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1. OPERATION SCHLÜSSELBLUME Sein Kopf fühlte sich an, als würde er explodieren. Das Getöse durchsiebte die Schädeldecke und züngelte wie eisiges Feuer durch alle Adern, in die Ohren, die Nase, in seinem Mund. Mit einem Ruck erwachte James Bond, Mehrere Dinge wurden ihm gleichzeitig bewußt: Der höllische Lärm stammte von zwei Düsenjägern, die über ihn hinwegdonnerten. Bei der Lagebesprechung, so erinnerte er sich, war davon die Rede gewesen: Sowjetische Militärmaschinen würden im Tiefflug die Berge überqueren, um zu ihrer Basis bei Archangelsk zu gelangen, dem nördlichsten Hafen Rußlands. Gleichzeitig verfluchte er sich selbst. Nach dem anstrengenden Aufstieg hatte er sich nur ein kleines bißchen ausruhen wollen und war doch in Tiefschlaf gefallen. Im Grunde war er den Jets dankbar, daß sie ihn geweckt harten. Er reckte sich, versuchte die schmerzenden Muskeln zu entspannen und schaute auf die Uhr. Großer Gott, es war höchste Zeit für ihn. Verdammt kalt war es hier oben, und Muskelkrämpfe setzten ihm zu. Die Turbinengeräusche der Jets waren immer noch zu hören, aber keine Spur von dem Aufklärungsflugzeug, das auf dem kleinen Flugfeld tief unter ihm stationiert war. Ein altmodischer Hochdecker, über sechzig Jahre alt, ein Fieseler Storch, den die Russen in Stalingrad von Hitlers Luftwaffe erbeutet hatten. Ein Oldtimer, der einem heute, Mitte der achtziger Jahre, wie eine altrömische Steinschleuder inmitten eines elektronischen Schlachtfeldes vorkommen mußte. James Bond, inzwischen hellwach, schaute sich um. Er lag in einer flachen Senke des Gebirgskamms, tief unter ihm das Flugfeld, rechts der von einem Gebirgsfluß gespeiste Stausee, dessen Damm gut zwe ihundert Meter hoch war, und vor ihm der bunkerartige Wachturm, der den Zugang zu dem riesigen Staudamm blockierte. Unten, am Fuß des Dammes, war ein Haufen Geröll zu sehen, aber wie Bond wußte, war dies lediglich Tarnung. In Wahrheit waren die Felsbrocken einzementiert in drei Meter dicken, bombensicheren 3
Stahlbeton. Unter diesem Felsschutt aber lag sein Ziel: die biochemische Aufbereitungsanlage Numero eins. Entgegen der Konvention von 1972 experimentierten die Sowjets immer noch mit biologischen und chemischen Sprengköpfen – und das tief unter der Erde dieses öden Geländes. Von M hatte Bond erfahren, daß man hier bis vor kurzem einschlägige Horrorkampfstoffe hergestellt hatte, Anthrax und eine Reihe mehr oder weniger konventioneller Nervengase. Jetzt aber wurde die Anlage umgerüstet. Sie bereiteten die Produktion eines weitaus mörderischeren Kampfmittels vor. Hierfür hatten sie eines der vielen Viren weiterentwickelt, die bei der langsamen Zerstörung der Rege nwälder unserer Erde entdeckt worden waren. Innerhalb weniger Wochen würden sie in der Lage sein, in der unterirdische n Fabrik ein Mittel herzustellen, das den grauenvollsten Alpträumen zu entstammen schien: ein sich schnell ausbreitendes Virus, welches das Blut der befallenen Opfer soweit verdünnt, daß die menschlichen Körperfunktionen abrupt zusammenbrechen – ein schneller und dennoch grauenhafter Tod Jetzt kam es darauf an, die Produktion von Sprengköpfen und Bomben mit diesem Teufelszeug zu verhindern oder mindestens so lange hinauszuzögern, bis der Westen ein immunisierendes Gegenmittel gefunden hatte. Diese Mission lag nun in den Händen von James Bond, 007, und seinem alten Freund Alec Trevelyan, 006. »Sie und Alec sind meine besten Männer«, hatte M gesagt. »Wir alle wissen, daß Sie nur eine Fifty-fifty-Chance haben, lebend aus dem Schlamassel herauszukommen. Aber wir haben keine Alternative. Die Fabrik muß zerstört werden. Und zwar jetzt! In ein paar Wochen kann es schon zu spät sein.« Bond seufzte, schaute hinab ins Tal und verfluchte die teuflische Aktivität, die da unter dem gottverlassenen Stückchen Erde im äußersten Norden der Sowjetunion vor sich ging. Das einzige sichtbare Zeichen von Leben war die holprige Startbahn, die das Feld unter ihm wie eine offene Wunde durchfurchte. Sie endete etwa zehn Meter vor der länglichen Felsschlucht, die parallel zum Staudamm verlief. Diese Startbahn, so hatte er erfahren, war einer der beide Zugänge zu der Aufbereitungsanlage, Arbeiter, Sicherheitskräfte und Wissen4
schaftler wurden mit einer alten Anatow An-14 ein und ausgeflogen, einem Senkrechtstarter, der längst nicht mehr gebaut wurde. Der zweite Zugang bestand aus einer primitiven unterirdischen Eisenbahnlinie, die in den späten Sechzigern durch Erde und Fels gesprengt worden war. Über sie wurden Personal und Frachtgüter zum Hafen von Archangelsk transportiert. Das rollende Material dieses dürftigen Transportsystems bestand aus gebrechlichen Kastenwagen und offenen Waggons mit Holzbänken für Soldaten und Arbeiter. Die Reise von Archangelsk zur Aufbereitungsanlage dauerte fast vierundzwanzig Stunden – ein Tag intensiver Unbehaglichkeit. Alec Trevelyan hatte diese Strapaze auf sich nehmen müssen. Drei Tage vorher, das war der Plan, sollte er in Archangelsk eingeschleust werden. Wenn seine Papiere in Ordnung waren und niemand Verdacht geschöpft hatte, müßte er mittlerweile die Untergrundreise hinter sich gebracht haben. M sah die Sache als Zwei-Mann-Job. Nachdem sich Trevelyan unter falschem Namen und mit gefälschten Papieren in das Werk eingeschmuggelt hatte, sollte er für Bond einen Eingang durch eines der Entlüftungsgitter vorbereiten und außerdem im Inneren des Werkes nach einem sicheren Platz suchen, von dem aus Bond operieren konnte. Bonds Aufgabe war es, die beiden Wachtposten auszuschalten sowie Waffen und Sprengstoff nach unten zu bringen. Danach sollten sie beide die ganze Anlage in die Luft jagen und sich anschließend zu einem Küstenstreifen zwanzig Kilometer westlich von Archangelsk durchschlagen, wo ein U-Boot sie aufnehmen würde. Kein Mensch hatte den geringsten Zweifel an der selbstmörderischen Güteklasse dieses Unternehmens. ›Operation Schlüsselblume‹. Bond grinste schief. Was für ein skurriler Codename für dieses mörderische Unterfangen! Er räkelte sich, streckte Arme und Beine aus. Sieben Stunden lag er schon hier, ungefähr fünfzig Meter von dem Wachtposten entfernt, und genau acht Stunden, nachdem man ihn mit dem Spezialfallschirm abgesetzt harte, einem Modell der ›High Altitude Low Opening‹(HALO-)Technologie. Im freien Fall war er bis hundert Meter über dem Flugfeld hinabgestürzt, hatte erst dann die Reißleine gezogen und 5
war unbeschädigt gelandet. Nachdem der Fallschirm in einer Felsspalte versteckt war, hatte sich Bond an den Aufstieg gemacht, eine Stunde lang Free climbing, die steile Bergwand hinauf. Das Postenhaus war eine einfache viereckige Stahlbetonkonstruktion am vorderen Ende des Staudamms. Von Bonds Standpunkt aus konnte man ein Fenster und eine Tür sehen. Das Innere des Gebäudes, so war Bond informiert worden, bot Platz für zwei Wachmänner. Ferner wußte er, daß sich hinter dem Haus eine Art riesiger Hundezwinger befand, bestehend aus drei Meter hohen Stahlpfeilern und einem elektronisch gesteuerten Tor, das zu dem Laufsteg über den Damm führte. Die Leute, die hier postiert waren, gehörten zum Sicherheitsdienst der biochemischen Aufbereitungsanlage Numero eins, Elitesoldaten, die in einem dreijährigen Spezialtraining beim KGBGrenz-schutzkommando ausgebildet worden waren. Am anderen Ende des Staudammes gab es keine Posten, da der Damm hier unmittelbar an der blanken Felswand endete. Der Dienst der Posten dauerte jeweils eine Woche. Die Ablösung mußte sich über einen steilen, unwegsamen, in endlosen Serpentinen nach oben führenden Pfad hochquälen. Für einen Moment fragte sich Bond, mit welchen Gefühlen sich die Burschen wohl während der finsteren, eisigen Wintertage an den Aufstieg machten. Er schauderte bei diesem Gedanken, und noch einmal schauderte er beim Anblick des Serpentinenweges. Nicht lange, und er würde selbst dort hinunterklettern müssen. In Gedanken checkte er die Ausrüstung ab, die er dann mit hinabschleppen mußte. Er trag einen Spezial-Kampfanzug, Bergschuhe und einen langen Parka. Kampfanzug und Parka waren aus steingrauem Material und hatten mehr Reißverschluß- und Knopftaschen als der Wettermantel eines Wilderers. Unter seinem Parka, um die Brust geschnürt, trug Bond seine Ausrüstung. Ferner hatte er sich einen breiten Gurt um die Taille geschnallt, an dem vier große Beutel mit allerlei Sprengstoff befestigt waren sowie der Halfter für die Waffe seiner Wahl: eine ASP 9 mm Automatic mit Schalldämpfer, geladen mit todbringender Gl aser-Munition. Kopf und Gesicht waren durch eine Skikapuze geschützt, während seine Hände in hautengen Lederhandschuhen steckten, welche die Kälte abhielten und ihn trotzdem befähigten, seine 6
Finger mit jener Feinfühligkeit zu bewegen, die für die heikle Aufgabe erforderlich war. In Gedanken ging er noch einmal den Inhalt seiner Taschen durch, wie schon ein Dutzend Male zuvor, ehe er eingenickt war. Das war wichtig, denn er mußte sicher sein, daß er im entscheidenden Moment ohne Zögern in die richtige Tasche griff. Ein fernes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Als es näher kam, wußte er, daß es das knatternde Motorenbrummen des Fieseler Storchs war. Der alte Aufklärer flog regelmäßig Patrouillenflüge über dem Areal, um sicherzugehen, daß sich nicht irgendwelche zivilen Kletterenthusiasten – oder, schlimmer noch, gefährliche Staatsfeinde – an der Steilwand versuchten. Der ›Storch‹ flog eine festgelegte Runde, die nur selten variiert wurde. Zum Schluß pflegte er mit wackelnden Flügeln den Staudamm zu überqueren, und nach höchstens zwanzig Minuten war der Spuk vorbei. Aus dem großen, gewächshausähnlichen Cockpit schaute der Pilot dann hinunter zu den Wachtposten. Die hatten strikte Anwe isung, daraufhin in den stählernen Hundezwinger hinauszugehen und dem Piloten ›Alles klar‹ zu signalisieren. Zwischen Flugzeug und Wachstation bestand zwar eine drahtlose Telefonverbindung, aber der Befehl mußte befolgt werden. Es war jene Art von Vorschrift, die Oberst Ourumow hochachtete wie ein ehernes Gebot. Arkadij Grigorowitsch Ourumow, Kommandeur des KGBGrenzschutzes, war den westlichen Geheimdiensten wohlbekannt. Von ihm hieß es, seine Vorstellung von ›Sicherheit‹ sei so paranoid, daß, ginge es nach ihm, jeder Wachtposten von einem Wachtposten beschattet würde, dem ein Wachtposten folgte, der wiederum von einem Wachtposten bewacht würde, und so weiter bis in die Unendlichkeit. Das Motorengeräusch verstummte, der Storch segelte zum Flugfeld herab, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er setzte jedoch nicht zur Landung an, sondern startete gemächlich wieder durch. Das war der Augenblick, auf den Bond gewartet hatte. Er erhob sich, streckte die Glieder und sprintete geräuschlos zum Wachhaus. Währenddessen registrierte er, wie der Flieger wieder an Höhe gewann. Er drückte sich an die Hauswand und spähte vorsichtig durch das 7
schmutzige Fenster in die Wachstube. Die beiden Soldaten saßen sich, auf ein Schachspiel konzentriert, gegenüber. Bond war irritiert. Was, verdammt noch mal, passierte, wenn die über dem Schach ihren Einsatz verpaßten und dem Flieger nicht das übliche ›Okay‹ zuwinkten? Das Flugzeuggeräusch wurde lauter. Die Maschine kam im Tiefflug über den Stausee heran. An die Hauswand gepreßt, hörte Bond die Stimmen der Wachtposten und das Scharren eines Stuhles. Noch einmal wagte er einen Blick durch das Fenster. Einer der Soldaten öffnete gerade die Tür und ging hinaus, um dem Flieger das Signal zu geben. Der andere saß immer noch am Tisch. Sein ungeteiltes Interesse galt dem Schachbrett. Bond zog die Pistole, wartete, bis das Flugzeug herankam, hastete mit zwei großen Sätzen zur Tür und riß sie auf. Der Mann war so in das Schachspiel vertieft, daß er sich nur wie in Zeitlupe bewegte. Er drehte sich um und sah Bond in der Tür stehen. Langsam schob er den Stuhl zurück und starrte – zugleich überrascht, ungläubig und verängstigt – Bond an, als erblicke er jemanden von einem anderen Stern. Die ASP-Automatic war kaum zu hören, allenfalls ein leises ›Pfft-pfft‹. Tatsächlich war das metallische Klicke n des Abzugs lauter als die beiden Schüsse, die Bond abfeuerte. Er zuckte zusammen, als die Glaser-Geschosse dem Mann in die Brust drangen, genau über dem Herzen, nur zwei Zentimeter voneinander entfernt. Overkill! dachte er, als ihm die Geruchsmixtur aus Blut und Pulverdampf in die Nase stieg. Seine Lebenserfahrung hatte ihn gelehrt, daß es besser war, immer zweimal zu schießen. Bei Glaser-Geschossen genügte jedoch normalerweise ein einziger Schuß, da sie praktisch wie Schrotpatronen wirkten und in neunzig Prozent aller Fälle binnen Sekunden zum Tode führten. In einem Mantel aus Kunststoff versiegelt, enthielt jede Patrone zwölf Kugeln, die in flüssigem, von einer dünnen Nickelschicht umschlossenem Teflon schwammen und in dem Moment explodierten, da das Geschoß in einen Körper einschlug. Der Stuhl des toten Soldaten wurde durch den Aufprall fast bis zur Wand zurückgeschleudert, der arme Kerl selbst sackte zusammen, wobei er mit dem Arm noch die Schachfiguren zu Boden fegte. Der Fieseler Storch war indessen vorbeigeflogen. Und jetzt klingelte das Telefon. Bond zögerte – einen Augenblick zu lang. Seine Augen suchten die Anschlußbuchse. Das Telefon klingelte noch fünfmal, bis 8
er sie endlich gefunden hatte und den Stecker aus der Buchse riß. Währenddessen hatte aber der andere Soldat das Telefon gehört. Verwundert, daß niemand den Hörer abnahm, rannte er zur Station zurück. Bond hörte seine Schritte und konnte sich vorstellen, wie der Mann jetzt die Waffe aus dem Halfter riß. »Von wegen Elitesoldaten«, murmelte Bond. Der Soldat rannte einfach zur Wachstation zurück, ohne sich zu überlegen, was hier drinnen vorgefallen sein mochte, Wie ein Sturzwind polterte er in den Raum, seine Stechlin-Pistole in der Hand, mit der er ziemlich unkontrolliert herumfuchtelte. Dieses Mal feuerte Bond nur einmal. Der Soldat wurde zurückgeschleudert, prallte gegen die Wand und sank zu Boden. In die Stille, die nun folgte, klapperten zwei Schachfiguren, die ihm zu Füßen rollten. »Schachmatt«, murmelte Bond, während er versuchte, sich Klarheit über die Situation zu verschaffen. Wer auch immer hier angerufen hatte, mußte sich wundern, daß die Leitung so abrupt unterbrochen worden war. Er mußte schnell handeln. Sehr schnell! Als erstes mußte er den Mechanismus in Gang setzen, mit dem das Tor zum Staudamm geöffnet werden konnte. Rechts über ihm befand sich, wie ein mattsilberner Pilz aus der Wand herausragend, ein großer Metallknopf. Bonds Instruktionen besagten, daß mit diesem Knopf der Mechanismus aktiviert werden konnte - allerdings nicht ohne weiteres. Es war eine Sicherheitssperre installiert, die nur von der Zentrale aus gelöst werden konnte. Man hatte ihm jedoch auch gesagt, daß der Mechanismus eventuell zu überlisten sei, indem man den silbernen Knopf sehr plötzlich und mit großer Wucht einschlug. Bond öffnete den Reißverschluß seines Parkas und entledigte sich mit wenigen Handgriffen eines dicken Gummiseils, das um seinen Leib gewickelt war. Am Ende des Seils befand sich eine kräftige Stahlklammer. Er wickelte den Anfang des Seils um den linken Arm. Mit der Rechten wirbelte er – wie ein Gaucho seine Bola – das Ende mit der Stahlklammer durch die Luft. Sein Leben hing davon ab, daß ihm in den nächsten Sekunden nicht der kleinste Fehler unterlief. Er mußte den Metallknopf in der Wand exakt in seiner Mitte treffen. Wenn nicht, wurde automatisch Alarm ausgelöst, und er konnte ein9
packen. Mit aller Wucht schleuderte er die Klammer gegen den Knopf. Atemlos hielt er die Luft an. Einige Sekunden geschah überhaupt nichts. Dann, endlich, hörte er ein leises, schleifendes Geräusch – Metall auf Metall. Er sah nach draußen. Das Gittertor öffnete sich langsam und gab den Weg über den Staudamm frei. James Bond atmete tief durch und sprintete los.
2. AUFTRAG AUSGEFÜHRT Bond hatte nicht mit der steifen Brise gerechnet, die über den Stausee fegte, aber der Damm war so breit, daß ihm der Balanceakt im stürmischen Wind nicht allzu schwerfiel. Außerdem war der Steg durch ein festes Metallgeländer gesichert, so daß er nicht befürchten mußte, die dreihundert Meter, die er sich über dem felsigen Boden befand, in die Tiefe zu stürzen – obgleich er genaugenommen im Begriff stand, gerade das zu hin. Er mußte die dreihundert Meter überwinden, egal wie. In der Mitte des Dammes angekommen, blickte er über das Geländer und spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Während der kurzen Zeit des Trainings für Operation Schlüsselblume hatte er bloß zweimal einen solchen Abstieg üben können – und das auch nur über die Hälfte der Distanz, die jetzt vor ihm lag. Aber er mußte in den sauren Apfel beißen. Er hatte nur diese eine Chance, und es gab keine Hilfsmittel wie Reservefallschirm oder Armband-Höhenmeter, Bond schaute auf die Uhr und stellte fest, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Wenn bei Alec Trevelyan alles planmäßig ve rlaufen war, wartete der jetzt schon am vereinbarten Treffpunkt. Der Plan sah vor, die Sprengladung zu zünden, während sich der Großteil der Belegschaft zu der einstündigen Vormittagspause zurückgezogen hatte. Ursprünglich hatte Bond vorgehabt, sich an der Dammwand abzu10
seilen. Nun aber wurde ihm klar, daß ihn diese Methode langer, als ihm lieb sein konnte, an der Wand festhalten würde. Man würde ihn dort von drei Seiten her beobachten können. Aus einem am Oberschenkel befestigten länglichen Halfter holte er ein Gerät heraus, mit dem Q ihn ausgerüstet hatte. Es war eine Art Harpunenpistole, mit der ein Spezialhaken abgeschossen werden konnte, ähnlich den Haken, die Bergsteiger in den Fels schlagen, um das Kletterseil daran zu befestigen. Er fixierte die Stahlklammer des Gummiseils am Geländer und kontrollierte mit einem heftigen Ruck, ob der Pfeiler, an den er sich angurtete, sein Gewicht auch aushaken würde. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sich nichts verheddern konnte, legte er seinen rechten Fuß in eine Schlinge am anderen Ende des Seils. Er atmete tief ein, stieß die Luft mit einem lauten Ächzen aus und sprang in die Tiefe. Es war etwas ganz anderes als der freie Fall beim Fallschirmspringen, denn diesmal fehlte die beruhigende Gewißheit, daß man im entscheidenden Augenblick den Schirm auf dem Buckel hatte. Sein Magen war noch oben auf dem Staudamm, während er selbst ungebremst in den Abgrund stürzte. Der Sprung schien endlos zu dauern. Bond fühlte, wie sein Körper schneller und schneller fiel, spürte den Luftwiderstand, bekam Ohrensausen, seine Gesichts-muskeln verloren jede Spannung, seine Wangen flatterten, sein Mund verzog sich zu einem scheußlichen Grinsen. Während er so, kaum einen halben Meter vom Damm entfernt, in die Tiefe sauste, hielt er die Harpunenpistole fest in der Hand. Der Abschuß des Hakens mußte auf die Sekunde genau erfolgen. Wenn nicht, würde ihn das Gummiseil, nachdem es die äußerste Länge erreicht hatte, nach oben schnellen lassen, worauf er wieder abwärts stürzen und sehr wahrscheinlich an der Beton wand des Staudammes zerschmettern würde. Bond zwang sich, nach unten auf die Felsbrocken zu schauen, die ihm bedrohlich entgegenrasten. Er verließ sich einzig und allem auf seinen Instinkt, um den richtigen Moment zum Abschuß der Harpune zu wählen, denn es gab keine Möglichkeit, den optimalen Sekundenbruchteil präzise zu berechnen. In diesem Falle mußte sich sein Selbsterhaltungstrieb über alle Exaktheitsgebote hinwegsetzen. 11
Egal wie, jetzt mußte es sein! Mit beiden Händen umklammerte er den Griff der Harpunenpistole, zog den Abzug und spürte, wie ihm durch den Rückstoß ein Kribbeln den Arm hinauflief. Das Tempo des Geschosses, das ein festes Seil hinter sich herzog, war um einen Bruchteil höher als Bonds Fallgeschwindigkeit. Der Felshaken krallte sich mit Wucht in dem getarnten Beton zu Bonds Füßen fest. Im gleichen Moment hatte das Gummiseil seine normale Länge erreicht und drohte, wieder nach oben zu schnellen. Bond hatte das Gefühl, von den beiden Seilen in Stücke gerissen zu werden. Schmerz jagte von den Muskeln der Arme und des rechten Beines durch den ganzen Körper, und er fragte sich, ob sich so die Menschen bei mittelalterlichen Folterungen gefühlt hatten. Er begann, sich an dem Harpunenseil abwärts zu hangeln, eine Hand vor die andere setzend. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kämpfte er gegen die Spannung an, die von dem Seil ausging, das seinen Riß umfing, und die mit jedem Meter, den er vorankam, stärker wurde. Endlich erreichte Bond den Boden. Mit Entsetzen sah er, wie sich der Harpunenhaken ein wenig in dem brüchigen Betonboden bewegte. Wenn er sich ganz löste, wäre die unausweichliche Folge, daß Bond von dem Gummiseil nach oben katapultiert, gegen die Wand des Staudamms geschleudert und zerrissen würde, als hielte ihn jemand gegen eine riesige Black & Decker-Schleifmaschine. Am Ende würde ihn das Gummiseil dreihundert Meter in die Luft schleudern, und was von ihm übrig bliebe, würde auf den Staudamm stürzen. Zum Glück gelang es ihm, seinen Fuß aus der Schlinge des Seils zu befreien, das nun nach oben schoß wie eine in die Luft geschleuderte Riesenschlange. Einen Moment blieb er stehen, um sich zu orientieren. Dann robbte er im Zickzack zwischen den Steinen hindurch zu der AirconditionPumpe, die etwa zwanzig Meter entfernt wie eine grau gestrichene Trommel aus dem Boden ragte. Daneben fand er auch das Gitter der Entlüftungsanlage. Es war geöffnet worden. Bond entdeckte sofort die Spuren der Eisensäge, die Alec Trevelyan angesetzt hatte, um das große Vorhängeschloß zu knacken. Er hob das Gitter an und schaute in ein dunkles, viereckiges Loch mit einer Reihe von Metallsprossen, die nach unten führten. Bond stieg in die Finsternis hinab, nicht eilig, sondern ganz lang12
sam, Sprosse für Sprosse, voll darauf konzentriert, den Boden dieses schwarzen Loches zu erreichen. Er hatte keine Vorstellung davon, wie tief der Lüftungsschacht tatsächlich war. Es wurde ein langer Abstieg, denn der Schacht schien sich endlos in die Tiefe zu bohren. Obgleich seine Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, spürte Bond nun doch – zum erstenmal in seinem Leben – ein gewisses Schwindelgefühl. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Seine Muskeln schmerzten noch immer, und seine Gedanken schienen sich auf merkwürdige Weise von dem zu lösen, was er hier in Wirklichkeit tat. Alles war so schnell gegangen, daß ein Teil von ihm immer noch draußen an dem Seil zu hängen schien, hoch über dem Erdboden, auf den es mit mörderischer Geschwindigkeit heruntersauste. Seine Hände bekamen Blasen von den rostigen Sprossen, und ein muffiger, modriger Geruch stieg ihm in die Nase, ein Geruch, der stärker und stärker wurde, je weiter er sich nach unten bewegte. Endlich, nach – wie es ihm schien – zehn oder fünfzehn Minuten und Hunderten von Eisensprossen, spürte er festen Boden unter den Füßen. Oder war es nur ein Mauervorsprung, von dem aus er in eine abgrundtiefe Grube stürzen konnte? Langsam gewöhnten sich seine Augen an die fast völlige Finsternis, die hier unten herrschte, und nun konnte er Umrisse seiner Umgebung erkennen. Es war eine Art Kammer, von der er annahm, sie sei der Zugang zu dem Lüftungsschacht. Zu seiner Rechten konnte er den Schatten einer Tür ausmachen. Seine Füße scharrten laut über den Steinfußboden, während er auf die Tür zuging. Behutsam schob er sie auf und betrat einen zweiten, anscheinend etwas größeren Raum. Nach zwei Schritten blieb Bond stehen, wie zur Salzsäule erstarrt. Ihm war, als spüre er den Geruch von Blut und Tod. Mehr noch: In seinem Nacken, dicht unter dem Ohr, fühlte er das kalte Metall einer Pistolenmündung. »Wagen Sie nicht einmal zu atmen!« sagte eine Stimme auf russisch. Und dann: »Wo sind die anderen?« »Ich bin allein.« »Sind wir das nicht alle?« schnarrte die Stimme mit einem leisen, glucksenden Lachen. Ein Licht flammte auf. Die plötzliche Helligkeit ließ Bond fast 13
erblinden. Er drehte sich um und erkannte blinzelnd seinen alten Freund, Alec Trevelyan, der ihn wie ein Honigkuchenpferd angrinste. Er sah immer noch aus wie der ewige Schuljunge. Oft hatte man von ihm gesagt, er habe ein Gemälde auf dem Dachboden wie Dorian Gray. »Schön, daß du mal vorbeikommst, James.« »Die Reise hat ein bißchen länger gedauert, als ich dachte, aber zum Glück ging’s meistens gemütlich bergab.« Trevelyan öffnete eine weitere Tür, hinter der eine stählerne We ndeltreppe zum Vorschein kam. »Alles klar, James?« »Packen wir’s an!« Bond stieg als erster die Treppe hinunter. »Auf diesem Weg bist du heraufgekommen?« fragte er 006. »Ja. Unten rechts ist eine Tür und ihr gegenüber eine zweite. Die ist durch ein elektronisches Schloß gesichert. Hinter ihr findest du Al adins Schatzkammer – allerdings eine ziemlich neumodische Version.« Schon war Bond dabei, eine der Reißverschlußtaschen an seinem Gürtel zu öffnen. Als sie zu der elektronischen Tür kamen, hatte er eine kleine, rechteckige Kassette in der Hand. Sie war magnetisch und ließ sich leicht an die Tür heften. Bond betätigte einen Schalter, wo rauf eine Reihe von Lichtern aufblinkte und die Ziffern auf einer Digitalanzeige wie wild zu wirbeln begannen. »Es ist eine ganz einfache Sache«, hatte Q erklärt, als er Bond das Gerät aushändigte. »Das Ding funktioniert wie eine Telefonzentrale. Es registriert sämtliche bekannten Kombinationen von Ziffern und Buchstaben mit einer Geschwindigkeit von rund fünfhundert pro Sekunde. Stößt es dabei auf ein irgendwie zusammenpassendes Schema, konfiguriert es nach und nach den gesamten elektronischen Code. Selbst bei einem überaus clever erdachten System dauert es höchstens eine Viertelstunde, bis der Code geknackt ist. Ist’s soweit, dann ist auch das Türschloß geöffnet« »Ein hübsches kleines Gerät für gemütliche Picknickausflüge«, hatte Bond geantwortet, »Ich hab’s im Tresorraum der Bank von England getestet«, hatte Q mit dem Anflug eines Lächelns gesagt. »Den Leuten dort hat das gar nicht gefallen.« 14
Während Bond an diese Unterhaltung zurückdachte, gab der Decoder einen leisen, abschließenden Piepton von sich, und die Tür sprang auf. Sie befanden sich auf einem hohen, unter der Decke befestigten Laufsteg, von dem aus man auf eine riesige Werkhalle hinabblickte. Auf der gegenüberliegenden Seite standen nebeneinander sechs wuchtige Stahlkessel, die durch schmale Rohrleitungen miteinander ve rbunden waren. Das Ganze mündete in ein Gewirr von Röhren und Pumpen ein, dem am Ende ein noch größerer Kessel angeschlossen war, der aussah wie eine Art überdimensionaler Schnellkochtopf. Noch mehr von Pumpen gespeiste Rohre verschwanden rechts in der Wand. Bond fühlte sich im ersten Moment total desorientiert. Was war das hier? Was hatte das alles zu bedeuten? Auf der linken Seite, neben den gigantischen Behältern, war eine zweite elektronische Tür. Direkt unter sich konnte Bond ein breites Förderband ausmachen, das durch die ganze Länge der Halle lief, links und rechts von mit Gummi verkleideten Pfeilern stabilisiert. »Wo geht’s da hin?« Bond zeigte auf die elektronische Tür. »Zu den anderen Laboratorien, glaube ich.« Trevelyan gab wieder sein glucksendes Lachen von sich. »Als ich hier ankam, habe ich mich in den Verbindungsgängen ganz schön verlaufen. Die Karte, die mir M mitgegeben hat, ist aber äußerst genau. So konnte ich mich dort verstecken, wo du mich gefunden hast. Ich komme mir gewissermaßen vor wie das Phantom der Laboratorien. Aber die Nachtmusik hier unten ist nicht ganz mein Fall.« Bond deutete auf die großen roten Plakate, die, mit Totenköpfen dekoriert, überall herumhingen. Sie tragen die russische Aufschrift ›ACHTUNG! FEUERGEFÄHRLICH!‹ »Und was ist mit diesen Schildern? Was ist feuergefährlich?« »Irgendeine Reinigungsflüssigkeit. Auf der entsetzlichen Untertagefahrt habe ich mitbekommen, daß alle Geräte hier unten neu sind. Das Zeug muß absolut sauber sein, ehe sie ihren neuen Horror in Gang setzen.« »Hm, hm. Rauchen gefährdet hier die Gesundheit, he?« »Genau! Und passives Rauchen tötet auf der Stelle.« »Also gehen wir an die Arbeit.« Bond ging voran, stieg die Stufen 15
hinunter, die ins Zentrum der todbringenden Fabrik führten. Er heftete sein elektronisches Gerät an die Tür am Ende der Halle. Dann begann er, seine Taschen und Beutel zu leeren, und förderte all die sorgsam verpackten Schaltuhren und Sprengladungen zutage, die er mit sich geschleppt hatte. Beide machten sich nun daran, den Sprengstoff im Raum zu verteilen, unter den verschiedenen Kesseln und Zuleitungsrohren. »Das sollte genügen«, sagte Bond zu Trevelyan. »Der Rest wird durch Selbstentzündung erledigt. Ich setze die Zeitzündung auf drei Minuten, dann bleibt uns genug Zeit abzuhauen, bevor das Spektakel losgeht.« Der kleine Decoder an der Tür gab mit einem Piepton zu verstehen, daß er das elektronische Paßwort gefunden hatte, doch im selben Moment heulte eine mörderisch schrille Sirene auf. Bond fluchte. »In Deckung, Alec! Wir haben keine Zeit, um…« Er wurde von einer durch Lautsprecher gellend verstärkten Stimme unterbrochen: »Hier spricht Oberst Ourumow. Sie sind umzingelt. Es gibt für Sie keinen Ausweg! Lassen Sie alle Waffen fallen, und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus! Jetzt!« »Kein Ausweg…«, murmelte Bond, während er weiter den Weg neben den Stahlkesseln entlang lief. Laut rief er: »Alec, du mußt die Zeituhr zurückstellen! Leg den Hebel an der linken Seite nach rechts!« Er rannte weiter bis zu dem letzten, überdimensionalen Dampfkessel. »Alec?« Keine Antwort. Er duckte sich hinter den Kessel und schaute zurück. Sein alter Freund 006, Alec Trevelyan, kniete auf dem Boden. Neben ihm, mit der Mündung seiner Pistole an Alecs Stirn, stand ein Sowjetoffizier mit den Schulterstücken eines Oberst, hinter ihm ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Soldaten. Einer von ihnen feuerte in Bonds Richtung eine Salve aus seiner Maschinenpistole. »Lassen Sie das, Sie Idiot!« brüllte der Oberst. »Wenn Sie einen von unseren Behältern treffen, jagen Sie uns alle in die Luft!« Bond zog sich hinter den Kessel zurück. Er blickte auf die Schaltuhr, die er gerade an der letzten Sprengladung anbringen wollte, derjenigen, die eine Kettenreaktion auslösen und den ganzen Laden in Stücke reißen würde. Er schaute hinüber zu dem Förderband und 16
entdeckte den Startknopf an einem Pfosten neben dem Band »Ich zähle bis zehn!« schrie der Oberst. »Wenn Sie bis dahin nicht aufgeben, ist Ihr Kamerad ein toter Mann!« »Und Sie lösen damit ein Inferno aus, hm?« Bond stellte den Zeitzünder der Sprengladung auf eine Minute ein. »Eins…. zwei…«, begann Ourumo w zu zählen. Bond holte eine Handgranate aus einer seiner Gürteltaschen, machte sie scharf, hielt jedoch den Sicherheitsbügel gedrückt. »Drei… vier…« Bond kam aus seiner Deckung heraus, die Arme ausgestreckt, die Handgranate in der linken, seine Pistole in der rechten Hand. »Fünf…« »Wenn Sie meinen Freund töten, sterben wir alle!« Bond war sich bewußt, wie nahe er damit der Wahrheit kam. Abgesehen von der Handgranate würde die Hauptsprengladung in dreißig Sekunden zünden. »Sie glauben, ich fürchte mich, für mein Vaterland zu sterben!« kreischte der Oberst und drückte den Abzug. Bond sah, wie sein Freund leblos zu Boden sank. Ohne eine Sekunde nachzudenken, schleuderte er die Handgranate, sprang auf das Förderband und drückte den Startknopf. Der Oberst schrie seinen Leuten zu, keinesfalls das Feuer zu eröffnen, und zog sich eilig zurück, wobei er Alecs Körper hinter sich herzerrte. Gleichzeitig setzte sich das Förderband mit einem Ruck in Bewegung. Jetzt, nachdem Bond sich von den Behältern mit der leicht entflammbaren Reinigungsflüssigkeit entfernte, gab der Oberst zwei Schüsse auf ihn ab, die jedoch ihr Ziel verfehlten. Das Band bewegte sich schnell, und 007 sah sich dem Ausgang der Fabrikhalle entgegengetragen. In diesem Moment explodierte die Handgranate mit ohrenbetäubendem Lärm. Bond glaubte Schreie zu hören, während er durch ein sich automatisch öffnendes Tor ins Freie befördert wurde. Auf einer Laderampe außerhalb der Halle fand er sich wieder, nur etwa fünfzig Meter von der Startbahn entfernt, auf welcher der Fieseler Storch gerade ein Wendemanöver durchführte. Er war offenbar im Begriff, in Startposition zu rollen. 17
Hinter Bond entlud sich die erste große Detonation, ein gewaltiger Luftdruck schleuderte ihn zu Boden. Niemand würde lebend aus dem Komplex herauskommen, das war sicher. Bond raffte sich auf und rannte wie der Teufel hinter dem Flugzeug her. Mit keuchenden Lungen erreichte er die Maschine, als sie gerade zum Start ansetzen wollte. Hinter ihm grollte die zweite Explosion – eine Stichflamme, schwarzer Qualm, polterndes Geröll Mit letzter Kraft sprang 007 vorwärts und packte eine Verstrebung des rechten Flügels. Der Pilot, der voll darauf konzentriert war, die nötige Startgeschwindigkeit zu erreichen, bemerkte jetzt erst den Mann, der unter der Tragfläche seines Hochdeckers hing. Er nahm das Gas zurück, um den Start abzubrechen. Bond hingegen hangelte an der Verstrebung entlang und grapschte nach der Klinke der Cockpit-Tür, Der Pilot trat auf die Bremsen und riß das Ruder nach rechts, so daß die Maschine ins Schleudern geriet. Als jedoch der Versuch mißlang, so den ungebetenen Fluggast abzuschütteln, öffnete er die Tür auf seiner Seite und sprang aus dem Cockpit, nicht ohne vorher den Gashebel auf volle Kraft vorzuschieben. Bond schwang sich von der Tragflächen Verstrebung ins Innere des Cockpits und rutschte auf den Pilotensitz durch. Die Maschine drehte sich jetzt in einem weiten Kreis, rumpelte über den holprigen Boden, schlingerte hin und her und ließ Bond nicht im Zweifel, daß sie jeden Augenblick einen Kopfstand machen würde. Er riß den Gashebel zurück und suchte die Ruderpedale, um das Flugzeug unter Kontrolle zu bringen. Zwei Drittel der Startbahn lagen schon hinter ihm, als der Flieger endlich zum Stillstand kam. Verzweifelt schaute er sich im Cockpit um. Er hatte noch nie einen Fieseler Storch geflogen und mußte ve rsuchen, sich rasch mit den Armaturen vertraut zu machen. Während er das tat, wurde das kleine Flugzeug durch eine weitere gewaltige Detonation aus dem Berginneren erschüttert. Er betätigte einen Hebel, der sich neben dem Steuerknüppel befand, und beobachtete, wie sich am hinteren Ende der Tragflächen die Startklappe bewegte. Das war’s! Nun drückte er den Gashebel nach vorne auf volle Kraft. Der Flieger sprang mit einem wahren Bocksprung nach vorne, gewann an Geschwindigkeit und fegte den Rest der Startbahn entlang. Bond spürte, wie sich langsam das Heck des 18
Flugzeugs hob, als auch schon das Ende der betonierten Rollbahn erreicht war. Die Maschine schepperte über die letzten zwanzig Meter des höckerigen Bodens einer langen, breiten Felsschlucht entgegen. Verzweifelt zog Bond den Steuerknüppel an, um Hohe zu gewinnen. Verdammt, er hatte übersteuert! Die Maschine wurde unruhig. Er nahm etwas Gas weg, lockerte den Steuerhebel und merkte, daß der kleine Fieseler Storch endlich in seinem Element war. Aber er gewann keine Höhe. Im Gegenteil, nachdem er das letzte holprige Stück der Landebahn überwunden hatte, sackte er hoffnungslos in die tiefe Felsspalte ab. Bond sah links und rechts die Bergwände aufsteigen und kaum zweihundert Meter unter sich einen rauschenden, von gewaltigen Steinbrocken gesäumten Gebirgsfluß, der ihm mit jeder Sekunde näher kam. Doch 007 behielt die Nerven, legte die Maschine etwas in Seitenlage, steuerte sie im Steilflug nach unten und gewann so genügend Geschwindigkeit, um sie kurz über dem Fluß abzufangen. Es schien ihm eine Ewigkeit zu vergehen, ehe er ausatmen konnte. Der kleine Flieger hob die Nase, die Flugbahn war stabilisiert, er konnte ihn endlich aus der Schluc ht emporsteuern. In einer weiten Kurve machte er kehrt und überflog den Berg mit der unterirdischen Fabrikationsanlage, der wie ein Vulkan Trümmer, Schutt und Feuer spie. Als er abdrehte, glaubte er zu sehen, wie der Staudamm brach und seine Wassermassen sich in das Tal ergossen. Keine Zeit für sentimentale Gedanken! Alec Trevelyan hatte dasselbe Risiko auf sich genommen wie jedermann in ihrer Abteilung, der 00-Sektion. Wenn nicht eine Laune des Schicksals ihn davor behütet hätte, könnte jetzt auch er, James Bond, 007, dort unten liegen, durch den Kopf geschossen, begraben von Felsbrocken und den Wasserfluten, die langsam in das Berginnere eindrangen. Im extremen Tiefflug spielte Bond Haschmich mit den Berggipfeln, machte sich vorsichtig und zielstrebig auf den Flug zu der Küstenregion bei Archangelsk. Hier, so war vereinbart, würde ihn in wenigen Stunden ein U-Boot der königlichen Marine aufnehmen und nach erfolgreicher Beendigung der Operation Schlüsselblume nach London zurückbringen. Bei näherem Nachdenken wurde ihm eines klar: Er konnte sehr beruhigt darüber sein, daß in der Bergfabrik keinerlei biologische oder 19
chemische Kampfmittel gelagert waren. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte der Plan, das ganze Ding in die Luft zu jagen, eine unglaublich törichte Komponente. Bond konnte daher davon ausgehen, daß M gewußt – oder zumindest geahnt – hatte, daß dort noch feine todbringenden Bakterien oder giftigen Chemikalien aufbewahrt wurden. Genau konnte man das natürlich nicht wissen, es sei denn, Oberst Ourumow würde nach einiger Zeit von den Toten auferstehen und mit hämischer Freude verkünden, daß das ganze Unternehmen sinnlos gewesen sei.
3. HOHE EINSÄTZE Frühsommer 1995. Der Süden von Frankreich, dachte James Bond des Öfteren, war auch nicht mehr das, was er einmal gewesen war. Die Rivieraküste von St- Tropez bis Menton, kurz vor der italienischen Grenze, war bis an den Rand ihres Fassungsvermögens vollgestopft. Die einst so gemächliche Promenade des Anglais in Nizza wirkte jetzt fast noch gemächlicher, aber heute nur wegen des sich langsam dahinschleppenden Straßenverkehrs. Autos und jede Menge Busse – ein Straßenbild wie in Paris am späten Nachmittag. Bond verabscheute die Menschenmengen, den Verkehr und das Überangebot an Umweltverschmutzung, nicht nur in der Luft, sondern auch im Meer. Längst war zum reinen Ärgernis verkümmert, was früher mal ein Paradies gewesen war. Im Augenblick war er dem Rummel entflohen. Entspannt steuerte er den alten Aston Martin DB5 in eine Haarnadelkurve der Grand Corniche, jener malerischen Küstenstraße am Fuße der Meeralpen, die teils durch Tunnel, teils den Berghang entlang führt und von dort herrliche Ausblicke aufs Meer gestartet. Er hatte schon fast vergessen, was für einen Spaß es machte, den feurigen Aston Martin durch die Kurven zu jagen – Kurven, die jenen 20
der attraktiven Caroline ebenbürtig waren, die neben ihm saß. Sie machte an sich nicht den Eindruck eines ängstlichen Mädchens, aber ihre Nervosität war leicht zu spüren, wenn er auf den Geraden Gas gab. Sie sprach das kultivierte Englisch einer jungen Frau aus gehobenen Kreisen, die niemals auf die Idee gekommen war, sich wegen ihres privilegierten Lebens Selbstvorwürfe zu machen. »James, müssen wir wirklich so schnell fahren?« Sie schaute ihn an, wandte aber sofort wieder den Blick auf die Straße. Soeben um eine Kurve biegend, kam ihnen ein großer Lastwagen entgegen, der fast die ganze Straßenbreite für sich in Anspruch nahm. Bond schaltete in den dritten Gang zurück, nahm die Geschwindigkeit herunter, so daß die beiden Fahrzeuge um Zentimeterbreite aneinander vorbeifuhren. »Geschwindigkeit, meine liebe Caroline, ist eines der wenigen Aphrodisiaka, die der Menschheit geblieben sind.« Er lächelte durchtrieben und zog vergnügt die Mundwinkel hoch, während er ihr aus seinen strahlend eisblauen Augen zuzwinkerte. Caroline schluckte. »Ich ziehe gedämpftes Licht, Musik und Champagner vor«, sagte sie ohne Umschweife. »Das ist genauso gut.« »James, ich liebe temperamentvolle Autofahrten wie jedes Mä dchen, aber…« »He, was haben wir denn hier?« Bond schaute zu einem hellgelben Ferrari herüber, der sich neben seinen Aston Martin gesetzt hatte. Die Frau am Steuer lächelte mokant, während sie Bond einen Seitenblick zuwarf. Sie hatte etwas Zigeunerhaftes an sich, und in ihrem Lächeln lag eine Spur von Herausforderung, die Bond sofort annahm, als der Ferrari an ihm vorbeischoß. »Wer, zum Teufel, ist das?« Caroline streckte ihre Hand aus und berührte für eine Sekunde seinen Arm, so als wolle sie Besitzansprüche geltend machen. Sie zog aber die Hand sofort wieder zurück und wi ederholte ihre Frage. »Keine Ahnung.« Bond sah sie nicht einmal an. »Aber soviel ich sehen kann, hat sie eine hübsche Figur, und jetzt ist sie stolz darauf, daß sie uns ihre Kehrseite zeigt.« Er steigerte behutsam das Tempo und setzte sich unmittelbar hinter sie. Bei einer scharfen Kurve mußte er etwas abbremsen, so daß der Ferrari an Boden gewann. Aber nicht 21
lange. Auf der nächsten Geraden schloß Bond auf, scherte aus und jagte an dem italienischen Wagen vorbei. »James, lassen Sie das! Sie spielen…« »… mit meinem Leben, hm?« Er bremste ab, als sie sich der nächsten gefährlichen Kurve näherten. »Sie spielen mit unserem Leben!« begann sie und schnappte nach Luft, als der Ferrari wieder vorbeizischte. Die Fahrerin blickte nicht zur Seite, ihre Augen waren voll auf die Straße fixiert. Bond schaltete herunter, trat den Gashebel durch, schaltete wieder herauf, setzte sich dicht hinter den Ferrari. Das Mädchen im Ferrari scherte zur Mitte der Straße aus, um den Weg zu versperren. Doch damit spornte sie Bond nur an. In einem gewagten Überholmanöver setzte er sich an ihre Seite. Caroline sah mit Entsetzen, wie sich nur eine Handbreit neben den Autoreifen Steinbrocken vom Straßenrand lösten und den Abhang zum Meer hinunterkollerten. »James, ich hab’ Ihnen gesagt, Sie sollen das lassen!« Ihre Stimme kreischte in barschem Befehlston. »Macht doch Spaß! Wo sonst erlebt man solche Art Aufregung bei einer derartig schönen Aussicht und dem herrlichen Wetter?« »James, ich bin hergeschickt worden, um Ihr Fünfjahres-Gutachten zu erstellen. Soll ich melden, daß Sie…« Sie brach ab und japste nach Luft, als der Ferrari abermals längsseits kam, um erneut zu überholen. Bond aber stieg aufs Gas. Dicht nebeneinander rasten die beiden Fahrzeuge die Höhenstraße entlang, der nächsten Kurve entgegen. Er sah die Scheinwerfer, hörte die Hupe des Omnibusses um eine Sekunde früher als die Fahrerin des Ferrari. Fluchend stieg er auf die Bremse, verlangsamte schlagartig sein Tempo und gab dem Ferrari Gelegenheit, sich mit knapper Not an dem Bus vorbei zu schlängeln. »Ladies first!« knurrte er. Er versuchte, seiner Stimme einen amüsierten Tonfall zu geben, was kläglich mißlang. »Anhalten!« Carolines Stimme schnappte fast über. »Sofort anhalten!« »Wie Sie befehlen, Madam!« Er brachte den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. »Kein Problem, Caroline. Ich akzeptiere gerne weibliche Autorität. Ich hoffe, Sie erwähnen das in Ihrem Führungsbericht.« Er betätigte einen unauffälligen Schalter am Armaturenbrett worauf geräuschlos ein kleines Schubfach unter der 22
Konsole hervorschnellte. Eine Champagnerflasche und zwei Gläser lagen darin. »Normalerweise bewahre ich hier meine Pistole auf«, sagte er und begann, die Flasche zu entkorken. Lächelnd blickte er in ihre hellbraunen Augen. »Aber für diese spezielle Gelegenheit…« »Was, zum Kuckuck, soll ich mit Ihnen machen, James?« »Auf mein Gutachten trinken.« Er füllte zwei Glaser, prostete ihr zu und nahm einen Schluck, stellte sein Glas zurück, beugte sich vor und flüsterte: »Ich hoffe, wir werden uns beide gut achten.« Sie seufzte, teils verzweifelt, teils begehrlich, und wandte ihm den Kopf zu, damit sich ihre Lippen treffen konnten. In einiger Entfernung flimmerte Monte Carlo in der Nachmittagshitze, und im Hafen, Bordwand an Bordwand, lagen luxuriöse Jachten, deren Wert zusammen mehrere Millionen Dollar betrug. Er bemerkte den auffällig gelben Ferrari sofort, als er mit seinem Aston Martin auf den Parkplatz des Spielkasinos fuhr. Dabei kam ihm das Rennen auf der Grand Corniche gar nicht in den Sinn, denn seine Gedanken galten einzig Caroline. Hatte er da wirklich Tränen in ihren Augen gesehen, als sie auf dem Flugplatz von Nizza von ihm Abschied nahm? Er hoffte nur, daß sie sich nun nicht wie eine Klette an ihn hängen würde. Ärgerlicherweise gab es ja, trotz allem Gerede von Gleichberechtigung und Emanzipation, diese Art von Frauen immer noch. In Carolines Fall konnte das erhebliche Scherereien bedeuten, denn sie hatte direkten Zugang zur Chefetage, wo erst kürzlich der neue M ernannt worden war. Bond selbst hielt diese Ernennung nicht gerade für die tollste Nachricht des Jahres – obgleich die Medien deshalb ein Heidenspektakel veranstaltet hatten. Bond war ohnehin kein Fan der Medien, insbesondere jetzt nicht, da der Secret Intelligence Service das Wort ›Secret‹ – geheim – aus seinem Wortschatz gestrichen hatte. Doch der Anblick des Ferraris brachte ihn auf die Idee, daß die Nacht im Casino vielleicht ganz amüsant werden konnte. Beim Eingang zu den Salles Privées begrüßte ihn der Saalchef vom Dienst mit Namen und deutete an, daß heute an der banque à tout va – dem Bakkarat-Tisch – am meisten los war. Tatsächlich hatte sich eine kleine Traube Menschen um den Tisch versammelt, um das Spiel zu beobachten. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand – oder saß – die attraktive schwarzhaarige junge Frau, die heute nach23
mittag gemeinsam mit ihm an der Grand Corniche dem Tod entronnen war. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid und ein Diamanthalsband. Die Diamanten waren sicherlich echt, denn ihr ganzes Gebaren strahlte jene Sicherheit aus, die Millionärinnen zu eigen ist. Als sie aufsah, erkannte er, wieso er sie auf den ersten Blick für eine Zigeunerin gehalten hatte: Es lag an den tief schwarzen Augen und dem geschmeidig glatten, fülligen Haar, das aus purer Seide zu bestehen schien. Hohe Wangenknochen, eine klassische Nase und ein weitgeschwungener Mund ließen sie sehr begehrenswert erscheinen. Sie hatte gerade gewonnen, denn Bond hörte den Croupier »Sept à la banque« verkünden, während er ihr eine große Anzahl von Chips und Jetons zuschob. Die Frau deutete ihm an, daß er diese dem ansehnlichen Haufen Chips hinzufügen solle, der bereits vor ihr auf dem Tisch lag. Der kleine Japaner neben ihr schüttelte den Kopf und sagte in gut verständlichem Englisch, dies sei zuviel für ihn. Der Croupier sah sich unter den Spielern um, auf der Suche nach jemandem, der bereit war, gegen sie zu setzen. Drei Herren und eine Dame, die offensichtlich gespielt hatten, weigerten sich – was kein Wunder war, da an die 100 000 Pfund auf dem Tisch liegen mochten. Schließlich sagte Bond leise: »Banco.« Er drängte sich durch die Menge zum Tisch vor und nahm der jungen Frau gegenüber Platz. Sie erwiderte sein Nicken und gab ihm zwei Karten vom sabot. Er nahm sie auf, sah sie an. Nicht gerade brillant: eine rote Zwei und eine schwarze Fünf, Er schaute sie an und lächelte. »Es scheint, als hätten wir die gleichen Leidenschaften.« Vielleicht nicht nur zwei, sondern drei… Mit einem Kopfschütteln deutete er an, daß er keine dritte Karte haben wollte. Ihre Stimme klang sanft. Mit einem leichten Akzent, den er noch nicht recht einordnen konnte, sagte sie: »Ich habe nur zwei Leide nschaften: Autos und Bakkarat.« Er zeigte sich nicht überrascht, als sie ihre Karten aufdeckte: ein As und eine Sieben. Also eine runde Acht. »Huite à la banque«, verkündete der Croupier, und Bond spürte die Spannung, welche die Umstehenden ergriff. Bakkarat, dachte er, ist 24
ungefähr das einzige Kartenspiel, bei dem man nicht nachzudenken braucht. Man gewinnt oder verliert mit dem Umdrehen einer Karte. Pures Glück. Oder eben Pech. Bond warf seine Karten auf den Tisch und beobachtete, wie der Croupier den Gewinn einzog. »Ich glaube, die dritte Karte hätte Ihre wahre Begabung gezeigt.« Ihre Stimme klang belustigt. »Oh, ich glaube, ich nehme gerne jede Herausforderung an«, erwiderte er mit zynischem Lächeln. Der Croupier begann, der jungen Dame die Jetons und Chips zuzuschieben. Die schüttelte ihren Kopf. »Ich verdoppele.« »Ich gehe mit«, sagte Bond ruhig. Der Croupier schaute fragend zu dem Chefcroupier, der hinter ihm auf einem hohen Stuhl saß. Der schaute seinerseits zum Saalchef, der mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken andeutete, daß Bond für den enormen Einsatz gut sei. Das Lächeln der Frau wurde ein wenig starr. Bond blickte ihr tief in die schwarzen Augen, um ihre Gedanken zu erraten. Kann man diesen Mann ernst nehmen, oder ist er schlicht ein Narr? fragte sie sich offenbar. Dann nickte sie und teilte die Karten aus. Bond schaute auf seine Karten und verlangte eine dritte. »Carte!« Sie musterte ihn eine Weile, ehe sie ihre Karten umdrehte. Eine Fünf und einen König, während sie Bond aufgedeckt eine Sechs zuschob. »Cinq«, schnarrte der Croupier, und Bond deckte seine restlichen Karten auf: ein König und ein Bube. »Six! – Die Bank verliert.« Der Croupier schob Bond den Einsatz zu. Die Frau zuckte die Achseln, als sei das Verlieren ein Berufs-risiko. Sie stand auf, um den Tisch zu verlassen, und nickte Bond noch einmal zu. »Genießen Sie es, solange es anhält.« »So soll man das Leben leben, Madam: indem man alles genießt.« Bond meinte das wörtlich. Warum, dachte er, wollen wir nicht ein bißchen davon gemeinsam genießen? Doch sie blickte nicht zurück, während sie den Spielsaal verließ. Ihr Gang erinnerte ihn an den einer Katze, ein gemächliches, absichtsvo l25
les Dahinschlängeln. Bond nahm zwei von den größeren Jetons und warf sie dem Croupier zu. Darauf bat er den Chefcroupier, sich um seinen Gewinn zu kümmern, und schlenderte in den Teil der Spielbank, der allgemein ›die Kantine‹ genannt wurde – da er einst die volkstümlicheren Glücksspiele mit geringerem Einsatz beherbergt hatte -, wo sich aber heute eine sehr nette Bar befand, Er holte die Frau ein, als sie nach einem freien Tisch suchte. »Ist das Ihre Art zu leben?« fragte er. »Jeden Augenblick auskosten?« Sie blickte sich zu ihm um und ranzelte die Stirn. »O ja. Aber normalerweise verlasse ich den Spieltisch, wenn ich vorn liege.« »Ich auch. Obwohl ich es noch nicht geschafft habe, den Trick fehlerfrei zu beherrschen.« Er winkte dem Kellner. »Einen WodkaMartini für mich, geschüttelt, nicht gerührt. Und was trinken Sie?« »Das gleiche. Ich liebe Wodka. Obgleich Kenner das nicht für passend halten.« »Kenner haben nicht immer recht.« Der Kellner sagte: »Sehr wohl« und fragte sie, wie sie ihren Martini wünsche. »Ganz normal, mit einer Zitronenscheibe.« Als der Kellner gegangen war, sah sie Bond an. »Vielen Dank, Mr….» »Bond, James Bond.« Sie reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand. »Xenia Onatopp.« »Onatopp?« Sie nickte. »Onatopp.« »Und Ihr Akzent? Ich vermute… georgisch?« »Sehr gut, Mr. Bond, Sie sind der geborene Professor Higgins.« In seinem Hinterkopf klingelte ein Alarmglöckchen, denn soviel hatte er bis jetzt festgestellt: Sie sprach klaren Moskauer Akzent, Zweifellos war sie in Moskau geboren und aufgewachsen, hatte dort ihr Englisch gelernt – in der Schule oder, wahrscheinlicher noch, beim KGB. Sie hüllte sich in Schweigen, bis der Kellner die Getränke gebracht hatte. Dann fragte sie: »Waren Sie schon mal in Rußland, Mr. Bond?« »In letzter Zeit nicht. Früher war ich öfter dort. Flüchtige Besuche.« »Es hat sich mittlerweile manches geändert. Wirklich, ein Land mit 26
vielen neuen Möglichkeiten.« »Ich habe davon gehört… mit einem neuen Ferrari in jeder Garage.« Sie lachte leise. Es sollte glockenrein klingen, doch die Glocke hatte einen Sprang. »Der Ferrari gehört einem Freund.« »Dann darf ich Ihrem Freund einen Tip geben: Die französischen Nummernschilder für das diesjährige Modell beginnen mit dem Buc hstaben L. Sogar die gefälschten.« Tief in ihren schwarzen Augen entdeckte er ein nervöses Zucken, aber sie hatte sich gleich wieder in der Gewalt. »Und welchen Dienstgrad nehmen Sie in der motorisierten Abteilung ein, Mr. Bond?« »Commander.« »Aha.« Sie schaute übe r seine Schulter hinweg und lächelte jemandem zu. Bond wendete seinen Kopf und sah einen großen, distinguiert wirkenden Mann herankommen. Er trug die Uniform eines Admirals der nordamerikanischen Marine und hatte das ledergegerbte, sonnengebräunte, wetterfeste Gesicht jenen Typs, den Frauen attraktiv finden. Obgleich er die Attitüde eines Mannes an den Tag legte, der es eher gewöhnt ist, auf der Kommandobrücke eines Schiffes zu stehen, hatte er doch etwas Verwegenes an sich. Vielleicht lag es an seinen grauen Schläfen, möglicherweise auch an dem gepflegten Bart. Es war sicherlich kein Sinn für Humor, der aus seinen Augen sprach. Sie hatten jenen rauchig toten Blick, der davon herrührt, daß man lange, lange Zeit den weit entfernten Horizont anstarrt. »Sind Sie fertig, Xenia?« Er ignorierte Bond vollkommen. Sie lächelte. »Darf ich bekannt machen? Admiral Farrel – Commander Bond.« Er hatte einen festen Händedruck, vermied es aber, Bond in die Augen zu sehen. »Chuck Farrel, US Navy.« »James Bond, Royal Navy.« Xenia erhob sich und schob ihren Arm unter den des Admirals. »Ich respektiere Frauen, die mich herausfordern.« Bond lächelte nicht »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Commander Bond.« »Ganz meinerseits.« Während die beiden Arm in Arm dem Ausgang zustrebten, trat der Saalchef zu Bond und händigte ihm den Scheck des Kassierers über seinen Gewinn aus. »Sie haben heute ganz schön Glück gehabt, Mr. 27
Bond. Schade um die Dame.« »Ja, nicht wahr?« antwortete Bond zerstreut. In Gedanken war er mit Xenia und ihrem pikierten Admiral beschäftigt. Irgend etwas stimmte nicht mit dieser Frau. Es war Zeit für ihn, mit London Ko ntakt aufzunehmen. Verdammt wichtig und dringend, denn er hatte das häßliche Gefühl, daß möglicherweise Menschenleben auf dem Spiel standen.
4. DIE SPINNE UND DER ADMIRAL Gegenüber dem Renaissance-Palast, hoch auf dem Felsplateau über Monaco, liegt ein kleiner Platz, nur ein paar Meter neben der Kathedrale. Kleine Gassen führen von dem Platz weg. Einige wenig bekannte, aber exzellente Gaststätten sind in diesen Gassen zu finden, wä hrend der Platz selbst ein beliebter Touristentreffpunkt ist. Gewöhnlich versammeln sich hier die Touristen, in Gesundheitssandalen und behängt mit Fotoapparaten, um den Wachwechsel vor dem Palast zu bestaunen. Das alles hat einen leichten Touch von Operette und Zinnsoldaten. Die Wachthäuschen sind weiß und rot bemalt, die Soldaten selbst scheinen einem Heimatfilm entsprangen zu sein. Die meisten Gaste halten das für ein entzückendes Schauspiel. Ältere Einwohner wiederum halten die Touristen für vulgäres Pack, das sich von einem anderen Planeten eingeschlichen hat. Auf der dem Meer zugewandten Seite des Platzes zielen alte, ausgemusterte Kanonen ohnmächtig aufs Meer hinaus. Gegenüber hat man einen klaren Blick auf den Jachthafen von Monte Carlo. In dieser milden Sommernacht bewunderte eine Gruppe Touristen die Glanznummer eines Straßenkünstlers, während eine andere Gruppe zu dem wie in flimmerndem Flutlicht unter ihnen liegenden Hafen hinabstarrte. Bond tat mehr als das. Ja, er schaute auch hinab zum Hafen, breitbeinig dastehend, als befände er sich auf der Brücke eines Kriegs28
schiffes, ein großes Nachtglas an die Augen gepreßt. Das hatte allerdings mit gewöhnlichen Nachtgläsern wenig Ähnlichkeit. Bonds Fernglas war ein neues Produkt aus der Werkstatt des erfindungsreichen Q. Es erzeugte Bilder von solcher Qualität, daß Bond sich direkt neben die Personen, die er beobachtete, versetzt glaubte; überdies hatte das Fernglas eine eingebaute Kamera, deren Bilder sofort von einem Miniaturcomputer im Mittelteil des Feldstechers gespeichert wurden. Unten, auf dem Bootssteg zwischen den Jachten, hatte er zwei Personen in Großaufnahme fokussiert: die schlanke, dunkelhaarige Xenia Onatopp und ihren Admiral, der nach Bonds Meinung eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dem vor langer Zeit ermordeten Zar Nikolaus hatte. Admiral Farrel führte die bezaubernde und geheimnisvolle Xenia auf eine Motorbarkasse. Bond druckte zweimal auf den Kameraauslöser – ein Bild vom Admiral und eines, in Frontalaufnahme, vo n der Onatopp. Zur Sicherheit machte er noch ein drittes Bild, suchte dann das Heck der Barkasse ab, um ihren Namen festzustellen: Manticore. Die Barkasse legte ab und brauste, weißen Schaum hinter sich aufwirbelnd, einer schnittigen und offensichtlich sehr teuren Jacht entgegen, die vor dem Hafen verankert war. Bond verharrte noch ein paar Minuten und musterte die anderen Schiffe, die in der Hafenbucht lagen. Unter ihnen bemerkte er die Umrisse eines französischen Kriegsschiffes. Es hatte ein langes Heck, das fast gänzlich von einem Hubschrauber eingenommen wurde. Die Silhouette der Maschine wirkte düster und bedrohlich. Irgend etwas regte sich verschwommen in Bonds Unterbewußtsein. Er glaubte sich vage an etwas zu erinnern, verlor aber gleich wieder den Faden und wischte den Gedanken beiseite. Wenn man sich etwas nicht sofort ins Gedächtnis zurückrufen kann, ist es die Mühe wahrscheinlich sowieso nicht wert. Er hatte jetzt Besseres zu tun. Für den Fußweg vom Felsplateau bis hinab in die Stadt brauchte er zehn Minuten. Nach weiteren fünf Minuten saß er hinter dem Steuer seines DB5 und brummte aus Monaco heraus und hoch hinauf ins Vorgebirge. Schließlich parkte er in der Nähe des alten Dorfes La Turbie mit den malerischen Ruinen aus der Römerzeit. Man hatte ihm gesagt, dies sei der Ort mit den besten Sende- und Empfangsbedin29
gungen. Er stellte das Radio an, entnahm dem Kleincomputer seines Feldstechers schnell die Diskette, steckte sie in den Schlitz neben dem CDPlayer und drückte auf einen Knopf. Mit einem kaum wahrnehmbaren Surren wurden die Daten der Diskette gelesen und via Satellit nach London übertragen. Es dauerte, fast auf die Sekunde, zehn Minuten. Dann knackte es im Radio, und er hörte die Stimme von Miß Moneypenny. Trotz ihrer langjährigen Verbundenheit mit dem früheren M hatte sie sich bereit erklärt, dem neuen Chef über die schwierigen ersten Monate hinwe gzuhelfen. »Die Übertragung beginnt.« Bond lächelte, als ihre weiche Stimme klar aus den acht Lautsprechern seines Wagens ertönte. Im selben Moment begann ein Farbfax aus dem CD-Schlitz zu gleiten. Die erste Fotografie zeigte Xenia. Moneypenny kommentierte: »Identifiziert. Onatopp, Xenia. Ehemalige sowjetische Kampfpilotin. Arbeitete bis zu dem 91er Coup ein Jahr lang als Chefpilotin für den KGB. Zur Zeit Verdacht auf Verbindung zu dem Petersburger JanusVerbrechersyndikat.« Als nächstes wurde das Bild vom Admiral übermittelt. »Identifiziert. Admiral a. D. Charles (Chuck) Farrel, US Navy. Hervorragende Laufbahn als Experte für Marinehubschrauber. Karriere wurde lediglich durch Gerüchte wegen ständiger Frauenaffären behindert. Mehrere Anklagen während des berüchtigten Tailhook-Skandals von 1993 endeten mit Freispruch. Zusammen mit einigen US-NavyAngehörigen in Top-secret-Mission in Monaco.« Als letztes kamen die Informationen zu dem Namen Manticore am Heck der Motorbarkasse. »Jacht Manticore, geleast von einer bekannten Janus-Operationsgruppe. M autorisiert Sie, Onatopp zu observi eren, nicht aber – ich wiederhole: nicht -, ohne M’s persönliche Zustimmung Kontakt aufzunehmen. Ende der Übertragung.« Sie hatte das Wort ›Kontakt‹ betont, als sei es ein Codewort für etwas Interessanteres. Das Janus-Verbrechersyndikat war, wie er wußte, die gewissenloseste der russischen Mafia-Familien, mörderischer als jede andere Ausgeburt, die aus den Trümmern der zerfallenen Sowjetunion hervorgegangen war, Janus war die Geißel des neuen Rußland 30
und einer der Gründe, warum Bond an der Theorie festhielt, daß sich innerhalb der schrumpfenden Grenzen des ehemaligen Imperiums des Bösen nichts zum Besseren gewendet hatte. Es wird Zeit, dachte er, der Jacht Manticore einen Besuch abzustatten – was allerdings leichter gesagt als getan war. Die Luxuskabine der Manticore war unverblümt für bestimmte physische Freuden eingerichtet. Das zur Suite gehörende Badezimmer war so groß, daß es selbst einem Whirlpool Platz bot. In den Wandregalen standen farbenprächtige Flaschen mit allerlei Ölen und Salben, darunter auch jene genießbaren Öle, die als Aphrodisiaka verkauft werden – in verschiedenen Geschmacksrichtungen, um die Partner zu reizen, die Essenzen vom Körper des anderen abzulecken. Die Wände waren mit erotischen Zeichnungen und Gemälden bedeckt. Das Glanzstück der Sammlung hing über dem Bett, ein riesiges Ölbild, das in moderner Manier und allen Details eine altrömische Orgie zeigte. Das Licht war gedämpft, Moschusduft lag in der Luft, und von irgendwoher erklang, wie von tausend Geigen gespielt, eine leise, sanfte Melodie. Auf dem luxuriösen Bett vergnügten sich an diesem schönen, warmen Abend Xenia Onatopp und Admiral Farrel, dem langsam klar wurde, daß er es noch nie so gut getroffen hatte. Schon bevor sie die Tür zur Kabine abgeschlossen und ihm versichert hatte, daß niemand sie stören würde, hatte sie das Kommando übernommen. Sie hatte ihn ausgezogen und in das große Bett bugsiert. »Diese Nacht, Chuck, sollst du mich mit Haut und Haaren genießen. Du mußt wissen, ich bin das Nonplusultra deiner erotischen Träume!« Sie hatte sich langsam vor ihm ausgezogen, hatte behutsam ihren Körper enthüllt, nicht vulgär und mechanisch wie ein Striptease-Girl, sondern mit der graziösen Präzision einer Ballerina. Jede ihrer Bewegungen schien sorgfältig für ihn choreographiert zu sein, ausschließlich für ihn. Als sie vollständig entkleidet war, kam sie zu ihm ins Bett, raunte ihm ins Ohr, brachte ihn in Wallung, machte ihn zum Sklaven ihrer Begierden, bis er sich gefügig dem Gefühl hingab, dieser Frau ein großartiges erotisches Erlebnis zu verdanken. Zu diesem Zeitpunkt begann sie, ihn völlig zu beherrschen: Mit gespreizten Beinen ritt sie auf ihm, reizte ihn zur Ekstase, bis sich ihrer beider Schweiß mischte und er ihr bedingungslos ergeben war. 31
Er stöhnte laut auf, als er, zum drittenmal in zwei Stunden, seinen Höhepunkt erreichte, und im selben Moment drehte sie seinen Körper mit einer geschickten Bewegung ihrer Schenkel um, so daß er bäuc hlings auf ihr lag. Mit sanften, zärtlichen Worten begann sie, ihre muskulösen Beine um seinen Körper zu schlingen. Sie veränderte behutsam ihre Stellung, so daß ihre Oberschenkel seinen Brustkorb wie eine Zange umspannten, die sich langsam lockerte und wieder fester schloß. Er keuchte vor Lust, bis sie plötzlich begann, ihre Muskeln so heftig anzuspannen, als wolle sie versuchen, seinen Körper in den ihren aufzusaugen. Keuchend schrie er: »Xenia… nein! Ich kriege keine Luft… ich… nein!« Es war zweifelhaft, ob sie überhaupt hörte, was er sagte, während sich ihre Muskeln immer fester um seinen Leib spannten. Das war die Technik einer Boa constrictor, und sie spürte, wie die Knochen in seiner Brust krachten, und registrierte im Unterbewußtsein das unvermeidliche malmende Schreckensgeräusch zerbrechender Rippen. Im selben Moment, als der Admiral erstickte, schrie Xenia Onatopp, unter den Schaudern ihres eigenen finalen Orgasmus erbebend; »Ja… Ahhhh… Ja! Ja!… Jaaaaaaaaa!« Es war eine Technik, die sie in ihrem Leben schon oft angewandt hatte, und ihre jeweiligen Chefs wußten ihre Effizienz zu schätzen – eine Geheimwaffe nach dem Modell der Spinne, die ihre Männchen nach dem Geschlechtsakt auffrißt. Sie schob sich hin und her, rieb ihren Unterleib weiter an seinem Körper und genoß, lustvoll stöhnend, ihren Triumph. Schließlich drehte sie den Leichnam auf den Rücken, und nun erst löste sie sich langsam von ihm, so als habe das sanfte Klopfen an der Kabinentür sie aus einer Trance geweckt. Ungeachtet ihrer Nacktheit ging sie zur Tür und öffnete. Eine vertraute Gestalt stand auf der Schwelle. »Die Spinne und der Admiral, hm?« sagte der Mann, während er sie sanft in die Arme nahm und sie wiegte, wie ein Kind vor dem Einschlafen. Bond hatte sich mit dem kleinen Küstensegelboot bereits vertraut 32
gemacht. Vor zwei Tagen hatte Caroline, M’s Beauftragte, ihn aufgefordert, ihr zu zeigen, wie er mit dem Boot umgehen konnte, das er zusammen mit dem schmucken Ferienhäuschen am Strand von Cap Ferrat gemietet hatte. In den frühen Morgenstunden dieses Tages bereitete er sich auf eine andere Segeltour vor. Er stand auf, duschte sich, erst kochend heiß, dann eiskalt. Er trocknete sich ab und begann mit seinem Fitneßprogramm - Sit-ups und Hanteln -, das er allmorgendlich als erstes absolvierte. Auch wenn er fast die ganze Nacht über wach gewesen war, heute war ein neuer Tag, und es stärkte seine Selbstdisziplin, wenn er sich so benahm, als sei er soeben aus einem langen, erholsamen Schlaf erwacht. Tatsächlich hatte er ein Nickerchen von kaum einer Stunde hinter sich. Im Laufe der Jahre hatte er sich in der Kunst geschult, jederzeit – notfalls im Stehen – schlafen zu können, genau zu dem Zeitpunkt, den er sich vorgenommen hatte, wieder aufzuwachen, und sich anschließend so erfrischt zu fühlen, als hätte er volle acht Stunden geschlafen. Er rasierte sich und zog sich an – Freizeithose, weißes Baumwollhemd, weiche Espadrillos und Blazer. Dann ging er durch das kleine Wohnzimmer in die winzige Küche, wo er sorgfältig sein normales Frühstück zubereitete – oder wenigstens ein nahezu normales. Nach seiner Meinung war das Frühstück die beste und die wichtigste Mahlzeit des ganzen Tages. Der Kaffee war nicht sein geliebter, in amerikanischem Steingut gebrühter De Bry, aber er war fast genauso gut, wenn auch in einem Keramikkrug aufgebrüht. Es war ihm gelungen, Coopers VintageMarmelade aufzutreiben, ebenso Vollkorn-Weizenbrot statt des üblichen Toasts und Eier, die denen der französischen Maranhühner sehr ähnlich waren. Unglücklicherweise gab’s hier keine dunkelgelbe Jerseybutter, aber er hatte in der Umgegend eine Butter gefunden, die seinem Geschmack sehr entgegenkam. Er nahm sich Zeit für seine zwei Tassen Kaffee, das Ei – exakt drei Minuten, zwanzig Sekunden gekocht – und sein Brot. Nachdem er gefrühstückt hatte, saß er noch eine volle Stunde am Tisch. Es war fast vier Uhr morgens, und der Tag versprach einige Action. Das leise nagende Gefühl, sich an etwas Ungreifbares erinnern zu müssen, rumorte noch immer in seinem Hinterkopf. In der 33
Nacht hatte er mehrmals gedacht, er fände die Lösung, aber sie war so schwer zu finden wie ein vierblättriges Kleeblatt. Bevor er das Häuschen verließ, packte er seine Sachen zusammen und bereitete sich auf einen plötzlichen Abmarsch vor, denn er war ziemlich sicher, daß ihn, was immer der Tag auch bringen mochte, M recht bald nach London zitieren würde. Schließlich ging er hinab zu der kleinen hölzernen Mole und bereitete sein Boot zum Ablegen vor. Sein Zeitplan war exakt berechnet. Er hatte vor, sich mit seiner Jolle zwischen all den Jachten und Booten zu verstecken, die sich in den frühen Morgenstunden in der Bucht vor Monte Carlo tummelten. Sein Boot würde nur eines unter vielen sein. Es war kurz nach fünf, als er ablegte und Kurs aufs Meer nahm, denn er wollte in einem großen Kreis segeln, um erst im letzten Moment zur Küste zurückzukehren. Der Trip verlief ohne Zwischenfälle, und wie erwartet befand er sich gegen halb zehn inmitten etlicher kleiner Jachten, Motor- und Segelboote. Die Manticore lag noch an derselben Stelle vor Anker wie am Vortag. Bond umsegelte die schnittige Hochseejacht in einigem Abstand und beobachtete dabei die Vorgänge an Bord des Schiffes. Gegen Viertel vor zehn bemerkte er, daß ein größeres Beiboot – ein Tender – zur Fahrt vorbereitet wurde, und zwar an Steuerbord, der dem Hafenausgang zugewandten Seite. Ein kleines Motorboot war am Heck zu Wasser gelassen und dort vertäut worden. Ruhig und ohne Hast manövrierte Bond seine Jolle auf die Backbordseite und nahe an die Jacht heran. Er sah, daß mittschiffs ein Tau von der Reling herunterhing, offenbar für den Fall, daß der Tender oder das Beiboot backbords festmachen wollte. Er griff nach dem Tau und zog kräftig daran. Es war an Deck sicher verknotet und fest genug, daß er es wagen konnte, daran hinaufzuklettern. Er zurrte seine Jolle an dem Tau fest und hangelte sich aufwärts. Behende sprang er über die Reling, blieb einen Moment still stehen, schaute sich um und horchte. In seiner Nähe rührte sich nichts. Dafür konnte er hören, wie an der Steuerbordseite Befehle erschallten, worauf der Motor des Tenders angelassen wurde. Die Besatzung war offenbar voll mit dem Ablegemanöver beschäftigt. Er bewegte sich langsam vorwärts, in Richtung auf die Salonkabine der Jacht. 34
Sie war, wie er alsbald feststellte, erlesen und mit Stil eingerichtet. Die ganze rechte Front nahm eine langgezogene Bar ein, große, bequeme Ledersessel standen im Raum verteilt. Wertvolle Bilder, vo n verborgenen Lichtquellen angestrahlt, hingen an den Wänden. Neben der Bar führte ein Gang zu den anderen Räumlichkeiten des Schiffes. Leise schlich Bond den Gang entlang und kam zu einer mit Holzschnitzereien verzierten Tür. Er drückte auf die Klinke, sie war offen. Er trat ein und schloß hinter sich die Tür. Ein Schlafzimmer – der wahre Sinnlichkeitstempel. Verspiegelte Decke, Erotika an der Wand. Bond roch schon den Geruch nach Tod, bevor er den zerschmetterten Körper auf dem Bett sah. Die Bullaugen waren geöffnet, aber die hereinströmende frische Luft konnte die Todesausdünstung nicht überdecken, die Bond schon so oft in seinem Leben gerochen hatte. Vor ihm, ausgestreckt auf dem Bett, lag der grauenhaft verstümmelte Körper des Admirals a. D. Chuck Farrel. Seine Augen stierten glasig zu dem Spiegel über dem Bett hinauf, und sein Mund war zu einer Grimasse verzerrt, als hätte er in einem Augenblick abscheulicher Ekstase sein Leben ausgehaucht. Es schien, als wehe von draußen Musik über die bizarre Szene, und Bond brauchte eine Weile, bis er begriff, daß diese Musik von dem französischen Kriegsschiff kam, das er sowohl gestern abend als auch heute auf seinem Weg in den Hafen gesehen hatte. Durch eines der Bullaugen konnte er das über die Toppen geflaggte Schiff sehen. Er sah ebenfalls, wie der Tender der Manticore mit hoher Geschwindigkeit dem französischen Schiff zustrebte. An Bord des Tenders aber erkannte er zwei Personen: Xenia Onatopp und den Admiral, der hinter ihm tot auf dem Bett lag. Die Bordkapelle des französischen Kriegsschiffes spielte ein Shantie-Medley, und Bond konnte die Umrisse des Helikopters erkennen. In diesem Moment kam ihm schlagartig zu Bewußtsein, worüber er in der Nacht so ergebnislos nachgedacht hatte. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, und seine Lippen formten lautlos das eine Wort: » Tigre!« »Natürlich!« flüsterte er vor sich hin, als sich alle Puzzlestücke zu einem Bild formten. »Natürlich! Tigre!« Er war derartig mit diesen Gedanken beschäftigt, daß er nicht hörte, wie sich die Tür hinter ihm 35
öffnete.
5. DER WUNDERSAME TIGRE Sie waren zu zweit. Gekleidet wie Leichtmatrosen, gestreifte TShirts mit der Aufschrift Manticore, schwarze Matrosenhosen, Segelschuhe. Als Bond sich ihnen zuwandte, wußte er sofort: Das waren keine Leichtmatrosen, das waren schwere Jungs. Er kannte diese Sorte Typen. Rabauken. Geschulte Rabauken. Solche, die der böse alte KGB in vergangenen Zeiten in der Boijewaija Gruppa rekrutiert hatte, dem berüchtigten ›Einsatzkommando‹ – Knochenbrecher und Genickschützen. Einer war schon drei Schritte in den Raum hereingekommen, der andere stand links hinter ihm. Insgeheim taufte Bond die beiden. ›Schmalzfaß‹ nannte er den ersten, ›Muskelpaps‹ den zweiten. »Sie kommen wegen der Leiche, he?« brummte Bond und markierte einen Scheinangriff auf Muskelpaps. Die Finte zeitigte den gewünschten Erfolg. Muskelpaps nahm Anlauf, um sich auf Bond zu stürzen, der sprang einen halben Schritt zur Seite und stellte ihm ein Bein. Muskelpaps strauchelte, Bond half mit einem kräftigen Stoß nach, und des Zweizentnermannes Kahlkopf knallte mit aller Wucht gegen den metallenen Fuß des Bettes. Indessen schlug sich Bond mit Schmalzfaß herum, einem kleineren, fetteren und noch schwereren Exemplar derselben Gattung wie Muskelpaps. Bond sprang nah an den Kerl heran, ergriff mit beiden Händen dessen linkes Handgelenk und stieß ihm das Knie in die Weichteile. Der Mann stieß einen Schrei aus und krümmte sich vor Schmerzen. »Das treibt dir das Wasser in die Augen, wie?« Er zerrte mit aller Gewalt an Schmalzfaß’ linkem Arm, hörte, wie der Knochen aus dem Schultergelenk knackte, duckte sich unter den lädierten Ann, drehte ihm den Mann auf den Rücken und zwang ihn so, sich noch weiter vorzubeugen. Dabei hoffte er inständig, daß sich nicht noch andere 36
Schlägertypen in Hörweite befanden, denn Schmalzfaß schrie gottserbärmlich. Gurgelnde Schmerzensschreie, durchsetzt mit rassischen Flüchen. Bond drehte den Mann so, daß sein Kopf direkt auf seinen Partner gerichtet war, der es inzwischen geschafft hatte, sich wieder aufzurichten. Noch ein bißchen benommen stürzte er sich auf Bond, wä hrend der weiter mit dem jaulenden, sich trotz der Schmerzen heftig zur Wehr setzenden Schmalzfaß rangelte. Bond ließ dessen Handgelenk los, trat einen Schritt zurück und landete einen knallharten Handkantenschlag im Genick des heranstürmenden Muskelpaps. Der schrie nun auch auf wie am Spieß, sank in die Knie und hätte auf dem Fußboden schlappgemacht, wenn Bond ihn nicht an Gürtel und Hemdkragen gepackt und wie einen Rammbock gegen seinen Kumpel gestoßen hatte. Die beiden Köpfe stießen krachend gegeneinander, und die zwei Helden sackten zusammen wie nasse Handtücher. Sie verloren nicht nur eine Menge Blut, sondern auch das Bewußtsein. »Ihr solltet wirklich versuchen, euch vor solchen Spielen zu drükken«, knurrte Bond und machte sich schleunigst aus dem Staub. Wenn die Sache mit dem Tigre-Hubschrauber auf der Startrampe des französischen Schiffes zusammenhing, hatte er keine Zeit zu ve rschwenden. Offenbar hatte der größte Teil der Mannschaft Landurlaub, denn an Deck ließ sich niemand blicken. Bond rannte zum Heck. Hier war das Motorboot, das er bei der Herfahrt gesehen hatte, festgezurrt. Es kostete viel Schweiß und Mühe, das Boot so weit heranzuzerren, daß er über eine Strickleiter an Bord klettern konnte. Der Motor sprang auf Anhieb an. Bond steuerte das Fahrzeug von der Manticore weg in Richtung auf das französische Schiff. Er schob den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn und merkte zufrieden, wie das Boot vorwärts sprang und hüpfend über die Wasseroberfläche sauste. Als er näher an das Kriegsschiff herankam, konnte er eine Me nschenmenge ausmachen. Sie versammelte sich auf einer Art Zuschauertribüne, die auf dem Oberdeck vor dem Hubschrauber aufgebaut war. Die Maschine sah aus wie eine größere und stämmigere Version der alten Cheyenne: mit bauchiger Nase, einer langen, schlanken Kan37
zelhaube und größeren, gedrungenen Flügeln, an denen ein Haufen verschiedener Waffen hingen – überwiegend Raketen, doch über den Flügeln waren für den Nahbeschuß auch großkalibrige Maschinengewehre installiert. Bond hätte schon früher daran denken können; das Dossier hatte auf seinem Schreibtisch gelegen, bevor er sich auf den Weg nach Monte Carlo gemacht hatte: Der Tigre, offiziell immer noch geheim, Frankreichs fortschrittlichstes Stuck aeronautischen Erfindergeistes, sollte einer Gruppe von hohen Tieren vorgestellt werden. Die französische Marine gab sich die Ehre und lud zu einem vorzüglichen Festmahl. Alle Kosten werden erstattet, hieß es auf der Einladung. Als er das Schiff erreicht hatte, mußte Bond sich in Geduld fassen. Zwei andere Tender waren dabei, ihre Fracht zu entladen: hochrangige Offiziere mit ihren Gattinnen, Marine - und Luftwaffenattaches sowie Mitglieder des diplomatischen Korps, die angeregt plaudernd das Fallreep emporstiegen. Als letzter folgte Bond den Herrschaften, wies dem diensthabenden Leutnant seine Karte vor: ›Commander Bond, Royal Navy Intellige nce‹. Er zog mit charmanter Arroganz die Augenbrauen hoch, um anzuzeigen, daß jeder Zweifel an seiner Person im höchsten Maße unangebracht sei. Ohne eine Frage zu stellen, salutierte der junge Offizier und ließ ihn passieren. Bond schlenderte über das Oberdeck, unauffällig, jedoch scharf nach Xenia und dem ›Admiral‹ Ausschau haltend. Aber die schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Motoren des Tigre brummten auf, um gleich darauf wieder leiser zu werden. Dafür hörte man das rhythmisch peitschende Geräusch der Rotoren. Ein Mechaniker vom Bodenpersonal kletterte aus der Kanzel, und eine Stimme meldete sich über die Bordlautsprecher: »Meine Damen und Herren! Wir stehen im Begriff, Ihnen einen außergewöhnlichen Helikopter vorzustellen.« Die Ansage erfolgte auf französisch und wurde sofort ins Englische, Italienische und Deutsche übersetzt. Bond bewegte sich behutsam an den geladenen Gästen vorbei zu einem freien Eckplatz, während der Kommentator fortfuhr: »Was Sie gleich erleben werden, ist eine Demonstration des europäischen Beitrags zur modernen Kriegsführung; der erste Prototyp des 38
Hubschraubers Tigre. Einzigartig manövrierfähig, verfügt der Tigre nicht nur über die modernste Tarnkappen-Technologie, er ist auch der einzige Helikopter, der gegen ausnahmslos alle Formen elektronischer Störversuche abgeschirmt ist. Nun, meine Damen und Herren, die Testpiloten sind bereit zum Start. Darf ich vorstellen: Commander Bernard Jaubert und Leutnant Francois Brouse.« Während die Bordkapelle ›Those magnificent Men in their Flying Machines‹ intonierte, traten zwei Personen aus dem Mannschaftsraum. Sie trugen Fliegerkombinationen und hatten die Helme schon aufgesetzt. Als sie den Hubschrauber fast erreicht hatten und in Bonds Gesichtsfeld kamen, murmelte Bond erschrocken vor sich hin: »Hab’ ich mir so was nicht gedacht!« Der Pilot war von schmaler Statur, sein Gang ähnelte dem einer Katze: Xenia Onatopp! Die beiden Piloten hatten die Leiter zur Flugkanzel noch nicht erklommen, als Bond aufsprang und in Richtung Hubschrauber lossprintete. Er rempelte die Musiker beiseite, rannte weiter bis zur Umgrenzung der Startrampe, wo ihm mehrere muskulöse Militärpolizisten in den Weg traten. »Haltet sie auf!« schrie Bond. »Haltet sie! Das ist nicht eure Crew!« Die Polizisten attackierten ihn heftig, zwangen ihn zu Boden. Er rang nach Luft und begann zu schreien, wurde jedoch von dem Motorengeräusch übertönt. Ein Offizier kam hinzu, sagte irgend etwas, doch auch das ging im Geheul der Rotoren unter. Bond machte sich von einem der Wachhunde frei, kam mühsam auf die Füße, wurde jedoch immer noch von drei anderen festgehalten. Die Maschine startete, stieg senkrecht auf, um dann in einem Rate-5Turn abzudrehen, einer unglaublich engen Steilkurve, die Hubschrauber an sich nicht zu fliegen imstande sind. Die versammelten Würde nträger applaudierten beeindruckt. Der Helikopter drehte seine Nase und stieg himmelwärts, mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, die man eigentlich nur von Düsenjägern erwarten konnte. Dann kippte er seitlich ab und setzte zu einem perfekten Immelmann-Looping an. Währenddessen stürzte ein Besatzungsmitglied aus dem Mannschaftsraum, rannte zu dem Offizier, kreidebleich, atemlos. »Sie… sie sind tot!« stammelte er. »Beide sind tot.« »Was? Wer?« 39
»Unsere Testpiloten, Sir. Commander Jaubert wurde erschossen, dem Leutnant hat man die Kehle durchgeschnitten!« Der Offizier schüttelte langsam den Kopf, als suche er einen Ausweg, um das eben Gehörte nicht glauben zu müssen. In der Ferne verebbte das Motorengeräusch des Tigre. »Sie sind mit im Komplott!« Der Offizier rammte seinen Finger in Bonds Brust »Wer sind Sie?« »Commander Bond, Royal Navy, Intelligence Service. Ich habe versucht, Sie zu warnen.« »Was, zur Hölle, geht hier vor?« »Janus«, sagte Bond tonlos. Seine Augen waren starr, seine Gesichtszüge hart wie aus Granit gemeißelt. »Das russische JanusVerbrecher-Syndikat« »So? Das Janus-Verbrecher-Syndikat?« M hob ihre Augenbrauen und schaute Bond über ihren Schreibtisch hinweg an. M’s Büro hatte sich unglaublich verändert, seit Bonds alter Chef in den Ruhestand getreten war. Der wundervolle Geruch nach edlem Pfeifentabak war verflogen, alle Zeichen der brillanten Marinekarriere des alten Mannes waren ebenso verschwunden wie die weichen, bequemen Ledersessel. Mit der neuen ›M‹ hatte sich eine sterile Atmosphäre des Büros bemächtigt Die Möbel sahen aus wie die Parodie einer High-Tech-Büro-Einrichtung. Viel skandinavischer Einfluß: harte Sitzmöbel – und ihr eigener Stuhl war eigentlich gar kein Stuhl, sondern ein stabil konstruiertes Etwas, mit dem man den Körper kunstvoll verdrehen und hin- und herwenden konnte. Auf dem Schreibtisch herrschte nicht, wie früher, ein malerisches Durcheinander. Auf der schwarzen Tischplatte standen ein großer Computermonitor, eine schwenkbare Lampe und – natürlich! – mehrere Telefonapparate in unterschiedlichen Farben. M fixierte Bond mit einem langen, ernsten Blick. Sie trug ein schlichtes schwarzes Stadtkostüm, ihr Haar war kurz geschnitten, so kurz, daß es aussah, als trage sie eine kleine Kappe auf dem Kopf, und als einziges Schmuckstück zierte eine weiß-blaue Kamee-Brosche ihre Bluse. Während er ihr in die Augen sah, mußte Bond an den alten Witz vom Bankmanager mit dem Glasauge denken. Man wußte immer genau, welches das Glasauge war, denn es blickte so gütig. 40
»So, Sie denken also an Janus?« sagte sie geschäftig, fast brüsk. »Ich denke, da stimmt alles, Ma’am. Eine bekannte Janus-Vertraute, Miss Onatopp; eine Jacht, die einer Janus-Operationsgruppe gehört, ein verschwundener amerikanischer Admiral…« »… der, wie Sie sagen, tot ist…« »Ich habe die Leiche gesehen. Er war sehr tot.« »Nach meinem Geschmack ist das alles etwas zu glatt.« »Sie meinen, Janus führt ein Schmierentheater auf und hinterläßt absichtlich rundherum seine Spuren?« »Exakt! Die Jacht war schon weg, bevor die Hafenpolizei nur in ihre Nähe kommen konnte. Weg, Bond, verschwunden, Bond, als ob sie niemals dagelegen hätte.« »Aber die Hafenverwaltung hat Unterlagen, aus denen hervorgeht, daß sie da war! Die Verbrecherorganisationen des neuen Rußland sind nicht gerade für ihre Feinsinnigkeit bekannt.« Sie schaute ihn an, um herauszubekommen, ob er es scherzhaft gemeint hatte, aber sein Gesicht verriet nicht seine Gedanken. Die Frau konnte aus ihm nicht schlau werden. Er sah in ihr eine Person, die ständig feststehende Fakten in Frage stellte. Wahrscheinlich war das ihre Wesensart, eine Analytikerin aus vollem Herzen, streitsüchtig darauf bedacht, Täuschungen und Irrtümer in Statistiken, Abrechnungen, Aufstellungen, kurz: in allen möglichen Zahlenkolonnen aufzudecken. Seit sie den Posten übernommen hatte, wurde sie allgemein ›die böse Königin der Zahlen‹ genannt, und viele meinten, sie wäre bei der Oberfinanzbehörde besser aufgehoben. Schon zwei Tage nach ihrer Berufung wäre Bill Tanner – des alten M treuer Stabschef – fast zurückgetreten, weil sein Titel in ›Senior Analytiken umgewandelt worden war. »Ja, ja, in der Tat, der Tigre ist ein wundervolles Ding, aber er ist ebenfalls spurlos vom Erdboden verschwunden. Haben Sie dazu etwas zu sagen, Commander Bond?« »Das ist genau der Punkt, Ma’am. Die Besonderheit des Tigre ist es ja, unsichtbar zu sein.« »Ja, aber…« »… aber die Hälfte der französischen Luftwaffe war doch in Aktion, und jede Flugbahnverfolgungsstation war alarmiert? Allerdings, zwanzig Minuten, nachdem der Tigre gestohlen wurde. Aber ich habe 41
so meine Theorie, wie diese Leute ihren Trick inszeniert haben.« »Ja? Und wie?« »Das Ding ist so ausgerüstet, daß es – außer für das bloße Auge – zirka vierundzwanzig Stunden unsichtbar sein kann. Ich denke mir, die Diebe sind irgendwo in einer verlassenen Gegend gelandet. In den Alpen zum Beispiel wäre das nicht schwierig. Dort haben sie den Flieger getarnt, haben gewartet bis zum Nachteinbruch und bis sich die Suche kaltgelaufen hat. Dann sind sie ganz einfach wieder gestartet und in kleinen Etappen zu ihrem Ziel geflogen.« M dachte darüber eine Weile nach, ihre Augenbrauen zuckten, ihre Finger trommelten auf die Tischplatte. »Wir haben alles getan, um das Ding aufzuspüren – elektronische Überwachung, Satellitenbeobachtung… Es kann sich nicht für alle Zeiten versteckt halten.« Bond wollte irgend etwas sagen wie »Wollen Sie wetten?«, aber er ließ es lieber, als sie ihm mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen gab, daß er gehen könne. Er war schon in der Tür, als das Summen von M’s Gegensprechanlage ihn aufhorchen ließ. »Sie haben den Hubschrauber gefunden, den Tigre!« Moneypennys Stimme klang atemlos. »Sie werden gebeten, so bald wie möglich zur Befehlsstelle zu kommen. Mr. Tanner sagt, es sei wichtig.« »Gehen Sie schon mal los, 007!« M machte sich auf ihrem Schreibtisch zu schaffen. »Ich komme bald nach.« Typisch! dachte er, aber er befolgte wortlos ihre Anweisung. Wo haben sie das verdammte Ding gefunden? fragte er sich. Sein Gefühl sagte ihm, daß man in der Befehlsstelle unangenehme Neuigkeiten auf Lager hatte, Aber er ahnte nicht, wie ernst die Situation tatsächlich werden sollte.
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6. PETYA Etwa achtzig Kilometer vom nördlichsten, eismeerumspülten Zipfel Rußlands entfernt steht die Ruine der einstigen SewernajaStation, eines Kontrollzentrums für einige der furchterregendsten Massenvernichtungswaffen der ehemaligen Sowjetunion. Das Gelände ringsum ist flach und gewöhnlich den größten Teil des Jahres über schnee- und eisbedeckt. Ungefähr eine halbe Stunde, bevor Bond in die Befehlsstelle des Secret Intelligence Service in London beordert wurde, holperte ein Hundeschlitten an der Ansammlung von baufälligen Gebäuden vorbei. Der Mann, der hinten auf dem Schlitten stand, war ein Yuit-Eskimo. Er war auf dem Weg nach Hause, zu einer kleinen Ansiedlung in der Nähe eines verlassenen Dorfes, ungefähr drei Kilometer von der Sewernaja-Station entfernt. Nachdem damals die Fremden gekommen waren, um die nun in Trümmern liegende Station aufzubauen, waren viele Yuit an den Krankheiten gestorben, die diese Leute mitgebracht hatten. Nur die widerstandsfähigsten Eskimos hatten überlebt, so daß nun bloß noch vier Familien in der Ansiedlung übriggeblieben waren. Sie hatten keinen anderen Wunsch, als so zu leben, wie ihre Familien immer gelebt hatten. So hatten sie sich für die Fremden nützlich gemacht, indem sie mit ihren Schlittengespannen zur nächsten Ortschaft gefahren waren, wo sie allerlei Kramwaren besorgten, die sie dann den Troglodyten weiterverkauften, die alle halbe Jahre mal aus ihrer Hö hlenbehausung nach oben kamen. Der Yuit war sehr müde. Er hatte nur noch eines im Sinn: seine Familie wiederzusehen, denn seine Tour hatte fast eine ganze Woche gedauert. Obgleich er es nie erfahren würde, ereignete sich der Unfall wegen seiner Müdigkeit und des Tempos, zu dem er seine Schlittenhunde antrieb. So übersah er den Felsbrocken, der aus dem glitschigen Boden herausragte, und auch der Leithund sah ihn eine Sekunde zu spät. Er scherte aus, um das Hindernis zu umlaufen, und zog damit den Schlitten in eine mörderische Kurve. Die Kufen fuhren schräg an dem 43
Felsbrocken auf, und der Fahrer wurde kopfüber auf einen Haufen Eis- und Felstrümmer geschleudert. Trotz der Pelze und der dicken Kapuze, die der Mann trug, brach er sich mehrere Knochen einschließlich des Nackens. Er versuchte sich aufzurichten, aber vor Schmerz konnte er sich nicht bewegen. Er machte eine verzweifelte Anstrengung, bäumte sich qualvoll auf, um auf die Füße zu kommen. Diese letzte Aktion tötete ihn. Er sackte in sich zusammen, ein kleines Pelzbündel. Die Hunde sammelten sich eine Weile lang um ihn hemm, als versuchten sie, ihren Herrn durch ihre Körperwärme wiederzubeleben. Nach etwa zehn Minuten setzten sie sich und warteten. Später würde sie der Leithund nach Hause zurückführen, aber vorerst hielten sie Totenwache bei ihrem verstorbenen Gebieter. Niemand konnte wissen, daß der Unfall und das hierdurch herrenlose Hundegespann in den nächsten paar Stunden das Leben eines anderen Menschen retten würden. Nicht lange nach dem Schlittenunfall setzte der Tigre-Hubschrauber mit seinen ungeladenen Gästen zur Landung an. Sowohl britische als auch amerikanische Systemanalytiker zeigten großes Interesse an der angeblich stillgelegten Sewernaja-Station. Die Beobachtungssatelliten hatten viele Bilder dieses Areals übermittelt, von dem die Russen behaupteten, es sei schon vor Jahren von der Operationsliste gestrichen worden. Die Bilder zeigten Ruinen und Zerfall mit einer Ausnahme, einer riesigen Parabolantenne, die aus dem Erdboden hervo rragte. Die Antenne befand sich schon seit Jahren dort, aber die Bilder schienen anzuzeigen, daß sie sich gelegentlich veränderte. Die Wissenschaftler behaupteten, daß sie in kurzen Zeitabschnitten größer wurde und sich hin und wieder bewegte. Natürlich gab es auch Skeptiker, darunter manche mit großer Erfahrung und Kompetenz. Sie legten dar, daß die Antenne sich sehr wohl im Wind bewegen könne, und die Vorstellung, daß sie ihre Größe verändere, beruhe auf einer optischen Täuschung, hervorgerufen durch Wetterwechsel und den sich ändernden Einfallswinkel der Sonnenstrahlen. In Wahrheit konnte die Antenne tatsächlich ausgefahren werden, und sie bewegte sich auf das Kommando von Menschen hin, die tief unter der Erdoberfläche ihrer Beschäftigung nachgingen. Die Sewe rnaja-Station war alles andere als stillgelegt. 44
Im Moment war die Antenne auf das vergessene Bruchstück eines einstigen sowjetischen Raumschiffs gerichtet – das allerdings in Wirklichkeit ein voll einsatzbereiter Beobachtungssatellit über dem Mittleren Osten war. Die Antenne wurde von einer jungen Frau in der Ko ntrollstation gesteuert, einem hell erleuchteten, fensterlosen, antiseptisch sauberen und weitläufigen Computerraum. Rund ein Dutzend Männer und Frauen arbeiteten in dieser Sektion des Komplexes. Nicht einer von ihnen war älter als vierzig Jahre, und sie waren aus einer Liste von Hunderten hochqualifizierter Computerspezialisten in ganz Rußland ausgewählt worden. Verschiedene Türen führten vom technischen Bereich zur Küche und den Aufenthalts-, Speise- und Schlafräumen. Eine dicke Glasscheibe trennte die Wissenschaftler vom Kontrollraum, in dem mehrere Männer und Frauen in Uniform arbeiteten. In dieser Sektion befand sich eine lange Konsole, ausgestattet mit digitalen Elektronikinstrumenten und Schaltern unter einem großen, breiten Bildschirm, der momentan leer war. In die Wand eingebaut war ein mächtiger roter Safe. Daneben war in violetten Buchstaben eine Notiz in rassischer Sprache angebracht: »Verschlossen. Autorisierungs-Code erforderlich!« Als weitere Schulzmaßnahme gab es ein elektronisches, mit Stahlplatten gesichertes Tor unmittelbar vor dem Tresor. Das Mädchen, das vom Computerraum aus den Satelliten steuerte, war groß, schlank und dunkelhäutig mit hohen Wangenknochen und klaren braunen Augen. Diese junge Frau, Natalja Simonowa, unterschied sich von den anderen Technikern durch ihr adrettes Aussehen und ihre Kleidung: ein langer, schwarzer Rock, eine weiße Bluse mit gemusterter Weste. Viele ihrer Kollegen bevorzugten schmutzige, unförmige Klamotten im Straßenkehrer-Look. Der Mann zu ihrer Rechten trug dreckige Jeans, ein schlabberiges T-Shirt mit WiredAufdruck und eine schwarzlederne Motorradjacke. Sein Haar sah aus, als habe es wochenlang weder Shampoo noch einen Kamm gesehen, und er legte das nervöse Verhalten eines ausgeflippten Cyberpunks an den Tag. Dieser Schein trog auch keineswegs, und der einzige Grund, warum Boris Grischenko von seinen Chefs toleriert wurde, war der, daß er ohne jeden Zweifel der brillanteste Wissenschaftler in dem ganzen Komplex war. Natalja sprach ruhig in ein kleines Mikro, das an ihrem Kopfhörer 45
befestigt war: »Rechtsdrehung um sechs Grad, auf hundert Kilometer steigen!« Das blinkende Satellit-Symbol auf ihrem Monitor bewegte sich nach ihren Anweisungen. Sie lächelte zufrieden, als hatte sie gerade ihrem Hündchen einen tollen Trick beigebracht. Ihre freudige Stimmung wurde durch einen wahnsinnigen Lachanfall von Boris Grischenko unterbrochen. »Ich hab’s geschafft!« kreischte er. »Ich hab’s geschafft!« Natalja wechselte einen Seitenblick mit ihrer Freundin Anna, die an dem Terminal links von ihr saß. Anna verdrehte die Augen und machte eine Handbewegung, die ausdrücken sollte, der Mann habe den Verstand verloren. »Natalja, komm! Sieh dir an, was ich gemacht habe!« Boris schien total übergeschnappt zu sein. Natalja ging zu seine m Terminal, über dem sich – wie es einem Boris gebührte – mehrere Monitore befanden. »Ich bin drin!« rief er und lachte gackernd. Auf dem Bildschirm sah sie das Siegel des amerikanischen Justizministeriums . »Großer Gott, Boris, du hast das System des amerikanischen Justizministeriums geknackt! Weißt du, was passiert, wenn die dich jetzt aufspüren – wenn sie dich hier aufspüren?« »Klar. Der Computerchef sieht ein, daß ich ein Genie bin, ruft mich nach Moskau zurück und gibt mir eine Million Mäuse. Hier kriege ich das nie!« »Die bezahlen uns hier in guter, harter Währung! Was willst du mit einer Million?« »Ach, wir kriegen alle dasselbe. Ich möchte endlich die Chance haben, mal was auszugeben, anstatt hier begraben zu sein wie ein Maulwurf.« »In deinem Fall eher Erdwurm.« »Egal. Die Amerikaner sind viel zu dumm, um mich zu erwischen. Die können nicht mal Viren auf einer Festplatte aufspüren…« Sein Computer gab einen Piepton von sich, das Siegel verschwand vom Bildschirm, und an seiner Stelle leuchtete ein Schriftzug auf: ›UNAUTHORISED ENTRY DETECTED‹. Natalja lachte. »Na, was sagst du nun?« 46
Boris fluchte und tippte schnell ein Kommando ein, um sein eigenes Programm zu erstellen. Auf dem Monitor erschien darauf die Nachricht ›TO SEND SPIKE PRESS ENTER‹ Er drückte die Eingabetaste, und prompt erschien ›SPIKE »Guuut!« strahlte er. »Ich hab’ sie erwischt!« Natalja schüttelte den Kopf. »Boris, laß das!« »Quatsch!« Er drehte sich um und sah ihr direkt in die Augen. »Ich habe sie erwischt, du dumme Gans! Mein Programm okkupiert die Telefonleitung von jedem, der mich aufzustöbern versucht. Es blokkiert deren Modem, ganz einfach. Die können einpacken.« Er tippte ein anderes Kommando, eine neue Nachricht erschien: ›INITIATE SEARCH ENTER PASSWORD‹. »Und was machst du nun?« fragte Natalja. »Ich gebe das Kennwort ein.« Er tippte zehn Zeichen, die aber auf dem Bildschirm nicht sichtbar wurden. An ihrer Stelle erschien eine Reihe von Kreisen. Als er erneut die Eingabetaste drückte, erschien auf dem Bildschirm eine Weltkarte. Eine rote Linie begann die Telefonleitung zu markieren, und Ortsnamen erschienen immer dort, wo die rote Linie einen Knotenpunkt passierte. Die Linie lief von Sewernaja nach St. Petersburg, überquerte Europa und den Atlantik und führte zu den Vereinigten Staaten, direkt nach Atlanta. Ein rotes Blinklicht über der Stadt zeigte an, daß der Computerbefehl ausgeführt war. Das Bild erlosch für eine Sekunde, doch plötzlich wurde die Karte ersetzt durch den Schriftzug: FBI HAUPTQUARTIER, ABTEILUNG FÜR COMPUTERKRIMINALITÄT. Boris stieß einen obszönen Fluch aus und haute auf die EscapeTaste, um den Bildschirm freizumachen. »Ich brauch ‘ne Zigarette!« brummte er mürrisch. »Gut, und ich brauche Kaffee.« Natalja schaute auf ihren Monitor, um sicherzugehen, daß alles in Ordnung war, und verschwand in der Küche. Boris Iwanowitsch Grischenko entfernte sich mit stelzenden Schritten von seinem Terminal, ganz so, als wolle er das Handtuch werfen, und verließ den Computerraum. Mißgelaunt stieg er die steinerne Wendeltreppe des Notausstiegs empor, die zur Außenwelt hinaufführte, grinste in eine Kontrollkamera, stieß, oben angekommen, die Stahl47
tür auf und trat ins kalte, öde Freie. Kaum war er draußen, ertönte auch schon eine Lautsprecherstimme: »Kamerad Grischenko, Sie benutzen einen Notausgang. Sie kennen die Vorschrift; Das ist streng verboten. Begeben Sie sich so schnell wie möglich zu Ihrer Arbeitsstelle zurück!« »Komm und hol mich!« Boris war eben so; er hatte keinen Respekt vor seinen Vorgesetzten, wußte er doch, daß er ihr fähigster Computerspezialist war. Er zog eine Schachtel Marlboro-Zigaretten aus der Tasche. Bei seinem letzten Urlaub hatte er sie haufenweise gekauft und mit der harten Währung bezahlt, die er als Top-Techniker verdiente. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, wollte sein Feuerzeug entzünden, doch die Flamme wurde durch einen starken Windstoß sofort wieder ausgelöscht. Grischenko blickte auf. Ein schwarzer, gefährlich wirkender Hubschrauber landete etwa fünfzig Meter von ihm entfernt auf der kleinen Plattform, seine Rotoren wirbelten den Schnee zu einem weißen To rnado auf. Der Tigre ist gelandet, dachte Xenia Onatopp grimmig. Sie öffnete die Kanzelhaube, schnallte sich ab und langte nach einer israelischen Uzi-MPi, die sie sich um die rechte Schulter hängte. Reservemagazine befanden sich bereits in ihren Gürteltaschen. »Fertig, General?« fragte sie in das Mikrofon ihres Kopfhörers und bekam sofort die schnarrende Antwort: »Also los! Bin längst fertig.« Beide waren in Uniform, Xenia mit den Rangabzeichen eines Oberst, ihr Partner mit denen eines Generals. Bond hätte den Mann auf den ersten Blick erkannt, denn das letztemal, als er General Ourumow sah, hatte der eine Pistole auf seinen alten Freund, Alec Trevelyan, gerichtet. Boris Grischenko verzog sich blitzartig, als er die beiden Offiziere sah. Ourumow und Xenia marschierten im Gleichschritt an der Front des baufälligen Gebäudes entlang, wo ein schmaler Weg, vom Schnee freigeschaufelt, zum Haupteingang führte. Es ging ein paar Betonstufen hinab, durch einen kurzen Korridor, und schon standen sie vor der Sicherheitstür. Ein Wachtposten nahm Haltung an und salutierte, obwohl Ourumow kaum Notiz von dem Mann nahm. Der General wußte 48
genau, was zu tun war. Er blickte in eine Kamera, die in Augenhöhe neben der Tür angebracht war, und nannte langsam und deutlich seinen Namen; »General Arkadij Grigorowitsch Ourumow, Chef der Raumfahrtabteilung.« Es folgte eine Serie von Pieptönen, bis die digitale Stimmerkennung des Generals Stimme identifiziert hatte und die Tür sich automatisch öffnete. Die beiden betraten den Hochsicherheitsbereich. Der Diensthabende knallte die Hacken zusammen. Ein zweiter Offizier sprang auf und knüpfte sich hastig die Uniformjacke zu. »Herr General! Wenn ich gewußt hätte, daß Sie kommen…« Xenia murmelte: »… hatten Sie einen Kuchen gebacken, ich weiß.« »Sie sollten immer in Bereitschaft sein, Major! Dies ist eine außerplanmäßige Überprüfung der Sewernaja-Station. Kriegsmäßig! Wir haben GoldenEye zu testen. Meldung, bitte!« Er sah durch die Glasscheibe, wie die Computertechniker im Nebenraum die Hälse reckten, um zu sehen, was dort drüben los war. »Na los, Mann! Meldung!« »Keine besonderen Vorkommnisse. Zwei Satelliten in Bereitschaft. Petya und Mischa, beide im Neunzig-Minuten-Orbit in hundert Kilometer Höhe.« »Danke.« Der General warf eine Plastikkarte auf das kleine Pult. »Hier ist der Autorisierungs-Code. Geben Sie mir Golden Eye, die heutigen Kennungen und den Schlüssel! Und schnell, bitte. Ich habe wenig Zeit.« Er hob demonstrativ den linken Arm, schaute auf die Uhr. Der Major stolperte fast über die eigenen Füße, so eilig war er bemüht, die Befehle auszuführen. Er gab selbst die Kennung ein, um die Sicherheitstür vor dem Tresor zu öffnen. Als das geschafft war, kam der Safe selbst dran. Er drückte seine Handfläche gegen die Se nsorscheibe, um sich zu identifizieren, und tippte den Safe-Tagescode ein. Das elektronische Schloß gab eine Reihe von Tönen von sich, wie ein digitales Telefon, dann sprang die Tresortür auf. Xenia winkte den anderen Offizier zu sich und forderte ihn auf, die Tür zum Computerraum zu öffnen. »Im Ernstfall, Hauptmann, müssen sämtliche Türen offen sein, damit bei Alarm die Fluchtwege zur Ve rfügung stehen.« Der Hauptmann fügte sich widerspruchslos ihrem Befehl, »Der heutige Code, Herr General, der elektronische Schlüssel für 49
den Feuerbefehl und GoldenEye.« Der Major brachte die Gegenstände vom Tresor: den Schlüssel, eine Plastikkarte und eine kleine goldene Diskette, in deren Mitte ein Auge eingraviert war. »Gut. Dann sorgen Sie dafür, daß dieser Blinde sehen kann!« Der Major nahm die Diskette und entfernte ein Stück goldenes Klebeband von der Mitte des Auges, worauf dort anstelle der Pupille ein kleiner Kreis zum Vorschein kam. »Sie wissen, wie GoldenEye funktioniert?« »Jawohl, Herr General. Wenn die Diskette in der richtigen Position ist, wird mit einem durch ihre Mitte gelenkten Laserstrahl der Zü ndungsmechanismus des Satelliten aktiviert.« »In Ordnung. Gut gemacht. Ich denke, das ist alles, was wir irrt Moment brauchen.« Er wandte sich zu Xenia. »Oberst, übernehmen Sie!« Lässig nahm Xenia ihre Uzi von der Schulter und gab zwei kurze Salven auf die Offiziere ab. Dann ging sie ohne Eile zu der Tür, die zum Technikerraum führte, und feuerte auf alles, was ihr vor die Augen kam, feuerte unentwegt, wobei sie die Magazine mit der Präzision eines Roboters wechselte. Körper wurden gegen die Geräte zurückgeschleudert oder wirbelten zu Boden, Funken und Rauchschwaden stoben aus der Computeranlage. Die ganze Aktion dauerte kaum dreißig Sekunden. In der kleinen Küche verschüttete Natalja Simonowa ihren Kaffee. Verstört sah sie auf, Entsetzen in den Augen. In den Kontrollraum zurückgekehrt, beugte sich Xenia über den toten Major und nestelte den zweiten Auslöserschlüssel von der silbernen Kette ab, die der Mann um den Hals trug. Damit ging sie zu der langen Konsole, an der Ourumow schon Platz genommen hatte, Er betätigte einige Schalter und beobachtete, wie verschiedene Signale auf dem Riesenbildschirm über den Instrumenten aufleuchteten. Mit großer Akribie schob er die GoldenEye-Diskette in einen Schlitz, legte die Plastikkarte mit dem Tagescode vor sich auf den Tisch und steckte den Schlüssel in ein Schloß, das sich neben dem Schlitz befand, in den er die goldene Diskette eingeschoben hatte. Xenia hatte den Schlüssel, den sie dem Offizier abgenommen hatte, bereits in ein zweites Schloß gesteckt. »Ich zähle«, befahl er. »Drei – zwo – eins – zero!« 50
Beide drehten gleichzeitig ihre Schlüssel, und sämtliche Kontrolllampen auf der Konsole leuchteten auf, Zeiger fingen an, sich zu drehen, und der Bildschirm zeigte ein Segment des Erdballs mit einem der Satelliten in der Umlaufbahn. »Setzen Sie Zielbestimmung für Petya! Sewernaja«, befahl der General. Was dort hoch über der Erdoberfläche träge in seiner Umlaufbahn kreiste, sah aus wie ein Stück Weltraummüll, vielleicht wie eine ausgebrannte Raketenstufe. Aber jetzt, da es auf die Impulse reagierte, die ihm über Laser von Sewernaja gegeben wurden, begann es, von seiner Bahn abzuweichen. Versteckte Triebwerke waren aktiviert worden, und der Satellit mit dem Codenamen Petya änderte seinen Kurs. Unten im Kontrollraum schauten Ourumow und Kenia zu der Bildschirmwand hinauf und sahen, was Natalja kaum eine halbe Stunde zuvor auf ihrem Monitor beobachtet hatte. Das rote Symbol, das Petya darstellte, begann sich schnell zu bewegen. Es verließ seine Position über dem Mittleren Osten und raste mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Nordrußland zu. Auf einem Display unter der Bildwand erschienen in Rollschrift einige Nachrichten: PETYA POSIITON: 80.31.160.17 ZIEL: 78.08.107.58 Sodann: FLUGZEIT BIS ZUM ZIEL: 15.43.21 Seinen Blick auf die Karte mit den Codenummern geheftet, hämmerte der General eine Reihe von Zahlen in die Tastatur, worauf im Display eine neue Nachricht aufleuchtete: WAFFEN EINSATZBEREIT. Im selben Moment stieß Natalja, voller Entsetzen über das, was sie gehört hatte, ihre Kaffeetasse um. Das Geräusch hörte sich in der vollkommenen Stille wie die Explosion einer Handgranate an. Ourumow und Xenia schreckten auf. »Überprüfen Sie das!« sagte der General leise. Während Xenia auf dem Weg zur Tür war, wälzte sich der tödlich angeschossene Hauptmann in seinem Blut. Es war wohl mehr eine Reflexbewegung, mit der er auf einen der vielen im Raum verteilten 51
Alarmknöpfe drückte. Xenia wirbelte hemm und gab ihm mit einem Feuerstoß aus ihrer Maschinenpistole den Rest – doch um eine winzige Sekunde zu spät. Mit ohrenbetäubendem Lärm heulten die Alarmsirenen auf. Entsetzt sah Xenia den General an. Doch der sagte ruhig: »Machen Sie weiter. Die Mindestzeit, bis die Kampfjäger hier sein können, beträgt siebzehn Minuten. Der Kasten hier wird in fünfzehn Minuten getroffen. Gehen Sie schon!« In der Küche zog Natalja einen Stuhl unter das Eisengitter, das zum Versorgungsschacht führte. Sie stieg hinauf und versuchte, das Gitter zu lösen. Es war ihr schon halb gelungen, als sie die Schritte Xenias hörte, die wie der Teufel durch den Gang rannte. Viele Kilometer entfernt, auf der Luftwaffenbasis bei Anadyr in Sibirien, rollten drei MiG-23MDL – ›Flogger-Ks‹ – in Startposition. Die Piloten hatten gerade ihren Routinedienst aufgenommen, als der Alarm losging. Schon im Cockpit sitzend, erhielten sie ihren Einsatzbefehl. In wenigen Sekunden würden sie auf dem Weg zur Sewernaja -Station sein. Xenia stieß die Küchentür auf, sah die zerbrochene Tasse, den ve rschütteten Kaffee, sodann den Stuhl und das von der Decke herabbaumelnde Schutzgitter. Sie lächelte grimmig, hob ihre Uzi und feuerte los, leerte mehrere Magazine und durchsiebte die Küchendecke so gründlich, daß niemand am Leben bleiben konnte, der sich da oben verborgen hielt. Im Kontrollraum meldete sie dem General, daß die Sache erledigt sei. Der General nickte mit der Spur eines Lächelns auf den Lippen. Dann deutete er auf den Timer, wo die Countdown-Zahlen über das Display wirbelten. »Die Zeit verfliegt!« »Im Westen gibt es ein Sprichwort«, antwortete Xenia grinsend. »Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.« Er nickte wieder, schnippte GoldenEye aus der Konsole und legte es in seine Aktentasche, die er bedächtig wie einen Sargdeckel schloß. »Ich denke, wir sollten aufbrechen.« Vor der Eingangstur sagte der General zur Stimmenidentifikation abermals seinen Namen auf, und dann marschierten die beiden, wi ederum im Gleichschritt, die Betonstufen hinauf in die Kalte. 52
Nicht einmal vier Minuten darauf erhob sich der Tigre schwarz und unheilvoll aus einer Wolke aufgewirbelten Schnees. Unter der Erde, in der kleinen Küche, öffnete sich quietschend eine Wandschranktür, und Natalja kletterte heraus. In London betrat zur gleichen Zeit James Bond die Befehlsstelle unterhalb des Hauptquartiers des Secret Intelligence Service.
7. EMP Bond und Moneypenny trafen vor dem Lift zusammen, der sie zum Befehlsraum des SIS hinunterbefördern sollte. Sie sah heute, so mußte Bond zugeben, mehr als entzückend aus in ihrem einfachen schwarzen Kleid mit der kleinen goldenen Schließe unter der rechten Schulter. »Faszinierend«, murmelte er vor sich hin, als sie in den Fahrstuhl stiegen. »Wie bitte?« Dir war nicht entgangen, was er gesagt hatte. Moneypennys Gehör war fast unnatürlich fein. Der alte M pflegte von ihr zu sagen, sie könne im Nebenzimmer die Flöhe husten hören. »Ich habe nur festgestellt, wie reizend Sie aussehen.« »Oh, danke, James.« »Haben Sie heute abend schon etwas vor?« »Nun, ich sitze nicht die ganze Zeit hemm und warte auf Ihren Anruf. Ja, ich habe eine Verabredung, wenn es Sie interessiert. Mit einem Herrn. Wir gehen ins Theater.« »Nicht zu anspruchsvoll, hoffe ich.« »Shakespeare. Komödie der Irrungen.« »Ich bin niedergeschmettert. Was soll ich bloß ohne Sie tun?« Sie antwortete mit einem gezierten Lächeln: »Soweit ich mich erinnern kann, James, haben Sie bisher noch nie etwas mit mir getan.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Nein, aber es war oft mein Sommernachtstraum.« Sie wandte ihren Kopf ab. »James, Sie wissen, daß man Ihre Bemerkung heutzutage als sexuelle Belästigung auffassen würde.« 53
»Okay, und wie kann ich das wiedergutmachen?« Der Lift hielt an, die Tür öffnete sich. Als sie ausstiegen, warf ihm Moneypenny einen Blick über ihre Schulter zu und zwinkerte. »Eines schönen Tages, James, werden Sie für Ihre Anspielungen geradestehen müssen.« Sie ging voran zur Befehlsstelle, Die Videowand und sämtliche Bildschirme in dem großen Raum waren in Betrieb. Die Männer und Frauen, die hier unten für den SIS arbeiteten, saßen vor kleineren Monitoren an ihren Pulten oder hörten über Kopfhörer neueste Anweisungen, während sich die Stabsoffiziere, über Karten gebeugt, leise miteinander unterhielten. Bonds bester Freund in der Welt der Dienste, Bill Tanner, des alten M’s getreuer Stabschef, ging auf Bond und Moneypenny zu und streckte die Hand aus. »Schön, Sie wiederzusehen, James.« »Was geht hier vor, Bill? Sieht aus wie in alten Zeiten.« Er deutete auf die Satellitenbilder, die an der Videowand erschienen. Sie alle zeigten ähnliche Ansichten von einem schneebedeckten Ödland mit Häuserruinen und einer großen Parabolantenne, »Es ist schlimmer als in den alten Zeiten. Diesmal sieht’s sehr unerfreulich aus. Vor etwa zehn Minuten haben wir ein Alarmsignal von einer angeblich verlassenen Radarstation in Sewernaja abgehört.« »Rußland, oben im Norden, hm?« »Nördlicher geht’s gar nicht mehr. Nun sehen Sie mal, was unsere Satelliten aufgeschnappt haben!« Er gab einem der Techniker eine Anweisung, worauf das Bild auf der Videowand zurückgespult wurde und ein vergrößertes Standbild erschien. »Da, sehen Sie!« knurrte Tanner. »Ihr verschollener Tigre!« Da war es, das schwarze Ungetüm, klar auf dem Schnee zu erkennen. Der Techniker schaltete auf einen kleineren Bildschirm neben der Videowand, und wieder erschien das Bild des Tigre, diesmal sowohl in der Totale als auch in Ausschnittvergrößerung. »Von Monte Carlo zum äußersten Norden von Rußland, das ist ein ganz hübscher Sprang.« »Ich persönlich meine ja, das erhärtet Ihre Theorie über das JanusSyndikat, James. Schade nur, daß die böse Königin der Zahlen Sie diesen Ball nicht weiterspielen lassen wollte.« 54
»Was haben Sie gesagt?« ertönte M’s Stimme direkt hinter ihnen. »Ich wollte gerade…« »… eine unnötige Bemerkung über einen Spitznamen machen, den ich längst kenne, Mr. Tanner. Ich glaube nun mal an Zahlen. Sie sind präziser als Menschen.« »Mit Verlaub, Ma’am, sie sind nur so genau und verläßlich wie die Menschen, von denen sie stammen.« »Das versteht sich wohl von selbst.« Sie warf Tanner einen Blick zu, der den stärksten Mann hätte umwerfen können. »Nun, der Premierminister wartet auf einen Lagebericht. Also darf ich um Ihren Report bitten, Mr. Tanner.« Tanner zögerte einen Augenblick, dann ging er langsam zu der Videowand. Bond hatte noch nie erlebt, daß Tanner von irgend jemandem aus der Fassung gebracht wurde. Die neue M, so hart sie sich auch gab, schien auch keinen großen Eindruck auf ihn zu machen. Tanner wandte sich demonstrativ Bond zu und erklärte: »Nachdem der Alarm ausgelöst wurde, James, ist der Hubschrauber gestartet. Sekunden später jagten die Russen von ihrem Stützpunkt in Anadyr drei ›Flogger-Ks‹ in die Luft, mit Kurs auf Sewernaja. Auf dasselbe Ziel bewegt sich ein unidentifiziertes Objekt aus großer Höhe zu. Irgendein Stück Weltraummüll – dafür haben wir es jedenfalls bis jetzt gehalten.« »Es heißt, Sewernaja sei seit 1990 stillgelegt. Denken Sie, die haben den Betrieb wiederaufgenommen?« »Ich glaube, sie haben ihn nie eingestellt. Die Ruinen und das allgemeine Chaos um die Station hemm sind meiner Meinung nach pure Kosmetik.« »Wofür benutzen sie die Station?« »Es gab eine Zeit…« – Tanner sah sehr beunruhigt aus, während er weitersprach – ,»… da hatten wir den Verdacht, Sewernaja sei die Boden-Kontrollstation für dieses geheime, aus dem Weltraum operierende Waffensystem mit dem Codenamen GoldenEye. Aber…« M schaltete sich ein: »Aber unsere statistische Analyse sowie die elektronische Satellitenüberwachung ergeben eindeutig, daß die Russen für etwas Derartiges weder die Mittel noch die Technologie besitzen.« »Statistiken, Ma’am, waren nie meine starke Seite. Aber, mit Ve r55
laub, Sie können Zahlen aus diesen Quellen herauslesen, Sie können sie analysieren, aber Sie können nicht in die Köpfe und die Herzen der Menschen sehen, um die es geht. Sind die Bilder live?« M gab ein kurzes, geringschätziges Lachen von sich. »Im Gegensatz zur amerikanischen Regierang ziehen wir es vor, keine falschen Nachrichten von CNN zu bearbeiten. Natürlich sind sie live.« Sie schaute hoch und sah, wie die anderen auch, die pulsierende rote Ikone, das hell erleuchtete Areal um Sewernaja und die Lichtpunkte der russischen Flugzeuge, die auf die Station zusteuerten. Tief unter der Erdoberfläche von Sewernaja, an der Tür zum Kontrollraum, starrte Natalja auf die zerfetzten und niedergestreckten Körper ihrer Freunde. Ihr Herz schien zu einem Eisklumpen zu erfrieren. Ein übermächtiges Gefühl von Panik, Abscheu und tödlicher Angst ergriff sie. Sie schaute hinauf zu dem Bildschirm, sah die sich bewegenden Ikonen und Symbole, sah darunter die Zeituhr mit der zuckenden Sekundenanzeige und erkannte, was das bedeutete. Diese Erkenntnis brachte Bewegung in sie. Sie drehte sich um und rannte zu der Tür, die zu den Schlafräumen führte. Sie mußte weg von hier, heraus aus diesen Mauern, und das sehr, sehr schnell! Da sie oben von Schnee und Eis erwartet wurde, brauchte sie mehr als Rock, Bluse und die dürftige Unterwäsche, die sie hier in der vollklimatisierten Unterwelt normalerweise trug. In ihrem Zimmer wechselte sie rasch die Kleidung, zog ThermoUnterwäsche an, Jeans und die festen Lederstiefel, die sie während ihres letzten Urlaubs gekauft hatte, hüllte sich in einen Pelzmantel, setzte eine Pelzmütze auf und streifte pelzgefütterte Handschuhe über, während sie schon losrannte zu der Leichenhalle, die einmal ihre Arbeitsstätte gewesen war. Sie konnte die drei Jets nicht hören, die anderthalb Kilometer über ihr in enger Formation die Station umkreisten. Der Kettenführer vermochte dort unten nichts Außergewöhnliches zu entdecken und meldete seiner Basis, daß alles ganz normal aussehe. Doch im Luftraum über den Flugzeugen ging es durchaus nicht normal zu. Das vermeintliche Stück Weltraummüll änderte in hundert Kilometer Höhe seine Gestalt. Stücke von verkohltem und geschwärz56
tem Metall lösten sich, hauptsächlich von der äußeren Beschichtung. Petya entpuppte sich als stählerner Reaktorkern. Rings um den Flugkörper fächerten jetzt Schutzschilde aus wie die Halskrause eines gräßlichen Reptils. Dann begann er leicht zu rotieren und detonierte. Plötzlich erstrahlte die unmittelbare Umgebung von Sewernaja in einem konusförmigen, blendend hellen Licht. Innerhalb des Lichtkegels zuckten, wie lange blaue Schlangen, Hunderte von elektrischen Entladungen. Zwei der ›Flogger-Ks‹, einer unter dem anderen fliegend, wurden sofort von den spiralförmigen elektrischen Kraftfeldern umschlungen. Das obere Flugzeug wurde herabgeschleudert und verschmolz mit dem unteren zu einem explodierenden Feuerball. Das dritte Flugzeug wurde auf ähnliche Weise von dem elektrischen Blitzstrahl getroffen. Es machte eine halbe Rolle und begann dann, erdwärts zu trudeln. Verzweifelt zog der Pilot an dem Auslösehebel des Schleudersitzes. Er zog immer noch daran, als die Maschine auf die riesige Parabolantenne stürzte und in tausend Stücke zerbarst. Im Untergrund glaubte Natalja Fjodorowa Simonowa, daß ein Erdbeben Sewernaja erschüttere. Der ganze Komplex vibrierte wie unter gigantischen Hammerschlägen und war plötzlich in Dunkelheit gehüllt. Natalja stand in der Mitte der technischen Abteilung, von knatternden blauen Lichtstrahlen umflackert, umgeben von den Massen zerstörter elektronischer Geräte, die überall in dem ehedem so steril hygienischen Computerraum verstreut lagen. Raus hier! dachte sie angstbebend und schlängelte sich, von den tödlichen Lichtstrahlen umflimmert, zu dem Raum durch, der einmal das Kontrollzentrum der Anlage gewesen war. Sie stolperte über die Leiche des diensthabenden Offiziers und tastete sich vor zum Hauptportal, wo sie zweimal laut und deutlich ihren Namen in das Mikro der Stimmerkennungsanlage sprach. Keine Reaktion. Plötzlich fiel ihr Boris ein; sie machte kehrt, durchquerte noch einmal das von elektrischen Ladungen durchzuckte Minenfeld und bahnte sich einen Weg zu der mittlerweile von Leichen und Gerätetrümmern blockierten Tür des Notausstiegs. Als sie die Tür schon fast erreicht hatte, erschrak sie fürchterlich, da sie über sich eine Art Knarren gehört hatte. Sie trat zur Seite, gerade 57
rechtzeitig, denn in diesem Moment stürzten zwei an der Wand befestigte Monitore aus ihren Halterangen und knallten dicht neben ihr zu Boden. Kaum war dieser Schrecken überstanden, als das Knarren noch viel bedrohlicher wurde. Im Dämmerlicht sah sie, wie die Decke über ihr einzustürzen begann. Sie hatte nie zuvor solche Angst oder Klaustrophobie gekannt. Seit Jahren arbeitete sie in hermetisch verriegelten Räumen, doch sie hatte sich deshalb nie beklommen gefühlt oder gar unter der schrecklichen Vision gelitten, lebend begraben zu werden – bis heute. Und wenn sie sich mit den Händen durch Beton und Stein graben müßte, dachte sie, sie mußte hier raus! Über ihr wurde das Rumpeln im Gemäuer lauter und bedrohlicher. Sand rieselte herab und erfüllte die Luft, stieg ihr in die Augen und dörrte ihr die Kehle aus. Sie hielt eine Hand schützend vor Nase und Mund, und als die Betondecke über ihr endgültig einbrach, drückte sie ihren Rücken mit aller Kraft gegen die Wand, als ob es möglich wäre, mit schierer Körperkraft Stein, Stahl und Beton zu durchdringen. Das Blut toste ihr in den Ohren. Das reißende, knarrende, polternde Geräusch der im ganzen Gebäude einstürzenden Wände lähmte für einen Augenblick all ihre Sinne. Mit einer letzten, vernichtenden Explosion stürzte die Hälfte des Daches ein, und mit ihm Teile der riesigen Antenne, vermischt mit Bruchstücken des Flugzeuges. Erst als der Staub sich etwas legte und kalte Nachtluft in ihren Schlupfwinkel hereinzog, der gut und gerne ihr Grabmal hätte werden können, begann Natalia, sich langsam vorwärts zu bewegen. Behutsam erst, und dann, als ihr Mut langsam zurückkehrte, etwas zielstrebiger. Sie kletterte mühsam aufwärts und dachte dabei an den großen, alten Apfelbaum in Großvaters Garten, den sie als Kind so oft hinaufgeklettert war. Für ein paar Augenblicke gaukelte ihre Fantasie ihr vor, daß es tatsächlich ein Baum sei, den sie hinaufstieg, und nicht holprige, zu unwegsamem Geröll zerborstene Betonstufen; daß es wieder Sommer sei, ihr Großvater vor sich hin lache und sie ›Äffchen‹ nenne, während sie durch Zweige und Blätter nach oben turne. Dann kam ihr wieder Boris in den Sinn. Sie erinnerte sich, daß er nach oben gegangen war, um verbotenerweise eine Zigarette zu rauchen. Und sie begann zu rufen, während sie weiter hinaufstieg: »Bo58
ris…! Boris Iwanowitsch…! Boris, kannst du mich hören?« Sie stand draußen in der kalten, frischen, klaren Nachtluft, allein im Schnee. Tanner stand noch immer mit M und Bond vor der Videowand, als plötzlich das Bild mit einem sengend weißen Blitz erlosch. »Was, zur Hölle, ist da los?« Tanner sprang auf, M schreckte zurück, und Bond duckte sich, bereit, sich sofort schützend zu Boden zu werfen. Sekunden später hatten sie beide, M und Tanner, Telefonhörer am Ohr. (In weiter Ferne wurden Xenia Onatopp und General Ourumow in ihrem Tigre heftig durchgerüttelt, denn ihre Maschine bockte im zukkenden Rhythmus der tanzenden Schlangen aus blauem, elektrischem Feuer, der sie selbst in achtzig Kilometer Entfernung noch erreichte. Xenia dachte, daß die Franzosen ordentliche Arbeit geleistet hatten. Der Tigre war in der Tat unbesiegbar.) Bill Tanner, den Telefonhörer noch in der Hand, rief: »Unser Satellit ist ausgefallen, genauso wie zwei amerikanische. Aber wir schalten gleich zu einem anderen um.« Es dauerte einige Sekunden, bis wieder etwas auf der Bildwand zu sehen war: Sewernaja mit der umgekippten, schiefen Antennenanlage und dem brennenden Wrack des ›Flogger-K‹. »Großer Gott!« sagte jemand, »Die beiden anderen ›Flogger‹ sind auch abgeschmiert.« M kam etwas näher heran. »Es sieht aus, als wäre die dritte Maschine direkt auf die Antenne gestürzt.« Sie sah Bond an. »Was meinen Sie, 007?« Er hatte sich im Hintergrund gehalten und versuchte zu analysieren, was er sah. »Nun ja, die Gebäude stehen noch. Kein Auto oder Lastwagenverkehr, nicht einmal ein Scheinwerfer. Ich würde sagen: EMP.« »Das würde auch die Flugzeugabstürze und den Ausfall der Satelliten erklären«, sagte Tanner und wandte sich an M: »EMP, Ma’am, Electro-Magnetic-Pulse, ein neuartiges Waffensystem, entwickelt von…“ 59
M unterbrach ihn: »Ich weiß, was EMP ist, Mr. Tanner. Ein tödliches Waffensystem, das mit elektromagnetischen Schwingungen arbeitet. Es wurde sowohl von den Amerikanern als auch von den Russen während des kalten Krieges entwickelt. Nach Hiroshima wurde diese Theorie aufgestellt. Ein nuklearer Sprengkörper wird in der oberen Atmosphäre freigesetzt. Dadurch entsteht ein enormes Kraftfeld – so etwas wie eine Strahlendünung, die alle elektronischen Systeme zerstört.« Während sie eine Pause machte, fuhr Tanner fort: »Die Idee bestand darin, eine Waffe zu schaffen, mit der man das Kommunikationssystem des Feindes vernichtet, bevor er zurückschlagen kann.« M wandte sich an Bond. »Ist das GoldenEye? Heißt das etwa, daß GoldenEye tatsächlich existiert?« »Ja.« »Besteht die Möglichkeit, daß es einfach ein Unfall war?« »Definitiv nein, Ma’am. Damit dürfte sich auch der Diebstahl dieses Hubschraubers erklären. Man muß sich einen Fluchtweg offenhalten, wenn man GoldenEye aktivieren will. Hat man es einmal in Gang gesetzt, kann niemand es mehr stoppen. Und daraus ergibt sich ein Problem; Man muß schnell abhauen und gleichzeitig alle Spuren ve rwischen. Das ist nur möglich, wenn man so etwas wie den Tigre in der Hinterhand hat.« »Und Sie glauben also. Ihr elendes Janus-Syndikat hat die Finger im Spiel?« Es war eine Spur von Bitterkeit in ihrer Stimme. »Nicht unbedingt.« Bond schüttelte den Kopf. »Ich bin schon mal in so einer rassischen Anlage gewesen.« Er schaute auf die Bildfläche. »Die Sicherheitsvorkehrungen sind, wie die junge Generation sagt, überwältigend – angefangen bei der automatischen StimmenErkennung. Das bedeutet, daß man den Kreis der autorisierten Personen auf ein Minimum beschränken kann. Die können selbst Jelzin von so einem Betrieb fernhalten. Man benötigt zwei Sicherheitsschlüssel, um die Waffen scharfzumachen, außerdem einen Geheimcode, der täglich geändert und in einem streng gesicherten Wandtresor unter Verschluß gehalten wird.« Stirnrunzelnd hielt er inne. »Es kann nur ein Insider gewesen sein.« Er bat einen der Techniker, das Bild auf Infrarot umzuschalten. »Näher heran. Nach rechts… noch ein bißchen mehr… Da!« 60
Eine Gestalt wurde sichtbar, die in der Nähe der Antenne aus den Trümmern herauskletterte, »Wie Sie sehen, hat mindestens eine Person überlebt. Das bedeutet, daß zumindest sie wahrscheinlich weiß, wo – oder wer – die undichte Stelle ist.« Natalja war nun im Freien. Die Kälte durchdrang selbst ihre warme Kleidung, die sie in mehreren Schichten übereinander trag. Sie zwang sich, vorwärts zu gehen, einen Schritt nach dem anderen. Die nächste Ortschaft war mindestens vierzig Kilometer entfernt. Ging man die Straße in der anderen Richtung, traf man nach dreißig Kilometern auf einen kleinen Bahnhof. Allerdings verkehrten die Züge dort unregelmäßig, und ohnehin war es zweifelhaft, ob sie es bis dahin schaffen würde. Natalja hörte das Winseln und Bellen schon, bevor sie die Hunde sah. Verstört und orientierungslos zerrten die Tiere den hölzernen Schlitten im Kreis hemm. Sie dankte Gott – falls es einen solchen gab. Das konnte die Rettung sein. Vielleicht würde sie doch noch eine Chance bekommen, eines Tages noch einmal auf Großvaters Apfelbaum zu klettern.
8. UNTERNEHMEN GOLDENEYE M telefonierte gerade, als Bond ihr Büro betrat. Moneypenny - gewöhnlich die Wächterin des Heiligtums – hatte schon Feierabend gemacht, aber M winkte ihn heran und deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. Sitz! dachte Bond. Sitz, braver Hund! Er schaute auf die Wand hinter ihrem Schreibtisch und fragte sich, was der alte M wohl zu dem Bild gesagt hätte, das dort hing. Zu seiner Zeit hatte er sich seine bevorzugten Bilder leihweise beim Arbeitsministerium beschafft – meistens Szenen von großen Seeschlachten oder malerische Darstellungen des Meeres. 61
Das neue Bild war ein vielfarbiges Rechteck, unterteilt in mehrere Dreiecke. ›Schmierkram‹ hätte der alte Mann es genannt und das Bild genauso verabscheut wie die sterile Atmosphäre des neuen Büros. M beendete die Unterhaltung mit ihrem Telefonpartner, wer immer es sein mochte. Der Premierminister, mutmaßte Bond, während sich M eine Zigarette ansteckte, tief inhalierte und den Rauch in einem langen, dünnen Schwaden in die Luft pustete. »Das kann Ihre Gesundheit gefährden, Ma’am, aber ich bin sicher, das wissen Sie schon.« Sie sah ihn schief an und sparte sich eine Antwort. Statt dessen sagte sie: »Der Premierminister hat mit Moskau gesprochen. Die sagen, es war ein Unfall während eines Routinemanövers.« »Kein Wort über den Waffentypus, nehme ich an?« Er erlaubte sich ein dünnes Lächeln, während er M anschaute. Die schüttelte nur den Kopf. Er zuckte mit den Achseln. »Regierangen wechseln, aber die Lügen bleiben dieselben.« M gab ein kurzes Grunzen von sich, was Bond einen Moment an seinen alten Chef denken ließ, der auch immer vor sich hingegrunzt hatte, um unerwünschten Fragen auszuweichen. »Sagen Sie, was wissen wir sonst noch über das Janus-VerbrecherSyndikat?« »Groß im Waffenhandel. Gewiefte Schmuggler mit weltweiten Ve rbindungen. Ihr Hauptquartier ist in St. Petersburg, und sie waren die ersten, die es fertigbrachten, den Irak im Golfkrieg mit Nachschub zu versorgen. Der Mann an der Spitze ist ein nur vage beschriebenes Blatt – das heißt, unsere Quellen sind in diesem Punkt nicht sehr zuverlässig. Bis jetzt ist diese Frau, Xenia Onatopp, der einzige sichere Anknüpfungspunkt unter den Topleuten.« M grunzte wieder. »Möchten Sie was trinken?« Was war das denn? wunderte er sich. Stieg sie etwa vom hohen Roß herab? »Ja, vielen Dank. Ihr Vorgänger hatte einen vorzüglichen Cognac…« »Ich bevorzuge Bourbon.« Sie stand auf und öffnete ein Barfach. »Eis?« fragte sie. »Ein furchtbarer Gedanke, Ma’am. Man sollte niemals ein gutes Glas mit diesem abscheulichen Eis minieren. Schreckliche Ange62
wohnheit!« »Schön, ich habe vermutlich eine Menge Angewohnheiten, die Sie nicht mögen werden.« Sie reichte ihm sein Glas und kehrte zu ihrem Platz zurück. »Wir sind alle unsere Dateien durchgegangen, um den Mann an der Spitze von Sewernaja herauszusieben.« Ihr Blick huschte über den Computermonitor, der außerhalb von Bonds Sichtfeld stand. »Der Oberste auf unserer Liste ist ein alter Bekannter von Ihnen.« Sie lehnte sich vor, drückte auf einen Knopf, und der ›Schmierkram‹ im Bilderrahmen verschwand. Statt dessen flackerte ein Bild von Ourumow auf, in voller Uniform, mit all seinen Daten. Beinahe flüsternd murmelte Bond: »Ourumow! Und die haben ihn zum General gemacht!« Laut sagte er: »Ein besseres Bild als das vo rherige jedenfalls.« »Bin ganz Ihrer Meinung. Das Bild hängt nur für irgendwelches Fußvolk dort, das zum erstenmal zu mir kommt. Ein einfacher psychologischer Trick. Die setzen sich hin, und das Aquarell ist das erste, was sie anschauen. Erst dann wenden sie sich mir zu, und dadurch bekomme ich genug Zeit, mir ein Bild von den Leuten zu machen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das beinahe schon vertraulich wirkte. »Nun zu Ourumow«, fuhr sie fort. »Ja, sie haben ihn zum General befördert. Mehr noch: Er ist der reinste Überflieger und hält sich selbst für den nächsten starken Mann, der Rußland führen wird. Das ist auch der Grund, warum ihn unsere Analytiker von der Verdächtigenliste gestrichen haben. Er gehört nicht zum Typus des Verräters. Er ist ein echter Sohn von Mütterchen Rußland. Sie wissen schon, Heimaterde, blühende Mohnfelder und all der Quatsch.« »Wie ich vermute, Ma’am, haben dieselben Analytiker herausgefunden, daß es GoldenEye nicht geben kann. Wer hat denn gesagt, der Diebstahl des Hubschraubers stelle keine akute Bedrohung dar und lohne keine Nachforschung?« Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas und einen langen Zug aus der Zigarette. »Ich wurde auf diesen Posten berufen, weil ich analytisch denken kann, und das sehr gut. Ich bin außerdem Computerspezialistin und habe, wie der Premier es nennt, einen messerscharfen Verstand.« Sie zog an ihrer Zigarette und drückte sie im Aschenbecher aus. 63
»Ich habe eine Zeitlang als Assistentin meines Vorgängers gearbeitet, und er selbst hat mich als seine Nachfolgerin vorgeschlagen. Die Mißstände in dieser Abteilung springen einem geradezu ins Auge. Da ich die Kontrollvorschriften kenne, die das Kabinett unserem Dienst auferlegt hat, kenne ich auch die Schliche, mit denen die Kontrollen gewöhnlich umgangen werden.« Sie machte wieder eine Pause, dann sah sie ihm offen in die Augen. »Sie können mich nicht leiden, Bond, habe ich recht? Sie glauben, ich bin ein menschlicher Taschenrechner, der weit mehr an seinen Zahlen interessiert ist als an Ihren Instinkten.« Bond rückte zustimmend. »Gut, damit kann ich leben, Denn ich halte sie meinerseits für einen sexistischen, frauenfeindlichen Dinosaurier. Sie sind ein Relikt aus dem kalten Krieg.« Sie lächelte. »Es wird Sie erstaunen festzustellen, daß mir sehr daran liegt, Männer und Frauen im Einsatz zu haben, die es verstehen, sich ins Fühlen und Denken eines jeden Feindes hineinzuversetzen. Ich bin in diese Position berufen worden, um den Laden zu reorganisieren und dafür zu sorgen, daß wir das Budget nicht überschreiten, und bei Gott, das werde ich tun. Aber um das angemessen bewerkstelligen zu können, brauche ich Undercover-Leute und auch solche, die draußen Informanten anwerben. Dazu ist, mehr als je zuvor, ein funktionierendes Netzwerk von Agenten nötig, die draußen ihren Kopf hinhalten. Und wenn Sie nun auch nur einen Augenblick lang glauben, ich hätte nicht die Nerven, einen Mann loszuschicken, damit er da draußen an irgendeinem Brennpunkt sein Leben riskiert, dann fahren Ihre Instinkte total auf dem falschen Gleis.« Bond wußte auf diese leidenschaftliche Rede nichts zu erwidern. Immerhin, er hatte nun erheblich mehr Respekt vor der neuen M, die bereits weitersprach: »Ich hätte absolut keine Gewissensbisse, Sie in den Tod zu schikken, 007. Aber ganz bestimmt würde ich es nicht aus einer bloßen Laune heraus tun – trotz Ihrer Herrenreiter-Einstellung zu Leben und Tod.« Bond fand, daß es an der Zeit war, auch etwas zu sagen. »Ma’am, ich habe nicht vergessen, daß das Recht zu töten gleichzeitig eine Lizenz zum Sterben ist.« Sie nickte ihm kurz zu. »Das ist gut, denn ich möchte, daß Sie Gol64
denEye finden. Ich möchte, daß Sie herausbekommen, wer die Waffe an sich genommen hat, zumal ich sicher bin, daß derjenige auch das – was immer es sein mag – mitgenommen hat, was man benötigt, um die Waffe scharfzumachen. Ebenso scheint es mir sicher zu sein, daß noch mehr solcher Raumkörper im All herumschwirren. Deshalb will ich, daß Sie herausfinden, wer das Ding gestohlen hat und was er, sie oder es damit anzufangen gedenkt.« Sie wandte sich um und deutete auf das Computerbild. »Und, 007, sollte Ihnen dabei Ourumow über den Weg laufen, möchte ich – ob er nun schuldig ist oder nicht – keinesfalls, daß Sie eine Art persönlicher Vendetta inszenieren. Auch wenn Sie Alec Trevelyan rächen, bringen Sie ihn nicht ins Leben zurück.« »Bei allem Respekt , Ma’am, Sie sind an seinem Tod nicht schuld.« »Sie auch nicht, Bond! Machen Sie da keine persönliche Angelegenheit draus. Verstanden?« Er schwieg. Erinnerungen an seinen alten Freund gingen ihm durch den Kopf. Er dachte an das Training, das er mit ihm zusammen durchgestanden harte, an ihre Einsätze. Ein paar Sekunden lang harte er das Gefühl, Alec stehe dicht neben ihm. Er sah sein altersloses Gesicht, sein verschmitztes Lächeln und hörte ihn flüstern: ›Sie hat recht, James. Das ist die Sache nicht wert,‹ Dann sah er Alecs Ende, sah Ourumow, wie er den Abzug seiner Pistole drückte, während sein Freund auf dem Steinboden der biochemischen Anlage kniete. »Ja, ich verstehe, Ma’am.« Er stand auf und ging zur Tür. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als sie noch etwas sagte: »Bond!« Ihre Stimme war um eine Spur sanfter. »Kommen Sie lebend zurück, ja?« Nach zwei Tagen intensiver Vorbereitung traf sich Bond spät in der Nacht mit Q, tief unter dem Hauptquartier in einem der weitläufigen Räume, wo die Schußwaffen und andere Spezialgeräte aus Q’s Werkstatt getestet wurden. Q hatte zwei Dinge für ihn vorbereitet. Erstens einen ingeniös erdachten Gürtet an dem Bond absolut nichts Auffälliges entdecken konnte, bis Q auf eine kleine Kappe über der Schnalle hinwies. »Das ist der Sicherheitsverschluß«, sagte Q. »Seien Sie vorsichtig damit, und lassen Sie den Verschluß in dieser Position – bis Sie ihn brauchen.« 65
Er zeigte ihm, wie er den Verschluß öffnen konnte und wie er die Schnalle ausrichten mußte, um die Vorrichtung zu benutzen. Der Dorn der Schnalle war in Wirklichkeit ein kleiner, raffiniert entworfener Hafen. Wenn man auf die Sicherheitskappe drückte, schoß der Haken heraus – und mit ihm eine fünfundzwanzig Meter lange, zugfeste Schnur. »Die Schnur ist stark genug, um Ihr Gewicht zu tragen.« »Und was ist, wenn noch mehr Gewicht dazukommt?« »Dann hilft bloß Beten.« Q grinste. »Wir haben’s nur mit Ihrem Gewicht getestet Der Haken dringt praktisch in jedes Material ein, und ist er mal drin, dann hält er auch.« Das zweite Gerät war eher von der todbringenden Sorte. Es sah aus wie ein gewöhnlicher Kugelschreiber, war aber de facto eine kleine Granate. Wenn man einmal hinten auf den Knopf drückte, konnte man damit schreiben. Drückte man aber dreimal, war die Granate nach vier Sekunden scharf. Innerhalb dieser Frist konnte man durch erneutes dreimaliges Drükken das Ding wieder sichern. Q demonstrierte anhand eines Dummys, wie der Apparat funktionierte. Die Puppe wurde durch eine Explosion in Stücke gerissen. »Der Stift ist mit Sicherheit wirkungsvoller als jedes Schwert.« Für Q’s Verhältnisse war dies beinahe schon eine witzige Bemerkung. Bond betrachtete die zerfetzte Puppe. In der Tat für einen Kugelschreiber eine recht beeindruckende Schrift. Er sah sich im Raum um, der wie gewöhnlich mit seltsamen und bizarren Ausrüstungsgegenständen vollgestopft war. Unter anderem entdeckte er ein reich ve rziertes Silbertablett, auf dem ein Teller mit einem etwa zwanzig Zentimeter langen Baguette stand. Das Baguette war aufgeschnitten und mit Tomaten, Zwiebeln und Thunfisch belegt »Was ist denn das?« fragte er. »Wirklich interessant, sehr interessant« Q wurde immer lebhaft, wenn sich jemand für seine Arbeit interessierte. »Sie meinen das Tablett?« fragte er, als brauche er Bestätigung. »Das Tablett, ja.« »Aha.« Q lächelte zufrieden. »Ja, das ist wirklich ziemlich gut Legen Sie mal eine kleine Tasche darauf, oder einen Umschlag mit Dokumenten, wie Sie gerade einen bei sich haben.« Er nahm den dicken 66
Umschlag, den Bond in der Hand hielt, und warf ihn auf das Tablett. »Okay, und nun kommen Sie hier herüber.« Er bedeutete Bond, ihm zu einem Wandmonitor zu folgen. Der Bildschirm zeigte den Umriß des Tellers mit dem Schatten des Baguettes, das auf beiden Seiten über den Tellerrand herausragte. Aber man konnte auch den Umschlag sehen – diesen aber nicht als Schatten, sondern klar und deutlich. Was immer auf einem Dokument stand, das mit der Schriftseite nach unten auf dem Tablett lag, konnte vom Monitor abgelesen werden. »Verstehen Sie?« Q nickte. »Sie sehen jeden Buchstaben so deutlich wie meine Nasenspitze.« Tatsächlich war auf dem Monitor die erste Seite von Bonds Flugtikket erschienen. Q las die Einzelheiten vor, die Abflugzeit, den Zielort, sogar die Nummer von Bonds reserviertem Platz. »Verblüffend!« Bond drehte sich zu dem Tablett um und griff nach dem Baguette. »Um Himmels willen!« schrie Q aufgeregt. »Rühren Sie das nicht an!« »Warum? Was ist damit?« »Es ist mein Abendessen.« Sechs Tage später checkte Bond zu seinem Flug nach St. Petersburg ein. Nataljas Reise war ein Alptraum. Anfangs hatte sie ja geglaubt, das Glück auf ihrer Seite zu haben. Eine Stunde, nachdem sie dem Bahnhofsvorsteher das Hundegespann und den Schlitten verkauft hatte, sollte der Zug nach St. Petersburg auf dem kleinen Landbahnhof eintreffen. Doch dann erfuhr sie von dem Mann, daß der nächste Zug erst in zwei Tagen erwartet wurde und auch der heutige nur dann anhielt, wenn er eine Signallampe am Bahnsteig aufhängte und sich um alle anderen üblichen Formalitäten kümmerte. Sie feilschte nicht um den Preis für die Hunde; es genügte ihr, daß sie etwas mehr bekam, als sie für die Fahrkarte bezahlen mußte. Schließlich hatte sie keine Finanzsorgen. Was das liebe Geld betraf, war Natalja eine große Hamsterin, und da sie in harter Währung bezahlt wurden – sprich: in Dollars -, würde sie sich neue Kleidung und alles, was sie sonst noch brauchte, kaufen können, sobald sie in St. 67
Petersburg war. Doch tags darauf dachte sie, der Zug würde niemals in St. Petersburg ankommen. Er war überfüllt und stank nach ungewaschenen Körpern. Die älteren Reisenden schienen sich damit abzufinden, aber einige von den jungen Leuten kamen Natalja bedrohlich vor. Sie sahen aus wie Straßenrabauken, und daher blieb sie für den größten Teil der Strecke in einem einzigen großen Waggon zwischen überwiegend alten Me nschen und ließ die endlos lange und ungemütliche Fahrt über sich ergehen. Sie wollte vermeiden, daß irgend jemand ihre Dollars sah, geschweige denn ihre Personalpapiere, aus denen nicht nur ihr Beruf als Computerexpertin hervorging, sondern auch die Tatsache, daß sie in der Sewernaja-Station gearbeitet hatte. Noch auf dem Hundegespann war ihr klargeworden, daß sie viel mehr wußte, als für sie gut sein konnte. Ihr war bekannt, wer hinter dem Anschlag steckte, und sie wußte, was tatsächlich passiert war. Schließlich hatte sie alles gehört und das Resultat gesehen. Obwohl sich vieles im neuen Rußland geändert hatte, war die Obrigkeit immer noch berechtigt, ohne Haftbefehl nach verdächtigen Personen zu fahnden und diese festzunehmen. Ebenso konnten die Polizisten weiterhin Hotels oder Wohnungen ohne besondere Formalitäten durchsuchen. Das bedeutete, daß sich Natalja in St. Petersburg zwar neu einkleiden, andere persönliche Dinge kaufen und sich Essen besorgen konnte. Aber sie hatte kein Dach über dem Kopf und konnte sich nirgendwo sehen lassen, ohne sich in Gefahr zu begeben. Natalja war ganz sicher, daß Boris irgendwie überlebt hatte. Wenn er den Holocaust in Sewernaja überstanden hatte, würde er wahrscheinlich so bald wie möglich zu dem einen Kommunikationsmittel greifen, das er wie kein anderer beherrschte: dem Computer. Boris war gewiß kein Musterknabe, aber er hatte eine Menge Verstand und würde es zweifellos schaffen, sich den Rücken freizuhalten. Sie kaufte Tee und ein Wurstbrot von einem der Servierwagen, die im Zug auf und ab geschoben wurden. Nachdem sie gegessen hatte, versuchte sie, ihre Sorgen mit einem bißchen Schlaf zu vertreiben. Aber sie träumte von dem General und dem weiblichen Oberst – dieser Frau, auf die sie einen Blick hatte werfen können, als jene wie der 68
Teufel hinter ihr hergejagt war. Natalja konnte nicht wissen, daß ihre Lage schon früh am nächsten Morgen in St. Petersburg noch weitaus bedrohlicher werden würde. Die Plenarsitzung des russischen Verteidigungsrates war für zehn Uhr im Winterpalast von St. Petersburg angesetzt. Die Ratsmitglieder, angeführt von Verteidigungsminister Victor Mischkin, waren schon fünf Minuten vor der Zeit zur Stelle. Geduldig warteten sie auf den einen noch fehlenden Mann. Mischkin war unleugbar verärgert. Er stand von seinem Platz auf, ging ein paar Schritte in dem riesigen Saal mit der barocken Decke und den hohen Fenstern auf und ab, setzte sich wieder, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sah unentwe gt auf die Uhr. Gewöhnlich lassen selbst hohe Offiziere ihren Verteidigungsminister nicht warten. Seine Blicke schweiften durch den großen Raum, Früher war hier der letzte Zar auf und ab geschritten. Wahrscheinlich harten seine Kinder hier gespielt. Mischkin schauderte unwillkürlich. Die Geister des ermordeten Zaren Nikolaus und seiner Familie schienen allgegenwärtig zu sein. Zehn Minuten zu spät traf General Ourumow endlich ein, gelassen, selbstzufrieden, seine unvermeidliche Aktentasche in der Hand »Guten Morgen!« Mischkin grüßte ihn kurz und mürrisch. Mit einer knappen Geste wies er ihn an, seinen gewohnten Platz einzunehmen. »Ich erwarte Ihren Bericht, General«, befahl er, noch bevor sich Ourumow gesetzt hatte. Mit einer Ruhe, die schon fast aufsässig wi rkte, zog der General seinen Uniformmantel aus. Dann öffnete er behutsam seine Aktentasche und entnahm ihr einen glänzenden schwarzen Ordner, auf dem in kyrillischer Schrift die Worte SOVERSHENNOE DEKRENTO standen. Nun begann er, so hastig zu sprechen, als wolle er die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen; »Wie wohl allen Anwesenden bekannt ist, wurde vor zweiundsiebzig Stunden in der Sewernaja-Station eine Geheimwaffe mit dem Codenamen GoldenEye zur Detonation gebracht. Als Chef der Raumfahrtbehörde habe ich persönlich Untersuchungen angestellt und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß das Verbrechen von sibirischen 69
Separatisten verübt wurde, die politische Unruhe stiften wollen.« Er hielt einen Moment inne und schaute nacheinander jedem der acht Mitglieder des Verteidigungsrates in die Augen, ehe er fortfuhr: »Nachdem sie die ganze Belegschaft der Station ermordet hatten, haben diese Verbrecher die Waffe aktiviert und sowohl die gesamte Anlage als auch jeden Hinweis auf ihre Identität zerstört. Unglücklicherweise wurde damit die Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit, die in Sewernaja geleistet wurde und die unserem Land wichtige Devisen einbrachte, um Jahre zurückgeworfen. Für mich ergibt sich daraus die Konsequenz, meinen sofortigen Rücktritt einzureichen.« Die Männer, die um den runden Tisch hemm saßen, schüttelten die Köpfe, manche von ihnen schlugen mit der Faust auf den Tisch, einige riefen: »Nein! Nein!« Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, sah Mischkin den General an, musterte ihn von oben bis unten, als wolle er damit zu verstehen geben, daß ihm Ourumows Rücktritt höchst willkommen sei. Als er das Wort ergriff, verriet seine Stimme keinerlei Emotion: »Wie es aussieht, will der Rat trotz allem nicht Ihren Kopf rollen sehen, Arkadij Grigorowitsch. Dies schon wegen Ihrer glaubwürdigen Versicherung, daß es keine weiteren GoldenEye-Satelliten gibt.« »Das kann ich Ihnen hundertprozentig versichern, Herr Minister!« »Gut. Was ist nun mit den beiden vermißten SewernajaTechnikern?« Ourumow errötete. Verschüchtert und wie betäubt stammelte er: »Herr Minister… Ich… Ich…« Seine eigene Zunge schien ihm beim Sprechen im Weg zu sein. »Ich… habe nur Kenntnis von einem Vermißten… äh…« »Zwei!« Der Minister klang wie ein Lehrer, der einen Schüler bei einer Lüge ertappt hat. »Aber, ich…« Mischkin hob eine Hand, um Ourumow zum Schweigen zu bringen. Dann schaute er in seine Unterlagen. »Unsere Leute haben die Trümmerstätte durchsucht. Alle Leichen sind identifiziert worden, was nicht schwierig war, denn sie waren ja sämtlich in dem zerfallenen Gemäuer eingeschlossen – abgesehen von den Wachsoldaten natürlich.« »Natürlich, Herr Minister, aber…« 70
»Niemand fehlte, mit Ausnahme eines Technikers namens Boris…« »Grischenko«, fiel ihm Ourumow ins Wort. »Boris Grischenko. Ich habe seinen Namen hier.« Mischkin blickte auf und warf Ourumow einen verächtlichen Blick zu. »Boris Grischenko und noch jemand. Eine Frau. Eine sehr talentierte Klasse-2-Informatikerin. Natalja Fjodorowna Simonowa.« »Simonowa?« Mischkin nickte. »Wie ich sagte: eine sehr begabte junge Frau. Sie spricht fließend Französisch, Italienisch, Deutsch und Englisch,« »Dann würde sie eine gute Opernsängerin abgeben.« Ourumow klang jetzt ärgerlich. »Ebenso fließend beherrscht sie vier Computersprachen.« »Simonowa?« wiederholte Ourumow. »Das ergibt sich aus der Auflistung der Toten.« Der General holte tief Luft. »Das ist neu für mich, Herr Minister. Aber ich werde der Sache persönlich und unverzüglich nachgehen!« »Gut.« Mischkins Stimme wurde etwas schärfer. »Ich denke, es wäre anmaßend, den Vorfall sibirischen Separatisten anzulasten, bevor die Alibis Ihrer eigenen Leute überprüft sind. Finden Sie nicht auch?« »Natürlich, Herr Minister. Danke, daß Sie mich darauf aufmerksam machen.« Eine halbe Stunde später saß Ourumow in seinem Büro im Winterpalast, dem einstigen Gala-Schauplatz St. Petersburgs, und sprach eindringlich ins Telefon. Die Sicherheitskräfte, die für den Bezirk Sewernaja zuständig waren, hatte er bereits ebenso alarmiert wie die Polizei in allen größeren Städten. In seinen Akten, die er für den eigenen Gebrauch führte, hatte er sogar eine Fotografie von Natalja aufgetrieben. Bei seinem jetzigen, weniger offiziellen Telefonat sprach er mit gedämpfter, fast flüsternder Stimme: »Ihr Name ist Natalja Simonowa… Ja. Ja, das ist sie, genau. Sie kennen sie?« Die Person am anderen Ende der Leitung versicherte, daß ihr die gesuchte Person bekannt sei. »Was immer sie tut, ich möchte, daß Sie die Frau unter Kontrolle halten. Wenn nötig, töten Sie sie. Können Sie das für mich tun?« »Es wäre mir ein Vergnügen, Herr General.« »Bleiben Sie mit mir in Verbindung. Und bedenken Sie, daß die Sa71
che für uns alle sehr wichtig ist.« »Ich mache mich sofort auf die Jagd, General. Solche Aufträge liebe ich!«
9. WADES KLEINE RUNDFAHRT James Bond war erst ein einziges Mal in St. Petersburg gewesen; das war mitten im kalten Krieg, als die Stadt noch Leningrad hieß. Er erinnerte sich gern an diese Stadt, an ihre Schönheit, den Hauch von Geschichte, der sie umwehte. Peter der Große hatte die Stadt gegründet, und sie hatte sich zu Rußlands Herz entwickelt, zum ›Fenster nach Europas Allerdings war St. Petersburg auch die Wiege der Oktoberrevolution – ein Umstand, an den sich viele Leute heutzutage weniger gern erinnerten. Bei seiner letzten Visite war er als Feind gekommen; die Fronten waren ebenso klar definiert gewesen wie die betrügerischen Interessen der Akteure. Als er jetzt auf dem internationalen Flughafen von St. Petersburg eintraf, glaubte er den Geruch von Verfall und Orientierungslosigkeit beinahe riechen zu können, der seit dem Niedergang des Kommunismus überall zu spüren war. Wie viele andere war er der Meinung, daß es für Rußland besser gewesen wäre, wenn sich der Kurswechsel innerhalb der kommunistischen Partei vollzogen hätte. So aber war ein starkes Regierungssystem plötzlich kollabiert, und das Land war im freien Fall in einen Sumpf aus Kriminalität und Drogen gestürzt. Nicht mehr vor den Geheimagenten früherer Tage, dafür aber vor Kriminellen aller Art mußte Bond nun auf der Hut sein. Vor dem Taxistand standen hauptsächlich gutgekleidete Geschäftsleute Schlange – westliche Industriekapitäne, die in der Hoffnung gekommen waren, von den Bedürfnissen des neu erwachten Rußlands zu profitieren und für sich selbst noch eine Extramark abzuzweigen. 72
Rechterhand, weitab von der Taxischlange, entdeckte Bond seinen Kontaktmann: groß, stämmig und in eine russische Garten-Zeitschrift vertieft. Lächelnd näherte er sich dem Mann und nannte die Kontaktparole: »In London gehört der April zum Frühling.« Der Mann blickte auf. Sein amerikanischer Akzent war fast zu offensichtlich. »Wer sind Sie? Der Wetteronkel?« Als er Bonds verdrießliches Gesicht sah, fuhr er fort: »Codes, Geheimparolen, Spionagekram – das ist vorbei, Kumpel. Kommen Sie, mein Wagen steht dort drüben.« Er führte Bond zu einem Stück Metallschrott, das in besseren Zeiten ein Moskowitsch gewesen sein mochte. Aber Bond stürzte förmlich an ihm vorbei und öffnete mit einem »Sie gestatten?« die Wagentür. Der Amerikaner begann breit grinsend auf den Fahrersitz zu rutschen, wo Bond ihn zwischen Tür und Sitz festklemmte und ihm seine Pistole in die Seite drückte. Er hatte die Waffe auf dem Flug in einer Spezialaktentasche befördert, die sie gegen Metalldetektoren abschirmte. »So, Freundchen, jetzt machen Sie den Mund auf!« herrschte er den Mann an. Seine Gesichtszüge schienen vor Ärger wie aus Stein gemeißelt. Lange Zeit schwieg der Mann, dann endlich sagte er: »Okay. In London gehört der April zum Frühling, während wir uns in St. Petersburg den Hintern abfrieren. Reicht das?« Bond schüttelte den Kopf. »Nein, zeigen Sie mir die Rose!« »O Herr im Himmel!« Er schnallte seinen Gürtel auf, und während ihn Bond gegen die Blicke von Neugierigen abschirmte, zeigte ihm der bullige Amerikaner eine kleine tätowierte Rose auf seiner rechten Hüfte. Unter der Rose stand ›Muffy‹. »Muffy?« staunte Bond, während er um den Wagen herumging und auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Ja, Muffy. Meine dritte Frau.« Der Amerikaner streckte die Hand aus. »Jack Wade, CIA.« »Bond. James Bond, und wozu ich gehöre, wissen Sie wohl.« »Wenn nicht, wüßte ich es jetzt. Ihr Jungs habt einfach nicht mitbekommen, daß der kalte Krieg vorbei ist, ihr spielt immer noch mit dem alten Spionagekram mm.« 73
»Die Idee lautet, alles schön im Griff zu behalten. Kein unnötiges Risiko. Ich dachte, das CIA versteht sein Handwerk und weiß, daß wir immer noch im Geschäft sind.« Wade drehte den Zündschlüssel. Der Motor spuckte und stotterte, bis er endlich ansprang. Er klang wie ein alter Zwei-ZylinderRasenmäher. »Ja, ja, das wissen wir«, lachte Wade. »Mir war schon klar, was für einer Sie sind. Dachte nur, wir könnten ein bißchen Spaß miteinander haben,« »Das würde ich nicht empfehlen. Halten Sie sich besser an die Regeln und Vorschriften, sonst teilen Sie am Ende noch die Zelle mit eurem netten Mr. Ames, wenn’s nicht noch schlimmer kommt. Ich meine, der KGB hat nur seinen Namen geändert. Bei all dem Chaos hier ringsum könnten wir uns sehr bald im alten Geschäft wiederfinden.« »Aha, das ›Große Spiel‹, wie ihr Briten es nennt.« Er scherte aus der Parklücke aus und ordnete sich in den Verkehr ein. »Ich habe in letzter Zeit niemanden vom Großen Spiel reden gehört – außer vielleicht Autoren von billigen Melodramen und Journalisten.« Wade zog die Augenbrauen hoch. »Okay, Jim…« »James!« fiel ihm Bond ins Wort. »Niemals Jim, und erst recht nicht Jimbo!« »Okay, tut mir leid. Ich dachte, ich fahre ein bißchen herum, damit wir reden können. Zeig’ Ihnen ein paar Sehenswürdigkeiten.« »Ist der Wagen sauber?« »Bis auf das Äußere und ein bißchen Bonbonpapier.« Er warf das Magazin, in dem er gelesen hatte, auf den Rücksitz. »Arbeiten Sie gerne im Garten?« »Nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden läßt. Nun, Sie sind hier der Lokalexperte. Lassen Sie mich Ihre weisen Worte ve rnehmen.« »Weisheit ist hierzulande nicht gerade in Mode. Man hat mir gesagt. Sie wollen Informationen. Ich wurde angewiesen, sie Ihnen zu geben. Also?« »Was wissen Sie über Janus?« »Hey, sehen Sie sich diese Bauwerke an! Diese Pracht! Ist es nicht die wunderbarste Stadt, die Sie je gesehen haben, James? Sehen Sie: 74
der Winterpalast, und da ist das wunderschöne Alexander-Denkmal. Dir habt so was auch in London, ja? Irgendein Seemann, glaube ich.« »Admiral Lord Nelson, ja. Mr. Wade, spielen Sie mir nicht den bescheuerten Yankee vor! Also, was ist mit Janus?« »Was ich über Janus weiß, können Sie auf einen Stecknadelkopf schreiben. Mit einem Wort: nix, zero.« »Das sind schon zwei Wörter. Aber ich brauche noch mehr.« »Im Ernst, wir haben nur sehr wenige Hinweise auf Janus. Niemand, der ihn jemals gesehen hätte. Aber er hat ohne Zweifel seine Verbindungen. Einen direkten Draht zur Regierang, zum Militär, sogar zum russischen Geheimdienst einer Rose mit anderem Namen; KGB. Und da gibt’s ein Gerücht, daß er auf einem Panzerzug wohnt.« »Einem Panzerzug? So einem, wie ihn die Revolutionsführer benutzt haben?« »Mit der Revolution kenne ich mich nicht aus, aber das ist jedenfalls die Story.« »Wo, zum Teufel, kriegt er einen Panzerzug her?« »Ganz einfach. Man bekommt hier so ziemlich alles, wenn man es sich leisten kann. Da Sie nun schon mal Jack Wades bescheidene Rundfahrt durch St. Petersburg mitmachen, lassen Sie mich Ihnen ein paar Dinge zeigen, bevor Sie sich in Ihrem luxuriösen EinundfünfzigSterne-Hotel einquartieren.« Wade fuhr den Newskij-Prospekt entlang, über eine der vielen Brücken zu der passend benannten ›Über-die-Newa-Avenue‹. Von dort fuhr er in die Außenbezirke St. Petersburgs. »Sehen Sie dort den verfallenen Häuserhaufen?« Wade zeigte mit der Hand auf einen Block langgestreckter Gebäude. »Das war eine der größten Kasernen der Stadt. Sie wurde geräumt, als die Sowjets noch an der Macht waren, und ist in die Brüche gegangen, seit die Kommunisten weg vom Fenster sind, weil kein Geld da ist. Als dann die Jungs aus Afghanistan zurückkamen, wußten sie nicht, wohin mit ihnen. Keine Kaserne, nicht genügend Wohnraum. Man bedenke: Veteranen, aus dem vaterländischen Krieg heimgekehrt! Hier könnten sie ein ganzes Regiment unterbringen. Aber sie lassen alles verrotten.« Später erzählte er Bond, daß die Eremitage, das weltberühmte Museum im Winterpalast, schwere Probleme mit der zunehmenden Feuchtigkeit habe, welche die Gemälde zu zerstören drohe. 75
»Außerdem haben sie die Deutschen und Franzosen am Hals, die ihre Bilder zurückhaben wollen.« Bond nickte. »Und das meiste von dem Kram hat Deutschland nicht einmal gehört. Wurde von den Nazis in ganz Europa geplündert und anschließend von der Roten Armee erbeutet, als die in Berlin einzog.« Endlich, schon jenseits der Stadtgrenze, hielt Wade sein altertümliches Gefährt an und führte Bond einen hohen Eisenbahndamm hinauf, der einen guten Blick auf einen gigantischen Abstellbahnhof gewährte. Die Gebäude, die Rampen und Plattformen waren praktisch abbruchreif, aber die eigentlichen Bahngeleise schienen sauber und frei von Unrat zu sein. »Ein Militärdepot«, erklärte Wade. »Das war der Petersburger ICBM-Rangierbahnhof. Der Platz, wo sie ihre interkontinentalen Atomraketen verladen haben, die uns Amerikanern soviel Kummer bereiteten. Sie haben sie in Eisenbahnzügen im ganzen Land herumgefahren, so daß sie nie zweimal am selben Ort waren. Natürlich transportierten sie die Dinger von hier aus auch in feste Silos.« »Hat Janus seinen Panzerzug von hier?« Bonds Stimme klang ernst. »Möglich. Hier gibt’s einen Haufen alte Gefährte. Die meisten der Raketentransportzüge waren schwer bewaffnet. Es gab auch bewehrte Waggons für wichtige Militärpersonen und Politiker, damit die in ihrem sprichwörtlichen Mangel an Luxus reisen konnten.« Während sie zur Stadt zurückfuhren, sagte Wade mit breitem Grinsen: »Will Ihnen mal was zeigen, Jimb… ich meine, James. Einen kleinen Platz, den sie ›Statuen-Park‹ nennen.« Ebenso wie der Rangierbahnhof befand sich das Gelände, das augenscheinlich nur dem Namen nach ein Park war, im Außenbezirk der Stadt. Nun gut, da gab’s ein paar Bäume, und ehedem war das Ganze vielleicht auch mal ein kleiner Park gewesen, denn es standen dort auch ein paar Bänke herum, aber es gab keine Wege, die zu den Bänken führten. Zuerst dachte Bond, das könnte eine Freiluft-Ausstellung moderner Skulpturen sein, aber als sie aus dem Wagen stiegen, sah er, daß die Skulpturen keineswegs modern waren und überdies unvollendet zu sein schienen. Zwischen den Bäumen und auf den offenen Flächen verstreut, sah er 76
Statue neben Statue, Denkmal neben Denkmal, kaputt, zerbrochen, vom Sockel gerissen, vom ursprünglichen Standort fortgeschleppt, hierher gekarrt und weggeschmissen wie Unrat auf einer Müllhalde. Es waren Standbilder von Leuten wie Marx und Lenin – es gab einen Haufen Lenine – und große metallene oder steinerne Hammer-undSichel-Embleme, alle in unterschiedlichen Größen von monumental bis mittelgroß. Bond sagte sich, daß jeder verbliebene kommunistische Aktivist sich aus dieser Fundgrabe das Passende heraussuchen konnte, vom winzigen bis zum übergroßen Lenin. Auf eine bronzene Leninstatue hatte jemand mit roter Farbe auf russisch eine Aufforderung gesprayt, der Wladimir Iljitsch Lenin auch zu Lebzeiten schon aus anatomischen Gründen nicht hätte nachkommen können. »Sie sehen, James« – Wade feixte -, »als Jelzin die kommunistische Partei geächtet hat, konnten die Leute nicht losgehen und die Parteigrößen erschießen oder verprügeln. Sie taten also das Nächstliegende und stürzten all die Wahrzeichen des Kommunismus um. Lenin, Marx, sogar den schaurigen Stalin, der schon lange vorher hätte beseitigt sein sollen. Statuen aus Stein oder Metall. Das Volk rannte los, warf, kippte und schmiß sie um, benutzte Bulldozer, Traktoren oder Abschleppwagen. Es war ein fürchterliches Durcheinander. Dann begann die Stadtverwaltung, den Kram wegzuräumen. Sie deponierte ihn in diesem miesen Park nahe der städtischen Müllhalde. Die Bäume hier sind dazu da, eventuelle Besucher von dem stinkenden Horror der städtischen Halde Numero vier abzuschirmen. Nun braucht niemand zu befürchten, daß irgendwer durch den Anblick dieses Plunders belästigt wird.« »Mich würde er bestimmt nicht belästigen.« Wade grinste wieder. »Wissen Sie, was komisch ist, James, wirklich komisch? Da gibt’s Menschen in dieser Stadt, die glauben, daß die neue Regierang zum Himmel stinkt. Diese Leute wollen nicht an dem Park vorübergehen, weil hier ein paar alte Standbilder von Stalin auf der Erde liegen – und das, obwohl er nach seinem Tod verurteilt wurde. Ich habe gehört, wie Leute über Boris Jelzins Regime sagten, unter Stalin sei alles besser gewesen.« Bond zuckte die Achseln. »Ich habe Leute in England sagen gehört, im Zweiten Weltkrieg seien sie zufriedener gewesen als unter unserer 77
inkompetenten Regierung. Sie sagen: ›Im Krieg wußten wir wenigstens, wo wir standen.‹ Ich weiß, was sie meinen.« »Ein komisches Leben ist das, James. Verdammt komisch.« Wade wedelte mit der Hand einen Schwärm Fliegen fort. Zurück im Auto, auf dem Weg zum Hotel, brachte Bond noch einmal das Thema auf Janus. »Sie möchten hören, was ich sonst noch über ihn weiß?« »Sie sagten ›zero‹« »Sicher. Nun ja, die Wahrheit ist, daß Sie den Burschen nicht finden werden. Er findet Sie, Ich kann in dieser Sache nur eines tun: Sie auf die Fährte seines Hauptkonkurrenten setzen. Heute arbeiten die ja alle nach dem Wahlspruch: ›Halte deine Freunde bei guter Laune und deine Feinde noch mehr.‹ Hier ist der alte Mafia-Stil ausgebrochen. Manchmal denke ich, die haben alle Marion Brando in seiner Rolle als ›Pate‹ gesehen.« »Okay. Wer ist Janus’ Hauptkonkurrent?« »Ein richtiger alter KGB-Bursche. Hat einen Hinkefuß. Rechtes Bein. Der Name ist Zukowskij.« »Valentin Dimitrijwitsch Zukowskij?« »Sie kennen den Kerl?« »Ich habe ihm den Hinkefuß verpaßt.« Natalja ging in den ersten Devisen-Shop, den sie finden konnte, ein Geschäft, in dem man gegen harte Währung fast alles bekam. Ich muß herausfinden, dachte sie, ob ihre Killer mir schon auf den Fersen sind – oder ob nur Militär, Polizei und Geheimdienst nach mir suchen. Nachdem sie in St. Petersburg angekommen war, hatte sie die öffentlichen Waschräume im Bahnhof aufgesucht. Die Seife, die sie dort bekommen hatte, war weniger schlecht als befürchtet – wahrscheinlich, weil sie der Toilettenfrau einen kostbaren grünen Dollarschein Trinkgeld gegeben hatte. Erfrischt und mit gewaschenem Haar, hatte sie in einer Cafeteria in der Nähe des Bahnhofs eine Kleinigkeit gegessen. Der Kaffee hatte starke Ähnlichkeit mit Spülwasser, war aber wenigstens wann, und das Schwarzbrot mit Ziegenkäse schmeckte einigermaßen. Nach der dürftigen Mahlzeit war sie sofort zu dem Devisen-Shop gegangen. Sie brauchte einen guten, dicken Rock, neue Strümpfe und Unterwäsche, 78
zwei Jeans, ein paar warme Hemden, Toilettenartikel, einen Alukoffer und eine große lederne Umhängetasche. Natalja hatte keine Ahnung, wo sie die Nacht verbringen würde – aber das konnte warten. Sie hatte überlegt, ob sie mit einem Zug nach Nowgorod fahren und dort die Lokalbahn zum Ilmensee nehmen sollte, wo ihre Eltern wohnten. Aber ihr war bewußt, daß sie durch ihren Besuch auch Vater und Mutter gefährden würde, denn wer auch immer nach ihr suchte, würde als erstes einen Trapp Spürhunde auf ihr Elternhaus ansetzen. Also sollte sie sich besser vom Ilmensee fernhalten und die Sicherheit der Familie nicht aufs Spiel setzen. In dem überfüllten Umkleideraum für Kundinnen zog sie ihre neuen Kleider an. Ihr Pelzmantel, der Hut, Handschuhe und Lederstiefel waren noch akzeptabel; die restlichen Kleider, einschließlich derer, die sie getragen hatte, wanderten in den Abfalleimer. Sorgfältig überprüfte sie ihre Papiere und verstaute sie mit anderem notwendigen Kleinkram in der Schultertasche. Während sie die Papiere durchsah, fand sie darunter auch ein sehr offiziell aussehendes Bestätigungsschreiben, das man ihr vor einem Jahr gegeben hatte, als ihr der Spezialauftrag erteilt worden war, Computerhardware zu besorgen. Sie hatte an dieses Dokument überhaupt nicht mehr gedacht, doch jetzt konnte es ihr sehr nützlich werden. Sie band ihr Haar zu einem strengen Knoten zurück und musterte ihre Erscheinung. Wird schon gehen, dachte sie, als sie vor dem einzigen Spiegel des Ankleideraums von zwei anderen Frauen angerempelt wurde. Diese beiden Damen waren harmlos - fette Beamtenfrauen auf Shoppingtour. Sie hatten Natalja so unverfroren angestarrt, daß sie unmöglich von der Sicherheit sein konnten. Auch den neidischen Blick der einen Frau – der dickeren der beiden -, als sie halbnackt dastand und ihre schlanke, feste Figur zu sehen war, hatte Natalja bemerkt. Wieder auf der Straße, lief sie in der Gostinij Dwor Arcade, den ›Kaufmanns-Arkaden‹, St Petersburgs großem Einkaufsviertel, von Schaufenster zu Schaufenster, bis sie ein Geschäft fand, in dem Computer verkauft wurden. Die Auslage war nicht gerade verheißungsvoll: antiquierte IBMs und Apple-Macs mit winzigen Festplatten, veralteten Chips und minimalen Arbeitsspeichern. Natalja holte tief Luft und betrat das Geschäft. 79
Im Augenwinkel sah sie den Geschäftsführer, der sie mit kundigem Blick musterte und nicht unbedingt als dollarstarke Kundin einzuschätzen schien. Er blieb im Hintergrund, während sie die primitiven Geräte ansah, und erst als sie sich anschickte, den Laden wieder zu verlassen, trat er einen Schritt vor. »Ja, bitte?« sagte er in einem Ton, den er gewöhnlich für Domestiken reservierte. Sie rümpfte die Nase, als wolle sie andeuten, daß sowohl der Manager selbst als auch die ausgestellte Ware nach verfaultem Fisch stanken, »Ist das alles, was Sie haben?« fragte sie. Der Geschäftsführer zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Was wollen Sie denn noch?« Sie vergrub ihre Hand in der großen Ledertasche, holte das respekteinflößende Dokument hervor und begann vorzulesen: »Tja, vierundzwanzig für die amerikanische Schule, elf für die schwedische. Sie müssen IBM-kompatibel sein, mit einer Festplatte von mindestens 500 Megabyte, CD-ROM und 14-4 Modems. Wir brauchen das, damit sie sich der anderen, bereits installierten Hardware anpassen.« Der eben noch so hochnäsige Geschäftsführer legte urplötzlich ein kriecherisches Verhalten an den Tag. »Sie zahlen in harter Währung, oder?« »Was können Sie mir denn noch zeigen?« »Wenn Madame eine Demonstration wünschen…« »Madame wünscht ein Demonstrationsmodell und einen ruhigen Platz, um es zu testen – etwa für eine Stunde.« »Selbstverständlich.« Mit einem Fingerschnippen zitierte er einen jungen Verkäufer herbei. Die beiden führten Natalja in ein Hinterzimmer, wo ein modernes 486er Gerät aufgebaut war. »Bitte sehr, Madame.« Sie nickte. »Lassen Sie mich bitte allein. Ich muß mich konzentrieren. Der Auftrag hängt von meinem Gutachten ab, und ich brauche Ruhe«, sagte sie, während sie den Computer bereits startete. Kaum waren die beiden draußen, flogen ihre Finger über die Tasten. Sie hatte schnell ein Programm erstellt und tippte emsig: ›AN madvlad @.mosu.comp.math edu – WICHTIG NATALYA KONTAKT @ 3422-589836.‹ Dann wartete sie. Wenn Boris lebend aus dem Desaster herausgekommen war, hatte er sich sehr wahrscheinlich bereits Zugang zu 80
einem Computer verschafft. Und wenn er den hatte, surfte er sicher längst durch die Datennetze. Nichts! Die Minuten tickten dahin, und mit ihnen schwand Nataljas Optimismus. Doch dann gab ihr Computer einen Piepton von sich, und da war er, auf dem Bildschirm – oder wenigstens eine wüste Grafik-Karikatur von ihm. Dann verschwand das Bild, und eine Schrift erschien: DACHTE, DU BIST TOT. Sie lachte und hätte doch weinen mögen vor Glück, während sie antwortete: OURUMOW HAT ALLE GETÖTET, ›PETYA‹ VERNICHTET UND GOLDENEYE GEKLAUT. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Antwort kam: DU BIST IN GEFAHR TRAUE NIEMANDEM. TRIFF MICH MORGEN 18 UHR, KIRCHE DER HEILIGEN JUNGFRAU VON SMOLENSK. Sie mußte also noch einen ganzen Tag lang warten. Vorläufig blieb ihr nichts mehr zu tun, als einen Unterschlupf zu finden, wo sie die Nacht verbringen konnte, ohne daß irgendwelche Bullen sie aus dem Schlaf rissen und in Handschellen abführten. »Hören Sie eigentlich jemals auf zu reden, Jack?« Bond wurde Wades ständiges Geplapper allmählich zuviel. Im Grand Hotel Europa war er gut untergekommen, und das Essen war passabel. Es wurden ihm auch gewisse ›Extras‹ angeboten, die er beharrlich ablehnte. Mehrfach wurde er sogar in seinem Zimmer über das Haustelefon angerufen. »Wünschen Sie eine nette Freundin für die Nacht?« hieß es dann meistens. Bond verneinte sehr höflich, aber schließlich nahm er den Hörer von der Gabel und legte ihn neben das Telefon. Wade hatte ihn Punkt neun mit seinem Moskowitsch abgeholt, und sie waren den Großteil des Vormittags in der Stadt herumgefahren, teilweise durch entlegene Nebenstraßen, deren Kenntnis sich unter Umständen als sehr hilfreich erweisen konnte. »Ob ich jemals aufhöre zu reden, James? Selten. Sie wollten über St. Petersburg Bescheid wissen. Gut, ich kutschiere Sie ein bißchen mm und erkläre Ihnen was. Die Stadt stellt einen guten Querschnitt der Verhältnisse im neuen Rußland dar. Sehen Sie, die Obdachlosen 81
auf den Straßen…« »Na ja, so ungefähr wie bei Ihnen in den Innenstädten.« »Oho! Waren Sie in letzter Zeit mal in London, James?« »Ja. Und in New York, ebenso in Washington DC. Soweit ich weiß, sind die USA in der Obdachlosenstatistik Spitzenreiter.« »Sehen Sie mal ein bißchen genauer hin, mein Freund. Hier in Rußland ist es schlimmer als irgendwo sonst. Auf der einen Seite Hunger und Obdachlosigkeit, auf der anderen ein Zerrbild der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Die teuren Autos, Anzüge, Kleider. Auf dieser Ebene haben die Leute ‘ne Menge gelernt« »Sie haben die Kehrseite des Kapitalismus kennengelernt, zugestanden.« »Genauso wie die Kriminalität, die im Kapitalismus aufblüht. Das ist in den Staaten schon schlimm genug, aber hier ist das Verbrechen ein boomender Konzern. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie ich zur Freizeitgärtnerei gekommen bin?« »Mehrmals, Jack. Wie war’s denn nun, wenn Sie mir zeigen, was ich eigentlich sehen wollte?« »Kein Problem, James.« Er bog in eine Seitenstraße ein, die im Dunkeln allein zu betreten selbst Bond gezögert hätte. »Reizend!« Er sah in trostlose Gesichter und hungrige Augen, die sie aus Haustüren und Fenstern anstarrten. Am Ende der Straße drängten sich ein paar Huren so dicht an den Wagen heran, daß Wade das Tempo zurücknehmen mußte. Er kurbelte das Fenster herunter und warf ihnen ein rassisches Schimpfwort an den Kopf, worauf die ›Damen‹ sofort zurückwichen. »Ich kenne die Vokabel«, sagte Bond lächelnd. »Aber ich habe noch nie gehört, daß sie jemand ausspricht.« »Manchmal geht’s nicht anders, James. Nun passen Sie auf, wir kommen in eine interessante Ecke. Wenn wir rechts einbiegen, achten Sie auf die Häuser auf der linken Seite.« Bond lehnte sich zurück und schaute hinaus. Sein Blick schweifte über einen jämmerlich aussehenden Laden und blieb auf dem Firme nschild haften. Laut las er vor: »Kirows Beerdigungsinstitut. Nehme an, Sie wollen mir jetzt sagen, das ist das Totenzentrum von St. Petersburg?« »Sehr komisch, James. Das ist die Hütte, von der ich Ihnen erzahlt 82
habe. Heute nachmittag um vier kommt der Leichenwagen und fährt durch das große Holztor neben dem Laden in den Hinterhof. Die erledigen ihr Geschäft, und zehn Minuten später kommt der Totenwagen wieder heraus. Ich rühre mich, wenn ich bis drei Uhr nichts von Ihnen höre, okay?« »Macht Sinn. Eine gute Rückversicherung ist was wert.« »Klar doch! Halten Sie sich fest, wir nehmen die nächste Kurve links, und dann werden Ihre Augen überquellen.« Das verbeulte alte Auto bog schwungvoll in eine breite Gasse ein, und der bizarre Anblick verschlug Bond fast den Atem. Mehrere teure Wagen waren am Straßenrand geparkt. Einige wohlgenährte, wohlgekleidete, aalglatt wirkende Russen lehnten an den Autos. Ein paar weniger anspruchsvolle Typen lehnten an den Häuserwänden und boten Waren feil, die sie vor sich auf dem Boden ausgebreitet hatten. Im Kofferraum jedes Autos, auf den Ladeflächen aller Lieferwagen und entlang des Bürgersteigs waren Waffen gestapelt: AK-40-Sturmgewehre r Granatwerfer, Pistolen, Revolver, Uziund H&K-Maschinenpistolen sowie Munitionskisten. Wade brummte, dann nahm er wieder die Attitüde des Fremdenführers ein: »Willkommen im Einkaufszentrum des Todes! Der Wilde Osten. Für Rußland ist das die große Stunde des Kapitalismus. Ein Artikel verstümmelt so zuverlässig wie der andere, vergnügtes Töten für jedermann. Eine Art Ost-Los Angeles, richtig?« »Glücklicherweise kann ich sagen, daß ich noch nie dort war.« »Gut für Sie, James. Halten Sie sich fest. Hinter diesem netten kleinen Marktplatz machen wir kehrt. Zukowskij hat hier ein Nest, am Ende der Straße.« Er deutete auf eine Tür, die offenbar der Eingang eines Nachtclubs war. »Um zehn Uhr abends ist die Bude brechend voll, aber Ihr alter Freund erledigt seine Geschäfte tagsüber.« Er kur vte nach rechts in die Gasse, die verlassen zu sein schien. »Der beste Weg, um hineinzukommen, ist eine der Türen auf dieser Seite. Und dann gehen Sie einfach dem Geruch nach. Sie werden ihn schnell genug finden.« Er fuhr über den Bordstein, und Bond war draußen und im Schatten einer Toreinfahrt, ehe Wade den Gang wieder eingelegt hatte. Die Hauswand und die Türen machten den Eindruck eines verlasse83
nen Lagerhauses, aber er hatte schon viele Bauten wie diese gesehen; falsche Fassaden, die das eigentliche Gebäude tarnten. Bond griff zu seiner Brieftasche, öffnete ein Geheimfach, indem er auf eine der metallenen Schutzecken drückte, und förderte einen kompletten Satz Dietriche zutage. Er fragte sich, ob Valentin Zukowskij immer noch soviel Wind um Schlösser machte wie in der bösen, alten Zeit, in der er für den KGB gearbeitet hatte. Damals hatte er eine Manie für bruchsichere Schlösser und ausgeklügelte elektronische Alarmsysteme. Es schien, als habe sein alter Widersacher seine Gerissenheit eingebüßt. In weniger als drei Minuten hatte Bond die Tür geöffnet und schlich bereits die Treppe hinauf. Von oben hörte er eine Frauenstimme, die ein Lied sang. Es klang nervtötend falsch. Valentin Zukowskij war groß, lang, breitschultrig und von elefantösem Umfang. Er hatte ein so ausgeprägtes Mondgesicht – einschließlich all der Krater und Pockennarben, die dazugehören -, daß viele Leute hätten schwören können, er sei irgendwie mit dem Mond verwandt. Sein Club, der schlicht ›Valentin’s‹ genannt wurde, war altmodischluxuriös eingerichtet mit viel rotem Plüsch und Goldfransen. Im Moment saßen ein paar Leute im Clubraum hemm, beschäftigt mit Geschäften dieser oder jener Art. Betrachtete man den Typ der Leute, die sich betont leise miteinander unterhielten,, so konnte man leicht folgern, daß sich diese Geschäfte – so sie nicht eindeutig kriminell waren – zumindest am Rande des Gesetzesbruches bewegten. Zukowskij trag einen ungebügelten, zerknitterten weißen Anzug, der ihm eine Nummer zu groß schien – bis er aufstand und sein voluminöser Bauchumfang zutage trat. Ein halbes Dutzend spärlich bekleideter junger Damen betreuten die Gaste, wobei sie auch freundlichst auf die Rückseite der Speisekarte hinwiesen. Dort war notiert, welche Spezialdienstleistungen den Gästen erwiesen werden konnten. Die harmloseste war eine normale Massage. Am Ende des Raumes, auf einem erhöhten Podium, produzierte sich eine andere junge Frau, sehr attraktiv, in einem roten Pailettenkleid, Mit schlangenhaften Bewegungen bewegte sie sich über die Bühne 84
und rang mit dem Song ›Raining in Baltimore‹, jedoch erfolglos. Offenbar bereitete ihr nicht nur die Melodie Probleme; sie schien auch den Text nicht zu verstehen. Zukowskij hatte die letzte Stunde mit einem ölig aussehenden, frettchenhaften Pakistani zugebracht, einem Waffenhändler von zweifelhafter Herkunft. Sie waren nicht handelseinig geworden, und der Pakistani wollte sich soeben verabschieden, als Zukowskijs Aufmerksamkeit von einem kleinen Monitor gefesselt wurde, der die Größe einer Spielkarte hatte und direkt vor Zukowskij in die Tischplatte eingelassen war. Der Monitor piepte diskret dann erschien das Bild. Zukowskij stutzte, als er sah, wie jemand mit einem Dietrich eine Seitentür des Hauses öffnete. Lächelnd beobachtete er, wie die Kamera den Eindringling verfolgte. Während dieser die Treppe hinauf schlich, wurde Zukowskij s Lächeln nahezu gütig. Träge winkte er einen Mann, der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit direkt von einem Gorillapaar abstammte, an seinen Tisch und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann stand er auf und hinkte auf die rote Samtportiere neben der Sängerin zu, die gerade ihre erbitterte Schlacht mit dem Song verlor. Er ging durch den Vorhang hindurch und zeigte sich keineswegs erstaunt, als er die kalte Mündung einer Pistole im Nacken spürte, direkt hinter seinem Ohr. »Ah«, hauchte er mit einer Art von Glücksgefühl. »Ich kenne nur drei Männer, die diese besondere Art von Schußwaffe benutzt haben. Zwei davon habe ich persönlich erschossen.« »Da habe ich wohl noch mal Glück gehabt, Valentin«, flüsterte James Bond. Den dritten Mann bemerkte Bond erst, als es zu spät war. Ein To tschläger landete unsanft auf seinem Hinterkopf und stürzte ihn in den schwarzen Abgrund einer Ohnmacht. »Nein, kein Glück gehabt, Mr. Bond«, schnurrte Zukowskij.
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10. MACHENSCHAFTEN So langsam und mühevoll, als bahne er sich einen Weg durch Sumpf und Morast, kam Bond wieder zu Bewußtsein. Er hörte, daß in seiner Nähe gesprochen wurde, und lange bevor er die ersten Lebenszeichen von sich gab, war ihm klar, was passiert war. Das war einer der Tricks, die er im Laufe der Jahre gelernt hatte: Wenn du dein Bewußtsein wiedererlangst und dein Gegner noch in der Nähe ist, halte dich erst mal zurück. Überprüfe die Situation, bevor du irgendwas unternimmst. Er hörte, wie Zukowskij Anweisungen gab, und schloß daraus, daß mindestens vier Personen im Raum sein mußten. Von weitem hörte er, wie die Sängerin versuchte, ›Memories‹ zu intonieren. In diesem Moment erst rührte er sich, schüttelte heftig seinen Kopf und schaute sich um. Seine Bewegungsfreiheit war weder durch Fe sseln noch durch andere Maßnahmen eingeschränkt. Er saß in einem weichen Armsessel, der schon mal bessere Tage erlebt hatte. Valentin Zukowskij schob einen Stuhl direkt vor Bond. Tatsächlich waren noch drei seiner Männer im Raum, während draußen im Club das rotgekleidete Mädchen sich anschickte, Lloyd-Webber hinzurichten. Valentins Gesicht zerfloß zu einem breiten und glücklichen Grinsen. »So, da sind wir also, der große Mr. James Bond, der schneidige, überschlaue Geheimagent. Ich könnte jetzt melodramatisch werden und sagen: ›So treffen wir uns wieder‹.« Er kicherte, und seine Leute folgten geflissentlich seinem Beispiel. Im Hintergrund girrte die Sängerin, auf der Jagd nach einem unerreichbar hohen Ton. »Wer würgt da die Katze?« fragte Bond. Zukowskijs spontane Antwort bestand darin, daß er seine Pistole zog und einen Schuß zwischen Bonds Beine feuerte. Das Lederpolster wurde zerfetzt, schmutzig-weißer Kapok wirbelte durch die Luft, während sich Bond tiefer in den Sessel drückte. »Das ist meine Liebste, Irena.« Zukowskij hielt die Pistole schußbereit in der Hand, um jederzeit noch einmal feuern zu können, diesmal 86
aber ein bißchen höher. »Ein sehr talentiertes Mädchen, Ihre Irena«, sagte Bond und lächelte unschuldig. Zukowskij schien seinen Groll herunterzuschlucken. Er nickte Bond zu, hob seine Stimme und schrie: »Irena, zieh Leine!« Das Trällern erstarb. Statt dessen war eine Reihe von russischen Obszönitäten zu hören, vermischt mit dem Klappern von Irenas hochhackigen Schuhen. Zukowskij zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Bond zu. »Nun, Mr. Bond, was führt Sie denn in meine Gegend? Arbeiten Sie immer noch für den Secret Intelligence Service? Oder haben Sie beschlossen, sich dem 21. Jahrhundert zuzuwenden?« Sein Mondgesicht nahm einen fast freundlichen Ausdruck an. »Wie ich hörte, ist Ihr neuer Boß ein Mädchen. Sie hat Sie zu mir geschickt, oder?« »Nein. Ich bin hier, weil ich Sie um eine Gefälligkeit bitten möchte.« Zukowskij gab ein glucksendes Lachen von sich und sagte zu seinen Bodyguards: »Eine Gefälligkeit! Er möchte, daß ich ihm eine Gefälligkeit erweise.« Sie glucksten alle mit, und Bond sagte sich, daß sie ihre Texte offenbar aus einem alten amerikanischen B-Movie bezogen. »Bond«, sagte Zukowskij, jetzt ohne jede Freundlichkeit, »mein Knie tut mir tagtäglich weh, und bei Kälte besonders. Haben Sie eine Ahnung, wie lange die Winter in diesem Teil der Erde sein können?« Er schnippte einem seiner Schlägertypen zu. »Sag’s ihm, Dimitrij!« Der bullige Leibwächter murmelte etwas vor sich hin. Es war offensichtlich, daß er nicht mit einem hohen IQ gesegnet war. Zukowskij seufzte und brachte den murmelnden Dimitrij mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen. Bond sah seinem alten Widersacher in die Augen. »Wissen Sie, Valentin, für einen alten KGB-Mann überraschen Sie mich manchmal. Jemand von Ihrer Statur müßte doch mitbekommen haben, daß die Herausforderung nicht darin bestand, Ihr Knie zu treffen, sondern darin, den Rest von Ihnen zu verfehlen.« Es vergingen zwanzig Sekunden, bis Zukowskij erwiderte: »Und warum haben Sie mich nicht getötet?« »Nennen Sie es einen professionellen Höflichkeitsdienst.« 87
Der Russe hob seinen Kopf und knurrte: »Dann sollte ich wohl die Höflichkeit erwidern.« Die Pistole schnellte hoch, und er feuerte. Einen Zentimeter neben Bonds Knie schlug die Kugel in den Sessel ein. »Kirows Beerdigungsinstitut, vier Uhr heute nachmittag!« Bond sprach sehr schnell, um einem weiteren Schuß zuvorzukommen. »Tatsächlich?« Zukowskij wuchtete sich von seinem Stuhl hoch. »Ich glaube, das besprechen wir lieber unter vier Augen.« Nach all dem roten Plüsch und Samt in Zukowskijs Club war sein Büro eine echte Überraschung. Ordentliche, moderne Möbel und Aktenschranke, ein Computer auf einem penibel aufgeräumten Schreibtisch und herrlich duftender Kaffee in einer großen Kaffeemaschine. Zukowskij bot James Bond Platz an und füllte zwei Tassen mit Kaffee. »Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, trinken Sie ihn schwarz, ohne Zucker?« »Ihr Gedächtnis ist ausgezeichnet.« »Wie für Sie, James Bond, ist das Erinnerungsvermögen auch für mich eine der wichtigsten Waffen.« Über seinem Schreibtisch hing eine gerahmte Fotografie des KGBHauptquartiers am Dserschinskij-Platz. Bond wies mit einem Kopfnicken auf das Bild. »Sie hängen immer noch an den alten Tagen, Valentin?« »Es ist immer noch die Moskauer Zentrale.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Die Amerikaner haben ein Sprichwort: ›Was geht, das kommt auch wieder‹.« »Wie wahr!« »Ich glaube fest, daß wir alle binnen einer Dekade wieder im alten Geschäft arbeiten werden. Politische Ideologien sterben nicht so einfach, und sie lassen sich auch nicht durch eine bloße Deklaration ausradieren. Also, was ist mit Kirows Beerdigungsinstitut?« »Zweihundert Pfund hochexplosiver C-4-Sprengstoff, versteckt in einem Sarg. Ihr Mann fährt den Leichenwagen hinein, das Geld wechselt den Besitzer, und der andere fährt den Wagen wieder hinaus.« »So?« »Der andere wird verhaftet und der Sprengstoff beschlagnahmt we rden. Mit diesem beruhigenden Wissen kann Ihr Mann verduften, und das mit dem Geld in der Tasche. Und ich verspreche Ihnen, folgendes 88
wird geschehen: Wenn bestimmte Leute bis drei Uhr nichts von mir hören, geht alles den Bach runter: der Sprengstoff, deren Mann, Ihr Mann und die Kasse.« Zukowskijs feister Kopf nickte. »Und was schulde ich Ihnen für diese Information?« »Sehr wenig. Sie sollen mich mit Janus in Verbindung bringen.« Der Russe gab ein kleines Geräusch von sich, halb Grunzen, halb Lachen. »Was hat Janus Ihnen denn getan?« »Er hat einen Hubschrauber geklaut.« »Na und? Ich habe sechs.« »Sie haben drei, Und keiner von denen fliegt.« Zukowskij lachte. »Was soll’s!« »Valentin!« Bond wurde ernst. »Diese Leute sind nicht einfach Kriminelle. Sie sind Verräter. Sie haben den Hubschrauber benutzt, um eine neue nukleare Weltraumwaffe zu stehlen. Dabei haben sie eine ganze Reihe unschuldiger Menschen ums Leben gebracht.« »Was sonst kann man von einem Kosaken erwarten?« »Wen meinen Sie?« »Diesen Janus. Ich bin ihm nie begegnet. Aber ich weiß, was er ist: ein Lienz-Kosake.« »Diese Kosaken, die für Hitler gekämpft haben? In dem Großen Vaterländischen Krieg, wie ihr es genannt habt?« »Und ihr nennt es den Zweiten Weltkrieg? Gut, Sie kennen sich aus in der Geschichte. Als der Krieg vorbei war, haben sich die LienzKosaken in Deutschland den Engländern ergeben. Sie dachten, sie würden von den britischen Streitkräften übernommen, um in einem nächsten Krieg den Kommunismus auszulöschen. Aber die Briten haben sie übers Ohr gehauen. Die Lienz-Kosaken wurden zu Stalin zurückgeschickt, der sie prompt exekutieren ließ, mit ihren Frauen den Kindern, den ganzen Familien.« »Das ist eine ziemlich simple Sicht der Sache, aber im Kern stimme ich Ihnen zu – das war nicht gerade eine der Sternstunden Britanniens.« »Natürlich haben Sie recht. So verkürzt erzählt, klingt die Geschichte simpel. Die waren ein brutales Pack und haben am Ende nur bekommen, was sie verdient haben. Aber die Familien waren unschuldig. Was ist nun mit Janus?« 89
»Ich möchte, daß Sie Kontakt mit ihm aufnehmen. Das müßte Ihnen doch möglich sein. Erzählen Sie ihm von mir und daß ich überall nach dem Hubschrauber herumfrage. Sie können ihm vielleicht auch sagen, daß wir heute abend im Grand Hotel Europa verabredet sind. Das könnte ihn aus der Deckung locken.« »Wir beide sind dann quitt, und er schuldet mir was.« »Genau.« Valentin Zukowskij stand auf und humpelte zur Tür. »Wenn Sie jemals Ihren Job we chseln wollen, lassen Sie es mich wissen.« Schon in der Tür stehend, sagte Bond: »Solange es Leute wie Sie gibt, Valentin, finde ich immer Arbeit« Nataljas Uhr war zerbrochen, als die Nuklearexplosion die Sewernaia-Station gesprengt hatte. Das war ihr erst auf der Zugfahrt nach St. Petersburg aufgefallen, und es hatte sie tief traurig gemacht. Sie hing sehr an dieser Uhr. Ihre Eltern hatten auf vieles verzichtet, um ihr dieses Abschiedsgeschenk kaufen zu können, als sie zur Universität gegangen war. Natürlich hätte sie sich im nächsten Devisen-Shop eine neue Uhr kaufen können, aber sie wollte sich von ihrer alten nicht trennen. Vielleicht würde sie ja einen Uhrmacher finden, der die Uhr reparieren konnte. Vorläufig wollte sie sich an den öffentlichen Uhren orientieren, die kaputte Uhr aber trotzdem weiter tragen, da sich das Armband an ihrem Handgelenk angenehm vertraut anfühlte. Am Abend zuvor hatte sie in einer Nebenstraße ein kleines Hotel gefunden, wo sich niemand für ihren Paß interessierte, solange sie im voraus und in harter Währung bezahlte. Die Tatsache, daß ihr Gehalt in Sewernaja in amerikanischen Dollars bezahlt worden war – ein großer Ansporn, über den genauen Charakter dieser Arbeit zu schwe igen -, war für sie zu einem der wichtigsten Überlebensfaktoren geworden. Und sie dankte Gott dafür. Sie hatte lange geschlafen, ihr Hotelzimmer geräumt und war dann spazierengegangen, hatte sich Straßen und Plätze angeschaut, um die Zeit bis zum Abend herumzubringen. Als erstes war sie zur Kirche der Heiligen Jungfrau von Smolensk gegangen, einer kleinen, blau angestrichenen orthodoxen Kirche in der Nähe des Smolnij-Institutes. Wie sie dort bemerkte, hatte sie begonnen, wie ein Verbrecher oder wenigstens wie ein Flüchtling zu denken. Automatisch hatte sie die Ein- und 90
Ausgänge sowie die angrenzenden Straßen und Gassen überprüft. Ungefähr um zehn vor sechs Uhr abends kehrte sie zur Kirche zurück. Wie schon am Vormittag betrachtete sie die Außenfassade und ging noch mal um die Kirche herum, ehe sie eintrat. Die Kirche war ein kleines Juwel, mit atemberaubenden Ikonen und einer Atmosphäre, die sie emotional aufwühlte. Sie wußte nicht, ob sie an Gott glaubte oder all die anderen orthodoxen Überzeugungen teilte. Nun aber, da sie die Kirche betreten hatte und der Geruch von Weihrauch ihr in die Nase stieg, hatte sie das Bedürfnis zu beten. Sie ging langsam durch das Mittelschiff, auf die Ikone der Heiligen Jungfrau von Smolensk zu. Sie warf eine Münze in die kleine Büchse und entzündete eine Votivkerze. Dann kniete sie nieder zum Gebet. Sie betete für ihre Eltern, für die Seelen all ihrer Freunde, die in der Sewernaja-Station umgekommen waren. Dann betete sie für sich selbst, betete um Rettung aus der Gefahr, in der sie schwebte. Ni emand hatte sie das Beten gelehrt, aber es ging alles wie von selbst, als spräche sie zu einem guten Freund. Schließlich fügte sie hinzu, daß Gottes Wille geschehen möge. Dann, plötzlich, wurde ihr bewußt, daß sie sich schon zehn bis fünfzehn Minuten in der Kirche befand. Sie wurde unruhig. Von Boris war nichts zu sehen. Panik ergriff sie. War Boris geschnappt worden? Hatte man sie in eine Falle gelockt? Ihre panische Angst wurde stärker, während sie durch das Mittelschiff zum Westeingang zurückging. Auf halbem Wege blieb sie stehen und drehte sich ruckartig um. War da nicht ein Geräusch? Leise Schritte hinter ihr? Sie sah, wie die Flammen der Votivkerzen vor der Ikone flackerten, als sei jemand hastig vorbeigegangen. Von erneut aufkommender Angst getrieben, begann sie zu rennen, das Mittelschiff entlang zum Ausgang – direkt in die Arme eines Mannes, der soeben die Kirche betrat. »Natalja!« sagte Boris. »Boris!« Ihr Herz pochte. »Boris, was ist…« Er legte einen Finger auf seine Lippen. »Schnell, komm mit. Wir haben nicht viel Zeit,« Er ergriff ihre Hand. Einen Moment noch blieb sie stehen, hielt ihn zurück, ging dann aber doch mit ihm. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und führte sie zu einem Vorhang neben der Ikone der Heili91
gen Jungfrau von Smolensk. Noch immer hielt er sie umfaßt, als sie gemeinsam durch den Vorhang traten. Dann blieben sie stehen. Für einen Sekundenbruchteil konnte sie es nicht glauben. Sie sah Boris an, dann die Frau, Xenia Onatopp, die hinter dem Vorhang stand – wie ein schrecklicher Vorbote des Todes. Natalja versuchte sich loszureißen, doch dann fühlte sie, wie die Nadel durch ihre Kleidung hindurch in ihre rechte Schulter stach. Sie sah, wie sich alles um sie hemm zu drehen anfing, und noch einmal blickte sie in das gräßliche Gesicht von Xenia, deren Mund weit geöffnet war, als ob sie Natalja verschlingen wolle. Dann wurde es dunkel. Boris grinste Xenia an. »Dumme kleine Gans«, sagte er. »Bringen wir sie in den Wagen. Ich habe noch eine andere Verabredung«, sagte Xenia mit unverhohlener Vorfreude. Im Basement des Grand Hotels Europa befindet sich ein großes, komfortables Bad, das sehr den türkischen Bädern in London und New York ähnelt – mit dem Unterschied allerdings, daß die Innenarchitekten auf die Tradition des eigenen Landes zurückgegriffen und sehr viel mehr Stilelemente des alten Zarenreiches als der türkischen Baukunst verwendet haben. Große Kronleuchter unter der Decke, kleinere in den Wandelgängen, Marmorsäulen, rote Plüschsessel und Drapierungen – und ein ungewöhnlich starker Chlorgeruch. In den Abendstunden fanden sich hier viele Geschäftsleute ein, um in dem luxuriösen Hallenbad zu schwimmen oder sich nebenan im Dampfbad zu entspannen. Trotz des Chlorgeruchs war es ein hervo rragender Platz, um Ruhe und Erholung nach des Tages Arbeit zu finden. Bond war froh, daß er schon vor allen anderen hierhergekommen war. Er zog es vor, für sich allein zu schwimmen und im Dampfbad zu schwitzen. Deswegen hatte er auch, als er eintraf, das Schild ›GESCHLOSSEN WEGEN REINIGUNGSARBEITEN‹ an das Hauptportal gehängt. Es gab noch einen anderen Grund, warum er allein sein wollte. Er hoffte sehr, daß Janus den ausgeworfenen Köder schlucken würde. Aus diesem Grund hatte er schon die Umkleideräume überprüft und, 92
durch Schwaden von heißem Dunst tappend, die Dampfkabinen inspiziert, besonders die große mit der herrlichen Kachelung. Während er nun die Wellen des Swimmingpools durchmaß, wanderten seine Gedanken noch einmal zu den Ereignissen des Tages zurück, seiner Wiederbegegnung mit Zukowskij und dem Telefongespräch mit Jack Wade, Er hatte den Amerikaner, wie vereinbart, vor drei Uhr angerufen, so daß Zukowskij ungestört seinen Handel abschließen konnte. Der Plastiksprengstoff war in den Händen der Behörde, und Valentin harte das Geld eingesteckt. Im Gegenzug war es ziemlich sicher, daß Janus jetzt informiert worden war und ihn, Bond, als angekettetes Opferlamm im Grand Hotel vermutete. Bond schwamm flott und zügig seine Bahnen. Er fühlte sich gut. Er fühlte sich noch besser, als er am Ende des Beckens auftauchte und vor sich die beiden gewaltigen Marmorsäulen sah, die den Eingang zum Dampfbad begrenzten, Dampfwolken wehten und waberten hin und her, als ob dort ein Geist hindurchgegangen wäre. Irgend jemand, dachte er, hat den Köder geschluckt und lauert nun dort inmitten des Dampfes. Zeit für mich, die Poren zu weiten und in eben diesen Dampf hineinzumarschieren. Er stieg aus dem Wasser, schüttelte sich, griff zu dem Handtuch, das am Ende der Bahn bereitlag, trocknete sich die Haare ab und ging durch den Torbogen, hinein in die wallende Dampfwolke. In einer Nische hatte er hier seinen Bademantel abgelegt. Jetzt konnte er sich nur noch auf seinen Instinkt verlassen. Auf Instinkt, Gefühl, Intuition. Da war doch jemand! Ganz nah. Und er lauerte in böser Absicht, Bond spürte seine Gegenwart, obwohl er ihn nicht sehen konnte. Jetzt tauchte links vor ihm eine große Säule aus dem Dunst auf, an der er vorbei mußte, um zu seinem Bademantel zu gelangen. Er wich nach rechts aus, ging an der Säule vorbei, dabei angestrengt nach links spähend, obwohl das, was er zu sehen glaubte, genausogut eine dichte Dampfwolke sein konnte. Im Laufe der Jahre hatte er hundertfach in Lebensgefahr geschwebt, war unzählige Male im Visier eines Feindes gewesen und hatte seinerseits Dutzende von Malen einen Gegner gejagt. Nun wandte er sich nach links und machte zugleich einen Sprang vorwärts. Er duckte sich sofort, für den Fall, daß sein Gegner ein Messer hatte – die ideale 93
Waffe für eine Situation wie diese. Seine Hand schnellte nach vorn, seine Finger berührten Fleisch. Er griff zu, umklammerte fest ein Handgelenk, sprang vorwärts und zerrte die Gestalt – wen immer er da erwischt hatte – in die verhältnismäßig klare Luft der Nische, in der sein Bademantel lag. Vor ihm stand Xenia Onatopp, die mit der freien Hand ein Badetuch vor sich hielt. Ein Ruck an ihrem Handgelenk; sie verlor die Balance und stürzte zu Boden. Rasch griff Bond nach der Pistole, die unter seinem Bademantel auf der schmalen Umkleidebank lag. Als er sich zu Xenia umdrehte, war sie schon wieder auf den Beinen. Sie lächelte ihm zu und ließ langsam das Badetuch fallen. Obwohl er ernste Gefahr witterte, wischte sich Bond den Schweiß aus den Augen. Die nackte Xenia war die fleischgewordene Erfüllung aller männlichen Wunschträume. »Sie brauchen keine Pistole, Commander.« Ihre Stimme klang kehlig und fast flehend. »Kommt ganz darauf an, wie Sie Safer Sex definieren Miss Onatopp.« Sie ging auf ihn zu. Zwei Schritte. »Das ist nahe genug.« »Nicht für das, was ich im Sinn habe.« Sie ging weiter, hob ihre Hand, um seinen Kopf zu streicheln. Eine Sekunde später küßte sie ihn mit solcher Inbrunst, als müsse sie einen verzehrenden Durst löschen. Er war außerstande, sich ihrer aggressiven Leidenschaft zu widersetzen. Langsam schob er sie etwas zurück, ging in die Knie und legte die Pistole auf die Bank zurück, ehe er sie in eine enge Umarmung zog. Während sie einander leidenschaftlich küßten, biß sie ihn auf einmal kräftig in die Lippe. Er versuchte, sich von ihr zu lösen und nach der Pistole zu greifen, doch sie trat ihm in die Kniekehlen, und er verlor den Halt und ging zu Boden. Diesmal warf sie sich wie eine Löwin auf ihn, zerrte an seiner Badehose, zog sie ihm vom Leib, setzte sich mit gespreizten Beinen über ihn und flüsterte: »James, willst du mir weh tun? O bitte, tu mir weh, wenn du willst.« Er kämpfte mit sich, aber sein Geist kam mit seinem Körper nicht 94
überein. Für – wie es ihm vorkam – lange Augenblicke verstrickten sie sich in eine Art erotischen Ringkampf, zwei nackte, nasse Körper, keuchend, ächzend, von ihren Instinkten geleitet wie Tiere. Schließlich lag er über ihr und drang langsam in sie ein, während sie ihm zustöhnte: »Tu mir weh, James, verletz mich, stoß zu!« Irgendwie kam ihm Shakespeares Definition in den Sinn: ›Das Tier mit den zwei Rücken machen‹. Sehr passend. Dann aber meldete sich die kleine Alarmklingel in seinem Hinterkopf. Er spürte, daß sie nicht allein waren. In diesem Moment glitten Xenias Beine um seinen Oberkörper und drückten ihm den Brustkasten zusammen. Er erinnerte sich an den zermalmten Körper des Admiral Farrel, irgendwann vor tausend Jahren in Monte Carlo. Während er sich hochstemmte, um die Klammer ihrer Beine zu sprengen, drehte er ein wenig seinen Kopf zur Seite, und sein Blick fiel auf seine Armbanduhr. Da bemerkte er im spiegelnden Uhrglas einen Schatten, der aus den Dampfschwaden trat. Xenia Onatopp verstärkte nun ihren Zangengriff. Ihre Füße hinter seinem Nacken, spannte und entspannte sie abwechselnd ihre Beinmuskeln. »O ja!« keuchte sie. »Ja… ja… ja!« Er schnappte sie, als sich ihre Beine etwas lockerten, um erneut zuzudrücken. Um der mörderischen Umschlingung entgegenzuwirken, setzte er seine eigene Körperkraft ein, schnellte hoch, drehte sich, stemmte seine Füße unter ihren Leib und trat mit aller Kraft zu. Sie wurde hochgeschleudert, flog im Bogen über seinen Kopf hinweg und krachte auf den Boden. Im Flug prallten ihre Fersen genau in den Mund des näher kommenden Mannes, der laut aufschrie, während ihm Blut von den Lippen und aus der Nase spritzte. Bond schleuderte Xenia beiseite und schlug dem Eindringling seine Fäuste ins Gesicht. Der verlor den Boden unter den Füßen und prallte rückwärts mit einem derartigen Getöse gegen die Wand, daß Bond zusammenzuckte. Er wandte sich um. »Nein, nein, nein! Bleiben Sie, wo Sie sind, Xenia!« Er hatte seine Pistole wieder in der Hand. »Genug des Vorspiels. Sagen Sie mir jetzt, wer Sie und den armen Schlucker da ausgeschickt hat.« »Was vermuten Sie denn?« »Ich würde auf Janus wetten.« 95
»Die Wette steht hundert zu eins. Natürlich war es Janus.« »Dann bringen Sie mich zu ihm.« Sie entspannte sich für eine Sekunde. »So? Oder möchten Sie sich lieber erst etwas überziehen?« Xenia erklärte, sie würden sich im Statuen-Park treffen. Dann erläuterte sie, was es mit dem Statuen-Park auf sich hatte, und verlor sich in unzähligen Details. Bond tat so, als höre er dies alles zum erstenmal. Während sie ihren Monolog sprach, lag sie auf seinem Bett. Ihre Hände und Füße waren mit zwei seiner Krawatten gefesselt, während eine dritte Hand- und Fußfesseln miteinander verband. Als er unten im Dampfbad seinen Bademantel übergezogen hatte, war er auf ihre Kleider gestoßen, ein T-Shirt und eine alte Jeans, die sie über ihrem Bademantel getragen hatte. Sie waren im Lift zu seiner Etage hinaufgefahren, sehr eng beieinander, da er sie fest am Arm gehalten und ihr die Pistole in die Rippen gedrückt hatte. Jetzt zog er sich fertig an. Dann band er sie los. »Okay, bringen Sie mich zu ihm!« Sie saß am Steuer, und er behielt seine Waffe in der Hand, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam. Wieder spulte sie die Geschichte von der außergewöhnlichen Ansammlung zerbrochener und weggeworfener Statuen ab, der sichtbaren Symbole einer politischen Ideologie, die – vielleicht, vielleicht auch nicht – überwunden war. »Das ist der Park?« »Ja.« Jede Spur von Xenias sexueller Unrast war verschwunden. »Gut, meine Liebe. Ich hatte einen reizenden Abend. War es auch nett für Sie?« »Das Vergnügen war ganz auf Ihrer Seite.« »Bitte, haben Sie Verständnis, daß ich Sie nicht anrufen werde.« »Ich werde deshalb keine schlaflosen Nächte verbringen. « »Gut« Er drehte sich ein wenig in seinem Sitz, so daß sie für einen winzigen Moment annahm, er wolle ihr einen Abschiedskuß geben. Statt dessen sauste seine linke Hand herunter und versetzte ihr einen Handkantenschlag an der empfindlichen Stelle direkt hinter dem rechten Ohr. Dieser eine Schlag genügte. Ihr Mund öffnete sich zu einem kleinen Schmerzensschrei, dann sank sie vornüber aufs Steuerrad. 96
»Süße Träume!« sagte er, stieg aus dem Wagen und fand sich direkt am Fuße der Statue von Felix, dem Eisernen Felix Dserschinskij, Gründer des ehemaligen KGB, des jetzigen RIS. Er machte zwei Schritte in den sogenannten Park. Hinter den Bruchstücken der Revolutionshelden erkannte er in der Dunkelheit die Umrisse des Tigre-Hubschraubers und den Schatten eines Menschen, der hinter den Statuen herumhuschte. Bond zog seine Pistole und ging langsam auf den Hubschrauber zu. Er hatte vier Schritte gemacht, als die Gestalt wieder in Sicht kam: ein Mann, der gemächlich auf eine kleine Lichtung zwischen den Bäumen zuschritt. In der Nähe war das Geräusch eines Eisenbahnzuges zu hören. Dann, als Mondlicht auf die Lichtung fiel, war der Mann besser zu sehen, und Bond erblickte ein grotesk deformiertes Gesicht: Die ganze linke Seite war durch eine Hauttransplantation entstellt, und seine linke Mundhälfte war maskenhaft erstarrt. Die Stimme aber war Bond nur allzu bekannt. »Hallo, James«, sagte Alec Trevelyan.
11. DER GOTT MIT DEN ZWEI GESICHTERN »Alec?« Im ersten Moment mochte Bond seinen Sinnen kaum trauen. Er fröstelte und spürte einen plötzlichen Brechreiz. Doch der lähmende Zweifel schlug sogleich in Ärger um. Eigentlich hätte er die Frage gar nicht stellen müssen, denn er kannte Alec als Freund und Kollegen, seit er seine Geheimdienstkarriere begonnen hatte. »Ja.« Die vertraute Stimme klang wegen der Mundverletzung ein bißchen undeutlich. »Ja, James, ich bin von den Toten auferstanden. Ich bin keines von diesen anonymen Kreuzen auf der Gedenktafel des SIS-Hauptquartiers. Gibt’s diese Gedenktafel eigentlich noch im neuen Gebäude?« Er hielt inne, als erwarte er eine Erwiderung. »Was ist los, James? Keine witzige Bemerkung? Kein markiges Willkommen? Du warst doch für deine geistreichen Einzeller bekannt.« 97
»Diesmal habe ich nur einen Ein-Worter für dich, Alec.« »Das ist neu. Laß hören!« »Warum?« »Warum? Sehr lustig, James. Du fragst warum? Weil ich ziemlich gut Russisch kann. Genügt dir das?« »Nein. Ich denke, du schuldest mir eine anständige Antwort.« »Okay. Wie war’s hiermit: weil ich meine Knochen riskiert habe, mit Maschinenpistolen und Handgranaten in der Welt herumgerast bin und mein Leben aufs Spiel gesetzt habe, um dann irgendwo auf einem Müllhaufen zu landen?« »Das kann jedem passieren, Alec. Wir unterscheiden uns nicht von Soldaten und Staatsdienern. Nimm irgendeinen Beruf, es ist überall dasselbe.« »Ach, du glaubst, es ist in Ordnung, gerade mal eben einen Krieg zu gewinnen, und wenn du nach Hause kommst, hörst du dann solche Worte wie ›Prima gemacht, Jungs, hervorragend! Aber die Zeiten haben sich geändert, goodbye‹. Hältst du das für fair?« »Keiner hat gesagt, daß das Leben fair sei.« »Genau. Das ist es! Ich habe mich verdrückt, weil ich als Arbeitsbiene keine Zukunft für mich sah. Ich arbeite jetzt freiberuflich.« »Als Freischaffender? Obwohl du einen Eid geleistet hast?« »Worauf? Auf Königin und Vaterland?« »Wir haben versprochen, unseren Job zu tun, so einfach ist das.« »Na fein, James. Ja, wir haben ein Gelöbnis abgelegt. Aber die Welt hat sich geändert. Ich habe mich gerade noch zur rechten Zeit aus dem Staub gemacht.« »Die Welt ändert sich immer wieder. Das ist ein Teil des Lebens und ein Teil des Jobs.« Alec lachte bitter auf. »Ein Teil des Jobs? Alles zu riskieren und dann mit leeren Händen dazustehen?« »Hängt davon ab, was du unter ›leeren Händen‹ verstehst, Alec. Die Welt ändert sich ständig. Kriege kommen und gehen. Im Moment sieht es so aus, als hätte unser alter Feind aufgegeben. Aber er hat ein Chaos hinterlassen. In meinem Job – der ja auch mal dein Job war – ist mehr zu tun als je zuvor. Teile des alten russischen Reiches zerfallen. Aber nun gibt es neuen Terror, und überall, wo’s Terror gibt, sind wir gefragt.« 98
»Nichts für mich, James. Ich bin freischaffend und fühle mich wohl dabei, vielen Dank.« »Du willst das Chaos lieber schaffen als verhindern?« Bond hob die Hand, und mit ihr die Pistole. »O James, nimm die Knallflöte weg. Glaubst du wirklich, ich hätte nicht alles, was du tust, vorausgesehen?« Trevelyan wandte sich um und ging langsam davon. Dieser Mann, erkannte Bond, ist schon viel zu weit gegangen, als daß man ihn zurückholen könnte. Aber was war mit der Explosion? Mit Ourumows Kugel? Was war nach ihrem Einsatz in den achtziger Jahren geschehen? »Ich habe dir vertraut!« rief er. »James, sei nicht so verdammt melodramatisch! Ich habe dich immer für einen Realisten gehalten.« Trevelyan machte kehrt, kam wi eder näher. »Vertraut?« Er äffte Bonds Stimme nach. »Vertrauen gibt’s nicht mehr, weg vom Fenster, aus dem Wörterbuch gestrichen. Die Buchhalter haben übernommen, hast du das noch nicht begriffen? Der heutige Diktator ist morgen überzeugter Demokrat. Bombenwerfer und Terroristen kriegen den Nobelpreis. Es geht nur noch ums Geld. Wir stecken in einem Sumpfloch von Korruption – und das Ganze läuft unter dem Titel ›freie Marktwirtschaft‹. Eine Moralvorstellung, bei der deine Freunde so schnell kommen und gehen wie der nächste Bus in der Regent Street oder Fifth Avenue.« Er brach ab, offenbar, um seine Worte wirken zu lassen. »Wieso ist eigentlich der SIS-Überprüfung entgangen, daß du aus einer Lienz-Kosaken-Familie stammst? Das allein hätte genügt, um dich zum Sicherheitsrisiko zu stempeln.« »Die haben’s gewußt, James. Die haben alles gewußt. Sie dachten nur, ich sei noch zu jung, um mich zu erinnern.« Er sah Bond an. »Wir beide sind Waisen, James. Ist dir nie aufgefallen, daß der Geheimdienst Waisen bevorzugt? Der SIS soll deine Familie sein. Deine Eltern hatten den Vorzug, bei einem Bergunfall ums Leben zu kommen. Meine überlebten den tückischsten Streich, der im Namen der britischen Regierang je verübt wurde. Sie entgingen Stalins Todesschwadronen. Aber mein Vater glaubte, weder er noch seine Frau könnten so weiterleben. Der SIS glaubte tatsächlich, ich könne mich daran nicht erinnern. Eine hübsche, kleine Ironie des Schicksals. Der Sohn begann, für eine Regierang zu arbeiten, deren Verrat seinen Vater 99
veranlaßte, seine Frau zu toten und sich selbst das Leben zu nehmen. Aber ich habe mich immer daran erinnert, James. Auch solange ich hundertprozentig loyal war – ich habe nichts davon vergessen.« Bond nickte. »Daher Janus. Der Name ist gut gewählt, Alec. Der doppelgesichtige römische Gott erwacht wieder zum Leben.« Zufällig oder absichtsvoll drehte Alec seinen Kopf, so daß Bond erst die unverletzte rechte Gesichtshälfte sah und anschließend die zur scheußlichen Karikatur entstellte linke Seite. »Nicht Gott hat mir dieses Doppelgesicht gegeben. Du warst es, James! Du hast den Zeitzünder auf eine Minute eingestellt.« »Freund Ourumow hat auf dich geschossen, bevor die Zeit abgelaufen war. Was hat er dir angeboten, Alec? Einen Sitz zur Rechten Go ttes? Von mir erwartet man wohl, daß ich mich für das entschuldige, was zu tun nötig war.« »Nein, James. Nein, von dir erwartet man, daß du stirbst.« Einen Moment lang standen sie sich, Auge in Auge, gegenüber. Da bemerkte Bond zu seiner Rechten eine Bewegung. Es war ein kleiner roter Punkt, kaum größer als eine Bleistiftspitze. Er wanderte von seiner Schulter zum Gesicht und dann herunter auf seine Brust. Ein Laserstrahl! Irgend jemand, zwischen den grotesken Schutthaufen versteckt, hatte ihn buchstäblich im Visier. Trevelyan wandte sich ab, verhielt noch einmal nach drei Schritten und sagte über die Schulter: »Ich hatte vor, dich zu fragen, ob du nicht unserer kleinen Gruppe beitreten möchtest. Aber ich sehe ein, daß deine Loyalität immer irgendwelchen Regierangsbefehlen gelten wird und nicht deinen Freunden.« Damit verschwand er in der Dunkelheit. Im selben Augenblick ließ sich Bond zu Boden fallen, feuerte in die Finsternis, rollte nach rechts, sprang auf, rannte und suchte nach einer Deckung. Aber der Nadelkopf des roten Lichtes blieb bei jeder Bewegung auf ihm haften. Dann drückte der verborgene Heckenschütze auf den Abzug. Bond hörte ein Zischen – wie bei der Entladung eines Blitzstrahls –, das durch die Luft auf ihn zukam. Dann fühlte er einen starken Schlag gegen seine Brust und ahnte im selben Moment, daß man aus weiter Entfernung mit einem großkalibrigen Betäubungsgewehr auf ihn geschossen hatte. Zum zweitenmal an diesem Tag wurde ihm schwarz vor Augen, und sein Bewußtsein schwand, als hätte jemand mit einem 100
scharfen Messer all seine Gedanken und Gefühle gekappt. Das letzte, was er bemerkte, war Brandgeruch. Harte, gleichmäßige Schläge trafen Bonds Rücken. Jemand rief ihm etwas zu. Eine Frau, die mit Akzent sprach. Er konnte sich weder bewegen noch seine Augen öffnen, und seine Brust fühlte sich an, als hatte ihm ein Maulesel einen Tritt verpaßt. Er versuchte, wieder einzuschlafen. Wer schläft, dem kann nichts passieren, und er wollte jetzt keinerlei Gefahren ins Auge sehen. »Wachen Sie auf! Wachen Sie auf, Mister!… Sir, aufwachen! … Bitte, wachen Sie auf!« Eine Frauenstimme, zweifellos mit russischem Akzent. Er hatte das Gefühl, als schlage sie ihm auf den Rükken – oder irgendwo dorthin, wo sein Rücken sein mußte. Schließlich raffte er sich auf und fand sich in einer sehr fremden Welt wieder. Er saß in einem Cockpit. Reihen von Instrumenten und Schaltern waren vor ihm, und um ihn herum eine Kanzelhaube. Aber er war fest an seinen Sitz gefesselt, mit Schnüren um Brust und Arme, von links nach rechts und von rechts nach links. Weitere Schnüre schnitten ihm in die Handgelenke, Fußknöchel und Kniekehlen. Es war nicht die Intelligenz eines Genies nötig, um festzustellen, daß er, zur Untätigkeit verdammt, im vorderen Cockpit-Teil des Tigre-Hubschraubers saß. Die Stimme und das anhaltende Klopfen kamen von hinten, vom Platz des Navigationsoffiziers. »Wachen Sie auf… aufwachen!« erklang es eintönig wie die Beschwörungsformel eines indonesischen Wanderpriesters. Es gelang Bond, seinen Kopf so weit zu bewegen, daß er das attraktive Gesicht der dunkelhaarigen Frau sehen konnte, deren Füße immer weiter gegen die Rückwand seines Pilotensitzes trampelten. »Ich bin wach! Ich bin ja wach, schon in Ordnung.« Seine Stimme klang undeutlich; seine Kehle war wie ausgedörrt. Er versuchte, seinen Kopf weiter herumzudrehen, um etwas mehr zu sehen, aber ve rgeblich. Er zerrte an seinen Fesseln, aber die lockerten sich nicht um einen Zoll. »Tun Sie etwas!« flehte die Frau. »Um Himmels willen, tun Sie etwas!« »Ich bin ein bißchen müde… Okay.« Mit aller Kraft versuchte Bond, sich vorzubeugen, und es gelang ihm, einige der Schalter mit 101
seinem Gesicht zu erreichen. Er betätigte sie mit der Nase, dem Mund und der Stirn. Einige der Instrumente leuchteten auf, ein Heulen war zu hören, als der Motor ansprang und sich die Rotorblätter zu drehen begannen. Ein heller Signalton erregte seine Aufmerksamkeit. Die Schmerzen mißachtend, die ihm seine Fesseln verursachten, beugte er sich so weit wie möglich nach vorne, um einen Blick auf das betreffende Instrument zu werfen. Er sah ein aufblitzendes Display an der Waffen-Kontroll-Schalttafel. Es ergleißte in Rot ABSCHUSS IN SEKUNDEN: 17… 16…ISAbschuß? dachte er. Eine Rakete? Der Hubschrauber selbst? Die Ziffern wirbelten unaufhaltsam, und Bond fragte sich, ob dies sein persönlicher Countdown zum Tode war – für sich und die junge Frau hinter ihm. …07…06…05…04 Die ganze Kabine wurde heftig erschüttert, als mit großem Getöse, einen Feuerstrahl hinter sich herziehend, zwei Raketen unter den Stummelflügeln hervorschossen. Die Flugkörper bewegten sich so schnell, daß ihre züngelnden Flammen schon zwei Kilometer entfernt waren, ehe Bond richtig gewahr wurde, was geschehen war. Die Raketen flogen tief über die Dächer und Lichter von St. Petersburg. Darm stiegen sie aufwärts, steil in den Himmel, wobei sich ihre Flugbahnen kreuzten. Von der Waffen-Kontroll-Schalttafel kamen immer noch Geräusche. Ein hohes Heulen, gefolgt von einer Art Brammen und dann einem dringlich piepsenden Warnton. Das mußte die ZielAnnäherungs-Anzeige sein. Bond schaute nach unten und entdeckte ein weiteres Zählwerk. Eine Ziffernreihe war bei der Zahlenkombination 003.109.001. stehengeblieben. Das mußte die Position des Ziels sein. Darunter eine zweite Reihe durchlaufender Ziffern, die plötzlich bei denselben Koordinaten stoppte: 003.109.001. Auf einmal begriff Bond, wo sich das Ziel der Raketen befand. Er saß mittendrin. Weit weg, hoch am Himmel, flogen die Raketen eine Kurve und kamen nun, ständig an Hohe verlierend, zurück, mit direktem Kurs auf den Hubschrauber. Bond fühlte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren trat, während er wie wahnsinnig nach dem einen möglichen Ausweg 102
suchte. Er schrie dem Mädchen hinter sich zu: »Ich suche einen viereckigen roten Knopf, wahrscheinlich beleuchtet. Können Sie ihn sehen?« »Da! Rechts von Ihnen! Rechts!« Er blickte hin – da war der rote Knopf mit der Aufschrift ›SCHLEUDERSITZ-AUSLÖSUNG‹, doch außerhalb seiner Reichweite. Mit aller Kraft bäumte er sich auf, stieß einen Schrei aus, schlug mit seinem Kopf nach dem Knopf – und spürte, wie seine Schläfe ihn berührte. Abermals verwandelte sich die Welt. Die Rotoren heulten auf und wurden vom Helikopter weggeschleudert. Unter ihm gab es einen Donnerschlag, dann wurde das Cockpit in die Luft katapultiert und schoß etwa hundert Meter in die Höhe, ehe sich die Fallschirme öffneten. Auf dem Scheitelpunkt schien die Kabine eine Weile bewegungslos an den Fallschirmen zu schweben. Unter ihnen aber gab es eine verheerende Explosion, als die beiden Raketen in den Helikopter einschlugen. Ein gewaltiger Feuerball stieg hoch und hüllte für ein paar Augenblicke die langsam zu Boden sinkende Kabine ein. Das Mädchen hinter Bond schrie vor Fortsetzen. Ihm war bewußt, daß auch sein Mund geöffnet war, aber er hätte nicht sagen können, ob er vor Schrecken stumm blieb oder gleichfalls seine Angst laut herausschrie. Die Kapsel sank zu Boden und kam mit einem Ruck auf, der sämtliche Knochen durcheinanderrüttelte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Bond merkte, daß der Stoß der Antriebsraketen und der heftige Aufprall seine Fesseln gelockert hatten. Er zog, riß und zerrte an den Schnüren, bis seine Arme frei waren, dann die Hände, so daß er nun leicht nach unten greifen und auch seine Beine befreien konnte. Er öffnete die Kanzelhaube, kletterte hinaus und schwang sich in den hinteren Kabinenteil, wo das Mädchen saß. Sie stand unter Schock und starrte ihn mit irrem Blick an. Ihre Fingerknöchel waren weiß, da sie fest an die Armlehnen ihres Sitzes angebunden war. An der Rückenlehne war sie mit Riemen festgeschnallt, die Füße waren mit festen Stricken aneinandergeschnürt. Er öffnete den hinteren Teil der Kanzelhaube und löste rasch ihre Fesseln. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Er sprach sanft, obwohl ihm 103
später klar wurde, daß er wahrscheinlich geschrien hatte, da er immer noch das Dröhnen der Explosion im Ohr hatte. Das Mädchen griff nach seinem Arm, und er half ihr auf den sicheren Erdboden herab. Kaum aber stand sie unten, als sie wild um sich zu schlagen begann. Sie trat gegen sein Schienbein und versuchte davonzulaufen. »Stop!« Jetzt schrie er wirklich. »Nein! Lassen Sie mich los! Nehmen Sie die Hände weg!« Sie kratzte ihn mit den Fingernägeln. »Hören Sie auf! Ich will Ihnen doch nur helfen.« Sie rangen noch immer miteinander, als die Suchscheinwerfer zwe ier Hubschrauber die Umgebung in gleißendes Licht tauchten und sie nahezu blendeten. Zugleich begann eine Alarmsirene zu heulen, und aus einem der Hubschrauber ertönte eine Stimme über Megaphon, die sie auf russisch aufforderte, keinen Schritt weiterzugehen. »Wenn Sie sich bewegen, werden Sie auf der Stelle erschossen«, fuhr die Stimme fort. »Ich glaube, am besten tun wir so, als wären wir zwei von diesen verdammten Statuen«, sagte Bond und legte sanft seinen Arm um das zitternde Mädchen.
12. EIN STAUBKÖRNCHEN IM SONNENLICHT Das Hauptquartier des militärischen Sicherheitsdienstes in St. Petersburg liegt hinter einer großen Ziegelmauer nahe der ehemaligen Straße der Hochschule der Roten Armee. Innerhalb der Mauern unterhält die Armee einen umfangreichen Kraftfahrzeugpark – von APCPanzerwagen über die offenen, dreiachsigen BTU-152uMannschaftstransporter bis hin zu Panzern. Das Hauptquartier, aus trist dunkelrotem Backstein errichtet, steht in starkem Kontrast zum Rest der Stadt, die mit den schönsten Bauwerken und Ansichten ganz Rußlands aufwarten kann, wenn nicht gar der ganzen Welt. Wie keine andere russische Stadt wurde St. Petersburg als Spiegelbild seiner 104
vormaligen Größe und Schönheit wiederaufgebaut, nachdem es bei der neunhundert Tage dauernden, schrecklichen Belagerung während des Krieges in Schutt und Asche gefallen war. Bond und Natalja wurden ohne Umschweife in einer Untersuchungszelle arretiert. Die Metalltür wurde hinter ihnen ins Schloß geworfen und verriegelt. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke, und die Möbel bestanden aus einem einfachen Metalltisch und drei Metallstühlen. Der Tisch und zwei der Stühle waren im Fußboden verankert. Der dritte Stuhl war, wie Bond sofort feststellte, nicht befestigt, da er wahrscheinlich erst vor kurzem in die Zelle gebracht wo rden war. Es hatte keinen Sinn, hier nach Wanzen zu suchen, denn die ließen sich heutzutage ohne › Wanzenkiller‹ nicht mehr aufspüren, und selbst wenn man über elektronisches Suchgerät verfügte, garantierte das keineswegs den Erfolg. Bond aber mußte es auf jeden Fall riskieren, mit dem Mädchen zu reden. Er mußte versuchen, sie so lange zu bearbeiten, bis sie wieder zur Besinnung kam. Im Moment kauerte sie in einer Ecke, die Augen voller Tränen. Vorsichtig ging er auf sie zu. »Wir haben nicht viel Zeit«, begann er. Sie krabbelte an der Wand entlang, in die andere Ecke, und stieß hervor: »Bleiben Sie weg! Bleiben Sie mir vom Hals! Kommen Sie nicht näher, sonst kratze ich Ihnen die Augen aus! Bleiben Sie weg!« Schließlich gelang es ihm, sie am Handgelenk zu packen und zu sich zu ziehen. »Hören Sie zu!« sagte er, beinahe flüsternd, aber nicht mehr sanft, sondern kühl und eindringlich. »Ich arbeite für die britische Regierang. So, jetzt können Sie entweder Ihr Glück mit mir ve rsuchen oder Ihr Leben in die Hände Ihrer Landsleute legen – der Leute, die in Sewernaja Ihre sämtlichen Kollegen ermordet haben.« »Was ist Sewernaja? Wo liegt Sewernaja? Ich war noch nie in Sewernaja.« »Ihre Uhr war dort.« Er drehte ihr Handgelenk um und sah auf das Zifferblatt. »Neunzehn Uhr fünfzehn und dreiundzwanzig Sekunden. Genau in diesem Moment wurden alle elektronischen Geräte in der Umgebung durch den GoldenEye-Crash lahmgelegt.« »GoldenEye…?« begann sie, und er merkte, daß sie allmählich begann, ihre störrische Haltung aufzugeben. 105
»Ich würde eine Menge Geld verwetten, daß Sie diejenige waren, die nahe der großen Antenne aus dem Schutthaufen herausgeklettert ist.« Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe sie mit einem zaghaften Nicken ihr Einverständnis bekundete. »Wer sind Sie?« fragte er. »Natalja Fjodorowna Simonowa. Ja, ich bin Klasse-2Programmiererin, und ich weiß, was dort geschehen ist.« »Natalja, das ist ein reizender Name. Wer war der Mann, den sie in den Komplex eingeschleust hatten?« »Boris. Boris Grischenko.« »Geheimpolizei, militärischer Abschirmdienst oder der alte KCB?« »Ein brillanter Computerspezialist. Aber wahrscheinlich alter KGB, denke ich. Er benimmt sich verrückt, ist aber ganz außergewöhnlich.« »War da sonst irgend jemand?« »Im Werk? Nicht, daß ich wüßte.« »Was ist mit den Satelliten? Gibt’s davon noch mehr?« »Moment. Jetzt bin ich mal dran mit Fragen.« Sie begann, ihr Selbstvertrauen wiederzufinden. »Wer sind Sie? Wer sind Sie wirklich?« »James…«, begann er. Doch im selben Moment wurde ein Schlüssel ins Schloß geschoben, die Metalltür flog auf, und ein Wachsoldat geleitete den Verteidigungsminister, Victor Mischkin, in die Zelle. Mischkin wirkte aalglatt in seinem langen schwarzen Mantel mit Zobelkragen, den er über einem förmlichen dunklen Anzug trag. In seiner Rechten hielt er Bonds Pistole, und sein Lächeln war das eines Tigers. »Oh, guten Morgen, Mr. Bond!« Er wedelte mit der Pistole in der Luft hemm wie Kinder mit ihren Fähnchen. »Setzen Sie sich, beide!« Bond griff sofort zu dem Stuhl, der nicht am Boden befestigt war; Mischkin nahm ihm gegenüber Platz. »Für den Fall, daß Sie mich nicht kennen: Ich bin Victor Mischkin, der Verteidigungsminister.« Während er die Pistole vor sich auf den Metalltisch legte, fuhr er fast im selben Atemzug fort: »Nun, wie sollen wir Sie exekutieren, Commander Bond? Die übliche Methode: Genickschuß, schnell, schmerzlos, ohne Umstände? Jetzt können wir ja ungeniert leugnen, irgendwelche Kenntnisse über Sie zu besitzen.« 106
Bond zog die Augenbrauen hoch. »Kein Small talk oder Blabla, Minister? Sie wollen kein ordentliches Verhör? Keiner hat mehr Zeit für solche Dinge. Verhöre sind eine aussterbende Kunstform.« »Das ist jetzt nicht der Moment für launige Scherze, Commander! Ich habe nur eine Frage an Sie: Wo ist GoldenEye?« »Ich dachte. Sie haben es.« »Nein. Das einzige, was ich habe, ist ein englischer Spion, eine Sewernaja-Programmiererin und der Hubschrauber, den die beiden gestohlen haben.« »Sie haben nur das, was Ihnen ein Verräter in Ihrer Regierang vo rgespiegelt hat.« Mischkins Faust knallte auf den Tisch. »Wer steckt hinter dem Angriff auf Sewernaja? Wer hat das befohlen?« »Wer hatte denn den Zugangs-Code?« »Auf Terroranschläge steht die Todesstrafe. Und ich betrachte Sie beide als Terroristen.« »Welche Strafe steht heutzutage auf Verrat, Herr Minister? Ein Klaps aufs Handgelenk und die Verbannung auf eine ländliche Datscha – wie bei den Verrätern, die den 1991er Coup angezettelt haben?« »Einige sind auch gestorben.« »Wahrscheinlich durch Selbstmord. Sie haben einen weiteren Verräter in Ihrer unmittelbaren Nähe, Herr Minister.« Plötzlich meldete sich Natalja zu Wort, laut und mit sehr fester Stimme: »Aufhören! Aufhören! Al le beide! Sie benehmen sich wie Kinder, die sich um ihr Spielzeug zanken!« Mit einem Lächeln um die sonst so harten Mundwinkel sah Bond sie an. »Wissen Sie das nicht, meine Liebe? Wer mit dem meisten Spielzeug stirbt, ist der Gewinner.« »Hören Sie damit auf! Sie kennen die Wahrheit genauso wie ich!« Sie sah Mischkin an. »Es war Ourumow. General Ourumow und diese Frau, diese bösartige Natter. Die beiden haben die ganze Mannschaft ermordet und GoldenEye gestohlen.« Mischkin warf mit einem kurzen Auflachen den Kopf zurück. »Ha, warum sollte Ourumow so etwas tun?« »Weil’s da noch einen anderen Satelliten gibt. Genauso einen wie den, mit dem Sewernaja zerstört wurde.« 107
Mischkins Lächeln erlosch, als hätte jemand an einem Schalter gedreht. »Stimmt das wirklich?« fragte er. »Absolut. Der zweite Satellit hat den Codenamen Mischa, und irgendwo im Land gibt es einen zweiten Komplex wie Sewernaja…« Ihr Gespräch wurde durch einen Tumult an der Tür unterbrochen. Wie von einer Kanone abgeschossen, polterte General Ourumow in den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Er sah müde aus, ungekämmt, unrasiert, als hätte er in seiner Uniform geschlafen. Schweiß rann ihm von der Stirn, er schien in erbärmlicher Verfassung zu sein. »Herr Verteidigungsminister… ich muß protestieren!« stieß er atemlos hervor. »General Ourumow…!« »Das sind meine Ermittlungen! Dafür sind Sie nicht zuständig!« »Nach dem, was ich gerade gehört habe, General, sind Sie für gar nichts mehr zuständig.« Ourumow beugte sich vor und griff nach Bonds Pistole. »Ich glaube, diese Waffe habe ich schon mal gesehen.« »Legen Sie die Pistole hin, General!« »In die Hände Ihres Feindes? Wissen Sie überhaupt, wer Ihr Feind ist, Victor? Wissen Sie das?« Mischkin machte eine Geste, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben. »Wache! Der General steht unter Arrest. Führen Sie ihn ab!« Der Wachhabende, ein junger Soldat von kaum zwanzig Jahren, zögerte einen Moment, dann nahm er die Maschinenpistole von der Schulter – zu spät! Ourumow wirbelte hemm und erschoß ihn. Der Soldat wurde gegen die Wand katapultiert, seine Brust von der GlaserMunition zerfetzt. Bond schnappte Natalja, zog sie auf den Steinboden herunter und versuchte, sie mit seinem Körper zu schützen. Ourumow drehte sich um und schoß Mischkin den Kopf vom Hals. »Mit dieser Munition macht man keine Gefangenen, nicht wahr?« knurrte er. »Was für ein entsetzlicher Tatbestand! Verteidigungsminister Victor Mischkin, ermordet von dem skrupellosen britischen Agenten James Bond…« Er nahm das Magazin aus der Pistole, steckte die Munition in die Tasche und warf Bond die Waffe zu, während er nach seiner eigenen Pistole griff. »Als Folge dieses Verbrechens wird Bond bei einem Fluchtversuch erschossen.« Er entsicherte seine 108
Pistole und begann, fast hysterisch zu schreien: »Wache! Wache! Schnell!« Er hob die Pistole, aber Bond war schon in Bewegung, griff nach seinem Stuhl und schleuderte ihn auf Ourumow. Der wurde an der Brust getroffen und zu Boden geworfen. Seine Pistole ging los, die Kugel prallte irgendwo an der Zellenwand ab. Zur gleichen Zeit stürzte sich Bond auf den General. Seine Faust traf ihn seitlich am Kinn, und Ourumow verlor das Bewußtsein. Bond griff nach Natalja – und seinem Stuhl – und drückte sich an die Wand hinter der Tür, gerade rechtzeitig, bevor zwei Soldaten mit ihren Maschinenpistolen hereinstürmten. Sie blieben abrupt stehen, als sie die Körper auf dem Boden liegen sahen, unfähig zu begreifen, was geschehen war. Bevor sie irgendwie reagieren konnten, sprang Bond hinter der Tür hervor, schlug mit dem Stuhl zu, links, rechts in die Gesichter der Männer. Dann nahm er Natalja am Handgelenk und zog sie hinter sich aus der Zelle, nicht ohne vorher eine Maschinenpistole der Soldaten an sich gerissen zu haben, die blutend und bewußtlos zu Boden gegangen waren. Bond und Natalja befanden sich jetzt auf einem langen Flur; rechts und links zahlreiche Metalltüren wie diejenige der Zelle, aus der sie kamen. Am Ende des Korridors führten Treppenstufen nach oben. Natalja an der Hand mit sich ziehend, rannte Bond auf die Treppe zu, da er annahm, daß es dort, wo Treppen nach oben führten, auch we lche nach unten geben müßte. Doch das war ein Irrtum. Verdammt! Leute, die durch Gebäude fliehen, wählen normalerwe ise den Weg nach oben. Er hatte sich diesen psychologischen Effekt zunutze machen und nach unten laufen wollen. Oberhalb der wenigen Stufen erstreckte sich abermals ein langer Korridor, der zu einem Großraumbüro führte. Drei Soldaten standen vor der Tür Wache. Als Bond sich umblickte, sah er Ourumow, der schweratmend, die Pistole schußbereit in der Hand, gefolgt von drei Bewaffneten, hinter ihnen herstürmte. Bond gab einen kurzen Feuerstoß auf Ourumow und dann einen langen auf die Soldaten vor dem Büro ab. Einer der Männer kippte um, ein zweiter, offenbar verwundet, ging in die Knie, der dritte flüchtete ins Büro. 109
Da es hier keinen Ausgang zu geben schien, bedeutete er Natalja, sich an die Wand zu drücken und ihm zu folgen. Drei Schritte nur, und sie erreichten einen Torbogen, der den Flur mit einem anderen, sehr dunklen und schmalen Korridor zu verbinden schien. Ihnen blieb keine andere Wahl. Bond zog das Mädchen nahe zu sich heran und fragte, ob sie in Ordnung sei. »Wenn ich das hier überlebe, ja.« »Lauf wie der Teufel und laß dich von niemandem aufhalten!« Damit sprinteten sie in den finsteren Korridor hinein. In der Ferne, am Ende des Ganges, schien ein Licht, und als sie näher kamen, las Bond die Aufschrift in roten rassischen Lettern: ZUTRITT VERBOTEN. ARCHIV MILITÄRISCHER SICHERHEITSDIENST, BEZIRK LENINGRAD. »Da ist jemand nicht mit der Zeit gegangen«, murmelte Bond und versuchte vergeblich, die massive Stahltür zu öffnen. »Bleib stehen!« rief er Natalja zu und feuerte aus der Hüfte auf das große Türschloß. Die Tür sprang auf, im gleichen Moment begann eine Alarmsirene zu heulen. Die beiden betraten die Archivräume, und Bond schlug die Tür hinter sich zu. Sie waren in einer schmalen Eingangspassage, die zu einem größeren, gut erleuchteten Bereich führte. Links und rechts an den Wänden standen auf wackligen Füßen alte Registraturschränke, die zum Teil, weil einer der Füße fehlte, nur an die Wand gelehnt waren. Im Vorbeigehen wünschte er sich, mehr Zeit zu haben, um ein bißchen in den Akten zu schnüffeln, die hier haufenweise aufbewahrt waren. Als er das Ende des Eingangsraums erreicht hatte, stemmte sich Bond mit der Schulter gegen den letzten Registraturschrank. Der kippte zur Seite und riß im Dominoeffekt die anderen Schränke und Regale mit, die ebenfalls mit lautem Gepolter umstürzten und die Tür ve rsperrten. Um ganz sicherzugehen, warf Bond die Schränke auf der anderen Seite des Flurs in gleicher Weise um, ehe er mit Natalja ins Hauptarchiv weiterging. Sie befanden sich nun im oberen Bereich von drei riesigen, umlaufenden Galerien, über sich nur noch einen gläsernen Rundbau. Hier schien mehr Ordnung zu herrschen. Zur rechten Seite sah Bond ein 110
großes Rundfenster zwischen den soliden Bücherschränken, welche die gesamte Galerie säumten. Von hinten war das Gepolter von Ourumows Leuten zu hören, die in die Archivräume einzudringen versuchten. Bond trat näher zum Fenster und schaute hinaus auf den Fuhrpark tief unter sich. Zu weit! Er beugte sich hinaus, um zu sehen, ob sein Plan realistisch war. Das Getöse an der Eingangstür wurde lauter. Bond ging zurück zu dem hölzernen Umlaufgeländer der Galerie und sah mit Schrecken, wie Ourumow, flankiert von seinen Leuten, die untere Etage stürmte. Er winkte Natalja zu, sich leise in die Fensteröffnung zurückzuziehen, und schaute dann wieder nach unten. Sein Magen drehte sich um, als er bemerkte, daß die Böden der Galerien aus dicken, mehrschichtigen Fiberglasplatten bestanden. Er brauchte sich gar nicht über das Geländer zu beugen, sondern konnte durch den transparenten Fußboden die Galerie unter sich sehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Ourumow oder einer seiner Leute nach oben blicken und sie entde kken würden. Als ob sein Gedanke Ourumow angestachelt hätte, stieß der General einen Schrei aus, deutete nach oben, und schon prasselten Kugeln kreuz und quer in das Glasfiber. Querschläger pfiffen ihnen um die Ohren, Scherben klirrten. »Lauf!« rief er Natalja zu, und sie rannten die oberste Galerie entlang. Gehetzt blickte James Bond um sich, auf der Suche nach einer Mauernische oder einem kleinen Durchgang, wo sie sich verbergen oder durch den sie fliehen konnten. Während sie über die Galerie rannten, zerlöcherten die Geschosse den Glasfiberboden unter ihnen. Die Einschüsse, kleinen Bohrlöchern ähnlich, kamen immer näher, folgten ihnen rund um die Galerie und schnitten ihnen den Rückweg ab, denn das Glasfiber hinter ihnen war völlig zerfetzt. Natalja stolperte, wäre beinahe gefallen, strauchelte von neuem – nicht, weil sie von einer Kugel getroffen war, sondern weil der Boden unter ihr nachgegeben hatte. Sie schrie, warf die Arme in die Luft und stürzte durch das gezackte Loch in der Bodenplatte direkt in die Arme eines Soldaten in der unteren Galerie. Bond fluchte. Einen Moment lang überlegte er, ob er runterspringen 111
und versuchen sollte, sie zu retten. Sie hatte viel Mut bewiesen, hatte die Nerven und die nötige Entschlossenheit, so etwas durchzustehen. Doch er zögerte nur eine Sekunde, wissend, daß sein Herz, nicht sein Verstand, ihn zurückhalten wollte, während die Kugeln hinter ihm den Boden zerfetzten. Fast schon hatte er die obere Galerie umrandet, als er vier Schritte vor sich zwischen den Regalen einen großen Stahlsafe entdeckte, breit genug, so daß er daraufklettern konnte. Um ihn dort zu erwischen, müßten sie das Ding von unten mit einer Sprengstoffladung bombardieren, die das ganze Gebäude in Schutt und Asche legen würde. Er schätzte die Entfernung, setzte zum Hochsprang an und landete oben auf dem Safe – im selben Moment, als der Boden, auf dem er eben noch gestanden hatte, unter dem Dauerbeschuß von unten zusammenbrach. Bond stand jetzt fast direkt gegenüber dem großen runden Fenster, das sich über dem Militärfuhrpark befand, fi holte tief Luft, schnallte den Gürtel ab, den Q ihm gegeben hatte, tastete nach der kleinen Kappe über der Schnalle, drehte sie und öffnete so den Sicherheitsverschluß. Dann wickelte er den Gürtel um sein rechtes Handgelenk. Er hob den Arm und zielte auf eine Stelle an der gegenüberliegenden Decke der Rotunde, die für seine Zwecke fest und solide genug erschien. Wieder holte er tief Luft, zählte bis drei und drückte auf den Auslöseknopf. Der Gürtel vibrierte in seiner Hand, als der kleine Haken herausschoß und die extrem belastbare Schnur hinter sich herzog. Das Geschoß jagte davon wie ein Blitz, aber Bond kam es vor, als fliege der Haken in Zeitlupe dahin, wä hrend er den Atem anhielt und betete, daß der Haken festen Halt finden möge. Der Haken schlug mit einem kleinen Knall in die Wand. Ein schneller Ruck am Gürtel überzeugte Bond, daß er fest und tief im Beton saß. Noch einmal tief Atem holen, die Leine anspannen und abstoßen! In weitem Bogen schwang er sich über die Galerie, direkt auf das Fenster zu. Während Bond durch die Luft sauste, spürte er die Spannung in der Schnur und in seinen Armmuskeln, den Luftzug und – für eine Sekunde – den Abgrund unter sich. 112
Die Füße voran, traf er das Fenster genau in der Mitte. Er ließ den Gürtel los, hielt seine Hände schützend vor die Augen. Dann krachte er durch das zersplitternde Fenster und stürzte fünfzehn Meter in die Tiefe, dem steinernen Boden entgegen. Während er fiel, dachte er an viele gute Dinge, die ihm in seinem Leben widerfahren waren, und das letzte Gesicht, das er vor seinem geistigen Auge sah, war das von Natalja Simonowa. Kurz bevor er unten aufprallte, dachte er traurig, daß seine Begegnung mit Natalja womöglich die kostbarste von allen gewesen war. In diesem Moment fühlte er sich so bedeutungslos wie ein Staubkörnchen im Sonnenlicht.
13. DURCHBRUCH Es war wohl eine der gewagtesten Aktionen, die Bond je riskiert hatte. Als er mit Natalja vor dem runden Fenster in der obersten Archivgalerie gestanden hatte, war ihm unten auf dem Hof, direkt unter dem Fenster, ein Militärlastwagen mit Planendach aufgefallen. Falls das Ding während der Hetzjagd rund um die Galerie fortgefahren war, stand ihm eine verdammt harte Landung bevor, im günstigeren Fall eine schwere Verletzung, wahrscheinlich aber der Tod. Als eingefleischter Spieler hatte er die Chancen abgewogen. Da er auf dem Hof kein Lebenszeichen wahrgenommen hatte, keine Befehle, kein Motorgeräusch, hatte er darauf gesetzt, daß der LKW noch auf seinem Platz stehen würde. Als er nun in einem Glasscherben-Schauer durch das Fenster schoß und nach unten schaute, wußte er, daß er gewonnen hatte. Es war nicht die sanfteste Landung seines Lebens, aber sie war sicher genug. Auch wenn er ein paar Beulen abbekommen hatte, bestand der schwierigste Teil des Manövers darin, rasch von dem Planendach herunterzukommen. Sowie er festen Boden unter den Füßen hatte, huschte er in den Schatten und suchte seinen Weg zu den abgestellten Fahrzeugen. Ihm war bewußt, daß das Haupttor geschlossen sein würde, aber er würde eben sein Glück versuchen. Er hatte nur noch wenig Munition 113
übrig, daher kam es darauf an, daß er sich das richtige Fahrzeug herauspickte. Vorsichtig schritt er die Re ihe der Wagen ab, die kleinen, den Jeeps ähnelnden Geländewagen, die APC-Mannschaftswagen und die kleineren BTU-152u’s, die Platz für ungefähr acht Mann boten. Am Haupteingang gab es Bewegung. Schnell ging er hinter einem schwerfälligen T-55-Panzer in Deckung und beobachtete, wie Ourumow und einer der Soldaten Natalja hastig zu einem Auto zerrten und sie grob in den Wagenfond stießen. Ourumow hielt eine Waffe in der Hand, und seine Stimme klang wütend. Natalja protestierte lauthals, als man sie in das schwarze Zivilfahrzeug stieß. Ihr war bewußt, daß ein Mann wie Bond jetzt nicht mit zerschmettertem Körper auf dem Pflaster lag; daher hoffte sie, daß ihr neuer Freund irgendwie entkommen war und bereits ihre gemeinsame Flucht vorbereitete. Aber bisher war nichts geschehen, was auf geheime Pläne Bonds hindeutete, und während sie in das Auto verfrac htet wurde, begann ihr Optimismus zu schwinden. Drüben, im Fahrzeugpark, betrachtete Bond den T-55-Panzer, hinter dem er sich verborgen hielt. Nachdenklich runzelte er die Stirn, dann faßte er einen Entschluß und setzte sich in Bewegung. Natalja roch den sauren Schweiß des Generals, als der sich auf den Sitz neben ihr quetschte. Der Soldat startete den Wagen und fuhr auf das Haupttor mit seinen roten und weißen Pfosten zu. Für einen kurzen Augenblick hielt er am Tor, damit die Wachtposten die Identität des Generals überprüfen konnten. Dann – nachdem Ourumow ihn angebrüllt hatte, so schnell wie möglich zu fahren – schossen sie durch das Tor und schleuderten mit quietschenden Reifen in eine Linkskurve, ehe der Wagen auf der geraden Straße neben der Fuhrparkmauer beschleunigte. Was dann geschah, ließ Ourumow zusammenzucken und entlockte ihm einen lauten Schreckensschrei. Die Mauer links von ihnen schien zu zerbröckeln, und ein mächtiger T 55 taumelte durch die Trümmer auf die Straße, direkt hinter ihnen. Er schleuderte von einer Seite zur anderen, aber er folgte ihrem Wagen mit Höchstgeschwindigkeit. Mit panischem Timbre rief Ourumow dem Fahrer zu, er solle schneller fahren. Die wie ein übler Geruch wahrnehmbare Angst, die den General ergriff, ging auf einen Unfall im Afghanistan-Krieg zurück. Damals hatte er in einem Panzer gesessen, der jenem T 55 sehr 114
ähnelte, welcher jetzt hinter ihnen herrumpelte. Ourumows Panzer hatte einen Volltreffer bekommen, und er, Ourumow, war einer der beiden Überlebenden des Desasters gewesen. In seinen Alpträumen hörte er immer noch die Schreie der anderen Besatzungsmitglieder, als der Metallsarg zerborsten und in Flammen aufgegangen war. Seit jener Zeit plagte ihn eine krankhafte Angst vor Panzern. Mit einem Seufzer der Erleichterung hatte sich Bond auf den Fahrersitz des T 55 gezwängt, den Anlasserknopf gezogen und zufrieden das Aufbrummen des starken Motor gehört. Er schaute auf die Be nzinanzeige. Der Tank war voll. Den Rest seines Schnellkurses im Panzerfahren absolvierte er nach der Methode von Versuch und Irrtum, Der große, lange Handgriff war offenbar der Schalthebel. Mit der schweren Lenksäule konnte man das Fahrzeug ruckartig in die Kurve lenken. Die Kette auf der einen Seite drehte sich dann langsamer, die auf der anderen schneller, so daß das schwere Gefährt nach links oder rechts taumelte. Die Bremsen und der Gashebel waren leicht zu finden; das einzige Problem, mit dem er fertig werden mußte, bestand darin, daß sie anders herum angeordnet waren als in normalen Autos: die Bremse rechts, der Gashebel links. Er harte keine Zeit, sich mit der Elektronik vertraut zu machen. Aber er wußte, daß er das Biest nicht lenken und zugleich die Hundert-Millimeter-Kanone abfeuern konnte, die etwa acht Meter von ihm entfernt aus dem Geschützturm herausragte. Aber da war ein Maschinengewehr in Reichweite des Fahrersitzes. Das konnte er allerdings auch nicht einsetzen, solange Natalja noch in dem Wagen saß, So beschränkte er sich auf eine gewagte Verfolgungsjagd. Mit etwas Glück – und falls der Panzer nicht außer Ko ntrolle geriet – konnte er Ourumow buchstäblich in den Boden stampfen. Womit er nicht gerechnet hatte, war das eng begrenzte Sichtfeld, das der vordere Sehschlitz bot. Sicherlich gab es irgendwo in der Fahrerkabine auch ein Periskop, das den Rückspiegel ersetzte, aber im Augenblick brauchte er seine gesamte Konzentration, um zu begreifen, wie man mit dem T 55 umging. Es sah alles so einfach aus, wenn eine Panzerschlacht im Kino ablief! Aber er hatte schnell entdeckt, daß so 115
ein Panzer, wenn man ihn nicht vollkommen beherrschte, dazu neigte, eher den Menschen zu fahren als umgekehrt. Auch den Geräuschfaktor hatte er nicht bedacht. Die Ketten verursachten eine alle Knochen durchschüttelnde Vibration, und der Innenraum des Fahrzeugs schien den Ketten- und Motorlärm wie ein Lautsprecher zu verstärken. Gleich nachdem er durch die Mauer gebrochen war, hatte er sich den Fahrer-Kopfhörer aufgesetzt, das Radio eingeschaltet und im automatischen Senderdurchlauf den Polizeifunk gesucht. Vermutlich konnte er genug Russisch, um das Geschwätz über Straßensperren und dergleichen zu verstehen. Der Rest war – in den Worten eines Hauptfeldwebels, den er mal gekannt hatte – ›rohe Gewalt und Unkenntnis‹. Nicht nur, daß er den Panzer zu steuern, den Lärm und das Rattern zu erdulden und den beschränkten Gesichtskreis hinzunehmen hatte, er mußte auch auf den Straßenverkehr achten, der viel stärker war, als er es für diese Zeit erwartet hatte. Zweimal schon hätte er fast ein paar Autos zerquetscht. Jetzt sah er, wie Ourumows Wagen nach rechts abbog, folgte ihm und schnitt dabei die Kurve. Der Bug des Panzers richtete sich auf und walzte mit unerfreulichem Knirschgeräusch eine Reihe parkender Autos am Straßenrand nieder. Als sich die Schnauze des Panzers wieder senkte, sah Bond, daß Ourumows Wagen dicht vor ihm auf einer stark befahrenen Kreuzung abgebogen war. Bei dem Versuch, abzubremsen und den Rückwärtsgang einzulegen, rammte Bond die Fahrzeuge auf der anderen Straßenseite. Funken sprühten von der Karosserie, als er rückwärts rollte, um dann in die Gasse einzubiegen. Bond jagte den Motor hoch, und diesmal gelang ihm eine perfekte Kurve. Lenken, Gas hoch, Gas weg, es ging wie am Schnürchen. Zu spät bemerkte er, daß die Gasse für das Auto breit genug war, nicht jedoch für seinen Panzer. Aber zur Umkehr war es nun zu spät, und so machte er sich auf alles gefaßt und gab Gas. Es war eine holprige Fahrt, denn die Gasse war fast zwe i Meter zu schmal für den T 55. Jetzt kam das Prinzip der ›rohen Gewalt und Unkenntnis‹ ins Spiel. Es erstaunte Bond, daß sein Panzer mit der schmalen Gasse ganz gut zurechtkam, indem er sich einfach eine Schneise durch die Häuserreihen links und rechts schnitt. Staub, Backsteine, Trümmer flogen durch die Luft, während sich das rum116
pelnde Gefährt seine Bahn freimachte. Am Ende der Gasse aber erwartete Fahrer und Fahrzeug eine TKreuzung – und hinter der Querstraße ein breiter Kanal. Da blieb Bond keine andere Wahl, als den Panzer mit Gewalt und aufheulendem Motor scharf herumzureißen. Ourumows Wagen war nach links gefahren, dann über eine Brücke zum anderen Ufer des Kanals und weiter nach rechts die Kanalstraße entlang. Bond startete, um ebenfalls die Brücke zu überqueren, stellte aber fest, daß es unmöglich war. Der T 55 war ohne Probleme durch die Gasse gewalzt. Aber nun, als der Rauch und der Backsteinstaub vor dem schmalen Sehschlitz verflogen waren, sah Bond, daß die Brücke ein fragiles, wunderhübsches Bauwerk war, konstruiert für den zivilen Autoverkehr. Unter dem Gewicht eines Panzers würde sie mit tödlicher Sicherheit zusammenbrechen. Der Panzer war nur wenige Meter von der Zufahrt entfernt, allerdings mit dem Heck zur Brücke. Laut sagte Bond: »Mal sehen, wie du eine Kehrtwendung schaffst!« Er schob die Lenksäule scharf nach rechts und stemmte den linken Fuß kraftvoll auf den Gashebel. Es war wie auf der Achterbahn. Der Panzer schwang um seine eigene Achse, vollführte eine perfekte Hundertachtzig-Grad-Wendung. Als das Manöver beendet war, sah Bond, daß das Militär bereits Jagd auf ihn machte: zwei Jeeps und zwei BTU-152uMannschaftstransporter, Soldaten mit Soldaten, die sprungbereit auf den beiden langen Bänken des offenen Wagens saßen. Die beiden kleinen Jeeps hatten keine Chance. Die Fahrer, deren Sicht durch Staub und Rauch behindert war, schossen blindlings aus der Gasse heraus und geradewegs auf den Kanal zu, den sie viel zu spät bemerkten. Sie beide setzten zum Flug an, eine für kleine Jeeps untaugliche Option, taumelten einen Augenblick durch die Luft und klatschten hart in den schmutzigen Kanal, wo die Insassen hilflos im Wasser paddelten. Die beiden BTU’s schossen sehr dicht hintereinander durch die Linkskurve und jagten auf Bonds Panzer zu, ehe sie recht begriffen, was geschah. Er versuchte noch, ihnen auszuweichen, traf aber einen der Wagen frontal, scherte aus, streifte den anderen seitlich und schob ihn aus dem Weg. Mit Vollgas fuhr er weiter, während hinter ihm die 117
Schreie der Soldaten verhallten, die von ihrem Dreiachser heruntergeschleudert wurden. »Verkehrsrowdys!« murmelte Bond, reckte den Hals und sah Ourumows Wagen, der auf der anderen Seite des Kanals in derselben Richtung weiterfuhr. Der General im Fluchtwagen war noch immer am Rande der Panik. »Herrgott noch mal«, rief er seinem Fahrer zu, »es ist nur ein langsamer, alter Panzer! Häng das Ding ab!« »Ich tue mein Bestes, General!« Der Fahrer fühlte sich auch nicht entspannter als Ourumow. Natalja sah zum Rückfenster hinaus und beobachtete, daß der Panzer stetig Boden wettmachte. Er fuhr, jetzt schon fast auf ihrer Höhe, die gegenüberliegende Uferstraße entlang. Sie lächelte schadenfroh, wandte sich um und schenkte dem General ein wölfisches Lächeln. Er fing den Blick auf, schluckte zweimal, das Gesicht puterrot vor Wut. »Maul halten!« bellte er, dann sah er, daß sie sich einer weiteren Brücke näherten. »Über die Brücke!« schrie er dem Fahrer zu. »Wir überqueren vor ihm die Straße. Rauf auf die Brücke und weiter geradeaus! Er wird die Kurve nicht kriegen, und wir sind ihn los!« Nataljas Lächeln erlosch, als sie die sechs Polizei- und Militärfahrzeuge sah, die drüben hinter dem Panzer herjagten. Und die Polizeiwagen machten kein Geheimnis aus ihrer Gegenwart, ihr Blaulicht rotierte, die Sirenen heulten. Die Militärfahrzeuge – APCPanzerwagen – strotzten vor Waffen. Als Bond sah, wie Ourumows Wagen nach rechts herumgerissen wurde und auf die Brücke zufuhr, trat er das Gaspedal durch. Der T 55 hatte jedoch längst seine Höchstgeschwindigkeit erreicht, und Bond sah ein, daß er der Limousine nicht den Weg am Ende der Brücke abschneiden konnte, um zu verhindern, daß Ourumow – sehr wahrscheinlich – geradeaus weiterfuhr. Bond war sich bewußt, daß er verfolgt wurde, auch wenn er die Fahrzeuge nicht sehen konnte. Das Heulen der Polizeisirenen war trotz des Lärms in seiner Kabine deutlich zu hören, und Gott allein wußte, wer ihm sonst noch auf der Spur war. Vor seinem geistigen Auge sah er die APC-Dreiachser, die ihn mit ihren Panzerabwehrkanonen mühelos in Fetzen schießen konnten. Ourumows Wagen schoß von der Brücke, direkt vor ihm, und fuhr 118
geradeaus weiter. Bond nahm das Gas weg, bremste, schlug dann die Steuerung nach rechts, und seine Füße traten abwechselnd auf Bremsund Gaspedal. Diesmal hatte er alles perfekt unter Kontrolle, und der Panzer schwenkte präzise in die Straße ein. Vor sich sah Bond Ourumows Wagen, der, durch haltende Wagen behindert, vor einem Platz mit Kreisverkehr vergeblich versuchte, sich in den Verkehrsstrom einzufädeln. In der Mitte des Rondells stand ein riesiges, glänzendes Denkmal von Zar Nikolaus, der auf dem Rücken eines großen geflügelten Pferdes saß. Einen Moment lang glaubte Bond, er könne einfach aufschließen und den Wagen des Generals rammen, doch als er herankam, hatte der sich gerade in den Verkehr eingeordnet. »Wer zögert, den straft das Schicksal«, murmelte Bond und steuerte seinen Panzer geradewegs über das Rondell. In seinem Metallgehäuse nahm er die quietschenden Reifen bremsender Wagen und der LKWs wahr, die verzweifelt einem Zusammenprall mit dem Panzer zu entgehen versuchten. Er stieß einen Fluch aus, als die rechte Kette des T 55 einen Bierwagen erwischte. Ein Teil der Ladung rutschte vom Wagen, und Bond fragte sich, welcher finale Crash diese Serie beenden würde. In diesem Moment jedoch überquerte er schon die Mitte des Ro ndells und spürte den zermalmenden Schlag, als der Bug des T 55 gegen den Denkmalsockel prallte. Zar Nikolaus verlor die Balance und kippte, immer noch hoch auf dem geflügelten Roß, über das lange Rohr der Hundert-Millimeter-Kanone. Aus dem Rückfenster seines Wagens erblickte Ourumow eine Gestalt, die einem Racheengel ähnelte, der sich mit ausgebreiteten Flügeln auf ihn stürzte. Zum erstenmal seit vielen Jahren schlug der General mit vor Angst geweiteten Augen nach orthodoxem Brauch das Kreuz. Auf dem Platz polterten, klirrten und holperten indessen Hunderte von Bierflaschen über die Pflastersteine, eine Versuchung, der viele Autofahrer und Fußgänger nicht widerstehen konnten. Aufgeregt sprangen sie auf die Straße, grapschten nach den Flaschen, steckten sie in Einkaufstaschen, Aktenmappen oder benutzten Pullover und Hemden als Notbehelf, um so viele der begehrten Bierflaschen wie irgend möglich nach Hause zu tragen. Der Verkehr war inzwischen zum Stillstand gekommen, der Platz 119
war erfüllt von einer Kakophonie von Autohupen und Schreien der erbitterten Fahrer – inklusive Polizei und Militär. So hatte Bond für eine Weile jedenfalls Ruhe vor seinen Verfolgern, aber dieser Zustand konnte nicht lange andauern. Deutlicher als die Sirenen sagte ihm sein Gefühl, daß ihm noch mehr Polizeikräfte auf den Fersen waren. Hätte er den Konvoi aus der Luft sehen können, so wäre ihm klargeworden, daß sein T 55 dicht hinter dem Wagen des Generals fuhr und seinerseits von drei Polizeiwagen verfolgt wurde. Mit jeder Minute kam Bond nun besser mit der Maschinerie zurecht. Nachdem er durch eine lange, weite Kurve gefahren war, sah er eine Brücke vor sich, die sich, ungefähr noch fünfzig Meter entfernt, in geringer Höhe über die Straße spannte – und Ourumows Wagen, der mit hoher Geschwindigkeit die Unterführung passierte. Bond holte soviel aus den Motoren heraus, wie sie hergaben, sah den Brückenbogen herankommen, hörte den gewaltigen Schlag, als das Denkmal gegen die Querstrebe der Unterführung knallte und rückwärts über den Panzer rollte, mitten auf die Fahrbahn der folge nden Wagen. Während er weiterfuhr, hörte er den Polizeifunk ab. Da war die Rede von einer Straßensperre mit Panzerabwehrkanonen und einer Me nge anderer Waffen – allerdings hatte er keine Ahnung, wo diese Sperre errichtet wurde. Aber es war offensichtlich irgendwo auf der Route des Generals, der – wie Bond erst in diesem Moment bemerkte – unvermittelt nach rechts abgebogen war. Bond verlangsamte, aber zu spät, und rumpelte an der Straße vorbei, in der Ourumows Wagen verschwunden war. Er war jetzt am Stadtrand, wo die Häuser weniger dicht beisammen standen. Während er langsam weiterfuhr, suchte er nach einer weiteren rechts abzweigenden Seitenstraße, da er – gegen jede Wahrscheinlichkeit – hoffte, auf eine Straße parallel zu Ourumows Route zu stoßen. Er beschleunigte ein wenig, hörte im Polizeifunk, wie weitere Instruktionen zur Errichtung der Straßensperre durchgegeben wurden, und versuchte zugleich, die Kontrolle über den Panzer zu bewahren. Dann bemerkte er, daß er sich rasch einer weiteren Kreuzung näherte, bremste ab, schwenkte nach rechts und hielt ungeduldig Ausschau nach Ourumows Wagen. Doch dann erkannte er, daß er in eine Sack120
gasse gefahren war. Vor ihm erhob sich ein dreistöckiges Bürogebä ude. Im Erdgeschoß brannte licht, und hinter den Fenstern waren menschliche Silhouetten zu sehen. In letzten Augenblick hörten die Angestellten in dem Bürokomplex das Heulen des näher kommenden Panzers. Sie sprangen in Deckung, als das Ungetüm durch die Mauer brach, die Möbel in Streichhölzer, die Computerterminals zu Metallklumpen verwandelte und eine Serie von Monitorexplosionen auslöste. Mit maximaler Kraft fuhr der Panzer durch das Gebäude wie ein Messer durch reifen Brie. Er durchbrach die Rückwand und tauchte in einer breiten Straße wieder auf, während Betonklümpchen und Steinbrocken von dem Turm herunterkollerten. Eine Sekunde lang besann sich Bond, welche Richtung er einschlagen mußte, um Ourumows Wagen zu folgen. Er zögerte etwas, steuerte nach rechts und sah exakt das, wovon im Polizeifunk seit längerem die Rede war: Direkt vor ihm war die Barrikade, mit einem großen Panzerabwehrgeschütz und einer Menge anderer Waffen bestückt. Ein Offizier stand aufrecht in seinem Einsatzwagen neben der Barrikade, jederzeit bereit, den Schießbefehl zu erteilen. Sein einziges Problem bestand darin, daß Bonds Panzer hinter der Straßensperre durch die Hausfront gebrochen war. Zum erstenmal griff Bond nun zu Kolben und Abzugsbügel des vorderen Maschinengewehrs. Er drückte den Abzug und stellte erleichtert fest, daß die Waffe voll munitioniert und einsalzbereit war. Er roch den Pulverdampf in der engen Fahrerkabine des T 55 und sah das Chaos, das vor ihm ausbrach. Einige der Leuchtspurgeschosse trafen, aber alle verursachten totale Panik unter den überrumpelten Soldaten. Ein besonders tapferer Mann versuchte, die Kanone in Gegenrichtung zu schwenken. Wie wild drehte er an der Kurbel, um das Geschützrohr auf die Rückseite der Barrikade zu richten, aber da war der Panzer schon bei ihm. Bond spürte, wie die gewaltige Masse aus Stahl und Eisen berstend zur Seite kippte, nachdem die rechte Panzerkette die Kanone erfaßt hatte. Ein paar Kugeln pfiffen durch die Luft, als er auf der Straße weiterfuhr, eine Salve Geschosse prallte gegen die massive Stahlplatte am Heck des Panzers, aber Bond war heil davongekommen. Mehr noch; 121
Er konnte gerade noch sehen, wie Ourumows Auto zwei Häuserblocks weiter die Straße überquerte. Jetzt brauchte er dem General nicht mehr auf den Fersen zu bleiben, denn Bond hatte die Gegend wiedererkannt. Bei ihrer Stadtrundfahrt hatte Jack Wade ihn absichtlich durch diese Straße chauffiert, und Bond wußte genau, wo Ourumow hinwollte. Jetzt mußte er nur noch hoffen, daß er dort rechtzeitig eintreffen würde.
14. DER ZUG Es war ein weiteres Relikt der alten sowjetischen Militärmaschinerie, gelegen in einer länglichen Talmulde, umgeben von einer zerbröckelnden Backsteinmauer und Stacheldraht. Die Gebäude fingen schon an zu verfallen, und über dem Anwesen schwebte der finstere Hauch längst vergangener Macht. Offensichtlich war es früher von außerordentlicher strategischer Bedeutung gewesen. Das bewiesen die Struktur der Gebäude und die solide gebauten Laderampen ebenso wie die mittlerweile rostigen Kräne. Bond lag oben, am Rande der Mulde, in einer Mauerspalte und schaute auf das Terrain unter sich hinab. Der T 55 hatte tiefe Furchen in das Erdreich gegraben, als Bond den Damm hinaufgefahren war. Er war froh, daß er es geschafft hatte, vor Ourumow hier anzukommen, was allerdings nicht schwierig gewesen war. Das Auto mit dem General und Natalja hatte die normalen Straßen benutzen müssen, während Bond mit seinem Panzer querfeldein fahren konnte. Im stillen dankte er Jack Wade dafür, daß er ihm diesen Platz bei der Rundfahrt gleich nach seinem Eintreffen in St. Petersburg gezeigt hatte. Später, als der Waffenschieber Zukowskij die Gerüchte erwähnt hatte, daß Janus in einem gepanzerten Zug wohne, hatte sich Bond gleich gedacht, wo dieser Zug vermutlich stand: hier, im ehemaligen Hauptdepot des strategischen Waffenlagers. Den ersten Beweis für die 122
einstige Bedeutung dieses Komplexes fand er in den langen, robusten Eisenbahn-Flachwagen, die für den Schwertransport bestimmt waren. Mit ihnen waren all die Nuklearwaffen befördert worden, die im NATO-Code ›Scapegoats‹, ›Savage‹, ›Sego‹ und ›Scrooge‹ hießen – interkontinentale und taktische Atomraketen, die mit der Eisenbahn zu ihren Basen und Silos transportiert wurden oder sogar von den Waggons aus abgeschossen werden konnten. Die Gleisanlage schien gut in Schuß zu sein, ebenso der eine Zug, der im Depot stand. Eine große, mit schweren Waffen bestückte Diesellokomotive mit drei identischen Waggons, die ebenfalls vor Waffen strotzten. Der Dieselmotor lief schon im Leerlauf. Vorn an der Lokomotive war vor einem starken, teleskopartigen Puffer ein runder stählerner Schutzschild angebracht, fast so groß wie die gesamte Vorderfront der Lokomotive. Dieser riesige Puffer, dachte Bond, würde wohl jeden Versuch vereiteln, sich dem Zug in den Weg zu stellen. Er wäre auch ein guter Stoßdämpfer für den Fall, daß der Zug nukleare Fracht beförderte. Die haben den Zug sehr hübsch aufpoliert, sagte sich Bond im selben Moment, als der Wagen aus einer Unterführung herausschoß und mit kreischenden Bremsen bei einer der Rampen hielt. Bond beschloß abzuwarten, bis seine Insassen den Zug bestiegen hatten. Ihn würde es nicht mehr als zehn Minuten kosten, von dem Hügel zu der Stelle zu gelangen, wo er Janus noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten plante. Ourumow zerrte das Mädchen aus dem Wagen und wandte sich zu dem Fahrer um. Natalja stand zusammengesunken hinter dem General. »Soll ich warten, Herr General?« fragte der Fahrer. Ourumow nickte. »Wenn du Lust hast. Warte eine Ewigkeit lang!« Nach diesen Worten schoß er auf ihn. Zweimal in den Magen, und einmal – der ›Gnadenschuß‹ – in den Kopf, während der Mann bereits am Boden lag, Entsetzt wandte sich Natalja ab, sprang dann überrumpelt einen Schritt zurück. Xenia Onatopp war leise aus dem Zug gestiegen und stand direkt hinter ihr. »Willkommen, Natalia!« Xenia schenkte ihr ein wölfisches Lächeln 123
und wiegte sich in den Hüften. Eine Uzi-MPi hing ihr an der Schulter, und sie trug einen hautengen schwarzen Overall und blankpolierte halbhohe Stiefel. »Arkadij!« Sie beugte sich vor und küßte den General. »Wie schön, euch beide gesund und munter zu sehen. Janus wird sich sehr freuen.« »Nicht über das, was ich ihm zu erzählen habe«, erwiderte Ourumow mürrisch. »Alles halb so wild. Trübe Gedanken haben wir alle mal. Denken Sie lieber an sonnige Tage. – Komm, meine Kleine!« Sie sah Natalja an, als hätte sie Lust, sie aufzuessen. Während Xenia Natalja zum Zug führte, schien des Generals Trübsinn zu verfliegen. »Ach ja, ich werde nach dem harten Winter schon ein bißchen Sonnenschein genießen.« Dann lachte er – ein unangenehmes Kichern. »Natalja, Sie werden sich gut amüsieren. Xenia ist eine außergewöhnliche Frau. Sie liebt alles, was Beine hat. Ja, sie hat einen ausgefallenen Geschmack, unsere Xenia.« Als Natalja den Zug bestieg, hatte sie den Eindruck, daß es hier nicht nach diesem Gemisch von Schweiß, Öl und Wagenschmiere roch, das sie in einer Eisenbahn erwartet hätte. Statt dessen stieg ihr süßer Rosenduft in die Nase. Als sie Alec Trevelyans Wagen betrat, verschlug es ihr förmlich den Atem. Die Pracht der Einrichtung war überwältigend. Sie hatte Fotografien von Zar Nikolaus’ Salonwagen gesehen, mit den opulenten Wandbehängen, den Kronleuchtern, den herrlich gepolsterten Sesseln, der feinen Holztäfelung und den polierten Tischen, Trevelyans Wagen schien eine originalgetreue Nachbildung zu sein. Trevelyan saß an einem der Tische, der zum Frühstück gedeckt war. Das war der zweite Geruch, der Natalja in die Nase stieg: frischer, köstlicher Kaffee. Das Porzellan auf dem Frühstückstisch übertraf alles, was sie in dieser Hinsicht je gesehen hatte. Tassen und Teller hatten einen feinen, in Königsblau eingelegten Goldrand und waren mit einem Symbol verziert, das aussah wie ein königliches Emblem: ein blaues Wappenschild mit zwei goldenen Profilen, ein Gesicht, das in zwei Teile gespalten war. Genau wie das Gesicht des Mannes, der vor ihr saß und seinen Kaffee trank. Seine rechte Gesichtshälfte war ansehnlich und unverletzt, die linke vernarbt und abstoßend, die Augenhöhle war heruntergerutscht, der Mundwinkel verzerrt. Die Haut 124
zwischen Auge und Mund sah aus wie der Panzer eines Reptils. Während der Mann sie anstarrte, bemerkte Natalja, daß sich der Zug leicht schwankend in Bewe gung setzte und langsam beschleunigte. Der Mann mit dem entstellten Gesicht, den sie für Janus hielt, warf Ourumow einen Blick zu, dann sah er abermals Natalja an. Er musterte sie von oben bis unten, als wolle er sie mit seinen Blicken ausziehen. Es war ein demütigendes Erlebnis, und solange es anhielt, hatte sie das Gefühl, daß dieser seltsame Mensch tatsächlich die Kraft hatte, ihren Leib durch die Kleider hindurch zu sehen. Sie konnte ihm nicht in die Augen blicken und wandte verlegen ihren Kopf zur Seite. Schließlich sprach er zu Ourumow: »Entweder Sie haben mir dieses grandiose Geschenk für unsere lange Reise mitgebracht, oder Sie machen mich zu einem unglücklichen Menschen.« Ourumow zuckte die Schultern, als sei längst alles bedeutungslos. »Dieser Idiot Mischkin hat ihn mir vor der Nase weggeschnappt.« »Das heißt also, daß Bond noch am Leben ist.« Wieder zuckte Ourumow mit den Schultern. »Er ist entkommen.« Die schuppige, schiefe Seite seines Gesichtes zuckte. »Gut für Bond«, murmelte er. Dann hob er den Kopf. »Aber schlecht für Sie, General!« Xenia gab ein unangenehmes, krächzendes Lachen von sich. »Ich sagte Ihnen doch, wenn ich Bond nicht schnappen konnte, schaffen Sie es erst recht nicht«, hänselte sie Ourumow. Trevelyan schüttelte den Kopf. »Bond hat sieben Leben, wie eine Katze. Nun bringen Sie mir das Mädchen rüber!« Er deutete auf Natalja. Ourumow legte seine Hand auf ihre Schulter, schubste sie zu Janus/Trevelyan und stieß sie auf den gepolsterten Stuhl neben ihm. »Bleiben Sie ruhig sitzen, und seien Sie ein nettes Mädchen!« sagte Trevelyan sanft. Ihr fiel auf, daß er mit einem ähnlichen Akzent sprach wie Bond. Als er sich zu ihr vorbeugte und sein Gesicht dem ihren näherte, spürte sie den Impuls, vor diesem Mann zu fliehen – nicht so sehr wegen seiner Entstellung, sondern wegen seiner Persönlichkeit, die ihr nahezu teuflisch erschien. »Sie mögen meinen Freund James?« fragte er. Sie antwortete mit einem unverbindlichen Kopfnicken. Eine ganz kleine Kopfbewegung nur. 125
»Ja, meine Liebe, James und ich waren lange Zeit unzertrennlich. Wir haben alles miteinander geteilt.« Wenn er lächelte, dann nur mit der rechten Hälfte seines Mundes, während sich sein linkes Auge – mit einer sehr langsamen Senkung des Reptil-Lides – zu schließen schien. Das Auge erinnerte sie an eine Eidechse oder ein Chamäleon. Als er sich noch dichter an sie heranschob, nahm sie außer dem Duft nach Kaffee und Herrenparfüm einen weiteren Geruch wahr. Zuerst konnte sie es nicht einordnen, doch dann merkte sie, daß es der Geruch nach verbranntem Fleisch war. Sie war nicht ganz sicher, ob sie sich das nur einbildete. Jemand hatte ihr einmal erzählt, daß man in Berlin bei Regen immer noch den Brandgeruch riechen könne, der die Luft der Stadt vor fünfzig Jahren nach den zahllosen Luftangriffen und dem grauenhaften Bombardement in den letzten Kriegstagen erfüllt hatte, Er mußte gefühlt haben, daß sie vor ihm zurückweichen wollte. »Wir haben alles miteinander geteilt!« wiederholte er. »Sie müssen verstehen: Dem Sieger gehört die Beute. Sie können sich Ihr Leben sehr angenehm machen. Sie können für eine Weile in großem Luxus leben. Und am Ende werden Sie herausfinden, daß Sie mich sehr gern haben.« Seine Lippen berührten ihren Nacken; mit einer sanften Handbewegung drehte er ihren Kopf zu sich, und nun suchten seine Lippen ihren Mund. Scheinbar widerstandslos duldete sie seine Annäherung, öffnete dann jedoch – wie ein unberechenbares Tier – ihren Mund und biß ihm in die Lippe. Sie spürte, wie ihre Zähne in sein Fleisch schlugen, und als er mit einem leisen Schrei der Verärgerung zurückfuhr, sah sie, daß Blut von seiner Lippe rann. Sie bemerkte nicht seine Hand, die hochschnellte und ihr einen harten Schlag ins Gesicht versetzte; sie fühlte nur den stechenden Schmerz, als der Hieb ihren Kopf traf. »Sie Bastard!« rief sie und spuckte nach ihm. »Ich mag couragierte Frauen!« Abermals schenkte er ihr sein ve rzerrtes Lächeln. »Eine lebhafte Frau wie Sie macht viel mehr Spaß als so ein braves Kätzchen, das einem wie ein Kissen zu Füßen liegt. Ich werde es genießen, Sie gefügig zu machen, Natalja Fjodorowna.« Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Woher kennen Sie meinen Namen?« 126
Wieder das Lächeln, diesmal breiter und daher noch finsterer wi rkend. »Sie werden erstaunt sein, was ich alles weiß.« Im selben Moment, als er sich ihr wieder nähern wollte, ertönte eine schrille, durchdringende Alarmsirene. Natalja sah, daß zugleich auf dem Dach der Waggons rote Lichter aufblinkten. Er stieß sie grob beiseite, befahl Ourumow mit knappen Worten, hierzubleiben und auf Natalja aufzupassen. Dann stürmte er davon, durch den Mittelgang zum nächsten Wagen. Xenia, ihre kleine Uzi in der Hand, folgte ihm. Bond blieb nur kurze Zeit, um eine geeignete Stelle für seinen Hinterhalt zu suchen. Er wählte einen Streckenabschnitt von etwa zwei Kilometern, der zu einem kurzen Tunnel führte. Der Panzer wäre fast kopfüber abgestürzt, als er den Damm herunter zu jener Stelle gerumpelt war, die Bond ausgewählt hatte. Schließlich manövrierte er den Moloch genau auf den vorgesehenen Platz: auf die Schienen, kurz vor dem Tunnel, die Kanone dorthin ausgerichtet, wo der Zug auftauchen mußte. Bond öffnete die Luke, kletterte in den Geschützturm und überprüfte die Munition, die seitlich auf Gestellen lagerte: Rauchgranaten, hochexplosive und panzerbrechende Granaten. Bond brauchte nicht zweimal zu überlegen. Die Kanone war leicht genug zu laden, und mit dem im Leerlauf brummenden Motor konnte er den Geschützturm drehen und die Kanone so ausrichten, daß sie exakt den herankommenden Zug treffen mußte. Allerdings bestand das Risiko, daß Trevelyan auf Sicherheit fuhr und, sobald der Panzer in Sicht kam, den Zug abstoppen ließ, bevor er in Reichweite des Panzergeschützes kam. Das zweite Risiko: Er hoffte, daß sich Natalja im hinteren Wagen befinden würde, aber gewiß war das nicht. Er hatte nur eine Chance, eine Granate, mit der er die Lokomotive treffen mußte. Im selben Moment, da sie abgeschossen wäre, mußte er raus, durch den Ausstieg und ab in Deckung. Nur ein einziger Punkt bereitete ihm wirklich Sorge: Er besaß nur noch wenig Maschinenpistolenmunition, nach seiner Berechnung sechs Schuß – nicht genug, um Trevelyan und seine Offiziere auszuschalten. Als er durch das Zielfernrohr spähte, sah er, daß der Zug bereits in sein Blickfeld rollte. 127
Trevelyan und Xenia waren in den mittleren Wagen gelaufen, der wie ein Befehlsstand mit hochmodernen Computern und verschiedenen elektronischen Kommunikationsmitteln ausgerüstet war. Wenn sie wollten, konnten sie von hier aus mit der ganzen Welt Kontakt aufnehmen. Am Ende des Wagens befand sich ein Monitor, der die Bilder von einer vorne auf die Lokomotive montierten Kamera Übertrag. Als Alec den Panzer sah, der auf den Geleisen stand und auf den sie mit hoher Geschwindigkeit zufuhren, entfuhr ihm ein untypischer Seufzer, in dem sich Ärger mit einem Hauch von Bewunderung mischte. »Typisch James Bond!« murmelte er. »Der bringt uns zum Entgleisen! Wir müssen stoppen!« Xenia, sonst die Ruhe selbst, schien einer Panik nahe zu sein. »Nein!« rief Trevelyan. »Was sollen wir tun?« Die Frage kam über Lautsprecher vom Lokomotivführer, und es war zu spüren, daß er die Geschwindigkeit schon zurücknahm. »Lassen Sie das!« rief Trevelyan in ein an der Wand angebrachtes Mikrofon. »Fahren Sie weiter! Volles Tempo! Rammen Sie das Ding!« »Aber…«, ertönte die Stimme des Lokomotivführers. »Rammen Sie ihn, zum Teufel! Sie haben doch den verdammten Rammbock! fetzt ist der Moment gekommen, um ihn zu benutzen!« Das war leicht gesagt und klang überzeugend, aber die Situation hatte auch einen gefährlichen Aspekt. Trevelyan war erfahren genug, um die Lage einschätzen zu können. Er war ebenso ein Spieler wie Bond. Was immer jetzt passiert, dachte er, der Zug wird anschließend nur noch ein Haufen Schrott sein. Okay, damit konnte er leben, denn er würde mühelos ein anderes Transportfahrzeug finden. Es war ein Ärgernis, ein kleiner Rückschlag, aber er würde zweifellos trotzdem sein Ziel erreichen. Er schaute hinauf zum Monitor und schnallte sich auf seinem Sitz fest. Ihm gegenüber preßte sich auch Xenia fest in ihren Sitz, die Uzi auf dem Schoß, die Beine ausgestreckt. Der Monitor über ihnen zeigte, daß sie mit hoher Geschwindigkeit auf den Panzer zufuhren. Noch etwa sechshundert Meter – und der Zug raste. Als der Zug noch zweihundert Meter von dem T 55 entfernt war, 128
spürte Trevelyan doch einen Hauch von Angst. Dann gleißte ein Blitz auf, gefolgt von einer gewaltigen Erschütterung, als würde der Waggon von einem Erdbeben erfaßt. Bond hatte den Abzugsknopf gedrückt. Der Geschützturm ruckte unter dem Rückstoß, das Geschoß traf die Diesellok, explodierte in einem gewaltigen Flammenmeer, das sich so weit ausbreitete, als versuche es, auch den Panzer zu verschlingen. Bond stemmte sich durch die Einstiegsluke nach oben, sprang nach links und rollte sich ab, neben den Bahndamm, fast im selben Moment, als die Lokomotive auf den Panzer prallte und der teleskopförmige Puffer in Stucke gerissen wurde. Während die monströse Lok den in Brand geratenen Panzer in den Tunnel schob, preßte sich Bond flach auf den Boden. Dann entlud sich die zweite Explosion – ein gigantischer Donnerschlag und sengende Hitze, deren Gluthauch selbst er noch spürte, obwohl er in sicherem Abstand im Gras lag. Er hob den Kopf und sah eine feurige Rauchwolke – ein Gemisch aus Öl und Sprengstoff – die aus dem Tunnel aufstieg und ein tödliches Fragezeichen in den Himmel malte. Währenddessen stand Bond schon auf den Füßen und sprintete, die Maschinenpistole in der Hand, mit großen Sprüngen auf den Zug zu. Er sprang auf eine der Türstufen zwischen dem letzten und dem mittleren Wagen und warf sich gegen die Tür. Seine Hand ergriff heißes Metall, sein Herz schlug heftig in dem Wunsch, die Affäre Trevelyan ein für allemal zu beenden. Xenia und Trevelyan waren in ihrem Wagen zu Boden geschleudert worden, Ausrüstung und Geräte hatten sich von der Wand gelöst, Xenias Maschinenpistole war den Gang entlang geschlittert, und das Schlimmste von allem: Es war stockdunkel im Waggon. »Das Notaggregat!« schrie Trevelyan. Xenia stolperte vorwärts, tastete die Wand entlang nach dem großen Hebel der Lichtmaschine, die nun, da mit der Explosion der Lokomotive die zentrale Energieversorgung ausgefallen war, den nötigen Strom liefern sollte. Sie fand den Hebel, drückte ihn herunter, das Licht ging wieder an… »Keiner rührt sich vom Fleck!« sagte eine Stimme hinter ihnen. 129
Trevelyan, halb hinter einem Tisch eingeklemmt, machte sich gar nicht erst die Mühe, sich umzudrehen. »James, warum kannst du nicht wie jeder normale Mensch einfach sterben?«
15. DER STÄHLERNE SARG Durch sein betont unbekümmertes Verhalten wollte Alec Trevelyan Bond entweder ärgern oder unachtsam machen, doch beides mißlang ihm. Bond erinnerte sich an die vielen Tricks, die Alec in den alten Tagen auf Lager hatte, als sie gemeinsam in den kalten Krieg gezogen waren. Insbesondere erinnerte er sich an ein Seminar, auf dem Trevelyan darüber gesprochen hatte, daß ein Mann im Einsatz niemals seine wahren Emotionen zeigen dürfe und vollkommen ungerührt reagieren solle, wenn er in die Enge getrieben worden sei. Offensichtlich hatte sich Alec in den vergangenen Jahren sehr ve rändert, aber mit ziemlicher Sicherheit hatte er seine altbewährten Methoden nicht verworfen. Wenn er sich nach dem, was in den letzten Minuten passiert war, so entspannt gab, konnte man sicher sein, daß er eine Überraschung in der Hinterhand hatte. Also war Vorsicht geboten. Beide, Xenia und Trevelyan, standen mit dem Rücken zu Bond und ein bißchen zu nahe bei verschiedenen Schaltern und Knöpfen, was bedeuten konnte, daß sie urplötzlich das Licht abschalten oder die Tür zum nächsten, dem vordersten Wagen öffnen konnten. Die Lokomotive hatte sich von den Wagen abgekoppelt, als sie den Panzer in den Tunnel hineingeschoben hatte. Bond war sich nicht sicher, ob Natalja im vorderen oder im letzten Wagen war. Außerdem brauchte er eine neue Waffe. Seine Gefangenen wandten ihm noch immer den Rücken zu. Er ließ seine Blicke nach links und rechts schweifen und entdeckte eine kleine Handfeuerwaffe, eine Beretta, wie ihm schien. Sie lag auf einem Computertisch, der den Aufprall und die Detonation heil überstanden hatte. Bond trat einen Schritt zur Seite, nahm die Waffe auf und prüfte den 130
Mechanismus. Am Gewicht der Pistole erkannte er, daß das Magazin voll war. Indem er den Schlitten zurückzog und wieder nach vo rne schnellen ließ, lud er die Waffe durch und machte sie schußbereit. »Umdrehen! Hände über den Kopf!« befahl er. »Alle beide! Jetzt!« Als sie sich umwandten, sah er, daß Xenias Augen auf die Uzi gerichtet waren, die einen Meter vor ihr auf dem Fußboden lag. »Kicken Sie mir bitte die Uzi rüber, Xenia. Wir wollen doch keinen Unfall riskieren. Und ihr beide haltet euch schon von dieser Tür fern!« Die Uzi schlitterte über den Boden auf ihn zu. Seine Pistole blieb ruhig auf die beiden gerichtet, während er Xenias Maschinenpistole mit dem Fuß abfing und unter die Sitze zu seiner Rechten stieß. Trevelyan lachte spöttisch. »James, du hast immer viel Glück gehabt, wahrscheinlich deshalb, weil du immer tolldreist gewesen bist. Du reagierst sehr gut, wenn du unter Druck stehst, aber du denkst nie voraus. Du hast hier keine Chance. Du hast keinerlei Unterstützung und keinen Fluchtweg. Du bist hier mit uns als Geiseln festgenagelt. Ein Dichter hat mal geschrieben: ›Das Barometer fällt von Stunde zu Stunde…‹« Bond vollendete das Zitat: »›… es wird immer weiter fallen. Auch wenn du es zertrümmerst, du kannst das Wetter nicht ändern.‹ Ja, ich weiß, Alec, und ich bin darauf gefaßt, daß du bereits das Startzeichen für einen erderschütternden Plan gegeben hast.« »Erderschütternd ist gut. Sehr gut, James. Nein, du kannst nichts mehr stoppen. Es sei denn, du findest den Ausgangspunkt und räumst den bösen Buben Boris binnen weniger Tage aus dem Weg. Du bist fertig, alter Junge. Du hast Verschissen. Ich bin der einzige, der mö glicherweise noch etwas ändern könnte. Aber ich glaube nicht, daß ich das tun werde. Immerhin habe ich eine Trumpfkarte in Händen, den Joker, sozusagen.« »Ach ja?« »Ich habe die schöne Natalja.« »Und?« »Was meinst du mit ›und‹, James?« »Warum sollte Natalja ein Joker sein?« »Komm, James, vor mir kannst du dich nicht verstellen.« »Tatsächlich nicht? Wo ist sie denn, der kostbare Trumpf?« »Ich kann sie für dich herbeischaffen. Du mußt mir nur gestatten, 131
das Mikrofon zu benutzen.« Er deutete mit dem Kopf auf die Stelle an der Wand, wo das Mikro angebracht war. »Ich brauche nur deine Erlaubnis, um…« »Mach bloß keine Dummheiten, Alec! Ich möchte dich wirklich nicht umbringen. Ich möchte dich heimbringen.« »O ja, heim!« spottete Trevelyan. »Ich darf wohl annehmen, du meinst damit England, Heim und Herd.« »Nein, ich meine England, Heim und Gesetz.« Trevelyan zeigte noch einmal auf das Mikrofon, und Bond nickte, ohne seine Augen oder die Pistole zu bewegen, deren Lauf weiter auf Xenia und Trevelyan zielte. »Ourumow, bringen Sie sie her!« sagte Trevelyan ins Mikro und legte es wieder auf die Wandkonsole. »Ein reizendes Mädchen! Sie schmeckt nach… Tja, ich würde sagen, sie schmeckt nach Erdbeeren. Du hattest doch immer eine Vorliebe für Mädchen mit Erdbeergeschmack. James.« »Ich weiß nicht, wonach sie schmeckt.« »Wie schade für dich. Ich jedenfalls weiß es.« Was für ein cleverer Schauspieler! dachte Bond. Mit diesem simplen Text beschwort er ein Szenario herauf: zahllose Nächte, die er in Nataljas Armen verbracht hat, Fleischeslust in allen erdenklichen Varianten, die er mit ihr praktiziert hat. Die Tür hinter ihm sprang auf, und Natalja stolperte herein. General Ourumow hatte einen Arm um ihre Kehle gelegt und preßte sie an sich, während er mit der anderen Hand eine Pistole an ihre Stirn hielt. Trevelyan lachte. Es war nicht einfach ein freudiges oder spöttisches Lachen, fand Bond, nein, es was das Lachen eines Verrückten. »Na also, James!« Wieder dachte Bond, daß der Mann eine Spur zu kühl war. Da war doch irgendwas im Busch! Trevelyan war viel zu entspannt. »Wir sind in einer Sackgasse, James. Und wenn du darüber nachdenkst, sind wir auch wieder genau da, wo wir angefangen haben. Entscheide dich: zwischen deiner kleinen Freundin und deiner Mission aufzudecken, was ich habe und wo es versteckt ist« Während er die Pistole weiter auf die beiden gerichtet hielt, drehte Bond seinen Kopf ein wenig zu Ourumow. »Sagen Sie, General, was hat Ihnen dieser Kosake versprochen?« 132
Im Augenwinkel konnte er sehen, daß Ourumow für einen Moment verunsichert zu sein schien. »Nebensächliche Details«, murmelte Trevelyan. »Sie wissen das doch, General Ourumow? Sie wissen, daß er ein Lienz-Kosake ist?« »Das ist lange her und weit, weit weg. Wie ein Dramatiker mal über die Liebesfreuden geschrieben hat; ›Das war ein anderes Land‹, und der Richter, nebenbei, ist tot.« »Ist das wahr?« Ourumow klang erschüttert »Das mit dem anderen Land?« Trevelyan gab einen kieksenden Lacher von sich. »Es ist wahr, Ourumow. Er ist ein Lienz-Kosake, und Sie wissen, die erinnern sich alle sehr genau an die Säuberungsaktionen. Er kann Sie und Ihresgleichen nicht ausstehen. Er wird Sie ans Messer liefern. So wie er alle anderen verraten hat.« »Ist das wirklich wahr?« wiederholte Ourumow, wurde aber sogleich von Trevelyan unterbrochen. »Wahr ist, daß Sie und ich in achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden mehr Geld und mehr Macht besitzen werden als Gott! Mr. Bond wird dann nur ein bescheidenes Begräbnis bekommen, und ich bezweifle, daß sehr viele Leute um ihn trauern werden. Es könnte sein, daß sich Moneypenny ein paar Tränen aus den Augen wischt, und etwa ein Dutzend Gastwirte werden um ihren Kontostand bangen. Aber wenn’s soweit ist, werden sich ohnehin eine Menge Leute um ihren Kontostand Sorgen machen.« Er legte eine kleine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »So, was soll’s denn sein, James? Zwei Ziele, Zeit für einen Schuß. Wie entscheidest du dich? Für das Mädchen oder deine Mission?« Bond zuckte die Achseln. »Töte das Mädchen, wenn’s sein muß. Sie bedeutet mir nichts.« Natalja gab ein leises Stöhnen von sich, das tief aus ihrem Inneren zu kommen schien. »Wir sehen uns in der Hölle wieder, James.« Mit einer Kopfbewegung befahl Trevelyan dem General, das Mädchen zu töten. Aber Ourumow rang noch um Fassung, und diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte Natalja. Sie machte sich frei, stieß ihm ihr Knie in den Unterleib und hechtete zur Seite, so daß Bond freies Schußfeld 133
hatte. Der Schuß klang in dem engen Raum des Eisenbahnwagens wie Kanonendonner, Ourumows Kopf verschwand wie in Zeitlupe in einem feinen roten Nebel. Bond warf sich zu Boden, rollte neben Natalja, richtete sich halb auf und schoß abermals. Die ersten beiden Schüsse gingen zu hoch und zu weit nach links. Während er sorgfältiger zielte, wurde bereits die Tür am Ende des Wagens geöffnet, und Xenia – gefolgt von Trevelyan – verschwand nach draußen. Zwei weitere Schüsse zersplitterten die Holztäfelung, aber die beiden waren schon auf und davon. Als Bond die Tür erreichte, hörte er, wie von draußen ein Riegel vorgeschoben wurde. Fast zur selben Zeit senkten sich klirrend dicke, gepanzerte Rolladen vor die Fenster. »Wir befinden uns in einem gepanzerten Sarg«, sagte Bond gelassen. »Ja, mir geht’s gut, James. Danke, daß du fragst.« »Tut mir leid, aber…« Der eine große Computer auf dem Tisch, von dem Bond die Beretta geschnappt hat, begann plötzlich zu piepen. Natalja schaute hin und rief: »Boris?« »Wo?« »Irgendwo da draußen!« Sie schob Bond beiseite, setzte sich auf den Stuhl vor dem Computertisch und ließ ihre Finger über die Tastatur tanzen. »Natalja, was, zum Teufel, tust du da?« »James, laß mich! Irgendwo da draußen, in der wirklichen Welt, sitzt Boris an einem Computer. Was anderes ist von ihm auch nicht zu erwarten. Er kann nur mit Computern leben. Er könnte an jedem beliebigen Ort sein. Vielleicht in Honolulu, vielleicht in Vierbrücken.« »Zweibrücken.« »Okay, zwei. Das ist sein Programm! Wenn ich es mit einem SpikeRuf versuche, könnte ich herausfinden, wo genau er ist. Würde das was helfen?« »Eine Menge.« »Gut, dann laß mich mal machen!« Sie raunzte ihn an: »Steh hier nicht hemm, Mann! Sieh zu, daß wir hier rauskommen!« »Zu Befehl, Sir, wie Sie wünschen. Auf der Stelle, Sir.« Er wandte 134
seine Aufmerksamkeit dem Fußboden zu, holte ein langes Schweizer Armeemesser aus der Geheimtasche in seinem Hosenbund und begann, den Teppichboden aufzuschneiden. Trevelyan und Xenia waren aus dem Zug gesprungen. »Bei Gott, ich hoffe nur, daß er bei der Explosion nicht beschädigt worden ist«, sagte Trevelyan. Er klang besorgt. »Wenn doch, können wir einpacken.« Sie standen vor dem ersten Waggon, dessen Seitenfront von der Detonation zerschrammt und angesengt war. Trevelyan zog ein kleines Gerät aus der Tasche, das aussah wie eine Fernbedienung, richtete es auf den Waggon und drückte auf einen Knopf. Es entstand ein rumpelndes Geräusch, die vier Seitenwände klappten an Scharnieren herunter und gaben den Blick frei auf einen schnittigen, kleinen schwarzen Hubschrauber. »Geschafft!« rief Xenia. Sie und Trevelyan schwangen sich auf den Flachwagen und entfernten mit eingespielten Handgriffen die metallenen Haltegurte rund um die Maschine. Sekunden später duckte sich Trevelyan unter den mittleren Wagen und horchte auf die Geräusche, die Bond drinnen erzeugte. Seine Hand glitt zu einer kleinen Blackbox, die unter dem Wagen angebracht war, und tippte ein paar Zahlen ein. Als er wieder unter dem Wagen auftauchte, hatte Xenia schon den Motor des Helikopters angeworfen, die Rotorblätter drehten sich. Ein paar Sekunden später hob der Hubschrauber ab. Trevelyan, der an der Steuerung saß, flog einen weiten Bogen, ließ das Flugzeug über dem mittleren Wagen schweben und sprach schnell in ein elektrisches Megaphon, das seine Stimme gewaltig verstärkte. Natalja tippte wie wild auf die Tasten des Computers. Verschiedene Schrittzüge tauchten auf und wurden durch andere ersetzt: C:› CD SPIKE C:› SPIKE C:› SEND SPIKE ENTER Sie tippte auf die Eingabetaste, und prompt erschien die Zeile: C:› SPIKE SENT. 135
Sie stieß einen wilden Kriegsschrei aus. »Ich hoffe, ich habe ihn.« Da hörten beide die körperlose Stimme von Janus/Trevelyan, die aus der Höhe zu ihnen drang: »Viel Glück mit dem Fußboden, James! Ich habe den Timer auf drei Minuten gesetzt. Die gleichen drei Minuten, die du mir damals bei Archangelsk gegeben hast. Das war das mindeste, was ich einem alten Freund wie dir schuldig war.« Vom Boden her war nun ein ununterbrochener Piepton zu hören, und über allen Türen des Waggons flackerten rote Lichter auf. »Was bedeutet das?« fragte Natalja erschrocken. »Es bedeutet, daß wir noch genau sechzig Sekunden haben, um hier rauszukommen.« »Oh!« Sie konzentrierte sich wieder auf den Computer und tippte nun noch schneller ihre Codes in die Tastatur. Bond hatte den Teppichboden aufgeschlitzt, zog ihn jetzt hoch, so daß der stählerne Fußboden bloßlag. Er nahm seine Armbanduhr vom Handgelenk, stellte sie so ein, daß die Zeiger übereinander standen, und drückte sodann auf einen kleinen Knopf am Rande des Uhrgehäuses, Ein dünner, heller Laserstrahl zischte aus der Seite heraus. Bond richtete den Strahl auf den Fußboden und schnitt ein kreisrundes Loch in den Stahl. Diese Uhr war eines der nützlichsten Dinge, die Q jemals für Bond entworfen hatte. Natalja hatte einen neuen Befehl in den Computer eingegeben: C:› FOLLOW SPIKE TRAGE. Der Schriftzug löste sich auf, und an seiner Stelle erschien eine Landkarte. Sie verfolgte die rote Linie, die über die Grafik des Erdballs wanderte. »Er ist nicht mehr in Rußland, Deutschland, Paris, Madrid, Rom, London …« Sie sprach schneller und schneller, während sie die konfuse Route verfolgte, die Boris gereist war. »New York, Washington, Miami, Key West…« »Zwanzig Sekunden!« schrie Bond. »Kuba, James! Er ist in Kuba…« Bond trat heftig auf die Mitte des Kreises, den der Laserstrahl in den Boden geschnitten harte, und das Stahlstück fiel nach unten auf die Gleise. »Fünfzehn Sekunden!« »Havanna! Da muß er sein! Nein, von da ist er schon wieder weg… 136
nach Norden. Aber er ist noch auf Kuba…« »Das genügt!« Er packte sie am Hemdkragen und zog sie vom Stuhl, stieß sie durch das Loch und folgte ihr, genau fünf Sekunden vor dem Ende des Countdowns. Sie krochen, so schnell sie konnten, unter dem Wagen hervor. Bond warf sich über sie, um sie mit seinem Körper zu schützen, gerade als die drei Waggons mit donnerndem Getöse in die Luft flogen. Natalja sprintete los, zur anderen Seite des Bahndamms. Bond hinterher. Wieder warf er sich über sie. Sie lächelte ihm zu. »Wow! Hat es dir gefallen?« »Es war viel zu heiß.« »Ich versteh’ das nicht, James. Was ist mit dir los? Zerstörst du alle Fahrzeuge, mit denen du fährst?« »Ja, das scheint ein übliches Operationsverfahren dieser Mission zu werden.« »Wie auch immer. Ich denke, wir sollten uns jetzt auf unseren Trip nach Kuba vorbereiten.« »Unseren Trip?« »Du glaubst doch nicht, daß ich dich die Sache allein beenden lasse, oder? Und außerdem: Weißt du etwa, wie man Mischa entschärfen kann?« »An und für sich – wo du es gerade erwähnst – nein. Ein bißchen Hilfe wäre nicht schlecht« »Kannst du sie kriegen?« »Oh, ich denke schon.« »Gut. Nun, James, gibt es da noch andere ›Operationsverfahren‹ von denen ich wissen müßte?« »Tausende.« Er lächelte sie an. Seine Lippen näherten sich ihrem Mund. »Keine Sorge! Ich lege nur ein Lippenbekenntnis ab.« »Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen«, sagte Natalja Simonowa, während sie ihm ihr Gesicht und dann ihren Körper zuwandte.
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16. ZWISCHENSPIEL Sie hatten jetzt eine Menge Probleme zu bewältigen, und die ersten, scheinbar am leichtesten zu lösenden stellten sich als die schwierigsten heraus. Sie waren zu Fuß, etwa zehn oder zwölf Kilometer von St. Petersburg entfernt. Im neuen, demokratischen Rußland war es nicht unbedingt ratsam, ohne fahrbaren Untersatz zu reisen. Außerdem brauchte Bond ein Telefon, um die wichtigste Hürde zu nehmen: Ve rbindung mit Jack Wade aufzunehmen, seinem einzigen Rückhalt. Sie wanderten ein paar Kilometer, glücklicherweise von niemandem belästigt – bis auf einen Bettler, der darauf bestand, ihnen mit seiner Fistelstimme ein Lied vorzusingen. Soweit Bond ihn verstehen konnte, kam darin eine Zeile vor, die ›O meine leidenden Brüder‹ zu lauten schien. Gegen seine Überzeugung schenkte er dem Mann ein kleines Ve rmögen – fünf Dollar – und fragte Natalja, worum es in dem Lied ging. »Oh, das ist ein altes Revolutionslied aus der Zeit vor dem Bolschewismus.« Endlich erreichten sie eine schmuddelige kleine Gastwirtschaft. Der Wirt gestartete ihnen, gegen Entgelt sein Telefon zu benutzen unter der Bedingung, daß sie bei ihm frühstücken und hierfür abermals bezahlen würden. Bond wählte die Nummer, die Jack Wade ihm gegeben hatte, und hörte Wades Stimme, die ihm empfahl, eine Nachricht zu hinterlassen und den Tag zu genießen. Er sagte dem CIA-Mann, wo er sei und daß er ein Fortbewegungsmittel sowie ein paar weitere Hilfeleistungen brauche. Der Kaffee war erstaunlich gut. Dazu gab es Brathering mit Schwarzbrot. Sie hatten gerade aufgegessen, als ein Polizeiwagen mit quietschenden Bremsen vor dem Lokal hielt. »Das Spiel ist aus«, flüsterte Bond. »Wir sind im Eimer.« Der Wirt sah das etwas anders. Er war offensichtlich ein Mann, der gegen jede Form von Autorität eine Abneigung hegte. Wie ein von der Leine gelassener Windhund kam er hinter seinem Tresen hervor. 138
Während er in rasendem Russisch auf sie einflüsterte, geleitete er sie durch eine Hinterstube, dann eine kurze Treppe hinauf bis zu einem großen Schrank, in dem allerlei Flaschen und Konservendosen aufbewahrt waren – Schwarzmarktware, vermutete Bond. Der Wirt legte einen Finger auf seine Lippen, bedeutete den beiden, sich in den Schrank zu quetschen, schloß die Tür hinter ihnen und ließ sie im Dunkeln allein. Natalja suchte sein Gesicht. Ihre Finger berührten seine Augen, Nase, Mund und Kinn. Bond zog sie an sich. Zuerst schien sie nicht zu reagieren, als seine Lippen die ihren berührten, doch dann, als habe jemand einen Schalter umgelegt, fühlte er, wie sie sich an ihn schmiegte, wie ihr Mund sich zum Kuß öffnete. Von unten drangen streitende Stimmen, dann Gelächter zu ihnen herauf. Nach ungefähr zwanzig Minuten hörten sie die Schritte des Wirts, der die Treppe heraufkam. Er lachte, als er die Tür öffnete. »Ein paar Dummköpfe haben sich an irgendwelchen Waffen und Eisenbahngeräten zu schaffen gemacht.« Er entblößte seine Zähne samt Lücken zu einem hämischen Grinsen, »Die Polizei und die Sicherheitsorgane suchen nach einem Mann und einer Frau. Ich wollte mich mit diesen Leuten nicht rumärgern und habe ihnen gesagt, ich hätte heute überhaupt noch keine Gäste gehabt. Gut, oder?« »Sehr gut!« Bond steckte ihm Geld zu, was den Mann noch fröhlicher machte. Ungefähr eine halbe Stunde später tauchte Wade auf, immer noch in dem alten, vergammelten Moskowitsch und mit seinem strahlendsten Lächeln. Während sie im Wagen zum Hotel fuhren, gab Bond ihm eine Einkaufsliste: Tickets für den nächstmöglichen Flug in die Vereinigten Staaten, einen gültigen Paß nebst Ausreisevisum für Natalja und neue Kleider für sie. »Nicht gerade die einfachste Sache der Welt.« Wades Stimme klang gleichgültig und matt. »Andererseits auch nicht unmöglich.« Plötzlich riß er das Steuer nach rechts hemm und bog von der Hauptstraße in einen schmalen Feldweg ein. »Wenn uns hier jemand entgegenkommt, stecken wir fest!« sagte Bond irritiert. »Warum dieser Traktorpfad, Jack?« 139
»Wegen der Straßensperren und der anderen Spielchen, die sie vorbereitet haben, James.« »Straßensperren?« Natalja wurde nervös. »Ja, mit Autos, Pferden, Bullen, KGB…« »KGB gibt’s nicht mehr«, widersprach Natalja. »Sicher, ich sag’s nur, weil alle Welt die Bande noch so nennt. Früher KGB, noch früher Tscheka. Auswechselbar, Baby. Wenn Sie das nicht wissen, muß Ihnen jemand Essig in die Haferflocken geschüttet haben. Ich kenne nicht einen einzigen Russen, der den KGB anders nennt als KGB. ›Gestern, heute, für immer‹, wie es in dem Musical ›Kitten‹ heißt.« »›Cats‹«, verbesserte Bond. »Ist doch egal. Jedenfalls krauchen in den Außenbezirken haufenweise Leute hemm, die üble Dinge mit Ihnen vorhaben. Ich habe ein bißchen herumgehorcht. Aus irgendeinem Grund scheinen die keine Ahnung zu haben, wo Sie sich herumtreiben, James. Die haben im Hotel doch nicht Ihren Paß verlangt?« »Nein, die Buchung erfolgte, wie’s bei uns heißt, unterm Tisch.« »So heißt das bei uns auch. Mann, wir gebrauchen dieselben Worte! Und da heißt es immer, Britannien und Amerika sind zwei Länder, die durch die gleiche Sprache getrennt sind.« Nach einer Pause fragte Bond, ob er Wade richtig verstanden habe. »Wollen Sie damit sagen, daß mein Hotel nicht überwacht wird?« »Das Hotel ist sauber. Keine Schatten, keine Schnüffler, keine Namen, James.« »Was machen wir also?« »Wir können uns durch Seitenwege wie diesen in die Stadt schleichen. Sind wir erst mal in der Innenstadt von St. Petersburg, sind keine Kontrollen mehr zu befürchten. Diese Leute sind komisch. Vermute, die rechnen sich aus, daß niemand so blöde sein kann, freiwillig in die Stadt reinzukommen.« »Und?« »Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, daß die Bahnhöfe und Flughäfen von Geheimdienstleuten nur so wimmeln. Sie brauchen beide neue Pässe, und ich fürchte, wir müssen auf ein sehr altmodisches Hilfsmittel zurückgreifen: Maskerade.« Bond haßte Verkleidungen. Er hatte sich nie wohl darin gefühlt und fand es anstrengend, in eine neue Rolle hineinzuschlüpfen. Doch er protestierte nur halbherzig, indem er behauptete, er verkleide sich 140
grundsätzlich niemals und für niemanden. »Keine Sorge, James. Wir machen das sehr subtil. Wir stecken Sie nicht in Frauenkleider oder so was. Sie werden einfach nur ein bißchen älter aussehen, Natalja ein bißchen jünger, und das war’s dann auch schon. Keine Sorge!« Im Hotel kümmerte sich niemand um sie. Sie duschten und warteten gespannt, ob Jack Wade wirklich mit allerlei guten Dingen vorbeikommen würde. Er war tatsächlich erstaunlich flink. Gegen sieben Uhr traf er in ihrem Zimmer ein, mit einem Karton ›voller Bonbons‹, wie er sich ausdrückte, sowie mit zwei Reisetaschen. Eines der ›Bonbons‹ war ein amerikanischer Paß für Bond, einschließlich neuem Paßbild, auf dem Bond sich kaum wiedererkannte: Der Mann trag eine große Brille und graue Haare, und seine Wangen sahen fülliger aus. Doch diese letzteren Veränderungen waren mit Hilfe einer Grautönung für die Haare und Schaumgummipolstern, die man sich in die Backen schob, leicht zu bewerkstelligen. »Versuchen Sie nur nicht, was zu trinken, solange Sie die Dinger tragen. Die saugen die Flüssigkeit auf, so daß Sie alle Leute anspukken, wenn Sie mit ihnen sprechen.« »Ich hab’ so was schon mal irgendwo in einem anspruchsvollen Spionageroman gelesen.« Bond ging ins Badezimmer, spülte sein Haar mit der Grautönung, die Wade mitgebracht hatte, setzte die Brille auf und schob die Schaumgummipolster in die Wangen. Der Erfolg war respektabel. Als er in das Hotelzimmer zurückkam, fand er Wade in Gesellschaft eines Schulmädchens, das er nicht erkannte. »Sie soll ungefähr fünfzehn sein. Britischer Paß mit einem gültigen Visum. Und die Schuluniform, die sie trägt, gibt es wirklich.« Wade betrachtete sie mit fast lüsternem Blick. »Sie haben auch echte Pässe für die Hinfahrt«, fuhr er fort und knallte die Dokumente auf den Tisch. »Na, zufrieden, hm?« »Ich mag diesen… wie nennt ihr das? Trägerrock?« Natalja senkte den Blick, als sei sie peinlich berührt. »Das ist korrekt.« Bond musterte sie von oben bis unten. Die we ißen Kniestrümpfe brachten seine Libido in Wallung. »Was ich nicht mag, ist die Unterwäsche. Dick, dunkelblau und 141
fühlt sich an wie Futterseide.« Bond lächelte. »Die Standard-Uniform an den britischen Mädchenschulen.« »Es ist nur für den Flug«, sagte Wade mit Unschuldsmiene. »Wenn Sie ankommen, wo Sie hinwollen, gibt’s einen Sack voll wirklich netter Kleider für Sie beide. Vorläufig finden Sie in den Reisetaschen das eine oder andere, das ganz nützlich sein kann.« Sie trennten sich auf dem Flughafen, wo überall Sicherheitskräfte herumschwärmten. Bond trat mit der Attitüde eines barschen, humorlosen, exzentrischen Ex-Offiziers aus Übersee auf, was bei den übereifrigen Beamten Wunder zu wirken schien. Sein Herz schlug jedoch ein bißchen schneller, als er sah, wie zwei hünenhafte weibliche Sicherheitsoffiziere Natalja in ihre Mitte nahmen und hinter einen Vorhang führten. Später erzählte sie ihm, es sei einer der schlimmsten Augenblicke ihres Lebens gewesen. »Ich glaube, die beiden haben gespürt, daß etwas nicht stimmte. Sie waren sehr aggressiv, bis ich ihnen ein paar Dollars zusteckte. Auf einmal wurden sie ganz friedlich.« Zunächst flogen sie bis Paris, wo ihnen genug Zeit blieb, ihre Maskerade abzulegen und zu ihrem gewöhnlichen Erscheinungsbild zurückzukehren. Beim Weiterflug nach Miami saßen sie nebeneinander. Auch bei der Ankunft gab es keine unangenehmen Fragen, und so erreichten sie gerade noch ihren Anschlußflug nach Puerto Rico. Dort empfing sie ein junger Mann, dessen Kleidung überall mit den Lettern ›CIA‹ beschriftet war. Er schleuste sie durch die Kontrollen der Einwanderungs- und Zollbehörde, die ihnen dank ihres Begleiters praktisch keine Scherereien machten. Der junge Mann hatte ihr neues Gepäck bei sich. Er war stämmig, hatte die Figur eines Hydranten und hörte auf den Namen Mac. Von Natalja schien er sehr angetan zu sein. In einem luxuriösen BMW – der, wie Mac sagte, den beiden wä hrend ihres Aufenthalts auf der Insel zur Verfügung stehe – fuhr er sie zu einem ebenso luxuriösen Strandhaus. Den folgenden Nachmittag verbrachten Bond und Natalja auf der Straße und erkundeten die Insel, weit weg von den Touristenscharen in San Juan. »Du kannst dir nicht vorstellen, was das für mich bedeutet.« Nataljas Haar wurde von der warmen Brise zerzaust, während sie über die 142
leeren Straßen fuhren, die jenseits der üblichen Touristentouren durchs Land führten. »Weißt du, James, mein ganzes Leben lang wollte ich mal in die Karibik. Ich hatte sogar ein Bild von einer der Inseln – St. Thomas, glaube ich – auf meinem Arbeitsplatz in Sewernaja. Schon als kleines Mädchen habe ich davon geträumt, und ich kann kaum glauben, daß ich jetzt wirklich hier bin.« »Ich bin froh, daß wir die Gelegenheit haben, deine Träume wahrzumachen.« Bond lächelte sie an. »Ich kann nur hoffen, daß das Ganze nicht in einem Alptraum endet.« Sie ignorierte seine letzte Bemerkung und legte den Kopf auf seine Schulter. »Hier sind wir auf einer wundervollen Insel, und kein Mensch ist weit und breit zu sehen.« Kaum hatte sie das gesagt, drang ein lauter Signalton aus dem Autoradio. »Das könnte unser Weckruf sein.« Bond drückte auf einen der Knöpfe am Radio, und eine Tafel mit einem kleinen Radarschirm klappte herunter. Ein grünes Echozeichen wurde jedesmal sichtbar, wenn die zirkulierende Radaranzeige darüber hinwegfuhr. »Wie es aussieht, haben wir Begleitung.« Bonds Augenbrauen zogen sich zusammen. Aus der Ferne, die Motorgeräusche des Wagens übertönend, war das Brummen eines näherkommenden Flugzeugs zu hören. Mittlerweile sah er es schon im Rückspiegel. Natalja drehte sich um, gab einen leisen Schreckensschlei von sich und rutschte in ihrem Sitz herunter. Eine nette kleine Piper Archer flog dicht über ihre Köpfe hinweg, die Landeklappen voll ausgefällten, und setzte kurz vor ihnen auf der Straße auf. »Hast du Töne!« Bonds Gesicht zeigte keine Regung, aber seine Hand schlüpfte in die Blazertasche. Er holte seine Automatik heraus und legte sie auf die Konsole zwischen ihnen. Die Archer rollte vor ihnen her, fuhr schließlich nach links, durch eine Baumlücke hindurch, und kam auf freiem Feld zum Stehen. »Hast du eigentlich mit allem Ärger, was sich bewegt?« fragte Natalja. Sie schien ziemlich entgeistert zu sein. »Das ist mein natürlicher Charme.« Er zeigte immer noch keine Emotion. »Kombiniert mit meiner Schwäche für Chaos und Gewalt.« Er bremste, kurvte auf die Wiese und schloß zu dem Flugzeug auf, das 143
den Namen Lord Geoff I auf die Nase gepinselt trug. Kaum waren sie da, stieg Jack Wade aus dem Flugzeug, mit einer Aktentasche unter dem Arm. »Jimbo!« grüßte er Bond. »Ich hab’ Ihnen gesagt. Sie sollen mich niemals so nennen! Und da wir gerade dabei sind, was treiben Sie eigentlich hier?« »Sie wollten den Job übernehmen, Janus zu erledigen, und ich bringe Ihnen Kunde von Ihrer Chefin. Sie sagt, Sie sollen sich dranmachen. Morgen. Oh, und das ist ein Geschenk von einem – wie war sein Name? N? R? A?« »Q.« »Richtig, der war es.« Er gab ihm die Aktentasche, dann hob er wi tternd die Nase. »Ah, Banyanbäume!« Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: »Übrigens, ich bin nicht hier, capisco? Mein Verein hat absolut nichts mit der Sache zu tun. Wir wissen von nichts. Auch nicht von Ihrem Abstecher nach Kuba. Okay?« Bond nickte. Wade deutete auf die Piper. »Ich habe nur das kleine Baby von meinem Freund bei der Drugs Enforcement Agency ausgeborgt. Es steht für Sie bereit, startklar auf dem Privatflugplatz von San Juan Dominicci, und zwar morgen früh, bei Morgengrauen.« »Wir werden dasein.« Dominica ist San Juans Inlandsflughafen, wo alle möglichen kleineren Maschinen im Pendelverkehr mit den anderen Städten der Insel den ganzen Tag über starten und landen. »Gehen Sie einfach an Bord, und senden Sie das Startsignal: ›Smiley One‹. Und jetzt…« Wade ließ sich von Bond und Natalja zu der Piper Archer begleiten, wo er einige Papiere von seinem Sitz nahm. »Wir haben Sie in jeder erdenklichen Weise abgesichert. Küstenwache, Nationale Luftraumüberwachung und das südliche Militärkommando – alle sind mit dabei. Und wenn ich sagte ›Morgengrauen‹, dann meinte ich das auch. Sie müssen um sechs Uhr startklar sein.« Er überreichte Bond einen großen braunen Umschlag. »Hier sind Ihre letzten Anweisungen. Die sagen, es ist alles in Ordnung, solange Sie nicht höher als zweihundert Meter fliegen.« Nataljas Hand schoß nach vorne und nahm Bond den Umschlag aus 144
der Hand. »Hundertfünfzig Meter.« Sie lächelte wie ein nettes, wo hlerzogenes russisches Mädchen. »Wer ist denn das?« Wade legte den Kopf wie ein Papagei zur Seite und sah Natalja mit fragender Miene an, als ob er sie noch nie im Leben gesehen hätte. »Oh, ich hätte Sie vorstellen sollen. Sie haben ihr in St. Petersburg ein paar Kleider gebracht.« »Ah, natürlich. Ich erinnere mich gut. Natalja Simonowa.« Natalja schaute mit gesenkten Augenlidern auf den Briefumschlag, den sie nun aufriß, um die Karten und Satellitenfotos zu betrachten. »Ich bin befördert worden. Ich bin jetzt Hilfssheriff in Mr. Bonds Aufgebot.« Sie schenkte Wade ein breites Lächeln. »Sie haben eine bizarre Vorliebe für gewisse intimere Kleidungsstücke, Mr. Wade.« »O ja, das stimmt Ich hoffe, ich habe die richtige Größe erwischt.« »Perfekt!« Bond beobachtete die beiden mit Unschuldsmiene. »Ach, dieses russische Mädchen hier? Sie haben sie ausgestattet?« »Von Kopf bis zum kleinen Zeh, Jacko.« »Sie sollen mich nicht…« »Ich weiß schon, entschuldigen Sie.« Er unterbrach sich, als er sah, daß Natalja die Satellitenfotos studierte, und beugte sich über sie. »Sie suchen nach einer Parabolantenne, so groß wie ein Fußballfeld, nehme ich an. Na ja, die existiert nicht. Niemand kann sich in Kuba eine Zigarre anzünden, ohne daß die Jungs von der nationalen Sicherheitsbehörde davon Wind kriegen. Das Ding ist nicht dort!« Natalja blickte mit einem frechen Lächeln zu ihm auf. »Mr. Wade, ich weiß genau, daß es da ist. Es ist eine exakte Kopie der Antennenanlage von Sewernaja.« Bond unterbrach sie. »Was ist, wenn wir Unterstützung brauchen, Jack?« »Im Flugzeug ist ein Sender.« Wade zeigte auf eine Stelle unter dem Instrumentenbrett. Der Pilot verhielt sich schweigsam, er blickte nicht einmal in ihre Richtung. »Der sendet automatisch einen Warnruf, wenn der Flieger draufgeht. Setzen Sie einfach einen Notruf ab, wenn es Probleme gibt und ich schicke die Marinesoldaten los.« Jetzt gab der Pilot doch ein Lebenszeichen von sich. Er winkte Wa145
de zu, daß er sich beeilen möge. »Mein Chauffeur wird nervös«, sagte Wade. Er klopfte Bond auf die Schulter und gab Natalja einen Wangenkuß. »Fliegen Sie einfach nach rechts, wenn Sie abgehoben haben. Nach Kuba ist’s nur ein Katzensprung. Alles Gute! Ich hole den BMW morgen vormittag am Flugplatz ab.« »Und drücken Sie darin bloß nicht auf irgendwelche geheimen Knöpfchen!« »Ich rase bloß eine Weile mit ihm hemm.« »Wunderbar.« »James, Sie werden mit Janus fertig. Ich glaube ganz fest daran, denn Sie wissen genau, wie dieser Mann vorgeht.« »Das Problem ist, daß er genauso gut über mich Bescheid weiß. Wir haben lange Zeit zusammengearbeitet.« »Sie schnappen ihn trotzdem, Jimbo!« Bond ballte die Faust, aber Wade war schon außer Reichweite und kletterte in die Piper Archer, die sich sofort in Bewegung setzte. Am Abend packte Bond im Strandhaus die Aktenmappe aus, die ihm von Q geschickt worden war. Sie enthielt eine neue Uhr mit sechs kleinen magnetischen Haftladungen, die von der Uhr aus gezündet werden konnten. Er legte alles zu seiner Ausrüstung, die er morgen mitnehmen würde. Später ging er zur Küste hinunter, setzte sich in den Sand und überließ sich, vom eintönigen Geräusch der Brandung eingelullt, seinen Gedanken. Er dachte an all die Jahre, die er undercover gelebt hatte, ohne dabei irgendwelche Abstriche von seinem hedonistischen Lebensstil zu machen. Was war aus ihm geworden? fragte sich Bond. War er schlicht eine Killermaschine? Ließen ihm seine Vorgesetzten alle möglichen Exzesse während oder außerhalb seiner Aufträge durchgehen, weil sie verstanden, welcher Streß mit seiner Arbeit verbunden war? Er wußte, daß manche Leute ein Auge zudrückten, wenn es um gewisse Aspekte seiner Lebensführung ging. Ebenso wußte er, daß er höher bezahlt wurde als die meisten anderen Agenten des SIS. Er dachte an so viele Ereignisse in seinem Leben zurück, daß es ihm vorkam, als werde er über diesen Erinnerungen rührselig wie ein über 146
seinem Bier schluchzender Betrunkener. Er mußte wirklich damit aufhören, denn es führte zu nichts Gutem. Natalja kam barfuß durch den Sand auf ihn zu, drehte ihren Kopf in den Wind und blieb neben ihm stehen. Sie ließ ihre Hand sinken und streichelte über sein Haar. Er reagierte nicht, schien ihre Gegenwart gar nicht wahrzunehmen, bis sie sich neben ihn kauerte und ihn ansprach. »Janus war dein Freund, nicht wahr?« fragte sie. »Das liegt mehrere Leben zurück, ja.« »Und nun ist er dein Feind. Morgen wirst du losgehen, um ihn zu töten. Ist das so einfach, hm?« »Ja.« Sie sog heftig die Luft durch die Nasenlöcher ein. Das Geräusch ließ ihn aufblicken, und er sah den Zorn in ihren Augen. »Nein, James, nein! Es ist nicht so einfach!« Sie wollte aufstehen, aber er griff nach ihrem Arm und zog sie zu sich zurück. »Ich hasse dich«, stieß sie hervor wie eine fauchende Katze. »Ich hasse dich! Ich hasse alles an dir! Leute wie du haben so viel Kummer über die Welt gebracht, mit euren Pistolen, Gewehren, Handgranaten und all den anderen Mordinstrumenten!« Sie begann nach ihm zu schlagen, hämmerte wie wild auf seine Brust. Er nahm sie in seine Arme, hielt sie fest an sich gedrückt, bis ihre Wut verebbte und sie leise zu weinen anfing. »So viele meiner Freunde«, schluchzte sie, »Freunde und Familienmitglieder… so viele sind durch Leute wie dich ums Leben gekommen!« »Es muß solche Leute wie mich geben.« Er drückte sie an sich. »Der Job ist wichtig und notwendig. Würde ich ihn nicht machen, wäre es eben jemand anders. Ich muß einfach gewisse Dinge glattbügeln, damit es eines Tages wirklich Frieden auf der Welt gibt« Nach einer Weile hörte sie auf zu weinen, und er half ihr aufzustehen. Zusammen gingen sie zum Haus zurück. Drinnen sorgten zwei Ventilatoren für angenehme Kühle; die Lichter waren zu einem behaglichen Dämmerschein gedimmt; aus der Stereoanlage erklang ›Sketches of Spain‹, der Evergreen von Miles Davis, kontrapunktiert von dem sanften, vollen Klang der Wellen, die sich draußen in der Brandung brachen. 147
Sie standen eng beieinander, und all ihre Empfindungen verschmolzen, ihre Hände berührten sich, und sie sogen den lieblichen Duft der Inselblumen ein, vermischt mit dem dezenten Geruch des Essens, das Bond in der Küche aufgesetzt hatte. Als er sie küßte, schmeckte er den Nachgeschmack von süßem Obst. Ihre Zunge glitt, den Kuß erwidernd, in seinen Mund, liebkoste die Innenseite seiner Wange und spürte den Geschmack von Champagner, den er kaum eine halbe Stunde zuvor getrunken hatte. Er nahm sie bei der Hand, und sie folgte ihm mit gesenktem Blick, als habe sie noch nie etwas mit einem Mann zu tun gehabt (was natürlich nicht der Wahrheit entsprach). Vor dem Bett angekommen, begannen sie, sich gegenseitig auszuziehen. Sie trug keinen BH unter ihrem T-Shirt, und als ihr Rock fiel, kam nur ein hauchdünner Slip zum Vorschein. Kichernd flüsterte sie: »Ein bißchen romantischer als der Schulmädchen-Schlüpfer, hm?« »Und zarter auf der Haut.« Das kleine bißchen Nylon rutschte zu Boden, und sie machte einen Schritt vorwärts, zerrte an seinem Gürtel und rupfte ihm den Slip von den Beinen. Von irgendwoher hörte sie die Stimme ihrer Mutter flüstern: ›Natalja, schämst du dich nicht?‹ Vor vielen Jahren hatte die Mutter sie mit einem Jungen aus der Nachbarschaft erwischt. Sie ließ es gern geschehen, daß er sie zum Bett trag und in die Kissen sinken ließ. Langsam glitt er über sie, legte sein Gewicht auf die Unterarme. Natalja atmete leidenschaftlich auf, als sie ihn mit beiden Armen umfing, zu sich herabzog und küßte. Dann streckte sie sich unter seinem Körper, so daß seine Männlichkeit ihren Bauch berührte. Sie fühlte, wie seine Hände unter ihren Po glitten und ihn drückten, streichelten und massierten, während sein Mund ihre Brüste mit Kü ssen übersäte. Ihre Hände zeigten ihm den richtigen Weg, und er glitt in sie hinein, hart und lang, und sie hob sich ihm entgegen und stieß einen langen Wonneseufzer aus. Sie waren zu einer Person verschmolzen, welche die Wunderwelt höchster Freuden durchlebte, die nur ein Mann einer Frau und nur eine Frau einem Mann bereiten kann. Beide hatten von Nächten wie dieser vom ersten Augenblick ihres Kennenlernens an geträumt, obgleich keiner das zugegeben hätte. Sie 148
fanden ihren Rhythmus, verloren ihn wieder und schmolzen im Gleichmaß der Bewegungen zusammen. Sie murmelte etwas, als er tief in sie hineinstieß. Er hielt es für einen rassischen Ausdruck für Liebe. Ihre Lippen waren im leidenschaftlichen Fluß vereint, während sie in jenem herrlichen Tanz dahinschwebten, von dem keiner der beiden wünschte, daß er jemals zu Ende ginge. Aber schließlich erreichten sie den Höhepunkt in einer Art von Explosion, die sie hinwegfegte an die Gestade eines Wunderlandes jenseits unseres Planeten, weit entfernt von jeglicher Erfahrung, die sie je gemacht hatten. In diesem schweißgetränkten, erregten, ekstatischen Moment schlossen sie die Augen, und beide wußten: Es spielte keine Rolle, ob sie sich heute womöglich zum letztenmal in Leidenschaft verzehrt harten, denn in dieser Nacht hatten sie alles, was körperliche Liebe bedeuten kann, durchlebt. Später schmiegte sie sich an ihn. »James…« Ihre Stimme klang heiser. »Ja?« »In dem Zug… als du denen gesagt hast, sie sollten mich töten, es mache dir gar nichts aus – hast du das ernst gemeint?« »Natürlich.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und schaute ihn streng an, mit gerunzelter Stirn. Dann lachte Bond. »Natalja, mein Liebling, das ist eine Grundregel; Laß es immer darauf ankommen!« Sie griff nach einem Kissen und warf es nach ihm. Mit heller, fröhlicher Stimme rief sie: »Du bist ein verlogener Teufel, James!« Er wehrte das Kissen ab, zog sie zu sich und gab ihr einen langen Kuß, aus dem sie sich erst wieder lösten, als sie vor Atemnot zu ersticken drohten. Nun fragte sie ihn, ob er die Insel gut kenne. »Warum?« »Oh, es kam mir nur so vor, als wir heute nachmittag unterwegs waren.« Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich weiß. In gewisser Weise habe ich allen Grund, die Insel zu hassen. Aber jetzt gibt es einen neuen Grund, die Insel zu lieben.« 149
»Du hast hier etwas Trauriges erlebt?« »Etwas, worüber ich nicht sprechen möchte, tut mir leid.« Es entstand eine neue, lange Pause. »Es ging um eine Frau, oder?« fragte sie unverblümt. »Das ist kein Problem, James. Ich bin nicht eifersüchtig auf das, was früher passiert ist.« »Ja.« Er spürte, daß ihm ein Kloß im Halse steckte. »Ja, da gab es einmal eine Frau. Sie lebt, aber sie wird nie wieder gehen können. Wir hatten mit einem sehr ekelhaften Mann zu tun.« »So ekelhaft wi e Ourumow?« »Auf einer Skala von eins bis zehn erreichen sie die gleichen Werte.« Schweigen. »Küß mich noch mal, James, bitte! Bitte, laß uns noch einmal miteinander schlafen! Wer weiß, was morgen sein wird.« Seine Hand streichelte ihren Körper, ihre Beine, den Bauch, die Brüste, den Nacken und ihre Schultern. »Das ist die Insel die ich wirklich kennenlernen will«, flüsterte er. »Dann mach dich auf die Forschungsreise«, sagte sie. »Und zur Hölle mit dem, was morgen geschieht!«
17. DER SEE Sie flogen sehr tief über das Meer, überquerten die Küste und waren nun über dem Dschungel. Das dichte Laubwerk unter ihnen schien undurchdringlich zu sein, aber hin und wieder konnten sie einen Blick auf die seltsame kleine Waldlichtung werfen. Dort unten war kein Lebenszeichen zu sehen, »Dreh um zehn Grad nach Süden und halte die Position einsachtvier!« Natalja hatte den ganzen Flug über navigiert und den Kurs bestimmt. Sie war genau die Art Mädchen, mit der Bond den Rest seines Lebens verbringen mochte – smart, voller Initiative, mit dem Intuition genannten sechsten Sinn ausgestattet, zuverlässig und enorm 150
mutig. Sie hatte nicht einfach nur ein hübsches Gesicht und einen schönen Körper, sie war auch eine Frau, der man vertrauen konnte. Schon nach kurzer Zeit hatte auch sie begonnen, ihm zu vertrauen. Sie wußten beide sehr genau, daß ihr Leben vom anderen abhing. Sie wußten aber auch, daß sie innerhalb der nächsten Stunden gemeinsam sterben konnten. Jetzt, da die Tragflächen des Flugzeugs fast das Laubwerk unter ihnen berührten, waren ihre Köpfe ständig in Bewegung. Sie schauten nach links und rechts, um etwas zu finden, das offensichtlich nicht da war. Natalja aber beharrte darauf, daß es in unmittelbarer Nähe sein müsse. Ungefähr fünf Kilometer vor sich sahen sie einen glitzernden Lichtschimmer. Als sie darauf zusteuerten, wurde ihnen klar, daß der Lichtschein die Reflexion der Sonnenstrahlen auf einer Wasseroberfläche sein mußte. Bald darauf erkannten sie, daß sich hier mitten im Urwald ein riesiger See unter ihnen erstreckte, das Wasser glasklar und so tief, daß der Grund nicht zu sehen war, höchstens nahe am Seeufer, wo das Wasser gegen einen schmalen Sandstreifen plätscherte. Dahinter erhob sich eine dicht bewachsene Hügellandschaft. Nachdem sie die andere Seite des exakt kreisrunden Wassers erreicht hatten, drehte Bond die Piper Archer um 180 Grad. Es war absolut undenkbar, daß die Natur so etwas erschaffen hatte. Der See war zu makellos, zu geometrisch, er mußte von Menschenhand angelegt worden sein. Nach einer engen Steilkurve flog er in entgegengesetzter Richtung wieder über den Urwald. »Nichts zu sehen«, rief Natalja, »absolut nichts.« »Wir machen noch einen Versuch. Ich fliege extrem tief über den See, und du hältst die Augen offen.« Er fuhr die Landeklappen aus, so daß sie gefahrlos mit geringer Geschwindigkeit über der Wasseroberfläche dahinfliegen konnten. In einer weiten Kurve flog er das ganze Rund des Sees ab, die Augen über der schrägen Tragfläche auf das Wasser gerichtet, das die Flügelspitzen fast berührten. Immer noch nichts. Vielleicht hatte Wade recht, dachte Bond. Er gab mehr Gas, zog die Landeklappen ein und stieg, den See diagonal 151
Überquerend, etwas höher, beschrieb eine Kurve, um noch einmal eine Runde zu fliegen. »James! Paß auf! James!« schrie sie. Er sah es genau im selben Moment, in dem sie aufschrie. Es kam senkrecht aus dem tiefen Wasser heraus, durchbrach die Seeoberfläche, und eine Fontäne spritzte nach oben. Zuerst glaubte Bond, es sei ein ziemlich großer Fisch. Dann aber riß er den Steuerknüppel nach links, ließ seinen Fuß fest auf dem Querruder, um die Nase oben zu behalten bei dem verzweifelten Versuch, einem Objekt auszuweichen, das er nun für eine Hundertvierzig-Millimeter-Rakete hielt. Wo eines von diesen Dingern abgefeuert worden war, konnten leicht weitere folgen, da Raketenwerfer dieses Typs über siebzehn Schuß verfügten. Bond hatte nie davon gehört, daß Raketen dieser Bauart unter Wasser abgeschossen worden waren; aber im Prinzip war es wahrscheinlich nicht sehr schwierig. Vermutlich war das Flugzeug mit einem elektronischen Zielgerät anvisiert worden. Er steuerte scharf nach rechts, um der Flugbahn der ersten Rakete auszuweichen, die harmlos an ihm vorüberzischte. »Wir müssen weg von hier!« rief er, während er das Flugzeug in eine Kurve steuerte. Falsch! Eine zweite Rakete zischte aus dem Wasser. Sie explodierte nicht aber sie riß die Hälfte der linken Tragfläche ab. Die Piper flog zu tief, und wieder schien sich alles in Zeitlupe abzuspielen. Bond übersteuerte, und nun geriet alles außer Kontrolle, das Höhenruder, das Seiten- und Querruder, und es war das reine Glück, daß bei dem Versuch, die Flugzeugnase noch einmal aufzurichten, der Rumpf der kleinen Maschine das Wasser streifte. Mit einem Flugzeug eine Wasserfläche zu berühren, ist im Effekt das gleiche, wie wenn man gegen eine Steinmauer rast. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wurden sie von zirka hundertfünfzig Stundenkilometern auf null abgebremst. Er spürte, wie der Rumpf der Maschine aufriß – ein grausig krachendes Geräusch. Die Nase kippte nach vorn über, der Propeller durchwühlte das Wasser, das Ufer kam ihnen entgegen, und was von dem Flugzeugrumpf übrig war, schlitterte über den Sand. Natalja hatte aufgeschrien, als sie von der Rakete getroffen wurden. Jetzt, da sie mit dem Rumpf der Piper den Sand durchpflügten, hielt 152
Bond einen Arm schützend vor sie, mit dem anderen Arm deckte er sein Gesicht ab. Dann schossen Flammen aus dem Motor. Später konnte er sich nicht erinnern, wie er Natalja aus dem Wrack gezerrt hatte, aber er wußte noch, daß er sie ins Unterholz des Waldes getragen und dort sanft auf eine Lichtung gelegt hatte. Ihr Kopf fiel nach hinten, ihre Augenlider flatterten. Er rief ihren Namen, eindringlich, mehrmals, und endlich schlug sie die Augen auf. »Bist du okay?« »Ich glaube, irgendwer hat mich mit einem Hammer getroffen.« Sie richtete sich auf und begann auszuprobieren, ob sie gehen und ihre Glieder bewegen konnte. Bond folgte ihrem Beispiel. »Ich denke, wir sind beide noch mal davongekommen.« Er bewegte seine schmerzenden Schultern. »Jedenfalls scheint alles noch an der richtigen Stelle zu sitzen.« Sie nickte, dann verlor sie das Gleichgewicht und sackte zusammen. Bond hatte das vage Gefühl, daß irgendwo im Hintergrund etwas vorging, aber er wußte nicht, was es war. Jetzt bemerkte er, daß ein Hubschrauber über der Lichtung schwebte. Von oben wurde ein Seil herabgelassen, an dem jemand sehr schnell herunterkletterte. Zuerst dachte er, Jack Wade hätte sofort das Warnsignal gehört und jemanden zu ihrer Unterstützung geschickt. Erst als er auf den ve rmeintlichen Retter zulief, merkte er, daß dies ein schwerer Fehler war. Ein Stiefel holte aus und traf ihn mitten ins Gesicht, als Xenia Onatopp das Ende des Seils erreicht hatte, mit dem sie noch gesichert war. Es gelang ihm, halbwegs auf die Füße zu kommen, als ihn der Stiefel ein zweites Mal traf. Xenia trag einen schwarzen Kampfanzug, hatte die unvermeidliche MPi auf dem Rücken und stürzte sich auf ihn wie ein wildes Tier. Ihre Beine umschlossen seine Brust, nahmen ihm die Luft weg, umklammerten ihn und lösten ekelhaft stechende Schmerzen aus. »Dieses Mal, Mr. Bond, wird das Vergnügen ganz auf meiner Seite sein!« Seine Antwort – »Seien Sie nicht so verdammt melodramatisch, Onatopp!« – war sicher kaum zu verstehen, da sie weiterhin seinen Brustkasten zusammendrückte. Dieses Mal hatte sie ihn. Er fühlte sich wehrlos. Sie quetschte ihm 153
die Brust zusammen, er rang nach Atem und dachte, jeden Moment würden seine Knochen brechen. Sie begann, orgiastisch zu schreien: »O ja… ja… ja…«, und hörte erst auf, als sich ein Arm um ihren Hals schlang. Natalja hing an ihrem Rücken und versuchte, sie von Bond wegzuziehen. Xenia aber schüttelte sie mit einer heftigen Armbewegung ab und schrie: »Warte, bis du dran bist! Du bist die nächste!« Während sie mit Natalja kämpfte, hatte Xenia den Zangengriff ihrer Beine ein wenig gelockert – eben genug, damit Bond über ihre Schulter nach der Maschinenpistole greifen konnte. Mit dem Daumen traf er den Sicherungsbügel, dann drückte er ab. Da die Mündung der Waffe genau auf den Helikopter zielte, schlug die in den Himmel jagende Salve seitlich in den Hubschrauber ein. Durch den unerwarteten Angriff erschreckt, stieß der Pilot den Gashebel vor, und die Maschine schoß augenblicklich nach vorn und gewann gleichzeitig an Höhe. Die Leine, mit der Xenia gesichert war, straffte sich und zog sie von Bond fort. Der gab ihrem Körper noch schnell etwas Schwung, so daß sie sich wie ein Kreisel drehte, während sie über die Lichtung hinweggezogen wurde, hinein in die Baumkronen, wo sie in einem Gewirr von dicken Ästen hängenblieb. Das Seil, durch Xenias Körper in den Bäumen verfangen, zerrte an dem Hubschrauber. Der Pilot versuchte auszugleichen, doch das Seil riß die Maschine ruckartig zur Seite, so daß er die Gewalt über sie verlor. Der Helikopter kippte in einem gefährlichen Winkel zur Seite, verlor rapide an Höhe und stürzte in die Bäume. Nach einem fürchterlichen Krachen schoß ein Feuerball in die Luft. Natalja stand neben Bond, als dieser auf die Füße kam. Er rieb sich die schmerzende Brust und wußte, daß er nur knapp dem Tod entronnen war. Von Natalja blickte er zu Xenia, deren Körper zerquetscht und deren Gesicht vor Todesqualen verzerrt war. »Herzhaft gedrückt zu werden«, sagte Bond, »war für sie immer schon das schönste Vergnügen.« Tief unter dem See, in einem Komplex, der sehr der Anlage von Sewernaja ähnelte, saß Boris vor einer Reihe von Monitoren. Wä hrend er einen der Bildschirme fixierte, spielten seine Finger zwanghaft 154
mit einem Kugelschreiber. Die Anlage bestand, anders als in Sewernaja, aus drei übereinander liegenden großen Rängen. Laufstege führten um jede Sektion herum, überall waren Monitore und Elektronenrechner zu sehen. Unter dem Stichwort WÄHRUNGSTRANSFER rollten auf dem Bildschirm vor Boris Zahlenreihen ab. Die Geldsummen waren unvorstellbar hoch. Milliarden Dollars wurden von der Bank von England auf verschiedene Konten m Frankreich, der Schweiz, Brasilien und Argentinien, einige Riesensummen auch auf amerikanische Banken überwiesen. »Geht ganz gut, hm?« Alec Trevelyan stand hinter ihm. »Und die erfahren alle erst morgen davon!« »Die werden gar nichts erfahren, wenn wir erst Mischa ins Spiel gebracht haben, mein Freund. Ist der Satellit in Reichweite?« Boris, der wüster und strubbeliger aussah denn je, deutete auf einen großen Bildschirm zu seiner Rechten, der auf einer Umlaufbahn das rot blinkende Satellitensymbol über Südafrika anzeigte. »In etwa sechs Minuten.« Er kicherte. »Okay. Mach die Antenne fertig!« Boris schob seine Unterlippe vor, während er heftig mit der Hand auf die Konsole schlug. »Nein! Jetzt nicht! Ich bin noch nicht fertig!« »Aber ich bin es«, fuhr ihn Trevelyan an. »Und ich will jetzt nichts mehr riskieren. Mach die Antenne fertig, Boris, oder du lebst nicht mehr lange genug, um irgend etwas einzustreichen.« Sie warteten auf der Lichtung, bis sie sich beide erholt genug fühlten, um den See zu erforschen. »Hier muß etwas sein«, sagte Bond. »Xenia hätte nicht ihre bizarren Spielchen mit uns versucht, wenn wir nicht schon nahe dran wären.« Sie ließen den Urwald hinter sich und traten ans Seeufer, wo sie wie angewurzelt verharrten. Das Wasser fing an, sich zu kräuseln, und aus der Tiefe tauchten drei Teleskopmasten auf, die mit Stahlseilen ve rbunden waren. »Wir hätten lieber mit einem U-Boot herkommen sollen statt mit dem Flugzeug«, murmelte Bond. »Kein Wunder, daß wir nichts gesehen haben!« Vor Verblüffung hielt sich Natalja eine Hand vor den Mund. 155
Nachdem die Teleskopmasten zu voller Höhe ausgefahren waren, wurden sie in dieser Stellung offenbar fixiert. Zwischen ihnen aufgehängt, dicht über dem See, sahen Bond und Natalja eine dreieckige Struktur aus Gitterwerk, von dem ein Laufsteg im flachen Winkel ins Wasser führte. Dann wich das Wasser zurück, und aus der Tiefe tauchte eine massive Parabolantenne mit einem Durchmesser von etwa dreißig Metern empor. »Eine nette Fernsehschüssel«, meinte Bond. »Ist dies das berühmte britische Understatement?« fragte Natalja. »Könnte sein. Kannst du dir vorstellen, auf das Ding draufzuklettern? An dem metallenen Gitterwerk müßten wir genügend Halt finden.« »Nach dir, James.« Tief unter ihnen, in dem kreisförmigen Kontrollraum, hatte Trevelyan seine Aktentasche geöffnet und GoldenEye heraus-genommen. »Der Welt größte Kreditkarte«, sagte er, während er Boris die Diskette hinhielt. »Ich kann nur hoffen, daß die Annahme nicht verweigert wird.« Boris, der seinen Bildschirm beobachtete, hob den Kopf und berichtete: » Mischa unter Kontrolle.« In weiter Feme begann der Satellit, als ein Stück Raketenmüll getarnt, seine Hülle abzuwerfen. Eine silberne ULF-Antenne glitt heraus und verbreiterte sich bis zu einer Ausdehnung von achthundert Metern, Unter dem sogenannten See sagte Boris: »Die Zielkoordinaten, bitte,« Trevelyan zögerte einen Moment Dann sprach er wie der Kommandant in einem elektronischen Kriegsspiel: »Das Ziel heißt London.« Boris begann einige Zahlenreihen einzutippen, um Mischa zu aktivieren. In diesem Moment blickte Trevelyan auf einen der externen Kontrollschirme und sah, wie Natalja und Bond über die Stahlträger des Gitterwerks zur Antennenschüssel hinaufkletterten. Er seufzte. »Der Mann versteht einfach keinen freundlichen Wink.« Er wandte sich zu einem uniformierten Wachmann um. »Gehen Sie nach oben. Schalten Sie die beiden aus, bevor das Ganze richtig albern wird.« 156
Bond blickte vom Rand der riesigen Antennenschüssel zu ihrem Zentrum herauf, das etwa hundertfünfzig Meter über ihm lag, und sah, wie sich dort eine Art Aufbau zu drehen begann. »Er ist dabei, den Satelliten anzupeilen«, warnte ihn Natalja. »Wie können wir ihn stoppen?« »Dort oben, unter dem Aufbau, ist ein Wartungsraum. Wenn es uns gelingt, dorthin zu kommen, genau über der Antenne, können wir den Sender abstellen.« Dann begann die Schießerei.
18. AM RAND DER KATASTOPHE Sie konnten nicht sehen, woher die Schüsse kamen. Aber an der Kante des großen Parabolspiegels – eines riesigen Schirmes, der sich dort erhob, wo eben noch der See gewesen war - boten sie ein hervorragendes Ziel. Kugeln schlugen ringsum in das Metall ein. Natalja zuckte zusammen und rutschte von der durch Wasser und Algen glitschigen Schü ssel ab. Bond versuchte sie festzuhalten, doch er verlor die Balance, und so rutschten sie beide an der Wand herunter, bis zum Zentrum – dem Unterbau der Anlage. Dieser sah aus wie ein großes Blockhaus mit einer wasserdicht ve rschlossenen Luke. Bond vermutete, daß sie von beiden Seiten geöffnet werden konnte, denn in ihrer Mitte befand sich ein schweres Sprossenrad. Wahrscheinlich, so schloß er, war hinter der Luke eine Luftschleuse für das Wartungspersonal. Er griff nach dem Rad und fing an, es zu drehen, immer in der Hokke, da er jederzeit mit einem neuen Feuerangriff rechnete. Mit einem Zischen öffnete sich die Luke. Er half Natalja ins Innere hinein, das sich als eine Kammer herausstellte, gerade groß genug für zwei Per157
sonen. Eine weitere Luke mit Sprossenrad befand sich an der gegenüberliegenden Wand. Eine Minute später waren sie durch diese Luke hindurch. Eine Wendeltreppe führte zu einem Laufsteg, der rund um den Kontrollraum lief. Bond erinnerte sich an die Archivräume, die er im Hauptquartier des militärischen Geheimdienstes gesehen hatte. Der kreisförmige, dreistöckige Kontrollraum war nach demselben Prinzip erbaut, aber größer, mit isoliertem Metall ausgestattet und gekachelt. An den Wänden waren ringsum Computer und andere elektronische Geräte zu sehen. Zu ihrer Linken standen fünf oder sechs große zylindrische Behälter, die wahrscheinlich Öl für den Generator enthielten. Unten, auf der niedrigsten Plattform, sahen sie Treve lyan und Boris vor ihrer Einsatzkonsole sitzen. Trevelyans Stimme drang zu ihnen hinauf. »Ich zähle, Boris.« Beide Männer hatten ihre Hände an den Auslöserschlüsseln. »Drei… zwei… eins…« Sie drehten die Schlüssel, und die Lichter an der Konsole wechselten von Grün auf Rot, Auf dem Display darüber war zu lesen: Waffen scharfgemacht Zeit bis zum Zielkontakt: 00:21:32:26. Natalja und Bond standen entsetzt und wie angewurzelt auf dem Laufsteg und sahen hilflos zu, wie Trevelyan den Auslöseknopf entriegelte und drauf druckte. Dann rief er lachend: »Gott schütze die Königin!« Während ihm vor Zorn das Blut in die Wangen schoß, erkannte Bond, daß Trevelyan es auf England abgesehen hatte, sehr wahrscheinlich auf London. Er wollte sich in Bewegung setzen, aber Natalja hielt ihn am Handgelenk fest und zeigte nach unten, auf die mittlere Galerie. Dort hatte sich eine Tür geöffnet. Ein Techniker im Parka, mit Pelzmütze und Handschuhen trat aus einem, wie sie sehen konnten, großen Raum. »Der Zentralcomputer«, flüsterte Natalja. »Ein Großrechner. Die haben ein Kühlsystem dort drinnen. Wird aussehen wie ein großer Gefrierschrank.« In diesem Moment sahen sie zwei bewaffnete Männer in Uniform, die über die eiserne Treppe auf sie zustampften. Bond zog Natalja rasch auf einen verhältnismäßig geschützten Platz hinter einer Säule 158
zurück. Die Männer hatten die obere Plattform noch nicht ganz erreicht, als sie bereits das Feuer eröffneten. Bond schoß zweimal. Der erste Mann auf dem Laufsteg wirbelte hemm, griff in die Luft, dann auf die Schulter des Mannes hinter ihm, und beide rutschten die Treppe hinunter. Weitere Uniformierte kletterten die Treppe herauf und eröffneten ein wahres Sperrfeuer. Die Kugeln zerfetzten die Kacheln, drangen in die Öltanks und prallten von den Wanden ab. Bond versuchte, das Feuer zu erwidern, aber der Gegner war hoffnungslos in der Überzahl. Er warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, daß Natalja in Ordnung war. Sie war verschwunden. Er schaute sich um und glaubte eine Person irgendwo unter dem Laufsteg zu entdecken, die sich dort hangelnd langsam fortbewegte. Natalja war leise hinter der Säule hervorgekommen, hatte unter den Laufsteg gespäht und festgestellt, daß dort eine Reihe von Sprossen angebracht war. Jetzt hing sie unter dem Steg und hangelte sich von Sprosse zu Sprosse, der Tür zu dem Großrechnerraum entgegen. Währenddessen suchte Bond, an die Wand gepreßt hinter einem der Öltanks Deckung. Seine Hand glitt in eine Gürteltasche und zog eine der kleinen Haftladungen heraus, die Q ihm geschickt hatte. Öl tropfte aus den Einschußlöchern der Tanks. Er wich zurück, feuerte ein paar Schüsse und plazierte dann eine der Haftladungen unter dem nächsten Tank. Er feuerte, zog sich zurück und befestigte weitere Haftladungen an den anderen Tanks. Auf diese Weise arbeitete er weiter, bis er feststellte, daß seine Pistole leergeschossen war. Nun konnte er nur noch hoffen, daß Natalja inzwischen dabei war, etwas sehr Konstruktives zu tun. Er warf seine Waffe vor sich auf den Laufsteg, kam mit erhobenen Händen aus seiner Deckung heraus und ergab sich den Wachmännern in der Hoffnung, daß sie die Disziplin hatten, das Feuer einzustellen. Ihr Atem kondensierte sofort, nachdem sie die Kühlzone des Großrechnerraumes betreten hatte. Rasch sah Natalja sich um. Ohne Schutzkleidung würde sie es nur wenige Minuten in diesem Raum aushallen. Sie entdeckte die Kunststoff-Tastatur, eilte dorthin und griff nach einem Stuhl, um davor Platz zu nehmen. Als ihre Finger den metallenen Stuhl berührten, froren sie sofort an; sie zog rasch ihre Hand zurück, wobei sie sich ein paar Hautfetzen abriß. 159
Sie warf einen flüchtigen Blick auf zwei Stahlbottiche hinter ihr, die das internationale Nicht-berühren-Symbol und die Markierung -93° C trugen. Flüssiges Nilrogen, dachte sie, die Kühlflüssigkeit, die den Großrechner auf gleichmäßig niedriger Temperatur hält. Vorsichtig setzte sich Natalja an die Tastatur und begann mit ihrer Arbeit. Auf dem obersten Laufsteg durchsuchte die Wachmannschaft James Bond. Er stand mit dem Gesicht zur Wand, die Hände gegen das Mauerwerk gestützt, während die Leute seine Taschen durchwühlten. In dieser Position konnte er gut die kleinen Haftladungen sehen, die er unter den Öltanks plaziert hatte. Er sah deren rote Lichter blinken zum Zeichen, daß sie scharf waren und detonieren würden, sobald er über die Uhr an seinem linken Handgelenk das Signal gab. Weil er nicht wollte, daß auch die Männer dieses Geheimnis entdeckten, lenkte er sie durch wilde Beschimpfungen ab und sah in eine andere Richtung. Da sie keine weiteren Waffen bei ihm fanden, wurde Bond mit den Händen über dem Kopf auf stählernen Stufen zwei Treppen tiefer geführt und zu der Konsole gebracht, wo Trevelyan und Boris arbeiteten. »James!« Trevelyan drehte sich in seinem Stuhl um und schlug einen nahezu jovialen Tonfall an. »Was für eine verdammt unangenehme Überraschung!« »Dabei ist es immer mein Ziel, angenehm zu sein, Alec.« Trevelyan hob eine Augenbraue. »Ich nehme an, das ist der Unterschied zwischen uns. Mein Ziel ist es zu töten.« Sein Blick wurde hart. »Wo ist das Mädchen?« »Wir verkehren nicht mehr miteinander.« »Tatsächlich? Meine Leute sagen, sie war mit dir zusammen.« Er wandte sich an die Wachmänner. »Sucht sie! Sie muß hier irgendwo sein.« Zwei der Leute verschwanden, die anderen beiden blieben bei Bond und breiteten den Inhalt seiner Taschen auf der Konsole vor Trevelyan aus. Währenddessen ließ Bond seinen Blick über die Monitore schweifen und sah die Zahlenkolonnen mit den Angaben über den Geldtransfer von der Bank von England auf Banken in der ganzen Welt. Sein Magen rumorte, als er die Grafik der Weltkarte sah, über 160
Spanien den Satelliten Mischa mit direktem Kurs auf London. Der Timer lief, und auf dem Display las Bond: Zeit bis zum Zielkontakt 00:15:07:39. Ihm blieb nur noch rund eine Viertelstunde, um die zweifellos größte Katastrophe abzuwenden, von der sein Land je bedroht worden war. Höchste Dringlichkeitsstufe! Er mußte sofort handeln! Möglichst unauffällig legte er seine rechte Hand über das linke Handgelenk. Wenn er jetzt die Sprengsätze unter den Öltanks zündete, würden sie alle hier sterben, aber der Satellit würde abstürzen und ausbrennen, ohne die atomare Ladung zu zünden und den elektromagnetischen Impuls über der Hauptstadt auszulösen. Weit links von der Leitkonsole bemerkte er einen Lift mit offener Tür, gleich neben dem Techniker, der auf einem Monitor das Leitsystem beobachtete. Trevelyan beschäftigte sich mit den Sachen aus Bonds Taschen: Schlüssel, Banknotenclip, Kugelschreiber, Münzen. Er untersuchte kurz den Kugelschreiber, drückte mit einem ›Klick‹-Geräusch auf den kleinen Knopf, kritzelte ein paar Worte aufs Papier und ließ die Mine zurückschnellen. Bond war erleichtert, als er den Schreiber wieder auf die Konsole legte. Noch zweimal ›klick‹, und er würde nicht einmal mehr Zeit haben, die Haftladungen zu zünden. Trevelyans Hand schoß plötzlich auf Bonds Arm zu. »Die Uhr, bitte, James!« Er selbst streifte sie ihm vom Handgelenk und untersuchte sie mit nachsichtigem Lächeln. »Was macht denn der alte Q mittlerweile? Immer noch die alten Tricks, nehme ich an. Ich sehe, du hast ein neues Modell.« Langsam drehte er die Uhr um und sah einen wi nzig kleinen blinkenden Punkt auf der Unterseite. »Man drückt immer noch hier, ja?« Er drückte erst auf den oberen, dann auf einen seitlichen Knopf an der Uhr, und sofort hörte das Blinken auf. Bond wußte, daß dadurch auch der Zündmechanismus der Haftladungen deaktiviert wurde. Er fragte sich, wieviel Öl noch immer aus den Tanks sickern mochte, und rechnete sich aus, daß es eine ganze Menge sein mußte, die jetzt den Laufsteg entlang floß und in den unteren Bereich herabtropfte. Im Großrechnerraum bediente die vor Kälte zitternde Natalja so schnell wie möglich die Tasten und hatte schon fast alle nötigen Be161
fehle eingegeben, als zwei Wachleute hereinplatzten. Sie brachte es gerade noch fertig, die Eingabetaste zu drücken, als die Männer sie vom Stuhl rissen und mit sich zerrten. Es ging die Treppe hinunter zur unteren Plattform, wo Bond unter Arrest stand und Trevelyan glücklich vor sich hin lachte. Mit Genugtuung sah Bond, daß die Stiefel der Männer, die Natalja anschleppten, nasse Fußstapfen auf dem Boden hinterließen. Boris fuhr mit seiner Arbeit am Computer fort. Über ihm zeigte die Grafik der Weltkarte, daß Mischa sich planmäßig dem Ziel näherte. Bevor die kleine Gesellschaft den Einsatzbereich betrat, entspannte sich James Bond und sagte locker zu Alec Trevelyan: »Ein interessantes kleines Arrangement hast du hier, Alec. Ich sehe, daß du via Computer die Bank knackst und soweit manipulierst, daß enorme Geldbeträge transferiert werden. Ich vermute, das geschieht wenige Sekunden, bevor du GoldenEye aktivierst, womit dann natürlich alle Überweisungsunterlagen verschwinden und darüber hinaus das ganze Zielgebiet. Sehr erfindungsreich!« »Danke, James, ein großes Lob aus deinem Munde!« Bond machte eine geringschätzige Kopfbewegung. »Kleinkarierter Diebstahl, Alec. Letzten Endes bist du nichts anderes als ein Bankräuber. Ein ganz gewöhnlicher Dieb. Und ein gewöhnlicher Mörder obendrein.« »Wohl kaum, James. Du warst immer ein Kleingeist. Sieh mal, es geht nicht nur um die Banken.« Seine Augen funkelten. »Es geht um alles, was im Großraum London per Computer geregelt wird. Steuerunterlagen. Börse. Kreditwürdigkeit. Grundbuch. Sogar die Verbrecherkartei.« Er blickte auf den Countdown-Timer. »In elf Minuten und dreiundvierzig – nein, zweiundvierzig Sekunden wird für Großbritannien wieder die Steinzeit beginnen.« »Gefolgt von Tokio, Frankfurt, New York, Hongkong. Ein weltwe iter Finanzcrash.« Bond sah aus, als bemitleide er Trevelyan. »So schlägt also der verrückte kleine Alec die Welt für fünfzig Jahre k.o. Und du glaubst, damit kannst du das Unrecht rächen, das deinen Vo rfahren angetan worden ist.« »Oh, bitte, James, erspare mir deine Freudsche Psychoanalyse. Ich könnte dich genauso fragen, ob all diese Wodka-Martinis die Schreie der Männer und Frauen verstummen lassen, die du ums Leben ge162
bracht hast.« Er sah an Bond vorbei zu den Leuten, die Natalja herbeibrachten. »Oder findest du Vergebung in den Armen all dieser willigen Frauen?« Er schlug mit der Faust auf den Konsolentisch. »England wird lernen, wie teuer ein Verrat sein kann!« Nun wurde Natalja zu ihm geführt. »Willkommen auf unserer Party, meine liebe Natalja!« Als Boris ihren Namen hörte, schwang er mit seinem Stuhl hemm und erblickte sie. »Natalja?« Er klang schockiert. »Das ist nicht eines von deinen Spielen, Boris! Reale Menschen werden sterben, du überheblicher, kleiner Bastard!« Sie machte sich von ihrem Bewacher frei, trat einen Schritt vor, holte aus und versetzte ihm einen schallenden Schlag auf die linke, dann mit dem Handrükken auf die rechte Wange, Grob wurde sie zurückgezogen, und bei der kleinen Rangelei rollte der Kugelschreiber, den Bond von Q bekommen hatte, auf den Fußboden. Boris bückte sich langsam, hob ihn auf und fing an, damit herumzuspielen, indem er die Mine heraus- und wieder hineinklickte. Bond beobachtete ihn fasziniert. Klick-klick. Noch einmal, und die Ladung wäre scharf. Aber Boris fing nun an, den Stift zwischen den Fingern hin- und herzurollen. »Wo haben Sie sie gefunden?« fragte Trevelyan die Wachleute. »Sie war beim Zentralcomputer, Sir.« Trevelyan fluchte, dann schrie er Boris mit finsterer Miene an: »Check das Programm!« Boris lachte verächtlich. »Die hat doch keine blasse Ahnung! Sie ist ein Schwachkopf. Eine zweitklassige Programmiererin. Sie hat keinen Zugang zu den Feuer-Codes. Sie weiß nur einigermaßen über das Leitsystem Bescheid, mehr nicht.« Während er sprach, war er immer langsamer geworden und hatte die letzten Worte nur noch genuschelt. Kaum hatte er ausgeredet, da ertönte eine Sirene, ähnlich der Alarmanlage eines Autos, das aufgebrochen wird. Der Techniker, der an dem Computer weiter links saß, brüllte fast: »Die Bremsraketen zünden!« Jetzt war es an Natalja zu lächeln. Bond aber fixierte Boris, der wi eder angefangen hatte, mit dem Kugelschreiber zu klicken. Dreimal – der Schreiber war scharf. Weitere drei ›Klicks‹ sicherten ihn wieder. Boris stürzte zu dem Techniker hinüber und hämmerte mit der rech163
ten Hand in die Tastatur. »Sie ist auf hundertfünfundsiebzig Kilometer und fällt! Ich kann sie nicht unter Kontrolle bringen!« »Was, zum Teufel, geht hier vor?« Trevelyan war aufgesprungen und rannte zu Boris und dem Techniker, der verstört wirkte. »Wiedereintritt in dreizehn Minuten.« Der Techniker beugte sich vor, um die Zeituhr für den Wiedereintritt zu stellen. Auf dem Display leuchteten blinkende rote Buchstaben und Zahlen auf. In der Zielko ntaktanzeige hieß es jetzt: Abbruch. Zeit bis zum Wiedereintritt: 13:24 In das drückende Schweigen hinein sagte Natalja: »Das Ding brennt jetzt irgendwo über dem Atlantik ab.« »Du kleine Hexe!« Boris versuchte immer noch, vom Computer des Technikers aus die Kontrolle über den Satelliten zurückzugewinnen. Er hob den Kopf und sagte zu Trevelyan: »Sie hat den Zugriffscode geändert!« Trevelyan bekam einen hochroten Kopf vor Wut und preßte die Mündung seiner Pistole an Bonds Ohr. Natalja kicherte. »Nur zu, Janus! Erschießen Sie ihn! Er bedeutet mir gar nichts.« Bond bedachte sie mit einem vergnügten Blick und murmelte: »Das übliche Operation s verfahren.« »Ich kann ihren Code knacken! Nehmen Sie die verdammte Kanone weg, Alec!« Boris schlug nach der Pistole, wie man eine Mücke ve rscheucht, dann wandte er sich an den Techniker: »Lade das Leitsystem-Unterprogramm! Na los, schnell!« Dann fing er wieder an, nervös mit dem Kugelschreiber zu spielen. Klick-Klick Klick-Klick Darauf folgte eine ganze Serie von Klicks, so daß Bond mit dem Zählen nicht mehr nachkam. Trevelyan nahm die Pistole von seinem Ohr und richtete sie auf Natalja. »Sag’s ihm, Mädchen, sag’s ihm!« Auch Boris wirbelte zu Natalja hemm und schrie: »Gib mir die Codes, Natalia! Gib mir die Codes!« Bond hatte keine Ahnung, ob der Kugelschreiber, mit dem der ve rrückte kleine Computerspezialist vor Nataljas Nase herumfuchtelte, momentan scharf oder gesichert war. Mit einer schnellen Armbewegung schlug er Trevelyan die Pistole aus der Hand. Dann trat er in 164
Kick-Boxer-Manier nach Boris’ Handgelenk, worauf der Kugelschreiber in hohem Bogen in die Luft flog. Eine Sekunde lang schien er dort zu schweben, dann fiel er herunter und explodierte in einer Ölpfütze. Die Explosion und das auflodernde Feuer bewirkten, daß Arme und Hände aller Anwesenden hochschnellten. Jeder versuchte, seine Augen vor den Flammen zu schützen, die sich in Windeseile ausbreiteten, über die Treppe und an den Wänden hinauf züngelten. Der erste Öltank explodierte. Im gleichen Moment packte Bond Natalja am Arm, zog sie nach links zum Lift und schloß schnell die Tür. Fast körperlich spürten sie den dumpfen Aufprall der Geschosse auf die zugleitende Tür. »Kann er wirklich deine Codes knacken?« fragte Bond. »Na ja, möglich ist es schon«, meinte sie fast beiläufig. »Dann müssen wir den Sender zerstören!« »Das wäre nicht schlecht.« Sie hob eine Augenbraue. »Ach, übrigens, vielen Dank, mir geht’s gut.« »Prima« Der Fahrstuhl hielt am Fuß des Laufstegs, der zu dem Aufbau mit dem Sender hinaufführte. Vor dem Liftausgang stand ein Wachtposten. Als er sah, wie sich die Tür öffnete und drinnen eine Frau zu Boden sank, ließ er seine Maschinenpistole fallen und rannte der Frau zu Hilfe. Sowie er neben dem scheinbar leblosen Körper niederkniete, sprang Bond von der Decke, wo er sich mit Füßen und Händen – wie ein Bergsteiger in einer Felsspalte – festgeklammert hatte, auf ihn herab. Zuerst trafen seine Füße den Rücken des Mannes, dann versetzte er ihm einen harten Schlag in den Nacken, Der Mann gab einen erstickten Laut von sich und knallte mit ausgebreiteten Armen auf den Boden. Natalja sprang auf ihre Füße, Bond nahm dem Mann die Pistole ab und warf sie ihr zu. Während er die Maschinenpistole an sich nahm, hörten sie das Dröhnen von Explosionen tief unter ihnen. »Du weißt, wie man mit so ‘nem Ding umgeht?« fragte Bond und deutete auf die P istole in Nataljas Hand. Sie nickte, überprüfte den Schlitten und ließ das Magazin herausschnappen, um sicherzugehen, daß es voll war. »Ja«, sagte sie. »Gut. Geh in Deckung und bleib weg von der Schüssel. Ich mach’ 165
mich auf die Beine, um die Antenne zu erledigen. Das muß sie außer Gefecht setzen, oder etwa nicht?« »Klettere einfach hoch zu dem Wartungsraum. Dort ist wahrscheinlich ein simpler Kettenantrieb, mit dem der Mechanismus in Gang gesetzt wird, der die Antenne dreht. Am besten schraubst du im Wartungsraum alle Sicherungen raus. Geh jetzt! Schnell!« Von unten erschütterten weitere Explosionen die ganze riesige Ko nstruktion, während Bond Natalja einen Kuß gab und sich an den langen Aufstieg zum Wartungsraum unter der Antenne machte.
19. ENDE DER REISE AUF DER LICHTUNG DER LIEBENDEN Der Aufstieg war zermürbend, doch auf halber Strecke konnte Bond die Konstruktion über sich klarer erkennen. Aus etwa fünfzehn Metern Höhe sah er, wie sich Natalja über die Kante der Schüssel schwang, über das Gitterwerk auf festen Boden herunterkletterte und Deckung im Urwald suchte. Ursprünglich hatte er vorgehabt, auf dem Laufsteg haltzumachen, der das Dreieck etwa drei Meter unter dem metallenen Wartungsraum überquerte. Der Wartungsraum wiederum lag direkt unter dem Gehäuse, von dem die Antennenstange wie ein langer Eiszapfen bis drei Meter über der Schüssel herunterragte. Nun bemerkte er noch eine andere große Kammer, ganz oben, an der Spitze des Dreiecks. Von diesem Raum aus abwärts waren Kabel und Drähte verlegt, und Bond begann zu begreifen, wie die Antenne funktionierte. Die Drähte und Kabel spielten bei der Steuerung der silbernen Antennenstange zweifellos eine Rolle. Einige führten geradewegs hinab zu dem Wartungsraum und von dort weiter zu einem Gehäuse, in dem ach der Mechanismus zur Positionierung der Antenne befinden mußte. Aber es schien überdies noch einige dickere Kabelstränge zu geben, 166
die über eine Reihe von Rollen und Rädern führten. Er war noch etwa zehn Meter von der Spitze der Anlage entfernt, als er entdeckte, daß mit dem Kabelgewirr eine Drahtseilkabine in Gang gesetzt werden konnte, die von der Basis der Schüssel bis hinauf zum Laufsteg fuhr. Er fluchte leise vor sich hin. Hätte er das früher gewußt, hätte er kostbare Minuten einsparen können. Aus der Ferne hörte er immer noch das Krachen gelegentlicher Explosionen, das aus der Tiefe unterhalb der Satellitenschüssel zu ihm herauf dröhnte. In dem Kontroll-Komplex explodierten noch immer die Öltanks. Die Flammen schlugen bis nach oben, unter das Dach der Anlage. Wachmänner versuchten, mit Feuerlöschern gegen das Flammenmeer anzugehen, aber niemand glaubte, daß das Dach noch lange standhalten würde. Kacheln und Stücke der Isolationsschicht bröckelten bereits von den Wänden. Trevelyans Leute beobachteten die Bruchstellen argwöhnisch, doch es war vorauszusehen, daß sie bald aufgeben und den ganzen Komplex räumen mußten. Der einzige, der sich der Gefahr nicht bewußt zu sein schien, war Boris. Er saß an seinem Computer, voll darauf konzentriert, die Ko ntrolle über den Satelliten zurückzugewinnen. Trevelyan stand hinter ihm und beobachtete jede Bewegung des fieberhaft arbeitenden jungen Mannes. »Wie lange dauert es noch?« Trevelyan schaute sich um und begann, die Hoffnungslosigkeit seiner Situation zu begreifen. Boris fauchte zurück, daß es gleich soweit sein müsse. »Zwei Minuten… höchstens drei.« Trevelyan ranzelte die Stirn, als ihm plötzlich Bond wieder einfiel, der die für das ganze Projekt lebenswichtige Antenne in die Luft jagen konnte, wenn er die Nerven dazu hatte. Er kannte Q und 007 gut genug, um sicher zu sein, daß Bond – falls er noch Sprengkörper bei sich hatte – einen Weg finden würde, die elektronische Fernsteuerung auszuschalten. Trevelyan wandte sich an den Wachmann, der neben ihm stand. »Behalten Sie ihn im Auge!« Er deutete auf Boris. »Wenn er sich bewegt, erschießen Sie ihn!« Schon stürzte er davon. Er stieß die Leute mit den Feuerlöschern 167
beiseite und rannte auf den Eingang zu. Sein Ziel war die Drahtseilbahn, die ihn zu dem Laufsteg unter dem Wartungsraum bringen sollte. Wenige Minuten später saß er in der kleinen Kabine, die ihn langsam nach oben beförderte. Auf Boris’ Countdown-Uhr erschien die Anzeige: Zeit bis zum Wiedereintritt 09:41 Als Trevelyan zum Laufsteg hinaufzufahren begann, hatte Bond die Kammer am obersten Punkt der Anlage bereits erreicht. Sie bestand aus einem viereckigen metallenen Raum, und Bond mußte sich vorsichtig zwischen verschiedenen Maschinen bewegen. Auf der einen Seite war eine Reihe großer Zahnräder, über die Kabel auf- und abwärtsliefen. Als er eintrat, begannen sich die Zahnräder zu bewegen. Jemand war also in der Drahtseilbahn, was bedeutete, daß ihm nur wenig Zeit blieb. Unmittelbar neben der Tür befand sich ein großer, rechteckiger Metallkasten, aus dem ein gleichmäßig pulsierendes Brammen zu hören war. Offenbar konnte man ihn nicht öffnen, aber Bond benötigte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, daß dies ein Generator war und wahrscheinlich das erste Gerät, das er zerstören mußte, um die Antenne lahmzulegen. Während seiner Klettertour harte er schon daran gedacht, einen Ve rsuch mit der letzten von Q’s Sprengladungen zu machen. Sie funktionierten ausschließlich mit Fernbedienung, aber es bestand die Mö glichkeit, sie an einen Timer anzuschließen. Das einzig erns thafte Problem bestand darin, daß der Timer nur so eingestellt werden konnte, daß die Zündung mit einer Zeitverzögerung von fünf Minuten erfolgte. Er holte das schwarze runde Ding aus der Tasche, dazu einen kleinen Schraubenzieher, und begann, die Schrauben an der Unterseite zu entfernen. Er arbeitete mit ruhigen Bewegungen, denn er wußte, daß beim Umgang mit Sprengstoffen jede Übereilung lebensgefährlich war. Während er noch an der Sprengladung arbeitete, blieben die Zahnräder neben ihm mit einem Ruck stehen. Wer immer in der Drahtseilbahn saß, hatte jetzt den Laufsteg erreicht. 168
In der Sprengladung entfernte Bond das Fernbedienungselement, einen kleinen Mikrochip von der Größe eines Daumennagels. Darunter war ein winziges Zifferblatt mit einem Zeiger, ähnlich dem Minutenzeiger einer normalen Uhr. Mit dem Schraubenzieher drehte er den Zeiger vorsichtig bis zum äußersten Anschlag. Das Uhrwerk begann zu ticken, und der Zeiger bewegte sich langsam rückwärts. Er legte die Mine unter den Generator, verließ den Maschinenraum und begann, zum Laufsteg hinabzuklettern. Als er auf der dritten Leitersprosse angekommen war, pfiffen ihm die ersten Kugeln um die Nase. Blitzartig nahm Bond die Maschine npistole von der Schulter und schaute nach unten. Trevelyan stand in der Mitte des Laufstegs, hatte die Pistole erhoben und zielte, um einen weiteren Schuß abzugeben. Bond aber zielte nicht lange, sondern feuerte eine Salve in Trevelyans Richtung. Die Schüsse gingen vorbei, aber Trevelyan duckte sich und suchte neben der kleinen Kabine der Drahtseilbahn Deckung. Während Bond weiterkletterte, feuerte er eine nächste Salve. An den Metallplatten sprühten Funken auf, doch von Trevelyan war nichts mehr zu sehen. Der Laufsteg lag jetzt nur noch etwa vier Meter unter ihm. Bond zögerte eine Sekunde, was ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Zwei Schüsse kamen aus der Richtung der Drahtseilbahn und schlugen unmittelbar neben seinem Kopf ein. Bond schwang sich an den Streben und Eisenträgern herab und sprang auf den Laufsteg, der wie verrückt schaukelte, als er landete und sogleich auf die Drahtseilbahn losfeuerte. Es dauerte eine Sekunde, bis er merkte, daß die Bahn leer war. Er drehte sich um, gerade rechtzeitig, um Trevelyan zu sehen, dem es irgendwie gelungen war, auf die andere Seite des Laufstegs zu gelangen. Der Mann, der sich Janus nannte, lächelte zufrieden und hob die Pistole. »Auf Wiedersehen, James«, sagte er und drückte den Abzug. Der Schuß ging nicht los, es entstand nur ein leises, klickendes Geräusch, das Bond jedoch so deutlich hörte, als sei es tausendfach verstärkt. Mit einem Huch schleuderte Trevelyan seine Pistole gegen Bond, der bereits seine Waffe in Anschlag gebracht hatte. Die Pistole traf ihn am Kopf; Bond taumelte zur Seite, während er 169
den nächsten Feuerstoß abgab. Die Salve ging glatt daneben, und dann machte auch seine Waffe nur noch ›klick‹. Das Magazin war leer. Noch etwas benommen durch die Pistole, die ihn am Kopf getroffen hatte, fand Bond gerade noch Zeit, dem anstürmenden Trevelyan auszuweichen. Dann schnellte seine Faust hoch und zielte auf das Kinn seines ehemaligen Freundes. Der Schlag traf Trevelyan an der Schläfe und schleuderte ihn zu Boden. Bond blickte in die Tiefe und sah, daß das Dach des Wartungshauses nur drei Meter unter ihm lag. Diesmal zögerte er nicht, schwang sich über das Geländer und landete auf dem Dach. Er hastete zum Dachfirst und kletterte hinunter zum Eingang. Als er eintrat, hörte er ein wimmerndes Geräusch und das Surren eines Elektromotors. Jemand richtete die Antenne aus! Tief unter der Erde brach Boris in begeistertes Kriegsgeheul aus. Er tanzte fast vor Freude, während er schrie: »Ich hab’s! Ja, ich hab’s geschafft! Ich bin unbesiegbar!« Zugleich tippte er das finale Kommando in den Computer: Wiedereintritt abbrechen. Der Timer zeigte: Zeit bis zum Wiedereintritt: 07:045. Das Bild erlosch, und ein anderer Schriftzug wurde sichtbar: Antenne wird neu positioniert. Die Geräusche, die Bond im Wartungsraum hörte, stammten von dem Mechanismus, der nach der Eingabe neuer Koordinaten die lange, spitz zulaufende Antenne so positionierte, daß sich der Satellit von der Bodenstation aus wieder steuern ließ. Bond schaute um sich und suchte nach einem Sicherungskasten, doch sämtliche Apparaturen waren versiegelt. Ein langer grauer Metallkasten, vo n dem aus ein Kabelstrang in den Maschinenraum führte, beherrschte den Wartungsraum. Während Bond überlegte, wie er die Elektronik ausschalten könnte, wurde der ganze Raum von einem heftigen Schlag auf das Dach erschüttert: Ohne Zweifel war auch Trevelyan vom Laufsteg heruntergesprungen. Bond erwartete, daß die Sprengladung jeden Augenblick losging. Aber er mußte auch auf eine Fehlzündung gefaßt sein, und er wollte sichergehen, daß die Antenne nicht mehr in die neue Position gebracht 170
werden konnte. Er trat durch die Tür, blickte nach unten, sprang und landete auf dem Gebäude, das die Schlußaggregate des ganzen Mechanismus beherbergte. Eine Luke führte in das große, kreisrunde Gebäude. Rasch schlüpfte er hindurch, wissend, daß ihm Trevelyan auf den Fersen war. Ein riesiges Rad füllte beinahe den gesamten Raum aus. Doch sofort bemerkte Bond zwei andere Dinge: einen langen, rechteckigen Sicherungskasten und eine ausziehbare Leiter, die direkt über einer Falltür an der Wand befestigt war. Er war sicher, daß dies der Weg war, auf dem die Ingenieure mit Hilfe der Leiter direkt nach unten zur Antenne gelangten. Ferner wußte er, daß es von diesem Punkt bis zur Parabolschüssel noch etwa dreißig Meter waren. Mit fliegenden Händen löste er die Flügelschrauben des Sicherungskastens, öffnete ihn und begann die Sicherungen in Grup-pen von sechs, sieben Stück zu zerschmettern, bis sie alle zerstört waren und das Summen der Maschinerie erstarb. Trevelyan war jetzt dicht bei ihm, er konnte den Mann fast riechen, und er spürte, wie ihm die Angst durch sämtliche Adern kroch, Bond stürzte zur Leiter und entfernte die Sicherheitsbolzen, damit sie ausgefahren werden konnte. Als Trevelyan in der Einstiegsluke erschien, stampfte Bond wuchtig auf die Falltür, wobei er die letzte Sprosse der Leiter ergriff. Die Falltür klappte nach unten auf, und die Leiter rasselte an einer Zahnstange etwa zwölf Meter in die Tiefe, bis die Leiter ihre äußerste Länge erreicht hatte und knapp über der Antennenspitze mit einem ekelhaften Rucken stockte. Bond, der an der untersten Sprosse hing, dachte, seine Arme würden ihm aus den Gelenken gerissen. Aber er hielt sich verbissen fest. Die Leiter über ihm schwankte und quietschte. Dann sah er Trevelyans Gesicht in der Falltür auftauchen. »Brauchst du Hilfe, um runterzukommen, James?« rief er. »Warte, ich bin gleich bei dir.« Langsam und ohne Hast begann er, die Leiter hinunterzusteigen, während Bond verzweifelt versuchte, sich an ihr hochzuziehen. Natalja ging durch den Dschungel, angezogen von einem Geräusch, das sie plötzlich gehört hatte. Sie ertrug es nicht länger zu sehen, was 171
sie gerade durch das Laubwerk der Bäume beobachtet hatte – James, der am Ende einer hin und her schwingenden Leiter hing, fünfzehn Meter über dem Boden der Schüssel und direkt über der Antennenspitze. Sie ging langsam weiter, bis sie zu einer gerodeten Stelle kam. In der Mitte dieser Lichtung stand mit gemächlich kreiselnden Rotorblättern ein Kampfhubschrauber. In dem unterirdischen Kontrollzentrum starrte Boris ungläubig auf den Schirm vor sich, auf dem nun die Meldung Antennenstörung zu lesen war. Er begann zu schreien, mit den Füßen zu stampfen und unverständliche Obszönitäten zu brüllen. Über Bond schwankte die Leiter, während Trevelyan Sprosse um Sprosse zu ihm herabstieg. Zwei Stufen über Bond nahm er eine Hand von der Leiter, holte ein kleines Kehlkopfmikrofon unter seinem Hemd hervor und sprach hastig ein paar Sätze hinein. - Auf der Dschungellichtung sah Natalja, daß der Pilot allein im Cockpit saß. Der Kampfhubschrauber begann sich zu bewegen, der Motor heulte auf, der Start stand unmittelbar bevor. Natalja holte tief Luft und rannte auf die Hecktür der Maschine zu. »Nun, James, wird’s Zeit für unseren letzten Abschied, denke ich.« Trevelyan erreichte die Sprosse unmittelbar über Bond und hob den rechten Fuß, um mit seinem Stiefel auf Bonds Hand zu treten. Unter der Wucht seines Tritts brach jedoch die Sprosse mit einem scharfen Splittergeräusch entzwei. Bond fühlte die flüchtige Berührung von Trevelyans Körper, als dieser an ihm vorbeistürzte. In einer Reflexbewegung ergriff er Trevelyans linkes Handgelenk. Der Mann schaute zu ihm auf, mit schweißnassem, angstverzerrtem Gesicht. »James!« Flehend starrte er Bond an. »Zieh mich rauf! Um Himmels willen… um der alten Zeiten willen, James, zieh mich rauf!« »Fahr zur Hölle«, rief Bond und ließ ihn los. Trevelyan schlug gegen die Antenne und stürzte schreiend den ganzen Weg hinab bis auf die Parabolschüssel. Im selben Moment flog die Spitze des Dreiecks auseinander. Bonds Sprengsatz war detoniert. Die ganze Konstruktion geriet ins Schwan172
ken, Teile von Metall und Verdrahtung lösten sich und fielen in die Tiefe. Mitten in diesem Krach glaubte Bond, Hubschraubergeräusche zu hören. Mit letzter Kraft an die Leitersprosse geklammert, sah er den Kampfhubschrauber, der direkt auf ihn zukam. Der Pilot manövrierte die Maschine näher und immer näher heran. Hinter ihm stand Natalja und drückte dem zu Tode erschrockenen Mann eine Pistole an die Stirn. Er befolgte ihre Anweisungen, obwohl diese in Anbetracht des schwankenden, skelettartigen Gebildes, das er anflog, nicht eben leicht umzusetzen waren. Schließlich aber, nach einigem Hin und Her, hatte er den Helikopter so positioniert, daß die Landekufen unmittelbar vor und unter der Stelle schwebten, wo Bond an der Leiter hing. Es war Bonds einzige Chance, denn alles um ihn hemm schien jetzt zusammenzubrechen. Er holte Schwung, ließ die Leiter los und klammerte sich genau in dem Moment an der Gleitkufe des Helikopters fest, als dieser abdrehte und davonflog. Währenddessen kam Trevelyan im Zentrum der Parabolschüssel wieder zu Bewußtsein. Seine Augen öffneten sich, er spürte den überwältigenden Schmerz und den Blutgeschmack in seinem Mund und wußte, daß sein Tod nahe war. Von oben horte er Geräusche – das Krachen, Knattern und Poltern von fallendem Metall. Er blickte nach oben, und das letzte, was er sah, war die lange silberne Antennenspitze, die sich aus ihrer Verankerung gelöst hatte, in die Tiefe stürzte und ihn durchbohrte. Unten im Kontrollzentrum tobte Boris immer noch vor Wut. Doch dann bemerkte er, daß die meisten der Wachleute tot oder verschwunden waren und er anscheinend der einzige Überlebende war. Er rannte hinauf zur mittleren Galerie. Als er an dem Großrechnerraum vorbeiging, explodierte plötzlich das flüssige Nitrogen. Gefrorener weißer Nebel waberte durch die berstende Tür. Einen Augenblick lang war Boris bewußt, was passieren würde, wenn der Nebel ihn umhüllte, dann aber fühlte er nur noch frostiges Grauen. Er starb aufrecht stehend, eine Eisstatue in diesem fluchbeladenen Gebäude. Der Kampfhubschrauber landete sanft auf der Lichtung. Bond 173
sprang dankbar zu Boden und streckte sich mit geschlossenen Augen im Gras aus. Im Cockpit sprach Natalja auf russisch mit dem Piloten. Rasch sagte sie ihm, daß er, wenn er keine Tricks versuche, abhauen könne. Dann sprang sie durch die Seitentür hinaus, direkt neben Bond Der Hubschrauber, mit einem erleichterten Piloten am Steuer, hob ab, während Natalja leise sagte: »James…? James…? Bist du in Ordnung? James, o bitte, sag was!« Er öffnete ein Auge und zog sie zu sich herab ins Gras. »Ja, mir geht’s gut. Vielen Dank.« »Du Teufel!« lachte sie, und er drückte sie an sich, so fest, daß ihre Lippen sich berührten, während er sich über sie rollte. »James! Nicht hier! Jemand könnte uns sehen!« »Sei nicht töricht, Natalja!« Er schaute sie liebevoll an. »Es ist niemand übriggeblieben, der uns sehen könnte.« Er hatte nur Augen für Natalja. Daher bemerkte er weder Jack Wade, der aus den Büschen trat, noch die etwa vierzig Marinesoldaten in Tarnuniform, die schmunzelnd am Rand der Lichtung verharrten. Aus der Ferne war der Lärm von Marinehubschraubern zu hören, die weitere Verstärkung brachten. Doch Bond brauchte in diesem speziellen Moment wirklich keine Unterstützung.
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Sieg oder stirb, Mr. Bond!
1 WIN IM GOLF Die Straße von Hormus erscheint eine Stunde vor Beginn der Morgendämmerang immer dunkel und gefährlich. Die Luft, eine kalte Mischung aus See und Süße, ließ nichts von der Hitze ahnen, die bei Tage hier lasten würde. Der riesige, in Japan registrierte Öltanker Son of Takashani pflügte langsam auf den Golf von Oman zu, der relative Sicherheit ve rhieß. Sein breites Deck rollte sanft. Der hohe Aufbau am Heck sah wie ein Apartmenthaus aus und schien sich wegen seiner Höhe noch heftiger als das Deck zu neigen. Jeder Offizier und jeder Matrose an Bord spürte, wie sich die Magenmuskeln verkrampften, dieses Druckgefühl, dieses absurd distanzierte Gefühl, das Menschen haben, wenn sie wi ssen, daß jede Minute Tod durch Feuer, eine Explosion, eine Kugel oder Tod im Wasser bringen kann. Viele waren während des Golfkrieges in diesen Gewässern schon daran gestorben. Amerikaner und Briten hatten durch Minenräumung und Begleitschutz den Öltankern geholfen. Diesmal aber war die Son of Takashani gezwungen gewesen, die Reise ohne Hilfe der amerikanischen Flotte oder der britischen Navy zu machen. Aber die Japaner hatten Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Bewaffnete Männer standen auf der Brücke, an Beobachtungspunkten auf den Aufbauten und sogar auf Deck. Während der Reise von den irakischen Ölfeldern durch den Golf hielten einige immer Wache, aber in diesen Stunden der Dämmerung und Dunkelheit hatte man zusätzliche bewaffnete Männer postiert. Denn dies waren die gefährlichsten Stunden. Die Männer auf der Brücke tragen die kleinen, gefährlichen Beretta Maschinenpistolen – das Modell S mit Schulterstütze und einer Feuergeschwindigkeit von über 500 Schuß pro Minute. Die schwereren Maschinengewehre waren auf drehbare Stafetten montiert: zwei an Backbord und ein weiteres Paar an Steuerbord auf Deck. Vier weitere waren so in den Aufbauten aufgestellt, daß sie ein weites Schußfeld nach vorn und achtern hatten. Es waren durchweg Browning M2HB 176
Kaliber .50, wegen ihrer Reichweite und Feuerkraft in ihrer Klasse unübertroffen; die Munitionsgurte waren mit Leuchtspurgeschossen gefüllt. Um diese Zeit befand sich der Kapitän der Son of Takashani immer auf der Brücke. Fast genoß er dieses Gefühl von Spannung und Gefahr. Das Radar auf der Brücke suchte die See nach anderen Schiffen ab, und die Luft nach feindlichen Flugzeugen. Gegen Minen konnten sie wenig tun, aber sie hatten zumindest eine Chance, wenn die sogenannten iranischen Revolutionäre zu einem ihrer blitzschnellen Überraschungsangriffe mit kleinen Motorbooten auftauchten. Nach oben konnte dieses Radar Flugzeuge in einem Umkreis von zehn Meilen in etwa zehntausend Fuß Höhe orten. Weiter reichten die unsichtbaren Strahlen nicht, aber Flugzeugangriffe im Golf fanden für gewöhnlich aus niedriger Höhe statt. Es war Pech, daß der Angriff in der Dämmerung aus der unerwarteten Höhe von 25 000 Fuß erfolgen würde. Offiziere und Mannschaft der Son of Takashani wußten nicht, daß etwa fünfzig Meilen östlich von ihnen eine riesige C-130 Hercules Transportmaschine durch den dämmrigen Himmel flog. Die Hercules war mattschwarz gestrichen und trag keine Kennummern, weder Rufzeichen noch Hoheitsabzeichen. Im Cockpit gab der Navigator dem Piloten eine knappe Anweisung. Die sieben Turbo-Prop-Motoren wurden gedrosselt, und das 136 000 Pfund schwere Flugzeug begann von 30 000 auf 25 000 Fuß Höhe zu sinken. Der Navigator führte eine Hand an seinen Kopfhörer und bemühte sich angestrengt, die Stimme zu verstehen, mit der er auf einer speziellen Frequenz ständig in Verbindung stand und die wichtige Informationen über Windgeschwindigkeit und Windrichtung in den verschiedenen Höhen bis hinab auf die Meeresoberfläche durchgab. Diese Berichte kamen von einer Hochseejacht, die mit höchstentwickeltem meteorologischem Gerät ausgerüstet war. Das Schiff kreuzte vor Khaimah, vor der Küste der Vereinigten Arabischen Emirate. Die Daten wurden rasch in den Computer des Navigators eingegeben, und Sekunden später konnte er dem Piloten die genauen Punkte nennen, an denen sie ihre Fracht absetzen sollten. »Exakt 25 000 Fuß. Erste Reihe fünfzehn Meilen hinter Ziel. Zweite Reihe zwei Grad Steuerbord, dritte Reihe vier Grad Backbord.« 177
Der Pilot bestätigte, fing das Flugzeug bei 25 000 Fuß ab und wiederholte die Instruktionen dem Absetzer, der wie die zwanzig anderen Männer im Frachtraum Wollmütze, Brille und Sauerstoffmaske trug. Über ein Kehlkopfmikrofon fragte er den Piloten: »Wie lange, Skipper?« »Fünf Minuten. Frachtluken jetzt öffnen.« Hydraulikmotoren winselten, während die Türen zurückglitten und der Boden des Frachtraums sich wie eine Zugbrücke senkte. In 25 000 Fuß Höhe dämmerte es bereits, und das rosa, perlmuttfarbene Licht des nahenden Morgens war hinter ihnen zu sehen. Darunter herrschte noch Dunkelheit. In der Höhe der Hercules war die dünne Luft schneidend kalt. Jeder Mann im Frachtraum hatte sich gegen Erfrierungen vermummt. Der Absetzer gab ein Signal, worauf die zwanzig Männer, die auf den harten Metallbänken saßen, sich erhoben. Sie waren in Schwarz gekleidet: schwarze Springerkombis, Stiefel, Handschuhe, Helme, Sauerstoffmasken und Brillen. Dazu waren sie mit einem Waffensortiment ausgestattet, zu dem auch AK47 Kalaschnikows gehörten, Galil Automatic-Sturmgewehre, Skorpion-Maschinenpistolen und Handgranaten. Zwei Männer tragen Granatwerfer. Sämtliche Waffen waren mit schwarzen Klettverschlüssen vor der Brust befestigt. Über ihnen hingen auf geölten Schienen, die über die ganze Länge des Frachtraums führten und zwanzig Fuß vor der Rampe endeten, Geräte, die wie riesige schwarze Fledermäuse aussahen. Unter deren drohenden Formen stellten sich die Männer jetzt in Linie auf. Es waren große Drachen, ohne Antrieb und mit fast starren Flügeln aus verstärktem Tuch, das mit einer starken Enteisungsflüssigkeit imprägniert war. Unter de n Flügelpaaren hingen leichte Metallrahmen, in denen sich jetzt alle Männer angurteten, wobei sie Spezialgeschirre benutzten, die ähnlich denen von Fallschirmen mit Schnelltrennve rschlüssen ausgestattet waren. Die Geschirre waren vor dem Start so eingestellt worden, daß man daran hängen oder darin sitzen konnte. Die Männer hatten mit dem Fluggerät bei jedem Wetter über Wüsten und abgelegenen Landstrichen geübt. Es war eine handverlesene und gut ausgebildete Gruppe, die nach sechs Monaten harten Trainings aus 25 000 Fuß Höhe springen und in ein exakt markiertes, vorgegebenes Gebiet hinabgleiten konnte. Der Laderaum war von Lärm erfüllt, von dem Dröhnen der Motoren 178
und dem Rauschen der Luft, das durch die offenen Türen drang. Befehle wurden nur per Handzeichen gegeben: Der Absetzer schlug sich mit der flachen rechten Hand an die Brust, hob dann beide Hände und spreizte die Finger – zehn. Dann nochmals zehn. Gefolgt von fünf. Die Männer, die in den Rahmen ihrer Drachen standen, blickten auf ihre kleinen Höhenmesser, die an den rechten Handgelenken befestigt waren, und stellten sie auf 25 000 Fuß ein. In etwa einer Minute wü rde ihr Leben davon abhängen, daß sie genau eingestellt waren. Die meisten warfen auch einen Blick auf die kleinen Kompasse an ihren linken Handgelenken. Diese beide n einfachen Instrumente waren die einzigen Gerate, die ihnen bei dem langen Gleiten hinab auf die See zu Beginn der Operation WIN helfen würden. »Reihe eins, Bereitschaft.« Die Stimme des Piloten drang in die Ohren des Absetzers, der der ersten Zehnergruppe Bereitschaft signalisierte. Sie gingen auf die offenen Türen am Heck des Flugzeuges zu und zogen ihre Drachen auf den Doppelschienen über sich nach. »Alle Reihen sprungbereit«, sagte der Pilot. Wieder gab der Absetzer ein Signal, und die beiden Fünfergruppen bezogen Position. »Reihe eins, fertigmachen. Reihe eins, Sprung.« Die Hand des Absetzers senkte sich, und die ersten zehn Männer schwangen sich in Abständen von zehn Sekunden ins Leere. Die Hercules beschrieb eine scharfe Rechtskurve. »Reihe zwei, fertigmachen. Reihe zwei, Sprung.« Die Drachenflieger fielen hinab, stürzten etwa 1000 Fuß tief, bis ihre Flügel Luft faßten und die Piloten ihre Körper so verlagerten, daß sie langsamer wurden und zu den anderen ihrer jeweiligen Reihe schwebten. Dann begannen sie, auf die ersten Strahlen der Dämmerung unter sich zuzugleiten. Die Körper der Männer schienen reglos in der dünnen Luft zu hängen, und zu Beginn ihres Sinkens mußten sie Eis und Reif von ihren Schutzbrillen, Höhenmessern und Kompassen wischen. Sie bemerkten ihr Tiefergleiten kaum, bis sie unter zehntausend Fuß angelangt waren. Dort war die Luft dichter, und sie hatten ihre leichten Fluggeräte besser unter Kontrolle. Die Son of Takashani erhielt feine Warnung. Sicher, der Radarbeobachter sah kurze Impulse auf dem Schirm, aber das sagte ihm nichts. Vögel vielleicht oder Staubkörner oder statische Störungen. In genau tausend Fuß Höhe über dem Tanker brachten die drei 179
Gruppen ihre Drachen in Angriffsposition. Die beiden Männer mit den Granatwerfern befanden sich über dem Heck des Tankers und hingen so in den Geschirren, daß sie die Hände zur Bedienung der Waffen frei hatten. Zwei Granaten schossen aus der Luft hinab. Die eine schlug in der Brücke ein, die andere explodierte in den Aufbauten weiter unten und hinterließ ein klaffendes Loch. Die Explosion auf der Brücke war wie das plötzliche Auflodern einer weiß sengenden Flamme. Die Männer dort starben augenblicklich. Matrose Ogawa, einer der Posten in den Aufbauten, wollte seinen Ohren und Augen nicht trauen. Er hörte die beiden Explosionen, spürte, wie das Schiff unter ihm bebte, und entdeckte dann, daß von vorn zwei Kreaturen wie prähistorische Vogel auf den Bug zuflogen. Sie spuckten Flammen, und er sah, daß die Mannschaft an einer der Maschinengewehrlafetten von Geschoßgarben zerfetzt wurde. Fast reflexartig betätigte er den Abzug der Browning und registrierte überrascht, wie die beiden heranschwebenden Vögel sich in Fleisch, Blut und zerrissene Leinwand verwandelten, als die schweren Geschosse in sie schlugen. Auch die beiden Männer, die den Angriff genau wie geplant begonnen hatten, indem sie die Granaten abfeuerten, scheiterten. Nachdem sie teilweise die Aufbauten zerstört hatten, ließen sie die Granatwerfer ins Meer fallen und lösten heftig schwingend ihre SkorpionMaschinenpistolen von der Brust. Sekundenschnell schossen sie auf das Heck der Son of Takashani zu und brachten ihre Drachen in einen flacheren, langsameren Sinkflug, bereit, ihr Geschirr in dem Moment zu lösen, wenn ihre gummibesohlten Stiefel das Deck berühren wü rden. Sie waren vielleicht noch fünfzehn Meter vom Landeplatz entfernt, als eine kurze Salve aus einem anderen Teil der Aufbauten dem rechten Mann die Beine wegriß. Er sackte in seinem Geschirr zusammen, die Flügel über ihm neigten sich, und der Drache rammte seinen Partner. Der zweite Mann wurde dadurch zur Seite geworfen und bewußtlos geschlagen. Er pendelte außer Kontrolle, der Anflugwinkel wurde steiler, und er schlug gegen das Heck des Tankers. In nicht einmal zwei Minuten waren der Schock und die Überraschung verflogen. Die übriggebliebenen Schützen auf Deck und in den beschädigten Aufbauten begannen die Situation richtig einzuschätzen. 180
Der Drill, auf dem der Kapitän bestanden hatte, machte sich jetzt bezahlt; keiner der Mannschaftsangehörigen der Son of Takashani war um seine eigene Sicherheit besorgt. Mehrere große Drachen, die Flammen und Tod spien, umkreisten das Schiff und spähten nach Landemöglichkeiten auf dem Hauptdeck, während sie verzweifelt versuchten, Höhe zu halten. Zwe i glitten von Steuerbord herein und setzten eine weitere Maschinengewehrbesatzung außer Gefecht, aber nur um von Salven aus den nicht zerstörten Aufbauten zerfetzt zu werden. Vier Männern gelang es tatsächlich, sicher am Heck zu landen, wo sie Deckung suchten und ihre Handgranaten aushakten. Drei weitere starben in der Luft beim Anflug auf die Backbordseite. Die beiden Maschinengewehrbesatzungen vom auf Deck waren ausgeschaltet, und ein weiteres Paar Drachen rauschte trotz des Feuers aufs Deck. Die übrigen wurden entweder vom Himmel geschossen oder getötet, als sie gegen den Schiffsrumpf prallten. Doch sieben Überlebende kämpften we iter. Rauchgranaten gaben dem Trio etwas Deckung, das vorn auf Deck gelandet war, während die vier Manner, die vom Heck her angriffen, mit Granaten und Gewehren versuchten, in den Aufbauten Stellung zu beziehen. Der Kampf dauerte fast eine halbe Stunde. Am Ende dieser blutigen Morgendämmerung lagen viele Leichen der Drachenfliegerstreitmacht auf dem Tanker verstreut. Achtzehn Offiziere und Malrosen der Son of Takashani waren tot, weitere sieben verwundet. Der Funkoffizier hatte während des ganzen Kampfes ein Notsignal gesendet, aber es dauerte eine Stunde, bis eine Fregatte der amerikanischen Navy am Ort des Geschehens eintraf. Die Japaner hatten inzwischen als ordnungsliebende Leute die Leichen der Angreifer über Bord geworfen, das Deck abgespült, sich um ihre eigenen Toten und Verwundeten gekümmert und alles organisiert, damit der Tanker seine Reise fortsetzen konnte. Der älteste überlebende Offizier, der zweiundzwanzigjährige Zenzo Yamada, der den Platz des toten Kapitäns eingenomme n hatte, schilderte dem Kapitän der amerikanischen Fregatte minuziös die Ereignisse. Der amerikanische Offizier war ve rwirrt, weil die japanische Mannschaft alle Spuren beseitigt hatte, aber Yamada schien deswegen unbesorgt zu sein. »Ich half einem vo n ihnen zu sterben«, erzählte er 181
dem Kapitän der Fregatte. »Wie?« Der amerikanische Offizier war dreißig Jahre alt, ein Korvettenkapitän namens Ed Pools und ein Mann, der Ordnung schätzte. »Nun – er starb. Weil ich ihn erledigte.« Der Amerikaner nickte. »Sagte er etwas?« »Nur ein Wort.« »Ja?« »Er sagte win, gewinnen.« Dabei lachte der japanische Offizier. »Gewinnen, so? Na, gewonnen hat er wohl nicht.« »Dieser Mann nicht gewinnen. Er verloren und starb.« Der japanische Offizier lachte wieder, als ob es das Komischste sei, was er seit langem gehört habe. Später fanden das andere nicht so amüsant.
2. STIMMEN AUS DER LUFT Die Auswirkungen, die dieser seltsame Angriff auf den Tanker Son of Takashani hatte, waren vorhersagbar. Japan beschuldigte erst den Iran, dann den Irak. Beide Länder bestritten jedwede Mittäterschaft, Keine Terroristenorganisation bekannte sich zu dem Anschlag, obwohl die westlichen Geheimdienste Augen und Ohren offenhielten. Ein Großteil der Informationen, die den japanischen Tanker betrafen, ging über James Bonds Schreibtisch in dem unauffälligen Gebäude, das den Regent’s Park überblickt, wo er zu seine r Enttäuschung mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt war. Er konnte nicht wissen, daß er am Ende tief in diese Angelegenheit verwickelt sein würde. In den Tagen hochentwickelter Elektronik ist es nicht ungewöhnlich, daß Leute, die es besser wissen sollten, behaupten, HUMINT – das Sammeln von Informationen durch Agenten vo r Ort – sei entweder passe oder sein Ve rschwinden wäre nur noch eine Frage der Zeit. Bond hatte kürzlich laut gelacht, als er hörte, daß ein Autor von Abenteuergeschichten erklärt hatte, Agentenromane seien überholt. Denn: »Heutzutage erledigen das alles Satelliten.« Sicherlich können diese elektronischen Zauberkünstler, die die Erde umkreisen, aus der Luft Fotos machen und sogar militärische Funk182
übertragungen abfangen, aber die Arbeit ist doch weit umfassender. In Kriegszeiten kann ein Satellit Armeen, Flotten und der Luftwaffe zwar kurzfristig Informationen geben. In Friedenszeiten jedoch, wenn die Geheimdienste mehr Zeit haben, sind Hintergrandanalysen von Satellitenfotos und Funktexten nur durch den Mann oder die Frau im Außendienst möglich. Abgesehen davon gibt es oft verdeckte Operationen, die nicht einmal Heerscharen elektronischer Geräte durchführen können, sondern eben nur Menschen. In einem Einsatzbereich – dem von ELINT, dem Sammeln von Informationen mit elektronischen Mitteln – wurden der Agent, die COMSATS (Kommunikations-Satelliten) und ELINT selbst zu einem Team zusammengeschweißt. Deswegen wurde in den letzten Jahren die so erfolgreich zum Anzapfen von Telefonen und anderen Kommunikationsmitteln eingesetzte Wanze gewöhnlich nur noch selten bei verdeckten Nah-Operationen verwendet. Das neue Zauberwort heißt in der Tat ELINT. Ganze Stadtteile, Städte und sogar Landabschnitte können weltweit überwacht werden. Kein Mensch ist vor diesen Zuhörern sicher, da Belauschen Bestandteil des Lebens geworden ist. Ursache dafür ist jenes andere Schreckgespenst, mit dem alle Länder und Menschen zu leben gezwungen sind – der Terrorismus mit seinen vielfältigen Formen und Gesichtern. Täglich tasten elektronische Horchgeräte vierundzwanzig Stunden lang bestimmte Gebiete ab, und dabei suchen die gewaltigen Computer, die zu Hunderten installiert wurden, nach speziellen Wörtern und Sätzen. In Teilen bestimmter Städte, die man als gefährlich betrachtet, werden mit Sicherheit fast alle Unterhaltungen mitgehört. Wenn man z. B. mit seiner Freundin über ein neues Datenverarbeitungssystem spricht oder zufällig ein Kodewort oder einen Satz verwendet, der von bekannten Terroristen benutzt wird, bis die Horcher erkennen, daß das Geplauder harmlos ist. Nur Menschen können die kleinen, sehr leistungsstarke n Horchstationen an vorgegebenen Stellen installieren. Andere Menschen geben die Schlüsselwörter und Sätze in die Datenbanken der Computer ein. Danach übernehmen die Maschinen und zeichnen die Gespräche auf, lokalisieren die Orte genau und stellen sogar die Namen der Sprechenden durch Identifizieren der sogenannten Voiceprints fest, der Stimmabdrücke. Mensche n analysieren wiederum diese Mitschnitte, 183
manchmal in Ruhe, meist aber sehr schnell, damit Zeitvorteile nicht verlorengehen. Etwa einen Monat nach dem Zwischenfall auf der Son of Takashani trafen sich zwei Männer in einer Villa über dem Mittelmeer. Sie waren glattrasiert, makellos gekleidet und nach ihrem Verhalten zu urteilen Geschäftsleute. Sie tranken Kaffee in einem weinumrankten Patio, von dem aus sie einen ungestörten Blick auf die prächtige Umgebung hatten: Zypressen, Olivenhaine, Weideland für Schafe und Ziegen, die glitzernde See und in der Ferne die ziegelroten und weißen Dächer eines kleinen Dorfes. Keiner der Männer konnte ahnen, daß ein leistungsstarker Empfänger in diesem so friedlich und abgeschieden wirkenden Dorf ve rsteckt war. Der Empfänger tastete einen Bereich von etwa fünfzig Meilen ab und übermittelte ungefähr eine Million Wörter pro Sekunde, die auf Straßen, in Bars, Privathäusern und am Telefon gesprochen wurden, durch einen der COMSATS an die Computer der zwei großen Lauschposten. Einer der Computer registrierte einen ganzen Satz, den einer der beiden Männer sagte, während sie ihren süßen Kaffee tranken. Der Satz lautete: »Gesundheit hängt von Stärke ab.« Er war als Toast gesprochen worden, und der Computer spitzte bildlich gesprochen die Ohren und gab genau acht, als die fünf Wörter wiederholt wurden. Sie waren erst kürzlich in sein Wortsuchprogramm eingegeben worden. »Gesundheit hängt von Stärke ab«, lächelte der jüngere dunkelhaarige Mann, als er mit seiner Tasse seinem älteren Begleiter zuprostete – einem schlanken Burschen mit breiten Schultern, grauen Schläfen und olivfarbener Haut. »WIN war eine spektakuläre Katastrophe«, sagte der ältere Mann. In seiner Stimme lag nicht die Spur von Kritik, nur ein Hauch von Abscheu. »Ich bitte um Entschuldigung.« Sein Gefährte beugte den Kopf leicht. »Ich war sehr zuversichtlich. Das Training war außergewöhnlich…« »Und hat ein kleines Vermögen gekostet…« »Das stimmt. Aber es beweist, daß wir erheblich geschickter vorgehen müssen, wenn wir sie alle an Bord ihres Birdsnest Two bekommen wollen. Selbst bei Verdoppelung oder Verdreifachung der Kräfte 184
für WIN hätte es ein Blutbad gegeben. Birdsnest Two ist gegen jeden Angriff gewappnet. Unsere Drachen wären außer Gefecht gesetzt worden, bevor sie sich dem Ziel auch nur auf fünfhundert Fuß genähert hätten. Außerdem wird das Ganze wahrscheinlich bei kaltem Winterwetter durchgeführt werden müssen.« Der ältere Mann nickte. »Was bedeutet, daß der Angriff tatsächlich nur von innen erfolgen kann.« »Sie meinen, wir sollten Leute an Bord haben?« Der dunkelhaarige Mann klang beunruhigt. »Wissen Sie einen besseren Weg?« »Es ist unmöglich. Wie sollen wir jemand so kurzfristig infiltrieren? Uns bleiben bis zur Aktion keine zwölf Monate mehr. Hätte die Möglichkeit je bestanden, hätten wir sie genutzt, viel Zeit gespart und dazu eine Menge Geld.« Als die Bänder schließlich abgehört wurden, bemühten sich die Lauscher während einer langen Pause etwas zu verstehen. In der Ferne war das Geräusch eines hoch fliegenden Flugzeugs zu hören. Etwas näher bellte wütend ein Hund. Dann sprach der ältere Mann… »Ach, mein Freund, wir suchen so oft nach komplizierten Lösungen. Wie war’s, wenn wir’s diesmal einfacher machten? Ein Mann! Wir brauchten nur einen Mann an Bord von Birdsnest Two, denn ein Mann könnte die Tore öffnen und andere hereinlassen. Es könnte vielleicht sogar jemand aus dem Umfeld sein, zum Beispiel ein unzufriedener Admiral. Wir brauchen nur einen. Ein einziges trojanisches Pferd.« »Selbst für einen wäre…« »Es schwer? Nein, nicht, wenn er bereits dort ist.« »Aber wir haben niemand, der…« »Vielleicht haben wir doch schon jemand dort. Und vielleicht weiß er es selbst noch nicht. Ihre Leute sind geschickt, und sicher können sie herausfinden, wer dieser Mann ist – und dann den entsprechenden Druck auf ihn ausüben?« Wieder eine Pause, in der ein Hund bellte. Dann… »Abgemacht. Ja, eine naheliegende Lösung.« »So naheliegend, daß Sie das Leben von zwanzig Söldnern opfern mußten, von dem Geld für Ausbildung und Ausrüstung ganz zu schweigen. Suchen und finden Sie jetzt den Mann, den wir brauchen. 185
Offizier oder Unteroffizier, Mannschaft oder Besucher. Egal, was er ist. Finden Sie ihn einfach.« M warf die Gesprächsabschrift wieder auf seinen Schreibtisch und blickte zu seinem Stabschef Bill Tanner auf, der das Gesicht des alten Admirals wie ein Stratege zu mustern schien, der ein Schlachtfeld studiert. »Nun«, sagte M. Es war mehr ein Grunzen aus tiefer Kehle als ein klar gesprochenes Wort. »Nun, wir wissen, wer diese Leute sind, und wir kennen das Ziel. Was wir nicht kennen, ist ihre eigentliche Arbeit. Irgendein Kommentar, Tanner?« »Nur den naheliegenden, Sir.« »Nämlich?« M war heute in kriegslustiger Stimmung. »Nämlich, Sir, daß wir die Dinge ändern könnten. Wir könnten die hohen Tiere im letzten Moment verlegen. Sie auf einen Kreuzer statt auf Birdsnest Two bringen…« »Gott, Mann, Tanner, wir wissen, daß Birdsnest Two die HMS Invincible ist, und die ist unbesiegbar. Die HMS Invincible ist einer der drei letzten Flugzeugträger der Royal Navy, der drei größten von Gasturbinen angetriebenen Kriegsschiffe der Welt. Alle sind TDCs – ›Through Deck Cruiser‹ – der Invincible-Klasse, und alle sind nach den Erfahrungen des Falkland-Krieges völlig neu mit Elektronik, Waffen und Flugzeugen ausgerüstet worden.« Tanner fuhr nach kurzer Pause fort: »Bringen Sie sie auf ein anderes Schiff… in letzter Minute…« »Auf welches andere Schiff? Auf einen Zerstörer oder eine Fregatte? Sie sind zu dritt, Tanner. Drei hohe Tiere, komplett mit ihrer Begleitung. Ich schätze, es sind mindestens zwölf oder fünfzehn Leute. Gebrauchen Sie mal Ihren Verstand, Mann. Auf einer Fregatte oder einem Zerstörer müßten sie sich die Pritschen teilen. Für die Russkis geht das ja noch an, aber unsere amerikanischen Freunde, oder Sir Geoffrey Gould, würden das nicht hinnehmen.« »Abblasen, Sir?« »Das gäbe überall Gerede, vor allem bei unseren wundervollen Verteidigungskorrespondenten von Presse und Fernsehen. Die fragen ›warum‹, bevor wir uns auch nur eine Geschichte ausgedacht haben. Landsea’ 89 ist lebenswichtig. All unsere gemeinsamen Übungen sind lebenswichtig, und was dieses scheußliche Geschäft mit Glasnost und 186
Perestroika angeht – die NATO glaubt, sich anständig verhalten zu müssen, und läßt die Russen bei unseren Kriegsspielen dabei sein.« »Wir sollten das nicht mehr als › Kriegsspiele« bezeichnen, Sir…« »Das weiß ich!« M schlug heftig mit der Faust auf seinen Schreibtisch. »Ist aber ein Unding, den Befehlshaber der russischen Flotte bei einer vereinten, so komplexen Übung dabeisein zu lassen.« Bill Tanner seufzte. »Zumindest werden unsere Leute nicht ständig ihren Spionageschiffen ausweichen müssen. Sie wi ssen, Sir, daß selbst Churchill meinte, es sei gut, Informationen zu teilen.« »Das, Stabschef, war vor dem Ersten Weltkrieg. Dazu teilte man sie mit den Deutschen. Die Russen sind völlig andere Wesen. Ich habe kein Geheimnis aus der Tatsache gemacht, daß ich das nicht billige.« »Richtig, Sir.« »Ich bin beim vereinten Geheimdienst-Komitee sehr freimütig gewesen, obwohl mir’s nichts genützt hat. Jetzt heißt es – alle sind Freunde, alles geht gemeinsam. Ein Idiot hat sogar Kipling zitiert; Brüder unter der Haut und diesen Blödsinn. Schön, wi r müssen etwas Positives tun.« Tanner war zum Fenster gegangen und blickte in den Regen hinaus, der auf den Regent’s Park prasselte. »Leibwächter, Sir? Gut informierte Leibwächter?« M gab ein brummiges Geräusch von sich. Dann: »Wir wi ssen, was diese Leute vorhaben, Tanner, aber das werden wir nicht rausposaunen, und wenn auch nur deshalb nicht, weil wir ihre Absicht nicht kennen. Leibwächter bedeuten, den Kreis der Eingeweihten erweitern zu müssen, und wie Sie sehr wohl wissen, lautet die Grundregel unseres Geschäfts – halte den Kreis klein.« Er hielt plötzlich inne, als sei ihm ein neuer Gedanke gekommen, und sagte dann laut »Nein!«, ohne jemanden speziell zu meinen. Der Regen fiel unten weiter auf das Gras, die Bäume und Regenschirme. Tanner hatte versucht, sich an einen Knittelvers zu erinnern und ihn zu rezitieren. Es ging darin um Sicherheit und Gerüchte während des Zweiten Weltkriegs, und er brachte ihn immer zum Läche ln: »Echte Beweise habe ich nicht, aber von der Putzfrau der Schwester meiner Tante die Nicht’ 187
horte einen Polizisten auf Streife sagen zu einem Kindermädchen mit ihrem Wagen, er hätte einen Cousin, dessen Freund genau wisse, wann der Krieg zu Ende gehen müsse.« Erst als er bei der letzten Zeile angelangt war, merkte Bill Tanner, daß er laut gesprochen hatte. »Das ist es!« bellte M fast. »Was, Sir?« »Kindermädchen, Stabschef. Wir werden denen ein Kindermädchen geben. Einen guten Mann von der Navy, der zuverlässig ist. Einen Mann, der bereit ist, sein Leben zu geben.« M griff nach der Wechselsprechanlage, die ihn direkt mit seiner treuen, doch schon lange kränkelnden Privatsekretärin ve rband. »Moneypenny«, schrie er so laut, daß sie es auf der anderen Seite der dick gepolsterten Tür hören konnte. »Schicken Sie schnellstens Null-Null-Sieben hoch.« Innerhalb von zehn Minuten saß James Bond in M’s Allerheiligstem, wobei sein alter Chef ihn »unergründlich« anblickte, wie er glaubte, und Bill Tanner sich offensichtlich unbehaglich fühlte. »Es ist ein Auftrag«, verkündete M. »Eine Operation, die mehr als die übliche Diskretion verlangt, und dazu eine, die erfordert, daß Sie Ihre Lebensweise erheblich ändern.« »Ich habe schon verdeckt gearbeitet, Sir.« Bond lehnte sich in dem Sessel zurück, den M ihm angeboten hatte. Bond kannte den Sessel gut. Wurde man aufgefordert, auf dem bequemsten Sessel in M’s Büro zu sitzen, konnten die Nachrichten nur schlecht sein. »Verdeckt ist eine Sache, 007, aber was halten Sie davon, wieder zur Royal Navy zu gehen?« »Mit allem Respekt, Sir, aber ich bin aus der RNVR nie ausgeschieden.« M knurrte wieder, und James Bond glaubte einen Schimmer ungewohnter Bosheit in den Augen des alten Chefs zu sehen. »Ach ja?« M lichtete seinen Blick zur Decke. »Wie lange ist es her, daß Sie Wache geschoben haben, 007? Oder sich mit Delinquenten auseinandersetzen mußten? Daß Sie Tag und Nacht mit der Routine und im Rahmen der Disziplin eines großen Schiffes leben mußten? Oder auch nur spürten, wie sich ein Achterdeck in einem Sturm sechzig Fuß hob und senk188
te?« »Nun, Sir…« »Der Auftrag, 007, erfordert, daß Sie wieder in den aktiven Dienst eintreten. Das bedeutet, daß Sie einen Kurs besuchen müssen, mehrere Kurse, um genau zu sein, damit Sie mit dem Leben und der Kriegsführung der heutigen Royal Navy ve rtraut werden.« Der Gedanke tat seine Wirkung. Bonds Leben beim Geheimdienst hatte ihn viele Male intensiv gefordert, aber dazwischen gab es auch lange Zeiten der Erholung. Die Rückkehr in den aktiven Dienst der Royal Navy bedeutete Rückkehr zur alten Disziplin und ein Auffrischen längst vergessener Fähigkeiten. Eine Reihe von Bildern flackerte durch seinen Kopf, eher so, wie er sich die letzten Gedanken eines Sterbenden vorgestellt hatte: Sein Leben vor vielen Jahren, in der Freiwilligen-Reserve der Royal Navy. Diese Bilder begeisterten ihn nicht so, wie sie es getan hatten, als er noch ein junger Leutnant zur See gewesen war. »Warum?« fragte er lahm. »Ich meine, warum sollte ich wieder in den aktiven Dienst gehen, Sir?« M lächelte und nickte. »Weil, 007, im Spätwinter nächsten Jahres die Royal Navy gemeinsam mit Elitetrappen, den Luftstreitkräften und den Flotten aller NATO-Verbündeten einschließlich der Marine der Vereinigten Staaten, eine Übung durchführen wird: Landsea ‘89. Es wird Beobachter geben: Großadmiral Si r Geoffrey Gould, Admiral Gudeon von der United States Navy und Admiral Sergej Jevgennewich Pauker, Oberbefehlshaber der sowjetischen Flotte – eine Position, die es in keiner anderen Marine der Welt gibt.« M holte tief Luft. »Letzterer ist wegen des jüngsten Tauwetters der Beziehungen zwischen Ost und West eingeladen worden. Glasnost, Perestroika und all das.« »Sie werden…?« setzte Bond an. »Sie werden auf der Invincible sein. Und sie werden all ihre Schwestern und Cousinen und Tanten dabeihaben. Das bedeutet erhöhte Gefahr. Fast sicher wird eine Entführung ve rsucht. Schlimmstenfalls Mord. Sie werden auf der Invincible sein, um dafür zu sorgen, daß das nicht geschieht.« »Können Sie die Gefahr näher erläutern, Sir?« Bonds Interesse war geweckt worden. M lächelte wie ein Mann, der gerade den größten Fisch des Flusses 189
am Haken hat. »Gewiß, James. Bill und ich werden Ihnen eine Geschichte erzählen. Sie beginnt mit diesem kleinen Problem in der Straße von Hormus – mit dem japanischen Ta nker Son of Hitachi oder wie er hieß…« Der Stabschef korrigierte den Namen des Tankers und handelte sich für seine Mühe einen vernichtenden Blick von M ein, de r bellte: »Wollen Sie’s erklären. Tanner?« »Nein, Sir. Machen Sie weiter, Sir.« »Wie nett von Ihnen, Tanner. Danke.« M’s Stimmung war an diesem Morgen nicht nur kriegslustig, sondern auch sarkastisch. Er musterte Bond mit dem gleichen kalten Blick- »Je von BAST gehört?« »Ein Anagramm für Stab, Sir?« »Nein, 007, ich meine BAS T. B-A-S-T, und die Sache ist keineswegs komisch.« Das Lächeln auf Bonds Gesicht verschwand schnell. M war für Scherze zu ernst und zu gereizt. »Nein, Sir. BAST ist mir neu. Was ist das?« Mit einer Handbewegung und einem Geräusch, die sein tiefstes Mißfallen ausdrücken sollten, bedeutete M seinem Stabschef, es zu erklären. »James«, Tanner kam herüber und lehnte sich an den Schreibtisch, »das ist wirklich eine sehr ernste und beunruhigende Sache. BAST ist eine Gruppe, eine Organisation. Der Name wurde bisher nicht öffentlich erwähnt, weil wir zunächst zu wenig Hinweise hatten und keine Einzelheiten wußten. Der Name Hingt recht kindisch, und darum hat ihn zuerst niemand ernst genommen. Aber BAST scheint ein Akronym für Brotherhood of Anarchy and Secret Terror zu sein, also Bruderschaft für Anarchie und geheimen Terror.« »Hört sich an wie SPECTRE für Arme.« Bond ranzelte die Stirn und blickte etwas besorgt »Wir dachten zuerst, es handle sich um eine Splittergruppe der alten SPECTRE, aber es scheint, als sei sie neu und äußerst unerfreulich«, fuhr Tanner fort. »Erinnern Sie sich an die kleinen Bombenzwischenfälle im Oktober ‘87? Alle an einem Tag, alle koordiniert? In einigen Londoner Geschäften wurden Brandbomben gelegt…« »Das waren doch Tierschützer?« Tanner nickte. »Aber für die anderen gab es feine so einfache Erklä190
rung. Eine kleine Plastikbombe nahe dem Vatikan. Eine andere zerstörte einen amerikanischen Militärtransport – auf dem Gelände der Edwards Airforce Base: keine Verluste. Dann eine in Madrid. Eine andere, eine Autobombe, explodierte zu früh und zerstörte das Auto des französischen Verteidigungsministers. Und eine größere in Mo skau: Nahe dem Kremltor. Darüber geriet nichts an die Öffentlichkeit.« »Ja, ich habe die Akte gesehen.« »Dann wissen Sie auch, daß es koordiniert war, aber niemand die Verantwortung dafür übernommen hatte.« Bond nickte. »In der Akte wurde das weggelassen«, sagte Tanner jetzt düster. »Es gab einen langen Brief, der in allen betroffenen Ländern zirkulierte. Darin stand, daß die Zwischenfälle von der Bruderschaft für Anarchie und geheimen Terror koordiniert worden seien, eben BAST. Überall wurden Ermittlungen eingeleitet, weil solche Gruppen dazu neigen, hochtrabende Namen zu wählen. Der Schaden, den diese ersten Anschläge anrichteten, war gering, und es gab keine Toten, aber die Leute, die sich mit internationalem Terrorismus befassen, rieten uns, sie verdammt ernst zu nehmen, und sei es auch nur, weil BAST ein dämonischer Name ist. BAST scheint ein Wort aus dem Al tägyptischen zu sein. Es ist auch als Aini oder Aym bekannt. BAST soll als dreiköpfiger Dämon auftreten – mit dem Kopf einer Schlange, dem einer Katze und dem eines Mannes – auf dem Leib einer Viper. Der Dämon BAST steht mit Aufwiegelung in Verbindung, und wir haben jetzt kaum mehr Zweifel daran, daß die Bruderschaft diesen Namen wegen der dämonischen Nebenbedeutung gewählt hat.« »Dämonen?« Bond richtete seinen Blick zur Decke. »Ja, Dämonen.« M, der alles andere als ein abergläubischer Mann war, schien die ganze Sache sehr ernst zu nehmen. »Wir haben in dieser Angelegenheit viel ermittelt. Wir wissen jetzt, daß es tatsächlich drei Anführer gibt – wie die Schlange, den Mann und die Katze – und einen Führer, der das Oberkommando hat. Die Viper, wenn Sie so wollen, heißt Bassam Baradj, ist ehemaliger Stabsangehöriger der PLO, ein früherer Freund von Arafat und ein wohlhabender Mann. Baradj ist sicher der Geldgeber und der führende Kopf.« Tanner nickte und sagte, daß andere Geheimdienste drei Kumpane von Baradj genau erkannt hätten, alles ehemalige Mitglieder paramili191
tärischer politischer Gruppen aus dem Mittleren Osten. »Abou Hamarik, All AL Adwan und eine junge Frau, Saphii Boudai – der Mann, die Schlange und die Katze. Offensichtlich sind das ihre Decknamen. Sie alle gelten als erfahrene Terroristen, und sie alle sind desillusioniert, was die alten Ideale anbelangt. Sie haben sich der Idee der Anarchie nur mit einer Absicht verschrieben. Sie glauben, daß Napoleons Definition der Anarchie die einzig wahre Definition ist – ›Anarchie ist das Sprungbrett zur absoluten Macht‹.« Bond spürte, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief. Er hatte schon früher gegen fanatische Schatten gekämpft. »Sie sehen, James«, M schien sich beruhigt zu haben, »daß diese Leute, die mit ihrer BAST-Unterschrift so kindisch wirken, alles andere als kindisch sind. Baradj stehen Milliardenbeträge zur Verfügung. Außerdem ist er ein gerissener und listiger Stratege. Die anderen Anführer sind in Terroristenkriegen geübte Soldaten. Sie können ausbilden und dank Baradj so viele Söldner kaufen und verkaufen, wie sie brauchen. So wahnsinnig es auch scheint, diese Leute sind praktisch gegen alle politischen und religiösen Ideologien verschworen. Sie erstreben nur ein Ziel – die absolute Macht zu erringen. Der Himmel allein weiß, was sie mit dieser Macht tun, wenn sie sie erst einmal haben. Aber darauf sind sie aus, und wenn die jüngsten Aktivitäten eine Fortsetzung rinden, werden sie künftig ein ekelhafter, giftiger Pfahl im Fleische aller Nationen sein.« »Und woher wissen wir, daß sie hinter der kleinen Gruppe von hohen Marineoffizieren her sind?« fragte Bond. M erklärte es. Er sprach ausführlich über die Stimmabdrücke, die sie von den drei führenden Mitgliedern von BAST hatten. Und er erläuterte, wie sie auf das Rufzeichen oder das Motto der Organisation ›Gesundheit hängt von Stärke ab‹, gestoßen waren. »Das Problem ist«, fuhr M fort »daß diese Leute so ausgeflippt zu sein scheinen, wie unsere amerikanischen Waffenbrüder sagen würden, daß man geneigt ist sie nicht ernst zu nehmen. Wir müssen sie aber ernst nehmen. Dieser eigenartige, ja fast lächerliche Angriff auf den japanischen Tanker war ihr Werk. Das war eine kaltblütig ausgeführte Generalprobe. Einen Supertanker, James, kann man mit einem Flugzeugträger vergleichen. Sie wollten feststellen, ob es mö glich wäre, einen Tanker zu stürmen, um die Möglichkeit eines ähnlichen 192
Angriffs auf die Invincible zu testen.« »Aber woher wissen wir das?« drängte Bond. »Wir haben zwei Stimmen aus der Luft angezapft.« M lächelte zum ersten Male, seit Bond den Raum betreten hatte. »Wir besitzen Stimmabdrücke von Baradj und Abou Hamarik. Letzterer scheint die Sache organisiert zu haben – sie wählten übrigens den Kodenamen Operation WIN –, und Hamarik versucht, jemand auf die Invincible zu schmuggeln oder jemand zu bestechen, der bereits auf ihr Dienst tut, oder er versucht das bei der Begleitung der inspizierenden Admiräle. Und hier werden Sie, 007, als Kindermädchen agieren.« »Sehr erfreut, Sir.« Bonds Lippen verzogen sich zu einem der grausamsten Lächeln, die M je gesehen hatte. Später sollte der Chef sagen, »Eisen drang in die Seele von 007«, Er lag nicht sehr daneben. Bonds Gedanken kehrten wieder zu Napoleon zurück, und er erinnerte sich, daß dieser auch gesagt hatte: »Vaterlandsliebe, Begeisterung und Ehrgefühl sind für junge Soldaten vorteilhaft.« Nicht nur für junge Soldaten, überlegte James Bond, sondern auch für Marineoffiziere, in deren Vergangenheit es Geheimnisse gab. Viele Leute aus Agentenkreisen, die Bond kannten, waren überrascht, als sie einen Monat später in der London Gazette lasen: BOND, James. Commander RNVR. Von seinen bisherigen Pflichten als Verbindungsoffizier im Außenministerium abgelöst. Zum Captain der RN mit Patent befördert. Wieder in den aktive n Dienst eingetreten.
3. GEDANKEN IN EINER HARRIER Die Sea Harrier rollte zum Fuß der sogenannten Ski-Rampe – einem breiten Metallgerüst, das im Winkel von 12° aufragte –, und das Bugrad rollte exakt auf der dunklen Mittellinie. Das legendäre V/STOL-Flugzeug (Vertical/Short Take Off & Landing), ausgesprochen »Vaistol«, reagierte, als ganz leicht Gas gegeben wurde, und stieg so, daß der ganze Rumpf sich nach oben hob. Bond machte seinen letzten Startcheck; Er stellte die Bremsen ein, die Klappen auf OUT und drehte den weißen Zeiger des ASI (Fahrtmesser) auf Abhebgeschwindigkeit. Das Flugzeug lebte, zitterte beim 193
Leerlauf des Rolls Royce (Bristol) Pegasus 104 Strahltriebwerkes, das einen Schub von beeindruckenden 21 500 Pfund erzeugen konnte. Bei der Sea Harrier wird der Schub durch zwei Rückstoßdüsen kanalisiert, die steuerbord- und backbordseitig angebracht sind und aus der achternen Horizontalposition um 98,5° gedreht werden können. Der große Vorteil der Harrier gegenüber konventionellen Starrtragflächenflugzeugen besteht darin, daß die Antriebsdüsen vertikales Steigen und horizontalen Flug erlauben und sämtliche dazwischenliegende Varianten wie beispielsweise Schweben und Rückwärtsflug. Bonds Hand bewegte sich zum Düsenhebel, und er vergewisserte sich, daß der auf kurze Startposition mit Stopmarke 50° eingestellt war. Er hob seine rechte Hand und reckte dabei den Daumen, was von dem Deckkontrolloffizier in seinem »Bubble«, seinem Kontrollhaus auf der Steuerbordseite, registriert werden würde. Bond selbst, der im Cockpit angegurtet mit Blick auf einen stürmisch grauen Himmel saß, konnte er nicht sehen. Im selben Augenblick hörte er, wie der Flugsicherungsoffizier ihm das »Go« – »Bluebird Start frei« gab. Bond gab Gas auf 55 Prozent der Drehzahl, löste die Bremsen und schob dann den Gashebel heftig auf Vollgas vor. Die Pegasusturbine hinter ihm brüllte auf, und er spürte, wie er gegen den gepolsterten Metallsitz zurückgepreßt wurde, als ob zwei gigantische Hände auf seine Brust und sein Gesicht drückten. Die Sea Harrier schoß von der Rampe hoch, und dabei schob Bond das Triebwerk in »Auf«-Position, wobei er kaum das Winseln und Dröhnen bemerkte, als die Räder in die Schächte einfuhren. Denn in den ersten fünfzehn Sekunden während des Starts von der Rampe flog die Harrier eigentlich nicht, sondern wurde ballistisch auf eine hohe, schnelle Flugbahn geschossen. Erst als der Anzeiger des ASI blinkte und piepste, schaltete Bond die Düsen auf Horizontalflug und die Klappenverriegelung auf EIN. Das Display auf der Windschutzscheibe (HUD) zeigte, daß er in einem Winkel von fast 60° bei einer Geschwindigkeit von über 640 Knoten stieg. Wäre der Start von einem Flugzeugträger oder einem ähnlichen Schiff erfolgt, würde die See direkt unter ihm liegen, aber dieser erste richtige Start Bonds von der Ski-Rampe erfolgte vo n der Royal Navy Air Station Yeovilton in Somerset aus, die in einer der schönsten Landschaften des West Country lag. Er konnte den Boden nicht sehen, 194
denn seine Harrier war über die meilendicke Wolkendecke gestiegen und stieg noch immer, als er Kurs auf das Bombenabwurfgebiet in der Irischen See nahm, das nicht weit von der Isle of Man entfernt lag. Es war zwar Bonds erster wirklicher Start, aber er hatte ihn bereits mehrmals auf dem Simulator durchgeführt. Jetzt war er in der dritten Woche auf seinem Harrier-Speziallehrgang und seit acht Monaten wieder im aktiven Dienst bei der Royal Navy. Seine Beförderung zum Kapitän zur See war wie für jeden Marineoffizier ein beachtlicher Aufstieg. Doch in den vergangenen Monaten hatte der neue Dienstgrad keinen großen Unterschied bedeutet. Auf allen Lehrgängen, die Bond besucht hatte, waren Dienstgrade bede utungslos, und ein Kapitän zur See galt auf einem Lehrgang etwa ebensoviel wie ein Oberleutnant zur See. Seit Beginn der Lehrgänge hatte er die weiterentwickelten Strategien der Seekriegsführung studiert, die sich anscheinend mit besorgniserregender Geschwindigkeit verändert hatten. Ein weiterer Lehrgang über Kommunikationsmittel folgte. Ein dritter über Chiffrieren und ein wichtiger vierter über modernste Waffentechnik, einschließlich praktischem Umgang mit dem neuesten 3-D-Radar, Sea Darts und SAM-Raketen sowie neuen elektronischen Waffensteuerungssystemen für die Bedienung der amerikanischen Phalanx und Goalkeeper CIWS – Close In Weapon Systems, die als »See-Asse« bekannt sind – und nach den schrecklichen Erfahrungen, die während des Falklandkrieges gemacht wurden, inzwischen Standard geworden sind. Bond hatte immer seine Pflicht- und Blindflugstunden auf Jets und Hubschraubern absolviert, um als Marinepilot qualifiziert zu bleiben, jetzt aber machte er den letzten und schwersten Lehrgang – die Umschulung auf die Sea Harrier. Nach etwa zwanzig Stunden in Yeovilton im Flugsimulator hatte er die Harrier ganz normal gestartet und gelandet. Der Skisprung-Start markierte den Beginn des Lehrgangsabschnittes für Luftkrieg und taktische Waffen. Das alles faszinierte Bond ungeheuer, und er genoß es, neue Fertigkeiten zu erlernen und auszufeilen. Jedenfalls war die Sea Harrier eine herrliche Maschine: aufregend und völlig anders. Er checkte jetzt die HUD, die ihm zeigte, daß er auf Kurs und in einer Flughöhe von etwa 600 Knoten auf einer Militärluftstraße war. Als er einen Blick auf das HDD warf – das Head-Down-Display – 195
konnte er die Karte sehen, das magische Auge, das dem modernen Piloten ermöglicht, selbst durch die dicksten und dunkelsten Wolken die Erdoberfläche zu sehen. Er überquerte die Küste im Nordwesten unmittelbar über Southport, auf direktem Kurs zum Bombenabwurfgelände. Jetzt war totale Konzentration erforderlich, als er die Nase der Harrier auf die friedliche Wolkenlandschaft unter sich senkte und die Horizontalanzeige auf dem HUD nach oben glitt und ihm anzeigte, daß sich das Flugzeug in einem Sinkflug von zehn Grad befand. An der linken Seite der HUD sah er, daß die Geschwindigkeit zunahm, und er Öffnete für eine Sekunde die Bremsklappen, um das Sinken auszugleichen. Die Höhenwerte, die über den linken Rand der HUD rasten, zeigten einen ständigen Höhenve rlust an – 30 000… 25… 15… Inzwischen war er in der Wolke ndecke, flog noch immer schnell, und seine Blicke glitten zwischen Fahrtmesser, Höhenmesser und dem HUD hin und her, während er mit den Füßen auf den Ruderpedalen kleine Ko rrekturen gab. Er durchbrach die Wolkendecke in einer Höhe von 3000 Fuß und schaltete das Luft-Boden-Sichtgerät ein, drückte dann den Knopf, der die beiden 500-Pfund-Bomben scharf machte, die unter den Tragflächen hingen. Unter ihm peitschte die See, während er eine Höhe von etwa 500 Fuß hielt. Weit voraus entdeckte er den ersten verankerten Blitzsignalgeber, der ihn zu dem Bombenabwurfgebiet führte, in dem eine Reihe ähnlicher diamantförmig verankerter Signalgeber das Ziel markierten. Es kam sehr schnell heran, und das HUD blitzte das IN RAN-GESignal, noch bevor Bonds Augen den Impuls an sein Hirn weitergeleitet hatten. Instinktiv warf er die Bomben ab und stieg dann in einem Steigflug von 30° auf. Er gab Vollgas, flog eine scharfe 5 G nach links, dann nach rechts, so daß sein Körper sich für eine Sekunde wie Blei anfühlte, während er bei Höchstgeschwindigkeit wendete, um die Traubenbomben an ihren kleinen Fallschirmen direkt um den Diamanten aus Bojen explodieren zu sehen. »Hängen Sie da nicht lange rum«, hatte ihnen der junge Commander im Einsatzraum gesagt. »In Abständen von fünf Minuten sind vier von Ihnen dran. Also erledigen Sie die Sache und verschwinden Sie dann schnell.« 196
Insgesamt waren acht Marinepiloten auf dem Umschulungslehrgang: drei weitere Männer von der Royal Navy, ein Pilot des US Marine Corps, der im Austausch da war, zwei Piloten der indischen Navy und einer von der spanischen Marine. Bis auf Bond hatten alle schon mehrere Flugstunden auf Harriers bei ihren Stammeinheiten absolviert und waren in Yeovilton, um ihren Umgang mit Waffen und ihre taktische Ausbildung zu verbessern. An diesem Nachmittag war Bond als erster gestartet, gefolgt von dem spanischen Offizier – einem mürrischen jungen Mann namens Felipe Pantano, der sehr zurückhaltend war –, einem der Leutnants der Royal Navy und dem Amerikaner. Aus Sicherheitsgründen war der Luftweg zum und vom Ziel vorgeschrieben, und Bond schwenkte seine Harrier in eine langgezogene Steigflugwende, gab dann Vollgas, so daß die Maschine fast senkrecht stand, und blickte dann auf den kleinen Radarschirm an der Steuerbordseite seines Cockpits, um den Himme l über seiner Rückflugstrekke abzusuchen und sich zu vergewissern, daß kein anderes Flugzeug in seiner Nähe war. Das Radar zeigte nichts Außergewöhnliches, und so senkte er die Nase zu einem sanften Steigflug von 20°. Kaum hatte er die Harrier beim Steigen stabilisiert, als ein völlig unerwartetes Geräusch das Cockpit erfüllte. Bond war so überrascht daß er mindestens zwei Sekunden brauchte, um zu realisieren, was geschah. Während das Geräusch in Bonds Ohren lauter wurde, erkannte er die Gefahr. Bislang hatte er das nur im Simulator erlebt; das harte, kratzende Niep-niep-niep, das ständig schneller wurde. Eine Rakete steuerte ihn an – dem Signalton nach zu urteilen eine Sidewinder. Knapp dreißig Pfund einer hochexplosiven Splitterbombe wurden durch die Triebwerkhitze auf seine Harrier gelenkt. Bond reagierte langsam, und auf diese Weise wurden Leute vom Himmel gepustet. Er stieß den Knüppel vor, richtete die Harrier auf Sturzflug, wich nach links und rechts aus, beschleunigte bei jeder Wende mit etwa sieben G, behielt die Richtung für ein oder zwei Sekunden bei und wendete dann wieder. Gleichzeitig schlug er auf den Knopf, durch den vier Leuchtkugeln ausgestoßen wurden, die das Hitzesuchsteuerungssystem der Rakete irritierten, gefolgt von einem Bündel Störfolie – Metallstreifen, die das Radarsuchgerät ablenkten. Eine weitere Sicherheitsvorschrift besagte, daß alle Flugzeuge, die das 197
Bombenabwurfgebiet anflogen, sowohl Leuchtkugeln als auch Störfolie in speziellen Behältern mitführten – ebenfalls eine Lektion des Falklandkrieges, bei dem Störfolie bündelweise in die Bremsklappen geraten war. Das Niepgeräusch war noch immer da und wurde schneller, während sich die Rakete der Harrier näherte. Er hob die Nase, wendete wieder und flog tausend Fuß höher einen Fünferturn, wobei er reichlich Schub gab. Dann drehte er die Harrier und ging wieder in Sturzflug über. Sein Körper war bleischwer, seine Kehle staubtrocken und der Steuerhebel fühlte sich starr an, als er das Flugzeug bis an die Grenze belastete. Er hatte die Maschine fast auf Höhe des Meeresspiegels, als das knurrende Signal plötzlich aufhörte. Weit entfernt zuckte an Steuerbord in Richtung des Zielgebietes ein Blitz auf. Bond atmete tief ein, zog die Nase der Harrier hoch, ging wieder auf seinen alten Kurs und stieg mit Vollgas auf 30 000 Fuß Höhe. Während er stieg, schaltete er das Funkgerät auf Sendung – »Bluebird an Homespun. Irgendein Idiot hat mir fast eine Sidewinder an meine Sechs gesetzt.« »Sechs« bede utete bezogen auf eine Standarduhr direkt hinten. »Wiederholen Sie, Bluebird.« Bond wiederholte, und Yeovilton forderte ihn auf zu bestätigen, daß die Maschine nicht beschädigt war. Er tat das und fügte hinzu, daß es mehr Glück als Können gewesen sei. Alle vier Flugzeuge, die an diesem Nachmittag zum Bombenabwurfgebiet kommandiert waren, hatten nur Traubenbomben getragen. Das Zielgebiet gehörte jedoch zur RAF. Allerdings wurden Benutzung und Zeitpläne streng überwacht. Es war allenfalls möglich, daß zufällig ein Jet der Ro yal Air Force eingeplant und entweder zu früh oder zu spät dort angelangt war. »Bluebird, sind Sie sicher, daß es eine Rakete war?« »Hat mich durch den ganzen Himmel gejagt. Natürlich bin ich sicher.« Bond erreichte Yeovilton ohne weiteren Zwischenfall und stürmte, nachdem er gelandet war und seine Fliegermontur abgelegt hatte, in das Büro des Flugleitoffiziers – den meisten als Wings bekannt, das sich im Kontrollturm befand. »Wer war der Narr?« brüllte Bond und hielt dann inne, da Commander Bernie Brazier, ein erfahrener Offizier, wütend und gleichzei198
tig erschüttert wirkte. Er bedeutete Bond, sich zu setzen. »Es wird eine Untersuchung geben, Sir.« Seine Augen hatten den müden Blick eines Mannes, der schon alles gesehen hat und sich nie richtig daran gewöhnen konnte. »Es gibt ein Problem. Keines unserer Flugzeuge war mit Raketen bestückt, und die RAF sagt, sie hätten das Zielgebiet heute nicht angeflogen. Wir überprüfen Ihre Harrier auf eine mögliche Fehlfunktion der Abwehrelektronik.« »Das war keine Fehlfunktion, um Himmels willen. Es war eine echte Rakete, Bernie. Ich werde das in meinen Bericht schreiben, und der Himmel helfe dem Kretin, der sie auf mich abgefeuert hat« Commander Brazier sah noch immer unglücklich aus. Ruhig sagte er: »Da ist noch ein zweites Problem.« »Was?« »Wir haben ein Flugzeug verloren.« »Wer?« »Captain Pantano. Der spanische Offizier. Er war als zweiter unterwegs, warf pünktlich die Bomben ab und ve rschwand dann während seines Steigfluges vom Radar. Niemand sah ihn runterkommen, und wir haben jetzt Such- und Rettungstrupps draußen, die nach ihm oder dem Wrack suchen.« »Vielleicht hat ihn eine Sidewinder abgeknallt.« Bonds Stimme klang sehr sarkastisch. »Wie ich Ihnen bereits erzählte, Sir, war kein raketentragendes Flugzeug in der Nähe.« »Schön, und was ist wohl hinter mir hergesaust, Wings? Ein schottischer Nebel?« James Bond machte, jetzt völlig wütend, auf dem Absatz kehrt und ging. An diesem Abend war die Stimmung in der Bar der Offiziersmesse vor dem Abendessen nur wenig gedämpft. Es war immer ein bißchen hart, einen Piloten zu verlieren, aber durch die seltsamen Umstände, die mit seinem Verlust verbunden waren, und auch wegen der Tatsache, daß der spanische Pilot sich nicht gerade umgänglich gezeigt hatte, waren die jungen Piloten nicht sonderlich aufgeregt. Deshalb war die Bar vor dem Essen wie üblich von dem Gesumm des aufgekratzten Geplauders erfüllt, als Bond die Offiziersmesse betrat. Er war im Begriff, sich zu den beiden anderen Navy-Piloten des Lehrgangs zu begeben, als sein Blick auf eine Person fiel, die er 199
seit seinem Eintreffen im Marinefliegerhorst Yeovilton schon öfter beobachtet hatte. Sie war groß und sehr schlank, ein WRNS First Officer (Women’s Royal Naval Service – oder kurz »Wrens« genannt). Eine sehr begehrenswerte Frau, die so gut aussah, daß Männer mittleren Alters den Verlust ihrer Jugend bedauerten: eine gekonnte Kombination von Selbstbewußtsein mit einem Hauch völliger Gleichgültigkeit gegenüber den vielen Offizieren, die ihr den Hof machten, »Wie Hornissen um einen Honigtopf«, wie ein alter, barscher Admiral bei einem Besuch kommentierte. Sie hieß Clover Pennington, aber für viele war sie, obwohl im Schoß einer gutbestallten Familie des West Country groß geworden, einfach »Irish Penny«, Jetzt toastete die übliche Zahl von drei jungen Leutnants dieser dunkelhaarigen, schwarzäugigen Schönheit zu, doch als sie Bond sah, löste sie sich von der Bar und kam auf ihn zu. »Ich hörte, Sie hatten heute beinahe einen Bombentreffer, Sir.« Ihrem Lächeln fehlte die Ehrerbietung, die von ihrem Dienstgrad beim Ansprechen eines ranghöheren Offiziers ve rlangt wurde. »Nicht so nah dran, wie’s anscheinend bei unserem spanischen Piloten der Fall war, Miss… äh… First Officer…« Bonds Stimme klang etwas unsicher. In letzter Zeit hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich viel mit Frauen zu beschäftigen, eine Tatsache, die M’s Herz erfreut hätte. »First Officer Pennington, Sir. Clover Pennington.« »Nun, Miss Pennington, wie war’s, wenn Sie mir beim Abendessen Gesellschaft leisteten? Mein Name ist übrigens Bond, James Bond« »Sehr gern, Sir.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und wandte sich der Offiziersmesse zu. Die drei jungen Offiziere, die noch an der Bar saßen, warfen böse Blicke auf Bond. An diesem Abend gab es kein formelles Dinner in der Offiziersme sse, weshalb Bond die Gelegenheit beim Schöpf ergriff. »Nicht hier, First Officer.« Seine Hand streifte ihren uniformierten Arm mit den drei blauen Streifen unten am Ärmel, die ihren Rang anzeigten. »Ich kenne ein recht annehmbares Restaurant nahe Wedmore, das mit dem Wagen etwa eine Viertelstunde entfernt ist. Sie haben zehn Minuten zum Umziehen.« Wieder ein Lächeln, das einen mehr als nur angenehmen Abend verhieß. »Oh, gut Sir. Ohne Uniform fühle ich mich immer wohler.« 200
Bond dachte unanständige Gedanken und folgte ihr von der Bar. Er gab ihr zwanzig Minuten, da er wußte, wieviel Zeit Frauen brauchen, die sich zum Ausgehen umzogen. Jedenfalls wollte auch Bond Zivilkleidung anlegen, wenngleich sie fast eine andere Art von Uniform war: Dunhill-Hose und Blazer mit dem RN-Wappen auf der Brusttasche. Bevor er seine neuen Pflichten übernahm, hatte M geraten: »Sie sollten diesen verdammt großen Bentley nicht nehmen, 007.« »Und wie, meinen Sie, soll ich mich bewegen, Sir?« hatte er gefragt. »Oh, nehmen Sie etwas Nettes aus dem Fuhrpark – die haben da einen hübschen kleinen BMW 520i in einem unauffälligen Dunkelblau. Der ist im Augenblick frei. Benutzen Sie den als Kleinwagen, bis Sie Segel setzen, um an ferne Küsten zu fahren.« Bond hätte schwören können, daß M »Drake’s Dram« summte, als er das Büro verließ. So stand also zwanzig Minuten später der dunkelblaue BMW vor der Wrennery, wie die Frauenquartiere genannt wurden. Zu Bonds Überraschung war sie bereits da und wartete draußen. Sie trag einen reizenden Trenchcoat über Zivilkleidung. Der Mantel war eng gegurtet, betonte die hübsche Taille und vermittelte einen Hauch von Sinnlichkeit. Sie glitt neben ihm auf den Beifahrersitz, wobei ihr Rock hochrutschte und etwa zehn Zentimeter Schenkel entblößte. Als Bond den Wagen durch die Tore der Wrennery steuerte, bemerkte er, daß sie keine Anstalten machte, Mantel und Rock zu richten, während sie den vorgeschriebenen Sicherheitsgurt anlegte. »So, wohin fahren wir, Captain Bond?« (Bildete er sich die Kehligkeit ihrer Stimme nur ein oder war sie schon immer dagewesen?) »Kleiner Pub, den ich kenne. Gutes Essen. Die Frau des Inhabers ist Französin, und die bereiten ein ganz passables Boeuf Beauceronne zu, fast originalgetreu. Außer Dienst bin ich übrigens James.« Dir Lachen klang fröhlich. »Sie können wählen – James. Mein Spitzname ist ›Irish Penny‹, weshalb mich die meisten Mädchen Penny nennen. Ich ziehe meinen richtigen Namen Clover, vor.« »Einverstanden – also dann Clover. Ein hübscher Name. Ungewöhnlich.« »Mein Vater pflegte immer zu erzählen, daß meine Mutter vo n einem Bullen im Kleefeld erschreckt worden sei, als sie mit mir 201
schwanger ging, aber ich bevorzuge die romantischere Version.« »Und die lautet?« Wieder lachte sie. »Ich wurde auf einem Flecken Klee gezeugt – und das, obwohl mein Vater ein geachteter Geistlicher war.« »Auf jeden Fall ein hübscher Name.« Bond hielt inne, um eine lange Kurve zu nehmen. »Ich habe ihn bisher einmal gehört, und sie war mit jemandem verheiratet, der im Geheimdienst eine sehr große Rolle spielte.« Die Anspielung auf Mrs. Allan Dulles war ein kalkulierter Köder: fast ein Kode, um herauszufinden, ob Clover im gleichen Geschäft war. M hatte gesagt, daß bei diesem verdeckten Unternehmen andere Offiziere mitwirken würden. Aber Clover Pennington biß auf den Köder nicht an, sondern wechselte das Thema. »Sind die Gerüchte von heute nachmittag wahr, James?« »Was soll wahr sein?« »Daß jemand versuchte, Ihnen eine Sidewinder ans Heck zu hängen.« »Schien so. Aber wie haben Sie denn davon erfahren? Der Zwischenfall sollte unter allen Umständen geheimgehalten werden.« »Oh, wußten Sie das nicht? Ich bin für die Mädchen verantwortlich, die die Harriers warten.« Auf den meisten Steinfregatten, wie Landstationen der Royal Navy bezeichnet werden, wurden Wartung und Aufmunitionierung überwiegend von Wrens ausgeführt. »Bernie – also Wings – gab mir ein kurzes Memo. Er schreibt lieber einsilbige Memos als daß er spricht, vor allem an Wrens. Ich denke immer, er glaubt, wir hätten nur ein sehr begrenztes Vokabular. Wir haben die gesamte Elektronik Ihres Flugzeuges überprüft, nur um uns zu vergewissern, daß da keine eigenartige Rückkoppelung war.« »Es war eine Rakete, Clover. Ich bin schon früher mal Ziel dieser verdammten Dinger gewesen. Ich weiß, welches Geräusch die machen.«* »Wir müssen das überprüfen. Sie wissen ja, wie der Commander (Air) ist. Er beschuldigt uns immer, seine kostbaren Harriers mit Wrenlins zu verseuchen.« Sie lachte. Kehlig und ansteckend, dachte * Obwohl das nur angedeutet und nie in gedruckter Form zugegeben wurde, war Bond fast mit Sicherheit während des Falklandkrieges im Einsatz. Man munkelte, er sei der Mann gewesen, der heimlich landete, um Zivilisten zu unterstützen und bei ihrer Ausbildung zu helfen, 202
bevor der Krieg ausbrach. Bond, etwas, wogegen er nichts einzuwenden hatte. »Wrenlins«, wiederholte er halblaut. Er hatte diesen alten Ausdruck der Marineflieger fast vergessen, der von den »Gremlins«, den Kobolden der RAF übernommen und verändert worden war. Die jungen Leute von heute nahmen es als gegeben hin, daß Gremlins Kreaturen waren, die Spielberg für einen populären, wenngleich blöden Film aus seinem Hirn gezaubert hatte. Fünfzehn Minuten später saßen sie an einem Tisch in eine m ruhigen, sauberen Restaurant und bestellten das Paté und Boeuf Beauceronne – dieses köstliche und einfache Gericht, bestehend aus Rumpsteak, gekocht mit Speck, Kartoffeln und Zwiebeln. Innerhalb einer Stunde sprachen sie schon wie alte Freunde miteinander, denn sie hatten tatsächlich gemeinsame Be kannte, da sich herausstellte, daß im Gegensatz zu Clovers Vater, den sie als »bescheidenen Diener Gottes« bezeichnete, sein älterer Bruder Sir Arthur Pennington war, Sechster Baronet und Herr vo n Pennington Nah, einem stattlichen Anwesen, das Bond auf verschiedenste Weise genossen hatte. »Oh, dann kennen Sie auch meine Cousinen Emma und Jane?« fragte Clover und sah ihn scharf an. »Intim«, erwiderte Bond kategorisch und mit völlig unbewegtem Gesicht. Clover ließ es darauf beruhen, und sie sprachen über alles, angefangen von den Jagdbällen auf Pennington Nah bis hin zum Leben in der Royal Navy und kamen dabei auf Jazz zu sprechen. - »Mein Bruder Julian machte mich mit traditionellem Jazz vertraut, als er in Cambridge war, und seitdem bin ich danach richtig süchtig« – auf Fischen in der Karibik, das sie beide liebten, auf Skilaufen und schließlich auf die Romane von Eric Ambler und Graham Greene. »Ich habe das Gefühl, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen, James«, sagte sie, als sie langsam zum RNAS zurückfuhren. Das war, dachte Bond, eine etwas abgedroschene Bemerkung, aber möglicherweise eine einladende. Er hielt den BMW an einer Parkbucht an und schaltete den Motor ab. »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, Clover, meine liebe.« Er griff im Dunkel nach ihr, und sie erwiderte seinen ersten stürmischen Kuß, obwohl sie sich ihm entzog, als er näherzurücken begann. 203
»Nein, James. Nein, noch nicht Es könnte problematisch sein, vor allem, weil wir Schiffskameraden werden.« »Was meinst du mit Schiffskameraden?« Bond streichelte ihr Haar. »Invincible, natürlich.« »Was ist mit der Invincible?« Er wich behutsam zurück. »Nun, wir werden doch beide dorthin zur Landsea ‘89 abkommandiert, oder?« »Das höre ich zum ersten Male.« Bonds Stimme blieb gelassen, während sein Magen sich sorgenvoll verkrampfte. »Ich höre auch zum ersten Male, daß Wrens auf See gehen – besonders während einer Übung wie Landsea ‘89.« »Nun, jedenfalls ist das überall mm. Mir ist es ganz offiziell mitgeteilt worden. Fünfzehn von uns. Ich und vierzehn Bootsleute und Matrosen – abgesehen von den anderen Damen, die an Bord sein werden.« »Und was ist mit mir?« Tief innerlich war Bond jetzt mehr als besorgt. Wenn allgemein bekannt war, daß er auf die Invincible abkommandiert wurde, war bei den Bösewichten keine allzu große Intelligenz erforderlich, um zwei und zwei zusammenzuzählen, zumal, wenn sie im Besitz der Information waren, daß drei ranghohe Admiräle, einschließlich dem Befehlshaber der russischen Marine, an Bord gehen würden. In Gedanken war er wieder bei seinem Fastabschuß an diesem Nachmittag, und er fragte sich, ob jemand bereits versuchte, ihn aus dem Babysitter-Geschäft zu drängen. Clover redete weiter, sagte, daß sie über seine Beteiligung informiert worden sei. »Aber Geheimhaltung gilt doch gewiß nur für diejenigen, die nicht informationsberechtigt sind.« »Und ich bin informationsberechtigt?« »Dein Name steht auf der Liste, James. Natürlich bist du unbedenklich.« »Und wer sind diese anderen Frauen?« »Das wurde uns nicht gesagt. Ich weiß nur, daß andere Frauen dort sein werden.« »Okay, dann erzähl mir mal alles, was du weißt, von Anfang an, Clover.« Bond hörte zu und wurde noch besorgter. Besorgt genug, um einen sehr geheimen Anruf zu tätigen und M um eine Blitzzusammenkunft 204
am kommenden Wochenende zu bitten. »Ich würde darüber nicht mit allen und jedem schwatzen, Clover«, mahnte er. »Ist nicht einmal gut, mit mir darüber zu reden« , sagte er zu ihr, als sie wieder in der Wrennery waren. »Gib mir wenigstens einen Gutenachtkuß, James«, schmollte sie. Er lächelte und küßte sie kurz auf die Wange. »Noch nicht«, sagte er ernst. »Vor allem, da wir Schiffskameraden sein werden.« Obwohl er lachte, als er wegfuhr, waren die Ereignisse des Tages mehr als besorgniserregend. Bond tätigte seinen Notruf an M aus einer Telefonzelle, die eine Meile von der Basis entfernt lag. Der Offizier vom Dienst, der einen Zerhacker benutzte, arrangierte die Zusammenkunft für Sonntag.
4. EIN SONNTAG AUF DEM LANDE Die Suche nach dem spanischen Piloten Felipe Pantano und seiner vermißten Sea Harrier war bei Einbruch der Dunkelheit abgebrochen worden, sollte aber am Morgen wieder aufgenommen werden. Doch lange bevor die Besatzungen der Such- und Rettungshubschrauber ausgeschwärmt waren, um nach Trümmern und möglicherweise einem signalgebenden Floß zu suchen, saß Captain Pantano behaglich in der Kapitänskabine eines kleinen Frachters, zweihundert Meilen von der Küste seines Heimatlandes Spanien entfernt. Der Frachter war in Oporto, Portugal, registriert. Und in der Tat war Oporto, die Hafenstadt, die für ihre Weine so berühmt ist, sein Ziel; an Bug und Heck stand der Name Estado Novo. Die Estado Novo lag tief im Wasser und trug offensichtlich schwere Fracht. Ein riesiger verankerter Container nahm den gesamten Raum auf Deck ein. Im Ladeverzeichnis des Schiffes war der Inhalt des Containers als Maschinen und Gerate einer bekannten britischen Firma mit Bestimmungsort Gibraltar aufgeführt und würde deshalb in Oporto vom Zoll nicht weiter überprüft werden, wo das Schiff nur vierundzwanzig Stunden anlegen sollte, um Treibstoff aufzutanken. Pantano gegenüber in der Kabine saß nicht der Kapitän, sondern Abou Hamarik, der Stratege von BAST, lächelnd und nickend, wäh205
rend der dunkelhäutige kleine Pilot erzählte, wie gut ihr Plan gelaufen sei. »Ich bin sicher, niemand hat bemerkt, daß ich von meine m Kurs abgewichen bin«, sagte Pantano schnell auf spanisch, »und Ihre Leute haben genau rechtzeitig gewartet. Es dauerte keine fünf Minuten.« Er hatte als Nummer zwei im Quartett der Harriers abgehoben, war auf korrekte Höhe gestiegen und hatte zunächst sorgfältig darauf geachtet, den vorgeschriebenen Kurs zu halten. Die Operation war erst vor zehn Tagen vorbereitet worden, obwohl es seit langem den Plan gab, die Harrier zu stehlen: Tatsächlich war das ursprünglich der Grand gewesen, warum man Pantano auf den Lehrgang geschickt hatte. Während ihrer sorgfältig geplanten Aktion, Agenten in die spanische Marine einzuschleusen, hatte BAST wochenlang darauf hingewirkt, daß Pantano auf den Harrier-Lehrgang kam. Nicht vorhergesehen war ursprünglich die Beseitigung von Captain Bond gewesen. Dies hatte man eingeplant, als ein anderer Agent bestätigte, welche Rolle dieser Offizier während des überaus wichtigen Manövers Landsea ‘89 spielen sollte. Etwas nördlich von Shrewsbury hatte Pantano seine Harrier über einem dichtbewaldeten Gebiet buchstäblich vom Himmel fallen lassen, wobei er den Vektorschub seines Flugzeugs benutzte und wie ein Expreßlift senkrecht herunterkam. Kein Pilot hätte Grand zu einer Beanstandung gehabt, denn die Harrier war genau an der geplanten Stelle gelandet, auf einer kleinen Lichtung. Pantano hatte nur kleine Korrekturen vornehmen müssen, während er langsam sank und die Harrier behutsam auf der Lichtung absetzte. In der Nähe parkte ein Land Rover, in dem vier Männer auf ihn warteten. Wie Pantano bereits angedeutet hatte, dauerte die Arbeit des Verkabelns, Auftankens und Einhängens der Sidewinder AIM-9J-Rakete (eine von dreien, die vier Monate zuvor von einer RAF-Basis in Westdeutschland gestohlen worden waren) in die äußere Steuerbordhalterang nur kurze Zeit. Fünf Minuten und zwanzig Sekunden später stieg Pantanos Sea Harrier schnell zwischen den Bäumen auf, gewann an Vorwärtsgeschwindigkeit und flog wieder auf dem alten Kurs, wobei der Pilot jetzt aber weiter auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigte. Entscheidend für ihn war, daß er das von Bond gesteuerte Führungsflugzeug einholte und zu Nummer drei guten Abstand hielt. 206
»Ich denke, wir hätten’s gehört, wenn der Radar in Yeovi lton mich tatsächlich irgendwann verloren hätte«, lächelte er Hamarik zuversichtlich an, der freundlich nickte. Die Harrier des Spaniers hatte sich Bond auf drei Meilen genähert, als der seinen Bombenanflug machte. »Ich visierte ihn an und zündete die Rakete«, berichtete er Hamarik. »Danach war ich mit meinem eigenen Bombenanflug beschäftigt und den darauf folgenden kleinen Umwegen.« Hamarik zuckte die Schultern und spreizte die Hände. »Ich fürchte, Freund Bond entkam«, lächelte er, als wolle er sagen, »man kann nicht jede Schlacht gewinnen.« Pantano seufzte tief, offensichtlich verärgert über sich selbst. »Tut mir leid. Ich tat, was ich konnte. Verdammt. Ve rdammter Kerl.« »Bitte, machen Sie sich keine Vorwürfe. Wir haben noch viel Zeit, um mit Captain Bond fertig zu werden. Schade, daß wir nicht zwei Fliegen mit der sprichwörtlichen Klappe schlagen konnten. Aber ich verspreche Ihnen, Felipe, er wird verschwinden. Und allein das ist entscheidend.« Pantano lächelte, wobei er eine kleine Goldmine von Zahnfüllungen zeigte, bevo r er über die letzte Phase berichtete. Sein Bombenanflug verlief bis zu dem Zeitpunkt normal, als er wieder in Steigflug überging. »Ich zog einfach im Winkel von 30 Grad hoch, damit ich auf dem Radar zu sehen war. In tausend Fuß Höhe zündete ich alle Leuchtkugeln, schaltete meinen Radar ab und das ECM ein.« (Das ECM (Electronic Counter Measure Pod) ist ein elektronisches Gerät, das dazu benutzt wird, Bodenradar und Raketen zu stören.) »Das war natürlich nicht narrensicher, aber ich ging auf null Fuß runter und dann auf den Kurs, den Sie mir gegeben hatten. War ziemlich aufregend, das kann ich Ihnen sagen. Ich war nur wenige Fuß über dem Wasser. Zuweilen spritzte Salzgischt auf die Windschutzscheibe, und selbst mit Heizdüsen und Scheibenwischer bekam ich nicht alles runter. Außerdem flog ich mit voller Pulle, und der Anzeiger des Höhe nmessers piepste grell. Ich hatte ihn auf Minimum gesetzt – einhundert Fuß –, und er spielte völlig ve rrückt. Es war mehr eine Bootsfahrt als Fliegen.« Die Harrier war schnurgerade auf den Atlantik hinausgeflogen und hatte dann zur Bucht von Biskaya gewendet. Zwe ihundert Meilen 207
später hatte Pantano die Geschwi ndigkeit verlangsamt und schwebte neben der wartenden Estado Novo. Es gab genug Platz, um vertikal landen zu können, und die Mannschaft hatte schon, bevor er das Cockpit verlassen hatte, damit begonnen, Wände zu errichten, die die riesige Containerattrappe bildeten, die jetzt auf dem Vorderdeck stand. »Gut.« Hamariks Lächeln überzog ölig sein Gesicht. »Sie haben gute Arbeit geleistet. Jetzt müssen wir lediglich dafür sorgen, daß die Maschine aufgetankt, gründlich überprüft und mit den anderen Waffen ausgerüstet wird. Dann werden Sie für Akt zwe i Ihrer Rolle in der Operation bereit sein, die wir LOSE nennen, Verlust. Operation LOSE bedeutet, daß die Großmächte alles verlieren, was ihnen teuer ist. Denn welches Land kann schon ohne seine Regierang funktionieren?« »Diesen Teil verstehe ich nicht.« Pantano forschte nicht we iter nach, obwohl er offensichtlich neugierig war. »Sie verstehen ihn nicht, weil Sie nicht wissen, was wirklich auf dem Spiel steht.« Wieder das schmierige Lächeln. Dann erhob sich Hamarik aus seinem Sessel. »Ko mmen Sie, lassen Sie uns essen und von angenehmen Dingen reden. Wir haben ein kleines Geschenk für Sie an Bord. Sie kommt aus Ägypten und erfreut sich an der gleichen Art von Spielchen, die Ihnen zusagen, wi e man mir berichtet hat. Aber zuerst das Essen, denn Sie werden Energie brauchen.« James Bond flog fast den ganzen Sonntag, und die Offiziersmesse war nahezu leer, als er gegen acht Uhr abends zum Essen dorthin kam. Er betrat den Vorraum und war überrascht, Clover zu sehen, die ein raffiniertes, fast militärisch aussehendes Kleid trug – beige mit Messingknöpfen und Paspeln in dunklerem Beige an Schultern und Kragen. »Und wie geht es Ihnen heute abend, Clover?« Er lächelte, als sei das ausweichende Verhalten des vorangegangenen Abends vergessen. »Es geht mir gut, Sir.« Sie erwiderte das Lächeln, obwohl sie förmlich sprach. »Ich habe auf Sie gewartet…« »Gut. Wie steht’s mit einem Dinner?« »Das wäre wirklich schön. Ich hole meinen Mantel. Können wir…?« Bond schüttelte seinen Kopf und streckte einen Arm aus, um sie zurückzuhalten. »An einem Samstagabend sind immer nur wenige Leute 208
in der Offiziersmesse, Clover. Wir werden sehen, was wir hier bekommen. Ich meine mich zu erinnern, daß es in den Messen der Mannschaften samstagsabends immer ›Hering im Topf‹ gab.« Er erinnerte sich gut daran aus der Zeit, als er noch wachhabender Offizier gewesen war und seine Runden in den Messen machen mußte. Als »Hering im Topf« wurden die großen Dosen mit Hering in Tomatensauce bezeichnet, die Mannschaften und Maate gleichermaßen mochten. Bond hatte das nie verstehen können. Für ihn war das ein widerliches Essen, das genauso roch, wie es schmeckte. Er hoffte, daß die Dinge sich seitdem geändert hatten. Die beiden einzigen Leute, die um diese Zeit zu Abend aßen, waren der wachhabende Offizier und der Offizier vom Dienst der Royal Marines, die beide Bond ehrerbietig zunickten, als er Clover zu zwei Stühlen führte, die etwas von den beiden anderen Offizieren entfernt standen. Die Wren-Stewards servierten ihnen das einzige Menü, das am Samstagabend zu haben war – geräucherten Lachs, gefolgt von einem gegrillten Steak. Bond orderte sein Steak medium, verzichtete auf die Pommes frites und bestellte einen kleinen grünen Salat. Sie sprachen über Allgemeines und mieden das Problem, das sie beide beschäftigte, bis das Hauptgericht serviert wo rden war. Clover Pennington leitete zu dem Thema über. »Ich wollte mich für gestern abend entschuldigen.« Sie wandte den Blick ab und errötete, als sie sprach. »Entschuldigen wofür?« Bond starrte sie an, bis sie Blickkontakt zu ihm aufnehmen mußte. »Ich habe gegen sämtliche Sicherheitsvorschriften verstoßen, Sir. Ich hätte weder die Invincible noch Landsea ‘89 erwähnen dürfen. Es tut mir leid. Es schien mir nur einfach ganz natürlich, besonders da ich wußte, daß Sie ebenfalls dazu abkommandiert sind« »Sie haben völlig recht.« Bond sprach fast scharf zu ihr. »Da Sie den Rang eines First Officer erreicht haben, sollten Sie inzwischen wirklich alle Lektionen in Sachen Sicherheit gelernt haben. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein, Clover: Meine Vorbehalte gegenüber jungen Frauen, die entweder laut reden oder ein loses Mundwerk haben, sind groß. Die Royal Navy heißt nicht umsonst Silent Service, die verschwiegene Marine. Wir haben einen fast makellosen Ruf, weil wir den Mund geschlossen und die Ohren offen halten.« 209
»Ich weiß, Sir. Es tut mir leid. Ich dachte nur – wenn ich mich entschuldige, vielleicht…« Bond vermochte nicht zu entscheiden, ob sie nur geschwä tzig oder eben eine Frau der Oberschicht war, die es auf das Geld der Männer abgesehen hatte. »Vielleicht was?« »Nun, gestern abend haben wir…« »Ich denke. Sie sollten den gestrigen Abend besser vergessen. Zumindest bis sich Ihr Gewissen wieder beruhigt hat.« Für den Fall, daß er zu schroff war, schenkte Bond ihr ein knappes Lächeln. »Wir werden sehen, wie sich alles entwi ckelt. Danach ist alles möglich – auch daß wir uns gelegentlich einmal treffen. Das ist überhaupt kein Problem.« Clover Pennington wirkte entsprechend geknickt, schob ihren Teller beiseite, murmelte eine Entschuldigung und verließ die Offiziersme sse. Bond beendete seine Mahlzeit in Ruhe, begab sich in den Vorraum, nahm einen kleinen Brandy zu seinem Kaffee und kehrte dann in sein Quartier zurück. Morgen war dienstfrei, aber ihm stand ein Tag voller Arbeit bevor. Er verließ die Basis der Royal Naval Air kurz nach acht, nachdem er sein übliches Frühstück zu sich genommen hatte. Bond begann zu verstehen, was ihn von Anfang an so bei der Navy angezogen hatte – er war ein Routinemensch und genoß die Privilegien, die mit seinem Dienstgrad verbunden waren. Aber jetzt war der Dienstgrad abgelegt, er trag Zi vilkleidung und fuhr den BMW vorsichtig, den Blick auf den Rückspiegel gerichtet. Obwohl er in England war – dies hier war ein Einsatz, und jeder Kontakt mit seinem eigentlichen Service hatte heimlich stattzufinden, wobei Einsatzregeln galten. Er fuhr nach Cheddar, zufrieden darüber, daß an diesem Spätherbstsonntag nur wenig Leute unterwegs waren. Offensichtlich wurde er nicht überwacht. Er bog von der Hauptstraße ab und fuhr auf ein modernes Haus am Rande eines teuren Anwesens zu, Die Türen der Doppelgarage waren geöffnet, und Bill Tanner stand neben dem scharlachroten Lancia, der bereits vor de n Automatiktüren geparkt stand. Bond brauchte weniger als eine Minute, um die Fahrzeuge zu wechseln und den Lancia zu wenden, während Tanner nickte und den BMW in die Garage fuhr. Andere Wagen waren nicht in der 210
Nähe, und Bond stülpte einen unmöglichen Fischerhut auf seinen Kopf und setzte eine dunkle Brille auf. Kein Wort wurde gewechselt, doch als Bond den Lancia auf die Hauptstraße steuerte, sah er, daß die Garagentür sich senkte und seinen eigenen Wagen verbarg. Eine Stunde später hatte er den M5 Motorway hinter sich gebracht und die M4-Abzweigung genommen, die ihn nach London führte. Er brauchte etwa fünfzig Minuten, um die Ausfahrt Windsor zu erreichen, danach fuhr er über kleinere Straßen und achtete noch immer auf mögliche Verfolger. Es war eine langwierige, umständliche Prozedur, so daß er sein Ziel erst nach elf erreichte. Er surrte über die Windsor-Bagshot Straße, suchte nach dem Gasthof Squirrel zu seiner Linken und dann nach dem einfachen Steintor auf der rechten Seite. Langsam steuerte er den Lancia durch das Tor und sah die vertraute, gepflegte Auffahrt, den Sichtschutz aus Silberbirken, Buchen, Pinien und Eichen, die das rechteckige Regency-Landhaus aus verwittertem Bath-Stone verbargen. Seitlich neben dem Haupthaus parkte er so, daß der Lancia durch die Bäume abgeschirmt wurde, die, wie er aus der Vergangenheit wußte, nicht der einzige Schutz von M’s herrlichem Landhaus waren, das nostalgisch »Quarterdeck«, also Achterdeck hieß. Der Kies knirschte unter seinen Füßen, als er sich dem Säulengang näherte. Dann griff er nach dem Riemen, der an der funkelnden Messingglocke hing, die einst auf einem längst vergessenen Schiff gehangen hatte, und läutete. Sekunden später wurde die massive Tür von innen entriegelt und geöffnet, und da stand M’s Diener Davison, der den getreuen Ex-Stabsbootsmann Hammond ersetzt hatte. »Mrs. Davison geht es hoffentlich gut?« Bond trat in die Halle und nahm das vertraute Bild wahr – die Politur der Pinienpaneele, die Viktorianische Garderobe, an der M’s alter Ulster hing, daneben Wellington-Stiefel, und den Tisch mit dem wundervoll detaillierten Modell des Schlachtkreuzers Repulse im Maßstab 17144, der M’s letztes Kommando gewesen war. »Mrs. Davison ist so fit wie ein Floh – und doppelt so fix, wenn Sie meinem Gedankengang folgen können, Sir.« »Das kann ich in der Tat, Davison.« Bond neigte seinen Kopf in Richtung auf das Modell. »Viel schöner als die modernen Schiffe, nicht wahr?« 211
»Ich weiß nicht mehr, was ich von der Navy halten soll, Sir. Flugzeugträger, die keine Flugzeugträger mehr sind, aber auch keine richtigen Schiffe. Ist jedenfalls nicht mehr wie in den alten Tagen. – Jedenfalls, Sir, erwartet Sie der Admiral.« »Gut. Gehen Sie voran, Davison.« Der ehemalige Stabsbootsmann klopfte laut an die dicke, schwere, spanische Mahagonitür, und dahinter erscholl M’s Stimme scharf; »Herein.« »Captain James Bond, Sir.« »Darf ich an Bord kommen, Sir?« lächelte Bond, erkannte aber sofort, daß sein Lächeln nicht erwidert wurde. M begann das Gespräch erst, nachdem die Tür hinter ihnen geschlossen worden war, und in diesen wenigen Sekunden registrierte Bond den ganzen Raum. Er war genauso ordentlich wie immer. Der Tisch nahe dem Fenster, auf dem Aquarellmalzeug in der Präzision einer Paradeformation angeordnet lag, die alten Seestiche, die adrett in Reihe an den Wänden aufgehängt waren, und M’s Schreibtisch mit Papieren, altem Schreibzeug, ledernem Tintenlöscher, Kalender, den beiden Telefonen, das eine elfenbeinweiß, das andere rot, alles in perfekter Ordnung. »Nun«, begann M, »ich hoffe, Sie haben etwas Handfestes, Bond. Es gab eine besondere Vereinbarung: keine Kontakte, es sei denn, Sie feuern ein Notsignal ab.« »Sir, ich wollte…« »Falls Sie mir erzählen wollen, daß jemand aus dem Hinterhalt eine Rakete auf Sie abgefeuert hat – das weiß ich. Ebenso wie ich weiß, daß dies ein Elektronikfehler in Ihrem Flugzeug gewesen sein konnte…« »Bei allem Respekt, Sir, das war kein Elektronikfehler. Aber es gibt auch andere Probleme. Ich würde nicht ohne Grand die Einsatzregeln brechen.« M wies auf einen Armsessel. Bond setzte sich, und M nahm seinen üblichen Platz hinter dem Schreibtisch ein. »Sie sollten besser…« Er wurde durch das Surren des roten Telefons unterbrochen, hob den Hörer an sein Ohr und sagte nichts. Dann grunzte er zweimal, nickte und legte den Hörer wieder auf. »Jedenfalls war niemand hinter Ihnen. Dessen sind wir sicher. Nun, wenn Sie so überzeugt sind, daß es eine 212
Rakete war – und ich bin es nicht –, worüber wollen Sie dann mit mir reden?« Bond fing ganz am Anfang an – bei der Sidewinder, die ihn vom Himmel pusten sollte, und fuhr dann ohne Pause mit der Geschichte über First Officer Clover Pennington fort. »Sie sagt, fünfzehn Wrens seien für den Dienst auf der Invincible vorgesehen, sagt, dies sei allgemein bekannt, ebenso wie sie erzahlt, daß allgemein bekannt sei, daß auch ich dorthin kommandiert würde. Ich hielt es für lebenswichtig, direkt mit Ihnen zu sprechen, Sir. Das ist eine geheime Sache, und es gefällt mir nicht, daß jedermann Einzelheiten weiß. Besonders, da Sie so eisern darauf beharrten, daß wir die Einsatzregeln strikt einhalten und daß ich völlig verdeckt arbeiten solle. Wenn ein Wren First Officer darüber schwätzt… Wie wollen wir uns dann sicher sein, daß die BAST-Leute nicht bereits dies wi ssen? Daß sie Kenntnis davon haben, daß die drei Admiräle auf der Invincible sein werden und daß ich ihr Kindermädchen und verantwortlich für ihre Sicherheit bin? Verdammt, Sir, die können mich jederzeit ausschalten, wenn sie wollen. Und nach allem, was wir wi ssen, war die Sidewinder ein erster Ve rsuch, mich zu beseitigen.« M blieb eine volle Minute stumm und räusperte sich dann. »Es wäre am besten, diesen jungen First Officer Pennington aus dem Kommando zu nehmen«, knurrte er. »Vielleicht ist es aber besser, sie im Spiel zu lassen, wo Sie ein Auge auf sie haben können. Es ist dennoch alles sehr interessant, besonders unter diesem Gesichtspunkt.« Er öffnete einen schlichten Ordner und nahm vorsichtig zwei aneinandergeheftete Blätter Papier heraus, die e r Bond reichte. Es waren die üblichen Wartungsformblätter mit Datum vo m Vortag, die einen detaillierten Untersuchungsbericht der Harrier enthielten, die er am Tag des Zwischenfalls geflogen hatte. Bond überlas die Seiten und registrierte dabei die technischen Einzelheiten. Darin war überwiegend von einem Paar fehlerhafter Transponder die Rede, die Teil des internen Warnsystems waren. Die Zusammenfassung und das Ergebnis standen in sauberer Handschrift am Fuß der zweiten Seite: Obwohl es möglich ist, daß das Warnsystem in Captain Bonds Flugzeug tatsächlich auf das unbeabsichtigte Abfeuern einer Rakete ansprach, scheint es wahrscheinlicher, daß die Warnsignale entweder vor oder während dem Bombenanflug ausgelöst wurden. Es ist be213
kannt, daß bei Versagen von einem oder beiden der in obigem Bericht erwähnten Transponder Piloten Raketenanflüge meldeten oder zumi ndest, daß Raketen in ihre Richtung abgefeuert worden seien. Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß keine Raketen an Bord irgendwelcher in der Nähe befindlicher Flugzeuge waren, scheint dies die einzig mögliche Erklärung für diesen Fall zu sein. C. Pennington (First Officer WRNS) »Schön zu wissen, wer auf welcher Seite ist, Sir. Ich kann Ihnen versichern, daß es keinen Transponderfehler gab. Das war eine Rakete, und First Officer Pennington scheint alles zu tun, um das herunterzuspielen. Vielleicht, um ihr hübsches kleines Hinterteil abzusichern, Sir?« M grunzte, nahm den Bericht wieder an sich und blickte dann Bond mit seinen verdammt klaren grauen Augen an. »Sie sind sich absolut, hundertprozentig sicher, 007?« »Darauf wette ich mein Leben, Sir.« M ruckte. »Unter den gegebenen Umständen ziehe ich es vor, die Dinge zu belassen, wie sie sind, obwohl es eine normale Sicherheitsvorkehrung wäre, diese junge Frau aus dem Kommando für die Invincible zu entfernen. Zumindest sind Sie jetzt gewarnt.« Davison trat nach einem Klopfen an der Tür ein, um anzukündigen, daß ein kleines Mittagessen serviert werden würde. »Nicht viel, nicht einmal für einen Sonntag.« M hob sich aus seinem Sessel. »Aber sicher etwas, das Sie mögen, 007. Kaltes Roastbeef, neue Kartoffeln und etwas Salat. Ist Ihnen das recht?« »Ist eine Abwechslung vom Essen in der Offiziersmesse, Sir.« »Darauf möchte ich wetten.« M gab etwas von sich, das einem bei ihm seltenen Lachen ziemlich nahekam. »Gut für Sie. So reduzieren sich wenigstens all die unerfreulichen Chemikalien in Ihrem Stoffwechsel. Diese schicken Mahlzeiten, die Sie immer zu sich nehmen, werden noch einmal Ihr Tod sein.« Mrs, Davison half ihrem Gatten, das bescheidene Mahl zu servieren, das nach Bonds Geschmack sehr üppig war – insbesondere die Sauce aus grob geschnittenem Meerrettich, die Mrs. Davison selbst zubereitet hatte. »Dafür gedacht, die Nebenhöhlen zu reinigen«, kommentierte M. »Das geht nicht mit diesem seichten Cremesoßenzeug, das ei214
nem heutzutage überall geboten wird. Ohne Geschmack, ohne Biß, ohne alles! Meerrettich dagegen – das ist etwas!« Als sie wieder allein waren, kam Bond langsam auf die Frage zu sprechen, die ihn vor allem beschäftigte: »Dürfte ich genau wissen, Sir, warum wir mit fünfzehn Wrens auf der Invincible erscheinen müssen? Ich bin so abergläubisch wie jeder Seemann, und deshalb betrachte ich das als schlechtes Omen – Frauen auf einem Schiff.« »Nicht nur abergläubisch, sondern schlicht ein ausgewachsenes männliches, chauvinistisches Schwein, würde ich sagen, Bond – was immer männliches chauvinistisches Schwein bedeuten mag. Das ist verdammt schlechter Sprachgebrauch, wie? Aber Sie haben mich etwas Kompliziertes gefragt. Etwas, das nicht einmal Sie wissen sollten, und ich bin mir nicht sicher, ob dies de r richtige Augenblick ist, Ihnen mehr darüber zu erzählen. Natürlich wollte ich das tun, bevor Sie das Kommando auf der Invincible antreten.« Er legte noch mehr Roastbeef auf seinen Teller und gab einen großen Löffel Meerrettich dazu. »Ich wollte Ihnen sagen, daß die Russkis mindestens einen weiblichen Marineattache mitbringen. Aber eine Russin macht kaum fünfzehn Wrens wett, nicht wahr?« »Schwerlich.« Bond folgte dem Vorbild seines Chefs und tat sich mehr Beef auf. »Dann hören Sie jetzt genau zu, 007. Das ist wirklich höchs t geheim, möglicherweise so geheim, wie zuvor noch nichts geheim gewesen ist – in Friedenszeiten ohnehin nicht.« Er sprach fast eine halbe Stunde lang, und Bonds anfängliche Überraschung über das, was M sagte, wandelte sich langsam in ein Universum voller Sorgen, die ihn in den kommenden Wochen quälen sollten. An diesem Abend trat James Bond um sechs Uhr die Rückfahrt zur RNAS nach Yeovilton an, wobei eine kleine Wagenwechselscharade in Cheddar stattfand. Er kannte jetzt den ganzen Umfang des Unternehmens und wußte, daß die ve rdeckte Aktion, die gegen BAST im Gange zu sein schien, ihm einen der schwierigsten und gefährlichsten Aufträge eingebracht hatte, mit denen er je konfrontiert wo rden war. Während Bond und M sich in dem Haus nahe dem Windsor Great Park trafen, fand eine andere zufällige Begegnung in Plymouth statt. Ein Maschinist im Range eines Bootsmannes, der vierundzwanzig 215
Stunden Urlaub hatte, verbrachte die Mittagszeit in einer ihm unbekannten Kneipe. Es war Sonntag, und Männer, die trinken, schlagen oft über die Stränge, wenn sie vor dem Essen trinken. Doch dieser Mann trank nur sein übliches Quantum. Als es Zeit zum Gehen war, schien er, wenn überhaupt, nur leicht »angeheitert« und gutgelaunt zu sein. Er hatte auch zwei neue Freunde gefunden. Der Bootsmann wohnte nicht in Plymouth, kannte aber die Stadt wie viele andere Seeleute gut. Plymouth kann an einem Sonntag für einen Seemann ohne Mädchen sehr einsam sein, noch dazu wo das Mädchen dieses speziellen Mannes seit fünfzehn Jahren seine Frau war und in London lebte, weil sie dort eine gute Stellung hatte. Die neuen Freunde waren zwei Zivilisten, die eine Unterhaltung mit ihm an der Bar des Pub begannen. Der eine, mit Namen Harry, war Vertreter einer Firma, die wichtige Bestandteile für Turbinen lieferte, we shalb er mit dem Bootsmann etwas gemeinsam hatte. Der andere, Bill, war ebenfalls Vertreter – für ein Unternehmen, das auf Fiberoptik spezialisiert war. Harry und Bill waren alte Freunde, da sie sich oft im gleichen Hotel trafen, wenn ihr Beruf sie nach Plymouth führte. Der Bootsmann war über ihre Gesellschaft froh und fand die Unterhaltung, die sich vor allem um Wein, Frauen und Schiffe drehte, außergewöhnlich anregend. So sehr, daß er die beiden Männer einlud, einen Happen mit ihm zu essen. »Und danach, meine Freunde, werde ich mir einen gutaussehenden jungen Pusher suchen.« Frei übersetzt hatte ein »Pusher« nichts mit Drogen zu tun. Es war ein alter Ausdruck der Marine für Mädchen; gewöhnlich für eines, das nicht besonders tugendhaft war und die meisten Dinge für Geld tat. Entweder als Professionelle oder als Amateurin. »Mann, da können wir dir aber wirklich helfen«, sagte Harry. »Bill und ich sind oft hier. Und rate mal, was unser Hobby ist?« Sie aßen gut, und ihre Unterhaltung drehte sich kaum um Dinge oberhalb der Gürtellinie. »Was würde deine Frau sagen, wenn sie dich je dabei erwischte?« fragte Billy den Bootsmann. »Die würd’ mir die Hölle heiß machen. Und ihre Brüder auf mich ansetzen, das ist sicher, und das sind wirklich Brocken.« Sie führten ihn zu einem kleinen Privatclub, in dem sie beide Mitglieder waren. Dort wurden dem Bootsmann mehrere junge Mädchen gezeigt, die alle höchst begehrenswert waren. So sehr, daß der Boots216
mann feststellte, er habe in seinem ganzen Leben nie »Pushers« wie diese in den Clubs oder auf den Straßen vo n Plymouth gesehen. »Das liegt daran, daß du die richtigen Plätze nicht kennst«, sagte Harry lächelnd. »Wähle aus, Blackie. Irgendeine von denen…« »Oder einige, wenn du Bock drauf hast. Die Runde geht auf uns, Kumpel«, lachte Billy. Der Bootsmann wählte eine Blondine, die wie sechzehn aussah, aber in dem Ruf stand, erfahrener als ein Teenager zu sein. Die Kameras waren hinter einem Zweiwegspiegel ve rsteckt, der in diesem speziellen Etablissement oft benutzt wurde. Der Bootsmann verbrachte zwei Stunden mit dem Mädchen und ging, wie er sagte, »äußerst beeindruckt«. Harry und Billy luden ihn zum Abendessen in ihr Hotel ein. Dann drehte sich die Unterhaltung um die großen Turbinen der Navy, für die der Bootsmann Experte war.
5. Das Weihnachtsgeschenk Der Satz »Gesundheit hängt von Stärke ab« wurde gegen Ende November wieder von den Lauschposten aufgenommen. Die Computer schalteten sich ein, und die Abschrift lag binnen vierundzwanzig Stunden auf M’s Schreibtisch. Wieder waren es Bassam Baradj und Abou Hamarik, die sprachen. »Aber Sie glauben doch nicht, daß dieser Marinemann, dieser Bond, irgendeine Gefahr für eine solch komplexe Operation wie die unsere darstellt?« fragte Baradj. »Ich weiß gern, wer meine Feinde sind.« Hamariks Stimme war fast ein Flüstern. »Bond ist keineswegs nur ein einfacher Offizier der Royal Navy. Abgesehen davon, daß es überhaupt keine einfachen Offiziere bei der Royal Navy gibt. Dieser Mann hat eine interessante und beeindruckende Akte, und meine Informanten erzählen mir, daß er als spezieller Verbindungsoffizier auf dieses Schiff abkommandiert we rden wird.« »Leiter eines ausgewählten Leibwächterteams?« »Wahrscheinlich.« 217
»Und Sie glaubten, er stelle eine so große Gefahr dar, daß eine Beseitigung angemessen sei, obwohl wir uns mitten in einer Phase befinden, die für den eigentlichen Plan lebenswichtig ist?« »Ich sah es als militärische Gelegenheit. Die Chance war da. Es mißlang.« Eine lange Pause entstand. Dann sprach Baradj wieder. »Nun, Abou, ich vertraue darauf, daß der andere Teil unserer Operation ›Lose‹ gut verläuft und nicht gefährdet wird. Abgesehen von den generellen politischen Zielen der Bruderschaft habe ich sehr viel Geld investiert. Ich habe die Tatsache nie ve rschwiegen, daß es hier auch um finanzielle Dinge geht. Wenngleich ich leidenschaftlich an die Bruderschaft glaube und sie als den einzigen Weg ansehe, eine neue und gerechtere Welt zu gestalten, bin ich doch daran interessiert, für mich selbst ein Finanzpolster zu schaffen – und natürlich wäre die Bruderschaft ohne meine finanzielle Unterstützung nichts. Beten wir, daß der nächste Teil des Planes unproblematisch ve rläuft.« »Am kommenden Wochenende wird diese Phase abgeschlossen sein. Wir haben unseren Mann perfekt vorbereitet. Sie brauchen sich über diesen Teil keine Sorgen zu machen. Alles wird gut verlaufen.« »Und dieser Bond?« »Vielleicht wäre es gut, ihn von der Szene zu entfernen. Er war früher Angehöriger des britischen Secret Intelligence Service und ein geschickter Killer, bis die Briten es nicht mehr wagten, solche Dinge zu tun. Aber er ist erfahren, ein guter Führer – und ein Mann, mit dem man rechnen muß. Zweifellos wird er Leute befehligen, die das Trio bewachen, das an Bord von Birdsnest Two sein wird.« »Wenn wir ihn vor dem Ereignis loswerden würden?« Baradj machte eine Pause. »Wenn wir ihn beseitigten, würde er dann durch jemanden seiner Qualität ersetzt werden?« »Sie werden ihn ersetzen.« Hamarik klang etwas unsicher. »Aber nicht mit einem Mann seines Kalibers. Bond ist, nun, sagen wir – einzigartig.« Wieder entstand eine dieser langen Pausen, in der die Abhöreinrichtungen Geräusche der Umgebung auffingen: eine Ziegenherde oder Schafherde außerhalb; Leute, wahrscheinlich Diener oder Leibwächter, die stritten. »Sie feiern im nächsten Monat ihr Weihnachtsfest.« Baradjs Stimme 218
klang plötzlich hart und drohend. »Finden Sie heraus, wo dieser Mann Weihnachten verbringen wird. Ich werde ihn der Katze überlassen. Das wird das Risiko eines Scheiterns verringern.« M beobachtete in seinem Büro, das am Regent’s Park lag, Bill Tanner, der die Abschrift las. Tanner las schnell, aber M war ungeduldig und trommelte mit seinen Fingern auf das Lederquadrat, das in die Platte seines Schreibtischs eingelassen war. »Nun?« fragte er scharf, als sein Stabschef fertig war. »Sie sind zu gut informiert.« Tanner sprach entschlossen. »Es wird unkontrollierbar. Ich meine, Sie sollten dazu raten, daß die Sache noch einmal überdacht wird. Blasen Sie die ganze Geschichte ab.« M grunzte. »Mmmh. Aber, Stabschef, glauben Sie, man wü rde auf unseren Rat hören? Das Ganze abzublasen birgt Risiken, da wir wissen, was auf dem Spiel steht.« Nun grunzte Bill Tanner, während er sich zu seinem Lieblingsplatz am Fenster begab und auf den darunterliegenden Park hinabschaute. »Ich verstehe das Problem, Sir. Aber wenn das Schlimmste geschieht…« »Am besten wäre es, zu verhindern, daß überhaupt etwas geschieht. Vertrauen wir auf Bond. Sie haben gehört, was Baradj über Weihnachten sagte. Warum sollen wir sie nicht zuschlagen lassen? Sie verwundbar machen, indem wir gestatten, daß sie ihre Karten aufdekken?« »Sie meinen, Sie wollen Bond als Köder benutzen?« »Eher als Weihnachtsüberraschung, Tanner. Muß ihn natürlich zuerst fragen. Ja, bereiten Sie ein Treffen vor und sorgen Sie dafür, daß es absolut und hundertprozentig geheim ist. Haben Sie verstanden?« »Ich verstehe, Sir.« »Die Katze.« M sprach fast zu sich selbst. »BAST, das dreiköpfige Monster, das auf einer Viper reitet. Die Köpfe eines Mannes, einer Schlange und einer Katze. Die Katze, Tanner…« »Saphii Boudai, ja?« »Was steht in der Akte?« »Herzlich wenig. Wir wissen, daß sie mal zur PLO gehörte. Es besteht die Möglichkeit, daß sie ein paar Jahre als Agentin in die Mossad eingeschleust wurde, aber entweder sind die zu zurückhaltend oder zu 219
sehr mit ihren eigenen Racheplänen beschäftigt, um irgendwelche Fotos rauszugeben. Wir wissen, daß Boudai neunundzwanzig oder dreißig Jahre alt ist. Wir wissen auch, daß sie attraktiv und in vielen heimlichen Dingen Expertin ist. Aber wir haben keine Fotos und keine wirkliche Beschreibung von ihr.« M grunzte wieder. »Sie haben Bond gut eingeschätzt, seine Schwachstelle waren immer Frauen. Er muß umfassend informiert werden. Versuchen Sie, mehr Informationen über diese Boudai zu erhalten, selbst wenn Sie auf unsere Mo ssad-Kontakte zurückgreifen müssen. Ich weiß, daß das ein empfindlicher Haufen ist, aber tun Sie Ihr Bestes – und bereiten Sie das Treffen noch sorgfältiger als gewöhnlich vor.« Tanner nickte und verließ das Büro, grimmig und entschlossen dreinblickend. Der Harrier-Umschulungslehrgang in Yeovilton war noch anstrengender geworden. Bond flog jeden Tag, und jeden Tag wurden seine Grenzen höher gesteckt – nicht nur beim Bombenabwurf, sondern auch in seiner Rolle als Jagdpilot. Zuerst im Simulator, später dann in der gefährlicheren Wirklichkeit übte er Kampfflugtechniken – manchmal mit anderen Flugzeugen, die von seinen Ausbildern oder anderen Lehrgangsteilnehmern geflogen wurden. An einem Tag flog er die ganzen schnellen Manöver, bei denen der Magen sich zusammenballte, wie High G Yo Yo, Flip G Yo Yo, Low G Yo Yo und den alten, bewährten, echten Immelmann, der für Düsenflugzeuge so modifiziert worden war, daß man die Richtung nicht dadurch änderte, daß man die Maschine wie beim klassischen Immelmann am Scheitelpunkt eines Looping rollte, sondern während man im Senkrechtsteigflug hochschoß. Es gab auch das Manöver, das für die Harrier einzigartig war – den sogenannten Thrust Vectored In Forward Flight oder kurz VIFF. Die Harrier kann senkrecht aufsteigen oder sich seitwärts von ihrem normalen Kurs bewegen, und dies war eine Technik, die man im Luftkampf für absolut revolutionär hielt. Aber die Piloten des Umschulungslehrganges, die gelernt hatten, ein VIFF durchzuführen, hörten von einem erfahrenen Piloten aus dem Falklandkrieg, wie sich das in Wirklichkeit verhielt. 220
»Die Presse hat viel Trara um das Viffing gemacht«, erzählte der Pilot ihnen beim Unterricht. »Aber ich glaube nicht, daß viele von uns diesen Trick angewendet haben. Ich habe Artikel und Zeichnungen in Magazinen gesehen, auf denen Harriers zu sehen waren, die Feindflugzeuge direkt hinter ihrem Heck in Position gehen ließen, dann hochschössen und den Angreifer wegputzten, während der unter ihnen vorbeiflitzte.« Der Pilot, ein junger Korvettenkapitän, lächelte kläglich. »Man läßt einfach nicht jemanden in aller Ruhe hinter sich in Sechserposition gehen. Es ist viel zu gefährlich. Außerdem wird man durchs VIFF langsamer – was allerdings auch ein großer Vo rteil ist. Ich persönlich würde das nur benutzen, um die Position meiner Nase zu verändern und einen guten Schuß auf meinen Gegner ansetzen zu können. Vergessen Sie die heldenhaften Sprünge nach oben und das Vorbeischießen des Feindflugzeuges. Wenn Sie jemanden an Ihrer Sechs, an Ihrem Heck haben, wird er Sie wahrscheinlich erwischen, was immer Sie auch tun – es sei denn, er feuert aus zu großer Entfernung auf Sie. Luftkampf heutzutage ist vor allem eine Sache der Geschwindigkeit und eine Frage des Abstandes. Verlassen Sie sich auf Ihren Radar und die Zielautomatik. Eine gut plazierte Rakete mit Hitzesuchkopf, selbst wenn sie aus größter Entfernung abgeschossen wird, erledigt die Angelegenheit – bei ihm oder bei Ihnen.« Natürlich nahmen sie VIFF aber trotzdem in ihr Manöverrepertoire auf, kannten seine Grenzen und stießen langsam an ihre eigenen Grenzen. Bond wußte, daß er seit langer Zeit nicht unter solchen Belastungen im Einsatz gewesen war. Besonders besorgt war er wegen Clover Pennington, die sich nicht davon abschrecken ließ, daß er ihr die kalte Schulter zeigte, sondern statt dessen immer interessierter zu werden schien. Sie wartete auf ihn, verweilte im Vorraum oder suchte ihn bei den Mahlzeiten auf, wobei sie eine ungewöhnliche Sorge um sein Wohlergehen zeigte, aber darauf achtete, nicht zu lästig zu we rden. »Diese spezielle Wren mit den drei Streifen ist aber wirklich heiß auf Sie«, bemerkte der US Navy-Pilot eines Tages beim Mittagessen. »Tatsächlich?« Bond warf ihm einen überraschten Blick zu. »Nun, wenn das so ist, schlage ich vor, daß ihr mal jemand sagt, sie soll eine kalte Dusche nehmen.« »Ich weiß, was Sie meinen, Captain. Wenn man einen Tag lang in 221
diesen Vögeln am Himmel rumgejagt ist, könnte man kaum noch eine Vorstellung bestreiten, nicht mal für den begehrenswertesten zweibeinigen Vogel. Diese Harriers erschöpfen einen ja völlig.« »Sehr wahr«, sagte Bond mit einem knappen Lächeln, als er sich erhob und den Tisch verließ. Ein paar Tage später erhielt er eine Postkarte, die das Martyr’s Memorial in Oxford zeigte. Er kannte die Handschrift nicht, nahm aber an, daß eine der Sekretärinnen vom Büro am Regent’s Park die Karte geschrieben hatte. Der Text war sauber, knapp und kam klar auf den Punkt: Habe zweiundzwanzig Seiten Notizen über Bärenköder im sechzehnten Jahrhundert gemacht. Habe auch Blenheim Palace besucht, um mir das Archiv anzusehen, womit ich das ganze Wochenende beschäftigt war. Hoffe Dich bald zu sehen. In Liebe wi e immer. Judith. Jeder mit gesundem Menschenverstand hätte das dechiffrieren können. Judith war der Kode für ein Soforttreffen. Der Text verriet Bond genau, wann und wo das stattfand: The Bear Hotel, Woodstock, nahe Oxford. Zimmer zweiundzwa nzig um acht Uhr am Sonntagabend – die Zimmernummer war korrekt, die Zeit war 16 Uhr plus vier. Entweder lag etwas Besonderes an, oder – da der Lehrgang sich seinem Ende näherte – waren die Pläne geändert worden. The Bear Hotel, Woodstock, liegt an dem großen Marktplatz dieser engen kleinen Stadt und ist zu Fuß nur wenige Minuten von dem Gelände entfernt, das zum Blenheim Palace führt, diesem prächtigen Geschenk eines dankbaren Herrschers an den ersten Herzog von Marlborough. Der Palast war von Vanbrugh entworfen worden, und die prächtige Anlage stammte von Capability Brown. Die Haupttore des Palastes weisen eine Nachbildung der komplizierten Schlösser auf, die einst die Haupttore von Warschau zierten, und heutzutage kommen die Leute vo n weither, um sie und ihr historisches Umfeld zu sehen. Einer der größten Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts, Winston Churchill, wurde nämlich nicht nur in dem Palast geboren, sondern auch im nahegelegenen Blandon beigesetzt. Bond war oft hierhergekommen, samstags von London herausgefahren, und hatte den 222
Tag damit verbracht, auf dem Anwesen spazierenzugehen, um den atemberaubenden Anblick zu genießen. Er erinnerte sich an einen Samstag im Oktober vor einigen Jahren, als er auf der Brücke gestanden hatte, die den großen See überspannte, und zuschaute, wie die Herbstsonne einen goldenen Speer auf das Wasser warf. Der Speer erschien ihm oft im Traum, gerade so als sei er ein Omen. Blenheim und Woodstock sind Magneten für To uristen aus aller Welt, und obwohl der Palast im November geschlossen ist, bleiben das herrliche Anwesen und der Park für einen Teil des Tages geöffnet. An diesem Sonntag, an dem die Luft von Holzrauch erfüllt war und wo auf den Wegen die goldenen und roten Blätter des Herbstes funkelten, stand Bond wieder auf derselben Brücke und schaute auf die gleiche rote Sonne, die tief am Himmel stand und ein ähnliches Bild hervorrief – einen Speer aus Licht, der direkt auf ihn gerichtet war. Jetzt überlegte er, ob der Speer, den das Wasser reflektierte, tatsächlich ein Omen sei. Er hatte für die Nacht ein Zimmer im nahegelegenen Feathers Hotel genommen, teils aus Gründen der Sicherheit und teils weil er dieses Hotel dem berühmteren Bears vorzog. Er beendete seinen Spaziergang und kehrte in The Feathers zurück, wo er sich für ein paar Stunden hinlegte, bevor er den kurzen Gang zum Bear antrat. Mit einem gewissen Ekel registrierte er den Geruch von Öl und Kartoffelchips, der schwer in der Abendluft hing und aus Pubs drang, die mit »PubFutter« oder »Gutes Essen« warben, Wortgebilden, die Bond am liebsten aus der englischen Sprache verbannt gesehen hätte. Viele junge Leute drängten sich in den Bars, die gewissen Teilen der Streitkräfte verboten waren. Man sollte ihnen ruhig dieses Ventil lassen, übe rlegte er. Das würde am ehesten die Gewalt auf den Straßen der kleinen Städte auf dem Land beseitigen und Männer aus den Flegeln machen, die schon betranken wurden, wenn sie nur an der Schürze eines Barmädchens schnüffelten. Er schlüpfte durch den Vordereingang des Bear, hielt sich vo m Empfangsbereich am hinteren Teil des schmalen Korridors fern, der von der Eingangshalle dorthin führte, und zwängte sich in den kleinen Fahrstuhl, der ihn zu Zimmer zweiundzwanzig brachte. M und sein Stabschef warteten. »Abteilung Q hat gerade das Haus überprüft«, sagte M zur Begrü223
ßung. »Scheint sauber zu sein, obwohl man das ja heutzutage nie wissen kann.« Bond lächelte beide freundlich an, seinen Chef und seinen engsten Freund beim Service, und wartete dann auf das, was zweifellos auf ihn zukommen würde. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, waren die Nac hrichten nicht gut. M deutete auf einen Stuhl, und 007 setzte sich und wartete, bis M fragte: »Sie erinnern sich an BAST?« »Wie könnte ich das vergessen, Sir? Schließlich scheinen die unsere Hauptgegner zu sein.« »Sie wollen Ihnen ans Fell, 007. Wollen Sie erwischen, unschädlich machen, auf Eis legen. Sie in den Sarg bringen. Das zumindest wollen uns die Schwarzseher glauben machen.« »Ich hatte angenommen, der Raketenzwischenfall hätte uns bereits diese Grandrichtung angezeigt.« »Ja.« M wedelte mit der Hand, als wolle er schlechte Luft vo r seiner Nase entfernen. »Aber dieses Mal haben wir eine Chance, zumindest einen von ihnen zu erwischen. Wir wi ssen, wann die Burschen gegen Sie vorgehen wollen und wer es tun wird. Wir wissen nur nicht, wo es stattfinden soll.« »Dann, bei allem Respekt, Sir, meine ich, sollten wir letzteres möglichst exakt herausfinden.« Bill Tanner rieb sich die Hände. »Die Wahl des Wo hängt allem von Ihnen ab, James.« »Von mir?« »Ja.« M’s klare graue Augen waren fest auf Bonds Gesicht gerichtet. »Wir möchten Sie in Weihnachtsurlaub schicken, 007.« »Köder«, sagte Bond. »Weihnachtsgeschenk«, korrigierte ihn Tanner. »Eine Art Versteck wäre gut, so daß BAST durch Ihren Kamin runterkommen und Ihnen die Socken mit Geschenken füllen kann. In diesem Fall wird BAST die menschliche Gestalt einer Frau annehmen.« »Ah«, sagte Bond mit einem schiefen Lächeln. »Sie wollen also auf Geschenke und schnelle Frauen setzen.« »Frauen sind Ihnen ja nicht ganz unbekannt, 007.« M zwinkerte nicht einmal, von einer Erwiderung des Lächelns ganz abgesehen. »Habe ich eine Wahl?« 224
M schüttelte seinen Kopf. »Überhaupt keine. BAST weiß bereits zuviel. Sie wollen während Landsea ‘89 zuschlagen, und man betrachtet Sie als Gefahr. Nun, die Leute scheinen noch nicht alle Einzelheiten zu kennen. Beispielsweise wi ssen sie nichts vo n den sechs SASLeuten, die Sie bei der Leibwächteroperation befehligen sollen.« »Komisch, von denen hatte ich auch noch nichts gehört, Sir.« Bond schwieg kurz, blickte dann von M zu Tanner und wieder zurück. »Wenn Sie all das wissen, warum können Sie dann nicht mit BAST auf deren Weise fertig werden? Sie aus dem Verkehr ziehen, bevor sie zuschlagen?« M seufzte. »Wir kennen die Namen ihrer Anführer. Wir haben Beschreibungen von den beiden, aber wir wissen nicht, wie groß ihre Bruderschaft ist oder wie fanatisch sie wirklich sind. Die vier Anführer sind verrückt genug, wenngleich der eigentlich führende Kopf, soweit wir das beurteilen können, mehr an einer Verzinsung seiner Investition interessiert ist als an dem politischen As – pekt.« »Normalerweise würden wir Sie nicht gefährden, James…«, begann Tanner. »Wirklich nicht?« »Aber Landsea ‘89 steht bevor«, sagte M entschlossen. »Nun möchten wir gerne einen ihrer führenden Leute in die Hände bekommen. Wie steht’s also mit Weihnachten?« »Ist nicht meine bevorzugte Jahreszeit.« Bond senkte de n Blick. »Ich kann all diese Bonhomie nicht ertragen, und die Familien, die sich um die festliche Tafel scharen, aber das liegt wahrscheinlich daran, daß ich keine richtige Familie habe.« Tracy, für ein paar Stunden nur seine Frau, ging ihm kurz durch den Kopf. Weihnachtsfeste wären schön gewesen, wenn sie noch lebte, dachte er. Sogar ein völlig uncharakteristisches Bild von ihnen beiden an einem Kaminfeuer mit Geschenken und einem Baum davor durchzuckte kurz seinen Verstand. Dann sah er wieder den reflektierten Lichtspeer und fragte sich, wie all dies enden würde. Er schaute M freudlos an. »Ich nehme an, Sie haben bereits etwas ausgewählt Sir.« M nickte. »Sie erinnern sich, daß ich Sie vor ein paar Jahren zwecks Erholung und Ruhe fortschickte. Eine Villa auf Ischia, im Golf von Neapel.« »Das war im Sommer…« Er erinnerte sich deutlich daran. Abge225
schieden, wundervoll gelegen, fast idyllisch. Zum Essen mußte man nur ein paar Meilen fahren. Den Rest der Zeit ve rbrachte man am Swimmingpool, wurde von Dienstmädchen bedient, hatte einen Koch, wenn man einen wollte, und genoß die herzliche Umgebung. »Ich weiß, daß der Service dafür zahlte, aber dort ist doch nur im Sommer geöffnet.« »Ich denke, ich kann den Besitzer überzeugen.« M’s Gesicht zeigte diesen hartnäckigen Ausdruck. Nach ein paar Herzschlägen entgegnete Bond: »Also Weihnachten auf Ischia, Sir. Erzählen Sie mir, was ich zu tun habe.« »Zuerst«, begann M, »müssen Sie die Sache solo erledigen. Wir können Ihnen nur ganz bescheidene Rückendeckung geben. Nichts Großartiges und gewiß nicht die örtliche Polizei…« Er fuhr die nächste Stunde lang mit Erläuterungen fort, und dabei wurde Bond klar, daß die ganze Arbeit mehr denn je allein bei ihm lag. Er mußte dasitzen und auf eine Frau warten, die ihn töten wollte, die möglicherweise mit Verstärkung kam. Dann mußte er sie überlisten, und schließlich mußte er sie und etwaige Begleiter lebend nach England zurückbringen. »Ist ja wirklich ein ganz gewöhnlicher Job«, sagte er, als M zu reden aufhörte. »Jedenfalls etwas, das Sie ausführen können, wenn Sie mit Schmetterlingsnetz und Insektenspray bewaffnet sind.« »Ich begnüge mich mit dem Spray«, lächelte Bond. »Vorzugsweise 9 mm mit viel Wucht dahinter. Wissen Sie, diese Spritze, die alle Weihnachtsmänner mit sich herumtragen.« In etwa dem gleichen Augenblick, in dem Bond darüber in Kenntnis gesetzt wurde, wie er ein fröhliches Weihnachtsfest zu verbringen habe, überbrachten Harry und Bill ihrem alten Freund, dem Maschinenmaat, schlechte Nachrichten. »Es ist nicht so, daß wir dich nicht mögen, Blackie«, sagte Bill. »Wir selbst stehen unter einem gewissen Druck.« »Ich meine, wir wußten nicht, daß in dem Haus Fotos gemacht wurden… Wie du sehen kannst, eine ganz schöne Anzahl davon.« Harry hatte an die dreißig Schwarzweißfotos auf den Tisch gelegt. Sie waren in Harrys Zimmer in dem Hotel in Plymouth, das er für 226
gewöhnlich bewohnte. Die grobkörnigen Fotos sahen fast ebenso schmutzig aus wie die Gymnastikübungen, die für alle Zeiten darauf festgehalten waren. Der Bootsmann sah sehr elend aus. »Habt ihr die an meine Frau geschickt?« Es war weniger eine Frage als eine scho kkierte Feststellung. »Nein, das würden wir natürlich nie tun.« Harrys Stimme war leise und beschwichtigend, Öl auf den Wogen. »Wir stecken ebenso in der Klemme wie du, Blackie. Wir wußten das einfac h nicht« »Und dann das ganze Geld.« Bill versuchte ebenso kläglich wie sein Kollege auszusehen. »Ich meine, wir haben da Sachen über unsere Spesenkonten laufen lassen… Jetzt sitzen wir beide im selben Boot. Das ist schon was, wenn zwei Gesellschaften mit unterschiedlichen Interessen einem die Spesenkonten sperren.« »Und wir haben immer geglaubt, das Haus mit den Mädchen sei anständig. Die haben uns vorher nie einen Penny berechnet.« »Wieviel… über wieviel reden wir?« Der Bootsmann war kreideweiß. Er spürte, wie das Blut aus seinen Wangen wich. Harry seufzte. »Siebentausendachthundertundfünfundzwanzig Pfund.« »Und zweiundsechzig Pence«, fügte Bill hinzu. »Aber ich kann nicht… das ist unmöglich. Meine Frau wird mich umbringen – mich verlassen – und ich habe absolut keine Möglichkeit an so viel Geld zu kommen.« »Zweite Hypothek auf das Haus?« fragte Harry. »Die erste verdammte Hypothek ist ja nicht mal abbezahlt.« Der Trübsinn war fast fühlbar. Harry schob die Fotos zu einem sauberen Stapel zusammen. »Die haben uns einen Ausweg angeboten, aber ich hab’ gesagt, das würdest du ebensowenig tun, wie du mit deinen Armen fliehen kannst.« »Was ist das denn? Dieser Ausweg?« »Na ja, ich glaub’ nicht, daß du das hören willst.« Bill, der jedem einen kräftigen Whisky eingeschenkt hatte, unterbrach ihn. »Immerhin bieten sie noch Geld zusätzlich. Am besten, du erzählst es ihm.« »Also.« Harry seufzte wieder. »Okay, ich glaube, das könnte uns alle retten, und für dich legen sie noch hundert Riesen obendrauf, Blackie, weil du das größte Risiko trägst.« 227
»Hundert Riesen? Für mich? Wen soll ich umbringen?« »Es geht nicht ums Umbringen.« Harry rückte näher und begann dem Bootsmann ein Angebot zu machen, das dieser unter den gegebenen Umständen nicht ablehnen konnte.
6. NEAPEL SEHEN UND… Neapel war nicht James Bonds Lieblingsstadt. Als er jetzt mitten im dichten Verkehr steckte, der sich Stoßstange an Stoßstange laut hupend und kreischend durch eine der engen Straßen wälzte, die zum Hafen hinunter führte, setzte er diese Stadt fast ans Ende seiner Liste. Die zweispurige Schnellstraße vom Flughafen war nicht einmal so schlecht gewesen, doch die Straßen der Innenstadt waren wie immer verstopft und geradezu chaotisch. Die Sache wurde dadurch noch verschlimmert, daß es regnete: dieser feine, durchdringende Sprühregen, der noch unerfreulicher ist als ein ständiger kräftiger Guß. Dies ist eine Stadt, die von der Zeit vergessen worden ist, sinnierte Bond, als er den unsicheren gemieteten Fiat hinter einem wackeligen Transporter abbremste, der mit Wasserflaschen überladen war. Neapel hatte seinen Ruf als Touristenstadt nie wiedererlangt, statt dessen war es zu einer Durchgangsstation geworden. Menschen trafen am Flughafen ein, blieben vielleicht zwe i Nächte, um Pompeji »zu machen«, und eilten dann entweder nach Sorrento weiter oder fuhren zu den Fähren nach Capri oder Ischia, den beiden Inseln, die das Tor zum Golf von Neapel bilden. Die beiden Inseln waren zwar auch nicht mehr in, doch gab es noch genügend Touristen oder Prominente, die dorthin wollten. Die einzigen Leute, die länger in Neapel blieben, waren Neapolitaner oder NATO-Seeleute von den verschiedenen Kriegsschiffen, die vor der Küste lagen, um die Bucht zu sichern. Für Seeleute war die Stadt mit ihrem lärmenden Rotlichtviertel und dessen Ausläufern zwischen dem Castel Sant’ Elmo und dem Rathaus dagegen eine Schau. Das ganze Viertel war als der Bauch bekannt Und im Baiich gab es jede nur denkbare Verworfenheit Es ist, dachte Bond, wohl so, wie ein Teil von Pompeji gewesen sein mußte, bevor der Vesuv seine Lava über 228
die Stadt geschüttet hatte. Der Verkehr bewegte sich vielleicht anderthalb Meter und kam wieder zum Erliegen, während das Gebrüll von Autofahrern und Polizisten durch die geschlossenen, beschlagenen Fenster des Wagens drang. Im Sommer saugten die erdroten Häuser und Terrakottadä-cher Neapels die Sonne auf, die Straßen dazwischen waren vo n Staub erfüllt. Im Winter waren die Wände der Häuser vom Regen verschmiert, so daß die Gebäude noch brüchiger wirkten, als würden sie sich bald in Schlamm verwandeln und ins Meer rutschen. Über all dem erhob sich drohend der Vesuv. An den Fährenkais nach Ischia und Capri standen Autos und klapprige Lieferwagen in langen Schlangen und verstopften den engen Raum. Eine große schwarze Limousine versuchte aus der Schlange auszuscheren, und Bond beobachtete amüsiert, wie ein Polizist sich in den Wagen beugte und den uniformierten Chauffeur mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. In London hätte der Polizist große Schwierigkeiten bekommen, hier hingege n wußte der Fahrer, daß er nie wi eder in Neapel würde arbeiten können, wenn er sich beschwerte. Nach der ärgerlich langsamen Fahrt vom Flughafen gelangten die wartenden Autos und Lastwagen trotzdem relativ schnell auf die Fähre, wenngleich mit viel Geschrei, wilden Gesten und Anrufungen von Gott und der Heiligen Jungfrau. Bond ließ den Wagen auf dem Autodeck stehen und drängte sich durch die Passagiere, um zu einem einigermaßen geschützten Platz der Fähre zu gelangen. Er bahnte sich seinen Weg zu der kleinen Bar, wo er voller Ekel einen Plastikbeche r kaufte, der mit etwas gefüllt war, was wohl Kaffee sein sollte. Die Flüssigkeit schmeckte wie süßes, gefärbtes Wasser, befeuchtete aber zumindest seine Kehle. Wenn er erst einmal in der Villa Capricciani war, würde er eine erlesenere Auswahl haben. Als die Fähre in die Bucht auszulaufen begann, blickte Bond über das schwarze, ölige Wasser zurück und überlegte, wie Neapel in seinen rahmreichen Tagen ausgesehen haben mochte. Einstmals war seine Schönheit wohl inspirierend gewesen. Die Sirene Parthenope hatte sich aus Liebe zu Odysseus ins Meer gestürzt und war an die goldene Küste gespült worden, die zum Golf von Neapel wurde. 229
»Neapel sehen und sterben«, lächelte Bond in sich hinein. Das alte italienische Sprichwort hatte eins t eine doppelsinnige Bedeutung: Neapel sehen und an seiner Schönheit sterben, war die eine. Die andere entstand, als der Hafen zu einem Sumpf von Thyphus und Cholera geworden war. Und nun? Gewiß, es hatte seit Dekaden Elendsviertel und Verworfenheit gegeben, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges zugenommen hatten. Bond kam zu dem Schluß, daß das alte Sprichwort nun in dreierlei Hinsicht anwendbar war, seitdem sich AIDS als neue Pest weltweit ausgebreitet hatte. Aber das gleiche galt für die meisten alten Häfen. Vielleicht war es der Gedanke an Altern und Zerfall, an vergangenen Ruhm und die derzeitigen weltweiten Spannungen, der Bond mit Sorge und Ängstlichkeit erfüllte, als die Küste im Kielwasser der Fähre verschwand. Er arbeitete wieder einmal verdeckt und kannte die Risiken, denn er hatte sein Leben auf diese Weise schon häufig aufs Spiel gesetzt. Und er war sich darüber im klaren, daß der Tag kommen würde, an dem alles gegen ihn stand. Zum letzten Mal hatte er diese Reise an einem herrlichen Sommertag gemacht als er sich auf Ruhe und Erholung freute. Doch dieses Mal – Neapel sehen und… was? Sterben oder leben? Gewinnen oder verlieren? So war er in etwas düsterer Stimmung, als er eine Stunde später an Backbord über die See auf das drohende aragonische Kastell schaute, von dem aus die Straße nach Ischia führte. Innerhalb von zehn Minuten legten sie in Porto d’ Ischia an, und das Gebrüll, Geschrei und Gedränge begann von neuem. Die Autos und Lastwagen fuhren unter Hupengedröhn und weiterem Geschrei durch den Sperrbezirk um den Pier. Planken wurden für die schwereren Fahrzeuge gelegt, und das ganze Unterfangen wurde durch die Regenglätte an Kai und Rampe noch riskanter. Die Fußgängermenge schien außerdem darüber erfreut zu sein, vor den sich langsam bewegenden Fahrzeugen Spazierengehen zu können. Er hatte den Wagen sorgfältig überprüft, bevor er sich hinter das Steuer setzte, da den Leuten von BAST das Leben unschuldiger Menschen sicherlich völlig egal war. Nachdem eine Ewigkeit vergangen zu sein schien, brachte er den Fiat schließlich von der Fähre herunter und fuhr um einige Stände he rum, die noch immer Touristenschrott in der Hoffnung feilboten, naive Urlauber zu erwischen, die Haus und 230
Hof verlassen hatten, um die Festtage hier, auf diesem unleugbar schönen Trümmerhaufen Ischia zu verbringen. Dieser friedlichen Insel, die alle Höhen und Tiefen der Geschichte mitgemacht und im Lauf der Zeit ebensoviel gewaltsamen Tod wie Glück gesehen hatte. Er fuhr nach Westen und fühlte sich äußerst verwundbar. Schließlich hatte er für denjenigen, der BAST mit Informationen versorgte, den Boden sorgfältig vorbereitet, indem er vielen Leuten innerhalb und außerhalb der Offiziersmesse der Yeovi lton RNAS erzählt hatte, daß er in den Golf von Neapel fahren wolle, um dort allein ein ruhiges Weihnachtsfest zu verbringen. Klar war, daß BAST Informationen aus Yeovilton bekam. Ebenso war klar, daß der ölige Baradj ihn als Opfer auserkoren und die Katze – Saphii Boudai – auf ihn angesetzt hatte. Wie bei Baradj, Hamarik und Adwan standen keine Fotos zur Verfügung. Phantombilder waren allenfalls undeutlich, nach den Angaben von Leuten gefertigt, die das Quartett flüchtig gesehen hatten, das den Kopf von BAST bildete. Alles, was Bond sicher wußte, war, daß die Katze eine Frau war, die unterschiedlich als klein oder groß, dick oder dünn, schön oder ekelhaft beschrieben wurde. Das einzige übereinstimmende Merkmal war, daß sie sehr dunkles Haar hatte. Er fuhr in einem Leihwagen, was unter dem Gesichtspunkt seiner Sicherheit sehr dürftig war, und er war unbewaffnet, bis er die Villa Capricciani erreichen würde. Erst nachdem M ihm die letzten Anweisungen gegeben hatte, erinnerte sich Bond auch daran, daß die Villa damals ein Alptraum an Sicherheit gewesen war. Während er über die engen, gefährlichen Straßen fuhr, hielt er im Rückspiegel ständig Ausschau nach Fahrzeugen, die auf der Fähre gewesen waren – und entdeckte einen Volvo hier, einen VW da. Aber kein Auto blieb hinter ihm oder zeigte Interesse. Von der Straße zwischen Lacco und Forio, im Nordwesten beziehungsweise Westen der Insel gelegen, bog er auf die schmale Schotterstraße ab, die zu der Villa führte. Auf der Insel schien sich nichts verändert zu haben. Alles war so, wie er es in Erinnerung hatte, von der vernichtenden, fast selbstmörderischen Fahrweise der Inselbewohner bis zu den herrlichen Aussichtspunkten, die sich bei Straßenbiegungen unvermittelt boten. Es gab auch anderes zu sehen: Eine Handvoll abbröckelnder Gebäude, die offene Frontseite eines vollge231
stopften Ladens und eine schäbige Tankstelle. Im Sommer hätte das vielleicht romantisch ausgesehen, im Winter kam alles klar und deprimierend ins Blickfeld. Jetzt hielt er nach den Toren Ausschau, die zur Rechten in die hohe graue Steinmauer eingelassen waren, und hoffte, daß sich auch in der Villa nichts grundsätzlich verändert hatte. Die Tore standen offen, und er lenkte den Fiat auf den engen Hof dahinter, stellte den Motor ab und stieg aus. Vor ihm lag ein großer, herrlicher Teich voller Lilien, an den rechts ein weiteres Tor grenzte, das wiederum zu Stufen führte, über denen Reben und Efeu hingen. Oben konnte er die weiße Kuppel der Villa sehen. Er hatte schon die Hälfte der Treppe erstiegen, als eine Stimme rief… »Signor Bond?« Er bejahte das durch einen Zuruf, und als er den Treppenabsatz oben erreichte, tauchte ein junges Mädchen auf. Sie war mit einem knappen Top und Jeans bekleidet, die mehr abgerissen als abgeschnitten waren, so daß es aussah, als sei ein Paar prächtiger Beine an einen kleinen, exquisiten Körper gepfropft worden. Ihr Gesicht konnte nur als frech bezeichnet werden. Dunkle Augen tanzten über einer Stupsnase und einem breiten, lächelnden Mund; das Ganze war gekrönt von einem Wust schwarzer, gelockter Haare. Das Mädchen war durch die großen gläsernen Schiebetüren der Villa gekommen und stand jetzt lächelnd neben dem Pool. In den Palmen und tropischen Farnen zu ihrer Rechten lutschte die weiße Statue eines jungen Satyrs am Daumen; fast schien er ein Spiegelbild des Mä dchens zu sein. »Signor Bond«, sagte sie mit fröhlicher, heller Stimme. »Willkommen in Villa Capricciani. Ich bin Beatrice.« Sie sprach den Namen mit fast Cassata-gewürztem Italienisch aus – Behah Trieche. »Ich bin hier, um Sie zu begrüßen. Und auch, um mich um Sie zu kümmern. Ich bin das Dienstmädchen.« Bond wollte nicht unbedingt darauf wetten, schritt aber auf die weite Terrasse, die mit einer Art grünem Vlies bedeckt war, damit man sich bei heißem Wetter auf dem Weg zum Pool, der jetzt leer und abgedeckt dalag, nicht die nackten Fußsohlen grillte. Die Villen hier waren im Winter nie geöffnet, weshalb er sich fragte, wie es M gelungen war, diese zu mieten. Wahrscheinlich lag das daran, daß er mit dem Besitzer eine freundschaftliche, vielleicht geheime Übereinkunft 232
getroffen hatte. M hatte weltweit Freunde an hoher Stelle und konnte, wie Bond vermutete, Druck ausüben, wenn Umstände wie dieser es erforderten. Als ob sie seine Gedanken lesen könne, streckte Beatrice ihre Hand aus und ergriff die seine unerwartet fest. »Die Signora ist nicht da Sie ist über Natale nach Milano gefahren. Ich bleibe hier und hüte das Haus und die ganze Villa.« Und ich frage mich, ob du die auch für BAST hütest? überlegte Bond. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.« Beatrice zog kurz an seiner Hand wie ein Kind und hielt dann inne. »Oh, ich vergaß. Sie kennen sie ja, Sie waren doch schon einmal hier?« Er lächelte, nickte und folgte ihr in den großen weißen Raum mit gewölbter Decke und passenden Sofas und Sesseln, die mit cremefarbenem Stoff bezogen waren. Drei Tische standen da mit Glasplatten, vier Lampen mit Schirmen aus weißem Glas, die wie sich öffnende Lilien geformt waren, und vier Gemälde hingen an der Wand – eines im Stil von Hockney, auf dem sich ein unbekannter Mann an das Chromgeländer des Pools lehnte, und drei andere mit verschiedenen Gartenansichten, die für Bond keiner Erklärung bedurften. Obwohl Beatrice klar war, daß er das Haus bereits kannte, führte sie ihn mit fast halsbrecherischer Geschwindigkeit we iter herum und zeigte ihm die drei großen Schlafzimmer. »Sie werden wohl Schwierigkeiten damit haben, sich zu entscheiden, welches Sie nehmen, wie? Oder vielleicht benutzen Sie sie nacheinander? Jede Nacht ein anderes. Sie sind allein, ja? So ein Pech. Jede Nacht ein anderes wäre toll.« Darauf folgte eine Art Kupplerinnengelächter. Die Räume der Villa befanden sich auf einer Ebene: Ein großes Zimmer, von dem Türen in die drei Schlafzimmer führten, und ein schmaler Durchgang – geschickt so angelegt, daß zwei Kühlschränke, Lebensmittel, Porzellan, Töpfe, Pfannen und Bestecke hineinpaßten –, der zur Küche führte. Der hintere Teil des großen Zimmers war gewölbt und umfaßte eine Eßecke. Das Ganze war sehr schön in einer geschickten Mischung aus Alt und Neu möbliert, so daß jeder Raum seinen eigenen Stil hatte. Hinter dem Eßbereich gelangte man durch eine Schiebe tür auf eine zweite Terrasse, an deren linker Seite Treppen zu einem Flachdach führten, das zu einem offenen Raum umge233
baut worden war – ein einfaches Dach aus Holz und Binsen spannte sich darüber, gekrönt von einem Wetterhahn, getragen von schweren Holzbalken. Das Meublement bestand hauptsächlich aus einem langen Mensatisch. Im Sommer ein idealer Eßplatz. Von dort blickte man auf die kleine, weißgraue Stadt Forio mit ihrer alten Kirche Unsere Liebe Frau zur Hilfe, die strahlend weiß gestrichen war und eine schlichte architektonische Linienführung aufwies. Sie hockte auf dem alten grauen Fels, der die Landspitze von Soccorso überragte, Der Regen hatte nachgelassen, und eine fahle Wintersonne beschien die Kirche, die aus der Entfernung winzig wirkte. Ihre Strahlen prallten ab und glitzerten und funkelten auf dem Wasser. Bond blickte wieder auf die Stadt, deren Hügel hoch aufragten, und richtete dann seinen Blick auf das Vorgebirge und die Kirche. »Ist schön, was?« Beatrice stand neben ihm. »Die soll den Fischern helfen. Allen, die segeln. Unsere Liebe Frau zur Hilfe kümmert sich um sie.« »Bei uns gibt es einen Choral«, hörte Bond sich unerwarteter-weise sagen. »Fast ein Gebet. ›Oh, erhöre uns, wenn wir Dich anflehen, wenn wir für die beten, die auf See in Gefahr sind,‹« »Ist gut« Sie stand dicht neben ihm, und selbst in der Kühle dieses Wintertages konnte er den Sonnenschein an ihr riechen. Eine Süße, die ihr Körper in den kräftigen heißen Wochen des Sommers eingefangen zu haben schien, vermischt mit einem Duft, den er nicht zu identifizieren vermochte. Er machte kehrt und ging zurück, blieb aber an den Stufen stehen, um auf das unglaubliche Wunder zu schauen, das hinter der Villa lag. Früher einmal hatten die Einheimischen geglaubt, daß die Signora – die, wie Beatrice sagte, jetzt in Mailand weilte – verrückt sei. Als Witwe eines großen Künstlers hatte sie dieses Land gekauft: nackter Fels. Einen Teil davon hatte sie we gsprengen lassen, so daß der Fels zu einer Art Amphitheater geformt wurde. Dann hatte sie dicht an den Felsen eine große Villa bauen lassen, die wie eine graue, mit Strebepfeilern gestützte Festung aussah. Die vier kleinen Villen, die sie im Sommer vermietete, waren umgebaute alte Gebäude, ehemalige Schäferhütten und Scheunen. Ihre größte Leistung aber war der Garten, der auf einigen der Bilder in der Villa Capricciana dargestellt war. 234
Sie hatte Männer um sich geschart, die wie sie wachsende Dinge liebten, und mit ungeheurer Arbeit und Mühe dieses unglaubliche, herrliche Anwesen erbaut – voller Zypressen, Fahnen, Gebirgsblumen, blühender Sträucher und Bäume, schattiger Wege, Teiche und Springbrunnen, Wasserspiele, die ihr Naß über gewölbte Torwege schleuderten oder einen Bergfluß imitierten, der sich endlos aus nacktem Fels in einen blauen Teich ergoß. Die Teiche waren mit kleinen Schildkröten und Goldfischen bevölkert, und selbst im Winter blühten robuste Pflanzen. Das ganze Jahr über gab es natürliche Farben, und die Schönheit dieses Ortes war Bond im Gedächtnis geblieben. Der Garten lebte mit einem, hatte man ihn einmal gesehen, als sei er durch die Magie seiner eigenen Schöpfung in den Verstand implantiert. Er blickte über den steingesäumten Kamm am anderen Ende des großen Felsens und ließ seinen Blick über den Zickzack der Pfade und Wege wandern, über die niederen Bäume und Büsche, die in Winkeln wuchsen. Dies war in der Tat ein Werk großer Liebe und Hingabe. Die Einheimischen hatten schon längst begriffen, daß die Signora mit Achtung und Ehrerbietung zu behandeln war. »Ist ein großes Genie, die Signora«, sagte Beatrice, als spräche sie von einer Heiligen. »Eine erstaunliche Dame.« Bond lächelte sie an und trat beiseite, damit das Mädchen vor ihm hinabsteigen konnte, während er auf den hinteren Teil der Terrasse blickte. Seit dem Augenblick, an dem sie sich am Pool begegnet waren, hatte er sorgsam darauf geachtet, Beatrice im Blickfeld zu behalten. Selbst als sie auf dem offenen Dach nahe an ihn herangetreten war, hatte er sich vergewissert, daß sein Körper ihr immer zugewandt war, wobei er eine Hand steif und gespannt hielt, um sie zum Handkantenschlag zu benutzen, falls sie eine falsche Bewegung machte. Nach allem, was er wußte, konnte die schäumende Beatrice durchaus die Katze sein, Saphii Boudai, oder eine ihrer Gehilfinnen. Wieder im Haus sagte sie, sie wolle den Kamin anzünden. »Es wird kalt heute nacht, und ich möchte keinen Invaliden betreuen müssen.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu, als wolle sie damit sagen, daß sie nichts gegen eine andere Betreuung einzuwenden habe, falls er in Form und willens sei. Bond lächelte nur und sagte, er wolle zum Wagen hinuntergehen, um sein Gepäck zu holen. »Haben Sie Schlüssel?« fragte er. »Ich will 235
die Tore abschließen.« »Natürlich. Sie sind in der Küche. Am üblichen Platz.« Eine Pause von vier oder fünf Herzschlägen, dann; »Alles ist in der Küche.« Eine weitere, etwas kürzere Pause. »Alles, Signor Bond« »Nennen Sie mich James«, sagte er über die Schulter. Wenn sie auf der Seite der Bösen und nicht auf der der Engel war, wäre es am besten, sie mit Vornamen anzureden. Es hieß immer, daß man im Vorteil war, wenn man einen Dämon oder einen Engel mit Namen kannte. Der Bund mit sieben oder acht Schlüsseln lag auf dem freistehenden Küchenblock. Sie hingen an einem Schlüsselring, an dem eine kleine Taschenlampe baumelte, und sahen aus, als seien sie gerade auf die Arbeitsfläche gelegt worden. Aber der kleinste Schlüssel ragte heraus und war parallel zur Kante der Platte gelegt. Er hob den Bund am kleinen Schlüssel hoch und führte diesen in das Schloß der Schublade unterhalb der Stelle, an der der Bund gelegen hatte. Es ließ sich leicht öffnen. In der Schublade lagen eine 9 mm Browning Automatik und drei Reservemagazine. Der Verschluß bewegte sich leicht und war gut geölt. Eine Patrone war in der Kammer. Er würde die Waffe später auseinandernehmen und sie Stück für Stuck überprüfen. »Sie werden in einer verschlossenen Küchenschublade eine Pistole finden«, hatte M gesagt. Hatte Beatrice sie dorthin gelegt? Oder hatte sie sich nur umgeschaut und das Geheimnis entdeckt? Bond wog die Pistole in seiner Hand. Das Gewicht schien für eine voll geladene Waffe zu stimmen. Die Reservemagazine schienen ebenfalls in Ordnung zu sein, aber er wußte, daß Waffen und Munition leicht so manipuliert werden konnten, daß sie funktionsfähig wirkten. Falls das der Fall war, dann war das letzte, was man je erfuhr, daß ein cleverer Mann den Abzug, den Mechanismus oder sogar die Patronen funktionsunfähig gemacht hatte. Für den Augenblick mußte er einfach Vertrauen haben. Er steckte die Reservemagazine in die Taschen seiner Windjacke, sicherte die Browning und schob sie so weit links in seinen Hosenbund, daß sie verborgen war. Die Mündung zeigte dabei nach links, denn das war immer ratsam. Polizisten und Agenten in Filmen steckten eine Pistole meist senkrecht in den Bund und riskierten damit einen Schuß in den Fuß oder, was schlimmer wäre – einen »Hodenmord«, wie einer der 236
alten Waffenmeister es genannt hatte. Er verschloß die Schublade wieder und trat durch die Küchentür, in de ein Glasfenster eingelassen war. Auf dem Weg nach unten registrierte er, wie katastrophal die gesamten Sicherheitsvorrichtungen der Villa Capricciani waren. Die Haupttore und das Tor am Fußende der Treppe konnten schnell überwunden werden, entweder mit einem Hammer oder mittels Dietrich. Das Öffnen der Schiebetüren, die von der Villa zur vorderen Terrasse führten, würde zwar mit Lärm ve rbunden sein, ließ sich aber schnell bewerkstelligen. Die verglaste Küchentür war am einfachsten zu öffnen, und durch die hintere Do ppeltür verschaffte man sich leicht mit einem Brecheisen Zugang. Für alles waren höchstens neunzig Sekunden erforderlich, überlegte er, während er am Haupttor die Riegel vorschob und seinen schweren Koffer aus dem Wagen nahm. Er verschloß das zweite Tor hinter sich, ging die Treppe hoch und durch die große Schiebetür. Beatrice stand am Telefon und schaute auf den Gebührenzähler. Sie blickte auf und schenkte ihm ihr freches Lächeln, wobei sie die Zahlen ablas und ihn bat, sie zu bestätigen. »Ich werde Ihnen jetzt die Lebensmittelvorräte zeigen.« Wieder ein Lächeln, als sie ihn in die Küche führte. »Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?« Augenkontakt über ihre Schultern und das gleiche Lächeln. Bond nickte. Sie liebt mich? Sie liebt mich nicht? Sie öffnete schwungvoll den Kühlschrank und begann aufzuzählen, was sie eingekauft hatte: Hühnchen, Kalbfleisch, Eier, Butter, Käse, Milch, drei Flaschen Wein, Schinken, Wurst, Pate und Pasta. In den anderen kleinen Fächern befand sich Gemüse. »Reicht das bis morgen?« »Nur, wenn ich über Nacht keine Armee zu beköstigen habe.« »Morgen ist die letzte Gelegenheit, vor Natale einzukaufen.« Morgen war Samstag und Heiligabend. »Ja«, sinnierte Bond. »Weihnachten steht vor der Tür, und die Gans wird fett…« »Möchten Sie eine Gans?« Er schüttelte den Kopf. »Nur ein alter englischer Kinderreim. Nein, Beatrice, ich weiß nicht, wie ich Weihnachten feiern soll – Natale.« »In England liegt Schnee, ja?« 237
»Gewöhnlich nur auf den Weihnachtskarten. Wir holen die ganze Familie zusammen, schenken einander unpassende Geschenke und essen uns dumm und dämlich. Üblicherweise Truthahn. Ich mag Truthahn nicht.« Er blickte sie scharf an und fragte sie, wie sie Weihnachten verbringen würde. »In der großen Villa. Allein. Ich hab’s Ihnen ja gesagt. Ich habe Dienst. Umberto und Franco, zwei der Gärtner, werden nachschauen, ob alles in Ordnung ist, und vielleicht eines der jungen Mädchen, die bei uns helfen, wenn alle Villen belegt sind oder wenn die Signora zu Hause ist.« »Schon. Ich werde vielleicht nach Forio fahren und als Festmahl etwas Spezielles kaufen, das wir uns teilen können. Wie wäre das?« Wenn sie ein Teufel war, würde sie zumindest wi ssen, wo er sich aufhielt. War sie ein Engel, war’s egal. »Das ist gut, Signor Bond – James. Das würde mir gefallen.« »Okay.« Er fand die dunklen Augen beunruhigend, da sie wi e ein Radar die seinen erforschten. »Ich muß jetzt wieder zurück ins Haus. Die große Villa. La Signora, sie ruft mich jeden Tag an. In…«, ihr schlankes Handgelenk mit ihrer Armbanduhr kam hoch, »in etwa fünfzehn Minuten. Ich muß immer sofort dran sein. Andernfalls gibt’s am Telefon großes Geschrei. Das ist nicht gut.« Beatrice blieb an der Tür stehen, die zur hinteren Terrasse führte. »Hören Sie, James. Ich mache gute Cannelloni. Wie wär’s, wenn ich heute abend herunterkomme und für Sie koche?« Die Versuchung durchdrang Bonds Verstand so schnell wi e ein Experte braucht, um eine Kehle durchzuschneiden. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Sehr freundlich von Ihnen, Beatrice. Morgen vielleicht. Ich bin müde und will früh zu Bett gehen. Ich brauche die Ruhe. Wissen Sie, eine leichte Mahlzeit, und dann mit einem guten Buch ins Bett.« »Ihnen entgeht eine der größten Köstlichkeiten von Ischia«, sagte sie, und Gesicht und Stimme wirkten dreist. »Ich werd’s nachholen.« Aber bis er das gesagt hatte, war sie bereits verschwunden. Was blieb, war der leise Tritt ihrer Schuhe auf dem Pfad, der zum großen Haus führte. Er entschied sich für ein Schlafzimmer an der Rückseite des Hauses, 238
für das, das von allen Türen und Fenstern am weitesten entfernt war. Es war groß, ausgestattet mit einem riesigen, altmodischen Holzbett und Einbauschränken mit Türen, die einst zu zwei herrlichen alten Kleiderschränken gehört hatten. Dem Bett gegenüber hing eine komplizierte Ikone – schlanke Gestalten, eine heikle Kombination von Glauben und Philosophie, die die Dreifaltigkeit zeigte, umgeben von Heiligen und Engeln. Es sah wie ein echtes Produkt aus der Stroganow-Schule aus, aber wer konnte das schon mit Gewißheit sagen? Ein gelehrter Freund von Bond hätte ein ähnliches Stück in wenigen Wochen fertigen können, würde es dann in zwölf Monaten auf alt trimmen, und außer wirklichen Experten würde das niemand bemerken. Er hängte seinen Anzug und die beiden Hosen zum Wechseln auf, legte Hemden, Socken und andere Kleidungsstücke sorgfältig in die Schubladen, die sich an der einen Seite des Kleiderschrankes befanden, und breitete den kurzen Bademantel aus, den er mitgebracht hatte. Schließlich warf er einen dicken Rollkragenpullover auf das Bett, legte eine kleine lederne Werkzeugtasche auf den Nachttisch und begab sich dann in das große Zimmer, in dem das Telefon stand. Beim dritten Läuten wurde in England abgehoben. »Räuber«, sagte Bond. »Hundsfratz.« Die Stimme am anderen Ende war deutlich. »Wiederhole. Hundsfratz.« »Quittiert.« Bond legte den Hörer auf. »Wir werden Ihnen alle mögliche Unterstützung geben«, hatte M gesagt. »Es wird ein tägliches Faßwort geben, so daß jeder weiß, wie der Stand ist.« Bond hatte Anweisung bekommen, bei seiner Ankunft anzurufen. Danach hatte er alle vierundzwanzig Stunden zur gleichen Zeit anzurufen. Die Tageslosung sollte ihm dabei mitgeteilt werden, und diese würde bis zum nächsten Kontakt Gültigkeit haben. »Ich will nicht, daß unsere eigenen Leute umgelegt werden« , hatte M gesagt, obwohl ihm völlig egal war, wer umgelegt wurde. In der Küche bereitete Bond sich eine leichte Mahlzeit zu: Ein Omelett aus vier Eiern und dazu Tomatensalat Er aß allein in der Küche und beschränkte seinen Alkoholverbrauch auf drei Glas des Rotweins, den Beatrice besorgt hatte. Auf dem Etikett stand, daß es ein Vino Gran Caruso sei, und er zweifelte keine Minute daran. Er spielte sogar mit dem Gedanken, ein viertes Glas zu sich zu nehmen, beließ es aber 239
in Anbetracht seiner Situation bei dreien. Nach der Mahlzeit ging er um die Villa herum, um sich zu vergewissern, daß alle Schlösser geschlossen, jeder Riegel vorgeschoben und alle Vorhänge zugezogen waren. Dann nahm er im großen Zimmer Platz, die Werkzeugtasche neben sich, und zerlegte die Automatik. Er untersuchte jedes Teil, bevor er sie wieder zusammensetzte, und benutzte vorsichtig zwei Zangen, um die Kugeln aus vier Patronen zu entfernen, die er willkürlich aus den vier Magazinen ausgewählt hatte. Nachdem Bond sich davo n überzeugt hatte, daß sie einwandfrei waren, warf er die entschärften Patronen weg, füllte ein Magazin, steckte es in den Kolben der Browning und lud durch, bevor er die anderen Magazine wieder füllte – das eine ganz, die anderen mit jeweils zwei Patronen weniger. Es war fast zehn Uhr, als er den nächsten Schritt tat Er duschte im Bad, zog dann den dicken Rollkragenpullover, die schwere Cordhose und ein Paar weiche, schwarze Mokassins an. Er streifte einen ledernen Schulterholster über, der ganz unten in seinem Koffer gelegen hatte, und schlüpfte darauf in seine Windbluse, bevor er die Browning in den Holster schob und die Reservemagazine in seine Taschen steckte. Dabei fiel ihm ein, daß dies nicht die angenehmste Weihnachtswoche sein würde, die er verbracht hatte. Schließlich ging Bond, beginnend in der Küche, von Zimmer zu Zimmer und stellte Möbel um, baute sie an Türen und fensternahen Stellen auf, bevor er Flaschen und Dosen aus der Küche wie Minen auf dem Boden verteilte. Er arbeitete sich so bis zu seinem Schlafzimmer zurück. Jeder, dem es gelang, sich Eintritt zu verschaffen, würde entweder eine Taschenlampe brauchen oder ungeheuren Lärm verursachen. Selbst mit einer Taschenlampe ausgerüstet, würde auch ein geübter Mann Probleme haben, nicht gegen die Hindernisse zu stoßen oder darüber zu fallen. Er spannte Schnüre zwischen Stühlen und knotete sie an Töpfe und Pfannen. Er stellte sogar kleine Fallen aus Pfannen, Plastikeimern und Kochutensilien nahe den Türen und kleineren Fenstern auf. Dann richtete er die Kissen in seinem Bett so, daß für einen Eindringling der Eindruck entstehen mußte, als schliefe er ruhig. Es war ein sehr alter Trick, aber einer, der bei einem Killer, der einen schnellen Job zu verrichten hatte, immer noch wirkte. Schließlich zog Bond 240
einen Schlafsack aus seinem Koffer und begab sich, noch immer Möbelstücke bewegend und Fallen verstreuend, zu der Doppeltür, die vom Eßzimmer zu der hinteren Terrasse führte. Der Himmel war klar und der Mond noch nicht ganz aufgegangen. Leise zog er die Türen zu, verschloß sie und schlich langsam und geräuschlos auf das Dach. Die Nachtluft traf sein Gesicht eisig, aber nachdem er den Reißverschluß seines Schlafsacks erst einmal zugezogen hatte, in dem er dicht neben der Treppe lag, war es angenehm. James Bond schloß die Augen und fiel in einen leichten Schlaf. Bond hatte stets einen leichten Schlaf. Das hing mit seinem Job zusammen. Er erwachte plötzlich. Die Augen öffneten sich, alle Sinne waren angespannt, und er lauschte nach Geräuschen. Da war tatsächlich ein leises Geräusch, ein Kratzen, das von unten kam, aus der Nähe der Doppeltür. Er schälte sich lautlos aus dem Schlafsack, rollte sich beiseite, stand auf und zog die entsicherte Browning – alles innerhalb von dreißig oder vierzig Sekunden. Geduckt spähte er über die Balustrade der Freitreppe, die zur hinteren Terrasse führte. Der Mond ging unter, spendete aber immer noch genug Licht, um die kniende Gestalt sehen zu können, die das Schloß untersuchte. Kaum atmend, bewegte er sich zentimeterweise auf die Stufen zu. Die Gestalt dort unten stand auf, und er sah, wie der Eindringling sich aus seiner knienden Position aufrichtete, sich ganz erhob und vorsichtig umdrehte. Die geduckte Gestalt hielt mit beiden Händen eine Waffe, offensichtlich eine automatische Pistole, während sie sich mit der Geschicklichkeit eines Profis bewegte. Als die Person sich umdrehte, stand Bond auf, streckte die Arme aus, wobei er mit den Händen seine eigene Pistole umfaßt hielt und die Füße in der klassischen Haltung gespreizt hatte. »Denken Sie nicht mal daran, Beatrice«, sagte er laut. »Lassen Sie einfach die Waffe fallen und stoßen Sie sie weg.« Die Gestalt dort unten drehte sich ruckartig um und keuchte kurz. »Tun Sie, was ich sage! Sofort!« befahl Bond
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7. HUNDSFRATZ Sie ließ die Pistole nicht fallen, sondern warf sie in die Büsche, so daß kein Geräusch entstand. »James. Hundsfratz«, flüsterte sie. »Hundsfratz. Auf dem Grundstück ist jemand.« Ihre Stimme, dachte Bond, hatte ihren breiten Akzent verloren. Sie hatte ihm das Kodewort genannt und seinen Befehl befolgt, doch mit der Vorsicht von jemandem, der ein Geräusch vermeiden will, das von einer dritten Person gehört werden könnte. Er kam schnell die Treppe hinunter, wobei er den Rücken zur Wand gerichtet hielt. »Hundsfratz« genügte ihm. »Was haben Sie gesehen oder gehört?« Er war nah bei ihr und flüsterte in ihr Ohr. »Eine Taschenlampe. Ein Licht. Unten am zweiten Tor. Vo r fünf Minuten. Ich bin direkt hierhergekommen.« »Von wo aus haben Sie das gesehen?« »Vom Haupthaus aus. Ich hielt Wache auf dem Balkon ganz oben.« »Suchen Sie Ihre Pistole.« Bond neigte seinen Kopf in Richtung auf die Sträucher. »Dann folgen Sie mir nach unten und geben mir Dekkung.« Sie ließ sich auf die Knie nieder, streckte dann ihren Kö rper und schob sich ins Unterholz, während Bond stocksteif mit dem Rücken zur Doppeltür stand und auf sie wartete. Hundsfratz, dachte er. Sie war auf der Seite der Engel, aber die Intellektuellen, die in London noch immer Geheimschriften und Kodewörter festlegten, waren überschlau gewesen. Er erinnerte sich, daß Hundsfratz einer der zwölf niederen Dämonen aus Dantes Inferno war. Hundsfratz – Alchino, der Lockende. Nun, Behah Trieche war sicherlich verlockender. Sie war jetzt wieder bei ihm und hielt eine Browning hoch, die der seinen ähnlich war. »Geben Sie mir Deckung«, flüsterte er wieder, während er sich längs der Mauer bewegte, sich an der Ecke flach machte und dann mit schußbereiter Pistole schnell darum bog, bereit auf jeden zu schießen, 242
der nahe der Küchentür herumschlich. Da war niemand. Er glitt an der Wand entlang, hatte den Rücken wieder dicht an den Verputz gepreßt, warf einen Blick hinter sich und sah, daß Beatrice ihm folgte. Er konnte die dunkle Gestalt gegen die weiße Wand ausmachen, die zentimeterweise vorrückte, die Hände um die Pistole geschlossen und die Ellenbogen so angewinkelt, daß die Waffe auf einer Höhe mit ihrer Stirn war. Der Weg um die nächste Ecke würde sie an die Frontseite de r Villa führen, zu der Terrasse und dem abgedeckten Swimmingpool. Bond schoß vor und rollte mit ausgestreckten Armen und schußbereiter Pistole über den Boden. Er sah die Bewegung nahe dem Tor am Treppenabsatz und rief: »Halt! Halt! Wir sind bewaffnet!« Wer immer auf der anderen Seite des Tores sein mochte, glaubte eine Schußmöglichkeit zu haben, denn zwei Kugeln fetzten durch die Wasserlilien und Palmen und rissen Stücke aus dem grünen Belag, der den Terrassenboden bedeckte – ziemlich nah bei Bond. Er konnte jetzt nichts sehen, hörte aber das schnelle zweimalige Bellen von Beatrices Browning und einen Aufschrei, wie den eines Tieres… Bond wirbelte gerade noch so rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Beatrice aus den Schatten rannte, um irgend jemand zu verfolgen, der auf der anderen Seite des Tores getroffen worden war. Er rief ihr zu, sie solle stehenbleiben, da er die Gefahr erkannte, die möglicherweise unterhalb der Treppen lauerte. Sie würde n nicht nur einen Mann schicken, um ihn zu beseitigen. Wenn er sich nicht sehr irrte, würde ein ganzes Killerteam im Einsatz sein. Und wenn überhaupt, dann hatte Beatrice wahrscheinlich nur den Kerl erwischt, der nicht einmal durch das einfache zweite To r gelangt war. Er folgte ihr und versuchte, sich in der Dunkelheit dicht an der Wand zu halten, gekrümmt in Erwartung einer Maschinenpistolensalve. Doch irgendwo draußen, ein gutes Stück entfernt, war nur das Stottern des Anlassers eines Autos zu hören, dann das Knirschen des Getriebes. Beatrice hatte das Tor erreicht, ohne daß weitere Schüsse aus der Dunkelheit fielen, drehte ihren Kopf und rief: »Die Schlüssel, James! Sie haben die Schlüssel!« Er hielt sie bereits an dem Taschenlampenring in seiner linken Hand 243
und ließ sie durch die Finger gleiten, um den Schlüssel für das Innentor zu finden. Beatrice war mit dem Rücken zur Wand stehengeblieben und versuchte, hinter dem schlanken Stamm einer Weinrebe Deckung zu finden, als Bond an ihr vorbeilief und mit den Schlüsseln herumfummelte. Er brauchte etwa zwanzig Sekunden, die ihm wi e eine Stunde vorkamen, doch als der Schlüssel sich drehte, war Beatrice hinter ihm und bereit, ihm Feuerschutz zu geben. Niemand. Keine Bewegung. Kein plötzliches Feuer peitschte durch die Nacht. Nur feuchte Blutspritzer rund um das Tor, die sich im schmalen Strahl der Taschenlampen dunkel und ölig abzeichneten. Bond bewegte sich nach links Richtung Auto, das Mädchen lief nach rechts, geduckt und schußbereit auf das Haupttor zu. Es dauerte dreißig Sekunden, um den Fiat flüchtig zu überprüfen. Er war verschlossen und unangetastet. Sie erreichten beide das Tor und sahen, daß es aufgebrochen worden war. Gemeinsam erkundeten sie die Straße, die Bond zuerst überquerte, während Beatrice ihm Feuerschutz gab. Etwa zehn Minuten boten sie sich als Ziele an. Nichts. Hatte sich das Team so leicht abschrecken lassen? Er sagte dem Mädchen, sie solle versuchen, das Tor zu sichern. Sie nickte: »Ich habe eine Kette und ein Vorhängeschloß. Ich hole beides.« Rasch lief sie zu dem Wendekreis innerhalb der Tore und eilte die Treppe zur Villa hoch. Bond blickte wieder zu dem Fiat hinüber und lehnte sich dann an die Wand. Warum machte man sich seinetwegen all diese Mühe? fragte er sich. Sicher war der vorgesehene Job auf der Invincible verantwortungsvoll. Aber einen Mann zu beseitigen, nämlich ihn, würde nichts bewirken: Ein anderer nahm dann seinen Platz ein. Er erinnerte sich an M’s Worte. »Sie halten Sie für einzigartig«, hatte der Alte gesagt. »Sie glauben, Ihre Anwesenheit auf der Invincible sei eine sehr schlechte Medizin für sie.« M hatte sarkastisch kurz gelacht. »Ich nehme an, BAST und seine Führer sind Ihr Fanclub, 007. Sie sollten denen ein Foto mit Autogramm schicken.« Bond zuckte im Dunkeln die Schultern. Das war nicht de r Punkt. Er war der Lockvogel, der BAST vielleicht aufs Glatteis führte. Es war Pech, daß es ihnen offensichtlich gelungen war, den Teamangehörigen wegzuschaffen, den Beatrice erwischt hatte. Keine Frage, sie harten 244
viel Zeit, und sie konnten einen verletzten Mann oder eine verletzte Frau ohne weiteres in Sicherheit bringen, bevor sie es wieder versuc hten. Später in dieser Nacht – oder am Morgen? Er blickte auf seine Armbanduhr. Halb vier Uhr an einem kalten und gefährlichen Mo rgen, und das alles war nicht gut. Er horte, wie Beatrice je zwei Stufen auf einmal nahm, als sie die Treppe herunterkam. Sie war herrlich leichtfüßig. Gemeinsam schlangen sie die Kette um die Torflügel und ließen dann das große Vorhängeschloß zuschnappen. Ein letzter Blick, dann kehrten sie zurück, gingen durch das zweite Tor, das Bond verschloß, und begaben sich um die Villa herum zur hinteren Terrasse. »Ich werde Kaffee machen.« Ihr Tonfall schloß jede Diskussion aus, und so entriegelte er die Hinterfenster und ließ sie zuerst eintreten. Als er die Lichter einschaltete, sagte sie etwas wie, daß der Raum aussähe, als ob dort Zigeuner lagerten. »Sie waren sehr gründlich. Jeder, der hier hereingekommen wäre, hätte viel Lärm gemacht« »Das war meine Absicht«, lächelte Bond. »Ich wußte nicht, daß ein Leibwächter so nahe sein würde. Warum haben Sie mir das nicht erzählt?« »War nicht vorgesehen«, sagte sie fast kurz und in perfektem Englisch. »Ich verdanke Ihnen mein Leben.« »Dann sind Sie mir meines schuldig.« Sie drehte sich lächelnd um und legte die Pistole auf einen der Tische. »Wie können Sie das je gutmachen?« »Wir werden uns etwas einfallen lassen.« Bonds Mund war nur Zentimeter von dem ihren entfernt. Er zögerte, wandte sich dann aber ab. »Kaffee«, sagte er. »Wir müssen wachsam sein. Sie könnten zurückkommen.« »Es wird bald hell«, sagte Beatrice, die sich in der Küche zu schaffen machte. »Ich bezweifle, daß sie bei Tageslicht zurückkommen.« »Wieviel wissen Sie?« »Daß Sie hier sind und daß es einen Auftrag gibt, Sie umzubringen.« »Und wieviel verstehen Sie von Mordaufträgen?« »Ich bin voll ausgebildet.« »Das ist keine Antwort. Ich fragte, wieviel Sie über Mordaufträge 245
wissen.« »Ich weiß, daß es eine verrückte Terrororganisation namens BAST gibt. Und mir ist gesagt worden, daß die wissen, wo sie Sie finden können und alles daran setzen werden…« »Die schrecken auch vor Selbstmord nicht zurück, wenn’s sein muß, Beatrice. Darum sollten wir uns nicht schlafen legen. Sie könnten versuchen, mich auf der Straße zu erwischen oder hier, bei Tag oder bei Nacht. Ich bin der Magnet, und sie sind die Eisenstücke. Wir wollen einen von ihnen. Lebend, wenn möglich. Also müssen wir vierundzwanzig Stunden am Tag wachsam sein.« Sie schwieg ein paar Minuten, während sie kochendes Wasser über den frisch gemahlenen Kaffee in der großen Cafetiere laufen ließ, den Deckel schloß und den Hebel druckte. »Ist Ihnen bange, James?« Sie wandte den Blick nicht vom Kochtopf. »Wieso bange?« »Weil Sie eine Frau als Leibwächter haben.« Bond lachte. »Nicht doch. Warum glauben manche Frauen automatisch, daß Leute in unserem Geschäft antifeministisch eingestellt sind? Gut ausgebildete Frauen sind in solchen Situationen manchmal besser als Männer. Sie haben heute nacht fast einen von ihnen erwischt. Ich bin nicht mal an ihn rangekommen. Sie waren auch schneller als ich. Nein. Nicht schuldig, was bange machen anbelangt.« »Gut.« Sie hob ihren Kopf, und in den dunklen Augen blitzte etwas, was entweder Stolz oder Macht war. »Gut. Weil ich für Sie verantwortlich bin. Ich bin der Boß, und Sie tun, was ich sage. Verstanden?« Das Lächeln verschwand von Bonds Gesicht. »Mir wurden keine entsprechenden Befehle erteilt. Verhalten Sie sich ganz natürlich, sagten sie. Wir haben jemanden, der auf Sie aufpaßt, sagten sie.« »Und dieser Jemand bin ich.« Beatrice schenkte den Kaffee ein. »Schwarz? Gut. Zucker?« »Nein.« »Eine kluge Entscheidung. Und falls Sie ungern Befehle vo n einer Frau entgegennehmen, dann rufen Sie einfach London an. Nennen Sie denen den Tageskode für mich, und man wird Ihnen Bescheid sagen.« Sie sahen sich wieder an, und dieses Mal blieben ihre Blicke aneinander hängen. Ein halbes Dutzend Herzschläge lang schien es, als sei es ein Willenskampf. Dann nickte Bond kurz und 246
durchquerte das Zimmer zum Telefon. Er konnte nicht offen sprechen, aber es gab genug doppeldeutige Sätze, um die Wahrheit zu erfahren. Sie nahmen beim dritten Läuten ab. »Räuber für Sonnenstrahl.« Sein Ärger artikulierte sich in seiner schroffen Stimme. Er nahm Einsatzbefehle von M entgegen oder von Bill Tanner, falls erforderlich. Als Beatrice klargemacht hatte, daß sie als seine Leibwächterin das Kommando führte, war sein beachtlicher Stolz erheblich angekratzt worden. Eine Sekunde später sagte eine Stimme – die des wachhabenden Offiziers: »Sonnenstrahl. Ja?« »Kontakt mit Güterwagen.« Letzteres war das vereinbarte Kodewort für BAST. »Ernst?« fragte der Wachhabende. »Ernst genug. Ebenfalls Kontakt mit Hundsfratz.« »Gut« »Erbitte Schlachtordnung, Sonnenstrahl.« »Hundsfratz führt, Sie folgen, Räuber.« »Danke, Sonnenstrahl.« Bonds Gesicht war starr vor Wut, aber er hielt es von Beatrice abgewandt, als er den Telefonhörer wieder auflegte. Er zuckte die Schultern. »Scheint, als hätten Sie recht.« Er hatte sein Gesicht wieder unter Kontrolle. »So, Beatrice Hundsfratz, wie lauten Ihre Befehle?« Sie deutete auf die große Tasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. »Zuerst trinken Sie Ihren Kaffee.« Sie setzte sich in einen der großen Sessel, lehnte sich zurück, und ein friedliches, freundliches Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie trag schwarze Jeans und einen Rollkragenpullover, eine Kombination, die praktisch war und ihre Figur betonte. Die Jeans waren eng und klebten an ihren langen Beinen, wogegen der Rollkragenpullover ihre Brüste betonte, die sich klein und fest gegen das Gewebe preßten. »Sie glauben also nicht, daß die’s heute nochmal versuchen werden?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Wir sollten aber aufpassen, wenn wir rausgehen.« »Rausgehen?« – »Wollten Sie nicht als Weihnachtsüberraschung Lebensmittel einkaufen?« »O ja. Natale, richtig. Was ist aus dem italienischen Akzent gewor247
den, Beatrice?« Er sprach es fast sarkastisch wie Behahtriche aus. »Ist weg.« »Das habe ich bemerkt. Und wie lauten Ihre Befehle?« »Ich denke, wir sollten uns ausruhen. Dann gehen wir einkaufen – verhalten uns normal. Sie versuchend vielleicht, wä hrend wir draußen sind, aber ich muß anrufen, damit diese verdammten Tore in Ordnung gebracht werden. Ich meine auch, daß wi r die Hunde holen sollten.« »Hunde?« »Uns stehen zwei Paar Rottweiler zur Verfügung. Sie sind sehr bösartig, und nachts können wir sie frei herumlaufen lassen.« »Als Leibwächtern sind Sie auf Draht. Wie lange arbeiten Sie schon für La Signora?« Sie gab ein amüsiertes kleines Schnaufen von sich. »Achtundvierzig Stunden. Der Chef hat ziemlich großen Einfluß auf sie. Sie ist eine Dame mit sehr guten Verbindungen, aber über Weihnachten ausgezogen, um M einen Gefallen zu tun. Sie hat auch ihr Personal entfernt. Die beiden Burschen, die ich erwähnte – Franco und Umberto – sind als Verstärkung da. Sie waren in der Nähe, als wir diese kleine Auseinandersetzung mit den BAST-Leuten hatten, sollten aber nur eingreifen, wenn’s wirklich kitzlig würde.« Franco und Umberto hielten sich im Haupthaus auf, berichtete sie. »Darum können Sie unbesorgt ruhen. Ich werde sie jetzt mobilisieren. Sie können aufpassen, bis wir zum Einkaufen fertig sind« Sie erhob sich mit sehr attraktiven Bewegungen und schritt langsam zum Telefon. Die Unterhaltung war kurz, knapp und italienisch. Die beiden Männer sollten die Wache übernehmen und den Hunden an diesem Morgen nur das Nötigste zu fressen geben, abends wurden sie dann freigelassen werden. In der Zwischenzeit würde Franco nach unten gehen und die Haupttore sichern. Ein neues Schloß und, ja: »… und bringe eine Warnanlage an.« Sie legte den Hörer auf und trat hinter Bonds Sessel. »Sehen Sie, ich bin tüchtig.« »Daran habe ich keine Minute gezweifelt.« Sie glitt vorwärts und setzte sich auf die Sessellehne. Wieder roch Bond diese Mischung aus trockenem Sommer und dem Duft, den er nicht identifizieren konnte. »Ich glaube noch immer, daß es Ihnen nicht gefällt, daß eine Frau das Kommando hat.« 248
»Wie heißen Sie wirklich?« Er beachtete ihre Worte nicht. »Wie ich Ihnen sagte – Beatrice.« Sie sprach den Namen italienisch aus. »Das glaube ich Ihnen. Aber wie weiter? Ich meine. Sie sind nicht Dantes Engel, Beatrice. Haben Sie noch weitere Namen?« Sie kicherte. »Man hat mir erzählt, Sie seien ein gut ausgebildeter, aber ungehobelter Kerl. Und jetzt reden Sie über Literatur und Poesie. Mein voller Name ist Beatrice Maria da Ricci. Italienischer Vater, englische Mutter. Zur Schule gegangen in Benenden und Lady Margaret Hall, Oxford. Vater war beim italienische n Geheimdienst. Als ihre Ehe scheiterte, wurde ich Mama zugesprochen, die eine Säuferin war.« »Hatte das Folgen für Sie?« »Das ist nicht komisch«, konterte sie ärgerlich. »Mußten Sie je mit einer Säuferin zusammenleben?« »Ich bitte um Entschuldigung, Miss da Ricci.« Es war schwer, ihren Ärger zu beschwichtigen. »Okay. Ich bin in dem Punkt sehr empfindlich. Ich habe neue Sprachen studiert und die Prüfung beim Außenministerium gemacht…« »Und sind durchgefallen.« »Ja.« »Jetzt erzählen Sie mir nicht diese Story: Ein Mann kommt vorbei und sagt, daß man Ihnen vielleicht Arbeit im Außenministerium anbieten könne, und ehe Sie sich’s versehen, stecken Sie mitten im Spionagegeschäft.« Sie nickte. »Mehr oder weniger war es so, aber sie wollten mich wegen der Sprachkenntnisse. Ich habe außerdem in Computerwissenschaften promoviert und kam deshalb ins Santa’s Grotto.« Bond nickte. Im Tiefgeschoß, unter der Tiefgarage dieses Gebäudes, das den Regent’s Park überragte, gab es einen großen Computerraum, den alle Santa’s Grotto nannten. Mit der Entwicklung der Mikrochips war die alte Registratur in einen kleineren Bereich verbannt worden, und eine Heerschar von Leuten war damit beschäftigt, die Aktenberge in eine Reihe gigantischer Datenbanken umzuwandeln. Es gab Gerüchte, denen zufolge diese Arbeit der Aktenerfassung nicht vor 2009 abgeschlossen sein würde. »Dort erinnerte man sich wiederum daran, daß Sie Sprachkenntnisse hatten«, fiel er ein. 249
»Unter anderem. Außerdem bekam ich durch die Klimaanlage eine Stirnhöhlenentzündung.« »Besser als die Legionärskrankheit.« »Ich bat darum, in die richtige Welt versetzt zu werden.« »Sowas gibt es in unserem Geschäft nicht. ›Wir sind die Heiligen Männer‹ von T. S. Eliot. Wir sind aussterbende Dinosaurier. Unser Tag ist gekommen und gegangen. Ich gebe uns allenfalls noch ein Jahrzehnt. Danach können wir ebensogut den ganzen Tag und fast die ganze Nacht vor Computerterminals sitzen.« Sie nickte düster. »Ja, die Tage des Großen Spiels sind gezählt.« »Die Jahre sind gezählt, bei den Tagen sind wir noch nicht. Aber, Beatrice Maria da Ricci, was nebenbei bemerkt ein ausgezeichneter Name ist, wie konnte ein hübsches Mädchen wie Sie in einem solch schäbigen Job als Kugelfänger enden?« Sie beugte sich über ihn, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von dem seinen entfernt. »Weil ich sehr gut darin bin. Und weil es Teil meines Jobs ist, James Bond, dafür zu sorgen, daß Sie entspannt und glücklich sind.« »Und das bedeutet?« Ihre Lippen fanden sich. Es war kein einfaches Streifen der Lippen oder die Abfolge all jener Dinge, die so bildhaft in gefühlvollen Romanen beschrieben werden, es war auch nicht das, was man so allgemein als das Ausleben »weiblicher Phantasien« bezeichnete. Es waren wahrhaftige Emotionen, die von Mund zu Mund übertragen wurden. Nach einer Minute bewegten sich ihre Körper und Hände, und fünf Minuten später sagte Beatrice mit einer heiseren Trockenheit in der Stimme, die zu ihrem köstlichen Duft paßte: »Möchten Sie sich mit mir schlafenlegen, Mr. Bond?« »Es ist eine Freude, für Sie zu arbeiten, Missis da Ricci.« »Das hoffe ich.« »Bekomme ich eine Gehaltserhöhung?« »Ich denke, Sie haben bereits eine bekommen, Mr. Bond« Sie schafften es kaum bis ins Schlafzimmer. Indes war die Sonne aufgegangen. Franco arbeitete an den Haupttoren, paßte ein neues Schloß ein und die elektronischen Sensoren, die Alarm geben würden, sobald sich wi eder jemand am Tor zu schaffen machte. Im hinteren Schlafzimmer der Villa Capricciani waren leises 250
Stöhnen und kleine Freudenschreie zu hören. In einem Zimmer hoch oben in der eigentlichen grauen, festungsgleichen Villa stand der andere Bursche namens Umbe rto im Schatten und beobachtete den Garten und den felsigen Horizont dahinter. Falls etwas passierte, würde die Gefahr aus dieser Richtung kommen. Hin Frontalangriff hatte sich als gefährlich erwiesen, und er fragte sich, ob sein neuer Boß, das Mädchen, das ein energisches Kommando führte, durch einen Frontalangriff verwundbar war. Er vermutete, daß das möglich wäre. Weit entfernt, in Plymouth, hatten drei Männer die Nacht damit verbracht, den Sünden des Fleisches zu frönen. Sie hatten viel getrunken, und einer von ihnen war mit einem großen schwarzen Mädchen zusammengewesen, die Dinge an ihm und für ihn getan hatte, die er bis dahin nur in seinen Phantasien für möglich gehalten hatte. »Der Stichtag steht bevor«, sagte Harry zu dem Maat, den sie Blakkie nannten. »Zeit, deine Seele zu verkaufen und uns alle zu retten«, ergänzte Bill. »O Gott.« Blackie hatte den bösen Tag verdrängt, hatte Zeit gewinnen wollen und wußte, daß Zeit eine Ware war, die ihm längst ausgegangen war. Es war Heiligabend, und er hatte die Eisenbahnfahrkarte in seiner Tasche, um auf einen zweiwöchigen Urlaub zu seiner Frau und den Kindern zurückzukehren. »Es ist ernst.« Bills Gesicht war starr und von Sorge gezeichnet. »Es war ernst, als wir dir’s das erste Mal erzählten. Jetzt sitzen wir alle in der Klemme …« »Ich weiß. Ich weiß…« »Alle Schulden bezahlt und einhunderttausend Konterfeis Ihrer Majestät auf Scheinen nur für dich, Blackie.« »Ja. Ich dachte nur…« »Hör mal, Blackie«, Bill drückte mit seinen langen, starken Fingern so fest das Handgelenk des Maates, daß der Mann vo r Schmerz zusammenzuckte. »Hör mal, es ist ja nicht so, daß man dich bittet, irgendwas zu stehlen. Diese Leute brauchen nur ein paar Stunden, das ist alles.« »Ich weiß…« Er hielt inne und musterte mit seinen trüben Augen 251
den Raum. »Ich weiß, und ich hab’ wohl keine andere Wahl, was?« »Eigentlich nicht.« Harry war ruhig, er sprach leise und überzeugend. Der Maat nickte. »Okay, ich tu’s.« »Ist das ein feierliches Versprechen?« kam es von Bill. »Beim Grabe meiner Mutter.« »Die nennen dir Zeit und Ort und geben dir die nötige Ausrüstung, bevor du aufbrichst. Wenn es vorbei ist, bekommst du das Geld, und dein Konto ist ausgeglichen. Wenn du aber kneifst… nun ja, ich würde mir an deiner Stelle keine großen Chancen ausrechnen. Harry und ich? Wir können jederzeit untertauchen. Ist hart, aber wir könnten’s eben. Du kannst dich nirgendwo verstecken, Blackie, und die würden nach dir suchen, wären so schnell wie ein Hornissenschwarm, aber erheblich schmerzhafter.« »Ich sagte doch, daß ich’s tu.« Das klang sehr überzeugend. Was ihn anbelangte, so hatte er keine anderen Möglichkeiten mehr. Eine automatische 9 mm Browning Pistole ist nicht gerade leicht bei einer Person zu verstecken. Darum empfehlen Experten für den »Personenschutz« kleinere, leichtere Waffen, die den Zweck ebenso erfüllen. Beatrice trug ihre Pistole in einer Umhängetasche. Bond benutzte den Schulterholster, der so angelegt war, daß die Pistole direkt unter seiner linken Schulter lag. Franco und Umberto, von denen nichts zu sehen gewesen war, blieben zurück, um nach dem Rechten zu sehen, während Bond und Beatrice zu ihrem Einkaufsbummel nach Forio fuhren. An diesem Samstag wurde die kleine Stadt mit ihren schmalen Straßen und den begrenzten Parkmöglichkeiten von der örtlichen Polizia scharf kontrolliert, sie war überfüllt von Menschen, die ihre letzten Weihnachtseinkäufe tätigten. Mühsam fanden sie einen Parkplatz, und Beatrice, die eine Liste der Lebensmittel und der anderen guten Dinge angelegt hatte, die es ihnen erlauben würden, einen erfreulichen, etwas gefräßigen Tag zu verbringen, ging zum nächsten Supermarkt voran, wo sie Bond von Gang zu Gang schob und instinktiv wußte, wo die verschiedenen Dinge zu finden waren. Sie füllten in knapp zwanzig Minuten einen großen stählernen Einkaufswagen, der sehr eigensinnig zu sein schien, und Bond bemerkte zu seiner Freude, daß Beatrice kaum auf die Re252
gale achtete. Sie murmelte, wohin er als nächstes zu gehen hatte, und hakte die Liste der benötigten Dinge ab, aber ihre Blicke wanderten wachsam durch den gefüllten Supermarkt, und sie hielt eine Hand in ihrer Umhängetasche. Bond hatte das Gefühl, mit Miss Beatrice Maria da Ricci einen absoluten Profi bekommen zu haben. Alles, was sie tat, verriet beste Sicherheitspraxis, und sie schien sogar Augen im Hinterkopf zu haben. Einmal murmelte sie, als sie von ihm wegblickte: »Nein, James. Nicht die belgischen. Nimm die französischen, die kosten ein paar Lire mehr, sind aber um hundert Prozent besser.« Oder dann: »Die Flaschen, nicht die Dosen. Wenn du eine Dose aufmachst, mußt du alles verbrauchen. Die Flaschen kann man wieder verschließen.« Sie kauften sogar einen kleinen Baum und grellbunten Schmuck. »Ein denkwürdiges Weihnachtsfest.« Sie lächelte ihn an, und die schwarzen Augen luden ihn ein, augenblicklich zu den Köstlichkeiten des Morgens zurückzukehren. Es war das einzige Mal während ihrer Expedition, daß sie Bond tatsächlich anschaute. Schließlich luden sie ihre Errungenschaften in den Wagen, und Bond bestand darauf, allein loszugehen, um eine geheime Transaktion zu tätigen. Ihr gefiel das nicht, aber sie erklärte sich damit einverstanden, vor dem Geschäft Posten zu beziehen – einem Juwelierladen, in dem er eine erlesene goldene Spange kaufte, die wie ein Scutum geformt war – dem alten länglichen oder ovalen Schild, den früher die Legionäre des römischen Heeres getragen hatten –, mit einem großen Diamanten in der Mitte und einem Randbesatz aus kleineren Diamanten. Das Schmuckstück kostete ein Vermögen, aber sie akzeptierten Amex-Kreditkarten, und er würde es aus seiner Privatschatulle bezahlen. Der kleine Juwelier lächelte viel und wickelte das Stück mit übertriebener Sorgfalt in Geschenkpapier ein. Erst als Bond wieder auf der Straße stand, fiel ihm ein, daß es lange her war, seit er ein solch extravagantes Geschenk für eine Frau gekauft hatte, zumal für eine, die er noch keine vierundzwanzig Stunden kannte. Konnte das wirklich sein? überlegte er. Frauen flogen ihm zu, aber sein Sachverstand und die Anforderungen seines Lebens im Geheimdienst hatten ihn von tieferen Beziehungen abgehalten. Hatte er wirklich das Gesetz der Jahre gebrochen? Er fuhr und befolgte Beatrices Anweisungen. Schließlich erreichten 253
sie eine Kreuzung, an der der Verkehr blockiert war und wo die Autos von einem großen, unglücklich dreinschauenden Polizeibeamten angehalten oder weitergewunken wurden. Beatrice hatte ihre Pistole auf dem Schoß liegen und umfaßte den Kolben mit der Hand, wobei ihre Blicke überallhin wanderten und ständig auf den Schminkspiegel an der Sonnenblende gerichtet waren, die sie heruntergezogen hatte. Der Verkehr kroch langsam zu der weißen Haltelinie vor, bis der kleine Fiat sie erreicht hatte. Bond schaute auf den Polizisten und wartete auf das rasche Handsignal, das ihn weiterwi nken würde, als er plötzlich rechts von vorn einen anderen Blick auf sich gerichtet spürte. Er bewegte sich und sah mit einem gewissen Schock, daß sich ein Mädchen rasch umdrehte und schnell, ihren Rücken ihm zugewandt, weiterging. Aber er erkannte sie in diesem flüchtigen Augenblick, auch an den Bewegungen ihres Körpers, als sie über das Pflaster schritt. Hupen quäkten erbost, und Beatrice schnappte gereizt: »Er winkt dich weiter, James. Fahr zu, um Himmels willen.« Die Kupplung rutschte ihm weg, und er nahm die Biegung, wobei der Verkehrspolizist mit Augen und Kopf eine Bewegung machte, die zu verstehen gab, daß dieser Fahrer überhaupt nicht auf die Straße gehörte. Besorgt fuhr er zur Villa Capricciani zurück und überlegte, was, in Gottes Namen, First Officer Clover Pennington von der RNAS Yeovilton hier auf Ischia tat. Speziell was sie in der Stadt Forio wollte, keine fünf Meilen von seinem Aufenthaltsort entfernt.
8. ALL DIE ANDEREN DÄMONEN Für ein paar Sekunden überlegte James Bond, ob es Schuldgefühl war, das an seinem Gewissen nagte. Sicherlich hatte er Clover zumindest sexuell anziehend gefunden. Dieses Gefühl aber war erkaltet, weil sie sich als Sicherheitsrisiko erwiesen hatte. Etwas an First Officer Pennington war nicht ganz in Ordnung gewesen. Jetzt löste ihre geographische Nähe Besorgnis aus. Er würde Beatrice das später, im richti254
gen Augenblick erzählen. Die Tore der Villa Capricciani waren weit geöffnet, und ein kleiner, stämmiger Mann stand nahe den Stufen. Er trug Jeans und ein T-Shirt, sein Haar war von der jetzt verschwundenen Sommersonne golden gebleicht und die Arme stark gebräunt. Entfernte man das T-Shirt, dachte Bond, würde sein Körper wi e der eines Landsknechts aus dem sechzehnten Jahrhundert mit Brustpanzer und Armschutz wirken. Selbst von fern war er als durchtrainierter Leibwächter identifizierbar. »Franco«, erklärte Beatrice. Er begann den Wagen zu entladen, während Beatrice leise murmelnd mit ihm sprach. Schließlich schloß er die Tore, sperrte sie zu und reichte Bond mit einem verschwörerischen Zwi nkern einen Schlüssel. Dabei deutete er auf einen winzigen Schalter, der in die Wand eingelassen und von Efeu verdeckt war. Gelassen aktivierte Franco den Schalter, wobei er darauf hinwies, daß die »Heuler« zu jaulen beginnen würden, sobald sich jemand an den Toren oder am Schloß zu schaffen machte. Dann gingen alle zur Villa hoch, und Franco ve rschwand durch die hintere Doppeltür, um sich zurück zum Haupthaus zu begeben. Er sah wie ein Mann aus, der keine Türen brauchte, sondern einfach durch Wände gehen konnte und lediglich stehenbleiben würde, um den Ziegelstaub aus dem Haar zu schütteln. Bond überließ es Beatrice, sich um Lebensmittel und Getränke zu kümmern, ging die Treppe wieder hinunter, ve rschloß den Wagen und kehrte zurück, wobei er das Innentor hinter sich verschloß. »Das wird denen nicht gefallen.« Beatrice kam zu ihm, umarmte ihn zärtlich und preßte ihren Körper gegen den seinen. »Sie werden’s nicht schaffen.« Bond lächelte auf sie herab. Sie seufzte. »Oh, James, sei doch kein Kindskopf.« »Das bin ich für gewöhnlich.« Er war ehrlich überrascht, weil er eine solch alte Schuljungenantwort gab. Beatrice schien eine seltsame Veränderung in ihm bewirkt zu haben. »Hör zu. Franco und Umberto, die beiden Armen, werden dieses Weihnachtsfest als Beobachter verbringen müssen. Die Rottweiler werden das Anwesen sichern, und ich werde dich, James, mein Liebling, nicht aus den Augen lassen, es sei denn, die verdammten BASTLeute versuchend wieder.« 255
»Verzehrt euch vor Gram, Franco und Umberto.« »Mmmh«, nickte sie. »Ich werde jetzt zum Haupthaus hochgehen und ihnen Anweisungen geben. Den Pflichtanruf tätigen, und dann komme ich zurück, und die Feier kann beginnen.« Sie gab ihm einen zärtlichen Kuß auf die Wange, und er hatte das Gefühl, als sei sein Gesicht nie so geküßt wo rden. Beatrice hatte eine Art, ihn auf die Wange zu küssen, als sei es sein Mund oder sogar sein tiefstinnerstes Wesen. Küssen, überlegte er, war eine vergessene Kunst in dieser zerfallenden, von Krisen geschüttelten Welt geworden, Beatrice hatte sie wiederentdeckt und übte die Kunst auf eine Weise aus, die jahrhundertelang verborgen gewesen war. Er stand auf der hinteren Terrasse, lauschte ihren Schritten auf dem steinernen Pfad und fragte sich, was mit ihm geschah. Er war nie jemand gewesen, der schnelle, ernste Entscheidungen des Herzens traf. Schnelle, ernste Entscheidungen waren bei Einsätzen zu treffen, nicht bei Frauen. Doch dieses Mädchen übte zweifellos einen starken und mächtigen Zauber aus. Nach einem Tag hatte er bereits das Gefühl, als kenne er sie fast sein ganzes Leben. Das war untypisch, und es beunruhigte ihn, denn in diesem kurzen Zeitraum hatte Beatrice begonnen, sein Herz zu beherrschen. Bond war so diszipliniert, daß dies selten geschah. Selbst bei seiner jetzt toten Frau hatte es seine Zeit gebraucht, bis sie sich nähergekommen waren. Abgesehen von diesem einen Fall war er, was Frauen anbelangte, einer der ganz natürlichen leichtsinnigen Junggesellen, die das Leben hervorbrachte – jemand, der lange nach der Regel Finden, Verkehren, Vergessen gelebt hatte. Das war in seinem Job das sicherste, denn er war prinzipiell der Auffassung, daß Agenten im Außendienst nur verheiratet sein sollten, wenn sie Tarnung brauchten. Es war eine kalte und sterile Einstellung, aber die richtige. Beatrice stellte sie auf den Kopf. Er dachte einige Zeit über dieses Dilemma nach, erinnerte sich dann daran, daß ein neues Kodewort abzurufen war, und kehrte in die Villa zurück, um sich in London zu melden. Der Teilnehmer in England nahm wie üblich beim dritten Lauten ab. »Räuber«, sagte Bond. »Tag zwei.« »Drachennase.« Die Stimme in der Fernverbindung klang klar. »Wiederhole. Drachennase.« 256
»Bestätigt.« Bond legte den Hörer auf. Also versuchten einige von dieser Intelligenzia, die sich im Büro am Regent’s Park verkrochen, clever zu sein. In seiner frühesten Jugend hatte Bond viel gelesen, und sein Gedächtnis war fast fotografisch. Er erinnerte sich jetzt der Zeilen aus Dantes Inferno in der Göttlichen Komödie. Katzenbuckel, Scharlachhahn, Hundsfratz, Drachennase! Sudelschnauzbart führe sie. Zehne sollen’s sein: Krallhund, Schlappschwing, Borstenvieh, Fliegaas, Hakenschwein! Einige der genannten Dämo nen mit spitzen Klauen und Krallen peinigten und quälten die Verdammten in ihrer kochenden Hölle. Die Leute im Hauptquartier waren jetzt also stark von dem eigenartigen, mystischen Konzept der Bruderschaft für Anarchie und Geheimen Terror – BAST – beeinflußt, diesem dreiköpfigen Monster, das auf einer Viper ritt. »Drachennase, James.« Er hatte nicht gehört, daß sie durch die Doppeltür eingetreten war. Sie war lautlos wie eine Katze gewesen. »Korrekt. Drachennase«, sagte er, wobei er »Katze« dachte. Ob das Pennington-Mädchen die Katze \on BAST war – Saphii Boudai? »Drachennase«, sagte er wieder, wobei er Beatrice ein trauriges Lächeln schenkte. Hinter dem Lächeln arbeitete sein Hirn an der Gleichung. Aus Saphii Boudais Akte ergab sich, daß sie seit ihrer frühesten Jugend eine überzeugte Terroristin gewesen war. Die britischen Behörden waren ihr bei zwei Gelegenheiten recht nahe gekommen, aber sie blieb wie die anderen Mitglieder der BASTHierarchie ein Geist, eine körperlose, ja tödliche Gestalt, die weder richtig Form noch Kontur annahm und von der es keine tatsächliche Beschreibung gab. Das Pennington-Mädchen hatte eine Geschichte. Eine gute Familie. Er kannte sogar ihren Onkel, Sir Arthur Pennington, Master von Pennington Nab im West Country. Ihre Cousinen hatten ihr einmal sehr nahegestanden. Der Hintergrand war makellos. Aber war er das wirklich? Ein anderer Gedanke kam ihm. »Was ist los, James?« Beatrice war zu ihm getreten, hatte die Arme 257
um seinen Hals geschlungen und schaute mit ihren hypnotischen schwarzen Augen in sein Gesicht. Die Augen schienen ihn fast zu schwächen, und ihre tiefe Dunkelheit zog ihn in ihren Bann, so daß er nur eine mögliche Zukunft mit ihr sehen konnte: eine Zukunft frei von Gefahr und Verantwortung – bis auf die ihr gegenüber. Bond wich zurück und hielt Beatrice in Armeslänge auf Abstand. »Ich habe jemand in Forio gesehen. Jemand, der nicht dort sein sollte.« Ihr Gesicht veränderte sich. Es war nur ein kleines Anzeichen von Besorgnis, doch genug, um zu verraten, daß dieses herrliche Mädchen über die Fähigkeiten verfügte, die von Leuten verlangt wurden, die in ihrem Geschäft arbeiteten. Sie zog ihn zur Couch hinüber und begann ihn zu befragen – und all ihre Fragen zielten auf den Kern des Problems, den Grand, warum er hier war, in der Villa auf Ischia. Ebenso wie alles andere war klar, daß Beatrice im Verhören Erfahrung hatte. Er erzählte ihr alles in chronologischer Reihenfolge. Zuerst von Officer Pennington in Yeovilton, ihrer laschen Einstellung in Sachen Sicherheit und der Tatsache, daß sie für eine Abteilung Wrens verantwortlich sein würde, die auf die Invincible abkommandiert wurde – was bei der Royal Navy sehr von der Norm abwich. »Und sie wußte von deinem Kommando?« fragte Beatrice. »Welchem?« konterte er, noch immer darauf bedacht, nur das unbedingt Erforderliche zu sagen, wie es im Geheimdienstgeschäft üblich war. »Natürlich dem auf der Invincible. James, du glaubst doch nicht, daß man mir die Verantwortung für diesen Auftrag gegeben hätte, ohne mich völlig zu informieren? Se wußte, daß du wegen Landsea ‘89 auf der Invincible sein würdest – ich meine dieses Mädchen Pennington?« Er nickte. »Ja, und sie schien das nicht für etwas zu halten, worüber Stillschweigen zu bewahren sei. Clover hatte Zugang zu allen Unterlagen. Das war so, als würde man einem Klatschkolumnisten Geheiminformationen geben. Sie hatte ein Verhältnis zu Sicherheit und Verschwiegenheit wie ein Ausrufer.« »Mmmh.« Beatrice ranzelte die Stirn, und Bond fand sie noch attraktiver, als ihr Gesicht von Besorgnis gezeichnet wurde. »Hö r zu, James.« Sie legte eine Hand auf seinen Schenkel, der einen Strom von 258
Signalen weiterzuleiten schien, die seine generellen körperlichen Bedürfnisse weckten. »Hör zu, ich habe eine abhörsichere Funkstation im Haupthaus. Das möchte ich jetzt gleich melden, bevor es zu spät ist. Es wird nicht lange dauern. Würdest du ein paar Sklavenarbeiten übernehmen, wie Gemüseputzen für das morgige Abendessen?« Bond kümmerte sich selten um die Vorbereitung von Mahlzeiten. Seit Jahren hatten das andere für ihn getan. Aber er nickte nur und begab sich in die kleine Küche, während Beatrice eilig die Villa Capricciani verließ. Ihrem Gesicht war anzusehen, daß sie die Anwesenheit von Clover Pennington auf der Insel und in dieser Nähe sehr beunruhigte. Bond begann in der Küche das Gemüse vorzubereiten, lächelte schief und dachte daran, wie gern M ihn jetzt so sehen würde. Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte er erfahren, daß M Beatrice Maria da Ricci Anweisungen gegeben hatte, »Bond auf seinen Platz zu verweisen«. Der alte Mann hatte ihr direkt gesagt, daß 007 manchmal eine Spur zu sehr von sich überzeugt war. »Geben Sie ihm körperliche Arbeiten. Lassen Sie ihn die Decks der Villa schrubben.« An solchem Unfug würde M sich weiden. An diesem Heiligabend hielt sich M im Quarterdeck auf, war aber keineswegs entspannt. Eine zusätzliche abhörsichere Telefonverbindung war installiert worden, so daß er Informationen hinsichtlich Bond und seiner Situation innerhalb von Sekunden nach ihrem Eintreffen im Hauptquartier bekommen konnte. Obwohl M von Natur aus ein Einzelgänger war, hatte er Verwandte: eine Tochter, die jetzt mit einem Akademiker verheiratet war, der in Cambridge unverständliche und unklare Elemente der europäischen Geschichte zu ergründen \ersuchte. Sie hatten M zwei Enkel geschenkt, einen Jungen und ein Mädchen, die er innig liebte und in die er vernarrt war, ein bei ihm völlig uncharakteristisches Verhalten. Der Baum war geputzt, Mrs. Davison hatte alles vorbereitet, und in der vorangegangenen Woche hatte M mit ihrem Gatten wie verrückt eingekauft, vor allem extravagantes Spielzeug für die Enkel. Zu Weihnachten konnte M sich in den bekehrten Scrooge verwandeln – tatsächlich gehörte es im Quarterdeck zum Weihnachtsritual, daß aus Dickens Weihnachtsgeschichte vorgelesen wurde. In diesem Jahr aber 259
schien M nicht mit ganzem Herzen bei der Sache zu sein. Er saß in seinem Arbeitszimmer, ungerührt von den neun Weihnachtskantaten, die wie jedes Jahr aus dem King’s College in Cambridge vom Rundfunk übertragen wurden. Und das war an sich ebenfalls ungewöhnlich, da Weihnachten in M trotz seines barschen, scharfen Verhaltens und seines wettergegerbten Gesichts üblicherweise eine Spur Gefühl weckte. Seine Hand schien schon eine Sekunde, bevor das Telefon klingelte, zum Hörer zu greifen, und er meldete sich mit e inem kurzen »M«. Bill Tanner war am anderen Ende. »Da kommt etwas durch, Sir.« M nickte und sprach nicht einmal in den Hörer. Eine kurze Pause entstand, und dann fuhr Tanner fort: »Wir hatten heute zwei Kontakte. Der gewöhnliche Kodeaustausch. Dann noch einen. Einen Blitz.« »Ernst?« »Nicht sicher, Sir. Ist ein Bericht von Drachennase. Sieht aus, als sei die Katze oder einer ihrer Leutnants da und schleiche herum. Die Frage ist, ob wir sie fassen oder darauf warten, daß sie etwas unternimmt.« »Irgendeine Vorstellung, wie groß ihr Team ist?« »Unmöglich zu sagen, Sir. Drei vielleicht. Möglicherweise mehr. Sicherlich wurde einer bei dem nicht besonders geschickten Versuch verwundet, von dem wir Kenntnis haben.« M saß eine volle Minute schweigend da. »Wir brauchen hieb-und stichfeste Informationen, Stabschef. Knallharte. Aber wenn es dem Zweck dient, sagen Sie Drachennase, er könne völlig skrupellos vorgehen. Unsere Kontakte mit den Italienern bestehen noch?« »Da gibt’s keine Probleme, Sir.« »Gut. Unbarmherzig, wenn erforderlich. Und dann ein weiterer Befehl…« Er sprach zehn Minuten mit Tanner und gab ihm detaillierte Anweisungen. Dann legte M mit einem scharfen: »Halten Sie mich auf dem laufenden« auf und überlegte, warum er sich von allen Agenten, die unter seinem Kommando standen, um 007 die meisten Sorgen machte. War er der Sohn, den der alte Mann sich immer gewünscht hatte? Schwierig. Etwas, mit dem man sich nicht eingehender beschäftigen sollte. Während die Musik anschwoll und wieder abebbte, fuhr seine Tochter auf dem knirschenden Kies vor. M verdrängte alle Gedanken an 260
das, was auf Ischia passieren könnte, machte ein freundliches Gesicht und ging zur Tür. Sie putzten den kleinen Baum mit den billigen bunten Dingen, die sie in Forio im Supermarkt gekauft hatten, bereiteten alles für das morgige Abendessen vor und setzten sich, um einen kleinen Suppensnack einzunehmen, den Beatrice rasch zubereitet hatte, während sie sich mit dem Baum beschäftigten. Dazu gab es Brot und ein Dutzend verschiedener Käsesorten, die mit einer guten Flasche des hiesigen Weines hinuntergespült wurden. Danach streckte Bond sich in einem Sessel aus, und Beatrice lehnte ihren Rücken an seine Beine, während sein Arm um ihre Schulter lag und sich gelegentlich senkte, damit seine Hand ihre Brüste streicheln konnte. Er hatte sie bisher bewußt nicht nach dem Kontakt mit London gefragt, glaubte aber, daß jetzt der richtige Zeitpunkt sei. »Wie haben sie reagiert?« »Wer?« »Londons Reaktion darauf, daß das Pennington-Mädchen hier ist« Sie drehte sich so, daß sie zu ihm aufblicken konnte. »Be sser, wenn du’s nicht weißt. Man wird sich darum kümmern, James. Alles ist unter Kontrolle.« Er nickte und versuchte zu erklären, daß dies alles neu für ihn war. »Normalerweise beschütze ich und gebe die Befehle.« »Nun ja«, ihre Stimme nahm den heiseren Klang an, den er in der vergangenen Nacht und bei dem, was zwischen ihnen im Laufe des Morgens geschehen war, kennen- und schätzengelernt hatte. »Nun ja, James, da wären ein paar Befehle, die du mir geben kannst.« »Das war mir gar nicht eingefallen. Du bist eine ganz schö n dominante junge Frau. Sogar…« »Sogar im Bett? Ich weiß, aber das kann ich ändern. Willst du’s versuchen?« »Bald.« Er klang sehr entspannt. »Weißt du, Beatrice, ich glaube – ausgenommen, es läuft etwas schief –, daß dies eines der schönsten Weihnachtsfeste überhaupt werden wird.« Sie nahm seine Hand von ihrer Schulter, zog sie an ihren Mund, küßte sie, biß in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und saugte dann nacheinander an jedem Finger. Schließlich fragte sie: 261
»Und was war das schönste Weihnachtsfest, an das du dich bis heute erinnern kannst?« Bond grunzte und streckte sich. »Ich glaube, es war das letzte Weihnachtsfest, das ich mit meinen Eltern verbrachte.« Seine Stimme hatte sich ebenfalls verändert, und die Sätze kamen zögernd, als ob es ihm schwerfiele, darüber zu reden. »Ich bin auch ein Bastard, Bea. Schottischer Vater und Schweizer Mutter. Weihnachten in einem kleinen Chalet am Lago Lugano.« Er lachte. »Seltsam, daß dies das schönste Fest war, denn ich war krank – oder genas gerade. Windpokken, Masern oder so was.« »Und warum war es das schönste?« Er lächelte, fast wie ein Schuljunge. »Ich bekam alles, was ich mir wünschte. Sie verwöhnten mich. Soweit ich mich erinnere, bekam ich auch eine Luftpistole.« »Und was noch?« »Ich mußte im Bett bleiben, aber mein Vater öffnete das Fenster und stellte ein paar Blechdosen auf den Sims. Dann ließ er mich fast eine halbe Stunde darauf schießen. Am Abend blieben die beiden in me inem Zimmer, und wir aßen das Weihnachtsmahl von Tabletts. Es war ganz anders. Ein letzter Geschmack von Liebe. Ich werd’s nie vergessen.« »Letzter? Warum letzter?« »Meine Eltern kamen ein paar Wochen später beim Bergstei-gen um.« »Oh, James.« Sie schien schockiert, als bedaure sie, gefragt zu haben. »Ist schon lange her, Beatrice. Jetzt bist du dran. Und dein schönstes Weihnachtsfest?« Sie drehte sich um und zog ihn vom Sessel herunter zu sich auf den Boden. »Dieses Weihnachten. Ich habe nie tolle Weihnachtsfeste erlebt, James, und so schnell wie jetzt sind bei mir Dinge noch nie gelaufen. Es ist… es ist alles seltsam. Ich kann’s noch nicht ganz glauben.« Sie griff nach seiner Hand und legte sie zwischen ihre Schenkel. Bond nestelte in seiner Tasche und holte das in Geschenkpapier eingewickelte Päckchen heraus. »Fröhliche Weihnachten, Beatrice.« Sie öffnete es wie ein Kind und zerriß das Papier, als könne sie nicht 262
erwarten zu sehen, was darin sei. Als sie den Deckel der kleinen Schachtel hob, stieß sie einen kleinen Schrei aus. »Oh! Mein Gott, James!« »Gefällt’s dir?« Sie blickte zu ihm auf, und er sah Tränen auf ihren Wangen glänzen. Später, in der Dunkelheit des Schlafzimmers und in einem entscheidenden Augenblick flüsterte sie: »Fröhliche Weihnachten, James, mein Liebling.« Ohne nachzudenken flüsterte Bond zurück: »Gott segne uns alle.« Franco, Umberto und die Hunde mußten gute Arbeit geleistet haben. Nichts trat ein, was eine selige Nacht plötzlich hätte unterbrechen können, und als die Liebenden in den Schlaf sanken, träumten sie ruhig und sorglos. Als Beatrice um halb elf erwachte, bewies sie großes hausfrauliches Geschick und bewegte sich bei der Zubereitung ihrer Mahlzeit schnell in der Küche. Selbst die Browning 9 mm, die in ihrem Hüftgurt steckte, schien nicht fehl am Platz zu sein. Sie aßen Huhn, nicht den traditionellen Truthahn. Aber es war ein großer Vogel, auf eine mysteriöse Weise zubereitet, die ein Geheimnis ihrer Mutter war, wie sie sagte. So blieb nur wenig übrig, und nach dem Huhn gab es richtigen Weihnachtspudding, rund wie die, die man auf viktorianischen Zeichnungen sieht, und sehr kräftig, mit einer abscheulich alkoholischen Brandysauce. Hinterher gab es Minzekuchen und Nüsse. »Und was ist mit Plätzchen?« fragte Bond lachend. »Bedaure, Liebling. Ich kann kein einziges Weihnachtsplätzchen backen, und auch sonst nichts Süßes.« »Ich denke, ich werde eine ganze Woche lang schlafen.« Bond streckte seine Arme und gähnte. »Nun, das wirst du sicher nicht tun.« Sie erhob sich. »Du wirst mich auf die andere Seite der Insel fahren, und wir werden eine n Verdauungsspaziergang machen und uns vom Seewind durchpusten lassen. Komm.« Sie begab sich schnell zum Vorderfenster, nahm die Schlüssel und schob die Tür auf. »Rennen wir zum Wagen.« Bond ergriff seine Browning, lud sie durch und steckte sie in das Schulterholster, dann überzeugte er sich, daß er die Wagenschlüssel hatte, und folgte ihr. Sie hatte gerade das Innentor aufgeschlossen, als 263
er den Absatz der Steintreppe erreichte, der zum Tor hinunterführte. »Halt. Warte auf mich!« rief er lachend. Sie kicherte, als er hinter ihr her zum Wagen rannte. Dann blieb Bond stehen, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Die Haupttore waren aufgezogen, und er schrie: »Nein!« und wieder: »Nein, Beatrice!«, als er sie an der Wagentür ziehen sah und kaum glauben mochte, was seine Augen und sein Hirn ihm sagten. »Beatrice, nein! Nein! Öffne nicht…!« Aber die Wagentür bewegte sich und ging auf. Und dabei blickte sie lachend und glücklich zu ihm hoch. Dann eruptierte der Feuerball aus dem Inneren des Fiat. Die Wucht der Explosion traf ihn eine Sekunde später, warf ihn rücklings um, ließ seine Ohren singen und versengte seine Augen, als die Flamme aus dem geborstenen Wagen leckte. Er griff nach der Pistole und hatte sie gezogen, als ihn jemand von hinten packte. Dann änderte sich plötzlich alles – Autos und Leute waren da, Männer in Uniformen, andere in Zivil. Einige rannten zur Rückseite der Villa, und Bond glaubte durch das Singen in seinen Ohren Gebell, dann Schüsse aus dem Garten zu hören. Irgendwie war er dann wieder in die Villa gelangt und saß bei den Resten ihres Weihnachtsmahls, die noch immer auf dem Tisch standen, als eine vertraute Gestalt durch die Schiebetür trat. »Drachennase, Captain Bond«, sagte Clover Pennington. »Es tut mir leid, aber dies war der einzige Weg, und es hatte fast nicht funktioniert. Können Sie mich hören, Sir – Drachennase?« Bond blickte voller Ekel zu ihr auf und fauchte: »Soll Sie doch Drachenzahn und all die anderen Dämonen der Hölle holen!« Er schob den Stuhl zurück, als wolle er ihr entkommen.
9. NORTHANGER Obwohl er die Sanitäter, Feuerwehrleute und die Polizei um das verbogene und geschwärzte Wrack gesehen hatte, das einmal ein Fiat gewesen war, konnte James Bond noch immer nicht alles fassen. In irgendeinem fernen Winkel seines Verstandes registrierte er vage, daß 264
er unter Schock stehen mußte, doch jedesmal, wenn er sich Clover Pennington zuwandte, erwartete er die schlanke und lebhafte Beatrice Maria da Ricci zu sehen. Er konnte nicht glauben, daß sie tot war, obwohl Clover ihm das erläuterte: Langsam, als erkläre sie das einem Kind, und laut, weil seine Ohren von der Explosion noch immer widerhallten. »Sie war entweder die ›Katze‹ oder eine der Komplizinnen der ›Katze‹«, erklärte Clover ihm immer wieder. Es war, als wü rde ihm ständig auf den Kopf geschlagen. Zuweilen trat ein Mann in Zivil zu ihr, murmelte etwas in ihr Ohr und erhielt eine Antwort. »M hatte das Team hier überprüfen lassen. Einer unserer Leute entdeckte, daß es einen Austausch gegeben haben mußte, als er den Mann namens Franco im Garten sah. Daraufhin waren wir in Alarmbereitschaft. Niemand war sich über die Lage im klaren. Erst gestern, als ich Ihnen mit ihr begegnete, wußten wir Bescheid.« Zwei andere Männer kamen durch die Doppeltür herein und sprachen mit ihr. Clovers Augen wanderten kurz zu Bond, dann wieder beiseite. Als die Männer fort waren, sagte sie, daß die beiden Männer, die Beatrice im Haus gehabt hatte, unglücklicherweise getötet worden seien. »Meine Befehle lauteten, absolut rücksichtslos vorzugehen, obwohl wir versuchen sollten, zumindest einen aus dem Team lebend zu bekommen. Unglücklicherweise ist uns das nicht gelungen, und ich bin mir nicht sicher, ob das Ricci-Mädchen die ›Katze‹ war oder nicht… Und« – sie hielt verlegen inne – »ich weiß nicht, ob wir je eine Bestätigung dafür bekommen. Die Explosion muß sie voll erfaßt haben. Von ihr ist nichts oder nur sehr wenig übrig. Tut mir leid«, fügte sie hinzu, als wolle sie sich entschuldigen. Bond saß da und starrte in die Luft, als nähme er von all dem nichts wahr. »Sie hatte mir die richtigen Tageskodes genannt«, sagte er, und seine Stimme klang wie die eines Roboters. »Das Telefon hier war angezapft. Ist alles zum Haupthaus rübergeleitet worden.« Clover, die einen grauen Plisseerock, Pullover und leichte Schuhe trug, hatte das Gefühl, daß er sie noch immer nicht wirklich ansprach. »Captain Bond? James? Sir?« versuchte sie es. Aber er saß noch immer reglos da und starrte in den Raum. Jemand schaltete das Radio in der Küche ein. »Feiert fröhliche Weihnachten«, sang der verstorbene Bing Crosby, und sie sah, daß 265
Bond den Kopf hob und ein wenig zur Seite neigte. »Stell das ab, du Clown!« schrie Clover und wandte sich dann wieder Bond zu. »Man hat das richtige Team gefunden und die Aufpasser, die unsere Leute eingesetzt haben. Zumindest leben die: geknebelt und gefesselt in den Weinkellern. Wir we rden mehr wissen, wenn unsere Leute ihre Berichte und Beschreibungen geben. Aber jetzt muß ich Sie hier rausschaffen, Sir. Verstehen Sie? Wir müssen Sie ebe nfalls verhören.« Schließlich nickte Bond langsam, als ob der gesunde Menschenverstand gesiegt hätte. Wann immer jemand ein Geräusch machte, etwas fallen ließ oder zu laut sprach, hörte er in seinem Kopf wieder den ohrenbetäubenden Knall und sah deutlich, wie Beatrice ihn anlächelte, als sie die Wagentür öffnete und dann von der Explosion umhüllt wurde. Das Klingen in seinen Ohren war zu einem permanenten Winseln geworden. Er blickte zu Clover Pennington auf. »Ich möchte persönlich mit M sprechen«, sagte er kalt. »Noch nicht, James – äh, Sir. Noch nicht. Wir müssen Sie weiter einsetzen. Und wir müssen sehr vorsichtig sein. M’s Anweisungen lauteten, daß Sie weiterhin getarnt bleiben. Das ist entscheidend. Wir müssen Sie verschwinden lassen, damit Sie in etwa einer Woche wieder auftauchen können, um auf die Invincible zu gehen.« Bond machte eine Geste, daß er verstanden habe, obwohl dies aus seiner nächsten Frage nicht deutlich wurde. »Wenn sie zu BAST gehörte, was ist dann passiert? Haben Sie sie aus Versehe n getötet?« »Später, Sir. Bitte. Ich glaube, es ist wirklich gefährlich für Sie, länger hier zu bleiben. Ein Hubschrauber kommt, um Sie abzuholen. Man wird Sie zu einer sicheren Basis auf dem Festland bringen. Dort wartet ein Befragungsteam, und es gibt gute Ärzte für den Fall, daß Sie medizinische…« »Ich brauche keinen Arzt, First Officer Pennington.« »Mit Respekt, Sir, die müssen Sie untersuchen.« Das rasselnde Geräusch eines Hubschraubers war zu hören, das lauter wurde, als er von der See hereinschwebte und über der Villa kreiste. »Soll ich die Pistole nehmen, Sir?« fragte einer der untersetzten Männer in Zivilkleidung. »Wagen Sie das ja nicht.« Bond wurde wirklich wütend. »Ich bin kein Kind, und ich werde auch nichts Dummes tun.« Er funkelte alle 266
an. »Also, worauf warten wir noch? Gehen wir.« Draußen, direkt über der Villa schwebend, begann ein alter Agusta Hubschrauber, der die Zeichen der italienischen Marine trag, herabzusinken. Einer von Clover Penningtons Männern gab Handsignale, und ein Mannschaftsangehöriger wurde mit Geschirr herabgelassen, um Bond in den Hubschrauber zu ziehen. Das letzte, wo rauf er schaute, als der Hubschrauber in Richtung Küste wendete, waren die schwarzen, verkohlten und verbogenen Überreste des Fiat und die Sperren der Örtlichen Polizei an beiden Enden der Straße. Eine Stunde später befand er sich in einer kleinen Militärbasis nahe Caserta. Bonds geographische Kenntnisse reichten, um der Route folgen zu können. Aus der Luft sah die Basis alles andere als militärisch aus. Sie bestand aus einem halben Dutzend rechteckiger Gebäude und einem dreifachen Sicherheitsring aus schwerem Stacheldraht zwischen zwei hohen Maschendrahtzäunen. Die Wachen an den Haupttoren waren bewaffnet, schienen aber nicht uniformiert zu sein. Man stellte ihm einen großen, luftigen Raum zur Verfügung, funktionell, mit wenig Komfort, aber einem kleinen Badezimmer; es gab weder einen Fernseher noch ablenkende Bilder an den Wänden. Irgendwie hatten sie es geschafft, seinen Koffer in der Villa zu packen, und der stand jetzt ordentlich direkt hinter der Tür. Bond streckte sich auf dem Bett aus und legte die Browning in Reichweite. Zumindest hatten sie ihn nicht entwaffnet. Auf dem Nachttisch waren zwölf Taschenbücher gestapelt, einige Thriller, ein Deighton, ein Greene, zwei dicke Forsythes und Literatur wie Joyce’s Ulysses und ein Exemplar von Krieg und Frieden. Er wußte, daß er sich ablenken mußte, aber er fühlte sich sehr müde, zum Lesen zu erschöpft, doch nicht genug, um schlafen zu können. Außerdem kannte er die Bücher alle, abgesehen von einem seltsamen kleinen Thriller, dem Meisterstück eines unbekannten Autors, das Mondschein und Quetschungen betitelt war. Er ließ die Ereignisse noch einmal an sich vorüberziehen. Der Fiat, die Treppe, die Gußeisentore, Beatrice lächelnd und die Wagentür öffnend – und dann wurde sie von dem Feuerball ausgelöscht. Nein. Spielte ihm sein Gedächtnis einen Streich? So war es nicht gewesen. Sie winkte und lächelte. Was dann? Die Wucht der Explosion warf ihn 267
zurück? Nein, es war anders… Sie lächelte und zog die Wagentür auf. Rauch. Mit dem Feuerball, der Druckwelle und dem Dröhnen der Explosion kam viel Rauch. Welchen Sprengstoff mochten sie benutzt haben, daß es zu einer solchen Rauchentwicklung gekommen war? Bei Semtex oder RDX war das nicht der Fall. Das mußte er melden. Es konnte sein, daß gewisse Terroristenorganisationen einen neuen Typ Sprengstoff benutzten. Oder war es eine alte Mischung, die nach langer Lagerung mehr Rauch als gewöhnlich entwickelte? Jedenfalls hatte die Explosion eine ungewöhnlich kaltblütige Terroristin ausgelöscht. Wie viele Terroristinnen brauchte man, um eine Zeitbombe zu legen? Auf ein Pochen an der Tür rief er »Herein!«, wobei er mit einer Hand die Browning entsicherte und die Pistole auf die Tür richtete. Der Mann war groß, lässig mit Hose und Pullover bekleidet. Er hatte die dunkle, lederne Gesichtsfarbe des Mittleren Ostens, doch sprach er reines Oxford Englisch. »Captain Bond?« fragte er. Bond hatte das feine Gefühl, daß dies die Einleitung für eine Art Ritual war. Er nickte. »Ich heiße Farsee.« Er war in den Vierzigern, hatte eine wachsame militärische Haltung, tat aber alles, um den Eindruck zu erwecken, als sei er bis ins Mark Zivilist. Seinem Lachen fehlte echter Humor. »Julian Farsee, obwohl meine Freunde mich Tomate nennen. Ein Wortspiel, wissen Sie. Tomate Farsee. Tomates Farcies – die gefüllten französischen Tomaten, ja?« »Was liegt an, verdammt?« fragte Bond gereizt. »Die Quacksalber wollen Sie durchchecken. Ich hab’ nur reingeschaut, um zu sehen, ob Sie sich soweit in Ordnung fühlen und dafür bereit sind, ja?« »Und wer sind Sie nun genau, Julian? Wo sind wir, was sind Sie und was geht hier vor?« »Nun, ich bin der Two I/C, ja?« (Two I/C stand im Militärjargon für Second in Command – den Stellvertreter –, so wie Jimmy The One in der Royal Navy für Erster Offizier stand, der den Rang eines Commanders oder sogar Captains haben konnte. Manche Leute fanden das verwirrend.) 268
»Sie sind Stellvertreter von was genau?« »Von dem hier.« Farsee winkte in Richtung Fenster. Das war, als würde man mit einer Weintraube erklären, was ein Pfirsich ist. »Und was ist das hier?« »Hat Ihnen das niemand erzählt?« »Hätte das jemand, würde ich Sie nicht fragen, Julian.« »O ja, Sir. Nun, tatsächlich sind wir etwas irregulär.« »Wie irregulär?« »Gehört zu NATO-Einrichtungen, ja? Hoch geheim, könnte man sagen. Ausgesprochen geheim. Wir stehen nicht mal im Telefonbuch, wie es heißt, ja?« »Weiter!« Bond schrie fast. Er konnte Yuppies bis zu einem gewissen Punkt ertragen, aber keine militärischen Yuppies. »Der CO ist Amerikaner.« »Kommandierender Offizier von was?« »Wir regeln gewisse Dinge. Verstecken Leute, wenn wir nicht wollen, daß die Welt sie sieht – oder vielleicht sollte ich sagen, wenn manche Geheimdienstleute nicht wollen, daß die Welt sie sieht« »So wie ich?« »Ja. O ja. Richtig, Captain Bond. Sagen Sie, sind Sie für die Ärzte bereit?« Bond seufzte tief und nickte dann. »Bringen Sie mich hin.« Die Ärzte beschäftigten sich drei Stunden mit ihm. Es gab eine allgemeine Untersuchung und mehrere Tests. Der Hals-Nasen-OhrenSpezialist sagte, er habe Glück gehabt. »Die Tromme lfelle sind intakt. Ein Wunder nach dem, was ich gehört habe.« Dieser Spezialist war ein ausgesproche n militärischer Typ. Bond wurde nur ärgerlich, als sie ihn in einen Raum des Sanitätsbereiches brachten, der stark nach Psychiatrie roch. Das konnte man schon an den Bildern erkennen, die an der Wand aufgehängt waren: hellgraue Himmel und ruhige Landschaften. Dann dieser Überfluß von Grünpflanzen. Man hätte in Kew Gardens sein können, und der junge, sehr entspannte Mann, der sich in seinen verstellbaren Sessel lehnte, strahlte eine Ruhe aus, die große Angst verriet. Aber der Rorschach-Test entschied alles. Bond hatte Experten mit Psychiatern spielen sehen, wenn sie ihre Tintenkleckse herausholten. Er kannte auch die verrückten und raffinierten Antworten, die ein Analytiker 269
dem Rorschach-Protokoll entnahm. »Sehen Sie sich die einfach an und sagen Sie mir, was Sie erkennen.« Der junge Mann legte die Tintenkleckse nacheinander auf den Schreibtisch. Einen Schmetterling, der eine Gottesanbeterin war, wenn man das zu sagen wagte. Ein küssendes Paar, das ebensogut eine scheußliche Waffe sein konnte. Nun, jedes Mal erzählte Bond ihm, daß der Klecks wie eine Frauenbrust aussähe, und so lächelte der Psychiater, als sie fertig waren: »Sie ziehe n mich auf, nicht wahr, Captain Bond?« »Mit einem Wort – ja. Hören Sie, Doc, ich habe in meinem Leben schon schlimmere Traumata als diese durchgestanden. Ja, ich fühle so wie die meisten Männer nach dem plötzlichen, unwiderbringlichen Verlust einer Frau, die ihnen viel bedeutete. Aber ich weiß, daß alles sehr schnell ging. Zu schnell. Unmittelbar danach überkam mich Sorge – und ein wenig Selbstmitleid. Schock, so Sie wollen. Jetzt fühle ich nur sehr großen Ärger. Ärger auf mich, weil ich ein solcher Idiot war. Ärger auf die anderen, weil sie mich reingelegt haben. Ist doch natürlich, oder?« Der Psychiater lächelte und nickte. »Völlig richtig, Captain Bond. Ärger ist die gesündeste Reaktion. Also vergeuden wi r nicht weiter unsere Zeit.« Bond ließ nicht erkennen, daß er den nagenden Verdacht hatte, daß ihm etwas vorgemacht wurde. Das würde sich rechtzeitig zeigen. Er würde ihnen genügend Luft lassen. Julian wartete auf ihn. »Der kommandierende Offizier möchte, glaube ich, ein Wort mit Ihnen reden, Sir.« »Ein Wort oder mehrere Sätze?« Julian lachte wiehernd. »O ja, die Antwort ist wirklich gut. Wirklich, ja.« Die Gebäude erwiesen sich als einfache lange Ziegelkomplexe, die so angelegt waren, als hätte ein Architekt sechs Modelle wahllos in den Absperrzaun geworfen. Sie waren einstöckig, und da sie zu beiden Seiten Fenster hatten, fiel Bond auf, daß die Innenräume überhaupt nicht über Fenster verfügten, so daß natürliches Licht nur über die Korridore hereindrang. Sowohl in den Wohnquartieren als auch im Sanitätsbereich hatte es mehrsprachige Hinweisschilder gegeben, die den Leuten befahlen, auf den Korridoren nicht zu sprechen. Die 270
Schlußfolgerung war naheliegend. Die Innenräume waren durchweg abhörsicher abgeschirmt. Als sie das Anwesen durchquerten, versuchte er den Verwendungszweck der verschiedenen Gebäude auszumachen. Eines für die Mannschaft. Eines für die Offiziere. Das Lazarett. Auf einem befanden sich alle nur denkbaren Arten von Antennen, weshalb es das Kommunikationszentrum sein mußte. Möglicherweise ein Gästehaus (das, in dem er einquartiert war), und, an der Stelle, die vom Eingang am weitesten entfernt lag, die Büros. Es schien völlig richtig, daß Julian um zu dem letzten Gebäude führte. Julian, dachte Bond, war doch kein solcher Idiot, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Der kommandierende Offizier verfügte über einen großen Raum, der sich im Zentrum eines Nestes von anderen Räumen innerhalb des Bürokomplexes befand. Julian pochte an die Tür, und eine eindeutig amerikanische Stimme, wahrscheinlich aus den Südstaaten, rief: »Okay!« Die Stimme kam so langsam und glatt wie Sirup. »Captain James Bond, Royal Navy, Sir!« schmetterte Julian. Bond setzte ein Lächeln auf und fand sich mit dem Commander allein in dem Raum, nachdem die Tür geschlossen und Julian draußen geblieben war. Hier gab es keine Topfpflanzen und keine beruhigenden Gemälde. Zwei Landkarten bedeckten eine große Wand – eine der hiesigen italienischen Umgebung und eine weitere von Europa. Die zweite war sehr detailliert und mit einer Reihe militärische r Symbole versehen. Die restlichen Bilder zeigten amerikanisches Militär im Einsatz. Blackhawk- und Chinook-Hubschrauber in Großaufnahmen, und aus den Türen der Chinooks stürmten kampfbereite Trappen, während daneben todbringende Mörsergranaten einschlugen. »Kommen Sie herein, Captain Bond. Erfreut Sie hier zu haben.« Als der kommandierende Offizier um den Schreibtisch herumkam, wirkte er, als sei er gerade aus der Hochglanzanzeige eines sehr teuren Kaufhauses getreten, das Kleidung für MegadoIIar-Einkommensschichten verkaufte. Der beige Anzug sah wi e ein echter Battistoni aus, den man mit keinem Armeesold bezahlen konnte, und sicherlich auch nicht von dem, was einem der Geheimdienst bezahlte. Das Hemd war eindeutig ein Jermyn Street, die Seidenkrawatte wahrscheinlich eine Spezialan271
fertigung, vielleicht von Gucci, mit den Streifen eines Regimentes der Army der Vereinigten Staaten. Über die Schuhe brauchte man keine Vermutungen anzustellen: handgenähte Gucci. Ganz eindeutig. Der Mann, der diese Kleidung trug, war klein, schlank, mit gelichtetem Haar und, wie es in Untertiteln heißt, ein harter Hombre, obwohl ihn ein Hauch von Hermes-Cologne umgab. »Wirklich schön, sie zu sehen, Captain. Tut mir leid, dieser Ärger, den Sie heute gehabt haben. Ist nicht gerade die schönste Art, seine n Urlaub zu verbringen, aber ich denke, in unserem Geschäft arbeitet man auch Heiligabend, und wenn auch nur für ein paar Stunden. Ich habe mal einen Buchautor sagen hören, er täte das auch, aber das war sicher übertrieben. Jede nfalls willkommen in Northanger.« »Northanger?« wiederholte Bond, dessen Tonfall Unglauben verriet. »Unter dem Namen stehen wir in den geheimen Handbüchern. Ich heiße übrigens Toby Lellenberg.« Trotz seiner Statur war es, als schüttele man einem Gorilla die Hand. »Setzen Sie sich, Captain, wir haben über ein paar Dinge zu reden.« Bond setzte sich. Der Sessel war ein umgebauter Pilotensitz aus einer F 14, und er mußte zugeben, daß er sehr bequem war. »Was für Dinge, Mr. ... äh…« »Kein Dienstgrad. Langley mag keine Dienstgrade. Ne nnen Sie mich einfach Toby. Das ist eines dieser Karriereangebote, die man so außer der Reihe bekommt – kommandierender Offizier in Northanger. Ich sitze nur auf meinem Hintern, zittere im Winter, schwitze im Sommer und sehe mir die durchgeschleusten Agenten an. Sie, Captain, sind einer unserer wichtigsten durchgeschleusten Agenten.« »Dafür brauche ich wirklich einen Beweis, Toby. Leute können ausgeschaltet werden, wenn sie als durchgeschleuste Spione identifiziert sind.« »Kein Problem. Darf ich Sie James nennen?« »Warum nicht?« Toby begab sich hinter seinen Schreibtisch und beschäftigte sich mit einem großen, soliden stählernen Aktenschrank, der mit drei Schlüsseln und zwei Digitaleingabefeldern zu öffnen war. Für einen Augenblick hatte Bond das Bedürfnis, zur Melodie von »Da war eine Dame, süß und schön« zu singen: »Ich sah einen durchgeschleusten Spion.« Aber es gelang ihm, diesen Drang zu unterdrücken. Die ganze Kulisse 272
dieses Ortes war so interessant und unwahrscheinlich, daß sie half, jedweden Schmerz zu besänftigen, der noch emotional in ihm wütete. »Und los geht’s. Beide Versionen. Kode und der Klartext, den ich aus meiner kleinen Kiste in dem Safe geholt habe.« Er nahm die beiden dargebotenen Blätter und sah das Kontrollzeichen auf dem Originalkode. Es stammte zweifellos direkt von M. Das Kontrollzeichen war fälschungssicher. Der Text lautete: VON CSSUK AN OC NORTHANGER BASIS NACHRICHT DANKE FÜR HILFE HINSICHTLICH UNSERES RÄUBERS STOP WÜRDE EIN VERNEHMUNGSPROTOKOLL BEGRÜS-SEN AN MICH AUSSCHLIESSLICH STOP DIESER OFFIZIER MUSS BIS ZUM ZWEITEN JANUAR FESTGEHALTEN WER-DEN STOP WERDE MITTEILEN WIE ER WEITER ZU BEHAN-DELN IST MUSS AM DRTTTEN JANUAR AUF SEINEM SCHIFF SEIN STOP CSS ENDE »Zufrieden damit, James?« Der glatte kleine Mann lächelte. »Offensichtlich haben Sie die Möglichkeiten, ein Verhör durchzuführen.« »Ich hab’ nicht die besten Leute aus dem Geschäft, aber, ja, wi r haben ein entsprechendes Team hier. Einen unserer eigenen Jungs. Ein Bursche namens Draycott. Kennen Sie ihn?« »Hab’ von ihm gehört, aber ich kenne ihn nicht.« »Naja, ist pensionsreif, genau wie die beiden Burschen, die wi r aus Langley haben. Einer von denen heißt Mac – ist gebaut wie ein Hydrant – und der andere ist nur unter dem Namen Walter bekannt. Walter weiß, wo alle Leichen begraben sind, und wird keiner Seele etwas erzählen, Schätze, das ist der Grand, warum sie ihn hergeschickt haben. Wenn Sie einen Posten in Northanger bekommen, dürfen Sie mit aktivem Dienst nicht mehr rechnen. Totes Wasser. Aber die Verhöre laufen gut.« »Schön, solange Julian nicht mit drinsteckt.« »Ha!« Toby schlug mit einer braunen Hand auf die Ecke seines Schreibtischs, hob seinen Kopf und bellte ein einsilbiges, spöttisches Lachen. »Julian Tomato. Ha!« Er sprach das wie jeder echte Amerikaner »Tom-ai-toe« aus, so daß das Wortspiel nicht herüberkam. 273
»Dieser Julian… Wissen Sie, der könnte nicht mal Pisse aus ‘nem Stiefel kippen, selbst wenn die Bedienungsanleitung auf dem Absatz stünde. Haben Sie Appetit auf was Eßbares, James? Heute abend gibt’s bei uns ein richtig altmodisches Weihnachtsessen. Truthahn mit allen Beilagen, Plumpudding und all das.« »Klingt gut.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Aber zuerst sollte ich anrufen.« »Ach ja?« War das Mißtrauen Einbildung? »Wechsel des täglichen Kontaktkodes. Der Zeitpunkt ist schon rum.« »Natürlich. Benutzen Sie das Telefon hier.« Er deutete auf eines der fünf Telefone in verschiedenen Farben, die auf de m Schreibtisch standen. »Wollen Sie, daß ich rausgehe?« »Oh, ich glaube, das ist nicht nötig.« Bond wählte bereits. Dieses Mal nahm London beim vierten Läuten ab. »Räuber«, sagte Bond. »Dritter Tag.« »Krallhund«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Wiederhole. Krallhund.« »Bestätigt.« Bond wollte den Hörer gerade wieder auflegen, als die ferne Stimme fragte: »Ist alles in Ordnung?« »Wie mir gesagt wurde, ja.« »Bestätigt«, und die Verbindung war tot. Alles ganz clever. Und dieses Mal war der Kode sehr der Lage angepaßt. Wieder gingen ihm Dantes Zeilen durch den Kopf: Katzenbuckel, Scharlachhahn, Hundsfratz, Drachennase! Sudelschnauzbart führe sie, Zehne sollen’s sein! Krallhund, Schlappschwing, Borstenvieh, Fliegaas, Hakenschwein! »Wollen Sie von mir ein Okay?« Toby richtete seine Krawatte in einem Wandspiegel, der teilweise mit dem Titelblatt des TimeMagazins überdruckt war. »Wäre sehr nett von Ihnen, Toby.« Lellenberg schenkte ihm kurz einen anzüglichen Blick. »Sind wohl 274
witzig, Sohn, was?« »Jau.« »Gut«, grinste er. »Heute setze ich mein Geld auf Krallhund.« »Gewonnen«, lachte Bond, und sie verließen gemeinsam das Büro. Die Party fand in einem großen Raum in der Baracke für die höheren Ränge statt, der offensichtlich als Offiziersmesse diente. Er war mit diesem Zeug dekoriert, das man in Läden der Vereinigten Staaten für ein kleines Vermögen bekam, darunter solche Sprüche wie Hier weihnachtet’s oder Wir sind Weihnachten. Das alles sah nett und sehr unwirklich aus. Prächtige Engel hielten unbekannte Blasinstrumente an ihre Lippen und saßen auf Bäumen, die von Schnee troffen. Berge von Geschenken waren unter dem größten und zauberhaftesten Baum aufgehäuft, an dem »viktorianischer« Baumschmuck hing und der mit elektrischen Lichtern versehen war, die wie richtige Kerzen flackerten. Clover Pennington war die einzige Frau in der Runde, und als sie Bond sah, löste sie sich von einer Handvoll junger Offiziere und kam zu ihm herüber. Sie trug ein knappes schwarzes Kleid, das wahrscheinlich von Mark und Spencer stammte, aber zwischen all den Anzügen recht gut aussah. »Verzeihen Sie, Sir«, sagte sie und küßte ihn ein wenig heftig direkt auf die Lippen. »Es ist erlaubt.« Sie zeigte auf den Mistelzweig, der über ihm baumelte. »Sie werden heute abend bezahlten Dienst tun, First Officer Pennington.« Bond lächelte, bückte sich aber nicht. »Krallhund«, sagte sie ruhig. »Korrekt. Krallhund.« »Man hat mich zum Abendessen neben Sie plaziert, Sir. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« »Solange wir nicht übers Geschäft reden.« Sie nickte, biß sich auf die Lippe, und sie gingen gemeinsam zu den anderen. Beim Essen sprach er nicht viel. Im Laufe seines Lebens hatte James Bond an die vierhundert Methoden zu töten gelernt – vierhundertunddrei, wenn man Pistole, Messer und Henkerseil mitrechnete. Er war auch au fait mit der Kunst der Fälschungen – konnte sich mit den nötigen Dokumenten versorgen, um in einem fremden Land zu über275
leben. Nun überlegte er, an wi e viele Arten von vorgetäuschtem Tod er sich erinnern konnte. Sterben daheim oder im Ausland, aber nicht um wirklich zu sterben. Allein oder in aller Öffentlichkeit. Er bekam etwa zwanzig zusammen, wenngleich er unsicher war, ob er jetzt die einundzwanzigste Möglichkeit wußte. Oder war das nur Wunschdenken? Das Dinner war ausgezeichnet, aber Bond achtete auf seine n Alkoholkonsum, obwohl andere das nicht taten. Julian Farsee hielt sich zurück, wogegen ein oder zwei andere aus dem Team rüpelhaft wurden. Zwei schwere, arg mitgenommene Männer hatten sogar eine Auseinandersetzung, die fast zu einer Schlägerei führte, bis Toby Lellenberg eingriff, wobei seine lässige Stimme sich plötzlich wie ein Peitschenschlag anhörte. »Ganz wie Weihnachten daheim«, sagte Bond ohne zu lächeln zu Clover. »Bleiben Sie eigentlich lange hier?« »Ich breche am Einunddreißigsten auf, um das Wren-Kom-mando vorzubereiten.« »Zurück nach RNAS Yeovilton?« Sie nickte. »Ich dachte, dies sei ein Abend, bei dem’s nicht ums Geschäft geht.« Dann, ganz plötzlich: »Können wir unseren Streit nicht beilegen, Sir? Irgendwie von vorn anfangen… James? Bitte.« »Vielleicht, wenn alles vorbei ist. Aber jetzt noch nicht. Erst wenn das ausgeräumt ist. Sie wissen schon, was.« Sie nickte und sah kläglich aus, wenngleich nicht so kläglich wie einige der Gesichter, die Bond am nächsten Morgen sah. Sie verrieten, daß die Feier lange gedauert hatte. Julian kam fröhlich während des Frühstücks zu ihm herüber und sagte, es wäre nett, wenn er um halb elf in Suite Nummer drei sein könne. »Die Befragung«, erklärte er. So traf sich Bond Punkt halb elf mit den beiden amerikanischen Offizieren – Mac und Walter – und dem Mann aus seinem eigenen Service, Draycott, der nicht ganz seinen Vorstellungen entsprach. Die Befragung war außergewöhnlich gründlich. Weit mehr, als er erwartet hatte. Walter war ältlich, hatte aber die Angewohnheit, mit Nebenfragen abzuschweifen, die damit endeten, daß sie plötzlich sehr bohrend wurden. Mac, der, wie Toby angekündigt hatte, »wie ein Hydrant gebaut war«, hatte eines dieser Gesichter, die permanent 276
unbeteiligt blieben. Obwohl er viel lächelte, blieben Gesicht und Augen ausdruckslos und, was eher unangenehm war, unmöglich zu durchschauen. Mac neigte dazu, kurz Ergänzungsfragen einzuwerfen, wodurch Bonds Aussagen komplettiert wurden, wie sich ergab. Von Draycott konnte man sich ebenfalls täuschen lassen. Er war von der Art der legendären Detektive: Ein Mann, der sehr durchschnittlich aussah und den Eindruck erweckte, als lebe er lieber irgendwo auf dem Land. Er rauchte Pfeife, die er sehr wirkungsvoll einsetzte – um Pausen einzulegen, wenn er damit herumfummelte oder um eine Frage zu unterteilen, wenn er rauchte. Sie fingen mit Bond ganz «n vorn an, erzählten ihm von der Deckmantel-Theorie der Operation, damit er genau wußte, daß sie selbst sehr gut informiert waren. Am fünften Tag spazierte das Trio hinaus mit dem Wissen um praktisch jede Sekunde, die Bond auf Ischia verbracht hatte – einschließlich aller Ungezogenheiten. Als die Befragung beendet war, blieben seine drei Verhörer einfach verschwunden. Zumindest bekam Bond sie nicht wieder zu sehen. Am 31. Dezember kam Clover in sein Quartier, um zu verkünden, daß sie abreise. Er hielt sie nicht lange auf, obwohl sie noch bleiben wollte. »Wir sehen uns dann an Bord«, waren seine letzten, scharfen Worte, und er glaubte, Clovers Augen seien feucht . Entweder war es ihr sehr ernst, oder sie war eine hervorragende Schauspielerin. Zwei Tage später war Bond an der Reihe. Toby zeigte ihm M’s letzte Nachricht, und er wiederholte den Inhalt so, daß Northangers kommandierender Offizier zufrieden war. Sie brachten ihn in dem alten Hubschrauber nach Rom, wo er zum Alitalia-Schalter ging. Dort wurde er mit Tickets ve rsorgt und bekam seinen Gepäckschein. Der Flug von Rom nach Stockholm verlief ereignislos. Er mußte eine Stunde auf den Militärtransporter warten, der ihn zu der westdeutschen Marinebasis bei Bremerhaven brachte, wo er für eine Nacht blieb. Am Morgen des 3. Januar ging James Bond in Uniform an Bord eines Sea King Hubschraubers, der ihn zur Invincible und deren Begleitschiffen hinausflog, die etwa zwanzig Meilen vo r der Küste lagen. In der folgenden Nacht waren sie hundert Meilen weiter tief in der Nordsee, kreuzten langsam und warteten darauf, daß die Befehle geöffnet 277
wurden, mit denen die Operation Landsea beginnen sollte. Binnen vier Stunden nach Bonds Abreise wurde das Personal von Northanger in unauffällige Busse verfrachtet. Julian Farsee, de r mit gelboliver Hose und einem an Schultern und Ellenbogen verstärkten Militärsweater bekleidet war, ging, ohne anzuklopfen, in das Büro des kommandierenden Offiziers. Der CO stopfte Dokumente in einen Aktenvernichter und drehte sich nicht einmal zu seinem Stellvertreter um, als der sich auf den Schreibtisch setzte. »Nun? Meinen Sie, die haben’s geschluckt?« fragte Ali AI Adwan, wie Farsee in Wirklichkeit hieß. In der Hierarchie von BAS T war Adwan die »Schlange« von Bassam Baradjs »Viper«. »Natürlich. Wir sind mit allen Eingangssendungen fertig geworden. Niemand hat etwas in Frage gestellt.« Adwan blickte finster. »Bis auf mich. Ich stelle Ihre Bewe rtung in Frage.« Baradj lächelte und schob weiteres Papier in den Reißwolf. »Ja? Ich dachte mir schon, daß Sie unglücklich seien, obwohl Sie Ihre Rolle perfekt gespielt haben. Was macht Ihnen denn wirklich Sogen, Ali?« »Sie wissen, was mich beunruhigte. Bond hätte getötet werden sollen. Hier, auf der Stelle, als wir ihn hatten. Weshalb wurde er überhaupt hierher gebracht, wenn nicht, um ihn zu töten?« »Wir haben bereits zwei Anschläge auf Bond verübt, die scheiterten. Der erste war eines dieser Dinge, die einfach falsch laufen – die falsche Rakete, die Tatsache, daß Bond offensichtlich ein guter Pilot ist.« Er zuckte die Schultern und wirkte etwas unglücklich. »Dann, Ali, haben wir es wieder versucht, und das war eine Katastrophe. Wir wollten Bond und töteten…« Dieses Mal kniff er seine Lippen zusammen, als sei er schon bei dem Gedanken daran sehr erregt. Er schüttelte das ab und sprach wieder: »Ich habe die Entscheidung getroffen, Ali. Keine weiteren Mordanschläge mehr, bis wir unseren eigentlichen Zielen nähergekommen sind. Dann wird es viele Mö glichkeiten geben. Nach dem gescheiterten Versuch in Ischia könnte sein plötzlicher Tod sogar die ganze Operation gefährden. Vielleicht hätten die alles abgeblasen.« »Aber warum dann Leute wie ihn überhaupt hierher bringen?« Baradj lächelte geduldig. »Es war nötig. Nach Ischia hätten sie ihn 278
ohnehin hierher gebracht. Sie wollten ihn unter Aufsicht und eingesperrt haben. Wir wollen, daß er selbstsicher ist, so daß der Schlag völlig unerwartet kommen wird. Das war ausgezeichnete Psychologie. Und wir hatten eine Chance, ihn kennenzulernen. Meinen Sie nicht, daß Sie den Mann jetzt besser kennen?« »Ich weiß, daß er gefährlich ist, aber ja. Ja, ich glaube, ich kenne ihn jetzt. Aber haben wir wirklich alle getäuscht?« »Alle, die getäuscht werden mußten, wurden getäuscht. Niemand von einer anderen Basis oder aus London hat zu erkennen gegeben, daß man besorgt war. Die reguläre Mannschaft wird morgen früh aus ihrem erzwungenen Schlaf erwachen, und ich denke nicht, daß die über den eigenartigen Zeitverlust nachdenken werden, dem sie alle aisgesetzt waren. Sie werden schließlich feststellen, daß ihnen merkwürdigerweise Weihnachten und die Woche danach fehlen, aber Hamariks Hypnose sollte diese Tatsachen für eine Woche, vielleicht sogar für zehn Tage blockieren. Und dann, mein Freund, werden wir die Supermächte, die Vereinigten Staaten von Amerika und Rußland, zusammen mit dem Vereinigten Königreich in die Knie gezwungen haben, und sie werden um Gnade betteln.« Adwan, dessen ledernes Gesicht jetzt dunkler zu sein schien, lächelte und nickte. Sein Verhalten änderte sich. »Ja, Sie haben recht. Am Ende werden wir alle Ihnen für sehr viel zu danken haben. Bassam.« »Was ist Geld, verglichen mit dem?« »Ah, aber Sie haben bewiesen, daß Sie auch ein guter Schauspieler sind.« Bassam Baradj kicherte. »Sie selbst waren sehr überzeugend.« Ein Lächeln überzog auch Adwans Gesicht. »O ja. Ja. Richtig«, sagte er.
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10. KÖNIGE DER SEE James Bond fühlte das leichte Zittern unter seinen Füßen, und mit ihm kehrte das alte Gefühl zurück. Mit einem großen Schiff auf See zu sein, war mit nichts zu vergleichen – die befohlene Routine, der Gedanke, Männer um sich zu haben, die ruhig als eingespieltes Team arbeiteten, selbst in einer Krise. Auf Bond drang all dies wieder in einem warmen Schauer von Nostalgie ein. Ja, es war schon wegen dieses besonderen Gefühls gut, auf diesem Schiff Dienst zu tun. HMS Invincible hatte ein relativ neues Kapitel in der Geschichte der Royal Navy eingeleitet. In gewisser Hinsicht war sie bereits eine Legende geworden. Sicherlich war sie aber das erste Schiff ihrer Art gewesen. Von ihren 19 500 Tonnen konnte praktisch jede Art von Operation gestartet werden, einschließlich nuklearer Schläge mit den verschieden einsetzbaren Green Parrot-Waffen, die auch von Sea Harriers befördert werden konnten und sich als Anti-U-Boot-Bomben von Sea Kings abwerfen ließen. Die Invincible konnte auch eine Kommandoeinheit für schnelle Angriffe transportieren, und in diesem Augenblick war das 42. Kommando der Royal Marines an Bord. Die Fluggruppe des Schiffes bestand aus zehn Sea Harriers, elf UBoot-Abwehr (ASW) Sea Kings, zwei Elektronik-Abwehr (AEW) Sea Kings und einem Lynx-Hubschrauber, der für U-Boot-Fallen vom Typ Exocet ausgerüstet war. Die Invincible war ein Vollschiff, wenngleich weder offiziell noch technisch nicht einmal als Flugzeugträger klassifiziert, denn eigentlich war sie ein Kreuzer mit durchgehenden Decks (TDC). 1966 hatte die britische Regierang ein neues Bauprogramm gestrichen, durch das die Royal Navy eine Reihe konventioneller Flugzeugträger für Starrflügelflugzeuge bekommen sollte. Im folgenden Jahr wurde ein neues Programm realisiert. Es bestand aus leichten Kreuzern, die Einsatzmöglichkeiten für eine Reihe von Hubschraubern boten. Politisch war das hochbrisant, vor allem wegen der Kosten und der Kürzungen im Verteidigungsetat, aber der Erfolg der V/STOLHarrier änderte das alles dramatisch. Wieder wurden Pläne umgeworfen, obwohl die Politiker sich immer noch an den Namen TDC im Gegensatz zum Flugzeugträger klam280
merten. Drei solcher Schiffe bewilligte man, und der Erfolg und die Lektionen, die man während des Falklandkrieges gelernt hatte, führten dann zu weiteren Veränderungen. Die Übung Operation Landsea ‘89 bot erstmals Gelegenheit, nach all den kostspieligen Umbauten zu zeigen, was die Invincible konnte. Dazu gehörten neue Bewaffnung, Elektronik, Kommunikationsmittel und die 12 Grad-Skirampe, die die ursprüngliche 7 Grad-Rampe ersetzt hatte. Das Prinzip der »durchgehenden Decks« blieb, da sich praktisch die gesamte Ausrüstung des Schiffes unter Deck befand, abgesehen von den Anlagen in dem langen, fast konventionellen Aufbau, der über die Mitte der Steuerbordseite führte, mehr als die Hälfte des 677 Fuß langen Hauptdecks einnahm und von großen Antennen, Radarschüsseln und anderen kuppeiförmigen Ortungsgeräten strotzte. Die meisten der für diesen Aufbau erforderlichen Informationen erhielt man aus elektronischen Geräten, die tief unter dem Flugdeck verborgen waren. Die Invincible und ihre Schwesterschiffe Illustrious und Ark Royal wurden von vier mächtigen Rolls-Royce- TM3B Doppelgasturbinen angetrieben, die nach dem Modularprinzip entwi ckelt worden waren, wodurch Wartung und Reparatur erleichtert wurden. Die Invincible, die Illustrious und die Ark Royal waren ganz einfach die größten gasturbinengetriebenen Schiffe der Welt. Wieder spürte er das leichte Zittern und Beben unter seinen Füßen. Bond setzte sich auf seine Pritsche, nahm die Browning heraus und begann sie zu reinigen. Abgesehen von der Royal Marine Abteilung an Bord war er der einzige Offizier, der eine persönliche Handfeuerwaffe führte. Dennoch war er sich der Tatsache bewußt, daß zwei bewaffnete Marineinfanteristen nur wenige Meter von seiner Kabine entfernt auf der Backbordseite stationiert waren, um die Kabinenreihe zu bewachen, in denen die hochrangigen wichtigen Persönlichkeiten wohnen würden. Zum Teil waren die Kabinen bereits von der WrenAbteilung belegt worden. Als er sich setzte, war das verräterische Klicken zu hören, das alle seefahrenden Angehörigen der Royal Navy kennen. Es war das Tannoy-System, über das entweder einer der vi elen Routinebefehle oder Signalrufe gesendet wurden, die ähnlich wie die religiösen »Stunden« in einem Kloster die Zeit verkündeten. Aber dies war keine normale Nachricht. »Achtung! Ac htung! Hier 281
spricht der Kapitän.« Bond wußte, daß im ganzen Schiff sämtliche Dienstgrade jede Arbeit bis auf die wichtigsten einstellen würden, um zuzuhören. »Wie Sie alle wissen«, fuhr der Kapitän – Konteradmiral Sir John Walmsley – fort, »wird das Land-, See- und Luftmanöver mit der Bezeichnung Operation Landsea ‘89 um 23.59 Uhr beginnen. Sie werden für dieses Manöver bereits von Ihren Divisionskommandeuren eingewiesen worden sein und wissen also, daß es keine normale Übung wie Ocean Safari ist. Ich möchte Sie daran erinnern, daß wir ab 23.59 Uhr unter Kriegs- und Gefechtsbedingungen operieren, abgesehen natürlich davon, daß wir keine Geschütze benutzen. Diese Nachricht wird an alle anderen Schiffe weitergegeben, die zur Einsatzgruppe Kiew gehören. Jedes Schiff wird exakt um 23.59 Uhr verdunkelt. Sie sind sich auch darüber im klaren, daß wir heute abend drei hohe Offiziere und ihre Stabe in Empfang nehmen. Im Stabspersonal werden Frauen vertreten sein, und in diesem Augenblick befindet sich bereits eine Abteilung Wrens an Bord. Ich habe keinen Grand zu wiederholen, was Ehre Divisionsoffiziere Ihnen bereits gesagt haben werden, tue das aber dennoch: Kontaktaufnahme mit den weiblichen Offizieren und Mannschaften an Bord, abgesehen von normalen und üblichen Pflichten, ist strikt verboten. Jeder, der das versucht oder sich tatsächlich entsprechend verhält, hat mit der härtesten Bestrafung zu rechnen. Abgesehen davon…« Eine lange Pause entstand – der Konteradmiral hatte einen eigenartige n Humor: »Viel Glück Ihnen allen.« Bond lächelte in sich hinein. Die ganze Botschaft war gelinde gesagt untertrieben, da dies gewiß eine völlig andere Art vo n Übung war, wenn auch nur hinsichtlich der seltsamen Mischung, was die Rote Seite und die Blaue Seite anbelangte. Um eine »Kriegsvernebelung« zu erzeugen, die noch intensiver als gewöhnlich war, blieben einige Einheiten der NATO-Streitkräfte, was sie tatsächlich waren. Andere hingegen wurden in Rot und Blau aufgeteilt. Diese Einsatzgruppe beispielsweise bestand aus Schiffen der Royal Navy, war aber Rot, wogegen andere Schiffe, vor allem U-Boote der Royal Navy, Blau waren. Bond hatte seine versiegelten Befehle bereits gelesen, nachdem er an Bord gekommen war, und hatte Walmsleys Einsatzbesprechung mit dem Stab beigewohnt. 282
Die Einsatzbesprechung bestand aus drei Teilen. Politische Lage, gegenwärtige strategische Lage zu Beginn von Landsea ‘89 und Ziele aller beteiligten Gruppen, wobei der besondere Schwerpunkt auf ihrer eigenen, starken Einsatzgruppe Kiew lag. Das fiktive Drehbuch war scharfsinnig und umfangreich: Kurz vor Weihnachten hatte es einen Militärputsch gegeben, mit dem Generalsekretär Gorbatschow in der UdSSR gestürzt werden sollte. Dieses Unternehmen unter Führung hochrangiger Offiziere der russischen Armee, Marine und Luftwaffe, unter Mitwi rkung einiger ehrgeiziger Mitglieder des Politbüros – die alle von Gorbatschows Glasnost enttäuscht waren – war zwar mißlungen, aber keineswegs ein völliger Fehlschlag gewesen. Die Masse der Militärkräfte blieb Anti-Gorbatschow eingestellt und drohte jetzt, ihre eigenen Ansichten zu demonstrieren, indem NATOStreitkräfte in eine Reihe taktischer Operationen verwickelt wurden, die zeigen sollten, daß Russen ebensogut mit Säbeln rasseln konnten wie jeder andere auch. Die UdSSR stand, wie Gorbatschow von Anfang an gewußt hatte, vor einem gewaltigen, möglicherweise katastrophalen finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch. Gorbatschow hatte ein offeneres Regierangssystem eingeführt, das seine Bettel-Diplomatie unterstützen sollte. Das Militär und Angehörige des Regimes, die den Falken zuzurechnen waren, blieben bei de m Standpunkt, daß man nur verhandeln konnte, wenn man Macht hatte. Für sie war Glasnost die verwässerte Version einer großen politischen Ideologie. Die UdSSR mußte Stärke zeigen, denn, so argumentierten sie, der einzige Weg, Hilfe von der konsumorientierten Klassengesellschaft des Westens zu bekommen, war der, Stärke und Können zu beweisen. Sie wollten dem Westen drohen – ihn erpressen, um Hilfe zu bekommen. In dieser Nacht würden Einheiten der Roten Seite – sie stellten sowjetische Streitkräfte dar – nach Westen vorrücken und verdeckte militärische Operationen gegen NATO-Basen in ganz Europa beginnen. Diese Aktionen würden sorgfältig begrenzt und kontrolliert sein. In Wirklichkeit würden die Trappen Angehörige der United States Tenth Special Forces Group (Airborne) und zwei Einheiten der Delta Force sein – wobei jede Einheit aus vier Viermannabteilungen bestand. Diese Wahl war nicht willkürlich getroffen worden, da die 283
Einheiten gewisse Ähnlichkeiten mit den sowjetischen Luftlandetruppen aufwiesen, die nicht direkt unter das Kommando der Roten Armee fielen, sondern zu den bestens ausgebildeten Spetsnaz (Sondereinsatzgruppen) gehörten, die direkt dem GRU (dem elitären Militärgeheimdienst) unterstanden. Einrichtungen der US Air Force innerhalb der NATO-Grenzen konnten der Roten Seite Luftunterstützung bieten, falls die Di nge außer Kontrolle gerieten, obwohl keine USAD Basen im Vereinigten Königreich benutzt wurden. Die Royal Air Force und die übrigen britischen und amerikanischen Streitkräfte in Europa würden die Rollen spielen, die sie in Wirklichkeit innehatten, ebenso die amerikanischen Marinestreitkräfte. Sie wü rden die Blaue Seite sein – die Guten – wohingegen das britische 2nd Parachute Regiment, der Special Air Service und das 42. Kommando zusammen mit der Einsatzgruppe Kiew die Rote Seite darstellen sollten – die Bösen. Um 23.59 Uhr – ein Euphemismus der Marine für Mitternacht – würde die Einsatzgruppe Kiew annähernd fünfzehn Meilen von der belgischen Küste entfernt nach Westen laufen. Die Einsatzgruppe bestand aus dem Flaggschiff, der Invincible, sechs Zerstörern vom Typ 42 und vier Fregatten vom Typ 21. Sie würden bei Übungsbeginn feststellen, daß sie seit Verlassen ihrer russischen Basen beschattet worden waren – von ihren Hauptgegnern, die ihre eigenen Royal Navy-Kollegen waren – den U-BootEinheiten. Also würde Einsatzgruppe Kiew gezwungen sein, schnellstens durch den engen Ärmelkanal zu fahren, dann um die Bucht von Biskaya und weiter nach Gibraltar, wo das 42. Kommando landen sollte, um das Mittelmeer abzuriegeln. All dies war ein kalkuliertes Risiko. Die Rote Seite glaubte nicht, daß die westlichen Streitkräfte überhastet reagieren und damit die Krise eskalieren würde. Abschließendes Ziel beider Seiten war es, zu einem erfolgreichen Ende der Feindseligkeiten zu kommen und dafür zu sorgen, daß die Aktionen lediglich eine taktische Demonstration von Macht und Kleinkrieg blieben. Erstmals waren Politiker der NATO-Streitkräfte aufgerufen, tatsächliche politische Entscheidungen zu treffen. Der ideale Ausgang würde der Rückzug aller sowjetischen Einheiten sein und der Gang zum Verhandlungstisch, wo sich Gorbatschows Zukunft – und damit die Zukunft der Sowjetunion – entscheiden sollte. 284
Das Drehbuch war geschickt und interessant, abgesehen vo n einem Aspekt. Bond und einige der Geheimdienstchefs wußten bereits, daß das Spiel mit echten Einheiten von Armee, Luftwaffe und Marine auf so realistische Weise eine Ve rsuchung für Terrororganisationen war, zuzuschlagen. BAST war zu einer speziellen Aktion gegen die Invincible bereit, und das war für 007 keine Überraschung, wenn er daran dachte, wer schließlich an Bord des Schiffes sein würde – denn dies war das größte aller Geheimnisse, die letzte Schachtel eines chinesischen Schachtelpuzzles. Dieses größte Geheimnis von Landsea ‘89 trug den Kodenamen Stewards Treffen, und dies war der wahre Grand dafür, warum Bond an Bord der Invincible für die Sicherheit verantwortlich war. Seine Scharmützel mit BAST hatten bereits bewiesen, daß es sich um eine rücksichtslose und entschlossene Organisation handelte. Aber niemand kannte ihre Größe, ihre tatsächliche Effektivität in einer kritischen Situation und die eigentlichen Ziele ihres möglichen Angriffs auf die Invincible. Bassam Baradj, unlängst noch in der Maske des glatten Toby Lellenberg, Stationschef von Northanger, war die einzige Person, die Bond oder sonstwem die Wahrheit über BAST hätte erzählen können – über ihre Stärke und ganz besonders über ihre wahren Ziele. Baradj entsprach dem, was in vielen Dossiers über ihn stand – und sie alle besagten das gleiche: ungeheurer Reichtum, ehemals enger Freund von Arafat, Ex-Mitglied der PLO. Keine Fotos. Konnte in den letzten zwanzig Jahren in keine Verbindung mit irgendwelchen bekannten Terroristenorganisationen gebracht werden. In der Tat war dies das Gesamtbild des Mannes, abgesehen von den unterschiedlichen Beschreibungen, die aus unterschiedlichen Quellen stammten. Er war tatsächlich, wie man vermutete, die Viper von BAST, auf deren Rücken die Schlange, der Mann und die Katze ritten. Wäre es möglich gewesen, einen oder alle drei zu befragen, hätte jeder etwas unterschiedliche Antworten auf die Fragen gegeben: Was ist BAST? Was sind die wahren Ziele dieser Organisation? Nur der kleine schlanke Mann namens Bassam Baradj hätte die korrekte Antwort geben können. Allerdings war es unwahrscheinlich, daß er das tun würde, Die Antwort auf alle Fragen lautete ganz einfach: Bassam Baradj und Bassam Baradj. Er war BAST, und er war deren wahres Ziel. 285
Es traf nicht ganz zu, daß von Bassam Baradj keinerlei Fotos zur Verfügung standen. Tatsächlich gab es mehrere. Das New York Police Department hatte einige, ebenso das Los Angeles Police Department, und in Seattle, Washington, New Orleans, Paris und Scotland Yard in London lagen welche vor. Die meisten waren unter B abgelegt – B für Betrag. Und sie waren mit verschiedenen Namen versehen: Bennie Benjamin alias Ben Brostow, Vince Phillips und Conrad Decca. Und das waren nur einige der Namen in den Akten des NYPD. Im Lauf der letzten zwanzig Jahre harte sich Baradj einen gewissen Ruf erworben, aber in vielen verschiedenen Masken und bei unterschiedlichen Gelegenheiten. Bassam Baradj war schlicht als Robert Besavitsky im alten Slumgebiet von New York geboren worden. Sein Vater, Roman Besavitsky, stammte von Einwanderern teils russischer, teils rumänischer Herkunft ab und hatte durch seinen Ururgroßvater mütterlicherseits einen seltsamen Schuß schottischen Blutes. Eva Besavitsky, Roberts Mutter, war eine ähnliche Mischung: teils irisch, teils französisch, dazu an Hauch arabisch – was man wegen ihres Mädchennamens keineswegs vermutet hätte, der Evangeline Shottwood lautete. Robert Besavitsky war also das Produkt eines halben Dutzends anderer Bastarde und kam als solcher mit zwei Talenten auf die Welt: mit Ehrgeiz und der Fähigkeit zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt zum Handeln gekommen war. Als Heranwachsender war Robert mit zehn Jahren schon sehr clever. Die Straße hatte dazu beigetragen. Mit vierzehn wußte er genau, was man brauchte, um in dieser Welt überleben zu können – Geld, denn Geld war der direkte Weg zur Macht. Wenn er Geld machen konnte, würde die Macht von selbst kommen. Also machte er im Alter von einundzwanzig seine erste Million. Es begann mit dem eher zufälligen Fund einer automatischen Pistole, die in einer Hintergasse nahe der Mullberry Street im Italienerviertel in einem Mülleime r steckte. Es war eine Luger, und ihr Magazin war bis auf eine Patrone voll. Vierundzwanzig Stunden nachdem er die Waffe gefunden hatte, hatte Robert bereits vier schnelle Überfälle auf Schnapsläden verübt, die ihm sechshundert Dollar einbrachten. Am folgenden Tag verkaufte er die Waffe für weitere hundert Dollar. Dann gab er das Geld sehr klug aus. Er kaufte Kleidung: Zwei gute 286
Anzüge, vier Hemden, drei Krawatten, Unterwäsche und zwei Paar Schuhe. Während er seinen Einkaufsbummel machte, erstand er auch ein silbernes Zigarettenetui und ein Feuerzeug, einen schweinsledernen Aktenkoffer und eine dazu passende Brieftasche. Hundertfünfzig Dollar blieben noch übrig. Fünfzig davon steckte er in die Tasche, mit den restlichen hundert eröffnete er sein erstes Bankkonto. Was darauf folgte, wäre Stoff für eine Legende geworden, wenn die Bullen und die Bundesagenten es je fertig gebracht hätten, ihn mit all den Betrügereien in Ve rbindung zu bringen, von denen einige nicht einfach Betrügereien, sondern ausgesprochene Kapitalverbrechen waren. Während der beiden letzten Jahrzehnte war Robert unter verschiedenen Namen zweimal verheiratet gewesen. Beide Frauen waren überaus wohlhabend, und beide starben offensichtlich im ersten Jahr der Ehe durch Unfälle. Die erste war eine Witwe. Robert war es gelungen, sich unter dem Namen William Deeds bei einem Börsenmakler namens Finestone einzuschmeicheln. Jerry Finestone kannte alle Tricks des Börsengeschäfts und fand Gefallen an dem jungen Bill Deeds, der sich als gelehriger Schüler erwies. Nach sechs Monaten spazierte der arme alte Jerry in eine n Fahrstuhl, der nicht da war, sondern sich dreißig Etagen tiefer befand. Später erfuhr der Leichenbeschauer, daß es einen Kurzschluß gegeben habe, durch den die Türen offen geblieben waren. Es war reiner Zufall, daß Robert oder Bill, oder wie man ihn sonst nennen mochte, nebenbei Experte in Sachen Elektrik war, aber wer konnte das wissen? Der arme alte Jerry hinterließ seiner Witwe Ruth dreieinhalb Millionen. Sie heiratete nach einer angemessenen Periode der Trauer Bill Deeds. Unglücklicherweise folgte sie ihrem ersten Gatten binnen eines Jahres: Eine häßliche Geschichte, die mit einem Cadillac und einer nicht gesperrten Straße zusammenhing, die zu einem Steilhang führte. Die Baufirma, die schwor, daß diese Sackgasse abgesichert worden war, verlor den Prozeß, bei dem Bill Deeds sie auf eineinviertel Millionen verklagt hatte. Nachdem dies erledigt war, zog Bill Deeds weiter – nach Los Angeles. Dort ließ er das Geld für sich arbeiten und heiratete einen Filmstar. Zu der Zeit hatte er sich den Namen Vince Phillips zugelegt. Der Filmstar war berühmt, und die Schlagzeilen waren folglich riesig, als man sie nach einem Unfall – sie hatte einen Stromschlag bekommen – 287
tot in ihrem Haus an der Bucht vo n Malibu fand. Weitere anderthalb Millionen gingen an Vince Phillips, ehemals Bill Deeds, in Wirklichkeit Robert Besavitsky. Zwei Treffer in diesem Spiel genügten. Robert wechselte vo n da an jährlich seinen Namen und war in mehrere Dutzend Aktienbetrügereien verwickelt – daher die Namensänderungen –, bevor er sich dem Kaufen und Verkaufen zuwandte. Er verkaufte alles, solange er billig einkaufen und mit Profit verkaufen konnte, und er stellte nie Fragen nach der Herkunft der Dinge, die er erstand. Auf diese Weise wurde er ein guter Freund von Yasser Arafat und schließlich Mitglied der PLO. Zu dieser Zeit benötigte die PLO regelmäßige Waffenlieferungen, und wie sich herausstellte, war Bennie Benjamin alias Robert Besavitsky eng mit einem skrupellosen Oberquartiermeister eine s Infanterieregiments befreundet. So kam Bennie an Hunderte vo n Sturmgewehren und automatische Pistolen, dazu Tausende Magazine Munition und vier große Trommeln voll Composition C-4, getarnt als Bohrausrüstung. C-4 besteht zu neunzig Prozent aus RDX, dem stärksten Plastiksprengstoff der Welt, der Rest ist Bindematerial. Heutzutage ist der Sprengstoff unter verschiedene n Namen bekannt, einschließlich dem tschechoslowakischen Klone Semtex. Die gesamten Waffen und der Sprengstoff landeten zu jener Zeit bei der PLO, als die Organisation als Terroristenarmee bezeichnet wurde. Damals erkannte Besavitsky, daß dem Terrorismus möglicherweise die Zukunft gehörte. Er verbrachte einige Zeit bei der PLO und lernte einige Tricks, konzentrierte sich dann wieder aufs Kaufen und Verkaufen – weltweit – unter Dutzenden von Decknamen und handelte mit allem – von gestohlenen Gemälden bis hin zu Autos für Raritäten Sammler. Viele Jahre entzog er sich dem Gesetz. Aber er war kein Narr. Er liebte einen luxuriösen Lebensstil und wußte, daß vielleicht einmal die Zeit kam, wo man ihn fassen würde. Ebenso wie er wußte, daß er mit einem wirklich großen Mord für den Rest seines Lebens ausgesorgt hatte und es sich dann erlauben könnte, sich in ungeheurem Luxus zur Ruhe zu setzen und nie wieder zurückblicken zu müssen. Das war 1985. In diesem Jahr beschloß er, den internationalen Terrorismus für sich arbeiten zu lassen. Es war auch das Jahr, in dem er seinen Namen in Bassam Baradj umänderte, und als Baradj ging er auf 288
der Suche nach Konvertiten auf die Straßen und in die Verstecke Europas und des Mittleren Ostens. Er hatte Verbindungen zu einer ganzen Reihe enttäuschter Terroristen, und die hatten wiederum andere Verbindungen. Baradj hatte immer ein krankhaftes Interesse an Dämonologie gehabt. Jetzt nutzte er die für seinen eigenen Zweck, gründete BAST und zog die drei erfahrensten Leute in sein Netz, die sein Team bilden würden – Saphii Boudai, Ali AI Awan und Abou Hamarik. Er lockte sie mit einem doppelten Köder. Einmal mit dem Plan eines Schlags von ungeheuren Dimensionen gegen die korrupten Supermächte plus das Vereinigte Königreich. Zweitens mit einer riesigen Geldsumme, die natürlich helfen würde, die Sache der wahren Freiheit in aller Welt zu unterstützen. Bruderschaft für Anarchie und Geheimen Terrorismus klang gut, aber Baradj betrachtete diese Bezeichnung nur als ein Mittel zum Zweck, das einen gewissen Personenkreis anziehen würde. Seine drei Leutnante fischten im terroristischen Gewässer, und Ende 1986 hatten sie über vierhundert Männer und Frauen auf ihrer Lohnliste. Die Viper – Baradj – gab ihnen die Befehle. Kein Mitglied von BAST durfte ohne sein Einverständnis an irgendwelchen terroristischen Operationen teilnehmen. Er gab zu mehreren kleine n Bombenanschlägen seinen Segen, nur um den Namen BAST auf die Liste zu bekommen. Aber was den Gesamtplan anbelangte, so gab es nur eine und wirklich nur eine Operation, die er finanzieren würde. Es würde eine gewisse Zeit dauern, bis es soweit war, aber die Zinsen würden enorm sein: Milliarden, vielleicht Billionen Dollar. Bassam Baradj, Geizhals, Hehler großen Stils, Käufer und Verkäufer von Ungewöhnlichem, verbrachte die nächsten Jahre da mit, Informationen zu sammeln, mit denen er den Plan vorbereiten konnte, den er auf internationaler Bühne ausführen wollte. Wenn das vorüber war, konnte BAST verschwinden. Das war ihm völlig egal. Denn Baradj hatte die Absicht, den Gewinn zu nehmen und zu verschwi nden, seinen Namen zu ändern, seine Papiere und möglicherwe ise sein Gesicht – mit etwas Hilfe eines Plastikchirurgen. Jetzt war er dem heikelsten Punkt seiner Operation nahe, denn er allein – abgesehen von dem winzigen Kreis von Offizieren der Navy und der Geheimdienste – kannte das Geheimnis des sogenannten Ste289
wards-Treffens. Neben dem Gimpel von Maat, den seine Männer rekrutiert hatten, verfügte Baradj über mindestens zwei Agenten an Bord der Invincible. Einer hatte den entscheidenden Hinweis auf das Stewards-Treffen gegeben, der andere hatte Leute, die gehorchen würden, sobald der Plan lief. Wenn die Uhr für seine Operation erst einmal zu ticken begann, würde die ganze Geschichte nur achtundvierzig Stunden dauern, allenfalls sechzig, wie Baradj rechnete, da die Supermächte sehr schnell nachgeben würden. Danach würde Baradj durch die Hintertür verschwinden, und BAST würde ohne einen Penny dastehen, Nachdem Baradj Northanger verlassen hatte, war er für ein paar Tage nach Rom gereist. Von Rom flog er über London als TransferPassagier nach Gibraltar. Dort wartete Abou Hamarik im Rock Hotel auf ihn, dem Zuhause für Briten, die nicht zu Hause sind. Dieses eine Mal wechselten die beiden Männer das BAST-Kennwort »Gesundheit hängt von Stärke ab« nicht – ein Kennwort, das von allen BASTMitgliedern sehr ernst genomme n wurde. Nur Baradj hielt es für Geschwafel, und deshalb kümmerte er sich auch nicht dämm, daß es einer der winzigen Hinweise war, die zu den Geheim- und Sicherheitsdiensten weltweit durchgesickert waren. Und die nahmen es ebenfalls ernst, sogar so sehr, daß sie Variationen der möglichen Bedeutung analysierten. Dieses Mal aber wurden die Worte aus keinem anderen Grand als Nachlässigkeit nicht gewechselt, und deshalb konnte keiner der Lauschcomputer sie auffangen. Das Auftauchen zweier hochrangiger BAST-Mitglieder in Gibraltar blieb unentdeckt. Hätten sie diese im Grunde unsinnigen Begrüßungsworte ausgetauscht, wären die Dinge möglicherweise ganz anders verlaufen. James Bond sah Clover Pennington zum ersten Male seit ihrem Zusammentreffen an Weihnachten in der Offiziersmesse der Invincible wieder. Gewisse auf See geltende Vorschriften waren geändert worden, um den Wrens und ihrer Befehlshaberin die Arbeit zu erleichtern. Außerdem war First Officer Pennington, wie der bärtige Sir John Walmsley es formulierte, »eine köstliche Zierde für unser Schiff.« Keinem der Offiziere in der Messe entging der etwas laszive Blick des Kapitäns, als er galant Clovers Hand küßte und zögerte, sie loszulassen. 290
Schließlich konnte Clover den hohen Offizieren entkommen und schlenderte zu Bond hinüber, der vor einem Glas Selters saß, da er dem Alkohol bis zum erfolgreichen Abschluß der Operation abgeschworen hatte. Sie wirkte fit, entspannt und sehr reizend in der Hose und der kurzen Jacke, die Wren-Offiziere aus Gründen der Sittsamkeit tragen, wenn sie Dienst im Hafen oder an Bord oder bei Flugzeuginstandsetzung taten. »Geht es Ihnen gut, Sir?« lächelte Clover ihn an, ihre Augen groß und vor Freude strahlend. Sie ließ keinen Zweifel daran, daß sie glücklich war, ihn zu sehen. »Danke, gut, Clover. Bereit für den Kampf?« »Ich hoffe, es wird kein Kampf werden. Ich möchte einfach, daß alles schon vorbei wäre. Abgesehen davon – Sie wissen, daß ich mich Ihnen in allen Geheimhaltungsdingen zu fügen habe.« »So besagen es die Vorschriften. Den Amerikanern und den Russen wurde das auch mitgeteilt, obgleich ich wirklich nicht glaube, daß einer von denen sich irgendwem fügt. Während des ersten Teils gehorchen sie vielleicht, aber wenn’s zum Stewards-Treffen kommt, werden sie von ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten nicht abrücken und mich nicht informieren.« Der Kode Stewards-Treffen war, was die Invincible anbelangte, bisher nur Sir John Walmsley, Clover Pennington, James Bond, den drei besuchenden Admiralen und ihren Leibwächtern bekannt, für die diese Information lebenswichtig war. Auch später, wenn man die entscheidende Phase erreicht hatte, würde der derzeitige Kreis von Eingeweihten kaum erweitert werden. Die Besatzung des ganzen Schiffes würde zwar einiges sehen und manches vermuten, aber nie formell eingeweiht werden. »Wir wissen, wer die Aufpasser sind, Jame… Sir?« Er nickte und bückte sich um, während die Offiziere zum Abendessen hereinkamen. »Unsere Leute sind zwei Jungs, beide Ex-Navy und ehemalige Flaggoffiziere. Die Yankees haben ihre Leibwächter vom Secret Service. Gleich vier. Und die Russen sind sicher vom KGB, insgesamt vier, einschließlich einer Frau, die als Marineattache bezeichnet wird.« »Irgendwelche Namen?« »Ja. Die kann man sich alle nicht merken, abgesehen von der russischen Dame, die Nikola Ratnikow heißt, ein seltsamer Name…« »Ich habe ihn mir bereits gemerkt, Sir.« Clover schenkte ihm ein 291
unschuldiges Lächeln. »Und ich habe das Gefühl, daß es eine lange, harte Nacht werden wird.« Einer der Sea Kings schwebte über dem Backbordbug. Das war während des Flugbetriebes so üblich. Ein Hubschrauber war immer in der Luft, um als Such- und Rettungs-Maschine zu dienen, falls eine Maschine im Bach landete. Von der Flugeinsatzzentrale aus, die sich hoch oben in dem Aufbau befand, der im Fachjargon als »Insel« bezeichnet wurde, konnte Bond die Positionslichter des Hubschraubers blinken sehen, der auf einer Höhe mit dem Schiff voranschwebte. »Da kommen sie.« Der wachhabende Flugoffizier nahm sein Nachtfernglas hoch und suchte den Himmel hinter dem Heck ab. »Unser Mann bringt sie rein.« Man konnte sie mit bloßem Auge sehen – nicht ihre Konturen, aber die Positionslichter der drei Hubschrauber, die in tausend-MeterAbständen von etwa fünfhundert Fuß Höhe bis hin zu tausend Fuß Höhe gestaffelt flogen. »Wahre Herrscher der Lüfte«, kommentierte Bond. Ein junger Offizier kicherte, als der erste Hubschrauber, ebenfalls ein Sea King, hereinkam, aufsetzte und dann, den Anweisungen des Deckoffiziers folgend, weiterrollte. Die zweite Maschine setzte auf das Deck auf. Es war eine große Mil-Mi 14 mit dem weißgrauen Anstrich der sowjetischen Marine (NATO-Kennung Haze), die einen Lärm machte, den man oben auf der Brücke über der Flugeinsatzleitung noch hören konnte. Bond wiederholte seine Zeile »Herrscher der Lüfte« und fügte hinzu: »Ich glaube, daß da wirklich einer seine ganzen Geschwister und Cousinen und seine Tanten mitgebracht hat.« Während die Rotoren zum Stillstand kamen, landete der letzte Hubschrauber eher rollend, da er schon an der Heckschwe lle aufsetzte. Er sah wie eine neue Version der Bell 212 aus und trag amerikanische Hoheitszeichen, hatte aber keine weitere Kennung und keinen NavyAnstrich. Niemand von der Flugleitung hatte je so etwas gesehen. »Ich will diese Hubschrauber schnell von meinem Deck haben«, bellte der Commander den jungen Offizier an, der als Verbindungsmann zum Deckoffizier eingesetzt war. Dann wandte er sich wieder Bond zu: 292
»Wir haben zwei Sea Harriers draußen, voll aufgetankt und mit Gefechtsausrüstung – scharf aufmunitioniert, Sidewinders, 50-mmKanone und all das. Ich weiß nicht, was dahintersteckt, aber der Käpt’n hat die Befehle gegeben. Bereitschaft rund um die Uhr, und sie müssen innerhalb von vier Minuten gegen unbewaffnete Harriers ausgetauscht werden. Verdammt gefährlich, wenn Sie mich fragen.« Die Passagiere verließen die drei Hubschrauber schnell. An jeder Maschine standen ein hoher Offizier, ein Bootsmann und mehrere Mannschaftsdienstgrade bereit: der hohe Offizier zum Salut, der Bootsmann, um dem Admiral Seite zu pfeifen, und die Mannschaften, um das Gepäck zu übernehmen. Großadmiral Sir Geoffrey Gould, Admiral Edwin Gudeon von der United States Navy und Admiral Sergej Jevgennevich Pauker, Oberbefehlshaber der sowjetischen Flotte, waren mit ihren Stäben und Leibwächtern an Bord der Invincible eingetroffen. Eine halbe Stunde später wurde Bond in den Aufenthaltsraum des Kapitäns gebeten. Die drei Admiräle standen in der Mitte de r Kabine, nippten an einem Drink, und Konteradmiral Sir John Walmsley begrüßte Bond mit einem Lächeln, wobei er sich den versammelten hohen Tieren der Royal Navy, der United States Navy und der sowjetischen Marine zuwandte. »Meine Herren, ich möchte Ihnen Captain Bond vorstellen, der für Ihre Sicherheit verantwortlich ist, solange Sie an Bord der Invincible sind. Bond, dies ist Großadmiral Sir Geoffrey Gould.« Bond nahm Achtungsstellung vor dem glatt wirkenden, untadeligen Offizier ein. »Captain Bond«, Gould hatte eine Stimme, die zu seinem Äußeren paßte – er war einer dieser Leute, die immer ordentlich und frisch rasiert aussehen. »Ich bin sicher, daß wir uns alle unter Ihrer Obhut wohl fühlen werden. Außerdem habe ich zwei Flaggoffiziere bei mir, die Erfahrung in diesen Dingen haben…« »Meine Herren, Captain Bond wird mit Ihren persönlichen Begleitern zusammentreffen, sobald ich ihn Ihnen vorgestellt habe«, fiel Walmsley rasch ein. »Ich muß betonen, daß Ihre Leute ihre Befehle direkt von Captain Bond erhalten, solange Sie Gäste auf meinem Flaggschiff sind. Dies ist für Ihr Wohlergehen lebenswichtig und für die Sicherheit derer, die schließlich am Stewards-Treffen teilnehmen werden.« 293
»Sicher, wenn Sie’s so durchziehen wollen. Aber ich habe vier Männer bei mir.« Admiral Gudeons Stimme hatte den unfreundlich knurrenden Tonfall eines streitsüchtigen Mannes, der immer seinen eigenen Weg ging und sich nie irrte. »Ich schätze, die werden sich um mich kümmern können, ohne daß Sie ihnen viel helfen müssen.« Bond wußte nicht, ob der Admiral grob sein wollte oder ob das sein übliches Verhalten war. »Bond?… Bond?« fuhr der Amerikaner fort. »Ich kannte einen Bond in Annapolis. Haben Sie amerikanische Verwandte?« »Ich glaube nicht, Sir. Viele Freunde, aber keine Verwandten – jedenfalls nicht, soweit ich weiß.« Konteradmiral Walmsley bewegte einen Fuß und trat heftig gegen Bonds Knöchel. Aber Gu-deon schien den Witz nicht registriert zu haben. »Und hier«, Walmsley schob Bond weiter, »unser ranghöchster Offizier an Bord. Admiral Sergej Pauker, Oberbefehlshaber der sowjetischen Marine.« »Ist mir eine Ehre, Sir.« Bond sah dem Mann fest in die Augen. Pauker hatte die rosigen Wangen eines Mr. Pickwick, aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Die Augen waren grau und kalt und zeigten keine Emotion. Tote Augen unter eisgrauen Augenbrauen. Er hatte einen kleinen Mund, der sich aber zu einem überraschend freundlichen Lächeln verzog. Abgesehen von den rosigen Wangen war die riesige Adlernase das Auffälligste in diesem Gesicht. »Bond«, er sprach das »Bound« aus. »Ich glaube, Ihren Namen irgendwo schon einmal gehört zu haben. Haben Sie vielleicht in Ihrer Botschaft in Moskau gedient?« Er sprach ein ausgezeichnetes Englisch. »Nicht direkt in der Botschaft, Sir.« Bond schenkte ihm ein fast unmerkliches Lächeln. »Aber Sie sind dort bekannt, denke ich. Ich meine in Mo skau.« »Das würde mich nicht überraschen, Sir.« »Gut, gut.« Der Humor verschwand aus seinem Gesicht, und die Augen wurden starr. Ein Drink wurde ihm nicht angeboten, und Konteradmiral Walmsley nötigte Bond aus dem Raum wie ein Farmer, der ein verirrtes Schaf in einen Transporter treibt. »Die Sicherheitsleute sind in Lage Eins«, flüsterte er. 294
Lage Eins war primär der Lageraum der Fluggruppe an der Backbordseite und befand sich mittschiffs zwei Decks unter den Offiziersquartieren. Er war für eine Stunde geräumt worden, so daß die Sicherheitsteams dort zusammenkommen konnten, und Bond betrat ihn schnell und kam sofort auf den Punkt: »Mein Name ist Bond, James Bond. Captain, Royal Navy«, begann er und hielt dann abrupt inne. Die einzige Frau unter den zehn großen Männern genügte, um jeden und alles zu stoppen. Sie sprach auch vor allen anderen. »Captain Bond – ich bin erster Marineattache von Admiral Pauker. Mein Name ist Nikola Ratnikov. Meine Freunde nennen mich Nikki. Ich hoffe, Sie und ich werden Freunde.« Man konnte die beunruhigende Spannung spüren, die den Raum erfüllte, und es war offensichtlich, daß Nikola Ratnikov ihren anderen Kollegen die kalte Schulter gezeigt hatte, was gelinde ausgedrückt ärgerlich gewesen sein mußte. Genossin Attache Ratnikov hätte selbst beim frömmsten Mönch ein Zwi cken in den Lenden verursacht, und dabei wäre es gleich gewesen, ob dieser Mönch römisch-katholisch, protestantisch, russisch-orthodox oder buddhistisch gewesen wäre. Sie hatte diese unbestimmbare Mischung aus Verhaltensweisen, Gesichtszügen und Körpersprache, die jeden heterosexuellen Mann veranlaßte, zweimal hinzuschauen und möglicherweise auch ein drittes Mal, falls noch Energie übriggeblieben war. Nikki Ratnikov trug die gut geschneiderte Uniform der weiblichen Offiziere der sowjetischen Marine, die normalerweise durchaus nicht schmeichelhaft ist. Doch selbst in Sack und Asche hätte Nikki wie von Dior gekleidet ausgesehen. Als sie sich mit ausgestreckter Hand auf ihn zubewegte, spürte Bond, daß seine Knie leicht zitterten. Sie hatte kurzes, aschblondes Haar, auf eine Art geschnitten, die wohl als Pagenstil bezeichnet wurde. Von seinem Standort aus wirkte es wie ein verführerischer goldener Helm, der ein Gesicht von klassischer Schönheit umrahmte. Es war nicht die Art Gesicht auf das Bond gewöhnlich abfuhr. Er bevorzugte gutes Aussehen mit kleinen Fehlern. Doch Nikkis Augen fesselten seinen Blick fast eine Minute lang, und es dauerte noch länger, bis er ihre Hand losließ. »Hallo, Captain Bond, wir kennen uns schon.« Es war einer der Männer vom Special Branch, der in Leutnantsuniform gekleidet war und die goldenen Litzen eines Flaggoffiziers trug. »Brinkley«, fügte er 295
hinzu. »Ja, natürlich. Ja, ich erinnere mich an Sie. Ted Brinkley, richtig?« »Genau, Sir.« Der Mann vom Special Branch sah aus wie ein Mann vom Special Branch im Kostüm, genau wie sein Partne r Martin – »meine Freunde nennen mich ›Moggy‹« – Camm. Bond machte sich mit den anderen Sicherheitsleuten bekannt. Nur wenige sahen wie die Leute vom Branch kostümiert aus, sie wirkten alle wie ein entschlossenes Team. Die Amerikaner stellten sich selbst als Joe, Stan, Edgar und Bruce vor. Bruce war ein sehr großer schwarzer Offizier mit einem außergewöhnlich knochenbrechenden Händedruck und dem Image, als könne er eine n Panzer mit bloßer Brust aufhalten. Joe und Stan schienen maßgeschneidert zu sein, von der Stange, die Standardausgabe vo n »Kugelfängern«. Edgar – »nennen Sie mich Ed« – war ein anderer Typ: schlank, gemein, angespannt, energiegeladen und mit straffen Muskeln. Er sah, wenngleich angeschlagen, gut aus und hatte das Gesicht eines erfahrenen Mannes. Bond wußte, daß er der Kopf der Truppe war. Die anderen drei Russen waren einfach Iwan, Jewgenij und Gennadij. Drei nette Jungen. Diese Art von netten Jungen, die man in KGBEinrichtungen ein- und ausgehen sah, wo sie sich um ranghohe Offiziere kümmerten. Bond hatte einst ein solches Trio aus einem Gebä ude kommen sehen, nachdem sechs Männer gestorben waren – und keiner von ihnen eines natürlichen Todes. Er versuchte sie alle in eine politische Unterhaltung zu verwickeln, legte einen Plan dar, der auf einer Staffelei präsentiert war und genau zeigte, wo sie entsprechend ihren Verantwortlichkeiten postiert sein würden. Draußen standen drei Bootsmänner mit Karten, aus denen die Einzelheiten der verschiedenen Decks ersichtlich waren und ihre räumliche Angrenzung an jene Teile der Invincible, die für die VIPs und ihre Leibwächter reserviert waren. Bond erklärte ihnen das, ging mit ihnen die Maßnahmen bei Notfällen durch, vergewisserte sich, daß die Russen es verstanden hatten, wünschte ihnen dann eine gute Nacht und begann, sie den Bootsmännern zu übergeben. Eine Hand legte sich leicht auf seinen Ärmel. »Ich denke, Sie bringen mich zu meinem Quartier, Captain Bond?« Nikki stand so dicht neben ihm, daß er den Hauch von Bai de Versailles riechen konnte, der sie einhüllte. 296
»Sie verdienen, glaube ich, eine spezielle Behandlung, Genossin Attache – Nikki.« Sie lächelte ihn strahlend an, und er bemerkte ihre perfekten Zähne und ihren einladenden Mund. »Ja, zufällig sind Sie meinem Quartier recht nahe. Ich muß Sie zwar an eine unserer Offiziersdamen übergeben, die wir an Bord haben, doch es ist ein netter kleiner Spaziergang zu meiner Kabine.« Bond drehte sich um, als er eine Bewegung hinter sich bemerkte. »Es tut mir so leid, daß ich zu spät komme, Sir.« Clover Pennington stand an der Tür, und ihr Gesicht wirkte wie der Zorn Gottes. »Ich habe Anweisungen, die Genossin Attache in ihr Quartier zu geleiten. Ihr die Seilschaft zu zeigen.« »Welche Seilschaft?« Nikkis Stimme klang, als sei sie ehrlich verwirrt. »Das sagt man bei uns an Bord. Es bedeutet, sie will Ihnen das Schiff zeigen. Dies ist First Officer Pennington, Nikki. Sie wird sich um Ihr Wohlergehen kümmern.« »Oh, Captain Bond, ich dachte, Sie würden sich um mich kümmern.« »Aber nicht die Bohne«, murmelte Clover so, daß nur Bond es hören konnte. »Am besten, Sie gehen mit ihr, Nikki. Ist Vorschrift, wirklich. Vielleicht können wir ja später miteinander plaudern.« »Das würde ich auch gerne. Vielleicht in Ihrer Kabine, ja?« Widerwillig ließ sie sich von Clover zur Kajüttreppe führen. Nikki schaute zurück und lächelte einladend. First Officer Pennington blickte starr geradeaus. Bond hatte sich gerade in seine Kabine begeben, als das Schiff Punkt 23.59 Uhr verdunkelt wurde. Zehn Minuten später wurde ihm klar, daß nur wenige Leute viel Schlaf finden wü rden, solange die Übung lief, denn die Hupe begann zu plärren, wä hrend Befehle aus dem Tannoy-System fegten. »Alle Mann auf Gefechtsstation. Alle Schotten dicht.« Kurz darauf verkündete der Kapitän ruhig, daß die Einsatzgruppe die vorgesehene Gefechtsformation eingenommen hatte, die Form eines riesigen Diamanten, während sie mit voller Fahrt in den Kanal einliefen. »Unsere Begleitschiffe melden, daß ein U-Bootsrudel in die 297
Formation einzudringen versucht«, Walmsleys Stimme war ruhig und leidenschaftslos, und Bond stellte sich vor, daß es auch im Ernstfall ebenso sein würde. »Eines unserer Begleitschiffe an der Steuerbordseite ist von einem U-Boot zum Stoppen aufgefordert worden. Ich werde vier Hubschrauber zwecks U-Boot-Suche starten lassen. Wenn die U-Boote auf unsere Gruppe feuern oder sich aggressiv zeigen, werden unsere Hubschrauber zum Suchen-und-Zerstören-Modus übergehen.« Bond streckte sich wieder voll bekleidet auf seiner schmalen Pritsche aus. Es war fast halb zwei morgens, und er konnte noch fünf Minuten liegenbleiben, bevor er seine Leute überprüfte und sich vergewisserte, daß alles in Ordnung war. Dreißig Sekunden später war er auf den Beinen und sprang zur Kabinentür, gegen die heftig geklopft wurde. Ein Royal Marine-Posten stand draußen, fast atemlos. »Captain Bond, Sir, Sie werden dringend gebraucht. Es ist schlimm, Sir. Sehr schlimm…« Er wollte noch mehr hinzufügen, als Clover Pennington hinter dem Marineinfanteristen auftauchte. »Es ist einer der Amerikaner, Jame… Sir.« Sie sah aus, als wolle sie sich übergeben. »Ich glaube der, den sie Ed nennen. Der Schlanke, sehr Harte, Gutaussehende, der mit dem sandblonden Haar.« »Ja? Das ist Ed. Was ist los?« »Eines meiner Mädchen… Eine meiner Wrens… fand ihn. Er ist tot. Eine Menge Blut. Ich glaube… ich… Also, ich weiß… er ist ermordet worden, Sir. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Die Latrinen sehen wie ein Schlachthaus aus. Die Russin war auch da… sie schrie…« Bond spürte, wie sein Magen protestierte, als er nach dem Webgurt griff, an dem der große Holster hing. Er schnallte ihn um, nickte und folgte dem Marineinfanteristen und First OfficerPennington in den VIP-Bereich. Mit dem Gürtel, an dem die schwere Pistole hing und gegen seine Seite schlug, fühlte er sich wie ein Revolverheld im Wilden Westen. Unwirklich. Aber schließlich wurde ja auch nicht an jedem Tag der Woche ein Leibwächter des amerikanischen Secret Service an Bord eines Schiffes Ihrer Majestät ermordet. 298
11. LATRINEN DES TODES Bond verharrte eine Sekunde vor dem Schott, dessen Feuertür entriegelt war. Unter Deck hing immer dieser vertraute Geruch, der schwer zu beschreiben war, trockene, gefilterte Luft, ein wenig Öl, Geruchsmischungen aus Maschinen und Menschen. Der Anstrich war hellgrau, und oben führten an beiden Seiten des Durchgangs Rohre mit Elektrokabeln entlang, über die Strom auf das Deck geleitet wurde. Klimaanlage, Versorgungsleitungen und Elektronik summten. Das Schiff lebte, denn es war auf See. Vor ihm befanden sich die Türen von drei weiteren Kabinen, sonst mit Offizieren belegt, die jetzt aber gezwungen waren, in anderen Teilen des Schiffes zusammenzurücken. Dahinter lag ein weiteres Schott, vor dem ein Marineinfanterist Wache hielt. Bond wußte, daß dahinter die Wrens untergebracht waren, die die Unterführer verdrängt hatten. Bevor Bond durch das erste Schott trat, gab er dem Marineinfanteristen, der an seine Tür gehämmert hatte, schnell Befehle: »Mir ist völlig egal, wer es ist – Admiräle, Stabspersonal oder die Leute, die mit ihnen an Bord gekommen sind – jedenfalls werden Sie jeden in diesen Kabinen überprüfen und außerdem eine Liste für mich erstellen. Ich will wissen, wer wo in der letzten Stunde war – das zumindest. Und holen Sie so schnell wie möglich einen Arzt. Am besten rufen Sie Ihren Sergeant zur Unterstützung runter. Ich habe das Kommando. Sie wissen, wer ich bin?« Der junge Marineinfanterist nickte, und Bond wandte sich an Clover. »Also, wo ist die Leiche? In den Latrinen, die von Ihren Wrens benutzt werden?« Sie antwortete mit einem jämmerlichen »Ja«, und Bond lief an ihr vorbei den Gang hinunter. Er hörte, wie der junge Marineinfanterist hinter ihm mit seinem Gewehrkolben gegen die erste Kabinentür schlug. Am zweiten Schott befahl er dem diensttuenden Marineinfanteristen, wachsam zu sein, und fragte ihn, ob einer der Offiziere oder sonst jemand in den verbotenen Bereich gegangen sei, in dem sich die Wrens aufhielten. 299
»Ich bin erst seit fünfzehn Minuten hier, Sir. Wir mußten den Wachplan umstellen, als der Kapitän Gefechtsbereitschaft befahl.« »Wie lange war der Bereich unbewacht?« »Bin mir nicht sicher, Sir. Allenfalls fünfzehn Minuten.« Clover führte ihn durch den Korridor, der an die Kabinen angrenzte, die von den Wrens belegt waren. Ein ziemlich verwirrtes Mädchen im Schlafanzug steckte ihren Kopf aus einer der Türen. »Geh wieder rein, Deeley«, schnappte Clover scharf, und die Gestalt verschwand. Eine Spur blutiger Fußabdrücke, die abrupt in einer Blutlache endete, war etwa vier Meter von dem geschlossenen Schott entfernt, das zu den Latrinen führte. Aus irgendeinem Grand ging Bond eine Frage durch den Kopf. Die Toiletten auf Schiffen der Royal Navy hießen immer »Latrinen« – Plural – wogegen die US Marine sie als »Latrine« bezeichnete – Singular. Andersherum war es mit dem HUD in Kampfflugzeugen. Die Amerikaner bezeichneten das als Heads-up-Display. Die Briten nannten es Head-up-Display. Jeder Gedanke über britische und amerikanische Semantik schwand jedoch, als er das Schott öffnete. Clover hatte recht gehabt. Der Raum sah wie ein Schlachthaus aus, völlig mit Blut überschwemmt, und die Leiche auf dem Kachelboden rollte mit dem Schiff und vermittelte die entsetzliche Illusion, als würde noch Blut aus dem Körper gepumpt. »Haben Sie ihn angefaßt?« Clover schüttelte den Kopf und hatte die Lippen zusammengepreßt, als kämpfe sie gegen Erbrechen an. »Gehen Sie lieber raus. Gehen Sie und sagen Sie einem de r Marineinfanteristen, daß der Arzt zwei Lazaretthelfer mitbringen soll, die die Schweinerei in Ordnung bringen.« »Ich werde das vom nächsten Telefon aus veranlassen.« Eine große, grauhaarige Gestalt stand hinter ihm. »Sanitätsfregattenkapitän Grant. Sehen wir uns die Leiche mal an.« Bond war Grant bei seiner Ankunft an Bord kurz in der Offiziersmesse begegnet. Der Arzt schien ein sachlicher Mann zu sein, der nicht viele Worte machte. Er trag Uniform, aber seine Hose steckte in grünen Chirurgenstiefeln. »Überlassen Sie ihn mir. Ich veranlasse, daß einer meiner Jungs Stiefel für Sie mitbringt. Captain Bond. Blut ist verdammt schwer zu entfernen.« 300
Bond nickte und blieb an der Tür stehen, während Grant über das blutüberströmte, gekachelte Deck schritt. Er bückte sich, um die Leiche zu untersuchen, und stieß ein angewidertes Grunzen aus. Kopfschüttelnd stapfte er zurück, nahm den Hörer der Wechselsprechanlage von der Wand und wählte die Nummer des Lazaretts. »Barnes? Kommen Sie runter auf 406. Stiefel und Gummischürzen. Ein Paar Reservestiefel, und schicken Sie zwe i Burschen mit starken Mägen her. Mit Schrubbern und Eimern. Und das schnellstens.« Er wandte sich an Bond. »Wer immer das getan hat, hat nichts dem Zufall überlassen, Captain Bond. Man hat ihm fast den Kopf abgeschnitten. Sauberer Schnitt. Von Ohr zu Ohr. So wie’s aussieht, hat ihn jemand von hinten gepackt, sein Haar gegriffen und mit etwas sehr Scharfem die Kehle durchgesäbelt. Wer ist das?« »Einer von der amerikanischen Sicherheit Der Boß, glaube ich. Widerlich.« »Wäre wohl dumm zu fragen, ob er Feinde hatte, weil er mindestens einen gehabt haben muß…« Seine Stimme verebbte, als seine beiden Lazaretthelfer eintrafen, gefolgt von zwei gewöhnlichen Seeleuten, die Wischzeug trugen. »Oh, Teufel!« Einer der Lazaretthelfer schaute in die Latrine und wich dann zurück. »Geben Sie Captain Bond die Stiefel«, sagte der Sanitätsfregattenkapitän. »Lassen Sie die Leute mit dem Reinigen warten, bis Captain Bond fertig ist. Und besorgen Sie einen Plastiksack, weil wir den Burschen in den Kühlschrank stecken müssen.« Bond streifte seine Schuhe ab, zog die Stiefel an und begab sich zu der Leiche. Es war zweifelsfrei Ed, der auf gräßliche Art ums Leben gekommen war. Bond fürchtete sich sogar, den Körper zu bewegen: Er hatte Angst, daß der Kopf vom Hals fallen würde, da der Schnitt durch die Kehle tief und weit aufklaffend war. Bond streifte die Ärmel seines marineblauen RN-Pullovers hoch und drehte die Leiche auf die Seite. Seine Hände waren naß vom Blut, aber er griff in die Taschen des toten Mannes und nahm eine Brieftasche sowie zwei Ausweiskarten heraus. Gerade wollte er den Körper wieder zurücksinken lassen, als er ein kurzes, kratzendes Geräusch hörte, das unter der rechten Schulter des Secret Service-Mannes hervorzudringen schien. Bis zum Ellenbogen in Blut getaucht, suchte 301
Bond, bis seine Hand auf Metall stieß. Er zog daran und brachte ein kleines, batteriegetriebenes Diktiergerät hervor. Wieder an der Tür, die Arme weit von sich gestreckt, sagte Bond dem Arzt, daß er den Raum reinigen lassen könne. Einer der Lazaretthelfer trat geistesgegenwärtig vor und wischte ihm das Blut von den Armen. Er nickte dankend und begab sich zu seinem Quartier zurück. In dem Teil des Durchgangs, in dem die Admiräle und ihre Stäbe untergebracht waren, herrschte ziemlicher Aufruhr. Ein Sergeant der Marineinfanterie hob die Augenbrauen, als Bond sich näherte. »Captain Bond, Sir…« Dann sah er das Blut und das tropfende kleine Di ktiergerät. »Ist alles in Ordnung, Sir? Ich werd’ verrückt, ist das echtes Blut, Sir?« »Frisch abgefüllt, Sergeant, fürchte ich. Wir haben es mit einem Mord zu tun. Wie ist die Lage hier?« »Alle spielen verrückt, Sir. Alle drei Admiräle sind beim Kapitän auf der Brücke. Admiral Gould hat einen seiner Flaggoffiziere bei sich, einen Leutnant Brinkley. Leutnant Camm will Erlaubnis haben, sein Quartier verlassen zu können…« »Niemand geht hier weg…« Der Befehl war wie ein Peitschenschlag. »Das habe ich denen gesagt, Sir. Habe zusätzliche Posten aufgestellt.« »Gut. Welche Probleme haben wir noch?« »Admiral Gudeon hat einen seiner Sicherheitsleute bei sich auf der Brücke. Die anderen beiden, Mr. Stanley Hare und Mr. Bruce Trimble, der schwarze Gentleman – die machen Ärger. Sie sagen, sie müßten bei ihrem Mann sein, wenn das auch nur nach Unfall rieche.« »Aber sie sind in ihrer Kabine?« »Sir, jawohl«, bestätigte der Sergeant. »Okay, dort bleiben sie auch. Sagen Sie ihnen, daß ich mit ihnen noch reden werde. Die Russen?« Der Sergeant seufzte. »Sehr schwierig, Sir. Alle sprechen Englisch, aber sie sind nicht hilfreich,« »Die Dame?« »Miss Ratnikov? Sie scheint ein wenig außer sich zu sein. Sieht so aus, als sei sie in die Wrens-Latrine gegangen, kurz nachdem die Leiche…« 302
»Informieren Sie alle, daß ich sie in einer Stunde in meiner Kabine einzeln sprechen möchte.« »Aye-aye, Sir.« »Sorgen Sie dafür, daß sie sich ruhig verhalten, Sergeant, und postieren Sie einen Ihrer Männer vor meiner Kabine. Ich werde bald auf die Brücke gehen. Niemand betritt ohne meine Erlaubnis mein Quartier, und ich meine niemand. Vor allem dann nicht, wenn ich den Kapitän auf der Brücke aufsuche.« Der Sergeant nickte. »Wird gemacht, Sir!« Bond wusch das Blut ab, säuberte dann das Diktiergerät und warf einen schnellen Blick auf die Ausweiskarte des Opfers. Sein Name war Edgar Morgan, und es war klar, daß er der ranghöchste Offizier des Secret Service-Teams gewesen sein mußte. Er durchsuchte die Brieftasche und fand eine zweite laminierte Kennkarte, die in einer Reißverschlußtasche steckte. Sie wies das Foto von Morgan auf, und daneben las er die magischen Worte: Mr. Morgan gehörte nicht zum regulären Secret Service. Er war nur von anderen Pflichten beim Geheimdienst der Marine befreit worden, wo er den Rang eines Commanders innehatte. Er trocknete das Diktiergerät ab und sah, daß die kleine Kassette darin ganz durchgelaufen war. Er überprüfte die Batterien und betätigte dann den Rückspulknopf. Das winzige Band wurde zurückgespult. Er drückte den Wiedergabeknopf, sah das rote Licht leuchten und justierte die Lautstärke. Die Stimme des toten Ed Morgan drang klar aus dem kleinen Lautsprecher. »Bericht Vier. Ist in Klarkode zu übersetzen und bei der ersten Gelegenheit über HMS Invincible zu senden. Nummer 23X5. Erbitte komplette Hintergrandinformation über folgende Namen. Zuerst russische Offiziere, wahrscheinlich KGB oder GRU. Nikola Ratnikov, zugeteilt als russischer Marineattache. Jevgenij Stura, Gennadij Nowikov und Iwan Tiblaschin. Erbitte auch weitere Informationen über die folgenden Angehörigen der britischen Royal Navy…« Bonds Augen weiteten sich, als er dieser speziellen Ehrenliste lauschte. »Wenn alle überprüft und einwandfrei sind«, fuhr die Stimme fort, »schlage ich vor, Tänzer wie vo rgesehen zu schicken. Wenn nicht einwandfrei, rate ich definitiv dazu, Stewards-Treffen zu kippen. Wiederhole…« Dann kamen die anderen Geräusche: der Schrei, der 303
Aufschlag, als das kleine Metallbandgerät zu Boden fiel, die letzten schrecklichen Laute von Morgans Sterben, gefolgt von dem Summen des Bands, das noch immer lief, und dahinter andere Geräusche. Eine Frauenstimme , dann eine andere. Sie waren undeutlich, aber er glaubte auch ein Geräusch hören zu können, als versuche jemand, den Körper zu bewegen. Schließlich der gedämpfte Hall von Schritten auf den Kacheln. Dann Stille. Das Problem, das James Bond zu schaffen machte, war die Liste des Royal Navy-Personals, die der verstorbene Ed Morgan mit Hilfe Washingtons zu überprüfen versuchte. Es war offensichtlich, daß einige Vereinbarungen hinsichtlich der Kommunikation mit der Invincible getroffen worden waren – wahrscheinlich hatte man eine amerikanische Kodiermaschine installiert. Das Ganze erfolgte automatisch: Das Band des Diktiergerätes wurde auf ein Kodierband überspielt, das den Wortlaut in eine n zufälligen Wirrwarr verwandelte, und die ganze Nachricht würde dann in Sekundenbruchteilen nach Washington übertragen werden. Das jedoch war zweitrangig. Die eigentliche Sorge galt der Liste von Leuten, die Morgan überprüft haben wollte. Bond griff zum Telefonhörer und wählte die Brücke an. Ein junger Leutnant zur See meldete sich, und nach wenigen Sekunden sprach Konteradmiral Sir John Walmsley, der die dringenden Anweisungen befolgt hatte: »Machen Sie schnell, Bond. Ich versuche, diese Einsatzgruppe durch den Kanal zu bekommen, ohne daß die U-Boote der Blauen Seite uns völlig wegpusten.« Bond brauchte dazu keine Minute. Ein langes Schweigen entstand. Dann sagte Walmsley: »Kommen Sie hierher, Am besten überbringen Sie die schlechte Nachricht Admiral Gudeon selbst. Kommen Sie gleich hierher.« »Aye-aye, Sir.« Bond verstaute die Kennkarte des verstorbenen Ed Morgan und das Diktiergerät, schnappte seine Mütze und verließ im Laufschritt seine Kabine. »Ich werde mich aus diesem Manöver nicht zurückziehen, Bond. Weder Ihretwegen noch für sonstwen. Das ist alles viel zu wichtig. Besonders wegen dem, was morgen abend geschehen wird, wenn wir in der Bucht von Biskaya sein sollen. Das ist politisch wichtig.« Sir John Walmsley reckte seinen bärtigen Unterkiefer vor und warf Bond einen schrecklich sturen Blick zu. Sie befanden sich in der Schlafka304
bine des Konteradmirals. Bond zuckte die Schultern. »Zumindest muß das Team des Stewards-Treffens informiert werden.« »Als Sicherheits-Verbindungsoffizier ordnen Sie wohl an, ich solle das tun? Oder ist das nur ein Vorschlag?« »Ich meine, Sie sollten es tun, Sir.« »Ich würde keinen solchen Wirbel machen müssen, wenn Sie den erwischten, der das getan hat.« »Mit allem Respekt, Sir, ich bin nicht Sherlock Holmes.« »Ich dachte, Leute Ihrer Art könnten alles sein.« »Dann werde ich versuchen, ein Sherlock zu sein, Sir. Ich schlage vor, ich überbringe besser die Nachricht Admiral Gudeon und seinem Begleiter…« »Mr. Israel…«, fiel der Konteradmiral ein. »Ja. Joe Israel. Am besten beiden zusammen, denke ich, Sir.« Walmsley blieb an der Tür stehen, »Streitsüchtiger alter Bursche, dieser Gudeon. Versuchte mir sogar zu sagen, wie ich mein eigenes Schiff zu fuhren habe.« »Überrascht mich nicht im mindesten, Sir.« Bond lächelte ihn höflich an. Fünf Minuten später trafen Admiral Gudeon und Joe Israel in Bonds Kabine ein. Israel war groß, um die einsneunzig, schätzte Bond. Sein Haar ergraute bereits, und er hatte diesen lässigen, geübten Gang und die Haltung, die Kugelfänger oft benutzen, um zu verbergen, daß sie ständig wachsam sind. Als er vor Admiral Gudeon hereinkam, zeigte er eines dieser speziellen Lächeln. Joe Israel lächelte viel, eine Art beißendes Lächeln, das seine Augen erhellte. Er lachte auch spontan: laut, mit offenem Mund und ansteckend. Während des ersten Teils des Gesprächs lachte Joe Israel nicht. »John Walmsley sagte, Sie müßten uns beide dringend sprechen, Bond.« Gudeon klang verstimmt wie ein Kind, das man vom Spielen mit seiner Eisenbahn weggerufen hat – was er in gewisser Hinsicht getan hatte, da auf der Brücke die Hölle los war, während die Invincible schnelle Wenden fuhr und die Kurse änderte. Die U-Boote lagen noch immer in Position um die Einsatzgruppe, gefährlich, aber ohne zu feuern. »Ich schlage vor, Sie setzen sich, Sir. Ich habe sehr ernste und sehr 305
schlechte Neuigkeiten für Sie beide.« »Ach ja?« Gudeon klang, als ob alle Neuigkeiten schlecht seien. »Der führende Offizier Ihrer Leibwache…« »Morgan?« Gudeon sank auf einen Stuhl. Joe Israel stand direkt hinter ihm. »Ed Morgan«, nickte Bond, »ich fürchte, Ed Morgan ist tot.« Er bemerkte, daß Israel schockiert wirkte. Gudeon öffnete seinen Mund. »Oh, mein Gott«, sagte er, und dieses Mal klang es ehrlich besorgt. »Wie, um Himmels willen…?« »Er wurde ermordet,« »Ermordet?« Sie sprachen gleichzeitig, Israel eine Spur vor seinem Chef. Dann redete Gudeon alleine. »Wie ermordet? Auf einem der großen Schiffe Ihrer Majestät werden Leute nicht ermordet« »Dieser schon.« »Wie?« »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten. In der Latrine der Wrens. Sehr unerfreulich.« Gudeon starrte nur geradeaus. Israel gab ein Geräusch vo n sich, das sich wie: »Aber!« anhörte. »Ich habe ein paar Fragen an Mr. Israel. Dann möchte ich gern allein mit Ihnen sprechen, Sir.« Der Admiral nickte nur sein Einverständnis. Er wirkte plötzlich älter und schockiert. »Joe? Darf ich Sie Joe nennen?« »Sicher, Sir.« »Okay. Haben Sie je zuvor mit Ed Morgan zusammengearbeitet?« »Nie. Er war ganz neu für mich. Vor diesem Auftrag bin ich ihm nie begegnet. Aber er war scharf.« So wie Israel das sagte, hörte sich das an, als meine er, Ed Morgan sei zu scharf gewesen. »Und ich furchte, sein Ende war sehr hart.« Israel schüttelte seinen Kopf, mit nur einer Spur von Traurigkeit oder Schock. »Es ist hart.« Dann blickte er auf den Admiral herab. »Wer übernimmt das Kommando, Sir?« Gudeon räusperte sich. »Nun, Sie sind der Ranghöchste meines Stabs, nicht wahr?« »Deshalb fragte ich, Sir.« »Okay, Sie übernehmen das Kommando, bis wir alles mit Tänzers 306
Leuten geklärt haben.« Sein Blick huschte zu Bond, als ob er etwas Falsches gesagt habe. »Ist in Ordnung, Admiral Gudeon. Ich habe die Gesamtverantwortung für die Sicherheit. Ich weiß, wer Tänzer ist, und ich weiß, daß er kein Rentier des Nikolaus ist. Jetzt will ich nur mit Mr. Israel die zeitliche Abfolge überprüfen.« Er blickte zu dem großen Mann auf. »Sie haben den Admiral heute nacht bewacht?« »Ja.« »Waren Sie die ganze Zeit bei ihm?« »Habe mit ihm zu Abend gegessen, Sir. Ja. Dann zogen wir uns beide um, und ich begleitete ihn auf die Brücke.« »Wann war das?« »23 Uhr 40, zwanzig Minuten, bevor der Krieg begann.« »Und seitdem waren Sie die ganze Zeit bei ihm?« »Bis wir aufgefordert wurden, hierher zu kommen.« »Sollten wir irgend etwas tun, um Details nach Washington zu übermitteln? Haben Sie eine besondere Vorgehenswe ise?« »Ja. Um das alles kümmere ich mich.« »Okay.« Bond tat, als sei er für ein paar Sekunden in Gedanken versunken. »Aber nicht direkt, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich möchte, daß Sie draußen bei dem Marineinfanteristen warten. Ich brauche ein wenig Zeit für den Admiral. Dann werden wir das offiziell machen. Entschuldigen Sie mich.« Letzteres war an Gudeon gerichtet, als Bond zur Kabinentür ging und mit dem Marineinfanteristen sprach, dem er sagte, daß Mr. Israel draußen warten und nirgendwohin gehen wurde, bis der Admiral herauskäme. »Ed Morgan?« Bond formulierte das als Frage, nachdem er wieder hinter seinem Schreibtisch saß. Gudeon wirkte beunruhigt, und er schien kein Mann zu sein, der leicht zu beunruhigen war. »Was ist mit ihm?« »Ich brauche einige Antworten, Sir. Ich habe ein Recht auf Antworten, besonders da ich für die Sicherheit des Stewards-Treffens verantwortlich bin. Ich bin nicht ganz glücklich darüber, mit persönlichen Leibwächtern auf internationaler Ebene zu tun zu haben. Also, Ed Morgan war kein Secret Service-Leibwächter im eigentlichen Sinn des Wortes, nicht wahr?« »Woher, zum Teufel, wissen Sie das?« 307
»Es ist meine Aufgabe, das zu wissen, Sir.« »Niemand sollte das erfahren.« »Ich bin seit einiger Zeit im Geschäft. Wollen Sie mir etwas über ihn erzählen?« Gudeon seufzte. »Denke schon.« Er sah wirklich älter und grauer aus. Wäre seine Uniform nicht gewesen, hätte er einer dieser Burschen sein können, die in einer Rentner-Zeitschrift abgebildet werden, wie sie in einem Schaukelstuhl auf der Veranda ihres Hauses sitzen. »Ed war mein Kandidat. Wir hatten schon früher zusammengearbeitet, und ich hielt ihn für den besten Mann im Hinblick auf diesen Job. Er war übrigens Commander. Marinegeheimdienst – wozu auch Außeneinsätze gehörten.« »Okay. Sie wissen, wie er mit Washington kommunizierte?« »Ja.« »Erfolgte das direkt über unsere Kommunikationsmannschaft an Bord?« Eine längere Pause. »Nein. Ich habe einen Mikrosender mit abgeschirmter Frequenz in meiner Kabine. Wenn Ed senden wollte, mußte er sich an mich wenden, und ich gab ihm mein Okay.« »Wie funktionierte das?« »Wie funktioniert dieses Zeug überhaupt? Ist für mich alles Zauberei. Ich denke, er hat einfach ein Band mit seiner Nachricht im Klartext reingeschoben, dann auf FLATSCOM geschaltet, das wir benutzen, und die Nachricht wurde kodiert zu einem anderen Schiff gesendet. Die gaben sie nach Washington we iter. Jedenfalls ist das das Prinzip.« »FLATSCOM ist die allgemeine Satellitenkommunikation de r US Marine, nicht wahr, Sir?« Gudeon nickte kaum merkbar, als ob ihm jemand einen Stich in den Nacken versetzt hätte. »Benutzte er es, als Sie an Bord kamen?« »Nein.« Jetzt wirkte er ein bißchen verschlossen. »Hören Sie, Captain Bond, ich versuche zu kooperieren, aber ich habe ein Problem, das ich lösen muß. Morgan wollte unsere Kommunikationsverbindung in der Dämmerung benutzen. Ich sagte, ich würde unten sein, um aufzuschließen und die Schlüssel einzuführen. Er vertraute sich mir nicht an, aber er war über irgend etwas besorgt, über irgend etwas an 308
Bord. Wollte das durch Washington überprüfen lassen, bevor er sein Okay dafür gab, daß Tänzer zum Stewards-Treffen kommt. Jetzt stehe ich im Regen. Ich muß eine Entscheidung treffen. Und die muß ich treffen, ohne zu wissen, was Morgan wollte.« »Ich würde mir darüber wirklich keine großen Sorgen machen…« Das Telefon summte, und Bond entschuldigte sich, um den Anruf entgegenzunehmen. Es war Sanitätsfregattenkapitän Grant. »Der Platz ist gereinigt, Sir. Und ich habe mir die Freiheit genommen, einige Fotos machen zu lassen – Sie kennen das ja: die Leiche in situ, Gesicht, Verletzung, den ganzen Kram. Hab’ ich im Kino gesehen. Die Todeszeit kann ich nicht exakt bestimmen, aber ich würde sagen, es war eine Stunde, bevor ich die Leiche sah.« »Mmmh. Lassen Sie’s erstmal dabei bewenden. Wir sehen uns später.« Er legte den Hörer auf und wandte sich wieder Gudeon zu. »Machen Sie sich nicht zuviel Sorgen, Sir. Ich wurde das Okay dafür geben, daß Tänzer planmäßig kommen soll.« »Ist das so leicht?« »So leicht. Ich glaube zu wissen, was er überprüfen wollte. Ich glaube, daß er deshalb ermordet wurde.« »Wenn Sie das wissen, ist es Ihre Pflicht, mir das mitzuteilen.« »Ich sagte, ich glaube es zu wissen, Sir, und das bedeutet noch lange nicht, daß ich es weiß.« »Und Sie wollen nicht einmal…?« »Bedaure, Admiral Gudeon, nein. Ich habe hier die Verantwortung. Ich glaube zu wissen, und ich werde Schritte unternehmen, um alles zu überprüfen und abzusichern, bevor Tä nzer hierher kommt. Irgend etwas Ungewöhnliches, und ich werde das Stewards-Treffen abblasen lassen. Ich schlage vor, daß Sie in der Zwischenzeit zurück auf die Brücke gehen und Mr. Israel mitnehmen. Ich wäre Ihnen auch dankbar, wenn Sie mit niemand anderem über unser Gespräch reden. Und ich meine niemand anderen, Sir.« »Wenn Sie das sagen, Bond…» Gudeon sah nicht glücklich aus, aber 007 wollte es dabei belassen. Er hatte eine Menge zu tun, bevor er etwas Definitives hinsichtlich der Operation Stewards-Treffen tun konnte. Zuerst mußte er Sherlock Holme s spielen und mit allen Betroffenen sprechen. Dann war es wichtig für ihn, seine eigenen Leute zu erreichen, um die Namen zu überprüfen, die Ed Morgan auf Band 309
gesprochen hatte – sogar die Angehörigen der Royal Navy. Er lehnte sich zurück und traf eine schnelle Entscheidung, mit wem er als nächstes sprechen wollte. Es war drei Uhr morgens. Niemand würde besonders glücklich sein, aber er hielt es für das beste, sich an die Leute zu halten, von denen er wußte, daß sie wach waren. Er rief die Brücke an und bat Großadmiral Sir Geoffrey Gould und seinen Flaggleutnant, Mr. Brinkley, zu sich. Sie waren binnen fünf Minuten bei ihm. Er teilte ihnen die Neuigkeiten mit und stellte darauf die Standardfragen – war Brinkley seit dem Abendessen mit dem Admiral zusammen gewesen? Hatten sie sich irgendwann getrennt? Die Antworten lauteten in der Reihenfolge ja und nein. Gould war erschüttert. »Man wird auf einem Schiff Ihrer Majestät nicht ermordet!« Es klang wie Gudeons Echo. »Es scheint, als bestätige die Ausnahme die Regel«, entgegnete Bond kurz. »Können wir irgendwie helfen, James?« fragte Ted Brinkley. »Möglicherweise, aber jetzt noch nicht. Ich nehme an, alle Russen sprechen Englisch?« »Ja.« Brinkley hatte diese Information sehr schnell bekommen. »Das machten Moggy und ich zuerst – herauszufinden, wie ihr Englisch ist. War dennoch ein bißchen komisch.« »Wie komisch?« »Der Anführer ihres Haufens – Stura, Jevgenij Stura. Der Bursche mit der Narbe und der Wodkanase.« »Was ist mit ihm?« »Er versuchte, sich dumm zu stellen. Tat so, als spräche er kein Englisch.« »Aber er kann es?« »Er war die ganze Nacht mit Admiral Pauker auf der Brücke. Spricht Englisch wie seine Muttersprache. Leichter amerikanischer Akzent, aber er spricht und versteht perfekt. Wollte das nur nicht zu erkennen geben, als wir dabei waren. Die hübsche Attache-Dame, die Sie ansprach, übersetzte. Eigenartig.« »Nicht direkt.« Bond hob eine Augenbraue. »KGB-Spiele. Das versuchen sie häufiger. Ist fast eine Standardübung.« Er bat sie, zurück auf die Brücke zu gehen, mit niemandem zu sprechen und den Kapitän zu fragen, ob er äußerst respektvoll Admiral 310
Pauker und Jevgenij, den mit der Wodkanase, bitten könne, zu ihm herunterzukommen. Sie trafen ein paar Minuten später ein, und Bond ging das Ganze von vorn durch. Eigenartigerweise spielte Jevgenij Stura wieder mit Duldung von Pauker die Scharade, daß er kein Englisch spreche, bis Bond sie nachdrücklich daran erinnerte, daß sie sich auf britischem Territorium befänden und er dafür sorgen könne, daß der wichtigste Teil von Landsea ‘89 abgeblasen werden würde, wenn sie ihm gege nüber nicht ehrlich seien. Admiral Pauker wurde streitlustig, brüllte Bond an und machte War, daß er der ranghöchste Offizier an Bord sei. »Ich bin Chef der gesamten sowjetischen Marine. Ich werde Sie degradieren lassen, zu Staub zermahnen…!« schloß er wütend »Tun Sie, was Sie wollen, Admiral, aber da ich die Verantwortung für die Sicherheit beim Stewards-Treffen habe, kann ich auch Forderungen stellen – und ich bin nicht bereit, Mr. Sturas Spiele zu akzeptieren. Er spricht Englisch und ve rsteht es. Ich weiß es, er weiß es. Wir alle wissen das. Also – bitte keine Spielereien mehr.« Die Russen verschwanden leicht eingeschüchtert, und Bond schickte den Marineinfanteristen los, um Mr. Camm zu holen. Moggy Camm stützte die Geschichte seines Partners und beantwortete alle Fragen schnell und ohne zu zögern. Sie hatten vereinbart, daß Ted Brinkley heute nacht den Dienst bei Gould übernehmen würde, Moggy sollte ihn in der Dämmerung ablösen. Er hatte, bis der Lärm vor seiner Kabine begann, weder etwas Außergewöhnliches gesehen noch gehört und war dann von dem Marineinfanteristen und seinem Sergeant geweckt worden. Es gab noch andere obligatorische Fragen. Wann hatte er sich zurückgezogen? Gegen elf. Haben Sie jemand oder etwas vorher gesehen? Er hatte einen Drink mit den anderen beiden Russen und Bruce Trimble, dem farbigen Amerikaner, genommen; in einer speziellen kleinen Messe, in der Alkohol gezapft wurde – einer der kleinen Bootsmannsmessen, die eigens für sie reserviert worden waren. Alle hatten sich dann etwa um die gleiche Zeit zurückgezogen. Sind Sie gemeinsam nach unten gegangen? Ja. Nacheinander ging er die anderen Leibwächter durch. Bruce Trimble unterstützte Moggy und die beiden Russen. Die Russen bestätigten 311
die Aussagen aller anderen. Der andere amerikanische Secret Service-Mann, Stanley Hare, hatte sich früh zurückgezogen. »Zur gleichen Zeit wie Ed. Wir sprachen eine Weile, dann kam Trimble wieder, und wir machten ein Nickerchen.« Nein, er hatte nicht gehört, wie Ed die Kabine verließ. Schon wegen des Lärms aus dem Tannoy-System hatte Stan nichts gehört, bis der Marineinfanterist an die Tür hämmerte. »In unserem Job lernt man, auf einer Wäscheleine zu schlafen.« Alle waren außerordentlich hilfreich, so daß er schließlich nach dem Sergeant der Marineinfanterie schickte. Sergeant Harvey war der typische Sergeant der Royal Marines, der sich nicht erst groß mit Ausflüchten aufhielt. Bond fragte ihn direkt, und er antwortete ebenso klar. »Ich habe gehört, daß es ein Problem damit gab, wer hier unten Wachdienst tun wollte, Sergeant Harvey.« »Ein beträchtliches Problem, ja, Sir.« »Wie beträchtlich?« »Als der Ballon wie erwartet um 23 Uhr 59 hochging, begaben sich alle Marineinfanteristen auf ihre Gefechtsstationen, Sir. Ich, als diensthabender Sergeant, hätte das Problem sofort erkennen müssen. Doch das habe ich nicht, Sir.« »Fahren Sie fort.« »Gegen null Uhr zwanzig merkte ich, daß wir niemand hier unten hatten. Wir sind im Augenblick ziemlich angespannt – und das 42. Kommando hat nichts zu tun, bis es richtig losgeht –, also gab ich zwei Marines den Befehl, eine Stunde zu wachen und mir dann zu berichten. Ich wollte ein weiteres Paar abstellen, tat das aber nicht, Sir. Meine Schuld, der Vo rwurf trifft allein mich. Die beiden, die hier unten Dienst taten, waren autorisiert, auf ihre normalen Posten zurückzukehren. Als mir das einfiel, gab ich die Befehle über das Schott-Telefon. Mein Fehler, Sir. So ist das. Ich habe alle Betroffenen befragt. Sie schätzen, daß die Posten etwa zehn Minuten unbesetzt waren. Ich würde fünf Minuten dazurechnen.« »Sie trifft keine Schuld, Sergeant. Ist eben passiert, aber Sie sagen, daß in den abgesperrten Bereichen mindestens fünfzehn Minuten lang Leute beliebig kommen und gehen konnten. Vo n wann an etwa? Viertel nach eins bis halb zwei?« 312
»Ungefähr um die Zeit, Sir.« »Gut Danke.« Er mußte noch mit drei Personen sprechen. Mit Clover, der knackigen Nikki und einer weiteren, die auf der beunruhigenden Liste von Leuten des Marinepersonals stand, die der verstorbene Ed Morgan hatte überprüfen wollen. Die Berichte über die Russen hatten Zeit, aber um seine Leute mußte er sich jetzt gleich kümmern. Er war hundemüde, und es war recht unwahrscheinlich, daß er in den nächsten vierundzwanzig Stunden auch nur etwas Schlaf bekommen würde, also streckte er sich, setzte seine Mütze auf und ging in das hochsichere Heilige des Heiligsten, den Kommunikationsraum, der sich auf dem ersten Deck befand, direkt unter der Flugeinsatzzentrale und der Brücke. Ein aggressive r Marineinfanterist rief ihn an, und er zeigte den Paß, der zusammen mit den anderen Unterlagen für seinen Dienst auf der Invincible ausgestellt worden war. Außer Sir John Walmsley waren die Leute vom Kommunikationsstab wahrscheinlich die einzigen, denen klar war, daß ihr spezieller Sicherheitsoffizier in Wirklichkeit ein getarnter »Agent« war. Dem diensthabenden Kommunikationsoffizier war das sicher klar, wie man an seinen Blicken und der schnellen Kopfbewegung sehen konnte, als Bond ihm seine Vollmacht für die Benutzung des Informationscomputers zeigte, der über Satellit direkt mit GCHQ, Cheltenham, verbunden war. Sie wechselten die Kodewörter, und ein paar Köpfe hoben sich, als der Kommunikationsoffizier ihn durch den geschäftigen Raum zu einem kleinen verschlossenen Bereich führte, die Tü r öffnete und ihn in die Zelle zu dem großen Cray Computer führte. Danach ließ ihn der DCO taktvoll allein. Der Bildschirm des Monstrums schimmerte grün, und Bond gab die ersten Ziffern ein, die die Burschen in Cheltenham wecken wurden. KENNWORT EINGEBEN forderte ihn der Computer mit großen schwarzen Buchstaben auf. Bond tippte KARUSSELL ein. KODEZAHL EINGEBEN blitzte der Computer. 26980/8 tippte Bond. ART DER GEWÜNSCHTEN INFORMATIONEN? wollte die stumme Maschine wissen. DATEN ÜBER ROYAL NAVY PERSONAL DAS AUF BIRDS313
NEST 2 DIENST TUT gab er ein. WELCHE OPERATIONEN? fragte das Ding. LANDSEA ’89 UND MÖGLICHERWEISE STEWARDSTREFFEN. SPEZIELL: KOMPLETTE DOSSIERS ODER SICHERHEITSSTUFE FÜR BEIDES NAMEN EINGEBEN – FAMILIENNAME GEFOLGT VON VORNAME UND DIENSTGRAD FALLS BEKANNT Bond tippte methodisch die Liste ein, die Ed Morgans letzte Worte auf Erden gewesen waren. Nach wenigen Sekunden begann die Maschine Dossiers auf den Bildschirm zu bringen. Sie kamen nacheinander, und er konnte sie auf- und abrollen, die offiziellen Lebensläufe all derer lesen, die Morgan interessiert harten. Er ging sechs Akten durch und gab OK nach jeder ein, mit der er fertig war. Der siebte Name war LEADING WREN DEELEY, SARAH Die Antwort kam schnell und blitzte: KEINE LEADING WREN DEELEY, SARAH AUF BIRDSNEST 2 ABKOMMANDIERT BITTE WARTEN SIE Er wartete. Dann: KEINE LEADING WREN DEELEY, SARAH IN DEN AKTEN. BITTE MELDEN SIE SOFORT IHREM VORGESETZTEN. Der Name hatte bei Bond ein Signal ausgelöst. Ja, er erinnerte sich an die Gestalt im Schlafanzug, als er mit Clover zu den Latrinen geeilt war. Clover hatte ihr scharf gesagt, sie solle in ihre Kabine zurückgehen. Also würde er jetzt mit Clover und Nikki sprechen. Dann ganz zum Schluß mit der nicht existierenden Leading Wren Sarah Deeley. Es gab keine Möglichkeiten, seinem Vorgesetzten etwas zu melden. Bond ging in seine Kabine zurück und ließ mitteilen, daß er First Officer Pennington WRNS sofort zu sprechen wü nsche.
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12. TANZEN SIE MIT MIR ? Er hatte Kaffee kommen lassen und saß jetzt da und nippte an dem starken schwarzen Gebräu. Clover Pennington saß auf der anderen Seite des Schreibtisches, wirkte nervös und hob ihre Tasse – mit Milch, kein Zucker. »Clover, die Situation ist ganz einfach. Die Posten waren für etwa zehn Minuten weg. Das weiß ich. Dann kam einer von ihnen – mit Ihnen im Schlepptau –, um fünfundzwanzig Minuten nach eins an meine Tür und hämmerte daran. Also geschahen in diesen zehn Minuten zwei Dinge: Zuerst verließ Ed Morgan die Kabine, die er mit den beiden anderen amerikanischen Leibwächtern teilte, und begab sich zur Latrine der Wrens. Wir wissen nicht, warum. Vielleicht hatte er eine Verabredung. Vielleicht wollte er irgendwo sein, wo er wahrscheinlich nicht gestört werden würde. Die Latrine der Wrens war der Ort, wo er am wahrscheinlichsten allein sein würde.« Die zweite Mö glichkeit, das wußte Bond, war gewiß die Wahrheit. »Während er dort war, kam jemand hinter ihm herein und schnitt ihm die Kehle durch. Schnell, lautlos und sehr effizient. Es könnte einer seiner Kumpel getan haben oder einer der Russen, sogar Moggy Camm, einer von Admiral Sir Geoffrey Goulds Flaggoffizieren. Andererseits könnte es auch die russische Dame sein…« »Nikki, die Ratte?« sagte sie ohne eine Spur von Humor. »Nikki, ja. Oder Sie, First Officer Pennington, könnten es gewesen sein, oder eines Ihrer Mädchen. Wir müssen noch immer die Frage erörtern, wie Morgans Leiche gefunden wurde. Sie sagten, es sei eine Ihrer Wrens gewesen. Welche?« »Leading Wren Deeley.« Ihre Hand zitterte, als sie die Tasse hob. So sehr, daß sie die andere Hand dazunehmen mußte, um sie ruhig zu halten. »Schön, Clover. Wir be ide wissen, auf wessen Seite Sie stehen. Schließlich kamen Sie auf Ischia in die Villa gestürmt und haben mich fast umgebracht…« Sie schien sich plötzlich zu fassen. »Zufällig habe ich Ihnen das Leben gerettet. Wir haben das BAST-Mädchen in die Hölle geschickt. Sie waren auch dort, doch wir haben diese Explosion ausgelöst, bevor 315
Sie näher herankommen konnten. Es war, wie man so sagt, ein Knopfdruck-Job.« »Gut, Clover. Als Sie einige Zeit in Northanger waren, fuhren Sie nach Yeovilton zurück und holten Ihre Mädchen ab. Mädchen, mit denen Sie bereits gearbeitet haben.« »Ja« »Wie erklären Sie dann Leading Wren Deeley? Das Mädchen, das Freund Morgans Leiche fand?« Sie nahm einen weiteren Schluck Kaffee und sagte dann: »James, ich kann das nicht so einfach erklären. In diesen letzten Wochen in Yeovilton habe ich mit den Mädchen die ganze Zeit geübt – den ganzen Kram, den wir beim Stewards-Treffen erledigen müssen. Ich kam von Northanger zurück, und eine meiner Leading Wrens war krank geworden. Man hat sie einfach durch Deeley ersetzt. Ich hatte deswegen eine kleine Auseinandersetzung mit dem stellvertretenden Kompaniechef, denn ich mußte mit Deeley allein die ganze Ausbildung nochmals machen. Gott sei Dank ist sie klug und lernt schnell, wie man beim Theater sagt.« Bond schaute ihr in die Augen. »Sie haben mich auf Ischia mit einem Team betreut, nicht wahr?« »Sie wissen, daß es so ist« »Und Sie passen hier auf der Invincible noch immer auf mich auf?« »Das ist Teil meiner Befehle, ja. Es ist nicht leicht, James.« Fast eine Minute lang entstand eine Pause zwischen ihnen. »Ich habe Sie überprüft, Clover. Sie scheinen absolut sauber zu sein.« »Was soll das heißen? Mich überprüft?« »Ich habe unsere Akten in London mit einer Namensliste verglichen. Sie sind dabei sauber we ggekommen – Sie haben alle Lehrgänge für meinen speziellen Dienst absolviert.« »Natürlich habe ich das. Verdammt, ich bin seit sechs Jahren in der Royal Navy.« »Warum haben Sie dann nicht Deeley überprüft?« »Ich dachte nicht, daß das…« Bond schlug mit der Handfläche auf die Platte seines Schreibtischs. »Wer, meinen Sie, war für Ed Morgans Tod verantwortlich?« Sie stieß einen langen Seufzer aus. »Nikki, die Ratte. Sie kam im passenden Augenblick in die Latrine, kurz nachdem Deeley die Leiche 316
gefunden hatte.« »Seien Sie nicht naiv, Clover. Sie haben den Zustand der Latrinen gesehen. Die waren mit Blut überschwemmt, und auch auf den Gängen war Blut. Überall Fußabdrücke. Als wir dort eintrafen – Sie, ich und der Marineinfanterist –, führten Schritte heraus. Sie sagen, Deeley fand die Leiche, und kurz darauf war Nikki Ratnikov da. Deeley ging doch tatsächlich auf die Latrine, nicht wahr?« »Ja.« Ihre Stimme war sehr dünn. »Nikki stand draußen am Schott und schrie wie verrückt. Richtig?« Sie nickte. »Dann kam Deeley heraus. Unter Schock? Sie haben mir das noch nicht erzählt. Aber ich nehme es an.« Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. »Ich wurde durch das Schreien geweckt. Schließlich liegt meine Kabine den Latrinen fast gegenüber.« »Und?« »Ich kam heraus, und da schrie Nikki…« »Stand einfach vor dem Schott?« »Ja.« »Und Deeley war drin und watete mit ihren Füßen im Blut?« Ein schnelles, fast widerwilliges Nicken. »Sie stand unter Schock. Stand einfach nur da und starrte auf das Blut und auf die Leiche. War erstarrt. Ich dachte, sie hätte einen hysterischen Anfall. Vielleicht hat sie sich von der Russin anstecken lassen, die einen Höllenlärm mac hte.« »Und dann?« »Der Marineinfanterist kam angerannt. Er sagte, daß man Ihnen das melden müsse.« »Was er auch tat, und Sie folgten ihm. Sie kamen ein paar Minuten nach ihm zu mir. Was geschah in diesen paar Minuten?« »Nikki verschwand und schluchzte herzzerreißend.« »Und Sie sagten Deeley, sie solle herauskommen?« »Ja.« Wieder das kleine Nicken. »Sie sahen, daß sie mit ihren Füßen alles mit Blut befleckte?« »Ich sagte ihr, sie solle einen Augenblick warten, ich wü rde ein Handtuch aus meiner Kabine holen. Sie wischte sich ihre Füße ab, und ich sagte ihr, sie solle wieder in ihre Kabine gehen, ich würde später 317
noch mit ihr reden.« »Und haben Sie das getan?« »Ja, ich war bei ihr. Sie scheint unter Schock zu stehen. Drei andere Mädchen sind in ihrer Kabine. Sie beruhigen sie. Ich habe mich an den Doktor gewandt, damit er ihr etwas gibt. Ein Beruhigungsmittel.« »Dann ist Ihnen klar, daß Deeley die Hauptverdächtige ist, es sei denn, der Mörder kam sehr schnell heraus, ja? Diese verschmierten, blutigen Fußabdrücke, die plötzlich auf dem Korridor endeten, als wir dorthin kamen… Es waren die von Deeley, wie wir annehmen, die sich ihre Füße mit Ihrem Handtuch abgewischt hatte. Was hatte sie an?« »Einen Morgenmantel – einen Bademantel, den die meisten Mädchen sehr bequem finden.« »Trag sie irgend etwas bei sich?« »Nein.« »Dann gibt’s noch ein anderes Problem. Wir haben die Mordwaffe noch nicht gefunden. Irgendwo muß irgend jemand ein sehr scharfes Messer aufbewahren. Und dann ist da noch die Sache, daß Sie Deeleys Sicherheitsstufe nicht feststellen ließen, als man sie Ihnen in Yeovilton zuteilte.« »Sie war mit Stufe 3 klassifiziert. Nach ihren Unterlagen. Sie hat Geheimmaterial im Hauptquartier der Flotte in Northwood bearbeitet.« »Steht das tatsächlich drin?« »Wollen Sie’s sehen?« »Später. Das ist ohnehin alles gefälscht.« »Was…?« Er ließ sie nicht ausreden. »Leading Wren Sarah Deeley existiert nicht, Clover.« »Was wollen Sie…« Er unterbrach sie wieder, indem er die Frage vervollständigte. »Was ich meine? Ich meine, was ich sage. In Ihrer Abteilung des Service existiert keine Leading Wren Deeley. Das hat mir London bestätigt. Sie ist ein Spitzel, und ich nehme an, daß Ed Morgan das wußte oder zumindest vermutete. Er vermutete auch anderes.« »Das ist verrückt.« »Nein, Sie haben einen schrecklichen Fehler gemacht, Clover. Sie 318
hatten die Verantwortung. Sie hätten sich persönlich davo n überzeugen müssen, daß alle Sicherheitsüberprüfungen tatsächlich stattgefunden haben.« »Oh, mein Gott.« Der Schock in ihrer Stimme und ihrem Gesicht war nicht zu leugnen. »Was sollen wir tun, James?« »Sie meinen, was ich tun soll? Ich werde es Ihnen sagen.« Er sprach etwa zehn Minuten lang und sagte dann, daß er sich sicherer fühle, wenn sie verschwinden würde. »Ich werde einen Marineinfanteristen als Posten abstellen und lasse Sie irgendwo außer Sicht unterbringen. Das wird die Dinge vereinfachen. Dann werde ich mit dem Kapitän sprechen. Danach rede ich mit Nikki Ratnikov. Ich will eine völlig unabhängige Identifizierung des Deeley-Mädchens. Anschließend werde ich sie verhören, und sie wird wahrscheinlich in Gewahrsam genommen und eingesperrt werden, bis wir in Gibraltar sind. Im Augenblick werde ich meine eigenen Leute noch nicht belästigen. Ist sicherer, das direkt von Gibraltar aus zu tun. Okay?« »Was immer Sie sagen, James.« Als er sich erhob, trat sie auf ihn zu, streckte eine Hand aus und ergriff seinen Ärmel. »Jame s, meine Karriere steht auf dem Spiel. Ich bin bei allem genau nach Lehrbuch vorgegangen, habe sogar Ihr Leben vor diesem scheußlichen Mädchen gerettet, das, dessen bin ich mir sicher, Sie noch am Heiligen Abend getötet hätte. Sie schulden mir…« »Und Sie, Clover, sind jetzt mir was schuldig. Ich tue für Sie, was ich kann.« Sie kam näher, und ihr junger Körper preßte sich gegen den seinen. Bond wich zurück und hielt sie auf Armeslänge Abstand. »Später, Clover. Wenn alles vorbei ist, werden wir reden. Warten Sie einfach.« Er ging zur Kabinentür, öffnete sie und sprach mit dem wachhabenden Marineinfanteristen. Während sie warteten, begann das Tannoy zu dröhnen – der Kapitän sagte, daß sie jetzt den Kanal verlassen hätten. »Wir werden noch immer von U-Booten beschattet«, dröhnte er, »aber ich habe erfahren, daß sie keinen Angriffsbefehl haben. Die politische Lage ist die, daß beide Seiten miteinander verhandeln wollen trotz der Tatsache, daß während der Nacht sieben NATO-Basen auf dem europäischen Festland angegriffen worden sind. Dabei sind Schäden unterschiedlichen Ausmaßes entstanden. Ich werde die Brücke für zwei 319
Stunden verlassen, aber Sie sind alle weiterhin in Alarmbereitschaft. Ich werde Sie über jede etwaige Veränderung der Lage informieren.« Das Klicken, das die Durchsage beendete, fiel mit dem Pochen an seiner Kabinentür zusammen. Es war Sergeant Harvey. Der Mann war wie alle anderen an Bord müde, was zu sehen war. Bond verlor keine Zeit damit, Fragen zu stellen und dann Befehle zu erteilen. »Haben Sie einen Platz, an dem wir First Officer Pennington unterbringen können, während ich ein paar Erkundigungen einziehe?« »Ja, Sir. Die Kabine des Marine -Sergeants vom Dienst. Ich bin etwa die nächste Stunde noch dort.« »Gut, bringen Sie sie dorthin und sorgen Sie dafür, daß sie bewacht wird. Es besteht die Möglichkeit, daß sie wie unser amerikanischer Freund letzte Nacht angegriffen wird. Bewachen Sie sie zumindest, bis ich meine Arbeit erledigt habe.« »Wenn Sie mich begleiten wollen, Ma’am.« Sergeant Harvey schien sehr aufmerksam zu sein. Zu Bond sagte er: »Ich sorge dafür, daß sie jede Minute bewacht ist, Sir.« Clover schenkte Bond ein mattes Lächeln, sie sah aus wie jemand, dem viel durch den Kopf ging, dann verschwand sie mit dem Sergeant. Bevor er die Kabinentür schließen konnte, erschien ein junger Leutnant in dem Korridor, der wie alle anderen Durchgänge unter dem Flugdeck gerade so breit war, daß zwei Personen ihn passieren konnten und sich dabei streiften. Bei der amerikanischen Marine, erinnerte sich Bond, hießen sie deshalb »Kniestreifer«. »Mit freundlicher Empfehlung des Kapitäns, Sir. Könnten Sie so schnell wie möglich in seine Arbeitskabine kommen?« »Sagen Sie ihm, daß ich unterwegs bin. Ich wollte ihn ohnehin aufsuchen.« Bond ging wieder in seine Kabine und öffnete den kleinen Schrank, in dem sich ein Handwaschbecken und ein Spiegel verbargen. Er sah unrasiert aus, aber das konnte er später ändern. Für den Augenblick spritzte er sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und fuhr sich mit dem Kamm durch das Haar. »Sie sehen kaputt aus, Bond, wenn ich das so sagen darf.« Konteradmiral Sir John Walmsley sah selbst auch nicht sonderlich gut aus, aber so etwas sagt man einem Konteradmiral nicht – es sei denn, man war Vizeadmiral oder noch höher. Walmsley war offensichtlich in schlechter Stimmung. »Also, Sie haben mir etwas zu sagen? Was 320
denn, zum Beispiel?« Bond fragte sich, wie ein Mann in Walmsleys Position so unbeherrscht sein konnte. »Was meinen Sie – mit zum Beispiel, Sir?« »Nun beispielsweise Ihre Detektivarbeit, ihre Rumschnüffelei. Ob wir alle sicher auf unseren Pritschen schlafen können, beispielsweise. Ob wir eine Bande von Halsabschneidern an Bord haben oder von Raubmördern. Haben Sie den Bastard erwischt, der dem Amerikaner die Kehle durchgeschnitten hat?« »Noch nicht, Sir. Aber es dürfte nicht mehr sehr lange dauern. In der nächsten halben Stunde etwa, es sei denn, ich wandere vorher ins Paradies.« »Und wenn Sie diesen Burschen erwischt haben, meinen Sie, daß es dann sicher genug ist, um das Stewards-Treffen durchzuführen? Vergangene Nacht, oder jedenfalls heute früh, waren Sie ganz dafür, es sein zu lassen.« »Darüber wollte ich mit Ihnen reden, Sir. Darf ich fragen, welche Vereinbarungen mit der amerikanischen Marine hinsichtlich der Kommunikation getroffen worden sind?« Der Konteradmiral nickte und wiederholte fast Wort für Wort, was Admiral Gudeon ihm erzählt hatte. »Und die Russen?« »Nicht ganz so geheimnisvoll.« Walmsley war auf bestem Wege, wieder knappe Antworten zu geben. »Könnten Sie das näher erläutern?« »Ja. Sie können unseren Kommunikationsraum benutzen, haben dabei aber keine großen Freiheiten. Wie Sie wissen, hatten die Amerikaner ihre eigene Ausrüstung an Bord. Den Russen ist zugestanden worden, daß sie ihre Signale en clair über unsere Sender ausstrahlen können. Ich vermute, daß ihre Signale nicht ganz offen sind, wie es scheint. Ich sollte Ihnen sagen, daß sie Morgans Tod gemeldet haben.« »Was ich wirklich wissen müßte, Sir, ist, wieviel Zeit uns Bleibt, um die Sache abzublasen.« »Im Augenblick sind wir für das Stewards-Treffen bereit, Bond. Die Dinge laufen genauso, wie geplant. Das Ganze wird heute abend gegen zehn beginnen. Wenn ich nach sechs eine n Abbruch empfehle, ist die Hölle los. Was macht Ihnen Sorgen? Die Bedrohung durch diese 321
BAST-Halunken? Sie können unmöglich Informationen über das Stewards-Treffen haben.« Bond atmete tief ein. »Gewiß, Sir, werden Sie wissen, daß sie einige Informationen haben. Ich wurde fast umgebracht. In der RNAS Yeovilton wurde unbedacht geredet. Wir hatten einen sehr ernsten Zwischenfall an Bord. Ich kann die Sicherheitsrisike n wirklich nicht einschätzen…« Walmsley fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe Sie nach dem Zwischenfall gewähren lassen, Bond. Es tut mir leid, aber ich werde das Treffen nicht kippen. Wie ich Ihnen zuvo r schon sagte, ist dies von großer politischer Wichtigkeit.« Er wiederholte sich nachdrücklich. »Von großer politischer Wichtigkeit. Und jetzt Ihre ehrliche Meinung: Wenn Sie den Burschen erwischen, der Morgan getötet hat, glauben Sie, daß wir dann aus der Sache raus sind?« »Es könnte ein bißchen sicherer sein«, sagte Bond, wobei seine Stimme todernst klang. »Aber wir können nicht hundertprozentig sicher sein.« »Wie stehen die Chancen?« »Daß ein Versuch ge macht wird, das Stewards-Treffen zu gefährden?« Walmsley nickte. »Fünfzig zu fünfzig. Ob ich den Killer erwische oder nicht, Sir, es stand immer fünfzig zu fünfzig. Wir wissen nicht genug über diese verdammte BAST-Gruppe. Wir wußten nie wirklich etwas darüber. Die Ernsthaftigkeit einer Bedrohung ist immer groß gewesen. Ich meine, wenn unsere Informationen richtig sind, hat BAST Leute verloren und hat eine Menge Geld ausgegeben, um einen Angriff zu organisieren. Wir vermuten, daß der dem Stewards-Treffen gilt, aber wir sind uns nicht sicher.« Sir John Walmsley wartete etwa eine Minute. »Wird es helfen, wenn Sie die Person fassen, die Morgan getötet hat, und wenn Sie sie vernehmen können?« »Wenn es der ist, den ich verdächtige, dann wird ein Ve rhör nicht viel nützen, glaube ich. Denn wenn es, wie ich ve rmute, eine BASTAktion ist, die durchgeführt wurde, um ihre Leute an Bord dieses Schiffes zu schützen, dann wird der Täter sehr gut ausgebildet sein. Er wird bei einem normalen Verhör nicht zusammenbrechen. Und wir 322
werden keine Zeit haben, Spezialisten hinzuzuziehen. Ich glaube in jedem Fall, Sir, daß der Killer wenig weiß. BAST scheint sehr gut durchorganisiert zu sein. Ist das der Fall, werden sie wie gewöhnliche Terroristengruppen arbeiten: Zellen, Sicherungen, der ganze Kram. Das bedeutet – niemand weiß mehr, als er wissen soll oder darf.« Walmsley stand auf und ging in der kleinen Kabine auf und ab. »Wollen Sie mit mir tanzen oder nicht, Bond? Ich will Ihnen etwas sagen. So lange sich nicht irgend etwas ergibt und damit meine ich etwas Schwerwiegendes – werde ich mit der Operation Stewards – Treffen weitermachen, sobald Sie den Killer hinter Schloß und Riegel haben. Ich kann es mir nicht leisten, die Aktion abzubrechen.« »Wie Sie meinen, Sir. Aber dürfte ich vorschlagen, daß alle Teilnehmer eine Art Warnung bekommen…« »Die Warnung haben sie bereits bekommen, Bond. Sie wi ssen langst, daß diese Clowns von BAST einen Versuch starten könnten, die Operation zu gefährden. Alle drei Teilnehmer haben dazu festgestellt, daß man dieses Risiko auf sich nimmt. Mit anderen Worten, sie wollen, daß das Stewards-Treffen so wi e vorbereitet stattfindet.« »Sind sie über Morgan informiert?« Walmsley gab ein unausgesprochenes »Nein« von sich, indem er den Kopf schüttelte und die Lippen schürzte. »Dann geht’s auf deren eigene Verantwortung.« »Leicht gesagt, Bond. Aber solche Leute neigen dazu, wild um sich zu schlagen, wenn etwas passiert. Und wenn sich Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten, wird man uns am Sack haben. Das wissen wir beide.« Bond grunzte. »Wir können uns nicht verstecken, Captain Bond. Was wi r auch unternehmen, die werden uns zum Frühstück verschlucken – gebraten, mit etwas Tomate und Speck, wie ich annehme.« »Dann beschäftige ich mich am besten mit meinem Verdächtigen. Ich werde auch etwas grillen – aber ohne Speck und Tomate.« »Informieren Sie mich.« Walmsleys Tonfall wurde wieder streitsüchtig. »Teilen Sie mir einfach die Ergebnisse mit. Aber nach fünf Uhr Ortszeit heute nachmittag können keine Wetten mehr gesetzt werden. Dann machen wir weiter.« »Aye-aye, Sir.« Bond verließ die Kabine. Zeit, sich mit de r schönen 323
Nikki Ratnikov zu unterhalten – und mit der, die keine Wren war, Sarah Deeley. »James, ich darf Sie doch James nennen, ja?« Nikki Ratnikov schüttelte ihren Kopf. Das glänzende aschblonde Haar wi rbelte und fiel ganz natürlich, ohne daß eine Strähne aus der Reihe tanzte. Bond verstand, warum andere Frauen eine natürliche Antipathie gegen Nikki hatten. »Ja«, sagte er. »Ja, nennen Sie mich James.« »Ich bin ein wenig – détresse … distraite. Oh, das ist Französisch. Wie sagt man doch gleich?« »Deprimiert? Aufgeregt?« »Ja, so ist es. James, ich habe viele schlimme Dinge in meinem Leben gesehen. Viele. Man kann nicht meine Arbeit tun und diesen Dingen ausweichen. Aber das vorher war Wahnsinn. Das war wie Ihr alter englischer Jim the Ripper.« »Jack«, korrigierte Bond. »Jack the Ripper.« »Unnötige Gewalttätigkeit. Dieser arme Mann. Er sah aus, als sei er abgeschlagen, entköpft worden. Heißt das nicht so?« »Enthauptet.« »Ja. Enthauptet. Und das Blut. Es war alles so plötzlich. Erschrekkend.« »Ja, Nikki. Erzählen Sie mit alles. Erzählen Sie mir genau, was geschah.« Obwohl Nikki Ratnikov behauptet hatte, aufgeregt und beunruhigt zu sein, war sie klar und sachlich. »Ja, also – ich wache auf. Ich achte nicht auf die Zeit. Ich wache einfach auf. Bei dem Lärm habe ich nicht viel geschlafen. Aber ich wache auf und merke, daß ich mal… Also, ich muß auf die Toilette, ja?« »Ja.« »Gut. Ich ziehe meinen Morgenmantel an und verlasse die Kabine. Ich schlafe noch ein wenig, James, verstehen Sie?« »Ja, Nikki. Ja, ich verstehe.« »Ich komme auf die Toilette. Ich schaue nach unten, um über die kleine Stufe zu steigen.« »Um über das Schott zu steigen, ja.« »Ich habe meinen Fuß hochgehoben, dann schaue ich hoch, und auf 324
dem Boden ist rotes Wasser. Dann sehe ich das Navy-Mädchen und die Leiche. Mein Gott, ist das ein Schock. Ich weiche zurück und schreie.« »Sie haben viel geschrien, Nikki.« »Es war so plötzlich, diese entsetzliche Wunde und all das Blut auf dem Boden. Dann fing das Navy-Mädchen auch an zu schreien.« Bond hatte die Spuren so gesammelt, wie sie ihm präsentiert worden waren. »Erzählen Sie mir genau, was Sie sahen, Nikki.« Die Leiche hatte mit dem Gesicht nach unten gelegen, als er mit dem Marineinfanteristen und Clover Pennington am Tatort angelangt war. »Das Navy-Mädchen – Sie nennen sie doch Wren, ja?« »Ja.« »Okay. Die Wren beugte sich über den armen Mann, Sie hatte eine Hand auf seiner Schulter und stieß ihn zurück, als ob sie ihn gerade gefunden hätte. Sein Kopf hing nach hinten, und ich konnte die schreckliche, klaffende Wunde sehen. Rot, und die Kehle durchgeschnitten – heißt das so, durchgeschnitten?« Bond nickte ihr zu. »Es war entsetzlich. Sie sah mich und ließ die Schulter des Mannes los. Er fiel auf sein Gesicht. Ich glaube, dann begann sie zu schreien.« »Was hatte sie an, diese Wren?« »Sie hatte Schlafkleidung an und einen weißen Bademantel. Wie aus Handtüchern gemacht, ja?« »Hatte sie kein Blut an dem Bademantel? Wenn sie sich vorbeugte…?« »Sie hockte, wie man so sagt. Sie hatte den Bademantel hochgezogen, damit er nicht in dem Blut hing.« »Und was geschah dann?« »Wir schrien beide, und ein Mann kam, dann ein Wren-Offizier. Sie sagte mir, ich solle in meine Kabine gehen, und das andere Mädchen solle schnell herauskommen.« »Sahen Sie, wie sie herauskam?« »Ja.« »Erinnern Sie sich an etwas Besonderes?« »Nein. Ich lief dann weg.« »Denken Sie nach, Nikki. Haben Sie sonst überhaupt nichts bemerkt? Wie kam sie heraus? Hob sie ihren Morgenmantel, damit er 325
das Blut nicht berührte?« »Ja, daran erinnere ich mich. Sie kam heraus und hielt ihn hoch, aber es war eigenartig… Daran war Blut. Sie hatte Blut an der Brust. An der Vorderseite ihres Bademantels. Ganz oben.« »Ah. Gut, Würden Sie das Mädchen wiedererkennen, Nikki?« »Natürlich. Ich würde sie überall wiedererkennen.« »Gut. Warten Sie bitte einen Augenblick.« »Für Sie, James, mehr als nur einen Augenblick.« Er ignorierte die offensichtliche Einladung, ging zur Kabinentür hinüber und winkte den wachhabenden Marineinfanteristen heran, der draußen stand. »Ich möchte, daß Sie Miß Ratnikov zu dem Durchgang bringen. Holen Sie dann Leading Wren Deeley.« »Jawohl, Sir.« »Nikki.« Er wandte sich wieder an das russische Mädchen. »Ich möchte, daß Sie draußen warten, bis Sie diesen Marineinfanteristen mit einer Wren durch den Gang kommen sehen. Wenn es das Mädchen ist, das Sie letzte Nacht gesehen haben, lächeln Sie sie an. Wenn nicht, schauen Sie beiseite. Ve rstehen Sie?« »Das ist nicht schwer. Lächeln, wenn ich erkenne. Ignorieren, wenn ich nicht erkenne?« »Richtig!« Er wandte sich an den Marineinfanteristen. »Wenn Sie Leading Wren Deeley hier hereinbringen, sagen Sie entweder ›Ja‹ oder ›Nein‹ ›Ja‹ wenn Miss Ratnikov lächelt. ›Nein‹, wenn sie das nicht tut. Kapiert?« »Ja, Sir. Kein Problem.« »Dann los.« Bond legte eine Hand auf Nikkis Schulter. »Gehen Sie jetzt, und, bitte, Nikki, machen Sie’s richtig.« »Ist kein Problem. Ich lächle oder blicke beiseite. Danke, James.« Ehe er sie daran hindern konnte, hatte Nikki die Arme nach ihm ausgestreckt und ihn auf die Wange geküßt, bevo r sie seine Kabine verließ. Aus irgendeinem Grand dachte er an Beatrice und den ersten Kuß, den sie ihm gegeben hatte. Wie er auf seiner Wange gebrannt zu haben schien. Eine winzige schwarze Wolke von Depression drang in seinen Verstand, und er schüttelte seinen Kopf, als versuche er, sich von dem Bild zu lösen, wie er Beatrice da Ricci zuletzt gesehen hatte. 326
Der Rauch, der Blitz und die Explosion, die wenig von ihr übriggelassen hatte. Das Bild wollte nicht weichen, selbst dann nicht, als er zum Telefonhörer griff und den Schiffsprofos verlangte – den »Jaundy«, wie man ihn nannte: der ranghöchste Portepee-Offizier, der über die Mannschaftsdienstgrade fast die Macht Gottes harte, da er in gewisser Hinsicht der Polizeichef des Schiffes war. Bond gab ihm kurze, knappe Befehle und legte den Hörer wieder auf. Der Marineinfanterist öffnete auf Bonds »Herein« die Tür. »Ja, Sir«, sagte er. Also hatte Nikki das Mädchen als die Wren erkannt, die bei der Leiche in der Latrine gewesen war. »Leading Wren Deeley, Sir«, verkündete der Marineinfanterist, und das Mädchen trat durch die Tür, die sich hinter ihr schloß. »Sie wollten mich sprechen, Sir?« Sie war sehr klein, stämmig und offensichtlich gut durchtrainiert. Ihr Gesicht blieb ruhig, und ihre Augen waren fest auf Bond gerichtet. Er blickte ihr Gesicht an. Nicht hübsch, leicht eckig, seltsam maskulin. »Ja, Leading Wren Sarah Deeley.« Er hielt inne. »Das ist doch Dir Name und Dienstgrad?« »Ja, Sir.« Sie zeigte keine Spur von Furcht »Und Ihre Division und Personalkennummer?« »Plymouth. 762845, Sir.« »Schon. Können Sie mir verraten, Deeley, warum es über Sie feine Akte beim Woman’s Royal Naval Service gibt?« »Ich verstehe nicht, Sir.« »Dann sollten Sie aber verstehen, und das schnell, Deeley. Es gibt keine Akte über Sie. Außerdem«, er stand auf und begann, um den kleinen Schreibtisch herumzugehen, »habe ich den Schiffsprofos herbeordert. Sie haben sich als ve rhaftet zu betrachten.« Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Verhaftet we shalb. Sir?« »Wegen Mordes an Edgar Morgan, einem Angehörigen des Secret Service der Vereinigten Staaten.« Er sah nicht einmal, wie ihre Hand sich bewegte. Er registrierte nur das schnelle Glitzern, sah, wie das Messer nach oben zuckte, als sie es hochriß. Und selbst dabei zeigte sich nur in ihren Augen Haß.
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13. DESPERATE DAN Für Bond war es reiner Instinkt und Ausbildung. Deeleys Bewegung war so schnell gewesen, daß er das Blitzen der Klinge nur registrierte. Dann bewegte er sich automatisch. Der Arm des Mädchens war an ihrem Körper vorbeigeschossen, um ihm mit der Klinge des Messers die Kehle aufzuschlitzen. Als sein linker Arm hochfuhr, um den Stoß abzuwehren, nahm er sogar wahr, daß das Messer ein US Marines KBar mit achtzehn Zentimeter langer, rasiermesserscharfer Klinge war. Wer hätte gedacht, daß eine so kleine Frau soviel Kraft haben könnte? Ihre Unterarme prallten gegeneinander, als er den Stich abblockte, und es war, als hätte er mit seinem Arm gegen ein Stahlrohr geschlagen. Sie war jetzt dicht bei ihm, stemmte sich gegen seinen Körper und drehte ihren Arm, um sich zu befreien. Wenn ihr das gelang, würde der nächste Messerhieb schnell und aus einer anderen Richtung kämmen. Für eine Sekunde waren ihre von fanatischem Haß erfüllten Augen auf die Bonds gerichtet. Sie stieß heftig zu und trat dann zurück, so daß sie Raum zum zweiten Stich hatte. Es war der alte Nahkampftrick, und Bond fiel nicht darauf herein. Dieses Mal hatte sie die Klinge umgedreht, so daß sie aus ihrer Faust nach oben ragte, bereit, in der Art des klassischen Messerkampfes von unten zuzustoßen. Sie kam langsam näher, tänzelte in der engen Kabine, wechselte von Fuß zu Fuß und stach dann an Bonds offener linker Flanke zu. Er blockte sie wieder mit seinem linken Unterarm ab und riß seine rechte Hand hoch, um ihr Handgelenk zu fassen, es nach unten zu drücken, das Handgelenk zu drehen und sie damit zu zwingen, die Waffe fallen zu lassen. Aber sie zog mit solcher Kraft an seinem Daumen, daß seine rechte Hand wegglitt, als sei sie mit Butter beschmiert. Jetzt tänzelte sie wieder. Zwei Schritte zurück, eine Finte mit einem dritten Schritt, wechselte dann mit einem Sprung nach rechts, dann eine weitere Finte nach links und geradeaus, und dann ging sie in die Knie und sprang vor. Bond sah die Klinge von unten kommen und drehte seinen Körper nach links ganz herum wie ein Matador, der eine rebolera macht. Die 328
Klinge mußte ihn um Zentimeter verfehlt haben, und Deeley rammte die Spitze gegen die stählerne Kabinenwand. Aber schon wirbelte das Mädchen zurück, bevor Bond auch nur eine Chance zum Zupacken hatte, und stürzte sich wieder auf ihn, das Messer in ihrer geballten Faust diesmal nach unten gerichtet. Wieder blockte Bond ab, bekam ihr Handgelenk mit seiner rechten Hand zu fassen und stieß kräftig mit seinem linken Unterarm dagegen. Mit jedem Quentchen Kraft, das er aufbringen konnte, riß er die Arme hoch und wieder herunter, spürte, wie ihr Arm sich bewegte, und hörte sie vor Schmerz keuchen, als er ihr e Hand gegen die Stahlwand schmetterte. Das Messer fiel zu Boden, aber sie keuchte und kämpfte noch immer. Sie rammte ihm ihr Knie in den Unterleib. Er spürte, wie heißer Schmerz seine Leistengegend durchzuckte, als sie ihn traf, und hörte sich laut aufschreien. Während er sich krümmte, sah er, wie ihre Hand herunterschoß und dann nach dem Messer am Boden tastete. Sein Schrei mußte laut und grell genug gewesen sein, um ihn zu retten. Die Kabinentür wurde aufgerissen, und der junge Marineinfanterist ließ seine Waffe fallen und sprang der Wren in den Rücken, wobei er seinen Arm im Würgegriff um ihren Hals schlang. Einen Sekundenbruchteil später hielten zwei stämmige Seeleute das spuckende und zappelnde Machen an beiden Armen fest und führten es hinaus. »Alles in Ordnung, Sir?« Der junge Marineinfanterist half Bond auf seinen Stuhl. Er hielt sich noch immer gekrümmt, der Bereich um seine Männlichkeit schien in Flammen zu stehen. »Ich denke, ich werd’ mal kurz mit dem Arzt reden müssen«, keuchte er schwer, blickte dann auf und sah, daß der Schiffsprofos im Türeingang stand. »Sperren Sie sie ein«, keuchte Bond. »Buchten Sie sie einfach in die nächste Zelle.« Die Royal Navy benutzte den Ausdruck »Kerker« nicht, der bei der Mariner der Vereinigten Staaten so populär war. »Holen Sie den Offizier vom Dienst, um Anklage gegen sie zu erheben.« »Wegen Angriff auf einen Offizier, Sir?« Der Schiffsprofos hob seine Augenbrauen zum Schluß der Frage auf eine Weise, der zu entnehmen war, daß er diesen Gesichtsausdruck üblicherweise hatte, wenn er Fragen stellte. 329
»Wegen Mord«, korrigierte Bond. Seine Stimme schien wi e von weither zu kommen, da der Schmerz in seiner Leistengegend überwältigend war. »Mord, Sir? Der Amerikaner?« Bond nickte. »Bewachen Sie sie scharf. Ich glaube, daß sie eine Art Psychopathin ist, und sie ist gut trainiert. Ein Killer, der Befehle mit etwa soviel Gefühl befolgt und ausführt, als würde unsereiner einen Käfer zerdrücken. Ich komme bald nach unten, um mit ihr zu sprechen. Die Mordanklage wird schließlich Sache der Kriminalpolizei sein.« Als der Schiffsprofos gegangen war, wurde sich Bond der Worte bewußt, die er gerade ausgestoßen hatte: »Ein Killer, der Befehlen gehorchte…« Wessen Befehlen? überlegte er. Befehlen von draußen oder Befehlen, die ihr an Bord gegeben worden waren? Jemand hatte Sanitätsfregattenkapitän Grant geholt, der über Bonds Schmerzen leicht amüsiert zu sein schien. »Wahrscheinlich wird’s eine Schwellung geben«, sagte er, als er den lädierten Bereich untersuchte. »Ich werde Ihnen schmerzlindernde Pillen geben…« »So lange die mich nicht benommen machen…« Trotz des höllischen Schmerzes kam für Bond der Job zuerst. »Sie werden keine Nebenwirkungen spüren. Ich habe außerdem eine Salbe. Die wird den Bereich betäuben, und Sie we rden für eine Stunde keine Gelüste haben, mit Damen zu spielen, aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht.« Bond merkte, daß er wegen der ganzen Sache ein wenig verlegen war. »Sie wären überrascht«, fuhr der Doktor fort, »wirklich überrascht, mit wie vielen solcher Fälle ich heutzutage zu tun habe. Die Jungs gehen an Land, akzeptieren ein Nein nicht als Antwort und bekommen ein spitzes Knie in die Keimdrüsen. Geschieht ihnen recht. Verdammte machochauvinistische Schwe ine.« »Ich hab’ das bekommen, als ich mich verteidigte«, murmelte Bond widerwillig. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und zu entscheiden, was als nächstes zu tun sei. Eine halbe Stunde später stand er vor den versammelten Leibwächtern der drei Admiräle. Sie hatten sich in der kleinen Messe versammelt die eigens für sie reserviert worden war – derselbe n Messe, in der Moggy Camm, zwei der Russen und Bruce Trimble sich zu einem 330
Drink zusammengefunden hatten, bevor sie sich in der letzten Nacht zur Ruhe begeben hatten. Jetzt wirkte der Raum überfüllt. Nikki Ratnikov saß von ihren Kollegen Iwan, Jevgenij und Gennadij entfernt. Brinkley und Camm, immer noch in Uniform, saßen mit Joe Israel, Bruce Trimble und Stan Hare zusammen. Ihre drei VIPs befanden sich in den für sie reservierten Kabinen, vor deren Türen je ein bewaffneter Marineinfanterist wachte. »Also«, begann Bond. »Wir alle wissen, worum es geht. Unser Kapitän, der Konteradmiral, ist entschlossen, das Stewards-Treffen durchzuführen. Meine Aufgabe ist es, die Sicherheit zu koordinieren, und ich möchte Ihre Meinung wissen, bevor ich Sir John eine Empfehlung gebe. Nicht, daß er meinen Rat befolgen würde, aber ich meine, wir arbeiten als Team, und ein Team muß in einem solchen Geschäft hundertprozentig einer Meinung sein. Es hat einen Toten gegeben, und wir wollen keinen weiteren.« Nikki sprach für die Russen. »James, Sie müssen uns beraten. Wir haben hier eine heilige Pflicht. Von heute abend an werden wir unter Druck stehen. Glauben Sie, daß wir nach der Ermordung des amerikanischen Agenten um das Leben derer fürchten müssen, die wir zu bewachen haben?« »Der Mord bedeutet sicher, daß es dieser kleinen Terroristengruppe – falls es die ist – gelungen ist, die Invincible mit mindestens einer Person zu infiltrieren. Wenn eine da ist, können nicht auch andere da sein? Ich muß Ihnen allen mitteilen, daß Ed Morgan sehr besorgt war. Und ich kann Ihnen soviel sagen, daß er sich auf die Latrine der Wrens begab, um eine Reihe von Namen auf Band zu sprechen – Namen von Leuten, die sich auf diesem Schiff befinden. Er wollte, daß ihre Sicherheit überprüft wurde. Nun, ich habe diese Überprüfung durch London vornehmen lassen. Die einzige, die dabei auffiel, war das Mädchen, das wir heute morgen festgenommen haben.« Joe Israel blickte interessiert auf. »Das ist das erste Mal, daß einer von uns erfährt, daß Ed Zweifel hatte. Sind Sie Sicher, daß er nicht nur einen Zufallstest gemacht hatte? Oder war er im Besitz von Informationen, die keinem von uns bekannt sind?« »Ich weiß es nicht.« Es gab für Bond keinen Anlaß, nicht offen zu sein. »Ich muß noch mit dem Mädchen reden, das wir verhaftet haben. Sie war, was manche Leute als ›eiskalten Killer‹ bezeichnen. Ich mag 331
diesen Ausdruck nicht. Aber das ist sie eben.« »Können Sie uns die anderen Namen nennen, die Morgan auf seiner Liste hatte?« »Ich glaube, das wäre in diesem Stadium nicht fair. Sie alle sind als völlig sauber von London bestätigt worden.« Brinkley besprach sich eine Minute lang intensiv flüsternd mit seinem Partner. Dann sagte Brinkley, die Sache könne nach ihrer Meinung weiterlaufen. »Es müßte für jede Terrororganisation schwer sein, ein Schiff der Royal Navy zu infiltrieren. Daß sie einen reinbekommen haben, ist fast ein Wunder. Von einem Angriff von außen abgesehen, halten wir die Sache für neunzigprozentig sicher. Wir sind dafür, daß es wie geplant weitergeht.« Bond nickte. Innerlich fühlte er sich dennoch unglücklich. Sie hatten BAST für einen Kleckerverein gehalten, aber das stimmte nicht, und vor allem beunruhigte ihn das Eindringen dieser einen Person. Er blickte zu Joe Israel hinüber. »Was meint unser Kontingent der Vereinigten Staaten?« »Ich denke, wir halten es mit den Briten. Sicher besteht Gefahr, aber das gehört nun mal zum Job. Wir sind dafür.« »Sie haben einen Mann weniger.« »Ich nehme an, daß man sich darum kümmert. Admiral Gudeon war aktiv, und ein anderer Mann ist schon unterwegs.« Bond merkte sich, daß er mit dem Kapitän darüber zu sprechen hatte. Nun sah er Nikki an. »Sie sind Führungsoffizier unserer russischen Genossen, Nikki. Was sagen Sie?« »Unsere Leute sind die besten der Welt. Wir machen we iter.« »Dann sind wir alle einer Meinung?« In der kleinen Messe wurde ringsum zustimmend gemurmelt. Also sei es, dachte Bond. Sie schienen gute, trainierte und erprobte Leute zu sein. Jetzt mußte er mit Sir J ohn Walmsley sprechen. Danach war das Mädchen an der Reihe, Deeley, obwohl er keine großen Hoffnungen hatte, sie kleinzukriegen. »Sie haben also beschlossen, sich dabei nicht gegen mich zu stellen?« Sir John Walmsley sah erfreut aus wie ein Mann, der eine große Schlacht gewonnen hat. »Es geht nicht darum, gegen Sie zu sein.« Bond sprach fast übertrieben ruhig. »Wir haben die Möglichkeiten abgewogen, ob dies ein 332
einmaliger Zwischenfall ist. Davon sind wir nicht ganz überzeugt, aber jeder der drei Leibwächtergruppen scheint das Risiko für ausgeglichen zu halten.« »Eine einfühlsame Entscheidung«, knurrte Walmsley, der wohl wußte, daß er sich über jeden Versuch, das Stewards-Treffen abzusagen, hinweggesetzt hätte. »Ich brauche Antworten auf ein paar Fragen, bevo r ich mit dem Mädchen Deeley rede…«, begann Bond. »Ja?« schnappte der Konteradmiral. »Wenn ich befugt bin. Antworten zu geben, kooperiere ich. Schießen Sie los.« »Erstens müßte ich etwas über Ed Morgan erfahren.« »Er gehörte nicht zum amerikanischen Secret Service, aber ich denke, das wissen Sie bereits.« »Ja, mir war klar, daß er kein normaler Leibwächter war. Ich bin ziemlich sicher, daß er zum Geheimdienst der Marine gehörte und mit einem Spezialauftrag an Bord kam.« Bond hatte noch nicht all seine Karten auf den Tisch gelegt. »Das stimmt.« »Können Sie mir etwas über diesen Spezialauftrag sagen?« Walmsley tat, als überlege er ein paar Sekunden. »Nun, er hatte Vollmacht, Einblick in die Akten jeder Person auf diesem Schiff zu nehmen.« »Hatte er Zeit, das zu tun?« »Mmmmh-« Das war nichtssagend, aber der Konteradmiral spielte mit Bond. Walmsley war einer dieser Männer, die gerne ihre Autorität zeigen. Er hoffte auf eine sehr rasche Beförderung, wenn die Operation mit der Bezeichnung Stewards-Treffen problemlos ablief. Doch das war natürlich nicht bekannt. Schließlich entschied er, daß es sicherer sei, die Wahrheit zu sagen. »Er kam zwei Tage vor Beginn von Landsea ‘89 an Bord.« »Zwei Tage vorher?« Walmsley nickte. »Er verließ das Schiff kurz vor Ihrer Ankunft. Dann kam er mit Gudeon und den anderen wieder, und in diesen beiden Tagen ist er sämtliche Akten durchgegangen, Er war an Ihnen sehr interessiert, Captain Bond. Sehr interessiert.« »Und nach seiner Rückkehr sah er sich weiter die Akten an?« »Das tat er. Gibt’s noch etwas?« 333
»Ja, Sir. Mir ist berichtet worden, daß die Amerikaner Ersatz schikken. Richtig oder falsch?« »Richtig. Er wird vor dem Stewards-Treffen hier sein.« »Haben wir einen Namen?« »Dan Woodward. US Marinegeheimdienst. Wie nicht anders zu erwarten, ist er seinen Freunden und Kollegen als Desperate Dan bekannt. Nun, Captain Bond, noch etwas?« »Nur noch eine Kleinigkeit. Die Wren-Abteilung, die an Bord ist…« »Verdammte Frauen auf einem Schiff. Ich habe das nicht gutgeheißen.« »Sir, wir beide wissen, warum sie hier sind. Wir wissen, daß das Stewards-Treffen dadurch erleichtert wird. Darf ich fragen, Sir, welche Aufgaben ihnen inzwischen zugewiesen sind?« »Fragen Sie, weil sich eine von denen als Attrappe erwi esen hat?« »Zum Teil.« »Warum fragen Sie nicht ihren Offizier, wie heißt sie gleich? First Officer Pennington?« »Weil ich eine unabhängige Quelle bevorzuge.« Konteradmiral Walmsley saugte an seinen Zähnen. »Sie wi ssen, daß sie alle die höchste Sicherheitsüberprüfung bestanden haben?« »Ja, Sir, und das beunruhigt mich. Der eine Eindringling war unter den Wrens. Ich weiß, daß London sagt, sie seien alle überprüft worden, aber ich möchte das nochmals überprüfen.« »Schön. Wir setzen sie gut ein, Bond. Sie tun alles, wozu sie ausgebildet sind. Wir haben sie im Schichtdienst in der Kommunikation eingesetzt, in den Schreibstuben und, damit sie in Hausfrauenpflichten geübt bleiben, beim Küchendienst. Ich habe das zur Bedingung dafür gemacht, daß das Kommando an Bord kommt. Noch etwas?« Bond schüttelte den Kopf. Die Wrens waren also überall auf dem Schiff. In der Küche, im Kommunikationsraum und als Schreiber. Als Schreiber bezeichnete man in der Royal Navy Sekretäre oder Büromitarbeiter. »Gut, denn wir spielen bei Landsea ‘89 eine große Rolle, und wir werden noch immer von drei Atom-Unterseeboten beschattet. Ich muß wieder an die Arbeit. Kann nicht alles Jimmy the One überlassen.« Nachdem Bond den Konteradmiral verlassen hatte, suchte er Joe Is334
rael auf, der sich in der Kabine ausruhte, die mit den drei amerikanischen Secret Service-Männern belegt war. Bruce Trimble war bei ihm, während Stan Hare seinen Dienst als Leibwächter für Admiral Gudeon verrichtete. »Sie wissen, wer Ed Morgans Platz einnimmt?« fragte er die beiden. »Ein Typ vom Marinegeheimdienst«, sagte Israel, der nicht erfreut wirkte. »Sein Name ist Woodward. Dan Woodward.« Trimble grinste. »Man nennt ihn Desperate Dan, wie wir hörten.« »Wie wir hörten?« »Der Admiral schickte letzte Nacht eine Nachricht an Washington – nach Eds Tod. Die Antwort kam sehr schnell. Ich glaube, daß Desperate Dan in London ist. Er muß irgendwie in der Nähe sein weil sie ihn bereits morgen am frühen Abend erwarten.« »Kennen Sie ihn?« fragte Bond. »Nur dem Namen nach. Habe nie mit ihm zusammengearbeitet«, kam es von Israel. »Und Sie?« fragte er Trimble, der den Kopf schüttelte. »Und was ist mit Stan? Kennt er diesen Burschen Woodward?« »Nein. Keiner von uns kennt ihn.« »Okay.« Bond nahm seine Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich schlage vor, daß Sie ihn ein bißchen verbal überprüfen, wenn er an Bord kommt. Die üblichen Dinge. Amerikanismen, Leute in Washington, Leute, die jemand von Ihnen beim Marinegeheimdienst kennt.« »Sie glauben, er ist nicht sauber?« »Ich weiß es nicht.« Bond zuckte die Schultern. »Ich denke nur, wir sollten Vorsichtsmaßnahmen treffen.« In seinem Zimmer im The Rock Hotel auf Gibraltar bekam Bassam Baradj kontinuierlich Informationen über die Vorgänge auf der Invincible. Sein Kurzwellenempfänger, der über eine Mitschneideeinrichtung verfügte, fing Signale von seiner Hauptquelle an Bord des Schiffes auf, obwohl die letzten Meldungen, die in den frühen Morgenstunden eingetroffen waren, ihn zweifeln ließen, ob dieser Informationsfluß noch lange währen wü rde. Er wußte vom Tod des amerikanischen Geheimdienstmannes und kannte die wahrscheinlichen Konsequen335
zen. Er wußte auch, daß die Amerikaner Washington benachrichtigt hatten und daß Washington sie an die Botschaft in London verwiesen hatte. Seitdem hatte er keine weiteren Mitteilungen bekommen und befürchtete das Schlimmste. Die einzige andere Que lle, die mit BAST in Verbindung stand, war ein Maschinenmaat, und Baradj wußte, daß letztlich alles von diesem einen erpreßten Mann abhing. Sofort nach Abhören der Nachricht, die die amerikanische Botschaft am Londoner Grosvenor Square betraf, hatte Baradj das ihm einzig Mögliche getan. Auf ein langes Telefonat mit London folgte ein langes Treffen mit seinem Kollegen Abou Hamarik. Sie kamen beide zu dem Schluß, daß das Endergebnis das Risiko wert war, obwohl Hamarik nicht die leiseste Ahnung hatte, daß Baradj nicht die Absicht hatte, ihn oder andere BAST-Mitglieder an den zu erwartenden Reichtümern zu beteiligen. Das hätte ohnehin nichts geändert, da Baradj seinen Plan sowieso verwirklichen wollte; für ihn war es lebenswichtig, Hamarik benutzen zu können. Er hielt es für eine glückliche Entscheidung, daß er »Den Mann« – Abou Hamarik – für die Arbeit in Gibraltar ausgewählt hatte. Ali AI Adwan, die einzig mögliche Alternative, war von Bond bereits im Lager Northanger gesehen worden. Trotzdem – alles in allem war Baradj glücklich. Die beiden Männer, die er in London hatte, waren gut und bestens dafür ausgerüstet, das auszuführen, was getan werden mußte. Daniel Woodward verfügte über ein angenehmes Apartment in Knightsbridge. Nicht luxuriös, aber etwas, das er sich mit seine m Gehalt als Stellvertretender Marineattache im Geheimdienst bei der Botschaft leisten konnte. Er fand auch, daß es eine Adresse war, die gut zu den Frauen paßte, mit denen er sich regelmäßig traf. Es war, als fühlten sie sich sicher, wenn sie ihn nach Knightsbridge begleiteten. Die neben ihm im Bett lag, murrte im Schlaf, als das Telefon um drei Uhr morgens klingelte. Sie murrte noch mehr, als er sie weckte und ihr sagte, er müsse sofort zur Botschaft. »O Gott, wie spät ist es denn, Liebling?« Sie war eine atemberaubende Rothaarige, die im Sekretariat der Botschaft arbeitete. »Viertel nach drei. Tut mir leid, Süße, aber ich muß dich nach Hause bringen. Ich weiß nicht, wie lange ich weg sein werde. Ich soll 336
einen Koffer mitnehmen, was bedeutet, daß ich wahrscheinlich aufs Festland fliege. Tut mir leid, aber ich kann dich nicht einfach hierlassen. Du kennst die Vorschriften der Botschaft, daß die Alarmanlagen der Wohnungen eingeschaltet sein müssen, wenn Personal das Land verläßt.« Er rannte herum und packte seinen Koffer. Sie schlief noch halb, als er sie zu ihrem Apartment nahe der Great Russell Street zurückfuhr. Die ganze Geschichte bedeutete, daß er erst um halb fünf in der Botschaft sein konnte, obwohl er morgens um Viertel nach drei alarmiert wo rden war. Der Marineattache, ebenfalls beim Geheimdienst, wartete bereits auf ihn, und dieser Herr mochte es nicht, wenn man ihn warten ließ, weshalb er mit einer vollen Breitseite rechnete, als er das Büro betrat. Statt dessen war der Attache sanft. »Ist in Ordnung, Dan,« Der Marinegeheimdienst-Attache war ein steifer, großer, silberhaariger Mann. »Sie haben viel Zeit. Wir haben die Dokumente schon vorbereitet. Ich muß Ihnen nur kurz die Lage geben. Ihre Maschine geht erst um zehn Uhr von London-Gatwick. Wir haben also Zeit.« Die Verzögerung, zu der es durch die Anwesenheit der Rothaarigen in Dan Woodwards Apartment gekommen war, hatte Probleme verursacht, von denen sonst niemand wußte. Ein Taxi, dessen Freizeichen ausgeschaltet war, hatte bereits fünfzehn Minuten vor dem Eintreffen Woodwards in einer der Parkbuchten gestanden, die sich in der Mitte des Grosvenor Square befinden. Der Fahrer schien ein Nicke rchen zu machen. Im Fond war niemand zu sehen. »Das muß er sein. Es sei denn, sein Boß begleitet ihn. Hat einen Koffer und all das«, sagte der Fahrer. Der andere Insasse, der hinten im Taxi auf dem Boden lag, murmelte etwas von einem Paßfoto. »Mit etwas Glück werden wir Zeit haben, uns dämm zu kümmern. Beim ersten Zeichen von Leben in der Lobby der Botschaft schalte ich mein Freisignal ein, und wir laden ihn ein. Falls sie für ihn ein Taxi bestellt haben – wir kennen seinen Namen und sind wahrscheinlich vor ihrem Taxi da, Falls es ein Wagen der Botschaft ist, müssen wir eben etwas sehr Häßliches tun.« Woodward, der den aufregendsten Einsatzbefehl seiner Laufbahn bekommen hatte, trat um sechs Uhr fünfundvierzig auf die Stufen der 337
Botschaft, trag einen Koffer und hielt nach dem Taxi Ausschau, das sie offensichtlich für ihn bestellt hatten. Das Taxi, das seit den frühen Morgenstunden geparkt hatte, setzte schnell zurück und fuhr an der Botschaft vor. Der Fahrer reckte den Hals aus dem Fenster und rief: »Mr. Woodward?« Dan Woodward antwortete mit einem Winken und einem Lächeln und eilte die Stufen hinunter. In der Nähe waren nur wenige Leute, und niemand hatte gesehen, wie der zweite Mann beim Zurücksetzen hinten aus dem Taxi geglitten und um die Ecke auf die Upper Grosvenor Street verschwunden war. Der Fahrer war sehr schnell, nahm Dan Woodwards Koffer und verstaute ihn auf dem Vordersitz. »Wohin geht’s, Chef?« fragte der Taxifahrer. »Niemand sagt mir was.« »Gatwick. Abflug. Nordterminal.« »Und wieviel Zeit haben wir?« Das Taxi fuhr schnell los, fuhr um den Square herum und bog auf die Upper Grosvenor Street. »Meine Maschine geht um zehn. Also spätestens halb zehn dort.« »Da haben wir alle Zeit der Welt«, sagte der Taxifahrer und bog nach links ab, wo sein Kollege langsam Richtung Park Lane spazierte. »Entschuldigen Sie, Sir.« Der Taxifahrer beugte sich zu dem kleinen, geöffneten Schiebefenster zurück. »Da ist’n Kumpel von mir. Ich möchte ihm was sagen.« »Aber bitte.« Das Taxi hielt vor dem Fußgänger, und der Taxifahrer beugte sich heraus und rief: »Nobby, kannst du Di was ausrichten? Ich muß nach Gatwick raus. Ich ruf sie von dort an.« Der Mann näherte sich dem Taxi, als habe er Schwierigkeiten, den Taxifahrer zu verstehen. Dann, als er auf Höhe der hinteren Tür war, riß er sie auf, und Dan Woodward starrte plötzlich in das falsche Ende einer Heckler & Koch, neun Millimeter, deren Mündung durch einen Schalldämpfer veranstaltet war. »Eine falsche Bewegung, und Sie sind tot«, lächelte der Fußgänger, schob sich in das Taxi neben den überraschten Woodward, und das Taxi fuhr langsam an. Als sie die Abzweigung erreicht hatten, die sie auf die Park Lane brachte, war Woodward bereits bewußtlos. Er hatte nicht einmal gespürt, wie das Betäubungsgeschoß durch seinen Mantel in seinen Arm drang. 338
Das Taxi fuhr Richtung Netting Hill, wo es einen Umweg fahren mußte, um auf die M 25 und weiter nach Gatwick zu gelangen. Auf der Bayswater Road bog es nach rechts in eine Sackgasse ab und hielt vor einem dieser ruhigen kleinen Marstallhäuser, die jetzt in London ein Vermögen kosten. Das Taxi parkte sehr dicht an der Tür, und der Fahrer und sein Begleiter stiegen aus. Eine Frau in Schwesterntracht wartete bereits in der offene n Haustür. Innerhalb zweier Minuten hatten sie den bewußtlosen Woodward hineingebracht, und der Fahrer kam heraus, um seinen Koffer zu holen. Sie legten den bewußtlosen Mann auf ein Sofa. »Er wird vierundzwanzig Stunden weg sein«, sagte der Fahrer zu der Frau, während er Woodwards Taschen filzte. Inzwischen beschäftigte sich sein Partner mit den Kofferschlössern. »Wir helfen Ihnen, ihn in den sicheren Raum zu bringen. Er muß an die vier oder fünf Tage ruhig sein. Ah…« Er fand ein Bündel Papiere, darunter einen Paß und einen Stoß amtlich aussehender Dokumente. Er setzte sich vor das Sofa und sah die Papiere durch. Stirnrunzelnd stand er auf, ging zum Telefon, wählte die Vorwahl vo n Gibraltar und die Nummer des Rock Hotels und bat um Verbindung mit Mr. Underwood. »Sehr dringend«, sagte er. In Gibraltar warteten Baradj und Hamarik. »Okay«, sagte der Mann in London. »Sie brauchen einen Diplomatenpaß der Vereinigten Staaten. Ist das schwer?« »Das können wir hier regeln. Lesen Sie nur die Einzelheiten vor.« Der Mann in London gab die restlichen Informationen durch. »Wir haben ein Problem. Sie wollen ihn von Flug BA 498 abholen, der um 13 Uhr 45 Ortszeit eintrifft. Sie haben tatsächlich aufgeschrieben, wie der Kontakt vor sich gehen soll, was bedeutet daß sie ihn nicht ke nnen«. »Gibt es eine Kontaktnummer?« »Ja.« »Gut. Geben Sie die mir.« Der Mann in London rasselte die Ziffernfolge herunter, und Baradj erwiderte: »Okay. Sind die Dokumente wichtig?« »Ja. Es sind seine Befehle, und außerdem ist da ein Papier, das er den Burschen zeigen muß, die ihn abholen.« »Gut. Benutzen Sie Ihren eigenen Paß, aber checken Sie als Wood339
ward ein. Den Unterschied stellen sie an der Abfertigung nie fest. Nur die Menge der Paßkupons muß mit der Anzahl der Passagiere übereinstimmen. Es ist nichts Schlimmes, unter anderem Namen zu reisen – es sei denn, man ist ein Verbrecher, was Sie natürlich nicht sind. Sie kommen durch die kleine Halle, die gewöhnlich sehr belebt ist. Auf deren rechter Seite finden Sie die Herrentoilette. Die ist ziemlich eng und unangenehm, aber dort wird ein Mann warten. Der hat einen Woodward-Paß bei sich. Er wird Ihnen die Papiere und den Koffer abnehmen, herauskommen und dann den Kontakt herstellen. Und jetzt, Bob, sind Sie dran. Sonst niemand. Ich vertraue Ihnen. Und jetzt müssen Sie sich beeilen. Also, los.« Bond hatte recht gehabt: Das Mädchen, das sich Sarah Deeley nannte, weigerte sich einfach, irgendwelche Fragen zu beantworten. Sie saß mit einer Art Zwangsjacke gefesselt in der Zelle und blickte Bond starr in die Augen, während er Frage auf Frage losließ. Nur ein paarmal lächelte sie ihn an. Nachdem eine Stunde so vergangen war, gab er auf. Es war am besten, sie den Profis zu überlassen, wenn sie in Gibraltar waren. Der Konteradmiral war auf der Brücke, als er das Scheitern seiner Mission meldete. »Haben Ihre Leute irgendwelche Spezialisten in Gibraltar?« fragte Walmsley. »Warum, Sir?« »In zwanzig Minuten startet ein Sea King nach Gibraltar. Geht nur hin und zurück, um in Gibraltar aufzutanken. Sie holen Morgans Ersatz.« »Desperate Dan?« Walmsley schien jeden Humor verloren zu haben, der vielleicht sonst hinter seinen kalten blauen Augen steckte. »Ich glaube, so wird er genannt. Haben Sie jemanden in Gibraltar?« »Ich muß das überprüfen, Sir. Wenn die Antwort ja lautet, werde ich dafür sorgen, daß er mitgebracht wird« »Geben Sie mir vor dem Start Bescheid Sie haben nur zwanzig Minuten.« Bond brauchte fünfzehn Minuten, um Kontakt herzustellen. Ja, sie hatten einen Verhörspezialisten dort, der den für seinen Job unglaubli340
chen Namen Donald Speaker, also Sprecher, trag, und der gerne etwas tun würde. Und so stand der Sea King von der Invincible aufgetankt auf dem Hubschrauberlandefeld abseits des Abfertigungsgebäudes, als Flug BA 498 mit etwas Verspätung landete. Die dreiköpfige Besatzung war an Bord, und außerdem Donald Speaker, ein rotbärtiger, nachlässig gekleideter Mann, der wie ein Bankinspektor aussah. Der Korvettenkapitän des Führungsstabes der Invincible wartete in der Ankunftshalle, die in Gibraltar zugleich die Abflughalle ist Er bemerkte nicht, daß ein Passagier von BA 498 mit seinem Gepäck durch die Tür kam und sich direkt zur Herrentoilette begab. Ein paar Sekunden später kam ein anderer Mann heraus, der dasselbe Gepäckstück trug und den Paß in seiner linken Hand vor seiner Brusttasche hielt. Für den Korvettenkapitän war das ganz einfach der Mann, auf den er gewartet hatte, da er ihm alle Zeichen gab – den Koffer in der rechten Hand, den Paß in der linken Hand, diese bis zur Brusttasche erhoben, aus der seine Bordkarte ein paar Zentimeter herausragte. Der Korvettenkapitän lächelte und trat auf den Zivilisten zu. »Mr. Woodward?« »Ja, ich bin Dan Woodward«, sagte Abou Hamarik. »Wollen Sie meine Erkennungskarte sehen?« »Wir sollten uns besser beeilen. Ich heiße übrigens Hallam«, grinste der Korvettenkapitän. »Ihr Diplomatenstempel sieht verdammt beeindruckend aus. Willkommen an Bord, Mr. Woodward« »Sagen Sie einfach Dan.« Sie überquerten das Vorfeld und begaben sich schnell zu dem Sea King. Dabei sahen sie, wie die Stoplichter aufflammten und der Verkehr auf der Straße zum Stillstand kam, die direkt über die Startbahn führte. Ein Tornado der Royal Air Force schoß mit voll ausgefahrenen Bremsklappen dröhnend heran. Ihre Ohren hallten, als sie den Sea King erreichten. Der Mannschaftsdienstgrad half ihnen hinein, und Hallam stellte ihn allen vor. Speaker nickte ihm nur zu, als ob er etwas dagegen hatte, daß Amerikaner kostenlos mit Hubschraubern der Royal Navy flogen. »Toll«, sagte Hallam, kurz bevor die Rotoren sich zu drehen begannen. »Wir sind rechtzeitig zum Stewards-Treffen zurück.« »Was ist ein Stewards-Treffen?« fragte Speaker. Er sprach mit 341
leichtem, nicht identifizierbarem Akzent und näselte etwas. »Bedaure.« Hallam wandte sich mit einem Lächeln an ihn. »Wenn Sie nicht wissen, was das ist, sind Sie nicht dafür klassifiziert. Richtig, Dan?« »Völlig richtig«, sagte Abou Hamarik. Bald, dachte er, würde die ganze Welt von dem Stewards-Treffen erfahren. Und es würde Dinge geben, von denen die ganze Welt lieber nichts wi ssen wollte. Der Sea King stieg vom Startplatz auf, senkte seine Nase, drehte vom spanischen Festland ab, flog eine Kurve und nahm Kurs auf die See und auf HMS Invincible.
14. STEWARDS-TREFFEN »Achtung! Achtung! Hier spricht der Kapitän.« Sir John Walms-leys Stimme gellte aus dem Tannoy-System des Schiffes, und wie immer stellten alle Dienstgrade ihre Arbeit ein und hoben die Köpfe, um zuzuhören. Die Invincible hatte ihre Fahrt so weit verlangsamt, daß sie sich in der leichten See kaum mehr bewegte. Um 22 Uhr war es draußen pechschwarz, aber das Flugdeck war hell erleuchtet, und ein Suchund Rettungs-Sea King schwebte an der Backbordseite. »Ich möchte, daß alle Dienstgrade zuhören, und das sehr genau. Das U-Bootrudel ist noch immer bei uns, obwohl ich sicher bin, daß man uns keinesfalls daran hindern wird, Gibraltar zu erreichen. Hinsichtlich des Manövers Landsea ‘89 gibt es ein politisches Patt, die Gespräche zwischen den verschiedenen Ländern werden morgen früh wieder aufgenommen. Bisher sind keine weiteren Zwischenfälle innerhalb der Grenzen des europäischen Kontinents gemeldet worden, obgleich unsere Streitkräfte noch immer hinter feindlichen Linien operieren. Soviel zu Landsea ‘89. Jetzt muß ich sehr ernst über die Realitäten sprechen und über das, was heute abend an Bord der Invincible geschieht. In diesem Augenblick ziehe ich alle Wachen ab, bis auf Offiziere und Dienstgrade, die besondere Befehle befolgen müssen und auf dem Hauptdeck, in der Flugleitzentrale und auf der Brücke anwesend zu sein haben. Dies 342
geschieht aus Gründen der Sicherheit, und jedermann, der sich ohne Befehl auf dem Hauptdeck, in der Flugleitzentrale oder auf der Brücke befindet, hat mit schwerer Bestrafung zu rechnen. Die Betreffenden könnten sogar ernsthaft verletzt werden. Auf allen Kajütentreppen und an allen Schotten, die zu den Sperrbereichen führen, sind Marineinfanteristen postiert. Sie sind bewaffnet, und es gibt eine Losung, die nur denen bekannt ist, die berechtigt sind, auf dem Hauptdeck zu arbeiten. Sie werden Hubschrauber landen und starten hören. Das liegt daran, daß die VIPs, die wir seit Beginn von Landsea ‘89 an Bord hatten, uns verlassen werden. Jedoch werden andere VIPs an Bord kommen, und das ist jetzt eine Geheiminformation. Bis sie über die Aufhebung der Geheimhaltung informiert werden, darf kein Offizier, Bootsmann, Offizierstellvertreter, Gefreiter oder Matrose über irgend etwas sprechen, das er an Bord der Invincible im Lauf der nächsten Tage gesehen hat. Wenn jemand außerhalb dieses Schiffes darüber redet, so möchte ich Sie daran erinnern, daß dies als Verstoß gegen die allgemeinen Geheimhaltungsvorschriften gilt, der entsprechend geahndet werden wird. Um den Ernst dieser Lage zu erfassen, sollten Sie wissen, daß vier voll bewaffnete und startklare Sea Harriers auf und um die Bugrampe bereitstehen werden, bis wir Gibraltar erreicht haben. Zwei Piloten der Fluggruppe werden von jetzt an vierundzwanzig Stunden täglich in Einsatzflugbereitschaft sein. Das ist alles.« Bond sah in der Flugleitzentrale, daß das keineswegs alles war, da die ersten beiden Sea Harriers nicht nur in Position standen, sondern in ihren Cockpits auch Piloten saßen, die Düsen summten im Leerlauf. Abgesehen davon war es ein seltsam unwirklicher Anblick, die blitzenden Lichter der drei Hubschrauber zu sehen, die hintereinander gestaffelt auf das Heck zuflogen. Die Wolkendecke lag so hoch, daß er in der Dunkelheit nur die zuckenden roten und grünen Positionslichter erkennen konnte. Aber vom Flugleitoffizier wußte er, daß der erste Hubschrauber eine Meile entfernt war und sich mit einer Geschwindigkeit vo n etwa fünfzig Knoten näherte. Die beiden anderen flogen in Abständen von dreihundert Metern gestaffelt. Der Sea King war jetzt zu sehen, und ein Lichtstrahl schoß aus seiner Nase, als der Halogenscheinwerfer eingeschaltet wurde. Er kam 343
heran und verhielt schwebend, während der Flugdecksmaat und seine Männer ihm durch Signale bedeuteten, etwa hundert Meter hinter den beiden Sea Harriers zu landen, die hinter der Ski-Rampe als Reserve standen. Niemand näherte sich dem Sea King, als dessen Rotoren allmählich langsamer wurden. Sie zerschnitten noch pfeifend die Luft, als der Hubschrauber der US Marine hinter ihm hereinkam, gefolgt von dem riesigen, zweiflossigen Kamow-25, der mit seinen beiden gewaltigen gegenläufigen Rotoren, die Nase voran, aufsetzte und dessen Turbinen vor dem Abschalten noch einmal aufbrüllten. Bond konnte nur einen kurzen Blick auf die drei VIP-Offiziere werfen, den britischen, amerikanischen und russischen Admiral, die zu ihren Hubschraubern gebracht wurden. Dann erloschen die Lichter auf dem Hauptdeck, und nur die schwachen blauen Leitlichter brannten noch, die von den Hubschraubern zu den Hauptschotten der InselAufbauten führten. »Zeit, daß Sie sich dem Empfangskomitee anschließen, Captain Bond.« Der Commander schaute ihn an. Bond nickte und verließ mit einem »Viel Glück!« die Flugleitzentrale; er trappelte die Kajüttreppe hinunter und begab sich zu den Kabinen, die bislang von dem Admiralstrio und ihren Leibwächtern belegt gewesen waren. In der Stunde, die vergangen war, seit er sich zum letztenmal in diesem Teil des Schiffes aufgehalten hatte, war viel geschehen. Die Böden der Korridore waren jetzt mit dicken roten Te ppichen ausgelegt und drei Teile des langen Korridors, die von James Bonds Kabine zu den Wren-Quartieren führten, waren durch nette Holztüren voneinander abgetrennt, deren Pfosten man in die Schottenträger geschraubt harte. Die Türen waren geöffnet, und er konnte bis zum Gangende hinunterschauen, wo die ganze Wren-Mannschaft Aufstellung bezogen hatte; Clover Pennington ging ängstlich vor der Formation auf und ab. Im mittleren Teil stand der neue Mann vom Marinegeheimdienst, Woodward, begleitet von zwei bewaffneten Marineinfanteristen. Woodward zwinkerte Bond zu, hob seine rechte Hand und reckte den Daumen, worauf Bond ebenso antwo rtete. In der Tür, die ihm am nächsten war, standen Nikki Ratnikov und Jevgenij Stura, ebenfalls begleitet von zwei Royal Marines, wogegen ein weiteres Paar mit 344
Sergeant Harvey im Kielwasser geduldig an einer Seite von Bonds Kabinentür wartete. Bond nickte dem Sergeant zu. »Geht jede Minute los«, sagte er, und kaum waren die Worte über seine Lippen geko mmen, da hörte er Schritte auf dem nicht mit Teppich ausgelegten Teil des Korridors, der zu den feingemachten VIP-Quartieren führte. Sie kamen mit schnellem Schritt: Konteradmiral Sir John Walmsley, Ted Brinkley und ein Zivilist, der nur Angehöriger eines Geheimdienstes sein konnte, da er das glatte, harte und wachsame Aussehen eines Offiziers der Special Branch Close Protection Squad hatte. Inmitten der Gruppe sah Bond den ersten der VIPs, der mit dem Hubschrauber an Bord gekommen war, der Sir Geoffrey Gould abgeholt hatte. Der Konteradmiral blieb vor Bond stehen. »Premierminister«, sagte er zu der wie immer vornehm gekleideten Mrs. Margaret Hilda Thatcher, »ich möchte Ihnen Captain James Bond vorstellen, der für die Sicherheit des Stewards-Treffens die Verantwortung trägt.« Die Premierministerin lächelte und schüttelte Bonds Hand fest »Es ist schön. Sie wiederzusehen, und meine Glückwünsche zu Ihrer Beförderung.« Sie wandte sich an Walmsley, »Captain Bond und ich sind bereits alte Freunde«, erklärte sie. »Ich könnte mir keinen besseren Schulz denken. Vielleicht ist nicht allgemein bekannt, daß Captain Bond vor einiger Zeit nicht nur mein Leben gerettet hat, sondern auch das von Ex-Präsident Reagan.« Dann wandte sie sich wieder Bond zu. »Sorgen Sie dafür, daß wir vier Tage lang völlig in Ruhe gelassen werden, Captain Bond. Wir werden jede Minute brauchen, wenn wir unsere umfangreiche Tagesordnung bewältigen wollen. Und es ist eine sehr umfangreiche und wichtige Tagesordnung. Ich bin sicher, Sie sind sich dessen bewußt« »Ja, Premierminister. Ich werde alles nur Mögliche tun. Wenn Ihre Leute etwas benötigen, sollten Sie sich an mich persönlich wenden« »Sehr freundlich von Ihnen, Captain Bond.« Mit ihrem besten Wahlkampflächeln marschierte die Premierministerin des Vereinigten Königreiches mit ihrem Gefolge weiter. Bond folgte ihr mit Blicken und ignorierte Sergeant Harveys gemurmeltes: »Mit der möchte ich keinen Ärger haben.« Vom anderen Ende des Korridors hörte er, wie der Konteradmiral First Officer Pennington vorstellte und sich dann entschuldigte. 345
Er kam zurückgeschritten und funkelte Bond an. »Sie haben nichts davon gesagt, daß Sie ihr das Leben gerettet haben! Gibt es sonst etwas, was ich wissen sollte?« »Sie hat übertrieben.« Bond lächelte nicht. »Diese Information ist ohnehin absolut geheim, also werde ich Ihnen weiter nichts sagen, Sir.« »Hrrmph!« knurrte Walmsley – oder etwas, das so ähnlich klang – und begab sich zu dem nächsten Ankömmling. Präsident George Herbert Walker Bush, umgeben von seinen Secret Service-Männern – Joe Israel, Stan Hare und Bruce Trimble – und einem kleinen Mann, der einen Aktenkoffer trug, der an sein Handgelenk gekettet war, wurde am Fuß der Kajütentreppe von Walmsley empfangen. Der Präsident war groß, lächelte, hatte ergrauendes Haar und ein sehr offenes Gesicht. »Captain Bond«, bemerkte er, als der Konteradmiral sie vorstellte. »Ich weiß, daß ich in guten Händen bin. Ein enger Freund erzählte mir, wie Sie ihm geholfen haben, und ich glaube, daß wir einen anderen gemeinsamen Freund haben.« »Den haben wir wahrscheinlich, Sir.« »Ja. Felix diente unter mir, als ich DCIA war. Ein guter Mann. Ich hoffe, ich treffe Sie noch, Bond, aber Sie müssen bedenken, daß der Terminplan straff gespannt wie ein Trommelfell ist. Schön, Sie kennengelernt zu haben.« Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte einen festen Händedruck, fast so fest wie der von Mrs. Thatcher, und als er sich entfernte, murmelte Sergeant Harvey: »Auch mit ihm nicht.« »Was nicht?« fragte Bond aus dem Mundwinkel. »Mochte auch mit ihm keinen Ärger haben.« Sir John Walmsley warf Bond wieder einen bösen Blick zu, als er an ihm vorbei zur Kajütentreppe eilte, um den letzten VIP in Empfang zu nehmen. Michael Sergejewitsch Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU und Präsident des Zentralkomitees des Obersten Sowjets, war mit einem Kamelhaarmantel bekleidet, den er nicht bei GUM gekauft hatte. Er hielt einen grauen Filzhut in der Hand, der möglicherweise von Lock’s in der Jermyn Street stammte, und lächelte breit. Er war nett, stämmig, breitschultrig, entspannt und schien voll guten Willens. 346
Walmsley stellte Bond vor, und zu dessen Überraschung erwiderte Mr. Gorbatschow auf englisch: »Captain Bond, es ist mir eine große Freude, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie ve rbinden sich mit denen, die sich im wahren Geiste von Glasnost um mich kümmern.« Der Händedruck des kleinen Mannes war eindeutig knochenbrechend, und Bond blieb sprachlos zurück, als der Russe zu seinem Quartier weiterging. »O Mann, Sir«, flüsterte Harvey. »Er hat seine Frau nicht mitgebracht. Wie hält er das bloß aus?« »Seien Sie fair, Harvey. Der Präsident ist ohne Barbara gekommen, und Mrs. T ohne Denis. Das ist doch vernünftig.« Walmsley kam zurück und wirkte ganz aufgeregt. »Naja, zumindest schien einer von denen Sie nicht zu kennen, Bond.« »Darauf würde ich nicht wetten, Sir.« »Nun, gut… Alle Stabsoffiziere, Divisionsoffiziere und der Chef vom Dienst in fünfzehn Minuten in meiner Tageskabine. Wir werden die Lautsprecheranlage nicht benutzen, um sie zusammenzurufen, also sagen Sie mir jetzt, ob Sie mit den Vorbereitungen zufrieden sind – ich meine, ob Sie so zufrieden sind, daß Sie diesen Teil des Schiffes für etwa eine Stunde verlassen können.« »Ich werde da sein, Sir. Sollte ich überhaupt besorgt sein, werde ich Sie das persönlich wissen lassen und Ihnen meine Gründe nennen.« Der Konteradmiral nickte kurz und ging. Dabei verrieten seine lang ausgreifenden Schritte, daß er mit dem Transfer der wahrscheinlich drei mächtigsten Personen der Welt auf sein Schiff höchst zufrieden war. Die Verantwortung war sehr groß, und Bond fand, daß Walmsley keine Großspurigkeit zeigen sollte, bevor nicht alles glatt vorübergegangen war. Bootsmann »Blackie« Blackstone blickte auf die großen Turbinen, die im Maschinenraum der Invincible heftig jaulten. Als er in der Royal Navy angefangen hatte, war es in den Maschine nräumen heiß, dreckig und laut gewesen. Der Maschinenraum der Invincible dagegen war makellos sauber, und nur wenige Leute mußten direkt bei den Turbinen stehen, da sie aus einem separaten Raum überwacht wurden, der mit Anzeigetafeln, Videomonitoren und Schaltern gespickt war. 347
Blackstone war wahrscheinlich neben dem Kapitän, den Stabsoffizieren und den Leuten von der Sicherheit der einzige Mann auf der Invincible, der wußte, was vorging. Er fragte nicht, wie seine beiden »Freunde« Harry und Bill diese Informationen bekommen hatten, und hatte auch keine moralischen Bedenken hinsichtlich dessen, was er zu tun hatte. Schließlich würde er dadurch vom Haken kommen, finanziell wie privat. Sie hatten ihm jedenfalls erzählt, daß das in Wirklichkeit eine Greenpeace-Aktion sei, zeitlich so angelegt, daß sie die Amerikaner und Russen und ebenso das britische Establishment in große Verlegenheit bringen würde, und »Blackie« hatte schon immer große Sympathien für Greenpeace gehabt. Er hatte über den Auftrag lange Zeit nachgedacht, aber nachdem er die positiven und negativen Seiten abgewogen hatte, war ihm bewußt geworden, daß keine wirkliche Gefahr bestand. »Blackie« hatte sich anstrengen müssen, um für diese Schichten eingeteilt zu werden. Für die erste Schicht, nachdem diese hohen Tiere an Bord gekommen waren, und bei der zwe iten würde dann mitten am folgenden Vormittag Handeln erforde rlich sein. »Blackie« Blackstone hatte bei beiden Schichten Zugang zu den Turbinen und hatte dafür gesorgt, daß ihm die anderen Männer der Wache gern die direkte Überprüfung der Turbinen überlassen würden. Sogar jetzt, direkt nachdem die Besucher an Bord gekommen waren, war er allein im Maschinenraum, während ein Oberbootsmann, ein weiterer Bootsmann und ein »Killick« – ein Matrose, wegen seines Ankerabzeichens so genannt, denn Killick bedeutete im alten Jargon Anker – ihre Wache im Kontrollraum durchzogen und gelegentlich die Drücke und Drehzahlen der Turbinen überprüften. Der zweite Ingenieuroffizier hielt sich wie immer in der Offizierskombüse auf, die sich unmittelbar hinter dem Kontrollraum befand. Niemand würde nach ihm rufen, solange nichts völlig verkehrt lief. Drehzahländerungen und andere Dinge dieser Ar t konnten durch einen Knopfdruck geregelt werden oder durch Betätigung zweier kleiner Schalter, die als Drosselklappen dienten. So blieb dem Leutnant, der als zweiter Ingenieuroffizier Dienst tat, die Möglichkeit, ein wenig »Ägyptisches Körpertraining« zu üben, wie sie es nannten. Mit anderen Worten: Der Leutnant schlief. Bootsmann Blackstone begab sich ruhig auf die andere Seite von 348
Turbine Nummer eins. Er zog einen Schraubenzieher aus einer ledernen Werkzeugtasche, die an seinem Gürtel befestigt war, und steckte ihn in seine rechte Gesäßtasche. Dann holte er eine n Zylinder, der in Kleenex gewickelt war, aus seiner Tasche. Der Zylinder, der aus starker Drahtgaze bestand, hatte vorne eine Öffnung und war hinten rund. Jedermann, vom Leutnant zur See bis zum gewöhnlichen Matrosen, hätte diesen Zylinder als Filter für das Schmiersystem der Turbine identifizieren können. Blackstone löste schnell die beiden Knaggen, die eine etwa zwölf mal zwölf Zentimeter große Verkleidung festhielten, und hob sie hoch. Über der Verkleidung waren die Worte »Filter Eins« eingraviert. Er legte den Schraubenzieher leise zu seinen Füßen auf den Boden und zog eine extrem lange Pinzette aus der Werkzeugtasche an seinem Gürtel, wobei er gleichzeitig ein anderes Kleenex in seine linke Hand nahm. Bootsmann Blackstone führte die Pinzette vorsichtig in die Öffnung von Filter Eins ein und zog den identischen, schweren, schmutzigen Gazezylinder heraus, obwohl dieser heiß war und Öl von ihm tropfte. Er packte ihn in das Kleenextuch und legte ihn vorsichtig neben den Schraubenzieher auf den Boden. Es würde drei Minuten dauern, bevor der Wechsel auf den Instrumenten im Kontrollraum zu sehen war, aber er brauchte keine dreißig Sekunden, um den neuen Filter einzuschieben, und nur eine weitere Minute, um die Klappe zu schließen und die Knaggen wieder festzuschrauben. Darauf steckte Blackstone Schraubenzieher und Pinzette zurück in seine Werkzeugtasche, nahm das Kleenextuch mit dem darin eingewickelten entfernten Filter und begab sich nach achtern durch das Schott zu der Latrine des Maschinenraums. Dort entriegelte er eines der Bullaugen, öffnete es und schleuderte Filter und Kleenex hinaus. Er schloß das Bullauge wi eder, wusch seine Hände, entfernte alle Ölspuren und kehrte in den Maschinenraum zurück, wo er an den Turbinen vorbeilief und sich Zeit ließ, bevor er in den Kontrollraum zurückkehrte. »Wie steht’s, laufen sie noch, Blackie?« fragte der Oberbootsmann grinsend. »Schwer zu sagen, Chef. Ich war ziemlich benebe lt, als ich drauf schaute.« 349
»Du Wichser«, sagte der andere Bootsmann. »Ich hab’ denen gerade erzählt, wie du abgehauen bist, als wir letztes Mal in Gibraltar waren. War ‘ne Superfrau, wie ‘ne schwarzhaarige Schönheit« »Du redest doch nur Scheiße«, sagte Blackie, und auf dieser hohen Ebene bewegte sich die Unterhaltung in der nächsten Stunde. Alle Turbinen liefen einwandfrei, aber Blackie wußte, daß sie gegen elf Uhr morgen vormittag nicht mehr so einwandfrei laufen würden. Die Öltemperatur von Turbine Nummer eins würde plötzlich sensationell ansteigen, und er würde dasein, um sich dämm zu kümmern. »Meine Herren, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich werde es so kurz wie möglich machen, obwohl lebenswichtig ist, daß Sie alle wissen, was hier auf dem Spiel steht.« Sir John Walmsley präsentierte sich: Er saß zurückgelehnt in seinem Sessel in der überfüllten Tageskabine, hatte all seine Stabsoffiziere um sich geschart und floß fast vor Verantwortung über. Bond betrachtete den Mann eher mit Mitleid, denn mit Achtung. Walmsley war ein großspuriger Arsch, der sich ungeheuer wichtig nahm und deshalb nach Bonds Meinung für den Job, den er auszuführen hatte, eigentlich nicht geeignet war. »Also, Stewards – Treffen. Das ist ein sehr deutlicher Name für das, was an Bord der Invincible geschieht« Der Konteradmiral räusperte sich und fuhr fort: »Sie alle wissen, wer an Bord ist. Die drei wichtigsten Staatsmänner der Welt haben sich zu einem Stewards-Treffen zusammengefunden, weil sie sich selbst als wahre Stewards, als Verwalter betrachten, Verwalter, denen die Welt vertraut.« Dies, schloß Bond, würde eine Predigt werden, keine Lagebesprechung. Und es würde keine Predigt für die Bekehrten werden. Walmsley redete noch immer. »Sie müssen sich auch einen wichtigen Faktor vor Augen halten. Sie alle sind mit Leibwächtern hier, aber ohne ihre üblichen Berater – abgesehen von dem bösen Mann mit dem Koffer, der Präsident Bush begleitet; er muß ständig alle nuklearen Alarmkodes mit sich herumtragen.« Er legte eine Pause ein, als freue er sich über sein Wissen und darüber, daß er es mit anderen teilen konnte. Dann fuhr er fort: »Wie einige von Ihnen bereits erfahren haben, sind sie unter höchst geheimen Decknamen hier. Die Premierministerin heißt Shalott’ – mit ei350
nem von davor, nehme ich an, und nicht nur deshalb, weil sie ihr Geschäft versteht.« Er machte wieder eine Pause für das obligatorische Kichern, das durch den Raum ging. »Der Präsident der Vereinigten Staaten wird ›Tänzer‹ genannt und Generalsekretär Gorbatschow ›Oktober‹. Man wird sie sowohl im Gespräch als auch bei Funksprüchen, die sie eventuell abzusetzen haben, mit diesen Namen bezeichnen. Aber wie ich bereits sagte, das Einzigartige ist, daß sie ohne Berater, ohne Assistenten hier sind. Was ihre Kabinettskollegen anbelangt, so hat ›Shalott‹ einen Grippe-Anfall, ›Oktober‹ ruht sich in seiner Datscha aus und hat Anweisung gegeben, daß er fünf Tage lang nicht gestört werde n möchte. ›Tänzer‹ hat dämm gebeten, daß bei seinem Aufenthalt in seiner Jagdhütte keine Presse anwesend ist und keine Anrufe durchgestellt werden, da er auf Wachteljagd gehen wo lle.« Wieder wartete er auf Gelächter, aber der Witz war ausgesprochen schlecht und kam nicht an. »Tatsache ist, daß die drei sich entschlossen haben, unter sicheren Bedingungen zu konferieren. Sie wollen vier Tage ganz persönlich miteinander verbringen, unter vier Augen – oder unter sechs Augen, denke ich – um Gespräche ohne die üblichen Störungen durch Experten für Verwaltung, Militär, Finanzen und Gesellschaft führen zu können, die bei heiklen Themen oft zu mehr Vorsicht raten. Es wird keine offizielle Erklärung über das Stewards-Treffen geben. Niemand darf davon wissen, es sei denn, sie glauben einen entscheidenden Durchbruch erreicht zu haben, der veröffentlicht werden kann. Dir Hauptziel ist es, eine gemeinsame Basis in Sachen Weilfinanzen, Sicherheit gegen Terrorismus und der Beschleunigung der Lösung der problematischen Frage des Nuklearwaffenpotentials zu finden. Unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, daß sie in den nächsten vier Tagen ungestört sind. Sie werden gemeinsam im vorderen Lageraum essen und arbeiten, der etwas repräsentabler eingerichtet worden ist. Mit Hilfe der Wren-Abteilung, die sich um angemessenes Essen und guten Service kümmert, und mit Unterstützung der Sicherheitskräfte haben sie einen sehr dichten Terminplan zu absolvieren, für dessen Einhaltung wir sorge n müssen, obwohl wir uns in der Mittelphase von Landsea ‘89 befinden. Sie müssen um jeden Preis vier Tage Zeit haben. Gibt es irgendwelche Fragen? Dann kommen Sie 351
direkt zu mir. Haben Sie verstanden?« Ja, dachte Bond. Geht direkt zu ihm, und er wird euch gleich an mich weiterleiten. Er ging, kehrte in seine Kabine zurück und schickte nach Donald Speaker, dem Verhörspezialisten, der mit dem neuen Amerikaner, Woodward, aus Gibraltar gekommen war. Er war Speaker nie zuvor begegnet, kannte aber seinen Ruf als harten Verhörer, der kaum einen Zentimeter nachgab. Und deshalb empfand Bond einen fast irrationalen Widerwillen gegen ihn, als der Mann in seine Kabine kam und sich unaufgefordert setzte. Falls Speaker irgendwelche Fortschritte mit Deeley erzielt hatte, ließ er das Bond nicht wissen. Tatsächlich war das genaue Gegenteil der Fall; Bond merkte es daran, daß der Verhörer ihm Fragen stellte. »Ich traue diesen beiden Leuten der Branch in Uniform überhaupt nicht«, sagte Speaker im Hinblick auf Brinkley und Camm. »Ach ja?« »Sind für den Job nicht geeignet den sie auf diesem Schiff verrichten sollen. Ich bezweifle ihre Motive sehr, Mr. – äh – Captain Bond« »Interessant. Aber was ist mit Deeley?« »Ich werde berichten, wenn ich etwas zu berichten habe.« Der ingwerfarbene Bart, stellte Bond fest, verdeckte ein fliehendes Kinn. Der Mann versteckte sich in gewisser Hinsicht vo r sich selbst. »Sie haben nur sehr we nig Zeit. Ist Ihnen das klar?« »Wieso?« »Sobald wir Gibraltar erreichen, ist es eine Sache, die die Sicherheit nichts mehr angeht. Deeley wird dann der Zivilpolizei übergeben.« »Wieviel Zeit bleibt uns bis Gibraltar, zwei Tage?« »Wir brauchen vier. Aus operativen Gründen.« »Nun«, die Lippen unter dem Bart schürzten sich verächtlich, »nun, dann bleibt mir viel Zeit, um aus ihr etwas herauszubekommen. Keine Sorge.« Er erhob sich. »Setzen Sie sich!« Bond schrie fast. »Setzen Sie sich! Ich habe Ihnen nicht gesagt, daß Sie gehen können.« »Ich wußte nicht, daß Sie auf diesem Schiff mein Vorgesetzter sind.« »Dann sollten Sie das zur Kenntnis nehmen, Mr. Speaker. Ohne meinen Befehl bewegen Sie sich auf diesem Schiff nicht.« »Sie wollen mir doch damit nicht sagen, daß Sie beim Secret Intelli352
gent Service sind?« Das klang höhnisch. »Ich sage Ihnen, was mir paßt.« »Sehr interessant unter dem Gesichtspunkt, was an Bord dieses Schiffes geschieht. Ich denke, wir werden uns mal unterhalten, wenn wir wieder in London sind. Ich kann sehr mißtrauisch sein, Bond, und man vertraut mir im Vernehmungszentrum. Ich kann mir Ihre Akte vornehmen und werde etwas finden, dessen bin ich sicher. Jeder hat mindestens eine Sache, die er vertuschen möchte. Ihre werden wir rausbekommen. Die kann ich dann ein wenig ausschmücken, und dann wird man Sie in ein Loch schmeißen und Sie vergessen. Ich habe schon stärkere Männer als Sie untergekriegt. Bond. Gute Nacht!« Er spazierte aus der Kabine und ließ einen Bond zurück, der nicht weiter wußte. Der Mann war irgendwie ein Irrer, dachte er. Am besten, er setzte sich mit London in Verbindung. Er ging hinaus, lief über den Korridor und sprach mit den verschiedenen Leibwächtern, Briten, Amerikanern und Russen. Alle schienen in Schlachtordnung zu sein, weshalb er beschloß, mit dem Telefonat bis nach dem Abendessen zu warten, das er ruhig in der Messe einnahm. Später, als er sich in den Kommunikationsraum begeben wollte, meldete sich das Tannoy. »Achtung! Achtung! Eine Nachricht für Captain Bond in seiner Kabine. Captain Bond, in seine Kabine bitte.« Nikki wartete auf ihn und sah blaß und schlecht aus. »Was kann ich für Sie tun, Nikki?« »Bitte, spotten Sie nicht über mich, James, aber ich habe eine schreckliche Sorge. Ein Problem.« »Dafür bin ich ja hier. Spucken Sie’s aus.« »Es geht um diesen neuen Amerikaner. Den, der Woodward heißt. Dan Woodward.« »Desperate Dan«, lächelte Bond. »Ist er an Ihnen auch verzweifelt? Er steht in dem Ruf, Frauen zu lieben.« »Nein, James. Nein. Das ist nicht komisch. Ich vermute, daß dieser Mann kein Amerikaner ist. Daß er tatsächlich nicht der Dan Woodward ist, der zu sein er behauptet.« »Was?« Er richtete sich auf, und sein Magen verkrampfte sich vor Sorge. »Warum sagen Sie das, Nikki?« »Wie soll ich Ihnen erklären…? Es ist schwer. Sehen Sie, es ist ein 353
Geheimnis, aber wir müssen es teilen. Vor drei Jahren war ich nach Afghanistan abkommandiert, um dort zu arbeiten. Mit KGB. Wir hatten einen Bericht über Terroristen, die im Golf operierten. Sie kennen diese Sachen. Eine Mischung aus Namen und verdächtigen. Der Mann, der sagt, er sei Dan Woodward… Sein Foto war in diesem Bericht. Ich vergaß, wie er damals hieß. Hamarik oder Homaak. Irgend etwas in der Art. James, Sie sollten sich darum kümmern.« »Behalten Sie das im Augenblick für sich, Nikki. Ich werde das nach London durchgeben. Seien Sie ganz ruhig. Ich weiß, wie wir das überprüfen können.« Er ging in den Kommunikationsraum hoch, ließ die gleiche gründliche Überprüfung durch einen anderen bewaffneten Marineinfanteristen über sich ergehen und machte sich dann an die Arbeit. Zuerst eine kodierte Sendung, die Speaker betraf, gefolgt von einer zweiten zwecks Verbindungsaufnahme zum Grosvenor Square, worin er um ein Funkbild bat. Entschlüsselt lautete der Text ERBITTE FOTO VON IHREM NI-OFFIZIER DANIEL WOODWARD STOP SENDUNG NUR AN MICH PERSÖNLICH DRINGEND UND HÖCHSTE SICHERHEITS STUFE STOP RÄUBER STOP Es war ein langer, ermüdender Tag gewesen, weshalb er hoffte, die Antwort würde vorm Schlafengehen eintreffen. Er hatte sich gerade auf seine Pritsche gelegt, als es an der Tü r klopfte. Er öffnete, und Nikki glitt an ihm vorbei in seine Kabine. »James, es tut mir leid. Ich fühle mich so allein. So ängstlich. Es ist, als fühlte ich Unheil. Bitte, schicken Sie mich nicht weg.« Sie trug einen Frotteemorgenmantel, der von ihren Schultern rutschte. Darunter war nichts. Bonds Gedanken wanderten zurück zu der Villa auf Ischia. Wieder sah er die unheilvolle und verräterische Beatrice vor sich, und ihm wurde klar, daß es lange Zeit dauern würde, bis er sie aus seinen Gefühlen ve rdrängt hatte. Doch als er jetzt den jungen Körper von Nikki Ratnikov betrachtete, fühlte er, daß auch er einsam und besorgt war und Trost brauchte. Er verschloß seine Kabinentür und nahm sie in seine Arme. Lange Zeit hielt sie ihn nur umklammert. Dann hob sie ihren Kopf, und Bond 354
preßte seine Lippen auf die ihren. Sie taumelten zu der Pritsche und ertranken dann ineinander, als sei dies das erste und das letzte Mal, daß sie sich treffen könnten. Sie verließ ihn im Morgengrauen. Er lag allein auf der Pritsche und dachte, daß sie beide einander gegeben und voneinander genommen hatten… Die Kommunikationszentrale meldete sich erst um fast halb elf bei ihm. Zwei Nachrichten warteten auf ihn. Als erstes eine Blitzmeldung von Regent’s Park, die ihn autorisierte, Speaker der Vernehmung Deeleys zu entheben, wenn er nicht zufrieden mit ihm war. Die zweite war fast ein Nachsatz, aber kodiert: FOTO VON USNI OFFICER WOODWARD FOLGT SEHE ZWEI Und da war tatsächlich Daniel Woodwards Foto mit einer darunter gestempelten Nummer. Er betrachtete das Gesicht und sah unzweifelhaft, daß dieser Daniel Woodward mit Sicherheit nicht der Woodward war, den er an Bord der Invincible hatte. Bond ging in seine Kabine zurück, hakte den Holster hinter seiner rechten Hüfte an den Gürtel, steckte die Browning 9 mm hinein und schickte nach Bruce Trimble, Sergeant Harvey und vier Marineinfanteristen. Trimble traf als erster ein, und Bond vergeudete keine Zeit damit, ihm zu erzählen, daß sie mit Dan Woodward zumindest einen Betrüger, schlimmstenfalls eine n Terroristen an Bord hatten. »Wollte ohnehin mit Ihnen reden.« Der massige Trimble wirkte bedrohlich. »Hab mir Sorgen wegen dem Burschen gemacht. Paßt nicht hierher, sagt nichts. Ist am besten, ihn einzubuchten.« Sie gingen zusammen los – vier Marineinfanteristen mit geladenen Waffen, Sergeant Harvey, Bond und Bruce Trimble, der so aussah, als würde er den Job allein erledigen. Stan Hare erzählte ihnen, daß Woodward in der Kabine sei, die sie miteinander teilten. Al so bezogen sie Angriffsposition, und Bond hob seine Hand, um zu klopfen. Wenn möglich, wollte er den Mann unverletzt haben und ohne Gewalt, doch bevor seine Knöchel die Metalltür berühren konnten, schien das ganze Schiff unter ihren Füßen zu erzittern, als sei es völlig unerwartet aufgelaufen und in sehr rauhes Wasser gelenkt. Der Stoß war so heftig, daß sie alle zur Seite geworfen 355
wurden. Die Explosion war nicht laut, eher wie eine schwere Granate, die in großer Entfernung krepierte. Dann begannen die Sirenen zu jaulen.
15. DER REGEN IN SPANIEN Eine halbe Stunde früher hatte Bootsmann Blackstone im Maschinenkontrollraum gesessen und die Zeit mit den anderen Mitgliedern seiner Wache verbracht. Keiner von ihnen bemerkte, daß Blackstone ständig auf die Turbinenkontrolleinheiten blickte – auf jene Einheiten, die das Ansteigen der Öltemperatur anzeigten. Sie hatten ihm gesagt, er habe damit zu rechnen, daß die Temperatur der Turbine Nummer eins irgendwann zwischen neun und elf Uhr rapide ansteigen würde. Den ersten Hinweis entdeckte er um Viertel vor zehn. Nummer eins zeigte einen geringfügigen Anstieg. Um zehn Uhr ging die Temperatur richtig hoch, und um fünf nach zehn stieß Blackie einen Schrekkensruf aus: »Öltemperatur von Nummer eins steigt auf rot!« Er lief zu den Kontrolleinheiten und überprüfte alles nacheinander, überließ es aber dem Oberbootsmann, die Ursache des Problems zu finden. Der brauchte dazu keine Minute. »Es sind die verdammten Filter! Wechsle Filter eins bei Turbine Nummer eins, Blackie!« »Wird gemacht« Blackstone ging in den kleinen Materialraum hinter dem Kontrollraum, unterschrieb für einen Filter und nahm ein versiegeltes Päckchen aus dem Ersatzteilregal. »Brauchst du Hilfe, Blackie?« fragte der Malrose. »Nee. Brauche nur ein paar Minuten.« Blackie ging in den Maschinenraum und begab sich auf die andere Seite der ersten Turbine. Für alle Fälle hatte er den neuen, aber präparierten Filter in seiner Verpakkung auf das Regal gelegt, in dem die Filter im Materialraum lagen. Da dieser Filter ganz vorn lag, würde er natürlich in einem Notfall benutzt werden. Man hatte ihm gesagt, daß dieser Filter binnen fünf Minuten dicken Rauch erzeugen und einen geringfügigen Schaden verursachen würde, durch den die Turbine zum Stillstand käme. Er 356
sah die kleine Bleistiftmarke, die er auf diesem präparierten Päckchen angebracht hatte, und war deshalb unbesorgt. Wechsle den Filter, dachte er, dann geh zurück und warte darauf, daß Panik ausbricht. Bootsmann Blackstone nahm genau die gleiche Prozedur wi e in der vergangenen Nacht vor: Er schraubte die Knaggen ab und zog den Filter mit seiner langen Pinzette heraus. Dann faßte er den zweiten präparierten Filter mit der Pinzette und setzte ihn ein. Es gab eine Menge Rauch und dann eine Explosion, die Blackstone von den Beinen riß, ihn gegen die Metallwand schleuderte und dabei Teile aus seinem Körper fetzte. Bevor der ewige Schlaf ihn umfing, war sein letzter Gedanke: »Sie sagten, es gäbe nur Rauch. Sie sagten, es sei völlig ungefährlich.« Über die Tannoyanlage kamen Befehle, ruhig, auf das Wesentliche konzentriert: Alle Feuerschutztüren waren zu schließen. Schadenskontrolle auf ihre Stationen, alle Feuerwehrmannschaften in den Maschinenraum. »Dies ist keine Übung! Dies ist keine Übung!« wiederholte die körperlose Stimme mehrmals. James Bond und seine Gruppe wurden in dem Korridor vo r der Kabinentür herumgewirbelt. Bond war durch das Schlingern des Schiffes von den Beinen gerissen worden und versuchte gerade sich aufzurichten, als die Kabinentür geöffnet wurde, in der Joe Israel verwirrt blikkend stand. »He, was, zum Teufel ist hier los…? Ich wollte gerade…« Er wurde durch Dan Woodwards Arm, der sich um seinen Hals legte, am Weiterreden gehindert. »Ich glaube, die wollen mit mir reden, Joe.« Woodward würgte Israel. »Sag denen, daß meine Kanone in deinem Rücken steckt.« Er sprach laut und sehr überzeugend. Israel stieß einen tiefen Seufzer aus. »Okay. Ja, James, er drückt mir eine riesige Kanone in den Rücken, und ich zweifle nicht daran, daß er mich umlegen wird. Ich nehme an, daß er in Wirklichkeit nicht…« »Desperate Dan Woodward? Nein, das bin ich nicht«, zischte Abou Hamarik. »Und das ist höchst bedauerlich, da ich dieses Schiff lebend verlassen muß. Ich nehme an, daß Captain Bond mich haben will. Aber in dem Fall wird dieser Mann in Stücke gefetzt werden. Also, legt eure Waffen ab!« »Okay.« Bonds Gesicht war starr. »Tut, was er sagt. Ich will Joe nicht gefährden.« 357
Als er sich hinkniete, um die Browning auf den mit Teppich bedeckten Boden zu legen, nahm er aus dem linken Augenwinkel eine leichte Bewegung war. Jemand preßte sich im russischen Abschnitt an das Schott. Die Marineinfanteristen um ihn und Bruce Trimble legten ihre Waffen ebenfalls ab. »Okay«, flüsterte Hamarik. »Jetzt geht von dieser Tür weg. Ich bringe den Amerikaner raus.« Bond wagte nicht einmal, seinen Blick auf den russischen Abschnitt zu richten. Er wußte nicht, wohin dieser falsche Woodward gehen wollte, und deshalb wich er einfach an die gegenüberliegende Wand des engen Korridors zurück. »Tut, was ich tue«, sagte er zu den anderen. »Mit dem Rücken an diese Wand.« Sie gehorchten und drückten sich an die Wand, ein kleines Waffenarsenal lag vor ihnen auf dem Boden. Alle kamen sich albern vor, aber keinem war danach, sich zu bewegen. Bond spürte das und sagte laut: »Ich will keine Heldentaten. Macht keine Dummheiten.« Dann, zu Hamarik: »Wohin wollen Sie gehen?« »Runter von diesem Schiff. Aber ich möchte gern einen anderen Gast mitnehmen. Ich glaube, Sie haben ein Mädchen namens Deeley in Gewahrsam.« »Ja.« »Ich werde sie mitnehmen, und Sie, Bond, werden uns führen.« »Okay.« Bond zuckte die Schultern. »Wenn Sie Deeley haben wollen, müssen Sie von der Kabinentür nach links abbiegen. Wollen Sie, daß ich vorangehe?« »Ich will euch alle vor mir haben. Los, bewegt euch.« »Tut, was er sagt.« Bond mußte das riskieren. Vielleicht war jemand hinter dem sogenannten Woodward und konnte etwas unternehmen, obwohl das in dem engen Raum riskant war. »Halt!« schnappte Hamarik. »Haltet euch dicht an der Wand. Wenn ich mit Israel draußen bin, sage ich euch, wann ihr euch umdrehen und vor mir hergehen sollt. Geht im Gänsemarsch, so daß ihr den ganzen Korridor vor mir blockiert. Okay! Bewegt euch!« Sie schoben sich an der Wand entlang und ließen den Bereich vor der Kabine völlig frei. Das machte die Sache für Bond einfacher, da er jetzt den Kopf zur Kabinentür drehen und einen Blick auf den russi358
schen Abschnitt werfen konnte. Kaum hatte er dort hingeschaut, da stieß Hamarik Israel voran, trat aus der Kabine und bog nach links ab. Als er herauskam, schaute er nach rechts – und sah, was Bond bereits entdeckt hatte. In dem Durchgang, der das russische und das amerikanische Quartier trennte, stand Nikki Ratnikov mit gespreizten Beinen. Sie hielt eine kleine automatische Pistole mit beiden Händen. Hamarik stieß einen Huch aus, zog Israel herum und versuchte, dessen Körper zwischen sich und Nikki zu bringen. Er umklammerte Israels Genick, stieß ihn nach links, erkannte dann aber, daß ihm keine andere Wahl blieb, als auf das Mädchen zu schießen. Die Schüsse krachten und hallten in dem engen Raum wie Kanonenschläge. Beide feuerten zweimal, und beide trafen ihre Ziele. Hamariks linker Arm sackte von Israels Kehle, als er aufschrie, einen Schritt rückwärts machte und versuchte, seine Pistole wieder zu heben. Aber er griff statt dessen an seine rechte Schulter, aus der plötzlich Blut schoß. Wieder schrie er auf und sank in die Knie. Bruce Trimble war zuerst bei ihm, riß seine eigene Waffe vom Boden an sich und richtete sie auf ihn. »Bleib, wo du bist, du verdammter Schuft!« Aber Hamarik war bereits bewußtlos, kippte um und lag ausgestreckt auf dem Boden. Bond rannte auf Nikki zu. Sie stand wie eine Statue im Türeingang, hielt die Pistole noch immer mit starren Armen im Anschlag und die Füße noch immer gespreizt Aber ihr weißer Rollkragenpullover hatte sich scharlachrot verfärbt. Ein großer, häßlicher Fleck breitete sich darauf aus. Bond war nur zwei Schritte von ihr entfernt, als er das gräßliche Rasseln in ihrer Kehle hörte und das Blut aus ihrem Mund schießen sah. Ihr Körper sackte zu Boden. Er kniete neben dem Mädchen nieder und fühlte mit den Fingern nach dem Puls an ihrem Hals. Nichts. »Sie ist tot«, sagte Bond düster. Er hatte Nikki gemocht, trotz eines gewissen Mißtrauens, und jeder plötzliche Tod eines jungen Menschen war ein trauriger Augenblick. Besonders in diesem Fall. Nikki Ratnikov hatte ihr Leben für sie gegeben. »Dieser Bastard lebt noch, und ich nehme an, wir kriegen ihn wieder hin und bringen ihn zum Reden.« Bruce Trimbles Stimme war ruhig wie immer, als er zum nächstgelegenen Schottelefon ging, um 359
das Lazarett zu verständigen. Über die Schulter sagte er, daß sie einen Posten der Marineinfanterie rund um die Uhr brauchten. Bond erhob sich. »Übernehmen Sie für mich, Bruce. Ich muß rausfinden, was hier vorgeht.« Selbst in den wenigen Minuten von Kampf und Tod war ihnen allen bewußt geworden, daß es ein ernstes Problem auf dem Schiff gegeben hatte. Das Tannoy war aktiviert gewesen, und Sir John Walmsley hatte persönlich Befehle ausgegeben. Bond ging über den Korridor, bog um die Ecke und stieg die Kajüttreppe hoch. Was immer sonst geschehen sein mochte – er mußte jetzt die Nachricht von Nikkis Tod überbringen und die Tatsache melden, daß ein zweiter mutmaßlicher Terrorist an Bord war. Bassam Baradj beobachtete die See durch sein Fernglas. Wenn alles gut lief, müßte die Operation jetzt begonnen haben, und er rechnete damit, bald zu erfahren, was der Kapitän der Invincible zu tun gedachte. Er stellte sein Glas wieder auf den Frachter Estado Novo ein, der in diesem Augenblick die Straße von Gibraltar passierte. De r große Container befand sich noch immer auf dem Deck und verbarg die gestohlene Sea Harrier allen Blicken. Er wußte, daß auch der Pilot Felipe Pantano an Bord war. Der Frachter hatte alle Anweisungen genauestens befolgt, und Baradj war in ständigem verschlüsseltem Kontakt mit dem Schiff gewesen, seit es kurz in Oporto angelegt hatte. Von dort aus hatte die Estado Novo die Straße von Gibraltar passiert und war nach Tanger gefahren, wo Baradj mit viel Schmiergeldern und Raffinesse dafür gesorgt hatte, daß andere Ladung an Bord genommen wurde: Hauptsächlich vier AIM-9J Luft-Luft Sidewinder-Raketen und eine große Menge 30mm-Munition, gegurtet und einsatzbereit für die beiden AdenKanonen, die sich bereits an Steuerbord und Backbord in ihren Halterangen am Rumpf der Harrier befanden. Sie hatten auch reichlich Treibstoff getankt. Bis heute abend, dachte Baradj, würde der Frachter vor Or t sein. Falls erforderlich, würde die Sea Harrier innerhalb von fünf Minuten nach Befehlserteilung mittels Senkrechtstart in der Luft sein. Baradj schaute noch einmal hin, steckte das Fernglas dann in das Etui, machte kehrt und ging zum Rock Hotel zurück. Zuvo r harte er 360
sich am Flughafen davon überzeugt, daß sein Privathubschrauber sicher angekommen war. Der Pilot hatte Anweisung, beim Hubschrauber zu bleiben, und Baradj wußte, daß er im letzten Teil seines Planes die entscheidende Rolle spielen würde – nämlich die gewaltige Lösegeldsumme zu bergen, die er abzuholen gedachte. Natürlich ahnte der Pilot nicht, daß er zum Tod verurteilt war, ebenso wie alle Mitglieder der BAST-Organisation zum Untergang verurteilt waren. Sie würden die gefährliche und schwierige Aufgabe ohne Belohnung erledigen. In vierundzwanzig, vielleicht in achtundvierzig Stunden würde er ein königliches Vermögen besitzen. Baradj lächelte, Anschließend wü rde er vom Erdboden verschwunden sein. Er lachte wirklich laut, als er an die Fanatiker dachte, die ihre Se elen für eine solche Gelegenheit geben und die das Geld für Gewehre und Bomben vergeuden würden, um ihr Leben noch mehr zu gefährden. Er, Bassam Baradj – oder richtiger: Robert Besavitsky-, würde es für den einzig richtigen Zweck ausgeben: Zu seinem Vergnügen und für seine Sicherheit. Jetzt noch nicht, aber in einem Jahr vielleicht würde er mit neuem Gesicht und neuer Identität wieder auftauchen. Er würde Häuser besitzen, Grandstücke, Autos, Jachten, Privatjets, Gesellschaften, die vielleicht sogar Gutes für die Welt taten. Er würde Geschenke machen: Hier eine neue Bibliothek oder da ein Museum, auch Stipendien. Ja, das war eine ganz neue Idee. Einige gute Dinge mußten aus dem riesigen Goldtopf kommen, der auf ihn wartete. Das war nur fair. Die Sonne schien, und Baradj war glücklich. Die Sonne leuchtete strahlend auf Gibraltar, obwohl der Wetterbericht für den Rest der spanischen Küste nicht so gut war. Egal, er war gut genug, um zu tun, was getan werden mußte. »Mir, Sir John, ist völlig egal, was passiert ist. Dies ist ein einzigartiges Treffen, und wir benötigen volle vier Tage, um unsere Gespräche zu führen. Muß ich das noch einmal deutlich erklären? Vier… volle… Tage. So war das geplant, und das erwarten wir alle.« Die Premierministerin blickte zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und zu Generalsekretär Gorbatschow hinüber. Ein Dolmetscher flüsterte Gorbatschow die Übersetzung ins Ohr. Er nickte ernst wobei das Feuermal auf seiner Stirn zu sehen war, als er den Kopf bewegte, und wiederholte: »Da… Da… Da.« 361
»Premierminister«, sagte George Bush ruhig: »Ich verstehe das Problem, und ich sehe Ihre Sorge, weil wir Ihre Gaste sind. Ich stimme völlig mit Ihnen überein. Wir sollten an Bord bleiben, denn wir haben schon fast eine Stunde verloren. Aber ich möchte noch einmal hören, welche Möglichkeiten es gibt.« Sir John Walmsley seufzte leicht und knuffte James Bond, der neben ihm stand. »Ich meine, Captain Bond sollte Ihnen eine kleine Zusammenfassung geben«, sagte er mit der Stimme eines verzweifelten Mannes. »Er trägt die Verantwortung für Ihre Sicherheit« Ach, ja? dachte Bond, bevor er sprach. »Ich glaube, Sir John hat das sehr klar erläutert.« Er sprach absichtlich leise und so langsam, daß der Dolmetscher seine Arbeit für Generalsekretär Gorbatschow verrichten konnte. »Heute morgen hatte eine der Hauptturbinen, die dieses Schiff antreiben, eine ernste Fehlfunktion. Dabei wurde ein Mann, ein Bootsmann, getötet. We iterer Schaden entstand nicht. Die Turbine ist untersucht wo rden, und bisher gibt es kein Anzeichen für Sabotage. Eines ist allerdings klar – wir sollten nicht versuchen, Gibraltar zu erreichen, ohne vorher die Turbine wieder in Betrieb zu nehmen. Da zudem die anderen Turbinen zur gleichen Zeit wie die explodierte in Dienst gestellt wurden, ist eine völlige Überholung erforderlich. Das wird mehrere Tage dauern.« Er legte eine Pause ein, um das alles eindringen zu lassen. Mrs. Thatcher zeigte etwas Verärgerung und schaute ihn an, als wolle sie sagen: »Machen Sie schon weiter, Mann.« »In der Nähe von Cadiz befindet sich eine amerikanische Marinebasis, die von hier aus in nur wenigen Stunden Fahrt erreichbar ist, aber damit gibt es Probleme …« »Sie meinen Rota?« fragte die Premierministerin. »Genau, Premierminister. Bis vor wenigen Jahren war Rota eine Basis für amerikanische Schiffe. Vor allem für die Atom-UBootflotte. Dies wurde jedoch auf Bitten der spanischen Regierung abgeändert. Jetzt wird Rota nur noch von spanischen Schiffen benutzt, obwohl die Vereinigten Staaten die Basis als Flugplatz benutzen – um die US Marine zu unterstützen, als Zwische nstation für amerikanisches Personal, das nach Hause zurückkehrt oder zu anderen Basen der NATO in Europa weiterfliegt. Wie mir gesagt wurde, wird sie auch für heiklere Dinge verwendet.« 362
»Was also wollen Sie uns damit sagen, Captain Bond?« fragte Präsident Bush ein wenig scharf. »Die Invincible hat Erlaubnis bekommen, nach Rota einzulaufen. Tatsächlich ist das jetzt zum Teil der Übung gemacht worden, an der wir teilnehmen, Landsea ‘89. Eine neue Turbine wird in Einzelteile zerlegt eingeflogen, und Rolls-Royce schickt ein Spezialteam von Ingenieuren. Problem dabei ist, daß wir somit weitere Zivilisten an Bord lassen müssen…« »Können die nicht die vier Tage warten, die, woran ich Sie erinnern muß, Captain Bond, schnell verstreichen?« Die Premierministerin wurde noch verärgerter, und Bond wußte bereits, daß es unwahrscheinlich war, daß man sie von ihrem erklärten Ziel abbringen konnte, die vier Tage voll mit Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow zu verbringen. »Es gibt ein weiteres Problem«, fuhr Bond fort. »Ja, ich denke schon, daß man die Experten warten lassen kann, aber ich bin besorgt um Ihre Sicherheit. Obwohl wir nicht beweisen können, daß der Zwischenfall mit der Gasturbine Sabotage war, hatten wir seit Beginn von Landsea ‘89 zwei Zwischenfälle. Wir vermuten, daß beide mit einer wenig bekannten Terroristengruppe namens BAST zu tun haben. Einer fand statt, bevor Sie zu uns kamen – und das war ein Mord, an den sich die Entdeckung anschloß, daß eine Angehörige der WrenAbteilung an Bord nicht das war, was sie zu sein schien. Sie war eindeutig eine eingeschleuste Agentin, die wir mit BAST in Verbindung bringen. Ferner wurde heute morgen einer Ihrer Leibwächter, Generalsekretär Gorbatschow, ermordet, als wir einen zweiten Mann festzunehmen versuchten, den wir ebenfalls für einen BAST-Agenten halten.« Der russische Führer sprach ein paar Worte zu seinem Dolmetscher, der dann sagte: »Mr. Gorbatschow ist bereits bekannt, daß Nikola Ratnikov ihr Leben für seinen persönlichen Schutz gegeben hat. Sie wird posthum mit der höchsten Ehre ausgezeichnet werden, die die Sowjetunion einem tapferen Soldaten verleihen kann.« Bond nahm diese Feststellung zur Kenntnis und fuhr dann fort. »Ich bin ebenfalls von BAST bedroht worden. Über Weihnachten wurde ich persönlich angegriffen – mein Auto wurde auf der Insel Ischia in die Luft gesprengt. Dies war eindeutig eine Operation von BAST, was 363
darauf hinzuweisen scheint, daß diesen Leuten der ganze Umfang des Stewards-Treffens bekannt ist. Eine Möglichkeit wäre, uns heute abend nach Rota zu schleppen und Sie alle im Schutz der Dunkelheit vom Schiff zu bringen. Die USNB in Rota hat sich bereits einverstanden erklärt, Leute unterzubringen. Im Augenblick jedoch wissen sie natürlich noch nicht, wer Sie sind.« »Das wird wohl ein wenig Zeit brauchen, Captain Bond«, sagte Mrs. Thatcher frostig. »Ich schlage vor, daß Sie uns nach Rota bringen und später unter äußersten Sicherheitsmaßnahmen für unseren Rückflug in die jeweiligen Länder sorgen.« »Danke, Premierminister. Das halte ich für den richtigsten Kurs…« Aber Mrs. Thatcher war noch nicht fertig. »Das kann natürlich nicht in den nächsten vier Tagen geschehen. Wir haben unsere Gespräche heute morgen begonnen. Erst in vier Tagen werden wir heimlich Rota verlassen. Ich bin überzeugt, wir alle sind in Ihren Händen völlig sicher. Danke, Sir John, danke, Captain Bond. Und jetzt müssen wir wirklich unsere Arbeit fortsetzen.« »Das ist gerade so, als diskutiere man mit einer Exocet-Rakete«, sagte Sir John Walmsley wütend, als sie wieder draußen waren. »Aber sei’s drum. Steuern wir Rota an. Der Rest der Einsatzgruppe wird als Verteidigungsschild vor dem Hafen bleiben, während wir, Bond, einfach das Beste daraus machen. Wie geht’s dem Burschen, der heute morgen angeschossen wurde?« »Der wird wieder, aber wir können jetzt noch nicht einmal daran denken, ihn zu verhören.« »Kommen Sie mit mir auf die Brücke.« Der Konteradmiral war bereits in einen schnellen Schritt gefallen. »Wann werden Sie de n Mann verhören können?« »Wahrscheinlich irgendwann morgen. Er wird rund um die Uhr von einem bewaffneten Posten bewacht.« »Werden Sie ihn dem Verhörspezialisten überlassen, den Sie aus Gibraltar eingeflogen haben?« Bond seufzte. »Leider mußte ich ihn ablösen, weil er für das Verhör des Mädchens Deeley nicht geeignet ist. Er hat eine paranoide Persönlichkeit zuckt bei jedem Schatten zusammen und ist alles in allem nicht der erfreulichste Verhörspezialist, den ich bisher kennengelernt habe. Und er sieht hinter jeder Uniform und jedem Schott Komplotte – 364
obwohl ich glaube, daß er der Typ wäre, der mit diesem Clown fertig werden könnte.« »Ihr Revier, Bond, Ihr Revier. Sie haben das zu entscheiden.« Sie hatten die Brücke erreicht. »Oh, gütiger Himmel, nun sehen Sie sich das an!« explodierte Walmsley. Das Werter hatte sich getrübt, Wolken hingen tief, und es regnete stark. »Ich werde bis heute abend brauchen, um nach Rota zu kommen. Vielleicht sehr spät heute abend. Erledigen Sie, was Sie zu tun haben, Bond, und ich werde versuchen, schnellstmöglich dorthin zu kommen. Die Einsatzgruppe wird aufschließen müssen, und das wird unter diesen Umständen nicht leicht sein. Wir reden später, ja?« »Aye-aye, Sir.« Bond ging nach unten ins Lazarett und sprach mit Sanitätsfregattenkapitän Grant. »Er ist schwach und bewußtlos«, berichtete ihm der Doktor, »aber einer der Stabsoberleutnante, die Mrs. T bewachen, kam runter und machte ein paar Fotos von ihm, die er zwecks Identifizierung nach London schicken wollte. Die Marineinfanteristen werden ihn bewachen, und ich versichere Ihnen, daß er unmöglich hier herauskommen kann, wenn nicht gerade ein Wunder geschieht. Er hat zuviel Blut verloren.« Daraufhin beorderte Bond Donald Speaker in seine Kabine. Der Mann zeigte nicht die Spur einer Änderung in seinem fast krankhaft unfreundlichen Verhalten und kam verspätet, ohne an die Tür zu klopfen. »Setzen Sie sich.« Bond wußte, daß er jetzt wie ein Schulmeister klang, der einen widerspenstigen Jungen ins Direktorzimmer zitiert hatte. »Was gibt’s diesmal? Noch eine anrüchige Geschichte?« »Mit einem Wort, ja. Aber Sie sollten besser wissen, daß ich nach der vergangenen Nacht von London Vollmacht erhalten habe, Sie an Land zu setzen und nach Hause zu schicken.« »Tatsächlich?« »Ja, tatsächlich. Aber es gibt eine andere Aufgabe, die für Ihre unerfreulichen Talente geeignet sein könnte.« Er informierte den Verhörer über den verwundeten Gefangenen. »Sie werden morgen früh mit dem Sanitätsfregattenkapitän sprechen und seine, allein seine Anweisung befolgen, wann Sie anfangen können. Und jetzt möchte ich Sie nicht 365
mehr sehen, bis ich ein Ergebnis habe.« Zur Mittagszeit kam Clover Pennington in der Offiziersmesse zu ihm herüber und sagte, sie bedaure das mit dem russischen Mädchen. »Sie waren recht vernarrt in sie, nicht wahr?« fragte sie. »Nur rein beruflich, Clover. Sie war sehr gut in ihrem Job.« »Und bin ich in meinem nicht gut?« »Sie sind exzellent, Clover. Aber lassen wir das, bis wir die nächsten Tage hinter uns haben.« Sie erreichten Rota kurz vor Mitternacht. Ein Boot fuhr mit Konteradmiral Sir John Walms ley an die Küste, der bis drei Uhr früh auf der US Marinebasis blieb und alle Vorbereitungen für die Unterbringung der Rolls-Royce-Techniker traf. Auf dem Schiff lief alles wie gewöhnlich weiter. Nachdem Bond seine Runde im Sicherheitsbereich der Staatsoberhäupter und ihrer Leibwächter gemacht hatte, legte er sich eine gute Stunde hin, bis Walmsley wieder auf dem Schiff war. Sein Telefon neben dem Bett weckte ihn kurz vor sechs. »Empfehlungen des Kapitäns. Könnten Sie sofort in seine Schlafkabine kommen?« Es war der wachhabende Offizier. Bond rasierte sich, zog sich in Lichtgeschwindigkeit an und war zehn Minuten später in der Schlafkabine des Kapitäns. Walmsley lag auf seiner Pritsche, wirkte müde, hatte sich auf einen Ellenbogen gestützt, nippte an einem großen Becher Kaffee, den er in der einen Hand hielt, und schwenkte in der anderen eine Nachricht. »Man läßt mir einfach keine Ruhe«, sagte er. »Ich glaube, das ist für Sie, Bond.« Er wedelte mit dem Durchschlag einer Nachricht. »Kaffee?« »Nein, den trinke ich später, Sir.« Bond las rasch die Depeschenkopie. VON OC USNB ROTA SPANIEN AN KAPITÄN HMS INVINCIBLE STOP WENN SIE EINEN CAPTAIN JAMES BOND AN BORD HABEN WIRD ER GEBETEN SOFORT AN LAND ZU KOMMEN UM DRINGENDE ANWEISUNGEN SEINER VORGESETZTEN ENTGEGENZUNEHMEN STOP BITTE BENACHRICHTIGEN DAMIT ER ABGEHOLT WERDEN KANN STOP 366
CAPTAIN BOND BENACHRICHTIGEN SINGVOGEL STOP »Ich denke, das war kodiert, Sir?« Die Verwendung des Wortes Singvogel authentisierte die Mitteilung für Bond. »Bei euch Leuten ist ja immer alles kodiert. Mein Schreiber hat das unter absoluter Geheimhaltung dechiffriert. Höchste Geheimhaltung.« »Dann sollte ich besser gehen, Sir.« »Das dachte ich mir. Ich habe ein Boot bereitstellen lassen. Nur ein Mannschaftsdienstgrad, um Sie rüberzubringen. Im Augenblick will ich nicht viele Leute vom Schiff schicken. Soll er auf Sie warten?« Bond überlegte einen Augenblick. »Nein, Sir. Aber als Vorsichtsmaßnahme werde ich Ihnen mitteilen, wann ich zur Rückkehr bereit bin, und ich werde das Wort Singvogel benutzen. Könnten Sie ans Ende Ihrer Mitteilung Waldkauz setzen, wenn alles normal ist?« »O Gott, muß ich das, Bond?« »Diese Mitteilung garantiert Ihnen, daß ich es wirklich bin. Sie sollten entsprechend verfahren.« »Also gut. Gehen Sie. Ihr Boot wartet an der vorderen Gangway an Backbord.« »Danke, Sir.« Als Bond die Kabine verließ, beugte sich der Konteradmiral vor und begann auf den Block neben seinem Bett zu schreiben. Der Regen hatte nachgelassen, aber Bond hatte seinen Trenchcoat angezogen, da der Wind noch immer Regen mit sich trug und es um sieben Uhr morgens bitterkalt war. Zudem schien der Matrose, der ihn fuhr, noch nicht völlig wach zu sein. Deshalb war Bond ziemlich froh, als sie die Landungsbrücke erreicht hatten. Ein Zivilwagen war in der Nähe geparkt, und als er die Steintreppe hochkam, stieg ein Commander der Marine der Vereinigten Staaten aus der Fahrertür. »Captain Bond?« Er salutierte. »Derselbe.« »Haben Sie mir etwas zu sagen, Sir?« »Räuber«, schnappte Bond. »Gut, Sir. Mein Name ist Carter, Mike Carter, und ich arbeite für Singvogel. Wenn Sie bitte einsteigen wollen. In der Basis wartet jemand auf Sie, Sir.« Sie fuhren durch den frühen Morgennebel, und es begann wieder zu 367
regnen. Schließlich hielt der amerikanische Commander den Wagen vor einem gut bewachten Tor an. Ein farbiger Posten trat vor und prüfte gründlich die laminierte Karte, die der Co mmander ihm reichte, sah Bond an und fragte, wer er sei. Commander Carter überreichte ihm ein anderes Papier, auf dem, wie Bond zu seinem Erstaunen sah, sein Foto klebte. »Okay!« Der Posten salutierte zum ersten Male, und sie fuhren weiter. Die Basis sah wie jede andere aus, abgesehen von einem Bereich in der Ferne, in dem sich zwei riesige Kugelantennen befanden, die aus Winkelplatten zusammengesetzt waren, so daß sie wie riesige weiße Golfbälle wirkten. Dazwischen ragten ein sehr hoher Sendemast und drei rotierende Teller auf. Links von sich sah Bond eine weitere Antennenkugel, bei der einige Platten fehlten. »Die da ist nicht in Betrieb?« fragte er. »Teufel, nein.« Carter lächelte. »Diesen Bereich teilen wir mit der spanischen Marine. Die Anlage hier sollte für sie sein, weshalb wir die Kugel bauten, aber dann konnten sie sich den Elektronikkram nicht leisten, der hineingehört. Aber wissen Sie, an Halloween stellen wir da Lichter rein und verschieben die Platten. Sieht als Kürbiskopf toll aus.« Sie hielten vor einem flachen Bürogebäude, vor dessen Tür ein bewaffneter Marineinfanterist stand. »Okay, da waren wir. Endstation, wie man so sagt. Folgen Sie mir bitte, Sir.« Er zeigte dem Marineinfanteristen seine Kennkarte, und sie gingen durch einen kleinen Empfangsbereich und über einen Korridor. »Hier hinein, Sir.« Carter öffnete eine Tür. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Ich habe noch nicht gefrühstückt und fühl’ mich ziemlich trocken im Hals.« »Speck, Eier, Kaffee?« »Warum nicht?« lächelte Bond. »Bin in ein paar Minuten wieder da, Captain Bond, Sir.« Bond nickte und trat in den Raum. »Hallo, mein Liebling. Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen«, sagte Beatrice Maria da Ricci, die an einem Tisch saß und vor der ein 368
großer Becher mit Kaffee stand.
16. FLEDERMAUSBLUT Ausnahmsweise fehlten Bond diesmal die Worte. »Aber…« krächzte er, »du bist… Beatrice.« Er sprach das so aus, wie sie es getan hatte, Beh-ah-Tri-che. Während er das tat, wurde ihm klar, daß er seit diesem schrecklichen Augenblick am Weihnachtsnachmittag um sie getrauert hatte, als er gesehen hatte, wie sie vor ihm bei der Villa Capricciani auf Ischia in Stücke gerissen worden war. Instinktiv streckte er die Hand aus, um ihre Hand zu berühren. Sie war aus Fleisch und Blut – und ihm war wirklich egal, ob sie die »Katze« von BAST war. Sie lächelte zu ihm auf, und das Lächeln leuchtete in ihren Augen und breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus. »Es ist okay, James. Ich bin es wirklich, kein Geist. Ich bin auch auf deiner Seite. Ich bin nicht die › Katze‹«. »Aber wie… Was…? Ich sah doch…« »Du hast eine sehr gute Illusion gesehen. Einen Zaubertrick, wie David Copperfield in Amerika oder Paul Daniels in England sie produzieren.« »Wie…?« »Dein Leben wurde gerettet. Und meines auch, und wir verdanken unser beider Leben Franco, bei dem wir das nie wiedergutmachen können, weil er tot ist. Ich bat M, dich schon vorher informieren zu dürfen, aber er sagte, erst dann, wenn du kurze Zeit das Schiff verlassen könntest.« »Aber wie lief das?« Es pochte an der Tür, und Carter kam mit einem Tablett wieder. Speck, auf amerikanische Art sehr knusprig gebraten, zwe i Eier mit dem Gelb nach oben, ein Teller mit Toast, Aufschnitt und eine große Tasse Kaffee. »Vergessen Sie nicht, Miss da Ricci«, erinnerte Carter, bevor er ging, »wir haben nicht viel Zeit. Ihr Boß sagte, es müsse so schnell wie möglich erledigt werden.« 369
»Ich hab’s nicht vergessen, Mike. Danke.« Carter verschwand, und sie sagte zu Bond, er solle essen. »Ich werde erzählen. Ganz wie in alten Zeiten, was?« Er nickte und fragte noch einmal: »Wie…?« »Du solltest zwei Dinge wissen, James. Erstens hast du nur Franco und Umberto kennengelernt, die beide ihr Lebe n für uns gaben. Wir hatten weitere Leute da, die dich bewachten. Vier weitere Männer, die gut versteckt waren. Sie waren unsere eigentlichen Aufpasser. Zweitens haben wir dir nicht alles gezeigt, als ich dich in der Villa herumführte. Vielleicht war das falsch. Ich weiß überhaupt nichts mehr.« »Was hast du mir nicht gezeigt?« Er schluckte den Orangensaft in einem Zug hinunter und beschäftigte sich dann mit dem Speck und den Eiern. So anspruchsvoll er auch beim Frühstück war, des war einfach himmlisch. Er hatte gar nicht gemerkt, wi e hungrig er war, und auch nicht, wie durstig. Unnatürlich durstig. »Du erinnerst dich an den Wendeplatz für das Auto, nahe dem Lilienteich, direkt hinter dem Haupttor?« Er nickte. »Nun, die Wand zur Rechten, bevor man zum zweiten Tor und zu der Treppe gelangt…« »Was ist damit?« »Beschreib sie mir.« Bond ranzelte die Stirn, während er einen Bissen Toast kaute. »Es war eine Mauer.« Er überlegte wieder. »Eine Mauer, die mit Efeu bedeckt war und eine Pforte hatte.« »Genau. Eine Mauer, die mit Efeu bedeckt war. Aber es war eine Mauer, die keine Mauer war. Der Efeu wurde immer regelmäßig geschnitten, so daß die Pforte geöffnet und geschlossen werden konnte. Dahinter befand sich ein kleiner Metallraum, ähnlich einer großen Kiste. Er wurde als Beobachtungsstand benutzt, oder um schnell fliehen oder sich verstecken zu können. Einer unserer anderen Beobachter entdeckte Leute, die in den frühen Morgenstunden des Weihnachtstages durch das Haupttor eindrangen. Die Schlösser und Sicherheitseinrichtungen schienen ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Es waren sehr geschickte Leute. Aber du weißt ja, daß sie geschickt sind.« »Und sie…?« Sie nickte. »Sie präparierten den Wagen. Legten eine Bombe darun370
ter.« »Und?« »Franco wurde alarmiert. Er erzählte mir das am Weihnachtsmorgen. Du solltest auch wissen, daß sie bereits Wanzen installiert hatten. Ich schäme mich, James. Sie haben alles gehört.« »Du? Du schämst dich?« Er beugte sich über den Tisch vo r und küßte sie. »Hör zu, James, wir haben nicht viel Zeit, Ein anderer Beobachter sah, daß die Eindringlinge, die Leute von BAST, sehr nachlässig waren. Sie wußten, daß wir bis zum Abendessen des Weihnachtstages, vielleicht sogar bis zum nächsten Tag nicht in die Nähe des Wagens kommen würden, und ließen alles unbewacht zurück. Sie gingen einfach weg.« »Und Franco sah sich das genauer an?« »Er tat mehr. Es war nicht leicht. Sie benutzten C-4 Plastiksprengstoff mit Fernzünder. Ein Knopf druck) ob, wie sie dies gern nennen.« »Also, was tat Franco?« »Es war gefährlich. Sehr gefährlich. Er überbrückte ihre Fernzündung und ersetzte sie durch eine andere. Vorsichtshalber baute er noch ein paar andere Dinge ein. Die Tür war offengelassen worden, und ihre Fernzündung löste einfach eine kleine Blitzbirne am Lenkrad aus, die dann die Ladung hochgehen lassen sollte. Das war das erste, was Franco veränderte.« Sie schenkte sich Kaffee in ihre Tasse, und das Gebäude erzitterte leicht, als ein Flugzeug von der Basis abhob. »Wir hatten unseren eigenen Knopfdruckjob. Als sie auf ihren Knopf drückten, drückte ich auf den der Fernbedienung, die ich bei mir trug, und das erzeugte eine Menge Rauch. Sehr dicken Rauch und einen Blitz, der vier Sekunden nach dem Rauch zündete. Ein greller Blitz. Der Rauch war dicht. Er hüllte den ganzen Parkplatz ein.« Bond erinnerte sich und sah alles wieder vor sich. Zuerst war da Rauch, dann der Blitz, gefolgt von der schrecklichen Detonation. »Deshalb rannte ich voraus. Wir dachten, sie würden handeln, wenn sie mich für tot hielten – was sie auch taten. Sobald ich unseren Knopf gedrückt hatte, konnte ich durch den Rauch rennen und auf die andere Seite der Mauer gelangen. In dem großen Metallbehälter hatten wir einen weiteren Fernzünder, der mit dem richtigen Detonator verbunden war. Bei diesen Dingern gibt es oft eine Verzögerung. Sie alle glaubten, genau wie du, daß ich in Stücke gerissen worden sei…« 371
»Aber das warst du doch auch. Sie fanden Überreste.« Sie schaute ihm in die Augen. »Ja, das war das unerfreulichste und etwas sehr Schlimmes, war wir tun mußten. Francos Leute plünderten ein Grab. Ich will darüber nicht reden.« »Du lebst, Beatrice, mein Liebling. Das ist das einzige, was zählt« »Das zählt wirklich, James, aber es gibt Wichtigeres. Du muß t auf das Schiff zurückkehren. In diesem Augenblick können schreckliche Dinge geschehen. Wir haben Leute, die alles beobachten, aber wir wissen wirklich nicht, was sie vorhaben. Oder wie sie’s tun wollen. Du wurdest übrigens verfolgt…« »Hierher verfolgt?« »Nein, nach der Bombe. Zu dem Ort, den sie auf dem Festland eingerichtet hatten. Uns gelang es, das erste gute Foto von Bassam Baradj zu machen, den wir für die ›Viper‹ von BAST halten. Der Anführer, der mit diesen drei wichtigen Leuten, die du auf deinem Schiff hast, etwas Entsetzliches tun will.« Sie schob ein Foto über den Tisch. Es war der Mann, den er als Toby Lellenberg, kommandierender Offizier von Northanger, kennengelernt hatte. »Das ist Baradj?« »Ja.« »Nun, wenn das alles getürkt war, warum, in Himmels Namen, habt ihr nichts dagegen unternommen? Warum habt ihr mich nicht rausgeholt? Gleichzeitig hattet ihr doch Baradj schnappen können. Warum, Beatrice?« Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Warum, ja? Ich hab’s versucht, James. Ich hab’s nachdrücklich versucht. Für mich war’s offensichtlich, daß das getan werden mußte.« »Und warum hast du dann nicht…?« »M verbot es. Du wurdest sorgfältig überwacht. Die ganze Northanger-Operation stand unter ständiger Beobachtung, aber M sagte, wir wollten sie das zu Ende spielen lassen. Sein Argument war einleuchtend. Er wollte die Informationen bezüglich deiner Entführung und nebenbei auch die Entführung der Mannschaft von Northanger als Druckmittel benutzen.« »Als Druckmittel wofür?« »Er glaubte, die Premierministerin, der amerikanische Präsident und Gorby würden die ganze Sache kippen, wenn sie Gefahr rochen. Er – 372
also M – legte das alles Mrs. Thatcher dar, zeigte die Gefahren auf und die Probleme, die es mit der Sicherheit geben könnte. Aber…« »Aber sie wollte nicht hören«, ergänzte Bond. Beatrice nickte. »Sie blockte alles ab. Rief sogar in M’s Anwesenheit den amerikanischen Präsidenten an. Sie argumentierte, daß dies dringend und wichtig sei und nicht unterminiert werden könne. Ich glaube aber, daß sie die Gefahr einfach ignorierte, und die anderen folgten ihr wie Schafe.« »Das paßt alles. Wissen wir, wo Baradj jetzt ist?« »Wir sind nicht sicher. Vielleicht in Gibraltar. Vielleicht noch näher. Du weißt das jetzt und mußt zurück. Du mußt auch Mrs. Thatcher, den Präsidenten der Vereinigten Staaten und Mr. Gorbatschow rechtzeitig vom Schiff bringen. Herunter und weit weg.« Plötzlich fluchte Bond laut. »Was ist?« fragte Beatrice. »Wenn du nicht die › Katze‹ bist, dann…« »Natürlich bin ich es. Hast du das nicht vorher erkannt? Das ist einer der Gründe, warum du zurück mußt. Wenn wir Baradj ausfindig machen, werde ich in seiner Nähe sein. Du wirst mich bei ihm finden.« Sie war aufgestanden und drückte einen Knopf, der in die Wand eingelassen war. Mike Carter tauchte im Türeingang auf. »Zeit zu gehen?« fragte er fast dankbar. »Ich habe ihm alles erzählt, was wir wissen, Mike.« »Ihr Boot hat nicht auf Sie gewartet.« Carter schaute Bond an. »Nein, ich habe einen Kodesatz mit Walmsley vereinbart. Stehen Sie mit dem Schiff in Verbindung?« »Sicher. Keine Sprache, nur elektronisches Morse.« »Okay. Senden Sie das: ›Singvogel erbittet Boot, um an Bord zu kommen.‹ Sie sollten eine Antwort bekommen, die das Wort Waldkauz enthält. Wenn sie Waldkauz nicht senden, steht uns eine Schießerei bevor.« Er erhob sich, und sie kam um den Tisch herum zu ihm. Zum ersten Male bemerkte Bond, daß sie die goldene, diamantenbesetzte, wie ein Schild geformte Spange trug, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Er zog sie an sich und küßte ihr Haar, dann ihre Lippen. »Wenn du in Baradjs Nähe bist, paß auf, Beatrice, Liebling.« »Schaff du nur diese wichtigen Leute von der Invincible herunter. 373
Dann kümmern wir uns gemeinsam um Baradj. Ich will mit dir nochmal Weihnachten feiern, James.« »Vielleicht eine ganze Reihe von Weihnachtsfesten.« Carter war zurückgekehrt und hüstelte dezent an der Tür. »Ist in Ordnung, Sir. Die Botschaft lautete: ›Schicke das Boot für Singvogel stop Waldkauz wartet.‹« »Gott sei Dank.« Bond küßte sie wieder und ging dann schnell, ohne sich umzudrehen. In einer solchen Situation blickte er selten zurück. Irgendwie, dachte er, würde das Pech bringen. Das kleine Boot wartete bereits mit laufender Maschine an der Treppe. Im Bug stand ein Matrose, um ihm an Bord zu helfen. »Der Kapitän läßt entschuldigen, Sir. Er konnte Ihnen nicht denselben Matrosen schicken, Sir. Der Mann mußte ins Lazarett. Es ging ihm nicht sehr gut.« Bond erinnerte sich. »Ja, er schien sich schon auf der He rfahrt nicht gut gefühlt zu haben.« Er sprang ins Boot und winkte Carter zu, der wartete, bis sie vom Anleger abgelegt hatten. Dann ging er zu seinem Wagen. Zehn Minuten später war Carter wieder in dem flachen Gebäude auf der Basis. Beatrice wartete draußen, sie sah hektisch und völlig aufgelöst aus. »Oh, mein Gott, Mike.« Ihre Stimme war fast hysterisch schrill. »Was, um Himmels willen…?« setzte er an. »Sie haben sie.« »Wen?« »Thatcher, Bush und Gorbatschow. Vor zehn Minuten bekam das Außenministerium in London einen Anruf. Man hat ihnen mitgeteilt, daß sie die Nachricht an die entsprechenden Nummern in Washington und Moskau weiterleiten sollten. Der Anrufer war ein Mann. Sie glauben, der Anruf kam aus London. Er nannte ihnen ein Kodewort – Fledermausblut – und sagte, die drei Staatsoberhäupter würden auf der Invincible festgehalten. Es werde keine Verlautbarung an die Presse geben, sie verlangten aber sechshundert Milliarden Dollar – Zweihundert Milliarden für jedes Staatsobe rhaupt.« »Nur Geld? Sonst nichts? Keine Gefangenen, die freigelassen werden sollen? Nichts in der Art?« Sie schüttelte den Kopf und biß sich auf die Lippe. »Das ist alles. 374
Sie müssen sich bis drei Uhr Ortszeit damit einverstanden erklären. Wenn die Einsatzgruppe versucht, sich der Invincible zu nähern, werden sie einen der drei töten.« Sie holte tief Luft. »Wie? Wie konnten sie nur…?« »Haben wir versucht, mit dem Schiff Verbindung aufzunehmen?« Wieder das kleine Nicken. »Absolut keine gesprochene Antwort. Nichts außer der Elektronik. Die Invincible hat den anderen Schiffen bereits signalisiert und Befehl gegeben, an Ort und Stelle zu bleiben.« Das kleine Boot fuhr zu der Kajütentreppe, die vorne am Hauptdeck an der Backbordseite heruntergelassen worden war. Die Leading Wren hielt das Boot mit einem Bootshaken ruhig, während Bond die schwankenden Stufen emporstieg. Als sie sich der Invincible genähert hatten, schien er etwas Unheimliches an ihr zu spüren. Etwas stimmte nicht, und er vermochte nicht festzustellen, was. Als er jetzt das Hauptdeck erreichte, sah er, daß es bis auf die Flugzeuge und Hubschrauber verlassen war. Seine Eingebung war entweder korrekt, oder er unterlag einer Sinnestäuschung. Jedenfalls griff er nach seiner Browning, die hinter seinem Rücken steckte. Er hatte nicht einmal ihren Kolben berührt, als eine vertraute Stimme sagte: »Das würde ich nicht tun, James. Nehmen Sie Ihre Hände weg.« Er drehte sich um und sah Clover Pennington zwischen zwe i Wrens, die hinter einer Sea Harrier hervortraten. Alle drei Mädchen tragen automatische Pistolen. Bleib cool, dachte er. Bleib ganz cool. »Hallo, ›Katze‹.« Er lächelte.
17. OPERATION SCHLAFENDE SCHÖNE Eines der Mädchen trat vor, griff hinter seinen Rücken und nahm ihm die Browning ab. »Leg ihm Handschellen an, wenn du schon dabei bist«, sagte Clover zu ihr. »Nun, James, hat Waldkauz Ihnen das Okay gegeben?« »Ja, wie haben Sie das geschafft?« fragte er, überrascht, daß seine Stimme so gelassen wirkte. 375
»Der dumme alte Narr hatte sich eine Notiz gemacht und sie auf seinem Nachttisch liegen lassen. Es war ganz leicht.« Bond spürte, wie ihm die Handschellen angelegt wurden. Der kalte Stahl biß in seine Handgelenke. Er war durch die Stille noch immer verwirrt. »Wie haben Sie’s geschafft, Clover?« fragte er. »Bringt ihn in meine Kabine hinunter«, befahl sie den be iden Wrens, die ihn vor sich herschoben und ihn durch das Schott und die Kajüttreppe hinunterführten, über den Kniestreif-Durchgang zur Tageskabine des Kapitäns, wo sie ihn grob in einen Sessel stießen. Clover sagte den beiden Mädchen, sie sollten mit ihrem Dienst weitermachen. »Ich werde euch in etwa fünf Minuten rufen, dann werden wir den Burschen in eine hübsche Zelle einsperren.« Sie trat hinter den Schreibtisch und setzte sich, wobei sie ihn ansah. »Sehen Sie, wie leicht Frauen Männerarbeit verrichten können?« Das Lächeln war noch immer bezaubernd, ohne Drohung oder gespielte Bosheit. Schmutziges Grinsen und Höhnen gab es nur in Filmen. Clover sah wie jedes andere hübsche, gut erzogene Mädchen aus, das eine große Zukunft vor sich hatte. »Sie haben gewonnen, das ist offensichtlich.« Bonds Verstand beschäftigte sich wechselweise damit, was er tun könne und wie es, in Gottes Namen, First Officer Pennington gelungen war, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen. »Auf diesem Schiff sind über zweitausend Leute.« Er versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln. »Wie schaffen vierzehn Mädchen das, was Ihnen offensichtlich gelungen ist?« »Zweitausendachtzehn Männer, um korrekt zu sein. Oh, und fünfzehn Mädchen. Wir haben Sarah Deeley befreit. Sie ist natürlich eine Psychopathin, aber sehr nützlich, wenn’s um wirklich unangenehme Aufgaben geht.« »Wie?« fragte er wieder. »Weil es sehr gut geplant war und wir bestens darauf vorbereitet waren, es durchzuführen. Meine Mädchen hatten überall Aufgaben – und außerdem Zugang zu allen Küchen.« »Das Essen?« Sie nickte. »Und die Getränke. Sie hätten das Schiff wirklich nicht verlassen sollen, James. Darüber war ich ein bißchen ärgerlich. Haben Sie sich heute morgen nicht sehr durstig gefühlt?« Er erinnerte sich daran, wie er den Orangensaft in der Basis hinun376
tergekippt hatte, an dieses ungewöhnliche Durstgefühl… »Ah.« Wieder das Nette-Mädchen-Lächeln. »Ah, in der Tat. Gestern enthielt jeder Bissen Essen, jedes Getränk eine Substanz, durch die sich jeder Mann heute durstig fühlte. Ein schrecklicher Durst.« »Und heute morgen?« »Heute morgen haben Sie nichts getrunken, Bond, bevor sie nach Rota rüberfuhren. Hätten Sie einen Schluck Kaffee zu sich genommen, wären Sie binnen zwanzig Minuten orientierungslos geworden und innerhalb einer halben Stunde eingeschlafen. Wir nennen das ›Operation schlafende Schöne‹. Natürlich gab es ein paar kleine Probleme – Sie waren eines davon –, aber meine Mädchen konnten damit fertig werden. Alle, bis auf Sie, sind behaglich eingepackt. Und schlafen fest.« »Wie gefährlich ist das Zeug?« »Das Zeug? Oh, das Präparat, das wir ins Essen und in die Getränke getan haben? Ist wie ein Maultiertritt, James. Haut Leute einfach um. Darin ist eine Menge von diesem alten Kram wi e Chlorhydrit, aber es ist neu gemischt worden, geschmacklos, und die Nachwirkungen sind negativ. Die ›Viper‹ hat ein Vermögen investiert, um das Zeug in bester Qualität herstellen zu lassen – wirklich, es besteht nur ein wenig oder keine Gefahr.« »Hört sich an, als sei ›Viper‹ ja ein richtig netter Mann.« »Zufällig ist er das. Jedenfalls, James, wird die ganze Gesellschaft auf diesem Schiff für mindestens drei Tage aus dem Verkehr gezogen sein.« »Und der Zweck der Übung?« »Geld. Geld, um in der Welt und in der Gesellschaft weiterhin mitreden zu können.« »Eine Menge Geld?« »Zweihundert Milliarden für jeden VIP…« Bond begann zu lachen. »Clover, ist Bassam Baradj so naiv?« »Was soll das heißen?« »Ist ihm nicht klar, daß auch dies nicht die optimale Geiselnahme ist?« »Warum nicht? Drei der mächtigsten Politiker der Welt…« »Richtig. Sie wollen Geld für sie haben, und das werden Sie keines377
falls bekommen. Sicher, die betroffenen Länder werden Sie alle wahrscheinlich bis ans Ende der Welt und wieder zurück jagen, aber niemand wird soviel Geld bezahlen, um Politiker zurückzubekommen. Begreifen Sie das nicht? Es wird eine schlimme Zeit werden, gewiß. Zeit für die Nächte der langen Me sser. Die Russen werden mit den Schultern zucken, und das Anti-Glasnost-Team wird wieder dran sein. Die Amerikaner werden etwas Dummes tun, den Vizepräsidenten für eine Weile ranlassen und dann den Zirkus von vorn beginnen. Die Briten? Gewiß, Mrs. T hat ihre Anhänger, aber… Nun ja, das Kabinett wird zu kleinen Krisensitzungen zusammentreten. Dann wird man einfach einen neuen Premierminister wählen. Amerika und wir Briten geben bei Geiselnahmen niemals nach, und eine Menge mächtiger Leute werden das außerdem als eine von Gott gegebene Gelegenheit für einen Führungswechsel betrachten.« Er meinte, sie sei ein wenig blaß geworden. Nun, er hatte ihr nur die Wahrheit gesagt. »Unsinn«, erklärte sie scharf. »Wir haben noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Wenn die Regierungen auf unsere Forderungen nicht bis 15 Uhr unserer Zeit heute nachmittag eingehen, werden wir Stärke zeigen. Wenn jemand versucht, das Schiff zu stürmen, wird sich Sarah um die Geiseln kümmern. Nacheinander natürlich. Und das wird sie auch tun, sobald das erste Ultimatum um ist.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »In drei Stunden geht’s los. Ich weiß nicht, was geplant ist, aber uns allen ist gesagt worden, wir sollten dem Hauptdeck und der Insel fernbleiben.« »Sie können nicht gewinnen. Es gibt einfach keine Möglichkeit. Clover, wie in Gottes Namen ist jemand wie Sie in eine solche Situation geschlittert?« »Reden Sie nicht mit mir wie ein Pfarrer, der eine Hure gönnerhaft behandelt!« schrie sie. Dann fuhr sie ruhig fort: »Weil die Welt verkommen ist, von verkommenen Menschen geführt wird. Unsere Art der Anarchie ist positiv. Wir wollen auf dem ganzen Globus ein faires und freies Gesellschaftssystem einrichten…« »Sie reden genauso wie all diese Traumtänzer, Clover. Es wird nie eine faire, freie und offene Gesellschaft auf dieser Welt geben. Wissen Sie, dazu stehen sich die Menschen selbst im Weg. Ideale sind für Idealisten, und alle Idealisten fallen in Ungnade. Ideale funktionieren 378
nicht, ganz einfach, weil Menschen damit nicht umgehen können. Ein Mann hat das einmal so gesagt: ›Macht neigt zur Korruption‹. Und absolute Macht korrumpiert absolut. Das war doch Lord Acton, nicht?« »Sie glauben nicht…?« setzte sie an. »Nein. Nein, Sie versuchen es mit dem alten Harmonietrick. Zeit für Sie, sich ruhig auf Ihren Weg zu machen, James.« Noch bevor sie das gesagt hatte, wurde heftig an die Tür geklopft. Sie rief herein, und eine der Leading Wrens, die ihn auf dem Hauptdeck überrumpelt hatten, trat ein. Sie war eine große, hagere Blondine, in deren Augen das unglückselige Feuer und das Fieber des Glaubens brannten. »Alle drei Länder haben abgelehnt, Ma’am. ›Viper‹ sagt, alle sollen bis 15 Uhr unten bleiben. Er denkt, daß wir Druck auf sie ausüben können, wenn wir an die Öffentlichkeit gehen.« Clover nickte und neigte ihren Kopf zu Bond. »Du kannst ihn runter in die Zellen bringen. Sperrt ihn sicher ein.« »Aber die Armbänder muß ich doch wohl nicht tragen, Clover, oder? Ich meine, die Zellen sind doch sehr sicher.« Sie dachte einen Augenblick darüber nach. »Sorg dafür, daß er sicher eingesperrt ist. Nimm eines der anderen Mä dchen mit nach unten – bewaffnet. Die Handschellen kannst du ihm abnehmen.« Bond ging ganz ruhig voran. Er wußte, daß seine einzige Hoffnung darin bestand, auf das Hauptdeck zu gelangen und mit Glück in die erste Sea Harrier zu kommen, die vollgetankt und schwer bewaffnet auf der Ski-Rampe stand. In solchen Situationen spielt man zunächst mit. Die ganze Geschichte war ohnehin verrückt genug, da er der vollen Überzeugung war, daß BAST lediglich all denen ein unerwartetes politisches Geschenk gemacht hatte, die gegen Gorbatschow, Thatcher und Bush standen. Eine andere Wren gesellte sich zu ihnen, die eine H & K MP S SD3 trug, mit der sie Bond in die Seite stieß. Er mußte die Organisation einfach bewundern. Baradj mochte sich ein dummes, unmögliches Ziel ausgesucht haben, aber die Operation und ihre Methoden waren ausgezeichnet gewesen. Die Zellen bildeten eine kleine Traube von sechs vergitterten Würfeln tief im Schiffsinnern. In einer technischen Welt wirkten sie etwas altmodisch. Die Gittertüren wurden von Hand zugeschoben und mit massiven Vorhängeschlössern gesichert. Sonst war niemand in den 379
Zellen, und sie stießen ihn einfach in die erstbeste hinein. »Was ist mit den Handschellen?« fragte er, als die Leading Wren ihn einschließen wollte. »Ach ja. Filz ihn, Daphne.« Die Blonde mit den fiebrigen Augen hatte diese harte, fast grobe Art an sich, die man oft bei Soldatinnen findet. Das bedeutete nicht, daß sie sich von anderen Frauen unterschieden, sondern war einfach Folge des Jobs. Weiche Mädchen wurden durch militärische Disziplin hart. Daphne filzte ihn. Sehr gründlich, dachte Bond, da sie an seinem Schritt etwas verweilte. Eine echte emanzipierte Dame, sagte er sich. Schließlich schloß sie die Handschellen auf, schob die Gitter vor und sperrte ihn ein. »Jemand wird Ihnen Essen bringen müssen, nehme ich an«, sagte die Blonde, deren Stimme schon bei dem Gedanken daran gereizt klang. »Weiß nicht, wie lange das dauern wird, da wir viel zu tun haben.« »Ich kann warten«, sagte Bond höflich, der genau wußte, daß in allem, was immer sie ihm anzubieten hätten, ihre neue Mischung von Chlorhydrit sein würde. Diesmal war er wirklich ganz auf sich allein gestellt. Er mußte den sprichwörtlichen Fluß ohne Paddel hochfahren. Keine versteckten Waffen. Nichts Spektakuläres aus der Abteilung Q. Nur er allein, sein Können und die absolute Notwendigkeit, herauszukommen. Etwa einhundert Meilen nordwestlich von Rota hatte der Frachter Estado Novo seine Maschinen gestoppt. Die Seitenwände der Containerattrappe waren heruntergeklappt worden, so daß die gestohlene Sea Harrier zum Vorschein kam. Felipe Pantano arbeitete wie ein Besessener. Es wurde wild gestikuliert und reichlich geschrien und geredet, als er das Aufrüsten und Auftanken des Düsenflugzeugs überwachte. Er bekam seine Chance. Heute würde er für BAST in Aktion treten, und ihm kam nie der Gedanke, daß er vielleicht nicht lebend zu dem Frachter zurückgelangen würde. Schließlich war die ganze Sache narrensicher. Niemand auf einem der anderen Schiffe der Einsatzgruppe würde eine Sea Harrier der Royal Navy herausfordern, und wenn er seine Arbeit getan hatte, würde er mit Vollgas zur Estado Novo zurückflie380
gen. Sicherlich war das sein großer Tag. Die Botschaft, die aus dem einen Wort Befördern bestand und im Klartext über Funk gekommen war, harte sein ganzes Leben verändert. Um es einfach auszudrücken, Felipe Pantano war aufgeregt. In Gibraltar hatte Baradj widerwillig das Signal Befördern an die Estado Novo gesendet, aber das amerikanische State Department, das britische Foreign Office und der Kreml hatten ihm keine Alternative gelassen. Narren, dachte er, sie wissen nicht, womit sie es zu tun haben. Also sendete er das Signal – ein Telefonanruf in London wie zuvor, ein weiterer Telefonanruf von seinen Leuten in Lo ndon an die in Oporto registrierten Besitzer des Schiffes, und das Signal wurde, verpackt in eine längere Mitteilung, direkt von den Besitzern ausgestrahlt. Insgesamt war Baradj zufrieden mit der Art, wie er die Weitergabe von Nachrichten organisiert hatte. Von kurzen Mitteilungen bis zu längeren Anrufen seiner Leute in London, die Münztelefone und gestohlene Kreditkarten benutzten – frisch gestohlene, was bedeutete, knapp eine Stunde vor den Anrufen entwendet. Diese Kommunikationswege waren nicht nachvollziehbar, wodurch er natürlich wiederum völlig sauber blieb. Baradj saß in seinem Zimmer im Rock Hotel, nur etwa fünf Minuten von den berühmten Affen entfernt, die ihr eigenes Territorium auf dem Gibraltar-Felsen bewohnten und ihren Wärtern alle mit Namen bekannt waren. Jeder dieser Affen hatte seine n Namen, und man konnte sie unterscheiden. Baradj hielt es für einen seltsamen und unnatürlichen Charakterzug der Briten, daß sie es zugelassen hatten, ein Pärchen Charles und Di zu nennen und zwei weitere Andrew und Fergie. Das war fast Verrat an der britischen Königlichen Familie, überlegte Baradj. Er empfand große Zuneigung für die britische Königliche Familie – was bedeutete, daß Baradj gern in einer anderen Welt geboren worden wäre. Es bedeutete auch, daß er ve rsuchte, sich in die Aristokratie einzukaufen – durch terroristische Aktivitäten. Nun, dachte er, der Ballon würde bald genug hochgehen. Sie würden in weniger als zwei Stunden sehen, daß sie nicht mit irgendeiner alten Terroristenbande spielten. Oh, dachte er, die Bücher haben schon recht. An der Spitze einer Kommandokette ist es sehr einsam. Eine der 381
großen Schwierigkeiten in diesem Augenblick war, daß er niemand hatte, mit dem er reden konnte. Tatsächlich hatte er alle überflüssigen Anrufe bei anderen Angehörigen der Organisation reduziert, die an der derzeitigen Operation nicht beteiligt waren. Schließlich beschloß Baradj, seinen letzten Leutnant, Ali AI Adwan anzurufen, den er heimlich in Rom zurückgelassen hatte. Dieser Anruf sollte sich als Fehler erweisen, da die Überwacher im gesamten spanischen Küstengebiet das Wachs aus den Ohren genommen hatten, wie es im Jargon heißt. Was bedeutet, daß extrem sorgfältig gelauscht wurde. »Pronto«, meldete sich Adwan am Telefon in seinem Hotel i n Rom. »Gesundheit hängt von Stärke ab«, sagte Bassam Baradj. Sie faßten Ali Al Adwan eine Stunde später vor dem Hotel, als er auf dem Weg zum Flughafen war. Auf sehr hoher Ebene war entschieden worden, Baradj unbehelligt zu lassen. Schließlich konnten sie seine Telefonate mithören und ihn völlig überwachen. James Bond war zu dem Schluß gekommen, daß er seine einzige Chance bekam, wenn ihm das Essen gebracht wurde. Aß oder trank er irgend etwas, bedeutete das das Ende oder zumindest wahnsinnige Kopfschmerzen, die ihn für ein paar Tage völlig benommen machen würden. Es konnte sehr gefährlich werden, da sie bestimmt kein Mädchen allein nach unten schicken würden. Eine Wache würde dabeisein, und er mußte lebend aus der Sache herauskommen. Die Zeit lief davon. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. Dann, um halb drei, hörte er, wie das Schloß der Außentür geöffnet wurde. »Zimmerservice.« Es war die unfreundliche Stimme von Donald Speaker, der eine Sekunde später vor den Gitterstäben auftauchte, in einer Hand ein Tablett, in der anderen Schlüssel und eine Browning 9 mm. Bond meinte, daß dies wahrscheinlich seine eigene Browning war. Auf dem Tablett stand ein Teller mit kaltem Braten und Salat, daneben ein großer, dampfender Becher Kaffee. »Ich hätte wissen müssen, daß Sie die Seite gewechselt haben.« »Oh, die habe ich schon lange gewechselt, James Bond. Geld ist nicht alles, aber immerhin dreht sich dämm die Welt. Ich bin kein 382
politischer Verräter, nur habgierig.« Er steckte geschickt den Schlüssel in das Schloß, und Bond entspannte sich und bereitete sich auf die beste und sicherste Vorgehensweise vor. »Es war ohnehin nicht zu erwarten«, fuhr Speaker fort, »daß diese Mädchen alles tun. Mädchen können Männerarbeiten nicht ohne Aufsicht verrichten.« Er schob die Gittertür zurück und stand in der Öffnung, das Tablett hielt er mit seiner linken Hand, balancierte es auf seinem rechten Handgelenk und hatte dabei die Browning fest umklammert, die direkt auf Bond gerichtet war – eine Spur zu fest, fand Bond. »Treten Sie ganz an die Wand zurück. Wenn Sie wollen, können Sie sich aber auch schnell bewegen. Wäre ein großes Vergnügen, Sie umzulegen.« »Ich werde alles langsam und korrekt tun«, lächelte Bond. »Für den Metzger bin ich noch nicht bereit.« Er machte einen kurzen Schritt rückwärts – und dann explodierte er, wirbelte nach rechts, aus dem tödlichen Auge der Browning, drehte sich um und trat mit seinem linken Bein wuchtig unter das Tablett. Er verfehlte sein Ziel etwas, erreichte aber die gewünschte Wirkung, da das Tablett durch den Tritt fast an der richtigen Stelle gehoben wurde, wodurch der dampfende Kaffee direkt in Speakers Gesicht spritzte. Die Reaktion des Verhörspezialisten war eine der natürlichsten, die Bond je gesehen hatte. Zuerst ließ er Tablett und Waffe fallen, darauf riß er die Hände vor sein Gesicht, und zum Schluß, und dies zusammen mit der ersten Reaktion, schrie Speaker laut und schmerzvoll. Bond sprang vor, ergriff die Browning, drehte sie um und versetzte Speakers Schädel mit dem Kolben einen wuchtigen Schlag. »Kaffee«, flüsterte Bond zu sich, »kann Ihre Gesundheit gefährden.« Er war draußen, schob das Gitter zu, verschloß es und zog die Schlüssel ab. Vorsichtig schlich er durch die äußere Tür. Auf dem Korridor war niemand. Also verschloß er die Tür und ging über den Korridor, bis er an die erste Kajüttreppe gelangte, die er emporrannte. Gegenüber den Wrens hatte er einen großen Vorteil. Eines der ersten Dinge, die jeder Offizier macht, wenn er an Bord eines neuen Schiffes kommandiert wird, ist, sich mit dem Schiff vertraut zu machen, um den schnellsten Weg zwischen zwei beliebigen Punkten zu kennen. Bond hatte fast 383
einen ganzen Tag damit verbracht, sich die Korridore, Schotten, Kajüttreppen und Laufstege der Invincible einzuprägen. Er kannte den Weg zur nächsten Latrine, die Bullaugen in Hohe des Meeresspiegels hatte. Hier blieb er zum ersten Male stehen, löste die Schrauben eines Bullauges und warf die Zellenschlüssel weit ins Meer hinaus. Er bewegte sich so schnell wie möglich, machte große Schritte und blieb nur von Zeit zu Zeit stehen, um nach einem Lebenszeichen zu lauschen. Wrens, dachte er, sollten normalerweise auf Entfernung identifizierbar sein, aber Clover Penningtons Wrens hatten offensichtlich eine Spezialausbildung erhalten. Sie waren zu fünfzehn, und sie mußten sich gut über das ganze Schiff verteilt haben. Er gelangte auf Höhe des Besatzungsraums im vorderen Teil der Insel, wobei er die Stellen umging, an denen Clover wahrscheinlich Posten aufgestellt hatte. Es war jetzt 14 Uhr 45, so daß sie mit ein wenig Glück schon alle unter dem Hauptdeck und weg von der Insel sein würden, wie ihnen befohlen worden war. Es kam ihm vor, als ob das ganze Schiff verlassen sei, da er niemand sah. Erst als er den Besatzungsraum erreichte, wurde ihm klar, daß Clover ein Mädchen an Deck gelassen hatte. Allerdings würde die um Punkt drei Uhr nach unten gehen, dachte er. Die Tür zum Hauptdeck stand offen, und das Mädchen hatte ihm den Rücken zugewandt. Es war die große, hagere Leading Wren, die ihn in die Zelle gebracht hatte, und sie verstand es offensichtlich, mit der H & K MP5 SD3 umzugehen. Sie hielt sie so, als sei sie ihr Kind, was für Terroristen ein schlimmes Zeichen war. Frauen ihrer Art wurde gelehrt, daß sie ihre persönliche Waffe als ihr Kind zu betrachten hatten. Und das nicht nur in populären Spionageromanen. Auch in der Wirklichkeit. Er schaute sich im Besatzungsraum um und fand schließlich einen Druckanzug und einen Helm in etwa seiner Größe. 2 Uhr 50 nachmittags. Von der Schottür aus konnte er die Leading Wren noch sehen – und hinter ihr die Sea Harriers, die erste der vier Maschinen direkt bei der Ski-Rampe, eine Maschine dahinter und zwei andere nebeneinander geparkt. Offensichtlich waren sie alle startbereit und aufgerüstet, da die Sidewinders unter den Tragflächen hingen. An einer Seite des Schotts stehend, seinen Rücken dem Deck zugewandt, hob Bond das Visier seines Helms und pfiff laut. Auf Deck gab es eine Bewegung. Die Leading Wren hatte ihn also 384
gehört und war alarmiert. Er pfiff wieder schrill und horte daraufhin Schritte, als sie zur Tür des Besatzungsraumes herüberkam. Die Schritte hörten auf, und er konnte sich vorstellen, wie sie unsicher dort stand, die H & K entsichert auf die Hüfte geklemmt Als sie hereinkam, geschah das so schnell, daß Bond fast noch nicht auf sie vorbereitet war. Sein Glück war die Tatsache, daß sie sich zuerst nach rechts bewegte, was bei Rechtshändern ganz normal ist, und genau aus diesem Grand hatte Bond sich links postiert. Sein Arm umschlang ihren Hals. Dies war einer der Augenblicke, in dem es sich nicht lohnte, zimperlich zu sein oder auch nur an das zu denken, was er tat. Er wünschte nur, es wäre die Psychopathin gewesen, Deeley. Sie ließ die Maschinenpistole fallen und versuchte an seinen Armen zu zerren, aber Bond hatte bereits den linken Arm von hinten um ihr Genick gelegt und mit der rechten Hand seinen linken Oberarm so gefaßt, daß sein rechter Unterarm über ihrer Stirn lag. Jetzt der Druck: schnell, sehr heftig – und tödlich. Er hörte, wie das Genick brach, und spürte ihr Gewicht bei dem plötzlichen Tod. Dann hob er die H & K auf, rannte über das Deck und duckte sich unter den Tragflächen der Maschinen, bis er die erste auf der Ski-Rampe erreicht hatte. Er ging um das Flugzeug herum, überprüfte, ob alle Kontrollen frei waren, zog die Sicherungen aus den Sidewinders und die Verschlußkappen von den Mündungen der Aden-Kanonen. Der Generator stand bereit und war angeschlossen. Überlegend blieb er eine Sekunde lang stehen. Er konnte ihn dranlassen und würde sicher sein, daß das Triebwerk auf Anhieb startete, oder er konnte das Kabel herausziehen und hoffen, daß Spannung in der Bordbatterie war. Entschied er sich für die erste Möglichkeit, bestand die Gefahr eines Starts mit dranhängendem Generatorkabel. Also entschloß er sich für die zweite Möglichkeit und zog das Kabel heraus, rannte dann um das Flugzeug herum und stieg ins Cockpit. Als er sich in den Sitz hinabließ, glaubte er, das Geräusch eines anderen Flugzeugs zu hören. Er legte die Gurte an und achtete darauf, daß er fest saß, dann senkte er das Kabinendach und drückte die Zündung, wobei er in Gedanken die Startvorbereitungen durchging. Als er die Zündung drückte, hörte er ein tosendes Brüllen. Flammen loderten irgendwo hinter ihm auf, und er konnte die schweren Ein385
schläge von 30-mm-Geschossen hören, die die geparkten Flugzeuge und das Deck um ihn trafen. Als das Triebwerk zündete, flog der Schatten direkt über ihn hinweg. Eine Sea Harrier raste da sehr tief, fast die See berührend, mit Höchstgeschwindigkeit in eine enge Wende, flog dann einen Kreis und kam wieder zurück.
18. BEIM FINALE DABEI Er wußte nicht genau, ob dies ein voll koordinierter Angriff auf die Invincible war, aber in letzter Sekunde sagte ihm die Logik, was das bedeutete – dies war das Feuerwerk, das BAST versprochen hatte, falls der Termin um 15 Uhr nicht eingehalten wurde. Startcheck: Bremsen IN, Klappen OUT, ASI-Merker auf Abhebegeschwindigkeit. Wie immer zitterte das Flugzeug im Leerlauf. Düsenhebel auf kurze Startposition in 50° Stopmarke eingerastet, Schub auf fünfundfünfzig Prozent Drehzahl, Bremsen frei. Vollgas – und da war sie, die riesige Hand, die auf seinen Körper und sein Gesicht drückte. Die Sea Harrier fauchte von der Rampe. Fahrwerk ein. Der ASIMerker blitzte und piepte. Düsen auf Horizontalflug. Klappen auf IN. Das HUD zeigte den Steigwinkel richtig auf 60° und eine Geschwindigkeit von 640 Knoten. Bond brach nach links aus und hing auf einer Tragfläche, als er eine sieben G-Kehre flog, die Nase leicht senkte und dann mit einer Ruderbewegung wieder hochkam. Eintausend Fuß, und zu seiner Rechten sah er die Invincible und wie die Flugzeuge und Hubschrauber auf ihrem Deck in Flammen aufgingen. Explodierende Treibstoffbehälter erzeugten spektakuläre Feuerblumen – und das andere Flugzeug, sehr rief, fast auf dem Wasser, hob die Nase und flog dann in eine harte 386
Linkskehre. Bond erreichte den Rand der Kehre, drehte die Maschine nach rechts, diesmal härter, wobei er mit dem Fuß Ruder gab, um auszugleichen, und zog dann den Knüppel zurück, um Höhe zu gewinnen. Ein Biepen begann laut in seinem Kopfhörer zu schrillen, und das Radar zeigte ihm, daß ein anderes Flugzeug hinter ihm näher kam – hinter ihm und über ihm. Er zog den Steuerknüppel zurück, hob die Nase in den Himmel und hörte das raspelnde Geräusch, das ihn warnte und das bedeutete, daß eine Rakete abgefeuert worden war. Sein Verstand raste zurück in die jüngste Vergangenheit, zu der Rakete, die nahe dem Bombenabwurfgebiet bei der Isle of Man auf ihn abgefeuert worden war. Das hier konnte nur eine AIM-9J Sidewinder gewesen sein, denn auf diese nahe Entfernung hätte ihn die bessere AIM-9L Sidewinder verfolgt und voll getroffen. Er warf drei Metallstreifen ab, schaltete sein HUD auf Luft-LuftWaffen und legte das Flugzeug auf den Rücken. Fast ließ er den Knüppel los, als er spürte, daß er das Sehvermögen verlor. Der Horizont verschwand unter ihm, und die See tobte ihm entgegen, als die Harrier im Rückenflug darüberfegte. Das kratzende Biepen verschwand, und der Horizont kam wieder hoch. Die Metallstreifen hatten ihren Zweck erfüllt, aber er konnte die andere Harrier nicht sehen und war jetzt wieder 2000 Fuß tief. Bond flog einen weiten Vollkreis von 360° und suchte Hi mmel und See mit den Augen ab. Seine Blicke wanderten zwischen Cockpit und Radarschirm hin und her. In weiter Ferne war das Deck der Invincible noch immer mit brennenden Flugzeugen übersät, aber er glaubte kurz einen gelben Feuerwehrbulldozer zu sehen, mit dem versucht wurde, das Deck von den beschädigten Rümpfen der Flugzeuge und Hubschrauber zu räumen. Dann nahm er einen Blitz auf dem Radarschirm in weiter Entfernung wahr, etwa dreißig Meilen draußen auf der See. Der blitzende Funkt begann zu flimmern, und er korrigierte seinen Kurs, verlor an Höhe, gab Vollgas und versuchte die andere Sea Harrier zu erfassen, die offensichtlich entkommen und einem Verfolger ausweichen wollte. Er flog die Harrier mit absoluter Höchstgeschwindigkeit, ließ sie leicht nach unten sacken und hielt dabei seinen Kurs gleich mit dem 387
blitzenden Cursor auf dem Radarschirm. Ohne bewußt daran zu denken, wußte er, womit er es zu tun hatte, wußte, daß dies die Sea Harrier war, die an dem Tag vermißt worden war, als fast eine Rakete sein Heck getroffen hatte. Der Pilot konnte nur der Spanier sein, obwohl er in diesem Augenblick, als die See unter ihm vorbeiflitzte und seine Blicke zwischen Instrumenten und Horizont hin und her wanderten, nicht auf dessen Namen kam. In Sekunden merkte Bond, daß er die andere Harrier tatsächlich einholte, die jetzt etwa zwanzig Meilen vor ihm war. Er machte eine der Sidewinders scharf und wartete auf das Zielerfassungssignal, da er bald in Schußweite sein würde. Dann verschwand der blitzende Punkt. Ein winziger Augenblick verging, bevor Bond klar wurde, daß der andere Pilot wahrscheinlich hochgezogen und gedreht hatte und jetzt hoch über ihm auf ihn zuflog. Er hob die Nase, und das Radar suchte den Luftraum ab, und tatsächlich war da oben die zweite Harrier und kam näher. Er zog die Maschine leicht nach oben. AU seine Sinne waren gespannt, und er wartete auf das Kratzen oder Biepen, das ihm verraten würde, daß der Spanier seine zweite Rakete in dem Augenblick abfeuerte, wenn er in Reichweite war. Ohne Nachdenken war der Name des Piloten plötzlich wieder da – Pantano. Fünfzehn Meilen, und die Flugzeuge näherten sich einander mit einer Gesamtgeschwindigkeit von etwa 1200 Knoten, Sekunden später begann der Anzeiger auf der HUD zu pulsieren, und das Biepen in seinen Ohren sagte ihm, daß er das Ziel erfaßt hatte. Bond feuerte die Sidewinder ab und sah den blitzenden Cursor nach links abbrechen. Das Kratzen drang in seine Ohren, und er wußte, daß sie beide im gleichen Augenblick Raketen abgefeuert hatten. Er warf vier Metallstreifen ab und drehte im Steigflug nach links. Sekunden später erfolgte eine Meile hinter ihm eine Explosion. Pantanos Rakete war den Metallstreifen gefolgt. Dann zitterte und knirschte Bonds Maschine ohne Vorwarnung, als 30-mmGeschosse hinter ihm in den Rumpf schlugen. Er stellte die Harrier auf die linke Tragfläche und kippte dann nach rechts. Pantano war jetzt leicht über ihm und in einer Entfernung von etwa 1000 Fuß. Bond machte die nächste Sidewinder scharf, hörte das Zielerkennungssignal und betätigte den Feuerknopf. Dabei prasselte 388
ein neuer Hagel von 30-mm-Geschossen auf die linke Tragfläche, und die Harrier rüttelte wieder, wälzte sich seitlich und schien dann auf die große Feuerblüte zuzurasen, als die Sidewinder Pantanos Maschine traf. Es war wie in einem Zeitlupenfilm. Eine Minute hing das Flugzeug noch in der Luft und feuerte einen tödlichen Schwarm von Gescho ssen aus seinen Aden-Kanonen – dann erfüllte de r weiße Blitz Bonds Gesichtsfeld, und er sah die Maschine in Dutzende von Teilen zerbrechen. Er fegte über die zerstörte Harrier weg und sah nur eine vollständige Tragfläche, die wie ein verformtes Herbstblatt nach unten trudelte. Langsam nahm er die Geschwindigkeit zurück und wendete, um Kurs auf die Küste zu nehmen. Als er das tat, wehrte sich seine Harrier schüttelnd und zitternd. Er bestätigte die Kontrollen und merkte, daß er keine richtige Stabilität mehr hatte. Die Geschosse aus den AdenKanonen hatten wahrscheinlich einen Teil seines Höhenraders und ein Stück der Höhenflosse abgerissen. Höhe 10 000 Fuß und fallend. Die Harrier befand sich in leichtem Sinkflug, und Bond konnte ihre Nase gerade in einem Winkel von fünf bis zehn Grad halten. Er war zwischen zwanzig und dreißig Me ilen von der Küste entfernt und verlor schnell an Höhe, obwohl er ständig den Steuerknüppel zurückzog, damit die Nase sich nicht we iter senkte und das Flugzeug keinen Sturzflug begann, den er nie überleben würde. Die Turbine klang, als hätte jemand eine Tonne Sand hineingekippt. Er harte das Autosignal eingeschaltet, das der Basis in Rota erlaubte, ihn zu orten, und war auf 3000 Fuß gesunken, bevor er in der Ferne die Küste sah. Inzwischen rüttelte, schü ttelte und klirrte die Harrier um ihn, als würde sie jede Minute zerbersten. Die Sinkgeschwindigkeit wurde schneller, und Bond wußte, daß ihm nur eins übrigblieb – er mußte sich hinauskatapultieren und konnte nur beten, daß die Geschosse der anderen Harrier den Martin Baker-Schleudersitz nicht beschädigt hatten. Er kämpfte mit Steuerknüppel und Ruderpedal und versuchte verzweifelt, das Flugzeug näher an die Küste zu bringen, bevo r er ausstieg. Eine Stimme im Kopf begann zu wiederholen, was zu tun war und was geschehen würde. 389
Der Martin Baker-Sitz war vom Typ 9A Mark 2, dessen Auslösegriff sich zwischen seinen Beinen, an der Vorderseite der Sitzflache befand. Ein Zug, und – vorausgesetzt, daß alles funktioniert – das Kabinendach wurde abgesprengt und der Sitz würde seine Reise nach oben mit minimaler Geschwindigkeit beginnen, bevor die Hilfsrakete zündete und den Piloten, der an seinen Sitz geschnallt war, weit vom Flugzeug wegschoß. Die tröstenden Worte eines Ausbilders in Yeovilton kamen ihm in den Sinn. »Der Sitz rettet Sie sogar in Höhe Null und bei sehr hoher Sinkgeschwindigkeit.« Nun, jetzt hatte er eine sehr hohe Sinkgeschwindigkeit, war bis auf 1000 Fuß Höhe gefallen und mindestens sieben Meilen von der Küste entfernt. Die Harrier wälzte sich auf 800 Fuß herunter. Seine Backbordtragfläche senkte sich alarmierend, und er erkannte, daß er kurz vor dem Überziehen war. Fast im selben Augenblick registrierte er das Glitzern von Hubschrauberrotoren und wußte, daß er es jetzt oder nie tun mußte. Doch in den paar Sekunden, bevor er zum Auslöser griff, gab Bond hart Backbordrader, um das Flugzeug von der Küste we gzudrehen. Er wollte nicht, daß dieser Metallklotz, der noch immer gefährliche Waffen trag, an Land aufprallte. Die Nase drehte sich wild und senkte sich dann. Er wußte, daß er die Nase nicht mehr hochbekommen würde, und spürte den Vorwärtssatz, als die Harrier ihren tödlichen Sturzflug begann. Bond zog den Auslöser. Für eine Ewigkeit schien nichts zu passieren. Dann spürte er den leichten Schlag im Rücken und sah das Kabinendach wegfliegen. Die Luft war wie eine massive Mauer, als die Rakete ihn vo n der abstürzenden, flugunfähigen Harrier wegschoß. Es gab einen Ruck und einen plötzlichen leichten Stoß, als der Fallschirm sich entfaltete. Sicher und frei pendelte er unter dem Baldachin. Links unter sich sah er das weißschäumende Wasser, das die Stelle markierte, wo die Harrier eingetaucht war. Dann hörte er ganz nah das tröstende Geräusch des amerikanischen Rettungshubschraubers. Er war jetzt vom Sitz getrennt und schien schneller auf die See herabzusinken, die hochkam und um ihn herum zusammenschlug. Die Schwimmweste wurde automatisch aufgeblasen und brachte ihn an die 390
Oberfläche zurück, wo er sich drehte und auf das Schnelltrennschloß schlug, das ihn vom Fallschirm ganz befreite. Fünf Minuten später hievte ihn der Hubschrauber aus dem Meer. Es war früher Abend, und das Wetter hatte aufgeklart. Die Sonne schien rot und warf lange Scharten auf die USNB Rota. Bond saß mit einem Major des US Marine Corps, einem Major der Royal Marine Special Boat Squadron, Commander Mike Carter und Beatrice in einem kleinen Raum. Auf dem Tisch vor ihnen lagen die kompletten Pläne der Invincible. Eine Stunde zuvor war er über eine sichere Leitung von London komplett informiert worden. BAST hatte ihnen Zeit bis zur Dämmerung um etwa sechs Uhr morgens gegeben. Dann würden sie die erste der VIP-Geiseln töten. Sie wußten, daß die Botschaft von Bassam Baradj in seiner Suite im Rock Hotel, Gibraltar, nach London übermittelt worden war. Verschiedene Möglichkeiten waren erwogen worden. Das Rock Hotel war gut abgesichert. Sie hatten dort Angehörige des SAS und örtliche Polizei in Zivil, außerdem einen hohen Beamten vom Secret Intelligence Service, der für den Fall wachte, daß Baradj einen unerwarteten Zug machte. Zuerst hatten sie erwogen, einen Frontalangriff zu starten und Baradj festzunehmen, da man wußte, daß auf dem Flugplatz ein Hubschrauber und ein Pilot bereitstanden. Doch man kam zu dem Schluß, daß der Versuch, Baradj lebend zu bekommen, zu gefährlich sei. »Eliminieren Sie ihren Anführer, und diese Mädchen we rden ganz sicher töten.« Das war M’s persönliche Meinung, die Bond teilte. Baradj hatte ihnen Länge und Breite gegeben, einen genauen Punkt auf See, an dem das Geld abgeworfen und mit einer Boje markiert werden sollte. Sollte sich ihm jemand nähern, während er es mittels Hubschrauber holte, oder anschließend, dann würden alle drei Geiseln getötet werden. »Was auch immer«, hatte Bond gesagt, »er hat diese Operation ausgetüftelt, und wir können es einfach nicht riskieren, diesen Burschen in Gibraltar festzunehmen. Wenn wir ihn nicht lebend bekommen, bedeutet das das Ende für Mrs. T, Gorby und Präsident Bush.« Man war jetzt zu der Übereinkunft gekommen, daß ein Rettungsver391
such unternommen werden mußte, lange bevor man versuchte, Baradj zu fassen. »Wir können Baradj erzählen, daß wir den Termin einhalten, damit er sich entspannt, und dann versuchen wir, die Geiseln zu befreien.« Das waren Bonds abschließende Worte. Der Verteidigungsminister, der SIS, das Pentagon und der Kreml hatten sich mit diesem Rettungsve rsuch einverstanden erklärt. Auch die örtlichen Einheiten waren damit einverstanden, daß Bond Planung und Logistik überlassen wurden. »Hat jemand herausgefunden, wie Baradj mit der Invincible kommuniziert?« fragte er. »Das tut er nicht«, hatte Mike Carter gesagt. »Ich vermute, er wird denen nur ein Kodewort senden. Eine einmalige Unterbrechung der Funkstille. Wahrscheinlich über Kurzwelle aus Gibraltar. Das bedeutet entweder, sie sollen nichts tun, weil wir einverstanden sind, oder sie sollen töten, weil wir nicht einverstanden sind. Dann gab’s noch eine Möglichkeit – töten, weil wir ihn reingelegt haben.« »Wir können also nur scharf überwachen.« Bonds Kiefer war angespannt, und seine Augen hatten diesen gefährlichen, steinernen Blick, als er abzuwägen versuchte, wieviel schiefgehen konnte. Jetzt ging er in der flachen Baracke auf der USNB Rota die mögliche Strategie und Taktik durch. »Es muß eine kleine Einheit sein.« Er sah sich im Raum um. »Ich habe eine dieser Harpyien aus dem Verkehr gezogen, womit noch vierzehn bleiben. Fünfzehn, wenn dieser elende Speaker wi eder aktiv ist. Sechzehn, wenn Baradjs Kumpel Hamarik funktionsfähig ist, was ich sehr bezweifle. Die Situation wird höchstwahrscheinlich die sein, daß ihre Psychopathin, die Frau, die Leading Wren Deeley spielt, bei den Geiseln ist – oder zumindest in ihrer unmittelbaren Nähe – und Befehl hat, auf ein Signal mit dem Töten zu beginnen. Unsere erste Aufgabe wird also sein, dort hinunter zu kommen.« Sein Finger glitt zu dem Lageraum, ein Deck unterhalb des Hauptdecks. »Das müssen wir tun, möglichst ohne entdeckt zu werden.« Dann seufzte er besorgt. »Ich möchte, daß Ihnen allen klar ist, daß ich das wirklich nur vermute. Dieser Lageraum ist der Ort, an dem sie konferieren, und ich wette darauf, daß alle drei darin festgehalten werden, möglicherweise mit einem Posten vor dem Schott. Aber es ist nur eine Annahme. Irre ich mich, und werden sie irgendwo anders festgehalten, dann läuft’s schief, und ich nehme die Schuld auf mich.« 392
»Aber Sie glauben, daß dies unser Hauptziel ist?« nickte der SBSMajor. »Ja. Und noch etwas ist riskant. Der schnellste Weg nach unten führt durch den Besatzungsraum, der sich hier befindet.« Er deutete auf die Schottentür, die er benutzt hatte, um zu der Harrier zu gelangen. Das schien jetzt Tage her zu sein, nicht ein paar Stunden. »Gut, bevor wir über die Taktik entscheiden – wieviel Leute brauchen wir Ihrer Meinung nach?« Der SBS-Major machte ein wenig Druck, und Bond wußte das. Hinter dem Engagement der Elitetruppen steckte immer der Wunsch, beim Finale dabeizusein, um Ruhm zu ernten. Sie waren von der Navy der Vereinigten Staaten abhängig, und deshalb mußte Bond eine sehr sorgfältige Entscheidung treffen. »Sie sind vierzehn, vielleicht fünfzehn. Ich glaube, darauf kommt’s wirklich nicht an.« Er sah zuerst den Major der US Marines scharf an, dann den Royal Marines-Major von der Special Squadron. »Ich führe. Den Plan entwerfen wir gemeinsam. Ich will fünf von Ihren Marines, Major, und fünf SBS, Major.« Er wandte sich an die betreffenden Männer, während er sprach. Die beiden nickten ernst. »Was die Waffen anbelangt, nun, wahrscheinlich wird es Tote geben – bedauerlich, aber ich sehe keinen anderen Weg –, und ich denke, daß das Töten leise erfolgen muß. Haben wir irgendwelche Handfeuerwaffen mit Schalldämpfern?« Mike Carter antwortete. »Wir können Brownings und H & Ks mit modifizierten Schalldämpfern zur Verfügung stellen.« »Gut«, nickte Bond. »Jeder wird entweder eine Browning oder eine H & K tragen. Ich möchte, daß ein Mann von jeder Einheit mit einer Maschinenpistole bewaffnet ist. Gibt’s hier H & K MP5s,Mike?« »MP5S, 5 KS, Uzis – sagen Sie’s, wir haben’s.« »K-Bar Messer für die US Marines, die üblichen Sykes-Fair-bairn für SBS. Blitzer?« fragte er Carter, womit er Schockgranaten meinte. »Was Sie haben wollen.« »Jeder zwei und ein paar Tränengasgranaten. Wir gehen mit Masken rein. Jetzt zur eigentlichen Taktik, und dabei können wi r nur vermuten. Wir müssen uns fragen, wo wir auf diesem Schiff Leute als Posten aufstellen würden. Ich kenne das Mädchen, das sie führt, und weiß, daß sie nicht dumm ist. Aber sie handelt wahrscheinlich vorhersagbar.« 393
»Dann dürfte sie einige Mädchen für gewisse Zeit ausruhen lassen«, sagte der SBS-Offizier. »Vielleicht. Sie werden ohnehin unter starkem Streß stehen und sind deshalb noch gefährlicher. Ich würde sagen, daß sie höchstens drei Mädchen gleichzeitig ruhen läßt. Damit bleibe n ihr elf – zwölf mit Mr. Speaker, und ich weiß wirklich nicht, wi e gut er in einem Kampf ist.« »Sie ist die ganze Zeit im Dienst?« fragte der Offizier des US Marine Corps. Bond nickte lächelnd. »Clover ist wahrscheinlich imstande, noch weitere achtundvierzig Stunden ohne Schlaf weiterzumachen. Also, wenn Sie Clover wären, wo würden Sie Ihre Soldaten postieren?« Sie diskutierten das gründlich und logisch, fingen von vorn an und betrachteten es unter den verschiedensten Gesichtspunkten. Am Ende kamen sie zu dem Ergebnis, daß Bond wohl recht damit hatte, daß die Psycho bei den VIPs sein würde und ein Posten draußen stünde. We iter nahmen sie an, daß man zwei weitere Leute auf dem Hauptdeck postiert hatte, einen, der vorn patrouillierte, und einen achtern. Zwei standen wohl auf der Brücke, die wahrscheinlich mit Maschinenpistolen bewaffnet waren, und zwei ähnlich bewaffnete im Flugleitraum. Auf diese Weise würde das Hauptdeck nach vorn und achtern gesichert sein. Insgesamt fünf Kajütentreppen führten von der Insel auf das erste Deck hinunter, wo die VIPs vermutlich festgehalten wurden. »Eine am Fuß jeder Kajüttreppe?« fragte Bond. »Entweder am Fuß oder in der Nähe«, stimmte der SBS-Offizier zu. Der USMC-Major nickte. »Wir können wahrscheinlich genau bestimmen, welche Ar t von Verteidigung sie auf dem Hauptdeck haben, möglicherwe ise auch ihre Positionen auf der Insel und im ersten Deck.« Sie alle blickten auf, als Mike Carter mit dieser Information herauskam. Bond begriff sofort. Die Basis, so vermutete er, wurde jetzt für das Sammeln von Informationen benutzt. Das hatten ihm die Elektronik und die riesigen Golfbälle verraten. »Können Sie das Schiff für uns abtasten?« »Wir können’s versuchen.« Carter tippte mit einem Bleistift auf den Tisch. »Wir haben mehrere nette vierstrahlige P36 hier, die mit neue394
ster Aufklärungselektronik vollgestopft sind. Wir könnten sie eine Stunde, bevor Sie reingehen, starten lassen – heute nacht wird es dunkel werden, tiefe Wolken. Wir sollten zumindest genau wissen, wo die Posten an Deck aufgestellt sind und wer sich in der Insel aufhält.« »Ich wünschte, das hätten Sie früher gesagt«, schnappte Bond. »Was wollen Sie tun? Überflug und dann im Quadrat, um alle Seiten abzutasten?« »In der Art. Aber ich muß die genaue Zeit wissen.« »Morgen früh, Viertel vor vier, 03 Uhr 45. Dann ist’s schön und dunkel. Zeit für Geburten und zum Sterben. Niedrigster Blutdruck bei Leuten, die unter Streß stehen. Okay?« Alle nickten. »Ich tue, was ich kann.« Carter ging, und sie beschäftigten sich mit den Einzelheiten. Bond fragte, ob es noch die Kajüttreppe gab, die auf Seehöhe zu einem Bootsdeck führte. »Die haben sie hoch genommen, nachdem sie die Schweinerei auf dem Hauptdeck beseitigt hatten«, sagte der USMC-Mann. »Dieser Harrier-Pilot wußte, was er tat. Sie hatten Feuerwerk angekündigt und haben uns den Vierten Juli geliefert.« »Unser Guy Fawkes-Tag«, fügte der SBS-Offizier hinzu, der nicht wollte, daß die Briten unerwähnt blieben. »Tja, er wird’s nicht wieder tun«, sagte Bond etwas gereizt. »Jetzt zur Sache.« Sie gingen die Operation erneut in allen Einzelheiten durch und planten sämtliche Eventualitäten ein – stimmten überein, stimmten nicht überein und fanden in einem oder zwei Fällen schließlich Kompromisse. Als sie alles durchgesprochen hatten, fragte Beatrice, warum sie nicht eingeplant worden war. »Du wirst in Gibraltar sein, meine Liebe.« Bond sah sie lange an. »Wenn wir den riskanten Rettungsversuch hinter uns haben, wenn wir Erfolg haben, komme ich zu dir, vorausgesetzt, ich lebe noch. Dann werden wir den Job gemeinsam erledigen und uns Baradj holen.« »Tot oder lebendig?« »Wenn möglich lebendig. Heute nacht werden genug Leute sterben, und ich komme langsam zu der Erkenntnis, daß zuviel Töten schlecht für die Gesundheit ist.« »Wenn du es sagst, James. Aber ich wette, Baradj wird nicht so 395
leicht aufgeben.« »Bringen wir erst diese kleine Show hinter uns.« Die anderen ignorierend, beugte er sich vor und küßte sie auf jede Wange und dann auf ihre Lippen. Die P36 hatte mit ihrer hochentwickelten Ausrüstung einige sehr hübsche Fotos gemacht, auf denen mittels Infrarot die Wärmeausstrahlung menschlicher Körper aufgezeichnet war. Sie hatten fast recht gehabt. Auf dem Hauptdeck befanden sich drei Posten, einer am Bug, einer achtern und ein dritter mittschiffs. Sie wußten auch, daß drei, nein zwei Leute auf der Brücke und zwei in der Flugleitung saßen und mindestens einer in der Kommunikation. Sie waren sich einig, blind gewesen zu sein, daß sie das übersehen harten. Jemand mußte natürlich in der Kommunikation sein. »Clover wird die dritte Leiche auf der Brücke sein«, dachte Bond. Es war drei Uhr morgens, und sie alle hatten sich um zwe i mattschwarze Schlauchboote versammelt. Eines für das USMCKontingent, und eines für den SBS. Bond würde mit dem SBS fahren. Sie hatten außerdem Ablenkungsmanöver vorbereitet, um bei Nullzeit, 03 Uhr 45, nach unten zu steigen. Alle waren schwarz gekleidet und hatten die Gesichter geschwärzt. Die Waffen hingen an den schwarzen Webgurten. Sie näherten sich dem Schiff auf dessen Backbordseite. Eine halbe Stunde mußten sie ruhig und gleichmäßig paddeln, um in der Dunkelheit bis zum Schiffsrumpf zu gelangen. Bis dahin blieben sie dicht beisammen und trennten sich erst nach vo rn und achtern, nachdem sie das Schiff erreicht hatten. Die Männer in den beiden Schlauchbooten fegten jetzt ihre Atemgeräte an, bereiteten die andere Ausrüstung vor, warteten und schauten auf ihre Leuchtzifferuhren, bis das Ablenkungsmanöver begann. Der erste gewaltige Blitz und das Krachen kamen pünktlich aus etwa einer halben Meile Entfernung, aus Richtung der anderen Schiffe der Einsatzgruppe. Die Explosionen erzeugten maximale Helligkeit und minimalen Lärm. Sie waren sehr hell, und eine Menge Magnesium wurde verbraucht. Die US-Marines und die SBS-Leute schützten ihre Augen, vermuteten aber, daß niemand auf dem offenen Deck, der Brücke oder in der Flugleitzentrale der Invincible den Blick von den 396
Blitzen abwenden konnte. Die mit Federn betriebenen Werfer machten kaum ein Geräusch, als die insgesamt vier Enterhaken, jeder umwickelt und mit Sackruch umhüllt, aus den Schlauchbooten hochgeschleudert wurden. An jedem Haken hing ein starkes Seil, und die Eisen blieben fast geräuschlos in der Reling hängen. Es war reines Glück, daß die Eisen zur gleichen Zeit abgeschossen wurden, als auf See eine weitere Explosion erfolgte. Bond war der erste oben am Bugseil. Er wußte, daß der ganze Trupp es in weniger als drei Minuten zum Hauptdeck schaffen konnte, deshalb bewegte er sich schnell, aber lautlos und tief geduckt. Vor sich sah er das Mädchen, das am Bug stand und sich gegen den Himmel deutlich abzeichnete. Für Rührseligkeit blieb keine Zeit. Das Mädchen würde ihn töten, sobald sie ihn entdeckte, also griff Bond sie schnell und effektiv an. Die Klinge des Sykes-Fairbairn Messers tat ihre Arbeit an der vorgeschriebenen Stelle ihres Halses, und sie sackte lautlos zu Boden. Im selben Augenblick starben die anderen Mädchen an Deck – eines durch ein Messer, das andere durch einen kräftigen Karateschlag, der ihr das Genick brach. Bond lief zu zwei SBS-Männern, die zu beiden Seiten des Schotts des Besatzungsraumes standen. Er drang zuerst ein, während die beiden anderen ihm Deckung gaben, und rannte übe r den Korridor tief in die Insel; dort bog er nach links, um die Kajüttreppe vorbei an der Flugeinsatzleitung zu nehmen, und lief dann über den Laufsteg, der zur Brücke führte. Sie erreichten das obere Ende der Kajüttreppe und wollten vo n dort weiter zum Laufsteg, als von rechts schnelle Schritte herangeklappert kamen. Die drei Männer tauchten in die Dunkelheit, als eine Wren an ihnen vorbeieilte, die offensichtlich auf dem Weg zur Brücke war. Bond bedeutete ihnen, ihr zu folgen, und sie bewegten sich wie lautlose Schatten hinter der eiligen Wren her. Am Hauptschott zur Brücke blieben sie stehen. »Sie haben wirklich eingewilligt?« Das war Clover Penningtons Stimme. »Die Nachricht lautet Kratzer, Ma’am. Sie sagten, das bedeute Einverständnis und daß wir uns bereithalten sollten. Sollten sie einen 397
Trick versuchen, sobald Viper kommt, wird Entweihen gesendet, und wenn er das Geld hat Mützen ab, was bedeutet, das alles wie geplant läuft.« »Nun…«, setzte Clover an. In diesem Moment nickte Bond, warf eine Betäubungsgranate auf die Brücke , wartete auf den ablenkenden, aber nicht tödlichen Blitz und den Knall und sprang dann in den Raum, von den beiden SBS-Männern gefolgt. Die Mädchen drüben an den offenen Scheiben, von denen aus das Deck zu überblicken war, wirbelten herum und rissen die Maschinenpistolen trotz Blitz und Knall in einer automatischen Reaktion hoch. Es gab vier Putt-putt-Geräusche, und beide Mädchen ließen ihre Waffen fallen und wurden gegen die Scheibe geschleudert, bevor sie schwer zu Boden stürzten. Die Wren von der Kommunikation bekam zwei Kugeln ins Genick, und schon war Bond bei Clover, drehte sie herum und rammte ihr seine Pistole in die Seite. »So, Clover. Sie werden uns zu ihnen bringen, oder Sie sind Hackfleisch wie die anderen. Das ganze Schiff ist besetzt. Wir sind überall.« Er stieß sie auf das Schott zu und bemerkte das plötzliche Glitzern von Furcht in ihren Augen, als sie nickte. In diesem Augenblick brach die Hölle los. Die Tränengasgranaten waren wie geplant die Kajüttreppen hinuntergerollt, und die restlichen Mitglieder des Sturmkommandos räumten die Korridore. Bond stieß Cl over über den Laufsteg. Neben dem Schott zur Flugleitung stand ein US-Marine. Zu seinen Füßen lag eine Leiche. Der Marineinfanterist nickte und folgte Bonds Trapp. »Sie führen. Sagen Sie mir, wo sie sind«, murmelte Bond, als sie die Kajüttreppe hinuntergingen. »Wahrscheinlich sind sie tot«, keuchte Clover. »Ich hatte Deeley Befehl zu geben, sie umzubringen, wenn etwas passiert.« »Bewegen Sie sich weiter.« Am unteren Ende der Kajüttreppe tauchte ein SBS-Mann aus den Tränengasschwaden auf und bedeutete ihnen, der Leiche auszuweichen, die ausgestreckt in dem schmalen Durchgang lag. Bond mußte Clover voranstoßen, als sie in dem stickend würgenden Tränengas nach Atem rang, aber es gab keinen Zweifel, wohin sie gingen. Sie begaben sich zum Lageraum, in dem die Geheimgespräche stattgefunden hatten. 398
»Achtet auf die nächste Ecke!« schrie Bond, der wußte, daß sie zu dem Bereich abbog, der zum Lageraum führte. Mindestens ein Mädchen würde dort Posten stehen. Einer der SBS-Männer sprang vor und feuerte zweimal mit einer schallgedämpften H & K. Sie folgten ihm und sahen, daß eine weitere Wren zu Boden gegangen war, direkt vor dem Schott zum Lageraum. Sie hatten den Durchgang zur Hälfte passiert, als ein Krachen und Dröhnen am anderen Ende zu hören war. Einer der SBS-Männer wurde gegen die Metallwand geschleudert, an der er dreimal entlangwirbelte, bevor er ausgestreckt rücklings liegenblieb. Doch bevor der Tote auch nur den Boden berührt hatte, feuerte der amerikanische Marineinfanterist viermal schnell hintereinander. Durch den Rauch spähend sah Bond, daß der unsägliche Donald Speaker sein letztes Wort gesagt hatte. Sie befanden sich jetzt an der Schottür des Lageraums, und Bond gab ein Zeichen, vor. beiden Seiten Deckung zu geben. Dann schlug er mit der Hand den schweren Türgriff herunter und stieß Clover hinein, als die Metalltür sich öffnete. »Nein! Sarah! Nein, ich…« Sie wurde durch einen Feuerstoß zurückgeschleudert, der von innen kam. Dann sprang der Marineinfanterist vor und setzte zwei präzise Schüsse. Bond kam hinter ihm herein, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Sarah Deeley gegen die Metallwand katapultiert wurde, mit knochenbrechender Wucht dagegenschlug, an ihr herunterrutschte und sie dabei mit ihrem Blut verschmierte. Auf Feldbetten liegend, die ordentlich in einer Reihe dort vorne aufgestellt waren, wo Deeley gestanden hatte, lagen die stummen, reglosen Gestalten von Präsident Bush, Generalsekretär Gorbatschow und Premierministerin Thatcher. Bond trat vor und fühlte nacheinander ihren Puls. Sie lebten und schienen unverletzt zu sein. Michael Gorbatschow schnarchte tatsächlich. Der Major der US Marine Corps betrat den Raum. »Wir haben das Schiff unter Kontrolle, Captain Bond«, meldete er. »Nun, dann wecken Sie am besten Konteradmiral Sir John Walmsley und organisieren Sie einen Weg, diese recht kostbaren Geiseln vom Schiff und zurück in ihre Länder zu schaffen, ohne daß die Pres399
se davon erfährt. Ich habe eine Verabredung in Gibraltar.«
19. TUNNEL DER LIEBE? Bassam Baradj hatte nicht gut geschlafen. Der Anruf war gegen drei Uhr morgens gekommen, und er war auf den Balkon hinausgegangen und hatte sich erleichtert gefühlt. Zum ersten Male seit Beginn der Operation hatte er die Funkstille zu seinen wunderbaren Mädchen auf der Invincible unterbrochen. Und selbst das tat er per Cassette mit dem Hochfrequenz-Kurzwellensender, der seit seiner Ankunft im Rock Hotel neben seinem Bett stand. Er stellte die richtige Frequenz ein und legte dann das Band ein. Das Kratzer-Band, das ihnen sagen würde, daß die drei Länder seine Bedingungen und das Ultimatum akzeptiert hatten. Die Mädchen würden weiter auf Posten und sehr wachsam sein, denn hatte er nicht den Amerikanern, Briten und Russen gesagt, daß er Bush, Gorbatschow und Thatcher sofort hinrichten lassen würde, falls er hereingelegt wurde oder sich jemand in seiner Nähe zeigte? Er stand auf dem kalten Balkon und wiederholte das kurze Signal Kratz-Kratz-Kratz-Kratz immer wieder. Sie würden es jetzt empfangen haben, und deshalb ging er wieder hinein, schloß die Balkonfenster, zog die Vorhänge zu, zerstörte die Kratz-Cassette und schob den Sender in den Kunstlederkoffer. Daraufhin vergewisserte er sich, daß die anderen beiden Bänder einsatzbereit lagen. Er stellte das Gerät wieder auf seinen Nachttisch, änderte dann seine Meinung, packte alles wieder aus und legte das Band Entweihen ein, nur um ganz sicherzugehen. Wenn sie ihn reinzulegen versuchten, falls sie ihn auf dem Weg zum Flughafen \erhaften oder mit Jets hinter ihm herdonnern sollten, wenn er das Geld holte, würde er zumindest Zeit haben, den Knopf zu drücken. Ging irgend etwas daneben – obwohl dieser Gedanke völlig abwegig war –, würde er dafür sorgen, daß die Dinge in seinem Sinne ein Ende nahmen. Aber wie sollte etwas schiefgehen? Sie hatten eingewilligt. Diese Leute willigten normalerweise nicht gleich ein, aber unter diesen besonderen Umständen war es das einzige, was sie tun konnten 400
– seinen Forderungen nachzugeben. Er legte sich aufs Bett, döste aber nur und erwachte um sechs wieder mit einem solchen Hochgefühl, als habe er eine Droge genommen. Dann beruhigte er sich, fiel in einen leichten Schlaf und erwachte wieder um halb acht. Draußen schien die Sonne. Ein Omen, dachte er. Baradj bestellte sich Frühstück aufs Zimmer, das binnen zwanzig Minuten kam. Er aß mit Appetit: Grapefruitsaft, Toast, Brötchen, Aufschnitt und Kaffee. Anschließend duschte er, trocknete sich ab und betrachtete sich im Spiegel, drehte sich hin und her, um seinen Körper zu bewundern. Er war kein eitler Mann, kein dummer Mann. Alles andere als das. Aber er war einen langen Weg gegangen, und Teil seines Erfolges war gewesen, daß er sich fit hielt. Er war zwar keine einsachtzig groß, aber seine Muskeln und seine Fitneß machten das allemal wett. Niemand konnte leugnen, daß Bassam Baradj – der heute abend schon den Namen und die Identität eines anderen haben würde – für sein Alter sehr fit war. Er saß nackt auf dem Bett und rief in der Schweiz an. Die Klinik, hoch in den Bergen über Zürich gelegen, bestätigte seine Buchung. Selbst der Zeitplan war makellos gewesen. Zufrieden begann er sich anzuziehen. Gestern, als er seinen Spaziergang gemacht hatte, war ihm so gewesen, als würde er beobachtet. Im Foyer war ihm ein Mann aufgefallen, der ihm ein kurzes Stück folgte, dann tauchte ein völlig anderer Mann hinter ihm auf. Als er ins Hotel zurückkam, war dort eine Frau gesessen, die ihn gleichgültig zu beobachten schien. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Er zog sich an. Den leichten be igen Anzug, der in der Savile Row für ihn maßgeschneidert worden war. Das cremefarbene Hemd von Jermyn Street. Dazu die goldenen Manschettenknöpfe, die er bei Asprey’s gekauft hatte. Die British Royal Marine Krawatte. Er lachte, als er die Krawatte band. Zum Schluß nahm er den weichen schweinsledernen Schulterhalfter aus der Schublade und legte ihn an. Er richtete ihn so, daß er bequem unter seinem linken Arm saß, zog seine Jacke an und nahm die 9 mm Beretta 93A, schob ein Magazin in den Kolben und repetierte. Nie ging er ohne eine Waffe aus. Baradj hatte mit Pistolen nicht nur flüchtig Bekanntschaft gemacht. Er wußte, daß es keinen Grund gab, die 401
Waffe zu sichern, wenn man vorsichtig war und oft übte. Ein Mann konnte mit dem Entsichern kostbare Sekunden verlieren. Natürlich entsprach das nicht den Anweisungen der Handbücher und Ausbilder, aber er tat Dinge ohnehin auf seine Weise. Die Beretta saß angenehm unter seiner Schulter, und er summte eine Zeile aus »My Way«, als er drei Reservemagazine in die speziell eingenähten Taschen seiner Jacke steckte. Er nahm seine Brieftasche und das Kreditkartenmäppchen, steckte sie in die Taschen, die er immer dafür benutzte, schlang dann den Trageriemen des Senders über die eine Schulter und seine Kamera über die andere. Er war bereit. Das Zimmermädchen konnte die Schlafanzüge behalten. Gegen ihn lag nichts Belastendes vor. Ein neues Schweinsledernecessaire würde ihn erheblich weniger kosten als die Hotelrechnung, also warum die Hotelrechnung bezahlen? Es war kaum zu glauben, daß Februar war. Die Sonne schien, und der Himmel war blau. Eine leichte Brise fächelte die Blumen. Die Welt war herrlich, und im Hotelfoyer hatte er keine bekannten Gesichter entdeckt. Es mußte also Einbildung gewesen sein, und er konnte unbesorgt Spazierengehen. Spazierengehen war gut. Man kam damit schneller voran als mit dem Auto in dem dichten Verkehr von Gibraltar. Er verließ das Hotel und hatte den nackten Felsen zu seiner Rechten. Bassam Baradj war keine drei Minuten gelaufen, als sein Nackenhaar zu prickeln begann. Hinter sich hörte er stetige Schritte. Nicht die Schritte müßiger Touristen, sondern andere… Hastig warf er einen Blick über die Schulter und sah sie: Einen Mann und eine Frau in Jeans, etwa zehn Schritte hinter sich. Der Mann trug eine lederne Bomberjacke, die Frau ein kurzes Segeltuchjackett. Dann hatte er Blickkontakt mit dem Mann. Es war ein Gesicht, das er kannte. Ein Gesicht aus den Akten. Er hatte den Tod dieses Mannes bei mindestens drei Gelegenheiten befohlen. Der Mann war James Bond. Bond sah, daß Baradj ihn erkannt hatte, und handelte schnell. Er griff nach der Browning hinter seiner rechten Hüfte, die durch die Bomberjacke verdeckt war, und spreizte die Beine zur Schußposition. Aber er war nicht schnell genug. Bis er die Pistole gezogen hatte, war 402
Baradj auf den Fels gesprungen und verschwunden. Wenn ich mich diesem Mann stellen muß, dachte Baradj, dann zu meinen Bedingungen. Unten auf der schmalen Straße hatte Beatrice ebenfalls ihre Pistole gezogen und sprach schnell in ein Walkie-Talkie, mit dem sie die Polizei und die SAS-Reserven herbeirief. Bond hatte darauf bestanden, das allein zu erledigen. »Ich will diesen Kerl lebendig haben«, hatte er gesagt. »Vorsicht, James!« hatte Beatrice gerufen, als er von der Straß e auf den Felsabhang sprang. Große, rauhe Felsbrocken lagen wi e Skulpturen überall hangaufwärts verstreut, aber er konnte Baradj nirgends sehen. Beatrice schloß sich ihm an; sie teilten sich, wobei sie sich gegenseitig Feuerschutz gaben. In diesem Gelände würde es für Baradj relativ einfach sein, sie zu umgehen und von hinten auf sie zu schießen. Aber dann kam ein Schuß von hoch oben, ohne daß es seltsamerweise neben Bond oder Beatrice krachte, es gab auch keinen Querschläger. Vorsichtig schoben sie sich voran, bis sie eine bogenförmige Öffnung fanden, ähnlich einer von Menschenhand geschlagenen Höhle im Fels. Sie war mit einem großen Eisentor vergittert, das mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Das Vo rhängeschloß war zerschossen worden, und einer der Torflügel stand halb offen. »Die Tunnel!« flüsterte Beatrice, und Bond nickte. »Ja, die Tunnel, und wir wissen nicht, wie gut er sie kennt.« »Kennst du sie?« Bond schüttelte den Kopf und flüsterte: »Ich bin nur einmal in den Höhlen gewesen, die für das Publikum geöffne t sind. Aber wir müssen ihm folgen, wohin er auch geht.« Der Satz »So fest wie der Felsen von Gibraltar« stimmt nicht, da der große Fels in Wirklichkeit ein riesiger, gigantischer Ameisenhaufen ist, voller Tunnels. Sie alle dienten militärischen Zwecken, und die Öffentlichkeit darf nur die ersten wahren Großtaten der Ingenieurskunst besichtigen – die Obere und Mittlere Galerie, die unter Leitung von Oberfeldwebel Ince von den Sappeuren in den achtziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts geschlagen wurden. Die Galerien waren mit Kanonen bestückt gewesen und hatten entscheidend dazu beige403
tragen, daß der Fels während der großen Belagerung durch die Spanier gehalten werden konnte. Aber das war noch längst nicht das Ende ihrer Geschichte. Später spielte das Tunnelsystem während des Zwe iten Weltkriegs eine Rolle, und einige Tunnelabschnitte werden noch heute benutzt. Wenn man den Weg nicht genau kannte, konnte man sich im Felsen von Gibraltar sehr leicht verlaufen. Bond und Beatrice drängten sich in die Öffnung und versuchten sich dabei so zu bewegen, daß ihre Körper nicht vom einfallenden Licht beschienen wurden. Die Lampen drinnen, die an der Decke angebracht waren, brannten, und sie fanden sich in einer hohen, gewölbten Halle wieder, die groß genug war, um eine dreispurige Autobahn aufzunehmen. Erneut teilten sie sich. Jeder begab sich an eine Seite der rohgemeißelten Wand, und sie blickten angestrengt nach vorn, um irgendeine Bewegung zu entdecken. Niemand war zu sehen, die Lichter schienen sich endlos zu erstrecken. Sie blieben zwischen zwei Nissenhütten stehen, die in einer Nische errichtet worden waren, die man aus dem Felsen geschlagen hatte. Aber sie waren verschlossen und leer, und so gingen sie langsam weiter und waren sich der Tatsache wohl bewußt, daß Baradj sie so leicht wie Fische in einem Faß abknallen konnte, falls er ein Versteck gefunden hatte – irgendeine Höhlung im Felsen. Der Tunnel verzweigte sich, und nach hundert Metern fanden Bond und Beatrice sich in den Resten eines Feldlazaretts wi eder. Teile der gekachelten Operationssäle waren übriggeblieben, und die Aufenthalts- und Waschräume waren noch intakt. Aber das Lazarett führte nirgendwohin, und nach wenigen Minuten waren sie wieder auf dem breiten Hauptweg. Bond erinnerte sich jetzt daran, daß diese Tunnel einst voller Männer, Panzer, Loren, Feldgeschütze und Jeeps gewesen waren. Und tatsächlich waren sie einst als Hauptaufmarschplatz für die Operation Fackel benutzt worden, der Invasion der Alliierten 1942 in Nordafrika. Die Streitmacht war von Eisenhower kommandiert worden, als er noch Generalleutnant gewesen war. An diesem feuchten und kalten Ort gab es viele Geister, und Bond spürte, wie sie sich ihm näherten, während Wasser von der Decke dieser unglaublichen Steinautobahn tropfte. 404
»Hier hinüber«, flüsterte Beatrice. Er sah, daß dort ein weiterer Tunnel abzweigte, groß genug, um mit einem Jeep hineinzufahren und wahrscheinlich auf der anderen Seite wieder hinaus. Sie blieben stehen, lauschten und gingen in den abzweigenden Tunnel hinein. Das andere Ende war durch eine hohe Metallwand verschlossen, in die eine Tür eingelassen war. Beatrice gab ihm Deckung, als er hindurchsprang. Er sah sich mit einem so unglaublichen Anblick konfrontiert, daß sie fast alle Vorsichtsmaßregeln vergaßen. Beatrice keuchte, als sie durch die Tür trat – dann hallte ein Schuß durch diesen unglaublichen Ort, und die Kugel schlug nur Zentimeter von Beatrice entfernt ein. Sie suchten beide Deckung, und davon gab es viel. Sie befanden sich in etwas, das eine Filmkulisse hätte sein können, nur daß der Ort so wirklich war, daß man zu träumen glaubte. Da gab es Straßen, Häuser, Geschäfte und in der Ferne sogar eine Kirche. Bond brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was das war, denn er hatte von diesem Ort gehört, obgleich er ihn nie zuvor gesehen hatte. Graffiti waren an die Wände gemalt. Witze über Polizei und Militär. Es war alles so unwirklich, daß es einige Zeit dauerte, bis man die Wahrheit begriff. Dies war ein Übungsgelände für die auf Gibraltar stationierten Truppen. Ein Ort, an dem man Straßenkampf üben konnte, wie er so oft in Zeiten ziviler Unruhen erforderlich war. Er hatte ein Gerücht gehört, demzufolge einige Angehörige von Spezialeinsatzteams, Polizei und Armee manchmal zu Trainingszwecken hierher geflogen wurden. Sie lagen auf dem Pflaster, gedeckt von einer Wand, die zum King’s Head gehörte, einem Pub, der so realistisch aussah, daß man fast das Bier riechen konnte. Bond versuchte herauszufinden, woher der Schuß gekommen war. »Geh du nach links«, flüsterte er. »Ich überquere die Straße und gehe nach rechts. Schrei, wenn du ihn siehst oder wenn er auf dich feuert. Gib mir zehn Minuten.« Er hob seine Armbanduhr. »Dann treffen wir uns hier wieder.« Sie nickte, duckte sich tief und schob sich an der Wand entlang, während Bond sich bereit machte und geduckt auf die andere Straßenseite lief, an der nackten Wand von Jack Berry, eine m Schlachterladen, vorbei. Er stand fast im Winkel der Wand auf der anderen Seite, 405
als zwei Schüsse krachten und Pflasterstücke herausrissen. Er glaubte das Mündungsfeuer in einem Türeingang gesehen zu haben, drei Hä user weiter oben an dieser engen Straße, und feuerte im Laufen aus der Hüfte zwei Schüsse ab. Mit Sicherheit glaubte er gesehen zu haben, daß sich eine Gestalt in dem Türeingang duckte. Bond keuchte und preßte seinen Rücken dicht an die Wand, während er seinen nächsten Schritt überlegte. Wenn er auf die Rückseite der Metzgerei gelangte, konnte er dahinter die Parallelstraße hinuntergehen und die Hintertür erreichen, die dem Haus gegenüberlag, von dem aus Baradj zuletzt geschossen hatte, wie er glaubte. Den Rücken an die Wand gepreßt, zwängte er sich hinter den Laden und an der Rückseite der Reihenhäuser entlang. Eines, das zweite. Er drückte auf die Klinke der kleinen Tür des dritten Hauses. Sie bewegte sich, und er trat in einen langen, dunklen Korridor. Zur Rechten führten Stufen nach oben. Er lehnte sich mit der Schulter an die Treppe, lauschte, überlegte, ob er es mit der Eingangstür vor sich versuchen sollte, beschloß dann aber nach links zu gehen, wo wahrscheinlich der kleine Vorderraum liegen würde. Er hörte nichts – doch plötzlich flog die Tür auf, und zwei Kugeln schlugen in die Treppe, von denen eine seinen Browning streifte und sengenden Schmerz durch seinen Arm jagte. Seine Pistole polterte zu Boden. Er wartete darauf, daß der Tod schnell kam, als er Bassam Baradj sah, der im Türeingang stand. »Captain Bond«, sagte Baradj. »Ich bedaure dies sehr, bin aber andererseits erfreut die Ehre zu haben, ihr Scharfrichter zu sein. Leben Sie wohl, Captain Bond.« Er faßte die Pistole mit beiden Händen, und Bond zuckte bei dem Schuß zusammen – spürte aber nichts. Angespannt, unfähig sich zu bewegen, starrte er Baradj an, der ihn noch immer anzuschauen schien, die Arme ausgestreckt, die Waffe auf ihn gerichtet. Dann knickte Bassam Baradj wie in einem Traum in den Knien ein und fiel in den schmalen Korridor. Bond atmete lang und tief aus und hörte Beatrices leichte Schritte auf der Straße. Sie blieb im Türeingang stehen. »James?« fragte sie. Dann noch einmal: »James? Ist mit dir alles in Ordnung, James?« Er nickte, und sein Arm zitterte noch immer von der Wucht der Kugel, die seine Pistole getroffen hatte. »Ja. Ja, ich bin okay. Ich glaube, 406
ich schulde dir wieder einmal mein Leben, liebe Beatrice.« Er trat zu ihr, über die Leiche Bassam Baradjs hinweg, und nahm sie in seine Arme. »Ist verdammt schwer, sich so seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, sagte er. »James?« flüsterte sie. »Liebst du mich?« Er hielt sie an sich gepreßt. »Ich liebe dich sehr«, und er merkte, daß er das wirklich meinte. Gemeinsam gingen sie über die seltsame Straße zurück, zu der Tür, durch die sie zu den Tunneln und schließlich wieder draußen ans Licht gelangen würden.
20. Manche sterben Es war Sommer und eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit – heiß und angenehm. Um diese Tageszeit sah die Villa Capricciani wundervoll aus. Eidechsen sonnten sich unter dem Laubwerk, die Blumen standen in voller Blüte, und die Lilien brannten gelb aus dem Teich unterhalb des Hauses. James Bond trat auf die Terrasse, sprang in den Swimmingpool und schwamm schnell ein paar Bahnen, bevor er wieder herauskletterte und sein Haar mit einem Handtuch abtrocknete, das über einem der Gartenstühle hing, in den er sich jetzt fallen ließ und in dem er seinen Körper wie eine Katze streckte. Katze, dachte er plötzlich erschauernd. Das war das Wort in seinem Kopf. Er hatte seit diesem Auftrag zu Anfang dieses Jahres gemerkt, daß er dazu neigte, bei gewissen Worten sehr angespannt zu werden: Katze, Viper, Schlange. Der Psychiater hatte ihm gesagt, daß das keineswegs überraschend sei. »Während der BAST-Sache haben Sie eine Menge mitgemacht.« Ja, überlegte er, er hatte eine Menge mitgemacht. Einen Augenblick lang dachte er über den Tod nach. Nicht über den ruhigen Freund, der zu alten und verbrauchten Menschen kommt, sondern dem, der plötzlich und mit schrecklicher Grausamkeit zuschlägt. Er dachte an den Fiat, der unten auf dem Wendekreis gestanden hat407
te. Dort parkte jetzt ein kleiner BMW, doch während er so nachgrübelte, war es für Bond der kleine Fiat. Ein paar Sekunden lang nahm er Beatrice wahr, die lächelte und die Tür aufhielt – dann den entsetzlichen Blitz und den Rauch und die Qual der Erkenntnis, daß er sie verloren hatte. Doch dann überflutete ihn Freude, weil er das Mädchen nicht verloren hatte – das, wenn er sich nicht vorsah, sehr leicht zur großen Liebe seines Lebens werden konnte. Die Sonne ging unter, und die Tiere der Nacht kamen heraus. Die Fledermäuse begannen hin und her zu fliegen, und Geckos krochen aus ihren Tagesverstecken und sonnten sich eigenartigerweise unter den elektrischen Lampen um den Swimmingpool. Anderes ging ihm durch den Kopf. Er sah den armen Ed mit seiner durchgeschnittenen Kehle, den Kopf fast völlig vom Körper getrennt. Nikki, die Trost bei ihm gesucht und dann sein Leben gerettet hatte. Dabei war sie selbst umgekommen. All die Mädchen, die glücklich und lange hätten leben können – auch diejenigen, die er persönlich ins Grab gebracht hatte. Und schließlich Clover Pennington, von ihrer eigenen Killerin erschossen. Er erschauerte in der Wärme und spürte, wie ihn eine Gänsehaut überlief. Hinter ihm, in der Villa, gingen die Lichter an, und er hörte Beatrice zum Swimmingpool laufen. »Alles in Ordnung, Liebling?« sagte sie, küßte ihn und schaute ihm prüfend in die Augen. »James, was ist los? Es betrifft doch nicht uns, oder?« »Nein, meine Liebe, nicht uns. Ich habe nur gerade das, was der Seelendoktor als Anflug von Horror bezeichnet.« »Ich hatte überlegt, ob es richtig war, hierher zurückzukehren.« »O ja, das ist der richtige Ort.« »Gut Laß uns zum Abendessen ausgehen. Mir gefällt es hier.« Sie hockte sich neben ihn und blickte in sein Gesicht, das von den Lichtern beleuchtet und von der Nacht beschattet war. »James, Liebling. Du weißt doch – manche gewinnen und manche verlieren.« James Bond nickte. »Ja«, sagte er ruhig. »Und manche sterben.«
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Niemand lebt für immer
1. DIE S TRASSE NACH SÜDEN James Bond setzte den Blinker erst im letzten Augenblick und bremste härter, als es einem Fahrlehrer gefallen hätte. Er zog den schweren Bentley von der E 5 in die letzte Ausfahrt nördlich von Brüssel. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wenn er Straßburg vor Mitternacht erreichen wollte, wäre es sinnvoller gewesen, einfach weiterzufahren und Brüssel auf dem Autobahnring zu umrunden, um dann auf der belgischen N 4 weiter nach Süden zu fahren. Doch auch im Urlaub vergaß Bond nie, wie wichtig es war, ständig auf der Hut zu sein. Der kleine Umweg über Landstraßen würde ihm rasch zeigen, ob er beschattet wurde. In etwa einer Stunde würde er dann auf der E 40 weiterfahren. Vor kurzem hatte eine Dienstanweisung alle Agenten des Secret Service zu ›nicht nachlassender Wachsamkeit‹ aufgerufen, auch in der Freizeit und besonders auf Reisen im Ausland. Er hatte mit der Morgenfähre nach Ostende übergesetzt, doch dabei hatte es eine mehr als einstündige Verzögerung gegeben. Etwa auf halbem Weg hatte das Schiff gestoppt, ein Boot war ausgesetzt worden und hatte in wei ten Kreisen das Wasser abgesucht. Nach etwa vierzig Minuten war das Boot zurückgekehrt, und als das Schiff wieder Fahrt aufnahm, tauchte über ihnen ein Hubschrauber auf. Etwas später verbreitete sich das Gerücht im Schiff: ›Zwei Männer über Bord – anscheinend verschollen‹. »Dummejungenstreiche«, sagte der Barkeeper. »Tja, das war dann wohl ihr letzter Streich. Wahrscheinlich von den Schrauben in Stücke gerissen.« Nach der Zollabfertigung war Bond in eine Seitenstraße gefahren, hatte das Geheimfach im Armaturenbrett des Bentley Mulsanne Turbo geöffnet und seine 9-mm-ASF-Automatik und die Reservemunition überprüft. Dann nahm er den kleinen, getarnten Stab heraus, der schwer in seinem weichen Lederhalfter lag. Er schloß das Fach wieder, lockerte seinen Gürtel 410
und befestigte das Halfter mit dem Stab an seiner rechten Hüfte. Es war ein vielseitiges Werkzeug – von außen nicht mehr als ein etwa fünfzehn Zentimeter langer, schwarzer Metallstab. In den Händen eines geübten Mannes war es eine tödliche Waffe. Wenn er sich jetzt im Fahrersitz bewegte, spürte er den beruhigenden Druck des harten Metalls an seiner Hüfte. Er bremste weiter ab, bis er nur noch mit vierzig Stundenkilometern dahinschlich, und blickte, während er die Kurven durchfuhr, ständig in die Rückspiegel. Eine halbe Stunde später war er sicher, daß er nicht verfolgt wurde. Auch ohne Dienstanweisung war er vorsichtiger als sonst. War es sein sechster Sinn für Gefahren, oder lag es an der Bemerkung, die M vor einigen Tagen gemacht hatte? »Sie hätten keinen ungünstigeren Augenblick für Ihre Reise wählen können, 007«, hatte sein Chef geknurrt, doch Bond hatte dem keine große Bedeutung beigemessen. M war für seine ungnädige Haltung bekannt, wenn es um den Urlaub seiner Mitarbeiter ging. »Es ist mein gutes Recht, Sir. Sie waren einverstanden, daß ich diesen Monat freinehmen kann. Sie wissen sicher noch, daß ich meinen Urlaub bereits einmal verschieben mußte.« M grunzte. »Moneypenny ist auch nicht da. Sie kurvt irgendwo in Europa herum. Sie wollen doch nicht…« »Miss Moneypenny Gesellschaft leisten? Nein, Sir.« »Sie wollen sicher nach Jamaika und nachsehen, wie es den Mädchen dort geht, was?« sagte M stirnrunzelnd. »Nein, Sir. Ich will zuerst nach Rom. Dann ein paar Tage nach Riviera dei Fiori und dann nach Österreich, um meine Haushälterin May abzuholen. Ich hoffe, sie hat sich bis dahin gut genug erholt, um nach London zurückzufahren.« »Ja… ja.« M war immer noch nicht beruhigt. »Hinterlassen Sie bitte Ihre vollständige Fahrtroute beim Einsatzleiter. Wir wissen nicht, ob wir Sie nicht vielleicht plötzlich brauchen.« »Schon erledigt, Sir.« »Passen Sie auf sich auf, 007. Passen Sie gut auf sich auf. Auf dem Kontinent war in der letzten Zeit einiges los. Sie kön411
nen gar nicht vorsichtig genug sein.« Er blickte ihn scharf und hart an, und Bond fragte sich, ob er etwas vor ihm verbarg. Als Bond M’s Büro verließ, war der alte Mann so freundlich zu sagen, daß er hoffte, bald gute Nachrichten von May zu bekommen, Im Augenblick war May, Bonds alte, ergebene schottische Haushälterin, der einzige Schatten an einem sonst wolkenlosen Horizont. Während des Winters hatte sie zweimal eine schwere Bronchitis bekommen, und sie schien regelrecht zu verfallen. Sie war länger bei Bond, als sie beide sich erinnern konnten. Vom Service abgesehen, war sie die einzige feste Größe in seinem abwechslungsreichen Leben. Nach dem zweiten Anfall hatte Bond darauf bestanden, daß sie sich gründlich von einem Arzt des Service, der seine Praxis in der Harley Street hatte, untersuchen ließ. May hatte zuerst widersprochen und gesagt, sie sei ›zäh wie eine alte Krähe und noch lange nicht reif für den Topf‹, doch Bond hatte sie selbst zum Arzt geschleppt. Danach folgte eine schreckliche Woche, in der May von einem Spezialisten zum nächsten weitergereicht wurde, während sie pausenlos maulte. Doch die Ergebnisse waren eindeutig. Der linke Lungenflügel war böse angeschlagen, und es bestand die Möglichkeit, daß sich die Krankheit noch weiter ausbreitete. Wenn der Lungenflügel nicht sofort entfernt und die Patientin mindestens drei Monate lang behandelt und medizinisch versorgt würde, war es unwahrscheinlich, daß sie ihren nächsten Geburtstag noch erleben würde. Die Operation wurde von dem besten Chirurgen ausgeführt, den Bond auftreiben konnte, und als sie den Eingriff gut überstanden hatte, schickte er sie in die weltbekannte Mozartklinik südlich von Salzburg, die auf Beschwerden dieser Art spezialisiert war. Bond rief regelmäßig im Krankenhaus an und erfuhr, daß sie erstaunlich rasch genas. Am vergangenen Abend hatte er sogar mit ihr selbst gesprochen, und er lächelte in sich hinein, als er sich an ihren Tonfall erinnerte; sie hatte ziemlich geringschätzig über die Klinik gesprochen. Offensichtlich hielt sie, vom Zimmermädchen bis zum Chefkoch, das ganze Haus auf Trab und beschwor den Fluch ihrer schottischen Urahnen auf die Mitarbeiter herab. 412
»Also, Mr. James, die können ja nicht mal richtig kochen hier, ehrlich, und die Mädchen wissen nicht, wie man ein Bett ordentlich macht. Ich würde keine einzige von denen einstellen – und Sie bezahlen soviel Geld, damit ich hier sein kann. Es ist einfach eine Verschwendung, Mr. James. Eine kriminelle Verschwendung.« May hatte sich bei dem Wort ›kriminell‹ schon immer die Zunge verbogen. »Ich bin sicher, daß sie sich gut um Sie kümmern, May.« Mit ihrem Freiheitsdrang war sie sicher keine bequeme Patientin. Vertraue auf May, sagte er sich. Sie tut die Dinge auf ihre Weise, oder sie tut sie gar nicht. Die Mozartklinik mußte für sie ein Fegefeuer sein. Er überprüfte den Tankanzeiger und entschied zu tanken, ehe er den langen Abschnitt auf der E 40 in Angriff nahm. Nachdem er nun sicher war, daß er nicht verfolgt wurde, konzentrierte er sich darauf, eine Tankstelle zu finden. Es war nach sieben Uhr abends, und der Verkehr war sehr dünn. Er fuhr durch zwei kleine Orte und registrierte die Hinweisschilder für die Autobahn. Dann, auf einem langen, geraden Stück außerhalb der Orte, sah er die grellbunten Lichter einer kleinen Tankstelle. Sie schien verlassen, und bei den Zapfsäulen stand kein Tankwärter, doch die Tür des winzigen Büros war offen. Eine rote Tafel wies die Kunden darauf hin, daß es hier keine Selbstbedienung gab. Er hielt vor der Säule mit dem Superbenzin und stellte den Motor ab. Als er herauskletterte und seine Muskeln streckte, sah er hinter den Scheiben des kleinen Zi egelbaus eine Bewegung. Er hörte eine knurrende, ärgerliche Stimme, dann einen Krach, als wäre jemand mit einem Auto zusammengestoßen. Bond schloß seinen Wagen mit der Ze ntralverriegelung ab und schritt rasch zur Ecke des Gebäudes. Hinter dem Büro lag eine Werkstatt. Vor den offenen Türen stand ein weißer Alfa Romeo Sprint. Zwei Männer drückten eine junge Frau auf die Motorhaube. Die Fahrertür stand offen, und auf dem Boden lag eine aufgerissene Handtasche. Der Inhalt war in der Umgebung verstreut. »Komm schon«, sagte einer der Männer in holprigem Französisch, »Wo ist es? Du mußt was haben. Her damit.« Wie sein 413
Kollege war der Rowdy in verblichene Jeans, Hemd und flache Schuhe gekleidet. Beide waren kleine, breitschultrige Männer mit gebräunten, muskulösen Armen – harte Burschen, wie es aussah. Ihr Opfer protestierte, und der Mann, der gesprochen hatte, hob eine Hand, um das Mädchen zu ohrfeigen. »Das reicht!« Bonds Stimme klang wie eine Peitsche, wä hrend er sich den beiden näherte. Die Männer blickten erschrocken auf. Dann lächelte einer. »Zwei zum Preis von einem«, sagte er leise, während er die Frau an der Schulter packte und vom Wagen fortstieß. Der Mann, der sich Bond entgegenstellte, hatte einen großen Schraubenschlüssel in der Hand; offenbar hielt er Bond für eine leichte Beute. Sein Haar war struppig, eine lockige, verfilzte Masse, und das verbissene, junge Gesicht zeigte die Narben eines erfahrenen Straßenkämpfers. Er sprang halb gebückt vor, den Schraubenschlüssel unten haltend. Er bewegt sich wie ein großer Affe, dachte Bond, als er nach dem Stab an seiner rechten Hüfte griff. Der Stab, der von der gleichen Firma stammte wie die ASP 9 Millimeter, sah auf den ersten Blick harmlos aus – fünfzehn Zentimeter mit Gummi überzogenes Metall. Doch nachdem er ihn aus dem Halfter gezogen hatte, schlug er einmal kurz nach unten, und aus dem Stab sprangen fünfundzwanzig weitere Zentimeter Spezialstahl, die klickend einrasteten. Die so plötzlich erschienene Waffe überraschte den jungen Gauner. Er hatte schon den rechten Arm mit dem Schraubenschlüssel gehoben, doch er zögerte eine Sekunde. Bond wich rasch nach links aus und schwang den Stab. Es gab ein häßliches, krachendes Geräusch, gefolgt von einem Aufschrei, als der Stab den Unterarm des Angreifers traf. Der ließ den Schraubenschlüssel fallen und krümmte sich, hielt sich den gebrochenen Arm und fluchte heftig auf französisch. Bond setzte nach, schlug dieses Mal etwas leichter zu und traf den Nacken des Mannes. Der Räuber ging in die Knie und stürzte nach vorn. Mit einem Aufschrei wirbelte Bond zu dem zweiten Gangster herum, doch der Mann war nicht zum Kämpfen aufgelegt. Er drehte sich um und wollte fortlaufen, doch er 414
war nicht schnell genug. Die Spitze des Stabes erwischte ihn hart an der linken Schulter. Auch bei ihm brachen einige Knochen. Er schrie noch lauter als sein Partner, dann hob er die Hände und ergab sich. Bond hatte jedoch keine Lust, mit zwei jungen Gangstern, die eine hilflose Frau angegriffen hatten, allzu freundlich umzugehen. Er sprang vor und knallte dem Mann den Stab zwischen die Beine, was ihn ein zweites Mal schmerzlich aufschreien ließ. Der Schrei wurde jedoch von einem klug plazierten Schlag an den Hals unterbrochen, der den Mann bewußtlos zu Boden stürzen ließ, ohne ihn jedoch ernstlich zu verletzen. Bond stieß den Schraubenschlüssel mit dem Fuß fort und wandte sich zu der jungen Frau. Sie sammelte gerade ihre vor dem Wagen verstreuten Utensilien ein. »Alles in Ordnung?« Er musterte sie; sie wirkte wie eine Italienerin – eine rote Mähne, großgewachsen und schlank, ovales Gesicht und große braune Augen. »Ja. Danke, danke.« Sie sprach ohne jeden Akzent. Als er näher kam, bemerkte er die Sandalen von Gucci, die Jeans von Calvin Klein, die die sehr langen Beine eng umschlossen, und ein Seidenhemd von Hermes. »Ein Glück, daß Sie gekommen sind. Ob wir die Polizei rufen sollen?« Sie schüttelte leicht den Kopf und schob die Unterlippe vor, blies sich die Haare aus den Augen. »Ich wollte eigentlich nur tanken.« Bond blickte zum Alfa Romeo. »Was ist passiert?« »Man könnte sagen, daß ich sie mit dem Finger in der Kasse erwischt habe, und das hat ihnen nicht gefallen. Den Tankwart haben sie drüben im Büro kaltgestellt.« Als sie vorfuhr, hatten die Räuber sich als Tankwarte ausgegeben und sich entschuldigt, weil die Pumpen nicht funktionierten. Ob sie zur Pumpe im Hinterhof fahren könnte? »Ich bin darauf reingefallen«, sagte sie, »und sie haben mich aus dem Wagen gezerrt.« Bond fragte sie, wie sie dann etwas von dem ausgeschalteten Wärter wissen konnte. 415
»Einer der beiden wollte wissen, ob er noch lebte, und der andere sagte, er würde wohl eine Stunde bewußtlos bleiben.« Ihre Stimme klang entspannt, und als sie ihre Mähne glättete, waren ihre Hände völlig ruhig. »Wenn Sie weiterfahren wollen, kann ich auch allein die Polizei rufen. Sie müssen ja nicht unbedingt dabeibleiben.« »Sie auch nicht«, sagte er lächelnd. »Die beiden werden noch eine Weile schlafen. Übrigens, ich heiße Bond. James Bond.« »Sukie.« Sie gab ihm die Hand. Die Handfläche war trocken, und ihr Griff war fest. »Sukie Tempesta.« Schließlich warteten sie doch beide auf die Polizei, was Bond weitere neunzig Minuten Verspätung einbrachte. Der Tankwart war böse zusammengeschlagen worden und mußte dringend ärztlich behandelt werden, Sukie kümmerte sich um ihn, und Bond rief unterdessen die Polizei an. Während sie warteten, versuchte Bond mehr über sie herauszufinden, denn die ganze Sache hatte ihn neugierig gemacht. Irgendwie hatte er den Eindruck, daß sie etwas vor ihm verheimlichte. Doch wie klug er auch seine Fragen stellte, Sukie wich ihm immer wieder aus. Ihre Antworten sagten ihm nichts, und obwohl er sie genau beobachtete, erfuhr er nichts weiter. Sie war sehr beherrscht, und von einer Rechtsanwältin bis zu einer Hosteß hätte sie alles sein können. Nach ihrem Äußeren und ihrem Schmuck zu urteilen ging es ihr jedenfalls sehr gut. Was auch immer ihr Beruf war, Bond mußte jedenfalls feststellen, daß Sukie eine attraktive junge Frau war. Sie sprach leise, bewegte sich kontrolliert und beherrscht und hatte eine reservierte Art, die möglicherweise auf mangelndem Selbstvertrauen beruhte. Eins jedoch bemerkte er sehr schnell: Sie beherrschte mindestens drei Sprachen, was für ihre Intelligenz und eine gute Ausbildung sprach. Was den Rest anging, konnte er nur raten. Er fand nicht einmal ihre Nationalität heraus, obwohl die Nu mmernschilder ihres Sprint aus Italien stammten. Bevor die Polizei mit heulenden Sirenen eintraf, kehrte Bond zu seinem Wagen zurück und verstaute den Stock, der in diesem Land eine verbotene Waffe war. Er ließ die Vernehmung über sich ergehen und unterzeichnete das Protokoll. Dann durf416
te er auftanken und weiterfahren, nachdem er versprochen hatte, der Polizei während der nächsten Wochen ständig seinen Aufenthaltsort durchzugeben, und nachdem er seine Londoner Adresse und seine Telefonnummer hinterlassen hatte. Sukie Tempesta wurde noch befragt, als er mit einem seltsamen, unbehaglichen Gefühl davonfuhr. Er erinnerte sich an M’s Augenausdruck, und er machte sich Gedanken über die Ereignisse auf der Fähre. Kurz nach Mitternacht war er zwischen Metz und Straßburg auf der E 25. Er hatte noch einmal getankt und an der französischen Grenze einen erträglichen Kaffee getrunken. Inzwischen war die Straße fast leer, so daß er die Rücklichter des Wagens schon vier Kilometer voraus bemerkte. Er hatte hinter der Grenze die Geschwindigkeitsautomatik auf 110 Stundenkilometer gestellt und zog rasch an dem großen weißen BMW vorbei, der mit fünfzig Kilometern dahinzuschleichen schien. Gewohnheitsmäßig blickte er rasch zum Nummernschild des Wagens und prägte sich die Zulassungsnummer und das Nationalitätskennzeichen ein. Es war ein ›D‹; der Wagen kam aus Deutschland. Etwa eine Minute später schreckte Bond alarmiert auf. Der BMW war schneller geworden, zog auf die mittlere Spur, blieb jedoch dicht hinter ihm. Der Abstand schwankte zwischen fünfhundert und knapp unter hundert Metern. Er bremste kurz an, nahm die Tempoautomatik heraus und gab Gas. Einhundertdreißig. Einhundertvierzig! Der BMW hing immer noch hinter ihm. Und dann, etwa fünfzehn Kilometer vor Straßburg, bemerkte er ein weiteres Scheinwerferpaar direkt hinter ihm auf der Überholspur. Der Wagen kam rasch näher. Er wich auf die mittlere Spur aus und blickte rasch zwischen der Straße vor ihm und dem Rückspiegel hin und her. Der BMW war etwas zurückgefallen, und Sekunden später schwankte der Bentley leicht, als die herannahenden Lichter größer wurden und ein kleiner schwarzer Wagen vorbeischoß. Das Auto fuhr mindestens 160, und Bond konnte nur einen kurzen Blick auf die schmutzüberkrusteten Nummernschilder 417
werfen. Der Wagen stammte wahrscheinlich aus der Schweiz; Bond glaubte, im rechten Teil des Nummernschilds die Abkürzung des Kantons Tessin gesehen zu haben. Den Wagentyp konnte er allerdings nicht mehr feststellen. Der BMW blieb nur noch einige Sekunden hinter ihm, dann wurde er langsamer und fiel zurück. Und dann sah Bond einen Blitz im Rückspiegel. Hinter ihm, auf der mittleren Spur, flammte ein gewaltiger, purpurner Feuerball auf. Der Bentley ruckte hart unter der Schockwelle, während brennende Metallteile über die Autobahn tanzten. Bond drückte das Gaspedal durch. Zu dieser Nachtzeit wollte er sich auf nichts einlassen, vor allem nicht auf einem so einsamen Straßenstück. Die unerwarteten Gewaltsausbrüche, die er den Tag über gesehen hatte, hatten ihn etwas mitgenommen. Um halb zwei Uhr morgens schob sich der Bentley in Straßburg auf die Place Saint-Pierre-le-Jeune und blieb vor dem Hotel Sofitel stehen. Der Nachtportier war sehr entgegenkommend. Oui, Mr. Bond… Non, Mr. Bond. Aber gewiß sei seine Reservierung vermerkt. Der Wagen wurde ausgeladen, das Gepäck nach oben geschafft, und er fuhr den Bentley selbst auf den Hotelparkplatz. Das Zimmer war fast zu üppig für eine einzige Übernachtung. Auf einem Tisch stand ein Korb mit Früchten, mit besten Empfehlungen der Geschäftsleitung. Bond wußte nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen oder besser auf der Hut sein sollte. Er war mindestens drei Jahre nicht mehr im Sofitel gewesen. Er öffnete die Minibar und mixte sich einen Martini. Er freute sich, als er sah, daß die Bar mit Gondon’s und einem vernünftigen Wodka ausgestattet war; allerdings mußte er auf seinen geliebten Kina verzichten und sich mit einem einfachen Lillet zufriedengeben. Er nahm den Drink mit ans Bett und öffnete die Aktentasche mit dem komplizierten Sprachverzerrer. Er schloß den Apparat ans Telefon an und wählte die Nummer von Transworld Exports in London, die Deckadresse des Secret Service. Der Diensthabende hörte geduldig zu, während Bond detai l418
liert die Ereignisse schilderte. Dann legten sie auf, und Bond, der nach der langen Fahrt sehr müde war, nahm eine kurze Dusche, bestellte für acht Uhr einen Weckruf und streckte sich unter den Laken nackt aus. Erst jetzt gestand er sich ein, daß er sich Sorgen machte. Er dachte wieder an M’s seltsames Verhalten, an die Fähre nach Ostende und an die beiden Männer, die über Bord gegangen waren. Dann Sukie – das Mädchen, das an der Tankstelle überfallen worden war – und schließlich die schreckliche Explosion auf der Straße. Diese Häufung dramatischer Ereignisse konnte er nicht als Zufall abtun. Irgendwo in seinem Hinterkopf rührte sich sein sechster Sinn. Er war in Gefahr.
2. DER GIFTZWERG Bond absolvierte schwitzend seine morgendlichen Übungen – zwanzig Liegestütze, sehr langsam, um die Belastung zu erhöhen, dann die Beinschwünge auf dem Bauch, und zuletzt zwanzigmal schnell mit durchgedrückten Beinen die Zehen berühren. Bevor er duschte, rief er den Zimmerservice an und gab genaue Anweisungen für sein Frühstück: zwei dicke Scheiben Vollkornbrot mit Butter, und wenn möglich Tiptree Little Scarlet Jam oder Cooper’s Oxford Marmelade. Leider, Monsieur, Cooper’s war nicht da, aber Tiptree konnte er bekommen. Es war unwahrscheinlich, daß sie auch De Bry’s Kaffee auftreiben konnten, deshalb ließ er sich nach kurzer Diskussion auf die Spezialmischung des Hauses ein. Bis das Frühstück kam, duschte er erst sehr heiß und dann eiskalt. Bond war ein Mann, der seine Gewohnheiten selten veränderte, doch seit kurzer Zeit benutzte er die neue Serie – Shampoo und Rasierwasser – von Dunhill mit Namen Blend 30. Er liebte den maskulinen Geruch, und nachdem er sich abgetrocknet hatte, rieb er sich mit dem Duftwasser ein. Dann streifte er seinen Seidenmantel über, den er immer auf Reisen benutzte, und setzte sich, um auf das Frühstuck zu warten, das kurz dar419
auf zusammen mit den Morgenzeitungen gebracht wurde. Der BMW, oder besser, die Trümmer, die von ihm übriggeblieben waren, wurde auf den ersten Seiten behandelt. Die Schlagzeilen ergingen sich in Vermutungen – ein schrecklicher terroristischer Anschlag oder der neueste Mord in einem Bandenkrieg, der seit einigen Wochen in Frankreich im Gange war. Es gab nur wenig Details; die Polizei hatte lediglich erklärt, daß es nur ein Opfer gab, den Fahrer des Wagens, der auf Conrad Tempel zugelassen war, einen deutschen Geschäftsmann aus Freiburg. Herr Tempel wurde vermißt, weshalb man annahm, daß er in den Trümmern seines Wagens umgekommen sei. Während Bond die Berichte las, trank er zwei große Tassen Kaffee, schwarz und ohne Zucker, und entschloß sich, über Freiburg weiterzufahren. In Basel wollte er dann abermals die Grenze überqueren und zum Lago Maggiore im Tessin hinunterfahren, um in einem der kleinen Orte am See die Nacht zu verbringen. Dann würde er nach Italien weiterfahren – ein weites Stück Weg auf der vermutlich sehr heißen Autobahn nach Rom. Dort würde er eine Weile beim örtlichen Mitarbeiter des Service und seiner Frau bleiben, Steve und Tabitha Quinn. Die heutige Fahrt würde nicht so ermüdend werden. Er brauchte erst gegen Mittag loszufahren, so daß er ausruhen und sich etwas umsehen konnte. Doch zuerst kam die wichtigste Aufgabe des Tages – ein Anruf in der Mozartklinik, um nach Mays Befinden zu fragen. Er wählte die 19, die französische Vorwahl für Auslandsgespräche, dann die 61 für Österreich, danach die Nummer. Doktor Kirchtum meldete sich fast sofort. »Guten Morgen, Mr. Bond. Sind Sie jetzt in Belgien?« Bond erklärte ihm höflich, daß er in Frankreich sei und morgen die Schweiz erreichen würde, um am folgenden Tag nach Italien weiterzufahren. »Sie fahren einen flotten Reifen, wie man so sagt.« Kirchtum war ein kleiner Mann, doch er hatte eine laute, volle Stimme. In der Klinik konnte man ihn in den Zimmern schon hören, wenn er gerade in den Flur einbog. Die Schwestern harten ihn Das Nebelhorn getauft. 420
Bond fragte nach May. »Es geht ihr gut. Sie scheucht uns herum, und das ist sicher ein Zeichen dafür, daß sie sich gut erholt.« Kirchtum lachte bellend. »Ich glaube, der Küchenchef liegt bald unter den Kartoffeln, wenn das so weitergeht.« »Soso«, sagte Bond lachend. Der Herr Doktor sprach sehr gut Englisch, wenn er auch manchmal einige Redensarten durcheinanderbrachte. Bond fragte, ob er mit der Patientin sprechen könnte, doch der Arzt erklärte, sie würde gerade behandelt und könnte erst später am Tag telefonieren. Bond erwiderte, er würde von unterwegs noch einmal anrufen, bedankte sich und wollte gerade auflegen, als Kirchtum noch etwas sagte. »Hier ist aber jemand, der mit Ihnen sprechen möchte, Mr. Bond. Bleiben Sie dran, ich verbinde.« Zu Bonds Überraschung hörte er einen Augenblick später die Stimme von M’s Privatsekretärin, Moneypenny, die ihn mit der üblichen Wärme begrüßte. »James! Wie schön, etwas von Ihnen zu hören.« »Oh, Moneypenny. Was, um Himmels willen, tun Sie dort in der Klinik?« »Ich mache Urlaub, genau wie Sie, und ich verbringe ein paar Tage in Salzburg. Ich hab’ mal reingeschaut, um May zu besuchen. Es geht ihr sehr gut, James.« Moneypennys Stimme klang fröhlich und angeregt. »Schön, daß Sie daran gedacht haben. Aber seien Sie vorsich-tig in Salzburg, Moneypenny – all diese Musiknarren, die sich das Mozarthaus ansehen wollen, die Konzerte…« »Ach, heutzutage wandeln die Leute auf den Spuren dieses Films, Amadeus«, erwiderte sie lachend. »Tja, passen Sie trotzdem auf sich auf, Penny. Ich hab’ gehört, daß diese Touristen nur auf eins aus sind, wenn sie ein Mädchen wie Sie sehen.« »Schade, daß Sie kein Tourist sind, James.« Miss Moneypenny hatte in ihrem Herzen immer noch einen ganz besonderen Platz für Bond reserviert. Nach einem kurzen Wortwechsel dankte Bond ihr dafür, daß sie May besucht hatte. 421
Sein Gepäck stand schon zum Abtransport bereit, die Fenster waren geöffnet, und die Sonne schien ins Zimmer. Er würde sich noch etwas im Hotel umsehen, den Wagen überprüfen, noch einen Kaffee trinken und dann abfahren. Als er ins Foyer hinunterging, wurde ihm klar, wie dringend er den Urlaub gebraucht hatte. Es war ein hartes, schweres Jahr gewesen, und Bond fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er in sein geliebtes Royaleles-Eaux gefahren wäre. Als er das Foyer durchquerte, bemerkte er am Rande seines Blickfeldes ein vertrautes Gesicht. Bond zögerte und starrte scheinbar abwesend ins Schaufenster eines der Geschäfte im Hotel, um das Spiegelbild des Mannes zu betrachten, der in der Nähe der Rezeption saß. Er gab nicht zu erkennen, daß er Bond bemerkt hatte; er blätterte entspannt die Herald Tribune des Vortages durch. Er war ein kleiner, knapp einen Meter sechzig großer Mann, gut und teuer gekleidet, und mit dem selbstsicheren Ausdruck, der für so viele kleine Männer charakteristisch ist. Bond mißtraute kleingewachsenen Menschen, denn er wußte um ihre Neigung, ihren körperlichen Mangel mit großer Rücksichtslosigkeit in anderen Bereichen zu kompensieren, als hätten sie es ständig nötig, sich selbst zu beweisen. Er wandte sich ab, nachdem er den Mann erkannt hatte. Das Gesicht war ihm vertraut – dieses schmale Wieselgesicht mit den blanken, unruhigen Augen. Er fragte sich, was Paul Cordova – oder die Ratte, wie er in der Unterwelt genannt wurde – in Straßburg zu tun hatte. Es gab Gerüchte, daß der Mann vor einigen Jahren für den KGB gearbeitet hätte, der, als USBehörde getarnt, in New York einige sehr häßliche Dinge getan hatte. Paul Cordova, genannt die Ratte, war ein Vollstrecker – ein höflicher Ausdruck für einen Mörder –, der der New Yorker Mafia angehörte. Sein Foto und seine Akten waren in allen größeren Polizei- und Geheimdienstbüros der Welt zu finden. Es gehörte zu Bonds Job, Gesichter wie dieses wiederzuerkennen, obwohl Cordova eher in den Bereich der Kriminalpolizei als der Geheimdienstleute gehörte. Für Bond hieß der Mann allerdings 422
nicht ›die Ratte‹. Für ihn war er der Giftzwerg. Bond fragte sich, ob seine Anwesenheit in Straßburg schon wieder einer dieser ›Zufälle‹ wäre. Er ging zum Parkplatz hinunter, überprüfte den Bentley gründlich und sagte dem Wächter, er würde den Wagen eine halbe Stunde später abholen. Er wollte nicht, daß ein Angestellter des Hotels den Wagen bewegte. Er hatte außerdem den Portier etwas verärgert, weil er sich geweigert hatte, seine Schlüssel am Empfang zu hinterlassen. Auf dem Weg nach draußen fiel Bond ein schwarzer Porsche 911 Turbo auf. Die hinteren Nummernschilder waren mit Dreck bespritzt, doch das Zeichen des Kantons Tessin war deutlich zu erkennen. Wer immer ihn in der vergangenen Nacht kurz vor der Explosion des BMW überholt hatte, war jetzt im Hotel. Bonds sechster Sinn sagte ihm, daß es Zeit wurde, Straßburg zu verlassen. Die bedrohliche kleine Wolke hatte sich um einiges aufgebläht. Als er zurückkehrte, war Cordova nicht mehr im Foyer. In seinem Zimmer angekommen, rief Bond noch einmal Transworld Exports in London an und benutzte wieder den Zerhacker. Auch im Urlaub war es seine Pflicht, jede Bewegung von Typen wie dem Giftzwerg zu melden, besonders, wenn dieser so weit von seinen eigentlichen Jagdgründen entfernt war, Zwanzig Minuten später saß Bond am Lenkrad seines Bentley und fuhr zur deutschen Grenze, die er ohne große Verzögerung überquerte. Dann ging es in Richtung Freiburg weiter, bis er am Nachmittag die schweizerische Grenze bei Basel erreichte. Einige Stunden später fuhr er durch den St-Gotthard-Tunnel, und am frühen Abend schnurrte sein Bentley durch Locarno. Über die Uferstraße fuhr er weiter nach Ascona, das Künstlerparadies am See, und schließlich erreichte er das malerische kleine Dorf Brissago. Trotz der grellen Sonne und der atemberaubenden Ausblicke auf die blitzsauberen schweizerischen Dörfer und die hohen Berge hatte er ständig das Gefühl, in Gefahr zu schweben. Zuerst schob er es auf die seltsamen Ereignisse des vergangenen Tages und auf das etwas beunruhigende Erlebnis, einen Gangster der New Yorker Mafia in Straßburg zu sehen. Doch 423
als er sich dem Lago Maggiore näherte, fragte er sich, ob seine Stimmung vielleicht auch mit seinem verletzten Stolz zu tun haben konnte. Es hatte ihm nicht gefallen, daß Sukie Tempesta so reserviert aufgetreten war, so ruhig und so unbeeindruckt von seinem Charme-Sie hatte, dachte er, wenigstens etwas Dankbarkeit zeigen können. Doch sie harte ihm kaum ein Lächeln geschenkt. Als dann aber die rotbraun gedeckten Hausdächer der Dörfer am See in Sicht kamen, mußte Bond lachen. Plötzlich erhellte sich seine düstere Stimmung, und er erkannte, daß er sich über Belanglosigkeiten den Kopf zerbrach. Er schob eine CD-Platte in das Abspielgerät, und einen Augenblick später verbannte Art Tatum, unterstützt durch die prächtige Landschaft, mit The Shout die düstere Stimmung. Obwohl Bond die Gegend um Genf am besten gefiel, liebte er auch das schweizerisch-italienische Grenzgebiet. Als junger Mann war er häufig am Lago Maggiore gewesen, und in Locarno hatte er einige der besten Mahlzeiten seines Lebens zu sich genommen. Und einmal, in einer heißen, mondhellen Nacht, während draußen auf dem See vor Brissago kleine, von Lampen erleuchtete Fischerboote dümpelten, hatte er in einem billigen Hotel am Ufer eine unvergeßliche Liebesnacht mit einer italienischen Komtesse erlebt. In dieses Hotel, das Mirto du Lac, wollte er auch jetzt. Das einfache Haus war ein Familienunternehmen; es lag unterhalb der Kirche und der Zypressenallee, in der Nähe der Anlegestelle, wo einmal in der Stunde ein Dampfer anlegte. Der Padrone begrüßte ihn wie einen alten Freund, und kurz darauf konnte Bond sein Zimmer beziehen, dessen kleiner Balkon nach vorn zum See hinausging. Bevor er auspackte, rief Bond die Mozartklinik an. Der Herr Direktor war nicht da, und einer der jüngeren Ärzte erklärte ihm höflich, daß er May nicht sprechen könne, weil sie schliefe. Sie hätte Besuch gehabt und sei etwas müde. Aus irgendeinem Grund hatte Bond das Gefühl, daß der Arzt nicht ganz ehrlich war. Er sprach etwas zögernd, und Bonds Alarmklingeln schlugen an. Er fragte, ob es May gutginge, und der Arzt versicherte 424
ihm, daß sie guter Dinge sei, nur eben etwas müde. »Ich glaube«, sagte Bond, »die Besucherin war eine Miß Moneypenny…« »Das ist richtig.« Der Arzt sprach sehr steif. »Sie wissen nicht zufällig, wo sie in Salzburg wohnt?« Er bedauerte. »Ich glaube aber, sie will unsere Patientin morgen noch einmal besuchen«, fügte er hinzu. Bond bedankte sich und sagte, er würde noch einmal anrufen. Als er geduscht und sich umgezogen hatte, wurde es langsam dunkel. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees verblaßte die Sonne langsam über dem Monte Tamaro, und am Seeufer flammten die ersten Lichter auf. Insekten sammelten sich um die kugelförmigen Lampen, und an den Tischen vor dem Hotel nahmen einige Paare Platz. Als Bond sein Zimmer verließ, um an der Bar in der Ecke des Restaurants etwas zu trinken, kroch ein schwarzer Porsche 911 langsam auf den Parkplatz des Hotels und hielt mit dem Kühler zum See. Der Fahrer stieg aus und ging mit raschen, kleinen Schritten zum Kirchplatz hinauf, den Weg zurück, den er gekommen war. Etwa zehn Minuten später hörten die Gäste an den Tischen mehrere schrille Schreie. Die leisen Gespräche verstummten, als klar wurde, daß die Schreie eine ernste Ursache hatten. Es waren Angstschreie. Einige Leute in der Bar rannten zur Tür; draußen waren bereits einige Männer aufgesprungen und suchten die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Bond stürzte hinaus. Als erstes sah er den Porsche, dann eine Frau mit kreidebleichem Gesicht und wehenden Haaren, deren Mund zu einem durchdringenden Schrei geöffnet war. Sie kam die Treppe vom Kirchplatz heruntergerannt. Sie hob die Hände vor den Mund, dann warf sie die Arme in die Luft und faßte sich an den Kopf. Sie rief: »Assassinio! Assassinio!«, Mord, und deutete zur Kirche hinauf. Fünf oder sechs Männer rannten hinter Bond die Stufen hinauf und sammelten sich um ein kleines Bündel auf dem gepflasterten Weg. Sie schwiegen schockiert, als sie sahen, daß dort ein Toter lag. 425
Bond umrundete langsam die Leiche. Es war Paul Cordova, die Ratte. Er lag mit angezogenen Knien auf dem Rücken, einen Arm nach oben geworfen und den Kopf in einen seltsamen Winkel verdreht. Eine tiefe Schnittwunde im Hals hatte den Kopf fast vom Rumpf getrennt. Das Blut breitete sich rasch auf dem Pflaster aus. Bond schob sich durch die größer werdende Menge und ging zum Ufer zurück. Er hatte noch nie an Zufälle geglaubt. Er wußte, daß die Unfälle auf der Fähre, das Ereignis an der Tankstelle, die Explosion auf der Autobahn und Cordovas Auftauchen, hier und in Frankreich, zusammenhingen, und daß er selbst das Bindeglied war. Damit waren seine Ferien erledigt. Er mußte London anrufen, einen Bericht durchgeben und auf Befehle warten. Als er das Hotel betrat, erwartete ihn eine weitere Überraschung. An der Rezeption stand, elegant wie eh und je, in einen blauen Lederanzug gekleidet, Sukie Tempesta.
3. SUKIE »James Bond!« Ihre Freude schien echt, doch bei so schönen Frauen konnte man nie ganz sicher sein. »Wie er leibt und lebt«, sagte er, während er sich ihr näherte. Zum erstenmal konnte er ihre Augen gut sehen: groß und braun mit violetten Flecken, oval und von natürlichen, langen Wimpern eingerahmt. Diese Augen, dachte er, konnten das Verhängnis jedes Mannes werden. Er musterte mit einem raschen Blick die volle, feste Kurve ihres Busens unter dem engsitzenden Lederanzug. Sie schob die Unterlippe vor, um sich das Haar aus der Stirn zu blasen, wie sie es am vergangenen Tag getan hatte. »Ich hätte nicht gedacht, daß wir uns noch einmal begegnen.« Sie verzog den Mund zu einem warmen Lächeln. »Ich bin so froh. Ich hatte gestern gar keine Zeit, Ihnen zu danken.« Sie deutete ironisch einen Knicks an. »Mr. Bond, vielleicht haben Sie mir sogar das Leben gerettet. Ich möchte Ihnen danken, 426
wirklich, vielen, vielen Dank.« Er trat neben sie an die Rezeption, so daß er sie beobachten und gleichzeitig den Eingang im Auge behalten konnte. Instinktiv spürte er, daß er in großer Gefahr war. Vielleicht hing es sogar damit zusammen, daß er in Sukie Tempestas Nähe war. Draußen war immer noch viel Bewegung. Inzwischen waren mit heulenden Sirenen einige Polizeiwagen angekommen. Bond war klar, daß er von jetzt an darauf achten mußte, ständig eine Wand im Rücken zu haben. Sie fragte ihn, was da draußen los sei, und als er es ihr erklärte, zuckte sie nur die Achseln. »Dort, wo ich lebe, ist das nichts Besonderes. In Rom sind Morde an der Tagesordnung, aber irgendwie würde man es in der Schweiz nicht erwarten.« »Sie sind überall an der Tagesordnung«, sagte Bond mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Aber was tun Sie eigentlich hier, Miss Tempesta – oder ist es Mrs. Tempesta oder Signora?« Sie rümpfte anmutig die Nase und hob die Augenbrauen. »Eigentlich wäre es Principessa – wenn wir förmlich miteinander umgehen müssen.« Bond hob eine Augenbraue. »Principessa Tempesta.« Er neigte den Kopf zu einer formellen Verbeugung. »Sukie«, sagte sie mit einem breiten Lächeln und unschuldigem Blick, in dem eine Spur Ironie lag. »Sie müssen mich Sukie nennen, Mr. Bond.« »James.« »James.« Der Padrone kam, um ihre Registrierung vorzunehmen. Als er den Titel auf dem Meldezettel sah, führte er eine gestenreiche, ehrerbietige Komödie auf, was Bond zu einem spröden Lächeln veranlaßte. »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie hier tun«, sagte Bond, ohne auf den dienernden Hotelbesitzer zu achten. »Können wir das nicht beim Essen besprechen? Ich glaube, eine Einladung bin ich Ihnen mindestens schuldig.« Sie berührte leicht seinen Unterarm, und er spürte die Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaute. In seinem Kopf schellten Alarmklingeln. Kein Risiko, dachte er, vor allem nicht bei 427
einer so attraktiven Frau. »Ja, es wäre schön, wenn wir zusammen essen könnten«, sagte er, statt noch einmal zu fragen, was sie am Lago Maggiore tat. »Mein kleines Auto ist liegengeblieben. Die Mechaniker hier im Ort haben mir gesagt, daß es etwas Schlimmes ist – wahrscheinlich heißt das im Klartext, daß sie die Zündkerzen austauschen müssen. Aber sie meinen, es würde einige Tage dauern.« »Und wohin wollen Sie?« »Nach Rom natürlich.« Sie blies wieder ihre Haare hoch. »Welch glücklicher Zufall«, sagte Bond, indem er sich noch einmal vorbeugte. »Wenn ich Ihnen meine Hilfe anbieten kann…« Sie zögerte einen Augenblick. »Oh, das wäre schön. Sollen wir uns in einer halben Stunde hier unten zum Essen treffen?« »Ich werde Sie erwarten, Principessa.« Er glaubte, noch einmal ein Naserümpfen zu sehen, und als sie sich umdrehte, um dem Padrone in ihr Zimmer zu folgen, streckte sie ihm die Zunge heraus wie ein freches Schulmä dchen. Bond ging auf sein eigenes Zimmer und rief wieder in London an, um seinen Kollegen von Cordova zu berichten. Er hatte wieder den Zerhacker eingeschaltet, und am Ende des Gesprächs bat er, im Computer von Interpol und in ihrem eigenen Rechner nach Vermerken über Principessa Sukie Tempesta zu suchen. Dann fragte er den Diensthabenden, ob etwas über den Besitzer des BMW bekannt sei, Herrn Tempel aus Freiburg. Noch nichts, lautete die Antwort, doch am Nachmittag sei M Material übersandt worden. »Wir werden Sie sofort benachrichtigen, wenn etwas Wichtiges bekannt wird. Einen schönen Urlaub noch.« Komisch, dachte Bond, während er den Zerhacker einpackte – einen CC500, der an jedes Telefon der Welt angeschlossen werden konnte und der es nur einem berechtigten Gesprächspartner ermöglichte, den Klartext zu hören. Jeder CC500 mußte individuell programmiert werden, so daß ein Lauscher, selbst 428
wenn er über ein ähnliches Gerät verfügte, nur unkenntliche Geräusche hörte. Alle Agenten, die im Ausland waren, im Urlaub oder dienstlich, führten ihre Gespräche grundsätzlich mit dem Zerhacker, dessen Code täglich verändert wurde. Er hatte noch zehn Minuten Zeit bis zu seiner Verabredung mit Sukie; Bond erwartete allerdings nicht, daß sie pünktlich wäre. Er wusch sich rasch, rieb sich Eau de Cologne ins Gesicht und in die Haare und zog eine blaue Baumwolljacke an. Er ging rasch nach unten und zum Wagen hinaus. Auf dem Kirchplatz waren immer noch viele Polizisten; unter ihnen auch Zivi lbeamte, die um den Tatort Lampen aufgebaut hatten. Er stieg in den Wagen und wartete, bis die Innenbeleuchtung automatisch ausging. Dann öffnete er das versteckte Fach und überprüfte die 9-mm-ASP. Er legte das Halfter an, verbarg es unter der Jacke und stellte die Halterung seines Stabes an der Hüfte nach. Es war etwas Gefährliches im Gange, wenn er auch noch nicht wußte, was es war. Mindestens zwei Menschen waren ermordet worden – wahrscheinlich sogar mehr –, und er hatte keine Lust, die nächste Leiche abzugeben. Zu seiner Überraschung wartete Sukie schon an der Bar, als er ins Hotel zurückkehrte. »Als sittsame Frau habe ich noch nichts bestellt«, sagte sie. »Ich schätze sittsame Frauen.« Bond schob sich auf den Barhocker neben ihr und drehte sich etwas, so daß er die großen Glastüren des Haupteingangs überblicken konnte. »Was möchten Sie trinken?« »O nein, ich lade Sie ein. Schließlich haben Sie meine Ehre gerettet. James.« Wieder berührte sie leicht seinen Arm, und er spürte die überspringenden Funken. Bond kapitulierte. »Tja, wir sind im Tessin, also wäre eigentlich ein Grappa das richtige. Aber ich halte mich an meine Gewohnheiten. Ich nehme einen Campari Soda.« Sie bestellte das gleiche, und dann kam der Padrone mit der Speisekarte. Es war sehr alla famiglia, sehr semplice, erklärte er. Bond sagte, das sei eine schöne Abwechslung, und Sukie bat ihn, für sie beide zu bestellen. Er sagte, er sei wohl ein 429
schwieriger Gast, weil er einen Wunsch hatte, der nicht auf der Speisekarte stand. Sie würden Melone con kirsch nehmen, doch er bat, die Nachspeise ohne Kirschschnaps zu servieren; Bond mochte es nicht, wenn gutes Essen in Alkohol ertränkt wurde. »Als Vorspeise kommt in dieser Gegend, Pasta einmal ausgenommen, nur eins in Frage.« »Coceia di agnello?« Sie lächelte, als er bestätigend nickte. Im Norden war diese stark gewürzte Speise als ›Lamm Gigot‹ bekannt. Hier im Tessin wurde sie milder zubereitet, was jedoch durch reichlich Knoblauch wettgemacht wurde. Wie Bond mochte Sukie kein Gemüse, doch sie war mit dem einfachen grünen Salat, den er bestellte, einverstanden. Als Getränk wählte er eine Flasche Frecciarossa Bianca, den besten Weißwein, den das Haus anzubieten halte. Ein Blick auf die Champagnerkarte hatte ihm gereicht, um die Getränke als unerträglich abzutun. Bond meinte, die angebotenen Champagnersorten würden sich vielleicht in einer ›Salatsauce ganz gut machen‹, und Sukie lachte laut. Ihr Lachen, dachte Bond, war wahrscheinlich das am wenigsten Attraktive an ihr; etwas rauh und vielleicht nicht ganz echt. Als sie saßen, bot Bond ihr an, sie mitzunehmen, »Ich fahre morgen früh nach Rom weiter. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mit mir fahren würden. Das heißt, falls der Principe keine Einwände dagegen hat, daß Sie von einem gewöhnlichen Sterblichen chauffiert werden.« Sie schmollte etwas. »Ich glaube kaum, daß er Einwände hat. Principe Pasquale Tempesta ist im letzten Jahr gestorben.« »Es tut mir leid, ich…« Sie winkte abwehrend mit der rechten Hand. »Oh, es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Er war dreiundachtzig. Wir waren zwei Jahre verheiratet. Er war einfach dran, das ist alles.« Sie lächelte nicht, versuchte nicht, ihren Worten einen leichten Ton zu geben. »Eine Vernunftehe?« »Nein, aber sehr vernünftig. Ich mag gute Dinge. Er hatte Geld. Er war alt; er brauchte jemanden, der ihn nachts war m430
hielt. In der Bibel hat doch König David auch ein junges Mädchen – Abishag – genommen, um sich warmzuhalten, oder?« »Ich glaube wohl. Meine Erziehung war eher calvinistisch, doch ich kann mich noch erinnern, daß wir in der Schule über diese Geschichte gekichert haben.« »Tja, ich war Pasquale Tempestas Abishag, und er hat es genossen. Und jetzt genieße ich, was er mir hinterlassen hat.« »Für eine Italienerin sprechen Sie sehr gut Englisch.« »Das will ich meinen. Ich bin Engländerin. Sukie ist die Kurzform für Susan.« Sie lächelte wieder, dann lachte sie, dieses Mal etwas freundlicher. »Dann sprechen Sie sicher auch ausgezeichnet Italienisch.« »Und Französisch und Deutsch. Das habe ich Ihnen gestern schon gesagt, als Sie mich ausfragen wollten.« Sie berührte seine Hand, die neben seinem Glas auf dem Tisch lag. »Keine Sorge, James, ich bin keine Hexe. Aber ich hab’ was gegen neugierige Fragen. Das liegt sicher an den Nonnen und an Pasquales Verwandtschaft.« »Nonnen?« »Ich bin ein ordentliches, im Stift erzogenes Mädchen, James. Wissen Sie, wie Mädchen sind, die in einem Stift erzogen wurden?« »So in etwa.‹‹ Sie schmollte wieder. »Es war fast eine Gehirnwäsche. Daddy war Makler – alles ziemlich normal: ein nachgemachtes Tudorhaus auf dem Land, zwei Autos, ein Skandal. Daddy fiel mit ein paar faulen Schecks auf und bekam fünf Jahre auf Bewä hrung, und die ehrbare Familie brach zusammen. Ich wurde zur gleichen Zeit aus dem Konvent entlassen und sollte nach Oxford gehen. Das kam natürlich nicht mehr in Frage, deshalb antwortete ich auf eine Stellenanzeige für ein Kindermädchen in der Times. Es sollte eine adlige italienische Familie sein, und es wurden viele Vergünstigungen versprochen. Es war Pasquales Sohn. Es ist ein alter Titel, aber es gibt einen Unterschied zu den anderen alten italienischen Adelsfamilien. Das Geld und der Besitz sind noch da.« 431
Die Tempestas hatten ihr neues englisches Kindermädchen in die Familie aufgenommen. Der alte Herr, der Principe, war für sie ein zweiter Vater geworden. Sie schloß ihn im Laufe der Zeit ins Herz, und als er ihr einen Heiratsantrag machte – den er als comodo im Gegensatz zu comodita bezeichnete –, hielt Sukie es für klug, das Angebot anzunehmen. Doch sie ging dabei sehr umsichtig vor und sorgte dafür, daß die beiden Söhne Pasquales nicht um ihren Anteil am Erbe gebracht wurden. »Ich habe sie natürlich trotzdem um einen Teil gebracht; aber sie sind beide sehr wohlhabend und auch selbst recht erfolgreich, so daß sie keine Einwände hatten. Sie kennen ja diese alten italienischen Familien, James. Papas Glück, Papas gutes Recht, alles für Papa…« Bond fragte, in welcher Hinsicht die Söhne erfolgreich seien, und sie zögerte einen Augenblick, ehe sie lebhaft fortfuhr. »Oh, geschäftlich. Sie besitzen zwei Firmen und so weiter, und, ja, James, ich werde Ihr Angebot annehmen und mit Ihnen nach Rom fahren. Danke.« Sie hatten ihr Lamm erst zur Hälfte geschafft, als der Padrone zu ihnen geeilt kam, sich bei Sukie entschuldigte und Bond ins Ohr flüsterte, daß ein dringender Anruf für ihn gekommen sei. Er deutete zur Bar, wo das Telefon hing. Bond ging hinüber und meldete sich. »James, können Sie ungestört sprechen?« Er erkannte die Stimme sofort. Es war Bill Tanner, M’s Einsatzleiter. »Nein, ich bin beim Abendessen.« »Es ist dringend. Sehr dringend. Können Sie…« »Natürlich.« Er legte auf und ging an den Tisch zurück, um sich bei Sukie zu entschuldigen. »Es wird nicht lange dauern.« Er erzählte ihr von May, die im Krankenhaus lag. »Ich soll sofort zurückrufen.« Er schloß in seinem Zimmer den CC500 an und rief London an. Bill Tanner meldete sich sofort. »Sagen Sie nichts, James, hören Sie nur zu. Die Anweisung kommt von M. Akzeptieren Sie?« »Natürlich.« Er hatte keine Wahl, wenn Bill Tanner sagte, daß er im Auf432
trag des Chief des Secret Service sprach. »Sie sollen bleiben, wo Sie sind, und auf sich aufpassen.« Tanners Stimme klang sehr besorgt. »Ich soll morgen in Rom sein, und…« »Hören Sie zu, James. Rom kommt zu Ihnen. Sie, ich wi ederhole. Sie sind in größter Gefahr. Es ist niemand greifbar, den wir schnell zu Ihnen schicken könnten, also müssen Sie selbst aufpassen. Aber bleiben Sie, wo Sie sind. Verstanden?« »Verstanden.« Damit, daß Rom zu ihm käme, hatte Bill Ta nner natürlich Steve Quinn gemeint, den Agenten des Secret Service, der in Rom stationiert war. Eben der Steve Quinn, bei dem Bond einige Tage hatte verbringen wollen. Er fragte, warum Rom zu ihm käme. »Um Sie zu informieren und einzuweisen. Und um Sie herauszuhauen.« Er hörte, wie Tanner am anderen Ende tief Luft holte. »Ich kann die Gefahr, in der Sie schweben, gar nicht übertreiben, alter Freund. Der Chief rechnete schon vor Ihrer Abfahrt mit Problemen, doch erst in der letzten Stunde kamen eindeutige Hinweise. M ist nach Genf geflogen, und Quinn ist dorthin unterwegs, um von M Anweisungen zu empfangen. Danach wird er sofort zu Ihnen kommen. Er wird vor dem Mi ttagessen bei Ihnen sein. In der Zwischenzeit trauen Sie nichts und niemandem. Um Himmels willen, passen Sie auf sich auf.« »Ich bin gerade mit Sukie Tempesta zusammen; ich habe ihr versprochen, sie nach Rom mitzunehmen. Was habt ihr über sie?« fragte Bond kurz angebunden. »Noch nicht viel, aber sie scheint in Ordnung zu sein. Mit der Ehrenwerten Gesellschaft hat sie mit Sicherheit nichts zu tun. Trotzdem, passen Sie auf. Lassen Sie sich nicht von ihr aufs Kreuz legen.« »Ich dachte es mir eigentlich umgekehrt.« Bond verzog den Mund zu einem kleinen, harten Lächeln. Tanner trug ihm auf, das Mädchen im Hotel zurückzuhalten. »Verhindern Sie, daß sie nach Rom fährt, aber beunruhigen Sie sie nicht. Sie können im Augenblick nicht wi ssen, wer Ihre Freunde und Ihre Feinde sind. Rom wird Sie morgen ins Bild 433
setzen.« »Wir können wahrscheinlich erst am späten Vormittag fahren«, erklärte er Sukie, als er zum Tisch zurückgekehrt war. »Es war ein Geschäftspartner, der meine alte Haushälterin besucht hat. Er will morgen früh hier vorbeikommen, und ich will ihn auf keinen Fall verpassen.« Sie sagte, daß es ihr nichts ausmache. »Ich hatte mich sowieso schon auf einen faulen Tag gefreut.« War das eine Einladung? Sie redeten noch eine Weile, tranken Kaffee und ein fine in dem hübsch dekorierten Restaurant mit seinen rotweiß karierten Tischdecken und den glänzenden Bestecken. Die beiden stämmigen italienischen Servi ererinnen bedienten die Gäste so andächtig, als hätten sie Urkunden zu überbringen und kein Essen aufzutragen. Sukie schlug vor, sie sollten sich nach draußen an einen Tisch setzen, doch Bond lehnte mit der Entschuldigung ab, daß es ungemütlich werden könnte. »Dort draußen um die Lampen schwirren Millionen von Mü kken, die Ihre schöne Haut verschandeln würden. Drinnen ist es sicherer.« Sie fragte, in welcher Branche er arbeitete, und er tischte ihr die üblichen, überzeugenden Lügen auf, die sie anstandslos zu akzeptieren schien. Sie sprachen über Städte und Gegenden, die sie beide liebten, und über Essen und Trinken. »Vielleicht kann ich Sie in Rom zum Essen einladen«, schlug Bond schließlich vor. »Ich will nicht undankbar sein, aber ich glaube, bei Papa Giovanni oder im Augustea’s können wir etwas Interessanteres bekommen.« »Ja, das wäre schön. Es ist angenehm, mal mit jemandem zu reden, der Europa gut kennt. Pasquales Familie ist leider kaum einmal aus Rom herausgekommen. Weiter als bis zur Via Appia können sie kaum sehen.« Bond genoß den Abend, obwohl es ihm schwerfiel, sich nach den Instruktionen, die er aus London bekommen hatte, entspannt zu geben. Außerdem hatte er eine lange Nacht vor sich. Sie gingen zusammen nach oben, und Bond bot ihr an, sie zu 434
ihrem Zimmer zu begleiten. Er hatte keinen Zweifel, was kommen würde. Sie flog ihm beinahe in die Anne, doch als er sie küßte, erwiderte sie seinen Kuß nicht, sondern hielt die Lippen geschlossen, und ihr Körper versteifte sich. So ist das also, dachte er. Er versuchte es noch einmal, wenn auch nur, um sie in der Nähe zu halten. Doch dieses Mal zog sie sich zurück und legte einen Finger auf seine Lippen. »Es tut mir leid, James, aber es geht nicht.« Sie lächelte ganz leicht und fügte hinzu: »Ich bin ein artiges Mädchen aus dem Kloster. Aber das ist nicht der einzige Grund. Wenn Sie es ernst meinen, dann haben Sie Geduld. Für jetzt gute Nacht, und vielen Dank für den schönen Abend.« »Ich muß Ihnen danken, Principessa«, sagte er etwas steif. Sie schloß ihre Zimmertür, und Bond ging langsam zu seinem eigenen Zimmer, wo er ein paar Dexedrin schluckte und sich darauf vorbereitete, die ganze Nacht zu wachen.
4. DIE KOPFJAGD Steve Quinn war ein großer Mann, schlank, breitschultrig, bärtig und eine beeindruckende Persönlichkeit – eigentlich nicht der normale, verdeckt arbeitende Agent, der für den Secret Service typisch war. Normalerweise wurden sogenannte unsichtbare Männer bevorzugt – farblose Herren, die in einer Menschenmenge verschwinden konnten. »Er ist ein großer, bärtiger Bastard«, sagte Steves Frau, die zierliche, blonde Tabitha häufig. Bond beobachtete durch die halb geschlossenen Sonnenblenden seines Fensters, wie Quinn aus dem Mietwagen stieg und zum Hoteleingang ging. Einige Sekunden später klingelte das Telefon, und Mr. Quarterman wurde angekündigt. Bond bat den Portier, den Besucher heraufzuschicken, Quinn stand im Zimmer, ehe sein Klopfen ganz verklungen war. Er sprach nicht sofort, sondern ging zuerst zum Fenster und blickte zur Straße und dem Dampfschiff, das gerade anlegte, hinunter. Die Schönheit des Sees raubte den Touristen, die normalerweise ausstiegen, den Atem, doch an diesem Morgen 435
war das laute ›Yeah‹ einer Englisch sprechenden Frau zu hören, und sogar im Zimmer war noch deutlich zu vernehmen, wie sie zu jemandem sagte: »Ich frage mich, was hier Besonderes sein soll, Darling.« Bond runzelte die Stirn, und Quinn setzte ein winziges Lächeln auf, das fast in seinem Bart unterging. Er betrachtete die Überreste von Bonds Frühstück und bewegte lautlos die Lippen. Er wollte wissen, ob das Zimmer sauber wäre. »Ich hab’ in der Nacht gesucht. Im Telefon ist nichts, und ich habe auch sonst nichts gefunden.« »Okay«, sagte Quinn nickend. Bond fragte, warum niemand aus Genf zu ihm gekommen wäre. »Der hat selbst genug Probleme«, sagte Quinn, während er mit dem Finger auf Bond zielte. »Aber das ist gar nichts gegen deine, mein Freund.« »Dann schieß los. Du hast dich mit dem Chief zu einer Einsatzbesprechung getroffen?« »Richtig. Ich hab’ getan, was ich konnte. Genf hat es nicht gefallen, aber inzwischen sollten zwei meiner Leute da sein, um dir den Rücken zu decken. M braucht dich in London – und wenn’s geht, in einem Stück.« »Dann habe ich also jemanden im Nacken.« Bond gab seiner Stimme einen unbekümmerten Klang, doch durch seinen Kopf zogen Bilder des explodierten Autos und von Cordovas Leiche auf dem Kirchplatz. Quinn setzte sich, sprach fast flüsternd weiter. »Nein«, sagte er. »Du hast nicht einfach jemanden im Nakken. Es scheint so, als wäre fast jede Terroristenorganisation, jede kriminelle Bande und jeder feindliche ausländische Geheimdienst auf deinen Fersen. Für dich ist ein Kontrakt aufgesetzt. Ein einzigartiger Kontrakt. Jemand hat ein Angebot gemacht – um es mal so auszudrücken –, dem kein Killer widerstehen kann.« »Okay, bring’s mir schonend bei. Was bin ich wert?« »Oh, die wollen nur einen Teil von dir. Nur deinen Kopf.« Steve Quinn berichtete ihm den Rest der Geschichte. M hatte 436
etwa zwei Wochen vor Bonds Urlaub einen Hinweis bekommen, »Die Firma, die Südlondon kontrolliert, hat versucht, Bernie Brazier aus dem Land zu schaffen«, begann er. Mit anderen Worten, die mächtigste Unterweltorganisation im Süden Londons hatte versucht, Bernie Brazier aus dem Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Parkhurst auf der Isle of Wright zu befreien. Brazier saß dort eine lebenslängliche Strafe für einen kaltblütigen Mord an einem anderen Londoner Gangster ab. Scotland Yard wußte, daß er mindestens zwölf weitere Morde verübt hatte, doch es gab keine Beweise, Bernie Brazier war, kurz gesagt, Großbritanniens Chefmechaniker – eine höfliche Umschreibung für einen freischaffenden Killer. »Die Flucht platzte. Die haben sich ziemlich dämlich angestellt. Und danach wollte unser Freund Brazier einen Handel machen«, fuhr Quinn fort. »Aber du weißt ja, wie die Metropolitan Police auf solche Vorschläge reagiert. Deshalb wollte er mit jemandem von den Schwestern sprechen.« Er meinte die Schwesterorganisation, das MI5. Seine Bitte wurde abgelehnt, doch die Einzelheiten wurden an M weitergegeben, der seinen besten Verhörspezialisten zum ParkhurstGefängnis schickte. Brazier erklärte, er sollte befreit werden, um einen Job zu erledigen, der die Sicherheit des Landes gefährden könnte. Als Gegenleistung für die Informationen wollte er eine neue Identität haben, einen Platz an der Sonne und reichlich Geld. Bond blieb seltsam unbeteiligt, während Quinn den Alptraum erzählte. Er wußte, daß der in M verkörperte Teufel für handfeste Informationen alles mögliche versprechen würde, um dann dem Informanten ein Minimum zu geben. Und so war es auch geschehen. Zwei weitere Verhörspezialisten fuhren nach Parkhurst und führten ein langes Gespräch mit Brazier. Dann fuhr M selbst hin, um den Handel abzuschließen. »Und Bernie hat alles ausgespuckt?« fragte er schließlich. »Einen Teil. Der Rest sollte kommen, sobald er irgendwo in einem tropischen Paradies wäre, mit genug Schnaps und Mädchen, um innerhalb eines Jahres einen Herzinfarkt zu bekom437
men.« Quinns Gesichtsausdruck wurde hart. »Am Tag nach M’s Besuch bei Bernie wurde er, mit einer Klaviersaite erhängt, in seiner Zelle gefunden.« Von draußen drang der Lärm spielender Kinder herein, ein Boot hupte, und weit entfernt dröhnte ein kleines Flugzeug. Bond fragte, was der Service vor seinem Tod aus Bernie Brazier herausbekommen hätte. »Daß du das Ziel eines einzigartigen Kontraktes bist. Eine Art Wettbewerb.« »Ein Wettbewerb?« »Es gibt anscheinend Spielregeln, und der Gewinner ist die Gruppe, die den Organisatoren deinen Kopf bringt – auf einem Silbertablett, nicht mehr und nicht weniger. Jeder ehrbare Kriminelle, jeder Terrorist und jeder Geheimdienst kann mitmachen. Sie müssen allerdings erst von den Organisatoren akzeptiert werden. Vor vier Tagen fiel der Startschuß, und es gibt ein Zeitlimit von drei Monaten. Der Gewinner bekommt zehn Millionen Schweizer Franken.« »Wer, um Himmels willen…«, begann Bond. »M hat vor weniger als vierundzwanzig Stunden mit Hilfe der Metropolitan Police die Antwort gefunden. Etwa vor einer Woche haben sie die Hälfte der Südlondoner Gang hochgenommen, und M’s Leute haben dabei mitgewirkt. Es hat sich bezahlt gemacht, oder M hat bezahlt, das weiß ich nicht so genau. Jedenfalls haben vier wichtige Unterweltführer um Personenschutz gebeten, und ich glaube, sie haben ihn auch nötig. Der fünfte hat M ausgelacht und ist aus dem Knast spaziert. Ich glaube, er wurde letzte Nacht gefunden. Er war nicht bei guter Gesundheit« Als Quinn die Einzelheiten über den Tod des Mannes berichtete, fühlte sich sogar Bond unwohl. »Mein Gott…« »Das kannst du wohl sagen«, sagte Quinn grimmig. »Wir können nur hoffen, daß Er den armen Hund erlöst hat. Der Gerichtsmediziner meinte, er hätte lange gelitten.« »Und wer hat diesen gräßlichen Wettbewerb ausgeschrieben?« »Er hat übrigens sogar einen Namen«, sagte Quinn beiläufig. 438
»Er heißt ›Die Kopfjagd‹. Trostpreise gibt es nicht, nur einen Hauptgewinn. M glaubt daß etwa dreißig professionelle Killer am Start sind.« »Wer steckt dahinter?« »Deine alten Freunde – die Special Executive for Counterintelligence, Terrorism, Revenge and Extortion – abgekürzt SPECTRE. Vor allem der Erbe der Blofeld-Dynastie, mit dem du ja, wie M mir sagte, bereits einen häßlichen Zusammenstoß hattest…« »Tamil Rahani. Der sogenannte Colonel Tamil Rahani.« »Der in drei oder vier Monaten der verstorbene Tamil Rahani sein wird. Deshalb das Zeitlimit.« Bond schwieg einen Augenblick. Er war sich völlig bewußt, wie gefährlich Tamil Rahani war. Der Service hatte nie herausbekommen, wie er die Kontrolle über SPECTRE an sich gerissen hatte, deren Führer bisher immer der Blofeld-Familie angehört hatten. Doch nun hatte der raffinierte, brillante Stratege Tamil Rahani die Organisation in der Hand. Bond sah den Mann vor seinem inneren Auge – dunkelhäutig, muskulös, große Energie ausstrahlend. Er war ein rücksichtsloser, international sehr mächtiger Führer. Er erinnerte sich an seine letzte Begegnung mit Rahani, als dieser mit dem Fallschirm über Genf abgesprungen war. Seine Glaubwürdigkeit als Kommandant bezog er hauptsächlich daraus, daß er immer an der Front stand. Er hatte etwa einen Monat nach dieser letzten Begegnung versucht, Bond ermorden zu lassen. Seitdem war er nicht mehr oft gesehen worden, doch 007 konnte sich gut vorstellen, daß dieser grausame Wettbewerb Tamil Rahanis Gehirn entsprungen war. »Willst du damit etwa sagen, daß er bald abtritt? Daß er stirbt?« »Er floh überraschend mit einem Fallschirm…« Quinn sah ihm nicht in die Augen. »Ja.« »Ich habe gehört, daß er sich bei der Landung das Rückgrat verletzt hat, und dadurch ist in seinem Rückenmark Krebs entstanden. Anscheinend hat er sich von sechs verschiedenen 439
Spezialisten untersuchen lassen. Es gibt keine Hoffnung. Innerhalb der nächsten vier Monate wird Tamil Rahani sterben.« »Wer ist, von SPECTRE abgesehen, noch beteiligt?« Quinn strich mit einer Hand über seinen dunklen Bart. »M arbeitet daran. Viele deiner alten Feinde, natürlich. Da wäre erst mal die ehemalige Abteilung V des KGB – früher hieß der Laden SMERSH…« »Abteilung Acht der Sektion S des KGB«, schnappte Bond. Quinn fuhr fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Dann praktisch jede bekannte Terroristenorganisation… die Roten Brigaden, die FALN aus Puerto Rico, die IRA. Die zehn Millionen sichern dir eine Menge Aufmerksamkeit,« »Du erwähntest auch die Unterwelt,« »Natürlich – britische, französische, deutsche Gangster, mindestens drei Mafia-Familien, und ich fürchte, die Union Corse auch. Seit dem Tod deines Freundes Marc-Ange Draco waren sie nicht mehr sehr entgegenkommend…« »Also gut!« unterbrach Bond ihn scharf. Steve Quinn hob seinen großen Körper vom Stuhl. Er bewe gte sich mühelos, ganz anders, als man es bei einem Mann von seiner Größe erwartet hätte. Er stand mit einer fließenden Bewegung auf, trat neben Bond und legte ihm eine große Hand auf die Schulter. »Ja, ja. Ich weiß, es wird hart.« Er zögerte. »Es gibt noch etwas, das du über die Kopfjagd wissen solltest…« Bond schüttelte die Hand ab. Quinn war taktlos gewesen, als er ihn an die Beziehungen erinnerte, die er zwischen dem Service und der Union Corse aufgebaut hatte – eine Organisation, die gefährlicher war als die Mafia. Bonds Kontakte zur Union Corse hatten zu seiner Heirat mit der Tochter Marc-Ange Dracos, des Führers der Organisation, geführt, doch sie war bald darauf gestorben. »Was noch?« fauchte er. »Du hast mir deutlich genug erklärt, daß ich niemandem trauen kann. Kann ich dir trauen?« Bond erkannte widerwillig, daß seine letzte Bemerkung nicht ganz unberechtigt war. Er konnte niemandem trauen, nicht einmal Steve Quinn, dem römischen Mitarbeiter des Service. 440
»Es hat mit den Spielregeln der Kopfjagd zu tun«, sagte Quinn mit ausdruckslosem Gesicht. »Die Bewerber dürfen e jweils nur einen Mann ins Rennen bringen – einen einzigen. Die letzten Informationen besagen, daß innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden bereits vier Männer eines gewaltsamen Todes gestorben sind – einer von ihnen nur ein paar hundert Meter von diesem Zimmer entfernt.« »Tempel, Cordova und zwei Gangster auf der Fähre nach Ostende.« »Genau. Die Passagiere auf der Fähre waren die Abgesandten aus South London und dem West End. Tempel hatte Verbindung zur Rote-Armee-Fraktion. Er war ein in der Unterwelt ausgebildeter Killer, der sein Geld mit Anschlägen verdiente. Paul Cordova kanntest du ja selbst.« Alle vier, dachte Bond, waren ihm schon sehr nahe gewesen, als sie ermordet wurden. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit eines Zufalls? Er fragte Quinn nach M’s Befehlen. »Du fährst so schnell wie möglich nach London zurück. Wir haben nicht genug freie Männer, um auf dem Kontinent auf dich aufzupassen. Meine eigenen Leute werden dich zum nächsten Flughafen begleiten, und dann kümmern wir uns um den Wagen…« »Nein.« Bond spuckte das Wort fast heraus. »Ich nehme den Wagen mit. Niemand außer mir wird damit fahren – klar?« Quinn zuckte die Achseln. »Es ist deine Beerdigung. In diesem Wagen bist du verletzlich.« Bond ging schon im Zimmer herum und packte seine restlichen Sachen, während alle seine Sinne auf Quinn konzentriert waren. Traue niemandem; also gut, er würde nicht einmal diesem Mann trauen. »Deine Männer?« sagte er. »Wo sind sie?« »Sie sind dort draußen. Sieh selbst.« Quinn nickte zum Fenster hin, ging hinüber und stellte sich vor die Blenden mit den schmalen Schlitzen. Bond trat neben den großen Mann und folgte seinem Blick. »Da«, sagte Quinn. »Der da im blauen Hemd an der Anlege441
stelle. Der zweite sitzt da drüben in dem silbernen Renault.« Es war ein Renault 25 V6i, nicht gerade Bonds Lieblingsfahrzeug. Doch wenn er seine Karten gut ausspielte, dürfte es ihm gelingen, die beiden Männer zu übertrumpfen. »Ich brauche Informationen über eine Frau«, sagte er, indem er sich vom Fenster entfernte. »Ein Mädchen aus England mit einem italienischen Titel…« »Tempesta?« Quinn lächelte ironisch. Bond nickte. »M glaubt nicht daß sie mit von der Partie ist, aber sie konnte ein Köder sein. Er sagt, du sollst auf dich aufpassen. Seine Worte waren genau: ›Er soll größte Vorsicht üben.‹ Ist sie in der Nähe?« »Das könnte man sagen. Ich habe ihr angeboten, sie nach Rom mitzunehmen.« »Sieh zu, daß du sie los wirst!« »Abwarten. Okay, Quinn, wenn das alles ist, dann werde ich jetzt über meinen Rückweg nachdenken. Es könnte interessant werden.« Quinn nickte und streckte eine Hand aus, die Bond ignorierte. »Viel Glück. Du wirst es brauchen.« »Ich glaube nicht an Glück. Letzten Endes glaube ich nur an eins – an mich selbst.« Quinn runzelte die Stirn und ließ Bond mit seinen letzten Reisevorbereitungen allein. Im Augenblick zählte vor allem Geschwindigkeit, doch seine Hauptsorge galt Sukie Tempesta. Sie war eine unbekannte Größe, und doch hatte er das Gefühl, daß sie irgendwie nützlich sein konnte. Als Geisel vielleicht? Die Principessa Tempesta würde eine ausgezeichnete Geisel abgeben, einen Schutzschild sogar, wenn er entsprechend rücksichtslos vorging. Als bestünde eine telepathische Verbindung, klingelte in diesem Augenblick das Telefon, und Sukie meldete sich mit ihrer weichen Stimme. »Wann wollen Sie fahren, James?« »Wann immer es Ihnen paßt. Ich bin fast fertig.« Sie lachte; ihre Härte schien völlig verschwunden. »Ich bin mit Packen fast fertig; ich brauche höchstens noch fünfzehn Minu442
ten. Wollen Sie noch etwas essen, ehe wir fahren?« Bond erwiderte, daß er lieber unterwegs halten würde, falls sie nichts dagegen hätte. »Wissen Sie, Sukie, ich habe ein kleines Problem; möglicherweise mü ssen wir einen kleinen Umweg machen. Kann ich zu Ihnen rüberkommen und mit Ihnen sprechen, ehe wir fahren?« »In meinem Zimmer?« »Das wäre gut.« »Das wäre aber ein kleiner Skandal; immerhin bin ich im Kloster erzogen worden.« »Ich verspreche Ihnen, daß es keinen Skandal gibt. Sagen wir, in zehn Minuten?« »Wenn Sie unbedingt wollen.« Sie war nicht direkt unfreundlich, nur etwas förmlicher als zuvor. »Es ist sehr wichtig. Ich bin in zehn Minuten da.« Er harte kaum aufgelegt, als das Telefon schon wieder schellte. »Mr. Bond?« Er erkannte Doktor Kirchtums lautes Organ. Der Direktor der Mozartklinik schien einen großen Teil seiner üblichen Begeisterung verloren zu haben. »Herr Direktor?« Bonds Stimme war anzuhören, daß er mit dem Schlimmsten rechnete. »Es tut mir leid, Mr. Bond, ich habe keine guten Nachrichten…« »May!« »Ihre Haushälterin, Mr. Bond. Sie ist verschwunden. Die Polizei ist gerade hier. Es tut mir leid, daß ich Sie nicht früher angerufen habe. Sie ist mit der Freundin verschwunden, die gestern hier war, Miß Moneypenny. Es gab einen Anruf, und die Polizei möchte mit Ihnen sprechen. Sie wurde, wie sagt man noch? Abgeführt?« »Entführt? May wurde entführt? Was ist mit Moneypenny?« Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, doch nur einer schien sinnvoll. Irgend jemand hatte seine Hausaufgaben sehr gut gemacht. Mays Entführung konnte natürlich mit Moneypennys Anwesenheit zu tun haben, denn letztere war ebenfalls ein Hauptziel für die Feinde des Service. Doch wahrschein443
licher war, daß einer der Kopfjäger Bond in den Griff bekommen wollte, und die beste Möglichkeit dazu war natürlich, ihn nach May und Moneypenny suchen zu lassen.
5. NANNIE Alles in allem, dachte Bond, war Sukie Tempesta ein ungewöhnlich kühles Mädchen. Er ließ seinen Hausmantel auf das Bett fallen, um ihn später einzupacken, und betrachtete seinen nackten Körper im langen Spiegel: Was er sah, gefiel ihm; nicht auf eine eitle Weise, sondern weil zu erkennen war, daß er gut in Form war – die straffe Muskulatur der Oberschenkel und Waden, sein gerundeter Bizeps. Er hatte vor Quinns Ankunft geduscht und sich rasiert, und während er sich jetzt anzog, dachte er darüber nach, was er mit Sukie tun sollte. Er zog eine lockere Hose an, seine bequemen Ledermokassins und ein Sea-Island-Baumwollhemd. Um das Halfter mit der 9-mm-ASF zu verbergen, zog er noch eine graue Kampfjacke von Oscar Jacobson darüber. Er stellte den Koffer und seine beiden Aktentaschen neben die Tür, überprüfte die Waffe und ging rasch nach unten, um seine und Sukies Rechnung zu bezahlen. Dann ging er zu ihrem Zimmer hinauf. Sukies Gucci-Koffer standen ordentlich aufgereiht neben der Tür, die sie bei seinem ersten Klopfen geöffnet hatte. Sie trug wieder die Hosen von Calvin Klein, diesmal aber in Verbindung mit einem schwarzen Seidenhemd, das, vermutete Bond, von Christian Dior stammte. Er schob sie sanft ins Zimmer zurück. Sie protestierte nicht, sondern sagte nur, daß sie bereit sei, sofort abzufahren. Bonds Gesicht war eine ernste, starre Maske, und sie fragte: »James, was ist denn los? Ist etwas nicht in Ordnung?« »Es tut mir leid, Sukie. Für mich ist es sehr ernst, und es könnte auch für Sie gefährlich werden.« »Ich verstehe nicht…« »Ich muß einige Dinge tun, die Ihnen vielleicht nicht gefallen. 444
Ich wurde bedroht…« »Bedroht? Wie denn?« Sie wich weiter zurück. »Ich kann jetzt nicht ins Detail gehen, doch für mich ist klar – und für andere Leute auch-, daß Sie möglicherweise daran beteiligt sind.« »Ich? Woran soll ich beteiligt sein? An der Drohung gegen Sie?« »Es ist eine ernste Sache, Sukie. Mein Leben steht auf dem Spiel, und wir haben uns unter sehr seltsamen Umständen kennengelernt…« »Oh? Was war daran seltsam? Abgesehen von diesen beiden jungen Gangstern?« »Es scheint, als sei ich genau im richtigen Augenblick aufgetaucht, um Ihnen einige Unannehmlichkeiten zu ersparen. Dann brach Ihr W agen zusammen, zufällig genau in dem Ort, in dem ich auch war. Ich biete Ihnen an, Sie nach Rom mitzunehmen; man konnte es als Falle sehen, bei der ich das Opfer bin.« »Aber ich…« »Es tut mir leid, ich…« »Sie können mich nicht nach Rom mitnehmen?« Sie schien nicht besonders beeindruckt. »Ich verstehe, James. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde schon eine Möglichkeit finden, aber jetzt habe ich selbst ein kleines Problem…« »Oh, Sie können mitkommen, vielleicht sogar nach Rom. Ich habe keine andere Möglichkeit. Ich muß Sie mitnehmen, und wenn auch nur als Geisel. Ich brauche eine kleine Versicherung, und Sie sind die Police.« Er hielt inne, ließ seine Worte wirken, doch dann lächelte sie zu seiner Überraschung und sagte: »Nun, ich glaube, ich war noch nie eine Geisel. Es wird bestimmt eine interessante Erfahrung.« Sie senkte den Blick und bemerkte die Waffe, die er in der Hand hielt. »O James! Nun werden Sie nicht so dramatisch, das brauchen Sie nicht. Ich mache sowieso Ferien. Es macht mir nichts aus, Ihre Geisel zu sein, falls das nötig ist.« Sie hielt inne; ihr 445
war anzusehen, daß sie von der aufregenden Wendung fasziniert war. »Es könnte sehr aufregend werden, und für Aufregung bin ich immer zu haben.« »Die Leute, mit denen ich es zu tun habe, sind ungefähr so aufregend wie Taranteln und doppelt so gefährlich. Ich hoffe, was jetzt auf uns zukommt, wird für Sie nicht zu schrecklich, Sukie, aber ich habe keine andere Wahl. Ich garantiere Ihnen aber, daß es kein Spiel ist. Sie werden jetzt alles tun, was ich Ihnen sage, und zwar sehr langsam. Ich muß Sie bitten, sich umzudrehen - rechtsherum – und die Hände über den Kopf zu heben.« Er suchte sie nach improvisierten oder versteckten Waffen ab. Sukie trug eine kleine Kameenbrosche am Hals. Er ließ sie die Brosche abnehmen und warf sie vorsichtig auf das Bett, auf dem ihre Schultertasche lag. Dann forderte er sie auf, die Schuhe auszuziehen. Er nahm die Brosche an sich; auf den ersten Blick war alles in Ordnung; aber er wußte, daß ein geschickter Techniker mit der Anstecknadel häßliche Dinge tun konnte. Er durchsuchte sie geschickt mit einer Hand, während er die ASP mit der anderen außerhalb ihrer Reichweite hielt. Ihre Schuhe waren ebenso sauber wie ihr Gürtel, Er entschuldigte sich, erklärte ihr aber, daß sie selbst und ihre Kleidung höchste Priorität hätten. Wenn sie nichts Verdächtiges bei sich trüge, konnte er sich mit ihrem Gepäck noch Zeit lassen, solange er sicher war, daß es bei ihren Aufenthalten gut verstaut war. Er leerte die Schultertasche auf das Bett. Aus dem weißen Beutel rutschten die üblichen Dinge heraus, die jede Frau bei sich trägt – unter ihnen ein Scheckheft, ein Tagebuch, Kreditkarten, Bargeld, Papiertaschentücher, ein Kamm, eine kleine Pillendose, zerknitterte Quittungen von Amex und Visa, eine kleine Spraydose Cacharel Anais, Lippenstift und eine goldene Puderdose. Er behielt den Kamm, ein Heftchen Streichhölzer, eine kleine Reise-Nähgarnitur, die aus dem Plaza Athenee stammte, das Duftspray, den Lippenstift und die Puderdose. Der Kamm, die Streichhölzer und die Nähgarnitur waren im Nahkampf ganz 446
brauchbare Waffen. Das Spray, der Lippenstift und die Puderdose mußten noch näher untersucht werden. Bond hatte nicht nur einmal erlebt, daß scheinbar harmlose Spraydosen tödliche Flüssigkeiten enthielten, daß Lippenstifte rasierklingenscharfe Messer oder Geschosse oder Spritzen enthielten und daß Puderdosen sich als Miniatursender oder Schlimmeres entpuppten. Als er sie aufforderte, sich auszuziehen, war sie eher wütend als verlegen. Ihr Körper hatte die Farbe von mit viel Milch versetztem Kaffee, glatt und ebenmäßig; diese Bräunung bekam man nur mit viel Geduld, mit den richtigen Lotionen, der richtigen Menge Sonne und nackt. Es war ein Körper, von dem jeder Mann träumte. Bond durchsuchte die Jeans und das Hemd und vergewisserte sich, daß in den Nähten und Säumen nichts versteckt war. Als er zufrieden war, entschuldigte er sich noch einmal, forderte sie auf, sich wieder anzuziehen und den Portier anzurufen. Sie sollte exakt seine Worte wiederholen und sagen, daß in ihrem und Mr. Bonds Zimmer das Gepäck bereitstehe. Es sollte direkt zu Mr. Bonds Wagen geschafft werden. Sukie tat, was er ihr aufgetragen hatte. Als sie den Hörer auflegte, schüttelte sie leicht den Kopf. »Ich tue, was Sie sagen, James. Sie sind offenbar in großer Not, und Sie sind zweifellos auch irgendeine Art Profi. Ich bin kein Dummkopf. Ich mag Sie. Innerhalb vernünftiger Grenzen werde ich alles tun, aber ich habe auch ein Problem.« Ihre Stimme zitterte leicht, als hätten die Ereignisse ihren Nerven zugesetzt. Bond gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, daß sie ihm ihr Problem mitteilen sollte. »Eine alte Schulfreundin von mir ist in Cannobio, ein Stück den See hinunter…« »Ich kenne Cannobio. Ein einfacher, italienischer Ferienort. Viele Touristen und recht schön gelegen. Es ist nicht weit.« »Ich habe ihr gesagt, daß wir sie unterwegs abholen würden. Ich wollte mich schon gestern abend mit ihr treffen. Sie wartet an dieser schönen Kirche am See – Madonna della Pieta. Sie wird von Mittag an dort warten.« 447
»Können wir ihr absagen? Sie anrufen?« Sukie schüttelte den Kopf. »Nachdem ich diesen Ärger mit meinem Auto hatte, rief ich in dem Hotel an, in dem sie wohnen wollte. Das war gestern abend. Sie war noch nicht eingetroffen. Ich rief nach dem Abendessen noch einmal an, und sie wartete. Allerdings waren alle Zimmer belegt, und sie wollte in einem anderen Hotel ein freies Zimmer suchen. Sie haben ja gesagt, wir würden erst später fahren, deshalb habe ich sie gebeten, ab zwölf Uhr bei der Madonna della Pieta zu warten. Ich dachte nicht daran, sie zu bitten, noch einmal anzurufen…« Sie wurde vom Padrone unterbrochen, der es sich nicht nehmen ließ, sich selbst um das Gepäck zu kümmern. Bond dankte ihm, sagte, sie würden in einigen Minuten herunterkommen, und dachte über das Problem nach. Egal, was er tun würde, er mußte große Entfernungen zurücklegen. Er wollte zur Mozartklinik, wo er durch die Polizei, die nach May und Moneypenny suchte, einiger maßen geschützt sein würde. Er hatte keine große Lust, nach Italien hineinzufahren, und soweit er sich an das Zentrum von Cannobio erinnerte, war es ein perfekter Ort für eine Falle. Auf der Straße am See und auf dem Platz vor der Madonna della Pieta war immer viel Betrieb, denn Cannobio war nicht nur ein Ferienparadies, sondern beherbergte auch eine größere Industrieansiedlung. Der Platz vor der Kirche war ideal für einen einzelnen oder ein Team mit einem Motorrad, um einen Anschlag zu verüben. Lieferte Sukie ihn, mit oder ohne ihr Wissen, ans Messer? »Wie heißt Ihre Schulfreundin?« fragte er scharf. »Norrich.« Sie buchstabierte den Namen. »Nannette Norrich. Aber sie wird nur Nannie genannt. Ihrem Vater gehört die Firma Norrich Petrochemicals.« Bond nickte. Das hatte er schon vermutet. »Wir können sie mitnehmen, aber sie muß sich meinen Anweisungen fügen.« Er packte sie fest am Ellbogen, um zu unterstreichen, daß er die Regie führte. Bond schätzte, daß der Umweg über Cannobio höchstens eine Stunde dauern würde – eine halbe Stunde für die Hinfahrt 448
und eine halbe Stunde zurück. Dann konnte er zur österreichischen Grenze fahren. Wenn er das Risiko einging, hätte er nicht nur eine, sondern zwei Geiseln, und wenn er sie geschickt im Wagen plazierte, würde ein Anschlag auf ihn schwieriger werden. Außerdem war es ein beruhigender Gedanke, daß der Gewinner des Wettbewerbs seinen Kopf abliefern mußte. Wer auch immer es versuchte, mußte es auf einem einsamen Straßenstück oder in der Nacht tun. Es war kein Problem, einen menschlichen Kopf abzutrennen; man mußte dazu nicht einmal besonders stark sein. Eine kleine Säge – vielleicht ein Fuchsschwanz – würde völlig ausreichen. Doch dazu mußte der Mörder dicht an ihn herankommen, und vor der Hauptkirche von Cannobio, direkt am Lago Maggiore, würde sich dazu keine Gelegenheit bieten. Der Padrone stand am Heck des Mulsanne Turbo und wartete geduldig mit dem Gepäck. Aus dem Augenwinkel sah Bond Steve Quinns Mann, der langsam durch die Wagenreihen zum Renault schlenderte. Er blickte nicht zu Bond herüber, doch er hielt den Kopf gesenkt, als suchte er etwas auf dem Boden. Es war ein großer Mann mit dem Gesicht einer alten griechischen Statue, die zu lange der Witterung ausgesetzt gewesen war. Bond achtete darauf, Sukie zwischen sich und dem Wagen zu halten. Er langte um sie herum, um den Kofferraum zu öffnen. Als das Gepäck verstaut war, schüttelten sie dem Padrone feierlich die Hand, und Bond eskortierte Sukie zur Beifahrertür. »Sukie, bitte tun Sie nichts Dummes. Ich kann Ihnen versprechen, daß ich schneller reagiere als Sie. Zwingen Sie mich nicht, etwas zu tun, das ich bedauern würde.« Sie lächelte schüchtern. »Ich bin die Geisel. Ich weiß, was ich zu tun habe, keine Sorge.« Bond setzte den Wagen zurück, verließ den Parkplatz und überquerte sieben Minuten später ohne Schwierigkeiten die italienische Grenze. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, wir werden verfolgt«, sagte Sukie mit leicht schwankender Stimme. »Richtig«, erwiderte Bond mit einem grimmigen Lächeln. »Die passen auf uns auf, aber diese Art von Schutz kann ich nicht 449
gebrauchen. Wir werden sie bald abschütteln.« Sie nickte. Er hatte ihr erklärt, daß sie mit Nannie vorsichtig sein mußten. Sie sollte nichts erfahren, und Bond wollte ihr sagen, daß sie allein nach Rom fahren könnte, wenn sie das wollte. Ihre Pläne hätten sich geändert, und sie müßten schnell nach Salzburg. »Überlassen Sie es ihr, sie soll sich selbst entscheiden. Entschuldigen Sie sich, aber versuchen Sie, sie loszuwerden. Ist das klar?« Auf dem Platz vor der Madonna della Pieta war viel Betrieb. Sie bemerkten sofort die außergewöhnlich elegante Frau, die mit ihrem kleinen Koffer am Rand des Platzes stand. Sie war relativ groß gewachsen, und ihre Haare, die die Farbe einer Neumondnacht hatten, waren glatt zu einem strengen Knoten zurückgekämmt. Sie trug ein gemustertes Baumwollkleid, mit dem der Wind spielte, so daß sich ihre langen, schlanken Schenkel, ihr gerundeter Bauch und ihre schön geschwungenen Hüften deutlich abzeichneten. Sie grinste, als Sukie sie durch das Beifahrerfenster anrief. »Oh, wie schön! Ein Bentley. Ich liebe Bentleys.« »Nannie, das ist James. Wir haben leider ein Problem.« Sie erklärte die Situation, wie Bond es ihr aufgetragen harte. Er beobachtete Nannies ruhiges Gesicht – die schmalen Züge, die dunkelgrauen Augen, die klug durch die altmodische Brille blickten. Ihre Augenbrauen waren geschickt ausgezupft und gaben ihrem Gesicht einen Ausdruck unschuldiger Erwartung. »Tja, das macht nichts«, sagte Nannie leise und gedehnt; es klang, als glaubte sie Sukie kein Wort. »Schließlich habe ich Ferien – Rom oder Salzburg, das spielt keine Rolle. Und Mozart liebe ich sowieso.« Bond fühlte sich im Freien sehr verletzlich, und er konnte nicht zulassen, daß die beiden noch länger plauderten. Er sagte drängend: »Kommen Sie mit uns, Nannie?« »Natürlich. Das möchte ich um nichts in der Welt versäumen.« Sie zog schon die Tür auf, doch Bond hielt sie zurück. »Verstauen Sie das Gepäck im Kofferraum«, sagte er scharf. Dann wandte er sich an Sukie und sagte leise: »Ich möchte 450
ständig Ihre Hände sehen können. Es ist kein Spiel.« Sie nickte und legte die Hände auf das Armaturenbrett, während Bond ausstieg und Nannie Norrich half, ihren Koffer zu verstauen. »Die Schultertasche bitte auch«, sagte er mit seinem charmantesten Lächeln. »Ich brauche sie aber unterwegs. Warum…« »Bitte, Nannie, seien Sie ein braves Mädchen. Die Probleme, die Sukie erwähnte, sind sehr ernst. Ich kann nicht zulassen, daß Gepäckstücke im Wagen sind. Wenn der richtige Augenblick gekommen ist, werde ich Ihre Tasche überpüfen, und dann können Sie sie zurückhaben. Okay?« Sie warf ihm einen besorgten und neugierigen Blick zu, doch sie gehorchte. Der Renault stand mit laufendem Motor ein Stück vor ihnen. Gut, sie glaubten wohl, er würde weiter nach Italien hineinfahren. »Nannie, wir haben uns gerade erst kennengelernt, und ich möchte nicht, daß Sie etwas Falsches denken, aber ich muß etwas aufdringlich werden«, sagte er leise. Es waren viele Me nschen in der Nähe, doch was er tun wollte, ließ sich nicht vermeiden. »Wehren Sie sich nicht und schreien Sie auch nicht. Ich muß Sie berühren, aber ich verspreche Ihnen, daß ich nicht zudringlich werde.« Er ließ seine erfahrenen Hände über ihren Körper gleiten, benutzte nur die Fingerspitzen, um sie nicht unnötig in Verlegenheit zu bringen, und erklärte ihr, was er tat. »Ich kenne Sie nicht, und ich bin in Lebensgefahr. Deshalb sind Sie in meinem Auto ebenfalls in Gefahr. Da wir uns nicht kennen, könnten Sie für mich gefährlich sein. Verstehen Sie?« Zu seiner Überraschung lächelte sie ihn an. »Eigentlich fand ich es ganz angenehm. Ich verstehe es nicht, aber es hat mir gefallen. Wir sollten es mal wieder tun, wenn wir allein sind.« Sie richteten sich bequem ein, und er bat Nannie, sich anzuschnallen, weil er schnell fahren wollte. Er startete den Motor und wartete auf eine Lücke im fließenden Verkehr. Dann legte er den Rückwärtsgang ein, drehte das Lenkrad, trat abwech451
selnd auf Gaspedal und Bremse und ließ das Heck des Bentley in einem Halbkreis herumschleudern. Dann schoß der schwere Wagen in die entgegengesetzte Richtung davon und schob sich, sehr zum Mißvergnügen der Fahrer, zwischen einen dahinkriechenden Volkswagen und einen Kleinlastwagen mit Gemüse. Im Rückspiegel konnte er sehen, daß der Fahrer des Renault völlig überrascht war. Sobald der Bentley aus der Innenstadt heraus war, trat er das Gaspedal durch, und sie fuhren mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die kurvenreiche Uferstraße. An der Grenze erzählte er den Beamten, daß er befürchtete, von Räubern verfolgt zu werden. Er zeigte ihnen seinen Diplomatenpaß, den er für derartige No tfälle immer bei sich hatte, und die Carabinieri waren beeindruckt, nannten ihn Eccellenza, verbeugten sich vor den beiden Damen und versprachen, die Insassen des Renault nachdrücklich zu befragen. »Fahren Sie immer so?« fragte Nannie von hinten. »Wahrscheinlich. Sie riechen nach schnellen Autos, Rennpferden und Frauen. Ein Tatmensch.« Bond schenkte sich eine Erwiderung. Eher ein Mann der Gewalt, dachte er, während er sich aufs Fahren konzentrierte und es Sukie und Nannie überließ, über ihre Schulzeit, über Partys und Männer zu plaudern. Auf der Reise gab es hin und wieder Probleme, besonders, wenn seine Reisegefährtinnen zur Damentoilette wollten. Sie hielten am Nachmittag zweimal an Rastplätzen; Bond parkte den Wagen so, daß er die Telefonzellen und die Toilettentüren überblicken konnte. Er ließ sie nur einzeln gehen und äußerte freundlich verhüllte Drohungen, was dem Mädchen, das im Wagen blieb, passieren würde, falls das andere auf dumme Gedanken kommen sollte. Seine eigene Blase mußte er unter Kontrolle halten. Kurz bevor sie die lange Bergstrecke durch Österreich in Angriff nahmen, hielten sie an einem Cafe und aßen etwas. Erst hier riskierte Bond es, die beiden allein zu lassen. Als er zurückkehrte, wirkten sie völlig unschuldig, und sie wunderten sich, als er zu seinem Kaffee mehrere Benzedrinta452
bletten nahm. »Wir haben uns gefragt…«, begann Nannie. »Ja?« »Wir haben uns gefragt, wie wir schlafen, wenn wir über Nacht rasten. Ich meine, offensichtlich wollen Sie uns ständig im Auge behalten…« »Sie werden im Wagen schlafen, und ich fahre. Wir werden kein Zimmer nehmen; wir werden ohne Pause durchfahren. Je eher wir in Salzburg eintreffen, desto eher kann ich Sie freigeben. Danach kann sich die Ortspolizei um alles kümmern.« Nannie sagte mit gleichmäßiger Stimme und einem etwas ermahnenden Tonfall: »Sehen Sie, James, wir kennen einander kaum, doch Sie müssen wissen, daß es für uns eine Art aufregendes Abenteuer ist – etwas, das wir sonst nur in Büchern lesen. Es ist offensichtlich, daß Sie auf der richtigen Seite stehen, wenn uns unsere Intuition nicht völlig täuscht. Können Sie uns nicht wenigstens ein bißchen einweihen? Wir könnten Ihnen vielleicht helfen, wenn wir mehr wissen…« »Wir gehen besser zum Wagen zurück«, sagte Bond leise. »Ich habe Sukie bereits erklärt, daß es mindestens genauso aufregend ist wie ein Angriff von einem Schwarm Killerbienen.« Er wußte, daß Sukie und Nannie entweder eine Veränderung durchmachten und begannen, sich mit ihrem Entführer zu identifizieren, oder versuchten, eine Beziehung zu ihm herzustellen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Er mußte distanziert bleiben, um seine Überlebenschancen zu erhöhen, und das war bei zwei so attraktiven, begehrenswerten jungen Frauen nicht leicht. Nannie schien leicht gereizt, und Sukie wollte etwas sagen, doch Bond unterbrach sie mit einer Handbewegung. »In den Wagen«, befahl er. Sie fuhren in einer guten Zeit über den langgestreckten, gewundenen Malojapass und durch St. Moritz, um schließlich bei Vinadi die österreichische Grenze zu überqueren. Nachdem sie Innsbruck hinter sich gelassen hatten, fuhren sie auf der A 12 nach Nordosten. Eine Stunde später würden sie auf die A 8 nach Osten abbiegen und nach Salzburg fahren. Bond fuhr mit 453
unablässiger Konzentration und verfluchte insgeheim seine Situation. Der Tag war so schön, die abwechslungsreiche Landschaft war so interessant, daß es unter anderen Umständen ein wundervoller Urlaub gewesen wäre. Er musterte die vor ihm liegende Straße, beobachtete den Verkehr und prüfte dann rasch seine Geschwi ndigkeit, den Benzinverbrauch und die Motortemperatur. »Erinnern Sie sich an den silbernen Renault, James?« sagte Nannie mit einer fast neckenden Stimme von hinten. »Tja, ich glaube, er holt uns gleich ein.« »Unsere Schutzengel«, schnaufte Bond. »Zum Teufel mit den Schutzengeln,« »Die Nummernschilder sind dieselben«, sagte Sukie. »Ich habe sie in Brissago gesehen. Aber die Insassen haben gewechselt.« Bond blickte in den Rückspiegel. Etwa achthundert Meter hinter ihnen fuhr ein silberner Renault 25. Die Insassen konnte er nicht sehen. Er blieb ruhig; schließlich waren es nur Steve Quinns Leute. Er zog auf die rechte Spur und beobachtete den Wagen im Außenspiegel. Er bemerkte die Spannung, unter der die beiden Mädchen standen – wie Wild, das den Jäger gespürt hat. Angst schien, fast körperlich fühlbar, in den Wagen zu strömen. Die Straße vor ihnen war ein leeres, gerades Band, zu dessen Seiten sich hügelige Wiesen und dahinter felsige Gipfel mit Kiefern und Fichten erhoben. Bond blickte wieder in den Außenspiegel, musterte das konzentrierte Gesicht des Renaultfahrers. Hinter ihnen versank der dunkelrote Sonnenball. Vielleicht benutzte der Fahrer hinter ihnen die Taktik eines Kampfpiloten – aus der Sonne zu kommen… Als der Bentley eine leichte Kurve durchfuhr, fiel der rote Schein in den Spiegel. Bond drückte das Gaspedal. Er spürte eine tödliche Gefahr. Die schwere Maschine des Bentley reagierte sofort, und der Wagen beschleunigte rasch. Doch Bond hatte einen Augenblick zu spät reagiert. Der Renault hatte fast zu ihnen aufgeschlossen und beschleunigte ebenfalls stark. 454
Er hörte eine der Frauen schreien, und als das hintere Fenster aufging, wehte ein heftiger Luftstoß herein. Er zog die ASP und legte sie in seinen Schoß, dann langte er zu den Schaltern für die elektrischen Fensterheber. Irgendwie bemerkte er, daß Sukie gerufen hatte, sie sollten sich ducken, während Nannie Norrich mit ihrem eigenen Schalter das Fenster gesenkt hatte. »Auf den Boden!« rief er, während das Fenster herunterglitt und ein zweiter Luftstoß durch den Wagen fegte. Nannie schrie von hinten, daß gleich geschossen werden würde, und im Rückfenster des Renaults tauchte einen Augenblick der abgesägte Lauf eines Winchester-Gewehrs auf. Dann kamen zwei Schüsse, der erste mit einem lauten Knall von rechts hinten, und der Wagen füllte sich mit grauem Qualm und dem unverkennbaren Geruch von Schießpulver. Der zweite Schuß klang noch lauter, doch weiter entfernt. Er ging fast im Röhren der Maschine und dem heftig wehenden Wind unter. Der Mulsanne Turbo bockte und zog nach rechts, als hätte eine riesige, metallene Fußspitze den Wagen zur Seite geschleudert. Im gleichen Augenblick klang ein knatterndes Geräusch auf, als würde der Wagen von Steinen getroffen. Dann kam von hinten ein weiterer Knall. Links, fast auf gleicher Hohe mit ihnen, war der silberne Wagen. Aus dem Fond wehte eine Rauchwolke, und hinter dem Fenster hockte je mand, der mit der Winchester auf den Bentley zielte. »Runter, Sukie!« rief Bond. Fast, als hätte er einem Hund einen Befehl gegeben, dachte Bond. Er hob die rechte Hand und feuerte durch das geöffnete Fenster, zielte genau auf den Fahrer. Es knirschte und kratzte, als die Seiten der beiden Wagen zusammenprallten. Dann trennten sie sich wieder, und im Heck des Renaults knallte es wieder. Sie fuhren mit etwa 100 Stundenkilometern, und Bond hätte beinahe die Kontrolle über den Bentley verloren, als der Wagen ins Schleudern geriet. Er tippte auf die Bremse, und der Bentley wurde langsamer, während die Vorderräder die Grasböschung berührten. Dann rutschte der Wagen etwas und blieb schließ455
lich mit einem Ruck stehen. »Raus!« rief Bond. »Raus! Auf der entgegengesetzten Seite! Benutzt den Wagen als Deckung!« Als er hinter dem Wagen einigermaßen in Sicherheit war, sah er, daß Sukie ihm sofort gefolgt war. Sie lag auf dem Bauch, als wollte sie sich eingraben. Nannie dagegen kauerte hinter dem Kofferraum und zog sich den Rock hoch. Darunter war das obere Ende eines Strumpfes mit einem weißen Strumpfhalter zu sehen. Und am Strumpfband, zwischen ihren Beinen, hing ein hübsches, weiches Lederhalfter mit einer 22er Pistole. Sie nahm die Waffe aus dem Halfter und zielte beidhändig auf den herannahenden Wagen. »Die Polizei wird böse sein«, rief Nannie. »Sie kommen zurück - auf der falschen Seite der Autobahn.« »Was, zum Teufel…«, begann Bond. »Nehmen Sie Ihre Kanone und schießen Sie«, sagte Nannie lachend. »Los, Master Bond. Nannie weiß Bescheid.«
6. DIE NUB Über den langgestreckten Kühler seines Bentley hinweg sah Bond den silbernen Renault, der zu ihnen zurückkehrte – gegen die Fahrtrichtung auf der rechten Spur, was zwei andere Wagen und einen Laster veranlaßte, in wilden Bogen auf die Überholspur auszuweichen, um einen Unfall zu vermeiden. Er hatte keine Zeit mehr, sich zu fragen, wie er Nannies Waffe hatte übersehen können. »Die Reifen«, sagte sie kalt. »Schießen Sie auf die Reifen.« »Sie nehmen die Reifen«, schnappte Bond, der wütend wurde, weil eine Frau ihm Anweisungen geben wollte. Er hatte seine eigene Methode, den Wagen zu stoppen, der sie inzwischen fast erreicht hatte. In dem Augenblick, bevor er abdrückte, schossen ihm viele Gedanken durch den Kopf. In dem Renault hatten ursprünglich zwei Männer gesessen. Als er nun wieder aufgetaucht war, hatte er drei gesehen: einen hinten mit der Winchester und 456
einen auf dem Beifahrersitz, der vermutlich einen starken Revolver benutzte. Irgendwie war der Mann im Fond verschwu nden, und jetzt hatte der Mann auf dem Beifahrersitz die Winchester. Das Fenster an der Fahrerseite war geöffnet, und der Beifahrer schien sich über den Fahrer hinwegzubeugen, um mit der Winchester zu schießen, während sie sich dem Mulsanne Turbo näherten, der wie ein gestrandeter Wal auf der harten Straßenböschung stand. Bond benutzte die automatische Zieleinrichtung der ASP – drei lange, helle Einschnitte, die dem Schützen durch ein gelbes Dreieck zeigten, daß er sein Ziel gefunden hatte. Er zielte nicht auf die Reifen, sondern auf den Tank. Die ASP war mit Glaser-Geschossen geladen, Kugeln mit Sollbruchstellen, die Schrot und flüssiges Teflon enthielten. Diese Kugeln schlugen mit vernichtender Wirkung ein. Sie konnten Haut, Knochen, Gewebe oder Metall durchdringen, ehe im Innern des Ziels die Masse winziger Stahlkugeln explodierte. Die Kugeln konnten einen Menschen buchstäblich in der Luft zerreißen, einen Ann oder ein Bein abtrennen und sicherlich einen Benzintank zur Explosion bringen. Bond zog langsam den Abzug durch. Als er das Heck des Renaults gut sehen konnte, drückte er durch und gab zwei Schüsse ab. Neben sich horte er zwei weitere Schüsse; Nanny hatte sich die Reifen vorgenommen. Dann geschahen gleichzeitig mehrere Dinge. Der vordere Reifen zerplatzte zu einer brennenden, zerfetzten Masse von Gummi. Bond dachte, daß Nanny großes Glück gehabt haben mußte, wenn sie zwei der winzigen 22er-Kugeln so genau plazieren konnte. Der Wagen begann zu schleudern und bockte etwas, und einen Augenblick sah es aus, als würde er direkt in den Bentley rasen, doch der Fahrer kämpfte mit dem Lenkrad und den Bremsen und schaffte es, den Wagen wieder zu stabilisieren. Doch er lief geradewegs auf die Böschung zu, und es gab keine Möglichkeit mehr, rechtzeitig zu halten. Als der Reifen platzte, hatten sich im gleichen Augenblick die beiden GlaserGeschosse durch das Blech in den Benzintank gefressen. 457
Fast wie in Zeitlupe bewegte sich der Renault quietschend und schlitternd weiter. Dann, als er das Heck des Bentley passierte, schoß eine dünne Flammenzunge aus dem Wagenheck; es sah aus, als hätte eine natürliche Erdgasquelle Feuer gefangen. Ihnen blieb gerade noch genug Zeit zu bemerken, daß die Flammen bläulich gefärbt waren, bevor das ganze hintere Ende des Renaults in einem knallenden, wabernden Feuerball unterging. Der Wagen schleuderte stärker, war nur noch ein brennendes, schwankendes Wrack. Als er etwa hundert Meter vom Bentley entfernt war, hörten sie auch die Geräusche: ein scharfes Zischen und ein Knall, gefolgt vom Kreischen von Metall. Einen Augenblick lang bewegte sich niemand; dann reagierte Bond. Zwei oder drei Wagen näherten sich bereits dem Ort des Geschehens, und Bond hatte keine Lust auf längere Diskussionen mit der Polizei. »Wie sieht’s aus?« rief er. »Beulen und eine Menge Locher im Blech, aber die Reifen sind noch in Ordnung. Auf dieser Seite ist auf der ganzen Länge ein böser Kratzer.« Nannie war auf der anderen Seite des Bentley. Sie ließ ihr Kleid wieder herunterfallen und zeigte dabei eine Andeutung weißer Spitzen. Bond fragte, wie es Sukie ginge. »Erschüttert, aber unverletzt, würde ich sagen.« »Dann steigt wieder ein«, sagte Bond kurz angebunden. Während er einen Wagen mit mehreren Männern in karierten Hemden und breitrandigen Hüten beobachtete, der sich dem Wrack näherte, schob er sich vorsichtig auf den Fahrersitz. Er drehte den Zündschlüssel mit einem heftigen Ruck herum, und der große Motor sprang sofort an. Er löste mit der linken Hand die Handbremse, legte einen Gang ein und zog den Mulsanne von der Böschung auf die Straße zurück. Es war immer noch sehr wenig Verkehr, so daß Bond die Möglichkeit hatte, die Maschine und die Lenkbarkeit des Wagens eingehend zu prüfen. Benzin, Öl oder Hydraulikflüssigkeit hatten sie nicht verloren; alle Gänge ließen sich mühelos einlegen. Die Geschwindigkeitsautomatik funktionierte einwandfrei, 458
und die Blechschäden schienen weder die Federung noch die Lenkbarkeit zu beeinflussen. Fünf Minuten später war er sicher, daß der Wagen nur leicht beschädigt war, doch die Schüsse aus der Winchester hatten viele Löcher hinterlassen. Der Bentley würde der österreichischen Polizei auffallen, weil auf ihren relativ sicheren Autobahnen Schießereien nicht gerade an der Tagesordnung waren – besonders nicht Schießereien, bei denen ein Teil der Mitwi rkenden verbrannte. Er mußte rasch telefonieren und über London dafür sorgen, daß ihn die österreichische Polizei in Ruhe ließ. Außerdem machte Bond sich Gedanken über Quinns Männer. Oder jagten diese nun ebenfalls den Millionen hinterher? Und noch etwas beschäftigte ihn – Nannie Norrich mit ihren wohlgeformten Schenkeln und ihr sicherer Umgang mit der 22er. »Ich glaube, Sie sollten die Waffe lieber mir geben, Nannie«, sagte er leise, ohne den Kopf zu drehen. »O nein, James, nein«, sagte sie in einem reizenden Singsang. »Es gefällt mir nicht, wenn Frauen mit Waffen herumlaufen, besonders nicht unter den augenblicklichen Umständen und in diesem Wagen. Wie, um Himmels willen, konnte ich die Pistole nur übersehen?« »Weil Sie, obwohl Sie offensichtlich ein Profi sind, auch ein Gentleman sind, James. Als Sie mich in Cannobio durchsuchten, haben Sie vergessen, zwischen meine Beine zu greifen.« Er erinnerte sich an ihr einladendes Verhalten und an ihr breites Lächeln. »So, dann werde ich wohl für meinen Fehler büßen müssen. Werden Sie mir gleich sagen, daß die Waffe auf meinen Hinterkopf gerichtet ist?« »Nein, sie zielt auf mein linkes Knie, und dort gehört sie auch hin. Nicht gerade der angenehmste Ort, um eine Waffe zu verstecken.« Sie zögerte einen Augenblick. »Diese Art von Waffe jedenfalls.« Vor ihnen tauchte ein Hinweisschild für einen Rastplatz auf. Bond bremste ab und fuhr von der Autobahn herunter auf einen Weg, der zwischen hohen Fichten hindurch auf eine Lichtung 459
führte. Auf dem menschenleeren Platz standen Tische und Bänke aus groben Holzklötzen. Am Rand des Platzes sah er ein offenbar funktionstüchtiges Münztelefon. Bond parkte den Wagen dicht an den Bäumen und achtete darauf, daß sie, wenn nötig, sofort weiterfahren konnten. Er stellte den Motor ab, löste seinen Sicherheitsgurt und wandte sich an Nannie. Er hielt ihr die offene Hand hin. »Die Waffe, Nannie. Ich muß einige wichtige Anrufe erledigen, und ich darf kein Risiko eingehen. Geben Sie mir die Waffe.« Nannie lächelte ihn an; es war ein weiches, fast zärtliches Lächeln. »Dann müßten Sie sie mir schon wegnehmen, James, und das wäre vielleicht nicht so leicht, wie Sie es sich vorstellen. Sehen Sie, ich habe die Waffe benutzt, um Ihnen zu helfen. Sukie hat mir entsprechende Befehle gegeben, und ich werde mit Ihnen zusammenarbeiten. Ich kann Ihnen versprechen, daß Sie es, wenn sie mir andere Befehle gegeben hätte, sehr schnell zu spüren bekommen hätten.« »Sukie hat Ihnen Befehle gegeben?« fragte Bond verwirrt. »Sie ist mein Boß, jedenfalls im Augenblick. Ich führe ihre Befehle aus, und…« Sukie Tempesta fegte Bond eine Hand auf den Arm. »Ich glaube, ich sollte es erklären, James. Nannie ist wirklich eine alte Schulfreundin. Aber sie ist außerdem Präsidentin der NUB.« »Was, zum Teufel, ist die NUB?« Bond wurde wütend. »Leibwächter. Die Norrich Universal Bodyguards.« »Was?« »Leibwächter«, wiederholte Nanny fröhlich, »Leibwächter?« Er konnte es nicht fassen. »Leibwächter. Leute, die andere Leute beschützen und sich dafür bezahlen lassen. Leibwächter, Gorillas.« Nannie hielt einen Augenblick inne, dann fuhr sie fort: »James, die NUB ist eine reine Frauenorganisation, aber es sind sehr außergewöhnliche Frauen. Meine Mädchen kennen sich mit allen Waffen aus, sie beherrschen Karate und alle möglichen Kampftechniken, sie können alles bewegen, was fliegt oder fährt – sagen 460
Sie, was Sie wollen, wir können es liefern. Wir sind gut, und wir haben sehr exklusive Klienten.« »Wie zum Beispiel Sukie Tempesta?« »Genau. Ich versuche immer, diesen Job selbst zu übernehmen.« »Neulich in Belgien waren ihre Leute nicht sehr gut«, knurrte Bond. »An der Tankstelle, meine ich. Ich sollte eigentlich ein Honorar verlangen.« Nannie seufzte. »Es war ein unglücklicher…« »Es war auch meine Schuld«, warf Sukie ein. »Nannie wollte mich in Brüssel abholen und ihre Mitarbeiterin ablösen, doch ich war der Meinung, ich würde auch allein gut nach Hause kommen. Ich habe mich geirrt.« »Natürlich hast du dich geirrt. Sehen Sie, James, Sie haben Probleme. Sukie hat auch welche; vor allem, weil sie Millionärin ist und den größten Teil des Jahres in Rom lebt. Sie sitzt dort auf dem Präsentierteller. Und nun rufen Sie an und trauen Sie mir. Trauen Sie uns. Trauen Sie der NUB.« Bond zögerte, dann zuckte er die Achseln, stieg aus und schloß die beiden Frauen ein. Er holte den CC500 aus dem Kofferraum und ging zur Telefonzelle. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Zerhacker an den Hörer angeschlossen hatte, dann wählte er die Vermittlung und ließ sich mit dem in Wien stationierten Agenten verbinden. Es war eine kurze Unterhaltung, die damit endete, daß der örtliche Vertreter des Service sich bereiterklärte, die österreichische Polizei zu beruhigen. Er schlug sogar vor, Bond von einer Streife vom Parkplatz abholen zu lassen, wenn möglich sogar von dem Beamten, der sich um die Entführung von May und Moneypenny kümmerte. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, riet er. »Sie müßten etwa in einer Stunde da sein.« Bond legte auf, wählte noch einmal die Vermittlung und hatte wenige Sekunden später den Diensthabenden im Hauptquartier des Service am Regent’s Park in der Leitung. »Roms Männer sind tot«, erklärte ihm der Beamte tonlos. »Sie wurden mit Einschüssen im Hinterkopf in einem Straßengraben gefunden. Bleiben Sie dran. M will Sie sprechen.« 461
Einen Augenblick später hörte er die grantige Stimme seines Vorgesetzten. »Schlechte Karten, James.« M nannte ihn nur unter ganz besonderen Umständen beim Vornamen. »Sehr schlechte, Sir. Moneypenny und meine Haushälterin sind verschwunden.« »Ja, und wer immer sie geschnappt hat, versucht uns harte Bedingungen zu stellen.« »Sir?« »Hat es Ihnen noch niemand gesagt?« »Ich habe niemand getroffen, der mir etwas sagen konnte.« Es gab eine lange Pause. »Die Frauen sollen innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden gegen Sie ausgetauscht werden.« »Ah«, sagte Bond. »So etwas dachte ich mir schon. Ist die österreichische Polizei informiert?« »Ich glaube, einige Details sind wohl bekannt.« »Dann werde ich alles erfahren, wenn sie ankommen. Sie sind wohl schon unterwegs. Bitte sagen Sie Rom, daß es mir um seine beiden Jungs leid tut.« »Passen Sie auf sich auf, 007. Beim Service ist es nicht üblich, den Forderungen von Terroristen nachzugeben.« »Vielleicht gibt es keinen anderen Weg, Sir.« »Es gibt immer einen anderen Weg. Finden Sie ihn, und zwar bald.« M legte auf. Bond löste den CC500 vom Hörer und ging langsam zum Wagen zurück. Er wußte, daß er für May und Moneypenny sein Leben aufs Spiel setzen würde. Wenn es keine andere Mö glichkeit gab, würde er sterben müssen. Außerdem wußte er, daß er es bis zum bitteren Ende durchstehen würde und alle Risiken, egal wie groß, auf sich nehmen würde, um diese prekäre Situation zu meistern. Es dauerte genau eine Stunde und sechsunddreißig Minuten, bis die beiden Polizeiwagen eintrafen. Während sie warteten, erzählte Nannie Bond von der Gründung der Norrich Universal Bodyguards. In nur fünf Jahren waren Zweigniederlassungen in London, Paris, Rom, Los Angeles und New York entstanden, obwohl sie bisher für ihre Organisation keine Werbung gemacht 462
hatten. »Wenn wir das tun würden, dann würden die Leute glauben, wir wären Callgirls. Es war von Anfang an klar, daß wir nur auf Mundpropaganda bauen konnten. Aber es macht Spaß.« Bond fragte sich, warum weder er noch der Service je von dieser Organisation erfahren hatten. Die NUB schien innerhalb der Kreise der Superreichen ein gut gehütetes Geheimnis zu sein. »Wir fallen auch kaum auf«, erklärte sie ihm. »Männer, die mit einem unserer Mädchen ausgehen, sehen einfach aus wie Männer, die sich einen schönen Abend machen, und wenn ich eine Frau beschütze, kann ich dafür sorgen, daß ungefährliche Männer bei uns sind.« Sie lachte. »Ich hab’ allein im letzten Jahr Sukie bei zwei dramatischen Liebesaffären geholfen.« Sukies Wangen liefen rot an, und sie wollte etwas sagen, doch in diesem Augenblick traf die Polizei ein. Es waren zwei Wagen, die ohne Sirenen, doch mit einer großen Staubwolke auf den Platz donnerten. Im ersten waren vier Uniformierte, im zweiten Wagen drei weitere und ein Zivilbeamter. Der Zivilbeamte faltete sich erleichtert aus dem Fond des Wagens und richtete sich zu einer stattlichen Größe auf. Er war makellos gekleidet, doch sein Körperbau war so unregelmäßig, daß nur ein ausgezeichneter Schneider in der Lage gewesen wäre, ihn halbwegs vernünftig zu kleiden. Er hatte lange Arme und sehr kleine Hände, die wie bei einem Affen über den Knien zu hängen schienen. Er hatte die rosige Gesichtsfarbe eines Bauern und Ohren wie Henkel von Krügen. »O mein Gott.« Nannie flüsterte erschrocken. »Hebt eure Hände. Laßt sie eure Hände sehen.« Bond hatte es bereits instinktiv getan. »Der Haken!« flüsterte Nanny. »Der Haken?« wiederholte Bond, fast ohne die Lippen zu bewegen. »Eigentlich Inspektor Heinrich Osten. Er hat das Pensionsalter schon lange überschritten und ist immer noch Inspektor, aber er ist der gemeinste, korrupteste Polizist, den es in Österreich gibt.« Sie flüsterte immer noch, als könnten die beiden Männer, die zum Wagen herübergeschlendert kamen, 463
Männer, die zum Wagen herübergeschlendert kamen, jedes Wort verstehen. »Man sagt, niemand wagte zu fragen, wann er in Ruhestand geht, weil er zuviel weiß – und zwar auf beiden Seiten.« »Kennt er Sie?« fragte Bond. »Ich bin ihm nie begegnet, aber wir haben eine Akte über ihn. Angeblich war er in seiner Jugend ein eifriger Nazi. Er wird ›Der Haken‹ genannt, weil seine liebste Folterwaffe ein Fleischerhaken war. Wenn wir es mit diesem Kerl zu tun haben, müssen wir verdammt aufpassen. James, um Gottes willen, trauen Sie ihm nicht.« Inspektor Osten hatte inzwischen den Bentley erreicht und baute sich mit zwei Uniformierten an der Fahrerseite auf. Er beugte sich herunter – es sah aus, als knickte in seiner Hüfte ein Scharnier um, und Bond dachte unwillkürlich an eine Förderpumpe – und wackelte mit seinen kleinen Fingern. Es sah aus, als sollte es die Aufmerksamkeit eines Kleinkindes erregen. Bond kurbelte das Fenster herunter. »Herr Bond?« Seine Stimme war dünn und etwas schrill. »Ja. Bond. James Bond.« »Gut. Wir sollen Ihnen bis nach Salzburg Begleitschutz geben. Steigen Sie bitte einen Augenblick aus.« Bond öffnete die Tür, stieg aus und blickte zu den strahlenden, glänzenden Apfelbäckchen auf. Er nahm die ungewöhnlich kleine Hand, die ihm der Mann hinhielt. Sie fühlte sich an wie die trockene Haut einer Schlange. »Ich leite diesen Einsatz, Herr Bond. Die Sache mit den verschwundenen Damen – ein guter Titel für einen Krimi, was?« Sie schwiegen. Bond sah sich außerstande, über Mays und Moneypennys Verschwinden Witze zu machen. »Also«, sagte der Inspektor, wieder ernst werdend. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Osten. Heinrich Osten.« Er verzog den Mund zu einer Grimasse und entblößte geschwärzte Zähne. »Manche nennen mich auch anders. Der Haken. Ich weiß nicht warum, aber es hat sich so eingebürgert. Vielleicht, weil ich Kriminelle an den Haken nehme.« Er lachte wieder. »Ich glaube, ich nehme vielleicht sogar Sie an den Ha464
ken, Herr Bond. Wir haben soviel zu bereden, wirklich eine große Sache. Ich glaube, ich fahre bei Ihnen mit, damit wir reden können. Die Damen können in den anderen Wagen mitfahren.« »Nein!« sagte Nannie scharf. »Oh, aber sicher doch.« Osten öffnete die hintere Tür, und ein Uniformierter machte sich daran, Sukie auf der anderen Seite aus dem Wagen zu ziehen. Die Mädchen wurden trotz ihrer Proteste zu den Polizeiwagen gezerrt. Bond hoffte, daß Nanny klug genug war, mit ihrer 22er keinen Unsinn zu machen. Dann wurde ihm klar, wie sie reagieren würde. Sie würde Krach schlagen und auf diese Weise legal in die Freiheit entlassen werden. Osten ließ wieder seine Apfelbäckchen strahlen. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir allein reden, ohne durch das Geschnatter der Mädchen gestört zu werden. Und auf jeden Fall, Herr Bond, möchte ich nicht, daß die beiden mit anhören, wie ich Sie der Beihilfe zur Entführung und möglicherweise zum Mord beschuldige.«
7. DER HAKEN Bond fuhr äußerst vorsichtig. Einmal schien der Mann, der neben ihm saß, latent geistesgestört zu sein, und es stand zu befürchten, daß er bei der geringsten Provokation explodierte. Bond hatte viele Male in seinem Leben die Gegenwart des Bösen gefühlt, doch in diesem Augenblick spürte er sie stark wie nie zuvor. Der groteske Inspektor Osten roch etwas seltsam, und Bond brauchte eine Weile, um den Geruch des altmodischen Pime ntöls zu identifizieren, mit dem der Mann offenbar seine Haare behandelte. Sie waren schon einige Kilometer gefahren, ehe das Schweigen gebrochen wurde. »Mord und Entführung«, sagte Osten leise, fast zu sich selbst. »Ein blutiges Geschäft«, antwortete Bond höflich. Der Polizist 465
gab ein tiefes, knurrendes Kichern von sich. »Ein blutiger Sport ist gut, Mr. Bond. Sehr gut.« »Und Sie wollen mich wirklich anschuldigen?« »Ich könnte Sie wegen Mordes packen«, sagte Osten kichernd. »Sie und die beiden jungen Frauen. Wie sagen Sie noch in England? Ich habe Sie am Wickel.« »Ich glaube, Sie sollten sich erst mit Ihren Vorgesetzten absprechen, ehe Sie etwa s Derartiges versuchen. Besonders mit Ihren Sicherheitsbehörden.» »Diese dummen, bornierten Hunde haben mir nichts zu sagen, Mr. Bond.« Osten stieß ein kurzes, verächtliches Lachen hervor. »Dann sind Sie selbst das Gesetz, Inspektor?« Osten seufzte. »In diesem Fall bin ich es, und darauf kommt es an. Sie haben sich um die beiden englischen Damen, die aus der Klinik verschwunden sind, Sorgen gemacht…« »Eine ist eine schottische Dame, Inspektor.« »Wie auch immer.« Er hob seine winzige Hand; die Geste war zugleich abwehrend und verächtlich. »Sie sind der einzige Schlüssel, das fehlende Bindeglied in diesem Rätselspiel; der Mann, der beide Opfer kannte. Es ist klar, daß ich Sie befragen muß – verhören –, um das Verschwinden der Frauen aufzuklären…« »Ich bin selbst noch nicht im Bilde. Eine der Damen ist meine Haushälterin…« »Die junge?« Er stellte die Frage mit einem anzüglichen Unterton, und Bond antwortete entsprechend schroff. »Nein, Inspektor, die ältere schottische Dame. Sie arbeitet seit vielen Jahren für mich. Die junge Frau ist eine Kollegin. Ich glaube, Sie sollten das Verhör aufschieben, bis Sie mit höheren Mitarbeitern Ihrer…« »Es gibt da noch einige andere Dinge – das Mitführen von Waffen, eine Schießerei, bei der drei Männer getötet werden, die Gefährdung unschuldiger Verkehrsteilnehmer auf der Autobahn…« »Mit allem Respekt – die drei Männer wollten mich töten, und die beiden Damen waren in meinem Wagen.« 466
Osten nickte reserviert. »Wir werden sehen. In Salzburg werden wir weitersehen. « Der Haken beugte sich vor; sein langer Arm schoß zu Bond herüber wie ein Reptil, und die kleine Hand bewegte sich geschickt. Der Inspektor war nicht nur erfahren, dachte Bond, sondern er besaß auch eine hochentwickelte Intuition. Binnen Sekunden hatte er sowohl die ASP als auch den Stab aus den Halftern gezogen. »Ich fühle mich in der Gegenwart eines derart bewaffneten Mannes immer unwohl.« Die Apfelbäckchen blähten sich wie ein Ballon zu einem strahlenden Lächeln. »Wenn Sie in meine Brieftasche sehen, werden Sie feststellen, daß ich einen internationalen Waffenschein habe«, sagte Bond, während er grimmig das Lenkrad packte. »Wir werden sehen.« Osten seufzte noch einmal und wiederholte: »In Salzburg werden wir weitersehen.« Sie erreichten die Stadt gegen Abend, und Osten führte ihn mit knappen Anweisungen durch die Straßen – hier links, die nächste rechts und wieder rechts. Bond konnte einen kurzen Blick auf die Salzach und die Brücken werfen. Ein Stück zurück erhob sich die Festung Hohensalzburg, einst der Sitz der Erzbischöfe, im Licht starker Scheinwerfer über der Altstadt und dem Fluß. Sie waren in der Neustadt, und Bond erwartete, daß sie zum Polizeipräsidium fahren würden, doch sie bewegten sich scheinbar ziellos durch das Straßengewirr, vorbei an modernen Apartmenthäusern, und fuhren dann in eine Tiefgarage. Die beiden anderen Wagen, die sie in den Vororten aus den Augen verloren hatten, waren bereits eingetroffen und so geparkt, daß zwischen ihnen Platz für den Bentley blieb. In einem Wagen saß Sukie, im anderen Nannie. Bond bekam ein unbehagliches Gefühl. Der örtliche Mitarbeiter des Service hatte ihm versichert, daß ihn die Polizei nach Salzburg begleiten würde. Statt dessen sah er sich einem unangenehmen und wahrscheinlich korrupten Polizisten gegenüber, der offenbar dafür gesorgt hatte, daß sie in einem Priva thaus landeten. Er zweifelte nicht daran, daß die Garage zu 467
einem Apartmenthaus gehörte. »Lassen Sie mein Fenster herunter«, sagte Osten leise. Einer der Polizisten kam zu Ostens Seite herum, der andere baute sich vor dem Wagen auf. Der zweite Mann hatte eine Maschinenpistole in die Hüfte gestemmt, und das böse Auge der Mündung zielte auf Bond. Durch das offene Fenster gab Osten einige gemurmelte Befehle auf deutsch. Er sprach mit seiner hohen Stimme so schnell – dazu kam sein österreichischer Dialekt –, daß Bond nur ein paar Worte mitbekam: »Die Frauen zuerst«, dann wieder unverständliches Gemurmel, und dann: »… getrennte Räume… ständig bewachen… bis wir alles geklärt haben…« Zuletzt stellte er eine Frage, die Bond überhaupt nicht verstand. Die Antwort jedoch war klar: »Sie sollen ihn so schnell wie möglich anrufen.« Heinrich Osten nickte mehrmals mit seinem übergroßen Kopf wie ein Spielzeugdackel im Rückfenster eines Autos. Er trug dem Uniformierten auf weiterzumachen. Der Polizist mit der Maschinenpistole rührte sich nicht vom Fleck. »Wir bleiben ein paar Minuten hier«, sagte Osten zu Bond, während er das Gesicht zu einem Lächeln verzog. »Da Sie davon gesprochen haben, mich anzuschuldigen, möchte ich gern mit der Wiener Botschaft meines Landes sprechen.« Bond sprach entschieden, fast im Befehlston. »Alles zu seiner Zeit. Es gibt noch einige Formalitäten.« Osten blieb ruhig sitzen, die Hände gefaltet, als hätte er die Situation völlig im Griff. »Formalitäten? Was für Formalitäten?« rief Bond. »Ich habe Rechte. Vor allem, weil ich in offiziellem Auftrag unterwegs bin. Ich verlange…« Osten nickte zum Polizisten mit der Maschinenpistole. »Sie haben gar nichts zu verlangen, Mr. Bond. Das werden Sie sicher verstehen. Sie sind ein Fremder in einem fremden Land. Zufällig bin ich der Vertreter des Gesetzes, und auf Sie ist eine Uzi gerichtet. Sie haben keine Rechte.« Bond sah zu, wie Sukie und Nannie aus den Wagen gezerrt 468
wurden; die Männer sorgten dafür, daß sie sich nicht zu nahe kamen. Beide wirkten erschreckt. Sukie wandte nicht einmal den Kopf zum Bentley, doch Nannie blickte rasch in seine Richtung. Ihr kurzer Blick verriet ihm, daß sie noch bewaffnet war und auf den richtigen Augenblick wartete. Eine bemerkenswert harte Frau, dachte er; hart und attraktiv und geradlinig. Die Frau verschwand aus Bonds Gesichtsfeld, und einen Augenblick später drückte Osten ihm seine eigene ASP in die Rippen. »Lassen Sie die Schlüssel im Wagen, Mr. Bond. Er muß vor dem Morgen noch fortgeschafft werden. Heben Sie die Hände. Mein Beamter mit der Uzi ist etwas nervös.« Bond tat, wie Osten verlangt hatte. Die fast leere Tiefgarage war kalt, irgendwie gespenstisch, und es roch stark nach Benzin, Gummi und Öl. Der Mann mit der Maschinenpistole bedeutete ihm, zwischen den Wagen hindurch zu einem Ausgang und auf eine Ziegelwand zuzugehen. Osten machte eine kleine Bewegung, und Bond sah, daß der Mann eine flache Fernbedienung in der linken Hand hielt. In der Ziegelwand glitt geräuschlos ein Segment nach innen und dann zur Seite und enthüllte eine stählerne Aufzugtür. Irgendwo in der Garage lief ein Motor an und wurde wieder leiser, als der Wagen die Garage verließ. Der Aufzug hielt mit einem leisen Seufzen, und Bond wurde aufgefordert, die Kabine zu betreten. Die drei Männer schwi egen, während der Lift geräuschlos nach oben glitt. Dann ging die Tür wieder auf, und Bond wurde in einen mit modernen Bildern geschmückten Flur geschoben. Sekunden später stand er in einem großen, luxuriös eingerichteten Apartment – dicke türkische Teppiche, moderne Möbel aus Holz, Stahl und Glas, teure Stoffbezüge. An den Wänden hingen Zeichnungen und Bilder von Piper, Sutherland, Bonnard, Cross und Hockney. Die großen Fenster gingen zu einem geräumigen Balkon hinaus. Links führte ein Durchgang ins Eßzimmer und zur Küche. Von zwei weiteren Fluren gingen glänzende weiße Türen ab. Vor jeder dieser Türen stand ein Polizist Wache. Draußen war die in Flutlicht getauchte Festung Hohensalzburg zu sehen, bis Osten 469
befahl, die Vorhänge zu schließen. Hellblauer Samt glitt vor die Fenster. »Nicht schlecht für einen Polizeiinspektor«, sagte Bond. »Ah, mein Freund, ich wünschte, es wäre meine Wohnung. Aber ich habe sie nur für heute abend ausgeliehen.« Bond nickte, versuchte ihm zu verstehen zu geben, daß es offensichtlich war. Er wandte sich zum Inspektor und begann schnell zu sprechen. »Und nun, Sir – ich nehme zur Kenntnis, was Sie gesagt haben, doch Sie müssen wissen, daß meine Botschaft und die Abteilung, für die ich arbeite, bereits Instruktionen bezüglich meiner Sicherheit gegeben haben, und Ihre Behörden haben den entsprechenden Wünschen zugestimmt. Sie sagten, ich hätte nicht das Recht, etwas zu verlangen, doch Sie begehen einen Irrtum. In Wirklichkeit habe ich das Recht, alles zu verlangen.« Der Haken starrte ihn unbewegt an, dann kicherte er laut. »Wenn Sie noch lebten, Mr. Bond. Ja, wenn Sie noch lebten, hätten Sie das Recht dazu, und ich hätte die Pflicht, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, wenn ich noch lebte. Unglücklicherweise sind wir beide tot.« Bond runzelte die Stirn; so langsam wurde ihm klar, worauf Osten hinauswollte. »Das Problem liegt im Grunde bei Ihnen«, fuhr der Polizist fort. »Denn Sie sind wirklich ein toter Mann. Ich dagegen lüge nur – wie sagt man noch? Ich flunkere etwas.« »Ein altmodischer Ausdruck, aber es mag angehen.« Osten lächelte und sah sich um. »Ich werde nur sehr kurze Zeit in dieser Welt leben. Ein schöner Ort für einen Geist, nicht wahr?« »Fantastisch. Und an welchem Ort werde ich spuken?« Aus dem Gesicht des Polizisten verschwand jeder menschliche Zug. Die Muskeln verwandelten sich in Stein, und Ostens starrer Blick traf Bond. Die Apfelbäckchen schienen ihre Farbe zu verlieren und zu verblassen. »Im Grab, Mr. Bond. Sie werden im kalten, kalten Grab spuken. Sie werden nirgends sein. Nichts, Es wird sein, als hätten Sie nie gelebt.« Er hob eine kleine Hand, um auf die Armband470
uhr zu blicken. Dann wandte er sich an den Mann mit der Uzi und befahl ihm mit einigen scharfen Worten, den Fernseher einzuschalten. »Die Abendnachrichten müssen jeden Augenblick beginnen. Mein Tod müßte schon gemeldet sein. Der ihre wird als wahrscheinlich gemeldet werden – und vor dem Morgengrauen wird die Wahrscheinlichkeit beträchtlich zugenommen haben. Bitte, setzen Sie sich und sehen Sie zu. Ich glaube, Sie werden mir zustimmen, daß meine Improvisation meisterhaft war, denn ich hatte nicht viel Zeit, alles vorzubereiten.« Auf dem großen Farbbildschirm lief noch die Werbung. Eine attraktive Österreicherin stand vor einer Gebirgslandschaft und beschrieb die Vorzüge einer Sonnenschutzscreme. Ein junger Mann landete mit einem Flugzeug, kletterte heraus und sagte, das Panorama sei wunderschön, doch es sei noch wunderschöner, wenn man es mit einer ganz bestimmten Kamera fotografiere. Dann kam der Vorspann für die Nachrichten, und eine brünette Frau begrüßte mit ernstem Gesicht die Zuschauer. Die Hauptstory war ein Bericht über die Schießerei auf der A 12. Ein Wagen mit Touristen war beschossen worden und in Flammen aufgegangen. Die Bilder zeigten das Wrack des si lbernen Renault, umgeben von Kranken- und Polizeiwagen. Die junge Frau kam, womöglich noch ernster, wieder ins Bild und berichtete, daß bei einem schrecklichen Unfall fünf Polizeibeamte auf dem Weg von Salzburg zum Schauplatz der Schießerei ums Leben gekommen seien. Einer der Polizeiwagen sei ausgeschert, und der zweite hatte ihn sei tlich gerammt. Beide Wagen seien über die Böschung gerutscht und in Flammen aufgegangen. Ein zweiter Filmbericht zeigte die Trümmer der beiden Wagen. Dann wurde ein Schwarzweißbild von Inspektor Heinrich Osten eingeblendet, und die Ansagerin erklärte, daß Österreich bei diesem Unfall seinen verdienten und dienstältesten Polizeibeamten verloren hätte. Der Inspektor hätte im zweiten Wagen gesessen und sei seinen Verbrennungen erlegen. Als nächstes sah Bond sein eigenes Foto und das Nummernschild seines Bentley Mulsanne Turbo. Er wurde als britischer 471
Diplomat bezeichnet, der privat, vermutlich zusammen mit zwei nicht identifizierten jungen Frauen, unterwegs gewesen sei. Er wurde im Zusammenhang mit der Schießerei gesucht. Einer Erklärung der britischen Botschaft zufolge hatte er angerufen und um Hilfe gebeten, doch man fürchtete, daß er den Belastungen nicht standhalten und Amok laufen könnte. »Er stand während der letzten Tage unter großer Belastung«, erklärte ein Sprecher der Botschaft mit starrem Gesicht. Also hatten der Service und das Foreign Office beschlossen, ihn zu verleugnen. Der Wagen, der Diplomat und die beiden jungen Frauen seien spurlos verschwunden, und man fürchte um ihr Leben. Die Polizei würde bei Tagesanbruch die Suche wieder aufnehmen, doch der Wagen sei möglicherweise im Gebirge von der Straße gestürzt, und man müßte das Schlimmste befürchten. Der Haken begann zu lachen. »Sehen Sie, so einfach ist das, Mr. Bond. Wenn Ihr Wagen morgen zerschmettert in einer Schlucht gefunden wird, ist die Suche vorbei. Im Wagen werden drei verstümmelte Leichen sein.« Nun wußte Bond, was der Inspektor plante. »Und meine Leiche wird vermutlich keinen Kopf mehr haben?« fragte Bond ruhig. »Natürlich«, sagte der Haken knurrend. »Anscheinend wissen Sie, was los ist.« »Irgendwie haben Sie es geschafft, fünf Kollegen umzubringen…« Er hob eine winzige Hand. »Nein! Nein! Nicht meine Kollegen, Mr. Bond. Landstreicher, Gesindel, Tagediebe. Tja, wir haben einige Tagediebe beseitigt…« »Mit zwei Polizeiwagen?« »Mit zwei Polizeiwagen. Die beiden in der Garage sind gefälscht. Ich habe schon lange zwei Volkswagen mit abnehmb aren Polizeikennzeichen; man weiß ja nie, wann man so etwas braucht. Tja, und gestern war der richtige Augenblick.« »Gestern?« »Als ich den wahren Grund für die Entführung Ihrer Freundinnen erfuhr – und als ich von der Belohnung hörte. Ja, gestern war es. Ich habe gewisse Verbindungen… sobald ich von der 472
Forderung der Entführer wußte, stellte ich einige Ermittlungen an, und…« »Und Sie stießen auf die Kopfjagd.« »Genau. Sie sind sehr gut informiert. Die Leute, die den großen Preis anboten, vermittelten mir den Eindruck, daß Sie verschwunden wären – ist das richtig?« »Für einen Teilnehmer, der so spät gestartet ist, sind Sie gut im Rennen, Inspektor«, sagte Bond. »Organisation ist alles!« Die blanken Wangen blühten vor Stolz auf. »Ich habe mich den größten Teil meines Lebens bereitgehalten, um im richtigen Augenblick loszuschlagen – mit allen Mitteln, mit der Unterstützung der Zeitungen, von Freunden, mit Transportmitteln.« Der Mann war offensichtlich sehr selbstsicher, und das konnte er auch sein, nachdem er Bond in einem Haus hoch über Salzburg, auf seinem eigenen Gebiet, gefangengesetzt hatte. Und er war stolz auf sich. »Ich habe immer gewußt, daß ich eines Tages, vielleicht im Zusammenhang mit einer großen Erpressung oder einer Entführung, reich werden würde, ohne daß mir etwas passieren könnte. Diese kleinen Kriminellen konnten mir nicht das Geld geben, das ich brauchte, um wirklich unabhängig zu sein. Wenn ich aber, wie gesagt, bei einer Erpressung oder Entführung mitmischen könnte, dann wären meine letzten Lebensjahre gesichert. Doch ich hätte nicht im Traum mit den Reichtümern gerechnet, die ich mit Ihnen in der Hand habe, Mr. Bond.« Er strahlte wie ein unartiges Kind. »Ich habe rechtzeitig dafür gesorgt, daß meine Leute die richtigen Gründe hatten, mir zu helfen, gute und wichtige Gründe, mir zu helfen. Natürlich sind es keine normalen Beamten; es sind Zivilbeamte meiner Abteilung. Aber sie würden für mich sterben…« »Oder für das Geld«, sagte Bond kalt. »Vielleicht werden sie für das Geld sogar Sie ausschalten.« Der Haken lachte kurz auf. »Um einen so alten Vogel wie mich zu fangen, müssen Sie schon früher aufstehen, Mr. Bond. Natürlich könnten sie versuchen, mich zu töten, aber das be473
zweifle ich. Was ich nicht bezweifle, ist, daß sie mir helfen werden. Sie zu beseitigen.« Er stand auf. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe einen dringenden Anruf zu erledigen.« Bond hob eine Hand. »Inspektor! Können Sie mir einen Gefallen tun? Die beiden jungen Frauen sind doch hier?« »Natürlich.« »Sie haben nichts mit mir zu tun. Wir haben uns durch Zufall kennengelernt; deshalb bitte ich Sie, sie freizulassen.« Der Haken murmelte, ohne Bond anzublicken: »Unmöglich.« Dann stand er auf und verschwand in einem der Flure. Der Mann mit der Uzi lächelte Bond über den Lauf hinweg an, dann sagte er in gebrochenem Englisch: »Er ist sehr schlau, der Haken, was? Er hat uns immer versprochen, daß wir eines Tages sehr reich sein würden.« Eher würde Osten dafür sorgen, daß seine vier Komplizen tot in einer Schlucht gefunden würden, um sich dann allein mit der Belohnung aus dem Staub zu machen. Falls er sie bekam. Bond fragte auf deutsch, wie sie den Plan so schnell entwickelt hatten. Das Team Ostens hatte die Entführungen aus der Mozartklinik bearbeitet. Es gab viele Anrufe, und plötzlich verschwand der Inspektor für etwa eine Stunde. Er kehrte triumphierend zurück, trommelte das ganze Team in dieser Wohnung zusammen und erläuterte die Situation. Sie brauchten nur noch einen Mann namens Bond zu schnappen. Der Unfall war leicht zu inszenieren. Sobald sie ihn hatten, wäre die Entführung erledigt, und sie konnten ihre Belohnung kassieren. Die Besitzer des Apartments würden dafür sorgen, daß die beiden Frauen zur Klinik zurückgebracht würden und für Bonds Kopf eine gewaltige Belohnung zahlen. »Der Inspektor hat immer wieder die Zentrale angerufen, um herauszufinden, wo Sie waren«, fuhr der Mann fort. »Als er es wußte, fuhren wir los. Wir waren schon unterwegs, als über Funk die Meldung kam, daß Sie auf der A 8 warteten. Es hatte eine Schießerei gegeben, und ein Wagen war zerstört. Er denkt schnell, der Inspektor. Wir schnappten uns fünf Landstreicher aus der schlimmsten Gegend der Stadt und fuhren sie zu den 474
beiden versteckten Wagen. Der Rest war leicht. Wir hatten Uniformen in den Autos; die Penner waren betrunken, und es war kein Problem, die ganz auszuschalten. Dann holten wir Sie ab.« Er war nicht sicher, was als nächstes passieren würde, doch er wußte, daß sein Vorgesetzter das Geld bekommen würde. In diesem Augenblick kam der Haken zurück. »Es ist alles bereit«, sagte er lächelnd. »Es tut mir leid, aber ich muß Sie in einem Zimmer einschließen lassen wie die anderen, Mr. Bond. Doch nur für eine oder zwei Stunden. Ich bekomme Besuch. Wenn mein Besucher wieder gegangen ist, werden wir einen Ausflug in die Berge machen. Die Kopfjagd ist fast vorbei.« Bond nickte, dachte aber bei sich, daß die Kopfjagd noch lange nicht vorbei war. Es gab immer eine Möglichkeit. Vor allem mußte er jetzt rasch dem Griff Ostens entkommen. Der groteske Inspektor wedelte mit der ASP und gab Bond zu verstehen, daß er rechts in einen Flur gehen sollte. Bond schritt darauf zu, dann hielt er inne. »Zwei Fragen; letzte Bitten, wenn Sie so wollen…« »Die Frauen müssen sterben«, sagte Osten ruhig. »Ich kann nicht zulassen, daß es Zeugen gibt.« »Ich würde an Ihrer Stelle dasselbe tun. Das verstehe ich. Nein, meine Fragen sollen nur meiner Beruhigung dienen. Zuerst, wer waren die Männer im Renault? Sie haben offensichtlich an dieser bizarren Jagd auf meinen Kopf teilgenommen. Ich möchte wissen, wer sie waren.« »Union Corse, soweit ich weiß.« Der Haken hatte es eilig und reagierte gereizt; wahrscheinlich würde jeden Augenblick sein Besucher eintreffen. »Und was ist mit meiner Haushälterin und Miß Moneypenny passiert?« »Was mit ihnen passiert ist? Sie wurden entführt.« »Ja, aber auf welche Weise?« Der Haken knurrte wütend. »Ich habe keine Zeit für Einzelheiten. Sie wurden entführt. Weiter brauchen Sie nichts zu wi ssen.« Er gab Bond einen leichten Stoß, schob ihn weiter durch den Flur. An der dritten Tür auf der rechten Seite blieb der Ha475
ken stehen, schloß auf und drückte Bond hinein. Die Tür knallte zu, und der Schlüssel wurde herumgedreht. Es war ein freundliches Schlafzimmer mit einem modernen Bett, teuren Drucken an den Wänden, einem Lehnstuhl, einem Frisiertisch und einem in die Wand eingebauten Kleiderschrank. Das einzige Fenster war mit schweren, beigen Vorhängen verdunkelt. Er bewegte sich rasch und untersuchte zuerst das Fenster, das zu einem kleinen Teil eines Balkons hinausging – wahrscheinlich eine Ecke der großen Terrasse vor dem Wohnzi mmer. Die Scheibe bestand aus unzerbrechlichem Panzerglas, und die Verschlüsse waren gut gesichert und nicht in kurzer Zeit zu knacken. Ein Ausbruch durch die Tür kam nicht in Frage; sie war mit einem Schnappschloß gesichert, das er nicht geräuschlos öffnen konnte, und die Werkzeuge, die er versteckt bei sich trug, waren zu schwach. Vielleicht schaffte er das Fenster, wenn er sich anstrengte, aber was dann? Er befand sich mindestens sechs Stockwerke über dem Boden, und er war nicht bewaffnet und hatte keine Kletterwerkzeuge dabei. Er überprüfte den Wandschrank und den Frisiertisch; alle Fächer und Schubladen waren leer. In der Zwischenzeit hörte er gedämpft die Türklingel im Wohnzimmer – der Besucher war angekommen, vermutlich ein Abgesandter von Tamil Rahani. Auf jeden Fall e j mand, der bei SPECTRE einen hohen Rang bekleidete. Die Zeit wurde knapp. Also mußte es das Fenster sein. Seltsam – der erfahrene Polizist Osten hatte ihm seinen Gürtel gelassen. Gut verborgen zwischen den dicken Lederschichten befand sich sein langes, dünnes Vielzweckwerkzeug, das in etwa einem sehr flachen Schweizer Armeemesser ähnelte. Es bestand aus gehärtetem Stahl und enthielt einen Satz Miniaturwerkzeuge - Schraubenzieher, Dietriche, sogar eine winzige Batterie und Verbindungskabel für drei winzige, etwa fingernagelgroße Sprengladungen, die in der Hülle versteckt waren. Das Werkzeug war von Major Boothroyds brillanter Assistentin in der Abteilung Q entwickelt worden – Anne Reilly, eine 476
wegen ihres hübschen Aussehens im ganzen Hauptquartier bekannte Mitarbeiterin. Bond segnete lautlos ihre Erfindungsgabe, während er sich über die Sicherheitsschlösser hermachte, die tief im Fensterrahmen versenkt waren. Außer dem Schloß im Fenstergriff gab es zwei Schlösser im Rahmen, und er brauchte etwa zehn Minuten für das erste. Bei dieser Geschwindigkeit würde er weitere zwanzig Minuten, wenn nicht länger, brauchen, und Bond vermutete, daß ihm nicht mehr soviel Zeit blieb. Er arbeitete verbissen weiter, bis sich an seinen Fingern Blasen bildeten. Er wußte genau, daß es zwecklos wäre, das Schnappschloß in der Tür zu sprengen. Sie würden ihn niederschießen, ehe er auch nur den Flur erreicht hätte. Ab und zu hielt er inne und lauschte, um zu erfahren, was im Wohnzimmer vor sich ging. Es war nichts zu hören. Endlich hatte er das zweite Schloß geschafft. Nun blieb nur noch das Schloß im Fenstergriff. Doch plötzlich fiel ein Lichtstrahl durch die Vorhänge herein. Die Beleuchtung des Balkons war eingeschaltet worden, und direkt vor seinem Fenster stand jemand. Er konnte immer noch nichts hören. Vermutlich waren die Wände gut schallisoliert und die Fenster so abgedichtet, daß von draußen nur wenig Lärm hereindrang. Als sich seine Augen nach einigen Sekunden an das Licht angepaßt hatten, nahm er das Hauptschloß in Angriff. Fünf Minuten vergingen, ehe er die erste Schraube lösen konnte. Er hielt inne, lehnte sich gegen die Wand und überlegte sich, daß er besser erst den Schließmechanismus untersuchte, der den Griff sperrte. Der dritte Dietrich paßte, und der Riegel glitt mit einem scharfen Klicken zurück. Ein Blick auf seine Rolex zeigte ihm, daß mehr als eine Dreiviertelstunde vergangen war. Wahrscheinlich hatte er nicht mehr viel Zeit, und bisher hatte sich noch kein Plan herauskristallisiert. Bond legte vorsichtig den Griff herum und zog das Fenster auf, das geräuschlos nachgab. Ein kühler Luftstrom wehte herein, und er holte einige Male tief Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er blieb einen Augenblick still stehen und lauschte, ob er auf dem Balkon, der sich rechts um die Hauswand zog, 477
etwas hörte. Nichts. Bond wunderte sich; der Haken hatte schließlich nicht alle Zeit der Welt. Es war klar, daß ihn einer der Mitbewerber von Anfang an beobachtet hatte, bereit, in einem günstigen Augenblick zuzuschlagen. Dann war unerwartet der Haken auf der Bildfläche erschienen. Er war der Joker – der Außenseiter, der plötzlich SPECTRES Problem zu lösen schien. Er mußte sich beeilen, um sich seine Belohnung zu sichern. Behutsam und ohne ein Geräusch zu machen schob Bond sich aus dem Fenster und preßte sich gegen die Wand. Er hörte immer noch nichts. Dann schielte er vorsichtig um die Ecke auf die breite Terrasse, hoch über den Dächern Salzburgs. Sie war von Lampen erhellt und mit großen Blumentöpfen und Gartenmöbeln eingerichtet. Bond schnappte verblüfft nach Luft, als er die Szene überblicken konnte. Die Lampen verströmten ihr stilles Licht, und die Stadt bot einen bezaubernden, blinkenden Hintergrund. Die Möbel waren ordentlich aufgereiht – genau wie die Leichen. Zwischen den Strahlrohrstühlen lagen die vier Komplizen Ostens. Den Männern waren die Schädeldecken entfernt worden, und von Stühlen und Wänden tropfte Blut und breitete sich auf dem Betonboden aus. Über dem großen Schiebefenster des Wohnzimmers hingen rote Geranien an Wandhaken. Einer der Töpfe war entfernt worden, und am Haken hing nun ein Seil mit einer kleinen, verstärkten Schlinge. In der Schlinge war ein langer, scharfer Fleischerhaken befestigt, und an der Spitze hing Osten, der Haken. Bond fragte sich, ob er schon einmal etwas so Schreckliches gesehen härte. Hände und Füße des Polizisten waren gebunden, die Spitze des Hakens war in seine Kehle gesetzt worden. Sie war lang genug, um den Gaumen zu durchdringen und aus dem linken Auge wieder herauszuragen. Irgend jemand hatte sich große Mühe gegeben, den großen, häßlichen Mann erbarmungslos und lange leiden zu lassen. Wenn die alten Nazigeschichten der Wahrheit entsprachen, dann war Inspektor Heinrich Ostens Tod eine Art ausgleichende Gerechtigkei t. 478
Die Leiche, von der das Blut heruntertropfte, schwankte leise im Wind, während sich der Hals ständig weiter zu strecken schien. Was vom Gesicht übrig war, war in schrecklichem Schmerz verzerrt. Bond schluckte und näherte sich dem Fenster. Erst in diesem Augenblick wurde ihm das Hintergrundgeräusch bewußt, das sich mit dem Quietschen des Seils an dem Haken mischte. Auf der anderen Straßenseite probten einige Musiker – natürlich ein Stück von Mozart. Bond glaubte, die düstere Eröffnung des Klavierkonzerts Nr. 20 zu erkennen, doch er war nicht ganz sicher. Dann aber, ein Stück weiter die Straße hinunter, setzte ein Jazztrompeter an. Es war ein seltsamer Kontrast zu dem klassischen Stück: Er spielte ein Stück aus den dreißiger Jahren, Big House Blues, Bond fragte sich, ob es ein Zufall war.
8. UNTER BEWACHUNG Bond brauchte Zeit zum Nachdenken, doch das Blutbad auf der Terrasse war seiner Konzentration nicht sehr zuträglich. Es war jetzt drei Uhr morgens, und von der heraufdringenden Musik abgesehen war es in Salzburg still – einige Lichter funkelten, und in der Ferne erhoben sich schwarze Berge vor einem tiefblauen Himmel. Er betrat das Wohnzimmer, in dem noch Licht brannte. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes. Wer auch immer den Haken erledigt hatte, mußte sehr rasch gearbeitet haben. Und sicherlich war mehr als ein Mann nötig gewesen, um diese fünf harten Männer zu überwältigen. Außerdem mußte Osten zu dem Mann, der ihn dann hingerichtet hatte, Vertrauen gehabt haben. Die Wand zwischen den Fluren war mit Blut bespritzt, und auf dem dicken beigen Teppich waren ebenfalls Flecken. Auf einem Tisch lagen offen seine ASP und sein Stab. Bond überprüfte die geladene Waffe, aus der kein Schuß abgefeuert worden war, bevor er sie in den Halfter steckte. Dann hielt er inne, wog den Stab in der Hand, ehe er ihn in den Gürtelhalfter gleiten ließ. 479
Dann schloß er die Fenster, denn die Leiche des Inspektors schlug schwer gegen das Fenster. Bond drückte auf den Knopf, der die Vorhänge schloß. Er hatte sich beeilt; denn wer wußte, ob die Leute, die die Polizisten ausgeschaltet hatten, noch in der Wohnung waren. Er zog die ASP und durchsuchte systematisch alle Zimmer. Die Tür, die zum Aufzug führte, war anscheinend von außen gesichert, und drei weitere Zimmer waren verschlossen. Eins davon war das Gästezimmer, das er vor wenigen Augenblicken durchs Fenster verlassen hatte, und in den anderen beiden waren vermutlich Sukie und Nannie. Er konnte jedoch keine Schlüssel entdecken, und auf sein Klopfen kam keine Antwort. Zwei Dinge machten ihm Sorgen. Warum hatte sein Gegner, nachdem er ihn sicher hinter Schloß und Riegel hatte, nicht die Gelegenheit benutzt, ihn auf der Stelle zu töten? Einer der Kopfjäger schien mit allen anderen Mitbewerbern ein grausames Spiel zu spielen, indem er sie tötete, sobald sie ihrem Ziel nahe gekommen waren. Wer war fähig, sich auf diese Weise einzumischen? Wahrscheinlich SPECTRE selbst. Es wäre genau ihr Stil, einen Wettbewerb mit einem fantastischen Preis auf den Kopf des Opfers auszuschreiben und dann im letzten Moment einzugreifen, um dem Sieger die Belohnung vorzuenthalten. Das wäre eine sehr ökonomische Art, mit geringem Aufwand möglichst viel zu erreichen. Doch wenn SPECTRE seine Gegner ausgeschaltet hatte, dann hätten sie ihn ebenfalls getötet. Wer war sonst noch im Spiel? Vielleicht eine der weniger freundlichen Spionageorganisationen? Wenn das der Fall war, dann mußte Bond zuerst an die augenblicklichen Führer seines alten Feindes denken, an SMERSH. Seit er zum erstenmal mit dieser teuflischen Abteilung des KGB zu tun gehabt hatte, hatte SMERSH (ein Akronym für Smiet Spionam – Tod den Spionen) einige tiefgreifende Veränderungen durchgemacht. Viele Jahre war die Organisation als Abteilung Dreizehn bekannt gewesen, doch dann war sie unter dem Namen Abteilung V unabhängig geworden. Der Service hatte sich mit der Zeit an diesen Namen gewöhnt, bis die Orga480
nisation scheinbar ganz von der Bildfläche verschwand. Der Secret Intelligence Service hatte einen Agenten in die Abteilung V eingeschleust, Oleg Lyalin, dessen Erkenntnisse seinen Vorgesetzten große Sorgen machten. Als Lyalin Anfang der siebziger Jahre überlief, brauchte der KGB nicht lange, um zu erkennen, daß er bereits lange Zeit für die Gegenseite spioniert hatte. Danach war die Abteilung V gründlich gereinigt worden und damit völlig aus dem Geschäft. Selbst Bond hatte erst vor relativ kurzer Zeit erfahren, daß seine alten Feinde unter dem Namen Abteilung Acht der Sektion S neu aufgebaut wurden. War diese Operationsabteilung des KGB an dem Wettrennen um seinen Kopf beteiligt? In der Zwischenzeit gab es jedoch dringendere Probleme. Er mußte die Zimmer überprüfen, in denen er Nannie und Sukie vermutete, und etwas unternehmen, um aus dem Apartmenthaus herauszukommen. Der Bentley Mulsanne Turbo war ein sehr auffälliges Fahrzeug; Bond mußte annehmen, daß er keinen Kilometer fahren konnte, ohne entdeckt zu werden. Es war nicht angenehm, den pendelnden Körper Ostens zu durchsuchen, doch immerhin fand Bond in seiner Hosentasche die Wagenschlüssel. Die Zimmerschlüssel und die Schlüssel des Aufzuges fand er jedoch nicht. Das Telefon funktionierte, doch Bond hatte keine Chance, seinen Anruf zu tarnen. Er wählte die Nummer des Wiener Mitarbeiters. Es klingelte neunmal, bis sich eine verschlafene Stimme meldete. »Jäger«, sagte Bond, seinen Einsatznamen nennend. »Ich muß im Klartext sprechen, selbst wenn der Papst die Leitung angezapft hat.« »Ist Ihnen eigentlich klar, daß es drei Uhr morgens ist? Wo, zum Teufel, sind Sie? Hier ist der Teufel los. Ein älterer österreichischer Polizist…« »Und vier seiner Freunde sind tot«, unterbrach Bond. »Sie werden gesucht… woher wissen Sie von dem Polizisten?« »Er wurde nicht getötet…« »Was?« 481
»Es war ein Trick. Er hatte es sich selbst ausgedacht.« »Wo sind Sie?« Der Mitarbeiter schien jetzt ernstlich besorgt. »Irgendwo in der Neustadt, in einem sehr luxuriösen Apar tmenthaus, zusammen mit fünf Leichen und hoffentlich den beiden jungen Damen, die mich begleitet haben. Ich kenne die Adresse nicht, aber ich habe eine Telefonnummer, die Ihnen helfen könnte.« Er las die Nummer vor, die auf dem Apparat stand. »Das müßte reichen. Ich rufe zurück, sobald ich alles geklärt habe, aber ich vermute, daß man Ihnen eine Menge Fragen stellen wird.« »Zum Teufel mit den Fragen, ich will zur Klinik und meinen Job erledigen. Sorgen Sie dafür.« Bond legte auf. Dann ging er zur ersten der beiden Türen und schlug hart mit der Faust dagegen. Dieses Mal glaubte er eine gedämpfte Stimme zu hören. Ihm blieb nichts übrig, als das Schnappschloß mit roher Gewalt zu knacken, egal, wieviel Krach er dabei machte. In der Küche fand er ein scharfes, schweres Hackmesser, mit dem er das Holz rund um das Schloß spalten konnte. Sukie Tempesta lag gefesselt und geknebelt auf dem Bett. Sie war bis auf ihre Unterwäsche entkleidet. »Die haben mir meine Kleider weggenommen!« rief sie wütend, als er die Fesseln und den Knebel gelöst hatte. »Das sehe ich«, sagte Bond lächelnd, während er nach einer Decke griff. Er ging zum anderen Zimmer hinüber, mit dessen Schloß er etwas schneller fertig wurde. Nannie war in der gleichen Lage wie Sukie; es sah fast aus, als kaufte sie ihre Unterwäsche bei Fredericks of Hollywood. »Die haben mir den Halfter mit dem Revolver weggenommen«, rief sie. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Bond nahm ab. »Jäger.« »Ein höherer Polizeioffizier ist mit seinen Leuten unterwegs«, sagte der Mitarbeiter. »Seien Sie um Himmels willen diskret, erzählen Sie nur, was unbedingt nötig ist. Dann fahren Sie so 482
schnell wie möglich nach Wien. Das ist ein Befehl von ganz oben.« »Sagen Sie ihnen, sie sollen Frauenkleider mitbringen«, schnappte Bond. Er gab ihm die geschätzten Größen durch. Als er auflegte, hörte er aus dem Badezimmer entzücktes Quietschen; die Mädchen hatten die Kleider entdeckt, die zusammengeschnürt in einem Schrank gelegen hatten. Sukie kam voll angekleidet heraus, und Nannie rollte gerade ihre Strümpfe hoch und legte den Pistolenhalfter wieder an. »Laßt uns lüften«, sagte Sukie, indem sie vor das Fenster trat. Bond hielt sie auf und sagte, es wäre nicht sehr klug, die Vorhänge zu öffnen, von den Fenstern ganz zu schweigen. Er erklärte ruhig den Grund und sagte den beiden, sie sollten im Wohnzimmer bleiben. Dann öffnete er selbst das Fenster, ließ die Vorhänge jedoch vorgezogen. Kurz darauf klingelte es heftig. Nachdem die Männer sich mit Rufen identifiziert hatten, rief Bond zurück, daß er von innen nicht öffnen konnte. Er hörte, wie verschiedene Schlüssel ausprobiert wurden, dann schwang die Tür auf, und vor ihm stand anscheinend die Hälfte der Salzburger Polizei, angeführt von einem klug aussehenden, beeindruckenden grauhaarigen Mann, den die anderen mit großem Respekt behandelten. Er stellte sich als Kommissar Becker vor. Während er mit Bond sprach, fiel die Spurensicherung über den Balkon her. Sukie und Nannie wurden von Zivilbeamten fortgeführt, vermutlich um irgendwo einzeln befragt zu werden. Becker hatte eine lange Hakennase und freundliche Augen. Er verstand etwas von seiner Arbeit und kam sofort zur Sache. »Ich habe Anweisungen vom Außenministerium und von den Sicherheitsbehörden bekommen«, sagte er in fast akzentfreiem Englisch. »Wie ich gehört habe, hat sich auch der Leiter Ihres Dienstes eingeschaltet. Ich will von Ihnen nichts weiter als eine detaillierte Aussage. Danach können Sie sofort gehen. Allerdings würde ich Ihnen empfehlen, Österreich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu verlassen.« »Ist das eine offizielle Aufforderung?« Becker schüttelte den Kopf. »Nein, inoffiziell. Das ist nur mei483
ne eigene Meinung. Sagen wir, ein Rat. Nun, Mr. Bond, dann beginnen Sie mal von vorn.« Bond erzählte die Geschichte, überging jedoch alles, was er über Tamil Rahani und die Kopfjagd wußte. Die Ereignisse auf der Autobahn tat er als etwas ab, das jedem, der im geheimen arbeitete, jederzeit passieren könne. »Sie brauchen mir Ihren Status nicht zu verbergen«, sagte Becker mit einem väterlichen Lächeln, »Bei unserer Arbeit hier haben wir mit allerhand seltsamen Menschen zu tun – Amerikaner, Briten, Franzosen, Deutsche und Russen. Sie verstehen sicher, was ich meine. In unserem Land geben sich die Spione sozusagen die Klinke in die Hand, wenn Ihnen das Wort auch wahrscheinlich nicht gefällt.« »Nun, es ist ein etwas altmodischer Ausdruck.« Bond erwiderte sein Lächeln. »Wir sind in vielerlei Hinsicht aber auch ein altmodischer Haufen, und viele Leute halten uns für überflüssig. Satelliten und Computer haben einen großen Teil unserer Arbeit übernommen.« »So geht das auch bei uns«, sagte der Polizist achselzukkend. »Doch ein Streifenpolizist, der seinen Bezirk genau kennt, ist durch nichts zu ersetzen, und ich bin sicher, daß auch in Ihrem Geschäft die Leute vor Ort eine wichtige Rolle spielen. Es ist wie im Krieg. Egal, wie viele taktische oder strategische Raketen am Horizont auftauchen – die Militärs brauchen lebende Menschen auf dem Schlachtfeld. Unser Land liegt geographisch sozusagen an einer gefährlichen Kreuzung. Die NATOLeute hier haben ein geflügeltes Wort dafür: Wenn die Russen kommen, sind sie zum Frühstück in Wien, aber ihren Nachmi ttagstee nehmen sie dann in London.« Wie jeder gute Detektiv kam Becker nach dieser Abschweifung sofort wieder zur Sache. Er fragte nach Heinrich Ostens Motiven, und Bond berichtete ihm fast wörtlich, was gesagt worden war, doch auch dieses Mal ließ er die Kopfjagd unerwähnt. »Anscheinend hat er schon seit vielen Jahren auf eine Gelegenheit gewartet, sich die Taschen zu füllen.« Becker lächelte spröde. »Das wundert mich nicht. Der Haken, 484
wie die meisten ihn nennen, stand sich gut mit den Vorgesetzten. Es gibt immer noch viele Leute, besonders unter den höheren Beamten, die sich gern an die alten Zeiten, an die Nazis, erinnern. Und ich fürchte, sie erinnern sich auch sehr gut an Osten. Wer auch immer ihm dieses unangenehme Ende verschafft hat, hat uns im Grunde einen Gefallen getan.« Er wechselte das Thema. »Sagen Sie, warum, glauben Sie, wurde für die beiden Frauen eine so hohe Forderung gestellt?« Er setzte sein unschuldigstes Gesicht auf. »Ich kenne die Bedingungen nicht genau. Bisher habe ich kaum etwas über die Entführung erfahren.« Becker lächelte wieder spröde und drohte Bond mit dem Finger, als sei er ein unartiger Schuljunge. »Oh, ich glaube, Sie kennen die Bedingungen nur zu gut. Immerhin waren Sie nach Ostens vermeintlichem Tod eine ganze Weile in seiner Gesellschaft. Ich habe den Fall gestern abend übernommen. Man fordert Sie im Austausch für die Frauen, Mr. Bond, und das wissen Sie. Außerdem ist die Kleinigkeit von zehn Millionen Schweizer Franken auf Ihren Kopf ausgesetzt.« Bond kapitulierte. »Okay. Die Geiseln sollen also gegen mich ausgetauscht werden, und Ihr Kollege hat von dem Kontrakt erfahren, der eine Menge Geld wert ist…« »Selbst wenn Sie für seinen Tod verantwortlich waren«, unterbrach Becker, »glaube ich nicht, daß viele Beamte – ob hier oder in Wien – bereit wären, Sie zu verfolgen. Der Haken war berüchtigt.« Er hob fragend eine Augenbraue. »Sie haben ihn doch nicht getötet, oder?« »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Nein, ich war es nicht, aber ich glaube zu wissen, wer es war.« »Ohne die Einzelheiten der Entführung zu kennen?« fragte Becker ruhig. »Ja. Miß May – meine Haushälterin – und Miß Moneypenny sind ein Köder. Wie Sie schon sagten: Die wollen mich. Diese Leute wissen ganz genau, daß ich alles tun würde, um die Frauen zu retten, und daß ich letzten Endes mein Leben geben würde, um sie zu befreien.« »Sie sind bereit, für eine alte Jungfer und eine Kollegin, deren 485
Alter nicht genau feststeht. Ihr Leben wegzuwerfen?« »Zwei Jungfern«, sagte Bond lächelnd. »Die Antwort lautet ja. Ich würde es tun – allerdings möglichst ohne dabei meinen Kopf zu verlieren.« »Ich habe gehört, Mr. Bond, daß Sie im Laufe der Jahre viele Male beinahe Ihren Kopf verloren hätten, weil…« »Weil ich hinter jedem Rock herrenne?« sagte Bond lächelnd. »Wie bitte? Mein Englisch ist leider nicht so gut…« »Rock? Der Rock eines Mädchens – junge Frauen«, erklärte Bond. »Oh, ja. Das ist es. Unsere Akten bezeichnen Sie als eine Art St. Georg, der Drachen erschlägt, um hübsche junge Frauen zu retten. Dies ist eine ungewöhnliche Situation für Sie. Ich…« Bond unterbrach ihn scharf. »Können Sie mir sagen, was wirklich passiert ist? Wie die Entführung vor sich ging?« Kommissar Becker konnte nicht sofort antworten, weil ein Zivilbeamter das Zimmer betrat und meldete, daß die Frauen befragt worden seien. Becker ordnete an, daß der Beamte noch eine Weile bei ihnen bleiben sollte. Das Team auf dem Balkon war inzwischen fast mit der ersten Spurensicherung fertig. »Inspektor Ostens Aktennotizen sind etwas verwirrend«, sagte der Kommissar, »aber wir wissen einige Details aus seinen Verhören in der Klinik; er hat Doktor Kirchtum und einige andere Leute vernommen.« »Und?« »Nun, es scheint, als hätte Ihre Kollegin, Miß Moneypenny, die Patientin zweimal besucht. Nach dem zweiten Besuch rief sie den Herrn Direktor an und bat um die Erlaubnis, mit Miß May zusammen zu einem Konzert zu gehen. Der Arzt gab sein Einverständnis, und Miß Moneypenny kam wie abgesprochen mit einem Wagen mit Chauffeur und in Begleitung eines weiteren Mannes.« »Haben Sie die Beschreibung?« »Der Wagen war ein BMW…« »Und der Mann?« »Ein silberner BMW der 7er-Serie. Der Chauffeur war unifor486
miert, und der Mann ging mit Miß Moneypenny zusammen in die Klinik. Die Mitarbeiter, die ihn sahen, schätzen ihn auf Mitte Dreißig, helles Haar, gut gekleidet groß und muskulös.« »Und wie hat Miß Moneypenny sich verhalten?« »Etwas kurz angebunden und nervös. Miß May war guter Dinge. Eine Schwester bemerkte, daß Miß Moneypenny sie sehr umsichtig behandelte. Die Schwester meinte, es hätte ausgesehen, als hätte Ihre Miß Moneypenny Erfahrung als Pflegerin. Außerdem hatte sie den Eindruck, daß der junge Mann etwas von Medizin verstand. Er blieb die ganze Zeit dicht bei Miß May.« Der Polizist atmete scharf durch die Zähne ein. »Sie stiegen in den BMW und fuhren davon. Vier Stunden später bekam Herr Doktor Kirchtum einen Anruf mit der Mitteilung, daß die Frauen entführt worden seien. Den Rest kennen Sie.« »Wirklich?« fragte Bond. »Sie waren ja dabei. Sie fuhren nach Salzburg, dann kam die Schießerei, und danach hatten Sie Ihr unerfreuliches Erlebnis mit Inspektor Osten.« »Was ist mit dem Wagen? Mit dem BMW?« »Er wurde nicht wieder gesehen, was entweder bedeutet, daß er mit falschen Nummernschildern und vielleicht einer neuen Lackierung Österreich sehr schnell verlassen hat oder daß er irgendwo abgestellt ist, bis sich alles wieder beruhigt hat.« »Und sonst gibt es nichts?« Es schien, als hielte der Kommissar etwas zurück, als sei er nicht sicher, ob er es Bond sagen konnte. Er blickte ihm nicht in die Augen, sondern beobachtete die Männer auf dem Balkon, die Fotos machten und Messungen vornahmen. »Ja. Ja. Da ist noch etwas. Es stand nicht in Ostens Notizen, doch wir haben es den allgemeinen Aufzeichnungen im Präsidium entnommen.« Er zögerte wieder, und Bond mußte ihn drängen. »Was stand in den Akten?« »Um 15.10 Uhr, am Nachmittag der Entführung – genauer gesagt, etwa drei Stunden vor der Entführung – bekamen die Austrian Airlines in letzter Minute eine Buchung aus der Mozartklinik. Der Anrufer sagte, er müßte zwei sehr kranke Damen 487
nach Frankfurt begleiten. Es gibt einen Flug um 19.05 Uhr, OS 421, der um 20.15 in Frankfurt eintrifft. An diesem Abend waren nicht viele Plätze belegt, so daß die Buchung noch akzeptiert werden konnte.« »Und die Frauen sind geflogen?« »Erster Klasse, ja. Auf Tragen. Sie waren bewußtlos, und ihre Gesichter waren bandagiert…« Typisch KGB, dachte Bond. So machten sie es schon seit Jahren. Er erinnerte sich an den berühmten Vorfall in der Türkei, und es hatte zwei ähnliche Fälle in Heathrow gegeben. »Sie wurden von zwei Krankenschwestern und einem Arzt begleitet«, fuhr Kommissar Becker fort. »Der Arzt war ein junger, großer und gutaussehender Mann mit hellem Haar.« Bond nickte. »Und die weiteren Ermittlungen haben ergeben, daß die Buchungen nicht von der Mozartklinik aus vorgenommen wurden.« »Genau.« Der Kommissar hob die Augenbrauen. »Einer unserer Männer kam auf die Idee, die Passagiere zu verfolgen; er hat es gewiß nicht auf Inspektor Ostens Befehl getan.« »Und?« »In Frankfurt wurden sie von einem echten Krankenwagen abgeholt. Sie wurden in ein anderes Flugzeug gebracht, die Air France 749, Frankfurt ab um 20.25 Uhr, Paris an 21.30 Uhr. Die Sanitäter schafften es so gerade eben. Wir wissen nicht, was in Paris passiert ist, doch der Anruf bei Doktor Kirchtum ging um 21.45 ein. Also haben die Entführer angerufen, sobald die Opfer in sicherer Entfernung waren.« »Paris«, wiederholte Bond abwesend. »Warum Paris?« Als wollte es seine Frage beantworten, begann das Telefon zu klingeln. Becker nahm selbst ab, sagte jedoch nichts. Er wartete darauf, daß sich der Gesprächspartner vorstellte. Er blickte alarmiert zu Bond. »Für Sie«, sagte er dann, indem er ihm den Hörer gab. »Herr Doktor Kirchtum.« Bond nahm den Hörer und meldete sich. Kirchtums Stimme klang immer noch sehr voll, doch offensichtlich hatte er große Angst. Seine Stimme zitterte vernehmlich, und zwischen den 488
Worten machte er große Pausen, als drängte ihn jemand. »Herr Bond«, begann er, »Herr Bond, ich habe eine Pistole… sie haben eine Pistole… sie zielt auf mein linkes Ohr, und sie sagen, wenn ich Ihnen nicht übermittle, was sie wollen, werden sie schießen.« »Weiter«, sagte Bond ruhig. »Sie wissen, daß die Polizei da ist. Sie wissen, daß Sie den Auftrag haben, nach Wien zu fahren. Das sollte ich Ihnen als erstes sagen.« Also war das Telefon angezapft, dachte Bond. Sein Anruf in Wien war abgehört worden. Kirchtum fuhr mit schwankender Stimme fort. »Sie dürfen der Polizei nicht sagen, wohin Sie fahren.« »Nein. Okay. Was soll ich sonst tun?« »Sie sagen, sie haben für Sie ein Zimmer im Goldenen Hirsch reserviert…« »Das ist unmöglich. Dort muß man Monate im voraus buchen.« Das Zittern in seiner Stimme wurde immer deutlicher. »Ich versichere Ihnen, daß für diese Leute nichts unmöglich ist, Herr Bond. Sie wissen, daß Sie mit zwei Damen reisen. Sie sagen, für die beiden seien ebenfalls Zimmer reserviert. Es ist nicht die Schuld der Damen, daß sie… daß sie… Entschuldigung, ich kann die Schrift nicht lesen… ah, daß sie hineingezogen wurden. Die Damen werden dann vorläufig im Goldenen Hirsch bleiben, verstehen Sie?« »Ich verstehe,« »Sie sollen ebenfalls dort bleiben, bis Instruktionen kommen. Sie werden der Polizei sagen, daß sie Sie in Ruhe lassen soll. Sie werden auf keinen Fall mit Ihren Leuten in London Kontakt aufnehmen, auch nicht über Ihren Mann in Wien. Ich soll Sie fragen, ob Sie das verstanden haben.« »Ich habe verstanden.« »Sie sagen, das ist gut; denn wenn Sie sich nicht daran halten, werden Miß May und ihre Freundin keines natürlichen Todes sterben.« »Ich habe verstanden!« rief Bond in den Hörer. 489
Es gab ein kurzes Schweigen. »Die Herren hier möchten Ihnen ein Tonband vorspielen. Sind Sie bereit?« »Bitte.« Es klickte, und dann hörte Bond Mays unsicher schwankende Stimme. Er erkannte sie sofort. »Mr. James, einige ausländische Freunde von Ihnen glauben anscheinend, ich wäre leicht einzuschüchtern. Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Mister…« Es klatschte laut als sie geohrfeigt wurde, dann war Moneypennys verängstigte Stimme zu hören, deutlich, als stünde sie hinter ihm. »James!« rief sie. »Mein Gott, James… James…« Plötzlich ertönte ein gräßlicher, schriller Schrei; offenbar war es May. Bond lief es kalt den Rücken herunter. Es reichte schon, daß er sich den Mächten ergeben mußte, die die beiden Frauen gefangenhielten. Aber um die kluge alte May so aufschreien zu lassen, mußte etwas wirklich Gräßliches passiert sein. Bond war fast bereit, sie aufzugeben. Er legte auf. Becker starrte ihn an. »Schade, daß Sie nichts von der Unterhaltung gehört haben.« »Welche Unterhaltung?« fragte Becker mit unbewegtem Gesicht.
9. Der Vampir Salzburg war überfüllt – eine Menge Amerikaner wollten vor ihrem Tod unbedingt noch Europa sehen, und eine gleichgroße Anzahl von Europäern wollte noch einmal Europa sehen, ehe es sich in eine Art Außenstelle des Times Square verwandelte. Das Hotel Goldener Hirsch hatte sich jedoch gut gehalten; seine Atmosphäre, sein Komfort und seine Gastfreundlichkeit beruhten auf einer achthundertjährigen Geschichte. Sie mußten einen der Festspielparkplätze benutzen und ihr Gepäck zu dem Hotel tragen, das in der Altstadt in einer Fußgängerzone lag, ganz in der Nähe der übervölkerten, malerischen Getreidegasse mit ihren kunstvoll geschnitzten Fenstereinfassungen und den vergoldeten Firmenschildern. 490
»Wie, im Namen des heiligen St. Michael, haben Sie im Goldenen Hirsch Zimmer bekommen?« fragte Nannie. »Beziehungen«, sagte Bond trocken. »Warum St. Michael?« »Erzengel Michael, der Schutzpatron der Leibwächter und Wachleute.« Bond dachte bei sich, daß er alle Hilfe brauchen konnte, die ihm die Engel geben konnten. Der Himmel allein mochte wi ssen, welche Instruktionen er innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden bekommen würde – und ob er sie in Form einer Kugel oder eines Messers erhalten würde. Bevor sie den Bentley zurückließen, räusperte Nannie sich. »James«, begann sie steif, »Sie sagten vor kurzem etwas, das Sukie schrecklich fand, und ich bin damit auch nicht sehr glücklich.« »Oh?« »Sie sagten, wir müßten Sie vermutlich nur noch etwa vierundzwanzig Stunden ertragen.« »Ja, so ist es.« »Nein! Nein, so ist es nicht.« »Sie wurden zufällig in eine möglicherweise sehr gefährliche Geschichte hineingezogen. Mir blieb keine andere Wahl. Sie waren beide sehr mutig, und Sie haben mir sehr geholfen, aber schön war es nicht, Ich wollte nur sagen, daß Sie beide innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden herauskommen.« »Wir wollen aber nicht herauskommen«, sagte Nannie ruhig. »Ja, es war übel«, begann Sukie, »aber wir haben das Gefühl, daß Sie unser Freund sind, Sie haben Schwierigkeiten, und…« »Sukie hat mich instruiert, bei Ihnen zu bleiben. Ich soll Sie bewachen. James, und weil ich dabei bin, wird sie auch hierbleiben.« »Das ist vielleicht nicht möglich.« Bond sah abwechselnd die beiden Mädchen an, und seine blauen Augen blickten hart und bestimmt. »Es muß aber möglich sein.« Sukie war ähnlich entschlossen. »Hören Sie, Sukie, es ist sehr wahrscheinlich, daß ich Anweisungen von sehr überzeugenden Menschen bekomme. Sie 491
könnten verlangen, daß Sie zurückbleiben, daß ich mich von Ihnen trenne und daß Sie Ihre eigenen Wege gehen.« Nannie sprach ebenfalls sehr bestimmt. »Tja, wie schade, wenn Ihr Weg dann zufällig auch unserer ist, James. Und damit wäre das wohl erledigt.« Bond zuckte die Achseln. Die Zeit würde zeigen, was zu tun war. Möglicherweise wurde ihm sowieso befohlen, die Frauen mitzunehmen – als Geiseln. Wenn nicht, würde er schon einen Weg finden, im richtigen Augenblick unbemerkt zu verschwi nden. Die dritte Möglichkeit war, daß sie alle hier, im Goldenen Hirsch, sterben würden, was alle weiteren Fragen von vornherein erledigte. »Ich brauche vielleicht Briefmarken«, sagte Bond leise zu Sukie, während sie sich dem Hotel näherten. »Eine ganze Menge. Genug für ein kleines Päckchen nach Großbritannien. Könnten Sie sie besorgen? Lassen Sie den Portier ein paar nichtssagende Postkarten für Sie abschicken, und kaufen Sie bei der Gelegenheit die Briefmarken,« »Natürlich, James«, antwortete sie. Der Goldene Hirsch ist nach der Meinung vieler Menschen das beste Hotel in Salzburg – ein bezauberndes, elegantes und malerisches Haus, wenn die Leitung auch ziemlich damit angab. Die Angestellten sind in die Tracht dieser Region gekleidet, und in den Zimmern finden sich viele Relikte der österreichischen Geschichte. Bond dachte, daß sein Zimmer ohne weiteres als Kulisse für Amadeus hätte dienen können. Als der Träger hinausging und diskret die Tür schloß, hörte Bond im Geiste wieder Kirchtums Warnung: »Sie werden die Instruktionen abwarten… Sie werden auf keinen Fall Kontakt mit Ihren Leuten in London aufnehmen.« Also war es, zumindest im Augenblick, völlig ausgeschlossen, mit London oder Wien zu telefonieren und einen Bericht durchzugeben. Wer auch immer die Buchung vorgenommen hatte, hatte sicher auch das Telefon angezapft. Selbst wenn er den CC500 benutzte, mußten sie so viel verstehen, daß er mit irgend jema ndem Kontakt aufnahm. Trotzdem mußte er das Hauptquartier 492
informieren. Aus der zweiten Aktentasche nahm Bond zwei winzige Bandgeräte, überprüfte die Batterie und stellte sie so ein, daß sie aktiviert wurden, sobald gesprochen wurde. Er spulte die Bänder zurück und verband ein winziges Mikrophon, nicht größer als ein Weizenkorn, mit dem Telefon. Das zweite Gerät legte er deutlich sichtbar auf die Minibar. Er wurde müde. Er hatte sich mit den anderen für sechs Uhr zum Abendessen in der berühmten Bar des Hotels verabredet. Bis dahin wollten sie ruhen. Er ließ eine Kanne schwarzen Kaffee und einen Teller Rührei heraufbringen. Während er wartete, untersuchte Bond das Zimmer und das kleine, fensterlose Bad. Hinter soliden, gläsernen Schiebetüren war eine Dusche. Er nickte erfreut und beschloß, später zu duschen. Er hängte gerade seine Anzüge im Schrank auf, als der Kellner mit frischem, starkem Kaffee und den perfekt angerichteten Eiern kam. Nachdem er gegessen hatte, hängte er das ›NICHTSTÖREN‹-Schild vor die Tür, legte die ASP in Reichweite und machte es sich in einem der Lehnstühle bequem. Nach einer Weile schlief er ein und träumte, er sei Kellner in einem Cafe auf dem Kontinent. Er rannte zwischen der Küche und den Tischen hin und her, um M, Tamil Rahani, den inzwischen verstorbenen Giftzwerg, Sukie und Nannie zu bedienen. Kurz bevor er aufwachte, brachte er Sukie und Nannie Tee und eine gewaltige Buttercremetorte, die zu Sägemehl zerfiel, als sie sie anschneiden wollten. Es schien ihnen aber nichts auszumachen, denn sie bezahlten die Rechnung und ließen ihm Schmuck als Trinkgeld zurück. Als er eine goldene Halskette aufheben wollte, glitt sie ihm aus den Fingern und fiel mit lautem Knall auf einen Teller. Bond fuhr erschrocken auf, überzeugt, der Krach sei real gewesen, doch er hörte nur Straßengeräusche, die durch das Fenster hereindrangen. Er streckte sich, steif und unbehaglich, nachdem er im Sessel geschlafen hatte, und blickte auf seine Edelstahl-Rolex. Er war erstaunt, als er sah, daß er mehrere Stunden geschlafen hatte. Es war fast halb fünf. Mit glasigen Augen ging er ins Badezimmer, knipste das Licht 493
an und öffnete die Tür der Dusche. Eine heiße Dusche und danach eine eiskalte, dann rasieren und die Kleider wechseln, und er wäre ein neuer Mensch. Er stellte die Dusche an, schloß die Tür und begann sich auszuziehen. Er wunderte sich darüber, daß seine Gegner sich mit den Anweisungen soviel Zeit ließen. Wenn er die Entführung organisiert hätte, dann hätte er sofort zugeschlagen, nachdem sein Opfer im Hotel angekommen wäre und hätte ihn weitergeleitet, da er wegen einer schlaflosen Nacht ohnehin schon in schlechter Verfassung war. Er ging nackt ins Zimmer zurück und nahm die ASP und den Stab in die Dusche mit, wo er sie direkt vor der Kabine unter einem Stapel Handtücher versteckte. Dann prüfte er die Wassertemperatur und trat unter den Strahl. Er schloß die Schiebetür, begann sich zu waschen und rieb sich kräftig mit einem rauhen Waschlappen ab. Als ihm heiß wurde und er fand, daß er sauber genug war, veränderte er die Einstellung der Regler und ließ das Wasser kälter werden, bis er unter einem fast eiskalten Strahl stand. Die Kälte durchfuhr ihn, als wäre er in einen Schneesturm hinausgetreten. Er spürte, wie seine Lebensgeister wieder erwachten, drehte das Wasser ab und schüttelte sich wie ein Hund. Dann streckte er den Arm aus, um die Tür aufzuschieben. Plötzlich war er alarmiert. Er konnte die Gefahr fast riechen. Bevor er den Türgriff packen konnte, erloschen die Lampen, so daß er einen Augenblick die Orientierung verlor. Er verfehlte den Griff, die Tür glitt ein Stück auf und fiel mit einem Knall wieder zu. Er wußte, daß er nicht mehr allein war. In der Dusche war noch etwas, wischte über sein Gesicht, klatschte wild gegen seinen Körper und die Wände der Kabine. Bond tastete verzweifelt mit einer Hand nach der Tür, wä hrend er mit dem Waschlappen um sich schlug, um das Tier abzuwehren, das in die Dusche eingedrungen war. Doch als er den Griff fand und daran zog, gab die Tür nicht nach. Je kräftiger er zog, desto heftiger wurden die Angriffe des Tiers. Er spürte 494
Krallen in seiner Schulter, dann im Hals, doch er schaffte es, das Biest zu lösen, während er mit der anderen Hand an der Tür rüttelte, die sich immer noch nicht rühren wollte. Das Ding hielt einen Augenblick inne, als bereitete es sich auf einen letzten Angriff vor. Dann hörte er Sukies Stimme, weit entfernt und hell und aufreizend. »James? James? Wo, um Himmels willen, sind Sie?« »Hier! Im Bad! Holen Sie mich raus!« Einen Augenblick später ging das Licht wieder an, und er sah Sukies Silhouette hinter den Scheiben. Jetzt konnte er auch den Angreifer sehen. Er hatte so etwas bisher nur im Zoo gesehen, und noch nie so groß. Auf dem Duschgestänge saß eine gewaltige Vampirfledermaus, die ihn mit ihren bösen, blanken Augen anstarrte. Das Maul mit den rasiermesserscharfen Zä hnen war halb geöffnet, und das Tier breitete gerade die Flügel aus, um wieder anzugreifen. Er schlug mit dem Waschlappen und rief: »Öffnen Sie die Dusche, schnell!« Die Tür glitt auf. »Raus hier, Sukie, schnell. Raus!« Bond wollte die Tür schließen, bevor die Fledermaus wieder angreifen konnte. Er stürzte seitlich ins Badezimmer und zog im Fallen die Tür ganz zu. Er rollte über den Boden und griff nach den Waffen unter den Handtüchern. Er wußte natürlich, daß ihn eine Vampirfledermaus nicht töten konnte, doch wenn er daran dachte, welche Krankheiten ihr Biß übertragen konnte, wurde ihm schwindlig. Und er war zu langsam gewesen, denn das Tier war ins Badezimmer entkommen. Er rief Sukie zu, die Tür zu schließen und draußen zu warten. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, was er jemals über die Vampirfledermaus gelernt hatte, sogar ihr lateinischer Name: Desmodus rotundus. Es gab drei Arten. Normalerweise jagten sie nachts, schlichen sich an ihre Beute heran und verbissen sich mit ihren unglaublich scharfen Zahnen in unbehaarten Körperteilen des Opfers. Sie saugten ihm das Blut aus und sonderten gleichzeitig gerinnungshemmenden Speichel ab. 495
Und der Speichel konnte üble Krankheitserreger in den Körper des Opfers transportieren – Tollwut und andere tödliche Viren. Diese Fledermaus war offensichtlich eine Kreuzung, und ihr Speichel barg sicherlich einige besonders unangenehme Überraschungen. Durch die Beleuchtung des Badezimmers hatte sie die Orientierung verloren, doch sie brauchte anscheinend dringend Blut, und sie würde alles versuchen, um ihre Zähne in Bonds Haut senken zu können. Der Körper war etwa siebenundzwanzig Zentimeter lang, die Spannweite der Flügel betrug etwa sechzig Zentimeter – mehr als das Dreifache der normalen Größe dieser Art. Als hätte sie Bonds Gedanken gespürt, hob die riesige Fledermaus die Vorderbeine, öffnete die Flügel und bereitete sich auf einen schnellen Angriff vor. Bonds rechte Hand zuckte nach unten, und der Stab sprang zu seiner vollen Länge heraus. Er hieb mit der Waffe heftig in die Richtung des Angreifers, traf jedoch eher durch Glück als durch richtiges Abschätzen; denn Fledermäusen mit ihrem radarähnlichen Sinn fällt es an sich leicht, Gegenständen in ihrer Flugbahn auszuweichen. Wahrscheinlich hatte das ungewohnte Licht ihre Reflexe verlangsamt, denn der Stahlstab traf voll den Kopf. Das Tier schleuderte durch den Raum und prallte vor die Duschkabine. Bond war mit einem Schritt über dem zuckenden, sich windenden Tier, und wie ein Wahnsinniger schlug er immer wieder zu. Er wußte, was er tat, und er wußte, daß seine Angst dabei keine kleine Rolle spielte. Während er immer wieder auf den zuckenden Körper einschlug, dachte er an die Männer, die diesen Anschlag vorbereitet hatten, um ihn zu töten – denn er hatte keinen Zweifel daran, daß der Speichel dieses Vampirs etwas enthielt, das ihm einen raschen, schmerzvollen Tod gebracht hätte. Als das Tier tot war, warf er den Stab in die Dusche, stellte den Strahl an und ging ins Schlafzimmer. Zur Standardausrüstung seines Erste-Hilfe-Sets gehörte auch ein Desinfektionsmittel. Er hatte vergessen, daß er nackt war. »Tja, jetzt hab’ ich alles gesehen. Wir sind quitt«, sagte Sukie 496
ohne zu lächeln. Sie saß auf einem Stuhl. Und sie hatte eine kleine Pistole, die Nannies Waffe sehr ähnlich war, in der rec hten Hand. Sie zielte zwischen seine Beine.
10. DER MOZART-MANN Sukie starrte Bond einen Augenblick an, dann senkte sie den Blick zu ihrer Waffe. »Ein hübsches kleines Ding, was?« sagte sie. Sie lächelte, und er glaubte, Erleichterung in ihren Augen zu entdecken. »Hören Sie auf, damit auf mich zu zielen. Sichern Sie das Ding und stecken Sie’s weg. Sukie.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Sie aber auch, James.« Plötzlich wurde Bond bewußt, daß er immer noch nackt war. Er schnappte sich den Bademantel des Hotels, während Sukie ihre kleine Pistole unter dem Rock verstaute. »Nannie hat mir das Ding gegeben, es ist das gleiche wie ihres.« Sie beobachtete ihn, während sie ihren Rock herunterzog. »Ich habe die Briefmarken gekauft, James. Was war denn da im Bad los? Einen Augenblick dachte ich. Sie hätten ernsthafte Schwierigkeiten.« »Hatte ich auch, Sukie. Sehr unangenehme Schwierigkeiten in der Gestalt einer gezüchteten, übergroßen Vampirfledermaus, ein Tier, das in Europa, und besonders mitten in Salzburg, nicht vorkommt. Irgend jemand hat sich viel Mühe mit den Vorbereitungen gegeben.« »Eine Vampirfledermaus?« Sie hob erstaunt die Stimme. »James! Die hätte Sie…« »… töten können. Das Tier war gewiß mit Schlimmerem als Tollwut oder Beulenpest infiziert. Übrigens, wie sind Sie hereingekommen?« »Ich habe geklopft, aber Sie haben nicht reagiert.« Sie legte einen Streifen Briefmarken auf den Tisch. »Dann bemerkte ich, daß die Tür offen war. Erst als ich den Krach im Badezimmer hörte, schaltete ich das Licht ein. Irgend jemand hat die Tür der Dusche mit einem Stuhl verklemmt. Zuerst hielt ich es für einen 497
Scherz – Nannie denkt sich immer solche Sachen aus –, doch dann hörte ich Sie rufen. Ich trat den Stuhl beiseite und machte mich bereit.« »Mit der geladenen Pistole.« »Nannie zeigte mir, wie man damit umgeht. Sie scheint es für nötig zu halten.« »Und ich glaube, es ist nötig, daß Sie beide aus dieser Sache herauskommen; aber mein Glaube allein wird nicht helfen. Würden Sie mir noch einen Gefallen tun?« »Was immer Sie wünschen, James.« Ihre Haltung war verdächtig weich, fast nachgiebig. Bond fragte sich, ob ein Mädchen wie Sukie Tempesta mit einer gefährlichen, übergroßen Vampirfledermaus fertig geworden wäre. Andererseits, dachte er, war Principessa Tempesta sicherlich dazu fähig. »Besorgen Sie mir bitte Gummihandschuhe und eine große Flasche Desinfektionsmittel.« »Eine bestimmte Marke?« Sie stand auf. »Etwas sehr Starkes.« Nachdem sie gegangen war, nahm Bond die kleine Flasche aus dem Erste-Hilfe-Set und rieb sich ganz mit Desinfektionsmittel ein. Um den starken Geruch des Mittels zu unterdrücken, benutzte er anschließend Eau de Cologne. Er dachte darüber nach, wie er am besten die Tierleiche beseitigen könnte. Eigentlich müßte sie verbrannt und das Bad desinfiziert werden. Doch Bond konnte kaum zum Hotelmanager gehen und ihm erklären, was passiert war. Reichlich Desinfektionsmittel, ein paar Plastiktüten des Hotels und ein Gang zur Mülltonne mußten reichen, dachte er. Er zog seinen grauen Cardin-Anzug an, ein hellblaues Hemd von Hilditch and Key of Jermyn Street und eine blauweiß gesprenkelte Krawatte. Dann klingelte das Telefon, und Bond nahm mit einem raschen Blick zum Bandgerät den Hörer ab. Die winzige Kassette begann sich zu drehen, als er sich meldete. »Ja.« »Mr. Bond? Sind Sie es, Mr. Bond?« Es war Kirchtum; er 498
keuchte und hatte offensichtlich große Angst. »Ja, Herr Direktor. Geht es Ihnen nicht gut?« »Physisch schon. Sie sagen, ich soll die Wahrheit sagen und Ihnen sagen, was ich für ein Dummkopf war.« »Oh?« »Ja, als ich mich weigerte, Ihnen weitere Instruktionen zu geben. Ich sagte ihnen, das sollten sie selbst tun.« »Und sie haben es nicht sehr freundlich aufgenommen.« Bond hielt inne, fuhr dann fort, um die wichtige Angabe auf das Band zu bekommen: »Besonders, nachdem Sie mir schon gesagt hatten, daß ich mit den beiden Damen hierher zum Goldenen Hirsch in Salzburg kommen soll.« »Ich muß Ihnen die Instruktionen rasch geben, sagen sie, sonst benutzen sie wieder den Strom.« Der Mann schien fast zu weinen. »Sprechen Sie, so schnell Sie wollen.« Bond wußte, was Kirchtum meinte – die alte, brutale und sehr effektive Methode, Elektroden an den Genitalien zu befestigen. Alte Überredungsmethoden waren oft wirkungsvoller als die modernen Verhörtechniken. Kirchtum sprach immer schneller, seine Stimme wurde vor Angst etwas schrill, und Bond konnte fast sehen, wie sie neben ihm standen, die Hand auf den Schalter gelegt. »Sie sollen morgen nach Paris fahren. Dazu brauchen Sie höchstens einen Tag. Sie müssen den direkten Weg fahren, und für Sie sind Zimmer im George Cinq reserviert.« »Sollen die Damen mitkommen?« »Das ist sehr wichtig… verstehen Sie? Bitte sagen Sie, daß Sie verstanden haben, Mr. Bond…« »Ich…« Ein schriller Schrei unterbrach ihn. War der Schalter umgelegt worden, um den Arzt zu ermutigen? »Ich verstehe.« »Gut.« Jetzt sprach nicht mehr der Arzt, sondern eine hohle, verzerrte Stimme. »Gut. Damit ersparen Sie den beiden Frauen, die wir festhalten, einen sehr unangenehmen, langwierigen Tod. Wir sprechen uns in Paris, Bond,« Es wurde aufgelegt, und Bond spulte das Band in dem winzi499
gen Recorder zurück. Er hörte es durch den kleinen Lautsprecher ab. Zumindest diese Informationen konnte er nach Wien oder London übermitteln. Die Stimme, die zuletzt gesprochen hatte, war vielleicht ebenfalls eine kleine Hilfe. Selbst wenn die Männer, die Kirchtum in der Mozartklinik unter Druck setzten, einen elektronischen Sprachverzerrer benutzten, bestand immer noch die Chance, daß das Hauptquartier die Verzerrung rückgängig machen konnte. Wenn sie die Stimme identifizieren konnten, würde M sicher bald wissen, mit welcher Organisation Bond es zu tun hatte. Er nahm die kleine Kassette aus dem Gerät und brach die Sicherheitslasche heraus, damit sie nicht versehentlich gelöscht wurde. Dann beschriftete er einen dicken Umschlag mit M’s Tarnadresse als Leiter der Transworld und schrieb eine Postfachnummer darauf. Er schrieb ein paar Worte auf ein Blatt Papier und wickelte die Kassette hinein. Dann versiegelte er den Umschlag, schätzte das Gewicht ab und frankierte ihn. Er war gerade mit dieser wichtigen Aufgabe fertig, als Sukie klopfte. Sie brachte ihre Einkäufe in einer braunen Plastiktüte mit, und anscheinend wollte sie bei ihm bleiben, doch Bond sagte, sie solle mit Nannie in der gemütlichen Bar auf ihn warten. Er brauchte eine Viertelstunde und fast die ganze Flasche Desinfektionsmittel, um, mit den Gummihandschuhen geschützt, das Bad zu säubern. Als er fertig war, warf er die Handschuhe zu der toten Vampirfledermaus in die Tüte. Er war einigermaßen sicher, daß er nicht infiziert worden war. Während er arbeitete, dachte er darüber nach, wer hinter diesem Anschlag auf sein Leben stecken konnte. Er war fast sicher, daß sein alter Feind, die SMERSH – inzwischen Abteilung S, Sektion Acht des KGB – Kirchtum festhielt und als Vermittler benutzte. Doch war es wirklich ihr Stil, eine speziell gezüchtete Riesenfledermaus gegen ihn einzusetzen? Wer, fragte er sich, hatte die Möglichkeit, eine so schreckliche Waffe zu entwickeln? Ihm fiel ein, daß das Tier sicher mehrere Jahre gebraucht hatte, um zu dieser Größe heranzuwachsen, und das wies auf eine große Organisation hin, die über Geld 500
und entsprechende Spezialisten verfugte. Vermutlich war das Tier in einer warmen, waldreichen Gegend gezüchtet worden; wenn seine Erinnerung nicht trog, lebte diese Art in den Dschungeln und Wäldern von Mexiko, Chile, Argentinien und Uruguay-Geld, die entsprechenden Einrichtungen, Zeit und skrupellose Zoologen: wahrscheinlich SPECTRE, wenn auch jede andere mit genügend Geld ausgestattete terroristische Bande in Frage kam. Das Tier war sicher nicht das einzige seiner Art. Die Bulgaren und Tschechen liebten ein derartiges Vorgehen, und er konnte nicht einmal die Kubaner ausschließen; auch sie konnten einen gut ausgebildeten Mann im Rennen haben. Die Ehrenwerte Gesellschaft, ein freundlicher Ausdruck für die Mafia, kam ebenfalls in Frage – immerhin verkauften sie Waffen und anderes an Terroristenorganisationen, wenn sie sicher sein konnten, daß diese nicht innerhalb der Vereinigten Staaten, in Sizilien oder Italien eingesetzt würden. Doch wenn er es sich recht überlegte, war SPECTRE selbst immer noch die wahrscheinlichste Möglichkeit – und wieder einmal hatte ihn jemand im letzten Augenblick vor seiner Hinrichtung bewahrt; dieses Mal war es Sukie gewesen, eine junge Frau, die er scheinbar durch Zufall kennengelernt hatte. Ob sie in Wirklichkeit ein gefährlicher Gegner war? Er rief die Küche an und erklärte sehr freundlich, daß er Lebensrnittel in seinem Wagen vergessen hätte. Er fragte, ob es eine Verbrennungsanlage gebe, und ein Angestellter des Hotels wurde heraufgeschickt, um ihm zu helfen. Er bot sich an, das Päckchen zu beseitigen, doch Bond gab ihm ein dickes Trinkgeld und sagte, er wollte selbst sehen, wie es verbrannte. Es war zwanzig nach sechs. Bevor er in die Bar ging, suchte er noch einmal sein Zimmer auf und überdeckte die Reste des Desinfektionsgeruchs mit reichlich Kölnisch Wasser. Sukie und Nannie brannten darauf zu erfahren, was er in der Zwischenzeit getan hatte, doch Bond sagte nur, daß sie bald alles erfahren würden. Im Augenblick sollten sie die angenehmen Seiten des Lebens genießen. Nach einem Drink in der gemütlichen Bar zogen sie an den Tisch um, den Nannie reserviert hatte. Sie aßen das berühmte Wiener Gericht – Tafelspitz. 501
Es war unvergleichlich, ein gastronomischer Genuß mit pikanter Gemüsesauce und überbackenen Kartoffeln. Sie hatten keine Vorspeise gewählt, weil sie sich die berühmten österreichischen Nachspeisen nicht entgehen lassen wollten. Sie entschieden sich für Salzburger Souffle, das angeblich vor dreihundert Jahren von einem Küchenmeister der Feste Hohensalzburg entwickelt worden war. Die Nachspeise wurde mit einem gewaltigen Berg Schlagsahne serviert. Danach wanderten sie zwischen den Touristen durch die Getreidegasse. Bond hatte diese Umgebung gewählt, weil er sicher sein wollte, daß sie nicht abgehört werden konnten. »Ich platze gleich«, sagte Nannie, während sie mit einer Hand über ihren Bauch strich. »Wir können ein gutes Essen als Unterlage brauchen, denn die Nacht hält sicher noch einiges für uns bereit.« »Alles leere Versprechungen«, murmelte Sukie schwer atmend. »Ich komme mir vor wie ein Luftballon. Was liegt noch an, James?« Er erklärte, daß sie nach Paris fahren würden. »Sie haben erklärt, daß Sie auf jeden Fall bei mir bleiben wo llen. Die Leute, die mich herumscheuchen, haben ebenfalls darauf bestanden, daß Sie mich begleiten, und ich muß sicher sein, daß Sie es auch tun. Das Leben einer guten Freundin und einer lieben Kollegin stehen auf dem Spiel. Mehr kann ich nicht sagen.« »Natürlich kommen wir mit«, schnappte Sukie. »Versuchen Sie mal, uns davon abzuhalten.« »Ich werde mich allerdings nicht ganz genau an die Anweisungen halten«, erklärte er. »Die Instruktionen besagen, daß wir morgen losfahren sollen – was bedeutet, daß sie uns im Laufe des Tages erwarten. Doch wir werden schon kurz nach Mitternacht aufbrechen. Auf diese Weise kann ich einen kleinen Vorsprung herausholen, so daß wir eine Nasenlänge vorn liegen. Es ist nicht viel, aber es könnte ein kleiner Vorteil sein.« Sie verabredeten sich für Schlag Mitternacht am Wagen. Auf dem Rückweg zum Goldenen Hirsch warf Bond sein Päckchen in einen Briefkasten. Er bewegte sich rasch, und er war sicher, 502
daß nicht einmal Sukie oder Nannie etwas bemerkten. Um kurz nach zehn Uhr betrat er wieder sein Zimmer. Um halb elf hatte er seine Aktentasche und den Koffer gepackt, lockere Jeans und eine Jacke angezogen. Die letzten anderthalb Stunden verbrachte Bond damit, sich zu überlegen, wie er bei dieser verrückten, gefährlichen Kopfjagd die Initiative übernehmen konnte. Bisher waren die Anschläge auf sein Leben sehr durchdacht gewesen. Bei den ersten Gelegenheiten hatte allerdings jemand eingegriffen und ihn gerettet; vermutlich, um ihn für einen letzten, dramatischen Akt aufzusparen. Er wußte, daß er niemandem trauen konnte – besonders Sukie nicht, nachdem sie ihn, wie zufällig auch immer es schien, gerettet hatte. Doch wie konnte er die Situation in den Griff bekommen? Plötzlich dachte er an Kirchtum, der in seiner eigenen Klinik gefangengehalten wurde. Das letzte, was sie erwarten würden, war ein Angriff auf diese Basis. Eine Fahrt mit dem Auto zur Mozartklinik hinaus würde eine Viertelstunde dauern, und er harte nicht viel Zeit. Wenn er das richtige Auto fand, war es vielleicht möglich. Bond verließ sein Zimmer und eilte nach unten zum Empfang. Er fragte, ob er sofort einen Mietwagen bekommen könnte. Endlich hatte er einmal Glück. Es gab einen Saab 900 Turbo, einen Wagen, den er gut kannte. Der Wagen war gerade erst zur Vermietung zurückgekommen. Einige kurze Anrufe sicherten ihm das Auto. Es war nur vier Minuten zu Fuß vom Hotel entfernt geparkt. Während der Kassierer seine Kreditkartennummer eintrug und die Formulare ausfüllte, ging er zum Haustelefon und wählte Nannies Nummer. Sie meldete sich sofort. »Sagen Sie nichts«, sagte er leise. »Warten Sie in Ihrem Zimmer. Möglicherweise muß unsere Abfahrt um eine Stunde verschoben werden. Sagen Sie Sukie Bescheid.« Sie willigte ein, schien jedoch überrascht. Als er zum Empfang zurückkehrte, waren die Formalitäten erledigt. Fünf Minuten später übernahm er den Wagen von einem strahlenden Mitarbeiter und fuhr vorsichtig über eine Gebirgsstraße in südlicher Richtung aus Salzburg hinaus. Er passierte 503
in Anif einen seltsamen Wasserturm, der wie ein englisches Herrenhaus mitten in einem Teich stand. Kurz vor dem Ort Hallein, der aus einer Inselfestung in der Salzach entstanden und als Geburtsort von Franz-Xaver Gruber, dem Komponisten von Stille Nacht, Heilige Nacht, bekannt war, bog er ab. Die Mozartklinik lag etwa zwei Kilometer vor Hallein ein gutes Stück von der Straße entfernt, so daß ihr im siebzehnten Jahrhundert errichtetes Hauptgebäude hinter Bäumen verborgen war. Bond zog den Saab an den Straßenrand und schaltete Scheinwerfer und Motor aus. Dann ließ er das Lenkradschloß einrasten und stieg aus. Einige Minuten später duckte er sich hinter den Holzzaun und schob sich vorsichtig durch die Bäume, während er ständig zur Klinik hinüberspähte. Er wußte nicht, wie das Gebäude gesichert war und mit wem er es jetzt aufnahm. Als er den Waldrand erreichte, ging der Mond auf. Aus vielen der hohen Fenster in der Vorderfront des Hauses fiel Licht, doch das ganze Gelände war dunkel. Sobald sich seine Augen auf die Umgebung eingestellt hatten, mußte er rasch die etwa hundert Meter breite Freifläche vor der Klinik überwinden. Auf der weiten Kieszufahrt waren vier Wagen abgestellt, doch dort rührte sich nichts. Er zog vorsichtig die ASP und hielt sie in der rechten Hand. Mit der linken nahm er den Stock und öffnete ihn. Dann verließ er seine Deckung und rannte rasch und leise über das Gras, wobei er der Kieszufahrt auswich. Immer noch keine Bewegung, kein Geräusch. Er erreichte den Platz vor dem Haupteingang und dachte nach, um sich an die Lage des Büros des Direktors zu erinnern. Irgendwo rechts, dachte er; er erinnerte sich an Mays Einweisung in die Klinik, als er aus den großen Fenstern nach unten geblickt hatte. So hatte er eine Orientierung; es waren Flügelfenster gewesen, und direkt rechts sah er ein Flügelfenster, durch dessen zugezogene Vorhänge Lichtbalken fielen. Er schlich zum Fenster, erkannte mit klopfendem Herzen, daß es geöffnet war. Er hörte gedämpfte Stimmen. Wenn er sich konzentrierte, konnte er sogar die Worte verstehen: 504
»Sie können mich nicht ewig hier festhalten – auch nicht, wenn Sie zu dritt sind.« Es war der Direktor. Seine Stimme klang lange nicht mehr so energisch wie früher; er sprach in einem eher bittenden Tonfall. »Haben Sie denn immer noch nicht genug angerichtet?« »Bisher ist es gut gelaufen«, sagte eine andere Stimme. »Sie haben in gewisser Weise mit uns zusammengearbeitet, Herr Direktor, doch wir können kein Risiko eingehen. Wir werden erst verschwinden, wenn Bond gefangen ist und unsere Leute in Sicherheit sind. Unser Kurzwellensender funktioniert ausgezeichnet, und Ihre Patienten haben keinen Schaden genommen. Noch einmal vierundzwanzig oder vielleicht achtundvierzig Stunden werden für Sie keinen Unterschied machen. Irgendwann werden wir Sie in Frieden ruhen lassen.« »Stille Nacht, Heilige Nacht«, sang eine dritte Stimme. Bond lief es kalt den Rücken herunter. Er drückte sich näher ans Fenster, legte die Finger in den Spalt. »Sie wollen doch nicht…« Kirchtums Stimme zitterte vor Furcht; es war keine hysterische Furcht, sondern echte Todesangst. »Sie haben unsere Gesichter gesehen, Herr Direktor. Sie wi ssen, wer wir sind.« »Ich würde niemals…« »Denken Sie nicht einmal daran. Wenn Bond in Paris eintrifft, müssen Sie für uns noch einmal eine Nachricht übermitteln. Danach… nun, wir werden sehen.« Bond schauderte. Er hatte eine Stimme erkannt, die er nie im Leben in dieser Situation zu hören geglaubt hatte. Er holte tief Luft und verbreiterte vorsichtig den Spalt zwischen den Fensterflügeln. Dann verschob er die Vorhänge ein winziges Stück, um in den Raum zu blicken. Kirchtum war an einen altmodischen, lederbezogenen Schreibtischstuhl gefesselt. Drei Beine standen auf Isolierma tten. Das Bücherregal hinter ihm war ausgeräumt, und statt der Bücher stand ein großer Sender darin. Vor dem Funkgerät saß ein breitschultriger Mann, ein zweiter stand hinter Kirchtum, und der dritte stand breitbeinig vor dem Direktor. Bond erkannte ihn 505
sofort; es war der Mann, dessen Stimme er einen Augenblick zuvor gehört hatte. Er atmete tief ein, hob die ASP und sprang durchs Fenster in den Raum. Es gab kein Zögern. Er hatte gehört, daß er es in der Mozartklinik nur mit diesen drei Männern zu tun hatte. Die ASP knallte viermal. Zwei Kugeln zerschmetterten den Brustkorb des Mannes hinter Kirchtum, die anderen beiden schlugen in den Rücken des Funkers. Der dritte Mann fuhr mit offenem Mund herum und griff an seine Hüfte. »Keine Bewegung, Quinn! Keine Bewegung, sonst zerschieße ich dir die Beine – klar?« Steve Quinn, der römische Mitarbeiter des Service, blieb wie angewurzelt stehen und verzog den Mund zu einer höhnischen Grimasse, während Bond ihn entwaffnete. »Mr. Bond? Wie…« Kirchtum konnte nur noch ein rauhes Flüstern von sich geben. »Du bist erledigt, James. Egal, was du versuchst, du bist erledigt.« Quinn hatte seine Fassung noch nicht ganz zurückgewonnen, doch er bemühte sich. »Noch nicht ganz«, sagte Bond ohne jeden Triumph. »Noch nicht ganz, wenn ich auch zugeben muß, daß ich überrascht bin, dich hier zu finden. Für wen arbeitest du wirklich, Quinn? SPECTRE?« »Nein.« Quinn lächelte leicht. »Für den KGB natürlich. Ich bin Leiter der Sektion – schon seit Jahren, und nicht einmal Tabby weiß davon. Im Augenblick bin ich vorübergehend der Abteilung Acht zugeteilt, deinem alten Gegner SMERSH. Im Gegensatz zu dir, James, war ich immer ein Mozart-Mann. Ich tanze gern nach guter Musik.« »Oh, und wie du tanzen wirst.« Bonds Gesichtsausdruck verriet, daß sein dunkelster, gefährlichster Charakterzug die Regie übernommen harte.
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11. Hawk’s Wing Und Macabre James Bond war nicht bereit, noch mehr Zeit zu verschwenden. Er wußte, wie gefährlich es für ihn war, wenn sein Feind redete. Es war eine Technik, die er schon oft zu seinem eigenen Vorteil genutzt harte, und es war gut möglich, daß jetzt auch Steve Quinn Zeit herausschinden wollte. Bond befahl ihm mit knappen Worten, sich von der Wand fernzuhalten, die Beine zu spreizen und die Arme auszustrecken, bis er mit den Handflächen die Wand berührte. Dann ließ er ihn die Füße noch weiter zurückschieben, so daß Quinn keine Chance mehr harte, ihn überraschend anzugreifen. Erst dann trat Bond dicht an Quinn heran und durchsuchte ihn sorgfältig. Er hatte eine kleine Smith & Wesson im Hosenbund in seinem Kreuz stecken. An der Innenseite seiner linken Wade klebte eine winzige Automatik, eine österreichische Steyr 6,35 mm, und außen an seinem rechten Fußgelenk war ein kleines Wurfmesser befestigt: »Die hab’ ich seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Bond, während er die Steyr auf den Schreibtisch warf. »Ich nehme an, daß du keine Handgranaten an dir versteckt hast.« Er lächelte nicht. »Du bist ja eine wandelnde Waffenkammer, Mann. Du solltest vorsichtig sein; Terroristen konnten auf die Idee kommen, bei dir einzubrechen.« »Bei diesem Spiel ist es immer gut, noch ein paar Trümpfe im Ärmel zu haben.« Beim letzten Wort sackte Steve Quinn in sich zusammen, stürzte auf den Boden und rollte sofort zur Seite, um nach der Steyr auf dem Tisch zu greifen. »Versuch das lieber nicht!« schnappte Bond, während er mit der ASP sein Ziel nahm. Quinn war nicht bereit, aus dem gleichen Grund, aus dem er den Service hintergangen hatte, auch zu sterben. Er erstarrte mit erhobener Hand wie ein übergroßes Kind, das im Spiel ein Standbild nachahmt »Gesicht nach unten! Arme und Beine ausstrecken!« befahl 507
Bond, während er sich in dem Raum nach etwas umsah, mit dem er seinen Gefangenen fesseln konnte. Die ASP ständig auf Quinn gerichtet, schob er sich hinter Kirchtum und löste mit der linken Hand die beiden kurzen und die beiden langen Ri emen, die offensichtlich dazu gedacht waren, gewalttätige Patienten zu fesseln. Währenddessen rief er Quinn mehrmals scharfe Befehle zu. »Gesicht nach unten! Auf den Teppich, du Bastard, und öffne deine Beine weiter, und streck die Arme aus.« Quinn gehorchte leise fluchend. Als der letzte Riemen nachgab, begann Kirchtum sich abzureiben, um den Blutstrom in Armen und Beinen wieder in Gang zu bekommen. Die straff angezogenen Riemen hatten tiefe Abdrücke in seinen Handgelenken hinterlassen. »Bleiben Sie sitzen«, flüsterte Bond. »Bewegen Sie sich nicht. Lassen Sie Ihrem Kreislauf etwas Zeit.« Er nahm die Riemen und näherte sich vorsichtig Quinn. Die ASP hielt er außer seiner Reichweite, denn er wußte, daß ein überraschender Tritt sein Handgelenk treffen konnte. »Keine Bewegung, sonst verpasse ich dir ein so großes Loch, daß sogar die Maden eine Landkarte brauchen, kapiert?« Quinn grunzte, und Bond trat mit seinen stählernen Schuhspitzen fest gegen Quinns Fußgelenk, um seine Beine zusammenzubringen. Quinn schrie vor Schmerz auf, und ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte Bond schon einen Riemen um seine Fußgelenke gelegt. Er zog hart an und schloß die Schnalle. »Und jetzt die Arme! Falte hinter dem Rücken die Hände!« Um sicherzugehen, daß Quinn nicht auf dumme Gedanken kam, trat Bond auf sein rechtes Handgelenk. Quinn schrie noch einmal, doch er gehorchte, und Bond fesselte seine Handgelenke mit einem weiteren Riemen. »Das ist vielleicht etwas altmodisch, aber so bleibst du ruhig, bis wir was Besseres für dich gefunden haben«, murmelte Bond, während er die beiden langen Riemen mit den Schnallen verband. Ein Ende zog er um Quinns Fußgelenke, das andere legte er ihm um den Hals und führte es zu den Fußgelenken zurück. Er zog hart an, so daß Quinns Kopf zurückgezogen 508
wurde und die Unterschenkel nach oben abknickten. Es war eine alte, doch erprobte Fesselungstechnik. Wenn der Gefangene versuchte, sich zu befreien, würde er sich selbst erdrosseln, denn die Bänder waren so fest angezogen, daß Quinns Körper durchgebogen war wie ein Bogen. Selbst wenn er versuchte, die Beine zu entspannen, würde der Riemen heftig an seinem Hals ziehen. Quinn stieß einige obszöne Flüche aus, und Bond, der wütend war, weil sich sein alter Freund als feindlicher Agent entpuppt hatte, trat ihm hart in die Rippen. Er stopfte ihm ein Taschentuch in den Mund und sagte knapp: »Maul halten!« Erst jetzt hatte Bond die Gelegenheit, sich gründlich umzusehen. Der Raum war mit schweren Möbeln im Stil des neunzehnten Jahrhunderts eingerichtet – ein wuchtiger Schreibtisch, Bücherregale, die sich bis zur Decke hochzogen, Stühle mit geschwungenen Lehnen. Kirchtum saß noch mit bleichem Gesicht am Schreibtisch. Seine Hände zitterten. Der lebhafte Mann konnte nur noch verängstigt stammeln. Bond schritt über die Bücher, die aus den Regalen geworfen worden waren und ging zum Funkgerät. Der Funker war auf seinem Stuhl in sich zusammengesunken; das Blut bildete auf dem verblichenen Teppich ein neues Muster. Bond schob die Leiche aus dem Stuhl. Er kannte das im Todeskrampf verzerrte Gesicht nicht. Die zweite Leiche lag an der Wand wie ein Betrunkener, der bei einer Party zusammengebrochen war. Bond wußte nicht, wie der Mann hieß, doch er hatte sein Gesicht schon einmal in den Akten gesehen – er kam aus der DDR; ein Krimineller mit Verbindungen zum Terrorismus. Es war erstaunlich, dachte er, wie viele europäische Gewalttäter als Söldner für Terroristen arbeiteten. Fast wie eine Autovermietung. Er wandte sich an Kirchtum. »Wie haben sie das geschafft?« fragte er unvermittelt. Die Dinge, die Quinn ihm verraten hatte, hatten seine übliche Höflichkeit etwas angeschlagen. »Geschäft?« Kirchtum war nicht sehr gut in Form. »Sehen Sie…«, Bond schrie fast, doch dann fiel ihm ein, daß Kirchtums Englisch manchmal zu wünschen übrigließ. Er legte 509
ihm eine Hand auf die Schulter und sagte ruhig und so freundlich wie möglich: »Hören Sie, Herr Doktor, ich brauche sehr rasch Informationen von Ihnen, wenn wir die beiden Damen lebendig wiedersehen wollen.« »Oh, mein Gott.« Kirchtum schlug seine großen, massigen Hände vors Gesicht. »Es ist meine Schuld, daß Miß May und ihre Freundin… Ich hätte ihr nicht erlauben dürfen auszugehen.« Er war den Tränen nahe. »Nein, nein, es ist nicht Ihre Schuld. Wie hätten Sie es wissen können? Beruhigen Sie sich und beantworten Sie meine Fragen so genau wie möglich. Wie haben diese Gangster es geschafft, Sie zu überwältigen?« Kirchtum ließ die Hände sinken und blickte Bond verzweifelt an. »Diese… diese beiden…« Er deutete zu den Leichen. »Sie gaben sich als Monteure aus; sie wollten die Empfängnis – wie heißt das noch? Auf dem Dach für das Fernsehen?« »Die Fernsehantenne.« »Ja, die Fernsehantenne. Die diensthabende Schwester ließ sie herein, und sie gingen zum Dach hinauf. Ihr fiel nichts auf. Doch als sie dann zu mir kamen, roch ich den Salat.« »Die Männer kamen zu Ihnen?« »Ja. Ich bemerkte erst viel später, daß sie eine Antenne für ihr Funkgerät aufgebaut hatten. Sie verschlossen die Tür und bedrohten mich mit Pistolen und Folter. Ich mußte die Aufsicht an einen anderen Arzt abgeben und ihm sagen, daß ich einen oder zwei Tage in meinem Arbeitszimmer beschäftigt wäre. Die Männer lachten mich aus, und sie hatten Pistolen. Was sollte ich tun?« »Mit geladenen Pistolen kann man nicht diskutieren«, stimmte Bond zu. »Das können Sie ja jetzt sehen.« Er wies in die Richtung der Leichen. Dann wandte er sich an den grunzenden, sich windenden Quinn. »Und wann ist dieser Mistkerl hier aufgetaucht?« »Später am gleichen Abend. Durch das Fenster, wie Sie.« »An welchem Abend war das?« »An dem Abend, als die Damen verschwanden. Die beiden da kamen am Nachmittag, der andere am Abend. Sie hatten 510
mich inzwischen schon an den Stuhl gefesselt. Ich mußte die ganze Zeit hier sitzen, außer, wenn ich gewisse Funktionen…« Bond sah ihn überrascht an, und Kirchtum erklärte, daß er natürliche Körperfunktionen meinte. »Schließlich weigerte ich mich, Ihnen weitere Botschaften durchzutelefonieren. Bis dahin hatten sie mich nur bedroht, doch danach…« Bond hatte schon die Schale mit Wasser und die großen Krokodilklemmen gesehen, die mit einer Steckdose verbunden waren. Er nickte; er wußte nur zu gut, wie Kirchtum gelitten hatte. »Und das Funkgerät?« fragte er. »Ah, ja. Sie haben es oft benutzt. Zwei-, dreimal am Tag.« »Haben Sie etwas gehört?« Bond musterte das Gerät. An den Empfänger waren zwei Kopfhörer angeschlossen. »Das meiste. Sie haben manchmal die Kopfhörer aufgesetzt, doch da sind auch Lautsprecher.« Mitten in dem Gerät waren zwei kleine, runde Lautsprecher. »Sagen Sie mir, was Sie gehört haben.« »Was soll ich sagen? Sie haben geredet. Ein anderer Mann hat aus großer Entfernung gesprochen…« »Wer hat zuerst gesprochen? Hat der andere gerufen?« Kirchtum dachte einen Augenblick nach. »Ah, ja. Die Stimme kam immer mit viel Krachen.« Bond ging zu dem komplizierten Hochleistungsfunkgerät und untersuchte die Anzeigen. Die Lautsprecher summten leise. Die Anzeigen verrieten ihm, daß sie mit jemandem gesprochen hatten, der zwischen sechshundert und tausend Kilometer entfernt war. »Können Sie sich erinnern, ob die Verbindungen zu bestimmten Zeiten hergestellt wurden?« Kirchtum runzelte die Stirn, dann nickte er. »Ja. Ja, ich glaube schon. Morgens, ziemlich früh, so um sechs Uhr. Dann Mittags…« »Um sechs Uhr abends und noch einmal um Mitternacht.« »Ja, so ähnlich, aber nicht ganz genau.« »Eine Stunde vorher oder nachher?« »Ja, genau.« 511
»Sonst noch etwas?« Der Arzt schwieg eine Weile und dachte nach. »Ja. Ich weiß, daß sie eine Nachricht durchgeben sollen, sobald Sie Salzburg verlassen. Einer ihrer Männer beobachtet…« »Das Hotel?« »Nein. Ich habe sie reden gehört. Er beobachtet die Straße. Er soll anrufen, wenn Sie fahren, und dann sollen sie funken. Sie müssen ganz bestimmte Worte benutzen…« »Können Sie sich an die Worte erinnern?« »So etwa, daß das Paket nach Paris unterwegs sei.« Das klang angemessen, dachte Bond. Genau wie aus einem billigen Krimi. Die Russen hatten – wie die Nazis vor ihnen – zu viele schlechte Spionageromane gelesen. »Gab es sonst noch Codeworte?« »Ja, sie haben noch andere Worte benutzt. Der Mann am anderen Ende nennt sich Hawk’s Wing – das kam mir komisch vor.« »Und hier?« »Die hier haben sich Macabre genannt.« »Das heißt, wenn sie gefunkt haben, dann hat die andere Seite gerufen: ›Macabre, hier ist Hawk’s Wing… ‹« »Over.« »Over, ja. Und: ›Kommen Sie, Hawk’s Wing.«‹ »Genauso haben sie es gesagt, ja.« »Warum sind eigentlich Ihre Mitarbeiter nicht in Ihr Büro gekommen oder haben die Polizei gerufen? Es war ja nicht gerade leise, und ich habe sogar geschossen.« Kirchtum zuckte die Achseln. »Der Knall war wahrscheinlich nur von draußen zu hören. Mein Büro ist schallisoliert, weil mich manchmal die Geräusche aus der Klinik stören. Deshalb haben sie auch die Fenster geöffnet. Sie haben sie ein paarmal am Tag aufgemacht, um frische Luft hereinzulassen. Wegen der Schallisolierung wird es hier drinnen manchmal ziemlich drükkend. Sogar die Fenster haben Doppelscheiben.« Bond nickte und sah auf die Uhr. Es war fast viertel vor zwölf. Hawk’s Wing konnte sich jeden Augenblick melden; er vermutete, daß Quinns Mann irgendwo in der Nahe der E 11 postiert 512
war. Vielleicht überwachten sie sogar die Ausfallstraßen. Kein Zweifel, es waren Profis. Viel besser, als nur einen Mann im Hotel zu stationieren. Doch er mußte Zeit gewinnen. Quinn warf sich nicht mehr auf dem Boden herum, und Bond hatte bereits eine Idee, wie er mit ihm verfahren konnte. Der Mann kannte das Geschäft, und seine Erfahrung und sein Training würden verhindern, daß er selbst unter idealen Verhörbedingungen reden würde; Gewalt würde da auch nicht helfen. Es gab, das wußte er, nur eine Möglichkeit, aus Stephen Quinn noch etwas herauszubekommen. Er kniete sich neben den gefesselten Mann. »Quinn«, sagte er leise. Der Mann warf ihm einen haßerfüllten Blick zu. »Wir brauchen deine Hilfe.« Quinn grunzte durch den improvisierten Knebel. Es war klar, daß er nicht kooperieren wollte. »Ich weiß, daß das Telefon nicht sicher ist, aber ich werde trotzdem Wien anrufen und ihn bitten; eine Nachricht nach London weiterzugeben. Hör genau zu.« Er ging zum Schreibtisch, nahm ab und wählte 0222-43-1608, die Nummer der Touristenauskunft in Wien. Er wußte, daß dort um diese Zeit ein Anrufbeantworter lief. Er hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg, so daß Quinn mithören konnte, wie das Band den Anruf beantwortete, wenn er auch die Worte nicht verstehen konnte. Dann legte er den Hörer dicht ans Ohr und drückte gleichzeitig unauffällig auf die Gabel, um die Verbindung zu unterbrechen. »Jäger«, sagte er leise. Dann, nach einer kurzen Pause, fuhr er fort. »Dringende Meldung für London. Sie sollen sofort eingreifen. Rom ist uns von der Fahne gegangen.« Er tat wieder so, als lauschte er auf eine Antwort. »Ja, richtig. Ich habe ihn, aber wir brauchen noch die anderen. Schickt ein Team zur Via Barberini 48, Apartment 28 – das ist neben dem JAL-Büro. Nehmt Tabitha Quinn hoch und wartet auf Anweisungen. Sie sollen Hereford alarmieren und einen Psycho auf Trab bringen, wenn M sich nicht die Finger schmutzig machen will.« Hinter ihm begann Quinn heftiger zu grunzen. Er warf sich 513
wieder herum. Eine Gefahr für seine Frau war die einzige Mö glichkeit, bei ihm etwas zu erreichen. »Genau. Ja, das reicht. Ich überlasse es euch, aber es wird wohl nötig werden, extreme Maßnahmen zu ergreifen, ehe sie redet. Ich melde mich wieder. Gut.« Er legte auf. Als er wieder neben Quinn kniete, hatte sich der Blick des Mannes verändert; unter den Haß mischte sich jetzt Angst. »Schon gut, Steve. Niemand wird Ihnen etwas tun. Aber ich fürchte, daß Tabby nicht so glimpflich davonkommt.« Quinn konnte nicht wissen, daß Bond bluffte. Er war lange genug im Service, um zu wissen, daß die Einschaltung eines Psychos – die Tarnbezeichnung für einen gekauften Mörder – keine leere Drohung war. Er kannte die vielen Arten, auf die seine Frau vor ihrem Tod leiden konnte. Er hatte jahrelang mit Bond zusammengearbeitet, und er wußte, daß Bond keine Hemmungen hätte, seine Drohung wahrzumachen. Bond fuhr fort: »Ich vermute, daß gleich ein Ruf kommt. Ich werde dich vor dem Funkgerät festbinden. Antworte schnell, schalte den Sender schnell wieder aus. Wenn nötig, erzähle ihnen, daß der Empfang schlecht ist. Aber, Steve, mach ja keine krummen Sachen – keine fehlenden Worte, keine ›Alarmworte‹. Dir ist sicher klar, daß ich das sofort merke. Genauso sicher, wie du eine faule Antwort erkennen würdest. Eine falsche Bewegung, und du wachst in Warminster wieder auf, und dann steht dir ein langes Verhör und eine noch längere Zeit im Knast bevor. Außerdem wirst du Fotos zu Gesicht bekommen, auf denen gut zu sehen ist, was Tabby kurz vor ihrem Tod erlebt hat. Du weißt, daß ich es ernst meine. Also…« Er bugsierte Quinn zum Funkgerät und band ihn auf dem Stuhl fest. Er fühlte sich einigermaßen sicher; Quinn hatte sich teilweise aufgegeben. Doch man konnte nie wissen. Vielleicht war der Verräter auch bereit, seine Frau zu opfern. Er fragte Quinn, ob er mitspielen würde, und der große Mann nickte wortlos und düster. Bond nahm ihm den Knebel aus dem Mund. »Du Hund!« sagte Quinn mit rauher, atemloser Stimme. »Das kann jedem passieren, Steve. Tu, was ich dir gesagt 514
habe, dann habt ihr beide eine Chance zu überleben.« Während er sprach, begann es im Funkgerät zu krachen. Bond schaltete den Empfänger hoch. Eine körperlose Stimme sagte: »Hawk’s Wing an Macabre, Hawk’s Wing an Macabre. Kommen Sie, Macabre.« Bond nickte Quinn zu und schaltete den Sender ein. Zum erstenmal seit vielen Jahren betete er.
12. ENGLAND ERWARTET… »Hier Macabre, Hawk’s Wing, ich höre Sie. Over.« Steve Quinns Stimme klang in Bonds Ohren verdächtig sicher, doch er mußte ihn fortfahren lassen. Die Stimme des anderen Funkers drang unter Krachen aus den kleinen Lautsprechern. »Hier Hawk’s Wing, Macabre, geben Sie Routinemeldung und Lagebericht. Over.« Quinn hielt einen Augenblick inne, doch Bond kitzelte ihn mit der Mündung der ASP hinter dem Ohr. »Situation normal. Wir warten die weitere Entwicklung ab. Over.« »Rufen Sie zurück, sobald das Paket unterwegs ist. Over.« »Verstanden, Hawk’s Wing. Over und Ende.« Bond legte den Schalter wieder auf Empfang und wandte sich an Kirchtum. Er fragte den Arzt, ob es normal geklungen hätte. »Es war wie sonst«, sagte er nickend. »Gut, Herr Doktor. Und jetzt sind Sie an der Reihe. Haben Sie etwas auf Lager, das diesen Hund für vier oder fünf Stunden schlafen läßt? Er muß aber in einem einigermaßen guten Zustand wieder aufwachen; er darf nicht schleppend sprechen oder so.« »Ja, das habe ich.« Zum erstenmal lächelte Kirchtum. Er hievte sich mühsam vom Stuhl und humpelte zur Tür. Auf halbem Weg fiel ihm ein, daß er weder Schuhe noch Socken trug, und er humpelte wieder 515
zurück, um sich anzuziehen. Dann ging er langsam hinaus. »Falls du Hawk’s Wing doch irgendwie alarmiert hast dann weißt du, daß Tabby keine sehr hohe Lebenserwartung hat, sobald wir es herausgefunden haben. Wenn du dich genau an die Anordnungen hältst, Quinn, werde ich versuchen, dir zu helfen. Aber vergiß nicht deine Frau. Verstanden?« Quinn starrte ihn mit dem Haß eines entlarvten Verräters an. »Dasselbe gilt für die Fragen, die ich dir jetzt stelle. Ich will klare Antworten haben, und zwar jetzt, augenblicklich.« »Vielleicht habe ich die Antworten nicht.« »Du sagst mir einfach, was du weißt. Früher oder später werde ich schon herausbekommen, ob du gelogen hast.« Quinn schwieg. »Also, was wird in Paris geschehen? Im George Cinq?« »Unsere Leute werden dich im Hotel hochnehmen.« »Ihr hattet mich auch hier kriegen können; das haben schon genügend Leute versucht.« »Das waren nicht meine Leute. Nicht der KGB. Wir wußten, daß du hierher kommen würdest, um May und Moneypenny zu suchen. Ja, wir haben die Entführung organisiert. Wir wollten dich hier in Salzburg in den Griff bekommen.« »Dann waren es nicht deine Leute, die im Wagen verbrannten?« »Nein. Das waren Leute, die bei dem Wettbewerb mitmachten. Sie haben die Männer vom Service erledigt. Damit hatte ich nichts zu tun. Anscheinend hattest du einen Schutzengel. Die beiden Männer, die ich auf dich angesetzt habe, kamen aus Rom. Ich sollte sie erledigen, nachdem sie dich sicher nach Salzburg gebracht hatten.« »Und mich dann nach Paris schicken?« »Ja, verdammt. Wenn es nicht gerade Tabby wäre, würde ich…« »Aber es ist Tabby.« Bond hielt inne. »Warum Paris?« Quinn starrte ihn an. Der Mann wußte mehr, als er sagte. »Warum Paris? Denk an Tabby.« »Die Spielregeln bestimmen, daß es Berlin, Paris oder London sein muß. Die wollen deinen Kopf, Bond, aber sie wollen 516
dabeisein. Wir wollen die Belohnung kassieren, aber es reicht nicht, nur deinen Kopf zu liefern. Meine Befehle lauteten, dich nach Paris zu bringen. Die Leute da haben Befehl, dich hochzunehmen und…« Er hielt inne, als hätte er zuviel verraten. »Und das Paket abzuliefern?« Er schwieg volle fünfzehn Sekunden. »Ja.« »Und wo soll es abgeliefert werden?« »Beim Empfänger.« »Tamil Rahani? Beim Führer von SPECTRE?« »Ja.« »Und wo soll es abgeliefert werden?« Quinn schwieg. »Denk an Tabby, Quinn. Ich werde dafür sorgen, daß Tabby vor ihrem Tod noch einiges mitmacht. Und dann bist du an der Reihe. Wo soll ich abgeliefert werden?« »In Florida.« »Wo in Florida? Florida ist groß. Wo? In Disney World?« Quinn wandte den Blick ab. »Am südlichsten Punkt der Vereinigten Staaten«, sagte er. »Ah.« Bond nickte. Die Florida Keys, dachte er – eine Inselkette, die sich über 150 Kilometer vom Festland in den Ozean erstreckte. Bahai Honda Key, Big Pine Key, Cudjoe Key, Boca Chica Key – ihm fielen die Namen der größten Inseln ein. Der südlichste Funkt dieser Inselkette war Key West, einst die Heimat Ernest Hemingways; ein Schmuggelweg für Drogen, ein Touristenparadies mit tausend kleinen Inseln vor dem Riff. Ideal, dachte Bond. Key West – wer hätte schon gedacht, daß SPECTRE ausgerechnet dort sein Hauptquartier hatte? »Key West«, sagte er laut, und Quinn nickte geschlagen. »Paris, London oder Berlin – sie hätten wahrscheinlich auch Rom und einige andere große Städte einschließen können – jeden Ort, von dem aus es Direktflüge nach Miami gibt, was?« »Wahrscheinlich.« »Wo genau in Key West?« 517
»Das weiß ich nicht. Wirklich, ich habe keine Ahnung.« Bond zuckte die Achseln. Es spielte keine Rolle. Kirchtum kam zurück. Er hielt lächelnd eine mit einem Tuch bedeckte Nierenschale hoch. »Ich glaube, ich habe hier, was Sie brauchen.« »Gut«, sagte Bond, sein Lächeln erwidernd. »Und ich habe von ihm auch bekommen, was ich wollte. Legen Sie ihn auf Eis, Herr Doktor.« Quinn wehrte sich nicht, als Kirchtum seinen Ärmel hochrollte, den Oberarm desinfizierte und die Spritze ansetzte. Zehn Sekunden später entspannte er sich, und der Kopf sank nach vorn. Bond war bereits wieder mit den Riemen beschäftigt. »Er wird zwischen vier und fünf Stunden schlafen. Wollen Sie wieder fort?« »Ja, sobald ich sicher bin, daß er nichts anstellen kann, wenn er aufwacht. Bis dahin wird jemand von meinen Leuten hier sein, um dafür zu sorgen, daß er den Anruf des Beobachters entgegennimmt und weiterleitet. Ich kümmere mich darum. Mein Mann wird die Worte benutzen: ›Wir treffen uns im Mo ndenschein.‹ Und Sie antworten: ›Stolze Titania.‹ Haben Sie’s?« »Das ist Shakespeare, der Mitternächtliche Sommertraum, oder?« »Ein Sommernachtstraum, Herr Doktor.« »Mitternacht im Sommer, Sommernacht, wo ist der Unterschied?« »Mr. Shakespeare war der Unterschied anscheinend wichtig. Sagen Sie’s lieber richtig.« Bond lächelte den beleibten Arzt an. »Kommen Sie zurecht?« »Sie können sich auf mich verlassen, Herr Bond.« Fünf Minuten später saß Bond wieder in seinem Saab und fuhr rasch zum Hotel zurück. Er rief Nannie an und entschuldigte sich, weil er sie hatte warten lassen. »Wir müssen unseren Plan etwas abändern«, erklärte er. »Bleiben Sie in der Nähe und sagen Sie Sukie Bescheid. Ich melde mich bald wieder. Mit etwas Glück können wir in einer Stunde fahren.« »Was, zum Teufel, ist denn los?« Nannie schien etwas ge518
reizt. »Bleiben Sie nur in der Nähe des Telefons. Und keine Sorge, ich fahre nicht ohne Sie.« »Das würde ich Ihnen auch raten«, schnappte sie. Sie legte mit einem Knall auf. Bond lächelte in sich hinein. Er klappte den Aktenkoffer mit dem CC500 auf und schloß ihn ans Telefon an. Obwohl er, wie er es gewohnt war, allein arbeitete, wurde es Zeit, den Service um etwas Unterstützung zu bitten. Er wählte die Nummer im Regent’s Park in London; seit er das Team in der Klinik ausgeschaltet hatte, wußte er, daß er nicht abgehört wurde. Er verlangte den Diensthabenden, der sich einen Augenblick später meldete. Bond identifizierte sich und gab Anweisungen. Gewisse Informationen sollten rasch an M und den Wiener Mitarbeiter des Service weitergegeben werden. Er sprach knapp und klar und erklärte, daß es nur eine Methode gebe, diesen Fall zu behandeln, nämlich seine. Andernfalls würden sie eine einmalige Chance verpassen. SPECTRE saß inzwischen wie auf dem Präsentierteller, doch er war der einzige, der die Organisation wirklich ausschalten konnte. Seine Anweisungen sollten wörtlich befolgt werden. Am Ende des Gesprächs wiederholte er die Rufnummer des Hotels und seine Zimmernummer und bat den Beamten, so schnell wie möglich zurückzurufen. Es dauerte etwas mehr als fünfzehn Minuten. M hatte Bonds Anweisungen gutgeheißen, und in Wien war die Operation bereits angelaufen. Ein Privarjet würde fünf Mitarbeiter – drei Männer und zwei Frauen – zur Unterstützung nach Salzburg bringen. Sie wurden Bond auf dem Salzburger Flughafen erwarten und auf seinen Firmenpaß von Universal Export einen Privatflug nach Zürich anmelden. Außerdem waren Plätze für den Pan-American-Flug 115 von Zürich nach Miami gebucht; die Maschine startete um 10.15 in Zürich. Bond bedankte sich bei seinem Kollegen und wollte schon auflegen, als der Beamte noch etwas sagte. »Jäger.« »Ja?« 519
»Eine private Nachricht von M.« »Bitte.« »Es beginnt: ›England erwartet… ‹ Ich glaube, das war Nelson. ›England erwartet von jedem Mann, daß er seine Pflicht tut.‹« »Ich kenne das Zitat«, sagte Bond gereizt. »Und er wünscht Ihnen viel Glück, Sir.« »Kann ich gebrauchen. Es geht los.« »Ja. Wohin geht’s denn?« »Zum Zauberer«, sagte Bond mit einem humorlosen Lachen. »Zum Zauberer von Oz.«
13. GUTEN ABEND, MR. BOLDMAN »James, James, Sie gehen ja in die falsche Richtung. Sie haben doch den Bentley auf dem Parkplatz gelassen.« »Sagen Sie’s nicht weiter, Sukie. Wir fahren nicht mit dem Bentley.« Auf dem Rückweg, nachdem er den Saab abgestellt hatte, hatte er einen kleinen Umweg gemacht und einen alten Trick benutzt: Er hatte die Schlüssel des Bentley in den Auspuff geschoben. Es war nicht so sicher, wie er es gern gehabt hätte, aber es mußte reichen. Jetzt trugen sie gerade ihre Koffer zum Saab. »Nicht…«, schnaufte Nannie. »Wir haben andere Möglichkeiten«, sagte Bond knapp und im Befehlston. Sein Plan, SPECTRE zu überlisten, beruhte auf Vorsicht und einer genauen Zeitplanung. Er hatte sogar daran gedacht, Sukie und Nannie abzuschütteln und im Hotel zurückzulassen. Doch solange er sie nicht isolieren konnte, war es sicherer, sie mitzunehmen. Sie hatten ohnehin schon ihre Entschlossenheit gezeigt, bei ihm zu bleiben. Wenn er sich ihrer jetzt entledigt hätte, hätte es nur Schwierigkeiten gegeben. »Ich hoffe, eure amerikanischen Visa sind noch gültig«, sagte 520
Bond, nachdem sie alles im Wagen verstaut hatten. Er ließ den Motor an. »Amerika?« sagte Sukie mürrisch. »Sind sie in Ordnung?« Er lenkte den Wagen vom Parkplatz und suchte den Weg zum Flughafen. »Natürlich sind sie in Ordnung!« sagte Nannie wütend. »Ich hab’ gar nichts anzuziehen«, sagte Sukie laut. »Jeans und ein T-Shirt werden wohl reichen.« Bond lächelte, während er den Wagen auf die Straße nach Innsbruck lenkte. Er sah ein beleuchtetes Hinweisschild zum Flughafen. »Noch etwas«, fügte er hinzu. »Bevor wir diesen Wagen verlassen, müßt ihr eure Waffen in meinem großen Koffer verstauen. Wir fahren nach Zürich und fliegen von dort aus in die Staaten. Ich habe in meinem großen Koffer ein abgeschirmtes Fach, in dem wir die Waffen verstauen müssen. Von Zürich aus werden wir einen Linienflug nehmen.« Nannie wollte protestieren, doch Bond unterbrach sie. »Ihr habt euch beide entschieden, bei mir zu bleiben. Wenn ihr nicht mehr mitmachen wollt, dann sagt es, und ihr könnt sofort zum Hotel zurückfahren. Ihr könntet viele schöne Konzerte besuchen.« »Wir kommen mit, egal was passiert«, sagte Nannie fest. »Wir kommen beide mit. Okay, Sukie?« »Und ob…« »Also gehen wir vor wie verabredet.« Sie waren schon in der Nähe des Flughafens. »Auf uns wartet ein Privatjet. Ich muß mit den Leuten sprechen, die mitgekommen sind; dabei kann ich euch leider nicht gebrauchen. Danach fliegen wir nach Zürich.« Auf dem Parkplatz des Flughafens öffnete Bond den Kofferraum und klappte seinen Samsonite-Koffer auf. Die Zentrale hatte ihn auseinandergenommen und in der Mitte ein besonderes Fach eingebaut. Das Fach konnte von den Überwachungsgeräten der Flughäfen nicht entdeckt werden, und es war von unschätzbarem Wert, wenn Bond mit Fluglinien reisen mußte, die ihm nicht erlaubten, seine Waffen mitzunehmen. 521
»Bitte, meine Damen – alles, was Sie nicht mitnehmen dürfen.« Er hielt ihnen die Hand hin, und Sukie und Nannie hoben ihre Röcke und nahmen die Automatikpistolen aus den Halftern. Als der Koffer wieder im Kofferraum lag, drängte er sie in den Wagen zurück. »Vergeßt nicht, daß ihr unbewaffnet seid. Aber soweit ich sehe, sind wir im Augenblick nicht in Gefahr. Ich glaube, wir haben meine Verfolger an der Nase herumgeführt. Ich muß jetzt zum Flughafenleiter.« Er sagte ihnen, daß es nicht lange dauern würde und ging zum Flughafengebäude. Der Manager war bereits informiert und behandelte die Maschine mit den Agenten wie ein normales Privatflugzeug. »Sie sind noch etwa achtzig Kilometer entfernt und beginnen gerade den Landeanflug«, erklärte er Bond. »Ich glaube, Sie brauchen ein kleines Konferenzzimmer, wahrend die Maschine gedreht wird.« Bond nickte und entschuldigte sich dafür, daß der Flughafen mitten in der Nacht geöffnet werden mußte. »Seien Sie vor allem dankbar, daß das Wetter mitspielt«, sagte der Manager mit einem unsicheren Lächeln. »In bewölkten Nächten spielt sich hier nichts ab.« Sie gingen zur Landebahn hinaus, die für die Landung beleuchtet worden war. Wenige Minuten später machte er die blinkenden roten und grünen Lampen aus, die über der Hauptlandebahn einschwenkten. Einige Sekunden später kam der kleine Jet, ein HS 125 Exec ohne besondere Kennzeichen, herangezischt. Er setzte sauber auf und bremste scharf ab. Der Pilot kannte offenbar den Salzburger Flughafen und wußte, wie klein er war. Das Flugzeug wurde von einem Einwinker mit zwei beleuchteten Kellen dirigiert. Als es ausgerollt war, ging die vordere Tür auf, und die Gangway wurde heruntergelassen. Die beiden Frauen kannte er nicht, doch er freute sich, als er wenigstens zwei Männer sah, mit denen er schon einmal zusammengearbeitet hatte. Einer der beiden war ein gebräunter, athletischer junger Mann namens Crispin Thrush, der im Service fast genausoviel Erfah522
rung hatte wie Bond. Die beiden Männer gaben sich die Hände, und Crispin stellte ihm die anderen Mitglieder des Teams vor, während sie der Manager zu einem kleinen Konferenzzimmer führte. Auf einem runden Tisch standen Kaffee und Mineralwasser bereit, und an jedem Platz lag ein Notizblock. »Bedienen Sie sich«, sagte Bond. während er sich zu seinem Team umdrehte. »Ich gehe zur Toilette,« Er nickte Crispin zu, der ihn sofort verstand und ihm zum Parkplatz des Flughafens hinaus folgte. Sie sprachen leise. »Sind Sie eingewiesen?« fragte Bond. »Nur in groben Zügen. Sie sollen mir die Einzelheiten geben.« »Gut. Sie und einer der beiden Männer übernehmen einen Mietwagen – da drüben, der Wagen, in dem die beiden Mä dchen sitzen –, und fahren direkt zur Mozartklinik. Kennen Sie den Weg?« Thrush nickte. »Ja, so weit weiß ich Bescheid. Und ich habe etwas gehört, das ich fast nicht glauben konnte…« »Steve?« Er nickte wieder. »Es ist leider wahr. Der Direktor der Klinik, Doktor Kirchtum, hat ihm eine Spritze gegeben, und er schläft. Kirchtum ist wirklich eine große Hilfe gewesen. Quinn und ein paar andere Gauner haben ihn festgehalten.« Er erklärte, daß noch etwas aufgeräumt werden mußte; Quinn sollte so weit wiederhergestellt werden, daß er den Anruf des KGB-Mannes an der Straße entgegennehmen konnte. »Passen Sie gut auf, wenn er über Funk Bericht erstattet. Er ist ein gerissener Agent, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie gefährlich er sein kann. Er kennt jeden Trick, und ich habe seine Mitarbeit nur gewinnen können, weil seine Frau in Gefahr ist…« »Sie haben Tabby hineingezogen, ich weiß. Sie ist in einem sicheren Haus in Rom festgesetzt. Ich glaube, das arme Mä dchen ist etwas durcheinander.« »Wahrscheinlich kann sie es gar nicht fassen. Er sagte, sie wußte nicht, daß er übergelaufen war. Wie auch immer, wenn 523
Sie die ganze Bande in der Klinik einladen wollen, müssen Sie die Mädchen und den anderen Mann im Goldenen Hirsch lassen. Wenn wir uns mit der Besprechung beeilen, kann das Team im Bentley rechtzeitig starten. Der Wagen wird beobachtet werden, also seien Sie sicher, daß Sie Quinn wach vor dem Mikrophon sitzen haben, bevor der Bentley losfährt. Der Beobachter wird davon ausgehen, daß ich mit den Mädchen darin sitze und nach Paris fahre. Das sollte sie eine Weile durcheinanderbringen.« Er erklärte Crispin, wo der Bentley stand und daß die Schlüssel im Auspuff versteckt waren. Dann beschrieb er ihm den Weg nach Paris. Sobald die Meldungen ausgetauscht waren, sollten Crispin und seine Männer Steve Quinn auf schnellstem Wege nach Wien bringen. »Hier sind die Fahrkarten, mit den besten Empfehlungen des Wiener Kollegen.« Crispin langte in die Jackentasche und zog einen schweren, langen Umschlag heraus. Bond steckte ihn ungeöffnet in die Brusttasche, und sie gingen langsam zum Besprechungszi mmer zurück. Die Konferenz dauerte weniger als fünfzehn Minuten. Sie improvisierten eine geschäftliche Besprechung über den Export von Schokolade. Nach einer Weile stand Bond auf. »Gut, meine Damen und Herren. Dann wollen wir aufbrechen.« Er hatte dafür gesorgt, daß Sukie und Nannie das Team, das gelandet war, nicht sehen würden. Er setzte seinen Charme ein und überredete einen Mann, das Gepäck aus dem Saab zu holen. Jetzt drängte er die Mädchen eilig ins Flughafengebäude, wo der Manager auf sie wartete. Bond schloß sich ihnen einige Minuten später an, nachdem er Crispin die SaabSchlüssel gegeben hatte. Er wünschte dem Team viel Glück. »M wird Sie in Ihrem eigenen Saft kochen, wenn etwas schiefgeht«, sagte Crispin grinsend. Bond hob eine Augenbraue, und eine kleine Haarsträhne fiel über seine rechte Schläfe. »Falls dann überhaupt noch etwas von mir da ist, das gekocht werden kann.« 524
Während er sprach, erwachte in Bond eine böse Vorahnung. Es würde schlimm werden. »VIP-Behandlung.« Sukie freute sich, als sie den Jet sah. »Genau wie früher mit Pasquale.« Nannie ging wortlos weiter, und wenige Minuten später saßen sie angeschnallt auf ihren Plätzen, brausten über die Star tbahn und hoben ab. Der Steward brachte Drinks und Sandwiches und ließ sie dann diskret allein. »Also, zum so und so vielten Male, James: Wohin wollen wir?« Sukie hob ihr Glas und sah ihn fragend an. »Und vor allem, warum?« fragte Nannie, während sie an ihrem Mineralwasser nippte. »Nach Florida. Zuerst nach Miami, dann nach Süden. Die Frage nach dem Warum ist schwieriger zu beantworten.« »Versuchen Sie doch mal, ob wir’s verstehen«, sagte Nannie, indem sie ihn über ihre Großmutterbrille hinweg anschaute. »Wir haben einen faulen Apfel entdeckt – jemand, dem ich vertraut habe. Er hat mich reingelegt, und jetzt lege ich ihn herein und sorge dafür, daß seine Leute glauben, wir wären schon nach Paris unterwegs. In Wirklichkeit fliegen wir in einer komfortablen Maschine nach Zürich. Von dort aus geht es mit Pan American Airlines weiter nach Miami. Erster Klasse natürlich, aber ich schlage vor, daß wir uns in Zürich trennen. Hier sind Ihre Fahrkarten, meine Damen.« Er öffnete den Umschlag, den er von Crispin bekommen hatte und gab ihnen die schmalen, blauweißen Hefte mit den Tickets nach Miami. Sie waren auf ihre richtigen Namen ausgestellt – Principessa Sukie Tempesta und Miß Nannette Norrich. Die Tickets der Providence and Boston Airlines von Miami nach Key West hielt er noch zurück. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, es sei besser, sie noch nicht wissen zu lassen, wohin sie wirklich wollten. Dann blickte er auf sein eigenes Ti kket. Es war auf Mr. J. Boldman ausgestellt; derselbe Name stand auch in seinem Paß, der ihn als Firmendirektor auswies. Es schien alles in Ordnung zu sein. Sie vereinbarten, in Zürich getrennt auszusteigen und einzeln für den Pan-Am-Flug einzuchecken. Im Flughafen von Miami 525
wollten sie sich am Schalter der Delta Airlines treffen. »Sucht in Miami einen Gepäckträger«, riet Bond ihnen. »Der Flughafen ist riesig, und ihr könnt euch leicht verlaufen. Und paßt auf Bettler auf – Hare Krishnas, Nonnen, was auch immer…« »Wir wissen Bescheid«, sagte Nannie. »Wir waren schon mal in Miami.« »Entschuldigung. Dann ist ja alles geregelt. Wenn ihr es euch noch anders überlegen wollt…« »Das hatten wir auch schon mal. Wir bleiben dabei«, sagte Nannie entschieden. »Bis zum bitteren Ende, James.« Sukie beugte sich vor und legte ihre Hand auf seine. Bond nickte. Im sauberen, schön angelegten Züricher Flughafen sah er im Vorbeigehen, wie sie in einem der zahlreichen Cafes etwas aßen. Bond trank Kaffee und aß ein Croissant, bevor er für den Pan-Am-Flug eincheckte. In der 747 saßen Sukie und Nannie weit vorn, während Bond ein Stück weiter hinten an der Steuerbordseite einen Fensterplatz bekommen hatte. Sie beachteten einander mit keinem Blick. Er bewunderte Sukies rasche Auffassungsgabe; sie beherrschte die verdeckte Arbeitsweise, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Bei Nannie schien es selbstverständlich, denn sie hatte schon gezeigt, wie gut sie war. Das Essen war brauchbar, der Flug langweilig, der Film gewalttätig und billig. Der Flughafen von Miami, auf dem sie kurz nach acht Uhr abends landeten, war heiß und überfüllt. Sukie und Nannie warteten schon am Schalter der Delta Airlines. »Okay«, begrüßte er sie. »Jetzt gehen wir zum Gate E zum Abflugbereich der PBA.« Er gab ihnen die Tickets für den Anschlußflug. »Key West?« wollte Nannie wissen. »Die letzte Zuflucht, wie es manchmal genannt wird«, sagte Sukie lachend. »Schön. Ich war schon mal da…« »Und ich möchte gern ankommen…« Er wurde durch den Gong der Ansage unterbrochen. Er wollte fortfahren, denn er glaubte, es sei eine Routinedurchsage für 526
einen Abflug, doch die Frau erwähnte den Namen Boldman. »Mr. James Boldman, soeben aus Zürich eingetroffen, me lden Sie sich bitte an der Information gegenüber dem Schalter der British Airways. Mr. James Boldman bitte.« Bond zuckte die Achseln. »Eigentlich wollte ich inkognito ankommen. Tja, das ist mein Inkognito. Es muß eine Nachricht von meinen Leuten sein. Wartet bitte hier.« Er schob sich durch die Menschenschlangen und Gepäckstapel, die auf ihre Abfertigung warteten. An der Information erwartete ihn eine Blondine mit strahlend weißen Zähnen und blutroten Lippen. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich bin Mr. James Boldman«, sagte er, und sie blickte an seiner linken Schulter vorbei und nickte. Die Stimme in seinem Ohr war leise und unverkennbar. »Guten Abend, Mr. Boldman. Schön, Sie zu sehen.« Als Bond sich umdrehte, drängte Steve Quinn sich eng an ihn. Bond spürte den Pistolenlauf in seinen Rippen, und er verzog überrascht das Gesicht. »Wie schön, daß wir uns mal wiedersehen, Mr. – wie nennen Sie sich jetzt? Mr. Boldman?« Doktor Kirchtum stand rechts neben ihm und strahlte ihn an. »Was…« begann Bond. »Geh zum Ausgang dort drüben«, sagte Quinn immer noch lächelnd. »Vergiß deine Reisegefährtinnen und den Anschlußflug. Wir fahren auf einem anderen Weg nach Key West.«
14. DIE FROSTFREIE STADT Die Maschine flog sehr ruhig; von den Düsen war nur ein leichtes Rumpeln und Heulen zu hören. Bond, der kaum Zeit für einen Blick in die Runde gehabt hatte, vermutete, daß er in einer Aerospatiale Corvette saß, deren lange Schnauze sehr auffällig war. Das Innere war mit Blau und Gold dekoriert. Um einen langen Tisch in der Mitte standen sechs drehbare, bequeme Sessel. 527
Draußen war es dunkel; nur ab und zu blitzte in der Ferne ein Licht auf. Bond vermutete, daß sie hoch über den Everglades schwebten oder gedreht hatten, um Key West von See her anzufliegen. Der erste Schreck, von Quinn und Kirchtum entführt zu werden, war schnell vergangen. In seinem Job lernte man es, rasch zu reagieren. Er hatte in dieser Situation keine andere Möglichkeit, als Quinns Anweisungen zu folgen; es war seine einzige Überlebenschance. Im ersten Augenblick, als er die Waffe in den Rippen spürte, hatte er gezögert. Dann gehorchte er und ging ruhig zwischen den beiden Männern, die dicht bei ihm blieben, als hätten sie ihn unauffällig verhaftet. Jetzt war er tatsächlich auf sich allein gestellt. Die Mädchen hatten Tickets nach Key West, doch er hatte ihnen aufgetragen, auf ihn zu warten. Außerdem hatten sie das ganze Gepäck und damit auch die Waffen – Nannies kleine Automatikpistolen, die ASP und den Stab. Direkt vor dem Ausgang hatte eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben bereitgestanden. Kirchtum hatte die hintere Tür geöffnet und war als erster eingestiegen. »Rein da!« Quinn gab Bond einen Stoß mit der Waffe, so daß er fast auf den Ledersitz fiel. Quinn folgte ihm sofort, und Bond war zwischen den beiden Männern eingequetscht. Bevor die Tür zufiel, wurde schon der Motor angelassen, und der Wagen fuhr sanft an. Quinn bedrohte ihn jetzt offen mit seiner Pistole – es war eine kleine Marakov, ein russischer Nachbau der deutschen Walther PP. Bond erkannte sie trotz des trüben Lichts, das von der Flughafenbeleuchtung hereinfiel, sofort, dann musterte er den Fahrer. Sein Kopf sah aus wie eine große, längliche Kokosnuß, auf der eine spitze Mütze saß. Niemand sprach, niemand gab Befehle. Der schwere Wagen zog auf eine Durchgangsstraße, die, wie Bond vermutete, zur Ringautobahn des Flughafens führte. »Kein Wort, James«, flüsterte Quinn. »Sonst ist es mit dir und mit May und Moneypenny vorbei.« Sie hielten vor einem großen Tor, das in einen Bereich hinter einem hohen Maschendrahtzaun führte. 528
Der Wagen hielt vor einem Wachhaus, und Bond hörte den Elektromotor summen, als der Fahrer sein Fenster herunterließ. Ein Wächter kam heran, und der Fahrer gab ihm einen Packen Ausweise und murmelte etwas. Dann wurde das hintere Fenster auf der Fahrerseite gesenkt, und der Wächter lugte herein, blickte auf die Ausweise und musterte noch einmal Quinn, Bond und Kirchtum. »Okay«, sagte er schließlich mit seinem gedehnten Südstaatenakzent. »Warten Sie hinter dem Tor auf den Lotsenwagen.« Sie hielten kurz hinter dem Tor mit abgeblendeten Scheinwerfern. Irgendwo vor ihnen landete mit lautem Heulen eine große Maschine; der Umkehrschub übertönte alle anderen Geräusche. Dann kam der kleine Lastwagen und wendete direkt vor ihnen. Er war mit gelben Streifen gekennzeichnet, und auf dem Führerhaus drehte sich eine rote Lampe. Am Heck hing das Schild ›Follow me‹. Die Limousine setzte sich in Bewegung und folgte dem Lotsen durch einen Ladebereich für Flugzeuge aller Größen und Typen – kommerzielle Jets, die be- und entladen wurden, Flugzeuge mit Kolbenmotoren, Frachtflugzeuge, kleine Privatmaschinen. Die Abzeichen wiesen sie als das Eigentum von Pan Am, British Airways, Delta, von Datsun und dem Island City Flying Service aus. Sie hielten vor einer Maschine, die etwas abseits von den anderen, am Rand der Ladezone vor einer Gebäudegruppe wartete. Sie fuhren so dicht heran, daß Bond einen Augenblick fürchtete, sie könnten den Flügel streifen. Für so schwere Männer bewegten sich Quinn und Kirchtum sehr schnell. Kirchtum sprang aus dem Wagen, bevor er noch ganz ausgerollt war, während Quinn Bond zur Tür drängte, so daß er ständig von beiden Seiten gedeckt war. Draußen packte Kirchtum mit stahlhartem Griff seinen Oberarm, bis Quinn den Wagen verlassen hatte. Dann nahmen sie ihn in die Zange und führten ihn die Treppe hinauf in die Maschine. Quinn machte sich nicht mehr die Mühe, seine Waffe zu verbergen, während Kirchtum die Treppe einholte und die Tür mit einem lauten Knall zufallen ließ. 529
»Setz dich dorthin.« Quinn wies ihm mit der Pistole die Richtung. Kirchtum legte Bond zwei Paar Handschellen an, die er dann mit kleinen Bügeln auf den Armlehnen des Sitzes verband. »Ihr macht das nicht zum erstenmal«, sagte Bond lächelnd. Er wollte diesen Leuten seine Furcht nicht zeigen. »Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, denn es wäre nicht klug, die Pistole zu benutzen, sobald wir in der Luft sind.« Quinn stand mit gezogener Pistole ein Stück von Bond entfernt, während Kirchtum zusätzlich Bonds Füße fesselte und sie auf ähnliche Weise am unteren Teil des Sitzes sicherte. Die Motoren erwachten rumpelnd zum Leben, und einige Sekunden später rollten sie bereits. Es gab eine kurze Verzögerung, weil sie den Start einiger anderer Maschinen abwarten mußten, dann schwenkte der kleine Jet auf die Startbahn ein, die Düsen wurden hochgefahren, und sie schossen davon und gewannen rasch an Höhe. »Ich muß mich für die Täuschung entschuldigen, James.« Quinn hatte sich einen Drink besorgt und sich entspannt zurückgelehnt. »Weißt du, wir haben uns schon gedacht, daß du zur Mozartklinik kommen würdest, und wir hatten uns darauf vorbereitet – die Folterwerkzeuge und der Herr Doktor, der das unschuldige Opfer gespielt hat. Ich muß allerdings gestehen, daß wir einen schweren Fehler gemacht haben: Ich härte mein Team von draußen hereinrufen sollen, als du drinnen warst. Doch geschehen ist geschehen. Der Doktor hat seine Rolle als verängstigter Gefangener wirklich gut gespielt.« »Oscarverdächtig.« Bond zuckte mit keiner Wimper. »Ich hoffe, meinen beiden Freundinnen wird nichts Unangenehmes geschehen.« »Ich glaube, ihretwegen solltest du dir keine Sorgen machen«, sagte Quinn mit einem fröhlichen Lächeln. »Wir haben ihnen eine Nachricht zukommen lassen, daß ihr heute abend nicht mehr fahrt. Sie glauben, du willst dich mit ihnen im Airport Hilton treffen. Ich vermute, daß sie bereits dort auf dich warten. Wenn sie Verdacht schöpfen, können sie so oder so nicht viel tun. Du hast morgen mittag eine Verabredung mit einer bekann530
ten französischen Revolutionärin, die Madame la Guillotine heißt. Ich werde allerdings nicht dabei sein. Wie ich schon sagte, wir haben nur Befehl, dich an SPECTRE zu überführen. Wir nehmen das Geld und lassen May und Moneypenny frei – in diesem Punkt kannst du mir trauen. Es wird ihnen nichts geschehen, obwohl es sicher ganz nützlich gewesen wäre, Moneypenny eingehend zu verhören.« »Und wo wird das alles stattfinden?« fragte Bond. Seine Stimme verriet nichts von den unangenehmen Vorstellungen, die er mit der Guillotine verband. »Oh, ganz in der Nähe von Key West. Ein paar Meilen vor der Küste, außerhalb des Riffs. Unglücklicherweise ist das Timing nicht sehr gut – wir müssen dich bis zum Morgengrauen einlochen. Die Wasserstraße durch das Riff ist schwierig zu befahren, und wir wollen ja nicht auf einer Sandbank landen. Doch wir werden es schon schaffen. Ich habe meinen Vorgesetzten versprochen, daß wir dich übergeben, und ich halte, was ich versprochen habe.« »Besonders gegenüber den Herren, denen du jetzt dienst«, erwiderte Bond. »Der russische Geheimdienst hat etwas gegen Agenten, die versagen. Im günstigsten Fall würden sie dich degradieren und Soldaten ausbilden lassen; im ungünstigsten Fall würdest du in einem dieser hübschen Krankenhäuser landen, die so großzügig mit Aminazin umgehen – es ist eine angenehme Droge; sie wird dir die Intelligenz einer Mohrrübe verschaffen. Übrigens vermute ich, daß du genau auf diese Weise enden wirst.« Er wandte sich an Kirchtum. »Und Sie auch, Herr Doktor. Wie haben die eigentlich Sie in den Griff bekommen?« Der Arzt zuckte die Achseln. »Die Mozartklinik ist mein Leben, Mr. Bond. Mein ganzer Lebensinhalt. Vor einigen Jahren waren wir – wie soll ich es ausdrücken? – finanziell etwas in der Klemme…« »Sie waren pleite«, sagte Bond gelassen. »Jaja, pleite, das ist das Wort. Kein Geld mehr. Mr., Quinns Freunde – die Leute, für die er arbeitet – machten mir ein sehr gutes Angebot. Ich konnte meine Arbeit, die immer den Interes531
sen der Menschheit gedient hat, weiterführen, und sie kümmerten sich um das Geld.« »Den Rest kann ich mir denken«, unterbrach Bond, »Der Preis war Ihre Mitarbeit. Seltsame Gäste, die manchmal eine Weile betäubt gehalten werden mußten, ab und zu eine Leiche, gelegentlich eine Operation.« Der Doktor nickte traurig. »Ja, so war es. Ich muß zugeben, daß ich nicht erwartete, in eine Situation wie diese hineingezogen zu werden. Doch Mr. Quinn versicherte mir, daß ich mit weißer Weste zurückkehren kann. Offiziell bin ich zwei Tage fort. Auf Urlaub.« Bond lachte. »Urlaub? Und das glauben Sie? Sie werden eingesperrt werden, Herr Doktor. Entweder das, oder eine Kugel von Mr. Quinn. Wahrscheinlich eine Kugel.« »Aufhören«, sagte Quinn scharf. »Der Doktor war eine große Hilfe. Er wird belohnt werden, und er weiß es.« Er lächelte Kirchtum an. »Mr. Bond versucht es mit einem alten Trick; er will Sie an unseren Absichten zweifeln lassen und einen Keil zwischen uns treiben. Sie wissen, wie clever er ist. Sie haben ihn in Aktion gesehen.« Der Doktor nickte wieder. »Ja. Es war gar nicht schön, daß er Vasili und Yuri erschossen hat. Das hat mir nicht gefallen.« »Aber Sie waren auch clever. Sie haben Mr. Quinn eine harmlose Injektion gegeben…« »Salzlösung.« »Und dann sind Sie mir gefolgt.« »Wir waren dir sofort auf der Spur«, sagte Quinn gleichmütig, während er aus dem Fenster blickte. Draußen war es immer noch völlig dunkel. »Aber du hast mich gezwungen, meine Pläne zu ändern. Ich mußte schnell und fantasievoll arbeiten, um dies alles auf die Beine zu stellen, James. Aber wir haben es geschafft.« »Das habt ihr, ja.« Bond drehte seinen Stuhl herum und beugte sich vor, um aus dem Fenster zu sehen. Er glaubte in einiger Entfernung Lichter zu sehen. »Ah!« Quinn sprach sehr selbstgefällig. »Da wären wir. Die 532
Lichter gehören zu Stock Island und Key West. Noch etwa zehn Minuten, würde ich sagen.« »Und wenn ich bei der Landung Theater mache?« »Du machst kein Theater.« »Du bist aber sehr sicher.« »Ich habe auch eine Versicherung. Genau wie du durch Tabitha bei mir eine hattest. Ich glaube wirklich, daß du tun wirst, was ich dir sage, damit May und Moneypenny freigelassen werden. Es ist die einzige Möglichkeit, dich an den Haken zu bekommen, James. So war es immer. Klar, du bist ein eiskalter, rücksichtsloser Bursche, aber du bist auch ein altmodischer englischer Gentleman. Du würdest dein Leben geben, um eine wehrlose Frau zu retten. Und jetzt sind sogar zwei Frauen im Spiel – eine alte Haushälterin und die Assistentin deines Chefs, die dir seit Jahren treu ergeben ist. Die Menschen, die dir am meisten bedeuten. Natürlich wärst du bereit, dein Leben für sie zu opfern. Unglücklicherweise Hegt dir das im Blut. Sagte ich unglücklicherweise? Ich meine eigentlich: glücklicherweise – für uns.« Bond schluckte. Er wußte genau, daß Steve Quinn seine Trumpfkarte ausgespielt hatte. Er hatte recht. 007 würde sich opfern, um das Leben von Menschen wie May und Moneypenny zu retten. »Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, daß du keine Schwierigkeiten machen wirst.« Unter Quinns Vollbart war die Andeutung eines Lächelns zu sehen; seine Augen jedoch blieben kalt. »Zeigen Sie es ihm, Herr Doktor.« Kirchtum hob einen kleinen Koffer auf, der im Zeitungsständer zwischen den Sitzen gesteckt hatte. Er zog etwas heraus, das auf den ersten Blick wie eine Spielzeugpistole aus durchsichtigem Plastik aussah. »Dies ist eine Injektionspistole«, erklärte Kirchtum. »Ich werde sie vor der Landung füllen. Sehen Sie, wie sie funktioniert?« Er zog den Mechanismus zurück und hielt Bond die Spritze vor die Nase. Dann drückte er auf den winzigen Abzug. Das Gerät war kaum mehr als sieben Zentimeter lang, von denen etwa fünf vom Griff eingenommen wurden. Als er den Abzug 533
durchzog, schoß eine Nadel aus der Mündung. »Damit dauert eine Injektion nur zwei bis fünf Sekunden«, sagte der Doktor mit ernstem Nicken. »Das ist sehr wenig Zeit, und die Nadel ist ziemlich lang; sie durchdringt auch dicke Kleidung.« »Wenn du Schwierigkeiten machst, bekommst du eine Spritze, klar?« »Mit einem tödlichen Gift.« »O nein. Du bekommst einen Herzanfall. Du wirst innerhalb einer halben Stunde wieder auf dem Damm sein, so gut wie neu. SPECTRE will deinen Kopf. An sich würden wir dich ohne weiteres umlegen, doch wir wollen dich im ganzen und lebendig abliefern. Wir sind Rahani einiges schuldig, und der arme Mann hat nicht mehr lange zu leben. Sein letzter Wunsch ist dein Kopf.« Einen Augenblick später meldete sich der Pilot über die Sprechanlage und forderte die Passagiere auf, die Gurte anzulegen und das Rauchen einzustellen. Er kündigte an, daß sie in etwa vier Minuten landen würden. Bond blickte aus dem Fenster, während sie den Lichtern entgegensanken. Er sah Wasser und tropische Vegetation, zwischen der langsam immer mehr Straßen und niedrige Gebäude auftauchten. »Key West ist ein interessanter Ort«, sagte Quinn nachdenklich. »Hemingway hat ihn einmal das St. Tropez der armen Leute genannt. Tennessee Williams hat auch hier gelebt, und Präsident Truman hat auf der ehemaligen Naval Base ein kleines Weißes Haus eingerichtet. John F. Kennedy hat den britischen Premierminister Harold Macmillan hierher eingeladen. Aus Kuba kommen ständig Flüchtlinge, und früher war es ein Paradies für Piraten. Ich hab’ gehört, daß es immer noch ein Eldorado für Schmuggler ist, und die Küstenwache der Vereinigten Staaten ist angeblich gut beschäftigt.« Sie erreichten die Landebahn und setzten fast unmerklich auf. »Der Flughafen hat auch seine Geschichte«, fuhr Quinn fort. »Von hier aus starteten die ersten regelmäßigen Postflüge, und Key West ist der Anfang und das Ende des Highway 1.« Das Flugzeug bremste ab, und schließlich rollten sie langsam zu 534
einer baufälligen Bude mit einer Veranda. Bond sah eine niedrige Wand mit verblichenen Buchstaben: ›Willkommen in Key West, der einzigen frostfreien Stadt der Vereinigten Staaten‹. »Und hier gibt es die schönsten Sonnenuntergänge«, setzte Quinn hinzu. »Wirklich unglaublich. Nur schade, daß du keinen mehr sehen wirst.« Die Hitze traf sie wie die Glut eines Schmelzofens, als sie das Flugzeug verließen. Selbst die leichte Brise fühlte sich an, als käme sie geradewegs aus dem Fegefeuer. Die Weiterfahrt war ebensogut organisiert wie seine Entführung. Kirchtum hielt sich dicht hinter Bond, so daß er jederzeit mit seiner gefährlichen Spritze eingreifen konnte, falls Bond sein Mißtrauen erregte. »Lächle und tu so, als würden wir reden«, murmelte Quinn, während er zur Veranda blickte, wo etwa ein Dutzend Leute warteten, um die Passagiere einer gerade landenden PBAMaschine zu begrüßen. Bond musterte die Gesichter, doch er erkannte niemanden. Sie gingen durch ein kleines Tor in der Mauer neben dem Gebäude, und Quinn und Kirchtum schoben ihn in einen dunklen Wagen. Wenige Sekunden später saß Bond wieder zwischen den beiden Männern. Dieses Mal war der Fahrer ein junger Mann mit offenem Hemd und langen blonden Haaren. »Alles klar?« sagte er. »Fahr los«, schnappte Quinn. »Soweit ich weiß, ist alles schon besprochen.« »Klar doch. Wir sind gleich da.« Er fädelte sich in den Verkehr ein und drehte leicht den Kopf. »Was dagegen, wenn ich das Radio einschalte?« »Nur zu, solange es die Pferde nicht erschreckt.« Quinn schien sehr entspannt und selbstsicher. Wenn Kirchtum, der sehr nervös wirkte, nicht auf der anderen Seite gesessen hätte, dann hätte Bond versucht zu entkommen. Doch der Arzt war sehr aufmerksam und gespannt. Er würde sofort die Spritze benutzen, wenn 007 eine verdächtige Bewegung machte. Der Junge stellte das Radio an, und eine rauhe, müde und zynische Stimme krächzte: 535
Daddy hat ein Loch im Ärmel durch das sein Geld verschwi ndet… »Nicht das!« fauchte Quinn. »Oh, tut mir leid. Ich mag Rock ‘n’ Roll und Rhythm and Blues. Mann, das ist gute Musik.« »Ich sagte, daß ich das nicht hören will.« Er schaltete mürrisch das Radio wieder aus. Bond prägte sich unterdessen die Umgebung ein – South Roosevelt Boulevard, ein überfülltes Restaurant, windschiefe Holzhäuser mit verschnörkelten Gittern vor den Veranden, die blinkende Reklame eines Motels: Alles belegt. Die Straße war von üppigen Tropenpflanzen gesäumt, zu ihrer Rechten war das Meer. Sie folgten anscheinend einer weiten Kurve, die sie vom Atlantik fortführte. Dann bogen sie an einem Schild in Richtung Searstown ab und fuhren durch ein großes Einkaufsviertel. Der Wagen hielt vor einem Supermarkt und einem Optikergeschäft. Zwischen den Gebäuden war eine schmale Gasse zu sehen. »Da oben ist es. Die Tür auf der rechten Seite. Über dem Optiker. Soll ich Sie wieder abholen?« »Um fünf«, sagte Quinn ruhig. »Rechtzeitig, um zur Dämmerung in Garrison Bight zu sein.« »Dann wollen Sie zum Fischen rausfahren?« Der Fahrer drehte sich ganz um, und erst jetzt konnte Bond sein Gesicht gut sehen. Er war nicht so jung, wie Bond zu Anfang gedacht hatte; die blonden Haare hatten ihn getäuscht. Die Hälfte seines Gesichts war eingesunken und von großen Narben entstellt. Er bemerkte, daß Bond zusammenzuckte und sah ihn mit seinem intakten Auge an. Er zog eine häßliche Grimasse. »Machen Sie sich mal keine Sorgen um mich; genau deshalb arbeite ich für diese Herren hier. Ich hab’ mein neues Gesicht in Vietnam bekommen, und ich dachte, ich könnte es hier gut gebrauchen. Bei manchen Leuten reicht es, um ihnen einen gehörigen Schreck einzujagen.« »Fünf Uhr«, wiederholte Quinn, indem er die Tür öffnete. Der Ablauf war wie zuvor. Sie schoben Bond aus dem Wagen 536
und durch die Gasse, und wenige Augenblicke später waren sie eine Treppe hinaufgegangen und hatten einen kahlen Raum betreten. Die Einrichtung bestand nur aus zwei Stühlen und zwei Betten, verblichenen Vorhängen und einer klappernden Klimaanlage. Sie fesselten ihn wieder mit den Handschellen und einer Kette, und Kirchtum setzte sich dicht vor Bond und hielt ihm die Spritze vor die Nase, während Quinn etwas zu essen besorgte. Es gab Melonen, Brot, Schinken und Mineralwasser. Dann bewachten Quinn und Kirchtum abwechselnd ihren Gefangenen. Bond fiel resigniert in einen erschöpften Schlaf. Als Quinn ihn wachschüttelte, war es noch dunkel. Er schob Bond in das winzige Bad, wo er mit etwas Wasser die Benommenheit beseitigen sollte. Etwa zehn Minuten später führten sie ihn nach unten zum Wagen. Es war früh am Morgen, und die Stadt war noch nicht zum Leben erwacht. Der Himmel war kalt und grau, doch Quinn sagte, daß es ein schöner Tag werden würde. Sie fuhren über den North Roosevelt Boulevard und passierten einen kleinen Hafen mit Yachten und großen, motorgetriebenen Fischerbooten. Dann war auf beiden Seiten Wasser zu sehen. »Dorthin wollen wir – zum Golf von Mexiko. Die Insel liegt jenseits des Riffs.« Quinn deutete nach vorn. Sie hielten vor dem Harbor Lights Restaurant, und Bond wurde wieder aus dem Wagen geschoben. Es ging eine Treppe hinunter zu einem anderen Hafen. Vor einem Fischerboot mit einem hohen Aufbau über der Kabine wartete ein großer, muskulöser Mann. Die Maschinen liefen bereits. Quinn und der Kapitän begrüßten sich mit einem knappen Nicken, dann wurde Bond in die kleine Kabine gebracht. Wieder wurde er mit Handschellen und Ketten gefesselt. Die Maschinen brüllten auf, und Bond spürte den Ruck, als das Boot ablegte und den Hafen durchquerte. Sie fuhren unter einer Brücke hindurch, und das Boot beschleunigte weiter. Kirchtum legte beruhigt die Spritze zur Seite, und Quinn gesellte sich zum Kapitän auf der Brücke. Fünf Minuten später waren sie im offenen Meer; das Boot 537
wiegte sich klatschend in den hohen Wellen. Seine Entführer waren inzwischen vollauf mit der Navigation beschäftigt, und Bond begann ernsthaft über seine Lage nachzudenken. Sie hatten eine Insel außerhalb des Riffs erwähnt; er fragte sich, wie lange sie brauchen würden, um sie zu erreichen. Dann konzentrierte er sich auf die Handschellen, bis er erkannte, daß er wenig tun konnte. Plötzlich kam Quinn in die Kabine zurück, »Ich werde dich knebeln und zudecken.« Dann wandte er sich an Kirchtum; Bond konnte gerade noch verstehen, was er sagte. »Steuerbord ein anderes Fischerboot… vielleicht in Seenot… Der Kapitän sagt, daß wir helfen müssen… sie könnten uns melden. Ich will keinen Verdacht erregen.« Er drückte Bond ein Taschentuch in den Mund und band ein zweites so fest davor, daß Bond einen Augenblick glaubte, er müßte ersticken. Nachdem er die Ketten überprüft hatte, warf Quinn eine Decke über ihn. Bond strengte seine Ohren an, um wenigstens etwas zu hören. Das Boot wurde langsamer und begann zu rollen. Dann hörte er den Kapitän rufen: »Habt ihr Schwierigkeiten?« Und ein paar Sekunden später: »Gut, ich komme an Bord, aber ich hab’ ein Rendezvous. Ich kann euch erst auf dem Rückweg in Schlepp nehmen.« Es bumste, als die Boote aneinanderlegten, und dann war der Teufel los. Nach dem ersten Dutzend gab Bond es auf, die Schüsse mitzuzählen. Zuerst knallten Pistolenschüsse, dann war das Stottern einer Maschinenpistole zu hören. Dann ein Schrei, Bond glaubte, Kirchtums Stimme zu erkennen, und dann prallte über ihm etwas auf das Deck. Dann wurde es still, und er hörte, wie nackte Füße die Treppe zur Kabine herunterkamen. Die Decke wurde zurückgezogen. Bond drehte den Kopf herum und riß die Augen auf, als er Nannie Norrich erkannte. Sie hielt ihre kleine Automatik in der Hand. »Tja, Master James, da haben wir Sie wieder mal herausgehauen, was?« Sie drehte sich um. »Alles klar, Sukie. Er ist hier unten, gewickelt und gespickt und fertig für die Röhre.« Sukie kam herunter. Auch sie war bewaffnet. Sie grinste er538
freut. »Eingewickelt wie ein Braten.« Sie lachte, als Bond einige Flüche zum besten gab, die wegen des Knebels nicht zu verstehen waren. Nannie zerrte an den Handschellen und der Kette, während Sukie wieder nach oben ging, um die Schlüssel zu holen. »Ich hoffe, diese Idioten waren nicht Ihre Freunde«, sagte Nannie. »Tut mir leid, daß wir so mit ihnen umspringen mußten.« »Was meinen Sie mit ›umspringen‹?« Bond keuchte, als der Knebel gelöst wurde. Nannie machte ein so unschuldiges Gesicht, daß es ihm kalt den Rücken herunterlief. »Sie sind leider tot, James. Alle drei. Mausetot. Aber Sie mü ssen zugeben, daß wir ziemlich auf Draht waren weil wir Sie gefunden haben.«
15. DER PREIS FÜR EIN LEBEN Bond erschrak etwas, als er das Blutbad sah, das die beiden jungen Frauen an Deck angerichtet hatten, doch er gab sich erleichtert und distanziert, als wiege der Tod der drei Männer nicht schwerer als wenn er einige lästige Fliegen in der Küche erschlagen hatte. Außerdem war er wütend. Er hatte die Initiative ergriffen, war von Quinn und Kirchtum hereingelegt worden und in ihre improvisierte Falle getappt. Und er hatte es nicht geschafft, durch eigene Kraft zu entkommen. Die Frauen hatten ihn gerettet, und das schmeckte ihm nicht – eine seltsame Reaktion, denn eigentlich hätte er dankbar sein müssen. Längsseits lag ein zweites, ähnlich gebautes Fischerboot, das den Namen Prospero trug. Es stieg und sank mit den Wellen und prallte ab und zu gegen ihr Boot. Sie hatten das Riff hinter sich gelassen und steuerten auf die flachen Inseln zu, die sich vor ihnen aus der See erhoben. Während die Sonne langsam höherstieg, wich das Grau des Himmels einem tiefen Blau. Quinn hatte recht gehabt; es würde ein wunderschöner Tag werden. 539
»Und?« Nannie stand bei ihm und sah sich um, während Sukie auf dem zweiten Boot beschäftigt war. »Was ist?« »Nun, war es nicht clever, daß wir Sie gefunden haben?« »Sehr.« Er sprach scharf, fast wütend. »War das denn nötig?« »Sie meinen, Ihre Entführer zu erledigen?« Es klang seltsam, als Nannie Norrich das Wort aussprach. Jetzt wurde sie wütend. »Und ob es nötig war. Können Sie nicht mal danke sagen, James? Wir haben versucht, friedlich mit ihnen zu verhandeln, doch sie haben mit der verdammten Uzi zu feuern begonnen. Uns blieb nichts anderes übrig.« Sie deutete auf ihr Boot, durch dessen Rumpf, direkt hinter den Aufbauten auf der Kabine, eine häßliche Reihe gezackter Löcher verlief. Bond nickte und bedankte sich murmelnd. »Wirklich, es war sehr clever, wie Sie mich gefunden haben. Ich würde gern mehr darüber hören.« »Das werden Sie auch«, sagte Nannie gereizt. »Aber zuerst müssen wir dieses Chaos aufräumen.« »Wie waren Sie eigentlich bewaffnet?« »Wir hatten die beiden Pistolen aus Ihrem Koffer – Ihr Gepäck ist in Key West in einem Hotel. Ich mußte leider die Schlösser aufbrechen. Ich habe die Kombination nicht herausbekommen, und wir hatten es eilig.« »Habt ihr Reservebenzin dabei?« Sie deutete zum Heck, wo Kirchtums Leiche lag. »Da hinten sind ein paar Kanister. Auf unserem Boot sind noch drei.« »Es muß aussehen wie ein Unglück«, sagte Bond stirnrunzelnd. »Und die Leichen dürfen nicht gefunden werden. Eine Explosion wäre am besten – natürlich erst, nachdem wir uns in Sicherheit gebracht haben. Im Prinzip ist das kein Problem, aber wir brauchen eine Art Zünder, und den haben wir nicht.« »Aber wir haben eine Signalpistole; wir könnten eine Leuchtkugel abschießen.« Bond nickte. »Das geht. Wie ist die Reichweite? Etwa hundert Meter? Gehen Sie zu Sukie und bereiten Sie die Pistole vor. Ich 540
erledige hier alles Nötige.« Nannie wandte sich um, setzte leichtfüßig über die Reling und sprang auf das andere Boot. Sie rief Sukie. Bond machte sich an die Arbeit und dachte währenddessen nach. Wie hatten sie ihn nur gefunden? Wie hatten sie es geschafft, im richtigen Augenblick am richtigen Ort zu sein? Solange er keine Antworten auf diese Fragen hatte, konnte er den jungen Frauen nicht trauen. Er durchsuchte sorgfältig das Boot und brachte alles, was irgendwie nützlich schien, an Deck – Seile, dicke Angelschnüre für Haie und Schwertfische. Alle Waffen bis auf Quinns Automatik, eine 9 mm Browning und Reservemunition, warf er über Bord. Dann kam der schlimmste Teil. Er schleppte die Leichen zum Heck. Kirchtum, der schon dort lag, mußte nur umgedreht werden. Bond tat es mit dem Fuß. Der Kapitän steckte in der Tür des Führerhauses, und er mußte fest ziehen, um ihn freizubekommen. Quinn war am schwersten zu bewegen; Bond mußte seine Leiche durch den schmalen Spalt zwischen Kabine und Reling bugsieren. Er legte die Leichen über die Benzintanks und band sie mit einer Angelschnur zusammen. Dann sammelte er alles brennbare Material, das er finden konnte – Decken und Laken aus den vier Kojen, Polster, Kopfkissen, sogar Lumpen. Er stapelte alles im Bug auf und beschwerte es mit Schwimmwesten und einigen anderen schweren Gegenständen. Neben den Leichen ließ er ein zusammengerolltes Tau liegen. Dann kletterte er zum anderen Boot hinüber. Sukie stand auf der Brücke und Nannie dicht hinter ihr auf der Treppe, die zur Kabine hinunterführte. Nannie hielt die wuchtige Signalpistole bereit. »Da ist sie.« »Sind genug Leuchtkugeln da?« Sie deutete auf einen Metallkasten mit einem Dutzend dicker Patronen, die farbig gekennzeichnet waren: Rot, grün, weiß. Bond wählte drei weiße Patronen aus. »Die müßten reichen.« 541
Er gab rasch seine Anweisungen, und Sukie startete die Maschinen, während Nannie alle Seile bis auf eins löste. Bond kehrte noch einmal auf das andere Boot zurück, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Er rollte das Seil über den Leichen aus und steckte das Ende in den Scheiterhaufen im Bug, sicherte es und legte das andere Ende vor den Tankbehältern ab. Dann kippte er Benzin über den Scheiterhaufen und ging langsam rückwärts, um das ganze Seil bis zu den Leichen und den Haupttanks im Heck mit Benzin zu tränken. Er öffnete noch einen zweiten Kanister und schüttete das Benzin über den Leichen aus, dann löste er den Verschluß des Haupttanks und steckte das Seilende hinein. »Moment noch!« rief er zu den Mädchen hinüber. Er rannte zurück und sprang über die Reling, während Nannie das letzte Seil zwischen den Booten löste. Sukie drehte langsam die Maschinen hoch, und sie entfernten sich von dem Boot. Bond kletterte auf den Aufbau, steckte eine Patrone in die Leuchtpistole, überprüfte die Windrichtung und beobachtete, wie der Abstand zwischen den Booten langsam größer wurde. Als sie etwa achtzig Meter entfernt waren, hob er die Pistole und feuerte. Die Leuchtkugel zischte über den Bug des Bootes hinweg. Er lud sofort nach und nahm eine andere Position ein. Die zweite Leuchtkugel beschrieb einen sauberen Bogen und landete, eine dicke Qualmwolke runter sich herziehend, im Bug. Es dauerte einen Augenblick, bis das Benzin mit einem Knall zündete. Die Flammen fraßen sich am Seil entlang ins Heck des Bootes zu den Leichen und den Tanks. »Und jetzt volle Kraft. Nichts wie weg hier!« rief Bond. Sukie drehte die Maschinen hoch, und der Bug schob sich in einer hohen Welle aus dem Wasser, bevor Bond ganz ausgesprochen hatte. Sie entfernten sich immer schneller von dem treibenden Boot. Die Leichen fingen zuerst Feuer, und im Heck entstand eine grellrote Flamme. Dann stieg schwarzer Rauch auf. Sie waren gut zwei Kilometer entfernt, als die Benzintanks in die Luft gingen – eine gewaltige, brüllende Explosion mit einem roten Ze n542
trum, die das Boot förmlich zerriß. Einige Sekunden war nur dicker Qualm zu sehen, in dem die Trümmer des Bootes hoch hinauf flogen, dann wurde es still. Das Wasser kräuselte sich etwas an der Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch ein großes Fischerboot gedümpelt hatte. Dann beruhigten sich die Wellen, es dampfte noch einige Sekunden, und dann war nichts mehr zu sehen. Eine oder zwei Sekunden nach der Explosion traf die Schockwelle ihr Heck. Der Wind wurde einen Augenblick etwas heißer. Bond blieb auf dem Aufbau stehen und blickte ständig zu dem Explosionsort zurück, bis sie fünf Kilometer entfernt waren. »Kaffee?« fragte Nannie. »Kommt darauf an, wie lange wir auf See bleiben.« »Wir haben das Boot für einen Tag zum Fischen gemietet«, sagte sie. »Ich glaube, wir sollten keinen Verdacht erregen.« »Nein, wir müssen sogar versuchen, etwas zu fangen. Kommt Sukie mit der Steuerung klar?« Sukie nickte lächelnd. »Sie hat ihr Leben lang nichts anderes gemacht.« Nannie deutete zur Kabine. »Da unten ist Kaffee…« »Ich wüßte gern, wie ihr mich gefunden habt«, sagte Bond, indem er sie fest anblickte. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt – ich passe auf Sie auf, James.« Sie setzten sich einander gegenüber auf die Kojen in der kleinen Kabine. Es war nicht leicht, im rollenden Boot die Tassen einzuschenken. Immer wieder klatschten Brecher gegen die Außenwand; Sukie hatte anscheinend die Geschwindigkeit gedrosselt und fuhr in weiten, weichen Bögen im Kreis herum. »Wenn die Norrich Universal Bodyguards den Auftrag annehmen, jemanden zu bewachen, dann wird er auch bewacht.« Nannie hatte ihre langen Beine unter die Koje geschoben und ihre dunklen Haare gelöst, die jetzt schwer und voll über ihre Schultern fielen. Ihr Gesicht wirkte elfenhaft, und ihre grauen Augen blickten weicher. Und sehr interessant. Paß auf dich auf, dachte Bond. Diese Dame hat dir einiges zu erklären, und sie 543
sollte sich Mühe geben, daß es überzeugend klingt. »Also habt ihr auf mich aufgepaßt.« Er lächelte nicht. Sie erklärte, daß sie ihm im Flughafen gefolgt sei, als er zur Information ging, während Sukie auf das Gepäck aufgepaßt hätte. »Meine Deckung war kein Problem – Sie wissen ja selbst, wie viele Menschen dort waren. Ich habe alles gesehen, und ich habe genug Erfahrung, um eine Entführung zu erkennen, wenn ich sie sehe.« »Aber sie haben mich in einen Wagen gesteckt.« »Ja. Ich habe die Nummer notiert und angerufen. Meine Organisation hat hier ein Büro, und ich habe den Wagen überprüfen lassen und die Nachricht hinterlassen, daß ich möglicherweise Verstärkung anfordern würde. Danach habe ich die Flugüberwachung angerufen.« »Sehr umsichtig.« »James, in diesem Spiel muß man an alles denken. Abgesehen von den Linienflügen nach Key West gab es eine Privatmaschine, die bereits ihren Flugplan eingereicht hatte. Ich hab’ die Einzelheiten notiert…« »Welche denn?« »Die Firma heißt Societe pour la Promotion de l’Ecologie et de la Civilisation…« SPEC dachte Bond. SPEC. SPECTRE. »Wir hatten noch sechs Minuten Zeit, um für den PBA-Flug nach Key West einzuchecken, also dachte ich, wir könnten es vor der Privatmaschine schaffen.« »Und Sie haben darauf spekuliert, daß ich an Bord der Privatmaschine wäre.« Sie nickte. »Ja, und so war es auch. Wenn nicht, hätte ich ziemlich dumm dagestanden. Doch wir hatten unser Flugzeug fünf Minuten vor Ihrer Landung verlassen. Ich hatte sogar Zeit, einen Wagen zu mieten, Sukie ins Hotel zu schicken, um Zi mmer zu buchen und Ihnen zum Einkaufszentrum nach Searstown zu folgen.« »Und dann?« 544
»Ich hab’ gewartet.« Sie hielt inne, wich seinem Blick aus. »Um ehrlich zu sein, ich wußte nicht so recht weiter. Und dann, es war fast ein Wunder, kam dieser große bärtige Mann heraus und ging zu einer Telefonzelle. Ich war nur ein paar Schritte entfernt und konnte ihn gut sehen. Lassen Sie sich nicht durch die Brille täuschen. Ich sah, wie er wählte und eine Weile sprach. Dann ging er in den Supermarkt, und ich wählte dieselbe Nummer wieder. Sie gehört zum Harbor Lights Restaurant.« In ihrem gemieteten Volkswagen lag ein Stadtplan, und das Restaurant war nicht schwer zu finden. »Ich sah sofort, daß es ein Lokal für Fischer und Segler war – lauter gebräunte, muskulöse Männer, die Boote mieteten und selbst segelten. Ich hörte mich etwas um, und ein Mann – der Typ, der sich gerade in Qualm aufgelöst hatte – erwähnte, daß er sehr früh am Morgen einen Kunden hätte. Er hatte etwas getrunken, und er verriet mir sogar die Uhrzeit und daß er drei Passagiere hätte.« »Und dann haben Sie auch ein Boot gemietet.« »Genau. Ich hab’ dem Kapitän erklärt, daß ich keine Hilfe brauche. Sukie kann mit verbundenen Augen und gefesselten Händen in den gefährlichsten Riffs navigieren. Er zeigte mir sein Boot, wollte mich anmachen und bekam seine Quittung. Aber er zeigte mir seine Karten und erzählte mir etwas über die gefährlichen Strömungen und Untiefen in dieser Gegend. Er sprach vom Riff, von den Inseln und von dem Steilabfall im Golf von Mexico.« »Dann sind Sie zu Sukie ins Hotel gefahren…« »Wir haben die halbe Nacht über den Karten gebrütet. Wir sind früh am Morgen nach Garrison Bight gefahren und waren vor Ihnen außerhalb des Riffs. Wir haben euch mit dem Radar beobachtet. Dann haben wir in euren Kurs gesteuert, die Maschinen gestoppt und Seenotsignale gegeben. Den Rest haben Sie selbst mitbekommen.« »Sie haben es gütlich versucht, aber sie haben mit der Uzi zu feuern begonnen.« »Und die Quittung bekommen, ja.« Sie neigte den Kopf und seufzte. »Mein Gott, bin ich müde.« »Da sind Sie nicht die einzige. Aber was ist mit Sukie?« 545
»Sie ist anscheinend gut in Form. Wenn sie ein Boot steuern kann, lebt sie immer auf.« Nannie stellte ihre leere Tasse ab und begann langsam ihr Hemd aufzuknöpfen. »Ich glaube, ich lege mich etwas hin, James. Wollen Sie sich zu mir legen?« »Und wenn es einen Sturm gibt? Dann fliegen wir aus der Koje.« Bond beugte sich vor und küßte sie zärtlich auf den Mund. »Ein anderer Sturm wäre mir lieber.« Sie legte ihm die Arme um den Hals und zog ihn zu sich herüber. Später sagte sie, sie könnte sich nicht vorstellen, ein schöneres Dankeschön für eine Lebensrettung zu bekommen. »Dann solltest du’s irgendwann mal wieder tun.« Bond küßte sie, streichelte ihren nackten Körper. »Warum nicht jetzt gleich?« fragte Nannie mit einem schelmischen Grinsen. »Es scheint mir ein fairer Preis für ein Leben zu sein.«
16. DIE NACHT DER ENTSCHEIDUNG »Soweit ich es sagen kann, liegen draußen vor dem Riff drei Inseln, die in Privatbesitz und bebaut sind.« Sukie deutete auf die Karte der Umgebung von Key West. Es war früher Nachmittag, und sie hatten Angelleinen ausgeworfen. Vier große rote Raubfische hatten sich blicken lassen, doch bisher hatte noch nichts angebissen – kein Hai, kein Schwertfisch. »Diese hier«, fuhr Sukie fort, indem sie auf eine Insel direkt vor dem Riff deutete, »gehört dem Mann, dem auch unser Hotel gehört. Weiter nördlich ist eine weitere, und diese hier«, sie deutete auf eine weitere Insel, »liegt am Schelf kurz vor dem Steilabfall. Der Kontinentalschelf fällt dort von 270 Meter unvermittelt auf 600 Meter ab. Dort kann man hervorragend angeln. In der Gegend gibt es auch viele Schatzsucher.« Sie deutete noch einmal auf die Insel. »Es sieht ganz danach aus, als wärt ihr dorthin unterwegs gewesen.« Bond las den Namen der Insel. »Shark Island«, sagte er. »Die Hai-Insel. Wie gemütlich.« »Da scheint jemand Humor zu haben. Ich hab’ mich gestern 546
abend im Hotel umgehört. Vor ein paar Jahren hat ein Mann namens Tarquin Rainey die Insel gekauft. Der Junge im Hotel stammt aus einer alten Familie aus Key West. Er kennt jedes Gerücht. Er sagt, dieser Rainey sei ein geheimnisvoller Mann. Er käme immer mit einem Privatjet und ließe sich mit einem Hubschrauber oder einem Schnellboot, das zur Insel gehört, dort hinausbringen. Er scheint sehr ehrgeizig zu sein; die Leute, die sonst auf den Inseln bauen, lassen sich normalerweise viel Zeit, weil es schwi erig ist, das Material hinauszubekommen. Rainey hätte aber innerhalb eines Sommers ein Haus gebaut und im zweiten Jahr die Landschaft umgestaltet. Angeblich hätte er große tropische Ziergärten. Die Leute in Key West sind sehr beeindruckt, und um die zu beeindrucken, muß schon einiges passieren. Besonders, weil sie behaupten, eine eigene Republik zu haben – die Conch Republic.« »Hat ihn jemand gesehen?« fragte Bond. Er wußte, daß der Name Tarquin Rainey kein Zufall sein konnte. Der Mann mußte Tamil Rahani sein, was bedeutete, daß Shark Island SPECTRE gehörte. »Ich glaube, ab und zu hat ihn mal jemand gesehen – aber nur aus großer Entfernung. Er hält anscheinend nicht viel von Geselligkeit. Ich habe gehört, daß einige Leute mit Booten in die Nähe der Insel gekommen waren, und sie wären höflich aber sehr bestimmt von großen Männern in schnellen Motorbooten verjagt worden.« »Hm.« Bond dachte einen Augenblick nach, dann fragte er Sukie, ob sie während der Nacht bis auf einige Kilometer an die Insel heranfahren könnte. »Wenn die Karten genau genug sind, wird es gehen. Wir müssen langsam fahren, aber es ist möglich. Wann wollen Sie aufbrechen?« »Ich dachte, heute nacht. Wenn ich auf die Insel gebracht werden sollte, darin ist es nur höflich, wenn ich Mr. Rainey so schnell wie möglich aufsuche.« Bond blickte Sukie, dann Nannie an, die von seinem Einfall nicht sehr begeistert schienen. »Ich denke, wir sollten jetzt nach Garrison Bight zurückfah547
ren«, fuhr er fort. »Fragt den Besitzer, ob ihr das Boot noch ein paar Tage behalten könnt. Ich werde mir inzwischen einige Dinge besorgen, die ich brauchen werde. Wir können dann in Key West Spazierengehen – sehen und gesehen werden. Wir werden um zwei Uhr morgens nach Shark Island aufbrechen. Ich verspreche euch, daß ich euch nicht in Gefahr bringen werde. Ihr wartet einfach auf dem Boot, ein Stück vom Ufer entfernt, und wenn ich bis zu einer bestimmten Zeit nicht zurück bin, macht ihr, daß ihr fortkommt und kehrt in der folgenden Nacht zurück.« »Einverstanden«, sagte Sukie, indem sie aufstand. Nannie nickte nur. Sie hatte, seit sie wieder an Deck waren, noch nichts gesagt. Ab und zu warf sie einen warmen Blick in Bonds Richtung. »Schön. Dann laßt uns die Leinen einziehen«, sagte er entschlossen. »Wir fahren um zwei Uhr. Bis dahin haben wir noch eine Menge zu erledigen.« Die Ortspolizei war schon in Garrison Bight, als sie zurückkehrten, und fragte nach dem Boot, das Steve Quinn gemietet hatte. Ein anderes Motorboot hatte eine große Rauchwolke gemeldet, und ein Hubschrauber der Küstenwache hatte Wrackteile ausgemacht. Sie hatten, nachdem Quinns Boot explodiert war, den Hubschrauber auch selbst gesehen und sogar zu ihm hinaufgewinkt, denn sie wußten, daß sie in sicherer Entfernung waren. Nannie ging ans Ufer und sprach mit der Polizei, während Sukie in Sichtweite auf Deck blieb. Bond versteckte sich in der Kabine. Nannie kehrte eine halbe Stunde später zurück und erklärte, sie hätte die Cops eingewickelt und das Boot für eine Woche gemietet »Ich hoffe, so lange werden wir es nicht brauchen«, sagte Bond, indem er das Gesicht verzog. »Lieber auf Nummer Sicher, wie man bei uns Leibwächtern sagt.« Sie streckte ihm die Zunge heraus, bevor sie weitersprach. »Master James.« »Ich hab’ den Witz verstanden, danke.« Er schien gereizt. 548
»Wo wohnen wir jetzt?« »Es gibt in Key West nur eine Möglichkeit«, sagte Sukie. »Das Pier House Hotel. Von dort aus hat man einen wundervollen Blick auf die Sonnenuntergänge über dem Meer.« »Ich hab’ vor dem Sonnenuntergang noch eine Menge zu tun«, sagte Bond scharf. »Je eher wir zu diesem – wie heißt es? Pier House? – kommen, desto besser.« Als sie mit dem gemieteten Volkswagen losfuhren, fühlte Bond sich ohne Waffe plötzlich nackt. Er saß vorn neben Nannie; Sukie hatte sich auf den Rücksitz gequetscht und gab ab und zu einen Kommentar zu dem Ort, den sie gut kannte. Bond empfand die Stadt als seltsame Mischung zwischen einem Urlaubsort mit Resten ehemaliger Naturschönheiten und Häusern, die förmlich nach Geld rochen. Es war heiß, die Palmen funkelten und wiegten sich leise im Wind. Sie fuhren zwischen den dünnwandigen, hell und sauber gestrichenen Hä usern hindurch, bewunderten die Gärten und Höfe mit ihrer subtropischen Blumenpracht. Doch neben den gepflegten Häusern waren immer wieder verfallene Grundstücke zu sehen. Teilweise waren die Gehwege sauber und ordentlich unterhalten, tei lweise waren sie rissig, durchlöchert und kaum noch zu erkennen. An einer Kreuzung mußten sie einem seltsamen Zug die Vorfahrt lassen – es war eine Art Miniaturlokomotive, die auf einem dieselgetriebenen Jeep befestigt war. Daran hingen mehrere überfüllte Personenwagen mit bunten Markisen. »Der Conch Train«, informierte Sukie ihn. »Mit ihm können die Touristen die Stadt besichtigen.« Bond konnte den Fahrer hören, der einen blauen Overall und eine spitze Mütze trug. Er leierte die Sehenswürdigkeiten und ihre Geschichte herunter, während sich der Zug durch die Straßen wand. Schließlich bogen sie in eine lange, gerade Straße mit Holz und Betongebäuden ab. Hier schienen sich ausschließlich Juweliere, Andenkenläden und teure Restaurants angesiedelt zu haben. »Die Duval«, erklärte Sukie. »Die Straße führt bis zum Meer – 549
und dort unten ist auch unser Hotel. Nachts ist es dort einmalig schön. Dort, das ist der berühmte Fast Buck Freddies Department Store. Und da drüben, das ist Antonia’s, ein sehr gutes italienisches Restaurant. Und das dort ist Sloppy Joe’s Bar; es war Ernest Hemingways Lieblingskneipe.« Selbst wenn Bond Haben und Nichthaben nicht gelesen hätte – in Key West wurde sehr deutlich, daß der große Autor einmal hier gelebt hatte. Überall gab es T-Shirts und Zeichnungen mit seinem Abbild, und die Besucher von Sloppy Joe’s Bar wurden durch ein großes Schild informiert, wo sie waren. Als sie das Ende der Duval Street erreichten, sah Bond endlich, was er gesucht hatte; es war ganz in der Nähe des Hotels. »Für dich ist schon ein Zimmer reserviert, und dein Gepäck ist bereits oben«, sagte Nannie, als sie das Auto abstellte. Sie führten ihn durch den hellen, mit Bambus möblierten Empfangsbereich in einen umfriedeten Hof, der mit einem Springbrunnen, Blumen und einer großen Holzstatue einer nackten Frau ausgeschmückt war. Über ihnen drehten sich lautlos große Ventilatoren und sandten einen Strom kühler Luft herab. Er folgte ihnen durch einen Gang in den Garten hinaus, durch den sich gewundene, mit Blumen gesäumte Wege zogen. Links war ein Swi mmingpool, und dahinter lag der Strand mit einer Reihe aus Holz und Bambus gebauter Bars und Restaurants. Der Pier, nach dem das Hotel benannt war, erstreckte sich auf mächtigen Holzpfeilern über dem Wasser. Das Gebäude war wie ein U angelegt, in dessen Zentrum der Garten und der Pool lagen. Sie betraten jenseits des Pools wieder das Hauptgebäude und fuhren mit dem Aufzug in den ersten Stock, wo ihre benachbarten Zimmer lagen. »Wir haben zusammen ein Zimmer«, sagte Sukie, während sie ihren Schlüssel ins Schloß steckte. »Sie wohnen hier nebenan, falls wir etwas für Sie tun können.« Zum erstenmal, seit er sie kennengelernt hatte, glaubte Bond in Sukies Stimme so etwas wie eine Einladung zu hören. Er sah, wie Nannie einen Augenblick wütend das Gesicht verzog. Kämpften die beiden etwa um ihn? »Wie ist dein Plan?« fragte Nannie etwas zu knapp. 550
»Von wo aus kann man am besten diesen unglaublich schönen Sonnenuntergang bewundern?« Sie lächelte leicht. »Ich habe gehört, von der Terrasse der Havana Docks Bar aus.« »Und wann?« »Um sechs.« »Ist die Bar hier im Hotel?« »Da drüben.« Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Über den Restaurants, direkt am Strand.« »Dann treffen wir uns um sechs.« Bond lächelte, schloß sein Zimmer auf und betrat eine schöne und praktisch eingerichtete, überraschend luxuriöse Suite. Die beiden Aktentaschen und sein Samsonite-Spezialkoffer standen mitten im Zimmer. Bond brauchte kaum zehn Minuten zum Auspacken. Als er die ASP im Schulterhalfter unter seiner Jacke verstaut hatte, fühlte er sich entschieden wohler. Auch der Stock war wieder am gewohnten Platz am Gürtel. Er durchsuchte gründlich die Zimmer und vergewisserte sich, daß die Fensterriegel sicher wären. Dann öffnete er leise die Tür. Der Flur war verlassen. Er schloß die Tür, ging leise zum Aufzug und in den Garten hinunter. Dann verließ er durch einen Verbindungsweg zum Parkplatz, den er beim Heraufkommen bemerkt hatte, das Hotel. Draußen war es feucht und heiß. Am Ende des Parkplatzes stand ein niedriges Gebäude – der Pier House Market, der einen Eingang auf der Seite des Hotels und einen zweiten an der Front Street hatte. Bond ging durch den Laden, hielt einen Augenblick inne, um die Früchte und die Fleischabteilung zu begutachten, und trat dann auf die Front Street hinaus. Dort bog er nach rechts ab und überquerte die rissige, holprige Straße, bis er die Einmündung der Duval Street erreichte. Er ging an dem Geschäft vorbei, in das er eigentlich wollte, und kaufte nebenan in einer Herrenboutique ein Paar verblichene Jeans, ein T-Shirt ohne geschmacklose Sprüche und ein Paar weiche Ledersandalen. Außerdem erstand er eine viel zu teure, kurze Leinenjacke. Für einen Mann mit Bonds Beruf waren Jacken wichtige Kleidungsstücke – unter ihnen konnte man die Werkzeuge verbergen. 551
Er verließ die Boutique und näherte sich dem Laden, den er vom Wagen aus gesehen hatte. Neben dem Eingang stand eine Puppe mit einem Taucheranzug. Der Laden hieß ›Reef Plunderers Diving Emporium‹. Der bärtige Händler versuchte, ihm eine dreieinhalbstündige Schnorchelexpedition auf einem Boot anzudrehen, das natürlich Reef Plunderer II hieß, doch Bond sagte, er hätte kein Interesse. »Captain Jack kennt die besten Tauchplätze am Riff«, protestierte der Verkäufer lahm. »Ich brauche einen Anzug, eine Schnorchelmaske, Messer, Flossen und eine Unterwasserlampe. Und eine große Schultertasche, um den Kram zu verstauen«, erklärte Bond ihm ruhig und entschlossen. Der Verkäufer sah ihn an, schätzte den Körperbau unter dem leichten Anzug und den harten Ausdruck der eisblauen Augen ab. »Ja, Sir. Gut. Natürlich«, sagte er. Er führte ihn in den hinteren Teil des Ladens. »Das ist natürlich nicht billig, aber Sie wissen sicher, was Sie wollen.« »Genau.« Bond bemühte sich, leise zu sprechen. »Gut«, wiederholte der Verkäufer. Er war gekleidet wie ein alter Seebär, mit gestreiftem T-Shirt und Jeans. An einem Ohr hing, wie bei einem Piraten, ein goldener Ring. Er schielte Bond von der Seite an und suchte zusammen, was sein Kunde verlangt hatte. Bond war erst eine Viertelstunde später zufrieden. Er kaufte außerdem einen wasserdichten Gürtel mit Reißverschluß und bezahlte mit seiner Platin-Amex-Karte, die auf James Boldman ausgestellt war. »Ich muß die Karte überprüfen, Mr. Boldman.« »Das müssen Sie nicht, und das wissen Sie.« Bond blickte den Mann hart an. »Aber wenn Sie unbedingt anrufen wollen, werde ich neben Ihnen stehen. Verstanden?« »Jaja, gut«, wiederholte der Pirat, während er Bond in ein winziges Büro im hinteren Teil des Ladens führte. »Ja, Sir. Ja, Sir.« Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Amex. Innerhalb weniger Sekunden hatte er die Bestätigung, daß die Karte in Ordnung war. Nach weiteren zehn Minuten waren 552
Bonds Einkäufe in der Schultertasche verstaut. Bevor er ging, legte Bond den Mund ganz nahe an das beringte Ohr. »Ich will Ihnen mal was sagen«, begann er. »Ich bin fremd hier, aber Sie kennen jetzt meinen Namen.« »Ja.« Der Pirat sah ihn verschlagen an. »Wenn außer Ihnen, Amex und mir selbst noch jemand erfährt, daß ich hier bin, dann komme ich zurück und schneide Ihnen den Ring aus dem Ohr. Dann werde ich dasselbe mit Ihrer Nase tun, und danach mit einem noch empfindlicheren Organ.« Er ballte die Hand zur Faust und ließ sie sinken, bis sie auf einer Höhe mit dem Unterleib des Piraten war. »Haben Sie verstanden? Das ist kein Witz.« »Ich habe Ihren Namen vergessen, Mr. äh, Mr. ...« »Hoffentlich bleibt es so«, sagte Bond und ging hinaus. Er mischte sich unter die Spaziergänger auf der Straße und schlenderte langsam zum Hotel zurück. In seinem Zimmer nahm er den CC500 aus der Aktentasche, verband ihn mit dem Telefon und rief London an. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern gab sofort seine Position durch und sagte, er würde sich wieder melden, sobald er seine Aufgabe erledigt hätte. »Heute abend soll die Sache steigen«, endete er. »Wenn ich mich binnen achtundvierzig Stunden nicht gemeldet habe, seht euch auf Shark Island vor Key West um. Ich wiederhole, heute abend steigt die Aktion.« Er zog die Kleidung an, die er in der Boutique gekauft hatte. Die ASP und der Stock waren gut versteckt, und er fühlte sich nicht mehr nackt. Als er sich im Spiegel betrachtete, dachte er, daß er in diesem Aufzug unter den Touristen nicht auffallen würde. »Heute abend geht’s los«, sagte er leise zu sich selbst. Dann ging er in die Havana Docks Bar hinunter.
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17. SHARK ISLAND Die Terrasse der Havana Docks Bar im Pier House Hotel ist aus groben Planken gezimmert und in mehreren Ebenen angelegt. Die Metallstühle und Tische sind so aufgebaut, daß die Gäste den Eindruck haben, auf einem verankerten Schiff zu sitzen. Runde Lampen auf Pfosten säumen die schwere Holzreling. Der Ort ist der beste Aussichtspunkt für die Sonnenuntergänge von Key West. Die Bar war schon gut besetzt, und überall wurde geplaudert und geschwätzt! Die Lichter waren bereits eingeschaltet und zogen Insektenschwärme an. Irgend jemand spielte Mood Indigo auf einem Klavier. An der Reling standen Touristen, die den Sonnenuntergang fotografieren wollten. Während der klare Himmel ein dunkleres Blau annahm, schoß ab und zu ein schnelles Motorboot vor dem Hotel vorbei. Über ihnen summte ein kleines Flugzeug mit blitzenden Lichtern im Kreis herum. Links, auf dem weiten Mallory Square, sammelten sich die Touristen um Jongleure, Wahrsager, Feuerschlucker und Akrobaten. So ging es hier jeden Abend – eine Feier zum Ende des schönen Tages und ein Vorgeschmack auf die Freuden der kommenden Nacht. James Bond saß an einem Tisch und blickte an den dunkelgrünen Erhebungen von Tank und Wisteria Island vorbei auf die See hinaus. Wenn er bei Vernunft wäre, dachte er, würde er in einem Boot oder einem Flugzeug sitzen und verschwinden. Er war sich der drohenden Gefahr bewußt. Aber zweifellos war Tarquin Rainey identisch mit Tamil Rahani, Blofelds Nachfolger, und vielleicht war dies eine einmalige Gelegenheit, SPECTRE endgültig auszuschalten. »Ist das nicht toll«, sagte Sukie erfreut. »So was gibt es sonst nirgends auf der Welt.« Es war nicht ganz klar, ob sie die gewaltigen Shrimps meinte, die sie mit der scharfen roten Spezialsauce aßen, ihren Calypso Daiquiri oder den wundervollen Ausblick. Die Sonne schien, während sie sank, immer größer zu wer554
den, bis sie schließlich hinter Wisteria Island zu verschwinden begann und einen riesigen blutroten Fleck über den Himmel warf. Über ihnen knatterte ein Hubschrauber der Zollbehörde von Süden nach Norden. Seine roten und grünen Lichter blinkten, während er zur Naval Air Station einschwenkte. Bond fragte sich, ob SPECTRE auch mit dem Rauschgifthandel zu tun hätte, der vor allem über die Florida Keys abgewickelt wurde – die Schmuggler landeten auf einsamen, kleinen Inseln, wo die Ware übernommen und landeinwärts transportiert wurde. Die Navy und der Zoll überwachten Orte wie Key West sehr genau. Die Leute an der Reling und auf dem Mallory Square stießen erfreute Rufe aus, als die Sonne schließlich im Meer versank und den ganzen Himmel für einige Sekunden mit einem tiefroten Licht erfüllte, bis die samtige Dunkelheit kam. »Was liegt an, James?« fragte Nannie fast flüsternd. Sie rückten eng zusammen und senkten die Köpfe über die Teller. Er erklärte ihnen, daß sie sich mindestens bis Mitternacht sehen lassen sollten. »Wir gehen in der Stadt spazieren, essen irgendwo zu Abend und gehen dann zum Hotel zurück. Später gehen wir dann einzeln. Wir dürfen den Wagen nicht benutzen, und ihr müßt darauf achten, ob ihr verfolgt werdet. Nannie, du kennst dich ja mit diesen Dingen aus; weise Sukie ein und erkläre ihr, wie sie möglichst wenig Aufsehen erregt. Ich habe andere Pläne. Das wichtigste ist, daß wir uns etwa um ein Uhr in Garrison Bight auf der Prospero treffen. Okay?« Bond bemerkte die kleine Sorgenfalte auf Nannies Stirn. »Und was dann?« fragte sie. »Hat Sukie sich die Karten angesehen?« »Ja, und es ist nicht gerade leicht bei Nacht.« Sukies Augen verrieten nicht, was sie dachte. »Aber es ist eine Herausforderung. Die Sandbänke sind gut markiert, und wir müssen ein paar Lichter setzen. Sobald wir das Riff hinter uns haben, ist alles in Ordnung.« »Ich muß nur auf ein paar Kilometer an die Insel herankommen«, sagte Bond mit einer Spur von Autorität. Er erwiderte 555
ihren Blick. Sie tranken aus und schlenderten langsam zum Ausgang. An der Tür blieb Bond stehen und bat die Mädchen, einen Augenblick zu warten. Er trat an die Reling und blickte ins Wasser. Er hatte schon vorher gesehen, daß das kleine Motorboot des Hotels kurze Fahrten entlang des Ufers unternommen hatte. Es war an den Holzpfosten des Piers festgemacht. Er lächelte und gesellte sich wieder zu Sukie und Nannie. Sie kamen am Klavierspieler vorbei, der jetzt Bewitched spielte. Direkt am Strand war eine kleine Tanzfläche aufgebaut, und eine Drei-MannKapelle begann zu spielen. Die Wege waren von versteckten Lampen beleuchtet, und im Pool schwammen und tauchten noch einige lachende Gäste. Sie schlenderten mit untergehakten Armen, Bond in der Mitte, die Duval hinunter, betrachteten die Schaufensterauslagen und lugten in die gut besuchten Restaurants. Vor der hellgrauen, in englischem Stil gebauten Kirche standen einige Menschen, die zu einem halben Dutzend Jugendlicher herüberstarrte, die vor Fast Buck Freddie’s Department Store Breakdance übten. Nach einer Weile kehrten sie um und blieben vor dem Claire’s stehen, einem anscheinend sehr guten und ziemlich vollen Restaurant. Sie meldeten sich beim Oberkellner, der im kleinen Garten des Restaurants an einem hohen Tisch stand. »Boldman«, sagte Bond. »Wir haben für acht Uhr einen Dreiertisch bestellt.« Der Oberkellner sah in seinem Buch nach, blickte verwirrt auf und fragte, wann die Reservierung vorgenommen worden sei. »Gestern abend«, sagte Bond mit überzeugender Stimme. »Da scheint ein Irrtum vorzuliegen, Mr. Boldman…« erwiderte der verwirrte Mann; für Bonds Geschmack war er etwas zu selbstsicher. »Ich hab’ selbst angerufen. Dies ist der einzige Abend, auf den wir uns in dieser Woche einigen konnten. Ich habe gestern abend mit einem jungen Mann gesprochen, und er bestätigte mir die Reservierung.« »Einen Moment, Sir.« Der Oberkellner verschwand im Restaurant und sprach aufgeregt mit einem der Kellner. Dann kam 556
er lächelnd zurück. »Sie haben Glück, Sir. Wir hatten eine Absage und…« »Kein Glück«, sagte Bond mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir hatten einen Tisch reserviert, und Sie geben uns unseren Tisch.« »Natürlich, Sir.« Er führte sie in einem schön und hell eingerichteten Raum an einen Ecktisch. Bond setzte sich mit dem Rücken zur Wand, so daß er den Eingang überblicken konnte. Auf der Papiertischdecke lagen Wachsmalstifte. Bond kritzelte herum, bis ein Schädel und gekreuzte Knochen entstanden. Nannie malte etwas Obszönes in Rot. Sie beugte sich vor, »Ich habe bisher nichts bemerkt. Werden wi r beobachtet?« »Oh, natürlich«, sagte Bond mit einem wissenden Lächeln, während er die große Speisekarte aufklappte. »Es sind zwei; sie arbeiten auf beiden Seiten der Straße. Vielleicht sogar drei. Habt ihr den Mann mit dem gelben Hemd und Jeans bemerkt? Er ist groß, schwarze Haare und viele Ringe an den Fingern. Der andere ist kleiner, dunkle Hose, weißes Hemd und eine Tätowierung auf dem linken Arm – eine Meerjungfrau mit einem aufdringlichen Schwertfisch, soweit ich es sehen kann. Er steht jetzt auf der anderen Straßenseite.« »Ich hab’ sie«, sagte Nannie, während sie vorgab, in die Speisekarte zu blicken. »Wo ist der dritte?« fragte Sukie. »Ein alter blauer Buick. Ein großer Kerl am Steuer. Er ist allein und fährt kreuz und quer herum. Er ist nicht leicht zu entdecken, aber er ist mehrmals herumgefahren. Die anderen waren auch immer in der Nähe, aber er war der einzige, der sich anscheinend nicht für die Leute auf den Gehwegen interessiert hat. Ich würde sagen, er ist die Rückendeckung der anderen beiden. Paßt auf sie auf.« Der Kellner nahm ihre Bestellungen auf. Sie wählten Muschelsuppe, den Rindfleischsalat á la Thai und natürlich einen Nachtisch aus Limonen von den Keys. Sie sprachen die ganze Zeit, erwähnten jedoch nicht mehr ihre weiteren Pläne. 557
Als sie wieder auf die Straße hinaustraten, ermahnte Bond sie, vorsichtig zu sein. »Ich will, daß ihr beide um ein Uhr an Bord seid – und zwar ohne daß euch jemand gefolgt ist.« Als sie nach Westen zur Front Street gingen, hielt sich der Mann mit dem gelben Hemd auf der anderen Straßenseite. Der tätowierte Mann ließ sie vorbeigehen, dann überholte er sie und ließ sie wieder vorbeigehen, bevor sie im Pier House verschwanden. Der blaue Buick fuhr zweimal herauf und herunter und wurde schließlich vor dem Lobster House, fast gegenüber dem Hotel, geparkt. »Sie beobachten eindeutig uns«, murmelte Bond, während sie die Straße überquerten und die Zufahrt zum Haupteingang hinaufgingen. Sie verabschiedeten sich demonstrativ und wünschten sich eine gute Nacht. Bond ging kein Risiko ein. Als er in seinem Zimmer war, untersuchte er sofort die altbewährten Fallen, die er aufgebaut hatte. Die Streichholzstücke steckten noch in den Türen des Kleiderschranks, und die Faden über den Schubladen waren nicht beschädigt. Sein Gepäck war in Ordnung. Es war halb elf, und es wurde Zeit. Er zweifelte daran, daß SPECTRES Überwachungsteam vor den frühen Morgenstunden etwas unternehmen würde. Er hatte den Mädchen nicht gesagt, daß er die Seekarten eingesteckt hatte, bevor sie am Nachmittag das Boot verlassen hatten. Er breitete sie auf dem runden Glastisch in der Mitte seines Zi mmers aus und betrachtete den Kurs von Garrison Bight nach Shark Island. Er machte sich einige Notizen, und als er sicher war, daß die Kompaßmarkierungen stimmten und daß er auch aus dem Gedächtnis ein Boot in die Nähe der Insel steuern konnte, begann er sich umzuziehen. Er zog das T-Shirt aus und streifte einen leichten, schwarzen Rollkragenpullover über. Die Jeans vertauschte er mit der schwarzen Hose, die er immer dabei hatte. Dann nahm er den breiten Gürtel aus dem Koffer, der so nützlich gewesen war, als der Haken ihn in Salzburg gefangengesetzt hatte. Er nahm den Werkzeugkasten heraus und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus. Er überprüfte die kleinen Sprengladungen und die elektro558
nischen Zünder und fügte aus dem doppelten Boden seiner zweiten Aktentasche vier flache Päckchen Plastiksprengstoff hinzu; sie waren kaum größer als ein Streifen Kaugummi. Dann verstaute er die Zünder, sehr dünnes Zündkabel, ein halbes Dutzend Sprengladungen, eine Miniaturlampe, kaum größer als ein Zigarettenfilter, und einen weiteren sehr wichtigen Gegenstand im Gürtel. Die Sprengladungen waren zu klein, um ein ganzes Gebäude in die Luft zu jagen, doch bei Schlössern oder Türscharnieren konnten sie von Nutzen sein. Er legte den Gürtel an, fädelte ihn durch die Schlaufen seiner Hose und öffnete die Schultertasche mit dem Taucheranzug und der Maske. Er schwitzte etwas, als er den Anzug überstreifte. Das Messer verstaute er hinter dem Gürtel. Die ASP, zwei Reservemagazine, die Karten und der Schlagstock kamen in die wasserdichte Tasche am Gürtel. Die Flossen, die Maske und den Unterwasser-Schneidbrenner ließ er einstweilen in der Schultertasche. Nachdem er sein Zimmer verlassen hatte, hielt er sich so lange wie möglich in der Deckung des Hotels. In der Bar, im Restaurant und auf der Tanzfläche war immer noch viel Betrieb. Er verließ das Gebäude durch einen Seiteneingang direkt am Meer. Mit dem Rücken zur Wand öffnete Bond die Schultertasche und zog die Schwimmflossen über. Dann ging er langsam zum Wasser. Als er über die niedrigen Felsen kletterte, die den Privatstrand des Hotels begrenzten, ertönte hinter ihm laute Musik und Gelächter. Er wusch die Maske aus, streifte sie über und stellte den Schnorchel ein. Er nahm die Unterwasserlampe in die Hand und glitt ins Wasser. Nach einigen Augenblicken umrundete er die metallenen Schutzgitter, die die Hotelgäste vor Haien schützen sollten. Zehn Minuten später verschwand er zwischen den dicken Pfählen der Havana Docks Bar. Er tauchte wenige Meter vor dem vertäuten Motorboot wieder auf. Oben war soviel Getöse, daß er sich keine besondere Mühe geben mußte, leise zu sein. Im Schein der winzigen Lampe überprüfte er die Benzinuhr. Die Leute arbeiteten gut; der Tank war gefüllt, so daß das Boot für die nächste Fahrt am Morgen 559
schon vorbereitet war. Er schob das Boot mit den Händen von den Pfosten weg. Dann ließ er es treiben, dirigierte es ab und zu, indem er eine Hand ins Wasser steckte. Er trieb langsam nach Norden, in den Golf von Mexiko hinaus. Einige Minuten später glitt er geräuschlos am Pier der Standard Oil vorbei. Als er etwa anderthalb Kilometer getrieben war, setzte er die Positionslampen und warf den Motor an. Der begann sofort zu laufen, als er am Riemen zog, und Bond mußte rasch wieder nach vorn klettern und sich hinter das Steuer setzen. Er gab Gas und blickte auf den kleinen, beleuchteten Kompaß. Er dankte im stillen den Mitarbeitern des Hotels, die das Boot so gut in Schuß hielten. Einige Minuten später fuhr er langsam an der Küste entlang und zog den wasserdichten Beutel auf, um einen Blick auf die Karten zu werfen und sich zu orientieren. Er konnte es nicht riskieren, die Geschwindigkeit des schnellen Bootes voll auszunutzen. Es war eine klare Mondnacht, doch vor ihm war es stockdunkel. Er machte die Lichter von Garrison Bight aus und suchte den Weg durch die gefährlichen Sandbänke. Ab und zu spürte er, wie der flache Rumpf des Bootes über den Sand kratzte. Zwanzig Minuten später hatte er das Riff hinter sich gelassen und steuerte Shark Island an. Zehn Minuten vergingen, dann noch einmal zehn, und schließlich sah er einige Lichter. Kurz danach stellte er den Motor ab und ließ das Boot ohne Antrieb zum Strand treiben. Die langgestreckte, dunkle Insel erhob sich vor dem Horizont, und zwischen den Bäumen blinkten die Lichter einiger Gebäude. Er beugte sich vor, wusch wieder die Maske aus, nahm die Lampe in die Hand und glitt zum zweitenmal in dieser Nacht ins Wasser. Er blieb eine Weile an der Oberfläche; er schätzte, daß er noch ein paar Kilometer vom Strand entfernt war. Dann hörte er wummernde Maschinen, und ein kleines Boot umrundete zu seiner Linken die Inselspitze. Der Strahl eines mächtigen Scheinwerfers glitt über das Wasser. Tamil Rahanis Patroui lle, dachte er. Mindestens zwei Boote dieser Bauart waren ständig 560
im Einsatz. Er atmete tief ein und tauchte. Er schwamm mit gleichmäßigen Zügen und sparte sich seine Kraft für einen etwaigen Notfall auf. Unterwegs tauchte er zweimal auf, und beim zweitenmal sah er, daß das Patrouillenboot sein Motorboot gefunden hatte. Sie hatten die Maschinen gestoppt, und er horte Stimmen. Er war jetzt weniger als eine Meile vom Ufer entfernt und machte sich etwas Sorgen, weil er hier auf Haie stoßen konnte. Die Insel trug ihren Namen sicher nicht zufällig; vermutlich gab es hier unangenehm viele Raubfische. Plötzlich, etwa sechzig Meter vom Strand entfernt, prallte er gegen ein schweres Gitter, das zum Schutz vor Haien diente. Er klammerte sich an die dicken Metallstäbe und beobachtete die hellen Fenster eines großen Hauses. Das Gelände wurde von Strahlern erhellt. Als er sich umdrehte, sah er den Scheinwerfer des Patrouillenbootes weiterwandern. Die Maschinen wurden wieder angelassen. Sie suchten ihn. Er schob sich über die oberste Querstange des Haigitters. Eine Schwimmflosse verfing sich in den Stäben, und er verlor einige wertvolle Sekunden bei dem Versuch, sich freizustrampeln. Endlich konnte er in das sichere Wasser auf der anderen Seite tauchen. Er tauchte sehr tief und schwamm jetzt etwas schneller, weil er sein Ziel fast erreicht hatte. Er hatte etwa zehn Meter zurückgelegt, als ihn sein Instinkt warnte. Ganz in der Nähe war etwas im Wasser. Dann bekam er einen heftigen Stoß in die Rippen, der ihn zur Seite warf. Bond drehte sich um. Auf gleicher Höhe neben ihm schwebte die böse, gefährliche Schnauze eines Stierkopfhais. Der Schutzzaun sollte also die Tiere nicht fernhalten, sondern dafür sorgen, daß die Insel dicht vor dem Strand von Haien bewacht wurde – und die gefährlichen Stierkopfhaie jagten am liebsten in der Nähe des Ufers. Der Hai, der ihn angestoßen hatte, wendete nicht, um ihn anzugreifen, was bedeutete, daß er entweder gut gefüttert war oder Bond noch nicht als Feind erkannt hatte. Er wußte, daß er nur eine Chance hatte, wenn er ruhig blieb und den Hai nicht 561
erschreckte – und er durfte auf keinen Fall seine Angst zeigen, obwohl sie dem Tier vermutlich ohnehin nicht entging. Während er weiterschwamm, blieb der Hai auf gleicher Höhe mit ihm. Er tastete zum Messergriff und hielt sich bereit, die Waffe im Notfall sofort zu benutzen. Er wußte, daß er auf keinen Fall die Beine sinken lassen durfte, denn dann hätte ihn der Hai sofort als Beute betrachtet, und diese Haiart konnte sich mit der Geschwindigkeit eines Rennbootes bewegen. Der gefährlichste Augenblick lag noch vor ihm, nicht sehr weit entfernt, wenn er den Strand erreichte. Dort wäre er besonders ungeschützt. Als er zum erstenmal mit dem Bauch den Sand berührte, schien der Hai zurückzufallen. Bond schwamm weiter, bis seine Flossen auf den Sand stießen. Er wußte, daß der Hai hinter ihm war und Anlauf nahm, um ihn anzugreifen. Später dachte Bond, daß er sich selten so schnell im Wasser bewegt hatte. Er stieß sich ein letztes Mal kräftig vorwärts, setzte die Füße auf den Boden und raste, wegen der langen Flossen ungelenk hüpfend, in großen Sätzen zum Strand. Er erreichte die Brandung und warf sich gerade noch rechtzeitig zur Seite. Der Stierkopfhai brach schnappend, mit aufgerissenem Maul durch die Gischt und verfehlte ihn nur um Zentimeter. Bond rollte sich weiter, warf sich höher in den Sand hinauf, denn er hörte, wie sich der Hai anschickte, das Wasser zu verlassen, um ihn noch einmal anzugreifen. Zwei Meter weiter blieb er keuchend liegen, während die Furcht wie ein eiskalter Dolch durch seinen Bauch schoß. Sein Unterbewußtsein befahl ihm, sich sofort weiterzubewegen. Er war auf der Insel, und der Himmel mochte wissen, wie gut das Hauptquartier von SPECTRE auch zu Lande bewacht war. Er streifte die Flossen ab und rannte gebückt zu einer Linie von Palmen hinüber, um sich zu verbergen. Er kauerte sich auf den Boden und richtete sich auf den Landgang ein. Zuerst mußte er die Maske, den Schnorchel und die Flossen ablegen. Er versteckte sie unter einem Busch. Die Luft war lau, und der süße Geruch nachtblühender Tropenblumen wehte ihm in die Nase. 562
Er hörte kein Geräusch auf dem gut beleuchteten und von schmalen Wegen durchzogenen Gelände. In der Nähe sah er kleine Teiche, Bäume, Statuen und Blumen. Aus dem Haus drang leises Stimmengemurmel. Es war wie eine Pyramide gebaut, die sich auf hohen, glänzenden Stahlsäulen erhob. Einige der großen Buntglasfenster waren ein Stück geöffnet, andere waren mit Vorhängen abgedunkelt. Auf der Spitze des Gebäudes erhoben sich Funkantennen wie eine skurrile Plastik, Bond griff vorsichtig in die wasserdichte Tasche und zog die ASP heraus. Er entsicherte die Waffe. Inzwischen atmete er wieder normal, und indem er die Bäume und Statuen als Dekkung benutzte, arbeitete er sich langsam an die Pyramide heran. Als er näher kam, sah er, daß das Gebäude auf mehreren Wegen zu betreten war. Im Zentrum lief eine wuchtige Wendeltreppe hinauf, und auf beiden Seiten führten Metalltreppen mit jeweils drei Absätzen zu Baikonen hinauf. Er überquerte das letzte freie Stück und blieb am Haus stehen, um zu lauschen. Die Stimmen waren verstummt; weit draußen hörte er das Patrouillenboot, sonst war alles still. Bond stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Er trat geräuschlos auf und hielt sich weit links, so daß er die rechte Hand mit der ASP sofort heben konnte. Auf dem ersten Absatz wartete er und legte den Kopf schief. Vor ihm lag ein großes Fenster, dessen Vorhänge nur teilweise zugezogen waren. Er lugte hinein. Der Raum war mit Glastischen, weichen weißen Lehnstühlen und teuren modernen Gemälden eingerichtet. Auf dem Boden lag ein dicker, weißer Teppich, in dessen Zentrum ein großes Bett stand; es hatte Kontrollen, mit denen man jeden Teil in jede gewünschte Position bringen konnte, damit es der darin liegende Patient möglichst bequem hatte. Tamil Rahani lag halbhoch, von Seidenkissen im Rücken gestützt. Er hatte die Augen geschlossen, und der Kopf war zur Seite gesunken. Trotz des eingefallenen Gesichts und der pergamentfarbenen Haut erkannte Bond ihn sofort. Bei ihren früheren Begegnungen war Rahani ein gutaussehender, eleganter kleiner Mann gewesen, der irgendwie militärisch wirkte. Nun 563
war der Erbe von Blofelds Vermögen kaum mehr als eine leere Puppe, die im Luxus des hochtechnisierten Betts fast verschwand. Bond drückte das Fenster weiter auf und stieg hinein. Er schlich wie eine Katze zum Bett und starrte den Mann an, der SPECTRE kontrollierte. Jetzt kann ich ihn erledigen. Warum tue ich es nicht einfach? Ihn zu töten, würde zwar nicht SPECTRE erledigen, doch die Organisation wäre ohne Kopf – genauso kopflos, wie ihr Führer dich haben wollte. Er holte tief Luft und hob die ASP. Er war nur wenige Schritte von Rahanis Kopf entfernt. Ein Druck auf den Abzug, und der Kopf wäre zerstört; er konnte fliehen und sich auf dem Gelände verstecken, bis er eine Möglichkeit fand, die Insel zu verlassen. Als er den Abzug langsam durchdrückte, spürte er hinter sich einen leichten Hauch. »Lieber nicht, James. Wir haben dich nicht hergebracht, damit du tun kannst, was Gott in kurzer Zeit ohnehin tun wird.« Die Sprecherin stand hinter ihm. »Laß die Waffe fallen, James. Laß sie fallen, oder du stirbst, ehe du auch nur eine Bewegung machen kannst.« Er war verblüfft. Die ASP fiel mit einem lauten Bums auf den Boden, und Tamil Rahani regte sich unruhig im Schlaf. »Okay, jetzt kannst du dich umdrehen.« Bond drehte sich um und blickte Nannie Norrich an, die im Fenster stand und mit einer Uzi-Maschinenpistole auf ihn zielte.
18. MADAME WARTET »Es tut mir leid, daß es so kommen mußte, James. Du bist deinem Ruf gerecht geworden, und das hat dir das Genick gebrochen.« Die grauen Augen waren kalt wie die Nordsee im Dezember, und die Worte hatten nichts zu bedeuten. »Nicht so leid wie mir«, sagte Bond mit einem kleinen Lächeln, das eigentlich weder die Mündung der Uzi noch Nannie 564
Norrich verdient hätte. »Du und Sukie, was? Ihr habt mich hereingelegt. Ist es ein privates Unternehmen, oder arbeitet ihr für eine der Organisationen?« »Nicht Sukie, James. Sukie ist echt«, erwiderte sie ruhig. Sie hatte ihre Gefühle gut unter Kontrolle. »Sie liegt im Pier House im Bett. Ich habe ihr das gegeben, was in den alten Krimis als Mickey Finn bezeichnet wird – und zwar einen sehr starken. Wir ließen uns, nachdem wir uns von dir getrennt hatten, einen Kaffee aufs Zimmer bringen, und ich hab’ den Zimmerservice noch etwas ergänzt. Wenn sie wieder aufwacht, wird es dich schon lange nicht mehr geben. Falls sie überhaupt wieder aufwacht.« Bond blickte zum Bett. Die zusammengesunkene Gestalt Tamil Rahanis hatte sich nicht bewegt. Zeit. Er brauchte Zeit. Er mußte reden, und er brauchte etwas Glück. Er versuchte, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. »Ursprünglich war ein Mickey Finn ein Abführmittel für Pferde. Wußtest du das?« Sie achtete nicht darauf. »In diesem Aufzug siehst du aus wie Kermit, der Frosch, nur rabenschwarz, James. Es steht dir nicht. Zieh das Zeug aus, und zwar sehr langsam.« Bond zuckte die Achseln. »Wenn du meinst.« »Das meine ich, und komme bitte nicht auf dumme Gedanken. Bei der kleinsten falschen Bewegung werde ich dir mit diesem Ding hier die Beine abrasieren.« Die Mündung der Uzi bewegte sich etwas. Bond begann langsam und nicht ganz mühelos, den Taucheranzug auszuziehen. Die ganze Zeit über versuchte er, sie am Reden zu halten. Er wählte seine Fragen mit Bedacht aus. »Du hast mich wirklich hereingelegt, Nannie, Immerhin hast du mir einige Male das Leben gerettet,« »Öfter als du weißt.« Ihre Stimme klang völlig unbewegt und emotionslos. »Das war mein Job, oder wenigstens der Job, den zu tun ich versprochen hatte.« »Du hast den Deutschen erledigt – wie hieß er noch? Conrad Tempel? Auf der Autobahn nach Straßburg.« »Oh, natürlich, und vor ihm gab es einige andere, die es auf 565
dich abgesehen hatten. Ich habe mich um sie gekümmert. Auf der Fähre nach Ostende zum Beispiel.« Bond nickte, gab damit zu, daß er von den beiden Männern auf der Fähre wußte. »Und Cordova – die Ratte, der Giftzwerg?« »Schuldig.« »Der Renault?« »Das hat mich etwas überrascht. Du hast sehr dabei geholfen, James. Quinn war ein Pfahl im Fleisch, aber dabei hast du auch geholfen. Ich war einfach dein Schutzengel. Das war mein Job.« Er hatte den Anzug ausgezogen und stand in schwarzen Hosen und Rollkragenpullover vor ihr. »Was ist mit dem Haken? Dieser verrückte Polizist.« Nannie lächelte ihn kalt an. »Dabei hatte ich etwas Hilfe. Mein privater Panikrufknopf – der Haken war eingewiesen; er dachte, ich sei eine Art Vermittler zwischen ihm und SPECTRE. Als er nicht mehr gebraucht wurde, hat Colonel Rahani seine eigenen Leute geschickt, um ihn zu beseitigen. Sie wollten eigentlich auch dich hochnehmen, aber der Colonel ließ mich mit meinem Plan weitermachen – obwohl eine Konventionalstrafe vereinbart war: Wenn ich dich danach verloren hätte, hätte ich meinen Kopf verloren. Und beinahe wäre es auch so gekommen, denn ich war für die Vampirfledermaus verantwortlich. Glück für dich, daß Sukie vorbeikam und dich rettete. Doch danach hatte ich Schwierigkeiten mit SPECTRE. Sie hatten hier mit den Tieren experimentiert; du solltest mit Tollwut infiziert werden. Du warst eine Art Versuchskaninchen, und ursprünglich solltest du nach Shark Island gebracht werden, bevor die Symptome ausbrachen. Der Colonel will deinen Kopf, aber er wollte vorher noch sehen, wie die Tollwut bei dir wirkt.« Sie bewegte wieder die Uzi. »Geh rüber zur Wand, James. Die Standardposition – Füße weit auseinander, Arme ausgestreckt. Wir wollen doch nicht, daß du häßliche kleine Dinge hier herumschleppst, oder?« Sie durchsuchte ihn mit geübten Bewegungen und löste dann seinen Gürtel. Sie verhielt sich wie ein gut ausgebildeter Profi, 566
und das hatte Bond befürchtet. »Gefährliche Dinger, diese Gürtel«, sagte sie, während sie die Schnalle öffnete und den Gürtel aus den Schlaufen zog. »O ja, vor allem dieser hier. Nicht schlecht.« Sie hatte den Werkzeugsatz entdeckt. »Wenn SPECTRE jemand wie dich auf der Gehaltsliste hat, Nannie, dann frage ich mich, was dieser Wettbewerb noch sollte -die Kopfjagd.« »Ich stehe nicht drauf«, sagte sie knapp. »Auf SPECTRES Gehaltsliste, meine ich. Ich habe mich als freier Mitarbeiter angeboten. Ich habe schon früher mal für sie gearbeitet, deshalb haben sie mich akzeptiert und einen Vertrag ausgearbeitet. Sie haben mir einen Vorschuß gegeben, und falls ich gewinnen würde, sollte ich einen Teil des Preisgeldes bekommen – und ich habe gewonnen. Der Colonel hält große Stücke auf mich. Er sah es als eine Möglichkeit, Geld zu sparen.« Als hätte er gehört, daß von ihm gesprochen wurde, regte sich der kranke Mann auf dem Bett. »Wer ist das? Was… wer?« Die Stimme, die bei ihrer letzten Begegnung so fest und bestimmt gewesen war, schien jetzt ebenso verfallen wie der Körper. »Ich bin’s, Colonel Rahani«, sagte Nannie respektvoll. »Die Norrich?« »Nannie, ja. Ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht.« »Hilf mir… mich höher zu setzen«, krächzte Rahani. »Das kann ich im Augenblick nicht. Aber ich werde läuten.« Bond, der mit ausgestreckten Armen an der Wand lehnte, hörte ihre Bewegungen, doch er wußte, daß er keine Chance hatte, etwas zu unternehmen. Nannie war, vorsichtig ausgedrückt, schnell und zielsicher. Da sie nun ihre Beute in der Ecke hatte, war ihr Abzugfinger sicherlich sehr nervös. »Du kannst dich langsam wieder aufrichten, James«, sagte sie einige Sekunden später. Er drückte sich langsam von der Wand ab. »Dreh dich um – langsam – und heb die Hände über den Kopf und spreize die Beine. Lehne dich danach mit dem Rükken an die Wand.« Bond tat, was sie befahl, und er konnte gerade wieder den 567
Raum überblicken, als die Tür geöffnet wurde. Zwei Männer kamen mit gezückten Pistolen herein. »Immer mit der Ruhe«, sagte Nannie leise. »Ich hab’ ihn erwischt.« Es waren normale Mitarbeiter von SPECTRE – einer hatte helle Haare, der zweite war fast kahl; beide waren großgewachsen und muskulös mit wachsamen Augen und vorsichtigen, schnellen Bewegungen. Der Blonde lächelte. »Oh, gut. Gut gemacht, Miß Norrich.« Er hatte einen leichten skandinavischen Akzent. Der Kahle nickte nur. Ihnen folgte ein kleiner Mann, der ein lockeres Hemd und weite Hosen trug. Sein Gesicht war über dem rechten Mundwinkel entstellt, so daß er ständig schief zu grinsen schien. »Dr. McConnel«, begrüßte Nannie ihn. »Oh, Sie sind’s, Mistreß Norrich. Dann haben Sie den Mann gebracht, auf den der Colonel immer so wütend war?« Er sprach mit einem starken schottischen Akzent, und sein Gesicht erinnerte Bond an die Puppe eines Bauchredners. Dicht hinter ihm kam eine große, maskuline, grobknochige Krankenschwester herein. »Was macht denn mein Patient?« fragte McConnel, während er ans Bett trat. »Ich glaube, er will das Geschenk sehen, das ich ihm mitgebracht habe, Doktor.« Nannie behielt Bond ständig im Auge. Jetzt, da sie ihn erwischt hatte, wollte sie kein Risiko mehr eingehen. Der Doktor gab der Schwester, die zum Tischchen neben dem Bett hinüberging, ein Zeichen. Sie nahm eine flache, kleine Fernbedienung vom Tisch und verband sie mit einem Kabel, das unter dem Bett hing. Sie drückte auf einen Knopf, und das Kopfende des Bettes hob sich langsam, bis Tamil Rahani aufrecht saß. Der Mechanismus surrte fast unhörbar. »So. Ich sagte, ich würde es tun, Colonel Rahani, und ich habe es getan. Mr. James Bond, bitteschön«, sagte sie triumphierend. Rahani gab ein müdes, pfeifendes Gackern von sich. »Auge 568
um Auge, Mr. Bond. Abgesehen von der Tatsache, daß SPECTRE Sie schon länger erledigen will, als wir beide uns erinnern könnten, habe ich auch persönlich noch ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.« »Freut mich, daß es Ihnen so schlecht geht«, sagte Bond ei skalt. »Ah! Ja, Bond«, krächzte Rahani. »Als wir uns das letztemal begegneten, zwangen Sie mich, einen Sprung für mein Leben zu wagen. Ich wußte damals nicht, daß es ein Sprung in meinen Tod werden würde. Die Landung hat mir das Rückgrat verbogen, und damit begann die unheilbare Krankheit, an der ich jetzt sterbe. Da Sie für den Sturz früherer Führer von SPECTRE verantwortlich sind und die Blofelds dezimiert haben, betrachte ich es als meine Pflicht und mein persönliches Privileg, Sie vom Angesicht der Erde zu fegen – deshalb der kleine Wettbewerb.« Er verlor rasch seine Kräfte; jedes Wort ermüdete ihn weiter. »Ein Wettbewerb, bei dem nur SPECTRE gewinnen konnte, denn wir haben Miß Norrich eingesetzt – eine erfahrene und geübte Agentin.« »Und Sie haben die anderen Mitbewerber manipuliert«, sagte Bond grimmig. »Die Entführung, meine ich. Ich vertraue darauf…« »Oh, die feine schottische Dame und die berühmte Miß Moneypenny. Worauf vertrauen Sie?« »Sie sollten sich schonen, Colonel«, sagte Dr. McConnel, während er näher ans Bert trat. »Nein… nein…« sagte Rahani. Sein Flüstern war kaum noch zu verstehen. »Ich will sehen, wie er stirbt, bevor ich selbst abtreten muß.« »Das werden Sie auch, Colonel«, sagte der Doktor, indem er sich über das Bett beugte. »Aber Sie müssen sich etwas ausruhen.« Rahani wandte sich wieder mühsam an Bond. »Sie sagten, Sie vertrauten…« »Ich vertraue darauf, daß beide Damen in Sicherheit sind, und daß SPECTRE ein einziges Mal ehrenhaft handelt und die beiden Damen im Austausch für meinen Kopf freiläßt.« 569
»Sie sind beide hier. Unversehrt. Sie werden freigelassen, sobald Ihr Kopf von Ihrem Körper getrennt ist.« Rahani schien noch weiter in sich zusammenzusinken, und sein Kopf fiel in die Kissen zurück. Einen Augenblick dachte Bond wieder an seine letzte Begegnung mit dem Mann. Es war über dem Genfer See gewesen – ein starker, harter und zielstrebiger Mann, der aus einem Flugzeug gesprungen war, um Bond zu entkommen. Der Arzt blickte in die Runde. »Ist alles vorbereitet? Für die… äh… die Exekution?« Er wich Bonds hartem Blick aus. »Wir sind schon lange bereit.« Der Blonde lächelte wieder breit. »Alles in Ordnung.« Der Arzt nickte. »Der Colonel wird nicht mehr lange leben, fürchte ich. Vielleicht noch einen oder zwei Tage. Ich muß ihm jetzt etwas eingeben, und er wird etwa drei Stunden schlafen. Können Sie es danach tun?« »Jederzeit.« Der Kahle nickte und blickte Bond hart an. Er hatte steingraue Augen. Der Arzt gab der Schwester wieder ein Zeichen, und sie bereitete eine Injektion vor. »Sorgen Sie dafür, daß der Colonel während der nächsten Stunde auf keinen Fall gestört wird. Danach können wir das Bett in die – wie heißt das? – in den Hinrichtungsraum rollen.« »Es ist egal, wie Sie es nennen«, sagte der Blonde. »Sollen wir Bond einsperren?« fragte er Nannie. »Wenn Sie ihn berühren, sind Sie ein toter Mann. Ich kenne den Weg. Geben Sie mir die Schlüssel.« »Ich habe noch eine Bitte.« Bond hatte Angst, doch seine Stimme klang ruhig, sogar befehlend. »Ja? Was ist?« fragte Nannie fast schüchtern. »Ich weiß, daß es im Grunde nichts ändert, aber ich möchte mich selbst davon überzeugen, daß es May und Moneypenny gutgeht.« Nannie blickte zu den beiden bewaffneten Wächtern, und der Blonde nickte und sagte: »Sie sind in den anderen beiden Ze llen. Neben der Todeszelle. Schaffen Sie das allein? Sind Sie sicher?« 570
Ich hab’ ihn hergebracht, oder? Wenn er Schwierigkeiten macht, schieße ich ihm die Beine ab. Der Doktor wird ihn dann für die Enthauptung sicher noch hinbekommen.« McConnel, der gerade die Spritze ansetzte, gab ein kehliges Kichern von sich. »Das gefällt mir, Mistreß Norrich. Natürlich bekomme ich ihn hin.« »Mir gefällt das nicht so gut«, sagte Bond kalt. Im Hinterkopf stellte er bereits einige Berechnungen an. Die Mathematik der Flucht. Der Doktor kicherte wieder. »Wenn Köpfe rollen, ist Nannie immer dabei, was?« »Los jetzt.« Nannie stieß Bond die Uzi in die Rippen. »Hände gefaltet über den Kopf, Arme gestreckt. Durch die Tür da hinten. Los.« Bond ging durch die Tür in einen gebogenen Gang hinaus, der mit einem dicken Teppich ausgelegt und hellblau tapeziert war. Er vermutete, daß der Gang durch die ganze Etage lief; wahrscheinlich gab es in den höheren Stockwerken ähnliche Rundgänge. Das große Haus auf Shark Island, das äußerlich einer Pyramide nachgebildet war, schien innen kreisrund angelegt zu sein. Der Gang wurde hin und wieder von Alkoven unterbrochen, in denen Bilder hingen oder Statuen standen. Bond erkannte mindestens zwei Picabias, einen Duchamp, einen Dali und einen Jackson Pollock. Es paßte gut, dachte er, daß SPECTRE surrealistische Kunstwerke samme lte. Sie erreichten die glänzenden Stahltüren eines Aufzuges, der in die Krümmung des Ganges genau eingepaßt wer. Nannie befahl ihm, sich wieder mit den Händen gegen die Wand zu lehnen, während sie den Rufknopf drückte. Einige Sekunden später glitten die Türen geräuschlos auf. Das ganze Haus schien so konstruiert, daß möglichst wenig Geräusche entstanden. Sie schob ihn in die runde Kabine. Bond sah, daß Nannie auf den Knopf für die zweite Etage drückte, doch er spürte kaum die Bewegung des Lifts. Einige Sekunden später, als die Türen wieder aufglitten, traten sie in einen völlig anderen Gang hinaus – die Wände bestanden aus unverputzten Ziegeln, und 571
der Boden war mit schallschluckenden Steinplatten ausgelegt. Der Gang war an beiden Enden versperrt. »Das ist die Haftabteilung«, erklärte Nannie. »Willst du die Geiseln sehen? Okay, links herum.« Sie blieben vor einer Tür stehen, die direkt aus einem Film zu stammen schien. Sie bestand aus schwarzem Metall, war mit einem schweren Schloß gesichert und hatte ein winziges Guckloch. Nannie winkte mit der Uzi. Soweit er sehen konnte, war es ein bequem, aber spartanisch eingerichtetes Schlafzimmer. May lag schlafend auf dem Bett; ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, und ihr Gesicht wirkte friedlich. »Soweit ich weiß, haben sie ein leichtes Betäubungsmittel bekommen«, sagte Nannie mit einer Spur von Mitgefühl. »Es dauert nur eine oder zwei Sekunden, um sie zum Essen zu wecken.« Sie drängte ihn zu einem ähnlichen Raum, in dem Moneypenny auf einem ähnlichen Bett lag. Auch sie wirkte entspannt, und sie schien wie May zu schlafen. Bond zog sich zurück und nickte. »Dann bringe ich dich jetzt zu deiner letzten Ruhestätte, James.« Das Mitgefühl war verschwunden. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren, und blieben dieses mal nicht vor einer Tür, sondern vor einer in die Wand eingelassenen Tastatur stehen. Nannie befahl ihm abermals, sich mit den Händen gegen die Wand zu stützen, und tippte eine Zahlenfolge ein. Ein Segment der Wand glitt zurück, und sie schob Bond durch die Öffnung. Sein Magen drehte sich um, als er den großen, kahlen Raum sah, in dem eine Reihe bequemer, tiefer Stühle stand. Es sah aus wie in einem Theater. In der Mitte standen ein Operationstisch und ein weißer Rollwagen für Instrumente, doch das auffälligste war die Guillotine genau im Zentrum, die von gewaltigen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Sie war kleiner, als Bond erwartet hätte, doch das lag wahrscheinlich an den Filmen über die französische Revolution, die 572
das Hinrichtungsinstrument immer von unten her gezeigt hatten. Die Klinge ruhte zwischen den dicken, eingekerbten Balken. Das ganze Gerät war kaum zwei Meter hoch; es sah aus wie ein Modell für die Hollywoodkulissen, die er gesehen hatte. Doch es würde zweifellos ausreichen. Es war alles da – der Balken mit den Aussparungen, der unten Hände und Kopf festklemmen sollte, eine längliche Plastikwanne, die sie aufnehmen würde, nachdem sie abgetrennt waren, die blitzende Klinge zwischen den Pfosten. In dem für den Kopf ausgesparten Loch steckte ein großer Kohlkopf. Nannie berührte einen der Pfosten. Die Klinge fiel so schnell, daß er ihr mit den Augen nicht folgen konnte. Der Kohlkopf wurde mit einem sauberen Schnitt geteilt, und die Schneide prallte mit einem Knall auf die untere Fangleiste. Es war eine beunruhigende, makabre Demonstration. »In ein paar Stunden…« sagte Nannie fröhlich. Sie ließ ihm eine Minute Zeit, sich das Gerät anzusehen. Dann deutete sie zu einer Zellentür im Hintergrund des Raumes, die ähnlich aussah wie die Türen im Gang. Sie lag direkt hinter der Guillotine. »Sie haben sich bei der Einrichtung wirklich sehr viel Mühe gegeben«, sagte Nannie fast bewundernd. »Das erste, das du siehst, wenn du die Zelle wieder verläßt, wird Madame La Gui llotine sein.« Sie lachte leise. »Und das letzte. Ich hoffe, du weißt die Ehre zu schätzen, James. Ich glaube, Fin wird es übernehmen, und man hat ihn instruiert, in Abendkleidung zu kommen. Es wird ein sehr elegantes Ereignis.« »Wie viele Einladungen wurden verschickt?« »Oh, ich glaube, insgesamt sind nur etwa fünfundvierzig Me nschen auf der Insel. Die Funker und die Wachleute werden natürlich arbeiten. Zehn, vielleicht dreizehn, wenn du mich mi tzählst und falls der Colonel die Geiseln dabeihaben will, was ich aber für unwahrscheinlich halte…« Sie hielt plötzlich inne; sie hatte erkannt, daß sie ihm zuviel verraten hatte. Sie faßte sich rasch wieder. Es spielte keine Rolle, was er wußte. In zwei Stunden würde die Klinge fallen und im Bruchteil einer Sekunde Bonds Kopf vom Körper tren573
nen. »Los, in die Zelle«, sagte sie leise. »Es reicht jetzt.« Als er durch die Tür ging, rief sie ihm nach: »Ich glaube, ich sollte fragen, ob du einen letzten Wunsch hast.« Bond drehte sich lächelnd um. »Oh, natürlich, Nannie, aber du wirst nicht bereit sein, ihn zu erfüllen.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, James, Er wurde dir schon erfüllt, und es war schön. Vielleicht gefällt es dir sogar, wenn ich dir sage, daß Sukie wütend war. Sie ist ganz verrückt nach dir. Ich hätte sie eigentlich mitbringen sollen; sie würde ihn dir bestimmt erfüllen.« »Ich wollte dich etwas fragen.« »Was denn?« »Warum hast du sie nicht getötet? Du bist ein Profi; du weißt, wie das Spiel gespielt wird. Ich würde nie jemand wie Sukie einfach liegenlassen, auch nicht, wenn sie betäubt ist. Ich würde dafür sorgen, daß sie ein für allemal schweigt.« »Vielleicht habe ich sie sogar getötet. Die Dosis war fast tödlich.« Nannie unterbrach sich; sie schien etwas traurig. »Aber du hast recht, James. Ich hätte auf Nummer Sicher gehen sollen. In unserem Geschäft ist kein Platz für Mitleid. Aber… tja, ich glaube, ich hab’s nicht über mich gebracht. Wir standen uns sehr nahe, und ich habe meine dunklen Seiten immer vor ihr versteckt. Man braucht Menschen, die einen mögen, wenn man solche Dinge tut; man braucht die Liebe anderer Menschen, meinst du nicht auch? Weißt du, als ich mit Sukie zur Schule ging – bevor ich wußte, daß es Männer gab – habe ich mich in sie verliebt. Sie war gut zu mir. Aber du hast recht. Wenn wir mit dir fertig sind, werde ich zurückfahren und sie erledigen.« »Wie hast du es eigentlich geschafft, daß Sukie und ich uns kennenlernten?« Nannie platzte lachend heraus. «Das war wirklich Zufall. Ich hab’ mich auf meine Intuition verlassen. Ich wußte, wo du warst, weil ich an deinem Bentley einen Sender versteckt hatte; das war schon auf der Fähre. Sukie bestand darauf, allein weiterzufahren, und du hast sie wirklich gerettet. Ich wollte dir eigentlich, je nachdem, wo du warst, eine Falle stellen, weil ich 574
wußte, daß du wie sie nach Rom wolltest. Komisch, aber ihr habt mir direkt in die Hände gearbeitet. Sonst noch was?« »Mein letzter Wunsch?« »Ja.« Bond zuckte die Achseln. »Ich habe einen einfachen Geschmack, Nannie. Und ich weiß, wann ich geschlagen bin. Ich möchte Rührei und eine Flasche Taittinger haben – 73er, wenn das geht.« »Nach meinen Erfahrungen mit SPECTRE ist alles möglich. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Sie ging hinaus und knallte heftig die Zellentür zu. Es war ein kleiner Raum, der nur mit einem Metallbett mit einer einzigen Decke eingerichtet war. Bond wartete einen Augenblick, ehe er zur Tür ging. Der Spion in der Tür war zugeklappt. Er mußte rasch und vorsichtig arbeiten. Die Stille des Hauses war ein Nachteil für ihn; vor der Tür konnte jemand stehen, ohne daß er es bemerkte. Bond öffnete langsam den Hosenbund. Er überließ sehr selten etwas dem Zufall. Nannie hatte ihm den vom Q-Branch hergestellten Gürtel abgenommen. Die zusätzliche Ausrüstung, die er im Pier House aus seiner Aktentasche genommen hatte, waren Reserveteile, die er jetzt brauchte. Die schwarze Hose war ebenfalls vom Q-Branch entworfen worden, und in ihrem Hosenbund waren einige Überraschungen versteckt, die fast nicht zu entdecken waren. Er brauchte mehr als eine Minute, um seine Ausrüstung aus den eingenähten kleinen Taschen zu ziehen. Immerhin wußte er, daß er eine gute Chance hatte, die Zellentür aufzubekommen, so daß er wenigstens den Hinrichtungsraum erreichen konnte. Danach mußte er sehen, wie es weiterging. Er rechnete damit, daß er eine halbe Stunde Zeit hatte, bevor das Essen kam. In dieser Zeit mußte er sicher sein, ob er die Zellentür aufbekäme. Zum zweitenmal binnen weniger Tage arbeitete er angestrengt mit Dietrichen. Unerwarteterweise war das Zellenschloß sehr einfach gebaut – ein simpler Riegel, den er mit zwei Dietrichen herumwerfen konnte. Es dauerte keine fünf Minuten, bis er die Tür aufbe575
kommen und wieder geschlossen hatte. Er öffnete sie noch einmal, schob die Tür ganz auf und trat in den Hinrichtungsraum hinaus. Es war gespenstisch; die Gui llotine stand mitten im Raum. Er sah sich um; den Eingang fand er nur, weil er sich die Richtung gemerkt hatte. Der Verschluß wurde elektronisch gesteuert und war so genau in die Wand eingepaßt, daß die Nähte kaum zu sehen waren. Wenn er die Sprengkapseln richtig plazierte, konnte es klappen, doch er brauchte großes Glück, um die richtigen Stellen zu finden. Er kehrte zur Zelle zurück, schloß die Tür ab und steckte das Werkzeug unter die Decke. Die Chancen, den Haupteingang mit einer Sprengung aufzubekommen, standen nicht gut. Bond zerbrach sich den Kopf, um einen Ausweg zu finden. Er dachte sogar daran, die Guillotine selbst zu sabotieren. Doch er wußte, daß es eine sinnlose, verzweifelte Tat wäre, und außerdem würde er damit seine kostbaren Sprengladungen verschwenden. Nannie brachte ihm das Essen selbst. Der kahle Wächter begleitete sie; seine Finger spannten sich fest um den Griff der Uzi. »Ich sagte ja, für SPECTRE ist nichts unmöglich«, sagte Nannie, ohne zu lächeln. Sie deutete auf die Flasche Taittinger. Bond nickte einfach, und sie gingen wieder. Als die Zellentür zufiel, schöpfte er neue Hoffnung. Er hörte, wie der Kahle mit Nannie murmelte. »Der Alte schläft. Wir wollen ihn gleich holen.« Rahani sollte früh heruntergebracht werden, so daß er erst im Hinrichtungsraum aufwachte. Wenn die Schwester nicht ständig bei ihm war, konnte Bond es schaffen. Er arbeitete seinen Plan weiter aus, während er das Rührei aß und den Champagner trank. Er war froh, daß er um einen 73er gebeten hatte; es war ein ausgezeichneter Jahrgang. Als er glaubte, jenseits der Tür Geräusche zu hören, legte er das Ohr gegen das Metall und versuchte mitzuhören. Plötzlich spürte er, daß sich jemand der Tür näherte. Er streckte sich rasch auf dem Bett aus und lauschte angestrengt, bis er hörte, wie der Spion geöffnet und wieder ge576
schlossen wurde. Er wartete fünf Minuten, dann zog er das Werkzeug unter der Bettdecke hervor und ließ die Sprengladungen und die Zünder einstweilen, wo sie waren. Zum zweitenmal öffnete er die Tür. Als sie aufschwang, sah er, daß der Raum bis auf ein kleines Nachtlicht, in dem er gerade noch Tamil Rahani auf seinem Spezialbett erkannte, abgedunkelt war. Er durchquerte rasch den Raum. Rahani lag reglos schlafend auf dem Rücken. Bond berührte die Fernbedienung des Bettes und verfolgte das Kabel unter das Bett. Was er sah, gab ihm neue Hoffnung. Er eilte in die Zelle zurück und holte das Werkzeug, die Sprengkapseln und die winzige Taschenlampe. Er schob sich auf dem Rücken unter das Bett und suchte den kleinen Schaltkasten, der das Kopfende des Bettes steuerte. Das Kabel endete fast mitten unter dem Bett in einem Kasten, von dem aus ein Stromkabel zu einer Steckdose in der Wand führte. Dünnere Drähte verbanden die Steuerung mit den kleinen Motoren, die die verschiedenen Teile des Bettes bewegten. Er interessierte sich vor allem für die Drähte, die zum Kopfende führten. Er stellte den Strom ab und begann, die Sensoren unter dem oberen Teil des Bettes zu bearbeiten. Zuerst unterbrach er sie und schälte einen Zentimeter der Plastikisolierung ab. Dann packte er seinen gesamten Plastiksprengstoff zusammen, drückte ihn in eine Ecke des Motorgehäuses und verband den Sprengstoff mit einem elektronischen Zünder, dessen Drähte er locker herunterbaumeln ließ. Nun mußte er nur noch die Drähte in ihrer alten Position anschließen und an jeder Ader zusätzlich eine Verbindung zum Zünder anbringen. Sein Spezialwerkzeug enthielt auch ein wi nziges Päckchen Isolierband, kaum dicker als ein Streichholzheftchen. Er brauchte eine Weile, doch schließlich gelang es ihm, die Drähte sauber zu isolieren, so daß sie sich nicht berühren konnten, falls das Bett noch einmal bewegt würde. Schließlich sammelte er sein Werkzeug ein, schaltete den Strom wieder ein und kehrte in seine Zelle zurück. Er verschloß die Tür mit den Dietrichen und versteckte das Werkzeug wie zuvor unter der Decke. 577
Die relativ kleine Sprengladung würde explodieren, sobald jemand die Knöpfe drückte, die das Kopfende hoben. Wenn – er mußte zugeben, daß er nicht ganz sicher war – seine Schaltung funktionierte, mußte er sich sehr schnell bewegen. Im Augenblick konnte er nur hoffen und warten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er plötzlich einen Schlüssel im Schloß seiner Zelle hörte. Der Blonde, der anscheinend Fin hieß, stand im Smoking und mit weißen Handschuhen vor ihm. Rechts hinter ihm wartete, ebenfalls im Smoking, der Kahle, der ein schweres Silbertablett trug. Die Leute haben Stil, dachte Bond. Sein Kopf würde dem sterbenden Tamil Rahani auf einem Silbertablett serviert werden, genau wie in den alten Legenden und Märchen. Nannie Norrich tauchte hinter dem Kahlen auf, und im Schein der hellen Lampen konnte Bond sie zum erstenmal sehen, wie sie vermutlich wirklich war. Sie trug ein langes, dunkles Kleid und hatte die Haare gelöst. Ihr Gesicht war so stark geschminkt, daß es wie eine kalte Maske wirkte. Von der anziehenden jungen Frau, die er zu kennen geglaubt hatte, war nichts mehr zu sehen. Ihr Lächeln war kalt und böse. »Madame La Guillotine erwartet dich, James Bond«, sagte sie. Er richtete sich auf und trat in den Hinrichtungsraum hinaus, wo er sich rasch umsah. Die Eingangstür war geöffnet, und er sah etwas, das er vorher übersehen hatte – ein kleiner Verschlag in der Wand, der dieselbe Türbedienung wie der Kasten auf dem Gang enthielt. Zwei weitere große Männer waren hinzugekommen. Sie standen direkt neben der Tür, und sie hatten den gewohnten versteinerten Gesichtsausdruck. Einer war mit einem Revolver, der zweite mit einer Uzi bewaffnet. Ein weiteres Paar, ebenfalls bewaffnet, stand neben Dr. McConnel und der Schwester an Rahanis Bett. »Sie erwartet dich«, drängte Nannie, und Bond ging langsam weiter. Es hat nicht funktioniert, dachte er. Dann hörte er Rahanis Stimme, schwach, aber deutlich zu verstehen. 578
»Ich will es sehen…« krächzte er. »Sehen. Hebt das Kopfteil.« Und noch einmal, etwas lauter: »Hoch damit!« Bond musterte noch einmal die Menschen im Raum. Die Schwester griff nach den Kontrollen. Er sah fast wie in einer Nahaufnahme, wie sie nach dem Knopf für das Kopfteil tastete. Dann zündeten die Ladungen.
19. TOD UND ZERSTÖRUNG Einige Sekunden lang war Bond gar nicht sicher, ob er überhaupt eine Explosion gehört hatte, obwohl er eine große Stichflamme sah und den heißen Luftstoß spürte, der ihn zurückdrückte. Nach dem Lichtblitz schien es, als hätte ihm jemand die Hände über die Öhren gelegt. Die Zeit stand still. Alles geschah wie im Traum, als wäre es eine Zeitlupenszene in einem Film. In Wirklichkeit ereignete sich alles mit hoher Geschwindigkeit, und Bond dachte, wahrend er sich rasch bewegte, immer wieder an zwei Dinge – überleben und May und Moneypenny retten. Rechts in der Ecke brannten die Überreste von Rahanis Bett. Von ihm selbst war nichts zurückgeblieben; aus seinem Körper gerissene Stücke hatten den Arzt, die Schwester und die beiden Wächter neben dem Bett getroffen. Bond sah, daß der Arzt sich ins Zentrum des Brandes, zum Mittelteil des Bettes stürzte. Die Schwester stand wie versteinert daneben. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, und von ihren Kleidern fielen brennende Fetzen herunter. Sie stieß einen gequälten, würgenden Schrei aus, bevor sie bewußtlos in die Flammen stürzte. Die beiden Wächter hatten die Waffen gehoben und rannten durch den Raum; einer zur Guillotine, der zweite, dessen Arm halb abgetrennt war, eilte zur Tür, wo der Mann mit der Uzi stand. Er warf den Mann gegen die Wand, sein gefühllos pendelnder Arm prallte gegen die Uzi, und der Wächter ließ sie fallen. Die Waffe landete direkt vor Bond auf der anderen Seite der Guillotine. Der vierte Wächter schien unverletzt, aber benommen; seine Hand war gelähmt. Er ließ seine Pistole fal579
len, die ebenfalls in Richtung Bond rutschte. Bond war in die Zelle zurückgetreten, als die Schwester auf den Knopf gedrückt hatte. Obwohl es in seinen Ohren klingelte und sein Blick verschwamm, war er vor der Hauptwelle der Explosion geschützt gewesen. Er konnte immer noch nicht gut sehen oder hören, doch er stürmte automatisch aus der Zelle und starrte hypnotisiert die Pistole an, die auf ihn zurutschte. Dann stürzte er sich auf die Waffe, warf sich auf den Bauch und packte die Pistole. Er rollte sich herum und feuerte aus der Bewegung zuerst auf den verbliebenen Wächter an der Tür, dann auf Fin und den Kahlen. Pro Mann zwei Schüsse, die bewährte Technik des Service. Er hörte die Schüsse nur als leises Floppen; jede Kugel traf ihr Ziel. Der Mann an der Tür wurde zurückgeworfen, Fins weißes Frackhemd bekam plötzlich rote Flecken. Der Kahle setzte sich mit gespreizten Beinen auf den Boden, hielt sich den Bauch und starrte Bond überrascht an. Bond wirbelte herum und suchte Nannie. Sie tauchte gerade hinter die Guillotine, um die Uzi aufzuheben, Sie nahm den kürzesten Weg, legte sich flach auf den Bauch und streckte die Arme über den Klotz der Guillotine. Ihre Hände hatten die Waffe fast erreicht, als er den Arm hob und den Hebel herunterzog. Trotz seiner tauben Ohren hörte Bond das schreckliche Krachen, als die Klinge Nannies Arme durchtrennte. Er sah das spritzende Blut, hörte ihren langen Schrei, sah das Feuer, das jetzt dicke schwarze Qualmwolken aussandte. Er hielt einen Augenblick inne, um die Uzi aufzuheben und ihre Hände abzuschütteln, die sich um die Waffe geklammert hatten. Er mußte zweimal heftig schütteln, ehe sie abfielen. Dann war er draußen im Gang, der sich rasch mit Rauch füllte. Bond drehte sich um und musterte die elektronische Schalttafel der Tür. Zuerst sah er nur mit Zahlen beschriftete Knöpfe, doch dann fiel sein Blick auf die unterste Reihe. Die Knöpfe waren rot und mit ›Zeitschloß‹ beschriftet. Darunter war die Bedienungsanleitung abgedruckt: Zeitschaltknopf drücken. Tür schließen. Nach Schließvorgang gewünschte Stundenzahl eingeben. Noch einmal den Zeitschaltknopf drücken. Tür bleibt 580
unbedienbar, bis die voreingestellte Zeit abgelaufen ist. Er drückte die entsprechenden Knöpfe, und die Tür schloß sich. Dann gab er eine Zwei und eine Vier ein… die Menschen im Hinrichtungsraum waren ohnehin tot oder lagen im Sterben. Wenn die Tür vierundzwanzig Stunden geschlossen blieb, würde das Feuer wahrscheinlich ersticken. Als nächstes waren die Geiseln an der Reihe. Während er zu Mays Zelle rannte, begannen Alarmklingeln zu rasseln; Bond konnte inzwischen wieder halbwegs hören. Sie waren entweder durch das Feuer ausgelöst worden, oder in der Hinrichtungskammer war jemand noch klar genug, um Alarm zu schlagen. Er packte den Türgriff der ersten Zelle und sah sich verzweifelt nach einem Schlüssel um, doch er konnte keinen entdekken. Bond trat ein paar Schritte zurück und gab eine Garbe aus der Uzi ab. Er feuerte nicht auf das Metallschloß, sondern auf das obere Scharnier und die Mauer daneben. Die Kugeln prallten ab und pfiffen durch den Gang. Dann gab das Scharnier nach, und die Tür sackte weg. Er richtete die Uzi auf das untere Scharnier, und nach zwei weiteren Garben löste sich die Metallplatte, zögerte und stürzte zur Seite. May kauerte sitzend im Bett und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, während er in die Zelle eindrang. »Alles in Ordnung, May! Ich bin’s!« rief er. »Mr. James! Oh, mein Gott, Mr. James!« »Bleiben Sie hier«, rief Bond ihr zu. Er bemerkte, daß er immer noch etwas zu laut sprach. »Bleiben Sie hier; ich hole unterdessen Moneypenny. Kommen Sie erst heraus, wenn ich es Ihnen sage.« »Mr. James, wie haben Sie…« begann sie, doch er war schon wieder fort und nahm sich die nächste Tür vor. Er wiederholte erfolgreich die Operation mit der Uzi, und der Gang füllte sich rasch mit Rauch. »Alles in Ordnung, Moneypenny«, rief er atemlos. »Alles klar. Der weiße Ritter kommt mit seinem Schimmel, um Sie zu retten, oder so ähnlich.« Sie war vor Furcht grau im Gesicht, und sie zitterte sichtlich. 581
»James! Oh, James! Ich dachte… sie haben mir gesagt…« Sie eilte zu ihm und warf ihm die Arme um den Hals. Bond mußte sich energisch von der Sekretärin seines Vorgesetzten lösen. Er zerrte sie in den Gang hinaus und deutete zu Mays Zelle. »Sie müssen mir mit May helfen, Penny. Wir müssen immer noch hier herauskommen. Da unten brennt es, und wenn ich mich nicht sehr irre, gibt es hier eine Menge Leute, die es gar nicht gern hätten, wenn wir gingen. Also, um Himmels willen, geraten Sie nicht in Panik. Holen Sie May rasch da raus und tun Sie, was ich Ihnen sage.« Als er sah, daß sie verstanden hatte, rannte er durch den di kken Qualm zum Lift. Bei Bränden auf keinen Fall den Aufzug benutzen – wie oft hatte er diese Warnung schon in Hotels gesehen? Aber es gab keine andere Möglichkeit. Ob es ihm gefiel oder nicht, anscheinend gab es keinen anderen Weg, den Gang zu verlassen. Er erreichte die gekrümmten Stahltüren und hieb auf den Rufknopf. Vielleicht flohen aus den oberen Stockwerken andere Leute auf dem gleichen Weg. Vielleicht war der Mechanismus schon beschädigt. Er konnte das Brüllen des Feuers hinter sich im Gang hören. Bond berührte die Metalltüren. Sie waren warm. Er wartete einen Augenblick, drückte noch einmal auf den Knopf und benutzte die Wartezeit, um die Uzi und die Automatikpistole zu untersuchen. Die Automatik war eine große Stetchkin mit einem Zwanzigermagazin, aus dem er bisher sechs Schüsse abgegeben hatte. Er schob sich die fast leere Uzi unter den Arm und hielt die Stetchkin bereit. Moneypenny kam, May stützend, langsam den Gang herunter, als die Aufzugtür aufglitt. In der Kabine standen vier Männer in dunklen Kampfjacken. Bond sah ihre überraschten Blicke und die leichte Bewegung, als einer zum Halfter an seiner Hüfte langte. Er schaltete die Stetchkin mit dem Daumen von Einzelschuß auf Automatik um und drückte die Hand nach unten, denn er wußte, daß eine Stetchkin im Automatikbetrieb dazu neigt, nach 582
oben zu verreißen. Wie er sie jetzt hielt, würde sie eine Reihe von nebeneinanderliegenden Schüssen abgeben. Er feuerte sechs Kugeln ab, und die vier Männer stürzten auf den Boden. Dann hob er die Hand, um Moneypenny zu bedeuten, daß sie May naher heranbringen sollte. Er schob die Leichen aus der Kabine und keilte eine in die Tür, damit sie sich nicht schließen konnte, während er die anderen hinausbugsierte. Kaum dreißig Sekunden später drängte er May und Moneypenny in den Lift. Es wurde rasch heißer, und er drückte sofort auf den Knopf für das unterste Stockwerk. Er hielt den Finger fünf oder sechs Sekunden auf dem Knopf, und als die Türen wieder aufgingen, sahen sie den gekrümmten Gang, der zu Tamil Rahanis Zimmer führte. »Langsam«, warnte er May und Moneypenny. »Vorsichtig.« In einiger Entfernung knatterte ein Maschinengewehr. Bond fiel auf, daß etwas Seltsames im Gange war. Es war nicht zu übersehen, daß es im Haus brannte, und sie selbst waren die einzigen möglichen Ziele für die Leute von SPECTRE. Auf wen wurde geschossen, wenn nicht auf sie? Die Tür zu Rahanis Zimmer stand offen. Im Zimmer brannte es. Bond schob sich langsam in den Türrahmen. Zwei Männer, wie die anderen in dunkle Kampfjacken gekleidet, hatten neben dem großen Fenster ein schweres Maschinengewehr aufgebaut. Sie feuerten in den Garten hinaus. Draußen konnte Bond Hubschrauber mit grün und rot blinkenden Lichtern sehen, die über der Insel schwebten. Eine Leuchtkugel erhellte den nächtlichen Himmel, und drei scharfe Einschläge, gefolgt von Glassplittern, erklärten, was geschah. Das Haus wurde angegriffen. Er hoffte, daß die Männer dort draußen auf seiner Seite wären, trat ganz in den Raum und jagte den Männern am Maschinengewehr je zwei Kugeln in den Nacken. »Bleibt im Gang! Bleibt unten!« rief er May und Moneypenny zu. Einen Moment war es still. Dann hörte Bond das unverkennbare Geräusch von schweren Stiefeln auf der Metalltreppe, die zum Balkon führte. Er hielt die Pistole unten und rief zu den Männern hinaus, die er jetzt vor dem Fenster sehen konnte. 583
»Nicht schießen! Wir sind Gefangene!« Ein stämmiger Offizier der US-Navy, der einen sehr großen Armeerevolver angelegt hatte, erschien im Fenster. Dichtauf folgten ein halbes Dutzend weitere Navyleute. Und hinter ihnen sah er das weiße, erschreckte Gesicht von Sukie Tempesta, die schrie: »Sie sind es. Mr. Bond und die Geiseln, die sie festgehalten haben.« »Sind Sie Bond?« schnappte der Offizier. »Bond, ja. James Bond.« Er nickte. »Gott sei Dank. Ich hätte Sie fast aufgegeben. Sie können sich bei dieser hübschen jungen Dame hier bedanken. Wir müssen uns beeilen. Dieses Haus hier wird gleich brennen wie Zunder.« Der Mann mit dem Ledergesicht packte Bonds Handgelenk und zog ihn auf den Balkon hinaus, während drei weitere Mä nner ins Zimmer sprangen, um May und Moneypenny zu helfen. »Oh, James! James, ich freue mich so!« Er wurde fast in die wartenden Arme der Principessa Sukie Tempesta geworfen, und zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten wurde Bond wild und leidenschaftlich geküßt. Diesesmal hatte er es allerdings nicht so eilig, sich aus der Umarmung zu befreien. Während sie durch die Gartenwege zur kleinen Landestelle rannten, fragte Bond atemlos, was inzwischen geschehen sei. Kurz darauf waren sie an Bord des kleinen Kreuzers der Küstenwache und entfernten sich rasch von der Insel. Sie blickten zurück. Weitere Schnellboote und einige Hubschrauber umrundeten die Insel, errichteten einen Sperriegel und beleuchteten die Gärten mit starken Scheinwerfern. »Das ist eine lange Geschichte, James«, sagte Sukie. »Mein Gott!« sagte ein Offizier der Küstenwache mit zusammengebissenen Zähnen, als die Spitze der großen Pyramide, die einst SPECTRES Hauptquartier war, Flammen zu spucken begann wie ein ausbrechender Vulkan. Die Hubschrauber drehten ab; einer strich dicht über ihren Kutter. May und Moneypenny saßen im Bug, wo sie von einem Marinearzt versorgt wurden. Im gespenstischen Licht des Brandes auf der Insel wirkten ihre Gesichter fiebrig und krank. 584
»Da wird’s jeden Augenblick mächtig knallen«, murmelte der Offizier, und fast im gleichen Augenblick schien sich das Gebäude von der Insel zu heben und eine Sekunde in der Luft zu schweben. Dann explodierte es mit einem so lauten Knall und in so blendendem Licht, daß Bond den Kopf abwenden mußte. Als er aufschaute, schien die Luft voll brennender Trümmer zu sein. Über der flachen Erhebung, die einst Shark Island gewesen war, hing eine dichte Rauchwolke. Er fragte sich, ob dies wirklich das Ende seines alten Feindes, SPECTRE, wäre, oder ob dieser sich wieder aus seiner Asche erheben würde wie ein teuflischer Phönix – aus der Asche, dem Tod und der Zerstörung, die er, James Bond, ihm gebracht hatte.
20. EIN HOCH AUF DEN GEWINNER Sukie erzählte ihre Geschichte, sobald der Kutter innerhalb des Riffs war, wo die Wellen niedriger waren und die Maschinen gedrosselt wurden, so daß sie nicht mehr schreien mußte. »Zuerst dachte ich, ich sehe nicht recht – und dann, als Na nnie angerufen hat, wußte ich Bescheid«, sagte sie. »Immer mit der Ruhe.« Bond sprach sehr laut, weil es immer noch in seinen Ohren klingelte. Als Sukie und Nannie Bond am vergangenen Abend verlassen hatten, hatte Nannie Kaffee bestellt. »Er kam, als ich mich im Badezimmer schminkte; deshalb bat ich sie, den Kaffee einzuschenken«, fuhr sie fort. Sie hatte die Tür aufgelassen, und im Spiegel sah sie, wie Nannie aus einer kleinen Flasche etwas in ihre Tasse schüttete. »Ich konnte nicht glauben, daß sie etwas Böses mit mir vorhatte, das hatte ich ihr nie zugetraut. Glücklicherweise habe ich es aber gesehen. Sie hat immer versucht, mich aus Gefahren herauszuhalten, und ich habe ihr immer vertraut. Sie war seit der Schulzeit meine engste Freundin. Ich hätte nie gedacht, daß sie so etwas… nun… weißt du, James, sie war eine sehr zuverlässige Freundin. Bis zu diesem Augenblick.« 585
»Traue keinem guten Freund«, sagte Bond mit einem spröden Lächeln. »Sonst weinst du schneller, als dir lieb ist.« Sukie hatte den Kaffee heimlich ausgeschüttet und so getan, als schliefe sie. »Sie beobachtete mich ziemlich lange, hob meine Augenlider hoch und so weiter. Dann telefonierte sie. Ich weiß nicht, mit wem sie sprach, aber es war völlig klar, was sie vorhatte. Sie sagte, sie wolle dir folgen. Sie dachte, du würdest versuchen, ohne uns zur Insel zu fahren. ›Ich hab’ ihn doch noch erwischt‹, sagte sie. ›Sag dem Colonel, daß ich ihn habe,‹ Ich blieb eine Weile liegen, wie ich war, falls Nannie noch einmal zurückkam. Sie kam auch und telefonierte noch einmal. Sie hatte es sehr eilig. Sie sagte, du hättest das Boot des Hotels genommen, und sie wollte dir folgen. Sie sagte den anderen, sie sollten auf dich aufpassen, aber du seiest ihr Gefangener, und sie wollte nicht, daß jemand anders dich schnappte. Sie sagte mehrmals, daß sie dich in einem Stück dem Colonel ausliefern wolle, dann könne er dich selbst zerlegen. Verstehst du das?« »Und ob ich das verstehe.« Bond dachte an die Guillotine, die Nannie Norrichs Arme abgetrennt hatte. »Schrecklich«, sagte er mehr zu sich selbst. »Wirklich schrecklich. Weißt du, ich habe sie sehr gemocht. Sehr.« Sukie starrte ihn wortlos an, während der Kutter in den kleinen Hafen einfuhr. »Und wer zahlt diesen ganzen Luxus? Das würde ich wirklich gern wissen.« May hatte sich anscheinend gut erholt. »Die Regierung«, sagte Bond lächelnd. »Und wenn die nicht wollen, dann werde ich zahlen.« »Tja, es ist eine richtige Geldverschwendung, wir alle hier in diesem teuren Hotel, Wissen Sie eigentlich, was hier die Übernachtung kostet, Mr. James?« »Das weiß ich, May, und Sie sollen sich keine Gedanken darum machen. Wir werden bald wieder daheim sein, und dies alles wird Ihnen wie ein Traum vorkommen. Genießen Sie es, genießen Sie den Sonnenuntergang. Sie haben doch noch nie einen Sonnenuntergang auf Key West gesehen; es ist fast ein 586
Weltwunder.« »Oh, ich habe viele Sonnenuntergänge im Hochland gesehen, mein Junge. Das reicht mir.« Dann wurde sie etwas umgänglicher, »Aber es ist nett von Ihnen, Mr. James, daß Sie sich so um mich kümmern, das will ich mal sagen. Aber, oh, ich sehne mich nach meiner Küche, und ich will mich wieder um Sie kümmern dürfen.« Zwei Tage später, nachdem die Zeitungen ausgiebig über ›Den Zwischenfall auf Shark Island‹ berichtet hatten, wurden sie von der Navy-Klinik als völlig wiederhergestellt bezeichnet. May, Sukie und Bond saßen auf der Terrasse der Havana Docks Bar. Die Sonne begann gerade ihr allabendliches Schauspiel, und in der Umgebung drängten sich viele Schaulustige. Wieder aßen Sukie und Bond die gewaltigen, saftigen Shrimps, die sie mit Saucen aus winzigen Schälchen würzten. Dazu tranken sie Calypso Daiquiris. May verschmähte beides und vergnügte sich mit Milch, zu der sie lautstark bemerkte, daß sie hoffe, sie sei frisch. »Mein Gott, dies ist wirklich ein Ort, an dem die Zeit stillsteht«, sagte Sukie. Sie beugte sich vor und küßte Bond sanft auf die Wange. »Ich habe heute nachmittag in einem Geschäft in der Front Street mit einem Mädchen gesprochen, das hier zwei Wochen Urlaub machen wollte. Das war vor neun Jahren.« »Ich kann mir gut vorstellen, daß diese Gegend auf manche Menschen so wirkt«, sagte Bond, während er auf die See hinausblickte. Bei sich dachte er, daß es der letzte Ort sei, an dem er so lange bleiben wollte. Zu viele Erinnerungen waren mit dieser Umgebung verbunden – Nannie, das nette Mädchen, das sich als eiskalte Mörderin entpuppt hatte; Tamil Rahani, dem er hier wirklich zum letztenmal begegnet war; SPECTRE, diese nicht gerade ehrenwerte Gesellschaft, die andere um den Preis betrügen wollte, den sie selbst auf Bonds Kopf ausgesetzt hatte. »Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Sukie. »Ich hab’ nur gedacht, daß ich nicht ewig hierbleiben will, aber eine oder zwei Wochen wären schön – vielleicht, um dich 587
besser kennenzulernen.« Sie lächelte. »So was Ähnliches hab’ ich mir auch gedacht. Deshalb habe ich dafür gesorgt, daß dein Gepäck in mein Zimmer umquartiert wurde, lieber James.« »Was hast du?« fragte Bond ungläubig. »Du hast es doch gehört, Liebster. Wir haben viel nachzuholen.« Bond schenkte ihr einen langen, wannen Blick und sah zu, wie ihre Haut sich rosa verfärbte, während die Sonne hinter der Insel versank. Dann blickte er zur Tür. Die treue Moneypenny kam herein und steuerte auf sie zu. Sie winkte ihm. Er entschuldigte sich und ging ihr entgegen. »Nachricht von M«, sagte sie, während sie einen harten Blick in Sukies Richtung abschoß. »Ah.« Bond wartete. »›Sofort zurückkehren. Gut gemacht. M.‹« leierte Moneypenny herunter. »Sie müssen sofort wieder nach Hause?« fragte er. Sie nickte traurig und sagte, sie könne gut verstehen, daß Bond nicht sofort abfahren wolle. »Vielleicht könnten Sie May mitnehmen«, schlug er vor. »Ich hab’ sofort gebucht, nachdem der Anruf kam. Wir fliegen morgen.« Effizient wie immer. »Wir alle?« »Nein, James. Ich weiß, daß ich Ihnen niemals so danken kann, wie ich es möchte – dafür, daß Sie mir das Leben gerettet haben, meine ich.« »Oh, Penny, lassen Sie doch…« Sie brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Nein, James. Ich habe nur für May und mich gebucht. Und ich habe eine Nachricht zurückgeschickt.« »Ja?« »»Komme sofort. 007 muß noch etwa drei Wochen unter ärztlicher Aufsicht bleiben.«« »Drei Wochen sind genau richtig.« »Das dachte ich mir«, sagte sie. Sie machte kehrt und ging langsam ins Hotel zurück. 588
»Hast du wirklich meine Sachen in dein Zimmer transportieren lassen, du Biest?« fragte Bond, nachdem er zu Sukie zurückgekehrt war. »Alles, was du heute nachmittag gekauft hast – auch den Koffer.« Bond lächelte. »Wie können wir denn… ich meine, du bist doch eine Principessa, eine Prinzessin. Was sollen die Leute sagen?« »Oh, wir könnten das Buch nennen: Die Prinzessin und der tapfere arme Junge.« Sie grinste verschlagen und sehr einladend. »Ich bin kein armer Junge«, sagte Bond mit gespielter Verärgerung. »Die Preise hier könnten dafür sorgen, daß du es bald bist«, sagte Sukie. Sie lachte auf, und in diesem Augenblick färbte sich die ganze Umgebung purpurrot, als die Sonne sich für diesen Tag verabschiedete. Vom Mallory Square, wo die Menschenmenge den Sonnenuntergang beobachtet hatte, brandete Applaus auf.
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