Phantastische Literatur
Görden (Hg.)
GRABGEFLÜSTER Unheimliche Geschichten Gespensterbuch 2
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUC...
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Phantastische Literatur
Görden (Hg.)
GRABGEFLÜSTER Unheimliche Geschichten Gespensterbuch 2
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Phantastische Literatur Band 72502 Alle Rechte dieser Ausgabe bei Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach 1984 All rights reserved
Titelillustration: Thomas Schlück Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik,Bensberg Druck und Verarbeitung: Elsnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ISBN 3-404-72502-6
Eine Sammlung phantastischer Romane und Erzählungen der Weltliteratur und vergessener Meisterwerke der Phantastik – unheimliche Begebenheiten, geheimnisvolle Abenteuer und seltsame Reisen. Unheimliche Geschichten von: K. H. Strobl M. R. James Edgar Allan Poe Dino Buzzatti Guy de Maupassant Robert Bloch Fritz Leiber und anderen
Edgar Allan Poe Berenice
Und man versprach mir, es würde mir wohl den Kummer erleichtern, wenn ich das Grab der Geliebten besuchte. Ebn Zaiat Das Elend hat viele Gesichter, und der irdische Jammer ist vielgestaltig. Wie der Regenbogen überspannen sie in vielen Schattierungen den menschlichen Horizont, die Farben fließend und doch deutlich zu unterscheiden. »Ein Regenbogen am Horizont« – wie komme ich nur dazu, Schönheit als Vergleich für etwas Dunkles, Grausiges zu benutzen, wie komme ich vom Zeichen des Friedensbundes auf ein Sinnbild der Sorgen? Aber wie im Bösen bereits das Gute mit angelegt ist, so entspringt das Leid mitten aus der Freude. So machen uns entweder die Erinnerungen an vergangenes Glück die Gegenwart zur Qual, oder unsere Pein, die ist, entsteht aus den Freuden, die hätten sein können. Mein Taufnahme ist Egaeus; meinen Familiennamen will ich nicht nennen. Aber es gibt im ganzen Lande keine Mauern, die mehr Jahre und Ruhm gesehen als die des grauen Schlosses meiner Väter. Man hat unsere Familie ein Geschlecht von Visionären genannt, und viele Eigenheiten unseres Stammsitzes gaben diesem Glauben eine gewisse Berechtigung; ich denke an die Fresken des Salons, die Wandbekleidungen der Schlafzimmer, die ziselierten Strebepfeiler der Waffenkammer, dann ganz besonders an die Galerie alter Gemälde, an den Eindruck, den das
Bibliothekzimmer machte, und ganz besonders an den Inhalt dieser Bibliothek. Alle Erinnerungen aus meiner frühen Jugend sind mit diesem Zimmer und seinen Büchern, von denen ich jedoch nichts weiter sagen will, aufs engste verbunden. In diesem Raum starb meine Mutter. Hier wurde ich geboren. Aber es ist wohl müßig, zu behaupten, daß ich nicht schon vorher gelebt – daß unsere Seele keine vorgeburtliche Existenz habe. Sie leugnen es? Wir wollen nicht weiter darüber streiten! Überzeugt, wie ich selbst bin, habe ich kein Verlangen, andere zu überzeugen. (Es gibt da eine Erinnerung an ätherische Formen, an geisterhafte, vielsagende Augen, an melodisch traurige Töne – eine Erinnerung, die mich nie verlassen wird, ein Andenken, wie ein Schatten unbestimmt, unbeständig, veränderlich und auch einem Schatten ähnlich in der Unmöglichkeit, mich von ihnen zu befreien, solange die Sonne meiner Vernunft leuchtet.) In diesem Zimmer wurde ich also geboren. Ich kam aus der langen Nacht, die nur scheinbar das Nicht-Dasein ist, in ein Geisterland, in ein Zauberschloß, in seltsame Gefilde des Gedankens und scholastischer Gelehrsamkeit. Ist es da verwunderlich, daß ich mit erschrockenen, heißen Augen um mich blickte, daß ich meine Kinderzeit unter Büchern begrub und meine Jugend als Träumer vertat? Seltsam und verwunderlich ist nur, daß, als die Jahre flohen und der volle Mittag meiner Männlichkeit mich noch im Hause meiner Väter fand, die Quellen meines Lebens plötzlich zu versiegen schienen und sich eine vollständige Veränderung in dem Wesen selbst meiner gewöhnlichsten Gedanken vollzog. Die Wirklichkeiten der Welt berührten mich wie Halluzinationen und nur wie Halluzinationen, während die seltsamen Vorstellungen meiner Phantasie nicht etwa die
Nahrung meines Daseins wurden, sondern dieses Dasein selbst. Berenice und ich waren Geschwisterkinder und wuchsen zusammen im väterlichen Schloß auf. Doch entwickelten wir uns verschieden: ich war kränklich und stets in tiefe Melancholien versunken – sie dagegen lebhaft, graziös und von überströmender Lebenskraft. Ich vergrub mich in mein Studierzimmer – sie streifte glücklich durch die Parks. Ich lebte nur in meinem Herzen und weihte Körper und Geist den tiefsten, schmerzvollsten Betrachtungen – sie eilte sorglos durchs Leben, ohne an die Schatten auf ihrem Pfade zu denken oder je über den schweigsamen Rabenflug der Stunden zu erschrecken. Berenice! Berenice! Laut rufe ich ihren Namen, und wild flattern tausend Gedanken aus den grauen Ruinen der Erinnerung auf. Und wieder steht sie deutlich vor mir, wie in den ersten Tagen ihrer leichtherzigen Fröhlichkeit. Berenice! Die leuchtende, phantastische Schönheit! Und dann wurde alles zum grausigen Geheimnis – eine Geschichte begann, die man nicht erzählen sollte. Ein Übel, ein verhängnisvolles Übel überfiel sie wie ein Taifun. Vor meinen Augen wurden ihr Körper, ihr Gemüt, die ganze Einheit ihres Wesens eine Beute des gräßlichen Zerstörers, der wie ein Vernichter kam und ging! Doch wo blieb sein Opfer? Die Kranke kannte ich nicht – kannte sie nicht als Berenice! Und dem zahlreichen Gefolge von Leiden, welche dieser erste furchtbare Aufruhr in dem sinnlichen und geistigen Sein meiner Cousine nach sich zog, muß ich eine Art von Epilepsie als eines traurigsten und hartnäckigsten bezeichnen. Sie ging häufig in vollständigen Starrkrampf über, der alle Merkmale der wirklichen Auflösung an sich trug, obwohl sich die Kranke stets wieder, und zwar ganz plötzlich, von ihm erholte.
Zu gleicher Zeit wuchs mein eigenes Übel erschreckend schnell und bildete sich zu einer Monomanie aus, die sich auf ganz neue, außerordentliche Weise äußerte. Von Stunde zu Stunde – von Minute zu Minute wurde sie stärker und errang zuletzt eine unbeschränkte Herrschaft über mich. Diese Monomanie bestand in einer krankhaften Reizbarkeit jener geistigen Fähigkeit, welche die psychologische Wissenschaft unter dem Ausdruck »die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit« begreift. Man wird mich höchstwahrscheinlich nicht verstehen, denn ich fürchte, es wird auf keine Art und Weise möglich sein, einen genauen Begriff von der Innerlichkeit des nervösen Interesses zu geben, mit welchem ich mich auf die Betrachtung der allergewöhnlichsten Gegenstände des Weltalls warf und in dieselben vergrub. Ich konnte stundenlang und unermüdlich über irgendeine kindische, oberflächliche Bemerkung am Rande oder im Texte eines Buches nachsinnen. Zuweilen wurde ich den größten Teil eines Sommertages ganz von der Betrachtung irgendeines Schattens in Anspruch genommen, der schräg auf die Tapete oder den Fußboden fiel. Es war möglich, daß ich mich eine ganze Nacht hindurch in den Anblick der ruhigen Flamme einer Lampe oder der Glut eines Kohlenfeuers verlor oder ganz monoton ein alltägliches Wort so lange wiederholte, bis sein Klang jeden Sinn für mich verloren hatte. Manchmal erstickte ich auch in mir jedes Gefühl körperlichen Daseins durch eine hartnäckig fortgesetzte, vollkommene Ruhe. Das sind einige der häufigsten und harmlosesten Abirrungen meines kranken Geistes. Vielleicht erscheinen sie nicht ganz ohne Beispiel – jedenfalls spotten sie jeder Erklärung. Doch möchte ich nicht mißverstanden werden. Diese ungebührlich tiefe, krankhafte Aufmerksamkeit, welche von an sich ganz unbedeutenden Dingen erregt wurde, darf nicht mit
dem natürlichen Hang zum Grübeln verglichen werden, den alle Menschen mehr oder weniger verspüren und dem sich ganz besonders Personen mit lebhafter Phantasie oft überlassen. Meine Krankheit war nicht, wie es vielleicht scheinen könnte, der äußerste Ausdruck dieser Neigung, sondern etwas von ihr ursprünglich und wesentlich Verschiedenes. Im ersten Falle wird der Träumer, der Schwärmer, gewöhnlich durch einen nicht alltäglichen, nicht banalen Gegenstand angeregt, und in einer Wildnis von Deduktionen und Suggestionen, die ihm derselbe aufzwingt, verliert er unbemerkt diesen Gegenstand selbst aus den Augen, so daß er schließlich, am Ende seiner Träume, die für ihn selbst übrigens meist angenehm, wollüstig angenehm sind, die erste Ursache seines Nachdenkens verloren und vergessen hat. In meinem Falle jedoch war der Ausgangspunkt stets unbedeutend, obwohl er durch das Medium meiner krankhaften Anschauung eine scheinbare Wichtigkeit erhielt. Nur äußerst selten gab ich mich irgendwelchen Folgerungen hin; und wenn es einmal der Fall war, kehrten sie stets wieder mit Hartnäckigkeit auf ihren Ausgangspunkt zurück. Die Betrachtungen waren niemals angenehm; und zum Schlusse war mir die erste Ursache der Grübelei nicht entschwunden, sondern hatte in mir eben jenes unheimliche, unnatürlich gesteigerte Interesse erregt, das als das eigentliche Merkmal meines Übels anzusehen ist. Kurz also: Die Fähigkeit des Geistes, die bei mir krankhaft reizbar war, bestand, wie ich schon sagte, in einer Fähigkeit zur Aufmerksamkeit, während bei dem gewöhnlichen Träumer die Gabe der Betrachtung in Tätigkeit tritt. Wenn die Bücher, die ich in jener Epoche las, das Übel auch nicht gerade erregten, so steigerte ihr mystischer und zuweilen wenig logischer Inhalt, der mich zu immer neuem Grübeln trieb, meine Krankheit doch in beängstigender Weise. Ich
erinnere mich unter anderem noch sehr genau der Abhandlung des edlen Italieners Coelius Secundus Curio »De Amplitudine Beati Regni Dei«, des großen Werkes des heiligen Augustinus »Die Stadt Gottes« und Tertullians »De Carne Christi«, in welchem sich der paradoxe Ausspruch findet, der mich mehrere Wochen lang in schwerem, fruchtlosem Nachdenken gebannt hielt: »Mortuus est Dei filius; credibile est quia ineptum es; et sepultus resurrexit; certum et quia impossibile est.« – Mein Geist, den so unbedeutende Dinge aus dem Gleichgewicht bringen konnten, mochte wohl Ähnlichkeit mit jenem Meerfelsen haben, von dem Ptolemäus Hephestion erzählt, daß er aller menschlichen Gewalt, ja dem wilden Ansturm der Elemente widerstand, doch in seinen Grundfesten erbebte, wenn man ihn mit der Blume Asphodill berührte. So wird nur ein oberflächlicher Denker glauben können, daß ich über die Verwüstungen, die das unglückselige Leiden in dem seelischen Zustande Berenicens angerichtet, in meiner krankhaften Art nachgegrübelt hätte. Tatsächlich war dies durchaus nicht der Fall. In meinen klaren Augenblicken empfand ich wohl sehr viel Kummer über ihr Unglück; der Gedanke an den vollständigen Schiffbruch, den ihr schönes, heiteres Leben erlitten, schnitt mir tief ins Herz, und ich dachte oft und mit Bitterkeit über die bösen Zauberkräfte nach, die eine so grauenhafte Umwandlung bewirken konnten. Doch hatten diese Reflexionen nichts von der Idiosynkrasie meines Übels an sich und mochten in dieser Gestalt unter ähnlichen Umständen wohl von allen Menschen angestellt werden. Mein krankes Grübeln beschäftigte sich vielmehr mit den weniger wichtigen, aber vielleicht auffallenden Veränderungen, die sich in der körperlichen Erscheinung Berenicens vollzogen hatten – mit der
sonderbaren und erschreckenden Verzerrung ihres äußeren Wesens. Ich wußte bestimmt, daß ich sie in den strahlenden Tagen ihrer unvergleichlichen Schönheit nicht geliebt hatte. Die seltsame Anomalie in meinem Dasein ließ meine Gefühle niemals dem Herzen, ließ meine Leidenschaften stets dem Gedanken entspringen. In früher, grauer Morgendämmerung – zu Mittag unter den zitternden Schatten des Waldes –, des Nachts in der Stille meines Bibliothekzimmers war sie vor meinen Augen erschienen: nicht als die lebende, atmende Berenice, sondern als die Berenice eines Traumes; nicht als die Abstraktion eines solchen Geschöpfes, nicht als ein Gegenstand der Bewunderung, sondern als ein Objekt der Analyse, nicht als ein Wesen, geschaffen zur Liebe, sondern als Thema sinn- und planlosen Nachdenkens. Und nun – nun erbebte ich in ihrer Gegenwart, nun erblaßte ich, wenn sie sich mir näherte, und plötzlich ward mir bewußt, daß sie mich seit langem liebte, und ich sprach ihr in einer bösen Stunde trotz ihres zerfallenen, trostlosen Zustandes von Heirat. Der Tag, den wir für die Hochzeit festgesetzt hatten, nahte heran. Ich saß an einem Winternachmittag – es war ein sonderbar ruhiges, nebliges, warmes Wetter – in meinem Bibliothekzimmer und glaubte mich allein. Doch als ich meine Augen erhob, sah ich Berenice vor mir stehen. Lag es an meiner wilden Phantasie – oder an dem Einfluß der Nebelluft, an der unbestimmten Dämmerung im Zimmer, an der dunklen Kleidung, die sie in langen Falten umhüllte, daß mir ihre Umrisse so schwankend und undeutlich erschienen? Ich vermag es nicht zu entscheiden. Vielleicht war sie während ihrer Krankheit gewachsen? Sie sagte kein Wort, und ich – hätte nicht für die Welt eine Silbe sprechen können. Ein Schauder durchfuhr meinen Körper; ein Gefühl unerträglicher Angst bedrückte mich; eine verzehrende Neugierde rang sich
in meiner Seele hoch; ich sank in meinen Stuhl zurück und verharrte eine Zeitlang regungslos, atemlos, die Blicke fest auf Berenice gerichtet. Ach, wie erschreckend sie abgemagert war! Ich konnte keine Spur des früheren Wesens auch nur im flüchtigsten Umriß wiedererkennen. Meine wilden Blicke fielen endlich auf ihr Gesicht; die Stirn war hoch, sehr bleich und sonderbar ruhig. Ihr früher pechschwarzes Haar fiel zum Teil über dieselbe und beschattete die hohlen Schläfen mit zahllosen Locken von schreiend gelber Farbe, deren phantastischer Anblick grausam gegen die müde Trauer ihrer Züge abstach. Die Augen waren ohne Leben und Glanz und scheinbar ohne Pupillen, und unwillkürlich schraken meine Blicke vor ihrem gläsernen Starren zurück und betrachteten ihre dünnen, zusammengeschrumpften Lippen. Sie teilten sich, und mit einem besonderen bedeutsamen Lächeln enthüllten sich die Zähne der also veränderten Berenice. Wollte Gott, daß ich sie nie gesehen hätte oder daß ich nach ihrem Anblick gestorben wäre!… Das Geräusch einer sich schließenden Tür schreckte mich empor: Ich gewahrte, daß meine Cousine das Zimmer wieder verließ. Doch das weiße Gespenst ihrer Zähne war aus meinem Gehirn nicht zu bannen, nicht fortzutreiben. Jedes Fleckchen auf ihrer Oberfläche, jede Tönung auf ihrem Email, jede Ausbuchtung an der Schneide hatte ihr flüchtiges Lächeln meinem Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt! Ich sah sie jetzt sogar deutlicher, als ich sie soeben gesehen, diese Zähne! – diese Zähne! – Sie waren hier – und waren dort – und überall, sichtbar, greifbar vor mir: lang, schmal und außerordentlich weiß. Bleiche Lippen zogen sich um sie herum, genau wie in dem schrecklichen Augenblick, da ich sie zuerst gesehen! Dann überfiel mich meine krankhafte Einbildungssucht mit wilder Wut, und vergebens kämpfte ich
gegen ihre unerklärliche, unwiderstehliche Gewalt! Unter den zahllosen Gegenständen der äußeren Welt, hatte ich nur noch Gedanken für diese Zähne. Nach ihnen trug ich ein wahnsinniges Verlangen. Alle Erscheinungen der Welt, alle Interessen des Lebens wurden davon aufgesogen. Sie – sie allein waren meinem inneren Auge gegenwärtig, ihr Wesen wurde zum alleinigen Inhalt meines Gedankenlebens. Ich betrachtete sie von jedem Gesichtspunkte, von jeder Seite aus. Ich studierte ihre besonderen Merkmale, ich sann über ihre Eigentümlichkeiten nach, ich grübelte über ihre Ähnlichkeit untereinander. Ich forschte nach den Veränderungen, denen sie unterworfen waren. Und als ich ihnen in meiner Vorstellung Gefühlskraft und Ausdrucksfähigkeit auch ohne den Beistand der Lippen zuschreiben mußte, da schauderte ich! Von Mademoiselle Salle hat man sehr bezeichnend gesagt: »Que tous ses pas etaient des sentiments«, und von Berenice glaubte ich viel fester, daß alle ihre Zähne Ideen seien. Ideen! War das der idiotische Gedanke, der mich zugrunde richten sollte? Ideen? Begehrte ich sie wohl deshalb so wahnsinnig? Ich fühlte, daß nur ihr Besitz allein mir jemals Frieden, jemals den Verstand zurückgeben könne. So senkte sich der Abend auf mich herab, und die Dunkelheit der Nacht kam, blieb und verschwand wieder – ein neuer Tag erschien, und die Nebel einer zweiten Nacht schlugen um mich zusammen – , und noch immer saß ich regungslos in meinem einsamen Zimmer – noch immer saß ich in Betrachtungen versunken –, noch immer übte das Gespenst der Zähne seine schreckliche Macht und schwebte mit lebendiger, gräßlicher Deutlichkeit da und dort durch die wechselnden Lichter und Schatten des Zimmers. Endlich brach in meine Träume ein Schrei des Entsetzens und der Furcht, dem nach einer Pause trostlose Stimmen und banges, schmerzerfülltes Seufzen folgten. Ich erhob mich von meinem Sitze, öffnete die Tür des
Bibliothekzimmers und fand im Vorraum eine Dienerin, die mir tränenüberströmt verkündete, daß Berenice nicht mehr sei! Am frühen Morgen hatte ein Epilepsieanfall sie heimgesucht. Nun, bei Anbruch der Nacht, waren die Vorbereitungen zur Bestattung beendet, und das Grab erwartete seinen Bewohner. Ich fand mich in der Bibliothek wieder. Allein. Es schien mir, als sei ich eben aus einem verwirrten, aufgeregten Traume erwacht. Ich wußte, daß es Mitternacht war und daß nach Sonnenuntergang Berenice begraben worden war. Doch hatte ich keine bestimmte Vorstellung von dem, was sich in der Zwischenzeit zugetragen. Meine Erinnerung daran war ein Gefühl wie Schrecken, den seine Unbestimmtheit nur grausiger, wie Entsetzen, das seine Gegenstandslosigkeit nur noch gräßlicher machte. Es war eine fürchterliche Stunde meines Lebens, angefüllt mit nebelhaften, unaussprechlichen, scheußlichen Erinnerungen. Ich bemühte mich, die Wirklichkeit zu erkennen, die ihnen zugrunde lag; vergebens! Von Zeit zu Zeit drang der schrille, durchdringende Schrei einer Frauenstimme wie das Gespenst eines verwehten Tones in mein Ohr. Ich hatte eine Tat vollbracht – doch welche? Laut stellte ich mir diese Frage… und das flüsternde Echo des Zimmers antwortete mir: – »doch welche?« Neben mir auf dem Tisch brannte eine Lampe, und ihr zur Seite stand eine kleine Kiste aus Ebenholz. Es war nichts Besonderes an ihr, und ich hatte sie schon oft gesehen, denn sie gehörte unserem Hausarzt. Aber wie kam sie da auf meinen Tisch, und weshalb schauderte ich, als ich sie erblickte? Doch – es war wohl nicht der Mühe wert, darüber nachzudenken! Meine Blicke wandten sich ab und fielen auf ein offenes Buch und eine Sentenz in demselben, die jemand unterstrichen hatte. Es waren die sonderbaren, aber einfachen Worte des Dichters Ebn Zaiat:
»Dicebant mihi sodales, si sepulchrum amicae visitarem, curas mas aliquatulum fore levatas.« Wie kam es, daß sich beim Lesen dieses Satzes mein Haar emporsträubte, daß mein Blut in den Adern erstarrte? Man klopfte leise an die Tür des Bibliothekzimmers, und leichenblaß trat ein Diener auf den Zehenspitzen herein. Seine Blicke waren schreckverwirrt, und er sprach mit leiser, erstickender Stimme. Was sagte er mir? – Ich vernahm nur Bruchstücke. Er sprach von einem gräßlichen Schrei, der das Schweigen der Nacht unterbrochen – sagte, daß die Dienerschaft zusammengelaufen sei und nach der Ursache gesucht habe. Dann wurde seine Stimme schmerzhaft gellend – redete von der Schändung des Grabes – von dem entstellten, aus den Leichentüchern gerissenen Körper, der noch stöhnte, noch pulsierte, noch lebte! Er deutete auf meine Kleider; sie waren mit Kot und Blut beschmutzt. Er sprach nicht, sondern ergriff sanft meine Hand, sie trug die Male menschlicher Nägel. Er richtete meine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, der an der Wand lehnte – es war ein Spaten. Mit einem Schrei stürzte ich zum Tisch und ergriff die Ebenholzkiste. Ich hatte nicht die Kraft, sie zu öffnen, sie glitt aus meiner zitternden Hand, fiel schwer zu Boden und sprang entzwei; mit Gerassel rollten einige zahnärztliche Instrumente heraus und zweiunddreißig kleine, weiße, wie Elfenbein schimmernde Gegenstände, die sich auf dem Fußboden verstreuten…
M. R. James Der Traktat Middoth
An einem Herbstabend stieß ein älterer Herr mit einem spitzen Gesicht und einem grauen sogenannten Piccadilly-Bärtchen die Pendeltür zur Eingangshalle einer berühmten Bibliothek auf und wandte sich an den Angestellten hinterm Empfangsschalter mit der Frage, ob er ein Buch ausleihen könne, er glaube, er sei berechtigt, die Bibliothek zu benutzen. Selbstverständlich könne er es, war die Antwort, falls er eingetragen sei. Er zeigte seine Karte vor – Mr. John Eldred – , der Angestellte schaute nach und sagte, es stimme. »Nun aber etwas anderes!« sagte Mr. Eldred. »Ich war schon lange nicht mehr hier und kenne mich in Ihrer Bibliothek nicht aus. Außerdem geht die Öffnungszeit dem Ende zu, und ich vertrage das schnelle Treppensteigen nicht. Hier habe ich aber den Titel des Buches, das ich möchte. Vielleicht ist gerade jemand frei, der es mir heraussuchen könnte?« Der Angestellte überlegte einen Augenblick und winkte dann einem jungen Mann, der gerade vorbeiging. »Mr. Garrett«, sagte er zu ihm, »haben Sie eine Minute Zeit für diesen Herrn?« – »Gewiß!« antwortete dieser, und Mr. Eldred gab ihm den Zettel mit dem Buchtitel. »Ich glaube, da brauch’ ich nur hinzulangen, ich habe diese Abteilung erst im letzten Quartal durchgesehen. Ich will aber sicherheitshalber schnell im Katalog nachschlagen. Ich vermute, daß Sie diese bestimmte Ausgabe brauchen?« – »Ja, diese und keine andere«, sagte Mr. Eldred. »Ich bin Ihnen überaus verbunden.« – »Keine Ursache, ich bitte Sie, mein Herr!« sagte Mr. Garrett und eilte weg.
Er ging mit seinem Finger die Seiten des Katalogs durch und hielt bei einem bestimmten Eintrag. »Ich dachte es mir«, sagte er zu sich selbst. »Talmud: Traktat Middoth, mit dem Kommentar von Nachmanides, Amsterdam 1707. 11.3.34 Hebräische Abteilung natürlich. Eine einfache Sache!« Mr. Eldred hatte sich inzwischen in der Eingangshalle einen Stuhl genommen und wartete ungeduldig auf die Rückkehr von Mr. Garrett. Seine Enttäuschung war sehr offenkundig, als er diesen nach einiger Zeit mit leeren Händen wieder die Treppe herunterkommen sah. »Es tut mir sehr leid, daß ich sie enttäuschen muß«, sagte der junge Mann, »aber das Buch ist ausgeliehen.« – »Wie dumm!« sagte Mr. Eldred. »Kann nicht vielleicht ein Irrtum vorliegen?« – »Ich glaube kaum, mein Herr, aber wenn Sie eine Minute warten wollen, können Sie den Herrn erwischen, der es entliehen hat. Meines Erachtens muß er die Bibliothek bald verlassen, und ich glaube, ich sah ihn eben dieses Buch aus dem Fach nehmen.« – »Wirklich? Sie kannten ihn wohl nicht? Ich meine, ist es einer der Professoren oder der Studenten gewesen?« – »Ich glaube nicht. Ein Professor auf keinen Fall, denn dann hätte ich ihn gekannt. Allerdings ist das Licht in diesem Teil der Bibliothek nicht sehr gut, zumal um diese Zeit, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich würde sagen, es war ein nicht sehr großer alter Mann, vermutlich ein Geistlicher, nach seinem Umhang zu schließen. Wenn sie warten wollen, kann ich ihn fragen, ob er das Buch dringend braucht.« »Nein, nein!« sagte Mr. Eldred. »Ich will – ich kann jetzt nicht warten. Vielen Dank! Ich muß weg. Aber ich werde morgen nochmals vorbeischauen, wenn es Ihnen recht ist, und vielleicht könnten Sie inzwischen feststellen, wer es entliehen hat.« »Gewiß, mein Herr, und ich werde das Buch für Sie bereitlegen, wenn wir…« Aber Mr. Eldred war schon fort. Er
hatte sich in einer Eile hinwegbegeben, die kaum gesund für ihn sein konnte. Garrett hatte gerade etwas Zeit, und so dachte er: ›Ich will nochmals hinaufgehen, vielleicht treffe ich den alten Mann noch an. Höchstwahrscheinlich macht es ihm nichts aus, wenn er das Buch ein paar Tage später bekommt. Und ich glaube, daß es der andere Herr nicht lange braucht.‹ Als er jedoch in die hebräische Abteilung kam, war niemand mehr dort, und der Band Nummer 11.3.34 war wieder an seinem Platz im Fach. Er war ärgerlich über sich selbst, weil er einen Kunden so grundlos enttäuscht hatte. Am liebsten hätte er das Buch gleich mit hinuntergenommen, so daß es am nächsten Tag für Mr. Eldred bereitlag, aber das war gegen die Vorschrift. Er würde aber am nächsten Morgen aufpassen, und er bat seinen Kollegen in der Eingangshalle, es ihn sofort wissen zu lassen, wenn Mr. Eldred kam. Zufällig war er am nächsten Tag selbst gerade in der Halle, als Mr. Eldred in der Tür erschien. Es war gleich, nachdem die Bibliothek geöffnet worden war und als außer dem Personal noch kaum jemand im Haus war. »Es tut mir außerordentlich leid«, sagte er, »so ein dummer Fehler ist mir noch nie unterlaufen, aber ich bin sicher, daß der alte Herr das Buch herausnahm und es in der Hand hielt, ohne es aufzuschlagen, ganz so, als wollte er es nach Hause ausleihen und nicht nur etwas nachsehen. Nun, ich gehe jetzt sofort hinauf und hole es Ihnen.« Nachdem Garrett weg war, verging einige Zeit. Mr. Eldred schritt auf und ab, las sämtliche Anschläge in der Eingangshalle, schaute auf seine Uhr, setzte sich und blickte die Treppe hinauf und verriet in allem, was er tat, äußerste Ungeduld. Es vergingen fünf Minuten, zehn, fünfzehn, zwanzig – schließlich wandte sich Mr. Eldred an Garretts
Kollegen und fragte ihn, ob die hebräische Abteilung sehr weit weg sei. »Ich wundere mich selbst schon einige Zeit, warum er so lange ausbleibt, mein Herr; er ist sonst sehr flink. Vielleicht hat der Direktor nach ihm geschickt, aber dann hätte er ihm doch bestimmt gesagt, daß Sie auf ihn warten. Ich will versuchen, ihn über die Sprechanlage zu erreichen.« Er fragte nach Garrett, und während er auf die Antwort lauschte, veränderte sich sein Gesicht. Er stellte noch eine oder zwei Fragen, die kurz beantwortet wurden, dann beugte er sich zu Mr. Eldred vor und sagte leise: »Es tut mir leid, mein Herr, es scheint etwas Unangenehmes vorgefallen zu sein. Offensichtlich ist mit Mr. Garrett etwas geschehen. Der Direktor schickte nach einer Droschke und ließ ihn durch einen anderen Ausgang nach Hause bringen.« – »Mein Gott! Wollen Sie damit sagen, daß er von jemand angegriffen und verletzt worden ist?« – »O nein, Herr, mir scheint, er hat einen Anfall erlitten, Übelkeit oder so etwas. Er hat keine sehr feste Konstitution, unser Mr. Garrett, müssen Sie wissen. Was aber Ihr Buch betrifft, Herr – vielleicht könnten Sie sich selbst darum bemühen? Es wäre doch zu schade, wenn sie zum zweitenmal umsonst gekommen wären.« – »Nein, nein, es tut mir vor allem leid, daß Mr. Garrett das passierte, während er sich meiner so zuvorkommend annahm. Ich will das Buch jetzt lieber sein lassen und mich gleich nach Mr. Garretts Befinden erkundigen. Sie können mir doch sicher seine Adresse geben?« Er erhielt sie: Mr. Garrett wohnte anscheinend nicht weit vom Bahnhof. »Und noch eine Frage: Vielleicht können Sie mir sagen, ob gestern ein alter Herr, möglicherweise ein Geistlicher, in – ja, in einem schwarzen Umhang nach mir die Bibliothek verließ? Ich möchte fast annehmen, daß er – das heißt, es könnte sein, er hält sich noch – oder vielmehr, ich kenne ihn vielleicht.«
»In einem schwarzen Umhang? Nein! Da waren nur noch zwei Herren, die nach Ihnen gingen, beide übrigens noch jünger. Der eine war Mr. Carter, der irgendein Buch über Musik mitnahm, der andere ein Professor, der ein paar Romane entlieh. Sonst weiß ich niemanden. Nach den beiden ging auch ich und schaute, daß ich zu meinem Tee nach Hause kam. Oh, vielen Dank, mein Herr, recht vielen Dank!« Mr. Eldred, immer noch seltsam erregt, nahm eine Droschke und begab sich zu Mr. Garretts Adresse, doch war der junge Mann noch nicht in der Verfassung, um Besuche empfangen zu können. Zwar ging es ihm schon etwas besser, doch meinte seine Wirtin, daß er einen ernsten Schock erlitten haben müsse. Nach dem, was der Doktor gesagt habe, glaube sie, daß man morgen Mr. Garrett wieder besuchen könne. – Es dämmerte schon, als Mr. Eldred in sein Hotel zurückkehrte, wo er eine sehr unruhige Nacht verbrachte. Am nächsten Tag konnte er Mr. Garrett sehen. Solange dieser gesund war, war er ein fröhlicher, gutaussehender Mann; jetzt saß er blaß und zittrig, von Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl beim Feuer, fröstelnd und darauf sehend, daß die Tür geschlossen blieb. Er hatte aber Mr. Eldred offensichtlich erwartet. »Nicht Sie müssen sich bei mir, sondern ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er, »und ich fürchtete schon, das werde mir unmöglich sein, da ich ja Ihre Adresse nicht kannte. Ich bin sehr froh, daß Sie mich besuchen. Es ärgert mich und tut mir leid, daß ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten mache, aber ich konnte wirklich nicht vorhersehen, was mir passieren würde.« »Natürlich nicht! Übrigens, ich bin selbst in der Medizin etwas bewandert – gewiß sind Sie in bester Behandlung, aber Sie entschuldigen, wenn ich Sie frage: Sind Sie gestürzt?« »Nein! Ich fiel zwar auf den Boden, aber nicht von irgendwo herab. Es war ein Schock.«
»Sie meinen wohl, daß Sie irgend etwas erschreckt habe. War es etwas, was Sie zu sehen glaubten?« »Warum sagen Sie ›glaubten‹? Ja, es war etwas, was ich sah. Sie erinnern sich doch gewiß daran, wie Sie zum erstenmal in die Bibliothek kamen?« »O ja, natürlich! Aber ich möchte Sie bitten, mir Ihr Erlebnis jetzt nicht zu beschreiben, ich bin sicher, die Erinnerung daran würde Ihnen schaden.« »Aber gewiß nicht, im Gegenteil! Es wird mich erleichtern, wenn ich es jemandem wie Ihnen erzählen kann: Sie wissen vielleicht eine Erklärung dafür. Gerade als ich in die Abteilung ging, wo Ihr Buch ist…« »Wirklich, Mr. Garrett, ich muß darauf bestehen… Außerdem habe ich höchste Zeit, wie ich gerade sehe, daß ich mich verabschiede. Ich muß zum Zug und vorher noch meine Sachen packen. Nein – kein Wort mehr! Es würde Sie mehr quälen, als Sie glauben! Aber etwas wollte ich noch sagen. Ich fühle mich mittelbar für Ihre Krankheit verantwortlich, und ich glaube, ich sollte zumindest für die Kosten aufkommen, die Ihnen durch sie entstehen werden.« Natürlich lehnte Garrett dieses Angebot sehr bestimmt ab, und Mr. Eldred, der große Eile hatte, wegzukommen, versteifte sich nicht darauf. Bevor er ging, gab ihm Garrett noch die Katalognummer des Traktats Middoth und sagte, er könne sich das Buch leicht selbst besorgen. Mr. Eldred erschien jedoch nicht mehr in der Bibliothek. Garrett bekam an diesem Tag noch einen Besuch in der Person eines gleichaltrigen Kollegen aus der Bibliothek. Er hieß George Earle und gehörte zu denen, die Garrett in dem Raum der hebräischen Abteilung (der am Mittelgang einer weiten Galerie lag) bewußtlos am Boden liegen fanden. Er war natürlich besorgt über das Befinden seines Freundes, und sobald die Bibliothek geschlossen hatte, machte er sich zu ihm
auf den Weg. Nachdem er sich erkundigt hatte, wie es ihm ging, sagte er: »Nun, ich weiß zwar nicht, was bei dir schuld war, aber ich glaube, es ist mit der Luft in der Bibliothek etwas nicht in Ordnung. Kurz bevor wir dich fanden, ging ich mit Davis die Galerie entlang, und ich sagte zu ihm: ›Gibt es irgendwo einen solch modrigen Geruch wie hier? Da muß man ja krank werden.‹ Nun, und wenn man längere Zeit in einer solchen Luft lebt (und ich sage dir, es war schlimmer, als ich mich je erinnern kann), so muß sie doch im Körper Schaden anrichten, und das muß sich eines Tages auswirken, wie bei dir.« Garrett schüttelte den Kopf. »Das mit dem Geruch mag schon stimmen, aber er ist nicht immer da. Ich habe ihn zwar die letzten paar Tage auch bemerkt – ein ungewöhnlich starker Geruch nach Staub, aber bei mir war es etwas anderes, etwas, was ich gesehen habe. Ich muß es dir erzählen! Ich ging in die hebräische Abteilung, um ein Buch für einen Herrn herauszusuchen, der unten danach gefragt hatte. Mit demselben Buch war mir am Tag vorher bereits ein Mißgeschick passiert: Ich wollte es gerade holen (übrigens für denselben Herrn), als ich sah, wie ein alter Pfarrer in einem Umhang es aus dem Fach nahm. Ich sagte dem Herrn unten, daß es ausgeliehen sei. Er ging, wollte aber am nächsten Tag nochmals kommen. Ich eilte deshalb in die Abteilung zurück, um zu sehen, ob ich es nicht von dem Pfarrer bekommen konnte. Doch war weit und breit kein Pfarrer mehr. Dafür stand das Buch wieder im Fach. Gestern, wie gesagt, ging ich nochmals hinauf. Es war gegen zehn Uhr morgens, und diesmal war es so hell, wie es in dieser Abteilung nur sein kann. Und stell dir vor, genau vor dem Fach, zu dem ich wollte, stand – mit dem Rücken zu mir – mein Pfarrer wieder da! Da er seinen Hut auf den Tisch gelegt hatte, sah ich diesmal, daß er eine Glatze hatte. Ich wartete einen Augenblick
oder zwei und schaute zu ihm hinüber. Ich kann dir sagen, seine Glatze war geradezu widerlich. Sie schien mir wie ausgetrocknet, staubig, und die paar Haarsträhnen weniger wie Haar denn wie Spinnweben. Nun, ich verursachte absichtlich ein Geräusch, hustete und machte ein paar Schritte, bis er sich umdrehte und mir sein Gesicht zeigte (das ich noch nicht gesehen hatte), oder jedenfalls dessen oberen Teil, denn aus irgendeinem Grund konnte ich von dem unteren nichts erkennen. Ich sage dir, ich habe mich nicht getäuscht: es war völlig vertrocknet, und die Augen ganz tief eingesunken, und über ihnen, von den Augenbrauen bis zu den Backenknochen, waren dicke Spinnweben. Das war zu viel für mich. Was weiter geschah, weiß ich nicht.« Es kann uns ziemlich gleichgültig sein, was für eine Erklärung Earle für diese Erscheinung fand. Sie konnte jedenfalls Garrett nicht davon überzeugen, daß er das gar nicht gesehen habe, was er gesehen hatte. Der Bibliotheksdirektor bestand darauf, daß Garrett eine Woche ausspanne, bevor er seinen Dienst wieder antrete. Eine Luftveränderung, meinte er, würde ihm gut tun, und so stand Garrett ein paar Tage später mit dem Koffer auf dem Bahnhof, um nach Burnstow am Meer zu fahren, das er noch nicht kannte. Er hielt Ausschau nach einem leeren Raucherabteil und glaubte schon, eines gefunden zu haben, als er vor dessen Tür eine Gestalt bemerkte, die ihn so sehr an eine andere, mit jüngst gemachten unangenehmen Erfahrungen verknüpfte Gestalt erinnerte, daß er, von einer plötzlichen Schwäche und Übelkeit befallen und ohne recht zu wissen, was er tat, die Tür des nächsten Abteils aufriß und sich hineinwarf, als sei ihm der Tod selbst auf den Fersen. Gleich darauf fuhr der Zug ab. Garrett mußte bewußtlos geworden sein, denn das nächste, woran er sich später erinnerte, war ein Riechfläschchen, das man ihm unter die Nase hielt. Die sich so um ihn bemühte, war
eine liebenswürdige alte Dame. Außer ihr und ihrer Tochter war niemand in dem Abteil. Wäre dieser Vorfall nicht gewesen, er wäre mit seinen Mitreisenden wohl kaum näher ins Gespräch gekommen. So aber war es geradezu unvermeidlich, nachdem er sich bedankt und die Damen sich nach seinem Befinden erkundigt hatten. Am Ende der Reise hatte Garrett in seinem Erholungsort bereits eine Wirtin, denn es stellte sich heraus, daß Mrs. Simpson in Burnstow Zimmer vermietete, die Garretts Ansprüchen gerade gerecht wurden. Da zu dieser Jahreszeit in Burnstow nicht viel los war, so hielt sich Garrett ziemlich an die Mutter und ihre Tochter. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft recht wohl. Am dritten Abend seines Aufenthaltes war ihre Bekanntschaft bereits so weit gediehen, daß er in das private Wohnzimmer seiner Wirtin eingeladen wurde. Während der Unterhaltung ergab es sich, daß Garrett seinen Beruf nannte. »Oh, ich finde es schön in Bibliotheken«, sagte Mrs. Simpson und legte seufzend ihre Arbeit nieder, »obwohl ich sagen muß, daß ausgerechnet ein Buch in meinem Leben eine traurige Rolle spielt.« »Nun, Mrs. Simpson, Bücher gewähren mir meinen Lebensunterhalt, und so kann ich unmöglich etwas gegen sie sagen. Es tut mir leid, wenn Sie Schlechtes durch sie erfahren haben.« »Vielleicht könnte uns Mr. Garrett helfen, unser Rätsel zu lösen, Mutter«, sagte Miss Simpson. »Ich möchte Mr. Garrett nicht mit Nachforschungen beschäftigen, die ihn sein ganzes Leben in Anspruch nehmen könnten, meine Liebe. Überhaupt können wir ihn nicht mit unsern privaten Angelegenheiten belästigen.« »Wenn Sie glauben, daß ich Ihnen irgendwie nützlich sein kann, so möchte ich Sie bitten, daß Sie mir verraten, worum es geht, Mrs. Simpson. Gilt es, etwas über ein Buch
herauszufinden, so stehen mir dafür die besten Möglichkeiten zur Verfügung.« »O ja, das seh ich ein, aber das Schlimme ist, daß wir den Titel des Buches gar nicht kennen.« »Wissen Sie auch über den Inhalt nichts?« »Nein, auch nicht!« »Wir vermuten nur, daß es nicht in Englisch geschrieben ist, nicht wahr, Mutter? Aber das hilft uns natürlich so gut wie nichts.« »Nun, Mr. Garrett«, sagte Mrs. Simpson, die ihre Arbeit noch nicht wieder aufgenommen hatte und nachdenklich ins Feuer blickte, »ich will Ihnen die Geschichte erzählen. Aber, bitte, behalten Sie sie für sich! Vielen Dank! Also, es handelt sich um folgendes: Ich hatte einen Onkel, Dr. Rant – vielleicht haben Sie schon von ihm gehört? Nicht, daß er ein bedeutender Mann gewesen wäre, ich meine vielmehr, wegen der seltsamen Art des Begräbnisses, das er sich wählte.« »Ich glaube, ich habe den Namen mal in irgendeinem Führer gelesen.« »Das ist er«, sagte Miss Simpson. »Dieser schreckliche alte Mann hinterließ die Anweisung, daß man ihn, in seinen gewöhnlichen Kleidern an einem Tisch sitzend, in einem aus Ziegelwänden errichteten Raum begrabe, den er auf einem Feld in der Nähe seines Hauses unter der Erde hatte anlegen lassen. Natürlich sagen die Leute dort auf dem Land, daß sie ihn in seinem alten schwarzen Umhang schon herumgeistern gesehen hätten.« »Nun, meine Liebe, darüber weiß ich nicht viel«, fuhr Mrs. Simpson fort, »er ist jedenfalls seit über zwanzig Jahren tot. Er war Geistlicher – obwohl ich mir wirklich nicht vorstellen kann, wie er das wurde – , aber er hat lange vor seinem Tod schon kein Amt mehr versehen, und daran tat er meines Erachtens recht. Er lebte von seinem eigenen Besitz: einem
sehr schönen Gut nicht sehr weit von hier. Er war nicht verheiratet und hatte keine Familie, nur eine Nichte, das war ich, und einen Neffen. Er mochte im Grunde keinen von uns beiden, geschweige denn sonst jemanden in der Welt. Allenfalls, daß er meinen Cousin noch eher mochte als mich, denn dieser ähnelte ihm mehr in seiner Art, vor allem, wie ich sagen muß, in seinem Geiz und in seiner Rücksichtslosigkeit. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich nicht geheiratet hätte: denn daß ich es tat, hat er mir sehr übel genommen. Nun, er hatte also dieses Gut und außerdem noch eine Menge Geld, wie sich herausstellte, über das er völlig frei verfügen konnte, und es schien selbstverständlich, daß wir – mein Cousin und ich – ihn nach seinem Tod je zur Hälfte beerben würden. Es ist nun, wie gesagt, über zwanzig Jahre her, daß er während eines Winters plötzlich krank wurde. Man schrieb mir, damit ich kam und ihn pflegte. Mein Mann lebte damals noch, aber der Kranke wollte nichts davon wissen, daß er mitkam. Als ich vor dem Haus ankam, fuhr mein Cousin John gerade in einem offenen Einspänner weg, und zwar, wie mir auffiel, in der allerbesten Laune. Ich tat für meinen Onkel, was ich konnte, aber mir wurde sehr bald klar, daß dies seine letzte Krankheit sein würde. Auch er wußte, wie es um ihn stand. Am Tag bevor er starb, mußte ich ständig an seinem Bett sitzen, und ich merkte, daß er etwas auf dem Herzen hatte, wahrscheinlich etwas Unangenehmes, das er mir noch zu sagen hatte. Er wollte aber wohl – wie mir schien, absichtlich, um meine Spannung zu erhöhen – die Eröffnung so lange hinausschieben, wie es ihm seine nachlassenden Kräfte erlaubten. Schließlich kam es heraus. ›Mary‹, sagte er, ›ich habe mein Testament zugunsten von John gemacht: Er bekommt alles.‹ Nun, das war natürlich ein schwerer Schlag für mich, zumal wir nicht reich waren, und ich überzeugt war, daß es das Leben meines Mannes verlängern würde, wenn er
es sich etwas leichter machen könnte. Zu meinem Onkel sagte ich aber weiter nichts, als daß es sein gutes Recht sei, das zu tun, was ihm beliebte, und zwar teils, weil ich nicht recht wußte, was ich sagen sollte, und teils, weil ich vermutete, daß noch etwas kommen würde. Ich hatte richtig vermutet: ›Aber, Mary‹, sagte er, ›mir liegt eigentlich gar nichts an John, und so habe ich noch ein zweites Testament zu deinen Gunsten gemacht. Du kannst alles bekommen – wenn du dieses Testament findest, denn ich werde dir nicht sagen, wo es ist.‹ Er kicherte in sich hinein, und ich schwieg, da ich wieder vermutete, daß er noch nicht am Ende sei. ›Nun, du bist ein vernünftiges Mädchen‹, fuhr er nach einiger Zeit fort, ›und ich will dir genau so viel sagen, wie ich John sagte. Übrigens muß ich dich darauf hinweisen, daß dir das, was du von mir erfährst, vor Gericht gar nichts nützt, denn du kannst keinen Beweis dafür erbringen, und John ist ein Mann, der auch mal einen Meineid auf sich nimmt, wenn es nötig ist. Darüber brauchen wir also nicht zu sprechen. Nun hatte ich den Einfall, dieses Testament nicht in der üblichen Art aufzusetzen, ich schrieb es vielmehr in ein Buch, ein gedrucktes Buch. Allerdings gibt es in diesem Haus mehrere tausend Bücher, aber die brauchen dich nicht zu bekümmern, denn es ist keines von ihnen. Es wird woanders verwahrt: nämlich an einem Ort, den John zwar auch nicht kennt, zu dem er aber – im Gegensatz zu dir – jederzeit Zutritt hat, so daß er es nur herauszusuchen bräuchte. Das Testament ist völlig in Ordnung: es ist von mir und zwei Zeugen eigenhändig unterzeichnet – doch glaube nicht, du könntest vielleicht die Zeugen ausfindig machen.‹ Ich sagte immer noch nichts. Hätte ich irgendwie auf das Gesagte reagieren wollen, ich hätte den teuflischen Alten packen und schütteln müssen. Er lag da und lachte in sich hinein und sagte schließlich: ›Nun, du hast es sehr ruhig aufgenommen, und da ich möchte, daß ihr beide dieselben
Chancen habt, John aber etwas im Vorteil ist, so will ich dir noch zwei Dinge sagen, die ich ihm nicht sagte. Das Testament ist in Englisch abgefaßt, aber du würdest es nicht erkennen, wenn du es sähest. Das ist das eine, und das andere: Wenn ich gestorben bin, wirst du in meinem Schreibtisch einen Umschlag mit deinem Namen darauf finden und darin etwas, das dir bei der Suche nach dem Testament helfen kann, wenn du nur etwas damit anzufangen weißt.‹ – Ein paar Stunden später war er tot, und obwohl ich mich wegen der Sache an John Eldred wandte…« »John Eldred? Entschuldigen Sie, Mrs. Simpson, ich glaube, ich bin schon einmal einem John Eldred begegnet. Darf ich fragen, wie er aussieht?« »Ich glaube, ich habe ihn schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Er muß jetzt ein älterer Herr sein, ziemlich hager, und wenn er ihn inzwischen nicht wegrasiert hat, so trägt er einen Bart von der Art, wie ihn die Leute – ja, wie nennen ihn die Leute? Ich glaube Dundreary- oder Piccadilly-Bart.« »Einen Piccadillybart? O ja, dann ist er’s!« »Wo sind Sie mit ihm zusammengekommen, Mr. Garrett?« »Ich könnte es Ihnen gerade gar nicht sagen«, log Garret, »an irgendeinem öffentlichen Ort. Aber Sie haben nicht zu Ende erzählt!« »Oh, es gibt da nicht mehr viel zu erzählen. Natürlich hat John Eldred auf meinen Brief überhaupt nicht reagiert. Das Gut gehört ihm, während meine Tochter und ich hier diese Pension führen müssen, um leben zu können, wobei ich sagen muß, daß diese Tätigkeit durchaus auch ihre schönen Seiten hat, was ich ursprünglich nicht zu hoffen wagte.« »Was aber war in dem Umschlag?«
»Ja, freilich! Nun, das ist eben unser Rätsel, das wir nicht lösen können. Gib doch Mr. Garrett den Zettel aus meinem Schreibtisch!« Es war ein kleiner Zettel, auf dem nichts weiter stand als eine Zahl mit fünf Ziffern, die weder durch ein Komma noch sonstwie getrennt waren: 11334. Mr Garrett überlegte, aber in seinen Augen funkelte es. Plötzlich verzog er das Gesicht und fragte: »Glauben Sie, daß Mr. Eldred einen Anhaltspunkt dafür besitzt, wie der Titel des Buches lautet?« »Ja, ich habe mir manchmal gedacht, daß er einen haben muß«, sagte Mrs. Simpson, »und zwar aus folgendem Grund: Mein Onkel muß das Testament kurz vor seinem Tod gemacht haben (wenn ich mich recht erinnere, sagte er das selbst), und unmittelbar darauf scheint er sich des Buches entledigt zu haben. Nun waren aber alle seine Bücher sorgfältig katalogisiert, und John hat den Katalog, und überdies hat er immer darauf gesehen, daß kein Buch außer Haus kam. Und ich habe gehört, daß er ständig herumreist und Buchhändler und Bibliotheken aufsucht. So vermute ich, daß er herausgefunden hat, welche der Bücher meines Onkels fehlen, obwohl sie im Katalog aufgeführt sind, und daß er nach ihnen sucht.« »Ganz richtig, so muß es sein«, sagte Mr. Garrett und verfiel in Nachdenken. Am nächsten Tag teilte er Mrs. Simpson mit, er habe einen Brief erhalten, der ihn zwinge, seinen Aufenthalt in Burnstow sofort abzubrechen. Er bedauerte es, daß er abreisen mußte (und Mrs. und Miss Simpson tat es mindestens ebenso leid, daß er sie so schnell verließ), aber er fühlte, daß die Angelegenheit von Mrs. Simpson einem für sie (und sollen wir hinzufügen, auch für ihre Tochter?) bedeutsamen Höhepunkt zustrebte.
Im Zug war Garret aufgeregt und voller Unruhe. Er zerbrach sich den Kopf darüber, ob die Katalognummer des Buches, nach dem Mr. Eldred gefragt hatte, etwas mit der Zahl auf Mrs. Simpsons Zettel zu tun hatte. Aber zu seiner Bestürzung mußte er feststellen, daß der Schock in der vergangenen Woche in ihm jede Erinnerung an den Titel oder die Art des Buches ausgelöscht hatte, ja daß er nicht einmal mehr wußte, in welcher Abteilung er es gesucht hatte, obwohl er die Einteilung der ganzen Bibliothek und alles, was sonst mit seiner Arbeit zusammenhing, genau im Kopf hatte. Dazu kam noch etwas – er stampfte vor Ärger mit dem Fuß, als er daran dachte –: Er hatte zuerst gezögert und dann darauf vergessen, Mrs. Simpson nach der Adresse von Mr. Eldred zu fragen. Doch tröstete er sich damit, daß er Mrs. Simpson ja schreiben konnte. Immerhin war die Zahl auf dem Zettel ein Anhaltspunkt. Wenn sie sich auf eine Katalognummer in seiner Bibliothek bezog, so ließ sie nur wenige Möglichkeiten offen. Es konnte sich dann nur um die Nummern 1.13.34 oder 11.13.4 oder 11.3.34 handeln, die er innerhalb von ein paar Minuten nachschlagen konnte. Sollte eines dieser Bücher nicht im Fach sein, ließ sich sein Verbleib leicht feststellen. – Nachdem er seiner Wirtin und seinen Kollegen möglichst rasch seine vorzeitige Rückkehr erklärt hatte, machte er sich sogleich an die Arbeit. 1.13.34 war da, enthielt jedoch nichts außer dem Buchtext. Als er sich der Abteilung 11 auf derselben Galerie näherte, überkam ihn die Erinnerung wie ein Frostschauer. Aber er durfte jetzt nicht zurück. Nach kurzer Prüfung von 11.33.4 (auf das er zuerst stieß und das ein ganz neues Buch war) ließ er seinen Blick über die Reihe von Bänden gleiten, die das Fach 11.3 füllten. Und hier war, wie er schon befürchtet hatte, eine Lücke: 34 fehlte. Ein Augenblick genügte ihm, um sich zu vergewissern, daß es nicht falsch eingestellt war, dann eilte er zur Eingangshalle hinunter.
»Ist 11.3.34 ausgeliehen worden? Erinnern Sie sich an die Nummer?« »Ob ich mich an die Nummer erinnere? Wie stellen Sie sich das vor, Mr. Garrett? Da, sehen Sie selber die Ausleihzettel durch, wenn Sie heute sonst nichts zu tun haben!« »Oder hat ein Mr. Eldred noch einmal vorgesprochen? Sie wissen doch, der alte Herr, der an dem Tag kam, an dem ich krank wurde!« »Wofür halten Sie mich? Natürlich erinnere ich mich an ihn. Nein, er ist nicht mehr dagewesen, seit Sie in Urlaub fuhren. Aber ich glaube – ja, Roberts muß es wissen! Roberts, erinnerst du dich an den Namen Eldred?« »Ich weiß nicht recht«, sagte Roberts, »meinst du den, der für das Paket einen Schilling mehr schickte, als das Porto ausmacht? Das wenn alle täten!« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie Mr. Eldred Bücher geschickt haben? Reden Sie! Haben Sie ihm Bücher geschickt?« »Nun, nun, Mr. Garrett, wenn ein Herr den Ausleihzettel ordentlich ausgefüllt einsendet, und der Sekretär sagt, daß das Buch ausgeliehen werden kann, und auch eine Schachtel mit der Adresse darauf gleich mitgeschickt wird und das Geld fürs Porto, was würden Sie dann tun, Mr. Garrett, wenn ich fragen darf? Hätten Sie dann dem Herrn nicht auch den Gefallen getan? Oder hätten Sie einfach alles in den Papierkorb geworfen und…« »Nein, Sie haben ja völlig richtig gehandelt, Hodgson, es ist alles in Ordnung! Nur seien Sie doch so gut und zeigen Sie mir den Schein, den Mr. Eldred einsandte, und sagen Sie mir seine Adresse!« »Gewiß, Mr. Garrett, Sie können alles von mir verlangen, wenn Sie nur nicht so mit mir herumspringen und mir sagen,
ich kenne meine Pflicht nicht. Der Schein muß unter diesem Stoß hier sein. Da: J. Eldred, 11.3.34 – Titel des Buches: T-a-l-m… – ach was, da haben Sie ihn! Kein Roman, würde ich sagen! Und da haben Sie auch Mr. Eldreds Brief.« »Oh, vielen Dank!« »Aber die Adresse? Sie ist nirgends angegeben!« »Ja, allerdings… warten Sie, Mr. Garrett, ich weiß schon! Die Schachtel war ja schon adressiert, damit wir sie nur mit dem Buch zurückzuschicken brauchten und weiters keine Mühe damit hatten, und wenn ich bei dem ganzen Geschäft einen Fehler machte, so den, daß ich versäumt habe, die Adresse in mein Büchlein hier einzutragen. Ich hatte aber meine Gründe dafür, über die ich mich jetzt nur nicht auslassen kann, denn ich hab’ gerade keine Zeit, und Sie wahrscheinlich auch nicht. Im Kopf hab’ ich die Adresse natürlich nicht, denn dann bräuchte ich ja dieses Büchlein nicht – ein ganz gewöhnliches Notizbüchlein, wie Sie sehen, in das ich immer dann Namen und Adresse eintrage, wenn ich es für angebracht halte.« »Zweifellos eine bewundernswerte Einrichtung, nur… – nun ja, es ist gut, ich danke Ihnen! Wann wurde das Paket weggeschickt?« »Heute vormittag um halb elf.« »Gut! Und jetzt ist es ein Uhr.« Garrett ging nachdenklich die Treppe hinauf. Wie bekam er jetzt die Adresse? Ein Telegramm an Mrs. Simpson? Während er auf die Antwort wartete, würde er wahrscheinlich den nächsten Zug verpassen. Aber es gab noch einen anderen Weg! Sie hatte gesagt, daß Eldred auf dem Gut lebte, daß er von seinem Onkel geerbt hatte. Dann mußte der Ort im Schenkungsbuch zu finden sein. Das konnte er schnell durchgehen, da er ja den Titel des Buches jetzt wußte. Er holte es sich und schlug es bei 1870 auf, da er wußte, daß der Onkel
vor etwas mehr als zwanzig Jahren gestorben war. (Um sicher zu gehen, gab er noch ein paar Jahre zu.) Es kam nur ein Eintrag in Frage: »14. August 1875 – Talmud: Tractatus Middoth cum comm. R. Nachmanidae. Amstelod, 1707. Schenkung von Dr. J. Rant, Bretfield Manor.« In einem geographischen Lexikon fand er, daß Bretfield drei Meilen von einer kleinen Station an der Hauptlinie entfernt war. Nun war nur noch Hodgson zu fragen, ob auf dem Paket als Ort Bretfield angegeben war. »Nein, er hieß anders! Jetzt, da Sie es sagen, erinnere ich mich: es war entweder Bredfield oder Britfield, aber bestimmt nicht so, wie Sie sagten.« So weit war also alles klar. Jetzt das Kursbuch! Ein Zug ging in zwanzig Minuten. Er brauchte etwa zwei Stunden bis zu der Station. Es war die einzige Möglichkeit, er durfte ihn nicht versäumen. Garrett eilte zum Bahnhof. War er schon auf der Fahrt am Morgen ziemlich nervös gewesen, so war er nun noch viel erregter. Was sollte er Eldred sagen, wenn er ihn antraf? Es habe sich herausgestellt, daß das Buch eine kostbare Rarität sei, und man müsse es deshalb zurückfordern? Eine offenkundige Lüge! Oder: Man glaube, daß es mit wichtigen handschriftlichen Anmerkungen versehen sei? Eldred würde ihm natürlich das Buch zeigen, aber er würde das Blatt, auf das es ankam, bereits herausgeschnitten haben. Vielleicht wären noch entsprechende Spuren zu erkennen, etwa der Rand eines herausgerissenen Vorsatzblattes, aber wer könnte Eldred widerlegen, wenn er sagte, er habe die Beschädigung auch schon bemerkt, zu seinem eigenen Bedauern, sie stamme jedoch nicht von ihm? Alles in allem erschien die Jagd nach dem Testament ziemlich aussichtslos. Er hatte nur eine Hoffnung: Das Buch hatte die Bibliothek um halb elf verlassen, und vielleicht war es nicht gleich mit dem nächsten Zug um 11.20 Uhr weggekommen. In
diesem Fall hätte er Glück gehabt, denn dann würde er gleichzeitig mit ihm ankommen, und er könnte irgendeine Geschichte erfinden, um Eldred zur Rückgabe zu bewegen. Es dämmerte bereits, als er auf der kleinen Station ausstieg. Wie auf den meisten Bahnhöfen auf dem Land, herrschte auch auf diesem eine Ruhe, die Garrett geradezu unnatürlich anmutete. Er wartete, bis die ein oder zwei Reisenden, die mit ihm ausgestiegen waren, sich entfernt hatten, und fragte dann den Bahnhofsvorsteher, ob es hier in der Nähe einen Mr. Eldred gebe. »Gewiß, und ich glaube sogar, ziemlich in der Nähe, denn er wird wahrscheinlich hierherkommen wegen eines Pakets, das er erwartet. Er hat heute schon mal danach gefragt, nicht wahr, Bob?« fragte er den Packträger. »Jawohl, und er tat so, als sei allein ich schuld, daß es mit dem Zwei-Uhr-Zug nicht gekommen ist. Nun, jetzt hab ich es, wenn er kommt«, sagte Bob und schwenkte ein kleines Paket. Ein Blick überzeugte Garrett, daß es das enthielt, was ihn im Augenblick allein interessierte. »Bretfield, mein Herr? Ja, etwa drei Meilen von hier. Wenn Sie über die drei Felder dort gehen, sparen Sie sich eine halbe Meile. Da kommt übrigens Mr. Eldreds Wagen.« Ein leichter zweirädriger Wagen fuhr vor, von deren beiden Insassen Garret einen ohne Mühe wiedererkannte, als er, den Bahnhofsvorplatz überquerend, kurz zurückblickte. Daß Eldred mit dem Wagen hier war, war für ihn von Vorteil, denn er würde das Paket höchstwahrscheinlich nicht in Gegenwart seines Bediensteten öffnen. Andrerseits würde er mit dem Wagen schnell wieder zu Hause sein, und Garrett durfte höchstens eine oder zwei Minuten später ankommen, wenn er etwas erreichen wollte. Er mußte sich also beeilen, und er tat es. Sein Weg bildete die eine Seite eines Dreiecks, deren beiden anderen der Wagen auszufahren hatte. Außerdem
wurde Eldred an der Station etwas aufgehalten, so daß Garrett bereits über das letzte der drei Felder schritt, als er ziemlich nahe die Räder des Wagens hörte. Er hatte sich beeilt, so sehr er nur konnte, aber bei dem Tempo des Wagens schwand ihm alle Hoffnung. Eldred mußte so das Haus zehn Minuten vor ihm erreichen, und zehn Minuten waren mehr als genug, um auszuführen, was Eldred vorhatte. In diesem Augenblick begann ihm das Glück zu lächeln. Der Abend war still, jeder Laut deutlich zu hören, und selten schuf ein Geräusch jemandem mehr Erleichterung als jenes, das Garrett jetzt hörte: der Wagen, seinem Blick gerade entzogen, hielt an. Ein paar Worte wurden ausgetauscht, dann fuhr er wieder weiter. Garrett war in höchster Erregung stehengeblieben. Als der Wagen an dem Zauntritt vorbeikam, hinter dem er stand, sah er nur noch den Bediensteten darin. Kurz darauf bemerkte er Eldred, der zu Fuß folgte. Er trat hinter die Hecke neben dem Zauntritt, der unmittelbar auf die Straße hinausführte, und beobachtete die magere, sehnige Gestalt mit dem Paket unterm Arm. Eldred schien in seinen Taschen etwas zu suchen, und gerade als er an Garret vorbeieilte, fiel aus einer Tasche etwas ins Gras, jedoch so geräuschlos, daß er es nicht bemerkte. Einen Augenblick später trat Garrett auf die Straße hinaus (Eldred konnte ihn nicht mehr sehen) und hob – eine Schachtel Streichhölzer auf. Dann folgte er Eldred, der im Weitergehen mit den Armen seltsame, hastige Bewegungen vollführte. Sie waren im Schatten der Bäume, deren Äste über die Straße hingen, schwer zu deuten, aber Garrett fand bald an verschiedenen Stellen den Schlüssel dazu: ein Stück Schnur zuerst, dann Packpapier, das Eldred über die Hecke hatte werfen wollen, aber darin hängengeblieben war. Eldred ging jetzt etwas langsamer, und man konnte sehen, daß er das Buch aufgeschlagen hatte und darin blätterte. Schließlich blieb er stehen, offensichtlich
machte ihm die Dämmerung zu schaffen. Garrett trat in eine Einfahrt, behielt aber Eldred im Auge, der sich nun, hastig um sich blickend, auf einen Baumstumpf am Straßenrand setzte und sich ganz dicht über das geöffnete Buch beugte. Plötzlich legte er es, immer noch aufgeschlagen, auf sein Knie und suchte in seinen sämtlichen Taschen herum, jedoch vergeblich, was ihn offensichtlich sehr ärgerte. »Jetzt wärst du froh um deine Zündhölzer«, dachte Garrett. Dann begann Eldred eines der Blätter aus dem Buch herauszureißen. In diesem Augenblick geschah zweierlei. Zuerst schien etwas Schwarzes auf das weiße Blatt zu fallen und daran herunterzugleiten, und dann, als Eldred zurückschrak und sich umwandte, um hinter sich zu sehen, schien eine kleine dunkle Gestalt aus dem Schatten hinter dem Baumstumpf heraufzusteigen, und zwei schwarze Arme legten sich über Eldreds Gesicht und bedeckten seinen Kopf und seinen Hals. Er schlug wild mit Armen und Beinen umher, gab jedoch keinen Laut von sich. Im nächsten Augenblick lag er bewegungslos im Gras hinter dem Baumstumpf. Er war allein. Das Buch war auf die Straße gefallen. Garrett hatte über dem schrecklichen Kampf allen Ärger und alles Mißtrauen vergessen, er stürzte nun mit lauten Hilferufen aus seinem Versteck. Im selben Augenblick tauchte zu seiner großen Erleichterung auf dem Feld gegenüber ein Arbeiter auf, der gleichfalls um Hilfe rief. Gemeinsam beugten sie sich über Eldred und versuchten ihn vergebens aufzurichten. Es gab keinen Zweifel darüber, daß er tot war. »Armer Mann!« sagte Garrett, als sie ihn wieder niederlegten. »Was glauben Sie, ist mit ihm geschehen?« – »Ich war keine zweihundert Yard entfernt, da sehe ich Squire Eldred hier sitzen und in dem Buch lesen. Wenn Sie mich fragen, so muß es irgendein Anfall gewesen sein. Sein Gesicht sah auf einmal ganz schwarz aus.«
»Ja, so schien es mir auch«, sagte Garrett. »Aber haben Sie niemanden bei ihm gesehen? Vielleicht ist er angegriffen worden?« »Unmöglich! Niemand hätte sich davonmachen können, ohne daß einer von uns ihn gesehen hätte.« »Der Ansicht bin ich auch. Nun, wir müssen Hilfe herbeirufen, vor allem den Doktor und die Polizei. Der geb’ ich dann am besten dieses Buch.« Man war sich einig, daß hier ein Fall für eine gerichtliche Untersuchung vorlag. Garrett mußte als Zeuge in Bretfield bleiben. Die medizinische Untersuchung ergab als Todesursache einen Herzanfall, nicht Erstickung, wenn sich auch auf dem Gesicht und im Mund des Toten etwas schwarzer Staub vorfand. Das verhängnisvolle Buch wurde in Augenschein genommen, ein respektabler Quartband, in Hebräisch geschrieben und offensichtlich nicht dazu angetan, jemanden zu erregen, und sei es auch das empfänglichste Gemüt. »Mr. Garrett, Sie sagten, daß der Verstorbene unmittelbar vor seinem Anfall ein Blatt aus diesem Buch herausgerissen habe, jedenfalls soweit sie das erkennen konnten.« »Ja, ich glaube, eines der Vorsatzblätter.« »Nun, hier ist ein Vorsatzblatt halb abgetrennt. Jemand hat etwas in Hebräisch daraufgeschrieben. Würden Sie es sich mal ansehen?« »Da unten stehen drei englische Namen und ein Datum; leider kann ich aber nicht Hebräisch.« »Bei den Namen scheint es sich um Unterschriften zu handeln. Sie lauten John Rant, Walter Gibson und James Frost, und das Datum ist der 20. Juli 1875. Kennt jemand hier einen dieser Namen?«
Der Pfarrer, der unter den Anwesenden war, stellte fest, daß der Onkel des Toten, den dieser beerbt hatte, Rant geheißen habe. Als man ihm das Buch reichte, schüttelte er verständnislos den Kopf. »Das hat nichts mit dem Hebräischen zu tun, wie ich es gelernt habe.« »Sind Sie sicher, daß es überhaupt Hebräisch ist?« »Nun ja, ich denke doch… nein, Sie haben völlig recht, mein Herr, d. h. Sie haben richtig vermutet. Natürlich, das ist ja gar nicht Hebräisch, es ist Englisch, und zwar handelt es sich um ein Testament.« Nach wenigen Minuten hatte man herausgefunden, daß es in der Tat ein Testament des Dr. John Rant war, das dessen gesamten Besitz, der bis zu diesem Augenblick in den Händen von John Eldred war, Mrs. Mary Simpson vermachte. Die Entdeckung eines solchen Dokuments erklärte natürlich hinreichend Mr. Eldreds Erregung. Warum er aber das Blatt herausreißen wollte, das, so meinte der Leichenbeschauer, sei eine müßige Frage, die durch keine nachträglichen Spekulationen beantwortet werden könne. Der Traktat Middoth wurde zum Zweck weiterer Untersuchungen vom Leichenbeschauer in Verwahrung genommen, und Garrett erzählte ihm, – sozusagen privat – dessen Geschichte und die damit zusammenhängenden Ereignisse, soweit er sie wußte bzw. erriet. Am nächsten Tag kehrte Garrett zu seiner Arbeit zurück. Auf dem Weg zum Bahnhof kam er nochmals am Schauplatz von Eldreds schrecklichem Ende vorbei, und er konnte es sich nicht versagen, ihn noch einmal in Augenschein zu nehmen, obwohl ihn die Erinnerung an das, was er hier tags zuvor gesehen hatte, selbst an diesem hellen Morgen schaudern machte. Mit
einem bangen Gefühl ging er um den Baumstumpf herum. Etwas Dunkles, das da lag, ließ ihn im ersten Augenblick zurückschrecken, doch da es sich kaum bewegte, betrachtete er es etwas näher, und nun erkannte er, daß es ein dichtes, schwarzes Spinnengewebe war. Er stieß vorsichtig mit seinem Stock hinein, da kamen mehrere große Spinnen hervor und verschwanden im Gras. Im übrigen wird es dem Leser nicht schwerfallen, sich vorzustellen, wie aus dem Assistenten in einer großen Bibliothek der zukünftige Besitzer von Bretfield Manor wurde, das sich augenblicklich in den Händen seiner Schwiegermutter, Mrs. Mary Simpson, befindet.
K. H. Strobl Der Hexenrichter
Tapp… tapp… tapp… tapp… tapp… kommt’s über die hölzerne Stiege hinauf… Das ist der Herr Doktor… unsicher, verdammt unsicher klingt heute das sonst so festgefügte: »tapp… tapp.« Auf einmal klirr… rrr… rr… ein ganzer Schlüsselbund kollert über die Stiegen hinunter… wieder… tapp… aber jetzt abwärts. Dann lange Stille… endlich wieder ganz leise und schüchtern, wie verschämt und verlegen ob des nächtlichen Spektakels vom Fuße der Treppe tapp… tapp… Dazu ein leises, fauchendes Scharren, wie wenn jemand sich mit der suchenden Hand an einer rauhen Wand entlang tastet… Schritt für Schritt behutsam… lang… krach – bumm… ein Zusammenstoß von Stahl und Stein… Das ist der eiserne Wandhaken zur Befestigung der treppenbeleuchtenden Kienspäne und der Steinkopf des hochgelehrten Doktors, des Mitgliedes unseres Schöppengerichtes, des weit und breit im Land hochgebenedeiten und gepriesenen Hexenrichters… tapp… tapp… endlich vor der Tür zum Schlafgemach ein Seufzer der Erleichterung… Der Schlüssel knirscht im Schloß, und der rostige Riegel schiebt sich zurück. Finster… pechfinster… in dem Junggesellenge mach. Der Herr Doktor tappt nach dem Feuer zeug… na, das dauert… endlich glimmt der Zunder… Der Schwefelfaden brennt und da… erstrahlt ein Umkreis von drei Schritten im rötlichgelbgrauen Licht der Unschlittkerze. Der Herr Doktor hat ein rotes Gesicht – sein Samtbarett sitzt ihm tief im
Nacken, der Pelzkragen seiner Schaube ist links unternehmend aufgestellt, während er sich rechts an seinen gewohnten Platz um die Schultern des Trägers schmiegt… Mit breitgestellten Beinen bückt sich der Doktor, um den glimmenden Schwefelfaden vom Fußboden aufzulesen. Der Schwefelfaden hat in den schneeweißen, sandüberstreuten Boden bereits ein schwarzes, häßliches Loch gebrannt. Der Doktor brummt etwas Unverständliches… Wie er sich stöhnend aufrichtet da sitzt auf seinem Tisch in der Mitte des Zimmers der Satan. Er hat seinen Schweif nachlässig unter dem linken Arm durchgezogen und schaut den Doktor mit großen, runden, feurigglühenden und gutmütigen Augen an. Aha – denkt der Doktor… der verdammte Strohwein! Wie Seine Majestät sich bemerkt sieht, springt sie vom Tisch herunter… tapp macht der Menschenfuß – klapp der Pferdehuf. Mit einem Ruck hat er den Schweif zwischen den Beinen nach vorn gezogen und hält ihn kerzengerade und steif vor sich hin, wie die Garde beim fürstlichen Schloß ihre Musketen, wenn Hoheit vorbeifährt. Der Herr Doktor ist ganz geschmeichelt. Er greift grüßend an sein Barett und winkt dankend ab. Seine Majestät geht aus der Paradestellung heraus und zieht sich wieder rückwärts auf den Tisch herauf. Aber sogleich hopft er wieder herunter… tapp – klapp… er hat den mißbilligenden Blick des Hausherrn bemerkt. Er geht zu dem blumenbemalten Koffer im Winkel hinter dem Spind und nimmt von dort eine wollene Decke. Er muß den Hausbrauch kennen. Die wollene Decke wird auf den Tisch gebreitet, und dann läßt sich der Gast behaglich darauf nieder. Aus der dunkeln Ecke, wo das breite, weiße Bett steht, ein unterdrücktes Lachen. Auf dem jungfräulichen Kopfpolster des Doktors eine wirre Flut von blonden Locken, unter der schweren Decke lugt ein rosiges Gesicht hervor. Wenn zwei von den gewichtigen, leuchtenden Strähnen sich berühren,
dann springen tausende von kleinen Funken über, und ein leises Knistern geht durch die Stille… Unter dem Lockengewirr schauen zwei tiefe Augen hervor, so lockend und geheimnisvoll, sehnsuchtsbang und verheißend; Engelaugen – Vampiraugen… Dem Doktor wird ganz eigentümlich… es ist ihm, als ob die zwei Augen in ihm säßen, zwei glimmende Feuerkugeln, die schmerzen und wohltun, die wärmen und im nächsten Augenblick alles Brennbare ringsum in Flammen setzen können. Er greift sich an die Schläfen. Da drin pocht ein ganzes Hammerwerk. Zaghaft nähert er sich dem Fußende des Bettes und versucht mit spitzen Fingern den Zipfel der Decke zu lüften. Er hat eine unbezwingliche Lust bekommen, die Füße dieses Wesens zu sehen. Er hat die bestimmte Vorstellung, daß diese Füße klein und warm und weiß sein müssen und will sie zwischen seine großen, roten immer feuchtkalten Froschhände nehmen. Da springt Seine gehörnte Majestät mit einem gewaltigen Satz über den Tisch hinüber und gibt ihm einen tüchtigen Klaps über die Hände. »Au!« macht der Doktor und reibt sich wimmernd die verbrannten Stellen. »Stehn lassen«, sagte der Schwarze, »das muß ich machen.« Und er zieht mit einer jähen Bewegung die Decke bis zu den Füßen herab. Da liegt der weiße Frauenleib in seiner nackten Schönheit. Dem Doktor ist’s, als ob er mit dem Kopf voraus in heißes Wasser geworfen würde. Er sieht zuerst gar nichts. Dann setzt er sich an den Bettrand, macht seine Hand so leicht als möglich und fährt liebkosend längs der sanft geschwungenen Hüftenlinie herab. »Nicht kitzeln«, sagt sie leise und windet sich verschämt, doch die großen Augen blicken ihn herausfordernd an.
Da wirft sich der Doktor auf sie und bedeckt ihren Mund mit glühenden Küssen… und sie schlingt die weißen Arme um ihn… im letzten Augenblick der Besinnung ist ihm, als ob das nicht weiche, warme Frauenarme, sondern harte, sehnige, haarige, lange Affenarme wären… dann versinkt er in ihr… Er erwacht von einem kräftigen Griff an der Schulter… zuerst weiß er nicht, wo er ist. Doch das Rütteln dauert fort. Seine schwarze Majestät hat ihn fest gepackt und läßt nicht nach, bis er ganz zu sich kommt. Das Licht ist ausgebrannt, ein unausstehlicher Gestank ist im Zimmer… nach Fett und verglostem Docht. Der Mond ist hervorgekommen und scheint taghell ins Zimmer – in dem zerwühlten Bett liegt das Weib. Das Gesicht ist blau, wie das einer Erwürgten, – die verquollene Zunge hängt ihr weit aus dem Hals – der Körper ist krampfhaft verrenkt. Der Doktor ist ganz verwirrt. »Ich will dir etwas zeigen«, sagt Seine Majestät und tupft mit dem schwarzbehaarten Zeigefinger auf eine Stelle zwischen den Brüsten des Weibes. Dem Doktor erregt das ein Unwohlsein. »Pfui Teufel«, sagt er. »Wie bitte«, sagt Seine Majestät. Der Doktor schweigt. Der Schwarze tupft noch einmal. Mit einem Knall fliegt der Nabel aus dem Bauche des Weibes heraus, wie der Pfropfen aus einer Knallbüchse. An dem Nabel hängt eine lange, weiße Schnur, von regelmäßigen Kerben gegliedert, wie ein Bandwurm. Der Nabel fällt zu Boden und zieht den weißen Bandwurm nach. Der windet sich wie in eigenem Leben am Boden. Und mehr, immer mehr von der weißen Schnur dringt hervor, immer schneller… in Spiralen, Achtern und Schlangenwindungen… unerschöpflich ist der Schoß des Weibes… schon ist der ganze Boden voll. Der Doktor steigt auf einen Stuhl. Es schüttelt ihn.
Und die dünne, weiße Schnur wird dicker, schon hat sie die Stärke eines Regenwurmes. Die Kerben werden tiefer und schneiden die einzelnen Glieder stark voneinander ab… und noch immer quillt es aus dem Nabelloch hervor… jetzt hat die Schnur schon Daumendicke. Die Glieder schwellen an und werden fast kugelig – und nun trennen sich alle die abgeschnürten Glieder voneinander und rollen selbstlebend im Zimmer umher – einige hüpfen in die Höhe, andere rasen mit entsetzlicher Geschwindigkeit zwischen ihren Geschwistern umher. Da bekommen alle diese runden, weißen Kugeln ein neues Aussehen. Zwei Füße mit Vogelklauen, einen langen, breiten, schwer nachschleppenden Hinterteil und ein Haupt – ein bärtiges, ernstes Haupt mit einem Samtbarett – lauter kleine Doktorhäupter. Schon sind sie faustgroß und werden größer. »Schau deine Kinder«, sagt der Satan. Dem Doktor schießt eine rote Flamme in den Kopf. Er springt von seinem Stuhl und trampelt wütend auf der quabbeligen Masse herum… »Ho – ho!« schreit er, »ho – ho!« und macht wilde Sätze. Ein Gequietsch und Gequieke wie von Millionen zerstampfter junger Vögel. »Was fällt dir ein?« ruft der Satan grimmig und packt den Doktor bei einem Bein und wirbelt ihn sich um den Kopf, bis ihm der Atem ausgeht. Dann stellt er ihn wieder hin. Kaum ist der aber wieder zur Besinnung gekommen, so springt er wieder in die Masse und stampft und trampelt. »Ho – ho!« schreit er, »ho – ho!« Da wird der Satan still und ernst und knüpft von dem Busch seiner Schwanzspitze eine rote, seidene Schnur und reicht sie dem Doktor. Des Doktors Augen werden starr, und er steht still und regungslos. Dann macht er aus der Schnur eine Schlinge und legt sie sich um den Hals und zieht und zieht – bis er
zusammenbricht. Das Weib im Bett hat sich aufgerichtet und sieht ihm mit glühenden Augen zu. Aus der Ferne ertönt das Horn des Nachtwächters. Unter dem Fenster klingt der taktmäßige Schritt der Scharwache. Der Brunnen am Marktplatz rauscht im Mondschein, die Sandsteinfigur des Flußgottes mit der wasserspendenden Vase richtet sich auf und schaut nach den Fenstern des Doktors hinüber. Die Justifizierungskommission, die dem Doktor am nächsten Morgen das Protokoll über die stattgefundene Justifizierung der gestern verbrannten Hexe zur Unterschrift bringen will, kann nicht ins Zimmer. Es geht allerlei Gemunkel und Geraune durch die Leute. Auch im Hause hat man unheimliche Dinge gehört. Wie dann die Tür aufgesprengt wird – da liegt der Doktor tot am Boden, mit einer rotseidenen Schnur um den Hals – auf den Händen sind zwei große Brandwunden. In dem zerwühlten Bett schwimmt eine trübe stinkende Jauche. »Hm, hm«, macht der Ratsälteste. »Hm – hm«, machen die übrigen wohlweisen Herren im Chor.
Guy de Maupassant Die Tote
Ich hatte sie bis zum Wahnsinn geliebt. Warum liebt man? Ist es nicht außerhalb aller Normalität, auf der Welt nur noch ein einziges Wesen zu sehen, im Kopf nur noch einen Gedanken, im Herzen eine Sehnsucht und im Mund einen einzigen Namen: Einen Namen, der wie das Wasser einer Quelle ohne Unterlaß aus der Tiefe der Seele emporsteigt bis zu den Lippen, und den man sagt und von neuem sagt, den man ständig und überall murmelt wie ein Gebet. Unsere Geschichte werde ich nicht erzählen. In der Liebe gibt es nur eine Geschichte, immer die gleiche. Ich hatte sie kennengelernt und geliebt, das ist alles. In ihrer Zärtlichkeit hatte ich ein Jahr lang gelebt, in ihren Armen, ihren Liebkosungen, in ihrem Blick, in ihren Kleidern, in ihren Worten, eingehüllt, gefesselt, gefangen in allem, was von ihr kam, so ganz und gar ihr gehörig, daß ich nicht mehr wußte, ob es Tag oder Nacht sei, ob ich noch lebte oder nicht mehr, ob ich mich auf der alten Erde befinde oder woanders. Dann starb sie. Woran? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht mehr. An einem regnerischen Abend kam sie durchnäßt nach Hause, und am Tag darauf hatte sie Husten. Die sieben, acht Tage, die sie unter dem Husten litt, hütete sie das Bett. Was ist damals geschehen? Ich weiß es nicht mehr. Ärzte kamen, schrieben Rezepte, gingen wieder. Man brachte Heilmittel; eine Frau gab ihr sie zu trinken. Ihre Hände waren heiß, ihre Stirn feucht und erhitzt, ihr Blick fieberglänzend und
traurig. Ich sprach zu ihr, und sie antwortete. Was haben wir uns gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe alles vergessen – alles, alles! Jedenfalls ist sie gestorben. Ich höre noch ihren leisen Seufzer, ihren leisen, so schwachen Seufzer – den letzten. Die Pflegerin sagte: »Oh!« Und ich verstand, ich verstand! Was dann geschah, begriff ich nicht mehr. Nichts. Ich sah einen Priester, der dieses Wort sagte: »Ihre Geliebte.« Mir schien das eine Beleidigung. Da sie nun tot war, hatte niemand mehr das Recht, davon zu wissen. Ich jagte ihn fort. Es kam ein anderer, der sehr gütig und sanft war. Ich weinte, als er von ihr sprach. Wegen der Beerdigung fragte man mich tausend Dinge. Ich weiß nichts mehr davon. Deutlich erinnere ich mich jedoch an den Sarg, an die Hammerschläge, als man ihn zunagelte. Oh, mein Gott! Sie wurde begraben! Begraben! Sie! In diesem Loch! Einige Trauergäste waren gekommen, ein paar Freundinnen. Ich floh. Ich rannte davon. Lange lief ich in den Straßen herum. Endlich ging ich wieder nach Hause. Am nächsten Tag reiste ich ab. Gestern kehrte ich nach Paris zurück. Als ich mein Schlafzimmer wiedersah, unser Zimmer, unser Bett, unsere Möbel, das ganze Haus, in dem all das verblieben war, was nach dem Tod eines Menschen von seinem Leben verbleibt, erfaßte mich von neuem so tiefe Traurigkeit, daß ich beinahe das Fenster aufgerissen und mich auf die Straße gestürzt hätte. Ich konnte nicht mehr bleiben inmitten all dieser Dinge, in diesen Mauern, die sie umschlossen, ihr Obdach geboten hatten, und die in ihren unsichtbar winzigen Ritzen tausend Atome von ihr, ihrem Fleisch, ihrem Atem bewahrt haben mußten. Ich nahm meinen Hut, um wieder das Weite zu suchen.
Auf dem Weg zur Tür kam ich an dem großen Dielenspiegel vorbei, den sie dort hatte anbringen lassen. In diesem Spiegel überprüfte sie jeden Tag, ehe sie ausging, ihre Erscheinung von Kopf bis Fuß; sie wollte sehen, ob ihre Aufmachung stimmte, ob sie von den Stiefelchen bis zur Frisur hübsch und korrekt war. Unvermittelt blieb ich vor der gläsernen Scheibe stehen, die sie so häufig widergespiegelt hatte – so oft, so oft, daß sie auch ihr Bild bewahrt haben mußte. Zitternd stand ich so da, die Augen auf das Glas geheftet. Diese ebene, tiefe, leere Scheibe hatte sie ganz und gar in sich geschlossen, hatte sie in gleichem Maße besessen wie ich, wie mein liebestrunkener Blick. Mir war, als liebte ich diesen Spiegel… Ich berührte ihn… Er war eiskalt! Oh, Erinnerung! Erinnerung, du peinigender, brennender, lebender, schrecklicher Spiegel, die uns alle Qualen der Welt leiden läßt! Glücklich der Mensch, dessen Herz wie ein Spiegel, über den die Bilder huschen und wieder verlöschen, alles vergißt, was in ihm war, alles, was sich vor ihm befunden, alles was sich in seiner Zuneigung, seiner Liebe betrachtet, durchleuchtet hat! Wie furchtbar ich leide! Ich verließ das Haus. Ohne es zu wollen oder zu wissen, ging ich zum Friedhof. Ich fand ihr schlichtes Grab. Auf dem Marmorkreuz standen die Worte: »Sie liebte, wurde geliebt und starb.« Da war sie, da drinnen, verwest! Welch grausige Vorstellung! Ich brach in Tränen aus, die Stirn auf die Erde gepreßt. Ich blieb lange, sehr lange. Schließlich bemerkte ich, daß der Abend hereinbrach. Und ein bizarres, irres Begehren ergriff mich, das Begehren eines verzweifelt Liebenden. Ich wollte die Nacht bei ihr verbringen, eine letzte Nacht. Über ihrem Grab wollte ich weinen. Aber man würde mich sehen, mich
fortschicken. Was tun? Es gab eine Möglichkeit. Ich stand auf und ging ziellos in dieser Stadt der Toten herum. Wie klein war diese Stadt im Vergleich zu jener gleich nebenan, in der die Lebenden wohnten! Und doch, um wieviel zahlreicher sind die Toten als die Lebenden. Wir brauchen hohe Gebäude, Straßen, so viel Platz für die vier Generationen, die gleichzeitig das Licht des Tages erleben, das Wasser der Quellen, den Wein der Reben trinken und das Brot, das auf den Äckern wächst, essen. Und für die Toten sämtlicher Generationen, für die ganze Ahnenreihe der Menschheit bis zu uns Heutigen, fast nichts, ein Feld, beinahe nichts! Die Erde umschließt sie wieder, ihr Andenken wird vergessen. Adieu! Am Ende des benutzten Teiles des Friedhofs gewahrte ich plötzlich den aufgelassenen Teil, wo die schon vor längerer Zeit Verstorbenen sich endgültig wieder mit der Erde vermischten, wo die Grabkreuze selber verfaulen, wo man morgen neue Tote begraben wird. Dieser Teil ist voll wilder Rosen und starker schwarzer Zypressen; er ist ein gleichzeitig trister und erhabener Garten, dessen Pflanzen sich von menschlichem Fleisch ernähren. Ich war allein, ganz allein. Ich kauerte mich ins niedrige Geäst eines grünen Baumes, dessen dunkle, fette Zweige mich ganz den Blicken verbargen. Ich wartete, an den Stamm geklammert wie ein Schiffbrüchiger an ein Wrackstück. Als es dunkel geworden war, verließ ich mein Versteck und fing an, langsam, leisen Schritts durch diesen Totenacker zu gehen. Ich irrte lange, lange herum. Ich fand sie nicht mehr. Die Arme ausgestreckt und mit suchendem Blick ging ich herum und stieß mit Händen, Füßen, Knien, der Brust, sogar mit dem Kopf an Grabsteine. Aber ich fand sie nicht. Ich tastete mich
voran wie ein Blinder, der seinen Weg sucht, befühlte Steine, Kreuze, eiserne Gitter, Kränze aus Glas, Kränze verwelkter Blumen! Mit den Fingern fuhr ich Buchstaben nach und las sie so. Welch eine Nacht. Welch eine Nacht! Ich fand sie nicht mehr! Kein Mond schien! Welch eine Nacht! Ich hatte Angst, schreckliche Angst, während ich auf den schmalen Pfaden zwischen zwei Gräberreihen dahinschlich. Gräber! Gräber! Gräber! Nichts als Gräber! Zur Rechten, zur Linken, vor mir, um mich herum, überall Gräber! Ich setzte mich auf eines davon, denn ich konnte nicht weiter, so schwach waren meine Knie. Ich hörte den Schlag meines Herzens! Und noch etwas anderes hörte ich! Was? Ein undeutliches, schwer zu benennendes Geräusch! War es in meinem verwirrten Kopf entstanden, dieses Geräusch, oder in der undurchdringlichen Nacht, oder in dieser Erde voller Geheimnisse, der mit menschlichen Leichen durchsetzten Erde? Angstvoll sah ich mich um. Wie lange verharrte ich so? Ich weiß es nicht. Ich war vor Schreck wie gelähmt, trunken vor Angst, war nahe daran, laut aufzuschreien, bereit zu sterben. Plötzlich war mir, als hätte die Marmorplatte, auf der ich saß, sich bewegt. Wirklich, sie rührte sich, als höbe sie jemand hoch. Mit einem Satz warf ich mich auf das benachbarte Grab, und ich sah, ja, ich sah, wie der Stein, auf dem ich eben noch saß, sich senkrecht aufrichtete. Und der Tote erschien, ein nacktes Skelett, der ihn mit seinem gekrümmten Rücken umwarf. Ich sah es, ich sah es genau, trotz des tiefen Dunkels der Nacht. Auf dem Kreuz konnte ich lesen: »Hier ruht Jacques Olivant, verschieden im Alter von einundfünfzig Jahren. Er liebte die Seinen, war ehrsam und gut und starb im Frieden des Herrn.«
Jetzt las auch der Tote, was auf seinem Grab stand. Nun nahm er einen Stein, der auf dem Weg lag, einen kleinen, scharfen Stein, und fing an, die Inschrift auszukratzen. Nach und nach löschte er sie völlig, die leeren Augenhöhlen auf die Stelle gerichtet, wo sie eben noch stand. Und mit der Spitze des Knochens, der sein Zeigefinger gewesen war, schrieb er in leuchtenden Lettern, wie man mit dem Kopf eines Phosphorholzes manchmal auf Wände schreibt: »Hier ruht Jacques Olivant, verschieden im Alter von einundfünfzig Jahren. Durch seine Schroffheit und Hartherzigkeit beschleunigte er den Tod seines Vaters, den er beerben wollte. Er machte seiner Frau das Leben zur Hölle, quälte seine Kinder, beschwindelte seine Nachbarn, stahl, was er konnte und starb einen elenden Tod.« Als die Aufschrift fertig war, betrachtete der Tote reglos sein Werk. Und als ich mich umwandte, sah ich, daß alle Gräber jetzt offenstanden, daß ihnen allen die Toten entstiegen waren, daß alle die Lügen aus ihren Grabsteinen ausgelöscht hatten, um dort die Wahrheit niederzuschreiben. Und ich sah, daß sie alle der Schrecken ihrer Familien gewesen waren, böse, hinterlistig, neidisch, Heuchler, Lügner, Schwindler, Verleumder; sie hatten betrogen, gestohlen, die schändlichsten, scheußlichsten Taten begangen, die guten Väter, die treuen Frauen, die ergebenen Söhne, die züchtigen Töchter, die rechtschaffenen Kaufleute, die angeblich untadeligen Männer und Frauen. Gleichzeitig schrieben sie alle auf die Schwelle ihrer ewigen Ruhestätte die grausame, furchtbare, heilige Wahrheit, die zu ihren Lebzeiten niemand kennt oder die nicht zu kennen man wenigstens vorgibt. Mir kam in den Sinn: Auch sie mußte die Wahrheit auf ihren Grabstein geschrieben haben. Nunmehr aller Furcht ledig, lief
ich zwischen den halbgeöffneten Särgen, den Kadavern und Skeletten hindurch zu ihr – sicher, sie rasch zu finden. Ohne ihr von einem Tuch verhülltes Gesicht zu sehen, erkannte ich sie von weitem. Und auf dem marmornen Kreuz, auf dem ich Stunden zuvor gelesen hatte: Sie liebte, wurde geliebt, und starb. las ich jetzt: Eines Tages verließ sie das Haus, um ihren Geliebten zu betrügen, erkältete sich im Regen und starb. Wie es scheint, fand man mich bei Anbruch des Tages bewußtlos auf einem Grab.
H. P. Lovecraft Die Ratten in der Wand
Am 16. Juli 1923 war auch der letzte Handwerker auf Exham Priory fertiggeworden, und ich konnte dort einziehen. Die Restaurierung war eine enorme Aufgabe gewesen, denn von dem ursprünglichen Gebäude waren praktisch nur noch die äußeren Mauern erhalten gewesen. Es war der Sitz meiner Ahnen, und obwohl seit Jakob dem Ersten niemand mehr dort gewohnt hatte, scheute ich weder Mühe noch Kosten, um es wieder bewohnbar zu machen. Damals waren der Hausherr und fünf seiner Kinder unter tragischen und unheimlichen Umständen ermordet worden. Der Mörder war der dritte Sohn, Walter de la Poer, mein direkter Vorfahre und einziger Vertreter der verhaßten Linie danach. Er wurde angeklagt, aber nicht verurteilt. Deshalb fiel der gesamte Besitz an die Krone zurück. Er machte niemals auch nur den geringsten Versuch, sich zu rechtfertigen oder das Besitztum zurückzufordern. Etwas, das schlimmer war als sein schlechtes Gewissen oder die Angst vor dem Gesetz, ließ ihn das Gebäude völlig aus seinem Gedächtnis streichen. Deshalb emigrierte er schließlich nach Virginia, wo er eine Familie gründete, die im Laufe des darauffolgenden Jahrhunderts unter dem Namen Delapore bekannt wurde. So blieb Exham Priory unbewohnt, obwohl es später an die Güter der Familie Norrys angeschlossen und oft und gründlich wegen seiner eigenartig zusammengewürfelten Architektur, die gotische Türme mit sächsischen und romanischen Mauern auf Fundamenten der Römer – , ja wahrscheinlich sogar der
Druidenzeit verband, untersucht und bestaunt wurde. Wenn man der Legende glauben durfte, war auch kymrischer Einfluß nicht ausgeschlossen. Das ganze Gebäude stand am Rande eines Abgrunds auf festem Kalkstein, mit dem es auch auf einer Seite fest verbunden war, und überschaute ein einsames Tal, drei Meilen westlich von Anchester. Während des Bürgerkriegs war unsere gesamte Habe dahingeschmolzen und schließlich auch noch unser Haus abgebrannt – mit ihm ein geheimnisvoller, versiegelter Umschlag, der von meinem unglücklichen Vorfahr jeweils auf den ältesten Sohn vererbt worden war. Nach Kriegsende zogen wir alle nordwärts, wo meine Mutter aufgewachsen war, und ich wuchs heran, wurde ein Mann und kam zu Ansehen und Vermögen. Weder mein Vater noch ich hatten eine Ahnung, welche Botschaft der Umschlag enthalten hatte. Bald war ich auch von geschäftlichen Unternehmungen derart in Anspruch genommen, daß die Geheimnisse, die so weit in meinen Stammbaum zurückreichten, jedes Interesse für mich verloren. Hätte ich nur geahnt, was mich erwartete, es wäre mir nicht im Traum eingefallen, Exham Priory von seinen Spinnweben zu befreien. Mein Vater starb 1904 und ließ mich und meinen mutterlosen Sohn Alfred zurück. Der Erste Weltkrieg führte Alfred nach England, wo er als Luftwaffenoffizier eingesetzt wurde. Dort freundete er sich mit Captain Edward Norrys vom Royal Flying Corps an, der in direkter Nachbarschaft mit unserem alten, ungenutzten Familiensitz bei Anchester wohnte und die wildesten und unglaublichsten Geschichten über die Delapores erzählen konnte. Norrys war sich darüber im klaren, daß er Bauerngeschwätz verbreitete und nahm es auch nicht sonderlich ernst. Die beiden amüsierten sich königlich dabei und schlachteten den Stoff in epischer Breite in Briefen an
mich aus. Und durch diese Legenden wurde meine Aufmerksamkeit erst auf mein altes Erbe gelenkt und wurde so stark, daß ich mich schließlich entschloß, es zu kaufen und wieder aufzubauen. Ich kaufte Exham Priory 1918. Meine Restaurierungspläne gerieten für mich aber erst einmal wieder in Vergessenheit, als mein Sohn als zerschossener Krüppel aus dem Krieg zurückkehrte. Während der zwei Jahre, die er noch lebte, hatte ich nichts anderes als seine Pflege im Kopf und übergab sogar die Leitung meiner Firma zeitweilig in die Hände meiner Partner. 1921 zog ich mich vom Geschäftsleben zurück und war fest entschlossen, den Rest meines Lebens meinem neuen Besitz zu widmen. Im Dezember fuhr ich nach Anchester, wo ich von Captain Norrys, einem plumpen, aber äußerst liebenwürdigen jungen Mann empfangen wurde. Er hatte viel an meinen Sohn gedacht und freute sich nun, mit den abenteuerlichsten Anekdoten unterhalten zu können. Exham Priory selbst rief keinerlei Gefühle in mir wach – was ich sah, war ohnehin nur eine mittelalterliche Ruine. Ich begann Handwerker zu engagieren, was sich in der direkten Nachbarschaft als unmöglich erwies. Erst in weiteren Umkreisen erklärten sich genügend Arbeiter bereit, für mich zu arbeiten, denn ein de la Poer war hier, wie mir damals mein Sohn schon geschrieben hatte, immer noch gefürchtet. Obwohl ich versuchte, die Bauern von meiner Arglosigkeit zu überzeugen, mißtrauten sie mir als jemandem, der etwas aufbauen wollte, was für sie ein Symbol des Schreckens und des Grauens war. Nach allem, was ich im Laufe der Zeit zu hören bekam, mußte Exham Priory auf dem Platz eines ehemaligen prähistorischen Tempels aus druidischer oder vordruidischer
Zeit stehen. Norrys wußte von unglaublichen Opferriten zu berichten, die angeblich dort abgehalten worden waren. Um das Jahr 1000 erwähnt die Chronik eine große Priorei mit strengen, klösterlichen Regeln, die von weiten Gärten umgeben war und keine Mauern brauchte, um die ängstliche Bevölkerung fernzuhalten. Sie wurde von den Dänen nicht zerstört, obwohl sie nach der normannischen Eroberung ziemlich zusammengeschmolzen war. Schließlich fiel sie durch Heinrich den Dritten im Jahre 1261 an meinen Ahnherrn, Gilbert de la Poer, den ersten Baron Exham. Bis zu diesem Datum gibt es keine nachteilige Zeile über meine Familie. Aber damals muß etwas Seltsames geschehen sein. Ich las mit wachsendem Erstaunen von Mitgliedern der Familie de la Poer, die von »Gott verflucht« waren; von Schauermärchen, die von dämonischen Mitgliedern der Familie berichteten und Dorfbewohnern, die auf geheimnisvolle und stets ungeklärte Weise verschwanden und verschwunden blieben. Die schlimmsten Typen mußten die Barone und ihre direkten Erben gewesen sein. Das Oberhaupt der Familie war anscheinend jeweils auch Oberhaupt eines Kultes, dessen wenige Mitglieder nicht unbedingt blutsverwandt sein mußten, denn auch viele Eingeheiratete nahmen daran teil. Man erzählte sich auch von Lady Mary de la Poer, die kurz nach ihrer Heirat mit dem Earl of Shrewsfield von ihm und seiner Mutter umgebracht wurde. Die beiden Mörder wurden freigesprochen und von einem Priester gesegnet, vor dem sie ein Geständnis abgelegt hatten, das sie vor der Welt nicht zu wiederholen wagten. Es gab sogar Balladen über solche Vorfälle, aber alle diese Geschichten stießen mich ab. Besonders ärgerlich fand ich die Hartnäckigkeit, mit der sie sich durch das lange Bestehen meiner Familie gehalten hatten. Dabei bestand der einzige
Skandal meiner direkten Vorfahren darin, daß mein Vetter, Randolph Delapore of Carfax, zu den Negern ging und Voodoo-Priester wurde, nachdem er im mexikanischen Krieg gedient hatte. Die vagen Gerüchte über Winseln und Heulen in dem Tal unterhalb der Klippen, über die üblen Gerüche auf dem Friedhof nach einem Frühlingsregen oder über das quietschende, weiße Ding, auf welches Sir John Claves Pferd einmal nachts auf einsamem Feld getreten hatte, störten mich weniger, ebenso wie die Geschichte über den Diener, der bei vollem Tageslicht in der Priorei etwas gesehen hatte, was ihm völlig den Verstand raubte. Solche Dinge waren nichts weiter als aufgebauschter Aberglauben für mich, zumal ich in der Beziehung ohnehin schon immer ein großer Skeptiker gewesen war. Selbst das Verschwinden von zahlreichen Bauern verlor seine Bedeutung, wenn man die Umstände in Erwägung zog, die in mittelalterlichen Zeiten geherrscht haben. Ein paar der Geschichten waren anscheinend einer unglaublich blumigen Phantasie entsprungen. Da sollten Scharen von fledermausbeflügelten Teufeln jede Nacht in der Priorei einen Hexensabbat veranstalten. Dieser Glaube mußte auch als Erklärung für kahlgefressene Getreidefelder in der näheren Umgebung herhalten. Die dramatischste Schauergeschichte aber war zweifellos die von den Ratten. Drei Monaten, nachdem das Schloß nach der letzten Tragödie vereinsamt war, hatte angeblich eine gefräßige Armee von Ratten die Flucht ergriffen, die auf ihrem Weg Hunde, Katzen, Schweine, Schafe und sogar zwei Wanderer verschlungen hatten. Um diese Ratten rankten sich noch unzählige andere Märchen, die Schrecken und Entsetzen von Haus zu Haus trugen. Soweit war ich also informiert, währen ich die Arbeiten mit unbeugsamer Hartnäckigkeit vorantrieb, um endlich das Heim
meiner Ahnen wiederherzustellen. Man darf nun nicht annehmen, daß diese Geschichten ständig auf mich einprasselten, denn ich wurde andererseits auch von Captain Norrys und den mir hilfreich zur Seite stehenden Altertumsforschern ermutigt. Als die große Aufgabe endlich bewältigt war, es waren insgesamt zwei Jahre darüber vergangen, besichtigte ich mit großem Stolz die großen Räume, die getäfelten Wände, die Gewölbe und die breiten Treppen, was mich für den ungeheuren Kostenaufwand voll entschädigte. Alle mittelalterlichen Teile waren sorgfältig reproduziert worden, und auch die neuen paßten sich nahtlos den Originalwänden und Fundamenten an. Der Sitz meiner Väter war wiederhergestellt, und ich war sicher, daß ich als letzter des Stammes auch ihren guten Ruf wiederherstellen konnte. Hier sollte mein ständiger Wohnsitz sein, und ich wollte beweisen, daß ein de la Poer (ich hatte die ursprüngliche Schreibweise wieder angenommen) nicht unbedingt ein Feind sein muß. Meine Bequemlichkeit war ja gesichert, denn das Innere von Exham Priory war völlig neu und frei von Ungeziefer und Gespenstern. Ich zog also am sechzehnten Juli 1923 ein. Mein Haushalt bestand aus sieben Dienern und neun Katzen. Letztere liegen mir besonders am Herzen. Meine älteste Katze, ein Kater mit Namen »Nigger-Man«, war sieben Jahre alt. Ich hatte ihn aus Bolton, Massachusetts, mitgebracht. Die anderen hatten sich im Laufe der Restaurierungsarbeiten angesammelt, während ich bei Captain Norrys wohnte. Die ersten fünf Tage vergingen in Ruhe und Frieden. Die meiste Zeit verbrachte ich mit der Kodifizierung der alten Familiendaten. Dabei stieß ich auf Einzelheiten der Tragödie um Walter de la Poer, die etwas Licht in den geheimnisvollen Brief brachten, der von einer Generation zur anderen
weitervererbt und unglücklicherweise bei dem Feuer in Carfax vernichtet wurde. Mein Vorfahr war anscheinend nicht ohne Grund des Mordes an sämtlichen Mitgliedern seines Haushaltes angeklagt. Er hatte sie umgebracht, während sie schliefen, und nur vier Diener, die mit ihm im Bunde waren, verschont. Das war zwei Wochen nach einer Entdeckung gewesen, nach der sich sein Benehmen von Grund auf geändert hatte. Aber er hatte sich außer den Dienern, die ihm geholfen hatten und später unauffindbar waren, niemandem anvertraut. Die Abschlachtung von Vater, drei Brüdern und zwei Schwestern wurde von den Dorfbewohnern zum größten Teil gutgeheißen, und die Gerichtsverhandlung wurde so lasch geführt, daß der Angeklagte in allen Ehren und in aller Öffentlichkeit nach Virginia fahren konnte. Man raunte sich zu, daß er das Land von einem uralten Fluch reingewaschen hatte. Welche Entdeckung er gemacht hatte, die ihn zu einer solchen Tat trieb, ist mir unerklärlich. Die düsteren Geschichten um seine Familie mußten ihm jedenfalls seit Jahren bekannt gewesen sein, so daß sie nicht die Triebkraft sein konnten. Er war anscheinend Zeuge eines scheußlichen Rituals gewesen oder hatte etwas Entsetzliches in der Priorei entdeckt. Angeblich war er immer ein schüchterner, freundlicher Junge gewesen. In Virginia wurde er dann weder hart noch verbittert, sondern ängstlich und voller Qual. Er wurde im Tagebuch eines Gentlemanabenteurers, Francis Harley of Bellview, als Mann von beispielloser Ehrenhaftigkeit und Feinfühligkeit beschrieben. Am zweiundzwanzigsten Juli ereignete sich dann der erste Zwischenfall, der erst im Zusammenhang mit späteren Vorfällen Bedeutung erlangte. Er war so geringfügig, daß es erstaunlich war, daß ich ihn überhaupt bemerkte, denn man muß sich vor Augen halten, daß ich neu in diesem Gebäude war, das außer den Wänden völlig frisch hergerichtet war.
Außerdem war ich von einem Stab gut ausgebildeter und vertrauenswürdiger Diener umgeben. Ich erinnere mich auch nur noch daran, daß mein alter Kater, dessen Stimmungen ich genau kannte, ganz ohne Zweifel ängstlich und aufgeregt war. Er lief von Raum zu Raum und schnüffelte überall unruhig an den Wänden. Ich weiß, daß es genauso albern klingt wie die Sache mit dem Hund in der Gespenstergeschichte, der immer knurrt, bevor sein Herr den Geist zu Gesicht bekommt. Aber es war tatsächlich so mit dem Kater. Am nächsten Tag erzählte mir ein Diener von der ungewöhnlichen Ruhelosigkeit aller Katzen im Hause. Er kam zu mir ins Arbeitszimmer, und während er sprach, konnte ich Nigger-Man sehen, der an der Westwand entlangkroch und an der neuen Täfelung kratzte, welche das alte Gemäuer verdeckte. Ich sprach dem Diener gegenüber die Vermutung aus, daß irgendein Geruch oder eine Ausdünstung, die nur für die feinen Nasen der Katzen wahrnehmbar war, in den alten Teilen des Hauses stecken mußte. Das war meine feste Überzeugung. Als der Diener einwandte, daß es auch Mäuse oder Ratten sein könnten, erklärte ich ihm, daß es hier seit dreihundert Jahren keine Ratten mehr gegeben hatte und Mäuse sich wohl kaum in so hohen Mauern einnisten würden. Am Nachmittag desselben Tages besuchte ich Captain Norrys, und auch er versicherte mir, daß es für Feldmäuse ganz ausgeschlossen war, die Priorei dermaßen heimzusuchen. Die folgende Nacht verbrachte ich im westlichen Turmzimmer, das ich vom Arbeitszimmer über eine steinerne Treppe, die zum Teil noch aus der alten Zeit stammte, und eine kleine Galerie erreichen konnte. Dieser Raum war rund und hatte keine Täfelung. Statt dessen hatte ich ihn mit Wandteppichen ausstaffiert.
Nigger-Man war mit mir hereingekommen, und ich schloß die schwere, gotische Tür. Dann schaltete ich das Licht aus und ließ mich in mein kunstvoll geschnitztes Himmelbett sinken. Mein ehrwürdiger Kater legte sich auf seinen Stammplatz – quer über meine Füße. Die Vorhänge an dem kleinen Nordfenster hatte ich offengelassen. Ich mußte eine Zeitlang tief geschlafen haben, denn ich fuhr aus seltsamen Träumen hoch, als der Kater plötzlich mit einem wilden Satz aufsprang. Das Fenster ließ genügend Licht herein, um ihn mit gesträubtem Fell und vorgerecktem Kopf erkennen zu können. Er starrte gebannt auf einen Punkt an der Wand – eine Stelle, an der ich nichts Ungewöhnliches bemerken konnte. Da aber meine ganze Aufmerksamkeit auf diese Stelle gerichtet war, wurde mir der Grund für Nigger-Mans außergewöhnliches Verhalten klar. Ob der Wandteppich sich nun tatsächlich bewegt hat oder nicht, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich kann beschwören, daß ich dahinter ein leises, entferntes Kratzen, wie von Ratten oder Mäusen, vernahm. In diesem Augenblick sprang der Kater mit voller Wucht an den Teppich, riß ihn mit seinem Gewicht herunter und legte so eine feuchte, alte Steinwand frei. Von Nagetieren keine Spur. Nigger-Man raste an diesem Teil der Wand wie toll hin und her, schlug die Krallen in den Teppich und versuchte, mit den Pfoten zwischen Wand und Fußboden zu kommen. Er fand nichts und kehrte nach einer Weile zu meinen Füßen zurück. Ich hatte mich nicht weggerührt, aber den Rest der Nacht tat ich kein Auge mehr zu. Am nächsten Morgen fragte ich das ganze Personal aus, aber niemand hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Nur der Koch erinnerte sich, daß eine Katze, die auf dem Fensterbrett genächtigt hatte, irgendwann in der Nacht angefangen hatte zu
miauen, um dann durch die offene Tür auf die Treppe hinauszulaufen. Den Vormittag verbrachte ich hauptsächlich mit Dösen und machte nachmittags wieder einen Besuch bei Captain Norrys, der mir mit wachsender Aufmerksamkeit zuhörte. Was ich ihm erzählte, erinnerte ihn an die hiesigen Gespenstergeschichten. Auf jeden Fall waren wir beide über alle Maßen überrascht, daß nun doch anscheinend Ratten im Schloß waren. Norrys lieh mir ein paar Fallen und Gift, was ich die Diener an den strategisch wichtigen Punkten aufstellen und auslegen ließ. Ich ging früh ins Bett, wurde aber von den abscheulichsten Alpträumen geschüttelt. Ich sah aus großer Höhe auf eine zwielichtige Grotte hinunter, die knietief mit Kot gefüllt war. Ein weißbärtiger, dämonischer Schweinehirt trieb dort seine schwammigen Tiere umher. Der Anblick erfüllte mich mit unaussprechlichem Ekel. Als der Schweinehirt einen Augenblick stehenblieb, fiel plötzlich ein ungeheurer Schwarm von Ratten in den stinkenden Abgrund und fraß in mörderischer Gier sowohl die Tiere als auch den Mann. Diese grauenhaften Bilder standen mir noch vor Augen, als ich durch die heftigen Bewegungen von Nigger-Man aufgeweckt wurde. Jetzt war die Ursache seines Zischens und Fauchens sofort klar, und er krallte sich vor Angst an meine Füße. Von allen Seiten schien die Wand zu leben – das gräßliche Geräusch schien von raubgierigen, gigantischen Ratten zu stammen. Dieses Mal war der Himmel völlig dunkel, so daß ich nicht erkennen konnte, wie der Wandteppich aussah, aber trotz meines Entsetzens brachte ich es fertig, das Licht anzuknipsen. Jetzt konnte ich sehen, daß alle Wandbehänge geschüttelt wurden. Ganz plötzlich hörten diese Bewegung und auch das Geräusch auf. Ich sprang aus dem Bett und hob mit einer Wärmflasche eine Ecke des Teppichs hoch. Aber darunter gab
es nichts zu sehen außer der Steinwand. Inzwischen war auch der Kater wieder völlig ruhig. Als ich die Falle untersuchte, die ich in diesem Raum auch aufgestellt hatte, sah ich, daß sie zugeschnappt war, konnte aber keinerlei Anzeichen entdecken, was darin gefangen worden und entwischt war. An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken, deshalb nahm ich eine Kerze und ging die Treppe zu meinem Arbeitszimmer hinunter. Nigger-Man folgte mir auf den Fersen. Bevor wir jedoch die steinernen Stufen erreichten, schoß der Kater plötzlich an mir vorbei und raste die Treppe hinunter. Während ich verdutzt folgte, drangen plötzlich Geräusche von unten zu mir herauf, die ich inzwischen auf Anhieb deuten konnte. Die eichengetäfelten Wände bebten vor Ratten – sie kratzten und scharrten, während Nigger-Man wie toll auf- und abraste. Als ich endlich unten angelangt war, schaltete ich erst einmal das Licht ein, aber dieses Mal wurde es daraufhin nicht still. Die Ratten tobten weiter, so daß ich sogar die Richtung, in der sie sich bewegten, verfolgen konnte. Da hörte ich Schritte auf dem Korridor, und im nächsten Augenblick stießen zwei meiner Diener die schwere Tür auf. Sie waren auf der Suche nach der Ursache der Aufregung, die alle Katzen im Haus in fauchende Ungeheuer verwandelt hatte. Ein paar waren sogar schreiend und jaulend die Treppe hinuntergefallen, um vor der verschlossenen Kellertür anzuhalten. Ich fragte die beiden, ob sie auch die Ratten gehört hatten, aber sie verneinten. Als ich sie auf das Geräusch hinter der Täfelung aufmerksam machen wollte, stellte ich fest, daß alles wieder still war. Zusammen mit den beiden Männern ging ich hinunter an die Kellertür, aber die Katzen waren schon wieder ihrer Wege gegangen. Ich beschloß, später die Krypta unter dem Keller zu untersuchen, aber vorerst sah ich nach den Fallen. Sie waren alle zugeschnappt, aber leer. Außer mir und meinen Katzen
hatte also niemand die Ratten bemerkt. Ich saß bis zum Morgengrauen in meinem Arbeitszimmer und grübelte über jede Kleinigkeit nach, die ich über meinen Wohnsitz bisher erfahren hatte. Den Vormittag verschlief ich in dem einzigen modernen und bequemen Sessel, den ich mir trotz aller Vorliebe für das Mittelalter zugelegt hatte. Später telefonierte ich mit Captain Norrys, der kurz darauf zu mir kam und mir bei der Durchsuchung des Kellers half. Der Gedanke, daß dieses Gewölbe von Römern erbaut worden war, ließ uns erschauern, aber wir fanden sonst überhaupt nichts. Die Wände waren voll mit römischen Inschriften wie »P. GETAE. PROP… TEMP… DONA« und »L. PRAEC… VS… PONTIFI… ATYS…« Der Hinweis auf Atys ließ mich frösteln, denn ich kannte meinen Catull und wußte einiges über die scheußlichen Riten, mit denen man Götter erfreut hatte. Norrys und ich versuchten beim Schein einer Laterne die seltsamen, zum Teil verwitterten Zeichen zu deuten, die wir auf verschiedenen rechteckigen Blöcken entdeckten, die als Altarsteine gedient haben mochten. Aber wir konnten uns keinen Reim darauf machen. Wir erinnerten uns, daß eines der Zeichen, eine Art strahlende Sonne, für ein nichtrömisches Symbol gehalten und einem viel älteren, einheimischen Tempel zugeordnet wurde, auf dessen Ruine der spätere römische gebaut worden war. Auf einem der Steinblöcke entdeckten wir ein paar braune Flecken, die mir zu denken gaben. Der größte von allen stand in der Mitte. Seine Oberfläche ließ darauf schließen, daß auf ihm Opfer verbrannt worden waren.
So sah also die Krypta aus, vor deren Tür die Katzen verrückt spielten. Norrys und ich beschlossen, eine Nacht hier zu verbringen. Die Diener brachten uns Sofas herunter und ließen uns mit Nigger-Man allein. Wir schlossen die große Eichentür und legten uns nieder. Die Laternen ließen wir brennen. Immer wieder während unserer Nachtwache passierte es mir, daß ich einnickte und anfing zu träumen. Die Bewegungen meines Katers zu meinen Füßen ließen mich dann wieder hochfahren. Die Träume waren unfertig, im Ansatz steckengeblieben sozusagen. Ich sah wieder die düstere Grotte vor mir und den Schweinehirten, der mit seinen schwabbeligen Tieren im Kot watete. Ich sah das alles näher und deutlicher, als in dem Traum zuvor. Als ich aber eines der aufgedunsenen Geschöpfe genau betrachtete, erwachte ich mit einem langgezogenen Schrei, der Nigger-Man aufspringen ließ. Captain Norrys, der die ganze Zeit wach gewesen war, lachte laut auf. Vielleicht hätte er noch mehr gelacht – vielleicht auch nicht – , wenn er den Grund meines Schreis gewußt hätte. Aber ich konnte mich selbst nicht mehr erinnern. Es kommt oft vor, daß das Erinnerungsvermögen barmherzigerweise von allzu großem Entsetzen betäubt wird. Norrys mußte mich wecken, als der Spuk losging. Sein sanftes Schütteln riß mich wieder aus demselben Traum. Vor der verschlossenen Tür konnten wir ein wahres Konzert von Katzengeschrei hören, und Nigger-Man rannte aufgeregt an den nackten Steinwänden entlang, hinter denen ich dasselbe Scharren und Kratzen hörte wie in der Nacht vorher. —Panischer Schrecken durchzuckte mich, denn hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Diese Ratten sofern sie nicht Ausgeburten des Wahnsinns waren mußten sich innerhalb römischer Mauern aufhalten, die ich bis jetzt für
solide Blöcke gehalten hatte. Selbst wenn ich die Möglichkeit in Erwägung zog, daß das Wasser sich in siebzehn Jahrhunderten durch den Stein graben konnte, so daß die räuberischen Nager einen Weg bahnen konnten, war ich nicht weniger beunruhigt, denn Norrys hörte ihre gräßlichen Geräusche nicht! Warum würde er mich sonst auffordern, auf Nigger-Man zu achten und auf das Geschrei der anderen Katzen vor der Tür? Ich versuchte ihm so vernünftig wie möglich zu erklären, was ich zu hören glaubte. Noch während ich sprach, hörte ich die Ratten sich nach unten entfernen, bis ich den Eindruck hatte, der ganze Fels unter uns wimmelte von ihnen. Norrys war nicht einmal so skeptisch, wie ich befürchtet hatte. Er deutete zur Tür, um mich darauf aufmerksam zu machen, daß die Katzen verstummt waren. Nur Nigger-Man bekam einen neuen Anfall von Raserei und kratzte wie verrückt an dem großen Altarstein in der Mitte des Raumes, ganz nah bei Norrys’ Couch. In diesem Augenblick hatte ich wirklich Angst vor dem Unbekannten. Auch Captain Norrys, immerhin ein jüngerer und wahrscheinlich auch materialistischerer Mann als ich, war genauso betroffen wie ich. Im Moment konnten wir nichts anderes tun, als dem Kater zuzusehen, wie er mit steigender Nervosität versuchte, an die Unterseite des Altars zu gelangen. Von Zeit zu Zeit schaute er auf, als wollte er mich um Hilfe bitten. Norrys nahm eine Laterne in die Hand und hielt sie dicht an den Altar, um die Stelle, wo Nigger-Man kratzte, genauer zu untersuchen. Er kniete nieder und entfernte Moos und Flechten von dem vorrömischen Block, die im Laufe der Jahrhunderte an ihm hochgewachsen waren. Da er nichts finden konnte, wollte er schon wieder aufstehen, als ich eine Entdeckung
machte, die ich eigentlich nicht erstaunlich fand, mir aber einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Ich machte ihn darauf aufmerksam. Die Sache war ganz einfach die, daß die Laterne, die er neben dem Altar abgestellt hatte, leise flackerte. Und das konnte nur von einem Luftzug aus der Spalte zwischen Altar und Fußboden herrühren, wo Norrys die Flechten weggekratzt hatte. Den Rest der Nacht verbrachten wir in meinem hellerleuchteten Arbeitszimmer und diskutierten nervös unsere nächsten Schritte. Die Tatsache, daß ein Gewölbe zusätzlich unter dem schon bekannten liegen mußte, war allein schon aufregend genug. Wir wußten nicht, ob wir lieber das alte Gemäuer für immer verlassen oder lieber das Abenteuer einer genauen Durchsuchung auf uns nehmen sollten, um unsere Neugier zu befriedigen ohne Rücksicht auf die Schrecken, die uns dort unten in unbekannten Tiefen erwarten mochten. Gegen Morgen hatten wir die Lösung. Wir wollten nach London fahren und dort eine Gruppe von Archäologen und Wissenschaftlern um uns scharen, mit denen wir unserem Problem zu Leibe rücken konnten. Ich vergaß noch zu erwähnen, daß wir vor Verlassen des Kellers versucht haben, den Altarstein wegzuschieben, jedoch ohne Erfolg. Mehrere Tage legten wir in London unsere Vermutungen, Tatsachen und legendären Anekdoten fünf Männern vor, von denen jeder auf seinem Gebiet eine Kapazität war und denen wir absolut vertrauen konnten. Sie lachten uns auch nicht aus, sondern waren ausnahmslos sehr interessiert und teilnahmsvoll. Am Abend des siebten August erreichten wir Exham Priory. Die Diener erzählten, daß inzwischen nichts Außergewöhnliches vorgefallen war. Die Katzen, sogar der alte Nigger-Man, hatten sich völlig ruhig und normal verhalten, und keine Falle im ganzen Haus war zugeschnappt.
Am nächsten Tag wollten wir mit unseren Erkundigungen beginnen. Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Nigger-Man legte sich wie gewöhnlich auf meine Füße. Der Schlaf überfiel mich geradezu, war aber angefüllt von den gräßlichsten Träumen. Zuerst sah ich einen römischen Festschmaus, bei dem eine zugedeckte Schüssel eine furchtbare Rolle spielte. Dann kam wieder der verdammte Schweinehirt mit seiner widerlichen Herde in der Grotte. Als ich erwachte, war es schon heller Tag, und das Haus war erfüllt von normalen, alltäglichen Geräuschen. Die Ratten, ob Realität oder Hirngespinst, hatten mich nicht belästigt. Sogar Nigger-Man schlief noch fest. Als ich hinunterging, stellte ich überall die gleiche Ruhe fest. Um elf Uhr stiegen wir alle, insgesamt waren wir sieben, in den Keller hinunter und verriegelten die Tür. Wir waren mit starken Taschenlampen und Ausgrabungsgeräten bewaffnet. Nigger-Man war mit von der Partie, weil er uns am besten auf obskure Nagetiere aufmerksam machen konnte. Wir hielten uns nicht lange mit den römischen Inschriften und den Zeichen auf dem unbekannten Altar auf, weil drei unserer Fachleute sie bereits früher untersucht hatten. Unsere ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den mittleren Altar. Innerhalb einer Stunde hatte es Sir William Brinton geschafft, ihn zu neigen. Ein unbekanntes Gegengewicht hielt ihn in der Lage fest. Auf den Anblick, der sich uns dann bot, war niemand vorbereitet. Die Zurückneigung des Altarblocks hatte eine fast quadratische Öffnung im Boden freigelegt. Uralte, ausgetretene Stufen führten in die Tiefe, und auf ihnen verstreut lagen menschliche oder halbmenschliche Knochen. Die Skelette, die in ihrer Anordnung noch folgerichtig waren, drückten in ihrer Haltung noch panische Angst aus. Überall waren Spuren von nagenden Zähnen zu sehen. An den
Schädeln deutete nichts darauf hin, daß es sich um Idioten, Cretins oder primitive Halbaffen gehandelt hatte. Ein Luftzug erreichte uns über diese höllische Treppe, der nicht wie die abgestandene Luft einer Gruft roch, sondern kühl und frisch. Wir hielten uns nicht lange auf, sondern räumten die Stufen soweit, daß wir hinuntersteigen konnten. Dabei machte Sir William die seltsame Entdeckung, während er die roh behauenen Mauern abtastete, daß sie von unten nach oben geschlagen worden waren. Nachdem wir uns schaudernd ein paar Stufen durch die abgenagten Knochen hinuntergearbeitet hatten, sahen wir plötzlich Licht vor uns, das nichts anderes sein konnte als schwaches Tageslicht, das aus irgendwelchen Rissen in den Klippen hereindrang. Solche Ibisse waren von außen wahrscheinlich nie bemerkt worden, da das ganze Tal unbewohnt war und die Klippen außerdem viel zu hoch für einen zufälligen Wanderer waren. Nach weiteren Stufen verschlug es uns buchstäblich den Atem. Thornton, der Psychiater, fiel seinem Hintermann ohnmächtig in die Arme. Norrys’ Gesicht verzerrte sich zu einem kalkigen Teig, und er schrie hysterisch auf. Ich glaube, ich selbst schlug die Hände vor die Augen. Der Mann hinter mir, der einzige der Gesellschaft, der älter war als ich, krächzte mit der brüchigsten Stimme, die ich je gehört habe, »o mein Gott«! Von sieben kultivierten Männern bewahrte nur ein einziger Haltung, und zwar Sir William Brinton, was um so bemerkenswerter war, da er uns anführte und alles zuerst gesehen haben mußte. Es war eine zwielichtige Grotte, die enorm hoch war und sich so weit in die Länge zog, daß man das Ende nicht sehen konnte. Da gab es Gebäude und andere architektonische Überbleibsel. Ich sah ein Durcheinander von Grabhügeln, einen Kreis aus Monolithen, eine römische Ruine und ein
frühes, englisches Holzhaus – aber all das war nichts gegen den grausigen Anblick, den der Boden bot. Er war übersät mit einem wüsten Gewirr von menschlichen Knochen – zumindest so menschlich wie die auf der Treppe – manche lagen noch als komplettes Skelett beieinander. Auch bei diesen Skeletten konnte man wieder Stellungen erkennen, die entweder auf eine Abwehr vor furchtbarer Bedrohung schließen ließen oder auf einen Angriff mit kannibalischen Absichten. Dr. Trask, der Anthropologe, machte sich daran, die Schädel zu untersuchen, und stieß dabei auf einen, der in der Evolution sehr weit zurückliegen mußte, obwohl er zweifellos von einem Menschen stammte. Manche waren höher entwickelt, andere wieder waren sogar ganz hochentwickelte Typen. Alle Knochen waren angenagt, hauptsächlich von Ratten, aber anscheinend hatten sich auch andere Zähne gütlich getan. Zwischen den Menschenknochen lagen vereinzelt die Knöchelchen von Ratten, die in dem scheußlichen Kampf gefallen waren. Es war ein Wunder, daß wir alle diese Entdeckungen lebend und mit vollem Verstand überstanden haben. Kein noch so perverses Hirn hätte sich diesen Horror ausdenken können, durch den wir sieben stapften. Bei jedem Schritt drängten sich uns Bilder von den grauenvollen Ereignissen auf, die sich hier vor dreihundert oder tausend oder zweitausend oder zehntausend Jahren abgespielt hatten. Es war das Vorzimmer zur Hölle. Thornton fiel wieder in Ohnmacht, als Trask ihm sagte, daß einige dieser Skelette sich während der letzten zwanzig oder dreißig Generationen zu Vierbeinern zurückentwickelt hatten. Diese Vierbeiner waren in steinernen Pferchen gehalten worden. Wahrscheinlich waren sie im letzten Hungerdelirium oder aus Todesangst vor den Ratten dort ausgebrochen. Es mußten große Herden davon existiert haben, die man mit
einfachen Pflanzen fütterte. Überbleibsel davon fanden wir in großen, steinernen Behältern aus vorrömischer Zeit. Jetzt wußte ich, warum meine Ahnen solche ausgedehnten Gärten unterhalten hatten. Hätte ich es nie erfahren! Nach dem Sinn und Zweck der Herden brauchte ich gar nicht erst zu fragen. Sir William stand mit seiner Taschenlampe in der römischen Ruine und übersetzte das schockierendste Ritual, das ich je gehört habe. Norrys, obwohl vom Schützengraben einiges gewöhnt, konnte nicht mehr stehen, als er aus dem englischen Holzhaus herauskam. Es war ein Schlachthaus und eine Küche – er hatte schon so etwas erwartet –, aber es war einfach zuviel, dazu auch noch vertraute englische Kritzeleien, manche aus dem Jahr 1610, zu entdecken. Ich brachte es gar nicht erst fertig, hineinzugehen in ein Haus, das von dämonischen Scheußlichkeiten zeugte, die erst durch den Dolch meines Ahnherrn Walter de la Poer ein Ende gefunden hatten. Dagegen betrat ich ein flaches, sächsisches Gebäude, dessen Eichentür herausgefallen war. Darin fand ich eine garstige Reihe von zehn steinernen Zellen mit rostigen Eisenstäben. In drei von ihnen lagen hochentwickelte Skelette. Auf dem Zeigefingerknochen des einen entdeckte ich einen Siegelring mit meinem eigenen Wappen. In der Zwischenzeit hatte Dr. Trask einen der prähistorischen Grabhügel geöffnet und Schädel ans Licht gebracht, die gerade noch als menschlich eingestuft werden konnten. Darin eingeschnitzt waren undeutbare Zeichen. Durch diese grauenhafte Szenerie wanderte mein Kater mit der größten Ruhe. Einmal sah ich ihn hochaufgerichtet auf einem Knochenberg sitzen, und ich fragte mich, welche Geheimnisse hinter seinen gelben Augen verborgen liegen mochten. Nachdem wir diesen dämmrigen Teil der Grotte, die mir unheimlicherweise schon in meinen Träumen erschienen war, kurz untersucht hatten, wandten wir uns der scheinbar
endlosen Tiefe der Höhle zu, wo kein Lichtstrahl eindringen konnte. Wir brauchten nicht weit zu gehen, bis unsere Taschenlampen endlose Reihen von Höhlen beleuchteten, in denen die Ratten ihr Festmahl abgehalten hatten. Als sie kein Futter mehr bekamen, hatten sie wahrscheinlich zuerst die verhungernden Herden der seltsamen Vierbeiner angefallen und anschließend in der sattsam bekannten Orgie alle Felder leergefressen. Das haben die Bauern bis heute nicht vergessen. Gott! Diese schweinischen Höhlen mit zernagten Knochen und aufgebrochenen Schädeln! Dieses alptraumhafte Durcheinander von keltischen, römischen und englischen Gebeinen aus unzähligen Jahrhunderten! Manche waren ganz vollgestopft, und niemand konnte auch nur erraten, wie tief sie überhaupt waren. Einmal rutschte ich mit einem Fuß an einem der grausigen Abgründe ab, und einen Moment lang schüttelte mich panische Furcht. Ich mußte lange in Gedanken versunken hier gestanden haben, denn von den anderen war nichts zu sehen. Nur Captain Norrys war noch da. Plötzlich hörte ich ein Geräusch aus der schwarzen Endlosigkeit vor mir, das mir bekannt vorkam, und ich sah meinen Kater an mir vorbeischießen – in das Unbekannte hinein. Ich erkannte das Scharren und Trappeln der gottverdammten Ratten. Meine Taschenlampe ging aus, aber ich rannte weiter. Ich hörte Stimmen und Echos, aber das beständige, verruchte Scharren übertönte alles. Etwas stieß mit mir zusammen – etwas Weiches, Plumpes. Das mußten die Ratten sein – die gefräßige, zähe, schleimige Armee, die sich mit Lebenden und mit Toten den Bauch vollschlugen… Warum sollten Ratten nicht einen de la Poer fressen, wenn ein de la Poer schon Verbotenes gegessen hatte?… Der Krieg hat meinen Jungen verschlungen, zur Hölle mit ihnen allen… Nein, nein! Glauben Sie mir doch – ich bin nicht
der Schweinehirt aus der dämmrigen Grotte! Es war nicht Edward Norrys Gesicht auf dem weichen Ding! Wer sagte, daß ich ein de la Poer bin? Er hat gelebt, aber mein Junge mußte sterben!… Soll ein Norrys das Land eines de la Poer in die Finger bekommen?… Verflucht, Thornton, ich werde dir helfen, in Ohnmacht zu fallen, wenn du Dinge von meiner Familie siehst!… Du verdammtes Stinktier, ich werde dich lehren… Magna Mater! Magna Mater!… Atys… Dia ad aghaids’s ad aodaun… agus bas dunach ort! Dhonas’s dholas ort, agus leatsa!… Ungl… ungl… rrlh… chchcch… Das habe ich ihnen gesagt, als sie mich nach drei Stunden in der Dunkelheit fanden. Sie fanden mich in der Dunkelheit über den fetten, halbaufgefressenen Captain Norrys kriechend, und mein eigener Kater saß mir an der Kehle. Jetzt haben sie Exham Priory in die Luft gesprengt, mir meinen Nigger-Man weggenommen und mich in diesen verbarrikadierten Raum in Hanwell gesteckt, wo man über meine Herkunft und meine Erlebnisse nur flüstert. Thornton ist nebenan, aber sie lassen ihn nicht mit mir sprechen. Sie versuchen auch, die anderen Katzen zu beseitigen. Wenn ich von dem armen Norrys spreche, beschuldigen sie mich gräßlicher Dinge, aber sie müssen wissen, daß ich es nicht war. Sie müssen wissen, daß die Ratten das getan haben – die schrecklichen, scharrenden Ratten, die mich nie schlafen lassen. Diese dämonische Rasse, die mich auch hinter der Polsterung dieser Wände in einen Abgrund von Entsetzen treibt, wie ich ihn schlimmer noch nie erlebt habe. Die Ratten, die sie nie hören – die Ratten in der Wand.
Dino Buzzati Das Ding
An schönen Frühlingstagen fahre ich gern mit dem Rad durch das Heideland von Laiate, etwa fünfzehn Kilometer von Mailand entfernt. Ist es nicht erstaunlich, daß es so nahe vor den Toren der Stadt derart einsame, fast wilde Gegenden gibt. Dort stehen keine Häuser, und man begegnet keinem Menschen. Da das Terrain aus lauter Buckeln, kleinen Tälern und Hügelchen besteht, sieht man von den großen Siedlungen in der Nähe überhaupt nichts, und man könnte sich einbilden, in Gott weiß was für einer abgelegenen Gegend zu sein. Diese Wälder, Wiesen, Einschnitte und Halden sind voll von kleinen Pfaden, die dem Radfahrer immer neue romantische Überraschungen bieten. Ich begab mich eines Nachmittags in Gesellschaft meines Vetters und Freundes Pietro Trevigiani dorthin. Ich fuhr voraus, er hintendrein. Und wenn die Straße genügend breit war, hielt er sich an meiner Seite, und wir plauderten. Doch der Tag war so festlich, das Land so voll von Sonne, daß wir gar nicht zu reden brauchten. Unweit Primana verließen wir die Provinzstraße und schlugen einen Feldweg ein. Von diesem bogen wir nach ein paar hundert Metern auf einen Pfad ab, den wir schon bei früheren Gelegenheiten mit Erfolg erforscht hatten. Das Schöne an diesem Pfad ist, daß er an einem bestimmten Punkt in ein dichtes Wäldchen von Jungfichten eintaucht und dann unversehens am Rand des alten Mori-Steinbruchs herauskommt, dessen weiße Steinhalden sich in tiefer
Einsamkeit dem Blick darbieten. Man könnte fast meinen, in Afrika am Rand irgendeines geheimnisvollen Tales zu stehen. Dieser Schotterbruch muß bis vor einigen Jahrzehnten in Betrieb gewesen sein. Noch gibt es die Überreste einer Hütte, die offenbar für die Arbeiter bestimmt gewesen ist, und die Schwellen einer alten Schmalspurbahn. Der Rest besteht aus Felsen, magerem Gesträuch und Schlangen. Ich trat flott in die Pedale und genoß die frische, duftende Luft, als das Wäldchen plötzlich zu Ende war und ich mich in der vollen Sonne befand. Ich erinnerte mich, daß der Pfad jetzt eine abfallende Kurve in eine grasige Mulde machte und dann steil bis zum Rand des Steinbruchs anstieg. Von dort ging es über den Kies wieder abwärts. »Da sind wir!« rief ich meinem Gefährten zu und schoß in die Mulde hinunter, um den Gegenhang mit Schwung nehmen zu können. Im voraus freute ich mich schon auf die sausende Fahrt in den Grund des Steinbruchs. Doch als ich mit Schwung auf der Höhe anlangte und meine Blicke die vor mir liegende Strecke abmaßen, bremste ich mit aller Plötzlichkeit. Beide sprangen wir vom Rad und standen, aufs äußerste betroffen, schweigend da. Mitten auf dem Grund des Steinbruchs, zwischen den Kalkblöcken, nicht mehr als vierhundert Meter von uns entfernt, dort, wo bis zur vorausgegangenen Woche mindestens fünfzehn Jahre hindurch nichts gewesen war als Steine, Wurzeln, Vögel und Schmetterlinge, erhob sich ein riesiges Ding. Es war ungemein kompliziert, seltsam und hoch wie ein fünfstöckiges Haus. Was mir auf den ersten Blick den größten Eindruck machte, war seine schreckliche schwarze Farbe. Kein mattes Trauerschwarz, sondern ein leuchtendes Schwarz. Nie hätte ich gedacht, daß irgend etwas auf der Welt so schwarz sein könnte. Vielleicht kam diese starke Farbwirkung auch daher, daß der
Steinbruch weiß und außerordentlich hell war. Es sah aus, als wäre das Ding in jeder Einzelheit lackiert wie ein Luxusauto. Ja, schrecklich und beunruhigend sah das Ding aus! In seiner Mitte befand sich eine Art glatter, kompakter Kuppel ohne jede Öffnung. Und rings um diese Kuppel erhoben sich in gleichmäßigen Abständen kranartige Arme, ein Gewirr von Stangenwerk, das sich immer in derselben Anordnung wiederholte. Diese Stangen bestanden aus äußerst langen Rohren, deren Stärke nach unten abnahm. Das Ganze erinnerte irgendwie an einen leeren Gasometer, machte jedoch einen viel großartigeren Eindruck. Überraschend war auch, daß der ganze gigantische Mechanismus nichts aufwies, was an ein Rad erinnerte, keine rotierende Achse, keine Transmission. Auch gab es keine Kommandokabine, keine Treppe, keinen Sitz – nichts, was Beziehung auf einen Menschen hätte haben können. Was in des Teufels Namen mochte das sein? Die rätselhafte Kuppel, ganz besonders aber die doppelte Stangenkrone, die an einen Regenschirm oder besser noch, an eine Anzahl geschlossener Zeichenzirkel denken ließ, strömte eine furchtbare Energie aus – auch deshalb, weil jede Oberfläche, jedes Gelenk glatt, sauber und vollkommen war, ohne eine Spur von Nietköpfchen. Das Ding stand ruhig da, kein Rauch, kein Geräusch kam hervor, keine Menschen waren in seinem Umkreis zu erblicken. Wer hatte es in so kurzer Zeit aufgestellt und wie? Nirgends waren in der Nähe Baracken, Materiallager, irgendwelche Spuren von Bewegung und Arbeit zu bemerken. Es war, als sei das ungeheure Etwas vom Himmel gefallen. »Guter Gott!« sagte mein Vetter. »Was ist das?… Hör zu – wir machen lieber, daß wir fortkommen!« »Wieso denn?… Ich will doch sehen, was das ist!« »Weit und breit ist kein Mensch«, meinte Trevigiani. »Ob es sich nicht um eine elektrische Anlage handelt?«
»Wegen dieser Antennen, meinst du? Aber ich sehe nirgends Drähte.« »Immerhin ist es merkwürdig, daß keine lebende Seele zu sehen ist«, sagte mein Vetter nochmals. Offenbar hatte er wenig Lust, näher an das Ding heranzugehen. Fürchterlich schwarz, gespickt mit jenen unbegreiflichen schrägen Stangen, thronte das Ding in der Einsamkeit und hatte dabei etwas Großartiges an sich. Die Heide ringsum lag still und verlassen da. Nichts war zu hören als das Schwirren der Insekten. Ich führte mein Fahrrad an der Hand und machte mich sozusagen probeweise daran, in die Mulde hinabzusteigen. Trevigiani blieb unentschlossen stehen. Meine Schritte riefen mehr Lärm hervor als mir recht war. Die Hitze war drückend. Je näher ich an das Ding heranging, desto größer und sonderbarer kam es mir vor. Die Sonne funkelte auf dem glänzenden Lack der Kuppel, der runden Gelenke, der Stangen, und alles war unbeweglich und voll eines schweigenden Geheimnisses. Ich betrachtete die Basis des Ganzen und wunderte mich, daß keine Spur eines Sockels oder einer Plattform zu erblicken war. Das Stangenwerk, das oben in die dickeren, an der Basis der Kuppel befestigten Stangen überging, ruhte direkt auf dem Kiesgrund, schien sich sogar in diesen mittels besonderer, gekrümmter Haken einzubohren. Ich war jetzt nicht weiter als dreihundert Meter von dem Ding entfernt und blieb stehen. Ein schwacher Wind wehte, es klang, als pfiffe er leise in den Gerüsten des Ungetüms. Die Neugier veranlaßte mich, noch näher heranzugehen. Doch nach vier oder fünf Schritten vernahm ich in meinem Rücken die Stimme Trevigianis. Sie hatte einen so veränderten Ton, daß mir das Blut in den Adern gefror. »Giovanni!« rief er. »Schau! Schau!« Und während ich sein Fahrrad zu Boden fallen hörte, vernahm ich bereits das Geräusch seiner davonhastenden Schritte.
Ich schaute. Und Entsetzen lähmte mich. Eine der Stangen des Ungeheuers bewegte sich, fast so, als besäße sie ein Eigenleben. Langsam hob sie sich vom Boden, schwebte einen Augenblick mit dem gekrümmten Haken in der Luft. Dann ließ sie sich ebenso langsam wieder auf die Kiesfläche nieder, jedoch etliche Meter entfernt von der Stelle, an der sie sich früher befunden hatte. Auch der mit ihr verbundene innere Arm hatte dieselbe Bewegung gemacht und sich geneigt. Plötzlich begriff ich die ganze Schrecklichkeit dessen, was ich da vor mir hatte. Das war keine Maschine, sondern eine ungeheure Spinne! Ich war völlig ungedeckt und voll beleuchtet. Die Lenkstange und die Klingel meines Fahrrades glitzerten in der Sonne. Nicht ein Spalt, nicht ein Graben ringsum, wo ich mich hätte verbergen können. Der Gedanke, mich gegen das Ungeheuer zu wehren, war reiner Wahnsinn. Mit äußerster Vorsicht suchte ich mich Schritt um Schritt zurückzuziehen und ein Gebüsch am Wegrand zu erreichen. Die Beine drohten mir den Dienst zu versagen. Endlich langte ich wirklich hinter einem Gebüsch an, kauerte mich nieder und legte unendlich vorsichtig das Fahrrad neben mich. Zu flüchten, wie mein Instinkt mir riet, wäre bei weitem das Schlimmste gewesen. Ich dachte an meinen Vetter, der nun wohl schon ein gutes Stück entfernt war. Würde er Leute alarmieren? Was würde das nützen? Wer hätte den Kampf gegen dieses Ding aufnehmen sollen? Da hätten nicht einmal Kanonen etwas ausgerichtet! Da – mein Herz verkrampfte sich vor Angst – bewegte sich das Ding von neuem. Jetzt bebten alle seine Stangenbeine gleichzeitig (waren es ihrer acht, wie bei anderen Spinnen, oder waren es Hunderte? Ich hätte es in meiner Beklemmung nicht zu sagen vermocht). Die schwarze Kuppel – sie war nichts anderes als der Bauch der Riesenspinne – hob sich ein
paar Meter über den Boden. Das Ungeheuer war erwacht! Ich keuchte, so heftig schlug mir das Herz in der Brust. Gräßlich, dieses Gewimmel sich öffnender und wieder schließender Spinnenbeine! Aber das Ding bewegte sich nicht von der Stelle. Nachdem es eine Vierteldrehung vollführt hatte, ließ es sich von neuem auf den Boden nieder und zog die Beine an, die in ihre ursprüngliche Lage zurückkehrten und wie das Flechtwerk eines riesenhaften Korbes aussahen. Mit aller Kraft meiner Seele hoffte ich, das höllische Wesen werde wiederum einschlafen. Doch wie lange würde ich warten müssen? Bis zum Einbruch der Dunkelheit? Und woher sollte ich dann den Mut nehmen, im Finstern durch die Heide davonzulaufen? Ich starrte zwischen den Zweigen des Haselnußstrauchs hindurch, der mich jetzt verbarg, und sah mit einem Male etwas Grausiges: Unter der schwarzen Kuppel, die jetzt eine etwas veränderte Lage angenommen hatte, wurde ein zylindrischer, mehrfach angekerbter, schwarzer Körper sichtbar. An dessen Ende saß ein Paar glatter, schwarzer Kugeln, jede so groß wie ein Autoreifen. Es waren die Augen des Ungeheuers, und ich bemerkte, daß sie mich anstarrten. Oder war es nur die Furcht, die mich dies glauben ließ? Schaute die Spinne gar nicht in eine bestimmte Richtung? Vielleicht besaßen diese riesigen Augen nur eine geringe Sehkraft. Es war auch möglich, daß die Spinne überhaupt nichts hörte, daß ich also mitsamt meinem Fahrrad ungefährdet weggehen konnte. Aber dies alles war nichts weiter als eine gewagte Vermutung, und es wäre idiotisch gewesen, sich darauf zu verlassen. Unterdessen herrschte in dem ganzen Steinbruch noch immer völlige Stille. Ich hörte nur das Rauschen meines eigenen Blutes und das friedliche Summen der Insekten.
Dieser falsche Friede war ein geringer Trost. Auch wenn es mir persönlich gelang, hier wegzukommen, so blieb doch die Gefahr als solche weiter bestehen. Wer oder was konnte sich dieser Spinne in den Weg stellen, wenn sie sich erst einmal in Bewegung setzte? Auch die Häuser, dachte ich, werden keinen Schutz bieten, und keine Waffe wird zur Verteidigung ausreichen. War mit Feuer etwas auszurichten, indem man rings um das Ungeheuer Ströme von Benzin in Brand setzte? Doch wie sich ihm nähern? Die Bewegung eines seiner Beine allein mußte genügen, um einen Panzerwagen zu zerschmettern. Ich dachte an Trevigiani, der wohl bald Alarm schlagen würde. Panik wird sich der Bevölkerung bemächtigen. Zuerst wird man kein Wort von Trevigianis Geschichte glauben und ihn für verrückt halten. Dann aber werden ein paar Bauern oder Gendarmen der Sache nachgehen. Ein Blick vom Rande des Steinbruchs herab wird genügen, damit sie atemlos davonlaufen, und gleich darauf wird man den Präfekten verständigen, wird der Rundfunk die ganze Welt alarmieren. Dieses Ereignis ist so neuartig und scheußlich, daß es den Menschen mehr Angst einjagen wird als der Krieg mit seinen Verschleppungen und Bombardements. Die Bevölkerung wird sich in den vom Krieg noch verbliebenen Luftschutzkellern einschließen oder in ferne Länder zu flüchten suchen. Niemand wird mehr an Geld, Arbeit, Politik oder Liebe Interesse haben. Jeder wird nur daran denken, wie er sich retten kann. Raschelnde Zweige, wenige Schritte von mir entfernt, ließen mich zusammenfahren. Erschrocken hielt ich Ausschau und erblickte einen Jungen von zwölf oder dreizehn Jahren, der auf allen vieren zwischen dem Strauchwerk auf das Ungeheuer zuschlich und dabei irgend etwas im Munde trug. Es war ein hagerer Bursche mit abgezehrtem, bleichem Gesicht, der
gleichmäßig vorwärts kroch, der Spinne entgegen. Was, um Gottes willen, hatte er vor? Bei dem Gedanken, daß noch ein anderer in derselben Lage war wie ich, empfand ich eine jämmerliche Freude. Ich war also nicht allein. Und vielleicht würde die tierische Wut des Ungeheuers nicht mich, sondern ihn zum Opfer wählen. Seine und nicht meine Eingeweide würde es aussaugen und dann vielleicht für einige Minuten satt sein. Gleichzeitig empfand ich etwas wie Freundschaft für den Knaben, der wahrscheinlich ein Bauernjunge war. Diese kurzen Augenblicke gemeinsamer Gefahr galten soviel wie lange Jahre eines zusammen verbrachten Lebens. Sie schufen eine Art seelischer Brüderschaft, eine Kameradschaft, die vielleicht durch einen gräßlichen Tod besiegelt werden würde. Noch freilich wußte der Junge nichts von meiner Gegenwart. »Ssss… sss…«, machte ich, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sofort hielt er inne und blieb flach auf dem Boden liegen. Offenbar war er genauso erschrocken wie zuvor ich, als ich ihn bemerkt hatte. Durch Handbewegungen suchte ich ihn nach seinen Absichten zu befragen. Er faßte mit der Hand nach dem Mund und ergriff einen Gegenstand, den er bisher zwischen den Zähnen gehalten hatte. Ich erkannte eine hölzerne Gabel mit einem dicken Gummiband: eine Schleuder. Dann lächelte er mir zu. Es war ein etwas gezwungenes Lächeln. Aber jede Art von Lächeln war angesichts dieses dämonischen Wesens, das zu uns herüberstarrte, unglaublich. Dann griff der Junge mit der anderen Hand in eine Tasche seiner Jacke, die bis zum Platzen angefüllt war, nahm etwas heraus und zeigte es mir. Ich sah, daß es eine Handgranate war, offenbar eine aus Heeresbeständen, mit weißen und blauen Lackstreifen bemalt. Mit dem Daumen wies der Junge in der Richtung des Ungeheuers.
War er wahnsinnig? Was wollte er mit seiner lächerlichen Handgranate ausrichten? Er konnte damit die Katastrophe nur beschleunigen. Ich winkte ihm also ab, er möge den Versuch unterlassen, er aber lächelte von neuem, steckte die Granate ein und kroch weiter zwischen den Büschen vorwärts. »Nein! Nein! Warte!« flüsterte ich ihm zu, doch er schien mich nicht zu hören. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich nicht alles wagen und flüchten sollte. Der Junge war weniger weit von der Spinne entfernt als ich und daher ihr voraussichtliches erstes Opfer. Sein Untergang, der von Sekunde zu Sekunde wahrscheinlicher wurde, mußte mir zu einem zeitlichen Vorsprung verhelfen. Aber war ich denn auch sicher, daß das Ungeheuer den Jungen vor mir angreifen würde? Tiere sind oft tückisch und schlau. Es mochte sehr wohl sein, daß die Spinne sich zuerst auf mich stürzte, der ich zu fliehen beabsichtigte, und dann erst den anderen angriff, der ihr standhalten wollte. Mit einem Wort, ich brachte den Mund nicht auf, mich zu rühren, und blieb, wo ich war. Der flinke Junge hatte sich bereits um etwa hundert Meter von mir entfernt. Ihn selbst sah ich nun nicht mehr, aber die Bewegung in den Büschen ließ erkennen, wo er sich befand. Die Spinne rührte sich nicht. Es schien, als schiele sie dauernd zu uns herüber. Plötzlich sprang der Junge auf. Er war entschlossen, sich zugrunde zu richten! Der Schatten des Ungeheuers berührte ihn beinahe. Er mochte vierzig Meter von der Spinne entfernt sein. Ich sah, wie er sich an seiner Schleuder zu schaffen machte, konnte jedoch auf die Entfernung keine Einzelheiten erkennen. Er hob den linken Arm mit der hölzernen Gabel, spannte mit der Rechten das Gummiband. Ein schwarzes Pünktchen flog in parabolischer Kurve davon. Oh, wie langsam es flog! Es war die Handgranate. Sie fiel zwischen den Beinen des Ungeheuers
auf den Steinboden, ohne zu explodieren. Gleich darauf hörte ich das Geräusch eines Aufpralls. Die Spinne regte sich nicht. Der Junge stand da und schaute. Dann nahm er eine zweite Granate aus der Tasche, spannte die Schleuder und schoß los. Diesmal flog das Geschoß fast in gerader Linie, etwa drei Meter über dem Boden. Ich konnte nicht sehen, wo es auftraf. Plötzlich aber fiel eines der riesigen, V-förmigen Beine um, so als wäre es amputiert worden. Mit einem Krach schlug es auf dem Boden auf und lag dort als dünner, schwarzer Strich. Es war unglaublich: Kein Blitz war zu sehen, kein Rauch, keine Explosion war laut geworden. Nur ein Klirren wie von zersplittertem Glas. Gleichzeitig ging es wie ein Ruck durch die skelettartigen Glieder des dämonischen Wesens. Ein wirres Zittern des leuchtenden Stangenwerks – dann hob sich der Bau drei- oder viermal ruckweise, so als wolle er einen Anlauf nehmen. Der Knabe rührte sich nicht. Erstaunlich in seiner Kühnheit, zog er eine dritte Granate hervor. Als er sie abschoß, war die Spinne fast über ihm. Ich schrie auf, doch aus meiner Kehle kam nur ein schwaches Stöhnen. Inmitten des runden, schwarzen Schattens, den der Bauch der Spinne warf, flammte ein kleines, gelbes Licht. Die ganze Talmulde erdröhnte von einer Explosion. Und was ich jetzt sah, war so erstaunlich, daß ich zu träumen glaubte. Der ganze Kopf der Spinne mit den beiden Kugelaugen flog weg wie der Korken einer Flasche, ein schwarzer Klumpen in der Größe eines Eisenbahnwagens. Klirrend fiel er zu Boden, als wäre er aus zerbrechlichem Glas. Das übrige Ding sank unter grotesken Zuckungen in sich zusammen, während aus der höhlenartigen Wunde Massen grünlicher Eingeweide hervorquollen und die riesigen Beine sich verkrümmten und umsanken. Von dem ganzen
Ungeheuer, von dem Leviathan, blieb nichts übrig als ein schwarzes Stachelknäuel, das jetzt im Tode erstarrte. Ich verstand selbst nicht, warum ich es tat, aber ich sprang aus meinem Gebüsch hervor und lief atemlos hinunter, auf den scheußlichen Überrest zu. Gleich darauf stand ich neben dem Knaben. »Der war groß, was?« sagte er lachend. »Haben Sie gesehen, wie ich mit ihm fertig geworden bin?« Die düstere Masse des Kadavers war noch immer riesig – mit ihrer ungeheuren Kuppel und dem Gewirr der Beine, die sinnlos verfilzt waren. Über das Ganze hatten sich Fäden gespannt und zäher Schleim ergossen, der einen Übelkeit erregenden Gestank ausströmte. »Na, machen wir Schluß damit!« sagte der Junge, zog eine Flasche hervor und warf sie nach den widerwärtigen Resten. Die Flasche zerbrach. Sie enthielt Petroleum. Der Junge schleuderte noch eine Handgranate. Jetzt hob sich die ganze Kuppel, fiel dann wieder zurück und zersprang in tausend Stücke, während die Flammen emporschlugen. Kuppel und Beine fingen sogleich Feuer, knackten dabei wie brennender Wacholder, lösten sich auf und zersplitterten. »Mein Gott!« murmelte ich. Eine ungeheure Müdigkeit befiel mich. Ich schaute mich um. Es war Abend. Wieviel Zeit war wohl vergangen? Der Brand war erloschen und hatte nur Häufchen schwarzer, äußerst leichter Asche übriggelassen, die der Wind davontrug. Ich lief fort, hinter dem Jungen her, der schon beinahe den Rand des Steinbruchs erreicht hatte. Das Ungeheuer hatte zu bestehen aufgehört, aber noch lastete der Druck auf meiner Seele. Und während am Horizont ein großer, gelber Mond aufging, begriff ich, daß noch lange nicht alles zu Ende war.
Fritz Leiber Die automatische Pistole
Inky Kozacs ließ niemals jemand anderen an seine automatische Pistole heran, ja sie nur berühren. Sie war blauschwarz und schwer, und wenn man nur einmal abdrückte, ballerten acht 45iger Kugeln beinahe gleichzeitig los. Inky war so eine Art Waffenspezialist, was seine Automatik betraf. Er konnte sie auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, und ab und zu feilte er mal vorsichtig das Innere des Sicherungsbügels glatt. Glasses sagte einmal zu ihm: »Du wirst diese Pistole noch so haarfein zurechtfeilen, daß sie in deiner Hosentasche losgeht und dir deine sämtlichen Zehen wegpustet. Du brauchst nur an sie zu denken, und schon geht sie los.« Ich erinnere mich, daß Inky darüber lächelte. Er war klein und drahtig, mit einem blassen Gesicht, aus dem er das blauschwarze seines Bartes nie ganz entfernen konnte, wie glatt er sich auch rasierte. Auch sein Haar war schwarz. Er sprach mit ausländischem Akzent, aber ich konnte nie erkennen, aus welchem Land er kam. Er tat sich mit Anton Larsen zusammen, gleich nach Beginn der Prohibition, damals, als Ein-Mann-Boote mit umgebauten Automotoren mit den Booten der Küstenwache in der Bucht von New York und vor der Küste von Jersey Versteck spielten, ohne Licht, um das Spiel noch schwieriger zu machen. Larsen und Inky Kozacs bekamen den Schnaps von einem Dampfer und brachten ihn in die Nähe der Hafeneinfahrt von New Jersey.
Damals begannen Glasses und ich für sie zu arbeiten. Glasses, der aussah wie eine Mischung aus Universitätsprofessor und Autoverkäufer, kam irgendwo aus New York City, und ich war ein Kleinstadtpolizist, bis ich beschloß, ein weniger heuchlerisches Leben zu führen. Wir brachten den Stoff gewöhnlich in einem Lastwagen zurück nach Newark. Inky fuhr immer mit uns; Larsen nur manchmal. Keiner von beiden sprach viel. Larsen, weil er im Sprechen keinen Sinn sah, außer um einem Kerl Anweisungen zu geben oder einem Mädchen einen Antrag zu machen, und Inky, ich glaube, weil er nicht allzu gerne amerikanisch sprach. Es gab keine Fahrt, bei der Inky nicht seine Automatik hervorholte, sie streichelte und ihr etwas zumurmelte. Einmal, als wir friedlich die Landstraße entlang tuckerten, fragte Glasses ihn höflich, aber forschend: »Was macht dich bloß so verrückt nach diesem Schießeisen? Es gibt doch tausende von der gleichen Sorte.« »Glaubst du?« erwiderte Inky, blinzelte uns aus seinen kleinen schwarzen Augen an und begann eine Rede: »Hör zu, Glasses« (er sprach das Wort »Hasses« aus), »nichts ist gleich in der Welt. Weder Menschen, noch Gewehre, noch Scotchflaschen – nichts. Alles ist verschieden. Jeder Mensch hat verschiedene Fingerabdrücke, und von allen Pistolen, die in dergleichen Fabrik wie diese hier hergestellt wurden, ist keine so wie meine. Ich könnte meine aus hundert herauspicken. Ja, selbst wenn ich den Sicherheitsbügel nicht gefeilt hätte, könnte ich das.« Wir widersprachen ihm nicht. Es hörte sich ganz vernünftig an. Na gut, er liebte diese Pistole eben. Er schlief nie ein, ohne sie unter dem Kopfkissen zu wissen. Ich glaube, solange er lebte, war sie nie mehr als drei Schritte von ihm entfernt.
Einmal, als Larsen mit uns fuhr, bemerkte er sarkastisch: »Das ist eine hübsche kleine Pistole, Inky, aber ich bin es langsam leid, dich dauernd mit ihr sprechen zu hören, besonders, wenn niemand versteht, was du sagst. Hat sie dir eigentlich jemals geantwortet?« Inky lächelte ihn an. »Meine Pistole kennt nur acht Worte«, sagte er, »und die sind alle gleich.« Der Witz war so gut, daß wir lachen mußten. »Laß mal sehen«, sagte Larsen und streckte seine Hand aus. Aber Inky steckte sie zurück in seine Tasche und holte sie für den Rest der Fahrt nicht mehr heraus. Danach zog Larsen Inky dauernd wegen der Pistole auf, um ihn auf die Palme zu bringen. Er war ein hartnäckiger Bursche mit sonderbarem Humor, den er auch dann noch beibehielt, wenn es schon längst nicht mehr lustig war. Schließlich tat er so, als ob er die Pistole kaufen wollte und machte Inky verrückte Angebote von einem bis zweihundert Dollar. »Zweihundert und fünfundsiebzig Dollar, Inky«, sagte er eines Abends, als wir gerade mit einer Ladung Cognac und Irish Whisky hinter Bayport entlang ratterten. »Das ist mein letztes Angebot, und du nähmst es besser an.« Inky schüttelte den Kopf und machte ein komisches Geräusch, das sich fast wie ein Knurren anhörte. Dann, zu meiner großen Überraschung (ich kam mit dem Wagen fast von der Straße ab), verlor Larsen seine Geduld. »Die verdammte Waffe her!« brüllte er, packte Inky bei den Schultern und schüttelte ihn. Ich wurde fast vom Sitz gestoßen. Es hätte sogar noch jemand verletzt werden können, hätte uns nicht gerade in dem Augenblick ein Bulle auf dem Motorrad angehalten und nach seinem Schweigegeld gefragt. Bis er ging, waren Larsen und Inky bis auf den Gefrierpunkt abgekühlt und hatten aufgehört, zu kämpfen. Wir brachten unsere Ladung sicher ins Lager, keiner sagte ein Wort.
Später, als Glasses und ich eine Tasse Kaffee in einem Nachtrestaurant tranken, sagte ich: »Die beiden Kerle sind verrückt, und da hab’ ich was gegen. Warum, zum Teufel, führen sie sich so auf, jetzt, wo die Geschäfte so prima laufen? Ich habe zwar nicht soviel Grips wie Larsen, aber ich würde nie wie ein Kind um eine Pistole kämpfen.« Glasses lächelte nur, während er genau einen halben Teelöffel Zucker in seine Tasse rührte. »Und Inky spinnt auch«, fuhr ich fort. »Ich sag dir, Glasses, es ist weder natürlich noch normal für einen Mann, so für ein Stück Metall zu empfinden. Ich kann ja verstehen, daß er sich darüber freut und sich ohne es verloren fühlt. Mir geht’s genauso mit meinem Halb-Dollar-Stück. Es ist die Art und Weise, wie er es streichelt und liebkost, die mir auf die Nerven geht. Und jetzt fängt Larsen schon genauso an.« Glasses zuckte mit den Achseln. »Wir sind alle ein bißchen nervös, auch wenn wir das nicht zugeben wollen«, antwortete er. »Zu viele Überfälle. Und so fallen wir uns gegenseitig auf die Nerven und streiten uns um Lappalien – wie automatische Pistolen.« »Da ist vielleicht was dran.« Glasses zwinkerte mir zu. »Ja, sicher, No Nose«, sagte er, und bezog sich damit auf etwas, was mir mal ein Baseball zufügte. »Ich habe sogar noch eine andere Erklärung für das, was heute abend geschehen ist.« »Was?« Er beugte sich vor und flüsterte auf eine komischmysteriöse Weise: »Vielleicht ist an der Pistole selbst was faul.« Ich antwortete ihm, er solle sich zum Teufel scheren. Jedenfalls, seit dieser Nacht war alles anders. Larsen und Inky Kozacs sprachen kein Wort mehr miteinander, außer über geschäftliche Dinge. Und über die Pistole wurde überhaupt nicht mehr geredet, weder im Spaß, noch im Ernst.
Die Jahre verstrichen und der Schwarzhandel blühte, nur die Überfälle wurden immer zahlreicher, und Inky hatte eine Menge Gelegenheiten, uns zu zeigen, was für einen hübschen Lärm seine Automatik machte. Dann bekamen wir Krach mit einigen Konkurrenten, deren Boß ein Ire namens Luke Dugan war. Wir mußten jetzt sehr vorsichtig sein und für jede Fahrt eine andere Route nehmen. Noch gingen die Geschäfte gut. Ich unterstützte weiterhin fast alle meine Verwandten, und Glasses legte jeden Monat etwas für seinen sogenannten Perserkatzen-Fond auf die Seite. Ich glaube, Larsen gab alles, was er besaß, für Frauen aus und das was damit zusammenhing. Er war einer von denen, die sämtliche Vergnügungen, die das Leben bietet, ohne ein Lächeln mitnehmen, aber nur für sie leben. Und was Inky Kozacs betrifft, haben wir nie erfahren, was mit dem Geld geschah, das er machte. Wir hörten nie, daß er viel ausgab und glaubten schließlich, daß er es sparte und vielleicht in Scheinen in einem Sicherheitsschließfach aufbewahrte. Vielleicht hatte er vor, zurück in seine Heimat zu gehen, wo immer das auch war, und jemand zu sein. Jedenfalls hat er es uns nie gesagt. Bis der Kongreß uns unseren Job wegnahm, mußte er eine Menge Kohle gemacht haben. Wir waren keine große Nummer in dem Gewerbe, aber wir mußten sehr vorsichtig sein. Schließlich fuhren wir unsere letzte Ladung. Wir mußten die Geschäfte ziemlich bald drangeben, denn die großen Syndikate verlangten von Woche zu Woche mehr Schmiergeld. Das ließ einem kleinen, unabhängigen Unternehmer keine Chance, auch wenn er so clever war wie Larsen. Also legten Glasses und ich uns einige Monate auf die faule Haut, bevor wir überlegten, was wir als nächstes für seine Perserkatzen und meine lästigen Verwandten zu tun hatten. Während dieser Zeit hielten wir zusammen.
Dann las ich eines Morgens in der Zeitung, daß Inky Kozacs übers Ohr gehauen worden war. Er wurde in der Nähe von Elisabeth, New Jersey, auf einer Müllkippe erschossen aufgefunden. »Ich vermute, Luke Dugan hat ihn schließlich doch erwischt«, sagte Glasses. »Ein häßliches Ende«, antwortete ich und dachte dabei besonders an das viele Geld, von dem er überhaupt nichts gehabt hatte. »Ich bin nur froh, Glasses, daß wir nicht wichtig genug für Dugan sind, um von ihm belästigt zu werden. Das hoffe ich wenigstens.« »Ja. Sag mal, No Nose, haben sie eigentlich seine Waffe bei ihm gefunden?« »Sie schreiben, der Tote war unbewaffnet und eine Waffe wurde nirgends gefunden.« Glasses bemerkte, es wäre ganz komisch, daran zu denken, daß jemand anderer Inkys Pistole besäße. Ich stimmte ihm zu, und wir überlegten eine Weile, ob Inky sich überhaupt hätte verteidigen können. Ungefähr zwei Stunden später rief Larsen an und bat uns, ihn an unserem Versteck zu treffen. Er sagte, Luke Dugan hätte auch ihn auf dem Kieker. Unser Versteck war ein dreiräumiger Bungalow aus Holz. Daneben stand eine Wellblechgarage. Die Garage war für den Laster. Manchmal lagerten wir dort aber auch eine Ladung Schnaps, wenn wir hörten, daß die Bullen zur Abwechslung mal jemand festnahmen. Es liegt in der Nähe von Bayport, ungefähr eineinhalb Meilen von der asphaltierten Straße und etwa einer viertel Meile von der Bucht und dem kleinen Meeresarm entfernt, wo wir gewöhnlich unser Boot versteckten. Hartes, messerscharfes Seegras, größer als ein Mensch, wächst bis nahe an das Haus, auf der Nordseite, die zur Bucht zeigt, und an der Westseite. Unter dem Seegras ist
der Grund matschig, obwohl er bei heißem Wetter und Ebbe austrocknet und eine Kruste bildet; hier und da ist der Boden von Sielen durchzogen. Selbst eine kleine Brise läßt die Seegrashalme aneinanderreihen und dabei ein trockenes Rauschen erzeugen. Nach Osten hin liegen ein paar Felder und hinter ihnen Bayport. Bayport ist so eine Art Seebad. Einige Häuser sind auf Pfählen gebaut, wegen der Stürme und Gezeiten. Es gibt eine kleine Lagune für die Boote der Krabbenfischer. Auf der Südseite des Verstecks liegt die dreckige Straße, die auf die asphaltierte Landstraße führt. Glasses und ich kamen am späten Nachmittag dort an. Wir brachten Lebensmittel für einige Tage mit, denn wir glaubten, daß Larsen ein paar Tage dort bleiben wollte. Dann, so gegen Sonnenuntergang, hörten wir Larsens Coupe und ich ging raus, um es in die große, leere Garage zu fahren und seinen Koffer reinzutragen. Als ich zurückkam, sprach Larsen mit Glasses. Er war groß und hatte breite Schultern wie ein Ringer. Sein Kopf war fast kahl, und die paar Haare, die er noch hatte, waren schmutziggelb. Er hatte kleine Augen und ein ausdrucksloses Gesicht. Und so stand er da, als er sagte: »Tja, Inky hat’s erwischt.« »Luke Dugans verrückte Revolverhelden wollten sich sicher an ihm rächen«, bemerkte ich. Larsen nickte mit dem Kopf und machte ein finsteres Gesicht. »Inky hat’s erwischt«, wiederholte er, nahm seinen Koffer und ging in Richtung Schlafzimmer. »Und ich habe vor, für einige Tage hier zu bleiben, falls sie auch hinter mir her sind. Ich möchte, daß ihr beiden bei mir bleibt.« Glasses zwinkerte mir zu und begann damit, das Essen zusammenzustellen. Ich machte das Licht an, ließ die Rolläden herunter und warf einen besorgten Blick auf die Straße, die leer war. Dieses Warten in einem einsamen Haus auf einen
Haufen schießwütiger Revolverhelden, die dich am Ende doch erwischen, gefiel weder mir noch Glasses, glaube ich. Ich hätte es für sehr viel vernünftiger gehalten, wenn Larsen New York ein paar tausend Meilen hinter sich gelassen hätte. Aber da ich ihn kannte, war ich schlau genug, darüber keine Bemerkung zu verlieren. Nach einer Dose Corned-Beef Haschee, Bohnen und Bier, saßen wir um den Tisch und tranken Kaffee. Larsen nahm eine Automatik aus seiner Tasche und begann damit zu spielen. Ich sah sofort, es war Inkys. Fünf Minuten lang sagte keiner ein Wort. Glasses spielte mit seinem Kaffee, indem er die Milch tropfenweise hineingoß. Ich zerbröselte ein Stück Brot in kleine Kügelchen, die immer unappetitlicher aussahen. Schließlich blickte Larsen uns an und sagte: »Der arme Inky hatte sie leider nicht bei sich, als er übers Ohr gehauen wurde. Er gab sie mir, kurz bevor er zurück in seine Heimat segeln wollte. Er wollte sie nicht länger bei sich haben, jetzt wo der Job vorüber ist.« »Ich bin nur froh, daß der Kerl, der ihn umlegte, sie nicht bekommen hat«, sagte Glasses schnell. Er sprach nervös und in seinem schlimmsten Professorenstil. Ich merkte, daß er kein Schweigen mehr aufkommen lassen wollte. »Das ist ja ein Ding, Inky gibt seine Pistole weg – aber ich kann ihn verstehen; er brachte die Pistole mit unserem Job in Verbindung. Als das eine vorbei war, wollte er auch das andere nicht mehr.« Larsen brummte, und das hieß für Glasses, den Mund zu halten. »Was passiert eigentlich mit Inkys Kohle?« fragte ich. Larsen zuckte mit den Schultern und spielte weiter mit der Automatik, indem er eine Patrone in die Kammer schob, den Hahn spannte und so fort. Es erinnerte mich so sehr an die Art und Weise, wie Inky mit ihr umging, daß ich langsam zappelig
wurde und glaubte, Luke Dugans Leute durch das Seegras heraufkriechen zu hören. Schließlich stand ich auf und wanderte herum. Dann passierte der Unfall. Nachdem Larsen den Abzugshahn gespannt hatte, wollte er gerade den Sicherungsbügel der Waffe umlegen, als sie ihm aus der Hand glitt. Als die Automatik am Boden aufschlug, ging sie mit Blitzen und Knallen los, eine Kugel durchbohrte die Bohlen so nah an meinem Fuß, daß es mir unbehaglich wurde. Sobald mir klar war, daß ich nicht getroffen war, schrie ich los, ohne weiter nachzudenken: »Ich habe Inky immer gesagt, er soll an seiner Knarre nicht so viel herumfeilen! Der Spinner!« Larsen saß da und starrte mit seinen Schweinsaugen auf die Pistole zwischen seinen Füßen. Dann schnaubte er komisch, hob sie auf und legte sie auf den Tisch. »Diese Knarre müßte einfach weggeworfen werden. Sie ist einfach zu gefährlich. Sie bringt Unglück«, sagte ich zu Larsen und bereute es im selben Augenblick, denn ich kam in den Genuß eines vernichtenden Blickes und einiger komischer schwedischer Flüche. »Halt den Mund, No Nose«, schloß er, »und sag mir nicht, was ich tun oder lassen soll. Ich kann auf mich aufpassen und auf Inkys Pistole. Und jetzt gehe ich ins Bett.« Er schloß die Schlafzimmertür hinter sich und überließ es Glasses und mir, herauszufinden, daß wir unsere Decken herausholen und auf dem Boden schlafen sollten. Aber wir wollten noch nicht schlafen, vielleicht, weil wir immer noch an Luke Dugan dachten. Also holten wir ein Kartenspiel und spielten eine Runde Studpoker. Studpoker wird wie gewöhnlicher Poker gespielt, außer, daß vier von fünf Karten nacheinander offen ausgeteilt werden.
Man setzt jedesmal, wenn eine Karte ausgeteilt wird, und so wechselt eine Menge Geld leicht den Besitzer, auch wenn man wie wir nur mit höchstens 10 Cent spielt. Das ist ein prima Spiel, um Dummköpfen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Glasses und ich spielten es oft stundenlang, wenn wir nichts Besseres zu tun hatten. Aber seitdem wir beide gleich clever waren, gewann keiner ständig. Es war sehr still, abgesehen von Larsens Schnarchen, dem Rauschen des Seegrases und dem gelegentlichen Klimpern eines Zehncentstücks. Etwa nach einer Stunde schaute Glasses zufällig zu der Automatik herüber, die auf der anderen Seite des Tisches lag, und die Art, wie sein Körper plötzlich herumfuhr, ließ auch mich hinschauen. Ich fühlte sofort, daß etwas nicht stimmte, wußte aber nicht was; ich hatte plötzlich ein komisches Gefühl im Nacken. Dann drehte Glasses die Pistole mit zwei schmalen Fingern halb herum, und da erkannte ich, was nicht, gestimmt hatte – oder vielmehr, wovon ich glaubte, daß es nicht gestimmt hatte. Als Larsen die Waffe hinlegte, zeigte sie nämlich auf die Eingangstür; aber als Glasses und ich jetzt hinschauten, zeigte sie mehr in Richtung Schlafzimmertür. Wenn einem die Nerven flattern, läßt einen das Gedächtnis im Stich. Eine halbe Stunde später bemerkten wir, daß die verdammte Pistole schon wieder auf die Schlafzimmertür zeigte. Diesmal wirbelte Glasses sie blitzschnell herum. Ich war wahnsinnig nervös. Glasses pfiff leise, stand auf, legte die Pistole von einer auf die andere Seite des Tisches und rüttelte am Tisch, um zu sehen, ob die Automatik sich dabei bewegte. »Mir ist jetzt klar, was passiert«, flüsterte er schließlich. »Wenn die Knarre auf dem Sicherungshebel liegt, bewegt sie sich irgendwie. Nun wackelt dieser kleine Tisch, und, während wir Karten spielen, wird die Pistole durch das ständige Wackeln allmählich im Kreis bewegt.«
»Das ist mir egal«, flüsterte ich zurück. »Ich habe keine Lust, im Schlaf erschossen zu werden, nur weil der Tisch dauernd wackelt. Ich glaube, das Donnern eines zwei Meilen entfernten Zuges würde reichen, um diesen verrückten Abzug zu betätigen. Gib her!« Glasses reichte mir die Pistole herüber und paßte genau auf, daß sie immer auf den Boden zeigte. Ich entlud sie, legte sie zurück auf den Tisch und steckte das Magazin in meine Jackentasche. Dann versuchten wir weiter zu spielen. »Meine Trumpfkarte setzt 10 Cent«, sagte ich und bezog mich dabei auf mein Herz-As. »Mein König erhöht um 10 Cent«, erwiderte Glasses. Aber es hatte keinen Zweck. Zwischen Inkys Automatik und Luke Dugan konnte ich mich einfach nicht auf meine Karte konzentrieren. »Erinnerst du dich noch an den Abend, Glasses, als du sagtest, an Inkys Knarre wäre vielleicht was faul?« »Ich rede eine Menge Zeug, No Nose, das brauchst du wirklich nicht alles zu behalten. Wir bleiben besser bei unseren Karten. Mein Paar Siebener setzt einen Nickel.« Ich folgte seinem Rat, hatte aber nicht viel Glück und verlor fünf oder sechs Dollar. Gegen zwei Uhr waren wir beide ziemlich müde und nicht mehr ganz so nervös. Wir holten unsere Decken, wickelten uns darin ein und versuchten ein wenig zu schlafen. Ich lauschte dem Seegras, dem Pfeifen der Lokomotive, die zwei Meilen entfernt war und machte mir Gedanken über die möglichen Aktivitäten Luke Dugans. Aber schließlich schlief ich ein. Es mußte gegen Sonnenaufgang gewesen sein, als mich ein klickendes Geräusch weckte. Schwaches, grünliches Licht kam durch die Läden. Ich lag still, wußte nicht so recht, auf was ich eigentlich lauschte, war aber gespannt, daß ich gar nicht merkte, wie prickelnd heiß mir vom Schlafen ohne Decken war
oder wie sehr mein Gesicht und meine Hände von Moskitobissen juckten. Dann hörte ich es wieder, und es erinnerte mich an das scharfe Klicken eines Schlagbolzens, der auf eine leere Patronenkammer knallt. Zweimal hörte ich es. Es schien aus dem Raum zu kommen. Ich glitt aus meinen Decken und rüttelte Glasses wach. »Es ist Inkys verfluchte Automatik«, flüsterte ich mit zitternder Stimme. »Sie versucht selbständig zu schießen.« Wenn jemand plötzlich aufwacht, noch bevor er richtig ausgeschlafen hat, ist ihm leicht so wie mir zumute, und er sagt verrückte Sachen, ohne darüber nachzudenken. Glasses blickte mich einen Moment lang an, rieb sich dann die Augen und lächelte. Ich konnte sein Lächeln in dem schwachen Licht kaum erkennen, fühlte es aber in seiner Stimme, als er sagte: »No Nose, du wirst ja langsam ein richtiger Angsthase.« »Ich sag’ dir, ich schwöre, es war das Klicken eines Schlagbolzens«, beharrte ich. Glasses gähnte. »Gleich erzählst du mir noch, die Pistole wäre Inkys Hausgeist.« »Was für ein Hausgeist?« fragte ich, kratzte mich am Kopf und wurde langsam wahnsinnig. Zuweilen warf mich Glasses’ Professorengefasel einfach um. »No Nose«, fuhr er fort, »hast du jemals was von Hexen gehört?« Ich ging rüber an die Fenster und blickte durch die Läden nach draußen, um mich zu überzeugen, daß niemand da war. Ich sah niemanden. Eigentlich hatte ich das auch nicht erwartet. »Was meinst du damit?« fragte ich. »Natürlich habe ich schon davon gehört. Ich kannte mal einen Kerl, ein Holländer aus Pennsylvania, und der erzählte mir von Hexen, die die Leute mit Flüchen belegen, wie er es nannte. Er sagte, sein Onkel sei mit einem Fluch behaftet gewesen und daran
gestorben. Er war Vertreter – der Holländer, der mir das erzählte, meine ich.« Glasses schüttelte den Kopf und fuhr dann verschlafen fort: »Also, No Nose, der Teufel gab jeder Hexe eine zahme schwarze Katze, einen Hund oder eine Kröte mit, die ihr überallhin folgen, sie beschützen und Kränkungen rächen sollten. Diese kleinen Kreaturen wurden Hausgeister genannt – Handlanger des Teufels, die ausgesandt wurden, um über die Auserwählten zu wachen, könnte man sagen. Die Hexen unterhielten sich mit ihnen in einer Sprache, die niemand sonst verstehen konnte. Nun, was ich damit sagen will: Die Zeiten und die Stile andern sich – und die Haustiere ebenso. Inkys Pistole war doch schwarz, oder? Und er murmelte mit ihr in einer Sprache, die wir nicht verstehen konnten, richtig? Und – « »Du bist ja verrückt«, entgegnete ich, denn ich wollte nicht zum Narren gehalten werden. »Aber, No Nose«, sagte er. »Hast du mir nicht gerade selbst erzählt, du glaubst, daß diese Automatik ein Eigenleben besitzt, daß sie selbständig spannt und ohne jede menschliche Hilfe von alleine schießt?« »Du bist verrückt«, wiederholte ich, fühlte mich wie ein schrecklicher Dummkopf und wünschte, ich hätte Glasses nicht geweckt. »Hier schau, die Pistole liegt immer noch da, wo ich sie hingelegt habe und das Magazin ist in meiner Tasche.« »Glücklicherweise«, sagte er mit theatralischer Stimme, die wie die eines Leichenbestatters klingen sollte. »Na ja, jetzt wo du mich schon so früh rausgeschmissen hast, werde ich gehen und die Zeitung von unserem Nachbarn besorgen. In der Zwischenzeit kannst du mein Bad einlaufen lassen.« Ich wartete, bis ich sicher sein konnte, daß er fort war, denn ich wollte nicht, daß er sich nochmal über mich lustig machte.
Dann ging ich herüber und untersuchte die Pistole. Zunächst suchte ich nach der Handelsmarke oder dem Herstellernamen. Ich fand eine Stelle, an der etwas gestanden haben könnte, aber sie war vollkommen abgefeilt. Das war alles. Vorher hätte ich schwören können, daß ich den Hersteller nennen könnte, aber jetzt nicht mehr. Nicht, daß sie nicht wie eine ganz gewöhnliche Automatik ausgesehen hätte; es waren die Details – der Griff, der Abzugsbügel, die Sicherung – die ungewöhnlich waren. Ich dachte mir, es müsse ein ausländisches Fabrikat sein, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Nachdem ich sie etwa zwei Minuten in der Hand gehalten hatte, bemerkte ich, daß sich das Metall komisch anfühlte. Soweit ich sehen konnte, war es nur gewöhnlicher blauer Stahl, aber irgendwie war er so glatt, daß er mich dazu verführte, den Lauf fortwährend zu streicheln. Ich kann es nicht besser erklären; das Metall erschien mir einfach nicht »richtig«. Schließlich erkannte ich, daß die Pistole mir auf die Nerven ging, und ich mir irgendwelche Dinge einbildete; also legte ich sie zurück auf den Kamin. Als Glasses zurückkam, war die Sonne aufgegangen, und er lächelte nicht mehr. Er warf mir die Zeitung auf den Schoß und zeigte darauf. Sie war auf Seite 5 aufgeschlagen. Ich las: ANTON LARSEN WEGEN MORDES AN KOZACS GESUCHT POLIZEI GLAUBT, EX-SCHMUGGLER VON KUMPEL ERMORDET Ich blickte auf und sah Larsen in der Schlafzimmertür stehen. Er hatte seine Schlafanzughose an und wirkte gelblich im Gesicht und angeschlagen. Seine Augenlider waren verschwollen, und seine Schweinsaugen starrten uns an.
»Guten Morgen, Boß«, sagte Glasses langsam. »Wir stellten gerade fest, daß sie versuchen, dich hereinzulegen. Sie behaupten, du, nicht Dugan, hättest Inky erschossen.« Larsen brummte, kam herüber und nahm die Zeitung, schaute kurz hinein, brummte wieder und ging dann zum Spülbecken, um sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. »Na dann«, sagte er und wandte sich zu uns um, »um so besser, daß wir hier im Versteck sind.« Das war der längste und nervöseste Tag, den ich je durchlebte. Irgendwie schien Larsen nicht ganz ausgeschlafen zu sein. Wäre er ein Fremder gewesen, hätte ich gedacht, er stände unter Drogen. Er saß in seinen Schlafanzughosen herum, so daß er mittags noch so aussah, als wäre er gerade in dieser Minute aus dem Bett gerollt. Das Schlimme war, daß er uns anscheinend nichts über seine Pläne sagen wollte. Zwar sprach er nie besonders viel, aber diesmal gab es einen Unterschied. Bei seinen komischen Schweinsaugen bekam ich allmählich Muffensausen; wie still er auch da saß, dauernd wanderten sie herum. Wie bei jemandem, der im Drogenrausch einen Alptraum hat und jeden Augenblick Amok läuft. Schließlich ging es Glasses auf die Nerven, was mich überraschte, denn Glasses konnte so leicht nichts erschüttern. Er fing an, Vorschläge zu machen – daß wir eine neue Zeitung kaufen sollten, daß wir einen bestimmten Anwalt in New York anrufen sollten, daß ich meinen Cousin Jake dazu bringen sollte, sich bei der Polizeistation in Bayport umzuhören, ob irgend etwas in Gang war. Jedesmal fuhr ihm Larsen sofort über den Mund. Einmal glaubte ich sogar, er würde Glasses eine knallen. Und Glasses, der Idiot, bedrängte ihn weiter. Ich konnte förmlich eine Explosion heraufkommen hören, so deutlich wie das Fehlen meiner Nase. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was Glasses dazu veranlaßte. Ich glaube,
wenn einem Professor die Muffe geht, geht sie ihm noch schlimmer als einem Dummkopf wie mir. Sie haben geschulte Gehirne, die sie nicht davon abhalten können, sich dauernd Gedanken zu machen, und das ist ein Nachteil. Was mich betrifft, versuchte ich, die Nerven zu behalten. Ich sagte mir fortwährend: Larsen ist in Ordnung. Er ist ein wenig nervös. Wie wir alle. Ich kenne ihn schon zehn Jahre. Er ist o. k. Ich erkannte nur halbwegs, daß ich diese Dinge sagte, weil ich langsam glaubte, daß Larsen doch nicht so o. k. war. Die Explosion kam dann so gegen zwei Uhr. Larsens Augen weiteten sich, so als ob ihm gerade etwas eingefallen wäre, und er sprang so schnell auf, daß ich mich sofort nach Luke Dugans Feuerkommando – oder der Polizei umsah. Aber es war keiner von beiden. Larsen hatte die Automatik auf dem Kamin entdeckt. Sofort, als er daran herumfingerte, bemerkte er, daß sie entladen war. »Wer hat daran herumgefummelt?« fragte er mit einer abscheulich belegten Stimme. »Und weshalb?« Glasses konnte nicht den Mund halten. »Ich dachte, du könntest dich vielleicht verletzen«, sagte er. Larsen ging auf ihn zu und schlug ihn blitzschnell zu Boden. Ich packte den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, bereit, ihn als Knüppel zu benutzen. Glasses krümmte sich einen Moment lang auf dem Boden, bis er die Schmerzen unter Kontrolle hatte. Dann blickte er auf, Tränen begannen aus seinem linken Auge zu laufen, an dem er verletzt worden war. Er war schlau genug, weder etwas zu sagen, noch zu lächeln. Mancher Dummkopf hätte in solch einer Situation gelächelt, weil er glaubt, das zeige Mut. Es hätte zwar Mut bewiesen, das gebe ich zu, aber nicht viel Verstand. Nach etwa zwanzig Sekunden beschloß Larsen, ihn nicht auch noch ins Gesicht zu treten. »Also, hältst du jetzt endlich die Klappe?« fragte er.
Glasses nickte. Ich ließ den Stuhl los. »Wo ist das Magazin?« fragte Larsen. Ich nahm es aus meiner Tasche und legte es langsam auf den Tisch. Larsen lud die Automatik sofort wieder. Es machte mich krank, seine riesigen Hände über das blauschwarze Metall gleiten zu sehen, denn ich erinnerte mich an das Gefühl, das ich dabei gehabt hatte. »Keiner außer mir rührt das Ding an, verstanden?« knurrte er. Und damit ging er ins Schlafzimmer und schloß die Tür. Das einzige, woran ich denken konnte, war, daß Glasses recht hatte. Larsen mußte verrückt sein, was Inkys Automatik betraf. Und es war genauso wie bei Inky. Er mußte die Waffe ständig in seiner Nähe haben. Das war es, was ihn den ganzen Morgen nicht in Ruhe ließ, nur, er wußte es nicht. Dann kniete ich mich neben Glasses, der immer noch am Boden lag, stützte seine Ellbogen und sah zur Schlafzimmertür. Der Abdruck von Larsens Hand war noch ziegelrot auf seinem Gesicht zu sehen, ein kleiner Blutstropfen hing an seinem Wangenknochen, wo die Haut gerissen war. Ich flüsterte sehr leise, was ich von Larsen hielt. »Laß uns bei der erstbesten Gelegenheit abhauen und die Polizei auf ihn hetzen«, schloß ich. Glasses schüttelte ein wenig mit dem Kopf. Er starrte immer noch zur Tür und blinzelte hin und wieder mit dem linken Auge. Dann zitterte er und gab einen grunzenden Laut von sich. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte er. »Er hat Inky getötet«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Da bin ich mir ziemlich sicher. Und um ein Haar hätte er dich auch umgebracht.« »Das meine ich nicht«, nuschelte Glasses. »Was meinst du dann?«
Glasses schüttelte den Kopf, als ob er dadurch seinen Gedanken loswerden wollte, was ihm offenbar nicht gelang. »Etwas, was ich sah«, antwortete er, »oder besser, etwas, was ich erkannte.« »Die Pistole?« fragte ich. Meine Lippen waren trocken und ich konnte das Wort kaum aussprechen. Er warf mir einen komischen Blick zu und stand auf. »Von jetzt ab sind wir besser vernünftig«, sagte er und fügte flüsternd hinzu: »Im Augenblick können wir gar nichts machen. Vielleicht haben wir heute nacht eine Chance.« Nach geraumer Zeit rief Larsen mir zu, ihm Wasser heiß zu machen, damit er sich rasieren könnte. Ich brachte es ihm hin, und während ich Hamburger briet, kam er heraus und setzte sich an den Tisch. Er war gewaschen und rasiert, und die unordentlichen Haarreste auf seiner Glatze waren glatt gekämmt. Er war angezogen und hatte seinen Hut auf. Aber trotz allem hatte er immer noch diesen gelblichen, angeschlagenen Laudanumrauschblick. Wir aßen unsere Hamburger mit Bohnen und tranken unser Bier. Keiner sagte etwas. Es war jetzt dunkel, und ein sanfter Wind ließ die Seegrashalme rauschen. Schließlich stand Larsen auf, ging einmal um den Tisch und sagte: »Kommt, wir spielen eine Runde Studpoker.« Während ich die Abfälle forträumte, holte er seinen Koffer hervor und legte ihn auf den Nebentisch. Er nahm Inkys Automatik aus der Tasche und betrachtete sie eine Sekunde. Dann legte er sie in den Koffer, verschloß ihn und zog die Riemen fest. »Nach dem Spiel hauen wir ab«, meinte er. Ich wußte nicht recht, ob ich mich erleichtert fühlen sollte oder nicht. Wir spielten mit 10 Cents Höchsteinsatz, und gleich von Anfang an gewann Larsen. Es war ein merkwürdiges Spiel. Ich
war völlig mit den Nerven runter. Glasses saß mit seiner geschwollenen linken Gesichtshälfte da und schielte durch sein rechtes Brillenglas, denn das linke war durch Larsens Schlag zerbrochen worden, und Larsen saß da, komplett angezogen, als ob er im Bahnhof auf einen Zug wartete. Die Läden waren ganz heruntergelassen und die hängende Glühbirne, die mit einer Narrenkappe aus Papier abgeschirmt war, warf einen hellen Lichtkreis auf den Tisch, ließ aber den Rest des Raumes so im Dunkeln, daß es mir unbehaglich war. Nachdem Larsen ungefähr fünf Dollar von jedem von uns gewonnen hatte, hörte ich plötzlich ein Geräusch. Zunächst war ich nicht ganz sicher. Es war nur ein sehr leises Geräusch, und das Seegras rauschte draußen im Wind, aber von Anfang an beunruhigte es mich. Larsen deckte einen König auf und strich einen weiteren Einsatz ein. »Du kannst heute abend einfach nicht verlieren«, bemerkte Glasses lächelnd – und zuckte zusammen, weil das Lächeln seine verletzte Wange aufriß. Larsen blickte finster. Er schien weder erfreut über sein Glück, noch über Glasses Bemerkung. Seine Schweinsaugen wanderten wieder herum, daß mir wie vorher ganz mulmig wurde. Und ich dachte dauernd: Vielleicht hat er Inky Kozacs ermordet. Glasses und ich sind nur kleine Fische für ihn. Aber vielleicht überlegt er, ob er uns auch umbringen soll. Oder er braucht uns für irgendwas und fragt sich, wieviel er uns erzählen soll. Wenn er Streit anfängt, werfe ich den Tisch über ihn, daß heißt, falls ich eine Chance bekomme. Er wirkte immer mehr wie ein Fremder auf mich, obwohl ich ihn schon zehn Jahre kannte und er mein Boß war und mir gutes Geld bezahlte. Dann hörte ich wieder das Geräusch, etwas deutlicher diesmal. Es war sehr sonderbar und schwer zu beschreiben – etwa wie das Geräusch, das eine Ratte macht, wenn sie
versucht, sich von einem Haufen Decken zu befreien. Ich blickte hoch und sah, daß der blaue Fleck auf Glasses’ linker Wange noch dunkler geworden war. »Meine schwarze Trumpfkarte setzt zehn Cents«, sagte Larsen und legte ein Zehncentstück in den Topf. »Ich gehe mit«, antwortete ich und warf zwei Nickel in den Topf. Meine Stimme klang so trocken und erstickt, daß es mich erschreckte. Glasses gab seinen Einsatz und teilte jedem eine Karte aus. Dann merkte ich plötzlich, daß ich blaß wurde, denn es schien mir, als ob der Lärm aus Larsens Koffer kam. Ich erinnerte mich, daß er Inkys Automatik sorgfältig so hereingelegt hatte, daß ihr Lauf nicht auf uns zeigte. Das Geräusch war jetzt lauter. Glasses konnte es nicht ertragen, still zu sitzen, ohne etwas zu sagen. Er schob seinen Stuhl zurück und flüsterte: »Ich glaube, ich höre – « Dann sah er den verrückten, mörderischen Blick, der in Larsens Augen trat, und war schlau genug, fortzufahren: »Ich glaube, ich höre den Elf-Uhr-Zug.« »Sitz still«, brummte Larsen, »ganz still. Es ist erst Viertel vorzehn. Mein As setzt nochmal zehn Cents.« »Ich erhöhe«, krächzte ich. Ich wollte aufspringen. Ich wollte Larsens’ Koffer aus der Tür schmeißen. Ich wollte wegrennen. Noch saß ich still. Wir alle saßen still. Wir wagten nicht, uns zu bewegen, denn hätten wir das getan, hätte es gezeigt, daß wir das Unmögliche glaubten. Und wenn ein Mann das zeigt, ist er verrückt. Ich rieb meine Zunge weiter an meinen Lippen, ohne sie zu befeuchten. Ich starrte auf die Karten und versuchte, alles andere auszuschalten. Alle Karten waren jetzt verteilt. Ich hatte einen Buben und ein paar weniger gute Karten, doch ich wußte, daß meine zugedeckte Karte ein Bube war. Glasses hatte einen König.
Larsens Kreuz-As war die höchste Karte am Tisch. Und das Geräusch kam immer wieder. Etwas drehendes, zerrendes, schleppendes. Ein gedämpftes Geräusch. »Und ich erhöhe um zehn Cents«, sagte Glasses laut. Ich merkte, daß er dies nur sagte, um etwas anderes zu übertönen, und nicht, weil er glaubte, daß seine Karten besonders gut waren. Ich wandte mich Larsen zu und versuchte, so zu tun, als sei ich daran interessiert, ob er weiter erhöhte oder aufhörte, zu setzen. Seine Augen wanderten nicht mehr herum, sondern stierten genau auf den Koffer. Sein Mund war auf eine komische, starre Art geöffnet. Nach einer Weile begannen sich seine Lippen zu bewegen. Seine Stimme war so leise, daß ich die Worte kaum verstehen konnte. »Nochmal zehn Cents. Ich habe Inky ermordet, daß wißt ihr. Was sagt dein Bube, No Nose?« »Ich erhöhe«, sagte ich automatisch. Seine Antwort kam mit derselben, fast unhörbaren Stimme. »Ihr habt keine Chance, zu gewinnen. Er brachte das Geld nicht mit, wie er es versprochen hatte. Aber ich brachte ihn dazu, mir zu sagen, wo er es in seinem Zimmer versteckt hatte. Ich kann die Sache nicht alleine drehen. Die Bullen würden mich erkennen. Aber ihr beide könntet es für mich machen. Deshalb fahren wir heute nacht nach New York. Ich erhöhe nochmal um zehn Cents.« »Ich gehe mit«, hörte ich mich sagen. Das Geräusch war verstummt, nicht allmählich, sondern ganz plötzlich. Ich wollte brennend gern aufspringen und etwas tun. Aber ich blieb auf meinem Stuhl sitzen. Larsen deckte ein Pik-As auf. Zwei Asse. »Inkys kleine Kanone beschützte ihn nicht, wißt ihr. Er hatte keine Chance, sie zu benutzen. Kreuz und Pik, schwarze Trumpfkarten. Ich gewinne.«
Dann passierte es. Ich brauche nicht groß zu erzählen, was wir hinterher machten. Wir begruben den Körper im Seegras. Wir machten alles sauber und fuhren das Coupe ein paar Meilen landeinwärts, bevor wir es stehenließen. Wir nahmen die Automatik mit, nahmen sie auseinander und hämmerten die Einzelteile krumm. Dann warfen wir es Stück für Stück in die Bucht. Wir fanden nie mehr etwas über Inkys Geld heraus und versuchten es auch nicht. Die Polizei hat uns nie belästigt. Wir waren glücklich, daß wir nach allem, was passiert war, noch mit heiler Haut davongekommen waren. Denn während der ganze Koffer unter den Rückstößen der Pistole ruckte und bebte, schlugen acht Kugeln mit Feuer und Qualm aus kleinen runden Löchern und fetzten Anton Larsen fast in Stücke.
Robert Bloch Sabbatwein
Eigentlich braucht diese Geschichte eine passende Umgebung, eine alte Stadt oder Burg, die ihr mit Atmosphäre und düsterem Hintergrund den dazugehörigen Rahmen verleiht. Aber zufällig ist sie wirklich wahr, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als sie so zu erzählen, wie sie sich zugetragen hat. Die seltenen Fälle eisigen Horrors, die sich im wirklichen Leben abspielen, kommen ja ohne Vorwarnung, ohne romantische oder ankündigende dramatische Begleitumstände, sie geschehen plötzlich, im strahlenden Licht eines sonnigen Morgens, der sich in nichts von anderen unterscheidet. Aber gerade dieser Kontrast, die Unnatürlichkeit plötzlicher Gefahr inmitten prosaischer Geschehnisse, macht den wahren Horror aus. Und auch diese Geschichte ereignet sich nicht in Spukschlössern, nicht unter wahnsinnigen Hypnotiseuren oder krächzenden, verhexten Raben. Und doch wache ich immer noch manchmal nachts schweißgebadet auf, wenn ich im Traum wieder an die Party von Mabel Fiske denke. Als ich Mabel Fiske kennenlernte, wohnte ich gerade in Los Angeles in einem schäbigen Zimmerchen, kaute Knäckebrot und trank Milch und schrieb vor allem den amerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts. Entschuldigen Sie die kleine autobiographische Abschweifung, aber sie ist notwendig, um meine Beziehung zu Mabel Fiske zu erklären.
Sie hatte ein Haus bei Laguna Beach, viel Sinn für Humor und eine Unmenge Bekanntschaften. Deshalb mochte ich sie auch gleich. Einmal in der Woche kam ich in ihr Haus und aß mich satt. Hunger kennt keinen Stolz. Unter dem großen Kreis von Leuten, die bei ihr ein und aus gingen, waren sehr interessante Typen, und für einen schwatzhaften Burschen wie mich ist das ein Geschenk des Himmels. Mabel selbst war eine brünette, unscheinbare Maus von mindestens fünfunddreißig Jahren. Ihr Mann war ein bedeutender Drehbuchautor gewesen, und seit seinem Tode lebte sie in einer Art Nebel, aber ihr Haus stand Tag und Nacht offen für ihre Freunde und Bekannten und deren Freunde und Bekannte. Unter der Herde von Leuten, die im Eisschrank herumstöberten, Zigaretten auf Klaviertasten ausdrückten und den Berg leerer Flaschen vergrößerte, befanden sich eine Reihe sehr interessanter Persönlichkeiten, von denen zwar die vom Film überwogen, aber es waren auch Geschäftsleute, CollegeProfessoren, Cowboys, Taxifahrer, Piloten, Maler, Komiker, Messiasse und Admirale dabei. Außerdem schienen Mabel und ihr verstorbener Gemahl mit Yogis, Metaphysikern und Wahrsagern auf vertrautem Fuß gestanden zu haben, denn hin und wieder gab es ausgesprochen okkulte Abende. Ich muß zugeben, ich fand es faszinierend, und ich träumte davon, einmal in diesem Haufen dem richtigen Verleger, dem richtigen Filmproduzenten zu begegnen, der mein Buch so gut fand wie ich und es der staunenden Welt vorführen wollte, ein Mann, der menschlich genug sein mußte, diese phantastischen Partys zu besuchen. An einem schönen Samstagabend im April machte ich mich wieder auf den Weg. Es war fast Zeit zum Abendessen, und ich brachte einen gesunden Hunger mit.
Ich ging gleich ins Haus – bei Mabel klopft man samstags nie an – und sah mich im Wohnzimmer um. Nie wieder habe ich einen Raum gesehen, der buchstäblich so bewohnt und verwohnt war. Die Wände waren dunkelbraun vom Rauch, und wie früher einmal ein Perserteppich gewesen war, sah heute eher aus wie ein orientalischer Aschenbecher. Die Einrichtung bestand aus zerfetzten, zerschlissenen und durchlöcherten Möbeln, genauer gesagt, aus dessen Krüppeln. Es gab Stühle ohne Beine, Sessel ohne Lehnen, ja sogar eine Sitzpolsterung. Die Zeiger der Pendeluhr waren heruntergebogen und bildeten einen Mund. Im Kamin stand ein Eisschrank für diejenigen, die zu faul waren, bis in die Küche zu gehen. Während ich mich so umsah, bemerkte ich ein paar vertraute Gesichter, »alte Freunde«, denn jeder, mit dem man bei Mabel eine Tasse zur Brust nahm, wurde automatisch und augenblicklich ein »alter Freund«. Cyril Bruce, ein Filmschauspieler, dessen Tage schon gewählt waren, stand im Gespräch mit Ensenada Eddie, einem dunkelhäutigen, kleinen Filipino, dessen Füße noch niemals die Bekanntschaft mit Schuhen gemacht hatten. Ensenada war sozusagen geheimnisvolles Strandgut, der ständig Gedichte schrieb, die er nicht verkaufen konnte. Bruce und Eddie erspähten mich gleichzeitig und steuerten sofort auf mich zu. Bruce schüttelte mir erfreut die Hände, und Eddie gab mir ein volles Glas, was dasselbe bedeutete. »Willkommen im Tempel der Freiheit«, kicherte Bruce. »Daß ich nicht lache«, sagte eine Stimme hinter mir. Es war Lavinia Hearn, eine gutgewachsene Blondine, die den Titel Malerin für sich in Anspruch nahm, aber außer einen grellbemalten Gesicht nichts ausstellte. »Kümmere dich nicht um Lavinia, sie ist schon bald hinüber«, ließ sich Arch Blaine vernehmen, der neben ihr
auftauchte. Ich mochte Blaine, denn meistens rettete er mich vor allzu schizophrenen Gästen. »Amüsierst du dich gut?« fragte er mich. Lavinia antwortete für mich. »Sich selbst amüsiert er immer, aber niemals andere.« »Ganz schön voll«, sagte ich zu Blaine, als Lavinia, Bruce und Eddie abgezogen waren. Es war ein ständiges Kommen und Gehen zur Küche, und es war eine bunt gemischte Gesellschaft, von denen ich viele noch nie gesehen hatte. Die allgemeine Unterhaltung war so brillant wie ein Feuerwerk bei Regen. Ich schnappte ein paar Gesprächsfetzen über Raubtierfütterung auf, worauf mir das Wichtigste wieder einfiel. »Wann essen wir eigentlich?« fragte ich Arch Blaine. »Wenn Mabel Fiske zurückkommt«, war die vage Antwort. Lavinia, die gerade hinzutrat, kicherte. »Was haben Sie gesagt? Blaine, wollen Sie etwa damit sagen, daß Mabel ausgegangen ist?« Blaine nickte. »Aber Mabel geht doch nie aus«, wunderte sie sich. »Sie ist in Los Angeles, um ein paar wichtige Leute aufzugabeln«, erklärte Blaine. »Ach, Unsinn, sie würde nicht einmal bis zur nächsten Ecke gehen, um Roosevelt zu treffen.« »Anscheinend hat sie etwas ganz Großartiges vor. Ich bin auch gespannt, wen sie da anschleppen will.« »Geh mal in die Küche«, riet mir Blaine, »und sieh dir den Haufen mal an.« Ich ging hinaus in die Küche, die sonst nur eine dunkle Futterkiste war, aber heute wimmelte sie von dunklen Männern in Turbanen, bleichen Männern in Togas und hageren Frauen in wallenden Gewändern. Bärte wurden wild und zornig
geschüttelt und dürre Finger fuchtelten vor meinem Gesicht. Tiefe Männerstimmen und schrilles Frauengekreisch vereinigten sich zu einer betäubenden Geräuschkulisse. Die meisten Gesichter kannte ich nicht, aber eine solch verrückt gekleidete und geschwätzige Gesellschaft bedeutete nur eins – Okkultisten. Morgen war zwar der erste Mai mit Maibäumen und Paraden und allem, was dazugehört, aber darum ging es hier nicht, denn heute war Walpurgisnacht, seit Urzeiten der Hexensabbat, die Nacht der Schwarzen Messe. Mabel hatte erfahren, daß Doktor Voidin in Los Angeles erwartet wurde, Doktor Voidin, der Satanist. Ihn wollte sie für sich gewinnen. Was er hier wollte, wußte keiner genau zu sagen. Natürlich erzählte man sich allerlei von Teufelsverehrung, und es gab viele reiche Exzentriker, die ihm unbedingt ergeben waren. Es lief das Gerücht um, daß er die Absicht hatte, die Schwarze Messe in der Walpurgisnacht abzuhalten. Wann und wo wußte niemand, das war natürlich ein Geheimnis. Die Satanisten behielten ihren Glauben und ihre Mysterien streng für sich, aber es kursierten die erstaunlichsten Geschichten über die Art und Weise der Riten und warum und durch wen sie durchgeführt wurden. Ich stand halb im Flur und hörte dem Gebrabbel um mich herum aufmerksam zu. Plötzlich kam mir die ganze Widersinnigkeit der Situation zum Bewußtsein, und ich fing an zu lachen. Ich mußte etwas trinken. Arch Blaine gesellte sich zu mir und Lavinia und Cyril Bruce. Wir unterhielten uns über dieses und jenes Buch, über Bruces neuestes Bild, Blaines erschreckende Nüchternheit und Lavinias Schwips. Gerade, als ich geschickt und unauffällig mein neuestes Buch zur Sprache bringen wollte und meinen fünften Drink schlürfte, kam Mabel Fiske herein.
Mabel kam herein, und das war an sich schon ungewöhnlich, denn sie war keine Frau, die einfach hereinkam, sondern in Erscheinung trat. Nicht so heute abend, das konnte sogar ich mit meiner leichten Verschwommenheit klar erkennen – heute abend kam sie ganz schlicht herein. Sie blieb einen Augenblick stehen und überschaute die Menge. Dann ging sie nachdenklich weiter. Sie war völlig nüchtern, und ihre braunen Augen glänzten. »Hallo, Bob«, begrüßte sie mich. »Bruce, Blaine, Lavinia, helft mir bitte, diese Trottel hier hinauszuschaffen. Ja?« Wie liefen herum wie Hütehunde, stießen, schubsten, schoben und dirigierten die ganze saufende Herde in den anderen Raum. Dann bat Mabel einige wartende Gestalten im Flur herein. »Kommen Sie herein, Doktor«, dienerte sie. Und ich hatte alles für einen Witz gehalten. Blaine und ich hatten uns ordentlich die Nase begossen und uns die albernsten Tonarten ausgemalt, wie wohl der große Doktor Voidin sein mochte. Lavinia hatte ihn sogar einen französischen Pudel mit einem Spritzer Sigmund Freud am Bart genannt. Aber die große, leichenhafte, dürre Gestalt im schwarzen Mantel war Wirklichkeit. Er hatte das bleiche Gesicht des Asketen, seine Augen waren mitternächtliche Schwärze. Sein Blick kam mir drohend vor, und das machte nicht nur der Scotch, den ich genossen hatte. Er strich eine silberne Strähne in sein welliges, schwarzes Haar zurück und streckte seine Pfote – ich schwöre, daß es einen Augenblick lang so aussah – aus, um unsere Hände zu schütteln. Seine Stimme schnurrte wie die einer Katze, einer schwarzen, weisen, bösen Katze. »Sehr erfreut. Das ist mein Partner Dubois.« Dubois war ein schwarzer Riese, Haitianer, Ebenholz im Frack.
»Und der Reverend Mr. Orsac.« Der dicke, kleine, kahlköpfige Orsac grapschte meine Hand mit kaltem, schwammigem Griff, der mich unwillkürlich an Leichenhalle denken ließ. Ich mochte sie auf Anhieb alle drei nicht. »Wir werden uns noch beim Essen sehen«, schnurrte Doktor Voidin. Er drehte sich um und verließ mit dem Neger, dem Reverend und Mabel das Zimmer. Lavinia schmunzelte. »Was für ein Trio«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Dracula, Onkel Tom und Bischof Shapiro.« »Der Mann ist beunruhigend«, war alles, was Blaine dazu sagte. Er sah mich fest an, und ich nickte langsam, seine Gedanken erratend. »Hoffentlich weiß Mabel, worauf sie sich da einläßt«, fuhr Blaine fort. »Er gehört nicht zu der Sorte kleiner, okkulter Jungen, mit denen man spielen kann. Wenn ich jemals das leibhaftige Böse gesehen habe, dann ist es dieser Mann. Ich sehe dieser Nacht noch mit einiger Sorge entgegen.« Ein Glöckchen rief uns zum Essen. Mabel hatte in dem wenig benutzten Eßzimmer gedeckt, wo wir uns, etwa zwanzig an der Zahl, am Tisch niederließen. Mabel, die in allem, was sie tat, eine ungewohnte Entschlossenheit an den Tag legte, scheuchte noch ein paar unerwünschte Figuren wieder hinaus. Zusammen mit Doktor Voidin saß Mabel am Kopf der Tafel, daneben der schwarze Dubois und Reverend Orsac. Dann erst folgten Lavinia, Cyril Bruce, Blaine, ich und die übrige Gesellschaft. Es war ein für Mabel ganz ausgezeichnetes Dinner. Der lange Tisch war blütenweiß gedeckt, ausnahmsweise, und das Essen war offensichtlich von einem Restaurant geliefert und aufgetragen worden.
Niemand sprach. Es lag eine spürbare Spannung in der Luft, außerdem schien Mabels verändertes Benehmen alle verstummen zu lassen. Die Okkultisten beobachteten nervös die ernste Erscheinung Doktor Voidins. Blaine und ich ließen seine undurchdringliche Totenmaske während des ganzen Essens nicht aus den Augen. Niemand aß viel. Mabel flüsterte mit Voidin, Voidin flüsterte mit Orsac und Dubois. Lavinia ließ sich jedenfalls nicht vom Trinken abhalten. Kichernd ging sie in die Küche, um eine neue Flasche zu holen. Andere folgten ihrem Beispiel. Von da an widmeten sich alle ernsthaft dem Trinken. Aber niemand lachte, niemand unterhielt sich, nur ab und zu wurde ein verstohlener Blick auf den leichenhaften Doktor geworfen, dem sofort ein hastiger Schluck folgte. Die Szene erinnerte mich mehr und mehr an Poes Geschichte »King Pest«, wo sich die Verdammten der Seuche zu einem Zechgelage versammeln. Wir tranken. Blain sah mich unverwandt an. Mabel murmelte mit Voidin. Die Okkultisten füllten ihre Gläser wieder. Es gab nichts wirklich Beunruhigendes, und doch schwebte über allen eine Art Panik. Ich spürte es an dem hastigen Atem der Anwesenden, an der Art, wie Voidin auf den Tisch starrte, und an dem Glimmen in den Augen Orsacs. Mabel war ohnehin völlig verändert. Irgend etwas stimmte einfach nicht. War das wirklich Mabels Haus, ihre Freunde? Etwas stand im Raum und wartete. Wartete worauf? Mabel erhob sich. »Freunde, ich habe eine Überraschung für euch.« Mir fiel sofort der gezwungene Ton in ihrer Stimme auf, unnatürlich, gepreßt. Es mußte etwas geschehen sein. Sie fuhr fort. »Doktor Voidin ist gerade von einer Europareise zurückgekehrt und hat einen wirklich
wunderbaren Wein mitgebracht. In meinem Auto liegen mindestens ein halbes Dutzend Flaschen. Wollen wir ihn alle zusammen probieren?« »Ja, natürlich. Warum denn nicht?« so klang es von allen Seiten. Die Gäste begrüßten diese willkommene Unterbrechung der beklemmenden Stille. Ich schaute Blaine an, der mir zuzwinkerte. Auch er vermutete einen tieferen Sinn dahinter. Dubois ging hinaus und kam kurz darauf zurück und verteilte mit Hilfe des einzigen Dieners Gläser am Tisch. Schließlich stellte er noch ein paar große, grüne Flaschen ohne Etikett dazu. »Was soll denn das für ein Zeug sein?« fragte Bruce mißtrauisch. Doktor Voidin lächelte. »Das ist eine Spezialabfüllung von meinem eigenen Weinberg«, antwortete er. »Es ist ein Abendmahlswein.« Dubois schenkt ein. Irgend etwas hätte in mir Alarm schlagen müssen, aber ich war schon zu benebelt. Zehn Minuten lang saß ich wie in Trance, und ich nehme an, daß mir die Situation erst voll bewußt wurde, als die Unterhaltung einsetzte. Denn plötzlich, ganz plötzlich begannen alle zu reden. Ich sah mich um. Die ganze Gesellschaft schien auf geheimnisvolle Weise animiert. Jetzt erst bemerkte ich, daß ich den Stiel eines Weinglases umklammert hielt, das mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllt war. Zwanzig Hände taten es mir nach, alle umkrampften ein Glas mit rubinroter Flüssigkeit. Dubois, eine gigantische, schwarze Säule des Schweigens, machte ständig die Runde, um aus den langen, grünen Flaschen nachzuschenken. Ich hob mein Glas und roch an dem Inhalt. Er roch bitter, aber verlockend und sprach die Phantasie mehr an als
physische Geschmacksnerven. Man dachte dabei an den Kuß einer kalten Frau oder die kühle Umarmung einer Schlange. Ich riß mich zusammen. Wie, zum Teufel, kam ich auf solche Gedanken? Als ich zu Voidin hinübersah, entdeckte ich, daß zwar auch er ein Glas in der Hand hatte, den Inhalt aber unauffällig unter den Tisch goß. Auch ich trank nicht. Ich stieß Blaine an, der meinem Blick folgte. Ganz vorsichtig und unauffällig folgten wir beide Voidins Beispiel. Dubois bemerkte es nicht, sondern füllte nach. Die starke Blume des Weines stieg mir verführerisch in die Nase, und ich mußte gegen die eigenartige Anziehungskraft kämpfen. Ich warf einen schnellen Blick auf die anderen. Das Gesumme der Unterhaltung hatte einen falschen Unterton. Cyril Bruce sah mit glasigen Augen durch mich hindurch und sagte: »Zahlreich sind die Monde, wenn der Pfau aufsteigt in die Schatten der Nacht und der Gott der Dunkelheit herniedersteigt zum Thron seiner Lust.« Das sagte er. Wörtlich. Bruce, der Schauspieler. Und er leierte es ohne Betonung, monoton und kalt, herunter. Sein Gesicht hatte einen totenähnlichen Ausdruck bekommen, als er sein zweites Glas leerte. »Dies ist die Nacht der Lüste, denn die Leidenschaft kriecht aus der Dunkelheit, um die Menschen zu beherrschen, die den Sabbat begehen – « Ich drehte mich zu Lavinia um, die gerade den korallenroten Mund öffnete und ähnlichen Blödsinn von sich gab: »Heil, schwarzer Bock der Wälder! Deine Hufe sollen baden in leuchtendem Rot!« Vorsichtig schob ich mein Glas unter den Tisch und goß den köstlichen Wein auf den Teppich. Plötzlich fand ich den Weindunst widerwärtig. Er erinnerte mich an Haschisch und Moschus und warmes Blut auf einem obszönen Altar.
Ein Teufelsgebräu. Sabbatwein. Der Wein des Bösen, der die menschliche Natur verwandelt. Circes Wein. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein flammendes Schwert. Ich starrte in Gesichter, einst vertraute Gesichter, die nicht mehr menschlich waren. Sie waren zu Tieren geworden. Hundeschnauzen, Katzenaugen, Wolfszähne und Fledermausohren waren in verzerrten Fratzen erschienen. Aus den Kehlen kam das Grollen und Knurren wilder Tiere. Klauen packten die Gläser, die immer wieder von dem schweigsamen Dubois nachgefüllt wurden. Lange, rote Zungen schlappten die Flüssigkeit auf. Am Kopf der Tafel saß Reverend Orsac, der Wein von ihm war unberührt geblieben, die Fischaugen hatte er geschlossen. Mabel Fiske schüttelte sich vor Lachen. Doktor Voidin lächelte. Sein Lächeln war beinahe schlimmer als die tierischen Fratzen um mich herum, es war das Lächeln einer Leiche. Und Mabel wußte Bescheid. Zum erstenmal sah ich sie wirklich. Es war Methode in ihrem Wahnsinn, das Ganze war gut durchdacht und arrangiert worden. Das Fest ging weiter. Die Leute, die ich so gut gekannt hatte, knurrten und meckerten, krähten und bellten. Der Mensch war Tier geworden, und es ging noch weiter. Voidin erhob sich und sagte: »Kommt, die Stunde ist nahe.« Sie folgten ihm in den anderen Raum auf Händen und Knien, kriechend und hüpfend und springend. Cyril Bruce war ein Höllenhund und biß Lavinia ins Bein. Orsac, Mabel, Dubois und Doktor Voidin blieben an der Schwelle stehen und flüsterten miteinander.
Blaine zog mich unter den Tisch, wo wir uns beide zusammenkauerten und Voidins triumphierendem Geschnurr lauschten. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, Mrs. Fiske. Besser, als ich zu hoffen gewagt habe. Es hat überhaupt keine Schwierigkeiten gemacht, diesen Kriechern den Wein schmackhaft zu machen.« »Drei Jahre«, murmelte Mabel, so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte, »drei Jahre habe ich alle möglichen Narren um mich dulden müssen, um den Weg dafür zu ebnen. Aber so haben sie selbst an dem Plan mitgearbeitet. Wann wird die Verwandlung vor sich gehen?« Was für eine Verwandlung? Ich suchte verzweifelt nach einem versteckten Hinweis in ihren Worten. Hatte sie dies alles wirklich mit Bedacht geplant? Sie hatte tatsächlich Voidin konspiriert und uns hierhergelockt, um uns diesem verfluchten Wein auszuliefern? Aber warum? Jetzt sprach Voidin. »Es wird jetzt gleich geschehen. Haben Sie für den Altar gesorgt? Sehr gut. Ich bin bereit, und das Opfer auch.« Altar. Priester. Opfer. Walpurgisnacht. Die Schwarze Messe. Im Nebenraum ertönte nun eine Orgel. Dubois spielte. Mit klauenähnlichen Fingern malträtierte er das Instrument, daß es schrie und schluchzte und stöhnte wie ein Chor von Verdammten. Die Wände waren mit schwarzen Samtvorhängen verdeckt, als Beleuchtung gab es nur gelbe Kerzen, und aus flachen Schalen stieg Weihrauch empor. All das konnte ich aus meinem Versteck unter dem Tisch durch einen Schlitz in der Portiere erspähen. Jetzt wurde die Sicht durch die Beine von Voidin, Mabel und Reverend Orsac verdeckt. Blaine stieß mich an und flüsterte:
»Das hätte ich nie von ihr gedacht. Eine heimliche Satanistin, die ihre Gäste in eine solche Falle lockt – « Gäste. Das brachte mich auf etwas. »Wo waren eigentlich die Gäste in dem anderen Zimmer geblieben?« Ich spähte in den anderen Raum, und was ich sah, war die Verwirklichung eines Alptraumes. Sie kamen von der entgegengesetzten Seite. Die gigantischen Schatten krochen an der Wand entlang, bevor ich sie selbst sehen konnte. Dann kamen die Körper, trottende, schleichende, kriechende Körper! Ein schwarzer Hund grinste mit entblößtem Gebiß und lang heraushängender Zunge. Ein schwarzer Hund mit den verzweifelten Augen von Cyril Bruce! Eine große, graue Katze kam ängstlich geduckt herein, und ein Bild von Lavinia schoß mir durch den Kopf. Ratten trippelten herein mit menschlichen Augen; eine kleine grüne Kröte hüpfte und hüpfte und quakte vor Angst und Verzweiflung. Voidin trug jetzt einen schwarzen Kasack, und Orsac steckte in einer roten Kapuze, aus der sein bleiches Gesicht noch bleicher hervortrag. Er grinste beim Anblick der Tiere und lachte. Es war mehr, als ich ertragen konnte. Wir befanden uns keine fünf Kilometer vom nächsten Kino entfernt, draußen brauste moderner Verkehr vorbei, und wir lebten im zwanzigsten Jahrhundert. Es war einfach nicht zu fassen. Ich überlegte fieberhaft. Es konnte doch nur so sein, daß Mabels komische Gäste einen Haufen Tiere mitgebracht und meine Freunde schon nach Hause gegangen waren. Es konnte doch nur irgendeine Theatralik sein. Aber alle meine vernünftigen Überlegungen halfen nichts. Die halb menschlichen, halb tierischen Gesichter beim Essen kamen mir in den Sinn, ich hörte wieder die schrecklichen Tierschreie aus Menschenkehlen und sah jetzt den schwarzen
Hund mit Cyril Bruces Augen und die graue Katze, die sich bewegte wie Lavinia. Und ich hörte jetzt das Winseln der Tiere und roch den säuerlichen Tiergeruch, der sich mit dem Duft des Weihrauches vermischte. »Großer Gott, ich brauche etwas zu trinken!« keuchte ich. Blaine kroch unter dem Tisch herum und tastete nach einer Flasche. Ich riß sie ihm beinahe aus der Hand und trank in gierigen Zügen. Der Alkohol richtete mich ein wenig auf. »Wir müssen etwas tun.« Meine Stimme klang eindringlich, fast im Befehlston. Blaine packte mich bei der Schulter. »Ich habe einen Revolver im Auto«, flüsterte er. »Vielleicht komme ich daran.« Ich drückte seine Hand. »Beeil dich!« Er schlich davon und kroch durch die Portiere. Angestrengt verfolgte ich ihn mit den Augen, bis er die Halle erreicht hatte und verschwand. Dann setzte ich mich wieder hin und genehmigte mir noch einen Schluck. Während ich so wartete, kam Mabel in den Salon. Sie war jetzt ganz weiß gekleidet und trug einen Schäferstab. Sie war Circe. Die Musik brach ab, die Tiere duckten sich, und Voidin stand am Altar mit dem Opfermesser in der Hand. Ich fror plötzlich, fühlte mich wie betäubt. In meinem ganzen Körper hatte ich ein Gefühl, als wenn mir ein Bein eingeschlafen wäre. Ich konnte nicht mehr klar denken, es summte und brummte in mir, und obwohl ich mich dagegen auflehnte, blieb mein Körper in dieser merkwürdigen Verfassung. Dann fuhr ich zusammen. Blaine war wieder da. Er stand mit wild entschlossenem Rachegesicht am Eingang, den Revolver hatte er auf Voidin gerichtet. Die anderen sahen ihn auch.
»Faßt ihn!« rief Voidin mit schneidender Stimme. Die Tiere fuhren herum und waren über ihm, noch während er schoß. Der Schuß ging fehl, und die Bestien sprangen ihm geifernd an die Kehle, verbissen sich in seinem Fleisch, und er stürzte direkt hinein in die blutgierigen Rachen. Er schrie gellend. Ich schrie auch. Ich schlug die Portiere wieder zu. Meine Knie waren weich wie Pudding und drohten unter mir nachzugeben. Verzweifelt bemühte ich mich, aufrecht stehenzubleiben, aber mein Körper brannte und die Flasche, die ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, glitt mir aus den Fingern. Die ersten Fangzähne schnappten nach mir, sie leuchteten blutig von ihrer ersten Festmahlzeit. Ich bekam die Flasche wieder zu fassen und hieb wie wahnsinnig um mich. Ich entdeckte den Revolver, packte ihn und feuerte, aber nicht in diese Tierhorde, sondern durch die Portiere. Sofort schoß eine Flamme heraus und leckte an dem schweren Stoff hoch. Die Bande wandte sich heulend um. Voidin sprang vom Altar, Mabel und Dubois folgten ihm. Der Revolver hielt sie zurück. Die Flammen breiteten sich in Windeseile aus. Feuer reinigt. Ich hielt sie in dem wirbelnden Qualm und der immer unerträglicher werdenden Hitze in Schach. Sie sollten im Feuer umkommen. In der strahlenden Helligkeit fiel mir auf, daß sie mich irgendwie merkwürdig ansahen. Ich fühlte brennenden Schrecken sich in mir ausbreiten, der nichts mit dem Feuer, das um mich herum tobte, zu tun hatte. Die Waffe entfiel meinen Händen, ich fühlte meinen Körper zucken und schrumpfen, wurde kleiner und kleiner, und schließlich stand ich auf allen vieren.
Sie lachten und versuchten durch die Flammen zu springen, aber sie hatten Pech, denn in diesem Augenblick flammte das Holz der trockenen Wandtäfelung auf. Ich hörte ihre Entsetzensschreie, als das Flammenmeer über ihnen zusammenschlug. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich die Flasche, die mir entfallen war, die Flasche, nach der Blaine im Dunkeln getastet und aus der ich getrunken hatte. Diese Flasche enthielt den Sabbatwein! Und sie war nicht meiner Hand entfallen, sondern meiner Pfote! Sie hatten gelacht, und ich lief auf allen vieren! Ich hatte von dem verfluchten Sabbatwein getrunken! Auf Händen und Knien kroch ich in die Halle auf einen großen Wandspiegel zu und starrte mein Ebenbild an. Ich schrie auf, aber es war kein Schrei, was sich da meiner Kehle entrang. Das schreckliche Geheul war nur Bestätigung dessen, was mir der Spiegel zeigte. Ich sprang aus dem brennenden Haus in die Nacht und bin nie wieder dorthin zurückgekehrt. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Es ist ein langer Weg von Laguna nach Los Angeles, aber ich schaffte es. Ein Mann kann nicht so weit auf Händen und Knien kriechen. Vielleicht war ich betrunken oder von diesem Wein leicht betäubt, aber irgendwie habe ich es geschafft. Denn am nächsten Morgen erwachte ich in meinem eigenen Bett. Ich war nackt und müde und sehr erschrocken, als ich in der Zeitung las, daß das Haus in Laguna tatsächlich abgebrannt war. Aber ich hatte menschliche Form, und an diese Tatsache klammerte ich mich. Jetzt brauchte ich mich nur noch zu überzeugen, daß der Sabbatwein eine ganz ordinäre Abfüllung gewesen war. Das wäre mir auch gelungen, wenn ich nicht so ein unordentlicher Mensch wäre. Denn dann hätte ich es nicht seit
Tagen unterlassen, meine Dachkammer zu fegen. Das helle, unbarmherzige Morgenlicht beschien eine dicke Staubschicht auf dem teppichlosen Fußboden. Und von der Tür zum Bett waren in diesem Staub Spuren zu erkennen, Spuren, die nur nach innen führten, und es waren die unverkennbaren, verflucht typischen Pfotenabdrücke eines riesigen Wolfes.
Robert Sheckley Warm
Anders lag auf seinem Bett, angezogen bis auf die Schuhe und seine dunkle Krawatte, und dachte mit etwas unwohlem Gefühl an den Abend, der vor ihm lag. In zwanzig Minuten würde er Judy in ihrem Appartement abholen, und das war die Ursache der unangenehmen Gefühle. Er hatte erst vor wenigen Sekunden festgestellt, daß er in Judy verliebt war. Nun, er würde es ihr erzählen müssen. Der Abend würde ihnen für immer in Erinnerung bleiben. Er würde einen guten Eindruck machen, es würde Küsse geben, und das Siegel des Einverständnisses würde, bildlich gesprochen, auf seine Stirn gestempelt prangen. Keine allzu begeisternde Aussicht, entschied er. Es wäre wirklich erheblich angenehmer, nicht verliebt zu sein. Wie war es nur dazu gekommen? Ein Blick, eine Berührung, ein Gedanke? Es brauchte nicht viel, wußte er, und streckte sich, um noch einmal herzhaft zu gähnen. »Hilf mir!« sagte eine Stimme. Seine Muskeln zuckten zusammen, und da er gleichzeitig gähnte, bekam er fast eine Maulsperre. Er setzte sich kerzengerade auf, dann grinste er und entspannte sich wieder. »Du mußt mir helfen«, beharrte die Stimme. Anders bückte sich und langte nach einem seiner polierten Schuhe. Er konzentrierte sich ganz darauf, die Schnürsenkel zu binden.
»Kannst du mich hören?« fragte die Stimme. »Das kannst du doch? Hallo?« Das reichte. »Ja, ich kann dich hören«, sagte Anders, der die Sache mit bestem Humor ertrug. »Erzähl mir nicht, du wärst die Stimme meines Gewissens oder mein schuldbewußtes Unterbewußtsein, das mich wegen eines Kindestraumas anmachen will, um das ich mich nie richtig gekümmert habe. Ich nehme an, du willst, daß ich in ein Kloster eintrete.« »Ich weiß nicht, wovon du da redest«, sagte die Stimme. »Ich bin niemandes Unterbewußtsein. Ich bin ich. Hilfst du mir?« Anders glaubte an so viel Stimmen, wie jeder andere das auch tut, was heißt, er glaubte nicht im geringsten daran, bis er nun eine hörte. Schnell checkte er die Möglichkeiten durch. Schizophrenie war natürlich die beste Antwort und eine, der seine Kollegen sofort zustimmen würden. Aber Anders besaß ein beklagenswert festes Zutrauen zu seiner geistigen Gesundheit. In diesem Fall – »Wer bist du?« fragte er. »Ich weiß nicht«, sagte die Stimme. Anders erkannte, daß die Stimme aus dem Inneren seines eigenen Geistes zu ihm sprach, aus seinem Kopf sozusagen. Sehr verdächtig. »Du weißt also nicht, wer du bist«, stellte Anders fest. »Na gut. Wo bist du?« »Ich weiß das auch nicht.« Die Stimme schwieg einen Augenblick. »Schau mal, ich weiß ja, wie lächerlich das alles klingt. Glaube mir, ich befinde mich in einer Art Limbo. Ich weiß nicht, wie ich hier wieder rauskommen kann und wer ich bin, aber ich will ganz verzweifelt weg von hier. Willst du mir helfen?« Noch immer gegen die Idee ankämpfend, daß es in seinem Kopf Stimmen gab, wußte Anders, daß seine nächste
Entscheidung von vitaler Bedeutung war. Er mußte ablehnen oder akzeptieren, daß er verrückt war. »Gut«, sagte Anders und band sich den andern Schuh zu. »Ich will mal davon ausgehen, daß du eine Person in Schwierigkeiten bist und dich in einer Art telepathischem Kontakt mit mir befindest. Kannst du mir sonst noch etwas über dich sagen?« »Ich fürchte nicht«, sagte die Stimme mit unendlicher Traurigkeit. »Du mußt alles selbst herausfinden.« »Kannst du niemanden anderes kontaktieren?« »Nein.« »Wieso kannst du dann überhaupt mit mir sprechen?« »Keine Ahnung.« Anders ging zum Ankleidespiegel und band sich die dunkle Krawatte um, wobei er vergnügt vor sich hin summte. Nachdem er gerade entdeckt hatte, daß er verliebt war, konnte er sich nicht noch wegen einer Kleinigkeit, wie einer Stimme in seinem Kopf, Sorgen machen. »Ich verstehe wirklich nicht, wie ich dir helfen könnte«, sagte Anders und schnippte sich ein paar Flusen vom Jackett. »Du weißt nicht, wo du bist, und es scheint keinerlei Orientierungspunkte zu geben, die zu deinem derzeitigen Aufenthalt führen. Wie soll ich dich da finden?« Er wandte sich noch einmal an der Tür um und ließ seinen Blick durchs Zimmer wandern, ob er irgend etwas vergessen hätte. »Ich weiß, wenn du mir nahe bist«, sagte die Stimme. »Du bist jetzt gerade ziemlich warm, und das bist du dann, wenn du näher kommst.« »Jetzt gerade?« Alles, was er getan hatte, war, durch den Raum zu blicken. Er tat es noch einmal und drehte dabei langsam seinen Kopf. Und dann passierte es. Der Raum sah aus einem bestimmten Winkel anders aus. Er wurde plötzlich zu einer Mischung verwischter Farben statt der
vertrauten, sorgsam aufeinander abgestimmten Pastelltöne. Die Linien der Wände, des Fußbodens und der Decke hatten auf seltsame Art ihre Proportionen verloren und sich in ein unzusammenhängendes Zickzack verwandelt. Dann wurde alles wieder normal. »Du warst gerade sehr warm«, sagte die Stimme. Anders widerstand dem Verlangen, sich am Kopf zu kratzen, denn das hätte sein sorgfältig gekämmtes Haar durcheinandergebracht. Was er gerade gesehen hatte, war nicht so ungewöhnlich. Jeder sieht ein- oder zweimal in seinem Leben Dinge, die ihn an seiner Normalität zweifeln lassen, an seiner geistigen Gesundheit, an der Existenz des Universums sogar. Für einen Augenblick ist die Ordnung des Universums gestört, und alle Wertvorstellungen verlieren ihre Bedeutung. Aber solche Augenblicke gehen vorbei. Anders erinnerte sich, daß er einmal als Junge nachts aufgewacht war und alles in seinem Zimmer völlig fremd ausgesehen hatte! Stühle, der Tisch, Schränke, alles schien in der Dunkelheit angeschwollen und unproportioniert. Die Decke drückte sich wie in einem Traum auf den Boden. Aber auch das war vorbeigegangen. »Nun, alter Junge«, meinte er, »wenn ich wieder warm werde, sag mir Bescheid.« »Das werde ich«, flüsterte die Stimme in seinem Kopf. »Ich bin ich, du findest mich.« »Freut mich, daß du so sicher bist«, sagte Anders gut gelaunt, knipste das Licht aus und ging.
Hübsch und lächelnd empfing Judy ihn an ihrer Türe. Während er sie ansah, spürte Anders deutlich ihr Wissen um die Situation in diesem Moment. Hatte sie die Veränderung seiner Empfindungen für sie ihm gerade erst angemerkt oder hatte sie
alles schon vorausgesehen? Oder ließ die Liebe ihn schon grinsen wie einen Idioten? »Magst du noch einen Drink vor der Party?« fragte sie ihn. Er nickte, und sie führte ihn in ihr Appartement zur Couch. Als er sich setzte, entschied Anders, daß er es ihr sagen würde, wenn sie mit dem Drink zurückkam. Es hatte keinen Zweck, den fatalen Augenblick hinauszuzögern. Ein verliebter Lemming, sagte er sich. Wir sind alle Lemminge. »Du wirst wieder wärmer«, sagte die Stimme. Er hatte seinen unsichtbaren Freund fast vergessen. Oder Feind, denn das konnte ja genausogut der Fall sein. Was würde Judy sagen, wenn sie wüßte, daß er Stimmen hörte? Kleinigkeiten wie diese, erinnerte er sich, zerstören oft die schönsten Beziehungen im Keim. »Hier«, sagte sie und reichte ihm seinen Drink. Noch immer lächelnd, stellte er fest. Das Lächeln Nummer Zwei – für einen möglichen Liebhaber, provokativ und verstehend. Ihm war zu Beginn ihrer Beziehung das NummerEins-Lächeln vorausgegangen, das Ich-bin-ein-nettesMädchen-das-nicht-falsch-verstanden-werden-möchteLächeln, das sie bei allen Gelegenheiten trug, solange noch keine Beziehung auf korrektem Wege angebahnt war. »So ist es richtig«, sagt die Stimme. »Es hängt mit der Art und Weise zusammen, wie du die Dinge betrachtest.« Was betrachtete? Anders spähte zu Judy hinüber und fühlte sich von seinen eigenen Gedanken abgestoßen. Wenn er den Liebhaber spielen wollte, warum sollte er sich das nicht erlauben! Selbst bei seiner durch die emotionale Anteilnahme eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit ließ sich ohne Einschränkungen erkennen, daß ihre graublauen Augen eine aparte Form besaßen, ihre Haut makellos war (wenn man von der kleinen Unreinheit auf der linken Wange absah) und ihre
Lippen voll, der weiche Schwung geschickt durch den Lippenstift betont. »Wie war deine Vorlesung heute?« fragte sie. Natürlich mußte sie so etwas sagen. Liebe verlangt Anteilnahme. »Ganz nett«, sagte er. »Diesen jungen Affen Psychologie beizubringen ist – « »Ach, komm, hör auf.« »Wärmer«, sagte die Stimme. Was ist los mit mir, fragte sich Anders. Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen. Die Gestalt, die Judy bildet, das Muster aus Gedanken, Ausdrücken, Bewegungen, macht sie zu dem Mädchen, das ich – Ich was? Liebe? Anders schob seinen langen Körper unsicher auf der Couch hin und her. Er verstand nicht so richtig, wie er auf diese Gedankenkette gekommen war. Sie mißfiel ihm. Der analytisch denkende Psychologie-Dozent war im Vorlesungssaal besser aufgehoben. Konnte die Wissenschaft nicht bis 9 Uhr am nächsten Morgen warten? »Ich habe heute an dich gedacht«, sagte Judy, und Anders wußte, daß sie die Veränderung in seiner Stimmung genau spürte. »Merkst du es?« fragte die Stimme ihn. »Du wirst schon viel besser.« »Ich merke gar nichts«, dachte Anders, aber die Stimme hatte recht. Es war so, als habe er eine direkte Einsicht in Judys Gehirn. Ihre Gefühle waren nackt vor ihm ausgebreitet und von der gleichen Bedeutungslosigkeit wie vorhin der Anblick seines Zimmers, als sich die gewohnte Ordnung blitzartig aufgelöst hatte. »Ich habe wirklich an dich gedacht«, wiederholte sie. »Jetzt sieh sie dir an«, sagte die Stimme.
Anders beobachtete den Ausdruck von Judys Gesicht und fühlte, wie sich wieder das Gefühl der Fremdartigkeit über alles legte. Er hatte dieselbe alptraumhafte Wahrnehmungsgabe, wie in jenem Augenblick in seinem Zimmer. Diesmal war es eher so, als beobachte er eine Maschine in einem Laboratorium. Zweck dieser Maschine war die Erzeugung und Erhaltung bestimmter Emotionen. Die Maschine rief aus ihrem Speicher bestimmte Assoziationsketten ab, die sie ausprobierte, bis sie das Gewünschte gefunden hatte. »Du denkst an mich…?« fragte er, von seiner neuen Betrachtungsweise begeistert. »Ja… ich dachte, was du wohl heute nachmittag gerade machtest«, sagte die Emotionsmaschine ihm gegenüber auf der Couch, während sich dabei ihr ausgeprägt geformter Brustkasten leicht verschob. »Von dir träumen, natürlich«, sagte er zu dem fleischbehangenen Skelett hinter der zusammengesetzten Gestalt Judy. Die Menschmaschine veränderte die Stellung ihrer Gliedmaßen zu einer Pose mit einer bestimmten Funktion, während sich ihr Mund leicht öffnete, um Freude anzuzeigen. Der Mechanismus suchte aus einem Komplex von Ängsten, Hoffnungen, Sorgen und halb verschütteten Erinnerungen analoge Situationen heraus, analoge Lösungen. Und das war, was er liebte. Anders sah das Objekt seiner Zuneigung zu deutlich und haßte sich selbst dafür. In seiner neuen alptraumhaften Wahrnehmungsart sah Anders den ganzen Raum plötzlich als etwas erschreckend Absurdes. »Hast du das wirklich?« fragte ihn das artikulierende Skelett. »Du kommst näher«, flüsterte die Stimme. Wem? Der Persönlichkeit? Es gab nichts Derartiges. Es gab keine wirkliche Verbindung in dem Gespinst der Emotionen,
keine Tiefe, nur ein Netz von oberflächlichen Reaktionen, das über ein Gerüst unverrückbarer chemisch festgelegter Instinkte gebreitet war. Er kam der Wahrheit näher. »Sicher«, sagte er säuerlich. Die Maschine summte los, die passende Antwort zu finden. Anders fühlte eine rasch vergehende Anwandlung von Furcht vor der völlig fremden Qualität dieser neuen Perspektive. Er hatte alle vorgeprägten Wahrnehmungsmuster abgeschüttelt und seine Erkenntnisfähigkeit von allen Emotionen befreit. Was würde sich ihm als nächstes enthüllen? Es sah alles so deutlich, erkannte er, wie vielleicht noch kein Mensch vor ihm. Es war ein seltsam aufregender Gedanke. Aber konnte er noch in die Normalität zurückkehren? »Soll ich dir noch einen Drink holen?« fragte die Emotionsmaschine. In diesem Moment war Anders so wenig verliebt, wie ein Mann nur nicht verliebt sein kann. Sein Liebesobjekt als ein depersonalisiertes, geschlechtsloses Stück chemischer Maschinerie zu sehen, ist nicht gerade sehr verführerisch. Aber es kann sehr stimulierend sein, intellektuell jedenfalls. Anders wollte in keine Normalität zurück. Ein Vorhang war vor ihm hochgezogen worden, und er wollte sehen, was dahinter lag. Wie hatte da jemand – war es nicht ein russischer Wissenschaftler, ja, Ouspensky war es gewesen – so richtig gesagt? »Denke in anderen Kategorien.« Genau damit hatte er begonnen, und er wollte damit fortfahren. »Wiedersehen«, sagte er plötzlich. Die Maschine beobachtete ihn mit aufgerissenem Mund, während er zur Tür ging. Eine vorübergehende Überforderung des Assoziationsmechanismus brachte die Maschine zum Schweigen, bis sie die Aufzugtür zufallen hörte.
»Du warst sehr warm da drinnen«, wisperte die Stimme in seinem Kopf, als er auf die Straße trat. »Aber du verstehst noch nicht alles.« »Dann erklär es mir«, sagte Anders und staunte ein wenig über seine eigene Anpassungsfähigkeit. In einer knappen Stunde hatte er zu einer völlig neuen Sicht der Realität gefunden, aber er kam ganz natürlich damit zurecht. »Ich kann nicht«, sagte die Stimme. »Du mußt es selbst herausfinden.« »Also sehen wir mal zu«, begann Anders. Er sah sich die Massen von Mauerwerk in seiner Umgebung an, die als Straße bezeichnete Linienführung, die den architektonisch organisierten Betonklumpen durchschnitt. »Das menschliche Leben«, sagte er, »ist eine Kette von Konventionen der Wahrnehmung. Wenn du ein Mädchen ansiehst, verlangt die Konvention von dir, ein Muster zu erkennen – nicht die darunter liegende Formlosigkeit.« »Das stimmt«, sagte die Stimme, jedoch mit einem leichten Zweifel im Unterton. »Im Grunde gibt es gar keine Formen. Der Mensch produziert in seinem Hirn Gestalten, mit denen er Formen aus dem Nichts schneidet. Es ist so, als ob man auf eine Rorschach-Figur schaut und dann sagt, sie stelle etwas Bestimmtes dar. Wir betrachten eine Materieballung, lösen sie von ihrem Hintergrund und sagen, das ist ein Mensch. Aber in Wahrheit existiert gar kein solches Gebilde. Es gibt nur die menschenförmige Gestalt in unserem Denken, die wir dann nach draußen projizieren. Alle Materie ist untrennbar miteinander verbunden und daher formlos, solange wir sie nicht mit unserer artspezifischen Perspektive betrachten.« »Du siehst es noch nicht ganz«, sagte die Stimme. »Verdammt noch mal«, sagte Anders. Er war sicher, daß er einer großen Sache auf der Spur war, einer ultimativen
Erkenntnis sogar. »Jeder hat irgendwann die Erfahrung. Irgendwann in seinem Leben sieht jeder einmal auf ein vertrautes Objekt und kann plötzlich nichts mehr vertrautes darin erkennen. Für einen Augenblick hat er das Gestalt-Sehen aufgegeben, aber dieser Augenblick geht vorbei. Der Geist kehrt zu den ihm aufgeprägten Mustern zurück. Die Normalität ist wiederhergestellt.« Die Stimme schwieg. Anders ging weiter durch die GestaltStadt. »Es geht noch weiter, nicht wahr?« fragte Anders. »Ja.« Was konnte das sonst noch sein, fragte er sich. Mit sich klärenden Augen schaute Anders auf das Formenmuster, das er bisher die Welt genannt hatte. »Gib mir ‘nen Groschen für ‘n Kaffee?« fragte etwas, ein Ding, das sich von den anderen Dingen nicht unterscheiden ließ. »Der alte Bischof Berkeley würde dir einen nicht existierenden Groschen für deine nicht existierende Gegenwart geben«, erwiderte Anders vergnügt. »Mir geht’s wirklich mies«, winselte die Stimme, und Anders erkannte, daß sie nicht mehr als eine Serie modulierter Molekülvibrationen war. »Ja! Weiter so!« befahl die Stimme. »Wenn ich ‘nen Vierteldollar kriegte…« formten die Vibrationen, verzweifelt um eine vorgetäuschte Bedeutung bemüht. Nein, was stand also hinter dem sinnlosen Muster? Fleisch, Materie. Was war das? Zusammengeballte Atome. Alles bestand aus Atomen. »Ich bin so verdammt hungrig«, murmelten die komplex verknüpften Atome.
Alles Atome. Verbunden miteinander. Es gab keine wirkliche Trennung zwischen den einzelnen Atomen. Fleisch war Stein, Stein war Licht. Anders sah sich die Ballungen von Atomen an, die Solidität, Bedeutung und Vernunft vorzutäuschen versuchten. »Kannst du mir denn nich’ ein bißchen helfen?« fragte ein Atomklumpen. Aber der Klumpen war identisch mit all den anderen Atomen. Wenn man erst die darübergelegten Muster ignorierte, konnte man deutlich erkennen, daß die Atome eine diffuse Einheit bildeten. »Ich glaube nicht an dich«, sagte Anders. Der Atomklumpen war verschwunden. »Ja!« schrie die Stimme. »Ja!« »Ich glaube an kein einziges Muster mehr«, sagte Anders. Aber was waren Atome am Ende überhaupt? »Weiter!« rief die Stimme. »Du bist heiß! Ganz nah. Weiter!« Was war ein Atom? Ein leerer Raum, umgeben von einem leeren Raum. Absurd! »Dann ist alles Täuschung!« sagte Anders. Und er befand sich allein unter den Sternen. »Das ist nicht richtig!« brüllte die Stimme in seinem Kopf. »Nichts!« Aber Sterne, dachte Anders. Wie konnte man glauben – Die Sterne verschwanden. Anders befand sich in einem grauen, wesenlosen Nichts, einer Leere. Nichts um ihn herum existierte, außer dem wesenlosen Grau. Wo war die Stimme? Verschwunden. Anders durchschaute die Täuschung in dem Grau der Leere, und dann gab es überhaupt nichts mehr.
Völliges Nichts, und er selbst befand sich in diesem völligen Nichts. Wo war er? Was bedeutete das? Anders’ Geist versuchte, zu einer Schlußfolgerung zu kommen. Unmöglich. Das konnte nicht die Wahrheit sein. Noch einmal stellte Anders’ Geist die Rechnung auf, aber er konnte das Ergebnis nicht akzeptieren, nicht ertragen. Verzweifelt radierte der überlastete Geist die Ergebnisse aus, radierte das Wissen aus, radierte sich selbst aus. »Wo bin ich?« Im Überhauptnichts. Allein. Gefangen. »Wer bin ich?« Eine Stimme. Die Stimme von Anders suchte das Überhauptnichts ab und rief: »Ist hier jemand?« Keine Antwort. Aber da war jemand. Alle Richtungen waren dieselben, aber wenn er einer folgte, bekam er Kontakt… zu jemandem. Die Stimme von Anders griff nach jemandem, der ihn retten konnte. Vielleicht. »Rette mich«, sagte die Stimme zu Anders, der auf seinem Bett lag, angezogen bis auf die Schuhe und seine dunkle Krawatte.