Jeff Long
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Jeff Long
Grauzone
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Jahrelang hat die Welt den jungen amerikanischen Wissenschaftler Nathan Lee Swift in einem abgelegenen tibetanischen Gefängnis vergessen. Aber dann bricht eine tödliche Seuche über die Menschheit herein – und plötzlich scheint es, als könne nur Nathan die drohende Apokalypse verhindern … »Jeff Longs Geschichten zu lesen ist wie eine Reise durch Dantes Inferno mit Stephen King als Reiseführer!« Library Journal ISBN: 3-442-35814-0 Original: »Year Zero« © 2002 by Jeff Long Deutsch von Gerald Jung Verlag: BLANVALET Erscheinungsjahr: 2003
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
BUCH
Die beiden Archäologen Nathan Lee Swift und David Ochs unternehmen eine gefährliche Expedition ins Himalaja-Gebirge. Dort wollen sie den eingefrorenen, vollständig erhaltenen Körper einer Neandertaler-Frau bergen. Als sie die Tote schließlich entdecken, kommt es jedoch zur Katastrophe: Ihr tief gläubiger tibetanischer Führer versucht alles, den Diebstahl des Leichnams zu verhindern – kurz entschlossen packt David Ochs den Mann und schleudert ihn wie ein lästiges Insekt in den tödlichen Abgrund. Doch damit nicht genug: Um den einzigen Zeugen seines Verbrechens zu beseitigen, stößt Ochs auch seinen Kompagnon Nathan in die Tiefe. Schwer verletzt rettet sich Nathan mit letzter Kraft ins Tal, nur um für den Mord an dem Sherpa lebenslänglich in ein abgelegenes tibetanisches Gefängnis gesteckt zu werden. Auf der griechischen Insel Korfu macht sich derweil der reiche Sammler Nikos an die genaue Untersuchung einer frühchristlichen Reliquie – er hofft, darin die sterblichen Überreste eines Heiligen, vielleicht sogar die Gebeine Jesu, zu entdecken. Doch als er das heilige Artefakt öffnet, findet er in ihm nicht Gott, sondern den Tod – und mit Nikos sterben die Menschen zu Abertausenden. Denn in dem Gefäß war eine uralte Seuche eingeschlossen, welche die Menschheit bereits vor langer Zeit einmal heimgesucht und beinah völlig ausgelöscht hat. Als die Epidemie schließlich Tibet erreicht, gelingt Nathan die Flucht. Auf abenteuerlichen Wegen hetzt er über China, Russland und die Arktis heim nach Amerika. Ihn treibt die Hoffnung, seine kleine Tochter Grace vor dem Tod retten zu können. Und außerdem will er endlich Rache an David Ochs nehmen. Bei seiner verzweifelten Suche stößt Nathan auf die junge, geniale Wissenschaftlerin Miranda Abbot, die nur ein einziges Ziel kennt: den Sieg über die tödliche Krankheit. Als Nathan ihr von der toten Neandertalerin erzählt, schöpft sie neue Hoffnung: Vielleicht enthält der Körper der Toten ja ein Antigen gegen die verheerende Seuche …
AUTOR
Jeff Long ist ein erfolgreicher Extrem-Bergsteiger, der seine eigenen Erfahrungen im Himalaja in seine Romane einfließen lässt. Jeff Long lebt in Boulder, USA.
Von Jeff Long bei Blanvalet außerdem erschienen: Im Abgrund. Roman (35619)
Für meinen Vater
Lieben und dulden, hoffen, bis der Geist Aus Hoffnungstrümmern schafft, was sie verheißt … Percy Bisshe Shelley, Der entfesselte Prometheus
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Prolog Falsche Engel JERUSALEM
Die klaffende Wunde zeigte ihnen den Weg. Nathan Lee Swift saß zusammen mit einem Dutzend handverlesener Erzengel angeschnallt im Bauch des Transporthubschraubers und blickte auf das wenige hinab, was übrig geblieben war. Das Erdbeben ließ sich vor allem an dem festmachen, was es nicht mehr gab. Städte und Dörfer hatten sich einfach in Staubwolken aufgelöst, selbst die Ruinen waren verschwunden. Die Landkarte war wie leer gefegt. Die Luft war heiß. Es war Sommer. Es gab keinen Horizont. Die Sandwüste verlief sich im Glast. Er fühlte sich an den Hünen gekettet, der neben ihm saß, David Ochs, sein ehemaliger Professor. Zuerst hatte er nicht weggehen wollen, und jetzt wollte er nicht mehr zurück. Nicht so. Sie flogen in exakt südlicher Richtung vom US- Stützpunkt in der Türkei und parallel zum Riftsystem. Wie ein riesiges Floß, das sich von der Küste losgerissen hatte, trieb Afrika von Eurasien weg. Vom Gesamtgeschehen her gesehen, war das nichts Neues. Satellitenfotos hatten den neuesten Riss in der Erdscholle kaum registriert. Selbst durch die zerkratzten Plexiglasscheiben des Helikopters wirkten die Verwüstungen nicht besonders aufregend. Die Erde hatte sich aufgetan und wieder geschlossen. Nathan Lee versuchte sich zu orientieren. Noch vor we6
nigen Wochen war er irgendwo dort unten gewesen, hatte im guten alten Aleppo fleißig Sand gesiebt und das Ende seiner Feldforschung angepeilt. Nun waren die Ruinen verschwunden, und mit ihnen seine Dissertation. Nur die Liebe – oder die Lust – hatte ihn vor der Katastrophe bewahrt. Hätte ihn Lydia Ochs nicht fünf Monate zuvor in einer märchenhaften Nacht in seinem Zelt besucht, wäre er womöglich in den Sandmassen umgekommen. So wie es aussah, hatte ihm die kleine Schwester des Professors mit ihrem fruchtbaren Schoß unbeabsichtigt das Leben gerettet. Sie war während der Wintersemesterferien unangemeldet mit ihrem Bruder nach Aleppo gekommen. Der Professor hatte nach seinen älteren Studenten gesehen, seine Stipendien festgeklopft, sich einen Tag hier, zwei Tage dort aufgehalten, und sie hatte ihn begleitet. Nathan Lee war ihr vorher noch nie begegnet. Er hatte angenommen, er sei für sie nur eine Zufallsbekanntschaft gewesen, eine Wüsteneroberung. Ihr Himalajastürmer im Sand. Aber dann hatte er ihren Brief bekommen. Sie saß zu Hause in Missouri und war im fünften Monat schwanger. Inzwischen war er seit zehn Tagen verheiratet, und alle seine neuen Familienangehörigen redeten von nichts anderem als von seiner wundersamen Rettung. »Wundersam« schien ihm ein zu großes Wort für etwas, das wohl weniger auf die Hand Gottes als vielmehr auf einen WonderBra, den Vollmond und eine Flasche alten Beaujolais nouveau zurückzuführen war. Aber er widersprach ihnen nicht. Er war immer noch benommen von der plötzlichen Veränderung. Der Trauring funkelte an seiner braunen Faust wie eine seltsame Wucherung. Fünfundzwanzig kam ihm so jung vor. Er musste doch erst noch sein Glück finden, sich einen Namen machen und die Welt bis in den hinter7
sten Winkel erkunden, wieder und immer wieder. Dabei war sein Spiegel nicht leer. Wenn er hineinblickte, sah er einen ernsten jungen Mann mit John Lennon-Brille, breiten Schultern und ein paar Haaren auf der Brust. Was fehlte, war Format. Er hatte das Gefühl, als hätten seine Moleküle immer noch nicht richtig zueinander gefunden. Vielleicht kam es daher, dass er zwei Jahre lang in fast völliger Einsamkeit im Sand gewühlt hatte, aber er hatte das Gefühl, als verschwänden seine Fußabdrücke, sobald er den nächsten Schritt machte, und auch sein Schatten bliebe nur ein verschwommener Umriss. Dass ihm der Orientierungssinn abhanden gekommen war, hatte etwas damit zu tun, dass seine rastlosen Eltern an zwei entgegengesetzten Enden dieses Planeten begraben waren: seine Mutter in Kenia, sein Bergsteigervater ausgerechnet in Kansas. Nathan Lee konnte überall hingehen, konnte sein, wer er wollte. Und jetzt musste er mit seiner Doktorarbeit wieder ganz von vorne anfangen, steckte bis zum Hals in Studiendarlehen. Obendrein war auch noch ein Kind unterwegs. Er hätte sich über die Schwangerschaft ärgern können, aber er war Anthropologe – und abergläubisch. Und es ließ sich nicht abstreiten, dass ihm das Kind schon einmal das Leben gerettet hatte. Der Name war fast zu schön, um wahr zu sein. Lydia hatte ihn ausgesucht: Grace. Gnade. »Sagt mal, Freunde«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Es war der Ingenieur des Sprengkommandos aus Bagdad; er trug einen silbernen Helm. »Was treibt eigentlich zwei amerikanische Anthropologen so eilig in ein Katastrophengebiet? Noch dazu mit Leichensäcken als einzigem Gepäck. Lasst mich raten: Forensiker?« Fünf Kisten voller Leichensäcke, mit Seilen an Bolzen im Boden festgemacht, standen zwischen ihnen im Durchgang, zwanzig Säcke pro Kiste. Die billigen Modelle wa8
ren aus weißem Vinyl, ohne Henkel, 14 Dollar das Stück. Die Leichensäcke hatten ihr Vorankommen auf unvorhergesehene Weise beschleunigt. Das Märchen von dem Hilfseinsatz war zu einer kleinen Legende geworden, dafür hatte Ochs gesorgt. Man hatte ihnen sogar die Luftfrachtgebühr erlassen und sie als kleine Aufmerksamkeit in die erste Klasse gesetzt. Die TWA ließ es sich nicht nehmen, den Flug von Heathrow nach Athen zu verzögern, damit die beiden Amerikaner ihren Anschluss nicht verpassten. Eine Stewardess mit sehr langen Beinen hatte eine geschlagene Stunde lang auf Nathan Lees Armlehne gesessen. Sie wollte schon immer Gutes tun. Sie waren so tapfer, so humanitär. Das ist nun mal unser Job, hatte Ochs zu ihr gesagt. »Wir sind Archäologen«, antwortete Ochs jetzt dem Ingenieur. Seine Schultern und Arme und sein falstaffmäßiger Bauch schienen jeden Moment das T-Shirt zu sprengen. Razorbacks stand darauf, darunter die Größe: XXXL. Die Leute in diesem Teil der Welt neigten dazu, den Hünen mit der World Wrestling Federation in Zusammenhang zu bringen. Seine Stimme übertönte das Dröhnen der Motoren. »George Washington University. Mein Fachgebiet ist biblische Archäologie bis inklusive Hadrianisches Zeitalter.« Es war eine jener Lügen, deren Wahrheit aus Weglassung bestand. Bis zum letzten Semester hatte Professor Ochs tatsächlich einen renommierten Lehrstuhl an der George Washington University innegehabt. Dann aber war er von seiner Vergangenheit eingeholt worden. Eines seiner Spielzeuge hatte eine Klage wegen Unzucht mit Abhängigen eingereicht. Ochs, den bereits Gerüchte über Kunstschmuggel belasteten, war untergegangen wie ein Stein. Also hieß es ab nach Jerusalem, mit seinem frisch gebackenen Schwager als Begleiter. Nathan Lee redete 9
sich ein, das Schlimmste bereits hinter sich zu haben. Aber dem war keineswegs so. Er gehörte nicht hierher, nicht in diesem Zusammenhang, nicht bei diesem Unternehmen. Er hatte das Gefühl, als würde er von einem Ertrinkenden in die Tiefe gezogen. »Biblische Archäologie …«, hakte der Ingenieur nach. »Das Projekt Jahr Null«, sagte er. »Die Suche nach Jesus Christus.« »Wir stehen mit denen in Verbindung«, erwiderte Ochs gelassen. »Aber Sie haben uns missverstanden. Das Projekt Jahr Null basiert auf exakter Wissenschaft. Es ist aus der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer hervorgegangen. Das Smithsonian und die Gates Foundation haben eine detaillierte Sammlung und Untersuchung zweitausend Jahre alter Artefakte und organischen Materials in Auftrag gegeben.« »Organisches Material.« Der Ingenieur war kein Dummkopf. »Pollenproben. Textilien. Knochen. Mumifiziertes Gewebe«, meinte Ochs achselzuckend. »Haut und Knochen«, sagte der Ingenieur. »Verstehe.« »Die Festlegung auf das Jahr Null war vollkommen willkürlich. Ein Zugeständnis an den westlichen Kalender.« »Ein Zufallsdatum.« Der Ingenieur lächelte nachsichtig. »Das Heilige Land zu Beginn der christlichen Zeitrechnung.« Wie viele andere levantinische Moslems, so war auch er irritiert. Die Kreuzzüge hatten nie wirklich aufgehört. Jetzt kämpfte der Westen mit Hacke und Spaten. »Das Datum kam der Öffentlichkeit entgegen«, fuhr Ochs fort. »Und den Spendenorganisationen. Lässt man die Meinungsverschiedenheiten und allen Aberglauben beiseite, sammeln wir lediglich Beweise für einen be10
stimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Dummerweise ist der Öffentlichkeit die Fantasie durchgegangen, deshalb haben wir jetzt diesen Unfug mit der Jagd nach dem historischen Jesus am Hals.« »Unfug?« Der Ingenieur heuchelte Erstaunen. »Überlegen Sie doch mal: Für die streng Gläubigen sind ›die Knochen Jesu‹ ein Widerspruch in sich. Wenn sein Körper zum Himmel aufgefahren ist, kann es keine Überreste geben. Und den Ungläubigen ist es sowieso egal.« Tatsächlich war die Ochsfamilie viel tiefer in den merkwürdigen Sitten und Gebräuchen der Pfingstlerbewegung, mit Schlangen im Gottesdienst, Zungenreden und dem ganzen Hokuspokus verwurzelt, als Nathan Lee je vermutet hätte. Kein Wunder, dass eine Abtreibung absolut nicht in Frage gekommen war. Die Hochzeit in Missouri war ihm wie eine Szene aus dem Bürgerkrieg vorgekommen: jede Menge Spitzenkleider, schwarze Anzüge und grobknochige, eingefallene Gesichter. »Und welcher davon sind Sie?«, fragte der Ingenieur. »Der Gläubige, der nicht glaubt, oder der Ungläubige, den es nicht interessiert?« »Fragen Sie meinen Studenten hier«, sagte Ochs ausweichend. »Er behauptet immer, Jesus sei wie eine Wurst.« Die schwarzen Augenbrauen des Ingenieurs verschwanden unter seinem Helm. Nathan Lee sagte auf Arabisch: »Manchmal geht mir meine Zunge durch.« »Wie eine Wurst! Was für ein Bild.« »Eine Menschenhaut«, sprang Ochs hilfreich ein, »voll gestopft mit Mythen und Prophezeiungen.« Das gefiel dem Ingenieur. »Und trotzdem beschäftigen Sie sich mit dem Jahr Null?« 11
»Der Professor borgt mich ab und zu aus«, sagte Nathan Lee. »Der Schwerpunkt meiner Doktorarbeit liegt auf Nord-Syrien, siebentes Jahrhundert. Ich erforsche das Verschwinden römischer Familien aus den so genannten Toten Städten. Sie waren wohlhabend und dort tief verwurzelt. Ihre Villen hatten Mosaikböden und Fenster mit Blick auf die Oasen. Und eines Tages waren ihre Bewohner plötzlich verschwunden.« »Gab es dort einen Krieg?«, fragte der Ingenieur. »Es gibt keinerlei Anzeichen von Gewalt, keine Ascheschichten.« Der Ingenieur zeigte auf die Landschaft unter ihnen. »Vielleicht ein Erdbeben.« »Die Villen sind stehen geblieben. Hirten haben sie in späteren Zeiten als Ziegenställe benutzt.« »Was ist dann passiert?« »Irgendeine Kleinigkeit wahrscheinlich, etwas, das ihren Lebensrhythmus gestört hat. Vielleicht eine Missernte. Oder ein Bewässerungskanal ist unterbrochen worden, oder es gab einen zu kalten Winter oder einen zu trockenen Sommer. Vielleicht eine Insektenplage. Oder eine Ratte mit einem Floh im Fell hat irgendeine exotische Grippe eingeschleppt. So eine Zivilisation ist etwas sehr Anfälliges.« Auf der anderen Seite des Mittelgangs rief jemand: »Damaskus!«, und alle schauten aus den Fenstern. Es sah nicht anders aus als Halab und Hims und andere Städte auf ihrem Weg. Ohne den Ring von Flüchtlingslagern hätte Nathan Lee aus dieser Höhe angenommen, die Stadt wäre schon seit Jahrhunderten unbewohnt. Sie sah aus wie tausend andere levantinische Tels, ein weiterer grauer Haufen aus Staub und Geschichte. »Allah irrahamhum«, stieß ein irakischer Physiker hervor. Gott erbarme sich ihrer. 12
Sie ließen den unerfreulichen Anblick hinter sich, und der Ingenieur nahm den Faden wieder auf. »Warum gerade jetzt, so kurz nach der Katastrophe?«, fragte er. »Und warum ausgerechnet Jerusalem?« Nathan Lee wich seinem Blick aus. Ochs antwortete für ihn. »Die schreckliche Wahrheit ist folgende«, bekannte er ernst. »Eine bessere Gelegenheit bietet sich selten. Jetzt, wo in der Stadt sozusagen alles auf dem Kopf steht, liegt die Vergangenheit offen vor uns. In gewissem Sinne sind wir hier, um eine Autopsie durchzuführen.« »Sie wollen in den Trümmern graben?«, erkundigte sich der Ingenieur. »Das ist sehr gefährlich. Die Nachbeben. Krankheiten brechen aus. Es ist schon fast sechs Tage her. Inzwischen dürften auch die Hunde ziemlich wild sein. Bevor die Räumkommandos nicht alles planiert haben, sind Sie dort unten nicht sicher.« »Genau deshalb haben wir es so eilig«, meinte Ochs. »Wir müssen dort sein, ehe Sie ganze Arbeit geleistet haben.« Der Ingenieur nahm es als Kompliment. »Natürlich«, sagte er. »Und die Leichensäcke?« »Ein kleines Geschenk«, sagte Ochs. »Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein«, sagte der Ingenieur zu Nathan Lee. »Peinlich?« »Es steht Ihnen ins Gesicht geschrieben.« »Machen Sie sich nichts draus«, meinte Ochs zu dem Ingenieur. Aber der Ingenieur war eine mitleidige Seele, und jetzt mochte er Nathan Lee. Er wies mit einer Handbewegung auf die anderen Passagiere. »Jeder von uns hat seine spezielle Begabung. Manche gehen los und bringen den Leu13
ten zu essen, manche verarzten sie, andere wiederum kümmern sich um die Toten. Ich mache die Zerstörung mit Bulldozern und Plastiksprengstoff perfekt, damit der Wiederaufbau beginnen kann. Und Sie sind hier, um aus den Knochen einen Sinn herauszulesen. Seien Sie stark, junger Mann. Viel Liebe ist erforderlich, will man hinter Gottes Rache irgendeinen Sinn erkennen.« Nathan Lee wusste nicht recht, wie er darauf reagieren sollte. »Danke«, sagte er. Als sie sich Israel näherten, wurde der Flug unangenehmer. Unberechenbare Luftströme fegten über den Sand hinweg; die Piloten versuchten vergebens, den schlimmsten davon auszuweichen. Die Rotorblätter peitschten auf die Thermik ein, diese schlug wütend zurück. Der Helikopter rüttelte und bockte und schlingerte heftig. Tief unter ihnen sprangen urplötzlich Wirbelwinde auf und malten kryptische Buchstaben in den Sand. Sie wichen seitlich aus, und die Piloten suchten nach einem Schlupfloch durch die Böen. Nichts zu machen. Wenn die Aufwinde sie nicht gerade der Sonne entgegenschleuderten, sackten sie in Luftlöcher und kämpften mühsam um Flughöhe. Fest angeschnallt durchlitten die Passagiere ihre brutale Ankunft im Heiligen Land. Nathan Lee empfand mit niemandem Mitleid. Sie gehörten nicht hierher. Es war die Idee des Professors gewesen. Nathan Lee drückte die Nickelbrille auf den Nasenrükken und schloss die Augen. Er dachte an Grace, und schon legte sich seine Übelkeit. Nach wem würde sie kommen? Äußerlich hoffentlich nach Lydia mit dem honiggoldenen Haar, dachte er. Er fand sich selbst unscheinbar. Sein Gesicht war hager, die Augen eng stehend. Er verstand immer noch nicht, warum Lydia in jener Nacht ausgerechnet 14
in sein Zelt gekommen war. Vielleicht war es der Vollmond gewesen, oder sie wollte einfach mal einen Nomaden auf ihrer Liste haben. Selbst bei den Exzentrikern, die dort draußen im Anthropologenlager hausten, war Nathan Lee berüchtigt. Man raunte sich zu, dass er das Wild mit Steinzeitwerkzeugen jagte und zerlegte. Er hoffte, dass ihre Tochter wenigstens ein bisschen von seinem Naturell abbekommen würde, ein wenig von seinem Roheisen in Ergänzung zu Lydias Quecksilber. Oder besser gesagt, ihre Säure. Die Flitterwochen waren vorbei. Seine heißblütige Wüstenprinzessin hatte sich abgekühlt und war ausgesprochen modern geworden. Wie es sich herausstellte, brauchte sie vierundzwanzig Stunden am Tag 110 Volt, und zwar für alles, angefangen vom Föhn bis hin zum Handy. Ihre Hochzeitsnacht hatten sie damit verbracht, über Geld zu diskutieren. Momentan steuerte sie gerade ihr BWL-Studium an, und er – Jerusalem. Schließlich kamen sie über die Golanhöhen und ließen die Wüstenströmungen hinter sich. Doch als sie in den großen, länglichen Trog des Toten Meeres hineinflogen, fiel Nathan Lee auf, dass die Zerstörung hier erst richtig anfing. Mittlerweile wusste jedes Schulkind aus dem Fernsehen, dass das Erdbeben 800 000 Megatonnen Energie freigesetzt hatte, 1.600 mal mehr als sämtliche Atomexplosionen zu Kriegs- und Friedenszeiten zusammengenommen. Tsunamis hatten den Gazastreifen komplett ausradiert. Tel Aviv lag wie das alte Alexandria versunken im Mittelmeer. Der See Genezareth war ausgelaufen und hatte den Jordan überflutet. Der Boden des Toten Meeres war fünfzig Fuß abgesunken. Seine Fluten reichten jetzt bis auf halbe Strecke an den Golf von Akaba heran. Der Frachtraum war nicht mit Klimaanlage ausgestattet. Nach und nach sanken sie zwischen den rohen Kalksteinwänden bis unter den Meeresspiegel hinab. Rechts und 15
links von ihnen endeten Straßen und Fußwege mitten in der Luft. Es war Frühling. Die Bäume waren saftig grün. Lämmer hüpften um ihre Mütter herum. Schließlich drehte der Hubschrauber nach Westen ab und stieg wieder aus den Tiefen auf. Vor ihnen lagen die Trümmer von Jerusalem. Im Gegensatz zu den syrischen Städten wand es sich noch im Todeskampf. Über den Ruinen hing schwarzer Rauch. Dort, wo Gasleitungen geplatzt waren, bohrten sich Flammensäulen in den Himmel. Ochs ließ eine gewaltige Bärenpranke auf Nathan Lees Knie fallen. Er war in Hochstimmung, Nathan Lee dagegen schockiert. »Harram«, murmelte Nathan Lee. Der Begriff bedeutete so manches in diesem Teil der Welt. Er bedeutete verboten oder Mitleid. Im klassischen Sinne bedeutete er Grab. Der Ingenieur hatte ihn gehört. Ihre Blicke begegneten sich. Aus irgendeinem Grunde gab er ihm seinen Segen: »Bewahren Sie sich Ihr reines Herz hier drinnen.« Nathan Lee schaute weg. Der Helikopter huschte über die Trümmerlandschaft hinweg. Weiße Zelte mit roten Kreuzen und roten Halbmonden blinkten unter ihnen. Dächer aus hellblauer UNPlastikfolie flatterten im Wind der Rotoren. Ohne Vorwarnung ging der Helikopter hinunter. Ochs klammerte sich an Nathan Lees Arm. Sie landeten unsanft neben der Südkuppe des Ölbergs. Niemand war da, um sie zu begrüßen. Die Samariter kletterten einfach in die unerträgliche Hitze hinaus, die auf der Straße über der Stadt stand; unter der Haube aus schwarzem Petroleumqualm war Jerusalem kaum zu sehen. Aus dem gelben Staub lösten sich israelische Kommandoeinheiten in Tarnanzügen und Felduniformmützen, 16
um sie nach Camp 23 zu geleiten. Die Kisten mit den Leichensäcken wurden ausgeladen. Ochs öffnete eine und holte ein paar Säcke heraus. Den Rest ließ er auf der Straße zurück und führte Nathan Lee von ihrem trojanischen Pferd weg. Der Trick hatte geklappt. Sie waren drin. Während Ochs seinen Jetlag ausschlief, wanderte Nathan Lee in Camp 23 und der näheren Umgebung herum, orientierte sich, brachte Gerüchte zum Schweigen und sammelte Informationen. Es waren nur noch wenige Stunden bis Sonnenuntergang. Vor sechs Tagen hatte es noch kein Camp 23 gegeben, und jetzt breitete es sich unförmig auf dem Abhang oberhalb des Olivet aus, dem Sammelpunkt für Palästinenser. Vor dem Erdbeben waren die Leute die gewundene Straße hinaufgefahren, um hier zu picknicken und auf ihre Stadt hinabzuschauen. Jetzt bevölkerten 55 000 Gespenster den Aussichtspunkt auf widerlichen schwarzen Qualm. Die ungewaschenen Überlebenden waren weiß vom Zementstaub. Die Stimmen der Zusammengedrängten zirpten in der Hitze wie Zikaden. Allah, Allah, Allah, jammerten sie. Frauen wehklagten. Sie streckten ihm ihre schmutzigen Hände entgegen. Nathan Lee mied wohlweislich ihre Blicke. Er fühlte sich elend, denn er hatte nichts für sie. Einige würden bald tot sein. Der Boden war aufgeweicht, nicht vom Regen, sondern von ihrem Urin. Die Cholera würde unter ihnen wüten. Alle Helfer sagten das. Zwei magere Rettungshelfer aus West Virginia liehen ihm zwei Helme. Beide Männer waren völlig erschöpft, einer trug seinen gebrochenen Arm in einer Plastikschiene. Ihr Kalender zählte nicht nach Tagen, sondern nach Stun17
den. Für sie hatte die Zeitrechnung in der Minute begonnen, als das erste Beben zugeschlagen hatte, vor 171 Stunden. Eine alte Faustregel besagte, dass nach den ersten 48 Stunden die Chancen, Leben zu retten, nur noch minimal waren. Sie hatten ihre Arbeit getan. Sie fuhren heim. Nathan Lee erkundigte sich nach Ratschlägen. »Der beste ist: nicht da runter gehen«, sagte der eine. »Man sollte sich nie mit den Göttern anlegen.« Aus seinen Worten sprach die Verachtung des Frontsoldaten für den Zivilisten. Wenn du dort nichts zu suchen hast, bleib weg da. Sein Partner meinte: »Was ist mit den Löwen? Hat man Ihnen nichts von den Löwen erzählt?« »Im Ernst?«, fragte Nathan Lee. Es musste sich um eine urbane Legende handeln. Hier gibt es Drachen. Der Mann spuckte aus. »Aus dem Zoo.« Der andere sagte: »Im Lager der Armenier haben sie eine Leiche gefunden. Völlig zerfetzt. Ein Bein fehlte. Das heißt, sie haben an uns Geschmack gefunden. Jetzt sind sie Menschenfresser.« Der Sonnenuntergang färbte den Qualm bronzegelb. Nathan Lee fand Ochs halb entkleidet in einem der Zelte auf einer Pritsche liegen. Er hatte Fotos von ihm als Linebacker gesehen, als er im Trainingsraum noch 400 Pfund gestemmt hatte, ein von Steroiden aufgepumpter Adonis. Nathan Lee blickte auf das bierbäuchige Wrack hinab. Schweiß glitzerte auf seinen graumelierten Brusthaaren. »Aufwachen!«, sagte Nathan Lee. Ochs kam ächzend zu sich. Holz und Segeltuch knarrten, als er sich von der Pritsche hochstemmte. »Wir haben einen Fehler gemacht«, sagte Nathan Lee. 18
»Es ist zu gefährlich. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang ist Ausgehverbot. Schießbefehl.« »Moment mal«, knurrte Ochs. »Wir sind mitten in einem Kriegsgebiet. Dort drüben hat keiner die Befehlsgewalt. Sie gehen sich gegenseitig an die Gurgel. Die Hamas und die Hisbollah und die SLA und die israelische Armee und die Kibbuzmilizen.« Ochs starrte ihn an. »Reiß dich zusammen, Swift. Was hast du denn erwartet? Neunkommaeins auf der Richterskala. Von hier bis Istanbul ist alles Rührei.« »Es gefällt mir nicht.« »Was heißt hier gefallen?« Ochs warf den Kopf von einer Seite zur andern wie ein Boxer beim Aufwärmen. Die Halswirbel knirschten. »Morgen um diese Zeit sind wir wieder auf dem Heimweg. Nimm’s als Grundlage fürs Studiengeld. Das von Grace«, fügte er hinzu, »nicht deins. Höchste Zeit, dass du mal über deine akademischen Ambitionen hinausdenkst.« Das ungeborene Kind war so etwas wie ein Faustpfand für Ochs. Nathan Lee wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Die Verschwörung von Bruder und Schwester fing an, ihm Angst zu machen. »Du brauchst mich doch gar nicht«, sagte er ihm auf den Kopf zu. »O doch«, widersprach Ochs. »Aber mach dir keinen unnötigen Kopf. Du bist jünger. Für dich ist noch einiges drin. Und jetzt los. Wir spielen im gleichen Team, mein Junge.« »Das hier ist kein Pokalspiel«, sagte Nathan Lee. »Wir überschreiten die Schwelle der Geschichte. Legenden. Alles, was wir tun, könnte die Geschichtsschreibung verändern. Es könnte ganze Religionen umkrempeln.« »Seit wann hast du zu Gott gefunden? Aber wie auch 19
immer, du hast Verantwortlichkeiten.« »Du selbst hast mir alles über die Unversehrtheit des Ortes beigebracht.« »Das war einmal.« »Du willst nur Rache.« »Ich will nur Geld«, erwiderte Ochs. »Was ist mit dir, Nathan Lee? Wird es dir hier drin nicht langweilig?« Sie gingen zum Verpflegungszelt. Es war überfüllt mit Katastrophenhelfern in verschiedenen Stadien der Erschöpfung, die ein babylonisches Sprachengewirr produzierten. Ihre Verpflegung war weitaus besser als die der Überlebenden. Statt Proteinriegeln und Wasserflaschen bekamen sie Lammeintopf und Kuskus und Süßigkeiten. Ochs marschierte ohne Umweg auf die Kaffeemaschine zu. Nathan Lee ging mit seinem Pappteller nach draußen und setzte sich auf den Boden. Ochs spürte ihn dort auf. »Kein Hin und Her mehr. Entweder ja oder nein.« Nathan Lee sagte nicht ja. Aber er sagte auch nicht nein. Mehr brauchte Ochs nicht. Als der Mond aufging, verließen sie Camp 23. Sie trugen Baumwollschutzmasken, Rotkreuz-Westen, die geliehenen Helme und Dschungelstiefel aus der Vietnam-Ära. Die Sohlen waren zum Schutz gegen angespitzte Bambusstecken mit Metallplatten versehen. Ochs hatte sie in einem Armeeladen in der Nähe von Georgetown entdeckt. Theoretisch waren die Camps zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zugesperrt. Nathan Lee hatte jedoch erfahren, dass Camp 23 trotz des vielen Stacheldrahts, trotz Sandsäcken und trotz der grimmigen Israeli20
Fallschirmjäger am Eingang gar keine Rückseite hatte. Das Tor war lediglich Show. Nathan Lee und Ochs marschierten einfach den Abhang hinab, und das Lager versank hinter ihnen in der Dunkelheit. Sie ließen die Scheinwerfer, Dieselgeneratoren und Kantinenschlangen hinter sich. Im Dunkel rings um das Lager kamen sie an den Wahnsinnigen und Sterbenden vorbei. So ähnlich stellte sich Nathan Lee den innersten Kreis der Hölle vor. Der Berghang fiel sanft ab, immer wieder von Terrassen unterbrochen. Nathan Lee ging voran. Es erinnerte ihn an die Wanderungen mit seinem Vater im Himalaja und in der Bergwelt von Chamonix. Bergsteiger nannten so etwas einen alpinen Aufbruch. Man brach bei Nacht auf, wenn der Berg schlief. Dabei wurden andere Sinne geschärft: Nachtsehvermögen, verschiedene Arten des Hörens, ein Gefühl für die Bewegungen unter den Füßen. Die Welt verlor dort draußen ihre Begrenzungen, verlief sich im Nichts. Tiefe Fugen in der Erde knackten wie Knochen. Der Pulsschlag der Unterwelt unter deiner Haut. So fühlte es sich heute Nacht an. Ochs’ schwere Schritte dröhnten auf dem Boden. Selbst die Sterne vibrierten. Nathan Lee blickte über den widerlichen Qualm hinweg. In der Ferne war es dem riesengroßen weißen Mond gelungen, sich aus dem Meer zu befreien. Er hatte ihn noch nie so groß und so klar gesehen. »Langsam«, sagte Ochs. Nathan Lee hörte, wie er hinter ihm keuchte, und das bergab. Kein gutes Zeichen. Ihre Nacht hatte kaum begonnen. Der Mann hörte sich an wie ein schnaubendes Pferd. Nathan Lee wartete nicht, aber er ließ den Abstand zwischen ihnen auch nicht zu groß werden. Sie stapften vorwärts, ohne Licht zu machen, Nathan 21
Lee vorneweg. Ochs war schwerfällig, verlangte eine Pause. Nathan Lee ließ ihn dreimal darum bitten, dann gab er nach. Ochs holte ihn ein und setzte sich auf einen Felsbrocken. Er verfluchte seine Fußballknie und Nathan Lees forschen Schritt. »Ich weiß, dass du mich fertig machen willst. Aber daraus wird nichts«, knurrte er. Sie gingen weiter abwärts durch Feigen- und Pistazienhaine mit dicken Knospen. Die Zweige der Olivenbäume sahen verkrampft und wie gefroren aus. Sogar durch die Maske roch Nathan Lee die Blüten, die wie Christbaumschmuck glitzerten. Ihr Duft konnte den Geruch von verdorbenem Fleisch, selbst aus dieser Entfernung, nicht überdecken. Sie drangen in die ölige Qualmschicht ein. Der Mond schrumpfte zusammen und verfärbte sich braun. Weiter unten durchquerten sie einen christlichen Friedhof mit umgekippten Grabsteinen und Kreuzen. Schließlich erreichten sie die untere Seite der Qualmwolke und standen plötzlich vor den Mauern der Altstadt. Unter dem grauen Baldachin war alles anders. Grüne und orangefarbene Leuchtfeuer zerschnitten den tiefhängenden Himmel. Man konnte sie durch den schwarzen Dunst emporschießen und dann langsam wieder aus dem trüben Himmel zurückfallen sehen; bei Nacht wirkten die Gasflammen wie biblische Feuersäulen. Nathan Lee sah Ochs an, dessen weiße Maske an der Schnauze mit Ruß verschmiert war. Er sah aus wie eine Hyäne, die in der Asche herumschnüffelt. Das ewige Jerusalem lag wie platt getreten vor ihnen. Da es auf einem ansteigenden Hügel erbaut war, konnten sie über die Mauern hinweg in die oberen Bezirke schauen. Auf den ersten Blick wirkte die Stadt wie ein großer zusammengeschmolzener Klumpen. Dann nahm Nathan Lee Einzelheiten zwischen den Ruinen wahr. Anstelle der 22
Straßen verliefen Arterien, und in den Arterien bewegten sich Lichter. Hassgefühle aus Urzeiten hingen in der Luft. Hier und dort sah man die Bögen von Leuchtspurgeschossen zwischen den platt gemachten Häusern hin- und herwechseln. Dort drinnen war jeder auf sich selbst gestellt – Miliz, Sekten, Rebellen und Raubtiere. Nathan Lee hatte Angst. Was er verspürte, war nicht der kontrollierte Adrenalinstoß, den man sich beim Bergsteigen holen konnte. Es war heimtückischer, verheerender. Und es gab noch einen anderen Unterschied. Bald schon würde er Vater einer Tochter sein. Aus irgendeinem Grund machte ihm das etwas aus. Sein eigenes Leben zählte jetzt mehr. In der Ferne schwebte die Kuppel des Felsendoms über der zerfetzten Skyline. Er hatte dem Beben standgehalten. Der Anblick hatte eine seltsame Wirkung. Bei Erdbeben war es eigenartigerweise oft so, dass die neuen Bauten zusammenfielen, während alte Gebäude stehen blieben. Die Kathedrale von Mexiko City war so ein Beispiel, ebenso die Hagia Sophia in Istanbul. Und die Moschee auf dem Tempelberg offensichtlich auch. Die Kuppel leuchtete im flackernden Licht wie ein goldener, zur Erde gestürzter Mond. Langsam stiegen sie ins Kidron-Tal hinab und wanderten dann wieder bergauf, bis sie sich am Fuß der Mauer befanden. Diese ragte hoch über ihnen auf. Ochs schlug mit der flachen Hand gegen die gewaltigen Kalksteinquader. »Wir sind da«, sagte er. »Spürst du es auch?« Sie folgten der Mauer bis zum südlichsten Punkt und von dort aus nach Westen, wo auf der anderen Seite die schlimmsten Gefechte tobten; in den jüdischen und muslimischen Bezirken hinter der Mauer knallte und krachte es ohne Unterbrechung. 23
Zwanzig Minuten später standen sie vor einem eingestürzten Kloster, kurz darauf erreichten sie das Ende der Südmauer. Dort machten sie eine Rechtswendung an der ursprünglichen byzantinischen Stadtmauer entlang. Die Außenbezirke waren völlig verwüstet; ausgebrannte Hochhauskadaver ragten schräg aus Schuttbergen hervor. In diesem Teil der Stadt waren die Bulldozer noch nicht gewesen, denn sämtliche Straßen waren nach wie vor verschüttet. Nathan Lee hielt sich stattdessen an die undeutlichen Fußspuren zwischen den Trümmern; es war kaum mehr als eine Wildfährte. Der von Füßen oder Pfoten hinterlassene Trampelpfad leuchtete schwach. Die Altstadt selbst betraten sie durch das Jaffa-Tor. Als Erstes legten sie ihre Verkleidung ab. Innerhalb der Mauern waren Katastrophenhelfer leichte Beute für Heckenschützen. Also weg mit den Rotkreuz-Westen und den Schutzmasken. Ochs’ Gesicht war bereits mit Tarnfarbe beschmiert. Moderner Schutt wich altertümlichen Trümmern. Die Trampelpfade zogen sich kreuz und quer durch die heillose Wüstenei, und es gab Dutzende von Weggabelungen. Ochs machte hin und wieder Vorschläge, beugte sich aber jedes Mal Nathan Lees Instinkt. Nathan Lee fühlte sich hier zu Hause. Er vertrat die Theorie, dass ein Fremder im Chaos immer im Vorteil ist. Er kann nicht vom Weg abkommen, sondern ihn nur finden. Leute, die hier geboren und aufgewachsen waren, suchten automatisch nach den bekannten Straßenecken und Ladenfassaden. Für ihn gab es keine derartigen Orientierungspunkte. Ruinen waren auf der ganzen Welt gleich, ob alt oder modern. Der Schlüssel lag in deinem Kopf. Fang immer am Anfang an. Das hatte er von seinem Vater, dem Bergführer gelernt. 24
Den Rest hatte er von seiner Mutter, der Herrin der Affen. Anstelle von Brüdern und Schwestern war er mit Pavianrudeln in der Wildnis aufgewachsen. Wenn du etwas genauer kennen lernen willst, pflegte sie zu sagen, begib dich hinein. Sie und ihr Bergsteigergatte waren Produkte ihrer Generation, voller Reiselust und kleiner Zensprüche und Selbstverwirklichung. Sie hatten ihn dazu erzogen, Welten innerhalb der Welt zu sehen. Ochs stolperte immer wieder. Ihre Füße verfingen sich in Telefonleitungen und karierten Palästinensertüchern. Kalksteinblöcke rutschten unter ihnen weg. Zweimal hätte sich der Professor fast an abgebrochenen Eisenstangen oder Kupferrohren aufgespießt. Er brauchte häufigere Verschnaufpausen. An Altem und Neuem kamen sie vorbei. Neben einem zerquetschten Toyota lagen die Überreste eines von Raubtieren zerfetzten Pferdes. Minarette versperrten ihnen den Weg wie umgekippte Weltraumraketen. Fünf- und sechsgeschossige Wohnhäuser waren einfach in sich zusammengefallen, und Nathan Lee stakste in kleinen TVAntennenwäldern herum, die aus den früheren Dächern herauswuchsen. Sie erschraken, als urplötzlich eine alte Frau aus dem Dunkel auftauchte. Nathan Lee sah zum ersten Mal, dass Ochs einen Revolver besaß, ein kleines billiges Ding. Er richtete ihn auf sie. Sie fluchte auf Russisch und huschte weiter. »Wo hast du den denn her?«, flüsterte Nathan Lee. »Wir müssen sie aufhalten«, sagte Ochs. »Sie lässt uns auffliegen.« »Sie ist verrückt. Hast du ihre Augen nicht gesehen?« »Du führst uns im Kreis herum«, knurrte Ochs. Mit seinem niedrigen Blutzucker und dem Jetlag wurde er lang25
sam gefährlich. Nathan Lee brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Ochs stieß ihn an, dann hörte – oder spürte – er es auch. Die Schwingungen krochen durch die Knochen in Nathan Lees Beinen hinauf. Die Ruinen bebten. Es kam jemand, eine Patrouille, eine Bande oder Miliz. Killer. Engel der Nacht. Ihre Schritte ließen die Erde erzittern. Sie verschwendeten keine Zeit darauf, ihre Entfernung abzuschätzen. Er rannte einen Abhang aus zusammengepresstem Schutt hinauf und hüpfte von einem Mondschatten zum nächsten. Ochs folgte ihm grunzend mit schweren Stiefeltritten, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. Nathan Lee sah die Pistole in seiner Faust, ein silbernes Spielzeug. Als er den Gipfel des Trümmerberges erreicht hatte, blieb er stehen. Ihnen zu Füßen stand die Grabeskirche. Sie hatten den christlichen Teil der Stadt erreicht. Nathan Lee war schon einmal hier gewesen. Diese Gegend beherbergte eigentlich viele Orte. Kreuzfahrertürme drängten sich um byzantinische Kuppeln, erbaut auf den Ruinen eines römischen Venustempels. Hier waren die legendären Stationen des Todes Christi unter einem Dach vereint, vom Kalvarienberg bis zum Auferstehungsgrab. Einige der äußeren Gebäude waren eingestürzt, aber das meiste war noch intakt, selbst die kleinen Kreuze auf den Kuppeldächern. Ochs schloss zu ihm auf und sah die Kirche. Er schnappte nach Luft. »Siehst du?«, schnaufte er. »Siehst du?« Dann hörte Nathan Lee von unten Stimmen. Wortlos duckte er sich in einen Hohlraum, wo der Schutt abgesackt war. Ochs quetschte sich neben ihn. 26
»Völlig unangetastet!«, schwärmte Ochs. »Genau wie wir’s auf CNN gesehen haben.« Nathan Lee duckte sich tiefer in den Schatten. Er drückte den Wangenknochen an eine feste Platte und legte die Fingerspitzen an eine Stahlbetonkante, die aus den Trümmern hervorragte. Die Schritte kamen näher, die Erschütterungen wurden stärker. Ochs stank vor Schweiß. Dann tauchten sie auf, jedenfalls ihre Schatten. Er sah Umrisse, keine Menschen, die auf die noch aufrecht stehenden Mauern zuflossen. Er sah Gewehre glänzen. Sie stapften durch die Ruinen wie stumme Maschinen. Ochs’ Augen waren weiß und wirkten riesig in dem dunklen Versteck. Sein Unterkiefer war mit schwarzen und olivfarbenen Tigerstreifen bemalt. Er hob seinen Revolver. Die Killer zogen vorbei. Ochs erhob sich. »Los, weiter.« Nathan Lee blieb auf Händen und Knien hocken. »Da unten ist irgendwas«, sagte er. Das Ding ragte neben Ochs’ Stiefelkappe aus dem Boden. Zuerst dachte Nathan Lee, es wäre ein winziger aus Ton gebrannter Baum, der da aus dem Schutt wuchs, 20 Zentimeter hoch, mehr nicht. Er beugte sich näher hin, um zu sehen, was es war. Dann stöhnte er vor Schreck auf. Es war eine Hand. Die Zweige waren Finger, die verdorrt herabhingen. Das Handgelenk war schmal, es trug eine Damenarmbanduhr. Die Nägel an den langen wohlgeformten Fingern waren rubinrot lackiert. Der goldene Ehering glänzte wie neu. Er wünschte, es wäre die Hand einer Schaufensterpuppe. Aber er wusste, dass es nicht so war. »Sieh doch«, sagte Nathan Lee. 27
Ochs schaltete seine Lampe ein. »Eine Frau.« Sie hatten den Tod schon die ganze Nacht über gerochen, der Geruch stieg aus den Ruinen auf. Dabei hatte Nathan Lee schon geglaubt, sie würden davonkommen, ohne Leichen zu sehen. »Na schön, du hast eine gefunden«, sagte Ochs mit gedämpfter Stimme. »Und jetzt weg hier.« Nathan Lee blieb knien. Die Leuchtspuren illuminierten den Hügel rot und grün. Die Hand hing schlaff, der Zeigefinger war leicht weggestreckt, wie auf Michelangelos Gemälde, auf dem Adam von Gott den Lebensfunken empfängt. Die hübsch bemalten Fingernägel waren an den Spitzen abgebrochen und mit Erde verkrustet. Sie hatte sich damit aus ihrem Grab herausgewühlt. Das gab ihm zu denken. Sie hatte nicht aufgeben wollen. »Hörst du dieses Kratzgeräusch?« Seit sie die Stadt betreten hatten, waren diese Geräusche aus dem Boden zu ihnen heraufgedrungen. Murmeln, Schreie, Klopfen, Kratzen. Sie hatten es gut hingekriegt, so zu tun, als wäre es nur die Stadt, die sich in ihrem eigenen Schutt zurechtrückt. Jetzt konnte Nathan Lee nicht mehr so tun. »Du hast Halluzinationen«, sagte Ochs. Er reckte sich höher auf. »Sie ist tot. Die Stadt kannst du abschreiben. Komm schon!« Nathan Lee hielt sein Ohr an den Boden. Dort unten kratzte irgendetwas. Vielleicht waren es Steine, die aneinander rieben. Oder Fingernägel, die vorsichtig an der Erde entlangfuhren. »Hunde«, sagte Ochs. »Die versuchen sich da hineinzugraben. Oder Hauskatzen. Die sind noch schlimmer, hab 28
ich gehört. Machen sich mit Vorliebe über die Gesichtsmuskeln her.« Nathan Lee fing an, Steine beiseite zu heben. »Was treibst du da?« »Vielleicht ist ihr Kind da unten«, sagte Nathan Lee. »Hast du den Verstand verloren? Ihr Kind?« »Könnte doch sein.« Nathan Lee zog einen Brocken weg, aber ein anderer rutschte an seine Stelle. Er versuchte es mit einem anderen, und der Schutt verschob sich wieder. Es war wie ein Puzzle, das sich weigerte aufzugehen. Die Trümmer wollten nichts und niemanden hergeben. »Du kannst doch nicht ändern, was passiert ist«, sagte Ochs. »Wir sind schon genug in Gefahr.« Ein Maschinengewehr ratterte in der Ferne. Nathan Lee hob ihre Finger mit seiner Handfläche an. Sie waren beweglich, noch nicht ganz kalt. Er drückte sie sanft. »Verdammt noch mal. Fühl den Puls«, sagte Ochs. »Mach hin!« Er langte hinüber und hielt den Finger an die Innenseite des Handgelenks. Die Finger zuckten. Die Hand umklammerte die von Nathan Lee. »Großer Gott!«, keuchte er heiser. Er wollte loslassen, aber sie hielt ihn fest. Ihr Griff ließ nur langsam nach. Nathan Lee starrte seine Hand an. »Eine Nervenkontraktion«, sagte Ochs. »Woher willst du das wissen?« »Bei toten Fröschen ist das genauso.« Ochs knetete das Handgelenk, und die Hand ballte und öffnete sich wie bei einer hirnlosen Puppe. »Hör schon auf«, sagte Nathan Lee und griff noch einmal nach ihrer Hand, aber diesmal reagierte sie nicht auf seine Berührung. Er legte die Finger an ihr Handgelenk. 29
War das ein Puls oder Vibrationen aus der Erde? Die Wärme – war das noch Restwärme vom Tageslicht? Er begann wieder, an den schweren Steinen herumzuzerren. »Hilf mir«, sagte er. »Wir können nicht hier bleiben«, brummte Ochs. »Wenn uns die Nachbeben nicht umbringen, dann bestimmt die Tiere oder die Soldaten. Du findest dein Gewissen nicht hier im Dreck wieder, weißt du.« Weit entfernt schrie ein Mann, vor Kummer oder von einer Kugel getroffen oder wahnsinnig geworden. Es hörte abrupt wieder auf. »Geh schon«, forderte ihn Nathan Lee auf. »Da ist deine Kirche. Ich bleibe hier. Ich gehe nicht ohne sie weg.« »Ich brauche dich da unten«, erklärte Ochs. »Der Schacht ist tief.« Was für ein Schacht?, fragte sich Nathan Lee. Außer dem Namen der Kirche hatte Ochs ihm nichts verraten. »Dann hilf mir«, wiederholte er und zog an einem anderen Stein. »In Ordnung«, erwiderte Ochs. »Aber zuerst hilfst du mir. Wir gehen in die Kirche und holen uns, wozu wir hergekommen sind. Es dauert nur eine halbe Stunde. Danach kannst du wieder herkommen und für deinen Seelenfrieden buddeln.« Seine Zähne glitzerten rot und grün. »Und du wirst mir dabei helfen!«, fuhr ihn Nathan Lee an. »Ja. Wenn irgendjemand fragt, was wir in dem Leichensack haben, sagen wir die Wahrheit. Menschliche Überreste.« Noch ein Hinweis, dachte Nathan Lee. Menschliche Überreste. Er markierte den Rand der Mulde mit einem Bergstei30
gerzeichen, ein paar aufeinander geschichteten Steinen. Dann führte er Ochs den Geröllhaufen hinab in den Hof aus ebenen Steinplatten. Eine der großen Holztüren war aufgesprungen. Sie traten aus dem Chaos in relative Ruhe und Ordnung. Hier und da waren Dachziegel geborsten, bunte Glasstücke knirschten unter ihren Füßen, auf dem Boden lagen verbogene Kerzen. Ansonsten schien der Innenraum unversehrt. Wie in einem Traum wanderten sie zwischen den Altären und den dunklen Ikonen umher, die die Wände säumten. Die Apsis war größer, als er sie in Erinnerung hatte, aber das lag daran, dass die Pilger fehlten, die sich sonst hier drängten. Sie waren von Pfeilern und Bögen umgeben. Flackerndes Licht erleuchtete die übrig gebliebenen bunten Mosaike. Keine Seele hielt diesen sicheren Zufluchtsort besetzt. »Was hab ich dir gesagt«, meinte Ochs. »Alles unsers.« Die Ruhe hier drinnen entspannte ihn. »Das Grab Jesu«, verkündete er und ging auf einen viereckigen Umriss in der Mitte der Apsis zu. Der Marmor war blank von jahrhundertelangen Berührungen und Priesterküssen. Im Innern des kleinen Bauwerks, das wusste Nathan Lee, befand sich ein winziges Gitter, das einen dürftigen Blick auf ein Stück Felsen freigab. Er erinnerte sich, dass der Stein mit weißen und rosafarbenen Wachstropfen bedeckt war. Sollte das Ochs’ Souvenir werden? Das würde die Hämmer und Meißel erklären. Aber nicht den Hinweis auf die »menschlichen Überreste«. »Hinter was sind wir eigentlich her?«, fragte Nathan Lee. Dieser Ort verwirrte ihn. Steintreppen führten mal aufwärts, mal abwärts. Im Lichtkegel seiner Taschenlampe 31
pendelten metallene Kerzenleuchter leise an schweren Ketten. Die Erde war immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Ochs ließ sich Zeit. Er steuerte auf einen bestimmten Bereich der Kirche zu, und Nathan Lee folgte ihm. Ein horizontales Fenster bot einen Ausblick auf einen unförmigen Felsblock. »Der Kalvarienberg«, intonierte Ochs. »Golgatha auf Aramäisch. Angeblich die Höhle von Adams Schädel. Und der Berg, auf dem Christus starb.« »Ich hab die Tour auch mitgemacht«, konterte Nathan Lee. Der Felsen war rund zwölf Meter hoch und bestand aus cremefarbenem Kalkstein, auch bekannt als mizzi hilu oder Weichstein, sehr beliebt in der Eisenzeit. Diesen Steinklumpen hatte man nicht abgetragen, weil er in der Spitze einen Sprung aufwies, der lange vor der christlichen Zeitrechnung entstanden sein musste. War das Ochs’ Memento, ein Stück vom Felsen Christi? Aber welches Museum würde so etwas ankaufen? »Sieh mal, wie klein die Spitze ist«, stellte Ochs nüchtern fest. »Da ist kein Platz mehr für die beiden Kreuze der Diebe, oder? Und steil. Hast du die Ausschnittzeichnung von Gibson und Taylor gesehen? Es hängt auf der Rückseite sogar über. Vielleicht käme ein Kletterer wie du mit einem Kreuz auf dem Rücken den Hang hinauf. Aber ein Mann, den sie schon halb tot gepeitscht haben? Angeblich hat so ein gezimmertes Kreuz an die zwei Zentner gewogen. Selbst wenn Jesus nur den Querbalken tragen musste, wäre es immer noch ein halber Zentner oder mehr gewesen.« Ochs redete weiter. »In den Evangelien steht nichts davon, dass Jesus auf einem Berg gekreuzigt worden ist, dort ist nur von einem topos oder Ort die Rede. Nach Hiero32
nymus war die Bezeichnung golgatha ein gebräuchlicher Name für Kreuzigungsstätten. Der Schädel bezog sich auf die nicht beerdigten Überreste. Kein Wunder, dass die Gelehrten den Ort übersehen haben. Mir ging es nicht anders.« »Für so was haben wir keine Zeit, David.« Nathan Lee sah sich nach irgendetwas Kostbarem um, das man wegtragen konnte, aber in seinen Augen war alles nur billiger Nippes. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, was Ochs hier wollte. »Eins ist sicher«, sinnierte Ochs weiter. »Wo auch immer Golgatha gewesen sein mag, es muss jahrelang für Tausende anderer Hinrichtungen hergehalten haben. Varus hat im Jahr 4 v. Chr. 2000 Gegner gekreuzigt, Florus kreuzigte fast doppelt so viele zu Beginn des ersten Judenaufstands. Ein paar Jahre später hat Titus 500 Mann pro Tag kreuzigen lassen. Da kommt was zusammen. Aber hast du dich jemals gefragt, wo die Überreste all dieser Toten geblieben sind? Hätten nicht ein paar dieser Schädel und Knochen übrig bleiben müssen? Bei all unseren Ausgrabungen rings um Jerusalem haben wir nur ein einziges Skelett eines Gekreuzigten gefunden.« Nathan Lee kannte das Skelett – sogar namentlich. Yehochanan, einsfünfundsechzig groß und 25 Jahre alt. Möglicherweise war er ein Aufständischer gewesen. Möglicherweise hatte man seine kleine Tochter vor seinen Augen umgebracht, als er am Kreuz hing. Jedenfalls hatten sie ihre Knochen vermischt mit seinen gefunden. Ein Nagel, den man ihm quer durch die Ferse getrieben hatte, war stecken geblieben. Man hatte ihn damit nördlich der Stadt begraben. Einen Moment hörte Nathan Lee ohne es zu wollen interessiert zu. »Die Knochen wurden umgebettet, als man die alte Stadtmauer erweiterte«, sagte er. »Nach dem Ge33
setz der Halacha mussten Kadaver, Gräber und Gerbereien mindestens 50 Ellen von der Stadt entfernt sein.« »Das ist allgemein bekannt«, erwiderte Ochs. »Aber die Juden haben die Erweiterung der Stadt nicht vorgenommen, nicht wahr? Damals waren die Römer am Drücker. Und die haben sich einen Dreck um hebräische Bestimmungen geschert.« »Dann sind die Knochen eben zu Staub verfallen. Keine Ahnung. Sie sind jedenfalls weg. Was soll’s?« »Mein lieber Mann!«, meinte Ochs missbilligend. Jetzt fügte sich alles zusammen. »Es gibt doch Überreste?«, fragte Nathan Lee. »Direkt unter unseren Füßen.« »Aber davon hätte ich etwas gehört.« »Man hat sie erst vor einem Monat entdeckt«, sagte Ochs. »Ein Team vom Studium Biblicum Franciscanum. Vom Vatikan geschickt. Du weißt doch, wie geheimnistuerisch die sind.« »Wie hast du es dann herausbekommen?« Ochs rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Der schnöde Mammon. Ich weiß, du denkst, du stehst über solchen Dingen, Nathan Lee. Aber auch du hast deinen Preis.« Nathan Lee wurde rot. Ochs ging voraus, mehrere Steintreppen hinunter, durch eine Kapelle, dann weiter bis zu einem mit einem u-förmigen Fahrradschloss aus Titan verriegelten Tor. »Die Höhle der Legende vom Kreuz«, sagte er und richtete den Strahl seiner Taschenlampe in die Tiefe. Der Legende zufolge war das echte Kreuz hier im Jahre 327 von der frisch konvertierten Mutter Kaiser Konstantins gefunden worden. In gewissem Sinne war sie die erste 34
Archäologin gewesen, die hier herumgewühlt, Artefakte ausgegraben und die einzelnen Bruchstücke der Passionsgeschichte zur Geschichte vom Tode Jesu zusammengesetzt hatte. Sie hatte diesen Felsen zu Golgatha und irgendein Grab zu dem Grab erklärt und bestimmt, dass man das Kreuz Jesu in dieser Höhle hier vergraben habe. Das hölzerne Kreuz war schon lange nicht mehr da, denn zweimal hatten es sich muslimische Eroberer unter den Nagel gerissen, zuerst die Perser, dann der große kurdische Krieger Saladin. Jedes Mal war es wieder aufgetaucht, um anschließend von frommen Christen zu Zahnstochern zerkleinert zu werden. Wenn dieser »Christbaum« überhaupt jemals existiert hatte, so war er inzwischen in Reliquienkästen über die ganze Welt verstreut. Ochs rüttelte am Gitter und griff in seinen Rucksack. Er versuchte es mit einem Dietrich, aber das Fahrradschloss hielt ihm stand. Der Professor sah aus wie eine riesige Ratte, die an der Tür knabbert. »Den Meißel, mach schon!«, sagte er. Nathan Lee inspizierte seine eigene Tasche. Die Bolzen an den Scharnieren taugten nicht viel, also schlug er ihnen einfach die Köpfe ab, und die Tür ging problemlos auf. Gleich von der obersten Treppenstufe aus roch Nathan Lee, dass hier erst kürzlich gegraben worden war. Sie stiegen in einen Raum mit einem Altar an einer Wand hinab; daneben gähnte ein enger Tunnel. Der Boden der unterirdischen Kapelle war mit Erde bedeckt, auf Planen aufgeschichtet. Siebkästen lagen fein säuberlich ineinander gestapelt neben einem Gitterrahmen, Spateln und anderen Geräten. »Nach Ihnen«, psalmodierte Ochs und leuchtete in den Tunnel. Nathan Lee schaltete seine Stirnlampe ein. Sie stammte noch von seinem Vater. Bringen wir’s hinter uns, dachte 35
er. Er musste auf allen vieren kriechen. Das Franziskanerteam hatte Seitenwände und Decke mit einem Gerüst und Balken verstärkt. Irgendwie hatte die Konstruktion den Erschütterungen standgehalten. Dass Ochs hinter ihm aufragte, machte seine Klaustrophobie auch nicht gerade erträglicher. »Vorsicht da vorn. Es geht noch zwölf Meter weiter, dann nach rechts und anschließend neun Meter nach unten.« »Nach unten? Ich dachte, wir sind hier schon ganz unten.« »Das dachten alle. Aber dann wurde von der Kapelle aus mit Echolot nachgemessen. Der neue Hohlraum sprang ihnen förmlich entgegen. Der alte Steinbruch reichte wesentlich tiefer hinab, als alle gedacht haben. Jetzt aber vorwärts.« Ein Deckenbalken hing durch. Ochs redete ununterbrochen weiter. »Als die Römer anfingen, ihren Venustempel zu bauen, mussten sie zuerst sämtliche Hohlräume und Gruben auffüllen. Dazu nahmen sie alles, was ihnen in die Hände fiel. Erde, Abfall, Scherben und …« Nathan Lee hatte die Grube erreicht. Die Wände waren mit weißen und braunen Stäbchen übersät. »Menschenknochen«, sagte er. Jemand hatte einen kleinen Sims in den Rand der Grube gehauen. Eine Strickleiter verschwand in der Tiefe. Ochs kauerte sich neben ihn. Sie leuchteten mit ihren Lampen in das Knochendurcheinander, das weiter unten aus den Wänden ragte. »Man braucht Jahre, um das alles ordentlich auszugraben«, sagte Ochs. »Und noch länger, um die Skelette zu 36
sortieren. Bis jetzt haben sie lediglich diesen Ausgrabungsschacht angelegt. Aber dem bisschen, was bis jetzt geborgen wurde, hat man bereits Zeit und Geschlecht zugeordnet. Es sind alles Männer. Die meisten aus dem ersten Jahrhundert oder früher. Und es besteht kein Zweifel daran, wie sie zu Tode gekommen sind.« »Die fehlenden Kreuzigungen«, murmelte Nathan Lee. »Das hier ist ein einziges, gewaltiges Beinhaus, Schätzungen zufolge viele Zehntausende von Knochenfragmenten. Man hat sogar Holzstücke, Nägel und Stricke gefunden – und Tränenfläschchen von Trauernden. Vergiss den Kalvarienberg, denn Golgatha war auf jeden Fall hier, unmittelbar vor den alten Stadttoren, an der Straße nach Jaffa, wo jeder Reisende den Zorn Roms sehen konnte.« Der Schacht gähnte zu ihnen herauf. »Das ist unglaublich«, sagte Nathan Lee. »Es könnte unser gesamtes Geschichtsverständnis umkrempeln.« »Genau wie die Schriftrollen vom Toten Meer«, stimmte Ochs ihm zu. »Aber denk mal darüber nach, wie lange der Vatikan auf denen gesessen hat. Jahrzehntelang. Da musste erst ein einzelner Gelehrter ein paar Fotokopien herausschmuggeln, bis endlich auch der Rest der Welt davon erfahren durfte.« »Verstehe. Wir erweisen mit unserer Plünderung also der Öffentlichkeit einen Dienst.« »Nett gesagt«, meinte Ochs. »Damit verwüstest du den Fundort.« »Das ist nun mal Archäologie. Graben heißt zerstören. Andererseits könnte auch alles bei einem Nachbeben verloren gehen.« »Das merken sie bestimmt.« »Niemand merkt etwas. Die wissen ja gar nicht, was hier 37
alles herumliegt. Wie sollten sie da merken, dass etwas fehlt?« Ochs reichte Nathan Lee die Plastikhülle mit dem Leichensack. »Na dann los. Mach ihn voll.« »Das hat doch keinen Sinn. Wer kauft schon einen Haufen Knochen?« »Was glaubst du wohl, wer dich dafür bezahlt, dass du hier in der Erde herumwühlst? Die Universität? Wo kriegen die ihr Geld her? Von Stiftungen? Woraus setzen die sich zusammen? Aus der Aristokratie, der Elite. Streng mal deinen Grips an. Die Aristokratie ist der Motor, der die archäologischen Forschungen vorantreibt. Private Sammler, Museen, die Kenner eben. Ohne sie würden die Artefakte einfach zu Staub zerfallen.« Dagegen war nichts mehr einzuwenden. Nathan Lee kletterte die Strickleiter hinab. Der gezwirnte Hanf knarrte unter seinem Gewicht. Er war sich noch nie so schwer vorgekommen. Unten angelangt, fing er an, die Toten aus der Wand zu brechen. Es ging auf vier Uhr morgens zu, als Nathan Lee fertig war. Die Knochen klapperten im Leichensack. Er und Ochs traten den Rückweg durch die Kirche an und die Anhöhe hinauf, wo Nathan Lee die Stelle markiert hatte, an der die Frau verschüttet war. Die Hand war verschwunden. Er untersuchte die Stelle. Möglicherweise hatte sie ein Tier abgerissen, oder die Steine hatten sich darüber geschoben. Aber es war kein Blut zu sehen. Nathan Lee kam es so vor, als hätte sie ihre Hand wieder zurückgezogen, in die Unterwelt. Weg von ihm.
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BUCH EINS VIER JAHRE SPÄTER JAHR EINS
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1 Der Sammler INSEL KORFU, GRIECHENLAND MÄRZ
Die beiden alten Männer betraten ein weitläufiges Zimmer, gefolgt von ihren Ehefrauen. Nikos führte sie zu einer Wand aus Glas. Der Raum thronte auf einer steilen Klippe und zeigte direkt nach Westen. Von hier aus sah man förmlich auf die im Meer versinkende Sonne hinab. Überrascht wichen der ägyptische Chirurg und seine Frau vor dem mit Glas abgeschirmten Abgrund zurück, der in gleißendes Licht getaucht war. Dem Ägypter wurde klar, dass Nikos den Zeitpunkt ihres Eintretens genau geplant hatte, um den besten Effekt zu erzielen. Schönheit, vollkommene Schönheit, war die Antriebskraft dieses Mannes. Mehr musste man über Nikos nicht wissen. Die Erklärung für seine Handelsflotte, für sein Import-Export-Kartell und für seine Banken war weder in Geld noch in Macht zu suchen, sondern in einem Sonnenuntergang wie diesem. Der Ägypter ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Nikos’ Steckenpferde waren in typisch spartanischer Manier zur Schau gestellt. An einer Wand hing ein ebenso spektakulärer wie obszöner Koons, vor einem der Fenster glänzte eine Schale Orangen. In der Ecke lehnte ein Bronzeschild von unschätzbarem Wert, angeblich aus dem Trojanischen Krieg. Und dann war da natürlich noch seine 40
Frau, etwa ein Drittel so alt wie er, eine Frau von fast übermenschlicher Schönheit. Ihre grauen Mandelaugen waren überwältigend. Der Ägypter bemerkte, dass seine eigene, überaus elegante Frau geradezu erschüttert war. Sie würde noch sehr lange von diesem Abend reden. Nikos war jemand, den man nicht so schnell vergaß. »Wo haben Sie Ihre goldenen Totenmasken?«, erkundigte sich der Ägypter. »Die Stelen und Amphoren? Ihren Achilles-Torso? Die Schwerter und Streitwagenräder?« »Ich habe die Rüstungen aufgegeben«, antwortete Nikos ruhig, mit einer für ihn untypischen Bescheidenheit. »Sollen andere die Genauigkeit Homers entdecken. Ich habe entdeckt, dass sich eine noch weit bedeutendere Legende bewahrheitet hat.« »Bedeutender als Homer?«, zog der Ägypter seinen alten Freund auf. Der Blick des Ägypters wechselte zu Nikos. Der Mann hatte immer noch die breiten Schultern eines Seemanns, knackte Walnüsse immer noch mit bloßen Händen und warf sich die Nusskerne in den Mund. Aber unter der weißen Behaarung zeichneten sich Leberflecke auf seinen vernarbten Händen und den kräftigen Unterarmen ab. Reste von Aluminiumoxidsalbe bedeckten den Hautkrebs, den seine geliebte Sonne entfacht hatte. Seine Wirbelsäule neigte sich ein wenig nach links. Es war, als sähe man einer beeindruckenden Statue beim langsamen Zerfall zu. »Auf welches neue Abenteuer haben Sie sich diesmal eingelassen?«, wollte der Ägypter wissen. Nikos schaute ihn von der Seite an. »Können Sie Ihren Wissensdurst noch für eine Stunde bezähmen?« Der Ägypter sah seine Frau an; diese neigte den Kopf in gespielter Unterwürfigkeit. »Ganz nach Ihrem Belieben«, antwortete er Nikos. 41
»Wunderbar«, meinte Nikos. Es schien ihm sehr wichtig zu sein. »In der Zwischenzeit machen die Damen vielleicht einen kleinen Rundgang. Medea?« Die junge Frau brauchte keine weiteren Instruktionen. Sie hakte die Frau des Ägypters unter und führte sie graziös durch die Tür hinaus. Nikos ging zur Rückwand und schob die von der Decke bis zum Boden reichende Holzverkleidung zur Seite. Dahinter verbarg sich eine Kammer hinter einer dicken Glasfront. Der Ägypter musste über die theatralische Note schmunzeln. Kein Zutritt für Frauen – das hier war das Allerheiligste. Er berührte das kalte Glas mit den Fingerspitzen. Nikos’ geheimer Raum war gekühlt. In ihm befanden sich Schränke aus rostfreiem Edelstahl mit Glasregalen, die von hinten beleuchtet wurden. Er versuchte zu erkennen, was auf den Regalen lag, aber die Fensterscheiben waren auf der Innenseite mit einer dünnen Eisschicht überzogen. In einer anderen Umgebung hätte er den Raum für einen Aufbewahrungsort für medizinische Proben oder für Kunstobjekte gehalten, aber hier konnte er nicht mit Sicherheit sagen, was dort lag. Irgendwelche Besonderheiten der Natur oder des Menschen, so viel war sicher. Nikos öffnete die Tür und ging hinein. Nachdem er den Schalter berührt hatte, ergoss sich Licht in den Raum aus Glas und Metall. »Kommen Sie«, sagte er. Der Raum war voll mit Reliquien, christlichen Reliquien. Es gab Hunderte davon. Der Ägypter konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, hereingelegt worden zu sein. Dieser Plunder sollte die Quelle für Nikos’ Verzükkung sein? Der alte Pirat war einfach nur religiös geworden. »Beeindruckend«, sagte er schließlich. Das Wort stand als frostige Wolke vor ihm. 42
»Sagen Sie doch einfach, was Sie denken: ›Nikos, dein Schwanz ist schlapp geworden.‹« »Wir sind alte Männer.« Der Ägypter zuckte diplomatisch mit den Schultern. »Uns seien unsere Götter gegönnt.« Mit einem verschlagenen Grinsen fand Nikos zu seinem geheimnisvollen Gehabe zurück. Es steckte also mehr dahinter. »Was … Was soll das alles?«, fragte der Ägypter erleichtert. Nikos schob sich zwischen den beschlagenen Glasregalen hindurch. »Zweifel«, antwortete er. Reines, weißes Licht durchflutete den Raum, der aussah wie ein Kristallwald. Die Glasregale und ihre metallenen Aufhängungen funkelten; die Artefakte schienen in der Luft zu hängen. »Wissen Sie, was ich hier habe?«, fragte Nikos. »Ich habe dergleichen schon in den koptischen Kirchen in Alexandria und Kairo gesehen. Es sind heilige Reliquien. Sie beinhalten Überbleibsel von Märtyrern … Knochensplitter, Fetzen mumifizierter Haut.« »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« Nikos nahm ein achteckiges Gefäß mit durchsichtigen Seitenteilen aus einem Regal und reichte es seinem Freund. »Ich musste ein ganz neues Vokabular lernen. Dieses spezielle Gehäuse nennt man eine Monstranz oder Ostensorium. Die Medaillons heißen Tecta. Der Überbegriff dafür lautet Domo oder Haus. Es sind Gucklöcher auf das Göttliche. Sehr oft sind sie aus kostbaren Metallen gefertigt und mit Edelsteinen besetzt«, erklärte er. »Aber der Hauptgewinn befindet sich innen drin. Sehen Sie die Glaskapsel? Dieses hübsche kleine silberne Haus wurde nur dazu gebaut, um sie aufzunehmen. Aber selbst das ist nicht der Kern der Sache, 43
denn die eigentliche Seele wohnt in der Kapsel selbst. Dort befindet sich die eigentliche Reliquie.« War Nikos zu einem Sammler toter Seelen geworden? Der Ägypter hob die Monstranz auf Augenhöhe und starrte auf die darin aufbewahrte Ampulle. »Ich kann etwas erkennen. Ist das der Knochen eines Heiligen?« »Oder der von einem Hund.« Nikos stellte die Monstranz zurück und hob stattdessen ein kreuzförmiges Behältnis hoch. Dieses Mal konnte der Ägypter einen kleinen, roten Aufkleber auf dem Glas erkennen. Das Kreuz trug die Nummer 127. Nikos schnippte den Klappdeckel des Kreuzes wie eine Zigarrenschachtel auf. Ein dünnes, schwarzes Haarbündel lag darin. »Als die Kreuzfahrer Jerusalem überfielen, haben sie eine wahre Flut von Fälschungen ausgelöst. Ganz Europa wurde mit wertlosem Schrott überschwemmt, deswegen bin ich auf die Wissenschaft angewiesen. Für die Bestimmung des Alters und des Genotyps gehen alle meine Stücke an Labors in Tel Aviv, Stuttgart, Paris, Tokio und Glasgow. Den Italienern traue ich nicht mehr, die sind zu leichtgläubig. Man braucht nur das Wort Märtyrer zu flüstern, schon heulen ihre größten Wissenschaftler in ihre Mikroskope. Ihre Analysen sind nichts anderes als Gebete – völlig nutzlos.« Nikos’ Respektlosigkeit ermutigte den Ägypter. Andererseits erschien die Sammlung dadurch umso befremdlicher. Hagiografie war das Hobby eines Konvertierten, nicht der Knüller, mit dem Nikos geprahlt hatte, sein Beweis für den Wahrheitsgehalt einer noch größeren Mythologie, was auch immer das heißen mochte. »Das Material ist höchst unterschiedlich.« Nikos deutete auf mehrere Artefakte. »Manches davon stammt von Leichen, menschlichen oder tierischen, anderes vom Ort des 44
letzten Leidens. Ex ossibus bedeutet, die Reliquie besteht aus Knochen, ex carne aus Fleisch, pelle aus Haut, praecordis aus dem Magen oder den Gedärmen.« Er fingerte an dem schwarzen Haarbüschel herum. »Das hier ist ex capillis, also von den Haaren. Es stammt von einer Frau fränkischer oder römischer Abstammung. Sie war etwa zwanzig Jahre alt, als diese Locke abgeschnitten wurde. Ihre genetische Chronologie wurde auf das 15. Jahrhundert datiert.« »Natürlich ein Stück von Johanna von Orleans«, fiel der Ägypter höflich ein. Er hoffte inständig, sein Freund würde nicht versuchen, ihn zu bekehren. Das wäre sehr langweilig. »Johanna von Orleans! 15. Jahrhundert!« Nikos ließ das Behältnis beleidigt zuschnappen. »Ich bin hinter weit größerer Beute her.« Der Ägypter war irritiert. Sie gingen weiter zwischen den seltsamen Gegenständen umher, während Nikos erklärte, dass ihm die Idee für seine Sammlung im Traum gekommen sei. Seitdem hatte er sein Ziel mit strenger Beharrlichkeit verfolgt. »Zuerst stand ich da wie der Ochs vorm Berg. So geht es jedem Sammler zu Anfang«, sagte er. »Ich habe gutes Geld für alte und neue Fälschungen verschleudert und wurde betrogen. Mein einziger Trost war, dass selbst der Ablasshändler in Chaucers Canterbury Tales so getäuscht wurde, dass er in gutem Glauben Schweineknochen kaufte. Aber jetzt bin ich dagegen gefeit. Fälschungen erkenne ich mit bloßem Auge, und die Händler sind mit dem, was sie mir anbieten, sehr viel vorsichtiger geworden.« »Sie meinen, es gibt einen Markt für diese Friedhofsabfälle?« »Aber ja, und zwar einen sehr lebendigen«, antwortete 45
Nikos. »Stücke werden zum Verkauf angeboten, Auktionen abgehalten. Alles sehr diskret und skrupellos. Die Preise schwanken. Meine Hauptkonkurrenten sind nicht die Kirchen, sondern die Japaner, seit kurzem auch die Chinesen, meist die Kinder der maoistischen Kriegsherren. Sie verteuern die Auktionen erheblich, also ziehe ich jetzt andere Methoden vor. Meine Agenten schwärmen in Osteuropa und Russland aus, wo die orthodoxen Klöster und Kirchen wegen der politischen Unruhen dazu gezwungen sind, ihre Schätze zu Spottpreisen zu verkaufen. Die meisten Reliquien sind schon ausgesucht worden, der Rest ist nur noch Abfall: Schädel, Fläschchen mit Muttermilch der Heiligen Jungfrau oder amputierte Finger berühmter Heiliger. Meine besten Akquisitionen kommen immer über dunkle Kanäle.« Der Ägypter grinste. Da war er wieder, der alte Freibeuter. »Sie stehlen Reliquien?« »Ich erwerbe Waisenkinder«, gestand Niko lächelnd. »Diese Praktik ist so alt wie die Reliquien selbst. Man nennt das furta sacra. Der Diebstahl heiliger Reliquien ist eine lang gehegte Tradition. Seit mehr als tausend Jahren haben Mönche, Bischöfe und Ritter – genauso wie ganz gewöhnliche Diebe – Reliquien von einem Ort zum anderen ›überbracht‹. Auf gewisse Weise erneuert der Diebstahl den Wert dessen, was sonst nur ein armseliges, kleines Stück Knochen oder Gewebe wäre. Er erklärt einen Gegenstand erst zum Objekt der Begierde.« Er fuhr fort, eine bizarre Welt aus Leichen, Schädeln, vertrockneten Herzen und Wundern zu beschreiben. Eine Welt, die, so hatte der Ägypter zumindest geglaubt, im frühen Mittelalter geendet hatte. Da er jedoch aus dem Land der Mumien und konservierten Eingeweide stammte, war ihm die anhaltende Faszination des Menschen am Morbiden durchaus nicht fremd. Nikos’ Theorie, die Dieb46
stahl mit Begehren koppelte, erschien ihm durchaus sinnvoll. Jahrtausende lang hatten Mumien in ihren Grabmalen gelegen, doch erst in den letzten paar Jahrhunderten war es den Europäern gelungen, ihr Ansehen wieder herzustellen, indem sie sie ans Tageslicht zerrten, um sie in Museen auszustellen oder sie für medizinische Tränke zu zermahlen. Am Ende einer Reihe öffnete Nikos einen Aktenschrank. Jedes Artefakt hatte seine eigene, nummerierte Akte. Nikos zog wahllos ein paar davon heraus. Manche Akten enthielten offizielle Kirchendokumente, so genannte »Authentizitätsbelege«, die der Reliquie ihre Echtheit bescheinigten sowie ihr Alter und die Art des Verschlusses eines Medaillons, eines hohlen Kreuzes oder einer Monstranz beschrieben. Andere Akten enthielten keine Authentizitätsbelege. Der Ägypter vermutete, dass es sich hierbei um die Akten der gestohlenen Reliquien handelte. Jedes Artefakt hatte seine eigene Geschichte, und Nikos hatte gewissenhaft jede damit verbundene Anekdote und noch mehr vermerkt. Außerdem enthielt jede dieser Akten die Berichte aus den internationalen Labors, die sich wie Krankengeschichten lasen. »Die Kirche unterscheidet drei Klassen von Reliquien«, erklärte Nikos. »Die erste ist organischer Natur, stammt also vom Körper selbst. Die zweite Klasse betrifft die Kleidung des Märtyrers oder Objekte, die er berührt hat. Die dritte Klasse ist unbedeutend. Sie besteht aus Stoffstücken, die Objekte erster oder zweiter Klasse berührt haben.« »Und Ihr Interesse gilt der ersten Klasse«, vermutete der Ägypter. »Dem Körper selbst.« Nikos’ Augen funkelten. »Ich befürchte, angesichts meiner Beute könnte das als Ketzerei ausgelegt werden.« 47
Der Ägypter ächzte vor Vergnügen. Beute? Eine Leiche als Ketzerei? Er liebte Rätsel. »Ah, also der Heilige Gral.« »Den gibt es nicht«, behauptete Nikos überzeugt. Er führte seine Gelehrsamkeit vor, denn die Anerkennung des Ägypters war ihm wichtig. »Nirgendwo in der Bibel wird ein Gral auch nur erwähnt. Tatsächlich hat sich das alles ein Einsiedler, der im Jahre 717 eine Vision hatte, ausgedacht und in die Welt gesetzt. Aber die Idee ist durch Gedichte und Romane, und zuletzt auch durch das Kino so populär geworden, dass die Leute sie einfach als wahr akzeptieren. Ich habe aber gelernt, vor Legenden auf der Hut zu sein.« »Kein Gral? Keine Schleier? Keine heiligen Krippen?« Nikos grinste. »Meine Suche konzentriert sich auf die Folterwerkzeuge. Auch dafür gibt es eigene Begriffe. Ex stipite affixionis bezieht sich auf den Schandpfahl. Die Dornenkrone wird coronse spinse genannt. Dieser Dornenbusch wächst immer noch in den Hügeln Israels und des Libanon. Botaniker bezeichnen ihn als Zizyphus bulgaris lam, ein Busch, der bis zu 7 Meter hoch wird. Seine Dornen treten immer paarweise auf. Was wir als Krone bezeichnen, war wahrscheinlich eine Art Kappe, die den ganzen Kopf bedeckte. Man nimmt an, dass die von Jesus etwa sechzig bis siebzig Dornen hatte. Nachdem sie von Konstantins Mutter wiederentdeckt worden war, wurden die meisten Dornen abgebrochen und als Reliquien weggegeben. Sie hat sie wie Bonbons verteilt, und sie sind von Generation zu Generation weitergegeben worden. Die Geschichte berichtet, dass Kaiser Justinian im Jahre 565 einen Dorn Germanus, dem Bischof von Paris, geschenkt hat. Maria Stuart hat mehrere an einen Earl weitergegeben. Acht Dornen wurden bis zum Spanischen Bürgerkrieg in der Kathedrale von Oviedo aufbewahrt. Nur fünf Dornen haben ihre Zerstörung überstanden.« 48
Nikos senkte seine Stimme. »Und zwei davon besitze ich.« Der Ägypter versuchte, eine gewisse Ordnung in diese Hinweise zu bekommen. Nikos hatte offensichtlich ein System, und dieses System war seine Antwort, aber er bekam es einfach nicht zu fassen. Nikos wollte offensichtlich, dass seine erworbenen heiligen Artefakte und die Märtyrer-Häppchen bis ganz zum Anfang zurückreichten. Vielleicht steckte ja nicht mehr dahinter als die Sehnsucht eines Antiquars nach echtem Alter beziehungsweise einem Prototyp. Nikos setzte seinen Rundgang fort, deutete auf diese oder jene Reliquie. Eine hatte er von einem britischen Soldaten bekommen, der sie während seines Einsatzes in Nordirland aus einer Kathedrale entwendet hatte. Eine andere kam aus einem Museum in Berlin, direkt nach dem Fall der Mauer. Er besaß auch eine Anzahl Knochen, die kurz nach dem furchtbaren Erdbeben im Toten MeerGraben aus einer armenischen Kirche in Jerusalem gestohlen worden waren. Andere Stücke stammten aus der berühmten Jahr Null-Kollektion. Naturkatastrophen und von Menschenhand geschaffene Schismen hatten seine Sammlung kontinuierlich versorgt. Allmählich fielen dem Ägypter andere Aspekte der Sammlung auf. Sämtliche Behältnisse waren geöffnet worden. Ihr Inhalt war, wie zu Anfang das Haarbündel, achtlos wieder in das hohle Innere zurückgelegt worden oder lag sogar neben dem Behältnis. Dutzende von Ampullen und Kapseln aus verschiedenfarbigem Glas waren aufgeschnitten und dann auf kleine Rechtecke aus Verbandsmull gelegt worden. Sie sahen aus wie seltene Kokons. Hinter jedem Domo stand ein kleines Gestell mit Reagenzgläsern, die mit roten, gelben oder blauen Plastikstöpseln verschlossen und mit Laboretiketten versehen 49
waren. In ihren Bäuchen ruhten Fragmente von Knochen, Holz, Haar, Staub oder Splitter. Der Ägypter gab es auf, Nikos’ Beweggründe erraten zu wollen. »Ich verstehe es nicht«, gab er zu. »Sie haben sich ein immenses Wissen über das frühe Christentum angeeignet. Sie haben Artefakte zusammengetragen, die 2000 Jahre alt sind. Und das alles nur, um sie in Stücke zu reißen.« Er nahm ein aus Gold und Kristall gefertigtes Behältnis in die Hand, an dessen Rückseite die Öffnung wie eine Wunde aufklaffte. Plötzlich durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. »Warten Sie mal. Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie …« »Doch«, sagte Nikos. »Ich bin auf der Jagd nach Jesus.« Der Ägypter hustete. Er war verdutzt und amüsiert zugleich. Diese Dreistigkeit. Dazu war nur Nikos fähig. »Sie haben es auf Christus abgesehen?« Nikos wackelte energisch mit dem Finger. »Nicht Christus«, antwortete er. »Jesus.« »Das ist doch dasselbe.« »Ganz und gar nicht. Christus ist der Glaube, Jesus Geschichte. Ich versuche, mich durch 2000 Jahre Aberglaube, Mythos und religiösen Nippes durchzuwühlen und Beweise zu finden.« »Ist so etwas überhaupt möglich?« »Man hat auch einmal behauptet, Troja sei ein Mythos, Agamemnon und Nestor seien reine Fiktion. Jetzt nicht mehr.« »Aber die haben Ruinen und Gold zurückgelassen. Was könnte von einem Bauern übrig sein, der …« Der Ägypter brach unwillkürlich ab. »Blut«, murmelte er. »Genau«, sagte Nikos. »Die DNA Gottes.« Als der Ägypter sich jetzt in dem gekühlten Reliquien50
schrein umsah, fügten sich alle Teile dieses schamlosen Unternehmens zusammen. Die Artefakte, die Blutspuren, die Labors. Er war überwältigt von der Herausforderung, der Nikos sich gestellt hatte, und er spürte, wie dieses Geheimnis auch ihn in seinen Bann zog. Tausend Fragen stürmten auf ihn ein. »Man muss außerordentlich vorsichtig vorgehen«, erklärte Nikos. »Jesus ist ein Schwindler. Er hat sich seit Tausenden von Jahren hinter Geschichtenerzählern versteckt. Ich aber verlange harte Fakten.« Nikos machte eine Pause und nahm eine primitive Dose mit frühchristlichen Gravuren auf der Außenseite herab. »Das hier war eine meiner ersten Erwerbungen. Es war sehr aufregend«, erklärte er, während er den Deckel öffnete. Ein kleines, plumpes Kreuz von ungefähr fünf Zentimetern Länge lag auf dem Boden. »Die Vortests hatten ergeben, dass es tatsächlich vom echten Kreuz stammen könnte. Das Holz wurde auf das erste Jahrhundert datiert. Darüber hinaus stammt es auch von einer Pinienart, die nur 300 Meter über dem Meeresspiegel gedeiht. Es weist Blutspuren auf, sehen Sie hier? Die Spuren tragen levantinisches Erbgut, semitisches Erbgut. Unglücklicherweise stammt es von einer Frau. Mein kleines Souvenir hier war also eine Fälschung … es sei denn, Jesus hätte Brüste, eine Gebärmutter und einen doppelten Satz X-Chromosomen gehabt. Trotzdem hat es mich eine wichtige Lektion gelehrt: Der Weg ist lang.« »Aber wie wollen Sie die Echtheit des Blutes je erkennen, selbst wenn Sie es finden?« »Wussten Sie das nicht?«, gab Nikos zur Antwort. »Jesus hatte Blutgruppe AB.« »Jetzt machen Sie aber Witze.« Nikos’ Gesicht blieb ernst. »Im achten Jahrhundert, so 51
wird berichtet, wurden im Kloster St. Longinus, das nach dem römischen Legionär benannt wurde, der Jesus mit einer Lanze durchbohrt hatte, die Hostie und der Wein tatsächlich zu Fleisch und Blut. Das Blut gerann zu fünf Kügelchen, und die Fleischoblate vertrocknete zu einer dünnen Scheibe. 1970 erhielten zwei Anatomieprofessoren die Erlaubnis, diese Reliquien zu untersuchen. Und ihre Schlussfolgerungen? Die Fleischscheibe bestand aus gestreiftem Muskelgewebe aus der Wand eines menschlichen Herzens. Das Blut war Blutgruppe AB.« Er machte eine Pause und grinste schließlich. »Natürlich waren die beiden Professoren Italiener.« »Also bleibt meine Frage bestehen«, bohrte der Ägypter nach. »Selbst wenn Sie das Blut von Jesus auf einem Holzsplitter finden, woher wollen Sie wissen, dass es echt ist?« »Das werde ich nie endgültig wissen«, sagte Nikos feierlich. »Aber ich werde wenigstens wissen, ob es falsch ist.« Der Ägypter sah sich von neuem völlig überrascht. »Warum erklären Sie dann nicht einfach alles für falsch und hören auf damit? Sollen die Gläubigen ihre Visionen und Wunder behalten. Warum diese Ornamente verschandeln?« »Als Wissenschaftler verstehen Sie das sicherlich«, antwortete ihm Nikos. »Entweihung bedeutet Wissen. Zweifel bedeutet Glaube.« »Ja. Wenn man nach dem Zentrum des Universums sucht, oder nach der Struktur eines Atoms.« »Und genau das tue ich doch, mein Freund.« »Aber Sie haben es selbst gesagt. Auch wenn Sie es finden, erfahren Sie niemals, ob es echt oder falsch ist.« »Dennoch werde ich es trotzdem berührt haben, auch wenn ich es nicht wusste.« 52
Der Ägypter war unschlüssig, was er davon halten sollte. Vor ihm stand ein rational denkender Mann, voller weltlicher Skepsis, und trotzdem suchte er nach einer verborgenen Bedeutung. »Sie widersprechen sich.« Der Ägypter wusste, er hätte so etwas in der Art erwarten sollen. Er versuchte sich an seinen Homer zu erinnern. Oder war es Tennyson? Odysseus, wie er mit einem Ruder über der Schulter loszieht. Er begibt sich auf eine Suche ohne Ende. Er sah Nikos an. Nach einer Weile sagte er: »Mir ist kalt.« »Oh«, sagte Nikos, über die ihm eigenen schlechten Manieren verärgert. »Entschuldigen Sie, bitte.« Auf dem Weg nach draußen blieb Nikos vor einem kleinen hölzernen Kasten neben der Tür stehen. »Vor zwei Tagen ist eine neue Erwerbung eingetroffen. Sehr alt, sehr aufregend. Ich habe es mir nur kurz angeschaut und dann entschieden, mit dem Sezieren noch zu warten. Ich dachte, es könnte möglicherweise Sie interessieren. Hätten Sie Lust, mir zu helfen? Im Zimmer draußen, wo es warm ist?« Der Ägypter war von der Großzügigkeit gerührt. Er hielt die Tür auf, während Nikos die Kiste nach draußen trug. Die letzten Strahlen der Sonne fühlten sich wunderbar an. Nikos stellte die Kiste auf einen Tisch am anderen Ende der Fensterfront. Er schaltete das Licht an, und beide nahmen auf den Stühlen davor Platz. Eine Schublade enthielt seine Werkzeuge und das Proben-Set. Der Ägypter machte eine Bemerkung über die Vollständigkeit seiner Ausrüstung. Zusammen hoben sie ein etwa dreißig Zentimeter langes, innen hohles Kreuz aus Silber und Gold aus der Kiste. Nikos blies darauf befindlichen Staub mit einer Sprühdose weg, wie man sie normalerweise zum Reinigen von Ka53
meralinsen benutzte. Dann legte er das Kreuz auf eine weiße Schaumstoffunterlage. »Es kommt aus einer serbischen Kirche im Kosovo, die von der KLA geplündert wurde. Sie wollten 1,8 Millionen US-Dollar dafür haben. Mein Agent hat ihnen dann 125 000 Dollar geboten, und die haben sie sich geschnappt. Sie hatten keine Ahnung, was es tatsächlich wert ist. Ebenso wenig wie ich.« »Es sieht prächtig aus«, bemerkte der Ägypter. Nikos betrachtete es nüchterner und machte sich auf einem Schreibblock Notizen. Auf jedem der Kreuzarme war auf der Vorder- und Rückseite ein anderer Heiliger im frühen byzantinischen Stil abgebildet. Die Figuren waren zweidimensional und erinnerten an Comicfiguren mit silbernen Heiligenscheinen, allerdings waren die Figuren gegen den goldenen Hintergrund abgesetzt, ihre eingravierten Linien mit Niello, einem schwarzen Email, gefüllt. Der Handwerkskunst nach schätzte Nikos es etwa auf das Jahr 300 heutiger Zeitrechnung. Er war sichtlich unbeeindruckt. »Wollen wir hoffen, dass der Inhalt mindestens zweihundert Jahre älter ist«, sagte er. Im Gegensatz zu vielen anderen Artefakten hatte dieses hier keine kleinen Fenster, durch die man die eingeschlossene Reliquie sehen konnte. Der Ägypter wog es in der Hand und beschied, dass es eindeutig hohl sein musste. »Was, wenn gar nichts drin ist?«, fragte er. Nikos legte seinen Bleistift nieder. »Dann kommen wir deutlich früher zu unserem Abendessen«, antwortete er fröhlich. Er schwenkte ein Vergrößerungsglas über das Kreuz. »Na?«, sagte er zu dem Kreuz. »Wie betreten wir dein Labyrinth?« Er drehte das Kreuz mehrmals nach allen Seiten. Auf der 54
Mitte der Rückseite trug ein Klumpen rotes Siegelwachs das Zeichen eines Bischofs. Nikos kannte das Zeichen nicht. Er machte ein paar Fotos mit einer kleinen Kamera und entfernte das Wachs dann in ganzen Stücken. Die Oberfläche darunter war glatt. »Man weiß nie, wo die Tür zum Haus sein könnte«, erklärte er. »Oft hat das Domo Scharniere auf einer Seite, oder man kann den Deckel ganz abnehmen. Manchmal ist eine kleine versteckte Klappe in die Oberfläche eingelassen. Andere haben einfach eine Vertiefung auf der Rückseite, die dann mit einem Gewinde verschlossen ist. Aber manche, besonders die aus dieser Ära und noch früher, können sehr aufwändig sein. Das sind Rätselkästen, von alten Meistern gebaut.« Unter Zuhilfenahme von Goldschmiedewerkzeugen berührte Nikos das Kreuz hier und dort, drückte die auf der Vorderseite eingearbeiteten Edelsteine, als wären es Klingeln. »Die ganz alten haben manchmal einen geheimen Verschlussmechanismus, ein Versteck oder sogar falsche Kapseln«, erzählte er. »Ich habe das auf die harte Tour gelernt. Meine Ungeschicklichkeit hat einige der ältesten Reliquien zerstört. Man muss sehr geduldig sein und versuchen, so zu denken wie der Schöpfer des Rätsels. Es ist ein Spiel. Er gegen uns.« Er hob den Blick zu dem Ägypter. »Möchten Sie es mal versuchen? Suchen Sie nach einem Riegel, einer Drehscheibe oder einem Druckpunkt.« Der Ägypter brannte darauf. »Aber was, wenn ich es kaputtmache?« »Dann hätte ich es ohne Zweifel auch kaputtgemacht. Immerhin sind Sie der Chirurg. Ich bin nur ein alter Seemann.« Der Ägypter nahm einen Zahnstocher und eine lange 55
Sektionsnadel, legte die Hände links und rechts neben das Objekt und beugte sich über das Vergrößerungsglas. An einem der geschliffenen Amethysten in der Mitte des Längsbalkens des Kreuzes fiel ihm etwas auf. Der Edelstein wies entlang den Rändern ein wenig Rost auf, ganz im Gegensatz zu der Bleieinfassung der anderen Steine. »Was halten Sie davon?«, fragte er. Nikos schaute ihm über die Schulter. »Sie sind ein Naturtalent«, sagte er. »Da ist etwas.« »Vielleicht sollten Sie wieder übernehmen.« »Warum? Es ist Ihre Entdeckung.« Der Ägypter war ganz aufgeregt. Er genoss dieses Suchspiel. Der Versuch, die Reliquie zu entziffern, kam ihm fast vor wie eine Schachpartie. Er entfernte kleine Rostflocken. Unter dem Amethyst musste ein anderes Metall sitzen, vielleicht eine Art Mechanismus aus Eisen. Er drückte sanft auf den Edelstein, aber nichts geschah. »Mache ich etwas falsch?« »Wer weiß? Diese Schachteln können kompliziert sein. Manche sehen innen eher wie Maschinen aus. Machen Sie ruhig weiter.« »Fantastisch«, flüsterte der Ägypter. Er versuchte vorsichtig, mit einem anderen Goldschmiedewerkzeug an dem purpurfarbenen Edelstein zu ziehen. Der Stein bewegte sich nicht. Der Ägypter gab auf, denn er hätte es sich niemals verziehen, wenn er den Schatz seines Freundes ruiniert hätte. »Hier«, sagte er schließlich entmutigt. »Ich bitte Sie.« »Wir machen das zusammen«, erwiderte Nikos. Er nahm eine mit Graphitöl gefüllte Spritze und legte damit eine zarte Perlenkette aus Öltropfen um den Amethyst. Während sie darauf warteten, dass das Öl langsam in den Rost einzog, erzählte Nikos weiter. 56
»Wie Sie ja vielleicht wissen, lehnen die Juden, genauso wie die Protestanten, die Praxis der Reliquienverehrung entschieden ab. Und doch wird im Buch der Könige im Alten Testament die wundersame Erweckung eines toten Soldaten geschildert, nachdem seinen Körper die Knochen des Propheten Elischa berührt hatten. Jahrhunderte bevor Jesus überhaupt geboren war, sprachen die frühen Israeliten ihren toten Heiligen und Propheten bereits magische Kräfte zu. Das hat mir zu denken gegeben.« Er hielt inne und sagte dann: »Versuchen Sie es doch noch mal.« Der Ägypter setzte einen Zahnstocher an einer Unebenheit des Steines an und übte einen leichten Druck aus, ganz minimal nur. Nichts geschah. Nikos nahm seine Spritze, zog einen weiteren Kreis aus Öl um den Stein und führte seine Gedanken weiter aus. »Jede Kunst ist Nachahmung.« Er zeigte auf das Bild an der Wand. »Koons hat von Rubens geklaut, und der wiederum von früheren Künstlern. Mit den Beisetzungskünsten ist das nicht anders. Mir war klar geworden, dass die frühen Christen, die diese Miniaturgräber gebaut haben, einen Kontext hatten. Sie lebten im römischen Imperium, das seine Handwerker aus Dutzenden von Ländern nach Rom brachte. Auch Handwerker aus Ihrem Land. Ihre althergebrachten Fähigkeiten wurden genau dorthin importiert, wo man die Christen verfolgte.« Der Ägypter berührte das Kreuz. »Sie glauben, einer meiner Vorfahren hat das hier geschaffen?« Das war ein überraschender Gedanke. »Vielleicht nicht genau dieses Objekt«, gab Nikos zur Antwort. »Aber die Christen haben von irgendjemandem gelernt, wie man diese rätselhaften Behältnisse herstellt. Von Meistern einer aussterbenden Kunst; der Kunst, die Toten zu konservieren. Das würde erklären, warum einige der frühen Domos so kompliziert sind. Genau wie Ihre mit 57
Fallen gespickten Grabmäler und Pyramiden sollen sie das Trachten unerwünschter Besucher zunichte machen.« Der Ägypter sah Nikos an. »Wir scheinen unsere Kunst vergessen zu haben, denn Ihr Behältnis hier übersteigt meine Fähigkeiten.« Nikos lächelte. Er drehte seinen Bleistift um und stieß den Amethyst kurz an. Der rosafarbene Radiergummi traf genau die Mitte, und der Stein versank in seiner Fassung. Ein metallisches Klicken aus dem Inneren war zu hören, dann öffnete sich oben auf dem Kreuz eine kleine Klappe. »Wir sind drin«, sagte Nikos. Sie waren wie zwei Schuljungen, die gerade ein Modellflugzeug zusammenbauten, nur dass sie es eben auseinander nahmen. Keiner der beiden schenkte der Dämmerung, die sich über Homers weinrotes Meer stahl, auch nur einen Blick. Sie stellten das Kreuz aufrecht hin, nahmen die Klappe ab und leuchteten mit einer Lampe hinein. Am unteren Ende einer fünf mal fünf Zentimeter großen Vertiefung war ein Schlüsselloch zu sehen. »Und was jetzt?«, fragte der Ägypter. Nikos holte ein kleines Schlosser-Set hervor. Es verstrichen mehr als zehn Minuten, in denen er verschiedene Dietriche und Winkelhaken ausprobierte, doch erst nachdem er noch ein wenig Öl aufgetragen hatte, gab das Schloss nach. Ein zweiter Deckel öffnete sich, den sie vorsichtig mit einer Zange entfernten. Hier schien es nicht mehr weiter zu gehen, bis Nikos einen Zahnarztspiegel einführte und sie einen kleinen Haken entdeckten, der unter einem Vorsprung verborgen war. Schritt für Schritt nahmen sie das Gehäuse auseinander. Es war ein raffiniertes Gebilde. Nikos erwies sich als Meister darin, die verschiedenen Sicherungen und Abwehrmechanismen zu überwinden. Nach einer Stunde hörten sie es 58
dreimal deutlich klicken. »Oh, nein«, flüsterte Nikos. »Es zerstört sich selbst. Sie sind manchmal so konstruiert, dass sie die Kapseln und das Reliquienmaterial zerstören.« Es stellte sich jedoch heraus, dass die Geräusche von einer Reihe sich öffnender Riegel herrührten, denn mit einem Mal hob sich die ganze Frontseite um etwa einen halben Zentimeter. Nikos wechselte einen Blick mit seinem Freund und nahm dann dessen Angebot an. Vorsichtig hob er den Deckel des Kreuzes mit den Fingerspitzen gleichmäßig an. Das Innere war ein Wunderwerk. Alle Geheimnisse des Goldschmieds, sämtliche Drähte, Riegel und Hebel, lagen offen vor ihnen, wie metallische Organe und Venen. Aber das war noch nicht alles. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Nikos. »Es enthält nicht nur eine Kapsel, sondern gleich vier. Was für ein außerordentlicher Fund!« In jedem Ende des Kreuzes lag, wie eine Fliege im Spinnennetz, eine mit rotem Faden fixierte Kapsel. Der Ägypter konnte seine Erregung kaum mehr zügeln. Nikos fertigte eine grobe Zeichnung des Kreuzes an und benannte dabei die Enden von A bis D. Darunter schrieb er dann »A« und legte den Bleistift beiseite. Mit einem Skalpell durchtrennte Nikos die Fäden, die die oberste Kapsel sicherten. Unter den festgezogenen Fäden lag eine längliche Kapsel mit marmorierten, blauweißen Wirbeln. »Römisches Glas«, sagte Nikos. »Die Römer haben von den Griechen die Kunst erlernt, Objekte in Glasblasen hermetisch einzuschließen.« »Was ist da Ihrer Meinung nach drin?« »Könnte alles Mögliche sein. Aber es gibt nur einen Weg, das herauszufinden – wir müssen das Ei aufschlagen.« Der Ägypter nahm die Bemerkung wörtlich und erwarte59
te einen Hammer. Stattdessen legte Nikos die Kapsel in eine Art gepolsterten Schraubstock und langte quer über den Tisch nach einem Gerät, das auf die Glaskapsel passte. »Ein Glasschneider«, erläuterte Nikos, während er die Höhe kalibrierte. Er setzte die Diamantspitze auf der Kapsel auf und führte sie einmal im Kreis vorsichtig um die Spitze der Kapsel herum. Der Schneider vollführte ein halbes Dutzend Umkreisungen und schnitt dabei jedes Mal ein wenig tiefer ins Glas. Nikos zögerte. Der Schnitt war jetzt beinahe vollbracht. »Kommen Sie näher. Jetzt gibt es eine unerwartete Belohnung. Sie dauert nur ein paar Sekunden, sobald ich das Glas zerbrochen habe. Halten Sie sich bereit.« »Wofür?« »Die Luft darin. Eine Atmosphäre, die 2000 Jahre alt ist.« Der Ägypter verstand und beugte sich nach vorne. Ihre Köpfe berührten sich. »Fertig?«, fragte Nikos, und beide atmeten tief aus. Nikos vollführte den letzten Kreisschnitt. Mit einem gummierten Stäbchen, wie es Juweliere benutzen, hob er den Deckel der Kapsel ab. Die beiden Männer inhalierten ohne zu zögern. Der Ägypter schloss die Augen. Er lächelte. Der Geruch war alt, es roch ein wenig nach Kräutern und ein wenig nach Öl. Als koste er ein Narkotikum, sog er den uralten Duft tief in die Nase. Jetzt begriff er, warum Nikos ihm kein Essen angeboten hatte. Dieses Festmahl war so selten und subtil, dass es am besten mit leerem Magen genossen wurde. Der Ägypter öffnete die Augen. Nikos schaute in die Kapsel hinein. Sie war leer, bis auf eine seröse Substanz am Boden, eine Art eingedickter Flüssigkeit. »Vielleicht 60
hat sich die Reliquie zersetzt«, vermutete er. »Das passiert manchmal. Besonders dann, wenn die Reliquie organischen Ursprungs ist. Macht aber nichts, denn die Labors können aus den Rückständen noch genügend Details herausfiltern.« Er tauchte insgesamt sechs Wattestäbchen in das Glas, eines für jedes Labor und eines für sich selbst. Die Spitzen wurden braun und klebrig, und jedes Stäbchen kam in ein eigenes Reagenzglas. Als er mit den Präparaten für die Labors fertig war, berührte Nikos den Rand des Glases mit der Fingerspitze und zerrieb ein bisschen von dem Rückstand zwischen den Fingern. Er roch noch einmal daran, und führte dann den Finger an die Zunge. Der Ägypter ging nicht ganz so weit. Nikos schrieb einige Bemerkungen unter »A«, setzte dann »B« darunter und beugte sich hinunter, um die zweite Kapsel von ihren Haltefäden loszuschneiden. Sie wiederholten diesen Akt noch dreimal, und jedes Mal inhalierten sie den ersten satten, aber flüchtigen Duft. Nur eine einzige Kapsel enthielt ein Objekt. Aus der Kapsel C am Fußende des Kreuzes zogen sie einen flachen Metallsplitter. »Eisen«, stellte Nikos fest. »Vielleicht Teil eines Nagels. Was meinst du? Oder vielleicht eine Lanzenspitze. Die Metallurgie unterscheidet sich ziemlich. Und falls irgendwelche Blutreste daran kleben, finden sie das in den Labors auch heraus.« Er brach einzelne Stücke von dem Splitter ab und ließ sie in die Reagenzgläser rutschen, die der Ägypter für ihn öffnete und wieder verschloss. Was von dem Metallsplitter übrig blieb, legte er auf ein Stück Mulltuch. Letztendlich hatten sie sechs Testsätze mit jeweils vier Röhrchen. Der Ägypter half, die Sets in wattierte Versandtrommeln zu verpacken, die bereits mit den Adressen von Labors in Europa, Israel und Südafrika beschriftet waren. Das Tablett mit den Einzelstücken des domo und den geöffneten 61
Kapseln trug Nikos in seinen Kühlraum. Er schob das zerlegte Artefakt auf seinen Platz in einem Glasregal neben den anderen Stücken seiner Sammlung, dann schob er die Paneele wieder vor die Front seiner gläsernen Geheimkammer. Der Ägypter fühlte sich müde, aber voller Energie. »Wann erhalten Sie die Laborergebnisse?«, fragte er. »Noch innerhalb dieser Woche«, antwortete Nikos. »Ich bin ein bevorzugter Kunde.« »Sie müssen mir unbedingt sagen, was dabei herausgekommen ist.« »Bei diesem Stück habe ich ein gutes Gefühl«, meinte Nikos. »Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich dieses Mal Gesellschaft hatte. Ich spüre deutlich, dass es diesmal etwas ganz Besonderes ist.« Sie waren in Feierlaune. »Medea«, rief Nikos laut. Nach einer Minute erschien seine Frau in der Tür. »Bring Wein. Und gesellt euch zu uns.« Medea und die Frau des Ägypters kamen mit Gläsern und einer Flasche französischem Chardonnay zurück. Nikos entkorkte die Flasche, füllte die Gläser und küsste seine schöne Frau. Er fühlte sich großartig. Sie hoben die Gläser, um anzustoßen. »Auf die Geheimnisse des Lebens«, sagte Nikos schlicht. Er hatte noch nie über den Begriff »AuslöschungsEvent« nachgedacht. Während er seinen edlen Wein trank, wäre es für ihn völlig unvorstellbar gewesen, dass er soeben das Tor zum Ende der Menschheit aufgestoßen hatte.
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2 Genesis MOUNT DESERT ISLAND, MAINE APRIL
Rette uns, Vater, betete Miranda zum schwarzen Wintermeer. Wellen zerschellten an den Klippen. Raureif bildete sich um ihre L.L.Bean-Stiefel und verflüchtigte sich wieder. Zitternd suchte die Halbwüchsige weiter nach dem Licht, das sie an diesem Morgen ganz besonders nötig hatte. Eine Million Meilen weit entfernt öffnete sich eine kleine Lücke am Rande der Unendlichkeit. Der Morgen zog herauf. Sie war zwar nicht abergläubisch, schöpfte aber dennoch Hoffnung. Vielleicht würden sie ihr Monster ja doch nicht töten. Beherzt drehte sie sich vom Klippenrand weg und überquerte rasch den Parkplatz des Aussichtspunkts und die Straße, die zu ihm heraufführte. Abgesehen von ihrem an einem Pfosten angeketteten Schwinn 10-Gang-Rad war der Platz vollkommen leer. Die Sommertouristen waren schon lange weg. Die Eiszeit war angebrochen: Frühling in Maine. Miranda rannte einen steilen Pfad hinauf, der sich zwischen den von den Winterstürmen mit Eis überzogenen Kiefern und Buscheichen entlangschlängelte. Ihr bleicher Atem verlor sich in den kahlen Ästen, es sah aus wie in einem Märchen. Sie drehte sich um, doch außer ihren Fußabdrücken auf dem gefrorenen Boden war nichts 63
zu sehen. Sie ging schneller, etwas schneller als bei einem Spaziergang, aber nicht so schnell wie bei einem Dauerlauf. Zu Anfang ihrer täglichen Besuche im Steinbruch hatte sie für den Weg noch vierzig endlose Minuten gebraucht. Jetzt, nachdem sie ihn seit drei Monaten zweimal täglich zurücklegte, schaffte sie es in genau vierzehn Minuten. Ihre langen Beine hatten kräftigere Waden und Oberschenkel bekommen. Vielleicht wuchs sie doch noch aus ihrem Bohnenstangenkörper heraus. Einige Jungs hatten sie sogar schon so merkwürdig angesehen. Interessiert. Als ob sie für so etwas Zeit hätte. Der Himmel wurde langsam grau. Sie hatte den Steinbruch erreicht und ging direkt bis zum Rand. Vor langer Zeit hatten die Männer den schwarzen Granit für Bankgebäude, Büchereien und Denkmäler aus diesem Loch herausgehauen. Heute war es, seit einem Jahrhundert mit Wasser voll gelaufen, wieder zur Natur zurückgekehrt. »Winston?«, rief sie. Eine Scheibe aus Eis bedeckte die Oberfläche des Teiches. Dort unten rührte sich nichts, und außer dem Echo ihrer eigenen, verloren wirkenden Stimme war auch kein Ton zu hören. Hier in der Gegend erzählten sich die Leute die Geschichte eines unglücklichen Mädchens, das sich aus Liebeskummer in den granitenen Abgrund gestürzt habe. Ihr Geist, so heißt es, spuke noch immer in dem Gewässer herum. Ob das nun stimmte oder nicht, der Steinbruch war jedenfalls verlassen. Hierher kamen keine Liebespaare aus der Highschool. Es gab hier keine samstagabendlichen Saufgelage und kein Nacktbaden. Seit nun bereits 153 Tagen gehörte dieser Ort ihr und dem kleinen Winston. Erst bei der Fütterung gestern Abend hatte Miranda die Reifenspuren auf der alten Feuerwehrzufahrt und eine Menge Fußspuren im gefrorenen Schlamm entdeckt. 64
Der Schock war immer noch nicht ausgestanden. Sie hatten sie gefunden. Du hast ihn getötet, warf sie sich selbst voller Verzweiflung vor. Seit sie vier Jahre alt war, war Miranda dazu erzogen worden, stets mehr von sich zu erwarten, niemals zu ruhen. Ihre Privatlehrer waren sehr qualifiziert und alle sehr sorgfältig ausgewählt worden. Getreu den Anweisungen ihres Vaters hatten sie ihre Tage als Mentoren bevölkert, aber nie als Kindermädchen oder gar Freunde. Nie hatte ihr jemand gesagt, sie solle langsamer machen, es ein wenig lockerer nehmen, es sich einfach mal gut gehen lassen. Es wurde allgemein angenommen, dass sie schon sehr früh zu Höchstform auflaufen würde. Miranda hatte die entsprechende Literatur gelesen, mit Psychiatern gesprochen und in den entsprechenden Chatrooms gelauscht. Ihr verrückter Doktortitel leuchtete ihr hell und vorauseilend voran. Miranda ging es wie einer außerordentlichen Schönheit, die Fremden Ehrfurcht einflößte. Der Unterschied lag darin, dass Miranda keine Anzeichen von Schönheit an sich erkennen konnte, wenn sie in den Spiegel schaute, sondern nur die dunklen Ringe der Schlaflosigkeit unter den Augen. In diesem nördlichen Licht fühlte sie sich wie im Exil, doch sie war alles andere als allein. Das Jax, wie das Jackson Laboratorium genannt wurde, hatte rund ums Jahr fast tausend feste Angestellte. Aber das Inselleben wurde sehr schnell anstrengend, sobald der Winter einsetzte. Die Selbstmordrate und die Gewalt gegenüber Ehefrauen stiegen mit der Gasrechnung. Miranda fühlte sich gefangen zwischen ihren postgraduierten Kollegen, die sie wie eine kleine Schwester behandelten, wie eine Minderjährige oder wie einen ebenso schrägen Zeitgenossen, wie sie selbst welche waren. Die Kids aus der Stadt in ihrem Alter kamen ihr wie Außerirdische vor. Sie konnte zwar die 65
String-Theorie erklären, hatte aber keine Ahnung von Freak Dance oder Snowboarding, geschweige denn davon, wie man Wimperntusche auftrug. Es lag nicht daran, dass sie es nicht probiert hätte. Mit der ihr eigenen schonungslosen Gründlichkeit hatte sie Cosmo und Talk gelesen, sich piercen und cornbraiden lassen und alles, was angesagt war, auswendig gelernt. Nichts davon zog. Die Texte der Popsongs kamen ihr schwachsinnig vor, die Kleider passten nicht. Sie hatte nach Seelenverwandten gesucht, aber nur sich wiederholenden E-Sex gefunden. Zwar wusste sie, wie man eine menschliche Zelle öffnete, um ihr die Geheimnisse des Lebens zu entlocken, aber sie wusste nicht, wie man sein Leben gestaltete. Jetzt, wo sie Winston entdeckt hatten, würde es wieder viel Psychogelaber über die Trennlinie zwischen Genie und völliger Entfesselung geben. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich daran gewöhnt, dass es für sie keine Privatsphäre gab, abgesehen von ihren ureigenen Gedanken. Und sogar die waren nicht restlos geschützt. Mit neun Jahren hatte sie entdeckt, dass die Tastenkombinationen, die sie am Computer benutzte, aufgezeichnet wurden. Mit zehn hatte sie den Safe geknackt, der ihre medizinischen und psychologischen Protokolle enthielt. Sie lasen sich wie die Führungsakte eines Gefängnisinsassen. Winston war ihr erster wirklich rebellischer Akt. Sie hatte geglaubt, sie sei wirklich vorsichtig gewesen. Aber jetzt waren sie ihr auf die Schliche gekommen, und ihm auch. Miranda stieg eine riesenhafte, grob aus dem Gestein herausgeschnittene Treppe zum Wasser hinab. Dort zog sie drei Bündel in Zeitungspapier eingewickelten, rohen Fisch aus ihrem Rucksack. Eigentlich hätte er schon auftauchen müssen. Es war inzwischen 6 Uhr 30. Er kannte diesen Felsvorsprung. Sie waren beide Gewohnheitstiere geworden. Wo bist du, Baby? 66
Einen Augenblick fürchtete sie schon, sie hätten ihn bereits weggeschafft. Dann aber drängte sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund. Vielleicht hatte Winstons Physiologie ja die Oberhand gewonnen. Bisher war es immer noch unklar, welche seiner Physiologien dominierte, aber es war gut möglich, dass er sich zum Winterschlaf zurückgezogen hatte. In diesem Fall konnten sie ihn vor Frühling nicht einfangen, es sei denn, sie würden den Teich im Steinbruch trocken legen. Miranda war keine Schwimmerin, erst recht keine Taucherin, aber in ihrer Fantasie hatte sie sein Unterwassernest schon besucht. Es war wahrscheinlich ein Loch mit einem gemütlichen Sims, eigener Luftzufuhr, voll mit Gräten und einem kleinen Schatz aus allen möglichen Dingen, die er zusammengetragen hatte. Seit sie Winston in einem 15 Liter-Plastikeimer hierher geschleppt hatte, wusste sie, was für ein eifriger Sammler er war. Er sammelte Haufen von kleinen bunten Kieseln und verteilte sie auf verschiedenen Vorsprüngen rund um den Teich. Er trieb die roten und gelben Eichenblätter zusammen, die auf der Wasseroberfläche wie eine Walflotte dahintrieben, und sortierte sie dann nach Farben. Vermutlich war sein Nest mit allen möglichen Fundstücken vom Teichboden ausgeschmückt: Colaflaschen, Bierdosen und rostigen Steinschneidewerkzeugen. Vielleicht hatte er ja auch den Schädel des bedauernswerten Mädchens gefunden und wie einen Schatz in sein Nest getragen. Die Sonne stieg höher, bleistiftdünne Lichtstrahlen durchdrangen den schützenden Wald. Die Eisschicht fing an zu tauen, löste sich in weißen Dampf auf. »Winston?«, rief sie flehentlich über das Wasser. »Sag bloß, du hast dem Ding einen Namen gegeben?« Die Stimme kam von oben, vom Wald herab. 67
Ihr Herz setzte einen Moment aus. Diese Stimme verfügte über den Nachdruck und den majestätischen Duktus eines Shakespeare-Schauspielers. In gewisser Weise war Paul Abbot ja auch ein Schauspieler. Neben seinen Rollen als Königsmacher in der Welt der Wissenschaft und Magier in der Welt der Politik spielte er auch noch eine kleine Nebenrolle als ihr Vater. Nicht gerade eine seiner Paraderollen. Sie drehte sich um. Er stand am Rand des Steinbruchs. Sein Burberry-Mantel war aufgeknöpft und hing wie ein Umhang von seinen breiten Schultern. Er sah aus wie ein Löwe. Schwer zu sagen, wie lange er schon dort im Verborgenen gestanden hatte. Er war nicht außer Atem und an seinen Tweedhosen hing kein Schlamm, also konnte er nicht den gleichen Weg genommen haben. Wahrscheinlich hatten sie das Tor aufgeschlossen und ihn die alte Feuerwehrstraße heraufgefahren. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es rechtzeitig schaffst«, sagte sie, und das war die reine Wahrheit. Man konnte nie genau sagen, wo in der Welt ihn ihre gelegentlichen Anrufe erreichten: Washington D.C., Tokio, London, Atlanta. Aber da stand er nun. »Mein Besuch ist wohl überfällig«, erwiderte er ernst. »Bitte komm hier hoch. Weg vom Wasser.« Sie hatten es ihm also gesagt, so viel war klar. In ihrer Welt gab es keine Geheimnisse. Rätsel ja, aber es gelang ihr nie, etwas zu verstecken oder zu verheimlichen. »Wie lange weißt du es schon?«, fragte sie. Wo hatte sie einen Fehler gemacht? »Schon seit Monaten«, antwortete er. »Dein Verfahren und dein Timing sind uns immer noch unklar. Aber als du diesen … Winston in das Aquarium in deinem Zimmer gebracht hast, verdichteten sich die Beweise.« 68
Von der Konzeption bis zur Geburt hatte das Geheimnis also gehalten. Miranda dachte an die Monate danach. September, Oktober, November. Sie sortierte Stunden und Gesichter und kam zu dem Schluss, dass sie vor Oktober nicht sehr viel gewusst haben konnten, sonst wären sie ihr damals schon in den Arm gefallen. »Warum jetzt?«, fragte sie. »Es wäre schon viel früher geschehen, aber wir hatten es aus den Augen verloren«, antwortete ihr Vater. »Niemand hat damit gerechnet, dass du ihn wegbringst. Wir dachten, er sei vielleicht gestorben. Aber dann kamen die Berichte herein, und schließlich sind sie dir auf die Spur gekommen. Das war gestern.« Gestern! Dann war Winston bis dahin also in Sicherheit gewesen. Jetzt, da sie entdeckt war, musste Miranda zugeben, dass sie sich ein bisschen erleichtert fühlte. Eigentlich war sie sehr müde. »Wer hat es dir gesagt?« »Ist das nicht egal?« Er hatte Recht. Es war nicht wichtig. Seit sie denken konnte, hatten mächtige Leute ihrem Vater, dem »Wissenschaftsguru«, Bericht erstattet. Dr. Abbot, der Nobelpreisträger, Ratgeber von Präsidenten, Generälen und des Kongresses, regierte die Akademie der Wissenschaften mit eiserner Faust. Man konnte nichts dabei gewinnen, wenn man die Handlungen seiner Tochter vor ihm geheim hielt. Im Gegenteil: In ihrem Umfeld gab es regelmäßig Fördergelder abzustauben. »Sie haben deine Laborgeräte untersucht, Miranda. Sie haben Gewebeproben von deinen Objektträgern abgekratzt. Sie haben deine künstliche Gebärmutter gefunden, gebaut nach dem Plexiglasmodell von Yosinari Kawabara. Ich habe ihn übrigens in Tokio angerufen. Er sagt, er hat 69
nie mit dir gesprochen.« Miranda war stolz. »Es war nicht so schwer, das herauszufinden.« »Ja«, gab er zu, »aber hier geht es darum, dass du den Jax-Leuten wahrscheinlich einen Schritt voraus warst. Sie sind allerdings keineswegs blind. Jax hat sich darauf spezialisiert, Mäuse für die medizinische Forschung zu klonen – und du führst Rana sylvestris in ihren Labors ein und glaubst, das bemerkt niemand?« »Rana pipens«, korrigierte ihn Miranda mit Genugtuung. Ihre Detektivarbeit war also doch nicht so präzise. R. sylvestris war an das Leben im Wald angepasst. Sie hatte R. pipens, den »Leoparden des Nordens«, gewählt, gerade weil er eine Vorliebe für Teiche hatte. In der Planungsphase schien das eine perfekte Möglichkeit, ihre Schöpfung unter Kontrolle zu halten. So weit war ihre Logik ja auch richtig gewesen, denn der Steinbruch war lediglich eine Art größeres Aquarium, und Winston hatte keine Anstalten gemacht, ihn zu verlassen. »Frösche eben«, sagte ihr Vater. »Du weißt, was ich meine. Du hast Äpfel mit Orangen gemischt und dann angefangen, mit Genen herumzuspielen.« Sie wunderte sich. War das alles, was sie entdeckt hatten? Nur das Froschmaterial? »Es hat ihn noch niemand gesehen, stimmt’s?«, fragte sie. »Sie haben keine Fotos, und es hat ihn auch noch niemand zu Gesicht bekommen.« »Es gibt wohlfundierte Vermutungen. Du hast eine neue Spezies kreiert, die sich vermehren könnte. Sie stammt von einer Amphibie ab und ist ein Fleischfresser. Und du hast deine Laborausrüstung kontaminiert.« »Was?« »Du hast dich geschnitten. Auf den Proben waren überall Spuren deiner DNA.« 70
Das dachten sie also. Sie waren der Wahrheit noch nicht einmal im Entferntesten nahe gekommen. Mit einem Mal stieg Wut in ihr auf. Seit wann hatten sie ihr Blut genetisch bestimmt? »Ich habe mich nicht geschnitten«, sagte sie und ließ ihre Antwort einwirken. Ihr Vater war beängstigend schnell. Die Wahrheit traf ihn wie ein Blitz. »Sag, dass du das nicht getan hast«, flüsterte er. Er war gelernter Mathematiker. Zellbiologie war zwar nicht gerade sein Spezialgebiet, aber das waren Astronomie, Teilchenphysik, Medizin und Atmosphärenchemie streng genommen auch nicht. Trotzdem kannte er sich auf diesen Gebieten hervorragend aus. Er wusste eine Menge über viele Dinge. Sie nickte zustimmend. »Was hast du nur getan, Kind?« »Es war ganz einfach. Ich habe die richtige Zeit meines Zyklus abgewartet und dann eine meiner Eizellen geerntet.« »Miranda«, sagte er vorwurfsvoll. »Warum nicht die Eizelle von einer Maus oder einem Frosch?« Er betrachtete es als persönlichen Angriff, als wäre sie in sein Bett gekrochen oder als hätte sie sich selbst vergewaltigt. Seine Worte vermittelten ihr das Gefühl, etwas Unanständiges getan zu haben. Mit trotzig vorgeschobenem Kinn sagte sie: »Sie gehörte mir.« In Wahrheit wäre die Eizelle eines Frosches viel leichter zu manipulieren gewesen, denn sie war um einiges größer als menschliche Eizellen. Aber sie hatte eine ihrer eigenen Eizellen benutzt, als eine Art Stellungnahme, um ihren grenzenlosen Glauben an das, was sie tat, zum Ausdruck zu bringen. Dabei war sie eine Verpflichtung eingegangen. Was auch immer sich daraus entwickelte, es war im Kern 71
auch immer ein Stück sie selbst. Als sie ihr Menstruationsblut untersucht, die Eizelle gefunden und den Kern entfernt hatte, um Platz für den Froschnukleus zu schaffen, hatte sie seltsamerweise das Gefühl gehabt, als verließe sie ihr Ich und beträte einen unermesslich schönen Entwurf. Es war wie eine Epiphanie gewesen. Sie war ein Teil dieser Welt, nicht mehr nur Beobachterin. »Das erklärt deine DNA in den Proben aber immer noch nicht«, erwiderte ihr Vater. »Wenn du deine Eizelle richtig entkernt hast, war sie lediglich ein leeres Gefäß. Der Klon wäre dann nur Frosch.« Sie zuckte mit den Achseln, empfand aber zugleich das lebenslange Schuldgefühl, das ihr von ihren Lehrern eingeimpft worden war. Sie hatten gute Arbeit geleistet und ihren Schützling zu einer völlig leistungsorientierten Neurotikerin gemacht. »Ich habe nicht den ganzen Kern erwischt«, gab sie zu. Er stöhnte auf. »Ich habe es verpfuscht, okay? Es war noch etwas von mir drin.« »Etwas?« »Mehr als ich dachte.« Miranda bestrafte sich selbst, indem sie alle ihre Fehler aufzählte. Zuerst hatte sie dabei versagt, den Zellkern komplett abzusaugen, so dass in ihrer Eizelle noch mehr als genug menschliche DNA übrig geblieben war. Dann hatte sie einen Zellkern aus einer Zelle der inneren Darmwand einer Kaulquappe entnommen. Erst viel zu spät hatte sie erfahren, dass bei Fröschen die Spermien und Eizellen im Magen entstehen und dann erst von dort zur Aufbewahrung in die Geschlechtsdrüsen wandern. Unbeabsichtigt hatte sie den Kern eines Spermiums entnommen und damit ihre eigene Eizelle befruchtet. Technisch gesehen 72
war Winston also kein richtiger Klon, sondern ein monströses Kind, eine ganz besondere, mit Mikropipetten und Glaskolben zusammengerührte Aminosäurenmischung. »Eine Chimäre«, stellte er entsetzt fest. »Du hast die Artengrenze überschritten. Mit menschlichem Genom!« Diesen alttestamentarischen Vorwurf hatte sie erwartet. Aber es lag noch etwas anderes in seiner Stimme. Angst. So hatte sie ihn noch nie gehört. Er war erschüttert. »Er ist aber harmlos«, sagte sie. »Miranda, dieses Ding ist ein Scheusal«, beteuerte er. Fast hätte sie sich über dieses Wort lustig machen können. Was kam als Nächstes? Tod auf dem Scheiterhaufen? Sie beherrschte sich. »Du hast ihn ja noch nicht mal gesehen! Er ist fantastisch. Du wirst deinen Augen nicht trauen. Was ich geschaffen habe, ist ein wunderbares Geschöpf.« Sein Ärger schwand. Miranda sah, dass sie seine Neugier geweckt hatte. Aber sie mahnte sich zur Vorsicht, denn Paul Abbot war nie grenzenlos neugierig, wie so viele seiner Kollegen. Es lag in seiner Natur. Er verfügte über die Selbstkontrolle, seine intellektuelle Bindung an etwas rechtzeitig zu beenden, bevor eine Kettenreaktion auch nur entstehen konnte. Soweit sie wusste, hatte er keine Schwachpunkte, so sehr sie das auch schon bedauert hatte. Jede Tochter sollte wenigstens ein bisschen Macht über ihren Vater haben, aber ihr war das nicht vergönnt. »Komm bitte hier rauf«, wiederholte er. »Weg vom Wasser.« Was war denn mit dem Wasser? »Hörst du mir überhaupt zu?«, wollte sie dann wissen. »Ohne Vorurteile und ohne vorgefasste Meinung?« »Ja, aber komm bitte zu mir.« 73
Sie kletterte mit den Fischpaketen die Felsstufen hinauf und ging, oben angekommen, am Rand des Steinbruchs auf ihn zu. Einen Augenblick waren sie beide darüber irritiert, wie sehr sie gewachsen war. Er hatte immer so groß gewirkt, und jetzt standen sie auf gleicher Augenhöhe. Er machte eine Bewegung, die der Ansatz zu einer Umarmung hätte sein können, vielleicht stellte er damit aber auch nur sein Gleichgewicht wieder her. Bei ihm waren Liebe und Würde grundsätzlich dasselbe. Miranda ließ seinen Arm einen Moment in der Luft stehen, drückte sich dann aber doch an ihn. Sie umarmte ihn kurz und nur schräg von der Seite, damit er nicht auch noch ihre Brüste bemerkte. Ihre Weiblichkeit ging ihn nichts an. »Du trägst dein Haar anders«, sagte er. Sie hatten sich seit acht Monaten nicht gesehen. Haare wie Schlangen. Ziemlich Einsteinmäßig. »Das ist dir aufgefallen?« Erinnerst du dich nicht mehr an mich?, wollte sie ihn fragen. Ich bin doch dein Baby. Aber dagegen war er immun, und das wusste sie. Er ließ den Ärmel mit einer präzisen Bewegung hochrutschen, um auf die Uhr zu sehen. »Zehn Minuten«, verkündete er, dann hob er die Hand und zeigte zweimal hintereinander alle fünf Finger. Zehn, das war das Signal. Sie drehte sich zum Wald um. Wer auch immer mit ihm gekommen war – sein Fahrer, seine Assistenten, vielleicht sogar der Labordirektor – blieb außer Sichtweite, während er dieses Gespräch unter vier Augen mit seiner verlorenen Tochter führte. Dann sah sie eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite des Steinbruches. Die mit Tarnanzügen bekleideten Gestalten konnten Soldaten oder Wilderer sein. Oder Biologen auf Exkursion. 74
Sie zerriss das Zeitungspapier, das ein blutiges Stück Dorsch umhüllte. »Fang«, rief sie und warf es ihrem Vater zu. Er erwischte es nur ein paar Zentimeter vor seiner zerknitterten Hose. Er hielt das rohe Fischfleisch in der Hand. »Okay«, sagte er. »Und jetzt?« Diese Art miteinander umzugehen, war für sie beide entschieden einfacher: Er kochte auf kleiner Flamme und war in Zeitnot, sie ein wenig vorlaut und hatte voll auf Selbstverteidigung geschaltet. »Man nennt das ›Frühstück‹«, antwortete sie. »Wirf es rein.« Er schleuderte den Fisch in hohem Bogen in den Steinbruch, wo er auf das dünne Eis klatschte. Sie warteten, doch kein Winston war zu sehen. »Er hat vielleicht Angst«, vermutete sie. »Schließlich hat er noch nie einen Mann gesehen.« »Er beobachtet uns? Durch das Eis?« Ihr Vater trat einen halben Schritt von der Felskante zurück. »Keine Angst. Er frisst keine Menschen.« »Noch nicht«, behauptete ihr Vater. »Sei nicht albern. Wir haben es mit Grashüpfern versucht«, erklärte sie fröhlich. »Winston mag aber nur Fisch.« »Dann hast du die zerrissenen Tiere noch nicht gesehen?« Er stellte ihr keine Frage, sondern eine Falle. »Wovon redest du?« »Von Knochen, Gerippen, Eierschalen und Federn, überall auf dem Waldboden verstreut. Winston ist ein ganz schöner Jäger. Sein Speiseplan ist beeindruckend und umfasst alle Arten. Er hat den Wald im Umkreis von einer 75
halben Meile leer gefegt. Von Mäusen über Eichhörnchen bis hin zu Waschbären, Eulen und Eichelhähern, einfach alles. Sogar ein Reh hat er gerissen. Es ist noch nicht ganz geklärt, ob es bereits in der Jagdsaison verletzt wurde, oder ob er es tatsächlich ganz allein erlegt hat.« Miranda versuchte ihr Entsetzen zu verbergen, indem sie sich zum Wasser umdrehte. Winston hatte den Teich verlassen? War die Nahrungskette hochgeklettert? Er konnte auf Bäume steigen, sich an Land fortbewegen? Töten? Am beunruhigendsten dabei fand sie, dass er ein zweites, eigenständiges Leben führte, von dem sie nichts wusste. »Er wiegt doch aber gerade mal 40 Pfund«, stammelte sie. »Wir müssen das noch genauer untersuchen«, fuhr ihr Vater fort. »Fest steht jedoch, dass dein Winston immer dreister wird. Er erweitert sein Futterrevier in konzentrischen Kreisen. Zu Anfang war er sehr vorsichtig und hat sich in der Nähe seines Nestes aufgehalten. Sein letztes Opfer wurde jetzt einen guten Kilometer von hier entfernt gefunden. So sind wir überhaupt erst auf den Steinbruch gekommen, wenn du’s unbedingt wissen willst. Eine Hausbesitzerin hat gestern Morgen beim Sheriff angerufen. Die Dame hat ihn zwar nicht töten sehen, aber sie hat gesehen, was übrig geblieben ist. Ihr Retriever hatte gerade Junge bekommen. Winston hat die Mutter in Stücke gerissen und die meisten Welpen aufgefressen.« »Das glaube ich dir nicht«, widersprach sie mechanisch. »Es gibt noch andere wilde Tiere hier auf der Insel. Alle möglichen Raubtiere. Füchse, Kojoten.« »Miranda, er hat sich einen der Welpen zum Spielen mitgenommen.« Ihr Vater zeigte auf einen Baum, der über den Abgrund ragte. Miranda zuckte bei dem furchtbaren Anblick zusammen. Der kleine Hund hing wie eine Puppe in der Birke. »Er hat ihm die Beine gebrochen und ihn in der Astgabel hängen lassen. Wir können nur Vermutungen 76
darüber anstellen, warum er sich diese Arbeit gemacht hat. Ist es eine Art Trophäe für ihn oder nur ein Mitternachtssnack?« Das Stück Fisch auf dem Eis dampfte. Es war noch warm vom Transport hierher. Langsam schmolz das Eis darunter weg. »Ich habe noch keine Beweise dafür gesehen«, sagte Miranda schließlich. »Vielleicht solltest du das ja auch nicht.« Sie blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Das Gebiet links und rechts von deinem Weg hat er sauber gehalten«, fuhr ihr Vater fort. »Also ist es sehr wahrscheinlich, dass er seine erlegten Opfer vor dir geheim gehalten hat.« Seltsamerweise löste sich Mirandas Entsetzen auf. Sie wusste, dass es nicht richtig war, aber sie konnte nicht anders. »Weißt du, was das bedeutet?« »Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, was das alles hier bedeuten soll«, entgegnete ihr Vater. Sie war aufgeregt. »Selbstbewusstsein und Intelligenz.« »Jetzt reicht’s aber, Miranda …« »Du hast ja keine Ahnung. Seine kognitiven Fähigkeiten sind unglaublich.« In diesem Moment fiel ihnen ein dunkler Schatten unter dem Eis auf. Er bewegte sich lautlos wie Tinte. Sein Rükken glitt nur ein paar Millimeter unter der Wasseroberfläche entlang, purpurfarben und orange, mehr geisterhafte Erscheinung denn Körper. Ihr Vater deutete mit dem Finger darauf, und Miranda nickte. Ja, das war er. Unversehens schnitt der Schatten ein halbmondförmiges Loch in die Oberfläche, und das Stück Fisch war verschwunden. Alles ging so schnell. Zurück blieb nur ein 77
fischgroßes Loch in der Eisdecke. Ihr Vater hörte sich an, als sei ihm die Luft ausgegangen. Trotz all seiner Bedenken war er für einen Moment einfach nur erstaunt. »Kommt er zurück?« Miranda bejahte, denn sie wusste, wonach sie Ausschau halten musste. Sie sah die Luftblasen, die er hinter sich herzog und die sich an die Eisoberfläche drängten wie an Glas. Sein Kommen machte sie so glücklich, dass es sie selbst überraschte. Es war nicht das Futter, das ihn an die Oberfläche lockte. So viel war jetzt klar, denn er konnte ja für sich selbst sorgen. Es war wohl eher der Sonnenaufgang, denn Winston liebte das Licht. Und Miranda. So klar und einfach war es. Sie fragte sich, wie das erste Licht unter dem Eis wohl aussah. Wohl wie ein Regenbogenhimmel. Gleichzeitig fühlte sie sich hintergangen, weil er getötet hatte. Nein, das war nicht ganz richtig. Es war nicht sein Jagdtrieb, sondern die Tatsache, dass er sich weiterentwickelte. Sie hatte ihn geschaffen, und jetzt war er ihr entglitten. Er war nicht mehr von ihr abhängig. »Wo ist er?«, fragte ihr Vater. Winston durchstieß das Eis. Er schoss wie ein Speer inmitten einer Explosion aus Scherben durch die Eisdecke und schien frei in der Luft zu schweben. Sein Bauch hatte die Farbe reifer Zitrusfrüchte. Dann drehte er sich und brach wieder durch das Glas. Das Eis zerbarst mit einem lauten Eisbrecherkrachen, und weg war er. »Großer Gott!«, flüsterte ihr Vater. Gut gemacht, Winston, dachte Miranda. »Ist er nicht wunderschön?« Ihr Vater war entsetzt. »Das Gesicht.« Er hatte es also gesehen. 78
»Sein Mienenspiel ist erstaunlich abwechslungsreich.« Immer das Positive betonen. Zeit gewinnen. Lass sie sich erst einmal aneinander gewöhnen. »Er lächelt, runzelt die Stirn, zeigt Angst und Traurigkeit.« Miranda öffnete ein zweites Paket. Darin lag ein Hummer, Winstons Lieblingsspeise. »Winston«, rief sie ihn, und warf den Hummer hoch in die Luft. Das Monster sprang in hohem Bogen nach oben, um ihn zu fangen. Wieder barst das Eis. Wieder konnte man ihn im Sonnenlicht sehen. Glänzende glatte Haut, Schwimmfüße, die sich auf dem Wasser abstießen, die Arme ausgestreckt. Seine angeborene Grazie betonte das Groteske an ihm nur noch mehr. Mit dem affenartigen, aber völlig haarlosen Kopf und Gesicht war er eine Mischung aus verschiedenen Wesen, weder ganz das eine, noch das andere. Er fing den Hummer mit den Händen auf, die kurze Knöchel und wächserne Fingernägel hatten. Die Fingerspitzen waren blutrot, die Handinnenflächen weiß. Sie hatte diese Hände angefasst. Sie hatten Wirbel; Winston hatte Fingerabdrücke. Und helle, jadegrüne Augen. Auf dem Scheitelpunkt seines Sprunges sah Winston zu ihnen herüber. Seine Ohren, kleine Knubbel mit Löchern, drehten sich zu ihnen hin. Er taxierte den Fremden, und ein Ausdruck von … Freude … zeigte sich in seinem Gesicht. Dann tauchte er wieder durch das Eis. »Du hast es also wirklich getan«, murmelte ihr Vater. Er zitterte. Er hatte die Augen erkannt, Mirandas Augen. Und Mirandas Augen waren wiederum die grünen Augen einer Frau, über die keiner von beiden je sprach. »Du hast es tatsächlich gewagt.« »Das ist noch nicht alles«, erwiderte Miranda ruhig. Sie wusste, dass ihre Welt sich verändern würde. Jetzt war es 79
nur noch die Frage, wie. Es kam ihr vor, als hätte sie ihren Fatalismus weit hinter sich gelassen. Die einzige Unbekannte war, was ihr Vater für Winston vorgesehen hatte. »Ich habe genug gesehen.« »Nein, hast du nicht«, widersprach Miranda. »Hör mir doch wenigstens einmal richtig zu.« Er winkte ab. »Du wirst versetzt. Du hast dich zu einem Cowboy oder einem Cowgirl oder so etwas entwickelt. Du bist schießwütig. Jemand hätte dich besser überwachen, dich anleiten und dir Respekt für das System vermitteln sollen. Ich habe mit einem guten Freund gesprochen.« Ihre Wächter, ihre Uniprofs und Aufpasser, sie waren alle immer gute Freunde gewesen. »Wer ist es diesmal?«, fragte sie. »Elise Golding.« »Elise?« Miranda keuchte. Bei der Beerdigung war es Elise gewesen, die sich hinter einem verwirrten kleinen Mädchen hingekniet hatte, ihm half die Hände zu falten und ihr ein Gebet ins Ohr flüsterte, das sie nachsprechen konnte. Während Paul Abbot weinte, war es Elise gewesen, die Miranda half, ihre Mutter in den Himmel zu den Engeln zu schicken. »Sie nimmt dich unter der Bedingung, dass du …« Den Rest hörte Miranda schon nicht mehr. Ihr Vater stellte immer Bedingungen. Elise würde sie ohne Bedingungen aufnehmen, das wusste sie. Eine innere Freude erfüllte sie. »Du fährst heute ab. Noch heute Morgen«, führte ihr Vater aus. »Du hast Jax großen Schaden zugefügt, aber der Direktor hat versprochen, dein Chaos zu beseitigen. Mit dem Sheriff ist alles abgeklärt. Das Ganze hier ist nie geschehen.« 80
»Heute Morgen schon?« »Deine Taschen sind bereits gepackt.« »Das kannst du nicht machen.« »Du fliegst nach Los Alamos. Die University of California überwacht dort alle Operationen. Elise hat einen Platz für dich gefunden. Sie sagen, du hast goldene Hände.« »Aber … Winston …«, setzte sie an. »Ich kann nur dich retten«, unterbrach sie ihr Vater. »Ich kann ihn doch nicht einfach zurücklassen. Er braucht mich.« »Dort ist es viel sicherer für dich, Miranda.« »Er würde mir nie etwas zu Leide tun.« »Ich mache mir keine Sorgen um dein Geschöpf.« Sie zögerte. Er hatte sich wieder auf die sachlich bürokratische Ebene zurückgezogen. Dennoch konnte sie seine abgrundtiefe Angst heraushören. »Hast du von diesen Krankheitsausbrüchen in Europa gehört? Dort ist ein mysteriöses Virus aufgetaucht.« »In Südafrika auch«, sagte sie. »Aber das war schon vor Wochen, und nur beschränkt auf zwei oder drei Labors. Das ist schon wieder vorbei. Mit Ebola muss man halt leben«, witzelte sie mit einem Schulterzucken. »Es war kein Ebola.« Jeder dieser Ausbrüche war von einem renommierten Labor ausgegangen, das sich auf DNA-Analyse spezialisiert hatte, aber nicht auf die Erforschung von Krankheiten. Keines davon verfügte über mehr als die einfachsten biologischen Sicherheitsvorkehrungen. Das wahre Rätsel war die Frage, wieso ausgerechnet diese Labors zuerst mit dem Virus zu tun gehabt hatten. Es gab Gerüchte, Ökoterroristen hätten die tödlichen Proben verschickt, oder es 81
gäbe einen verrückten Einzeltäter, einen Terroristen mit einem Arsenal selbst gezüchteter, tödlicher Seuchen. In Wissenschaftskreisen war bekannt geworden, dass diese Krankheit eine Art hämorrhagisches Fieber war, wahrscheinlich Ebola. Miranda hatte gehört, dass es durch bloße Berührung übertragen wurde, womöglich aber auch durch Tröpfcheninfektion. Die Verantwortlichen hatten die übliche Abwehrhaltung eingenommen und die Zwischenfälle weder bestätigt noch abgestritten. Sie hatten zugelassen, dass die Klatschpresse das Virus zu einer Fleisch fressenden Absurdität aufbauschte. Die Öffentlichkeit hatte sich rasch anderen Dingen zugewendet, und auch Miranda hatte der Geschichte keine größere Beachtung mehr geschenkt. »Sie haben es doch unter Kontrolle gebracht«, erwiderte sie. »Aber nur, weil sie alles sofort unter Quarantäne gestellt haben«, sagte ihr Vater mit Nachdruck. »Es war mehr als knapp.« Sie spürte einen Anflug von Angst, weniger weil es »mehr als knapp« gewesen war, sondern wegen der unerbittlichen Quarantäne. »Und was war es?« »Wir wissen es noch nicht genau. Es greift zuerst die Haut an und wandert dann direkt ins Gehirn.« Sie dachte einen Moment darüber nach. Zuerst die Haut, dann das Gehirn. Wo war da die Verbindung? Die Symptome begannen beim äußersten Organ und sprangen dann auf das innerste über. »Natürlich!« Plötzlich fiel es ihr ein. »Beide Organe stammen vom selben Gewebe ab.« Sie wollte sein Rätsel lösen und ihr Können zeigen. Cowboy! Er beobachtete sie. »In der frühen Entwicklungsphase stülpt sich der fötale Zellklumpen von innen nach außen«, zitierte sie. »Die 82
Außenhaut bildet eine Röhre, einen Hohlraum, der sich zum Rückenmark und zum Gehirn ausbildet. Auf der Zellebene sind Haut und Gehirn dasselbe. Das ist auch der Grund, warum Melanome so tödlich sind. Sie zeigen sich zuerst auf der Haut und greifen dann direkt die Nervenzellen an.« Er war beeindruckt, das war deutlich zu sehen. Aber war er auch beeindruckt genug? Würde er ihr einen Aufschub gewähren und sie mit ihrer glitschigen Kreatur weitermachen lassen? »Das scheint bei dieser neuen Krankheit tatsächlich der Fall zu sein«, stellte er fest. »Haut«, überlegte sie laut weiter. »Es überträgt sich also durch Berührung, durch Hautkontakt? Wie sieht’s mit Tröpfcheninfektion aus? Lebt das Virus in Wasser oder in Blut? Wie lange konnte es außerhalb seines Wirtes überleben? Woher kam es? Habt ihr seine Proteine schon bestimmen können?« Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus. »Wir haben seine natürliche Umgebung noch nicht definieren können«, antwortete ihr Vater. »Niemand hat es bis jetzt gesehen. Wir haben keine Ahnung, ob es überhaupt ein Virus ist. Wir wissen es nicht.« An Versuchen hatte es bestimmt nicht gemangelt, vermutete Miranda. Die internationalen Bemühungen mussten ebenso zahlreich wie fruchtlos gewesen sein, um eine solche Besorgnis bei ihm hervorzurufen. »Was könnte es denn sonst sein?«, fragte sie. Bakterien waren zu groß, die konnte man nicht übersehen. Beim Stand der heutigen Immunologie waren sie so unauffällig wie Elefanten, die gerade durch den Lincoln-Tunnel spazierten. Ein Prion also? Die waren bei unbekannten Seuchen gerade groß in Mode. 83
Fürs Erste schloss ihr Vater die Beweisaufnahme und wurde wieder zum Vorsitzenden des allgemein akzeptierten Kästchendenkens. Kästchen in Kästchen in Kästchen, die wiederum Kästchen enthielten. »Augenblicklich möchte ich nicht, dass du weiter mit Tieren arbeitest«, erklärte ihr Vater bestimmt. »Ich verstehe ja deine Bedenken wegen der Krankheit«, erwiderte sie. »Aber Winston ist einzigartig. Er ist kein Problem.« »Er mag wohl einzigartig sein, aber er ist ähnlich. Genauso wie die Viren ist er völlig unbekanntes Terrain. Wir wissen nicht, was er ist, und deswegen ist er eine Gefahr. Darüber gibt es keine Diskussionen.« »Es gibt noch etwas, das du wissen solltest«, platzte sie heraus. »Über Winston. Es ist wichtig.« Sein Blick zuckte zum Teich. Scherben aus zerbrochenem Eis schaukelten auf dem dunklen Wasser. Wie ließ sich das am besten zusammenfassen? »Ich habe sein Wachstum im Uterus beschleunigt«, fing sie an. »Winston wurde so geboren, wie du ihn eben gesehen hast. Gleiche Größe, gleiches Gewicht. Er kam voll entwickelt zur Welt.« Wie immer zerlegte ihr Vater die Information in kleine, handhabbare Teile. »Du hast ihn bis zur vollen Größe ausreifen lassen? In einem Plexiglaskasten? Unmöglich!« Sie war schon weiter: »Ich habe seine Entwicklung beschleunigt. Der Auslöser dafür war schon da, ich musste ihn nur betätigen. Aber das war nicht das Schwierigste.« »Was war dann das Schwierigste?« »Ihn auch wieder abzuschalten. Sonst wäre Winston bereits vor einem Monat an Altersschwäche gestorben. Ich musste einen genetischen Weg finden, das zu verhindern.« 84
»Miranda.« Ihr Vater sprach langsam und sehr betont. »Du musstest einen Weg finden, um was zu stoppen?« »Das Altern. Den Tod.« »Was?« »Ich habe die Bremse gefunden und sie eingebaut.« Ihr Vater starrte sie an. »Das kann nicht sein.« »Warum nicht?«, fragte Miranda. »Nur weil ich sie gefunden habe?« »Weil es chronologisch überhaupt nicht mit der aktuellen Forschung zusammenpasst, Miranda«, antwortete ihr Vater. »Es kommt aus dem Nichts. Und … ja, weil du es bist. Ein sechzehnjähriges Mädchen, das noch nichts veröffentlicht hat, keine Forschungsgelder bekommt und das heimlich und allein arbeitet. Ohne jede Hilfe, mit ein paar gestohlenen Instrumenten, außerhalb des Blickfeldes der wissenschaftlichen Gemeinschaft.« »Siebzehn, Dad. Vor zwei Wochen. Nur für die Akten«, unterbrach sie ihn. Sein Mund ging auf und schloss sich wieder. Normalerweise übernahm das eine seiner Sekretärinnen für ihn, mit ein paar Rosen und einem Scheck. Sie konnte seine Kaumuskeln arbeiten sehen. Er war verärgert. »Wenn das, was du sagst, wahr ist«, kam er wieder auf Winstons Genese zurück, »dann hast du die ordnungsgemäße Vorgehensweise einfach übergangen.« Ja, sie hatte die Chronologie übergangen. Na und? »Daran ist nichts Geheimnisvolles«, fuhr sie rasch fort. Ihre zehn Minuten waren fast um. »Das ist genauso natürlich wie die Natur selbst. Alle sind so damit beschäftigt, das Genom zu entschlüsseln und Mäuse zu klonen, dass sie sich noch keine Zeit dazu genommen haben, den Code in der Welt draußen zu testen. Ich hab’s getan, und deswegen 85
habe ich auch eine echte Entdeckung gemacht.« Jetzt hatte sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Du musst dir das selbst ansehen. Wir müssen näher ran.« Sie hüpfte auf den nächsten Felsvorsprung hinunter. »Geh da weg, Miranda. Das ist gefährlich.« »Nur ein bisschen näher, dass er dich besser anschauen kann. Dann wirst du sehen.« »Du weißt nicht, wozu er fähig ist.« »Doch, weiß ich«, sagte sie stur. »Er ist wie ein Wunder. Du kennst doch das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen. Ergebnisse, die du nicht vorausgesehen hast.« Irgendetwas, ihre Überzeugung oder seine Neugier, überwand die Kluft zwischen ihnen. Er zog seinen Trenchcoat aus und ließ sich zu ihr hinunter. Miranda hüpfte eine weitere Stufe nach unten und er folgte. Sie brachte ihn nicht bis ganz ans Wasser, er war jetzt auch so nahe genug. Miranda packte das letzte Bündel aus, einen zweiten Hummer, und ließ ihn ein paar Meter über das Eis gleiten. »Hier, Winston«, rief sie. Das Monster näherte sich. Es war ein kraftvoller Schwimmer und sein limonengrüner Rückenkamm warf eine dünne Wasserspur hinter ihm auf. Dieses Mal gab es keine Show, keine spektakulären Delphinsprünge. Er hielt kurz vor dem Hummer an, schob Kopf und Schultern durch das Eis und sah sie beide an. Winstons Gesicht war so fantastisch, dass es entweder abstoßend oder aber unglaublich schön war. Es gab keinen Maßstab, keine Richtschnur, woran man ihn hätte messen können. Sein Kopf war breiter als hoch, seine Nasenlöcher schwarz und aufgebläht und seine Haut schlüpfrig glatt. Er hatte völlig farblose Lippen, geformt wie die eines Men86
schen. Seine Zähne standen krumm und schief im Zahnfleisch, zu schwach, um eine ordentliche Zahnreihe zu bilden. Sie waren faulig und vom Herumkauen auf den Knochen teilweise abgebrochen. Das Kopfhaar wollte wachsen, was seine Froschgene jedoch verhinderten. Das Ergebnis waren pickelige Follikel. Halb im Eis und halb draußen, griff er nach dem Hummer und fing an, die Schale abzupflücken. Seine Hände gruben sich in die Eingeweide und zogen sie wie Spaghetti heraus. Dabei tat er die ganze Zeit so, als bemerke er sie gar nicht. »Hallo, Winston«, sprach ihn Miranda an. Seine Ohrstummel drehten sich. »Wie geht es meinem kleinen Prinzen?« Das Monster sprach. Es bellte nicht und es schrie auch nicht. Seine Laute, eine Reihe aus unverständlichen Tönen und kehligen Knacklauten, kamen der menschlichen Sprache sehr nahe. Sein glucksender Redefluss riss nicht ab. Er erzählte mit großer Ernsthaftigkeit von irgendetwas. »Das ist richtige Sprache«, erklärte sie ihrem Vater. »Wenn man genau zuhört, kann man ab und zu Worte heraushören, sogar in Englisch. Ich glaube, sein Zungenbein ist deformiert. Deswegen kann er die Laute nicht richtig formen. Aber er hat ganz offensichtlich etwas zu sagen, und er versteht mich.« »Du hast dir ein Spielzeug gebaut, einen Papagei. Du hast ihm die Worte beigebracht.« »Das ist ja gerade das Seltsame.« Miranda schaute ihren Vater an. »Er konnte schon am Tag seiner Geburt sprechen. Er kam aus dem Brutkasten und verfügte über einen vollständigen Wortschatz.« »Das reicht jetzt«, fuhr ihr Vater sie barsch an. »Das habe ich zuerst auch gesagt. Ich konnte es einfach 87
nicht glauben, aber es ist immer wieder passiert.« »Was?«, fragte er fordernd. »Er konnte sich an Dinge erinnern.« »Miranda!«, schnaubte er. Sie ließ nicht locker. »An Sachen von früher. Dinge aus meiner Vergangenheit.« »Hör auf!« »Erinnerungen. Meine Erinnerungen. Ich habe eine Schachtel mit meinen alten Spielsachen von zu Hause mitgebracht und aufs Geratewohl mit anderen Sachen durcheinander geworfen. Er hat aussortiert, was mir gehört.« »Du willst damit sagen, dass unsere Erinnerung in unserem genetischen Code gespeichert ist?« »Oder sonst wie mit den Genen verbunden. Warum nicht? Das sind genetisch bedingte Krankheiten doch auch. Sie werden auf der Zellebene ein Teil von uns. Zellverdrahtung, oder wie auch immer du das nennen willst.« »Das Gedächtnis als genetisch bedingte Erkrankung?«, stieß er verächtlich hervor. »Das ist die zynische Art, das Phänomen zu erklären«, erwiderte sie. »Jetzt habe ich aber genug.« Er drehte sich um. »Wie heiße ich, Winston?«, fragte sie plötzlich. Ihr Vater hielt inne. Das Monster blickte von seinem Hummer auf, seine grünen Augen leuchteten hell und freundlich. »Mirn-dot«, sagte es. »Und er? Wer ist das?« Sie zeigte auf ihren Vater, der traurig den Kopf schüttelte. Winston hatte das schon begriffen. »Da-da«, sagte er. »Alles nur Tricks«, wehrte ihr Vater ab. »Du hast ihm 88
ein Foto von mir gezeigt.« Miranda sah ihren Vater an, der mit entschlossen vorgeschobenem Unterkiefer dastand. Er hätte das ganze Unheil, das hier bald losbrechen würde, mit einem einzigen Wort verhindern können. Stattdessen würde er seine Leute, die da oben im Wald auf der Lauer lagen, zuschlagen lassen. Wer auch immer das sein mochte. Ihr kleiner Winston war Geschichte. Sie würden den Teich vergiften, Winston töten oder ihn betäuben und einsperren. Sie hatte ihre Kreatur im Stich gelassen, und die altbekannte Kälte machte sich wieder in ihrem Herzen breit. »Es gibt nur ein einziges Problem bei dieser Erklärung«, sagte sie, an ihren Vater gewandt. Er wartete. »Ich habe keine Fotos von dir, die ich ihm hätte zeigen können.« Sie holte zum entscheidenden Schlag aus. »Die habe ich vor langer Zeit schon weggeworfen.« Seine Augen wurden starr wie Steine. Er zuckte nicht einmal. »Tut mir Leid, dass dich das so verletzt«, sagte er schließlich. Genauso war es. Es tat weh. Und dann auch wieder nicht. Liebe war unnütz, Bindungen nur Betrug. Sie sagte ihrem Geschöpf nicht Lebewohl. Sie wandte sich ab, damit ihr Vater nicht die Tränen in ihren Augen sah, und ging in Richtung Wald davon.
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3 Der Abstieg HIMALAJA MAI
»O, Gott!« Nathan Lees Hand zuckte. Es sah ihn an, das weiße Gesicht in einem Wust von Haaren. Das Teleobjektiv wackelte. Er hatte ihn verloren. Seinen Yeti. Metoh-kangmi hatten es die tibetischen Flüchtlinge genannt, das Sherpa-Wort für schmutziger oder wilder Mann. Der chinesische Begriff dafür war yerin. Von Anfang an war es klar gewesen, dass diese Expedition völlig ergebnislos verlaufen konnte. Selbst wenn sie tatsächlich etwas fanden, würde es sich wahrscheinlich als völlig wertlos herausstellen, wieder mal ein verirrter Yak-Hirte, ein Flüchtling oder der nächste erfrorene Asket. Aber das hier war echt. Sein flüchtiger Blick hatte ihm etwas Scheues und radikal Urzeitliches offenbart. Zitternd suchte er den Berg noch einmal ab, aber seine Augen waren müde. Er sah auf die Uhr, dann wieder auf das Bergpanorama. Bei 8100 Metern über dem Meeresspiegel lud der Makalu La, der Pass zwischen dem Makalu und einem benachbarten Berggipfel, nicht gerade zum Verweilen ein. Man war nur hier, um woanders hinzukommen, egal auf welche Seite der nepalesischen Grenze. Im Norden, in der Volksrepublik China, lag das beharrliche, sagenhafte Hochland 90
von Tibet. In Nathan Lees Rücken erhob sich die vom Morgenwind umwehte Westseite des Makalu. Zwölf Kilometer westlich leuchtete die obere Pyramide des Everest orangerot im Sonnenaufgang, thronte beinahe ägyptisch auf einem Meer der Dunkelheit. Er blickte auf den Weg unter ihm. Ochs und ein Träger namens Rinchen hatten endlich das Nachtlager verlassen, ein kleines, blaues Zelt, das sie hinter einem Windschutz aus Steinen aufgestellt hatten. Auf den Serpentinen tief unten sahen sie aus wie Ameisen. Nathan Lee rief ihnen etwas zu, und sie hoben die Köpfe. Er zeigte nach oben. Ochs winkte träge und verfiel dann wieder in seinen schwerfälligen Trott. Allein bei seinem Anblick fühlte sich Nathan Lee ausgelaugt und niedergeschlagen. Wieder kam es ihm so vor, als seien er und Ochs in einem Film gefangene Figuren, dazu verdammt, ihre alte Räuberpistole ein ums andere Mal aufzuführen. Jerusalem war nur der Ausgangspunkt für eine ganze Reihe durchorganisierter Plünderungen gewesen: Guatemala, die Noco-Ausgrabungen in Peru, weitere Raubzüge in die vom Erdbeben zerstörten Jahr NullAusgrabungsstätten in der Nähe von Qumran und sogar ein paar Einbrüche in Klöster und Kirchen in der früheren Sowjetunion. Manchmal waren es Aufträge von Privatkunden, manchmal aber auch von angesehenen Museen wie zum Beispiel dem Smithsonian. Die Landschaft änderte sich, aber nie der Auftrag. Time Crime nannten FBI und Interpol den Schmuggel mit Artefakten und Knochen. Rinchen schritt mit der unendlichen Geduld der Himalaja-Bewohner langsam hinter Ochs her. Ein winziges Tabakwölkchen kam aus seinem Mund. Der grauhaarige, alte Hirte jagte normalerweise Schneeleoparden für den chinesischen Schwarzmarkt. Er hatte Goldzähne und sprach ein bisschen Englisch. Er behauptete, die Gegend gut zu ken91
nen, wenn auch nicht unbedingt, wie Nathan Lee bald festgestellt hatte, diese Gegend. Der Mann war nie auch nur in die Nähe des Makalu La gekommen. Er war einfach nur ein weiterer Gesetzloser, der sich ihnen angeschlossen hatte. Die vergangenen zwei Wochen waren von hässlichem Geplänkel geprägt und dadurch sehr anstrengend gewesen. Nathan Lee hatte sich angewöhnt, früh aufzustehen, allein loszuziehen und Ochs gemeinsam mit Rinchen gehen zu lassen. Vergeblich hatte er versucht, sich von dem Grabräuber und dem Wilderer abzusetzen. Ochs war sein Selbsthass sehr wohl aufgefallen, und am Lagerfeuer hackte er immer genüsslich darauf herum. Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er dabei nicht selbst zum Ungeheuer wird, spottete er über die Flammen hinweg. Nathan Lee wandte sich wieder dem Yeti zu. Er justierte die Kamera auf einem Felsbrocken und suchte den Kamm, der an den Pass angrenzte, methodisch ab. Das Licht wechselte, Schatten taten sich auf. Hier oben schienen einem die Berge manchmal unter den Füßen wegzugleiten. Es erforderte harte Arbeit, von dem Drachen nicht abgeworfen zu werden. Er fand es wieder. Irgendwie hatten die Flüchtlinge die Leiche mit bloßem Auge ausgemacht, während er sie selbst mit 200facher Vergrößerung mehrmals übersehen hatte. Die Gestalt hockte auf einem Felsvorsprung. Weiß und schwarz zwischen weißen und schwarzen Felsen, für alle Augen sichtbar und doch verborgen. Außer ein paar Flecken, an denen Haut – oder Knochen – bloßlagen, gab es nicht viel zu sehen. Das Gesicht hatte sich nicht bewegt. Es blickte immer noch auf Nathan Lee auf seinem kalten Stein herab. Mit dem Teleobjektiv versuchte er, sich die Vorsprünge und die Schrägen einzuprägen, die dort hin92
führten. Enttäuscht erhob er sich und machte sich daran, seine Sachen wieder zusammenzupacken. Die Kamera schob er neben den Leichensack. Es war einer der Leichensäcke, mit dem sie die Knochen aus dem Jahr Null aus Jerusalem herausgeschmuggelt hatten. Seitdem waren vier Jahre vergangen, aber ihm kam es vor, als hätte die Zeit stillgestanden. Er schlich immer noch um den Elfenbeinturm herum, zumindest machte er sich das vor. Weder hatte er einen akademischen Titel vorzuweisen, noch einen gesellschaftlichen Rang, und auch sonst hatte er sich noch keinen Platz in der Welt erobert. Er hatte sich einen gewissen Ruf als Plünderer sowie ein Besuchsrecht für Grace erworben, das war so ziemlich alles, und Letzteres versuchten Lydia und ihre verbrecherischen Scheidungsanwälte noch weiter zu schmälern, während er ihren Bruder durch den Himalaja zerrte. Er zurrte seinen zerkratzten Helm fest und machte sich an den Aufstieg. In einiger Entfernung stürzten Felsbrokken aus der Höhe herab, Lawinen erblühten in perfekter Lautlosigkeit. Sein Kletterstil glich eher einer Art Gekraxel, aber er wollte kein Risiko eingehen. Nathan Lee liebte das Hochgebirge, doch er konnte gut ohne seine Gefahren auskommen. Die Vaterschaft hatte einen Angsthasen aus ihm gemacht. Gezielt suchte er sich einen Weg über das Geröllfeld. Der Hang wurde steiler. Felsvorsprünge mit kieselartigen Meeresfossilien lösten das Geröll ab; 700 Meter unter ihm klaffte der Chago-Gletscher. Im Auftrag eines ehrgeizigen Kurators des Smithsonian National Museum of Man in Washington hatten sie vor, die Leiche, so sie denn existierte, zu lokalisieren und sie sodann mehrere Kilometer nach Süden zu schaffen, ein gutes Stück nach Nepal hinein, weg von der Grenze und 93
etwaigen Ansprüchen der Volksrepublik China. Jeder im Museumsgeschäft erinnerte sich noch an die regelrechte Feldschlacht zwischen Italienern und Österreichern um den Ötzi genannten Eismann, den man auf der Grenze zwischen beiden Ländern in den Alpen gefunden hatte. Das Smithsonian wollte solchen Schwierigkeiten von vornherein aus dem Weg gehen. Zwei Tagesmärsche talabwärts war Nathan Lee auf eine Höhle gestoßen, die seit Jahrhunderten von buddhistischen Einsiedlern benutzt worden war. Jetzt stand sie leer. Dort hatten sie ihre gesamte Ausrüstung für den Rückweg versteckt und waren überein gekommen, dass es der perfekte Ort war, an dem sie ihren eigenen Eismenschen deponieren und dann »entdecken« konnten. Damit gingen sie nicht nur einem internationalen Tauziehen aus dem Weg, sondern vermittelten dem Smithsonian zugleich die Möglichkeit, mit den nepalesischen Behörden über den Fund zu verhandeln. Die waren noch korrupter als die KaraokeKommies, wie Ochs die chinesischen Generäle nannte, die Tibet kontrollierten. Ochs würde seinen Anteil für den Erwerb eines Gemäldes von Hockney ausgeben. Nathans Anteil würde an Lydia und ihre Anwälte gehen. So bleibt alles in der Familie, dachte er. Eine halbe Stunde später befestigte er ein Handseil für Ochs und den Khampa. Das Seil half Ochs, besser hinaufzukommen, und, weitaus wichtiger, es erleichterte den Transport der Leiche herunter. Er entknotete seine leuchtend pinkfarbene Seilrolle, band ein Ende um einen Felsen und das andere um seine Taille. Das Seil war leicht, nur sieben Millimeter dünn, aber sehr belastbar und fast zweihundert Meter lang. Er hatte den Vorsprung mit der Leiche aus den Augen verloren, konnte jetzt aber den Orientierungspunkten folgen, die er sich eingeprägt hatte. Hier war die gespaltene 94
Felsspitze, dort der dunkle Streifen. Er schob sich um einen Felsen und kletterte auf einen flachen Vorsprung. Und da war sie. Wieso hatte er stets einen Mann erwartet? Der Kiefer war zwar kräftig genug, auch die riesigen Hände und Füße. Aber an der bloßliegenden Brust, auch wenn sie zu blassen, leeren Beuteln vertrocknet war, gab es nichts zu zweifeln. Sie gehörte nicht hierher. Niemand gehörte hierher, aber sie schon gar nicht, und das nicht bloß, weil sie eine Frau war. Als das Gerücht von einer Leiche bekannt geworden war, hatte das Smithsonian geglaubt, es handele sich wieder nur um einen schnell gefrorenen neolithischen Streuner. Aber sie war etwas völlig Anderes. Niemand hätte ahnen können, dass der Leichnam sich als der einer 30 bis 50 Jahrtausende alten Neandertalerin herausstellen würde. In diesem Teil der Welt war noch nie ein Homo neanderthalensis gefunden worden, ein vollständiges Exemplar gab es ohnehin nirgendwo. Nathan Lee rührte sich nicht, als befürchtete er, sie könnte fliehen. Vollkommen mumifiziert saß sie gegen die Wand gekauert, den Blick auf den Makalu gerichtet. Seltsamerweise hatten ihr die Goraks, die Raben, die sich in der dünnen Luft mit riesigen, schwarzen Flügeln bewegten, nicht die Augen ausgehackt. Sie lagen milchig und versteinert hinter halb geschlossenen Lidern mit langen, in der Sonne gebleichten Wimpern. Ihre Lippen waren über das Zahnfleisch zurückgezogen. Bis auf Teile der Kopfhaut und einer Wange, die vom Wind blank poliert worden waren, sah sie völlig intakt aus. Eine sanfte Brise spielte in ihrem langen, schwarzen Haar. Nathan Lee fiel das Seil an seinem Handgelenk wieder ein. Er band sich los und befestigte es mit einer Achter95
schleife an einer Felsnase. Voller Ehrfurcht betrachtete er den Körper. Dieser Fund war unglaublich. Sogar das Fleisch war noch an den Knochen! Benommen von der Tragweite des Ereignisses, regte sich der Archäologe in ihm. Tausende von Fragen bestürmten ihn. Was in aller Welt hatte eine Neandertalerin im Hochgebirge des Himalaja zu suchen? War sie auf Entdeckungsreise gewesen? Auf der Suche nach neuem Lebensraum? Oder hatte sie nach Göttern gesucht? Er konnte es kaum fassen. Ihre Überreste zeugten von einer isolierten Gemeinschaft, die in irgendeiner Bergzuflucht überlebt hatte. Eine verlorene Rasse in Shangri-La. Doch einmal abgesehen von ihrer zeitlichen Entrückung stimmte hier noch etwas nicht. Ihre Anwesenheit an diesem Ort ergab keinen Sinn, denn es war viel zu schwer, überhaupt hierher zu gelangen. Er hatte von Eismännern und Eisfrauen gelesen, die in den Anden gefunden worden waren, sie auch gesehen – aber diese Frau passte nicht hierher. Zunächst einmal gab es keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung, keine Würgemale am Hals, nichts, das einen Ritualmord nahe legte. Behutsam, als drückte er auf Eierschalen, tastete er ihren Schädel ab. Er fand keine Vertiefungen, keinen Hinweis auf einen Unfall, oder die Axt oder Keule eines Schamanen. Wenn es eine Grabstätte gewesen wäre, hätte man sie flach auf den Boden ausgestreckt, oder aber ihre Glieder zusammengebunden oder gefaltet. Er wich einen Schritt zurück und ließ das Ganze auf sich wirken. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie also noch am Leben gewesen, als sie diesen Vorsprung erreicht hatte. Das sah man an der Haltung, in der sie in einer Vertiefung im Fels saß, um sich vor dem Wind zu schützen. Sie hatte es sich bequem gemacht. Es kam ihm vor, als habe sie sich diesen Platz selbst ausgesucht, um hier zu sterben. 96
Aber warum ausgerechnet hier? Warum hätte sie so etwas tun sollen? War sie eine Selbstmörderin? Hatte sie sich irgendeinem Gott geopfert? Er verspürte ein Befremden, dann Freude, und schließlich seltsamerweise Hoffnung. Weit im Süden stiegen weiße Monsunwolken wie Rauch über dem indischen Flachland auf. Eine weitere halbe Stunde verging. Es war schon fast Mittag und immer noch keine Spur von Ochs und Rinchen. Schon seit Jerusalem hatte er nach einem Ausweg gesucht, oder vielmehr nach einem Weg, der ihn wieder hineinbrachte. Inzwischen sah er in ihren Unternehmungen kaum mehr als Raubzüge. Ochs hatte ihm das angetan. Er selbst hatte es sich angetan. Aber er konnte es rückgängig machen. Warum auch nicht? Er konnte jetzt alles richtig machen, wieder legal werden. Auf einen Schlag konnte er seinen guten Ruf wieder herstellen. Er konnte wieder richtig wissenschaftlich arbeiten, seine Doktorarbeit schreiben und aus der Dunkelheit ins Licht treten. Seine Chancen stiegen. Schon gewann seine Ausbildung die Oberhand über ihn. Er ließ es zu und freute sich darüber. Nur noch der Fundort zählte. Er fing an, diesen Felsvorsprung wie den Tatort eines Verbrechens zu untersuchen, ging zurück und holte die Kamera aus dem Rucksack. Dann wechselte er das Objektiv und verschoss zwei Fuji-Filme aus jeder Richtung. Erst danach wagte er sich näher heran. Nathan Lee fuhr mit den Fingerspitzen über die tiefen, frühgeschichtlichen Falten auf ihrer Stirn. Kein einziger Zahn fehlte, keiner war kaputt oder abgenutzt. Sie wirkte gesund und wies keine Anzeichen einer Verletzung oder Krankheit auf. Es handelte sich nicht um eine alte, von ihrem Stamm zurückgelassene Frau, sondern um eine kräftige, junge Frau in der Blüte ihrer Jahre. 97
Ochs brauchte überhaupt nichts davon zu erfahren. Es war ganz einfach. Bevor Ochs und Rinchen heran waren, würde er sie unter Steinen begraben und dann zum Rückzug blasen. Er würde sein Seil entfernen, sämtliche Spuren verwischen und die Suche beenden. In drei Monaten könnte er, von Ochs’ »Lizenzvertrag« befreit, wiederkommen. Nathan Lee ließ sich auf die Knie nieder. Seit Jahren hatte er nicht mehr so klar gesehen. Seine Gangster-Tage waren endgültig vorbei. Vorsichtig legte er einen Stein auf den anderen. Er arbeitete schnell, häufte sie so aufeinander, dass es wie zufällig aussah. Nur noch ein paar Minuten, dann hatte er es geschafft. »Du lieber Himmel!« Nathan Lee ließ den Stein sinken. Ochs’ massiver Oberkörper lag auf dem Rand des Vorsprungs. Er sah furchtbar aus. In seinem Bart und auf seiner Brust hingen Rotz- und Speichelfäden. Der Eispickel, der hinten an seinem Rucksack angebunden war, stand wie ein Fragezeichen über seinem Kopf. »Pech gehabt«, sagte Nathan Lee. »Wieder nur eine normale Leiche. Irgendein armer Flüchtling.« »Von wegen«, krächzte Ochs. Selbst in seinem Zustand, wie ein gestrandeter Fisch nach Luft schnappend, erkannte er, was da vor ihm lag. Mit seinem Auftauchen schien er den Geist des Ortes sofort zu vergiften. »Wir müssen absteigen«, versuchte Nathan Lee ihn abzulenken. »Da kommt ein Sturm auf.« Das Seil ruckelte und Rinchen erschien, leise wie ein Flüstern. Mit der altertümlichen, stahlgeränderten Gletscherbrille über den Augen und dem zu einem erstaunten »O« gerundeten Mund sah er aus wie ein Tiefseetaucher bei Jules Verne. Ein dicker Kropf zierte seinen Hals, und auf einer Wange prangten lange Narbenstreifen. 98
Rinchen warf einen einzigen Blick auf die Frau und wurde ganz still. Er sah ergriffen aus. Dann faltete er seine großen, knotigen Bauernhände und begann zu beten. Nathan Lee stellte fest, dass er nicht für die Neandertalerin betete. Er betete sie an. »Was für ein tolles Weib!«, krächzte Ochs. »Die Eiskönigin. Hört sich prima an. Die Göttin der Todeszone.« Er tätschelte ihr den Kopf. »Unh«, stöhnte Rinchen angesichts des respektlosen Gehabes auf. Ochs hatte alles um sich herum vergessen und fing an, die aufgehäuften Steine über den Felsvorsprung zu werfen. Dabei hielt er Steine, die Nathan Lee nur mit beiden Händen mühsam hatte bewegen können, ganz locker in einer Hand. Die Steine sprangen den steilen Hang hinunter und verschwanden irgendwo im Gletscher. Ein Windstoß fauchte über den Berg. Plötzlich erwachte das Haar der Frau zum Leben und hob sich von den Schultern. Seine langen Enden waren geflochten. »Lass sie in Ruhe«, sagte Nathan Lee. »Was?« »Nur noch einen Tag.« Ochs schnaubte verächtlich. Er hatte die Wilden satt, die dünne Luft und das Leben in den Camps auch. Er wollte nur noch zu seinen Kunstwerken, seinem BMW und seiner Eigentumswohnung am DuPont Circle in Washington zurückkehren. Anstelle einer Antwort packte er den Arm der Frau und zog kräftig daran. Der Arm bewegte sich nicht. Sie war an diesem Platz verankert, ihr Rücken mit dem Fels verwachsen. Ochs versuchte es noch einmal, aber sie war buchstäblich zu einem Teil des Berges geworden. Nathan nutzte die Chance und gab seinen Traum preis. 99
»Wir könnten später zurückkommen und ganz von vorne anfangen.« »Ehrbar werden?« »So was in der Art.« Ochs sah ihn an. »Einfach so?« Er leerte Nathan Lees Rucksack auf dem Felsen aus und griff nach dem Leichensack. »Du hörst mir überhaupt nicht zu«, sagte Nathan und zog an dem gefalteten Paket. Ochs seinerseits versuchte, den Packen festzuhalten, und schließlich segelte er über den Felsrand. Sie sahen zu, wie der Sack fiel. Er verfing sich an einer Felsspitze, das Plastik riss auf, und mit einem Mal blähte sich der Leichensack wie ein Ballon, trieb wie ein weißer Gazeschlauch weiter nach unten. Der Anblick ermutigte Nathan Lee. Es war der Anfang vom Ende. »Es ist vorbei«, sagte er mit fester Stimme. Ochs schüttelte den Kopf. »Du hast die Grenze überschritten und es gibt kein Zurück mehr. Nie mehr!« »Für dich vielleicht nicht.« Ochs sah ihn an. »Du bist vielleicht mit Lydia fertig, aber nicht mit mir. Wir beide sind Geschäftspartner.« »Ich bin draußen«, sagte Nathan Lee. Schon jetzt fühlte er sich unheimlich erleichtert. »Du brichst mir das Herz, Mann.« »Es ist vorbei. Und außerdem bleibt sie hier!« »Sonst?«, fragte Ochs drohend. Nathan Lee gab keine Antwort. Wie aus dem Nichts schien der Himmel zu sprechen. Donner grollte. Ochs drehte sich um und stieß überrascht einen Fluch aus. Die eben noch weit entfernten Wolken hatten sich in unglaublicher Geschwindigkeit am Eingang des Tales zusammen100
geballt. Nathan Lee roch das Ozon. Ein Blitz schlängelte sich durch den dunklen Wolkenbauch. »Wir müssen hinunter«, sagte Nathan Lee. »Wir können dem Unwetter nur entkommen, wenn wir uns sofort an den Abstieg machen.« Rinchens Gebete wurden lauter. Offensichtlich schien er die Gewitterwolken mit der vertrockneten Berggöttin in Verbindung zu bringen. Nathan Lee sah über den Felsrand. Das Zelt sah neben dem weit entfernten Gletscher so winzig aus. Als er sich wieder umdrehte, hatte Ochs seinen Eispickel losgebunden. »Was machst du da?« Ochs schob den Metallstiel hinter die Schultern der Mumie und zog ihn nach vorne. Knochen brachen im Innern der ledernen Hülle, aber der Körper selbst rührte sich nicht vom Fleck. »Hör auf!« Ochs stieß den metallenen Schaft ein Stück weiter an ihrem Rückgrat hinunter. Irgendetwas knackte da hinten. Kies, Eis oder ihre Wirbel. Er zerrte mit aller Kraft, aber der Körper bewegte sich nicht. Nathan Lee stieß ihn weg. Ochs zog den Eispickel hinter dem Rücken heraus und holte aus. Nathan Lee duckte sich, aber der Pickel war für sie bestimmt. Ochs trieb ihn bis zum Schaft in das Schlüsselbein der Frau. Er lockerte ihn wieder und holte zum zweiten Schlag aus. Dieses Mal bohrte er sich fast bis zur Hälfte in ihren Hals. Es sah aus, als trüge er mit der Leiche einen Kampf auf Leben und Tod aus. »Nein, nicht weiter«, schrie Rinchen auf. Als Ochs zum dritten Mal ausholte, hielt Nathan Lee die Axt fest und zog sie ihm aus den behandschuhten Händen. 101
»Wir haben es verdient«, knurrte Ochs. »Was? Was haben wir verdient?«, fragte Nathan. Da saß der geschändete Körper. Die zwei klaffenden Wunden legten Knochen und schwarzes Fleisch bloß. »Den Kopf«, sagte Ochs. »Wir können wenigstens den Kopf mitnehmen. Gib mir die Axt.« Nathan Lee schleuderte die Axt so weit er konnte. Sie hörten, wie das Metall in der Tiefe klirrend auf den Felsen aufschlug. »Wie du willst«, sagte Ochs. Nathan Lee dachte, er habe jetzt aufgegeben. Ochs beugte sich vor und riss mit bloßen Händen den Unterkiefer weg, der sich krachend löste. Die vertrocknete Zunge klebte hinter der oberen Zahnreihe. »Jetzt ist es geschafft.« Ochs drohte ihm mit dem Hufeisen aus Knochen, Zähnen und mumifiziertem Fleisch. »Du hattest ja nicht den Mut dazu«, knurrte er und verstaute die Trophäe in der Tasche seines Parkas. Was sich als Nächstes ereignete, hatte keiner von ihnen erwartet. Ohne einen Laut von sich zu geben, sprang Rinchen Ochs an und warf ihn gegen die rückwärtige Felswand. Ochs schlug nach ihm, doch der alte Jäger hatte keine Angst vor ihm. Er hob einen Steinbrocken auf. Nathan Lee versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen, aber der Felsvorsprung war sehr schmal und ohnehin schon überfüllt. Einerseits, um sich selbst zu verteidigen, andererseits, um den Kampf zu beenden, holte er mit der einen Hand zu einem Schlag gegen Ochs’ Kopf aus und riss mit der anderen Hand Rinchen zurück. Ochs stolperte über die Beine der Frau, brüllte auf und kam wieder hoch. Seine Nase war seitlich verschoben, Blut lief über seinen Bart und spritzte auf die Vorderseite 102
seines Parkas. Sein wütender Gesichtsausdruck wechselte zu einem verwirrten Staunen. Nathan Lee sah sich um. Rinchen war verschwunden. Nathan Lee beugte sich über den Abgrund. »Nein«, flüsterte er. Tief unten wirbelte Rinchen den Abhang hinunter. Ein Bein knickte nach hinten weg, dann ein Arm, als hätte er keinen Knochen mehr im Leib. Nathan Lee konnte seinen Blick nicht abwenden. Er war sicher, dass die zerbrochene Gliederpuppe die ganze Strecke, tausend Meter fast senkrecht hinab, zurücklegen würde, doch nach ungefähr 120 Metern blieb Rinchen im Handseil hängen. Das gebrochene Bein verfing sich in dem pinkfarbenen Seil, und Rinchen wurde abrupt gebremst. Das lange Seil ruckte und gab einen Ton wie von einer Bogensehne von sich. Dann hing er dort. Ochs spähte über den Rand. Sein Gesicht war unter dem schorfigen Sonnenbrand und dem Blut starr vor Entsetzen. »Du hast das Richtige getan«, keuchte er. »Was?«, fragte Nathan Lee verständnislos. »Er hat versucht, mich umzubringen.« »Er hat versucht, dich zurückzuhalten.« »Jetzt ist er jedenfalls tot«, sagte Ochs. Aber Rinchen war nicht tot, das war ja gerade das Furchtbare. Der Mann dort unten bewegte sich noch. Er hob den Kopf, dann einen Arm und sackte anschließend wieder in sich zusammen. Nathan Lee streifte sich mit einer Hand seinen Rucksack über. »Was hast du vor?«, fragte Ochs. »Er lebt doch noch.« 103
Rinchen zappelte einen Augenblick an dem straffen Seil und wurde dann wieder still. »Du hast ihn umgebracht«, sagte Ochs. »Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern.« Nathan Lee hörte die Verschlagenheit aus den Worten heraus. Sein Magen drehte sich um. »Der Mann ist abgestürzt«, sagte er betont ruhig. »Klar doch«, antwortete Ochs. »Es war ein Unfall, und das weißt du.« »Niemand wird ihn vermissen. Und warum sollte ich jemandem mehr davon erzählen?« Nathan Lee begriff. Ochs wollte ihn also erpressen. Er versuchte sich zu beruhigen, denn dafür war später noch genug Zeit. Dort unten lag ein schwer verletzter Mann. Nathan Lee blickte noch einmal vorsichtig über die Kante nach unten. »Ich gehe runter zu ihm.« »Und was dann?« »Dann sind wir fertig miteinander.« »Wie soll das gehen?« »Ich bin draußen. Lass mich da raus, oder ich lasse dich auffliegen. Hast du kapiert? Es ist vorbei.« »Ich hab’s kapiert«, sagte Ochs gefährlich leise. Nathan Lee nahm die Doppeldeutigkeit in Ochs’ Stimme nicht wahr, spürte den leichten Schubs im Rücken kaum. Und plötzlich fiel er, stürzte in den Abgrund. Es war nicht wie sonst, wenn er gestürzt war. Von einer Klippe aus fiel man frei durch die Luft, schürfte vielleicht ein oder zweimal an der Felswand entlang, bevor das Seil zog. Dieses Mal gab es weder ein Seil noch einen freien Fall. Der Hang fiel in einem steilen Winkel nach unten ab. Spitze Steine und Eisschollen rasten blitzartig an ihm vorbei. 104
Nathan Lee glitt haltlos nach unten. Er schlug auf einen Felsrücken, wurde langsamer, versuchte irgendwo einen Halt zu finden, prallte gegen einen zweiten Felsbuckel und rutschte auf einer Eisplatte wieder schneller nach unten. Seine einzige Überlebenschance bestand darin, mit den Füßen voran nach unten zu rutschen und das Gesicht nach oben zu halten. Es war, als versuche man mit höchster Geschwindigkeit zu rennen. Er versuchte seinen Fall zu bremsen, aber jeder Halt löste sich unter seinen Händen auf. Sein eigenes Blut spritzte um ihn herum. Er fühlte das Knallen wie aus weiter Entfernung und fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis man das Bewusstsein verlor. Dann stellte er fest, dass es doch nicht so einfach werden würde. Diese ohrenbetäubenden Donnerschläge waren gar kein Donner, sondern sein Helm, der wieder und wieder aufschlug. Er würde Zeuge seiner eigenen Hinrichtung sein. Dann machte sich der Schmerz bemerkbar. Er war nicht an einen bestimmten Körperteil oder einen bestimmten Knochen gebunden, sondern fühlte sich eher an, als schlüge ein Blitz nach dem anderen in seinen Körper ein. Nathan Lee stellte sich vor, wie er zerbrach, genau wie Humpty Dumpty. Und auch der König mit seinem Heer … Er hörte eine Stimme, die das gnadenlose Halsüberkopf durchdrang. Grace. Singsang. Schlaf gut und träume süß. Statt sich verzweifelt am Eis festkrallen zu wollen, nutzte er die Oberfläche diesmal für seine Zwecke aus. Mit einer Handfläche hier und der Ferse dort konnte er seinen Fall, wenn auch nur sehr bedingt, steuern. Weiter links, nur ein kleines Stück tiefer, zog sich ein grauer Felsstreifen quer, hinter dem der Abhang ins Bodenlose führte. Dahinter gab es keine Chance mehr. Er nahm all seine Kraft zusammen, stieß sich mit den 105
Händen ab und katapultierte sich mit dem Gesicht hangabwärts in Richtung Gerölldamm. Die Felsen schlugen hart zu, zerrten mit aller Macht an ihm. Ohne Gegenwehr überließ er sich ihren Fängen. Haltet mich fest, betete er. Sie hielten ihn fest. Er blieb liegen. Als er mit weit geöffneten Armen so in der plötzlichen Stille dalag, kam er sich vor wie an den Berg genagelt. Seine Ohren dröhnten. Er schaute nach unten. Dort wartete der hungrige Gletscher noch immer mit weit geöffnetem Rachen auf ihn. Er wurde ohnmächtig und brauchte mehrere Anläufe, um wieder zu sich zu kommen. Die Erde schien sich unter seinem Rücken zu heben und zu senken. Er rührte sich nicht. Nathan Lee wusste nicht genau, ob er noch lebte oder schon tot war. Es gab Gründe zu der Annahme, er sei tot, denn als er die Augen öffnete, schienen aus dem blutroten Himmel über ihm Ascheflocken zu fallen, wie in der Vorhölle. Er blinzelte und sah, dass es Schneeflocken waren. Als er beim nächsten Mal die Augen öffnete, sah er Ochs in der Ferne mit raschen Bewegungen ins Tal hinuntersteigen. Er hatte inzwischen sichereren Boden unter den Füßen und trottete zielstrebig durch den Sturm. Nathan Lee rief nicht nach ihm, der Mann hatte schließlich alles darangesetzt, ihn zu töten. Kurz darauf war Ochs hinter einem Hügel verschwunden. Der Horizont erlosch. Fels und Eis, Himmel und Erde, alles verschmolz in eins. Der Schnee wurde klebrig. Nathan Lee öffnete den Mund, und der Schnee brannte auf seiner Zunge. Schmelzwasser lief ihm wie Tränen über das Gesicht. Allmählich wurde es ihm klar: Körperwärme. Also war er doch noch am Leben. 106
Schließlich unternahm er den Versuch, einen Arm anzuheben. Er hob sich langsam. Der Handschuh war von der Haut geschmirgelt worden. Ein bisschen Haut ebenfalls. Er zog die Hand näher vors Gesicht, starrte seine Finger an, und versuchte, sie zu krümmen. Stück für Stück setzte er sich wieder zusammen. Dann versuchte er sich aufzusetzen. Er löste den Kinnriemen. Der rote Helm war zerkratzt, verbeult und hatte einen Riss, der vom Rand bis zum Scheitel verlief. Sein linkes Bein war verdreht und am Knie geschwollen. Nathan Lee tastete das Bein ab und versuchte, es gerade zu biegen. Jedes Mal hielt ihn der Schmerz davon ab. Er ließ sich von seinem eigenen Körper einschüchtern. Schließlich klemmte er seinen Fuß zwischen zwei Felsbrocken und zog kräftig. Das Gelenk renkte sich mit einem satten Schnalzen ein. Er schrie laut auf. Als er die Augen wieder aufschlug, zog die Nacht herauf. Der Schnee fiel wie ein Vorhang vom Himmel, und über ihm züngelten Blitze wie elektrische Schlangen. Nathan Lee nickte wieder ein. Das Nächste, was in sein Bewusstsein drang, war das Rascheln von Plastik im Schnee. Das Geräusch wiederholte sich kurz darauf. Es war unverwechselbar das Geräusch von Schnee, der von einem Zeltdach rutschte. Einen Moment lang dachte er, Ochs habe Gewissensbisse bekommen und sei umgekehrt, hätte ihn den Berg hinuntergetragen und in ihr Zelt gelegt. Doch dann sah er, dass er immer noch auf dem Geröllwall lag. Ihm war sehr kalt. Ein Stück seitlich von ihm bewegte sich ein geisterhafter Schatten in der Dunkelheit. Wieder raschelte Schnee auf Leinwand. Er robbte näher auf das Gebilde zu. Es war der Leichensack, der, immer noch halb aufgebläht, lediglich 107
von einer Hand voll Schnee festgehalten wurde. Es sah aus, als würde er jeden Moment davongeweht. Nathan Lee riss ihn an sich. Ihm war übel und er stand unter Schock. Mit Fingern, die sich wie zehn Daumen anfühlten, zerrte er an dem Reißverschluss, bis er endlich aufging. Mit allerletzter Kraft kroch er auf die Folie und deckte sie sich über die Beine. Dann zog er den Sack zu und ließ nur ein kleines Luftloch frei. Er erwachte angestrengt nach Luft schnappend und völlig blind in der Dunkelheit. Ein Ungeheuer saß auf seiner Brust und zerriss ihn mit seinen Klauen. In seiner Panik wusste er weder, wo er sich befand noch was passiert war. Er schlug wild um sich. Seine Hand verfing sich in dem Loch im Reißverschluss. Er riss es auf und fegte die Schneedecke weg. Endlich. Luft zum Atmen. Licht. Gierig sog er die Lungen voll. Er grub sich aus der Schneedecke heraus und setzte sich mit Hilfe der Ellbogen auf. Blinzelnd fand er sich in einer Art Unterwelt wieder, die leicht gekippt und mit bleiernem Schnee bedeckt war. Der Himmel sah schmierig aus. Es gab keine Farben. Nirgendwo. Links und rechts nur gewaltige Berge. Ihre Gipfel verschwanden im Nichts. Das Licht war so grell, dass es ihn blendete. Seine Uhr zeigte ein Uhr an. Es war der Nachmittag des nächsten Tages. Er saß da, die Arme bewegungslos auf der gesprengten Schneedecke. Sein Kopf hämmerte und seine Zunge war wie ausgedörrt. Die Finger der einen Hand waren dick wie Würste. Er versuchte, sein Bein unter der Schneedecke zu bewegen, aber der Schmerz nagelte ihn sofort wieder an den Boden. Er hörte auf zu probieren und weinte um sich. Dann fiel 108
ihm der Schnappschuss von Grace ein, den er in seiner Hemdtasche bei sich trug. Er fummelte in seiner Jacke herum. Fast alle Fingernägel waren abgerissen. Es war ein schwieriges und umständliches Unterfangen, doch schließlich schaffte er es, das Foto herauszuziehen. Plötzlich nahm die Welt wieder Farbe an. Da stand sie in einem Feld voller gelber Sonnenblumen. Sie trug Strumpfhosen mit roten Herzchen. Der Himmel war strahlend blau. Die Erinnerung an diesen Tag bestürmte ihn. Er hatte sie gebeten zu lächeln, aber wie immer hatte Grace tiefer Ernsthaftigkeit den Vorzug gegeben. Ihre blaugrauen Augen schienen direkt durch die Linse hindurchzustarren. An ihren Gefühlen gab es nichts misszuverstehen. Nathan Lee betrachtete das Bild genauer und wischte sich die Tränen ab. Er berührte ihr Gesicht und ließ seinen Blick dann an sich selbst herabwandern. Wollte er das seiner Tochter hinterlassen? Halb zugeschüttet, von der Sonne verkohlt, eine Hampelmann-Mumie. Und das alles nur, weil er aufgegeben hatte? Vorsichtig schob er das Foto in die Brusttasche zurück und fing, erbost über sein Mitleid, an, sich freizuschaufeln. Hand voll um Hand voll buddelte er sich selbst aus. Er brauchte zwei Stunden, um sein Grab zu öffnen und sich rauszurollen. Sein Knie war auf die Dicke seines Oberschenkels angeschwollen. Nathan Lee begann zu kriechen. Er schob den Leichensack wie eine Art Schlitten unter sein verwundetes Bein und zog sich langsam weiter. Gegen drei Uhr erreichte er flacheres Terrain. Wenn er das Knie mit beiden Händen stützte, konnte er sogar einigermaßen aufrecht humpeln. Er fand die Senke, die zum Lager führte und erblickte schon bald den steinernen 109
Windschutz der Yak-Hirten. Er bewaffnete sich mit einem Stein und sprach sich Mut zu. Wenn Ochs ihn diesmal bedrohte, würde er ihm ein Bein brechen. Dann würden sie wenigstens beide als Krüppel zu Tal kriechen. Und wenn ihn das nicht aufhielt, war Nathan Lee bereit, dem Bastard den Schädel einzuschlagen. Er erreichte den Windschutz und spähte vorsichtig dahinter. Das blaue Zelt war nicht mehr da. Er brauchte fünf Tage, um eine Moräne zu überqueren, für die er normalerweise nur einen halben Tag gebraucht hätte. Der Stock eines Trägers, den er zwischen den Felsbrocken gefunden hatte, diente ihm als Krücke. Selbst als ihn der Hunger schwächte, schwoll sein Knie weiter an. Die erste Welle des Monsunwetters war abgeebbt, der Schnee schmolz und versorgte ihn mit Tausenden kleiner Rinnsale, aus denen er trinken konnte. Die schmalen Fäden aus Gletscherwasser liefen zu einem Bach und schließlich zu einem kleinen Fluss zusammen. Die karge, steinige Moräne ging in ein mit Wildblumen bewachsenes Tal über. Er legte in drei Tagen neun Kilometer zurück und verlor dabei ständig an Höhe. Die Luft wurde kräftiger, zwischen den Nadelbäumen blitzten ab und zu Rhododendronbüsche auf. Er aß ein paar Blätter und die weiche innere Pinienrinde, doch davon wurde ihm schlecht. Also füllte er sich den Magen mit milchigem Gletscherwasser. Trotz des Hungers hatte er mehr und mehr klare Momente. Er wusste, dass das ein schlechtes Zeichen war: die Halluzinationen eines Traumtänzers. Am darauf folgenden Tag kam er zu der Einsiedlerhöhle auf dem Hügel, aber auch sie war natürlich leer. Ochs hatte sämtliche Vorräte geplündert, sich ausgeruht und mit 110
Essen voll gestopft, bevor er weiter hinabgestiegen war. Das Einzige, was Ochs nicht mitgenommen hatte, war ein Zweikilo-Sack Tsampa. Von Anfang an hatte er Rinchens geröstetes Gerstenmehl als völlig ungenießbar bezeichnet. Mit Wasser verrührt, wurde es zu einer klebrigen, braunen Pampe. Nathan Lee kam der Sack wie ein Gottesgeschenk vor. Noch ein weiterer Pass drohte. Der Shipton-Pass war zwar weniger als 6000 Meter hoch, aber Nathan Lee war geschwächt, und sein Kopf schmerzte unaufhörlich. Er brauchte eine Woche, um durch den kalten Nebel hinaufzusteigen, und eine weitere Woche, um auf der anderen Seite wieder hinunterzugelangen. Als die Blutegel anfingen, sich an ihm festzusaugen, konnte er eine weitere Höhenschätzung vornehmen. Hirudinea suvanjieff lebten nur unterhalb von 2500 Metern. Sie streckten sich von Blättern und Zweigen wie glitschige, schwarze Finger nach ihm aus. Alle halbe Stunde kratzte er sie von seinen Fußknöcheln und Armen. Hin und wieder aß er einige von ihnen, dann schmeckte er sein eigenes Blut. Am letzten Julitag kam er an eine Hängebrücke, die sich schwankend über den tosenden Arun spannte. Seine Quelle lag am Makalu. Der Anfang war das Ende. Er kam zu einem Dorf mit dem Namen Khandbari; die Straße war wie leer gefegt. Später stellte sich heraus, dass die Dorfbewohner gerade dabei waren, einen tollwütigen Hund zu töten. Dazu hatten sie große Blätter mit vergiftetem Reis ausgelegt und saßen nun geduldig wartend in ihren Häusern. Als er durch die Dorfmitte humpelte, kamen die Leute an die Fenster. Zweifellos bot er mit seinem Bart, der hölzernen Krücke und einem Leichensack als Regenjacke einen mehr als seltsamen Anblick. Nathan Lee war so ausgehungert, dass er eines der Blätter mit Reis aufhob, doch sie schrien ihn von den Fenstern aus an. 111
Er setzte sich auf die Bank vor dem kleinen Schulhaus. Nach einer Weile kamen zwei Polizisten in braunen Uniformen und Nike-Turnschuhen auf ihn zu. Der jüngere der beiden sah sehr verängstigt aus. Zuerst glaubte Nathan Lee, er habe Angst vor dem streunenden Hund. Aber dann stellte er fest, dass er selbst die Ursache für die Angst des Mannes war. Der ältere Polizist war mit einem kleinen Bambusstock bewaffnet, den er unter den Arm geklemmt trug. »Ihren Pass bitte, Sir«, sagte er. »Weg«, krächzte Nathan Lee. »Sind Sie dann der Gentleman vom Makalu?« Sie kannten ihn also. Urplötzlich verließ ihn seine Kraft. Natürlich war Ochs ebenfalls hier durchgekommen, und natürlich hatte er sich eine passende Geschichte zurechtgesponnen und ihnen wahrscheinlich erzählt, wie er selbst nur mit knapper Not Verrat und rohe Gewalt überlebt hatte. Aber Nathan Lee war viel zu erschöpft, um einen Versuch zu machen, dieses schiefe Bild zurechtzurücken. »Hätten Sie etwas Chai für mich?«, fragte er. Die Befragung wurde für mehrere Minuten unterbrochen, während der jüngere Polizist davoneilte, um den Tee zu holen. Noch während er weg war, fragte Nathan Lee: »Was passiert jetzt?« »Alles wird gut, Sir«, lautete die Antwort. Der jüngere Polizist kam mit einem dicken Glas Milchtee mit viel Zucker darin zurück. In der anderen Hand hielt er ein paar alte Fußfesseln. Nathan Lee nahm den Tee dankbar an. Gelassen sah er zu, wie sie ihm die Fessel um den gesunden Knöchel anlegten. Nichts von dem, was hier passierte, schien real zu sein. Überhaupt nichts. Zu Hause hatte er eine Tochter, er war kein schlechter Mensch, Sie würden alles aufklären. 112
Alles würde in Ordnung kommen. Aus Mitgefühl legten sie die Fessel nicht auch noch um sein geschwollenes Bein. Die überzählige Kette und die Handschellen blieben unbenutzt auf dem Boden liegen. Es war für alle Augen deutlich zu sehen, dass die Bestie gefangen war.
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4 Sonntag KERKYRA, KORFU
Nach der Messe standen die Gläubigen noch auf dem Vorplatz herum, hielten ein Schwätzchen mit den Nachbarn und genossen die letzte ruhige halbe Stunde vor der Ankunft der Touristen. Ostern war vorbei. Der mumifizierte Körper des Inselheiligen war in einer Prozession durch die Straßen getragen und wieder in die Kirche zurückgebracht worden. Im Stadtmuseum war die 2600 Jahre alte Statue der Gorgone Medusa mit ihrem Schlangenhaar bereits abgestaubt. Nicht mehr lange hin bis zum Beginn der Geldsaison. In vierzig Minuten würde die Fähre aus Italien am Neuen Hafen anlegen. Die ersten Horden käsiger Briten und Deutscher würden über die Insel herfallen. Bis zum Ende des Sommers würden Zehntausende von Touristen die Insel heimgesucht haben, einige nur auf Zwischenstopp unterwegs zu einer anderen Insel, viele jedoch blieben gleich auf Korfus Sandstränden liegen. Die Stadt war bereit. Die Rembetis hatten ihre Buzukis und elektrischen Gitarren gestimmt, Cafés und Bars waren gut gerüstet, die Prostituierten, Taxifahrer und Hotelbesitzer konnten es kaum mehr erwarten. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne schien warm, das Meer leuchtete blau. Die neuen Basilikum-, Rosmarin-, Thymian- und Oreganoschösslinge tauchten 114
die Hügel über der Stadt in zartes Hellgrün. Von der Sonne dösige Katzen blinzelten aus Fenstern und Blumenkästen schläfrig in die Welt. Plötzlich drang ein Schrei aus der engen Gasse weiter oben, dann ein weiterer empörter Ausruf. »Fahr doch langsam, du Trottel!«, rief jemand. Ein junger Mann mit weit aufgerissenen Augen kam die gewundene Straße heruntergeschossen, er schien die Kontrolle über sein Fahrrad verloren zu haben. Ein stämmiger Fischer packte beherzt zu und schnappte ihn, bevor er in die sonntägliche Menge hineinfahren konnte; das Fahrrad knallte gegen eine Mauer. Der Fischer ließ den jungen Mann mit dem Hosenboden auf das Kopfsteinpflaster plumpsen. »Ach, mal wieder nur Spyros«, sagten die Leute. Die Hälfte der Männer auf Korfu war nach dem Inselheiligen, der Mumie Spyridon, benannt, doch etwas im Tonfall der Leute zeichnete diesen hier als besonders aus. Er war Spyros, der Trottel, der auf einem Bauernhof aushalf. »Madonna! Madonna!« Tränen rannen ihm über das Gesicht. Er trug einfache, geflickte Hosen und ein ausgebleichtes Rolling Stones-T-Shirt. »Was hast du denn diesmal, Spyros?« Spyros rappelte sich hoch und brüllte etwas von einer Erscheinung. »Nicht so laut«, sagte eine Frau zu ihm. »Du erschreckst die Kinder.« Aber er war nicht zu bremsen. Ein Engel sei ihm in den Hügeln über der Stadt erschienen. »Die Heilige Jungfrau selbst.« Ein Dorfrüpel baute sich großspurig vor Spyros auf und gab ihm einen Schubs. »Versündige dich nicht!« 115
Der stämmige Fischer schob den Burschen zur Seite. »Lass ihn in Ruhe. Er ist nicht ganz bei Trost«, sagte er. »Dann sperrt ihn ein. Der vergrault ja die Touristen.« »Sie kommt!«, beteuerte Spyros. Ängstlich schaute er die Straße hinauf. Andere folgten seinem Blick, konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Jemand warf einen kleinen Stein in Spyros’ Richtung, als wollte er einen Hund verjagen. Ein weiterer Stein folgte dem ersten. Die Leute schnalzten mit der Zunge, fauchten wütend oder spuckten verächtlich aus. »Sie kommt vom Himmel«, sagte der junge Mann. »Geh zurück zu deinen Ziegen, Spyros.« »Ich habe seiner Familie nie über den Weg getraut«, meinte einer der Männer. »Schaut euch nur die blauen Augen an. Der stammt von den Türken ab.« Erst langsam wurden sie ihrer gewahr. Sie kam aus der Dunkelheit der schattigen Straße und tauchte langsam in ihr Blickfeld ein. Vielleicht war sie dem Schwachsinnigen den Hügel herunter gefolgt, vielleicht hatten die Kirchenglocken sie angelockt. Vielleicht war sie aber auch nur der Schwerkraft hinunter zum Meer gefolgt. »Barmherziger!«, flüsterte jemand. Sie bewegte sich auf zwei Beinen, sah aber nicht menschlich aus. Nackt wie ein Geist, sah sie aus wie aus Glas gemacht. Aus einiger Entfernung, als sie alle ins Halbdunkel der Straße blinzelten, schien ihr Körper zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit zu changieren. Sie kam näher, aber nur zögernd, mit der Geschwindigkeit einer Schlafwandlerin. Als sie vorüberging, legte Spyros die Hände auf den Kopf und kauerte sich dicht an die Mauer. Der Fischer starrte sie ungläubig an und nahm dann zögernd die Mütze 116
vom Kopf. Er bekreuzigte sich. Ohne die beiden eines Blickes zu würdigen, wankte sie vorbei. »Was ist das?«, murmelte jemand. Der Dorfplatz öffnete sich vor ihr. Die Menge drängte sich an die Häuserwände. Wer konnte sie nur sein? Woher war sie gekommen? Sie trat ins Sonnenlicht und wurde noch unwirklicher. Ihre Haut war fast durchsichtig. Die darunter liegenden Adern waren deutlich zu erkennen, die inneren Organe zeichneten sich vor dem Sonnenlicht ab, auch die Umrisse der Knochen waren zu sehen. Trotzdem war sie kein schrecklicher Anblick, ganz im Gegenteil: Trotz ihres Zustandes war ihre Schönheit offensichtlich. In ihrem langen, bis auf die transparenten Wurzeln schwarzen Haar hingen Blumen und Gräser. Ihre Figur war überaus sinnlich, mit üppigen Brüsten und geschwungenen Hüften. Sie blieb stehen. Einigen Leuten fielen die Wunden an ihren Waden und Füßen auf. Die Haut war zerrissen. Wahrscheinlich hatten Schäferhunde sie gebissen. In den Rändern der Fußsohlen steckten Dornen. Selbst wenn dieses verklärte Wesen vom Himmel herabgestiegen war, so hatte es allem Anschein nach zusätzlich einen weiten Fußmarsch zurückgelegt. Vielleicht brachte sie der Geruch des Meeres zum Stehen, vielleicht aber auch die Wärme der Sonne oder der ebene Dorfplatz und die Tatsache, dass sie nicht mehr bergab gezogen wurde. Es konnte aber auch der Anblick der Kirche sein. Niemand wusste, warum sie in ihrer Mitte stehen geblieben war. Sie hüstelte. »Wie heißt du?«, rief ein Mann. Nichts in ihrem strahlenden Gesicht verriet, ob sie ihn verstanden hatte. Sie schien die Frage gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Sanftmut war verunsichernd. 117
»Warum bist du hierher gekommen?«, fragte jemand aus der Menge. Ihr Mund öffnete sich, aber es kam kein Wort heraus. Nur ein Ton, wie der Anfang eines Liedes. Ihre Unschuld brachte die Versammelten zum Schweigen. Sie lauschten ihrem einzigen Ton, der nicht aufhören wollte. Sie hob die Arme seitlich vom Körper weg, und etwas Wundersames geschah: Farbige Flügel blitzten auf und erloschen wieder, während sie die Hände gen Himmel streckte. Ihre Haut war zu einem Prisma geworden. Sie blickte zur Sonne auf, und ihr ganzer Körper warf einen regenbogenfarbigen Halbschatten. »Was ist das für ein Wesen?«, hörte man jemanden fragen. Wäre sie eine Tochter der Insel gewesen, hätte sie garantiert jemand erkannt, auch in diesem Zustand. Aber so, wie die Dinge lagen, hatte niemand in dieser Stadt Medea, die fünfte Frau von Nikos Engatromenos, je kennen gelernt. Obwohl sie völlig nackt war, war sie eine absolut Fremde für sie. Eine alte, schwarz gekleidete Frau wagte sich vor. Den Rosenkranz fest umklammert, berührte sie den Engel. Das seltsame Wesen hob den Kopf und blickte die alte Frau aus blinden Augen an. Ein Raunen durchlief die Menge. Die alte Frau schob ihr Gesicht näher heran und bildete sich ihr Urteil. Dann kniete sie nieder und sagte: »Evloyite.« Ein Gruß, der normalerweise den Mönchen vorbehalten war. Sie wiederholte ihn. Segne mich. Regenbogen spielten auf dem schwarzen Kleid der alten Frau. Ehrfurcht überkam die Versammelten. Für sie alle bestand kein Zweifel mehr daran, dass diese Frau nichts weniger als ein auf die Erde herabgestiegener Engel war. Das Gerücht verbreitete sich rasch. Hunderte eilten her118
bei, um vor ihr auf die Knie zu fallen und sie zu berühren. Diejenigen, die nahe genug standen, bekreuzigten sich mit ihren Schweißperlen. Andere rissen sich Stoffstücke aus der Kleidung, um sie gegen ihren wundertätigen Körper zu drücken. Vom Meer her erklang das Tuten eines Schiffes. Die 12 Uhr 10-Fähre aus Brindisi näherte sich der Insel. Die Hafenarbeiter, Händler, Taxifahrer und Kaffeehausbesitzer lösten sich aus der Menge und eilten davon, um die Touristen zu begrüßen. Medea sang für sie. Sie strahlte von innen heraus. Zu Fuß, mit Flügeln aus Licht, war die Seuche gekommen, um ihre Kuriere zu empfangen.
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5 Grenzüberschreitung NEW MEXICO SEPTEMBER, VIER MONATE SPÄTER
Ihr gelber Schulbus brach aus dem aufgebrachten Mob heraus. Mit den bunten Klecksen von Eiern, Blut und Neonfarbkugeln sah er richtig psychedelisch aus, wie eine Zeitmaschine aus dem Aquarius-Zeitalter. Abbot drehte sich um. Einige seiner Mitreisenden, die da aus den Fenstern spähten, hätte man mit ihren strähnigen Haaren und den alten Jeans tatsächlich für Blumenkinder halten können, doch handelte es sich um eine Gruppe internationaler Wissenschaftler auf dem Weg zum Mesa, einer felsigen Hochebene, die besser unter dem Namen Los Alamos National Laboratory bekannt war. Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt. Sie hatten alte und junge Wissenschaftler an Bord, reiche und arme, durchgeknallte und unscheinbare, aber jeder von ihnen gehörte zur Elite in seinem jeweiligen Forschungsfeld. Von seinem Platz im hinteren Bereich sah Abbot vor sich blondierte Trendfrisuren und gepiercte Ohren, langes Haar und kahle Mönchstonsuren, streichholzdünne Nacken und breite Ringerschultern, wirre Forscherkrausen und teure Föhndauerwellen, bei Männern wie bei Frauen. Manche waren Kosmopoliten aus gutem Haus, die sich problemlos durch die verschlungenste Dinnerkonversation zu navigieren wussten, andere dagegen waren vor Introvertiertheit und Schüchternheit beinahe sprachgehemmt. Die einen 120
liebten Bach, die anderen Puff Daddy. Viele waren Universitätsgelehrte oder forschten in Regierungslabors oder für die Industrie. Mehrere hatten sich selbstständig gemacht und mit ihren Biotech-Start-up-Firmen etliche Millionen Dollar umgesetzt. Die meisten waren Biologen, von denen man behauptete, sie seien sozialer und bodenständiger als beispielsweise Mathematiker oder Teilchentheoretiker. Abbot vermutete, dass es an ihrer Nähe zu Lebewesen lag, wie klein diese auch sein mochten. Auf die eine oder andere Weise hatten sie es mit der Mühsal allen Irdischen zu tun, und das hielt sie davon ab, ins Surreale abzudriften. Abbot war Leiter der Wissenschaftsakademie, und als solchem galt der Protest da draußen hauptsächlich ihm. Er hatte für die Gruppe einen Ausflug organisiert, der ihnen einen Eindruck vom entspannten Flair des Südwestens verschaffen sollte. Rancho Encantado war ein Urlaubsgebiet nördlich von Santa Fe, wo sich sogar schon der Dalai Lama aufgehalten hatte. In der Empfangshalle hing ein Bild von ihm mit Cowboyhut. Im Verlauf der ersten beiden Tage hatten die Wissenschaftler Vorträge gehalten, Bilder gezeigt und waren ausgeritten. Heute Morgen waren sie früh aufgestanden, hatten ein üppiges Frühstück mit Pancakes und Eiern zu sich genommen und den Bus bestiegen. Dann waren sie direkt in die johlende Demonstrantenmenge hineingefahren, die sie auf dem Highway 40 erwartet hatte. An dem Hass der Menge auf die Forscher bestand kein Zweifel. Ihre Gegner hatten die Wurfeier tagelang in der Sonne verrotten lassen. Man konnte das Schwefeldioxid durch die Lüftung und auch an den Einsatzpolizisten riechen, die im Mittelgang und an den Einstiegen hockten. Von ihren Ninja Turtle-Rüstungen tropften Neonfarbe und verfaulte Lebensmittel, und die Wissenschaftler lehnten 121
sich so weit wie möglich von ihnen weg. Die Farbe und die verdorbenen Lebensmittel waren einfach nur Unfug, dachte Abbot, aber das Blut war genau kalkulierte Bosheit. Es war Menschenblut, literweise gespendet von radikalen Anarchisten. In Zeiten von Aids und Hepatitis C war Blut zu werfen nicht einfach nur eine Aussage, sondern ein terroristischer Akt. Die Zeitungen würden den Vorfall als weitere Demonstration gegen die Genforscher abhandeln. Selbst ernannte Pazifisten würden die sinnlose Gewalt verurteilen, dann aber trotzdem die bösen Wissenschaftler anprangern. Der Sheriff würde auf seine beschränkten Handlungsmöglichkeiten verweisen, der Gouverneur Entschuldigungen verkünden lassen. Alles nur Theater. Abbot wusste, wie das lief. Jemand von ganz oben hatte veranlasst, dass man den viel gelobten Teilnehmern vom Genom XXI, dem einundzwanzigsten Symposium des Humangenom-Projekts, ein wenig Ehrfurcht vor Gott einbläute. Abbot dachte über seine Feinde nach. Im Senat lief gerade eine hitzige Debatte über Budgetkürzungen, in der die verschiedensten Wissenschaftszweige wie Parasiten behandelt wurden. Im Namen seiner von der Weltschöpfungstheorie überzeugten Wähler spuckte Senator Jimmy Rollins aus Kansas, ein Schwachkopf und billiger Plagiator, wieder mal Gift und Galle. Außerdem gab es noch die Lobby der Europäischen Union, die unverdrossen versuchte, genetisch manipuliertes »Frankenfood« in ihren Ländern zu verbieten. Oder die Bauernverbände, die um mehr Einfluss kämpften. »Ärgere dich nicht, Paul«, sagte Abbots Sitznachbarin. Auf ihrem Namensschild stand Elise Golding/UC. Das ›UC‹ war zu bescheiden, denn die University of California war ein eigenes kleines Imperium für sich, dem sogar Los Alamos angehörte. Sie tätschelte seinen Arm. »So sind die 122
Zeiten eben, Paul.« Ihr grau meliertes Haar war zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden. Das schräg einfallende Sonnenlicht ließ ihre Krähenfüße und Lachfältchen verschwinden. Einen Moment lang sah sie dreißig Jahre jünger aus, so wie damals, als er sie ironischerweise bei einer stürmischen Protestkundgebung gegen den Vietnamkrieg kennen gelernt hatte. Damals hatte sie in Cornell unterrichtet, er am MIT. An jenem Tag waren sie alle besonders wagemutig gewesen. Und in der Nacht auch. »Das waren nicht nur Fundamentalisten und Abtreibungsgegner«, knurrte er. »Du hast ihre Schilder ja gesehen, da war wirklich alles versammelt. Maschinenstürmer, Greenpeace, Earth First, WAAKE-UP, die Tierschützer und die AFL-CIO-Idioten. Der reinste Lynchmob.« »Den du provoziert hast«, sagte sie. »Du lieber Himmel, Elise. Die haben gerade einen Schulbus angegriffen!« »Sie haben eine Idee angegriffen.« »Aufgehetzt von irgendwelchen Stimmungsmachern, dem Plauderradio und den abstrusen Schlagzeilen der Regenbogenpresse.« »Gib’s doch zu, Paul«, erwiderte sie ruhig. »Du bist nur wütend, weil dein Plan nach hinten losgegangen ist.« »Welcher Plan?« »Du hast uns benutzt.« Ihre Augen blitzten wie grauer Stahl. Ihre Toleranzschwelle gegenüber Falschheit jeglicher Art war überaus niedrig, für sie waren das alles Spielchen. Genau aus diesem Grund hatte er auch Miranda in ihre Obhut gegeben. Elise war eine wandelnde Ethikvorlesung. »Du hast eine Linie in den Sand gezogen, und sie haben sie überschritten. Das ist Politik, so einfach ist 123
das. Du bist genauso schuldig wie sie. Du wolltest eine Haltung demonstrieren, und sie hat dich in den Arsch gekniffen. Es war sehr hässlich, aber Gott sei Dank ist ja niemand verletzt worden. Diese Fensterscheiben sind nämlich nicht kugelsicher, weißt du?« »Jetzt müssen wir wohl schon den Pöbel um Erlaubnis bitten, wenn wir forschen wollen?«, schnauzte er. »Jemand muss doch mal Stellung beziehen, Elise. Sie haben es nicht nur auf die Gentechnik abgesehen, die Wissenschaft im Allgemeinen wird angegriffen. Ich lese es in den Leitartikeln, sehe es an den Budgetkürzungen und den leeren Klassenräumen. Wir fallen ins Mittelalter zurück. Als Nächstes verbrennen sie Bücher. Oder uns.« »Du willst, dass sie dich mögen.« »Natürlich nicht«, schnaubte er. »Aber klar doch«, fuhr sie unbeirrt fort. »Du willst sie die Entdeckerleidenschaft spüren lassen, willst, dass sie uns voller Ehrfurcht danken. Und eines Tages werden sie das auch wieder tun, Paul. Vielleicht schenken wir ihnen ja eine neue Energiequelle, oder ein Medikament gegen den Schnupfen, oder einen Impfstoff gegen diese Mittelmeerkrankheit. Solche Dinge bewegen sich immer zyklisch. Du musst aber auch akzeptieren, dass es für jede glorreiche Apollo-Mondlandung einen Galileo gibt, der ihre Vorstellungen über den Haufen wirft. Für jeden Salk, für jede Curie gibt es einen Darwin, der sie Affen nennt. Für jeden Carl Sagan oder Stephen Hawking, der versucht, die Massen zu erleuchten, gibt es einen Mengele oder Teller, der ihnen Alpträume beschert. Momentan befinden wir uns nicht in einer Kuschelphase, das ist alles. Und eine Genetiker-Tagung in ihrem Hinterhof bringt dich da auch nicht sofort wieder hin.« »Hinterhof? Wir sind hier mitten im Niemandsland.« 124
»Du weißt genau, was ich meine. Schließlich warst du es, der die Schlagzeilen lanciert hat, indem du der Dame von 20/20 letzte Woche ein Interview gegeben hast. Du hättest ihre Aufmerksamkeit auf die Suche nach diesem Mittelmeervirus lenken können. Du hattest die Möglichkeit, Helden aus uns zu machen. Stattdessen hast du über die Evolution gesprochen. Was sollte das Gerede von der ›Manipulation als Gottes Plan‹? Und warum, um alles in der Welt, hast du eine Ranch in der Wüste ausgesucht, statt die Leute in Los Alamos unterzubringen, wo es wenigstens sicher ist?« Erst am Tag zuvor hatte er geheime Berichte des Nationalen Sicherheitsdienstes und des Innenministeriums gelesen, in denen die sofortige Schließung aller USLandesgrenzen für die nächsten drei Monate empfohlen wurde. Er unterstützte diese Forderung. Selbstverständlich war es eine drakonische Maßnahme: kein Verkehr mehr nach außen, weder zu Wasser, in der Luft oder auf dem Land. Keine Geschäftsreisen nach Paris und zurück, kein Frühlingsurlaub in Cancun, und das alles auf Weisung des Präsidenten. Politiker und Bürokraten würden den Plan bis zum Jüngsten Tag blockieren, die Wirtschaft würde eine Talfahrt machen. Der Präsident war noch unentschlossen. Aber die Maul- und Klauenseuche und der BSE-Skandal vor ein paar Jahren in Europa sowie die erst kürzlich aus gestandenen Milzbrandanschläge in den USA erwiesen sich jetzt als wirksame Lektionen, die für eine rasche Antwort sprachen. Der Präsident stand kurz vor der Unterzeichnung der Direktive. Andererseits war es wenig sinnvoll, die Bevölkerung schon jetzt in Panik zu versetzen. Man war in den höchsten Kreisen überein gekommen, sich nach außen hin nichts anmerken zu lassen. Sogar Elise wusste nichts davon. »Diese Krankheit ist für die meisten Amerikaner eine 125
Million Meilen entfernt. Abgesehen davon kümmern sich die Europäer selbst darum. Das geht uns nichts an! Wir leben in einem freien Land, Elise. Das ist mein Standpunkt. Und die Wissenschaft spielt auf der Welt nach wie vor eine große Rolle.« »Und um deinen Standpunkt klarzumachen, hast du uns in Gefahr gebracht. Da haben wir aber Glück gehabt.« Jetzt hatte sie ihn. In gewissem Sinn gehörten sie alle ihm, jeder Einzelne von ihnen, angefangen von den Biologen bis zu den Astronomen, den Roboterfritzen, Schmetterlingsjägern und all den anderen Wissenschaftlern, die er vertrat. Als ›Wissenschaftsguru‹ fütterte er sie mit Geldern, die er dem Kongress, verschiedenen Firmen und anderen wahren Gläubigen entlockte. Er schützte sie mit seinen Problemlosem, Alleskönnern und seinem mosaischen Einfluss. Er lenkte ihre Forschung nach seinem Gesamtplan und belohnte sie für ihre Genialität. Sogar die Ausländer unter ihnen kreisten als Botschafter seines Reiches in seinem Orbit. Und er fühlte sich wirklich schuldig wegen der aufgebrachten Menge. Er war ihr König, und als solcher war es seine Aufgabe, jeden Einzelnen von ihnen zu schützen. Elise hatte Recht. Sie hatten wirklich Glück gehabt. Die Farbkugeln hätten ebenso gut echte Kugeln sein können. »Ich liebe diese frühen Morgenstunden«, sagte sie unvermittelt. Er sah sie an. Sie tat so, als schaute sie aus dem mit Ei und Spucke verklebten Fenster hinaus. Der wütende Mob hatte ihr Angst gemacht, sie wünschte sich nichts sehnlicher, als zu ihrem normalen Tagesablauf zurückzukehren. Im Laufe der Jahre hatte Abbot seine Version, warum sie damals, am Anfang, nicht geheiratet hatten, noch einmal 126
gründlich überdacht. Sie ebenfalls, und manchmal sprachen sie darüber. Meistens sagten sie dann Dinge wie: Hättest du nur das oder jenes gesagt. Aber sie hatten nun mal nicht geheiratet, sondern andere Lebenswege eingeschlagen, hatten andere Partner gefunden, Familien gegründet und ihre Partner dann wieder verloren. Der Tod hatte ihren Victor vor sechs Monaten an sich gerissen, und er hatte es auch bei ihr versucht. Die Chirurgen hatten ihr gebrochenes Herz repariert, aber sie war immer noch schwach. Abbot verspürte den Wunsch, einfach ihre Hand zu nehmen, ohne Angst oder Trost als Erklärung, sondern nur, um sie beide daran zu erinnern, was zwischen ihnen hätte sein können. Aber er tat es nicht. Wären sie jünger gewesen, dann vielleicht. Aber keiner von ihnen wollte noch einmal heiraten. So war es nun mal. Der Bus kämpfte sich den kurvigen Weg zur Mesa hinauf. Sie kamen durch Los Alamos, ein Städtchen, dessen schmucklose Gebäude und der grüne Park überall in den 1990er Jahren mitten in den USA hätten stehen können. Los Alamos war eine Industriestadt, und ihre Industrie hörte auf den Namen Big Science – Wissenschaft im ganz großen Maßstab. Der Bus hielt vor einer Brücke über eine tiefe Schlucht. Normalerweise floss der Verkehr in das Forschungszentrum auf der anderen Seite. An diesem Morgen, nach den Demonstrationen vor der Rancho Encantado, standen jedoch schwer bewaffnete Pro-Force Soldaten bereit. Ein Offizier mit einem Klemmbrett bestieg den Bus, und ging nach hinten zu Abbot und Golding durch. Golding wusste sofort, wo sie die Papiere unterzeichnen musste. Er bedankte sich und fing an, Berechtigungsausweise und Dosimeter auszuteilen. Die Soldaten winkten den Bus durch eine improvisierte Straßensperre. Auf der anderen Seite der Brücke ließ die Anspannung deutlich nach. Der An127
blick von auf Humvees montierten Maschinengewehren war ein Novum für viele der Wissenschaftler. Die Berechtigungsausweise und Strahlungsanzeiger kamen ihnen wie Eintrittskarten für einen James Bond-Vergnügungspark vor. Das Areal mit den Labors umfasste etwa dreißig Quadratkilometer und teilte sich in einen technischen Bereich mit den verschiedensten Forschungseinrichtungen sowie einen Verwaltungstrakt auf. In den frühen fünfziger Jahren, als sich in der Folge von Godzilla und anderen Katastrophenfilmen Angst in der Bevölkerung breit gemacht hatte, war die US-Atomenergiekommission damit beauftragt worden, Mutationen zu untersuchen, die sich in der Folge ionisierender Strahlung gebildet hatten. Wenn man schon damit anfing, Wasserstoffbomben abzuwerfen und Atomkraftwerke zu bauen, wollte die Regierung wenigstens über die möglichen Folgen informiert sein. Im Lauf der Zeit hatte die Einrichtung auf dem felsigen Tafelland im Südwesten der USA so manche Veränderung durchlaufen: Aus der Atomenergiekommission wurde das Energieministerium, Verwaltung und Organisation von Los Alamos oblagen der University of California, die Genforschung hatte sich nach und nach zum Projekt Humangenetik entwickelt, und inzwischen hatten zwei ehemalige Peaceniks, Elise Golding und Paul Abbot, mehr oder weniger die Kontrolle über den Geburtsort der Bombe übernommen. Sie fuhren bis auf einen leeren Parkplatz vor einem neuen Gebäude. ALPHA LABORATORIUM stand auf einem Schild. Der Bus hielt an. Eine einsame, verkrümmte Gestalt in einem Rollstuhl erwartete sie. Hinter dem mit allerlei technischen Spielereien, Joysticks und einem eingebauten Computerterminal versehenen Cockpit wirkte er wie ein verkrüppelter Kampfpilot. 128
»Cavendish«, flüsterte einer der Fahrgäste. »Der dunkle Prinz«, sagte jemand anderes. Er sah noch fast genauso aus wie vor zwei oder drei Jahren, damals vor der Anhörungskommission in Washington, wo Abbot ihn zuletzt gesehen hatte: Rollkragen, keine Knöpfe, das schmächtige Kinn glatt rasiert und an den Füßen bequeme Slipper. Der Grund für den ersten Anhörungstermin vor dem Kongress war Cavendishs berüchtigter »Fleischbaum« gewesen. In einem Privatlabor in Nebraska hatte Cavendish, von Burger King finanziert, eine Herde kopfloser Kühe geschaffen. Natürlich hatten auch Cavendishs Kühe Köpfe, aber sie waren genetisch auf das Wesentlichste reduziert: kleine Knochenknubbel mit einem Atemloch und einer Öffnung für die künstliche Ernährung. Augen, Ohren, Kiefer und Hörner hatte er weggelassen, kurzum alles, was über die grundlegenden Funktionen der Existenz hinausging. Technisch gesehen hatte jedes der Tiere ein Gehirn. Dieses Stammhirnklümpchen sorgte dafür, dass die Lungen atmeten und die Nahrung verdaut wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte niemand von Edward Cavendish gehört, doch das änderte sich bald. Er hatte sich den üblichen akademischen Veröffentlichungsprozess gespart und seine Geschichte direkt auf die Öffentlichkeit losgelassen. Seine Bilder hatten die ganze Welt schockiert. »Fleischbäume« hatte er seine Schöpfungen genannt, und sowohl um Rechtfertigungen als auch um Verwendungszwecke war er nicht verlegen. Diese Tiere seien eine billige Proteinquelle für die Dritte Welt. Da man sie problemlos in Massentierhaltung produzieren könne, würde der Regenwald geschützt und man könne Amerikas Weideflächen den Büffeln zurückgeben. Außerdem wies er darauf hin, dass seine mutierten Rinder in einer Art Koma zur Welt kamen, und sie daher bei der »Ernte« keinen 129
Schmerz spürten. Sie besaßen kein Bewusstsein, keine »Tierseele«, was bedeutete, dass selbst Vegetarier sie ohne Bedenken verzehren konnten. Natürlich ahnten die Experten sofort, was in Wahrheit dahinter steckte. Wenn man kopflose Kühe schaffen konnte, warum dann nicht auch kopflose Menschen für die Organtransplantation? Für mehrere entsetzliche Wochen hatte Cavendish die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit beherrscht und dabei sogar den Supertaifun in Bangladesch und die Autobomben in Quebec ausgestochen. Die Revolverblätter in den Supermärkten kochten die allgemeine Hysterie zusätzlich hoch. Jeder hatte eine Meinung zu dem Thema, angefangen von Cowboys, die das Ende der traditionellen Viehzucht voraussagten, bis hin zu Bischöfen und Philosophen, die Cavendishs Verzerrung der Natur öffentlich geißelten. Alles in allem war es eine dreiste, aber ungeschickte Coming-Out Party, ein dreister Solo-Auftritt für ihn gewesen. Der Kongress hatte unverzüglich ein Gesetz gegen Fleischbäume verabschiedet, aber damit war Cavendish noch lange nicht von der Bühne verschwunden. Das zweite Mal war ihm Abbot nach der NeandertalerSache begegnet. Cavendish hatte DNA von einem gefrorenen Zahnnerv aus einem konservierten Unterkiefer benutzt, sich eine Jersey-Milchkuh als Gebärmutter »geborgt« und daraus ein Neandertaler-Kind geklont. Wieder versetzte sein Geschöpf die Welt in Schrecken, und wieder hatte er einen cleveren Trick angewandt. Da der Homo neanderthalensis streng genommen kein Homo sapiens war, hatte Cavendish das Tabu, was das Klonen von Menschen anging, durchbrochen, ohne es technisch gesehen verletzt zu haben. Damit war die psychologische Grenzlinie überschritten, der erste Schritt zum Klonen von Menschen getan. 130
Eine vom Präsidenten einberufene Kommission hatte sich, unter Abbots Vorsitz, die Moralisten und Schwarzmaler pflichtbewusst angehört. Im Verlauf dieser Anhörungen hatte Abbot Cavendish respektieren gelernt. Die Verachtung des jungen Mannes für zaghafte Forschung entsprang einer tiefen Misanthropie. Er hatte Grips, er hatte Mumm, und er verfügte über die Gerissenheit eines Jungtürken. In gewisser Hinsicht war er ein Spiegelbild des jungen Abbot, bevor er sich dessen bewusst geworden war, dass die Öffentlichkeit kein Werkzeug, sondern der Werkzeugkoffer war. »Ich dachte, seine Arbeit sei verboten worden«, sagte einer der Wissenschaftler. »Zensiert, aber nicht verboten«, antwortete eine Frau. »Er darf immer noch ein bisschen herumexperimentieren. Subventioniert mit dem Geld der Steuerzahler!« Abbot hatte Cavendish nach der NeandertalerKontroverse hier in Los Alamos »verschwinden« lassen. Elise verabscheute den Mann, akzeptierte aber Abbots Argumentation. Die Wissenschaft konnte es sich nicht leisten, einen Kopf wie Cavendish zu verlieren. Andererseits konnten sie es sich auch nicht leisten, ihn draußen in der Welt Amok laufen zu lassen. In Los Alamos konnte sein Genie unter den wachsamen Blicken seiner größten Kritikerin Elise in Schach gehalten werden – zumindest theoretisch. Das Problem bestand darin, dass sie noch fünfzig andere Projekte zu überwachen hatte, dazu kamen Budgetverhandlungen und die Mitverantwortung für die Leitung einer kompletten Universität. Ihr Herzinfarkt hatte seiner Überwachung ein jähes Ende gesetzt. Niemand wusste so genau, was Cavendish in den vergangenen sechs Monaten getrieben hatte. Es ging um die Entwicklung einer künstlichen Gebärmutter, so weit war Abbot informiert. Und dass Miranda irgendwie damit zu tun hatte. 131
Er blickte aus dem Fenster und hielt nach ihr Ausschau. Je älter er wurde, desto mehr fehlte ihm seine rebellische Tochter. Es überraschte ihn nicht, dass sie nicht gekommen war, um ihn zu begrüßen. Die kalte, hochmütige Miranda. Ganz die Tochter ihres kalten und hochmütigen Vaters. Elise sah die Enttäuschung in seinem Gesicht. »Wir finden sie schon«, sagte sie. »Sie will dich sehen.« »Du musst mir nichts vormachen«, erwiderte er. »Nimm sie so wie sie ist. Das wäre zumindest mal ein Anfang. Sei stolz auf sie.« »Glaubst du, das bin ich nicht?« »Paul«, sagte Elise, »Miranda ist nicht deine Feindin.« »Was?« Aber Elise sagte nichts mehr. Unter dem Gewicht ihrer Waffen und ihrer schweren Ausrüstung stöhnend, verließen die Polizisten als Erste den Bus und bezogen Stellung. Dann kamen die Wissenschaftler, wie Schulkinder auf einem Ausflug, einer nach dem anderen heraus. Einige ältere brauchten Hilfe bei den steilen Stufen. Es war Anfang September und die Luft hier in 2700 Meter Höhe empfindlich kalt. Unsicher standen sie in kleinen Grüppchen zusammen, einige in Wolldecken mit dem Rancho Encantado-Logo eingemummelt. »Guten Morgen«, grüßte Cavendish gut gelaunt in die Runde. Seine Augen streiften über sie hinweg, als zählte er die Anwesenden. Er sah Abbot, dann Golding, und er wusste genau, wer die Macht in Händen hielt. »Ha!«, schleuderte ihm jemand darauf entgegen. Jetzt, da sie alle draußen standen, waren die Fahrgäste schokkiert darüber, wie sehr ihr Bus in Mitleidenschaft gezogen worden war. Cavendish schien die Verwüstung gar nicht zur Kenntnis 132
zu nehmen. »Folgen Sie mir«, sagte er. »Sie sind spät dran. Es ist schon fast so weit.« »Ich hoffe nur, der Aufwand hat sich gelohnt«, rief eine Frau laut und deutlich. »Dafür muss er uns schon etwas verdammt Gutes bieten«, setzte eine andere hinzu. Abbot wusste, dass sie sich so grob verhielten, weil sie mehr als neugierig waren und es nicht zugeben wollten. Außerdem machte ihnen Cavendish Angst. Die Gruppe ging langsam hinein. Cavendish wartete, während Abbot Elise die Stufen hinunterhalf. »Immer noch nicht ganz fit, Dr. Golding?«, fragte er freundlich. Seine kornblumenblauen Augen waren von langen schwarzen Wimpern eingerahmt. Unglücklicherweise betonte ihre Schönheit die verkniffene Maske des restlichen Gesichts nur noch mehr. Ob nun zu Recht oder zu Unrecht, jedes schöne Detail wirkte in diesem Gesicht einfach nur grausam. Abbot spürte den Druck von Elises Hand auf seinem Arm. »Ich muss Sie enttäuschen, Dr. Cavendish«, sagte sie. »Aber die Chirurgen haben sich noch rechtzeitig um mich gekümmert. Sie werden noch ein paar Jahre auf meinen Posten warten müssen.« »Sie haben mich missverstanden«, antwortete Cavendish. »Die Luft hier oben ist dünn, und Neuankömmlinge haben in den ersten paar Tagen immer Probleme.« »Ich bin kein Neuankömmling«, erwiderte sie. Was ging hier vor?, fragte sich Abbot. Das hier waren mehr als nur bürokratische Reibereien. Er öffnete den Mund, entschied sich dann aber gegen eine Einmischung. Sie befanden sich auf Elises Territorium, Cavendish war ihr störrischer Angestellter, und das Ganze eine Sache zwischen den beiden. Er blickte zur Seite. Der Busfahrer 133
besprühte gerade die Kevlar-Panzerungen der Antiterrorpolizisten mit Scheibenwischerflüssigkeit und putzte mit Papierhandtüchern nach. »Andererseits haben Sie uns schon fast ein halbes Jahr nicht mehr besucht«, sagte Cavendish. »Deswegen habe ich ja angeordnet, dass jede Abteilung einen monatlichen Bericht abgibt. Was Sie abgelehnt haben. Sie hüllen einen Mantel des Schweigens um Ihr Projekt, und ich mag keine Überraschungen.« »Stimmt«, bestätigte Cavendish. Er weigerte sich, sich unterzuordnen. Er wollte ihren Posten oder zumindest nicht mehr unter ihrer Kontrolle stehen, daran bestand für Abbot kein Zweifel. Der Mann wollte ein Reich ganz für sich allein. Cavendish führte sie in das Gebäude. Sie fuhren mit dem Aufzug nach unten. Das beleuchtete Display zeigte drei Stockwerke über und drei unter der Oberfläche an. Sie fuhren zu einer vierten Etage, und wahrscheinlich gab es darunter noch weitere. Es war nicht das einzige Gebäude mit mehreren Untergeschossen, das wusste Abbot. Zur Zeit des Kalten Krieges war Los Alamos genau so angelegt worden: als multiples Alamos, das eine nukleare Belagerung überstehen konnte. Der Aufzug setzte sie in einem kleinen, rot und weiß gekachelten Vorraum ab, von dem mehrere Türen abgingen. Sie betraten eine Druckschleuse, deren warme Luft Abbot wie eine tropische Brise ins Gesicht wehte. Ungefähr in der Mitte der Schleuse entdeckte er ein einfaches UVStrahlentor. Es umhüllte jeden Besucher mit einer schwachen Strahlung, um externe Mikroben auf Kleidung und Haut abzutöten. »Der Kreißsaal«, sagte Cavendish, als die Tür auf der 134
gegenüberliegenden Seite automatisch aufglitt. Es sah aus wie unter Wasser. Der Raum war eine richtige Höhle, etwa 10 Meter hoch und in aquamarinblaues Licht getaucht. In zwei Seitenwänden waren Arbeitsplätze mit einem eigenen System aus Leitern und Laufstegen untergebracht. Die dritte Wand barg eine Reihe hinter Glas abgeschirmter Büros, die aussahen wie die Glaskästen für die Berichterstatter in den Sportstadien. In der Mitte des Raumes stand ein gewaltiges rundes Wasserbekken aus Industrieglas; die Luft war von einem rhythmischen Hämmern erfüllt. »Hier sehen Sie das letzte Stadium unseres künstlichen Uterus-Prozesses«, erläuterte Cavendish. »Das Geräusch, das Sie hören, kommt vom Herzmonitor des Fötus.« Abbot analysierte sofort sämtliche Hinweise. Er lauschte dem Herzschlag. Wenn es der Herzschlag eines Menschen war, dann war es kein Kind mehr. Das Wasser leuchtete blau. Synthetisches Fruchtwasser, vermutete er. Auf dem Steg über dem Wasser standen drei Männer und eine große Frau in professionellen Taucheranzügen und rückten gerade ihre Atemmasken und Tauchflaschen zurecht. Etwas stand kurz vor seiner Geburt. Golding war wie vor den Kopf gestoßen. »Wie sind Sie an all diese Sachen herangekommen?«, wollte sie wissen. »Davon ist nie etwas in irgendeinem Budget aufgetaucht.« »Mein Trüffelschwein hat das meiste davon in den anderen Laborgebäuden ausfindig gemacht«, erklärte Cavendish. »Und wir hatten ein paar Sachen, die die anderen Labors haben wollten. Ein simples Tauschgeschäft, ohne Geld und ohne Papierkram. Deshalb taucht es auch nicht im Budget auf.« »Ihr Trüffelschwein?« »Mein Akquisiteur, wenn Sie so wollen. Ich habe schon 135
früher mit ihm gearbeitet. Er läuft hier irgendwo herum. Ein großer Bursche, sehr einfallsreich. Ich habe mich dazu entschlossen, ihn an Bord zu holen.« »Wir sind hier nicht auf einem Piratenschiff«, sagte Golding entrüstet. »Was geht hier vor?« »Wir behelfen uns selbst, Doktor«, antwortete Cavendish. »Wir behelfen uns einfach selbst.« Ein Assistent kam mit einem gefalteten EKG-Ausdruck herbeigeeilt, der mit Bleistift, roter oder blauer Tinte markiert war. Cavendish nahm den Ausdruck an sich. »Wir sind auf der Zielgeraden«, erklärte er Abbot und Golding. »Wenn Sie sich bitte zu den anderen gesellen würden, können wir anfangen.« Sie überquerten einen stählernen Rost und gesellten sich zu den anderen, die bereits ihre Plätze auf den etwa auf halber Höhe des Wasserbeckens befindlichen Beobachtungsplattformen eingenommen hatten. Von oben hörten sie ein Platschen, und die Taucherin mit den langen Beinen erschien in einem Schwall Luftblasen vor ihnen im Wasser. »Sie sieht genau wie ihre Mutter aus«, sagte Elise. Verwundert erkannte Abbot in der Taucherin Miranda. Die anderen Taucher folgten ihr. Sie schwammen im Kreis, mit den Köpfen nach oben, und warteten. Kurz darauf wurde ein Plexiglaskasten von der Größe einer kleinen Telefonzelle ins Wasser abgesenkt. Die Taucher umringten ihn und öffneten ihn rasch, worauf ein undurchsichtiger, geäderter Sack zum Vorschein kam. An dem Sack war ein schlaffes Kabel oder eine Schnur befestigt. Jeder der Taucher stützte eine Seite des Sacks und stabilisierte sich mit kontrollierten Flossenbewegungen. Sie überwachten die unterschiedlich gefärbten Drähte, die an die Oberfläche führten. Einer davon, vermutete Abbot, war der Herzmonitor, der Rest überwachte andere lebenswichtige 136
Funktionen. Dann sah er, was dort zusammengekrümmt in dem Sack lag. Elise stöhnte auf. Im kerzenartigen Unterwasserlicht erinnerte die zusammengekauerte Silhouette beinahe an Rodins Denker. So langsam dämmerte es den Wissenschaftlern, was hier vor sich ging. Sie blickten auf eine frei schwebende Gebärmutter. Das Organ pulsierte. Abbots Eindruck nach schien die Gestalt in dem Sack jedoch viel zu groß zu sein. Das in der Fötusstellung zusammengerollte Wesen hatte fast die Größe der um ihn versammelten Taucher. Selbst das Neandertalerkind war nur ein Viertel so groß gewesen. Hatten sie hier einen Riesen geschaffen? »Cavendish!« Ein empörter Aufschrei löste sich aus ihren Reihen. »Wo sind Sie, um Gottes willen?« »Hier«, antwortete Cavendish. »Ich bin immer noch bei Ihnen.« Sie blickten nach oben. Er hatte einen kleinen Lift benutzt und saß jetzt über ihnen, direkt neben dem Becken. Sein Gesicht war vom Widerschein des Computerbildschirms grün beleuchtet. »Vor dreizehn Wochen wurde ein geklonter Embryo in den synthetischen Uterus eingepflanzt, den Sie hier in unserem Geburtstank sehen.« Er sprach schnell und klar, keine Gegenfragen erlaubt. Er bestimmte das Tempo. Dreizehn Wochen!, dachte Abbot. Von der Empfängnis bis zur Geburt nur drei Monate? Dann dachte er an Miranda. Er erinnerte sich an ihr kleines Monster, Winston, das bereits voll entwickelt zur Welt gekommen war. »Unser Uterus ist ein bahnbrechender Fortschritt«, fuhr Cavendish fort. »Der Sack besteht aus Nylon, wegen der 137
Zugfestigkeit, und aus der eigenen DNA des Embryos. Der Sack ist also mit dem Embryo mitgewachsen. Die Nabelschnur besteht aus Embryo-DNA, die mit den Genen für Spinnenseide ausgestattet wurde, was uns das Anbringen einer Plastikröhre erlaubte. Während des Wachstumsprozesses wurden Nährmittel, die ebenfalls aus den eigenen Stammzellen des Embryos gewonnen wurden, über diese Röhre zugeführt; sie war außerdem an eine normale Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, die das Blut mit Sauerstoff versorgt und die Giftstoffe entsorgt hat. Die Umgebung des Fötus wurde ständig auf 37 Grad Celsius gehalten.« Sein Publikum war alles andere als erfreut. »Der Drecksack hat es tatsächlich getan«, brummelte ein Mann. »Aber dreizehn Wochen?« Sie waren immer noch fassungslos. Es sah ganz eindeutig menschlich aus – und konnte doch nicht menschlich sein. Cavendish ignorierte die Unruhe. »Der Zeitpunkt seiner Geburt – es ist ein Junge, da muss ich Ihnen die Überraschung leider vorwegnehmen – wurde auf Ihren Besuch festgelegt. Ich freue mich also, Ihnen mitzuteilen, dass es jetzt so weit ist.« »Halt!«, schrie eine Stimme. »Hören Sie auf, bevor Sie damit anfangen, um Himmels willen.« Die Menge teilte sich. Sir Benjamin Barnes war ein dürrer alter Engländer, der sich auf einen hölzernen Spazierstock stützte. Als einer der Väter der DNA-Forschung hatte er seinen Nobelpreis dazu benutzt, ein gewaltiges Privatvermögen anzuhäufen, internationale Schönheiten in sein Bett zu holen und vor allem all diejenigen zu sabotieren, die versuchten, in seine Fußstapfen zu treten. »Ihre Freakshow hier wird uns alle ruinieren! Dieser Pöbel, Sie haben ja keine Ahnung …« 138
Cavendish behielt sein Mona Lisa-Lächeln bei und ließ den alten Mann zu Ende reden. »Hätten Sie eine richtige Ausbildung genossen, wüssten Sie, dass Wissenschaft eine langsame, ruhige und umsichtige Angelegenheit ist. Man muss den Menschen Zeit geben, den Sinn unserer Entdeckungen nachzuvollziehen, sie zu verdauen. Verstehen Sie?« Cavendish drehte den Kopf zur Seite und lauschte dem immer schneller werdenden Herzschlag. »Tut mir Leid, dafür ist keine Zeit mehr«, sagte er. »Es sei denn, Sie wollen dieses unschuldige Wesen mit Ihrer Tugendhaftigkeit umbringen.« Der alte Barnes stampfte mit seinem Stock auf den Boden, doch die Gummispitze gab kein Geräusch von sich. »Das ist Nötigung. Ich protestiere aufs Entschiedenste!« Der Herzschlag wurde noch schneller. »Sir Benjamin stimmt also für den Tod«, sagte Cavendish. »Und die anderen?« Abbot verfolgte dieses gewagte Spiel mit Interesse. Er wusste, wie es ausgehen würde, zumindest glaubte er es. Das Kind würde zur Welt kommen. Aber nicht, bevor Cavendish ihnen allen seinen Willen aufgezwungen hatte. Er attackierte ihre Scheinheiligkeit. Das Klonen von Menschen war nur ein weiteres Tabu, das fallen würde. Seit Jahren hatten die Forscher so getan, als befände es sich noch in einer Art Schwebezustand. Sie verfügten über die Technologie, den genetischen Schlüssel, das Können … allein es fehlte ihnen an Wagemut. Die Forschergruppe stand regungslos da. Der Herzschlag drang schneller, dringlicher, kräftiger aus den Lautsprechern. Elise ergriff das Wort. »Sie haben die Natur auf den Kopf gestellt«, sagte sie. »Was ist daran neu?«, erwiderte Cavendish. »Greifen Sie 139
sich an die eigene Nase. Wir alle tun ständig nichts anderes.« »Genau das tun wir nicht alle. Und genau das ist Sir Benjamins Standpunkt.« Abbot wartete. Würde Cavendish einfach mit den Achseln zucken? Sie als Idioten bezeichnen? Dazu war er zu schlau. »Soweit mir bekannt ist«, begann er ruhig, »hat Prometheus die Götter nicht um Erlaubnis gebeten, sich ihr Feuer auszuborgen. Er hat einfach seine Hand ausgestreckt und es ihnen weggenommen.« »Und wurde dafür bis in alle Ewigkeit verdammt«, rief Elise ihm in Erinnerung. »Ja, aber das Risiko war ihm bekannt. Und er ist es eingegangen«, entgegnete Cavendish. »Und er hat uns von der Dunkelheit befreit.« Der Monitorton des Fötus hämmerte ihnen entgegen. Der Körper in dem Sack regte sich schwach. Miranda strich mit einer Hand über die Hülle des Sacks, als wollte sie das ungeborene Kind beruhigen. Elise hatte noch nicht aufgegeben. »Warum?«, fragte sie Cavendish. »Um den großen Oppenheimer zu zitieren: Wenn etwas technisch möglich ist, dann tut man es auch.« »Aber … zu welchem Zweck?« Cavendish zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Irgendjemand wird es eines Tages schon herausfinden. Da bin ich sicher.« Alle Augen ruhten auf Elise, denn sie war Cavendishs Chefin. Er hatte die Verantwortung an sie abgegeben, aber nur, um sie ihrerseits zum Aufgeben zu zwingen. »Dann bringen Sie das arme Geschöpf eben zur Welt«, murmelte sie. 140
»Wie Sie wünschen.« Cavendish drückte sehr entschieden auf eine Taste seines Rollstuhlcomputers. Das war das Signal. Einer der Taucher durchschnitt die bunten Drähte mit einer Schere. Der Herzschlag verstummte. In der Stille hörten sie eine Stimme rückwärts auf Null zählen. Die Drähte wurden aus dem Wasser gezogen. Miranda hielt ein Skalpell in der Hand und nahm einen vorsichtigen Schnitt vor. Der Sack öffnete sich und der Inhalt ergoss sich in einer rosafarbenen Wolke ins Wasser. Diese Farbwolke nahm ihnen die Sicht. Die anderen Taucher halfen, die Öffnung zu vergrößern, während Miranda weiter schnitt. Sie schälten die Plazentahülle ab, und noch mehr organisches Material quoll heraus. Es war unmöglich, in der trüben Wolke zwischen den Tauchern den Neugeborenen zu entdecken. Dann rutschte der Klon heraus. Er sank wie ein gefallener Kletterer mit dem Kopf nach unten und zog dabei die Nabelschnur wie ein schlaffes Seil hinter sich her. Abbot dachte zuerst, das Skalpell sei ausgerutscht, denn vom Kopf aus ergoss sich ein langer schwarzer Strom. Aber es war kein Blut, sondern langes, schwarzes Haar, mindestens einen Meter lang. Mit einem kräftigen Schwimmstoß tauchte Miranda nach unten. In Zeitlupe breitete sie ihre Arme aus und fing ihn auf. Sein Haar legte sich um ihre Schultern. Der Klon war kein Kind mehr. Er öffnete die Arme und streckte die Beine. An ihren Enden befand sich jeweils ein Gewirr aus langen, aufgerollten und ineinander verschlungenen Nägeln. Er hatte einen Bart. Die Körperbehaarung des Klons stach pechschwarz von der blassen Haut ab, die noch nie die Sonne gesehen hatte. Die anderen Taucher kamen Miranda zu Hilfe, und ge141
meinsam tauchten sie langsam nach oben. Als sie auf Höhe der Beobachtungsfenster vorbeischwebten, erwachte der Klon in der für ihn neuen Welt. Er öffnete die Augen. Sie waren blau, kornblumenblau. »Seht nur!«, rief jemand atemlos. Sogar Miranda schien unter ihrer Tauchermaske geschockt zu sein. Das Gesicht war unverkennbar. Cavendish hatte sich selbst geklont. Er war also noch viel weiter gegangen. Die Augen öffneten sich weiter. Der Klon drehte den Kopf zur Seite und betrachtete seine Umgebung. Er sah das Publikum aus Wissenschaftlern auf der anderen Seite des Glases. Ein leichtes Lächeln zeigte sich in seinem im Wasser treibenden Bart. »Hast du das gesehen?«, flüsterte Abbot Elise zu. »Natürlich habe ich es gesehen.« Sie schäumte vor Wut. »Er hat uns alle dem Untergang geweiht. Jetzt ist der Geist aus der Flasche.« »Nein, Elise. Das Lächeln. Er hat gelächelt. Er hat uns erkannt.«
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BUCH ZWEI JAHR ZWEI
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6 Monster KATMANDU, GEFÄNGNIS BADRIGHOT DREIZEHN MONATE SPÄTER
Wie ein steinerner Wasserspeier mit Nickelbrille hockte Nathan Lee im Schneidersitz auf dem Fenstersims, Graces Märchenbuch auf dem Schoß. Seit fast einem Jahr arbeitete er daran. Es war früh am Morgen, blauer Dunst schwappte um das, was von seinen Zehen übrig geblieben war. Hinter ihm lagen drei Leprakranke auf dem Boden und träumten. Der Palast gehörte mir, schrieb er fein säuberlich in Druckschrift. Nachts lauschte ich auf meinen Herzschlag und die leise kratzenden Krallen der Geckos. Für die Eidechsen war ich der König. Er ließ 10 Zentimeter Platz für ein Bild. Das würde später kommen, vielleicht eine Draufsicht auf ein Escherartiges Labyrinth. Oder die naturgetreue Skizze eines Geckos. Schon immer hatte er gut zeichnen können. Er würde der Skizze eine leichte Sepia-Tönung geben oder mit einem trockenen Pinsel ein wenig Wasserfarbe hineinmalen. Man musste sehr vorsichtig sein auf diesem alten Reispapier. Ich konnte hinuntersehen und die Menschen bei ihrem täglichen Leben beobachten. Er beugte sich näher heran, um die Tinte auf dem Papier erkennen zu können. Die Kerze in seiner Blechlaterne flackerte unablässig. Aber 144
egal wie laut ich auch rief, niemand schien mich zu bemerken. Niemand. Bis zu dem Tag, an dem ein kleines Mädchen zufällig zu meinem Fenster heraufschaute. Er liebte diese frühen Stunden. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, als erster der Gefangenen aufzuwachen. Schon bald würde es dämmern. Dann fingen die Hähne an zu krähen, Hunde bellten. Neunhundert Männer und Jungen strömten auf den Innenhof, murmelten ihre Gebete, husteten den Geschmack der Nacht aus, lärmten, wuschen sich und machten ihre Tauschgeschäfte, um an eine Extraration Reis, alte Hindi-Filmmagazine oder ein paar zerfetzte Kleidungsstücke zu kommen. Der Lärm würde bis tief in die Nacht anhalten. Das Knallen der Volleybälle, die regelmäßig wie ein Uhrwerk hin und her geschlagen wurden, die klackernden Schachfiguren und der Singsang der Verrückten. Momentan jedoch war es noch friedlich, und er konnte so tun, als sei er mit seiner Tochter allein. Vor langer Zeit war das Badrighot-Gefängnis ein RanaPalast gewesen. Zu dieser Stunde, im frühen Morgennebel, war es nicht schwer, sich die vergangene Pracht auszumalen. In den Gebäuden, in denen jetzt Mörder, politische Gefangene und Vergewaltiger einsaßen, hatten einst Radschas der Musik gelauscht. Auf den Terrassen, auf denen die Gefangenen jetzt kleine rote Tomaten und Ingwerwurzeln anbauten, hatten die Prinzen ihre Drachen steigen lassen. Affen waren in Bäumen herumgetollt, die schon lange nicht mehr existierten. Elefanten und Pfauen hatten aus einem Teich mit smaragdgrünem Lotus getrunken. Das alles hatte er entdeckt und in sein Märchenbuch eingewoben. Der ehemalige Palast war seine Zuflucht geworden, doch ironischerweise hatte ihn gerade seine Flucht erst hierher gebracht. Seit seiner Einlieferung in dieses Gefängnis vor 145
vierzehn Monaten war ihm dreimal die Flucht gelungen. Aber was Flucht anging, war er nicht besonders gut. Fünfzehn Minuten war das Längste, was er je an Freiheit herausgeholt hatte. Nach seinem dritten Fluchtversuch hatte man ihn in diesen mittelalterlichen Gefängnishof mit den turmhohen Backsteinmauern verlegt und seine zwanzigjährige Haftstrafe um fünf Jahre verlängert. Zur besonderen Bestrafung hatte man ihn zu den Leprakranken gesteckt, was eigentlich einem Todesurteil gleichkam. Aber Lepra störte Nathan Lee nicht, denn er wusste, dass sie kaum anstekkend war. Die Leprakranken wurden als lebende Tote betrachtet und bekamen weniger Essen als die anderen Gefangenen. Nathan Lee wusste, dass er selbst mit einer vollen Ration keine fünfundzwanzig Jahre in dieser Dritte Welt-Kloake überleben würde. Die Lepraunterkunft stand ein Stück abseits, sicherer als die anderen Gebäude, ein Gefängnis innerhalb des Gefängnisses, beobachtet nicht nur von den Wachen, sondern auch von den anderen Gefangenen. Selbst die Unberührbaren wollten keine Leprakranken in ihrer Gesellschaft haben. Die Gefangenen schlugen wie Gänse Alarm, wenn einer von ihnen versuchte, das Gebäude zu verlassen. Der einzige Mensch, der noch weit unter den Leprakranken rangierte, war der Mann aus dem Westen. Ihr einziger Menschenfresser. Nathan Lee erinnerte sich nur noch sehr verschwommen an seinen Prozess als Teil eines noch viel schlimmeren Alptraumes, der aus Verhören, Gefängnis und dem Horror seiner bis zum Knochen schwarz gefrorenen Zehen bestand. An den gnadenlosen indischen Doktor mit seiner Schere konnte er sich viel lebhafter erinnern als an einen der Richter oder den Rechtsanwalt. Anscheinend hatte sich ein Tier über Rinchens Leichnam hergemacht, bevor er 146
gefunden wurde. Entsetzliche Aufnahmen von einem zerfleischten Körper, der in Nathan Lees rosafarbenem Kletterseil hing, waren herumgezeigt worden. Nachdem eine Anklage wegen Kannibalismus gegen ihn erhoben worden war, hatte der Vertreter des amerikanischen Konsulats nicht mehr hinter Nathan Lee im Gerichtssaal gesessen. Der Journalist vom Men’s Journal war näher gerückt. In einer mit der Diplomatenpost über die Botschaft gelieferten und beeidigten Erklärung hatte Professor David Ochs ausgesagt, Nathan Lee habe versucht, auch ihn in den Abgrund zu stoßen. »Monster« hatte Nepals wichtigste Zeitung The Rising Sun getitelt. »Der Yeti lebt.« Und das Gericht war der gleichen Meinung gewesen. Nathan Lee hatte sich daran gewöhnt, dass die Häftlinge ihn anspuckten oder Steine nach seinen Beinen warfen. Was ihn viel mehr mitnahm, war die Ungewissheit, wie viel Grace davon mitbekommen hatte. Er konnte nur hoffen, dass Lydia es ihr erspart hatte. Zu seiner Überraschung waren die Leprakranken nett zu ihm. Als er Fieber bekam, versorgten und fütterten sie ihn. Sie gaben ihm eine Strohmatte, eine Decke und das Moskitonetz eines Verstorbenen. Manchmal fragten sie ihn morgens besorgt, was er geträumt habe. Es stellte sich heraus, dass er jede Nacht im Schlaf weinte. Einmal am Tag durften sie im Hof herumspazieren. Normalerweise war es die heißeste, die nasseste oder die kälteste Tageszeit. Wenn die Leprakranken humpelnd und taumelnd am Fuße der Mauern ihre Runden drehten, zogen sich die meisten anderen Häftlinge in ihre Unterkünfte zurück. Eines Tages entdeckte Nathan Lee hoch oben an der östlichen Mauer Spuren von Stoßzähnen. Obwohl man die Furchen neu verputzt hatte, waren sie doch ein geister147
hafter Beweis für die königlichen Elefanten. Sie waren der Auslöser für sein Buch für Grace gewesen. Danach hatte er eine Art archäologische Studie des alten Palastes vorgenommen. Er schritt die Begrenzungen ab, verschaffte sich von den oberen Fenstern einen Überblick über das Areal und sammelte alle von Mund zu Mund weitergegebenen Geschichten. Schließlich behandelte er das Ganze sogar wie seine niemals fertig gestellte Dissertation. Schon bald bekamen seine Erkundungen auch für die Leprakranken einen magischen Zauber. Sie gaben ihm Papier und Tusche für seine Zeichnungen, und er verlieh ihnen Flügel. Einen der Leprakranken, einen Schuster, bat er darum, ihm die losen Seiten zu einem Buch zusammenzunähen. Es bestand aus einem wirren Durcheinander aller möglichen Papiersorten. Manche Seiten waren aus Reispapier, manche aus Leinen oder zerfaserter Wolle, andere leere Endseiten, die aus anderen Büchern herausgetrennt worden waren. Einige bestanden sogar aus Papyrus oder dünnem Pergament. Alles zusammen umfasste das Buch mehr als dreihundert Seiten, die in den Einband eines botanischen Kompendiums aus dem 19. Jahrhundert gebunden waren. Der Titel des Buches lautete Die Flora des Himalaja, verfasst von George Bogle, einem Kartoffelexperten. Das Buch war ebenso schön wie eigenartig. Es wog fünf Pfund in seinen Händen und roch ungewöhnlich verlokkend. Seine archäologischen Notizen und die angefangenen Geschichten belegten die ersten einhundertachtunddreißig Seiten. Der Rest war noch unbeschrieben und wartete auf Stift und Pinsel. Jeden Morgen stand Nathan Lee um diese Zeit auf, um das Buch ein wenig mehr zu füllen. Er rückte ein weiteres Mal die Blechlaterne zurecht und nahm in ihrem orangefarbenen Licht seine Geschichte vom Monster im Turm wieder auf. Sie sah so klein aus, 148
dort unten in der Menge. Ich fragte mich, wer sie wohl sein mochte und was sie wohl dachte, wenn sie mein weit entferntes Gesicht betrachtete. Den Rest der Seite ließ er für das Aquarellporträt eines kleinen Mädchens frei, das ihn tagelang beschäftigen würde. In letzter Zeit verwechselte er immer wieder Graces Bild mit dem anderer Mädchen und Frauen. Die Leprakranken hatten ihm alte Aufnahmen ihrer Frauen und Töchter gezeigt, deren Gesichter ihn bedrängten. Den Schnappschuss von Grace hatte er auf die Innenseite des Buchdeckels geklebt, aber er war vom Wasser und vom Sonnenlicht schon fast völlig ausgebleicht. Die Zeit arbeitete gegen ihn, das wusste er. Grace wurde rasch größer, schon bald war ihr fünfter Geburtstag. Er hatte Dutzende von Briefen an sie geschickt und sich dabei vorgestellt, wie Lydia sie Grace vorlas. Und doch wusste er es besser. Nicht einmal eine Postkarte kam als Antwort. Vielleicht glaubte Grace ja, ihr Vater sei im Himalaja verschollen, eine exotische Erklärung für ihre Vorschulfreundinnen. Aber genauso wahrscheinlich war es, dass sie ihn für ein Tier hielt, das in einem Käfig am anderen Ende der Welt verrottete. Nathan Lee klappte das Buch zu. Es wurde Zeit, in der Lehmkuhle im Boden ein Feuer anzuzünden. Er steckte das Buch in seine Jhola, einen Stoffsack aus grober Wolle. Das Buch passte genau hinein, und es blieb noch genügend Platz für die Stifte und den Wasserfarbkasten. Er trug die Jhola immer bei sich. In dem Augenblick, als er vom Fenster zurücktrat, riss der Nebel plötzlich auf, und er sah etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Etwa zehn Meter von ihm entfernt saß ein Affe auf gleicher Höhe mit ihm im Wachturm. Der Affe hockte auf seinem Hinterteil und erblickte ihn im gleichen Moment. Sie sahen einander an, dann kaute der 149
Affe weiter an einem Stück Obst, das er von einem anderen, nicht weit entfernten Affen stibitzt hatte. Nathan Lee wartete. Irgendetwas stimmte nicht. Die Wachen waren weg. Er hielt die Nase schnüffelnd in die Luft, suchte nach dem Rauch ihrer Bidis. Dann warf er einen kleinen Stein in Richtung Turm. Der Affe bleckte die Zähne, drehte ihm den Hintern zu und verschwand im Nebel. Jetzt war der Wachturm völlig leer. Was hat das zu bedeuten?, fragte er sich. Den ganzen Winter über war die Stromversorgung in Katmandu kontinuierlich schwächer geworden, bis es in den letzten Wochen überhaupt keinen Strom mehr gegeben hatte. Aus den Lautsprechern des Gefängnisses plärrten keine kindischen Hindilieder, und die rostigen Glühbirnen leuchteten nachts auch nicht mehr. Der Stromausfall gab Anlass für alle möglichen Theorien. Manche behaupteten, es sei ein Beweis für einen Regierungswechsel, andere dachten, die Flüsse führten zu wenig Wasser. Die Bauerntölpel waren davon überzeugt, der Mangel an Blitzen im letzten Sommer sei schuld daran. Nathan Lee nahm seine Brille ab und putzte sie übertrieben gründlich. Er rieb sich die Augen und setzte die Brille wieder auf, aber das Bild, das sich ihm bot, war immer noch das gleiche: ein leerer Turm. Er hätte mit zwei oder drei Wachen besetzt sein müssen. Diese Wachen waren schon an Nathan Lee gewöhnt, wie er da in seinem Fenster im orangefarbenen Kerzenlicht saß. Einer der Kerle hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen mit seinem Gewehr auf den amerikanischen Kannibalen zu zielen. Nathan Lee legte dann immer zum Gruß seine Handflächen zusammen, ein wortloses Namaste, woraufhin der Wächter hinter seinem Vi150
sier grinste. Nicht so an diesem Morgen. Es war einfach keiner da. Nathan Lee schwang die Beine auf den Lehmboden und stellte sich hin. Seine Glieder schmerzten, doch entschlossen hängte er sich seine Jhola über die Schulter. Er weckte die Leprakranken nicht auf, das Feuer konnte warten. Barfuß stahl er sich über die Holztreppe nach unten. Das Haus der Leprakranken hatte nur einen Eingang, unter dessen niedrigem Türsturz er stehen blieb. Es war verboten, ohne Erlaubnis nach draußen zu gehen. Aber wer sollte ihn in diesem Nebel schon sehen? Er versuchte sein Glück und machte einen Schritt aus der Tür. Niemand schrie auf. Er hielt auf den Hügel zu und machte einen weiten Sprung über den mit trübem Wasser gefüllten Graben. Zwei Pfosten markierten das Volleyballfeld. Er humpelte über eine Million im Staub zurückgelassener Fußabdrücke. Die blaue Luft roch nach Asche, Curry und Urin. Von hinten kam ein leise klatschendes Geräusch, und er blieb erschrocken stehen, doch es handelte sich lediglich um einen anderen Gefangenen, der in einiger Entfernung langsam seines Weges schlurfte. Nathan Lee ging weiter direkt auf das Haupttor zu. Die normalen Gefangenen lebten nur für dieses Tor, das irgendwann ihre Tür nach draußen werden würde. Durch seine Gitter unterhielten sie sich für gewöhnlich mit ihren Anwälten, Geschäftspartnern und Angehörigen. Nichts davon galt für ihn, also hatte er das Tor seit jeher gemieden. Bis jetzt. Direkt vor ihm gähnte ihn der Eingang eines Tunnels an. Nathan Lee versuchte sich daran zu erinnern, was sich darin befand. Als man ihn hergebracht hatte, war er vor Verzweiflung beinahe wahnsinnig geworden. Er erinnerte sich an das Klirren, als seine Ketten abfielen, an die 151
schweren Torflügel, die in ihren Angeln quietschten, und an eine lange Zeit der Dunkelheit. Sein Herz raste. Er trat in den Tunnel. Der Tunnel maß nur zehn Meter, wirkte aber viel länger. Drinnen war es pechschwarz, die gewölbten Wände schmierig von den vielen Menschen, die dort hindurchgegangen waren. Nathan Lee erreichte den Ausgang. Das Tor stand offen, die eisernen Bänder waren von Rost überzogen. Die Ketten lagen wie tote Schlangen zu seinen Füßen. Er blieb stehen. Vor ihm lag die freie Welt. Es schien fast unmöglich, das zu glauben. Der Nebel lichtete sich, in der Ferne waren Gebäude zu erkennen. Kleine Umrisse – Menschen, Hunde oder Kühe? – durchstreiften den Nebel in der Ferne. Nirgendwo war ein Wachtposten zu sehen. Er zögerte. War das eine Falle? Ein Traum? Er kam sich vor wie in einem seiner Märchen, in dem die ganze Stadt sich plötzlich um den einsamen Reisenden in Nichts auflöst. Nathan Lee schloss die Augen und setzte einen Fuß nach draußen. Keine Schüsse wurden abgefeuert, auch wurde kein Alarm geschlagen. Kein wütender Pöbel lief zusammen, kein Blitz teilte den Himmel. Seit Monaten hatte er sich die qualvollsten Fluchtversuche vorgestellt, und jetzt brauchte er einfach nur hinausmarschieren? Der Augenblick erschien ihm völlig absurd, aber er setzte sich trotzdem in Bewegung. In den ersten paar Minuten traute er sich nicht umzudrehen, weil er fürchtete, ein einziger Blick zurück könnte ihn wieder ins Gefängnis zurückversetzen. Mit jedem weiteren Schritt verspürte er das Bedürfnis, laut schreiend durch die Straßen zu rennen und die Arme in die Luft zu werfen. Aber er hielt die Arme dicht am Körper, die Jhola mit dem 152
Buch schlug gegen seinen Hüftknochen. Er hatte keine anderen Besitztümer außer den Fetzen, die er am Leib trug. Zu seiner Linken tauchte eine menschliche Gestalt auf. Er erschrak. Es war eine Göttin, deren Schrein in eine Mauer aus roten Ziegelsteinen eingelassen war. Ihr Gesicht und ihre Schultern waren mit zinnoberroter Farbe und Ghee beschmiert. Noch als er so dastand und die steinerne Figur betrachtete, näherte sich eine Frau mit ihrer Tochter. Nathan Lee zog die Ellbogen näher an den Körper. Sie hatten ihn erwischt, jetzt schrien sie bestimmt gleich los. Aber die Frau würdigte ihn keines Blickes, war völlig in ihre Andacht versunken. Sie verstreute ein wenig Reis und murmelte ein Gebet. Das kleine Mädchen schaute ihn aus großen dunklen Augen an. Nathan Lee senkte den Kopf und ging weiter. Seine letzten Fluchtversuche waren nichts als wildes, sinnloses Davongerenne gewesen. Dieses Mal, schwor er sich, würde er es anders anpacken. Er wollte zwar schleunigst von der Stadt weg, aber fürs Erste bestand die beste Taktik darin, sich unter die anderen westlichen Ausländer im Touristenviertel zu mischen. Natürlich war ihm klar, dass er selbst dort auffallen würde. Im Gefängnis hatte er sich mit der Hakenwaage für die Reissäcke gewogen. Er war auf sechsundvierzig Kilo abgemagert. Bei einer Größe von einsfünfundachtzig wog er weniger als Miss America. In den sagenumwobenen Hippietagen waren viele Weltreisende ganz ähnlich herumgelaufen wie er jetzt: klapperdünn, in Lumpen gehüllt, ungewaschen, und mit langen, ungepflegten Haaren. Aber das war damals. Heutzutage kamen die Touristen mit Markenkleidung von North Face und Nike, Designer-Sonnenbrillen und tausend Dollar teuren Videokameras. Vielleicht hielten sie ihn ja für 153
einen Saddhu und gaben ihm Geld. Das wäre zumindest ein Anfang. Er konnte auch um Kleidung betteln. Schuhe waren am allerwichtigsten. Und Socken. Und Essen. Und ein Rucksack. Seine Gedanken schossen wild durcheinander. Vielleicht kam er bei einer Gruppe von Kletterern unter. Vielleicht konnte er sich sogar einen Pass besorgen. Aber momentan kam die amerikanische Botschaft dafür nicht in Frage. Die Polizei hielt sie bestimmt schon bald wegen ihm unter Beobachtung. Der Morgennebel blutete rosa, verbrannte langsam zu einem grellen Weiß. Nathan Lee fühlte sich wie ein Vampir, der verzweifelt versucht, von der Straße wegzukommen. Er hielt seine Jhola fest umklammert und erreichte die Hauptstraße, Kanthi Path, die eigenartig still vor ihm lag. Eigentlich hätte sich um diese Zeit schon ein unablässiger Verkehrsstrom mit lärmenden Hupen und Fahrradklingeln hier entlangwälzen müssen. Stattdessen versuchten nur zwei Bauern einen mit Gras beladenen Karren zwischen etlichen Taxis, Autorikschas und Bussen durchzuschieben. Alle Fahrzeuge waren unbesetzt. Einige parkten mitten auf der Straße, andere auf dem Bürgersteig. Den platten Reifen und den gestohlenen Sitzen nach zu urteilen, standen sie dort schon seit Wochen oder Monaten. Verwundert sprach er die beiden Bauern auf Nepalesisch an: »Warum sind die Autos so?« »Bhote«, sagte einer der beiden und deutete dabei auf Nathan Lee. Wegen seines harten Akzents und der dummen Frage wegen hielten sie ihn für einen Hinterwäldler aus den Bergen. »Glaubst du, die Autos fahren mit Wasser?«, erwiderte der andere seine Frage. Benzin, meinte er. Es gab kein Benzin. Erst jetzt fiel Na154
than Lee auf, dass überall aus den Rissen im Asphalt Unkraut wuchs. Er sah sich genauer um. Auch das Postamt war in einem ähnlichen Zustand. An den sperrangelweit offen stehenden Türen rankten sich Kletterpflanzen empor. Telefonkabel hingen an der Wand herunter, aufgeschlitzt und ihrer Drähte beraubt. Rauch von Holzfeuern quoll aus zerbrochenen Fenstern. Offensichtlich hatten sich dort illegale Bewohner niedergelassen. Kein Treibstoff, keine Post, keine Polizei, keine Elektrizität, kein Telefon. Die gesamte Infrastruktur war verschwunden. »Was ist passiert?«, fragte Nathan Lee. »Mahakala«, antwortete einer der Bauern. Mahakala war eine rachsüchtige Gottheit. Der Gott war schwarz und grausam und kam mit einem Flammenschwert, um die Dämonen der Unkenntnis zu vernichten. »Die Welt geht zu Ende«, sagte der andere Bauer. »Hat es einen Krieg gegeben?« »Nein, das habe ich doch gerade gesagt. Es ist einfach so.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ke garne?« Was kann man schon machen? Sie schoben ihren Karren weiter. Der Morgennebel hob sich weiter, und die Sonne glitzerte auf dem Swayambunath, dem Tempel auf dem Hügel im Westen. Die Menschen kamen aus ihren Häusern. Die frisch gemalten Tikas auf der Stirn leuchteten so klar und deutlich wie Zielscheiben. Andächtige Männer trugen Blütenblätter im Haar. Die Ladenbesitzer klappten ihre Verschläge auf, Bauern legten ihr Wintergemüse in ordentlichen Reihen zum Verkauf aus. Als reichte der Geruch nach rohem Fleisch nicht aus, machte ein Metzger mit einem orangefarbenen Ziegenkopf – eingerieben mit Kurkuma, um die Fliegen abzuhalten – Reklame für sein Geschäft. Chinesische Fahrräder, unzerstörbare Klapperkisten, sausten klin155
gelnd an ihm vorbei. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihm! Mittellos, völlig entkräftet und verwundert, gelang es ihm allmählich, sich ein wenig zu entspannen. Vielleicht war alles doch nur ein Traum. Vielleicht lag er noch immer schlafend auf seiner Strohmatte. Katmandu war schon immer ein Strudel um sich selbst wirbelnder Jahrhunderte gewesen. Mittelalterliches mischte sich mit Modernem. Stromkabel führten an dreizehnstöckigen Tempeln vorbei. Alte Steingötter spähten aus Schächten im Asphalt herauf. Was sich heute Morgen seinen Blicken darbot, war mehr die mittelalterliche Seite. Die Video- und Faxgeschäfte, die indischen Boutiquen, Teppich- und Thangkaläden waren alle geschlossen, die Ladenschilder abgerissen. Es roch nach Gewürzen, Rauch, Dung, Fleisch, Sägemehl, Weihrauch … nach allem Möglichen, nur nicht nach dem berüchtigten Smog der Stadt. Das Dinosaurierblöken der Taxihupen war ausgerottet. Die Zeit hatte sich verlangsamt, die Welt einen Gang heruntergeschaltet. Nathan Lee konnte das Gefühl des Unwirklichen nicht abschütteln. Sein Magen rumorte. Katmandu war riesig. Ringsumher ragten seine Tempel in den Himmel. Was ihn aber eigentlich irritierte, war die Tatsache, dass die Menschen so anders aussahen. Die Nepalesen waren ihm immer so zart und unterernährt erschienen, doch heute Morgen sah jeder einzelne von ihnen wohlgenährt und muskulös aus. Die ausgezehrten Gefangenen waren zu seinem Maßstab geworden. Der Platz von Durbar Marg war so mit Autos und Bussen zugestellt, dass es aussah, als bestünde er nur aus Metall. Die Fahrzeuge waren aus den engen Straßen auf 156
diesem vor sich hin rostenden Schrotthaufen zwischen den erhabenen Pagoden zusammengeschoben worden. Nathan Lee ging weiter, vertraute sich dem Gewirr der Straßen an. Er war in eine Stadt geflüchtet, die sich in der Zeit zurückbewegte, und nun musste er einen Weg finden, um der Zeit selbst zu entkommen. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung hatten unterschiedliche politische Parteien ihren Wahlkampf auf der Straße mit Postern und Farbe ausgetragen. Inzwischen waren die politischen Graffiti fast völlig verblasst und durch Bilder ihres Gottkönigs ersetzt, eines jungen Caudillo mit Sonnenbrille und Bleistiftbärtchen. Hatte er eine Rückkehr zu den traditionellen Werten angeordnet? Es war eine mögliche Erklärung. Die Straßen wanden sich nach links und nach rechts, und die Stadt war so unglaublich still! Keine Radios, keine Hupen, keine knatternden Motoren. Hier und da gewährten Durchgänge in den Mauern einen Blick in kleine Höfe wie in andere Welten. Die Leute umringten Schreine und läuteten kleine Tempelglöckchen. Wahrsager, ayurvedische Ärzte und professionelle Ohrenreiniger boten auf den Stufen unter den Tempeldächern ihre Dienste an. Endlich erreichte er Thamel, das Touristenviertel. Seine kleine Expedition mit Ochs hatte damals hier im Tibet Guesthouse, einer von Bergsteigern bevorzugten Unterkunft, ihren Anfang genommen. Das Haus war geschlossen, die Metalltore mit Draht zugebunden. Mit vor Hunger schmerzendem Magen ging er ziellos weiter in den Touristenbezirk hinein. Hierher hatte er sich flüchten wollen, an einen Ort, an dem es andere Amerikaner gab, KletterBrüder und Sympathisanten. Aber hier gab es keine Kletterer, die auf der Suche nach One Night Stands um die Häuser zogen, keine Abenteuerreisenden mit Stairmastergestählten Oberschenkeln, weder Pauschaltouristen noch 157
Geldwechsler, Schuhputzerjungen oder professionelle Bettler. Die Trekking Shops und Buchläden waren verrammelt. Die knallige Weihnachtsbeleuchtung in den Restaurantfenstern hing leblos an ihren Kabeln. Nirgendwo dudelte Led Zeppelin. Die ganze Szene hatte den Geist aufgegeben. Er sah einen Mann und eine Frau in New AgeZigeunerklamotten am anderen Ende des Häuserblocks. Die Frau hatte blondes Haar, der Mann schob ein robustes, grünes Mountainbike neben sich her. Leute aus dem Westen! Nathan Lee rief sie nicht an. Nach den vielen Monaten, die er zwischen den flüsternden Leprakranken verbracht hatte, kam er sich selbst wie ein Unberührbarer vor, also versuchte er, sie einzuholen. Sein Knie schmerzte, und die fehlenden Zehen zwangen ihn zu einem abgehackten Hinken. Er ging sogar wie ein Leprakranker. Die Frau war in ein halbes Dutzend Schals gewickelt, die im Sonnenlicht flatterten. Sie gingen gemächlich. Das Lachen der Frau perlte. Sie rauchte ein Minz-Bidi. Was für Nathan Lee eine schmerzhafte Aufholjagd auf Leben und Tod bedeutete, war für die beiden nichts weiter als ein kleiner Morgenspaziergang. Seine Schritte verlangsamten sich, denn er war schwach. Er verlor sie aus den Augen. Dann aber entdeckte er in der Gosse ein Bidi, von dem immer noch kleine minzig duftende Rauchkringel aufstiegen. Mit neuem Mut suchte er weiter und sah schließlich das Fahrrad des Mannes an eine Mauer gelehnt. Nathan Lee roch Essen. Hier schien irgendwo ein Restaurant zu sein, ein altmodisches, einfaches Bhaati, das wahrscheinlich außer Tee und Reis mit Linsen und Hühnerstücken nichts anderes anbot. Er ging die paar Stufen nach unten und duckte sich, um den von zwei Kerzen erhellten Raum zu betreten. Es hätte genauso 158
gut eine Opiumhöhle sein können. Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah Nathan Lee den Mann und die Frau in einer Ecke sitzen. Sie waren die einzigen Gäste. Er ging auf sie zu, blieb dann aber in respektvoller Entfernung stehen. Er sagte nichts. Schließlich sprach ihn die Frau an. »Wer sind Sie?« Sie war offenbar Französin, trug Ringe am Daumen und an sämtlichen anderen Fingern. Ihre Augen waren mit Khol umrandet, ihre Ohren von goldenen Ohrringen perforiert. Exotik schien ihr zweiter Vorname zu sein. Der Mann trug rote Pujabänder um den Hals und mehrere Reihen Gebetsperlen am linken Handgelenk. Seine Augen schimmerten golden vor Gelbsucht. Zwei Dharma-Gammler wie aus dem Bilderbuch. Nathan Lee durchschaute sie sofort. Sie hatten sich von ihrem Zuhause losgesagt und waren, was ihr von Dogmen freies Leben anging, garantiert absolut dogmatisch. Die ganze Menschheit war ihr Heimatland. Damals, vor nicht allzu langer Zeit, hätten sie seine Eltern gewesen sein können. Nathan Lee hatte Angst, der Frau seinen Namen zu nennen. »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er. Sie rückte eine Kerze näher an sein Gesicht. »Wieso denn das? Schau mich an.« Sie bewegte die Kerze von einer Seite zur anderen. »Hast du dich vergessen?« Nathan Lee blinzelte in die Flamme. War das irgendein mystisches Rätsel? Die Frage schien sehr wichtig für sie zu sein. Er wusste nicht, wie die richtige Antwort lautete, also schwieg er. Die Frau schien sich kein Urteil über ihn bilden zu können. Sie stellte die Kerze wieder auf den Tisch und redete mit ihrem Begleiter. »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, 159
sagte sie. »Ich kann es nicht sagen. Es heißt ja, man sieht es nicht immer.« »Wie bist du hierher gekommen?«, fragte ihn der Mann. »Und sprich lauter, damit wir dich verstehen.« »Ich bin euch gefolgt«, gab Nathan Lee zu. »Nein, nein. Wo bist du vorher hergekommen?« »Amerika«, sagte Nathan Lee zögernd. Die schwache Antwort entlockte dem Mann lediglich ein genervtes »Tsss«. Dass er Amerikaner war, war ja wohl offensichtlich. Die Frau war geduldiger und versuchte es noch einmal. »Bist du vom Süden gekommen? Oder vom Norden, von Tibet runter?« Sie sprach es Tiii-bät aus. Nathan Lee blieb keine andere Wahl, als ihnen zu vertrauen. »Ich war im Gefängnis.« »Siehst du, Monique?« Der Mann wich vor Nathan Lee zurück. »Dann sind die Geschichten also wahr. Sie sperren sie an der Grenze ein.« Sperren wen ein?, fragte sich Nathan Lee. Welche Grenze? »Sie haben mich entlassen«, versicherte er ihnen rasch. »Heute Morgen. Vor einer Stunde erst.« »Hier?«, fragte der Mann. »In Katmandu?« Kat-maanduuu? »Lass ihn sich doch erst mal hinsetzen«, meinte Monique. »Sieh ihn dir doch an. Er kann ja kaum stehen. Hast du schon etwas gegessen? Wo sind deine Sachen?« In der Gesellschaft der Leprakranken hatte er aufgehört, sich selbst als arm wahrzunehmen. Wenigstens besaß er noch alle Körperteile, jedenfalls die allermeisten. Und er hatte sein Buch. Die Frau des Restaurantinhabers brachte das Essen. »Setz dich hin«, sagte Monique und schob ihm ihren Tee hin. Er legte beide Hände um das heiße Glas und hob es an 160
den Mund. Der aromatische Geschmack von Milch, Zukker und Tee verschlug ihm den Atem. »Wir haben eh schon so wenig, Monique«, beschwerte sich ihr Begleiter auf Französisch. »Was ist, wenn er doch aus Indien kommt? Das wäre für uns alle das Ende.« »Das Ende kommt sowieso«, antwortete sie ernst. »Es ist nur eine Frage der Zeit. Darüber waren wir uns einig.« Nathan Lee hatte keine Ahnung, wovon sie redeten. Monique schob ihm einen Blechteller voll mit Reis und Linsenbrei hin. »Merci«, sagte er. Moniques Partner war noch nicht zufrieden. Er wandte sich an Nathan Lee: »Sag uns die Wahrheit! Bist du infiziert?« Plötzlich verstand Nathan Lee ihre Besorgnis. Es lag an seinen Zehen. Sie dachten, er hätte Lepra. Er lächelte. »Keine Angst. Die habe ich im Gebirge verloren.« Jetzt waren sie total verdutzt. »Jetzt redet er wirr«, sagte der Mann. Nathan Lee hob seinen Fuß hoch. »Erfroren«, sagte er bestätigend. »Ich bin nicht leprakrank.« Der Mann schüttelte wieder viel sagend den Kopf. Blöder Amerikaner. »Wer redet denn hier von Lepra? Ich meine die Seuche.« »Seuche?« Der Reis war so dick, so verschwenderisch gewürzt! »Er behandelt uns wie Idioten«, schnaubte der Mann auf Französisch. »Vielleicht weiß er gar nichts davon«, erwiderte Monique. »Nach einem Jahr?« Der Mann starrte Nathan Lee misstrauisch an. 161
»Sie nennen es Kali yuga«, sagte Monique. »Eine dunkle Ära. Wir treten in ein Zeitalter des weltweiten Holocaust ein. Danach wird die Erde wiedergeboren. Wir alle. Es wird das Paradies auf Erden sein. Shambala.« Nathan Lee nahm noch einen Schluck Tee. Wer redete da wirr? Er hatte geglaubt, nach dem MillenniumsRummel hätte sich die Sache mit der Apokalypse erledigt. Aber anscheinend reisten manche Leute bis ans Ende der Welt, um noch einmal draufzukommen. Nathan Lee spielte das Spielchen mit, schließlich hatte er noch nicht aufgegessen. Er zeigte auf die Kerzenflamme. »Ist mir aufgefallen. Die Stadt hat keinen Strom mehr. Es fahren keine Autos und die Touristen sind alle weg. Wo sind die alle hin?« »Touristen?«, knurrte der Mann. »So etwas gibt es jetzt nicht mehr. Keine Dilettanten mehr, und keine Voyeure. Jetzt heißt es das echte Leben leben. Oder sterben.« Das schien ihn zu freuen. Die selben Worte hätten auch von Nathan Lees Vater stammen können. Das Leben war ein einziges Risiko und der Tod eine Sauerei. »Du weißt wirklich nicht, was los ist, oder?«, fragte Monique Nathan Lee. »Die ganze Welt ist so.« Sie ließ ihre Finger durch den Hof der Flamme schweben. »Und bald wird sie so sein.« Damit drückte sie die Flamme an den Docht und tauchte den Tisch in Dunkelheit. Nachdem sich Nathan Lees Augen daran gewöhnt und er den Teller vor sich wieder erkennen konnte, widmete er sich erneut seinem Löffel. »Wir waren vor der Maladie hier«, fuhr sie fort. »Wir waren in Indien, als sie in Europa und Afrika ausbrach. Das war vor elf Monaten. Jetzt kommt sie über Zentralasien heran. Wir sind hierher gekommen, um unser Schicksal zu erwarten.« 162
»Es hat Vorzeichen gegeben, Omen«, sagte ihr Begleiter. »Erdbeben und schwere Lawinen in den Alpen. Heftige Stürme haben Teile Europas platt gemacht. Dürren in Afrika, Waldbrände in Russland. Heuschreckenschwärme, missgebildete Frösche. Ich habe einen Freund, der gesehen hat, wie sich im Kosovo das Wasser der Flüsse in Blut verwandelte.« Er machte eine Pause, um die Reaktion des Amerikaners abzuwarten. Nathan Lee traute sich nicht, seine Meinung kundzutun. Jedenfalls nicht, bevor er aufgegessen hatte. Er wusste ja nicht, wann er wieder etwas zu essen bekam. Dieses französische Pärchen ging ihm langsam auf die Nerven. Das verstanden sie unter Seuche? Ihre Katastrophenlitanei war mehr als schwach. Wann hatte es jemals keine Erdbeben, Lawinen, Waldbrände und Heuschrecken gegeben? Das ließ sich doch alles unter der Überschrift »Mutter Natur« zusammenfassen. Für die deformierten Frösche war vermutlich Dow Chemical verantwortlich. Und für die blutigen Flüsse? Die Halsabschneider aus Serbien. »Hört sich an wie eine Neuauflage von Moses«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Ja«, nickte der Franzose. »Aber dieses Mal radiert Gott sein eigenes Buch Genesis aus.« Er zählte weitere Katastrophen auf: Missernten, Hitzewellen, eine totale Sonnenfinsternis und einen arktischen Winter … in Rom und Miami! »Und jetzt noch diese sonderbare Grippe«, fügte Nathan Lee hilfsbereit hinzu. »Nein, keine Grippe«, sagte Monique. »Es ist eine bisher völlig unbekannte Krankheit. Man steckt sich an und wird sehr bald blind. Das ist die erste Phase. Die Farbe schwindet aus den Augen.« Deswegen hatte sie also in seine Augen sehen wollen. 163
»Später wird dann deine Haut durchsichtig. Man sieht aus wie ein Geist. Dieser Effekt ist eigentlich ziemlich hübsch«, erklärte sie weiter. »In den letzten Stunden ist dann das Herz des Menschen zu sehen.« »Hast du das mit eigenen Augen gesehen?«, fragte Nathan Lee. »Nur Bilder in Zeitschriften. Aber mittlerweile gibt es keine Zeitschriften mehr.« Jetzt konnte sich Nathan Lee nicht mehr zurückhalten: »Die Menschen sterben an Unsichtbarkeit?« »Natürlich nicht. Das ist nur ein Symptom, sonst nichts. Während sich die Pigmente auflösen, stirbt dein Gehirn. Man vergisst alles. Alles. Die Soldaten lassen im Krieg einfach ihre Waffen fallen. Das ist gut. Aber die Bauern verlassen ihre Felder, Mütter vergessen ihre Kinder. Der Gesellschaftsvertrag bricht einfach auseinander, die Bevölkerung verhungert. Eine Nation nach der anderen stirbt. Es gibt keine Heilung und keine Hoffnung.« »Und du sagst, das passiert in Europa?« »Es gibt kein Europa mehr.« »Aber es muss doch Überlebende geben«, stieß Nathan Lee hervor. »Keinen einzigen.« Nathan Lee glaubte ihr kein Wort. Wahrscheinlich war irgendwo eine seltene Krankheit ausgebrochen, und sie übertrieb maßlos. Keine Krankheit entwickelte eine hundertprozentige Zerstörungsrate, sonst würde sie sich selbst auslöschen. Plötzlich fiel ihm ein, dass die beiden Anhänger irgendeines Weltuntergangskultes sein konnten. Mit ihnen hatte ihr Guru oder Rinpoche einen tollen Fang gemacht. »Du glaubst mir nicht?« Der Franzose kochte vor Wut. 164
»Meine ganze Familie, mein Land. Alles weg.« »Das hört sich alles nur so fantastisch an«, antwortete Nathan Lee. »Wie kann eine Krankheit, die jeden tötet …« Monique unterbrach ihn. »Nicht die Krankheit bringt sie um. Sie vergessen sich. Es ist ein Zustand des Friedens, nicht des Todes. Die Leute sterben, weil sie vergessen zu essen, oder weil sie ohne Kleidung in der Kälte herumspazieren. Sie fallen von Brücken und ertrinken oder gehen einfach ins Meer.« Es klang immer weiter hergeholt. »Was ist mit den Ärzten und den Hilfsorganisationen?« »Sie haben es versucht«, erklärte Monique düster. »Man nennt so etwas Ärztekrankheit. Die Ärzte haben versucht einzuschreiten, sind aber schnell selbst daran gestorben. Und die Rettungsteams haben schnell begriffen, dass es besser ist, niemanden zu schicken, weil ihre Leute sich ebenfalls infiziert haben. Dann hat man auch die Luftabwürfe von Nahrungsmitteln eingestellt, weil man entschieden hat, dass sie das Leiden nur verlängern. Meine Mutter …« Sie unterbrach sich. Meine Tochter. Ihr Gesicht blitzte vor Nathan Lees innerem Auge auf. Einen Moment lang sah er sie als Teil dieser unwahrscheinlichen französischen Wahnvorstellung, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Es war ganz einfach. Tief in seinem Herzen würde er so etwas niemals akzeptieren. Seine Tochter hatte ihn diese Hölle überstehen lassen. Jetzt würde er für sie sorgen. Eine Träne lief über Moniques Gesicht, und der Mann nahm ihre Hand. »Unsere Angehörigen sind von allem Leid befreit«, sagte er. »Sie sind gereinigt und in den großen Strom eingegangen.« Nathan Lee hörte dem Geschwätz des Mannes zu, und 165
plötzlich legte sich in ihm ein Schalter um. Er wurde wütend. Auch wenn sie ihm zu essen gaben, verpflichtete ihn das noch lange nicht zur Leichtgläubigkeit. Sie waren irregeleitet, ihre Wahnvorstellung war hausgemacht. Sie befanden sich auf Pilgerreise, um ihr eigenes Selbst zu zerstören und wiedergeboren zu werden, und deswegen musste die ganze Welt mitspielen. »Die Seuche kommt also auch hierher?«, fragte Nathan Lee. »Von Süden her. Niemand weiß, wann sie hier sein wird. Ein paar Wochen noch, vielleicht Monate.« »Und warum laufen die Leute herum, als sei nichts geschehen? Hat es ihnen niemand gesagt?« »Sie wissen es. Es war ja alles vorhergesagt. Aber wo sollen sie hingehen?« Draußen bimmelte eine Tempelglocke. Ein Karren rumpelte vorbei. Nathan Lee schlang seinen restlichen Reis hinunter. Er fühlte sich von dem Essen und dem Koffein gestärkt. In seinem Kopf setzte sich ein Plan zusammen. »Und was ist mit euch?«, erkundigte er sich. Monique hatte ihre Fassung wiedererlangt. »Buddha, der Meister, lehrt uns, unseren Geist zu reinigen. Unser Platz ist hier«, sagte sie. »Unser Zeitalter ist vorüber. Eine höher entwickelte Spezies wird daraus hervorgehen. Götter und Göttinnen werden wieder die Berggipfel bevölkern. Das Rad des Lebens dreht sich weiter.« Nathan Lee dankte ihnen für das Essen und wünschte ihnen alles Gute. »Namaste«, antwortete ihm Monique. Ich verbeuge mich vor dem Göttlichen in dir. Draußen vor dem Restaurant schwang er sich auf das Fahrrad des Franzosen und fuhr davon. Ein freudiger 166
Seufzer entschlüpfte seinen Lippen. Er war frei! Und schon bald würde er seine Tochter wiedersehen!
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7 Das Knochenlabor LOS ALAMOS NOVEMBER, EINE WOCHE SPÄTER
Sie fand Miranda, ganz allein zwischen den Knochen. Sie sang. Die Welt ging zugrunde. Die Grenzen waren abgeriegelt. Die Seuche kam näher. Und sie stand da und sang. Elise Golding blieb auf der Türschwelle stehen. Es war eine Art zarte Ballade, vielleicht schon sehr alt, vielleicht war es aber auch ein Song aus der neuesten Hitparade. Es sah aus, als würde Miranda dem Durcheinander an Schädeln, Oberschenkelknochen und Rippen ein Ständchen bringen. Golding wurde von Mitgefühl übermannt. Das Mädchen sah zwischen den Toten so einsam aus und klang dabei so fröhlich. Miranda gehörte nicht hierher. Trotzdem hing so viel davon ab, dass sie genau an diesem Ort war. Miranda ließ sich endlich die Haare wachsen. Ihre hellroten Strähnen strichen über die bräunlichen Knochen. »Klopf, klopf«, sagte Golding. Miranda hob den Kopf. »Elise?« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, ein Lächeln ohne Heuchelei, ohne hintergründige Absicht. So war Golding schon lange nicht mehr empfangen worden. Sie umarmten sich, und Miranda drückte sie wohl tuend fest an sich. »Störe ich?« »Ich war gerade dabei, ein paar von den Burschen zu168
sammenzusetzen. Komm rein. Wenn du willst, kannst du mir helfen.« Golding kam zwischen den Tischen näher. Jeder Knochen war mit einem kleinen Aufkleber mit Strichkode versehen. Manche lagen in ungeordneten Haufen auf Plastikoder Aluminiumtabletts, andere waren bereits teilweise miteinander verbunden: Rippen saßen an Wirbeln, Unterkiefer an Schädeln. Hier lag eine fast fertige Hand, dort nur ein Fingernagel. Einige fast vollständige Skelette lagen Kopf an Fuß in einer langen Reihe nebeneinander. Viele Knochen waren zersägt oder aufgebohrt worden. An der Wand hingen Metallsägen und sogar ein Fleischerbeil. »War gar nicht so einfach, dich zu finden«, sagte Golding. »Der Sicherheitschef eures Gebäudes meinte, ich solle hier mal nachsehen.« »Captain Enote?« »Ein älterer Mann. Ein Indianer. Er meinte, mit dir kann keiner mithalten.« »Der Captain macht sich Sorgen um mich.« Miranda lachte. »Genau wie du. Was führt dich hierher?« »Ich wollte dich besuchen.« Miranda fühlte sich geschmeichelt, sagte aber höflich: »Ich meinte, nach Los Alamos. Du warst doch erst letzte Woche hier.« »Ich wollte dich besuchen«, wiederholte Golding ernst. Miranda schlug die Augen nieder, und ihre Freude verlieh Golding ebenfalls das schöne Gefühl, geliebt zu werden, aber es machte sie auch traurig. Diese schöne junge Frau bedeutete vielen Menschen sehr viel. Sie mochten sie. Aber es war mehr als das, mehr als nur ihr brillanter Geist. Sie glaubten an sie, aber Miranda erkannte es nicht. Doch so war sie eben. Sie hätte Liebhaber haben sollen, 169
aber Golding war ziemlich sicher, dass sie noch nie einen gehabt hatte. Sie hätte Freundinnen und Joggingpartner haben, Mitglied in Buchclubs sein sollen. Sie hätte mit einer Horde Freunde in der Kunstszene von Santa Fe einfallen sollen, den Jungs das Herz brechen und bei nicht enden wollenden Abendessen tiefsinnige Gespräche führen. Die ganze Palette. Aber sie war allein. Abgesehen von ihrem Vater bestand das, was Miranda als Familie bezeichnen konnte, nur noch aus einer gebrechlichen alten Dame, die alle Jubeljahre mal vorbeischneite. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Miranda. Nein, es war nicht alles in Ordnung. Aber darauf würden sie später zu sprechen kommen. »Was um Himmels willen treibst du hier?«, fragte Elise zurück. »Der Captain meinte, seit Neuestem hängst du ständig hier herum.« »Ich habe eine Idee«, vertraute Miranda ihr an. »Darüber würde ich gern mehr hören.« »Gut. Warte eine Sekunde. Ich war gerade dabei, etwas fertig zu machen.« Sie strich sich eine rote Haarsträhne hinters Ohr. »Lass dir ruhig Zeit. Ich fasse nichts an.« »Ach, den Knochen kann nichts mehr passieren.« Golding schlenderte weiter durch die Reihen. Sie bemerkte die Wunden. Es war zwar nicht gerade ihr Spezialgebiet, aber die Male und Brüche sprachen eine deutliche Sprache. Manche dieser Menschen hatten ein gewalttätiges Leben geführt. Man sah die Stellen genau, wo ein Bruch verheilt war, oder wo das Kalzium Kerben und Schnitte im Knochen verschmolzen hatte. Weitaus offensichtlicher waren aber die Verletzungen, die nicht verheilt waren. Golding sah sich in dem weitläufigen Raum um. Diese Männer von Golgatha waren auf entsetzliche Art und Weise gestorben. 170
Sie wusste über die Knochen Bescheid. Alle wussten darüber Bescheid. Besucher hatten sie mit den Überresten einer großen Schlacht verglichen. Aber während Golding umherlief, sah sie, dass nur wenige Verletzungen tatsächlich zu einer Schlacht des Altertums passten. Die Schädel waren nicht eingeschlagen, die Halswirbel wiesen weder Kerben auf, die auf durchgeschnittene Kehlen schließen ließen, noch waren sie vom Enthaupten glatt durchgetrennt. Die Schlüsselbeine waren weder von Äxten noch von Schwertern gespalten. Sie hatte gelesen, dass die Krieger des vorindustriellen Zeitalters für gewöhnlich mehr Verwundungen auf der linken, der defensiven Körperseite davongetragen hatten, wohingegen Verletzungen an den Armen seltener und eher zufällig auftraten. Die unverheilten Knochenverletzungen fanden sich fast ausschließlich an den unteren Extremitäten. Fersenknochen waren von Spießen durchbohrt, Oberschenkelhalsknochen zerhackt, gebrochen und verbogen worden. Eine eigenartige Wunde, eine, an die die Gelehrten bis zu dieser Entdeckung nie gedacht hatten, war der Einschnitt an der Vorderseite des Knies. Trennte man einem Mann die Kniesehne durch, erzielte man damit den gleichen Effekt, als würde man ihm den Oberschenkelknochen brechen – nur mit wesentlich geringerem Aufwand. Wie entsetzlich, dachte Golding. Der Tod an römischen oder jüdischen Kreuzen war durch Ersticken eingetreten. Wie schwer ihr Todeskampf auch gewesen sein mochte, diese Männer hatten Stunde um Stunde versucht, sich nach oben zu drücken, um weiter zu atmen. Bestimmt hatten einige versucht, sich absichtlich herunterhängen zu lassen, um schneller in den Tod zu entfliehen. Aber ihre Körper waren stärker als der Wille. Das Leben konnte sehr eigensinnig sein. Miranda machte eine Schublade zu und kam herüber. 171
»Wir haben hier in etwa neuntausend Knochenfragmente. Ich versuche immer noch herauszufinden, wer wer ist.« »Willst du sie alle wieder zusammensetzen?« Miranda beugte sich vor und legte ein paar Fingerknochen gerade. »Ab und zu kommen ein paar Leute reingeschneit. Für die ist das so eine Art Gemeinschaftspuzzle. Jeder setzt ein, was er kann. Dann kommt der Nächste und bastelt ein bisschen weiter.« Sie kamen an ein paar Metallregale, auf denen eine kleine Ausstellung von Exekutionswerkzeugen zu sehen war: ein verrosteter Hammerkopf, verbogene Nägel und Holztäfelchen, die als »Halterung« über Hände oder Füße genagelt worden waren, um Haut und Muskeln am Ausreißen zu hindern. »Die hier machen mich immer fertig«, sagte Miranda und zog eine kleine Terrakotta-Ampulle aus einem Haufen von etwa dreißig oder vierzig anderen heraus. »Tränenfläschchen. Ihre Frauen haben sie unter den Kreuzen zurückgelassen.« Sie legte sie wieder ins Regal. »Ich habe versucht, eine Probe rauszuschaben.« »Eine Probe?« »Na ja, eine DNA-Probe, eine weibliche. Aber ich finde immer nur Salz«, murmelte Miranda. »Und Trauer.« »Was suchst du überhaupt?« »Dasselbe wie alle anderen auch. Unseren NullPatienten.« Golding musste gar nicht erst fragen, welchen Patienten Null sie meinte. Niemand kümmerte sich mehr um die weniger gefährlichen Ansteckungskrankheiten. Schicksalsgläubige sagten voraus, Korfu würde noch verheerender zuschlagen als Yersinia pestis. Sie hatten keinen blassen Schimmer. Verglichen mit diesem Virus hier, war der 172
Schwarze Tod mit einer Sterberate von 37 Prozent kaum mehr als ein harmloser Schnupfen. »Seit wann beschäftigst du dich denn mit Seuchenforschung?« »Die Epidemieforschung hat mich sozusagen angesprungen«, antwortete Miranda. »Leute aus den anderen Abteilungen kamen auf mich zu und fragten, ob ich nicht bei ein paar Punkten helfen könnte.« »Ich sehe da keinen Zusammenhang.« Das Alpha Lab war auf Genforschung und Klonen spezialisiert, nicht auf die Suche nach Viren. »Glaubst du, das Virus lebt noch in den Knochen hier?« »Nein, nicht mehr. Das wissen wir bereits. Zumindest nicht in diesen Knochen. Die Molekularpathologen sind darüber hergefallen wie ein Haufen Termiten. Sie haben überall Löcher reingebohrt und ganze Proben in winzige Splitter zerlegt. Vor einem Monat haben sie aufgehört zu suchen und alles hier abgeladen.« Das also hatte Miranda mit Die Knochen sind sicher gemeint. »Sie versuchen immer noch, anderes genetisches Material aus dieser Zeit in die Finger zu kriegen«, erklärte Miranda weiter. »Aber das kommt dann nicht aus Jerusalem. Nicht nach dem, was mit den Jungs von der Marine passiert ist.« Jungs. Sie hörte sich an, als sei sie hundert Jahre alt. Nur eine Hand voll dieser Seeleute war etwa in ihrem Alter gewesen, der Rest waren Veteranen und Wissenschaftler, Männer und Frauen, die fast doppelt so alt waren wie sie, wenn nicht sogar älter. Golding hatte bei diesem Einsatz mehrere gute alte Freunde verloren. Vor drei Monaten hatte die Marine einen Konvoi Transportschiffe ins Mittelmeer geschickt. An Bord befand sich 173
eine Auswahl Spezialisten vom Zentrum für Seuchenbekämpfung, der Gesundheitsbehörde sowie dem Medizinischen Forschungszentrum der US Army zur Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten. Die Mission wurde à la Golfkrieg rund um die Uhr im Fernsehen übertragen. Es sollte eine Art Zurschaustellung amerikanischen Knowhows werden, ein schnelles Ende für DAS ENDE, wie die Regenbogenpresse Korfu getauft hatte. Menschen auf der ganzen Welt hatten den Einsatz genauestens verfolgt. Die Sendungen waren mit unterschwelligen Dramen und endlosen Abhandlungen über Seuchenkontrolle, neu erforschte Behandlungsmethoden und Schutzvorkehrungen gespickt. Die Mannschaften an Deck arbeiteten nur noch mit Gesichtsmasken, Papierstiefeln und Gummihandschuhen. In der Gefahrenzone angekommen, verteilten sich die Schiffe auf bestimmte Zielgebiete. Sie näherten sich den Hafenstädten Griechenlands, Israels, des Libanon und Ägyptens, als bräche jeden Moment der Dritte Weltkrieg los. Aber die Wiegen der Zivilisation waren verwüstet und verlassen. Von den weit draußen im Meer ankernden Kriegsschiffen wurden Teams aus Virologen, Veterinären, Entomologen, Physikern und Zoologen mit Hubschraubern an Land gebracht, wo sie sich systematisch auf die Suche machten. Im Fernsehen wirkten die Städte wie leere Filmkulissen. Der Friede war unwirklich. In Jerusalem schimmerten die Mauern der Altstadt wie geschmolzenes Gold in der Sommersonne. Über den Innenstädten kreisten riesige Schwärme von Seevögeln, die hier einen gut gedeckten Tisch vorfanden. Niemand kämpfte mehr um die heiligen Stätten. Es gab weder Pilger noch Propheten, weder Händler noch Kinder. Nur in unförmige Bio-Schutzanzüge gekleidete Touristen. Ihre Aufgabe war klar umrissen: das Virus, das Prion, 174
oder was auch immer der Korfu-Erreger sein mochte, ausfindig machen. Es musste ein natürliches Vorkommen geben, eine Art Ursprungsort. Bis jetzt klangen alle Spuren wie Science Fiction: Die Epidemiologen hatten die Seuche bis ins Haus eines exzentrischen griechischen Milliardärs auf Korfu zurückverfolgt. Wie üblich war die Krankheit nach dem Ort ihres ersten Auftretens benannt worden. Man wusste, dass der Grieche christliche Reliquien gesammelt und auch geöffnet hatte. Ihren Inhalt hatte er routinemäßig an verschiedene Labors verschickt. Dank der Sicherheitsvorkehrungen in den Labors und der schnellen Handlungsweise der Regierungen waren die frühesten Fälle von Korfu auf die Städte begrenzt geblieben, in denen sich diese Labors befanden. Mitglieder einer Untersuchungskommission hatten sehr schnell die Aufzeichnungen der Labors miteinander verglichen und die Quelle ausfindig gemacht: ein Glasfläschchen aus römischer Zeit, das Überreste menschlichen Gewebes enthalten hatte. Diese Überreste waren verseucht. Aber das eigentliche Problem war wesentlich komplizierter. Es gab eine Quelle hinter der Quelle. Die Seuche mochte zwar – in diesem Jahrhundert zumindest – auf einer Insel namens Korfu ausgebrochen sein, aber das war nicht der Ort ihres eigentlichen Ursprungs. Die Reliquie, die seit mehr als zweitausend Jahren von Land zu Land gewandert war, konnte es auch nicht sein. Niemand kannte die Herkunft der Reliquie, nur ihre Mythologie war bekannt. Weil die Öffentlichkeit nur allzu bereit war, alles zu glauben, hatte sie ihre eigenen Rückschlüsse daraus gezogen. Die Reliquie musste Gewebe des historischen Jesus aufbewahrt haben, also war die Seuche eine Strafe Gottes. Den Beweis dafür lieferte das Wörterbuch. Das lateinische Plaga – Seuche oder Plage – bezog sich auf von Gott gesandtes Leid, eine Katastrophe, 175
ein Unheil. Göttlicher Herkunft oder nicht, es wurde klar, dass der natürliche Ursprung nicht nur an einem bestimmten Ort, sondern vielmehr in einer bestimmten Zeit zu suchen war. Sämtliche Proben der Reliquie waren längst im internationalen Chaos verschwunden. Aber den Aufzeichnungen eines Laborberichts zufolge waren die Holzproben des Griechen auf das frühe erste Jahrhundert datiert worden. Angeblich hatten die Tartaren bei ihrer Belagerung von Kaffa im Jahre 1347 mit Beulenpest verseuchte Leichen über die Stadtmauern katapultiert. Mit Korfu war es nicht viel anders. Eine Krankheit war durch die Zeit katapultiert worden, vom Jahr Null mitten ins einundzwanzigste Jahrhundert. In seiner Ursprungsform hatte sich das Virus vor zweitausend Jahren offensichtlich wie ein ganz gewöhnliches Virus verhalten. Es hatte zwar getötet, aber auch Überlebende hinterlassen, die ihm als Überträger zu anderen Wirten dienten. Mit der Zeit war die Krankheit eine Art Symbiose mit der Wirtspopulation eingegangen. Von der Syphilis bis zur Malaria waren ursprünglich tödliche Krankheiten immer weniger bösartig geworden, Killerviren wie die Windpocken zu einfachen Kinderkrankheiten mutiert. Selbst Aids und Ebola und das fiktive Andromeda-Virus hatten Überlebende zugelassen. Nur Korfu verhielt sich bis jetzt völlig anders. Eingefangen und vor zweitausend Jahren zu einer Reliquie verarbeitet, war das Virus offenbar mutiert, tödlicher geworden. Mathematisch gesehen waren die Chancen, dass ein Virus tödlicher wurde, genauso groß wie für das Gegenteil. Bis jetzt hatte die Menschheit einfach nur Glück gehabt, das war alles. Und jetzt, im Zeitalter der Supertechnologien, weigerten sich die Experten, an ihre eigenen Statistiken zu glauben. Trotzdem war es eine absolute Tatsache, dass bis zu diesem Zeitpunkt in keinem der betroffenen Länder 176
auch nur ein Überlebender hatte ausfindig gemacht werden können. Bis zum Auftauchen von Korfu hatte allein die Tollwut eine ähnlich hohe Sterberate aufgewiesen. Überlebende zu finden war nur ein Nebenziel der Marine-Operation. Ein Überlebender wäre überaus wichtig gewesen, denn er würde Antikörper oder Antigene gegen das Virus gebildet haben. War der Antikörper erst einmal identifiziert, konnten die Wissenschaftler wenigstens einen Bluttest zum Ermitteln von Überträgern entwickeln. Von einem Befund oder einem Schutz für die noch gesunde Bevölkerung war man jedoch noch weit entfernt, denn bis jetzt waren sämtliche Forschungen in dieser Richtung erfolglos geblieben. Trotzdem: Damals hatte es tatsächlich Überlebende gegeben, das war eine Frage der Logik. Vor zweitausend Jahren hatte das Virus mindestens ein Individuum im Nahen Osten befallen. Möglicherweise hatte es sich, während es in der Reliquie eingeschlossen war, bis zum Korfu unserer Tage weiterentwickelt. Wenn es diesen einen Menschen infiziert hatte, hatte es mit Sicherheit auch andere infiziert. Und doch gab es für diesen Zeitraum in der aufgezeichneten Geschichte Palästinas oder Ägyptens keine Berichte über verheerende Seuchen, zumindest nicht über eine Seuche mit den Symptomen von Korfu. Tacitus, Josephus und auch andere Historiker des ersten Jahrhunderts waren viel zu gründlich gewesen, um ein solches Detail zu übersehen. Und weil sich das Virus immer noch ihrem Zugriff entzog, konnten die Paläopathologen und anderen Forscher bis jetzt nur Vermutungen darüber anstellen, wann er den genetischen Übergang zum Homo sapiens gefunden hatte. Zu irgendeinem Zeitpunkt musste das Virus die Spezies gewechselt und den Menschen als Wirt benutzt haben, aber ohne eine nennenswerte Sterberate als Folge. Das ließ 177
zwei Dinge vermuten: Das Virus hatte als harmloser Eindringling angefangen und einige seiner Opfer hatten sich wahrscheinlich wieder erholt. Das Problem für die moderne Forschung bestand nun darin, dass diese Überlebenden bereits zweitausend Jahre tot waren. Auf diese Weise waren die »Jahr Null-Knochen« ins Spiel gekommen. Während also die Entomologen rund um das Mittelmeerbecken Insekten sammelten, die Zoologen Ratten, Mäuse und Fledermäuse fingen, die Pathologen von dem, was von den Seuchenopfern in den Straßen noch übrig war, Gewebeproben entnahmen und die Navy-SEALS von Haus zu Haus nach Überlebenden suchten, hatte ein Team Seabees die berühmte Golgathagrube in den Höhlen unter der Heiligen Grabkirche ausgegraben. Sie verschwendeten keine Zeit. Ein Bulldozer trug das oberste Gebäude ab, ein Schaufelbagger schaufelte riesige Haufen mit Knochen durchsetzter Erde in einen Schiffscontainer. An Bord der USS Truman war der Container geleert, die Erde durchgesiebt und die Knochen für den Lufttransport in die Staaten vakuumverpackt worden. Nur zwölf Stunden später saßen die Forscher in Los Alamos bereits daran, sie nach Spuren des ursprünglichen Virus oder seinem Antikörper zu untersuchen. Sie hatten keine Ahnung, wonach sie suchen sollten. Niemand wusste, wie Korfu aussah, seine Proteine blieben ein Geheimnis. Die Blutproben der heutigen Opfer hatten noch keinen ungewöhnlichen Mikroorganismus offenbart. Korfu verhielt sich wie ein endogener Virus, eine Art Retrovirus, der in extremer Hitze oder Kälte über lange Zeit schlafen konnte und dann plötzlich wieder zum Leben erwachte. Aber es konnte ebenso gut ein Prion, ein noch viel weniger lebensähnlicher Mechanismus sein. Einige Leute, darunter namhafte Wissenschaftler, vermuteten, Korfu sei eine weiterentwickelte Form der Plage, 178
die Moses über die Ägypter gebracht haben soll. Zog man die Mutationsrate in Betracht, konnten sich die Symptome von den Furunkeln, die in der Bibel erwähnt wurden, verändert haben. Andere Forscher untersuchten die furchtbare Seuche, die Athen im vierten Jahrhundert vor Christus heimgesucht hatte, so genau wie möglich. In seiner Geschichte der Juden hatte Josephus, wenn auch nicht sehr detailliert, angedeutet, dass im Jahrhundert vor Kaiser Augustus eine Seuche aufgekommen war. Vielleicht hatten sie auch die Soldaten Alexanders des Großen mit nach Hause gebracht. Wie immer man es betrachtete, die Seuche musste in irgendeiner Epoche auf dem Land- oder dem Seeweg weitergereist sein. Unterm Strich kam dabei heraus, dass die JerusalemKnochen aus dem Jahr Null stumm blieben. An dieser Stelle kam Miranda ins Spiel. »Wir haben überall nach Material aus dem Jahr Null angefragt, das vielleicht noch irgendwo in privaten Sammlungen oder Museen herumliegt«, führte Miranda Golding gegenüber aus. »Aber wahrscheinlich bekommen wir nicht mehr Material zum Arbeiten. Also dachte ich mir, wir sollten die Knochen für uns arbeiten lassen.« »Sprich weiter«, sagte Golding. »Sie klonen.« Golding schwieg eine Weile. »Du meinst, die Knochen wieder zum Leben erwecken?«, fragte sie schließlich. »Ich weiß, es klingt verrückt.« »Verrückt ist nicht das richtige Wort dafür, Miranda.« Klonen war genau das, was Golding mit ihrem Besuch hier verhindern wollte. Noch bevor sie mehr sagen konnte, plauderte Miranda bereits weiter über ihre Idee. »Ich habe einen Weg gefunden, die DNA wuchern zu lassen«, erklärte sie. »Sie ist ja da, in den Knochen. Wir 179
haben den genetischen Fingerabdruck von wahrscheinlich vierhundert verschiedenen Menschen direkt vor uns, hier auf diesen Tischen, Regalen und in diesen Schubladen. Wenn wir sie wieder zum Leben erwecken, finden wir möglicherweise Hinweise auf das Virus in seinem Originalzustand.« »Das funktioniert niemals«, erwiderte Golding entschieden. Zuallererst musste sie diese wahnwitzige Idee aus der Welt schaffen, dann würde sie die größere Bombe zünden. Ein Moratorium für jegliche Forschung, die sich mit dem Klonen von Menschen befasste. Die Leute sollten sich auf das Wesentliche konzentrieren, und nicht in Grenzgebieten herumfummeln. »Selbst wenn du sie klonen könntest, würde das Virus in ihnen nicht mehr lebendig werden.« »Nicht das Virus, aber sein genetischer Schatten. Die genetischen Narben der Krankheit.« »Der Antikörper?« »Oder der Schatten des Antikörpers. Vielleicht ist er in den T-Zellen des Gedächtnisses abgespeichert. Wenn einer dieser Männer die Krankheit überlebt hat, tragen seine Zellen eine dauerhafte Erinnerung der Virusstruktur in sich. Sie ist Teil des genetischen Kodes geworden, um gegen zukünftige Attacken zu schützen. Oder er könnte irgendwo in der Abfall-DNA versteckt sein, eingeschlossen in reverser Transkriptase, zusammen mit anderen inaktiven viralen Genomen.« »Schatten«, murmelte Golding, keineswegs erfreut darüber. Sie war den ganzen Weg hierher geflogen, um Miranda eine Standpauke zu halten, ihr den Grundsatz: ›Du sollst nichts Böses tun, um Gutes zu erreichen‹ einzutrichtern. Wenn sie nun aber im Unrecht war? »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie schließlich. »Es klingt so verzweifelt. Wie ein Vorwand. Ein Herumfi180
schen im Trüben.« »Ich habe zuerst auch mehr an eine Art bemannte Sonde ins Jahr Null gedacht«, sagte Miranda. »Aber du hast Recht, es ist ein Verzweiflungsakt. Andererseits müssen wir doch alles versuchen, oder?« »Alles?«, fragte Golding. »Was bedeutet das?« »Elise, du bist so blass. Komm hier rüber und setz dich.« Golding ließ sich von ihr führen und setzte sich. Miranda brachte ihr einen Pappbecher Wasser. »Dein Herz?« Golding tätschelte Mirandas Hand. »Ich bin einfach nur müde.« Aber ihr war, als fiele der Boden aus ihrer Welt heraus.
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8 Asien WINTER
Nördlich von Katmandu lag die Landstraße still und verlassen vor ihm. Trucker und Busfahrer hatten ihre liegen gebliebenen Fahrzeuge einfach stehen lassen, Straßenverkäufer ihre Süßigkeiten, Zigaretten und Tigerbalsam zusammengepackt; ihre kleinen Buden standen leer am Straßenrand. Außer Nathan Lee war niemand unterwegs. Wenn es bergauf ging, schob er das schwerfällige, überladene Mountainbike. Bergab roch es stark nach Gummi, und er hätte gegen zusätzliche Bremsklötze rein gar nichts einzuwenden gehabt. Die Menschen waren jedoch keineswegs völlig verschwunden, denn Dorfbewohner und Tiere schlängelten sich wie Ameisen über die terrassenartig angelegten Hänge. Ihre Geräusche hallten durch das Tal, das Hämmern eines Schmiedes, das Muhen der Kühe, die Glocke eines Tempels, Kinderlachen. Sie weckten in ihm die Sehnsucht nach einem Ort mit Menschen, denen er sich zugehörig fühlte. Nachts lag er neben seinem Fahrrad auf der Erde und sah in der Ferne Kerzen und Feuer erlöschen. Eines Nachmittags erblickte er von einer Kurve aus ein paar Jungen, die auf einem ebenen Abschnitt der Straße Fußball spielten, doch als er an die Stelle kam, waren sie längst verschwunden. In seiner Rolle als Menschenfresser und Leprakranker 182
hatte Nathan Lee den Abscheu anderer als selbstverständlich hingenommen. Hier ging es jedoch um etwas anderes. Diese Menschen kannten ihn nicht, sahen lediglich jemand Unbekannten in der Ferne. Es war nicht sein Ruf, der diese Menschen in Angst und Schrecken versetzte, sondern das bloße Näherkommen eines Fremden. Ein Verhalten, das er bei Nepalesen zuvor noch nie beobachtet hatte. Er blieb bei seiner Theorie, dass der neue König die Seuche ersonnen hatte, damit sein Volk vor lauter Panik die Demokratie vergaß und zurück ins 14. Jahrhundert flüchtete. Es wäre nicht das erste Mal. Pol Pot hatte das Gleiche in Kambodscha getan, Hoxha im kommunistischen Albanien, Bin Laden in der islamischen Welt. Tatsache war aber, dass er weder für das eine noch das andere Beweise hatte. Er legte einen Kilometer nach dem anderen zurück, ohne Hinweise auf Kliniken oder auch nur vereinzelte Helfer des Gesundheitsdienstes zu sehen. Er sah keine Kranken, keine Leichenberge. Es war einfach viel unkomplizierter, die Seuche für ein Hirngespinst zu halten. Je näher Nathan Lee der Landesgrenze kam, desto mehr rechnete er mit Soldaten. Wenn sich Nepal selbst in seiner feudalen Vergangenheit abgeschüttet hatte, musste die Außenwelt doch jetzt erst recht fern gehalten werden. Während er dahinradelte, dachte er sich eine komplizierte Geschichte aus, mit der er sich durchschummeln wollte. Aber als er an die Kontrollstelle kam, war kein einziger Wachtposten zu sehen, nicht einmal auf der chinesischen Seite. Er strampelte einfach über den leuchtenden gelben Querstreifen auf der Mitte der Brücke der Freundschaft hinweg und wechselte von einem Land ins andere. Erst eine Seuche, die nur in der Fantasie existierte, und jetzt auch noch eine imaginäre Grenze. Unter ihm donnerte der aus dem Schmelzwasser des Himalaja gespeiste Fluss. Brüllende Languren hüpften 183
durch grüne Rhododendron-Wälder, die sich an die Felswände der Schlucht schmiegten. Eine große rote Fahne der Volksrepublik hing in schlaffen Fetzen an ihrem Mast. Nathan Lee gefiel dieser Anblick nicht. Es war eine Sache, wenn ein winziges Königreich kaputtging. Aber ein ganzes Imperium? Vielleicht, überlegte er, war der Bambusvorhang gefallen. Vielleicht war China in lauter unabhängige Staaten zerfallen. Vielleicht hatten sie Tibet dem Dalai Lama zurückgegeben, damit er seinen Traum von einer asiatischen Schweiz verwirklichen konnte. Das Wort, das die Französin gebraucht hatte, fiel ihm wieder ein. Shambala. Anderthalb Kilometer die steile Straße hinauf klebte die Stadt Tingri an einem Berghang. Während er sein Fahrrad die einzige, in Serpentinen verlaufende Straße entlangschob, lag alles regungslos und still vor ihm. Es war nicht so wie in Nepal, wo man überall Fenster und Türen fest verschloss und ganze Dörfer darauf warteten, dass er weiterzog. Dort konnte man das Leben riechen, hier standen Türen und Fensterläden weit offen. Tingri roch nicht nach Stadt, es roch nach kaltem Felsen. Keine Seele rührte sich. Merkwürdigerweise erfüllte ihn das mit Hoffnung. In allen Berichten über Seuchen, die er gelesen hatte, von Thukydides bis Camus, war immer irgendeine eigensinnige alte Frau, ein Dorftrottel oder ein Blinder zurückgeblieben. In Afrika war er mit seiner Mutter durch von Aids verwüstete Geisterstädte gekommen, und auch dort hatten sie immer noch jemanden vorgefunden. Die Tür zum Zollamt stand sperrangelweit offen. Drinnen lagen wild verstreut Antragsformulare auf dem Boden herum, die von den Tischen geweht worden waren. Die Bürokraten waren so hastig aufgebrochen, dass sie sogar ihre Stempel zurückgelassen hatten. Nathan Lee holte kurzerhand sein Märchenbuch hervor und stempelte ein chi184
nesisches Visum auf eine leere Seite. Das würde Grace gefallen. Er stöberte ein wenig herum und fand ein Paar wattierte Hosen, die zu dem Jagged Edge-Parka passten, den er in einem Trekking-Laden in Katmandu gestohlen hatte. Dann setzte er seinen Weg den Berg hinauf nach Norden fort. Die Luft kam kalt durch die schattige Schlucht herabgeweht. An seinem ersten Tag in Tibet konnte er seine Höhenmeter mehr als verdoppeln. Vor langer Zeit, mit siebzehn, war Nathan Lee zusammen mit seinem Vater auf dem Weg zum Mount Everest genau diese Strecke entlanggekommen. Wie in seiner Erinnerung war die unbefestigte Straße aus den steilen Felswänden herausgehauen und führte um Wasserfälle herum. Nur die Steinschläge waren seit Monaten nicht mehr weggeräumt worden. Merkwürdigerweise sahen manche Abschnitte aus, als seien sie gesprengt worden, als hätten die Chinesen versucht, die Tür hinter sich zu schließen. Für ein derartiges Handeln konnte es nur einen Grund geben. Seine Hoffnungen schwanden dahin. Vielleicht gab es die Seuche wirklich. Er kam das Tal nur noch im Schneckentempo hinauf. Die größeren Erdrutsche erforderten mehrmaliges Hinund Hergehen, um Vorräte, Ausrüstung und das Fahrrad darüber hinwegzutragen. Das Geröll rutschte unter seinen Füßen und drohte ihn Hunderte von Metern tief in den Fluss zu stürzen. Jede Steinbarriere kostete ihn Stunden. An einem Tag schaffte er weniger als einen Kilometer. Bei diesem Tempo und den noch vor ihm liegenden fast 20 000 Kilometern hätte er genauso gut auch im Gefängnis bleiben können. »Verdammt noch mal«, brüllte er zum leeren Himmel empor. Das Echo warf seine Worte zu ihm zurück. 185
Jeden Tag musste er kämpfen, um nicht den Mut zu verlieren. Er sagte sich, dass das langsame Tempo seinem Körper half, sich an die dünne Luft und die sinkenden Temperaturen zu gewöhnen. Seine schmerzenden Muskeln waren der Beweis für seine Genesung. Beine, Lungen und Blasen: Langsam eroberte er seinen Körper zurück. Nach zwei Wochen in der trostlosen Schlucht erreichte Nathan Lee die Nordflanke des Himalaja-Massivs. Auf 4000 Metern über dem Meeresspiegel stieß er auf die chinesische Fernverkehrsstraße. Sie war kaum mehr als eine Schotterpiste, die von Westen nach Osten führte und zur Versorgung der Soldaten an den fernen Grenzen und zum Erztransport ins Landesinnere gebaut worden war. Tibetische Pilger benutzten sie für ihre Wanderung zum heiligen Berg Kailas, Touristen fuhren auf ihr nach Lhasa. An diesem Morgen lag die Straße in beiden Richtungen verwaist da, so weit das Auge blicken konnte. Die Hochebene von Tibet erstreckte sich wie leer gefegt bis an den Horizont. Das Fehlen von Menschen machte ihm allmählich zu schaffen. Es sah so aus, als seien sie alle davongeweht worden, auch die Tiere. Sogar die Vögel. Was hatte diese Einsamkeit zu bedeuten? Wie weit erstreckte sie sich? Nathan Lee fuhr in östlicher Richtung und hatte dadurch den Wind meistens im Rücken. Während der ersten Tage in diesem Land des Windes und des Lichts fühlte er sich willkommen. Die Sonne wärmte ihn, und der Wind blies stundenlang so gleichmäßig von hinten, dass er nicht zu treten brauchte; manchmal kam es ihm so vor, als könnte er mit seinem Rücken und seinen Schultern als Mast den ganzen Weg bis nach Hause segeln. Vorläufig brauchte er keine Karte. Statt eines magnetischen Nordens hatte er einen südlichen Horizont, der von gewaltigen weißen Bergen durchbrochen war. Er hatte seine Erinnerungen. 186
Für Nathan Lees Vater war ein Geschenk immer zugleich eine Einladung in seine eigene Welt gewesen. Zu seinem zehnten Geburtstag bekam Nathan Lee ein Paar Steigeisen. Während andere Kinder den Silver Surfer, Conan oder den Playboy verschlangen, saß Nathan Lee über Büchern von Hermann Hesse, Rene Daumal, Han Shan und anderen Bergschwärmern. Wie viele amerikanische Bergsteiger seiner Zeit, so betrachtete auch sein Vater die Berge als eine Art Shaolin-Tempel für echte Kerle, voll besonderer Weisheit und muskulöser, grüblerischer Kameradschaft. Armut, Gefahr, sogar der Tod: das alles war Teil des vertikalen Weges. Wir sind nach dem Ebenbild der Berge geschaffen, Nate, verkündete er manchmal ohne Vorwarnung. Wir können nicht leugnen, wer wir sind. Unsere Seelen zeichnen sich gegen den Himmel ab. Seine Mutter, die sich auf ihrer eigenen Magical Mystery Tour befand und hoffnungslos in ihn verliebt war, unterstützte ihn bei seinen erhabenen Spinnereien. Der Cho Oyu tauchte auf, dann der Everest. In fünfzig Kilometer Entfernung rauchte seine Schneefahne wie ein Vulkan. Nathan Lees Erinnerungen an die Expedition mit seinem Vater waren klar und einfach. Damals war er ein fröhlicher Junge gewesen, bei allen beliebt, unterwegs immer hilfsbereit, ehrlich und stark wie ein Yak. Stärker als sein Vater, wie sich herausstellte. Keiner von ihnen beiden war darauf vorbereitet gewesen. An einem stürmischen Nachmittag gegen Ende der Expedition waren er und sein Vater zum Nordpass hinaufgestiegen, um das letzte Zelt abzubrechen. Es war nicht sehr hoch, aber der Bergsattel mit seinen steil abfallenden Flanken gab eine gute Bühne ab. »Hier«, sagte sein Vater und reichte Nathan Lee seine Eisaxt. Das war ein großer Augenblick. Danach stiegen sie hinab. Er fuhr weiter nach Tibet hinein. Der Himmel war so 187
blau, dass er fast schon schwarz wirkte. Die Nächte waren am schlimmsten. Es war so kalt. In Katmandu hatte er ein Zelt gestohlen, aber dann wieder weggeworfen. Jetzt musste er unter freiem Himmel leiden. Meistens rollte er sich in flachen Gruben am Straßenrand zusammen oder kauerte sich hinter einen Felsen. Der Wind verfolgte ihn. Die Sterne nahmen ihn unter Beschuss. Er kam an einem dzong, einer Festung, vorbei, und suchte Schutz in der Ruine, der die Dächer fehlten. Eines Abends fand er eine Meditationskammer, die in die Erde gegraben worden war. Hier hatte Mönch auf Mönch, eingemauert in ein Loch, Monate oder sogar Jahre mit Fasten und Beten zugebracht. Es war kaum größer als ein Sarg, was Nathan Lee Gefängnis-Alpträume bescherte. Ein anderes Mal kroch er in eine Höhle und schlief auf einem Haufen Hunderter zerbröckelnder Tontafeln mit dem Abbild Buddhas. Eines Nachmittags blieb er vor einem Straßenschild mit verblichenen chinesischen Schriftzeichen stehen, die er nicht verstand. Tibetische Pilger hatten ein Ende ihrer langen, flatternden Gebetsfahnen an dem Metallpfosten festgebunden. Auf die meisten Fahnen war ein comicartiges Pferd gedruckt. Unter den Fabeltieren und Göttern Tibets war das Lung Ta – oder Windpferd – ein wichtiges Wesen. Vom Wind beseelt, flog das kleine Pferd mit Gebeten auf dem Rücken in den Himmel. Nathan Lee schnitt eine Fahne ab. Sie war federleicht, und an den nicht bedruckten Stellen konnte man durch das Gewebe hindurchsehen. Er legte sie für Grace zwischen die Seiten des Buches. Der einst hilfreiche Wind wurde launisch und bösartig. Heftige Böen trafen ihn von der Seite. Wie ein Betrunkener hin und her schwankend, legte er ein paar anstrengende Kilometer zurück. Tag für Tag kämpfte er gegen den Wind an, der ihm ins Gesicht schlug. Staub verkrustete 188
seinen Mund und verstopfte seine Nebenhöhlen. Nach und nach schmirgelte der Sand die grüne Farbe von seinem Fahrrad ab, bis nur noch blankes Metall übrig blieb. Mitte Dezember hatte er Lhasa immer noch nicht erreicht. Im Windschatten eines zerstörten Klosters breitete er seine Reisekarte von Asien aus und beschwerte die Ekken mit Steinen. Er hatte drei Routen als Alternativen eingezeichnet: Eine führte am Yangtse entlang zum südchinesischen Meer, eine andere kühn nach Peking, wo, wie er sich vorstellte, die amerikanische Botschaft Mitleid mit ihm haben würde. Die letzte und einsamste Möglichkeit bestand darin, sich weiter an die verlassenen Landstriche zu halten. Wenn er in Richtung Norden quer durch die Mongolei und die Wüste Gobi fuhr, könnte er danach den Weg durch Sibirien einschlagen und versuchen, die Bering-Straße zu erreichen. Der Blick auf die Karte entmutigte ihn mehr als der Wind und die Kälte. Er zeigte ihm die Realität. Selbst wenn er Lhasa erreichte, war er kaum ein paar Zentimeter weit gekommen. Bis nach Hause dauerte es noch viele Monate, vielleicht sogar Jahre. Nachdem er sich im Gefängnis so lange in Geduld geübt hatte, wollte sich Nathan Lee mit dem Gedanken, weiter geduldig sein zu müssen, nicht anfreunden. Eines Tages ging die Schotterpiste in eine asphaltierte Straße über. Der Wandel ging langsam vonstatten. Haufenweise braune Erde war auf die Fahrbahn geweht worden, und der Asphalt blinkte dazwischen hervor wie eine alte Erinnerung. Nach und nach nahmen die Teerflecken die gesamte Straßenbreite ein. Nathan Lee legte sein Fahrrad hin, schaute sich um. Die geteerte Straße erstreckte sich bis zum Horizont, wo sie hinter einem Hügel verschwand. Er nahm die Sonnenbrille ab, stampfte mit seinem gesunden Fuß auf den Boden und erfreute sich an der 189
fossilen Festigkeit. Seine Tage in der Wildnis hatten ein Ende! Er wusste, dass das nicht stimmte, aber trotzdem schien Amerika mit einem Mal zum Greifen nah zu sein. Mühsam richtete er sein vierzig Kilo schweres Fahrrad wieder auf, schwang sich in den Sattel und trat einmal in die Pedale. Der Asphalt fühlte sich an wie ein Fluss, der ihn mit sich davonriss. Das schier unverwüstliche grobe Profil seiner Reifen summte vergnügt. Vor ihm musste eine Stadt liegen, wenn nicht hinter dieser Kurve, dann hinter der nächsten. Wenn es dort noch Menschen gab, würde er betteln. Falls nicht, würde er stehlen. Er würde seine Vorräte aufstocken und in einem Bett schlafen, sich Holz besorgen und ein Feuer machen. Ihm fiel ein, dass bald Weihnachten sein musste. Die Straße ging bergab. Er wurde schneller. Sein Glück hatte sich gewendet. Sogar der Wind hatte sich gelegt. Das Letzte, womit er gerechnet hatte, waren die Leichen. Noch ehe er richtig bremsen konnte, war er schon mitten unter ihnen. Große Lastwagen waren links und rechts von der Straße abgekommen und umgekippt oder einfach nur stehen geblieben. Einige waren kopfüber in eine Schlucht gestürzt, andere waren noch weit in die Ebene hinausgerollt und sahen wie winzige Inseln aus. Zum ersten Mal, seit das französische Pärchen von einer Apokalypse geredet hatte, sah Nathan Lee eine menschliche Leiche. Nicht eine, sondern viele. Viele hundert. Tausende. Es war, als wäre er mitten in einem Schlachtfeld abgesetzt worden. Was war hier geschehen? Die Straße war auf einer Strecke von mehreren Kilometern mit Menschen übersät. Und alle waren tot. Er atmete den leichten, lederartigen Geruch, der von ihnen ausging, aus seinen Lungen und näherte sich einem nicht weit entfernt stehenden 190
Lastwagen. Der Fahrer lag gegen die Scheibe gelehnt, als hielte er ein Mittagsschläfchen. Sein Haar war schwarz und glatt. Eine Hand ruhte noch auf dem Lenkrad. Sie war von einem weißen Baumwollhandschuh bedeckt, eine seltsam feine Marotte, die man selbst bei den abgebrühtesten Truckern antraf. Sein Kopf war zur Seite gedreht, so dass Nathan Lee sein Gesicht nicht sehen konnte. War die Haut durchsichtig geworden? War er ein Unsichtbarer? Er suchte sich eine andere Leiche, die etwas abseits der wirren Haufen im offenen Gelände lag. Es war eine junge Frau. Sie lag mit dem Gesicht nach unten. Ihre Hände waren zu sehen, und ihre Haut war nicht durchsichtig, sondern schwarz, von der Sonne verbrannt, von Wind und Kälte konserviert und blank gescheuert. Sie hatte ihre schwarzen, geflochtenen Zöpfe mit auf weiße Yak-Haare aufgefädelten Türkisen zusammengebunden. Nathan Lee erinnerte sich an die Zeiten, als ihn der Anblick tibetischer Mädchen wie sie sprachlos gemacht hatte. Sie musste ausgeprägte, hohe Wangenknochen, Mandelaugen und strahlend weiße Zähne gehabt haben. Manche dieser Mädchen waren unglaubliche Schönheiten, und sie konnten unglaublich flirten. Er wusste noch, wie ihn einige der Archäologen am Everest aufgezogen hatten. Nimm dir eine, hatte ihn Professor Ochs gedrängt. Jetzt fiel es ihm wieder ein, wie Ochs ihn schon von Anfang an immer dazu gedrängt hatte, Dinge zu tun, von denen er besser die Finger gelassen hätte. Seine erste Vermutung war, dass sie der Seuche zum Opfer gefallen waren. Das französische Pärchen hatte also Recht gehabt, sich aber trotzdem geirrt. Nichts an diesen Leichenströmen, die sich von den Ladeflächen der Laster ergossen hatten, ließ auf Gedächtnisverlust schließen. Auf jeden Fall gab es keine unsichtbaren Männer oder Frauen. 191
Was immer es auch war, diese Krankheit hatte nichts Übernatürliches. Sie war ansteckend. Sie tötete schnell. Fast augenblicklich. Trotzdem schien irgendetwas nicht zu stimmen. Warum waren so viele Menschen zur selben Zeit am selben Ort gestorben? Was hatten sie hier draußen gemacht? Wohin wollten sie fliehen? Wovor waren sie davongelaufen? Erst jetzt fiel Nathan Lee auf, dass die ganze Kolonne in Richtung Westen unterwegs gewesen war … weg von China, hinein in die Wüste. Sie waren aus dem Zentrum geflohen. Und irgendetwas hatte ihre panische Flucht aufgehalten. Es wirkte fast so, als wäre eine Kanone abgefeuert worden. Er sah sich die ausgestreckt daliegenden Leichen genauer an. Unter ihnen befanden sich keine Soldaten, keine Siedler aus dem Tiefland. Es waren alles Tibeter. Er runzelte die Stirn. Waren die Rassen voneinander getrennt worden? Eine andere, grausamere Lösung bot sich an. Konnte es sich hier nicht um den Schauplatz eines Massensterbens, sondern eines Massakers handeln? Aber wenn es Massenmord gewesen war, wo waren dann die Tatwaffen? Wo lagen die Maschinengewehrhülsen? Wo waren die explodierten Lastwagen? Wo die Geier und die Hunde? Keine einzige Leiche war angerührt worden. Und keine wies eine Wunde auf. Dann fand er einen Geier. Und Hunde. Und Raben. Und Mäuse. Sie lagen zwischen den Toten verstreut, waren mitten in ihrem Leichenschmaus niedergestreckt worden. Ein paar Minuten später stieß er auf einen matt orangefarbenen Behälter. Er steckte zum Teil in der Erde. Auf die Unterseite war der überall auf der Welt gebräuchliche Totenkopf aufgemalt. Es war eine Bombe. Die Düse war die einer einfachen 192
Spraydose. Nervengas. Er richtete sich wieder auf. Jetzt, da er wusste, wonach er suchen musste, fand er rasch fünf weitere orangefarbene Zylinder. Einige steckten in der Erde, andere lagen dort, wo sie nach dem Aufprall hingerollt waren. Jetzt konnte man es ganz einfach erkennen. Die Flugzeuge – vielleicht auch nur eines, warum mehr? – waren aus Nordost gekommen und hatten die Karawane auf offener Strecke erwischt. Das erklärte auch die Massenpanik, das schnelle Sterben, die toten Fleischfresser. Er erinnerte sich an das Fehlen von Tieren. Seit er nach Tibet gekommen war, gab es keine Vögel, keine grasenden Yaks, keine Antilopen. Die Nahrungskette war von oben nach unten vergiftet worden. Die Volksrepublik hatte einen ganzen Landstrich ausradiert. Er stellte sich eine Karte von Asien vor. Sich das Ganze aus großer Distanz zu betrachten war der einzige Weg, über das Grauenhafte nachzudenken. Man brauchte die Perspektive Gottes. Es bedurfte einer historischen Dimension. Die gesprengte Straße nach Nepal fiel ihm ein. Und dann sah er es. Er sah den Fluss der Zeit, sah sagenhafte Ruinen, sich wandelnde Weltreiche. Er sah die unerbittliche Logik dahinter. Das war nicht nur ein Völkermord. Das Reich der Mitte hatte sich hinter seine Chinesische Mauer zurückgezogen, so wie es das in Krisenzeiten immer getan hatte. China hatte das eigene Volk – die Han – in die Festung geholt und die Tore geschlossen. Nur dass diesmal die Mauer nicht aus Steinen, sondern aus chemischen Kampfstoffen bestand. Die Volksrepublik China hatte verbrannte Erde hinterlassen. Sie hatten eine Schutzmauer errichtet. Er stellte sich eine riesige Todeszone vor, die einen Kern umgab. 193
Höchstwahrscheinlich erstreckte sie sich von der Mandschurei bis zur Westgrenze mit Indien. Wahrscheinlich waren ihr schon Millionen zum Opfer gefallen. Nach dem Warum brauchte er nicht mehr zu fragen. Er stand am äußersten Rand einer Quarantänezone. Nathan Lee sackte zu Boden. Die Seuche gab es wirklich. Und es gab kein Heilmittel. Die Geburt birgt den Tod in sich. Es gibt Gutes im Schlechten, Unschuld in der Schuld. Das Leben war voller Widersprüche. Eben noch hatte der Wind Gebete zum Himmel getragen, und jetzt war er voller Gift. Das war die Welt, die er geerbt hatte. Er konnte sie nutzen oder verlieren. Er wurde zum König der Toten. Er fing an zu plündern. Nervengas, so fiel ihm ein, verflüchtigte sich innerhalb von Stunden oder Tagen. Das gesamte Konzept der chemischen Kriegsführung beruhte auf einem Gas, das sich zersetzte, ehe es in die eigenen Reihen wehte. Daraus, dass es ihn noch nicht umgebracht hatte, schloss er, dass die Ebene nicht mehr kontaminiert war. Mit einem Blick auf die letzten Strahlen der untergehenden Sonne lehnte er sein Fahrrad gegen einen Laster und kletterte in das leere Führerhaus. Die Tankanzeige stand auf halb voll. Die Pferde des Windes waren auf seiner Seite. Hier war es nicht wie in Nepal, wo die Ölreserven des Landes langsam aufgebraucht worden waren. Die Lastwagen waren voll getankt unterwegs gewesen, als die Chinesen mit ihrem Nervengas zuschlugen. Die Batterie war leer. Das war nicht überraschend. Die meisten Batterien waren alt, und die Kälte hatte ihnen den Rest gegeben. Geduldig überprüfte er einen Laster der 194
Kolonne nach dem anderen. Er zog Fahrer, die sich noch im Tod an die Lenkräder klammerten, zur Seite und testete überall die Zündung. Nirgendwo rührte sich etwas. Die Lampen an den Armaturenbrettern blieben dunkel. Er ging zum nächsten Laster, dann wieder weiter zum nächsten. Die Sonne verschwand hinter den Bergen. Der Wind kehrte zurück. Er pfiff durch das tote, regungslose Metall. Auspuffrohre heulten wie Orgelpfeifen. Der Wind stöhnte in den hohlen Mündern der Toten. Dann kam er zu einem Laster, dessen Führerhaus leer war. Er öffnete die Tür, gegen die der Wind drückte, kletterte auf den Fahrersitz und ließ sie hinter sich zuschlagen. Während wütende Windstöße den Laster erzittern ließen, wartete er darauf, dass seine Hände wieder warm wurden. Sand prasselte zischend gegen die Scheiben. Kleine Steine hörten sich an wie Schrotkugeln. Er griff nach dem Schlüssel. Im Tosen des Windes hörte er kaum, wie der Motor ansprang. Er tastete das Armaturenbrett ab, fand einen Knopf und zog daran. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Die Straße und die Ebene sprangen aus der Finsternis. Die Toten schienen aus dem Nichts zu kommen. In dem harten weißen Licht sah der Schauplatz des Massakers erschreckend ruhelos aus. Lose Kleidung flatterte wie schlagende Flügel. Die Tankanzeige stand auf Viertel. Hinter dem Fahrersitz fand er wie erwartet einen Trichter und einen zusammengerollten Plastikschlauch, der nach Diesel stank. Auf der halb im Schatten liegenden Ladefläche des Lasters vor ihm sah er einen Benzinkanister liegen, der gut 40 Liter fasste. Auf anderen Lastern lagen mehr davon, manche leer, manche randvoll mit rosafarbenem Diesel. Er musste sich nur bedienen. 195
Der Fund eines funktionstüchtigen Lastwagens möbelte ihn wieder auf. Jetzt war er richtig mobil. Mit dem Laster konnte er so viel an Vorräten transportieren, wie er essen konnte. Er würde endlich wieder Fleisch auf die Knochen bekommen. Jetzt musste er nicht mehr durch den Winter kriechen. Der Laster bot ihm Wärme und ein Dach über dem Kopf. Mit ein bisschen Glück und bei guten Straßenverhältnissen konnte er den Weg durch Tibet, die Wüste Gobi und Sibirien in einem Monat statt in einem Jahr schaffen. Er saß hinter dem Steuer und sann über seine neuen, ausgezeichneten Zukunftsaussichten nach. Vorsichtig legte er den ersten Gang ein und fuhr langsam an. Er war dankbar für den ohrenbetäubenden Wind, der das Geräusch der Knochen unter seinen Reifen fast vollständig übertönte. Der Unglückskonvoi, durch den er sich in Schlangenlinie vorantastete, erinnerte ihn mit seinen straff gespannten oder wie zerrissene Segel hin- und herschlagenden Planen an einen gespenstischen Planwagentreck. Er durchsuchte ein Dutzend weiterer Lastwagen und nahm sich, was er an Treibstoff und Lebensmitteln fand. Dann wuchtete er drei Ersatzreifen auf die Ladefläche. Er fand eine Lötlampe, mit der er Wasser erhitzen oder den Motorblock auftauen konnte. Auch knorriges Feuerholz, Decken, einen Teppich, Öl, Fett und Wasser nahm er mit. Beinahe widerstrebend nahm er von dem Gold Notiz. Es schimmerte matt im Scheinwerferlicht auf, stumpf glänzende Flecken zwischen den farblosen Mumien. Er fand dicke Armreifen, Ohrringe und Ketten aus dem wertvollen Material, insgesamt ein kleines Vermögen, das er zunächst einfach ignorieren wollte. Aber irgendwann würde er wieder auf die Zivilisation stoßen, und dann brauchte er Geld. Nie wieder würde er sich auf die Barmherzigkeit der Menschen verlassen. So funktionierte die Welt nicht. Nathan Lee machte sich mit einem Messer und einer 196
Drahtschere über die Leichen her. Schakale und andere Aasfresser kämpften so mit den Toten, nahmen sich reißend und fauchend, was die Knochen nicht hergeben wollten. Am äußeren Rand der Lichtkegel seiner Scheinwerfer hörte er auf. Sein Beutesack war zum Bersten voll. Nach einer langsamen, weit ausholenden Kehre ließ Nathan Lee das Massaker hinter sich. In dieser Nacht legte er eine größere Strecke zurück als im gesamten Monat zuvor. Er erreichte Shigatse. Der Ort war eine ausufernde Nekropole, überall lagen Leichen. Ein Kloster erhob sich wie ein Grabstein über der Stadt. Er hielt nicht an. Hier hatte er nichts verloren. In den Außenbezirken kam er an einer Tankstelle vorbei, die gesprengt worden war. Die Straße bog nach Norden ab und wurde wieder zur Schotterpiste. Er fuhr noch 200 Kilometer weiter in die Dunkelheit, dann machte er ein Feuer, kochte sich Tee und schlief ein paar Stunden. In den folgenden Tagen kam er an weiteren Massakern vorbei. Einzelne Fahrzeuge tauchten in der Ferne wie einsame Inseln auf, aber bei genauerer Untersuchung zeigte sich meistens, dass auch sie infolge von Bombenabwürfen oder Tieffliegerbeschuss zerfetzt und ausgebrannt waren. Die Chinesen hatten alles getötet, was sich bewegte. Tag für Tag folgte er den leeren Straßen. Er fuhr an spiegelglatten Seen vorbei, an Bergen, die im Licht leuchteten, und an Gebetsfahnen, die an dünnen Stangen im Nirgendwo flatterten. Die Welt schien immer größer zu werden. Mit jedem Tag kam er sich kleiner vor. Er betrat ein Kloster. In der Gebetshalle fand er die Skelette in ihren Roben ordentlich in Reih und Glied vor, einige von ihnen sogar noch sitzend. Ein anderes Mal kam er an einer Herde Wildpferde vorbei, die ein Pilot gejagt und mit einem orangefarbenen Behälter Nervengas zur Strecke gebracht 197
hatte. An der Grenze zur Mongolei hielt er an dem verlassenen Wachhaus an und stempelte sich ein weiteres Visum als Andenken in sein Buch. Nachts sah er die Raketen unter den Sternen hin- und herflitzen. Selbst kurz vor dem Ende der Welt benutzten die alten Reiche noch ihre Waffenarsenale, um Rechnungen zu begleichen. Nathan Lee war froh, im Niemandsland zu sein. Ende Dezember blieb sein Lastwagen in einer Düne gierigen roten Sandes stecken. Er verschwendete einen Tag mit dem Versuch, ihn wieder auszugraben und hatte sich bereits mit dem Gedanken angefreundet, wieder mit dem Fahrrad reisen zu müssen … da fand er auf der anderen Seite der Düne einen nagelneuen Landrover. Sein Motor erwachte zum Leben, nachdem er die Lastwagenbatterie ausgebaut, über den Sand gekarrt und die Starthilfekabel daran angeschlossen hatte. Einen zweiten und dritten Tag verbrachte er damit, unter großen Mühen Vorräte, Treibstoff und Ausrüstung zu seinem neuen Fahrzeug zu schaffen. Bei seinem letzten Gang verschluckte die Düne gerade seinen alten Lastwagen. Der Landrover erwies sich als schneller und wendiger als der Laster. Er markierte auch den Beginn einer neuen Taktik. Nathan Lee schonte sein Fahrzeug nicht mehr, sondern fuhr rücksichtslos und wechselte die Wagen ohne zu zögern. Erst nahm er sich einen weiteren Landrover, dann einen Minibus, dann wieder einen Lastwagen. Die Wochen vergingen und er fühlte sich verloren, obwohl er wusste, dass es eigentlich nicht stimmte. Es spielte keine Rolle, dass seine Straßenkarte nicht mehr ausreichte. Er hatte einen Kompass und sein Tagebuch, eine Richtung und eine Vergangenheit. Irgendwo – es muss in Sibirien gewesen sein – kam er kurz vor Einbruch der Dunkelheit 198
an eine Brücke. Das einzige Warnzeichen war ein Auto, das wie eine umgedrehte Schildkröte auf dem Dach lag. Irgendetwas hatte es umgeworfen. Landminen, dachte er, und trat auf die Bremse. Einen Augenblick später zerbarst seine Windschutzscheibe, und vom anderen Ufer hörte er den Schuss des Scharfschützen. Nathan Lee kroch auf der Beifahrerseite aus dem Wagen und nahm nur sein Buch und den Sack Gold mit. Er versteckte sich in einem Sumpf, bis es ganz dunkel war, und kroch dann zu einem Fluss. Eis säumte das Ufer, aber durch kleine Äste, die er ins Wasser warf, konnte er die Richtung feststellen, in die er floss. Dann folgte er der Strömung. Er kannte den Namen des Flusses nicht. Aber irgendwann würde er ihn unweigerlich zum Meer führen.
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9 Nach Feierabend LOS ALAMOS JANUAR
Golding kam unangekündigt und mitten in der Nacht. Zwei Monate waren vergangen, seit sie Miranda das letzte Mal besucht hatte. Die Sache konnte nicht mehr länger hinausgeschoben werden. Das Alpha-Labor war außer Kontrolle geraten, ihm und dem gesamten Projekt musste der unersättliche Kopf abgeschlagen werden. Cavendish musste weg. Ihr kleines Sauerstoffgerät wie ein Haustier auf Rädern hinter sich herziehend, kam sie den Korridor entlang. In solchen Augenblicken sehnte sie sich nach Victor, ihrem Ehemann. Die Nasensonden, die über beiden Ohren baumelten, gaben ihr das Gefühl, auffällig und verletzlich und alt auszusehen, dabei wollte sie doch heute Nacht Eindruck machen. Ihren Ärzten gefielen ihre Reisen nicht, vor allem nicht in diese Höhe. Los Alamos bringt Sie eines Tages noch um. Aber es musste sein. Also zog sie in die Schlacht, mit Plastikschläuchen in der Nase und Luft auf Rädern, allein und auf eigene Verantwortung. Keines der anderen Mitglieder des universitären Aufsichtskomitees wusste, dass sie hier war. Eine einfache Mehrheit hätte sie aufhalten können, aber der Beirat war ohnehin in Auflösung begriffen. Die Universitäten führten praktisch Krieg gegeneinander und standen im ganzen 200
Bundesstaat kurz vor der Schließung. Eltern holten ihre Schüler und Studenten aller Altersstufen aus den Schulen, und Lehrer unterrichteten, falls überhaupt, nur noch über das Internet. Die Angst verschlang das Wissen, gerade in dem Augenblick, in dem das Wissen am dringendsten benötigt wurde. Anscheinend kontrollierte niemand außer ihr, was Cavendish hier in Los Alamos trieb. Sie hätte Cavendish auch per Telefon oder Einschreiben abservieren oder ihn zu sich kommen lassen können, doch seinen Günstlingen und Mitarbeitern musste genau hier eine Lektion erteilt werden, in dem Revier, das er sich unter den Nagel gerissen hatte. Es ging nicht nur um das Alpha-Labor. Seit die Biotechnik sich darangemacht hatte, von Los Alamos Besitz zu ergreifen, schien der ganze Laden außer Kontrolle zu geraten. Diejenigen, denen die neue Richtung nicht gefiel oder die sich gegen den Verfall der Ethik wendeten, hatten der Einrichtung in Scharen den Rücken gekehrt und die Abtrünnigen mit noch größerer Autonomie zurückgelassen. Ein Exempel musste statuiert werden. Für Cavendish hätte der Ausbruch der Korfu-Pandemie zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können. Während sich der geheimnisvolle Erreger ausbreitete, hatte Panik alle Strukturen zerstört. Europa stand unter Schock und zerfiel, Afrika war tot. Die Behörden in Washington verlangten eine Heilmethode oder wenigstens einen genetischen Schutzbunker für das amerikanische Volk. Cavendish bot sich als Retter in der Not an, er versprach ihnen das Blaue vom Himmel herunter. Sein menschlicher Klon – der offiziell immer noch Top Secret war, aber nichtsdestoweniger prominenten Besuchern regelmäßig gezeigt wurde – war ein lebender Beweis für Cavendishs Können und Wagemut. Gott sei Dank ist er so arrogant, dachte sie. Er hatte Miranda die Show gestohlen, sie ins Abseits 201
gedrängt, aber das war gut so. Miranda konnte verschont werden. Trotz Goldings Bemühungen, Cavendishs Ausgaben zu blockieren oder einzuschränken, waren ihm weiterhin Gelder zugeflossen … wenigstens so lange, wie es noch so etwas wie Geld gegeben hatte. Eine Zeit lang war seine Ausgabenquote – die Geschwindigkeit, mit der er Geld für Anschaffungen verpulverte – nur noch mit denen der Spitzenprojekte zu vergleichen: der Interferon-Forschung, als sich Aids ausbreitete, dem Apollo-Raumfahrt-Programm, dem Forschungs- und Entwicklungsprogramm für den »Krieg der Sterne«. Offensichtlich gab es kein Limit für seine Ausgaben, weil das Geld genau genommen nie existiert hatte. Irgendwie hatte er die Regierung davon überzeugen können, die Jagd nach dem Virus als Geheimprojekt einzustufen. So konnten Gelder von verdeckten Konten fließen, die die Erbsenzähler im Kongress erst gar nicht zu Gesicht bekamen. Er gab sie in einer Weise aus, die fast schon an Verachtung grenzte. Ironischerweise bekräftigten seine Ausgaben seinen Ruf als Retter eher noch; Sparsamkeit hätte seinen Versprechungen eines Heilmittels wohl nur widersprochen. Sein Milliarden schwerer Einkaufsbummel deckte von Petrischalen über Supercomputer bis hin zum Bau von hochmodernen Biosicherheitslabors der Stufe 4 alles ab. Mit ihren über einen halben Meter dicken Wänden waren die BSL-4-Labors die exklusivsten Zoos der Welt und für die tödlichsten Mikroben von Ebola über Machupo- bis hin zu Hanta-Viren und jetzt vor allem für den KorfuErreger reserviert. Bis vor acht Monaten gab es auf der gesamten Welt nur ein halbes Dutzend BSL-4-Labors: zwei in RUSSLAND, eins in Kanada und drei in den USA. In Europa, Afrika und Asien existierte kein einziges. Nun waren auf dem südlichen Finger des felsigen Hoch202
plateaus von Los Alamos im Umkreis von anderthalb Kilometern fünf BSL-4-Labors entstanden. Mit einem einzigen Schlag hatte sich die Einrichtung selbst zum Hauptquartier im Kampf gegen das Korfu-Virus gemacht. Wie Cavendish selbst war Los Alamos zu einem Emporkömmling geworden, den die Welt der Wissenschaft nicht mehr ignorieren konnte. Für die erweiterte Infrastruktur brauchte man natürlich Personal. Auch hier war Cavendish nicht gerade bescheiden gewesen. Er zeichnete nicht für alle Neueinstellungen verantwortlich, aber er gab die Richtung vor. Er hatte eine Vorliebe für Abtrünnige, Rebellen, Draufgänger und Geächtete. Hinterher – immer nur hinterher – bekam Golding die Bewerbungsunterlagen zu Gesicht. In irgendeiner Weise, ob nun zu Recht oder zu Unrecht, waren diese Neuankömmlinge auf der Mesa von Los Alamos allesamt davon überzeugt, unfair behandelt worden zu sein. Sie waren irgendwie an den Rand gedrängt oder bei einer Festanstellung übergangen worden, man hatte ihre Anträge auf Zuschüsse abgelehnt oder sich über ihre Forschungen lustig gemacht. Einer war Fortpflanzungsspezialist gewesen, ehe christliche Fundamentalisten einen Brandsatz auf seine Klinik für künstliche Befruchtung geworfen hatten. Ein Krebsforscher hatte nach dem Tod eines unheilbar kranken Kindes, das er mit einer nicht getesteten monoklonalen Methode behandelt hatte, seine Zulassung verloren. Nicht wenige gehörten zum traurigen Überbleibsel des Biotechnologie-Booms, der die Wall Street in den achtziger und neunziger Jahren erfasst hatte. Als die Blase platzte, gingen viele hochspezialisierte Wissenschaftler pleite oder mussten ihr Leben als MTAs oder Biologielehrer an einer Schule fristen. Solche Leute – die Enttäuschten, Benachteiligten und Enterbten der Biotechnologie – waren es, die Cavendish 203
im Schoß von Los Alamos versammelt hatte. Golding kannte diesen Typus nur zu gut. Der gewaltige Apparat der Universität von Kalifornien wies solche in Ungnade gefallenen Wissenschaftler jeden Tag im Dutzend ab. Es überraschte sie nicht sonderlich, dass sie freudig in die Wüste von New Mexico zogen und Cavendish mit solcher Loyalität dienten. Dabei konnte er ihnen an weltlichen Gütern nicht viel bieten. Hier standen keine schicken Wohnhäuser wie in Silicon Valley, und die Labors, die wie Pilze aus dem steinigen Boden schossen, waren in seit langem leer stehenden Gebäuden, Wellblechhallen und sogar in Armeezelten untergebracht. Die Büros hatte man mit spartanischen Metallmöbeln eingerichtet, uralte Wanduhren zeigten die Zeit an. Einige der Wandtafeln waren schon zur Zeit des Zweiten Weltkriegs von Physikern mit Gleichungen voll gekritzelt worden. Aber Cavendish bot ihnen eine zweite Chance. Ein Leben nach dem Tod. Außerdem bot er ihnen Geheimhaltung. Das war die größte Gefahr. Es war wieder wie im Wilden Westen, jedes Labor eine Grenzstadt, und kein Sheriff weit und breit. Die Fahrstuhltür glitt langsam auf. Golding fuhr nach Sub-C hinunter, wo sich die Büros befanden, von denen aus man die Klon-Abteilung überblicken konnte. Im strahlend blauen Wasser des Geburtsbeckens waren Taucher gerade dabei, einen weiteren Klon zur Welt zu bringen. Der Vorgang war zur Routine geworden. Kein Mitarbeiter des Labors schaute mehr zu, nur ein Team von Medizinern stand bereit. Miranda war nicht mit im Becken. Die Taucher verrichteten ihre Arbeit, öffneten die Fruchtblase und halfen dem Klon von einem Leben ins andere. Ein dichter Vorhang aus Haaren umwallte den Körper. Golding ging weiter. Unter Cavendishs Tür war Licht zu sehen. Golding zog 204
ihre Kostümjacke glatt. Nach kurzem Überlegen nahm sie die Sonden ab und stellte ihren Sauerstoffwagen zur Seite. Die wenigen Minuten, die sie für diese Sache benötigte, konnte sie auch ohne Luft aus der Dose auskommen. Sie klopfte energisch an. »Herein«, sagte Cavendish. Golding trat ein. Und erstarrte. »Paul?«, flüsterte sie. Neben Cavendish saß Abbot und wartete auf sie. Er stand auf, ganz Gentleman. Er ersparte ihr die Beleidigung einer freundschaftlichen Berührung. Kein Kuss auf die Wange, auch keine Ausflüchte. »Ich fand es besser, wenn ich dabei bin«, sagte er. Sein Gesicht drückte etwas anderes aus. Es war nicht sein Einfall gewesen. »Setzen Sie sich doch bitte«, sagte Cavendish, Golding blieb stehen. Abbot nahm wieder Platz. Sie blickte auf ihren alten Freund hinab, und plötzlich erkannte sie überall die Handschrift seiner Komplizenschaft. Erst jetzt sah sie die Macht hinter Cavendishs Macht. Wer außer Paul hätte Zugang zu Schwarzgeld gehabt? Wer sonst hätte sie jedes Mal, wenn es darauf ankam, umgehen können? Sie war entsetzt. Die ganze Zeit, während der sie sich um seine Tochter gekümmert hatte, hatte er Cavendish gefördert. »Wie konntest du das tun?«, fragte sie. Er war ein waschechter Washingtoner Schreibtischhengst. Alles an ihm war Maske. Falls er Verlegenheit oder Bedauern empfand, überspielte er es hervorragend. Dann wurde ihr klar, dass er extra wegen dieser Auseinandersetzung von wer weiß woher angeflogen gekommen sein musste. Er stand jetzt ganz auf Cavendishs Seite. Sie war mit ihrem Überfall selbst in einen Hinterhalt geraten. Sie hatten gewusst, dass sie kam. »Die Seuche aufzuhalten hat oberste Priorität«, fing Abbot an. »Die gesamte Zivilisation steht auf dem Spiel.« 205
Sie versuchte verzweifelt, die Initiative wiederzuerlangen. »Da hast du Recht. Die Zivilisation stirbt. Und zwar hier, in diesen Labors. Erst genehmigst du die Schaffung von Klonen, und jetzt setzt man sie, wie ich erfahren habe, lebenden Viren aus.« »Ein notwendiger Schritt«, erwiderte Cavendish. »Die Epidemiologen haben schon vor Monaten mit diesen Forschungen begonnen.« Vor Monaten? Golding war sprachlos. Den ersten Hinweis auf Menschenversuche hatte sie bekommen, als Miranda im letzten November die »Jahr Null«-Knochen erwähnt hatte. Bis heute Morgen um fünf Uhr, als Miranda sie angerufen hatte, war sie der Meinung gewesen, man hätte die Idee wieder fallen lassen. Miranda war außer sich gewesen. Einer ihrer Klone war gestorben. Sie sagte, sie hätte erst gestern davon erfahren. »Die Technologie funktioniert«, sagte Cavendish. »Klone sind billig zu züchten. Ein paar hundert Dollar für Chemikalien und Enzyme, ein paar hundert Arbeitsstunden, Unterkunft und Verpflegung, und sie können maßgeschneidert für verschiedene immunologische Reaktionen hergestellt werden. Oder, wenn nötig, auch immunsupprimiert. Die Labors sagen uns, was sie brauchen. Und wir liefern.« »Menschliche Versuchskaninchen«, erwiderte Golding. Sie hatte lange genug an vorderster Front gegen den Krebs und gegen Aids gekämpft und wusste deshalb, wie groß die Versuchung war, lebende Menschen zu verwenden. Aber niemand hatte es bisher gewagt, diese Grenze mit Klonen zu überschreiten. »Elise«, sagte Abbot, »diese Sache breitet sich schneller aus, als wir sie begreifen können. Unsere Existenz hängt vielleicht von dem ab, was wir tun, auch wenn wir dafür 206
Ersatzmenschen benutzen müssen.« »Menschen«, erwiderte Golding. »Immerhin«, mischte sich Cavendish ein, »verwenden wir nur Tote. Dadurch kann unser Personal die Experimente leichter ertragen. Wissen Sie, Sie sind nicht die Einzige, die ein Gewissen hat. Wir haben lange darüber diskutiert, richtige Menschen zu verwenden. Zum Tode Verurteilte oder bezahlte Freiwillige. Aber nur wenige von unseren Leuten erklärten sich dazu bereit. Außerdem hätte das, von der Ethik einmal abgesehen, unsere Geheimhaltung gefährdet. Irgendjemand da draußen hätte von der Sache Wind gekriegt und eine Massenpanik ausgelöst. Die Toten andererseits sind vergessen, begraben, um die macht sich niemand Gedanken. Und schließlich haben die Klone ja schon ein ganzes Leben hinter sich. Sie waren schon mal dran, um es mal so auszudrücken.« »Warum nehmen Sie nicht Hautzellen von Labortechnikern?«, fragte sie. »Warum benutzen Sie nicht Ihren eigenen Klon?« Das änderte zwar nichts an ihrem Argument, aber sie musste Zeit gewinnen, um einen Ansatzpunkt zu finden. »Das haben wir versucht. Es wurde zu persönlich«, antwortete Cavendish. »Mitarbeiter bauten eine Beziehung zu ihren Doppelgängern auf. Es war so, als würde man an sich selbst in einem Spiegel einen Eingriff vornehmen. Zu aufreibend, zu stressig. Nicht ohne Grund operieren Ärzte nicht ihre eigenen Familienmitglieder, denn sie trauen ihrer eigenen Objektivität nicht. Unsere Lösung besteht darin, genetisches Material von Fremden zu gewinnen. Verstorbenen Fremden.« »Unter meinem Dach wird Leben geopfert!«, stieß sie hervor. Cavendish schaute Abbot an. 207
»Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten, Elise. Und die erfordern außergewöhnliche Maßnahmen«, sagte Abbot. »Uns bleibt keine Zeit für Tierversuche. Computermodelle könnten funktionieren oder auch nicht. Wir müssen rasch handeln, und Menschenversuche sind unsere größte Hoffnung. Sie sterben, damit wir überleben können.« »Sie?« Vor Golding türmten sich die Fragezeichen auf. Miranda hatte ihr gegenüber nur von dem Tod eines Klons gesprochen. Es waren also mehr. »Ich will Zahlen«, forderte sie. »Von wie vielen hat Ihnen Miranda erzählt?«, fragte Cavendish. Er wusste, dass es Miranda gewesen war, die ihr davon berichtet hatte. Miranda wurde also beobachtet, ihr Telefon abgehört. »Sie wagen es, Miranda da mit hineinzuziehen?« Sie richtete ihren Zorn gegen Abbot. »Auf welcher Seite stehst du, Paul? In was hast du deine Tochter da hineingezogen?« Abbot zuckte zusammen. »Sie möchte ein Teil der Lösung sein«, erwiderte er. »Aber nicht so. Wie viele sind gestorben?«, verlangte sie zu wissen. »Achtunddreißig«, antwortete Cavendish. »Ein Gemetzel!«, zischte sie. »Elise, setz dich doch bitte«, sagte Abbot. »Wo ist dein Sauerstoffgerät?« Sie schob seine Hand weg. Der leere Stuhl sah verlokkend aus. Wenn sie sich hinsetzte, würden sie anfangen, mit ihr über Einzelheiten zu diskutieren. Cavendish würde sie provozieren. Abbot würde den Ausgleich suchen. Sie würden die Worte verdrehen, mauern, lügen. Nein, sie musste es schnell hinter sich bringen. 208
»Ich dulde keine weiteren Morde«, erklärte sie. »Morde?«, fragte Cavendish und lachte höhnisch auf. »Im Zeitalter der Seuche?« Golding starrte ihn an. »Das reicht.« Sie knallte einen Brief auf seinen Schreibtisch. »Sie sind entlassen. Ich lasse das gesamte Projekt sofort stoppen. Jedes einzelne Labor«, sagte sie. »Ich habe das FBI benachrichtigt. Es wird eine umfassende Untersuchung geben. Anklagen werden erhoben werden. Und Ihnen wird man den Prozess wegen 38-fachem Mord machen.« Cavendish sah sie unbeeindruckt an. »Elise, du verstehst das nicht«, warf Abbot ein. »Wie du weißt, wurde der Bluttest zur Korfu-Untersuchung hier in Los Alamos entwickelt. Wusstest du auch, dass er das Ergebnis von Menschenversuchen war? Dazu wurden Klone aus den Golgathaknochen benutzt. Miranda hat ein Verfahren entwickelt, um T-Zellen aus winzigen Resten von altem Blut zu gewinnen. Auch wenn wir den Erreger selbst noch nicht lokalisieren können, haben wir jetzt wenigstens ein Mittel, um festzustellen, wer infiziert ist und wer nicht. Es ist ein Anfang, um uns gegen dieses Ding zu verteidigen. Jetzt können wir unsere Grenzen schützen. Herrje, jetzt können wir unsere Grenzen erst ziehen. Indem wir ein paar Leben opfern, retten wir vielleicht Hunderte Millionen. Vielleicht retten wir damit die Menschheit.« »Es ist aus«, sagte sie. »Ich verstehe«, erwiderte Cavendish. »Sie sehen einen verrückten Wissenschaftler, der sich in Ihrem Laboratorium breit gemacht hat. Ein Napoleon-Komplex auf Rädern. Sie haben versucht, über das, was Sie in mir sehen, hinwegzugehen. Das weiß ich. Trotzdem sehen Sie immer wieder diesen verkrüppelten kleinen Spinner in seinem 209
Rollstuhl vor sich. Das ist politisch äußerst unkorrekt. Aber das tun wir schließlich alle – wir sehen das, wozu wir programmiert worden sind. Märchen. Das Böse als Makel der Natur. Das ist unser Vorurteil. Gleichzeitig ist es auch unsere Erlösung. Wir wollen an das Gute glauben. Das Böse ist monströs, verwachsen, missgestaltet. Hab ich Recht?« »Sind Sie jetzt fertig?«, fragte Golding. Er legte den Kopf schief. »Wie alt sind Sie, Elise? Über siebzig? Ein gutes, erfülltes Leben, würden Sie sagen? Ein erfolgreiches Leben, ein leidenschaftliches Leben.« Er lächelte. »Ich werde meinen zweiunddreißigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Ich habe Schmerzen. Meine Hände zucken wie Fische in einem Teich. Mein Rückgrat verkrümmt sich. Gegen meinen Willen.« »Das tut mir Leid, Edward.« »Nein, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Das soll kein Selbstmitleid sein. Nur eine Erklärung. Seit ich alt genug war, um denken zu können, hat mich nur eine Erkenntnis angetrieben. Was mit mir geschieht, soll niemand anderem passieren müssen. Deshalb habe ich mich der Genetik gewidmet. Um Unschuldigen mein Schicksal zu ersparen. Jetzt stehe ich vor dieser anderen Krankheit, und ich kann helfen. Auch ich möchte ein Teil der Lösung sein.« Golding wollte ihre Meinung über ihn gerne ändern, aber er hatte nichts zurückgenommen. Er wollte die Menschenversuche fortführen. »Der Zweck heiligt nicht die Mittel«, stellte sie fest. »Ich dachte mir schon, dass es dazu kommen würde«, sagte Cavendish. Er drückte eine Taste auf seiner Konsole. Einen Augenblick später klingelte das Telefon. Er nahm ab. »Ja«, erwiderte er. Sein Blick richtete sich auf Gol210
ding. »Da will Sie jemand sehen.« Sie sah Abbots vor Überraschung gerunzelte Stirn. Das stand wohl nicht im Drehbuch. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen Miranda aus dem Spiel lassen«, sagte sie. Wer konnte es denn sonst sein? »Es ist nicht Miranda«, sagte Cavendish. »Keine Angst, es dauert nicht lange.« Jemand klopfte an die Tür. »Herein«, sagte Cavendish. Die Tür ging auf. Man hörte das Geräusch leise rollender Räder. Golding drehte sich nicht zu dem Besucher um. Sie hielt den Kopf aufrecht. Neben ihr fuhr Abbot in seinem Stuhl herum. Sie sah das Erstaunen in seinen Augen, dann Bestürzung. »Elise?«, rief eine Stimme. Sie rührte sich nicht. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie wollte sich nicht umdrehen. Sie wollte es nicht wissen. Sie drehte sich um. »Victor«, flüsterte sie. Ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, lag auf einem Rollbett, zu schwach, um sich zu bewegen. Es lag nicht nur an der Schwerkraft. Sie hatten ihn aus dem Behälter gezogen, ihm die Haare gestutzt und die Nägel geschnitten. Aber schon jetzt krochen seine Haare wieder über das Kissen. Seine Nägel ringelten sich. Hereingekommen war ein junger Mann. Jetzt war er schon fünfzig. Er alterte so rasch, dass sein Körper im Verwandlungsprozess erbebte. »Wo bin ich?«, flüsterte er. Sie streichelte ihm über den Kopf, und seine Haare blieben an ihren Fingern hängen. Sechzig. Auf seinen Händen erblühten Altersflecken. Siebzig. Sein Gesicht fiel ein. 211
Neunzig. Er blinzelte vollkommen desorientiert. »Du bist bei mir«, sagte sie und küsste seine Stirn. »Ich verstehe das nicht«, sagte er mit einer vogelartigen Stimme. »Ich schon, Victor. Es ist alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Ich liebe dich so sehr.« »Ist das ein Traum?« Er starb. Aber selbst jetzt stellten die beschleunigten Gene ihr Wachstum nicht ein. Der Stoffwechsel hatte zu viel Schwung. Das Fleisch fiel von ihm ab. Seine Augen … Sie spürte, wie ihr Herz stehen blieb. Sie beugte sich über den Körper und hielt sich am anderen Ende des Bettes fest. »Was haben Sie getan?« Sie hörte, wie Abbot Cavendish anschrie. Seine Stimme klang so weit weg. »Wir haben alle nötigen Genehmigungen eingeholt, um seine Leiche zu exhumieren«, antwortete Cavendish. »Wir brauchten nur ein paar Zellen.« »Ich lasse mich nicht in diese Sache mit hineinziehen«, schrie Abbot. Sie lauschte. Blankes Entsetzen. Ihre Hände lösten sich. Sie glitt zu Boden. »Elise!« Abbot kniete über ihr. Er versuchte, sie in seine Arme zu nehmen. »Rufen Sie Hilfe!«, schrie er. Mit letzter Kraft schob sie ihn von sich.
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10 Pornographie FEBRUAR
Miranda hatte das Gefühl, ihre Mutter ein zweites Mal verloren zu haben. Aber Trauer war aus der Mode gekommen, und deshalb weinte sie nicht. Beinahe jeder in Los Alamos hatte inzwischen jemanden verloren, entweder direkt durch die Pandemie – vor allem die ausländischen Wissenschaftler – oder durch die Begleitumstände. Bislang war die Seuche noch nicht bis auf den amerikanischen Kontinent vorgedrungen, aber weil die Arzneivorräte schwanden und die Ärzte zu den verschiedenen »Brückenköpfen« entlang der Küsten und der mexikanischen Grenze entsandt wurden, fiel die Bevölkerung nach und nach anderen Krankheiten zum Opfer. Tuberkulose war auf dem Vormarsch, Kinderlähmung tauchte wieder auf. Auf der Halbinsel Florida war überall die Cholera ausgebrochen. Die Sterberate stieg vor allem bei sehr alten und sehr jungen Menschen dramatisch an. Die medizinische Versorgung war so weit zusammengebrochen, dass Menschen an Hundebissen, rostigen Nägeln und Knochenbrüchen starben. Seltsamerweise hatte man das ganze Leid, den Tod und das Chaos in einen Topf geworfen. Auf die eine oder andere Weise schienen alle noch so zufälligen Ereignisse eine einzige gemeinsame Ursache zu haben – das war ihre Definition von Seuche. Man musste nur das Wort aussprechen, um alle Arten von Leid und Unglück zu erklären, und wenn es um den Tod einer 213
alten Frau ging, die ihrem zweiten Herzinfarkt erlegen war. Elise war in ein geistiges Massengrab gefallen. Los Alamos hatte seine Leiterin verloren, aber in Cavendish einen neuen Leiter bekommen. Miranda ließ sich ihre Trauer nicht anmerken. Aus Respekt vor den anderen wurde von einem erwartet, dass man den Kopf hochhielt und weitermachte. Die Arbeit musste erledigt werden, also erledigte sie ihre Arbeit. Im Angesicht des Todes stürzte sie sich darauf, in der Klon-Fabrik des Alpha-Labors neues Leben zu schaffen, aber manchmal konnte sie ihre Trauer doch nicht vergessen. Aus diesem Grund fing sie an, auf der Seuche zu surfen. Für viele von ihnen war es zu einer richtigen Sucht geworden, eine Form des Zeitvertreibs: Sie surften auf der Seuche. So nannten sie ihre elektronischen Reisen, auf denen sie dabei zusahen, wie die Welt aus den Fugen geriet. Miranda war das immer wie eine Peepshow des Todes vorgekommen und sie hatte es seit Monaten vermieden, aber nun wollte auch sie wissen, was auf sie zukam. Aus der Sicherheit ihres Felsplateaus und mit der neuesten Computertechnik ausgestattet, klickten sich die Surfer durch die Flut von Berichten, Bitten, Gerüchten und Nachrichten, die die Opfer überall auf der Welt wie Flaschenpost losschickten. Man musste sich nur einwählen. Mit ein bisschen Tipperei konnte Miranda sich in die Überwachungskameras Schweizer oder argentinischer Banken und Kaufhäuser einloggen, sie spähte durch die Kameras, die an den Masten weltberühmter Wolkenkratzer angebracht waren, erweckte geheime Signale zum Leben, die auf fernen Computern warteten, oder lud Bilder von Satelliten herunter. Überall waren Augen, der Himmel war voller Stimmen. Man musste sich nur entscheiden, was man sehen und wem man zuhören wollte. 214
Die Leute sammelten ihre Funde wie Souvenirs, indem sie sie speicherten oder herunterluden, um sie mit anderen zu tauschen oder gierig zu horten, Websites zu erstellen und beim Kaffee über ihr neuestes Schaustück zu diskutieren. Jeder hatte seinen eigenen Geschmack, seine eigenen Grenzen. Manche erzählten davon, wie sie über Wochen hinweg tief in der Nacht mit verzweifelten Fremden zwölf Zeitzonen entfernt kommunizierten. Andere standen auf den eindrucksvollen Anblick ganzer Städte, in denen sich nach und nach nichts mehr rührte. Eine Frau hatte eine CyberRomanze mit einem Astronauten in einer Raumstation. Es bildeten sich Clubs, die tote Städte aus ihren elektronischen Hinterlassenschaften rekonstruierten, Bilder von leeren Straßen zusammensetzten, nach flüchtigen Bildern von Gebäuden in Spiegeln oder Schaufensterscheiben suchten, in Wohnungen gingen und sich die Bücher auf dem Nachttisch, die Überreste der letzten Mahlzeiten und sogar die letzten Videos ansahen, die die Bewohner gesehen hatten. Manche machten ein Hobby daraus, die Leben von Opfern zu sammeln. Zu Anfang ging Miranda nur dorthin, wo sie schon gewesen waren. Sie besuchte ihre Städte, hörte in ihren Chatrooms mit, sah sich ihre Seuchenbiographien an und betrachtete Bilder, die schon Monate alt waren. Sie verfolgte die Massenflucht aus ausländischen Großstädten in den roten Sand der Wüste von Rajahstan, in das Outback von Australien, über das Atlasgebirge in die Sahara hinein und entlang der Bahnstrecken in die riesigen Wälder im Norden Russlands. Von den geostationären Umlaufbahnen aus betrachtet, sahen die liegen gebliebenen Züge und Autokolonnen wie tote Schlangen aus. Sie verfolgte den Weg von 80 Kilometer langen Flüchtlingstrecks, die in menschenleeren Gegenden von Armeen zum Umkehren gezwungen 215
wurden, an Grenzen, die nichts als Linien auf Landkarten, die letzten Überreste der Nationalstaaten waren. Blutige Hungeraufstände in São Paulo, London und Berlin; der Brand von Wien; Orgien auf den Straßen von Rio de Janeiro. Die Seuche war mit unglaublicher Geschwindigkeit zu einer Flutwelle angewachsen, deren Vorbote die Panik war. Die allgemeine Ordnung zerfiel nicht einfach, sondern verschwand über Nacht. Alten Widersachern blieb kaum die Zeit, Grenzen zu überschreiten, Revolutionen auszurufen oder sich gegenseitig mit Macheten niederzumachen, ehe sie das Virus unter sich begrub. Miranda reiste durch den Schrecken und ging weiter, auf der Suche nach etwas, von dem sie selbst nicht wusste, was es war. An Partnern und Orten, die man erkunden konnte, gab es keinen Mangel. Wenn die Hyper-Krankheit zuschlug und ganze Nationen untergingen, zog man einfach weiter zum nächsten Opfer, zum nächsten Landstrich. Anfänglich kam sie sich dabei unredlich oder zumindest widersprüchlich vor, denn Voyeure sind immer Parasiten, und genau das waren sie, Parasiten auf der Jagd. Andererseits war ihre Neugierde nur natürlich. Hier entstand Geschichte – oder ging sie gerade zu Ende? Alle wollten Zeuge davon sein, das verschaffte ihnen Trost, sogar eine Form von Immunität. Zeuge zu sein bedeutete, dass sie das, was sie sahen, überleben würden. Indem sie zusahen, standen sie über und außerhalb des Gesehenen. Es war eine Art Pornographie, aber auf einer anderen Ebene auch eine Pflicht. Während sie im heraufziehenden Tod der Menschheit herumstocherten, prägten sie sich das ein, was schon vergessen war, sahen sie, was sonst kein menschliches Auge mehr sah. Sie sammelten die Reste der Erinnerungen. Eines Abends steckte ihr Captain Enote, der Sicherheitschef ihres Labors, ein Geschenk zu, einen rosa Notizzettel 216
mit Satellitenkoordinaten. Er war einer der wenigen, die an Elises Beerdigung teilgenommen hatten, obwohl er sie nur einmal kurz kennen gelernt hatte. In Anzug und Krawatte war er erschienen, hatte sich im Hintergrund gehalten und Miranda nicht angesehen, obwohl er wegen ihr gekommen war. Nun sprach er sie zum ersten Mal seitdem an. »Probieren Sie das mal«, sagte er. »Aus meinem Privatbesitz. Afrika. Teil unserer Marineaufklärung. Behalten Sie es bitte für sich. Es unterliegt eigentlich der Geheimhaltung.« Der Captain war Ex-Soldat, ein ehemaliger Marineinfanterist, weshalb es Miranda nicht überraschte, dass er Insiderinformationen über diese Navy-Aktion besaß. Sie wusste nur das Wesentliche über deren Ziel: das Erbe der Erde anzutreten. Da die USA gerade auf dem besten Wege waren, das einzige unversehrte Land auf diesem Planeten zu werden, hatte man alle Flottenverbände ausgesandt, um herauszufinden und zu erfassen, was auf den anderen Kontinenten noch übrig geblieben war. Den Flugzeugträgern mit ihren Aufklärungsjets fiel dabei die zentrale Rolle zu. Sie trieben sich vor fremden Küsten herum und dokumentierten den Zustand der Städte und des Landes. Ihre Flugzeuge überflogen Straßen und Flüsse, machten Aufzeichnungen über das verbliebene militärische Potenzial, sammelten Daten über den Zustand der Gold-, Kupfer-, Platinund Uranminen sowie der Abbaustätten anderer wertvoller Metalle; sie beurteilten den Zustand der Land- und Schifffahrtswege. Im Prinzip erfassten sie die Welt noch einmal, von Anfang an. Sie hatte mit einer militärischen Szenerie gerechnet, mit Kampfjets, die donnernd vom Flugdeck abhoben. Aber als Miranda in einer freien Minute endlich die Zeit fand, die Verbindung herzustellen, füllte sich ihr Bildschirm plötzlich mit grünen Bergen und ebenso grünen Flüssen. Aus 217
der Minute wurde eine Stunde. Das Land zog in gemächlichen, üppigen Wellen unter ihr vorbei. Dort unten befand sich ein Paradies. Miranda kam sich vor wie in einem Zustand der göttlichen Gnade. Hin und wieder machte sie vor sich den Schatten aus, den das Flugzeug warf, sonst hätte sie auch auf einer Wolke dahingleiten können. Der Wald ging in Schluchten und Flüsse über. Tausende Flamingos stiegen in einer langen, gekrümmten Linie auf, wie eine rosafarbene Schallwelle. Sie flog über einen Elefantenbullen hinweg, der einsam auf einen verborgenen Horizont zuhielt. Am nächsten Morgen suchte sie den Captain auf. »Es war wie im Traum«, sagte sie. »Ich dachte mir schon, dass es Ihnen gefallen würde«, erwiderte er. »Ich verfolge sie schon von Anfang an. Schon seit vielen Monaten.« »Sie?«, fragte Miranda. »Die Pilotin«, sagte er. Sie hatte so viele Fragen, dass sie den Namen der Frau nicht verstand, und danach wurde ihre Namenlosigkeit zum Teil der Reise. Sie hatte einmal etwas über die Mönche im Mittelalter gelesen, die Texte abschrieben und mit Bedacht anonym blieben, und so sah sie auch die Pilotin, nicht als Medium, sondern als unsichtbare Hand. Der Captain erklärte ihr, wie sich zwei Atom-U-Boote und zwei Schlachtkreuzer im letzten Oktober von der Kampfgruppe getrennt hatten, um mit der Erforschung der Küste Südamerikas zu beginnen. Die Truman, der Flugzeugträger, von dem aus die Pilotin flog, hatte Kurs auf Afrika genommen. Sie hatten mit ihrer Aufklärung ganz vorne angefangen: am Nullpunkt, bei Null Grad Breite und Null Grad Länge, im Golf von Guinea vor der Küste 218
Gabuns. »›Herz der Finsternis‹-Land«, sagte der Captain. Danach war es wie in dem Film Das letzte Ufer, nur ohne Ufer. Direkter Kontakt mit der Landmasse war verboten. Die Diamondback-Staffel der Pilotin bestand aus vier F14, die mit Digitalkameras und einem Infrarotsuchgerät ausgestattet waren. Eine nach der anderen starteten sie Richtung Osten auf einem Kurs parallel zum Äquator, um dann auf einem leicht verschobenen Parallelkurs zurückzukehren. Die ganze Zeit übertrugen sie Daten zu den Geheimdienstleuten und Kartographen an Bord der Truman … und ohne es zu wissen zum Captain und jetzt auch zu Miranda. In den vier Monaten seit Oktober hatte sich der Träger in Richtung Süden um das Kap der Guten Hoffnung herum vorgearbeitet und war inzwischen fast wieder auf der Höhe Kenias. »Das Schlimmste haben Sie verpasst«, sagte der Captain. Im Verlauf eines afrikanischen Sommers waren eine halbe Milliarde Seelen verschwunden. Woche für Woche hatten die Aufklärungstrupps ihre Arbeit fortgesetzt. Überall war der Einfluss des Menschen zu sehen. Bohrtürme in Gabun förderten weiterhin Öl, Dörfer mit Strohdächern lagen da wie Filmkulissen, die auf die Schauspieler warteten. In Kapstadt standen die Gartenzäune strahlend weiß in der Sonne. Eine Vorstadt von Johannesburg hatte immer noch Strom; die Straßenlaternen brannten am helllichten Nachmittag. Inzwischen waren nur noch die Tiere übrig. Nacht für Nacht reiste Miranda auf den Schwingen der Marinefliegerin. Als guter Aufklärer, so erfuhr sie, musste man langsam auf einer Höhe von ein paar tausend Fuß über dem Boden dahinfliegen, um den Kameras unter dem Rumpf die beste Aussicht zu bieten. Bei einer Geschwindigkeit von 300 Knoten und weniger sparte man außerdem Treibstoff, was die tägliche Reichweite bei der Aufklärung maximierte. Die Pilotin sprach selten, meistens nur, um 219
ihren Navigator anzuweisen, der Truman Bescheid zu sagen, wenn sie das Ende ihrer täglichen Strecke erreicht hatten und sich auf den Rückweg zum Schiff machten. Miranda gefiel die sachliche Stimme der Frau. Ihr Akzent und die Sparsamkeit der Silben kamen ihr irgendwie bekannt vor. Während sie sich langsam weiter nach Norden vorarbeitete, flog die Tomcat über smaragdgrüne Kaffeeplantagen und Seen, die so ruhig dalagen, dass man das Spiegelbild des Flugzeugs auf dem Wasser erkennen konnte. Ein Gepard ließ sich bei seiner Jagd auf eine Gazelle nicht stören. Sie umkreisten Vulkane in Ruanda. Afrika wurde ihr Abendgebet. Miranda loggte sich für ein, zwei Stunden in die Aufklärung ein, um danach beruhigt einzuschlafen. Merkwürdigerweise schien die Seuche immer weiter entfernt zu sein, je näher sie kam. Die Verwüstung war überwuchert. Nur noch Schönheit blieb übrig. Die Pilotin konnte keine Ahnung von den elektronischen Passagieren haben, die ihr von der anderen Seite der Erde aus über die Schulter sahen. Aber eines Abends verkündete sie, dass die Truman ihren Auftrag ausgeführt habe. »Wir haben unseren Teil der Karte fertig«, sagte sie leise. »Wenn du mich hören kannst, ich komme jetzt nach Hause, datchu.« Dieses letzte Wort kannte Miranda nicht, aber ihm fehlte der harsche Klang des Militärjargons. Es kam ihr zärtlich und intim vor, und sie fragte sich, mit wem die Frau wohl geredet haben könnte. Die Pilotin war eine Fremde ohne Namen und ohne Gesicht für sie, aber die Neuigkeit erfüllte Miranda mit Freude. »Sie kommt nach Hause«, berichtete sie am nächsten Morgen dem Captain. Aber das war unnötig. Seine Augen strahlten. Das war ihr erster Hinweis. »Datchu«, wiederholte sie das Wort von gestern Nacht. »Sind Sie das?« 220
»Meine Frau und ich nennen sie immer noch Kola T’sana«, antwortete der Captain. »Unser kleines Kind. Endlich kommt es wieder nach Hause.«
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11 Die Felszeichnungen FEBRUAR
Der Klon stolperte durch den fast kniehohen Schnee Richtung Osten. Er floh durch die Canyons, weg von der Sonne, hinaus in die Wildnis. Seine Sachen hingen in Fetzen an ihm herunter. Sein Blut dampfte in der eiskalten Luft, färbte den weißen Schnee rosa und hinterließ eine Spur, die ebenso vergänglich und unauslöschlich war wie die Geschichte eines Lebens, oder eines Lebens nach dem Tode oder was auch immer das hier war. Er hätte sich eigentlich denken können, dass die silbernen Spiralen, die ihre Stadt umgaben, Dornen so scharf wie Messer hatten. Es war eine unnatürliche Stadt, voller scharfer Kanten. In seinem Land bauten die Schäfer manchmal Einfassungen aus Dornensträuchern für die Nacht. Hier waren sogar die Büsche aus Eisen. Er hätte sich beim Losreißen fast gehäutet. Fürs Erste jedoch war er ihnen entkommen. Auf beiden Seiten dieses Wadis ragten steil Tafelberge auf. Hier unten gab es keine Sonne. In der Ferne lockte irgendeine Wüste; wo sie hinführte, wusste Gott allein. Er hatte noch nie Schnee mit eigenen Augen gesehen, er war schrecklich für ihn, zwar kalt und schön, aber trügerisch. Unter der glatten, weichen Oberfläche lagen Steine, die ihn aus dem Gleichgewicht brachten und stürzen ließen. Das Weiß versprach Reinheit, und doch war der 222
Wald, durch den er kam, schwarz und verkohlt. Die Bäume ragten wie Speere auf. Einmal grub er sich zum Boden durch und fand auch die Erde versengt vor. Er kratzte in dem Loch herum, doch der Boden bestand nur aus trockener und unfruchtbarer Asche. Der Himmel war grau. Es war wirklich ein Land der Toten. Bei jedem Blick zurück sah der Flüchtling, wie er seine Flucht in den Schnee gemalt hatte. Wenn sie wollten, konnten sie der Spur seines Blutes folgen. Das wäre passend, denn sie waren hinter seinem Blut her. So war es von Anfang an gewesen – in seinem vorigen Leben und jetzt auch in diesem. Ihre Nadeln hatten ihm das Blut ausgesaugt. Die Abstände zwischen ihren Heimsuchungen hatten ihm als Zeitmaß gedient. Ihre Nadeln hatten nur ein bisschen gestochen, aber er war der Vergewaltigung seines Körpers überdrüssig geworden. Wobei ihm sein Fleisch und Blut ja keineswegs gehörte. Ob es ihm gefiel oder nicht, er gehörte dem alles verschlingenden Universum. Aber in seinem vorigen Leben hatte er sich wenigstens mit einer gewissen Freiheit darbringen können. So schrecklich sein Tod auch gewesen war, so hatte er doch in hohem Maße an der Zerstörung seines Körpers teilnehmen können. Diese neuerliche Gefangenschaft machte ihn dagegen zu nicht mehr als einem Tier. Seine Adern wurden für ein Blutopfer nach dem anderen angezapft. Seine Wärter hatten ihn in diesem metallenen Leben nach dem Tod Tag und Nacht eingesperrt. Metallene Löcher entsorgten seinen Kot und seine Pisse. Metallene Rohre versorgten ihn mit Trinkwasser … Wasser, das nach Metall schmeckte. Sogar das Licht hielt man in Glaskugeln und Metallkäfigen gefangen. Die Unterwelt war also doch kein Schattenreich. Wohin er sich auch gewendet hatte, überall hatte er auf den Metallwänden sein eige223
nes Spiegelbild erblickt. Er wusste, dass er sich im Jenseits befand, denn er war gestorben. Erstaunlicherweise gab es nicht den geringsten Beweis für seinen Tod, keine Narben, keine Spuren einer Beerdigung, nur seine Erinnerung. Seitdem er hier aufgewacht war, war die Erinnerung so stark geworden, dass sie alle anderen Erinnerungen zu verzehren begann. Nach und nach vergaß er seine Familie, seine Kameraden, sein Land. Der blaue Himmel, der Geschmack von Brot, der Gesang der Frauen: tausend Dinge waren einfach verblasst. In seiner eigenen Finsternis hatte er sich verloren. Diese Hölle, diese Finsternis, hatte er sich selbst eingebrockt. Denn er hatte Gott im Stich gelassen. Zuerst hatte ihn Gott verlassen, darüber konnte er nicht hinwegkommen. Nach so viel Liebe und Hingabe hatte er Schande und Leid erdulden müssen. Er hatte protestiert. Was für ein Vater war Er denn? Aber diesen Gedanken auch nur zu denken … das war seine Sünde. Im Vergleich zu der Erinnerung an seinen grausamen Tod waren der Schnee, die Schnittwunden und die schreckliche Verwirrung beinahe eine willkommene Abwechslung. Erst jetzt, auf seiner Flucht, hatte er endlich die Grenze ihres Reichs erblickt. Die ganze Stadt war aus Metall und Glas und Draht erbaut. Eiszapfen hingen wie Wolfszähne herab. Die Straßen bestanden aus finsterer Nacht. Und das Licht! Was für ein Licht! Ihre Macht war fürchterlich. Sie hatten die Geheimnisse der Erde entschlüsselt und Eisen dazu gebracht, Silber zu werden, Glas dazu, in hohen Scheiben zu wachsen. Trotzdem hatte ihn der Anblick ihrer gefrorenen Stadt auf eine seltsame Art getröstet. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass das Leben nach dem Tode ein Universum ohne Geschichte war, eine Strafe ohne Vergangenheit oder Zukunft, dass er auf ewig im 224
Auf- und Zugehen seiner Metalltür und den endlosen Blutabnahmen gefangen war. Der Anblick ihrer Stadt hatte sein Gefühl von Fortschritt wiederbelebt. Er sah, dass es die Zeit noch gab. Die Generationen marschierten weiter. Zu seiner Zeit hatten die Söhne der Finsternis in sagenumwobenen Städten aus Marmor gelebt. Aber das hier waren die Söhne des Lichts. Vielleicht hatten sie den großen Krieg gewonnen. Alle Völker Adams waren hier versammelt, jede Hautfarbe, jede Augenform. Auch das war ein Wunder für ihn, wie aus den Stämmen der Erde ein einziger geworden war. Es war wie Rom, aber doch nicht wie Rom. Sie waren seine Feinde, aber sie waren keine Teufel, so wie auch die Römer keine Teufel gewesen waren. Das war die schreckliche Wahrheit. Seine Wächter hassten ihn nicht. Als er sich losgerissen hatte und davongerannt war, hatten sie ihm hinterhergebrüllt, und er hatte in ihren Gesichtern Angst gesehen, keinen Hass. Teufel hätten keine Angst gehabt. Das hier waren ganz normale Menschen. Er hatte sie erschreckt, weil er für sie ein Moment des Chaos bedeutete. Er war wie ein Löwe, der sich in ihrer Mitte losgerissen hatte. Ihm wurde klar, dass die schrecklichen Dinge, die sie ihm antaten, keine Bestrafungen waren. Für sie war er einfach nur ein wildes Tier. Er lauschte zitternd nach Verfolgern. Sein heißer Atem rauchte in der Luft. Aber da war niemand. Alles, was er hörte, waren seine eigenen Lungen und sein Herzschlag. In diesem Wald sangen keine Vögel; es gab keine. Die Sonne schien nicht; es gab keinen Himmel. Er blickte hinauf in die große, graue, leere Kuppel, in der das Licht schwand. Es wurde Nacht. Eine winzige Hoffnung glomm in ihm auf. Vielleicht gaben sie die Verfolgung auf. Diese Aussicht trieb ihn tiefer in den Canyon hinein. Er sehnte sich nicht nach Freiheit, sondern nach Verbannung. 225
Wenn sie ihn in dieser toten weißen Wüste umherwandern ließen – er wollte die Strapazen mit Freuden ertragen. Sein Verlangen war ein Hunger, der stärker war als der Schmerz in seinem Magen. Mit ganzer Seele wollte er noch einmal von vorne anfangen. Er würde Brennnesseln essen und bei den Schlangen schlafen und seine Wunden mit Sand waschen. Alles, um wieder in den großen Kreislauf seines Volkes eintreten zu können: Gefangenschaft, Verbannung, Erneuerung. Vater, betete er. Vergib mir. Er hatte immer versucht, seine Pflicht zu erfüllen. Er war seinem Herzen gefolgt. Er hatte gefastet. Er hatte die Schritte getan, von denen er glaubte, sie seien in die Erde geschrieben worden, damit er ihnen folgte. Und dieser Schnee war genau wie die Wüste, ohne Spuren und gleichzeitig voller Pfade. Gib mich verloren, damit ich gefunden werden kann. Rette mich aus der Hand meiner Feinde. Hoch über ihm, am Rande der Klippe, tauchte ein Dorf auf. Er blieb im Schnee stehen, halb überzeugt davon, ein Trugbild vor sich zu haben, das ihn quälen sollte. Von unten konnte er nur die Spitzen der Gebäude erkennen. Sie waren verfallen. Aber sie sahen wie eine Zuflucht aus. Derlei Orte waren ihm nicht fremd. In Qumran und an anderen Stellen entlang der Uferzonen des Flusses und des Meeres waren Höhlen seine zweite Heimat gewesen. Deshalb erkannte er auch sofort die schmalen in den Fels gehauenen Nischen. Er wischte den Schnee von den Stufen. Sogleich fügten sie sich zu einer steilen Treppe, die zu einem Felsvorsprung dreißig Meter weiter oben führte. Der Vorsprung schlängelte sich um die Felswand, stieg leicht an und führte dann ungefähr auf halber Höhe zwischen dem Boden des Canyons und dem Plateau weiter. Der Vorsprung endete abrupt. Hier stand das Dorf. Es war verfallen, alle Dächer fehlten, die Fensterhöhlen wa226
ren leer. Es war größer, als es von unten ausgesehen hatte, und auch wesentlich älter. Hier hatte seit vielen Generationen niemand mehr gelebt. Trotzdem waren die maroden Wände gepflegt, teilweise repariert und frisch verputzt worden. Offensichtlich hatte das Alter des Dorfes eine besondere Bedeutung. Warum hätte sich sonst jemand die Mühe machen sollen, die eingefallenen Wände wieder instand zu setzen? Hier waren die Schlafquartiere und die Feuerstellen gewesen. Rinnen im Stein dienten als Trinkwasserleitungen. Tief unter sich, von hier oben deutlich zu erkennen, sah er Terrassenmulden, auf denen man natürlich die Felder angelegt hatte. Wenn der Ort ein Vorposten gewesen war, so wie Masada einer wurde, wo war dann die Straße, die er kontrollierte? Warum eine Festung in dieser abgelegenen Schlucht? Blieb die andere Möglichkeit, dass die Abgelegenheit gerade den Anreiz ausmachte. Vielleicht war das hier, wie Qumran, die Zuflucht einer ha-Edah, einer religiösen Gemeinde gewesen. Aber auf den ersten Blick sah es eher nach einem normalen Bauerndorf als nach einer Festung oder einem Kloster aus. Er lief zwischen den Ruinen umher und versuchte, die Kälte und die schmerzenden Wunden so lange wie möglich zu ignorieren. Es würde eine lange, schreckliche Nacht werden, denn er hatte keine Decke und nichts zum Feuer machen. Auch gab es keine Zweige, mit denen er sich zudecken konnte. Sobald er sich hinlegte, würden ihm seine Schnittwunden und der gefrorene Boden den Rest geben; seine Glieder würden steif werden; unbekannte Tiere konnten in der Dunkelheit auftauchen. Bis zum Morgengrauen konnten ihn seine Peiniger schon gefunden haben. Nein, solange es noch hell war, musste er auf den Beinen bleiben. So stieß er auf die Felszeichnungen. 227
Der Wind und mutwillige Zerstörung hatten sie an den ungeschützten Stellen ausradiert, andere lagen unter einer Schicht Schnee. Aber weiter hinten in den Höhlen hatten frühzeitliche Hände an verborgeneren Stellen Tiere, geometrische Figuren und Strichmännchen in Wände und Steinbrocken gehauen oder in den schwarzen Ruß auf den Steinen geritzt. In ihnen wurde das Dorf zum Leben erweckt. Viele der Einzelheiten kamen ihm fremd vor: die gehörnten Tiere, die weder Ziegen noch Schafe waren; das Getreide, das kein Weizen war; die Löwen, die nicht ganz wie richtige Löwen aussahen. Und doch sprachen ihn die Zeichnungen direkt an. In den Schlangen und Vögeln erkannte er die Ehrfurcht vor Erde und Himmel. Die Spiralen führten nach innen … nicht nach außen in die Unordnung. Hier war ein Blitz zu sehen, und das war das Alphabet Gottes. Er hatte ähnliche Zeichnungen in den Höhlen seines eigenen Landes gesehen. Strichmännchen tanzten und jagten. Mystische Symbole sprangen ihn an, und er erkannte eine insektenartige Figur mit einem riesigen, abstehenden Phallus und einer Flöte. Das war der Hausierer, der Wanderer, der Verführer … das fruchtbare Herz. Für die Unvorsichtigen konnte er der Teufel sein. Aber unter den richtigen Umständen, wenn einen das Glück begünstigte, konnte sein Lied das des Propheten sein, die unverfälschte Essenz der göttlichen Eingebung. Schließlich übermannten ihn Schmerz und Erschöpfung: Der Flüchtling fing an zu wanken. Zu seinen Füßen färbte sich der Schnee rot. Das Tageslicht schwand. Er suchte sich ein Haus, das in eine Höhle hineingebaut war, und verkroch sich in der hintersten Ecke. Hier drinnen gab es keinen Schnee. Mit letzter Kraft stapelte er ein paar Steine in die Türöffnung, dann lehnte er sich mit dem Rücken an 228
die Wand. Der Wind pfiff durch die Ritzen. Er hatte nichts zu essen und auch keine Ahnung, in welcher Richtung Osten lag. Trotzdem spürte er, wie seine Seelenqualen … von ihm wichen. Die Ruinen boten ihm mehr als nur einen Unterschlupf. Zum ersten Mal, seit er in diese trostlose Unterwelt hineingeboren worden war, hatte er das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Er träumte von seiner Mutter und seinem Vater, nur waren es keine Träume, weil sein Schlaf kein Schlaf war. Erschöpft von der Kälte und sein Leben ausblutend entschwand er langsam ins Delirium. Es war, als würde er zu Stein gefrieren. Am Morgen fanden ihn ihre Soldaten. Er hörte ihre Stimmen. Tageslicht drang durch die Ritzen in der Wand. Keiner Bewegung mehr fähig, konnte er nur zusehen, wie sie die Steine aus der Türöffnung rissen. Sie waren wie Tiere, die in sein Grab eindrangen.
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12 Das Waisenkind LOS ALAMOS MÄRZ
Miranda betrachtete das Waisenkind von dem abgedunkelten Beobachtungsraum aus. Das Mädchen saß im Schneidersitz und mit dem Gesicht zur gegenüberliegenden Wand. Die Kleine war sehr ruhig an diesem Morgen. Man hatte ihr – mit Gewalt – einen pinkfarbenen OshkoshOverall angezogen. Rings um sie herum lagen kaputte Spielsachen auf dem Boden. Neben einem Knie stand eine Babytasse mit Orangensaft. Seit Elises Tod war Miranda zu einem unsichtbaren Teil der Welt des kleinen Mädchens geworden. Zwei Mal am Tag, ganz egal, wie eng ihr Terminplan im Labor auch war, kam sie vorbei, um die Vierjährige zu beobachten. Der Anblick tröstete sie. Es erinnerte sie an verschiedene Dinge. So wie sie jetzt, war auch Elise immer in Mirandas Nähe gewesen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie war ihr so nahe gekommen, wie sie es gewagt hatte. In gewisser Hinsicht hatte Miranda das Gefühl, das ihr erwiesene Entgegenkommen weiterzugeben. Sie fragte sich, ob sie Elise genauso rätselhaft vorgekommen war wie ihr jetzt dieses namenlose Kind. Das Zimmer selbst betrat Miranda nie. Zum einen war das Kind eine zu große Gefahr für sich und andere geworden, zum anderen wollte sie ihre Fantasievorstellung von 230
einer besonderen Verbindung zwischen ihr und der Waise nicht zerstören. Es war ein freundliches Zimmer, das immer noch in den Designerfarben leuchtete, die die Nationalgarde nach den Aufständen in Albuquerque im Oktober konfisziert hatte, und die hier literweise verstrichen worden waren. Freiwillige hatten lustige gelbe Sonnenblumen auf die himmelblauen Wände gemalt. Ein großer Regenbogen wölbte sich über die Stahltür. An vielen Stellen war die Farbe allerdings vom Wasserstrahl und den Desinfektionsmitteln ausgebleicht. Aber man konnte immer noch erkennen, was es sein sollte: das kleine Reich eines kleinen Mädchens. Das Fenster – aus Panzerglas, damit sie es nicht zerstören konnte – zeigte nach Osten, auf die verschneiten Jemez Mountains. Davor stand ein rotblaues Bett mit einer Winnie-Puh-Decke, die sie innig liebte. In der Ecke das Töpfchen. Ein Mobile aus rosa Kammmuscheln hing von der Decke. Wissenschaftler und Soldaten mit eigenen Kindern zu Hause hatten Spielzeug gespendet. Es ließ sich nicht leugnen, dass man alles versucht hatte, um dieses wenig liebenswerte Kind zu lieben. Eine Weile war die Waise so etwas wie eine Berühmtheit gewesen, etwas, das von der Seuche ablenkte. Wie Miranda waren auch andere in ihrer Mittagspause vorbeigekommen, um im Beobachtungsraum zu sitzen und ihre Sandwiches zu essen, während sie spielte, ohne der Zuschauer gewahr zu sein. Vergangene Weihnachten hatten sich Zweitklässler unter ihrem Fenster versammelt und Weihnachtslieder gesungen. Die Kinder hatten einen Namenswettbewerb veranstaltet, bei dem Hunderte von Vorschlägen eingegangen waren, von Britney über Madonna bis zu Ice. Aber nichts wollte so richtig passen. Schließlich taufte man sie Sin Nombre. Ohne Namen. Sie war launisch, aber ungeheuer begabt für eine Vier231
jährige. Sie staunten über die Fähigkeiten ihrer rechten Hirnhälfte. In einem Alter, in dem andere kaum Linien nachzeichnen konnten, malte sie die Zitterpappel vor ihrem Fenster, mit zehn verschiedenen Buntstiften. Sie malte jeden Tag den selben Baum, aber immer anders; sie änderte ihre Farben, den Stil, die Größe des Baums, die Stimmungen. Auf manchen Bildern waren Blätter, auf anderen kahle Äste, auf manchen bestand das Laub auch aus kleinen Sonnen oder Flammen oder Vögeln. Niemand wusste, wo sie schon einmal Flammen gesehen hatte. Als erinnerte sie sich an die brennenden Kerzen der singenden Zweitklässler. In letzter Zeit hatte sich eine Figur in ihre Bilder geschlichen, die meistens unter dem Baum saß. Am Anfang war es ein Strichmännchen, was in diesem Alter schon beachtlich war. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit, innerhalb einer guten Woche, bekam die Figur Finger und ein Gesicht mit unproportionierten Zügen. Es war Miranda, die schließlich hinter die falschen Einzelheiten kam. Ohne einen Spiegel hatte das Mädchen ihr eigenes Gesicht abgetastet und es auf das Papier übertragen. Das Kind malte Selbstporträts. Ihr Selbstbewusstsein war umwerfend. Sie verglichen sie mit Picasso. In letzter Zeit hatte sich das geändert. Vor einem Monat hatte der Zusammenbruch angefangen. Das Kind zerfetzte seine Kleidung. Immer wieder waren die Wände mit ihren Fäkalien und ihrem Urin verschmiert. Von dieser Seite der Glasscheibe aus, von dem Gestank abgeschirmt, erkannte Miranda die Schönheit und die Rätselhaftigkeit, die das Durcheinander der Handabdrücke und der schokoladenbraunen Kritzeleien barg. Andere sahen nur neurotisches Verhalten oder Schlimmeres. Die öffentliche Meinung wandelte sich. Das Kind, so schien es, war letztendlich doch nur ein Monstrum. In den 232
folgenden Wochen gab es weitere widerliche Vorfälle. Das Mädchen kratzte sich das Gesicht und die Gliedmaßen blutig, ehe sie es überwältigen und ihm seine sowieso schon kurzen Fingernägel schneiden konnten. Es aß seine Buntstifte, fiel einen Pfleger an. Ihr kleiner Picasso war dem Wahn verfallen. Das Mittagspausenpublikum erwies sich als unzuverlässig, zumindest zartbesaitet. Ihr Absturz in den Wahnsinn – falls es das war – hatte keinen großen Unterhaltungswert. Schon bald bestand das Publikum nur noch aus einer Person. Miranda gefiel es so besser. Sie konnte allein dasitzen, nachdenken und ihre eigenen Schlüsse ziehen. Aber sie konnte sich keinen Reim auf den Verfall des Mädchens machen. Warum hatte sich ihr Zustand so plötzlich verschlechtert? Hatte sie irgendetwas Verstörendes durch ihr Fenster gesehen? War einer der Pfleger grob zu ihr gewesen? Währenddessen suchte Miranda nach Anzeichen rudimentärer Erinnerung, irgendetwas, das das Findelkind mit seiner Neandertalervergangenheit verband. Vielleicht setzte bei dem Kind die Erinnerung an Dinge ein, die sich vor 30 000 Jahren ereignet hatten. Trotzdem widersprach das Mirandas Theorie der Erinnerung. Das Mädchen war als Säugling geboren worden, nicht wie die anderen Klone als fertiger Erwachsener. Bei der Entwicklung ihres Sprachvermögens hätten ältere Erinnerungen überlagert oder verdrängt werden müssen. Ihrer Theorie zufolge war das Mädchen eine Tabula rasa, zumindest fast, bei der moderne Erinnerungen die ursprünglichen überschrieben. Miranda blieb ihr treu, erkannte sie sich doch in der Einsamkeit des Mädchens wieder. Bei ihr wurden keine Spielzeuge gehortet, wie es bei Geschwisterkindern der Fall war. Sie war ein Einzelkind. Obwohl ihre Verspieltheit nach und nach verkümmert war, hatte sie vor einem Monat ihre Spielsachen in Reih und Glied geordnet und 233
komplizierte Spiele mit ihnen gespielt. Ihre Barbies waren freundlich zueinander und unterhielten sich leise. Auf Englisch. Linguisten hatten behauptet, das Kind würde niemals zur menschlichen Sprache fähig sein. Aufgrund ihrer Forschungen an Zungenbeinen und Kieferknochen von Neandertalern hatten sie prophezeit, ihr fehlten die stimmlichen Voraussetzungen, um Vokale wie z, i und u oder harte Konsonanten wie k und t zu bilden. Die kleine Sin Nombre hatte ihre Vorhersagen einfach ignoriert und ihr Alphabet mit Begeisterung aufgesagt. Alles war so gut gelaufen. Und dann plötzlich diese neue, verteufelte Phase. Die zerstörten Spielsachen. Das Schweigen und das In-sich-Zurückziehen. Als erster Klon, der je geboren wurde, betrachtete man das Kind als Indexfall. Sein Verfall wurde zum Diskussionsthema. Vielleicht wurden Klone mit der Zeit einfach verrückt. Die Flucht des »Jahr Null«-Klons, die sich erst vor kurzem ereignet hatte, verstärkte diesen Eindruck noch. Für viele, die Forschungen an anderen Klonen betrieben, war es eine Erleichterung. Es bedeutete, dass die Klone bei aller Ähnlichkeit mit den Menschen eben doch anders waren, eher wie Maschinen, deren Teile schneller kaputtgingen. Die Tür zum Beobachtungsraum öffnete sich. Der Geruch von Knoblauch drang ein. Miranda blickte auf und sah Ochs. Kein gutes Zeichen. Man nannte ihn den Sensenmann. Cavendish benutzte den Riesen zum Überbringen und zur Umsetzung schlechter Nachrichten. Im Lauf der Geschichte hatte sich noch jeder Thron auf solche Gefolgsleute gestützt. Ochs trug eine große, aus Türkis gefertigte Gürtelschnalle aus einem der Pueblos. Er redete nicht lange drum her234
um. »Der Rat hat abgestimmt«, sagte er und schüttelte langsam den Kopf, als wäre es seine traurige Pflicht. »Sie muss weg.« Miranda hatte sich ihre Reaktion gut überlegt. Sie war immer darum bemüht, niemals die Vorgesetzte herauszukehren. Aber hier musste etwas unternommen werden. »Ich werde mit meinem Vater darüber reden«, erwiderte sie. »Das hat Dr. Cavendish bereits getan«, sagte Ochs. »Ihr Vater hat die absolute Autorität des Rates bestätigt. Ihr Gesuch wurde diskutiert und abgelehnt. Damit ist die Sache erledigt.« Der Rat: elende Bürokraten. »Sie hat etwas Besseres verdient.« »Tut mir Leid.« Von wegen. Aber es spielte keine Rolle, er war lediglich der Überbringer der Nachricht. Es hatte keinen Zweck, mit ihm zu diskutieren. Miranda versuchte es trotzdem. »Sie ist noch nicht mal vier, um Himmels willen.« »Ein wildes Kind«, sagte Ochs. »Autistisch. Gewalttätig. Auch in anderen Zeiten hätte man sie in eine Anstalt eingewiesen.« »Da ist sie doch schon«, entgegnete Miranda. »Mit eigenem Pflegepersonal und einem Zimmer mit Aussicht. Wir können uns diesen Aufwand nicht mehr leisten«, sagte Ochs. Wir, dachte Miranda bitter. Das Cavendish-Regime. »Etwas hat sie verändert«, sagte sie. »Etwas von außen. Es ist nicht ihre Schuld.« »Das spielt keine Rolle mehr. Sie haben die DNAErgebnisse gesehen. Sin Nombre ist eine genetische Sackgasse. Wir müssen die Arbeitskräfte und den Platz freima235
chen. Das Heilmittel hat Vorrang.« Das war inzwischen zu einem Schlachtruf geworden. Das Heilmittel hat Vorrang. Damit ließ sich alles rechtfertigen. »Sie ist unschuldig. Das ist nicht fair.« »Sie wird verlegt, mehr nicht.« »In einen Käfig unter der Erde.« »In Ihren Käfig. Sie kommt ins Alpha-Labor, in Ihr Gebäude, in Ihren Zuständigkeitsbereich. Dort können Sie sie sehen, ohne den weiten Weg hierher machen zu müssen.« Ochs lächelte sie an. Seit Elises Tod hatte Miranda darum gekämpft, den Komplex mit der Bezeichnung »Technischer Bereich Drei« als sicheren Zufluchtsort vor Cavendishs Strategie des »Jeder gegen Jeden« zu bewahren. Er predigte Konkurrenz statt Kooperation. Den Kampf der Ideen. Nach nur wenigen Monaten zeigte Los Alamos, von Cavendish mit der Peitsche angetrieben, die ersten Risse. In den Labors nahmen die Auseinandersetzungen zu, kleine Bürgerkriege in dem großen Bürgerkrieg, der Los Alamos National Laboratory hieß: Wutausbrüche, Schreianfälle, es wurde angebrüllt, schikaniert, intrigiert. Experimente wurden sabotiert. Miranda tat, was sie konnte, um Cavendishs »Kampf«Theorie entgegenzuwirken. Trotz gewisser Unterschiede waren die Labors und Forscher keine Gegenspieler. Verzweiflung und Schuldgefühle hießen ihre Feinde, ihr Schreckgespenst hörte auf den Namen Frustration. Die Nation – die ganze Welt – setzte ihre Hoffnungen auf ihre Genialität, und sie enttäuschten sie. Ihr Schmerz war wie eine offene Wunde, die Selbstmordrate stieg stetig an. In den letzten Wochen hatten sich wieder fünf Wissenschaftler das Leben genommen, zwei hatten dabei auch ihren Familien »geholfen«. Alkoholismus und Drogenmiss236
brauch nahmen zu, und das bei Männern und Frauen mit den höchsten Sicherheitsstufen. Und die Kirchen wurden immer voller. Eigentlich ging die Religion niemanden etwas an. Los Alamos war schon immer ziemlich religiös gewesen, aber es ließ sich nicht leugnen, dass die Wissenschaftler den Glauben an die eigene Wissenschaft verloren. Zuerst hatte Miranda sich vorzustellen versucht, was Elise getan hätte, und danach gehandelt. Sie ging von Labor zu Labor und predigte Kooperation. Sie brachte die Streithähne dazu, sich die Hände zu reichen, und buchstäblich Hand in Hand ihren Krieg gegen das Virus zu führen. Sie vermittelte. Sie fand eine gemeinsame Basis. Sie organisierte Feten nach der Arbeit. Eine Weile schien es zu funktionieren, doch dann flammten die Meinungsverschiedenheiten erneut auf. Wieder schnappte man sich gegenseitig Vorräte oder Chemikalien weg, wieder wurden Mitarbeiter abgeworben, wieder wurden ohnehin Ideen abgekupfert, wieder gab es Streitereien am Arbeitsplatz. Und Cavendish führte wieder seine mitternächtlichen Deportationen durch. Die Liste war endlos. Schließlich hatte Miranda aufgegeben und sich hinter die Mauern ihres friedlichen Alpha Labors zurückgezogen. In letzter Zeit wollte sie von all dem Elend nichts mehr hören und sehen, wollte sich nur noch um ihre eigenen Leute kümmern. »Aber Sie nehmen ihr die Sonne weg.« »Es gibt Schlimmeres.« Das stimmte. »Sie haben geholfen, sie zu erschaffen. Ist Ihnen das völlig egal?« »Sie ist ja nicht aus Adams Rippe entstanden. Ich habe nur den Kieferknochen geliefert.« Ochs musste über seinen eigenen Witz grinsen. »Sie nehmen sie zu wichtig. Es gibt sie, aber sie existiert nicht. Sie ist nichts anderes als 237
ein Irrtum.« Miranda funkelte ihn erbost an. »Wo hat Cavendish Sie bloß aufgetrieben?« »In der Welt, Dr. Abbot.« Ochs zeigte zur Tür. »Sie sollten jetzt gehen.« Was machte es schon aus, wenn sie sich nicht verabschieden konnte? Sie hatten sich ja nicht einmal begrüßt. Das Mädchen wusste nicht einmal, dass es Miranda gab. Die Stahltür unter dem Regenbogen ging auf. Vier Männer mit Helmen, Schulterpolstern und Plexiglasschilden betraten den Raum. Einer hatte einen Stock mit einer Spritze am anderen Ende dabei, wie man sie zum Betäuben von wilden Tieren benutzte. Sie bauten sich hinter dem Kind auf. »Das ist nicht nötig«, sagte Miranda. »Die wissen, was sie machen.« Der Mann mit dem Stock stach dem Mädchen die große Nadel in den Oberschenkel. Das Kind reagierte nicht, im Gegensatz zu Miranda. »Ich muss da rein!«, erklärte sie. »Lassen Sie diese Leute ihre Arbeit machen.« Sie versuchte vergeblich, sich an Ochs vorbeizudrängen. »Ihr Vater meinte, Sie kommen schon darüber hinweg«, sagte Ochs. »Er meinte, das sei schon immer so gewesen.« Sie drehte sich um und sah das Mädchen immer noch aufrecht vor der Wand sitzen. Der Mann stieß sie mit dem Griff der Lanze an, und sie fiel in sich zusammen.
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13 Das Meer MÄRZ
Sie hielten den ausgemergelten Amerikaner für verflucht. Nathan Lee dachte das Gleiche von ihnen, seinen Mitpassagieren auf dem Fischtrawler Ichotski. Aber sie waren aus gänzlich anderen Gründen verflucht, denn während seine Augen dunkel vor Exkommunikation waren, leuchteten die ihren vor Glaubensfestigkeit. Und genau das würde sie umbringen. Es waren 43 chinesische und russische Flüchtlinge, die meisten von ihnen Familien. Wie er, so hatten auch sie dem Kapitän und seiner Mannschaft ein kleines Vermögen bezahlt, doch keiner von ihnen schien zu begreifen, dass die Ichotski eine Todesfalle war. Sie hatten sich auf einem Schlachthof eingeschifft. Natürlich hatten sie keine andere Wahl gehabt. Die Küstenstädte waren polyglotte Alpträume, von Asiaten und Russen auf der verzweifelten Suche nach einer Schiffspassage nach Nordamerika hoffnungslos überlaufen. Entweder man zahlte, oder man blieb zurück. Nathan Lee zählte neunzehn Kinder unter den Passagieren. Er zählte die Frauen, zählte die Männer – und verglich sie mit der Mannschaft, die nur wenige Männer zählte. Aber die trugen Pistolen. Vielleicht, wenn mehr Männer unter den Flüchtlingen gewesen wären … aber das war nicht der Fall. Ihr Schicksal war besiegelt. Nachdem er das entschieden hatte, blieb Nathan Lee für sich und weigerte 239
sich, mit irgendjemandem zu sprechen, selbst wenn sie es mit ein paar Worten Englisch versuchten. Sie fingen an, ihn als Omen zu betrachten, das zusammengekauert im Bug saß. Das Meer im März war grau und unruhig. Um mehr Platz für Passagiere zu schaffen, zog der Trawler sein Rettungsboot an einem 15 Meter langen Tau hinter sich her. Es war nur ein einfaches Ruderboot, ebenso heruntergekommen wie der Trawler. Eine darüber gespannte Plane aus Leinwand hielt das Wasser draußen. In dem mit Schäfchenwolken überzogenen Himmel klafften schwarze und eitriggelbe Risse. Die Mannschaft wartete ein paar Tage, bis das schlechte Essen, die Kälte und die Seekrankheit ihre Opfer geschwächt hatten, bevor sie über sie herfielen. Drei Frauen wurden unter Deck gebracht. Alle konnten ihre Schreie hören, aber selbst ihre Ehemänner blieben mit versteinerten Gesichtern sitzen und unternahmen nichts zu ihrer Rettung. Nathan Lee sah, wie schockiert die Flüchtlinge waren, als ihnen klar wurde, dass sie Gefangene waren. Trotzdem schienen sie zu glauben, es würde am Ende alles gut werden, die Vergewaltigungen die Seeleute zufrieden stellen. Die Küste Alaskas war nur noch drei Tage entfernt. Am Morgen brachte man nur zwei der Frauen zurück an Deck. Der Mann der fehlenden Frau stand auf, um zu protestieren, aber ein riesiger, mit Narben übersäter Seemann schlug ihn ins Gesicht. Wieder schöpften die Flüchtlinge Hoffnung. Schließlich hatte ihn der Matrose nur geschlagen und nicht umgebracht. Drei weitere Frauen wurden die Treppe hinuntergebracht. Nathan Lee überprüfte stündlich in aller Heimlichkeit seinen Kompass. Der Trawler befand sich immer noch unterhalb des Polarkreises auf östlichem Kurs. Wahr240
scheinlich würde er schon bald kehrtmachen und zur russischen Küste zurückfahren. Die Wende würde langsam und unmerklich erfolgen. Die Passagiere würden nicht mal bemerken, dass sie die Richtung gewechselt hatten. Genau zu diesem Zeitpunkt würde er sich davonmachen. Am Nachmittag wurden sie von den betrunkenen Seeleuten ausgeraubt. Die entsetzten Passagiere öffneten Koffer und Kisten und gaben ihnen ihre letzten Wertsachen. Auch Nathan Lee rückte alles heraus, bis auf ein Messer, das er an den Fußknöchel geklebt hatte, seinen Kompass, den er in Erwartung dieses Vorfalls bereits unter der Reling am Bug versteckt hatte, und seinem Buch, das er zum Schutz gegen das Spritzwasser in Plastiktüten verpackt hatte. »Es ist ein Buch. Nur ein Buch«, sagte er auf Englisch. Der Matrose nahm es und betrachtete die handgeschriebenen Seiten mit den Zeichnungen und Aquarellen. Er war 25 Kilo schwerer als Nathan Lee und stand in der lässigen Körperhaltung eines Straßenkämpfers vor ihm. Nathan Lee blieb nichts anderes als abzuwarten. Der Pirat blätterte ein paar Seiten um und stieß auf die tibetische Gebetsfahne. Er hielt das Stück Stoff hoch und betrachtete das Pferd und die Gebetszeilen. Aus welchem Grund auch immer behielt er die Fahne und gab Nathan Lee das Buch zurück. Als sie ihren Raubzug abgeschlossen hatten, schlugen die Seeleute einigen Männern mit ihren Pistolen ins Gesicht und wollten eine weitere Frau mitnehmen. Ihr kleiner Sohn klammerte sich an sie. Niemand unternahm etwas. Niemand versuchte das Kind zu retten, auch Nathan Lee nicht. Der Junge wollte seine Mutter nicht loslassen. Plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, packte ihn einer der Piraten und schleuderte ihn ins Meer. Die Mutter schrie, fuchtelte mit den Armen und schlug auf die Seeleute ein, aber die lachten nur und zogen sie in den dunklen Frachtraum. Die Flüchtlinge starrten hinaus zu dem kleinen Jungen 241
im Meer. Es war erstaunlich, wie lange er sich über Wasser hielt. Nach fünf Minuten entschwand er ihren Blicken. Dann, weit entfernt, wurde der Kopf des kleinen Jungen von der Dünung hochgehoben. Er schaute immer noch dem Schiff nach und wartete artig. Nathan Lee setzte sich wieder an seinen Platz im Bug. Wenn es Grace gewesen wäre? Wenn das Mitleid eines Fremden ihre einzige Hoffnung gewesen wäre? Es hätte ihn das Leben gekostet, wenn er sich eingemischt hätte. Die ganze Nacht sah er das Bild des kleinen Jungen vor sich, wie er auf den Wellen trieb. Alaska war noch zwei Tage entfernt, als der Trawler zu wenden begann. Nathan Lee versuchte nicht, seine Mitflüchtlinge zu warnen. Die Farce einer Überfahrt näherte sich ihrem Ende. Es war viel zu spät, irgendjemand anderen außer sich selbst zu retten. Und selbst dafür konnte es schon zu spät sein. Die Seeleute kamen kurz vor Einbruch der Dunkelheit wieder. Diesmal waren sie blutverschmiert. Keine der Frauen kehrte zurück. Nathan Lee sah den Schlosserhammer in der Hand eines Schlächters. Der Mann versuchte nicht erst, ihn zu verbergen, als er zum Heck des Schiffs ging. Ein Matrose in einem gestreiften T-Shirt bedeutete dreien der Männer, ihm zum Heck zu folgen. Gehorsam marschierten sie in einer Reihe an dem Ruderhaus vorbei und entschwanden den Blicken der anderen. Es dauerte nur ein paar Minuten. Keine Schreie, keine Schüsse, kein Aufklatschen im Wasser war zu hören. Der Matrose kam zurück und suchte die nächsten drei aus. Er verhielt sich sehr freundlich. Nathan Lee hob den verzweifelten Blick zum Himmel. Die Sonne ging nicht schnell genug unter. Der Seemann kam wieder und führte eine Familie um 242
den Aufbau herum. Einige der Flüchtlinge fingen an zu weinen, aber ganz leise, als wäre es unhöflich. Familien umarmten sich. Sie hielten sich an den Händen, wenn sie an der Reihe waren und nach hinten gingen. Eine Mutter hatte ihren Säugling dabei, ein Bündel in einer Steppdekke. Nach und nach dezimierten die Piraten die Zahl ihrer Passagiere. Alles lief völlig geordnet ab. Der Matrose gab ein Zeichen und die nächste Gruppe ging. Schon bald waren nur noch zwanzig Menschen an Deck. Jetzt oder nie. Die Nacht konnte ihn mal. Nathan Lee legte seine wattierte Jacke ab und kniete sich hin, um sich die Stiefel aufzubinden und das Messer an seinem Schienbein zu lösen. Alle Flüchtlinge starrten zum Heck des Schiffes. Niemand sah, wie er, die Tasche über der Schulter und das Messer zwischen den Zähnen, über die Reling glitt. Er ließ sich bis zur letzten Querstrebe hinunter. Seine Füße berührten die Wellenspitzen. Dann ließ er los. Er ging unter und tauchte, geschockt von der Kälte, wieder auf. Einundzwanzig, zählte er und biss mit seinen Zähnen fest auf das Messer. Der Trawler wölbte sich wie ein prähistorischer Wal über ihm, sein Rumpf zog an ihm vorbei. Er hatte mit dem eiskalten Wasser gerechnet, mit dem salzigen Brennen in den Augen und dem unerbittlichen Gewicht seiner nassen Sachen. Trotzdem war er überrascht. Seine Berechnungen waren falsch. Die Tasche hatte sich auf seinem Rücken verdreht und drohte ihn zu erwürgen. Der Trawler rauschte vorüber. Das Schleppseil zum Ruderboot war viel zu hoch, als dass er es hätte fassen können. Seine Langsamkeit überwältigte ihn. Einen schrecklichen Augenblick lang schien es, als wür243
de das Ruderboot an ihm vorbeiziehen. Es blieb keine Zeit, den Fehler zu korrigieren. Er hatte den Bus verpasst. Dann schob sich das Meer zusammen. Nathan Lee versank in einem Wellental. Das Ruderboot stieg über ihm empor und schob sich ein Stück näher an den Trawler heran, das Tau erschlaffte ein wenig. Das Boot drehte nach links und tauchte in das Wellental. Der Bug schlingerte herum. Mehr brauchte Nathan Lee nicht. Der Rumpf stieß gegen seine linke Schulter, aber es gelang ihm, den Bootsrand zu ergreifen. Der Schutzbezug aus Persenning war steif wie Holz. Seine Finger rutschten ab. Er fingerte verzweifelt auf der Abdeckung herum, krallte sich mit den Fingernägeln daran fest. Es war, als versuchte er auf einem Nashorn zu reiten. Das Ruderboot bockte und schleuderte ihn herum. Er tauchte unter Wasser. Die Tasche zerrte an seiner Kehle, das Messer schnitt ihm in die Lippen. Er klammerte sich an der Bestie fest. Schließlich bekam er das Messer mit einer Hand zu fassen und stieß es verzweifelt in die Leinwand, sie riss auf, und er kämpfte sich mühselig ins Boot. Völlig erledigt lag er auf dem Rücken zwischen den Rudern und den Sitzbänken. Der ganze Kampf hatte kaum länger als eine Minute gedauert. Er schaute durch den Riss in der Leinwand hinaus und sog Luft in seine Lungen. Seine Handfläche blutete von der Messerklinge, seine nackten Füße waren blau. Das Ruderboot wurde von den rauen Wellen hin und her geworfen. Er drehte sich auf den Bauch, kroch weiter nach vorne und warf vorsichtig einen Blick auf den Trawler. Er war sich sicher, dass die Piraten mit gezogenen Pistolen an der Reling standen, doch stattdessen brachten sie gerade in 244
aller Ruhe eine Frau um. Ihren Kopf hatten sie über die Reling gestreckt, damit es keinen Dreck machte. Der Seemann mit dem Hammer holte aus und schlug ihr gegen den Kopf. In seinem Handeln lag keine Boshaftigkeit, er war nicht herzlos. Womöglich hielt er sich selbst für einen Gnadenengel, der ihnen die Qual des Ertrinkens ersparte. Die Frau sackte zusammen. Zwei Matrosen hoben sie über die Reling und ließen sie ins dunkle Wasser gleiten. Hinter ihnen stand eine Schlange Mädchen und Jungen. Nathan Lee zählte sieben, die wie unartige Kinder auf ihre Bestrafung warteten. Der Mann mit dem Hammer winkte das vorderste Kind zu sich. Nathan Lee zog den Kopf wieder zurück unter die Plane. Wie war es möglich, dass sie ihn nicht gesehen hatten? Seine Aktion war ihm spektakulär und heldenhaft vorgekommen. Direkt vor ihrer Nase hatte er sich durch die Wellen gekämpft und mit dem Messer Zugang zum Boot verschafft. Irgendein Schleier hatte ihn unsichtbar gemacht. Er kauerte sich unter seinem Dach aus zerfetzter Leinwand zusammen. Das Schlepptau musste gekappt werden, ehe sie sein Fehlen bemerkten. Mit etwas Glück fiel das Ruderboot so langsam zurück, dass es ihnen nicht auffiel. Vielleicht verging die ganze Nacht, bis jemand das schlaffe Seil entdeckte, und er bezweifelte, dass der Kapitän Zeit auf die Suche nach einem verschwundenen Ruderboot verschwenden würde. Mit einem entschlossenen Messerschnitt wäre seine Flucht abgeschlossen. Aber da waren diese Kinder. Er war nass bis auf die Haut und zitterte erbärmlich. Sie bedeuteten ihm nichts. Seit Beginn der Seereise hatte er die Kinder von sich fern gehalten, hatte sich bemüht, 245
keine Namen zu verstehen, ihnen nicht in die Augen zu sehen und ihre Lieder nicht zu hören. Selbst wenn er es wollte, wie sollte er sie denn retten? Er war nicht ihr Vater. Er hatte selbst ein Kind, das auf ihn wartete. Seine Zähne klapperten. Er starrte auf das Messer. War er so abgestumpft, so abgestorben? Er suchte in dem Boot nach irgendetwas, einer Waffe, einer Idee, etwas, das ihn zum Handeln ermutigen konnte. In einer Plastiktasche fand er Konserven und ein paar Flaschen Wasser, aber keinen Revolver oder eine Leuchtpistole. Er war fast genauso hilflos wie die Kinder. Und jetzt? Sollte er die Piraten mit Konserven bewerfen? Es war absurd. Wieder ein dumpfes Aufplatschen. Nathan Lee spürte, wie etwas gegen den hölzernen Boden des Ruderbootes stieß. Hin- und hergerissen zwischen den Extremen Überleben und Märtyrertum blieb ihm nichts anderes, als hilflos zu zittern. Wieder platschte es. Nathan Lee konnte dem Morden nicht länger zuhören. Es war obszön, so im Kielwasser auf der Lauer zu liegen. Er konnte nicht helfen. Er konnte nicht mehr zuhören. Er schob den Oberkörper durch den Riss in der Plane, beugte sich zum wild tanzenden Bug nach vorne und setzte die Klinge auf dem Tau an. Er befahl sich, nicht hinzusehen. Aber er sah hin. Unglaublicherweise hatten ihn die Piraten immer noch nicht entdeckt – die Kinder allerdings schon. Es waren nur noch drei übrig. Bei seinem Anblick hoben sie die Köpfe. Sie blinzelten, als wäre plötzlich ein Kastenteufel aus dem Nichts hervorgesprungen. Einem Impuls folgend, winkte er ihnen. Springt, dachte er. Das wäre die einzige Rettung. Er würde das Tau durch246
trennen und sie eins nach dem anderen aus dem Wasser fischen. Die Seeleute würden ihn nicht sehen. Es war möglich. Die Kinder mussten nur springen. Wieder winkte er, nicht mit einer ausladenden Geste, aber doch sehr deutlich. Kommt zu mir. Der Gedanke erfüllte ihn plötzlich mit Freude. Ein Boot voller Kinder! Er stellte sich vor, wie sie die Küste Amerikas erreichten. Springt! Er winkte noch einmal. Sie verstanden ihn. Ihre Augen wurden größer … aber nicht vor Hoffnung. Glaubt an mich, dachte er. Aber sie hatten ihn wiedererkannt. Er war der mürrische Einzelgänger vom Bug des Trawlers, der Mann, der sie angefaucht hatte, wenn sie ihm beim Spielen zu nahe gekommen waren. Ihre Eltern hatten mit ihnen geschimpft, wenn sie in seine Nähe gegangen waren. Und jetzt war er, nach allem, was sie wussten, ein Teil ihrer Bestrafung, ein grässlicher Fischer mit schwarzem Bart, der darauf wartete, ihnen noch schrecklichere Dinge anzutun, sobald die Seeleute sie ins Wasser geworfen hatten. Die Matrosen lächelten sie wenigstens an. Also sprangen sie nicht. Nathan Lee hielt es nicht aus, den Piraten dabei zuzusehen, wie sie ihr Geschäft zu Ende brachten. Vor Kälte zitternd schlüpfte er wieder unter die Plane und lag zusammengekauert zwischen der Ausrüstung. Er war zu schwach, um sich zu bewegen. Es war ihm sogar egal, ob ihn die Seeleute fanden. Dunkelheit umhüllte ihn. Nacht oder Verzweiflung, es war alles eins. Selbst in seinen schlimmsten Stunden in Tibet hatte er sich nicht so einsam gefühlt. Er glaubte nicht an Gott. Trotzdem fiel ihm seltsamerweise kein anderer Schuldiger ein als Gott. Von der Seuche bis zu diesem Massaker an unschuldigen Familien ging das Böse 247
über die allgemeine Schlechtigkeit des Menschen und die Gleichgültigkeit des Universums hinaus. Vielleicht hatte die französische Frau ja Recht gehabt, und Gott drückte einfach auf die Löschtaste, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Die Wellen schlugen gegen sein kleines Boot und stießen ihn gegen die Holzstreben. Sie zogen ihn wieder zurück in den Friedhof Asien. Er versuchte sich an das Gesicht seiner Tochter zu erinnern, aber sie verbarg sich vor ihm. Er erinnerte sich an die angstverzerrten Gesichter der Kinder. Schließlich fiel Nathan Lee das Messer wieder ein. Er kroch durch die Plane und schnitt das Tau durch. Die See wurde ruhig. Er war allein. Er ließ sich die ganze Nacht treiben, lag zitternd, die Füße in der geleerten Gummitasche, Schultern und Kopf in Segelstoff gehüllt. Allmählich wurde ihm wieder warm, warm genug, um wieder aktiv werden zu können. Am Morgen inspizierte er den Mast. Er war nur einen halben Meter höher als er. Die Stange passte in eine Halterung und hatte einen Querbalken. Das Segel war kaum größer als das Bettlaken, als das er es in der Nacht verwendet hatte. Aber als er die Teile zusammengebaut hatte, blähte sich das Segel im Wind. Er war kein Segler, folgte einfach seinem kleinen Kompass Richtung Osten. Wenn der Wind zu rau wurde, holte er das Segel ein und ruderte. Wenn er sich beruhigte, hisste er das Segel wieder. So vergingen drei Tage. Das Meer wurde sonderbar. In der zweiten Nacht hörte er Möwengeschrei und dachte schon, sein Boot würde sich dem Land nähern. Er schob den Kopf durch die eingerissene Plane, sah aber nirgendwo Land. Es war ein gewaltiges Schiff, das fast geräusch248
los auf ihn zusteuerte. Es leuchtete wie eine Stadt. Ein riesiges flaches Deck ragte über das Wasser. Ein Flugzeugträger. Er konnte nur den Amerikanern gehören. »Hilfe!«, schrie er. Er stand auf und wedelte mit den Armen. Mit seinem letzten Streichholz zündete er ein paar Seiten aus seinem Buch an und hielt sich die kleine Fackel über den Kopf. Die winzige Flamme brannte nur ein paar Sekunden. Er wedelte weiter mit den Armen. Das Wasser war ruhig, kein Windhauch war zu spüren. Der Träger kam näher. Er türmte sich wie eine riesige, schweigende, nächtliche Großstadt auf. Nathan Lee erblickte dort oben keinen einzigen Menschen. Möwenschwärme flogen krächzend und schreiend um die Lichter, »Hallo!«, schrie er. »Hilfe!« Dann sah er eine amerikanische Flagge, die im Fahrtwind flatterte. Ihm war klar, dass ihn der Flugzeugträger um gute 20 bis 30 Meter verfehlen würde. Eine Metalltreppe an der Seite reichte fast bis zur Wasseroberfläche hinab. Und er konnte nichts tun, um näher heranzukommen. Selbst wenn er sein Segel gesetzt hätte – es herrschte kein bisschen Wind. Er ruckelte am Steuerruder und versuchte, auf diese Weise vorwärts zu kommen. USS Truman, verkündete der Schriftzug am Bug. Die graue Stahlwand türmte sich vier oder fünf Stockwerke vor ihm auf. Jetzt hörte er auch das Mahlen der Schiffsschrauben. »Amerika!«, rief er. »Hilfe! Hier unten!« Der Flugzeugträger rauschte an ihm vorbei. Er stand in seinem kleinen Boot und schaute den im Westen verschwindenden Lichtern nach. Das Geschrei der Möwen erstarb. Ringsumher herrschte wieder Nacht. Er fing an zu frieren und verbarg sich vor dem stechenden Schein der 249
Sterne. Nach einem weiteren Tag geriet er in eine Herde grüner und türkisblauer Eisberge. Sie schienen sich in der schwappenden See kein bisschen zu bewegen, wie vollkommen in sich selbst ruhende Planeten. Er fuhr in das Labyrinth hinein und trieb zwischen den hoch aufragenden Steilwänden umher, streichelte ihre Flanken. Er schlug kleine Brocken des urzeitlichen Eises ab und lutschte sie. In dieser Nacht zog er sein Boot auf einen steinharten Strand und schlug sein Lager auf dem Eis auf. Aber er konnte vor lauter Schönheit nicht schlafen. Neongrünes Plankton oder irgendein inneres Licht leuchtete im Meer. Das Nordlicht schwebte über ihm wie träumende Regenbogen. Nach all der Gewalt auf der Ichotski war diese Kristallwelt ein stilles Paradies. Er beschloss, noch einen Tag und eine Nacht zu bleiben, und dann noch eine. Die Sonne kam hervor, und ironischerweise war ihm zum ersten Mal seit Wochen warm … ausgerechnet auf dem Rücken eines Eisbergs. Die Tage verbrachte er damit, den Eisberg zu erkunden, sich auszuruhen und in sein Buch zu schreiben. Bei einer seiner Expeditionen zur anderen Seite des Eisbergs fand er ein Tier, das in den gläsernen Wänden gefangen war. Es hatte eine katzenähnliche Gestalt. Mit einer Axt hätte er es herausschlagen und sein gelbbraunes Fell berühren können. Aber er hatte nur sein kleines Schälmesser, mit dem er Äpfel schneiden und Taue kappen, aber nicht viel mehr ausrichten konnte. Er blieb noch einen vierten Tag und verzehrte Sardinen aus der Dose sowie eine Pferde- oder Hundefleischkonserve aus alten Sowjettagen. Nachts träumte er, das im Eis gefangene Tier wäre er. Er wachte auf und erkannte, dass es kein Traum, sondern ein Omen gewesen war. Das Eis betörte ihn mit seinem Zauber und seinem unendlichen 250
Frieden. Mit dem ersten Tageslicht ließ er das Boot zu Wasser und entfloh den sanften Eisbergen. Er konnte weder feststellen, wie weit er abgetrieben war, noch in welcher Richtung. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das kleine Segel zu setzen und weiter nach Osten zu segeln. Als ihm die Konserven ausgingen, nahm er Eisstücke von einem Klumpen Eisberg als Nahrung zu sich. Der große, glasige Klotz lag wie ein Kadaver auf dem Boden des Bootes. Er versuchte zu fischen, doch es klappte nicht. Auf einem winzig kleinen Eiland, das sich nur wenige Zentimeter über den Meeresspiegel erhob, sammelte er Seetang. Wenn er ins Meer schaute, sah er Massen von phosphoreszierendem Plankton, das wie Bergmassive dahintrieb. Der Vollmond stöhnte unter dem Gewicht seines unglaublichen Lichts. Hin und wieder bemerkte Nathan Lee, dass er selbst es war, der stöhnte. Er hatte es aufgegeben, seinem Verstand zu vertrauen. Es war gut möglich, dass ihn die Strömung jede Nacht wieder zurücktrieb. Danach ließ er das Segel auch im Sternenlicht gehisst. Mochte ihn der Wind dorthin wehen, wohin er ihn haben wollte. Eines Morgens hörte er, wie der Bug über Steine knirschte. Das Boot blieb stehen, jedenfalls kam es ihm so vor. Er hob den Kopf. Nebel lag wie Rauch über dem Wasser. Er hörte Wellen gegen einen langen, breiten Strand schlagen. Entweder hatte er Amerika erreicht, oder er war auf einem Phantom gestrandet. Spielte das überhaupt noch eine Rolle? Er kletterte aus dem Boot und stolperte über das Geröll. Als er sich wieder umdrehte, trieb das Boot ins Nichts davon.
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BUCH DREI DAS JAHR DREI
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14 Mister Swift geht nach Washington DREI MONATE SPÄTER
Als er erwachte, grasten nicht weit von ihm Zebras. Der Tag brach gerade an. Zwischen den Bäumen des Waldes hing ein kalter grüner Dunst. Er schaute aus der Höhle, und einen Augenblick lang erschien es ihm vollkommen glaubhaft, dass ihn die Seuche eingeholt hatte. Es hieß, sie rufe erst intensive Erinnerungen hervor, dann intensives Vergessen. Und hier war Afrika … auf den Hügeln der Blue Ridge Mountains in den Shenandoahs. Zwei Monate hatte er von Alaska bis hierher gebraucht und dabei viele Grenzen überschritten, aber er konnte sich nicht daran erinnern, diese hier überquert zu haben – den Rückfall in seine eigene Vergangenheit. Die Tiere senkten die Köpfe und fraßen die zarten Frühlingstriebe ab; ihre schwarzen und weißen Streifen waren klar und deutlich zu sehen. Die Tiere schienen keine Einbildung zu sein. Er konnte ihren strengen Dung riechen. Wenn sie ihre Hufe bewegten, knackten Zweige. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass es vier verschiedene Arten Zebras gab. Diese hier hatten große, runde Ohren. Donner grollte durch die Täler der Appalachen. Heute würde es wieder regnen. Aus dem Wald tauchte ein Mann auf einem Pferd auf. Er trug Jägergrün und hatte eine M 253
16 quer über dem Sattel liegen. Das Pferd überragte seine gestreiften Vettern deutlich, die keineswegs wild wiehernd davongaloppierten, wie es wilde Zebras getan hätten. Sie wichen ihm nur ein wenig aus und suchten dann weiter nach Futter. Ein Fohlen, das sich zu weit von der Herde entfernte, trieb der Reiter wieder vorsichtig zur Herde zurück. Nathan Lee wagte sich nicht aus seinem Versteck hervor. Er lag regungslos da und versuchte eine Erklärung für das zu finden, was sich da vor ihm abspielte. Falls das alles eine Illusion war, hatte er keine Lust, sich mit sich selbst zu unterhalten. Die Höhlenwände waren vom Ruß alter Lagerfeuer geschwärzt und mit Graffiti überzogen. Im Lauf der Jahrhunderte hatten sie wohl so manchem Reisenden Schutz geboten, darunter allem Anschein nach Indianern, Soldaten aus dem Unabhängigkeitskrieg, Südstaatlern und Liebespaaren. Einmal hatte Nathan Lee Lydia für eine Nacht in eine solche Höhle mitgenommen, aber sie hatte sich nur über die Mückenstiche beschwert. Ein zweiter Reiter erschien. Über seinen Schultern hing ein mit Laub bestreutes Tarnnetz. Er sah wie ein in Felle gekleideter Barbar oder eine Vogelscheuche mit zu breiten Schultern aus. Jetzt hatte er Nathan Lees Fußspuren entdeckt, die durch den Schlamm zur Höhle führten, und sagte etwas zu seinem Partner, der die Zebras umsichtig ein Stück weiter in den Dunst trieb. Sie wieherten leise und verschwanden. Der Vogelscheuchenmann wartete, bis die Zebras weg waren, dann stieg er ab und verschwand ebenfalls vor Nathan Lees Augen. Er verschmolz mit dem Berglorbeer und Dunst und war einfach nicht mehr zu sehen. Nathan Lee hörte, wie ein Gewehr durchgeladen wurde. »Komm raus!«, rief der Mann. 254
Nathan Lee reagierte nicht. Seine Halluzination hatte sich auf eine Stimme im Wald reduziert. »Ich weiß, dass du da drin bist.« Vielleicht verschwand die Erscheinung einfach wieder. Dann sah Nathan Lee das Mündungsfeuer orange aufblitzen, und eine Kugel klatschte gegen die Höhlenwand. Es zischte und klingelte. Der abgeplatzte Fels roch scharf und verbrannt. Nathan Lee rollte sich zusammen. »Wer sind Sie?«, schrie er. »Komm raus.« »Ich will keinen Ärger. Ich habe nichts bei mir.« »Soll ich noch mal?« »Erschießen Sie mich nicht!« »Dann komm raus da.« »Ich bin unbewaffnet.« Nathan Lee kroch aus der Höhle. Seine Gelenke schmerzten von der Feuchtigkeit. Er streckte die Hände mit gespreizten Fingern zum Himmel. Dann schlitterte er den Abhang hinunter. »Stehen bleiben!«, befahl die Stimme. Keine drei Meter weiter lag der Kopf eines Mannes wie ein Kürbis auf der Erde. Er stand auf und der Erdboden schien auf seinem Rücken nach oben zu schweben. Sein Gesicht sah aus, als hätte man es gerade ausgegraben, über und über mit Erde und Ruß verschmiert und Blättern im Bart. Ungefähr so wie Nathan Lees Gesicht. Er hielt das schwarze Loch der Mündung auf Nathan Lees Auge gerichtet. Der erste Reiter in der Jägerkluft kam zurück. Aus den Nüstern seines Pferdes dampfte der Atem in die Kälte. »Ich bin nur auf der Durchreise«, sagte Nathan Lee. »Dann hättest du gleich Weiterreisen sollen«, sagte die Vogelscheuche. »Es fing an zu regnen.« 255
»Was für ein Zufall. Genau hier beim Fleisch.« Fleisch? Sie hielten ihn für einen Wilderer. Aber Zebras? Hatten die Menschen inzwischen solchen Hunger? »Ich bin Arzt«, sagte er. »Ich bin unterwegs nach Washington.« »Heutzutage will niemand nach Washington«, sagte der Mann auf dem Pferd. »Ich schon.« »Zeig uns mal dein Blutbuch.« Nathan Lee nahm einen Arm herunter, holte vorsichtig das Ausweisbüchlein hervor und warf es der Vogelscheuche zu. In Ermangelung von Latexhandschuhen nahm der Mann ein gefaltetes Blatt, um es aufzuheben. »Charles Andrew Bowen«, las er laut vor. »Dr. med., Bay City, Texas.« Er verglich das Foto mit Nathan Lees Gesicht. Nathan Lee hatte den Fälscher mit tibetanischem Gold bezahlt. Auf dem Bild sah er alt aus. Es war ein gelungener Schnappschuß seiner Seele. Mit einem Zweig öffnete die Vogelscheuche das Büchlein in der Mitte und entspannte sich sichtlich. »Letzter Test vor zwei Tagen, in der Station von Hancock. Negativ.« Er nahm das Gewehr herunter. Der Mann auf dem Pferd nicht. »Er weiß jetzt, wo die Herde ist.« Was waren das für Kerle? »Wieso bist du unterwegs?«, fragte die Vogelscheuche. »Ich suche jemanden.« Die Antwort gefiel ihnen nicht. Jeder suchte irgendjemanden. Das Telefonnetz war schon lange zusammengebrochen, das Informationszeitalter war abgestürzt. »Das ist die Wahrheit«, sagte er. Er sprach nicht weiter. Jeder hatte seine Geschichte, Verluste zu beklagen, von denen er erzählen konnte, schleppte seine 256
Sichtweise, seinen Hunger mit sich herum. »Ich würde da nicht runtergehen«, sagte die Vogelscheuche. »An den Küsten wird es langsam brenzlig. Du weißt doch, was in Florida los ist.« Die Seuche war in Key West ausgebrochen und hatte sich bis nach Miami ausgebreitet. Weil sie kein Risiko eingehen wollten, hatten die Behörden die gesamte Halbinsel von der Landkarte abgeschnitten. Niemand kam hinein, niemand heraus. Es handelte sich nicht um eine Vorsichtsmaßnahme, und es gab keine höflichen Kontrollpunkte. Bei dieser Ausgangssperre gab es keine Ausnahmen. Von Jacksonville bis Pensacola schossen die Armeestreifen jeden ohne Vorwarnung nieder. Die abgelegensten Außenposten des Reichs wurden einer nach dem anderen überrannt. Erst Hawaii, dann der Golf. Auch Alaska war gekippt. Er hatte alle verfügbaren Mittel eingesetzt, um einen der Evakuierungsflüge ins Kernland zu kriegen. »Es ist noch nicht zu spät«, sagte Nathan Lee. Die beiden Männer sahen sich an. Der Mann auf dem Pferd ließ den Finger am Abzug und blickte ihn weiterhin finster an. »Er weiß von der Herde.« Erst jetzt fiel Nathan Lee die Kette aus Ohren auf, die von seinem Sattelknauf hing. Es waren Kojoten- und Hundeohren, aber eins stammte von einem Menschen. Der Reiter grinste. »Was machen diese Zebras denn hier?«, fragte Nathan Lee. »Schon mal was vom National Zoo gehört?« Plötzlich wurde ihm alles klar, oder wenigstens ein Teil. »Sie sind Ranger?« »Ich war gerade im dritten Studienjahr. Veterinärmedizin«, sagte die Vogelscheuche. »Dann brachen die Hungeraufstände aus. Danach haben wir die großen Säugetiere mit Lastern in die Berge gebracht. Hier ist es sicherer für 257
sie, trotz der Raubtiere. Sobald man ein Heilmittel gefunden hat, können die Tiere wieder in den Zoo zurück.« »Und wenn nicht?«, fragte Nathan Lee. »Dann hat die Natur gewonnen.« Während er seinen Rucksack aus der Höhle holte, ritten die Männer im Nebel davon. Trotzdem hatte Nathan Lee den ganzen Weg aus dem Wald hinaus das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Ranger hatten Recht gehabt. Niemand wollte nach Washington hinein, alle wollten nur raus aus der Stadt. Auf der Ostseite der Theodore Roosevelt Bridge stieß er auf eine große Menschenmenge, die auf ihre Abfertigung wartete, um den Potomac zu überqueren und sich auf den Weg ins Landesinnere machen zu können. Er hörte und roch, wie sie von den Blutstationen bearbeitet wurden. Der Gestank von Desinfektionsmitteln breitete sich in der Mittagshitze aus. Noch schlimmer war das Geschrei der Kinder, deren kleine Adern man nicht finden konnte. »Wo muss ich hin zum Bluttest?«, fragte er einen Soldaten. »Sie wollen rein? Kein Test.« Das war ein schlechtes Zeichen. Sie gaben Washington auf. Die U-Bahn war bis auf Weiteres geschlossen. Tausende Obdachlose hausten darin wie in einer eigenständigen, röhrenförmigen Stadt. Um die dunkleren Stadtteile zu meiden, machte er sich zu Fuß auf den Weg den Lafayette Boulevard hinunter. Unterstützt den Kampf, stand auf einem Plakat an einer Mauer. Das Gesundheitsministerium hatte es mit einer ganzen Reihe solcher Slogans versucht, von denen manche 258
aus dem Zweiten Weltkrieg entliehen waren, während andere aus inzwischen veralteten Kampagnen gegen Diabetes, Brustkrebs oder Aids stammten: Wir sind stärker, Forschung bringt Heilung, Alle zusammen, Unser Blut ist eins. Nach alter Sitte war die Elite vor der Seuche geflohen und hatte die Stadt den Massen überlassen. Die Straßen waren keineswegs unbelebt, sie brannten vor Kultur. Es war Kirschblütenzeit. Rosa Blütenblätter wogten im Wind. Blumen drängten mit aller Macht aus der Erde. Sämtliche Parks waren umgegraben und in Gemüsegärten verwandelt worden. Die langen Beetreihen wurden von Frauen und Kindern gepflegt und von Männern mit Waffen aus den Pfandhäusern oder Maschinenpistolen vom Schwarzmarkt bewacht. Manche Gärten gehörten Kirchengemeinden, andere den Gangs. Die schönsten Gärten, die er sah, gehörten der Nation of Islam, deren Frauen ganz in Weiß gekleidet waren, wie schwarze Engel. Es war eine Zeit der Fülle, die Märkte waren voller gestohlener Konserven aus den Supermärkten und Hilfslieferungen der US-Regierung. Es gab lebende Hühner, die man essen oder zum Eierlegen halten konnte, Enten und andere Wasservögel hingen gerupft an den Ständen, auf den Tischen türmten sich Krebse, Makrelen, Lachse und Tintenfische. Dichter, würziger Grillgeruch erfüllte die Luft. Nach der kalten, misstrauischen Niedertracht in Alaska, das jetzt nur noch ein bewaffneter Brückenkopf gegen Krankheitsüberträger von außen war, wirkte Washington geradezu zauberhaft. Überall auf den Straßen schlugen Trommler auf ihre Bongos, Tänzer wirbelten umher, tanzten Tango oder verrenkten sich verzückt. A cappella war angesagt: Chöre, Quartette, mutige Solosänger. Es gab Feuerschlucker, Clowns, Drahtseilartisten und einen Jon259
gleur, der mit Äxten jonglierte. An jeder Straßenecke standen Redner und Wahrsager, Philosophen, arbeitslose Lehrer, die gegen Lebensmittel Unterricht erteilten, und krakeelende Weltuntergangspropheten. Auf den ersten Blick regierte der Überfluss. Nahrungskonvois rollten wie eine Kette Elefanten vorbei und verteilten Zentnersäcke mit Reis und Bohnen, kistenweise Energieriegeln, Säuglingsnahrung und anderes. Trinkwasserwagen fuhren auf und ab. Es sah fast so aus, als wollte die Regierung alle Einwohner mästen. Oder einfach nur in der Stadt halten. Nathan Lee marschierte weiter in Richtung Zentrum. Er hätte gerne eines der Fahrräder gehabt, die an ihm vorbeizischten, aber er widerstand der Versuchung, sich einfach eins zu nehmen. Am folgenden Morgen erreichte er den DuPont Circle, nachdem er die Nacht zusammen mit anderen Landstreichern in einem trockenen Brunnen verbracht hatte. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben, als die strahlenförmigen Straßen ihn direkt zu der Zeile viktorianischer Reihenhäuser führten, in der Ochs früher gewohnt hatte. Der Professor war natürlich schon lange nicht mehr da; Hausbesetzer hatten mittlerweile die ganze Gegend übernommen. Nathan Lee lief ein paar Mal auf und ab, um ein Gefühl für den Ort zu entwickeln. Wäsche hing wie Festschmuck an den Leinen, die zwischen Fenstern und Bäumen gespannt waren. Ein Berg von Müll verstopfte den Wirtschaftsweg hinter den Häusern. Frauen schwatzten und gaben ihren Babys die Brust. Kinder schaukelten auf einem Reifen, der von einem Ast hing. Mädchen übten sich im Seilhüpfen. Eine junge Frau saß auf den Stufen vor dem Haus und ließ ihr Baby auf ihren Knien auf- und abspringen. Ihre Augen leuchteten liebevoll. Er überquerte die Straße und ging auf sie zu. »Ich suche mein kleines Mädchen«, sagte 260
er. Er schlug in seinem Geschichtenbuch die Seite mit dem Foto von Grace auf. Auf dem Foto war inzwischen kaum noch etwas zu erkennen. Was die Berge und die Gefängnisse nicht hatten zerstören können, hatte im Meer gelitten. »Sie hat früher hier zusammen mit ihrer Mutter gewohnt.« »Jetzt nich mehr.« Er hielt ihr das Buch mit dem abgeschabten Foto näher hin. »Ihr Onkel hieß Ochs. Vielleicht haben sie irgendeine Nachricht hinterlassen, wo sie hin sind.« Das Mädchen schenkte dem Buch nur einen kurzen Blick. »Die hab ich noch nie gesehen. Außerdem kann man da sowieso nix drauf erkennen.« »Es ist kaputtgegangen«, sagte er. »Hier isse nich.« »Ich bin weit gereist«, sagte er. »Ehe es zu spät ist.« Als er »zu spät« sagte, drückte sie ihr Baby fest an sich. Nathan Lee bedauerte seine Worte. Er klappte das Buch zu. »Ich muss jetzt in dieses Haus reingehen«, sagte er. »Ich würd lieber abhauen«, meinte sie. »Die Männer machen Sie fertig, wenn Sie heut Abend noch hier rumhängen.« »Ich kann aber nicht abhauen.« »Na, Sie sind ja ganz schön mutig.« »Nein«, sagte er. »Ich weiß nur nicht, wo ich sonst suchen soll.« »Lass ihn rauf«, sagte eine Frau in einem Fenster weiter oben. Sie hatte kurz geschnittene Haare und einen langen Hals. »Aber Mama, Gerald hat gesagt, diese Leute …« 261
»Der Mann sucht sein Baby«, erwiderte die Frau. Nathan Lee ging die Stufen hinauf. Die Tür wurde geöffnet. Die Frau war schlank und bewegte sich wie eine Königin. Sie war noch sehr jung für eine Großmutter. »Vielen Dank«, sagte er zu der Frau. Er streckte ihr die Hand entgegen, aber sie nahm sie nicht. Es war nicht unhöflich gemeint. So war es jetzt nun mal. Ochs wäre zufrieden gewesen. Die Holzböden waren zerkratzt, aber sonst war alles so sauber und ordentlich wie früher. Einige Veränderungen hatte es natürlich gegeben. Die 20 000 Dollar-Kelims waren verschwunden. Dort, wo früher die Porzellanvasen und präkolumbianische Statuen ihren Platz gehabt hatten, standen jetzt Topfpflanzen. An einer Wand hing ein kleines, sehr altes Foto einer schwarzen Familie. Nathan Lee betrachtete es. »Meine Familie. Sie waren Sklaven.« Die Frau sagte es mit Nachdruck. Nathan Lee verstand. Sie hatte nicht vor, sich für ihre Anwesenheit zu entschuldigen. »Das Haus stand leer, als wir hier ankamen. Ich habe alle Andenken in einen Karton gepackt, aus Respekt.« Sie führte ihn zu einem Wandschrank. Er trug den Karton in die Küche. Der Kühlschrank und der Herd aus Edelstahl glänzten. Auf einer Arbeitsfläche aus poliertem Granit stand ein Propankocher. Auf dem Fensterbrett wuchs Dill und Basilikum aus Eierkartons. Es roch nach Schinken, Eiern und Kaffee. »Er hat Pornos gesammelt«, sagte sie. »Ich bin altmodisch. Ich hab alle seine Bilder und Hefte weggeworfen.« »Klar«, sagte Nathan Lee. Seine Hand zitterte. Er breitete den Inhalt auf dem Tisch aus. Es war mehr, als er erwartet hatte, und gleichzeitig weniger. Alle seine Briefe aus dem Gefängnis waren dabei, adressiert an Grace Swift, mit einem Stück Schnur zusammengebunden. Abgelegt. Es 262
gab abgerissene Theaterkarten, Restaurantquittungen, Ochs’ Mitgliedskarte vom Waffenverband, Prospekte für Kunstauktionen, Jagdausflüge und Inneneinrichtungen. Er sah sich alles genau an, auf der Suche nach einer Nachsendeadresse, einer Telefonrechnung mit einer Vorwahl, irgendetwas, das ihm auf seiner Suche weiterhelfen würde. Er stieß auf einen Fotoumschlag, und sein Atem stockte. Die Bilder waren verschwunden, aber in dem Umschlag lagen noch die Negativstreifen. Er hielt sie gegen das Licht, und da war sie, nur umgekehrt, die hellen Stellen dunkel. »Grace«, sagte er laut. Sie hatte einen Pony, so viel konnte er erkennen. Es waren Bilder vom Spielplatz. Sie saß auf einer Schaukel, rutschte eine Rutsche herunter, hing an einem Klettergerüst. Auf einem Bild war im Hintergrund ein Teil eines Gebäudes zu erkennen. Es hatte einen Schlossturm wie im Märchen, mit einer Brustwehr voller Zinnen. Disneyland, dachte er. Aber als er genauer hinsah, erkannte er das »Schloss« genannte älteste Gebäude des Smithsonian Institute. Wenigstens ein Hinweis. Ein zweiter Hinweis lag ganz unten in der Kiste: die Einladung zu einer Hochzeit. Aus Mrs. Swift war Lydia Ochs-Houghton geworden. Die Eltern von Baxter Montgomery Houghton freuen sich … Verblüfft betrachtete er das Datum, überrascht von ihrer Fähigkeit, ihn – bis zum bitteren Ende – hinters Licht führen zu können. Noch während er vom Makalu La herunterkroch und als vermisst galt, hatte sie bereits ihr Jawort gegeben. Er rechnete nach. 10. Juni: Ochs war wahrscheinlich gerade rechtzeitig zum Champagnerempfang nach Hause gekommen. Bruder und Schwester hatten ihn hereingelegt. Er kam sich ganz klein vor. Alles hatten sie ihm verheimlicht. Während er um das Besuchsrecht kämpfte, wandelte sie längst auf Freiersfüßen. 263
»Sie haben diese Briefe geschrieben«, stellte die Frau fest. »Sie waren schon geöffnet. Ich habe sie gelesen.« Er räusperte sich und musterte die Umschläge. Jeder einzelne war fein säuberlich mit einem Brieföffner an der Seite und nicht oben geöffnet worden. Das war so eine Angewohnheit von Lydia. »Ich frage mich …« Seine eigene Dummheit erschreckte ihn. »Glauben Sie, dass meine Tochter jemals ein Wort von dem, was ich geschrieben habe, erfahren hat?« »Hat ihre Mutter Sie immer noch geliebt?« »Nein«, erwiderte Nathan Lee. »Dann glaube ich das nicht.« Die Frau war kurz davor, seinen Arm zu berühren. »Sie hätte zu viel Angst vor Ihrem Einfluss gehabt.« Es war die erste Freundlichkeit, die Nathan Lee seit langer Zeit widerfahren war. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, deshalb wich er aus. »Meine fünf Minuten sind um«, sagte er. »Ich habe nichts, womit ich mich dafür erkenntlich zeigen kann.« »Seien Sie ein guter Mensch«, sagte die Frau zu ihm. Das war alles. Viel gaben die Hinweise nicht her, aber Lydias Spur war noch warm. Es gab zwar keinen Anhaltspunkt, wohin Lydia Grace gebracht haben könnte. Auf der Hochzeitseinladung stand nichts über die Herkunft ihres neuen Ehemanns. Nach langer Suche fand er ein Telefonbuch von Washington, das nicht verbrannt und älter als zwei Jahre alt war, aber unter den zahlreichen Houghtons war dort kein Baxter verzeichnet, und unter Ochs keine Lydia. Blieb ihm noch das Smithsonian. Ochs war geschäftlich dort gewesen, davon war er überzeugt. Falls er auch 264
Raubzüge für das Museum unternommen hatte, musste es irgendwelche Unterlagen über ihn geben. Zum Smithsonian zu gelangen war keine einfache Aufgabe. Das Regierungszentrum – fünfzig Querstraßen einschließlich der Mall – war für die normale Bevölkerung abgeriegelt und für die Zeit nach der Seuche und die Rückkehr der Regierung eingemottet und versiegelt worden. An den Kontrollstellen der Marineinfanteristen entlang der Independence Avenue spielte Nathan Lee den zerstreuten Professor, der darauf bestand, dass ihn das Museum herbestellt hätte, um beim Zusammensetzen eines eine Million Jahre alten Affenmenschen zu helfen. Erst nach fünf Stunden und zwei Bluttests gelang es ihm, ihre Barrikaden zu überwinden. Beim letzten Kontrollpunkt stellte ein Offizier zwei Marineinfanteristen ab, die ihn bis zu seinem Ziel eskortieren sollten. Der Himmel wurde immer grauer. Die Luft wurde schwül. Bald würde es anfangen zu regnen. Sämtliche Regierungsgebäude standen verlassen da. Die Fenster im Erdgeschoss waren wie in Erwartung eines Hurrikans mit Brettern vernagelt, die oberen Fenster glasig und leblos. Sie gingen um die Überreste des FBIGebäudes herum – eine Explosion hatte ein gähnendes Loch in das Bauwerk gerissen. Sie kamen zur Mall, einer riesigen überwucherten grünen Wiese. Ihre Beine streiften durch das ungemähte Gras. An den Fahnenmasten rings um das Washington Memorial flatterten die Sternenbanner auf Halbmast. Nathan Lee blickte sich in all der Stille um. Langsam dämmerte es ihm. Der Auftrag der Marines bestand darin, die Denkmäler und die Tauben zu bewachen, und nicht viel mehr. Das Kronjuwel der amerikanischen Weltmacht war ausgeschlagen. Nur noch die leere Hülle war zu sehen. 265
Es begann zu nieseln. Die beiden Marineinfanteristen streiften sich ihre Regenumhänge über. Nathan Lee zog seine Mütze mit der Aufschrift Yosemite: The West Is Best und dem Nackenschutz tiefer in die Stirn. Er führte sie zum Natural History Museum, in dem die Anthropologiesammlung und die Verwaltung untergebracht waren, aber auch dort war alles mit Brettern verrammelt. Die Arbeiter hatten sogar die Ränder mit Kunstharz versiegelt. Um da hineinzukommen benötigte man schweres Werkzeug. »Sie hatten doch gesagt, dass es dieser Laden hier ist«, maulte einer der Soldaten. »Das Smithsonian, haben sie gesagt«, polterte Nathan Lee. »Es besteht aus zwölf verschiedenen Museen. Ich hatte natürlich gedacht …« »Kommen Sie, Mann, es regnet.« Auf der anderen Seite der Wiese ragte das Schloss mit seinen von Efeu überwucherten Türmen und Zinnen aus rotem Sandstein auf. Es war das ursprüngliche Institutsgebäude, mit seiner merkwürdigen normannischen Architektur, inspiriert von den Romanen Sir Walter Scotts. Eine nasse amerikanische Fahne hing schlaff am Mast auf dem Mittelturm. »Dort«, sagte er, »das muss das Richtige sein.« Auf dem Weg zum Schloss versuchte er die rasch missmutig werdenden Marines ein bisschen zu unterhalten. »Von diesem Turm aus hat Abraham Lincoln einst die Verteidigungsanlagen der Stadt begutachtet«, sagte er. Aber sie waren nicht in Stimmung. Er gab noch mehr unwichtige Fakten von sich, während sie mit jedem Schritt nasser wurden. Es sah nicht sehr viel versprechend aus. Die Eingangstüren waren von den Treppenstufen bis hinauf zum Torbogen mit Steinblocken zugemauert worden. Die Fenster 266
waren blind und dunkel, von innen mit Brettern vernagelt. Aus der mächtigen Festung, dem Hort der Sammlungen und des Wissens, war ein Spukhaus geworden. Sie gingen einmal ganz um das Gebäude herum. Kleine Schilder unten am Gemäuer zeigten die Namen der verschiedenen Rankpflanzen an. Als sie wieder am Haupteingang ankamen, blieben sie stehen. Das Licht der Sonne wurde schnell schwächer, der Regen jedoch stärker; er prasselte auf ihre Ponchos. Nathan Lee war nass bis auf die Haut und bot keinen sehr Vertrauen erweckenden Anblick. »Geben Sie’s zu, Sie haben hier eigentlich gar nichts zu suchen, oder?«, sagte einer der Soldaten. »Zeigen Sie mir mal Ihre Papiere. Anweisungen. Eine Genehmigung.« Nathan Lees Maskerade zerbröckelte. Irgendwo in diesen Gebäuden befanden sich Hinweise darauf, wohin Ochs verschwunden war, da war er sich ganz sicher. »Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Es war mündlich. Sie haben einen Boten geschickt.« »Sie? Ich sehe niemanden. Wo ist Ihr Blutbuch?« Mit wachsender Panik reichte Nathan Lee es ihm, doch der Soldat warf nicht einmal einen Blick darauf. Sie beschlagnahmten sein Blutbuch! Er dachte daran wegzulaufen, aber selbst wenn sie ihn nicht erschossen, säße er ohne seinen Pass in der Falle. In diesem Augenblick ging zwei Stockwerke über ihnen eine quietschende Metalltür an der Feuertreppe auf. Ein alter Mann trat auf den schmalen Gitterrost hinaus, saugte gelassen an seiner Pfeife, blickte in die Ferne und sah sie überhaupt nicht. Er stand einfach da, blass und zerbrechlich, wie ein uralter U-Boot-Kommandant, der kurz aufgetaucht war, um wieder einmal frische Luft zu schnappen. Unglaublicherweise meinte Nathan Lee die geisterhafte 267
Erscheinung zu kennen. »Spencer?«, rief er. »Spencer Baird?« Der Mann war Paläontologe, zumindest war er das früher einmal gewesen. Er musste an die neunzig sein. Der alte Mann blickte zu ihnen herunter. »Wer ist da?« »Kennen Sie diesen Mann, Sir?«, rief einer der Soldaten hinauf. »Spencer, ich bin’s«, sagte Nathan Lee. »Ich bin auf Ihre Nachricht hin gekommen.« Eilig nahm er die Mütze ab und strich seinen kurzen, frisch gestutzten nassen Bart glatt, um sein Gesicht jünger aussehen zu lassen. Er traute sich nicht, seinen richtigen Namen zu nennen, denn die Marines kannten ihn ja unter einem anderen Namen. Das war keine Bagatelle. Niemand hatte mehr Grund, seine wahre Identität zu verbergen, als ein Krankheitsträger. Der alte Mann beugte sich über das nasse Geländer. »Nachricht? Was denn für eine Nachricht?« »Fred Whipple«, rief Nathan Lee. »Joe Henry. Charlie Abbot.« Er versuchte sich an andere Namen zu erinnern, in der Hoffnung, einer von ihnen könnte immer noch hier sein. »Sie sagten, ich soll so schnell wie möglich kommen.« Dann fügte er hinzu: »Die Knochen.« »Ach so«, sagte Baird. »Die Knochen.« »Und hier bin ich.« »Gott sei Dank. Wir haben schon auf Sie gewartet.« Baird sah so alt aus wie Noah, wie er dort oben mit seinem weißen Bart im Regen stand. »Aber wer sind Sie?« Jetzt gab es keinen Ausweg mehr. »Swift«, erwiderte Nathan Lee. »Moment mal«, sagte einer der Soldaten und zog Nathan Lees Blutbuch unter seinem Cape hervor, um noch einen Blick darauf zu werfen. 268
»Sind Sie das, Nathan Lee?« Baird lehnte sich noch weiter vor. »Es hieß, Sie seien tot. Von den Bergen verschluckt.« »Wie heißen Sie, Sir?«, wollte der Soldat wissen. Beeil dich, dachte Nathan Lee. Greif runter. Hol mich hoch. »Kommen Sie rein, ehe Sie sich den Tod holen, Mann«, sagte Baird. »Sehen Sie denn nicht, dass es regnet?« Nathan Lee griff nach der Feuerleiter. Der Soldat hielt ihn am Arm zurück. »Nicht so schnell«, sagte er. »Die kennen mich.« Nathan Lee lächelte. Er versuchte zu lächeln. Seine Zähne klapperten. »Lass ihn gehen«, sagte der andere Soldat. Er nahm das Blutbuch und knallte es Nathan Lee vor die Brust. »Der Mann ist zu Hause. Wenigstens einer, der irgendwo hingehört.« Nathan Lee zog sich die Feuerleiter hoch und kletterte die Metalltreppe hinauf. Baird empfing ihn mit Tabaksatem und schlug ihm kräftig auf den Rücken. Drinnen im Gebäude war es stockfinster. Baird gab Nathan Lee seine 60 Zentimeter lange Stablampe, die schwer wie eine Axt war, und zog die gewaltige Stahltür hinter sich zu, an der der Sturm zerrte. »Die haben gesagt, Sie wären tot«, sagte er immer wieder. »Na, das wird was, wenn die anderen Sie sehen.« Nathan Lee folgte ihm durch den dunklen Bauch des Instituts. »Ich bin auf der Suche nach einem Mann namens David Ochs«, sagte er. »Einem Professor.« »Ox?« »Ein Archäologe. Ein großer, kräftiger Mann. Ein Professor.« 269
»Nie von ihm gehört«, sagte Baird. »Was ist mit Dean White?«, fragte Nathan Lee hoffnungsvoll. White war der Kurator, der die HimalajaExpedition vor zwei Jahren in Auftrag gegeben hatte. »White«, bellte Baird. »Dem haben sie nach Ihrer kleinen Aktion die Eier abgeschnitten. Stimmt es, dass Sie einen Mann umgebracht haben? Und ihn anschließend aufgegessen haben?« »Ist noch jemand von den Anthropologen da? Die müssen etwas über Ochs wissen.« »Weg. Sind alle weg«, brummte Baird. »Aber in den Unterlagen müsste etwas darüber stehen, da bin ich mir sicher.« »Sind die Unterlagen hier, in diesem Gebäude?« »Gut möglich.« Baird deutete auf die Abertausende von Pappkartons, die in den Fluren gestapelt waren. Es war kaum Platz, um zwischen ihnen hindurchzugehen. »Ich dachte, Sie wären tot.« Von vorne waren leise Stimmen zu hören. Sie gingen eine Treppe hinunter. In der Ferne sah er ein Dutzend alte Leute, die bei Kerzenlicht in einem finsteren Vestibül zu Abend aßen. Um den silbernen Kerzenständer herum wirkten sie wie Gespenster. Die Männer hatten Jacketts und Krawatten an. Zwei trugen Smoking, einer eine Rauchjacke mit Krawattenschal. Die Frauen sahen aus, als hätten sie sich für die Oper feingemacht, mit um die Schultern gelegten Paschmina-Schals gegen die Kälte. Sie aßen mit schwerem Silberbesteck von antiken blauen Tellern und tranken aus kristallenen Weingläsern. Nathan Lee roch jeden Bestandteil ihres Mahles … das Kalb und den Hummer, die Buttersauce und das Basilikum, den Rotwein aus alten Flaschen. Keiner von ihnen war unter achtzig. 270
»Seht mal, wen es hier hereingeschneit hat«, verkündete Baird der Gruppe. Mit einer schwungvollen Bewegung wandte er sich um, um seine Entdeckung zu präsentieren. Aber der Flur hinter ihm war leer.
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15 Verbrauchsmaterial LOS ALAMOS
Cavendishs Klon ging zwischen ihnen umher wie ein Geist. Er kam überall herum, bahnte sich den Weg durch ihre Sicherheitssysteme, erschien in ihren Labors, drang in ihre Computer ein. Er kroch in ihre Geheimnisse, bohrte sich in ihre Gedanken. Anfangs hasste Adam sie nicht. Er wollte einfach nur wissen, warum er anders war. In der ersten Phase war ihm sein Körper Unterhaltung genug gewesen. Nicht mehr an Cavendishs Rollstuhl gefesselt, dabei immer noch mit Cavendishs Erinnerungen ausgestattet, war es, als würde er aus sich selbst heraustreten. Er hatte als zweiter Cavendish angefangen, aber darüber war er hinaus. Eine Zeit lang waren sie wie am Kopf zusammengewachsene siamesische Zwillinge, inklusive der nervösen Zuckungen und der zitternden Hände. Adam hatte jede Erinnerung, die älter als 20 Monate war, mit seinem Schöpfer geteilt. Nach Adams Geburt hatte Cavendish alles unternommen, um seinen Doppelgänger Tag und Nacht an der kurzen Leine und in seiner Nähe zu halten. Adam musste Cavendish morgens anziehen und abends waschen. Adam schob seinen Rollstuhl. Bei Sitzungen stand er stumm im Hintergrund, wie eine exotische Topfpflanze. Er machte Cavendish Frühstück und Abendessen. Sogar sein wenig einfallsreicher Name hing ihm wie eine Kette am Hals. 272
Ihre Schachpartien waren für Cavendish die reinste Belustigung. Keiner konnte einen Zug machen, den der andere nicht kannte. Jede Partie endete mit einem Patt. Doch eines Tages führte Adam einen eigenen Zug aus. »Schachmatt«, sagte er leise und stand auf. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, seine Schwingen zu entfalten. Sie schienen das ganze Zimmer auszufüllen. Und der von der Krankheit entstellte und im Rollstuhl zusammengesunkene Cavendish schien tief unter ihm zu kauern. Danach hatte Adam sich systematisch vom Körper und der Seele seines Schöpfers abgenabelt. Es war ein gefährliches Unterfangen, denn sein Cavendish-Bewusstsein wusste, dass Cavendish auf einen solchen Bruch wartete. Das Einzige, was Cavendish auf der Welt fürchtete, war die Macht seines eigenen Geistes. Vor allem wollte er seine Geheimnisse nicht aus seiner Kontrolle entlassen. Adam wusste von Cavendishs Plänen, ihn zu beseitigen, sobald er seinen lebenden, geklonten Körper gesehen hatte. Er war ein Experiment, eine Laune der Eitelkeit. Cavendish wollte sich lediglich einmal makellos und ohne Fehler sehen. Es wäre nicht Cavendishs erster Mord gewesen, auch das wusste Adam. Abgesehen von dieser alten Frau, Golding, hatte es noch andere gegeben. Cavendish hatte zahlreiche Gegner in die verwüsteten Landstriche Amerikas deportieren oder sie sogar in ihren eigenen tödlichen Experimenten verschwinden lassen. Aus irgendeinem Grund, den Adam nicht verstand, hatte Cavendish seinem Klon gegenüber Gnade walten lassen, hatte ihm gestattet, weiterzuleben. Trotzdem war Adam auf der Hut. Seine Freiheit erlangte er buchstäblich in kleinen Dosen. In Los Alamos wimmelte es nur so von Chemikern aus den Pharmakonzernen. Adam besorgte sich ein Schlafmittel auf organischer Basis, das keine Spuren in Cavendishs 273
Blut hinterließ. Cavendish war ein Gourmet mit einer Schwäche für kalifornische nouvelle cuisine in kleinen, aber exquisit arrangierten Portionen. Mit dem Schlafmittel hätte er niemals gerechnet. Es war der erste Schritt von Adams Rebellion. Er ergriff Besitz von der Nacht. Am Anfang war es ein Spiel. Er probierte seinen Körper aus. Mit Gewichten und Anabolika brachte er seine Muskeln auf Vordermann, injizierte sich synthetisches Testosteron, um sein Lymph-System neu zu verdrahten. Schon bald spannte seine Oberschenkel- und Wadenmuskulatur unter den Blue Jeans. In der Dunkelheit der Nacht rannte er kilometerweit über die Waldwege von Los Alamos. Cavendish fiel die Veränderung auf, aber erst nach und nach. Er machte Bemerkungen über die vorstehenden Adern an Adams Armen und Beinen. Adam spielte mit seinem Narzissmus, war darauf bedacht, nur seine Schönheit, nicht aber seine enorme Kraft zur Schau zu stellen. Er wurde zum David seines Michelangelo. Cavendish fing an, ihn zu berühren. Er bewunderte den Körper, der auch der seine hätte sein können. Adam ließ sich mit seinen Unabhängigkeitsbestrebungen Zeit. Manchmal gelingt eine Flucht am besten in Zeitlupe, vor aller Augen. Erst nach elf Monaten nahm er sich eine Frau. Schon bald hatte er viele gehabt. Er machte verbotene Erfahrungen, die ihn schwindlig werden ließen. Fast zwangsläufig begann Adam sich zu langweilen. Es war ein ererbter Charakterzug, ein Verteidigungsmechanismus, ein Nebenprodukt zügelloser Genialität. Die Menschen gingen ihm auf die Nerven. Es freute ihn, die Großstädte ausgestorben daliegen zu sehen, die großen Brükken, die nur ab und zu von einem Hund überquert wurden. Die Seuche war in Wellen vorangeschritten, hatte sich wieder zurückgezogen und so Hoffnungen geweckt, um dann zu mutieren und sich wieder auf sie zu stürzen. In274
zwischen war alles menschliche Leben ausgelöscht, bis auf Amerika, und auch dieses Bollwerk stand kurz vor dem Ende. Er lud sich die schönsten Untergangsszenen herunter, die Bilder von Jumbo Jets, die auf Flughäfen stürzten oder vom Himmel geschossen wurden, von Torpedoangriffen auf Flüchtlingsschiffe oder sogar auf ein Kreuzfahrtschiff, das von den Bermudas zurückkehren wollte, den letzten Glockenschlag an der New Yorker Börse, den letzten Schlag des Hammers, mit dem der Kongress vor acht Monaten auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. Eine Gruppe von Survivalists hatte sich im Bundesstaat Washington in den Baumkronen eines Redwood-Waldes eine Kolonie zusammengezimmert, ein Dorf aus Hängebrücken und Tarzanschaukeln, mit denen ihre Nylonplattformen verbunden waren. Diese Website gefiel Adam ausnehmend gut. Die Affen kehrten in die Bäume zurück. Er hatte weiterhin Sex, aber er legte es nicht mehr darauf an. Es war kein Entdeckungsprozess mehr, eher ein notwendiger Drang, wie der Stuhlgang. Dann brach das Internet zusammen. Man konnte auf den Satelliten surfen, aber das langweilte ihn rasch. Mit der Zeit wandte er sich einem Tabu nach dem anderen zu, wurde zu einem Schreckgespenst, das in ihren Gedanken wilderte und ihnen ihre Intimsphäre stahl, in sie eindrang. Das unerlaubte Eindringen hatte als Nervenkitzel begonnen. Er knackte ihre Sicherheitscodes, hackte sich in ihre Datenbänke, beobachtete sie durch ihre eigenen Überwachungskameras. Es machte Spaß, eine Bestätigung der wachsenden Verachtung, die er für sie empfand. Adam wurde zu einem wahren Meister des Unsichtbaren. Er trieb sich in ihrem elektronischen Bewusstsein herum, und war auch schon wieder abgetaucht. Das betrachtete er als eine immense Herausforderung im 275
Vergleich zum Seuchen-Surfen, das er zuvor ebenfalls betrieben hatte. Aber auch das war bald langweilig geworden. Adam fing an, die technischen Bereiche höchstpersönlich aufzusuchen. Mit Frechheit und den richtigen biologischen Kennzeichen kam man überall hinein. Bis auf seine innere Metamorphose war er seinem Vater Cavendish gleich. Seine Fingerabdrücke, seine Netzhaut, die chemische Zusammensetzung seines Atems, sein Blut, sein Sprachmuster, alles wies auf die Identität des Direktors hin. Ein Sicherheitsmann hatte versucht, das eine Ich dem anderen zu melden. Aber Adam hatte sich als Cavendish ausgegeben, den Bericht abgefangen und den Beamten mit seiner Familie in ein Seuchengebiet deportieren lassen. Von diesem Zeitpunkt an hatte sich ihm niemand mehr in den Weg gestellt. Die Botschaft war unmissverständlich. Wenn man Cavendish nicht Cavendish sein ließ, bedeutete das den sicheren Tod. In den ersten Wochen seiner Streifzüge durch die Einrichtung sah er ihnen bloß zu. Sie faszinierten ihn, diese verzweifelten Menschen. Die riesige Anzahl ihrer wissenschaftlichen Experimente wog ihre Sinnlosigkeit nicht auf, und die Vielfalt ihrer Herangehensweisen amüsierte Adam. Manches grenzte an Alchemie. Auf der verzweifelten Suche nach einer Heilungsmethode wurde einfach alles ausprobiert. Er spürte, wie die Langeweile wieder von ihm Besitz ergriff. Eines Nachts ging er einen Schritt weiter. Er betrat die verbotenen Forschungsabteilungen, die in ihrer Gesamtheit »Südsektor« genannt wurden. Sie nahmen das gesamte südliche Drittel des Bezirkes Los Alamos ein. Geographisch gesehen war es ein eigenständiges Gebiet, das ein ganzes, weit von der Stadt und den anderen technischen Abteilungen entfernt liegendes Felsplateau einnahm. Hier, 276
»weit hinter dem Zaun«, hinter einer ganzen Reihe von Zäunen, lagen die BSL-4. Die Labors der Sicherheitsstufe vier wurden mit einem Respekt behandelt, der an nackte Angst grenzte. Die Leute, die in BSL-4 arbeiteten, galten als die Asse unter den Virusjägern. Ein Fehler: Ein winziger Riss im Anzug, eine Cola Light zu viel, eine falsche Bewegung, und nicht nur man selbst, sondern ein komplettes Team von Forschern plus Hilfspersonal konnte infiziert sein. In einem solchen Notfall musste das gesamte Gebäude sterilisiert werden. Das infizierte Team musste in Quarantäne, was lediglich eine verlängerte Einzelhaft bedeutete, während sich die Forscher in die Seuchenopfer verwandelten, die sie eben noch untersucht hatten. So etwas war hier im Südsektor bisher zweimal passiert. Eines der Gebäude hatte man aufgeben müssen, es lag jetzt unter Beton vergraben. Fünf Teams waren zu Versuchskaninchen für ihre Kollegen geworden. Hier fraß man seine eigenen Kinder. Als Adam das erste Mal ein BSL-4 betrat, ging es ihm um die Herausforderung. Außerdem wollte er dort hingehen, wo Cavendish sich mit seinen Behinderungen und seinem angeschlagenen Immunsystem niemals hintrauen würde. Vielleicht war es ein Initiationsritus, der ihn endgültig von seinem Schöpfer freisprach. Es war, als würde man auf den Meeresgrund tauchen, dachte Adam. Die Schutzanzüge wurden mit Luft gespeist, die durch an der Decke befestigte Schläuche rauschte. Es war so laut, dass man Ohrenstöpsel tragen musste, wenn man nicht taub werden wollte. Während er sich seinen leuchtorangefarbenen Mondanzug aus reißfestem Material anzog, erkundigte sich Adam danach, was hier untersucht wurde. Verschiedene Labors hatten die Aufgabe, den Krankheitsverlauf in verschiedenen Stadien und an verschiedenen Organen zu unterbre277
chen. Das Augenmerk dieses Labors, so erzählte ihm eine Frau, war auf den »pränatalen Schutz« gerichtet. »Die Schutzfunktion der Plazenta«, erläuterte sie. »Die Föten sind vor dem Virus geschützt, solange sie noch in der Gebärmutter sind. Sie sind nicht immun. Aber geschützt.« Das fand Adam faszinierend. »Sie werden also im Zustand der Unschuld geboren.« Die Frau zuckte mit den Achseln. »Sie infizieren sich, sobald sie durch den Geburtskanal kommen. Wie gesagt, sie sind nicht immun.« »Und wonach suchen Sie?« »Wer weiß?«, erwiderte sie. Dann wurde es Zeit, sich Schaumstoff in die Ohren zu stecken. Sie setzten ihre Helme auf und betraten einen kurzen, in violettes UV-Licht getauchten Tunnel. An der Tür zum Arbeitsraum half die Frau Adam, sich in einen der Schläuche einzuklinken, die von der Decke baumelten. Sofort blies sich sein Anzug mit kalter Luft auf; die Beatmungspumpe dröhnte. Als sie alle an die Schläuche angeschlossen waren, öffnete der Leiter der Gruppe die Tür. Adam spürte ein sanftes Ziehen, als sich die UnterdruckSchleuse vor ihnen öffnete. An der Tür blieb er überrascht stehen. Er hatte Handschuhkästen und ein Fenster erwartet, von dem aus man auf Reihen von Gewebeproben in Wachs oder Reagenzgläsern blicken konnte, doch stattdessen wartete ein Seuchenopfer auf sie. Die Frau lag auf einem Operationstisch in der Mitte des Raumes. Sie war hochschwanger, Adam konnte den Fötus durch ihre Haut hindurch sehen. Zögernd ging er näher. Er war wie gelähmt vor Entsetzen. Plötzlich war es kein Spaß mehr. Stumm und taub nahmen sie ihre Positionen um den 278
Tisch herum ein. Jeder wusste, was er bei dieser Prozedur zu tun hatte. Sie hatten es schon oft getan. Langsam ahnte er, was sie vorhatten. Er sah die aufgereihten Instrumente. Sie arbeiteten ohne Hast. Die Sicherheit erforderte langsame, ruhige Bewegungen. Er konnte sehen, wie sich ihre Lippen in den Helmen bewegten, als zählten sie mit. Eine Narkose sparten sie sich. Der Verstand der Frau hatte sich schon lange verabschiedet. Das Skalpell brauchte ewig. Adam wandte den Blick ab und verfluchte seine Neugierde. Er zitterte. Aber ein Teil von ihm wollte auch das Schlimmste sehen, also schaute er wieder hin. Ihr Herz schlug immer noch. Ein paar Minuten war es stärker als ihr Drang nach Wissen. Als sie ihre Proben entnommen hatten, brachten sie es zum Stillstand, auch das des Kindes. Die Bahre wurde hinausgefahren. Ein Chemikaliennebel sprühte aus Düsen in der Zimmerdecke. Das restliche Blut lief in einen Abfluss. Adam dachte schon, damit hätte er das Schlimmste überstanden. Kurz darauf ging die Tür auf und eine weitere werdende Mutter wurde hereingebracht. In dieser Schicht schafften sie acht. Sechzehn, wenn man die Neugeborenen mitzählte. Anschließend rannte Adam durch die Dunkelheit nach Hause. Er zog sich die Bettdecke über den Kopf, fand jedoch keinen Schlaf. Am Morgen erzählte er Cavendish, er fühlte eine Erkältung im Anzug. Er blieb den ganzen Tag im Bett liegen und kämpfte innerlich mit den Ungeheuerlichkeiten, die er gesehen hatte. Eigentlich hätte er diese Gefühle überhaupt nicht haben dürfen. Klone waren Schattengestalten. Keiner sagte es, aber man hielt sie für weniger wert als Menschen. Das wusste er aus Cavendishs Kopf. 279
Cavendish ließ Adam mittags einen Behälter mit Hühnersuppe bringen. Noch in der gleichen Nacht war Adam wieder im Südsektor, um mehr zu sehen. Von da an war er ständiger Gast in den BSL-4. Er tauchte in ihre Grausamkeit ein, entsetzt, aber gleichzeitig seltsam erregt durch die Tatsache, dass Menschen sich so etwas selbst antun konnten. Im Namen der Wissenschaft wurde hier jeder nur erdenkliche Schrecken durchgeführt. Die Labors verfügten über einen nie versiegenden Nachschub an Seuchenopfern, die man in den Städten einsammelte und die in allen möglichen Krankheitsstadien hier angeliefert wurden. Manche von ihnen wussten nicht einmal von ihrer Infektion. Nacht für Nacht sah Adam zu, wie sie geopfert wurden. Die Versuchspersonen nannte man allgemein »Verbrauchsmaterial«, ein Ausdruck, der noch aus der amerikanischen Medizinforschung nach dem Zweiten Weltkrieg stammte. Damals waren Nazis und russische Spione das Verbrauchsmaterial gewesen. Jetzt waren es Amerikaner … und die Jahr Null-Männer. Das bei weitem größte Entsetzen bereiteten ihm die Versuche mit den Jahr Null-Klonen. Sie waren gesunde junge Männer, die absichtlich infiziert wurden. Das Virus wurde ihnen in Augen, Hals und Ohren gesprüht, wurde ihnen in die Haut eingekratzt oder injiziert. Dann wurden sie bei lebendigem Leibe seziert. Die Klone schrien. Eingepackt in seinen Mondanzug und mit verstopften Ohren konnte Adam ihre Worte nicht verstehen. Aber sie sprachen. Die Forscher behaupteten, die Worte wären keine richtigen Worte. Das brachte Adam dazu, genauer nachzuforschen. Er begann, ihre Sprache aufzunehmen. Die Jahr-Null-Klone bedeuteten Adam deshalb so viel, 280
weil er nicht nur selbst einer von ihnen war, sondern auch ihre causa causans, der Ursprung ihres Daseins. Ihn hatte man erschaffen, um sie schaffen zu können. Er war der erste von ihnen. Er war ihre Vergangenheit, aber auch ihre Zukunft. Sie stammten nicht von seinem Blut, waren aber trotzdem seine Nachkommen. Sein Geschlecht. Durch sie wurde er noch ein weiteres Mal geboren. Der Teil von ihm, der Cavendish war, hatte diese armen Geschöpfe dazu verdammt, geboren zu werden, um zu sterben. Er trug die Erinnerung an die Genehmigung ihrer Herstellung und ihrer Leiden in sich. Wenn Adam die Augen schloss, konnte er eine Hand sehen, seine Hand, und wiederum doch nicht seine, er sah, wie er die Anordnung unterschrieb. Wenn er in den Spiegel blickte, sah er eines von vielen Versuchskaninchen. Er hatte es nur einer Laune des Schicksals zu verdanken, dass sie ihn nicht ebenfalls schon vor langer Zeit mit ihren Messern aufgeschnitten hatten. Er konnte die Klone nicht befreien, ohne sich selbst zu opfern. Der Südsektor war geheiligter Boden. Die Heilung war ihre Religion. Die Klone zu befreien wäre so, als ließe man Teufel in einer Kathedrale los. Doch dann nahm eine Idee allmählich Gestalt an.
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16 Der Bote LETZTE MAIWOCHE
Eine ganze Woche wandelte Nathan Lee unsichtbar durch ihr Reich. Ab und zu hörte er irgendwo etwas poltern oder jemanden in den Gängen vor sich hinmurmeln, und manchmal beobachtete er uralte Kuratoren, die in Lichtkegeln kniend Listen erstellten und irgendwelche Objekte taxierten; ansonsten hatte er den ganzen Laden für sich. In seiner Glanzzeit hatte das Smithsonian mehr als 3000 Angestellte beschäftigt, jetzt spukten nur noch elf davon in dem eingemotteten Museum herum. Nathan Lee hielt sich versteckt, beobachtete sie jedoch bei ihren Mahlzeiten und Sitzungen und erfuhr dabei, dass die Gelehrten und Verwalter schon seit Weihnachten hier lebten. Sie bewohnten ein Netz von Tunneln, die die vier benachbarten Galerien des Smithsonian miteinander verbanden. Es war ein einsames Leben; zwei Selbstmorde hatte es bereits gegeben. Er fand ihre Leichen tiefgefroren in der Kühltruhe des Präparators. Nathan Lee hatte Angst, sich vor allen zu zeigen, weil er nicht wissen konnte, wie sie ihn behandeln würden. Nur weil Spencer Baird sein Ruf als Mörder und Kannibale amüsierte, hieß das noch lange nicht, dass die anderen genauso dachten. Im Augenblick schien es klüger zu sein, im Verborgenen nach Hinweisen zu forschen. Nach und nach konnte er sich ihre Geschichte zusam282
menreimen. Im vergangenen Dezember hatten Soldaten, kurz bevor sämtliche Regierungsgebäude versiegelt wurden, Gemälde, Kunstgegenstände und Dokumente aus weiter entfernten Museen zur sicheren Aufbewahrung hierher gebracht. Das Schloss und die mit ihm verbundenen Gebäude wurden mit Karteikästen, Gemälden und Plastiken voll gestopft, mit Schädeln, ägyptischen Mumien, Schmetterlings- und Käfersammlungen, allen möglichen Erfindungen, seltenen Münzen … und mit Dokumenten aus dem Natural History Museum, in denen er Hinweise auf Ochs zu finden hoffte. Die greisen Verwalter unterhielten sich darüber, wie sie alles in Ordnung halten wollten, ganz egal, was auch kommen würde – die Heilung oder der Untergang. In Wahrheit konnten sie sich aber ganz einfach nicht von den Wundern trennen, die sich um sie herum angehäuft hatten. Manchmal beobachtete er sie dabei, wie sie »Leihstücke« mit bloßen Händen in ihre Räumlichkeiten schafften, echte Rembrandts oder Bronzegefäße aus der Han-Dynastie wie erbeutete Fleischstücke hinter sich herschleiften. Es herrschte eine Stimmung des stilvollen Untergangs. Eines Abends hörte er eine Kuratorin ein wundervolles BachSolo auf einem Stradivari-Cello aus dem Jahr 1701 spielen. Nathan Lee stand im Dunklen und wiegte sich im Rhythmus der Musik. Es hatte immer geheißen, das Smithsonian befände sich in einem Zustand nie endender Inventur. Diese Beobachtung traf jetzt mehr denn je zu. Trotz monatelanger Katalogisierungsarbeit schienen selbst die Verwalter keine Ahnung zu haben, was sich wo befand. Das Chaos war überwältigend. Nathan Lee versuchte, bei seiner Suche systematisch vorzugehen, aber mit jeder Stunde schien das Labyrinth komplexer, die Objekte immer noch zahlreicher zu werden. Ritterhelme lagen neben Mondgestein zwischen 283
Kisten mit Rechnungen, die aus der Zeit der Indianerkriege stammten. Er versuchte, eine Karte vom Museum zu zeichnen, um nicht zweimal an derselben Stelle zu suchen, aber aus jeder Linie entsprangen bald neue Linien, Tunnel zweigten von anderen Tunneln ab. Er schlief in muffigen Bombenkellern mit Zivilschutz-Hinweisen und Wänden, in die schon Soldaten der Nordstaaten ihre Namen gekratzt hatten. Allmählich verließ ihn die Hoffnung. Er könnte die nächsten zehn Jahre damit verbringen, sich durch Karteikästen zu wühlen, ohne auch nur eine Notiz oder einen Laufzettel mit Ochs’ Namen darauf zu finden. Unmerklich drohte er in ihrer auf den Kopf gestellten Schattenwelt zu versinken, in der sich auch die Tage als Nächte ausgaben. Als Sammler hatten sie natürlich auch angefangen, Gegenstände aus der Zeit der Seuche zu sammeln: Plakate, auf denen Sportler und Filmstars die Öffentlichkeit zu Geldspenden und moralischer Unterstützung aufforderten; Zeitschriften mit Artikeln über das Z-Virus; Bilder von Opfern, die wie durchsichtige Plastikmodelle aussahen; amtliche Bekanntmachungen, die Quarantäne (das Wort leitete sich von den 40 Tagen her, die fremde Schiffe früher oft aus Angst vor mitgebrachten Krankheiten in den Häfen isoliert gehalten wurden, während das Zeitmaß 40 Tage wiederum noch von Noahs Arche herrührte), Ausgangssperren, Reisen zwischen den US-Bundesstaaten und die Versorgung von Flüchtlingen betrafen; Geräte zur Blutentnahme und Bluttests und so weiter. Als Archivare archivierten sie sich sogar selbst, indem sie sich gegenseitig beim Kistenöffnen, Türenverriegeln und beim allgemeinen Warten auf das Ende fotografierten. Am fünften Tag prallte er gegen eine Frau, die alt genug war, um seine Urgroßmutter zu sein. Er hatte sie in ihren weißen Tennisschuhen nicht kommen gehört. Sie fiel ein284
fach um und Nathan Lee beugte sich eilig über sie. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte sie zu ihm. Er erkannte die Cellistin wieder. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er. Sie sah ihn mit einem verwunderten Lächeln an. »Ach, Sie sind es«, sagte sie und berührte sein Gesicht. »Endlich sind Sie da. Wir warten schon seit Monaten auf Sie.« »Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, murmelte Nathan Lee und nahm ihren Arm. »Das ist ja wunderbar. Das bedeutet, Sie suchen immer noch. Sie müssen uns berichten, welche Fortschritte Sie gemacht haben. Wir hätten die Hoffnung schon fast aufgegeben.« Ihre Hand zitterte. Offensichtlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, wer er war. Er hatte ihr einen Mordsschrecken eingejagt. Die arme Frau war so verwirrt, dass sie ihn vergessen würde, sobald er wieder in der Dunkelheit verschwand. Aber Nathan Lee entschloss sich spontan, sein Versteckspiel aufzugeben, ehe einer von ihnen seinetwegen noch einen Herzanfall bekam. Allein kam er hier ohnehin nicht weiter. »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.« »Aber nein«, sagte sie hartnäckig. »Er hat uns gesagt, Sie würden kommen. Aber das war schon im letzten November.« Er ließ sich auf ihr wirres Gerede ein. »Ich habe ziemlich lange gebraucht«, sagte er. »Fliegen die Flugzeuge wieder?«, fragte sie. »Welche Flugzeuge?« Der Himmel war leer. Er gehörte den Vögeln und den Kinderdrachen. »Er sagte, er müsse sein Flugzeug kriegen.« »Wer?« 285
»Ein großer Mann. Er sagte, es sei eine Frage der nationalen Sicherheit, und hielt uns tagelang auf Trab. Wir haben so viele Kunstobjekte zusammengesucht, wie wir in der Kürze der Zeit finden konnten. Dann raste er davon, um sein Militärflugzeug zu kriegen. Die Liste ließ er hier, damit wir die restlichen Sachen zusammenstellen können. Es steht alles für Sie bereit.« Ein großer Mann, der mitten im allgemeinen Untergang Kunstgegenstände klaute? Das konnte nicht sein. Er weigerte sich, es zu glauben. »Wissen Sie noch seinen Namen?« »Er war auffallend unhöflich«, erinnerte sie sich. Sie nahm seinen Arm. »Kommen Sie mit. Ellison weiß es bestimmt noch. Und dann sorgen wir dafür, dass Sie wieder loskommen.« Während sie ihn durch die Korridore führte, tauchten die anderen Kuratoren wie Phantome aus der Dunkelheit auf und schlossen sich der Prozession an. Auch Baird kam aus einem Zimmer spaziert. »Da sind Sie ja.« Den anderen krächzte er zu: »Der junge Swift. Ich habe es Ihnen doch gesagt.« Sie begaben sich in Ellisons Reich, einem großen Büro unter dem Freer Museum, wo sich herausstellte, dass sie tatsächlich auf ihn – oder jemanden wie ihn – gewartet hatten. Ellison fungierte als stellvertretender Geschäftsführer. Groß und aufrecht saß er hinter seinem Schreibtisch, neben dem eine schlanke, übermannsgroße Bronzestatue von Giacometti stand, die geschmackvoll von Strahlern angeleuchtet wurde. An eine Wand hatte er eine englische Muskete aus dem Unabhängigkeitskrieg gehängt, an eine andere ein Aquarell mit Pappeln von Morris Rippel. Sein Schreibtisch war so gut wie leer, bis auf eine Laterne und 286
die kleine Plastik einer nackten Frau, die mit abgewinkelter Hüfte und auf einen Ellbogen gestützt dalag. Ihre formvollendeten Brüste ragten üppig und arrogant hervor. Die Kuratoren drängten sich in das Zimmer und redeten aufgeregt durcheinander; ihre Schatten bevölkerten die Wände. Baird spielte den Helden. »Ich habe ihn im Regen gefunden, zitternd wie ein kleines Kätzchen. Sie würden mir nicht glauben, was da draußen für ein Unwetter herrscht.« Nathan Lee erzählte ihm nicht, dass der Regen schon eine Woche her war. Ellison blickte streng drein und versuchte sie zur Ordnung zu rufen. »Ich bitte Sie«, sagte er an alle Anwesenden gerichtet. Er sah, dass Nathan Lee die Statue interessiert betrachtete und zog sie mit seinen schmalen Händen näher an sich. »Matisse«, sagte er spröde. »Wie sieht’s denn auf den Straßen aus, junger Mann?«, rief ein Mann von hinten. »Sind die Autobahnen wirklich vermint?« »Wie schlimm ist es denn mit dem Kriegsrecht?«, fragte ein anderer. »Sie meinen wohl, wie gut?«, sagte jemand. »Mit dem Kriegsrecht haben wir Verrat an uns selbst begangen«, erwiderte der erste. Es klang nach einem schon länger andauernden Disput. »Hören Sie auf meine Worte. Wenn ich gewusst hätte, dass wir uns in ein verdammtes Drittes Reich verwandeln …« »Recht. Ordnung.« »Ich muss doch bitten«, sagte Ellison. »Bitte.« Langsam kehrte Ruhe ein. Ellison starrte Nathan Lee an. »Wir wussten, dass Sie hier sind«, stellte er fest. »Einige der Kuratoren hielten Sie für ein Gespenst, das hier herumspukt. Ich war schon kurz 287
davor, die Soldaten zu holen, um Sie einzufangen.« »Das ist Swift, Sie Trottel«, sagte Baird. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Wir brauchen hier keine verdammten Soldaten.« Er kicherte. »Ich nehme an, Sie haben Ihren Raubzug abgeschlossen«, sagte Ellison. »Ich suche nach Informationen«, erwiderte Nathan Lee. »Über einen Mann namens David Ochs.« »Ochs«, wiederholte Ellison. »Ja, der Professor war hier. Er hat uns von dem Ärger berichtet, den Sie ihm bereitet haben. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem Ärger, den Sie uns eingebrockt haben. Ist Ihnen klar, welche Schande Sie über dieses Institut gebracht haben? Das Smithsonian! Leichenfledderei. Das FBI. Eine Überprüfung … und dazu noch durch das Metropolitan Museum, um alles in der Welt! Überweisungen, Gelder, die an einen verurteilten Mörder gezahlt wurden! Wegen Ihnen sind Köpfe gerollt, Mister Swift!« »Hören Sie endlich auf, unsere Zeit zu verschwenden, Ellison«, stieß Baird hervor. »Der Junge hat viel durchgemacht. Und was diesen Ochs angeht, das ist ein Schleimscheißer, wenn Sie mich fragen. Ich habe dem kein Wort geglaubt …« »Ochs war hier?«, fragte Nathan Lee. Ellison öffnete eine Schublade und zog eine Aktenmappe hervor. Darin lag ein einzelnes Blatt Papier mit einer Liste. Er sog so scharf die Luft ein und ging mit einer Bleistiftspitze die verschiedenen Punkte durch. »Einhundertzehn Gegenstände sind hier aufgeführt. Der Professor hat dreiundzwanzig mitgenommen. Es war sehr hektisch. Fast hätte er seinen Flug verpasst. Hat ihn ziemlich Nerven gekostet, aber ich kann’s ihm nachfühlen. Reisen zu Land waren schon zu gefährlich geworden. Das war da288
mals. Und jetzt? Wie sind Sie eigentlich hergekommen?« »Er weiß schon wie.« Baird freute sich. »Vielleicht hören Sie mir jetzt mal zu. Er ist ein cleverer Junge.« Das brachte die alten Leute wieder in Fahrt. Fragen prasselten auf ihn ein. »Was gibt es für Neuigkeiten? Wie sieht’s draußen aus?« »Ist denn bald mit einem Impfstoff zu rechnen?«, fragte die kleine Cellistin. Sie hielt sich immer noch an Nathan Lees Arm fest, als wäre er ein fescher Jüngling und sie die Ballkönigin. Ellison hätte sich beim Räuspern fast mit dem Bleistift verletzt. »Professor Ochs versprach, einen Boten wegen der restlichen siebenundachtzig Posten auf dieser Liste zu schikken. Aber das hätte schon vor sechs Monaten passieren sollen.« Solange er seine Rolle spielte, fütterten sie ihn mit Stichworten. »Ich habe länger gebraucht, als ich dachte«, sagte er, ohne sich zu entschuldigen. »Wie Sie bereits erwähnten … die Straßen.« Er sprach die Straßen mit einem unheilvollen Unterton aus. »Gut gemacht, junger Mann«, sagte Baird. »Da draußen ist die Hölle los, verstehen Sie?«, sagte er zu den anderen. Sie murmelten. Sie verstanden. »Ich habe da ein Problem«, fuhr Ellison fort. »Bei Gott«, pflichtete Baird ihm bei. Ellison ließ seine Hände auf die aufgeräumte Schreibtischplatte sinken. »Warum um alles in der Welt haben sie einen Dieb geschickt?« Wer waren bloß diese sie? Wo war Ochs hergekommen? Wohin war er gegangen? 289
»Wollen Sie, dass der Auftrag erledigt wird oder nicht, Ellison?«, stieß Baird hervor. »Wir leben in schrecklichen Zeiten. Das erfordert schon einen bestimmten Typ von Mann. Einen Schwächling können Sie schlecht auf eine solche Reise schicken.« Ellison war verärgert. »Ich will damit nur sagen, ich weiß, wer Sie sind, Mister Swift. Was immer Sie auch in dieser Woche von uns gestohlen haben, es bleibt hier. Sie sind aus einem bestimmten Grund hierher geschickt worden. Man erwartet viel von Ihnen.« Nathan Lee hatte tatsächlich gestohlen: kleine Dinge, wertvolle Dinge. Sein Gold war fast alle, und er musste immer noch ein ganzes Land durchforschen. Aber einem Bürokraten gegenüber, der nur Vermutungen anstellte, würde er das nicht zugeben. »Haben Sie meine Lieferung?«, sagte er. »Wir haben unser Möglichstes getan«, schniefte Ellison. »Wir konnten nur dreizehn weitere Gegenstände auftreiben.« »Dreizehn.« Nathan Lee blickte finster drein. »Man hatte mir gegenüber von siebenundachtzig gesprochen. Habe ich den ganzen weiten Weg umsonst zurückgelegt?« Er zog Ellison die Liste aus den Händen. Die Bestandsliste war auf Briefpapier des Los Alamos National Laboratory gedruckt. Nathan Lee erkannte ein paar der Gegenstände aus seiner Zeit bei den Jahr NullAusgrabungen wieder. Bei dem Rest handelte es sich um Schmuckstücke aus dem Mittleren Osten und Europa, Talismane und Reliquien. Die Zusammenstellung ergab für ihn keinen Sinn. Doch darunter stand eine hastig geschriebene Bestätigung über den Empfang von dreiundzwanzig Objekten. Darunter, größer als notwendig, erkannte er Ochs’ Unterschrift. Los Alamos?, dachte Nathan Lee. 290
»Dreizehn kann man wohl kaum als nichts bezeichnen«, protestierte Ellison. »Im Vergleich zu siebenundachtzig …«, erwiderte Nathan Lee. Sein Verstand raste. »Ich brauche ein Fahrzeug«, fuhr er fort. »Und Lebensmittel. Und Passierscheine.« Ellisons Augen wurden schmal. »Sie brauchen ja eine Menge«, sagte er. »Hört sich fast an wie jemand, der aus einer verlorenen Situation möglichst viel rausschlagen will.« »Er ist der Kurier«, sagte Baird. »Sie haben ihn geschickt.« »Das glaube ich nicht«, sagte Ellison. »Es geht um höchste Regierungsangelegenheiten«, gab die Cellistin zu bedenken. »Mister Swift ist ein Patriot. Er ist hier, um uns zu retten.« »Sie bringen die Forschung nach einer Heilmethode in Gefahr«, sagte ein alter Mann. »Ich habe Kinder da draußen.« »Enkel«, brummte ein anderer ergänzend. »Für wen halten Sie sich, Ellison? Mit welchem Recht …« Ellison versuchte standhaft zu bleiben, doch die anderen waren in der Überzahl. »Dann sorgen Sie dafür, dass er wieder loskommt«, bellte er. »Geben Sie ihm, was er braucht. Schaffen Sie ihn hier raus.« Die Gruppe löste sich auf. Nur Nathan Lee blieb stehen und drehte sich um. Ellison rutschte nervös hin und her. »Was ist denn jetzt noch?«, fragte er. Nathan Lee nahm die Matisse-Plastik und wog sie in der Hand. Vor aller Augen steckte er sie in seine Jackentasche. »Als Glücksbringer«, sagte er. 291
Seine Unverschämtheit ermutigte sie. Der illustre Haufen folgte ihm wie einem großen Helden. Am darauf folgenden Morgen erweckte Nathan Lee auf dem Rasen vor dem Museum eine alte Indian 101 Scout mit dem Kickstarter zum Leben. Der Museumsplakette zufolge war das Motorrad Baujahr 1928. Massiv und niedrig gebaut, mit einem Stahlfeder-Sattel, der von einem Traktor zu stammen schien, war das Motorrad nicht gerade ein Easy Rider. Die Scout war eine Idee von Baird gewesen, der Nathan Lee ein Stück seiner eigenen wilden Jugend mit auf den Weg geben wollte. Nathan Lee selbst hätte sich unter all den Motorrädern der Sammlung wohl ein anderes ausgesucht, aber er schuldete dem alten Mann einen Traum. Glücklicherweise war die Maschine in hervorragendem Zustand. Der Stifter hatte erst vor zwei Jahren noch liebevoll das Öl gewechselt und neue Ventile eingesetzt. Aus dem Auspuff quoll weißer Qualm, der sich aber bald verflüchtigte. Nathan Lee hatte einen Schlafsack aus der Mount Everest-Ausstellung des Natural History Museum auf den Lenker geschnallt, dazu eine Machete mit Holzgriff, die angeblich Stanley bei seiner Suche nach Livingstone benutzt hatte. In den Satteltaschen – die von einem anderen Stück aus der Sammlung stammten und an die Scout angepasst worden waren – hatte er zwei Pakete mit den Kunstgegenständen, Geleitbriefe auf SmithsonianBriefpapier, Karten, Essen aus der Küche des Schlosses, vier Weinflaschen mit Benzin und sein Buch für Grace verstaut. Die seltenen Münzen, Juwelen und Kristalle sowie das Gold – alles, was er aus dem Museum gestohlen hatte, war in seinen Taschen verborgen oder an seinen Beinen festgeklebt. Ein Trupp Armeepioniere mit Werkzeuggürteln und 292
Schutzhelmen wartete missmutig darauf, den Eingang wieder verrammeln zu können. Baird und ein paar andere Kuratoren standen auf dem grünen Rasen und blinzelten in die morgendliche Sonne. »Es ist schon fast Juni«, sagte Baird zu ihm. »Sommer in Amerika. Was für eine Pracht, Swift.« Er weinte. »Ich werde Ihnen alles darüber berichten«, sagte Nathan Lee. Sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Die Kuratoren waren schon so gut wie tot. Baird klopfte Nathan Lee auf den Rücken. Nathan Lee ließ die Kupplung kommen und rollte langsam über den Rasen. Sie riefen ihm »Gute Reise« hinterher. Wie eine Figur aus ihren Träumen gab er Gas und verschwand dröhnend in der Ferne.
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17 Hinter dem Zaun JULI, ZWEI MONATE SPÄTER
Nathan Lee ritt im ersten Morgenlicht auf seinem Pferd in das Dorf San Ildefonso. Auf einem Torbogen aus luftgetrockneten Ziegeln stand ein malerisches Kreuz. Der Ort war von Soldaten der Dritten Gepanzerten Kavallerie besetzt, die sich jedoch so vorsichtig wie Museumswächter aufführten. Sie hatten sich die allergrößte Mühe gegeben, das Kreuz nicht zu beschädigen, als sie ihren Panzer in Stellung gebracht hatten. Vom Turm des Panzers aus suchte ein Soldat angestrengt mit dem Fernglas den Horizont ab. Die letzten hundert Meter hatte Nathan Lee das Gefühl, er würde ihn beobachten, doch als er näher kam und der Soldat ihn nicht anrief, drehte er sich um und sah einen Habicht, der sich im Morgenwind treiben ließ. Der Soldat beobachtete die Vögel. Nathan Lee stieg von seinem Pferd und machte es neben einem Grasstreifen fest; es war eine Appaloosa-Stute. Er verstand nicht viel von Pferden, doch sie hatten sich mittlerweile aneinander gewöhnt. Das Tier mochte Hafer, das war eindeutig, aber in dem Sack war nicht mehr viel drin. Zu seiner großen Erleichterung schien ihm das Gras auch zu schmecken. Einer der Wachtposten, ein schmaler Junge mit einem fahlblonden Schnurrbart, eskortierte ihn am Panzer vorbei. 294
Sie gingen quer über den Platz zu einem eingeschossigen Gebäude, in dem die Offiziere untergebracht waren; dort legte Nathan Lee sein Blutbuch und seine Papiere vor. Der Wachtposten wartete draußen mit ihm, während der Sanitäter geweckt wurde. Nathan Lee rollte sich in Erwartung der Nadel schon einmal den Ärmel hoch. Inzwischen sah er mit den vielen Einstichlöchern auf dem Unterarm wie ein Junkie aus. »Möchten Sie sich setzen?«, fragte der Soldat und wies auf einen Klappstuhl. Nathan Lee lehnte dankend ab. »Der Sattel bringt mich noch um.« »Cooles Pferd«, sagte der Junge. Vor der Kirche lag ein alter Friedhof. Das Betreten der Kiva war einem Schild zufolge verboten. Neben den Türen hingen noch die roten Chilischoten vom letzten Herbst. Alle Pueblo-Bewohner waren verschwunden; sogar ihre Hunde hatten sie mitgenommen. »Wo haben Sie die Leute hingebracht?«, erkundigte sich Nathan Lee. »Die waren schon weg, als wir kamen.« Der Junge zeigte Richtung Westen. »Chaco Canyon. Das ist so eine Art heiliger Ort. Wie es aussieht, sind die meisten Indianer dorthin gezogen, um abzuwarten. Ich schätze, ein paar von ihnen arbeiten auch oben im Labor.« In der vergangenen Nacht hatte Nathan Lee die Stadt von seinem Lager aus in etlichen Kilometern Entfernung hoch über dem Tal glitzern und funkeln sehen. Es war der letzte Ort in Amerika, der noch über eine zuverlässige Stromversorgung verfügte. Selbst die Soldaten waren ohne Strom. Von anderen Außenposten wusste er, dass sie ihre Verpflegungsrationen mit selbst erhitzenden Packungen warm machten. Zum Heizen verbrannte die Dritte Kaval295
lerie knorrige Kiefernstämme. Der Rauch im Hof roch verlockend. Es war Anfang Juli. Die riesige Kanone des Panzers zielte in die leere Wüste. Ihr einziger Feind war die Zeit. Irgendjemand hatte kleine schwarze Töpfe mit Wüstenpflanzen auf die gewaltigen Panzerketten gestellt. Die Kakteen blühten gelb. In der Stille konnte man die Wiesenstärlinge hören. Die entspannte Stimmung beunruhigte Nathan Lee. In den vergangenen paar Tagen war er sich mit jedem Kilometer leichter, beweglicher und sorgloser vorgekommen. Es passierte unmerklich, erst heute Morgen hatte er angefangen, sich Sorgen zu machen, weil er vielleicht unvorsichtig wurde. Zu lange hatte er sich durch fremdes Gebiet und jede Menge Ärger kämpfen müssen, um noch an ein Happy End glauben zu können. Es war wichtig, so schärfte er sich ein, immer auf das Schlimmste gefasst zu sein. Was, wenn Ochs schon weitergezogen war? Wenn er niemals hier gewesen war? Welche Verbindung blieb ihm dann noch zu Grace? Während er so dastand, erhob sich plötzlich ein Vogelschwarm von der Mesa, hob schwarz und winzig vom weiten Himmel ab. Nathan Lee war noch nie in Los Alamos gewesen, erkannte aber mit einem Mal, wie perfekt die Geographie hier dem Konzept der höchsten Geheimhaltung in die Hände spielte. Es gab nur eine einzige Straße, die aus dem Tal auf das Felsplateau hinaufführte, ein vierspuriges Band, das man in die farbenprächtigen Felsen gehauen hatte. Zweifellos konnte man auch zwischen den Fingern der Mesa hinaufklettern, aber nicht, ohne entdeckt zu werden. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine überlegene Position. Es dauerte nicht lange, bis das pulsierende Dröhnen von Hubschrauberrotoren ertönte. Der dunkle Schwarm be296
stand keineswegs aus Vögeln. Sechs Helikopter flogen in lockerer Formation in Richtung Norden. »Sollen die für Ordnung sorgen?«, fragte er. »Razzia«, antwortete der Soldat. »Die fliegen in die Städte und jagen für die Eierköpfe.« »Eierköpfe?« Der Soldat deutete auf seinen Kopf. »Sie wissen schon: die Schlauberger. Die Forschertypen.« Nathan Lee wusste nicht, ob er ihn richtig verstanden hatte. Suchten die Hubschrauber in den weit entfernten Städten nach Wissenschaftlern, oder besorgten sie Nachschub für sie? Der Sanitäter tauchte mit seinen Geräten auf, und Nathan Lee hielt ihm den Arm hin. Kurz danach bekam er seine Papiere und sein Blutbuch abgestempelt und unterschrieben zurück. Er quetschte sich an dem Panzer mit dem kleinen Blumengarten vorbei, bestieg sein Pferd und ritt weiter den Highway 502 entlang. Ein kleines Stück weiter überspannte eine Brücke den Rio Grande. Das schokoladenbraune Wasser schoss mit dem letzten Rest der Schneeschmelze darunter hinweg. Es sah aus wie eine große, schlammige Schlange, die unter seinen Füßen davonglitt. Aus irgendeinem Grund weckte der Fluss wieder seine alten Ängste. Und mit einem Mal ging es Nathan Lee wieder gut. »Aber ich habe mit Neuankömmlingen nichts zu tun«, sagte Miranda dem Captain. »Der hier dürfte Sie interessieren.« Er hielt einen Pappkarton in den Händen. Der Captain war Zuni-Indianer und Anfang sechzig. Früher war er bei der Marine gewesen, hatte sich seitdem aber das Haar wieder lang wachsen lassen; es war kräftig und silbern. Er war für die Sicherheit 297
im gesamten Technischen Bereich 3 verantwortlich, aber seit die Klone in Mirandas Obhut zurückgekehrt waren, hatte er sein Büro in den Kellergeschossen unter dem Alpha Labor aufgeschlagen. Daher sah sie ihn öfter und hatte festgestellt, dass sie sich in seiner Gegenwart unerwartet geborgen fühlte. »Ich habe zu tun«, sagte sie. »Das ist Ihr Paket.« Sie seufzte. »Was denn für ein Paket?« Er griff in den Karton und reichte ihr einen zerknitterten Brief, der nach Rauch roch, als sie ihn entfaltete. »Der Rest Ihrer Lieferung aus dem Smithsonian. Kam gestern Abend hier an.« Er fügte hinzu: »Vielleicht.« Miranda überflog den Brief. Der Briefkopf stammte vom Smithsonian Institut. Dem Datum nach war er vor zwei Monaten geschrieben worden. Auf Ihren Wunsch … die folgenden dreizehn (13) Objekte aus den Sammlungen des Smithsonian. Miranda fuhr mit dem Finger die Liste entlang und stellte fest, dass sich darunter neun Reliquien, drei Knochenfragmente und eine Tränenphiole befanden. »Wieso denn vielleicht?«, fragte sie. »Der Mann sagt, er hätte das Paket auf dem Weg hier zu uns herauf vergraben.« »Welcher Mann?« »Der Kurier. Irgendein Arzt.« Er fügte hinzu: »Angeblich.« Miranda atmete vernehmbar aus. Der Captain gab sich heute Morgen mal wieder sehr geheimnisvoll. Anderen gegenüber war er nie so, das war ihr schon aufgefallen. Er schien es für seine Pflicht zu halten, sie hin und wieder abzulenken. Das musste sie sich nicht gefallen lassen. Sie war mit den Gedanken ganz woanders, musste sich den 298
Kopf über andere Dinge zerbrechen, nicht nur wegen des Labors, sondern wegen des ganzen Ladens hier. Sie sah ihre gesamte wissenschaftliche Arbeit wie die Fäden eines großen Spinnennetzes miteinander verwoben, und sie wollte bereit sein, sobald sich nur der geringste Hinweis auf ein Heilverfahren abzeichnete. Das bedeutete, dass sie rund um die Uhr wachsam sein musste. Und der Captain war der Meinung, sie sollte es mal ein bisschen ruhiger angehen lassen. »In Ordnung«, seufzte sie. »Und was soll dieses ›angeblich‹ bedeuten?« »Na ja, zunächst einmal ist sein Blutbuch gefälscht. Der Mann vom Sicherheitsdienst hat am Tor den Klebstoff unter dem Infrarotlicht entdeckt. Wir wissen nicht, wer er wirklich ist. Er will es uns nicht sagen. Kam auf einem Appaloosa angeritten, der Mann.« »Was ist ein Appaloosa?«, fragte sie. »Eine Pferderasse.« Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Und warum hat er das Paket vergraben?« »Er will verhandeln. Langer Rede kurzer Sinn: Man hat die ganze Sache uns übertragen. Ihnen.« »Er will rein«, fasste Miranda zusammen. Jeden Tag stand jemand Neues da und wollte hinter den Zaun. Hier gab es noch das Amerika von früher, warm, hell erleuchtet und mit ausreichend Vorräten. »Sagen Sie ihm, wir hätten kein Zimmer mehr frei.« Es war die Wahrheit. Niemand hätte voraussagen können, dass sich Los Alamos so schnell füllen würde. Über Nacht, so schien es, war der Auftrag des National Laboratory aus der Bahn geraten, wie die Waffentechniker sagen würden. Nach dem Ausbruch der Seuche hatte sich das Augenmerk der Wissenschaftler von Los Alamos von den 299
Möglichkeiten und dem Missbrauch von Pu oder Plutonium auf Möglichkeiten und Missbrauch des menschlichen Gens verlagert. Auf diesem sanft hügeligen Tafelberg, der sich mit seinen fingerartigen Halbinseln hoch über dem Tal des Rio Grande erhob und auf dem die Bombenbauer von gestern mit einer Kleinstadt ausgekommen waren, hatten die Virenjäger eine Großstadt gebaut. Miranda konnte sich noch an das verträumte kleine amerikanische Städtchen mit seiner Eisdiele, dem Kino und den Kunsthandwerksgeschäften erinnern; es war größtenteils verschwunden. Sogar der Golfplatz war dem Erdboden gleichgemacht worden, um Platz für 27 000 Wissenschaftler und ihre Mitarbeiter und Familien zu schaffen, insgesamt etwa 90 000 Menschen. Dabei waren noch nicht einmal die Soldaten mitgezählt, die ihre eigenen Unterkünfte hatten. »Der ist anders«, sagte der Captain. »Er hat dafür gesorgt, dass er wieder hinauskommen kann, ehe er hereinkommt. Er will weiterziehen.« »Tatsächlich?« »Er hat den Wachtposten das Versprechen abgenommen, dass sie sein Pferd füttern, während er seine Verhandlungen führt. Und zwar mit Ihnen.« »Führen wir hier jetzt schon einen Reitstall? Was will er eigentlich?« »Sie, vermute ich. Den Verantwortlichen.« »Das ist Cavendish«, erwiderte sie. »Dann könnte man den Fremden ja gleich erschießen.« »Was soll ich denn machen? Ich bin doch nicht der Herr Direktor.« »Nein. Sie sind nur Miranda. Abbot«, fügte er hinzu. Der Captain stand immer noch mit dem Karton in der Hand 300
vor ihr. Er wusste, sie alle wussten, dass Miranda eine Macht besaß, die Cavendish niemals zur Verfügung stehen würde. Sie hatte ihren Vater. In diesen Zeiten der Seuche gehorchten sogar die Generäle der Meinung des Wissenschaftsgurus. Cavendish mochte über Los Alamos gebieten – Paul Abbot gebot über ihn. Und Cavendish schien das zu respektieren, wenn auch nur widerwillig. Er und Miranda waren schon aneinander geraten, mehr als einmal. Ihre Ansichten unterschieden sich wie Tag und Nacht. Ihrer Meinung nach waren Wissenschaftler an einem langen Gummiseil befestigt, mit dem sie weite, wagemutige Sprünge ins Unbekannte unternehmen und trotzdem wieder sicher landen konnten, bereit zum nächsten Sprung. Sie sollten es immer und immer wieder versuchen. Für Cavendish dagegen glich jedes Experiment einer Expedition in den eigenen, dunklen Urwald. Die Entdekker sollten erst wieder auftauchen, wenn sie die Trophäe in der Hand hielten. Der Tod ist endgültig, erinnerte er sie immer wieder. Misserfolg ist nicht drin. Das Perverse daran war, dass Cavendish selbst den Misserfolg in das System integriert hatte. Nachdem er nach Elises Tod die oberste Leitung übernommen hatte, hatte er das System nach seinem Ebenbild neu erschaffen. Eigentlich mochte er Misserfolge, zumindest eine bestimmte Art. Der Großteil der von ihm Angeworbenen waren Wissenschaftler, die in ihrer früheren Laufbahn leibhaftige Misserfolge gewesen waren, Leute, die ungeheure, leichtsinnige Risiken eingegangen und aus falschen und unerklärlichen Gründen zu Resultaten gelangt waren. Zu ihrer größten Verärgerung hielt Cavendish Miranda für eine Vertreterin dieses überdrehten Typus A, dem es schließlich gelingen würde, das Virus aufs Kreuz zu legen. Aus diesem Grund gab es in Los Alamos sehr viel mehr junge als alte Forscher. Junge Leute, das musste jeder 301
zugeben, hielten einen achtzehnstündigen Arbeitstag einfach besser durch. Außerdem, und das war für Cavendish noch viel wichtiger, waren diese Wunderkinder in ihren Methoden noch nicht so festgefahren. Sämtliche traditionellen Herangehensweisen der Immunologie, Krankheitsbekämpfung und Virenjagd hatten sich schon in den Anfangstagen der Seuche erschöpft. Niemand hatte einen Fortschritt erzielt. Jetzt brauchte man einen Weg, der von den konventionellen Methoden abwich. Cavendish verlangte mutige, verrückte, nichtlineare, allen Traditionen widersprechende Aggressivität. Er wollte Ketzer. Und er hatte sie bekommen. Trotzdem verbuchten sie einen Misserfolg nach dem anderen. »Ich muss hier gerade etwas zu Ende bringen«, sagte sie zum Captain. Der Captain verstand das als Aufforderung. Er stellte seinen Pappkarton auf einen Stuhl und fing an, verschiedene Gegenstände auf ihren Schreibtisch zu stellen. »Dieses Zeug habe ich konfisziert«, sagte er. Er legte die Plastik einer auf der Seite liegenden nackten Frau auf ihre Papiere. Sie war nicht größer als ein Briefbeschwerer. Als Nächstes folgte Flora des Himalaja, das seltsamste Buch, das Miranda je gesehen hatte. Die Buchdeckel waren gewellt, und es bestand aus einem von Hand zusammengenähten Sammelsurium exotischer Papiersorten. Daneben legte er ein Blutbuch, das eine ganze Reihe von Stempeln verschiedener Stationen enthielt, die in Alaska begannen. Charles Andrew Bowen, stand darin. Ein Meter siebenundachtzig, achtundsechzig Kilogramm, graue Augen. Das Gesicht des Mannes sah ausgemergelt und ernst aus, seine blitzende Nickelbrille war geklebt. Sie wollte das Buch nicht öffnen, aber es hatte sie bereits in seinen Bann gezogen. Also schlug sie es auf. Die Seiten waren bis an den Rand mit Zeichnungen, Notizen und Ge302
schichten gefüllt. Von einem Teil zum anderen änderten sich die Gerüche: Weihrauch, Schießpulver, Meer. Sie blätterte im Buch hin und her, blieb hier bei einem mongolischen Visumstempel hängen, dort bei einer gepressten Blume. Sie hatte winzige blaue Blüten. Die Wurzeln waren so lang, dass er sie zu einer Spirale aufgerollt hatte. Es handelte sich um eine Pflanze aus der Tundra, vermutete sie, die darauf spezialisiert war, den größten Teil des Jahres unter der Erde zu verbringen. Ein Lebewesen der Verborgenheit, das sich nur sehr selten zeigte. Das Buch war für ein Kind geschrieben worden, so viel wurde ihr klar. Grace. Miranda nahm ein zusammengefaltetes Bündel Dokumente in die Hand. Eine handschriftliche Besitzurkunde bescheinigte den Tausch seines Pferdes auf einer Ranch an der Grenze New Mexicos gegen ein paar Stücke Schmelzgold. Ein Brief bestätigte, dass Dr. Bowen in Kansas eine Frau von Zwillingen entbunden hatte. Ein weiterer Brief, von einem Milizführer verfasst, gewährte dem Träger freies Geleit. Dr. med. Bowen hat einem meiner Männer das Leben gerettet. Helfen Sie ihm, so gut Sie können. Des Weiteren fanden sich Essensmarken der Armee, rosa Benzincoupons von der Regierung, ein paar hundert Dollar in ebenso wertloser amerikanischer Währung, sowie ein Tombolalos von einem Kuchenbackwettbewerb anlässlich des Unabhängigkeitstags in Hannibal, Missouri. Schließlich stieß sie auf ihren eigenen Brief, den sie vor fast zehn Monaten auf Briefpapier des Los Alamos National Laboratory geschrieben hatte. Darauf stand jeder nur erdenkliche Kunstgegenstand, den ihre Assistenten bei einer Computerrecherche der Bestände des Smithsonian finden konnten. Einige der Gegenstände kamen ihr bekannt vor, weil man sie inzwischen bereits ausgewertet und geklont hatte. Unten auf der Seite stand Ochs’ Bestä303
tigung und Unterschrift für die Lieferung vom November. »Ochs«, stieß sie hervor. Gerade erst letzte Woche war er durch das Alpha-Labor gerauscht und hatte in seiner Funktion als Todesbote einer ihrer Forscherinnen auf die Schulter getippt. Cavendishs Politik, »nicht dringend benötigtes Personal« zu deportieren, war nichts anderes als eine unblutige Hinrichtung. Er und seine Spießgesellen wandten sich gegen Unruhestifter und Kritiker an seinem Regime, sogar ab und an gegen einen harmlosen Karikaturisten. Im Fall von Mirandas Forscherin hatte ihr einziger Fehler darin bestanden, in Mirandas Labor zu arbeiten. Der Deportationsbefehl war ein weiterer Schuss vor ihren Bug gewesen. Allein dem Captain war es gelungen, die Ausweisung nach mehreren Stunden Arbeit gerade noch rechtzeitig zu verhindern. »Aber Ochs hat uns doch erzählt, es gäbe keine weiteren Relikte mehr«, sagte sie. »Er hat sich wahrscheinlich nur geschnappt, was er mitnehmen konnte, und ist dann auf dem schnellsten Weg hierher zurückgekehrt.« »Seitdem sind Monate vergangen«, fuhr sie fort. »Monate. Wir brauchen diese Gegenstände.« »Wenn ich mich recht erinnere, wollte er absolut nicht dorthin.« Miranda hatte ihn tatsächlich nach Washington geschickt, obwohl er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Sie hatte Ochs deportiert, wenn auch nur für kurze Zeit, damit er selbst einmal erfuhr, was für ein Gefühl das war. Gleichzeitig war es ein banaler, lächerlicher Schlag gegen Cavendish und seine Politik des Schreckens gewesen. Sie hätte das nicht tun sollen. Hinterher hatte sie sich schäbig gefühlt. Und Ochs war nach drei Tagen wieder da gewesen, hasserfüllter denn je. 304
Miranda gab auf. »Na gut«, sagte sie. »Ich rede mit ihm. Wenn ich vorher noch meine Sache hier zu Ende bringen dürfte?« »Habe ich Sie bei etwas aufgehalten?« »Eine volle halbe Stunde, Captain.« Er schloss die Tür hinter sich. Miranda versuchte, den Prüfbericht fertig zu stellen, doch die kleine Aktfigur und die Flora des Himalaja lenkten sie immer wieder ab. Die Plastik war ein wundervolles, primitives Ding, schamlos und merkwürdig, und vollkommen selbstsicher, was den Sinn für ihre eigenen Proportionen anging. Hatte er die selbst geschaffen, oder handelte es sich um ein Pfand? Oder um Diebesgut? Und das Buch … ein Objekt voller Zauber, voller Hinweise. Dann war der Captain schon zurück und klopfte, den Besucher im Schlepptau, an ihre Tür. Der ironische Tonfall des Captains war verschwunden. Er gab sich ernst und förmlich und ließ den Mann nicht zu nahe an Mirandas Schreibtisch herantreten. Die Hände des Hochstaplers waren mit Plastikhandfesseln zusammengebunden. Seine breiten Schultern deuteten darauf hin, dass er in besseren Zeiten fünfzehn oder zwanzig Kilo mehr gewogen haben mochte. Er hatte ein abgetragenes, aber relativ weißes Hemd an. Er humpelte. Die zusammengeklebte Brille vom Foto war inzwischen von einer dicken Hornbrille abgelöst worden, die anscheinend nicht ganz die richtigen Werte hatte. Er blinzelte ständig und versuchte, alles zu erkennen. Man konnte seinem Gesicht die Reise an dem Abdruck der Schutzbrille in seinem wettergegerbten Gesicht ansehen. Bis heute Morgen hatte er noch einen Bart getragen. Wangen und Kiefer waren blass und aufgeraut, der Hals voller Schnitte vom Rasieren, die wie Ameisen aussahen. 305
Der Captain bot ihm keinen Stuhl an. Den Mann schien das überhaupt nicht zu stören. Miranda blieb sitzen. Sie stellte sich nicht vor, sondern tippte auf das Blutbuch. »Dr. Bowen, an Ihrer Geschichte stimmt etwas nicht.« Der Fremde zögerte keinen Augenblick. »Dr. Bowen ist vor siebzehn Monaten in Fairbanks gestorben«, antwortete er. »Das hat man mir zumindest erzählt.« »Haben Sie ihn umgebracht?«, fragte der Captain. Miranda erschrak. An diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht. Der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »So etwas hätte ich niemals getan«, erwiderte er. »Wer sind Sie?« Wieder kein Zögern. »Nathan Lee Swift.« »Woher sollen wir wissen, dass das stimmt?« »Sie können es nicht wissen. Meiner Meinung nach ist das sowieso nicht wichtig.« Er hatte Recht, dachte Miranda. Ob nun mit dem einen Namen oder einem anderen – er war nur ein Stück menschlichen Treibguts. Manche Leute hätten sich an dieser Bedeutungslosigkeit gestört, er dagegen schien sie einfach hinzunehmen. »Sie sind also kein Arzt«, stellte sie fest. »Nein.« Er schien wegen der Täuschung keine Schuldgefühle zu haben. »Sie haben sich quer durch die USA geschwindelt.« Sie wollte ihn ein bisschen aus der Ruhe bringen. »Die Menschen haben an Sie geglaubt. Sie haben sie geheilt. Sie dachten, Sie hätten sie geheilt.« Er stimmte ihr zu. »Ich weiß. Ich konnte es selbst nicht glauben. Es war so, als hätten sie nur darauf gewartet, sich 306
selbst zu heilen. Ich war lediglich ein Hilfsmittel, mehr nicht.« »Die haben Sie ihre Kinder zur Welt bringen lassen. Zwillinge. Oder ist das auch nur ein Teil Ihres Täuschungsmanövers?« Seine Augen wanderten über seinen Besitz, der auf ihrem Schreibtisch aufgereiht stand. Er sah die Bruchstücke seiner selbst, und wiederum schien es ihn nicht im Geringsten zu stören. »Es waren noch mehr«, sagte er. »Ich hatte Glück.« Unbewusst öffneten sich seine Hände. Sie bildeten eine Schale. »Die Babys haben sich selber zur Welt gebracht. Ohne Komplikationen. Ich habe sie nur aufgefangen.« »Sie haben die Unverfrorenheit besessen …«, fing sie an. »Was wäre gewesen, wenn etwas schief gegangen wäre?« »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte er. »Es war demütigend. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt.« »Wie viele?«, fragte der Captain. »Babys?«, sagte er. »Mit den Zwillingen waren es elf. Überall im Land.« Einen Augenblick war Miranda genauso überrascht wie der Captain. »Die Leute kriegen immer noch Babys?«, fragte sie. Der Mann sah sie komisch an. »Dort draußen wütet eine Seuche«, fügte sie hinzu. »Das ist einfach grausam.« Die Geburtenrate in Los Alamos war im letzten halben Jahr auf null gesunken. Man hielt es für unzumutbar, einem Kind ein solches Leid zuzumuten. Auch das ein Beweis ihrer Hoffnungslosigkeit. In der ganzen Stadt war bei den Frauen der Hormonzyklus durchein307
ander geraten, als verweigerten ihre Bäuche selbst jede Fruchtbarkeit. »Die Menschen glauben an Sie. Dass Sie alles wieder in Ordnung bringen werden«, antwortete er. Miranda blickte ihn scharf an. War das vielleicht als Beleidigung gemeint? »Aber Sie glauben das nicht«, sagte sie. »Was ich glaube, ist nicht wichtig«, erwiderte er. Sie entfaltete einen der Briefe. »Und Sie haben einen Milizionär behandelt?« »Ich habe ihn wieder zusammengeflickt. Wahrscheinlich nur, damit er noch mehr Menschen umbringen kann. Das war in einem Lager am Fluss, in der Nähe von Chattanooga. Die haben mir erzählt, das sei der älteste Fluss der Welt.« »Sie haben einem Mörder geholfen«, wiederholte sie. »Die sind der Meinung, sie tun das Richtige. Das glauben alle. Das Richtige zu tun.« »Aber das sind Verräter«, gab sie zu bedenken. Von dieser Höhe aus schien das Chaos so unnötig zu sein. Die Leute in Los Alamos waren beleidigt, dass sich Amerika – die Lebensart, das ganze System – so schnell und vollständig aufgelöst hatte. »Seien Sie vorsichtig«, sagte er. »Verräter ist ein sehr beliebtes Wort geworden. Das sagen sie jedes Mal, wenn sie abdrücken.« Sie rümpfte die Nase. »Überall, wo Sie waren, haben Sie gelogen und betrogen«, sagte sie. »So bin ich hierher durchgekommen.« Sie schlug Flora des Himalaja absichtlich respektlos mit der Spitze ihres Stiftes auf. »Hier drin sind Passstempel aus der Mongolei, China und Nepal.« 308
»Andenken«, erwiderte er. »Die Grenzposten waren verlassen.« »Sie sind nicht durch Asien gekommen«, sagte sie. Das war unmöglich. Asien war wie die andere Seite des Mondes. Er diskutierte nicht mit ihr. Es war ihm egal, ob sie ihm glaubte oder nicht. »Ich habe die Sachen vom Smithsonian mitgebracht«, sagte er. »Weiß hier überhaupt jemand, wovon ich rede?« »Die sind jetzt nicht mehr wichtig«, konterte Miranda. In Wirklichkeit konnte eine der Reliquien von entscheidender Bedeutung sein. Aber so schnell wollte sie nicht klein beigeben. »Ich habe sie mitgebracht«, wiederholte er. »Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen.« Miranda war einen Augenblick lang sprachlos. Sie bluffte, und selbst wenn man es ihr ansehen konnte, stand es ihm nicht zu, das zu sagen. »Vor ein paar Monaten hätten sie vielleicht einen gewissen Wert gehabt …« »Ich bin wegen meiner Tochter hier«, stellte er fest. Sie zögerte. War die Sache wirklich so einfach? »Grace«, sagte sie. Seine Finger krampften sich zusammen. Er blinzelte hinter seinen dicken Brillengläsern. Miranda warf dem Captain einen Blick zu, um zu sehen, ob das sein Einfall gewesen war. Das Zusammentreffen zweier verzweifelter Väter schien ein zu großer Zufall zu sein. Aber der Captain schien wirklich überrascht zu sein. »Ist sie hier?«, fragte Miranda. »Ich hoffe es.« »Hat Ihnen jemand erzählt, sie wäre hier?« »Nicht direkt.« 309
»Lassen Sie mich das mal klarstellen. Sie schummeln sich mit einem gefälschten Personaldokument quer durch das ganze Land. Sie benutzen Regierungseigentum, um andere zu erpressen. Sie gefährden unsere Versuche, eine Heilmethode zu finden, und Sie versauen mir meinen Arbeitstag. Und das nur auf eine bloße Vermutung hin?« »Ich verstehe Ihren Standpunkt«, gab er bereitwillig zu. Die Fadenscheinigkeit seiner Aktion schien ihm selbst ein bisschen peinlich zu sein, aber er rührte sich dennoch nicht von der Stelle. Was an ihm mochte echt sein, fragte sie sich. Wenn die Beweise wirklich stimmten, dann war er der Seuche seit Monaten immer nur ein paar Schritte voraus gewesen. Was mochte er alles gesehen haben? Was für eine Welt gab es da draußen überhaupt noch? Das wusste keiner mehr. Ihre Augen über der Welt hatten sich geschlossen, als die Technik ausfiel. Batterien wurden leer, der Treibstoff von Generatoren versiegte. Die Satelliten lieferten nur noch Bilder des Chaos, falls sie überhaupt noch etwas zeigten. Es gab keine Spionageflüge über Mexiko oder Kanada mehr, nicht einmal mehr über Atlanta. Die Astronauten an Bord des Space Shuttle hatten gemeutert. Sie hatten nicht länger als Sicherheitskopie ihrer Art dienen wollen und sich auf den Rückweg zur Erde gemacht … und waren verschwunden. Die bemannten Aufklärungsflüge wurden immer seltener und vorsichtiger, vor allem nachdem die weltweite Kartographie-Expedition der Navy in einer Katastrophe und schließlich in Schweigen geendet war. Soweit sie wussten, hatte die Tochter des Captains die Küste Amerikas nicht wieder erreicht. Und dieser abgerissene, dickköpfige Landstreicher behauptete trotz allem, all das auf einem Hoffnungsschimmer überlebt zu haben? »Was ist, wenn sie nicht hier ist?«, fragte Miranda. 310
»Höchstwahrscheinlich ist sie nicht hier.« Er sagte das ohne jeden Unterton der Resignation. Der Captain zuckte überrascht zusammen, wie Miranda bemerkte. Da standen zwei Männer nebeneinander, die mit einem ähnlichen Verlust klarkommen mussten. Aber einen Augenblick lang schien der ältere Mann durch den jüngeren neue Hoffnung zu gewinnen. »Das halbe Land wird vermisst.« Sie ließ Zorn in ihrer Stimme mitschwingen. Er wartete darauf, dass sie das näher erläuterte. Ihm schien es egal zu sein, ob der Rest der Welt vermisst wurde. Falls seine Geschichte wirklich stimmte, dann wusste er besser als sie, was es bedeutete, wenn jemand vermisst wurde. »Ihre Suche könnte ewig dauern«, sagte sie. »Das macht nichts«, antwortete er ruhig. Genau in diesem Augenblick hatte er sie für sich eingenommen. Es war nicht seine Absicht; das konnte es nicht gewesen sein. Miranda hätte es selbst nicht für möglich gehalten, dass sie verletzlich war. Es war einfach passiert. Sie war müde geworden. Sie alle waren müde. Die Selbstmorde und Orgien und kleinen Streitereien waren allesamt Formen der Resignation. Jeden Tag resignierten sie ein wenig mehr und bereiteten sich darauf vor, sich im unterirdischen Zufluchtsort ihres Vaters zu verstecken, bis die Seuche damit fertig war, den Planeten zu verwüsten. Niemand glaubte mehr an die Ewigkeit. Niemand sprach mehr von Hoffnung. Wir brauchen ihn. »Wir sind hier keine Vermisstensuchstelle«, erklärte sie. »Und ich bin nicht der Pizzabote«, sagte er. Das war gewagt, beinahe schon unverschämt. Beinahe. Aber hinter seiner Chuzpe steckte kein Stolz. Er war nur 311
wegen seiner Tochter hier. »Woher soll ich wissen, ob Sie mich nicht betrügen wollen? Wir haben keine Beweise dafür, dass dieses Paket mit den Objekten überhaupt existiert.« »Sie haben doch die Briefe vom Smithsonian.« Er zeigte hilfsbereit mit dem Finger darauf, und beide Hände, die an den Handgelenken zusammengebunden waren, hoben sich. »Papier.« Miranda stieß sein gefälschtes Blutbuch von sich. »Alles erfunden.« »Sie werden einen Baum finden«, sagte er. »Gehen Sie von der Kilometermarkierung Nummer drei genau zehn Meter Richtung Norden.« »Was reden Sie da?« »Am Highway 502. Dort finden Sie alles, in den Satteltaschen. Sie sind nicht vergraben. Suchen Sie in den Ästen.« »Sie haben gesagt, sie wären vergraben.« »Ich habe gelogen. Schon wieder.« Miranda sah den Captain an, dessen Augenbrauen ein großes schwarzes V bildeten. Auch er war überrascht worden. Dann holte er einen Notizblock aus der Tasche und fing an zu schreiben. Er sprach in ein Handy. Nathan Lee lächelte sie freundlich an. »Damit wäre das erledigt.« Sein Lächeln ärgerte sie. Sie wollte ihn zurechtweisen. Was hatte er denn noch für einen Grund zu lächeln? Er stand ohne alles da. Er hatte nichts gewonnen, ihr lediglich sein ganzes Vertrauen aufgebürdet. Sie hatte ihm keinerlei Versprechungen gemacht. Aber jetzt war sie in der Position, ihn zu betrügen. Dann wurde Miranda klar, dass er ganz genau wusste, was er tat. Sie hatte das Thema Ver312
trauen aufgebracht, und er hatte es gegen sie verwendet. »Ich könnte warten, bis Ihr … Geständnis bestätigt wird.« Sie gab ihrer Stimme einen eisigen Unterton. »Aber ich werde schon einmal in der Personenliste nachsehen.« Sie zog die Tastatur näher zu sich. »Die gilt aber nur für Los Alamos«, warnte sie ihn. »Das ist in Ordnung.« Sie sprach, während sie tippte. »Grace Swift.« »Wahrscheinlich eher nicht«, sagte er. Er hatte Recht. »Stimmt. Was jetzt?« »Sie hat sich scheiden lassen.« Miranda löschte das Swift. Er verrenkte sich den Hals, um auf den Bildschirm zu blicken, aber der Captain scheuchte ihn mit einer Handbewegung wieder zurück. »Versuchen Sie es mit Ochs«, sagte er. Mirandas Finger erstarrten über der Tastatur. »Doch nicht David Ochs«, platzte es aus ihr heraus. Seine Augen leuchteten auf, sie brannten geradezu. Dann zwang er sich, wieder friedlich und milde hinter seiner unförmigen Hornbrille hervorzuschauen. »Er hat sich also wieder mal in Sicherheit gebracht«, sagte er. Sie sah den Captain verwirrt an. »Er hat eine Frau und ein Kind?« Der Scharfrichter hatte eine Familie? »Eine Schwester«, berichtigte Nathan Lee. »Sie hat wieder geheiratet. Sie hat vielleicht einen anderen Namen angenommen. Aber versuchen Sie es zuerst mit Ochs. Bitte.« Was war das für ein Theater? Offensichtlich war dieser Mann Ochs hierher gefolgt. Er hatte sich geschickt mit Hilfe von Dokumenten, die über ein halbes Jahr alt waren, Zugang zum Hochplateau verschafft, und vielleicht war das auch schon alles. Wieder jemand, der eine Gelegenheit 313
genutzt hatte, um hinter den Zaun zu gelangen. Viel schlimmer wäre es, wenn Ochs ihn als Verbündeten hierher gerufen hätte. Das wäre das Letzte, was Los Alamos gebrauchen konnte. Aber warum brauchte er sie dazu, wieso wendete er sich nicht direkt an Ochs? Tarnung? Ein Betrugsmanöver? Andererseits konnte er auch genauso gut das sein, was er zu sein vorgab, nämlich geradezu ein Niemand. Es gab nur einen Weg, um das mit Sicherheit festzustellen. Ochs kam nicht friedlich. Er betrat den Monitorraum laut polternd, und seine Augen funkelten aggressiv und gewalttätig. Sein Schädel war vor Wut rot gefleckt. »Was soll der Unfug?«, verlangte er zu wissen. »Genau das möchte ich auch erfahren«, erwiderte Miranda. »Egal, was es ist, gehen Sie damit zu Cavendish!« Er machte theatralisch kehrt, aber der Captain hatte zwei seiner größten Männer angefordert, die sich vor der Tür aufbauten. »Setzen Sie sich«, sagte der Captain. Erst jetzt fiel Ochs’ Blick auf den Bildschirm, der neben Mirandas Ellbogen stand. Der Fremde saß auf einem Metallbett in einer Zelle aus Edelstahl. Ein leises Geräusch entwich aus Ochs’ Nasenlöchern. Die roten Flecken auf seinem polierten Schädel wurden bleich. »Swift«, sagte er leise. »Aber … er ist tot.« Miranda spürte, wie sie ein Glücksgefühl durchfuhr, ein Gefühl, das zugleich Erleichterung und Gemeinheit in sich barg. Ochs hatte Angst. Und der Fremde hatte zumindest bezüglich seines Namens nicht gelogen. »Wir haben gerade über Sie gesprochen«, sagte sie. »Was in Teufels Namen hat der denn hier zu suchen?« 314
»Er hat uns die Gegenstände aus dem Smithsonian gebracht, von denen Sie behauptet haben, sie würden nicht existieren«, erwiderte sie. »Ich wollte Ihre Version der Geschichte hören.« »Meine Version wovon?«, Ochs keuchte. Das Blut kehrte wieder in sein Gesicht zurück, aber er tobte nicht mehr. »Er ist ein verurteilter Mörder. Ein Kannibale. Ja, das stimmt. Heute, in unserer Welt. Es kam alles bei seinem Prozess heraus. Er hat versucht, mich umzubringen. Sie haben ihn in Katmandu eingesperrt. Sie müssen doch darüber gelesen haben.« Die widerlichen Einzelheiten aus der Boulevardpresse fielen ihr wieder ein. Das sollte dieser Mann sein? Aber sie erinnerte sich daran, dass sie den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte schon angezweifelt hatte, ehe sich die Seuche ausgebreitet hatte. Sie war ihr zu widerlich, zu fantastisch vorgekommen, um wahr zu sein. »Er ist hinter mir her«, sagte Ochs. »Er will sich rächen.« »Uns hat er etwas anderes erzählt«, brachte sie hervor. Ochs’ Angst war einfach … herrlich. Sein säuberlich gestutzter Kinnbart zitterte. »Was hat er Ihnen denn erzählt? Von Jerusalem, stimmt’s?« »Erzählen Sie es mir«, forderte Miranda ihn auf. Jerusalem? Es war, als fütterte man einen Spielautomaten mit Vierteldollarstücken. Ochs machte praktisch ganz von allein weiter. »Er war einer meiner Studenten. Eigentlich ein ziemlicher Idiot. In jedem Fachbereich gibt es so jemanden, der verzweifelt auf der Suche nach seiner Identität ist. Ich habe ihn mit in die Wüste genommen, wo er sich nicht lächerlich machen konnte.« »Jerusalem«, wiederholte sie. 315
»Er hatte von dem Golgathafund gehört. Er rief mich an. Gleich nach dem Erdbeben. Schnelles Geld, sagte er.« »Sie haben die Golgatha-Grabungsstätte geplündert?« Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie geplündert worden war. »Was sollte ich denn machen? Ich bin mitgegangen, um ihn aufzuhalten. Er war mit meiner Schwester verheiratet. Ich wollte nicht ihn schützen, sondern nur meine Familie. Meinen Fachbereich.« »Er hat etwas anderes behauptet.« Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie warf einfach mehr Münzen nach. »Ich habe ihn nicht gestoßen. Er ist gefallen«, sagte Ochs verächtlich. »Ich habe versucht, ihn aufzufangen.« Redete er über Jerusalem? Der Captain wusste mehr darüber als sie. »Sie haben ihn im Stich gelassen«, sagte er. »In den Bergen.« Ochs trat näher an den Bildschirm heran. Nathan Lee sah aus, als wartete er auf den Bus. »Wie ist er da bloß rausgekommen?«, murmelte er vor sich hin. »Ist er hier?« »Er sagt, er will seine Tochter haben«, fuhr der Captain fort. »Sie ist nicht hier.« »Wo ist sie?« Miranda war dankbar, dass der Captain dabei war. Er brachte die Sache auf den Punkt. Sie hatten die Satteltasche im Baum gefunden. Ihr Teil der Abmachung bestand darin, dem Mann seine Tochter wiederzugeben, ihm zumindest Hinweise zu verschaffen. Aber Ochs war zu schlau, oder er hatte zu große Angst. »Er ist tot«, sagte Ochs. »Sagen Sie ihm das. Wir haben ihr erzählt, er wäre tot.« 316
»Sagen Sie es ihm selbst«, antwortete der Captain. Ein anderes Druckmittel als diese hohle Drohung hatte er nicht in der Hand. »Ich gehe da nicht rein.« Und das war’s dann auch. Sie konnten Ochs nicht zum Reden zwingen. Und Miranda hatte nicht den Mut, Ochs mit seinem Feind in die gleiche Zelle zu sperren. Langsam erwachte Ochs aus seiner Verwirrung. Er fing an, ihr Täuschungsmanöver zu durchschauen. »Ist das alles?«, fragte er. »Mehr haben Sie nicht?« Er beugte sich vor und schmierte mit seinem Daumen über Nathan Lees Monitorbild. »Ich behalte ihn hier«, entfuhr es Miranda. Der Captain sah sie an. »Das funktioniert nicht«, sagte er verächtlich. »Der Rat wird ihn den Hunden vorwerfen.« Der Rat war Cavendish. »Wichtiges Personal.« Es kam ihr beim Sprechen in den Sinn. »Die Jahr Null-Überreste. Golgatha. Forensische Medizin.« Mit einem Mal wurde es ihr klar. Sie konnte eine Linie ziehen, auch wenn es ihr wahrscheinlich nicht gelang, das Gelände zurückzugewinnen, das Cavendish in all den Jahren erobert hatte. Aber sie konnte den sicheren Hafen ausbauen, den sie hier zu errichten begonnen hatte. Er brauchte einen Beschützer, jemanden, der ihren Feinden Angst einjagte, oder zumindest diesem einen Schläger. Es war immerhin ein Anfang. Wenn Nathan Lee Swift bei ihr war, würde Ochs es sich zweimal überlegen, ehe er über sie herfiel. Keine Überfälle mehr, dachte sie. Keine Terrortaktiken. Sie würde es bei ihrem Vater schon durchsetzen, falls es so weit kommen sollte. Cavendish konnte sie mal. »Es ist mein voller Ernst«, sagte sie zu Ochs. 317
»Das werden wir ja sehen«, höhnte er. Miranda tat etwas, was sie noch nie getan hatte. Sie schlug ihn. Es war keine besonders heftige Ohrfeige, aber sie schien Ochs getroffen zu haben. Er blinzelte. Er hatte verstanden. »Genau«, sagte sie.
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18 Der Auftrag ENDE JULI
»Ich bin kein Kind mehr«, warnte ihn Miranda. »Ich weiß, was Sie wollen. Machen Sie sich bloß keine falschen Hoffnungen.« Sie waren aus dem unterirdischen Labyrinth unter dem Alpha Labor aufgetaucht. Ein typischer Morgen in New Mexico, blauer Himmel, gelber Sonnenschein. Sie war ihm fremd. Neben ihren raumgreifenden Schritten kam er sich wie eine Schnecke vor. Er musste sich anstrengen, um mithalten zu können. Der Hügel war über und über mit Gebäuden, Wohnwagen und sogar einem großen rotweißen Zelt mit dem verblichenen Namen eines Zirkus auf der Seite bedeckt. Auf einem gemalten Schild vor dem Zelt stand ZENTRUM FÜR NONLINEARE STUDIEN. Auf einem war ZUSTANDSGLEICHUNG zu lesen. Wo um alles in der Welt bin ich hier bloß?, dachte er. Sie erinnerte ihn an eine Rancherfrau in einem alten BMovie, groß und schlank, in Männerjeans und mit einem karierten Hemd. Ihr Pferdeschwanz hing aus dem Loch auf der Rückseite ihrer Baseballmütze heraus. »Jackson Labor – Von Mäusen und Menschen«, stand auf der Mütze. Ihre Augen verwirrten ihn. Sie waren so grün wie das Eis im Meer. Elektrische Golfkarren überholten sie. Lauter CollegeTypen – Amazonen in Sport-Bustiers, bärtige Wunderkin319
der, Gehirnakrobaten mit dicken Hintern – sausten auf batteriegetriebenen Rollern, Rollerskates oder Fahrrädern vorbei. Links und rechts standen Gebäude mit seltsamen Namen: PLASMATHEORIE, ERREGER/WIRT, PRIONEN, LEBERFUNKTION. Er zeigte auf ein Gebäude: THEORETISCHE BIOLOGIE. »Da haben Sie wohl Ihre Drachen und Seeschlangen drin?«, fragte er. Sie blinzelte. Sie hatte verstanden. Humor. Weiter. Falsche Adresse, dachte er. »Sie wollen Ochs«, fuhr sie fort. »Vergessen Sie ihn. Er ist Teil des Regimes, das müssen Sie wissen. Im Augenblick sind Sie in Sicherheit. Ich kann Ihnen einen Ausweis für T/A 3 besorgen, meine technische Abteilung. Mehr nicht. Sie bekommen Essen und ein Dach über dem Kopf. Aber das Betreten des Südsektors ist strengstens verboten. Wenn Sie dorthin gehen, sehen wir Sie hier nie wieder.« Südsektor. Er prägte es sich ein. Ochs’ neues Zuhause. Sie blieb immer einen ganzen Schritt vor ihm. Er schien sie einfach nicht einholen zu können. Gelbschwarze Warnschilder, die vor biologischen Unfällen warnten, hingen überall. Sie waren so zahlreich, dass sie zu einem Teil der Landschaft geworden waren. Künstler hatten die bedrohliche dreizackige »Blume« in wunderschöne Arabesken und harmlose Graffiti verwandelt. Aus den Warnungen waren Dekorationen geworden, so wie die Gefahren zu einem Teil ihres Lebens geworden waren. »Wo gehen wir hin?« »Zum Mittagessen. Sie sehen aus wie eine lebende Yoga-Reklame.« »Ich muss mit ihm reden«, sagte er. »Davon habe ich doch gerade gesprochen«, antwortete sie. »Tun Sie’s nicht.« 320
»Dann kann ich genauso gut gleich wieder abhauen.« Er testete die Grenzen. Ihre, seine, genau wusste er es selbst nicht. »Das könnten Sie«, sagte sie. »Sie könnten auch eine Weile abwarten.« Ihr Pferdeschwanz schaukelte munter auf den Schultern hin und her. »Dort draußen bleibt nicht mehr viel Zeit.« Sie blieb stehen. Er wich ihr gerade noch aus. Sie zeigte mit der Hand auf ein flaches Gebäude. »Nirvana. Einer unserer Supercomputer. Früher war auf ihm eine HIVDatenbank gespeichert. Jetzt lassen wir darauf ein Programm mit Korfu-Daten laufen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir immer noch den Blue Mountain. Aber Cavendish hat ihn mit in den Südsektor genommen. Ich habe versucht, ihn daran zu hindern. Er ist vier Mal so schnell. Verstehen Sie, was ich sagen will? Meine Macht ist begrenzt.« Sie gingen über eine Brücke, die Omega hieß und einen kleinen Canyon überspannte. Vor ihnen lag die Stadt, nicht gerade schön, aber geschäftig und voller Leben. Ein weißer Van fuhr neben ihnen her. In seinen schwarz getönten Scheiben sah Nathan Lee sein eigenes Spiegelbild. Miranda schenkte ihm keine Beachtung. Nach zehn Sekunden fuhr der Wagen weiter. »Los Alamos war einmal eine sehr sichere Stadt«, erklärte sie. »Dann wurde es erwachsen.« Sie waren noch auf der Brücke, als es zu schneien anfing. Die Flocken fielen aus einem blauen Himmel herab, und Nathan Lee blieb stehen, um sie mit offenen Händen aufzufangen. Die Flocken waren weiß und warm. Er blickte sich um, aber niemandem sonst schien es aufzufallen. Miranda kam zu ihm zurück. »Asche«, sagte sie. Ihre Baseballmütze und Schultern waren damit bestreut. 321
Nathan Lee verrieb die Asche zwischen den Fingern. Er roch den Wind. »Ein Waldbrand?« »Brenntag«, klärte sie ihn auf. »Müll?« »Medizinmüll«, sagte sie. »Intellektueller Abfall. Machen Sie sich keine Sorgen. Die können Ihnen nichts anhaben. Die Öfen brennen sehr heiß. Über 1000 Grad oder so.« Sie drehte sich um und ging weiter. Er wischte sich die Hände sauber und machte sich wieder an die Verfolgung. Sie betraten eine große Cafeteria am Rand eines Canyons. Die Aussicht war fünf Sterne wert, die Atmosphäre eher wie in der Mittelstufe. Es gab lärmende Cliquen, Bücherwürmer mit dem Finger auf der aufgeschlagenen Seite und Pärchen, die über ihre Hausaufgabe gebeugt dasaßen. Er sah Teller voll mit Hackbraten und Pizza und rotem Wackelpudding. Es gab sogar einen Getränkeautomaten mit Pepsi oder Cola, normal oder light. Hier drinnen konnte man den Rest der Welt vergessen. Vielleicht sollte es genau so sein. Unerwartet überfiel ihn ein schrecklicher Hunger. Er gehörte nicht hierher, aber plötzlich verspürte er eine brennende Sehnsucht nach diesem Ort. Der Raum barst beinahe vor Sonnenschein. Die verchromten Oberflächen blitzten. Die Leute waren glücklich und zufrieden. Selbst als sie ruhig in der Schlange stand, war Miranda ständig in Aktion. Jeder schien sie zu kennen. Leute sprachen sie wegen Gefälligkeiten und kleinen Notfällen an. Ihr Handy klingelte. Sie verschleuderte ihre Aufmerksamkeit in kurzen, laserartigen Salven. Er versuchte, unter dem Schirm ihrer Mütze ihr Alter zu schätzen. Ende zwanzig, Anfang dreißig? Irgendwie brauchten sie sie alle. Und jetzt brauchte er sie auch. Er war verblüfft. 322
Sie reichte ihm ein Tablett und stürzte sich auf das Büffet. Sie setzten sich an einen Tisch weit ab vom lärmigen Gewusel. Ihre Finger glänzten von den Chemikalien aus dem Labor leuchtorange. Ihr Cheeseburger verschwand in fünf Bissen. Nathan Lee aß nur wenig. Seine Hände zitterten. Erbsen fielen von seiner Gabel. »In der Klinik können Sie Ihre Malaria behandeln lassen«, sagte sie. »Ich habe Malaria?« »Wir sind hier oben sehr vorsichtig. Bei dem Bluttest wird alles untersucht.« Die grünen Augen musterten ihn. »In welchem Dschungel haben Sie sich das denn eingefangen?« Er kapitulierte vor den Erbsen. »Es fing in Kansas an. Hab mich schon gewundert.« »In Kansas?« Sie überlegte. »Malaria? Wissen Sie noch, ob die Mücken in der Ruheposition leicht schräg saßen? Das ist typisch für Anopheles.« »Ich habe die Sauviecher nur platt gedroschen.« »Dabei stechen nur die Weibchen«, meinte sie. »Die Krankheitsbarrieren brechen zusammen.« Ihr Blick wandte sich von ihm ab. An der Wand hinter ihr hing ein großes Computerdisplay, das den Planeten zeigte. Die Seuchenzonen waren rot, das bisher verschont gebliebene Land blau. Große Löcher mit gezackten Rändern verstümmelten den Süden und den Nordosten. Die Pazifikküste war ein einziger hellroter Bogen. Washington D.C. existierte nicht mehr. War ihm die Seuche so dicht auf den Fersen gewesen? »Ich habe die Karte hier drin anbringen lassen, damit sich die Leute besser auf ihre Aufgabe konzentrieren kön323
nen«, sagte sie. »Aber es hat ihnen nur den Appetit verdorben.« »Das kann ich mir vorstellen.« Irgendwo dort in dieser wabernden Farbmasse war seine Tochter. »Es dauerte ungefähr zehn Minuten. Dann waren sie darüber hinweg. Jetzt sieht niemand mehr hoch, höchstens wegen der Wetten, die in den Büros laufen. Sie wetten darauf, wo das Virus als Nächstes zuschlagen wird. Meine Schuld. Ich habe sie abgestumpft.« »Wie viel Zeit bleibt noch?«, wollte er wissen. »Das ist die Hundert-Dollar-Frage. Ständig treten neue Stämme auf. Es ist schwierig.« »Schwierig?« Er löste seinen Blick von der Karte. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn; er wischte sie mit einer Papierserviette weg. Ihnen stand hier absolut alles zur Verfügung – und ihr fiel nicht mehr ein als »schwierig«. Aber ihm war das egal. Er hatte andere Probleme, angefangen mit Ochs … und einem scharfen Messer. Das Messer, ein Steakmesser, trug er jetzt im Ärmel verborgen. Das war schon mal ein Anfang. »Wissen Sie, wer wir sind?«, wollte sie wissen. Das klang nach einer Fangfrage. »Die Guten«, erwiderte er. »Die größte Ansammlung von Begabung in der Geschichte der Menschheit«, erklärte sie. »Vergessen Sie das Manhattan-Projekt. Vergessen Sie den Wettlauf zum Mond. Vergessen Sie den Kampf gegen den Krebs. Noch nie gab es so viel gebündelte Intelligenz, die nur auf ein Ziel gerichtet war, wie in diesem Augenblick an diesem Ort.« Nach der Armut und dem Überlebenskampf auf der Straße schien hier alles ganz anders zu sein. Sie waren 324
sauber und arglos. Gelächter klang durch die Sonnenstrahlen. Zum ersten Mal, so lange er sich erinnern konnte, roch er keinen alten Schweiß und keine Angst. Wahrscheinlich trug niemand eine Waffe. Niemand beugte sich schützend über seinen Teller. Niemand schlang sein Essen herunter … ausgenommen der menschliche Orkan, der ihm gegenüber saß. Mit einem Mal wurde es ihm klar: Sie waren Götter und Göttinnen in Patagonia-Shorts, BolleSonnenbrillen und, hier und da, den unvermeidlichen Schottenkaro-Socken. Ihre Augen verrieten es am ehesten. Sie waren frei, sie schauten nicht ängstlich über die Schulter, suchten nicht den Boden ab, musterten ihren Nachbarn nicht abschätzend. Ihre Augen waren verträumt. »Und ich bin dabei, sie zu verlieren«, stellte Miranda fest. »Experimente werden angefangen, aber nicht zu Ende gebracht«, sagte sie. »Die Labors stecken fest. Die Stimmung kippt. Die Forschungsvorhaben werden von Tag zu Tag bizarrer. Wir sind keine Wissenschaftler mehr, höchstens noch Alchimisten. Es gibt keine Beurteilungen durch Kollegen mehr, keine Zeit für Testreihen, keine Veröffentlichungen. Ich habe keine Ahnung, was der größte Teil dieser Menschen eigentlich tut. Sie jagen weiße Kaninchen.« Sorgenfalten durchfurchten ihre Stirn, und einen Moment lang sah sie sehr alt aus. Aber ihr Gesicht konnte das Alter nicht halten. Er sah plötzlich hinter die Augenringe und die hängenden Schultern. Diese Frau – diese Mutter für alle – war kaum älter als ein Teenager. Er war schokkiert. »Wir fallen zurück«, sagte sie. »Wir geben auf. Ich habe alles versucht, was ich wusste. Ich habe sogar eine Gruppe Medizinmänner geholt, um uns zu reinigen. Schamanen der Navajo und der Zuni. Nichts funktioniert.« Sie schlug mit der Hand auf den Tisch. 325
»Die Menschen beten für Sie«, sagte er. »Was?« Sie schien aufzuwachen. »Auf meinem Weg durch Amerika, bei ihren Mahlzeiten, wenn sie das Tischgebet sprechen, wenn es Zeit wird, ihre Kinder ins Bett zu bringen, schließen sie Los Alamos immer in ihre Gebete ein.« Sie runzelte die Stirn. »Das sollten sie nicht machen.« »Es klang so, als könnten sie jede Hilfe gebrauchen.« »Was ist mit Ihnen? Beten Sie auch für uns?« »Nein.« »Ich auch nicht«, sagte sie. »Wir haben hier oben schon genug Hokuspokus.« »Ich wollte damit nur sagen, dass die Leute an Sie denken.« Sein Blick wanderte über die Weltuntergangskarte. Von Chicago aus fingerten lange Seuchententakel herab wie von einem leuchtend roten Kriegsschiff. »Nur nicht den Mut verlieren«, sagte sie und deutete auf seinen Hamburger. »Ich muss zu einer Sitzung. Ich weise jemanden im Büro an, Ihnen eine Unterkunft zu besorgen. Nehmen Sie sich den Nachmittag frei.« »Ich möchte Ihnen gerne danken«, fing er an. »Ich weiß«, sagte sie. »Sie stehen tief in meiner Schuld. Sie schulden mir Ihr Leben. Aber keine Angst, das werden Sie schon abarbeiten.« »Sie haben Arbeit für mich?« »Ich werde Ihre Anwesenheit irgendwie rechtfertigen müssen«, erwiderte sie. »Stimmt es, dass Sie mal Anthropologe waren?« »So war es auf jeden Fall geplant.« »Und Sie haben Golgatha geplündert?« 326
Ochs, dachte er. Es hatte keinen Zweck, irgendetwas zu beschönigen. »Knochen. Holzstücke. Metallsplitter.« »Und im Gefängnis waren Sie auch?« Sie hatte ihn kalt erwischt. »Ja.« »Perfekt«, sagte sie und ging. Man teilte ihm eine winzige Wohnung in der Stadt zu und gab ihm einen Ausweis für das Alpha-Labor. Alles andere gab es für jeden Bürger ohnehin kostenlos: Essen, Kleidung, ein Fahrrad. Am ersten Abend stand er stundenlang verschüchtert und wie verzaubert am Fenster. Die Stadt war eine Stadt des Lichts. Sie waren hier im Land von Georgia-O’Keeffe. Der Sonnenuntergang war pures Feuer. Auf den Dächern der umliegenden Apartmenthäuser trafen sich Familien und Freunde zum Grillen, Bier trinken und um zuzusehen, wie der Tag langsam verging. In der Ferne machten die Sangre de Christo-Berge im blutroten Licht ihrem Namen alle Ehre. Es wurde nie richtig dunkel. Los Alamos hatte sich aus Ersatzteilen und Restplutonium ein eigenes Atomkraftwerk zusammengebastelt. Die Stadt war heller erleuchtet als ein Vergnügungspark. Die Straßen funkelten. Musik drang aus Stereoanlagen. Er ließ sein Fenster offen, denn die Höhenluft war angenehm kühl. Gegenüber tanzte ein junges Pärchen. Es war wundervoll. Schließlich machte er die Vorhänge zu und schlief ein. Um drei Uhr morgens weckte ihn Miranda. Er hielt es für einen Traum. Seit drei Jahren hatte er kein Telefon mehr klingeln hören. »Man hat Ihre Satteltaschen dort gefunden, wo Sie ge327
sagt hatten«, sagte sie. »Wir haben sie uns angesehen. Die meisten Gegenstände sind wertlos, zwei oder drei aber vielleicht ganz viel versprechend. Ich dachte, Sie würden sie vielleicht gerne sehen.« »Morgen?«, fragte er. »Heute ist morgen«, antwortete sie. »Sie meinen jetzt sofort?« »Sind Sie denn gar nicht neugierig, was Sie mitgebracht haben?« Sie führte ihn im unterirdischen Teil des Alpha-Labors herum. Es war, das verstand er, weniger eine Führung durch das Gebäude und die Arbeitsbereiche, als eine Einführung in eine Idee. Sie blieben vor einem Fenster stehen. In einer Ecke lagen die Satteltaschen; der Inhalt des Pakets aus dem Smithsonian lag, in Stücke zerteilt und sorgfältig beschriftet, auf einem Arbeitstisch ausgebreitet. Sie betraten einen Gang voller Tiefkühlschränke. »Unsere Datenbank«, sagte sie. Sie öffnete eine große Gefrierschranktür. Eisnebel waberte wie Rauch daraus hervor. Das Thermometer zeigte minus 56 Grad an. Miranda nahm den Deckel von einer Styroporpackung, die mit Filzstift beschriftet war. Drinnen steckten Hunderte von Ampullen mit gelber Flüssigkeit in vorgestanzten Löchern. Sie ließ ihre Finger über die Gefrierschränke gleiten. »Jerusalem«, sagte sie. »Vierhundertdreiundzwanzig Seelen aus dem ersten Jahrhundert. Besser gesagt, ihre DNA. Und das ist genau genommen das Gleiche.« »Stammt die von Knochen?« »Knochen, Zähne, Knorpel. Getrocknete Blutstropfen von Holz- und Metallstücken.« »Das ist unmöglich«, sagte er. Genetische Archäologie 328
war ihm nicht völlig unbekannt. »Man kann DNA nur aus Weichteilen gewinnen. Ein bisschen Gewebe muss doch erhalten sein.« »Sie waren ein paar Jahre weg vom Fenster.« Sie tätschelte ihm herablassend den Arm. »Stammzellen«, sagte er. Er wollte wie jemand wirken, der eine gewisse Ahnung hatte, zumindest wie jemand, der nicht total unbeleckt war. Intellektueller Stolz?, fragte er sich. Welcher Stolz? Versuchte er etwa, dieser Frau zu imponieren? Er musste insgeheim über sich selbst lachen. »Für das, was wir machen, sind Stammzellen zu primitiv«, sagte sie. »Nicht spezifisch genug. Aus ihnen wächst alles, was man will, und am Anfang haben wir sie auch ausprobiert. Aber wir brauchten Klone, die möglicherweise Immunreaktionen gegen das Virus in sich tragen. Das bedeutete, dass wir weiterentwickelte Zellen aus den Proben auswählen mussten. Lymphozyten, T-Zellen, BZellen, C-Zellen. Die ganze Familie. Gedächtniszellen.« »Davon hätte ich in der Grundschule auch ein paar mehr gebrauchen können«, witzelte Nathan Lee. Er hatte vergessen, dass er sich in einer humorfreien Zone befand. »Nicht dieses Gedächtnis«, sagte sie. »T-Zellen prägen sich Immunreaktionen ein und speichern sie für Notfälle. Windpocken zum Beispiel. Unsere Vorfahren waren ihnen Jahrhunderte lang ausgesetzt, aber mit der Zeit entwickelten sie sich gemeinsam mit dem Parasiten. So wurde aus einem Killer langsam eine harmlose Kinderkrankheit. Und wenn man jetzt mit Windpocken in Kontakt kommt, erinnern sich die Gedächtniszellen an ihre Proteinkonfiguration und teilen dem Körper mit, wie er den passenden Antikörper herstellen kann, um sie zu vernichten. Die Gedächtniszellen sind wie uralte Bibliotheken. In ihnen stekken die Geheimnisse von Tausenden Mikroben, die unsere 329
Vorfahren überlebt haben.« Der nächste Halt war der PCR-Raum. Die PolymeraseKettenreaktion war eine Methode, die Doppelstränge der DNA zu teilen und so aus einer Helix künstlich zwei zu bilden. Aus den zwei wurden vier, aus vier acht, und so weiter. Zwölf Maschinen, groß wie Flipperautomaten, arbeiteten leise vor sich hin. Alles ging automatisch. Die Mischung von Hightech und gewöhnlichen Gegenständen überraschte ihn. Zwischen den PCR-Maschinen, Computermonitoren und Elektronenmikroskop-Türmen lagen ganz gewöhnliche Haushaltsutensilien: ein Teflonspatel, feuerfestes Geschirr, ein Messbecher zum Backen, ein Korkenzieher. Vergilbte Dilbert- und Gary LarsonCartoons schmückten die Wände. Fotos von Kindern lagen neben alten Ausgaben von Nature und Outside. Miranda führte ihn in ein Labor und zeigte ihm einen entwirrten DNA-Strang, der in einem Becherglas schwamm. »Einer von Ihren Leuten«, sagte sie. »Das stammt von den Relikten?« Sie nickte und schaute eine Weile auf die Stränge. »Sie glauben gar nicht, wie leer das menschliche Genom ist«, sagte sie. »Es ist demütigend. Auf genetischer Ebene sind wir praktisch Würmer und Fliegen.« Nathan Lee versuchte zu erraten, was er mit der ganzen Sache zu tun haben sollte. »Es ist alles nur eine Frage der ausführenden Intelligenz«, sagte sie. »Der blinde Uhrmacher, der aufs Geratewohl herumbastelt.« »Gott?« »Zufall«, antwortete sie schnell. Sie zeigte ihm, wie man den Strang wie Spaghetti um einen Glasstab wickelte. »Und was passiert jetzt?«, fragte 330
er. »Mit diesem kleinen Kerl? Wir werden ihn mit Farbstoffen einfärben und dann auf Mutationen und Krankheitsgene untersuchen.« »Korfu?« »Die Erinnerung daran«, wiederholte sie. »Und dann?« »Falls er viel versprechend aussieht, bringen wir ihn weiter.« »Wohin denn?« »Hier entlang.« Sie zogen sich Handschuhe und Masken über, ehe sie einen großen, feuchtheißen Raum betraten, der von blauen Nachtleuchten schwach erleuchtet wurde. »Meine Kinder«, sagte sie leise. »Und auch Ihre.« Ihre Wangenknochen glänzten feucht und blau. Dann sah er die großen Fruchtblasen, die in runden Wasserbecken schwammen. In jedem sah man eine menschliche Gestalt, groß und schwer. Hier wurden Menschen gezüchtet! »Aus den Überbleibseln?«, fragte er tonlos. In seinem Kopf schwirrte es. Sie gingen in die nächste Kammer. Taucher schwebten in einem großen Glasbecken; eines der kleineren Wasserbecken tauchte gerade ins Wasser ein. Die Taucher öffneten die Fruchtblase mit der beiläufigen Präzision von Schlachtern. Ein menschliches Wesen schlüpfte durch den Einschnitt. Sein Haar und sein Bart schwammen im Wasser umher wie lange, schwarze Medusaschlangen. Seine Finger- und Zehennägel sahen wie bleiche, knochige Kugeln aus. Nathan Lee sah, wie der Mann die Augen aufschlug. Er blinzelte, streckte dann die Arme weit auseinander. Sein Kör331
per war schwach, den Muskeln fehlte die Spannung. Er hatte den schlaffen Bauch und dünnen Hals eines Eunuchen. Gleich darauf schafften ihn die Taucher außer Sichtweite. »Er ist aus einer früheren Serie. Insgesamt haben wir über 1500 von ihnen zur Welt gebracht, von den viel versprechendsten normalerweise mehrere Exemplare. Ihre drei sind erst in dreizehn Wochen fertig.« Nathan Lee war wie benommen. Das große Mysterium des Ortes schien in sich zusammenzufallen. Absurderweise traten ihm Tränen in die Augen. »Ist es so schrecklich?«, fragte sie ihn. Er wischte sich die Tränen nicht ab. »Ich weiß nicht«, antwortete er. Er hörte ein keineswegs trockenes Husten über sich, wo der Klon seinen ersten Atemzug tat. Vor dreizehn Wochen waren diese Lungen noch eine Winzigkeit Blut oder Leder in einer von vielen Phiolen gewesen, die für Hunderte oder Tausende von Jahren weggesperrt gewesen waren. Jetzt lag dort oben ein lebendiger Mensch! Außer Sicht fing der Klon zu schreien und vor Freude zu lachen an. Nathan Lee blickte auf. »Das machen sie manchmal«, sagte Miranda. »Sie scheinen sich an ihren Tod zu erinnern. Für sie ist das hier das Leben nach dem Tod. Manche kommen so aus dem Becken wie er, andere sind weniger glücklich.« Nathan Lee versuchte seine Fragen zu ordnen, es gab so viel, das er wissen wollte. »Und was passiert jetzt? Mit ihm?« »Die Tests werden in einer anderen Abteilung durchgeführt.« Sie sagte das mit Nachdruck. »In anderen Labors. 332
Südsektor.« Die Fröhlichkeit des Klons hallte durch den Raum. Er plapperte vor sich hin. Er sprach auf jeden Fall kein Englisch, trotzdem konnte Nathan Lee keine einzelnen Wörter erkennen. Aber mit seinem linguistisch geschulten Gehör fing er an, einen schwachen, kehligen Rhythmus zu erkennen. »Ist das …?« Er hörte genauer hin. Sie beobachtete ihn. Er erinnerte sich an die staubigen, sonnenverbrannten Ruinen von Aleppo, an ein Dorf in den darüber gelegenen Hügeln, an einen Stamm von uralten Flüchtlingen. »Spricht er Aramäisch?« »Das müssen Sie mir sagen.« »Ich kann ein paar Wörter.« Er steuerte auf die Treppe zu. Sie ergriff seinen Arm. »Wir sprechen nicht mit ihnen.« »Warum nicht?« »Es könnte unsere Forschungen beeinträchtigen.« »Ich verstehe das nicht.« Ihm war schwindlig. Ein Mensch von vor zweitausend Jahren! Ein Zeitreisender! »Es war nie von Bedeutung für das, was wir hier tun. Es ist sicherer, wenn wir ihre Sprache als Unsinn betrachten. Sinnloses Geplapper.« »Aber es ist kein Unsinn«, sagte Nathan Lee. »Er dankt Gott für seine Rettung.« »Ich habe ein paar von ihnen aus dem Südsektor zurückbekommen, bis jetzt dreiundzwanzig. Nicht infizierte Exemplare, die die Krankheit nicht übertragen können. Aber sie sind hier, in den Stockwerken unter uns. Wir halten sie isoliert.« »Was machen Sie mit ihnen?«, fragte er. 333
»Wir beschützen sie.« »Wovor denn?« Sie wandte den Blick ab. »Wir suchen nach Immunität«, sagte sie. »Bisher haben wir ein paar gefunden, die eine frühere Form des Virus überlebt haben. Sie sind teilweise immun gegen diesen modernen Ausbruch, können sich aber immer noch infizieren. Die Symptome zeigen sich allerdings bei ihnen weniger schnell. Wir haben Computersimulationen durchgeführt. Sie könnten noch drei Jahre leben, ehe der Erreger sie tötet.« »Und Sie haben dreiundzwanzig von ihnen hier?«, fragte Nathan Lee. Er staunte immer noch über die Technologie. »Ja.« »Was ist mit den anderen 1500?« Ihre grünen Augen blickten ihn zwischen Mütze und Maske hindurch an. Sie gab ihm keine Antwort. »Wir haben auch eine Neandertalerin«, sagte sie. »Vollkommen immun.« »Sie haben einen Neandertaler geklont?!« »Nicht für die medizinische Forschung. Das war noch vor Korfu. Wie auch immer, sie hat bewiesen, dass es eine Artenbarriere gibt. Unterarten, um genau zu sein.« »Was soll das heißen?« »Aus irgendeinem Grund hat das Mädchen eine natürliche Resistenz. Es könnten die chemischen Barrieren in ihrer Haut oder in ihren Atemwegen oder etwas in ihrem Magen-Darm-Trakt sein. Wir wissen es nicht. Ihre Resistenz lässt sich jedoch nicht auf uns übertragen, so viel wissen wir. Sie ist eine Sackgasse.« Neandertaler! Klone von vor zweitausend Jahren! Dieser Ort war ein einziges Wunder. »Und was soll ich dabei tun?«, fragte er. 334
»Es wird Zeit, den nächsten Schritt zu unternehmen«, antwortete sie. »Ich möchte, dass Sie einen Schritt zurückgehen. Einen Schritt weg.« »Von was denn weg?« »Sie sind Anthropologe. Unsere Exemplare sind so eine Art Stamm.« »Ich soll sie erforschen?« Es hörte sich ganz einfach an. Er war Archäologe, kein Ethnograph. Aber warum sollte er sich um eine kostenlose Mahlzeit bringen? Er wollte es sich so einfach wie möglich machen. Los Alamos sollte nur eine Station auf der Landkarte sein. Sobald er Ochs zum Reden gebracht hatte, wollte er wieder verschwinden, ohne Bindungen, ohne Verpflichtungen, ohne Reue. »Ohne Kontakt«, erwiderte Miranda. »In ihren Zellen sind Kameras. Sie sollen sie nur beobachten und ihnen zuhören. Belauschen Sie ihre Gedanken.« Der Klon rief etwas. Es klang wie »Rebekah«. Er rief nach einer Frau, seiner Ehefrau vielleicht, oder seiner Tochter. Er rief sie von jenseits des Todes. Glaubte er, sie würde zu ihm finden? Der Ruf erschütterte Nathan Lee. Die Stimme wurde leiser. Sie brachten den Mann aus dem Raum, in irgendein Labor. In der Stille, die folgte, erschien von oben ein PoolNetz, das die Reste der Fruchtblase herausschöpfte. »Ich soll für Sie Menschen aus Ihren Tieren machen«, sagte er. »Können Sie das, was wir hier tun, nicht gutheißen?«, fragte sie. »Spielt das eine Rolle?« Sie sah ihn an. »Niemand weiß, woran sie sich eigentlich erinnern können«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich nicht an sehr viel. Um ihr voriges Leben ging es uns hier nie. Aber 335
sie weinen. Manchmal schreien sie laut auf. Vielleicht können Sie ihnen ein bisschen Trost spenden.« »Trost«, sagte er. »Wir haben sie erschaffen.« »Wissen sie das?« »Das ist nicht wichtig. Es spielt keine Rolle, wenn sie nicht wissen, wer wir sind. Man kann seine eigenen Kinder nicht einfach verleugnen.« Sie war ernst, als wäre er, Nathan Lee, Teil ihrer Wiedergutmachung.
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19 Die Knochen sprechen ANFANG AUGUST
Nathan Lee betrat ihre Welt der Monster. Eine Woche lang ging er nicht hinunter in das so genannte Waisenhaus, ihr Zellenlabyrinth im fünften Untergeschoss. Stattdessen setzte er sich in das Nekroarchiv, den Raum mit dem menschlichen Gewebe; es war zu einem unordentlichen Selbstbedienungsladen für Proben geworden. Nathan Lee machte sich daran, die Proben zu sortieren, um seine Gedanken zu ordnen, aber in erster Linie, um sich mit Hilfe der Knochen auf ihre lebendigen Körper vorzubereiten. Es gab Zähne, getrocknete Muskeln, verdorrte Organe in Gläsern, Tüten und Fläschchen, Schädel, Fingernägel und lange Knochen, die mit Filzstift oder rotem Nagellack nummeriert worden waren. Einer der dreiundzwanzig Männer war gewissermaßen aus Silber entstanden, aus einer blutbespritzten Münze, die das Bildnis des Herodes trug. Nach sechs Tagen war Nathan Lee endlich bereit. Er fuhr mit dem Fahrstuhl ins Waisenhaus hinunter. Captain Enote führte ihn durch den langen, stillen Gang, der wie ein Todestrakt für Roboter aussah, alles aus schimmerndem Metall gefertigt. Es gab zwanzig Quarantänezellen zur Rechten und zwanzig zur Linken. Der Komplex war von einem Spezialisten für Hochsicherheitsgefängnisse errichtet worden. Nathan Lee blieb vor einer leeren Zelle 337
stehen und ging dann hinein, um noch einmal dieses Gefühl zu verspüren. »Kommt Ihnen das bekannt vor?«, fragte ihn der Captain von der Tür aus. »So etwas haben Sie uns in Katmandu nie angetan«, erwiderte Nathan Lee. Hier drinnen gab es kein Leben, nicht einmal die kleinsten Insekten. Alles war aus Metall oder unzerbrechlichem Plastik. Jede Zelle war mit einem Bett, einer Toilette und einem Waschbecken ausgerüstet. Oben an der hohen Dekke hing ein Duschkopf, im Fußboden gab es einen Abfluss, und in kleinen Kugeln saßen die Überwachungskameras. Mikrofilter reinigten die Luft beim Ein- und Austritt in die Räume. Die Insassen lebten in einem sterilen Zustand. Er ging weiter und lugte durch einige der in Augenhöhe angebrachten Plexiglasschlitze. Die meisten Gefangenen dösten vor sich hin. Sie hatten Decken aus Papier und waren nackt. »Sie können nicht hinaussehen«, sagte der Captain. »Aber sie wissen, dass wir hier sind. Hat Ihnen Miranda gesagt, dass jeglicher Kontakt verboten ist? Nur beobachten.« Zehn Mal. »Verstanden«, sagte Nathan Lee. Auf ihrem Weg zum Monitorraum zeigte der Captain auf die Tür Nummer eins ganz am Ende. »Um die kümmern Sie sich gar nicht«, sagte er. »Nie.« Im Monitorraum war es dunkel und kühl. Zwei Wachmänner saßen auf Stühlen, mit denen sie auf Rollen an den langen Bildschirmreihen entlanggleiten konnten. Nathan Lee zählte sie schnell. Es waren achtzig Bildschirme, zwei für jede Zelle. Nur die Schirme der belegten Zellen waren angeschaltet. Der Captain ging zu den beiden Monitoren für Zelle eins und schaltete sie aus, dann stellte er Nathan 338
Lee den Wachmännern vor. »Mister Swift möchte die Jungs kennen lernen«, sagte er. »Er hat die Erlaubnis, jederzeit hier hereinzukommen und die Bildschirme zu beobachten. Er darf per Kopfhörer zuhören. Sie dürfen mit ihm reden, ihm sämtliche Aufzeichnungen zeigen.« Der Captain deutete auf die Bildschirme für Zelle eins. »Für sie gilt das nicht. Verstanden?« »Jawohl, Sir«, sagten sie. Einer der Wachleute holte einen Stuhl für Nathan Lee und machte ihm am Ende der langen Tischplatte einen Platz für seinen gelben Notizblock frei. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er, und goss ihm einen angeschlagenen Becher voll. Beim Gehen sagte der Captain: »Wie lange waren Sie in Asien im Gefängnis?« Das machte er bewusst. Die beiden Wachmänner spitzten die Ohren. Jetzt wussten sie, dass sie sich den Raum mit einem Häftling teilten, aber das war in Ordnung. »Siebzehn Monate«, antwortete Nathan Lee. »Versuchen Sie nicht, hier jemanden rauszuholen«, sagte der Captain. »Kein Kontakt«, wiederholte Nathan Lee. »Mal sehen, was Sie hier erreichen«, meinte der Captain und ging. Nathan Lee ging langsam an den Monitorreihen entlang und orientierte sich. Er ordnete sie Mann für Mann seinen Notizen zu, auf dem Papier war jeder von ihnen ein Zahn, ein Schädel oder ein Stück Holz. Auf dem Bildschirm waren sie auch nicht viel mehr, nur Exemplare der Menschheit, von ihren kurzen Leben erschöpft. Zu seiner Überraschung hatten viele bläuliche Operationsnarben. Was hatte 339
man ihnen im Südsektor angetan? Sie benahmen sich nicht wie Häftlinge, eher wie Patienten auf einer Krebsstation. Man konnte ihre Schmerzen spüren. »Allerdings«, knurrte einer der Wachmänner. »Der Südsektor macht sie fertig.« »Was ist mit dem hier?«, fragte Nathan Lee. Der Klon hatte mehr Narben als Haut, auch fehlte ihm ein Stück Ohr. Sein Gesicht sah aus wie ein schlecht zusammengenähter Baseball. »Der Flüchtling«, antwortete der zweite Wachmann. »Ist im letzten Winter abgehauen. Hat sich im Stacheldraht verfangen, aber wieder losgerissen. Der Kerl hat’s fast bis zum Rio Grande geschafft. Seine Verfolger haben erzählt, es war fast so, als würde man einen Farbeimer mit einem Loch drin verfolgen. Er wäre fast verblutet und erfroren, haben sie gesagt. Schließlich haben sie ihn in einer Höhlensiedlung in einem der Canyons gefunden. Danach ist er als Sicherheitsrisiko eingestuft worden. Keiner der Forscher wollte noch mit ihm arbeiten, deshalb hat ihn Miranda in die Sammlung aufgenommen.« »Wie lange sind sie schon hier?« »Den ersten von ihnen hat Miranda vor fünf Monaten gerettet.« Jedem der Klone hatte man eine Identifikationsnummer ins Genick und ans Ende der Wirbelsäule tätowiert. Die Tradition, Versuchstieren einen Namen zu geben, ganz gleich, ob es sich um Schnecken oder Schimpansen handelte, war so alt wie die Forschung selbst. Die Wachmänner hatten ihre eigenen Spitznamen für die Klone: Billardkugel für einen Glatzkopf; Rübe und Kohlkopf für zwei Katatoniker; Steifer für einen Klon mit Dauererektion; Jawohlsir für den Klon mit dem nervösen Tick; Johnny Angel für den Gutaussehenden mit den blauen Augen. 340
»Reden sie?« »Sie johlen, heulen, murmeln und brüllen herum. Einer hat immer gesungen. Aber er hat wieder aufgehört.« »Kann ich ihre Unterlagen sehen?« »Bedienen Sie sich.« Ein Wachmann zeigte auf die Aktenschränke. Statt einer Biographie gab es zu jedem Klon Laborberichte, vieles davon geheim und eingeschwärzt. Das war kein gutes Zeichen. Miranda hatte Recht: Die Labors innerhalb von Los Alamos betrachteten einander als Feinde. Am Rande des Untergangs arbeiteten die Wissenschaftler gegen ihr eigenes Überleben, indem sie ihre Ergebnisse voreinander verbargen. Trotzdem waren ihre Experimente und Geheimnisse ihren Forschungsgegenständen auf den Leib geschrieben. Einige der Klone hatten vier oder fünf Labors überlebt, ehe man sie wieder in die Obhut ihrer Schöpferin gab. Keiner von ihnen hatte einen richtigen Namen, von keinem gab es Anzeichen eines Lebens vor diesem Leben. Nathan Lee legte ihre Akten vor ihre jeweiligen Bildschirme. Das war jetzt, aber was war damals passiert? Er wollte noch einmal ganz von vorne anfangen, ihre Nummern auslöschen und mithilfe des ursprünglichen Fundstücks zweitausend Jahre zurückgehen. Es war eine langsame und frustrierende Arbeit. Er verbrachte Stunden damit, auf eine Bewegung oder ein Wort auf irgendeinem der Monitore zu lauern. Ihr Tagesablauf war von den Mahlzeiten und der täglichen Dusche bestimmt. Träumend wollten sie der Gefangenschaft entkommen. Nathan Lee verstand ihre Apathie, als Häftling hatte er das Gleiche getan, bis sich sein Gefängnis als Palast herausgestellt hatte. Indem er seine Vergangenheit wiedererweckt hatte, hatte er sich auch selbst wiederher341
gestellt. Die Wachmänner interessierten sich nur aus Langeweile für seine Arbeit. Falls sie nicht gerade damit beschäftigt waren, auf Schnippgummis Gitarre zu spielen oder Ketten aus Büroklammern zu basteln, zeichneten sie sogar Vorfälle auf, wenn Nathan Lee weg war. Alles konnte ein Vorfall sein: ein Murmeln, ein Schrei … und dann, am dritten Tag, ein Name. »Da!«, rief Nathan Lee und spulte das Band zurück. Er drehte die Lautstärke auf. »Hören Sie es jetzt?« Er sprach den Namen nicht aus, denn er wollte die Wachmänner an seiner Entdeckung beteiligen, da er ihre Hilfe beim Beobachten brauchen würde. Aber für sie waren die Klone nicht viel mehr als Pflanzen. Sei’s drum, er musste die beiden trotzdem irgendwie auf seine Seite bringen. Sein Vater hatte ihm beigebracht, dass es keinen anderen Weg gab, einen hohen Berg zu besteigen. Sie mussten die Herausforderung selbst spüren. »Jesaja?« Einer der Wachmänner runzelte die Stirn. »Hat er wirklich Jesaja gesagt?«, flüsterte sein Kollege. Auf seinem Namensschild stand Joe. »So wie in der Bibel?« »Ja«, sagte Nathan Lee. Sie waren sprachlos. Die Knochen konnten sprechen. Die Nummern hatten Namen. Heilige Namen, wie Joe ungläubig festgestellt hatte. »Ich bin in fünf Minuten wieder da«, sagte Nathan Lee. »Passen Sie auf, ob noch mehr kommt.« Er rannte hinauf ins Nekroarchiv und durchwühlte die Schubladen. Dann rannte er wieder hinunter. Im Monitorraum legte er ein Fersenbein vor ihnen hin, in dem immer noch ein Nagel steckte. 342
»Jesaja«, sagte er. Es war keine große Sache. In einer Edelstahlzelle, zweitausend Jahre von seiner Heimat entfernt, hatte sich ein namenloser Mann an seinen Namen erinnert. Aber jetzt hatten die Wachmänner verstanden. Das Jahr Null hatte gerade jedem die Tür geöffnet, der einzutreten wagte.
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20 Feuer 10. AUGUST
Bei ihrem Eintreffen im Ratszimmer versorgten sich die Häuptlinge mit Keksen und unterschiedlichen Kaffeesorten von Starbucks, deren letzte Filiale hier von den Soldatenfrauen am Leben erhalten wurde. Miranda setzte sich gemeinsam mit den Leitern der anderen Laboratorien an den langen, ovalen Tisch, wo sie auf Cavendish warteten, der sie hierher bestellt hatte. Sie hatten keine Ahnung, was es so Dringendes gab. Sein Büro hatte ihnen zwanzig Minuten Zeit gegeben, um sich zu versammeln. Karten und Diagramme wurden hastig an die Wände gehängt; an einer Wand leuchtete ein großer Videomonitor. Miranda blickte durch das Fenster auf das Pajarito-Massiv im Westen, den Überresten eines riesigen Vulkans, auf dem später kleinere Vulkane ausgebrochen und wieder erloschen waren. Seine Geologie passte zu ihnen wie ein Mythos: ein riesiger Berg, der allen anderen zugrunde lag, so wie das Labor von Los Alamos die Keimzelle vieler kleinerer Labors gewesen war, in denen die Energie ihrer Geschichte und ihres Wissens langsam zu Stein erkaltete. Rings um sich herum sah sie nichts als überarbeitete Gesichter; jegliche Hoffnung war aus ihren müden Augen gewichen. Sie kiebitzten sich nicht mehr gegenseitig in die Aufzeichnungen, rissen keine Witze, tratschten nicht miteinander. Sie saßen einfach schweigend da und warteten, 344
wie Menschen bei einer Verschnaufpause während eines langen Marschs. Der ehemalige Leiter der Abteilung für Viruskrankheiten im Hauptsitz der Weltgesundheitsbehörde in Genf saß neben einem zierlichen Nigerianer aus dem englischen Porton Down, früher einmal das führende Diagnoselabor für Viren in Europa, und kaute Donuts. Der Ex-Direktor des Instituts für Tropenmedizin in Antwerpen saß dem Ex-Direktor des tropenmedizinischen Instituts Hamburg gegenüber. Ein Omar-Sharif-Doppelgänger von der Aga Khan-Universität in Karatschi bemühte sich, die üppige Blondine vom Institut für Medizinforschung in Johannesburg nicht unablässig anzustarren. Auf den Straßen hörte man Französisch und Hindi, Russisch und Chinesisch, aber die lingua franca war Amerikanisch. Nicht Englisch, sondern Amerikanisch, voller Slang und Kampfpiloten-Jargon. Neben den Virusjägern und Medizin-Ninjas gab es hier noch einen ganzen Zoo voller Klon- und BiotechnologieExperten: einen Mausmann, einen Kuhmann, eine Schafsdame, sogar einen Schneelöwen-Spezialisten, der viele Jahre in freier Wildbahn damit zugebracht hatte, die Großkatzen mit Betäubungspfeilen zu jagen und ihre Eier und Spermien zu sammeln, um sie für den Tag einzufrieren, an dem die Schneelöwen ausgerottet waren. Inzwischen galt auch der Mensch als eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Die Tür ging auf und Cavendish wurde von seinem ernst dreinblickenden Klon hereingeschoben. Cavendishs gnomenhaftes Gesicht sah noch zusammengekniffener und erschöpfter aus als sonst. Seine Krankheiten hatten ihn zu einem dürren Zweig verdorren lassen. Miranda fühlte einen Anflug von Mitleid, aber sie wusste, dass Cavendish kein Mitleid für sich selbst empfand. Deshalb hatte er auch mit anderen kein Mitleid. 345
Ein fröhlicher, zerzauster, benommen aussehender Mann kam nach ihnen in den Raum geschlendert. Miranda brauchte einen Augenblick, bis sie ihn einordnen konnte. Es war einer von den Klimaforschern. Was hatte er hier zu suchen? Der Fachbereich war zu einer Art Antiquität verkommen. Wer brauchte jetzt noch eine Wettervorhersage für die nächsten fünf Tage, oder gar die genaue Temperatur in Timbuktu? Treibhauseffekt? Darauf verschwendete niemand mehr auch nur einen Gedanken. Cavendish ging übellaunig wie immer sofort auf sie los. »Sie drehen sich im Kreis«, sagte er. »Das lese ich zwischen den Zeilen aus Ihren Laborberichten. Ihre Untersuchungen führen ins Nichts. Das ist einfach nicht gut genug.« »Ihnen auch einen schönen guten Morgen«, murmelte jemand leise vor sich hin. »Aber wir haben eine Entdeckung gemacht«, fuhr Cavendish fort. »Vielleicht hat sie etwas zu bedeuten, vielleicht auch nicht.« Er gestikulierte mit dem Zeigefinger. Der Wettermann trat vor. Auf dem Videomonitor hinter ihm erschienen Satellitenbilder von der Erde. Wolken hingen wie Wattefetzen darüber, der Planet sah friedlich aus. »Bob Maples, Meteorologie«, sagte er. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich leite das Beobachtungsteam Rot.« Maples drückte auf eine Fernbedienung, und die Bilder der Erde wechselten die Farbe. Das majestätische Blau der Ozeane bekam Flecken, die wärmere Gebiete anzeigten. Die Kontinente zeichneten sich als dunkle Masse ab, nur in Nordamerika gab es noch spärliche rote Flecken und Adern. »Um es kurz zusammenzufassen«, sagte Maples, »das Beobachtungsteam Rot verfolgt den menschlichen Kata346
bolismus im Großen.« Er sprach mit der Leidenschaft eines Bestattungsunternehmers. »Wir sind im Prinzip eine Art Hightech-Leichenschauhaus. Wir arbeiten mit der ASTER-Technologie, avancierten, vom Weltraum aus operierenden Thermalemissions- und Reflektionsradiometer-Instrumenten, die in verschiedene Satellitenplattformen eingebaut wurden, um das Auftreten von Gasen, die mit Verwesung zusammenhängen, zu verfolgen. Rot ist die Falschfarbe, auf die wir unsere Spektographen eingestellt haben, um Wolken von Ammoniak, Methan, Schwefelwasserstoff, Kohlendioxid und so weiter darzustellen.« Papiere raschelten, hier und da räusperte sich jemand. Das war doch allen bekannt! Mit ihren Satellitenaugen waren die ASTER-Spezialisten zu Kartographen des Aussterbens geworden, die gewissermaßen die letzten Atemzüge der toten und sterbenden Städte aufzeichneten. Während der letzten zwei Jahre hatten sie die leuchtend roten Blumen der Gaswolken aufblühen und wieder verwelken gesehen. Mirandas Seuchenkarte war nichts anderes als eine Zusammenstellung aller vergangenen und gegenwärtigen Gaswolken. Maples registrierte ihre Ungeduld und hastete durch eine Reihe wunderschöner Aufnahmen von der Erde, um dann endlich zur Sache zu kommen. »Seit Monaten hat es keine messbaren Todeswolken außerhalb von Amerika mehr gegeben«, sagte er. »Alle anderen Kontinente haben sich bis letzten März verdunkelt. Das große Sterben in Übersee ist abgeschlossen. Wir hatten mehr oder weniger aufgehört, dort zu beobachten. Ich meine, es gab einfach nichts mehr zu sehen.« Das Grinsen kehrte wieder. »Aber heute Mittag hat einer meiner Leute rein zufällig auf die Suchtaste gedrückt. Er hatte die Suche auf Wärme programmiert, auf alles, was doppelt so warm ist wie die Umgebungstemperatur. Zu diesem Zeitpunkt war er auf einem Wetter347
satelliten der Europäischen Union. Wie eine ganze Reihe anderer herrenloser Satelliten ist er von seiner Umlaufbahn abgekommen, noch mehr Weltraummüll, der bald vom Himmel fallen dürfte. Aber die optischen Geräte sind noch alle aktiviert, und zufälligerweise hat er zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Richtung gezeigt. Und das hat er gefunden.« Die rasche Abfolge der Erdbilder wechselte die Farbe. Rot verwandelte sich in hellgrün und schwarz, dann kam das Ineinanderblenden zum Stillstand. Miranda konnte gerade noch die dunkle Silhouette des indischen Subkontinents erkennen. Am unteren Rand des Videobildes stand: »EUMETSAT, 10/08,12:04:52; MST.« Längen- und Breitengrad wurden angezeigt. Das Band lief weiter. Die Zeitangabe erreichte 12:05:09. »Dort«, sagte Maples. »Haben Sie es gesehen?« »Was denn?«, fragte jemand. Maples grinste und hob den Kopf. Er freute sich sichtlich. »Sehen Sie noch mal genauer hin, hier.« Er zeigte auf die Bucht von Bengalen. »Kalkutta.« Das Band wiederholte die Stelle, und diesmal sahen sie es. Ein winziges Licht, kaum ein Funkeln. Dann war es verschwunden. »Und?«, fragte eine Frau. »Ganz genau«, sagte Maples. »Zuerst hielten wir es für einen Irrläufer, einen Fehler in der Hardware. Aber dann sahen wir es uns genauer an.« Das Bild wurde vergrößert. Das Band spulte wieder zurück auf 12:04:52. Kalkutta blinzelte sie an. Es war wie ein einsamer, schwacher Stern in einem Universum der Finsternis. 348
»Feuer«, sagte Maples. Niemand am Tisch bewegte sich. Die Bedeutung dessen, was sie soeben gesehen hatten, war umwerfend. Es warf alles über den Haufen. Niemand wagte, daran zu glauben. »Unmöglich«, sagte ein Leiter der Weltgesundheitsbehörde provokativ. »Ich weiß, ich weiß«, gab Maples mit einem breiten Grinsen freudig erregt zurück. Endlich konnte er sein Scherflein beitragen. »Noch einmal«, bat jemand. Maples spielte es noch einmal ab und vergrößerte dabei das Bild noch weiter. Es bestand kein Zweifel daran: Gestern Nacht, um fünf Minuten nach Mitternacht, hatte in Kalkutta ein Feuer gebrannt. »Eine lecke Gasleitung, nichts weiter«, bemerkte eine Frau. »Das dachten wir auch«, konterte Maples. »Es kann unmöglich von einem Menschen stammen, sagten wir uns. Vielleicht hatte ein Blitz ein Haus in Brand gesetzt, oder eine Explosion, die durch ein Erdbeben verursacht wurde. Da draußen gibt es jede Menge Brennbares. Es hätte tausend andere Verursacher außer dem Menschen haben können.« Maples fuchtelte mit den Händen umher. »Deshalb haben wir herangezoomt, das Bild auf 37 Grad programmiert und es mit Hilfe des Computers verbessert. Hier unser Ergebnis.« Der pseudogrüne Maßstab vergrößerte sich, das Bild wurde schärfer. Das nächtliche Bild tauchte inmitten der innerstädtischen Ruinen auf. »Menschliche Körperwärme.« Man sah das gleißend helle Feuer. Und dann näherte sich 349
eine gespenstische Gestalt – das Wärmebild eines Zweibeiners – der Feuerstelle. Mann, Frau oder Kind. Die Gestalt legte einen Ast ins Feuer, ging dann wieder ein Stück zurück und setzte sich. »Aber da draußen ist niemand mehr. Das Virus ist dort schon vor einem Jahr durch.« Die Stimme war rau. Miranda musste nicht aufsehen, um zu sehen, wem sie gehörte. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Bildschirm lösen. »Vor elf Monaten, um genau zu sein«, sagte Maples. Er war auf den Einwand vorbereitet und drückte einen weiteren Knopf. »September letzten Jahres«, sagte er. Der Monitor zeigte nun wieder Bilder des Roten Beobachtungsspektrographen. Der indische Subkontinent war voller roter Wolken, sie sahen aus wie explodierende Atombomben. Das Bild lief im Zeitraffer. Die roten Wolken, in denen Dörfer und Städte verwesten, bewegten sich rasch nach Norden. Über den Städten leuchteten die Ammoniakwolken am hellsten, und die großen Flüsse färbten sich rot wie Arterien. Schließlich verblich der rote Sturm und löste sich dann restlos auf. Auf dem Subkontinent kehrte wieder Frieden ein. »Januar diesen Jahres«, kommentierte Maples. Einen kurzen Augenblick versuchte sich Miranda daran zu erinnern, wann Nathan Lee geflohen war. Er musste kurz vor der Virenattacke entkommen sein. Es war ein Wunder, dass jemand so etwas überlebt haben konnte. Trotzdem hatte er es geschafft. Aber allem Anschein nach hatte noch jemand überlebt, wenn auch auf andere Art. Konnte es sich um einen Überlebenden der Kategorie Eins handeln? Maples schaltete wieder zu der gespenstisch grünen Gestalt am Feuer um. »Wissen Sie, was das bedeutet?«, flüsterte jemand. 350
»Es wäre ein Fehler, voreilige Schlüsse zu ziehen«, warnte ein anderer. »Ein Überlebender!«, murmelte Mirandas Nachbar. »Kategorie Eins.« Miranda starrte immer noch auf die Figur auf dem Bildschirm. Es hätte ein Urmensch sein können, der sich so nah wie möglich an seine kleine Flamme kauerte, ganz allein in der Nacht. »Ein abartiger Zufall«, sagte eine Stimme verächtlich. »Ein Glückspilz.« »Genau das, wonach wir suchen«, entgegnete ein anderer. »Nicht unbedingt«, warnte Cavendish. »Wir wissen nicht genau, was wir hier vor uns haben. Es gibt drei Gründe, warum ein Mensch einen so tödlichen Parasiten überleben kann: Glück, natürliche Widerstandskraft, oder Immunität. Das haben wir bei Aids, Ebola und Marburg auch erlebt.« »Wir haben es auch bei Polio, dem schwarzen Tod und allen anderen Pandemien in der Geschichte der Menschheit erlebt«, fügte Miranda hinzu. »Aber die Sache ist doch gerade die, dass uns bei Korfu so etwas bisher noch nicht begegnet ist. Ein Fall von Immunität!« Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Möglicherweise änderte sich damit alles. Seit dem Ausbrechen und dem Umsichgreifen von Korfu hatten sie nach Überlebenden gesucht. Das war auch der Grund für das ganze Klonen der Jahr Null-Exemplare gewesen: Sie hatten weit in der Zeit zurückgehen müssen, um Überlebende des Virus zu finden, wenn auch nur eines gutartigeren, uralten Stammes davon. Aber hier, mitten in Kalkutta, saß ein moderner Überlebender! »Das ist noch nicht alles«, unterbrach sie Maples. 351
»Nachdem wir diesen Vorfall in Kalkutta identifiziert hatten, suchten wir mit dem Computer nach anderen Lagerfeuern, nicht nur in Indien, sondern auf allen Kontinenten und größeren Inseln, und nicht in der gestrigen Nacht, sondern in allen Nächten der letzten sechs Monate. Davon gibt es Millionen Bilder, deren Überprüfung Wochen oder Monate in Anspruch nehmen wird. Aber sehen Sie, was wir innerhalb weniger Stunden gefunden haben!« Die Bilder tanzten um die ganze Welt. Der Datumscode am Bildrand sprang vor und zurück. Es war September in Spanien, Juni in Borneo, Februar in Moskau. Jetzt, da sie wussten, wonach sie suchten, entdeckten die am Tisch versammelten Wissenschaftler die Lichtpunkte mit zunehmender Leichtigkeit. Sie standen auf, drängten sich um den Bildschirm und schrien bei jeder neuen Entdeckung auf. In einem Zeitraum von fünf Minuten fanden sie unter Maples’ Anleitung mindestens neunzehn weitere »Vorfälle«, wie die Lagerfeuer inzwischen vom Beobachtungsteam Rot getauft worden waren. Maples freute sich wie ein kleines Kind. »Ich habe ein paar meiner Leute vom ASTER-Team dazu abgestellt, die alten Bänder zunächst auf Feuer und dann auf Körperwärme hin zu untersuchen. Die Feuer sind am deutlichsten zu erkennen. Meine Leute markieren jeden dieser Vorfälle und verfolgen ihn zeitlich in beide Richtungen. Wir wissen jetzt, dass der KalkuttaVorfall in den letzten drei Wochen an der immer gleichen Stelle stattgefunden hat. Auch in Rom, Perth, Phnom Penh, Kinshasa und Wladiwostok sind Feuer registriert worden. Einige bewegen sich Nacht für Nacht von einem Ort zum anderen. Das lässt auf eine Wanderbewegung schließen – entweder aus freien Stücken oder aus Angst. Andere bleiben stets am gleichen Ort. Alle Vorfälle ereignen sich in Städten, was wahrscheinlich bedeutet, dass die 352
Überlebenden sich von dem ernähren, was sie in den Ruinen finden. Wir können nur Vermutungen anstellen. Sie müssen wie Robinson Crusoe leben, allein oder in Paaren oder kleinen Gruppen, und sich langsam zu Wilden zurückentwickeln.« Beim Santiago-Vorfall gab es fünf Wärmesignaturen in Menschenform. Die Überlebenden fanden langsam zusammen. In weit entfernten Ländern verbanden sie sich zu Stämmen. Es gab Leben nach der Seuche. Jetzt ging es nur noch darum, das Geheimnis ihres Überlebens zu lüften, solange es noch eine zivilisierte Welt gab. »Wir dürfen nichts überstürzen«, warnte ein Pakistani. »Dr. Cavendish hat Recht. Was haben wir hier vor uns? Was für Menschen sind diese Überlebenden?« Er hielt drei Finger in die Luft. »Gehören sie zur Kategorie Drei? Haben sie ganz einfach Glück gehabt, haben sie sich in Höhlen oder U-Booten versteckt, während die Seuche über sie hinwegging? Hat sie das Virus einfach nur übersehen? In diesem Fall bringen sie uns überhaupt nichts. Das Virus findet sie, und sobald sie mit ihm in Berührung kommen, müssen sie auch sterben.« Er nahm einen Finger herunter. »Oder gehören sie zur Kategorie Zwei, unempfindlich gegen das Virus? Sind ihre Körper aus irgendeinem Grund resistent? Denken Sie an die Untersuchung an Prostituierten in Tansania. Jahrelanger ungeschützter Sex, manchmal mit Dutzenden von infizierten Männern in einer Nacht, und trotzdem steckte sich eine Gruppe von etwa sechzig Frauen nie mit Aids an. Wissenschaftler beobachteten sie länger als ein Jahrzehnt, entwickelten haufenweise Theorien, doch niemand kam hinter das Geheimnis ihrer Resistenz. In diesem Fall wären diese Menschen in unserem Kampf gegen Korfu kaum ein Gewinn.« Nun ragte nur noch ein Finger in die Luft. »Oder haben 353
diese Leute das Virus tatsächlich abbekommen? Waren sie mit ihm in Kontakt und haben Antikörper entwickelt? Sind sie Kategorie Eins? Haben sich ihre Immunsysteme gemeinsam mit dem Virus entwickelt? In diesem Fall«, er wiegte den Kopf hin und her, »können sie uns vielleicht retten. Vielleicht auch nicht.« »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, sagte jemand. »Sie suchen gehen?«, fragte eine spöttische Stimme. Miranda drehte sich um. Es war der Leiter der Abteilung Unsterblichkeit. Sie hatte sich immer noch nicht an den Namen der Abteilung gewöhnt, obwohl er perfekt passte. Die meisten Viren zerstörten ihre Wirtszellen, wenn diese ihre Aufgabe als Virenfabrik erfüllt hatten. Bei Korfu war das anders. Es wies die Wirtszelle an, sich immer weiter zu teilen, ohne abzusterben, daher der Name »Unsterblichkeit«. Ein weiteres Geheimnis für ein weiteres Labor. »Diese Menschen befinden sich auf der anderen Seite des Planeten«, fuhr der Laborleiter fort. »Genauso gut könnten wir uns Bilder vom Mars ansehen. Wir kommen nicht einmal mehr durch unser eigenes Land, geschweige denn um die Erde.« »Aber schon ein einziger dieser Überlebenden könnte die Antwort auf alles sein«, erwiderte Miranda. »Sie könnten unsere Zukunft bedeuten.« »Falls Sie es schon vergessen haben sollten: Die USMarine ist bei der Suche nach solchen Überlebenden spurlos verschwunden.« Die Wissenschaftler drehten sich zu Cavendish am anderen Ende des Tisches um, einem dürren Stängel mit brennenden Augen. »Unsere Armadas gibt es nicht mehr, militärische Möglichkeiten sind zusammengeschnurrt. Wir haben nicht mal 354
mehr Flugzeuge.« Cavendish zeigte mit einer Hand auf die Satellitenbilder auf dem Bildschirm. »Selbst unsere Augen erblinden. Wir bekommen Informationen von Satelliten, die zur Erde stürzen. Verstehen Sie, Miranda? Wir können nicht einfach mehr so in die Welt reisen. Wir haben die Fähigkeit dazu verloren. Die Nacht gehört uns nicht mehr, und auch der Tag gehört uns nicht mehr. Es erfordert eine größere Militärexpedition, wenn wir uns nur ein paar Stunden in Albuquerque umsehen wollen. Kalkutta!«, schnaubte er. Die grün leuchtende Figur auf dem Bildschirm legte einen weiteren Stock auf ihr kleines Feuer. »Das hier beweist nur, dass es noch anderes Leben im Universum gibt, nicht mehr und nicht weniger.« Miranda spürte, wie die anderen sie ansahen. Wieder einmal war sie die einzige Stimme des Widerspruchs, oder des Optimismus, oder was immer sie auch war. Einen Augenblick ärgerte sie sich über die Feigheit der anderen, aber sie konnte sie auch verstehen. Viele von ihnen hatten Familien. Sie waren sterblich, und Cavendish war erbarmungslos. Sie waren als Wissenschaftler hier, nicht als Märtyrer. »Wir geben also einfach auf, oder was?«, entfuhr es ihr. »Wir arbeiten mit dem, was wir haben«, sagte Cavendish. »Und wenn es so weit ist, ziehen wir uns in den WIPP-Bunker zurück. So wie Ihr Vater es geplant hat. Das hier lenkt uns nur ab. Es weckt nur falsche Hoffnungen, sonst nichts.« Wenn, dachte Miranda wütend, nicht falls. Rückzug in den Bunker, in die Unterwelt ihres Vaters. Sie blickte sich um und versuchte, die Mutlosigkeit und die Angst der anderen einzuschätzen. Heutzutage glaubten sie mehr an die Zuflucht als an die Heilung … dabei war der Bunker noch nicht einmal fertig, die unterirdische Zuflucht befand sich 355
noch im Bau! Einst als Endlagerstätte für Atommüll geplant, wurde das Atommüll-Endlager-Pilot-Projekt-Waste Isolation Pilot Plant oder kurz WIPP – gerade in ein riesiges Versteck für die gesamte Bevölkerung von Los Alamos umgewandelt. Aus einem Salzstock unter der Wüste an der Grenze zu Texas wurden in sechshundert Metern Tiefe zwölf Stockwerke voller Kammern und Gänge gehauen. Auch dort würde es Labors geben, in der die Forschung tief unter der Virenwelt weitergehen würde. Eines Tages, vielleicht erst in Jahrzehnten, würden sie dann mit ihrem Heilmittel wieder ans Tageslicht kommen. Nur Miranda und eine Hand voll anderer hielten den WIPP-Bunker für einen großen Fehler. Die Labors konnten ihnen niemals die gleichen Möglichkeiten bieten, wie sie sie hier in Los Alamos vorfanden. Sie müssten in engen Quartieren ohne Sonne hausen, in ewiger Nacht. Außerdem wäre ein solcher Bau schon für einen einzigen Virenstamm höchst anfällig. In derartiger Enge würde sie die Seuche mit einem Haps verschlingen. Es war auf jeden Fall falsch, über einen Rückzug zu reden. »Wir haben einen Auftrag zu erfüllen«, protestierte sie. »Wir müssen unsere Hoffnungen in einem realistischen Rahmen halten«, sagte Cavendish. »Manche Dinge sind möglich, Miranda, andere nicht.« In diesem Augenblick piepte Maples’ Telefon. Er nahm den Anruf entgegen und blickte sie an. »Das waren die neuesten Zahlen. Wir haben jetzt neununddreißig Überlebende entdeckt.« »Weltweit?« Es war die blonde Frau aus Johannesburg. »Mein Gott, ist das alles? Neununddreißig Menschen … von ehemals etlichen Milliarden?« Das Land der Frau war schon lange ausgelöscht worden. Miranda musste ihr zugestehen, dass ihr der Defätismus 356
näher lag, obwohl das ihren spöttischen Tonfall nicht unbedingt erklärte. Sie, und wahrscheinlich auch die meisten anderen im Raum, nahmen Cavendishs Stichwort auf und zeigten damit, auf wessen Seite sie standen. Dann bemerkte Miranda, wie die Frau bewundernde Blicke in seine Richtung warf, die aber nicht ihm, sondern seinem schweigenden Klon galten, der hinter dem Rollstuhl stand. Die Gerüchte stimmten also, dachte Miranda. Sie hatte der Klon also auch flachgelegt. Aber wer war dieses Geschöpf? »Es wird noch mehr als neununddreißig geben«, gab Miranda hartnäckig zu bedenken. »Ein paar hundert?«, fragte die Frau verächtlich. »Einen pro Million, oder zwei Millionen, oder zehn Millionen«, sagte Miranda. »Besser als nichts.« »Wobei Sie hier vom nackten Überleben reden.« Die Frau zeigte auf das Wärmebild des Höhlenmenschen, der in den Ruinen von Kalkutta kauerte. »Wenn das unsere Zukunft ist, dann ist unsere Zivilisation ohnehin am Ende.« »Nein«, erwiderte Miranda. »Nicht, solange Los Alamos noch lebt.« Ihr Widerspruch klang in ihren eigenen Ohren wie Stimmungsmache, und sie versuchte verzweifelt, während des Redens bessere Argumente zu entwickeln. Irgendjemand musste etwas sagen. »Wir sind eine Stadt auf dem Hügel«, verkündete sie. »Eine Stadt des Lichts.« Wo hatte sie denn das her: Eine Stadt des Lichts? Alle blickten sie an. Sie hätte das Schweigen gerne als nachdenkliche Stille interpretiert, wusste aber sehr wohl, dass sie ihnen peinlich war. Mirandas Wangen glühten. »Wenn wir die Überlebenden nicht suchen können«, sagte sie abschließend, »dann kommen sie vielleicht zu uns. Eines Tages.« 357
»Dann muss unser Bursche hier ein ausgezeichneter Schwimmer sein, was?«, witzelte Cavendish. Touché. Die Ozeane waren wieder zu riesigen Hindernissen geworden. »Auch in Amerika wird es Überlebende geben«, gab Miranda zu bedenken. Sie konnte fast schon den Wind spüren, so weit lehnte sie sich aus dem Fenster. »Sobald das Virus durchgezogen ist, werden sie auf der Bildfläche erscheinen.« »So wie Motten?«, zog sie Cavendish auf. »Angelockt vom Licht?« »Ich jedenfalls gebe nicht auf«, sagte Miranda. Falsches Argument. Jetzt glaubten sie, sie würde ihnen Vorwürfe machen. Das tat sie auch, aber nicht, um sie zu vertreiben, sondern um sie zu beflügeln. Mit Beleidigungen? Sie seufzte. Sie war nicht besonders gut in solchen Dingen. Die Augen der Umstehenden wurden glasig. Als Miranda Cavendish anblickte, strahlte er sie an.
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21 Auferstehung 11. AUGUST
Bei ihren Besuchen war es sonst immer gespenstisch still gewesen. An diesem Abend jedoch hörte sich das fünf Stockwerke unter der Erde befindliche Waisenhaus an, als würde gerade der Vollmond aufgehen: Von überall her schrie und brüllte es aus wilden Kehlen. Als sie durch den Gang stürmte, spürte Miranda die wilde Raserei der Klone durch die Stahlwände hindurch. Sie wurde immer zorniger. Sie heulten wie Todesfeen. Manche warfen sich gegen die rostfreien Metalltüren, andere kauerten sich in die Ekken oder versteckten sich unter den Betten. Ein Gesicht mit weit aufgerissenen Augen hämmerte gegen die schmale Plexiglasscheibe. Ein anderes Fenster war blutbespritzt. Am Ende des Flurs erwarteten sie zwei Wachen vor einer verschlossenen Tür. Auf dem Plastikschild an der Tür stand: 01-01N. Klon Eins. Version Eins. Neandertaler. »Was ist passiert?«, wollte sie wissen. »Nathan Lee ist reingegangen«, erklärte der massige Gewichtheber zögernd. »Hat sich hingesetzt. Das Mädchen ist ausgeflippt. Und dann sind die anderen auch alle ausgerastet.« Miranda warf einen Blick durch das kaum zehn Zentimeter breite Guckloch. Alles war bräunlich verschwommen. Die Zelle war der reinste Alptraum aus mit Kacke 359
verschmierten Wänden. Das Kind selbst war von oben bis unten mit seinen eigenen Fäkalien verklebt und verkrustet, heute Abend jedoch hatte es auch Blut an den Händen. An den Wänden war ebenfalls Blut zu sehen. Zu Mirandas Erleichterung war es Nathan Lees Blut, nicht das des Kindes: er saß zu ihren Füßen. Sie war schon fast zu heiser zum Schreien, ihre Stimme klang, als kratzte jemand Rost von den Wänden. »Was hat er mit ihr gemacht?« »Nichts. Er ist einfach nur rein und hat sich hingesetzt. Mehr nicht.« Das war alles. Man hatte das Mädchen aus dem Zimmer mit der Pappel vor dem Fenster und dem Regenbogen an der Wand weggebracht. Sie hatten ihm alle Spielsachen und die geliebten Buntstifte weggenommen und es in diesen Käfig tief unter der Erde gesperrt. Ein Vogel mit gestutzten Flügeln. Für dieses Kind gab es keine Welt jenseits seiner Zelle. Es ging nie bis in die Mitte des Zimmers, hielt sich immer nur dicht an der Wand. Dieses rastlose Auf und Ab entlang der Wände war eine Form von Autismus. Und jetzt hatte Nathan Lee es gewagt, die Grenze des Wenigen, was dem Mädchen gehörte, zu überschreiten. Er hatte ihr den Weg mit seinem Körper versperrt, hatte ihr sinnloses Kreisen unterbrochen. »Wer hat ihn reingelassen?« Die Wachen fürchteten ihren Zorn. So hatten sie sie noch nie erlebt. »Ich hab mich nur kurz umgedreht«, sagte der mit der Marines-Pisspott-Frisur. »Da hat er die Tür aufgemacht.« Sie warf noch einen Blick durch den Sehschlitz. »Er könnte sie anstecken.« 360
»Wir haben darüber geredet. Nathan Lee meinte, was denn schlimmer sei – krank sein oder tot?« »Sie haben darüber geredet?« Die beiden Wachen schlotterten vor Angst. »Wie lange ist er schon drin?«, fragte sie. Quadratschädel schaute auf seine Uhr. »Dreiundzwanzig Minuten.« Jetzt traf auch der Captain ein und spähte ebenfalls durch den Schlitz. »Toll«, murmelte er. »Er hat es einfach getan.« »Wussten Sie, dass er es vorhatte?« »Ich hatte so ein Gefühl.« »Und was ist mit der strikten Anweisung ›Kein Kontakt‹?« Sie hatte noch nie von oben herab mit dem Captain gesprochen, konnte sich aber jetzt einfach nicht mehr beherrschen. »Er war gewarnt.« »Sie hat schon so viel durchgemacht.« In diesem Augenblick hätte sie jemanden schlagen können. »Er fliegt raus! Haben Sie mich verstanden?« Sie hörte sich reden, und es klang nach Cavendish. »Er steht auf unserer Seite, Miranda.« »Woher wollen Sie das wissen?« Der Captain warf noch einen Blick hinein und schüttelte den Kopf. »Der Mann nimmt seine Strafe auf sich.« Das Mädchen verfügte über die Kraft eines Halbwüchsigen. Nathan Lee saß seit zwanzig Minuten auf dem Boden und ließ sich von ihr mit Fäusten und Klauen bearbeiten. Sein Gesicht war geschwollen, er blutete aus Lippen und Nase. Sein Hemd war in Fetzen gerissen, doch er hob nicht einmal den Arm, um ihre Schläge abzuwehren. Das 361
Einzige, was er tat, war lesen. Miranda sah es erst jetzt. Er hatte sein Geschichtenbuch mitgebracht. Das war es also: Er war übergeschnappt. Weil es ihm nicht gelang, an Ochs und damit an seine Tochter heranzukommen, hatte er sich dieses Mädchen geschnappt. »Er hat den ganzen Trakt in Aufruhr versetzt«, sagte sie. »Hören Sie sich das Geschrei an.« »Ich höre es. Manchmal sind sie so.« »Wir müssen ihn da rausholen.« Nathan Lee hatte sie getäuscht. Sie hatte sich selbst getäuscht. Die Reinheit und Feierlichkeit seiner Aufgabe hatte sie eingelullt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich ein paar Lebensmittel zusammenklaute, den Gaul schnappte und wieder verschwand. Damit hatte Miranda gerechnet. Aber nicht mit dem, was er sich hier erlaubte. »Woran haben Sie gedacht?« »Sie haben Leute für so was«, antwortete sie. »Die sollen ihn rausholen.« Der Captain sah sie stirnrunzelnd an. »Sie ist völlig außer sich. Wenn wir die Gang reinschicken, müssen wir das Mädchen ebenfalls sicherstellen.« Die Gang war ihr Überfallkommando, kräftige Männer, die nicht gerade zimperlich waren. »Sie könnte verletzt werden.« »Dann betäuben Sie ihn. Mit einem Pfeil, mit Gas, ganz egal. Dieser Mistkerl!« Sie war noch nie so wütend gewesen. Nathan Lee hatte nicht das Recht, dermaßen auszuklinken. Er hätte stärker sein sollen! Noch so eine lahme Krücke konnte sie hier nicht gebrauchen! »Sie könnte verletzt werden«, wiederholte der Captain. Miranda atmete aus. »Außerdem dürfte sie bald müde werden«, versicherte ihr der Captain. »Das ist immer so.« 362
Miranda hörte die Überzeugung in seiner Stimme. Ihr Fachgebiet waren die stummen Mechanismen im Inneren menschlicher Zellen, das seine war die Gewalttätigkeit unzivilisierter Männer und eines wilden Kindes. Der Tumult um sie herum erschütterte sie. »Wie oft führen sie sich so auf?«, wollte sie wissen. »Nur ab und zu. Ein paar von ihnen stellen wir ruhig, aber den anderen erlauben wir, ihre Teufel auszutreiben. Es ist gut für die Seele.« Miranda ballte links und rechts des Sehschlitzes die Fäuste. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie lange ihr letzter Besuch bei dem Mädchen schon zurücklag. Sieben Wochen? Sie war eine viel beschäftigte Frau. Das war ihre Entschuldigung. In Wahrheit konnte sie diese metallene Unterwelt, diesen Ort, den sie geschaffen hatte, um die Verdammten und die Abfallprodukte der medizinischen Untersuchungen zu verstecken, nicht ertragen. »Es hat keinen Sinn, hier weiter herumzustehen«, sagte der Captain. »Wir können ebenso gut über den Monitor hineinschauen.« Er führte sie zu einem Raum mit mehreren Reihen Bildschirmen, in dem es dunkel und still war. Ein Stück weg von dem Tohuwabohu beruhigte sie sich wieder. Im Vorbeigehen sah Miranda auf den Monitoren Männer, die sich die Hände auf die Ohren pressten, laut schrien, sich gegen Wände warfen, wie katatonische Einsiedler nur dasaßen oder wie Affen auf und ab hüpften. Einige lagen einfach nur auf dem Rücken und starrten an die Decke. Der Captain rückte ihr einen Stuhl vor die beiden Bildschirme mit der Neandertalerin. Darunter hatte jemand ein Stück Klebstreifen mit einer Blume und einem Namen geklebt: Tara. »Was soll das denn?«, fragte Miranda. 363
»Das ist Tibetisch«, antwortete der Captain. »Nathan Lee meinte, es heißt Mutter Göttin.« Jetzt sah sie, dass an den anderen Monitoren ebenfalls Namensstreifen klebten. »Wo hat er die denn her?« Aber es war offensichtlich. Die Sache mit dem Jahr Null war ihm zu Kopf gestiegen. Es sah aus, als hätte er einen Großeinkauf in der Bibel gemacht. Es gab einen Matthäus, einen Hosea, zwei Ezechiels, Micha, Zacharias, drei Mal Johannes, einen Eleasar ben Yair und sogar einen Lazarus. Und jetzt bemerkte sie auch die Knochen und anderen Fragmente, die vor jedem Bildschirm lagen, wie Opfergaben vor lauter kleinen Altären. »Es sind ihre richtigen Namen. Er wollte Sie damit überraschen.« »Erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, dass er auch zu ihnen in die Zellen gegangen ist und sich mit ihnen unterhalten hat.« »Er hört ihnen lediglich über die Zellenmikros zu. Manchmal murmeln sie etwas vor sich hin, manchmal toben sie auch herum – oder schreien ihre Namen heraus. Das meiste ist Aramäisch, hat er gesagt. Er ist oft hier unten. Jeden Tag, jede Nacht. Es ist ansteckend. Er hat uns alle dazu gebracht. Ab und zu erkennen auch wir einen Namen oder ein Wort.« Jemand hatte eine kurze Vokabelliste in Aramäisch, Hebräisch, Griechisch und Latein plus englische Übersetzung an das schwarze Brett gehängt. Auf einem Bücherregal stand eine kleine Videosammlung, versehen mit ihren Namen, Kennziffern und Daten, dazu Bücher über Archäologie und Museumssammlungen. Nathan Lee hatte den Wachraum in einen Uni-Handapparat verwandelt. »Wie lange geht das schon?«, fragte Miranda erstaunt. »Sie haben ihm doch gesagt, er soll sich die Jungs ge364
nauer ansehen. Daraufhin hat er sich an die Arbeit gemacht.« »Er sollte die Männer beobachten, nicht das Mädchen.« »Es war nur eine Frage der Zeit, Miranda. Ihre Monitore hängen hier. Einer der Wachmänner hat vergessen, sie auszumachen. Danach hat sich Nathan Lee ein bisschen … zurückgezogen.« »Sie wissen doch, was er da tut, oder nicht? Es tut mir ja schrecklich Leid, dass er seine Tochter verloren hat …« Ihre Stimme erstarb. Vielleicht hatten Nathan Lee und der Captain auch darüber bereits geredet, doch sie bezweifelte es. Zwei Stoiker zur selben Zeit am selben Ort … absolutes Schweigen. »Die Sache ist die«, meinte der Captain, »dass er nicht hierher gehört.« »Nein, allerdings nicht. Aber mir ist seine HimalajaConnection völlig egal.« »Er hat mir erzählt, wie er sie gefunden hat. Sie saß auf einem Felsvorsprung, irgendwo in der Nähe des Mount Everest. Sie war ganz allein. Er hat gesagt, sie hat sich diesen Platz ausgesucht, weil man von dort aus das Abendrot auf den Bergen sehen kann.« Miranda schaute auf den Bildschirm. Die Raserei des Mädchens ließ merklich nach. »Sie täuschen sich. Er ist nicht wegen seiner eigenen Einsamkeit da rein«, sagte der Captain. »Sondern wegen ihrer.« Miranda drehte den Kopf zur Seite. Der Captain hielt ihr ein Headset hin. »Hier stellt man die Lautstärke ein.« Er zeigte auf ein Rädchen und ging hinaus. Miranda setzte den Kopfhörer auf, und sofort drang ihr 365
die heisere Stimme des Mädchens in die Ohren. Der Captain hatte Recht. Der Wutanfall hatte sie bereits ziemlich entkräftet. Durch den Krach hörte Miranda Nathan Lees Stimme, die leise vorlas, eine Geschichte vom Wind und einem kleinen Vogel. Er blätterte eine Seite um. Miranda sah, dass er das Buch mit beiden Händen festhielt, sah, dass seine Knöchel ganz weiß waren. Die Schläge taten weh. Er hielt sie jedoch aus, als ginge es um sein Leben. Trotzdem hielt er das Buch ein wenig schräg, damit sie die Bilder sehen konnte. Miranda saß in der Dunkelheit vor dem Bildschirm. Schließlich war das Mädchen erschöpft. Ihre Arme sanken herab, das Kreischen verebbte. Miranda konnte beinahe seine Gedanken lesen. Was jetzt? Nathan las weiter. Seine Stimme hatte einen beinahe fröhlichen Klang. Kurz darauf rückte das Mädchen näher, nur ein paar Zentimeter. Es strahlte die Unschuld eines kleinen Kindes aus, reckte den Hals und versuchte die Bilder zu sehen. Ganz langsam ließ er einen Arm sinken. »Untersteh dich!«, murmelte Miranda in Richtung Monitor. Er wollte sie packen! Es war eine Falle! Und dann geschah es. Das Mädchen setzte sich auf seinen Schoß. Das ist keine Zutraulichkeit, sagte sich Miranda. Sie saß auf ihm wie auf einem Möbelstück, die Augen auf die Bilder fixiert. Er war ein Objekt. Ein Werkzeug. Seine Stimme wurde sanfter. Als er »Schsch, schsch« sagte, klang es wie das Geräusch des Windes, und ihre Augen loderten auf. »Ist ja gut«, sagte der Captain hinter ihr. Miranda bemerkte, dass auch die anderen Wachen zu366
schauten; ein Teil von ihnen trug gepolsterte Schilde, Helme und Schutzkleidung. »Er hat sie überlistet«, sagte Miranda. »Eine gute List«, meinte der Captain. Miranda verlor das Gefühl für die Zeit. Nathan Lee entfernte sich kaum merklich vom Text, blätterte eine Seite nach der anderen langsam um. Silbe für Silbe, immer ein Bild nach dem anderen, verfiel er vom Vorlesen in ein gesungenes Lied. Es war ein Nonsenslied, ohne richtige Worte, eigentlich eher ein Singsang. Mit einem Mal fiel Miranda auf, dass seine lang gezogenen Töne eigenartig vibrierten. Er sang so, dass seine Brust wie ein Resonanzkörper an ihrem Rücken wirkte. Miranda schaute ungläubig zu. Er war dabei, sie zu verzaubern. Das Mädchen ließ den Kopf an seine Schulter zurückfallen. »Allmächtiger«, flüsterte ein Wächter. »Herrschaft noch mal.« Ihre Augen schlossen sich. Sie schlief ein. Nathan Lee sang weiter. Sein Gesicht sah grotesk aus. Ein Auge schwoll zusehends zu. Die Kamera fing eine einzelne Träne ein, die sich daraus hervorquetschte und ihm über die Wange lief. Er wollte weinen, denn er war glücklich, das sah Miranda deutlich. Aber mit seinem Weinen hätte er das Mädchen geweckt, deshalb riss er sich zusammen. Er legte das Buch zur Seite und schlang vorsichtig die Arme um sie. Sie kuschelte sich in die Wärme seiner Umarmung. Er roch an ihrem Haar. Es wurde ruhig im Waisenhaus. Miranda ließ rasch einen 367
Blick über die anderen Monitore schweifen, auf denen die Klone zu randalieren aufhörten. Nach einer Stunde legte Nathan Lee das immer noch schlafende Mädchen auf den nackten Boden. Der Kampf hatte es völlig erledigt. Er kroch auf Händen und Knien zur Tür. Miranda, der Captain und seine riesenhaften Sicherheitsleute traten in den Korridor und warteten schweigend. Vorsichtig öffnete der Captain die Tür; Miranda hätte es wegen des Gestanks beinahe gewürgt. Nathan Lee kam herausgekrochen, und der Captain machte die Tür leise hinter ihm zu. Sie mussten Nathan beim Aufstehen helfen. Das Mädchen hatte ihm die Haut auf der Wange bis zum Knochen aufgerissen. Sein gesundes Auge war blutunterlaufen und tränte. Er hielt die Arme fest um den Brustkorb geschlungen. Sie hatte seinen Hals und seine Rückenmuskeln verletzt. Niemand sagte ein Wort. Nathan Lee blinzelte, als wäre er soeben aus einer tiefen Höhle ans Tageslicht gekommen. Sie machten ihm einen Weg frei, und er schlurfte davon wie ein alter Mann. Miranda sprach ihn an: »Sie hatten kein Recht dazu.« »Doch, hatte ich.« Er war durstig. »Trost. Schon vergessen?« Miranda wich ihm aus. »Sie wissen ja überhaupt nicht, was Sie da angerichtet haben.« »Ich habe mich mit einer Sprachtherapeutin unterhalten«, erwiderte er. »Sie sagte, so ein Kind darf man nicht vorsichtig anfassen. Wenn man zu sanft vorgeht, löst man damit nur einen Abwehrreflex aus. Das habe ich vorher nicht gewusst. Die Dame meinte, es muss eine innige Umarmung sein. Alles andere funktioniert nicht.« »Es ist mir egal, mit wem Sie geredet haben. Sie hatten 368
keine Erlaubnis dazu.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Das ist grausam«, sagte sie. »Sie haben ihr Herz geöffnet. Und was jetzt?« Er musste seinen herunterhängenden Kopf mit dem ganzen Körper umdrehen. Das Kind hatte ihm ein großes Büschel Haare herausgerissen. »Jetzt geben wir einfach unser Bestes«, sagte er. Sie wusste, dass er sich revanchierte. Sie hatte ihn an ihrer Welt teilnehmen lassen, jetzt ließ er sie an seiner teilnehmen. Als Tara am darauf folgenden Morgen erwachte, war er wieder bei ihr, geduscht, genäht und in sauberen Sachen. Sein Gesicht war von Blutergüssen und Beulen entstellt, und ihm tat alles weh. Aber er war da. Tara schlug die Augen auf. Sie waren dunkelblau. Einer ihrer Milchzähne war in der vergangenen Woche ausgefallen. Was muss sie, so ganz auf sich allein gestellt, dabei gedacht haben? Jetzt ist die Zahnfee bei dir, dachte er. »Guten Morgen, mein Sonnenschein«, krächzte er. Auch ihre Stimme war heiser: »A, b, c, d, e, f, g«, sang sie ihm vor. Er breitete die Arme aus, und sie kletterte in seine Umarmung. »Wir lassen dich nie wieder allein«, sagte er. Aber er würde sie wieder verlassen. Wenn es an der Zeit war, würde er davonreiten und seine eigene Tochter suchen. Doch bis dahin würde es viele andere Menschen in Taras Leben geben. Schon jetzt setzte sich ein Team vom Sozialdienst für sie ein. Nach all der Vernachlässigung würde man sie endlich wie ein richtiges Kind behandeln. Sie teilten sich eine Orange. Er schälte sie mit Zähnen und Fingernägeln und riss die Scheiben auseinander. Sie 369
waren beide ausgehungert. Mehr Essen wurde gebracht. Als die Krankenschwester mit einem Tablett Spritzen hereinkam, klammerte sich Tara an Nathan Lee. Er bedeutete der Schwester zu warten und fing an, dem Kind vorzulesen. Taras Augen konzentrierten sich auf die Seite. Es war, als sei sie in seinem Geschichtenbuch versunken; sie schien die winzigen Stiche der Nadeln nicht einmal wahrzunehmen. Sie machten sich einen Spaß aus der Aufräumaktion. Ihre Zelle war die reinste Seuchengrube. Nathan Lee trug sie über den leeren Korridor in eine saubere Zelle. Jemand hatte einen Regenbogen auf eine der Stahltüren gemalt. Eine Stunde später kam die Sprachtherapeutin mit jeder Menge Papier und Stiften. Tara durfte eine Lieblingspuppe behalten. Schritt für Schritt machten sie ihre Untaten an ihr wieder gut.
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22 Schmetterlinge 14. AUGUST
Sie war bei ihren Schmetterlingen. Die Sonne ging hinter der Jemez Caldera, dem eingestürzten Krater eines gewaltigen, urzeitlichen Vulkans unter. Die Berge auf der anderen Talseite lagen noch eine Stunde im hellen Licht der schrägen Sonne. Los Alamos hingegen, das auf einem Ausläufer uralter Lava hockte, war bereits in Schatten getaucht. Die Luft kühlte sich merklich ab. Die Schmetterlinge wurden von ihrer Körperwärme angelockt. Der Käfig war ein alter Hundezwinger mit Sperrholzdach und Seitenwänden aus Hühnerdraht. Er stand am Ende des Grundstücks hinter ihrem Haus, einem kargen Sandsteinvorsprung, der sich ein Stück ins Nichts vorschob. Von hier aus ging es über vierzig Meter senkrecht nach unten. Es war ihr Zufluchtsort. Manchmal träumte sie von diesen orangefarbenen oder schwarzen Flügeln, die aus der Tiefe heraufgeflattert kamen. »Miranda?«, sagte eine Stimme. Ihr Kopf fuhr herum. Schmetterlinge flogen wie eine Wolke auf und ließen sich dann wieder auf ihren nackten Armen und ihrem Haar nieder. »Was haben Sie hier zu suchen?«, fuhr sie ihn an. Durch den Hühnerdraht sah Nathan Lee aus wie ein kompliziertes Puzzle. 371
»Ich habe nachgedacht«, sagte er. Na toll, dachte sie ärgerlich. Verteilt die Partyhütchen! Sie verfügte ohnehin über so gut wie kein Privatleben, egal ob Tag oder Nacht. Außerdem konnte sie es nicht leiden, wenn sich jemand an sie heranschlich. »Sie sollten nicht einfach so herumlaufen«, sagte sie. »Die Sicherheitsleute könnten Sie aufgreifen. Ochs hat Sie auf dem Kieker. Ich habe nur auf meiner eigenen kleinen Insel das Sagen.« Vielleicht aber, dachte sie, bot er sich ja selbst als Köder an, um Ochs auf diese Weise aus dem Südsektor oder wo er sich sonst versteckt hielt, herauszulocken. »Ich wollte Ihnen etwas mitteilen«, sagte er. »In meinem Garten? Ich bin nicht im Dienst.« Er ignorierte den Wink. »Fantastischer Ausblick«, sagte er. Sie erwiderte nichts darauf, doch auch ihr Schweigen entmutigte ihn keinesfalls. Das war ihr schon vorher aufgefallen: Schweigen brachte ihn überhaupt nicht aus der Ruhe. Er und der Captain waren sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Wer sich öfter in ihrer Gesellschaft aufhielt, musste über ein ordentliches Maß an Selbstbewusstsein verfügen. Er kam näher an den Hühnerdraht. Sie konnte nicht genau sehen, ob er sie oder die Schmetterlinge anschaute. Nach einer Weile fragte er: »Sind das Monarchfalter?« »Die sind von einem Experiment übrig geblieben«, antwortete sie. »Erinnerung.« Schmetterlinge flatterten um ihren Mund. Es lag an dem Honig, den sie auf ein Stück altes Maisbrot gestrichen hatte, nachdem sie nach Hause gekommen war. »Was hat es damit auf sich?« »Es ging um die Frage, woher sie kommt«, sagte sie. 372
Wollte er wirklich etwas darüber erfahren oder tat er nur so, um sich einzuschmeicheln? Der Kerl war ihr ein Rätsel. Sie spürte, wie sie sich innerlich anspannte. Was wollte er eigentlich? »Wie viel wiegt eine Erinnerung? Ist sie in einem Protein enthalten? In einer elektrischen Spannung? Wie wird sie gespeichert?« »Wie viel wiegt eine Erinnerung?«, wiederholte er. Er stand jetzt direkt vor ihr, hakte die Finger aber nicht in den Draht. Er berührte den Käfig nicht einmal. Sein Blick ruhte auf ihr. »Eine rein spekulative Frage. Andererseits …« Sie hob einen Monarch von ihrem Handgelenk. »Ihr Gehirn wiegt ein Zehntelgramm oder noch weniger, trotzdem beinhaltet es die Erinnerung an die Migration Tausender Generationen. Jedes Jahr fliegen die Monarchen in den Norden der USA, um sich dort fortzupflanzen und zu sterben. Irgendwie erinnert sich die nächste Generation an den Weg zurück ins Winterquartier in Mexiko. Es gibt noch andere Spezies mit eingeprägter Erinnerung, mit Erfahrungen, die nicht selbst gemacht wurden. Der Kuckuck zum Beispiel, oder Aale. DANN ist eigentlich nicht mehr als ein gigantisches Gedächtnis.« »Aber Sie selbst haben gesagt, dass es anders ist. Gedächtniszellen. Erinnerung.« »Ja und nein«, sagte sie, verärgert über ihre eigene Widersprüchlichkeit. »Vielleicht.« »Haben die Schmetterlinge Ihre Theorie gestützt?« »Die Seuche kam dazwischen.« Eine Weile sagte er nichts. »Sie stehen Ihnen«, meinte er dann. »Sie sehen so aus, als gehörten sie zu Ihnen.« Seine Augen waren durch den Draht und die Dunkelheit nur schwer zu erkennen. Wollte er sie anmachen? Sie kam zu dem 373
Schluss, dass er das nicht wagen würde. Die Privilegien ihres Ranges. Oder etwas in der Art. »Hier oben ist der Sommer früher zu Ende«, sagte sie. »Die Schmetterlinge werden bald sterben.« »Sie könnten sie freilassen.« »Zu spät.« »Ein paar könnten es noch schaffen.« »Auf keinen Fall«, sagte sie bestimmt. Er ließ das Thema fallen, ging in die Hocke und wartete. Vielleicht war es egoistisch, sie zu behalten, aber sie waren ihr ein Trost. Ihre Mutter hatte Monarchen immer gemocht. So einfach war das. Miranda erinnerte sich an die Wiese, an die hoch stehende Sonne und an ihren Picknickkorb aus geflochtenen Weiden. Sie hatten ein rotweiß kariertes Tuch auf dem Gras ausgebreitet. Ihre Mutter sang Greensleeves. Und auf einmal war wie von Zauberhand eine Wolke Monarchen aus dem blauen Himmel herabgeflattert. Er ging nicht weg. Er tickte nach einer anderen Uhr. Auf einem anderen Planeten. Sie tat so, als rückte sie die Kolibritränken zurecht und brächte ein paar Stellen am Zaun in Ordnung. Nach einer Weile drehte er den Kopf in Richtung des Farbenspiels auf dem fernen Bergzug. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er schien so in sich zu ruhen. Schließlich gingen ihr die Vorwände aus. Die Dunkelheit trieb sie aus dem Käfig. Ihr Sommerkleid hielt den kühlen Wüstenwind nicht ab. Sie hatte Gänsehaut. Mit einer vorsichtigen Handbewegung scheuchte Miranda die Schmetterlinge auf und schlüpfte rasch durch die Tür. Nathan Lee erhob sich mit knackenden Knien. Sein Gesicht schien sie aus der Dunkelheit förmlich anzuspringen. 374
»Oh«, sagte sie. Er wich zurück. Drei Tage waren vergangen, und die Schwellungen von den Schlägen waren fast abgeklungen. Trotzdem waren da noch die vernähten Wunden und zwei blaue Augen. Auf dem Haken seiner gebrochenen Nase saß eine neue Brille; er schien eine Vorliebe für kleine Nickelbrillen zu haben. »Ich weiß«, sagte er und betastete sein Gesicht. »Manchmal erschrecke ich morgens selbst vor mir.« Sie hatte sich wieder in der Gewalt. Schließlich war er derjenige mit den schlechten Manieren. »Es ist Zeit für mein Abendbrot«, sagte sie. Die Aussage wirkte wie ein Alarm. »Ihr Abendbrot«, sagte er ungläubig. Es sah aus, als wollte er sich sofort aus dem Staub machen, als wäre er unbeabsichtigt in eine heilige Stätte eingedrungen. Einen Augenblick fühlte sie sich ihm gegenüber im Vorteil. »Sie wollten mir etwas mitteilen«, erinnerte sie ihn. »Ich hab völlig die Zeit vergessen.« Das könnte ein Trick gewesen sein, dachte sie. Er trug an keinem Handgelenk eine Uhr. »Sie sagten, Ihnen sei etwas eingefallen.« »Morgen.« Er wich noch einen Schritt zurück. Sie überlegte es sich anders. »Haben Sie schon was gegessen?« »Hören Sie …« Er wurde plötzlich ernst. »Geschäft. Abendessen. Keine gute Kombination. Ich habe mir eine dumme Zeit ausgesucht.« »Möchten Sie mit mir zu Abend essen?« Sie stellte die Frage betont klar und deutlich. Er blickte sich um. Keine Fluchtmöglichkeit. »Sie … beschämen mich.« 375
»Ja«, nickte sie. »Gut. Abendessen.« »Na schön«, sagte er. Dann sagte er nichts mehr. Sie ging voran. Hinter der Tür zog er automatisch die Schuhe aus. »Ist nicht nötig«, meinte sie und ließ ihre an. Er ließ seine aus. Er trug saubere weiße Socken. Sein Oxford-Hemd aus dem Lager war zwei Nummern zu groß, aber ebenfalls weiß und sauber. Auch die schwarzen Jeans hatten nicht ganz seine Größe. Er hielt sie mit einem alten Ledergürtel zusammen. Draußen wurde es dunkel. Sie machte das Licht an. Seine Augen huschten umher. Er nahm alles in sich auf, und einen Augenblick fühlte sich Miranda wie entblößt. Das Haus war kaum mehr als ein Basislager für ihr Büro. Nirgendwo war ein Kunstwerk zu entdecken, nicht einmal ein Kalender mit Blumen oder kleinen Hündchen drauf. Genomtabellen, wissenschaftliche Artikel und Ausdrucke waren an die nackte Wand gepinnt oder mit Magneten am Kühlschrank befestigt. Auf dem Küchentisch standen zwei Computer nebeneinander, beide waren an. Der spektakuläre Blick aus dem Fenster wurde von einer Karte des Chromosoms 16 verdeckt. »Mal sehen, was wir dahaben«, sagte sie und fing an, in ihrer Speisekammer und im Kühlschrank herumzukramen. Sie war, schon aus alter Gewohnheit, ein Cafeteria-Fan. In ihrer Küche fanden sich lediglich ein wenig Eipulver, ein Kanten harter Parmesan, eine Schachtel Cornflakes, Tomaten aus irgendeinem Garten, eine Zwiebel und eine ungeöffnete Kiste Wein des letzten Jahrgangs aus einem Weinberg in Taos. Sie hatte Elise gehört und war Teil ihrer bescheidenen Los Alamos-Hinterlassenschaft, die an Miranda übergegangen war. »Zu früh gefreut«, rief sie. »Die Schränke sind leer.« 376
»Sehen Sie«, fing er an. Er war alarmiert. Essen, das fiel ihr jetzt auf, war für ihn sehr wichtig. Ohne darüber nachzudenken, zog sie die Kiste Wein aus der Kammer und reichte ihm den Korkenzieher. »Machen Sie die Kiste auf und suchen Sie eine Flasche aus«, sagte sie. »Wir machen uns ein Frühstück zum Abendessen. Es gibt Omelett Miranda.« Er zog den Korken aus einer Flasche, sie stellte zwei schwere Gläser heraus. »Setzen Sie sich«, sagte sie. Während er auf einem Hocker am Tresen hockte, versuchte sie sich durch die Kochprozedur zu mogeln. Sie hatte nie richtig gelernt, wie man eine Zwiebel schneidet, weshalb sie mit dem Messer, das in ihren Tränen verschwamm, schon bald den Knöchel erwischte. Kurz darauf stand Nathan Lee auf ihrer Seite des Tresens, und sie saß auf dem Hocker. Der Wein tat ihnen gut. Ihre Unbeholfenheit verflog. »Wie ist es, wenn man so berühmt ist?«, zog sie ihn auf. »So würde ich es nicht nennen«, antwortete er. »Hören Sie schon auf. Sie sind eine Legende!« Die Geschichte von Taras Wiederauferstehung hatte sich in Los Alamos wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Die Erlösung eines einzigen verlorenen Kindes in einer Zeit der Verlorenen schien unerheblich, doch zu Mirandas großer Verwunderung bedeutete es vielen Menschen sehr viel. »Das ist keine falsche Bescheidenheit«, sagte er. »Es hat nichts mit mir zu tun.« »Sie sind der Held.« »Genau das meine ich damit.« »Erklären Sie’s mir.« »Mythen haben tiefe Wurzeln«, sagte er. »Ich habe für 377
sie alle Buße getan. Ich habe das Grab einer NeandertalKönigin geplündert. Ich habe mich bis hierher durchgeschlagen, um ihr in ihrer zweiten Gestalt zu dienen. Klartext: Sie haben einen Helden, der die Toten zum Leben erweckt.« »Reden Sie vom Klonen?« »Ich glaube, die Dimensionen sind weiter gespannt. Diese Leute sind Virenjäger. Sie wollen die Welt retten.« »Was hat das mit Buße zu tun?« »Die Königin der Toten hat mich zu Brei geschlagen.« Er wollte grinsen, doch seine Lippe platzte auf. Ein Blutstropfen quoll hervor. Sie gab ihm ein Blatt Toilettenpapier. Kleenex war ein Begriff aus der Vergangenheit. »Was geschieht jetzt mit unserer kleinen Königin?«, fragte sie. »Ich besuche sie jeden Tag. Aber jedes Mal nehme ich mich dabei ein Stück aus der Versorgungskette zurück. Es kommen viele andere Leute vorbei, die sie gut behandeln.« Miranda erkundigte sich nicht danach, weshalb er sich aus dem Leben des Mädchens zurückzog. Es lag auf der Hand. Er war nur auf der Durchreise. »Ich habe gehört, dass auch die Frau des Captain sie besucht«, sagte sie stattdessen. »Sie ist immer stundenlang bei ihr. Sie bringt ihr zu essen. Ich glaube, sie war früher Grundschullehrerin. Tara mag sie sehr.« »Die Enotes möchten sie adoptieren.« Nathan Lee sah überrascht vom Schneidebrett auf. »Dann war das wohl noch ein Geheimnis«, sagte Miranda. Nathan Lee nickte und machte sich dabei schon mit der 378
Vorstellung vertraut. »Das könnte ihr wirklich gut tun«, beschloss er. »Und den Enotes auch«, meinte Miranda. »Sie brauchen etwas, um das Loch in ihrem Leben zu füllen.« »Wie meinen Sie das?« Nathan Lee nahm den Blick nicht von der Tomate, aber das Messer schnitt langsamer. »Haben Sie nie etwas von ihrer Tochter erzählt?« Das Messer blieb stehen. »Sie war Pilotin bei der Navy. Auf einem der Schiffe, die nicht wieder zurückkamen.« »Welche Schiffe?« »Sie müssen doch davon gehört haben. Die Such- und Kartographieexpeditionen. Sie fuhren aus, um eine Bestandsaufnahme des Planeten zu machen, aber keiner von ihnen hat es wieder bis nach Hause geschafft. Ab und zu erspähen die Satelliten sie. Geisterschiffe, die auf den Ozeanen umherirren. Wie der Fliegende Holländer.« Nathan Lee verstummte. Miranda vermutete, es habe etwas mit seinen eigenen Verlusten zu tun. Er sah gehetzt aus. »Er war sehr stolz auf sie«, fasste sie rasch zusammen. Nathan Lee blieb stumm. »Soll ich den Käse reiben?«, bot sie an. »Klar«, antwortete er. Sie wechselte das Thema und erzählte von den jüngsten Geplänkeln: »Die Blutlabors haben sich jetzt mit dem Leberlabor zerstritten, das wiederum von der Abteilung Enzyme boykottiert wird. Letzte Woche haben die Hautleute die Gehirnleute sabotiert. Hippocampus liegt mit Neocortex im Clinch. Es ist die reinste Farce«, sagte sie. »Der Körper verschlingt sich selbst.« 379
Nathan Lee tauchte wieder aus seinen Gedanken auf. »Ich weiß«, sagte er. »Ich sehe es, und ich höre es. Kürzlich stand ich in der Schlange. Zwei Typen hinter mir. Sie bewunderten das Virus. Einer von ihnen fragte sich, warum er sich ausgerechnet ein so schwaches Wesen wie den Menschen aussucht. Sie sind dermaßen von ihm fasziniert, wissen Sie?« »Wie bitte?« »Das Virus«, wiederholte er. »Die Leute sind fasziniert davon. Nicht so wie«, er ließ den Zeigefinger zwischen ihnen beiden hin und her wandern, »zwei Menschen voneinander. Es ist eher eine Art Verehrung. Sie haben sich ihm unterworfen. Das Virus ist wie eine Gottheit. Niemand spricht mehr von ihm als Angreifer.« Er nahm Parmesan aus der Schüssel und streute ihn über das Omelett. »Das … stimmt nicht«, widersprach sie ihm. Es war eine grauenhafte Vorstellung. Geradezu grotesk. »Wir haben das Ding bisher noch nicht einmal gesehen. Na ja, seine Wirkung schon. Wir kennen seine Handschrift.« Aber er hatte Recht. Das wurde ihr sofort klar. Sie waren von dem Ding, das sie umbrachte, fasziniert. Er stritt nicht weiter. »Ich glaube, das ist genug Käse«, meinte er. Miranda schaute nach unten und stellte fest, dass sie vor lauter Aufregung noch einen Haufen Käse gerieben hatte. Sie legte die Reibe zur Seite und ging um den Tresen herum zu ihrem Hocker und ihrem Weinglas. »Niemand hat gesehen, was Sie gesehen haben«, sagte sie. »Die Seuche ist für uns immer noch unvorstellbar.« »Ich habe sie auch nicht gesehen«, rief er ihr in Erinnerung. »Nur die Schockwellen, die ihr vorauseilen.« »Nach Ihrer Ankunft hier bei uns«, sagte sie, »habe ich 380
mir einige Satellitenübertragungen angeschaut. Ich wollte sehen, wo Sie durchgereist sind. Vom Weltraum aus betrachtet, sind die Kontinente dunkel. Die Lichter sind aus. Es scheint fast so, als wären wir verloren.« »Sagen Sie das nicht.« »Erzählen Sie mir von Amerika.« Seit seinem Auftauchen hatte ihn Miranda über die Welt danach fragen wollen. Die Frage war ihr zu persönlich vorgekommen, aber jetzt fiel ihr auf, dass sie lediglich ihr selbst zu persönlich gewesen war. Sie wollte nicht wissen, was in ihrem eigenen Land vor sich ging. Andererseits natürlich schon. Die Nation war immer noch voll von Menschen, und obwohl es eigentlich keine richtige Nation mehr war, war es doch immer noch Amerika. Ganz bestimmt, dachte sie. »Ich bin jetzt seit einem Monat hier«, sagte er. »Ich bin sicher, dass seitdem alles schon wieder ganz anders aussieht.« »Sie müssen nicht darüber reden.« Er schaute ihr in die Augen. Er traf eine Entscheidung. »So grün«, sagte er leise. Die Worten standen einen Augenblick zwischen ihnen. Meinte er ihre Augen? Sie wandte den Blick ab und griff nach der Flasche. »Ich weiß selbst nicht, was ich erwartet habe«, fuhr er fort. »Eine Welt aus Asche? Aber es war Sommer dort unten. Die Gänseblümchen und die blauen Wildlupinen blühten. Ich bin Hunderte von Meilen durch sie hindurchgefahren, sie wuchsen überall aus den Rissen in der Fahrbahn.« Er schüttelte die Bratpfanne hin und her. »Eines Morgens wachte ich auf, und über meinem Kopf schwebten mindestens hundert riesige Heißluftballons und Menschen mit Weidenkörben. Alle möglichen Farben und Muster. 381
Sie riefen zu mir herunter und wünschten mir einen guten Morgen, winkten. Sie waren glücklich.« »Sie sind in Ballons geflogen?« »Aus reiner Freude. Es war wie ein Picknick in der Luft. Ich weiß nicht, wohin sie eigentlich wollten. Das wussten sie wohl selbst nicht. Sie ließen sich einfach vom Wind treiben.« Er schüttelte den Kopf, als könnte er es selbst immer noch nicht ganz glauben. »Was ist mit den Bränden?«, fragte sie. »Was mit den Städten? Stimmt das mit den Kriegen an den Großen Seen?« Es hieß, Toronto und Buffalo hätten sich in einer lockeren Allianz gegen Montreal zusammengeschlossen. Quebec habe den St. Lawrence blockiert. Detroit unterhalte eine eigene Kaperflotte. Die Nation habe sich in Stadtstaaten aufgelöst, deren Generäle und Senatoren gegeneinander intrigierten. »Man hat mir geraten, die Städte zu meiden«, antwortete er. »Manchmal sah ich etwas aus der Ferne, besonders nachts. Aber das muss inzwischen auch vorbei sein.« »Was haben Sie nachts gesehen?«, drängte sie ihn. Er vermied es, allzu sehr ins Detail zu gehen, doch nachdem sie das Thema jetzt angeschnitten hatte, wollte sie auch die Wahrheit wissen. »Die Präriebrände waren schrecklich«, wich er aus. »Manchmal war es nicht leicht einzuschlafen, auch wenn sie siebzig oder achtzig Kilometer weit weg waren. Sie färbten den ganzen Horizont orangerot. Außerdem konnte man sie aus der Ferne hören. Sie hörten sich an wie Güterzüge.« »Die Städte«, sagte sie. »Die Städte waren Scheiterhaufen. Ich hielt mich fern von ihnen. Hab mich an die kleinen Straßen gehalten, mich nur langsam bewegt. Es gab Heckenschützen. Und 382
Nagelbretter, um die Reifen zu durchlöchern. Und Klavierdraht.« »Wozu das denn?« »Sie spannen den Draht auf Halshöhe, für die Radfahrer. Diese Drähte sind fast nicht zu sehen, schon gar nicht, wenn man schnell fährt. Es sind jede Menge Fahrräder unterwegs. Ein Land von Radfahrern.« Er musste ihr Entsetzen über die Klavierdrähte bemerkt haben. »Eines Nachts schlief ich in einem Maisfeld. Junger Mais. Ich hab das vorher nicht gewusst, aber man kann ihn wachsen hören.« Er versuchte sie abzulenken. Es funktionierte. »Sie meinen die Stängel, die sich im Wind aneinander reiben.« »Nein«, erwiderte er. »Nicht der Wind. Es war absolut windstill. Man hört, wie die Kolben größer werden. Wie sich die Blätter entfalten. Es macht Geräusche.« Sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Dann schlug sie wieder den Bogen zur Jagd auf die Wirklichkeit. »Diese bösen Menschen, von denen Sie gesprochen haben. Die Heckenschützen …« »Die haben sich um ihre eigenen Leute gesorgt«, meinte er. »Es gibt kein Gut und kein Böse.« »Auf unschuldige Menschen schießen?« »Sie beschützen ihre Familien. Oder Clans. Was halt noch übrig ist.« »Ich dachte, das Kriegsrecht sei ausgerufen.« »War es auch. Angeblich hat die Armee die Interstate 70 bis zum Frühling offen gehalten, hat Konvois begleitet, Straßenräuber gejagt und die Blutstationen geschützt. Sie taten, was möglich war, aber es geriet außer Kontrolle. Ich bin an … so vielen … Hinrichtungen vorbeigekommen. Leichen, die an Hochspannungsmasten baumelten. Oder 383
an Zaunpfosten gebunden waren. Menschen, die einfach erschossen im Straßengraben lagen. Es sah aus wie im Mittelalter. Die Arbeit der Armee war überall zu sehen. Sie stellten sie zur Abschreckung für die Öffentlichkeit entlang der Straßen zur Schau.« »Und das geschieht immer noch?« »Jetzt nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr durch die Armee. Soldaten lassen sich nur eine gewisse Zeit ohne Bezahlung bei der Stange halten. Außerdem hatten die meisten von ihnen selbst Familien. Die I-70 war der letzte Korridor von einer Küste zur anderen. Kurz bevor ich ihn benutzen wollte, wurde er geschlossen.« Die Armee zerfällt. »Die Generäle haben uns nichts davon berichtet«, sagte sie. »Haben Sie jemals etwas über die Konquistadoren gelesen?«, fragte er. »Sobald sie in der Neuen Welt gelandet waren, haben sie als Erstes die Verbindungen mit dem Monarchen im Mutterland unterbrochen. Damals erhielten die Könige ihre Autorität direkt von Gott, genau wie der Papst. Und urplötzlich fanden sich die Konquistadoren in einer Welt ohne Gott wieder.« »Vergleichen Sie unsere Generäle etwa mit diesen Kriegsherren?« »Ich sehe niemanden, dem sie Rechenschaft schuldig wären.« Meinem Vater, dachte sie, sagte aber nichts. Und dem Präsidenten und den Stabschefs, die im NORAD im Cheyenne Mountain eingebunkert sind. Sie sah sich nicht als glühende Patriotin. Aber die Demokratie war ihrer aller Gott. Nathan Lee machte ihr Angst. »Sie haben ihre Autorität vom Volk«, sagte sie trotzig. »Miranda.« Er murmelte die Zurechtweisung nur. 384
Sie kippte die Flasche um. Sie war leer. Nicht gut. Zu schnell. »Ich weiß, es ist schrecklich«, nickte sie. »Ich sage nur, dass es anders ist. Nicht mehr so, wie es mal war, andererseits ist es genau so, wie es mal war. Ich bin durch einige dieser kleinen Städte gekommen … es war beinahe unwirklich. Niemand war dort in Panik. Männer mähten den Rasen mit Handrasenmähern, man bekam Limonade für einen Groschen. Jungs strichen Gartenzäune weiß. Man hätte meinen können, sie hätten noch nie etwas von der Seuche gehört.« »Aus den Augen, aus dem Sinn?« »In gewisser Hinsicht auch das, ja. Außerdem rechnet niemand damit, dass er als Nächster dran ist. Das hat nichts mit Leugnung zu tun, sondern eher mit Glauben. Sie glauben alle fest daran, dass es ihnen bestimmt ist, zu überleben. Ich habe hundert verschiedene Begründungen dafür gehört, weshalb die Seuche ausgerechnet an ihnen vorübergehen wird. Die Gene in der Familie sind besonders stark, sie leben bescheidener, ihr Essen ist gesünder, oder es liegt am Joggen oder am vielen Beten.« »Alles Illusionen. Sie wissen doch von den Stromausfällen, dass es kein Öl mehr gibt, dass die Menschen in den Großstädten plündern, weil es nichts mehr zu essen gibt.« »Das ist für sie nur fernes Grollen am Horizont«, antwortete er. »Bis es plötzlich über sie selbst hereinbricht.« »Es ist bereits über sie hereingebrochen.« »Ja, es sind Amerikaner, die kommen mit allem zurecht. Man kann es sich kaum vorstellen, aber sie sind vorbereitet, es ist ihre zweite Natur. Seit dem Sputnik wissen sie, dass auch sie nicht unangreifbar sind, und es gibt nichts, was die Seuche ihnen bringen kann, ohne dass Hollywood es sich nicht schon vorher ausgedacht hätte. Sie haben bereits Dutzende von Seuchen und Plagen überlebt. Den385
ken Sie an Stephen King, an Andromeda, an Camus, an das Decamerone, Thukydides. Das Leben ist nur ein Abklatsch der Kunst, Katastrophen sind stets zugleich eine Erneuerung. Die Leute dort draußen reden immer noch über die Benzinknappheit in den Siebzigern, über Mount St. Helens, den Brand im Yellowstone-Park und über den Wirbelsturm Mitch. Über die großen Stromausfälle, die Jahre mit den schlimmen Schneestürmen, über Waco, Oklahoma City, über das World Trade Center, Fluten, die Depression, Vietnam. All das sind Legenden für sie. Wie Parabeln, Lektionen.« »Gründe zur Hoffnung?«, fragte sie zaghaft. »Auch das. Amerika überlebt immer. Die Leute sind aufgeregt, sie können es kaum erwarten, die Schweinerei aufzuräumen und wieder von vorn anzufangen.« »So wie sie das sagen, hört es sich dumm und einfältig an.« »Nein, es ist nicht dumm.« »Sie glauben, dass wir sie zum Narren halten«, sagte sie. »Mit unserem Versprechen auf Heilung.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Was, wenn es keine Heilung gibt?« Er blickte sie an. »Wollen Sie das behaupten?« Sie machte den Mund zu. »Sorry«, sagte er und servierte das Omelett. »Unser Essen ist fertig, und ich habe uns den schönen Abend verdorben.« Nach dem Essen gingen sie nach draußen und betrachteten die Sterne. Er erkundigte sich nach ihrem Leben, aber im Vergleich zu seinen Geschichten hörte es sich banal an. Sie war immer so behütet gewesen, war bereits bei den 386
ersten Anzeichen des Zusammenbruchs des Landes nach Los Alamos gebracht worden, außer Reichweite. Das Labor – oder der Hügel oder die Mesa oder Atomic City – war eine Insel, die aus allem herausragte. Nathan Lee nannte es eine Zitadelle, eine Stadt innerhalb einer Stadt. Er verglich Los Alamos mit den Zikkurats in Ur und der Akropolis über Athen, mit dem Pentagon oder dem Kreml. Hier war der Sitz der Macht, unerreichbar für die gewöhnlichen Menschen, ein Ort des Rückzugs in Zeiten der Belagerung. Bei ihm hörte es sich wie ein großer Wendepunkt in der Geschichte an. Er wollte wissen, wie das Städtchen so groß geworden war. Sie erzählte ihm von den immer neuen Wellen von Wissenschaftlern aus aller Herren Länder, die wie Immigranten mit ihren Familien und ihren Koffern hier angekommen waren, und vom Sturz der Waffenschmiede. Über ein halbes Jahrhundert hatte Los Alamos im Dienst der Atomwaffenforschung und -entwicklung sowie später des Atomwaffenabbaus gestanden. Beinahe über Nacht waren die Biowissenschaften – von den Physikern und Ingenieuren zuvor immer als läppisch abgetan – explodiert und hatten die Stätte übernommen. Epische Verteilungskämpfe hatten getobt, doch Elise hatte den Sieg davongetragen, die Zügel gestrafft und ihren neuen Außenposten weiter ausgebaut, um Korfu auf die Spur zu kommen und das Virus zu bändigen. Eine Zeit lang hatten die Wissenschaftler zusammengehalten, im brüderlichen Wettstreit miteinander konkurriert. Jeder Zweig, ob nun Virologie, Genetik oder Primaten-Paläologie, hatte seinen eigenen Korpsgeist, seine eigenen Labors, seine eigenen Aufgaben. Zunächst gab es jeden Tag neue Entdeckungen. Man hielt die Struktur jedes Proteins eines jeden Lebewesens, angefangen vom Wurm bis hin zum Menschen, auf CD-ROM fest. Man 387
erfand Plasmafühler, um Korfu in der Luft nachzuweisen. Satelliten verfolgten die Ausbreitung der Krankheit weltweit. Nachdem ihnen Korfu zugefallen war, schien für die Medizin ein neues Goldenes Zeitalter anzubrechen. Auf der Jagd nach dem Virus hatte man Heilmittel für TB, Alzheimer, Aids und sämtliche Krebsarten gefunden. Es war gelungen, Nervenfasern und Glasfasern zu synthetisieren. Menschen mit Rückenmarksverletzungen würden wieder aufstehen und gehen können, Blinde wieder sehen, Taube wieder hören. All das wartete auf sie. Dann war Elise gestorben, und Cavendish hatte übernommen. Hinter dem einen Zaun waren plötzlich viele Zäune errichtet worden. Ihre Geheimniskrämerei nagte an ihnen, säte Misstrauen. Bald schon zeigten sich erste Risse. Inzwischen regierten die älteren Familien über die neueren. Ehemalige Akademiker ließen frühere Industrieforscher links liegen, die wiederum mit den Regierungswissenschaftlern nichts zu tun haben wollten. Diejenigen, die Aids auf der Spur gewesen waren, fühlten sich von den Forschern, die Ebola und andere »wilde« Viren erforscht hatten, nicht für voll genommen. Die Ausländer waren der Meinung, Amerika hätte mal wieder Glück gehabt. Die Amerikaner waren der Meinung, die von draußen hätten es überhaupt erst versaut. Die Sicherheitsleute – viele von ihnen Doktoren in zwischenzeitig nutzlos gewordenen Spezialgebieten wie Nuklearwaffenentwicklung – konnten die Biowissenschaftler nicht leiden. Für die Wissenschaftler waren die Wachleute nichts als »Arschgeigen«. Es gab Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Labors und auch innerhalb der Labors; jeder Hansel mit einem Experimentiertisch wollte ein eigenes Labor haben. Und über allem regierte Cavendish, der sie in ihrer Anar388
chie sogar noch ermutigte. »Manchmal glaube ich fast, sie haben zu viel entdeckt«, sagte sie. »Vielleicht gibt es eine Grenze für das, was man wissen sollte. Ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal so etwas sage.« »Sie dürfen nicht von ihnen enttäuscht sein.« »Ich bin von mir enttäuscht.« »Mehr können Sie nicht tun.« »Genau.« »Sie sind erst neunzehn, Miranda.« Sie zielte mit der Weinflasche auf ihn; ganz offensichtlich war sie ein kleines bisschen betrunken. »Dieser elende Captain«, sagte sie. »Er hat es mir nicht verraten. Aber Sie verstehen doch, was ich damit meine, oder?« »Bitte zur Seite treten, kleines Mädchen, lass das Schiff untergehen?« »Sie versuchen, diese Leute zu retten«, sagte er. »Aber das können Sie nicht. Sie müssen sich selbst retten.« Sie zeigte über den Abgrund, dorthin, wo einst die Lichter von Santa Fe geflimmert hatten. »Es geht mir um die dort draußen. Die will ich retten.« Beide folgten ihrem ausgestreckten Arm. Ihre Blicke wanderten nach Norden. Eine Sternschnuppe zog über den Himmel. »Haben Sie das gesehen?«, hauchte sie. Es geschah noch einmal. Und plötzlich sah man einen ganzen Schwarm. »Hab ich ganz vergessen«, sagte er. »Heute ist ja die Nacht. Die Perseiden.« Miranda wusste, was das war. Sie wusste, in welchem 389
Quadranten sie erschienen und welchem Sternbild sie ihren Namen verdankten. Aber sie hatte sie noch nie gesehen. Die Meteore malten einen ganzen Strauß langer, leuchtender Streifen in den Himmel. Es war schlicht und ergreifend schön. Sie saß da, und ihr Herz schlug heftiger. Jetzt verstand sie, was er gemeint hatte. Sommer. Es war Sommer. Die Meteore blitzten über den Himmel. Sie sahen ihnen über eine halbe Stunde zu. Mirandas Gedanken eilten hierhin und dorthin. Sie wollte einen Geliebten haben. Miranda stellte das Weinglas weg. Genug davon. Einen Geliebten, dachte sie. Die Sternschnuppen brachten die säuberliche Ordnung der Dinge durcheinander. Dort oben gab es keine Trümmer, nur eine Auflockerung des Sternenhimmels. Ein kleiner Wirbelsturm in der ewigen Dunkelheit. Keinen Freund, beschloss sie. Nichts Niedliches. Einen Mann. Einen, der ihre Einsamkeit aufbrechen und in freundlichen Worten von einer schrecklichen Welt erzählen konnte, jemand, der sie heimlich zwischen die Konstellationen schmuggeln konnte, so wie jetzt. Einen, der an die Ewigkeit glaubte, Miranda warf ihm einen kurzen Blick zu. In der Dunkelheit war sein Gesicht nicht zu sehen, nur das schwache Schimmern seines Hemdes. Warum nicht, wer auch immer er sein mochte? Die Meteore blitzten auf. Ein helles Leuchten, dann waren sie verglüht. Der Kuss … sie bemühte sich, nicht daran zu denken. Er sollte ein eigenes Leben haben. Und dann? Sie versuchte, in der Zukunft zu lesen, versuchte, die Bahn ihrer beider Leben zu berechnen. Sie spürte, wie ihr Blut schneller zirkulierte. Seine Lippe fiel ihr ein. Sie würden vorsichtig mit ihm umgehen müssen. Dann hörte sie sich selbst at390
men. Und dann piepte ihr Handy. »Auch das noch«, murmelte sie. »Was?« »Ich weiß, wer das ist.« Sie nahm das Gerät mit ins Haus. Als sie zurückkam, sagte sie: »Mein Vater.« »Ist er hier?« »Ja und nein. Er ist weit weg. Einen Kilometer unter der Erde, nicht weit von der texanischen Grenze, wo er einen Zufluchtsort für uns vorbereitet.« Sie machte eine kleine Pause. »Er hatte Ihre Akte vor sich liegen.« Sie wartete, bis er seine Rückschlüsse gezogen hatte. Sie wurden beobachtet. Vielleicht waren sie zwei Wärmeanzeigen in irgendeinem Nachtsichtgerät. Vielleicht wurde ihre Küche abgehört. Wahrscheinlich. »Mann«, flüsterte er. Der Zauber war gebrochen. Die Perseiden mühten sich vergebens weiter am Himmel ab. Der Wein schmeckte mit einem Mal zu süß. Am nächsten Morgen würde sie bestimmt Kopfschmerzen haben. »Ich gehe wohl besser«, sagte er. Der Gartenstuhl knarrte in der Nacht. Sie stimmte ihm nicht zu, widersprach ihm aber auch nicht. »Sie wollten doch etwas«, sagte sie. »Ach das«, sagte er. Er musste sich so weit zurückerinnern. Das gefiel ihr. Die Nacht hatte auch ihn mit sich fortgerissen. So nah. »Es geht um die Jahr Null-Klone.« »Ja?« Also doch geschäftlich. »Ich weiß nicht, was man ihnen alles angetan hat«, sagte er. 391
»Müssen wir heute Abend darüber reden?« »Nein. Ich muss nur immer wieder darüber nachdenken, dass sie wie geschlachtet aussehen. Diese Burschen werden auf der Suche nach der Seuche von innen nach außen gekehrt.« Sie stieß ein tiefes Seufzen aus. Er wollte ihr die Misshandlungen vorwerfen. Sie für ihre Geburt verantwortlich machen. Sie würden sich streiten. Sie würde ihn auffordern, sofort zu gehen. Es war wohl notwendig, dass sie diesen hässlichen Teil hinter sich brachten. »Ja«, sagte sie und nahm allen Mut zusammen. »Also, ich habe mich nur gefragt«, sagte er, »ob sie schon jemand gefragt hat.« Sie zögerte einen Moment. »Über die Seuche?« »War nur so ein Gedanke«, meinte er. »Wer weiß, was sie uns alles zu sagen haben?«
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23 In die Sonne DER RESTLICHE AUGUST
»Ich muss ihre Augen sehen«, sagte er ihr am nächsten Tag. Sie ging durch die Korridore und ließ ihn hinter sich herlaufen. »Und sie müssen meine sehen.« Sie verhielt sich beinahe aggressiv vorsichtig. »Sie sind sowohl Patienten wie Gefangene. Sie sind verwundet, sogar diejenigen, die wir nicht angerührt haben. Allein deshalb, weil sie zurückgeholt wurden. Sie stehen unter Schock. Als Sie sagten, Sie wollen sich mit ihnen unterhalten, dachte ich, über die Sprechanlage.« »Das haben die Wachleute schon einmal versucht. Sie sagen, die Klone hätten so reagiert, als hätte die Stimme Gottes zu ihnen gesprochen. Sie waren noch tagelang verängstigt.« »Sie hingegen wollen Kontakt mit ihnen aufnehmen«, stellte sie noch einmal klar. »Ja.« »Das heißt, sie müssen geimpft werden«, sagte sie. »Seit ihrem Tod haben sich die Krankheiten zweitausend Jahre lang weiterentwickelt. Ihr Blut ist rein. Wir können von Glück sagen, dass Tara Sie überlebt hat.« Er holte wieder ein Stück auf. »Es muss draußen geschehen«, fügte er hinzu. »In der Sonne.« Etwas widerstrebte ihr. »Und wenn einer von ihnen ab393
haut? Einer hat es schon mal geschafft. Er hat sich dabei fast umgebracht.« Nathan Lee war vorbereitet. Er zeigte ihr seine Bleistiftskizze eines Innenhofs mit hohen Mauern. »Den könnten wir auf dem Parkplatz neben dem Alpha Lab bauen. Er ist ohnehin leer. Außerdem steht ein Baum in der Mitte. Die Bauabteilung hat noch genug Fertigteile aus Beton, zehn Meter hoch.« »Für wen sollen die sein?«, fragte sie. »Für Sie oder die Klone?« »Sie brauchen ein bisschen Freiheit. Ein kleines Fleckchen Himmel. Ich weiß, wovon ich rede.« Seine Beharrlichkeit machte sie wütend. »Was ist eigentlich mit Ihrer Tochter?«, warf sie ihm vor die Füße. Es verschlug ihm den Atem. Er blieb stehen. Was machte er eigentlich? Grace war hier, in Ochs’ Verwahrung, aber sie war irgendwo dort draußen, ob Ochs oder nicht. War er vom Weg abgekommen? Dienten ihm die Männer aus dem Jahr Null lediglich als Mittel zum Zweck, als Zeitvertreib, um seinen Feind abzupassen? Ein Stück weiter war Miranda ebenfalls stehen geblieben. »Ich habe es nicht so gemeint«, sagte sie. Aber sie hat es so gemeint, und es ist gut so, dachte er. Er brauchte die schmerzhafte Erinnerung. Das hatte nichts mit Macho zu tun, es brachte ihn einfach wieder näher zu sich. »Uns geht’s gut«, erwiderte er. »Was brauchen Sie noch?«, erkundigte sie sich. »Darüber denke ich noch mal nach«, antwortete er. »Quatsch«, konterte sie. »Sie haben von den Klonen gesprochen. Ich war ein bisschen überspannt, das ist alles. Sie sind da an etwas dran. Machen Sie weiter. Was brau394
chen Sie noch?« Er versuchte, Grace wieder aus seinen Gedanken zu verscheuchen. »Sie müssen zusammenkommen«, sagte er. »Jeden Tag. Wir alle müssen miteinander in Kontakt kommen.« »Die sind daran gewöhnt, wie Tiere behandelt zu werden. Gut möglich, dass sie sich gegenseitig umbringen. Oder Sie. Sie sind der Erste, über den sie herfallen. Einer ihrer Kerkermeister.« »Ich werde einer von ihnen sein.« »Ein Klon aus dem Jahr Null?« »Es wird ihnen nicht auffallen.« »Sie sprechen ihre Sprache nicht.« »Deshalb brauche ich einen Übersetzer.« Schlussendlich sagte sie zu allem Ja und Amen. Während der sieben Tage, in denen der Hof errichtet wurde und die Immunsysteme der Klone auf das 21. Jahrhundert vorbereitet wurden, arbeitete Nathan Lee an seiner Zeitmaschine. Vor allen Dingen brauchte er den richtigen Übersetzer. Kaum hatte sich herumgesprochen, was er vorhatte, zeigte sich, dass es in Los Alamos Hunderte von Leuten gab, die Hebräisch sprachen. Einen Teil der Woche verwendete er auf Vorstellungsgespräche mit Freiwilligen, deren Bandbreite von Israelis über Emigranten aus dem alten Ostblock bis zu Bar Mizwa-Knaben aus der Bronx oder Cleveland Heights reichte. Nicht alle waren Juden. Es stellte sich heraus, dass auch mehrere Mormonen, von denen es im Wissenschaftsbetrieb nicht wenige gab, fließend Hebräisch sprachen, entweder aufgrund ihrer Missionarstätigkeit oder vom intensiven Bibelstudium her. Allerdings war vor zweitausend Jahren die verbindende 395
Sprache im östlichen Mittelmeerraum nicht das Hebräische, sondern das Aramäische gewesen, eine Sprache, die heute als tot galt. Es war die Sprache, die damals in Judäa, Samaria und Galiläa von den einfachen Leuten tagtäglich in den Städten und auf dem Land gesprochen worden war. In gewisser Hinsicht war Aramäisch die Sprache der Gefangenschaft, denn sie hatte während des langen Exils der Juden in Babylon das Hebräische ersetzt. Bis weit ins zweite Jahrhundert hinein waren in den Synagogen für die ungebildeten Massen »Targum« genannte aramäische Übersetzungen der hebräischen Schriften angefertigt worden. Und es war die Sprache, die die Klone in ihren Zellen murmelten. Bei seiner Feldforschung in Nordsyrien hatte Nathan Lee von einer kleinen Gemeinde von Suriani erfahren, syrischorthodoxen Christen, die in den späten siebziger Jahren aus der Türkei vertrieben worden waren und sich in einem schwer zugänglichen Dorf oberhalb von Aleppo niedergelassen hatten. Er hatte die beschwerliche Fahrt mehrere Male auf sich genommen, nur um sie diese ausgestorbene Sprache sprechen zu hören. Zu seiner großen Überraschung gab es in Los Alamos tatsächlich einen Wissenschaftler, der in diesem Dorf zur Welt gekommen war. Sein Name war Ismail Abouma Symeon. Er sprach Englisch mit einem kräftigen schottischen Akzent, was von seiner Zeit als Student an der Universität von Edinburgh herrührte. Seine Erfahrungen mit dem Klonen von Säugetieren hatte ihn auf den Hügel verschlagen. »Nenn mich Ismael«, hatte er bei ihrer ersten Begegnung feierlich verkündet. Nathan Lee war darauf eingestiegen und hatte mit dem gleichen feierlichen Ernst »Ismael« wiederholt. Woraufhin sich in dem schwarzen Bart des Mannes ein breites Grinsen aufgetan hatte. »War nur Spaß«, sagte er. 396
»Ihr Amis! Izzy reicht völlig aus.« Izzy war in mehrerer Hinsicht ein Volltreffer. Abgesehen von seinem Aramäisch und seinem Humor war er ein echtes Naturtalent. Mehr als jeder andere des Hebräischen Mächtigen, die eher die städtische, intellektuelle Variante pflegten, hatte Izzy den richtigen Ort und die richtige Zeit in sich. Seine Familie reichte angeblich bis auf Simeon Stylites den Älteren zurück, einen Einsiedler, der die Nase voll davon hatte, ständig von den Leuten belästigt zu werden, und deshalb die letzten dreißig Jahre seines Lebens auf einer hohen Säule verbrachte. »Der gute alte Simeon«, wie Izzy ihn nannte. »Hat eine ganze Bewegung ins Leben gerufen. Sie breitete sich über ganz Europa aus, überall errichteten Mönche immer höhere Säulen. Erinnert mich an den Everest-Wahn in den Neunzigern: All diese harten Männer, die so taten, als wollten sie verdammt noch mal nichts mit den Normalsterblichen zu tun haben, sich dann aber so ins Rampenlicht rückten, dass man sie nicht übersehen konnte. Mit den Stylites war’s nicht viel anders. Sie sind dort oben verhungert, an Erschöpfung gestorben oder vom Blitz erschlagen worden. Wenn sie endlich von der Säule kippten, balgten sich die Pilger um ein Stück ihres Leichnams. Märtyrer. Es findet sich immer ein Schwachkopf, der bereit ist, an so was zu glauben.« Nathan Lee erzählte ihm von seinem Plan, die Klone zu infiltrieren und sich unter sie zu mischen. »Ich weiß nicht genau, wie sie darauf reagieren«, warnte er Izzy. »Wir müssen uns sehr vorsehen. Es könnte gefährlich werden.« »Ich bin dabei«, meinte Izzy. »Bin ohnehin schon halb blind von der Arbeit am Mikroskop. Ein bisschen Sonne wäre prima. Kann es kaum erwarten, die Jungs kennen zu lernen. Mal sehen, ob sie uns weiterhelfen.« 397
Am 20. August, dem Tag des ersten Kontakts, kamen die Klone genau um die Mittagszeit einer nach dem anderen in den Hof. Alle trugen die gleichen Badeschlappen und weißen Krankenhausbademäntel ohne Gürtel. Nathan Lee hatte die Versorgungsstelle um einheitliche Kleidung gebeten, damit keiner besser oder schlechter als der andere gestellt war. Fürs Erste reichte das völlig aus, um ihre Blöße zu bedecken, und es sollte etwas ohne Reißverschlüsse oder Knöpfe sein. Izzy war einer der Ersten in der langen Prozession, Nathan Lee trat als Vorletzter hinaus. Insgesamt waren es achtunddreißig Männer. Miranda hatte noch ein paar mehr gerettet. Geblendet blieben sie gleich hinter der Tür auf einem Haufen stehen und hielten sich die Hände vor die Augen. Es roch nach Kiefern und Salbei. Einer der Männer stöhnte, stieß einen langen Strom verzückter Laute aus. Als er aussetzte, um Luft zu holen, hallte sein Stöhnen von den glatten Wänden wider. Ansonsten herrschte völlige Stille. Eigenartig, so zwischen ihnen zu stehen, dachte Nathan Lee. Seit über einem Monat hatte er sie über Schwarzweiß-Monitore beobachtet. Er kannte die Namen von einigen, wusste, wie lange sie dieses zweite Leben schon lebten. Auch hatte er eine vage Vorstellung von den Experimenten, denen sie unterzogen worden waren, und davon, wie und wo sie vor zweitausend Jahren gestorben waren. Er hätte jedem von ihnen die Knochenstücke oder die mumifizierte Haut zeigen können, aus der sie wiedergeboren worden waren. Nach allem, was er wusste, hatte er sogar in einer Nacht vor etlichen Jahren dabei mitgeholfen, einige dieser Männer dem Erdboden von Golgatha zu entreißen, während Ochs ihm mit einer Taschenlampe 398
geleuchtet hatte. Und jetzt drängten sie sich an seine Schultern. Er spürte die Wärme ihrer lebendigen Körper. Nathan Lee hielt sich im Hintergrund und harrte der Dinge, die da kommen sollten, ließ den Blick über ihr kleines Meer an Köpfen schweifen. Ihre Haare waren schwarz und rötlich und dunkelblond, kräftig, schütter, lockig und glatt. Sie rochen allerdings nicht wie Menschen, denn seit Monaten waren sie Tag für Tag aus Dekkendüsen mit Desinfektionsmitteln besprüht worden, das jetzt tief in ihren Poren saß. Der Geruch erinnerte ihn an ein Labor in der Anatomie. Er versuchte, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Der harte Asphalt mit den ausgebleichten weißen Streifen musste ihnen unerklärlich sein. Ringsum ragten die Mauern empor. Kleine Kamerakästen schwenkten auf Metallgelenken hoch über ihren Köpfen hin und her. In der Nähe des großen Immergrün wartete ein Feuer auf sie. Wenigstens das ist ihnen vertraut, hoffte er. Nach ein paar Minuten griff sein Plan. Das Knacken der Flammen und der süße Geruch des Kiefernholzes lockte sie an. Einer nach dem anderen löste sich vom Ausgang. Sie wankten unsicher und schlurften wie Greise, sogar die mit den breiten Brustkörben und den gewaltigen Unterkiefern. Ihre Körper waren geschwächt. Nathan Lee imitierte ihren langsamen, ungelenken Gang. Bei einigen von ihnen waren die Wunden der Eingriffe nicht völlig verheilt; sie gingen tief gebückt oder schleppten sich unter Schmerzen voran. Es waren weniger als dreißig Meter bis zum Feuer, aber sie taten so, als wäre es ein Kilometer. Einer der Männer fiel hin. Niemand blieb stehen, um ihm aufzuhelfen. Nathan registrierte es sofort. Sie empfanden sich noch nicht als Gruppe, als Sippe der Wiedergeborenen. Jeder kümmerte sich um sich. Der reinen Lehre der Ethnologie folgend, durfte der An399
thropologe lediglich beobachten und sich keinesfalls einmischen, schon gar nicht am Anfang. Wie alle anderen ging Nathan Lee einfach an dem Gestürzten vorbei, der stöhnend auf dem warmen Asphalt lag und sich verzweifelt bemühte, wieder auf die Beine zu kommen. Als Nathan Lee sich umdrehte, sah er, dass er der Gruppe hinterherkroch. Doch die Haut der Klone war von der Gefangenschaft weich geworden. Die Knie des Mannes rissen wie Seidenpapier. Blut schmierte über den Asphalt. Die Klone versammelten sich um das Feuer. Diejenigen, denen ihr gestürzter Bruder überhaupt aufgefallen war, sahen lediglich zu ihm hinüber. Ihre Haut mochte weich sein, doch ihre Augen waren hart. Nathan Lee konnte sie verstehen, zumindest glaubte er das. Die Schwäche des Mannes stieß sie ab, weil sie ihre eigene Schwäche offenbarte. Ihre Gebrechlichkeit war ihnen etwas Fremdes, deshalb wollten sie nichts mit diesem gebrechlichen Fremden zu tun haben. Nach drei, vier Metern war der Mantel des Mannes von Schmutz und altem Öl verdreckt. Er ermüdete rasch. Kurz darauf gab er auf und blieb einfach mitten auf dem Parkplatz liegen. Nathan Lee blickte sich um, weil er wissen wollte, wer von ihnen noch hinsah, und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass einer der Klone ihn beobachtete. Es war der Ausreißer, dessen vernarbtes Gesicht ein ganzes Kaleidoskop von Ausdrücken spiegelte. Ein Augenlid, das zu fest angenäht worden war, signalisierte Wut. Der Stacheldraht hatte ihm den Mund aufgerissen, weshalb eine Seite traurig herunterhing, während die andere in einem dümmlichen Grinsen nach oben gezogen war. Nathan Lee nickte ihm zu, und die plastischen Lider des Ausreißers blinzelten zurück – eine Reaktion, die ebenso gut Verachtung wie einen Gruß ausdrücken mochte. Die Klone rückten näher an das knackende, fauchende 400
Feuer heran; keiner von ihnen sagte etwas. Izzy warf Nathan Lee von der anderen Seite des Feuers einen verwirrten Blick zu. Hatten sie sie falsch eingeschätzt? Waren die Klone doch versehrter, als sie angenommen hatten? Mehr als die Hälfte der Männer hatte schon in der Zelle keinen Laut von sich gegeben. Nathan Lee hatte sich ausgemalt, mit ihnen durch ihre Landschaften von damals zu reisen. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Die Jahre der Isolation und der medizinischen Folter hatten ihren Geist womöglich gebrochen. Vielleicht hatten sie aber auch nie über einen echten Verstand verfügt? Womöglich behielten die Skeptiker Recht: Beim Klonen wurde lediglich die äußere Hülle eines Menschen erschaffen. Die gemurmelten Worte konnte man ebenso gut auf neurale Zuckungen zurückführen, vielleicht waren sie nur eine Mischung aus altertümlichen Silben und Nonsens gewesen, vielleicht waren es wirklich nur Tiere mit Namen. Abgesehen vom geistlosen Schluchzen des Mannes auf dem Parkplatz, erstreckte sich ihr Schweigen über weitere zehn lange Minuten. Nathan Lee blickte von Jesaja zu Matthäus, vom hoch gewachsenen Johannes zu Johannes mit den dicken Hand- und Fußgelenken und zu allen anderen. Mit Ausnahme des verstümmelten Ausreißers hatten sie seit zweitausend Jahren die Sonne nicht mehr gesehen, weder einen Wald gerochen, noch die Wärme eines Feuers verspürt. Schließlich ertrug Nathan das Stöhnen und Weinen des Mannes nicht mehr. Es war nicht sein Schmerz oder sein Selbstmitleid, das ihn so verstörte, sondern die Unwürdigkeit seiner Lage. Vielleicht wusste er überhaupt nicht mehr, was Würde war, aber es störte Nathan Lee trotzdem. Der Mann war schwach, das reichte ihm, ihn traf ebenso wenig Schuld wie die Aussätzigen, die sich im Gefängnis um ihn gekümmert hatten. Es war ihm Grund genug, aus 401
der Gruppe herauszutreten und ein bisschen sentimentale Vergeltung zu üben. Nathan Lee wusste, dass er sich damit verdächtig machte, aber er ging trotzdem das Stück über den Parkplatz zurück und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. Sein Wangenknochen war aufgeschürft. Eine Urinpfütze breitete sich rings um seinen Körper aus. Als er die Berührung spürte, verdrehte er die Augen. »Komm schon, steh auf«, murmelte Nathan Lee auf Englisch. Er schob die Hände unter die Achseln des Mannes und zog ihn hoch. Der Klon fing an zu stöhnen und wedelte mit den Armen. Vielleicht war er eingeschlafen. Womöglich kam ihm alles wie ein böser Traum vor, ob er nun wach war oder nicht. Jedenfalls wollte er nicht gerettet werden und wehrte sich schwach. Nathan Lee hielt den glitschigen Körper von hinten fest. Der Mann wand sich in seiner Umarmung, versuchte sich loszureißen, spuckte und brabbelte vor sich hin. Nathan Lee hörte Gelächter vom Feuer her. Er war ein Teil dieses Spektakels, das er erschaffen hatte, diese ganze Geschichte war auf seinem Mist gewachsen, der Hof, die Sonne, der Geschmack von Freiheit. Ein dummer Fehler. Trotzdem hielt er daran fest. Schließlich hörte der Mann auf, sich zu wehren, legte den Kopf an Nathan Lees Schulter und fing leise zu weinen an. Nathan Lee warf sich einen Arm über die Schulter, und gemeinsam legten sie den Rest der Strecke zum Feuer zurück. Die anderen machten zunächst keinen Platz. Sie verhielten sich nicht feindselig, eher wie eine dumpfe, gedankenlose Herde. Er schob sie zur Seite, und sie teilte sich. Seinen Passagier aufrecht haltend, stand Nathan Lee im süßlichen weißen Rauch. Er blickte sich um und sah, dass ihn einige der Männer anschauten und versuchten, sein Tun einzuordnen. Offensichtlich hielten sie ihn für 402
einen Idioten, der sich freiwillig mit dem Speichel und dem Urin eines Verrückten besudelte. Der Ausreißer starrte ihn mit seiner zusammengeflickten Gruselmaske an. Sein schlangenhaftes Lächeln ließ sich nicht interpretieren. Nathan Lee hob das Kinn und blinzelte in den Rauch und in das Feuer. Diese Kerle können mich mal. Er war auf sich selbst wütend. Schon jetzt hatten sie ihn als Weichling ausgemacht. Doch sie schienen nach dieser Aktion zum Leben zu erwachen. Einer von ihnen nahm eine grüne Kiefernnadel zwischen die Finger und zerbrach sie. Er roch daran und berührte sie mit der Zunge. Ein Zweiter fuhr mit der Hand durch das Feuer. Kurz darauf taten es ihm andere gleich und versengten sich die Haare an den Handgelenken, brannten sich in ihr Bewusstsein zurück. »Shaa!«, stieß der lange Johannes plötzlich aus. Sie hoben die Köpfe zum Licht. Ein anderer rief laut: »Seht zum Himmel! Der Himmel ist gut!« Es war Esra, der in seiner Zelle immer stundenlang auf dem Boden lag, die Wand anstarrte und leise vor sich hinsummte. »Khee-rroo-taa«, sagte ein anderer. Freiheit. Damit war das Eis gebrochen. Teils zustimmendes, teils ablehnendes Gemurmel kommentierte seine Aussage, und auch bei denen, die nichts sagten, tauten die Gesichter auf. Stirnen wurden gerunzelt, Augenbrauen hoben sich, Münder verzogen sich, und aufgeblähte Nasenflügel wurden witternd in die Luft gereckt. Augen wurden lebendig. Man konnte förmlich zusehen, wie die Räder langsam wieder ineinander griffen. »Ich bin gestorben«, sagte ein Mann. »Sind wir hier in Rom?«, fragte ein anderer. 403
Nathan Lee hatte daran gedacht. An ihrer Stelle war Rom eine logische Erklärung. Einer der stummen, namenlosen Männer meldete sich mit schneidender Stimme zu Wort. Er war mittelgroß, hatte einen olivfarbenen Teint und wache Augen. »Ägypten«, verkündete er im Brustton der Überzeugung. Sie sahen ihn an. »Nein«, meinte Matthäus. Sein Haar lichtete sich bereits. »Ich bin in Ägypten gewesen. Das hier ist nicht Ägypten.« Der Namenlose stieß eine lange, rechthaberische Antwort aus, doch Nathan Lee war mit seinem Aramäisch am Ende. Er verstand kein Wort mehr, warf Izzy einen Blick zu, der den Sätzen aufmerksam lauschte. Was auch immer gesagt worden war, es hatte einen ernüchternden Effekt auf die Zuhörer. Ihr Optimismus verlosch, die Gesichter verfinsterten sich wieder. Nathan Lee gab den Kameras ein Zeichen. Hinter ihnen ging die Stahltür auf, ein Wagen rollte heraus, und die Tür ging wieder zu. Auf dem Wagen lag ein Lamm, das von einem der Männer des Captain am Spieß gebraten worden war. Das Festessen war mehr als ein Versuch, die Gefangenen aufzutauen. Es stammte aus Nathan Lees Kiste mit alten Anthro-Tricks. Kommensalität nannte man die Methode – ein gemeinsames Mahl. Sobald man sah, wie Leute zusammen am Tisch saßen und aßen, wie sie sich einer Rangordnung unterzogen oder das Essen untereinander aufteilten, wusste man im Großen und Ganzen, wie ihr Stamm organisiert war. Die Gruppe starrte das Lamm vom Feuer aus misstrauisch an. Es lag dort wie eine Sphinx mit erhobenem Haupt in der Sonne. Doch der Duft von Gebratenem besiegte ihre Zweifel rasch. 404
»Warum?«, wunderte sich ein Mann. »Sie füttern uns«, sagte ein anderer. Eine kleine Abordnung ging hinüber, um das Essen zu untersuchen. Izzy hielt sich mit Nathan Lee zurück. »Was war das vorhin mit Ägypten?«, flüsterte ihm Nathan Lee zu. »Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete Izzy. »Er hat erzählt, sie seien aus Jordanien herausgeführt und nach Ägypten gebracht worden. In den Feuerofen. Wo der Himmel aus Bronze gemacht ist.« »Was bedeutet das denn? Vielleicht die Metallwände in ihren Zellen?« »Keine Ahnung. Soll ich sie fragen?« »Noch nicht«, sagte Nathan Lee. »Aber halt die Ohren offen. Sieht aus, als wäre das Büffet eröffnet.« Nach einigem Hin und Her beschlossen die Männer, das Essen zum Feuer zu bringen. Mehrere von ihnen trugen das Lamm auf bloßen Händen herüber, andere zogen Plastikflaschen voll Wasser und Beutel mit anderen Lebensmitteln unter dem Wagen hervor. Sie fachten das Feuer mit dem von den Wachen bereitgelegten Feuerholz erneut an und ließen sich in einem großen, engen Kreis rings um die Flammen nieder. Das Essen brachte sie in Stimmung. Nathan Lee hatte mehrere Krüge mit Cocktail-Oliven und Beutel mit getrockneten Datteln aufgetrieben. Eine der Bäckereien hatte frisches Brot beigesteuert. Die Laibe dampften noch, als die Männer sie brachen. Kurz darauf riss sich jeder mit den Fingern Fleischstücke aus dem Lamm heraus. Das Mahl nahm Stunden in Anspruch, doch der Himmel und das gute Essen bewirkten wahre Wunder bei ihnen. 405
Mit fettigem Kinn und vollem Bauch fingen die Klone zu reden an, zuerst leise, dann immer verständlicher und erregter. Auch vor zweitausend Jahren dürften sie sich nicht gekannt haben. Im ganzen ersten Jahrhundert zusammengenommen lebten in Jerusalem 50 000 Menschen oder noch mehr. Zu den religiösen Festtagen strömten Tausende mehr durch die Tore in die Stadt. Fürs Erste waren sie jedoch, trotz der gemeinsamen Vergangenheit in Jerusalem und natürlich ihrer jetzigen Gefangenschaft, Fremde füreinander. Die Männer standen auf, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Die Kameras schwenkten nach links und rechts, denn die Leute an den Monitoren versuchten, jedem der Gefangenen zu folgen. Die Müden legten den Kopf auf die Unterarme und hielten unter dem Baum ein Schläfchen. Der Anblick menschlicher Gesichter und der Klang ihrer eigenen Sprache belebte sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Die Untröstlichen, die in der Nacht heulten, waren wieder beruhigt. Manche hielten einander an den Händen und gingen im Sonnenschein auf und ab. Andere schwatzten wie lange verschollene Vettern miteinander, und Izzy folgte ihnen unauffällig mit großen Ohren. Matthäus und andere gingen umher und ließen ihren Tränen freien Lauf. Esra und Jakob brachen in lautes Gelächter aus und priesen Gott im Himmel. Nathan Lee hockte auf den Fersen und überließ sich ganz dem Rhythmus des Hofes. Mehrere Klone hatten damit begonnen, aggressiv im Uhrzeigersinn an den Mauern entlangzumarschieren; ihre Schlappen machten laute, schlappende Geräusche. Ein Mann stellte sich vor jede einzelne Mauer und stieß seinen Namen aus, wobei er sich mit der Faust auf die Brust schlug. Zwei andere, Philosophen oder auch Magier, versenkten sich in eine tiefgründige Diskussion über die Bedeutung der Parkstreifen. 406
Der Mann, der ihn am meisten interessierte, war der Ausreißer. Er hielt sich abseits von den anderen und zog ruhig seine Kreisbahnen. Nichts an ihm wirkte ungeduldig. Er sah nicht zum Himmel auf, untersuchte auch nicht die Mauern. Nathan Lee wusste, dass er schon jetzt an Flucht dachte. Jetzt, wo sie alle beisammen waren, wurden auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Klonen deutlicher. In ihren stählernen Zellen unterschieden sie sich lediglich durch die kleinen Ticks und Marotten in ihrem Verhalten. Hier draußen, wo sie in der frischen Luft herumlaufen konnten, sah man jedoch die Vielseitigkeit der Menschen, deren Überreste damals den Straßenrand des alten Jerusalem gesäumt hatten. Sie waren hoch gewachsen, untersetzt, lebhaft oder eher introvertiert. Schon bald kennzeichneten ihre Worte und die Art, wie sie gingen, die Männer, die sie einmal gewesen waren: Raufbolde, Zauberer, Kaufleute, Hirten, Duckmäuser, Sklaven oder Bauern. Sie waren von überall hergekommen, bevor sie ihr Ende auf Golgatha erlitten. Nicht jeder fand in ihre Gesellschaft. Ein armer Bursche stand immer nur auf einer Stelle und heulte wie besessen über eine Schulter nach hinten. Ein anderer entwickelte plötzlich den Drang, in aller Öffentlichkeit zu masturbieren, und wurde mit wütenden Rufen davongejagt. Doch abgesehen von diesen gebrochenen Außenseitern gab es bemerkenswert wenig geistige Schäden zu vermerken. Für Menschen, denen derart grausam mitgespielt worden war, hatten sie auf erstaunliche Weise ihre Würde bewahrt. Mit einem Mal hallte ein heiseres Bellen des Wiedererkennens durch den Hof. Zwei der Klone umarmten sich und stießen begeisterte Rufe aus. Izzy schlenderte in ihre Nähe, dann kam er zu Nathan Lee und hockte sich neben ihn. Offensichtlich war einer der Männer der Urgroßvater 407
des anderen. Sie waren im Abstand von neunzig Jahren voneinander gestorben, sahen aber wie eineiige Zwillinge aus, beide waren sie fünfundzwanzig Jahre alt, hatten die gleichen Hakennasen und die gleichen dicken Locken. Sie wollten gar nicht aufhören, des anderen Gesicht zu berühren. Noch ein Ruf, noch ein Wiedererkennen. Izzy spitzte erneut die Ohren. Zwei der Männer waren Rücken an Rükken gekreuzigt worden. Keiner hatte je des anderen Gesicht gesehen, ihn aber irgendwie an der Stimme wiedererkannt. Ungläubig und ausgelassen zugleich betasteten sie des anderen Gliedmaßen und suchten nach den Peitschenwunden und den zerbrochenen Knochen, die ihre letzten gemeinsamen Tage am Kreuz markiert hatten. Weinend berichtete der eine dem anderen von dessen letzten Atemzügen. Er sagte, es sei ihm vorgekommen, als müsse er seinem eigenen Kind beim Sterben zusehen. Den ganzen Nachmittag über wurde nach Gemeinsamkeiten geforscht. Nach und nach setzten sie ihre familiären Verbindungen zusammen, identifizierten Nachbardörfer oder gemeinsame Berufe. Vor Nathan Lees Augen bildete sich ein Stamm, zusammengeschweißt aus ihrer verlorenen Welt und diesem merkwürdigen neuen Ort, ob es nun der Himmel oder die Hölle war. Wie ein Aasgeier schwirrte Izzy umher und kam mit neuen Geschichten zurück. »Nicht zu fassen, nicht zu fassen«, sagte er ein ums andere Mal zu Nathan Lee. »Mir entgeht so viel. Sie bereiten mir richtig Kopfschmerzen.« Dann flatterte er wieder davon, um mehr Geschichten an sich zu raffen. Drei Männer näherten sich und blieben vor Nathan Lee stehen. »Wer bist du?«, fragten sie. 408
»Nathanael«, sagte er. »Wo ist dein Dorf?« »Gurr-byaa, td’oo-rraa-n’e«, antwortete er. Im Norden, in den Bergen. Er und Izzy hatten sich darauf geeinigt, dass es für ihn die sicherste Tarnung sei, ein Berghansel aus der hintersten Ecke des aramäischen Siedlungsgebietes. Einer fragte ihn etwas über Jerusalem. Nathan Lee reimte sich die Frage zusammen und erwiderte: »Saa-paarrchee.« Er sei ein Reisender. Das schien sie zufrieden zu stellen, denn sie setzten ihren Rundgang fort, um andere Gefangene zu befragen. Sie sammelten Daten, bemerkte Nathan Lee. Sie fingen an zu organisieren. Er tauchte in die Worte ein, gewöhnte sich an den Tonfall, traute sich weiter vor. Aramäisch war keine schöne Sprache, voller harter Konsonanten, sehr guttural, sehr macho. Mit Unterstützung ihrer Körpersprache war er in der Lage, den Kern des einen oder anderen Gesprächs mitzubekommen. Was sie mit am meisten faszinierte, waren ihre neuen Körper. Sie sprachen über sie, als seien sie exotische Tiere. Es spielte keine Rolle, ob sie mit siebzehn oder mit siebzig gestorben waren; Mirandas Magie hatte sie in der Blüte ihrer Jahre wiedererweckt. Ihre Körper waren metabolisch gesehen fünfundzwanzig Jahre alt … und das ohne alle ehemaligen Defekte. Die Spuren ihrer Kreuzigung waren ausgelöscht. Die meisten zeigten sich mit den neuen Hüllen, in die sie geboren worden waren, mehr als zufrieden. Sklaven, die von ihren Eigentümern tätowiert worden waren, schienen sich ohne die Tattoos verloren vorzukommen. Männer, deren gebrochene Knochen vor zweitausend Jahren schief zusammengewachsen oder die mit krummen Rücken ge409
boren worden waren, bewegten sich voller Ehrfurcht in ihren neuen Körpern. Krieger, die einen Arm oder ein Bein verloren hatten, waren wieder ganz. Hautkrankheiten, Gicht und Arthritis waren verschwunden. »Ich bin nie so groß gewesen«, wunderte sich einer. Ein anderer klopfte sich auf den weichen Bauch und zog an der Fettschicht. »Ich sehe aus wie ein wohlhabender Mann.« Sie öffneten ihre Gewänder, um Labornarben zu vergleichen, um zu zeigen, dass ihre Muttermale weggewischt waren. Sie zeigten angewidert auf ihre Genitalien, und es dauerte eine Weile, bis Nathan Lee begriffen hatte, dass sie empört waren, weil man ihre Beschneidungen rückgängig gemacht hatte. »Wer hat gesagt, das Leben ist ein Kinderspiel?«, sagte ein kräftiger Bursche. »Warum sind wir hier?« »Wann kommt meine Familie?« Sie waren unverwüstlich. Der Hof war sauber gefegt worden, doch sie fanden alle möglichen seltsamen Dinge: einen Kronkorken, eine Sonnenbrille, die ein Wissenschaftler auf einem der Äste des Baumes vergessen hatte, Drahtstücke, Nägel und mehrere Dollar in Münzen. Die Münzen wurden mit großem Interesse untersucht und debattiert. Als die Sonne unterging, wurde es immer kälter in dem Gehege, also warfen sie mehr Holz ins Feuer. Jemand brach einen Zweig mit grünen Nadeln ab und legte ihn auf die Flammen, woraufhin ein stechender Geruch aufstieg. Andere versammelten sich, murmelten Gebete, fuhren mit den Händen durch den Rauch und sogen ihn in die Lungen ein. Es war eine universelle Angewohnheit. Alles, was man für einen Altar benötigte, war ein Ort, der nicht dem 410
Wind ausgesetzt war. Eine Gruppe fand sich, die sich hinkniete und demütig den Boden mit der Stirn berührte. »Wie ist das möglich?«, raunte Nathan Lee Izzy zu. »Mohammed wurde doch erst fünfhundert Jahre später geboren!« »Was glaubst du denn, wo die Moslems diese Angewohnheit herhaben?«, fragte Izzy zurück. »Von den frühen Christen. Hörst du sie?« »Abwoon d’bwashmaya«, intonierten sie gemeinsam. »Nethquadash shmakh, teytey makuthakha.« »Unser Vater im Himmel, geheiligt ist dein Name, dein Reich komme«, übersetzte Izzy. Seine Augen funkelten. »Es ist das Vaterunser, ziemlich genau so, wie es auch Jesus gesprochen haben dürfte.« Nathan Lees Blick wanderte zu den Kameras hinauf, die alle auf die Gruppe primitiver Christen gerichtet waren. Die meisten anderen Klone ignorierten die Christen. Für sie war das lediglich ein weiterer New Age-Kult. Eigentlich widmeten ihnen nur zwei der Klone wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit. Einer war der Mann, der sich so sicher war, dass sie hier in Ägypten waren. Er hatte die Augen halb geschlossen und schien in Gedanken versunken. Der andere war der Ausreißer, der ein ganzes Stück zurückgewichen war, als hätte man ihn in eine Löwengrube geworfen.
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24 Die Jahr null Show SEPTEMBER
Früher einmal war Joab Schäfer in Hebron gewesen, jetzt war er Baumkletterer. Nathan Lee hatte noch nie zuvor einen Mann oder einen Jungen gesehen, der so gern in den Ästen und Zweigen herumkletterte. Vielleicht hatte in Hebron kein so schöner, großer Baum gestanden. Wenn er nicht im Geäst herumkraxelte, stand Joab in einiger Entfernung und betrachtete den Baum. Da keiner der anderen sein Verhalten als merkwürdig empfand, sah auch Nathan Lee darüber hinweg. Eines Morgens jedoch sah er hoch oben im Baum einen Blauhäher in einem großen, fast unsichtbaren Spinnennetz zappeln. Schnell wie ein Affe flitzte Joab ins Geäst hinauf. Es stellte sich heraus, dass die Spinnwebe ein Netz war, das er aus den Fäden seines Bademantels gesponnen hatte. Joabs Hand schloss sich vorsichtig über dem panisch flatternden Vogel, dann stieg er mit ihm zum Feuer herunter. Inzwischen waren alle Klone auf seinen Fang aufmerksam geworden und kamen herbeigelaufen. Sie diskutierten angeregt über seine Farbe und Größe, und darüber, ob er gut genug sei. Schließlich nahm Lazarus Joab den Häher aus der Hand und drehte ihm mit einer kurzen Handbewegung den Hals um. Dann breitete er die blauen Flügel weit aus und legte den Vogel auf die Flammen. Nathan Lee dachte, sie wollten den Vogel essen, doch 412
die Männer fingen an, sich zu wiegen und vor sich hinzumurmeln. Ein Vorsänger stimmte ein Gebet an. Die Christen schlossen sich zusammen und verneigten sich wie Moslems. Einige der Männer schritten nacheinander am Feuer vorüber, hielten kleine Amulette in den Rauch, strichen mit den Fingern durch die Hitze und drückten sie dann an ihre Stirnen, Augen oder Herzen. Andere schauten interessiert, aber tatenlos zu und gaben Kommentare zur fortschreitenden Einäscherung des Vogels ab. Das war ihr erstes Brandopfer. Los Alamos beobachtete die Klone mit einer heiligen Scheu. Dank der Seuche war die Stadt eine wahre Fundgrube des Exotischen und Schönen geworden. Einer der japanischen Wissenschaftler hatte die original Sonnenblumen van Goghs mitgebracht. Es gab ein Dutzend Charles Russells und Frederic Remingtons, zwei Paul Klees, einen geschnitzten Elfenbeinturm aus der Ming-Zeit, bei dem man eine Lupe brauchte, um alle Drachen zu entdecken, dazu Münzsammlungen, ganze Privatbibliotheken mit signierten Erstausgaben, eingerahmte Briefe von Präsidenten, afrikanische Masken, mehrere Meteoriten vom Mars, einen Triceratops-Schädel und noch viel mehr. Wie ein Magnet hatte ihr kleines Paradies auf dem Berg wertvolle Objekte angezogen. An Nachschub herrschte kein Mangel: Soldaten hatten verwaiste Museen geplündert, Fernfahrer hatten unglaubliche Faustpfänder mitgebracht, die Gemeindevorsteher aus dem Tal tauschten Diebesgut gegen Lebensmittel, und Ankömmlinge in letzter Minute, wie Nathan Lee, hatten mit Schätzen und seltenen Talenten am Tor angeklopft und sich so Eintritt verschafft. Im vergangenen Winter war einer Truppe Bolschoi-Balletttänzern Eintritt gewährt worden. Auch die 413
Cowboy Junkies durften hinter den Zaun, nachdem ihre Sängerin, eine kanadische Schönheit namens Margo, die Wachtposten mit einer A-cappella-Darbietung von »The House of the Rising Sun« betört hatte. Damit war die Liste noch lange nicht zu Ende: Pianisten, Maler, das Denver Symphonieorchester, Filmschauspieler und Romanciers hatten hier Unterschlupf gefunden und sangen für ihr täglich Brot. Kleine Mädchen lernten Arabesken von einigen der berühmtesten Ballerinas. Die Stadt kam in den Genuss von Opern, Ausstellungen und Konzerten von Weltrang. Doch so etwas wie die Klone hatten sie noch nicht gesehen. Ihre Faszination ging weit über den Hunger der Stadt nach guten Nachrichten, nach einem Geheimnis, das man unbesorgt weitererzählen durfte oder nach purer Unterhaltung hinaus. Es ähnelte dem Voyeurismus ihres SeuchenSurfings, war aber doch etwas völlig anderes. Sich berstende Dämme und brennende Großstädte anzusehen, mit Seuchenopfern in Kontakt zu stehen, die ihre letzten Gedanken aus Kellern, Verstecken in Wolkenkratzern oder aus der Seilstadt in den Redwoods abschickten, war vorhersehbar und banal geworden. Hin und wieder streiften Satelliten wie feurige Meteoriten über den Nachthimmel. Diese Dinge bedeuteten die Auflösung einer Welt, bei deren Erschaffung sie mitgeholfen hatten. Mit dem Auftritt von Nathan Lees Zeitreisenden hingegen hatte die Stadt mit einem Mal eine verlorene Welt für sich wiedergewonnen. Sie war fremdartig und doch auf eine merkwürdige, unbestimmte Weise vertraut. Es war wie ein Besuch auf dem Mond. Die »Jahr Null Show« hatte ihren Ursprung in einer Schwarzkopie des Vaterunser-»Ereignisses«, das einer der Wachleute des Captain zu Hause zusammengeschnitten hatte. Kopien der Aufnahme gingen von Hand zu Hand, von einem Computer zum anderen. Nathan Lee war viel 414
zu beschäftigt, um sich um die wachsende Begeisterung zu kümmern. Das Büro für Öffentliche Angelegenheiten mischte sich ein, und eines Abends – es war in der zweiten Woche, in der die Klone in den Hof durften – tauchten sie zur besten Sendezeit im städtischen Kabelfernsehen auf. Nathan Lee war entsetzt, sie im Fernsehen zu sehen. Seine Jungs waren ein riesiger Erfolg und wussten es nicht einmal. Die Stunde holprig zusammengeschnittener Szenen mit englischen Untertiteln war ein kurioses Phänomen. Die frühen Schwarzweißaufnahmen sahen aus wie Szenen von einer Überwachungskamera in einem Supermarkt, doch bald wurden leistungsfähigere Kameras und mehr Richtmikros auf den Mauern rings um den Hof installiert. Die Produktionsqualität stieg sprunghaft an, als ein berühmter Hollywoodregisseur, dem ein sicheres Plätzchen in Los Alamos garantiert worden war, seine Dienste anbot. Vorspann und Nachspann bekamen einen nahöstlichen Soundtrack verpasst, aber es gab keinen Erzähler, der den Zuschauer an die Hand nahm, keine Überblendungen, um einzelne Szenen zu verbinden, keinen Spannungsbogen, sondern einfach nur die Klone, die sich in einer toten Sprache unterhielten, wobei sie ins Feuer starrten oder im Kreis herumgingen. Jeder von ihnen hielt dem einen oder anderen Gott die Treue. Wie Männer, die an einem Tau ziehen, hatten sie ihre Rituale durch den Schleier der Zeit mitgerissen. Hin und wieder gab es ein Brandopfer, ansonsten fertigten sie Talismane, Amulette und Gebetsketten, banden sich rote Schnüre um die Hälse und Handgelenke oder legten sich Bindfäden über eine Schulter. Einige tätowierten sich gegenseitig Gesichter und Arme mit Holzkohlenpaste und einem Nagel. Izzy kam auf die Idee, Rohmaterial in den Hof zu brin415
gen. Bald darauf machten die Klone Sandalen, flochten Seile, bauten Leiern, spielten Flöte, kochten, eröffneten einen kleinen Bazar, hämmerten Kupfer, stellten Schmuck her und bemalten die Mauern. Johannes der Zweite, wie sie ihn nannten, der kleinere von beiden, erwies sich als richtiger Künstler und malte Tag für Tag an einem riesigen Bild von einem Fischerboot. »Was haben Sie da nur angezettelt?«, fragte Miranda Nathan Lee eines Nachts im Nekro-Archiv. Es war schon spät. In letzter Zeit war sie öfter hier aufgetaucht. Klopf, klopf, kündigte sie sich immer an. Normalerweise kam sie kurz vor Mitternacht, wenn die Gänge leer und die Labors verlassen waren. Nathan Lee hatte sich angewöhnt, im Archiv zu essen und zu schlafen, um Zeit zu sparen. Vier Wochen waren vergangen, aber es kam ihm vor wie vier Monate. Er war noch nie so beschäftigt gewesen. Hier, zwischen den Knochen, mühte er sich ab, mit ihrem auferstandenen Fleisch und Blut Schritt zu halten. Es hatte nicht in seiner Absicht gelegen, sich von ihren Leben einfangen zu lassen, er hatte es sogar vermeiden wollen. Eigentlich hatte er sich die Geschichte ausgedacht, um sich die Zeit bei der Warterei auf Ochs zu vertreiben und dann seine Reise fortzusetzen, mehr nicht. Jedenfalls hatte er sich das vorgemacht. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um Grace gerecht zu bleiben. Einen der Leute bei der Satellitenüberwachung hatte er dazu überredet, seinen schmutzigen, verblichenen Schnappschuss von ihr per Computer aufzufrischen. Das Ergebnis stand eingerahmt auf einem Regal im Archiv. Es hätte eigentlich eine tägliche Ermahnung sein sollen, doch die Auffrischung hatte ihre Züge kaum merklich verändert und sie in jemanden verwandelt, den er nicht mehr richtig wiedererkannte. Sie war sogar noch unwirklicher gewor416
den. Das machte ihm zu schaffen. Doch jeder Tag zog ihn tiefer in die Welt des Jahres Null. Er saß bis weit nach Mitternacht über seinen Notizen, sah sich Aufnahmen an, stellte Verwandtschaftsübersichten zusammen, ging die Handlungsfäden der einzelnen Geschichten der Männer noch einmal durch, immer auf der Jagd nach Hinweisen. Kurz vor Tagesanbruch kam Izzy vorbei, und gemeinsam planten sie dann die Strategie des kommenden Tages. Auch Miranda wohnte jetzt hauptsächlich in dem Gebäude. Das Virus hatte wieder seine Form geändert. In den vergangenen zwei Jahren hatte es eine Geschwindigkeit von zwölf Tagen von der Infektion bis zum Tod entwikkelt und wütete in der Population wie Salven aus einer Schrotflinte. Die jüngste Version bewegte sich jedoch wieder langsamer. Die verräterischen Symptome wie gläserne Haut und früher Gedächtnisverlust manifestierten sich erst nach einer Woche, die tödliche Auflösung lebenswichtiger Gehirnfunktionen ließ mitunter einen ganzen Monat auf sich warten. Das war gut und schlecht zugleich. Es vermittelte die Illusion, das Virus würde sich womöglich selbst ausbrennen, doch die Leute wussten, dass diese Hoffnung trügerisch war. Andererseits verhielt sich das Virus endlich normal, zumindest für ein Virus. Das wiederum ließ auf die ersten Anzeichen von KoEvolution hoffen. »Es will Tango tanzen«, erklärte ihm Miranda. »Jeder Parasit verhält sich so. Es sucht einen Tanzpartner, der sich seinem Tempo anpasst, einen Wirt, mit dem es sich gemeinsam entwickeln kann. Der Mensch und Korfu scheinen nicht so recht füreinander geschaffen. Aber wir dürfen den Versuch nicht aufgeben.« Gerüchte machten die Runde, Miranda sei an einer ganz neuen Sache dran. Niemand wusste allerdings, woran ge417
nau. Auch bei ihren nächtlichen Besuchen in Nathan Lees »Büro« redete sie nicht darüber. Er verhielt sich immer sehr umsichtig, schon um ihretwillen, vergewisserte sich, dass die Tür, solange sie ihn besuchte, immer weit offen stand. Und er behielt seine Hände bei sich. Kein freundschaftliches Tätscheln, keine kleinen Umarmungen. Laborromanzen gab es überall, es wurde viel getratscht. Das konnte sie nicht brauchen, sie war ein Kind. Er kam sich hundert Jahre älter vor als sie. Also beherrschte er sich. Plato wäre stolz auf ihn gewesen. Sie saßen einander gegenüber, fast Knie an Knie, jedoch ohne sich zu berühren. Er war sonnengebräunt, sie dagegen blass. Auf einem Tisch standen drei Monitore, die die Szenen vom vergangenen Tag aus verschiedenen Perspektiven abspielten. Der Ton war abgestellt. »Spielen die Männer da um Geld?«, fragte Miranda. Nathan Lee drehte den Kopf in Richtung Bildschirm. »Glücksspiele. Sehr passend, finden Sie nicht?« Sie zeigte auf einen anderen Monitor. Joab hockte über dem Fang des Tages, einem Spatzen, dem er die Flügel zusammengebunden hatte, und einem Eichhörnchen in einem Käfig aus geflochtenen Kiefernzweigen. »Er verkauft sie«, sagte Nathan Lee. »Es geht zu wie in einem Suk.« Er drehte an der Lautstärke. Lautes Feilschen ertönte. Mehrere Männer standen vor einer Reihe von Kaufleuten, die auf den Fersen hockten und ihre kleinen Sammlungen nutzloser Gegenstände vor sich ausgebreitet hatten. »Sandalen? Kiefernzapfen?«, sagte sie. »Sind das dort Frauenstatuen?« »Oder Fetische. Aus Brotteig gefertigt. Sie sind unwahrscheinlich kreativ. Mit allem, was ihnen in die Finger kommt. Sie tauschen für ihr Leben gern. Das geht sofort los, nachdem sie den Hof betreten haben. Die ganze Zeit 418
wird geschachert und gefeilscht. Es ist für sie eine ideale Möglichkeit des Zusammenseins. Da bildet sich ein Dorf heraus. Sehen Sie den Mann da? Er ist Wahrsager. Und diesen Burschen? Er macht Armbänder aus bunten Fäden und Lammsehnen. Und der dort ist der offizielle Ohrenputzer.« »Das ist nicht Ihr Ernst.« Der Mann hockte neben seinem Kunden auf dem Boden und hantierte konzentriert wie ein Neurochirurg mit einem Stück Draht und einem geschälten Zweig herum. »Sie sind nie in der Dritten Welt gewesen«, sagte er. »Was ist mit dem dort?« Einer spazierte mit einem Faden um den Kopf herum und drückte dabei ein Stück gefalteten Stoff an seine Stirn. »Medizin gegen Kopfschmerzen. Magisches Tuch. Einer seiner Freunde hat einen Zauberspruch hineingesprochen. Bei ihm scheint es zu funktionieren.« Nathan Lee drehte die Lautstärke herunter und setzte sich wieder. Miranda löste sich von den Bildern und lehnte den Kopf an den Tisch. »Cavendish hat angerufen«, sagte sie. »Er ist auf dem Kriegspfad.« Nathan Lees Muskeln spannten sich an. Ochs hatte Cavendish. Er hatte Miranda. Die Gefolgschaften lagen auf der Hand. »Weswegen denn?« »Er will wissen, was Sie mit dieser Geschichte vorhaben.« Sie pochte auf einen der Monitore. »Ich habe ihm gesagt, es sei ein Forschungsvorhaben. Sie wollten die Klone über die Seuche befragen.« »Das kommt noch«, sagte Nathan Lee. »Wir können aber nur langsam voranschreiten, von einem Tag zum anderen.« »Cavendish hält es für einen Trick. Er will die Sache ab419
blasen«, erwiderte sie. »Deshalb hat er einen Deportationsbefehl für Sie ausgestellt.« »Was?« Nathan Lee war wie vor den Kopf geschlagen. Der Bleistift fiel ihm aus den Fingern. Sollte es einfach so vorbei sein? Er wollte widersprechen. Es war zu früh, er hatte doch seine Antwort noch nicht gefunden. Aber das musste er sich allein vorwerfen. Er hatte sich von dieser anderen Wirklichkeit verführen lassen, er hatte sie sogar selbst geschaffen. Die Klone gingen ihn überhaupt nichts an. Sie hatten ihr Leben gelebt, er sollte das seine leben, jede Minute darauf verwenden, seinen Feind zu jagen. »Ochs«, sagte er. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Er könnte sich in einem der Canyons verstecken, oder im Wald. Früher oder später musste Ochs sich zeigen. Aber Nathan Lee wusste, dass es aussichtslos war. Die Sicherheitskräfte waren überall. »Ochs?«, wiederholte sie. »Ich bin sicher, dass er überall seine Lügen über Sie verbreitet hat. Aber Cavendish hat selbst Grund genug, Sie loszuwerden. Sie bedrohen seine Autorität.« »Cavendish? Was habe ich ihm denn getan?« Er war dem Mann nicht einmal begegnet, hatte lediglich Fotos von ihm gesehen. Je nachdem mit wem man sprach, war die zunehmende Zurückgezogenheit des Leiters seinen zusätzlich zu seinen zahlreichen Gebrechen fortschreitenden Entstellungen zu verdanken – oder dem Bestreben, seine Allgegenwart auszubauen, den Leuten das Gefühl zu vermitteln, überall und nirgends zugleich zu sein. Miranda hielt es für den Preis seiner Paranoia. Aber wie auch immer, Cavendish hatte sich seit geraumer Zeit der menschlichen Gesellschaft entzogen. »Er ist überzeugt davon, dass ich ihn stürzen will«, sagte Miranda. »Mit Ihrer Hilfe.« 420
»Das ist doch absurd.« »Nein, er hat völlig Recht«, grinste Miranda. »Ich benutze Sie. Sehen Sie mich nicht so entsetzt an, Sie benutzen mich ja schließlich auch. So funktioniert das Spielchen doch, oder nicht? Ein einziger Teufelskreis.« Sie klang nicht skrupellos, eher wie ein Kind, das versucht, sich besonders abgebrüht zu geben. »Mit mir ist nicht groß Staat zu machen«, meinte er. »Warum sollte sich Cavendish meinetwegen Sorgen machen?« »Die Stadt rauft sich zusammen. Eine Schattenstadt, eine Konföderation. Ich habe mich mit einigen der anderen Laborleiter getroffen. Auch ihnen sind die Veränderungen aufgefallen. Die monatlichen Statistiken belegen es. Immer weniger Leute melden sich krank. Es werden wieder mehr neue Experimente angemeldet. Der Drogenmissbrauch nimmt ab, die Moral steigt. Als würde sich ein dunkler Schleier heben.« »Und was hat das mit mir zu tun?« »Niemand kann es genau benennen. Aber es hat irgendwie mit dieser Jahr Null-Geschichte zu tun«, antwortete sie. »Es gibt keine anderen Korrelationen. Wissenschaft am Tag, Tieropfer am Abend. Die Leute kleben förmlich an der Glotze. Sie sind infiziert. Nein, das ist nicht der richtige Ausdruck. Verzaubert. Ach ja«, fügte sie hinzu, »habe ich Ihnen schon erzählt, dass die Menschenversuche auf einen Bruchteil ihres ehemaligen Ausmaßes zurückgefahren wurden?« »Und das nur der Klone wegen?« »Sie haben dazu beigetragen. Dieser krasse Stimmungswandel fällt mit Ihren Hofexperimenten zusammen.« »Kaum zu glauben.« Aber er spürte es selbst. Der Hof hatte von ihm Besitz ergriffen. Der kleine Stamm der Klo421
ne hatte den Tod besiegt, sie hatten die Apokalypse überstanden und sich die Hände gereicht. Das Paradies war jetzt. »Die ganze Stadt schaut Ihnen zu. Die Geschichts- und Geographielehrer benutzen Ihre Aufnahmen, um den Kindern etwas über den Alltag im Palästina des ersten Jahrhunderts beizubringen. Schulklassen haben einzelne Klone adoptiert und es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu erforschen und ihre Biographie zu schreiben. In den Cafeterias und Kneipen spricht man nur noch von den neuesten Erkenntnissen. In den Kirchen läuft das Vaterunser.« Nathan Lee hatte nur vereinzelt etwas davon mitbekommen. »Brot und Spiele«, brummte er abfällig. »Begreifen Sie denn nicht? Sie stellen eine Bedrohung für die Suche nach dem Heilmittel dar. Jedenfalls in Cavendishs Vorstellung.« »Es ist doch nur Fernsehen. Die ultimative RealityShow.« »Nein«, widersprach sie. »Cavendish hat völlig Recht.« Sie nahm eine Rippe von Matthäus’ Knochensatz in die Hand. »Sie haben menschliche Wesen aus ihnen gemacht.« »Das waren sie von Anfang an.« »Aber wir wussten es nicht«, sagte sie. »Das ist der Unterschied. Schon zwei Labors haben ihre Experimente eingestellt – wegen Ihnen. Andere diskutieren darüber. Cavendish hat es sehr wohl begriffen. Der Trend geht weg von einer Methodologie. Sie korrigieren sich selbst. Sie taumeln wieder von dem Abgrund zurück, an den sie sich vorgewagt haben.« »Menschenversuche?«, fragte er. »Das ist Teil ihrer Kul422
tur. Die Menschheit hat diesen Teufelspakt schon vor langer Zeit geschlossen.« »Deshalb ist er auch so gefährlich. Cavendish ist der Teufel. Mit ihm hat es angefangen.« »Das stimmt nicht«, entgegnete er. »Es gehört zu Los Alamos. Ich habe so einiges über die Anfangszeit gehört, über die Bombenjahre. Damals, in den fünfziger Jahren, wurden Tausende toter Babys aus der ganzen Welt hierher geschickt, um die Streuung radioaktiver Strahlung zu untersuchen. Wissenschaftler haben sich selbst Plutonium gespritzt, es ihren Kindern zu essen gegeben.« »Damit war bald Schluss«, wandte sie ein. »Damit war ein Präzedenzfall geschaffen. Wie schlimm soll es denn noch werden?« Die eigenen Kinder? »Ich bin nicht sicher, wie viel Sie von dem, was hier geschieht, wirklich wissen«, sagte sie. »Wir sind draußen herumspaziert, als die Asche vom Himmel fiel. Sie haben einen Witz gemacht, von wegen Schnee im Juli.« Intellektueller Abfall hatte sie es damals genannt. Mit einem Mal wurde er sich der grausamen Wahrheit ihrer Worte bewusst, und er war entsetzt, dass er nicht schon viel früher darauf gekommen war. »Menschenasche«, sagte er. Miranda nickte. »Klone. Überträger aus den Städten. Und infizierte Forscher. Ich habe keine genauen Zahlen, aber es müssen Tausende sein. In den vergangenen Jahren haben wir alles Mögliche getan, um nicht näher daran zu denken. Es ist unser schlimmster Alptraum, dass wir uns in eine Art Auschwitz verwandeln.« Sie gab ihm die Rippe zurück. »Verstehen Sie jetzt? Sie haben etwas ins Rollen gebracht. Cavendish verliert die Unterstützung für seine Methoden. Ihm läuft die Zeit davon.« 423
»Uns allen läuft die Zeit davon«, antwortete er. »Ich helfe Ihnen nur, die Langeweile zu vertreiben.« »Das habe ich mir auch gedacht, jedenfalls am Anfang. Wie Sie sagten, es ist bloß Fernsehen. Aber es ist mehr daraus geworden. Die Leute warten darauf, dass etwas passiert. Sie glauben, dass in diesem Hof irgendeine Antwort auf sie wartet. Und dass Sie sie ihnen geben werden.« Es gab unterschiedliche Möglichkeiten, damit umzugehen. Er entschied sich dafür, es möglichst einfach zu halten. »Hinweise auf die Seuche? Das würde ich nicht für mich behalten«, sagte er. »Ich wühle weiter. Vielleicht wissen sie etwas, vielleicht auch nicht.« »Die Klone?«, fragte sie. »Die haben uns, was die Seuche angeht, nichts zu sagen. Nichts Relevantes jedenfalls. Sie sind auch nur eine Sackgasse. Und das wissen Sie.« Nathan Lee legte den Kopf in den Nacken. Er wusste es, zumindest vermutete er es allmählich. Keiner der Klone schien etwas über eine Seuche vor zweitausend Jahren zu wissen, die eigentlich keine richtige Seuche gewesen war. In ihren Blutproben ließ sich ein schwacher Kontakt mit einer Frühform von Korfu feststellen, aber es musste ein ungefährlicher Ableger des Virus gewesen sein, der auf seinem langen Weg entlang der Seidenstraße mutiert war. Was auch immer dieser Reliquie in Korfu entwichen war, musste seinen Ursprung irgendwo in sicherer Entfernung vom Heiligen Land gehabt haben. Die Forscher hatten sich auf die richtige Zeit, aber auf die falsche Gegend eingeschossen. Golgatha war gar nicht die Antwort. »Was jetzt?«, fragte er. Kopf hoch, sagte er sich, und immer schön die Augen auf. Cavendish hat gesprochen, Nathan Lee war ein Verurteilter. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich von Los Alamos aus durchschlagen sollte. Schließlich führte kein Weg nach Los Alamos zu424
rück. Welche Richtung sollte er einschlagen, wo sollte er hin? Er kam sich fett und unbeweglich vor. Sein Schwung war dahin. »Ich habe den Deportationsbefehl abgefangen.« Sie zuckte mit den Achseln. Er stieß den angehaltenen Atem aus. »Dürfen Sie das?« »Die Show geht weiter. Ich brauche Sie.« »Sie wollen, dass ich mit den Klonen weitermache? Aber Sie haben gerade eben gesagt, sie sind eine Sackgasse.« »Wenn Sie einen Blick auf die Landkarte werfen, ist Los Alamos auch eine Sackgasse. Aber es ist unsere letzte und einzige Hoffnung. Und Sie helfen dabei, uns zusammenzuhalten. Hier oben im Sonnenlicht.« Oben. Jetzt wurde ihm einiges klar. Draußen, Weg von der Dunkelheit, der Unterwelt ihres Vaters. Dafür brauchte sie ihn. Sie kämpfte nicht gegen Cavendish, sondern gegen ihren Vater. Es kam ihm trotzdem nicht richtig vor, einen Vater gegen den anderen auszuspielen. Die Klone kamen wieder zu Kräften, ihr Babyspeck schmolz dahin. Sie wollten ihre Muskeln ausprobieren, veranstalteten Wettrennen, probierten den Handstand. Sie legten einander die Arme um die Schultern und tanzten und sangen. Nach einem Ringkampf auf dem harten Asphalt strahlten die Teilnehmer zerschrammt und blutig in die Runde. Mit dem Herbst kam kühleres Wetter. Das Feuer wurde ihr Mittelpunkt. Nacht für Nacht ließ der Captain mehr Holz in den Hof schaffen. Jeden Morgen, wenn die Gefangenen herauskamen, flackerte das Feuer, und sie machten dort weiter, wo sie am Tag zuvor aufgehört hatten. 425
In der vierten Woche baute Nathan Lee seine Rolle aus. Sein Aramäisch wurde täglich besser; er spielte weiter den Reisenden aus den Bergen nördlich von Babylon, doch jetzt wurde er ihr Schreiber. Wie ein Magier zog er einen Stift und leere Blätter hervor. Es war ein genialer Trick. Mit einem Streich machte er sich zu dem, was er ohnehin war – ihrem Ghostwriter. Durch ihn, so glaubten sie, konnten sie mit ihren Familien und Dörfern in Kontakt treten. Die Tatsache, dass Nathan Lee ihre Briefe in seiner eigenen Sprache und einem fremden Alphabet aufschrieb, verwunderte sie nicht mehr, als der Stift mit der nicht versiegenden Tinte, mit dem er schrieb. Damit musste er nicht mehr darauf warten, dass sich die Klone zufällig selbst befragten. Jetzt standen sie Schlange und warteten darauf, ihre Gedanken vor ihm auszubreiten. Izzy übersetzte, Nathan Lee schrieb, und die Kameras zeichneten auf. Sie waren ganz und gar in der Gegenwart verhaftet. Sie wussten, dass sie gestorben waren, doch für sie waren seitdem nur ein oder zwei Jahre vergangen. Ihre Familien fehlten ihnen. Sie machten sich Sorgen wegen der Ernte oder darüber, ob die Viehherden fett geworden waren, oder ob die Kinder gediehen. Diejenigen, die bei der Zerstörung Jerusalems getötet worden waren, machten sich Gedanken über das Schicksal ihrer Angehörigen. »Seid stark, schon bald kommen wir wieder zusammen«, diktierten sie Nathan Lee. Jeder von ihnen versuchte, dieses ungewöhnliche Land des Lebens nach dem Tode zu beschreiben. Sie nannten es Sheol, Tophet oder Gehenna, niemand sprach mehr von Ägypten mit den Eisenwänden und dem bronzefarbenen Himmel. Für sie war es ein Ort der Bestrafung, aber auch der schrittweisen Belohnung. Der Himmel ist sehr blau, 426
staunten sie. Die Lämmer sind fett. Ein Wald schickt seinen süßen Duft über die Mauern herüber zu ihnen. Eines Tages würden die Mauern einstürzen, da waren sie sicher. Alles würde sich zum Besseren wandeln. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Lieben hier bei ihnen eintrafen.
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25 Das Pferd OKTOBER
»18 Grad«, sagte Nathan Lee zu dem Mädchen, als sie auf der East Jemez Road hinausfuhren. »Wind aus Südwest, Windgeschwindigkeit acht Kilometer pro Stunde. Guck mal, keine Wolke am Himmel. Heute kann nichts schief gehen.« Dann fing er an zu singen: »I was driving in my automobile, my baby beside me at the wheel …« Tara grinste. Sie hatte keine Ahnung, was er da trieb, aber er war glücklich, dass er mit ihr zusammen war, und sie hatte ihn den ganzen Tag für sich. Er bog nach links zum alten Neutronenforschungs-Zentrum ab, das schon vor Jahren dichtgemacht worden war. Inzwischen war es zum Basislager eines Kontingents Sondereinsatztruppen geworden. Dort ging es der Appaloosa-Stute ganz vorzüglich. Die Elitesoldaten hatten die Stute mit Begeisterung adoptiert und ihr zwischen Nusskiefern und Haselnusssträuchern eine Box gebaut. Sie war der Wilde Westen für diese Burschen, die in Großstädten und Vorortsiedlungen auf gewachsen waren und noch nie in ihrem Leben auf einem Pferd gesessen hatten, bevor Nathan Lee die Stute gebracht hatte. Keine der anderen Einheiten besaß ein so ungewöhnliches Maskottchen. Die Marines hatten diverse Köter, die SEALS hielten sich Kampfhähne. Die Appaloosa aber war einzigartig. 428
Eigens für sie hatte sich der Arzt der Einheit in die Veterinärmedizin eingelesen. Die Waffenspezialisten putzten und striegelten die Stute und hatten eine EmailBadewanne so hergerichtet, dass das Tier stets frisches, fließendes Wasser hatte. Sie fanden heraus, welches Gras sie am liebsten mochte, sammelten Heuballen für den Winter und hatten – bevor gegen Ende August niemand mehr das Tal betreten und der Rio nicht mehr überquert werden durfte – durch Tauschhandel mit ein paar Ranchern in der Nähe von Taos genügend Hafersäcke organisiert, um damit eine ganze Kavallerie zu versorgen. Regelmäßig durchkämmten sie das Gelände und töteten sämtliche Klapperschlangen, die sie finden konnten. Abwechselnd schliefen sie in einem Zelt neben dem Stall, damit kein Coyote auch nur in Versuchung kam. Im Scherz sagten sie, Nathan Lee müsse das Tier schon mit Gewalt zurückholen, wenn er es wiederhaben wolle. Im Scherz sagte er, dass sie es erst bemerken würden, wenn die Stute längst weg wäre, so leise würde er sich in der Nacht anschleichen und davonmachen. Das gefiel den Soldaten. Sie waren ohnehin davon überzeugt, dass niemand mehr Los Alamos verließ, nicht bevor es ein Heilmittel gab oder der schon lang diskutierte, inzwischen beinahe mythische Tag der Evakuierung tatsächlich gekommen war. Für Nathan Lee war das Pferd das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte. Die Stute war seine Verbindung zu einer Zeit vor diesem Ort. Er besuchte das Pferd ab und zu, meist nach einer Nacht voller lebhafter Träume. In der einen oder anderen Ausprägung hatten die schlimmen Träume immer mit seiner Tochter zu tun. Sie rief ihn, oder auf ihrem Foto auf dem Regal im Knochenlabor war plötzlich ein Totenschädel zu sehen. Dann wachte er verschwitzt auf und versuchte, für die Alpträume dankbar zu 429
sein. Aber sie waren nicht stark genug, um seine angenehmen Träume zu bezwingen, die sich immer öfter um Miranda drehten, um die Freundschaften, die er schloss, um die Bindungen, die ihn, wie er spürte, immer mehr an diesen Ort fesselten. Ein stets wiederkehrendes Bild waren seine Füße, die sich in Baumwurzeln verwandelten und sich in den steinigen Boden von Los Alamos gruben. Er blickte in diesem Traum nach oben, seine Arme wurden zu Ästen, und er stand am Rande einer Kippe hoch über dem Tal. Auch aus diesen Träumen, so schön und friedlich sie auch sein mochten, erwachte er schweißgebadet. Die Appaloosa-Stute hingegen brachte Ruhe in seine nächtlichen Ängste. Allein der Anblick des Pferdes besänftigte seine Schuldgefühle. Eines Tages würde er auf seinem Rücken wieder von hier aufbrechen. Er würde es wahr machen. Er fand es absolut in Ordnung, Tara mitzubringen. Fast zwei Monate waren vergangen, seit er ihre Isolation durchbrochen hatte. Von diesem Zeitpunkt hatte ein Schwarm Therapeuten und wohlwollender Menschen mit dem Kind gearbeitet und es an die menschliche Gesellschaft herangeführt. Der Captain und seine Frau waren bereit, sie bei sich aufzunehmen, aber Tara war noch nicht so weit. Sie war immer noch ein unerlöstes, wildes Kind. Ihre wenigen Erkundungsgänge nach Los Alamos hatten in kleinen Katastrophen geendet: ein Wutanfall auf dem Markt, ein Schreikrampf auf dem Spielplatz, ein weiterer Zwischenfall mit Exkrementen plus weitere Rückfälle in ihr eingekerkertes Ich. Nathan Lees Meinung nach war ihr Verhalten allein auf die Gefangenschaft zurückzuführen, die sie seit ihrer Geburt erlitten hatte. Die Leute spielten immer wieder auf ihre Unterschiede als Neandertalerin an, als wäre sie zurückgeblieben unfähig, und das wurmte Nathan Lee. An430
dererseits stimmte es, dass Tara, wenn sie gerade einen Anfall hatte, ein gefährliches kleines Biest war, das man keineswegs mit anderen Kindern in der Stadt zusammenbringen durfte; momentan noch nicht, vielleicht auch nie. Deshalb nahm er sie mit zu dem Pferd. Er hätte das Pferd auch zu ihr gebracht, aber er hätte nie die Erlaubnis bekommen, es in den Hof zu lassen. Zum einen, weil er jeden Tag von morgens bis abends von den anderen Klonen besetzt war, und sowohl die Therapeuten als auch Nathan Lee instinktiv dagegen waren, das Mädchen mit den Männern aus dem Jahr Null zusammenzubringen. Es war gut möglich, dass sie sie wie eine kleine Schwester behandelten, andererseits waren sie selbst noch viel zu angeschlagen und durcheinander. Bestenfalls würde das Auftauchen eines weiblichen Kindes ihre Hoffnungen auf die baldige Ankunft ihrer eigenen Frauen schüren. Schlimmstenfalls handelte es sich nach wie vor um gekreuzigte Männer, über deren Vergehen sich Nathan Lee immer noch nicht ganz im Klaren war. Taras Besuch war vorbereitet worden. Das Lager der Special Forces erstreckte sich über mehrere Hektar östlich der verlassenen Forschungseinrichtung. Anlässlich des heutigen Besuchs hatten sie die Appaloosa-Stute mitten in der Landschaft festgebunden, weit weg von jeglicher menschlicher Ablenkung. Es war sonst niemand dort draußen. Der Mann und das Mädchen ließen sich Zeit auf ihrem Weg über die warme, braune Erde. Sie blieb immer wieder fasziniert von den Grashüpfern, Marienkäferchen und Steinen stehen. Er rieb Salbeiblätter aneinander und ließ sie daran riechen. »Sieh nur!«, sagte sie immer wieder. Er hatte ihr nichts von dem Pferd gesagt, sondern ließ sie das Tier selbst entdecken. Beim Anblick der Stute wurde Tara ganz still. Das Pferd 431
rupfte trockene Grasbüschel aus dem Boden, sein langer Schweif schaukelte hin und her. Die Soldaten hatten das Tier gesattelt, seine Mähne war gebürstet. Es sah wunderschön aus. »Sollen wir ein bisschen näher ran?«, fragte Nathan Lee. Tara nahm seine Hand. Sie hatte Angst, so wie jedes Kind Angst gehabt hätte, und stand stumm und mit weit aufgerissenen Augen vor der Erhabenheit des großen Tieres. Sie hielt ihre blonde Barbie-Puppe fest in der braunen Faust. Die Stute weidete unbekümmert weiter im Gras, nur die Ohren drehten sich, als die beiden näher kamen. »Berühre sie«, sagte Nathan Lee, als sie dicht genug heran waren, und fuhr mit seinen Händen über die schwarz und weiß gefleckten Flanken. Tara legte eine Fingerspitze auf den muskulösen Blasebalg des Brustkorbes. Das Pferd hob den Kopf, um das kleine Wesen besser zu sehen, und Tara drückte sich erschrocken an Nathan Lee. »Sie will dich nur anschauen«, beruhigte er sie. »Sie möchte dich riechen.« Die großen Nüstern weiteten sich und schnaubten. »Ich glaube, sie mag dich.« Tara war sprachlos. »Sieh nur, ihr habt die gleichen Haare«, sagte Nathan Lee. Er hob die schmutzige weiße Mähne mit dem Unterarm hoch und ließ das glatte Haar wie einen Wasserfall darüber sprudeln. Tara fuhr mit den Fingern hindurch, von Ehrfurcht vor ihrer Verbindung mit dem magischen Tier ergriffen. Nathan Lee hatte vom Bauernmarkt in Los Alamos einen Leckerbissen mitgebracht. Dort bewirtschafteten die Leute Treibhäuser auf ihren Wohnblocks, hatten Beete in den Parks angelegt und im Wald einige Flächen gerodet. Die Wachstumsperiode war in diesem Jahr ungewöhnlich lang 432
gewesen. In den letzten Wochen konnte man Stangenbohnen, rote und grüne Paprika, Maiskolben und dicke, runde Wassermelonen, die wie nasser Zucker schmeckten, gegen andere Dinge eintauschen. Außerdem gab es Kürbisse, Salatköpfe, Basilikum, Thymian, Zwiebeln … und ordentlich dicke Karotten. »Hier.« Er half Tara bei der ersten Karotte. Gemeinsam hielten sie sie dem Pferd hin, das sie mit seinen muskulösen Lippen nahm und mit den großen Zähnen zermalmte. Schnuppernd forderte die Stute mehr. Ab jetzt brauchte Tara seine Hilfe nicht mehr. Das Pferd und das Mädchen hatten zueinander gefunden. »Sollen wir mal auf ihr reiten?« Das Kind hatte keine Ahnung, was er meinte. Ebenso gut hätte er fragen können: Wollen wir fliegen? Nathan Lee setzte sich zuerst in den Sattel und beugte sich zu Tara hinab. Sie war noch nicht mal fünf Jahre alt, musste aber schon an die dreißig Kilo wiegen – und alles waren Muskeln. Die Arme um das Kind geschlungen, setzte Nathan Lee das Pferd mit sanftem Schenkeldruck in Bewegung. Das Mädchen zitterte. »Sollen wir anhalten?«, fragte er. »Nein«, flüsterte Tara. Sie ritten in einem lang gezogenen Bogen bis zum Rand der Mesa hinaus. Auf dem Rückweg zeigte er ihr, wie man die Zügel hält; dann stiegen sie ab. »Möchtest du noch ein bisschen weiter reiten?«, fragte er. »Weiter«, flüsterte sie. Er nahm den Sattel und die Decke ab, hob Tara auf den breiten, warmen Pferderücken und führte die Stute meilenweit am Zügel herum. Als der Tag zu Ende ging, führte er das Tier zum Soldatenlager. »Darf Tara wiederkommen und auf eurem Pferd reiten?«, fragte er die Soldaten. 433
Tara saß abwartend auf dem Tier und hielt vor Spannung den Atem an. Einer der Soldaten kam herüber und streichelte das Tier. »Ich finde, das ist eine gute Idee.« Der Soldat tat so, als unterhielte er sich mit dem Pferd. »Was hältst du davon?« Taras Augen wurden immer größer. Konnte dieses Tier denn sprechen? Genau in diesem Augenblick landete eine Fliege auf der Pferdenase. Die Stute warf den Kopf auf und nieder. Die Antwort war eindeutig. Das kleine Mädchen war wie vom Donner gerührt. Nathan Lee ließ es noch eine Weile dort oben sitzen. In jener Nacht träumte er von einem glücklichen Tag.
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26 Wölfe und Lämmer EINE WOCHE SPÄTER
Nur wenige der gekreuzigten Männer redeten darüber, wie sie gestorben waren oder was danach kam. Die bedrohten Bewohner von Los Alamos brannten natürlich darauf, mehr darüber zu erfahren. Sie bedrängten Nathan Lee auf der Straße, per E-Mail und Telefon und forderten ihn auf, mehr nach dieser »Sache mit dem Tod« zu fragen. Sie wollten wenigstens einen kleinen Einblick, wollten wissen, wie er war, der »König des Schreckens«, wie es die Bibel ausdrückt, »ein kleiner Schlaf, ein kleiner Schlummer, ein bisschen die Hände zum Schlaf falten«. Doch Nathan Lee scheute sich davor. Er war zwischen den Knochen gewandelt. Er hatte sie pfeifen hören. Im Lauf des Sommers hatte Los Alamos die Verbindung zu Amerika weitestgehend verloren. Die Informationstechnologie war nicht, wie einige vorausgesagt hatten, Stück für Stück ausgefallen. Der Zusammenbruch war wie eine Katastrophe gekommen. An einem Tag hatten sie noch Übertragungen aus St. George, Lincoln und Laramie empfangen, ängstliche sprechende Köpfe und wackelige Videoaufnahmen, am nächsten Tag waren ihre Augen blind. Die Übertragungen hörten einfach auf. Es gab sporadische Empfänge von Kurzwellen-Guerillas, und die Satelliten waren mit veralteten Bildern und Daten dermaßen überfrachtet, die sie erst einmal ausgraben mussten. Aber es war mit einem Mal so, als wäre dort draußen die Nacht über das Land 435
hereingebrochen, als wäre Amerika in die Dunkelheit Asiens, Afrikas und Europas gestürzt. Trotzdem klammerte sich Nathan Lee an seine Hoffnung, weigerte sich zu glauben, das Schweigen sei gleichbedeutend mit Leere. Die Menschen – kleine Städte, Enklaven, Stämme – hielten sich versteckt, das war alles. Es gab Leben dort draußen. Und seine Tochter. Leben, das war die Frage, auf die er Antworten suchte, nicht der Tod. Die wenigen Male, bei denen er sich bei den Klonen nach dem Tod und was danach kam erkundigte, waren die Männer seinen Fragen ausgewichen. »Du weißt es so gut wie ich«, sagte jeder von ihnen immer. Dabei hatten sie es keineswegs vergessen. Ihre Gesichter verfinsterten sich, ihre Augen schwelten. Sie erinnerten sich daran, aber sie wollten sich nicht erinnern. Mit der Zeit begriff Nathan Lee, dass es eine grausame Demütigung gewesen war, so am Kreuz zu hängen. Ganz egal welche Qualen sie dort erlitten hatten, es war die Erinnerung an die Scham, die sie noch immer am meisten verletzte. Nackt und der Schande preisgegeben, hatte man sie ihres Namens, ihrer Identität und ihrer Herkunft beraubt. Ihre Familien waren durch ihren Tod verdammt, und sie wussten es. Deshalb gingen sie über das Sterben hinweg, als sei es nicht geschehen. Nathan war von ihrer Würde beeindruckt. Als ihr Schreiber lauschte er ihnen, wie sie Briefe aus ihrem neuen Leben nach Hause diktierten. Meistens beschrieben sie ihre Wiedergeburt als wunderbare Auszeichnung, als neuen Anfang in einem neuen Land, als zweite Chance. Sie sahen sich als Pioniere, zumindest als Reisegefährten. Ihre Gefangenschaft im Reich seltsamer Dämonen war einfach nur ein Teil der Reise. Sie würde nicht ewig dauern. Sie verhielten sich so, als seien ihre Herden und Plantagen und Werkstätten im alten Leben immer noch intakt. Einige gaben ihren Ehefrauen, Brüdern oder Söhnen genaueste 436
Anweisungen, wie sie sich während ihrer Abwesenheit um die Angelegenheiten des täglichen Lebens zu kümmern hatten. »Zahle nicht mehr als drei Schekel«, wies einer seine Frau an, »und hüte dich davor, mit Elias zu reden. Ich habe seinem Blick nie getraut. Und egal was du tust, lade ihn unter keinen Umständen hierher ein.« Den ganzen Tag über saß Nathan Lee mit dem Rücken an den Baum gelehnt, hörte sich ihre Geschichten an und machte sich Notizen. In der fünften Woche war er in der Lage, so viel von ihrer Sprache zu verstehen, dass er Izzy mehrere Stunden am Stück entlasten konnte. Das passte Izzy sehr gut, denn er trieb sich nur zu gerne bei den Klonen herum. Oft schallte lautes Gelächter durch den Hof, und meistens war Izzy mittendrin. Später versuchte er Nathan Lee die Witze zu erklären. Oft drehten sie sich um sprechende Fische, fahrende Händler und Bauerntöchter, die ausnahmslos auf die eine oder andere Weise vor zweitausend Jahren existiert hatten. In regelmäßigen Abständen erhob sich Nathan Lee, um ein wenig herumzulaufen und seine Muskeln zu strecken. An diesem Morgen beschrieb Josua, ein schmächtiger Bursche mit langen Fingern und Zehen, seine Rolle bei einer großen Schlacht. Mordechai, ein hässlicher Kerl mit gewaltigen Ohren, prahlte wie jeden Tag damit, wie er einmal die Frau eines römischen Zenturio verführt hatte. Jedem, der es hören wollte, beschrieb er ihre runden Hüften und ihr ekstatisches Stöhnen in allen Einzelheiten. Micha versicherte sich wieder einmal seines Reichtums, einer großen Schafherde, die sich seiner Meinung nach inzwischen von fünfzig auf fünfhundert vergrößert haben musste. »War denn keiner von ihnen einfach nur ein Mörder oder Dieb?«, erkundigte sich Nathan Lee verwundert bei Izzy. »Ist dir das auch aufgefallen?«, raunte Izzy. »Ich habe 437
noch nie so viele Patrioten, Edelleute, politische Gefangene und Märtyrer des Glaubens auf einem Haufen gesehen.« Es war genau wie damals in Katmandu, ein brodelnder Kessel aus Dichtung und Wahrheit, Schande und Herrlichkeit. Nathans Lieblinge blieben jedoch die Einzelgänger, die sie von Anfang an gewesen waren. Sie benahmen sich so, als könnten sie mit den Prahlereien und der Briefeschreiberei nichts anfangen: standen am Feuer, verzehrten ihre Mahlzeiten, drehten ihre Hofrunden, redeten aber so gut wie nie. Zu ihnen gehörte auch der Ausreißer. Nathan Lees Meinung nach hatte er am meisten zu erzählen, denn er hatte einen Blick auf die Welt außerhalb ihres Gefängnisses erhascht. Doch bislang hatte er freiwillig nur seinen Namen verraten: Ben. Obwohl er nie über seine Flucht sprach, hatten die anderen Gefangenen sich zusammenreimen können, dass er einmal einen Versuch gewagt hatte. Es stand ihm unübersehbar in die Haut geschrieben. Flucht wurde zu einem beliebten Thema. Ihre Blicke huschten ständig an den Mauerkronen entlang. In Unkenntnis der Tatsache, dass Nathan Lee und Izzy eigentlich ihre Kerkermeister waren und der Hof mit Mikrofonen versehen war, unterhielten sie sich offen darüber, wie man am besten entwischen könnte. Nathan Lee fand heraus, dass im Schiffsbild von Johannes tiefe Mulden verborgen waren, die man als Halt für die Füße benutzen konnte. Eines Nachmittags ging eine kleine Delegation wie ein Häuflein Bittsteller auf Ben zu, und Nathan, neugierig geworden, schob sich näher. Sie sprachen den Mann voller Respekt mit maal-paa-naa oder »Meister« an. »Wie ist es dort draußen jenseits der Mauern?«, fragten sie ihn. »Dort gibt es eine Stadt. Eine Stadt aus Metall. Und eine Wildnis«, antwortete Ben kurz angebunden. 438
»Gibt es dort Wasser? Gibt es Wölfe?« »Es ist ein totes Land«, antwortete er. »Sogar die Bäume sind tot.« »Gibt es Dörfer?« »Alles tot.« »Wir bereiten etwas vor«, sagten sie verschwörerisch. »Was wollt ihr da draußen machen?« »Unsere Heimat suchen, was sonst?« Er schnaubte verächtlich. »Hilf uns, maal-paa-naa.« Er kehrte ihnen den Rücken und ging davon. Nathan Lee unterrichtete den Captain von den Fluchtgesprächen, nur für alle Fälle. Er wollte nicht, dass die Wachen überreagierten. »Das ist nur Gerede«, sagte er. »Sie vertrauen mir. Sollte es brenzlig werden, erfahre ich rechtzeitig davon. Dann können wir ihre Pläne vereiteln.« Der Captain gab sich nicht sonderlich alarmiert. »Schön, dass die Jungs mal ein bisschen Mumm zeigen«, meinte er. Auch Miranda kamen die Fluchtpläne zu Ohren. Eines Abends schnitt sie das Thema an, als sie auf dem Dach des Alpha Lab saßen. Die Stelle nahe am Rand war ihr kleines Refugium geworden, der Ort, an dem sie in trauter Zweisamkeit ein kurzes Picknick zu sich nehmen konnten, bevor sie wieder zur Arbeit zurückkehrten. Wenn man dort oben auf der alten, billigen Indianerdecke saß, die auf dem Kies ausgebreitet war, hatte man einen weiten Blick nach Westen, bis zum gegenüberliegenden Ende des Tals, und nach Norden hin, auf der anderen Seite der Brücke, zu den Lichtern von Los Alamos. Normalerweise nahmen sie alles Essbare mit, was ihnen auf dem Weg zur Treppe in 439
die Finger kam. Heute Abend aßen sie Äpfel und Erdnussbutter. »Wenn sie jetzt wirklich etwas durchziehen?«, fragte Miranda. »Du warst nicht hier, als Ben abgehauen ist. Die ganze Stadt war in heller Panik. Und er selbst hätte es fast nicht überlebt.« »Keine Bange. Ein einsamer Satz in die Freiheit ist eine Sache – eine Frage der Verzweiflung oder eine unerwartete Gelegenheit. Ein Ausbruch im großen Stil ist etwas völlig anderes. Es dauert sehr lange, bis so etwas Gestalt annimmt.« Er erzählte ihr von einer Gruppe Maoisten, die einen Ausbruch aus Badrighot, seinem Gefängnis in Katmandu, geplant hatten. »Sie planten und planten und planten«, sagte er. »Das ging monatelang so. Dann hatten die Verschwörer einen schlauen Plan ausgetüftelt. Aber der Plan war ohne Glauben sinnlos. Zunächst einmal muss man daran glauben, dass die Flucht möglich ist. Diese Maoisten haben sich jedoch nie von ihren geistigen Fesseln lösen können. Sie setzten ihren Plan niemals in die Tat um. Und die Klone werden es ebenso wenig schaffen.« »Vielleicht aber doch. Du möchtest, dass sie es schaffen.« »Es wird nicht geschehen.« »Was macht dich so fröhlich?«, fragte sie ihn. »Selbst wenn sie es schafften, würde sie draußen das Virus erledigen.« »Hast du nicht gesagt, dass ihr Immunsystem dem unseren überlegen ist«, erinnerte sie Nathan Lee. »Sie hätten immerhin drei Jahre.« »Sie wären dem Untergang geweiht. Drei Jahre, mehr 440
nicht.« Sie gab es auf. »Drei Jahre«, wiederholte Nathan Lee. »Das ist jede Menge Welt.« Sie runzelte die Stirn. »Sie der Seuche zu überlassen«, sagte sie, »wäre das Gleiche, als würden wir ihnen das Virus injizieren. Hier sind sie in Sicherheit.« »Ich rede nicht davon, sie freizulassen.« »Aber du denkst daran, ich sehe es dir doch an. Es käme ihrem Todesurteil gleich.« »Für sie«, erwiderte er, »wäre es ein ganzes Leben.« Sie blinzelte geduldig, als würde er durchs Haus und toben und sämtliche Fensterläden aufreißen und unnötig Licht hereinlassen. »Drei Jahre«, sagte sie. »Dann würden sie sterben. Keiner von ihnen würde überleben, das wissen wir mit Sicherheit. Ihre Klon-Zwillinge wurden dem Virus vor zwei und drei Jahren in den Labors im Südsektor ausgesetzt. Zuerst machten wir uns große Hoffnungen, denn sie schienen immun zu sein. Doch dann stellte sich heraus, dass sie lediglich gegen irgendeine gutartige Spielart geschützt waren, die um das Jahr Null herum unterwegs war. Das, was jetzt dort draußen sein Unwesen treibt, ist nicht gutartig. Nur hier sind sie sicher.« »Fürs Erste.« »Sobald wir ein Gegenmittel gefunden haben«, sagte sie, »haben sie ein ganzes Leben vor sich. Dreißig Jahre, vierzig oder sogar fünfzig.« Nathan Lee schmierte sich Erdnussbutter auf sein Apfelstück und biss ab. Sie glaubte felsenfest an ein Gegenmittel. Sobald – nicht falls. »Versetz dich doch mal an ihre Stelle«, sagte er. »So, wie sie jetzt leben müssen, würdest du bei drei Jahren jederzeit zugreifen. Und ich genauso.« 441
Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Wenn ich dir die Gewissheit von drei Jahren oder die Möglichkeit von dreißig anbieten würde, dann würdest du die drei nehmen?« »Hypothetisch gesprochen?« »Wie auch immer.« Er fühlte sich mutig, ließ sich von dem Gedanken davontragen. »Stell dir vor, was wir dort draußen alles sehen würden, Miranda.« »Wir?« Es war ihr nicht entgangen. Er ließ das Wort so stehen, sollte sie es nehmen, wie sie wollte. Es war eine Einladung, jedenfalls so weit er sich das bei ihr traute … und bei sich selbst. Er dachte immer an Grace, immer. Es ermüdete ihn, und dieser Überdruss kam ihm wie der schlimmste Verrat vor. Seine Aufgabe war zu einem Fluch geworden, seine Liebe eine Krankheit, schlimmer noch, etwas Abstraktes. Er liebte seine Tochter, weil sie da war, damit er sie liebte. Jetzt konnte er nicht mehr weiter, ob mit ihr oder ohne sie. Manchmal konnte er kaum atmen. Auf diese Weise von Freiheit zu reden kam ihm gefährlich vor. Er befürchtete nichts mehr, als dass sein Herz sich veränderte … wer würde er dann sein? Andererseits: Wie war es möglich, nicht zu träumen? Nachdem er sich nicht weiter ausließ, sagte Miranda: »Dann würdest du es also tatsächlich tun? Davonlaufen?« »So würde ich es nicht nennen.« Dann fügte er plötzlich hinzu: »Bist du jemals in Paris gewesen?« »In Paris?« »Es würde uns ganz allein gehören«, redete er hastig 442
weiter. »Oder Barcelona, oder Wien. Die Alpen im Sommer. Oder Syrien, ich kenne mich in den Ruinen dort aus. Und Petra, es ist unglaublich … das Licht um die Mittagszeit … die Klippen färben sich ganz rot.« »Versuchst du gerade, mich zu verführen?« Sie klang streng. Analytisch. Eilig ruderte er zurück. »Du hast doch gesagt, wir reden nur hypothetisch.« »Nein, hab ich nicht.« »Doch.« »Du hast das gesagt.« Sie war ernst, nicht neckisch. Er hatte es verpatzt. »Ich bringe mir das Fliegen bei«, behauptete er und ließ den Plural unter den Tisch fallen. »Ich habe mir Bücher aus der Bücherei besorgt. Es gibt Software, die einen Schritt für Schritt an der Hand nimmt. Ein kleiner Starrflügler. So könnte es klappen, immer von einem Flugplatz zum anderen hüpfen.« Vor seinem geistigen Auge hatte er sich durch die gewaltigen Ruinen schweben sehen, wie er tief in den Schluchten von New York City dahinglitt, dann der Satz über den Atlantik, wie er überall Beute machte, fantastische Schätze sammelte, alles erforschte. »Paris müsste jetzt wie Angkor Wat aussehen«, meinte er. »Der Louvre ist bestimmt total bemoost. Man könnte auf den griechischen Inseln am Strand zelten.« Sie runzelte die Stirn. Er korrigierte sich sofort. »Man könnte oben auf den Pyramiden schlafen. Ich könnte überall hin, wohin ich wollte.« Er hatte bereits einige Erfahrungen gemacht, was das Reisen durch das Land der Toten anging. Wenn er es geschickt anstellte, könnte er es einmal um den ganzen Pla443
neten schaffen. Die Welt würde ihn verschlingen, aber nicht bevor er sie verschlungen hatte. »Willst du weg?«, fragte sie. »Nenn es einen Traum«, antwortete er. Zur Abwechslung mal jemanden zu lieben, der noch lebte, oder zumindest jemanden, der erreichbar war. Er überholte seine Schuldgefühle, wollte sie hinter sich lassen. Es war eine Frage des Elans. Wenn er anhielt, um über seine Gedanken nachzudenken, würgte er den Motor ab. »Das kannst du nicht tun«, sagte sie. Sein Herz machte einen Satz. Streckte sie die Hand nach ihm aus? »Mich würde nicht mal jemand vermissen.« Ein Versuch, immerhin. »Was ist mit der Stadt?« Seine Selbstzweifel hielten ihn zurück. Er hatte sie es noch nie auf diese Weise sagen hören, als hinge das Wohl dieses Ortes allein von ihr ab. »Los Alamos?« »Ja«, nickte sie. »Wir brauchen jeden hier. Es ist alles hier.« »Alles was?« »Alles.« Sie fuhr mit der Hand durch die Luft. »Die Erlösung.« Sie meinte es todernst. »Ich dachte, du würdest so etwas sagen wie: das Ende der Zivilisation«, neckte er sie. »Das auch«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. »Wenn alle anderen Städte tot sind, dann sind wir die letzte.« »Ich finde, das ist ein schöner Spruch für den Grabstein«, meinte er. Er wollte eine letzte große Expedition durch die Ruinen unternehmen. Und sie wollte die Zivilisation bis zum letzten Atemzug erhalten. Er fühlte sich 444
einsam, und er sehnte sich nach ihr. »Verstehst du das denn nicht?«, fragte sie. »Die Überlebenden werden hierher kommen.« »Ach, die«, sagte er. Die Missing Links. »Die Satelliten-Teams haben inzwischen über siebenhundert Nachweise für Überlebende verzeichnet. Meistens Lagerfeuer, aber auch Autoscheinwerfer und Wärmebilder von Motoren. Sie sind dort draußen, drehen ihre Runden, bleiben am Leben.« Und erben die Erde, dachte Nathan Lee. Genau das, was ich will. »Sie leben alle jenseits des Ozeans«, rief er ihr in Erinnerung. »Sie schaffen es niemals bis hierher. Sie wissen nicht einmal, dass es uns gibt.« »Es gibt bestimmt auch Überlebende in Amerika.« Und leise fügte sie hinzu: »Sobald Amerika gestorben ist. Die Krankheit sortiert sie aus.« »Wie kommst du darauf, dass sie ausgerechnet hierher kommen?« Sie zeigte auf die Straßenlaternen. »Sie sehen uns von weit weg.« »Aber wer werden sie sein, diese Überlebenden?« »Womöglich unsere letzte Hoffnung«, antwortete sie. Es war wie ein Mantra. »Es ist gut möglich, dass sie Antikörper gegen das moderne Korfu entwickelt haben …« »Nein«, unterbrach er sie. »Ich meine: Wer wird das sein?« Sie war verwirrt. »Amerikaner. Wahrscheinlich Menschen von diesem Kontinent, vielleicht auch Migranten, die über Kanada hierher nach Süden wandern …« »Nimm dich vor deinen Wünschen in Acht«, sagte er. »Du willst sie als Lämmer sehen. Was aber, wenn sie sich als Wölfe entpuppen?« 445
Sie gab ihm keine Antwort. »Ich habe keine Ahnung, was da draußen vor sich geht.« Sie wandte den Blick von ihm ab und ließ ihn über ihre geliebte Stadt schweifen. »Vielleicht solltest du Angst davor haben«, sagte er. Sie erhob sich. »Ich hätte anderes von dir erwartet«, sagte sie. Er lauschte ihren Schritten, die auf dem Kies knirschten. Die Tür fiel hinter ihr zu. Nachdem sie weg war, saß er noch eine Weile am Dachrand und fragte sich, was, abgesehen von seinem Verlangen, überhaupt noch wirklich war. Eine Stunde später erreichte er schwer atmend die Außenbezirke des Südsektors. Er kam oft hierher, immer auf diese Weise, heimlich, zwischen den Bäumen hindurch, im Schutz der Nacht. Es war kalt, aber der kurze Sprint hatte ihn aufgewärmt. Der Südsektor ruhte wie immer wie eine Insel des Lichts auf der anderen Seite des Waldes. Für einen Ort mit einem so finsteren Ruf war er schamlos hell erleuchtet. Grelle Scheinwerfer strahlten, der Zaun glänzte wie eine silbrige Mauer. Es hatte sich zu einem regelrechten Ritual entwickelt. Der Südsektor beherbergte Ochs, Ochs bewahrte das Geheimnis von Grace. Nathan Lee besaß den Drahtschneider und das Messer, um sie herauszuschneiden. Aber nicht den Mut. Es war mehr als das. Er hatte die Orientierung verloren. Die Welt war ihm noch nie so unermesslich groß vorgekommen. Was, wenn Ochs lediglich eine Entschuldigung dafür war, sich zu verlieren? Was, wenn Grace überhaupt nicht mehr existierte? Er kämpfte gegen seine Zweifel an. Nathan Lee schob sich zwischen den Bäumen hindurch. Über dem funkelnden Deich des dreifachen Zaunes erho446
ben sich die Spitzen versprengter Gebäudekomplexe. Er schlich näher heran. Das Gelände schrumpfte um ihn herum zusammen, bis er nur noch Wachtürme, Stacheldrahtrollen und Warnschilder sah. Der geräumte Erdboden strahlte weiß. In diesem Niemandsland gab es keine Grauzonen. Hier waren keine Schatten geduldet. So war es immer. Die Klone wollten raus. Er wollte rein. Sie würden ihn erwischen, so viel war sicher. Die Lichtung war markiert. Sie war vermint, außerdem gab es Sensoren, Kameras und Patrouillen. Trotzdem wäre er vielleicht ins Licht getreten, aber er traute seinem Schicksal nicht. »Nathan Lee.« Er achtete nicht auf das Flüstern. Es war der Wald. Der Wind. Die Stimme flüsterte wieder. Diesmal duckte er sich und drehte sich um. Miranda. Sie bewegte sich kaum merklich vor dem Hintergrund aus Sträuchern und Bäumen; die Schatten schraffierten sie. Ihre Augen waren grüne Lichter in der Dunkelheit. Sie war ihm gefolgt. Er war bestürzt, nicht nur über seine Unaufmerksamkeit, sondern auch über ihre Lautlosigkeit. Tagsüber musste man immer rennen, um mit ihr Schritt zu halten. Wo hatte sie gelernt, sich in der Nacht zu bewegen? Hier gab es keinen Weg. Er selbst wusste vom einen zum anderen Mal nicht genau, welche Route er nehmen würde. »Was machst du da?«, flüsterte er. Der Wald veränderte sie. Es war Miranda, aber anders. Sie wich zurück, weiter in die Dunkelheit. Sie bewegte sich selbstsicher. Ein Zweig knackte unter seinem Fuß. Er 447
verlor sie aus den Augen. Sie bewegte sich, er fand sie wieder. Schatten flossen wie Wasser von den Bäumen herab. Er folgte ihr, immer weiter vom Südsektor weg. Der Schein der Lampen schwand. Sie ging langsamer. Sie blieb nicht stehen, ließ ihn nur ein wenig aufholen, blieb im Gitterwerk der Schatten in Bewegung. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte er. Sie winkte ab. Er war leicht zu verfolgen. Außerdem machte sie so etwas nicht zum ersten Mal. Es verunsicherte ihn. Sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er sich an der Lichtergrenze herumdrückte. Er kam sich dumm vor. »Ich komme hierher, um nachzudenken«, sagte er. Sie wollte einfach nicht stehen bleiben. Sie schritt auf und ab. Er musste immer wieder Haken schlagen, um ihr zu folgen. »Warum willst du dich wegwerfen?«, fragte sie. »Tu ich doch nicht.« »Du hast es aber vor.« »Was ich so vorhabe«, schnaubte er verbittert. »Alles was ich will, kann ich nicht haben. Ich tu nur so.« »Das ist Unsinn.« Sie war wütend. Stieß ihn mit der Hand vor die Brust. Er stolperte. Sie wollte ihn noch einmal schubsen, doch diesmal erwischte Nathan Lee ihr Handgelenk. Es kam ihm vor, als fiele er, als klammerte er sich fest, als ob es um Leben oder Tod ginge. Miranda hätte sich aus seinem Griff losreißen können. Stattdessen zog sie zwar, befreite sich aber nicht. Sie zog ihn hoch. Später machten sie ein Spiel daraus, bei dem jeder den anderen beschuldigte, den ersten Kuss gestohlen zu haben. Dann wiederum erhoben sie abwechselnd Anspruch dar448
auf. Dann fingen sie wieder ganz von vorne an, erzählten wieder und immer wieder, wie alles mit ihnen angefangen hatte, bis dieser Anfang schließlich in ihren ureigenen Mythos verwoben war. So wie alle Liebenden die Welt um sich herum völlig neu erschaffen. Mit dem einzigen Unterschied, dass manche weniger Zeit dazu haben als andere. Also beeilten sie sich, denn sie hatten viel aufzuholen.
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27 Golgatha OKTOBER
Eines Nachts schlich jemand in den Hof und hängte ein Kruzifix an eine Astgabel des Baumes. Als Nathan Lee am nächsten Morgen eintraf, war der Hof leer. Der Schaden war angerichtet. Izzy stand neben dem Baum. »Die Klone haben nur einen Blick darauf geworfen und sind dann Hals über Kopf zur Tür gerannt«, informierte ihn Izzy. »Jetzt wollen sie nicht mehr rauskommen.« Nathan pflückte das Kruzifix vom Baum. Die kleine Figur hatte die Arme weit ausgebreitet. Der Übeltäter war Katholik oder hatte das Kreuz zumindest von einem Katholiken gestohlen. Protestanten beteten leere Kreuze an – die Verwandlung, nicht das Leiden. »Wer macht sich denn solche Mühe?« Er hielt den Gegenstand in der Hand und überlegte. »Und warum?« »Vielleicht war es als Geschenk gedacht«, sagte Izzy. »Oder als Dank für ihr Vaterunser, um eine gewisse Solidarität auszudrücken. Zwischen modernem und primitivem Christentum. Vielleicht steckt überhaupt kein böser Wille dahinter.« Er konnte kaum an etwas anderes als an Miranda denken, an ihren schlanken Körper, ihre grünen Augen. Er wollte nicht dabei gestört werden. Schließlich warf er das Kruzifix ins Feuer. »Und jetzt?« 450
»Erklären wir es ihnen einfach«, flachste Izzy. »Jungs, wir haben aus einem ans Kreuz genagelten Leichnam eine ganze Religion gemacht.« Schon früher hatten sie darüber diskutiert, doch nicht einmal die frühesten Christen in der Gruppe wollten es ihnen abkaufen. Die Verehrung des Kreuzes hatte sich erst viele Jahrhunderte nach der Entstehung der ersten Kirchengemeinden entwickelt. Zuerst musste die Praxis aus der Mode kommen, bevor die Verehrung einsetzen konnte. »Sie halten es für ein Omen kommender Ereignisse«, sagte Izzy. »Wenn sie überhaupt jemals Zweifel hatten, dann sind sie jetzt dahin. Hier ist die Hölle. Sie befinden sich in den Händen von Dämonen.« Die Welt des Übernatürlichen war für sie absolut präsent. Nathan Lee hatte es immer wieder aus den Berichten aus ihrer Heimat herausgehört. Dämonen wurden für alles Mögliche verantwortlich gemacht, für die kalte Luft, für seltsame Geräusche auf der anderen Seite der Mauer, für ihre Gefangenschaft und Stimmen aus den Sprechanlagen, für die Anfälle von Depression und Wut. Es war etwas, das sie an- und abstellen konnten. Es gab eine Theorie, die besagte, dass sich das Bewusstsein, die Vorstellung des Selbst, erst vor zwei- oder dreitausend Jahren entwickelt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war das menschliche Gehirn noch nicht in der Lage, zwischen Selbst und Sein zu unterscheiden. Die Klone aus dem Jahr Null machten einen Spagat über diesem psychologischen Abgrund. Für sie – zumindest für die meisten von ihnen – gab es überall Dämonen. Die Bibel sprach von go’el oder Schutzgeistern. Träume waren alternative Wirklichkeiten, ihre innersten Gedanken die Stimmen unsichtbarer Wesen. Damals – einhundert Generationen vorher – war es möglich, dass Menschen einen brennenden Busch sahen und darin die Stimme Gottes zu verneh451
men glaubten. »Wir fangen noch einmal an«, entschied Nathan Lee. »Warum?«, fragte Izzy. »Warum sollen sie das alles noch einmal durchmachen? Vielleicht sind sie besser dran, wenn sie in ihren Zellen hocken bleiben.« »Nein«, erwiderte Nathan Lee. »Bestimmt nicht.« Sie versuchten mit gutem Beispiel voranzugehen, indem sie an den offenen Zellentüren der Klone vorbeispazierten. »Seht ihr?«, rief ihnen Izzy zu. »Es passiert nichts.« Die Männer blieben stur. »Nein. Die Dämonen warten auf uns.« Gegen Abend, als die Schatten violett wurden, trat Ben in den Hof hinaus. Nathan Lee hockte am Feuer. Eine Kaltfront zog gerade durch. Der Hof sah mit seinen rauchgeschwärzten Mauern kahl und freudlos aus, wie eine Arena. Blätter wirbelten im Kreis herum. Ben baute sich vor ihm auf. »Wo ist dieses Ding?«, wollte er wissen. Er meinte das Kreuz. Zwischen den Kiefernscheiten stiegen Funken auf. »Im Feuer«, antwortete Nathan Lee. Ein Teil davon war in den Schmutz gefallen. Er stieß es mit einem Stecken an. »Da.« »Warum hast du keine Angst?« Nathan suchte nach Worten, die zu seiner Rolle als Schriftgelehrtem passten. »Gott schreibt unser Leben.« »Wenn wir es Ihm erlauben«, sagte Ben. Vielleicht sagte er auch so etwas wie »Nicht, wenn wir es Ihm nicht erlauben.« Nathan Lee sprach immer noch sehr beschränkt Aramäisch. Ben blieb eine Weile so stehen, dann kauerte er sich neben Nathan Lee an den Rand der Feuergrube, suchte sich ebenfalls einen Stock und stocherte damit in der Glut und in den Flammen herum. Izzy tauchte im Eingang auf und kam eilig mit flappen452
den Sandalen herüber. »Da seid ihr«, sagte er. »Genau. Hier sind wir«, antwortete Nathan Lee. Er signalisierte Izzy mit Blicken, dass er sich zu ihnen setzen sollte. Izzy postierte sich auf der anderen Seite. Ben zeigte mit dem Stock auf Nathan Lees fehlende Zehen. »Es heißt, du hast versucht zu fliehen«, sagte er. »So wie du.« Nathan Lee zeigte mit seinem Stock auf Bens Wunden und seine fehlende Ohrspitze. Ben grunzte. »Wir sind uns ähnlich, glaube ich.« Die Nähte in seinem zusammengeflickten Gesicht waren lila von der Kälte oder vom Feuer. Sie zogen sich wie Ranken über seine Haut. »Zwei gut aussehende Männer, hm?«, sagte Nathan Lee. Ben grunzte wieder. »Das wird’s wohl sein.« Izzy blickte von einem zum anderen und versuchte, dem Gespräch zu folgen, um bei Bedarf einzugreifen. Es folgte einem bestimmten Rhythmus. Er wartete. »Ich sehe, wie du zuhörst. Immer wieder zuhörst«, fuhr Ben fort. Er schnappte nach den Funken, als wären es Insekten. »Einst war ich das. Hab mein Netz in die Luft geworfen und Geschichten aus dem Wind geangelt.« Nathan Lee sagte nichts. Er ließ Ben Zeit. Er war es, der Nathan Lee aus irgendeinem Grund aufgesucht hatte. »Auch ich habe Geschichten gesammelt«, sagte er. »Von Männern wie diesen.« »Unseren armen Brüdern?«, fragte Nathan Lee. Bens Augen glitzerten. »Von verdammten Männern«, sagte er. »Männern an ihren Bäumen.« Das Kruzifix. »Ich ging früh fort von meiner Familie, auf Wander453
schaft«, sagte Ben. »Du weißt, wie junge Männer sind. Voller Fragen, ungeduldig. Sie wollen Antworten von der Welt.« »Frag ihn«, sagte Nathan Lee auf Englisch, »wohin er gegangen ist.« Höchste Zeit, Izzy ins Spiel zu bringen. Er wollte die Geschichte auf keinen Fall verpassen. Izzy machte sich durchsichtig. Er hatte sich zum idealen Übersetzer entwickelt. Ihre Worte flossen durch ihn. »Ich streifte am Fluss entlang«, sagte Ben. »Immer weiter Richtung Süden, zum Toten Meer. Ich brauchte Jahre. Unterwegs hielt ich mich hier und dort eine Woche auf, oder einen Monat, manchmal allein, manchmal arbeitete ich in einem Dorf. Viele Leute waren wie ich zu Fuß unterwegs, gingen hierhin und dahin. Manchmal schloss ich mich dieser oder jener Gruppe an. Ich lernte bei den Pharisäern und bei den Sadduzäern, bei Ketzern und bei Heiden. Ich habe Zauberkunst gesehen, umherziehende Stoiker haben ihr Lagerfeuer mit mir geteilt. Eine Kolonie Essener nahm mich bei sich auf, sie gaben mir zu essen und lehrten mich Lesen und Schreiben. Als drei Jahre vorüber waren, verließ ich sie. Mein Lehrer wollte, dass ich bleibe. Er war wütend, und nicht ohne Grund, wie ich vermute. Aber ich musste meinen eigenen Weg finden.« Er verstummte. Nathan Lee warf noch ein Scheit ins Feuer und stocherte so lange herum, bis es aufloderte. »Welchen Weg?« »Durch den ödesten Ort, den ich finden konnte. Durch die Wüste«, antwortete Ben, klopfte jedoch auf sein Herz. »Es war ein gefährlicher Ort, voller Banditen, Propheten und wilden Tieren. Ich dachte, ein so nacktes Land kann die Wahrheit unmöglich verbergen. Aber ich fand keine Antworten. So stieg ich aus dem Tal herauf und begab mich hinauf ins Land der Verdammten.« 454
Izzy redete leise zu Ende. Sie warteten auf mehr. Als Ben weiterredete, bedurfte es keiner Übersetzung. »Golgatha«, sagte er. Nathan Lee spürte das Blut in seinen Adern rauschen. Er blickte an den Mauern empor und sah, dass sämtliche Kameras auf sie gerichtet waren: drei Männer, die um eine Feuerstelle hockten, die sich in einen Parkplatz gebrannt hatte. »Bist du dort gewesen?«, fragte Ben leichthin. Nathan sah ihm in die Augen. »Vor langer Zeit.« Weitere Einzelheiten verkniff er sich. Ben fuhr fort: »Ich ließ mich dort nieder.« »In Jerusalem?« »Nein«, sagte Ben. »In dem Garten. Unter den Bäumen.« Golgatha? Nathan Lee lauschte aufmerksam, den Blick ins Feuer gerichtet. Was erzählte Ben ihm da? »Ein ganzes Jahr wohnte ich dort. Ich schlief in leeren Gräbern, die bereits ausgemeißelt waren und auf ihre reichen Bewohner warteten. Immer wenn eines besetzt wurde, suchte ich mir ein anderes.« »Du hast in Gräbern geschlafen?« »Draußen konnte man schlecht bleiben. Es war kalt, außerdem gab es Hunde. Ich habe gelernt, mir vor dem Schlafen immer ein paar Steine bereitzulegen.« »Um damit die Hunde zu verjagen?«, fragte Nathan. Er musste an Asien denken. Ben nickte. »Und die Frauen. Die Witwen und Mütter der Gekreuzigten. Sie waren von Dämonen besessen und streiften die ganze Nacht umher. Sogar die Soldaten fürchteten sich vor ihnen.« In den Flammen fanden sich Bilder. Harz zischte und 455
knackte. »Es war auch eine andere Art von Wildnis«, sagte Ben. Er sprach stoßweise. »Ein Stück weiter erhoben sich die Mauern von Jerusalem. Aber das kennst du ja.« Er verstummte. »Nicht so, wie du es erzählst«, raunte Nathan Lee. Ben grunzte und schnippte ins Feuer. »Am Abend hörte man weinende Kinder und Leute, die sich unterhielten und lachten. Der Geruch von Essen wehte über die Mauern herüber. Man konnte zwar die Herdfeuer und Lampen nicht sehen, aber sie warfen ihren Schein gen Himmel, golden wie Butter. Die Gekreuzigten dachten, sie träumten. Aber natürlich träumten sie nicht. Schlafen bedeutete den Tod.« Er meinte es wortwörtlich so. Was es hieß, am Kreuz zu sterben, war im Nebel der Zeit verloren gegangen. In den Jahrhunderten, nachdem Kreuzigung aus der Mode gekommen war, fingen Künstler damit an, Christus in heldenhaften Posen und mit einem Nagel durch jede Handfläche darzustellen. Selbst nachdem Leonardo da Vinci mit Leichen experimentiert und herausgefunden hatte, dass das Gewicht des menschlichen Körpers die Handflächen ausgerissen hätte, blieb der Nagel durch die Hand eine weit verbreitete Vorstellung. Auf die gleiche Art und Weise waren die Leute, verführt von Künstlern und den Priestern mit ihren Geschichten, davon überzeugt, dass man am Kreuz durch Blutverlust, an den Folgen der Folter oder sogar an gebrochenem Herzen starb. Erst als ein Arzt im zwanzigsten Jahrhundert eine medizinische Rekonstruktion durchführte, wurde man sich allgemein darüber bewusst, dass der Tod am Kreuz durch Ersticken eintrat. Sobald die Beine nachgeben und man nur noch an den Armen hängt, ist das Zwerchfell schnell überbelastet – und 456
man erstickt. »Wenn der Mond aufging«, fuhr Ben fort, »waren ihre Silhouetten wie ein Wald. Ich erinnere mich daran, wie Blitze über dem fernen Meer spielten. Ich erinnere mich an einen Hund, der sich seinem Herrn zu Füßen legte, seinen Leichnam bewachte und dabei verhungerte. Manchmal sangen sie einander an ihren Kreuzen etwas vor. Alte Dorfweisen oder Psalmen. Das war manchmal sehr schön.« Er hielt abermals inne und blinzelte ins Feuer, als blickte er in ein tiefes Loch. »Warum?«, fragte Nathan Lee. Ben fuhr erschrocken zusammen. »Warum hast du bei den Toten gewohnt?« Nathan Lee hatte bereits eine Vermutung. Er hatte die brennenden ghats entlang der Flüsse in Indien und Nepal gesehen. Lange vor Siddharta schon hatten sich Asketen wie Geier um die Kranken, Sterbenden und Toten versammelt, um über die Vergänglichkeit und das Leid zu meditieren. Vor zweitausend Jahren reisten nicht nur Gewürze und Seide auf den Handelsstraßen, sondern auch Philosophien. »Nicht bei den Toten«, korrigierte ihn Ben. »Bei den Sterbenden. Jeden Morgen stieg die Sonne aus der Wüste hinter der Kuppe des Ölbergs herauf.« Seine Hand malte einen Bogen in die Luft. »Dann begab auch ich mich auf meine Runde. Ich ging von einem Kreuz zum anderen und zu den Bäumen, an die sie gefesselt und genagelt waren. Ich sprach mit den Sterbenden. Manchmal lebten sie tagelang an ihrem Stück Holz weiter. Ein kräftiger Mann konnte es eine ganze Woche dort oben aushalten. Ich saß zu ihren Füßen, und wir unterhielten uns, so wie wir beide jetzt. 457
Sie erzählten mir alles: über ihre Familien, über ihre Ernte, ihre Tiere, ihre Fehler und Triumphe, über das Wetter, ihr erstes Mal mit einer Frau, wie viele Schekel oder Dinare ihnen ihre Nachbarn noch schuldeten oder umgekehrt. Was für ein Segen, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schob. Sie sprachen von Schwäche, von Versuchung und vom Bösen. Und sie sprachen von ihren Hoffnungen.« »Hoffnungen?« »Ja. Selbst als sie in der unerbittlichen Sonne vertrockneten, klammerten sie sich an ihre Hoffnungen. Sie sprachen von der Zukunft. Von ihren Plänen. Wie sie ihre Felder besser bestellen oder ein neues Zimmer an ihr Haus anbauen würden. Dass es ihren Söhnen einmal besser ginge. Wie hübsch ihre Töchter würden. Ich besuchte sie den ganzen Tag über, immer wieder. Wenn sie kurz vor dem Ende waren, stellte ich mich auf einen Stein und sah in ihre Augen.« Er hielt einen Finger wenige Zentimeter vor sein Gesicht und starrte ihn an. »In Gräbern schlafen«, murmelte Izzy auf Englisch. »Sich mit sterbenden Gefangenen abgeben. Der Kerl hat ihre Todeserfahrung gesucht. Als Trittbrettfahrer.« »Lass ihn reden«, sagte Nathan Lee. In diesem Augenblick brannte ein Scheit durch und ließ die anderen in einem Funkenregen in sich zusammenfallen. Die abendliche Kühle drängte sich sofort näher an ihre Rücken. Die Männer legten mehr Holz nach. Nathan Lee ging in die Hocke, spitzte die Lippen und blies in die Glut. Die Flammen sprangen sofort wieder auf. Auch Ben ließ sich wieder auf seinem Platz nieder. Nathan setzte sich neben ihn. Einige Minuten vergingen, bis die Unterhaltung wieder in Gang kam. »Es ist, als sähe man einem Mann dabei zu, wie er ein 458
Feuer baut«, kommentierte Ben. Er besaß die Gabe der Geschichtenerzähler, alles ringsum mit einzubeziehen, in diesem Falle ihr Feuer. »Seine Reise am Kreuz. Zuerst gibt es Rauch, deine Augen brennen. Dann stellen sich Hitze und Licht ein. Und am Ende hebt sich der Rauch.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Nathan Lee. »Zuerst wehrt man sich«, sagte Ben. »Man kämpft dagegen an. Das dauert sehr lange. Aber gegen Ende zeigen sich Lücken im Schmerz, und Klarheit stellt sich ein. Nach all der Gewalt gibt es Frieden. Gott macht sich bemerkbar.« »Hast du das in ihren Augen gesehen?« »Ja. Genau wie in den Augen eines Neugeborenen. Gott.« Hoch oben im Baum raschelte etwas. Ein Vogel, der sich in einem von Joabs Netzen verfangen hatte. Am Morgen würde Gott einen richtigen Leckerbissen vorfinden. »Diese sterbenden Männer«, hakte Nathan Lee nach, »was hielten sie von dir?« »Einige haben mich verflucht, andere flehten mich an zu bleiben. Es ist sehr einsam da am Kreuz. Sie belegten mich mit vielen Namen. Für sie war ich ihr Freund und ihr Feind, ein Diener Gottes und auch der Teufel. Sie nannten mich Bruder und Sohn und Vater und rru-bee.« »Hast du dich selbst so gesehen? Als Rabbi?« »Nein. Ich war der Schüler. Sie waren meine Lehrer.« »Warst du dort, um sie zu retten?«, drängte Nathan weiter. »Einige von ihnen fragten mich das auch.« »Warum hast du sie dann gequält?« 459
»Warum quält ihr uns?« Bens Ton war nicht feindselig. Nur gerissen. Er weiß, was wir sind, dachte Nathan Lee. Er war draußen bei uns. »Um zu lernen«, sagte er. Ben verzog sein Gesicht zu einem schauerlichen Lächeln. »Siehst du, wir sind uns ähnlich. Wir suchen nach dem roten Faden, dem Stoff, der Könige und Diebe und Kleinkinder und Sterbende verbindet.« Ben rührte mit seinem Stock in den Flammen herum, als wollte er flüchtige Worte aufstöbern. »Haben dich die Soldaten nicht vertrieben?«, erkundigte sich Nathan Lee. »Manchmal schon. Meistens waren sie allerdings froh, dass ich da war, denn auch für sie konnte es sehr einsam sein. Sie waren ja weit weg von zu Hause. Andere brauchten eher einen Zeugen für ihre Grausamkeit. Oder für ihre Güte. Doch, die Soldaten konnten mitfühlend sein. Gegen ein gewisses Entgelt mischten sie Galle mit Wasser und reichten das Gift in einem Schwamm auf einem Stock. Manche machten es auch ohne Bezahlung. Oder sie brachen den Männern die Beine, bevor das Leiden sich allzu lang dahinzog. Oder sie schnitten die Knie mit dem Messer durch.« Er fuhr mit der Handkante quer über die Sehne von Nathan Lees Knie. »Danach kann man nicht mehr stehen. Es dauert vielleicht noch eine Stunde bis zum Tod, aber damit blieben ihnen lange Tage und Nächte erspart. Das mit dem Nagel in den Füßen haben sich die Maler ja auch erst später ausgedacht.« »Hast auch du solche Gnadenakte an den Sterbenden vollbracht?«, fragte Nathan Lee unbeirrt weiter. »Galle. Und das Messer.« War es etwa das, was hier gerade ablief? Eine Beichte? War er ein Todesengel gewesen? 460
Im Flackern des Feuers sah es aus, als kröchen die Narben über Bens Gesicht. »Nein. Dazu hatte ich zu viel Angst. Die Soldaten hätten mich ebenfalls ans Kreuz genagelt. Diese Menschen waren das Eigentum des Imperators.« »Aber du hast geholfen, sie zu begraben?« »Nein, auch das nicht. Man ließ sie einfach hängen. Oder sie wurden abgenommen und in einen Steinbruch geworfen. Als Fraß für die Vögel und die Fliegen und die wilden Tiere. Sogar ihre Namen wurden vertilgt.« »Aber manche Leichname wurden doch begraben.« »Nur wenige. An einen kann ich mich erinnern. Seine Familie hat die Soldaten bestochen. Die Leiche wurde in der Nacht abgenommen. Sie mussten sich beeilen. Die Leiche eines Sklaven wurde ausgegraben und an seiner Stelle am Kreuz befestigt, sonst wären die Soldaten selbst gekreuzigt worden. Ich war damals noch nicht lange auf Golgatha. Es schockierte mich, es kam mir ungerecht vor. Selbst im Tod war den Armen kein Platz auf dieser Welt vergönnt.« »Kanntest du einen Mann, der m-shee-haa genannt wurde?«, schaltete sich Izzy ein. Nathan Lee war über die abrupte Frage und die Ernsthaftigkeit, mit der sie gestellt wurde, erstaunt. Aber dann merkte er, dass Izzy dem Mann eine Falle stellen wollte. »Ja«, antwortete Ben. »Hast du ihn gesehen?« »Es gab dort mehr als nur einen Messias.« Izzy lachte erleichtert. Ben sah keinesfalls beleidigt aus. Im Gegenteil, Izzys Heiterkeit schien ihn zu amüsieren. »Was hast du nach deinem Jahr auf Golgatha gemacht?«, fragte Nathan Lee. 461
»Ich bin weggegangen.« »Aber du bist wieder zurückgekommen?« »Nicht in den folgenden zehn Jahren.« »Warum? Warum solltest du wieder an diesen Ort zurückkehren?« »Ja – warum?« Ben fuhr mit den Fingern durch die Flammen. Nathan Lee warf Izzy einen Blick zu. Izzy sah misstrauisch aus, fast zynisch. Er glaubte nicht an diesen MessiasUnsinn. Ben wartete eine volle Minute mit seiner Antwort. Nathan Lee drängte ihn nicht. Von ihm aus konnten sie es dabei belassen. Er glaubte ebenfalls nicht daran. Dann redete Ben weiter: »Ich ging weg, zog durch das Land. Ich dachte, ich müsste nie mehr zurück nach Jerusalem. Aber das Land schrumpfte. Meine Wege führten mich im Kreis. Ich weiß auch nicht, wie es passierte. Meine Augen waren weit offen. Meine Füße gehorchten nur mir. Und doch fand ich mich eines schönen Tages dort wieder. Und diesmal gaben sie mir meinen eigenen Baum.« Mit diesen nüchternen Worten beendete er seine Geschichte und erhob sich, machte einen Bogen um das Feuer und wollte nach drinnen gehen. »War es so, wie du es erwartet hast?«, wollte Nathan von ihm wissen. Klarheit. Frieden. Gott. »Nein. Überhaupt nicht«, antwortete Ben. »Ich schaute von dort oben aus um mich, und die Welt war so wunderschön.« Er sah Nathan durch die Flammen an. »Ich wollte sie nie verlassen.«
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28 Offenbarung OKTOBER
Eine nachmittägliche Sturmbö sprang vom Tal herauf und peitschte die Mesa, ein Sturm wie eigens für Liebende geschaffen. Der Regen trieb die Vögel zu ihren Nistplätzen, die Menschen flüchteten von den Straßen. Blitze zuckten über den Himmel, Donner grollte. Hagel prasselte gegen ihr Schlafzimmerfenster. Nathan Lee und Miranda nahmen es kaum wahr. Es kam ihnen vor, als tauchten sie kaum noch aus ihrem Haus an die Oberfläche der Wirklichkeit empor. Das Alpha Lab war kaum mehr als ein Zwischenspiel, um kurz Atem zu holen. Dann fanden sie auch schon wieder hier zusammen. Das Gewitter hielt Schritt mit ihnen. Sie waren gemeinsam fertig, der Regen und die beiden Liebenden. Bald zeigte sich die Sonne wieder und goss Farbe über die weite Landschaft. Die Nacht ließ sich Zeit. Sie ruhten einer in des anderen Armen und schauten aus dem Fenster, unterhielten sich leise, nur so viel, um Gerüche einzuatmen und Gedanken auszutauschen. Auf See war der Sonnenuntergang, wie er beobachtet hatte, wie ein Lichtschalter, erst an, dann aus. Aber hier in den Bergen verweilte das Licht. Die Farben rannen und tropften wie kalter Honig. Unter der Decke reisten ihre Hände von hier nach dort, ziellos und ohne Hast, prägten sich die Merkmale selbst463
ständig ein, die Form einer Hüfte, die haarigen Stellen, die Vertiefungen und die Hügel. Finger legten Meilen entlang Wirbelsäulen zurück, hinauf und hinunter. Sie hatten sich miteinander davongemacht. Das verbotene Land gehörte ihnen allein. Keiner von ihnen hatte Zeit dafür. Sie hatten darüber geredet. Vieles andere war weitaus wichtiger. Zwischen ihnen klafften zehn Jahre Altersunterschied. Er war ein ganzes Leben zu alt für sie. Es war eine zeitlich beschränkte Geschichte, versicherten sie sich gegenseitig. Ich werde dich verlassen, warnte einer den anderen. Momentan jedoch kam es ihnen vor, als könnten sie ewig so weitermachen. Schließlich war es dunkel geworden, richtig Nacht. Die Sterne kamen heraus. Die Liebenden sanken allmählich in den Schlaf, spürten einer des anderen Wärme, ganz nah. Das Telefon weckte sie. Miranda nahm den Hörer. »Ja«, sagte sie. »Ja, er ist auch hier.« Beim Hören formten ihre Lippen stumm: »Der Captain.« »Was hat er getan?«, fragte sie dann. »Aber das ist doch verrückt. Geben wir ihnen nicht genug zu essen?« Ihnen, dachte Nathan Lee. Etwas war mit den Klonen passiert. Er musste an ihre Fluchtpläne denken. Einer von ihnen musste über die Mauer gegangen sein. Wer nur? Wieder Ben? Miranda warf einen Blick auf die Uhr. »Dann ist es eben so«, sagte sie zum Captain. »Wir wussten, dass es irgendwann mal passiert. Was soll da schon sein? Das nimmt doch keiner ernst.« Der Captain redete weiter. Sie setzte sich auf und beugte sich über das Telefon, ihr langer Rükken war nackt. »Soll das ein Witz sein?«, fragte sie. »Wie kann so etwas passieren?« Die Stimme des Captain redete weiter. 464
»Machen Sie sich keine Sorgen«, schnitt ihm Miranda das Wort ab, »wir sind schon unterwegs.« Sie legte auf. »Das wird dir gefallen«, sagte sie und stand auf, um sich anzuziehen. »Einer unserer Jungs hat beschlossen, der Erlöser zu sein.« Sie warf Nathan Lee sein Hemd zu. »Es hat sich bereits herumgesprochen. Wir halten Jesus Christus in einem Käfig in unserem Keller gefangen.« »Na denn los«, sagte Nathan Lee, als er mit Miranda am Alpha Lab eintraf. Eine kleine Menschenmenge hatte sich vor dem Gebäude versammelt. Das war an sich noch kein schlechtes Zeichen. Von Anfang an hatten Witzbolde in Los Alamos Wetten angenommen, wie lange es wohl dauerte, bis jemand die Knochen aus dem Jahre Null mit denen des Königs der Könige gleichsetzte. Die Stadt beheimatete ihren Anteil an, wie Izzy sie nannte, »schrägen Vögeln«: Spinner, Querköpfe, dazu die Abergläubischen. Dass sie sich der rationalen Wissenschaft verschrieben hatten, war keine Versicherung gegen gelegentliche irrationale Ausbrüche. Besonders in diesen schlimmen Zeiten musste man mit hysterischen Reaktionen rechnen. An dieser Menge war jedoch nichts Hysterisches. Es war sehr früh am Morgen, dunkel und kalt. Bis zum Sonnenaufgang war es noch ein paar Stunden hin. Die Leute hatten Parkas und Pullover an. Unter ihnen befanden sich sogar ein paar osteuropäische Matronen mit Kopftüchern, genau so, wie man sie bei einer JesusErscheinung erwartete; eine hielt eine dunkle russische Ikone vor der Brust, ein Bild, das beinahe zu passend war. Ansonsten bestand die Menge hauptsächlich aus Laborarbeitern und Nachteulen, und das war immerhin ernüchternd. 465
»Hallo, Miranda, Nathan Lee«, rief ihnen ein junger Mann zu. Er gehörte zu den Mikrobiologen aus dem Büro nebenan und spielte gerne Frisbee in der Mittagspause. »Was machst du denn hier?«, fragte ihn Miranda. Eine Frage, die an alle gestellt war. »Wir haben von den Neuigkeiten gehört.« Der Mann war aufgeregt. »Ihr solltet in euren Betten sein«, sagte sie in die Runde. »Oder bei der Arbeit.« »Wann dürfen wir ihn sehen?« Miranda starrte ihn fassungslos an. »Bist du übergeschnappt?« Seine Züge entgleisten, und er sank in die Menge zurück. Nathan Lee nahm sie am Arm und schob sie nach drinnen. »Hast du das gehört?«, sagte sie empört. »Sieh sie dir an! Wissen sie denn nicht, dass das nur ein schlechter Scherz ist?« »Eins nach dem anderen«, erwiderte er. »Erst finden wir heraus, was eigentlich los ist. Ich bin sicher, es gibt eine Erklärung.« Der Captain erwartete sie in seinem Büro, das auf den vorderen Hof ging und einen Blick über die ständig anwachsende Menge gewährte. Zwei seiner Wachleute saßen nebeneinander, ein massiger Tejano und ein schmächtiger Mann namens Ross. Nathan Lee kannte sie beide. Ross hatte er noch nie so blass gesehen. »Erzähl’s ihnen«, sagte der Captain. Er war ganz und gar nicht erfreut. Auf seinem Schreibtisch lag eine schwarze Bibel mit einem Bleistift als Lesezeichen. »Wir saßen im Überwachungsraum«, fing Ross an und warf seinem Partner einen kurzen Blick zu, doch der woll466
te eindeutig nichts mit der ganzen Sache zu tun haben. »Ich hörte, wie einer der Insassen laut rief. Der Zwischenfall ereignete sich um 2 Uhr 25.« »Welcher Zwischenfall?«, fragte Miranda. »Er sagte El-ee, El-ee …« Ross unterbrach sich und schaute Nathan Lee selbstbewusst an. »Den Rest kann ich nicht aussprechen. Aber obwohl ich diese Sprache nicht kann, so kenne ich doch meine Bibel. Es steht hier drin. Ich hab nachgesehen. Er hat es genau so gesagt, wie es geschrieben steht.« »Wovon reden Sie?«, wollte Miranda wissen. »Laa-ma sabok-tamee«, zitierte Nathan Lee. »Genau das«, sagte Ross. »So hat er es gesagt.« Nathan nahm die Bibel vom Schreibtisch und schlug sie auf. Da war die Stelle. Er gab sie an Miranda weiter. »Jesus’ Frage am Kreuz«, sagte er. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Miranda warf einen Blick auf die Seiten. »Na und?«, sagte sie. »Er hat es gesagt«, antwortete Ross. »Er hat die Worte gesprochen.« »Das passt ja«, sagte sie und blätterte ein paar Seiten weiter. »Es ist die einzige Stelle, die hier auf Aramäisch steht.« Sie ließ das Buch sinken. »Sie haben es ihm vorgelesen.« Ross sah sie entsetzt an. »Nein, Dr. Abbot, ich schwöre es.« Er beugte sich vor und legte die Hand auf das geöffnete Buch. »Setz dich«, knurrte der Captain. Ross zeigte auf seinen Kollegen. »Fragen Sie Joe. Er hat es auch gehört.« Joe richtete seinen Blick in die Ecke, stritt es aber nicht 467
ab. »Na und?«, wiederholte sie. »Na ja«, sagte Ross, »woher soll er denn diese Worte kennen?« »Weil er sie irgendwo gehört hat«, antwortete sie. »Aber nicht von uns, bestimmt nicht.« »Dann eben von den anderen Klonen«, sagte Miranda. »Sie sind tagaus, tagein dort draußen im Hof und setzen einander irgendwelche Flöhe ins Ohr. Beten einander an, bringen sich gegenseitig Opfer dar und predigen. Einer von ihnen hat aus der Bibel zitiert, das ist alles.« »Aber die Bibel war überhaupt noch nicht geschrieben«, sagte Ross. »Damals.« »Sie wurde gerade geschrieben«, meldete sich Nathan Lee zu Wort. »Dort draußen im Hof haben wir alle möglichen Sekten versammelt. Christen, Heiden und Juden. Die Geschichte nahm allmählich Gestalt an.« Ross’ Blick wanderte zur Bibel. »Er hat die Worte gesprochen. Um 2 Uhr 25.« Nathan Lee sah den Captain an, dem die Beschränkungen seines Wachmanns schmerzlich bewusst waren. »Welcher der Klone war es?«, fragte Nathan Lee. Er wusste es bereits. Es musste Ben sein. Das Kruzifix hatte ihnen allen einen Schrecken eingejagt, ihre Gespenster geweckt. Und Izzy hatte Ben bei ihrem Gespräch am Feuer sozusagen aufgefordert, sich selbst zum Messias zu erklären. »Es ist einer von denen, die keinen Namen haben.« »Nicht Ben?« »Nein.« Miranda mischte sich wieder ein: »Aber jetzt hat er ei468
nen Namen.« »Ja. Er hat ihn mir verraten. Jesus Christus. Er hat es mir ins Gesicht gesagt.« »Ins Gesicht? Sie haben mit ihm gesprochen?« Ross antwortete nicht. Joe an seiner Seite schnaubte wie ein Stier. »Ich konnte ihn nicht rechtzeitig aufhalten. Kleiner pendejo.« »Haben Sie seine Zelle betreten?«, wollte Miranda wissen. Ross’ Augen wichen ihrem Blick aus. »Genau das hat er getan«, sagte Joe. Sie saßen einige Sekunden stumm da. Nathan Lee blickte aus dem Fenster. Die Menschenmenge dort unten wurde immer größer. »Sie haben also die Zelle dieses Mannes betreten«, sagte Miranda zu Ross. »Was haben Sie zu ihm gesagt?« »Ich hab ihn gefragt, ob er Jesus heißt.« »Sie haben ihn das gefragt?« Miranda klappte die Bibel zu. »Und was sagt Ihnen das?« Ross schob den Unterkiefer nach vorne. »Dass er Jesus Christus ist.« »Ipso facto«, stieß Miranda aus. Nathan Lee beobachtete, wie Ross nach dem geschwollenen Latein dicht machte. Seine Ehrfurcht war immer noch da, aber sie schloss ihn und Miranda nicht mehr ein. »Sie wissen genau, dass das nicht möglich ist«, sagte Miranda nach einer Weile. »Aber so steht es geschrieben«, erwiderte Ross. Nathan Lee spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. Er hatte geglaubt, dass es sich bei der Sache um einen mitternächtlichen Scherz handelte, aber Ross war es voll469
kommen ernst damit, und die Menge unter den Laternen auf dem Parkplatz wuchs und wuchs. Miranda pochte auf die Bibel. »Vergessen wir mal für einen Moment, was geschrieben steht, einverstanden? Denken Sie doch nach. Diese Klone stammen aus einer römischen Mülldeponie. Selbst wenn es Jesus jemals gegeben haben sollte – wissen Sie, wie die Chancen stünden, dass wir seine Überreste hier haben?« Jetzt war es an Ross, ihre mangelnde Logik zu bedauern. »Selbstverständlich hat es ihn gegeben. Sonst hätten wir ja kein Evangelium. Und Ihre Chancen spielen keine Rolle, nicht, wenn Er wollte, dass wir ihn finden. Auf diese Weise hat es Ihm gefallen, zu uns zu kommen. Und ich war dabei.« »Dann reden wir von den Überresten«, sagte Miranda. »Wenn Jesus in den Himmel aufgefahren ist, hat er nichts zurückgelassen. Und gen Himmel ist er doch gefahren, oder nicht? So steht es im Evangelium geschrieben.« Vor langen Jahren hatte Nathan Lee gehört, wie Ochs genau das gleiche Argument eingesetzt hatte, um Kritiker des Projekts Jahr Null zu entwaffnen. Das Problem jetzt bestand jedoch gerade darin, dass Ross kein Kritiker war. »Er hat keine Knochen zurückgelassen«, sagte Ross. »Nur Blut. Überall. Steht alles geschrieben. Tatsache.« Miranda drehte die Bibel hin und her, als suchte sie nach einem Loch auf der einen oder anderen Seite. »Ich habe sie nur einmal gelesen«, sagte sie, »aber an diese Version kann ich mich nicht erinnern.« »Nicht da drin«, sagte Ross. Er zeigte auf den Schreibtisch des Captains. »Dort drin.« Nathan Lee war die Aktenmappe gleich beim Eintreten aufgefallen. Es war seine eigene Arbeit, eine der Bios, die er zu jedem Klon zusammengetragen hatte. Er nahm sie in 470
die Hand. In seinem Magen lag wieder dieser Stein. Ross ließ sich leicht als naive Knalltüte abtun, aber er hatte es nicht versäumt, seinen Glauben auf die Probe zu stellen, ihn, Nathan Lee, zu überprüfen. Offensichtlich ist er direkt in die Nekro-Archive gegangen und hat dort nach weiteren Beweisen gewühlt. Nathan klappte die Mappe auf, und da war es, schwarz auf weiß. Klon 2YZ-87 war vor dreizehn Monaten geboren worden, als zweiter aus einer Serie von zehn identischen Einheiten. Seine DNA war aus dem siebenundachtzigsten Jahr Null-Muster gewonnen worden, einem mit Blut getränkten Holzsplitter. Eine Blutreliquie, keiner von den GolgathaKnochen. Seine genetische Archäologie war nicht außergewöhnlich. Es gab zwei Methoden zur zeitlichen Bestimmung genetischer Proben. Die verlässlichste Methode verwendete mitochondrische DNA oder mtDNA, die nur mütterlicherseits weitervererbt wurde. Ihr zufolge war die Mutter des Klons fünfzehn bis dreißig Jahre vor dem ersten Millennium zur Welt gekommen. Damit ließ sich seine eigene Geburt um das Jahr Null festlegen. Seine Blutgruppe entsprach der des klassischen Levantiners. Er hatte eine Disposition für Tay-Sachs und andere genetische Krankheiten, die semitische Völker heimsuchten. Keiner seiner neun Brüder hatte die Labors im Südsektor überlebt. »Miranda.« Nathan Lee reichte ihr die Mappe, doch sie warf kaum einen Blick darauf. »Das ist noch lange kein Beweis für Ihre Behauptungen«, sagte Nathan Lee zu Ross. Leider widerlegten sie sie auch nicht, was Ross mehr Spielraum verschaffte als ihnen. »Wir haben hier einen Mann, der im ersten Jahrhundert geboren wurde, genau wie drei Dutzend andere Klone, die dort unten im Keller sitzen. Und keiner von ihnen behauptet, der Sohn Gottes zu sein.« 471
»Stimmt genau«, konterte Ross. In diesem Augenblick traf Izzy mit verschlafenen Augen und ungekämmten Haaren ein. »Tut mir Leid, bin so schnell wie möglich hergekommen. Sieht ja aus wie bei einem Rock-Konzert da draußen. Was gibt’s denn?« Nachdem sie ihn kurz eingeweiht hatten, sagte er nur: »Aua, das ist stark!« Ross’ Kinn wuchs um einen weiteren Zentimeter. Nathan Lee zog sich einen Stuhl heran und setzte sich auf Augenhöhe vor Ross. Der Mann war eben ein bisschen halsstarrig, mehr nicht. »Gehen wir das alles noch einmal durch«, sagte er. Es brauchte nicht mehr, als dass Ross sich selbst widersprach, dann war die Sache gegessen. Das würde zwar ein wenig peinlich für den Wachmann werden, aber schließlich hatte er es sich selbst eingebrockt. »Sie haben den Mann gefragt, ob sein Name Jesus Christus sei.« »Nein.« Ross nahm es genau. »Aber das haben Sie uns doch eben erzählt.« »Ich habe ihn gefragt, ich sagte: Jesus? Mehr nicht.« »Und was sagte er darauf?« »Jesus Christus.« »Christus?«, fragte Izzy von der Seite. »Sind Sie sich da sicher?« »Genau das hat er gesagt«, nickte Ross. »Was noch?« »Jede Menge Zeugs, aber ich habe kein Wort davon verstanden.« »Da hätten wir’s«, verkündete Izzy. »Steinsuppe.« Er sah sich triumphierend um. »Steinsuppe?«, wiederholte Miranda langsam. 472
»Ihr kennt doch die alte Geschichte. Ein mittelloser Soldat kommt in ein Dorf. Er verspricht allen ein Festessen mithilfe seines magischen Steins. Diesen Stein legt er in einen Kessel und fordert jedes Haus auf, etwas Gemüse, Fleisch und Gewürze hineinzugeben. Bald darauf hat er seinen Festschmaus!« Sie sahen ihn erwartungsvoll an. »Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon«, erläuterte Izzy. »Unser Klon schnappt ein paar Brocken von unseren Christen im Hof auf, setzt sie zusammen, und unser guter Ross tauft ihn Jesus Christus.« »Ich habe nur Jesus gesagt«, rief ihm Ross in Erinnerung. »Und von jemand anderem hat er das Wort Christus.« Ross musterte Izzy mit schmalen Augen. »Zu jener Zeit war Jesus ein ganz gewöhnlicher Name, wie Bob oder John heute«, fuhr Izzy fort. »Aber die Ehrenbezeichnung Christus existierte überhaupt nicht, verstehen Sie? Das Wort Christus stammt aus dem lateinischen Christos, das wiederum das griechische Wort für das hebräische meshiah ist. Der Gesalbte. Die Bezeichnung Christos kam erst mit der Niederschrift des Neuen Testaments in Gebrauch … Jahrzehnte nach der Kreuzigung, und sie wurde erst nach Jahrhunderten allgemein verbreitet. Dem historischen Jesus stand nicht einmal das Vokabular zur Verfügung, sich selbst als Christus zu bezeichnen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es in der Bibel keine einzige Stelle gibt, wo er sich Messias nennt. Versteht ihr? Wenn er sich als Christus bezeichnet, dann ist er nicht Christus. So einfach ist das. Der Klon ist ein Hochstapler. Jemand hat ihn präpariert. Er ist nicht echt.« »Aus welchem Grund?«, fragte Miranda. 473
»Keine Ahnung. Aus Jux?« »Aber wer kommt überhaupt an ihn heran?«, wollte Nathan Lee wissen. »Wir sind immer sehr vorsichtig gewesen.« »So vorsichtig auch wieder nicht. Jemand ist in den Hof gelangt und hat dieses Kruzifix in den Baum gehängt. Schon vergessen? Nach allem, was wir wissen, könnte es der gleiche Scherzbold gewesen sein. Jemand, der Zutritt zu dem Areal hat. Jemand von innen.« Wieder blickten sie Ross an. »Was sagen Sie dazu?«, fragte ihn Nathan Lee. »Haben Sie das Kreuz in den Baum gehängt? Haben Sie den Klon dazu angestiftet?« »Nein, hab ich nicht«, beteuerte Ross. »Obwohl ich nichts Falsches darin sehe.« »Weshalb nicht, Ross?« Ross blickte Nathan Lee an, als wäre er etwas langsam von Begriff. »Das sind Christen.« Nathan Lee schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie. »Stimmt«, sagte er. »Ich würde noch gerne wissen, wer diesen Unsinn weiterverbreitet hat«, warf Miranda ein. »Seht euch nur die Menge da draußen an.« Ross verstummte. Joe sprang ein. »Pendejo«, murmelte er. »Stimmt das?«, erkundigte sich Miranda. »Ich habe meine Frau angerufen«, gestand Ross. »Ich habe ihr gesagt, sie soll auf keinen Fall ihre Schwester anrufen.« »Aber er ist nicht echt!«, stöhnte Miranda. Ross hob den Blick. »Warum nicht?« »Das haben wir Ihnen doch eben auseinandergesetzt.« 474
Ross dachte darüber nach. Sein Unterkiefer sah aus wie versteinertes Holz. Nathan Lee seufzte. »Bring ihn raus«, sagte der Captain. »Wohin denn, Captain?«, fragte Joe. »Gib ihm einen Schrubber. Lass ihn Glühbirnen auswechseln. Keine Ahnung. Aber halte ihn vom Hof und den Gefangenen fern. Und vom Telefon. Und lass ihn nicht nach draußen. Die Leute brauchen nicht noch mehr von diesen Schnapsideen.« Nachdem die beiden Wachleute weg waren, sagte Miranda: »Unglaublich.« Sie traten ans Fenster. Die Nachtwache war von ein paar Dutzend Leuten auf mehrere Hundert angewachsen. »Das sind doch alles vernünftige Leute«, beschwerte sich Izzy. »Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, wir hätten den Sohn Gottes bei uns im Keller.« Miranda zeigte zum Fenster. »Was tun sie sonst da draußen?« »Menschliche Neugier.« »Es ist drei Uhr nachts.« »Mir gefällt das alles nicht«, sagte der Captain. »So etwas kann leicht nach hinten losgehen. Ich brauche ein bisschen Bewegungsfreiheit.« Er griff zum Telefon und rief bei Pro Force an. Das war die Schocktruppe, bewaffnet und bedrohlich. »Bleibt höflich, Jungs«, befahl er. »Fordert sie auf, nach Hause zu gehen. Das werden sie wahrscheinlich nicht tun, also eskortiert ihr die Meute den Hügel hinunter. Baut unten an der Straße eine Sperre auf. Sie müssen wissen, wo unsere Grenzen sind.« Die Sache eskalierte vor ihren Augen. Die Leute sahen ihr erleuchtetes Fenster und winkten ihnen erwartungsvoll zu. Sie fingen an zu singen: »Rock of Ages.« 475
»Die sind harmlos«, meinte Izzy. »Wir kennen diese Leute.« Jedenfalls sahen sie sehr friedlich aus, wie sie dort draußen standen; die meisten waren damit beschäftigt, ihre Kerzen vor dem Wind zu schützen. »Pro Force«, sagte Nathan Lee. »Die geben dem Ganzen erst den Stempel des Wirklichen. Allein ihre Anwesenheit legitimiert das Ereignis.« Der Captain blies die Backen auf und sah zum Fenster hinaus. »Egal was ich mache, es ist falsch. Die Sache gerät außer Kontrolle. Langsam, aber sicher.« »Der Captain hat Recht«, sagte Miranda zu Nathan Lee. »Er hat seine Aufgabe, wir die unsere. Was wir jetzt brauchen, ist Schadensbegrenzung. Und zwar schnell.« Nathan Lee erhob sich. »Also gut«, sagte er zu Izzy. »Begeben wir uns zur Quelle.« Joe versah wieder seinen Dienst im Überwachungsraum; Ross trieb sich irgendwo außerhalb der Sichtweite herum. Joe zeigte auf einen der Bildschirme. »Der hier«, sagte er. Nathan Lee zog sich einen Stuhl heran und beugte sich dicht vor den Bildschirm. »Aha«, sagte er, »endlich.« Es war der Klon, der »Ägypten« gerufen hatte. Er hatte niemals seinen Namen genannt. Der Mann saß aufrecht auf dem Rand seines Bettes, als warte er auf Besucher. Seine Schulterknochen waren breit wie ein Joch, aber er war sehr dünn. Er hatte lange Füße und große Hände, Haarschopf und Bart waren schwarz. Seit seinem Ausraster bezüglich des bronzefarbenen Himmels war er scheinbar vorsichtig geworden und hatte sich eher zurückgezogen, als hätte er einen falschen Schritt gemacht. Im Gegensatz dazu waren seine Augen 476
jetzt völlig wild. Er hatte seinen Schritt getan, es gab kein Zurück mehr. »Was weißt du von ihm?«, erkundigte sich Nathan Lee bei Izzy. »Ein selbstgefälliger Fatzke, wenn du mich fragst. Bleibt meistens für sich. Hat mich ein paar Mal abblitzen lassen, als ich mit ihm reden wollte«, fasste Izzy zusammen. »Eigentlich weiß ich überhaupt nichts von ihm.« »Spulen Sie bitte das Band zurück«, bat Nathan Lee Joe. »Ich möchte das ›Zeugs‹ hören, das Ross erwähnt hat.« Sie schauten sich die Wiederholung an. Sie sahen Ross, der die Tür aufmachte, zaghaft die Zelle betrat und sich dabei bekreuzigte. »Perfekt«, sagte Izzy. Der Klon stand einfach nur da und sah ihn an. Musterte ihn. Er wirkte weder beunruhigt noch erschrocken, obwohl er sich noch eine Minute vorher stöhnend darüber beklagt hatte, dass Gott ihn verlassen habe. Bist du Jesus?, fragte Ross auf Englisch. Klar und deutlich antwortete der Klon: Jesus Christus. Auch mit dem ›jede Menge Zeugs‹ hatte Ross Recht. Es wurde so schnell auf Aramäisch hervorgestoßen, dass Nathan kein einziges Wort davon verstand. Dann erschien Joe am Bildrand, in der offenen Tür, und Ross wurde aus der Zelle gerissen. Die Tür schlug krachend zu. »Noch mal«, sagte Izzy. Nach der zweiten Wiederholung brummte er: »Ah, das dürfte dir gefallen. Direkt aus der Offenbarung. Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende, das, was ist, und das, was war, und das, was da kommen mag. Dann redet er noch etwas über Leiden und Reue.« Nathan Lee versuchte sich die Entstehung des neuen Testaments in Erinnerung zu rufen. »Die Offenbarung«, sagte er. »Aber das wurde nicht vor dem zweiten Jahrhundert 477
niedergeschrieben. Der Kerl gondelt ja überall herum. Ägypten, Offenbarung, Altes Testament, Neues Testament.« »Der sieht mir ohnehin nicht unbedingt wie Jesus aus«, brummte Izzy. Nathan Lee wusste, was er damit meinte. Jesus war ein Idol, ein Grabtuch-Negativ, ein Filmstar … kein Mensch. Er hatte langes, lockiges Blondhaar mit einem kleinen Goatee, oder dunkle, geschnörkelte Stirnlocken und einen ZZ Top-Bart. Es gab ihn mit blauen oder schwarzen Augen, mit gerader Nase und Dornenkrone. Er gehörte in Weihnachtskrippen, byzantinische Mosaike und auf mexikanische Gebetskärtchen, in bunte Kirchenfenster oder auf Marmorsäulen. Er war ein Kunstgebilde, erschaffen von Mönchen, Michelangelo und Mapplethorpe. Sein Verstand sagte Nathan Lee, dass es sich nicht um die Gottheit des Christentums handeln konnte. Aber einem tief sitzenden, prähistorischen Teil von ihm gelang es nicht, den Glauben an eine noch so winzige Möglichkeit abzuschütteln. Was, wenn das hier Gottes Sohn mit Kurzhaarschnitt war? »Der will mit seinem Kunststückchen nur Aufmerksamkeit erregen«, meinte Izzy. Nathan Lee nickte zustimmend. »Aber warum ausgerechnet jetzt?« »Das Kruzifix im Baum, vermute ich mal. Oder weil er nichts zu verlieren hat?« Nathan Lee runzelte die Stirn. »Im Nachhinein gesehen, kommt mir das Kruzifix beinahe wie ein Zeichen vor: grünes Licht, es kann losgehen.« »Jedenfalls hat er sich jetzt geoutet«, sagte Izzy. »Machen wir ihn fertig«, sagte Nathan Lee. »Es wird nicht lange dauern. Dann können wir uns alle noch mal ins Bett legen.« 478
Sie betraten die Zelle. Der Klon blieb sitzen. »Shlaa-ma umook«, sagte Nathan Lee. Friede sei mit dir. Der Klon erwiderte ihren Gruß nicht. »Ismael und Nathamel«, sagte er nicht sehr freundlich. »Warum schicken sie euch zu mir?«, wollte er wissen. Sie: ihre Bewacher und Kerkermeister. »Sie haben uns geschickt«, antwortete Nathan Lee schlicht. »Wer bist du?«, fragte der Klon. Diese Frage hatte eigentlich er stellen wollen. »Du bist nicht der, der du zu sein scheinst.« Wie wahr, dachte Nathan Lee. In diesem Raum befanden sich nur Schwindler. »Sag uns deinen Namen«, forderte ihn Izzy auf. »Du bist einer von ihnen.« Der Klon blieb hartnäckig. »Dein Name«, wiederholte Izzy. »Eesho«, antwortete der Klon. »Jeschua, wie sie mich nennen. Ihr sagt Jesus. Der meshiah.« »Christus?«, fragte Izzy. »Das auch.« »Es gibt viele, die den Namen Jesus tragen«, sagte Nathan Lee. »Bist du der, den sie Jesus Barabbas nennen?« Es war eine Fangfrage. Wenn dieser Eesho einfach nur nachplapperte, was ihm erzählt wurde, dann würde er zustimmen, der falsche Jesus zu sein, derjenige, der nicht gekreuzigt wurde. Damit hätte der Schabernack sofort ein Ende. »Würdet ihr mich anbeten, wenn ich ein lestai wäre?«, erwiderte Eesho verächtlich. »Ihn ehren?«, blaffte Izzy auf Englisch. »Glaubt er das im Ernst?« 479
»Was ist ein lestai?«, wollte Nathan Lee wissen. Izzy runzelte die Stirn. »Das Wort hab ich noch nie gehört.« »Dann fangen wir damit an«, sagte Nathan Lee. »Nimm ihn auseinander. Benutze seine eigenen Worte.« Izzy stieß einen Schwall Aramäisch hervor. Sie unterhielten sich eine Weile. »Es ist so etwas wie ein Attentäter«, sagte Izzy. »Ein politischer Terrorist.« Er hörte zu, als der Klon weiterredete. »Aha. Sicarri, noch so ein Ausdruck. Wie Judas Ischariot. Judas, der Siccari. Ein Zelot, ein Eiferer.« »Pass auf«, flüsterte Nathan. »Verrate ihm nicht noch mehr Namen. Er bastelt sich alles aus unseren Fehlern zusammen.« »Hab ich doch nicht«, verteidigte sich Izzy. »Er selbst hat den Namen Judas erwähnt.« Der Klon sah, wie Nathan zögerte. Ein Ausdruck der Befriedigung breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Meine Güte«, murmelte Nathan Lee. Eesho, falls das sein Name war, wusste mehr von der Geschichte, als er ohnehin schon befürchtet hatte. In den folgenden zwei Stunden arbeiteten sie sich durch die Fragen, die auf der Hand lagen: Wo wurdest du geboren? Wer gehörte zu deiner Familie? Nenne deine Nachbarn. Wer war damals römischer Gouverneur? Welches waren deine Lehrer? Beschreibe deine Reisen. Hast du jemals Jerusalem besucht? Wie oft? Warum? Der Klon antwortete gehorsam, fast mechanisch. Er war in Bethlehem zur Welt gekommen, behauptete er. In einer Höhle. Sein Vater war Zimmermann, ein Abkömmling König Davids, der wiederum von Abraham abstamme. Zum Beweis leierte er aus dem Gedächtnis eine lange 480
Reihe Namen herunter, die seinen Vater Generation für Generation mit den großen Propheten verknüpfte. Die Namen hallten von der rostfreien Metallwand wider. »Dann bist du also der Sohn des David«, fragte ihn Nathan Lee, »oder der Sohn Gottes?« »Ich bin der Nazarener«, erklärte der Klon schlicht. Er war völlig ruhig. Wenn er irgendwelche Widersprüche in sich barg, dann mussten sich seine Frager ziemlich anstrengen, um sie aufzudecken. »Du sagtest doch, du seiest in Bethlehem geboren«, sagte Nathan Lee. Eesho antwortete: »Der Herr sprach durch den Propheten Hosea. Er sagte: ›Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen‹.« Schon wieder, dachte Nathan Lee. Der Verweis auf Ägypten. »Sehr schlau«, sagte er zu Izzy. »Er hat uns von Anfang an auf die Schippe genommen.« »Was meinst du damit?«, fragte Izzy. »Er hat seine eigene Ankunft prophezeit. Vom ersten Tag im Hof an nannte er diesen Ort hier Ägypten. Deshalb ist er der Sohn.« »Aber wer hat ihm die Bezüge zur Bibel geliefert?« »Wir müssen weitergraben«, sagte Nathan Lee. »Wir erwischen ihn schon noch.« Eesho sagte, er habe vier Brüder gehabt, Jakob, Josef, Simon und Judas, sowie drei Schwestern, deren Namen zu nennen er sich nicht die Mühe machte. Er habe mehrere Jahre auf Wanderungen an den Ufern des Toten Meeres verbracht. Einmal habe er in der Wüste meditiert. Ja, es entspreche der Wahrheit, dass er die Händler und Geldwechsler im Tempel angegriffen habe. »Danach war ich 481
ein gezeichneter Mann«, sagte Eesho. »Sie haben mich hingerichtet.« »Wer hat dich hingerichtet?« Eesho sagte die Passionsgeschichte fehlerfrei auf. Sie stimmte mit den Berichten in den Evangelien überein, eine Geschichte voller bösartiger Juden, Verrat und Feigheit. Judas, der Eiferer, hatte ihn verraten. Er wurde festgenommen und vor die Tempelobrigkeit gebracht, wo seine Unterdrücker ihn bespuckten und schlugen und einen Gotteslästerer nannten, bevor sie ihn Pontius Pilatus übergaben, der ihn verurteilte. Und genau wie in der Bibel hatte Pilatus sich die Hände in Unschuld gewaschen. Mit bemerkenswerter Leidenschaftslosigkeit beschrieb Eesho, wie er ausgepeitscht wurde, die Dornenkrone aufgesetzt bekam, die Schmähungen der Soldaten und seinen Weg durch die schmalen Gassen und das Westtor hinaus nach Golgatha. Er wurde ans Holz genagelt. Sein Kreuz wurde zwischen zwei anderen aufgestellt. Links und rechts von ihm hingen Diebe. »Und dann starb ich«, sagte er ohne Gefühlsregung. Nathan Lees Blick senkte sich auf Eeshos Handgelenk, wo sich unter der glatten, olivfarbenen Haut ein Geflecht aus blauen Adern abzeichnete. Durch diesen Knochen und durch dieses Fleisch war ein Nagel getrieben worden. Trotzdem hatte er etwas vergessen. Oder er war ein Lügner. »Du bist gestorben«, wiederholte Nathan Lee. »Woran erinnerst du dich – danach?« »An alles, was es zu erinnern gibt.« Alles in allem war das, von der Krippe bis zum Kreuz, eine reife Vorstellung, direkt aus dem Evangelium. »Jemand hat ihn geimpft«, sagte Nathan Lee. Sie waren wieder am Ausgangspunkt angekommen. 482
»Aber wer? Und warum?« »Jemand mit jeder Menge Zeit. Es muss Wochen oder Monate gedauert haben, diesen Burschen zu schulen. Er hat die Geschichte richtig gut drauf. Und sämtliche Zitate auf Aramäisch. Derjenige, der das getan hat, muss ziemlich gut Aramäisch können. Damit sind Ross und die anderen Wachen draußen. Vielleicht war es gar kein Insider. Ein Besucher womöglich? Jemand von außen.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Izzy. »Gut, vielleicht schafft es jemand, das Sicherheitssystem ein- oder zweimal zu überlisten. Aber doch nicht wochenlang, immer wieder.« »Vielleicht wurde er nicht hier vorbereitet.« Nathan blätterte abermals durch die Akte 2YZ-87. »Bevor er zu uns überstellt wurde, lag er ein halbes Jahr im Südsektor auf Lager.« Izzy schüttelte den Kopf. »So wie du es sagst, hört es sich wie Sabotage an. Eine Zeitbombe. Du meinst, jemand hat mit ihm die Jesusrolle einstudiert, ihn dann in unsere Mitte verpflanzt und dann monatelang gewartet, bevor er seinen Unfug in Szene setzte? Scheint mir zu knifflig, erfordert viel zu viel Vorausplanung.« »Das ist bei den meisten Betrügern so«, erwiderte Nathan Lee. Aber er spielte nur noch den Advokaten des Teufels für seine Theorie. Izzy hatte Recht. Sie war zu weit hergeholt. »Warum wurde er erst jetzt aktiviert?«, fragte sich Izzy. »Keine Ahnung.« »Warum hast du so lange gewartet, bis du dich zu erkennen gabst?«, fragte Izzy den Klon. Eeshos Gesicht entspannte sich. Eine leichte Frage. Er hob einen Finger. »Die Apokalypse ist gekommen.« Seine 483
ruhige Gewissheit erinnerte Nathan Lee an diesen Franzosen in Katmandu. »Seit Anbeginn der Zeiten wird die Apokalypse vorhergesagt«, sagte Nathan Lee. »Sag ihm, jedes Mal wenn die Sonne am Abend untergeht, verkündet jemand den Untergang der Welt. Welche Apokalypse meint er?« Eesho antwortete mit einem Lachen. »Er sagt, er sieht die Plage in unseren Augen«, übersetzte Izzy. »Er sagt, Gott der Herr hat eine außergewöhnliche Plage über uns gebracht, eine gewaltige und lang anhaltende Plage, eine tödliche Krankheit. Sämtliche Krankheiten Ägyptens, dazu Krankheiten, von denen wir noch nie etwas gehört haben, so dass wir alle vernichtet werden. All das, weil wir sein Wort nicht befolgt haben. Jetzt verdorren alle unsere Stämme. Sie verlieren die Erinnerung an sich selbst, und das ist die schlimmste Todesart. Es ist das Ende der Zeit.« Er hielt inne. »Diese Apokalypse.« »Na schön. Wer hat ihm von der Plage erzählt?« »Vielleicht ist das alles nur heiße Luft«, meinte Izzy. »Der Kerl kommt mir ziemlich arrogant vor.« »Nein, er weiß Bescheid. Jemand war bei ihm. Warum fragen wir ihn nicht einfach, wer es war?« Eesho antwortete: »Die Stimme Gottes.« Er zeigte nach oben, und einen Augenblick war Nathan überzeugt davon, er zeigte auf den Lautsprecher, der unauffällig in die Zellendecke eingebaut war. »Aber du hast gerufen, Gott hätte dich verlassen. Warum?« »Ich habe gerufen, weil ich an meinem Kreuz hänge«, erwiderte Eesho sanft, »und weil ich leide.« Nathan Lee sah ihn scharf an. »Was willst du?« Es war eine ausgesprochen dumme Frage. Der Mann war 484
ein Gefangener. Er wollte natürlich das, was alle Gefangenen wollen: Freiheit. Eesho kniff plötzlich die Augen zusammen, streckte die Arme mit den geöffneten Handflächen nach oben und fing an, Gebete zu murmeln und heftig mit dem Oberkörper vor und zurück zu schaukeln. Nathan Lee hatte so etwas schon gesehen, an anderen Orten, von der Klagemauer bis nach Rongbuk. Es war die Art Schnellfeuerbeschwörung, mit der Asketen auf der ganzen Welt die Dämonen aus einem verstörten Verstand vertrieben. Nathan Lee war für ihn nicht mehr als ein Hintergrundgeräusch. Der Tag war gerade angebrochen, als Nathan Lee aus dem Untergeschoss des Alpha Lab heraufkam. Er ging aufs Dach und sah, wie das Sonnenlicht schräge Streifen über die Ränder der Mesa malte. Auf der Straße hatte sich eine Menge von mehreren Tausend Menschen versammelt. Sie standen schweigend da, sehr zivil, ohne zu drängen oder zu johlen. Hier und da unterhielten sich Leute mit den Pro Force-Soldaten auf der anderen Seite des gelben Absperrbands. Eine Frau reichte Styroporbecher über das Band. Dort draußen standen alle auf der gleichen Seite. Sie waren Nachbarn. Miranda stellte sich hinter ihn. »Es steht überall im Netz. Alle reden davon. Es nimmt ein Eigenleben an. Wie ist es im Kerker gelaufen?« Sie sah sein Gesicht. »Du siehst … besiegt aus.« »Ich bin einfach nur müde, sonst nichts. Er wird von Satz zu Satz stärker. Komplizierter.« »Du hast ihn nicht mal angeknackst«, fasste sie zusammen. »Der Bursche ist ein harter Brocken«, gab Nathan Lee zu. »Er ist nicht ein einziges Mal aus der Rolle gefallen. 485
Eine wandelnde Bibel.« »Du kaufst es ihm doch nicht etwa ab?« »Natürlich nicht. Er glaubt sich ja selbst nicht. Unsere Aufmerksamkeit scheint ihn zu verwundern. Ich glaube, Jesus Christus ist ihm total fremd. Der echte Messias sollte ein militärischer Führer sein, der sich aus dem Volk erhebt und die Eroberer niederstreckt, so eine Art Conan der Barbar. Er zeigt sich amüsiert darüber, dass wir uns diese Legende von einem umherziehenden Heiler, der ans Kreuz genagelt wird, überhaupt anhören. Diese Vorstellung hat er perfekt drauf, beherrscht sämtliche Rollen. Aber er besteht nur aus Worten, nichts ist wirklich greifbar. Seine Geschichte ist zu perfekt. Jemand hat ihm alles eingebläut, davon bin ich überzeugt.« »Dann überzeuge auch sie davon«, sagte Miranda und zeigte auf die Menge. »Es ist Mittwochmorgen. Eigentlich sollten sie zur Arbeit gehen.« »So einfach ist das nicht.« »Wir brauchen kein weißes Blatt mit Fußnoten. Wegen dieser Illusion steht alles auf dem Spiel«, sagte Miranda. »Zieh ihm den Stecker raus.« »Ich bezweifle, dass viele von ihnen auch nur ein bisschen davon glauben.« »Mein Labor wird von einer Polizeikette geschützt.« Sie schäumte. Nathan Lee sah, dass die Menge sie kränkte. Oder bedrohte. Es war nicht die schiere Anzahl, die noch immer handhabbar war, auch nicht ihre eher verhaltene Inbrunst, und auch nicht die frühe vormittägliche Stunde. Es war Frühstückszeit. Für die meisten von ihnen fing die Arbeit erst um acht Uhr an. Aber sie waren Wissenschaftler und hatten dort draußen einfach nichts zu suchen. »Er trägt eine Maske, Miranda. Ich kann sie nicht herunterreißen. Er muss sie selbst vom Gesicht nehmen.« 486
»Du gehst zu rücksichtsvoll mit ihm um. Sie sind deine Gefährten geworden.« Nathan Lee wusste nicht, was sie für ihn waren, weder Patienten noch Arbeitsmaterial. Aber ganz bestimmt keine Gefährten! »Ich glaube nicht. Er schon gar nicht. Bis heute Morgen habe ich mich noch nie mit ihm unterhalten.« »Du bist zu dicht dran, um es zu sehen«, sagte sie. »Es ist so ähnlich wie mit dem Stockholm-Syndrom, nur umgekehrt. Anstelle des Gefangenen, der sich mit seinem Unterdrücker identifiziert, hast du dich zu einem von ihnen gemacht.« »Genau das ist unsere Strategie. So sind Izzy und ich doch überhaupt erst reingekommen.« »Die Sache dauert schon viel zu lange.« Sie ging auf die Tür zu. »Ich möchte, dass sie beendet wird.« »Was hast du vor, Miranda?« »Wir machen einen Fehler, wenn wir auf dieser Ebene mit ihnen umgehen«, sagte sie. »Soll er doch mit uns auf unserer Ebene umgehen.« Bis er den Fahrstuhl erreicht hatte, war sie bereits hinabgefahren. Er fuhr zu den Zellen hinunter, doch Miranda hatte Eesho samt Izzy in die Kloning-Ebene mitgenommen. Nathan Lee ging zum Fahrstuhl zurück und drückte auf den Knopf. Als er ankam, waren sie in der Brutkammer. Eesho stand unter Schock. Seine Welt – die stählerne Zelle und der Hof mit den nackten Mauern – war plötzlich weggerissen worden. Im blauen Licht der Geburtsfabrik wurde er mit einer Genesis konfrontiert, die jenseits seiner Vorstellungskraft lag. Nathan Lee war schon seit Monaten nicht mehr in der Brutkammer gewesen. Insgesamt wurde hier nicht mehr 487
viel geklont. Nur eines der Gebärbecken war besetzt. Der Fötus – ein fast vollständig ausgebildeter Mann – schwebte in der Flüssigkeit. »Erklär’s ihm«, sagte Miranda zu Izzy. Sie hielt Eesho fest am Arm und schob ihn direkt vor das Plexiglas. Sie war wütend. Hier ging es um Persönliches. Nathan Lee hatte sie noch nie so gesehen. »Was soll er ihm erklären, Miranda?«, fragte Nathan Lee leise. »Er ist ohnehin schon verängstigt.« Eesho starrte in den Tank. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Der ungeborene Klon, der kopfüber in seinem Geburtssack hing, wachte soeben auf. Seine Augenlider öffneten sich. Er starrte Eesho an. »Nicht Gott hat ihn gemacht«, sagte Miranda zu Eesho. Sie war einen ganzen Kopf größer als der Klon. »Und Gott hat auch dich nicht gemacht. Sondern ich!« Trotzdem nahm Eesho seine Worte nicht zurück. Am gleichen Nachmittag erhielt Nathan Lee einen Anruf. »Pack deinen Krempel zusammen«, forderte ihn eine Stimme auf. Die Zeit kollabierte. Jahre waren vergangen, aber es hätte gestern sein können. Pack deinen Krempel zusammen. Der Ruf zu den Waffen. »Ochs?« Nathan Lee drückte den Hörer gegen das Ohr, als wollte er die Worte in sich einfangen. All die Jahre voller Wut. Nathan Lee hatte den Versuch aufgegeben, sich nicht von seinem Hass beeinflussen zu lassen, halb in der Hoffnung, das Feuer würde von selbst ausbrennen und erkalten. Es knackte im Plastikgehäuse. Er lockerte den Griff um den Hörer. »Wo bist du?« »Definitiv nicht da, wo du mich erreichen kannst«, ant488
wortete Ochs. »Im Südsektor«, sagte Nathan Lee. »Weißt du eigentlich, wie lästig es ist, zu wissen, dass du da draußen lauerst?«, fragte Ochs. Nathan Lee machte einen Schritt zurück und atmete tief durch. »Wir müssen miteinander reden, David.« Ochs ließ sich nicht aufs Glatteis führen. »Du musst zuhören.« »Wo ist sie?«, knurrte Nathan Lee. »Alles zu seiner Zeit.« Was für eine Zeit? »Die Seuche ist überall«, sagte er. »Ich übernehme ab sofort«, teilte ihm Ochs mit. »Was übernimmst du?« »Dein Verhör. Deine Befragung, oder wie du das nennst, was du mit dem Gefangenen treibst. Du gehst, und ich komme hinter der Dekoration hervor. Ich übernehme deinen Job. Du bist dafür nicht qualifiziert.« Die Sätze trafen Nathan Lee völlig unvorbereitet. Während der vergangenen Monate hatte er darauf gewartet, diesen Mann zu finden, und nun hatte der Mann ihn gefunden. Das trübe Wasser klarte allmählich auf. Der Professor für biblische Archäologie wollte den Klon, na klar. Ochs musste sich in all den Monaten, in denen er zusehen musste, wie Nathan Lee den Jahr Null-Stamm zum Leben erweckte, selbst die Leber ausgehackt haben. Die JesusKontroverse musste unwiderstehlich für ihn gewesen sein. Dann kam Nathan Lee ein anderer Gedanke. »Du bist also derjenige«, sagte er. Ochs zögerte. »Derjenige was?« »Du hast ihm diesen Irrsinn eingetrichtert.« »Wovon redest du überhaupt?« 489
»Es war deine Stimme, die ihm die Bibel ins Ohr geflüstert hat.« »Warum hätte ich das tun sollen?« Einen Augenblick klang Ochs … bescheiden. Nathan Lee verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr daran. Es war ihm egal. Sie tauschten die Plätze, innen gegen außen. Ochs konnte den Klon haben. »Wo ist sie?«, fragte Nathan Lee. »Alles ist arrangiert«, erwiderte Ochs. »Du musst nur noch gehen.« »Wo?« »Sie wusste nie genau, ob es dich tatsächlich gegeben hat, weißt du? Sie war erst vier, als du verschwunden bist. Lydia hat sämtliche Bilder von dir vernichtet.« »Hast du mit ihr gesprochen?« »Vertraue mir.« Und weil er wusste, dass es lächerlich war, fügte Ochs hinzu: »Du wirst Lydia mit reinbringen.« »Warum hast du es mir nicht schon früher gesagt?« »Es wäre zu früh gewesen. Die Bedingungen stimmten nicht. Ich musste dich in der Hinterhand behalten.« Ochs’ Sätze ergaben keinen Sinn. »Also lebt Grace noch«, sagte Nathan Lee mit flacher Stimme. Es kam ihm vor, als lagerte sich etwas lange Aufgewühltes endlich ab. Ochs hörte seine tödliche Stille. »Gut«, stimmte er zu. »Ich finde, jetzt ist die Zeit für deine Reise endlich reif, Nathan Lee. Es ist Zeit, sie in Sicherheit zu bringen.«
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BUCH VIER JAHR NULL
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29 Grace 10. OKTOBER
Nathan Lee hatte schon von den legendären Razzien gehört. Die Angehörigen dieser Überfallkommandos, die in die gefährlichen Gefilde hinabstiegen, hausten in ihrem eigenen Lager am äußersten Rand des Südsektors. In Los Alamos selbst sah man sie nie. Angeblich waren sie zu verroht, um mit gewöhnlichen Menschen klarzukommen. Flutlicht tauchte den Flugplatz in grelles Licht. Als Nathan Lee zu ihnen stieß, hatte der Großteil der drei Einheiten seine Schutzanzüge bereits angelegt und sich auf unterschiedliche Weise bewaffnet. Einige hatten Sturmgewehre oder Schrotflinten, andere Netze, Ketten, Aluminium-Baseballschläger oder Teleskopstangen. Sie musterten ihn frostig. Er gehörte nicht hierher. Sie hatten ihren eigenen Kode. Er bedeutete ihnen nichts. Aber das war ihm egal. Er wollte nur seine Tochter nach Hause holen. Das Anlegen der Schutzkleidung war kompliziert, deshalb halfen mehrere Ausrüster ihm dabei. Ein drahtiger Mann mit flinken Fingern machte sich an Nathan Lee zu schaffen und ratterte dabei bruchstückhafte Fakten herunter: »Das hier ist heute deine zweite Haut, eine Tevlek Biohazard-Ausrüstung, vierte Generation, brandneu. Einmal benutzen, dann wegwerfen. Hier wird nichts recycelt.« Nathan Lee zog ein Paar Feuerwehrstiefel mit Stahlkap492
pen über seine in Plastik gehüllten Füße; sie reichten ihm bis zu den Knien. »Es ist verdammt eklig da unten«, sagte der Ausrüster. »Aufpassen bei scharfen Kanten. Gilt auch für zerbrochenes Glas, Metallstücke und Knochenbrüche. Die sind am schlimmsten, Selbstinfektion, klar? Schnell denken, langsam bewegen. Füße vorsichtig aufsetzen. Alles, was dir ein Loch in die Ausrüstung bohren kann – mach einen großen Bogen drum.« »Wie oft warst du schon unten?«, erkundigte sich Nathan Lee. »Ich? Machst du Witze?« Nathan Lee zog drei Paar Handschuhe über: Latex unter Latex unter geriffeltes Kevlar. Der Ausrüster verpasste ihm einen Kopfhörer mit Mikro, den er unter der Haube trug. Auf der Frequenz tummelten sich Soldaten, die sich mit anderen Soldaten unterhielten. Dann schnallte er Nathan Lee ein Sauerstoffgerät um, das jeden Atemzug mit ultraviolettem Licht sterilisierte. »Das hier ist dein Kamelhöcker.« Mithilfe von Schulterriemen drapierte er eine wulstige Blase auf Nathan Lees Rücken. »Da sind sieben Liter Wasser drin. In dem Anzug wirst du hungrig und durstig werden. Es ist wichtig, immer genug Wasser im Körper zu haben. Wasserdisziplin: Alle fünfzehn Minuten einen Schluck hier raus.« Er bog das Röhrchen, das aus dem Kamelhöcker nach vorne ragte, an Nathan Lees Lippen. »Ist ’ne Mischung aus Glukose und Proteinen. Haben sie dich auf Klaustrophobie untersucht?« Hatten sie nicht. Für derlei Vorbereitungen war keine Zeit gewesen. »Wird schon klappen«, sagte Nathan Lee. »Na gut. Es kommt dir wahrscheinlich alles ein bisschen eng vor, sobald du verpackt bist. Dazu kommen Hitze, 493
Hunger und Dehydration, und bevor der Tag zu Ende ist, willst du nichts als raus aus deinem Anzug. Darum kümmern wir uns bei der Dekon. Manchmal rastet einer draußen aus. Ein grausiger Augenblick reicht schon aus. Man nimmt den Helm ab, und das war’s dann.« Der Ausrüster zerrte grob an Nathan Lees Feststellriemen. »Wir überprüfen gleich, ob das Siegel an deinem Helm verletzt ist. Aufpassen musst du selbst auf dich. Reite dich nicht selbst ins Verderben.« Dann breitete er den Inhalt einer Feldausrüstung vor Nathan Lee aus: eine kleine Flasche Bleichmittel für kleinere Einstiche, eine Rolle Klebeband zum Flicken von Löchern, eine Handpumpe zum Ansaugen von Benzin sowie einen GPS-Empfänger zum Ablesen der Koordinaten. Ein Erste-Hilfe-Kasten war nicht dabei. Die Botschaft war unmissverständlich: keine Verwundeten. Ein Schnitt, ein Kratzer, und man war sofort draußen. »Hey«, brüllte ein Soldat ihm zu und zeigte auf seine Ohren, »Kanal vier.« »Privater Anruf für dich«, erläuterte der Ausrüster und stellte Nathan Lees Wählschalter am Handgelenk auf Kanal vier. Nathan Lee wollte, dass es Miranda war. Stattdessen war es Ochs. »Bereit für den Abgrund?« »Wo geht’s hin?« »Nur Geduld, mein Sohn. Wir wollen doch die Spannung nicht kaputtmachen.« Alles war falsch an dieser Sache. Er zweifelte nicht daran, dass Ochs ihn hereinlegen wollte. Aber blieb ihm eine andere Wahl? Ochs hatte Gewalt über ihn, weil er sein Geheimnis kannte, und dagegen war Nathan Lee machtlos. »Du hättest mich schon vor Monaten losschicken können. Und ich wäre gegangen.« 494
»Wie gesagt, es wäre zu früh gewesen.« »Zu früh wofür?« »Es ist wie damals, mein Junge. Vertrau mir. Bleib auf der Frequenz. Tu, was ich dir sage, dann kommt die Welt wieder in Ordnung.« Nach diesen Worten unterbrach Ochs die Verbindung. Der Ausrüster befestigte die Handschuhe an Nathan Lees Handgelenken und die Stiefelschäfte an seinen Knien mit Klebeband, und legte dann Plastikisolierungen über Ellbogen, Brust und Knie. Schließlich versiegelte er den Helm. Ein leises Rauschen ertönte, Nathan Lees Ohren machten dicht. Er konnte zwar über Funk hören, doch die Außenwelt drang nur noch gedämpft durch. Als der Ausrüster ihm auf den Helm klopfte, kam er sich weit weg vor. Nathan reckte den Daumen. Der Ausrüster grüßte militärisch. Die Mannschaftshubschrauber und ein großer Frachthelikopter warteten bereits. Auch die Piloten trugen Mondanzüge, sie sahen aus wie Astronauten kurz vor einem Motocross-Rennen. Als er an dem Frachtschiff vorüberging, sah Nathan Lee in dem höhlenartigen Frachtraum leere Käfige stehen. Die Hubschrauber stürzten in nördlicher Richtung vom Hochplateau hinunter. Angeschnallt saßen die Soldaten auf ihren Plätzen, die Luft wurde frisch. Sie flogen hoch über dem Talboden dahin. Nathan sah das Pueblo, durch das er auf seinem Weg nach Los Alamos gekommen war. Es kam ihm schon so lange her vor. Der Panzer stand nicht mehr da, der Marktplatz sah verlassen aus. Ein Stück weiter erspähte er Lagerfeuer entlang des Rio Grande. Auf der Straße gingen Leute. »Pilger«, sagte eine Stimme in seinem Kopfhörer. Es war der Zugführer. »Die Nachricht hat sich rasch verbreitet. Sie kommen seit gestern.« 495
»Woher kommen sie?« »Ortsansässige. Leute aus Chama, Española und Tres Piedras. Wunder im Bohnenfeld-Typen.« Die Hubschrauber sausten zwischen alten Vulkanen hindurch und über urzeitliche Meeresböden, schwenkten dann nach rechts durch die Rockies, um der vorgelagerten Hügelkette weiter nach Norden zu folgen. Auf dem schwarzen Streifen der I-25 war kein einziges Auto zu sehen. Sie flogen an Colorado Springs vorbei, wo die Morgensonne die hoch aufragenden Berge und gläsernen Bürotürme anstrahlte. Rote Sandsteinflossen blitzten unter ihnen auf. Nathan wusste, dass nicht weit von hier der Sitz der Bundesregierung tief im Inneren des Cheyenne Mountain vergraben lag. Wie König Arthur überwinterten der Präsident und seine Regierungsspitzen sowie der Kongress und der Oberste Gerichtshof dort drinnen bis zu dem Tag, an dem ihre tote Nation wieder zum Leben erwachte und nach ihnen rief. Im vergangenen Sommer, auf seinem Weg nach Los Alamos, hatte die ganze Gegend wie ein Bienenstock nur so gesummt vor Lastwagen, die sich durch Bataillone von Wachtposten schoben und den Bergfried der Nation bestückten. Jetzt war alles ruhig. Die Zitterpappeln verfärbten sich gerade, rote und goldene Blätter flammten an den Bergflanken auf. Vorbei an der Air Force Academy kamen sie zu einer abgeflachten, von Panzersperren und Stacheldraht eingefassten Bergkuppe. Kleine weiße Radarschüsseln verfolgten ihren Anflug. Die Hubschrauber landeten zum Nachtanken. So wie sich die Kraftstofftanks füllten, füllte sich auch Nathan Lees Blase. Er wusste, dass er damit nicht ankommen konnte: In der Seuchenzone machte man keine Pinkelpausen. Er blickte in die stoischen Gesichter seiner Reisegefährten und musste an die Geschichten von kran496
ken Kreuzfahrern denken, die sich auch dann auf dem Pferd hielten, wenn ihnen der Durchfall am Sattel heruntertropfte. Ausdruckslos saß er in seinem warmen Urin. Dann waren sie wieder in der Luft, hielten genau nach Norden. Denver, vermutete er. Die Sonne kletterte über der brettebenen Prärie langsam höher. So weit das Auge reichte, sah er unabgeerntete Weizen- und Maisfelder, dazwischen wucherte überall hohes Gras. Das Rotorengeräusch schreckte Tiere auf. Eine Pferdeherde galoppierte davon, ihre Schatten wie aus dem Wasser springende Delphine. Es ging tatsächlich nach Denver. Sie flogen schnurgerade auf die übersichtliche, geometrische Skyline zu. Die Soldaten fingen an, Waffen und Anzüge zu überprüfen. Der Schütze am Ausstieg wurde wachsam. Sie sausten über ausgestorbene Vorstädte nach Osten. Überall lagen weiße Knochen auf den Straßen. Darüber kreisten dunkle Vogelschwärme auf der Suche nach Futter. Nathan Lees Angst wuchs. Hier herrschte kein Sommer mehr. Amerika war zu Asien geworden. Wo schickte ihn Ochs nur hin? An einem Teich auf einem Golfplatz stand ein Dutzend Seuchenopfer dicht beieinander. Der Pilot löste sich aus dem Verband und schwenkte tiefer, um besser sehen zu können. Auf dem Wasser trieben Leichen mit dem Gesicht nach unten, wie Ballons. Keiner der Überlebenden nahm von dem Hubschrauber Notiz. Die meisten hatten in der Hitze der vergangenen Tage unwillkürlich die Kleider abgelegt. Jetzt, an diesem kalten Morgen, wandten sie sich stumpfsinnig dem Licht zu. Aus der Höhe erkannte Nathan Lee die in das Gras getrampelten Pfade. Dann sah er die Hunde. Es waren Haustiere, meist größere Rassen: Golden Retriever, Dal497
matiner, schwarze Neufundländer, kräftige Köter. Auf mehreren Seiten der Menschenherde hatten sich Rudel von ihnen niedergelassen. Fiffi hatte sehr alte Instinkte. Nathan Lee hatte in West Kenia gesehen, wie sich Hyänen und wilde Hunde genauso verhalten hatten, um sich diejenigen zu schnappen, die sich zu weit von der Herde entfernten. Der Pilot brachte den Hubschrauber zehn Meter über den Menschen in der Luft zum Stehen, musterte ihre Gesichter. Durch die Verpuppung des infizierten Gewebes bleckten ihre Gebisse wie das Grinsen Verhungernder. Nathan Lee sah die dunklen Klumpen der Eingeweide. »Keine Kinder. Keine Schwangeren«, sagte der Pilot. »Hab ich was übersehen?« »Hier ist nichts«, bestätigte der Zugführer. In den folgenden zwanzig Minuten ging es nach dem gleichen Muster weiter. Sie machten eine Gruppe auf einem Parkplatz, einem Spielplatz oder zwischen den ineinander gefahrenen Autos aus, gingen tiefer, sahen sie sich genauer an und flogen weiter. Sie kamen zum Coors Baseball-Stadion, das mit seiner skelettartigen Verkleidung aus Eisengittern trotz allem hübsch anzusehen war. Auf seiner Reise quer durch Amerika hatte Nathan Lee erfahren, dass man die Stadien zur Internierung Zehntausender von Opfern benutzt hatte. Das Coors jedoch war leer, bis auf hie und da einen in sich zusammengesunkenen Körper auf der Tribüne. Entweder war die Tragödie zu schnell über Denver hereingebrochen, oder aber die Behörden hatten die Sinnlosigkeit einer Quarantäne eingesehen. Nathan Lees Helikopter landete mitten auf dem Center Field. Dort lief alles wie am Schnürchen. Die Soldaten wussten genau, was sie zu tun hatten: Wachtposten mit Maschinengewehren sicherten die Straßen von den obersten Tri498
bünenreihen aus; ein Team baute eine Satellitenschüssel auf und stellte eine Verbindung mit Los Alamos her, ein anderes räumte Leichen und Müll vom Zuliefereingang weg. Nathan Lee half überall mit, wo er erkannte, was zu tun war. Ansonsten versuchte er, nicht im Weg zu stehen. Er lauschte dem Funkverkehr über Headset und versuchte es dann auf Kanal vier. Ochs’ Stimme hatte schon auf ihn gewartet. »Herzlich willkommen in der Mile High City.« »Es steht schlimm hier«, sagte Nathan Lee. Er brauchte ein wenig Ermutigung. »Wenn es nicht schlimm stünde, wärst du nicht dort«, meinte Ochs. »Sie haben die Erfahrung gemacht, dass es nichts bringt, sich um die eben erst befallenen Städte zu kümmern. Zu viel Irrsinn. Wir sind eine Nation von Waffennarren. Zu viele Durchgeknallte, zu viele querköpfige Survivalists. Familienverbände, die ihre Angehörigen verteidigen wollen.« »Du hat gesagt, Grace sei am Leben.« Genau genommen hatte Ochs das nicht gesagt. Nathan Lee wollte mehr. »Bleib bei mir«, sagte Ochs. »Ich folge deinen Koordinaten. Ich habe einen Stadtplan. Gemeinsam finden wir sie.« Die Soldaten ließen die Piloten als Wachen zurück und zogen los. Mit Karren voller Benzinkanister machten sie sich draußen in den Straßen auf die Suche nach brauchbaren Autos. Denver war die reinste Fundgrube für geländegängige Freizeitkarren. Immer zu zweit betankten die Soldaten die Autos ihrer Wahl, schlossen sie kurz und fuhren davon. Nathan blieb allein zurück. Von hoch oben flatterte Papier aus zersplitterten Hochhausfenstern. Er fand einen Toyota mit intakter Batterie, bei dem sogar noch der 499
Schlüssel steckte. Der Motor sprang mit dem Restbenzin, das noch im Tank war, problemlos an. Es gab genug Kopffreiheit, um sich mit Helm zu bewegen, also würde es gehen. Er stieg aus und goss die Hälfte Sprit aus seinem Kanister in den Tank. Insgesamt müsste es für ungefähr einhundert Kilometer reichen. Ochs spielte mit seiner Computerkarte den Navigator, Nathan Lee folgte seinen Anweisungen. Dort, wo die Hauptstraßen mit liegen gebliebenen Autos verstopft oder überflutet waren, wies ihm Ochs andere Routen an. Gemeinsam erreichten sie ein ansprechendes Wohnviertel mit Pappeln und japanischem Blutgras. Im Vergleich zu den verbogenen Metallknäueln auf den Hauptstraßen und den ausgebrannten Einkaufszentren war hier das reinste Paradies. In einem Vorgarten lag ein Auto auf dem Dach. Ein anderes ragte halb aus einer geschlossenen Garagentür heraus. Bis zum bitteren Ende hatten die Männer also das Gefühl eines Lenkrads in der Hand gebraucht. Wenn sich schon das Schicksal nicht mehr steuern ließ, konnte man wenigstens einen Ford steuern. »Lakeridge Road, Nummer 1020«, sagte ihm Ochs ins Ohr. »Nicht ganz neu, Einfamilienhaus, gemauerte Steinfassade. Eine Wetterfahne mit einem Hahn auf dem Dach.« »Da vorne ist es.« »Sag mir, was du siehst«, sagte Ochs. »Du bist meine Augen.« Nathan Lee war sauer. »Was soll ich hier?« In den letzten beiden Stunden quälender Fahrerei hatte er nicht einen einzigen Hinweis auf gesunde Überlebende entdecken können. Kadaver und wandelnde Engel, das ja, aber ansonsten war es ein fruchtloses Unterfangen gewesen. Oder eine Falle. 500
»Geh ins Haus«, sagte Ochs. »Sprich mit mir. Ich will alles wissen.« Nathan Lee stellte die Stimme ab. Er ging durch hüfthohes Rispengras zur Haustür. In einer Halterung auf der Veranda flatterte eine Fahne mit einem Schmetterling. Neben der Tür hing eine Terrakotta-Sonne. Ein Windspiel klimperte. Herzlich willkommen, stand auf dem Fußabstreifer. Er klopfte an. Seine behandschuhte Hand verursachte kein Geräusch. Seine Bewegungen waren umständlich und langsam. Er hörte seinen eigenen Atem. Die Tür war nicht abgeschlossen. Innen sah es aus wie ein Paradebeispiel aus Schöner Wohnen. Lydias Geschmack. Auf dem weißen Deckchen unter einer Vase waren Blumenblüten zu buntem Puder zerfallen. Das Haus wirkte irgendwie bewohnt, aber nicht genug. Es war zu aufgeräumt. Nirgendwo lag etwas herum. Keine eben mal angehäuften Stapel, niemand hatte seine kleinen Turnschuhe hinter die Tür geschleudert. Alles war ordentlich und aufgeräumt. Wie ein Schrein. Auf dem Suzuki-Lehrbuch auf dem Klavier stand in Druckbuchstaben Graces Namen. Ihre Finger hatten diese Tasten berührt. Nathan Lee konnte die Töne unter seinen Handschuhfingern kaum hören. Die Anzeichen häuften sich. Blätter aus dem Kunstunterricht der Alameda-Grundschule klebten am Kühlschrank: ein Vogel, ein Baum, ein Haus mit einem kleinen Mädchen, das die Blumen goss. Ihre Unterschrift in Großbuchstaben. Im Kühlschrank lag geschmolzenes Eis am Stil. Nathan Lees Atmen wurde lauter. Er versuchte, an nichts zu denken. Er war schon einmal hier gewesen. Eine Pinnwand mit Schnappschüssen von der Familie. Lydia strahlte ihr 100-Watt-Lächeln neben einem kräfti501
gen Stadtmenschen mit Wohlstandsbauch. Lydia hatte sich einen Ernährer an Land gezogen, keinen Globetrotter mehr, keinen Verlierertypen. Ihr Ehemann ähnelte sogar ihrem Bruder. Sie machten einen sehr mit sich und der Welt zufriedenen Eindruck. Nathan Lees Blick wanderte weiter. Grace fehlten zwei Zähne unten. Ihre Augen von einem Strohhut verschattet. Nathan Lees Hand bewegte sich über die Fotos, fand alle Graces, und er sagte jedes Mal in seinem Helm laut ihren Namen. Vor einem Wasserfall, im Schwimmbad, auf einem Bergpfad mit einem Körbchen winziger Erdbeeren. Sie hatte das Lächeln ihrer Mutter und Nathan Lees schmales Gesicht. Aber am allermeisten war sie eine völlig eigenständige Person. Er stand vor der Pinnwand und hatte das Gefühl, als schnürte es ihm das Herz zusammen. Er hätte dort mit auf diesen Fotos sein sollen. Das da hätten seine Schultern sein müssen, auf denen sie sitzt, seine Hand, die den Löwenzahnstrauß in Empfang nimmt. Sein Kopf hätte das lächerliche Geburtstagshütchen aufhaben sollen. Es war die Wirklichkeit, die er sich immer gewünscht hatte, und jetzt stand er da und betrachtete einen anderen Mann, der sein Leben gelebt hatte. Nathan Lee ging in den Keller. Dort wäre das logischste Versteck. Er hätte sie in die Berge oder in die Wüste gebracht. Aber wenn man schon blieb, verkroch man sich am besten ganz tief unten. Absurderweise stellte er sich ein komplettes Tunnelsystem unter der Wohnsiedlung vor, in dem ganze Familien von Überlebenden unter seinen Füßen ein glückliches Leben führten. Auch im Keller hing eine Blumentapete an der Wand, der Boden war gefliest. Es gab keine Bodenklappen und auch keine Erdhügel. Er ging die Treppe in den ersten Stock hinauf und fand Lydias Mann im Elternschlafzim502
mer. Der Selbstmord war nicht hässlich anzusehen. Der Mann hatte sich eine Überdosis verpasst, sich auf die korallengrün und beige gemusterte Daunendecke gelegt und war eingeschlafen. Lydia war nicht bei ihm. Sie war Mutter. Sie würde bei ihrem Kind sein. Nathan Lee ging den Flur entlang und kam an die letzte Tür. Es musste ihr Zimmer sein. Angsterfüllt sah er, wie seine Hand den Türknauf umfasste. Die Tür ging auf. Das Bett war leer. Es war ihr Zimmer, aber Grace war nicht da. Seine Hoffnung schlug Saltos. Sie hat es wieder einmal geschafft!, dachte er. Lydia hatte ihren Mann hereingelegt. Er konnte förmlich sehen, wie sie mit Grace davonlief und den dummen Mann zurückließ, damit er sich selbst ein Ende bereitete. Zum ersten Mal war er für Lydias hinterhältigen Charakter dankbar. Dadurch hatte sie Grace womöglich das Leben gerettet. Seine Suche war noch nicht beendet. Er setzte sich aufs Bett. Die Wände waren rosa. Auf den Regalen saßen Dutzende säuberlich aneinander gereihte Puppen, die meisten von ihnen blond. Er nahm eine Bürste von einem kleinen Frisiertisch und zog eine lange, goldblonde Strähne aus den Borsten. Langsam wanderte sein Blick zu den Puppen und ihrer unnatürlichen Ordnung zurück. Es gab nichts, das nicht an seinem Ort stand. Keine einzige Puppe fehlte. Er ging zum Fenster und blickte in den Garten hinter dem Haus. Es war, als müsste er sterben. Vom Küchenfenster aus hatte er sie nicht sehen können, weil sie vom hohen Gras verdeckt waren. Aber von hier oben stachen einem die beiden weißen Kreuze direkt in die Augen. Lydias Mann hatte sie begraben, bevor er sich selbst das Leben nahm. 503
Nathan Lee fand sich im Gras wieder, ohne zu wissen, wie er die Treppe hinunter und aus dem Haus gelangt war. Er kniete neben dem Kreuz, auf dem »Grace« stand. Irgendwann stellte er sein Funkgerät an. Ochs war noch dran. »Wo warst du?« »Ich habe sie gefunden«, sagte Nathan Lee. »Ich habe ihre Gräber gefunden.« »Gräber? Gott sei Dank.« »Sie sind tot, Ochs.« »Natürlich sind sie tot. Du bist in Denver. Aber sie wurden begraben, das ist das Wichtige.« Er klang überglücklich. »Bist du übergeschnappt?«, rief Nathan Lee. Sein Zorn wallte auf. Ochs war das Allerletzte. Herrgott noch mal! Diese eiskalte Eidechse. »Woher weißt du, dass sie es sind?«, fragte Ochs ruhig. »Die Inschriften. Er hat sie ins Holz eingebrannt.« Nathan Lee konnte seine Worte selbst kaum verstehen. »Du hast es geschafft!«, sagte Ochs. »Jetzt ganz ruhig. Wir sind fast am Ziel.« Lydias Mann hatte die Gräber auf einer kleinen Anhöhe im Garten angelegt. Von dort aus konnte man die Rocky Mountains sehen. Er hatte jeweils einen Grabhügel angelegt und mit Blumen bepflanzt. Nathan Lees Eifersucht schwand. Der Mann war seiner Tochter ein guter Vater gewesen. Er hatte seine Aufgabe hier ordentlich erledigt. »Bist du noch da?« »Ja.« »Hör mir zu, Nathan Lee. Hörst du mir zu?« »Ich höre.« »Liebst du Grace mehr als alles auf der Welt?« 504
Wann waren sie gestorben?, fragte sich Nathan Lee. Die Farbe auf den Kreuzen hatte unter der Witterung gelitten und blätterte schon ein wenig ab. Aber die Sonnenblumen und Gänseblümchen waren noch nicht voll aufgeblüht. Sie hatten noch keine komplette Saison zum Wachsen gehabt. Also mussten die Samen Mitte Sommer oder später eingesetzt worden sein. Im August, schätzte er. Es wäre noch Zeit genug für ihn gewesen, sie zu finden, wenn er es nur gewusst hätte. »Du musst sie von ganzem Herzen lieben«, sagte Ochs. »Du hättest es mir einfach nur zu sagen brauchen«, erwiderte Nathan Lee. »Ich hatte es nicht auf dich abgesehen.« Jetzt war ihm alles klar. Ochs hatte ihn in den Tod gelockt. Die Soldaten würden ohne ihn zurückfliegen, und Ochs war frei. »Ich habe dir bereits gesagt, es war noch zu früh«, sagte Ochs. »Ich wollte dich nicht unnötig verheizen.« »Mich verheizen?« »Ich habe versucht, sie herzuholen. Vor sechs Monaten. Ich habe alles Mögliche probiert. Ich habe Leute bestochen. Bedroht. Ich habe gebettelt«, sagte Ochs. »Meine eigene Schwester. Und meine Nichte. Aber der Rat blieb stur. Miranda steckte dahinter, da bin ich mir sicher. Rache. Und dann bist du aufgekreuzt.« August, dachte Nathan Lee. Er hätte sie noch ein letztes Mal in den Armen halten können. Doch er hatte keine Kraft mehr, um wütend zu sein. »Lass mich nicht hängen, Nathan Lee. Wir sind fast am Ziel.« Nathan kam sich vor wie ein zum Fallen bereites Blatt. Ochs’ Stimme war ernst. »Besorg dir eine Schaufel, Nathan Lee.« 505
»Was?« »Wir bringen sie nach Hause. Innerhalb des Zauns sind sie sicher. Aber du musst schnell sein«, sagte Ochs. »Die Hubschrauber fliegen in drei Stunden wieder ab.« Wovon redete er überhaupt? »Nathan Lee?« »Sie ausgraben?« »Ich weiß«, sagte Ochs. »Aber du musst jetzt stark sein. Wir bringen sie zurück. Du hast die Technologie gesehen.« Darum ging es also! »Du meinst … du willst sie klonen?« »Es ist die einzige Möglichkeit.« »Grace?« »Du weißt genau, was wir brauchen. Es wird nicht angenehm sein, aber es ist nichts, was du noch nicht getan hast. Ein Finger von jeder. Oder Zähne. Sieh dich nach einer Gartenschere um.« Nathan wich zurück, aber die Stimme blieb in seinem Kopf. »Es gab keine andere Möglichkeit, sie hereinzuholen«, sagte Ochs. »Sie mussten sterben, um leben zu können. Jetzt können wir ihnen einen Platz im Bunker anbieten. Meiner Schwester. Deiner Tochter. Wir können sie retten. Sprich mit mir, Mann.« Nathan Lee war wie benommen. Hatte Ochs ihn wirklich ausgesandt, sein eigenes Kind aus dem Grab zu holen? »Du bist der Einzige, der sie retten kann«, sagte seine schmeichelnde Stimme. »Sie braucht dich.« »Nein«, sagte Nathan Lee. »Doch«, hielt Ochs dagegen. »Sonst bringst du sie end506
gültig um.« »Sie ist bereits tot.« »Schau in dich hinein, Nathan Lee. Schau tief in dein Herz, finde die Kraft. Bring mir, was ich haben will. Miranda wird sie aufziehen.« »Das wird sie nicht tun.« »Für dich tut Miranda alles.« Einen Augenblick sah Nathan Lee, wie das Grab sich öffnete, ihr kleiner Körper sich aus der Erde löste. Er sah ihren Strohhut. Den Blumenstrauß in ihren ausgestreckten Händen. Er stöhnte auf. »Es wird spät«, fuhr Ochs ihn an. »Die Hubschrauber warten nicht. Wenn sie weg sind, bist du Hundefutter.« Er spulte die ganze Palette ab, von der Drohung bis zur Versuchung. »Du hast die Macht über Leben und Tod. Es gibt keinen Grund, dass Grace so enden muss. Sie war das liebste Kind, das man sich vorstellen kann. Eine zweite Chance. Es liegt in deiner Hand.« Nathan Lees Grauen wuchs. Wie sollte es ihm möglich sein, ihr Grab zu öffnen? Wie konnte er es nicht tun? »Mach schon«, knurrte Ochs. Nathan Lee wühlte in den Trümmern seiner Erinnerung, erinnerte sich an ein Gewitter. Grace war noch ein Baby und auf seinem Arm eingeschlafen. Der Schneesturm heulte vor dem Fenster ihres Hauses in Washington, und er wagte kaum zu atmen, aus Angst, sie im Schlaf zu stören. Ochs beschimpfte ihn: »Die Hubschrauber fliegen bald ab. Sie warten nicht. Nachts fliegen sie nicht. Dann bist du ganz allein.« Nathan Lee kämpfte seinen Schrei gen Himmel nieder. Wer sollte ihn schon hören? Er legte die Handflächen auf 507
den Erdhügel. Er beugte sich nieder, legte den Kopf neben das Kreuz. Seine Suche war zu Ende. Nathan Lee stellte die Stimme ab. Er legte einen Arm über ihr Grab. Später würde er den Helm absetzen. Jetzt war er einfach nur müde. Er schloss die Augen und wollte nur noch eins: sein Baby in den Armen halten. Ein heftiges Unwetter weckte ihn. Nathan Lee dachte, er träumte. Der Sturm rüttelte an ihm. Er schlug die Augen auf, und es war Nacht. Rings um ihn herum bogen sich das Gras und die Bäume im Wind. Staub und kleine Steinchen prasselten gegen seinen Helm. Die Kreuze zitterten. Aus dem Himmel bohrte sich ein Lichtstrahl zu ihm auf den Boden, blendete ihn. Eine Gestalt stieg durch den grellen Schein herab. Vom Sturm gebeugt kam der Mann auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus. Von seiner Brustplatte führte ein Seil bis zum Hubschrauber hinauf. Nathan Lee spürte Finger an seinem Handgelenk. Sein Funkgerät ging an. »Allerhöchste Zeit, Nathan Lee«, sagte eine Stimme in seinen Ohren. »Kommen Sie mit.« »Ich bleibe lieber hier«, sagte Nathan Lee. »Ach was«, erwiderte der Mann. »Ihre Zeit ist noch nicht gekommen.« Nathan Lee kam sich vor, als hätte er schon jahrelang nicht mehr geschlafen. »Wer sind Sie?« »Ich bin Ihr Freund. Sie haben viele Freunde, Nathan Lee.« Nathan Lee hob den Kopf mitsamt dem Helm und spähte durch die Frontscheibe des Mannes. Es war der Captain mit seinem silbrigen Haar. »Ich bin heute Morgen mit Ih508
nen hergeflogen.« »Ich habe Sie nicht gesehen.« »Miranda befürchtete, Ochs hätte etwas vor.« »Miranda?« »Ich bin mitgekommen, um auf Sie aufzupassen.« »Ich habe mein Kind gefunden«, erklärte ihm Nathan. »Ich weiß«, sagte der Captain. »Ich würde lieber noch ein bisschen hier bleiben.« »Ein anderes Mal.« Nathan Lee ergriff seine ausgestreckte Hand. Gemeinsam wurden sie ins Licht emporgezogen. Den ganzen Weg bis nach Los Alamos saßen sie zwischen haufenweise übereinander gestapelten Kisten, in denen mit Klebeband isolierte, reglose Menschen lagen. Jeder von ihnen trug das Virus in sich. Ihre Augen funkelten im dunklen Frachtraum.
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30 Dekontaminierung Dekon war mehr als ein Ort oder ein Vorgang, es war ein Durchgang zwischen den Welten. Dort wurde man vierzehn Tage lang gereinigt, geschrubbt, überwacht, man bekam Blut abgenommen und wurde in sterilen Einzelzellen eingesperrt. Es war wie eine biblische Anordnung: Jeder, der befleckt sein könnte, wurde einen rituell festgelegten Zeitraum vom Lager fern gehalten. Für die Überfallkommandos war es ein automatischer Vorgang. Manchmal wurden jedoch auch Forscher aus den Biosicherheits-Labors hier festgehalten, insbesondere nach Unfällen. Ein Nadelstich reichte aus, ein Riss im Anzug, ein falscher Luftzug. Es war eine Angst einflößende Zeit, eine Zeit der Gebete. Man wusste nicht, ob der nächste Bluttest plötzlich positiv ausfiel; in diesem Fall durfte man nicht wieder in die Stadt zurück. Die Bezeichnung »Dekon« war eine falsche Bezeichnung. Wer kontaminiert war, für den gab es keine Rettung. In der ersten Woche bestand Nathan Lees einzige Bekleidung aus einer winzigen Brille gegen die Strahlung. Er wurde mit Saft, Elektrolyten und Antibiotika ernährt. Bevor er kräftiger wurde, wurde er zunächst schwächer. In der zweiten Woche bekam er Papierkleidung, die zweimal am Tag verbrannt wurde. Nathan Lee ließ alles stoisch über sich ergehen. Sie laugten einen förmlich aus, aber nicht genug. Er gab ihnen seinen Körper, aber nicht seinen Geist. Auf Nachfrage bekam man Halluzinogene oder Beruhigungsmittel in die 510
Spritzen gemischt. Der Wechsel in eine andere Realität war eine Methode für die Überfallkommandos, um ihre tote Zeit zu überbrücken. Aber Nathan Lee fürchtete, seinen ohnehin nur schwachen Halt zu verlieren. Er war froh, dass es keine Fenster gab, dass die Wände aus Stahl und die Ecken so exakt im Winkel standen. Alles war klar definiert und sauber. Er nahm sich eine Sekunde nach der anderen vor, klammerte sich an jeden Augenblick. Er fing an, das Ende von Dekon zu fürchten, denn das bedeutete, wieder in eine Welt mit ihren eigenen Bedingungen einzutreten. So ging es zwei Wochen lang. Ihre Türen waren vor der Außenwelt verschlossen, ihre Körper vergiftet, und sie waren isoliert wie Massenmörder. Das medizinische Personal entschuldigte sich über die Deckensprechanlage für jede Demütigung und für jeden Schmerz, den sie ihm zufügen mussten. Sie bedankten sich dafür, dass er sich selbst Blut abnahm und sich selbst mit Chemikalien und genmanipulierten Giften spritzte, die ihm durch eine Luftschleuse hereingereicht wurden. Sie waren dankbar dafür, dass er so vernünftig war – oder dass er ihnen zumindest gehorchte. Durch die Wände konnte er Männer schreien hören und begriff, dass nicht alle Soldaten dieses Grauen unversehrt überstanden. Über die in die Wand eingelassene Computer-Konsole hatte er Zugriff auf elektronische Bücher, Filme, VideoSpiele, sogar Pornos, er pflegte jedoch stattdessen seine Buddha-Methode: leerer Verstand, leeres Herz. Wenn ihn Energieschübe überkamen, machte er Liegestütze. Den Rest des Tages rührte er sich nicht. Es kam ihm vor, als schwebte er im Licht. Ein Arzt fing ein Fortsetzungs-Gespräch mit Fortsetzungen mit ihm über den Wandlautsprecher an. Er wusste, wer Nathan Lee war, stellte sich selbst aber nicht vor. Er 511
sagte, er sei der für Nathan Lee zuständige Psychiater, obwohl Nathan Lee tagsüber bereits einen anderen hatte. Wahrscheinlich beobachteten sie ihn im Team, schloss Nathan Lee daraus. Hier drinnen wurde mehr als nur die körperliche Gesundheit überwacht. Die Stimme des Mannes kam wie aus dem Radio, immer mitten in der Nacht. Er erzählte Nathan Lee vom Wetter, von seinen Lieblingsbüchern und anderen Dingen. Er erkundigte sich nach Denver. Die Zerstörung faszinierte ihn. »Haben Sie Familie?«, fragte Nathan Lee. »Warum wollen Sie das wissen?« »Sie sollten sie weit weg bringen. In die Berge oder in die Wüste«, antwortete Nathan Lee. »Sofort.« »Wirklich?«, sagte der Psychiater. »Was ist mit dem Tag E?« Der Tag der Evakuierung. Alle hielten sich an der Erlösungsvorstellung fest, eines Tages tief unter der Erde in einem Salzdom festzusitzen. »Ist schon ein Datum dafür bekannt gegeben worden?« »Es wurde verschoben«, antwortete der Psychiater. »Mildernde Umstände.« »Was ist passiert?« »Die Ausschachter sind auf eine Wasserader gestoßen. Niemand hat damit gerechnet. Wasser und Salz, eine gute Kombination. Beinahe hätte der ganze Plan aufgegeben werden müssen.« Er hörte sich beinahe fröhlich an. »Wie es aussieht, sind nur die beiden unteren Ebenen ausgeschwemmt worden. Jetzt pumpen sie das Wasser heraus und versuchen verzweifelt, den Rest zu retten.« »Die Leute hier müssen in Panik ausgebrochen sein.« »Niemand weiß etwas davon.« »Sie wissen es«, sagte Nathan Lee. »Geheimnisse sind mein Geschäft.« 512
»Und jetzt?« »Wir warten ab, vermute ich. Wir haben immer noch Serum-III. Die Silberkugel.« Noch ein Geheimnis. »Ich habe keine Ahnung, was das ist«, sagte Nathan Lee. »Hat Ihnen Miranda nichts davon erzählt?« Nathan Lee runzelte die Stirn. Wer war dieser Mann? »Was ist mit Miranda?« »Sie arbeitet schon seit vier Monaten daran. In erster Linie geht es um Klon-Blut. Ein Serum voller Antikörper.« »Hat Miranda ein Heilmittel gefunden?« »Nein. Die Antikörper halten nur drei Jahre. Sie stehen für die Drei in Serum-III. Es ist keine richtige Silberkugel. Eher ein langsamer Selbstmord. Man muss sich infizieren, um gerettet zu werden. Und am Schluss kommt man doch nicht davon. In nur drei Jahren erwartet einen nach wie vor der Sensenmann.« »Die Kammern im Bunker sind also geflutet, und es gibt immer noch kein Gegenmittel. Ihnen scheint das nicht viel auszumachen.« »Ich mache mir nur Gedanken darüber, dass jeder das bekommt, was er verdient hat«, sagte die Stimme. »Finden Sie, dass wir den Tod verdient haben?« »Wir nehmen so viel als selbstverständlich hin«, antwortete der Psychiater. »Die Frage lautet: Haben wir das Leben verdient?« Bei einer anderen Gelegenheit unterhielten sie sich über die Pilger. Die kleine Menschenansammlung, die Nathan Lee am Ufer des Rio Grande gesehen hatte, war aufgelöst worden. Das Militär hatte Flugblätter abgeworfen und sie dringend aufgefordert, nach Hause zu gehen; anschließend war der gesamte Talboden mit Agent Orange besprüht 513
worden. »Aber sie kommen wieder«, sagte der Arzt. »Diesmal ist es etwas anderes. Sie kommen von immer weiter weg. Die Leute hier haben Angst vor ihnen.« »Warum? Sind sie gefährlich?« »Das wissen wir nicht.« »Wer sind sie?« »Die letzten Amerikaner. Und viele von ihnen haben Schusswaffen.« »Alle haben Schusswaffen.« Nathan Lee hatte es auf seiner Reise quer durchs Land gesehen. Da draußen herrschte ein regelrechter Bandenkrieg. »Sie setzen sie gegeneinander ein. Das sind lauter verfeindete Splittergruppen.« »Jetzt nicht mehr.« »Wie denn das?« »Haben Sie jemals den Begriff ›Apokalypse‹ nachgeschlagen?«, säuselte der Arzt. »Die meisten Menschen glauben, es ist nur ein anderes Wort für die totale Vernichtung.« Nathan Lee ließ ihn reden. »Dabei steckt eine ganze Philosophie dahinter, die Vorstellung eines auserwählten Volkes mit einem besonderen Wissen, das vom Ende der Welt verschont bleibt. Die Gerechten werden in Frieden und Glückseligkeit hier auf der Erde weiterleben.« »Ja«, sagte Nathan Lee. »Die Idee vom Königreich.« Worauf wollte der Mann hinaus? »Eine sehr reizvolle Idee. Sehr amerikanisch. Egalitär, pauschal, revolutionär. Genau das Richtige, um den Pöbel aufzubringen.« »Wovon reden Sie?« 514
»Von Ihrer Jesus-Sache.« Nathan Lee setzte sich auf. Seine Kopfhaut prickelte. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass diese mitternächtlichen Besuche nicht zufällig waren. Der Arzt hatte sich in Nathans Kopf eingeschlichen. Und dafür gab es einen besonderen Grund. »Meiner Jesus-Sache?« »Ich bitte Sie!«, rief der Arzt. »Sie haben das doch losgetreten. Ohne ihn wären sie immer noch alle irgendwo da draußen in der Wildnis verstreut. Jetzt haben sie einen Fixpunkt gefunden.« »Meinen Sie den Klon?« Lief das denn immer noch? »Ja.« »Aber er ist nicht Jesus Christus.« »Jetzt schon.« »Das ist doch verrückt. Er ist eine Fälschung.« »Erzählen Sie ihm das mal.« »Hab ich schon. Ich hab’s versucht.« Was war während seiner Abwesenheit vorgefallen? »Ich dachte schon, Sie würden versuchen, ihn zu verstoßen.« »Er gehört mir nicht.« »Aber Sie haben dazu beigetragen, ihn zu erschaffen. Die Klone waren sprachlose Tiere, zumindest die meisten«, sagte der Arzt. »Sie haben ihnen eine Stimme gegeben. Sie haben ihnen eine Bühne errichtet. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass jemand so viel für sie tun würde.« »Sie sind harmlos. Der Messias ist das Ergebnis eines ziemlich kranken Scherzes.« »Die Stadt war so sicher. Nur einer von vielen Punkten auf der Landkarte. Aber jetzt kommt das ganze Gesindel 515
zu uns.« Trotzdem war seiner Stimme kein Bedauern darüber anzuhören. »Die Soldaten schützen uns.« Nathan Lee kam sich wie in einer Falle vor. Hier drinnen eingesperrt, war er diesem Mann ausgeliefert. Was wollte er von ihm? »Wenn es aber schon zu spät ist?« Die Frage war rhetorisch, und sie klang nicht verbittert. »Wer sind Sie?«, fragte Nathan Lee. »Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken, Nathan Lee.« »Wofür?« »Dafür, dass Sie Ihre Rolle gespielt haben.« »Welche Rolle?« »In dem Scherz, wie Sie es nennen«, sagte die Stimme. Die Stimme war weg. Nathan Lee schrie den Deckenlautsprecher an, forderte den Mann auf, sich zu melden, aber es herrschte nur Stille. Er hämmerte gegen die Tür, doch das Personal kümmerte sich nicht darum. Am nächsten Morgen, als eine Krankenschwester sich mit ihm über die Sprechanlage in Verbindung setzte, wollte Nathan Lee wissen, wer der Arzt war, der sich jede Nacht mit ihm unterhalten hatte. Sie sah in ihren Unterlagen nach, in denen aber weder ein solcher Arzt noch irgendwelche nächtlichen psychiatrischen Sitzungen verzeichnet waren. Nathan Lee hörte an ihrer Stimme, dass sie eher glaubte, er hätte sich alles eingebildet. Es gab genug andere Patienten mit Wahnvorstellungen. Am Abend seiner Entlassung durfte Miranda ihn anrufen. Eigentlich war man hier drin von jeglichem Kontakt abgeschnitten. Die offizielle Begründung dafür lautete, dass Dekon gleichzeitig zur Besprechung und Auswertung der Einsätze genutzt würde. Kontakte mit Familie oder Freun516
den könnten die Eindrücke und Informationen verfälschen. Der wahre Grund, wie Nathan Lee vermutete, war der: Die Verantwortlichen wollten nicht, dass die Leute ihre Freunde und Familienmitglieder so durchgedreht und geschunden sahen. Nathan Lees Computerbildschirm flammte auf, und Mirandas Gesicht erschien in der Wand. Die Kamera schien ihre Wangen abzurunden. Sie sah verändert aus, direkt gesund. Er kam nicht sofort darauf. »Deine zwei Wochen sind fast um«, sagte sie strahlend. Er setzte sich langsam und schwerfällig auf. Das Licht, das von den Metallwänden reflektiert wurde, tat ihm in den Augen weh. Ihm war übel vom vielen Träumen. »Miranda«, sagte er. »Ist die Bräune echt? Du siehst aus wie ein Gigolo.« Sie rief von ihrem Küchencomputer aus an. Es war später Nachmittag, wie er am Lichteinfall erkennen konnte. Sie aß Toast und gab sich Mühe, ungezwungen zu wirken, als wäre er nur einer von vielen auf ihrer Telefonliste. »Du fehlst mir«, sagte er. »Ich habe das von deiner Tochter gehört«, sagte sie. »Tut mir Leid.« Er kam sich blöd vor, weil er so träge war. »Was geht da draußen vor sich? Ich habe von diesen Pilgern gehört.« »Ja, stimmt. Die armen Menschen.« Nathan Lee drängte nicht weiter. »Du hättest den Captain nicht mitschicken sollen.« »Schieb es nicht auf mich«, erwiderte sie. »Ich hätte es nie von ihm verlangt. Er hat sich selbst angeboten. Er hatte seine Gründe dafür. Seine eigenen … Verluste, du weißt schon.« Nathan verstummte. 517
»Es war ein großartiger Versuch«, sagte Miranda. »Zum Scheitern verurteilt, aber großartig.« Nathan Lee wandte den Blick vom Bildschirm ab. Er wollte nichts Großartiges; er wollte alles ganz gewöhnlich haben. Er wollte kein Elend; er wollte ein weiches Bett und eine heiße Dusche. Die Leute rühmten seine Abenteuer als Expeditionen in seine Seele, verkannten dabei aber völlig, dass er sich ständig auf der Flucht vor seinen eigenen Verfehlungen und seiner Unwürdigkeit befand. Sein ganzes Leben lang war er sich … ausgehungert vorgekommen. »Ochs ist weg«, sagte sie. »Falls du dir seinetwegen Gedanken machst.« Sie schien sich näher heranzubeugen, um seine Reaktion besser mitzubekommen. Ochs. »Was hast du mit ihm gemacht?« »Nicht ich«, antwortete sie. »Mein Vater. Er befindet sich hier bei mir.« »Er ist aus seinem Allerheiligsten heraufgestiegen?« »Ja, er kam mit dem Hubschrauber hergeflogen. Diverse geschäftliche Angelegenheiten.« Es gab so vieles zu erzählen. Plötzlich konnte Nathan Lee es kaum erwarten, rauszukommen. »Wo ist Ochs hin?«, fragte er. »Weg. Weg von hier. Er ist gegangen, bevor er deportiert werden konnte. Die Außenkameras zeigten ihn, wie er über die Brücke auf die andere Seite des Flusses ging. Niemand weiß, wo er hin ist.« Sie zögerte. »Willst du ihn verfolgen?« Nein, das hatte er nicht vor. Für ihn war Ochs gestorben. Es gab mehr als eine Möglichkeit, das auszudrücken. Nathan Lee versuchte es vorsichtig: »Und dich dabei verlieren?« 518
Es war die richtige Antwort. Ihre Lippen teilten sich, aber sie sagte nichts. »Wir müssen uns unterhalten«, sagte er. Seine Alpträume vom Meer waren zurückgekommen. Er träumte immer wieder von den Kindern, wie er sich vom Schiff losgeschnitten und die Verlorenen im Stich gelassen hatte. Aber was, wenn er sie gerettet hätte? Sie kam mit dem Gesicht näher an die Kamera. Der Bildschirm zeigte ihr verzerrtes Gesicht. »Jetzt nicht«, sagte sie. Sie lächelte. »Später sage ich dir mehr. Sei auf der Hut«, warnte sie ihn. »Deswegen habe ich angerufen. Kopf hoch. Mein Vater will dich kennen lernen.« »Mich?« »Er sagt, es sei wichtig.« Schlagartig wurde es ihm klar: ihr fülligeres Gesicht, die nicht mehr so tief in den Höhlen liegenden grünen Augen. »Du bist schwanger«, platzte es aus ihm heraus. Einen Augenblick fühlte er sich überglücklich. Sie sah aus wie vor den Kopf gestoßen. »Wie kommst du darauf?« »Ich dachte nur, dein Vater, wir …« Er unterbrach sich. Es war ihm peinlich. Sein Verlangen nach einer eigenen Familie war krankhaft geworden. Er erinnerte sich an Mirandas Worte, die schon ein ganzes Leben zurückzuliegen schienen, an damals, als sie sagte, ein Kind in diese Welt zu setzen sei eine Grausamkeit. »Ich habe mich wohl geirrt«, sagte er lahm. »Leg dich schlafen, Nathan Lee.« Der Monitor wurde dunkel. In dieser Nacht träumte er wieder von dem russischen Schiff, von den Gesichtern, die auf dem dunklen Wasser auf und ab tanzten. 519
Am darauf folgenden Morgen wurden er und Captain Enote in sauberen Overalls an das Tor des Südsektors gebracht und nach einigen Formalitäten entlassen. Jenseits des Stacheldrahts wartete ein Humvee auf sie. Die Welt da draußen sah frisch und unverdorben aus. Die Morgenluft war so klar und scharf, als würde man mit den Fingern schnipsen. Der Captain atmete mehrere Male tief ein und aus. Sein Gesicht war goldbraun von der UV-Strahlung, aber er hatte während der Dekon abgenommen. Er sah hager und sehr alt aus an diesem Morgen, und Nathan fühlte sich beschämt, als wäre es seine Schuld gewesen, dass dieser Mann so viel hatte durchmachen müssen. »Danke«, sagte er betont schmucklos. »Wie geht’s Ihnen?« Der Captain nickte kurz. »Es war nicht angenehm da drin. Aber gut zum Nachdenken«, sagte er. »Mir ist so einiges klar geworden.« Näher ging er nicht darauf ein. Der Fahrer hatte Anweisung, Nathan Lee zuerst abzuliefern. »Dr. Abbot erwartet Sie.« »Der kann noch einen Moment warten«, erwiderte Nathan Lee und gab dem Fahrer zu verstehen, zuerst den Captain in sein kleines Haus über der Stadt zu fahren. Es stand inmitten von Kiefern, und Nathan Lee konnte ein aus alten Brettern gezimmertes Baumhaus erkennen. Das war für Tara. Der Captain stieg mit steifen Beinen aus. Nathan Lee blieb ganz hinten in dem Gefährt sitzen. Er wollte nicht, dass Tara ihn sah, nicht an diesem Morgen, an dem er ohnehin zu früh wieder aufbrechen musste. 520
Der Captain schaute sich sein Haus an. Er hatte kein Gepäck dabei. »Wir sehen uns später«, sagte er. Sie fuhren zu Mirandas Haus, das nicht weit von der Spitze des Mesa-Ausläufers entfernt stand. Nathan Lee ging zur Vordertür. Er hatte immer noch den Geschmack der Zahnpasta aus dem Südsektor im Mund. Wahrscheinlich würde er nie wieder in seinem ganzen Leben so sauber riechen wie jetzt nach der Dekon. Miranda öffnete die Tür, bevor er anklopfen konnte. Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte. Er kam sich zerbrechlich und befangen vor. Beinahe hatte er einen Seuchenkuss erwartet, wie er in Los Alamos Mode geworden war – ein rasches Vorzucken, Wange an Wange, mit gespitzten Lippen, ohne Kontakt. Sie küsste ihn auf den Mund und drückte ihn so fest, dass er ihr Herz hinter ihren Rippen spürte. »Du bist wieder da«, flüsterte sie. Ihr Vater saß in der Küche, ein Handy am Ohr, ein zweites in der anderen Hand. Sein volles schwarzes Haar war aus der Stirn streng nach hinten gekämmt. Er war elegant angezogen, als wollte er ausgehen, und erteilte gerade einen Befehl in den Hörer. Aus dem Augenwinkel musterte er Nathan Lee von oben bis unten. Nathan Lee fand Mirandas Körpergröße und den kräftigen Unterkiefer bei Paul Abbot wieder, außerdem ihren langen, elegant geschwungenen Hals. »Du musst etwas essen«, sagte Miranda zu Nathan Lee, goss ihm ein Glas Orangensaft aus dem Kühlschrank ein. Er ließ sich Zeit damit, genoss die Kälte und den süßen Geschmack. Alles kam ihm köstlich vor. Und intensiv. Die Berge sahen aus, als seien sie Millionen Kilometer entfernt. Sein Gesichtskreis hatte sich auf die paar Quadratmeter Zelle reduziert. 521
»Setz dich«, befahl sie ihm. Sie war nervös, das brachte immer den Diktator in ihr zum Vorschein. »Oder bleib stehen.« Ihr Vater hielt einen Finger in die Höhe: Nur noch eine Sekunde. Nathan Lee blickte sich um. Mirandas Widerstand gegen ihren Vater fiel ihm sofort auf, auch wenn es nur Kleinigkeiten waren. Sie hatte das schmutzige Geschirr in der Spüle stehen lassen, was sie sonst nie tat, und auf dem Küchentresen stapelten sich Bücher. Außerdem hatte sie Nathan Lees Matisse-Skulptur aus dem Schlafzimmer geholt. Der kleine Akt stand deutlich sichtbar in einem Sonnenstrahl. Die Jade glühte wie von innen heraus, alles an der Figur war Rundungen und Hüften und Pose. Dann sah er einen Würfel aus durchsichtigem Plastik von etwa sieben Zentimetern Kantenlänge auf dem Küchentisch stehen. In seiner Mitte steckte etwas, das wie eine Morphiumampulle aussah, von der Sorte, wie sie die Soldaten im Gefecht verwundeten Kameraden verpassten. Er hatte genug von diesen Dingern auf seiner Reise durch Amerika gesehen, um zu wissen, dass diese hier kein Morphium enthielt. Die Flüssigkeit hatte die Farbe von reifem Weizen, wie das Serum, das Miranda ihm in den Gefrierschränken der Kühlräume gezeigt hatte. Die Vermutung lag nicht allzu fern, dass es sich hierbei um das handelte, was sein mitternächtlicher Besucher als SerumIII bezeichnet hatte. Abbot beendete sein Telefonat. In einer einzigen Bewegung klappte er das Gerät zusammen, erhob sich und streckte Nathan Lee die Hand entgegen. Auch Händeschütteln war aus der Mode gekommen, aber er zögerte nicht. »Nathan Lee Swift«, sagte er. Im Blick seines Gegenübers sah Nathan Lee, dass Abbot alles wusste, was über ihn in Erfahrung zu bringen war, inklusive seines 522
letzten Bluttests. Als unbestreitbar einflussreichster Mann der Welt hatte Abbot den Liebhaber seiner Tochter wahrscheinlich so gut wie seziert. »Na, wie fühlt man sich wieder unter den Lebenden?«, fragte er. Sein Händedruck war kräftig. Auch als er losließ, war die Geste kraftvoll. Mit dieser Hand regierte er. »Als ich wegging, fingen die Blätter gerade an, sich zu verfärben«, antwortete Nathan Lee. Er wollte nichts verkomplizieren. »Jetzt sind sie alle weg.« »Miranda hat mir von Ihrer tragischen Entdeckung in Denver erzählt.« Abbot wartete. Er hatte einen Köder ausgeworfen, jetzt wollte er Nathan Lee reden hören. Er wollte, wie Nathan Lee erkannte, seinen Kummer sehen … oder vielmehr sehen, wie er mit seinem Kummer umging. »Dad«, versuchte Miranda sich einzumischen. Abbot ließ Nathan Lee nicht aus den Augen. »Ich weiß nicht, warum ich es nicht wusste«, sagte Nathan Lee zu ihm. »Jetzt ist es vorbei.« Abbot entbot ihm kein weiteres Beileid. Die Welt war voll mit verlorenen Seelen und trauernden Familien. Er war gegen Außenseiter gewappnet. Seine Grenzen waren klar definiert, sein Vorrat reichlich, aber limitiert. Sein Reich war für die wenigen Privilegierten gedacht, und er gestattete sich keine Ausnahmen. Miranda machte ein paar zögerliche Schritte. Sie wusste nicht, was sie mit diesen beiden Männern anfangen sollte, die ihr den gesamten Platz in der Küche nahmen. Nathan spürte es genau. Sie laugten sie aus. »Setzt euch«, sagte sie wieder. Abbot blieb stehen. Er machte einen amüsierten Eindruck. »Hat Miranda es Ihnen schon erzählt?«, fragte er Nathan Lee. »Sie ist die neue Direktorin.« 523
»Nein«, gab Nathan Lee zurück. War Cavendish nicht mehr da? Was war mit seinem Klon geschehen?, fragte sich Nathan Lee. Der Gedanke zog ebenso rasch wieder vorbei. In vergangenen Zeiten wurde die Macht an die Ehefrau oder einen Sohn weitergegeben, und angeblich glich der Klon Cavendish in jeder Hinsicht, mit Ausnahme seiner körperlichen Perfektion. Stattdessen hatte Miranda den Thron geerbt, auserwählt von ihrem Vater. Sie war zum Herrschen erzogen worden. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er. Jetzt begriff er, warum sie die Stadt so grimmig verteidigt hatte. Sie gehörte in Wirklichkeit ihr. Trotzdem sah die neue Direktorin nicht sehr zufrieden aus. Für sie waren Bürokratie und Politik keine positiven Erfahrungen gewesen. »Das bedeutet weniger Zeit im Labor. Aber es war ohnehin höchste Zeit, dieses Klonen abzuschließen«, sagte Abbot. »Letztendlich war es nichts anderes als eine Kehrtwendung, ein Schritt zurück zu uns selbst. Und Cavendish musste gehen. Alle haben es so gesehen. Der Mann ist verschollen. Wollte nicht mal an einer Besprechung teilnehmen. Ich habe keine Ahnung, was er dort im Südsektor treibt.« Also ist er nicht tot, dachte Nathan Lee. Aus den Augen, aus dem Sinn. »Missstände, mehr habe ich nicht gesehen«, sagte Abbot. »Keine Führungsqualitäten, keine Präsenz. Wir brauchen Einheitlichkeit, gemeinsame Ziele, eindeutige Wissenschaft. Besonders jetzt, da die Leute Angst haben. Es dauert nicht mehr lange, bis die Zuflucht fertig ist.« »Ich habe da etwas von einem Rückschlag gehört«, warf Nathan Lee ein. Abbots Gesichtsausdruck veränderte sich. Seine Augen wurden schmaler. »Was für ein Rückschlag?« 524
»Die Überflutung. Die eingebrochenen Decken.« Abbot warf seiner Tochter einen kurzen Blick zu. »Hast du ihm das erzählt?« Miranda starrte Nathan an. »Niemand weiß darüber Bescheid«, sagte sie zu ihm. »Wie um alles in der Welt hast du das erfahren?« »In der Dekon«, antwortete Nathan. »Einer unserer Ärzte.« Er zeigte mit dem Finger auf den Würfel mit dem Serum-III. »Davon hat er mir auch erzählt. Drei Jahre Immunität.« »Welcher Arzt war das?«, wollte Abbot wissen. »Es war ein Psychiater. Ich habe ihn nie gesehen, nur seine Stimme gehört.« »Seinen Namen«, sagte Abbot. »Ich will seinen Namen haben.« »Den hat er mir nicht genannt. Ich habe mich beim Personal nach ihm erkundigt. Sie glauben, ich hätte mir ihn nur eingebildet.« »Was geht hier oben eigentlich vor sich?«, murmelte Abbot finster. »Steckst du auch bestimmt nicht dahinter, Miranda?« »Ich will, dass die Leute hier bleiben und nicht in Panik ausbrechen«, blaffte sie zurück. Abbot pochte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. »Geh der Sache nach«, wies er sie an. »Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist ein Aufwiegler …« »Cavendish«, sagte Miranda. »Er ist entmachtet worden. Vielleicht lässt er Geheimnisse durchsickern … um Chaos zu säen.« »Das glaube ich nicht«, schaltete sich Nathan Lee ein. »Es klang nicht wie seine Stimme. Sie war zu kräftig.« »Er würde es auch nicht auf derart direktem Weg wa525
gen«, sagte Abbot zu Miranda. »Aber sei stets auf der Hut. Er wird versuchen, dich zu sabotieren, aber nicht die Zuflucht. So weit kann ich ihn einschätzen. Er hat die Nerven verloren. Er will das, was alle anderen in der Stadt auch wollen: ein Dach über dem Kopf, Schutz vor dem Unwetter.« »Nicht alle wollen das, was du willst«, erwiderte Miranda. Doch die Hand voll Wissenschaftler, die den Bunker als Todesfalle betrachtete, war in der Minderheit. Fast alle anderen konnten es kaum erwarten, sich in Sicherheit zu bringen, auch wenn das bedeutete, für die kommenden zehn Jahre oder ein halbes Jahrhundert oder wie lange es eben dauerte, auf die Sonne zu verzichten. Nathan Lee ließ den Blick von Vater zu Tochter wandern. Sie waren sich nicht einig, und sie waren wachsam. »Dissidenten«, lächelte Abbot. »Dein kleines Häufchen Optimisten. Träumer.« »Sie fällen ihre Entscheidung selbst«, sagte Miranda. »Wenn der Tag kommt, wirst du schon sehen, wie sie sich entscheiden«, schnaubte Abbot verächtlich. »Dann hat keiner Lust, so wie du bis zum bitteren Ende durchzuhalten.« »Wenn wir es durch den Winter schaffen«, sagte Miranda, »brauchen wir uns nicht tief in den Eingeweiden der Erde zu vergraben. Bis dahin ist das große Sterben abgeschlossen. Die Seuche ist dann an uns vorübergegangen.« »Die Seuche geht an niemandem vorüber.« »Wir haben noch andere Möglichkeiten.« Miranda blieb stur. Abbot zeigte auf das in dem Würfel eingeschlossene Serum-III, rührte ihn aber nicht an. Nathan Lee vermutete, dass Miranda es für ihn mitgebracht hatte. Schön auf dem 526
Präsentierteller aufgebaut. »Solche wie deine kleine Selbstmordpille?« »Kein Selbstmord«, protestierte Miranda. »Es gibt Überlebende da draußen, in ihnen liegt womöglich die Antwort. Aber wir brauchen Zeit, um sie zu finden, und wir müssen hier oben im Freien sein, um das zu tun. Die Impfung gibt uns Schutz.« »Und dann bringt sie uns um. Drei Jahre«, sagte er. »Ich biete ihnen dreißig Jahre. Fünfzig. Hundert. Wir müssen uns kein Gift verabreichen. Falls es wirklich Überlebende gibt, dann finden wir sie. Oder unsere Kinder.« »Einen Kilometer tief in der Erde vergraben?« Abbot löste sich abrupt und lächelte. »Ja, da ist sie wieder«, sagte er mit einem Lächeln zu Nathan Lee. »Meine rebellische Tochter.« Als hätte er sie eben erst entdeckt, nahm Abbot die kleine Jadefigur in die Hand. Es war ein magisches Objekt. Die Nackte konnte lasziv sein, herrschaftlich oder friedlich, je nachdem, wer sie in der Hand hielt. Abbot drehte die Statue in der Sonne hin und her, und sie wurde zu Miranda, nackt in Nathan Lees Armen. Miranda wandte den Blick ab. Abbot stellte die Statue wieder in den Sonnenstrahl und sah Nathan Lee an. »Ich glaube, wir sollten uns mal kurz von Mann zu Mann unterhalten«, sagte er. »Gehen wir ein Stück spazieren. Draußen.« Miranda wollte widersprechen. »Wir sind gleich wieder da«, beschied sie ihr Vater. Nathan Lee ging hinaus. Abbot zog die Tür hinter ihnen zu. Mirandas Schmetterlinge waren in der Kälte gestorben; außer ein paar bunten Fetzchen im Käfig war nichts von ihnen übrig geblieben. Abbot schlenderte zum Rand der 527
Mesa. Besonnen machte er drei Meter vor der Kante kehrt. »Das ist nah genug«, sagte er zu Nathan Lee. »Ich verfüge nicht über Ihre Bergsteigererfahrung.« Es war weder eine Entschuldigung noch ein Kompliment. Nathan Lee wartete. »Ich habe mir Ihre Akte genau angesehen«, fuhr Abbot fort. »Liest sich wie ein Hochseilakt. Sie stürzen, aber Sie kommen immer wieder auf die Beine. Sie haben eine Kunst daraus gemacht, auf den Füßen zu landen. Sie kommen immer mit dem Leben davon.« Seine Stimme wurde streng. Dunkel und hart. »Deshalb habe ich Sie verschont.« Die Offenheit erleichterte Nathan Lee. Er war nicht zum Abendessen mit Papa eingeladen worden. Sie kamen zum Kern der Sache, und das sofort. Abbot hatte ihm ein Geschäft vorzuschlagen. Er zog einen Brief aus einer Innentasche und faltete ihn auf. »Haben Sie schon einmal einen Deportationsbefehl gesehen?« »Nur davon gehört.« Deportationsbefehle waren wie Pfeile, die sich in Schlangen verwandelten, sobald ihr Opfer erledigt war. Sie töteten einen, dann verschwanden sie. »Bis auf diesen hier habe ich auch noch keinen gesehen.« Abbot tippte auf den Brief. »Ihr Name steht darauf.« Er reichte Nathan Lee das Blatt. Es sah offiziell aus, sprach von Quarantäne und wies den Überbringer an, Nathan Lee Swift festzunehmen und zur nächsten Stadt oder dem nächsten Ort zu transportieren, der für eine Razzia vorgesehen war. Der Vordruck war von Ochs ausgefüllt und sogar von einem Notar abgestempelt worden. Er war auf einen Tag nach Nathan Lees Rückkehr aus Denver datiert. Kaum war Nathan Lee dem Tod entrissen worden, hatte ihn Ochs abermals zum Tode verurteilt. 528
Aber jemand anderes hatte Nathan Lees Namen säuberlich durchgestrichen. Darüber stand jetzt: David Ochs. Jetzt las es sich so, als hätte Ochs sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Nathan Lee sah sich die Initialen am Rand und die hastige Unterschrift am Ende des Dokuments genauer an. P. A. stand da. Paul Abbot. »Ein Memento«, sagte Abbot. »Miranda hat mich angerufen. Sie hat mich angefleht. Sie haben keine Ahnung, wie ungewöhnlich dieser Vorfall ist. Sie war sicher, dass Ochs etwas im Schilde führte. Meine Agenten haben den Befehl abgefangen.« Nathan Lee sah den Hass in der Tinte. »Ochs«, sagte er laut. »Ochs ist weg«, sagte Abbot. »Aber er kommt wieder. Darauf können Sie wetten.« »Hierher?« »Die nächste Razzia war Salt Lake City. Siebenhundert Kilometer Luftlinie. Aber das war zu weit weg für meine Zwecke. Also habe ich mich mit Dr. Ochs unterhalten. Er schien durchaus damit zufrieden zu sein, Los Alamos auf eigene Faust zu verlassen.« Nathan Lee hörte eine leise Drohung mitschwingen. Abbot hatte nicht nur ein, sondern zwei Leben gerettet, aber nur, weil er damit einen größeren, heimlicheren Plan verfolgte. Indem er ihn in dieses größere Geheimnis einweihte, bereitete Abbot Nathan Lee auf etwas vor. Er würde eine Gefälligkeit von ihm verlangen. »Sagen Sie«, erkundigte sich Abbot, »war Dr. Ochs schon immer so ein Irrer?« »Wie meinen Sie das?« »Dieser messianische Eifer. Geradezu krankhaft. Oder war er früher schon so?« 529
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Von dem Wunder.« »Welchem Wunder?« »Egal«, winkte Abbot ab. »Jetzt ist sowieso schon alles in Bewegung gesetzt.« Nathan Lee spürte förmlich, wie rings um ihn unsichtbare Räder ineinander griffen. Und er war bereits in dieses Räderwerk eingesetzt worden. Welche Rolle er darin zu spielen hatte, würde man ihm bald mitteilen. »Ihre Rolle ist einfach«, sagte Abbot. »Fürs Erste tun Sie einfach, was Sie hier oben so zu tun haben. Reden Sie mit Gott. Lassen Sie ihn einen guten Mann sein. Schlafen Sie mit meiner Tochter. Machen Sie sie glücklich. Kümmern Sie sich um ihre Liebe. Was auch passiert, bleiben Sie immer dicht bei ihr.« Abbot reichte ihm eins seiner Handys. »Der Tag naht«, sagte er. »Der Tag E. Ich kenne Miranda. Sie wird mit allen Mitteln hier oben bleiben wollen. Sie haben es ja eben gehört. Aber Sie werden sie zu mir bringen. Sie wird sich gegen Sie wehren. Vielleicht hasst sie Sie bis ans Ende aller Tage. Aber Sie werden sie in den Bunker schaffen.« Abbot blickte über Nathan Lees Schulter in die aufsteigende Sonne. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wenn mich jemand versteht, dann Sie«, schloss er. »Ich darf meine Tochter nicht verlieren.«
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31 Die Belagerung ENDE OKTOBER
Ihr Vater reiste ab und überließ es Miranda, sie alle wieder ins Sonnenlicht zu führen. Mit einem Federstrich hatte sie Cavendishs Kultur der Geheimniskrämerei aufgehoben, sämtliche Recherchen, Seminarpläne und Konferenzen für alle zugänglich gemacht. Ab jetzt sollten die Labors zusammenarbeiten, sich nicht mehr bekriegen. Cavendishs berüchtigte Deportationsbefehle muteten wie etwas aus einer grässlichen Vergangenheit an, wie antike Folterinstrumente. Nicht mehr Angst, sondern Vernunft sollte regieren. Die Veränderung, die am häufigsten Kontroversen auslöste, war ihr Moratorium bezüglich der Menschenexperimente. Miranda stellte die Razzien ein und beschied, dass keine Klone mehr für medizinische Experimente herangezüchtet würden. Das Moratorium verursachte großen Wirbel bei den Forschern, die an ihre menschlichen Versuchskaninchen gewöhnt waren. Sie beschwerten sich, dass die Suche nach einem Heilmittel ohne Versuche am Menschen zum Scheitern verurteilt sei. Miranda blieb hart. »Wir haben auch mithilfe von Menschenversuchen kein Gegenmittel gefunden«, hielt sie ihnen entgegen. »Der Zweck heiligt die Mittel nicht mehr. Forschen Sie weiter. Alles wird gut werden.« Sie gewöhnten sich an ihre Erlasse. Nie mehr sollte Menschenasche 531
vom Himmel rieseln, wenn der Wind aus der falschen Richtung blies. Los Alamos widmete sich wieder seinem Trott aus harter Arbeit und wohlverdienter Freizeit, Unterhaltungen beim Essen, die brillant oder gewöhnlich sein konnten, BachKonzerten des Schulorchesters, Jazz-Sessions in Garagen und dem täglichen Bürokleinkrieg. Die Kinder standen morgens auf, gingen zur Schule, spielten Video-Spiele. Die Welt schien weiter entfernt als je zuvor. Nirgendwo brauten sich Sturmwolken zusammen, der Himmel blieb gnadenlos blau. In den Mittagspausen stiegen wunderschöne selbst gebaute Drachen aller Formen und Farben von den Labors auf und flogen über dem Wald und den braun-weißen Schluchten hin und her. Jeden Morgen kam Miranda Nathan Lee im Vergleich zum Vortag ein kleines bisschen verändert vor. Die grünen Augen in den dunklen Höhlen brannten nicht mehr so fiebrig in ihrem Gesicht. Ihr Unterkiefer verlor seine trotzige Ausstrahlung. Nathan Lee beobachtete sie im Schlaf, oder wie sie in der Küche umherging. Er versuchte es in Worte zu fassen: Sie kam ihm immer schöner vor. Doch die Veränderung vollzog sich auf einer umfassenderen Ebene. Er sah, wie sie die Schulter der jungen Witwe berührte, dem ungeduldigen Forscher an seinem Versuchstisch zuhörte und sich gegen sture Ratsmitglieder durchsetzte. Sie blickten zu ihr auf. Er hatte es schon im Alpha Lab beobachtet. Jetzt war die ganze Stadt bereit, dieser Frau, die fast noch ein Teenager war, die Treue zu halten. Eine Zeit lang wurde ihr Frieden lediglich von Cavendish gestört. Kein Tag verging, an dem er Mirandas Nachgiebigkeit nicht verdammte oder sie mit seinen Untergangsprophezeiungen bombardierte. Sein gnomenhaftes Gesicht infiltrierte das Fernsehprogramm und die Computermonitore. Er ließ sich über Verschwörer in ihrer Mitte 532
aus, warnte vor der Ankunft einer riesigen Armee von Seuchenopfern, raunte geheimnisvoll von unterdrückten Forschungsmethoden. Er machte sie nervös, zumindest versuchte er es. Aber die schemenhaften Verschwörer nahmen niemals Gestalt an. Scharfschützen der Marines hielten vom äußersten Vorsprung der Mesa Ausschau, aber es gab keine Armee von Seuchenopfern, nur ein paar Hundert abgerissene Pilger, die sich in ihr Lager auf dem leuchtend orangefarbenen Talboden zurückgezogen hatten. Was die unterdrückte Forschung anging, so hatten die Wissenschaftler nie zuvor eine derartige Freiheit genossen. Die Leute fingen an zu munkeln, ihr ehemaliger Tyrann sei niemals so lebendig gewesen wie jetzt, da er sozusagen tot war. Außerdem fiel ihnen auf, dass Cavendish niemals so tot ausgesehen hatte. Seine Krankheit hatte ihn bis auf die Knochen abmagern lassen. Die Lippen waren über die Zähne zurückgezogen. Er kam und ging wie ein Poltergeist, verspritzte sein Gift, war nach fünfzehn Sekunden wieder verschwunden, und man konnte weiter Glücksrad spielen oder Frasier-Konserven anschauen. Nathan Lee widmete sich wieder der einzigen Aufgabe, die er sich vorstellen konnte – dem Jahr Null-Projekt. Die Begeisterung der Stadt für die Klone war verebbt, das Auftauchen verzweifelter Pilger im Tal hatte die Jahr Null-Show ihres Charmes und ihres Unterhaltungswertes beraubt. Das Altertum schien wieder so gefährlich wie ehedem zu sein, und die Klone verloren ihren Berühmtheitsstatus, dessen sie sich niemals bewusst gewesen waren. Nachdem er drei Wochen weg gewesen war, war sich Nathan Lee nicht sicher, ob ihn der Stamm wieder aufnehmen würde. Izzy war strikt dagegen: auf gar keinen 533
Fall. Der Hof sei viel zu gefährlich für ihn und Nathan Lee geworden. »Du könntest ebenso gut von einer Klippe springen«, meinte er. »Ich habe mich über die Hofmikros bei unserem Freund Eesho eingeklinkt. Er hat den anderen erzählt, was Miranda ihm gezeigt hat, den Klon im Glas, und auch das, was sie gesagt hat, dass sie ihn erschaffen habe. So, wie er es erzählte, hörte es sich an wie ganz tief unten in der Hölle. Sie wissen, dass wir irgendwie dazugehören. Sie halten uns für Dämonen.« »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«, wollte Nathan Lee wissen. Sein Bedauern hatte weniger mit seiner Arbeit als damit zu tun, dass er einen Ort brauchte, dem er sich zugehörig fühlte. Er hatte sich an die hohen Mauern und die Gesellschaft der Außenseiter gewöhnt, und jetzt teilte er ihr Gefühl der Entwurzelung. Verwirrung hatte ihn erfasst, und seit Denver hatte er sich auf den Frieden ihres kleinen Goldfischglases in der Sonne gefreut. Er brauchte ihr Nichtwissen um die Welt, war die Hoffnung leid. »Vergiss es«, sagte Izzy. »Ochs hat den Brunnen vergiftet.« »Ochs?« Ließ ihn dieser Mann denn niemals in Ruhe? »Völlig ausgeflippt. Er und Eesho.« »Was hat er getan?« »Hat sich selbst wiedergeboren. Als du in Dekon warst. Wir haben alles auf Band.« Izzy führte ihn durch die Aufnahmen von Ochs’ Interview mit Eesho. Es hatte in einem Raum stattgefunden, in dem nur ein leerer Tisch und ein paar Stühle standen. Das Datum des Interviews zeigte 11. Oktober, ein Tag nach Nathan Lees Abstieg nach Denver. Die Kamera zeigte Izzy, der dem Klon gegenübersaß, und Ochs, der sich ständig die Handflächen rieb. Er wirkte gequält, aber ver534
zückt, beinahe fiebrig. Izzy spulte vor, und die drei Gestalten zappelten auf ihren Stühlen hin und her. »Die ersten paar Stunden können wir überspringen«, sagte Izzy. »Die alte Leier. Ochs hat die gleichen Fragen gestellt wie du und ich. Und die gleichen Antworten bekommen. Wortwörtlich aus der Bibel.« »Dann war Ochs derjenige, der ihn präpariert hat?« »Auf gar keinen Fall. Das hätte er nie gewagt. Im Vergleich zu ihm kommt einem dieser andächtige Idiot Ross wie ein Atheist vor.« Izzy hielt das Band an, hörte einen Moment hinein, spulte wieder weiter, hielt es abermals an. »Da ist es«, sagte er. »Ochs hat ihn nach den fehlenden Jahren gefragt, der Lücke zwischen Anfang und Ende zwanzig.« Es war eines der größten Geheimnisse des Neuen Testaments. Jahrhundertelang hatten sich Priester und Theologen gefragt, wie Jesus sich von einem frühreifen Kind zum König der Könige entwickelt hatte. Theorien darüber gab es mehr als genug, einige behaupteten sogar, er müsse wie die Beatles nach Indien gereist sein und dort bei den Gurus die Erleuchtung erfahren haben. »Wie hat Eesho darauf reagiert?«, fragte Nathan Lee. »Er sagt, er habe die Universität besucht, du weißt schon, Tempelstudien und so«, antwortete Izzy. »Sein Vater hätte ihn bei einem ›Lehrer der Gerechtigkeit‹ in Pflege gegeben. Keine Ahnung, wo er das her hat.« »Wieder mal die Schriftrollen vom Toten Meer«, sagte Nathan Lee. »Die Geschichte eines Lehrers und seines Lieblingsschülers, der ihn durch irgendeine Ketzerei verrät. In den Schriftrollen wird der Student als der ›Böse Priester‹ bezeichnet.« »Also Eesho war bestimmt kein aufrührerischer Schü535
ler«, sagte Izzy. »Viel zu brav, der Knabe.« »Trotzdem interessant. Eesho zeigt sich von einer anderen Seite. Er verlässt das Evangelium und geht in die Schriftrollen.« Izzy zuckte mit den Achseln. »Aber auf sicherem Boden«, meinte er. »Die geheimnisumwobenen Jahre. Man kann alles erzählen, denn niemand kann das Gegenteil beweisen.« Nathan Lee betrachtete das Video. Man sah, dass Ochs es auf die fehlenden Jahre abgesehen hatte, dass es ihm letztendlich aber um gewichtigere Fragen ging. »Jetzt möchte ich«, sagte Ochs auf dem Band, »zu der akademischen Streitfrage der Wunder und Heilungen kommen. Hast du jemals Wunder vollbracht?« Izzy übersetzte die Frage, und Eesho antwortete zustimmend, einmal mehr mit einer mechanischen Rezitation von Broten und Fischen und wie er die Blinden und Verkrüppelten geheilt habe. Ochs schien erfreut, sogar begeistert. »Talitha, cuma«, sagte Ochs. Damit war sein Aramäisch offenbar erschöpft. Nathan erkannte die Worte wieder, sie waren direkt aus der Bibel. Er kannte die Stelle, er kannte das Wunder. Sie bedeuteten: Mädchen, ich sage dir: Steh auf! Ochs warf seine Angel aus und hoffte, dass Eesho anbiss. Eesho sah ihn mit zunehmender Überlegenheit an. »Ich habe diese Worte gesprochen«, sagte er, »und das Kind wachte auf.« »Und Lazarus?«, wollte Ochs wissen. Eesho schilderte mit knappen Worten, dass er auch dessen Leichnam zum Leben erweckt habe. Nathan Lee wusste, worauf Ochs hinauswollte. Der Kontext war überaus wichtig. Chronologisch gesehen hatte sich Nathan Lee nur einen Tag zuvor in Denver geweigert, Lydia und Grace auszugraben. Und nun war Ochs dabei, 536
den Klon um das zu bitten, was Nathan Lee nicht hatte tun wollen. »Du behauptest, du könntest Tote zum Leben erwecken«, wiederholte Ochs. Kurz darauf lieferte Izzy die Antwort: »Er will wissen, ob Sie ihn um ein Wunder bitten.« Ochs sagte ja. Izzy protestierte: »Das führt zu weit!« »Verfügt er über die Macht, Tote zum Leben zu erwekken? Fragen Sie ihn das!«, befahl Ochs. Izzy leitete die Frage mürrisch weiter und übersetzte die Antwort: »Wenn dir jemand sagt: ›Sieh, dort ist Christus!‹, glaube ihm nicht. Denn falsche Christen und falsche Propheten werden sich erheben und Zeichen und Wunder vollbringen, um dich zu blenden.« Das war Markus, oder Lukas? Nathan Lee konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Ochs wurde sehr still. Seine Augen leuchteten heller. Nathan Lee war verwirrt. Eesho weigerte sich – selbstverständlich – ein Wunder zu vollbringen … weil er es nicht konnte. Aber Ochs war von dieser Ablehnung wie elektrisiert. »Was ist mit der Seuche?«, fragte Ochs. »Fragen Sie ihn, ob er ihren Fluch von uns nehmen kann.« »Du bittest mich, Gottes Strafgericht aufzuheben«, antwortete Eesho. »Was ist, wenn ich nein sage? Werdet ihr Gott verurteilen, damit ihr im gerechten Lichte dasteht?« »Was ist mit der Gnade?«, fragte Ochs. »Gott veranlasst alles, was auf dem Angesicht der Erde geschieht«, sagte Eesho. »Verstehst du? Du musst dich wie ein Mann vorbereiten. Tue Buße in Staub und Asche.« Damit wären wir wieder im Alten Testament. Hiob. Der 537
Mann ist wie ein Grashüpfer ständig von einem Text zum anderen gesprungen. Kaum war Izzy mit Übersetzen fertig, sprang Ochs mit einem starren, unheimlichen Ausdruck in seinem runden Gesicht auf. »Achtung, jetzt kommt’s«, murmelte Izzy Nathan Lee zu. Ochs ging um den Tisch herum. Der Klon erhob sich von seinem Stuhl und wich bis zur Wand zurück. Ochs baute sich vor ihm auf, gut dreißig Zentimeter größer und ungefähr doppelt so schwer. »Er hat tierisch Schiss gekriegt«, bemerkte Izzy. »Eesho dachte, jetzt wird er windelweich geprügelt. Er dachte wohl, jetzt hat er den Falschen verkohlt.« Einen Moment lang dachte Nathan Lee das Gleiche. Eesho hatte es mit Ochs zu weit getrieben. »Halten Sie sich von ihm fern«, wies Izzy Ochs zurecht. Doch Ochs fiel unerwartet vor den Füßen des Klons auf die Knie. Seine Hängebacken zitterten, seine massigen Arme hoben sich. »Was machen Sie da?«, war Izzys Stimme vom Video zu hören. »Stehen Sie auf, Mann. Sie machen ihn ja noch völlig gaga.« »Es war, als hätte er sein ganzes Leben darauf gewartet, vor jemandem niederzuknien«, kommentierte Izzy für Nathan Lee. »Vergib uns«, sagte Ochs. Eesho blickte auf Ochs hinab. Es war schwer zu sagen, wer hier wen bekehrte. Im Bruchteil einer Sekunde wechselte Eeshos Bestürzung zu Ungläubigkeit. Er sah aus, als hätte er gerade das große Los im Wochenendlotto gewonnen. 538
»Ich höre deine Worte«, antwortete Eesho, »aber nicht dein Herz.« Mit diesen Worten legte der Klon seine Hand auf Ochs’ kahlen Schädel und stieß ihn von sich. Ochs fiel zur Seite, schluchzend vor Freude oder vor Erleichterung. Es war, wie Nathan Lee bewusst wurde, ein Augenblick des perfekten Gleichklangs. Als sähe man dabei zu, wie ein Virus seinen Wirt findet. Wer jedoch Virus und wer der Wirt war, konnte Nathan Lee nicht sagen. Halloween zog ins Land. Die Straßen bevölkerten sich mit grässlichen Ungeheuern und schönen Prinzessinnen. Die Kürbisse waren dick und orange. Wolkenstreifen standen vor dem Mond. Tara ging als Madeline, ganz in Blau, mit gerade abgeschnittenem Pony. Nathan Lee und Miranda folgten ihr Händchen haltend durch die Dunkelheit. Tara schien es gar nicht aufzufallen, dass sie ganz allein von Tür zu Tür ging und ihr Sprüchlein aufsagte. Jedenfalls achtete sie nicht darauf, wenn sie die Kinder aus der Ferne über sie flüstern hörte. Sie war viel zu beschäftigt damit, ihre Beute einzufahren, und leuchtete nach jedem Haus mit der Taschenlampe in den Geschenkesack. Als alle wieder im Haus des Captains waren, heißen Apfelmost tranken und Kürbiskuchen aßen, zählte sie sämtliche Süßigkeiten durch und fing dann bei einhundert wieder von vorne an. »So ein Halloween habe ich noch nie erlebt«, sagte der Captain. »Was für eine Ausbeute!« »Das heißt, dass die Leute Madeline toll fanden«, verkündete seine Frau. Tara saß inmitten ihrer Süßigkeiten auf dem Fußboden und lächelte sie glücklich an. 539
Seit das Mädchen bei ihnen wohnte, waren der Captain und seine Frau jünger geworden. Die gerahmten Fotos von ihrer eigenen Tochter – für den Abschlussball herausgeputzt, bei einer Wildwasserfahrt auf einem Floß, mit einem Fisch in der Hand oder wie sie neben einem MarineKampfflugzeug steht – waren von Taras vielfältigen Kunstwerken verstellt. Tara erfüllte ihre Stille mit Gesang. Es war wieder Leben im Haus. »… acht, neun, zehn …« Tara teilte ihren Schatz zwischen fünf Puppen auf, die nebeneinander an der Wand saßen. Hin und wieder warf sie Nathan Lee einen verstohlenen Blick zu. Miranda stieß ihn mit gespielter Eifersucht an. Nathan Lee war an diesem Abend glücklich und traurig zugleich. Er verriet niemandem, was er dachte, dass Los Alamos allmählich seinem Ende entgegensah. Es war tatsächlich das schönste Halloween überhaupt, aber das hatte seinen Grund. Die Zeit der großen Scheinheiligkeit war angebrochen. Er hatte im vergangenen Sommer in Städten in ganz Amerika gesehen, wie die Erwachsenen die Kinder in falscher Sicherheit gewiegt und ihnen weisgemacht hatten, dass die schöne Zeit niemals zu Ende gehen würde. Der November brach an. Seitdem im August die Versorgung von außen endgültig abgerissen war, liefen die Bewohner immer schäbiger herum. Ärmel und Kragen wurden von Tag zu Tag abgerissener und schmuddeliger, in den Auslagen der Läden konnte man leere Regale bestaunen. Kioske im europäischen Stil verkauften alte Ausgaben von Newsweek, Observer und Scientific American. Vergilbte Ausgaben der New York Times datierten bis in die 1990er zurück. Gebrauchte Bücher standen hoch im Kurs. 540
Die Basketball-Saison hatte begonnen. Jeden Freitagabend lieferten sich die beiden High School-Mannschaften von Los Alamos vor voll besetzten Tribünen ebenso spannende wie überflüssige Matches. Dank des Atomkraftwerks verfügte die Stadt über Strom im Überfluss. Straßenlaternen und Verandalichter brannten die ganze Nacht hindurch. Es war, als schwebte die Stadt völlig losgelöst in der Luft. Und eines Morgens wachte sie auf und sah sich belagert. Über Nacht waren die paar hundert Pilger am Ufer des Rio Grande auf zwanzigtausend angewachsen, einen Tag später dreißigtausend. Die Bewohner von Los Alamos waren entsetzt. Da unten standen die Seuchenopfer praktisch vor ihrer Haustür. Cavendish erklärte ihnen hilfsbereit, damit sei der Anfang vom Ende gekommen. Eigenartigerweise unternahmen die Generäle nichts. Was noch eigenartiger war: Ihre Zurückhaltung beruhigte die Stimmung in der Stadt, es schien ihre Macht zu untermauern. Die Leute erinnerten sich daran, dass die Pilger schon einmal wieder verschwunden waren, und bauten darauf, dass sie auch diesmal wieder verschwinden würden. Solange die Meute auf der anderen Seite des Flusses blieb, fühlten sie sich nicht weiter gestört. Diese neuen Pilger kamen zu Tausenden durch das Weinland, durch alte Dörfer, in denen immer noch SantosFigürchen aus dem harten Kern des Pappelholzes geschnitzt wurden und die Friedhöfe noch aus der spanischen Besiedlungszeit stammten. Sie strömten aus den texanischen und mexikanischen Wüsten herbei, von Norden her aus Bergfestungen, die auf Skibergen und in stillgelegten Goldminen in Colorado und Utah ausgehalten hatten, aus Tornadoschutzräumen, Raketensilos und Ei541
senbahntunneln. Wo sie sich auch versteckt haben mochten – jetzt kamen sie heraus. Und schleppten sich auf die Stadt des Lichts zu. Ferngesteuerte Überwachungskameras beobachteten sie Tag und Nacht. Es trug zur Beschwichtigung der Angst in der Stadt bei, dass ihr Vagabundenlager alten, legendären Hippie-Kommunen ähnelte, bis hin zu den Gitarren, Suppenausgabeschlangen und Liebesmahlen. Sie zeigten keinerlei Anzeichen von Gewalt. Im Gegenteil, sie taten ihren Wunsch nach Frieden offen kund. Sie wussten, dass sie beobachtet wurden. Einige von ihnen hatten Verwandte in Los Alamos. Sie hielten Schilder mit Namen, PeaceZeichen oder Verweise auf die Bibel für die Kameras am anderen Ufer hoch. Der Rio war ihr Jordan. Sie stellten ihre Zelte auf einem Boden auf, der von Gift aus der Vietnam-Ära orange gefärbt war. Ihre Absicht, dort am Flussufer zu bleiben, war unmissverständlich. Sie wollten kein Blutvergießen, sondern ein Wunder. Das Zeltdorf war ein Seuchenlager. Satellitenbilder zeigten einen großen roten Tumor am Ostufer des Flusses entlang. Die Plasma-Anzeigen, die Verwesungsgase nachwiesen, reichten weit über die Skala hinaus. Flussabwärts war der Rio eine einzige Seuchenkloake. Am Erntedankfest war das Lager drei Kilometer lang und wuchs ständig weiter. Nach Informationen des Militärs waren dort unten mittlerweile fast hunderttausend Pilger; eine Woche später würden es doppelt so viele sein. Am erschreckendsten waren die nachts aufgenommenen Fotos aus großer Höhe, auf denen deutlich zu erkennen war, wie sich die Kerzen und Lagerfeuer dicken Adern gleich bis weit ins Tal hinabzogen, wo sie sich verzweigten und ausdünnten und wieder verzweigten, bis sie in Kapillaren und schließlich einfachen Lichtpunkten in der 542
Ferne ausliefen. Sie waren die letzten ihrer Art. Amerika sammelte sich, um Weihnachten zu feiern. Die Tage vergingen. Die Pilger verlangten nichts. In der Nacht malten ihre Lagerfeuer das Tal rot. Die Pilger, die gesund ankamen, infizierten sich rasch. Es schien ihnen nichts auszumachen. Christus war in Los Alamos auferstanden. Miranda berief eine Krisensitzung mit den Generälen und Labor-Direktoren ein. »Wir hätten evakuieren sollen, solange es noch möglich war«, rief ein Wissenschaftler. »Es ist noch nicht so weit«, erwiderte ein General. »Worauf warten Sie denn noch?«, wollte ein Verwalter wissen. »In einer Woche sind sie uns zwei zu eins überlegen.« »Vier zu eins in zwei Wochen«, ergänzte ein anderer. »Wie sollen wir hier unsere Arbeit erledigen, wenn da draußen Leute sterben?« »Wir haben die Situation unter Beobachtung«, beschied sie der General. Die Generäle saßen nebeneinander mit gefalteten Händen und unergründlichen Mienen da; sie wirkten gelassen. Nathan Lee war bestürzt, da sie nicht einmal besorgt zu sein schienen. »Sie können jeden Augenblick hier heraufgestürmt kommen. Wollen Sie uns denn nicht mehr schützen?« »Wir haben die Situation unter Kontrolle«, sagte der General. »Die Pilger stellen eine Gefahr für uns dar, das liegt doch auf der Hand, oder wollen Sie das etwa abstreiten?«, protestierte jemand. Ein Geistlicher aus einer der Kirchen vor Ort klopfte auf sein Mikrofon, ein älterer Mann mit einer Wolke aus wei543
ßem Haar und buschigen Koteletten. Er beugte sich vor. »Sie sind die Lilien auf dem Felde«, sagte er. Die Versammlung wartete ungeduldig. »Sie dürsten und sie hungern«, fuhr der Geistliche fort. »Christen in Not.« »Sie sind infiziert«, fuhr ihn eine Frau an. »Sie sind so gut wie tot. Wir müssen sie auseinander jagen, bevor es zu spät ist. Wie sollen wir jemals von hier wegkommen, wenn sie sämtliche Straßen blockieren?« Die Generäle sahen aus wie eine Reihe sorgloser Buddhas. »Wenn es so weit ist«, sagte einer von ihnen, »werden wir die Wogen teilen.« »Was soll denn das heißen?« Der General lächelte. »Das stammt aus der Bibel.« Eine andere Erklärung bot er nicht. »Speist sie«, forderte der Geistliche. »Wir haben im Überfluss. Gebt ihnen das Brot des Lebens.« »Damit noch mehr kommen?«, rief jemand. »Sie kommen in Frieden«, sagte der Geistliche. Es hörte sich an wie ein Dialog aus dem alten Film Der Tag, an dem die Erde stillstand. »Kann sein, dass sie in Frieden kommen«, meldete sich eine Frau zu Wort, »aber sie werden nicht in Frieden abziehen. Sie haben zu viel durchgemacht und nichts zu verlieren. Sie stecken sich gegenseitig an. Diese Leute gehen nicht wieder nach Hause. Sie haben es auf Los Alamos abgesehen.« »Begegnet ihnen mit Barmherzigkeit«, sagte der Geistliche, »dann wird euch ein Gleiches widerfahren.« Sie zogen ihn auf: »Sie sind hier nicht in der Kirche, Herr Pfarrer.« Miranda ging dazwischen, indem sie mit einem Blick in 544
Richtung der Generäle rief: »Was schlagen Sie vor?« Die Generäle legten die Hände über ihre Mikros und besprachen sich, dann nickten sie. Schließlich ergriff einer von ihnen das Wort. »Es ist besser, wir wissen, wo sie sind, als dass wir herausfinden müssen, wo sie sich verstecken. Sollen sie nur alle herkommen. Solange sie den Fluss nicht überqueren, sind wir hier in Sicherheit.« »Sie wollen also überhaupt nichts unternehmen?«, beschwerte sich ein Molekularbiologe. »Greift sie aus der Luft an!« Sein Vorschlag wurde ausgebuht. »Ich meine, nur so ringsum«, korrigierte er sich. »Werft ein paar Bomben auf unserer Talseite. Jagt ihnen einen Schrecken ein. Vertreibt sie von hier.« »Wir sind nicht da, um zu bluffen«, antwortete der General. »Aber wir müssen etwas tun.« »Wir beobachten und warten ab. Und wir versorgen sie«, sagte der General. »Was?« Der Geistliche faltete die Hände zum Dankgebet. »Der Reverend hat eine gute Idee. Sie kommt uns sehr gelegen«, fuhr der General fort. »Gebt ihnen Nahrungsmittel und Vorräte. Sie sollen hier bleiben.« »Sie hören sich an wie Blumenkinder aus Santa Fe!«, rief ein Laborchef. »Liebe und Wohltätigkeit. Da unten zieht eine Armee auf. Ich habe auf den Überwachungsmonitoren Gewehre und sogar ein paar Soldaten gesehen. Die werden jeden Tag stärker!« Der General zuckte mit den Achseln, und seine Schultern sahen aus wie Flügel. »Sie werden jeden Tag schwächer«, stellte er klar. 545
»Wenn sie lange genug dort sitzen, sterben sie von ganz allein.« Sie dachten darüber nach. Ihre Wohltätigkeit war ihre Waffe. Das befriedigte sie. Sehr sogar. So kam es, dass sie ihre Feinde großzügig versorgten.
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32 Penitentes DEZEMBER
Es war die Jahreszeit, in der kleine Mädchen und Jungen sich in Zuckerfeen und Mäuse verwandeln. Die zweite alljährliche Nussknacker-Aufführung des Bolschoi stand kurz bevor. Der Rest des Denver Symphonieorchesters kramte seinen Tschaikowski zusammen. Ein berühmter Broadway-Produzent, der hier Unterschlupf gefunden hatte, stritt sich mit einem berühmten HollywoodProduzenten um die Inszenierung, die Beleuchtung und den Ruhm. Hier und dort tauchten Girlanden aus Immergrün auf. Den Bäumen im Park wuchsen rote Schleifen und Styropor-Zuckerstangen. Tausende Farolitos säumten die Bürgersteige, in mit Sand gefüllten Papiertüten leuchteten Kerzen. Nathan Lee hätte niemals geglaubt, dass es in Los Alamos noch so viele Kerzen gab. Wie die Kinder in der Schule, so erfuhr auch Tara etwas über Hannukah und Dreidels, über Kwanzaa, das Jesuskind in der Krippe und über den Weihnachtsmann. Natürlich wurde das scheue Mädchen, das gelegentlich noch an düsteren Ausbrüchen litt, zu Hause unterrichtet; dank der alten Plattensammlung des Captain knödelte sie Weihnachtslieder von Perry Como. Die Forscher kamen mit rosigen Wangen und dicken Pullovern zur Arbeit. Aus den Mikrowellenherden roch es 547
nach Apfelmost. Anstelle von Misteln hingen rote Pfefferschoten über den Bürotüren. Reagenzgläser mit liebevoll in der Laborausrüstung destilliertem Selbstgebrauten wurden herausgeholt. Alle waren fest entschlossen, sich die Feiertage nicht verderben zu lassen. Trotzdem waren die Eindringlinge da. Innerhalb weniger Wochen hatte das Seuchenlager am Ufer des Rio gigantische Ausmaße angenommen. Frühere Hochrechnungen des Militärs wurden um das Zehnfache übertroffen. Inzwischen befand sich dort unten fast eine Million Menschen, noch mehr waren unterwegs, die letzten Zuckungen der amerikanischen Kolonialbewegung. Hohlwangig und vom Wind gebeutelt, ließen sie sich am Rande von Oz nieder. Aus der Luft sahen sie aus wie eine riesige Herde Wandertiere. Oder wie Woodstock. Die Stadt nahm ihnen die Belagerung übel. Waren sie nicht Wissenschaftler, die Tag und Nacht daran arbeiteten, ein Heilmittel für sie zu finden? Hatten die Leute von Los Alamos nicht auch ihr Weihnachten verdient, von dem ursprünglichen Christus verschont zu bleiben, der in diesen fiebrigen Vorstellungen da unten lauerte? Sie hockten dort unten wie Ahnen, die ständig vor sich hinbrabbelten. Ahnen mit Messern. Es war einfach nicht in Ordnung. Der religiöse Eifer der Pilger war inbrünstig und erschreckend zugleich. Die am Westufer aufgestellten Kameras zeigten eine Stadt aus zusammengeflickten North Face-Zelten, rostigen Unterständen aus Wellblech, Barakken aus Pappkartons, aus als Windschutz aufgetürmten Steinen und in die Erde gegrabenen Mulden. Und überall Exkremente. Das wirre Haar und die glitzernden Augen erinnerten Nathan Lee an ein Everest-Camp gegen Ende der Klettersaison. In der Nacht fielen die Temperaturen empfindlich unter Null. Die Leute schliefen unter herausgerissenen Windschutzscheiben, sie schliefen im Freien, 548
einige von ihnen sogar völlig nackt. Zwischen den Berghängen und einer Haube aus kalter Luft eingeschlossen, hing der Rauch ihrer Feuer als braune Smogschicht über ihnen. Von Taos bis hinunter nach Santa Fe waren die Hügel kahl geschlagen. Die Städte selbst sahen aus, als wären sie von Riesentermiten zerfressen worden. Alles, was aus Holz war, wurde in den Schlund des Lagers gekarrt und dort verfeuert. Sie froren. Wenn etwas verbrannt werden konnte, verbrannten sie es. Mit einer Ausnahme: ihren Kreuzen. Die Pilger hatten sie auf etwa anderthalb Kilometern Länge am Ufer des Rio Grande entlang aufgestellt. Groß und massig standen die aus Kiefernholz gefertigten, nach Los Alamos gerichteten Gebilde da. Zu dieser Jahreszeit war der Fluss kaum mehr als ein breiterer Bach. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu überqueren; trotzdem blieben die unerwünschten Besucher aus irgendeinem Grund auf dem Ostufer. Los Alamos quittierte diese Selbstbeschränkung mit Erleichterung und schloss daraus, dass im Lager eine übergeordnete Intelligenz am Werk sein musste. Die Pilger überwachten sich selbst, versorgten sich, kümmerten sich um ihre Bedürfnisse und verteilten die Nahrungsmittelsendungen. Vor allem respektierten sie die unausgesprochene Grenze. Das bedeutete, dass sie einen – oder mehrere – Anführer haben mussten, die etwas vom Herrschaftsprinzip verstanden. Trotzdem gelang es ihnen nicht, den Anführer der Pilger ausfindig zu machen, jedenfalls nicht aus der Ferne mit ihren Kameras. Die Aufklärungsabteilung von Los Alamos brütete über Luftaufnahmen, konnte jedoch kein eindeutiges Zentrum in dem Durcheinander ausmachen, keine Nabe, um die sich diese Menschenmasse drehte. Aus welchem Grund auch immer wollte der Anführer unerkannt bleiben und im Verborgenen operieren. Sie suchten weiter. 549
Wenn er sich nur zeigen würde, wollte die Stadt mit Freuden die Koexistenz des Lagers formalisieren. Los Alamos würde anbieten, die humanitären Lieferungen zu erhöhen. Im Gegenzug würden die Anführer der Belagerung sicherlich in eine Abmachung einwilligen, den Fluss als Grenze anzuerkennen und damit den Frieden untermauern. Nathan Lee war nicht davon überzeugt. Er blickte auf die lange Reihe von Holzkreuzen und sah Holz, das frierende Menschen verbrennen könnten, das aber nicht verbrannt wurde. Er sah eine wilde Horde, die von einer Idee geleitet wurde, nicht von Anführern. Er bezweifelte, dass sie einen Sprecher hatten. Sie waren nicht von Vernunft, sondern von einem gemeinsamen Empfinden in Schach gehalten. Sie waren ein Pulverfass, das nur auf die brennende Lunte wartete. Und immer noch unternahmen die Generäle nichts. Am 14. Dezember übertrugen die Überwachungskameras ein wüstes neues Bild aus dem Camp. Über Nacht hingen an einem Dutzend der Kreuze am Fluss lebendige Menschen. Die Männer wanden sich vor Schmerzen. Ihre Arme waren an die Querbalken gefesselt, einige hatten zerfetzte T-Shirts an, andere waren nackt. Der Krisenrat war wie gelähmt, der ehrwürdige Baptistengeistliche mit den buschigen weißen Koteletten sprachlos. »Sind das Verbrecher?«, fragte jemand. »Muss wohl so sein. Sie werden dafür bestraft, dass sie gegen das Gesetz verstoßen haben. Sie haben Gesetze, sie haben Strafen. Das ist gut.« Nathan Lee trat dichter an den Monitor heran und sah kleine Plattformen, auf denen die Kruzifixe standen. »Das sind penitentes«, sagte er laut. 550
Noch während sie zuschauten, wurden hier und da Ersatzleute hinauf gehievt, wo sie ihren Platz am Kreuz einnahmen. Die »Gekreuzigten« zogen die Arme aus den Schlingen und stiegen herab. Wieder fand man in Los Alamos eine bequeme logische Erklärung dafür. »Das sind ja nur Doubles«, kommentierte ein Ratsmitglied. »Wie halten die es bloß in der Kälte aus?«, wunderte sich jemand. »Ich kann die Splitter fast spüren.« »Warum machen die das?«, fragte eine Frau. »Das ist alles völlig harmlos«, beruhigte sie ihr Nachbar. »Es ist so brutal. Auch wenn sich die Gewalt gegen sie selbst richtet.« »Alles nur Theater«, verkündete ein Soziologe. »Ihr Leiden ist eine Form der Unterhaltung. Die Kreuze sind wie eine Bühne.« Nathan Lee war anderer Meinung, hielt sich aber zurück. Merkten sie denn nicht, dass die bemannten Kreuze nach Los Alamos ausgerichtet waren? Das Lager übermittelte der Stadt eine Botschaft aus Fleisch und Blut. Aus den wenigen Radikalen wurden viele. In den wärmeren Mittagsstunden waren sämtliche Kreuze am Flussufer besetzt. Nathan Lee fühlte sich an Berichte über die Nachwirkungen von Spartakus’ Sklavenaufstand und der Rebellion der Juden in Jerusalem erinnert. Männer wanden sich an Kreuzen, die zwischen Zelten und Autowracks aufgestellt waren. Zu ihren Füßen weinten Familien. Rauch wehte in die Locken der Männer hinauf. Vielleicht war ja Flucht sein natürlicher Zustand. Mit jeder Stunde, die verging, stellte sich Nathan Lee die Schritte frischer Seuchenopfer vor, die sich der Belagerung anschlossen und das Tal dicht machten. Die Evakuierung in 551
den WIPP-Bunker, die er ohnehin nicht gut hieß, schien immer unwahrscheinlicher zu werden. Er richtete den Blick immer öfter nach Westen. Der kopflose Vulkan lockte aus der Ferne, die Versuchungen kamen mit dem nachmittäglichen Wind herangeweht. Nimm deine Geliebte, flüsterten sie, und fliehe in die Wüste. In der Gegend von Four Corners gab es Hunderte von Höhlenwohnungen der Anasazi. Mithilfe des Captains hatte er sie auf der Landkarte ausfindig gemacht. Er könnte mit Miranda fliehen, sich dort verstecken und abwarten, bis die Fanatiker in Richtung Los Alamos gezogen waren, und dann in der Zeit, die ihnen noch blieb, frei durch die Welt streifen. Es käme einem Verrat an ihrem Vater gleich, dem er versprochen hatte, Miranda auszuliefern, zumindest dem Versuch, ihn zu hintergehen. Nathan Lee war sich ziemlich sicher, dass Paul Abbot jede seiner Bewegungen genau beobachten ließ. Er war mehr ein Gefangener als die Gefangenen in Mirandas Keller. Selbst wenn es ihm gelang, aus Los Alamos zu fliehen, würde Miranda niemals mit ihm gehen. Ihre Hingabe an die Stadt – ihr unerschütterlicher Glaube an sie – erstaunte und entmutigte ihn. Sie benahm sich so, als wäre sie hier geboren. Deshalb ließ es Nathan Lee fürs Erste dabei bewenden und tat das, was er – abgesehen von seiner eigenen Flucht – für das Beste hielt: Er überlegte, wie er die Klone befreien konnte. Die Vorstellung erfüllte ihn mit Genugtuung. Er verabscheute das, was man ihnen angetan hatte. Sie und ihre geopferten Brüder waren von Los Alamos auf tausend verschiedene Arten benutzt worden, hatten als Versuchskaninchen gedient und das Verlangen der Stadt nach Mysterien gestillt. »Ich finde, die Jungs sollten freigelassen werden«, sagte er eines ruhigen Nachmittags zum Captain. Sie überwach552
ten den Hof an den Monitoren. In den vergangenen Wochen hatten sich die Gefangenen nach und nach wieder aus ihren Zellen getraut und mutig der Sonne getrotzt. Ben war der Entschlossenste, morgens immer der Erste, der Letzte am Abend, spazierte herum, kümmerte sich um das Feuer, spazierte noch mehr herum, bereitete seine Muskeln vor. Nathan Lee sah förmlich, wie seine Gedanken arbeiteten, Ben hatte keinen einzigen Tag verpasst. Wochenlang hatte er den Hof für sich allein gehabt. Jetzt war er wieder bevölkert. Die Brandopfer – Vögel und Eichhörnchen – nahmen zu, obwohl es spät im Jahr wurde und sie das Gelände weitgehend leergejagt hatten. Im Augenblick machte Ben seine Tour an der Mauer entlang. Große, weit ausschreitende Schritte trugen ihn um den Hof. Ein paar andere folgten ihm, die Eifrigsten passten sich seiner Geschwindigkeit an, die Langsameren kamen grunzend und keuchend hinterher. Am Feuer verbreitete sich Eesho über das bevorstehende Armageddon. Es war schon über einen Monat her, dass Ochs vor ihm gekniet hatte, aber der Vorfall hatte seinen Appetit nach Jüngern geweckt. Mit Anleihen aus der Auferstehung und der Kriegsrolle der Schriftrollen vom Toten Meer hatte er sich ein Gleichnis von einem gewaltigen Dämon, einem der Söhne der Finsternis, den er um Vergebung bat, zusammengebastelt, und einer Königin der Toten, einer Frau mit grünen Augen und Haaren aus Rotgold, deren Name Miranda war, und ihren Sklaven mit Namen Nathan Lee und Izzy. Seine Predigten wurden von Tag zu Tag ein wenig frecher und ausgefeilter. »Höchste Zeit, dass das mal jemand zur Sprache bringt«, meinte der Captain. Nathan war überrascht. »Dann haben Sie also nichts dagegen, sie freizulassen?« 553
»Nicht mal einen Hund würde ich so behandeln, wie wir diese Menschen behandelt haben.« »Aber Sie sind ihr Aufseher«, sagte Nathan Lee erstaunt. »Besser ich als so mancher andere«, antwortete der Captain. »Aber wie auch immer, ich habe mir schon gedacht, dass mal jemand wie Sie aufkreuzt, und dann braucht es jemanden wie mich an der Stelle, an der ich sitze, jemand, der das tut, was ich tue, und der dann zustimmend nickt.« Auch eine Weltanschauung, dachte Nathan Lee. »Dann lassen Sie sie also entkommen?«, wiederholte er. »Noch nicht. Und nicht ich«, antwortete der Captain. »Aber wenn die Zeit gekommen ist, stehe ich voll und ganz auf Ihrer Seite.« »Na, wunderbar«, sagte Nathan Lee, der seinem Glück kaum trauen wollte. »Und wann ist die Zeit gekommen?« Wie sich herausstellte, hatte der Captain schon ausgiebig darüber nachgedacht. In den folgenden Stunden diskutierten sie darüber, als ginge es darum, einen Haufen ZooTiere in die Wildnis zu entlassen. Die Klone waren einerseits zu wild, andererseits zu zahm. Sie waren gefährlich, aber an die Gefangenschaft gewöhnt. Man konnte sie nicht in der Nähe der Stadt freilassen, sonst kamen sie zurück und fielen über die Stadtbewohner her. Sie hinunter ins Pilgerlager zu schicken, bedeutete nichts anderes, als sie in Treibsand zu werfen. Dort unten am Fluss herrschte nichts als Entbehrung und Verzweiflung. Hätte man die Razzien noch nicht eingestellt, hätte man die Klone per Hubschrauber an irgendeinen weit entfernten Ort bringen können, aber diese Option stand nicht mehr zur Disposition. Los Alamos hatte die Beutezüge in die Großstädte eingestellt; wahrscheinlich gab es dort ohnehin nichts mehr zu holen. Kurz gesagt, ihre Freilassung musste bis zum Tag E war554
ten, dem legendären Tag der Evakuierung. Nathan Lee befürchtete, es würde – falls dieser Tag überhaupt kam – ein derartiges Chaos ausbrechen, dass die Wachen vielleicht vergaßen, die Zellen aufzuschließen. Auf seiner Reise quer durch Amerika hatte er Geschichten von Gefängnissen und Zoos voll mit verhungerten Gefangenen gehört. Der Captain übernahm die Aufgabe, die Zellentüren so zu programmieren, dass sie sich, eine Stunde nachdem die Stadt evakuiert war, von selbst öffneten. In der Zwischenzeit wollte Nathan Lee die Klone auf feindseligere Zeiten vorbereiten. Sie wussten, wie man Kalkstein brach, Weizen aussäte, Leder bearbeitete, Eisen schmiedete und Ziegen weidete. Aber das Überleben in den Ruinen von Amerika erforderte noch einige andere Fähigkeiten. Eine Büchse verdorbenes Fleisch konnte ihnen den Garaus machen. Eine falsche Schnellstraße führte sie mitten in den kanadischen Winter. Und sogar die ausgestorbenen Städte waren technisch gesehen noch quicklebendig – und tödlich. Die Klone brauchten einen Schnellkurs Zwanzigstes Jahrhundert. »Sie wissen, was Sie zu tun haben«, sagte der Captain. Nathan Lee ging zu Izzy, der es für eine schreckliche Idee hielt. »Ich hab dir doch gesagt, sie halten uns für ihre Feinde. Eesho hat sie darauf getrimmt, uns umzulegen, sobald wir uns noch einmal zeigen.« »Wir wählen nur einen aus, erziehen ihn, zeigen ihm, wo’s lang geht. Wenn die Zeit reif ist, kann er es den anderen zeigen.« Izzy scheute davor zurück. »Warum sollte auch nur einer von ihnen uns vertrauen? Sie haben uns inzwischen durchschaut. An ihrer Stelle würde ich uns auch nicht über den Weg trauen.« 555
»Es sind Gefangene. Sie haben keine andere Wahl.« »Von mir aus«, brummte Izzy. »Suchen wir eben einen aus. Aber wen?« »Einen, auf den sie hören werden.« »Aber nicht seine verdammte Herrlichkeit«, protestierte Izzy. »Von mir kriegt Eesho den Schlüssel zum Schloss nicht in die Hand. Er hält sich ja jetzt schon für Gott den Allmächtigen.« »Nicht er«, sagte Nathan Lee. »Ben.« Izzy kaute an seinem Schnurrbart. »Ich dachte, du willst einen Anführer. Ben ist ein Einzelgänger. Als er beim letzten Mal die Gelegenheit dazu hatte, ist er auf eigene Faust abgehauen.« »Das war etwas anderes. Er hat seine Chance gewittert und sie genutzt. Aber jetzt folgen sie ihm, ob er will oder nicht.« »Na gut«, knurrte Izzy. »Wahrscheinlich ist er besser als die meisten anderen.« Der Unterricht begann gleich am folgenden Morgen. Ben wurde aus dem Hof geholt und in den gleichen kargen Raum geführt, in dem Ochs Eesho um ein Wunder gebeten hatte. Nathan Lee und Izzy erwarteten ihn; auf dem Tisch vor sich hatten sie die Lektion des Tages aufgebaut. Dort standen ein Globus, eine Büchse Bohnen und ein Büchsenöffner. Ben war von der Sonne braun wie Mahagoni geworden. Sein Haar roch rauchig vom Lagerfeuer. Als er die beiden sah, verrieten seine Züge weder Erstaunen noch Feindseligkeit. Sein Gesicht blieb die übliche rätselhafte Maske. Er nickte Izzy zu und richtete seine Worte an Nathan Lee. »Du bist wieder da«, sagte er. Es war eine Begrüßung, die eine längere Reise mutmaßte. 556
»Ja, ich bin wieder zurück«, sagte Nathan Lee. Eesho hatte Nathan Lee und Izzy als Handlanger der Finsternis gebrandmarkt. Aber die Mikros auf dem Hof hatten auch Gespräche zwischen Gefangenen aufgefangen, die darüber diskutierten, ob die beiden ehemaligen Leidensgenossen geflohen oder vielleicht sogar hingerichtet worden waren. Das Kruzifix im Baum saß ihnen immer noch in den Knochen. Ben äußerte sich nicht zu solchem Tratsch. Er hatte seine Meinung bereits an jenem Nachmittag vor zwei Monaten kundgetan, an dem er Golgatha beschrieben und erklärt hatte, wie sehr er und Nathan Lee sich ähnelten – Reisende, die sich freiwillig einer Wildnis aus Licht und Schatten aussetzten. Nathan Lee hatte sich noch einmal auf die Suche begeben, und jetzt war er wieder da. Das genügte Ben. Er wollte nicht wissen, wo Nathan Lee gewesen war, auch nicht, was er gesehen hatte. Über derartige Details konnten sie sich ein anderes Mal unterhalten. Ben musterte Nathan Lees Gesicht. Vielleicht hatte sich sein Gesicht ja verändert. Nathan Lee hatte in den Spiegel geschaut: Der Kummer hatte sein Haar nicht weiß gemacht und ihm auch nicht mehr Falten um die Augen beschert. Trotzdem sah Ben etwas. »Deine Reise war beschwerlich«, bemerkte er. Er schien persönlich enttäuscht, als sei es womöglich die falsche Reise oder Nathan Lee der falsche Reisende gewesen. Es hatte nichts Mystisches oder Anzügliches an sich. Nathan Lee hatte damals die gleiche Enttäuschung verspürt, als er seinem Vater und seiner Mutter nach bestimmten Expeditionen zugehört hatte. Forschungsreisende standen in einer Verbindung miteinander, egal, ob sie auf dem Meer oder in einem Buch suchten. Wenn einer von ihnen einen Schatz entdeckte, ob nun Gold, einen 557
Berggipfel oder eine mathematische Formel, dann bereicherte er damit zugleich alle anderen, denn grundsätzlich trieb sie alle das gleiche Rätsel um. Wenn einer von ihnen verloren ging oder mit leeren Händen nach Hause kam, fühlten sich alle leer. Früher oder später wurde die Suche natürlich wieder aufgenommen, oft mit einem anderen Ansatz oder einem neuen Forscher. Die Fortführung war unvermeidlich. Es gab kein Ende für die Suche der Menschheit, nur den großen Kreis. Nathan Lee wusste, dass sich auch die Klone auf diese Suche begeben würden, sobald sie ihre Freiheit wiedererlangt hatten. Sie würden bis ans Ende der Welt gehen, um ihre Angehörigen zu finden. Sie würden einfach nicht daran glauben, dass zweitausend Jahre – achtzig Generationen oder noch mehr – vergangen waren, und dass ihre Frauen und Kinder längst Staub waren, und er hatte auch nicht vor, ihnen diesbezüglich die Wahrheit zu sagen. Nathan Lees Aufgabe bestand darin, die Fackel weiterzureichen, mehr nicht. Man konnte unmöglich voraussagen, was ihr Weg ihnen alles offenbaren würde. Nathan Lee zog den Globus zwischen sich und Ben. »Das ist die Welt. Das ganze Land. Und das ganze Wasser.« Er ballte seitlich neben der Kugel eine Faust. »Suhrraa.« Der Mond. Weiter draußen beschrieb er eine zweite Kreisbahn durch die Luft. »Shimshaa.« Die Sonne. Er hielt den Globus an und zeigte auf mehrere Stellen. »Israel. Jerusalem. Ägypten. Rom. Baavil.« Babylon. Bens Aufmerksamkeit wechselte vom Globus und seinen Versprechungen zu Nathan Lee. »Warum zeigst du mir das?« Aber selbst seine ausdruckslose Stimme und die vernarbte, stoische Maske konnten seine Sehnsucht und seine Aufregung nicht verbergen. »Es ist an der Zeit, euch gool-paa-n’e zu geben«, sagte Nathan Lee. Flügel. »Du kannst den anderen zeigen, wie 558
man fliegt.« »Flügel«, brummte Ben bedächtig. »Dort draußen wartet eine ganze Welt.« Nathan Lee versetzte den Globus in eine langsame Drehung. »Deine Welt.« Ben schaute nicht auf den Globus. Aha, dachte Nathan Lee, Ben hatte sich also vom Stammesgefühl vereinnahmen lassen. Nathan Lee war ein Außenseiter. Ben schien es ihm nicht anzukreiden, aber es war da. »Es ist auch eure Welt«, sagte er. »Pfff«, zischte Ben spöttisch. »Worte. Eine Falle.« »Es ist keine Falle. Wenn die Zeit kommt, werdet ihr frei sein.« »Wirst du uns befreien?« »Ja.« »Also gehören wir dir.« »Nein, mir nicht«, erwiderte Nathan Lee. Ben war ein harter Brocken. Er klopfte das Angebot nach allen Seiten ab. »Du hast uns zu Sklaven gemacht … für nichts?« Nathan Lee korrigierte Bens Wortwahl nicht. Sie waren Versuchskaninchen. Die Sache war nicht persönlich. Es gab keine Möglichkeit, die Erbärmlichkeit dieser Tatsache zu erklären. »Ben«, seufzte er, »u-saad.« Sei frei. »Du willst, dass wir wieder glauben.« Woran, sagte er nicht. Es war universell. Der Glaube verlangt den Zweifel, und der Zweifel den Glauben. Los Alamos war genau auf diesem Fundament errichtet worden. »Ich sehe, wie du umhergehst«, sagte Nathan Lee. »Wie du dich umsiehst. Den Wind riechst. Du hast gesagt, wir sind uns ähnlich. Ich spüre, dass du bereit bist fortzuge559
hen.« Ben war immer noch nicht überzeugt. »Warum tust du das?« »Weil es mich befreit«, antwortete Nathan Lee. Das schien Ben fürs Erste zu genügen. Nathan Lee hielt den Globus an und setzte den Finger auf New Mexico. »Wir sind hier. Eine Stadt. Los Alamos. Das alles hier ist Amerika. Ich möchte dir etwas darüber erzählen.« Ben folgte der Lektion eine Zeit lang, wandte sich dann aber wieder an Nathan Lee. »Führe uns«, sagte er. Nathan Lee stockte. Würden sie ihm in dieser Hinsicht vertrauen? Aber sein Platz war … woanders. Er hatte seine Suche nach dem, was sie erst finden wollten, beendet. »Nein. Nicht ich.« Er wusste nicht genau, wie er sich erklären sollte. »Mein Herz ist hier.« »Nimm sie mit«, sagte Ben völlig überraschend. Nathan Lee blickte Izzy verdutzt an, der aber nur mit den Achseln zuckte. »Wen meinst du?« Bestimmt Miranda. Eesho hatte sie den anderen beschrieben, die grünäugige Zauberin. »Deine Tochter«, erwiderte Ben. Die Wände fielen in sich zusammen. »Was?«, flüsterte Nathan Lee. »Das kleine Mädchen«, sagte Ben. Etwas schoss ihm eiskalt die Wirbelsäule herauf. Nathan Lee war absolut unfähig, etwas zu sagen. Izzy mischte sich grob ein. Er sah, dass Nathan Lee geschockt war. »Wer hat dir von diesem Kind erzählt?«, erkundigte er sich. »Niemand«, antwortete Ben. »Ich habe sie in der Nacht 560
singen gehört. Aber dann hat sie sich verändert. Sie hat gerufen. Sie ist wütend geworden. Aus ihren Liedern wurde Weinen.« Der Geist meiner Tochter. Nathan Lee kam sich vor wie aufgespießt. »Ich konnte nichts anderes tun als zuhören«, fuhr Ben fort. »Es hat mir fast das Herz zerrissen. Und dann kamst du und hast ihr Geschichten erzählt. Du hast ihr auch vorgesungen. Damals hörte ich deine Stimme zum ersten Mal. Ich verstand deine Worte nicht, aber ich lauschte. Es dauerte Stunden. Du hast ihre Dämonen ausgetrieben, einen nach dem anderen. Und indem du sie heiltest, heiltest du auch mich. Die Wildheit in mir.« Mit einem Mal wurde Nathan Lee klar, wovon er redete. Ben musste sie durch die Metallwände hindurch gehört haben. Er atmete aus. »Das Mädchen«, sagte Nathan Lee. »Tara. Die Neandertalerin.« Die Welt fügte sich wieder zusammen. Izzy entspannte sich. »Ich habe es dir nie gesagt«, schloss Ben in seiner Sprache. »Du hast mir Hoffnung gegeben. Das war das erste Mal. Das zweite Mal war, als du uns aus der Erde herausgeholt hast, in die Sonne. Ich wusste, das war deine Hand, in dem Augenblick, als ich deine Stimme hörte. Und jetzt gibst du uns Flügel. Verstehst du, was ich sagen will? Du führst uns schon jetzt. Deshalb solltest du mitkommen.« So, wie er es sagte, klang es ganz einfach. Nathan Lee stellte die Büchse mit den Bohnen auf den Tisch und reichte Ben den Büchsenöffner. »Hier«, sagte er, »mach das auf.« In den Tagen darauf betraten sie das 20. Jahrhundert. Der Raum erinnerte mehr und mehr an eine Müllhalde. Nathan 561
Lee und Izzy schleppten alles herbei, was den Klonen in der Einöde Amerikas nützlich sein könnte. Taschenlampen, Spannungsprüfer für alle möglichen Batterien, Ferngläser, Taschenmesser, Streichhölzer, einen Werkzeugkasten, ein Brecheisen, Schrauben, Mückenschutzmittel, Angelhaken, eine Reflektorfolie, Bücher und Zeitschriften, einen Atlas, Plastikflaschen, eine Ausrüstung zum Überprüfen von verschmutztem Wasser, Rucksäcke, Draht, eine Kiste Militärrationen inklusive selbst erhitzender Rationen, Leuchtstäbe, ein Paar Hosen mit Reißverschluss, Bleistifte und einen Bleistiftspitzer, Papier. Nicht alles war unbedingt nötig, Toilettenpapier etwa, oder Uhren. Die Ecken des Zimmers füllten sich. Ein ganzer Tag war für Schlösser reserviert, ein anderer für den Umgang mit einem Kompass. In einem verlassenen Flur bekam Ben Fahrradstunden. Bei der Beschäftigung mit allen möglichen Apparaten lernte Ben, Zeichen, Symbole, Karten, Farben und Verfallsdaten auf Nahrungsmittelverpackungen zu verstehen. Izzy stellte ein kleines Wörterbuch Englisch/Aramäisch zusammen, das alle allgemeinen Hinweise enthielt, die ihnen auf einer Straße begegnen konnten: Eintritt Verboten, Vorsicht Hochspannung, Krankenhaus und sogar Parkverbot, Rauchen Verboten und Keine Kehrtwende. Es hatte keinen Sinn, sich Gedanken über das Nutzlose da draußen zu machen. Am Abend blieb Ben wach, paukte in seiner Zelle neues Wissen mit Ausgaben von National Geographic und brachte sich das Alphabet bei. Schließlich befand Nathan Lee, es sei an der Zeit, an die Öffentlichkeit zu gehen. Eines Nachmittags erschien Ben mit dem Fahrrad im Hof. Seine »Kollegen« erstarrten zu Statuen. Ben drehte drei Runden, winkte den erstaunten Männern zu, klingelte ausgiebig und blieb neben dem Feuer stehen. Nathan sah von hinter der Tür zu, wie sich 562
die anderen vorsichtig um das Zaubervehikel versammelten. Ganz langsam wurde ihm bewusst, dass auch er beobachtet wurde. Eesho saß geduckt hinter dem Flammenvorhang und durchbohrte ihn durch das Feuer mit seinen tödlichen Blicken. Jeden Tag verließ eine weitere Hand voll Einwohner Los Alamos und begab sich hinunter ins Pilgerlager. Sie waren es leid, auf das Unvermeidliche zu warten, vielleicht fühlten sie sich auch von der ursprünglichen Form des Christentums angezogen, wollten das Leid lindern helfen, und andere wieder hatten erfahren, dass sich unter den Belagerern Familienmitglieder aufhielten, die sie längst für tot gehalten hatten. Alle wussten, dass es im Tal heiß war, dass es orangerot vom Gift war, und dass sie weder auf die andere Seite des Zauns zurückkonnten, noch Zutritt zum Bunker erhalten würden. Aber sie gingen mit Frieden im Herzen und steuerten die Lastwagen mit Nahrung und Medizin hinunter. Los Alamos trennte sich freudig von ihnen. Zum einen wäre es sinnlos gewesen, sie halten zu wollen, zum anderen brauchten die Lastwagen Fahrer. Noch mehr jedoch hofften die Leute, dass ihre scheidenden Mitbürger als Botschafter aus der Stadt des Lichts empfangen würden. Viele nahmen ihre Handys mit, und so lange die Batterien reichten, blieben sie in Kontakt mit ihren Freunden und Nachbarn auf der Mesa. Normalerweise versuchten sie beschwingt und resolut zu klingen. Schließlich war es ihre eigene Entscheidung gewesen. Nach ein paar Tagen verstummten ihre Stimmen und verblassten zu bloßer Erinnerung. Diese Emigranten wurden wie Beihilfe zum Selbstmord behandelt. Man konnte ihre Begründungen nachvollziehen, veranstaltete tränenreiche Abschiedspartys, erinnerte 563
sich an die guten Zeiten, begleitete sie bis zum Tor und tat sogar so, als hätten sie eine heldenhafte Entscheidung getroffen. Trotzdem hielt man diese Abgänge für eine schreckliche Verschwendung von Leben, beinahe für Fahnenflucht. Niemand konnte sich vorstellen, das zu tun, was diese Ausgebürgerten taten, dort hinzugehen, wo sie hingingen. Eines Morgens verkündete Izzy, dass er ebenfalls gehen wolle. »Ich habe eine Nachricht von meinem Bruder erhalten«, sagte er. »Es ist unglaublich. Er ist dort unten im Lager.« »Verflucht«, flüsterte Nathan Lee. »Ich habe ihn seit vier Jahren nicht mehr gesehen, und jetzt ist er krank, verstehst du?« Er versuchte sich zu rechtfertigen. »Ich weiß, dass es hier oben noch jede Menge zu tun gibt. Aber dein Aramäisch ist gut genug, ich werde also nicht mehr unbedingt gebraucht.« »Darum geht es nicht«, sagte Nathan Lee. Es war das Ende. »Ich weiß«, entgegnete Izzy ruhiger. Einerseits wollte er Izzy die Idee ausreden, aber Nathan Lee wusste, dass er an Izzys Stelle auch gehen würde. »Wir haben ganz schön viel beackert«, meinte Izzy. »Zweitausend Jahre. Nicht schlecht.« »Sprich wenigstens mit Miranda«, sagte Nathan Lee. »Du hast doch von Serum-III gehört. Sie soll dich immunisieren.« »Es dauert zu lange, bis es anspricht«, sagte Izzy. »Achtundvierzig Stunden. Bis dahin kann mein Bruder schon wieder verschwunden sein.« Es war Izzys Idee, eine Kamera mit ins Lager zu nehmen. Es handelte sich um ein so genanntes Lippenstiftge564
rät, so eingestellt, dass es ein Kurzwellen-Signal über den Fluss in die Stadt sendete. Da sie nicht wussten, wie die Fanatiker auf eine Kamera reagierten, war das Gerät größtenteils in einem ramponierten und, wie sie hofften, unverdächtigen Rucksack untergebracht. Die winzige Linse saß am Ende einer biegsamen Schnur, die sich durch seine Haare und am Bügel seiner Brille entlangwand. Den Ton sollte er wie ein verdeckter Ermittler bei der Polizei übertragen. Alles, was er sah und hörte, würden auch sie sehen und hören. Die Zeit reichte nicht einmal für einen ordentlichen Abschied. Er konnte es kaum abwarten, seinen Bruder wiederzusehen, gleichzeitig hatte er Angst, er könnte seine Meinung noch ändern. Miranda traf kurz vor Izzys Abschied am Tor ein und umarmte ihn innig. »Bist du ganz sicher?«, fragte sie und weinte. »Miranda«, sagte Izzy tröstend. Er blinzelte Nathan Lee zu, bekam noch eine zweite kräftige Umarmung und stibitzte sich einen Kuss. Durch Izzys Kameraauge fuhren sie hinter dem Steuer eines großen, mit Vorräten voll gepackten Lasters den Highway 502 hinunter. Auch als der Talboden sich immer flacher vor ihnen ausdehnte, blieb die Straße leer. Dann sahen sie die Brücke und die lange Reihe mit den Kreuzen in der Ferne. »Drückt mir die Daumen«, hörten sie Izzy leise sagen. Im Verlauf der folgenden Tage bekam die gesichtslose Masse eine Seele. Durch Izzys Kamera fluteten Tausende von Einzelheiten nach Los Alamos. Bis jetzt war es einfach gewesen, sich das Lager als riesige Kathedrale im Freien vorzustellen, erfüllt von inbrünstiger Leidenschaft, schmuddelig, aber 565
irgendwie nicht ganz so schlimm wie es tatsächlich war. In Wirklichkeit herrschten dort urzeitliche Bedingungen. Die Lebenden hausten zwischen den Sterbenden, und über Izzys Mikrofon hörte man Geschrei, gesungene Gebete, Heulen und Flehen und Lieder, die sich zu einem tosenden Hintergrundrauschen vermengten. Haarige Gesichter sprangen, wilde Proklamationen verkündend, vor die Linse. Körper lagen dort, wo sie zusammengebrochen waren; andere trieben mit dem Gesicht nach unten im Rio. Izzy wanderte drei Tage unentdeckt herum, konnte aber seinen Bruder nicht finden; im Lager hausten über eine Million Menschen. Am vierten Tag richtete Izzy die Kamera auf sich und sprach zur Stadt. »Sieht aus, als hätte ich einen Fehler gemacht«, konstatierte er nüchtern. »Kommt bloß nicht auf die gleiche Idee.«
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33 Der Prophet Es war, als verfolgte man eine Live-Übertragung aus der Hölle. Dem Untergang geweiht, streifte Izzy durch das Lager. Er hatte sich Blut abgenommen, und das Ergebnis war positiv. Er hätte aus dem furchtbaren Lager fliehen können, sich irgendwo einen weniger verrückten Ort suchen, dort krank werden und sterben können. Stattdessen entschied er sich jedoch zu bleiben und der Stadt als unsichtbares Auge zu dienen. Ohne ihn wären sie nie auf den Propheten gestoßen. Ein paar mit Lebensmitteln voll gestopfte Anhänger brannten. Um die Hitze hatte sich eine passiv zuschauende Meute versammelt. Sie waren am Verhungern, trotzdem versuchte niemand, die Lebensmittel zu retten. Izzy fragte einen der ausgemergelten Zuschauer, doch der lächelte ihn nur an. Dann wurde eine entfernte Stimme durch das Knistern der Flammen hörbar. »Verdammt sollt ihr sein in der Stadt, und verdammt sollt ihr sein auf dem Lande …« Einige Stimmen schrien Amen. »Der Herr schlägt euch so lange mit der Seuche, bis Er euch vom Antlitz der Erde getilgt hat, die ihr in Besitz nehmen wollt.« Mit auf- und abhüpfender Linse machte sich Izzy auf die Suche nach dem Prediger. Als er näher kam, zuckte Nathan Lee zusammen. Sogar über den Monitorlautsprecher 567
hatte er diese Stimme identifiziert, doch als die Kamera sich durch die Menge bis ganz nach vorn vorgeschoben hatte, hätte er Ochs kaum wiedererkannt. Auf seiner langen Reise, seinem großen Bogen durch das Ödland hatte er alles Fett verloren und wirkte jetzt, auf Haut und Knochen reduziert, noch riesenhafter als zuvor. Er ragte mit seinem Kopf und den nackten Schultern aus der Masse heraus; Bart und Haupthaar waren zu einem struppigen Nest verfilzt. Hunde oder Heckenschützen hatten ihn lahm gemacht. Er benutzte einen metallenen Zaunpfosten, der wie ein überdimensionaler Pfeil aussah, als Spazierstock. Die Seuchenopfer hießen seine Forderung nach Buße mit emporgereckten Armen willkommen. Die flagellantes rings um ihn waren kräftig bei der Arbeit und geißelten sich die Rücken mit Ketten und Stacheldraht. Als Izzy sich ein Stück zurückzog, sprach Ochs durch einen feinen Blutnebel. Ihnen wurde klar, dass Ochs der bislang unentdeckte Anführer der Pilger sein musste. In ihm sah die Stadt zumindest jemanden, mit dem man verhandeln konnte. Obwohl Ochs selbst ein Verbannter war, schöpften die Leute neue Hoffnung, schließlich war er ja einmal einer der ihren gewesen. Sie baten Izzy, auf ihn zuzugehen und seine Einwilligung zu erbitten, mit Miranda und dem Krisenrat zu reden. »Der macht Hackfleisch aus mir«, meinte Izzy besorgt, folgte ihren Wünschen schließlich aber doch. Zur Verwunderung aller stimmte Ochs einer Videokonferenz noch am gleichen Nachmittag zu. Der Krisenrat überschlug sich förmlich, um die Sitzung vorzubereiten. Nathan Lee wurde als Berater in den Sitzungsraum berufen. Dort ging es zu wie in einem Taubenschlag voller 568
Spezialisten, Assistenten und Funktionären. Mehrere Kameras und Bildschirme wurden installiert, und auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stritt sich Miranda mit einem der Generäle. In jüngster Zeit waren die Generäle streitlustiger geworden, hatten Mirandas Autorität sogar öffentlich in Frage gestellt. Überzeugt davon, dass ihr Vater sie nur deshalb als Direktorin eingesetzt hatte, um die Stadt in Sicherheit zu wiegen, bis die unterirdischen Kammern fertig gestellt waren, hatte sie jede Nacht Probleme, Schlaf zu finden. Nathan Lee setzte ihre innere Unruhe nicht gegen sie ein, noch nicht. Wenn es an der Zeit war, dachte er sich, hingen ihr die Intrigen und Betrügereien so zum Hals heraus, dass sie ihn freudig hinaus nach Westen begleiten würde. Eine Frau in einem blauen Kostüm kam auf Nathan Lee zu. Sie stellte sich als FBI-Vermittlerin vor und führte ihn an einen Tisch etwas abseits vom Trubel. »Wir haben zwei Stunden«, sagte sie. »Gut möglich, dass unser Überleben davon abhängt, dass wir einen Waffenstillstand mit Ochs aushandeln. Sie waren mit ihm befreundet?« »Ich kannte ihn.« »Wer ist er? Was an ihm ist echt? Und was nicht?« Sie klappte ein Dossier über Ochs auf und ging es mit ihm durch. Es war die Biografie eines Blenders. Die Fotos belegten jede Phase von Ochs’ Metamorphose. Hier der muskelbepackte Footballer, dort der Kunsthändler bei einer Museumsauktion, hier der Professor vor seinen Studenten, dort der sonnengebräunte Forschungsreisende bei einer archäologischen Expedition zum Mount Everest. »Da bin ich ihm zum ersten Mal begegnet«, sagte Nathan Lee. »Das da im Hintergrund ist mein Vater. Und ich. Ich war siebzehn damals.« Es war unglaublich. Fast schon sein halbes Leben hatte dieser Mann Nathan Lee im Nak569
ken gesessen. Andere Aufnahmen zeigten Ochs bei einer Jahr NullAusgrabung in Israel, wie er als Universitätsangehöriger über irgendetwas dozierte, und schließlich, ein wenig benommen, kurz vor seiner Deportation aus Los Alamos. Und es gab ein Standbild, das Izzys Filmaufnahmen von den brennenden Lastern vom gleichen Morgen entnommen war. Er hätte auch Johannes der Täufer in zerfetztem Leinengewand mit einem Sack voller Heuschrecken und Honig sein können. »Ich weiß nicht genau, was Sie wollen«, sagte Nathan Lee. »Nennen Sie ihn Professor, oder Doktor, oder David, aber niemals Dave. Seien Sie höflich zu ihm, das ist wichtig. Er hat schon immer sehr viel von sich gehalten.« Die Dame vom FBI schrieb mit. Nathan Lee blätterte die Akte durch. Ochs hatte es im Großen und Ganzen geschafft, seine eigene Biografie als Ghostwriter zu verfassen. Es war das Porträt eines ehrgeizigen Mannes. Wenn sich die Gelegenheit dazu bot, beanspruchte er alle Lorbeeren für sich, die Schuld schob er anderen in die Schuhe. Er prahlte mit Zeugnissen, die er nie besessen hatte, vertuschte Indiskretionen und log sogar, was sein Gewicht und seinen Führerschein anging. Auch seine Neandertaler-Entdeckung war vermerkt, natürlich minus Nathan Lee. Zum ersten Mal sah Nathan Lee die Zeitungsartikel, in denen Ochs’ unglaubliche Entdekkung der Eisfrau gefeiert wurde. Trotzdem war es Ochs nicht gelungen, seine Vergangenheit vollständig umzuschreiben. Ein Interpol-Dokument enthüllte zumindest einige seiner Sünden, von denen die meisten mit Antiquitätenschmuggel im Zusammenhang standen – Vergehen, die einem jetzt als Geringste seiner Schandtaten erschienen. 570
»Hört er auf Sie?« »Nein«, sagte Nathan Lee. »Warum nicht?« »Er weiß, dass ich ihn umbringen will.« Der Kugelschreiber der Frau blieb auf dem Blatt stehen. »Meinen Sie das im Ernst?« »Er ist so ein Mensch«, antwortete Nathan Lee. »Sie nicht?«, wollte sie wissen. Nathan Lee hatte nicht mehr die leiseste Vorstellung davon, was für eine Art Mensch er war. Sie widmete sich wieder ihrem Klemmbrett. »Was will er? Ein geistliches Amt? Mehr Nachschub für seine Leute? Rache? Wieder hinter den Zaun?« Nathan Lee blickte auf das letzte Foto mit dem wilden Propheten. Die brennenden Lebensmittel fielen ihm wieder ein. »Ich glaube, er hat genau das gefunden, wonach er gesucht hat.« »Aber wir können ihm Bequemlichkeit bieten. Wir könnten ihn im Südsektor unterbringen. Ihm ein Krankenbett in einer der BSL-4 geben. Dort hätte er es sehr bequem.« Nathan Lee dachte darüber nach. »Dafür ist es zu spät. Es gab eine Zeit, da hätte er alles getan, um aus dem Lager herauszukommen. Aber ich habe ihn auf dem Bildschirm gesehen. Er ist fast am Ende seiner Reise angelangt. Er hat nur noch eine kurze Strecke vor sich.« »Trotzdem muss er doch irgendetwas wollen.« Nathan Lee lenkte die Frage auf sie zurück. »Das ist kein großes Geheimnis. Das Gleiche, was Sie auch wollen.« »Drücken Sie sich bitte deutlicher aus.« »Ochs möchte das, was wir alle möchten. Vielleicht 571
nicht in diesem Augenblick, in diesem warmen Raum, im Vollbesitz unserer Gesundheit und hervorragend gekleidet. Mitten in der Nacht, meine ich.« Sie schrieb nicht mehr mit. Sie hielt es für ein Kommunikationsproblem. »Verstehen Sie nicht, wir müssen ihm etwas anbieten. Wir wollen mit ihm verhandeln.« Die Vermittlerin bat Nathan Lee, das Dossier noch einmal durchzugehen. »Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, egal was, sagen Sie Bescheid. Ich bin gleich dort drüben.« Sie ließ ihn stehen. Während Nathan Lee durch Ochs’ Lebenslauf, Fotos, Diplome und andere Dokumente ging, hörte er die Generäle reden. »Wir haben Scharfschützen«, sagte einer von ihnen. »Um Himmels willen, machen Sie bloß keinen Märtyrer aus dem Sauhund.« »Bringt es denn überhaupt etwas, ihn umzunieten?«, fragte ein Dritter. »Vielleicht ist er überhaupt nicht der richtige Anführer.« Zehn Minuten vor dem verabredeten Termin bekam Miranda ein Mikro angesteckt und wurde an den Tisch gesetzt. Das Durcheinandergerede verstummte. Ihre Königin war bereit. »Wir stellen die Verbindung genau zur vollen Stunde her«, unterrichtete die FBI-Frau sie noch rasch. »Hier ist eine Reihe von Punkten, die wir ausgearbeitet haben. Schlagen Sie einen vernünftigen Ton an. Behandeln Sie ihn als gleichberechtigten Verhandlungspartner. Reden Sie nicht von oben herab, seien Sie aber auch nicht unterwürfig. Überzeugen Sie Professor Ochs, dass wir zu seinen Gunsten arbeiten. Fragen Sie ihn, was er will. Mehr Lebensmittel? Medizin? Den Messias-Klon?« »Stopp! Den Klon auf keinen Fall!«, fuhr der General 572
dazwischen, mit dem sich Miranda schon vorher auseinander gesetzt hatte. Sie hatten sich wie Hunde über diesen Punkt gestritten. »Der ist einer unserer größten Aktivposten. Nennen Sie es gegenseitige Vernichtungsversicherung. Ochs weiß, was auf dem Spiel steht. Er ist einer von uns, jedenfalls war er das mal.« Diese Kalte KriegsWeisheit ließ so manche Köpfe zustimmend nicken. »Sie wollen das Monster?«, wollte einer der zivilen Vertreter wissen. »Gebt es ihnen. Wickelt eine große rote Schleife drum herum. Schickt ihnen den Kerl als Präsent.« »Er würde niemals gehen«, unterbrach ihn Nathan Lee. »Aber das sind seine Leute.« »Er ist nicht derjenige, den sie haben wollen«, sagte Nathan Lee. »Er ist eine Fälschung.« »Das ist doch egal. Schickt ihnen den Klon, den sie haben wollen. Setzt ihm eine Dornenkrone aufs Haupt. Die erkennen den Unterschied sowieso nicht.« »Ochs schon.« »Ochs.« Sie waren wieder bei ihm angelangt, waren gezwungen, einen Handel mit dem Unbekannten abzuschließen. Miranda setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht, faltete die Hände und hob das Kinn. Die Vermittlerin ging noch einmal ihre Liste durch. »Sagen Sie ihnen, wir haben bald ein Heilmittel entwickelt.« »Aber es gibt kein Heilmittel«, antwortete Miranda. »Das wissen sie auch. Wenn wir eins hätten, wären wir dort unten und würden sie alle impfen.« Nathan Lee betrachtete die Gruppe. Sie hielten Mirandas Argument für einen geschickten Trick. »Jedenfalls sollten wir es versuchen«, schlug jemand vor. »Dazu ist es sowieso zu spät«, sagte ein Laborchef. »Sie 573
gehen nicht mehr weg. Sie können nicht weg. Das dort unten sind sehr kranke Menschen. Sie haben weder Unterkunft noch Lebensmittel, noch sanitäre Einrichtungen zur Verfügung. Sekundären Infektionen ist Tür und Tor geöffnet. Das große Sterben hat bereits begonnen. Für sie ist der Weg hier zu Ende.« »Halten Sie sich an das Heilmittel«, sagte die Vermittlerin. »Wir haben ihnen ein Wunder versprochen. Es sollte sich hier ereignen, auf diesem Berg, in unseren Labors. Wir brauchen nur Zeit. Das werden sie respektieren.« »Wenn wir sie nur noch zwei Wochen hinhalten können, hat sich das Problem von allein erledigt«, sagte der Laborchef. »Zwei Wochen?«, rief ein Mann entrüstet. »Sie könnten uns in zwei Stunden angreifen. Wir haben keine Ahnung, womit wir es hier zu tun haben.« Es wurde still im Raum. »Wir sollten überhaupt nicht hier sein«, rief ein Mann. »Sie müssen die Evakuierung einleiten. Sofort.« »Wir hätten schon längst evakuiert werden müssen«, meldete sich eine andere Stimme. Mirandas Gesicht war grau. Ihre Augen irrten im Raum umher, suchten Nathan Lee. Sie zögerte. Nathan Lee sah ein verschrecktes Mädchen. Sie hatte Angst vor ihnen, Angst vor sich selbst, Angst davor, womöglich falsch zu liegen. Der General brach in ihre Unentschlossenheit ein. »Nein. Keine Evakuierung«, sagte er. »Das Feldlager blockiert die I-84 bis nach Santa Fe.« Ein Wissenschaftler erhob sich. »Bieten Sie ihnen die Stadt an. Sie können alles haben. Sie müssen uns nur passieren lassen.« 574
»Während wir uns in Sicherheit bringen?«, fragte der General. »Kein einziger Laster würde durchkommen.« »Dann nehmen wir die Nebenstraße«, schlug jemand vor. »Die ist nur für leichten Verkehr gebaut worden. Wir reden hier von einem Konvoi schwer beladener Vierachser. Das geht nicht über die Nebenstraße.« »Wir können nicht evakuiert werden?« Das war Miranda. Seit Monaten hatte sie gegen eine Evakuierung plädiert, aber jetzt war sie ebenso schockiert wie alle anderen. »Diese Option wäre zur Zeit unüberlegt«, sagte der General. »Unüberlegt?« Die anderen Generäle tauschten Blicke aus. »Sie ist nicht angebracht«, sagte der General. »Nicht zu diesem Zeitpunkt.« »Noch dreißig Sekunden«, sagte ein Mann hinter einer der Kameras. Ochs tauchte auf sämtlichen Bildschirmen auf. Er ging auf und ab, behaart; hinter ihm brannte ein Feuer. Izzy schaffte es nicht, ihm mit der Kamera ordentlich zu folgen. Immer wieder marschierte Ochs aus dem Bildausschnitt heraus. Die Kamera schien fest fixiert zu sein. Die einzige Konstante war eine Gruppe penitente-Kreuze im Hintergrund. »Bringen Sie ihn einfach zum Reden«, forderte die Vermittlerin Miranda auf. »Passen Sie sich seinem Tempo an. Provozieren Sie ihn nicht. Dialog – nicht vergessen. Engagement. Heute, heute Abend, morgen, nächste Woche. So weit weg wie möglich. Wir sind für ihn da, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Egal, was er braucht.« 575
Links und rechts von Miranda wichen die Leute zurück, als stünden sie in der Schusslinie. Ihr Gesicht allein flakkerte auf dem Bildschirm auf, dann sah man wieder Ochs, der mit seiner Metallkrücke in die Erde stieß. »Fünf, vier, drei«, sagte der Kameramann. Zwei Finger, einer. Er zeigte auf Miranda. »Ochs«, sagte sie laut. »Hören Sie mich?« Ochs pirschte sich näher heran. Er blickte auf den Monitor, der neben Izzys Kamera aufgestellt war. »Mysterium«, rief er. »Bist du das?« Das hatte gesessen. Miranda sah sich Hilfe suchend um. »Die Mutter aller Huren und Gräuel der Erde«, murmelte jemand. Sie hatten Nathan Lee eine Tafel gegeben, auf die er Hinweise notieren konnte. Er schrieb Buch/Offenbarung auf und hielt es hoch, damit sie es lesen konnte. »Sie können ruhig normal reden«, sagte sie. »Wir haben hier schon genug Leute, die mit Bibelzitaten um sich werfen.« Die Vermittlerin zuckte zusammen. »Sie waren in letzter Zeit ziemlich beschäftigt«, fuhr Miranda fort. »Es gab viel zu tun«, dröhnte Ochs. »Wir waren hier auch nicht untätig.« »Ist mir nicht entgangen«, murmelte er. »Haben Sie sich am Bein verletzt?« »Ach, das«, brummte er ausweichend. »Lassen Sie sich von uns helfen. Ihre Leute leiden.« Ochs blickte sich um. »Sie reifen«, sagte er. »Sie haben keine Angst. Sie machen sich nur bereit für den großen Tag.« Jeder im Raum suchte ein anderes Augenpaar. Das Jüngste Gericht. Alle hielten den Atem an. 576
»Wann ist es denn so weit?«, erkundigte sich Miranda. »Schon bald«, lächelte er. »Und was passiert dann?« »Sagten Sie nicht gerade ›keine Bibelzitate‹?« »Geben Sie sich mal ein bisschen Mühe, Ochs.« Seine Augen funkelten. »Deut achtzehn«, sagte er. Einige blickten auf ihre Armbanduhren, als hätte er ihnen einen Zeitpunkt genannt. Nathan griff nach einer Bibel. »Werden Sie über den Fluss kommen?«, fragte Miranda unverblümt. Einer der Generäle fuhr sich wütend mit einem Finger über die Kehle, um sie zum Schweigen zu bringen. »Nicht provozieren«, murmelte die Vermittlerin. Dafür ist es zu spät, dachte Nathan Lee. Ochs hatte sich schon am Tag seiner Exilierung dazu entschlossen, diese Armee aufzustellen. Dann erinnerte er sich daran, dass Mirandas Vater Ochs’ Rückkehr prophezeit hatte. Sie hatten gewusst, dass er predigen würde. Sie hatten seine Kreisbahn mit einkalkuliert. Aber es ergab keinen Sinn. Warum sollte man einen Verrückten in die Wüste schicken, wenn man wusste, dass er zurückkam und einen abermals drangsalierte? »Uns hier unten führt der Geist«, antwortete Ochs. »Sie führen den Geist«, sagte Miranda. »Ich verstehe, dass Sie uns hassen. Aber das dort sind Ihre Leute. Erweisen Sie Ihnen ein bisschen Barmherzigkeit. Warum verbrennen Sie ihre Lebensmittel?« Ochs beugte sich vor und blickte in die Linse. »Sie haben eine völlig falsche Vorstellung von uns, Miranda. Wenn Sie uns in Versuchung führen wollen, vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Das Schwert ist über meine Leute gekommen. Jetzt sind sie das Schwert. Behalten Sie Ihre 577
Lebensmittel. Und Ihre Spione auch.« Damit beendete Ochs das Gespräch abrupt und entfernte sich ohne ein weiteres Wort von der Kamera. »Ochs?«, rief ihm Miranda hinterher. Sein abruptes Abwenden verblüffte sie. Alle fingen auf einmal zu reden an. »Er hat sich nicht einmal nach dem Jesus-Klon erkundigt«, beschwerte sich jemand. »Wir wollten ihm doch Amnestie anbieten«, meinte ein anderer. »Welche Spione? Wir sind mit guten Absichten auf ihn zugegangen. Was ist mit unseren guten Absichten?« Was ist mit Izzy?, dachte Nathan Lee. Mit seiner Hilfe hatten sie dieses Glücksspiel gespielt. Jetzt, wo sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden waren, hatten sie Izzy offensichtlich schon vergessen. »Ich glaube, wir brauchen uns noch keine Sorgen zu machen«, sagte eine Frau. »Der Bursche ist im ersten Stadium. Funktionales Delirium. Wahrscheinlich hat er bereits vergessen, dass er sich mit uns unterhalten hat.« So drehten sie sich mit ihren Analysen dieser kurzen, bizarren Begegnung immer wieder im Kreis. »Deuteronomium achtzehn«, meldete sich Nathan zu Wort. Alle Augen richteten sich auf ihn, es wurde still im Raum. Er fasste es für sie zusammen. »Wenn ihr in das Land kommt, das euch der Herr, euer Gott, geben wird, so sollt ihr nicht lernen, die Gräuel dieser Völker zu tun. Dass nicht jemand unter euch gefunden werde, der geheime Künste oder Zauberei betreibt oder die Toten befragt. Denn wer das tut, der ist dem Herrn ein Gräuel.« Stirnen wurden nachdenklich gerunzelt. »Aber wir sind Wissenschaftler«, protestierte jemand. 578
»Hokuspokus«, blaffte ein General. »Apokalyptische Einstellung«, erklärte die FBIVermittlerin. »Er redet irre. Wahrscheinlich gibt es dort unten noch tausend andere von der Sorte. Ich glaube, wir sind aus der Sache heraus. Sie werden sich zu Tode quatschen.« Die Kamera zeigte immer noch starr geradeaus. Das Mikrofon übertrug die Geräusche aus dem Lager: knirschende Schritte, das Scheppern von Metall, ein Stein, der auf ein Stück Holz hämmerte. Die Leute gingen kreuz und quer, als existierte die Kamera überhaupt nicht. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis sie etwas entdeckten, was ihnen bislang nicht aufgefallen war. Nathan Lee wusste, wonach er suchen musste. Er kannte Ochs. Die Reaktionen des Professors waren berechenbar. Nathan Lee starrte unablässig auf den Schirm. »Da«, sagte er. Der Schlüssel zu ihrem Schicksal lag offen vor ihnen. Die Kamera war nicht zufällig positioniert. Mithilfe der Fernbedienung betätigte einer der Techniker den Zoom. Die Kreuze kamen näher. Rauch trübte die gestauchte Entfernung, doch dann brach die Sonne durch und strahlte die Kreuze an. Sie waren leer, mit Ausnahme von einem. Der Mann litt grässliche Schmerzen, denn seine Arme und Füße steckten nicht in Schlaufen aus Stricken. Er war kein penitente – sie hatten ihn an das Holz genagelt. »Izzy«, sagte Nathan Lee. Es wurde völlig still im Raum. Alle starrten auf das grauenhafte Miniaturschauspiel. Eine Frau fing an zu weinen. Der Geistliche mit den weißen Haaren bekreuzigte sich. 579
»Diese Tiere«, zischte eine Zellbiologin aus Mirandas Labor. »Ochs«, sagte ein Mann. Die FBI-Vermittlerin war wie vor den Kopf gestoßen. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Bereitet er den Weg für den Messias, oder hält er sich selbst für den Messias? Er spielt die Kreuzigung nach. Aber er ist nicht derjenige, der gekreuzigt wird. Mittels der Bestrafung eines anderen transferiert er die Macht des Messias auf sein Opfer. Ist es das? Ein Christ, der sich selbst hasst … aber …« »Sie kommen bald«, sagte Nathan Lee. »Hierher.« »Bald?«, fragte die Zellbiologin. »Wann ist bald? Woher wollen Sie das wissen?« »Aus der Geschichte«, antwortete Nathan Lee. »Ochs ist ein Sklave der Klassiker.« »Klassiker«, brummte ein General. »Was soll das nun wieder?« »Plutarchs Bericht von Spartakus«, sagte Nathan Lee. »Spartakus ließ einen feindlichen Soldaten mitten in seinem Lager kreuzigen, damit ihn alle seine Anhänger sehen konnten. Er hielt den Mann eine ganze Woche am Leben.« »Oberflächliche Parallelen«, meinte die FBIVermittlerin. Sie hatte schwer damit zu kämpfen. »Die Geschichte von Spartakus spricht Ochs’ Motivation an, nicht sein Timing. Was wir hier sehen, ist ein Akt der Einschüchterung, sonst nichts. Er verrät uns nichts darüber, wann sie die Stadt eventuell angreifen.« »Aber Spartakus setzte die Kreuzigung nicht ein, um seine Feinde einzuschüchtern«, sagte Nathan Lee. »Ochs tut das meiner Meinung nach auch nicht. Er hat es für seine Anhänger getan, nicht für uns.« Jetzt hörten alle zu. »Sie reifen«, fuhr er fort. »So hat es 580
Ochs ausgedrückt. Spartakus benutzte die Hinrichtung, um seine Armee vorzubereiten. Eine Woche lang lebten sie mit der Botschaft. Aus dem Leid waren sie geboren, durch das Leid würden sie befreit werden.« »Ich sehe immer noch keine …« »Spartakus wartete, bis der Gefangene gestorben war«, schloss Nathan Lee. »Dann war seine Armee bereit.« Einen Moment lang waren sämtliche Augen auf Izzys Gestalt gerichtet. Er sah so klein aus vor dem weiten Himmel. So sterblich. Wie eine winzige Insel. »Komm mit«, sagte Nathan Lee. Es war fast Mitternacht. Sie konnten nichts mehr tun. Die Kreuzigung war den medizinischen Experten überlassen worden, die Vermutungen darüber anstellten, wie lange Izzy wohl durchhalten würde, zwei Optik-Cracks versuchten, das schlecht auflösende Videobild aufzupeppen, die Meteorologen warnten vor einer Kaltfront und die Satellitenleute arbeiteten daran, seine individuelle Wärmesignatur aus der Million anderer herauszufiltern. Plötzlich war Izzys Existenz eine Frage von Leben und Tod geworden. Miranda folgte ihm aus dem Sitzungsraum in die Nacht hinaus. Sie war zu aufgedreht, um nach Hause zu gehen. Nathan Lee bezweifelte, dass in dieser Nacht viele Leute Schlaf fanden. Sie gingen zum Alpha Lab, überquerten die Brücke unter einer Kuppel gefrorener Sternbilder. Kein Mond stand am Himmel, nur das Glitzern der mitleidlosen Sterne. Wenigstens war es nicht windig. Izzy war nackt. Nathan Lee kam nicht darüber hinweg. Sie gingen eilig durch die Kälte. Im Inneren des Gebäudes war es warm. Mit dem Aufzug fuhren sie in ihr Büro. An einer Wand lehnte die Matratze für die Nächte, in de581
nen sie durchmachte. Miranda ließ sich in einen Sessel fallen. Nathan Lee stellte sich ans Fenster, von dem aus man die Inkubations-Kapseln überblicken konnte. Die Kammer leuchtete schwach blau. Auf der anderen Seite der Scheibe bildeten sich Wasserperlen in der tropischen Feuchtigkeit. Er presste eine Fingerspitze gegen die Scheibe. Es kam ihm vor, als stünde er ewig draußen und schaute hinein in die eine oder andere Welt, ohne sich je sicher zu sein, ob hier dort war. »Miranda«, sagte er. »Wir müssen weg von hier.« Er sah ihr Spiegelbild im Glas. Sie rührte sich nicht in ihrem Sessel. Er drehte sich um, ging zu ihr und ergriff ihre kalten Hände. Ihre Augen sahen wie ausgehöhlt aus. »Ich kann uns hier rausbringen«, sagte er. »Wir gehen über den Berg. Solange noch Zeit ist.« Sie lächelte ganz unerwartet. »Nach Paris?«, sagte sie. »Irgendwohin.« Sie berührte sein Gesicht. »Und was dann?« Schon den ganzen Abend hatte er beobachtet, wie sich Männer und Frauen auf die drohende Invasion vorbereiteten. Die Generäle waren geschlossen aufgestanden und hatten den Raum verlassen, um ihre eigene Strategie auszubrüten. Der Rest war geblieben und hatte die verschiedenen Möglichkeiten durchgesprochen, ihren Hoffnungen, ihren Schuldgefühlen und ihren wildesten Vorstellungen freien Lauf gelassen. Schließlich hatten sie sich leer geredet. Miranda hatte sich ihrer Verstörung gestellt. Sie saßen auf ihrer Mesa in der Falle. Die einzige Frage war, wie lange Izzy aushalten und wann das Ende kommen würde. »Drei Jahre«, sagte er zu ihr. »Das Serum-III. Mach uns dieses Geschenk, dir und mir.« 582
Ihr Lächeln erlosch. »Das haben wir doch alles schon durchgekaut. Ohne die Stadt gibt es keine Hoffnung. Alles ist hier.« »Es ist zu spät, Miranda. Dein Vater mit seinem unterirdischen Reich ist zu spät gekommen. Auch du kannst es mit deinen Zauberkunststückchen nicht mehr rechtzeitig schaffen. Die Seuche hat uns eingeholt. Denk an uns.« »Das tue ich ja«, sagte sie. »Dann hör auf, die Welt retten zu wollen.« »Aufhören?«, sagte sie zärtlich. »Wir dürfen nicht aufhören. Das hast du mich gelehrt. Niemals aufhören.« »Es ist vorbei«, sagte er. »Nein.« Aber sie war nicht stur. Ihr Lächeln kehrte zurück. Ein verstohlenes Lächeln. »Wir halten die Lösung schon fast in der Hand.« »Du träumst.« Er ließ ihre Hände los. »Ja, ich träume.« »Wovon? Wovon träumst du?« Er gestikulierte in Richtung der Labors unter ihnen. »Von Petrischalen und Reagenzgläsern?« »Vom Dschungel«, sagte sie ruhig. »Von der Suche nach Kindern, irgendwo im Dschungel. Wir rufen ihre Namen. Und finden sie. Sie kommen aus den Bäumen.« »Dann lass uns in den Dschungel gehen. Hier können wir nicht bleiben.« »Ich muss hier bleiben.« »Hör auf!«, schrie er. Er erschrak. Sie hatten sich noch nie gestritten. Kurz darauf sagte sie: »Geh.« »Tut mir Leid«, murmelte er. Dann sagte sie es noch einmal: »Du solltest gehen.« 583
»Nicht ohne dich.« »Ich habe keine andere Wahl«, sagte sie. »Glaub mir.« »Doch, hast du.« Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Grüne Augen. »Erinnerst du dich noch daran, wie ich dich damals in Dekon angerufen habe?«, fragte sie. »Du dachtest, ich wäre schwanger.« »Ich wollte, dass du schwanger bist«, antwortete er. »Weißt du auch noch, wie erstaunt ich war?«, fragte sie. »Du sagtest, auf keinen Fall …« »Ich sagte, wie kommst du denn auf so eine Idee?« Eine lange Minute verstrich. »Ich weiß immer noch nicht, wie du es wissen konntest«, schloss sie leise. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Ihre Stimme klang ehrfürchtig. »Ich bin wie ein Uhrwerk. Immer auf den Tag genau. Also habe ich einen Test gemacht. Sie ist jetzt elf Wochen alt. Kann gut sein, dass es gleich beim ersten Mal passiert ist. Damals im Wald.« Er war wie vor den Kopf gestoßen. Die ganze Welt um ihn herum verschob sich. Der Boden unter seinen Füßen war nicht mehr fest. Er versuchte wütend zu sein. Ein Kind in diese Welt setzen? Aber ihr Gesicht hielt ihn davon ab. Sie strahlte beinahe fiebrig, in einem inneren und äußeren Licht. »Du hast dir so gewünscht, wegzugehen«, sagte sie. »Ich wollte nicht, dass dich irgendetwas hier hält.« »Aber ich wusste ja nichts davon«, protestierte er. »Jetzt weißt du es.« Und mit einem Mal, in diesem Augenblick, wusste er es wirklich. Er blickte auf ihre Hände, die auf seinen lagen. 584
»Du kannst immer noch gehen.« Ihre Stimme klang schwach. »Miranda«, sagte er. »Ich werde dich niemals verlassen.«
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34 Verlorene Seelen 7 UHR 30
Er hatte sie nicht einmal geweckt. Er ritt den Highway 502 hinunter, und die Trümmer und der Rauch erinnerten ihn an die Bilder von Hieronymus Bosch, alles wirkte mittelalterlich, schwefelig und unheimlich. Die Appaloosa-Stute scheute davor zurück. Nathan Lee drängte das Tier weiter. Auf der anderen Seite des Flusses hatten die Pilger an mehreren Stellen große, teerverschmierte Telefonmasten in riesige Scheiterhaufen verwandelt. Sogar die Flammen sahen ranzig aus. Die Reihe mit den leeren Kreuzen weiter unten am Ufer machte einen verlassenen, unordentlichen Eindruck; krumm und schief ragten sie wie die Masten sinkender Schiffe in den Himmel. Aus der Entfernung sahen sie leer aus. Die penitentes hatten ihre Hochsitze verlassen. Vielleicht hatten die Leute genug von ihrem Theater und ihrem falschen Gehabe. Blut ist nicht gleich Blut. Manches ist echter. Während er sich der Brücke näherte, erinnerte er sich an jede Einzelheit von damals, als er diesen gleichen Weg heraufgekommen war, langsam und gemächlich und ebenfalls im Sattel. Er kam an dem Wegweiser vorbei, der einst auf den Baum gewiesen hatte, in dem er seine Satteltaschen aus dem Smithsonian zurückgelassen hatte – und auch der Baum stand noch dort. Trotzdem hatte sich alles 586
verändert. Der Baum war nur noch ein Bündel toter Äste, das Entlaubungsmittel hatte ihn absterben lassen. So weit sein Auge reichte, war der sanft gewellte Talboden mit einem absurd grellen Orange überzogen. Er dachte an das herrliche Licht im Juli, doch das war schon lange vergangen. Er dachte an die großen Hoffnungen, und auch sie waren verschwunden. Nein, nicht einfach verschwunden, aber sie hatten sich verändert, bestenfalls verfeinert, aber sie waren eindeutig mutiert. Der Gedanke jagte ihm Angst ein. Er wusste nicht genau, was er hier unten wollte. Sein Plan war so schwammig, so unausgegoren, so gefährlich, dass man ihn nicht einmal als solchen bezeichnen konnte. Eher als Vision. Was aber, wenn er sich getäuscht hatte? Er versuchte, nicht an Miranda zu denken. Er hatte es ihr versprochen, und jetzt … das hier. Der Gestank aus dem Lager erreichte ihn schon anderthalb Kilometer vorher. Die Stute schnaubte; ihr Atem dampfte in der kalten Luft. Sie zerrte an den Zügeln. Nathan Lee hielt sie mit ein paar beruhigenden Worten in Bewegung. »Ist ja gut«, sagte er und streichelte ihren gefleckten Hals. Ihre Muskeln zitterten. Ein Stück weiter kamen sie an einem Knäuel zerschossener Autos, Lastwagen und Truppentransporter vorbei, die kreuz und quer am Straßenrand standen. Einige Laster steckten mit der Schnauze voran im Straßengraben. Viele waren umgekippt, von Minen aus der Bahn geworfen, zermalmt von Raketentreffern. Zersplitterte Windschutzscheiben waren von Einschüssen durchsiebt. In weißen, orangefarbenen, blauen oder grünen Overalls steckende Leichen lagen dort, wo sie die Scharfschützen niedergestreckt hatten. Erst jetzt erkannte Nathan Lee, dass die Schlacht um Los Alamos Wochen gedauert haben musste, ein weniger spektakuläres, aber umso dauerhafteres Geplänkel in diesem Niemandsland. Die Generäle hatten kei587
ne Silbe davon erwähnt. Die Stadt hatte in größerer Gefahr geschwebt, als ihre Bewohner geahnt hatten. Er sah die verlassenen Schützengräben. Links und rechts führten staubige Feldwege zu hinter Erdwällen eingegrabenen Feuerstellungen, die auf die Belagerer ausgerichtet waren. Sie sahen bedrohlich aus, waren aber leer. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Generäle im Lauf der letzten paar Tage ihre Truppen zurückgezogen hatten. Nathan Lee hatte schon seit mehreren Kilometern keinen Soldaten mehr gesehen, nicht seitdem er die Einzäunung rings um die Stadt im Morgengrauen verlassen hatte. Die Brücke lag noch einen halben Kilometer vor ihm. Dichte Vogelschwärme kreisten über dem Lager. Dunkle Gestalten versammelten sich am Flussufer und beobachteten ihn. Nathan Lee, der auf dem Pferderücken ein gutes Stück aus dem Schrott am Straßenrand herausragte, kam sich vor, als schwebte er in der Luft. Plötzlich zersplitterte direkt neben ihm der Scheinwerfer eines Humvee. Die Stute machte einen Satz nach links, und Nathan Lee hatte gut zu tun, um das Tier wieder zu beruhigen. Dann durchlöcherte jemand den Kotflügel mit einem weiteren Dutzend Warnschüssen. Die Einschläge stanzten keine sauberen kleinen Löcher, sondern rissen wie mit einem Messer breite, gezackte Risse in das Blech. Nathan Lee sah das Aufblitzen von Mündungsfeuer in der Ferne, hörte aber nichts. Er befahl seinem Herz, langsamer zu schlagen, aber es wollte ihm nicht gehorchen. Ihm wurde schwindelig. Verrückt. Es ist noch nicht zu spät, flüsterte eine Stimme. Er konnte zwischen den Wracks Deckung suchen, die Nacht abwarten und dann auf der Straße zurückreiten. Geh nach Hause. Noch ließen sie ihn vielleicht wieder hinein. Ließen ihn noch einmal Dekon durchlaufen. Holten ihn wieder ins Leben zurück. Das war seine Versuchung. Eine davon. 588
Aber sie würden ihn am Tor zurückweisen. Er kannte die Spielregeln. Er trug nicht mal einen Schutzanzug. Sie würden ihn nicht einmal nahe genug an die Stadt heranlassen. Auf fünfhundert Meter Entfernung würden sie ihn mit einer Kugel niederstrecken. Er hatte sich bewusst dazu entschlossen, ohne Anzug ins Tal zu steigen. Genau wie seine Entscheidung, sich nicht mit Serum-III zu infizieren. Beides hätte ihm einen gewissen Schutz vor dem Virus gewährt, aber beides hätte ihn früher oder später getötet. Offensichtlich knallten die Pilger Schutzanzug-Träger sofort ab. Was das Serum-III anging – das hätte ihm womöglich zu einer Dreijahresfrist verhelfen, aber er konnte nicht einmal sicher sein, dass er die nächsten paar Minuten überlebte, von Jahren ganz zu schweigen. Außerdem hatte er sich die achtundvierzig Stunden nicht leisten können, die sein Immunsystem zur Entwicklung von Antikörpern gebraucht hätte. Abgesehen davon hätte sein Mut nicht so lange angehalten. Achtundvierzig Stunden ist eine lange Zeit, wenn man sich die Rasierklinge über das Handgelenk hält. Anzug und Serum-III wären ohnehin falsche Entscheidungen gewesen. Er betrat das Land der Toten, ob nun mit oder ohne sie. Genau das war die eigentliche Entscheidung gewesen: entweder in Sicherheit bleiben oder ins Tal hinabzusteigen, und selbst dabei hatte es eigentlich keine richtige Wahl gegeben. Bleiben hätte bedeutet, Ochs oder die Generäle um Gnade anzuflehen, und Gnade stand nun mal nicht mehr zur Debatte. Es ging ihm nicht darum, dass diese Menschen von Grund auf böse waren. Nathan Lee hatte es aufgegeben, in Kategorien von Ungeheuern zu denken. An Gott hatte er ohnehin nie geglaubt. Doch jetzt, und das war weitaus schlimmer, glaubte er nicht mehr an Satan. Der Teufel gab einen hervorragenden Sündenbock ab, doch der große Ränkeschmied war ein Trugbild, nur 589
ein weiterer Versuch, das Universum in eine Schuhschachtel zu stopfen. Das menschliche Maß mochte ausreichen, um Türstöcke auszumessen, zur Erklärung von Not und Elend war es jedoch völlig ungeeignet. Letztendlich war der Niedergang der Menschheit nicht hausgemacht. Weder stand es so im Himmel geschrieben, noch hatte ihn die Hölle ausgebrütet, es handelte sich einfach nur um ein dummes, kleines Stückchen Protein. Deshalb näherte er sich dem Pilgerlager ohne jeden Schutz, ohne Erklärungen und ohne Rückfahrschein, nur mit einem Kopf voller Stimmen. Er hatte eine Heidenangst, fühlte sich allein. Nicht einmal mitten in Tibet hatte er sich so allein und verlassen gefühlt. Nathan Lee wusste, was er zu tun hatte, aber er wusste nicht, warum. Er dachte beim Reiten darüber nach, schrieb sich in seinen eigenen Film hinein – oder vielmehr aus ihm heraus. Die Annäherung an die Brücke kam ihm vor wie ein Sprung in einen dunklen Schacht. Er flog … mit zerbrochenen Flügeln. Die Stute trug ihn noch hundert Meter weiter, scheute, gehorchte aber dann wieder. Bei dem Geruch verwesenden Fleisches rollte sie wild mit den Augen. Er hätte sie noch weiter zwingen können, denn er sehnte sich nach ihren starken, großen Muskeln und der Wärme, die aus ihrem Körper aufstieg. Außerdem wusste Nathan Lee nicht genau, ob ihn seine eigenen Beine tragen würden. Aber sie war so schön. Er ließ den Blick über ihren vollkommenen Hals wandern, über die Muskelstränge, das Wechselspiel der Schultern. Er schaute zwischen ihren Ohren hindurch, die immer wieder nach vorne zuckten. Sie träumte in diesem großen Schädel. Schließlich zog er am Zügel und brachte sie zum Stehen. Genug. Sie würden ihr Fleisch über ihren Feuern braten, und das war sinnlos. Ihr Hunger war größer als die Menge an Fleisch, die sie ihnen anzubieten hatte. Nathan Lee 590
stieg mit langsamen Bewegungen ab, so, dass ihn alle sehen konnten. Er drehte den Schützen den Rücken zu, sattelte die Stute ab und warf Sattel und Zaumzeug am Straßenrand auf einen Haufen. Nach kurzer Überlegung behielt er die Satteldecke. Dann zeigte er mit einer Hand auf die Straße in Richtung Los Alamos, nicht des Pferdes wegen, sondern damit die Scharfschützen genau verstanden, was er vorhatte. Er trat einen Schritt zur Seite, stand mit leeren Händen auf den weißen und gelben Mittelstreifen und sah zu, wie die Appaloosa-Stute kehrtmachte und freudig durch den Fahrzeugfriedhof zurücktrottete. Die Stute blieb nicht ein Mal stehen, es gab ja nirgendwo etwas zu fressen, nicht jetzt, kurz vor dem Winter und in diesem vergifteten Landstrich. Sie galoppierte nicht, auch darüber war er froh. Er wollte nicht, dass sich die Scharfschützen zu einer raschen Entscheidung gedrängt fühlten. Auf diese Weise blieb ihnen Zeit für den Entschluss, sie zu verschonen. Ihre Hufe klapperten auf dem Asphalt, dann löste sie sich wie ein gefleckter Geist im rauchigen Nebel auf. Er musste an sein Boot an der Küste von Alaska denken, wie es genau in dem Augenblick, als er zur Seite geschaut hatte, davongetrieben war. Unvermeidliche Risiken. Das Pferd trabte um eine Straßenbiegung und war weg. Er rollte die Satteldecke zusammen, wandte sich wieder dem Fluss zu und marschierte los. Die Mittelstreifen dehnten sich wie Kilometer. Er hielt den Kopf hoch und versuchte, die Vorstellung von seinem Gesicht im Fadenkreuz zu verscheuchen. Als er die Brücke betrat, forderte ihn niemand auf, stehen zu bleiben. Wilde, ausgemergelte Gestalten warteten mit finsteren Blicken am anderen Ende und reckten drohend Gewehre, lange Speere, Holzfälleräxte, Bögen und Pfeile und sogar langstielige Zuschlaghäm591
mer in die Luft. Einige trugen Motorrad-, Fahrrad- und sogar Footballhelme, andere trugen Gasmasken. Es war unvorstellbar, dass ein Mensch – selbst ein verrückter Prophet – ein solches Pack befehlen konnte. Die kruden Gestalten blickten mit erhobenen Köpfen nach Westen, nach Los Alamos. Es war eine merkwürdige Szene. Ohne Ausnahme waren sie bereit zur Schlacht … ohne dass ein Feind in Sicht war. Das Invasionsheer stand bereit, ein ungezügelter Haufen, der sich von Norden nach Süden erstreckte. Nur der Fluss verlieh ihm eine gewisse Form. Nathan fiel auf, dass die Brücke eigentlich ziemlich mickrig war. In den Wochen der Belagerung hatte sie in der Vorstellung der Einwohner von Los Alamos immer größere Dimensionen angenommen, ein Bauwerk, das eine Welt mit einer anderen verband. Dabei war es nur ein kurzes, gerades Stück Straße. »Keine Geschenke?«, höhnte jemand. »Keine großen Versprechungen?« Nathan Lee versuchte, einen gelassenen Eindruck zu machen, doch sein Herz raste, sein Mund war trocken. »Was haben wir denn da?«, fragte eine der vernarbten Erscheinungen. Nathan Lee händigte ihm die Pferdedecke ohne Protest aus. Jemand stieß ihn in den Rücken. Sie wollten seinen Namen nicht wissen. Er war ihnen so gleichgültig wie sein Anliegen, nach dem sich niemand erkundigte. Er hatte keine Antworten für sie, keine, die ihnen etwas bedeutet hätten. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn über Los Alamos ausfragen würden, über die Verteidigungsmaßnahmen, seine Schätze, die Befürchtungen seiner Bewohner. Aber in ihrer Vorstellung gehörte die Stadt bereits 592
ihnen. Einer der Soldaten kam mit einem breiten Grinsen auf ihn zu. »Wo bleiben denn unsere guten Manieren?« Er sprach sehr breit. »Der Mann hier steigt von seinem Berg herab, glatt rasiert und sauber. Frech wie Oskar. Unterwegs, um die armen Leute zu heilen, hab ich Recht?« Er grinste sardonisch. Offensichtlich hatte er es auf ein bisschen Spaß angelegt. Nathan Lee wartete. Der Mann spuckte ihm ins Gesicht. Nathan Lee wusste, dass das nur der Anfang war. Er wischte sich den warmen Schleimklumpen von der Wange, betrachtete seine Finger und sah dann wieder den Soldaten an. Egal ob er sich demütigen ließ oder zurückschlug, das, was als Nächstes kam, würde mit der gleichen tödlichen Gewalt über ihn hereinbrechen. Ihre Fäuste waren vernarbt, ihre Gesichter verschrammt. Sie hatten sich bei der Warterei auf jemanden wie ihn schon gegenseitig blutig geschlagen. Sobald sie mit dem Prügeln anfingen, würden sie sich nicht mehr im Zaum halten können. Er hörte das Wasser, und das Bild von seinem Körper, wie er flussabwärts in die anderen aufgestauten Leichen trieb, blitzte vor seinem inneren Auge auf. Einen Augenblick war er davon überzeugt, nichts daran ändern zu können. Dann fiel ihm ein, dass diese Männer trotz ihrer Flinten und ihrer Gemeinheit die Stute nicht niedergeschossen hatten. Noch immer glomm ein Funken Poesie in ihnen. Das falsche Grinsen des Soldaten wurde breiter. Sie zogen den Kreis enger. Ringsum grimmiges Lachen. Dann überraschte sie Nathan Lee, überraschte auch sich selbst. Ohne näher darüber nachzudenken, fuhr er sich mit der Spucke über die Zunge. Er nahm die ansteckende Krankheit an. 593
Die Soldaten blinzelten verdutzt. Sie verstummten. Direkt vor ihren Augen hatte sich Nathan Lee soeben verdammt. Er war einer von ihnen geworden. Kurz darauf trat der erste Mann zur Seite. Sie ließen ihn durch. Und keiner von ihnen fand das Messer. Die Stimme des Captains weckte sie. »Schauen Sie auch zu?«, fragte er. Miranda drückte den Hörer ans Ohr und wischte sich mit der anderen Hand ungelenk den Schlaf aus dem Gesicht. »Zusehen?« Sie erhob sich von der Matratze und stand noch leicht unsicher auf dem Boden in ihrem Büro. »Was denn, Sie schauen nicht zu?« »Ich muss eingeduselt sein«, murmelte sie entschuldigend. Wobei denn zuschauen? »Er hat es auf die andere Seite geschafft.« »Sehr gut.« Die Uhr zeigte neun. Abends oder morgens? Er ließ die Kerze von zwei Seiten abbrennen, der arme kleine Wicht. »Erst sah es aus, als gäbe es Ärger. Ich weiß nicht, was er zu ihnen gesagt hat. Aber sie haben ihn reingelassen. So viel haben wir immerhin über die Kameras mitgekriegt.« Plötzlich kam es ihr in dem Raum wie tiefster Winter vor. »Nathan Lee?«, flüsterte sie. Der Captain verstummte einen Augenblick. »Hat er es Ihnen nicht gesagt?« Dann sah sie es, auf ihrem Schreibtisch. Er hatte sein Geschichtenbuch dagelassen.
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Nathan Lee drang in den großen Schlund der Belagerung ein, in die Vielfalt ihrer Stimmen, in ihren ungestümen Glauben. Er war stets überzeugt gewesen, seine Reisen hätten ihn auf das hier vorbereitet. Doch bei all ihren Schrecken war die Wüstenei Asiens wenigstens still gewesen. Hier spazierten die Toten umher, redeten, sangen und schrien. Sie warfen den Oberkörper hin und her, keiften, krochen auf allen vieren herum, weinten, priesen Gott. Sie saßen auf schlammigen Leichenklumpen und murmelten ohne Unterlass irgendwelche Namen vor sich hin. Sie erinnerten ihn an die Jahr Null-Klone in ihren Zellen, anonyme Wesen, bis auf die Namen und die Geschichten, die sie sich immer wieder flüsternd aufsagten. Das Virus war nicht zu übersehen, nicht in ihrer glasigen Haut, nicht in ihren leeren Augen. Liebende hatten sich aneinander gebunden, um sich abwechselnd umeinander zu kümmern, je nachdem, wie das Bewusstsein kam und ging. Eltern banden sich ihre befallenen Kinder ans Handgelenk und zogen ihre kleine Herde wie Tiere hinter sich her. Andere hatten ihre Lieben an Händen und Füßen gefesselt, um sie davon abzuhalten, in der Nacht wegzuspazieren, nur um schon bald die Gefesselten im Delirium zu vergessen und selbst ziellos davonzutaumeln, Männer, Frauen und Kinder im kalten Schlamm dem Hungertod überlassend. Lebensmittel gab es ohnehin nicht, sagte sich Nathan Lee. Andererseits gab es natürlich etwas zu essen. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, ihr Gemetzel zu verbergen – die blanken, weißen Knochen lagen überall herum. Sie hatten sich in ihr eigenes, lebendes Festmahl verwandelt. Noch hatte das Virus sie nicht erledigt. Zehntausende Pilger mochten schon gestorben sein, aber es blieben immer noch Hunderttausende übrig. Während er sich zwischen ihren trostlosen Grüppchen hindurchbewegte, folgten ihm Blicke aus übergestülpten Decken, aus Kapuzen, 595
aus verfilztem Haar unter verschmierten Augenbrauen, die Augen vom Rauch gerötet. Sie zitterten vor Fieber, ihr Husten deutete auf Lungenentzündung, Erkältungen und Tuberkulose hin, das Humpeln auf schwere Wunden. Ihre Augen waren verkrustet, aus ihren Hosenbeinen sickerten Fäkalien. Wie bei den Kreuzfahrern auf dem Weg nach Jerusalem. Der Krieg feuerte sie an, das war deutlich zu sehen. Jeder zweite hielt irgendeine Waffe in der Hand. Die Gruppen von Jäger-Kriegern, die links und rechts von der Straße im Kreis saßen, ihre Waffen putzten und sich unterhielten, sahen wie mit Patronengurten behängte Skelette aus. Er wich ihren Blicken aus, denn sie machten ihm Angst. Er machte sich selbst Angst. Was hatte er hier zu suchen? Es kam ihm absurd vor. Ebenso gut könnte er versuchen, den finsteren Himmel dazu zu überreden, endlich aufzuklaren. Auch die Gesichter der Kinder waren mit Maschinenfett und Dreck beschmiert. Niemand kannte ihn, aber es hatte den Anschein, als würden ihn alle erkennen. Er war sauber und gesund und unversehrt, ein amerikanisches Fabelwesen. Ohne Zweifel erschreckte er sie, denn sein Gesicht war gewaschen, er war rasiert und trug weder Dreadlocks noch Bart, und er hatte auch keine schwärenden Wunden. Außerdem besaß er noch sämtliche Zähne. Sie wichen vor ihm zurück. Er war wie ein Relikt aus ihrer Vergangenheit. Aus Neugier liefen sie hinter ihm her. Seine kleine Gefolgschaft wuchs rasch an. Er spürte sie hinter sich, hörte ihr Staunen. Offensichtlich warteten sie auf etwas oder jemanden, der ihre schreckliche, zermürbende, stumpfsinnige Monotonie durchbrach. Eigentlich hatte sich Nathan Lee ursprünglich, sobald er die Brücke überquert hatte, unter die Menge mischen und von dort aus weiter durchschlagen wollen. Doch seine Reise hatte mit 596
einer Geschwindigkeit, die ihn alarmierte, ein Eigenleben angenommen. Er besaß nicht mehr Kontrolle über sein Vorankommen als Miranda über das Virus. Diese Leute kamen aus dem Schneematsch am Straßenrand und der dahinter liegenden Wüste und schlossen sich ihm ohne jeden ersichtlichen Grund an. Er wollte stehen bleiben und sie anschreien, sie wegjagen, aber letztendlich war das hier ihr Zuhause; er war der Fremde. Fast wäre er losgerannt, um sich irgendwo zu verstecken, aber das hätte ihn nur noch verdächtiger werden lassen. Also hielt er weiter tapfer auf das Autobahnkleeblatt zu, das weiter vorn an der I84 aufragte. An ihrer Nationalität bestand kein Zweifel. Zum einen hielten sie sich in erster Linie auf den Asphaltbändern sowie links und rechts davon auf. Die Straße schien ein Teil ihrer Seele zu sein, außerdem kündete ihre Kleidung von einer gemeinsamen Vergangenheit. Pullis mit der Kleinen Seejungfrau mischten sich mit FootballteamJacken, Gap-Jeans mit Tarnanzügen aus dem Golfkrieg, Uniformhemden von Fast Food-Ketten mit Jacken von der Post und privaten Zustelldiensten, falsche Pelze mit echten. Die Lumpen wurden übereinander getragen. Der Winter siebte erbarmungslos die Schwachen unter ihnen aus, doch nicht ein Fetzen Kleidung ging verloren. Die Toten und Sterbenden waren nackt. Die Menge schleppte sich wie eine Prozession hinter ihm her und wurde dabei immer größer. Obwohl Nathan Lee an der Spitze ging, kam er sich wie in der Falle vor, denn sie ließen ihm keine andere Wahl, als ständig in Bewegung zu bleiben. Er schritt zuversichtlich aus, ohne näher darüber nachzudenken, dass er in diesem Chaos hoffnungslos verloren war. Weder wagte er anzuhalten, noch Unsicherheit zu zeigen oder Fragen zu stellen. Immer wieder ließ er den Blick auf der Suche nach ei597
nem Kreuz, an dem ein Mann hing, über die Köpfe der Massen wandern. Er kam an Scheiterhaufen vorbei, die so groß waren, dass sie im Umkreis von hundert Metern Wärme abstrahlten und wie kleine Waldbrände knackten und fauchten. Er sah Überlandleitungen im Qualm herunterhängen und ein Stück weiter in der schmuddeligen Dunkelheit verschwinden. Hier und da ragten Kreuze auf, aber sie waren alle leer, außerdem hatte keines von ihnen die richtige Form, mit einem langen Stamm und einem hoch angesetzten Querbalken. Eigentlich wollte er sich an den Videoaufnahmen, die er sich eingeprägt hatte, orientieren, konnte das Kreuz aber nirgendwo entdecken. Ohne die Menschenmenge wäre er verloren gewesen. Merkwürdigerweise war es gerade ihre Herdenmentalität, die ihm den richtigen Weg zeigte. Die Massen vor ihm schienen zu wissen, wo er hin musste, und öffneten ihm einen Korridor. Er musste nichts weiter tun, als ihren Erwartungen Folge zu leisten. Auf diese Weise erreichte Nathan Lee, knapp einen Kilometer weiter, gleich hinter der Kreuzung der beiden Schnellstraßen, das Zentrum. Es befand sich auf einem freien Platz in einer Senke. Dort unten stand das gesuchte Kreuz; auch Ochs war da. Nathan Lee hatte sich gedacht, dass Ochs sich in der Nähe aufhalten würde. Der Ort der Kreuzigung markierte sein Lager. Ochs war wie ein Löwe mit seiner Beute. Der Körper auf dem Kreuz legte Zeugnis von seinem Herrschaftsgebiet ab. Am Rand der Senke blieb die Menge wie vor einer Arena stehen. Nathan Lee konnte seinen Schritt nicht verlangsamen und schon gar nicht anhalten, er kam sich vor wie angetrieben. Die Horde war sein Verderben und zugleich seine größte Chance, sie würde Zeuge dessen sein, was sich gleich ereignete. Ihm blieb keine Zeit zum Nachden598
ken. Er ließ den Blick in die Runde schweifen, schritt den flachen Abhang hinunter, und es war, als würde er fallen. Er nahm jede Einzelheit in sich auf. Izzy war dort oben immer noch am Leben. Ochs stand mit dem Rücken zum Rand der Senke vor einem Trupp Krieger nicht weit vom Fuß des Kreuzes entfernt und predigte mit tiefer Stimme. Ein Priester und seine Requisiten. Ein Soldat am Rand der Gruppe hob den Blick, als er Nathan Lee kommen sah. Auf seinem Nasenrücken und quer über die Stirn war ein rotes Kreuz gemalt. Er kam zu dem Schluss, dass der Neuankömmling wohl hierher gehörte, sonst wäre er nicht hier, und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Ochs. Nathan Lee ging weiter. Auf einmal kam ihm alles so mühelos vor. Seine Füße berührten kaum den Boden, sein Weg schien vorgezeichnet zu sein. Das Kreuz war sehr hoch und nirgendwo eine Leiter in Sicht. Die Henker hatten den Stamm in einem Loch versenkt und ihn mit Felsbrocken und Holzstücken festgeklemmt. Izzys Lippen waren bis zum Zahnfleisch zurückgezogen. Die Adern in seinem Hals standen wie bei einem Gewichtheber bei den Olympischen Spielen heraus. Er bäumte sich mit aller Kraft auf, machte einen Zentimeter gut und verlor ihn wieder – ein mühseliges Unterfangen, jeder Augenblick bedeutete schreckliche Qual. Sein Kopf war nach hinten ans Holz gepresst, um sein Ringen um Luft auch auf diese Weise zu unterstützen. Noch im Gehen beugte Nathan Lee sich nach unten und griff unter sein Hosenbein. Er hatte das Messer mit Klebeband an seinem Schienbein befestigt, mit dem Griff nach unten: Mit einer einzigen Bewegung hatte er es gelöst. Er 599
war sicher, dass jemand aus der Meute Alarm schlagen würde, doch nicht eine Stimme erhob sich. Ochs hob die langen Arme, segnete sie, beschwor die Apokalypse herauf. Sein Rücken war breit und nackt, übersät mit Peitschennarben, eigentlich kaum mehr als mit Leder überspannte Knochen. Unter der durchsichtigen Haut zeichneten sich die Schulterblätter wie Flügel ab. Rings um das Kreuz knieten Männer auf dem kalten Erdboden. Ochs berief sich auf Izzys Leiden und sagte Dank für dieses Beispiel. Einen Moment lang spürte Nathan Lee, wie ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann. Ihre Kraft speiste sich aus Mythen, die Vergangenheit war die Gegenwart. In seinem Kopf drehte sich alles. Izzys Zehen krampften sich um ein falsch herum angebrachtes schwarzweißes texanisches Nummernschild, um sich kurz darauf ebenso schmerzhaft wieder zu spreizen. Die Kreuzigung eines Mannes war eine vergessene Kunst. Sie hatten ein wenig improvisieren müssen, Haushaltsnägel durch rostfreie Unterlegscheiben und alte Nummernschilder treiben müssen, damit die Handgelenke und Fußknöchel nicht ausrissen. Ochs hielt inne. Izzys schwache Bewegungen ließen das Kreuz ein wenig schwanken. Das Holz knarrte in der Stille. Nathan Lee ging schneller. Niemand hielt ihn auf. Jetzt bemerkten auch andere sein Näherkommen, ohne sich jedoch darum zu kümmern. Jeder Schritt machte ihn vertrauenswürdiger. Oben am Kreuz öffnete Izzy die Augen und blinzelte zum Himmel und den schwarzen, kreisenden Vögeln hinauf. Dann spähte er nach unten, den Kopf seitlich an das Holz gepresst. In diesem Moment erblickte er Nathan Lee. 600
Seine Augen leuchteten auf. Ochs sah den Moment der Hoffnung, wo keine Hoffnung mehr sein durfte, und wollte sich alarmiert umdrehen. Nathan Lee spürte nicht, dass seine Beine einen Satz machten. Er flog plötzlich durch die Luft und prallte gegen Ochs’ knochigen Rücken. Ochs strauchelte, doch diesmal war Nathan Lee im Vorteil und zerrte den Riesen nach hinten. Nathan Lee hatte keine Übung darin, hatte noch nie im Zorn ein Messer gezogen. Ochs knickte unter seinem Gewicht ein, fiel auf die Knie. Im gleichen Moment sah sich Nathan Lee der Gruppe Soldaten und dem Kreuz gegenüber. Er schaute nach unten, wo Ochs’ Kopf in seiner Armbeuge eingeklemmt war. Seine Finger hielten den großen Unterkiefer fest gepackt, das Messer ruhte direkt unter der Kehle. Das Leben des Mannes lag in seiner Hand. In den folgenden Sekunden waren sie wie ein endlich zur Ruhe gekommener Wald. Die Meute, die den Rand der Senke über ihnen säumte, die ungläubig dreinblickenden Krieger, alle verhielten sich ruhig. Man konnte die Raben in der Luft schreien hören, und auch Izzys leises, keuchendes Schnaufen – wie ein Bergsteiger in sehr dünner Luft. Zwischen seinen Zähnen kam ein frostiges Wölkchen hervor. Nathan Lee ließ sich nach hinten fallen, drehte Ochs’ Gesicht in Richtung Kreuz und schloss die Finger fester um das Messer. Weiter hinten machte einer der Soldaten Anstalten, sich von der Seite an ihn heranzuschleichen. »Ich brauche keine Vorwände mehr«, verkündete Nathan Lee ihnen. »Zurück! Legt die Schusswaffen nieder!« Seine Worte, die aus einem alten Western entlehnt schienen, dampften in der kalten Luft. 601
Als sich keiner von ihnen mehr bewegte, zuckte Nathan Lee kurz mit dem Messer, nicht viel, aber es reichte, um in die Haut zu schneiden. Ochs’ Blut rann über die Klinge und tropfte warm auf seine Finger. Sie gehorchten widerstrebend und zogen sich nur nach und nach zurück. »Weiter«, forderte Nathan Lee. Die Lücke wurde größer. Kurz darauf war der Boden mit Gewehren und billigen Handfeuerwaffen übersät. »Sie haben dich geschickt«, sagte ein Mann. »Die aus der Stadt.« »Das mussten sie nicht«, sagte Nathan Lee. »Das hier ist eine persönliche Angelegenheit.« »Du bist gekommen«, krächzte Ochs. Er klang erfreut. Er will es so, erkannte Nathan Lee. Wieder spürte er diesen bodenlosen Schwindel, eine Ahnung von Mythos. Er war ein Zweig, der auf einem großen Fluss dahintrieb. »Ihr kennt euch?«, fragte ein großer Soldat. Nathan Lee musterte ihre Augen. Es waren zornige Augen, tödlich und abwägend, aber die meisten von ihnen waren auf sein Gesicht gerichtet, nicht auf das von Ochs. Das hatte etwas zu bedeuten. Sein Eindringen schockierte sie, es beleidigte sie als Männer der Tat. Zweifellos fühlten sich einige von ihnen durch eine viehische Loyalität an Ochs gebunden, doch ihre Wut speiste sich eher aus ihrem verletzten Stolz denn aus einem inneren Zwiespalt. Ihr Prophet war nicht beliebt. Tatsächlich sah Nathan Lee, dass mehrere der Männer, nachdem sie ihrer Überraschung Herr waren, verschwörerische Blicke austauschten. Ochs’ Wert als Geisel schwand mit jedem Herzschlag. »Mach schon, sag deinen Spruch auf. Oder bring ihn um«, rief ein Mann. »Du kannst uns nicht aufhalten.« Nathan Lee sah zu Izzy hinauf. Es war nur wenig Blut zu 602
sehen. Jemand hatte eine Plastikflasche an einer Stange festgebunden, um ihm Wasser zu geben. Man hielt ihn am Leben, aber früher oder später würde seine Kraft nachlassen, und er würde ersticken. »Ich bin gekommen, um ihn abzunehmen«, sagte Nathan Lee mit lauter Stimme, damit ihn alle hören konnten. Ein Raunen ging durch die Menge ringsum. Ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht waren sie große Anhänger dieser Foltermethode, andererseits hatten sie vielleicht schon längst genug davon. »Er ist da oben festgenagelt, du Idiot«, sagte jemand. Der Gedanke, eine Hinrichtung rückgängig zu machen, schien unvorstellbar. Izzy war verurteilt worden, das allein zählte und wurde als endgültig betrachtet. »Sieh ihn dir an, der ist so gut wie hinüber«, versuchte ihm ein Soldat gut zuzureden. »Das macht es auch nicht besser«, erwiderte Nathan Lee. Ochs zog an seinem Arm. Nathan Lee stemmte die Füße in den Boden und drehte sich nach hinten. Ochs’ Rücken bog sich, seine Wirbelsäule knackte. Der Mann hörte auf, sich zu wehren. »Du kommst hier nicht lebendig raus«, rief eine Stimme. »Darauf kommt es mir nicht an«, rief Nathan Lee zurück. »Keine Leiter, kein Hammer. Bin gespannt auf deinen Trick.« Sie amüsierten sich. Das Kreuz war riesig. Allein das Holz wog wahrscheinlich zwei Zentner. Er schaffte es unmöglich allein. »Helft mir«, antwortete Nathan Lee. Es rutschte ihm einfach so heraus. Sie starrten ihn fassungslos an. Die Absurdität verblüffte 603
sie. Der Attentäter bat um einen Gefallen? »Ich kann deinen Freund erlösen«, bot der große Soldat Nathan Lee an. Er sprach leise mit ihm. Vertraulich. »Willst du das?« Er hörte sich nicht unfreundlich an. »Er hat Besseres verdient«, erwiderte Nathan Lee. »Haben wir das nicht alle?«, fragte der Mann spöttisch. »Ja«, sagte Nathan Lee. »Wir alle.« Genau in diesem Augenblick fing es an zu schneien, und alle blickten zum Himmel hinauf. Die Flocken fielen in dicken, matschigen Klumpen herab. Eine Zeit lang beschäftigte sich jeder mit nichts anderem. Der Boden war kalt wie Eisen. Der Schnee schmolz nicht, sondern malte die Landschaft weiß. »Was wird aus ihm?«, erkundigte sich der große Soldat und zeigte mit dem Kinn auf Ochs. Nathan Lee blickte sich um. Sie warteten mit gefühllosen Blicken auf eine Antwort. Der Schnee blieb auf ihren verfilzten Haaren liegen. Sie wollen, dass ich es tue, erkannte er. Der Soldat bot ihm an, Izzy den Gnadenstoß zu geben, wenn Nathan Lee Ochs erledigte. Jetzt sah er es deutlich vor sich. Ochs hatte sie herumkommandiert und gesegnet und verführt. Der Riese hatte die finsterste Stelle in ihrer Seele bewohnt und sie mit ihren schlimmsten Ängsten und ihrem schlimmsten Hass besudelt. Er hatte ihre Verwirrung ausgenutzt, um Chaos anzurichten, und dieses Chaos wollte er jetzt zu einem Blutbad nutzen. Sie waren müde, sie hatten Schmerzen, sie starben, sie hatten keine Lust mehr, Ochs’ Opferlämmer zu sein. Aber niemand wusste einen Ausweg. Nathan Lee spürte, wie Ochs’ großer, kahler Schädel in seinem Griff glitschig wurde. Bevor es zu spät war, konnte er Ochs alles, was er ihm angetan hatte, vergelten. Mit 604
einer kleinen Kreisbewegung seiner Faust wäre die Welt von dieser Kreatur befreit. Und was dann? Nathan Lee hielt sein Gesicht in den aufkommenden Sturm. Der Schnee glitt von seinen Wangenknochen und rutschte gegen die Nickelbrille. Blut um Blut. Nathan Lee wusste es. Er wusste es aus tiefstem Herzen. Mit kristallener Klarheit erkannte er, wie alles arrangiert war. Diese wüsten Pilger wussten es noch nicht, aber das Messer war das Signal für sie. Seit Wochen schon hatte Ochs die Invasion gepredigt. Aber sie wollten nicht. Reifung hatte Ochs ihr hinausgezögertes Elend genannt. Gemeinsam hatten sie auf etwas gewartet, auf ein Zeichen oder ein Ereignis. Jetzt würden sie es bekommen. Sein Blut würde sie anfeuern. Ochs konnte die Invasion nicht zu seinen Lebzeiten auslösen, nur durch seinen Tod. Und das wusste er, das erklärte seine Freude bei Nathan Lees Auftauchen. Ochs musste sterben. Und wie eine sich erfüllende Prophezeiung war Nathan Lee vom Berg herabgekommen, um diese Aufgabe zu erledigen und ihn zum Märtyrer zu machen. Nathan Lee ließ den Kopf wieder sinken. Es kam ihm vor, als könnte er tausend Kilometer weit sehen. Er sah sich von weit oben. Ochs war nicht die schlimmste Bedrohung der Stadt. Das war Nathan Lee. Sein Hass und sein Messer waren Ochs’ Instrument. Seine Erlösung. Nathan Lee erschrak vor sich selbst. »Entscheide dich«, drängte ihn der Soldat. Nathan Lees Griff lockerte sich. Ochs spürte sein Zögern und drängte mit der Kehle an die Klinge, forderte Nathan Lee förmlich dazu auf. »Gnade«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sein ganzes Leben, so kam es Nathan Lee vor, war er 605
geklettert, hatte Griffe in den Berg gekratzt und an der Welt gezogen. Und niemals eine Antwort gefunden, niemals losgelassen. Jetzt ließ er los. »Ich kann dich nicht retten«, murmelte er. Der große Soldat runzelte die Stirn. Auch andere rings um ihn zeigten Zeichen der Enttäuschung. Ochs würde abermals auf sie losgelassen werden. Nathan Lee öffnete die Hände. Das Messer fiel zu Boden. Er ließ seinen Feind los. Daraufhin erhob sich Ochs mit wütendem Brüllen und baute sich vor Nathan mit schrecklich aufgerissenen Augen und von Narben überzogener Brust auf. In einem asketischen Anfall hatte er sich selbst die Brustwarzen abgeschnitten. Das erschreckte Nathan Lee mehr als alles andere. Er hatte sich im Namen Gottes eine der empfindlichsten Stellen weggeschnitten. »Jetzt«, verkündete Ochs. Es war sein letztes Wort. Als wohnte ihm ein eigenes, verzaubertes Leben inne, tauchte Nathan Lees Messer von hinten an Ochs’ Kehle auf. Ohne zu warten fuhr die Klinge einmal vor und einmal zurück. Ochs blinzelte. Sein finsterer Blick war schmerzerfüllt, aber auch voller Fragen. Er schien Nathan Lee zu bitten, ihm zu sagen, was nicht stimmte. Dann klaffte die Kehle des Propheten weit auf. Heißer Atem entwich seiner Luftröhre in einer kleinen Dampfwolke. Helles Blut ergoss sich über den weißen Boden und besprühte Nathan Lee. Ochs fasste sich an den Hals, seine Augen traten hervor. Es sah aus, als wollte er sich selbst erdrosseln. Er fiel nicht um, krachte nicht wie ein gefällter Baum auf den Boden. Am Ende sackte dieser Baum von einem Mann einfach nur in einem Gewirr von Gliedern in sich zusammen. Seine Knochen schienen zu schmelzen, seine 606
Beine falteten sich zusammen, bis er auf einmal saß. Die Wirbelsäule bog sich, der Oberkörper sank über den Schoß, schrumpfte immer weiter zusammen. Sein Kopf berührte die Erde. Und dann rührte er sich nicht mehr. Nathan Lee blickte auf. Der große Soldat stand mit dem Messer in der Hand über Ochs’ Leichnam. Nathan Lee wusste, dass es nicht ratsam war, davonzurennen. Er blieb wie angewurzelt stehen, als die Kreuzfahrer den Kreis um ihn enger zogen. »Was machen sie mit ihm?« Miranda stützte sich auf den Rand des Monitors. Sie stand immer noch unter Schock. Als sie friedlich schlief, war ihr Geliebter über den Fluss gegangen und dort unten verschwunden. Und wieder aufgetaucht. Izzys Kamera, die irgendwo mitten im Lager lag, hatte nicht aufgehört, Bilder zu übertragen. Die Meute hatte keine Ahnung, dass sie dort war. Körper und Gesichter wuselten im Vordergrund hin und her, blockierten den Zoom und gaben den Blick wieder frei. Dazwischen sah man immer wieder das Kreuz im Hintergrund. Zusammen mit dem Captain sah Miranda zu, wie Nathan Lee aus der Menge auftauchte, Ochs wie ein Tiger ansprang und sich gegen seine kleine Kriegertruppe stellte. Aus der Ferne sah die Szene ameisenhaft aus. Das Messer – man konnte es nicht sehen, aber ziemlich deutlich erahnen – hatte Ochs erstarren lassen und Nathan Lee eine Zeit lang Sicherheit verschafft. Ihr Herz war wie ein Stein. Ihre Liebe hatte nicht ausgereicht. Letztendlich war Nathan Lee das Opfer seiner Vergangenheit geworden. Es war ihm nicht möglich gewesen, dem Lager fern zu bleiben. Seine Rache sah auf dem Bildschirm so lächerlich und unbedeutend aus. 607
Aber dann trat er zur Seite und Ochs kam wieder auf die Beine, und dann versperrte ihr die Menge erneut die Sicht. »Und jetzt?«, fragte sie. Der Captain starrte auf den Monitor. »Da«, sagte er. »Über ihren Köpfen. Sehen Sie’s?« Sie schaute hin. Izzys Kreuz neigte sich.
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35 Friede auf Erden MITTERNACHT
Sie sah zu, wie Izzy auf dem hellgrünen Satellitenbild immer dunkler wurde. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob das wirklich er und Nathan Lee dort unten waren. Durch die Schleier, die das Gewitter und die Nacht über die Szene gelegt hatten, bekamen sie mit ihren hochauflösenden Kameras lediglich Thermobilder herein. Aber Miranda wusste es. Es passte zu Nathan Lee, dort sitzen zu bleiben, den Rücken gegen den Wind zu kehren und den Freund in den Armen zu halten. Ein Dutzend verschiedener Bilder von diesem und anderen Satelliten flackerten auf die Monitore in dem überfüllten Raum. Die Bilder mit mittlerer Auflösung, die mit einem Maßstab von einem Zoll pro Kilometer arbeiteten, zeigten Ansammlungen menschlicher Körperwärme, die sich nicht zu bewegen schienen. Wenn man die Bilder der vergangenen zwölf Stunden jedoch kompilierte und mit großer Geschwindigkeit abspielte, waren die ASTERExperten in der Lage, den Beginn eines groß angelegten Rückzugs aufzuzeigen. Große, formlose Konfigurationen – Hunderttausende von Menschen – bewegten sich weg vom Epizentrum. Am aktivsten war dieses Herdenmuster kurz vor Sonnenuntergang gewesen. Seitdem hatten die Dunkelheit, fallende Temperaturen und der immer höher liegende Schnee sie verlangsamt. 609
Die meisten hatten kaum einen Kilometer geschafft, bevor sie von der Nacht aufgehalten wurden, aber der Trend war deutlich zu sehen: Die Pilger zogen ab, zumindest versuchten sie es. Die Belagerung war aufgehoben, sie hatten die Stadt aufgegeben. Ein genauer Grund dafür fehlte Los Alamos, aber es traf mit Nathan Lees Erscheinen im Tal zusammen. Vielleicht hatte er Ochs dazu überredet, die Pilger nach Hause zu schicken, oder er hatte sie vor schwerwiegenden Konsequenzen gewarnt, oder sich selbst als Geisel angeboten, oder ihnen eine völlig neue Richtung gewiesen. Etwas höchst Bedeutsames war dort unten im Lager vorgefallen. Überall in Los Alamos wurde gefeiert, als wäre ein langer Krieg zu Ende gegangen. Im Oppenheimer Center war früh am Abend ein ökumenischer Gottesdienst abgehalten und für diejenigen, die nicht persönlich daran teilnehmen konnten, übertragen worden. Unterbrochen von Satellitenbildern, die den Rückzug der Pilger zeigten, hatten die Priester, Pfarrer, Mullahs, Rabbis und buddhistischen Mönche der Stadt ihrem Dank für die Errettung Ausdruck verliehen. Sie beteten für die armen Menschen, die nun hilflos dem Schneesturm ausgeliefert waren. Jetzt, da ihr Feind zu ihren Füßen krepierte, fiel es allen wesentlich leichter, sich in barmherzigeren Gedanken zu üben. Eigenartigerweise waren die Generäle nicht sonderlich erfreut. Obwohl die Stadt gerettet war, stritten sie die Beweise hartnäckig ab. »Damit ist alles noch schlimmer als je zuvor«, sagte einer zu Miranda. »Der Spinner hätte beinahe alles versaut.« Mit dem Spinner meinte er Nathan Lee. Miranda funkelte ihn wütend an: »Was wollen Sie denn noch? Wir sind verschont worden! Er hat Ihren Kanonendonner verhindert, liegt es daran?« »Wir haben unsere Befehle«, meinte der General. 610
»Wessen Befehle?« Aber in diesem Augenblick wusste sie es. Befehle ihres Vaters, des Herrschers der Tiefe. Sie glaubten an ihn und seine uneinnehmbare Festung aus Salz. »Welche großartige Strategie hat Nathan Lee denn durchkreuzt? Sie ziehen ab!« »Genau das«, knurrte der General. Mehr Informationen hatte sie nicht aus ihnen herausbekommen. In welcher Hinsicht durchkreuzte der Abzug der Pilger Pläne der Generalität? Sie versuchte es mit der Gegenposition. Wie spielte die Ankunft der Pilger ihnen in die Hände? Miranda ließ ihre Spekulationen sein. Offensichtlich war da etwas Größeres in Bewegung gesetzt worden und durch Nathan Lees Einmischung aus den Fugen geraten, jedenfalls beinahe. Der General wirkte beunruhigt, nicht besiegt. Die Ereignisse des Tages – Nathan Lees Attacke, Izzys Abnahme vom Kreuz, der Massenrückzug – waren eine Unannehmlichkeit. Miranda sah, dass die Generäle sich rasch an die neue Situation anpassten. Ihr Plan war immer noch akut. »Sie wollen einen Krieg«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Wir wollen maximale Sicherheit.« »Die haben wir doch jetzt«, sagte sie. »Morgen Abend um diese Zeit sind die Pilger weg. Sie können Ihre Säbel wieder einstecken.« »Es ist nur eine Finte«, sagte der General. »Sie ziehen sich in die Wälder zurück. In ihre Tunnel. Um sich neu zu formieren.« »Welche Wälder? Welche Tunnel?«, wollte sie wissen. Dann begriff sie. Der Prüfstein war Vietnam. Afghanistan. Oder Gallien. Die Barbaren waren nichts als Wilde. »Wir hatten sie alle an einem Ort versammelt, ausnahmslos«, sagte der General. »Jetzt wissen wir nicht mehr, wo sie sich aufhalten. Sie entwischen uns.« 611
»Lassen Sie sie ziehen«, erwiderte Miranda. »Somit können wir bleiben.« Die Generäle gingen hinaus, ihre Stabsoffiziere blieben jedoch, gingen im Raum umher, beugten sich über Monitore, schrieben sich Koordinaten auf, machten sich Notizen. Hin und wieder verließ einer den Raum, um einen Anruf zu tätigen. Ihre Weltuntergangsmienen hoben sich markant von der allgemeinen Jubelstimmung ab. Abgesehen von den Militärs ging es zu wie bei einer Büroparty: fröhliche Gesichter, kleine Tannenbäumchen mit Papierschmuck, Lichterketten mit elektrischen roten ChiliSchoten an der Wand. Miranda zog sich in eine Ecke zurück. Sie wollte ihnen nicht die Freude verderben. Sie durften jetzt im Freien bleiben, durften im Sonnenlicht leben, konnten ihre Forschungsarbeit weiterführen, die Überlebenden umarmen, das Heilmittel finden. Wenn sie die Hände im Siegestaumel aneinander klatschten oder erleichtert ein »Halleluja!« ausstießen, fühlte sie sich in ihrer Vision bestärkt. Sie gehörten hierher, in die Stadt, nicht zu ihrem Vater. Sie wollte an ihrer Freude teilhaben, aber sie wussten, dass sie trauerte. Ihre Gesichter wurden lang, wenn sie sie anschauten. Sie sah ihre tiefen Seufzer. Ohne den Monitor Nummer acht wäre sie längst schon nach Hause gegangen, um privat zu trauern. Dabei war es gewissermaßen noch zu früh zum Trauern. Er lebte ja noch, irgendwo dort unten. Aber er hatte sich selbst zum Tod verurteilt. Es war alles auf Monitor acht zu sehen, ein paar Sekunden hinter der Realzeit zurück, oder wie lange es dauerte, das Bild aus dem Tal in den Weltraum und zurück in diesen Raum zu übertragen. Sein schwach leuchtender, hohläugiger Kopf drehte sich zur Seite und beugte sich wieder über Izzy. Sie berührte den Bildschirm. Wenn sie nur gewusst hätte, was in ihm 612
vorging. Sie hätte die Arme um ihn geschlungen, ihn mit ihrer Liebe gelähmt, ihn festnehmen lassen. Aber durch seine Rettung hätte sie das Schicksal der Stadt besiegelt. Er hatte ihr das gegeben, was sie sich wünschte. Los Alamos war sich seines Opfers bewusst. Was auch immer er dort unten getan hatte, er hatte es für sie getan. Ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht, jedenfalls glaubten sie daran. Sie hatten Nathan Lee dazu auserkoren, das Epizentrum zu markieren. Es war eine Art kartographischer Ehre. Sie maßen ihre neue Hoffnung von dem Punkt aus, an dem er saß. Miranda stellte ihren Stuhl seitlich zum Monitor, so dass ihr Rücken dem Raum zugewandt war. Sie saß neben ihm, nur wenige Zentimeter vor dem Bildschirm. Mit der größtmöglichen Auflösung hatten sie ihn herangeholt, aber er sah immer noch so klein aus. Sein Kopf war nur eine Hand voll Pixel. Wie er dort so saß, passte er unter ihre Fingerspitze. Das Bild pulsierte. Er hatte sich nicht mit Serum-III infiziert. Miranda hatte im Tiefkühler nachgesehen: Sämtliche Proben waren nachgewiesen. Sie konnte ihn verstehen. Izzy hätte keine achtundvierzig Stunden mehr durchgehalten, und Ochs hätte womöglich zum Sturm geblasen. Die Generäle hätten zurückgeschlagen. Dadurch, dass er sofort aufgebrochen war, hatte Nathan Lee die Weichen der möglichen Wirklichkeiten gestellt, zumindest einige von ihnen. Izzy war tot. Sie war nicht sicher, ob Nathan Lee das überhaupt wusste. Seit mehreren Stunden hatte sie verfolgt, wie die Dunkelheit in Izzys Glieder und bis zu seinem Innersten vorangekrochen war. Jetzt war er kaum mehr als ein Schatten auf Nathan Lees Schoß. Der Bildschirmschoner auf dem Monitor neben ihr zeigte Wolken, die am Matterhorn vorüberzogen. Die Szene 613
wechselte zum Grand Canyon bei Sonnenaufgang, dann zu einem Wasserfall in Hawaii. Wiesen voller roter Mohnblumen. Der Mount Everest bei Sonnenuntergang. Eine Kiste voller Träume. Erst jetzt wurde ihr das Thema dieser Bilder klar. An all diesen schönen Orten gab es keine Menschen. Der Computer zeigte ihr den Garten Eden vor dem Menschen. Sie streckte die Hand aus und schaltete ihn ab. Sie hatten Vorräte für mindestens eine Dekade. Wenn sie sich ein bisschen einschränkten, gab es keinen Grund, warum sie es hier nicht ewig aushalten sollten. Falls die Seuche noch einmal auftauchte, konnten sie sich immer noch selbst infizieren. Drei Jahre, hatte Nathan Lee ihr entgegengehalten. Ein ganzes Leben. Sie wandte sich wieder dem Monitor zu, ihrem geisterhaften Geliebten. Wie lange willst du noch dort sitzen bleiben? Seine Hände wurden dunkler. Sie konnte es sehen. Er fror. Das gefiel ihr nicht. Er konnte sich sehr wohl um sich kümmern. Wenn er es mitten im Winter quer durch Tibet geschafft hatte, war das hier ein Kinderspiel. Aber er saß einfach da. Schließlich ertrug sie es nicht mehr, einfach zuzusehen. Sie stand auf. Ihr Unterkiefer war trotzig vorgeschoben. Ihre Entscheidung war gefallen. Nathan Lee war inzwischen vom Virus befallen, aber sie konnte einen Biohazard-Anzug anlegen. Die Straßen lagen unter einer Schneedecke, aber sie konnte einen der großen Armeelastwagen mit Ketten nehmen. Abgesehen davon konnte sie auch zu Fuß gehen. Es waren nur 15 Kilometer. So tief konnte der Schnee noch nicht sein. Der Captain fing sie an der Tür ab. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er da war. »Schlagen Sie sich’s aus dem Kopf«, sagte er. »Ein Opfer ist genug.« 614
»Ich bringe ihn zurück«, erzählte sie ihm. »Er kann die Tage, die ihm noch bleiben, in einem warmen Bett im Südsektor verbringen.« »Das ist nicht das, was er will.« »Ach, hat er Ihnen das gesagt?« »Ich habe Augen im Kopf.« »Jedenfalls lasse ich ihn nicht im Stich.« »Wir brauchen Sie hier, Miranda.« »Dann schickt ein Team los, das ihn holt.« »Verderben Sie jetzt nicht alles«, sagte der Captain. Sie kam sich vor wie abgezogen, nackt und verletzlich. »Verderben?«, rief sie. Einige Leute drehten sich um. Sie senkte die Stimme. »Er wirft sich weg.« »Sie wissen es besser.« Er legte einen Arm um ihre Schultern. Sie dachte, er wollte ihr eine tröstliche Umarmung anbieten. »Ihr Mitleid können Sie behalten«, sagte sie. Aber er drehte sie mit einer raschen Bewegung um, so dass sie wie ein ungezogenes Kind mit dem Gesicht zur Wand stand. Er schob sein Gesicht dicht neben ihres. »Der Mann erledigt nur seine Aufgabe«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er meinte es ernst. »Erledigen Sie Ihre.« Diese Maßregelung verschlug ihr den Atem. Dabei war er noch nicht fertig. Er legte eine Hand flach auf ihren Bauch – an die richtige Stelle. Sie wurde rot. Er kannte also ihr Geheimnis. »Er hat es Ihnen gesagt, bevor er gegangen ist«, flüsterte sie. »Nein«, sagte der Captain. »Wie schon gesagt: Ich habe Augen im Kopf. Meine Frau weiß schon lange, dass Sie schwanger sind. Ich war mir da nicht so sicher. Jetzt allerdings schon.« 615
Sie kämpfte gegen ihre Freude an, oder war es der Kummer? Sie wusste es nicht mehr genau. »Sie müssen nachdenken«, sagte der Captain. »Was wollen Sie der Stadt morgen früh sagen? Alle werden wissen wollen, wo es jetzt lang geht.« Daran hatte sie noch nicht gedacht. Sie musste mit irgendetwas an die Öffentlichkeit treten, ihr Sieg bedurfte einer offiziellen Verkündung. »Was soll ich ihnen denn sagen?«, murmelte sie. »Geben Sie ihnen eine Geschichte. Erzählen Sie ihnen von der Zukunft. Erfinden Sie etwas. Ein neues Land, ganz egal.« Er ließ ihre Schulter los, und sie kam sich vor, als stürzte sie durch den leeren Raum. Sie legte die Hände an die Wand, um sich wieder zu fangen, stützte die Stirn auf die harte Oberfläche und atmete aus. Tränen rannen über ihre brennenden Wangen, ihre ersten Tränen. Sie zitterte. Jetzt war es an der Zeit, dass der Captain ihr seine Schulter lieh, aber er tat es nicht. Kein Mitleid. Er stand einfach nur neben ihr, das Gesicht dem Raum zugewandt, und wachte über ihre Tränen. Und dann heulten aus irgendeinem Grund die Sirenen los. Miranda wischte sich die Tränen ab und blickte sich um. Überall im Raum sahen Gesichter von den Monitoren auf. Die Leute standen unsicher herum, rechneten halb damit, dass das Jaulen gleich wieder aufhören würde, aber es hielt an. »Was ist los?«, fragte Miranda. »Werden wir angegriffen?« Sie sah sich nach den Stabsoffizieren um. Vielleicht hatten die eine Erklärung dafür. Aber sie waren nicht mehr da. 616
Männer und Frauen blickten sich gegenseitig verwirrt an und dann auf die Bildschirme. »Es muss ein falscher Alarm sein«, behauptete jemand. »Im Tal rührt sich nichts.« Trotzdem bewegten sich die Leute langsam in Richtung Tür, verließen, von den Sirenen angezogen, widerstrebend ihre Plätze. Sie wussten nicht, worauf sie sich verlassen sollten. Draußen auf dem Flur quollen aus allen Türen Männer und Frauen, die sich Jacken überstreiften und über die Störung schimpften. Miranda schob sich durch die Menge auf die Treppe zum Dach hin. Der Captain folgte ihr auf den Fersen. Sie nahmen immer zwei Stufen auf einmal. Auf dem Dach war alles von den Flutlichtern taghell erleuchtet. Der Schnee glitzerte wie Edelsteine. Er reichte ihr bis an die Knie, viel höher, als sie gedacht hatte. Schwere weiße Flocken wirbelten durch die Luft. Weiter unten im Wald wiegten sich hohe Kiefern in den heftigen Windstößen wie Phantome am Rand der Dunkelheit. Miranda ging bis zum Dachrand und schaute auf die strahlende Stadt. Alles war festlich dekoriert und sah wunderschön aus. Große Schneepflüge mit blinkenden Blaulichtern schoben auf den Straßen den Schnee beiseite. Soldaten marschierten in langen Reihen durch die Straßen. Die Luftangriff-Sirenen heulten immer noch, weckten die Stadt auf, weckten die Toten. Die Generäle, dachte sie. Sie waren noch nicht fertig. Nathan Lee hob den Kopf. Er hörte das Lied. Er schlug die Augen auf. Die Welt war pechschwarz. Er war schon fast ganz unten angekommen. Der Kältetod war ein ganz eigenes Reich, doch er tauchte allmählich wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins auf. 617
Wer sang da wohl? Es war so schön. Es dauerte eine Weile, bis er sich daran erinnerte, wo er war. Er sah den Schnee nicht, spürte das Gewicht auf seinem Schoß nicht. Seine Arme waren Stein. Er fühlte sich mit der Erde verwurzelt. Alt wie ein Zeuge der Vergangenheit. Ich bin blind, dachte er. Dann hob er den Kopf ein weiteres Stück und nahm weit hinten am Horizont einen schwachen Schimmer wahr. Der Tag bricht an, dachte er lächelnd. Die Nacht zog sich zurück. Der Gesang hatte keine Worte. Er lauschte angestrengter. Er kam zu ihm. Mit Engelsstimmen. Dann wurde es taghell.
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36 Exodus 7 UHR 30
Das Tal wurde grell weiß erleuchtet. Miranda wich vor dem Blitz zurück. Die fernen Berge wurden dunkel, um kurz darauf in dem sich aufplusternden Feuerball in Orange und Rot aufzuflammen. Und dann verstummten alle Sirenen auf einen Schlag. Das Einzige, was sie über solche Dinge wusste, wusste sie aus Filmen. Als Nächstes würde eine Walze aus Wind und Feuer über sie hinwegfegen. Gebäude würden in Flammen aufgehen, Glasscherben durch die Luft fliegen, Wälder würden sich zur Seite neigen. Ihr Fleisch würde verschmoren. Der Captain dachte das Gleiche. »Runter!«, schrie er. Sie ließen sich auf dem Dach in den Schnee fallen. Aber die Druckwelle kam nicht. Nicht einmal ein Windchen. Die Waffentechniker mussten es schon seit Tagen geplant haben. Die Bombe war perfekt platziert und genau bemessen. Sie konnte es von oben sehen. Mit dem Fuß der Mesa als Prellwand, hatte sich der nukleare Wind hinaus ins Tal ergossen, nach Osten und Süden und Norden … weg von der Stadt. Schließlich krachte ein Donnerschlag über der Stadt und 619
wehte weit über ihnen nach Westen davon, hinaus in die Nacht. Miranda robbte auf den Ellbogen durch den Schnee bis zur Dachkante. Im Südosten erhob sich der Wolkenpilz, etwa auf halber Strecke nach Santa Fe. Er schimmerte rosa. Die Kappe hatte ungefähr die Höhe der Mesa erreicht und wuchs immer weiter in den Himmel, auf einem langen, dünnen Stängel. Jetzt waren auch die Sterne wieder zu sehen. Die Explosion hatte ein Loch in den Himmel geschmolzen. Der Captain schob sich neben sie. Nebeneinander spähten sie ins Tal hinab. »Was haben Sie getan?«, murmelte Miranda. »Ich habe nichts davon gewusst«, antwortete der Captain. Seine Stimme verriet sein Entsetzen. Sie schloss die Augen. »Nicht Sie«, sagte sie. »Gott verfluche meinen Vater.« Mit einem Mal lag alles klar und deutlich vor ihr. Ochs war losgelassen worden, damit er den Pilgern predigte. Unwissentlich hatte er die Horden der Gläubigen an einem Ort versammelt. Ihr Vater hatte den Glauben der Menschen gegen sie verwandt, hatte die Stadt als Köder vor ihren Nasen geschwenkt, und dann blitzschnell zugeschlagen. Ihre Feinde waren vernichtet. »Nein, nicht«, besänftigte der Captain sie leise. »Er ist Ihr Vater.« Sie erbrach sich. Über ihre Arme, in den Schnee, über die Dachkante. »Es war Selbstverteidigung«, sagte der Captain. Aber seine Stimme klang hohl. »Sie sind abgezogen.« »Ich weiß«, flüsterte er. 620
»Eine Atombombe! Gegen Kinder!« Der Captain suchte nach einer Rechtfertigung. »Was haben Sie erwartet? Wir sind hier in Los Alamos.« »Sie wurden nicht einmal gewarnt.« »Es hätte ihnen nichts geholfen.« »Einigen vielleicht schon.« »Sie waren bereits tot«, sagte er. »Ausnahmslos.« »Das ist ungeheuerlich.« »Sie waren fertig mit der Welt. Sie hatten ihre Gebete gesagt. Für sie war die Belagerung nur eine Art zu sterben. Ein schnellerer Weg.« »Dann war die Bombe ein Gnadenakt?« »Wir sind davongekommen«, sagte der Captain. »Das Wie ist nicht sehr schön, aber jetzt können sie uns nicht mehr überrennen.« »Eine Million Menschen.« »Jetzt haben wir eine Zukunft«, erinnerte er sie. »Die Zukunft, die Sie wollten.« »Aber nicht so.« Sie sah den Captain an; es war deutlich zu sehen, wie schockiert er war. Er sah alt aus – und er glaubte seinen eigenen Worten nicht. Sie rappelte sich auf die Knie. »Kommen Sie mit rein.« »Ja.« Er kam ihr so gebrechlich vor. Er zitterte, sie musste ihm auf die Beine helfen. Dann gingen sie die Treppe hinunter. In allen Fluren klingelten die Telefone. Das war das Signal. Die Behörden kehrten den 911-Notruf um. Jedes Telefon in jedem Büro und in jeder Wohnung bekam die gleiche aufgezeichnete Nachricht. Der Exodus begann. 621
Sie ging in ein Büro und nahm einen Hörer ab. Eine einschmeichelnde Stimme sagte: »… zu Ihrem zugewiesenen Evakuierungs-Sammelplatz. Es handelt sich nicht um eine Übung. Bitte begeben Sie sich …« »Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Miranda. »Sie haben gerade eben sämtliche Menschen im Tal eingeäschert.« Und mit einem Mal wurde ihr alles klar. Die Worte der Generäle hallten in ihren Ohren. Wenn es so weit ist, werden wir die Wogen teilen. Sie hatten ihre Chance wahrgenommen, solange sie den Feind noch im Visier hatten. Jetzt war ihr Vater bereit für sie. »Ich muss los«, sagte der Captain. »Meine Frau …« »Klar«, sagte sie. Miranda ging wie benommen den Flur entlang. Es herrschte keine Panik. Türen standen offen, Wissenschaftler schüttelten einander stumm die Hände und machten noch rasch ein paar Gruppenfotos vor ihren Terminals und Bürowürfeln. In aller Ruhe hängten sie ihre Laborkittel und Sicherheitsbrillen an ihre Haken und gingen weg. Sie konnte ihre Gedanken lesen. Seit Jahren hatten sie sich gegen diesen Augenblick gewehrt, doch jetzt, wo er gekommen war, fühlten sie sich erleichtert. Die Jagd nach dem Virus würde weitergehen, aber viel vernünftiger, in Sicherheit, zur Abwechslung mal ohne Zeitdruck im Nakken. Ein Mann tätschelte ihren Arm. »Es war ein guter Kampf«, sagte er. »Er ist noch nicht vorbei«, erwiderte sie. »Es hat sich nichts verändert.« Er sah sie verwundert an und machte sich rasch davon. Sie ging nach draußen und über die Brücke in die Stadt. 622
Es war ein Uhr morgens. Die Straßen füllten sich mit Menschen, die alle nach Hause zu ihren Familien eilten. Sie mussten sich jetzt um tausend Kleinigkeiten kümmern. Einige hatten beschlossen, ihre Haustiere zu vergiften, andere wollten sie freilassen. Durch Fenster mit zurückgezogenen Vorhängen sah sie Leute, die ihre Betten machten, Bilder an den Wänden gerade rückten und sich noch einmal umsahen, um sich zu vergewissern, dass alles sauber und ordentlich war. Sie ließen die Kerzen an ihren Weihnachtsbäumen und ihre elektrischen HannukahKerzen brennen. Ihre Koffer hatten sie schon vor langer Zeit gepackt. Es war nicht nötig, sich von jemandem zu verabschieden, denn sie sahen sich ja alle dort unten wieder. So war es vorgesehen. Sie sah, wie Leute ihre Tür zum letzten Mal abschlossen, sie wieder aufschlossen … und dann einfach weggingen. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Himmel war klar, es war empfindlich kalt. Aus dem Schlaf gerissene Kinder weinten. Von einer Querstraße zur anderen nahm der Exodus Gestalt an. In den vergangenen zwei Jahren hatten sie sich einmal im Monat auf dieses Ereignis vorbereitet. Der Schrecken hinsichtlich der Bombe schien von der Aufregung der Evakuierung in den Hintergrund gedrängt worden zu sein. Ihre Gesichter waren von Angst und Verwunderung gezeichnet. Miranda kam sich vor wie ein Geist, der durch ihre Reihen wandelte. Die Bürger verhielten sich vorschriftsmäßig, wenn auch ein wenig aufgeregt. Die Luft war eiskalt. Unter ihren Parkas und Fleece-Jacken trugen viele ihre Evakuierungskleider: bunt bedruckte Hawaiihemden, Sommerkleidchen, Tank Tops, Blue Jeans. Die ausgehöhlten Salzkammern winkten ihnen wie ein tropisches Paradies. Jeder hatten seinen »Zehner« in der Hand, auf kleine 623
Flughafenkarren geschnallt, oder als Rucksack auf dem Rücken, die zehn Kilo persönliches Gepäck, die jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mitbringen durfte. Man durfte mitnehmen, was man wollte: Bücher, Software, Teddybären, saubere Socken, Whiskey oder andere Drogen. Alles, was einen durch die nächsten zehn oder zwanzig oder vierzig Jahre brachte, siebenhundert Meter unter der Erdoberfläche. In Mirandas Anwesenheit war der Inhalt des jeweiligen Zehners lediglich Gegenstand von Unterhaltungen, Gerüchten und sogar Witzen gewesen. Die Auswahl, die jeder Einzelne treffen würde, war nicht einfach nur eine Geschmacksfrage. Man konnte daran ablesen, was für ein Mensch man war. Grabbeigaben, hatte Nathan Lee sie genannt. Relikte, die die Leute in die nächste Welt mitnehmen wollten. Jedes Stadtviertel und jeder Mesa-Ausläufer hatte eigens ausgewiesene Sammelplätze. Die Passagiere warteten geduldig, bis sie abgeholt wurden, und stampften derweil mit den Füßen in der Kälte. Als die Drei- und Vierachser rückwärts an die Rampen heranfuhren, war die klare Bergluft im Nu von ihren Dieselabgasen verpestet. Die Anhänger waren in Dreifachlagen mit schwarzen Gummimembranen von einem Viertelzoll Dicke eingekleidet, die man normalerweise zum Dachdecken benutzte; jede Niete war mit Epoxidharz versiegelt. Die Führerhäuser waren gegen Guerilla-Angriffe gepanzert, die Windschutzscheiben mit kugelsicherem Glas versehen. Die Fahrer trugen Schutzanzüge. Die Fahrzeuge sahen eher aus wie U-Boote. Von der Decke hingen Haltegurte wie Fleischerhaken herab. Es gab keine Fenster, keine Sitzplätze, keine Bistros. Für die kommenden zwölf oder zwanzig oder dreißig Stunden gab es nur Stehplätze. Soldaten stapelten die Zehner neben den Transportfahrzeugen zu immer höher werdenden Bergen auf. 624
Von einem Depot nach dem anderen riefen die Leute Miranda zu: »Sie können bei uns mitfahren!« Jeder wollte sie in seinem Laster haben. »Ich bleibe hier«, erwiderte sie. Sie waren entsetzt. »Aber das geht doch nicht. Dafür ist es zu spät.« »Es geht gerade erst los«, versicherte sie ihnen. Sie bat niemanden darum, zu bleiben. Sie hatten Angst, denn die Bombe hatte ihnen ihre Sterblichkeit in Erinnerung gerufen. Bislang hatte Miranda noch niemanden offen darüber sprechen hören, über den Völkermord, den ihr Vater angeordnet hatte. Aber man sah es deutlich in ihren Augen. Es war endgültig. Im Schützengraben gibt es keine Atheisten, dachte sie. Das ganze mutige Gerede davon, einen Strich in den Sand zu ziehen, das Fort zu verteidigen, sich dem Schicksal entgegenzustemmen … vorbei. Sie hatten vorher ihren Mut eben noch nicht auf die Probe gestellt. Jetzt wussten sie Bescheid. Eine Frau kam auf sie zu. »Wir können Sie nicht einfach hier zurücklassen. Kommen Sie mit uns«, sagte sie. »Denken Sie doch mal nach. Sie sind hier ganz allein.« Miranda lächelte. Das überraschte sie. Sie konnte lächeln. »Wir werden Sie nie vergessen«, sagte die Frau und wich zurück. »Vielen Dank«, sagte Miranda. Mehrere Male hörte sie Nathan Lees Namen. Sie brachten sie mit ihm in Verbindung und sahen ihr mit mitleidigen Augen nach. Für sie war sie die tragische Witwe. Ist das alles?, fragte sie sich. Ein romantischer Selbstmord? Sie wies ihren Zweifel von sich. Es war mehr, es musste mehr sein. Sie fühlte sich von ihrer großartigen Idee eingehüllt. Sie hatte den Plan in Bewegung gesetzt, und jetzt 625
war sie zu seinem Passagier geworden. Er trug sie mit sich. Gleichzeitig trug er sie nicht mehr. Sie hatte ihr Ziel bereits erreicht. Jedes Licht in jedem Zimmer und in jeder Straße war angelassen worden. Es schien fast, als wollte die Stadt sichergehen, dass nicht einmal ein Schatten zurückgelassen wurde. Bei der hellen Beleuchtung konnte man kaum ein Sternbild zwischen den Wolken erkennen. Sie warfen noch einen letzten Blick auf die Sterne. Als die Wolken sich teilten und der Mars sichtbar wurde, erhob sich allgemeiner Jubel. Eltern nahmen ihre Kinder auf die Schultern, damit sie sich immer an diesen Anblick erinnerten. Der Konvoi war sehr schnell beladen, innerhalb einer halben Stunde war alles verstaut. Zuerst setzten sich die Räumungsfahrzeuge in Gang, um die aufgeworfenen Straßen vom Schutt zu befreien. Im Tal unten dürfte kein Schnee mehr liegen, dachte Miranda. Die Bombe musste im Umkreis von vielen Kilometern alles weggeschmolzen haben. Die Straße selbst war wahrscheinlich so gut wie nicht beschädigt, jedenfalls gab es keine Bombenkrater. Wahrscheinlich sah es eher aus wie nach einem Wirbelsturm. Die Generäle verstanden ihr Geschäft. Kampfhubschrauber kamen herabgestürzt und flankierten die Vorhut. Dann lösten sich Hunderte von Lastwagen von Los Alamos und fanden sich, einer nach dem anderen, zu einer langen schwarzen Schlange zusammen, die sich in die Tiefe wand. Als sie den Rückweg zum Alpha Lab einschlug, zog der Konvoi in entgegengesetzter Richtung an ihr vorbei. Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, dann war die Stadt leer. Stille kehrte ein. Als sie sich auf der Türschwelle noch einmal umschaute, lag Los Alamos wie ein König626
reich aus Eis vor ihr. Nichts rührte sich, der strahlende Glanz war sauber und klar. Nach einer Weile fingen die Hunde an, sich gegenseitig anzubellen. Miranda wusste nicht genau, was sie als Nächstes tun sollte, weshalb sie beschloss, sich eine Tasse heißen Kakao zu machen. Eigentlich mochte sie heißen Kakao nicht besonders, aber ihr war kalt, und es war eine frostige Nacht. Heißer Kakao hörte sich gut an. Das Labor war keineswegs tot. Überall glommen Computerbildschirme in abgedunkelten Räumen, Maschinen summten. Der Geruch von angebranntem Kaffee und Mikrowellen-Popcorn zog durch die Schächte der Klimaanlage. Die PCR-Roboter waren immer noch bei der Arbeit und druckten unermüdlich noch mehr Kopien von DNAFragmenten aus. Eine Zentrifuge wirbelte eine Blutprobe in einer endlosen Kreisbahn. Das war ihr Erbe. Sie fuhr hinunter in die C-Ebene, ging in die kleine Kaffeeküche und stellte Wasser auf, kramte dann im Hängeschrank, fand die Schokoladentafeln und ließ sich viel Zeit beim Abwaschen einer Tasse. Bei diesen einfachen Aufgaben musste man nicht großartig nachdenken. Sie fühlte sich unausgeschlafen, benommen und schuldbewusst. Die Welt kam ihr gemein vor. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde deutlicher, dass die atomare Vernichtung ein Geschenk gewesen war. Mit einem einzigen Schlag war das Tal gereinigt worden. Nicht nur ihre Feinde, sondern auch die unmittelbare Bedrohung durch die Seuche war in Flammen aufgegangen. Gegen ihren Willen empfand sie so etwas wie Dankbarkeit. Sie stellte ihr Handy auf den Tisch neben die Tasse und überlegte, wann sie ihren Vater anrufen sollte. Sie wollte ihn bestrafen. Bevor der Konvoi den WIPP-Bunker er627
reicht hatte, wollte sie ihm selbst mitteilen, dass sie ihn ein für alle Mal verstoßen hatte. Es kam ihr vor wie ein erster Schritt. Seine Gräueltat war nicht der Grund dafür, dass sie geblieben war, aber sie würde es so formulieren. Es war wichtig, dass er die Kluft zwischen ihnen beiden begriff. Sie wollte ihn hassen, sie wollte weinen, sie wollte nicht mehr darüber nachdenken. Die heiße Schokolade trieb ihren Blutzucker in die Höhe. Miranda putzte sich die Nase, schob das Kinn vor und griff nach dem Telefon. Es war Zeit, ihm die schlimme Nachricht zu überbringen. Sollte er ernten, was er gesät hatte. Sie fasste sich ein Herz und drückte auf die Taste. Suche Verbindung, verkündete das Display. Eigenartig. Normalerweise funktionierten die Handys einwandfrei, sogar vier Stockwerke unter der Erdoberfläche. Sie ging zu einem normalen Telefon und hörte das Freizeichen. Sie wählte die Nummer ihres Vaters, bekam aber nur eine aufgezeichnete Stimme zur Antwort: Sämtliche Verbindungen sind zur Zeit überlastet, bitte versuchen Sie es später noch einmal. Wie konnten die Verbindungen überlastet sein? Außer ihr war niemand mehr hier. Sie experimentierte mit dem Telefonsystem. Innerhalb von Los Alamos konnte man telefonieren. Sie erreichte ein halbes Dutzend Anrufbeantworter und lauschte den Stimmen von Leuten, die sie nie wieder sehen würde. Nur die Verbindungen nach außerhalb funktionierten nicht. An einer Aufklärungssatelliten-Box blieb sie stehen, um den Standort des Konvois zu überprüfen. Statt einer langen Kette von Wärmebildern fand sie … nichts. Sämtliche Bildschirme zeigten statisches Rauschen. Schließlich dämmerte es ihr. Die Verbindungen waren verschmort. Die Empfänger und Sendestationen und Verstärkertürme mussten vom elektromagnetischen Impuls der Bombe völlig durcheinander gewirbelt worden sein. Die Satelliten 628
waren geblendet. Sie war einsamer, als sie gedacht hatte. Mit einem Mal brach die Einsamkeit über sie herein. Sie hatte eigentlich nicht richtig darüber nachgedacht, aber jetzt wurde ihr klar, dass sie auf irgendeine Art von Kommunikation mit den WIPP-Leuten gezählt hatte. Plötzlich war sich Miranda nicht mehr sicher, ob sie stark genug dafür sein würde. Sie konnte hier oben verrückt werden, durch die Straßen wandern, unsinnige Zaubertränke zusammenbrauen, sich mit Gespenstern in ihrer Wohnung unterhalten. Die Stadt war klein, aber mehr als groß genug, um ihr Labyrinth zu werden. Der Reaktor würde noch jahrzehntelang Energie liefern, doch die Lichter würden eines nach dem anderen ausgehen. Sie durfte nicht darauf hoffen, den gesamten Komplex in Schuss halten zu können, schon gar nicht darauf, in die Welt hinauszuziehen, um nach Überlebenden zu suchen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Einen schrecklichen Augenblick lang brach ihre ganze Entschlossenheit in sich zusammen. Es war noch nicht zu spät. Mit einem Schutzanzug und einem Humvee konnte sie den Konvoi immer noch einholen, in die Erde hinabsteigen, ihren Vater um Vergebung bitten … Dann verflog ihre Panik von allein. Sie war zu müde. Ihr war kalt. Sie hatte das Gefühl, nie wieder warm zu werden. Eine Decke, ein wenig Schlaf, das war es, was sie brauchte. Danach konnte sie mit der Inventur dessen anfangen, was von Eden übrig geblieben war. Das Geräusch sich öffnender und schließender Fahrstuhltüren am Ende des Korridors weckte sie. Sie lag in einem Büro auf dem Fußboden. War jemand zurückgekehrt? Fast hätte sie das Licht angeschaltet, doch dann hörte sie splitterndes Glas. Eine Tür flog krachend auf. Noch mehr Glas splitterte. Männliche Stimmen drangen durch den Korri629
dor. Sie zog die Tür ein bisschen weiter auf und streckte den Kopf durch den Spalt. Am anderen Ende des Flurs stand ein Mann in der geduckten Haltung eines Jägers und hielt ein abgebrochenes Stück Leitungsrohr wie einen Speer in der Hand. Er verschwand um eine Ecke. Mein Gott, dachte sie. Überlebende! Es war fast sieben Uhr morgens. Zeit genug für jemanden, die Straße aus dem Tal heraufzukommen. Nathan Lees Worte fielen ihr wieder ein. Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Du möchtest sie als Lämmer sehen. Was aber, wenn sie sich als Wölfe entpuppen? Die Bombe musste Hunderte, wenn nicht Tausende von Pilgern verschont haben. Gut möglich, dass der Sturm über die, die kilometerweit entfernt in ihren Schluchten und Arroyos kauerten, hinweggefegt ist. Und jetzt waren sie gekommen, ihren Hadsch zu vollenden, oder einfach nur, um sich ihren Anteil zu holen. Sie würden die Stadt zerstören. Sie schmeckte Bitterkeit auf der Zunge. Ihr habt euch selbst vernichtet. Wieder flogen krachend Türen auf, Möbel stürzten um. Die Plünderung ging weiter. Schritte näherten sich. Sie versuchte herauszufinden, wie viele es waren. Allem Anschein nach nur einer. Er humpelte. Bilder von Hiroshima flackerten in ihrem Gedächtnis auf, vom Blitz verbrannte Opfer mit herabhängender Gesichtshaut, völlig von Sinnen … Eine große Silhouette wellte über das blickdichte Glas in der Türfüllung. Die Schritte gingen vorüber. Sie wartete ein paar Sekunden und zog dann die Tür Zentimeter für Zentimeter auf. Der Fußboden war mit blutigen Abdrükken nackter Füße bedeckt. Glas splitterte aus einer Bürotür. Miranda hörte schrei630
ende, wilde Männer, ein Durcheinander von Worten. Sie waren auf der Jagd. Früher oder später würden sie sie finden. Sie bewaffnete sich mit einer von einer Abschiedsparty übrig gebliebenen Champagnerflasche, stellte sie aber wieder hin. Ihre einzige Hoffnung war der Fahrstuhl. Mirandas Gedanken rasten. Sobald sie oben im Erdgeschoss war, konnte sie zum Hinterausgang rennen, sich im Wald oder in einer Höhle verstecken. Die Wände der Mesa waren voll davon. Dort konnte sie warten, bis die Eindringlinge wieder abgezogen waren, sich ab und zu Lebensmittel aus der Stadt besorgen und in der Nacht ein Feuer anzünden. Lebensmittel! Sie stopfte sich die Taschen mit Essbarem voll, mit kleinen Kekspackungen und Süßkram. Auch eine Streichholzschachtel fand sie. Eine Idee nahm Gestalt an. Noch mehr Krachen, mehr splitterndes Glas. Sie durchsuchten systematisch Raum für Raum. Sie nahm ein Streichholz heraus, strich es an der Reibefläche an und hielt die Flamme unter den Glasstift des Feuermelders. Es kam ihr vor, als dauerte es ewig. Dann sprang das Sprinklersystem abrupt an. Chemischer Nebel zischte aus der Deckendüse. Die Büro- und Korridorbeleuchtung ging flackernd aus und wurde durch Röhrenblitzlampen ersetzt. Mit lautem Getöse ging der Alarm los. Sie hörte rufende Männer vorbeirennen, nackte Füße auf den nassen Boden klatschen. Einer rutschte aus, schlidderte ein Stück und knallte gegen ihre Tür. Sein Schatten erhob sich und rannte weiter. Schließlich verebbten die Geräusche. Sie machte die Tür auf. Der Fahrstuhl war nur zwanzig Meter entfernt. Gehen oder rennen? Sie tat beides abwechselnd. Die zerbrochenen Scheiben in den Bürotüren klafften wie gezackte Mäu631
ler. Überall lag Glas. Stühle und Schreibtische waren so fest gegen die Wände geschleudert worden, dass sie zum Teil darin stecken geblieben waren. Bücher waren in kleine Fetzen gerissen, Papiere auf dem Boden verstreut worden. Sie waren außer sich, schlugen alles kurz und klein. Ihr Hass ließ Mirandas Mut schwinden. Mit tropfenden Haaren erreichte sie den Fahrstuhl. Die Tür war zu. Sie drückte auf den ›Aufwärts‹-Knopf und dann zusätzlich den ›Abwärts‹-Knopf, stellte sich mit dem Rücken in die Türnische und wartete. Die Sprinkler regneten weiter vor sich hin, der Alarm war ohrenbetäubend. Sie drückte noch einmal auf die Knöpfe. Am anderen Ende des Korridors stieß ein Mann einen Schrei aus. Jetzt hatten sie sie entdeckt! Zwei weitere kamen um die Ecke. Miranda zwang sich dazu, stehen zu bleiben und zu warten. Drei Männer kamen durch den Korridor auf sie zugerannt. Es war ein Wettrennen, wer zuerst bei ihr war. Die Blinkleuchten warfen Streiflichter auf sie, hell, dann dunkel, dann wieder hell. Sie hielten Messer, eine Axt und eine Keule in der Hand. Miranda drückte verzweifelt auf die Knöpfe. Die nackten Füße ihrer Angreifer griffen wie mit frisch gefeilten Krallen in das Linoleum. Sie waren so unheimlich schnell. Miranda schlug mit der Handfläche auf die Knöpfe. Wo blieb dieser Fahrstuhl nur? Zu spät sah sie das Schild auf der einen Seite: Bei Feueralarm Treppen benutzen. Klar. Ihr Mut verließ sie. Sie hatte sich selbst in eine Ecke gedrängt. Die Stromversorgung des Gebäudes hatte sich wahrscheinlich gleich beim ersten Alarm ausgeschaltet. Trotzdem waren die Knöpfe beleuchtet. Sie drückte wieder darauf. Da sie nirgendwo632
hin rennen konnte, presste sie den Rücken fest gegen die Tür und schaute ihre Jäger mit starrem Blick an. Erst auf den letzten zehn Metern sah sie ihre Gesichter etwas deutlicher, und von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich ihr Entsetzen in blankes Staunen. Es waren keine Eindringlinge. Wie hatte sie sie vergessen können? »Eesho?«, sagte sie. Er rannte vorneweg, der falsche Messias. Seine Augen weiteten sich. Erst jetzt erkannte er sie, die Frau, die ihn gedemütigt und eingeschüchtert hatte. Die falsche Mutter. Der Ausspruch ihres Vaters sprang sie aus der fernen Vergangenheit an, auch Ochs hatte das Wort benutzt: Gräuel. Wer hatte sie freigelassen? Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Sie saß mit ihren eigenen Geschöpfen in der Falle. Einen Augenblick lang empfand sie Mitleid mit ihnen allen, mit diesen aus ihren Gräbern gerissenen Männern, mit sich selbst in ihrer Verzweiflung, aber besonders mit dem Leben, das in ihr heranwuchs. Es war alles so verwirrend. Ihre Welt hatte sich aus ihrer überschaubaren Umlaufbahn gelöst. Wenn man daraus eine Lehre ziehen konnte, dann nur die älteste überhaupt: Hatte man seine Geschöpfe erst einmal erschaffen, lebten sie ihr eigenes Leben. Noch mehr Klone tauchten auf, durchnässt von der Sprinkleranlage, an Armen und Beinen aus Schnittwunden blutend, die Augen vor lauter Adrenalin weit aufgerissen und mit Küchenutensilien sowie Gegenständen aus dem Gebäude oder Industrieabfällen bewaffnet. Einer hielt ein Hackmesser in der Faust. Miranda erkannte den abgenutzten Holzgriff und die Lederschlaufe. Es stammte aus dem Knochenlabor. Die Klone hatten unwissentlich ihre eige633
nen Überreste gefunden. Eesho hob seine Axt. Sie wollte um das Leben ihres Kindes bitten, aber dafür war es jetzt zu spät. Für ihn verkörperte sie alles Böse. Selbst wenn sie seine Sprache gesprochen hätte, hätte sich nichts daran geändert. Die Tatsache, dass sie ein neues Leben in sich trug, war nur eine Bösartigkeit mehr, die es auszulöschen galt. Der Augenblick zerdehnte sich. Eesho knurrte ihr etwas zu, einen Fluch, vielleicht auch eine Rechtfertigung. Seine Worte verwandelten sich in undeutliches Genuschel. Jede Einzelheit stand ihr glasklar vor Augen. Sie sah die Adern an seiner Stirn und hob den Arm, um die Axt abzuwehren. Sie konnte ihre Augen nicht abwenden. Die Axtklinge hatte ihren Scheitelpunkt erreicht. Und verharrte dort. Durch den hässlichen, blökenden Alarm hörte sie ein kurzes, absurdes, fröhliches Ping. Eesho hob den Blick. Die Metalltüren hinter ihr glitten auf. Miranda taumelte rückwärts in die trockene und nur spärlich beleuchtete Fahrstuhlkabine. Miranda zog sich eilig von den Klonen zurück … und prallte gegen die Beine eines Mannes, der in der Kabine stand. Sein Gesicht verschlug ihr den Atem … dieser zerrissene und wieder zusammengeflickte Klumpen eines Gesichts. Er blinzelte mit reptilienartiger Unberührtheit auf sie herab und schaute dann hinaus zu den anderen Klonen, deren Haupt- und Barthaar vom synthetischen Regen an ihren Köpfen klebte. Sie hatten sie erwischt. Er legte eine Hand auf ihren Kopf und zog ihn zurück, damit er ihr besser ins Gesicht sehen konnte. »Miranda«, stieß er aus und tätschelte ihr das Haar. Jetzt gehörte sie ihm. Sie war Ben nie persönlich begegnet, hatte sich immer dagegen gesträubt. Aber sie kannte ihn. Wie allen anderen 634
in Los Alamos war ihr seine vernarbte Schreckensmaske vertraut. Von allen Monstern entsprach er am ehesten ihren Befürchtungen, er war die Entschuldigung für die Schmerzen, die sie ihnen zufügten. Sein Gesicht war das am wenigsten menschliche. Aber er war Nathan Lees Liebling gewesen, und von irgendwoher kannte er ihren Namen. Was hatte Nathan Lee ihm erzählt? Eesho stieß eine Hasstirade aus. Ben antwortete ihm mit strengen Worten. Miranda verstand kein einziges Wort. Der Alarm puckerte wie ein gigantischer Herzschlag. Das Blinken der Notbeleuchtung schien sie zu peitschen. Sie sahen aus wie vom Blitz geschaffene Geschöpfe, fahl, dann wieder dunkel wechselten sie flackernd zwischen Existenz und Nichtexistenz hin und her. Sie beugten sich vor, um Ben besser zu verstehen. Er schien Eeshos Drohungen mit irgendeiner Bedingung zu kontern. Schließlich trat ein Mann aus der wilden Meute hervor. Eesho versuchte ihm den Weg in den Fahrstuhl zu versperren, doch der Mann ging um ihn herum. Ein zweiter kam heran. Eesho packte ihn am Arm, und der Mann stieß ihn zu Boden. Einer nach dem anderen schoben sie sich an ihm vorbei. Ein Geruch nach Schweiß und Chemikalien hing in der Luft. Sie drängten sich eng aneinander, um Platz zu schaffen. Der plötzliche Frieden kam ihr irgendwie absurd vor. Sie waren so widersprüchlich – eben noch so aufgebracht und voller Zorn, im nächsten Augenblick ernüchtert und geduldig. Als die Tür zuging, blieb nur Eesho draußen zurück, der sie immer noch aus der Dunkelheit beschimpfte. Seine Stimme war wie abgeschnitten. Der Aufzug setzte sich nicht sofort in Bewegung. Ben drückte sorgfältig und bedacht noch einmal auf den Knopf für das Erdgeschoss. Nathan Lee hatte ihn gut ausgebildet. Die Geste blieb den anderen nicht verborgen. Er führte sie 635
hinaus. Die Fahrt war kurz. Miranda drückte sich in die hintere Ecke. Keiner sagte ein Wort. Einen Augenblick lang waren sie alle nur Reisegefährten. Die Kabine kam zum Stehen. Noch bevor die Tür ganz auf war, sah Miranda mehrere Gestalten nebeneinander auf dem Boden des Foyers liegen, und sie sah auch die vielen hässlichen, provisorischen Waffen, die auf einem Haufen lagen. Nicht weit davon entfernt, versteckt hinter Säulen und verschrammten Plastikschilden, standen Soldaten, die ihre Waffen auf den Ausgang des Fahrstuhls gerichtet hatten. »Stellt den Strom ab«, hörte sie einen Mann rufen. »Lasst die Tür auf. Diesmal haben wir eine volle Ladung.« Das Licht im Fahrstuhl ging aus. »Ben!«, rief die Stimme. »Bist du da drin? Ist er mit drin? Ich kann nichts sehen.« Mit einem Aufschrei drängten sich die Klone an die Kabinenwände, drängten von der Tür nach hinten und klemmten Miranda so ein, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Aber sie war groß und konnte über ihre Schultern und zwischen ihren Köpfen hindurchsehen. Das Foyer war so hell, dass es sie zuerst blendete. Der Eingang zum Alpha Lab zeigte genau nach Osten. Die Wintersonne ging gerade auf, ihre Strahlen funkelten direkt ins Foyer. Jetzt sah sie eine Menschenmenge vor dem Gebäude stehen, draußen auf dem Parkplatz. Sie sahen aus wie Figuren aus Licht, gingen auf und ab, hielten Wache, warteten. In einer einzigen Sekunde setzte sich die Welt wieder zusammen. Der Konvoi musste kehrtgemacht haben. Ihre Stadt war zu ihr zurückgekommen! 636
»Ben!« Ein Ruf. »Was hast du dabei? Bring sie raus. Einen nach dem anderen. Nicht rennen. Wir wollen nicht noch mehr Blutvergießen. Sag es ihnen.« »Er versteht kein Englisch«, beschwerte sich jemand. »Doch. Ein bisschen schon.« Die Gestalten auf dem Boden waren Klone, wie sie jetzt sah, mit dem Gesicht nach unten lagen sie da, Hände und Füße mit Plastikfesseln aneinander gebunden. Einer lag verdreht und reglos in einer großen Pfütze Blut. Das Foyer roch nach Kordit und Tränengas. Jetzt begriff sie, was hier vorging. Die Soldaten schlugen einen Gefängnisausbruch nieder. Ein Stockwerk nach dem anderen räumten sie die unteren Kellergeschosse aus, nahmen das Gebäude wieder in Besitz, und Ben half ihnen dabei. Er war ihr Wurm an der Angel, er zog die Ungeheuer aus der Tiefe ans Tageslicht. Die Stimmung im Foyer war angespannt. »Wenn wir einen erschießen, kommen die anderen schon raus«, schlug ein Soldat vor. »Nein, nicht«, rief Miranda. »Miranda?« Diese neue Stimme klang verbraucht. Erschöpft. Der Captain musste sie die ganze Nacht gesucht haben. »Captain.« Sie sprach bewusst mit ruhiger Stimme. Der Captain trat hinter einer Säule hervor. »Nicht schießen. Kein einziger Schuss.« Er trug einen Helm, das Visier war hochgeschoben, sein langes Haar hing ihm bis auf die Schultern. An diesem Morgen sah es weiß aus. »Können Sie rennen?«, fragte er. Mit einem einzigen Schritt hätte sie ihre Bewacher hinter sich lassen können. Sie würden in ihre Zellen zurückgebracht, die gewalttätigen Einzelgänger wie Eesho zusam637
mengetrieben werden. Damit wäre alles vorbei. Ihr Ausbruch war hier zu Ende, und das wussten sie. Sie sah Bens Augen, die sie von der anderen Seite der Kabine aus beobachteten. In seinem Blick lag keine Angst, nur Hoffnung, wenn auch eine verzweifelte Hoffnung. Er sah versöhnt aus, mit allem, was da kommen mochte. Er sagte etwas, und die anderen rückten weg von ihr. Miranda war beeindruckt. Er war von Nathan Lee ausgesucht und dazu trainiert worden, seine Kameraden von Los Alamos wegzuführen. Stattdessen war er geblieben. Der Flüchtling hatte sich entschieden, mit seinen Kerkermeistern zusammenzuarbeiten … und sie, Miranda, zu suchen. Er hatte sich einem Risiko ausgesetzt … um sie zu retten. Aber warum? Sie schob den Gedanken beiseite. Bevor er in seinen Tod hinabstieg, musste Nathan Lee Ben ausgesucht haben. Es war absolut schlüssig. Vor allen anderen hatte er diesen Wanderer ausgesucht, hatte diesem sphinxhaften Ausbrecher seinen Entschluss anvertraut. Worüber sie sich auch unterhalten haben mochten, Ben hatte es zu einem Versprechen geformt. Ihr gegenüber. Und dann wurde es ihr klar … ihrem Kind gegenüber. Nathan Lees Kind. Das war der Kern der Sache. Sie trat aus dem Fahrstuhl. »Gehen Sie nach links«, wies sie der Captain an. »Sie stehen in der Schusslinie.« Miranda blickte sich zum Fahrstuhl um und sah die heftigen Kampfspuren. Wand und Metallrahmen waren von Einschüssen zerfetzt. Blutspritzer an der Decke. Weiter hinten im Korridor hatte einer der Klone versucht, durch das Sicherheitsglas des Fensters zu springen. Sein Körper hing auf den gezackten Scherben. Tränengas zog durch die zersplitterte Lücke. »Glauben Sie mir, Miranda«, sagte der Captain. »Sie sind gefährlich. Lassen Sie uns unsere Arbeit erledigen.« 638
Wo hatte sie das schon einmal gehört? Von ihrem Vater, erinnerte sie sich, damals am Teich, vor langer Zeit. Und von Ochs, als er das Kind gestohlen und es in die Dunkelheit geschleudert hatte. Nie wieder. Sie würde standhalten. Sie warf einen Blick nach draußen, auf die wogende Menge vor der Eingangstür. »Ihr seid zurückgekommen«, stellte sie fest. Der Captain runzelte die Stirn und folgte ihrem Blick. »Die? Die sind nie weg gewesen. Wir sind diejenigen, die hier geblieben sind.« »Aber die Stadt war leer. Ich habe es gesehen.« »Die Leute haben sich in ihren Häusern versteckt. Es war Nacht. Eine schreckliche Nacht. Wir haben auf das Tageslicht gewartet.« Dann fügte er hinzu: »Sie natürlich nicht. Ich hätte es wissen müssen.« Dann war der Konvoi also weg. »Wie viele sind geblieben?« »Ein paar Hundert, Hauptsächlich Wissenschaftler. Wir gehen immer noch von Haus zu Haus. Die Leute stehen unter Schock. Sie haben noch nicht ganz begriffen, was sie sich da angetan haben. Sie haben Angst. Und wir wissen nicht genau, wer geblieben und wer gegangen ist. Wir hatten schon fast geglaubt, Sie wären auch weg.« »Warum?«, fragte sie. »Warum sind Sie hier geblieben?« Der Captain sah sie streng an. »Weil Sie es uns gesagt haben.« Er zeigte verwirrt mit dem Gewehrlauf auf sie. »Sie haben es gesagt. Die Sonne …« Mirandas Augen brannten. Es ist das Tränengas, redete sie sich ein. Und der Schnee war so hell. Sie haben auf mich gewartet. 639
»Wir fangen noch mal von vorne an«, sagte sie plötzlich. »Genau«, ermutigte sie der Captain. »Und jetzt gehen Sie bitte zur Seite.« Er hatte sie nicht verstanden. »Wir alle. Gemeinsam«, fuhr sie lauter fort, damit auch die anderen sie hören konnten. »Wir fangen ganz von vorne an. Wir sind nicht sehr viele.« Ihre Handbewegung umfasste die schreckliche Gewalt ringsum, den Körper, der im Fenster hing. »Wir können uns so etwas nicht leisten. Wir brauchen jeden Einzelnen.« »Miranda«, flehte der Captain sie an. »Gehen Sie weg da.« Ganz offensichtlich hatten sie es immer noch nicht kapiert, also musste sie es ihnen zeigen. Miranda ging zurück zum Fahrstuhl, mit den ängstlich geduckten Männern und griff hinein, nahm Bens Hand und die eines anderen Mannes und führte die beiden in den neuen Tag, führte die Reihe ihrer Vorfahren hinaus, die ihre Monster waren, aber auch ihre Kinder.
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37 Seltsamer Bettgenosse 31. DEZEMBER
Der hoch gewachsene Mann pfiff bei der Arbeit gut gelaunt vor sich hin, legte sich fein säuberlich die Rasierklinge und das Handtuch, die Nadel und den Faden zurecht. Händel. Der Messias. Was sonst? Es war die richtige Jahreszeit. »Halt die Klappe«, knurrte jemand von einer tiefer gelegenen Koje. Tag 10, und die Stimmung war gereizt. Schlaf galt als wertvolles Gut. Dieser Zufluchtsort entsprach keineswegs dem, wonach die Leute sich gesehnt hatten. Ihr Sanctum sanctorum war eine Studie in Natriumchlorid mit glatt gefrästen Böden und vier Meter hohen Dekken. Die Ebenen fünf bis acht waren nach einem weiteren Einbruch im Salzbett immer noch im Ausbau und würden erst in mehreren Monaten fertig sein. Bis dahin schlief die Kolonie schichtweise. Jeder von ihnen hatte für jeweils zwölf Stunden eine Koje für sich – und das bisschen Privatsphäre, das damit einherging. Es war wie in einem Obdachlosenheim: ein Bett, eine Mahlzeit, und dann hieß es auch schon wieder: Mach’s gut, Kumpel. Er ließ seinen Vorhang zugezogen. Der Platz reichte gerade, um sich aufrecht hinzusetzen. Jede Koje war mit einem eigenen kleinen Wandlicht ausgestattet. Er hatte seinen Overall ausgezogen und untersuchte seine Narbe. Die Wunde an seinem Oberschenkel war in den vergange641
nen drei Monaten gut verheilt. Er betastete die lange Naht. Die Wände ihrer Tagesräume waren aus dünnem Plastik. Er konnte die Frau hinter der nächsten Abtrennung weinen hören, dann folgte aufgebrachtes Männergeflüster. Der Kulturschock war brutal. Ganze Menschenschlangen gingen draußen um die langen Barackenreihen und warteten darauf, dass sie an die Reihe kamen. Ihr Schlurfen klang wie ein kleiner Fluss, und wie ein Fluss hatten ihre Füße bereits eine kleine Rinne in den Salzboden gescheuert. Die Luft war grausam trocken. Innerhalb weniger Tage waren ihre Lippen und die Nagelhäute aufgesprungen. Ihre Augen waren rot. Es schien, als könnten die Leute nie genug Wasser bekommen. Diese verborgene Elite befand sich in einer Wüste weit unter der Wüste. Sie wurden buchstäblich zum Salz der Erde. Wenn es ruhig war, flüsterte das Geräusch ausflockender Kristalle auf den Plastikdächern. Der Bunker lebte. Es wuchs rings um sie herum nach innen. Der Mann rieb über seine Narbe. In Los Alamos waren ihm vierzig Jahre nicht unüberbrückbar vorgekommen. Niemand hatte behauptet, es würde ein Kinderspiel. Klar, irgendwann würde der Hüttenkoller ausbrechen, man musste mit Mangelerscheinungen und Anpassungsschwierigkeiten rechnen. Innenpolitische Probleme. Aber insgesamt hatten sie sich auf eine lange Nacht der Seele mit großartigen Ausfallzeiten eingestellt. Endlich könnten sie sich ihren Familien widmen, einen Gang zurückschalten, ein bisschen Forschung betreiben, lehren und lernen, sich fortpflanzen und die Enkel großziehen, den Fortbestand der Art sichern. Wenn sie eines Tages wieder an die Oberfläche kamen, würden sie alte Männer und Frauen sein. Die zukünftigen Generationen würden sich ihrer als Riesen erinnern, so hatten sie es sich vorgestellt. 642
Doch schon jetzt waren ihre Träume ausgefasert. Die Reise quer durch New Mexico bis über die Grenze nach Texas war für sich genommen ein besonderes Stückchen Hölle gewesen. Siebenundsechzig Stunden am Stück eingesperrt, knöcheltief im eigenen Unrat, hatten die Schwächeren rasch aufgegeben. Von den sechshundert Lastwagen, die sich auf die Reise gemacht hatten, blieb die Hälfte auf der Strecke: Maschinenschaden, vereiste Straßen, ein plötzlicher Sandsturm und jede Menge Landminen. Durch die dreifachen Gummischichten hatten sie die dumpfen Detonationen vor oder hinter sich gehört. Es war keine angenehme Fahrt gewesen, ganz und gar nicht. Doch selbst mechanisches Versagen, Guerilla-Überfälle und Benzinnadeln auf E erklärten keineswegs einen geschätzten Schwund von fünfzig Prozent. Das Gerücht ging um, die Hälfte von ihnen sei unterwegs geopfert worden. Der große Mann in der oberen Koje glaubte nicht daran, aber die Gerüchte passten zu gut zu den Tatsachen. Zufälligerweise gab es hier gerade genug Platz für die Anzahl Menschen, die es tatsächlich geschafft hatten. Er bedauerte die verlorenen Lastwagen und ihre Zehntausende von Passagieren, hatte er doch gehofft, dass über jeden einzelnen Rechenschaft abgelegt würde, doch zur Zeit wusste niemand genau, wer es geschafft hatte und wer nicht. Paul Abbot, ihr König, streifte durch die Salzkorridore und rief den Namen seiner Tochter. Die Schiffbrüchigen des Konvois waren dem Untergang geweiht, so viel war sicher. Diejenigen, die das Glück hatten, aus ihren verschlossenen Anhängern auszubrechen, konnten nirgendwohin fliehen. Daraus schöpfte er einigen Trost. Der Mann prüfte die Rasierklinge. Sie war nicht so scharf, wie er sie sich gewünscht hätte. In den vergangenen paar Tagen, bevor er die Schmuggelware an sich ge643
bracht hatte, hatten angeblich vier Leute die Klinge benutzt. Sie waren ungeschickt vorgegangen, hatten sie an Handwurzelsehnen und Knochen stumpf gemacht. Aber es hatte bei ihnen funktioniert, und etwas Besseres gab es nicht. Er setzte die Schneide direkt auf die Narbe und zog die Klinge darüber hinweg. Die Ränder öffneten sich. Wie beim ersten Mal trat erstaunlich wenig Blut aus. Die Fettschicht schimmerte weiß, das Fleisch war rot. Er vertiefte die Wunde. Sie verlief parallel zu den Muskelfasern, die – schon vor Monaten – Platz für einen kleinen Umschlag gemacht hatten, ohne ihn zu lähmen. Mit der Zeit hatten die Schwerkraft und die Muskelbewegungen die Glasphiole tiefer zwischen den Quadrizeps geschoben. Er musste sie suchen. Es tat weh. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Die Eintrittsprozedur hatte auch aus einer endgültigen Reinigung bestanden. Jeder, der den Bunker betreten wollte, hatte sich mehrfachen Blut- und Urintests unterziehen müssen. Sie hatten sich ausgezogen, abgeschrubbt und waren durch einen ultravioletten Tunnel zu Stapeln sterilisierter Overalls marschiert. Ihre Koffer und Taschen hatten die Mesa nie verlassen. Nackt wie Neugeborene hatten sie ihr kristallines Eden betreten. Quarantäne war oberstes Gebot. Das Virus hatte hier unten keine Chance. So war es gedacht. Er hörte durch die Wand, wie die Familie nebenan ihre Kleinen zu Bett brachte. Eine Gutenachtgeschichte. Gute Nacht, Mond. Dann die Gebete. »Vater unser, der du bist im Himmel …« Ich werde es ihnen richtig beibringen, dachte er. Im Original. Auf Aramäisch. Ich flüstere es ihnen im Schlaf durch die Wand. Warum nicht? 644
In seinem kurzen Leben war er für viele Menschen alles Mögliche gewesen: Mentor für verzweifelte Wissenschaftler, Psychiater für tobende Soldaten, Freund der Einsamen, Führer der Verwegenen. Er hatte falsche Hoffnungen gesät, falsche Liebe, falsche Träume und sogar falsche Erlöser. Nach und nach hatte er sie in die Grube geführt. Endlich fand er sie, dicht am vorderen Kreuzband. Das Glas war glitschig. Er schob es sich zur Sicherheit in den Mund, wischte sich die Finger ab und fing an zu nähen. Sein eigenes Nähzeug war mit all dem anderen Gepäck verschwunden. Er hätte einen Aufstand deswegen machen können. Aber genau das wollte Adam nicht: auf seine Autorität pochen. Anonymität brachte ihn weiter. Deshalb benutzte er auch jetzt eine einfache Nadel und eine Rolle grünen Baumwollfaden. Die Wunde würde sich entzünden, aber nicht rechtzeitig genug, um sie zu retten. Bevor sie ihn entdeckten, hatte er schon viele Kilometer zurückgelegt. Er wollte keinen Quadratzentimeter auslassen. Er biss zu. Das Glas zerbrach. Die Flüssigkeit kam ihm wärmer als seine Körpertemperatur vor, und das passte, denn es handelte sich um das heißeste Virus, das sich Los Alamos jemals eingefangen hatte. Zu seiner Verwunderung hatte das Virus einen angenehmen Geschmack. Er erinnerte ihn an Orangen, aber mit einer Spur Meersalz. Nein, nein, entschied Adam, es war eher wie die Schweißperle einer Geliebten kurz vor diesem entscheidenden Moment, kurz vor der Vergessenheit, wenn sie nur noch darum bettelte, den Rest zu bekommen.
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Epilog Den Wind ernten MAI
Der große, schwarze, schmiedeeiserne Stuhl stand auf einer Sandsteinplatte nicht weit von der äußersten Spitze der Mesa. Auf ihm saß Miranda mit einem Fernglas im Schoß, oder was davon übrig war. Es war Mittag und warm. An ihrem Glas mit Eiswasser perlte die Feuchtigkeit herab. Eine Baseball-Kappe beschattete ihre Augen. Sie hätte dort draußen auf einer Insel im Himmel sitzen können. Allmählich wurde es Sommer. Miranda hatte ihn von ganzem Herzen herbeigesehnt. Der Schnee war geschmolzen, die mittägliche Sonne stand höher am Himmel, die Stadt gesundete allmählich. Fast dreihundert Menschen waren zurückgeblieben, alle möglichen Typen. Wie eine alte spanische entrada lernten sie, auf ihren sehr unterschiedlichen Fähigkeiten aufzubauen. Wissenschaftler und Soldaten arbeiteten zusammen, das Kreuz und das Schwert, Glaube und Stahl. Mit jedem Tag waren sie auf das, was da kommen würde, besser vorbereitet. Mit jedem Tag wuchs ihr Körper. Ihr Bauch schwoll an. Ihre Brüste im Spiegel erschreckten sie, so fest und rund waren sie. Sie sahen jetzt genauso aus wie die Brüste von Nathan Lees Matisse-Akt, den sie bei ihren anderen Erinnerungsstücken aufbewahrte, zusammen mit dem Goldkettchen von ihrer Mutter, einer Lieblingsmuschel, einem 646
Schnappschuss von ihren Schmetterlingen, ihrer Karte des Chromosom 16. Tara bewunderte die Bewegungen in Mirandas Bauch und kam sie jeden Tag besuchen. Die Frau des Captains war der Meinung, dass es ein Mädchen wird, und obwohl der Gedanke an eine kleine Schwester für Tara kein Ersatz für das Pferd war, half er ihr doch über den Verlust hinweg. Wenn Miranda jetzt vom Rand der Mesa ins Land blickte, stellte sie sich nicht mehr ein Tal des Todes vor. In dieser Höhe war es immer noch zu früh für Wildblumen. Doch die ersten Expeditionen, die vor fünf Wochen hinabgestiegen waren, hatten berichtet, dass das Präriegras kniehoch wuchs, die wilden Viehherden kalbten und die Flüsse vom Schmelzwasser schokoladenbraun waren. Ihre Meldungen, die von weither über Kurzwelle übermittelt wurden, klangen wie Radiosendungen aus vergangenen Zeiten, oder wie Übertragungen vom Mars, voll mit atmosphärischem Knistern und kosmischem Pfeifen – und, letztendlich, voller Stille. Es hatte fast zwei Wochen gedauert, bis sie etwas von »dort draußen« gehört hatten. Trotzdem war Los Alamos immer noch in der Lage, die Route der Forscher via Satellit zu verfolgen. Drei der Expeditionen hatten ihre Ziele erreicht und befanden sich schon wieder auf dem Rückweg. Was sie wohl für Geschichten mitbrachten … Für ein dem Untergang geweihtes Volk waren die Bewohner von Los Alamos froh gelaunt und fleißig; jeder von ihnen befand sich jetzt im Endstadium. Sie hatten sich freiwillig mit Serum-III impfen lassen, ihr dreijähriger Countdown hatte begonnen. Wenn sie bis dahin kein Gegenmittel gefunden hatten, würde das Virus sie holen. Aber genau an der Stelle setzte der Glaube ein. Man hatte Kontakt mit Überlebenden aufgenommen und sie – nach 647
und nach – aufgenommen. Die Ernte hatte begonnen. Die Antwort würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, daran glaubten sie. Es war ein Glaube, der nicht leicht aufrechtzuerhalten war. Den ganzen Winter über hatten sich immer wieder Glasleute, wie Tara sie nannte, nach Los Alamos verirrt. Einige waren Pilger oder verwahrloste Streuner, die das Licht der Stadt angelockt hatte. Bei anderen handelte es sich um ihre ehemaligen Nachbarn und Arbeitskollegen, die zu Fuß zurückgekehrt waren, Schiffbrüchige des inzwischen verrufenen Konvois. Sie waren nicht die Überlebenden, die Los Alamos benötigte, sondern lediglich weitere Seuchenopfer. Es war nicht nötig, ihnen in Schutzanzügen zu begegnen oder sie in den abgeschotteten Biolabors einzusperren. Da Miranda und die anderen für die verbleibende Zeit immun waren, hatten sie ein Hospiz eingerichtet, in dem die Opfer während ihrer letzten Tage versorgt wurden. An Betten herrschte in der Stadt gewiss kein Mangel. Die Pflege der Opfer war eine grausige Arbeit gewesen, aber in gewisser Weise auch läuternd. Während sie sahen, wie sich Knochen durch das glasartige Gewebe der Patienten abzeichneten, sahen, wie Herzen in lebendigen Körpern schlugen und den allmählichen Verlust der Erinnerung verfolgten, akzeptierten sie nach und nach die Vorstellung, dass es ihnen eines Tages genauso gehen würde. Bis zum April waren sämtliche Flüchtlinge gestorben. Der Friedhof auf dem Golfplatz war mit Gedenktafeln versehen, einige mit Namen (von denjenigen, die sich daran erinnern konnten), viele ohne Namen. Jedenfalls hatte ihr Dahinscheiden das Ende des großen Sterbens angezeigt. Kurz darauf hatten sich fünf Expeditionen auf den Weg nach Amerika gemacht. Während sie auf die Heimkehr der Forschungsreisenden 648
warteten, kümmerten sich die Bewohner von Los Alamos weiter um ihre Stadt. Es gab so viel zu tun, angefangen bei der Bevorratung bis hin zur Inventur, von der Forschung bis zur Auswertung, von den Experimenten bis zur Neukonzeptionierung. Es mussten Treibhäuser gebaut, der Reaktor gewartet, Satelliten beobachtet und Funksprüche abgesetzt werden. Sie mussten die frohe Botschaft verbreiten. Allein die Glühbirnen ständig zu wechseln war eine große Aufgabe, aber Miranda bestand darauf. Sie waren ein Leuchtturm. Das war ihr Mandat. Jede Nacht drängten die hellen Lichter der Stadt die Dunkelheit zurück. Doch die Finsternis lag nicht ausschließlich dort draußen. Um sich zu vergewissern, ob Cavendish irgendwelche Hinweise zurückgelassen hatte, war Miranda vor drei Monaten, als sie noch etwas beweglicher gewesen war, in sein Büro im Südsektor eingedrungen. Sie wollte alles durchsehen, was er während seiner Herrschaft getan oder nicht getan hatte, um einen Einblick in seine Gedankenwelt zu bekommen. »Irgendetwas passt da nicht zusammen«, hatte sie zum Captain gesagt, der sie begleitet hatte. »Ich bin sicher, dass er mehr wusste, als er uns mitgeteilt hat.« Das Erste, was ihnen auffiel, nachdem sie die Tür zu seinem Büro aufgebrochen hatten, war der Geruch. Da stand sein Rollstuhl, an der Stelle mit dem bevorzugten Managerausblick in Richtung Sangre de Christos Mountains. Der noch immer aufrecht darin sitzende Wissenschaftsrebell war zu einer vertrockneten Hülle zusammengeschrumpelt; man hatte ihm Glaspipetten durch die Sehnervkanäle jeder Augenhöhle getrieben. Diese Pipetten waren sehr zerbrechlich, und die Durchbohrung musste mit größter Sorgfalt vonstatten gegangen sein. Jeder hätte sein Mörder sein können. Cavendishs Ermordung war zu einem der tausend Ge649
heimnisse geworden, die Los Alamos barg. Tag für Tag machten Versorgungstrupps neue Entdeckungen: Lagerhäuser randvoll mit Lebensmitteln und anderen Vorräten, Laborberichte mit vergessenen Erkenntnissen, Biosicherheits-Labors mit vergessenen Insassen, mit Hieroglyphen bekritzelte Tafeln. Im vergangenen Dezember waren über eine Million Menschen in einer Nacht verschwunden, doch sie raunten denjenigen, die zurückgeblieben waren, immer noch zu. Jeder Laptop enthielt eine verborgene Persönlichkeit. In Wohnungen waren Liebesbriefe aufbewahrt, Tagebücher redeten. Fenster gaben Ausblick in andere Fenster. Teleskope auf Stativen spähten zwischen Vorhängen hervor. Los Alamos war schon immer eine Stadt der Träume gewesen, der guten wie der bösen. Das lag in der Natur der Wissenschaft. Was alle überraschte, war die Tatsache, dass es ebenso eine Stadt so ausgeprägter Sehnsüchte gewesen war. Die Erkenntnis ließ sie ihre Gefährten, die unter die Erde geflohen waren, nur noch mehr vermissen. Vor Wochen hatte die New Orleans-Expedition auf ihrem Weg nach Süden dem schweigenden WIPP-Bunker einen Besuch abgestattet, in der Hoffnung, mit ihren verlorenen Brüdern Kontakt aufzunehmen. Doch in den Befestigungsanlagen an der Oberfläche hatten sie lediglich Mumien als Wächter vorgefunden, und die riesigen Fahrstuhlschächte, die in die Tiefe hinunterführten, hatten nur ihre eigenen Rufe als Echo zurückgeworfen. Sie konnten nicht viel unternehmen, um das Verschwinden der Kolonie näher zu untersuchen, denn sie hatten keine Stricke dabei, die lang genug gewesen wären, um sich fast einen Kilometer abzuseilen; also warfen sie in Kanister verpackte Nachrichten in die Löcher hinein und führten ihre Reise fort. Ihr Auftrag bestand darin, nach Lebenden zu suchen, nicht nach einer Kommune von Toten. 650
Es war bekannt, dass es überall Überlebende gab. Die ernsthafte Suche nach ihnen hatte, mit Hilfe der Satelliten, im Februar begonnen, nachdem die letzten großen Städte ihre roten Todeswolken ausgehaucht hatten. Die Wärmeaufnahmen waren so programmiert worden, dass sie alles mit einer konstanten Wärme von 37 Grad anzeigten, und sofort hatte das Überwachungsteam Anzeichen menschlicher Aktivität verzeichnet. Nach der letzten Zählung vom Tag zuvor gab es in einem Radius von 1.500 Kilometern sechsundzwanzig Überlebende. Innerhalb dieses Radius hatte sich die erste Welle ihrer Expeditionen auf die Suche gemacht. Man wollte dass sich die Überlebenden in der Nähe der logischen Nahrungsquellen aufhielten, also in den großen und kleinen Städten, aber auch draußen auf dem landwirtschaftlich bearbeiteten Land und in den Bergen. Im Verlauf des vergangenen Monats hatte Los Alamos einen Burschen dabei beobachtet, wie er in der Nähe von Cortez Heights in Kansas eintausend Morgen gepflügt und eingesät hatte. Die Milwaukee-Expedition hatte ihn noch nicht erreicht. Nach allem, was dieser Bauer wusste, war er der letzte noch lebende Mensch. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung davon, dass er immun sein könnte. Trotzdem hatte er sich dazu entschlossen, Mais zu pflanzen. Das, dachte Miranda, ist Hoffnung. Sie konnte es kaum erwarten, ihm die Hand zu schütteln. Es würde nicht mehr lange dauern, die Expeditionen kehrten allmählich zurück. Die Billings-Expedition würde die erste sein. Das Satelliten-Bild aus der vergangenen Nacht hatte gezeigt, dass sie ihr Lager am Raton Pass, an der Grenze zu Colorado aufgeschlagen hatten, an der alten I-25. Die ganze Stadt war bereits in heller Aufregung. Miranda war nicht die Einzige, die am Rand der Klippe saß und die Straße beobachtete, die sich aus dem Tal herauf651
wand. Die Expedition konnte möglicherweise noch an diesem Tag auf der Mesa eintreffen, oder erst am nächsten oder übernächsten. Man konnte die Zeit nur ungefähr schätzen. Seit Tagesanbruch hatte der Satellit sie aufgrund des Albedo-Effekts verloren. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Satelliten während der Tagesstunden blind wurden, denn zu dieser Zeit legte sich der Großteil des Überwachungsteams schlafen. Miranda spähte über die tiefe Senke hinüber zu der Stelle, an der die Straße durch die Felswand schnitt, doch dort war noch nichts zu sehen. Sie trank einen Schluck kaltes Wasser und schloss die Augen. Das Wasser kam ihr jeden Tag köstlicher vor. Als sie abermals hinüberschaute, blitzte oben auf der entfernten Halbinsel etwas auf, eine weiße Gestalt, die sich rasch zwischen den Kiefern und dem Unterholz bewegte. Miranda setzte das Fernglas an die Augen und fand es sofort, ihr Tagesgespenst, die Stute. Sie galoppierte sehr schnell, auch das ein Geheimnis, das wahrscheinlich niemals gelüftet werden würde. Sie wussten durch die Überwachungskameras, dass Nathan Lee mit ihr bis zum Fluss geritten war, die Brücke jedoch zu Fuß überquert hatte. Nach der Bombe und in den Wirren der Evakuierung hatte niemand mehr an das Pferd gedacht. Eines Tages im Januar war es plötzlich wieder da gewesen. Es war kalt, aber die Stute weigerte sich, bei ihnen Schutz zu suchen; die Bombe hatte sie ein für alle Mal verschreckt. Das Tier trug Verbrennungsnarben und ließ niemanden in seine Nähe. Den Winter hindurch warf immer wieder jemand einmal die Woche einen Ballen Heu hinaus. Tara hatte versucht, das Tier einzufangen, hatte Äpfel ausgelegt und sich auf die Lauer gelegt. Doch das Pferd war wild, zumindest halb wild geworden. 652
Es schien ihre Nähe zu genießen, kam jedoch nicht so nahe heran, dass es jemals wieder eingefangen oder geritten werden konnte. Miranda beobachtete die Stute noch eine Weile. Das Pferd preschte im Slalom zwischen den niedrigen Bäumen hindurch, wich mit aufblitzenden Muskeln nach links und rechts aus. Seine Staubfahne flirrte im Sonnenlicht. Eines Tages, sagten die Leute, fliegt das närrische Vieh noch mal im hohen Bogen über die Klippe. Oder rennt sich zu Tode. Kreise innerhalb von Kreisen, das war alles, was die Leute sahen. Aber das berührte ihr eigentliches Geheimnis nicht einmal. Die Frage war nicht die, wohin das Pferd rannte oder wovor es davonlief, auch nicht die, ob es sich jemals zwischen der Stadt und dem Abgrund entscheiden konnte. Sie hatte vielmehr mit dem Rennen selbst zu tun. Ein Ruf hallte über die Klippe herauf. Sofort schwenkte Miranda das Fernglas nach unten, zur Straße hin. Und da kamen sie, zu Fuß, um die Biegung herum. Mit einem Mal setzte ihre Atmung einfach aus, und sie musste die Ellbogen auf die Stuhllehne aufstützen. Ihr Herz raste. Sie verspürte einen Adrenalinstoß, der das Baby aufweckte, das ihr wiederum einen Tritt verpasste. Miranda justierte die Schärfeeinstellung, und die Forscher wurden deutlicher sichtbar. Die Straße hatte sie verändert: Sie waren braun gebrannt. Die Soldaten trugen Bärte, Ben auch. Er ging fast ganz vorne. Sie wanderte von einem Gesicht zum anderen. Einige erkannte sie wieder, andere waren neu, darunter Frauen und Kinder. Überlebende. Plötzlich verschwand die Expedition aus ihrem Blickfeld. Die Straße schlängelte sich hinter den nächsten Ausläufer der Mesa. Überall am Rand des Canyons schrien die Leute vor Aufregung durcheinander. Dann lösten sie sich 653
von ihren Aussichtspunkten und rannten davon, um die Reisenden am Eingang der Stadt zu begrüßen. Langsam wurde es wieder still im Canyon. Miranda erhob sich, um sich ihnen anzuschließen, doch das Blut wich schlagartig aus ihrem Kopf. Sie ließ sich wieder in den Eisenstuhl sinken, der ihr Gewicht klaglos übernahm. Sie fühlte sich nicht besonders schwer oder gehemmt, eher im Gegenteil. Ihre Flügel waren niemals kräftiger gewesen. Sie musste sich selbst dazu zwingen, sitzen zu bleiben und sich diesen zusätzlichen Moment zu gönnen. Mit der Ankunft der Neuankömmlinge und mit ihrer Schwangerschaft würde das Leben wieder arbeitsreicher werden. Von ihren privaten Mußestunden würden in den kommenden Jahren nicht viele übrig bleiben. Sie verscheuchte die auf sie einstürzenden Gedanken, saß einfach nur da. Salbei und andere Kräuter blühten; die Luft war von allen möglichen Wüstendüften erfüllt. Miranda atmete sie tief ein, und ihr Schwindelgefühl verging. Es hatte nur ganz kurz so ausgesehen, als wäre die Welt stehen geblieben. Jetzt war wieder alles in Bewegung. Sie wollte zur Sonne hinaufschauen, doch ihr Blick blieb an dem unermüdlich galoppierenden Pferd dort draußen hängen, das den Staub aufwirbelte, zwischen den Bäumen hindurchflog und wie verrückt weiterpreschte. Es war genug, um ihr ein Lächeln zu entlocken.
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Danksagung Grauzone nahm seinen Anfang als Medizinkrimi mit dem Schauplatz Los Alamos … und veränderte sich rasch. Je mehr sich meine Recherchen ausweiteten, desto schneller wurde mir klar, dass die alte Analogie von »Religion als Seuche« ihr Gegenstück in dem Ausdruck »Seuche als Religion« fand. Um es kurz zu machen: Die unglaublichen Überschneidungen von Wissenschaft und Religion führten mich von meiner ursprünglichen Geschichte weg. In der frühen Phase meiner Recherche hörten die Leute, die ich im Los Alamos National Lab befragte, eine ganz andere Geschichte, und Grauzone dürfte sie in der jetzigen Form ziemlich überraschen. Vor allem Dr. Lawrence Deaven, stellvertretender Direktor des Center for Human Genome Studies in Los Alamos, der mir großzügig Einblick in die Arbeit des Projekts gewährt hat, sowie Todd Hanson von der Pressestelle, der mich »hinter den Zaun« geführt hat, wie es früher genannt wurde. Besonderer Dank geht an Cliff Watts und Charles Clark, die geduldig versucht haben, mir über die Jahre hinweg den medizinischen Aspekt verständlich zu machen. Außerdem bin ich Marcia Hamilton zu Dank verpflichtet, die für mich Fremdenführerin auf unseren Exkursionen durch das menschliche Hirn gespielt hat. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass alle wissenschaftlichen Unstimmigkeiten in dieser Science Fiction auf mein Konto gehen. Vielen Dank auch meinen Lektoren Jason Kaufman, einem hervorragenden jungen Lektor der alten Schule des Lektorierens, und Mitchell Ivers, der mitten im Sturm stets Gelassenheit bewahrt hat. 655
Ich danke ganz besonders Bill Gross, meinem Manager, Freund und unermüdlichen Ermutiger. Falls es so etwas wie eine Muse mit cojones gibt, dann ist er es. Und schließlich vielen Dank Barbara und Helena, dass ihr diese Traumwelt mit mir geteilt habt.
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