind wir eine normale Familie. Wir mussten nicht Spießruten laufen. Man will einfach mal so leben wie jeder Nachbar auch. Es kennt einen keiner, die Kinder kennt keiner. Wir lebten einen unbeobachteten Alltag. Es
war nicht zuletzt wegen der Krankheit wichtig, mal zu einer Normalität zurückzukehren.« Er vermutet, dass Anna auch deshalb gern in London war, weil dort niemand ihren Mann kannte: »Sie wollte aus der Beobachtung raus, hat sicher von einer eigenen Welt geträumt«, gibt Grönemeyer zu. »Sie fand den Erfolg, der über mich einbrach, zwar faszinierend, aber es war auch die Sehnsucht da, in einer anderen Welt zu leben.. Als Betroffener ist das manchmal schwer auszuhalten.« Im Rückblick bekamen die Songs auf »Bleibt alles anders« einen neuen Sinn, die verklausulierten Textbilder erschlossen sich. Grönemeyer: »Ja, ein Jahr später erzählen mir meine eigenen Lieder mehr als in der Zeit, wo ich sie geschrieben habe.« In seiner Vorstellung ist Anna »stolz und mutig auf eine Reise gegangen, die mir noch bevorsteht. Das macht mir etwas Angst, denn so mutig, wie sie die Reise angetreten ist, macht es einen selber klein. Ich begreife sie als jemand, der nur woanders lebt.« Wenn er selbst einmal stirbt, erklärte Grönemeyer, »dann soll einer an meinem Bett sitzen, oder zwei, oder alle, die sitzen da, trinken Tee und erzählen Witze oder ziehen zumindest über mich her. Das ist wunderbar.« In »Letzte Version« singt er auch: »Trag noch einmal den Heiligenschein, küss mich und lass mich allein.« Grönemeyer: »So bleibt sie auch für mich. Sie hinterlässt etwas sehr Großartiges, was einerseits sehr wehtut, andererseits hat es in guten Zeiten etwas sehr Stärkendes. Aber diesen Heiligenschein wird sie immer behalten. Sie war eben ein wunderbares Menschenkind, und in diesem spirituellen Bereich war sie grandios. Ich kenne keinen Menschen, der das verkörperte, was ich an ihr so aufregend fand, weil es mir auch so fremd war. Ich habe zwanzig Jahre mit ihr zusammengelebt, aber diese Dynamik, die sie hatte, wird für den Rest meines Lebens bleiben.«
Schließlich gelang es Jürgen Otterstein, Grönemeyer ein Projekt anzubieten, das ihn interessierte - und ablenkte: »Pop 2000«. »Ich wurde angesprochen von Jörg Hoppe, dem Vorstand von Me, Myself & Eye«, erzählt Otterstein. »Der hatte die Idee, das Datum zu nehmen und die deutsche Popgeschichte zu feiern. Das interessierte mich brennend, ich schlug es Herbert vor, und der griff sofort zu. Einerseits weil ihn das Thema inhaltlich interessierte, aber auch weil er so mit etwas beschäftigt war. An eine eigene Platte war zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken. Dies war ein Thema, mit dem er sich wahnsinnig gerne auseinander setzte. Wir haben dann eine Compilation gemacht und dafür diverse Künstler gebeten, ihre Lieblingsnummern aus der deutschen Popgeschichte in ihrer Version aufzunehmen. Darunter Eissfeldt und die Absoluten Beginner mit >Irgendwie, irgendwo, irgendwann<, wochenlang ein Nummereins-Hit. Dabei kam wirklich eine ganz interessante Platte heraus. Außerdem machte sich Herbert daran, die ganze Popgeschichte für eine AchtCD-Box aufzuarbeiten. Herbert hat sich sehr hinter das Projekt geklemmt.« 146 Songs trug er zur Veröffentlichung im Oktober 1999 zusammen, sie ergänzten und erweiterten die zwölfteilige TV-Dokumentation. Hinzu kam eine Compilation mit Cover-Versionen deutscher Hits: »Pop 2000 - das gibt's nur einmal«. Auffällig viele Grönemeyer-Songs wurden für die Compilation gecovert: »Alkohol« (Maffay) - wenn auch gar nicht von Grönemeyer, sondern von seiner Band geschrieben -, »Männer« (Nina Hagen) und »Flugzeuge im Bauch« (Xavier Naidoo). Otterstein: «Das ist reiner Zufall. Es sprach sich natürlich rum, dass Herbert quasi Pate steht. Ob das dazu geführt hat, dass der eine oder andere sich für einen seiner Songs entschieden hat, kann ich nicht sagen.« Nach »Pop 2000« und der erfolgreichen Wiederaufnahme der »Bleibt alles anders«-Tour am 25. Juni in Schwerin trennten sich die Wege von Grönemeyer und seinem Berater Otterstein im Guten: »Seine Pläne
und meine Pläne passten nicht mehr zusammen«, sagt Otterstein. »Ich hatte angefangen, eine Firma aufzubauen und hatte sehr beachtlichen Erfolg unter anderem mit Sarah Brightman in Amerika. Wir haben 182 Arena-Konzerte in Amerika gegeben. Herbert hatte damals Pläne für sein Grönland-Label. Ich konnte das nicht beides unter einen Hut kriegen. Herbert duldet natürlich auch keine Götter neben sich, deswegen habe ich ihm nicht ständig vorgeschwärmt, wie viel CDs wir nun wieder verkauft haben. Ich sah mich nicht exklusiv für sein Label arbeiten. So endete unsere gemeinsame Zeit. Ich bin im Nachhinein dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte und vielleicht auch ein bisschen geholfen habe.« »Pop 2000« reizte Grönemeyer auch, weil er endlich einmal die deutsche Musikszene dokumentieren konnte und sie sich als erfreulich breit und substanziell erwies. Denn ihm ging es »auch um das Selbstbewusstsein für einen selber. Ich würd halt gern zu einer großen, breiten Szene gehören. Ich find's furchtbar, wie's in den Achtzigern zum Teil war, wenn es fünf oder sechs dicke Bands gibt, und das war's dann, und alle anderen kriegen keine Luft mehr. Die Szene ist in den Neunzigern viel vielschichtiger und facettenreicher geworden. Und ich selber bin halt gerne Bestandteil von fünfzig oder sechzig Bands, die alle eigene Farben haben, und dann bin ich gerne die Grönemeyer-Farbe.« Grönemeyer selbst griff zum Hörer und fragte bei interessanten Kollegen an, ob sie deutsche Titel covern wollten. Auf diese Weise bewegte er beispielsweise Westbam dazu, erstmals zu singen - und zwar »Computerstaat« von Abwärts. Xavier Naidoo sang »Flugzeuge im Bauch«, erklärte: »Als >Flugzeuge im Bauch< 1985 herauskam, konnte ich den Titel fast rückwärts singen. Das Stück war damals für mich der Augen- und Ohrenöffner für die deutsche Musik. Weil Herbert diesen Titel gemacht hat, habe ich gewusst, dass ich mich in deutscher Sprache verwirklichen kann!« (Ein Jahr zuvor hatte bereits »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«Darsteller Oli P. ebenfalls eine Cover Version von
»Flugzeuge im Bauch« veröffentlicht, die sich immerhin satte 1,5 Millionen Mal verkaufte - öfter als das Original. Und kurze Zeit später coverte Neuentdeckung Regy Clasen Grönemeyers »Männer«, denn »seine Texte stecken voller Poesie und Kraft. Er bringt einfach Gefühle emotional auf den Punkt. Das spricht Frauen und Männer an.«) »Pop 2000« versammelt sehr unterschiedliche Interpretationen und Songs. Aber tatsächlich bildet diese Compilation gerade dadurch recht gut den Stand der etwas anspruchsvolleren deutschen Musikszene ab. (Großartig: Smudos Version von Herwig Mittereggers »Rudi«!) Grönemeyer selbst entschied sich für den Kulthit »Da Da Da« von Trio, denn »für mich kamen nur Peter Maffay, Trio oder Ideal in Frage. Und mein Programmierer Alex Silva wollte unbedingt >Da Da Da< machen. Das war in England auch ein Riesenhit.« Er wollte »einfach spielerisch damit umgehen. Ich find den Text halt klasse; beim Singen habe ich gemerkt, wie böse der Text ist. Der ist nicht nur albern, der ist richtig böse. Er rechnet ziemlich hart mit seiner Freundin ab.« Während Alex Silva ganz minimalistisch produzieren wollte, wünschte sich Grönemeyer Streicher oder Bläser (die beiden einigten sich dann auf Bläser), um »das Stück etwas leichtfüßiger zu machen«. Grönemeyer absolvierte Ende Januar 2000 seinen ersten großen TV-Auftritt nach Annas Tod bei »Wetten, dass ...?!« mit »Da Da Da«. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, einen weißen Anzug und wurde von Balletttänzern in Knallpink begleitet. Der Auftritt tat ihm gut: »Ich hatte eine Brille auf, hatte zum ersten Mal ein Ballett dabei, das hat mir eher Spaß gemacht. Ich bin ja deshalb auf die Bühne gegangen, um zumindest das Laufen nicht zu verlernen, da es einfach zu meinem Lebensprinzip gehört, Musik zu machen.« Überrascht und erfreut stellte Grönemeyer bei der Arbeit an der »Pop 2000«-Box fest, dass es »eigentlich schon mehrere Generationen deutscher Popmusik gibt: Die elektronische Musik der siebziger Jahre von Bands
wie Kraftwerk, Neu oder La Düsseldorf war sehr deutsch und sehr wegweisend. Die Neue Deutsche Welle Anfang der Achtziger war auch sehr deutsch. Die Techno-Musik ist sehr deutsch, und auch der deutsche HipHop hat sich längst von den amerikanischen Vorbildern emanzipiert. Da ist nichts langweilig oder nur skurril. >Pop 2000< soll in die Zukunft weisen: Alles wunderbar - und nun macht mal schön weiter so.« Auch ihn selbst hatten nicht etwa Werke der Hochkultur zum Musikmachen inspiriert, sondern deutsche Schlager: »>Ein Schiff wird kommen< von Lale Andersen - daran erinnere ich mich. Oder an den >Popocatepetl-Twist< von Caterina Valente. Lieder wie >Babysitter-Boogie<, >Da sprach der alte Häuptling< oder >Bohnen in den Ohr'n< - das sind die Schlager meiner Kindheit. Irgendwann habe ich lieber selbst Musik gemacht. Mit sechs habe ich auf der Ukulele gelernt, mit acht Gitarre, mit neun Klavier. Dylan-Songs habe ich nachgespielt, das ganze Folkzeug, die >Mundorgel< rauf und runter.« Bei der Arbeit an der Compilation fühlte Grönemeyer sich erneut in seiner Vermutung bestätigt, warum es in Deutschland keine richtigen Popstars gibt: Die Engländer, erklärt er, »stellen sich auf die Bühne, können mal gerade die Gitarre halten und brüllen: Wir sind die Größten! Und alle glauben es - das Publikum und sogar die Musiker selbst. Dass Popmusiker in Deutschland reich sind, laut und sexy - das geht nicht. Das hat wohl auch mit unserer Vergangenheit zu tun: Waren nicht die Nazis auch irgendwie Popstars? Sehr männlich und erotisch, sehr laut und durchstilisiert. Die Nazis haben sozusagen eine vorweggenommene Form des High-End-Marketing praktiziert. Das war Popkultur in einer traumatischen und fürchterlichen Variante.« Auch Helmut Kohl - und später Gerhard Schröder - verglich er mehrfach mit (Möchtegern-)Popstars: »Helmut Kohl war auch sehr populär, aber eher ein Popstar für Arme«, sagte er, und: »Für Schröder kann man kein Lied schreiben, das ist das Drama. Kohl war zumindest noch ein Gegner, an dem man sich reiben konnte. Schröder ist der Mann ohne
Eigenschaften. Das Schlimme an ihm und vielen anderen ist, dass sie Kohl bewundert haben. Weil der so lange da war, wurde er zu deren Popidol - alle wollten quasi so viele Platten verkaufen wie er. Schröder hätte als Oppositioneller Kohl eigentlich etwas entgegensetzen müssen. Aber letztendlich ist er nur eine blasse Kopie.« Über Schröder könne man »nicht singen. Schröder ist ein Ersatz-Kohl. Der fand den Kohl immer klasse. Schröder wollte nichts anderes als auch mal in die Charts.« Durch das Leben in London lernte er aber, mit der Politmisere in Deutschland entspannter umzugehen: »Wir Deutschen glauben: Wenn wir jetzt den Falschen wählen, geht das Land unter. Die Engländer sagen: Thatcher hat viel Unsinn angerichtet, und der Blair ist auch nicht viel besser. Aber sie fühlen sich selbst verantwortlich.« Die »Pop 2000«-Box und die zugehörige Compilation wurden nicht nur von Grönemeyer zusammengestellt, sondern waren zugleich die ersten großen Veröffentlichungen auf seinem Label Grönland (für Jan Delays Single »Irgendwie, irgendwo, irgendwann« gab es dann gleich Gold für eine halbe Million verkaufter Platten). Auf Grönland war zuvor nur Grönemeyers eigene CD »Bleibt alles anders« erschienen, mittlerweile sind »Mensch« sowie Wiederauflagen seiner alten CDs »Bochum«, »Sprünge«, »Ö« und »Chaos« hinzugekommen. Unter dem Namen Grönland verlegte Grönemeyer schon seit Jahren seine Songs, nun leistete er sich in London unter gleichem Namen seine eigene kleine Plattenfirma samt Studio. Den Namen sagt er »>Grönland<, dachte ich, wär sehr witzig« - habe er gewählt, weil er doch Grönemeyer heiße. »Grönland« war darüber hinaus auch Titel eines Songs, den Grönemeyer zuerst exklusiv im Internet zum Download anbot (zu einer Zeit, in der die meisten Musiker noch nicht mal selbst Internetzugang hatten), später dann auf dem Album »Chaos« veröffentlichte.
Am 9. Februar 1999, drei Monate nach dem Tod seines Bruders und seiner Frau, stellte sich Grönemeyer erstmals wieder der Öffentlichkeit: Er bekam bei der Verleihung der Goldenen Kamera den »Ehrenpreis für Rock- und Popmusik«. Auf einer Videoleinwand wurden Szenen von Grönemeyers Konzerten eingespielt. Überraschend kam der Popstar durch eine Glaspyramide auf die Bühne. Er trug immer noch Trauerkleidung: schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, schwarze Krawatte. Er kämpfte mit den Tränen. Sekundenlang verharrte er schweigend vor dem Mikro, dann begann er eine ganz private Rede: »Ich habe lange darüber nachgedacht«, sagte er, »ob dieser Zeitpunkt und dieser Ort richtig sind, wieder nach außen zu treten. Aber auf der anderen Seite hatte ich das Bedürfnis, etwas zurückzugeben - und danke zu sagen.« Eine Gesprächspause folgte, dann spricht Grönemeyer mit leiser Stimme weiter. Er ist erneut den Tränen nah: »Das ändert die Trauer nicht, aber das Gefühl, dass man nicht alleine ist und dass sich sehr viele Menschen um einen sorgen und sich Gedanken machen - das verändert zumindest ab und zu die Trauer und die Verzweiflung in Hoffnung und Zuversicht. Deswegen möchte ich den Preis all denen widmen, die versuchen, mir in dieser sehr, sehr schweren Zeit zu helfen - uns zu helfen. Der Preis wird mich immer erinnern an die Unterstützung, an den Respekt und an das Wohlwollen. Herzlichen Dank.« Der Berliner Video-Regisseur Daniel Lwowski - er drehte später unter anderem die Videoclips zu »Der Weg« und »Demo (Letzter Tag)« - traf Grönemeyer das erste Mal noch vor dem Tod seiner Frau. Da war der »sehr nett, aber auch sehr distanziert. Der Kosmos aus ihm und seiner Frau, seinen Kindern schien ihn auszufüllen. Er hatte es nicht nötig, andere Menschen an sich ranzulassen. Das nächste Mal habe ich ihn ein halbes Jahr später in Moskau getroffen. Da merkte man die Trauer natürlich noch, aber man will ja auch nicht immer traurig wirken oder auch betont witzig sein; da war er ein
eher hilfloser Mensch und hat die Nähe anderer Menschen gesucht. Inzwischen hat er seine Mitte wiedergefunden. Aber er ist trotzdem supernett, und der Erfolg ist ihm auch nicht zu Kopf gestiegen. Ich kenne eigentlich keinen Künstler, mit dem ich so gern arbeite. Es ehrt mich sehr, dass er mit mir arbeitet. Er ist sehr nett, sehr lustig. Außerdem finde ich, er ist einer der besten deutschen Schauspieler. Das merkt man auch beim Videodreh. « Grönemeyer arbeitete nach Annas Tod so diszipliniert wie möglich weiter, drehte mit Lwowski im Frühsommer 1999 in der Nähe von Moskau das Video zu »Ich dreh mich um dich«. (Als Bonustrack auf der CD-Single ertönte erstmals der Titel »Heimat«, Grönemeyers Reflexion über das eigene Deutschsein, sonst nur auf der Live-CD/DVD »Stand der Dinge« enthalten.) Lwowski über Grönemeyers schauspielerische Leistung: »In Moskau hatten wir nur ganz wenig Zeit, und jede Bewegung saß auf den Punkt genau. Und Herbert ist sehr leidensfähig. Er ist in einem Raumanzug gegangen, der aber anatomisch eigentlich nur zum Sitzen geformt ist. Das muss total wehgetan haben. Aber er ist die drei Mal gegangen, die ich wollte. Und er hat auch einen dieser Raumanzüge getragen, mit denen man ein Raumschiff verlassen kann. Das Ding wiegt eine halbe Tonne, das muss wie ein Gefängnis sein. Und im Nachhinein haben wir erfahren, dass normalerweise psychologische Tests im Vorfeld durchgeführt werden, gegen Panikattacken. So was macht er dann eben einfach. Das Schlimmste für ihn war eigentlich, als er sich bis auf die lange Unterwäsche aus- und anziehen musste. Er hatte nach dem Tod seiner Frau etwas zugenommen und sagte: Film mich nicht so, dass ich fett ausschau! Einmal musste er sich auch auf einen Drehstuhl legen, von dem wir die Lehne abgeschraubt hatten. Das hat dort natürlich total komisch ausgeschaut. In den drei Tagen ist das ganze Team sehr zusammengewachsen. Wir haben auf dem Gelände dort gewohnt, nur Herbert war ins Kempinsky in Moskau gebucht und musste jeden Morgen
eine Stunde früher aufstehen, um hinzufahren, dabei hätte er viel lieber auch bei uns gewohnt. Auch dieser Dreh war zwar traurig, aber wir hatten zwischendurch auch richtig Spaß, vor allem vor dem Greenscreen in Moskau. Und am Schluss schrieb er total geduldig für alle Autogramme, für jeden Onkel, und machte irgendwelche Späße dabei. Er hat kein Problem damit, Autogramme zu geben.« Gedreht wurde das Video Mitte Mai 1999 im Weltraumzentrum »Jurij Gagarin«. Dabei absolvierte Grönemeyer den spektakulären »Parabelflug«, bei dem im Inneren eines Jets die Schwerelosigkeit im Weltraum simuliert wird. Dass Grönemeyer beim Videodreh nicht »fett« aussehen wollte, zeigt eine Seite von ihm, die recht unbekannt ist. Grönemeyer gibt selbst zu, er sei »so was von eitel. Mach mir Cremes und Kartoffeln aufs Gesicht.« Er halte sich aber auch für »extrem gut aussehend«. Wenige Tage nach dem Weltraumdreh besuchte Grönemeyer mit seinen beiden Kindern das Formel-lRennen in Monte Carlo, ließ sich mit dem Kollegen Jon Bon Jovi fotografieren. Ein erster, vorsichtiger Schritt in die Normalität. Ende Juni 1999 nahm er in der Schweriner Sporthalle die »Bleibt alles anders«-Tournee wieder auf, eröffnete mit »Nach mir« von »Bleibt alles anders«: »Du setzt mich aus auf ein dunkles Meer / schwimmst nicht mehr hinterher / hast dich weggestohlen«. Danach begrüßte er das Publikum: »Guten Abend, Schwerin. Es ist das erste Konzert nach einigen schmerzhaften Ereignissen. Ich soll traurig sein, aber ich soll nicht leiden. Ich wünsche euch viel Spaß.« Die Zeilen »In Gedanken an dich fahr ich Autos zu Schrott / pass auf, dass mein Leben nicht aus den Adern tropft / bin traurig, leide nicht, bin traurig, leide nicht« finden sich in genau dem Song »Nach mir«, den er zusammen mit Anna schrieb. Er bekräftigt: »Traurig sein, trauern, aber nicht leiden - so hätte Anna es gewollt - deshalb bin ich heute Abend hier.« Es folgten dreizehn weitere Konzerte, unter anderem in der Kölnarena und der Berliner Waldbühne.
Manche wunderten sich, dass Grönemeyer so relativ schnell wieder auf die Konzertbühne trat, für ihn war es eher eine Art Therapie. Dort fühlt er sich sicher und wohl, dort zelebriert er sein Talent. Außerdem, erklärt er, half die gezielt angestrebte Normalität auch den Kindern, die ihn gern wieder spielen sehen wollten: »Sie bekommen mich mit, wenn ich traurig bin. Aber sie sollen eben auch sehen, dass das Leben weitergeht. Außerdem hätte Anna das sicher auch nicht gewollt, dass man so einbricht.« Da die Konzerte im Sommer stattfanden, konnte er Felix und Marie auch mitnehmen auf die Tour. So gern er den Kindern alles Leid erspart oder wenigstens abgenommen hätte: Sie mussten nach Annas Tod auf ihre Art lernen, mit dem Verlust umzugehen. Speziell Marie reagierte sehr gefasst, als sie mit nur neun Jahren ihre Mutter verlor - aber als ein halbes Jahr später ihr Meerschweinchen starb, rastete sie völlig aus. Grönemeyer vermutet: »Sie hat versucht, ihren Mut zusammenzuhalten. Das hat sie von ihrer Mutter abgeguckt, die sehr stark und stolz und aufrecht war. Anna zeigte nie einen Hauch von Resignation. Die Norddeutschen sind sehr stoisch. Es war ihr Ziel, auch die Kinder mit so viel Haltung zu befeuern. Wahrscheinlich dachte meine Tochter nach Annas Tod: Ich muss den Laden zusammenhalten. Da hat sie sich zu viel Verantwortung aufgehalst. Als ihr Meerschweinchen starb, konnte sie dann plötzlich nicht mehr an sich halten. Da brach alles aus ihr heraus.« Marie lieferte Grönemeyer aber auch den Hauptgrund, überhaupt wieder ins Studio zu gehen, wieder zum Mikro zu greifen. Sie sagte nach dem Tod ihrer Mutter mit der Weisheit eines Kindes: »>Du hörst nicht auf zu singen! Du darfst nie aufhören.<« »Das werde ich nie vergessen«, berichtet Grönemeyer gerührt. Später legte Marie nach: »Schreib mal was Lustiges, komm auf die Füße!«, forderte sie. Er sieht, im Gegenzug, seine wichtigste Aufgabe darin, denn Kindern Lebensfreude zu vermitteln. Er versuche, »eine Atmosphäre zu schaffen, in der Anna nach wie vor vorhanden ist. Wir reden über sie, und
ich erzähle den Kindern so viel wie möglich über sie. Die Kinder gehen unterschiedlich mit Trauer um. Mein Sohn hat viel geweint, wir haben auch zusammen geweint. Meine Tochter ist etwas strenger mit sich. Das Reden mit Kindern ist generell schwierig und wird in einer solchen Situation nicht einfacher. Das Irre ist ja, dass Kinder einen beschützen wollen. Sie schauen immer genau hin, wie der Vater drauf ist. Man will sie nicht belasten, und sie wollen mich nicht belasten. Die andere Frage ist, wie viel Traurigkeit kann man zulassen? Denn die ist vorhanden, und nach einer gewissen Zeit lasse ich sie jetzt eher noch offener zu.« Noch vor Annas Tod waren die Grönemeyers nach London gezogen, wo sie eine Wohnung im Londoner Stadtteil Hampstead (Stadtrand) gefunden hatten. Grönemeyer erklärt: »Erst mal wollten wir, dass die Kinder mal in einem anderen Land leben. Meine Frau wollte auch, dass wir mal in einem Land leben, wo mich keiner kennt. Wo wir als Familie einfach etwas entspannter durch die Gegend laufen können. Und sie kam eben aus Hamburg, und die Hamburger haben ein besonderes Faible für London, das ist für die immer die Steigerung von Hamburg.« Eigentlich wollten sie »nur ein halbes Jahr gehen, und jetzt sind wir halt schon vier Jahre da. Hängen geblieben. Die Stadt ist bevölkert von vielen Menschen, die nur mal kurz vorbeigucken wollten und immer noch da sind.« Roger Willemsen macht als Motor hinter den Umzügen Anna Grönemeyer aus: »Sie schleifte ihren Mann, den gut verwurzelten Bochumer, mit sich, von Umzug zu Umzug, von Stadt zu Stadt, bis sie schließlich eine Wohnung in London fanden, wo ihr die Parks so gut gefielen und der vom Tode inspirierte sarkastische Humor.« Bald schon stellte Herbert dort fest, dass ihm zwar das Deutschsprechen fehlte, er aber die Anonymität genoss: »Mir fehlt die deutsche Sprache. Das ist das größte Defizit, das ich in London habe. Natürlich auch wegen Anna, wir haben praktisch ununterbrochen geredet, wir waren Weltmeister im Unterhalten. Von morgens bis
nachts. Das Reden in der deutschen Sprache, das fehlt mir massiv. Inzwischen telefoniere ich wie ein Verrückter. Ich werde natürlich auch weiter in Deutsch schreiben. Aber das Sprechen, das Quatschen, das fehlt massiv. Trotzdem war es die richtige Entscheidung, nach England zu gehen. Es hat mir sehr geholfen, dass ich hier relativ unbehelligt leben kann.« Auch 2003 - viereinhalb Jahre nach Annas Tod - lebt Grönemeyer noch in London. »Der Vorteil in England ist, dass man so normal wird. Dass mich halt keiner kennt und ich mich so mit mir selber beweisen muss. Entweder ich bin in Ordnung oder ich bin blöd, die Leute reagieren entsprechend.« Er könne dort »im Schlafanzug einkaufen gehen« und »dadurch selber auch lernen, zu entspannen, weil ich ja dazu neige, alles etwas zu >dynamisch< zu machen. Das ist schön.« Zudem ist London auch einfach so als Stadt faszinierend: »Die Stadt hat ein unglaubliches Tempo, das aber auch immer kurz vor dem Kollaps ist, kurz vor dem Kippen.« Er habe »als Deutscher in England gelernt, mich zu entspannen. Hier kann man sich beschweren, wie man will, es funktioniert gar nichts, und trotzdem funktioniert die Gesellschaft.« Immer wieder hat Grönemeyer angedeutet, er könne sich eine Rückkehr nach Berlin vorstellen, allerdings jeweils nur in den Sommerferien zwischen zwei Schuljahren. Da er seine Berliner Villa nie verkauft hat, stünde einem Umzug zumindest technisch nichts im Wege. »London ist halt bunt und schnell, Mode und Pop und Rock«, das gefalle Marie. »Felix vermisst eher Berlin, das Viertel ist beschaulich, die Nachbarskinder kommen vorbei.« Andererseits biete das Leben in London auch für die Entwicklung der Kinder große Vorteile: »Sie leben in London entspannt mit Menschen aus aller Welt zusammen. Ich hoffe, dass sie Respekt vor anderen Menschen bekommen, dass sie humanistisch denken, dass sie Rücksicht leben lernen. Das versuche ich.«
Phönix im Steilflug Wie der stille Grönemeyer die Menschen erobert Nachdem Grönemeyer so viele Jahre damit verbracht hatte, sein Privatleben zu schützen und speziell Anna und ihre Krankheit aus den Schlagzeilen herauszuhalten, sprach er nach ihrem Tod erstaunlich offen über seine Gefühle. Möglicherweise erleichterte ihm das sogar die Akzeptanz der Tatsache, dass sie nicht mehr war. Auf jeden Fall aber half es Millionen Menschen, die ihrerseits trauerten, sich nicht so allein zu fühlen. »Es fängt an mit einem Schockzustand, wo man adrenalingetaucht denkt, das steckt man einfach so weg«, erklärt Grönemeyer. »Dann kommt die Phase, wo man es realisiert, das ist so nach einem Jahr, denke ich. Der Schock soll einen ja schützen, das ist wie nach einem Autounfall, wenn man aussteigt und sagt, ist nichts, und dann kommt der Notarzt und sagt, legen Sie sich mal hin, Sie haben schwere innere Blutungen. Dann versucht man damit klarzukommen. Der nächste Schritt ist jetzt im dritten Jahr, das man anfängt, die ganze Zeit aufzuarbeiten. Wobei man damit hadert, dass man den anderen nicht mehr als Gesprächspartner hat. Man gibt sich die Antworten selber, die natürlich fast immer falsch sind, und guckt, dass man da rauskommt ... nach wie vor der Verlust, der einfach grausam ist, und dass man auch einfach Dinge nicht klären kann.« Fotos habe er sich in der ersten Zeit nicht angeschaut, denn »wenn man anfängt, in die Vergangenheit einzutauchen und Bilder zu sehen, das hält man nicht aus«. Auch »wenn ich anfange, Musik zu machen, werde ich richtig emotional, dann wird
es ganz eng. Sobald ich anfange, Musik zu machen, fange ich an, an allem rumzukratzen, auch am Unterbewusstsein, und dann fängt man gerade an, alle Dinge freizulegen. Dann liegen die Dinge wirklich blank. Dann wird's ganz problematisch.« Dabei sind es nicht so sehr die Texte, »die Musik alleine reißt schon alles auf«. Dennoch hat er nie daran gezweifelt, dass es richtig war, zu lieben, sich auf eine intensive zwanzigjährige Partnerschaft einzulassen: »Tut man besser daran, nicht zu lieben, dann hat man auch den Schmerz nicht? Aber das führt früher oder später zu einer Austrocknung und zu nacktem Zynismus. Ich glaube einfach, diese Momente, in denen so etwas entsteht, diese Glücksexplosionen, die braucht der Mensch, um zu existieren. Wenn er sich davon abschneidet, damit er nicht leidet, schneidet er sich im Grunde genommen vom Leben überhaupt ab. Man bleibt jedenfalls lebendiger mit dem Glück auf der einen Seite und dem Schmerz auf der anderen. Aber das ist eine ganz zentrale Frage - auch für mich -, wenn das Glück mit dem Tod und dem Schmerz, mit so einem radikalen Abschied, verbunden ist, lohnt sich das? Aber ich glaube, dass selbst in so einem Schmerz die Liebe übrig bleiben wird - irgendwann.« Denn »die Zuneigung zu einem Menschen kann dessen Tod überdauern. Auch bei meiner Frau ist das so. Das sind Gefühle, die sind nach wie vor so übermächtig in mir, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass das jemals abbricht. Dieses Gefühl nimmt nach wie vor alles ein.« Im Jahr 2000 gab Grönemeyer nur vier Konzerte (zwei auf der Expo 2000 in Hannover, eines in Berlin, eines in Bitterfeld) mit dem NDR Hannover Pops Orchestra. Die Konzerte zur Expo-Eröffnung wurden aufgezeichnet und erschienen im November - wieder einmal gerade noch rechtzeitig zu Weihnachten - auf Doppel-CD/DVD: Grönemeyers »Stand der Dinge« (benannt nach dem Song, den er speziell für seine Frau geschrieben hatte, »über zwei Leute, die wie in einer Seifenblase leben«). Fünfzigtausend DVDs wurden allein in der ersten Woche
verkauft, mittlerweile sind es mehr als doppelt so viele (was für eine Musik-DVD - mit »Stand der Dinge« erstmalig in Deutschland - den Platinstatus bedeutet). Der Name »Hannover Pops« sei »grausam«, fand Grönemeyer. »Ich habe gesagt, sie sollen sich umbenennen. Das haben sie nicht gemacht, aber sie waren sehr gut.« Die Arbeit mit dem Orchester begeisterte, auch wenn er es nicht immer leicht hatte: »>Sie< habe ich nur mit Orchester gespielt, das war schwer zu singen, weil ich keinerlei Anhaltspunkte hatte, wo ich eigentlich bin. Da habe ich mich auch vertan, das haben wir dann ein bisschen repariert. Aber ansonsten ist es eins zu eins. >Sie< war ein bisschen kompliziert, weil kein Mensch den Rhythmus spielte.« Besser aber gefielen ihm rockigere Stücke wie »Land unter< und >Bleibt alles anders<. Gerade bei den härteren Stücken, >Bleibt alles anders< oder >Alkohol<, wenn die dann richtig Gas geben und komplett alles spielen mit Pauken und Trompeten, das gibt schon ein ganz schönes Pfund. Das hat unheimlich Spaß gemacht.« Live zu spielen »ist schon eines der größten Glücksgefühle, die man haben kann. Man genießt das und steht zum Teil auch da wie ein Junge und wundert sich, dass das so geht.« Durch die Nutzung des Doppelmediums CD/DVD bot Grönemeyer mehr als andere (üblich ist ja, den Livemitschnitt auf CD und gesondert noch mal als DVD zu verkaufen, also doppelt zu kassieren). Er selbst erklärte: »Der Ansatz dieses Projektes bestand darin herauszufinden, was man auf einen solchen Silberling draufpacken kann. Als jemand, der mit Vinyl aufgewachsen ist, war ich immer schon der Meinung, dass die CD diese Sinnlichkeit letztendlich nicht so transportieren kann wie früher die Vinyl-Platte. Ich dachte, dass es möglich sein muss, diesen digitalen Datenträger so vollzupacken, dass er dem Käufer mehr bietet, als es bisher der Fall war. Ich denke, man muss den Leuten für den relativ hohen Preis der CD auch einen vernünftigen Gegenwert liefern. Die Idee, eine beidseitig bespielte CD
zu produzieren, fand ich sehr gut.« Es gibt »die komplette Gröni-Dröhnung« (so der »Musikexpress«): Gitarrenakkorde, Karaoke-Versionen, BackstageInterviews - und »hidden features« auf der DVD, über die Grönemeyer sich ganz besonders freute. Falls Sie die DVDs besitzen und die geheimen Extrainhalte noch nicht entdeckt haben: So geht's! 1. DVD 1 einlegen. 2. DVD stoppen im Menü und ganz von vorne beginnen lassen (Play; 1. Kapitel) -> Zusammenschnitt aller Grönemeyer-Videos. 1. DVD 1 einlegen. 2. Im Hauptmenü nach unten zu Extras navigieren, noch ein weiteres Mal »nach unten« drücken. Die Überschrift »Stand der Dinge« erscheint nun unterstrichen. Anwählen (»OK«) Mitschnitt des Titelsongs »Stand der Dinge«. (Diesen Song hatte Grönemeyer auf Annas Wunsch hin nur über sie beide für »Bleibt alles anders« geschrieben.) 1. DVD 2 einlegen. 2. In der Titelauswahl bei »Bleibt alles anders« nach rechts navigieren (geht nur bei diesem Titel) - Anton Corbijns Videoclip erscheint parallel zur Konzertaufnahme (das ist der Clip, den Jürgen Otterstein im Kino zeigen ließ). Insgesamt gefällt selbst der Mitschnitt auch Grönemeyer richtig gut - obwohl es nicht einfach war, die CD/DVD abzumischen: »Man sieht alles, jede Bewegung, jedes Gesicht, jede Einstellung. Die Kamera lügt nicht. Man kann genau sehen, ob ich schauspielere oder nicht, das ist schwer anzuschauen.« Hinzu kommt, dass »manche Stücke, etwa vom Album >Bleibt alles anders<, inzwischen eine ganz andere persönliche Wertigkeit für mich bekommen haben, was ich damals, als ich sie schrieb, natürlich nicht wusste. Und das wird durch den
Orchestereinsatz noch multipliziert.« Das sind natürlich in erster Linie die Lieder, in denen er im Vorwege schon Abschied von Anna nahm. Die opulente Orchestrierung hingegen begeistert ihn. Bei den alten Rockstücken klingt das zwar durchaus etwas gewollt, aber die neueren Nummern gewinnen an Tiefe und Breite. Bei Songs wie »Fanatisch«, »Sie« oder »Schmetterlinge im Eis« werde er in Zukunft gar »das Orchester sehr vermissen«, weil es »eine Qualität hinzufügt, die wir als Band gar nicht so voluminös herstellen können.« Gesanglich fährt Grönemeyer auf »Stand der Dinge« immer noch viel Power auf, schreit auch streckenweise. Die qualitativen Schritte von »Live« zu »Stand der Dinge« sowie mittlerweile zur »Mensch«-Tour sind jeweils groß. »Stand der Dinge« aber war mehr als ein Lebenszeichen, mehr als ein Best-of: Es war eine Bestandsaufnahme des Künstlers und des Menschen Grönemeyer. Er packte auf diese CD/DVD alles, was er hatte. Im September 2000 spielte Grönemeyer dann noch vor dem Brandenburger Tor unter dem Motto »Kein Rassismus - Gegenwehr«. Er war glücklich über die dreißigtausend Besucher, sagte: »Ich habe mich sehr gefreut, dass ich in der Lage war, in der Stadt ein Verkehrschaos anzurichten« - und spielte danach sein Lied »Chaos«. Aber er verletzte sich auch: »Ich war so ungestüm an dem Abend, das fing an bei >Alkohol<. Dann bin ich über den Catwalk ins Publikum gelaufen, die Bühne war anders als sonst. Ich bin vom Boden abgehoben, und in der Luft wusste ich schon, das wird grauenvoll. Als der Fuß aufsetzte, gab es einen Knall, wie ein Pistolenschuss, das war mein Meniskus. Und das Kreuzband.« Tapfer spielte Grönemeyer weiter: »Wie ein preußischer Soldat, mit vereistem Knie, und am nächsten Tag auch noch ein Konzert gesungen, weil wir Preußen ja schmerzfrei sind. Vielleicht sollte ich in Zukunft Konzerte geben, wie ich das auch beim Unplugged-Konzert gemacht habe. Da habe ich ja auf'm Stuhl gesessen und
hab das aus dem Sitzen heraus gemacht. Oder einfach nur die Attitüde etwas altersgemäß herunterfahren.« Nach der Veröffentlichung von »Stand der Dinge« zog Grönemeyer sich erneut zurück - und es wirkte beinahe schon endgültig. Er »arbeite wieder im Studio an einer Platte«, sagte er zwar, »aber in einem ganz anderen Tempo als früher, und auch viel selbstzweifelnder«, weil ihm der Rückhalt durch Anna fehle. Aber auch ohne eine eigene Platte einzuspielen, fiel es Grönemeyer schon schwer genug, nur den Alltag zu bewältigen, sich neu zu definieren als allein erziehender Vater. Irgendwann hatte er dann die unspektakulären Dinge des Lebens wieder im Griff: »Ich steh morgens auf, ungefähr so um viertel vor sieben, weil meine Kinder zur Schule gehen. Dann krame ich im Kühlschrank rum, ob's noch irgendwas zu essen gibt, weil ich denen natürlich Frühstück machen muss, die nehmen irgendwas mit, Sandwiches und was zu trinken. Dann sitze ich eher ein bisschen blöd zu Hause rum, hol mir eine Zeitung, fang dann an zu telefonieren und weck alle Leute in Deutschland auf.« Zwischendurch lege er sich auch gern noch mal ein wenig hin, weil er normalerweise erst zwischen ein und zwei Uhr nachts ins Bett finde. Außerdem kümmere er sich um sein Studio und das GrönlandLabel: Da fahre er hin in der Hoffnung, »dass da einer mit mir redet. Dann gehe ich ins Fitnesscenter«, danach »kommen meine Kinder wieder aus der Schule, dann spreche ich mit denen alles durch, dann telefonier ich noch weiter, und dann guck ich, was ich abends noch machen kann, ob ich ausgehe. Was das Leben sonst noch zu bieten hat. Ich führe, wie man sieht, einen relativ ordinären Alltag. Einfach, schlicht und entspannt.« Anna begleite ihn dabei im Grunde ständig: »Wenn man mit jemandem so lange zusammen war und durch alles gegangen ist, was eine Beziehung ausmacht, dann lebt der Geist einfach weiter, der steckt in einem drin. Wenn ich meine Kinder angucke, sehe ich sie.«
Grönemeyer veröffentlichte zwischen 1993 und 2003 zwar insgesamt »nur« drei Studioalben (»Chaos«, »Bleibt alles anders«, »Mensch«) und zog sich über weite Strecken aus der Öffentlichkeit zurück. Aber er verfolgte dennoch gerade das politische Geschehen genau - und fluchte über Gerhard Schröder nur unwesentlich weniger als über dessen Vorgänger Helmut Kohl. »Bei Willy Brandt gab es noch positive Ansätze«, sagt er. »Der hatte auch Probleme mit der Musikszene, aber er war immerhin ein Freigeist. Nicht mal das sehe ich bei Gerhard Schröder. Mit dem könnte man allenfalls einen Autocorso veranstalten.« Denn »die jetzige Regierung ist nichts anderes als eine Durchgangsregierung. Ich behaupte, es hat noch gar keine Demokratie gegeben in Deutschland. In meinen Augen ist dieses Land ein ganz junges Land, das gerade anfängt, die ersten Schritte der Demokratie zu machen. Jetzt lauten die Fragen: Wollen wir zusammengehören? Sind wir intellektuell in der Lage, für achtzig Millionen Menschen dieses Land zu organisieren, haben wir das geistige Potenzial? Es ist ja noch nicht mal erwiesen: Gehören die zwei Teile von Deutschland überhaupt zusammen? Was ist in fünfzig Jahren? Ist es dann wie in Jugoslawien, hauen wir uns alle auf die Mütze? Die wahren Demokraten kommen erst noch.« Am 9. Dezember 2001 hielt Grönemeyer schließlich eine Rede im Rahmen der »Berliner Lektionen«. Darin führte er aus: »Meine Kinder haben in Köln gelebt, in Hamburg, in Berlin und in London. Wenn man sie fragt, wo ist eure Heimat, sagen sie immer: >Berlin!<« Er bemerkte: »Wir haben in den vergangenen Jahren die Chance zur Zäsur verpasst, die sich mit der Wiedervereinigung geboten hat. Man hätte das Beste aus beiden Teilen suchen, ver- und abgleichen und etwas Neues daraus schaffen müssen.« Er erklärte, was Deutschland stark machen könnte - und zugleich sich selbst: »In der Kunst geht es um Wut, Ekstase, Wahnsinn und Diventum und nicht um gebremsten Schaum, staatstragendes Wohlverhalten und für alle verdaubar zu sein. Kunst muss exzentrisch, maßlos, übertrieben,
fanatisch und kindlich naiv sein.« Am Ende sagte er: »Ich bin gerne Deutscher. Ich mag Berlin. Ich mag dieses Land. Ich mag die Menschen. Ich mag den Traum, die Vision, den Freigeist, aber nicht den Staat.« An diesem Gedanken zeigt sich, wie Songs entstehen. Er fand sich fast wortwörtlich auf »Mensch« wieder, im Titel »Neuland«: »Ich mag dies Land / ich mag die Menschen / ich mag nicht den Staat.« Zwischen der Doppel-Live-CD/DVD »Stand der Dinge« und dem Album »Mensch« widmete sich Herbert Grönemeyer vor allem administrativer Arbeit, er kümmerte sich um sein Londoner Label Grönland (in der Branche auch »Herberts Hobby« genannt), veröffentlichte CDs von »Bombay 1«, »Allee der Kosmonauten«, »Lunz« sowie »Neu!«. »Neu!« ist ein Düsseldorfer Avantgarde-Duo aus den Siebzigern, das es zur wichtigsten deutschen Rockband aller Zeiten hätte bringen können. Aber: zu viel Streit, zu viel LSD. Speziell die Wiederveröffentlichung der Neu!-Alben »Neu!«, »Neu! 2« und »Neu! 75«, die nun erstmals als CDs vorliegen, war eine kleine Sensation, denn die beiden Neu!-Mitglieder Michael Rother und Klaus Dinger sprachen schon seit Jahren nicht mehr miteinander. Es bedürfte eines Künstlers, um die beiden Künstler überhaupt erst mal an den Verhandlungstisch zu bewegen. Grönemeyer: »Auf der >Pop 2000<-Box wollte ich >Hero< und >Hallogallo< veröffentlichen und brauchte die Rechte dafür. Immer wieder hieß es, das gibt's nicht auf CD, und die wollen das auch nicht und reden sowieso nicht mehr miteinander. Also habe ich die beiden zu Hause besucht, um herauszufinden, wo eigentlich das Problem liegt. Sie sagten mir, dass sie seit Jahren versuchen, sich auf eine Person oder eine Firma zu einigen, die die Rechte bekommen soll, dass sie aber niemanden finden, mit dem sie wirklich beide einverstanden sind. Ich sagte ihnen, dass ich das gerne veröffentlichen möchte, weil ich finde, dass das tolle und wichtige Platten sind. Und ich habe ihnen versprochen, dass ich daran so arbeiten werde, dass sie als Urheber
die künstlerische Kontrolle behalten. Die beiden sind sehr verschieden, wie Plus und Minus, und es ist auch nicht immer einfach. Aber ich glaube, da ich selbst eine Diva bin und grundsätzlich künstlerisches Denken nachvollziehen kann, haben sie Vertrauen zu mir gefasst. Außerdem ist Neu! ja ein massives Stück deutscher Musikgeschichte. David Bowie sagt heute noch, Neu! sei seine Lieblingsband. Und Brian Eno meint: In den siebziger Jahren gab es nur den Beat von Fela Kuti, James Brown und Klaus Dinger.« Daniel Miller vom britischen Label Mute und Tim Renner von Universal Music in Berlin bissen sich an den beiden sturen Künstlern die Zähne aus. Grönemeyer berichtet, wie und warum ausgerechnet er die beiden Neu!-linge von einer Wiederauflage überzeugte: Die Ex-Kraftwerk-Musiker Michael Rother und Klaus Dinger »haben sich so sehr zerstritten, dass keine Plattenfirma der Welt sie wieder an einen Tisch bringen konnte«. Grönemeyer hat »die beiden besucht und auf sie eingeredet wie ein Unterhändler. Rother und Dinger sind zwei geniale Musiker, Egos, wie sie schon bei McCartney und Lennon aufeinander prallten. Es war Millimeterarbeit, die beiden zusammenzubringen, und es spricht für ihre Kreativität und Dynamik, dass sich dieser Streit immer noch nicht gelegt hat.« Im Gegensatz dazu findet Grönemeyer die hochkomplexe Musik der beiden - die er erstmals im Studio eines Londoner Fotografen hörte - leicht und entspannend: »Diese Musik ist klar und einfach. Ich fühle mich beim Hören, als sei ich auf einem USHighway unterwegs, Luft und Wärme umschließen mich.« Damon Albarn, Sänger der britischen Band Blur, sieht das ähnlich: »Durch sie stelle ich mir Deutschland wie eine tausend Meilen lange Autobahn mit weißem Sand vor, an der Lautsprecher in Bananenbäumen hängen. Ich denke nicht an Bratwurst und Radarfallen.« Mittlerweile haben sich die CDs weltweit über hunderttausend Mal verkauft. Grönemeyer gründete sein Label jedoch nicht aus reinem Edelmut, sondern will damit langfristig durchaus Geld verdienen: »Ich bin nicht der Gutmensch. Ich wollte
ein Label, weil ich selber Musiker bin und weiß, was für Probleme die haben, welchen Umgang sie mögen. Dafür wollte ich eine Instanz schaffen. Die Plattenfirmen haben das völlig verloren, sind an die Börse gegangen, kümmern sich nur noch um den Shareholder Value: Wer kauft mich morgen, wie krieg ich noch 250 Plätze wegrationalisiert? Da geht keiner mehr ein Risiko ein für eine junge Band, weil sie alle Angst haben.« Sein eigenes Label führt Grönemeyer folglich anders und die verpflichteten Künstler sind zufrieden, auch wenn Grönland noch keinen ganz großen Hit hervorbringen konnte. Kurt Dahlke, Gitarrist der legendären Fehlfarben und unter dem Pseudonym Pyrolator die Hälfte des Grönland-Acts Bombay 1, erklärt: »Das Label ist Chefsache. Er hat es ins Leben gerufen und treibt es auch nach vorne. Das betreibt er selber mit Hilfe von Rene Renner, der die Administration des Label macht.« Für Bombay 1 sei es im Großen und Ganzen gut, auf Grönland zu veröffentlichen: »Weil es eine kleine Firma ist, kann sie sich viel intensiver um das Produkt kümmern. Es hilft auch ab und an, sagen zu können, dass man auf dem Label von Herbert Grönemeyer ist, wenngleich die Musik nicht besonders kompatibel ist. Es führt aber auch dazu, dass bestimmte Zeitungen, die Herbert kritisch gegenüberstehen, auch uns damit kritisch gegenüberstehen.« Dass die Alben »The Identity Thing« und »Me Like You« nicht auf Dahlkes eigenem Label Atatak erschienen, ergab sich durch die Geschichte der Band: »Ich habe 1984 mit Stoya eine Platte gemacht unter dem Titel >Trashmuseum<. Die hatte zwar nur eine ganz kleine Auflage, aber es gibt Leute, die bis heute von dieser Platte begeistert sind. Das waren nur CoverVersionen, sehr reduzierte Fassungen. Stücke von Nick Cave über Hildegard Knef bis Bill Withers. Stoya ist ein sehr guter Freund von Anton Corbijn, und Anton hat damals schon die Fotos für unsere Platte gemacht. Über Anton hat Stoya dann Herbert kennen gelernt. Stoya ist ein unglaublicher Musikliebhaber, der kauft sich zwanzig CDs im Monat, hört alles durch und ist immer auf dem
Punkt der Zeit. Er sortiert aber auch immer aus, wenn eine neue CD in seinen Plattenschrank soll, muss auch eine alte dafür raus. Zweimal im Jahr macht er für Freunde eine Kassette mit seinen Highlights. Diese Kassetten hat er auch immer Herbert zukommen lassen. Die beiden haben sich angefreundet, immer mal wieder getroffen. Herbert hat Stoya dann gefragt, ob der nicht mal wieder was selber veröffentlichen wollte. Stoya ist dann zu mir gekommen und hat gefragt, ob wir es zusammen machen wollen. Wir haben ein Demo produziert, das Stück >Life<. Herbert fand das klasse und hat gesagt, er würde gerne eine ganze CD machen. Er hat damals schon gesagt, auch wenn das mit der ersten Platte nicht so klappen sollte, wäre er ein Typ, der Leute über eine längere Zeit präsentieren will. Er schießt eine Gruppe nicht nach dem ersten Flop wieder ab. Er hat selber erlebt, dass er ein paar LPs brauchte. Unsere erste CD hat sich schlecht verkauft. Die zweite Platte wird jetzt in ganz Europa noch mal neu veröffentlicht, mit einem etwas anderen Tracklisting.« Ein extrem erfolgreicher Künstler als Labelchef ist immer eine schwierige Sache: Potenziell weiß er natürlich immer besser, wie irgendetwas klingen sollte. Oder meint zumindest, es besser zu wissen. Nicht so Grönemeyer. Dahlke: »Das lief sehr positiv. Herbert hat nur Möglichkeiten aufgezeigt und Anregungen gegeben, aber nie in die Produktion eingegriffen. Er hat sich die Sachen angehört und Vorschläge zu einem veränderten Tracklisting gemacht, aber nie in die Musik selber hineingequatscht. Er hat immer nur Tipps gegeben. Das fand ich sehr angenehm. Das habe ich am Anfang selbst gar nicht glauben können, dass da keiner sagt: >Ich hätte gern eine Platte, die so und so ist<, sondern einfach: >Macht mal.< Das ist das Beste, was einem als Musiker passieren kann. Weil man dann genau das machen kann, was man möchte.« Und dabei wird noch nicht mal schlechter bezahlt als bei der Konkurrenz: »Das sind ganz normale Verträge. In die meisten Verträge halten inzwischen lauter merkwürdige Pauschalabzüge Einzug.
Grönland macht dünne und sehr faire Verträge. Wir haben einen Non-exclusiveVertrag, ich kann also weiter mit >Fehlfarben< arbeiten. Das finde ich sehr positiv, dass er uns da keine Steine in den Weg legt. Eine ziemlich ideale Situation. Man kann nun nur hoffen, dass dieses Label mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommt.« Nicht zuletzt beeindruckte Dahlke, der ja selbst ein alter Hase im Musikgeschäft ist, die Wiederauflage der Neu!-CDs: »Das Label hat mit ihm als Künstler wenig zu tun. Was man ihm hoch anrechnen muss, ist diese unermüdliche Arbeit, die zur Wiederveröffentlichung von Neu! führte. Daran haben sich schon andere die Zähne ausgebissen. Daniel Miller von Mute beispielsweise hatte nach fünf Jahren keine Lust mehr. Ich weiß nicht, wie lange Herbert telefoniert hat, um das Ding auf die Reihe zu kriegen. Einmal waren wir mit Herbert und dem Grönland-Labelchef Rene Renner zum Gespräch in Düsseldorf im Hotel. Es gab dann noch eine kleine Änderung am >Neu!< -Cover. Im Originalcover stand handschriftlich die alte Adresse von Klaus Dinger, und er wollte natürlich jetzt seine neue Adresse drin haben. Der Berliner Grafiker hat gesagt: Gut, komme ich nach Düsseldorf, dann machen wir das. Rene und Herbert waren aus London gekommen. Michael Rother aus Hamburg wollte natürlich auch dabei sein. Und wer kam nicht? Klaus Dinger. Rene rief ihn dann irgendwann an, kam zurück und sagte: >Der Klaus sagt, er fühlt sich heute nicht danach. Der Grafiker solle sich Düsseldorf anschauen, das sei doch auch ganz schön.< Und Herbert hat nicht locker gelassen und es irgendwie geschafft, diese CDs rauszubringen, das ist unglaublich. Er wollte das Label eben nicht auf >Pop 2000< beschränken, sondern mit Neu! oder Bombay 1 auch zeigen, dass er ein echtes Musikerlabel hatte.« Dahlke ist sehr zufrieden mit Grönemeyers Grönland: »Ich kenne wenig Leute in diesem Business und dieser Größenklasse, die so integer sind und so persönlich.« Neben »Bombay 1« veröffentlichte Grönland bislang das schwelgerische Album »Lunz« der gleichnamigen Band. Die Songs haben allesamt komische Titel
(»Carnickel And Pocketboat«, »Uferlose Sea«, »Wobbly Flu Twilight«), klingen aber wunderschön - ein wenig so, als könnte man sie zu Miniaturen falten, in eine Streichholzschachtel stecken und immer mit sich herumtragen. Außerdem kamen zwei Maxisingles der Mannheimer Band Allee der Kosmonauten heraus, »Brich mir dein Herz« und »Schneetrick«, teilweise produziert von Mitgliedern der Grönemeyer-Band im bandeigenen Trickstudio in Rauenberg. Die Singles lassen hoffen auf ein geniales Album! Einen Fehler will Grönemeyer jedenfalls nicht machen: sich nur auf etablierte Bands verlassen. Die großen Plattenfirmen »hatten durch die teuren CDs bei weniger Plattenverkäufen den gleichen Gewinn. Aber nun sind die fetten Jahre vorbei. Und man hat es versäumt, neue Bands aufzubauen. Das rächt sich jetzt massiv. Alle Plattenfirmen hetzen nun völlig hysterisch hinter jungen Bands her«, sagt er. Und dann kam »Mensch«. Eine Single und ein Album der Superlative, das Grönemeyers Erfolg eine neue Ebene hinzufügte. Wenn Fans ihrem Idol einen Brief schreiben, müssen sie damit rechnen, dass sie im besten Falle eine Autogrammkarte bekommen, dass im schlechtesten Falle aber auch einfach kein Mensch ihren Brief liest. Dennoch schrieben Tausende von Fans Herbert Grönemeyer Beileidsbriefe zum Tod seines Bruders und seiner Frau und die wurden gelesen, sie halfen: »Die Intensität und das Mitgefühl haben mich überrascht«, gesteht Grönemeyer gerührt. »Ich bin, glaube ich, ein ausgesprochener Menschenfreund, das habe ich von meinem Vater, der sehr gute Freunde hatte und hat, und in dieser schweren Phase hat sich das bestätigt, dass genau das, woran ich immer geglaubt hatte, beim Menschen auch zum Tragen kam. Das hat mich sehr überrascht und hat mir sehr geholfen.« Es sei geradezu »unfassbar, wie viele Leute mir seitenlange, einfühlsame
Briefe geschrieben haben, um mir Mut zu machen. Dieses Ausmaß an Anteilnahme hat mein Weltbild bestätigt.« Der Trost, die Unterstützung, aber auch das Drängen der Fans, weiterzumachen, ließen Grönemeyer vielleicht früher wieder ans Klavier treten, ins Studio gehen. Aber auch wenn die entstandene Platte »Mensch« keine Therapie darstellt, so markierte sie doch den Versuch, nicht aufzugeben. »Mir haben viele Freunde geholfen und auch die Briefe, die ich bekommen habe«, gesteht Grönemeyer. »Aber man muss sich in seiner Trauer sehr viel Zeit lassen. Man kann das nicht beschleunigen. Da gibt es keine Rezepte und auch keine Bücher, und das hört letztendlich auch nicht auf. Aber man kann sich auch nicht nur kasteien. Man wird von den Kindern extrem beobachtet, und man darf ihnen nicht das Gefühl geben, sie müssen nun auch noch den Vater aufheitern, das kann ich schon selbst. Die Trauer wird für mich immer da sein. Auch beim Lachen. Aber irgendwann kann man das auch als neue Farbe im Leben akzeptieren.« Um besser mit der Trauer fertig zu werden, absolvierte Grönemeyer ein so genanntes Bereavement Counseling (eine Therapie speziell für Hinterbliebene), »und das war ganz hilfreich. Aber es sind eher die Freunde, die einen zurechtrücken.« Letztlich kehrte er mit Annas Segen ins Aufnahmestudio zurück: »Ich weiß, wie sie denkt, und glaube, sie will, dass ich weitersinge. Sie will, dass ich Musik mache, weil sie weiß, wie wichtig mir das ist.« Ihm war auch klar, dass die Musik einen Fixpunkt seines Lebens darstellte - verlöre er sie, verlöre er den letzten Halt: »Wenn man so eine Katastrophe erlebt, ist man völlig hysterisch, zerrüttet und ängstlich. Musik ist für mich eine Form von Begeisterung und ein Ventil, das mein Leben in Balance hält. Sie ist mein privater Hochsicherheitstrakt. Mein Geheimnis, das mich überallhin begleitet und das mir keiner nehmen kann. Ich dachte: Wenn du dieses Zentrum deines Lebens auch noch verlierst, ist Schluss.« Den Grundgedanken für sein Album »Mensch«, das im Herbst 2002 erschien, formulierte Herbert Grönemeyer
äußerst präzise am 15. Februar 2003 in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Pop-Preises Echo an die Gruppe Can (übrigens auch auf der »Pop-2000«Compilation vertreten) für ihr Lebenswerk. Er sagte: »Wir mögen in Deutschland keine Überraschungen, wir scheuen das Experiment, und wir misstrauen gerne dem Risiko.« Der Wunsch, dies zu ändern, könnte Pate gestanden haben bei dem Album, für das er selbst an jenem Abend gleich zwei Echos bekam: »Mensch«. Die CD vereinigt Grönemeyers klares, direktes Songwriting mit hippen Blips und Beats zu etwas Neuem, das doch noch verdaulich (und damit verträglich) bleibt. »Mensch« war nicht - wie der parallele Erfolg der »Deutschland sucht den Superstar«-Hits - der kleinste gemeinsame Geschmacksnenner, sondern der größte gemeinsame Teiler: noch nicht elitär, aber schon anspruchsvoll. Dabei war »Mensch« aber melodielastiger, aussagekräftiger als das musikalisch ähnliche Album »Bleibt alles anders«, und die Stimme ist weiter nach vorn gemischt, so dass Grönemeyer erstmals mühelos verständlich ist. Künstlerisch hatte es bei ihm eine ähnliche Entwicklung schon einmal gegeben: Auch auf »Gemischte Gefühle« finden sich schon alle Elemente, die auf »Bochum« wiederkehren. Aber auf »Bochum« sind sie fokussierter, konzentrierter - präziser. Ähnlich war es diesmal wieder: Die musikalische Erweiterung, die auf »Chaos« begonnen und auf »Bleibt alles anders« weitergeführt worden war, wich nun einer klaren Konsolidierung. Weniger Experimente, eindeutige Strukturen, leichtere Erfassbarkeit. Das Neue war gezähmt, das Alte wieder hörbar. Zudem schwangen in den Texten (und auch in den Melodien) eine Liebe, eine Hoffnung - aber auch eine Mitleid erregende Trauer - mit, ein geballtes Konglomerat an echten Gefühlen, wie man es selten zu hören bekommt. Bereits 1998 hatte das österreichische Magazin »News« berichtet: »Musik, so reflektierte Grönemeyer in einem Interview, sei für ihn eine Quelle, aus der er stets schöpfen könne: >Singen hat mir immer geholfen, wenn
ich etwas nicht verstand. Schon als Junge habe ich mich ins Dunkle gesetzt und gesungen.<« »News« weiter: »Das Dunkel und das Nichtverstehen sind jetzt wieder Teil seines Lebens. Man weiß von Dichtern und Komponisten, die in eben dieser Situation ihre Meisterwerke geschaffen haben.« Was damals kaum einer glauben konnte, was geradezu brutal erschien, wurde wahr: Grönemeyer schuf sein Album »Mensch« aus der Düsternis, verbindet darauf die beiden Pole hell und dunkel. Grönemeyer selbst erklärt, wie »Mensch« entstand nämlich (wieder einmal) durch harte Arbeit, Unnachgiebigkeit, Ausdauer. Seine Schwächen sind seine Stärken, das weiß er auch selbst: »Ich bin ein sturer Westfale, ein ziemlicher Dickkopf. Aber die ersten Lieder waren sehr traurig, sehr schwer, sehr balladig, sehr eng. Da habe ich schon gedacht, hoffentlich kriegst du irgendwann wieder Luft.« Er hatte »Angst davor, auch den zweiten Schatz, den ich besaß, zu verlieren«. Denn »Musik ist für mich so wichtig wie sonst wenig, das sitzt bei mir gleich neben der Niere«. Sehr viel Kraft kam von Freund und Producer Alex Silva: »Wir haben einen kleinen Raum in London und haben uns da jeden Tag getroffen und auch viel nichts gemacht, nur geredet. Der hat mich und meine Kinder stark geschoben. Ich bin in der Musik zu Hause, das ist mein Element, und ich habe auch darum gekämpft, das wiederzufinden, diesen Schatz, den ich in mir trage. Das ist wie laufen lernen.« Das brauchte natürlich seine Zeit. Die ersten anderthalb Jahre nach Annas Tod ging überhaupt nichts. »Dann habe ich ganz langsam wieder angefangen, Musikversuche zu machen, das wurde aber sehr traurig und sehr balladig und bleiern. Mein bester Freund Alex Silva, der das Album auch produziert hat, der ist dann mit mir ins Studio gegangen. Wir haben uns dann von sehr traurigen und zähen und langsamen Sachen vorgehangelt. Irgendwann wurde es dann auch etwas schneller und dynamischer. Aber es war ein sehr zäher Vorgang, ich hab anderthalb Jahre an dem Album
gearbeitet.« Alex Silva und er hätten sich »vierzehn Monate lang in sehr langsamen Schritten vorgetastet, Takt für Takt. Oft haben wir auch gar nichts gemacht, nur zusammengesessen und geraucht und gequatscht.« Erst im Sommer 2001 bemerkte Grönemeyer: »Es wird etwas luftiger, so langsam kommt die Energie zurück, ich kenne mich wieder aus, ich sehe eine Ecke meiner alten Schatztruhe. Da habe ich zugepackt. Es war wie nach Hause kommen.« Dabei ging es Grönemeyer auch darum, die Tonalität des Albums insgesamt hochzuziehen: »Meine Angst war, ein Album zu machen, das ausschließlich aus Balladen besteht. Das hätte eine zu massive Trauer gezeigt, die für meine Kinder nicht auszuhalten wäre. « Ideen kämen ihm überall und nirgends, zwischen Fernseher und Kühlschrank oder auf dem Weg zum Bad. »Auf einmal ist da was, das ich gut finde«, sagt Grönemeyer. Von seinem spontanen Einfall sei er dann oft so begeistert, dass er sich ans Klavier setze und die drei frischen Takte stundenlang vor sich hin klimpere. »Entweder es geht dann was oder eben nicht«, beschreibt er achselzuckend seine Schaffensweise. Die Arbeit war insgesamt kein Zuckerschlecken, aber letztlich eher schön als stressig, denn Alex Silva ist »sehr fröhlich, sehr motivierend und man kann sich mit ihm auch nicht richtig streiten, denn er ist wirklich immer guter Laune«. Immer wieder riet er Grönemeyer, mutig neue Wege zu gehen: »Embrace your courage.« Das lohnte sich - nicht nur verkaufte Grönemeyer bislang rund drei Millionen »Mensch«-CDs, er wurde prompt von »Gala« auch noch zu einem der gefragtesten Partygäste (siebter Platz) der Republik gekürt. »Mensch« war - noch vor der Robbie-Williams-CD »Escapology« - der Renner im Weihnachtsgeschäft 2002. Ein derartiger Erfolg war - in einer Zeit der Boy- und Girlbands, der Retortengruppen und des SchlagerComebacks - wahrhaft nicht vorhersehbar. Polydor-A&RManager Daniel Pieper (Bro'sis, James Last) erklärt: »Es geht immer um Liebe, um Beziehung, um Gefühl, um
Trauer, um Schmerz. Von allem ein bisschen - das ist der gute Mix. >Mensch< von Herbert Grönemeyer erfüllt das. Ich glaube allerdings grundsätzlich, dass in ihrem Grundton negative Lieder seltener eine Chance haben, ein Hit zu werden. Es gibt ganz wenige Beispiele dafür - in der Punk- und New-Wave-Ära gab's ein paar Nummern. Von Selbstmordwünschen geplagte Künstler wie Kurt Cobain. Aber selbst von The Cure war der Hit >Lullaby< - und nicht >A Forest<.« Die CD »Mensch« erschien am 2. September 2003 kopiergeschützt (immerhin aber mit eingebautem Computer Player), wurde aber - schätzen Experten trotzdem mindestens zwei Millionen Mal im Internet kopiert. Was Grönemeyer nicht tragisch findet, »solange niemand daran verdient. Mein Sohn brennt auch CDs. Als Jugendlicher kannst du dir nicht« bei den derzeitigen Verkaufspreisen »fünf Platten kaufen, und dann sind nur drei gute Stücke auf der Platte. Das Internet fördert die Möglichkeit, sich ein breiteres Spektrum anzueignen. Man kann einfach mal klicken und hören: Was macht die Band?« Auch wenn Grönemeyer selbst nicht ahnte, was für ein grandioser Erfolg das Album und die Single »Mensch« werden würden, so gefiel ihm doch der Track selbst von Anfang an, und auch ohne Text wusste er schon: Das wird die erste Single. Grönemeyer: »Das ist schwer zu erklären. Ich brauch keine Texte. Für mich ist die Musik in sich stimmig. Für mich ist dann alles da. Ich sing dann ja so englische Bananentexte dazu, wenn man die Aufnahmen hört, wundert man sich.« So entstand sogar die Liebesballade »Der Weg«. Sie ist zugleich auch ein guter Beweis dafür, wie falsch die Medien Grönemeyer immer wieder einschätzen: »Wenn er noch ein Lied über Anna schreibt, werden wir es nicht zu hören bekommen«, behauptete die »B.Z.« 1998. »Der Weg« belegt das Gegenteil. Tochter Marie singt im Chor des Songs »Mensch«, »so eine ganz zarte Frauenstimme« am Schluss, erklärt ihr Vater liebevoll. Wobei Marie privat natürlich nicht
(ständig) die Musik ihres Vaters hört, sondern eher Bands wie All Saints oder Allee der Kosmonauten, eine »sehr gute Band«, so Grönemeyer. Außerdem töne aus den Kinderzimmern Musik von Dynamite Deluxe, Eminem, Limp Bizkit oder den Foo Fighters. So überzeugt Grönemeyer von Album und Single war als »Mensch« dann seine erste Nummer-l-Hitsingle wurde, konnte er es nicht fassen: »Man sitzt selber davor und wundert sich und ist ganz baff«, gibt er zu. »Wir haben schon gedacht: Das ist eine schöne Nummer. Und man koppelt natürlich als Erstes eine Nummer aus, von der man denkt, sie könnte eine Wirkung erzielen.« Aber als der Song dann »auf eins ging, haben wir gefeiert und gesagt, das ist klasse, es gibt immer noch Überraschungen«. In »Mensch« verabschiedet sich Grönemeyer von seiner Frau Anna, obwohl das Lied eigentlich von etwas ganz anderem handelt. »Du fehlst«, heißt es immer wieder traurig im Refrain. Gerade die Tatsache, dass diese Zeile so knallhart dazwischengeschoben wird, wie ein Gedanke, der nur kurz aufblitzt, einen ständig begleitet, macht sie so rührend, so glaubwürdig. Er sagt: »Die Zuneigung zu einem Menschen kann dessen Tod überdauern. Auch bei meiner Frau ist das so. Das sind Gefühle, die sind nach wie vor so übermächtig in mir, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass das jemals abbricht. Dieses Gefühl nimmt nach wie vor alles ein.« Die erste Demoversion des Textes sang Grönemeyer ausnahmsweise auf Französisch: »Da habe ich immer gesungen, >plage de la vie<, der Strand des Lebens. Und ich habe dann versucht, Situationen zu beschreiben und wie man aus so schwierigen Lebenslagen wieder rauskommt, ohne den Schmerz zu verdrängen. Deshalb: >Es tut gleichmäßig weh<. Es wird so bleiben, den Schmerz muss man akzeptieren, aber dennoch muss es möglich sein, eine Zukunft zu haben.« Begeistert hat nicht nur der Song selbst, sondern auch das ungewöhnliche Video zu »Mensch«. Grönemeyer erklärt: »Das Lied heißt >Mensch<, aber wir haben
gedacht, wir nehmen keinen Menschen, sondern ein Tier, und versuchen an diesem Tier auch die Melancholie zu zeigen, auf der anderen Seite aber auch die Zuversicht.« Im Grunde genommen, sagt er, »träumt der Eisbär davon, zurück nach Grönland zu kommen, weil er da Eis hat. Es ist nur ein weiter Weg übers Meer bis nach Grönland.« Die Idee, ausgerechnet einen Eisbären zu verwenden, ist quasi hausgemacht: Das Label Grönland hat einen Eisbären als Maskottchen, der auf der Website (www.groenland.com) im Logo-Schriftzug Schabernack treibt. Gedreht wurde der Clip unter der Regie von Anton Corbijn in Dänemark; in dem Eisbärenkostüm steckte »ein ziemlich durchtrainierter dänischer Sportler«, so Grönemeyer. Es »war mörderisch heiß da drin. Am Strand waren Zuschauer, und die ganzen Kinder kamen angelaufen und wollten den Eisbären anfassen. Es war schwer für ihn, zu gehen. Er hatte Schuhe an aus Fell, ab und zu wurde ihm der Kopf runtergenommen, damit er mal durchatmen kann.« Regisseur Anton Corbijn erklärt: »Aber das, was ich auf keinen Fall machen wollte, war, ein Video über eine ernste Person drehen, die einen ernsten Song singt - und nachdem man das Video fünfhundertmal gesehen hat, verspürt man nur noch den Wunsch, auf einen anderen Kanal zu wechseln. Die Idee zu dem Video >Mensch< sollte im Gegenteil lebensfroh und witzig sein, ein Video für junge und nicht so junge Leute. Deshalb spielte ein Eisbär die Hauptrolle, und Herbert sang dazu Karaoke am Strand. Einige fanden es vielleicht seltsam, aber es wurde mehr als fünfhundertmal gesendet, niemand wechselte den Kanal, und >Mensch< blieb für sechs Wochen Nummer eins in den Charts.« Selbst Grönemeyers alter Weggefährte Jürgen Triebel Komponist der allerersten deutschsprachigen Grönemeyer-Songs - ist begeistert von dem Track: »Das ist eine sehr gut abgemischte Produktion, die hat mich sofort gegriffen. Das beste Stück, das er je gemacht hat außer >Currywurst< - ist >Mensch<.«
Dass in Deutschland gerade die große Menschlichkeit grassierte, weil halb Dresden unter Wasser stand, über den Osten eine Flutkatastrophe hereingebrochen war, mag ein Übriges getan haben. »Mensch« wurde ungeplant - zur Notstandshymne: »Momentan ist richtig / momentan ist gut / nichts ist wirklich wichtig (...) Und der Mensch heißt Mensch / weil er vergisst, weil er verdrängt (...) weil er irrt und weil er kämpft / weil er hofft und liebt / weil er mitfühlt und vergibt / weil er lacht und weil er lebt«. Im Grunde ist »Mensch« - ähnlich wie »Männer« - eine Aneinanderreihung von Phrasen, die für Grönemeyer eine persönliche Bedeutung haben mögen, aus denen sich aber auch jeder heraussuchen kann, was ihm passt, was ihm gefällt, was ihm nützt. Damit unterscheiden sich diese Songs vom Aufbau handelsüblicher Popnummern, die meist eine Geschichte erzählen: »Verlieben, verloren, vergessen, verzeih'n«, » I Was Born For Loving You«, »Sorry Seems To Be The Hardest Word« oder »Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz«. Der Hörer muss abstrahieren, um einen Bezug zu sich herzustellen. Grönemeyer hingegen liefert einen Text, ein Lied, quasi im Baukastensystem. Eine Art Gedanken-Compilation, fragmentierte Denkideen, ein Mixtape der Wünsche, Fantasien, Hoffnungen. Das aber - und darin liegt der Clou - zum Prinzip erhoben, zur Kunst verfeinert, mit druckvoller Musik angeschoben: Der Hörer muss konkretisieren, um einen Bezug zu sich herzustellen. Das geht leichter, die Zeilen von »Männer« passen wie Knetmasse in jede Männerform, die Verse von »Mensch« erfassen ganz prinzipiell Verlust und Leid, ohne sie je konkret zu formulieren. So ist »Mensch« dann eben im Ganzen doch keine beliebige Worthülsensammlung, sondern ein präzises Bild einer konkreten emotionalen Situation - weitgehend anwendbar auf jeden anderen Verlust, jede Trauer, jede Katastrophe, ohne dabei beliebig zu erscheinen. Sondern wie jeder gute Popsong: gesungen nur für dich! Grönemeyer selbst rief im Dessauer Rathaus an und spendete vorab die Einnahmen seines dortigen Open-Air-
Konzertes 2003, eine halbe Million Euro, gegen die Flutschäden. Er erklärte auch das gerade angebrochene Jahrhundert »persönlich zum Jahrhundert der Menschlichkeit. Ich glaube, dass diese Sehnsucht nach menschlicher Nähe extrem groß ist. Und dass man auf der einen Seite durch die Globalisierung, auf der anderen Seite durch die Anschläge in Amerika merkt, wie eng wir miteinander verknüpft sind. Was bleibt, ist die menschliche Nähe.« Auf »Mensch« trafen sich Grönemeyers privateste Sehnsüchte und Gefühle mit nationalen und internationalen Entwicklungen. Das Ergebnis war ein unglaublicher Erfolg, der sogar ihm selbst manchmal fast unheimlich ist: »Vielleicht weil ich meinen Gefühlen nicht traue und erst recht nicht den Gefühlen anderer. Hinter diesem Erfolg steckt eine Wucht, die mir Angst macht, und ich versuche, das alles nicht so ernst zu nehmen. Am meisten gefreut habe ich mich, als die Platte nach anderthalb Jahren der Zweifel endlich fertig war und die Single >Mensch< sofort auf Platz eins ging.« »Der Weg« ist das wohl persönlichste - und eindeutigste Stück, das Grönemeyer je gemacht hat. Er verarbeitete darin seine Liebe zu seiner Frau Anna und den Abschied von ihr. »Ich hab ja viele Liebeslieder für sie geschrieben«, sagt er, »und sie hat dann bei >Bleibt alles anders< gesagt: >Schreib doch mal ein Lied nur für uns zwei.< Und dann habe ich >Stand der Dinge< geschrieben. Dies ist noch einmal der Versuch zu beschreiben, was sie für mich bedeutet, was sie für ein wunderbarer Mensch war. Es ist nicht nur ein trauriges Liebeslied, es hat meiner Meinung nach auch etwas von ihrer Kraft, auch etwas Positives. Sie war sehr lange krank, und manchmal denke ich auch, sie war deswegen so lange krank, weil sie gewartet hat, bis ich das auch alleine kann. Sie hat wirklich extrem gefightet, und zu >Bleibt alles anders< hat sie gesagt: >Das ist die erste gute Platte, die du gemacht hast.< Und die habe ich auch alleine, ohne sie, gemacht. Weil sie als Mutter austesten
wollte: Kann der das, kann ich den alleine lassen mit den Kindern? Schafft der das? Das wollte ich mit dem Lied auch sagen: Sie hat auch sehr viel Kraft hinterlassen, so komisch das klingt.« Ja, das Lied »ist sicher auch der Versuch, meiner Frau ein Denkmal zu setzen. Das zu zeigen, was sie mir nach wie vor bedeutet.« Drei Jahre zuvor hatte er in einem Interview gestanden: »Ich möchte ein kraftvolles, ultimatives Liebeslied schreiben.« Das ist ihm gelungen. Das Bild der »Reise« beziehungsweise »Zeitreise« bekannt schon aus dem Song »Bleibt alles anders« (»Denk auf deiner Zeitreise mal an mich«) sowie der Todesanzeige für Anna (»Erzähl uns ab und zu von deiner Reise«) - findet sich in »Der Weg« ein drittes Mal: »Ich gehe nicht weg / hab meine Frist verlängert / neue Zeitreise / offene Welt«. Zeilen, die sehr klar das Leben nach Anna als einen weiteren, neuen Abschnitt beschreiben, dem man sich öffnen muss, den man zulassen darf. Grönemeyer selbst übrigens zieht eine Parallele zwischen »Der Weg« und »Flugzeuge im Bauch«, »das ist ein ähnliches, verzweifeltes Lied, auch wenn da eine ganz andere Geschichte dahintersteckt. Die kennt nur keiner außer mir.« Im Gegensatz zu seinem alten Hit habe er aber »Der Weg« allein »schon musikalisch so gebaut, dass sich das nicht zum Mitsingen anbietet. Wenn das Lied nicht in sich geschlossen ist und so präzise, dann habe ich einen Fehler gemacht. Das ist die eigene Verantwortung, dass ein solches Lied so dicht ist, dass man es nicht auseinanderrupfen und missbrauchen kann. Ich musste es so schreiben, es ist da, und dann gebe ich es halt frei.« Beide Grönemeyer-Kinder weinten, als sie »Der Weg« zum ersten Mal hörten; speziell für Grönemeyers Tochter Marie war es schwer, die geballten Emotionen in diesem Lied auszuhalten. Er habe »die Kinder gefragt, ob das vielleicht zu viel sei. Ihre Antwort war: >Du hast das so geschrieben, also musst du es auch gefälligst so singen.< Ihre Mutter kam aus Hamburg und hatte diese hanseatische Nüchternheit. Ich höre meine Frau in
meinen Kindern und denke: Das klingt sehr nach dir, Anna. Auch du hast oft zu mir gesagt: >Jetzt zöger hier mal nicht rum, Herbert, wenn es so ist, dann ist es eben so.<« Herbert Grönemeyer liebte an seiner Anna auch »diese Würde, die Konzentration auf das Wesentliche«, sagt er, und formuliert es im Song nur wenig anders: »Nordisch nobel / deine sanftmütige Güte / dein unbändiger Stolz / das Leben ist nicht fair«. Das Video zu »Der Weg« drehte Daniel Lwowski (www.lwowski.com), er ließ Grönemeyer ganz allein übers Meer segeln und schließlich durch eine Tür in den Himmel treten. Für deutsche Verhältnisse ein sehr aufwändiges Video: »Herbert gibt schon mehr als der Durchschnitt aus«, erklärt Lwowski. »Aber wenn man für Grönemeyer dreht, dann wollen auch alle mitmachen; man kriegt bessere Preise und einfach mehr für sein Geld.« Dass der Schluss des Videos an das Ende des Peter-Weir-Films »The Truman Show« erinnert, war Absicht: »Es ist ein Zitat. Wir hatten die Idee, ihn alleine auf einem Boot zu zeigen, was sehr nah und sehr weit zugleich ist. Das Meer ist die Entsprechung für seine Frau. Man sollte nie Land sehen, um die starke emotionale Bindung zu visualisieren. Es ist auch kein Land in Sicht. Aber wir brauchten eine Lösung für die Geschichte. In der >Truman Show< verlässt Jim Carrey ja eine künstliche Welt, praktisch eine Bühne. Bei uns verlässt Herbert diese Welt, diesen Kosmos, den er und seine Frau bildeten.« Gerade wegen der großen Emotionen war es nicht einfach, eine passende Symbolik für das Video zu finden. »Das Video war ein Drahtseilakt«, sagt Lwowski. »Man will nicht total auf die Tränendrüse drücken, aber man will auch nicht total vom Thema abweichen. Ohne zu kitschig zu werden. Es war übrigens ein sehr guter Dreh. Wir erlebten schöne, spaßige Momente. Herbert war skeptisch, weil wir auf dem Meer drehen wollten. >Das Boot< haben sie am Anfang - typisch Deutsche - in einem richtigen Boot im Wasser gedreht, bis alle gekotzt haben und das Boot
auseinander gebrochen ist. Nach dieser Erfahrung war er skeptisch. Wir haben vor Mallorca gedreht, und Herbert kann auch eigentlich nicht segeln. Aber jetzt will er sich ein Segelboot kaufen, es hat ihm also gefallen. Der Dreh war sehr intim, sehr traurig und nachdenklich, aber auch actionreich. Bei den Helikopteraufnahmen hatten wir acht Windstärken! Aber bei weniger Wind hätte es nach flacher See ausgesehen. Und am Tag zuvor haben wir aus einem kleinen Gummiboot gefilmt, und Herbert musste ganz nah an uns vorbeifahren; mein Kameramann wäre fast ins Wasser gefallen.« Ein weiterer Song, in dem Grönemeyer den Verlust Annas thematisiert, ist »Dort und hier«. Er singt: »Die Nacht schluckt jedes schwere Gewicht / und nimmt den Tag aus der Pflicht / der Mond steht steil und tut wieder nichts / ich schließ die Augen und denk an dich / ist jemand da, wenn dein Flügel bricht / der ihn für dich schient, der dich beschützt / der für dich wacht, dich auf Wolken trägt / für dich die Sterne zählt, wenn du schläfst«. Der Stimmverzerrer lässt den Song beim ersten Hören etwas abweisend erscheinen, aber er erweist sich als mindestens genauso herzzerreißend wie »Der Weg«. Nach »Der Weg« koppelte Grönemeyer »Demo (Letzter Tag)« aus, einen Song, den er - deshalb der Titel - am letzten Aufnahmetag als Demoversion einspielte. Er handelt von einer (möglichen) neuen Liebe. Auch zu diesem Track drehte Lwowski das Video - er zeigt Grönemeyer kurz am Anfang, dann bis zum Ende eine Balletttänzerin. Wie kommt man auf so eine geradezu waghalsige Idee? Lwowski: »Es gab einen kleinen Pitch, man sollte Ideen vorschlagen. Ich finde das Lied schräg, weil man den Text einfach gar nicht visualisieren kann. Nur Herbert zu zeigen wäre ein bisschen langweilig, ihn mit 'ner Frau zu zeigen hätte ich noch zu früh gefunden, und eine Geschichte kann man dem Song nicht überstülpen. Ich hab ziemlich lang gebraucht, bis ich eine Idee hatte - ich blätterte in einer Zeitung und sah Ballerinas, und dann fiel mir wieder ein, dass Tanz die
Urform der Musikbebilderung ist. Ein ganz auf die Form des Tanzes reduziertes Musikvideo gab's noch nicht, und ich finde, es passt sehr schön zu dem Song, weil der tausend verschiedene Stimmungen hat. Gott sei Dank versteht Herbert so eine Idee dann auch.« Gedreht wurde im Theater des Westens, das gerade zwischen zwei Produktionen leer stand. Paulina Seminova, erste Solistin an der Berliner Staatsoper, tanzte dabei nicht etwa nur zum Takt eines Metronoms, sondern zum echten Song. »Wir hatten einem Choreographen den Song gegeben und haben anderthalb Wochen vor Dreh angefangen zu proben«, erzählt Lwowski. »Wir fanden auch eine wunderbare Tänzerin, die fünf Abende lang die Choreographie einstudieren sollte. Doch nach drei Tagen rief der Choreograph an und sagte, die Tänzerin hätte sich bei einer anderen Probe verletzt. Also brauchten wir einen Ersatz, weil wir den Termin halten mussten. Dann schlug jemand eine Ballettschülerin vor, aber die konnte die Schritte nicht schnell genug lernen. Am Freitag kam dann Paulina von der Staatsoper Unter den Linden ins Gespräch. Die war bei unserem Casting gerade in Athen gewesen. Sie ist ein echtes Jahrhunderttalent, ist direkt aus der Schule als erste Solotänzerin engagiert worden. Sie hat in zwei Stunden die Choreographie draufgehabt. Wir haben meist nur die Hälfte am Stück gedreht, aber sie hat auch das ganze Stück in einem durchgetanzt. Wir haben ihr auch den Text übersetzt, damit sie versteht, worum es geht.« Aus Grönemeyers Sicht ein echter Vorteil war die kurze Drehzeit bei »Demo (Letzter Tag)«, da er nur so kurz zu sehen ist. »Nachdem wir ihn beim >Weg< zwei Tage lang so gequält haben«, sagt Lwowski, »will er jetzt eigentlich nur noch einen Tag drehen und nicht mehr so lange weg sein von seinen Kindern. Also war die Idee zu >Demo< auch ein guter Köder, denn sein Teil war in zwei Stunden abgedreht. Aber er war schon so neugierig, dass er ewig geblieben ist, bis wir mit der Tänzerin weitergemacht haben. Und er war auch total begeistert. Als zwei Wochen
später Platinverleihung war, sagte er, noch nie hätte ihn eine Performance so beeindruckt wie dieser Tanz.« Auch »Mensch« erwies sich, wie die Grönemeyer-Alben zuvor, als Langläufer, auch wenn es durchaus Schwachstellen hatte. Die »taz« meckerte: »Grönemeyer dichtet mit einer Direktheit, die ab und zu erfrischend sein kann, oft jedoch einfach nur auf die Nerven geht. Alles muss raus, jetzt und hier, doppelt und dreifach hält besser. Vor allem bei den rockigen UptempoNummern wird gerne großkalibrig mit der assoziativen Schrotflinte geschossen, nach dem Motto: Eine Metapher wird schon treffen.« Im Frühsommer 2003 wurde schließlich als vierte Single eine dieser Uptempo-Nummern, nämlich »Zum Meer«, ausgekoppelt - der ursprüngliche Abschlusssong der CD. »>Zum Meer< ist der speziellste und der dynamischste Song auf der Platte«, sagt Grönemeyer. »Es geht um Zuversicht, dass man mit der Vergangenheit seinen Frieden schließt, einfach nach vorne denkt und zum Meer will, das ist ein tolles Lied.« Für Grönemeyer ist es ein Schlüsselsong des Albums: Er handle davon, voranzugehen, nicht zurück, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen, denn »bei so einer Katastrophe merkt man, wie beschränkt man als Mensch ist. Man kann nicht mehr wollen, als man kann.« Ein Satz, eine Erkenntnis, die dem sturen Perfektionisten Grönemeyer ungeheuer schwer gefallen sein muss. Die Komposition von »Zum Meer« schloss Grönemeyer am 11. September 2001 ab: »Zum Meer« war ursprünglich eine ganz schnelle Nummer. Aber dann »bin ich eben am 11. September ins Studio gegangen und habe das Lied komplett umgeschrieben. Da habe ich die Musik auch fertig gestellt, so, wie sie heute ist. Dann die Frage: Was schreibst du da für einen Text drauf?« Er hatte von einem Mädchen gehört, dessen Eltern nicht wollten, dass es raucht. Das Mädchen arbeitete im World Trade Center und ging zum Rauchen immer auf die Straße. Grönemeyer: »Und so hat das Rauchen ihr am
11. September quasi das Leben gerettet. Die Geschichte habe ich dann versucht, mit aller Gewalt auf die Nummer zu packen, weil ich die Musik halt genau an dem Tag geschrieben hatte. Dann hab ich aber gemerkt, ich kriege diesen Text nicht hin. Der war eigentlich schon fertig, aber ich habe gemerkt: Das, was übrig geblieben ist vom 11. September, das steckt schon drin in dem Lied, und als Alternative habe ich dann den Text >Zum Meer< geschrieben.« Das Video für »Zum Meer« drehte - wie schon das zu »Mensch« - Grönemeyers Freund Anton Corbijn. Der sagt: »Ich bat Herbert, auch das Video zu meinem Lieblingssong >Zum Meer< drehen zu dürfen. Ich wollte ihn als einen großartigen Menschen zeigen, als einen richtigen Überlebenden, als einen exzellenten Musiker und schillernden Schauspieler.« Am Anfang des Videoclips ist Grönemeyer als eine Art in Fell gekleideter Don Quichotte zu sehen, der - so Corbijn - »den Wahnsinn und vielleicht die Geister der Vergangenheit bekämpft«, doch dann wandelt er sich in einen »fröhlichen und sensitiven Künstler mit viel versprechender Zukunft«. Das ist für Corbijn die Essenz der letzten Jahre seiner Freundschaft mit Grönemeyer, denn »ich vermute, dass einige das Album >Mensch< erworben haben, ohne zu realisieren, wie gut dieses Album wirklich ist. Sie haben es gekauft, weil sie mit ihm gefühlt haben, als Akt der Solidarität. Ich meine nicht, dass das falsch ist, aber ich glaube nicht, dass Herbert das (noch) braucht. Herbert ist ein sehr starker Mensch und ein großartiger Sänger und Musiker, und es ist ausreichend, ihn an seinem Werk zu messen.« Der Track »Zum Meer« ist zugleich der Lieblingssong seines Sohns Felix; der »sagte ganz nüchtern und cool zu mir: >Dein Song „Zum Meer“ ist sehr in Ordnung. Das ist die ultimative Nummer deines neuen Albums<«, berichtet Grönemeyer stolz. Im Übrigen hat Felix auch noch eine eigene Nummer auf dem Album, »die muss man aber suchen«, so Grönemeyer: 17,5 Minuten nach dem Start des elften
Tracks »Demo (Letzter Tag)«, nach etwa vierzehn Minuten Stille, beginnt ein ungenannter »hidden track«, der von Felix' Band President Granny stammt, »die machen Rock wie >Smashing Pumpkins«<, erklärt Grönemeyer. Felix habe den versteckten Bonustitel »mitkomponiert und mitprogrammiert, und das wollten wir auch aufnehmen«, der Sänger - wie oft spekuliert wurde sei Felix aber nicht. Wer Lust hat, kann nun nach Unterschieden in Drive und Beat zwischen Vater und Sohn suchen: Felix »hat eine ganz eigene Welt und ein völlig anderes Verständnis für Beat«, sagt Grönemeyer. »Er kommt oft in mein Studio und sagt: >Eure Beats sind ziemlich dünn. Aber macht ihr das mal so. Ihr seid ja auch schon ein bisschen älter.<« Er freue sich darüber, dass seine Kinder auf »Mensch« zu hören sind, aber er habe es nicht forciert. »Dass meine Kinder da mitsingen, ist ihr Wille. Das haben sie sich so ausgesucht. Denn ich versuche nach wie vor, meine Kinder aus meinem öffentlichen Leben rauszuhalten. Es gibt keine Familienfotos, und es wird auch in Zukunft keine geben.« Insgesamt empfindet Grönemeyer das Album »Mensch« nicht in erster Linie als traurig, sondern auch als positiv: Da sei schon »die Melancholie, die Verzweiflung, aber oben drüber schwimmt Zuversicht und eine Zukunft, sie hat etwas sehr Hoffnungsvolles.« Auch den Kindern gefalle die CD insgesamt: »Felix findet `Zum Meer' gut«, berichtet Grönemeyer. Und »Marie mag >Der Weg<, auch wenn's so traurig ist. Zum Teil finden sie's auch etwas öde. Sie finden die Platte okay, aber es ist nicht so, dass sie vor Begeisterung durchs Haus rennen.« Die Kinder stellten ihrem Künstlervater auch kreativen Input zur Verfügung: »Wir hatten eine Nummer >Viertel vor<«, sagt Grönemeyer, »die hatten wir im Grunde fertig, war aber sehr ruhig. Wir waren so begeistert, wie toll die Nummer ist.« Dann spielte Papa Grönemeyer das Stück Felix und Marie vor, und die sagten unbeeindruckt: »Ja, und? Was soll das denn jetzt sein.« Das war natürlich ein kreativer Kick für Grönemeyer, also »schrieben wir noch
einen Chorus, und deswegen ist die Nummer jetzt wirklich gut geworden.« Für Grönemeyer war klar, dass er trotz aller aktuellen Einflüsse - von Silva über Coldplay bis zu The Hives eindeutig wie er selbst klingen wollte: »Wenn man meine Musik hört, soll man sofort wissen, das ist Grönemeyer.« Er betrachtet »Mensch« musikalisch auch ganz schlicht als konsequente Fortführung von »Bleibt alles anders«, nur »etwas monumentaler und poppiger«. Auch habe es ihm geholfen, die CD in London aufzunehmen: »Hier konnte ich extrem traurig sein, aber auch rumalbern in der Phase der Trauer. Das wäre in Deutschland so nicht machbar gewesen.« Denn in der Heimat hätte natürlich immer gleich jemand kritisch geguckt, wieso da einer lacht, der doch traurig sein sollte. Dabei sei die positive Grundstimmung gerade auch in den Texten, auf die viele bewundernd hinwiesen, nicht zwingend seine private Position. »Traue der Kunst, aber nie dem Künstler«, warnt Grönemeyer. »Im Alltag habe ich schon manchmal Anflüge von Wehleidigkeit und finde, dass das Schicksal sich extrem unfair gegen mich gewandt hat.« Das heiße aber nicht, »dass ich das, was ich singe, nicht meine und nicht glaube«, erklärt er. »Aber es ist wie eine Autobiografie, da schreibt man auch immer besser über sich und lässt die schlechten Sachen weg.« Für ihn jedenfalls verkörpere »diese Platte mehr Aufbruch als Trauer. Es war für mich der Versuch, einen Ausweg zu finden aus der Melancholie, ein Versuch, Zuversicht zu entwickeln. Wahrscheinlich träumen die Leute in Deutschland von einem Aufbruch, aber sie wissen nicht, wie sie beginnen sollen. Man kann die Vergangenheit nicht vergessen, aber man kann ihr auch nicht immer nachhängen. Zuversicht muss man sich auch selbst geben.« Ton und Text reflektieren auf »Mensch« einen veränderten Herbert Grönemeyer. Dass das Leben weitergeht, wäre eine zu einfache Formel, um das Abebben von Grönemeyers Leid und der
Trauer seiner Kinder zu erfassen. Zu einfach, um jenen Menschen gerecht zu werden, die gerade jemanden verloren haben. Und doch ist es so: Das Leben geht weiter. »Es ist ein Teil des Lebens, dass jemand stirbt«, stellt Grönemeyer fest. »Auch >Bleibt alles anders< war im Grunde eine Platte, die sich damit beschäftigt hat, ohne dass jemand das wusste.« Mittlerweile habe er sich mit Annas Tod arrangiert, sich getröstet: »Ich laufe nicht mehr den Weg zurück, ich gehe wieder nach vorne.« Über den sensationellen Erfolg von »Mensch« freute er sich sehr, denn »es ist schön, nach so langer Zeit zu spüren, wie die Menschen auf meine Lieder reagieren«. Doch wichtiger war es, festzustellen, dass er das Geschenk der Musik, des Singens und Spielens, nicht verloren hatte. »Der Erfolg ist schön«, sagt Grönemeyer offen, »das ist alles wunderbar. Aber die größte Freude war, dass ich überhaupt eine Platte gemacht habe, dass ich das hinkriege. Als die fertig war, die erste Woche, das war die schönste Woche.« Zumal man den derzeitigen Erfolg kaum noch verwalten, schon gar nicht aber verarbeiten kann: »Mein Büro hat mich vor ein paar Wochen aufgefordert, endlich meine E-Mails zu lesen. Ich habe den Computer angeschaltet, zugeschaut, wie 2500 Mails geladen werden, und dann gleich wieder ausgemacht. Dieser Erfolg übersteigt meine Kräfte, er überrollt mich.« Grönemeyers ehemaliger Ocean-Orchestra-Trompeter Markus Stockhausen ist von der gesamten Platte sehr beeindruckt: »Er produziert vom Klanglichen her sehr bewusst und mit großer Raffinesse. Die Arrangements sind sehr gut gemacht, das ist immer aktuell. Er spricht seine Texte sehr schnell und mit einer enormen Dichte an Informationen, wie man es aus dem Rap kennt. Das ist sicher eine Art Zeitphänomen. Seine Stimme ist unverwechselbar, ähnlich wie früher.« Dennoch ist Stockhausen keineswegs unglücklich, nicht Mitglied von Grönemeyers fester Band geworden zu sein: »Er fragte mich einmal, nachdem ich auf einer seiner ersten Platten ein Solo spielte, ob ich mir das vorstellen kann. Ich sagte
nein, denn dazu bin ich viel zu eigen, mache ganz andere Dinge und kann mich zeitlich nicht für so lange Projekte festlegen. Dass er allerdings immer noch mit fast derselben Band spielt, spricht für Herbie. Er ist offensichtlich ein sehr loyaler Typ.« Auch Fotograf Jim Rakete mag »Mensch«: »Die neue Platte ist in wertkonservativer Hinsicht ein Schritt zurück. Das finde ich gut. Da spielen wieder ganz klassische Elemente die Hauptrolle. Es steht nicht die Produktion im Mittelpunkt, sondern der Mensch, dann sind da Streicher, alles ist ganz normal sortiert. Aber die Platte verrät nicht, wie er da hingekommen ist. Er ist jemand, der keine Erfahrung ausschließt. Er macht sie alle, und dann setzt er sich hin und bewertet. Das scheint mir ein großes Geheimnis erfolgreicher Leute zu sein, dass sie die Kreativitätsphase und die Bewertungsphase auseinander zu halten verstehen. In Deutschland ist es für gewöhnlich so, dass der Schlagersänger gerne Chanson singen würde, der Popsänger gerne Rock singen würde, der Discosänger gerne Soul singen würde. Und wenn die selber für sich etwas schreiben, dann überfordern sie sich teilweise. Und dann klingt es eben nicht so, als würde jemand in einem schnellen Auto langsam fahren und lässig sein, sondern als würde ein Motor im höchsten Drehzahlbereich gerade noch die Kurve kriegen. Und bei Herbert habe ich immer das Gefühl, dass in ihm etwas wächst und brodelt, und dann schreibt er eine Melodie. Und ich glaube, dass insgeheim von Anfang an das Bild hineinwächst in den Rahmen. Es ist immer er in Bezug auf die Welt, es ist immer er mit Blick auf die Welt. Da singt jemand, der beeindruckt ist und sich auch Naivität leistet und der jetzt immer weiter differenziert zwischen Schicksal, Fügung und Plan. Das sind ja nun mal die Fragen, die man sich stellt, wenn man nicht völlig auf den Kopf gefallen ist. Irgendwann muss man sich dem aussetzen. Die Frage ist immer: Geht das das Publikum etwas an oder nicht? In Herberts Fall würde ich meinen, es ist eine tolle Sache, dass er es für jemanden, der ihn mag, durchaus zu teilen weiß, was mir bei anderen
Menschen höchst unangenehm ist. Ich habe kein Interesse mehr am Privatleben von Herrn XY, aber wenn es so einfließt in ein Werk und so stimmig ist, dann ist es ganz toll. Man ist nicht eingeladen zu einer Party, auf der man nicht sein möchte, sondern die Gefühle sind mit einer unglaublichen Genauigkeit getroffen. Das spricht alle an, quer durch die Generationen. Völlig abgesehen davon, dass es den Herbert bestätigt für ich weiß nicht wie viele Jahre Arbeit.« Denn nicht etwa ein schneller Musenkuss brachte Grönemeyer dahin, wo er jetzt ist, sondern vor allem seine Ausdauer: Erfolg erfordert ein hohes Maß an Kontinuität. Rakete: »Es geht nicht nur ums Können. Erfolg hat auch viel damit zu tun, ob man von seinem eingeschlagenen Weg abweicht oder nicht. Nur dann, wenn man alles ausschöpft und in jede Sackgasse gerannt ist, kann man sagen, dass alles getan ist. Für einen Künstler ist das bestimmt der Horror.« Genau diesen Aspekt eigenständiger, beständiger Kunst, die nicht durch kurze Geistesblitze entsteht, sondern Ergebnis harter Arbeit ist, betonte Grönemeyer auch anlässlich der Wiederauflage der Neu!-Alben: »Neu! stärken das Selbstbewusstsein. Von ihnen lernen heißt: Chuzpe zu haben, sich nicht beirren lassen. Hätten sich Neu! damals reinreden lassen, würden sie nach dreißig Jahren nicht mehr so frisch klingen.« Ein Credo, dass viele Stars nach oben brachte, wie beispielsweise auch US-Talkmaster Jay Leno, der sagt: »Jeder Idiot kann ein Leben führen. Wenn du atmest, hast du ein Leben. Aber an eine Karriere ist schwerer ranzukommen. Ich bin nie in irgendwas besser gewesen als jeder andere auch, also musste ich mich immer ein bisschen mehr anstrengen, um mitzuziehen oder sogar zuzulegen. Wie die Schildkröte, die den Hasen reinlegt, musste ich mich vorwärts schaufeln, langsam und stetig.« Dabei bildet »Mensch« korrekt das Leben ab: Freude im Leid, Leid in der Freude. So würde Rakete den Künstler zu diesem Album auch nicht extra traurig fotografieren: »Ach, Quatsch! Das hat damit nichts zu tun. Auch in den traurigsten Momenten des Lebens passiert manchmal
etwas ganz Albernes. Im größten Unglück gibt es immer auch ein Quäntchen Glück. Ein wahnwitziger Erfolg verursacht auch eine irrsinnige Einsamkeit.« Diese Einsamkeit inmitten des größten Trubels und gnadenloser Schulterklopferei erlebte Rakete unter anderem auch bei Nena mit, die zeitweise jede zweite »Bravo«-Titelseite zierte und nicht mehr unbehelligt über die Straße gehen konnte. Grönemeyer gehe anders mit seiner Berühmtheit um, versuche, eine Normalität im Alltag zu erhalten: »In Berlin ist prinzipiell alles möglich«, erklärt Rakete, da könne auch ein Grönemeyer unbehelligt im Café sitzen. »Noch angenehmer für ihn ist natürlich London, da kann er sich völlig frei bewegen, aber in Berlin ist es schon okay. Hinzu kommt, dass der Herbert merkwürdigerweise auch aussehen kann, als wäre er gar nicht Grönemeyer.« So ehrlich und echt Grönemeyer allerdings live oder auch im Interview wirke er achte auf eine deutliche Abgrenzung seines Privatlebens. Rakete: »Ja, der hat da eine Riesenmauer! Sich die Freiheit zu nehmen, innerhalb der Performance nicht dem Klischee zu entsprechen, hat mich auch immer verblüfft bei ihm. Was er auf der Bühne macht, ist wie ein Vergrößerungsglas zu seiner Musik. Das sieht teilweise schon sehr konditions- und kraftorientiert aus. Viel interessanter ist aber die Frage, ob der Mann mit der Einkaufstüte Herbert Grönemeyer sein könnte.« Und im Gespräch erlebe er Grönemeyer ganz einfach locker und normal: »Zwischen uns gibt es eine gewisse Wahrhaftigkeit, die einfach typisch ist. Wir klammern auch dieses ganze Erfolgsgewäsch völlig aus. Mit Herbert redet man über alles Mögliche, über Politik, über die Engländer - das ist ja gerade so erfrischend.« Dabei bleibt derjenige, der ihn am meisten fordert, letztlich Grönemeyer selbst. Das ist »bei guten Künstlern« immer so, sagt Rakete. Und erinnert sich an ein Interview mit Grönemeyer. Da wurde der gefragt: »>Sie wirken so angestrengt und verspannt?< Und Herbert sagt: >Ich bin angestrengt und verspannt!< Das fand ich großartig.« Er erinnert sich noch an eine weitere Szene, die vielleicht
auch Grönemeyers Auftreten - wenn auch gefiltert durch die Wahrnehmung einer weiteren Band - deutlich macht: Rakete managte unter anderem Die Ärzte, und »wir hatten einen der ersten Computer, der war schrecklich kompliziert, und Die Ärzte haben den sofort >Herbert Grönemeyer< getauft. Ich weiß nicht, warum. Aber Die Ärzte haben sich auch mit dem echten Herbert gut verstanden, da gab's ein bannig komisches Telefonat.« Vielleicht ist es genau das, was Grönemeyer ausmacht: gnadenloses Pflichtbewusstsein bei vollständigem Künstlerdasein. Er selbst erklärt sein Erbteil väterlicherseits in dem Song »Blick zurück«: Der Track sei »ein verklausulierter Brief an meinen Vater. Er verlor mit vier seinen Vater, im Krieg wurde ihm ein Arm amputiert, und vor vier Jahren starb einer seiner Söhne an Leukämie. Trotzdem war er immer einer, der zufrieden in sich ruht und so eine westfälische Genügsamkeit hat. Seine Haltung war: Es ist schon alles in Ordnung. Sein Beispiel habe ich mir immer wieder vor Augen gerufen.« Für Grönemeyer ist »Blick zurück« ein Schlüsselsong: »Es geht um eine gewisse Demut und Sich-selberGenügen, dass da schon viel Magie drinsteckt und man sich nicht irgendwie nur ständig von Äußerlichkeiten lenken lässt, nicht nur ständig auf der Suche ist, sondern auch lernen kann, dass der Moment genügt, dass man da ist und dass man nicht alleine ist, das ist schon in Ordnung, das reicht auch schon.« Sein Vater »ist einer, der sich selbst genügt. Ein großer, kräftiger Westfale, der mit seinen Freunden, die er seit fünfzig Jahren kennt, am Tisch sitzt und manchmal anfängt zu weinen vor Glück einfach nur, weil es ein schöner Abend ist. Diese Lebensfreude will ich durch meine Musik vermitteln.« Ein weiterer wichtiger Song für Grönemeyer ist »Kein Pokal«, »weil das das erste Lied war, wo ich plötzlich einen Refrain geschrieben habe, der Kraft hatte. Das war der Moment, wo ich aus meinen Balladen, aus den traurigen Stücken herauskam und plötzlich einen Chorus hinkriegte, der Druck machte, wo ich sagte >Oh, da kommt plötzlich, da keimt so Hoffnung auf, also jetzt
kriegt das Ganze etwas mehr Druck und Spannung.< Und als ich den Chorus geschrieben habe, da habe ich gedacht: >Aha, jetzt kannst du dich auch wieder heranwagen an härtere Sachen, schnellere Sachen.< Das war so der Drehmoment zwischen Balladen und wieder zu sagen: >Okay, jetzt schreib mal wieder, jetzt komm mal auf den Punkt.<« Die Texte für »Mensch« verfasste er dann nachts, er habe »so um elf angefangen, bis morgens immer drei, vier Uhr. Da bin ich am konzentriertesten, und da bin ich auch am entspanntesten, auch am müdesten. Das ist auch am besten. Ich kann am besten arbeiten, wenn ich müde bin.« Wieder einmal enthüllen die Texte vielleicht nicht unbedingt einen klaren Blick auf den Künstler selbst, aber doch zumindest auf seine Weltsicht:
»Am Strand des Lebens ohne Grund, ohne Verstand ist nichts vergebens ich bau die Träume auf den Sand« (»Mensch«) »Und gleicht ein Tag noch so sehr dem andern und ist das Leben unerträglich seicht und bist du innerlich längst ausgewandert lache, wenn's nicht zum Weinen reicht« (»Lache, wenn's nicht zum Weinen reicht«) »Ich versuche, mir einen Traum vorzuprogrammieren und stell mir vor, du kämst zu mir ich sollte aufhör'n, mein Hirn zu strapazieren du bist dort, und ich bin hier« (»Dort und hier«)
In einem auf den ersten Blick krass geschmacklosen Satz - der sich jedoch bei näherem Hinhören als exakt korrekt erwies - fasste die »Berliner Zeitung« Grönemeyers »Mensch« zusammen: »Die Trauer steht ihm gut.« Bei aller technischen Kniffelei achtete Grönemeyer diesmal mehr als bei »Bleibt alles anders« darauf, wie er selbst zu klingen, auch wenn er beispielsweise in »Dort und hier« Knistergeräusche und - wie schon in »Fanatisch« auf »Bleibt alles anders« - Stimmverzerrer einsetzte: »Man geht nicht so analytisch ran und sagt: Ich mach jetzt was, das ungewöhnlich klingt. Man fragt nur: Wie krieg ich hin, dass die Nummer interessant klingt?« Er nahm die Platte in einem ganz kleinen Studioraum auf, denn »sie sollte ein bisschen klingen wie in der Garage. Damit sie ihre Intimität behält und nicht so durchpoliert klingt.« Sogar »Pop-Titan« Dieter Bohlen lobte via »Bild Zeitung«: »Herbert kommt sehr authentisch rüber. Auch das Video zu >Mensch< ist echt innovativ. Ich hätte das alles nicht besser machen können. Ein perfektes Produkt. Da hat er eine megageile Leistung abgeliefert.« Selbst in dem Bericht der »Zeit« zur Veröffentlichung von »Mensch« schwingt Respekt mit - und vielleicht liegt in dieser Kritik sogar mehr Wahrheit als in manchem Lob: »Grönemeyer ist der Wilhelm Meister des Betroffenheitspop. Er bezieht seine Glaubwürdigkeit aus dem Gestus eines Mannes, der die Stilwindungen der Neunziger durchlaufen hat, um geläutert daraus hervorzugehen. Frühzeitig hat er den alten Deutschrockstiefel gegen ein paar zeitgemäße Sneakers eingetauscht, ist aus dem Ruhrgebiet nach Berlin und von dort nach London gezogen, hat mit Elektronikern zusammengearbeitet, sich einmal sogar von angesagten DJs remixen lassen - und ist doch bis heute unverkennbar für alle >der Herbert<, die ehrliche Haut. Wenn die Leerformel vom Künstler, der sich >selbst treu geblieben< ist, je auf jemanden zugetroffen hat, dann auf Grönemeyer.« Ob Grönemeyer wirklich ehrlich eins zu eins auf Platte zu hören ist, auf der Bühne steht, sei dahingestellt das ist nicht die Qualität, die ihn ausmacht. Die Qualität
besteht darin, dem Publikum das Gefühl zu geben, dass er wirklich ehrlich eins zu eins auf Platte zu hören ist und auf der Bühne steht. Hört DJ Bobo seine Musik privat, Westernhagen, Maffay, Hartmut Engler (Pur), Bruce Springsteen, Bob Dylan? Das ist irrelevant für die Beurteilung der Kunst. Guter Song, schlechter Song. Gefällt mir, gefällt mir nicht. Fertig. So einfach ist das. Grönemeyer selbst gibt ebenfalls zu: Eins zu eins? »Nein, das glaube ich nicht. Das ist eine Mischung zwischen Stilisierung und ehrlichen Momenten. Kunst ist nicht ehrlich. Kunst ist eine Überhöhung, und Künstler zelebrieren sich in ihrer Kunst, meistens zum Guten. Diese Ehrlichkeit ist eine hochgefährliche Geschichte, das ist man nicht. Sollte auch nicht sein.« Die allerprivatesten Gedanken, Gefühle behält er für sich: »Das erfährt niemand. Das trage ich mit mir rum. Es ist eine kleine Facette, ein Bruchteil meiner Emotionen und der Dinge, die in meinem Kopf sind - vielleicht sechs Prozent.« Offen hingegen spricht Grönemeyer mittlerweile über sein Leid, seine Trauer, die er auf dem Album »Mensch« künstlerisch umsetzte. Aber er betont: »Ich behalte meine Intimität. Ich spreche über das Sterben und den Tod, weil ich das erlebt habe, aber die ganzen Details, wie das war mit Anna, mit meinen Kindern, das behalte ich für mich.« Er beschreibt auch, dass ihm der große Erfolg - die erste Nummer-eins-Single! - nun weniger bedeute als früher: »Es ist nicht so, dass ich vor Freude rumhüpfe. Das erste Mal kann ich ihn nicht mit dem Menschen feiern, der mir am nächsten war. Aber es ist okay, und ich bin dankbar.« Und sagt klar, warum er nun mit seinem Schicksal, wo er Anna nicht mehr aus dem Rampenlicht fern halten will, offener umgehen kann: »Früher war mein Leben nicht öffentlich, aber jetzt ist es öffentlich geworden, weil man mein Schicksal kennt. Das kann ich ja nicht ungeschehen machen. Ich kann mich ja nicht hinsetzen und sagen, das ist alles nicht passiert. Also muss ich dazu Stellung beziehen.«
Die Tournee »Alles Gute von Gestern bis Mensch« erfolgte in zwei Teilen, Hallen und Arenen wurden im Herbst 2002 bespielt, im Frühsommer 2003 folgten Stadien und Open-Air-Auftritte. Im Vorprogramm unter anderem Stephan Eicher sowie Creutzfeld & Jacob, die HipHop-Band von Grönemeyers Neffen aus dem Ruhrgebiet. (In der Vergangenheit hatte ihn auch schon die Qualitätscombo von Frühstücksfernseh-Turnschuh Cherno Jobatey, Cherno & the Groovegangsters, supportet.) Bühnenaufbau und Dramaturgie der »Mensch«-Shows sind dabei vom Theater inspiriert: »Zadek hat in Bochum oft ganze Bühnen ins Publikum gebaut«, erklärt Grönemeyer seinen Laufsteg und den Auftritt durch den Zuschauerraum. Zumindest von den ersten Konzerten nach der langen LivePause bekam Grönemeyer aber wenig mit: »Die Konzerte sind zum größten Teil an mir vorbeigerauscht. Hinterher steht man unter der Dusche und fragt sich: Was war das jetzt? Es ist so, als ob die Frau, die man liebt und von der man geliebt wird, einen mit ihren Küssen überfällt und nicht aufhört mit ihren Küssen. Eigentlich möchte man sagen: langsam, langsam. Und sie küsst und küsst, obwohl man sie zwischendurch am liebsten einfach nur mal angucken würde. Manchmal kann die Wucht einer Liebe so stark sein, dass sie einen berauscht.« Diese Liebe hat ihren Preis, aber Grönemeyers Konzerte sind mit knapp 35 Euro pro Ticket inklusive aller Gebühren immer noch preisgünstig. Dennoch haben sie definitiv eine andere Dimension erreicht als frühere Liveauftritte Grönemeyers. Einerseits sind zwanzigtausend und mehr Zuschauer da, so dass jeder direkte Bezug zum Publikum verloren geht und man zumindest von hinten nur ein kleines Männchen über die Bühne hopsen sieht. Andererseits sind sie auch technisch aufwändiger geworden, verfeinert. Grönemeyer trägt mittlerweile Lautsprecherknöpfe in den Ohren, statt sich auf brüllend laute Monitorboxen verlassen zu müssen. Ergebnis: Er hört die Band und kann daher besser singen, dafür hört er das Publikum nicht mehr so gut. Der Ehrgeiz
hat ihn dennoch nicht verlassen: Er suche sich bei Konzerten gerade die Gesichter in den vorderen Reihen, die nicht mitgehen, sagt er, und denen singe er vor, bis sie weich würden und sich in das Konzert fallen ließen. Nach wie vor ist Livespielen vor Publikum für Grönemeyer »der Inbegriff von Glücksgefühl. Deswegen lebt man.« Mitten hinein in den schönen »Mensch«-Erfolg fiel die Wiederauflage eines alten Streits. Immer wieder hatten Marius MüllerWesternhagen und Grönemeyer gewetteifert, wer der erfolgreichere deutsche Rocker sei. Die Künstler ließen ein paar feine Seitenhiebe gegeneinander los. »Wir als Künstler sind die Schwämme der Nation«, erklärte Grönemeyer beispielsweise, »wir müssen Atmosphären aufsaugen und die artikulieren, das ist unser Job. Deshalb sollten wir uns keine Bundesverdienstkreuze verleihen lassen oder uns mit der Politik einlassen.« (Westernhagen bekam 2001 ein Bundesverdienstkreuz, Grönemeyer nicht.) Denn »was nützt es mir, mit Politikern an einem Tisch zu sitzen, die das sowieso nicht interessiert? Die sehen nur das Foto mit mir. Das beste Beispiel war Kohl. Der ist zu Bärbel Bohley gegangen, hat mit der Kaffee getrunken, damit war die Bohley verschluckt - Pacman-Mentalität. Kunst aber muss gefährlich bleiben, unberechenbar.« Grönemeyer erklärte zudem in einem »stern«-Interview: »Als die Plattenverkäufe von Marius vor Jahren massiv runtergingen und einige Journalisten ihn niedermachten, habe ich ihn 1987 zu meinem Musikverlag geholt und selber Marketingkonzepte für ihn entwickelt. Innerhalb von wenigen Jahren war Marius wieder da, wo ein Mann mit seinen wunderbaren Fähigkeiten hingehört. 1990 fuhren Marius und seine Plattenfirma dann die Kampagne: Westernhagen, der größte und erfolgreichste deutsche Künstler. Das macht man nicht. Die Frage, wer der Größte ist, ist schon mal öde und langweilig. Außerdem stimmte die Behauptung von den Verkaufszahlen her nicht. Mein Gefühl war: Ich habe für den Erfolg von
Marius mitgesorgt, und jetzt wird auf meinem Rücken diese Kampagne gefahren. Diese Unanständigkeit hat mir wehgetan. Das war für mich ein unheimlich brutaler Tritt. Und das steht zwischen uns.« Das wurde im »Kölner Express« schnell verknappt zu: » 1990 fuhren Marius und seine Plattenfirma die Kampagne: Westernhagen, der größte und erfolgreichste deutsche Künstler. Das macht man nicht. Außerdem stimmte die Behauptung von den Verkaufszahlen her nicht. Mein Gefühl war: Ich habe für den Erfolg von Marius mitgesorgt, und jetzt wird auf meinem Rücken diese Kampagne gefahren. Diese Unanständigkeit hat mir wehgetan. Das war für mich ein unheimlich brutaler Tritt. Und das steht zwischen uns.« Die »Bild« zitierte nur noch: »Ich habe für den Erfolg von Marius mitgesorgt. Als seine Plattenverkäufe vor Jahren massiv runtergingen, habe ich ihn in meinen Musikverlag geholt und selber Marketingkonzepte für ihn entwickelt.« (Kein Wunder, dass Grönemeyer auf Boulevardzeitungen nicht gut zu sprechen ist.) Westernhagen erklärte genervt: »Ich kenne diesen Mann kaum. Wir haben uns in den letzten zwanzig Jahren höchstens fünfundzwanzig bis dreißig Minuten unterhalten.« Und: »Diese Hilfe hat es nie gegeben. Ich kenne diese Geschichte schon seit Jahren. Ich weiß auch nicht, warum Herbert so ein Zeug erzählt. Das hat er doch gar nicht nötig. Er ist doch eigentlich ein lieber Kerl.« Marius-Manager Goetz Elbertzhagen legte nach: »Was die Marketingkonzepte angeht: Ich kann mich nicht im Geringsten daran erinnern, dass Grönemeyer für Marius so etwas entwickelt hat. Keine Ahnung, wie er darauf kommt.« Westernhagens Album »In den Wahnsinn« allerdings erschien nur wenige Wochen nach »Mensch« und drohte sang und klanglos aus den Charts und dem Bewusstsein des Publikums zu entschwinden. Westernhagen sollte zwischenzeitlich sogar die ihm voreilig überreichte PlatinAuszeichnung zurückgeben, weil nicht einmal die erhofften dreihunderttausend Exemplare abgesetzt
worden waren. Er hat aber noch bis Ende 2003 Zeit, diese Zahl tatsächlich zu erreichen. Grönemeyer stellt ohnehin klar: »Ich begreife mich als Unikat. Es gibt keinen besseren Grönemeyer als mich. Jeder tritt nur gegen sich selbst an. Der Wettstreit, wer am meisten verkauft, ist absolut uninteressant.« Ex-Musikmanager Jim Rakete, der beide Künstler intensiv erlebt hat, gefällt gerade die Tatsache, dass Grönemeyer seinen Kollegen Westernhagen zum eigenen Management geholt hat - ohne Hintergedanken, wie er meint: »Das ist eben typisch Herbert, und dafür mag ich ihn auch so. Er ist eben nicht so berechenbar und nicht so egomäßig unterwegs, wie man denken könnte. Er hat bestimmt irgendeinen verdammt guten Grund gehabt und die Empfehlung sicher ernst gemeint.« Rakete erklärt sich den folgenden Dauerzwist ganz einfach: »Beide müssen auf unterschiedliche Art - das Gefühl haben, Nummer eins zu sein.« Eine Zeit lang habe es »eine Art Kopf-an-KopfRennen« gegeben, doch »mittlerweile ist das sehr deutlich entschieden«. Ende Februar 2003 war dann plötzlich ein GrönemeyerSong im Radio zu hören, der nicht auf »Mensch« zu finden ist. Ein unendlich trauriges, langsames Lied voll magischer Demut und vielleicht auch ein wenig Hoffnung. Das Lied hieß »Trauer«, wurde unverkennbar von Grönemeyer gesungen - der Text stammte aber nicht von ihm, obwohl der Titel es nahe legte, sondern von der 1942 im KZ ermordeten Selma MeerbaumEisinger, und die Musik hatte die Schweizer Weltmusik-Band The World Quintett komponiert. Für »Trauer« trat Grönemeyer zum ersten Mal als Gastsänger einer anderen Band ans Mikrofon - obwohl es anfangs gar nicht danach ausgesehen hatte. World-Quintett-Drummer David Klein berichtet, wie es zu der Zusammenarbeit kam: »Ich habe keine Grönemeyer CDs zu Hause. Ich bin kein klassischer Fan. Aber ich habe immer wieder bei einzelnen Sätzen aufgehorcht, wenn seine Songs im Radio oder Fernsehen liefen. Seine Stimme hat mich
bebührt: Sie ist authentisch, und er klingt sehr integer. Die Texte habe ich eigentlich mehr über die Cover-Versionen mitbekommen, zum Beispiel von Oli P. Die Texte gefielen mir, haben mir entsprochen. Ich konnte mir intuitiv für >Trauer< nur ihn als Sänger vorstellen. Also habe ich im Mayfair-Studio angerufen und hatte Alex Silva am Telefon, den Produzenten. Es ging ein paarmal hin und her, wir haben CDs nach London geschickt, aber er sagte dann, Herbert sei zu beschäftigt. Damals war allerdings noch keine Rede von >Mensch<, es herrschte völlige Stille. Da war auch überhaupt kein kommerzielles Kalkül dahinter. In meinen Augen war er einfach derjenige, der den Text mit der nötigen Ernsthaftigkeit rüberbringen konnte. Es ist ja ein Text aus den vierziger Jahren, das kann auch schnell peinlich werden. Aber Alex meinte: >Das kannst du vergessen.< Ich hätte doch wohl auch nicht im Ernst geglaubt, dass Grönemeyer auf unserer Platte singt? Aber das hatte ich. Doch dann kam zwei Stunden später eine Mail von Rene Renner: Sie hätten sich unsere CDs angehört und seien total begeistert; Grönemeyer wolle mit uns zusammenarbeiten! Die CDs hatten im Studio gelegen, und Herbert sagte in einer Pause: >Wirf die doch mal rein.< Er hatte ein Klezmer/Polka-Stück geschrieben und sagte: >Das ist die Band, mit der ich dieses Stück für ,Mensch` aufnehmen will.< Das war eigentlich der Plan. Er singt auf unserer CD, wir spielen auf seiner. Wir sollten sogar vor ihm releasen, vor >Mensch<. Das war wirklich sehr großzügig von ihm. Er ist dann im März oder August 2002, das weiß ich nicht mehr so genau, zu uns nach Zürich gekommen und hat gesungen. Das mit seinem Song hat sich zerschlagen, der ist nie aufgenommen worden. Aber er plant ja eine englische Version von >Mensch<, vielleicht kommt der Titel da drauf.« »Trauer« ist ein sehr ruhiges, zartes Stück, in dem Grönemeyers Stimme ungewohnt behutsam klingt. Diese Aufnahme widerlegt endgültig alle Gerüchte, Grönemeyer könne nicht singen, sei nur ein »Grölemeyer«. Das sieht auch Klein so: »>Trauer< ist ein harmonisch und
melodisch sehr schwieriger Song. Und der Herbert kann wahnsinnig gut singen. Ich kann keine Noten lesen und schreiben. Deshalb bekam er ein Tape, auf dem ich singe. Er war wahnsinnig gut vorbereitet, als er nach Zürich kam. Damit war nicht unbedingt zu rechnen, er hätte ja auch sagen können, dass er keine Zeit gehabt hatte. Aber er hatte die Melodie total im Griff. Er hat Respekt gehabt vor dem Stück. Er ist das Lied ein paarmal mit dem Pianisten durchgegangen, dann hat er darum gebeten, dass im Studio das Licht ausgemacht wird, es blieb nur ein einziger Spot für ihn an, und dann hat er einfach gesungen. Wir haben Gänsehaut bekommen davon! Er hat sich so zurückgenommen, er hat sich hinter den Text gestellt, in den Dienst des Textes, wie es alle großen Musiker machen. Da war überhaupt keine Selbstdarstellung. Die Phrasierung hatte ich über die Takte gezogen, etwa wie es Billie Holliday gemacht hat. Das hat er übernommen; er singt dieses Stück ganz anders als seine Songs. Viel verletzlicher, sehr frei über den Harmonien und Takten. Er fliegt über die Akkorde wie früher Charlie Parker, den man deshalb ja den Bird nannte. Die Aufnahmen dauerten nur einen halben Tag. Er hat sich den Song wirklich zu eigen gemacht. Die Melodie geht von ganz unten bis sehr hoch rauf. Er hat einen enormen Stimmumfang. Viele andere Sänger müssten vor so einem Stück erst mal eine Milch mit Honig trinken - und er singt's einfach.« Nun stand die Band vor dem Problem: Wie entlohnt man einen mehrfachen Millionär als Gastsänger? Klein berichtet begeistert: »Gar nicht. Wir haben keinen Vertrag gemacht. Er ist einfach gekommen, hat gesungen und ist wieder gegangen. Wir haben nur den Flug bezahlt. Sein Lohn wäre unser Auftritt auf seiner CD gewesen. Das hätten wir auch gern gemacht, dann würden uns jetzt drei Millionen Menschen kennen. Wir als Band haben zwar ein großes Renommee, wir spielen in Konzertsälen in der ganzen Welt und haben unseren ganz eigenen Stil. Aber wir sind immer noch ein Geheimtipp.«
Einen weiteren Gastauftritt absolvierte Grönemeyer wenig später: Für das im Juni 2003 veröffentlichte Stephan-Eicher-Album »Taxi Europa« sang er einige Zeilen auf der ersten Single, dem Titelsong. Darauf sind Eicher, Grönemeyer und der italienische Rocksänger Max Gazze zu hören, und wer immer noch Zweifel an Grönemeyers gesanglichen Qualitäten hat, sollte »Taxi Europa« hören: Samtsanft wie noch nie klingt seine Stimme. Der Track selbst wurde in den ICP Studios in Brüssel aufgenommen, Grönemeyer sang seinen Part unter Aufsicht seines Hausproduzenten Alex Silva in den eigenen Mayfair Studios in London ein. Noch im Februar 2003 gestand Herbert Grönemeyer im »Spiegel«, er habe - gut vier Jahre nach dem Tod seiner Frau - eine neue Freundin: »Wenn Sie es genau wissen wollen: Ja. Sie ist Hoffnung, ein Ausblick. Ich bin mir sicher, Anna würde nicht wollen, dass ich allein zurückbleibe.« Die neue Freundin komme nicht aus Deutschland, und »mehr werde ich dazu nicht sagen«. Doch wenige Tage nach dem Geständnis im »Spiegel« war die Identität der unbekannten Freundin enthüllt: Sie wurde namentlich beispielsweise in der Schweizer Zeitung »20 Minuten«, aber auch in »Bild am Sonntag« und der »Süddeutschen Zeitung« genannt. Sie ist 31, Schweizerin, Mutter einer Tochter und wohnt in der Nähe von Zürich. »Gefunkt habe es zwischen den beiden vor einem halben Jahr in einer Züricher Diskothek«, meldete die »Süddeutsche Zeitung«, die junge Frau habe den Sänger angesprochen. Sie »ist faszinierend und geheimnisvoll, weltoffen und freiheitsliebend«, beschrieb ihr Ex-Freund Henry die neue Liebe Grönemeyers. Die junge Frau sei »glücklich und sehr verliebt«, berichtet ein Freund, stets »lebenslustig, fröhlich, lebendig«. »Sie hat Spaß am Ausgehen, tanzt und feiert gerne«, sagte ein Mitglied ihrer Clique aus Jugendzeiten. Im Spätsommer 2002 mischte sie sich fröhlich unter das Partyvolk in der Disco »Kaufleuten« - nicht übermäßig gestylt und nur dezent geschminkt. »Prominente wie Prince oder Tina
Turner kommen gerne zu uns, weil sie wissen, dass sie hier in Ruhe gelassen werden«, erklärt Marc Brechbühl, Geschäftsführer des »Kaufleuten«. Grönemeyer war gerade zu Werbezwecken in der Stadt. Seine Zukünftige und er »standen lange vor dem DJ-Pult und unterhielten sich«, beobachtete einer ihrer Freunde, »sie schienen sich sehr gut zu verstehen.« Wenig später habe Grönemeyer angerufen und sie zu seinem Konzert in Zürich eingeladen. Später habe sie ihn auch in London besucht. Herbert wiederum besuchte seine neue Freundin in PRPausen ab und zu in ihrer Wohnung bei Zürich. Sechs Monate lang hielt Grönemeyer die neue Liebe geheim, promotete sein Album »Mensch«. Genervt waren dann allerdings vor allem die Medien, aber auch manche Fans, als Grönemeyer die Reportage-Lawine, die er selbst mit seiner Auskunft im »Spiegel« angestoßen hatte, wieder aufhalten wollte: »Bereits am Tag der Veröffentlichung [eines Berichts über die neue Freundin in der Schweizer Zeitung >20 Minuten<] lief die PRMaschine des Sängers an«, berichtete die »Frau im Spiegel« empört. »Zuerst kam die rote Karte von seiner Plattenfirma Capitol Music in Köln. In einem Rundschreiben heißt es: >Im Namen von Herrn Herbert Grönemeyer weisen wir darauf hin, dass dieser keinerlei Berichterstattung über sein Privatleben wünscht und hiergegen unverzüglich rechtliche Schritte einleiten wird.< Wenige Stunden später untersagte sein Anwalt Dr. Christian Schertz, dass irgendwelche Details über die junge Frau veröffentlicht werden dürfen. Nicht, wie alt sie ist, nicht, wo sie arbeitet, und auch nicht, wo sie sich kennen gelernt haben. Inzwischen fragen sich viele enttäuschte Fans, die ihrem Idol so viel Zuneigung und Bewunderung entgegenbringen: Warum dürfen wir nicht wissen, ob Herbert privat glücklich ist? Schließlich hat wohl jeder dem Musiker eine neue Liebe gegönnt, vier Jahre nach dem Krebstod seiner Frau Anna.« Auch er sich selbst: »Wenn das Leben will, dass da noch mal jemand um die Kurve kommt, dann soll es so sein. Wenn nicht, ist es
auch okay. Wenn Anna die Liebe ist, die mein ganzes Leben bestimmt, dann ist das völlig in Ordnung.« Schließlich stellte Grönemeyer immerhin klar, warum er sich offen zu seiner neuen Liebe bekannte: »Es gibt niemanden, der Anna ersetzen kann, auf der anderen Seite finde ich, dass man dazu stehen muss. Man kann sich nicht immer rumdrücken. Das ist dem anderen gegenüber nicht fair.« Also: Offiziell stehen zur neuen Partnerin wollte er schon, sie aber zugleich - wie Anna, wie seine Kinder - aus der Berichterstattung heraushalten. »Gala« fand: Herbert Grönemeyer »singt von Trauer und neuer Liebe - und versteckt sie um jeden Preis. Das ist sein gutes Recht. Auch wenn es Millionen Fans vielleicht enttäuscht.« Die »Bunte« hingegen maulte: »Ja doch, man fühlt sich ein wenig betrogen, wenn gerade er jetzt für sich behält, wie man ins Leben und Lieben zurückkehren kann.« Und: Sie wohne »dort, wo auch die Schweiz ohne Hochglanz ist. So was wie Stardust wird ihr wenig begegnet sein. Die Gegend ist >bünzlig<, wie die Schweizer das Spießige nennen. Einfallslose Häuserreihen, ein 08/15-Supermarkt, ihr Wohnhaus ein typischer Fünfziger-Jahre-Block, in dem die Mieter ihre Schuhe vor der Wohnungstür aufreihen.« Ein Supermarktbesitzer bezeichnet die neue Freundin als »>e säähr Hübsche<, aber ein >mägeli Muck<, was liebevoll klingt, obwohl es >magere Mücke< heißt.« Grönemeyers Exberater Jürgen Otterstein bringt die Sache jedoch auf den Punkt: »Herbert Grönemeyer war nach dem Tod seiner Frau ein geschlagener Mensch. Er hat sich ausschließlich den Kindern gewidmet, und wenn das Leben ihm nun eine Frau geschenkt hat, sollte man das sicher dankbar entgegennehmen. Ich halte die Sache eher für eine Medienüberlegung: Wie können wir daraus jetzt etwas machen?« Bald schon wurde die damals aktuelle Single »Demo (Letzter Tag)« als »Hymne an die Frau nach Anna« gehandelt: »Du bist ein Leuchtstreifen aus der Nacht / du holst mich aus dem grauen Tal der Tränen (...) Ich lieb dich mehr als mich.« Diese Vermutung lag vor allem auch
deswegen nahe, weil Grönemeyer selbst zugegeben hatte: »Wir waren im Grunde genommen fertig mit der Platte, und diese Nummer hing immer noch fragmentarisch so herum. Wir hatten schon mal die Streicher aufgenommen, aber ich hatte auch keinen Text. Am allerletzten Tag vor dem Mastering kam ich, ich hatte in der Nacht einen Text geschrieben, und wollte singen.« Producer Alex Silva gefiel die Nummer nicht, er fand die Musik »altbacken«. Grönemeyer bestand auf dem Track, nannte ihn aber »Demo (Letzter Tag)«, damit alle Hörer Bescheid wüssten. »Letztendlich haben wir, auch bei den Konzerten, gemerkt, das ist eine schöne Nummer, ein schönes Lied, und ich bin froh, dass es drauf ist.« »Demo (Letzter Tag)« zeigt auch einen alten Unterschied zwischen Grönemeyers durchaus schwelgerischem Geschmack und den straighten Vorlieben der Band auf: »Ich habe meine Mitmusiker als Begleitband angetroffen, wir haben uns dann mit der Zeit näher kennen gelernt und sind zu einer Einheit geworden. Meine Kompositionen werden innerhalb der Gruppe partnerschaftlich ausarrangiert. Andererseits mag ich Klavier, Streicher und so, in den Balladen, da weiche ich dann vom Gruppensound ab«, erklärte Grönemeyer bereits vor Jahren. Aber war das Stück nun der neuen Schweizer Freundin gewidmet oder nicht? »Die gesamte CD - einschließlich der jetzigen Single - war bereits aufgenommen, bevor Herbert Grönemeyer die Frau kennen lernte«, ließ der Künstler über seine Plattenfirma verbreiten. So muss es aufgrund der technischen Vorläufe auch gewesen sein: Damit die CD im September erscheinen konnte, mussten die Aufnahmen spätestens Ende Juli abgeschlossen sein. Und noch im August 2002 hatte Grönemeyer erklärt: »Es gibt keine neue Liebe. Aber jeder Mensch geht damit verschieden um. Da gibt es kein Prinzip. Es kollabieren die Gefühle, und das wieder aufzubauen, um irgendwann wieder fähig zu sein, auf jemand anders zuzugehen - mag sein, dass das möglich ist. Wenn Gott es will, wird es passieren, dann werde ich mich dem auch nicht entziehen
können. Wenn er es nicht will, ist es auch in Ordnung. Das kann man nicht planen.« Noch im Dezember 2002 hatte er - ganz abstrakt, ganz prinzipiell - beschrieben, wie es sich anfühlt, wenn er sich verliebt: »Man ist von dem anderen Menschen erfüllt. So sehr, dass man denkt, der Magen dreht durch. Man atmet und spürt, irgendwas sitzt da. Ein emotionaler Druck, der sich im Körper breit macht und den man nur los wird, wenn man dem anderen ständig ins Ohr beißen darf.« Zeilen wie »Du bist / eine kluge Prognose / das Prinzip Hoffnung / ein Leuchtstreifen aus der Nacht / irgendwann find und lieb ich dich« erweisen sich also tatsächlich »nur« als kluge Prognose Grönemeyers, und wie es so oft geschieht, wenn man sich wieder öffnet und bereit ist für eine neue Entwicklung: Dann kommt sie schneller als erwartet. Tatsächlich ebbte das Medieninteresse - sicher auch dank der Drohungen des Anwalts - schnell ab. Und die meisten Fans fanden Grönemeyers vehementen Schutz seiner Privatsphäre ohnehin schon immer verständlich und bei aller Neugier auch eher sympathisch. Es mag Leute amüsieren, wenn sich Dieter Bohlen in seiner Biografie »Nichts als die Wahrheit« über Verona Feldbuschs Brüste äußert, doch von Herbert Grönemeyer erwartet niemand Derartiges. Und so freuten sich alle, als Herbert Grönemeyer am 15. Februar 2003 gleich zwei Echo-Preise bekam: als »Künstler national« (verliehen von Tote-Hosen-Sänger Campino, nominiert waren zudem Laith Al-Deen, Reinhard Mey, Xavier Naidoo, Westernhagen) sowie für die »Rock-Pop-Single national«, »Mensch«. Als Grönemeyer den Echo als »Künstler national« entgegennahm, erklärte er mit Blick auf seine Band, seine engsten Mitarbeiter: »Wir sind seit zwanzig Jahren zusammen, wir gucken uns an wie Ehepaare, die nicht genau begreifen, was gerade passiert. Wir sind völlig überwältig von der Zuneigung und Zustimmung, die uns entgegenschlägt in dieser Zeit. Wir sind wirklich völlig baff.« Der Preis gehe nicht an ihn, sondern an das ganze
Team: die Band, Alex Silva sowie alle anderen, die geholfen hätten, vor allem Management und Plattenfirma. »Bleibt gesund, bleibt Mensch, und habt einen schönen Frühling«, schloss er. Wenig später trat Grönemeyers Freund Günter Jauch (Grönemeyer war sogar bei der Einschulung von Jauchs Tochter Kristin dabei) auf die Bühne und begann: »Vor ein paar Monaten ist es mir so gegangen, dass ein Stück und dann auch das dazugehörige Album wirklich meine Seele richtig überfallen hat. Und ich weiß, dass es Millionen anderen Menschen genauso gegangen ist. Dass jeder, der irgendwann mal geliebt hat oder der Liebeskummer gehabt hat oder der traurig war oder der Abschied genommen hat oder der krank war oder der Angst gehabt hat oder der eifersüchtig gewesen ist und alles das, was es an Abgründen für die menschliche Seele gibt, und jeder hat diese finsteren Zeiten, dass ich das in dieser Musik wiedergefunden hab. Mit einer ungeheueren Kraft, mit einer Kraft, die einen auch getröstet hat, und wenn man merkt, dass auf einmal Musik so etwas in der eigenen Seele auslösen kann und eben auch bei so vielen anderen, dann ist das ein ungeheures Glück.« All das sagte er, bevor er zum Umschlag griff und diesen öffnete mit den Worten: »Und nun hoffe ich nur, dass die Jury das ganz genauso sieht, denn sonst habe ich hier ein echtes Problem.« Er riss den Umschlag auf. »Demzufolge geht hoffentlich ...« Er schaute in den Umschlag. »... und er geht! Der Echo 2003 an Herbert Grönemeyer!« Die Kameras suchten sofort Grönemeyer im Zuschauerraum. Statt des erwarteten Titelhits »Mensch« lief jedoch »Der Weg«, während er zur Bühne ging. Wie in Zeitlupe kämpfte sich Grönemeyer die zwanzig Meter zur Bühne; mit jeder Liedzeile, die durch den Saal des Berliner ICC hallte, wurde sein Gesichtsausdruck gequälter, sein Gang schwerer. Der Song für Anna brachte ihn sichtlich aus dem Gleichgewicht, auf der Bühne wischte er sich eine Träne aus dem Gesicht. »Ich
bin gerade etwas überrascht, weil grad ... >Der Weg< ... also ich versteh es nicht ganz, aber vielen Dank!«, begann er unsicher. Dann fing er sich: »Die Platte heißt >Mensch<, weil ich im Grunde immer ein Menschenfreund war und bin und sich das zum Glück auch durch die Katastrophe, die wir erlebt haben, nicht verändert hat. Die Zeit hat bewiesen, dass es gerade Menschen waren, meine Freunde, die Zuschriften, die ich gekriegt habe, mit unheimlich viel Liebe und Sorgfalt, die mir Mut gemacht haben, die sich hingesetzt haben und seitenlang versucht haben zu sagen: >Herbert, mach weiter!< Ich hab mit dem Eisbär gerechnet [eine Anspielung auf das Video zu »Mensch«] und nicht mit diesem Lied gerade. Das bringt mich jetzt etwas durcheinander. Ich hab mich auch nur umgezogen, weil ich dachte, ich muss noch was singen. Ich wusste gar nicht, dass das noch kommt, jetzt. Auf jeden Fall meinen Freunden und dem Wertvollsten, was ich habe, meinen beiden Kindern Felix und Marie ... « Seine Stimme versagt einen Moment lang. »... Es hat sich auch hier in Deutschland bestätigt, als die Flutkatastrophe passierte, dass wir in der Lage sind, aufeinander zuzugehen, füreinander Mitgefühl zu empfinden. Und ich hoffe, dieses Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Menschlichkeit, nicht nur in Deutschland, sondern auf der Welt, dass wir es nicht mit Kriegen lösen, sondern aufeinander zurücken, aufeinander zugehen. « Er hebt den Echo. »Felix und Marie, das ist für euch - und für alle meine Freunde, für alle Menschen. Macht's gut. Vielen herzlichen Dank, das ist wirklich sehr, sehr lieb!« Nicht nur Grönemeyer selbst wurde an jenem Abend zweifach ausgezeichnet - die Emi (mittlerweile umbenannt in Capitol) bekam ebenfalls einen Preis für das Marketing zu »Mensch« und Alex Silva einen für die Produktion. Beim großen Echo-Finale schließlich standen Holger Czukay, Jaki Liebezeit und Irmin Schmidt von Can, laut Grönemeyer »vielleicht die größten Musiker, die dieses Land in den letzten vierzig Jahren hervorgebracht hat«, neben Dieter Bohlen und seinen Superstars des Jahres
und schunkelten im Rhythmus von »We Have A Dream«. Can hätten - vermutlich genauso wenig wie Grönemeyer heutzutage noch eine Chance auf einen Plattenvertrag. Das sieht auch Superstar-Juror Bohlen so: »Wenn Grönemeyer zum Vorsingen für >Deutschland sucht den Superstar< gekommen wäre, hätte ihn unsere Jury durchfallen lassen.« Der habe nur »Charisma, aber keine überragende Stimme«. Zur Party nach der Preisverleihung kam Grönemeyer in Begleitung seiner neuen Freundin, spazierte mit der schönen Blonden stolz durch die Reihen der VIP-Gäste. Doch auf Reporterfragen zum jungen Glück reagierte er wie üblich - abweisend: »Was soll das? Das ist Privatsache.« Langsam kehrt bei Grönemeyers in London so etwas wie Normalität ein. Der Sänger lädt Freunde ein, sitzt mit ihnen in der Küche und plaudert, im Hintergrund erklingt entspannte Jazzmusik aus dem Radio. Doch kaum war der größte Rummel um »Mensch« abgeklungen, ging Grönemeyer schon wieder ins Studio, schrieb die Musik für Bob Wilsons Berliner Inszenierung von »Leonce und Lena«. »Das werden zum Teil Songs sein, die ich schon für >Mensch< geschrieben habe, aber auch neue. Ich muss immer weitermachen«, erklärt er. »Wenn eine Platte fertig ist, denke ich sofort an die nächste.« Premiere hatte das Werk kurz vor dem Start der zweiten Hälfte der »Von Gestern bis Mensch«-Tour am 1. Mai 2003 in Berlin. Robert »Bob« Wilson inszenierte 1990 am Hamburger Thalia Theater nach Motiven aus dem »Freischütz« das Musical »The Black Rider«, für das er Tom Waits als Songwriter gewonnen hatte. Nach ähnlichem Muster schufen Grönemeyer und er nun eine akustische Untermalung zu Georg Büchners Satiremärchen »Leonce und Lena«, in den Hauptrollen Markus Meyer, Nina Hoss, Stefan Kurt. Wilson und Grönemeyer waren sich bislang nur privat begegnet, Anfang der Achtziger hatte Wilson in Köln mit Anna Henkel-
Grönemeyer »the CIVIL warS« auf die Bühne gebracht. »Ich mochte Anna sehr, weil sie auf der Bühne so rätselhaft und geheimnisvoll wirkte«, sagt Wilson. Nun rief er Grönemeyer an und fragte, ob der ihm Songs schreiben würde. Grönemeyer lachte, sagte dann sofort: »Ja, >ich habe zwar seit zwanzig Jahren nichts mehr mit dem Theater zu tun, aber okay, ich fühle mich geehrt und mache mit.<« Vorgabe für den Komponisten: »Es sollte leicht sein«, so Wilson. Grönemeyer kam zu den Proben, improvisierte auf dem Klavier. Wilsons Arbeitsweise kam seiner Leidenschaft fürs Chaos - und seiner Kritik an der übermäßigen Analyse künstlerischer Werke - entgegen: »Wie Bob inszeniert, habe ich bei keinem Regisseur erlebt«, sagt Grönemeyer. »Er arbeitet chaotisch, aber auf sehr produktive und präzise Weise. Die Schauspieler sind gewohnt, über ihre Figuren Fragen zu stellen wie: >Woher komme ich? Warum bin ich hier? Wohin gehe ich?< Wenn du aber vor einem Kuss zu lange nachdenkst, kommt es nie zum Kuss.« »Rock der sanfteren Art (...) nett bloß«, so die Kritiker, wurde es, »eher jazzig, balladenhaft, gospelig und sentimental«, nannte es Grönemeyer selbst. Die Texte, eng gebunden an vorgegebene Motive, erreichen auch nicht die gewohnte Freistiltiefe. »Nirgendwo zu Hause, überall dein Gesicht«, singt die von Leonce nicht mehr geliebte Rosetta, Lena und Leonce hauchen: »Haben Träume eine Seele, macht Weinen Sinn, muss Leben sein«, Leonces Diener Valerio singt: »Wer will schon lange leben / wir sind hier nun mal eben / tot ist erst, wer nicht mehr trinkt.« Das zu texten hat sicher Spaß gemacht, ist aber doch nur Grönemeyer light. »Leonce und Lena« war für Grönemeyer aber nicht nur eine Rückkehr ans Theater, er traf auch einen alten Förderer wieder: Claus Peymann, für den er in Stuttgart auf der Bühne stand, ist mittlerweile Hausherr des Berliner Ensembles, wo Wilsons Inszenierung aufgeführt wurde. Trotzdem sieht ein anderes mögliches GrönemeyerProjekt vielversprechender aus. Herberts Bruder, der Arzt
Dietrich Grönemeyer, kaufte für seine Firma Medicus GmbH die Filmrechte an Noah Gordons Bestseller »Der Medicus«. »Wenn es in ein paar Jahren noch gute Angebote für ältere Männer gibt«, hatte Herbert erst 2002 wieder betont, »dann drehe ich vielleicht auch wieder.« Also spekulierte die »Gala«: Wer läge als »Medicus«Hauptdarsteller »näher als Dietrichs Bruder Herbert«? Das wäre mal ein Comeback! In Zukunft werde er sich vielleicht auch mehr noch als heute seinem Label Grönland widmen und nur noch in längeren Abständen Platten einspielen: »Ich kann mir schwer vorstellen«, sagt Grönemeyer, »nicht mehr auf der Bühne zu stehen. Aber nach und nach kann das passieren. Das ist mein Bereich, ich fühl mich da wohl. Aber es könnte sein wie bei Peter Gabriel: Die Abstände zwischen Platten und Tourneen waren schon lang, jetzt werden sie noch länger. Es kann sein, dass ich weiter in den Hintergrund trete, noch hin und wieder mit Platten komme, dann aber umso intensiver.« Für den Herbst 2003 ist eine DVD von Herbert Grönemeyer angekündigt worden.
Bleib dir treu Was Grönemeyer ausmacht »Mein Beruf ist künstlerischer, allein erziehender Vater«, sagt Herbert Grönemeyer. Im Mittelpunkt seines Lebens stehen seine Kinder, sein Vaterdasein, nicht seine Platten, seine Musik. Er sagt: »Das musste ich auch erst noch herausfinden: Geht das, als allein erziehender Vater eine Platte zu machen?« Könne er den Kindern »das zumuten - dieses Ausbrechen in ein doch recht extremes Ego, das damit verbunden ist?« Er sagt auch: »Ich trage Anna nach wie vor in mir und setze immer noch alles in Beziehung zu ihr. Egal, was ich denke: Es kommt mir bedeutungslos vor, wenn ich nicht weiß, was sie davon hält. Das hat etwas sehr Positives, weil ich das Glück erfahren habe, zwanzig Jahre sehr liebevoll und eng mit ihr zusammen gewesen zu sein. Die Engländer sagen: Du kannst klagen, dass sie tot ist - du kannst dankbar sein, dass sie gelebt hat.« Er versucht, eine neue Normalität zu finden, aber was ist schon normal, wenn der Partner starb? Was ist schon normal für einen millionenschweren Sänger, der in seinem Heimatland nicht mal ungestört Brötchen holen kann? »Wenn man wieder nach dem Leben greift«, gibt Grönemeyer zu, »macht man sich deswegen Vorwürfe. Trauer ist ein sicherer Raum, in dem man sich einschließen und zu Hause fühlen kann. Da hat man seine eigene Welt. Es ist aber egoistisch und unfair, die Tür nicht mehr aufzumachen und sich in seiner Trauer zu vergraben. Der, um den du trauerst, möchte nämlich, dass du rausgehst und gefälligst wieder glücklich wirst. Anna würde sagen: >Jammer nicht rum, Herbert, solange du mich in deinen Gefühlen in Erinnerung behältst, ist
alles in Ordnung. Und jetzt lass dir mal wieder den Wind um die Nase wehen.<« Einen neuen Film jedenfalls werde er in absehbarer Zeit nicht drehen, da er keine zwei Monate am Stück von zu Hause weg sein will. Lieber kümmere er sich um die Kinder, koche ihnen Mittagessen: »Ich kann sehr gut kochen! Ich koche auch für mich allein.« Wenn er im Studio oder auf Tour sei, »kümmert sich unser australisches Kindermädchen um die beiden«. Sie sei auch zuständig für »Themen, die pubertierende Mädchen angehen«, da sei der Vater »überfordert. Das will eine Tochter nicht mit dem Vater bereden. Ich versuche, mich da ab und zu mal zu nähern, aber das ist sinnlos. Marie kann mit der Nanny und mit Freundinnen von mir reden.« Derzeit macht ihm nur Maries extravaganter Kleidungsstil Sorgen: »Weil die englischen Männer ständig betrunken sind und nur über Fußball reden, müssen sich die Frauen wohl besonders aggressiv kleiden.« Dem stehe seine pubertierende Tochter in nichts nach. Auch das sind Probleme, die jeder nachvollziehen kann. »Du stehst im Regen, und du wirst nicht nass / es regnet an dir vorbei / über deinen Lieblingswitz hat wieder keiner gelacht / tu dir leid, tu dir leid, tu dir leid. / Als besonderes Merkmal steht in deinem Pass / nur: blass und Weichei / wenn du den Zoll passierst, wirst du nie kontrolliert / tu dir leid, tu dir leid, tu dir leid«, sang Grönemeyer in »Selbstmitleid« auf »Bleibt alles anders«. Die Beschreibung könnte auf ihn selbst passen: Oft klagte er, dass seine Witze nicht verstanden würden, oft passierte er den Zoll (London/Berlin), ohne kontrolliert zu werden. Aber: »Zum Glück hat mir der liebe Gott eine enorme Fröhlichkeit mitgegeben.« Und so betrachtet er sich und sein Leben eben gerade nicht selbstmitleidig, sondern voller Dankbarkeit. Grönemeyer selbst sieht den Erfolg - und die Aufmerksamkeit, die er mit sich bringt - nicht mehr so sehr als Belästigung an. Er muss auch seine
öffentlichkeitsscheue Anna nicht mehr schützen. Die neue Welle des Erfolgs begann vielleicht aus Mitleid, aus Mitgefühl. Sie setzte sich fort aufgrund der Qualität von »Mensch«. Und umschloss schließlich auch den Menschen Herbert Grönemeyer selbst, der sich vielleicht öffentlich besser darstellt, als er ist, der sich aber jedenfalls bemüht, ein anständiger Mann, Mensch und Vater zu sein. Einer, zu dem jeder aufblicken, den jeder mögen kann: Jeder stellt sich gern besser dar, jeder möchte ein guter Partner, ein kompetentes Gegenüber, ein gutes Elternteil sein. Jeder möchte sich anstrengen und am Ende Kunst erschaffen können. »Wenn man von außen sein eigenes Land betrachtet, stellt man fest, wie viel besser die Dinge« seien, als er gedacht habe, sagt Grönemeyer über seine Zeit in London. Das gelte speziell für das Sozialsystem und die Infrastruktur. »Die Bedingungen sind enorm modern und gut in Deutschland«, setzt er hinzu. Und: »Man wird auch sentimentaler, man vermisst die Sprache.« Das kann ebenfalls jeder nachvollziehen. Wenn er nun alle zwei bis drei Monate nach Berlin komme, steige er meist ins Auto und fahre durch Berlin, »weil ich gucken will, was ist schon wieder neu, was ist fertig geworden«. Durch die breiten Straßen »hat man in Berlin immer das Gefühl von Himmel«. Vor allem »die Karl-Marx-Allee fahre ich gerne rauf und runter, denn das füllt dann immer das Herz und das Auto mit einem Hauch Ost, der schön ist«. Dennoch findet er London derzeit interessanter. Zumal die Stadt selbst einen Superreichen wie ihn wieder über Geld nachdenken lässt, auf den Boden der Tatsachen zurückholt: »Aber ich will auch nicht aus London weg, ohne zu spüren: Jetzt habe ich es verstanden, ich weiß, wie die Stadt funktioniert, dieser Dschungel. Eine der teuersten Städte der Welt, das ist der nackte Überlebenskampf. Die Häuschen sind schön gestrichen, und hinter der Fassade leben zwölf Leute in zwei Zimmern, aber die beschweren sich nicht. Ich fange erst an, London zu verstehen.« Großer Unterschied zu Berlin beispielsweise: »London ist nicht zu bezahlen, nicht
erschwinglich. In Berlin dagegen geht's nicht ums Geld, da geht's ums Leben. Jeder kann hier seine Miete bezahlen.« Bereist er Hamburg oder Berlin, besucht er gern das Hotel Abtei (Hamburg), den Sommergarten des »Maxwell« (Berlin), die »Bar am Lützowplatz« (Berlin), das »Café Einstein« in Berlin. Grönemeyer redet nicht über die Probleme mit dem Lack für die neue Yacht, wie es endlos viele Reiche tun. Er spricht über sein Leben, sein Erleben. Selbst wer noch nie in London war, noch nie in Berlin, kann ihn verstehen. Grönemeyer ist hip: Unter www.start-ab.com ließen Deutschlands Musikschulen exklusiv einen GrönemeyerSong remixen. Die Ergebnisse zeigen: Grönemeyers Fans sind nicht mit ihm gealtert, sondern nachgewachsen. Grönemeyer wurde künstlerisch geadelt: Am 8. Juli 2003 trat er mit seinem »Mensch«-Programm beim berühmten Montreux Jazz Festival auf - eine ungewöhnliche Ehre für einen deutschsprachigen Rockmusiker. Grönemeyer lässt uns nicht zu sich aufblicken, auch wenn er könnte. Im Gegenteil. Er skaliert sein Leben auf Normalgröße herunter. Auch wenn es um die Liebe geht: »Man freut sich schon, wenn eine SMS kommt, aber dieses Sofortextrem-emotional-Werden, das gesteht sich ein Mann nicht so leicht ein.« Und: »Wenn man verliebt ist, mischt man immer viel von der eigenen Sehnsucht in seine Wahrnehmung. Dinge, von denen der andere gar nichts wissen kann. Man versucht dann herauszufinden, ob man sich mit diesem Menschen auch unterhalten kann. Stimmt die Gesprächschemie? Schlägt dieser Mensch die Bälle zurück, die man ihm zuwirft? Ist das jemand, mit dem man fünf Stunden reden kann? Oder drei Jahre? Oder ein Leben lang?« Das sind die Fragen, die sich jeder stellt. Auch ein schwerreicher Popstar.
Nicht mal seine getragenen Schuhe sind besonders viel wert: Nur fünfzig Mark zugunsten des Aids-Projektes »Hamburger Leuchtfeuer« brachten die GrönemeyerTurnschuhe, Größe 44, in denen er »das MTVFußballturnier gespielt und gewonnen« habe. (Immerhin eintausend Mark brachten John Neumeiers Schuhe, zweihundert Mark die Plateautreter von Arabella Kiesbauen) Grönemeyer ist - weitgehend - sich selbst treu geblieben. Jeder würde sich wohl wünschen, das zu schaffen: reich und berühmt werden, aber nicht bekloppt. Bernd Kowalzik, Grönemeyers Kumpel aus frühen Jahren: »Natürlich verändern Ruhm und Erfolg, aber ich habe keine Divenhaftigkeit bei ihm feststellen können. Auf der Tournee zu >Mensch< habe ich ihn wiedergetroffen. Das war ein sehr beeindruckender Augenblick in der Kölnarena, da gehen siebzehntausend Leute rein. Ich stand in einem für achthundert bis tausend Medienleute und Gäste abgesperrten VIP-Bereich vor der Bühne. Er sah mich und mitten in der Strophe, mitten im Liedtext grüßt er mich: >Hallo, Koko!< Ich hatte früher den Spitznamen Koko. Der grüßt mich mitten im Songtext vor siebzehntausend Leuten, da ist es mir doch kalt den Rücken runtergelaufen, aber auch ein wenig warm ums Herz geworden. Nach der Show haben wir uns noch backstage und in der Hotelbar wiedergetroffen. Es war sehr angenehm und ungezwungen. Er war ganz der Alte: unglaublich sympathisch und bodenständig. Wir haben über gemeinsame alte Zeiten gesprochen und viel Spaß gehabt.«
ENDE Es folgen noch eine Danksagung und ein schneller Nachspann.
Danke: Bettina, Carolin, Ebba, Gabriele, Heidi, Sabine, Ulrike, Ylva. Danke: Dirk Feldmann, Mariam & Thomas Montasser, Jens Petersen. Danke: allen Gesprächspartnern!
Schneller Nachspann 1956 Herbert Grönemeyer wird am 12. 4. in Göttingen geboren. 1968 Grönemeyer gründet seine erste Band. 1974 Erste Kompositionen für das Schauspielhaus Bochum sowie eine Hauptrolle (Bert) im Beatles-Musical »The Beatles: John, Paul, George, Ringo ... und Bert« (so der offizielle Titel). 1975 Abitur; Studium Musikwissenschaft und Jura (später abgebrochen). 1976 Musikalischer Leiter am Schauspielhaus Bochum sowie weitere Theaterrollen: Grönemeyer ist »Till Uhlenspiegel«, Graf Orlowsky in »Die Fledermaus« und Melchior in Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen« unter Regisseur Peter Zadek. 1977 Film »Die Geisel« (mit O. E. Hasse, Hannelore Hoger und Peter Kern; Regie: Peter Zadek); Engagement am Hamburger Schauspielhaus. 1978 Grönemeyer lernt bei den Dreharbeiten zu »Uns reicht das nicht« (Regie: Jürgen Flimm) die Schauspielerin Anna Henkel kennen, seine spätere Ehefrau. »Ein Wintermärchen« am Hamburger Schauspielhaus (Regie:
Peter Zadek). Erste deutschsprachige Demo-Aufnahmen (»Pompeji«). 1979 LP der Gruppe Ocean Orchestra (Eigenvertrieb). TVDarsteller in »Daheim unter Fremden« (Regie: Peter Keglevic). Auftritt am Schauspielhaus Köln als Lorenzo in »Der Kaufmann von Venedig«. Solodebüt »Grönemeyer« erscheint bei der Intercord. 1980 Schauspieler und Schauspielhaus.
musikalischer
Leiter
am
Kölner
1981 Zweite LP »Zwo« mit »Ich hab dich lieb«. Wolfgang Petersens »Das Boot«: Grönemeyer spielt den Fotografen Leutnant Werner (weitere Darsteller: unter anderem Jürgen Prochnow, Heinz Hoenig, Martin Semmelrogge, Uwe Ochsenknecht, Klaus Wennemann, Claude-Oliver Rudolph, Jan Fedder) 1982 Das dritte Album »Total Egal« erscheint, darauf unter anderem »Anna«, »Currywurst«. Hauptrolle des Robert Schumann in »Frühlingssinfonie« (Regie: Peter Schamoni). 1983 Viertes Album »Gemischte Gefühle« mit dem ersten Airplay-Hit: »Musik nur, wenn sie laut ist«. Film »Die ewigen Gefühle« (Regie: Peter Beauvais). Hochzeit von Grönemeyer und Anna Henkel. 1984 Wechsel von der Plattenfirma Intercord zu Emi Electrola (heute: Capitol). Fünftes Album »4630 Bochum«; Single »Männer« macht Grönemeyer zum Star.
1985 Grönemeyer spielt Georg Deutz im Film »Väter und Söhne« (Regie: Bernard Sinkel; Co-Stars Julie Christie, Burt Lancaster und Bruno Ganz). 1986 Sechstes Album »Sprünge«; mit den Songs »Lächeln« und »Tanzen« greift Grönemeyer offen Kohl und die Deutschtümelei an. Weiterer Hit: »Kinder an die Macht«. 1987 Geburt von Sohn Felix. 1988 Siebtes Album »Ö« mit Singles wie »Halt mich«, »Vollmond« und »Was soll das?«. Wenig später erscheint sein englischsprachiges Album »What's All This« in Kanada; es folgt dort eine Tournee: Toronto, Quebec, Sudbury, Ottawa, Montreal. Das Konzert am 29. September in der Kölner Sporthalle wird aufgenommen und als Videomitschnitt veröffentlicht. Im TV-Film »Sommer in Lesmona« übernimmt Grönemeyer die Hauptrolle und schreibt den Soundtrack (Grimme-Preis in Gold). 1989 Geburt von Tochter Marie. 1990 Achtes Album »Luxus«, in dem Grönemeyer etwas besserwisserisch den Fall der Mauer reflektiert (»Hartgeld«, »Luxus«).
1991 Das Konzert in der Dortmunder Westfalenhalle wird mitgeschnitten und auf Video veröffentlicht.
1992 Grönemeyer wird bei der ersten Verleihung des Schallplattenpreises Echo als bester nationaler Künstler 1991 ausgezeichnet. Die englischsprachige Fassung von »Luxus« erscheint, darauf auch eine französische Fassung des Titels »Marie«. 1993 Neuntes Album »Chaos«, Songs kontra Rechtsradikalismus und Wiedervereinigung. Ende des Jahres veröffentlicht Grönemeyer als erster deutscher Musiker eine CDROM (für Windows und Mac) mit drei Videoclips (»Land unter«, »Fisch im Netz«, »Chaos«), Remixen, Bildern, Texten, einem kurzen Lebenslauf. Das Buch »Grönemeyer: Photographien von Anton Corbijn« erscheint. 1994 Noch ein »Echo« als bester nationaler Künstler. Für MTV spielt Grönemeyer als erster nicht englischsprachiger Künstler am 15. Mai in den Potsdamer BabelsbergStudios ein Unplugged-Konzert. Remix-Spezialisten bearbeiten auf »Cosmic Chaos« aktuelle Grönemeyer-Stücke (»Chaos«, »Land unter«, »Morgenrot«, »Die Härte«). Das Album wird - entgegen den Erwartungen der Plattenfirma - eine der erfolgreichsten Technoplatten des Jahres. 1995 Am 30. Oktober erscheinen »Unplugged Herbert« (das MTV Unplugged Konzert) und »Live« (»Chaos«-Tour 1993/94).
1996 Da MTV Unplugged mit Grönemeyer auch international erfolgreich lief, erscheint nun »Chaos« (englischsprachig) international.
1998 Nach fünf Jahren Studiopause erscheint das zehnte Studioalbum »Bleibt alles anders«. Produzent ist der Brite Alex Silva. In der ersten Novemberwoche sterben Grönemeyers Bruder Wilhelm und seine Frau Anna. 1999 »Millennium Award« der »Goldenen Kamera« für Grönemeyers Beitrag zur deutschen Rockmusik und seine filmischen Leistungen. Im Oktober veröffentlicht Grönemeyers Plattenlabel Grönland die AchtCD-Box »Pop 2000. 50 Jahre deutsche Popmusik und Jugendkultur« und die Compilation »Pop 2000. Das gibt's nur einmal«. Nummer-eins-Hit mit Jan Delays NenaCover »Irgendwie, irgendwo, irgendwann«. 2000 Grönemeyer gibt nur vier Konzerte: zwei zur Eröffnung der Expo in Hannover, eins vor dem Brandenburger Tor in Berlin und eins in Bitterfeld. Die Doppel-CD/DVD »Stand der Dinge« dokumentiert seinen Expo-Auftritt am 7. Juni. 2002 Am 5. August erscheint die Single »Mensch«, am 2.September folgt das gleichnamige elfte Studioalbum. 2003 Singles »Der Weg«, »Demo (Letzter Tag)«, »Zum Meer«. Neue Freundin. Zwei Echos (Künstler national Rock/Pop, Nationale Rock/Pop-Single »Mensch«). Insgesamt rund 1,5 Millionen Besucher auf der Tournee 2002/2003. Ende Juni unterzeichnet Grönemeyer einen neuen, langfristigen Künstlervertrag bei seiner derzeitigen Company Capitol ein guter Zeitpunkt, direkt nach über drei Millionen verkaufter »Mensch«-Alben.