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Gräfin Dracula Michel Parry 1. Leutnant Imre Toth galoppierte den gewundenen Waldweg entlang und trieb sein Pferd zu noch größerer Eile an. Er hatte sich verspätet und war versucht, dem Tier die Sporen zu geben. Er tat es nicht, denn er wußte, daß er es nie fertigbringen würde. Mit freundlicher Stimme rief er statt dessen dem Pferd etwas zu, und es wurde noch schneller. Es war ein herrlicher Sommertag, und Imre spürte selbst im dichten Wald die Kraft der Sonne. Die Strahlen, die durch das Blätterwerk drangen, ließen den goldenen Schmuck auf seinem grünen Lederwams aufblitzen. Die Offizierskleidung stand ihm gut, und manche Frau hatte ihn schon wohlgefällig angesehen. Doch was unter der Kleidung lag, konnten sie nicht wissen und waren leider nur auf Vermutungen angewiesen. Imre hatte es vorgezogen, auf eine besondere Gelegenheit zu warten und sich nicht den frechen Küssen der Landsknechtdirnen überlassen. Dieser besondere Mensch war bis jetzt noch nicht in seinem Leben aufgetaucht, und Imre wurde mit seinen zwanzig Jahren langsam begierig, die Freuden der Liebe kennenzulernen. Die dichten Bäume lichteten sich plötzlich, und Pferd und Reiter waren im Freien. Die Landschaft vor ihnen war so prächtig, daß Imre trotz seiner Verspätung das Tempo verlangsamte, um in leichtem Trab den Ausblick in sich aufnehmen zu können. Unter ihm erstreckte sich ein dunkler Wald, schwarz wie die Haare eines Zigeunermädchens. Vor ihm erhoben sich die wilden, schneebedeckten Gipfel der Karpaten. Er holte tief Luft. In dieser herrlichen Landschaft würde er vielleicht Frieden finden können. Unten im Tal sah er weiße Nebelschwaden ziehen. Die Mündungen der Schluchten waren schon verhüllt. Es war, als wollte sich die Natur seinen spähenden Augen entziehen. Der Anblick ließ ihn an die vielen Sagen denken, die man sich über diese Gegend erzählte, über jeden Felsen eine Sage, wie die Alten sagten. Wenn der Mond voll und hoch am Himmel stand, lauerten vielerlei We-
sen in den Wäldern - Vampire, leichenfressende Unholde, Werwölfe und andere, die zu gräßlich waren, als daß man ihnen Namen geben könnte. Imre dachte, wie sehr dieses Land mit Blut getränkt sein mußte, mit dem Blut seiner Landsleute und dem vieler grausamer Angreifer - Hunnen, Bulgaren und die schlimmsten von allen, die Türken. Imres Gesicht überzog tiefe Niedergeschlagenheit, die ihn älter als seine zwanzig Jahre aussehen ließ. Seine Kehle schnürte sich zu, als er an das Schlachtfeld dachte, auf dem er noch vor kurzem gestanden hatte. Bilder jagten durch seinen Kopf. Geschwärzte Gesichter, im Blutrausch entstellt, vor Angst verzerrt. Die Funken, die von den Schwertern sprühten. Das ohrenbetäubende Krachen der Kanonen. Das Heulen der Verwundeten, das keuchende Wiehern der Rösser, der Pulvergestank und dann das Schlimmste, der Geruch frisch vergossenen Menschenbluts... Das Pferd unter ihm zitterte, als spüre es seinen Abscheu. Imre klopfte ihm sanft den Hals. Das Tier beruhigte sich unter seiner Berührung wieder. Imre blickte in den finsteren Wald. Es war nicht gut, hier zu verweilen, da Türken oder Strauchdiebe in der Nähe sein konnten. Er trieb sein Pferd mit freundlichem Zungenschnalzen wieder zur Eile an und ritt den Bergpfad hinauf. Als das Pferd dann um eine Ecke bog, sah Imre zum erstenmal sein Ziel. Burg Veres saß mit kahlen dunklen Mauern auf noch dunkleren Felsen. Sie sah so urtümlich aus, daß man kaum glauben konnte, Menschenhände hätten sie erbaut. Unterhalb der Burg erstreckte sich ein ärmliches Dorf. An das Dorf grenzte ein wohltuend grüner Wald. Wahrscheinlich voller Rehe und anderem Wild, dachte er. Und er konnte einen Wasserfall erkennen, der silbern über die Felsen herabsprühte. Imre mußte lächeln. In einer so schönen Umgebung würde er sich bestimmt wohlfühlen. Anscheinend genau das Richtige, um die Kriegsgreuel zu vergessen und sich zu entspannen. Seltsamerweise hatte ihn jedoch der Tod hierher gebracht. Graf Ferdinand Nadasdy steckte in seiner Lieblingsuniform, der blauen mit den weißen Pluderhosen. Er trug sie deshalb so gern, weil er sie vor vielen Jahren in der Schlacht von Mohacs angehabt hatte. Er hatte dem König von Ungarn ein taktisches Manöver erklärt, als dem König ein türkischer Pfeil in den Hals fuhr. Er war
in den Armen des Grafen gestorben und hatte dessen Jacke mit seinem Blut getränkt. Der Graf hatte sie seither nie waschen lassen, was er den Leuten gern erzählte. Im Augenblick erzählte er die Geschichte niemandem, da er tot war. Im Tod sah der weißhaarige Graf besser aus als in den ganzen letzten zwanzig Jahren. Er war vielleicht auch glücklicher, wie sein alter Freund Fabio bemerkt hatte. Die Bemerkung hatte er im stillen für sich gemacht, denn es war gefährlich, gewisse Bemerkungen laut von sich zu geben. Kritische Bemerkungen erreichten immer irgendwie das Ohr von Ferdinands Frau, der Gräfin Elisabeth. Und da sein Wohltäter und Freund tot war, mußte Meister Fabio aufpassen, um in gutem Einvernehmen mit der Witwe zu bleiben. Inzwischen war der Sarg geschlossen worden. Die Gräfin Elisabeth war dennoch gelangweilt. Unter dem langen schwarzen Gewand klopfte ihr kleiner Fuß ungeduldig auf den Boden. Wie lange sollte der Gottesdienst denn noch dauern! Ihre harten grauen Augen starrten durch den Schleier auf die Trauergäste. Die armseligen Narren! Sie sahen in ihren schwarzen Kleidern wie lächerliche alte Krähen aus. Endlich eine Bewegung. Der Sarg wurde von vier Amtsleuten des Hauptmanns Balogh zur frisch geschaufelten Grube gebracht. Als die Träger zurücktraten, begann der Priester wieder mit seinem Latein, das kein Mensch verstehen konnte. Die Gräfin stöhnte leise auf. In einiger Entfernung stand eine Gruppe Bauern, von denen die meisten in schmutzige Lumpen gehüllt waren. Aufmerksam blickten sie zu den Trauergästen hin; in den meisten Gesichtern lag ein Zug von Verachtung. Maryska, eine dunkelhaarige Frau, die wie fünfundvierzig aussah, aber erst fünfundzwanzig war und durch harte Arbeit und zwei Geburten vorzeitig gealtert war, nickte zu der Gruppe hinüber und spuckte aus. »Den wären wir los!« sagte sie beifällig. »Ein Bauernschinder weniger!« Ihr Mann Grigory zog die beiden kleinen Söhne an sich und drehte sich zu ihr. Er war ein untersetzter, kräftiger Mann, hatte aber eine sanfte Stimme. »Still, Frau«, sagte er. »Von den Toten soll man nicht schlecht sprechen. So schlimm war er gar nicht. Nicht so schlimm wie seine Frau..., und er hat mir Arbeit versprochen. Gott sei seiner Seele gnädig!«
Maryska runzelte die Stirn. »Ja, Arbeit wird’s geben! Für die Würmer!« Grigory schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Komm, Frau«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Der Priester neben dem Grab war noch immer mit seinem Singsang beschäftigt. Die Gräfin betrachtete ärgerlich die Runde der Trauernden. Ihr gegenüber stand Hauptmann Balogh, die oberste Amtsperson im Ort, und hatte eine gewichtige Miene aufgesetzt. Die Gräfin schnaubte leise durch die Nase. Der meinte es vielleicht sogar noch ernst, der aufgeblasene Esel. Auf ihrer Seite des Grabs stand Fabio. Der alte Narr nickte zu den Worten des Priesters und hatte feuchte Augen hinter den kleinen runden Brillengläsern. Natürlich verstand er das fremdländische Kauderwelsch. Die Gräfin faßte jetzt Hauptmann Dobi neben ihr ins Auge. Er stand wie üblich militärisch aufrecht da, ganz ohne jede Mühe. Er war ganz geduldig und konnte anscheinend die Welt um sich herum vergessen. Vergebens wünschte sich die Gräfin, diese Kunst auch zu beherrschen. Während der Priester weiternäselte, ließ die Gräfin ihre Augen unruhig in die Umgebung schweifen. Etwas erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Sie war wie gebannt, und ihr Ärger war verflogen. Durch den Friedhof kam ein junger Soldat in einer prächtig sitzenden Uniform auf sie zugeritten. Die Augen der alten Gräfin strahlten. Er war wunderschön. Seit Jahren hatte sie keinen so gutaussehenden Mann mehr gesehen. Als er mit der Sonne im Rücken näher kam, mußte die Gräfin an den Märchenprinzen denken, von dem die Kinderfrau Julie immer ihrer Tochter Ilona erzählt hatte. Er trug einen stolzen Soldatenschnurrbart zur Schau, obwohl sein Gesicht noch mehr an einen Jungen als an einen Mann denken ließ. Sie sah zu, wie er geschmeidig abstieg und die Zügel einem Diener übergab. Er ging auf die Trauergemeinde zu, und sein Krummsäbel schwang hin und her. Die Gräfin riß ihre Augen von dem herrlichen Fremdling los und blickte Dobi fragend an. Der wurde aufmerksam und folgte ihren Blicken. »Der Sohn von General Toth«, flüsterte er mit tiefer Stimme. »Der Graf wollte ihn zur Testamentseröffnung hier haben.« Imre Toth nahm seine Pelzkappe ab und trat zu den Trauern-
den. Es war ihm peinlich, sich so verspätet zu haben. Er stellte sich neben den einzigen Menschen, den er kannte, neben Hauptmann Balogh, und senkte den Kopf. Doch bald spürte er, daß er von irgend jemandem angestarrt wurde. Das Gefühl wurde stärker und beklemmender. Er hob die Augen und sah sich um. Auf der anderen Seite des Grabs stand eine Frau, die vom Alter recht mitgenommen schien. Ihr Gesicht war hinter einem Schleier verborgen, aber Imre spürte, daß sie stechende Augen haben mußte. Es konnte nur die Witwe sein, Gräfin Elisabeth. Die Gräfin nahm ihren Blick nicht von ihm. Vielleicht hatte sie sein Zuspätkommen beleidigt. Er würde Entschuldigungen vorbringen müssen. Mit einem Kopfnicken deutete er eine Verbeugung in ihre Richtung an. Imre konnte die Reaktion hinter dem Schleier kaum erkennen, glaubte jedoch ein Lächeln zu sehen. Nicht das schüchterne tränenbenetzte Lächeln einer Witwe, sondern ein vollblütiges, aufforderndes Lächeln. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und wandte die Augen ab. Imre stellte fest, daß neben ihr nur drei weitere Menschen standen. Vielleicht adlige Freunde des Verstorbenen, oder vielleicht Dienstleute und Verwalter, die sich um die Burg Veres zu kümmern hatten. Rechts neben der Gräfin stand ein großer, befehlsgewohnter Mann, der etwa Anfang Fünfzig war. Er war in auffällige schwarze Pelze gehüllt, die gut zu einem Krieger gepaßt hätten. Er war kräftig gebaut und hatte gewaltige Hände, die einen Menschen wohl leicht erdrücken konnten. Den Mann machte man sich lieber nicht zum Feind, überlegte Imre. Zur Linken der Gräfin stand ein gebeugter alter Mann mit einem langen grauen Bart. Er hatte eine merkwürdige kleine Brille auf der Nase, hinter der Tränen schimmerten. Neben dem Alten stand eine Frau, die fast ebenso alt aussah. Sie hatte eine lange Nase und ein grobes Gesicht, das an ein Pferd erinnerte. Ihre Häßlichkeit ließ sie fast ein wenig männlich wirken, nahm ihr aber nicht eine deutlich spürbare Mütterlichkeit. Imre bemerkte plötzlich, daß der Priester jetzt schwieg. Die vier Helfer des Hauptmann Balogh trafen Anstalten, den Sarg langsam ins Grab hinabzulassen. Die Trauergäste beugten sich vor, um einen letzten Blick auf den Sarg zu werfen. Nur ein Augenpaar hatte ein anderes Ziel. Das der Gräfin. Es ließ den gut aussehenden jungen Soldaten nicht los.
Der Bauer Grigory und seine Familie hatten schon fast das Dorf erreicht. Es war kein Wort gesprochen worden. Grigory verließ den lehmigen Kutschweg und ging über die Wiese auf eine dürre Kuh zu. Hinter ihm Maryska und die beiden Kinder. »Grigory!« Er blickte erschrocken auf, weil die Stimme der Frau so angsterfüllt geklungen hatte. Mit zaghaften Schritten kam der Geldverleiher Krantz durch den Lehm auf sie zugestapft. »Guten Morgen«, rief Krantz und lächelte den Bauern feist an. »Ich bin sicher, du hast nicht vergessen, was für ein Tag heute ist.« Grigory schüttelte den Kopf. Er hatte die dreihundert Kronen, die Krantz ihm geliehen hatte, nicht vergessen. »Und hast du das Geld?« fragte der Geldverleiher gierig. Grigory hatte sich von dem Geld vier Kühe gekauft. Sie hatten reichlich Milch gegeben, und er hätte gut verdient, wenn nicht die Seuche gekommen wäre und drei getötet hätte. Mit der vierten war auch kein Staat zu machen. »Nein. Ich habe das Geld nicht«, versetzte Grigory traurig. »Was!« Maryska sagte flehend: »Verstehst du nicht? Wir können nicht zahlen.« Sie zeigte auf die dürre Kuh. »Das ist alles, was uns geblieben ist.« Krantz warf einen gleichgültigen Blick auf das Tier. Die Schwierigkeiten dieser Leute kümmerten ihn nicht. Er wandte sich wieder an Grigory und sah dem größeren Mann kalt ins Gesicht. »Du erinnerst dich sicher an unsere Abmachung. Wenn du nicht zahlen kannst, fällt all dein Besitz an mich.« Er drehte sich grinsend um und ging zum Weg zurück. »Warte!« rief Grigory voll Angst. Der Geldverleiher blieb stehen und rief: »Bis heute abend hast du Zeit!« Dann ging er so rasch weiter, daß man die Münzen in seiner Geldkatze klimpern hörte. Grigory blickte seine Familie niedergeschlagen an. Die Jungen blickten erwartungsvoll zu ihm auf. Ihre Beine waren kaum dicker als dürre Äste. Wenn man sie aus der Hütte vertrieb, würden sie die kalten Nächte nie überstehen. Er blickte verzweifelt zum Dorf hinüber. Er mußte etwas tun.
Der Zug der Trauergäste schlängelte sich langsam zur Burg zurück. Die Gräfin saß in einer offenen schwarzen Kutsche, die von vier Rappen gezogen wurde. Hinter der Kutsche ritten Hauptmann Balogh und Imre. Er konnte sehen, daß sich die Gräfin sehr aufrecht hielt und weder nach links noch nach rechts blickte. Ihr gegenüber saß der Krieger in seinem Pelzgewand. Neben der Straße standen stumm die Dörfler, die die Gräfin in ihrer gespielten Trauer sehen wollten. Als sie vorüberkamen, zogen sie die Mützen oder legten eine Hand an die Stirn. Dies geschah nicht aus Achtung, sondern eher aus Furcht. Man wußte, wie rasch mangelnde Ehrerbietung bestraft wurde. Hauptmann Balogh fiel ein Mann in der Menge auf. Er war kräftig, allerdings ein wenig unterernährt, und machte keine Anstalten, seine Dienstfertigkeit auszudrücken. Er starrte der näherkommenden Kutsche herausfordernd entgegen. Imre sah, wie sich der Mann an eine dunkelhaarige Frau neben sich wandte, an die sich zwei magere Kinder klammerten. Dann trat der Mann auf die Straße und neben die Kutsche. »Euer Gnaden... Euer Mann hat mir Arbeit versprochen!« Die Gräfin hörte den Mann, würdigte ihn jedoch keines Blickes. Grigory lief neben der Kutsche her, mit der er leicht Schritt halten konnte. Vielleicht ist die Gräfin schwerhörig, dachte er. Irgendwie mußte er ihr seine Lage verständlich machen. Verzweifelt faßte er mit seinen schwieligen Händen nach der Tür, um die Aufmerksamkeit der Gräfin auf sich zu lenken. Die Kutsche wurde jetzt anscheinend schneller, und er mußte ein wenig rennen, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Dobi blickte ihn kalt an. Er bewunderte den Schneid des Mannes, aber dieses Vorgehen konnte natürlich nicht hingenommen werden. »Fort! Weg da!« sagte Dobi mit befehlsgewohnter Stimme. Er hob die Reitpeitsche und schlug dem Mann fest auf die Finger. Der Mann zuckte zusammen, ließ jedoch nicht los. Mit zitternder Stimme flehte er die Gräfin an. »Euer Gnaden, bitte... meine Frau und meine Kinder sind am Verhungern!« Dobi schlug wieder zu, und der Mann spürte, wie ihm das Blut die Arme hinunterlief. Doch loslassen wollte er nicht. »In Gottes Namen! Er hat mir sein Wort gegeben... er hat mir
Arbeit versprochen...« Die Gräfin sah, wie sich der Kutscher fragend nach ihr umdrehte. Sie nickte kurz, und er ließ seine Peitsche auf das Gespann niedersausen. Die Pferde wieherten laut, und der Wagen wurde immer schneller. Der Bauer schrie auf, als er den Boden unter den Füßen verlor. Imre mußte hilflos zusehen, wie der Mann von der dahinrasenden Kutsche mitgeschleift wurde. Dann machte die Kutsche einen Satz, als eines der Räder gegen einen Stein stieß. Der Mann wurde in die Luft geschleudert, schwang zurück, ließ los und geriet under die Räder. Er stieß einen gräßlichen Schrei aus, und man hörte ein Geräusch, als breche ein trockener Holzstab. Dann lag er mit verdrehten Gliedern auf der Straße. Imre brachte sein Pferd mit einem scharfen Ruck der Zügel zum Halt und wollte schon absteigen, als er bemerkte, daß die Kutsche mit unglaublicher Geschwindigkeit die Straße hinabschoß. Dem Kutscher mußten die Pferde durchgegangen sein. Hauptmann Balogh und er blickten sich erschrocken an und machten sich an die Verfolgung. Maryska rannte wehklagend zum Körper ihres Mannes. Ein Blick genügte, um ihr zu zeigen, daß keine Hoffnung mehr war. Maryska wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, raffte sich auf und stürzte hinter der Kutsche her, die jetzt rumpelnd durch das Dorf flog. Imre holte langsam auf, und Balogh war nicht weit hinter ihm. Imre sah, daß die Gräfin sehr aufrecht in dem schaukelnden Wagen saß. Sie schien keine Angst zu haben, und ihr Begleiter warf den Kopf zurück und lachte mit blitzenden Zähnen. Das Gespann war jetzt schon auf der Straße, die zur Burg hinaufführte. Das Fallgitter war herabgelassen, und es schien unabwendbar, daß die Kutsche dagegenprallen würde. Doch genau im rechten Augenblick griff der Kutscher in die Zügel und brachte das Gespann zum Stehen. Imre und Balogh kamen sich genasführt vor, als Dobi ihnen spöttisch zulächelte. Das Tor ging auf, und Imre drehte sich um, weil er jemanden rennen hörte. In einiger Entfernung sah er die Frau des toten Bauern mit haßverzerrtem Gesicht die Straße herauftaumeln. Sie blieb plötzlich stehen, schwankte, richtete sich auf und schüttelte die Fäuste. Ihre Flüche waren deutlich zu hören. »Satansweib...! Teufelsbraten...!«
Imre warf einen Blick auf die Kutsche. Die Gräfin schien unter ihrem Schleier ganz ruhig zu sein. Sie nickte wieder, und die Kutsche rollte durch das Tor. Imre zögerte und hätte am liebsten der bemitleidenswerten Frau geholfen, die jetzt wehklagend in die Knie gesunken war. Hauptmann Balogh sah ihn ungeduldig an. »Worauf wartet Ihr denn?« Dann bemerkte er, daß der junge Soldat noch immer nicht seinen Blick von der Witwe des Bauern wenden konnte. Balogh lachte, daß ihm die feisten Backen nur so zitterten. »Vergeudet Euer Mitleid nicht an das Bauernvolk. Es gibt zu viel von dem Gesindel!« Er lachte vor sich hin und folgte der Kutsche in die Burg. Imre sah sich noch einmal nach der weinenden Frau um und ritt dann hinter dem Hauptmann her. Das schwere Tor der Burg Veres schlug laut zu, und das Wehklagen Maryskas war nicht mehr zu hören.
2. Imre wartete in der Bibliothek der Burg, wozu er von Balogh aufgefordert worden war. Die Bibliothek war groß, eine der größten, die Imre je gesehen hatte. Er betrachtete flüchtig die Bücher, die nach Sachgebieten geordnet waren. Mathematik, Die Heilige Schrift, nichts von Interesse, dachte er. Astrologie, Geheimwissenschaften, Zauberei... er lächelte. Vielleicht waren die schrecklichen Geschichten sogar wahr, die man sich von den Vorfahren der Familie erzählte. Dann stieß er auf eine Abteilung, die der Kriegskunst gewidmet war, Dingen, die ein junger Soldat verstehen konnte. Er fand sogar ein Buch, das sein Vater verfaßt hatte. Er zog es heraus und schlug es auf. Vorn fand er eine handgeschriebene, verblaßte Widmung, die er nur mühsam entziffern konnte. »Meinem lieben Freund Ferdinand, der mich viel von dem, was ich weiß, gelehrt hat.« Die Handschrift seines Vaters. Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Er fuhr zusammen. Hinter einem riesigen alten Tisch saß die Gräfin. Er wunderte sich, daß er sie nicht hatte eintreten hören. Sie trug noch den Schleier, schien ihn aber eingehend zu betrachten. Er lächelte sie an und fragte sich, ob sie wohl über seine Verspätung verärgert sei. Er hatte vorhin eine Kostprobe ihres Zorns erlebt,
obwohl ihr eigentlich nichts vorzuwerfen war. Der Mann hatte sich seinen Tod selbst zuzuschreiben. Imre war erleichtert, als Balogh übertrieben diensteifrig den Raum betrat. Ihm folgten die drei Begleiter der Gräfin, die er schon auf dem Gottesacker gesehen hatte. Sie setzten sich neben die Gräfin, während Balogh in Papieren wühlte, die auf dem Tisch lagen. Er zog eine Pergamentrolle mit einem schweren Siegel hervor. Das Testament des Grafen. Man blickte ihn erwartungsvoll an. Balogh räusperte sich und sagte: »Bevor wir uns der Sache annehmen, möchte ich die Gelegenheit benützen und Imre Toth vorstellen...« Er zeigte auf Imre, der das Buch aus der Hand legte und höflich vortrat. Balogh beugte sich zur Gräfin hinüber und flüsterte: »Der Sohn des verstorbenen Freunds Eures Gatten, General Toth.« Dann richtete er sich zu voller Größe auf, daß die Feder auf seinem Hut schwankte und sprach zu Imre: »Gräfin Elisabeth Nadasdy.« Mit einer raschen Handbewegung streifte die Gräfin ihren Schleier zurück. Imre hoffte, daß auf seinem Gesicht nicht zu lesen war, was er fühlte. Man hatte ihm gesagt, daß die Gräfin Mitte Fünfzig sei. Die Frau vor ihm sah aber nach sechzig, ja nach siebzig aus. Ihr ganzes Gesicht war von Falten und Furchen überzogen. Immerhin blickten ihn ihre grauen Augen freundlich an. Sie lächelte. »Euer Diener«, verbeugte sich Imre und drückte einen Kuß auf die Hand, die ihm die Gräfin bot. Als er sich aufrichtete, sah sie ihn wieder mit diesem herausfordernden Lächeln auf den welken Zügen an. In dieser sterbenden Hülle mußte noch ein recht heißer und sinnlicher Geist stecken, dachte er sich. Balogh sagte: »Hauptmann Dobi, der Haushofmeister der Burg.« Imre löste sich von den hypnotisierenden Augen der Gräfin und blickte auf den stolzen Krieger. Der würdigte ihn nur eines kurzen, überheblichen Blickes. Der Alte mit dem langen grauen Bart war offensichtlich eher bereit, seine Bekanntschaft zu machen. »Meister Fabio, der Gelehrte und Archivar.« Blieb noch die Frau mit dem Pferdegesicht. »Und Julie, die...« Balogh suchte nach dem passenden Wort. »Die... die Gesellschafterin der Gräfin.« Imre verbeugte sich knapp, und die Frau sah
ihn mit einem ausdruckslosen Lächeln an. Die Vorstellung war beendet, und Imre ließ sich auf dem leeren Sessel neben der Gräfin nieder. Balogh richtete das Wort wieder an ihn. »Die einzige, die noch nicht anwesend ist, ist Ilona, die Tochter der Gräfin. Ihr Vater ließ nach ihr schicken, als er im Sterben lag, aber...« Die Gräfin seufzte und winkte barsch mit der Hand. »Schon gut... jetzt weiter«, sagte sie, als sei die Eröffnung des Testaments nur eine Formsache. Endlich war das Siegel gebrochen und die Pergamentrolle geöffnet. Bis auf Imre spitzten alle die Ohren. Der junge Mann sah sich seine Fingernägel an. Was konnte er schon erwarten, vielleicht ein rostiges Schwert als Andenken! »Letzter Wille und Testament des Grafen Ferdinand Nadasdy«, las Balogh. »Der Text ist recht kurz«, bemerkte er und warf der Gräfin einen schwer zu deutenden Blick zu. Sie starrte zurück, und er senkte den Blick wieder auf das Pergament. »Hauptmann Dobi vermache ich meine Waffen und die Kriegsgewänder.« Balogh sah überrascht auf. Dobi war ebenso überrascht. Er setzte sich auf, und sein sonst so ruhiges Gesicht war ungläubig verzogen. Dann stieß er ein kurzes, verächtliches Lachen aus und ließ sich belustigt in seinen Sessel zurücksinken. Die Gräfin hatte ihren Spaß an dieser Szene. Als sie sich genug ergötzt hatte, gab sie Balogh einen Wink. »Julie Szentes vermache ich tausend Kronen und Wohnrecht und Speise in meinem Haus, so lange sie lebt.« Die Frau behielt ihr Lächeln unverwandt bei. Meister Fabio neben ihr zupfte unruhig an seinem Bart. Er wußte, daß er jetzt an der Reihe war. »Für Meister Fabio meine Bibliothek mit allem, was darin enthalten ist«, verkündete Balogh. Das Gesicht des alten Gelehrten leuchtete auf. Er klatschte in die Hände, schlug sich dann auf die Knie. Dann faßte er sich und entschuldigte sich mit einem Lächeln. »Imre Toth...«, fing Balogh an und unterbrach sich. Alles sah den jungen Fremden an. »Dem Sohn meines besten Freundes, mit dem ich manche Schlacht bestanden habe und der mir mehr als einmal das Leben rettete, vermache ich meinen berühmten Stall mit all seinen Pferden und das Haus daneben.« Einen Augenblick lang schien niemand glauben zu wollen, was eben vorgelesen worden war. Dobis Kinn fing vor Wut an zu zit-
tern. Er stand mit einem unterdrückten Ausruf auf und lief ärgerlich durch den Raum. An der Tür blieb er stehen, bemerkte den tadelnden Blick der Gräfin, faßte sich und lehnte sich gegen die Wand. Imre war stumm geblieben. Er konnte sein Glück nicht fassen. Gehörte ihm wirklich einer der besten Ställe in Ungarn? Baloghs Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Wir kommen jetzt zum wichtigsten Teil des Testaments«, sagte er ehrerbietig. Alle Blicke richteten sich auf die Gräfin. »Meinem geliebten Weib Elisabeth«, las Balogh, »mein Vermögen und mein Landbesitz...« Balogh machte eine Pause und sah die Gräfin an. Sie lächelte zufrieden. Balogh unterdrückte seine Genugtuung und fuhr nun fort: »... das sie sich zu gleichen Teilen mit unserem einzigen Kind Ilona teilen soll.« Der Gräfin gefror das Lächeln auf den Lippen. Sie setzte sich mit einem Ruck auf und starrte Balogh ungläubig an. Imre konnte kaum noch die sanft lächelnde alte Dame erkennen, der er vorhin die Hand geküßt hatte. Dobi war offensichtlich ebenso überrascht. Er blickte sie an, als erwarte er jeden Augenblick einen Zornesausbruch. Die Gräfin wurde mit Mühe ihrer Gefühle Herr. Sie nickte Balogh zu und sagte langsam: »Wir müssen uns seinen Wünschen fügen.« »Damit wäre das Wichtigste erledigt«, verkündete Balogh. »Jetzt zu dem, was die Dienerschaft erben soll. Ruft sie bitte herein, Hauptmann Dobi.« Dobi öffnete die Tür und winkte die wartenden Diener herein. Als sie sich nervös um den Tisch scharten, erhob sich die Gräfin aus ihrem Sessel und wandte sich Imre zu. Er sprang auf und benützte die Gelegenheit, sie anzusprechen. »Euer Gnaden, ich muß mich für meine Verspätung entschuldigen. Mein Pferd hatte ein Hufeisen verloren.« Sie blickte ihn mit ausdruckslosen Augen an. Er war auf einen Rüffel gefaßt. Dann öffneten sich ihre Lippen zu einem Lächeln. »Nun, Ihr habt jetzt all die Hufeisen... und die Pferde, die Ihr Euch nur wünschen könnt.« Er lächelte zurück und war froh, daß sie es so gut aufnahm. »Und da Ihr mein neuer Nachbar seid«, fuhr sie fort. »werden wir Euch zweifelsohne oft sehen. Das hoffe ich wenigstens.« Imre spürte wieder die Herausforderung, das jugendliche Ver-
langen, das in dem alternden Leib wohnte. Er erwiderte unangebracht förmlich: »Die Ehre ist ganz meinerseits, Gräfin!« Sie lächelte ihn noch einmal an und verließ dann den Raum. Dobi und Julie eilten ihr nach. Imre fühlte sich am Ärmel gezupft und sah Fabio neben sich stehen. Der Alte blickte ihm von unten freundlich ins Gesicht. »Ihr habt vorhin ein Buch in der Hand gehabt?« »Ein Werk der Kriegskunst«, erwiderte Imre, der nicht gern für einen Dummkopf gehalten werden wollte. »Immerhin, Soldaten, die lesen können, trifft man nicht oft«, kicherte Fabio. »Aber ich kann mir denken, daß Ihr Euch mehr für Pferde als für staubige Bücher interessiert.« »Da habt Ihr recht, Meister Fabio.« »Wollt Ihr die berühmten Ställe sehen?« fragte Fabio. »Und wie gern!« sagte Imre und fand den Alten immer angenehmer. »Dann kommt.« Der Alte war schon mit steifen Schritten auf dem Weg zur Tür. Auf dem Gang draußen sagte Imre: »Ihr habt anscheinend eine schöne Bibliothek geerbt.« »Die beste im Land«, versetzte Fabio zufrieden. »Ihr könnt Euch mein Entzücken nicht vorstellen.« Während sie weitergingen, fielen Imre die Wandteppiche auf, die die blutige Geschichte des gräflichen Hauses darstellten. Was in diesen Mauern nicht schon alles geschehen war, dachte der junge Mann. Er merkte nicht, daß die Gräfin am anderen Ende des Gangs stehengeblieben war und ihm mit Raubvogelaugen nachblickte. Die beiden Männer bogen um eine Ecke und befanden sich auf einem offenen Laufgang, von dem man in einen düsteren, riesigen Saal hinunterblicken konnte. Imres Aufmerksamkeit wurde jetzt von einem kaum sechzehnjährigen, rosigen Zimmermädchen gefesselt, das in einer Hand eine leicht rauchende Kupferkanne trug. Als sie auf gleicher Höhe waren, sahen sich die beiden jungen Menschen in die Augen. Das Mädchen wurde rot unter dem bewundernden Blick des Mannes. Sie wäre fast stehengeblieben, so sehr fühlte sie sich von Imre angezogen. Imre blickte ihr nach und freute sich, daß sie sich auch umsah. Das Mädchen kicherte und eilte weiter. Imre spürte, daß Fabio sein Interesse an dem Mädchen wahrgenommen hatte, und suchte nach einer Entschuldigung.
»Was trug sie da?« fragte er. Sie schritten jetzt die breite Treppe hinab, die in den großen Saal führte. »Ein Kohlebecken«, lachte Fabio, »den Tröster einsamer Witwen und alter Narren.« Als er sah, daß Imre nicht begriff, flüsterte er ihm vertraulich ins Ohr: »Wärmt ihr kaltes Bett.« Imre stimmte jetzt in das schallende Gelächter des Alten ein. Das Zimmermädchen Teri ging verträumt den Gang entlang. Sie merkte kaum, daß der Griff des Kohlebeckens langsam zu heiß wurde. Sie dachte an den jungen Soldaten, der so mutig aussah, der so schöne Augen und so blitzende Zähne hatte. Sie schien ihm auch gefallen zu haben, denn schließlich hatte er sich nach ihr umgedreht. Vielleicht würde er sie des Nachts einmal in ihrer Kammer aufsuchen. Vielleicht würde er sie endlich zur Frau machen... sie kicherte und biß sich auf die Unterlippe. »Teri!« riß sie eine Stimme unsanft aus ihren Träumen. Die alte Schachtel von Gräfin stand vor ihr und starrte sie wütend an. Sie kniff sie mit ihren alten, dürren Fingern in den Arm und keifte: »Du sollst hier arbeiten, nicht träumen!« Dann ging die Gräfin rasch mit gerafften Röcken zu dem offenen Gang, von dem aus der große Saal zu überblicken war. Sie achtete darauf, daß man sie von unten nicht sehen konnte. Fabio und der junge Mann gingen eben durch den Saal auf die Tür zu, die zu den Stallgebäuden führte. Die beiden lachten, und der Alte wiederholte mehrmals laut einen Satz, der ihm offenbar Spaß gemacht hatte. Die Gräfin lauschte angestrengt und konnte schließlich die Worte verstehen, die schwach bis zu ihr heraufdrangen. »Hält ihr kaltes Bett warm!« Die Worte trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie preßte die dünnen Lippen aufeinander. Ferdinand war tot, und es gab niemand mehr, der sich für den alten Narren einsetzen würde. Er sollte sich seine Witze lieber besser überlegen. Sonst... Während sie zu ihrem Schlafzimmer eilte, ließ sie sich mögliche Strafen durch den Kopf gehen. Fabio öffnete die schwere Holztür, die zu den Stallungen führte. Imre warf einen Blick zurück in den düsteren Saal. Fabio sagte lachend: »Es gibt schlimmere Burgen. Und wenn Ilona erst zurück ist...« Das klang sehr vielversprechend. Bei dem Gedanken an ein gleichaltriges junges Mädchen wurde es Imre warm ums Herz.
»Ist sie lange fort gewesen?« fragte er. »Seit ihrem sechsten Lebensjahr«, erwiderte der Gelehrte. »Man schickte sie nach Wien, in Sicherheit vor den schrecklichen Türken.« Seine Stimme wurde sanft. »Wie man hört, ist sie ein Liebling der Götter. Eine große Schönheit und der Abgott des Hofes. So wie einst ihre Mutter.« Seine Augen blitzten in der Erinnerung an vergangene Zeiten auf. »Man möchte das kaum glauben, wenn man sie heute sieht«, fügte er wehmütig hinzu. Er schüttelte den Kopf, legte einen Arm um die Schulter des Jüngeren, und gemeinsam traten sie in die Abenddämmerung hinaus. Im Schlafzimmer der Gräfin hingen die Erinnerungen wie schweres Parfüm in der Luft. Roter Samt und fremdländische Seidenstoffe gehörten selbst zu diesen Erinnerungen. Jahre hindurch hatte sich die alternde Frau in Erinnerungen geflüchtet, die sie der Einsamkeit, der Wirklichkeit vorzog. Schuld war Ferdinand, sagte sie sich. Er war immer auf Kriegszügen gewesen, und seine junge Frau mußte allein mit einem kleinen Kind und der ganzen Besitzung fertig werden. Kein Wunder, daß sie frühzeitig gealtert war. Schließlich überließ sie das kleine Kind der Kinderfrau Julie und die Führung der Wirtschaft Dobi und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Dort zog sie ein Kleid nach dem anderen an und schwelgte in den Erinnerungen, die mit ihnen verbunden waren. Das verfeinerte, üppige Leben am Hof zu Wien... die Musik! Wie die Verehrer sie umringt hatten, um den nächsten Tanz zu erbitten! Wie sie nur Ferdinand hatte heiraten können! Dann fiel ihr ein, wie er als junger Offizier ausgesehen hatte, die blauen Augen unter den dichten Wimpern, der sauber geschnittene Schnurrbart. Wie sehr ihm doch der junge Imre Toth glich, fiel ihr jetzt auf. Der Schnurrbart wurde später struppig und ungepflegt, und sie hörte auf, ihn zu küssen. Und jetzt war Ferdinand tot und nur noch Erinnerung. Die Gräfin schwor sich, diese verlorenen Jahre wieder einzubringen. Von jetzt an wollte sie sich leidenschaftlich in das Leben stürzen. Und wenn ihr das Leben nicht zu Willen war, würde sie schon Mittel und Wege finden, es zu zwingen. Die Gräfin saß vor einem Spiegel und nahm ihren Schmuck ab. Hinter ihr hatte sich Hauptmann Dobi in einem Sessel niederge-
lassen und streckte seine langen Beine zum Kaminfeuer hin aus. Er starrte in die glühenden Scheite und nahm ab und zu ein Schluck derben Rotweins zu sich. Neben ihm auf dem Boden stand eine fast leere Flasche. Er war schon seit langem an gewaltige Mengen Alkohol gewöhnt. Heute fühlte er sich ein bißchen betrunken und war froh darüber. Im Hintergrund des Zimmers machte sich Julie zu schaffen und bereitete der Gräfin das Bett. Liebevoll strich sie die Bettücher glatt und breitete das seidene Nachthemd aus. Es gehörte eigentlich nicht zu Julies Aufgaben, solche Arbeiten zu tun. Dafür gab es Teri und die anderen Kammerzofen. Aber Julie war nur glücklich, wenn sie sich um eine geliebte Person kümmern durfte. Ihre eigenen Bedürfnisse, ihr eigenes Aussehen waren ihr unwichtig. Solange sie andere zufriedenstellen konnte, hatte ihr Leben einen Sinn. Die kleine Ilona war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Als man sie nach Wien in Sicherheit brachte, stürzte diese Welt in sich zusammen. Dann schloß sie sich an die Gräfin an, die für jede Gesellschaft froh war und sie gewähren ließ. Sie fing an, in ihr mehr als nur einen Dienstboten zu sehen. Dadurch wurde Julie ermutigt, die Gräfin so zu vergöttern, wie eine Mutter ihr Kind vergöttert. Die Bindung wurde so stark, daß es nichts gab, was Julie nicht für die Gräfin getan hätte. Kein Vorhaben schien ihr zu grausam, wenn er nur durch das Interesse der Gräfin geheiligt war. Dobi umklammerte sein leeres Glas und wurde von einem Lachen geschüttelt. Er konnte seine Gedanken nicht länger für sich behalten. »Zwanzig Jahre! Zwanzig Jahre Haushofmeister dieser Burg... Beschützer einer Dame... und was kriege ich dafür? Verrostete Rüstungen, alte Waffen und eine Truhe voll Kriegsgewänder!« Wieder wurde er von lautem Lachen geschüttelt. Die Gräfin betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ein Netz von Runzeln hatte ihr Gesicht wie eine ansteckende Krankheit überzogen. Bei dem Anblick drehte sich ihr der Magen um. Gab es denn nichts, mit dem dieser Verfall aufzuhalten wäre? Jedes Wässerchen, jede Salbe, jedes einfältige Zaubermittel hatte sie versucht, und nichts hatte sich als wirksam erwiesen. Vielleicht war dies die Strafe, der Lohn für ihren Ehebruch. Ferdinand hatte sie um das halbe Erbe gebracht, und Gott hatte ihr die Schönheit genommen.
Ohne sich umzudrehen sagte sie wie beiläufig zu Dobi: »Was hast du denn erwartet? Glaubst du, er war ein Narr?« »Du hast recht! Warum sich beklagen?« sagte er und kam schwankend auf die Füße. »Da er mir doch den größten Schatz überlassen hat!« Er streckte die Rechte nach ihr aus. Sie stand rasch auf, warf dabei den Stuhl um und entschlüpfte seinem Zugriff. »Es ist mir neu, dir vermacht worden zu sein«, sagte sie kühl. »Aber verstehst du denn nicht, du bist jetzt frei«, versetzte Dobi, als sei das überhaupt keine Frage. »Ja, und ich kann wählen, wen ich will«, erwiderte die Gräfin und eilte in das Badezimmer nebenan, bevor er antworten konnte. Die tiefe, weiße Marmorwanne war schon fast bis an den Rand mit dampfendem Wasser gefüllt. Elisabeth ging zu einem Wandbrett, das voller Salben, Öle und Essenzen stand. Keins der Mittel hatte ihr die Schönheit zurückgegeben, aber wegwerfen wollte sie sie auch nicht. Sie nahm ein Fläschchen und schüttete den Inhalt in das Wasser. Teri trat ein und schleppte einen Krug mit kochend heißem Wasser zur Wanne. Ihr hübsches Gesicht war von der Anstrengung und vom Dampf gerötet. Unter Mühen schüttete sie das Wasser in die Wanne. Heißer Dampf wallte auf. Die Gräfin trat zurück und warf einen kritischen Blick auf das Wasser. »Soll ich mich verbrühen?« fuhr sie das Mädchen gereizt an. »Hol sofort kaltes Wasser.« Dobi drückte sich an der forteilenden Zofe vorbei und ging mit spöttischem Gesichtsausdruck auf die Gräfin zu. »Habe ich einen Rivalen?« fragte er. »Unseren neuen Nachbarn vielleicht?« Der einschmeichelnde Klang seiner Worte machte sie lächeln. Er bemerkte es und begann laut zu lachen. »Der junge Schnösel!« Er umfaßte sie und zog sie in seine starken Arme. Neben seinem muskulösen Körper schien sie noch zarter und feiner zu wirken als vorher. »Gräfin, ich liebe Euch seit zwanzig Jahren«, erklärte er. Sie war über den plötzlichen Ernst in seiner Stimme überrascht und blickte zu ihm auf. »Ich habe geduldig auf diesen Tag gewartet, und jetzt bist du wirklich mein.« Sie wand sich los und sagte: »Geh bitte. Ich möchte mein Bad nehmen.« Sie wich zu dem Wandbrett mit den Schönheitsmitteln zurück. Er blieb unsicher stehen. Es wäre nicht das erste Mal, daß er sie
nackt sehen würde. Und auch nicht das letzte Mal. Ihre Sittsamkeit verwunderte ihn. Sie spürte sein Zögern, drehte sich um und befahl: »Laßt mich allein!« Er sah ihrem Gesicht an, daß das Spiel aus war. Sie war nicht länger Freundin und Geliebte, sondern kehrte die gestrenge Gräfin heraus. Dobi zuckte die Schultern. Dann trottete er aus dem Bad. Während sie ihm nachsah, bedauerte sie schon ihre Laune. Dann stellte sie das Fläschchen auf das Brett zurück. Hinter ihr kam Teri mit dem kalten Wasser. Sie schüttete es langsam in die Wanne und blickte ihre Herrin an. »Jetzt ist es kälter, Euer Gnaden«, sagte sie furchtsam. Die Gräfin drehte sich um und sah nachdenklich in das Wasser. Dann packte sie plötzlich Teris rechten Arm und stieß ihn tief in das Wasser. Das Mädchen schrie vor Schmerzen laut auf und versuchte ihren Arm zu befreien. Die Gräfin hielt ihn mit unheimlicher Kraft fest. Teri standen die Tränen in den Augen. »Kälter?« kreischte ihr die Gräfin ins Ohr. Endlich ließ sie los. Das Mädchen riß den Arm aus dem Wasser und hielt ihn sich an den Mund. Im Arm pulsierte der Schmerz, und die gerötete Haut lag heiß an ihren Lippen. Sie wußte, es half ihr nichts, in Selbstmitleid versunken vor der Gräfin stehenzubleiben. Unter Schmerzen hob sie den Krug und goß den Rest kalten Wassers in die Wanne. Die Gräfin hatte vor Aufregung einen trockenen Mund bekommen und erinnerte sich an die Schale mit Früchten auf dem Tisch. »Schäl mir einen Pfirsich!« befahl sie, ohne die Zofe auch nur eines Blicks zu würdigen. Teri eilte zum Tisch und suchte den reifsten Pfirsich aus. Einer Schublade entnahm sie ein kleines, scharfes Messer. Ihre Hände zitterten, und vor Schmerz konnte sie die Frucht kaum halten. Sie warf einen Blick auf ihre Herrin. Sie hatte sich schon halb entkleidet. Das Mädchen drückte das Messer in den Pfirsich. Ihre Hände tropften jetzt von Saft. Plötzlich entglitt ihr die Frucht und fiel dumpf aufklatschend zu Boden. Das Geräusch ließ die Gräfin herumfahren. Sie sah den Pfirsich am Boden und ging zornig auf Teri zu. »Willst du das Bad zu einem Schweinestall machen?« schrie sie. Teri wollte zu ihrer Entschuldigung vorbringen, daß ihre Hand verbrüht sei, aber die Gräfin schlug ihr schon die nagelbewehrte
Hand ins Gesicht. Das Mädchen hob instinktiv die Hände, um sich zu schützen und dachte nicht mehr an das Messer, das sie in der Rechten hielt. Die Gräfin schlug noch einmal zu, traf die Hände des Mädchens, und das Messer drang Teri in die Wange. Das Mädchen sah Blut, spürte den Schmerz und schrie laut auf. Es warf das Messer fort und preßte die Hände auf die Wunde. Die Gräfin schwieg jetzt, starrte sie jedoch wütend an. Eine Gesichtshälfte war von dem Blut verschmiert, das bis zu ihr gespritzt war. Teri brach in Tränen aus, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und floh aus der Kammer. Sie rannte am überraschten Dobi vorbei, die Treppen hinauf zu den Räumen der Dienerschaft. Erst in ihrem kleinen, lichtlosen Kämmerchen kam sie zur Ruhe. Sie warf sich auf ihr Lager und weinte sich ihren Schmerz von der Seele. Da die Gräfin die Dienerschaft leicht aus der Fassung bringen konnte, maß Dobi dem Vorfall keine größere Bedeutung zu. Er füllte sein Glas aufs neue und sah zu, wie Julie die Schmuckschatulle der Gräfin aufräumte. »Julie... Dobil!« Die Stimme der Gräfin klang rauh und unnatürlich. Und sie rannten sofort zur Tür der Badekammer. Was sie drinnen sahen, ließ sie wie angewurzelt an der Tür stehenbleiben. Die Gräfin saß in einer dunklen Ecke des Raums und starrte in den Spiegel. An ihr Gesicht hielt sie einen blutgetränkten Lappen gepreßt. Dobi meinte zuerst, die Gräfin habe sich geschnitten. Auf ihrem Gesicht zeigte sich jedoch kein Schmerz. Ihr Gesicht drückte vielmehr etwas anderes aus, was er bei ihr noch nie zuvor gesehen hatte. Etwas, das er nur von Soldaten kannte, bevor sie sich auf wehrlose Opfer stürzten. Die entsetzliche Maske des Blutrauschs. Die Gräfin hielt immer noch den Lappen ans Gesicht gepreßt und blickte zu ihnen auf. »Das Blut des Mädchens ist es«, flüsterte sie, »das Blut des Mädchens.« Sie starrte angestrengt in das Dunkel hinter den beiden. »Ist sie nicht dort? Wo ist sie?« fragte sie. Sie sah Dobi an. »Bring sie her!« Es klang eher nach einer Bitte als nach einem Befehl. Dobi verzog angeekelt den Mund. Sie hatte ihre Zofe gequält und hatte noch nicht genug. Einen Kriegsgefangenen foltern, um ihn zum Sprechen zu bringen, das konnte er verstehen. Aber eine arme Dienstbotin? Welchen Vorteil brachte das? »Was willst du von ihr?« fragte er argwöhnisch.
»Bring sie bitte her.« Ihre Augen blickten ihn flehend an. Er wurde weicher unter ihrem Blick. Für einen solchen Blick von ihr würde er alles tun. Aber das nicht. Einem unschuldigen Kind konnte er nichts antun. »Nein. Such dir einen anderen Zeitvertreib. Du entschuldigst mich.« Er verbeugte sich kurz und stapfte aus dem Zimmer. »Julie... bitte!« Die Stimme klang jetzt nicht mehr so mitleiderregend. Die Gräfin kam wieder zu Kräften. Julie zögerte und wußte nicht, was sie sagen sollte. Die Gräfin sah, daß Julie ihr ins Gesicht starrte. Langsam ließ sie den Lappen sinken und zu Boden fallen. Julie stieß einen unterdrückten Schrei des Entsetzens und der Verwunderung aus. Die Gräfin wandte sich wieder dem Spiegel zu und untersuchte ihr Gesicht. Die Seite, die das Blut verschmiert hatte, war jetzt so glatt und makellos wie das eines jungen Mädchens - in erschreckendem Gegensatz zu den Falten und Runzeln, die den Rest des Gesichts verunstalteten. Seit Jahren suchte sie nach dem Mittel, das ihr die jugendliche Schönheit wiedergeben sollte. Und jetzt hatte sie die unfaßliche Lösung gefunden! Und es war billiger als die Salben und Mischungen aus fernen Ländern. Das Blut einer Leibeigenen war sogar das Billigste, was auf ihrem Besitz zu haben war. Die Gräfin wandte sich wieder an Julie, die noch immer wie erstarrt dastand. »Julie... hol sie mir bitte her.« Die Kinderfrau war zu verblüfft, um Antwort zu geben. Sie machte zögernd einen Schritt auf die Gräfin zu, um sich die Haut aus der Nähe anzusehen. Ein vergnügtes, zustimmendes Lächeln glitt über ihre Züge. Die Gräfin sagte hart: »Schön, wenn du nicht willst, hole ich sie selbst.« Sie stand entschlossen auf. »Führ mich zu ihr.« Julie wußte, daß man sich diesem Befehl nicht widersetzen konnte. Teri lag in ihrem dunklen Kämmerchen und hatte aufgehört zu weinen. Sie lag auf ihrem Bett und wußte, daß sie aus dem Herrschaftsbereich der Gräfin fliehen mußte. Doch wie? Vielleicht würde ihr der nette junge Soldat helfen. Sie fragte sich, wie weit sie wohl kommen würde, bevor die Amtsdiener sie aufgreifen
würden. Sie blickte zum kleinen, vergitterten Fenster. Sie wurde hier wie eine Gefangene gehalten. Sie setzte sich erschrocken auf, als die Tür knarrte und die Gräfin eintrat. Hinter ihr wurde die dürre Gestalt der Kinderfrau sichtbar. Teri wartete auf die Flut von Beschimpfungen, die gleich über sie hereinbrechen mußte. Statt dessen lächelte die Gräfin sie beruhigend an und setzte sich zu ihr auf das Bett. Teri konnte es kaum glauben. Die alte Schachtel schien aufrichtig zerknirscht. Die Gräfin nahm das Gesicht des Mädchens in ihre Hände und streichelte es sanft. Dazu sang sie leise ein Wiegenlied, das sie vor Jahren oft Ilona gesungen hatte. Teri beruhigte sich. Sie fühlte sich getröstet und glaubte, man habe ihr vergeben. Elisabeth sang weiter und packte den Schnitt in Teris Wange plötzlich mit zwei Fingern und drückte ihn mit aller Kraft auf. Teri schrie auf, und das Blut fing wieder an zu fließen. Julie sah von der Tür her mit ausdruckslosem Gesicht zu. Einen Augenblick später schloß sie sanft die Tür, damit die Schreie nicht mehr zu hören waren.
3. Dobi stapfte durch die Dorfstraßen und versuchte die üblen Gerüche von seiner Nase fernzuhalten. Mürrisch näherte er sich dem Eingang zur Burg. Er war im Gasthof gewesen, aber keins der Mädchen war frei gewesen, und so mußte er unverrichteter Dinge wieder umkehren. Als er den großen Saal betrat, stieß er auf eine Gruppe Bediensteter, die Rosa, die rotgesichtige Köchin, umringten. Ihr Gesicht drückte Angst aus, und die Stimme, mit der sie auf die anderen einredete, war voller Verzweiflung. »Gestern abend ist sie in die Räume der Gräfin hinauf, und da hab’ ich sie zum letzten Mal gesehen... in ihrem Bett hat sie nicht geschlafen.« Sie brach ab, als sie Dobi näherkommen sah. Rosa watschelte zu ihm und blickte ihm von unten ins Gesicht. »Ach, Herr Hauptmann, habt Ihr meine Tochter gesehen? Teri, die Kammerzofe der Gräfin. Sie ist verschwunden, und ich mache mir solche Sorgen!«
Dobi war nicht in der Stimmung, sich mit hysterischen Müttern abzugeben. Er stieß sie gereizt beiseite und knurrte: »Woher soll ich wissen, wo sie steckt? Versuch’s im Hurenhaus.« Er stieg schon die Treppe hinauf. »So etwas würde sie nie tun, sie ist ein braves Mädchen«, weinte die Köchin los. Eine der Küchenmägde legte tröstend einen Arm um Rosa und meinte: »Der müßte es eigentlich wissen, ob sie im Hurenhaus ist.« Die anderen murmelten ihre Zustimmung. Dann hieß es noch, bei jungen Mädchen könne man eben nie wissen, und die ganze Gruppe zog sich in die Küche zurück. Dobi war auf dem Weg zu seinem Schlafzimmer. Als er am Schlafzimmer der Gräfin vorbeikam, hörte er sie von drinnen fröhlich »Dobi... Julie!« rufen. Es war gar nicht die Art der Gräfin, so gutgelaunt zu sein. Er ging zur Tür und lauschte. Kein Ton. Er klopfte und trat ein. Was er drinnen sah, ließ ihn vor Entsetzen auf die Knie stürzen. Vor ihm stand die Gräfin - aber die Gräfin, wie sie vor fünfunddreißig Jahren gewesen war. Die Haut war ohne eine Falte, jung und weich und köstlich weiß. Ihre Lippen waren voll und sinnlich, wie zur Liebe geschaffen. Sie lachte über sein Erschrecken und sah ihn aus jugendfrisch blitzenden Augen an. Er suchte nach Worten, während seine Blicke gierig ihren Leib abtasteten. Sie lächelte ihn einladend an und streckte ein Bein unter der blauen Seide ihres Nachtgewands hervor. Es war makellos. Dobi war überwältigt von ihrer Schönheit und stand schwankend auf. Bittend streckte er die Arme aus. »Was hast du getan?« rief er und sprang auf sie los. Er wollte sie fest an sich drücken und ihren warmen Körper spüren. Er wollte sich versichern, daß alles nicht nur ein Traum war. Statt einer Antwort schüttelte sie ihr blondes Haar und tanzte leichtfüßig aus seiner Reichweite. Lachend versuchte er es noch einmal. Sie wich seinem plumpen Zugriff aus. Außer Atem blieb er stehen und merkte plötzlich, wie alt er im Gegensatz zu ihr war. Ein Gedanke schoß durch seinen Kopf, und er sah sich wild um. Wenn das eine List war? Vielleicht gab sich jemand als die Gräfin aus? Sie lachte los, und er mußte an einen längst vergangenen Frühling denken. Als er sie wieder ansah, wußte er, daß die Gräfin vor ihm stand.
»Wo ist sie?« flehte er. »Wer?« fragte die junge Gräfin neckisch und weidete sich an seiner Verwirrung. Er machte eine hoffnungslose Geste. »Das Mädchen... die Kammerzofe!« Das Lächeln fiel von der Gräfin ab. Die Grausamkeit, die ihr Mund ausdrücken konnte, war auf jeden Fall nicht verschwunden. Sie wich Dobis anklagendem Blick aus. »Niemand wird sie finden«, sagte sie schließlich. Dobi starrte sie lange an. Er war von ihrer Schönheit überwältigt, aber zugleich entsetzt darüber, wie sie dazu gekommen war. Er brauchte seine ganze Willenskraft, um den Blick von ihr zu lösen. Die Veränderung war unglaublich. Er fand keine Worte. »Dobi, sieh mich an!« Die Stimme klang süß und unwiderstehlich. Vorsichtig hob er die Augen. Sie knickste wie eine verschämte Debütantin und kicherte mädchenhaft los. Er starrte auf die weiche Furche zwischen ihren Brüsten und wußte, daß er alles tun würde, um dort seinen Kopf hinlegen zu dürfen. »Ich bin bereit für meinen ersten Ball«, neckte sie und sprang leichtfüßig hin und her. Dobi schüttelte verzweifelt den Kopf, als wolle er etwas abschütteln. Schließlich gehorchte ihm die Stimme wieder, und er sagte: »Und was wird deine Tochter sagen? Sie wird morgen eintreffen. Sie wird eine gleichaltrige Mutter vorfinden!« Sie sah ihn fest an, und an den Augen erkannte er, daß ihn das Wissen der alten Gräfin anblickte. »Wird sie denn morgen wirklich eintreffen?« fragte sie ihn mit geheimnisvoller Stimme. Sie kam auf ihn zu, und er blickte sie fragend an. Sie lehnte sich an ihn und küßte zart seinen Hals. »Ob sie morgen wirklich kommen wird?« wiederholte die junge Gräfin. Die junge Ilona Nadasdy blickte in die Landschaft hinaus, die an ihrem Kutschenfenster vorbeizog. Sie hielt nach vertrauten Dingen Ausschau. Zwölf Jahre war sie fort gewesen. Bis jetzt hatte sie kaum mehr als nur immer wieder Bäume gesehen. Und Bäume sahen überall gleich aus. Ilona war zu einem schönen Mädchen herangewachsen. Sie hatte freundliche, große blaue Augen, eine hübsche kleine Nase und
volle, köstlich blasse Lippen. Um ihren Kopf lockte sich dichtes braunes Haar. Ilona nahm jetzt eine Bürste aus einer Reisetasche und vertrieb sich die Zeit mit Haarebürsten. Die Kutsche rüttelte und schüttelte jetzt nicht mehr so heftig. Die Straße war offenbar besser geworden. In weniger als einer Stunde würde sie wohl ihre Eltern umarmen. Hoffentlich ging es ihrem Vater wieder besser. Ob die Mutter wohl noch so schön war? Draußen krachten zwei Schüsse, und sie ließ die Bürste erschrocken fallen. Sie sah vorsichtig aus dem Fenster und entdeckte zwei wilde Strauchdiebe mit rauchenden Pistolen, die der Kutsche den Weg abschneiden wollten. Einer hatte wie ein Zigeuner ein rotes Tuch um den Kopf gebunden und warf ihr einen höhnischen Blick zu. Der andere hatte fettiges schwarzes Haar und finstere Augen. Er schwenkte die Pistole durch die Luft und rief dem Kutscher zu, er solle halten. Der Kutscher trieb das Gespann zu größerer Eile an. Der Wegelagerer drückte fluchend die Pistole ein zweites Mal ab. Ilona stieß einen Schrei aus, als sich der Kutscher an den blutenden Kopf faßte und auf die Straße stürzte. Als der Zigeuner sah, daß die Kutsche führerlos war, gab er seinem Roß die Sporen und fiel dem Gespann in die Zügel. Rasch hatte er es zum Stehen gebracht. Der mit den dunklen Augen stieg ab und kam auf die Kutsche zu. Er riß den Schlag auf und zerrte Ilona trotz ihrer beherzten Gegenwehr mühelos aus dem Wagen. Dann hob er sie lachend in die Höhe und warf sie quer über seinen Sattel. Er schwang sich hinter ihr in die Höhe, hielt sie mit einem Arm fest und ritt vom Zigeuner gefolgt los. Dobi beobachtete aus seinem Versteck heraus den ganzen Vorfall. Er wartete, bis die beiden Halsabschneider mit ihrer Beute außer Sicht waren. Dann ritt er hinter dem Gebüsch hervor und machte sich auf den Rückweg zur Burg. Sein Auftrag war erfüllt. Imre hielt sich in den Stallungen auf und hatte Schwierigkeiten, sich unter den Pferden, die ihm die Stallburschen vorführten, eins auszuwählen. Er hatte noch nie so prächtige Tiere gesehen. Er ging geschickt von Pferd zu Pferd, sah sich hier ein Auge, dort einen Huf an. Die Wahl fiel ihm schwer, aber schließlich faßte er einen Entschluß. Er deutete auf einen herrlichen schwarzen Hengst. Rasch wurden die anderen Pferde weggeführt und der
Hengst gesattelt. Imre hörte sich mit freundlicher Stimme angerufen, drehte sich um und sah Fabio näherkommen. »Seid Ihr zufrieden?« fragte er und warf einen Blick auf den Rappen. »So wie Ihr mit Eurer Bibliothek«, erwiderte Imre. Er blickte vom Pferd zu Fabio. »Kommt, reitet mit mir mit!« schlug er vor. »Nein, nein«, sagte Fabio rasch. »Diese Geschöpfe versetzen mich in Angst und Schrecken.« Er zog eine Rolle unter dem Arm hervor, wickelte sie auf und zeigte sie Imre. »Ich habe Euch hier eine Karte der Gegend gebracht, weil ich befürchte, daß Ihr Euch sonst verlauft.« »Danke Euch«, sagte Imre und sah sich die Zeichnung an. Er war von dem Geschenk des alten Mannes beeindruckt. »Und die Gräfin würde sich glücklich schätzen, wenn Ihr heute abend mit uns speisen würdet.« Imres Gesicht mußte ein gewisses Mißbehagen gezeigt haben, denn Fabio fügte hinzu: »Schaut nicht so griesgrämig drein.« Imre hatte keine große Lust, die Bekanntschaft mit der Gräfin fortzusetzen. An der Gräfin war etwas, das ihn abstieß. Sie erinnerte ihn an eine zahnlose Hure, die sich dick mit Schminke bestreicht, um Jugend vorzutäuschen. Die Gräfin würde sicher nicht so weit gehen, aber Imre spürte den gleichen Hunger nach Jugend in ihr. »Die schöne Ilona ist heute morgen angekommen«, sagte Fabio und zwinkerte ihm zu. »Und ist sie so schön, wie Ihr sagt?« wollte Imre eifrig wissen. Fabio zuckte die Schultern. »Ich habe sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Sie wurde den ganzen Tag über von ihrer Mutter mit Beschlag belegt.« Imre klopfte seinem Pferd beruhigend den Hals und schwang sich dann in den Sattel. Fabio hielt den Atem an und sah den jungen Mann schon vom Rücken dieses schwarzen Teufels fliegen, aber Imre blieb oben. Das Pferd war ganz ruhig. Imre blickte auf den Graubart nieder. »Ihr habt mich davon überzeugt, daß ich meine Aufwartung machen muß«, sagte er lachend. »Ich sehe Euch später.« Er zog das Pferd herum und ritt auf das Haupttor zu. »Wir speisen um sieben!« rief ihm Fabio durch die Hände nach.
Auf dem Hof draußen zügelte Imre das Pferd und winkte zurück. Fabio sah ihn dann davonreiten und wünschte sich, Vater eines solchen Sohnes zu sein. Ilona hing mit dem Kopf nach unten über den Sattel und flog durch den Wald, daß ihr fast Hören und Sehen verging. Aber ohnmächtig werden wollte sie nicht, weil sie viel zu neugierig war, was noch alles geschehen würde. Dennoch war es das Schrecklichste, was sie je erlebt hatte. Das Blut stieg ihr zu Kopf, und ihr Magen krümmte sich. Trotz ihrer Angst war sie recht froh, als man endlich vor einer armseligen Hütte mitten auf einer Lichtung anhielt. Augen und Mund waren staubverklebt, und sie sah nur undeutlich, daß jemand aus der Hütte getreten war und auf sie zukam. »Hier ist etwas für dich, Janko«, sagte der mit dem finsteren Gesicht. Er sprang vom Pferd und zog sie unsanft hinunter. Sie fiel ungeschickt zu Boden und stieß einen Schmerzensschrei aus. In ihrem Kopf drehte sich alles. Benommen kam sie auf die Füße und sah sich den Unbekannten an, vor dessen Füßen sie gelandet war. Das erste, was ihr an Janko auffiel, war ein riesiger, schmieriger, schwarzer Schnurrbart. Darüber eine Hakennase und zwei leicht geschlitzte Augen. Dann fiel ihr auf, daß sein Gewand unbeschreiblich schmutzig war. Das grobe Schaffell seines Mantels war dreckverkrustet, und die Fellmütze auf seinem kahlen Schädel war einfach widerlich. Als er ihren Blick auf sich gerichtet sah, legte er mit einem wilden, kurzen Tanz los und ließ dann eine Flut ärgerlicher, glucksender Laute auf die Wegelagerer los, aus der sie nicht klug wurde. Dann machte er eine tiefe Verbeugung vor ihr. Die beiden Räuber lachten laut los. Der Anblick des schmutzigen Möchtegern-Höflings war so komisch, daß Ilona beinahe selbst losgelacht hätte. Janko richtete sich wieder auf und grinste sie aus zahnlosem Mund an. Die Räuber spornten ihre Pferde an und ritten, immer noch lachend, rasch davon. Janko gab schmatzende Geräusche von sich, packte Ilona an der Hand und zog sie zur Hütte. Gott helfe mir, dachte Ilona, man läßt mich von einem Wahnsinnigen bewachen.
Gräfin Elisabeth betrachtete ihren Körper vor dem größten Spiegel. Den ganzen Morgen hatte sie schon so zugebracht. Sie ließ ihre Augen mit Wohlgefallen auf dem goldblonden Haar ruhen, sah dann wieder verzückt die glatte Haut, die sanften Kurven an... Selbst jetzt konnte sie noch kaum die Verwandlung fassen. Jedesmal, wenn sie in den Spiegel blickte, hielt sie die Luft an, aus Angst, das vertraute verwelkte Gesicht, die leblos grauen Haare zu sehen. Die waren hoffentlich aus ihrem Leben verschwunden. Julie half ihr in ein Abendkleid. In ein tief rotes Samtgewand, das die Gräfin für Ilona hatte machen lassen. Jetzt schien es ihr gerade das richtige für das Abendessen zu sein. »Wie sehe ich aus?« fragte die Gräfin wohl zum fünfzigsten Mal an diesem Nachmittag. »Glaubst du, daß mich unser neuer Nachbar unwiderstehlich finden wird?« »Wen gibt es denn, der dir widerstehen könnte?« fragte Julie zärtlich. Die Gräfin lachte mit blitzenden Augen. Es stimmte. Niemand konnte ihr widerstehen. Sie umarmte Julie und ließ sie an ihrem Glück teilhaben. Es war alles vollkommen, und heute abend würde sie den köstlichen jungen Soldaten besitzen. Es sei denn, er wäre kein Mann, oder seine Lenden aus Stein. Imre betrat den großen Saal. Seine Wangen waren noch heiß und rot vom scharfen Ritt. Meister Fabio begrüßte ihn und rieb sich die Hände. »Wir haben Glück«, strahlte er und legte einen Arm um Imres Schultern. »Die Gräfin ist von der Wiederkehr ihrer Tochter ganz überwältigt und nimmt ihr Essen auf ihrem Zimmer ein.« Imre wurde munterer. Das einzige Gewölk am Horizont hatte sich verzogen. »Und die Tochter?« fragte er und suchte gleichgültig zu scheinen. Fabio klatschte in die Hände. »Sie wird kommen.« Sie bemerkten, daß sich jemand näherte, drehten sich um und sahen Dobi schwankend näherkommen. Man schwieg unbehaglich. Imre spürte, wie Dobi ihn unter dichten Augenbrauen hervor finster ansah. Er hoffte sich mit ihm zu vertragen, bevor sich eine tiefe Feindschaft entwickeln konnte. »Ihr kennt Euch, glaube ich«, sagte Fabio und wollte geschickt
zwischen den beiden vermitteln. Imre wollte eben eine höfliche Antwort geben, als er sah, daß die Worte Dobi gar nicht erreicht hatten. Der Hauptmann starrte wie gebannt in die Höhe. Imre folgte seinem Blick und spürte, wie ihm der Herzschlag stockte. Oben auf der Treppe stand eines der schönsten Mädchen, das er je gesehen hatte. Es war so vollkommen, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Gefolgt von Julie kam das junge Wesen wie eine Königin die Treppe herab. Selbst Fabio schien wie bezaubert. Er eilte ihr entgegen. »Meine liebe junge Dame«, sagte er und riß die Augen hinter der Brille auf. »Erinnert Ihr Euch an mich?« Die junge Gräfin lächelte ihn selbstsicher an. »Mein lieber Meister Fabio, wie könnte ich Euch vergessen haben?« Sie streckte anmutig die Hand aus, und Fabio verbeugte sich und berührte sie mit seinen Lippen. Dabei schielte er durch seine Brille nach oben und sah das lächelnde Gesicht nun aus der Nähe. Fabio runzelte überrascht die Stirn. Der Gräfin entging seine Überraschung nicht. »Habe ich mich so sehr verändert?« fragte sie sanft. Mit kaum merklichem Zögern zog sich Fabio aus der Affäre. »Wie eine Knospe, die zur Blume aufgeblüht ist. Ihr seid nicht wiederzuerkennen.« Julie und Dobi sahen aufmerksam zu, wie sich die junge Gräfin jetzt Imre näherte, der kaum zu atmen wagte. Aus der Nähe sah sie fast noch wunderbarer aus. »Das hier ist mein junger Freund Imre Toth«, sagte Fabio und wies auf den jungen Mann. Sie lächelte ihn freundlich an. Imre nahm ihre Hand und drückte seine Lippen auf die zarten Finger. Am liebsten hätte er den ganzen Arm mit Küssen bedeckt. Er merkte, daß er ihre Hand schon zu lange hielt, und ließ sie langsam los. Sie lächelten sich zu, und im Nu waren sie durch ihre Jugend in diesem sonst so düsteren Schloß miteinander verschworen. »Meine Mutter hat mir schon von Euch erzählt«, sagte sie mit junger Stimme, die aber doch entschlossen klang. »Euer Vater und meiner waren, wie ich höre, die besten Freunde.« Imre glaubte aus ihrer Stimme mehr als nur Höflichkeit herauszuhören. Fühlte sie sich etwa ebenso von ihm angezogen, wie er von ihr? Er konnte es kaum hoffen. Imre nickte. »Ich hoffe, wir werden auch so befreundet sein.«
Dann fügte er rasch hinzu: »Ich hoffe, Eure Mutter fühlt sich nicht zu unwohl?« »Nein, sie ist nur ein wenig übermüdet.« Ihre Augen blitzten merkwürdig vergnügt auf. »Sie bittet uns, gar nicht an sie zu denken und den Abend zu genießen.« Sie wandte sich Dobi zu und schlug die Augen zufrieden nieder. Insgeheim war sie vom Erfolg ihrer Schauspielerei entzückt. Dobi trat mit schweren Schritten auf sie zu. »Sollen wir speisen?« fragte er, bot ihr den Arm und führte sie zu Tisch. Die junge Gräfin trat automatisch an den Kopf des Tisches und wollte sich setzen. »Nicht«, sagte Dobi, »das ist der Sitz Eurer Mutter.« Er starrte sie mit undurchdringlichem Gesicht an. Seinem Ton war eine winzige Spur Ironie anzumerken. Die junge Gräfin zögerte und spürte, daß alle Augen auf sie gerichtet waren. »Natürlich«, erwiderte sie unschuldig. »Heute abend vertrete ich sie in mehr als einer Hinsicht.« Sie setzte sich, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Ilona saß in Jankos Hütte niedergeschlagen an einem Holztisch und wartete auf das Abendessen. Vor ihr rührte der seltsame Mensch in einem Topf über einer offenen Feuerstelle. Sie spielte mit dem Holzlöffel, den ihr Janko hingelegt hatte. Sie war darauf gekommen, daß Janko gar kein Wahnsinniger war, jedenfalls war er nicht völlig verrückt. Er konnte nur nicht sprechen, weil man ihm irgendwann einmal die Zunge aus dem Mund geschnitten hatte. Vielleicht waren es die Türken gewesen, oder man hatte ihn als Dieb bestraft. Das letztere schien der Wahrheit näher zu kommen, dachte sie. Vielleicht hielt man sie hier fest, um ein Lösegeld von ihren Eltern zu erpressen. Man hatte die Burg vielleicht schon benachrichtigt und verlangte eine bestimmte Summe. Sie hoffte nur, daß das Befinden ihres Vaters durch die Neuigkeit nicht verschlechtert wurde. Sie sah sich traurig um. Die Hütte starrte vor Schmutz. Auf dem Boden überall Schmutz und alte, abgenagte Knochen. Janko schien sich mit zwei Ziegen und einigem Federvieh die Hütte zu teilen. Der Gestank war kaum auszuhalten. Fröhliche Gluckslaute gaben ihr zu verstehen, daß das Abendes-
sen fertig war. Janko stellte zwei dampfende Teller auf den Tisch. Sie rümpfte zweifelnd die Nase. Sie glaubte Reis und Fisch zu riechen, und ihr Hunger legte sich. Janko forderte sie mit lautem Schmatzen zum Essen auf. Sie beachtete ihn nicht, stand auf und ging zu einem Kübel mit fettigem Wasser. Sie biß die Zähne zusammen, tauchte die Hände in den Kübel und wusch sie. Janko sah ihr mit offenem Mund zu. So eine Wasserverschwendung hatte er noch nie gesehen. Sie warf ihm einen strengen Blick zu, wischte sich die Hände an einem Lumpen trocken und kehrte zum Tisch zurück. Der Stumme schlurfte zum Kübel und tauchte seine Hände auch hinein. Selig plantschte er in dem Wasser herum und machte ihre Bewegungen nach. Dann langweilte ihn die Sache, und er kam mit tropf nassen Händen zum Tisch zurück. Er wollte eben mit den Fingern in das Essen fahren, als er das Mädchen schon wieder etwas Ungewohntes machen sah. Sie nahm eine winzige Menge Reis auf ihren Löffel und führte ihn unschlüssig zum Mund. Sie hätte sich fast übergeben müssen und spie das Essen wieder aus. Sie hatte noch nie etwas so Widerliches gekostet. Janko schien das nichts auszumachen. Er starrte weiter den Löffel in ihrer Hand an. Er sah sich eifrig nach einem zweiten um, konnte aber keinen finden, da ihm Dobi ja nur einen für das Mädchen gegeben hatte. Ilona sah entsetzt zu, wie er mit der hohlen Hand den Löffel nachahmte und anfing, das Essen in den Mund zu schaufeln. Er schmatzte und schluckte und brummte zufrieden. Ilona hielt es nicht länger aus. Er verhöhnte sie offensichtlich. Sie stieß den Teller beiseite, sprang auf und rannte zur Tür. Sie war versperrt. Sie rüttelte daran, konnte aber nichts ausrichten.
4. Im warmen Schein der Kronleuchter vergnügten sich die Gestalten, die am Tisch saßen. Der gewürzte Wein hatte sie belebt, und das köstliche Essen hatte sie gesättigt. Immer wieder wurden die Stimmen lauter, bis sie in lautes Lachen ausbrachen. Dobi und Imre tranken sich schon seit geraumer Zeit, vom Wein erwärmt, wie zwei lang getrennte und wieder vereinte Brüder zu. Beherrscht wurde die Gesellschaft von der jungen Gräfin. Sie unterhielt sie wie eine erfahrene Gastgeberin. Sie sprach rasch
und flüssig, brillierte mit ihrem Verstand und brachte alle so sehr zum Lachen, daß man sich nicht mehr zu helfen wußte. Man lachte in die Gläser hinein, wiederholte laut ihre Aussprüche, bis der Raum vom Gelächter widerhallte. Als sich das Lachen ein wenig gelegt hatte, fragte sie Imre: »Könnt Ihr Euch an Euer früheres Leben hier erinnern?« »Allerdings.« Der Wein hatte ihr die Zunge gelöst, und sie hatte jetzt manchmal etwas Mühe, deutlich zu sprechen, aber die anderen hingen voller Bewunderung an ihren Lippen. »Ich erinnere mich an manches... vor allem an eine Sache... war am Tag meiner Abreise...« Sie brach ab und sah Dobi vielsagend an. Er blickte ihr in die Augen, und die anderen merkten nicht, wie ihm das Lächeln verging. Er spannte die Rechte um sein Glas, stand auf und hob es in die Höhe. Man blickte ihn an. »Ich trinke auf den Neuankömmling.« Er betrachtete die tiefrote Flüssigkeit. »Ich erhebe das Glas mit dem Wein, den Euer teurer Vater so sehr geliebt hat.« Er nickte der jungen Gräfin höflich zu. »Er liebte nicht nur den Geschmack, sondern auch die Farbe.« Dobi machte eine Pause, um sicherzugehen, daß ihm auch alle zuhörten. »Eine Farbe wie Stierblut.« Das letzte Wort dehnte er bedeutungsschwer. Er hob das Glas noch einmal und trank es aus. Die anderen erhoben sich schwankend, grüßten die junge Gräfin mit ihren Gläsern und riefen: »Auf die Heimkehrerin!« Dann sanken sie in ihre Sessel zurück. Als Dobi saß, richtete er sein Wort an die Gräfin, und nur sie bemerkte, wie rauh seine Stimme klang. »Entschuldigt, Euer Gnaden... bitte fahrt mit Eurer entzückenden Erzählung fort.« Die Gräfin lachte verwirrt und faßte sich mit ihrer zarten Hand an die Stirn. »Ich kann mich nicht mehr erinnern«, entschuldigte sie sich leichthin. Man stieß gespielte Schreie der Enttäuschung aus. »Am Tage Eurer Abreise«, versuchte es Imre. »Ach ja... ich schwamm im See und...« Sie hob den Kopf und lachte perlend los, als habe sie die Szene wieder vor Augen. »Am Ufer sah ich einen Mann, der Blumen schnitt. Wer das wohl war? Ein Gärtner? Er hielt sich zu aufrecht. Ein Dieb? Er war zu weit weg, als daß ich ihn erkennen konnte.« Dann fügte sie flüsternd hinzu : »Mein Schamgefühl erlaubte es mir nicht, das Wasser zu verlassen!«
Rund um den Tisch brach man in lautes Gelächter aus. Dann lauschte man wieder neugierig. »Später sah ich dieselben Rosen im Schlafzimmer meiner Mutter«, fuhr sie fort. »Ich fragte sie, wer sie ihr gegeben hatte. ,Einer meiner heimlichen Liebhaber’, erwiderte sie.« Wieder stießen die Zuhörer entzückte Schreie aus. Nur Dobi stimmte nicht in die allgemeine Heiterkeit mit ein und blickte sie finster an. »Was wollte sie damit sagen? Sie versprach, mir alles zu erzählen, wenn ich erwachsen wäre. Und heute abend, bevor ich zum Essen herunterkam, hat sie mir meine Frage beantwortet. Und der Name des Mannes?« Sie blickte von einem neugierigen Gesicht in das andere. Als sie das letzte ansah, sagte sie triumphierend: »Es war Onkel Dobi!« Sie brach in ein entzücktes Gelächter aus, und die anderen fielen mit ein. Alle bis auf Dobi. Er starrte sie verlegen und gekränkt an. Die Gräfin beachtete ihn nicht und sprang auf die Füße. Die Tafel war aufgehoben. Ihre Gäste erhoben sich, so gut es ging. »Ich habe jetzt genug über mich selbst gesprochen...« Sie streckte höflich eine Hand aus und zeigte auf Imre. Er kam um den Tisch herum auf sie zu und ergriff sie voller Begeisterung. »Helft mir, mein Heim wiederzuentdecken«, bat sie ihn. »Und erzählt mir aus Eurem Leben, von Euren Plänen, Eurer Familie...« Mit diesen Worten liefen sie schon durch den Saal auf die Treppe zu. Im Vorbeigehen warf sie Dobi einen siegesgewissen Blick zu. Dann lief sie Hand in Hand mit Imre die Stufen hinauf. Dobi ließ sich schwer in seinen Sessel fallen. Er kochte vor Wut, konnte aber nichts unternehmen, Er sah, daß ihn Fabio belustigt anblickte. Er starrte zurück, bis der Alte die Augen senkte, und trank sein Glas in einem Zug aus. Dann setzte er es klirrend auf den Tisch. Imre und die schöne Gräfin streiften zusammen durch die nächtlichen Gänge. Der Wein hatte ihnen gut zugesetzt, und sie waren bester Laune, lachten sich an und lehnten sich ab und zu schwankend aneinander. Sie blieben vor dem Porträt eines ältlichen weißhaarigen Herrn stehen. Er lächelte verschmitzt, als hüte er ein angenehmes Geheimnis. »Mein Großvater«, erklärte die Gräfin. In gespielter moralischer Entrüstung fuhr sie fort: »Seine Schwäche waren die Weiber. Er
starb in den Armen einer Küchenmagd.« Imre lächelte zum Alten hinauf. Kein Wunder, daß er so zufrieden wirkte. »So grüße ich ihn«, sagte Imre. Sie lachte auf und drückte seinen Arm. Imre war herrlich erregt, weil er sie so nah bei sich wußte. Bei jedem Atemzug stieg ihm ihr verführerisches Parfüm in die Nase. Sie gingen weiter, bis sie vor dem Bild einer ungewöhnlich häßlichen Frau standen. »Seine Gemahlin«, sagte die Gräfin schlicht. »Zu ihrer Zeit bestimmt eine Schönheit«, schwärmte Imre. Kichernd liefen sie weiter. Vor ihnen lag dunkel die Tür zum Schlafzimmer der alten Gräfin. Ilona hob mahnend einen Finger. »Ganz leise jetzt am Zimmer meiner Mutter vorbei.« Lächerlich übertrieben schlichen sie auf Zehenspitzen wie durchbrennende Liebesleute vorbei. Ein Porträt von Ferdinand Nadasdy blickte wohlgefällig auf sie nieder. »Euer Vater«, sagte Imre bewundernd. »Was für ein mutiger und edler Mann er gewesen sein muß.« »Ja.« Ihre Stimme blieb gleichgültig, und er blickte sie überrascht an. Man konnte es verstehen. Schließlich hatte sie ihn viele Jahre nicht gesehen, dachte Imre. »Sieht er so aus, wie Ihr Euch an ihn erinnert?« fragte er. »So ziemlich«, sagte sie und ging nicht weiter auf die Frage ein. Plötzlich standen sie unter einem Porträt der Gräfin Elisabeth, das vor dreißig Jahren gemalt worden war. Imre blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Die Ähnlichkeit war unglaublich. Neben ihm stand das lebende Abbild des Gemäldes. »Meine Mutter«, sagte die junge Gräfin. Imre nickte bewundernd. »Findet Ihr sie schön?« fragte sie. Imre wandte sich vom Bild ab und sah ihr ins Gesicht. »Unwiderstehlich«, rief er. Sie lohnte es ihm mit einem bezaubernden Lächeln und führte ihn zu einer Tür, die nur angelehnt war. Sie preßte ihre bloßen Arme an den Körper, als spüre sie jetzt die Kälte, die von den Mauern ausging. »Ich glaube, ich hole mir ein Tuch zum Umhängen«, sagte sie und trat in das Zimmer. Er folgte ihr und merkte nicht, daß sie Dobi vom anderen Ende des Gangs her haßerfüllt beobachtete.
Das Zimmer war ziemlich dunkel und wurde nur vom Mondschein und dem Licht, das vom Gang hereinfiel, erhellt. Imre spürte plötzlich, daß Ilona nicht mehr dicht vor ihm war. Er sah sich rasch um. Sie war nicht mehr zu sehen. Seine Augen fielen auf ein großes Bett, das mit seinem violetten Überzug sehr einladend aussah. Hinter einem Wandschirm ertönte fröhliches Lachen, und Imre begriff das Spiel, rannte hinter den Schirm, um das Mädchen zu fangen. Sie entwischte ihm aber und tanzte leichtfüßig wie eine Nymphe durch das Zimmer. Imre kam hinter dem Schirm hervor und sah sie am Fenster stehen. Ihr langes Haar glänzte im Mondschein wie gesponnenes Silber. Sie sah mit ihrer hellen Haut unwiderstehlich aus. Imre näherte sich ihr mit vorsichtigen Schritten, als habe er Angst, sie zu verscheuchen. Er nahm ihre Hände in die seinen und drückte sie sanft, um ihr seine Liebe mitzuteilen. Wortlos blickten sie sich in die Augen. Er sah zum erstenmal, wie tief ihre Augen waren. Und sie waren grau, wie die ihrer Mutter. Sie schienen unendlich viel zu wissen, ließen eine Reife spüren, die weit über ihre Jahre hinausging. Der Gedanke erschreckte ihn, und er verdrängte ihn. Sanft fragte er: »Werdet Ihr jetzt hier bei Eurer Mutter leben oder nach Wien zurückkehren?« Sie wandte die Augen nicht ab und antwortete: »Ich habe mich noch nicht entschieden. Und Ihr?« Er sah sich begeistert um. »Ich fühle mich schon wie zu Hause. Das erste richtige Zuhause in meinem Leben.« Dann fiel ihm etwas ein, und seine Züge verdüsterten sich. »Der Krieg ist aber noch nicht aus, und vielleicht ruft mich bald wieder die Pflicht.« Diese unselige Aussicht ließ beide für einen Augenblick verstummen. Dann fügte er hinzu, und seine Stimme klang wieder optimistisch: »Aber bis es dahin kommt, bleibe ich hier.« Er zog sie zärtlich an sich und spürte, wie ihn ein warmes, liebevolles Gefühl durchrieselte. »Und wenn Ihr fortgeht«, versprach er, »werde ich meine Pferde nehmen, das schwöre ich, und...« Sein ernster Schwur wurde von ihrem hellen Lachen unterbrochen. »Alle Pferde?« neckte sie und freute sich gleichzeitig über seine Aufrichtigkeit. »Alle«, schwor er. »Und ich glaube, ich werde überall dort hingehen, wo Ihr hingeht.« Die junge Gräfin wich seinen flammenden Blicken aus und ließ
den Kopf in gespielter Demut sinken. »Eines solchen Opfers bin ich nicht würdig«, widersprach sie. Er schloß sie fest in seine Arme und sagte: »Da laßt mich nur urteilen.« Sie stieß ihn nicht von sich, wie er fast befürchtet hatte. Er neigte den Kopf und spürte ihren heißen Atem an seinen Lippen. Sanft nahm er ihre Unterlippe zwischen die Zähne. Sie stieß einen leisen, wohligen Laut aus. Sie schloß die Augen und überließ sich seinen zärtlichen Küssen. Dann entzog sie sich ihm und tänzelte zur Tür. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie wollte von ihm geliebt werden, fürchtete aber, daß ein zu schnelles Vorgehen von Übel wäre. Er mochte jede Achtung vor ihr verlieren. »Nein«, sagte sie zu seiner Pein, »wir müssen an unseren guten Namen denken. Schließlich haben wir uns eben erst kennengelernt.« Imre folgte der jungen Gräfin enttäuscht zur Tür. »Wann kann ich Euch wiedersehen?« fragte er unruhig. Sie schien verwirrt, als setze sie seine Frage in Verlegenheit, zwinge sie, eine Entscheidung zu treffen. Endlich hellte sich ihr Gesicht auf, und sie streichelte ihm die Wange. »Am Sonntag. Wir werden am Sonntag zusammen ausreiten.« Er stöhnte leise auf. Solange konnte er nicht warten. »Zwei volle Tage«, klagte er. »Unmöglich!« Sie mußte über sein Ungestüm lächeln und freute sich, daß er so begierig war, die Beziehung fortzusetzen. Sie konnte ihn nicht abweisen. »Also morgen«, gab sie nach. »Doch spät, wenn die anderen schlafen.« Sie überlegte einen Augenblick. »Kommt an die kleine Tür unten im Turm. Ich werde eine Kerze in das Fenster darüber stellen. Das soll bedeuten, daß alles in Ordnung ist und Ihr eintreten könnt.« Sie sah unruhig zur Tür, als fürchte sie, jeden Moment könne jemand hereinkommen. »Ihr müßt jetzt gehen«, flehte sie. Er nahm sie noch einmal fest in die Arme und suchte ihre Lippen. Der Kuß war nicht so lang wie der erste, war jedoch leidenschaftlich und zeigte besser als alle Worte, daß er sie liebte. Widerstrebend lösten sie sich voneinander. Sie nahm seine Hand und drückte sie, während er an der Tür stehenblieb. Er warf ihr noch eine Kußhand zu und war verschwunden. Die Gräfin ging langsam zum Fenster und sah zum leuchtenden
Mond hinauf. Ihre Wangen waren vor Aufregung und Unruhe gerötet. Sie biß sich auf die Lippen, damit sie zu zittern aufhörten. Morgen, so malte sie sich aus, würde sie sich an seinem jungen Körper ergötzen, und sie würde lieben, wie sie seit zwanzig Jahren nicht mehr geliebt hatte. Julie stand im Geflügelhof, fütterte Tauben und beachtete kaum die jungen hübschen Bauerndirnen, die mit vollen Körben vom Beerensammeln zurückkamen. Als sie aufblickte, sah sie Fabio näherkommen. Wie immer steckte seine Nase in einem Buch. Einen besseren Platz gab es für dieses Organ gar nicht; da konnte er sie nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Fabio kam auf sie zu und begrüßte die Tauben mit Zungen-schnalzen. »Sag einmal«, fing er eine Unterhaltung an, »wie findest du unsere kleine Dame? Übertrifft sie nicht deine kühnsten Träume?« »In welcher Hinsicht?« erwiderte sie auf ihre humorlose Art. Ihre weiße, gestärkte Haube ließ sie wie eine gestrenge Äbtissin aussehen. »In jeder Hinsicht«, platzte Fabio heraus. »Für ein Mädchen, das kaum neunzehn ist, zeigt sie... nun...« Er suchte nach den richtigen Worten und hob hilflos die Hände. »Sie gibt sich so erwachsen, ist so gescheit, so selbstsicher in ihrem Betragen...« »Allerdings«, gab die Kinderfrau zurück und zeigte sonst kein Interesse. »Eins nur verwirrt mich«, fuhr Fabio fort. »Ich dachte immer, sie sehe ihrem Vater ähnlich.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Und jetzt sehe ich, sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.« Julie warf ihm einen eiskalten Blick zu. Ihre Stimme war nicht weniger kühl. »Ich glaube, Ihr werdet alt, Meister Fabio. Und Euer Gedächtnis läßt Euch im Stich.« Sie wandte sich ab und fütterte weiter die Tauben. Fabio seufzte und zuckte die Schultern. Alle behandelten ihn seit einiger Zeit wie einen alten Narren, alle, Imre ausgenommen. Es war Nacht, und die Burg ragte undeutlich in den sternenlosen Himmel. Es war still, und nur manchmal hörte man ein Tier durch
die Dunkelheit huschen. Imre ging durch den duftenden Rosengarten im Hof und stellte sich hinter eine dicke Kastanie, in deren Schatten er unsichtbar war. Vor ihm ragte der Turm auf, von dem aus Ilona ihr Zeichen geben wollte. Unruhig blickte er hinüber und konnte die Fledermäuse um den Turm flattern hören. Hinter einem der oberen Fenster bewegte sich undeutlich etwas. Imre hielt den Atem an. Eine Sekunde später leuchtete eine Kerze hinter den Scheiben auf, und sein Warten war belohnt. Imre verließ sein Versteck und lief den Pfad entlang, der zum Turm führte. Als er an der Tür war, öffnete sie sich, und er erblickte die junge Gräfin. Das Kerzenlicht ließ ihre Haut und ihr Haar sanft schimmern. Wortlos ließ sie sich von ihm umarmen. Dann legte sie den Finger an die Lippen und führte Imre die Wendeltreppe hinauf. Fabio verließ mit schmerzenden Augen die Bibliothek. Er würde aufhören müssen, bis spät in die Nacht hinein zu lesen, dachte er sich, sonst würde er noch ganz das Augenlicht verlieren. Ein Geräusch ließ ihn wie angewurzelt stehenbleiben. Weiter unten auf dem Gang schwang ein Marmorkamin langsam zur Seite. Wer immer den geheimen Eingang benutzte, wollte sicher nicht gesehen werden, und Fabio huschte in die Bibliothek zurück und zog sachte die Tür hinter sich zu. Einen Augenblick später hatte er sich von seiner Überraschung erholt und war mutig genug, die Tür einen Spalt weit zu öffnen. Als er in das Halbdunkel des Gangs hinausspähte, sah er Ilona und Imre Arm in Arm und sich immer wieder vorsichtig umsehend vorbeigehen. Als sie an ihm vorüber waren, machte er die Tür ein wenig weiter auf und steckte den Kopf in den Gang hinaus. Das junge Paar verschwand in Ilonas Zimmer. Fabio lächelte in seinen Bart hinein und bewunderte den Erfolg seines jungen Freundes. Etwas versetzte ihn jedoch in Unruhe. Imre mißbrauchte die Gastfreundschaft der Gräfin. Wenn sie ihm auf die Schliche kam, würde sie ihn hart bestrafen. Fabios Interesse war geweckt, und er blieb in der Bibliothek, um abzuwarten, was aus der eben beobachteten Sache werden würde. Hinten in der Ecke der Bibliothek schlief Dobi in einem Sessel, vor sich das Schachspiel, das sie nicht mehr zu Ende geführt hatten. Wenn er plötzlich erwachte und seine nächtlichen Rundgänge
aufnahm, bestand Gefahr, daß Imres Geheimnis ans Licht kam. Und dann würde die Gräfin sicher davon erfahren. Fabio mußte also unbedingt in der Bibliothek bleiben und Dobi aufhalten, falls er aufwachte und gehen wollte. Fabio war mit seinem Plan zufrieden und ließ sich in seinen alten Sessel sinken. Er schloß die schmerzenden Augen. Alles war ruhig, bis auf das Ticken einer Uhr und Dobis schweres Atmen. Einen Augenblick später fiel der Turm, den Dobi im Schlaf noch umklammert hielt, zu Boden und störte die Stille. Dobi fuhr auf und sah sich um. Fabio hatte sich mit geschlossenen Augen stillgehalten. Dobi sah herüber, und ihm schien, der alte Mann sei friedlich eingeschlafen. Es wurde auch Zeit, sagte sich Dobi. Es war fast unmöglich, den Alten aus der Bibliothek zu bekommen, und so mußte er jetzt die Gelegenheit am Schopf ergreifen. Dobi gab sich alle Mühe, keinen Lärm zu machen, stand auf und schlich zu den Regalen. Dann suchte er sie nach einem bestimmten Buch ab. Fabio öffnete die Augen ein wenig und blinzelte vorsichtig. Dobi suchte bei den Büchern herum? Es war fast nicht zu glauben. Er hatte sich noch nie für Geschriebenes oder Gedrucktes interessiert. Und warum bewegte er sich so behutsam? Da ging irgend etwas vor, dachte sich Fabio. Während er noch spähend hinsah, nahm Dobi das Buch, das er gesucht hatte, und schlich sich zurück. Fabio machte rasch die Augen zu. Dobi sah, daß der alte Mann fest schlief, und brachte seinen Fund zu einem Tisch, der von einer Kerze ein wenig erhellt wurde. Er setzte sich und blätterte hastig in dem Buch. Die Seiten waren brüchig und vergilbt, aber die Worte waren noch gut zu lesen. Fabio hörte das Blättern. Er war über seinen Mut selbst überrascht, als er wieder einen Blick riskierte. Dobi sah ein altes Buch durch. Der Titel war von seinen Händen verdeckt, aber als Fabio hinsah, blätterte er um, und Fabio konnte oben auf der Seite ,Der Körper des Menschen’ lesen. Er schloß die Augen und überlegte. Die alte Schwarte! Er konnte sich jetzt an das Buch erinnern. Trotz seines Titels hatte es nichts mit medizinischen Dingen zu tun, sondern befaßte sich mit der Alchemie. Das Buch stammte von einem gräflichen Vorfahren, der sich als Nekromant betätigt hatte. Wollte es Dobi mit Hexerei versuchen? Fabio mußte lächeln. Wahrscheinlich war das des Rätsels Lösung. Irgendeine Dorfschlampe hatte ihn abgewiesen, und der
Graubart versuchte jetzt, mit Hilfe von Magie ans Ziel zu kommen. Mit der Lösung war Fabio fast zufrieden. Dennoch, dachte er sich, geschieht in der Burg anscheinend so manches Ungewöhnliche. Imre und die junge Gräfin hielten sich leidenschaftlich umfaßt. Die Spannungen des letzten Abends hatten sich in einer Flut von Verlangen aufgelöst. Die Gräfin rieb selbstvergessen ihr Gesicht an seinem, und ihr langes Haar strömte über seine Schultern. Imre preßte begierig seine Lippen auf ihren heißen Mund, und sie drängte sich aufstöhnend fester an ihn. Das breite Bett stand einladend vor ihnen. Langsam bewegten sie sich darauf zu. Imre blieb immer wieder stehen, streichelte ihr Haar, küßte sie immer verwegener, biß sie zärtlich in Hals und Schultern, bis er es vor Verlangen nicht mehr aushalten konnte. »Ach, mein Liebling«, flüsterte er atemlos, »ich dachte schon, der Tag würde nie mehr enden... sag, daß du mich liebst!« Ihre Antwort klang wie ein wohliges Stöhnen: »Ja... ja... ich liebe dich.« »Und wirst du mich nie verlassen?« wollte er wissen und fing an, ihr Gewand aufzuknöpfen. »Niemals, nie, Liebster«, rief sie und legte einen Arm auf seine Schultern, um ihn fester an sich zu ziehen. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Hand, und was sie sehen mußte, ließ sie vor Schreck erstarren. Sie sah gelb und vertrocknet aus wie die einer alten Frau. Sie wandte ihr Gesicht von Imre ab, der ihre weißen Schultern mit Küssen bedeckte und sah sich im Spiegel, der an der Wand hing. Ihre Falten und Runzeln waren tiefer und dichter zurückgekehrt. Sie sah älter und häßlicher aus als je zuvor. Sie riß sich mit einem gewaltigen Ruck aus Imres Umarmung, rannte schluchzend zur Tür und zum Zimmer hinaus und gab dabei acht, daß Imre ihr Gesicht nicht sehen konnte. Einen Augenblick lang blieb Imre wie vor den Kopf geschlagen stehen. Eben hatte er das Mädchen noch leidenschaftlich und erregt in den Armen gehalten, und im nächsten Augenblick war sie ohne ein Wort der Erklärung geflohen. Er warf einen wehmütigen Blick auf das Bett und eilte ihr nach. Auf dem Gang blieb er hilflos stehen, als er Ilonas schlanke Gestalt im Schlafzimmer ihrer Mutter ver-
schwinden sah. Traurig und enttäuscht machte er sich auf den Rückweg in seine Unterkunft. In ihrem Zimmer rannte die Gräfin zu ihrem großen Spiegel, und ihr Magen verkrampfte sich vor Angst. Ein Blick genügte, um ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Ihr Alter hatte sie auf schreckliche Weise wieder eingeholt. Der Anblick der eigenen Häßlichkeit zog sie hypnotisch an. Sie näherte sich dem Spiegel und betrachtete sich bis in die kleinsten Einzelheiten. Die bleiche Haut war eingesunken und von tiefen Furchen überzogen. An Stirn und Kinn hatten sich dicke, häßliche Warzen gebildet. Die Gräfin stieß einen gräßlichen Schrei aus und sank vor dem Spiegel zusammen. »Julie, Julie«, flehte sie und begann zu schluchzen. In Sekundenschnelle war Julie an der Tür und betrat besorgt das Zimmer. Ihr ruhiges Gesicht verzerrte sich beim Anblick ihrer verzweifelten Herrin, und sie brach in ein leises Wehklagen aus. Das Gesicht der Gräfin hob sich ungut von der Pracht des roten Samtkleides ab, das vorhin ihre Schönheit so zur Geltung gebracht hatte. Ein rosa Band hing jämmerlich in den wirren grauen Haaren. Darunter das tränenüberströmte Gesicht. »Ach, mein armes Kind!« rief Julie aus und umarmte ihre Herrin, tröstete sie wie ein kleines Kind, das seine Puppe verloren hat. »Ach, Julie, schick ihn fort«, klagte die Gräfin. »Er darf mich so nicht sehen... bitte, schick ihn fort.« Julie fing leise an, ein Wiegenlied zu summen.
5. Kam ein Zirkus ins Dorf, geriet es jedesmal außer Rand und Band. Die barfüßigen Kinder rannten neben den Wagen her, und die jungen Frauen tanzten zu den neuen Melodien, die die Drehorgel spielte, über die Straßen. Der Zirkus war nicht groß, aber in Veres würde er für die nächsten zehn Jahre Gesprächsstoff liefern. Es gab einen Tanzbären, eine Frau mit einem Bart, so dicht wie der eines Mannes, dann einen winzigen Menschen, kaum höher als ein Stuhl, und einen
anderen in seltsamen Kleidern und mit einer Haut, die so dunkel war wie verbranntes Brot. Den Zug führte ein Mann mit rot und weiß bemaltem Gesicht an, der immerfort rief: »Herbei, herbei! Alle herbei! Heute abend auf dem Marktplatz! Seht die Tiere, Löwen, Affen, Kamele... den indischen Fakir, der auf Nägeln geht... die dickste Frau der Welt... tanzt mit den Zigeunern...« Zwei dunkelhäutige Männer auf einem der Wagen packten ihre Geigen und fiedelten geschwind drauflos. Die Menge schrie entzückt auf, als vier hübsche Zigeunermädchen aus dem Wagen sprangen und anfingen, wild zu der Musik zu tanzen, daß ihre langen schwarzen Haare nur so flogen. Um die Knöchel trugen sie Ketten mit kleinen Glöckchen, die bei jedem Schritt hell erklangen. Der erste Wagen hielt am Burgtor an und wartete, bis er eingelassen wurde. Der Klang der Geigen drang bis ins Schlafzimmer der Gräfin, aber Musik allein genügte nicht, um die Stimmung der Dame zu heben. Ihr war wieder jeder Tag ihres Alters anzusehen, und sie wandte sich leidenschaftlich an Dobi, der mit verdrießlichem Gesicht vor ihr stand. »Möchtest du mich nicht wieder jung und glücklich sehen?« wollte sie wissen. »Damit du mit jungen Offizieren buhlen kannst?« fragte er zynisch. Wütend drehte sie ihm den Rücken zu. Dobi konnte bei ihrer Launenhaftigkeit nur noch seufzen. Dann packte er sie bei den Schultern und riß sie herum. Trotz ihrer, Falten hatte sie die Anziehungskraft einer reifen Frau, von der Dobi nicht unbeeindruckt blieb. Er sah sie wohlgefällig an. »Ich mag dich so, wie du bist. Ich habe das lieber, als dich aufgemacht wie eine Schlampe aus einem Hurenhaus herumstolzieren zu sehen. Das Alter hat seine Würde.« Die Gräfin hatte kein Ohr für seine Aufrichtigkeit. »Du bist grausam«, hielt sie ihm vor. »Du hast mich nie geliebt.« »O doch, ich habe dich geliebt«, gab er gekränkt zurück. »Aber siehst du denn nicht, was mit dir geschehen wird, wenn du so weitermachst? Du wirst den Verstand verlieren oder am Galgen
enden.« Sie starrte ihn voller Haß und Bosheit an. »Denk nur dran, daß du dann neben mir am Galgen hängen wirst!« Julie trat ein, und die Spannung legte sich ein wenig. »Hast du mit ihm gesprochen?« fragte die Gräfin ängstlich. Julie lächelte beruhigend. »Ja, mein Liebes. Er ist überhaupt nicht verstimmt. Ich sagte, du hättest ihn verlassen, weil du deine Mutter rufen hörtest. Er versteht das vollkommen.« Die Gräfin stieß einen Freudenschrei aus und fiel Julie um den Hals. Dobi sah den beiden Frauen spöttisch zu. Die Gräfin führte sich wie ein verliebtes Mädchen auf und vergaß ganz die Würde ihres Standes. »Er läßt dich grüßen und hofft nur, daß du morgen mit ihm ausreiten wirst.« Die Gräfin machte sich aus der Umarmung los, und ihre Freude schwand so schnell, wie sie gekommen war. »Mit ihm ausreiten?« fragte sie bestürzt. »Aber wie denn, wenn ich so aussehe?« Die Gräfin sah Dobi unruhig an. Er ging nicht auf ihren flehenden Blick ein. Sie wandte sich wieder Julie zu. »Julie, du mußt mir helfen«, sagte sie in befehlsgewohntem Ton. »Schaff jemand her!« »Ja, Gräfin«, willigte sie ein. »Aber sag mir erst, was gibt es von der Kleinen, unserer wirklichen Tochter, für Nachrichten?« Die Gräfin sagte leichthin: »Die Donau hat Hochwasser, und die Kutsche konnte nicht übersetzen.« Julie bekreuzigte sich rasch. »Sie ist in Sicherheit«, fügte die Gräfin ungeduldig hinzu. »Und jetzt tu bitte, was ich dir aufgetragen habe.« Dobi sagte warnend: »Vom Schloß kann es niemand sein. Die Wachtmeister fangen schon an, Fragen zu stellen.« Die Gräfin biß sich auf die Lippen. Jemand von draußen zu holen, würde zuviel Aufsehen erregen. Julie ging ans Fenster und blickte auf die musizierenden und tanzenden Zigeuner hinunter, die sich jetzt mit dem Zirkus im Burghof eingefunden hatten. »Gräfin, schnell, schaut!« Die Gräfin eilte zum Fenster und sah hinaus. Ihr Blick fiel auf ein schwarzhaariges, schönes Zigeunermädchen, das ein Tamburin schlug und im Kreis herumwirbelte. Die Gräfin blickte in Julies dunkle Augen. »Will die Frau Gräfin die Zukunft geweissagt haben?« fragte sie gespielt treuherzig. Die Gräfin sah wieder zu der tanzenden Gestalt hinunter und lä-
chelte. Einer der Dorfwachtmeister saß an dem großen Holztisch in der Burgküche und ließ den Blick über die vor ihm versammelte Dienerschaft schweifen. »Und ihr habt seither nichts mehr von Teri gesehen?« fragte er gleichgültig und schenkte sich ein zweites Glas von dem guten Wein ein. Von Schluchzen geschüttelt sagte Köchin Rosa: »Zwei Tage ist sie weg, und wir haben noch nichts gehört von ihr.« Eine Küchenmagd beugte sich vertrauensvoll zum Wachtmeister hinab. »Wenn du mich fragst, die Gräfin weiß, was mit dem Mädchen ist.« »Niemand fragt dich aber«, sagte der Wachtmeister mit gerunzelter Stirn. Er warf einen gierigen Blick auf den großen Stachelbeerkuchen, der eben aus dem Ofen gezogen wurde. Eine andere Magd rief: »Sagt ihm, wie die alte Hexe sie gepeinigt hat!« Die Diener stießen ein zustimmendes Gemurmel aus. »Ruhe!« befahl der Wachtmeister. »Ihr solltet euch was schämen! Habt ihr denn keinen Respekt vor eurer Herrschaft?« »Warum sollten wir?« rief eine Küchenmagd. »Weil ihr es hier warm und sicher habt und euch die Soldaten der Gräfin vor den Türken beschützen«, meinte der Wachtmeister leicht neidisch. Die Diener waren so in ihren Disput vertieft, daß niemand bemerkte, wie sich Julie in Begleitung eines hübschen Zigeunermädchens über die Hintertreppe herauf schlich. »Undankbares Volk!« schrie der Wachtmeister die Diener an. »Das ganze Dorf beneidet euch, wißt ihr das? Seid also zufrieden und haltet euer Maul.« Die Dienstboten schwiegen verdrossen, von seinem Ausbruch ganz eingeschüchtert. Nur Rosa fing wieder mit wimmernder Stimme an: »Ich möchte doch nur meine Teri wiederhaben.« Der Wachtmeister trank sein Glas aus und sagte: »Die wird schon wiederkommen. Steckt wahrscheinlich mit einem stierigen Burschen im Wald.« Er lachte los, daß seine feisten Wangen wackelten, und fuhr fort: »Wie viele Kinder hast du eigentlich?« Dabei stand er auf und ging zur Tür. »Sieben«, erwiderte Rosa kläglich. »Sieben!« rülpste der Wachtmeister belustigt. »Da macht eins mehr oder weniger doch keinen Unterschied!«
Im Zimmer der Gräfin sahen Julie und die Gräfin der Zigeunerin aufgeregt über die Schulter, während sie die bunten Tarotkarten auslegte. Das Mädchen sah sich jede Karte genau an, als könne sie unergründlichen Geheimnissen auf die Spur kommen. Die letzte Karte, die aufgedeckt wurde, zeigte einen jungen Ritter mit federgeschmückter Kappe. Die Zigeunerin stieß einen leisen Ruf aus, als habe sie eine besonders glückliche Prophezeihung zu machen. »Ich sehe eine neue Liebe in Eurem Leben«, teilte sie der Gräfin mit, die zustimmend nickte. »Der junge Mann wird Euch vom Witwenschleier befreien. In Eurem Herzen werdet Ihr wieder jung sein«, verkündete sie entzückt. Die Gräfin nickte wieder. Dann gab sie Julie einen Wink, die das Zimmer verließ und mit einem schwarzen, reich verzierten Kästchen zurückkam. »Ich versprach dir«, sagte die Gräfin, als sie die Schatulle genommen hatte, »deine Hand mit Silber zu füllen.« Sie öffnete den Deckel und zog eine herrliche Kette hervor. Sie war aus reinem Silber und blitzte in der Hand der Gräfin auf. Das Mädchen war von der Großzügigkeit der Dame überrascht und überwältigt. Die Gräfin gab Julie die leere Schatulle und trat hinter das Zigeunermädchen. Sie öffnete die Bluse des Mädchens am Hals und legte die Kette um. Auf der dunklen Haut sah die feine Arbeit noch köstlicher aus. »Sie ist herrlich«, sagte die Zigeunerin ehrfürchtig und hob zögernd eine Hand, um das Geschmeide zu betasten. Und die Gräfin zog eine lange Haarnadel aus ihren grauen Locken, hob sie hinter dem Rücken des nichtsahnenden Mädchens in die Höhe und stieß sie ihr in den Hals. Das Mädchen stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, wollte mit der Hand nach der Halsschlagader fassen, aus der das Blut strömte, und sank mit zuckenden Händen zu Boden. Die Gräfin starrte auf den leblosen Körper zu ihren Füßen, dann kniete sie sich nieder und fing an, ihre Hände in der größer werdenden Blutlache zu waschen.
Imre war in seinen Stallungen und sattelte den schwarzen Hengst. Das ungewohnte Gefühl, Besitzer eines solchen Tiers zu sein, hatte sich gelegt, und er kam sich ganz verlassen vor. Seit zwei Tagen hatte er Ilona nicht gesehen und mußte annehmen, daß sie ihm absichtlich aus dem Weg ging. Wie hätte er sie sonst in der kleinen Welt der Burg Veres verfehlen können? Das war doppelt niederschmetternd, da er glaubte, endlich jenen besonderen Menschen gefunden zu haben, nach dem er sich gesehnt hatte. Ihr Zusammentreffen, die gegenseitige Anziehung, das alles schien so vorbestimmt! Er hielt es nicht aus, von ihr getrennt zu sein. Eine Stimme rief plötzlich seinen Namen. Kein Zweifel, es war Ilona. Er rannte vor den Stall, sie zu begrüßen. Die junge Gräfin lächelte ihn von ihrem Schimmel herab an. Sie war noch schöner, als er sich sie erträumt hatte. Imre bot ihr die Hand, als sie sich anmutig vom Pferd schwang. Dann umarmten sie sich fest und preßten ihre Lippen aufeinander. Schließlich trennten sie sich und blickten sich liebevoll an. »Wie kannst du mir den Vorfall von neulich nur verzeihen?« fragte sie so kindlich verzweifelt, daß er sie in die Arme schloß und ihr einen Kuß auf die Wange drückte. Dann sagte er: »Julie hat mir alles erklärt. Mach dir keine Sorgen!« Er nahm sie lächelnd an der Hand und führte sie in den Stall. Er legte seinem Rappen den Sattel auf, zog ihn fest, und sie bewunderte seine sicheren Bewegungen. »Wie geht es deiner Mutter?« fragte er besorgt, weil ihm einfiel, daß er die alte Gräfin schon seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Sie sagte seufzend: »Ein bißchen besser, aber sie darf ihr Zimmer nicht verlassen. Der Tod meines Vaters muß ihr zugesetzt haben. Und dann noch meine Ankunft.« Sie schwiegen unbehaglich. Worte waren zu grob, um ihre Gefühle füreinander auszudrücken. Er konnte die Spannung nicht länger ertragen. Er zog sie ungestüm an sich und legte seine Arme fest um sie. Sie drückte sich leidenschaftlich an ihn. Als er ihre Lippen suchte, sah er, wie ihre Augen vor Glück verschwammen. Ihre Zunge tastete sich seinen Hals hinauf und kitzelte sein Ohr. Dann flüsterte sie: »Ach, Lieber, laß mich nie allein!« Er zog sie mit sich ins Heu. Sie wälzten sich auf ihrem duftenden Lager und stöhnten bei jeder Berührung auf. Er beugte sich über sie und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Sie warf den Kopf
hin und her, nahm einen Arm von seinen Schultern und zog ihre Haarnadel aus dem Haar und warf sie beiseite. Sie schüttelte den Kopf, und ihr blondes Haar floß in weichen Wellen um ihn. Imre hatte ihre Kleider gelöst und spürte, wie etwas von seinem Körper Besitz ergriff, das er noch nie gefühlt hatte. Sie verschmolzen miteinander, wurden eins und wußten, daß sie nicht mehr voneinander lassen konnten. Später ritten sie zusammen durch den Wald. Manchmal blickten sie sich in die Augen, als müßten sie sich vergewissern, daß alles Wirklichkeit und nicht nur ein trügerischer Traum war. Sie kamen an eine liebliche Stelle am Flußufer, stiegen ab und banden ihre Pferde am Gebüsch fest. Dann legten sie sich ins Gras und faßten sich an den Händen, genossen die Stille und das silbern glitzernde Wasser. Die junge Gräfin streckte sich aus und gab sich den warmen Sonnenstrahlen hin, die über ihren Körper spielten. Sie war noch nie so vollkommen zufrieden gewesen, sagte sie sich. Und da sie diese Zufriedenheit endlich erreicht hatte, wollte sie sie auch festhalten. Mit starker Willenskraft hatte sie sich gegen das grausame Schicksal aufgelehnt, dem die anderen Menschen unterworfen waren, und sie hatte triumphiert. Sie wurde plötzlich unruhig und öffnete die Augen. Eine Wolke zog an der Sonne vorbei und ließ es kühler werden. Dann bemerkte sie das Imre sie besorgt anstarrte. »Was ist los? « fragte sie, setzte sich schnell auf und legte die Hände vor das Gesicht. Ihre Haut fühlte sich seidenweich an. Sie hatte Ihre Schönheit noch nicht verloren, wie sie befürchtet hatte. »Nichts« sagte Imre und lächelte. »Ich kann mich nur nicht an mein Glück gewöhnen, das ist alles«. Die Gräfin lächelte erleichtert. Imre pflückte eine Blume und sah sich die Blüte an, während er sprach. »Vor zwei Wochen«, sagte er, »war ich nur ein junger Offizier unter vielen. Und jetzt... bin ich ein Mann der nicht unbegütert ist...« Er sah sie voller Bewunderung an. »... mit der schönsten Frau an meiner Seite. « Sie lachte und küßte ihn und zog ihn ins Gras hinunter. »Ich teile das Glück mit dir«, sagte sie fröhlich. Trotz dieser Worte blickt Imre sie besorgt an. »Kannst du mich denn wirklich lieben? « fragte er.
»Aber natürlich. Warum stellst du eine so törichte Frage? « »Weil du eine junge Gräfin bist, und ich nur der Sohn eines Soldaten. »Eines sehr tapferen Soldaten«, sagte die Gräfin. »Eines Generals.« »Ja«, gab Imre zu, »aber auf seinen Namen kann ich nicht bauen. Ich muß meinen eigenen Weg machen.« Er beugte sich über sie und kitzelte ihre hübsche Nase mit einem Grashalm. Sie kicherte leise. »Und gemessen an dir muß ich eine Menge lernen.« »Dann laß mich deine Lehrerin sein«, sagte sie verführerisch, nahm ihm den Grashalm aus der Hand und zog ihn an sich.
6. Die Luft war warm, und die Dorfbewohnerinnen wuschen unten am Fluß ihre Wäsche. Eine gute Gelegenheit, sich über den neuesten Klatsch auszulassen. Das lustige Plappern verstummte, als sich Maryska, die Witwe Grigoris, näherte. Sie sah schlecht aus, hatte eingesunkene Augen und strähniges Haar. Bis zum Tod ihres Mannes hatte sie auf sich geachtet. Jetzt war ihr Kleid schmutzig und zerrissen. Als sie näher kam, sahen die Frauen, daß sie mit sich selbst sprach. Ein paar der jüngeren Frauen spreizten zwei Finger, um den bösen Blick abzuwehren. Die ängstlicheren rafften ihre Wäsche zusammen, sprangen auf und rannten davon. Maryska sah sie laufen und stieß ein rauhes Lachen aus. Sie brauchte kein Mitleid. Sie brauchte niemanden. Ein kinderloses Paar hatte sich einverstanden erklärt, sich um ihre beiden Knaben, Georgy und Sergei, zu kümmern. Sie selbst hatte keine großen Ansprüche. Sie wußte, daß ihr Gesicht nicht mehr hübsch war, aber ihr Körper war noch immer stramm, und Soldaten und Hirten würden schon ein paar Münzen für ihn springen lassen. Sie konnte genug verdienen, bis sie einen neuen Mann gefunden hatte. Maryska ließ sich zwischen den Frauen am Ufer nieder. Die meisten waren alte Freundinnen und hatten keine Angst vor ihr. Ermordete Männer und vorübergehende Geistesstörungen waren nichts Unbekanntes, und außerdem war das eine willkommene
Unterbrechung der eintönigen Arbeit. Die Frauen umringten sie und versuchten den besten Platz zu ergattern. Maryska runzelte die Stirn und blickte zur Burg hinüber, die düster das Dorf überragte. Sie spuckte haßerfüllt aus. Die Frauen murmelten Beifall. »Da oben hockt sie in ihren feinen Gewändern«, schimpfte Maryska. »Sie hat ihren Mann verloren und hat sich dann meinen geholt.« Ihre Stimme wurde zu einem lauten Zetern. »Satansweib, Satansweib!« Sie schrie es so laut, daß sich die anderen Frauen unruhig umsahen, ob sich nicht einer der Wachtmeister blicken ließ. Nichts rührte sich, und Maryska konnte fortfahren. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« Sie blickte die anderen herausfordernd an, aber niemand widersprach ihr. Sie hob den Kopf zum Himmel, als sei dort die Geschichte der Nadasdys eingegraben. »Ihr Vater starb als zwanzigfacher Hahnrei... ihr Onkel konnte mit Dämonen sprechen und wurde vom Fürsten der Hölle in die ewigen Flammen geschleppt... ihr Bruder war ein Ehebrecher und Frauenschänder, der hinter Nonnen und Edelfrauen her war...« Die Frauen gackerten wie aufgeregte Hühner. Sie hatten die Geschichten schon oft gehört, aber sie wußten, daß alles wahr und damit wert war, immer wieder erzählt zu werden. »Und diese Elisabeth bestrich ein Mädchen mit Honig und setzte es in einen Ameisenhaufen. Und was hatte das Mädchen verbrochen, um so grausam bestraft zu werden?« fragte sie. »Sie hatte einen Pfirsich gestohlen!« Die Frauen hoben in ihrem Zorn die Fäuste und schüttelten sie in Richtung Burg. Maryska hob die Hand und brachte alle zum Schweigen. »Das Satansweib hat noch andere Verwandtschaft«, fuhr sie fort. »Im Osten herrscht ein Tyrann, der weder tot noch lebendig ist... der aus reiner Blutgier tötet.« Maryska lächelte, als sie die Frauen den Namen stumm mit den Lippen formen sah. Sie senkte die Stimme und flüsterte: »Ja, unsere Gräfin ist eine Base des Blutsaugers Dracula!« Die Frauen bekreuzigten sich rasch und warfen erschrockene Blicke zur Burg hinüber. Maryska mußte über die furchtsamen Frauen lachen. »Gräfin Dracula«, flüsterte sie.
Sie sprang auf, riß die Arme hoch und schrie zur dunklen Burg hinüber: »Gräfin Dracula!« Fabio schritt die Treppe in den großen Saal von Burg Veres hinunter, als er etwas sah, das seine Neugierde weckte. Unten stand Dobi und verhandelte mit zwei Spitzbuben, die so finster aussahen, wie Fabio noch nie welche gesehen hatte. Einer hatte dunkle Haut und trug ein rotes Tuch um den Kopf. Der andere hatte einen dichten Bart und ein äußerst finsteres Gesicht. Dobi zählte ihm ein paar Goldmünzen in die Hand. Während Fabio zusah, hob Dobi den Kopf und erblickte ihn. Plötzlich schien er die beiden rasch loswerden zu wollen. Als Fabio am Fuß der Treppe angekommen war, drängte Dobi die Männer schon zu einem Nebeneingang hinaus. Dann ging er mit ungewöhnlich freundlichem Gesichtsausdruck auf Fabio zu. »Was hast du mit diesen beiden Schurken zu schaffen?« fragte Fabio. »Ach, das sind Freunde des Wildhüters Janko.« Fabio ließ sich nicht irre machen. »Erst vor zwei Stunden sah ich sie mit einem schweren Bündel im Wald verschwinden. Diebesgut oder vielleicht sogar die Leiche eines unglückseligen Wandersmannes.« Dobi lachte laut los und sagte: »Das waren Lebensmittel für Janko. Das hast du gesehen, mein Freund.« »Ach, wirklich?« Fabio räusperte sich, um anzuzeigen, daß man ihn nicht mit solchen Märchen zum besten halten konnte. »Nun, er muß ja großen Hunger haben.« Dobi lachte immer noch, ging zu einem Tisch und schenkte zwei Humpen voll Bier. Einen bot er Fabio an. »Nein, nein«, lehnte der alte Gelehrte ab. »Zu dieser Tageszeit macht es mir den Kopf schwer.« »Komm, trink auf die Gräfin Ilona!« drängte ihn Dobi. »Nun, wenn du darauf bestehst.« Widerstrebend nahm er den Humpen und trank einen kleinen Schluck. Dann sah er Dobi vorwurfsvoll an. »Wenn wir schon dabei sind, was ist eigentlich mit Gräfin Elisabeth? Seit Tagen hat sie ihre Räume nicht verlassen. Läßt sie sich denn gar nicht mehr blicken? Krank kann sie auch nicht sein, sonst hätte sie längst ihren Arzt rufen lassen.« Er runzelte die Stirn und fuhr fort: »Und ich kann auch nicht glauben,
daß sie ihr Witwenstand zurückhält.« Wenn er gehofft hatte, daß Dobi in einem ärgerlichen Ausbruch alles ausplaudern würde, sah er sich getäuscht. Dobi blickte ihn finster an und trank seinen Humpen mit einem Zug aus. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Was kümmert’s dich, Fabio?« spottete er. »Ist es hier nicht angenehmer ohne sie?« Fabio ließ sich von Dobis Leichtfertigkeit nicht täuschen. Gerade sie verstärkte seinen Verdacht, daß etwas vorging, von dem er nichts wußte. Und er war entschlossen, die Wahrheit herauszubekommen. Imres Glück war so vollkommen, daß es ihm unwirklich erschien. Selbst die tief roten Blüten im Rosengarten kamen ihm jetzt im Mondlicht wie ein Traum vor. Er ging Hand in Hand mit der jungen Gräfin auf das schwarz in die Höhe ragende Schloß zu. Es kam ihm vor, als habe er dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen. Er war erst zwanzig, hatte sich schon in der Schlacht bewährt, war reich und unabhängig und war der Geliebte einer der begehrtesten Frauen Ungarns. Die meisten Männer brauchten Jahre, um auch nur eines dieser Ziele zu erreichen, und wenn sie ans Ziel kamen, hatten sie für gewöhnlich graue Haare. Und er hatte alles erreicht, ohne dabei seine Jugend zu verlieren. Jetzt schien ihm wichtig, sich vom Erfolg nicht betören zu lassen. Er mußte sich seines Glücks würdig erweisen. Er wollte nicht in Selbstzufriedenheit versinken und sich auf die faule Haut legen, sondern die gewonnene Zeit gut nützen. Er wollte in seinem Leben das rechte Maß wahren und niemandem ein Leid zufügen. Weder Herr noch Leibeigener sollten einst seinen Namen verfluchen oder Grund haben, sich über ihn und seine Taten zu beklagen. Imre gehörte einer neuen Generation an, die auch in den Bauern Menschen mit Seelen sahen. Er war fest entschlossen, als Herr über eine Anzahl von Bauern seine Macht nicht zu mißbrauchen. Aber zuerst mußte er seine Stellung sichern. Und seine Liebe zu Ilona vor Gott recht machen. Beides war durch eine Ehe mit ihr zu erreichen. Imre und die junge Gräfin standen vor der Tür im Turm. Sie
blieben noch eine Weile stehen und blickten sich an. Beide wollten einen Tag noch nicht beenden, der wie der Anfang zu einem neuen Leben gewesen war. Imre spürte wieder eine leise Furcht in sich aufsteigen, als er seiner Liebsten in die Augen sah. Sie wirkten so reif, so erwachsen für ein Mädchen ihres Alters. Es war, als verbarg sich in ihnen ein verbotenes Wissen, und er mußte an den unheimlichen Ruf denken, in dem ihre Ahnen standen. Rasch vertrieb er solche Gedanken durch eine Umarmung und drückte Küsse auf ihre Lippen, die ihm kein Wissen vorenthielten. Schließlich legte sie den Kopf an seine Schulter und flüsterte zufrieden: »Du hast mich so glücklich gemacht, Imre.« »Dann wirst du mich heiraten?« fragte er und war überrascht, diese Worte zu hören. Ihm war, als spräche ein anderer für ihn. Sie trat einen Schritt zurück, und ihre Müdigkeit wurde von einer Woge des Entzückens fortgeschwemmt. »Ach ja! Ja! Das werde ich!« Und sie warf die Arme um seinen Hals und hielt ihn fest umfangen. »Erst muß ich mit deiner Mutter sprechen«, sagte Imre und fuhr ihr sanft über das Haar. Die junge Gräfin schüttelte den Kopf und blickte mädchenhaft begeistert zu ihm auf. »Nein, überlaß sie mir!« »Warum?« fragte Imre besorgt. »Hast du Angst, sie könnte etwas dagegen haben?« Ilona lachte herzlich. »Nein, du Dummkopf. Sie mag dich ja schon!« Dann wurde sie plötzlich traurig und fügte hinzu: »Aber sie ist alt, und man muß ihr gut zureden.« Sie hatte sich rasch wieder gefaßt, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte Imre einen Kuß auf die Stirn. »Mach es bald«, drängte er sie. »Sprich am besten schon morgen mit ihr.« »Das werde ich tun«, versprach die Gräfin. Imre drückte ihr einen letzten Kuß auf die Lippen und ging dann über den Pfad zurück. Bevor er in der Dunkelheit verschwand, drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu. Die junge Gräfin bückte ihm nach und stieg dann die kalte Wendeltreppe hinauf. Ihr junges Gesicht sah bedrückt und sorgenvoll aus, wirkte wie das einer viel älteren Frau.
Die Sonne drang kaum in den Teil des Waldes vor, in dem Maryskas Söhne, Sergei und Georgy, spielten. Die beiden krochen durchs Dickicht, und die dürren Zweige griffen wie Hexenfinger nach ihnen. Georgy stieß jedesmal einen leisen Schrei aus, wenn ein Vogel aufflatterte oder ein Eichhörnchen vorüberhuschte. Er konnte sich kaum noch an seinen Vater erinnern, aber die Geschichten, die ihm dieser erzählt hatte, waren noch frisch in seinem Gedächtnis. Geschichten von Männern in diesem Wald, die auf allen vieren liefen und sich in Tiere verwandelten, die kleine Kinder fraßen. Georgy sah sich nach Vogelnestern um. Sie suchten Eier für das Abendessen. Bis jetzt hatten sie nur drei Amseleier gefunden. Wenn sie keine bessere Beute nach Hause brachten, setzte es bestimmt Prügel für ihre Faulheit. Er fragte sich, wo seine Mutter jetzt wohl war. Er hatte sie kürzlich in Begleitung eines mürrischen Soldaten gesehen. Der Soldat hatte sie angebrüllt und ihnen Fußtritte verpaßt. Danach hatte er nicht mehr so viel Sehnsucht nach seiner Mutter wie vorher. Georgy spürte plötzlich, daß er allein war. Sergei war verschwunden. Ihm wurde ganz schwindlig, während er losrannte, um seinen Bruder zu suchen. Seine Rufe hallten schwach und furchtsam durch den großen Wald. Er sah sich erschrocken um. Selbst die Vogelschreie klangen jetzt unheimlich, wie das hämische Gelächter eines alten kinderfangenden Hexenmeisters. Aus einem Busch sprang eine Gestalt und stieß einen gräßlichen Schrei aus: »Huuu... ich bin der Vampir und will dein Blut!« brüllte Sergei. Georgys Entsetzen schlug in Wut um, und dann mußte er erleichtert lachen. Er hob Äste vom Boden auf und warf sie nach seinem älteren Bruder, der sich duckte und tiefer in den Wald hineinlief. Georgy rannte ihm eilig nach. Georgy blieb plötzlich stehen und hatte seine Angst fast vergessen. »Da schau, da oben! Ein großes Nest!« Er zeigte in das Geäst einer Eiche. Sergei sah es auch. Es sah vielversprechend groß aus. »Ich steige rauf!« rief der ältere und kletterte geschickt in die Höhe. Es sah wie ein Elsternnest aus, und Sergei hoffte, es würde voller Schätze sein, wie in den Erzählungen, die er gehört hatte. Einen Augenblick später schrie er auf, als ein verdorrter Ast unter ihm nachgab und er in das trockene Laub hinabstürzte. Der
Aufprall war nicht so hart, wie er befürchtet hatte. Er hatte geglaubt, die Erde würde ihn trocken und fest empfangen. Statt dessen spürte er unter seinen Händen und Knien etwas Kühles, Nachgiebiges. Er räumte schnell die Blätter beiseite und wurde schreckensbleich, als er sah, was sie bedeckt hatten. Unter den Blättern lag der nackte Leichnam einer hübschen jungen Frau mit schwarzem Haar. Sie sah wie eine Zigeunerin aus, nur daß ihre dunkle Haut einen bläulichen Schimmer hatte. Hals und Handgelenke waren übel zerschnitten, und ihr ganzer Körper sah blutleer aus. »Der Vampir! Er hat sie erwischt!« jammerte Georgy. Und dann rannte er aus dem Wald auf die Sicherheit des Dorfes zu, und sein Bruder war nicht weit hinter ihm.
7. Die Gräfin stieß in ihrer Schlafkammer den großen Teller mit dem Mittagsmahl beiseite. Es war für ihre Haut nicht gut, überlegte sie, soviel Schweinefleisch zu essen. Sie nahm eine reife Birne und biß herzhaft hinein. Sie war darauf gefaßt, daß Dobis Wut gleich ihren Höhepunkt erreichte. Sie hatte ihm eben mitgeteilt, daß sie Imre zu heiraten gedenke. Dobi hörte auf, hin und her zu gehen und starrte sie ungläubig an. »Heiraten?« spottete er. »Du bist verrückt! Du kannst doch nicht ständig weitermorden.« Die Gräfin widmete sich ganz der reifen, saftigen Birne. »Warum nicht?« fragte sie beiläufig. »Da ihr mir doch helft, du und Julie.« Dobi war wütend. »Und was ist mit Fabio und der Dienerschaft?« Die Gräfin sah ihn verblüfft an. »Du hast doch etwa keine Angst vor Fabio?« »Er ist nicht so töricht, wie er sich gibt«, meinte Dobi und erinnerte sich an die Fragen, die Fabio wegen der beiden Strauchdiebe gestellt hatte. »Wir sind ganz sicher«, sagte die Gräfin und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Birne. »Und ich bin glücklich. Oder soll ich dich so verstehen, daß du mir meinen kleinen Spaß nicht gönnst?« Er starrte sie wütend an, machte dann kehrt und stapfte zur
Tür. »Wo gehst du hin?« fragte die Gräfin in einem Ton, der ihn zum Stehen brachte. Als er sich umwandte, spielte ein hämisches Lächeln um seine Lippen. »Ich treffe mich mit Seinem Verlobten«, säuselte er. Sie legte die Stirn in Falten. Dobi war unberechenbar und sehr stark. Und er hatte kein Nachsehen mit denen, die sich ihm in den Weg stellten. »Keine Angst«, sagte er und freute sich, daß sie die versteckte Drohung in seinen Worten begriffen hatte. »Wir wollen die Urkunde unterschreiben, die ihm das Erbe bestätigt. Ich habe heute abend also das Vergnügen seiner Gegenwart.« Es klang fast so, als sei es ihm gelungen, der Gräfin ein Vergnügen vorzuenthalten. Er öffnete die Tür und wollte gehen. Wieder hielt ihn die Stimme der Gräfin zurück: »Sag ihm, daß die Gräfin Elisabeth mit unserer Heirat einverstanden ist.« Triumphierend warf sie die Reste der Birne beiseite. »Und daß du für die Vorbereitungen der Hochzeit verantwortlich bist.« Sie wußte, das war die beste Art, ihren enttäuschten Freier zu demütigen. Dobi warf die Tür hinter sich zu und machte ein paar Schritte auf sie zu. Erbost rief er: »Zum Teufel mit der Gräfin Elisabeth!« Sie mußte über seinen ohnmächtigen Wutausbruch lachen und brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Pst! Sei nicht so zornig. Ich verspreche dir, ich vergesse dich nicht.« Die letzten Worte klangen sinnlich und verlockend. Er blickte sie stumm an und hoffte, sie würde das Versprechen bald einlösen. Sie erhob sich langsam aus ihrem vergoldeten Sessel und ging so auf ihn zu, daß er den Zauber ihres verjüngten Körpers nicht übersehen konnte. Sie beugte sich vor und drückte rasch einen Kuß auf seine Lippen. Das war mehr, als er ertragen konnte. Er riß sie mit einem Ruck an sich. Sein feuchter Mund saugte sich an ihrem fest. Der Kuß eines Frauenschänders, dachte die Gräfin. Nicht der Kuß eines erfahrenen, jungen Liebhabers, sondern der eines Mannes, der gewohnt war, die betrunkensten Dirnen zu küssen. Sie kämpfte sich los und trat zurück. »Nein, Dobi, jetzt nicht«, sagte sie wie eine Mutter, die ihrem flehenden Kind ein Stück Zuckerwerk vorenthält. »Wann?« wollte er atemlos wissen. »Bald.« »Heute nacht?« Seine Hartnäckigkeit war unüberhör-bar, und
sie wußte, wenn sie ihn zu lange hinhielt, würde er außer Rand und Band geraten. Außerdem hatte sie sich schon lange nicht mehr an seinem muskulösen Körper erfreut. »Wenn du willst«, lenkte sie ein. Dann mußte sie lachen, und Dobi fand es zugleich demütigend und erregend. Immerhin, er würde bekommen, was er wollte. Lächelnd eilte er aus dem Zimmer. Georgy und Sergei sahen aufgeregt zu, wie die Leiche der Zigeunerin vom Wachtmeister und zwei Helfern aus dem Wald getragen und auf einen Karren gelegt wurde. Die beiden Kinder hatten das angenehme Gefühl, wichtig zu sein, weil sie all das ins Rollen gebracht hatten. Der Wachtmeister warf ein rotes Tuch über den blutleeren Körper und ließ den Blick über den Haufen Dörfler schweifen, der vor ihm stand. Es war, als wolle er den Schuldigen ausfindig machen. Die Dörfler wurden unruhig, weil sie wußten, daß es sich der Wachtmeister einfach machen konnte und nur einen von ihnen anzuklagen brauchte. Und dann war dem nicht mehr zu helfen. »Hat sie einer von euch schon mal gesehen?« brummte er. Die Dörfler schüttelten verdrossen die Köpfe und murmelten etwas von Vampiren und Werwölfen. Sie sprachen mit solchem Ernst, daß der Wachtmeister angewidert ausspuckte und ihnen befahl, still zu sein. »Gibt es hier in der Gegend Zigeuner?« fragte er. Ein junger Mann in einem zerrissenen Schafpelz trat vor und sagte: »Ich habe ein paar Mädchen bei dem Zirkus gesehen. Gestern abend auf dem Marktplatz. Warum fragt Ihr die nicht?« Der Wachtmeister glotzte den jungen Mann an, als sei er der Übeltäter. Schließlich sagte er mehr zu sich selbst: »Vielleicht war’s einer dieser heißblütigen Zigeuner. Die streiten sich doch immer um ihre Weiber.« Er gab ein Zeichen, und der Karren rollte den schlammigen Weg hinunter. Dann kletterte er mühselig auf sein Pferd und ritt unter den mürrischen Blicken der Dorfbewohner davon. Janko goß sich eben Bier in einen Becher, als er Pferdegetrappel näherkommen hörte. Ilona hatte es auch gehört, sprang zum kleinen Fenster und wollte schreien. Aber als sie den Mund öffnete, stieß ihr Janko die Faust hinein. Obwohl sie wild zubiß, ließ er
nicht locker. Ilona wehrte sich verzweifelt, weil sie wußte, daß die Reiter draußen möglicherweise zu ihren Rettern werden konnten. Aber weil sie wenig geschlafen hatte und hungrig war, verließen sie bald die Kräfte, und Janko konnte sie wie ein Kind hochheben. Er trug sie zu einer großen Truhe, die in einer Ecke der verwahrlosten Hütte stand, warf sie kopfüber hinein, schlug den Deckel zu und verriegelte ihn. Janko setzte seine schmierige Fellmütze auf und schlurfte vor die Tür. Den Weg entlang kamen ein paar Reiter, die einen Karren begleiteten. Auf dem Karren lag etwas, aber Janko hatte zuviel Furcht vor dem Wachtmeister, als daß er genau hingesehen hätte. Der Wachtmeister sah ihn argwöhnisch an und ritt auf ihn zu. Janko wich zurück und stellte sich vor die Tür seiner Hütte, als wolle er sie verteidigen. Der Wachtmeister sah ihn aufmerksam an. »Schon gut, ich nehme dich ja nicht mit. Es sei denn, du versteckst da drinnen einen Mörder.« Er warf einen Blick auf die Hütte, und Janko wollte schon nach dem Messer fassen, um es dem dicken Kerl in den Bauch zu rennen. Der Wachtmeister hatte genug gesehen und fragte Janko: »Hast du jemand mit einem Zigeunermädchen in den Wald gehen sehen?« Janko schüttelte den Kopf. Der Wachtmeister ließ ihn mit einem Brummen stehen und trieb sein Pferd zum Weg zurück. Der Zug bewegte sich weiter zum Dorf. Als die Kolonne außer Sicht war, sperrte Janko rasch die Tür auf, trat ein und verschloß sie hinter sich. Dann stapfte er zur Truhe und öffnete sie. Ilona kam atemlos und schmutzbedeckt zum Vorschein. Sie sprang rasch aus der Truhe, rannte zum Fenster und lauschte angestrengt. Kein Hufschlag war mehr zu hören. Im Wald war es bis auf einige Vogelstimmen still.
8. Das große Gasthaus im Dorf Veres war der einzige Ort, wo man sich in der Gegend amüsieren konnte. Die Dörfler selbst hatten zu wenig Geld und konnten sich die Musik nur von draußen anhören.
Wer aber über einen dicken Geldbeutel verfügte und Lust auf starken Wein, dickes Bier oder scharfes Gulasch hatte, traf sich gewöhnlich in dem verräucherten Wirtshaus. Es waren auch noch andere fleischliche Genüsse zu haben, und die Anzahl der Mädchen mit den stark geschminkten Augen zeigte, daß große Nachfrage bestand. Ihre Kunden wären der Grundstock der Gäste, Kaufleute, Soldaten, erfolgreiche Wegelagerer und auch ein paar türkische Händler, denen man ansah, daß Begierde oft stärker als Patriotismus ist. Die Tür ging auf, und Dobi trat ein, gefolgt von Imre. Wie auf ein Zauberwort erstarben die Gespräche, schwieg die Musik, und alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Der Haushofmeister der Burg blieb völlig unbeeindruckt und führte seinen jungen Begleiter durch die schweigende Menge an einen leeren Tisch in einer Ecke. Als sie sich gesetzt hatten, setzte der Lärm wieder ein, doch um einige Grade leiser als zuvor. Imre war befangen von den vielen Blicken, die ihnen zugeworfen wurden. Er hatte von dem schlechten Ruf des Gasthauses gehört und war auf den Abend gespannt gewesen, aber der unfreundliche Empfang schien eher auf unangenehme Stunden schließen zu lassen. »Warum starrt man uns so an?« fragte er Dobi. Dobi sah sich voller Verachtung um. »Furcht«, sagte er und grinste zynisch. »Furcht? Was fürchtet man denn?« »Man fürchtet sich so, wie der Hund den Herrn fürchtet«, sagte Dobi und zuckte die Schultern, als sei das auch nicht anders zu erwarten. Imre lachte. Er hatte ein paar Kellnerinnen und Diener gesehen, aber niemand wollte sich ihrem Tisch nähern. »Ein Hund freut sich jedoch, seinem Herrn zu dienen. Ich fürchte, man bedient uns nicht«, bemerkte er. Dobi lächelte ihn mit schiefem Mund an und klatschte in die Hände. »He, du da!« rief er einem nervösen Jungen zu. »Einen Krug Wein, schnell!« Der Junge eilte davon, als sei er von Höllenhunden gehetzt. Imre konnte seine Bewunderung nicht versagen, wie er die Situation gemeistert hatte. Er sah sich um. Es gab ein paar anziehende Frauen, deren Gesichter jedoch vom Laster geprägt waren. In der anderen Ecke des Raums sah er einige Mitglieder des
Wanderzirkus, den Clown, eine bärtige Frau und zwei Liliputaner. Alle vier blickten Dobi mit einer unverhüllten Feindseligkeit an, die Imre beunruhigte und die er sich nicht erklären konnte. Der Junge kam zurück und brachte einen dickbauchigen Krug schweren roten Weins und zwei Gläser. Dobi stieß ein verächtliches Lachen aus. »Seht Ihr, der junge Hund gehorcht!« Er riß den Krug aus den zitternden Fingern und schenkte ein. Imre nahm einen Schluck und blickte Dobi fragend an. »Befiehlt die Burg, daß soviel Achtung gezeigt werden muß?« »Sie befiehlt, das ist es, worauf es ankommt.« Imre nickte. »Dann werde ich auch bald befehlen.« Er äußerte eine Feststellung, keine Vermutung. Dobi blickte überrascht auf. »Weil ich Gräfin Ilona heirate«, erklärte er. Dobi stutzte nur kurz und lachte los: »Die Gräfin Ilona! Freilich! Trinken wir darauf!« Sie stießen an und tranken die Gläser leer. Imre blickte auf und sah Hauptmann Balogh, den Kommandanten der Wachtmeister, durch die Menge auf ihren Tisch zusteuern. Er legte ein paar Papiere, an denen schwere Siegel hingen, vor Imre auf den Tisch. »Hier, Leutnant. Unterzeichnet, gesiegelt und übergeben. Ihr seid jetzt der rechtmäßige Besitzer von vierunddreißig Hengsten und neunundfünfzig Stuten.« Während Imre die Dokumente betrachtete, warf Hauptmann Balogh einen Blick auf den Weinkrug und stieß ein wohliges Grunzen aus. Er setzte sich, nahm ein Glas vom Nachbartisch und goß es sich voll. Dobi blickte ihn kühl an. Balogh setzte das Glas ab und wandte sich an Imre. »Was werdet Ihr mit all den verfluchten Pferden tun - sie meinem guten Freund, dem Hauptmann hier, schenken? Oder wollt Ihr in der Gegend bleiben?« Imre lächelte Dobi an. »Ich habe die besten Gründe, hierzubleiben.« Balogh sah die beiden fragend an. »Der Junge glaubt, er habe sich verliebt«, meinte Dobi leicht belustigt. Balogh sah Imre von der Seite her an. »Darf ich wissen, in wen?« »Das ist kein Geheimnis«, antwortete Imre. »In Gräfin Ilona.« »Sie werden heiraten«, fügte Dobi hinzu und starrte in sein Glas. Balogh war überrascht. »Ist sie denn wieder hier?« fragte er
nachdenklich. »Das wußte ich ja gar nicht.« Er nahm Imres Hand und schüttelte sie begeistert. »Mein lieber Freund, meine herzlichsten Glückwünsche!« Es war der rechte Augenblick für einen Trunk, die Gläser wurden gefüllt und auf einen Zug ausgetrunken. Die Gespräche ringsum wurden lauter, weil der Dorfwachtmeister eingetreten war. Sein unruhiges Gesicht machte deutlich, daß er dienstlich kam. Er zwängte sich durch die Leute und stand schließlich vor Hauptmann Balogh. Ganz außer Atem sagte er: »Es ist wegen dem vermißten Zigeunermädchen. Wir haben sie. Sie ist in einem schrecklichen Zustand.« Er schwieg, sah alle drei der Reihe nach an und sagte dann: »Das ganze Blut ist aus ihrem Körper heraus!« »Kein Blut mehr?« rief Balogh ungläubig. »Was redest du? Drück dich genauer aus!« Der Wachtmeister sagte mit Grabesstimme: »Es ist ganz aus ihr heraus. Sie ist richtig blau. Die Dörfler... sie haben Angst.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Man redet von Vampiren, Herr!« »Von Vampiren?« lachte Balogh auf und fiel in seinen Stuhl zurück. »Himmel! Was fällt denen noch alles ein?« Imre fand es weniger lustig und fragte interessiert: »Wer, glaubt Ihr, hat das Mädchen getötet?« Er hoffte, Dobi würde etwas dazu sagen. Er gab jedoch keine Antwort und starrte nur vor sich hin. Imre wandte sich an Balogh. »Wahrscheinlich ein Wahnsinniger«, sagte der Hauptmann bestimmt. »Er wird uns nicht entwischen.« Er blickte auf, weil eine der Huren an den Tisch gekommen war. »Und hier ist jemand, den wir uns auch nicht entgehen lassen sollten.« Die anderen stimmten in das Gelächter ein, nur der Wachtmeister nicht, der sich und seine Meldung nicht ernstgenommen glaubte. Die füllige Blonde am Tisch war die im Wirtshaus, die noch am besten aussah. »Ah, Ziza«, begrüßte sie Balogh, drängte den Wachtmeister zur Seite und legte der geschmeidigen Frau einen Arm um die Hüfte. »Mein Herzblatt, mein Traumtierchen, mein Fleischberg!« Er warf einen verschmitzten Blick auf Dobi und fragte: »Hast du unseren guten Hauptmann schon kennengelernt?« Ziza blickte ihn spröde an, wie nur eine Frau schauen kann, die fünfzehn Jahre lang diesen Beruf ausgeübt hat. »So gut ist er
nicht«, gab sie kund. »Ich habe ihn kennengelernt.« Dobi mußte leise lachen, blickte aber nicht auf. Balogh grölte: »Aber hier ist jemand, den du noch nicht kennst. Leutnant Imre Toth, der kurz vor der Hochzeit steht - eine edle Dame wird er heiraten.« Er machte eine vielsagende Geste, und alles lachte laut. Balogh stieß Ziza zu dem jungen Mann hin. Sie ließ ihre Lider flattern, als sei sie eine schüchterne Jungfrau. »Schämt Euch, Hauptmann, ich muß an meinen guten Ruf denken!« »Allerdings!« gab Balogh zurück und drückte seine Hände fest in ihren weichen Hintern. Der Wachtmeister räusperte sich verlegen, und Balogh sah ihn unwirsch an. »Was gibt’s?« fragte er. Der Wachtmeister sah Dobi nervös an, beugte sich dann nieder und flüsterte dem Hauptmann etwas ins Ohr. Balogh stand auf und sagte verärgert: »Mein Wachhund bellt. Die Herren entschuldigen mich.« Ziza flüsterte er zu: »Ich komme wieder!« Ziza zuckte die Schultern, als sei es ihr gleich. Schließlich warteten genug Kunden auf ihre Reize. Da riefen auch schon die Türken drüben: »Ziza, Ziza, du Süße, wo bleibst du?« Sie warf Imre einen Handkuß zu und verschwand in der Menge. Dobi schenkte Imre den Rest Wein ein, der im Krug war, und bestellte einen neuen. Balogh und der Wachtmeister drängten sich an den Menschen vorbei auf den Ausgang zu. Dabei nickte der Wachtmeister dem Clown und seinen Begleitern zu. Der Clown winkte ernst zurück. Als die beiden außer Hörweite der Gäste waren, sah Balogh den Wachtmeister fragend an. »Nun?« »Das Opfer, Herr«, wisperte der Wachtmeister. »Was ist mit ihr?« Der Wachtmeister deutete auf die Leute vom Zirkus. »Sie gehörte zum Zirkus. Wurde seit gestern vermißt. Eine ihrer Freundinnen hat gesehen, wie sie in die Burg ging. Aber niemand sah sie wieder herauskommen.« Balogh starrte nachdenklich zu Dobi hinüber, der sich ungewöhnlich freundlich um den jungen Offizier kümmerte. »Das heißt gar nichts«, sagte er schließlich zu dem Wachtmeister. »Ich wüßte nicht, was die Burg mit der Sache zu tun haben soll.« »Ja, schon. Aber trotzdem...«, fing der Wachtmeister wieder an.
»Überlaß das mir«, sagte Balogh fest. »Ich gehe diese Woche hinauf und sehe mich um. Und jetzt bring mich zu der ausgebluteten Leiche.« Sie gingen zusammen in die kühle Nacht hinaus. Dobi sah Balogh ungerührt nach. Ihn störten die offenkundigen Mutmaßungen, die der Wachtmeister über die Burg geäußert hatte, nicht im mindesten. Gräfin Elisabeth war eine einflußreiche Aristokratin und hatte mächtige Verwandte. Ihr Stand stellte sie fast über das Gesetz. Dobi war sicher, daß der tölpelhafte Balogh nie etwas gegen sie unternehmen würde. Es sei denn, die Beweise zeigten zu deutlich auf die Gräfin. Fröhlich schenkte er Imre und sich die Gläser wieder voll. Als sie sie hoben, jubelte die Menge auf, weil eine dunkle Schönheit einen Bauchtanz zum besten geben wollte. In dem Tumult, den die fremde Musik und der aufreizende Tanz hervorrief, schlängelte sich der Clown unbemerkt an den Tisch von Dobi und Imre. Imre war aufgestanden, um den Tanz besser zu sehen, trank sein Glas aus, stellte es wieder auf den Tisch und klatschte begeistert den Takt mit. Dobi nahm Imres Glas und schenkte es wieder randvoll. Sich selbst goß er nur einen winzigen Schluck ein. Heute nacht wollte er die junge Gräfin lieben und hatte keine Lust, sich durch einen Rausch zu behindern. Imre setzte sich wieder, und seine Augen glänzten. Er lehnte sich zurück und bemerkte, daß ihn Ziza aus der Ferne anstarrte. Er wurde rot. Dobi war das nicht entgangen, und er sagte: »Wollt Ihr sie?« Der junge Mann gab sich überrascht. »Ich? Ziza?« Er mußte lachen. »Nein, die ist für Euch. Ihr braucht sie mehr.« Dobi ärgerte sich insgeheim über den Ton, in dem das gesagt wurde. Lächelnd gab er zurück: »Heute nacht nicht. Heute nacht braucht Ihr sie.« Imre verstand den Spaß nicht und blickte seinen Begleiter verwirrt an. Dann trank er wieder einen tiefen Schluck aus seinem Glas und redete den älteren Mann schon mit schwerer Zunge wie einen alten Freund an. »Sag, Dobi, ich würde gern wissen, warum ein Mann... wie du... nie geheiratet hat. Hältst du nichts davon?« Dobi zuckte gleichgültig die Schultern. »Zu manchen Menschen paßt die Ehe nicht.« Imre packte plötzlich seine Hand, als hätte er einen herrlichen Einfall. »Ich glaube, du solltest die Gräfin Elisabeth heiraten«, verkündete er. »Sie ist frei... sehr gereift und wird dir das Alter
versüßen.« Er war von dem Einfall ganz angetan und fuhr begeistert fort: »Wir werden eine Doppelhochzeit feiern. Trinken wir darauf!« Er hob das Glas und trank einen tiefen Schluck. Dobi sah ihn ärgerlich an. Der Bursche kam der Wahrheit gefährlich nahe! Dann fragte Dobi: »Warum sollte sich ein Mann zum Sklaven einer einzigen Frau machen, wenn er unter so vielen wählen kann?« Er zeigte auf die Huren im Raum, die wie Raubvögel in den Ecken lauerten. Weder Dobi noch Imre bemerkten den Clown, der am Tisch stand und unauffällig lauschte. »Ja, wenn aber eine Frau die Vorzüge aller in sich vereint«, fing Imre an und überlegte, wie oft er schon dieses Gespräch mit anderen Offizieren geführt hatte. Dobi sagte verächtlich: »Geliebte, Freundin, Mutter... alles in einem? Gibt es denn so eine Frau?« »Du weißt, es gibt sie«, erwiderte Imre eifrig. »Und ich habe sie gefunden!« »Dann bist du wirklich gesegnet«, sagte Dobi, blickte zur Seite und trank, um seinen Ärger zu verbergen. »Aber auch verletzlich«, sagte eine hohe Stimme aus der Nähe. Dobi und Imre wandten sich um und erkannten den Clown. Imre lachte freundlich. »Wie das, Meister Clown?« Der Clown sprach rasch und geschraubt: »Ihr seid vom Licht Eurer Liebe so geblendet, daß Ihr den Mann nicht bemerkt, der Euch im Schutz der Dunkelheit bestiehlt.« Bevor die merkwürdigen Worte verstanden waren, hatte er schon einen Korb auf den Tisch gestellt und wühlte darin herum. Er zog eine Handvoll schwarzer, glänzender Perlen heraus. »Wollt Ihr die kaufen - oder einen türkischen Dolch, der Euch vor Euren Feinden schützen kann?« Er zeigte einen gekrümmten Dolch vor, der mit allen möglichen Edelsteinen besetzt war. Er richtete die scharfe Klinge auf Dobi, der ungerührt blieb. »Warum sollte ich Feinde haben?« fragte Imre und spürte, daß der Bursche auf etwas Bestimmtes hinauswollte. Der Clown sah ihn eindringlich an. »Alle Menschen haben Feinde«, warnte er leise. »Die gesegneten aber besonders, weil man sie beneidet.« Dobi stieß den Arm mit dem Dolch fort und knurrte: »Das ist türkisches Geschwätz. Verschwinde!«
Der Clown hielt mit wissenden Augen dem harten Blick stand. Er lächelte, legte den Dolch in den Korb und fragte Imre: »Wollt Ihr Euch die Zukunft weissagen lassen?« »Ja... ja... ich will die Zukunft wissen«, sagte Imre aufgeregt. »Legt mir die Karten!« Geschickt mischte der Clown einen Stoß Karten und legte fünf davon auf den Tisch. Er sah sie genau an und sagte dann mit unterdrückter Stimme: »Ich sehe eine Hochzeit... Drachenzähne, und eine grausame Frau und den Körper eines unglücklichen Mädchens.« Dabei warf er Dobi einen anklagenden Blick zu. Dobi wischte erzürnt die Karten vom Tisch und bellte drohend: »Weg mit dir, du Narr!« Der Clown wich zurück, bückte sich rasch, um die Karten aufzulesen, und sah Dobi finster an. Einen Augenblick später richtete er sich auf, verbeugte sich unverschämt und kehrte zu seinen seltsamen Kumpanen zurück. Imre hatten die Possen des Clowns gefallen, und er war wütend über die Art, wie Dobi mit ihm umgesprungen war. Was hatte der Clown nur gemeint? Die Drachenzähne hatten bestimmt etwas mit dem Wappen der Nadasdys zu tun. Und wer war die grausame Frau? Gräfin Elisabeth? Der Zwischenfall hatte ihn wieder nüchtern gemacht. »Ich habe ihn wiedererkannt«, sagte Imre. »Er ist der Clown in dem Zirkus. Er hat sein Zigeunermädchen gemeint.« »Die wir tief betrauern«, versetzte Dobi und schenkte wieder nach. Imre wußte nicht, ob sich der Hauptmann über ihn lustig machte oder nicht. Er hob sein Glas und trank auch, und das feurige Getränk ließ ihn gleich wieder in Lachen ausbrechen. Dobi sah Ziza von Bewunderern umlagert und winkte sie ausgelassen herbei. Die füllige Frau trat mit wiegenden Hüften an den Tisch und sah den Hauptmann unsicher an. Dobi warf einen Blick auf Imre und sagte: »Mein junger Freund ist ganz hingerissen von dir.« Imre lächelte die Hure an, weil er sich nicht mit dem Älteren überwerfen wollte. Sie lächelte ihn erfreut an und ließ sich auf seinen Schoß fallen. Als Ziza ihn umarmte und mit einer Hand durch sein Haar fuhr, lachte er unruhig auf. »Nein, nein«, wandte er sich protestierend an Dobi, und Ziza kreischte auf, als er sein Glas dabei umstieß. »Sie ist Euer... nehmt Ihr sie.«
»Guter Freund«, sagte Dobi aufmunternd, »erfreut Euch an ihr, solange Ihr noch könnt.« »Was ist los?« fragte Ziza mit mütterlicher Stimme. »Denkst du an deine Dame, deinen Schatz?« Und sie drückte sein Gesicht an ihre Brust. Die junge Gräfin saß vor ihrem Spiegel und bürstete ihr Haar. Die goldenen Locken glänzten seidig. Das Spiegelbild ihrer Schönheit machte sie lächeln. Sie wußte, sie war noch nie so schön gewesen. Ihr Herz setzte plötzlich aus, als sie in der Bürste Strähnen von goldenem Haar hängen sah. Sie strich sich noch einmal kräftig durchs Haar und sah entsetzt, daß auf ihrem Kopf ein kahler Fleck rosafarbener Haut im Kerzenlicht schimmerte. Das restliche Haar glitt ihr vom Kopf, als sei es zu eigenem, schrecklichem Leben erwacht. Sie war völlig kahl. Hilflos, entsetzt, von unsäglichen Schmerzen gepeinigt sah sie, wie ihre Haut in trockenen Schuppen abfiel. Die Zähne fielen ihr aus dem Mund und klirrten zu Boden. Ihr Angstgeschrei wurde dürr und trocken und blieb ihr im zungenlosen Mund stecken, während die letzten Fleischfetzen einschrumpften und abfielen. Gebannt starrte sie ihr Spiegelbild an. Sie sah sich in ihrem hohen Lehnstuhl sitzen, sah das dunkelrote Samtgewand und die Bürste in der Knochenhand. Alles schien ganz gewöhnlich, nur daß über dem Spitzenkragen ein fleischloser Schädel thronte, der sie zahnlos angrinste. Und in den Augenhöhlen schwebten zwei gleißend helle Kugeln, die jeder Bewegung ihrer Augen folgten. Mit einem Schreckensschrei fuhr die junge Gräfin aus ihren Kissen hoch. Kalter Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Sie fuhr sich mit den Händen ins Gesicht und suchte nach Zeichen des Alterns, des Verfalls. Es waren keine zu entdecken, und sie atmete erleichtert auf. Ihr Entsetzen war der eigenen Einbildungskraft entsprungen. Sie blickte sich im Zimmer um, das vom Schein einer Kerze erhellt wurde. Alles war in Ordnung, und sie hatte nichts zu fürchten. Sie war noch jung. Unruhig legte sie sich in die Kissen zurück. Sie schloß die Augen, konnte aber keinen Schlaf finden. Draußen heulte der Wind, ließ die Fenster klappern und hielt sie wach. Sie hoffte, Dobi würde bald kommen und sie in seine starken Arme nehmen. Sie stieg
aus dem Bett und ging zum offenen Fenster. Der Wind fuhr ihr durchs Haar und brachte sie in ihrem leichten Nachtgewand zum Frösteln. Als sie das Fenster schloß, sah sie ihr Spiegelbild in den Scheiben. Sie brach in ein Stöhnen aus und taumelte zum Bett. Diesmal war es kein Traum. Sie war nicht mehr die schöne Ilona, sondern die gebeugte, welke Gräfin Elisabeth.
9. Im Dorfgasthaus wurden die Späße immer gröber und lauter. Die Gäste hatten getrunken, so viel sie nur vertragen konnten und waren jetzt in der Stimmung, sich nächtlichen Ausschweifungen hinzugeben. Die Huren mit den harten Gesichtern und den weichen Leibern stellten ihre Reize unverhohlen zur Schau. Die Gäste zeigten sich zufrieden, wurden handelseins, zahlten, und die Paare verschwanden in den Zimmern. Imre nahm das alles kaum noch wahr. Er war so betrunken, daß er nur noch eine Einzelheit nach der anderen erfassen konnte, und selbst das nur unter Schwierigkeiten. Ziza neben ihm mußte lachen, als sie die Possen sah, die einige ihrer Freundinnen mit den Gästen trieben. Sie winkte ihnen zu, und Dobi benutzte den Augenblick, um Imre etwas zuzuflüstern. Imre mußte laut lachen und wäre mit seinem Stuhl beinahe umgekippt. Ziza sah die beiden an, um herauszubekommen, was so lustig war. »Was gibt’s?« fragte sie. »Los, laßt mich auch mitlachen.« Imre brachte vor Gelächter kein Wort heraus, und sie wandte sich an Dobi. »Ich habe mit ihm um etwas gewettet«, sagte der Haushofmeister. »Betrifft es mich?« fragte Ziza entzückt. Sie blickte Imre voller Bewunderung an und fuhr ihm durchs Haar. »Er sieht so gut aus. Ich nehm’ ihn jederzeit.« »Wir haben gewettet, daß er dich nicht ins Schloß hineinbringen kann«, sagte Dobi. Sie sah ihm ins Gesicht. »In die Burg?« Bei dem Gedanken überlief es sie kalt. »Die Wette gewinnst du«, sagte sie zu Dobi und lächelte nicht mehr. »Dort geh’ ich nicht hin.« »Warum nicht?« lallte Imre.
Ziza sah ihn mit der Überlegenheit einer Wissenden an. »Hast du nicht gehört, was man sich über die Gräfin Elisabeth erzählt? Sie ist eine Hexe!« »Eine Hexe!« lachte Imre entzückt. »Ihre ganze Familie ist ein Hexenpack!« fuhr Ziza ernst fort. »Die haben alle ihre Seelen dem Teufel verkauft. Ihr Stammvater war ein Drache mit sieben Köpfen. Und die schlimmste von allen ist Gräfin Elisabeth!« »Ein Drache mit sieben Köpfen!« grölte Imre hilflos. Ziza sagte mit unerschütterlicher Gewißheit: »Es heißt, sie schmiert ihre Tür mit dem Hirn neugeborener Kinder voll, wickelt ihr Haar um einen Nagel, der in Blut getaucht wurde, damit sie mit ihrer Familie, die über sieben Länder verstreut ist, sprechen kann.« Imre kam dieses Gestammel so verrückt vor, daß er vor Lachen fast vom Stuhl gefallen wäre. Die Tränen rannen ihm über das Gesicht. Dobi packte Zizas Arm und zwang sie, den jungen Offizier anzusehen. »Fünfzig Kronen, wenn du mitkommst!« bot er ihr leise an. »Fünfzig?« Das war fünfmal mehr, als sie gewöhnlich verlangte, und doch zögerte sie, weil sie große Angst vor der Burg hatte. »Und ich schütze dich vor der Hexe!« drängte Dobi. Sie sah Imre an, der auf seinem Stuhl zusammengesunken war, aber trotz seines Rauschs immer noch anziehend aussah. Sie blickte wieder Dobi an. »Das versprichst du mir?« Dobi nickte und lächelte beruhigend. »Na schön, auf den Klatsch hab’ ich sowieso nie viel gegeben«, verkündete sie. »Also los.« Gemeinsam stellten sie den halb bewußtlosen jungen Mann auf die Beine und kümmerten sich nicht um seine Proteste. Dann führten sie ihn durch die Gaststube und traten unbemerkt ins Freie. Nur der Clown und seine Begleiter blickten ihnen nach. Die Zirkusleute hatten zornige Augen und flüsterten miteinander. Die Gräfin kniete in ihrem Zimmer vor einer Kerze und murmelte Gebete zum Allmächtigen. Als das Gebet endete und ihre Schönheit nicht wiedergekehrt war, wiederholte sie die Gebete, richtete sie jetzt aber an den Teufel. Doch selbst ihm mußte ihr Flehen widerwärtig gewesen sein, denn die Kerze begann zu flackern und zu flimmern wie das Herz eines Sterbenden und er-
losch. Schwankend kam sie auf die Beine. »Dobi! Julie!« Ihr hoffnungsloses Heulen hallte durch das Obergeschoß der Burg. Dobi war noch nicht zurück, und Julie besuchte einen Verwandten. Die Diener waren von der Stimme so entsetzt, daß sie sich hastig bekreuzigten und ihre winzigen Kammern nicht zu verlassen wagten. Die Gräfin stolperte zum großen Spiegel und sah hinein. Der Mond schien hell ins Zimmer, und der Anblick war so häßlich, daß sie beide Hände vor dem Gesicht zusammenschlug, wie um sich zu vergewissern, daß es wirklich ihr Gesicht war. Sie war um Jahrzehnte gealtert. Ihr faltiges Gesicht war mit roten Schwären übersät. Schreiend packte sie ein Parfümfläschchen und schleuderte es gegen den Spiegel. Er barst, und als sie zu Boden blickte, sah sie ihre Häßlichkeit vielfach in den Scherben widergespiegelt. Die Gräfin taumelte von den gnadenlosen Spiegeln fort, stapfte wild durch das Zimmer und knirschte mit den Zähnen wie ein waidwundes Tier. Der Schatten eines Spitzenvorhangs fiel wie ein Gitter auf sie und schien sie gefangenzunehmen. Sie faßte den Vorhang mit zitternden Händen und sank an ihm zu Boden. Ihr ohnmächtiger Zorn ließ sie in unterdrücktes Schluchzen ausbrechen, und dann wurde sie von ihrer Verzweiflung überwältigt. Dobi führte Imre und Ziza über die mit Fackeln erleuchtete Wendeltreppe nach oben. Der Turm war vom Klang ihrer unsicheren Schritte und ihrem Lachen angefüllt. Sie spürten Dobis Mißfallen an dem Lärm und gaben sich übertriebene Zeichen, leiser zu sein. Das kam ihnen so komisch vor, daß sie sich wieder vor Lachen ausschütten wollten. Dobi wußte geschickt die Geheimtür im offenen Kamin zu bedienen, und sie betraten den Flur, der zu den Schlafzimmern führte. Niemand war zu sehen, und bis auf Zizas Kichern war alles still. Dobi führte sie hastig in sein Zimmer. Imre stolperte hinter ihm her und versuchte Zizas nackte Schulter zu küssen. Sie quietschte vor Vergnügen. Dobi drehte sich um und brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Imre entschuldigte sich mit tölpelhaften Verbeugungen und legte Ziza eine Hand auf den Mund. Dann traten sie in Dobis dunkles Zimmer ein.
Dobi zündete eine Kerze an und holte eine kleine Flasche mit starkem Branntwein. Er bemerkte erfreut, daß Imre auf das Bett fiel, und schenkte zwei Becher ein. Ziza schlüpfte aus ihren Schuhen und fing an, sich die Kleider über den Kopf zu ziehen. Imre wußte kaum noch, was er tat, streckte einen Arm aus und umklammerte ein Bein Zizas. »Geduld, mein Süßer, dein Wunsch wird gleich erfüllt«, versprach ihm Ziza und warf ihn aufs Bett zurück, wo er sich wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist, hin und herwälzte. Sie warf ihre Sachen rasch zur Seite und stand nackt im Zimmer. Sie murmelte Liebkosungen, stieg zu Imre ins Bett und preßte sich an ihn. Dobi stellte die beiden Becher auf ein Tischchen neben dem Bett. Imre wollte sich bei Dobi über etwas beschweren, aber der Hauptmann lächelte nur und schlug Ziza kräftig auf den Hintern. »Vergnügt euch schön, meine Kleinen«, grinste er, stapfte zur Tür hinaus und schloß sie hinter sich ab. Imre fiel dumpf ein, was er Dobi hatte sagen wollen. Er wollte sagen, daß Ilona vielleicht nicht mit allem einverstanden war und daß er besser in seinem eigenen Bett schlafe. Da preßte Ziza schon ihren heißen Mund auf seinen und drückte sich an ihn. Die Gräfin war in ihrem dunklen Zimmer dem Wahnsinn nahe. Sie rannte von einer Ecke in die andere und steigerte sich in eine unsägliche Wut hinein. Sie war in ein Selbstgespräch vertieft, das mehr nach einem tierischen Knurren als nach menschlicher Rede klang. Im Vorbeigehen riß sie Vasen und anderes Porzellan von den Tischen und schmetterte die Stücke zu Boden. Als sie alles zerbrochen hatte, was zu zerbrechen war, zerfetzte und zerriß sie die Vorhänge und Draperien. Die kostbaren Samtstoffe, die persischen Seiden wurden in traurige Fetzen verwandelt. Und mit ihnen die herrlichen Erinnerungen an ihre Jugend. Dann machte sie sich über ihren Schmuck her. Sie verstreute ihn über den Boden und zerstampfte die Ringe, die kostbaren Perlen. Als das Wüten schließlich all ihre Energien aufgezehrt hatte, brach sie vor dem Riesenbett zusammen und lag zuckend auf dem mit Trümmern übersäten Teppich. Von der Gräfin Elisabeth war nichts mehr übrig als die brennende Begierde, wieder jung zu sein. Koste es, was es wolle!
Dobi eilte durch den Gang zum Schlafzimmer der Gräfin. Er konnte seine Vorfreude kaum noch zügeln. Er würde der Gräfin zeigen, wie ein richtiger Mann liebte! Und dann wollte er ihr seine kleine Überraschung vorführen. Sie würde dann für immer ihm gehören. Vor ihm schwang eine Geheimtür sacht auf, und Dobi verbarg sich rasch im Schatten. Einen Augenblick später trat eine dunkle Gestalt aus der Öffnung. Dobi packte den Eindringling fest am Hals und riß seinen Dolch aus der Scheide. Der Eindringling schrie erschrocken auf. Es war Fabio, der graubärtige Gelehrte. Dobi ließ ihn ärgerlich los. Fabio faßte sich an den Hals und hustete unbehaglich. »Ach, edler Hauptmann...« würgte er hervor, »ich hielt Euch für ein Gespenst!« Dobi starrte den schwächlichen Gelehrten zornig an. »Und ich Euch für einen Gauner und hätte Euch fast die Kehle durchgeschnitten.« Er steckte den Dolch fast enttäuscht wieder weg. »Was macht Ihr da überhaupt?« Fabio hielt zitternd eine Karte in die Höhe. »Nun, ich habe eine bemerkenswerte Karte entdeckt, auf der Türen und Gänge verzeichnet sind, von deren Existenz ich gar nichts ahnte. Ich spüre sie auf.« Er war sich bewußt, daß er eine unglaubwürdige Erklärung vorbrachte. Dobi sah ihn argwöhnisch an. »Um diese Zeit?« »Nachts ist mein Geist am schärfsten, wenn die andern schlafen.« Der Haushofmeister stieß ihm mit dem Zeigefinger vor die Brust, daß Fabio zusammenzuckte. »Nun, bleibt lieber in Eurer Bibliothek«, riet er ihm. »Tut dort, was Ihr wollt, aber schleicht nicht mehr herum. Ihr könntet jemanden erschrecken.« »Oder selbst zum Gespenst werden«, sagte Fabio und warf einen Blick auf den Dolch. Er lachte nervös, schlich fort und trat in die Bibliothek. Dobi ging weiter. Als er vor der Tür der Gräfin stand, lauschte er einen Moment. Es war nichts zu hören. Er lächelte, klopfte leise an und öffnete die Tür. Das Zimmer war dunkel, aber er sah im Mondlicht, daß ihr Bett leer war. Im Zimmer herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander aus zerbrochenen und zerfetzten Dingen. Er faßte nach seinem Dolch.
»Dobi?« Der leise Anruf ließ ihn zusammenfahren. Die Stimme klang wie ein Stöhnen, das aus dem Grabe zu kommen schien. Jetzt konnte er die Gräfin undeutlich in ihrem Nachtgewand am Boden liegen sehen. Er strengte seine Augen an, um festzustellen, was mit ihr geschehen war. Langsam, wie unter Schmerzen kroch sie auf ihn zu und ins Mondlicht. Er sah ihr Gesicht und stieß unwillkürlich einen Entsetzensschrei aus. Ihr gräßliches Antlitz war von Tränen überströmt, und ihr durchsichtiges Nachtgewand hing lose an ihrem welken Körper und schien ihre frühere Schönheit zu verspotten. Er ging auf sie zu und verzog angewidert den Mund. Als er vor ihr stand, streckte sie flehend die Hände nach ihm aus. Er blickte voller Ekel auf das alte häßliche Weib. »Du hast mich betrogen«, sagte er mit verhaltener Wut. »Nein«, flüsterte sie. Sie kroch zu ihm hin und umklammerte seine Beine. Ihm war unbehaglich zumute. Am liebsten hätte er mit einem Fußtritt ihrem Leben ein Ende bereitet. »Du wußtest, daß es soweit kommen würde. Du hast mich in Erregung versetzt und mich dann zum Narren gehalten«, warf er ihr vor. »Nein, das versichere ich dir«, keuchte die Gräfin. Dobi kniete sich neben sie und nahm ihr entstelltes Gesicht verächtlich in seine Hände. Er wußte, wenn er fest zudrückte... Er konnte sich nicht dazu überwinden. Sie hatten sich zu sehr geliebt, hatten zu viele gute Tage gemeinsam verbracht. »Was willst du?« fragte er und sprach jede Silbe mit ätzender Bosheit aus. »Daß wir uns lieben? Jetzt? So, wie du bist? Zwei alte Narren, die sich befummeln?« Er lachte und stieß ihr Gesicht weg. Sie sank wieder zu Boden. »Sei nicht grausam zu mir«, flüsterte sie. »Hilf mir.« »Warum sollte ich dir helfen?« gab Dobi zurück, stand auf und blickte geringschätzig auf sie hinab. »Du willst mich nicht. Du denkst nur an ihn. An den jungen Imre.« »Nein, das ist nicht wahr«, fiel ihm die Gräfin ins Wort. »Und wie hübsch du morgen für ihn sein wirst! Aber du brauchst mich immer noch, wie eine Hure auf ihren Kuppler angewiesen ist.« Die Gräfin fing an zu weinen. Er sah sie leidenschaftslos an. Sie
hatte vielleicht genug gelitten, aber er war um sein Vergnügen gebracht worden, und das sollte sie ihm teuer bezahlen. Jetzt war es an der Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen, dachte er. »Nun, da gibt es noch einen, der dich nicht mehr mag, ob du nun jung bist oder alt«, schmähte er. Sie blickte verständnislos auf. »Dein Liebhaber«, grinste er schadenfroh. »Was redest du da?« fragte die Gräfin mit kräftigerer Stimme, da Dobis Spott ihren Willen wieder weckte. Er lachte leise, beugte sich nieder und zog sie auf die Füße. Er nahm einen Umhang von einem Stuhl und legte ihn ihr um die Schultern. »Ich zeige es dir«, sagte er dann und genoß sein grausames Spiel. »Komm und sieh, wie er sich mit einer echten jungen Frau vergnügt.« »Nein«, sagte die Gräfin und wollte nicht an diese Möglichkeit glauben. »Doch! In diesem Augenblick liegt er in meinem Bett und treibt es mit der billigsten Hure des Dorfes. Vergnügt sich mit dem, was du ihm nie wieder geben kannst.« Er zog die Widerstrebende zur Tür und auf den Gang hinaus. Im Lichtschein der Leuchter an den Wänden mußte sie blinzeln. Dobi ließ ihr Handgelenk los und lächelte sie herausfordernd an, sie möge sich doch von der Wahrheit seiner Worte selbst überzeugen. Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte den Gang entlang. Nach einem Moment der Unentschlossenheit folgte sie ihm. Die Gräfin hatte Mühe, mit dem stolzen, aufrechten Kriegsmann Schritt zu halten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte ihre Jugend verloren, und jetzt sah es so aus, als habe sie auch ihren Liebsten verloren. Wenn Imre der Schönheit ihres anderen Ich wirklich untreu geworden war, um sich den Umarmungen einer schmutzigen Dirne hinzugeben, dann hatte ihr Leben keinen Sinn mehr. Dann konnte sie ebensogut ihren modrigen Leib von der höchsten Zinne stürzen und ihr Elend beenden. Dobi hielt vor seiner Tür an und zog den Schlüssel aus der Tasche. Die Gräfin sah verbissen zu, wie er aufsperrte und die Tür leise öffnete. Das Zimmer wurde von vielen Kerzen gut erhellt, und sie hatte keine Schwierigkeiten, das Bett zu sehen. Auf ihm lag Imre. Offensichtlich schlief er fest. Als sie hineinspähte, bewegte er sich
und drehte sich zur Seite. Auf dem Bett neben ihm saß eine rundliche Dirne, die ihr Gesicht zu grell bemalt hatte. Sie zog sich mit raschen Bewegungen an, und die Gräfin konnte einen Blick auf ihre vollen, schweren Brüste werfen. Der Gräfin stiegen die Tränen in die Augen. Sie war betrogen worden! Imre bewegte sich unruhig im Schlaf, und da die Gräfin fürchtete, er könne aufwachen und sie sehen, trat sie in den dunkleren Gang hinaus. Ziza bemerkte die Bewegung und blickte auf. Sie sah Dobi in der Tür stehen. Mit einem wütenden Schrei sprang sie auf und lief zu ihm. Sie war in ihrem Stolz verletzt und stemmte die Hände in die Hüften. »Was wird hier gespielt, ha? Verkuppelst mich einem kleinen Dreckskerl, der nichts von mir wissen will!« Dobi starrte sie verärgert an und hoffte, sie würde ihre Zunge im Zaum halten, bevor die Gräfin den ganzen Plan begriff. Ziza sah die triefäugige Alte auf dem Gang stehen, kümmerte sich aber in ihrer Wut nicht weiter um sie. »Was ist los?« rief sie, packte Dobi am Arm und schüttelte ihn. »Kann er nicht oder will er nicht? Er sollte Unterricht bei dir nehmen!« Sie drehte sich um und warf einen Blick auf Imre, der fest schlief. »Die ganze Nacht vergeudet! Ich möchte mein Geld!« »Halt den Mund und warte hier«, knurrte Dobi. Die wütende Dirne versuchte sich an ihm vorbeizudrängen, aber er stieß sie in das Zimmer zurück und schloß ihr die Tür vor der Nase. Langsam drehte er sich um und sah die Gräfin an. Als er ihren haßerfüllten Blick sah, begriff er, daß sie alles verstanden hatte. »Ich verstehe, was du vorhattest«, sagte sie vorwurfsvoll. »Du hast ihn betrunken gemacht.« »Nein, habe ich nicht«, sagte Dobi und versuchte sich empört zu geben. Die Gräfin hatte anscheinend ihre Fassung wiedergewonnen. Der Zug von Selbstmitleid war von ihrem Gesicht verschwunden und hatte der üblichen Strenge Platz gemacht. Sie hatte sich aufgerichtet und war wieder ganz Burgherrin. »Sei still«, sagte sie barsch. »Du hast also die Schlampe hergebracht?« Sie nickte zustimmend und lächelte mit dünnen, grausamen Lippen, während ihr ein Gedanke durch den Kopf ging. »Sehr aufmerksam von dir, Dobi. Imre braucht sie nicht; ich habe jedoch Verwendung für sie.« Dann befahl sie: »Bring sie sofort zu mir!«
Ohne sich seine Widerrede auch nur anzuhören, ging sie davon. Dobi blickte ihr niedergeschlagen nach. Er mußte sich geschlagen geben. Er hatte eine raffinierte Falle aufgebaut und war nun selbst darin gefangen. Mit düsterem Gesicht schloß er seine Tür wieder auf und trat ein. Ziza sprang verärgert vom Bett auf. »Wo ist mein Geld?« wollte sie wissen. »Wo ist es? Es ist nicht meine Schuld, daß der Dreckskerl schläft. Ich möchte meine fünfzig Kronen!« Dobi beachtete sie nicht, ging zum Bett und warf einen Blick auf Imre. Er schlief fest und atmete regelmäßig. Es hatte keinen Sinn, ihn aufzuwecken. Er würde bis weit in den Morgen die Augen nicht aufbekommen. Zizas Stimme hinter ihm war jetzt zu einem Kreischen geworden. »Hast du gehört?« Sie packte ihn am Arm. »Ich möchte mein Geld!« »Schon gut!« sagte Dobi freundlich. Er öffnete die Geldkatze, die an seinem Gürtel hing und reichte ihr zehn schwere Münzen. Offenen Mundes starrte sie auf ihre Hand. »Hundert Kronen?« fragte sie erstaunt. Dobi nickte. »Für einen besseren Kunden. Du bist hier nicht zu deinem Spaß gekommen. Nun, dann wirst du jetzt welchen haben.« Ziza war von seinen guten Absichten nicht so recht überzeugt. Er fügte rasch hinzu: »Es ist kein Mann, sondern eine Frau. Sie hat manchmal merkwürdige Wünsche. Sie verlangt vielleicht besondere Dienste von dir.« Er sprach so, als handle es sich um ein angenehmes Erlebnis. Ziza kicherte. »Für hundert Kronen nehm’ ich es mit einem ganzen türkischen Harem auf.« Dann fiel ihr etwas ein und sie fragte ängstlich: »Aber es wird doch nicht die alte Hexe sein?« Dobi lachte sie aus. »Ich dachte, du wüßtest, daß die es nur mit dem Teufel persönlich treibt.« Ziza nickte und nahm jedes Wort für bare Münze. Dobi blies die Kerzen aus und drückte Ziza auf den Gang hinaus. An der Tür blieb er stehen und warf einen Blick zurück. Der junge Offizier lag in tiefem Schlaf. Dobi schloß die Tür und eilte mit Ziza den Gang hinunter zum Schlafzimmer der Gräfin. Fabio hatte die Tür zur Bibliothek einen winzigen Spalt geöffnet und blickte ihnen nach. Er war so aufgeregt, daß ihm der Atem stockte. Aus seinem Versteck heraus hatte er alles beobachtet. Wie der betrunkene Imre und die Dirne ankamen, die Wut der
Gräfin und ihr seltsames Interesse an dem Weibstück. Fabio schloß leise die Tür und ging in der Bibliothek auf und ab. Er hatte gewußt, daß in der Burg etwas Rätselhaftes vor sich ging, und daß es mit der Gräfin und ihrem seltsamen Verschwinden zusammenhing. Fabio glaubte das Geheimnis jetzt zu kennen und war so entsetzt, daß er es kaum fassen konnte. Und doch war das alles nicht mehr von der Hand zu weisen. Er ging entschlossen zu dem Regal, in dem er Dobi ein paar Abende zuvor hatte herumsuchen sehen. Rasch hatte er den Band gefunden, für den sich der Haushofmeister so sehr interessiert hatte. Er zog ihn heraus und hatte ein merkwürdiges Gefühl, als er sich den Ledereinband genauer ansah. Er fragte sich, von welchem Tier das Leder wohl stammte. Es war ungewöhnlich hellrosa und sehr weich. Er trug das Buch zu seinem Tisch und setzte sich. Mit unsicherer Hand blätterte er die schweren Pergamentseiten um. Die merkwürdigen Zeichen und Symbole, die manche Seiten schmückten, sah er fast alle zum erstenmal. Die Bedeutung einiger Zeichen kannte er, und das genügte, um ihm zu zeigen, daß der Band ein schreckliches, wahnwitziges Wissen barg. Er blätterte die vergilbten Bogen rasch durch, bis er auf einen Teil stieß, der jünger zu sein schien und von anderer Hand geschrieben war. Das Kapitel war mit ,Blutopfer’ überschrieben. Gebannt begann er zu lesen. Als er das Buch schließlich zuklappte, zitterte er, und sein Gesicht war so weiß wie sein Bart. Kein Zweifel mehr, daß er dem Geheimnis der Gräfin auf die Spur gekommen war. Die Gedanken waren der Gräfin vielleicht neu, doch Fabio war im Laufe seiner Studien oft auf ähnliche Theorien gestoßen, ,im Blut ist das Leben’, hieß es schon in der Bibel. Schließlich war es in allen Geschöpfen die Essenz des Lebens. Ein Mensch wird vom Kind zum Greis und stirbt. Dabei ändern sich Gedanken und Aussehen ständig, doch das Blut kreist bis zu seinem Tod in den Adern. Enthielt dann nicht, dachte Fabio, das Blut die Summe seiner Erfahrungen und vielleicht sogar mehr? Vielleicht lagen in ihm auch seine Eigenschaften begründet, ja dadurch auch seine Persönlichkeit. Konnten diese Eigenschaften durch das Blut nicht auf einen anderen Menschen übertragen werden? Schließlich hatten die klugen Römer das Blut sterbender Gladiatoren getrunken, um ihre Stärke und Härte in sich aufzu-
nehmen. Und Papst Sixtus V. hatte in Ochsenblut gebadet, weil er glaubte, dadurch an Leib und Seele gereinigt zu werden. Das Kapitel über Blutopfer war voller Anrufungen und Zaubersprüche gewesen, die Fabio für unsinnig hielt. An der Grundlage war jedoch nicht zu zweifeln. Viele Alchemisten waren zu der Überzeugung gelangt, daß der lang gesuchte Stein der Weisen in nichts anderem als im Blut zu finden war. Der Stein der Weisen galt deshalb als so wichtig, weil er die Kraft der Veränderung in sich trug. Es hieß, er konnte Kohle in Diamanten umwandeln, aus Glas Gold und Zerbrochenes wieder ganz machen. Fabios alter Freund Paracelsus, der Meister der Alchemisten, soll mit der verwandelnden Kraft des Bluts experimentiert haben und dabei Kinder in Erwachsene und Alte in Jugendliche verwandeln. Man hatte gerüchtweise von Erfolgen gehört, sicher war man sich aber nicht. Anscheinend war Gräfin Elisabeth über dasselbe Geheimnis gestolpert, obwohl ihre Beweggründe in ihrer Selbstsucht zu suchen waren. Fabio fiel ein, daß sich italienische Damen die Haut jung erhielten, indem sie sich Taubenblut in die Runzeln strichen. Das Verfahren der Gräfin schien anspruchsvoller, war aber auch, wenn seine Vermutungen stimmten, von größerer Wirksamkeit. Das Blut der ermordeten Mädchen mußte ihre ganze jugendliche Lebenskraft und Schönheit auf die alternde Gräfin übertragen haben. Nur eins verwirrte Fabio. Das Geheimnis der Gräfin hatte er entdeckt, doch was sollte er jetzt tun? Sie den Wachtmeistern anzeigen? Würde man ihm Glauben schenken, wenn er es versuchte?
10. Als Ziza das Zimmer der Gräfin betrat, umfing sie Dunkelheit. Dann sah sie im Mondschimmer das riesige Bett mit dem Wappen über dem Kopfkissen. Es war leer. Dobi machte von draußen die Tür zu, und Ziza hatte einen Augenblick Angst. Die schweren Münzen in ihrer Geldtasche gaben ihr wieder Sicherheit, und sie ging tiefer in das Zimmer hinein. Es war in einem sehr unordentlichen Zustand. Unter ihren Schuhen knirschte Glas und Metall. Was für eine Orgie man hier
gefeiert haben muß, dachte Ziza. Diese Aristokraten wußten wirklich zu leben. »Komm näher. Du bist hoffentlich nicht schüchtern!« Ziza fuhr zusammen. Es war also jemand im Zimmer. Es war eine harte, befehlsgewohnte Frauenstimme, die jedoch nicht unfreundlich klang. Ziza unterdrückte ein Kichern und trat in den Mondschein, um sich der unsichtbaren Beobachterin zu zeigen. Sie spähte in die Dunkelheit, konnte ihr Gegenüber aber nicht sehen. »Du hast einen schönen Körper«, sagte die Stimme. »Du solltest ihn nicht unter diesen Sachen verstecken.« Die Stimme kam aus der am weitesten entfernten Ecke. Ziza lächelte. Die Kundin war offensichtlich schüchtern, ging aber die Sache auf eine nette Art an. Ziza entkleidete sich ohne Scheu. Bald stand sie nackt mit bleicher Haut im Mondlicht. Sie reckte und streckte sich, damit die unsichtbare Bewunderin ihre Reize genießen konnte. »Herrlich, meine Liebe.« Die Stimme kam jetzt näher, und Ziza schaute ihr neugierig entgegen. Aus den dunklen Schatten trat eine Frau in einem langen schwarzen Gewand mit hoher, weißer Halskrause. Ihr Gesicht war noch im Dunkel, aber Ziza glaubte, die Frau auf etwa fünfzig schätzen zu können. Ihr fiel die alte Frau ein, die sie hinter Dobi auf dem Gang hatte stehen sehen. Es konnte nicht die gleiche sein. Die Frau auf dem Gang war ausgemergelt und wirklich alt gewesen. Die vor ihr war aufrecht und stolz. Ziza wäre eine jüngere Frau lieber gewesen, aber eigentlich war es ihr gleich. Sie ließ sich gern von dieser Art Frauen streicheln. Sie schienen ernster und auch sanfter, packten nicht so grob zu wie die nach Bier stinkenden Männer. »Du hattest also gehofft, den jungen Leutnant Imre zu umarmen?« fragte die Frau im schwarzen Kleid. Dieser blöde Kerl, dachte Ziza. Mit dem war sie fertig. »Ja, Euer Gnaden. Aber ich bin froh, jetzt hier zu sein«, gab sie höflich zurück und wünschte nur, noch feiner sprechen zu können. »Ich bin auch froh.« Ziza spürte, daß die Frau jetzt lächelte. »Komm her, ich möchte dich küssen.« Ziza setzte ein strahlendes Lächeln auf, hob den Kopf und
machte einen Schritt auf die Wartende zu. Sie sah nicht, wie das Messer blitzend auf sie niederfuhr. Sie sah nur das häßliche, haßerfüllte Gesicht der Frau. Und als sie die gierigen, irren Augen in der Dunkelheit erblickte, wußte sie, daß sie das Satansweib, die Hexe, vor sich hatte. Dann fuhr ihr die Klinge in die Kehle, und sie erfuhr den Tod. Als Dobi Zizas erstickten Schrei hörte, trat er ins Zimmer. Die Gräfin beugte sich über den Körper und zerschnitt die Adern an den Handgelenken. Sie tat das ohne jedes Gefühl, als schlachte sie ein Kalb. Dobi seufzte. Die wilden Nächte mit Ziza gehörten der Vergangenheit an. »Steh nicht so herum! Wir verlieren kostbares Blut«, fuhr ihn die Gräfin an. Dobi entzündete rasch ein paar Kerzen und kam ihr zu Hilfe. Er hob die Leiche über eine riesige Silberschüssel, die von der Gräfin bereitgestellt worden war. Das Blut schoß dunkel in die Schüssel, die bald gefüllt war. Zizas Augen waren weit aufgerissen und starrten Dobi anklagend an. Er beugte sich vor und schloß sie. Dann ging er zu einem Wandschrank, holte eine Flasche und ein Glas, die der Zerstörungswut der Gräfin entgangen waren, und schenkte sich Wein ein. Er ließ sich müde in einen Sessel fallen. Er kam sich älter vor als sonst. Die Flüssigkeit im Glas schien ihm unangenehm rot, aber er stürzte sie hinab, und die Wärme in seiner Kehle tat ihm gut. Die alte Gräfin schleppte die Schüssel in ihr Bad und setzte sie vor ihrem Spiegel ab. Dann tauchte sie einen großen weichen Schwamm in das Blut. Mit raschen, geschickten Bewegungen trug sie das Blut auf Stirn und Wangen auf. Es trocknete rasch ein. Sie legte den Schwamm beiseite, nahm ein feuchtes Handtuch und wischte sich das gestockte Blut von der Haut. Dann warf sie das Handtuch fort und blickte gespannt in den Spiegel. Ihr wurde eiskalt, als sie ihr Spiegelbild sah. Die wundersame Verwandlung war nicht eingetreten. Ihr Gesicht war so abgelebt wie zuvor. Dobi sprang erschrocken hoch, als die Gräfin mit angstverzerrtem Gesicht ins Zimmer getaumelt kam. »Schau mich an«, rief sie. »Ich habe es gemacht, wie zuvor auch, und es ist nichts geschehen. Was haben wir falsch gemacht?« Er starrte sie an und überlegte, was die Verwandlung verhindert
hatte. Sie mußten irgendeinen Teil des Rituals ausgelassen haben. Aber welchen? Er runzelte die Stirn, und dann fiel ihm das Buch ein. Das Buch der Geheimnisse. In ihm würde sich die Antwort finden lassen. Er eilte zur Tür. »Wohin?« Er blieb in der Tür stehen. »Das Buch holen.« »Welches Buch?« fragte die Graf in begierig und hoffte auf ein neues Mittel, das sie aus dem Gefängnis der Häßlichkeit befreien würde. »Warte hier«, befahl Dobi und eilte davon. Dobi rannte mit hallenden Schritten durch den Gang zur Bibliothek. Er stieß die Tür auf und trat in das Halbdunkel. In einer Ecke flackerte eine Kerze, und er ging zielstrebig zum Regal, wo er das Buch wußte. Er fand es nicht an der gewohnten Stelle. Unruhig durchsuchte er die Nachbarregale und fing dann an, im Zorn Bücher zu Boden zu werfen. »Sucht Ihr das hier?« Fabios spöttische Stimme ließ ihn herumfahren. Der alte Mann stand hinter der Kerze und hielt in der hocherhobenen Rechten das Buch. Mit einem Wutschrei riß Dobi den Dolch heraus und sprang auf den Alten zu. Fabio stieß einen spitzen Schrei aus, bewegte sich aber erstaunlich schnell. Er riß das wichtige Kapitel aus dem Buch und hielt es über die Kerzenflamme. Über den Tisch hinweg, der sich zwischen ihnen befand, versuchte Dobi auf den Alten einzustechen. Fabio packte die Kerze und eilte zur anderen Ecke des Tisches. Dabei war er darauf bedacht, die flatternden Seiten immer über der Flamme zu halten. Als er aufblickte, sah er, daß der Hauptmann auf den Tisch springen wollte. »Wenn Ihr mich tötet, edler Hauptmann«, rief Fabio mit überschnappender Stimme, »wird Eure Gebieterin nie die Wahrheit erfahren!« Dobi packte den Dolch fester und hielt inne. Bis auf das heftige Atmen der beiden Männer war nichts zu hören. Sie sahen sich über den Tisch hinweg an. Dobi ging grinsend um den Tisch herum und war entschlossen, den geschwätzigen Alten zum Schweigen zu bringen. Da ertönte die Stimme der Gräfin: »Laß ihn.«
Die beiden blickten zur Tür. Sie stand dort und blickte Dobi wild an. »Trau ihm nicht«, widersprach Dobi. Daß Fabio weiter am Leben bleiben könne, schien ihm körperlichen Schmerz zu bereiten. »Traut mir, und ich werde Euch helfen!« rief Fabio rasch. Sein Atem kam in keuchenden Stößen, und vor Angst wäre er fast in ein Lachen ausgebrochen, als er sich wieder an die Gräfin wandte. »Ihr könnt wählen, Gräfin!« Dobi stieß ein höhnisches Gelächter aus und machte sich mit vorgestrecktem Dolch langsam an Fabio heran. »Laß ihn sagen, was er zu sagen hat!« befahl die Gräfin. Dobi warf dem Gelehrten einen mordgierigen Blick zu und zog sich zurück. Fabio hielt eine Seite in das schwache Licht. »Das Kapitel über Blutopfer«, fing er an. Dobi fiel ihm verächtlich ins Wort: »Ja, ja, ich habe es gelesen.« »Aber nicht weit genug, Hauptmann«, versetzte Fabio. »Sonst hättet Ihr nicht einen so blöden Fehler gemacht.« Dobi und die Gräfin blickten ihn ungeduldig an. Fabio las in einem der Blätter. »Hier steht ganz deutlich, daß zur Wiederherstellung von Jugend und Schönheit nur das Blut einer Jungfrau benutzt werden kann.« Die Gräfin unterbrach ihn: »Sie war eine gewöhnliche Dirne.« Fabio verbeugte sich in ihre Richtung, als wolle er sie zu der Einsicht beglückwünschen. »Ganz richtig«, sagte er herablassend. Die Gräfin fuhr Dobi an: »Du Tölpel! Hast du denn kein Hirn im Kopf?« Dobi drehte, statt eine Antwort zu geben, der Gräfin den Rücken zu. Die Gräfin sah Fabio an und schenkte ihm ein falsches Lächeln. »Seid bedankt, Meister Fabio, daß Ihr uns Eure Gelehrsamkeit zur Verfügung gestellt habt. Es soll Euch gelohnt werden.« Das klang ein wenig nach einer Drohung. Fabio spürte es und lächelte unruhig. »Gräfin, ich bin Euch jederzeit zu Diensten«, sagte er eilfertig. »Ich finde das ganze Gebiet äußerst interessant und bin gern bereit, Euch zu unterstützen.« Die Gräfin nahm sein Angebot mit einem Lächeln an. Dann wandte sie sich an Dobi und setzte wieder das harte Gesicht auf. »Komm, Dobi«, befahl sie. »Morgen wirst du deinen Fehler wie-
dergutmachen.« Mit Dobi im Schlepptau rauschte sie hoheitsvoll aus dem Raum. Dobi warf dem Alten noch einen letzten wütenden Blick zu. »Denkt dran, Hauptmann«, spottete Fabio, »es muß eine Jungfrau sein.« Dobi sah ihn eisig an und stapfte aus der Bibliothek. Er schlug die Tür hinter sich zu und sagte zur wartenden Gräfin: »Du mußt verrückt sein, daß du ihm traust.« »Wieso?« Sie warf ihm einen herausfordernd selbstsicheren Blick zu. »Er wird von jetzt an in Todesangst leben. So wird er uns nie hintergehen.« Dann kehrten sie schweigend in das Schlafzimmer der Gräfin zurück. Fabio atmete erleichtert auf, als er hörte, wie sich die Schritte entfernten. Er hatte damit gerechnet, daß Dobi hereingestürmt kam und ihm doch noch den Dolch in die Brust jagen würde. Er fing leise zu wimmern an und sank geschwächt vor Entsetzen zu Boden. Es war Markttag in Veres, und auf dem Dorfplatz tummelte sich das Volk. Die Händler priesen lautstark ihre Waren an, von frischem Gemüse bis zu Tongefäßen, von groben Stoffen bis zu bestickter Lederkleidung war alles zu haben. Dazwischen mischten sich die Schreie der Tiere, die zum Verkauf angeboten wurden. Ziegen, Schafe, Gänse, Pferde und Kühe wurden von den Bauern genau geprüft, bevor man handelseinig wurde. Zu den Käufern gesellten sich die Gaffer und die Armen. Dazu Bettler und Hausierer, Landstreicher und Messerschleifer. Heute kamen noch die merkwürdigen Menschen dazu, die mit dem Zirkus gekommen waren, die Dame mit dem Bart, die Zwerge, der Mohr und der Narr. Durch dieses Gedränge schob sich der Haushofmeister der Burg. In der schwarz behandschuhten Rechten hielt er eine Reitgerte, und die, die ihn kommen sahen, wichen ihm rasch aus. Die Händler forderten ihn vergebens auf, ihre Ware in Augenschein zu nehmen. Er interessierte sich offensichtlich nicht für Schweine oder Kühe. Er war hinter einer anderen Art von lebendem Inventar her. Hinter den Gattern für das Vieh waren ähnliche Umzäunungen
aufgestellt. Nur daß man hier menschliche Lebewesen erstehen konnte. Ein Herr konnte hier einen neuen Diener kaufen, als Ersatz für den, den er neulich zu Tode geprügelt hatte. Und die Bauern konnten unerwünschte oder mißliebige Kinder verkaufen und freuten sich noch, daß sie ein hungriges Maul losgeworden waren. Am häufigsten sah man Kinder zum Verkauf angeboten. Es gab aber auch ein Gatter, hinter dem Frauen verschiedensten Alters feilgehalten wurden. Dorthin richtete Dobi seine Schritte. Dobi sah sich das Angebot an. Die älteren Frauen waren uninteressant für ihn. Es gab ein paar strohblonde Mädchen, die dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein mochten. Dobi waren sie jedoch zu hübsch. Sie waren bestimmt keine Jungfrauen mehr. Der Verkäufer, ein hagerer Bauer mit flinker Zunge, bemerkte das Interesse Dobis und zeigte mit seinem Stock auf ein untersetztes Mädchen mit groben Gesichtszügen. »Schaut Euch die hier an, Herr«, rief er. »Faßt die Muskeln an Armen und Beinen an. Sie ist so stark, sie kann leicht einen Karren ziehen.« Er hielt ihre Arme in die Höhe und kniff wie die Viehhändler nebenan in die Muskeln. Als das Mädchen sah, daß der Blick des stolzen Soldaten auf ihr ruhte, richtete sie sich auf und wölbte die feste Brust vor, wie es ihr beigebracht worden war. »Brüste fest wie Eichenholz!« rief der Verkäufer. »Das Mädchen arbeitet ausdauernder als alle anderen, die ich kenne. Für hundert Kronen fast geschenkt!« Dann beugte er sich vertraulich näher. »Und ich sage Euch, willig ist sie auch...« Dobi ging wortlos weiter, weil sein Auge auf eine erbärmliche Gestalt gefallen war, die im Schmutz neben dem Gatter kauerte. Das Mädchen war etwa fünfzehn hatte blondes, strähniges Haar und vorstehende Zähne und die glanzlosen Augen zeigten an, daß das Kind schwachsinnig war. Sie wackelte ständig mit dem Kopf »Wieviel für die hier?« fragte Dobi. »Was?« rief der Verkäufer ungläubig. »Die hier«, sagte der Hauptmann, beugte sich über das Mädchen und stieß es mit der Reitgerte an. Der Verkäufer trat verwirrt näher. »Die kleine Berta? Eins meiner eigenen Kinder.« Er schätzte sie mit einem kurzen Blick ab. »Nun, Ihr könnt sie umsonst haben... wenn Ihr dazu eine Ziege für fünfundzwanzig nehmt.« »Hat sie je bei einem Mann gelegen?« fragte Dobi und versuchte, sich gleichgültig zu stellen.
Der Verkäufer brach in Gelächter aus. »Wollt Ihr Euch über mich lustig machen? Könnt Ihr Euch jemand denken, der Interesse an ihr hätte?« »Ich nehme sie«, sagte Dobi ausdruckslos und zog die geforderte Summe aus der Geldkatze. Der Verkäufer zog eine magere Ziege herbei, legte ihr einen Strick um den Hals und übergab sie Dobi. Dann wandte man sich dem Mädchen zu. Es stand langsam auf, hing sich ein dürftiges Bündel über den Arm, umarmte seinen Vater unbeteiligt und trottete hinter dem neuen Herrn her. Imre war in Dobis Zimmer erwacht und stand stöhnend auf. Ein dumpfer Schmerz hämmerte in seinen Schläfen. Er konnte sich kaum an Einzelheiten der vergangenen Nacht erinnern und wußte nur noch, daß er im Dorfgasthaus gewesen war und mit Hauptmann Balogh gesprochen hatte. Was dann geschehen war, wußte er nicht mehr. Auf jeden Fall hatte er zuviel getrunken. Er konnte sich vorstellen, daß ihn Dobi verärgert vom Gasthaus in die Burg geschleppt hatte, und mußte lächeln, bis ihm ein bohrender Schmerz durch den Kopf fuhr. Er versuchte ein paar Schritte zu gehen und erreichte eine Waschschüssel, die mit kaltem Wasser gefüllt war. Er tauchte seinen brummenden Schädel in das verblüffend kühle Naß. Als er den Kopf wieder hob, fühlte er sich ein wenig besser und erfrischt, aber dann wurde ihm der unangenehme Geschmack im Mund bewußt. Er schüttelte den Kopf, und seine Dumpfheit wich einer gewissen Klarheit. Ihm fiel ein, daß er Ilona gestern abend nicht gesehen hatte, und er spürte, daß er mit einem Besuch keine Sekunde länger warten durfte. Als Imre Dobis Zimmer verließ, war der Gang leer. Er konnte sich jetzt einigermaßen auf den Beinen halten und ging zu Ilonas Zimmer. Vor der Tür blieb er stehen, weil ihm einfiel, daß er keine Ahnung hatte, wie spät es sein mochte. Es konnte vier Uhr morgens sein, dachte er sich. Er überwand seine Unschlüssigkeit und klopfte an. Dann trat er ein. Gräfin Elisabeth blickte überrascht auf. Sie waren beide verblüfft, aber der Bestürztere war Imre. In seiner Erinnerung war die Gräfin nicht so häßlich gewesen, auch nicht so alt. Er brachte ihr Aussehen mit der Krankheit in Zusammenhang, die sie an ihr Zimmer gefesselt hatte.
Sie starrte ihm aus den grauen Augen entgegen, die denen von Ilona so sehr glichen. Sie brachte anscheinend kein Wort heraus, und so brach Imre das Schweigen. »Gräfin, ich wollte Euch nicht stören. Ich suchte Eure Tochter«, entschuldigte er sich. Die alte Gräfin lächelte ihm zu. Trotz ihrer Häßlichkeit und der Krankheit, die ihre Züge entstellt hatte, war es ein angenehmes Lächeln. »Sie ist früh hinaus, um Blumen zu sammeln.« Imre bemerkte, daß sie bunte und kostbare Gewänder ausgelegt hatte, die in starkem Kontrast zu dem düsteren Kleid standen, das sie trug. Er glaubte, sie gehörten Ilona. »Bitte entschuldigt mein Eindringen«, sagte Imre und wandte sich zum Gehen. »Wartet! Bleibt bitte. Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen!« »Ja«, sagte Imre, der ihrem freundlichen Ton entnehmen konnte, daß sie auf Ilona und ihn anspielte. Die Gräfin legte das wunderbare grüne Gewand, das sie in den Händen hielt, auf das Bett und winkte ihn zu einem Stuhl. Als er sich gesetzt hatte, nahm sie ihm gegenüber Platz. Imre schwieg unbehaglich und sah sie schüchtern und ehrerbietig an. Die Gräfin bot ihm einen Silberteller mit Zuckermandeln an. Er lehnte höflich ab. Kauen und Schlucken wäre ihm in seinem Zustand beschwerlich gefallen. »Ich wollte schon früher mit Euch sprechen, aber Ilona erzählte mir von Eurem Unwohlsein. Ich freue mich, daß es Euch besser geht und Ihr wieder aufstehen könnt.« Die Gräfin dankte ihm mit einem gnädigen Kopfnicken und lächelte ihm zu. »Ich fühle mich heute ein wenig besser«, gab sie zu. »Aber ich bin noch nicht gesund. Die Aufregungen der letzten Tage - Ihr versteht.« »Natürlich.« Imre lächelte mitfühlend. Dann holte er tief Luft und stürzte sich in die Rede, die sein Verstand so angestrengt zurechtlegen wollte. »Ilona wird Euch gesagt haben...« »Daß ihr euch liebt und heiraten möchtet«, fiel ihm die Gräfin hilfreich ins Wort. »Ich hoffe sehr, daß Ihr einwilligt«, nickte Imre. Es entstand ein kurzes Schweigen, und Imre wagte kaum zu atmen. Dann lächelte die Gräfin, und Imre war sich gewiß, daß der Heirat nichts im Weg stand.
»Es war immer der Wunsch meines verstorbenen Gatten, daß Ihr, der Sohn seines teuersten Freundes, eines Tages unsere Tochter treffen solltet.« Dann seufzte die Gräfin tief auf. »Leider hat er es nicht mehr erlebt« Einen Augenblick starrte sie traurig auf die Zuckermandeln. Als die aufblickte, lächelte sie, und in ihren Augen glitzerten ein paar Tränen. »Ihr habt jedoch seine Witwe sehr glücklich gemacht, Leutnant.« Imres Trauer und Glück waren fast unerträglich, und er hätte seine Gefühle nie in Worte fassen können. Die Antwort der Gräfin hatte ihn tief bewegt, und er schwor ihr in aller Aufrichtigkeit: »Glaubt mir, Gräfin, ich werde Ilona den Rest meiner Tage in Ehren halten und um ihr Wohlergehen besorgt sein.« Die Gräfin sah ihn liebevoll an und winkte ihm mit der Hand, er möge sich zu ihren Füßen setzen. »Kommt«, sagte sie, »kniet Euch vor mich.« Imre sprang gehorsam auf und kniete sich neben ihren Sessel. Er nahm ihre verschrumpelte Hand und küßte sie ehrerbietig. Dabei fuhr ihm die Gräfin sanft durch das lockige braune Haar und ließ seinen Kopf langsam in ihren Schoß gleiten. Er blieb stumm und schämte sich nicht der Tränen der Dankbarkeit, die ihm in die Augen stiegen. Die Gräfin fuhr fort, ihn mit mütterlicher Hand zu streicheln. »Mein Sohn«, murmelte sie sanft, »mein Sohn.« Nach einiger Zeit wurde sie unruhig und hatte Mühe, ihre Liebkosungen in mütterlichen Grenzen zu halten. Mit wilder Gier sehnte sie sich nach dem Blutbad, das Dobi ihr bereiten sollte. Der Tag war warm, und über dem Wald lag leichter Dunst. Janko stapfte mit einem Bündel Holz auf dem Rücken auf seine Hütte zu. Er nahm den Schlüssel, der am Gürtel hing, und sperrte die Tür auf. Er betrat das düstere Innere, schloß die Tür hinter sich wieder ab und warf das Holz neben den Ofen. Dann blickte er zu seiner Gefangenen, und der Mund blieb ihm vor Erstaunen offen stehen. Ilona räkelte sich auf den schmutzigen Säcken, die ihr als Lager dienten. Der Rock war ihr bis über die Knie hinauf gerutscht, und die Bluse hatte sich so gelockert, daß ihre Brüste zu sehen waren. Ihr braunes Haar ringelte sich mädchenhaft auf ihren Schultern.
Sie hatte die Lippen einladend geschürzt, und ihre Augen lächelten freundlich. Janko wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Er gluckste vor Vergnügen und kam sabbernd näher. Als er vor ihr stand, machte sich Ilona bereit. Er streckte langsam eine Hand aus und berührte ihr Haar. Sie lächelte ihn aufmunternd an. Da nahm er ihr Gesicht in seine Hände und streichelte ihr die Wangen. Er brummte und stammelte und ließ sich zu ihr nieder. Eine schmierige Hand stahl sich auf ihre Brust und liebkoste sie. Ilona kniff die Augen zusammen und unterdrückte einen Schrei des Abscheus. Sie durfte jedoch nichts unversucht lassen. Sie tastete den Gürtel des Stummen ab und stieß auf den Schlüssel, der ihr die Freiheit wiedergeben sollte. Behutsam löste sie ihn vom Gürtel, ohne ihren Bewacher bei seinen Bemühungen zu stören. Sie warf einen Blick auf ihren Möchtegern-Liebhaber, der jetzt mit geschlossenen Augen sein Gesicht an ihrem rieb. Ilona nahm den Schlüssel fest in ihre Faust, schlüpfte unter ihm plötzlich zur Seite und rannte zur Tür. Zitternd steckte sie den Schlüssel ins Schloß. Janko sprang wütend auf und setzte ihr mit erhobenen Armen nach. Verzweifelt versuchte Ilona den Schlüssel umzudrehen. Janko war schon dicht heran. Sie packte einen Stuhl und stieß ihn in seine Richtung. Der Mann taumelte gegen die Wand und stöhnte auf. Das genügte Ilona, die Tür zu öffnen und in die Sonne hinauszurennen. Janko schüttelte den Kopf, kam auf die Beine und machte sich an die Verfolgung. Ilona stolperte so schnell sie nur konnte von der Hütte fort. Sie war seit Tagen eingesperrt gewesen, und ihre Beine waren schwach und die raschen Bewegungen nicht mehr gewöhnt. Und ihre zarten kleinen Schuhe sahen zwar hübsch aus, waren aber gänzlich ungeeignet für einen Lauf durch den Wald. Atemlos vor Angst lief Ilona unter den Bäumen dahin. Janko kam mit verbissenem Gesicht langsam näher. Ilona brach in Tränen aus, als sie merkte, daß ihr Verfolger sie einholen würde. Da rutschte sie auch schon aus und stürzte in eine Schlammpfütze. Janko stand schon neben ihr und hielt sich den Bauch vor Lachen. Immer noch lachend, zog er sie aus dem Schlamm und stieß sie
zur Hütte zurück. Sie kam ins Stolpern und mußte sich erst den Schlamm aus den Augen wischen. Er führte sie in die armselige Hütte, und gleich darauf schnappte das Schloß wieder zu. Imre hatte die Gräfin verlassen und war begeistert über die Zukunftsaussichten. Die alte Dame hatte soviel Verständnis gezeigt, daß er ganz überwältigt war. Er hatte sie für hart, ja für grausam gehalten, und jetzt wußte er, daß sie ein herzlicher Mensch war, dem es um das Wohlergehen der Tochter ging. Ein leises Zischen riß ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf. Fabio hatte den Kopf zur Bibliothekstür herausgesteckt und gab ihm aufgeregt Zeichen. Imre fand die Anstrengungen des Alten lustig und ging zu ihm. »Fabio, alter Freund, was gibt es?« fragte er freundlich und mit so lauter Stimme, daß Fabio aufstöhnte und hastig einen Finger auf die Lippen legte. »Ich muß Euch dringend sprechen«, sagte Fabio. »Habt Ihr heute die Gräfin Ilona gesehen?« »Nein«, erwiderte Imre. »Ich wollte sie eben suchen.« Fabio nickte und lächelte bitter. »Nun, seid nicht überrascht, wenn Ihr sie nicht finden könnt.« »Wie?« Imre war entsetzt und erschrocken über die Worte des Gelehrten. Sie waren keine Warnung, sondern waren so spöttisch gemeint, daß Imre sich beleidigt fühlte. Der alte Mann wollte anscheinend die Verläßlichkeit seiner Liebsten in Zweifel ziehen. Imre war begierig, mehr zu hören. Fabio wollte eben weitersprechen, als er Dobi vor seinem Zimmer stehen und in ihre Richtung blicken sah. Er wurde sogleich von einem heftigen Zittern überfallen, das Imre nicht entgehen konnte. »Was ist los?« fragte er und wollte dem alten Mann zu Hilfe kommen. Fabio stieß ihn heftig fort. »Ich kann jetzt nicht sprechen.« Dann fügte er flüsternd hinzu: »Bei den Stallungen. Heute abend nach dem Essen. Wartet auf mich!« Er schlüpfte in die Bibliothek zurück. Imre wollte ihm nach, aber die Tür wurde ihm vor der Nase zugeschlagen. Verwirrt blickte er
sich um. Dobi war nirgends zu sehen. Langsam ging er den Gang zur Haupttreppe hinab. Sein Hochgefühl hatte sich fast gänzlich verflüchtigt. Ihm war kalt, er war verwirrt, und am schlimmsten war, daß er nicht wußte, weshalb. Der Abend war kühl und dunkel, und im Schlafzimmer der Gräfin loderte ein fröhliches Feuer. Julie trat mit ihrem rätselhaften Lächeln an den Kamin. Sie legte sorgfältig ein paar Kleidungsstücke in die Flammen. Im Nu hatte das Feuer die Lumpen vertilgt. Es waren keine alten Gewänder der Gräfin. Keine Pelze, kein Samt und keine Seide. Nur armselige schmutzige Lumpen, die einem Mädchen gehört hatten, das man zu ihren Lebzeiten Berta gerufen hatte. Julie stocherte in der Asche und sah zu, wie sie sich wieder setzte. Dann warf sie das letzte Stück hinein, Bertas Schultertuch. Es lag rauchend auf den Holzscheiten und flammte dann mächtig auf. Bald war nur noch leichte schwarze Asche zu sehen. Hinter Julie stand Gräfin Elisabeth. Mit glänzenden Augen sah sie zu, wie die Flammen die letzten Erinnerungen an Berta aufzehrten. Sie wandte sich ab und schlüpfte aus ihrem schwarzen Kleid. Sie bereitete ihren hageren, schlaffen Leib darauf vor, durch das Blut der Jungfrau wieder mit überirdischer Schönheit versehen zu werden.
11. Imre wartete ungeduldig im Hof der Stallungen. Es sah Fabio gar nicht ähnlich, ihn warten zu lassen. Es war noch früh am Abend, aber in der Burg rührte sich kaum noch etwas. Nur wenige Fenster waren noch hell, und es war sehr still. Man konnte hören, wie die Pferde in ihren Ställen scharrten. Imre ging unruhig im Hof auf und ab. Nach wenigen Minuten blieb er stehen. Der alte Mann war nicht zu sehen. Imre blickte zum Turm hinauf. Die Bibliothek war finster. Er hörte plötzlich ein Geräusch und drehte sich um. Erleichtert fragte er: »Fabio?« Es erfolgte keine Antwort, und niemand trat zu ihm. Imre run-
zelte die Stirn. Er wollte unbedingt hören, was der alte Mann zu sagen hatte. Was Ilona betraf, so hatte sich seine Prophezeiung als richtig erwiesen. Imre hatte den ganzen Nachmittag in der Burg und in den angrenzenden Wäldern nach Ilona gesucht und nichts entdeckt. Seinen Fragen war man mit faulen Ausreden ausgewichen. Er sorgte sich, daß ihr etwas zugestoßen war. Etwas, das ihm nur Fabio mitteilen konnte. Hatte man sie nach Wien zurückgeschickt, um die Heiratspläne zu durchkreuzen? Imre faßte einen Entschluß. Er wollte nicht länger warten, sondern Fabio suchen. Er ging zum hochaufragenden Turm, öffnete die Tür und eilte die Wendeltreppe hinauf. Als er oben war, drückte er den beweglichen Stein beiseite, den Ilona ihm gezeigt hatte, und die Geheimtür schwang vor ihm auf. Er befand sich auf dem Hauptgang. Er schloß die Tür hinter sich und schlich zur Bibliothek. Als er an der Tür der alten Gräfin vorbeikam, hörte er von drinnen ein Plätschern. Die Gräfin nahm offenbar ein Bad. Er blieb vor Ilonas Tür stehen und hoffte sie in ihrem Zimmer zu finden. Die Türritzen waren dunkel, und zu hören war auch nichts. Das schien ihm zu beweisen, daß seiner Braut etwas zugestoßen sein mußte. Er eilte weiter zur Bibliothek. Imre öffnete den Eingang zur Bibliothek. Bis auf einen Mondstrahl, der durch eines der kleinen Fenster hereinfiel, war der Saal dunkel. »Fabio?« fragte Imre. Es erfolgte keine Antwort, und Imre wollte sich schon zum Gehen wenden. Dann fiel ihm ein, daß Fabio manchmal über seinen Handschriften einschlief. Er hatte deshalb vielleicht das Treffen versäumt. Imre trat ein. Muffiger Staubgeruch stieg ihm in die Nase. Er tastete sich zu Fabios Tisch vor. Imre spürte eine seltsame Beklemmung in der Brust und wäre am liebsten wieder hinaus in die frische Luft geeilt. Fast wäre er über den Tisch gefallen. Er ließ die Hände über das Holz wandern und stieß auf eine kleine Kerze. Mit Zunder und Feuerstein brachte er sie zum Brennen. Die Flamme war so schwach, daß sie nur die nächste Umgebung erhellte. Imre richtete sich auf und sah sich im Raum um. Er war anscheinend leer. Er sah nichts als dunkle Regale und endlose Reihen von Büchern. Dann glaubte er zwischen Regalen in der Ferne eine Bewegung zu sehen. Er schaute auf die Hand mit der Kerze und ging vorsichtig zu der Stelle. Hinter jedem der finsteren Regale vermutete er einen Angreifer, der sich plötzlich auf ihn stürzen würde.
Er wäre beinahe gegen die Füße gelaufen, bevor er sie sah. Sie waren in Augenhöhe und baumelten frei in der Luft. Imre riß die Augen auf und hielt die Kerze mit zitternden Fingern höher. Der hängende Körper drehte sich langsam, und Imre konnte jetzt das Gesicht erkennen. Er fuhr entsetzt zurück. Es war Fabio. Seine Augen starrten blicklos aus dem dunkel angelaufenen Gesicht auf ihn nieder. »Zuviel Wissen ist gefährlich«, sagte eine rauhe Stimme hinter Imre. Imre fuhr erschrocken herum und sah Dobi in den schwankenden Lichtschein treten. Der Haushofmeister warf einen Blick auf die Leiche und lächelte traurig. »Armer Mann... ein so glänzender Gelehrter, hatte all die Bücher gelesen, wußte so viel, und jetzt?« Dobi blickte Imre an und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Jetzt weiß er gar nichts mehr.« Imre war vor Entsetzen sprachlos und blickte zu dem bemitleidenswerten Fabio hinauf. Dobi ging zu einem Tisch und entzündete eine Lampe, als sei nichts geschehen. Imre schüttelte seine Angst ab und sagte anklagend zum Haushofmeister: »Ihr habt ihn getötet!« Dobi machte keinen Versuch, es abzustreiten und lächelte mit schmalen Lippen. »Ihr habt ihn getötet, weil er etwas über Euch und die Gräfin wußte«, sagte Imre wütend. »Er wollte es mir sagen, und Ihr habt ihn daran gehindert.« Er machte einen Satz und wollte Dobi fassen. Der Ältere war flinker und stärker. Mit einem kräftigen Ruck schüttelte er Imre ab, packte ihn mit einer Hand am Hals und drückte ihn gegen ein Regal. Krachend stürzten einige Bücher zu Boden. »Jetzt hört mir zu, Ihr Grünschnabel«, fauchte Dobi mit zusammengepreßten Zähnen. »Ihr kamt her und habt den Stall genommen...« Dobis Hand griff fester zu, und Imre konnte nur noch keuchend Atem schöpfen. »Schön, die Pferde könnt Ihr behalten, aber die Gräfin gehört allein mir, versteht Ihr, mir allein... zwanzig Jahre habe ich gewartet!« Imre starrte ihn atemlos an und begriff nicht. Dobi ließ ihn los und gab ihm einen letzten verächtlichen Stoß, daß er gegen das
Holz taumelte. Imre preßte die Hände gegen den Hinterkopf. »So nehmt sie doch«, sagte er. »Ich will sie nicht. Ich liebe Ilona.« »Ilona!« höhnte Dobi. »Ja! Wo ist sie? Was habt Ihr mit ihr gemacht?« Dobi grinste spöttisch. »Wollt Ihr sie sehen? Wollt Ihr Eure Braut wirklich sehen?« »Ja!« Dobis Spott ließ Imre aus Angst um Ilona fast den Verstand verlieren. Dobi lachte schlau. »Und Ihr werdet sie sehen. In ihrer ganzen Pracht.« Schmunzelnd ging er zur Tür, »Kommt mit!« Imre eilte ihm nach. Dobi stapfte zum Schlafzimmer der Gräfin. Ohne anzuklopfen riß er die Tür auf und bat Imre mit einer übertriebenen Verbeugung herein. Imre trat zögernd ein und blickte sich um. Das Zimmer schien leer, aber die Verwüstungen, das zerbrochene Geschirr ließen auf Gewalttätigkeiten schließen. Als er Ilona nicht sah, warf er Dobi einen fragenden Blick zu. In diesem Augenblick ertönte eine Stimme. »Julie? Bist du das?« Es war Ilonas Stimme, aber sie klang so hart, wie Imre sie noch nie gehört hatte. Sie tönte hinter einem Wandschirm hervor. Dobi trat vor und stieß den Schirm um, daß er mit lautem Krachen zu Boden stürzte. Imre schrie entsetzt auf, als er sah, was der Wandschirm verborgen hatte. Vor ihnen stand völlig nackt Ilona und sah sie überrascht an. In einer Hand hielt sie einen schmierigen Schwamm, und über ihren Körper rann und tröpfelte Blut. Neben ihr stand ein großes Gefäß, das bis zum Rand mit einer dicken, roten Flüssigkeit gefüllt war. Als sie Imre mit starrem Blick im Zimmer stehen sah, schrie sie auf und versuchte sich mit einem Handtuch zu verhüllen. Benommen und ungläubig starrte er auf das Mädchen, das er liebte, dem er ganz ergeben war, und das in seiner Blutschuld überrascht vor ihm stand. »Man kann sagen, wir haben sie auf frischer Tat ertappt«, sagte Dobi. Imre antwortete nicht. Er konnte noch immer nicht fassen, was er vor sich sah. Seitlich ging eine Tür auf, und Julie stürzte vom Lärm aufgeschreckt herein. Als sie die beiden sich gegenüberstehen sah,
blieb sie stumm stehen. Dobi faßte unsanft ihre Hand und führte sie zur Tür hinaus. Er warf einen Blick auf Imre und die Gräfin und machte dann die Tür zu. Ilona hatte sich von ihrer Überraschung erholt und rieb sich mit dem Handtuch sauber. Dabei warf sie unruhige Blicke auf Imre. Beide schwiegen. Ilona warf das blutige Handtuch fort und schlüpfte in einen weiten, weißen Umhang. Ihre Haut glänzte vor Lebensfrische. Sie war weich und glatt wie die eines Kindes. »Ilona?« sagte Imre ungläubig. Seine Augen flehten um eine Erklärung. Die Gräfin sah ihn bedauernd an und sagte nichts. Imre sah sich im Zimmer um, als erwarte er weitere Schrecknisse. Er sah ein schwarzes Gewand am Boden liegen. Es war das Kleid, das die alte Gräfin getragen hatte. Ein gräßlicher Gedanke keimte in seinem Kopf. »Wo ist deine Mutter?« fragte er leise. »Die Gräfin Elisabeth, wo ist sie?« Ilona schüttelte den Kopf. »Denk nicht an sie«, sagte sie kühl. »Sie ist nicht mehr wichtig.« »Wo ist sie!« Imre machte einen großen Schritt auf sie zu, packte sie und zog dabei den Umhang von ihren Schultern. Die Brüste waren noch rot mit anklagendem Blut verschmiert. Er sah auf das Gefäß, in dem das Blut langsam verdickte. Unglaublich! dachte er angewidert. Sie hat im Blut der Gräfin gebadet. »Du hast sie umgebracht!« schleuderte er ihr entgegen. »Du hast deine eigene Mutter getötet, und du badest dich in ihrem Blut!« Es war wie ein unmöglicher Alptraum, und doch deutete alles darauf hin. Der Geruch von frisch vergossenem Blut füllte das Zimmer, und sein Gehirn wurde von Erinnerungen an das Gemetzel auf den Schlachtfeldern gequält. »Nein, du irrst dich völlig«, sagte die junge Gräfin und beobachtete ihn mit kühlem Blick. Langsam näherte sie sich ihm und nahm seine Hände in die ihren. Er starrte auf ihre Hände hinunter. »Ich bin Gräfin Elisabeth«, eröffnete sie ihm. »Die alte Frau, die du kaum beachtet hast, als du herkamst.« Imre blickte sie verwirrt an. Er schüttelte ungläubig den Kopf, als wolle er den Wahnsinn, der in ihrer Äußerung lag, abweisen. »Sieh mich an«, befahl sie. »Mein Gesicht, meinen Körper, umarme mich und liebe mich.« Sie führte seine Hand an ihren Körper, und er riß sich angewi-
dert von ihr los. »Nein, nein, soviel Blut! Von wem ist das Blut?« Er meinte den Verstand zu verlieren. Seine Stimme wurde laut und schrill. »Sag es mir! Wessen Blut ist das?« Die Gräfin starrte ihn furchtsam an. Er fing an, ihr Angst zu machen. Wie konnte er nur so blind sein? Begriff er denn nicht, daß sie alles für ihn getan hatte? Aus Liebe zu ihm? Leise sagte sie: »Das Blut einer Jungfrau. Ein unwichtiger Mensch. Nur ein Bauernmädchen, das Dobi gefunden hat.« Sie sah den Ekel in seinem Gesicht und fügte schnell hinzu: »Ich brauchte das Blut für dich, mein Schatz! Verstehst du denn nicht? Um dich zu erfreuen.« Imres Liebe zu dem Mädchen richtete sich jetzt gegen ihn selbst, quälte ihn, peinigte sein Herz. In seinem Kopf drehte sich alles, und der Magen brannte ihm. Stöhnend wich er vor dem üblen Geschöpf zurück, das er hatte heiraten wollen. Sie ging ihm unruhig nach, nahm ihn in die Arme und hielt ihn in der Umarmung fest. Er setzte sich zur Wehr. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und drehte ihn, bis er sie ansehen mußte. »Ich bin Ilona«, sagte sie. »Die, die du liebst.« Imre roch das Blut, das an ihrem Körper klebte. »Nein, faß mich nicht an, laß mich!« bat er. Dann stieß er sie entsetzt von sich und rannte auf die Tür zu. Sie begriff sofort und war schnell wie eine Katze vor ihm an der Tür. Sie schloß ab und steckte den Schlüssel in die Tasche ihres Umhangs. Imre machte einen Satz, um ihr den Schlüssel zu entreißen, sie aber trat flink zur Seite, und er prallte gegen die Tür. Dann sank er schwer atmend zu Boden. Ihm war jetzt alles gleich. Die Blutgräfin hatte ihm den Lebenswillen genommen. Sie stand über ihm und blickte mit harten Augen auf ihn nieder. Wenn sie ihn nicht mit Liebe an sich binden konnte, dann mit Gewalt. »Gestern nacht hast du versucht, mir untreu zu sein, aber nicht einmal das hast du fertiggebracht«, sagte sie siegesgewiß. »Du bist besessen von mir!« Imre blickte matt auf. »Gestern nacht?« »Ja. Die Dirne, die du mitgebracht hast. Glaubst du, ich weiß das nicht? Glaubst du, Dobi hat es mir nicht erzählt?« »Er lügt«, sagte Imre tonlos. Die billigste Hure wäre ihm jetzt lieber gewesen als dieser Vampir von Gräfin.
Seine Einfalt machte sie lachen. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einem riesigen Eichenschrank. Sie machte die Türen auf, hinter denen zahlreiche Kleider hingen. Auf der einen Seite hingen die düsteren Gewänder der Gräfin Elisabeth, auf der anderen die sommerlich bunten Kleider Ilonas. Imre starrte dumpf auf die Kostüme, mit denen sie ihre Maskerade durchgeführt hatte. Die Gräfin lächelte grausam und zog die Gewänder zur Seite. Dahinter kauerte die zusammengesunkene Leiche Zizas. Imre stöhnte auf. Ziza war nackt, und ihre Haut war bläulich angelaufen. Ihre roten Lippen und geschminkten Wangen hoben sich grotesk von der blauen Haut ab. »Was hast du mit ihr gemacht?« fragte Imre schaudernd. Die Gräfin machte die Türen zu und blickte Imre gekränkt aus großen Augen an. »Ich habe gar nichts gemacht. Du hast sie getötet«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich?« Imre schüttelte ungläubig den Kopf. Er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Das Ganze kam ihm wie ein übler Traum vor. »Ja«, sagte die Gräfin und ließ sich in einem Sessel nieder. »Dafür gibt es Zeugen.« Imre nickte. »Dobi wahrscheinlich«, sagte er. Er fing an, die Erpressung zu begreifen, sah, daß er ihr ohnmächtig ausgeliefert war. »So viele Zeugen, wie ich will.« Sie winkte ihn heran. »Und jetzt komm und setz dich zu mir.« Ohne Widerstand gehorchte er. Er konnte nichts anderes tun. »Du entkommst mir nicht, mein Schatz«, sagte die Gräfin und nahm seinen Kopf in ihre Hände. Dann drückte sie ihn langsam in ihren Schoß hinunter, als habe sie es mit einem kleinen Kind zu tun. Sie fuhr behutsam über sein unordentliches Haar. »Mein Sohn«, sagte sie. Hauptmann Balogh ritt mit finsterem Gesicht an der Spitze seiner Wachtmeister durch das Tor der Burg Veres. Vor dem Eingang stand ein federgeschmückter Leichenwagen, der von einigen neugierigen Bauern und Dienstboten umringt war. Balogh bemerkte, daß man in seine Richtung blickte und aufgeregt miteinander flüsterte.
Er stieg ab und band sein Pferd neben dem Leichenwagen ab. Er überließ die Einteilung der Wachtmeister dem Dienstältesten und marschierte in die Burg. Er sah sich um und entdeckte Dobi, der am Fuß der prächtigen Treppe stand. Er trat zu ihm. Vier Bauern kamen mit dem Sarg Fabios die Stufen herunter. Balogh schüttelte mitleidig den Kopf, als der Sarg an ihm vorbei zur Tür hinausgetragen wurde. Er wandte sich an Dobi und fragte: »Hat man es der Gräfin mitgeteilt?« Der Haushofmeister nickte traurig. »Es hat ihr einen schweren Schlag versetzt. Meister Fabio besaß unser aller Zuneigung.« Er war offensichtlich wirklich bewegt. Balogh überraschte das. Er hatte Dobi nie für einen Freund des alten Gelehrten gehalten. Dobi schien die Trauer abschütteln zu wollen und schlug Balogh auf die Schultern. »Kommt, trinken wir einen Becher Bier auf Fabios Gedenken.« Balogh war einverstanden, und sie gingen zu dem großen Eßtisch, wo schon Krug und Becher auf sie warteten. Dobi schenkte ein und servierte dem Hauptmann den schäumenden Trunk. Balogh nahm ihn erfreut an und trank einen Schluck. Dann starrte er in den Becher und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Warum hat er es wohl getan?« fragte er. »Ein so kluger Mensch wie er?« Dobi zuckte die Achseln. »Vielleicht, weil der alte Graf gestorben ist? Sie waren gute Freunde.« Balogh ließ sich in einen Sessel fallen. »Ja«, seufzte er, »ein alter Mann hat nicht mehr viel vom Leben. Vor allem, wenn alle Freunde schon begraben sind.« Sie saßen eine Weile schweigend da und ließen sich den Selbstmord Fabios durch den Kopf gehen. »Es gibt natürlich noch eine andere Möglichkeit«, meinte Dobi wie nebenbei. Dobi zog ein Pack großer Spielkarten aus seiner Gürteltasche und hielt sie Balogh hin. Der Hauptmann blätterte sie durch. Es waren bunte Tarotkarten, wie sie die Wahrsager benutzten. »Karten, um die Zukunft zu lesen«, sagte Balogh und blickte auf. Dobi nickte ernst. »Ah, Ihr denkt an das Zigeunermädchen?« meinte Balogh. »Glaubt Ihr, daß er damit etwas zu tun hat?« »Ich habe die Karten in einer seiner Schubladen gefunden«,
sagte Dobi. »Meint Ihr, er hat sie getötet und sich dann selbst das Leben genommen, weil er es bereute?« Dobi zuckte die Schultern. »Wer kann das wissen?« »Wie hielt er es mit den Frauen?« fragte Balogh. »Hat er sich Euch je anvertraut?« Dobi schüttelte den Kopf. »Das ging mich nichts an. Aber ich sage Euch was. Ich habe ihn nie im Dorfgasthaus gesehen.« Balogh mußte schmunzeln, wurde aber rasch wieder ernst. »Es kann natürlich auch sein, daß er auf den wahren Mörder gestoßen ist, der ihn dann zum Schweigen gebracht hat.« Er blickte Dobi fragend an. Der Haushofmeister leerte seinen Becher und setzte ihn ab. Er lächelte Balogh spöttisch an, was heißen sollte, daß er diesen Gedanken für gänzlich abwegig hielt. »Zu phantastisch, wie?« meinte Balogh. Er erhob sich und tätschelte Dobi freundlich die Schultern. »Auf jeden Fall durchsuchen meine Männer im Augenblick die Burg, und wir werden schon etwas finden.« Dobi hielt dem Blick des Hauptmanns stand und ließ sich nichts von der Angst anmerken, die ihn plötzlich durchzuckte. Der Anführer der Wachtmeister stand in der Küche und ließ seinen Blick über die versammelten Dienstboten schweifen. Eine Frau drängte sich beladen mit einem Bündel zur Tür, und ein halbwüchsiger Bursche, ihr Sohn, folgte ihr. Er hatte einen festen Umhang an und war ebenfalls mit einem Bündel beladen. Der Wachtmeister rief: »Wo wollt ihr denn hin?« »Ich bleibe nicht hier. Auf der Burg liegt ein Fluch«, sagte die Frau ängstlich. »Du kommst sofort zurück, und dein Bengel auch«, befahl der Wachtmeister. Die Frau gehorchte widerstrebend. Der Mann sah die anderen an und sagte: »Niemand geht ohne meine Erlaubnis, verstanden?« Man nickte ärgerlich und begann miteinander zu flüstern. Die Köchin Rosa trat vor und fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über die rotgeweinten Augen. »Wo ist sie?« fragte sie. »Habt ihr sie gefunden? Habt ihr mein Mädchen gefunden?« Der Wachtmeister sah sie verdrossen an und sagte: »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Es gibt keinen Hinweis, der deine
Tochter in einen Zusammenhang mit dem Zigeunermädchen bringt.« Rosa sah nicht überzeugt aus, ging aber zu den anderen zurück. Der Wachtmeister setzte sich zufrieden an den Tisch, wo man inzwischen für ihn einen Imbiß bereitgestellt hatte. Er wollte eben ein Stück fette Wurst in den Mund schieben, als er von einem seiner Kameraden gerufen wurde. Kein Zweifel, die Stimme klang sehr aufgeregt. Fluchend legte er das Messer auf den Tisch, stand auf und ging dem Klang der Stimme nach. Aufgeregt folgte ihm die Schar der Diener. Am Eingang zur Treppe, die in den tiefen Weinkeller hinunterführte, stand der Wachtmeister, der aufgeregt gerufen hatte. »Hier hinunter«, rief er und ging mit einer Fackel in der Hand voraus. Die anderen stiegen hinter ihm die ausgetretenen Stufen hinab, und die Gewölbe hallten von den vielen Schritten wider. Unten stand man dann vor den langen Reihen der Weinfässer. Im Dunkel quietschten und raschelten Ratten. Es war eiskalt, und vor jedem atmenden Mund bildeten sich kleine Wölkchen. Ein Donnern ertönte, als ein anderer Wachtmeister ein großes Faß beiseite rollte. Die Fackel wurde in die gähnende Öffnung dahinter gehalten, und die Dienstboten schrien entsetzt auf. Wie schlafende Kinder lagen dort drei nackte Mädchenleichen. Handgelenke und Kehlen waren mit kräftigen Schnitten geöffnet worden. Eins der Mädchen war nicht besonders hübsch und war höchstens fünfzehn. Ein anderes war rundlich und blond und kräftig geschminkt. Der Wachtmeister senkte die Fackel tiefer und leuchtete dem dritten Opfer ins Gesicht. Trotz der Verwesung und den Rattenbissen sahen die Diener, daß es sich um Teri handelte, die Kammerzofe der Gräfin. Rosa fiel wimmernd auf die Knie und streckte die Hände nach ihrem Kind aus. Der Wachtmeister blickte stumm vor Entsetzen auf sie nieder. Dann flohen die Dienstboten die Treppe hinauf in die Sicherheit der warmen Küche. Balogh hatte den Dienern befohlen, sich in dem großen Saal zu versammeln. Die männlichen Diener, die als hauptverdächtig anzusehen waren, standen in einer Reihe. Ihnen gegenüber drängten sich die Frauen aneinander. Jeder Eingang war von Wachtmeistern eingenommen, die eine Flucht verhindern sollten. Balogh schritt zwischen den beiden Gruppen nachdenklich auf und ab. In seinem Gebiet war so etwas noch nie geschehen, und der
Statthalter würde sehr ärgerlich sein, wenn der Mörder nicht rasch gefunden und dem Henker übergeben würde. Wenn er den Übeltäter auch nicht sofort fing, so mußte er doch dafür sorgen, daß er nicht weitermorden konnte. Dobi sah sich den Hauptmann genau an. Er zweifelte, daß der angeberische Narr eine Ahnung hatte, wer für die Morde verantwortlich war. Was er über Fabios Tod geäußert hatte, kam der Wahrheit jedoch bedenklich nahe. Er fragte sich, was Balogh wohl unternehmen würde, wenn er dahinterkäme, daß die gebrechliche, grauhaarige Gräfin Elisabeth der wahre Schurke war. Was konnte er tun? Die Gräfin gehörte zum Adel, war die Herrin dieses Landstrichs, und Balogh war nur ein kleiner Soldat von niedriger Geburt. Verglichen mit der Macht der Gräfin konnte er kaum etwas ausrichten. Balogh war jedoch dem Statthalter verantwortlich, und dieser direkt dem König Matthias. Vielleicht würde er es wagen, Schritte einzuleiten. Selbst wenn er Gräfin Elisabeth nicht gefangensetzte, konnte er es ihr sehr schwer machen, mit ihrer aufwendigen Schönheitskur fortzufahren. Dobi blickte auf und sah die junge Gräfin langsam die Marmorstufen herunterkommen. Neben ihr ging Imre, und einen Schritt zurück Julie. Imres Gesicht war leer. Er hat den Schock wahrscheinlich noch nicht überwunden, dachte Dobi und mußte hämisch lächeln. Die Gräfin gab sich mit jedem Schritt sehr hoheitsvoll, und Dobi begriff, daß sie ihren hohen Stand zum Ausdruck bringen wollte, um damit Balogh einzuschüchtern. Drei Stufen vor dem Ende der Treppe blieb die junge Gräfin stehen. Balogh mußte zu ihr aufblicken. Dobi trat zu Balogh. Der Hauptmann war erfreut, ihn zu sehen. Er flüsterte ihm zu: »Eins der Opfer ist die arme Ziza!« »Hat man mir gesagt«, gab Dobi gelassen zurück. Balogh bemerkte plötzlich, daß die junge Gräfin am Ende der Treppe stand und offensichtlich ihre alte Mutter vertreten wollte. Er verbeugte sich höflich, und sie nickte gnädig. Recht gefaßt für ihr Alter, dachte Balogh. Dann waltete er seines Amtes. Er schritt zur Reihe der Diener, Dobi an seiner Seite. »Sind alle hier?« fragte er und sah, daß keiner von ihnen wie ein Mörder aussah. »Trefft Eure Wahl«, sagte Dobi. Balogh ging die Reihe entlang und blickte in jedes Gesicht, ob Anzeichen von Schuldgefühlen zu entdecken seien. Nichts. Am Ende der Reihe stieß er auf zwei
schurkische Gesichter, die eher zu Straßenräubern als zu Dienern paßten. Eins gehörte einem dunkelhäutigen Zigeuner, der ein rotes Tuch um den Kopf geschlungen hatte, das - andere einem untersetzten, kräftigen Mann, der außergewöhnlich finstere Augen hatte. Die beiden Männer starrten unverschämt zurück. »Ihr müßt in Schwierigkeiten sein, wenn ihr solche Männer als Diener einstellt«, bemerkte Balogh. Dobi zuckte die Schultern. »Wir haben keine Wahl. Die besten Männer sind im Krieg geblieben.« Balogh sah wieder die beiden an. Sie lächelten höhnisch zurück, als ob sie unter dem Schutz Dobis nichts zu befürchten hätten. Ihre Unverfrorenheit ärgerte Balogh. »Wachtmeister«, rief er. Der älteste von ihnen eilte herbei, und Balogh zeigte auf die beiden Strauchdiebe. »Nehmt die beiden zur Vernehmung mit«, befahl er. Er winkte zwei weitere Wachtmeister herbei, die die Männer packten und abführten. Die beiden starrten Dobi wütend an und hofften, daß er eingreifen werde. Dobi kehrte ihnen gleichgültig den Rücken zu. Balogh ging die Reihe wieder zurück und blieb vor einem Burschen und dem Kammerdiener neben ihm stehen. »Die beiden nehmen wir auch mit«, sagte er. Die Männer protestierten empört, wurden aber auch schon abgeführt. »Die anderen können hierbleiben«, sagte Balogh. »Ich möchte aber, daß alle Frauen, seien sie jung oder alt, das Schloß binnen einer Stunde verlassen.« In der Frauengruppe gab es ein lautes Stimmengewirr. Balogh hob eine Hand. »Schon gut! Nur keine Angst! Ihr dürft zurückkehren, wenn sich die Angelegenheit geklärt hat. Und jetzt fort mit euch! Packt eure Siebensachen.« Dobi sah ihm belustigt zu, wie er die Frauenzimmer aus dem Saal trieb. Aus der Höhe sprach ihn mit lauter Stimme die Gräfin an: »Soll das bedeuten, daß meine Mutter und ich auch gehen müssen?« »Nein, Gräfin. Ich bitte wegen der Unannehmlichkeiten um Verzeihung, aber ich muß Eurer Dienerschaft gegenüber so vorgehen. Was Euch betrifft, so bin ich sicher, daß Ihr von Eurem Bräutigam und Hauptmann Dobi ausreichend beschützt werdet.« Er nickte Imre lächelnd zu. »Aber die Vielzahl der Dienerinnen können sie nicht schützen... es ist schließlich möglich, daß sich der
Mörder hier noch verbirgt.« Die Gräfin nickte ernst. Imre machte einen Schritt auf Balogh zu und ließ sich vom warnenden Blick Dobis nicht aufhalten. Er wollte Balogh reinen Wein einschenken. Aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er wußte nicht, wie er anfangen sollte, damit die Geschichte nicht zu unglaubwürdig klang. Balogh schlug ihm freundlich auf die Schulter. »Haltet Euch immer in ihrer Nähe auf, mein Junge«, sagte er freundlich und wandte sich ab, um den Abmarsch der Frauen zu überwachen. Imre blickte ihm benommen nach. Die Gräfin nahm ihn beim Arm und führte ihn wie ein gehorsames Kind die Stufen hinauf. Eine Stunde später strömte die weibliche Dienerschaft mit Kind und Kegel ins Dorf hinunter. Die meisten waren froh, die verruchte Burg hinter sich zu lassen. Ein paar blieben vor dem Tor stehen, wandten sich um und machten Zeichen, mit denen der böse Blick abgewehrt wird. Dann wurde das Tor geschlossen, und einige Wachtmeister bezogen Stellung davor. Die Burg Veres war jetzt von der Umwelt abgeschnitten. Die wenigen Menschen in ihr waren sich selbst und ihren Ängsten überlassen.
12. Dobi und Imre blickten sich über das Schachbrett hinweg an. Sie saßen allein in der Bibliothek, und Imre zeigte wenig Interesse am Spiel. Neben dem Brett stand ein Krug Wein, dem beide kräftig zusprachen. Dobi ließ seinen Blick über die Figuren schweifen und lachte leise vor sich hin. Er war glücklich, und nicht nur, weil er das Spiel gewinnen würde. Es gab noch andere Bereiche, in denen er sich als siegreich erwies. Imre achtete weder auf das Spiel noch auf Dobi. Er saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, und seinem Gesicht war die Verzweiflung anzusehen. Er wurde mit den Ereignissen der letzten Tage nicht so leicht fertig. Er hatte sich für den glücklichsten Mann der Welt gehalten, und jetzt war er in schreckliche Blutopfer verwickelt. Es blieb nur noch ein Ausweg, der Tod.
Dobi zog mit einem Läufer. »Schach«, meldete er zufrieden und nahm einen Schluck. Imre starrte dumpf auf das Brett, zog jedoch nicht. Dobi beugte sich vor und sagte etwas lauter: »Ihr befindet Euch im Schach!« Imre packte der Zorn beim Gedanken an seine mißliche Lage. Es kam ihm lächerlich vor, sich an ein so zivilisiertes Spiel wie Schach zu setzen. Mit einer wilden Handbewegung warf er die Figuren um und stand angewidert auf. Dobi umspannte ärgerlich die Lehnen seines Stuhls, um nicht aufzuspringen und Imre im Zorn niederzuschlagen. Er hatte kurz vor dem Gewinn gestanden und war jetzt um das Vergnügen des Siegens gebracht worden. Nun, soll der junge Tölpel eben seinen Rappel haben, dachte Dobi. Er wußte, daß ihm größere Vergnügungen bevorstanden. Und wenn er vorsichtig war, würde Imre ihm helfen, das zu erreichen, was er sich wünschte. Er beruhigte sich und schenkte Imre ein zuvorkommendes Lächeln. »Was macht Ihr denn für eine düstere Miene?« sagte er. »Seht Ihr denn nicht, was geschehen wird? Sie wird alt werden. Abgeschnitten, wie sie hier ist, und keine kleine Jungfrauen mehr! Sie wird mein sein!« Er lachte verschmitzt. »Und dann könnt Ihr Euch trollen. Wollt Ihr das denn nicht?« Imre sah ihn an und gab keine Antwort. Was der Haushofmeister sagte, enthielt ein Körnchen Wahrheit, aber er bezweifelte, daß die Zukunft so einfach und glatt sein würde. Die Gräfin würde nicht so ruhig ihre Schönheit aufgeben oder zulassen, daß Zeugen die Burg verließen, die die Geschichte eines Tages erzählen könnten. Beide blickten auf, als Julie rasch und geschäftig eintrat »Die Gräfin möchte Euch sehen«, sagte sie. »Wen von uns?« fragte Dobi. »Euch, Hauptmann«, sagte Julie gleichmütig. Dobi sprang mit einem erwartungsvollen Lachen auf. Er sah Imre spöttisch an, als wolle er ihm ohne Worte bedeuten, daß alles, was er gesagt hatte, schon wahr würde. Er eilte hinaus. Julie blieb im Zimmer. Sie starrte Imre mit einer Befangenheit an, die er von ihr nicht gewöhnt war. Vielleicht rührte sein hoffnungsloser Gesichtsausdruck das Mütterliche in ihr. Sie sah die umgestürzten Schachfiguren, ging zum Tisch und stellte sie auf. Imre sagte leise und anklagend und ohne sie dabei anzusehen: »Ihr wußtet von Anfang an Bescheid.« Sie gab keine Antwort.
Imre blickte sie an und spürte, daß sie von seinen Worten berührt worden war. Ihr sonst so ausdrucksloses Gesicht zeigte Spuren von Reue. »Wie habt Ihr nur schweigen können?« fragte er zornig. Sie blickte an ihm vorbei, als sehe sie ein längst vergangenes Traumbild. Anscheinend hatte sie seine Frage gar nicht gehört. Dann sagte sie mit sanfter, liebevoller Stimme: »Ich wollte, daß sie glücklich ist. Ich habe ihrer Kleinen auf die Welt geholfen.« »Ilona?« fragte er. »Die richtige Ilona?« Sie schien den Hohn in seinen Worten zu überhören. Sie wandte sich mit glänzenden Augen zu ihm um. In lächerlich falschem mütterlichen Stolz kreuzte sie die Hände vor der Brust, und Imre fiel zum erstenmal auf, daß sie im Kopf nicht mehr ganz richtig sein mochte. »Ach, sie war so schön«, seufzte die Kinderfrau. »Ich erzählte ihr immer Märchen, badete sie, sang ihr Lieder vor.« Ihr Lächeln wurde traurig. »Aber dann nahm man mir sie weg, man mußte sie fortschicken, Ihr versteht.« »Warum kam sie nicht zurück?« fragte Imre. »Es hieß doch, sie sei auf dem Weg.« Sie starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. »Hat man es Euch nicht gesagt?« fragte sie. »Sie wurde durch das Hochwasser aufgehalten.« Imre sah sie hilflos an. Offensichtlich lebte die Frau wie die Gräfin in der Vergangenheit. Sie war sich der wirklichen Welt kaum bewußt, der grausamen Welt, die Imre gefangenhielt. Er bezweifelte, daß sie seine Lage verstand, aber es war einen Versuch wert. Jede Fluchtmöglichkeit aus der Burg Veres war einen Versuch wert. Er trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Hört mich an«, sagte er verzweifelt. »Ihr wißt so gut wie ich, daß Hauptmann Balogh den Mörder nicht finden wird. Das bedeutet, daß wir hier für ewig in der Falle sitzen.« Sie blickte zu ihm auf, und er sah, daß sie wieder ihr wahnsinnigmachendes glattes Lächeln aufgesetzt hatte. »Ich bin hier nicht gefangen. Ich bin hier zu Hause.« Er sah noch einen Augenblick in ihr lächelndes Gesicht und wandte sich niedergeschlagen ab. Als Dobi in das Zimmer der Gräfin kam, legte ihm die junge,
strahlend schöne Frau die Arme um den Hals und neckte ihn mit zarten Küssen. Er versuchte seine Freude zu überspielen und sah sie schlau an. »Was willst du von mir?« sagte er. Sie schmollte kurz und fuhr dann mit den Liebkosungen fort, küßte ihn auf Nase und Mund. Er wartete ungerührt, daß sie ihren Wunsch äußern würde. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und ließ traurig den Kopf hängen. »Heute nacht werde ich keinen Schlaf finden können«, sagte sie mit lieblicher Stimme. »Weil ich weiß, daß es jeden Augenblick wieder passieren kann.« Sie blickte ihn aus flehenden Augen an. »Wir müssen jemanden in der Burg bereithalten.« Dobi schnaubte erbost: »Und wie soll ich ein Mädchen an den Wachtmeistern vorbei in die Burg bringen?« Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Du kannst die Leute doch an der Nase herumführen! Ich weiß das«, sagte sie lockend. Dobi seufzte. Es war schwer, ihrer Koketterie zu widerstehen, wenn sie so hübsch war. Und außerdem gab es da wirklich eine Möglichkeit. Er ließ sie sich durch den Kopf gehen und konnte keinen schwachen Punkt entdecken. »Also gut«, sagte er. Er löste sich sacht aus ihrer Umarmung. Er wollte nicht, daß sie dachte, er wäre völlig in ihrer Macht. »Du bringst sie heute nacht her?« fragte die Gräfin aufgeregt. Er lächelte höhnisch. »Sie wird hier sein, wenn du sie brauchst.« »In diesem Fall«, sagte die Gräfin neckisch und legte den Kopf zur Seite, »werde ich auch hier sein, wenn du mich brauchst.« Dobi sah ihren weichen Leib von oben bis unten an und lachte leise, auf eine Art, die sie gar nicht angenehm fand. Wolken verdeckten den Mond, und der Himmel war wie schwarzer Samt. Die beiden Wachtposten vor dem Burgtor gingen auf und ab, um sich warm zu halten. Sie spotteten über Hauptmann Balogh, weil sie glaubten, daß der Mörder schon längst das Weite gesucht habe und daß ihre Anwesenheit völlig sinnlos sei. Sie wären darin nur bestärkt worden, wenn sie gesehen hätten, wie Dobi in Begleitung einer jungen Frau durch eine Geheimtür in die Burg schlüpfte.
Das Mädchen war in einen Umhang gehüllt, und ihr Gesicht war durch eine Kapuze verdeckt. Dobi führte sie schweigend über den dunklen Hof in die drohend aufragende Burg. Er nahm eine Fackel von der Wand und ging mit dem Mädchen die Dienerstiege bis hoch unter das Dach hinauf. Er öffnete die kleine Kammer, die Teri bewohnt hatte, und stieß das Mädchen unsanft hinein. »Und denk dran, nicht einen Ton!« warnte er und warf die Tür zu. Er legte den Riegel vor und hoffte, man werde das Schluchzen des Mädchens nicht bemerken. Die Gräfin saß in ihrem Bett und sah Julie zu, wie sie in der Glut im Kamin stocherte. Imre lag neben ihr und hatte die Augen fest geschlossen. Er schlief nicht und hoffte ohne große Überzeugung, daß die Gräfin ihn in Ruhe lassen würde, wenn Julie das Zimmer verlassen hatte. Es war unglaublich, daß das, was ihm vor ein paar Tagen höchstes Entzücken bereitet hatte, ihm jetzt wie eine schauerliche Qual vorkam. Die Gräfin war zutiefst beunruhigt. Sie wußte nicht, wie lange ihre Jugend und Schönheit währen würden, und mit jeder Minute, die verstrich, wurde sie unruhiger. Sie wurde von der Schreckensvision geplagt, sich in Imres Armen in eine scheußliche Alte zu verwandeln. »Gute Nacht, Gräfin«, sagte die Kinderfrau und ging zur Tür. »Einen Augenblick, Julie«, rief die, Gräfin, schlüpfte aus dem Bett und rannte auf die alte Frau zu. Sie legte einen Arm um sie und begleitete die Alte zur Schlafzimmertür. Dabei erzählte sie ihr von ihrer Furcht. »Hauptmann Dobi hat mir versprochen, ins Dorf zu gehen und mir ein Mädchen zu besorgen. Aber ich fürchte, er hintergeht mich. Verstehst du, er ist eifersüchtig«, sagte sie mit einem stolzen Blick auf die schlafende Gestalt Imres. »Er ist eifersüchtig auf meine Schönheit und meine Liebe für Imre.« »Und was soll ich tun?« fragte Julie verwirrt. Die Gräfin sah sie flehend an. »Durchsuch die Burg, jeden Raum! Wenn du sie findest, stör sie nicht. Komm nur zurück und sag es mir, damit ich Ruhe finde. Und jetzt mach bitte rasch.« Sie umarmte und küßte sie, und die Kinderfrau verließ das Zimmer. Die Gräfin drehte sich um und sah Imre an. »Wach auf, du Schlafmütze«, sagte sie, »ich komme.«
Auf dem Gang draußen nahm Julie eine Fackel aus ihrer Wandhalterung und schlich zu Ilonas altem Zimmer. Sie öffnete die Tür, leuchtete mit der Fackel hinein und sah sich im leeren Zimmer rasch um. Enttäuscht schloß sie die Tür und ging hinüber zur Bibliothek. »Sucht Ihr jemand?« wollte eine spöttische Stimme hinter ihr wissen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, dann erkannte sie Dobi, der an der Wand des Gangs lehnte, der zu den Dienerkammern führte. Er hatte einen Becher Bier in der Hand und wirkte sehr betrunken. Etwas an ihm machte ihr Angst, und sie suchte rasch eine Erklärung. »Die Gräfin sorgt sich...« Dobi unterbrach sie ungeduldig: »Sagt ihr, das Mädchen ist hier. Sie ist bereit... wie eine Gans für das Weihnachtsmahl.« Er lachte widerlich. Er kam schwankend auf sie zu, hob den Becher und wünschte ihr mit einer gemeinen Geste gute Nacht. Lachend bog er um die Ecke und ging in sein Zimmer. Julie wagte kaum zu atmen und wartete, bis seine Tür ins Schloß gefallen war. Er hatte sie auf eine besonders widerwärtige Art angeblickt, und sie war sicher, daß das etwas mit dem Mädchen zu tun haben mußte. So rasch sie konnte, lief sie zu den Kammern der Dienerschaft. Unten an der Treppe blieb die Kinderfrau stehen und spitzte die Ohren. Es war ihr, als hätte sie ein Murmeln gehört. Jetzt drang nur das Knistern der Fackel an ihr Ohr. Sie schüttelte den Kopf und wollte wieder zurück, weil sie nicht umsonst die lange Treppe hinaufsteigen wollte, als sie es wieder hörte, diesmal ganz klar. Jemand weinte. Langsam fing die alte Kinderfrau an, die Stufen zu ersteigen. Als sie sich Teris Zimmer näherte, wurde das Weinen lauter. Im flackernden Schein der Fackel sah sie, daß der Riegel der Tür vorgeschoben war. Unter Schwierigkeiten schob sie ihn zurück und öffnete die Tür. Sie hielt die Fackel hoch und sah drinnen ein Mädchen aufspringen und zurückweichen. Die Bewegungen kamen ihr irgendwie vertraut vor, sodaß sie die Fackel näher an das Mädchen hielt und plötzlich einen Schrei ausstieß. »Ilona!« rief sie. Das Mädchen starrte sie aus weitaufgerissenen blauen Augen
an. Dann löste sich ihre Spannung, und die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen. »Bist du es, Julie, meine Kinderfrau?« Julie schloß die Augen, als sei sie von großem Schmerz überwältigt. »Ach, mein Kleines!« stöhnte sie. Ilona kam langsam näher. »Erinnerst du dich an mich?« Julie steckte die Fackel in einen Wandhaken, schloß sie fest in die Arme und sagte mit tränenüberströmtem Gesicht: »Ach, ja, ja... ich erinnere mich an dich, mein Kind!« Zum erstenmal seit Tagen fühlte sich Ilona wieder sicher. Sie klammerte sich an die Kinderfrau, wie sie es als Kind oft getan hatte. »Ach, Julie, hilf mir bitte! Mein Vater ist tot... meine Mutter habe ich nicht gesehen... ich weiß nicht, was mit mir geschehen soll.« Sie fing in den Armen der alten Frau zu zittern an. »Mein Kleines«, tröstete sie die Kinderfrau. »Du mußt Geduld haben.« Sie streichelte sanft das Haar des weinenden Mädchens und summte sehr leise ein Wiegenlied. Es war der Morgen des Tages, an dem sich die Gräfin mit Imre verheiraten wollte, und sie war am Frühstückstisch bester Laune. Seit dem Abend ihrer ,Ankunft’ hatte sie ihren Geist nicht mehr so glänzen lassen. Die Freunde am Tisch schienen ihre überschwengliche Freude nicht ganz teilen zu können. Dobi gab seinem Mißfallen durch gelegentliche zynische Bemerkungen über die Hochzeitsvorbereitungen Ausdruck. Imre hatte ebensowenig Grund wie Dobi, Begeisterung zu zeigen, und stocherte trübsinnig in seinem Essen. Seine Braut würdigte er mit keinem Blick. Selbst Julie gab sich verschlossener als gewöhnlich, was sich die Gräfin kaum erklären konnte. Im Hintergrund des großen Saals waren zwei Wachtmeister, die Hauptmann Balogh freundlicherweise abgestellt hatte, damit beschäftigt, festliche Blumengirlanden aufzuhängen. Als einer der zurückgebliebenen Diener die Teller abräumte, nahm die Gräfin einen Apfel und biß herzhaft hinein. Sie blickte Imre belustigt an und sagte kauend zu ihm: »Es heißt, es ist ein schlechtes Vorzeichen, daß wir uns am Morgen vor der Hochzeit schon sehen.« Sie lächelte skeptisch. »Ich bin jedoch nicht aberg-
läubisch. Und du, mein Schatz?« Imre gab keine Antwort. Die Gräfin schluckte ihre Verärgerung herunter, legte den Apfel beiseite und erhob sich. Sie lenkte ihre Schritte zur Familienkapelle. Dobi warf wortlos seine Serviette hin und ging ihr nach. Imre blieb sitzen. Er bemerkte, daß die Kinderfrau ihn nicht aus den Augen ließ, und er fühlte sich belästigt. Er hatte aber auch keine Lust, in sein Zimmer zu gehen. Die Gräfin betrat die spitz gewölbte Kapelle. Zwei kleine Ministranten waren eifrig dabei, den Altar für die Feierlichkeiten vorzubereiten. Die Gräfin klatschte entzückt in die Hände und lachte. Sie wandte sich an Dobi, der neben sie trat. »Ich bin so glücklich«, sagte sie. Die beiden Jungen lächelten nervös, als sie sich von der vornehmen Dame beobachtet sahen. »Dobi, ich habe mich entschlossen, für diesen Tag die Anordnungen Hauptmann Baloghs umzustoßen. Ich möchte, daß alle an meinem Glück teilhaben und an den Feierlichkeiten teilnehmen.« Bevor Dobi fragen konnte, ob das auch wirklich klug sei, hatte sich die Gräfin umgedreht und war wieder in den großen Saal hinausgerauscht. Er folgte ihr. »Alle Frauen der Dienerschaft und alle Händler sind eingeladen.« Sie blieb neben den beiden Wachtmeistern stehen. »Unsere freundlichen Wachtmeister sind auch eingeladen«, sagte sie. »Und jeder kann soviel trinken, wie ihm schmeckt.« Die Wachtmeister lächelten und verbeugten sich vor so viel Edelmut. Die Gräfin wandte sich wieder an Dobi und sagte: »Kümmert Ihr Euch bitte um die Vorbereitungen!« Dobi kehrte den Wachtmeistern den Rücken zu und fragte anzüglich: »Was ist mit Eurer Mutter? Wird sie erscheinen?« Die Gräfin warf ihm einen haßerfüllten Blick zu, spürte, daß die Wachtmeister sie beobachteten, und zwang sich zu einem herablassenden Lächeln. »Leider nein. Sie fühlt sich heute nicht sehr gut.« Mitleidig schüttelten die Wachtmeister die Köpfe. »Ich mache mir wirklich Sorgen«, fügte sie noch hinzu und ging wieder zum Eßtisch hinüber. Die Wachtmeister machten sich beschwingt wieder an die Arbeit, und Dobi stapfte in sein Zimmer. Die Gräfin stand hinter Julie, die sich noch eine Scheibe Brot nahm und offensichtlich noch länger am Tisch verweilen wollte.
»Wenn du fertig bist, Julie, hilfst du mir dann mit dem Brautkleid?« fragte die Gräfin ungeduldig. »Ja, Gräfin«, versprach Julie, machte aber keine Anstalten, ihr Mahl zu beschleunigen. Die Gräfin blieb kurz vor Imre stehen, warf ihm eine Kußhand zu und tänzelte dann leichtfüßig durch den Saal und die Treppe hinauf. Imre konnte bei dieser Zurschaustellung bräutlichen Glücks nur verächtlich durch die Nase schnauben und stützte die Arme schwer auf den Tisch. Als die Gräfin außer Sicht war, lehnte sich Julie hastig vor und faßte Imres Hände. Überrascht blickte er auf. »Meister Imre, kommt bitte mit mir. Ich muß Euch jemanden vorstellen.« Imre zögerte. Die alte Frau mit dem Pferdegesicht war bis jetzt alles andere als eine Freundin gewesen. Ihre Stimme klang jedoch so verzweifelt, daß er sie nicht unbeachtet lassen konnte. Julie hatte den Saal schon zur Hälfte durchquert. Sie drehte sich um und winkte. Imre sprang auf und ging hinter ihr her in die Küche und in die Räume der Dienerschaft. Imre war noch immer verwirrt, wollte aber keine Möglichkeit versäumen, die die Hochzeit mit der Gräfin vielleicht vereiteln konnte, und stieg hinter der Kinderfrau die Dienstbotentreppe hinauf. Sie befanden sich in einem düsteren Teil der Burg, den er noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Er dachte schon, die Kinderfrau wolle ihm vielleicht neue Greueltaten der Gräfin enthüllen und ausgeblutete Kinderleichen zeigen... Oben angekommen, blieb die Kinderfrau vor einer kleinen Tür stehen und schob mühsam einen Riegel zurück. Imre fuhr überrascht zusammen, als er ein liebliches Mädchen erblickte, das sich das Haar bürstete. Sie war nicht weniger überrascht und sah die Kinderfrau fragend an. »Fürchte dich nicht, mein Liebes«, sagte Julie. »Das ist Imre Toth. Er weilt als Gast auf der Burg.« Sie wandte sich an Imre und sagte: »Das ist Gräfin Ilona. Die Ilona, die als kleines Kind in meinen Armen geweint hat.« Imre verbarg seine Überraschung und küßte die Hand, die ihm Ilona reichte. Ilona war auf ihre Art fast so schön wie ihre verjüngte Mutter. Sie hatte weiches braunes Haar, eine hübsche kleine Nase und blaue Augen, die über seine Ankunft erfreut waren, aber auch von Kummer zeugten. Als sie sich anblickten, fühl-
ten sie sich sofort zueinander hingezogen. Sie erkannten sich als Opfer der gleichen gräßlichen Umstände, in denen sie sich verfangen hatten. Unter anderen Umständen wäre Imre glücklich gewesen, ein so anziehendes Mädchen kennenzulernen. Aber in den schauerlichen Mauern der Burg Veres stürzte ihn der Anblick dieses jungen, unschuldigen Geschöpfs nur in neue Qualen. Ilona runzelte die Stirn und versuchte sich an etwas zu erinnern. »Euer Name kommt mir bekannt vor«, sagte sie. »General Toth war mein Vater.« Ilona lächelte ihn an. »Natürlich. Mein Vater sprach in seinen Briefen über ihn. Sein bester Freund.« Sie errötete und senkte die Augen. »Von Euch hat er auch gesprochen«, sagte sie so lieb, daß ihn ein tiefer Schmerz durchfuhr und er wünschte, er hätte sie getroffen, ohne je etwas von der Burg Veres gehört zu haben. »Ich glaube, es war sein Wunsch, wir mögen uns eines Tages treffen«, seufzte er. Julie hatte an der Tür achtgegeben, daß sich niemand unbemerkt näherte, und jetzt hörte sie in der Ferne die Gräfin rufen. »Ach, Meister Imre!« sagte sie unruhig. »Wir können nicht bleiben, sonst entdeckt man uns.« Verzweifelt zog sie ihn zur Tür zurück. »Wer ruft da?« fragte Ilona mit aufgerissenen Augen, weil sie die Angst der Kinderfrau spürte. Imre zögerte und wollte das verängstigte Mädchen nicht allein lassen. Die Kinderfrau zupfte wieder an seinem Arm. »Kommt rasch«, flehte sie. Widerstrebend folgte er Julie und sah zu, wie sie den Riegel wieder vorschob. Sie säuberte sich die Hände, sah Imre mit harten Augen an und sagte: »Dobi hat sie wegen ihres jungfräulichen Bluts hergebracht. Wir müssen ihr zur Flucht verhelfen.« Zusammen stiegen sie die Treppe hinunter. In Imres Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Tagelang hatte er sich von Untätigkeit und Verzweiflung übermannen lassen. Seine Lage schien aussichtslos, sein Verderben sicher. Jetzt war aber das Leben eines Menschen in Gefahr. Die Sicherheit des Mädchens hing von ihm ab, und er mußte rasch handeln. Ilonas gefährliche Lage stachelte Imre an. Seine Gedanken jagten sich, und aus seiner Erregung entstand ein Plan. »Wartet«, sagte er am Ende der Treppe. »Hört, Ihr müßt sie während der Feierlichkeiten fortbringen. In der Menge wird nie-
mand Eure Abwesenheit bemerken. Führt sie in die Stallungen.« Er sprach jetzt mit der Gefaßtheit eines jungen Offiziers. »Werdet Ihr dort zu uns kommen?« fragte Julie. Imre schüttelte traurig den Kopf. »Das kann ich nicht.« »Aber Meister Imre«, flehte Julie und sah ihn verzweifelt an. »Ihr wißt, daß ich es nicht kann.« Er schwieg verstört, und ihm wurde bewußt, daß draußen die Kirchenglocken fröhlich den Tag der Hochzeit einläuteten. »Gott weiß, wie gern ich mit ihr ginge«, sagte er niedergeschlagen. »Aber ich habe soviel Blut gesehen... mein ganzes Wesen ist beladen damit.« Julie faßte tröstend nach seiner Hand. »Aber Meister Imre, Ihr seid unschuldig. So unschuldig wie Ilona. Ihr müßt zusammen fort.« »Zusammen?« wiederholte er spöttisch. »Das geht nicht.« »Julie? Wo steckst du?« erklang die Stimme der Gräfin. Julie blickte ängstlich auf. »Nehmt sie mit Euch«, drängte sie verzweifelt. »Um ihr falsche Hoffnungen zu machen, um später diese Hoffnungen zu zerstören?« Imre schüttelte entschieden den Kopf. »Undenkbar. Ihr müßt sie retten.« Er schob sie weiter. »Geht jetzt, bevor wir entdeckt werden.« Julie warf ihm einen letzten verzweifelten Blick zu und eilte zu ihrer Herrin. Imre sank gegen die Wand. Nach dem Gedankensturm kam er sich jetzt wie ausgebrannt vor. Der Klang der Glocken dröhnte ihm wie Gelächter in den Ohren, das sich über seine Mutlosigkeit lustig machen wollte. Er wandte sich langsam um und blickte die Stufen hinauf zu Ilonas Tür. Er wollte sie nicht ohne ein Wort des Abschieds oder der Ermutigung verlassen. Er fühlte sich zu ihr so hingezogen, wie er sich von ihrer Mutter angezogen gefühlt hatte. Schwerfällig stieg er die Stufen zu ihrer Kammer hinauf. Als er eintrat, rannte Ilona zu ihm, ganz erleichtert, daß nicht Dobi gekommen war. »Ach, sagt mir doch bitte, was hier vorgeht«, bat sie ihn. Sie nahm eine ihrer Locken zwischen die Finger und zupfte unruhig daran. »Die närrische Kinderfrau sagt, ich soll geduldig sein. Aber wie kann ich das, wenn sie mir nichts sagt?« Imre starrte das aufgeregte junge Mädchen an. Es war noch so jung, so unschuldig, es paßte besser in ein Kloster als in diese Schreckensburg.
»Sie ist so starrköpfig. Manchmal werde ich recht ärgerlich über sie«, sagte Ilona und kräuselte ihr hübsches Naschen. »Gräfin Ilona, Ihr schwebt in Lebensgefahr«, sagte Imre rücksichtslos, bevor sie weiterreden konnte. Sie sah ihn entsetzt an. »Wer trachtet mir nach dem Leben?« »Das kann ich Euch nicht sagen. Aber glaubt mir, Ihr müßt sofort weg von hier.« »Mein Heim verlassen?« Sie konnte es nicht fassen. »Ich habe hier so viel zu tun. Ich möchte das Grab meines Vaters sehen... meine Mutter sprechen.« Imre sah sie voll ohnmächtigen Mitleids an. »Das alles ist unmöglich.« »Warum?« wollte sie wissen. »Sagt mir, was ich zu fürchten habe.« »Ich bitte Euch, widersetzt Euch nicht«, sagte Imre mit fester Stimme. »Julie wird Euch bald in die Stallungen bringen. Sprecht mit niemandem.« Sie warf ihren Kopf schmollend zurück. »Ich werde sagen, ich bin die Gräfin Ilona.« »Nein, man wird Euch nicht glauben«, sagte er grob. »Nehmt ein Pferd und reitet so schnell Ihr könnt zum Rathaus des Dorfes. Wartet doch auf Hauptmann Balogh und berichtet ihm von Eurem Unglück.« »Wollt Ihr nicht mit mir kommen?« Sie sah ihn bittend an. »Nach allem, was mir zugestoßen ist, habe ich Angst, allein zu gehen.« »Ihr dürft Euch nicht fürchten«, sagte Imre und wollte ihr den Mut einreden, den er selbst nicht mehr hatte. »Bitte, kommt mit mir!« bat sie ihn. Ihr Gesicht war so von dunklen Ahnungen überschattet, daß Imre sich hin und her gerissen fühlte. Schließlich sagte er: »Ich treffe Euch in den Stallungen.« Ihr Gesicht hellte sich sofort auf. »Ihr werdet mich nicht im Stich lassen?« fragte sie mit ängstlichem Lächeln. »Nein«, sagte er und wollte lieber sterben, als sein Versprechen brechen. Sie lächelte glücklich, und er folgte seinem Gefühl, ergriff ihre Hand und drückte einen Kuß darauf. Sie legte in unschuldiger Umarmung die Arme um ihn, und einige Sekunden lang drängten sich ihre jungen Körper aneinander. Sie war so rein in ihrer Zärtlichkeit, daß sich Imre nur mit Abscheu an die for-
dernden Liebkosungen der Gräfin Elisabeth erinnerte. »Ich gehe jetzt«, sagte er widerstrebend und löste sich aus ihren Armen. »Tut alles, was Julie Euch sagt«, rief er ihr von der Tür aus zu. »Das werde ich, ich verspreche es Euch«, gab sie zurück. Dann schloß er die Tür und eilte davon, um sich auf seine Hochzeit vorzubereiten.
13. Die Glocken dröhnten übers Land und ließen die Bauern an hohe Kirchenfesttage denken. Auf den Feldern wurde gelacht, und die Flaschen mit Most und Branntwein wanderten von Hand zu Hand. Selbst die dumpfe Glocke vom schwarzen Turm der Burg konnte den Scherzen der Arbeiter auf den Feldern nichts anhaben. Ständig strömten neue Gäste zur Burg. Sie kamen zu Fuß, auf Karren und in Kutschen. Die Dienerschaft kam, die stolzen Händler und die Wachtmeister, die heute dienstfrei hatten. Man stolzierte an den Dorfbewohnern vorüber, die nicht geladen waren, und man trug das Festtagsgewand. Die Frauen bunt bestickte weiße Blusen und schwarze Röcke, die Männer bunte Schärpen über ihren ledernen Kniehosen. Ein Wachtmeister überprüfte am Tor die Gäste und ließ sie dann ein. Er sah sich jedes Gesicht genau an, ob sich der Blutsauger nicht durch ein Zeichen verriete. Der einzige, den er nicht argwöhnisch betrachtete, war der Bischof von Csithe, der die Trauung vornehmen sollte. Er kam in einer zweirädrigen schwarzen Kutsche und segnete eifrig die am Straßenrand stehenden Gaffer. Als alle Gäste in der Burg waren, ließ der Wachtmeister das Fallgatter schließen. Dann ging er mit seinen Männern in den Hauptbau, um Speisen und Getränke zu begutachten. Die Familienkapelle war herrlich mit roten und gelben Sommerblumen ausgeschmückt. Ein Sonnenstrahl stahl sich durch ein buntes Glasfenster und brachte das goldene Kruzifix auf dem Altar zum Leuchten. Der Bischof trat mit wehenden Gewändern ein und stieg zum Altar hinauf. Zwei Ministranten beeilten sich, die letzten der vielen Kerzen anzuzünden. Die Kapelle füllte sich mit Gästen, die sich
leise unterhielten. Imre und Balogh bahnten sich langsam ihren Weg durch die Menge, um ihre Plätze vor dem Altar einzunehmen. Imre spürte kaum, wie man ihm auf die Schultern klopfte und ihn herzlich beglückwünschte. Er versuchte ein bescheidenes Lächeln aufzusetzen, aber die lachenden Gesichter vor ihm erschienen ihm unwirklich wie in einem schlechten Traum. Seine Gedanken weilten bei Ilona, die bald in den Stallungen auf ihn warten würde. Balogh und er blieben vor dem Altar stehen. Der Bischof wandte sich um und nickte ihnen ernst zu. Im gleichen Augenblick erstarb das Flüstern der Menge, und der Bischof blickte in den Saal hinaus. Oben an der Treppe war in ungewöhnlicher Schönheit die junge Gräfin erschienen. Sie trug ein rotweißes Gewand, das mit Perlen besetzt war und sie zugleich jungfräulich und lockend aussehen ließ. Auf dem blonden Haar saß eine goldene Krone, und ihr Gesicht verhüllte ein weißer Schleier. Rechts von ihr stand die eindrucksvolle Gestalt Dobis, die ganz in Schwarz gekleidet war. Sie wartete, bis alle Augen auf sie gerichtet waren, dann ließ sie sich von Dobi den Arm reichen und schritt langsam die Treppe herab. Hinter ihr kam Julie in Sicht, die die Schleppe trug. Imre blickte ihr entgegen. Sie war schöner als je zuvor. Er wurde von jedem anwesenden Mann beneidet. Doch Imre wurde es beim Anblick ihrer teuer erkauften Schönheit schwer ums Herz. Die Gräfin glitt majestätisch durch die Menge, bedachte Gratulanten mit einem königlichen Lächeln und genoß das bewundernde Geflüster. Nicht einmal die Kaiserin hätte einen größeren Eindruck hinterlassen können, als sie ihren Platz neben Imre einnahm. Imre warf ihr kaum einen Blick zu, als sie neben ihm stand. Er wandte sich zu Julie um und sah sie an. Sie verstand sofort und verschwand unbemerkt in der Menge. Augenblicke später hastete sie aus der Kapelle und zu den Kammern der Dienstboten. Imre drehte sich wieder um und sah den Bischof an. Seiner strahlenden Braut gönnte er keinen Blick. Sie hingegen starrte ihn unverwandt mit verliebten Augen an. Ihre Hingabe entzückte die Gäste, die flüsternd erfreute -Bemerkungen austauschten. Das Flüstern legte sich, und der Bischof lächelte wohlgefällig
das junge Paar vor ihm an und intonierte die lateinischen Verse, die eine Eheschließung einleiten. Julie legte Ilona einen warmen Umhang um die Schultern, als sie die Kammer Teris verließen. Langsam schlichen sie die Treppe hinab. Ilona war unruhig, aber nicht wie Julie vor Angst. Die abenteuerlichen Verwicklungen um sie herum schlugen sie in Bann. Alles war fast so wie in den Balladen, die die fahrenden Sänger vortrugen. Von ganzem Herzen wollte sie wissen, weshalb sie gefangengehalten worden war, welche Geheimnisse die Burg barg. Julie führte sie vorsichtig über den ersten Treppenabsatz. Bei Tageslicht kam Ilona die Umgebung weniger schrecklich vor. Sie wußte jetzt, wo sie sich befand, nur daß ihr jetzt alles viel kleiner erschien. Sie erinnerte sich an glückliche Tage der Kindheit und glaubte aus einem Traum aufzuwachen. Da hörte Ilona den leisen Gesang des Bischofs. Sie blieb stehen, lauschte und versuchte die Worte zu verstehen. Julie war die nächste Treppe schon fast zur Hälfte hinab, bevor sie bemerkte, daß ihr Ilona nicht folgte. Sie drehte sich um. »Komm Kind! Schnell!« drängte sie. Das Mädchen blieb wie angewurzelt stehen und lauschte angestrengt. »Nein. Hör doch, da singt ein Priester.« Sie blickte Julie fragend an. »Was geht da vor?« »Uns darf das nicht kümmern«, sagte Julie, eilte die Stufen hinauf und zog am Arm des Mädchens. »Rasch jetzt, wir müssen uns sputen.« Ilona schüttelte sie gereizt ab. »Nein, laß mich! Ich möchte wissen, was dort passiert.« Ihre Worte klangen wie ein Befehl. Sie war jetzt ganz die junge Gräfin. Julie war vor Hilflosigkeit den Tränen nahe und mußte mit ansehen, wie das Mädchen zum Ort der Feierlichkeiten lief. So rasch sie ihre alten Beine tragen konnten, folgte sie ihr. Ilona rannte zur großen Treppe und versteckte sich in dem Schatten. Unten erblickte sie eine Versammlung festlich gekleideter Menschen, und vor ihr kniete zu Füßen eines Bischofs ein junges Paar. Sie wurde ganz aufgeregt, als ihr bewußt wurde, daß sie einer Hochzeit zusah, als sie feststellte, daß der Bräutigam niemand anderer als Imre Toth war, der junge ritterliche Mann,
mit dem sie gesprochen hatte. Wie verwirrend! dachte sie. Warum hatte er sie vor einer schrecklichen Gefahr gewarnt, wenn er sich hier ganz ruhig verheiraten ließ. Und was würde seine Braut denken, wenn sie wüßte, daß sich ihr neugebackener Ehemann heimlich mit einem jungen Mädchen verabredet hatte? Gleich nach seiner Hochzeit? Ilona spürte schmerzliche Eifersucht in sich aufsteigen, als sie die Braut ansah. Ihr Gesicht konnte sie nicht erkennen; sie war aber sicher schön, sonst hätte Imre sie nicht geheiratet. Sie bereute schon schmerzlich die Gedanken, mit denen sie zärtlich an Imre gedacht hatte. Julie stand jetzt schwer atmend neben ihr. Die Kinderfrau zog sie am Arm und flehte sie mit stummen Blicken an, mitzukommen. Ilona widersetzte sich ihr. Die Feierlichkeiten erreichten ihren Höhepunkt, und sie wollte zusehen. Imre nahm den glänzenden Ring, den Hauptmann Balogh ihm reichte. Gleichgültig steckte er ihn der Braut an die Hand. Er warf einen Blick auf ihr gebeugtes Haupt. Bald würde er sich von ihr und ihrer gräßlichen Burg befreien. Er würde durch die grünen Wälder reiten und zusammen mit der lieblichen Ilona die Freiheit genießen. Der Bischof über ihnen stimmte die letzten Gesänge an. Er hob die Hand zum segnenden Kreuzzeichen, um die Verbindung mit Gottes Zustimmung zu versehen, und die Gräfin hob das Gesicht und sah ihn an. Dem Bischof stockte die Stimme, und der Arm erstarrte ihm. Statt der strahlenden jungen Braut kauerte zu seinen Füßen ein widerlich häßliches altes Weib, die ihn wie ein Spottbild liebevoller Hingabe angrinste. Der Bischof atmete schwer vor Entsetzen, packte das schwere Kruzifix und rief Gott an, er möge ihn vor dem listenreichen Satan bewahren. Die Gräfin sprang mit einem enttäuschten Schrei auf und sah sich verzweifelt um. Die Gäste erblickten eine scheußliche Alte in den Brautgewändern, die eben noch von einer herrlichen jungen Frau getragen worden waren. Beim Anblick dieser Verwandlung schrie alles vor Verwirrung und Schrecken durcheinander, und man war sicher, den Leibhaftigen vor sich zu sehen. Die Bestürzung währte nur eine Sekunde, dann brach eine Panik aus, und man stieß sich gegenseitig bei der hastigen Flucht zu Boden. Die Gräfin begriff, was geschehen sein mußte und was zu tun
war. Sie war schon bei Dobi und riß ihm den Dolch aus der Scheide, bevor er sich bewegen konnte. »Wo ist sie?« schrie sie schrill. Dobi sah sie erschöpft an. Er wußte, das Spiel war aus. Ihr Geheimnis war offenbart, und jetzt würde die Strafe über sie alle kommen, wie er von Anfang an gewußt hatte. Es gab keinen Ausweg mehr. Es sei denn, man floh wie die Gräfin in den Wahnsinn. Die Gräfin ließ Dobi angewidert stehen, drängte sich an Imre und dem sprachlosen Balogh vorbei und stürzte sich mit hocherhobenem Dolch in die Menge. Die Gäste stoben vor ihr, der drohenden Waffe und dem Gesicht auseinander. »Wo ist sie?« heulte die Gräfin. Wie eine Wilde kämpfte sie sich den Weg frei. Blind vor Wut hackte sie auf alle ein, die sich ihr in den Weg stellen wollten. In ihrem Wahnsinn gab es nur noch eins, die Jungfrau finden und sich in ihrem Blut wälzen. Dann konnten die Feierlichkeiten fortgesetzt werden und sie würde Imre heiraten. Und wie in den Märchen, die ihr die Kinderfrau als Kind erzählt hatte, würden sie und ihr Mann glücklich bis an ihr Ende leben. Die Gräfin kam auf die Köchin Rosa zu, die abwehrend die Hand hob und dabei der Braut den Schleier vom Gesicht riß. Das zerfallende, verzerrte Gesicht war jetzt ganz deutlich zu sehen, und neue Entsetzensschreie füllten den Saal. Die Gräfin achtete nicht darauf und rannte auf die Kammern der Dienerschaft zu, wo frisches Blut auf sie warten mußte. Imre warf einen Blick in die Höhe und sah, was die Gräfin noch nicht wahrgenommen hatte - Julie und Ilona, die oben an der Treppe standen. Als er sie erblickte und bis ins Mark erschrak, änderte die Gräfin die Richtung und rannte auf die große Treppe zu. Imre stürzte sich ins Gewühl, um vor der Gräfin bei Ilona zu sein. Die Gräfin mußte lachen, als sie Julie und das Mädchen neben ihr erblickte. Die gute, treue Julie, dachte sie. Die Kinderfrau hatte das Pech ihrer Herrin gesehen und rasch für Abhilfe gesorgt. Siegessicher schwang sie den Dolch und eilte die Treppe hinauf auf ihre Rettung zu. Als die Gräfin näher kam, zog sich Julie wimmernd in den Schatten zurück. Sie hatte nicht die Kraft, den Zusammenstoß von Mutter und Tochter zu verhindern. Ilona sah der wild herbeis-
türmenden Gestalt eher neugierig als erschrocken entgegen. Die Gesichtszüge kamen ihr merkwürdig vertraut vor. Die wahnsinnige alte Frau kam näher, und dann wußte Ilona, wer es war. Erschrocken ging sie ihr ein paar Stufen entgegen. »Mutter?« flüsterte sie unsicher. Die Gräfin blieb stehen und die Hand mit dem Dolch schwankte. Sie sah das schluchzende Mädchen vor sich an. Die blauen Augen, die kleine Nase, die braunen Locken. Natürlich, das war ihre Tochter Ilona. Das Gesicht der Gräfin entspannte sich, und ein Lächeln stahl sich auf ihre entstellten Lippen. Ilona, ihre hübsche Tochter, war endlich heimgekehrt! Doch plötzlich stieß sie ein tierähnliches Knurren aus. Ilona? Wie war das möglich? Sie selbst war doch Ilona! Das Mädchen konnte nur eine Betrügerin sein, die ihr Imre stehlen wollte! Vor Zorn brüllend, stürzte sie sich auf Ilona. »Faß sie nicht an!« rief Imre und rannte hinter der Gräfin die Stufen hinauf. Er fürchtete zu spät zu kommen und warf sich mit einem verzweifelten Sprung die letzten Stufen hinauf. Der Dolch näherte sich schon Ilonas Hals, als Imre den Arm der Gräfin packte und den Stoß ablenkte. Die Gräfin verlor das Gleichgewicht und stürzte schwer gegen ihren Liebsten. Imre stöhnte auf, als er den Dolch in seine Magengrube dringen fühlte. Er blickte auf die Wunde und hätte fast lachen mögen. Er, der kein Blutvergießen ertragen konnte, mußte jetzt sehen, wie sein eigenes Blut die Stufen hinabfloß! Ilona schrie auf, als Imre in die Knie brach und das Blut aus ihm herausstürzte. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, und er blickte auf. Einen gequälten Augenblick lang sahen sie sich in die Augen, und beide wußten, was sie sich hätten sein können. Dann sank er um und rollte schwer die Stufen hinab, lag dann still. Balogh und die wenigen verbliebenen Gäste zogen sich entsetzt zurück. Die Gräfin sah von oben auf den stillen Körper hinab. Sie konnte kaum fassen, was sie getan hatte. Der Dolch entfiel ihren gelähmten Händen und klirrte auf den Marmor. Langsam wurde ihr bewußt, daß sie das einzige zerstört hatte, das sie noch geliebt hatte. Tränen strömten über ihr ausgemergeltes Gesicht. In ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen durcheinander, bis ihr waches Bewußtsein fast erloschen war. Die Gräfin sank müde auf die Stufen. Sie war so matt. In ihrem Alter sollte sie sich nicht
mehr so anstrengen, überlegte sie. Sie sah auf Imres Blut, das schon eintrocknete, und fragte sich, warum sie wohl vom Anblick der roten Flüssigkeit so aufgewühlt wurde. Wie hatte ihr Blut je etwas bedeuten können? Das Verlies der Burg Veres war dunkel und stickig, und der Boden war mit verfaultem Stroh bedeckt. Dobi und Julie lagen mit gesenkten Köpfen im Stroh. Sie sahen kaum auf und wurden von ihrer Schuld und den schweren Ketten, mit denen sie gefesselt waren, niedergedrückt. Die Gräfin saß bewegungslos unter dem winzigen, vergitterten Fenster. Ihre Augen waren stumpf, und nur ihr langsamer Atem zeigte, daß sie noch lebte. Von ihrer einst sagenhaften Schönheit war keine Spur zurückgeblieben. Der ganze Körper war mit eitrigen Bläschen übersät, und das lange Haar war grau und verfilzt. Ihre Glieder waren so abgemagert und geschrumpft, daß sie nur noch halb so groß wie früher aussah. Draußen hörte man eine Kutsche näherrollen. Die Gräfin richtete sich mit zitternden Beinen mühsam auf und stierte durch das Gitterfenster. Sicher jemand aus der Ferne, der sie besuchen kam, dachte sie. Die Straße zur Burg war von aufgeregten Dörflern gesäumt. Sie schienen fröhlich, aber ihre Freude hatte etwas Böses an sich. Sie waren so erregt, weil eine schwarze, offene Kutsche näher kam. In ihr saß ein großer, dünner Mann, der eine schwarze Kapuze über den Kopf gestülpt hatte. Durch zwei schmale Augenschlitze blickte er kühl auf seine Bewunderer herab. Es war der Henker, und auf seinem Schoß trug er einen schwarzen Kasten, in dem das Seil verstaut war, mit dem er die Blutgräfin aufknüpfen würde. Maryska sah dem Henker mit grausamer Freude nach und stapfte zur Burg hinauf. Dann stand sie unter dem kleinen Gitterfenster des Verlieses und schüttelte die Faust. Sie wußte nicht, ob sie gehört wurde, aber dennoch stieß sie endlose Flüche und Verwünschungen aus. Die Gräfin starrte mit glasigen grauen Augen aus dem Fenster. Unten sah sie eine Frau, die ihr anscheinend etwas zurief. Vielleicht einen Gruß, hoffte die Gräfin. Sie spitzte die Ohren, um die
Rufe zu verstehen. Ja, die Frau meinte sie. Sie konnte ihren Namen verstehen. Maryska hatte sich ihre Wut von der Seele geschrien und wollte wieder zu den anderen, um mit ihnen an dem Fest teilzunehmen. Die Gräfin blickte ihr nach, sank dann auf ihr Lager zurück und war froh, daß ihre treuen Dorfbewohner sie nicht vergessen hatten. Sie mochte ihren Namen. Er hörte sich edel an, und sie wiederholte ihn laut in der Finsternis: »Gräfin Dracula!«
ENDE