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IN JEDES HAUS GEHÖRT DIESES WERK das ist das überzeugende Urteil von Presse und Rundfunk über die große, spannend geschriebene Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte" des Münchner Historikers Otto Zierer. Von ungeheurer Dramatik sind die Bände dieses neuartigen, erregenden Geschichtswerkes erfüllt. Hier sind nicht, wie in Lehrbüchern alter Art, die historischen Ereignisse mit trockener Sachlichkeit aneinandergereiht: die Vergangenheit wird vor dem Auge des Lesers in kulturgeschichtlichen Bildern zu neuem Leben erweckt. Menschen wie Du und ich schreiten über die wechselnde Bühne der Geschichte und lassen den Ablauf der Jahrhunderte, das Schauspiel vom Schicksal der Menschheit, ergriffen miterleben. Zierers „Bild der Jahrhunderte" ist ein Werk für die Menschen unserer Zeit, für die Erwachsenen wie für die Jugend. DER
KAUF
LEICHT
G E M A C H T . . .
„Schüler, deren Eltern das Bild der Jahrhunderte zu Hause haben, sind die besten Geschichtskenner in meinen Klassen", schreibt ein bekannter Erzieher. Der Verlag hat die Beschaffung der Bücherreihe leicht gemacht. Um jeder Familie den Kauf dieses prächtig ausgestatteten Standardwerkes zu ermöglichen, werden günstige Zahlungserleichterungen eingeräumt. Das „Bild der Jahrhunderte" kann auf Wunsch bei sofortiger Lieferung ohne Anzahlung gegen zwanzig Monatsraten erworben werden: DM10,90 für die RotleinenAusgabe, DM 13,75 für die Lux-Luxus-Ausgabe. Das Werk besteht aus zwanzig Doppelbänden, dem Band 41/44 und dem Historischen Lexikon; es umfaßt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln, 500 Lexikonbilder und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthält Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen und Zeittafeln.
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V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ö N C H E N • INNSBRUCK • ÖLTEN (SCHWEIZ)
KLEINE
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DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN N A T U R - U N D K U LT U R K U N D L I C H E H E F T E
HANNS
MARIA
LUX
Beim Herrn Geheimrat Ein Tag im Leben Goethes
Signature Not Verified
Manni
Digitally signed by Manni DN: cn=Manni, c=US Date: 2006.05.13 07:09:49 +01'00'
VERLAG S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
Wer den Dichter und Weltweisen Goethe verstehen will, sollte auch , den Menschen Goethe kennen: den tätigen Hausherrn am Frauenplan, den Weimarischen Kanzler und Theaterdirektor, den prüfenden Sammler und Naturfreund, den Gärtner im Gartenhaus und geistgewaltigen Partner im Gespräch mit vertrauten Freunden. Im Leben des Dichters könnte der Tag, der hier geschildert wird, einer von vielen Tagen sein, doch ist manches darin zusammengefaßt, was zeitlich oft weit auseinanderliegt. Die Selbstbekenntnisse Goethes und die zeitgenössischen Aussagen, die der Verfasser in den erzählenden Bericht verwoben, geben dem Leser aber die Gewißheit, daß das gezeichnete Bild lebenswahr und getreu ist.
„Guten Morgen, E x z e l l e n z ! "
D,
*ie Treppe knarrt. Behutsam geht einer die Stufen hinauf; die Füße verweilen einen Augenblick, nun steigen sie weiter durch das Gedämmer empor. Es ist nicht nur die Frühe des Morgens, die ihre Schatten über die Stiegen streut, es ist auch die Enge des Treppenhauses, das sich selbst am lichtesten Tage nicht ganz erhellt. Aber der da hinaufsteigt, kennt sich hier aus: jeden Morgen geht er den gleichen Stufenweg, immer um die gleiche Zeit; keine Minute zu früh, keine zu spät. Jetzt wendet er Sich nach links und steht vor einer Tür, hält den Schritt an und verweilt. Er lauscht zum Fenster hin: vor den Scheiben wogen die Schleier des Frühnebels. Und nun: ein Hall zittert auf, tief, gedämpft. Von Weimar her klingen fünf Glockenschläge. Wie der letzte Ton aus2
schwingt, nickt der Lauscher und ist zufrieden: er klopft an die Tür und drückt auf die Klinke, öffnet und verneigt sich ins Zimmer hinein: „Guten Morgen, Exzellenz!" Aber keine Antwort kommt zurück, kein „guten Morgen, Christoph!" Da weiß Christoph — und er freut sich beinahe darüber —, daß sein Herr ihm wieder einmal zuvorgekommen ist. Der Geheime Rat will sommersüber punkt fünf Uhr geweckt werden; welch ein Donnerwetter würde auf Christoph Sutors Schädel prasseln, klopfte er auch nur eine Minute nach dem fünften Glockenschlag! Aber das ist nun schon das dritte Mal in dieser Woche, seit der Herr wieder hier draußen im Gartenhause wohnt, daß er sich erhebt, bevor noch der Diener aus den Federn steigt. Christoph geht zum Fenster und wirft den Vorhang zurück: das frühe Licht schimmert gedämpft, als flösse es durch einen Schleier in das kleine Schlafkabinett. Die Fenster sind gjeöffnet. Exzellenz liebt die Kühle der Nacht. Er fürchtet weder Luft noch Kälte. Christoph Sutor schüttelt sich, wie sein Blick über das verschleierte Tal der Hm geht: der Frühdunst ist frisch, er wallt über die Wiese, die zwischen dem Gartenhaus des Freiherrn von Goethe und dem Flüßchen liegt. Auf dem Wasser braut der Nebel dichter. „Dichter!" denkt der Diener, „merkwürdige Leute!" Seit Jahren steht er im Dienste des Geheimen Rats und kennt sich in der bunten Galerie der Poeten aus, die hier in Weimar wohnen oder aus allen Gegenden Deutschlands und der Welt kommen und Gäste seines Herrn sind. Da ist z. B. der Herr Hof rat von Schiller, der aus dem Schwäbischen stammt; dessen Gesundheit ist zerbrechlich, er fürchtet sich in seinem tabakverräucherten Arbeitszimmer vor jedem Durchzug, er flieht Kühle und scharfen Wind; man flüstert sich in Weimar zu, er werde nicht sehr alt: da drinnen in der Lunge zehre eine schleichende Krankheit. Wie anders ist Goethe! Der ,brutalisiert' seine Natur, wie das Exempel im Augenblick wieder einmal zeigt: dort drunten im prickelnden Wasser schwimmt er. Man hört ihn prusten und glücklich lachen. „Ein bißchen verrückt! — mit Verlaub!" denkt der Diener. Während er das Schlafzimmer in Ordnung bringt, bleibt ihm Zeit genug, über Goethes Eigenwilligkeiten nachzusinnen. Anno 1775 kam der Doktor nach Weimar (Durchlaucht, der Herzog Carl August hatte eigens eine Kutsche nach Frank3
fürt befohlen, den 26jährigen Poeten, dessen Name wie ein Stern am Himmel des dichterischen Ruhmes aufgeleuchtet, nach Weimar zu führen), kam also in die fürstliche Residenz und brachte alsbald schon die geruhsamen Sitten der adligen Hofgesellschaft durcheinander. Nehmt dieses Beispiel nur: welcher Herr von Stand wäre je auf den närrischen Gedanken gekommen, sich jahrüber mehr als einmal ganz abzuwaschen! Für diesen Zweck genügte ein Holzzuber in der häuslichen Waschküche. Und nun platzte dieser merkwürdige Frankfurter Jüngling, der Zugereiste, in den Kreis einer sorgfältig gepflegten Ordnung und schockierte die friedliche Stadt. Wagte er es doch, öffentlich in der Hm zu baden; und als ob er der Lehrmeister des damals erst 18jährigen Fürsten wäre, verführte er die durchlauchtigste Hoheit, das gleiche zu tun: so tollten denn die beiden wie die Lausbuben armer Leute im Wasser und schämten sich wahrhaftig kein bißchen! Doch damit nicht genug: selbst vor der beißenden Kälte fürchtete der Frankfurter sich nicht; hackte er doch sogar das Eis der Um auf und tauchte in das Wasser! Einmal bei solch toller Strapaze schrieb man bereits den 6. Dezember . . . Wie der Diener an diesen Tag vor vielen Jahren denkt, fröstelt es ihn. Er hat in seinem Leben noch nie gebadet, er denkt auch gar nicht daran, jemals etwas so Ungesundes und Verrücktes zu tun; und wenn sein Herr auch noch so sehr für die »Natürlichkeit' ist; das Wort des Geheimen Rats geht einfach nicht über die Schwelle des Christophschen Verstandes: Schwimmen und die »Turnerei halte ich wert; denn sie stärkt und erfrischt nicht nur den Körper, sondern ermutigt und kräftigt auch Seele und Geist gegen Verweichlichung«. Zugegeben: er, Christoph Sutor, ist nicht der klügste in der kleinen Dienerschar; Philipp Seidel zum Beispiel ist ein Domestike, mit dem sich der Herr sogar über Kunst und Dichtung unterhalten kann. Aber auch Christoph hat ein recht passables Gedächtnis, und das füllt sich von Jahr zu Jahr immer reicher mit hübschen oder grundgescheiten Sätzlein, die nicht weniger leicht über die Lippen der Exzellenz fließen wie das Ilmwasser über eine steinerne Flußschnelle. Der Geheime Rat schreibt sie auch bei jeder Gelegenheit nieder, und oft genug gelingt es den neugierigen Dienern, solche Sprüchlein verbotenerweise zu lesen. 4
Christoph geht an das kleine Tischlein gleich neben dem Bett des Dichters. Da liegt wieder solch ein Zettel! Es ist eine Eigenart der Exzellenz, Gedanken, die ihm vor dem Einschlafen oder über Nacht einfallen, sogleich auf .Merkzetteln' festzuhalten. Wenn Christoph sich zur Ruhe legt, dauert's keine zehn Herzschläge, und schon ist er eingeschlafen. Aber sein Herr ist immer tätig, denn »Tätigkeit ist des Menschen erste Bestimmung«, er ist »ohne Rast und Ruh«; Goethe ist sicherlich der zeitgeizigste Mensch in den Landen: »Die Zeit ist mein Besitz, mein Acker ist die Zeit.« Dem Christoph wird's ein bißchen feierlich ums Herz, denn der letzte Satz ist so abgründig gescheit, nicht weniger tief als manchmal ein Kanzelwort des Generalsuperintendenten und Hofpredigers Herder, der übrigens auch ein berühmter Dichter ist. Aber Sutors Feierlichkeit hält nicht lange an, denn Zeit und Arbeit drängen: das Schlafkabinett muß in Ordnung gebracht werden, der Doktor kann jeden Augenblick vom Bad zurückkommen. Er kann manchmal einen Bummelanten ganz gefährlich aus seinen merkwürdig großen Augen anblicken, und dieser stumme Tadel läßt noch lange Zeit danach das Herz klopfen. Wenn er aber zu einem lauten Verweis den Mund öffnet, dann vergißt man das Wort nicht so schnell. Da hat vor wenigen Tagen der Diener Stadelmann den Auftrag verbummelt, Wischtücher in der Stadt einzukaufen. Und was sagte der Geheime Rat, ohne auch nur die Stimme zu heben? »Ich erinnere dich zum letzten Male; gehst du nicht noch heute, so gehe ich morgen selbst, und du sollst sehen, daß ich Wort halte!« Hm, die Wischtücher! Das Stichwort ist gefallen: Christoph Sutor beginnt das Zimmerlein auszustauben, und er tut's wahrlich mit solch lebhafter Eile, als wenn der Herr Geheime Rat leibhaftig hinter ihm stünde. Ihm fällt ein Begebnis ein, das jüngst geschehen ist und das gerade jetzt zu seinem eiligst angetriebenen Fleiße paßt. Da hatte doch irgendein Dichter einem noch recht jungen Verwandten Goethes ins Tagebuch geschrieben: Der Mensch lebe nur wenige Minuten, er lächle, er seufze und in der letzthalben Minute sterbe er. Die Exzellenz hatte den Satz ein wenig später ärgerlich gelesen und dann mit festen Schriftzügen unter diese dumme Minutenschwätzerei geschrieben: 5
»Ihrer sechzig hat die Stunde, über tausend hat der Tag; Söhnchen, merke dir die Kunde, was man alles leisten mag!« So, die Arbeit ist getan, und Christoph schickt seinen Blick durch das Schlafzimmer: nicht sonderlich viel gibt's da zu überprüfen; ist doch das Ruhekabinett des Geheimen Rats nur ein armselig Schlafstübchen. Dabei passen solch räumliche Kleinheit und spartanische Einfachheit keineswegs für eine Exzellenz, für einen durch kaiserliche Huld geadelten Baron, für einen Staatsminister und — ja nicht zu vergessen —• für den engsten Freund, den ,Herzbruder' des durchlauchtigsten Herzogs. Das Bett zum Beispiel ist ein simples Lager, das aus drei zusammenklappbaren Teilen besteht und das so einfach ist, daß der Doktor es auf seinen Reisen als Koffergepäck mitzunehmen pflegt. Christoph Sutor wird es nie verstehen können, wie ein solch vornehmer Herr so armselig hausen kann; der Doktor ist von Hause aus gar nicht so unvermögend, als weimarischer Staatsminister verdient er wohl an die 3000 Taler im Jahr, und zu all dem kommen dann noch die hohen Einnahmen aus seinen Werken. Drunten geht die Tür: der Doktor kommt vom Bad zurück und pfeift vergnügt vor sich hin. Im kleinen Vorraum des Gartenhauses steht ein Brunnen: er schöpft Wasser und schlürft es voll Behagen. „Höchste Zeit für das Frühstück!" denkt der Diener und eilt hinab. Auf der Stiege trifft Christoph mit dem gnädigen Herrn zusammen; der kräftige Körper steckt in einem rötlichen Morgenrock. Goethe lacht, die Stimme ist stark und morgenfroh: „Wieder einmal umsonst geklopft, Christoph?" „Exzellenz", der Diener faßt sich einen großen Mut, „Exzellenz sollten sich nicht so strapazieren, mit Verlaub zu sagen. Exzellenz sollten sich ein bißchen schonen: vorgestern erst . . ." Goethe unterbricht ihn und schmunzelt. Ihn wärmt die treue Besorgnis: „Vorgestern? Ei, das ist schon lange h e r . . . Gewiß, es war schon ein wenig anstrengend! Gelobe Besserung: werde drei Tage nicht mehr reiten, hab' übrigens auch keine Zeit dafür." Es ist eine Gewohnheit der Exzellenz, manchmal das ,Ich' im Satze wegzulassen. „Und nun, Stoffel, das Frühstück! Das Bad hat mich hungrig gemacht, und »Hunger bleibt das beste Gewürz«." Der Diener möchte noch etwas sagen; aber Goethe ist schon nach oben gegangen. 6
Christoph ist mit dem Doktor gar nicht zufrieden; er knurrt .seinen Kummer in sich hinein, derweilen er zur Küche geht. Einen ,Kraftkerl' nennen viele den Dichter; aber die wenigsten wissen, daß die Exzellenz gar nicht so robust ist, wie es den Anschein erweckt. Viele Krankheiten haben ihm bis heute zu schaffen gemacht: an Lunge, Herz und Nieren hat er gelitten, und Magen und Gedärme quälen ihn häufig. »Es stickt etwas in mir«, hat er einmal gesagt, und ein gewisser Herr Friedrich Schlegel, der Neidische, flüstert es gern anderen ins Ohr: ,Der Kerl wird's nicht lange mehr machen.' Aber der Herr von Goethe schont sich nicht, er steht halt zu seinem Wort — im ,Egmont'ist's zu lesen —, »daß der schon tot ist, der um seiner Sicherheit willen lebt«. Da ist noch ein anderes Wort dieses herrischen Willens: »Es ist unglaublich, wieviel der Geist zur Erhaltung des Körpers v e r m a g . . . der Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben!« Und doch, ein wenig ,Sicherheit' könnte nur von Nutzen sein, denkt der Diener. Was soll eine solch waghalsige Strapaze wie die von vorgestern: Goethe und der Herzog wählten die feurigsten Pferde aus dem Marstall, jagten auf den erbärmlichsten Straßen nach Leipzig und legten die Strecke in knapp acht Stunden zurück. Aber zum Teufel, was braucht man sich groß zu wundern! Ein Mann, der auf der Schweizer Reise mit dem Herzog in die Eisregionen des sturmumwetterten Mont Blanc hinaufkletterte, obwohl die Einheimischen warnend die beiden beschworen, dem mag ein rasender Ritt nach Leipzig nur ein harmloser Spazierritt bedeuten und nicht mehr. Mit heiterem Gesicht läßt sich der Geheime Rat das Frühstück schmecken. Er ist ein starker Esser, wenn es auch böswillig übertrieben ist, was der spöttelnde Romanschreiber Jean Paul einmal einem Freunde geschrieben hat: ,Auch frisset er entsetzlich.' Was weiß der denn von Goethe! Weiß er etwa. daß der Doktor ebensogut entbehren wie genießen kann: Vier, fünf Tage lang kann er sich mit ein wenig Brot und rotem Wein begnügen, und auf seiner Italienfahrt mögen die Handwerksburschen oft besser geschmaust haben als die weltberühmte Exzellenz, die manchmal mit ein paar Trauben Mittag gefeiert hat. Gewiß, die Vorratskammer hier im Gartenhaus wie in der Stadtwohnung am Frauenplan muß stets gerüstet sein: kommen doch fast Tag für Tag Gäste zu Besuch. Der hohe Rang des Ministers, aber auch seine ge7
rühmte Gastfreundschaft verlangen, daß alles zu erlesenen Tafelfreuden überreich bestellt ist. Er selbst kümmert sich darum, und mancher Brief reist durch die Lande, Leckerbissen und Leckertrünke anzufordern: aus Hamburg kommen Schinken und Fische, aus Teltow in der Mark die zarten Rübchen, aus dem Thüringischen Geflügel und über Bremen französische Weine. Den' rhein-mainischen Wein aber schafft Mutter Aja herbei, die immer besorgte Frau Rat in Frankfurt, die ihr ,Wölfchen', ihren ,Hätschelhans', mehr als sich selber liebt. Und kommt ein Päcklein von ihr hergereist, Geräuchertes darin oder Gebäck, dann ist stets Feiertag, und der große Hans — mit Respekt zu sagen — schmaust sich wie ein kleiner Heimwehbub satt. — Das Frühstück ist beendet: der Teller Wassersuppe ist geleert (morgen ist wieder Schokolade an der Reihe) und die Platte mit dem Rührei blank geputzt. Goethe nickt Christoph ein stummes Lob zu, und der nimmt die Anerkennung mit Stolz entgegen. Wenn er auch nur ein kleiner Mann ist, so fällt doch ein Streiflein Glanz auf den, der einem Goethe Tag für Tag in Treue dient. In wenigen Minuten ist der Doktor angekleidet: er trägt einen reichlich abgeschabten Anzug, hat sich eine Schürze vorgebunden und geht in derben Stiefeln. So stapft er vors Haus. Just im gleichen Augenblick — die Turmuhr der Stadtkirche schlägt ein Viertel vor sechs — knarrt das Gartentürchen am Weg vor der Hinwiese. Weder Christoph noch der Geheime Rat brauchen nachzuschauen, wer da kommt. Wer könnte es auch anders sein als Philipp Seidel, der Diener, der die Ordnung in der Stadtwohnung am Frauenplan besorgt! Er ist minutenpünktlich wie sein Herr. Unter allen Domestiken steht er dem Doktor am nächsten, ist wie dieser ein Frankfurter Kind, ist mit Goethe nach Weimar gekommen und hat sich so sehr in das Wesen und das äußere Gehabe seines Herrn eingelebt, daß die Weimarer ihn als die ,Kopie Goethes' bewitzeln. Wenn der Geheime Rat in seiner »Einsiedelei« an der Hm haust, trifft Philipp stets um die gleiche Minute am Gartenhaus ein, genau in dem Augenblick, wenn die Turmuhr fünfdreiviertel schlägt. Philipp Seidel wünscht einen „guten Morgen" und weist mit fast theatralischer Gebärde in die reine Bläue des Himmels; 8
„Die Turmuhr der Stadtkirche schlägt ein Viertel vor sechs — da knarrt das Gartentürchen am Weg vor der Hinwiese . . ."
er tut das so großartig, als habe er und kein anderer das Firmament für den Doktor so blau getönt und darunter die heitere Welt dieses Morgens gezaubert. Goethe gibt den Gruß zurück, und dann atmet er mehrmals tief und lang, daß die breite Brust sich wölbt. Natürlich tut Seidel das gleiche; kennt er doch das Wort seines Meisters, daß »Kräfte ganz besonders in der Atmosphäre« liegen und daß »die frische Luft der eigentliche Ort ist, wo wir hingehören«. Goethe geht langsamen Schrittes in den Garten hinein, und die brave Kopie stapft würdig neben ihm her. Der Doktor in der karierten Gartenschürze, den Spargelheber in der Rechten, sieht wahrlich nicht wie ein weimarischer Minister aus: Man könnte ihn für einen Bediensteten halten. Wie gesagt, man könnte es . . . wenn nicht dieses Gesicht wäre, dieser Kopf, dessen Anblick keiner vergißt. Seine Gegner, Neidlinge und Gekränkte (oh, er kann manchmal hart mit anmaßenden Leutchen umspringen!) lieben es, ihn einen ,hochmütig Hinaufgestiegenen' zu nennen, dessen Großvater noch Schnapsbouteillen verkauft habe. Aber die anderen, die Freunde, die wohl ein prüfendes, aber von Ehrfurcht erfülltes Auge vor seiner Größe haben, sprechen an9
ders. Da ist Herr von Schiller, der es beinahe wagen darf, die eigene dichterische Kraft mit der des Herrn von Goethe zu messen, und dieser Schiller sagt: ,Gewiß, Goethe trägt sich steif, er geht auch so, sein Gesicht ist — oft verschlossen; aber sein Auge ist sehr eindrucksvoll, und man hängt mit Vergnügen an seinem Blick...' und ,Ich kann mich von dem Zauber, den seine Persönlichkeit ausübt, nicht frei machen!' — So sagt der geniale Freund, so ähnlich sprechen andere; jedoch das knappe Wort des Poeten Grillparzer aus Österreich mag das schönste sein, das je einer von dem berühmten Mann gesagt hat: er sieht ,halb wie ein König' aus und ,halb wie ein Vater'. In diesem Augenblick aber ist er nur ein stiller, versonnener Gärtner und sonst nichts, einer, der beglückt über seine eigene Erde geht. Der Herzog hat ihm damals — kurz nach seiner Ankunft in Weimar — das Gartenhaus für 600 Taler gekauft. Verwahrlost stand das Häuslein (»übermütig sieht's nicht aus«), und eine »Wildnis« war der Garten. Gleich die erste Nacht hat er hier geschlafen: »Es ist eine herrliche Empfindung da außen im Feld allein zu sitzen« und kurz darauf: »Nachts halb eilf; der Mondschein war so göttlich; ich lief noch ins Wasser«, zur Um hinab, um zu baden. — Das ist lange h e r . . . Haus und Garten haben sich längst verwandelt: mit eigener Hand hat er sich ans Werk begeben, schmuck schaut jetzt »die wohnlich gewordene Einsiedelei« drein, und der Garten ist nicht wiederzuerkennen. Aus mancherlei Beschwer, die der Garten dem Dichter bereitet hat, ist ihm ein neues Lebensgefühl erblüht: hier sind »Kopf und Arm mit heiteren Kräften zu Hause«, hier »erweitert sich — immer stärker — ein enges Dasein zur Ewigkeit«, durch seinen Garten geht er »ohne Säumen, die Seele voll Ernteträumen, und sät und hofft«. Aber mehr noch, viel mehr: sein Schaffen in und mit der Natur zwingt ihn wohl zum ersten Mal, »in Folge zu arbeiten«: zu betrachten, zu beobachten, nachzudenken, zu erkennen, zu urteilen. Und wenn die Welt nicht nur den genialischen Dichter preist, sondern auch den großen Naturforscher verehrt: so mag der stumme Garten nicht zuletzt beglückende Schuld daran tragen. Was hier an Baum, Strauch und Blume wächst, hat der Doktor gepflegt, und alles ist prächtig gediehen dort. Die Weymutskiefer hat die Goethemutter aus Frankfurt geschickt. Wie groß und stark ist sie mittlerweile geworden! Eichen, Buchen, virginische Zedern, Fichten, Rosen, Geißblatt, Jasmin, Kaiser ~ 10
I
krönen, Malven; und dort drüben der Nutzgarten, der Jahr für J a h r vorzügliches Obst und Gemüse schenkt, vor allem aber Erdbeeren und Spargel. Wie haben sie damals, 1775 und noch später, die Nasen gerümpft, die Damen und Herren des Fürstenhofes, als sie den so hochgestellten Freund des Herzogs gärtnern sahen! War auch ein gar zu lächerliches Bild: ein Wirklicher Geheimer Rat, Staatsminister und Baron, im schäbigen Arbeitsrock unter frisch gesetzten Bäumlein, armseligen Stangen gleich! Aber der Gärtner kümmerte sich nicht um das Geflüster, Spötteln und heimliche Gelächter; er schaffte unverdrossen weiter. Die feinen Herrschaften ahnten ja nicht, wie er über sie dachte: »Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden.« S i e wirken für die Gegenwart, e r aber wirkt in der Gegenwart für die Zukunft: »Schaff das Tagwerk meiner Hände, hohes Glück, daß ich's vollende! haß, o laß mich nicht ermatten! Nein, es sind nicht leere Träume: Jetzt nur Stangen diese Bäume geben einst noch Frucht und Schatten.« — Es ist eine fröhliche halbe Stunde, in welcher der Doktor und die ,Goethekopie' in den Beeten arbeiten: die Exzellenz sticht mit geübter Hand die zarten Spargelsprossen, der Diener geht hinter dem gnädigen Herrn her und glättet mit einem Brettchen die aufgewühlten Sandhügel wieder fest. Derweilen reden die zwei in ihrer Frankfurter Mundart, und es geht dabei lustig zu. Diesmal ist der große ,Hätschelhans' wieder einmal ganz seiner lebensheiteren Mutter rechter Sohn. Ja, die Frau Aja! Gestern hat die Herzogin Anna Amalie von Weimar wieder einmal einen Brief von ihrer Herzensfreundin, der Rätin aus Frankfurt, erhalten. Goethe hat das Schreiben gelesen und sich herzlich gefreut. Steht doch darin wörtlich geschrieben: ,Ihre Durchlaucht können ersehen, daß Frau Aja immer noch Frau Aja ist, ihren guten Humor beybehält und alles thut, um bey bester Laune zu bleiben.' In bester Laune ist auch der Herr Geheime Rat, und als das Geplauder auf den vorgestrigen Ritt nach Leipzig kommt und auch Philipp 11
— wie Christoph Sutör kurz zuvor — die Waghalsigkeit seines ! geliebten Herrn rügen will, ruft ihm der Dichter lachend ein Sprüchlein zu, das die ,Goethekopie' unverzüglich dem Gedächtnis einverleibt: »haßt mich nur in meinem Sattel gelten! Bleibt in euren Hütten, euren Zelten! Und ich reite froh in alle Ferne, über meiner Mütze nur die Sterne!« „Süperb!" klingt es plötzlich von der Gartenhecke her. „Welch eine geniale Lebensbejahung in der Tristheit unserer Zeit!" und dann: „Den schönsten ,guten Morgen' der verehrten Exzellenz!" Goethe hat wirklich einen Schreck bekommen, er fühlt sich ertappt; er liebt es nämlich nicht, vor den Fremden seines Herzens ohne die schützende, abwehrende Wand einer kühlen Haltung zu stehen, die seine Gegner ; ,Stolz' und .Hochmut', ja sogar ,Selbstvergötzung' nennen. . Er murmelt einen Gruß zurück und streift mit abweisendem Blick den unerwünschten Lauscher an der Hecke, beherrscht sich aber und hebelt weiter die Spargel aus der Erde. Er zwingt sich, an etwas Fernes zu denken, an irgend etwas, das ihm gerade einfällt. Seine ,Kopie' jedoch, der Philipp Seidel, denkt etwas Grobes, das man jetzt nicht gut aussprechen kann, obgleich es doch in dem weltberühmten Jugenddrama seines Herrn, im ,Götz' steht; nein, das darf man nicht über die Lippen schmettern; denn der Gast an der Grenze des Goetheschen Gartens ist der Herzoglich-Weimarische Polizeirat Theophil Blomm. Ein unangenehmer Patron, dieses schmale Männlein mit der Goldbrille, einer, der in seinem Leben noch nie aus ehrlichem Herzen gelacht hat. Er ist ein Schnüffler, bei- > leibe nicht von Berufs wegen; vielmehr aus kleinlicher und . boshafter Gesinnung, und was er erspäht und spioniert, das flüstert er in seinem kleinbürgerlichen Kreise weiter. Es wäre ein leichtes für den mächtigen Minister, das falsche 1 Kerlchen zu vernichten. Aber der Gedanke liegt Goethe fern; . denn seine Gegner zu hassen oder sie gar zu schädigen, hat \ er längst verlernt. Denn »der Haß gleicht einer Krankheit, J dem Misere, wo man vorne herausgibt, was eigentlich hinten | weggehen sollte«. Die Existenz der vielen, fast immer neidi12
sehen Gegner, die ihm zu schaden sich bemühen, betrachtet er »als ein notwendiges und zwar günstiges Ingredienz zu der seinigen«. Nun, dieser Herr Polizeirat ist ein zu geringes Ingredienz! Um den lästigen Lauscher loszuwerden, bleibt Goethe schon nichts anderes übrig, als mit ihm jene Art von Gesprächen zu führen, die in ihrer Einsilbigkeit weithin bekannt sind. „Welch herrlicher Morgen, Exzellenz!" — „Hm", gibt Goethe zurück und arbeitet weiter. — „Auch den verehrten Herrn Hofprediger Herder sah ich heute schon so zeitig auf den Beinen. Er scheint das Frühaufstehen zu estimieren wie der Herr Minister." — „Hm", die Exzellenz betrachtet aufmerksam, eine Spargelsprosse und prüft sie auf ihre Zartheit. — „Jedwedem Weimarer bereitet es Kummer, daß dieser hochbegabte Mann sich von Eurer Exzellenz abgewendet hat." — „Hm." —• „Am meisten bedauere i c h dieses Verhalten, da ich ein Bewunderer der Poesien Eurer Exzellenz bin. Aber der Neid, dieser häßliche N e i d . . . " Theophil Blomm will weiterreden, will seinen boshaften Klatsch anbringen und Klatsch erfahren; aber da unterbricht ihn ein bedrohlich lautes „hm, hm", dem auch noch das spitze „Hm" des Dieners folgt. Goethe richtet sich empor: „Bedauere, hab' keine Zeit mehr, mich weiter zu unterhalten! Und nun: adieu, Herr Rat!" Dem Mann verschlägt's den Atem, es lähmt ihm schier die Beine, und weil er nun wie angewurzelt am gleichen Platz verbleibt, muß er auch noch hören, was dieser grobianische Goethe soeben zu seinem Diener sagt: »Ich wollte mich doch lieber aufhängen, als ewig zu negieren, ewig in der Opposition sein, ewig schußfertig auf die Mängel und Gebrechen meiner Mitlebenden, Nächstlebenden lauern!« Da schlurft Theophil Blomm davon. Goethe lächelt: »Als ein wahrer Esel frißt er die Disteln, die um anderer Leut' Garten wachsen, nagt an der Hecke und schreit sein kritisches ,I-a', als ob er bedeuten möchte: Ich bin auch da!« Philipp Seidel lacht übers breite Gesicht. Aber dann wird er plötzlich ernst; denn der Ausdruck der Trauer verschließt mit einemmal Goethes Antlitz: Ja, auch Herder, der ewig Unzufriedene, ist sein Gegner geworden. Er, der Freund und Führer in den Lernjahren seiner Studentenzeit in Straßburg, hat sich in die Schar der Neidgesellen eingereiht. Das tut weh; denn Goethe hat ihn sehr geliebt und hat es erreicht, daß der Fürst Herrn Herder die 13
reich dotierte Stelle in Weimar übertrug, wo der Freund aller Sorgen ledig ist. Zum Wesen des goetheschen Herzens aber gehört die Dankbarkeit: »Undank ist immer eine Art von Schwäche«, hat er einmal gesagt; »ich habe noch nie gesehen, daß tüchtige Menschen undankbar gewesen sind.« Er kann auch heute noch nicht von dem verlorenen Freunde lassen. Deshalb wehrt er sich gegen den bohrenden Schmerz, und es dauert noch ein Weilchen, bis er wieder seine Gefühle in der Gewalt hat. Er schaut in das Geäst eines Baumes, in die Verschwisterung der heiter sich wiegenden Zweige und sagt sehr ruhig zu Philipp, der ihn aufmerksam betrachtet: »Kindlein, liebt Euch; und wenn das nicht gehen will, laßt wenigstens einander gelten!« Frau Christiane M ittlerweile ist man auch in der Stadtwohnung des Sachsen-Weimarischen Wirklichen Geheimbden Rats und Staatsministers Freiherrn von Goethe recht geschäftig. Frau Christiane hat heute ein wenig länger schlafen können; aber nun macht sie das durch lebhaften Eifer wett. Ihr herzlieber J o hann Wolfgang ist in diesen Augenblicken auf dem Wege vom Gartenhaus zu seiner Wohnung am Frauenplan; pünktlich, wie er nun einmal ist, wird er in einer Viertelstunde — mit dem Glockenschlag — die Stufen des Hauses betreten. Sie hat den Diener Läffner zu sich gerufen. Da sie Goethe seit gestern mittag nicht mehr gesehen hat, ist sie neugierig zu erfahren, welche Anordnungen er für den heutigen Tag erteilt hat. Läffner ist gestern abend im Gartenhaus gewesen und weiß Bescheid. Kein Tag vergeht, dessen Ablauf nicht genau geregelt ist. Vom Vater, dem ernsten Doktor der Rechtswissenschaften, dem würdevollen Kaiserlichen Rat der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, hat er »des Lebens ernstes Führen« geerbt, und von Jahr zu Jahr steigert sich diese väterliche Mitgift. Frau Christiane hat sich an die oft pedantisch wirkende Genauigkeit gewöhnt, wenn sie sich auch nicht immer wohl dabei fühlt. Gestern, um nur ein Exempel zu nennen, hat er •— ohne ein Wort dabei zu sprechen — einen der Ausgabezettel, die ihm zur Nachprüfung vorgelegt werden müssen und der nicht sorgfältig genug mit der Schere beschnitten war, der 14
Köchin zurückgegeben. Da stimmt es schon, was ein so aufmerksamer Herr wie der Kanzler von Müller einmal gesagt hat: .Jeder schriftliche Erlaß, das kleinste Einladungsbillett, muß auf das reinlichste . . . geschrieben und gefaltet sein: alles Unsymmetrische, der geringste Fleck oder falsche Strich war ihm unausstehlich.' Kein Wunder, daß er die »liederliche Genialität« so vieler Künstler nicht ausstehen kann: »Vergebens werden ungebund'ne Geister / nach der Vollendung reiner Höhe streben; / wer Großes will, muß sich zusammenraffen . . ., / und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.« Diese Ordnung, die er sich gesetzt hat, ist ein ,wohltuendes symbolisches Bild von der feinen Ordnung und lichten Schönheit seines inneren geistigen Lebens', wird Eckermann einmal bekennen. Das Gesetz der inneren und äußeren Ordnung bestimmt das Forschen, Streben, Lernen und Schaffen des Dichters, des Wissenschaftlers und des Staatsmannes. Aber was er von sich selber fordert, verlangt er auch von seiner Umgebung. »Den Leuten wird erst lieb, was sie treiben, wenn sie . . . stets in gespannter Aufmerksamkeit auch auf das Kleinste blicken.« Und doch ist er nicht kleinlich? »Ich suche«, sagt er öfters, »jeden Untergebenen frei im gemessenen Kreise sich bewegen zu lassen, damit er auch fühle, daß er ein Mensch sei. Es kommt alles auf den Geist an, den man einem öffentlichen Wesen einhaucht.« Der Diener trägt Frau Christiane den Tagesplan vor, er nennt die Besucher, die heute empfangen werden: Beamte, Künstler, Wissenschaftler werden zwischen 8V2 und 11 Uhr bei der Exzellenz vorsprechen und jedem Gast ist die Zeit minutengenau zugemessen . . . „Ach", denkt Christiane enttäuscht resigniert, „für mich hat er heute morgen wieder einmal keine ,Äugelchen'!" Sie hört nicht mehr aufmerksam zu, was der Diener noch zu sagen hat: . . . zwischen 11 und 12 Uhr Studium und Einordnung der gestern übersandten Steine in die mineralogische Sammlung, um 12 Uhr Empfang der Bibliothekare der Jenaischen Universitätsbücherei, die sich wegen eines Raumes mit den Professoren der medizinischen Fakultät in den Haaren liegen, um 1 Uhr und so geht es fort bis 6 Uhr am Abend. Einmal nur soll die Arbeit unterbrochen werden: um 2 Uhr ist Mittagstisch, danach der tägliche Spaziergang durch das Gärtlein hinter dem Hause. Frau Christiane steht am Fenster und schaut mit abwesendem Blick auf den Frauenplan hinab; der Diener hat sich verneigt und ist gegangen. Wiederum wird Goethe tagsüber kaum 15
Zeit für sie haben. Auf manches Glück muß sie verzichten, das ist ihr Schicksal. Das seine ist es, die an ihn gestellte »Forderung des Tages . . . die Pflicht«, zu erfüllen; ihm ist »jeder Augenblick von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit«. Auf der Schattenseite des Frauenplans eilt soeben die Wielandin vorbei, Frau Dorothea Wieland, deren Ehe mit dem gefeierten Dichter des ,Oberon' der ihren gleicht: Dorotheechen liebt ihren Wieland, und er erwidert ihre Liebe; aber auch diese zwei sind ein ungleiches Gespann: ungleich in Bildung, ungleich in ihrer Schau auf die Werte des Lebens. Nur die Neigung der Herzen bindet sie; dennoch wagt die Wielandin es nicht, ihren Mann mit ,Du' anzureden, so gewaltig ist ihr Respekt vor dem berühmten Gatten. Die „liebe kleine Köchin" Nun ist Frau Christiane keine von denen, die allzu lange kopfhängerisch sein können: ihr Wesen ist nämlich recht hell und heiter, und so ist es ihr halt nicht gegeben, einen solch schönen Morgen mit trübem Sinnieren und Grübeln zu vergeuden. Im übrigen ist es auch gar nicht recht, mit ihrem lieben Johann Wolf gang zu schmollen; denn es kann doch schon dann und wann einmal geschehen, daß er ihr einen langen Nachmittag und Abend schenkt, Stunden, die nur ihm und ihr gehören. Wie vergnügt kann er dann sein, und manchmal ein leidenschaftlich Liebender. Gewiß, er erzählt ihr nur wenig von seinem Schaffen, er wird schon wissen, warum er es nicht tut. »Das Reich des Geistes hat kein Dasein für sie, für die Haushaltung ist sie geschaffen, hier überhebt sie mich aller Sorgen, hier lebt und webt sie, es ist ihr Königreich.« Wenn er sie dann und wann seine »liebe kleine Köchin« nennt, hat er im Grunde schon recht. Und doch steht sie seinem Herzen 16
ganz nahe; wie wären sonst seine zärtlichen Aufmerksamkeiten möglich! Von seinen vielen Reisen kehrt er nie ohne ein hübsches Geschenk zurück: »ein Endchen Spitze« oder »Seife«, »eine silberne Tee- und. Milchkanne, zu der ich zufälligerweise ohne sonderliche Kosten gekommen bin«, »ein recht zierliches Unterröckchen und einen' großen Shawl nach der neuesten Mode«, »ein Hütchen und ein Kleid« oder »goldene Schnuren«. Und seine Briefe an sie? Er schreibt zwar nur selten aus der Ferne von dem, was seinen Geist tagsüber beschäftigt hat, aber er — der nicht lügen kann — bekennt ihr immer wieder seine Liebe: »Mit Freuden . . . werde ich dich wieder an mein Herz drücken und dir sagen, daß ich dich immerfort und immer mehr liebe«, »behalt' mich lieb wie ich dich«. Oder das ergreifend tröstliche Geständnis, nachdem sie ihm geschrieben, wie sehr man sie wieder in den höheren Kreisen schmähe: »Wir wollen in unserer Liebe verharren ..., ohne uns um andere zu bekümmern.« Nein, sie wird auch heute nicht mit ihm schmollen, sondern nur daran denken, wie sie dem Geplagten, der ,nur von der Mühe lebt', dienen kann als ein ,liebes, herrliches, unverdorbenes Gottesgeschöpf', wie Frau Aja von ihr gesagt hat. Christiane wird auch heute wie immer und bis an ihr Ende die gleiche demütige Magdtreue zeigen, die sie einmal in den Briefworten an ihn ausgesprochen hat: ,Es wird fieleicht mit dem arbeyden Hier beser gehn als sonst — Du kanns hier wie in Jena in bete (im Bette) dickdiren und ich will des Morchens nicht ehr zu Dir komm bis Du mich verlangst. .. kom nur balt.' Und Frau Christiane ist jetzt wieder ganz vergnügt, und mit der Wielandin will sie gar nicht verglichen werden; mag Dorotheechen auch noch so glücklich sein und sich wunders was einbilden, daß sie an der Seite des großen Herrn Wieland stehen darf: Christiane steht noch viel höher, ja, wenn man es recht überlegt, ist sie noch weit über die meisten Madames des Hofadels gestellt worden . . . Hei, wie das Wischtuch bei diesem Gedanken über die Möbel fliegt! Es stehen kostbare Gegenstände in den herrlichen Räumen der Stadtwohnung, die nur sie und keiner der Diener pflegen darf. Christiane fühlt, wie der Stolz in ihrem Herzen höher wallt, sie spürt, wie wibblig ihre Füßchen werden: sie tanzt ja so gerne, und schon manch zierliches Schuhchen hat sie auf den Bällen durchgeschliffen. Und hübsch ist sie noch immer, schön, wie der Geliebte sie in der vierten 17 ^ ^ B ^ ^ B H M ^ ^ H H H I ^ ^ ^ ^ I i ^ ^ l ^
»Römischen Elegie« gezeichnet hat: »ein bräunliches Mädchen, die Haare fielen ihr dunkel und reich über die Stirne herab / kurze Locken ringelten sich ums zierliche Hälschen, / ungeflochtenes Haar krauste vom Scheitel sich auf.« Ja, hübsch wie damals, als sie sich das erstemal sahen, als der Herr Staatsminister eine Bittschrift entgegennahm, welche die dreiundzwanzigjährige Christiane Vulpius für ihren Bruder, den Verfasser des Räuberromans ,Rinaldo Rinaldini', im Park überreichte. Wie hatte das Herzlein der kleinen Arbeiterin aus ,Bertuchs Blumenfabrik' gezittert, als sie vor dem gefürchteten Manne knickste und stotternd zu ihm sprach! Ihre Kindlichkeit hatte den Geheimen Rat entzückt und bewogen, sie zu erwählen.
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Während Frau Christiane eine Vitrine abstaubt — grimmig fährt jetzt das Wischtuch über das Holz —, da tauchen vor ihr alle die Mädchen und feinen Fräulein auf, die Johann Wolfgang bisher geliebt hat. Da war die kindlich-schlichte Friederike Brion aus dem elsässischen Sesenheim, von der es heißt, sie habe Anno 1770 den Jüngling, den Straßburger Studenten, zum Dichter gemacht. Aber das Sesenheimer Idyll hat tragisch geendet. Als Advokat in Wetzlar lernte Goethe auf einem ländlichen Ball bei Wetzlar Charlotte Buff kennen . . .: »so f viele Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit.« Weder auf Friederike noch auf Lotte ist Frau Christiane eifersüchtig; aber die Lili Schönemann, das damals 17jährige Töchterchen des reichen Bankiers Schönemann in Frankfurt, die mag die Vulpius gar nicht ausstehen; denn nicht allzu lange nach der Wetzlarer Bekanntschaft verlobte er sich mit ihr: in ihm war »ein unbezwinglich Verlangen herrschend geworden«. Madame Christiane atmet ein wenig schwerer, wie sie sich diese »Anziehungskraft von der sanftesten Art« vorstellt: ganz dumpf fühlt sie, daß Lili unter all den Geliebten vielleicht die einzige gewesen wäre, deren Charakter und Geist ganz zu dem Wesen des genialischen Mannes gepaßt hätte. — Nein, vielleicht doch nicht die ein- I zige? Vor Christiane steigt jäh das Bild einer anderen Frau empor, über deren Verhältnis zu Goethe einmal ganz Weimar sprach . . . Sie geht zum Fenster, ihr Blick forscht zum Frauenplan hinab, ob Wolfgang noch nicht komme. Er wird doch nicht 18
wieder . . .! Ach was!, nun lacht sie über sich selbst: und wenn er auch hundertmal an „ihrem" Haus vorbeigeht, weil es doch ganz in der Nähe der »Einsiedelei« an der Hm liegt: mit jener Dame ist es aus, endgültig aus, und die braucht Christiane nicht mehr zu fürchten! Diese Dame ist die vornehme Charlotte von Stein, die Gattin des Herrn Oberstallmeisters Josias von Stein. Niemals wird Christiane verstehen, was ihren Wolfgang — schon bald nach seinem Einzug in Weimar —• zehn Jahre lang an diese Frau gefesselt hat. Dreiunddreißig Jahre ist die Stein alt, als Goethe ihr begegnet, sieben Jahre jünger ist er. Schwarz sind ihre Haare, schwarz ihre großen Augen, und die Haut ist südländisch getönt. Ist sie schön? Die Meinungen der Weimarer gehen auseinander, die meisten sagen ,nein'! Wolf gang aber liebt doch so sehr die Schönheit. Hier ist ein Rätsel, in das dämonische Züge sich mischen, ein Rätsel, das Christiane niemals lösen wird. Wie ist es nur möglich, daß einer so wunderliche Worte auf diese Frau schreiben konnte: »Ach, du warst in abgelebten Zeiten / meine Schwester oder meine Frau.« In abgelebten Zeiten: heißt das nicht: in einem Dasein, das weit, weit zurückliegt?! Man sprach viel Böswilliges von diesem Verhältnis, man lästerte und höhnte; doch niemand wußte Genaues, und das ärgerte die Neugier der Bürger und kränkte die vornehmen Leute. Was man erfuhr, war eigentlich recht wenig: er schickte ihr Erdbeeren, Spargel und Blumen aus seinem Garten, er las mit ihr Spinoza und studierte die Gesetze der Botanik und — so wollten einige wissen — besang sie in leidenschaftlichen Gedichten. Die Stein lächelte zu allem Gerede, das sich wie ein engmaschiges Netz um sie schnürte, und — merkwürdig! — auch der Herr Oberstallmeister lachte und winkte ab, wenn einer ihm ins Ohr tuscheln wollte. Was aber keiner in Weimar ahnte, war dieses: unter Charlottens Einfluß, unter ihrer beseligenden Sanftmut und hohen Festigkeit wurde der Jüngling zum Mann; er war glücklich und litt dennoch, und Glück und Qual wurden in jener zehnjährigen »froh' und trüben Zeit« zu schlackenlosen Gedichten. »Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz: Alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.« 19
Dann aber, als Goethe aus Weimar floh, kam der Bruch in | diese rätselhafte Liebe. Er nahm keinen Abschied von Frau I Charlotte, als er 1786 nach Italien reiste. Gewiß, er schrieb i h r * noch mehrere Male von seiner Reise, aber die Trennung war i unwiderruflich geschehen, Charlotte sprach es selber in letzter f Erschütterung aus: ,Goethe hat mich auf völlig fremdem Fuß f verlassen.' Nicht alles, was hier gesagt wird, überdenkt Frau Christiane; sie empfindet nur das eine: sie, die kleine Blumenbinderin, hat die große Dame besiegt. Sie weiß nicht, daß Goethe kaum ein Jahr nach der Trennung an Charlotte die Worte schreibt: »Eine Liebe hatt' ich, sie war mir lieber als alles! / Aber ich hab' sie nicht mehr! Schweig' und ertrag' den Verlust!« Nie wird die einstige Blumenbinderin erfahren, daß der geliebte Mann, der ihr doch Tag um Tag seine zärtliche Zuneigung gibt und bis zu ihrem Tode (1816) schenken wird, im letzten Abgrund seiner Seele ein Einsamer ist. Er schweigt und ist I gütig zu ihr, und da sie auch jetzt wieder einmal an die vernichtende Niederlage der adligen Dame glaubt, ist ihr Herz bis an den Rand mit Glück gefüllt: Tränen verschleiern ihren I Blick. So sieht sie nicht, daß Johann Wolfgang soeben den Frauenplan betritt. Die kleine Uhr auf der Konsole schlägt die achte Stunde am Morgen. Ein Reich des Geistes G oethe bringt ihr Rosen aus seinem Garten mit, er weiß, wie sehr seine Christiane, die doch jahrelang Blumen und Blüten aus Stoff, Papier und Wachs anfertigen mußte, die > wirklich Blumen liebt. Er küßt sie auf die Stirn. Die Frische des hellen Morgens schimmert auf seinem Gesicht. Eben waren seine Bewegungen noch gravitätisch, fast steif, seine Augen abweisend, als er durch die Straßen ging: jetzt aber ist seine Haltung gelockert, und die Blicke strahlen fröhlich. Unter den Leuten auf der Straße, die ihn doch nur anstarren, die sich so oft in seine Nähe drängen, um ein Wort zu erhaschen, mit dem sie rühmen und prahlen können, wirkt er wie gepanzert. Es muß sein; denn »wie hätte er aber auch, ohne sich selbst zu vernichten, all den unsäglichen, oft unsinnigen Anforderungen und Zumutungen genügen können, die . . . auf 20
ihn eindrangen«! Ja, Zumutungen! oder ist es etwas anderes, als wenn oft »wildfremde Personen in den wunderlichsten Fällen, z. B. um eine Heirat, die Wahl eines Lebensberufes, eine Kollekte, einen Hausbau, zustande zu bringen«, sich an ihn hängten! Wenn er aber bei seiner Christel oder unter guten Freunden weilt, wenn er »bei sich zu Hause« und nicht »im Dienste der großen Lebensaufgabe« steht, dann umgibt ihn »reine Ruh' und Sicherheit«, und nicht nötig ist es, »die Zugbrücken aufzuziehen und die Fortifikationen hinauszuschieben«, die ihn sonst vor Neugier und Dreistigkeit schützen sollen. — Alles, was sich seit gestern nachmittag zugetragen hat, muß Christiane ihm berichten, und da sie gerne plaudert, tut sie es ausgiebig. Zwölf Besucher haben sich für die nächsten Tage angemeldet. Philipp hat die Namen aufgeschrieben; auch sind zwei Päckchen abgegeben worden; weiter: Ihre Durchlaucht die Fürstinmutter Anna Amalie hat ein Einladungsbillett zum Tee überbringen lassen, und — damit Frau Christiane es ja nicht
Der herzogliche Freund hat dem Dichter das große G e b ä u d e geschenkt. . .
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vergißt! — die Köchin hat sich wieder einmal ganz impertinent betragen, und es ist nun an der Zeit, sie zu entlassen. „Hat sich diePerson denn wirklich nicht gebessert?" brummt der Geheime Rat; er mag keine frechen Insubordinationen ausstehen, und die Köchin ist wirklich seit zwei Jahren »eine der boshaftesten und inkorrigibelsten Personen«, die je im Hause waren Wie sie ihre Klage über die ungebärdige Köchin vorgebracht hat, tut es ihr auch schon leid, ihren Wolfgang damit behelligt zu haben. Er sieht ihr an, was sie denkt und er schließt das unerfreuliche Kapitel kurz und bündig ab: „Bessert sich die Köchin nicht und wird sie noch einen einzigen Grund zur Klage geben, so soll sie den Laufpaß kriegen: in meinem Hauswesen soll Frieden wohnen, und »was nicht zusammen geht, das soll sich meiden«!" Das Gespräch der beiden hat unten an der Eingangspforte stattgefunden; Christiane war dem Geheimen Rat entgegengeeilt. Nun gehen sie die Stiegen hinauf. Welch eine Wohnung, über die sie als Besorgerin gestellt ist! Sie wird es nimmer wagen, von ,ihrem' Haus zu sprechen: es ist s e i n Reich, s e i n Geist hat es eingerichtet. Es ist ohne jenen Prunk, der um der eigenen Eitelkeit willen auf andere wirken soll; es ist nur wie ein strahlendes, körperlich-gewordenes Abbild seines großen Daseins. Der herzogliche Freund hat ihm das große Gebäude geschenkt, und Goethe hat es gestaltet, »ohne ein Haar breit von dem Wesen nachzugeben, was mich innerlich erhält und glücklich macht«. Sein Wesen aber ist auf den höchsten Gipfel der Menschheit gestellt, von dem er J a h r hunderte überblickt. Wie könnte es nun anders sein, als daß auch sein Haus im Atem der Jahrhunderte lebt! Das Treppenhaus, das breit und langsam ansteigt, macht jede Lautheit stumm. Nachbildungen antiker Kunstwerke, die wohlverteilt stehen, fordern die Sammlung der Gedanken: der ,Betende Knabe', der ,Bocktragende Faun', ein .Windspiel', weiter oben die Büsten des ,Ares Borghese', des ,Apoll von Belvedere', die Gruppe ,Schlaf und Tod'. Christiane, die Rosen in der Linken, das Staubtuch in der Rechten, wischt im Vorübergehen dem hübschen Apoll einen Staubfleck von der Nase. Goethe sieht es und lächelt in sich hinein. Aber er unterbricht dabei seine Gedanken nicht: täglich wird ihm der Anblick der Plastiken und der Kartons — 22
sie zeigen Figuren des Parthenon-Tempelgiebels — aufs neue geschenkt; aber es ist nicht die oberflächliche Freude des Besitzers, die ihn erfüllt, es ist auch nicht das frohe Aufwallen der Erinnerung an den römisch-griechischen Süden, es ist vielmehr das unaufhörliche Studium des Geistes und der Schönheit, die sich in vollendeter Form offenbaren, und ist wie das tägliche Neuentdecken eines seelischen Bereiches, in dem »die Gestalt dieser Welt vergeht«, in dem »die hohen Kunstwerke zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden sind, Gesetze, in denen alles Wirkliche, Eingebildete zusammenfällt«. An der Tür zum ,Gelben Saal', vor welcher das einladende Wort ,Salve' eingelegt ist, verläßt Frau Christiane den Geheimen Rat. Die Pendule schlägt soeben 8V2 Uhr, als er den Raum betritt, der bei festlichen Gelegenheiten als Speisesaal' dient. Auch dieses Zimmer ist mit Kostbarkeiten geschmückt. Gleich am Anfang stehen die Kolossalköpfe des Antinous und des Jupiter. An der Wand hängen kolorierte Kupferstiche und Fresken Raffaels und eine ölkopie der ,Himmlischen Liebe', die Tizian gemalt hat. So ist fast jeder der vielen Räume am Großen Frauenplan mit erlesenen Schätzen gefüllt, mit Statuen, Plaketten und Bildern, aber auch mit Schränken, die Goethes wissenschaftliche Sammlungen bewahren. Einer der drei Beamten, die pünktlich zur Audienz erschienen und vor wenigen Minuten von einem livrierten Diener ins Juno-Zimmer, das als Empfangsraum dient, geleitet worden sind, hat beim Anblick der zahllosen Schätze an ein ,Museum' denken müssen; aber der Mann weiß es nicht besser. Goethes Haus ist kein kaltes Museum: es ist die lebendige Hochschule des Geistes; die ,Lehrer', die hier wirken, sind für viele Besucher stumm, und das ist gut so: »Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Es kommt nur darauf an, die Gegenstände ruhig einwirken zu lassen, dann werden sie sprechen. Nur so wachse ich von innen heraus«, denn »alles Große bildet«. Aber dieses vermeintliche ,Museum' hat noch eine andere, eine ganz persönliche Aufgabe zu erfüllen: hier allein ist das private Gehäus, »wo ich einen Kreis um mich ziehen kann, in welchen außer Lieb' und Freundschaft, Kunst und Wissenschaft nichts herein kann«. — 23
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„Es gibt nichts Unbedeutendes in der W e l t " %
JDeim Eintritt der Exzellenz erheben sich die Herren und verneigen sich. Goethe begrüßt sie herzlich und läßt sie wieder Platz nehmen. Es sind leitende Beamte des Sachsen-Weimanschen Bergwerks in Ilmenau, dessen Direktor er ist. Sie berichten ihm über den Fortgang der Arbeiten, über die schwankende Förderung, zu ihrem Bedauern aber auch über große Ausgaben und geringe Gewinne. Sie nennen Zahlen, Zahlen, Zahlen. Goethe schaut derweilen unverwandt auf die Bronzefigur des Moses von Michelangelo, und während er aufmerksam die zum Zornausbruch gesammelte Haltung des biblischen Gottesmannes studiert, horcht er dennoch mit geschärftem Ohr auf die Stimme des referierenden Bergrats. Zahlen, Zahlen . . . und keine entgeht ihm. Sein Auge ruht fast bewegungslos auf dem kraftgeballten Moses, und doch vergleicht er den Bericht des Beamten mit jenem, den ihm die Herren vor genau einem Monat abgegeben haben. „Die Förderung ist also je Mann und Tag unter einen Scheffel gesunken", sagt er und zieht nun den Blick von der kostbaren Bronze ab. Jetzt spricht der zweite Referent, der Obersteiger, und legt dar, wie seiner Ansicht nach die Förderung gesteigert werden könne. Die Exzellenz schaut ihn unverwandt an, und der Beamte gerät unter dem prüfenden Blick in leichte Erregung. Der Bergrat jedoch ist nicht mehr ganz bei der Sache: es zwingt ihn einfach, darüber nachzudenken, wie einer, der doch nicht von der Picke auf gedient hat (und zu alledem ein Poet ist), das Bergmännische bis ins kleinste beherrschen kann. Der Direktor Goethe kennt die Arbeit des Karrenläufers genau so gut wie jene des Geologen. Das erregt immer und immer wieder das Erstaunen aller Bergleute. Es sind schon einige Jahrzehnte her, da hat der Bergrat das weite Wissen der Exzellenz zum ersten Male erlebt: der Herzog hatte die Referenten aller großen Wirtschaftszweige seines Landes zu einer Sitzung in die Residenz berufen. Damals hatte einer der Herren über ein neues Reglement für die Tuchmacherbetriebe gesprochen. Und was geschieht mit einemmal? Da platzt mit eins die wortreiche Rede des adligen Sprechers entzwei, denn der Jüngste im Kreise der Räte, dieser Goethe, springt auf und protestiert: die Angaben des Herrn Redners seien bedauerlicherweise ohne das Fundament der Wirklichkeit, sie stammten aus der Höhe des akten24
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bedeckten Schreibtisches, nicht aber vom Grunde der Werkstatt, in der der schaffende Tuchmacher sich mühe. Er, Goethe, habe sich an Ort und Stelle bei den thüringischen Webern umgesehen und ihre Arbeit erlebt. — Daran muß der Bergrat in diesen Augenblicken denken . . . „Das höre ich gerne", die Exzellenz nickt dem Steiger zu; „ich akzeptiere den Vorschlag: man wird also die Sitzörter der Hauer nicht zu nahe aneinandersetzten; so werden Stollenbrüche vermieden, die tagelange Behinderung verursachen. Des weiteren ist täglich der Knappschaft bekanntzugeben, welche Mengen gefördert worden sind. »Eine tägliche Übersicht des Geleisteten . . . macht erst, daß man seines Tuns gewahr und froh werde, sie führt zur Gewissenhaftigkeit.« Der Bergrat hört nicht recht zu; er denkt noch immer an jenes frühere Erlebnis mit den Tuchmacherleuten: einen Groll hat damals Goethes unerhörte Unterbrechung des Referats bei den würdigen Herren hinterlassen. Aber der Geheime Rat hat sich nicht darum gekümmert. Mit rednerischen Leistungen allein werden keine Mißstände beseitigt; »daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, darauf kommt es an«. Er würde noch viel im Weimarischen zu schaffen und viel zu rügen haben: »Es ist ein saueres Stück Brot, die Bequemlichkeit zu zerschlagen; denn die menschlichen Gebrechen sind rechte Bandwürmer: man reißt wohl einmal die Stücke los und der Stock bleibt immer sitzen.« Und dennoch: »Ich will doch Herr werden!« — „Ein Kraftkerl!" Fast hätte der Bergrat es laut gesagt; er kann es sich schon erlauben, nur mit halbem Ohr zu hören, was der Obersteiger gerade der Exzellenz vorträgt. Er kennt ja das Stoffgebiet des Referats genau, und deshalb mag es ruhig geschehen, daß seine Gedanken auf privaten Wegen spazieren gehen. Kürzlich ist der Geheime Rat aus Böhmen zurückgekehrt, und aus dem Munde des Dieners haben es nicht wenige erfahren, welche Welten, und doch ihm eigentlich fremde Welten, sein Geist durchwandert. Er durchreist das Land, um gesteinskundliche Studien zu treiben; im Stift Tepl verweilt er, um seine wetterkundlichen Kenntnisse zu vertiefen; in Städten und Dörfern hält ihn das Interesse an sozialen und wirtschaftskundlichen Zuständen fest; er bereist das Erzgebirge und läßt sich das Spitzenklöppeln vorweisen, ,er beobachtet die Glasfabrikation, interessiert sich für Schleifsteine, für Maschinen zum Zügeln der Ochsen, für böhmische Pflüge, er 25
wohnt dem Unterricht, der Prämienverteilung im Gymnasium zu Eger bei, sieht Schulbücher und Chrestomathien durch, läßt sich über den Geist wie über Einzelheiten der Verwaltung und Regierung aufklären, alles Altertümliche und Eigenständige fällt ihm auf.. .' Und so, wie er es im Böhmischen treibt, so müssen sich ihm alle Landschaften und Länder, die er bereist hat, offenbaren und für seinen unersättlichen Wissensdurst gibt es wahrhaftig keine — ,böhmischen Dörfer'! „Daß er ein Bergmann geworden ist", grübelte der Bergrat, „daß er — wie die Exzellenz einmal gesagt — »in die Tiefen der Erde eingekrochen« ist, das kann ich verstehen; denn schließlich ist er der verantwortliche Direktor des Bergbaues im Herzogtum, und der Fürst will aus dem kostspieligen Abbau Gewinne ziehen. Aber daß dieser unheimliche Mensch auf so vielen, oft weitentlegenen Gebieten lernen will, ei, da mag ein anderer klug daraus werden! Mir geht eine solche Lernbegier nicht in den Sinn . . ." Der Bergrat wird es auch nie erfahren und niemals begreifen, daß dieser Goethe nicht zu den oberflächlichen Vielwissern gehört, die »den ganzen Bestand der Welt in lauter besonderen Teilen« sehen. Sein Wissensstreben bemüht sich um das höchste Ziel: »Wissen will ich, was jeden einzelnen Teil im Universum so hoch begeistigt!« Er gleicht nicht der »Dohle, die alles zum Nest trägt, was ihr von irgendeiner Seite zufällig dargeboten wird«, er will nicht Stücklein und Stückwerk »in einem Brief couvert nach Hause tragen«: wer sich solcher unfruchtbaren Vielwisserei ergibt, der hat wohl »Teile in seiner Hand; fehlt — leider! — nur das geistige Band«! Dieses Band aber wird nur dem geschenkt, der im Einzelnen das Allgemeine, im Wechselnden das Bleibende zu erkennen vermag. Aber auch Goethe macht sich nichts weis: auch auf dem beschwerlichen Weg in die »unendliche Natur« lauert oft genug der Irrtum: doch »irrend lernt man« und nur durch Irren erkennt man sein menschliches Maß der Gottheit gegenüber: »Eigener Fehler erhält Demut und billigen Sinn.« Im Grenzenlosen die eigene Begrenzung zu erkennen, macht ehrfürchtig: »Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.« Der Bergrat zieht plötzlich den Kopf ein wenig ein; er fühlt — und jetzt sieht er es auch —, daß die Exzellenz ihn prüfend 26
betrachtet. Aber er kommt einem Tadel Goethes zuvor, dem die Unaufmerksamkeit, das ungezügelte Verfließen der Gedanken, verhaßt ist: der Bergrat kennt Gott sei Dank den Stoff, den der Obersteiger vorträgt, und deshalb versteht er es geschickt, das letztgesprochene Sätzlein ^des Referenten noch rechtzeitig am Zipfelchen zu erhaschen. So wird denn glücklich vermieden, daß sich der Minister in einen ,Jupiter tonans', in einen ,donnernden Jupiter' verwandelt. Es ist bekannt, daß die Exzellenz manchmal derb und kräftig poltern kann. „Halten zu Gnaden, Euer Exzellenz, wenn ich den Herrn Kollegen unterbreche!" beeilt sich der Bergrat klüglich zu sagen: „Ich bin nämlich nicht seiner Ansicht, daß man den Stollen sieben weiter abbauen solle. Der Abbau lohnt sich nicht mehr." Goethe erhebt sich und geht langsam durch den Raum. Er wandelt einige Male hin und her, bleibt eine kleine Weile aufmerksam vor dem Kopf der Juno stehen und kehrt wieder an den Tisch zurück. „Vielleicht lohnt es sich doch", er knurrt ein bißchen, wie er das sagt; seine ,schwarzglänzenden italienischen Augen' blicken streng den Bergrat an. „Wenn der Herr Obersteiger recht beobachtet hat, sind im letzten mageren Abbaufeld, und zwar in einer Verwerfung, einige Bruchstücke von Sigillarien eingelagert. Ich werde morgen nach Ilmenau fahren und dort die Entscheidung treffen, ob wir noch einige Klafter weiter abbauen sollen!" „Exzellenz lieben bekanntlich ein freimütiges Wort", der Bergrat richtet sich tapfer auf; „nun, der Abbau der kleinen Strecke lohnt wirklich nicht mehr: was dort noch — und übrigens mit ungewöhnlicher Vorsicht — geschürft werden kann, kostet die herzogliche Kasse ein erkleckliches Geld! Es geht doch nur um ein paar unbedeutende Versteinerungen!" Goethe schaut den Bergrat jetzt gar nicht böse an. Er stützt die Stirne in die Hand: „Unbedeutende Versteinerungen?" Eine winzige Pause entsteht, die Exzellenz schaut auf die Tischuhr und erhebt sich: „Danke Ihnen, bester Bergrat, für den Eifer, mit dem Sie unserem Fürsten dienen. Schätze Ihr fachmännisches Vermögen, auf das ich mich verlassen kann, und dennoch: »Es gibt nichts Unbedeutendes in der Welt; es kommt nur auf die Anschauungsweise an!« Und nun adieu!" 27
Der Diener tritt ins Zimmer und meldet: „Der Tischlermeister Mieding ist zur befohlenen Audienz erschienen." Die Herren verabschieden sich und gehen . . . „Auf die Anschauungsweise kommt es also an?" brummelt der Bergrat in sich hinein. „Ich komme nicht dahinter, was er meint. Er besitzt doch bereits eine Sammlung von 18 000 Steinen. Was macht er nur damit! Wenn es wenigstens Erz und Kohlen wären . . . !" Meister Mieding X» merkwürdig erscheint den braven Weimarer Bürgern die Freundschaft, die den Staatsminister mit einem kleinen Handwerker verbindet. Sie schütteln die Köpfe, und manche flüstern, daß sich hier doch offensichtlich die gewöhnliche Herkunft des geadelten Frankfurters beweise. Die hochgeborenen Herrschaften des Adels blicken auf eine jahrhundertealte Ahnenreihe zurück und — kein Wunder, daß sie insgeheim über die ,kleinen Goethes' die Nasen rümpfen. Man höre doch nur: Schmied ist der eine seiner Vorfahren gewesen, Damenschneider der andere, ein Kannengießer ist auch noch in der Familie, und samt und sonders sind sie ohne die geringste Nobilität. Da kann man letztlich verstehen, daß es den emporgekommenen Weimarer Goethe so oft zum gemeinen Volke zieht. Andererseits — denkt wiederum der brave Bürger — ehrt es die geringen Leute, daß sich ein solch feiner Herr gerne mit ihnen einläßt. Manche vernehmen gar nicht so ungern das rebellische Wort, das die Exzellenz einmal geschrieben hat: »Wäre ich ein Fürst, so würde ich zu meinen ersten Stellen nie Leute nehmen, die bloß durch Geburt . . . nach und nach heraufgekommen sind und nun . . . in gewohntem Geleise gemächlich fortgehen.« Nein, dieser seltsame Mann, dem der »Frankfurter Bürgeradel der beste Adel« ist und der sein Adelsdiplom für nichts weiter hält »als was ich längst besessen«, respektiert nur »Kapazitäten, mit Klarheit und Energie ausgerüstet und dabei vom besten Wollen und edelstem Charakter. Da wäre es eine Lust zu herrschen und sein Volk vorwärtszubringen!« Dem Tischler, der soeben mit seinen erstaunlich klugen Augen dem Geheimen Rat gegenübersitzt, muß man es neidlos zugestehen, daß er eine »Kapazität« ist: er ist nicht von ungefähr die rechte Hand des Herrn Oberhoftheaterdirektors Goethe, sein treuester Mitarbeiter. Herr Mieding darf sich so28
gar sagen, daß er der Freund des berühmten Mannes ist. Goethe hat ihn als Theatermeister eingesetzt, und nun besorgt er die technischen Aufgaben, die ein Bühnenbetrieb stellt. Er ist wirklich ein ,Meister'. Ungewöhnliche Schwierigkeiten sind manchmal zu überwinden. Miedings beweglicher Geist und die handwerklich hochbefähigte Hand versagen vor keinem Auftrag. Gewiß, der Herzog hat ein ,Redouten- und Komödienhaus' für die siebentausend Seelen zählende Residenz geschaffen, ein recht stattliches Gebäude, um darinnen Shakespeare, Lessing, Moliere darzustellen und die neuen Dramen des Herrn von Schiller und Goethes Schauspiele aufzuführen; aber der Oberhoftheaterdirektor läßt seine Schauspieler auch gerne außerhalb Weimars agieren, häufig auf »leichtgefügten Lagern« im Rahmen der freien Natur: »auf Höhen Etternburgs, in Tiefurts Tal, in leichtem Zelt, auf Teppichen der Pracht und unter dem Gewölb der hohen Nacht«. Da heißt es gar oft improvisieren, und die Findigkeit des besagten Theater- und Tischlermeisters ist hierin unerreicht. Goethe besitzt ein feines Gespür, rechte Mitarbeiter zu finden und zu begeistern, Männer, die den geistigen Inhalt der Bühnenwerke durch das technische Werk zur lebendigen Anschauung bringen können. Mieding legt seinem Theaterdirektor mehrere Entwürfe vor; die Bühnenausstattung für »Iphigenie«. Goethe prüft stumm die Zeichnungen. Dann nickt er zufrieden und freut sich: das ist wieder einmal echt Miedingsche Arbeit; der Mann ist Schreiner und — Künstler zugleich! Ja, er freut sich, der Geheime Rat, und er spricht anerkennend aus, wie sehr solche Leistung auch auf die Zuschauer im Theater wirke: denn »den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am AUervorzüglichsten«. Und nun spricht er von Pfuschern und von Meistern, und zu den letzteren zählt er seinen »lieben Mieding«. Von vielen Menschen hat Goethe gelernt: »Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter« kamen zu ihm, »alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinne sei, wie sie lebten und wirkten . . ., und ich hatte weiter nichts zu tun, als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesät h a t t e n . . . Es spricht eben alles zu mir und zeigt sich mir an«. So gesteht er denn auch mit lachendem Freimut, wieviel er von Mieding gelernt habe. Kein Wunder auch: ist doch für die hohe Exzellenz der rechte Handwerker in manchen Dingen der beste Lehrer. »Er scheint mir der glücklichste Mensch; 29
was er zu tun hat, ist ausgesprochen; was er leisten kann, ist entschieden, er' arbeitet . . . mit Applikation und Liebe, wie der Vogel sein Nest, wie die Biene ihre Zelle herstellt . . . Er ist ein ganzer Mensch. Wie beneid' ich den Töpfer an seiner Scheibe, den Tischler hinter seiner Hobelbank!« „Ach, liebwerte Exzellenz!" lacht der Tischler glücklich, wie Herr von Goethe das sagt. Der Minister legt seine feine Hand auf die grobverschaffte des Mannes: Sicherheit und Meisterschaft, sagte er, liege in der Arbeit solcher Leute, von denen keiner einen Fehler machen könne, der nicht gleich oder schon bald zutage trete. — Ein freundlicher Wortwechsel entsteht, und der bescheidene Mieding wehrt sich wacker gegen das mächtige Lob, das die Exzellenz den kleinen Leuten spendet. Goethe wiederum freut sich über die bescheidene Abwehr; er liebt wohl das sichere Bewußtsein der Kraft, nicht aber den Hochmut; nur »bei Bornierten und geistig Dunklen findet sich der Dünkel, bei geistig Klaren und Hochbegabten aber findet er sich nie«. Wen mag's wundern, daß Goethe dabei an so viele seiner Schauspieler und Opernsänger denken muß! Wie muß er mancherlei Unarten, die sich auf Hochmut und Blasiertheit gründen, wie muß er sogar Flegeleien und gröbliche Widersetzlichkeit oft so bitterschwer bekämpfen! Ihm möchten bei der Fülle seiner Ministerpfiichten »manchmal die Knie zusammenbrechen, so schwer wird das Kreuz, das man fast ganz allein trägt«; aber das bitterste Kreuz legt ihm doch sein Theatervölkchen — und darunter zumeist die Geringbegabten, dafür aber um so eitleren Akteure — auf die Schultern. Er »hält auf Ordnung und Pünktlichkeit im Besuch der Proben und auf jede Art der Betätigung des Kunstfleißes«. Er weist »auf die menschlich-sittlichen, auf die bürgerlich-patriotischen Grundlagen des Künstlerberufes« hin: »Ein Schauspieler, der sich darin vernachlässigt, ist mir die widerwärtigste Kreatur von der Welt.« Da ist der Fall Röpke, der sich gerade ereignet hat; ganz Weimar spricht über den Skandal, und das Ansehen der Bühne, die Goethe doch zur ersten in den deutschen Landen machen will, leidet schwer darunter. Der Schauspieler Röpke ist ein brutaler Mensch, und seine Frau, die gleichfalls an der Weimarer Bühne wirkt, weiß davon ein Klagelied zu singen. Was ist geschehen? Nun, vor wenigen Tagen tritt die mißhandelte Gattin auf, und ihr Aussehen bringt das ganze Publikum zu schallendem Gelächter. Mit Bitterkeit im Herzen wendet 30
sich der Theaterdirektor in einem Erlaß an die Schauspieler: « . . . wenn ein Mann seiner Frau die Augen blau schlägt, so kann das theatralisch wirken, wenn sie gerade eine Liebhaberin zu spielen hat«; aber »es soll deutlich ausgesprochen werden, daß ein Akteur, der seine Frau und Mitspielerin mißhandelt, sogleich auf die Hauptwache geführt wird . . . Bei unserem Theater kommt es mir vor . . ., als wenn die Welt nur für die Groben und Impertinenten da wäre und die Ruhigen sich nur ein Plätzchen um Gotteswillen erbitten müßten«. Weitere Skandale zwingen Goethe, noch härter zu werden: deshalb wird er die selbstsüchtige Schauspielerin Wilhelmine Maas, die ohne seine Erlaubnis in Berlin gastiert hat, nach ihrer Rückkehr bestrafen: acht Tage Hausarrest wird er über sie , verhängen, er wird ihr eine Schildwache vor die Tür stellen, und die Kosten dafür wird Mademoiselle Maas selber tragen müssen! — An Arbeit fehlt es nicht! Er ist Theaterdirektor, Regisseur und häufig auch Akteur; er dichtet dieses oder jenes Stück für seine Bühne und läßt es aufführen; er ist der Leiter der Schauspielerschule (aber er lehrt nicht nur vom Katheder her, wie man sprechen und wie man sich zu bewegen hat, er selber spielt vor, er will Beispiel sein); er offenbart den Künstlern immer wieder sein schauspielerisches Ideal: Natur und Kunst müssen zusammenwirken: »Kunst und Natur / sei auf der Bühne eines nur: / wenn Kunst sich in Natur verwandelt, / dann hat Natur mit Kunst gehandelt«; er kämpft — oft wie ein nüchterner Kaufmann — um den finanziellen Bestand des Theaters, und manchmal muß er die Aufführung von Spielen gestatten, die für ihn nur künstlerisch-elendes »Flick- und , Lappenwerk« sind. Ja, er kann gar nicht anders, als gelegentlich auch schlechtere Stücke spielen zu lassen, damit die leere Kasse sich wieder fülle und seine Bühne nicht zugrunde gehe. Dann aber schreibt er angeekelt an den Rand des Genehmigungsaktes ein Wort, das der Dichter und Künstler in ihm nie gutheißen kann: »Ich wünschte, daß das Stück viel Geld einbringen möge, da Geld doch alles entschuldigen soll!« — Arbeit! Er bemüht sich mit dem Einzig-Getreuen, seinem Mieding, sogar um Dinge, die doch wirklich nicht zu seinem Pflichtenkreis gehören; er verhandelt mit den Handwerkern, mit Anstreichern, Schneidern und Friseuren; ja, es mag sogar vorkommen, daß er nach Beendigung der Vorstellung auch noch die Kerzen im Theatersaale löscht, weil der Diener es 31
vergessen hat. Aber er tut selbst dieses, um dem Werk zu dienen. Ist doch für ihn »jedes Kunstwerk« (und nicht nur das Schauspiel) »wie ein frisch ausgesprochenes Wort Gottes; es atmet die Welt des Wahren und Schönen«. Das zu wissen macht ehrfürchtig und verpflichtet ihn zu noch größerem Dienst. Wer könnte ihn ersetzen? Niemand: »Die Kunst kann niemand fördern als der Meister.« Der Meister Goethe erwartet von keinem Menschen Dank; und doch beglückt es ihn, wenn der berühmte Schauspieler Iffland, der mit bisher beispiellosem Erfolg in Weimar gastiert hat, ihm schreibt: ,Ihro Exzellenz! Sie habe ich gesehen, habe unter dem milden Einfluß Ihrer Größe die vier köstlichsten Wochen meines Lebens verlebt. Wärme und Kraft ging von Ihnen aus auf mich . . . Möge jeder, der Ihre Größe fühlt, Ihr Herz begreifen!' — Mieding schließt sein Eintrageheft. Nun weiß er alles, was er für die nächste Aufführung zu errichten hat: »Elliptisch gestellte Pfeiler . . . einen Säulenkreis dorischer Ordnung . . . eine bronzierte Balustrade ...« Nichts ist vergessen. Wie er sich erhebt, kommt ein schnarrender Husten über seine Lippen: er hat es »auf der Brust«, ist •— und weiß es nicht — ein dem Tod geweihter Mann. — „Er muß sich mehr schonen, Mieding!" sagt Goethe gütig; „ich werde Ihn für die nächste Zeit entlasten!" — „Exzellenz!" Abwehrend hebt der Tischlermeister die Hand. Goethe schweigt unter dem Eindruck dieser fast leidenschaftlichen Bewegung des erschrockenen Mannes. Nein, er wird ihn nicht entlasten: dieser Mensch, der getreue, der bescheidene Freund, wird glücklich sein, sich im Dienste der Kunst zu verzehren. Große und kleine Welt um Goethe D er Architekt und Maler Wilhelm Zahn!" Ein schüchterner Mann, einfältigen Herzens, den das Wagnis, die Exzellenz zu besuchen, sichtlich bedrückt. Seine Bewegungen sind linkisch, seine Worte fließen stockend und leise. Aber er ist ein scharfer Beobachter und besitzt ein vorzügliches Gedächtnis. Er wird, wenn der Besuch vorüber ist, Wort für Wort, das gesprochen wurde, niederschreiben, damit er niemals dies große Glück vergesse. Er tritt ins Zimmer und grüßt ergeben. Goethe winkt, sich zu setzen. »Waren also in Italien?« — „Drei Jahre, Exzellenz." — »Haben vielleicht auch die unterirdische Stadt bei Neapel be32
sucht?« „Das war der eigentliche Zweck meiner Reise. Ich hatte mich in einem antiken Haus in Pompeji behaglich eingerichtet, und während zweier Sommer geschahen alle Ausgrabungen unter meinen Augen." — »Freut mich! Höre das gern.« Goethe rückt mit seinem Stuhl n u n näher und fährt dann lebhaft fort: »Habe den Akademien zu Wien und Berlin mehrere Male geraten, junge Künstler zum Studium der antiken Malereien nach jenen unterirdischen Herrlichkeiten zu schicken; um so schöner, wenn Sie das auf eigene Hand getan. Ja, ja! Die Antike muß jedem Künstler das Vorbild bleiben. Doch vergessen wir das Beste nicht! Haben wohl einige Zeichnungen in Ihrem Reisekoffer?« „Ich habe die schönsten der antiken Wandgemälde meist gleich nach der Entdeckung durchgezeichnet und fertig nachzubilden gesucht. Wünschen Exzellenz vielleicht einige davon zu sehen?" »O gewiß, gewiß mit freudigem Dank! Speise gegen 2 Uhr. Werden noch einige Kunstfreunde finden. Sehne mich ordentlich nach Ihren Bildern. Auf Wiedersehen, mein junger Freund!« — ,Mein junger Freund!' Das geht dem Maler ins Herz; das Wort macht ihn schwindlig und seine Augen feucht. Goethe blickt ihm wohlwollend nach: dieser Zahn ist kein Zeiträuber, keiner dieser vermaledeiten »Künstlerburschen«, denen es ja gar »nicht um mich zu tun i s t . . . « , die ihn doch nur selbstsüchtig »als I n s t r u m e n t . . . als Partei« benutzen. Nein, dieser bescheidene Herr ist mit all seinen Hemmungen eine Persönlichkeit: wie hätte er sonst sich so eigenwillig in den Ruinen niedergelassen und dort gearbeitet! Goethe weiß, was der Mann in Pompeji auf sich genommen hat, obwohl er sagte, er habe sich ,behaglich' eingerichtet; in einer Stadt der Toten lebt sich's unbequem, und es gibt dort mehr Hungertage zu bestehen als in dem armen Dorf der Lebenden, das gleich neben der Trümmerstadt liegt. Erinnerung an die eigene Reise erfüllt den Geheimen Rat. Gewiß, »man muß nicht um die Welt reisen, um festzustellen, daß der Himmel blau ist«; aber wen der rastlose Forschergeist in die Welt treibt, der »lerne, eigenes Tun und Vollbringen an das anzuschließen, was andere getan und gedacht haben, das Produktive mit dem Historischen zu verbinden!« Dieses Historische aber umfaßt nicht nur das kulturelle Werk, das Menschen geschaffen haben, es umschließt auch das Werden der Natur, und so ist alles Sichtbare letztlich »nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet«. Als ein in seiner 33
Bildung abgeschlossener Mensch, viel mehr: als ein »Immer Werdender« hat Goethe die Länder durchreist. Jenem Neugierigen aber, der ihn eines Tages gefragt, wie man sich wohl das stete geheimnisvolle Wesen seiner Genialität erklären könne, hatte die Exzellenz geantwortet: »Ich lasse die Gegenstände ruhig auf mich einwirken.« Er beobachtet diese Wirkung und bemüht sich, »sie treu und unverfälscht wiederzugeben. Dies ist das ganze Geheimnis, was man Genialität zu nennen beliebt«. Wie einfach diese Aussage klingt! h i n w i r ken lassen' aber bedeutet für einen, der die »Tätigkeit als erste Bestimmung des Menschen« ansieht, kein passiver Zustand. Der Einwirkung der »Gegenstände« aus den Bezirken der Natur und Kultur geht das »eindringliche Beschauen« voraus: es dünkt Herrn Goethe unvergleichlich wichtiger als sein poetisches Schaffen, d. h. »als sprechend, überliefernd, lehrend sich zu äußern«. Sein Werk ist nur »Folge« eines tief-erlebten ,Eindringens' und Schauens. Folge ist alles, was er schafft. Er blickt auf die Uhr: in fünfeinhalb Minuten wird der Diener den nächsten Besucher melden. Er freut sich, daß noch ein wenig Zeit verbleibt, die nur ihm gehört. Das Versprechen des Herrn Zahn, ihm pompejanische Bilder zu zeigen, macht ihn sehr froh; schnellen Schrittes geht er durch die Räume und steht vor einem Schrank, der seine Zeichnungen aufbewahrt. Er greift wahllos in die Fülle und zieht einige Blätter heraus, Bilder, die er im Laufe mancher Jahrzehnte selber geschaffen hat: Zeichnungen aus den Jahren seiner Studentenzeit, aus der Weimarer Umwelt, von seinen weiten Reisen; es sind Porträts (famos, wie die Vulpius zum Exempel auf diesem Blatte leibt und lebt!), es sind Darstellungen von Bergen und Tälern, von Häusern und einsamen Gehöften, von Pflanzen und Steinen. ,Er zeichnet völlig, wie er dichtet und schreibt', hat einmal Herr Wieland, der Poet und ehemalige Erzieher des durchlauchtigsten Herzogs, bewundernd gesagt, und das Wort trifft nicht ganz daneben: die »Gegenstände« sind in ihrem Wesen erkannt und sichtbar gemacht, die Linien mit großer Sicherheit geführt, nichts ist gewollt und alles aus echter Begabung gekonnt. Er selber spricht von »meiner alten Gabe, die Welt mit den Augen des Malers anzusehen«. Es geht eine rätselhafte Magie vom Zeichenstift auf ihn über: »Die Seele musiziert, indem sie zeichnet, ein Stück von ihrem inneren Wesen heraus«, das Zeichnen besänftigt die Unruhe des Herzens: es wirkt dann — so bekennt er einmal mit anschau34
lich-frohem Wort — wie das »Saugläppchen« auf den Säugling, der — das Lutschtüchlein zwischen den Lippen — sogleich alle Drangsal des Lebens vergißt. Aber noch mehr schenkt ihm die Ausübung dieser Kunst: Zeichnen »entwickelt und nötigt zur Aufmerksamkeit«. Das Zeichnen hat »mir den großen Vorteil gebracht, die Naturgegenstände schärfer aufzufassen . . ., ich kann mir ihre verschiedensten Formen jeden Augenblick zurückrufen«. ,Die Naturgegenstände schärfer auffassen . . .', ein bedeutsames Bekenntnis, ein Wegweiser zur Erkenntnis des Goetheschen Wesens. Weil er sich selber als ein Stück der großen Natur betrachtet, muß er vor allem sich selber zuerst einmal beobachten. Er gleicht dabei dem Forscher, der ein unbekanntes Land Schritt um Schritt entdeckt. Sachlich untersucht er die wechselnden Zustände seines Wesens, die »Heiterkeit, Trübe, Stärke, Elastizität, Schwäche, Gelassenheit, Begier«. Er spricht sich darüber nur mit wenigen und nur ganz Vertrauten aus, um in ernster Auseinandersetzung vermehrte Klärung zu
„Es stehen kostbare G e g e n s t ä n d e in den Räumen der S t a d t w o h n u n g "
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finden, und führt über alles und jedes gewissenhaft Buch: »Heute früh hatt' ich den aufräumenden und ordnenden Tag. j Viel Briefe weggeschrieben und alles ausgeputzt«, schreibt er. J Und tags darauf: »Hatt' den erfindenden Tag. Anfangs trüblieh; ich lenkte mich zu Geschäften, bald ward's lebendiger; abends wenig (=» einige) Momente sinkender Kraft. Darauf acht geben: woher?« Boshafte Zungen, die von dieser strengen Selbstbeobachtung , erfahren haben, flüstern, daß der ,hochmütige Götze' das alles nur aus geheimer Furcht vor dem Tode tue. Ach, sie kennen das schlichte, eindeutige Bekenntnis dieses Mannes nicht: »Wir leben, solange es Gott bestimmt hat.« Nur wer sich leidenschaftslos beobachtet, wird seine Schwächen und Mängel erkennen; sie sind es ja, die sich dem Tatendrang entgegenstellen und ihn hemmen: »Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein Inneres voller Schlacken ist, und was ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selbst uneins bin?« Die Pflicht, die er auf seine Schultern bürdet, will er erfüllen, die eigenen Schwächen klar erkennen und sie tapfer bekämpfen: »Der Mensch, der Gewalt über sich selbst hat und behauptet, leistet das Schwerste und Größte.« Kaum daß der Geheime Rat das Empfangszimmer wieder betreten hat, meldet der Diener den Naturphilosophen Friedrich Josef Schelling, der als Professor in Jena wirkt und heute zu einer Aussprache nach Weimar gekommen ist. Philipp Seidel zögert: „Herr Doktor Hufeland wartet gleichfalls . . . ich weiß nicht so recht. .. der Herr Doktor ist für heute doch nicht angemeldet . . .!" Goethe lacht: „Ich weiß, was der Hufeland will. Er bombardiert mich seit langer Zeit mit Fragen. Ein kluger, unrastiger Mann! Das Problem, in welchem Maße .barometrische Luftveränderungen das Leben organischer Wesen beeinflussen', läßt ihm seit einer Woche keine Ruhe. Er hat mir einen Zappelbrief darüber geschrieben. Liebe zwar sonst solche plötzlichen Heimsuchungen nicht, und »man muß den Leuten abgewöhnen, einen unangemeldet zu überfallen; sie wissen nicht, wie kostbar die Zeit ist«; aber führ' Er die beiden Herren nur herein: hoffe, daß die Aussprache für jeden von uns Früchte zeitigt!" —• Während Goethe und seine weithin berühmten Gäste in lebhafter, immer aber strenger Sachlichkeit diskutieren und die Exzellenz ,in frischen Elementen eines weit ausgebreiteten . . . 36
Wissens schwimmt und badet', schwimmt Frau Christiane in zornigen Tränen. Oh, diese Charlotte Hoyer, die Köchin, diese impertinente Person! Die Vulpius hat sie soeben wegen der unsauberen Schürze tadeln müssen, und was tut das unverschämte Frauenzimmer? Die Hoyer knallt einen Teller auf die Erde und zetert, Madame habe ehedem "in der Bertuchschen Fabrik bestimmt keine reinere Schürze als die ihre getragen! Frau Christiane schrickt zurück vor solcher Schmähung; sie wird totenblaß, wie das unbeherrschte Mensch ihr den Schimpf ins Gesicht schreit, sie, die Hoyer, sei keine Schlampampe, und zweitens sei sie hellhörig, und wenn Madame gern das Neueste erfahren wolle, ei, so sei es mit Wonne gesagt: die Frau Hofrätin Schiller, die geborene von Lengefeld, eine wirkliche Dame der Gesellschaft, habe vorgestern von einer „Distel im Garten" des Barons von Goethe gesprochen und die Köchin der Schillerin habe das mit eigenem Ohr gehört, Frau Christiane flieht in ihr Zimmer zurück und weint. Niemand, niemand von all denen gönnt ihr das häusliche Glück. Oh, diese hochmütige Adelssippe! Selbst das liebe Wort, das Goethe zu ihrem Trost einmal gesprochen hat, vermag sie heute nicht zu trösten: »Wenn dir die Leute deinen guten Zustand zu verkümmern suchen, so denke nur, daß das die Art der Welt ist, der wir nicht entgehen«, tue wie ich: »Ich achte nicht darauf und arbeite fort!« Ach, wenn sie doch jene Stärke besäße, die ihn so hoch über Haß, Niedertracht und Neid erhebt: »Ich habe Breite genug, mich in der Welt zu b e w e g e n , und es darf mich nicht kümmern, ob sich mir irgendeiner da und dort in den Weg stellt.« Aber so kann sie nicht sprechen; sie ist keine Charlotte Stein, die sich mit rätselhaftem Lächeln über das Gerede der Leute hinwegsetzt, sie ist nur die kleine Arbeiterin aus der Fabrik! Und dennoch: Goethe muß die Köchin noch heute entlassen! Sie wird schon eine Gelegenheit finden, ihn für zwei Minuten zu sprechen, wenn die Besucher, die gerade bei ihm weilen, das Junozimmer verlassen haben. Doch bis dahin sind es noch zwanzig Minuten. Christiane sucht sich an Goethes Wort zu klammern: »ich arbeite fort.« Sie klingelt und fordert mit einigermaßen beherrschter Stimme die Hilfsmagd Hannchen zu sich. Hannchen Rostard ist siebzehn Jahre alt, ein thüringisches Bauernkind aus Groß-Brembach. Die Vulpius weiß nicht, warum es sie 37
manchmal drängt, gerade dieses schlichte Bauernmädchen und j keine andere Dienerin in ihre Nähe zu rufen. Es mag sein, weil Hannchens Herzenseinfalt der ihren ähnelt, da ja auch ; die Magd nur ein einfaches »Naturwesen« ist, wie Goethe manchmal seine Christiane nennt. Madame und Hannchen begeben sich an die Arbeit, die der Streit in der Küche unterbrochen hat; es ist noch viel zu tun, die Wohnung ist sehr groß, und die vielen Sammelschränke mit den schier zahllosen Schubladen geben tagtäglich reiche Beschäftigung. Da ist die Vitrine mit den Kupferstichen, da sind die Schränke mit den Majoliken, den Porzellanen, den Gipsbildwerken, mit den antiken Münzen und den Gemmen, den physikalischen Geräten, den Akten . . . Am meisten Arbeit aber bereiten die Schränke, welche die Stein- und Knochensammlungen enthalten. Einen Berg von Steinen hat der unersättliche Forscher Goethe zusammengetragen, und an die viertausend Tier- und Menschenknochen mögen es sein, an denen er seine Studien betreibt. Da staubt es nur so aus den Ritzen der vielen Schubladen, wenn durch ein offenes Fenster der Wind vom Frauenplan ins Zimmer stößt; und in breiten Schwaden kommt der Staub herein, wenn der Stadthirt das Vieh durch das Mittelding zwischen Hofstadt und Dorf treibt und dann den Schmutz der ungepflasterten Straßen aufwirbelt. Hannchen ist fleißig, ihre Hände fliegen. Von alldem, was Madame ihr zu erklären sich bemüht, versteht sie kaum etwas. Daß einer zumExempel einen Haufen Steine und gar Knochen sammelt, das wird ihr nimmer eingehen. So tut sie denn auch jetzt, wie sie immer tut, um der gütigen Madame eine Freude zu bereiten: sie nickt zu allem, was dieVulpius ihr vorträgt, und begreift doch kein Sterbenswörtchen. Ganz unverständlich bleibt ihr die seltsame Knochengeschichte, die sie jetzt zum wiederholten Male hört: Anno 1784 hat der Geheime Rat den Zwischenkieferknochen entdeckt, den bislang keiner von j den Studierten im menschlichen Oberkiefer vermutet hat, da er beim ausgewachsenen Menschen mit dem Kiefer gänzlich verwachsen ist. Unzählige Studien hat der gnädige Herr gemacht, er hat tierische und menschliche Knochen verglichen — und eines Tages sieht sich der merkwürdige Mann am Ziel: er weist durch seine Entdeckung den »Schlußstein zum Menschen« nach. »Ich habe gefunden, weder Gold noch Silber, aber was mir unsäglich Freude macht: das ,os intermaxillare' (den Zwischenkieferknochen) . . .«, hat der gnädige Herr sogleich 38
an Herder geschrieben. Die Wissenschaftler in den europäischen Ländern aber wehren sich zuerst hartnäckig gegen die entdeckte Wahrheit, und der berühmte holländische Professor Camper schreibt kategorisch: ,L'os intermaxillare n'existe pas dans l'homme!' (,Der Mensch besitzt kernen Zwischenkieferknochen!'). Doch endlich müssen selbst die namhaftesten Gegner zustimmen, und nun spricht die gebildete Welt Europas ihr Erstaunen und ihre Hochachtung vor dem Wissenschaftler Goethe aus. Hannchen muß auf Geheiß der Madame mit dem Zeigefinger tasten, wo dieser „Goetheknochen" in ihrer Mundhöhle zu fühlen ist: gleich hinter dem Ansatz der oberen Vorderzähne schiebe er sich zwischen die zwei Hälften des Oberkiefers, erklärt die Vulpius. Die Magd tippt gehorsam das „os Goethii" an; jedoch was nützt auch das eifrigste Getippe, wenn sie von alldem aber auch nichts verstanden hat. Hannchen ist eine gehorsame Seele — sie wundert sich übrigens gar nicht darüber, daß der gnädige Herr so merkwürdige Studien treibt; sie schrickt nicht einmal vor dem Gedanken zurück, daß er dann und wann die Anatomie der Universität in Jena aufsucht, um dort an sezierten Leichen zu arbeiten. Nein, das alles kann die kindliche Einfalt der Hilfsmagd nicht erstaunen lassen. Hannchen traut nämlich den Fähigkeiten des Herrn Staatsministers alles zu, selbst das Außergewöhnlichste, nachdem sie damals in der schrecklichen Feuernacht von Groß-Brembach seinen Mut selber erlebt hat: Wer weiß, wie und wo es sich zuerst entzündet hat, das Feuer, der Riesenbrand in ihrem Heimatdorf! Vielleicht war's die Junihitze des Jahres 1780, die das grausige Unglück über die kleine Gemeinde bringen sollte, vielleicht war es das Ungeschick eines Bauern, der ein offenes Licht in die Nähe des Heubodens getragen — vielleicht aber war es auch ein Brandstifter. Nun gut, eine Bauernhütte ging in Flammen auf, und ein wenig später loderte das ganze strohgedeckte Dorf. Kein Wunder: »Nach so lang trockenem Wetter, bei einem unglücklichen Wind war die Gewalt des Feuers unbändig.« Zur gleichen Stunde sitzt Exzellenz Goethe bei der Hofdame der Herzogin, dem Fräulein von Göchhausen, die eine ungewöhnlich lebhafte Freundin der Dichtkunst ist, und diktiert ihr aus seinen Poesien. Da kommt die Schreckensnachricht vom Großbrand in Brembach. Er, der eben noch in der Traumwelt des Schönen schwebte, reißt sich in die harte Wirklichkeit zu39
rück. Im Nu ist sein Pferd gesattelt, er springt auf, ein Hus; folgt ihm. Die zwei reiten wie gehetzt dem Unglücksdorfe zu. > Hannchen, die schreckensstumm und hilflos am Dorfausgang | irrt, sieht einen vornehmen Herrn mit einem Soldaten heranjagen. Er stellt ein paar Fragen und versucht dann, auf dem angegebenen Wege in die Hauptgasse vorzudringen. Aber es ist kein Durchkommen, der Wind treibt ihnen die Glut entgegen. Da wenden sie und galoppieren an den Zäunen und Hecken vorbei zum andern Ende des Dorfes. Aus vielen Häusern schlagen die Flammen, im weiten Umkreis stehen die jammernden Menschen! »Man fühlt da recht, wie einzeln man i s t . . . « Der vornehme Herr mit den dunklen Augen springt ab. Schnell hat er die Lage erfaßt und weiß, was zu tun ist. Aber es ist nicht einfach, Ordnung in die Verwirrung der verängstigten Leute zu bringen: »Ich habe ermahnt, gebeten, getröstet, beruhigt und meine ganze Sorgfalt auf die Kirche gewendet, die in Gefahr stund, und wo außer dem Gebäude noch viel Frucht auf dem (Speieher =) Boden zugrunde gegangen w ä r e . . . « Der Dorfschulze hat den Fremden erkannt, der so sicher in all dem Jammer steht und allen wieder Mut macht. Und Hannchen erfährt aus dem Munde einer Bäuerin, daß der Staatsminister Goethe gekommen ist, ihnen zu helfen. Männer, Frauen und Kinder versammeln sich um ihn. Er gibt Anweisungen; aber »aus dem Teiche wollte niemand schöpfen; denn vom Winde getrieben schlug die Flamme der nächsten Häuser wirbelnd hinein. Ich trat hinzu und rief: ,Es geht, es geht, ihr Kinder!' und gleich waren ihrer da, die schöpften; aber bald mußte ich meinen Platz verlassen, weil's allenfalls nur wenige Augenblicke auszuhalten war.« Und doch: sein Vorbild wirkt, die Menschen wagen sich vor und lösen einander ab, wenn der Rauch den Atem erstickt. Und immer wieder ist es die Exzellenz, ist es Goethe, der zugreift, wo einer versagen will, an der Pumpe, mit den Reißhaken, in der Eimerkette. »Meine Augenbrauen sind versengt und das Wasser, in meinen Schuhen siedend, hat mir die Zehen gebrüht.« Damals hat Hannchen den gnädigen Herrn zum ersten Male gesehen: einen Menschen »hilfreich und gut«. Sie erschauert noch heute bei der Erinnerung, wie er die warnenden Zurufe der Bauern, sich den Flammen nicht auszusetzen, mißachtete. »Ich habe mich gewöhnt, bei meinen Handlungen meinem Herzen zu folgen . . . ohne an die Folgen zu denken.« »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!« — 40
„Noch elf Minuten!" denkt Frau Christiane und überlegt noch einmal, wie sie ihre Klage vorbringen kann, ohne Johann Wolfgang aus der Ordnung seiner Gedanken zu reißen. Die Sammelschränke sind abgestaubt, die Vulpius ist zufrieden, weil alles blinkt und blankt, und Hannchen darf sich nun neben sie setzen und sich nach Mutter und Vater und ihrem kleindörflichen Leben ausfragen lassen. Noch sind es vier Minuten, bis die Herren Gäste sich verabschieden werden. Während die junge Magd stockend und mit unbeholfenen Worten berichtet, hängen Frau Christianens Blicke auf dem großen Zeiger der goldbronzierten Uhr. Sie nimmt jeden Satz auf, den Hannchen spricht; aber, sie •weiß genau, in wieviel Minuten sie das Junozimmer betreten darf. Die Uhr tickt und tackt von neuem den Zorn in ihrem Herzen wach: die Köchin muß noch heute ihren Laufpaß kriegen! Und wenn Johann Wolfgang der Person das Zeugnis ausstellt, darf er kein gutes Haar an ihr lassen. Wie ist Goethe immer so freundlich zu derHoyer gewesen! Aber so sind die Menschen: sie nehmen alles Gute, geben aber keine Messerspitze Dank zurück. Nein, Johann Wolfgang sollte sich nicht mehr um das ,gemeine Volk' kümmern; er könnte sich manche Aufregung ersparen. Frau Christiane denkt daran, wie er kürzlich sogar gewagt hat, den Fürsten um geringer Bauern willen zu tadeln. Hält er doch dem durchlauchtigsten Herrn vor, wie sehr die rücksichtslosen Jagden über die Äcker die kleinen Bauern schädigen und ihr Dasein verbittern . . . »Ich steige durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersmann der Erde das Notdürftigste abfordern, das doch auch ein behagliches Auskommen wäre, wenn er nur für sich schwitzte«; und er empört sich über die Herren, die die armen Dörfler ausnutzen: »Wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrierten Saft aus den Leibern . . .« Und an anderer Stelle läßt er seine Meinung noch drastischer sprechen: »Das arme Volk muß immer den Sack tragen, und es ist ziemlich einerlei, ob er ihm auf der rechten oder linken Seite zu schwer wird.« Er ist gewiß ein treuer Diener seines Fürsten; aber gerade diese Tugend zwingt ihn zur Offenheit. Nicht immer ist es leicht, mit der Durchlaucht umzugehen, und oft genug gehört viel Mut dazu, die Wahrheit zu sagen. Aber »es ist unglaublich, was in solchen Fällen der moralische Wille vermag!« 41
Dieser Wille läßt ihn zeit seines Lebens nicht ruhen, selbst dann nicht, wenn er in ein besonders gefährliches Wespennest greifen muß. Da ist der Husarenrittmeister von Lichtenberg. Der hochgeborene Herr ist ein übler Soldatenschinder: seine grausamen Launen sind auch dem Fürsten bekannt; aber er •übersieht das alles, weil er gewisse soldatische Tugenden schätzt, die dieser unbestreitbar besitzt. Wer wird es nun wagen, gegen einen Günstling der Durchlaucht Stellung zu nehmen! Goethe ist neben seiner vielerlei Tätigkeit auch Mitglied der Rekruten-Aushebungskommission. Bei der gewissenhaften Ausübung dieses Amtes kommt er öfters in die Dörfer und Städte des Herzogtums, und hier hört er die Klagen über den Rittmeister. Sein Mitleid mit den Geschundenen zwingt ihn zum Eingreifen: er fordert also von dem fürstlichen Herrn die Abstellung der Mißstände, er verlangt, daß man auch den einfachsten Rekruten wie einen Menschen behandeln müsse. Warum kümmert er sich um solche Sachen? denkt die Vulpius. Ach, sie wird ihn nie ändern! Schon als Jüngling ist er ein solches Gutherz gewesen. »Ich habe das gemeine Volk näher kennengelernt und bin'vergewissert, daß das doch die besten Menschen sind.« Daß er sich um seinen Freund, den Herrn Hofrat von Schiller, kümmert, dem es von Tag zu Tag schlechter geht, weiß man allgemein. Er bietet ihm sein Gartenhaus an: »Sie werden einen Schlüssel zu meinem Garten und Gartenhaus erhalten. Machen Sie sich den Aufenthalt einigermaßen leidlich und genießen der Ruhe, die in dem Tale herrscht!« Leider kann der Freund das Angebot nicht annehmen: er ist zu krank, um einen Wohnwechsel zu wagen. — »Ich habe in meinem Leben viel für andere getan und mich und die Meinigen vergessen, das kann ich ohne Ruhmredigkeit sagen.« Für andere Opfer bringen — ja! Aber nicht für jene, die — über das stürmische Jugendalter hinausgewachsen — das Gesetz der Zucht zerbrechen und ein Gemeinwesen, sei es Familie oder Staat, in Unordnung bringen, und deshalb wird er auch ungnädig mit der Köchin verfahren, deren dreistböses Wesen »inkorrigibel« ist. So, jetzt schlägt die Tischuhr die volle Stunde, und die Vulpius erhebt sich so energisch, daß Hannchen erschrickt. Die Exzellenz hört sehr genau zu, als Christiane ihm den Skandal von heute morgen erzählt. Er will alles und jedes auf das genaueste wissen. Nun geht er in sein Arbeitszimmer, tunkt 42
den Federkiel in die Tinte und stellt der zuchtlosen Person folgendes Zeugnis aus: »Charlotte Hoyer hat zwei Jahre in meinem Hause gedient. Für eine Köchin kann sie gelten und ist zuzeiten folgsam, höflich, sogar einschmeichelnd. Allein durch "die Ungleichheit ihres Betragens hat sie sich . . . ganz unerträglich gemacht . . . Unruhig und tückisch verhetzt sie ihre Mitdienenden und macht ihnen . . . das Leben sauer. Außer anderen verwandten Untugenden hat sie noch die, daß sie an den Türen horcht.« Frau Christiane darf aufatmen. Hannchen sieht, daß die Köchin zornschnaubend das Haus verläßt. »Das Betragen ist ein Spiegel, in dem jeder sein Bild zeigt.« Zwiesprache mit d e m Göttlichen /Lt um Mittagessen erscheint der Architekt und Maler Zahn. Der Gast ist in feierlich froher Stimmung: er weiß die Einladung zu schätzen. Einen Koffer hat er mitgebracht, vier Zeichenmappen sind darin. Aber Herr Zahn findet die Exzellenz nicht allein: der Herzoglich-Weimarische Legationsrat Johannes Falk, der Dichter Johann Heinrich Voss — eben der gleiche, dessen Übersetzung der Werke Homers die Bewunderung aller Deutschen hervorruft — und Mister Cogswell, Professor der Mineralogie und Chemie an der amerikanischen HarvardUniversität, zur Zeit auf einer Europareise, habe gleichfalls die Ehre erhalten, Tischgäste der Exzellenz zu sein. Der Amerikaner steht seit einiger Zeit mit Goethe in Briefwechsel, und der Geheime Rat hat ihm jüngst für die Bibliothek der Universität seine dichterischen und wissenschaftlichen Werke übersandt. Diese Bücherei hat — wie Mister Cogswell gleich nach Erhalt der Sendung an die Exzellenz geschrieben — ,unter ihren Schutzherren viele der besten Mäzene, die Europa während der letzten zwei Jahrhunderte besaß; aber es gibt keinen Namen in ihren Listen, den sie mit mehr Stolz unter ihren Wohltätern vorzeigen wird, als den Eurer Exzellenz!' Goethe ist in seinen Staatsrock gekleidet. Nun wirkt er noch feierlicher als sonst. Er trägt einen schwarzen Frack, auf dem der große Falkenorden blitzt, schwarze Hosen und Stiefel, eine weiße Weste und gekräuselte Manschetten. Um den Hals 43
schlingt sich ein locker geknotetes Seidentuch mit goldener Nadel. Er schätzt eine Vernachlässigung des Äußeren keineswegs: auch hierin zeigt sich deutlich sein Wille, »niemals zuchtlos zu sein, auch in nebensächlichen Dingen nicht«. Gewiß, in den ersten Jahren seiner Weimarer Zeit, damals, als seine und des jungen Herzogs tolle Streiche die Trägheit, das Philistertum der Bürger und Adligen aufgescheucht, da flüsterte man sich boshaft zu, er sehe wie ein ,Bär', ein ,Hurone', ein ,Westindier' aus. Da trug er am liebsten — wenn auch absichtlich vernachlässigt — jene Tracht, in die er seinen „Werther" gekleidet hatte: einen blauen Rock mit blinkenden Messingknöpfen, eine gelbe Weste, Lederhose und Stulpenstiefel: die »Werther-Uniform«, die durch seinen Roman »Die Leiden des jungen Werthers« Mode in ganz Europa geworden war. Aber diese J a h r e sind vorüber: »Der tollen Jugend anmaßliches Wesen« hat sich längst gewandelt. Aber er bedauert diese wilde Zeit nicht: »Keine Vorwürfe über Vergangenes! . . . Jeder Tag bestehe für sich! Wie kann man leben, wenn man nicht jeden Abend sich und anderen ein Absolutorium erteilt!« Er weiß besser als andere und weiß es aus seinen eigenen Werdestufen, daß Ungebärde und Sturm und Drang zum Wesen gesunder Jugend gehören, weil doch diese »Unarten meist ebensoviel Organe sind, die dem Menschen durch das Leben helfen«. Deshalb schätzt er auch den Polizeirat Theophil Blomm nicht, der ihn am Morgen an der Hecke des llmgartens belästigt hat, und er kann über solche Staatsdiener recht ärgerlich sein: »Es darf kein Bube mit der Peitsche knallen oder singen oder rufen, gleich ist . . . einer da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität . . . auszutreiben, so daß am Ende nichts übrig bleibt als der Philister.« Die Gäste, die jetzt an der feierlich gedeckten Tafel sitzen, .bilden anfangs ein recht ungleiches Dreigespann; aber es ist Goethes geniales Geschick, selbst die verschiedensten Wesen zur Einheit zu binden, ohne daß einer seine Ursprünglichkeit zu verleugnen braucht. Vor der Mahlzeit haben die Herren die pompejanischen Bilder des Malers Zahn gesehen, und nun kreist ein lebendiges Gespräch um die Tischrunde. Man spricht über die Kunst der Griechen, und die Worte wandern in klar durchdachter Folge durch die Jahrhunderte bis zur Gegenwart. 44
Mister Cogswell äußert zum Befremden der Herren Voss und Zahn, daß ihn die Naivität indianischer Form- und F a r b gebung (etwa eines geschnitzten Holzpfahles) nicht weniger anspreche als ein archaisches, etwa ein frühgriechisches Bildwerk. Herr Zahn erregt sich über diesen Vergleich so heftig, daß seine Hände zittern; doch er wagt keinen Protest. Hilfesuchend blickt er auf die Exzellenz. Johann Heinrich Voss aber, dessen Denken und Schaffen ganz in der Welt der Griechen lebt, kann sich nicht beherrschen; verletzt höhnt er: bei solch barbarischer Auffassung fehle nur noch, daß man einen Bauernstall mit einem griechischen Tempel auf die gleiche Stufe stelle oder den Stiefel eines Schusters mit der kostbar gearbeiteten Beinschiene aus der Werkstatt eines antiken Waffenschmiedes vergleiche. Der Spott ist scharf, und der amerikanische Professor scheint recht betroffen. Goethe bleibt ruhig; er tut erst einmal das, was sonst Aufgabe des Tischdieners ist: er gießt sehr bedächtig französischen Rotwein aus der Kristallkaraffe in die Gläser und trinkt seinen erregten Gästen lächelnd zu. Das alles erfordert eine gewisse Weile, und so mögen die aufgewirbelten Gefühle die beste Gelegenheit finden, ein wenig abzuebben. „Ich habe noch kein indianisches Bildwerk gesehen", klingt seine Stimme auf; »es könnte vielleicht sein, daß ein solches Werk mir beim ersten Anblick mißfällt, weil ich ihm nicht gewachsen bin; ahnt' ich aber ein Verdienst daran, so such" ich ihm beizukommen . . . An den Dingen werd' ich neue Eigenschaften und an -mir neue Fähigkeiten gewahr.« Voss und Zahn beugen sich ein wenig über die Gläser; Mister Cogswell aber schaut dankbar den Sprecher an. Goethe beginnt nun, bis zum Grunde allen künstlerischen Werdens vorzustoßen, und er beweist, daß das handwerkliche Schaffen bei allen Völkern und zu allen Zeiten der Anfang aller bildlichen Kunst ist. Seine anschaulichen' Worte führen die Herren nun durch die Werkstätten, in denen hier der verzierte Indianerpfahl, dort eine griechische Plastik und da ein kunsthandwerkliches Stück geschaffen wurden. Und immer und überall ist der göttliche Funke des Geistes, das Geschenk ^ e i liger Natur', lebendig, und ohne diese Beseelung ist kein Kunstwerk möglich. Und nun faßt dieser weit- und zeitweite Mann noch einmal alles, was er gesagt hat, in dem Satz zu45
sammen: »Der Künstler mag die Werkstatt eines Schusters betreten oder einen Stall, er mag das Gesicht der Geliebten, seinen Stiefel oder die Antike ansehen, überall sieht er die heiligen Schwingungen und leisen Töne, womit die Natur alle Gegenstände verbindet!« Ein Schweigen zuerst, alle fühlen und wissen, was der Sprecher mit dem Wort „Natur" meint, daß er so ehrfürchtig ausspricht: das Göttliche! Johann Heinrich Voss hebt mit leiser Gebärde sein Glas dem amerikanischen Professor entgegen; dann lächelt er zu der Exzellenz hinüber: „Lieber Goethe, ich habe ausgekrittelt!" — Frau Christiane sitzt heute nicht an der Tafelrunde, und Johann Wolfgang hat sie gleich zu Anfang des Essens entschuldigt. Sie muß sich diesmal selber um die Küche kümmern; sie tut es befriedigt, weil doch das boshafte Weibsbild, die Hoyer, das Haus verlassen hat. Erst als die Herren in den Hausgarten gehen, gesellt sie sich zu ihnen. Der Garten liegt gleich hinter der Wohnung; er ist nicht groß, eine Buchsbaumhecke begrenzt ihn; einige Bäume stehen darin, die der Herr Geheime Rat selber gepflanzt hat; Kaiserkronen und Rosen schmücken die besonnte Fläche. Man sieht auch zwei kleine Häuslein dort: sie enthalten physikalische und naturhistorische Sammlungen. Die Exzellenz wandelt gern im »Klostergarten«, wie er ihn nennt: hier kann er in strenger Einsamkeit die Wege des Gartens und die seiner Gedanken gehen. Vor fremden Blicken ist er jedoch niemals ganz gesichert; denn es sind sehr viele, die vom Nachbargarten her — durch Sträucher verdeckt — den einsamen Wanderer beobachten. Herr Legationsrat Falk ist recht aufgeräumt, er verrät der Exzellenz und den Gästen, was ihm ein sechzehnjähriger Bub geschrieben hat: mehrmals habe der Junge Herrn Goethe von der Hecke her gesehen, ,die Augen beständig auf ihn gerichtet, um seine Gesichtszüge recht in das Herz zu prägen'. Der Knabe habe seinem langen Bericht über diese merkwürdige ,Besichtigung' ein hübsches Wort eingefügt, und das wolle er den verehrten Herren nicht vorenthalten: ,Es ist doch wunderbar, daß man, um einen Tiger, einen Bären, eine wilde Katze zu sehen, einen halben Gulden bezahlen muß, und daß man dagegen den Anblick eines großen Mannes, der doch das Seltenste ist, was man in der Welt sehen kann, völlig umsonst haben mag!' 46
„Schade", freut sich der Geheime Rat, „daß ich diesen Frechdachs nicht an seiner Nase in meinen Klostergarten ziehen kann, er hätte noch ein merkwürdiges Tier schauen können, ohne dafür einen halben Gulden zu bezahlen." Mit lebhaften Schritten führt Goethe die Gäste an den .Gartentisch, auf dem ,ein langgehalstes Zuckerglas' steht, ,worin sich eine kleine, lebendige Schlange munter bewegt'. Er nimmt das Glas empor. Ob das Tier, das sogleich das Köpfchen hebt, ihn kennt, weil er es täglich mit einem Federkiel füttert? Eine Zeitlang betrachtet Goethe die Schlange. »Diese herrlichen verständigen Augen!« Er weist auf den Körper: »Hände und Füße ist die Natur diesem . . . Organismus schuldig geblieben, wiewohl dieser Kopf und diese Augen es verdient hätten; wie sie überhaupt manches schuldig bleibt, was sie für den Augenblick fallen läßt, aber späterhin doch wieder unter günstigen Umständen aufnimmt.« Er fährt fort und erklärt, wie die Natur immer wieder von dem Gedanken erfüllt ist, aus niedrigen Gattungen höhere zu schaffen. Wieder ist das Wort ,Natur' gesprochen worden, und erneut schwingt darin eine Ehrfurcht, die die Gäste ergreift. Gleich neben dem Glas liegen einige Kokons eingesponnener Raupen, ,deren Durchbruch Goethe nächstens erwartet'. Behutsam nimmt er sie auf, und es ist, als ob er mit der tastenden Hand in sie hinein ,lausche'; nun hebt er die Hüllen an sein Ohr: »Wie das klopft, wie das hüpft und ins Leben hinaus will! Wundervoll möcht' ich sie nennen, diese Übergänge der Natur, wenn nicht das Wunderbare in der Natur eben das Aliergewöhnlichste wäre!« Frau Christiane ist ein paar Schritte zurückgeblieben. Johann Wolfgang schiebt die Kokons an die hellste Sonnenstelle des Tisches und tut ebenso mit der Schlange. Sie hält den Kopf noch höher und berührt seine Hand. „Ein garstiges Ding", ruft die Vulpius und schüttelt sich, „mir graut jedesmal, wenn ich es nur ansehe!" — „Schweig!", der Geheime Rat ist unwillig; »ja, wenn die Schlange ihr nur den Gefallen erzeigte, sich einzuspinnen und ein schöner Sommervogel zu werden! . . . Aber, liebes Kind, wir können nicht alle Sommervögel und nicht alle mit Blüten und Früchten geschmückte Bäume sein . . . Arme Schlange! Sie vernachlässigen dich! Wie sie mich ansieht! . . . ist es nicht, als ob sie merkte, daß ich Gutes von ihr spreche!« Der amerikanische Professor 47
ist keiner von denen, die sich schnell von einem Wort ergreifen lassen. Aber jetzt berührt es ihn doch sonderbar: Goethe spricht, als ob er mit der Natur verschwistert sei. Er hört die Exzellenz wie zu sich selber sagen: »Jener Baum, diese kleine Schlange, der Kokon, der seine Zukunft ruhig erwartet, alles das sind inhaltsschwere Signaturen. Ja, wer nur seine Bedeutung recht zu entziffern vermöchte, der würde alles Geschriebene und alles Gesprochene bald zu entbehren imstande sein.« Wie! fragt sich der Dichter Voss: stellt er die Versenkung in die Natur und ihre Entzifferung wirklich höher als alles, was er geschrieben hat? Und Zahn fühlt erschüttert: Er fordert die Stille, damit er ungestörte Zwiesprache mit der Natur und der Gottheit halten kann. Und Cogswell denkt: Er läßt sich in letzter Einsamkeit anrühren vom »ewigen Walten« und empfindet dann beglückt, »daß wir nicht ganz in der Fremde sind: wir wähnen, einer Heimat näher zu sein, nach der unser Bestes, unser Innerstes hinstrebt«. Nur in der Stille »führen gute Geister, / gelinde leitend, höchste Meister / zu dem, der alles schafft und schuf«. Der Geheime Rat hält ein Stücklein Granit in der Hand, er spricht ausführlich von der Beschaffenheit des kristallinischen, des Urgesteins. Aber seine Worte bleiben nicht wie die eines Fachgelehrten an der steinernen Materie hängen: sie dringen weiter vor, berühren die Frage, wie die Erde entstanden sei und münden ins Ewige ein, ins Göttliche, das im Geschaffenen wirkt und lebt. Der Professor, der sonst so nüchterne Mineraloge, bekennt sein Erstaunen, wie kühn und doch »in Folge« die Exzellenz denke, wie er alle engen Bezirke überschreite und ins Religiöse erweitere. Der Dichter Voss erbittet sich von seinem ,lieben Goethe' das Granitbröcklein; ganz still hüllt sein Blick den kleinen, für ihn bisher so unwerten Steinfetzen ein. Goethe neigt sich ihm zu, als sei das folgende Wort nur für den Freund, den ,homerischen Dichter' bestimmt: »In jedem Steine ahne ich Gott«, und dann sagt er zu Falk, von dem er weiß, daß ein böser Brand ihm kürzlich sein schönes Heim vernichtet hat: »Bleibt uns nur das Ewige in jedem Augenblicke gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit!« Das Herz des empfindsamen Malers Zahn ist tief berührt. Er kannte die berühmte Exzellenz bis zum heutigen Morgen nur aus einigen Dichtungen, vor allem aber aus den Berichten 48
der Leute. In Neapel, in Rom, in Venedig hat man von ihm erzählt, die einen haben ihn bewundert, die anderen gelästert. Dann ist Zahn nach Deutschland gekommen, und hier hat ihm fast nur das ,Geschrei' der Menschen über den Dichter ins Ohr geklungen. Der Maler ist ein frommer,^ einfältiger Mensch, nichts wird ihn jemals von dem Glauben abbringen können, den er zuerst auf dem Schoß seiner Mutter vernommen hat. Deshalb hat es ihn beunruhigt, daß die Menschen den Doktor als ,Heiden' verschrien. In dieser Stunde aber erfährt Zahn, wie sehr die bösen Mäuler und wie die Unwissenden das Wesensbild des großen Mannes verzeichnen und verzerren. Sie stützten ihre Worte nicht zuletzt auf jenes rebellische Gedicht aus den Jünglings jähren der Exzellenz, auf »Prometheus«, in dem der geniale Stürmer sich den Göttern gleichgestellt: sein »heilig glühend Herz« trotzt ihnen, er bedarf ihrer Hilfe nicht: er, der von leidenschaftlicher Kraft gepeitschte Jüngling, will selber Schöpfer von Freude und Leid sein. In dieser Gartenstunde rückt Zahn von allen böswilligen Feinden und von allen unwissenden Gegnern Goethes ab. Hat der Dichter nicht auch jenes andere Gedicht geschrieben, das nach dem trotzig-stolzen »Prometheus« entstand! Hat er in diesen neuen, ruhiger fließenden Strophen nicht seine Stellung als ein immer zur Erkenntnis strebender, wenn auch immer wieder irrender Mensch erkannt: s e i h e Grenzen und die »Grenzen der Menschheit«! »Wenn der uralte heilige Vater mit gelassener Hand aus rollenden Wolken segnende Blitze über die Erde sät, küß ich den letzten Saum seines Kleides, kindliche Schauer treu in der Brust . . .« Dieser Titan darf trotz des Rebellentums seiner Jünglingsjahre fromm von sich bekennen, daß er »bei allem irdischen Treiben immer nur aufs Höchste hingeblickt hat«. Zahn steht im lebendig-plaudernden Kreis der Gäste; wie aus weiter Ferne hört er, was die andern sprechen, aber seine aufgewühlten Gedanken gehen ihren eigenen Weg. »... kindliche 49
Schauer«: das Wort des Gedichtes läßt ihn nicht los. Die Zeit entgottet mehr und mehr, der Götze Verstand, der alles aufklären möchte, will triumphieren und höhnt geringschätzig darüber, was Geheimnis, Ahnen und Glauben ist. Dieser Goethe aber stellt über alles Aufklären, Wissen und Verstehen ein weit Höheres: »Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen«; -es bewirkt das Erschauern vor dem Unerforschlichen. »Das Schaudern ist der Menschheit bester Teil.« Der Maler hält die Augen geschlossen, und man könnte glauben, daß die Sonne ihn störe. Er weiß es nun: dieser große Wissenschaftler und Künstler lehrt die Ehrfurcht; ihn mögen menschliche Fehler, äußerliche Mängel innerhalb der Religionen und Bekenntnisse ergrimmen: niemals aber tastet er den Glauben des Menschen an; er respektiert jede ehrliche Gottüberzeugung, mag einer »,Unser-Vater' oder ,Vaterunser' beten«; der ,Heide', als den ihn so viele verwerfen, stellt seine Größe vor das Christentum und wendet sich gegen die oberflächlichen Gesellen, die ihn und manches seiner ehrlichen Worte der Kritik als Waffe gegen die Lehre Christi mißbrauchen wollen: »Über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird der menschliche Geist nicht hinauskommen.« Die „Klosterzelle" A V u r z vor drei Uhr nachmittags ist Dr. Riemer, der Sekretär des Geheimen Rates, gekommen und hat sich unverzüglich in das Arbeitszimmer der Exzellenz begeben. Riemer ist sich der Auszeichnung bewußt, im nahen Dienste des großen Mannes zu stehen. Er ist ein selbstbewußter Herr, der seine Fähigkeiten zu schätzen weiß, und befleißigt sich übrigens auch der Dichtkunst; aber nimmer wird er es wagen, seine Poesien Goethe zu zeigen. Er ist aus einem anderen Holze geschnitzt wie der Sekretär, der ihn in späteren Jahren ablösen wird; wir meinen Herrn Johann Peter Eckermann, einen Menschen von ärmster Herkunft, der in seiner Jugend hausieren ging und das Vieh hütete. Glückliche Umstände sind schuld daran, daß er studieren konnte, aber zeitlebens ist er ein ,Naturkind' geblieben; er war ein feinfühliger . . . feinhöriger Mann', der kein Wesens aus sich machte. Herr Riemer ist also von anderer Natur wie sein späterer Nachfolger. Der Sekretarius Riemer 50
„ . . . Nein,
diese
»Klosterzelle' ist kein Exzellenz"
standesgemäßer
Raum
für
die
liebt das äußere Ansehen, obgleich er doch wissen müßte, wie ablehnend und gleichgültig sein Herr zu aller prunkenden Glorie steht: »Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.« Der Minister kennt natürlich Riemers Mängel recht genau; er lächelt darüber, wenn sein tüchtiger und anstelliger Sekretarius über gewisse Untugenden holpert und stolpert; aber »durch Stolpern kommt man bisweilen weiter, man muß nur nicht fallen und liegen bleiben!« Wie dem auch sei: die Exzellenz ist im allgemeinen zufrieden mit Herrn Riemer und gibt ihm deshalb öfters auch die große Ehre, bei Gesprächen mit erlesenen Besuchern aus dem In- und Ausland anwesend zu sein. Das sind Riemers Sonnenstunden: festlich gekleidet steht er neben seinem Herrn. Er darf sich durch die feierlichen Räume bewegen und mit einer oft nur mühsam gedämpften Begeisterung die Gäste über die reichen Schätze des Hauses unterrichten. Die Privatgemächer Goethes jedoch . . ., hm! da ergeht 51
es ihm wie vielen Besuchern: er kann sich mit der klösterlichen Einfachheit' nicht abfinden. Da ist das Schlafzimmer zum Beispiel; es ist nicht viel besser eingerichtet als jenes im Gartenhaus an der Um: die Tür ist schmal, ein schlichtes Bett aus Tannenholz steht dort, ein Lehnstuhl (in dem Goethe 1832 sterben wird), ein kleiner Waschtisch und ein Waschschüsselchen darauf; Schlafzimmer in ländlichen Gasthöfen mögen reicher ausstaffiert sein als dieser Raum. Was jedoch dem Sekretär am meisten Kopfschütteln bereitet, ist das Arbeitszimmer des Ministers. Nein, diese »Klosterzelle« ist kein standesgemäßer Raum für Seine Exzellenz! Nicht die geringste Bequemlichkeit ist zu entdecken, kein Schmuck belebt die Kargheit der Studierstube, kein Teppich bedeckt den kalten Fußboden. Ein leichtgerundeter Tisch steht in der Mitte, ein Bücherschrank zur Rechten, die Werke des Dichters sind hier eingeordnet, sie tragen schmucklose Einbände; in den Gefächern sieht man Atlanten, mehrere Nachschlagewerke, kunsthistorische, geologische, volkskundliche und anatomische Tafelwerke. An der linken Seite erhebt sich ein brusthohes, nicht allzu breites Stehpult mit etwa dreißig Schiebladen. Zwei mittelgroße Fenster ohne Gardinen spenden Licht von der Gartenseite her. In diesem Zimmer also sitzt Herr Dr. Riemer um die dritte Stunde und hört, wie sich die Tisch- und Gartengäste
»Eine Umgebung von bequemen Möbeln hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen passiven Zustand.« Seitdem auch das Sofa, das letzte »Ausruhmöbel«, weggeschafft wurde, hat sich das Zimmer wirklich in eine »Klosterzelle« verwandelt. Und doch: »In dieser Armut welche Fülle!« Kein Geringerer als der Hof rat von Schiller hat gesagt: ,Sein Geist wirkt und forscht nach allen Richtungen und strebt, sich ein Ganzes zu erbauen; das macht ihn zu einem großen Mann.' Goethes Arbeitsraum, das Heiligtum des Hauses, macht diese Behauptung wahr: hier wirkt und forscht die Exzellenz nach des großen Freundes Wort nach a l l e n Richtungen. Schaut doch nur umher, welche Arbeitsmaterialien heute wieder über das Zimmer verstreut sind! Da liegen Steine, deren Beschaffenheit und Alter er untersucht, dort siehst du Halbkugeln, aus Pappe gemacht, an denen er physikalische Gesetze bestimmt; daneben findest du Thermometer und Hygrometer, ein Brennglas, ein Gerät, um Blitze zu messen, ein Reißzeug; auf dem Stehpult häuft sich Erde auf einem Teller, daneben Fischgräten und Teile eines Hechtkopfes: der Naturwissenschaftler beschäftigt sich damit; an anderer Stelle liegen Hölzer, eine Flasche, in der sich Kristallgebilde angesetzt haben, die wie Eisblumen aussehen; die Schiebladen bergen Sämereien aller Sorten und getrocknete Pflanzen; an der Wand entdeckst du eine lange Tabelle, auf der wichtige politische und künstlerische Ereignisse aus der Zeit der Antike verzeichnet sind; wendest du deinen Blick zur Tür, die in das Schlafzimmerchen leitet, bemerkst du handschriftliche Tabellen der bedeutendsten politischen Geschehnisse, und am linken Fenster hängt ein Blatt, das den Plan für die Monatsarbeit im Garten enthält. »Ich lebe von der Mühe« — und, wahrlich, dieser Raum mag es bezeugen. Im stillen fragt sich Dr. Riemer so oft (und sein Blick streift scheu den Geheimen Rat): »Wie man nur so leben kann? Du machst dir gar keinen guten Tag!« und dann kann es geschehen, daß ihm die stumme Antwort wird: »Es ist mir erlaubt, Blicke in das Wesen der Dinge und ihre Verhältnisse zu werfen, die mir einen Abgrund an Reichtum eröffnen.« Wie er den Minister kommen hört, erhebt sich Riemer und überblickt noch einmal die Ordnung im Arbeitszimmer, die ihm übertragen ist. Im letzten Augenblick entdeckt er noch einige Dinge, die eigentlich nicht in diese ernste Kammer gehören, aber er läßt sie an ihrem Platz: Holzklötzchen, Schächtelchen mit buntfarbigen Seidenläppchen und Wollresten und eine 53
Puppe: Kinderspielzeug! Goethe kann heftig werden, wenn einer sich erdreistet, ihn bei seiner Arbeit zu stören. Aber sein Grimm verwandelt sich sogleich in hellste Freude, wenn Kinder ihn besuchen; dann mag es geschehen, daß er sich aus einer Ewigkeitsfrage losreißt und mit fröhlichem Lachen in die kleine Welt der »lieben Menschengesichter« springt. Schaut nur, wie groß doch seine Geduld den Kindern gegenüber ist! Wie kann er manchmal dies kecke Völkchen ertragen! Nun, er weiß: »Ein Blatt, das groß werden soll, ist voller Runzeln und Knittern, eh' es sich entwickelt. Wenn man nicht genug Geduld hat und es gleich glatt haben will ..., dann ist's übel!« All diese oft so ungebärdigen Kleinen: »So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben!« Riemer hat oft genug solche Gedanken gehört; aber von allen Worten hat ihn am meisten das ergreifende Bekenntnis gepackt: »MeinemHerzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde!« und »...so unverdorben, so ganz! Immer wiederhole ich die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: ,Wenn Ihr nicht werdet wie eines von diesen!'« — Vom Turme der Stadtkirche schlägt es drei Uhr. Dr. Riemer hat die eingegangene Post geordnet und reicht Brief um Brief der Exzellenz. »Das Kind, das artig gut Mädgen« hat geschrieben, freut sich Goethe und liest das Brieflein der schwärmerischen und ergebensten unter all seinen Verehrerinnen, der Dichterin Bettina von Arnim. Nun, was mag sie heute plaudern? Der Kompositeur Ludwig van Beethoven hat Bettina gebeten, dem Geheimen Rat doch alles von ihm zu s a g e n . . . ,Ich ringe nach nichts als nach dieses Mannes Liebe. Seit ich eine Vorstellung von ihm habe, bin ich nicht mehr so unglücklich als s o n s t ' . . . und ,Ich schicke die Musik — zu »Egmont« — nächstens an Goethe, die ich aus Liebe, aus reiner Liebe zu ihm gemacht habe.' Riemer ist es, als sei der Minister sehr nachdenklich geworden über Bettinas Brief. Diese beiden Titanen werden sich niemals brüderlich begegnen können; denn Beethoven ist eine »ganz unbändige Persönlichkeit«. — Da liegt noch ein Brief aus Frauenhand: Charlotte von Kalb klagt der Exzellenz ihr bitteres Schicksal: die Vermögensverhältnisse sind vollständig zerrüttet; der Gatte hat sich erschossen, Frau von Kalb betreibt in Berlin einen Handel mit Tee und Kurzwaren, Goethe soll ihr helfen: .Hätten Sie die Neigung, die Ruhe meiner Tage zu fördern, so geben Sie mir eine kleine Summe, 54
( etwa 100 Reichsthaler!' — „Legen Sie den Brief gesondert!", sagt der Geheime Rat, sonst nichts. Sein Antlitz ist beherrscht wie immer, und der Sekretär vermag nicht zu lesen, was in ihm vorgeht. Er reicht ihm den nächsten Brief und verneigt sich dabei: Herzog Carl August befindet sich auf der Reise und berichtet, daß er den Plan zu einem neuen Landhause eingesehen; aber er ist nicht ganz mit der Zeichnung einverstanden, die Feuerstellen in den Räumen müssen unbedingt verändert werden. ,Mein Lieber', bittet der Herzog, ,nimm dich der Sache a n . . . ' — Goethe liest den Brief ein zweites Mal, dann sagt er: „Notieren Sie, daß ich den Architekten übermorgen mit einem endgültigen Kostenanschlag zur Besprechung erwarte, beordern Sie gleichfalls den Verwalter der Herzoglichen Schatulle!" Hm! denkt Riemer, die Exzellenz wird sicher wieder einmal gehörige Abstriche machen: die Staatsschulden sind angewachsen. Goethe hat den Etat begrenzen lassen, und der Herzog hat sich kürzlich dem Minister Goethe gegenüber verpflichtet, ,seine Forderungen nie darüber zu erstrecken'. Goethe liest die nächsten Briefe, und nach jedem diktiert er die Antwort oder gibt Hinweise, die dem Sekretär dienen werden, das Rückschreiben selber anzufertigen. Da sind Briefe der Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Arthur Schopenhauer, des Physikers Georg Lichtenberg, des Malers Philipp Otto Runge und des Historikers Niebuhr. Aus dem Auslande sind heute nur drei Schreiben eingegangen: Karl Fürst von Lichnowsky aus Böhmen, ein Freund des Kompositeurs Mozart, plaudert in herzlicher Ausführlichkeit; der dänische Dichter Oehlenschläger grüßt Weimar, ,den Tempel Deutschlands, wo Goethes Leben belebt und Schillers Geist begeistert', und der steinkundige Magistratsrat aus dem böhmischen Eger, Herr Johann Sebastian Grüner, kündigt mit dem ,hier abgegangenen Postwagen ein Kistchen' an, ,enthaltend Granite und Kristalle'; zugleich bittet er die Exzellenz, welche ,die Hochachtung des gelehrten Europa' erworben hat, um einen kleinen Beitrag zum böhmischen Nationalmuseum. Die letzten Briefe umfassen Bitten um Darlehen, den Hilferuf einer Dame, einen Familienstreit zu schlichten, dann unwesentliche Anfragen und Äußerungen der Verehrung. Einige Schreiben sind darunter, die in wenigen Augenblicken erledigt sind, weil sie sich selbst erledigen. Riemer legt sie gesondert auf den Tisch, er wird sie nachher säuberlich einem bestimmten Packen von 55
aberhundert Schreiben hinzufügen: es ist jene Korrespondenz, die niemals beantwortet wird; es sind Briefe der »Zeiträuber«, 1 der dummen oder böswilligen Klatschgesellen, der jämmer- i liehen Schmeichler. Was er einmal Schiller geschrieben hat, das wird Goethe immer mehr zur Richtschnur seines Verkehrs mit den Menschen: »Reiner Genuß und wahrer Nutzen kann nur wechselseitig sein.« Nein, »mit solchen Briefantworten muß man nolens volens Bankerott machen«; »mehr als ein | Menschenleben würde dazu gehören, wenn man alles nur flüchtig erwidern wollte!« Wenn einmal alle Briefe, die er geschrieben oder erhalten hat, gedruckt erscheinen, werden sie sechzig dickleibige Bände umfassen. Riemer atmet nach zwei Stunden angestrengter Arbeit auf, j der letzte Brief ist eingeordnet. Es ist wirklich nicht leicht, Sekretarius bei Goethe zu sein! „Danke Ihnen", sagt die Exzellenz, „verschnaufen Sie eine ! gute Dreiviertelstunde: gehen Sie spazieren und trinken Sie Luft!" Riemers Gesicht sieht angegriffen aus: Bewegung und Luft werden ihm gut tun. Und Goethe denkt an Schiller, der fast nur im muffigen Dunst seines Arbeitszimmers lebt und schafft: »Eine Luft, die Schillern wohltätig ist, wirkt auf mich wie Gift.« Der Sekretarius geht und freut sich, daß er nun vors Stadttor promenieren kann. Der Doktor ist allein, er blickt eine Weile in den »Klostergarten« hinab und, bevor er sich anschickt, seine eigenste Arbeit zu verrichten, saugt er tief den reinen Odem ein, der von den Bergen herüberweht: »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: / die Luft einziehen, sich ihrer entladen. / Jenes bedrängt, dieses erfrischt...« Und jetzt ist alles still: das große Haus scheint ohne Geräusch; denn alle, Frau Christiane und die Diener, wissen, daß Goethe arbeitet. Die Stille fließt wie in feinster Verästelung in sein Herz hinein und verdrängt auch den leisesten Nachhall fremder Worte, die er in den letzten Stunden vernommen hat. Jetzt ist der Augenblick gekommen, da ,es aus ihm schafft', da eine geheimnisvolle Quelle stärker und stärker aufbricht, in der das unsterbliche Gedicht entsteht. Nur in der Stille wird ihm diese Begnadung geschenkt; »es bleibt nun einmal, daß ich ohne absolute Einsamkeit nicht das Mindeste hervorbringen kann«. Er steht am Pult, der Federkiel eilt über das Papier. 56
Wirken, solange es Tag ist N och sind es nicht allzu viele in den deutschen Landen, die erkennen können, daß diesem Menschen das Dichten ein naturhafter/Vorgang ist wie das Kreisen des Blutes, wie das Atmen; die Absicht, der Wille ist ausgeschaltet. Sein dichterisches Schaffen tut »übermächtig mit ihm«, tut, »wie es beliebt, er gibt sich bewußtlos hin«. Es ist ein »unverhofftes Geschenk von oben«, und er ist nur »ein Werkzeug einer höheren Weltregierung, ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses«. Wie gesagt: es sind nicht allzu viele, die von dieser geheimnisvollen Gewalt wissen, und zu diesen wenigen gehört Herr Dr. Riemer, der soeben —ehrerbietigst grüßend und wohlwollend Grüße erwidernd — dem Erfurter Tor entgegenspaziert. Wir wissen bereits, daß auch er dichtet und artige Verse schreibt; aber er steht leider in der Reihe abertausend kleiner und hundert größerer Dichter, von denen die Exzellenz einmal gesagt hat: »Gebt ihr euch einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie!« Der Herr von Goethe jedoch unterliegt dem geheimnisvollen Anruf, der »übermächtig mit ihm tut«. Aber da ist noch ein zweites, von dem Riemer Genaues weiß, und das ist mit dem ersten verbunden: der verehrte Goethe s u c h t keinen Stoff, spürt kein Motiv auf, das ihn anregen könnte, um es in ein Gedicht zu verwandeln: er ist ,der Dichter des höchstpersönlichen Erlebnisses'. Die engsten Freunde Goethes haben manches wichtige Bekenntnis gehört, das klaren Aufschluß darüber gibt: »Alle meine Gedichte sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden«, »es ist kein Buchstabe darin, der nicht gelebt, empfunden, genossen, gelitten, im Zusammenhang mit dem Erlebten gedacht wäre«, und »was ich nicht lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte und schaffen machte, habe ich nicht gedichtet und ausgesprochen«. Doch da ist noch ein Drittes, und darüber weiß der Sekretär am besten Bescheid: andere Dichter haben ihre , Schaffens jähre', ihre Zeit, in der die schöpferischen Kräfte fließen und sichtbar werden. Jedoch vor dieser fruchtbaren Periode liegen die unfruchtbaren Jahre, und wenn die Woge des Arbeitsstromes vorübergerauscht ist, versiegt die Quelle meist rasch; wohl lebt 57
noch der Mensch, doch der Dichter in ihm ist stumm geworden, Von Goethe aber weiß Herr Dr. Riemer ganz genau: seit frühester Jugend ist er ein Dichter und ist es — in immer wachsender Stärke — bis heute geblieben. Sein schöpferisches Schaffen umspannt die Weite seines Lebens! •— Ein Viergespann jagt heran, Dr. Riemer springt zur Seite. Wie er den Passagier erkennt, beeilt er sich, verbeugt er sich tief, wie alle Leute beflissen tun: Prinz Konstantin, der Bruder des Herzogs, hält die Zügel in der Hand und feuert die Pferde mit lauten Zurufen an. Er lacht, wie er die aufgescheuchten Weimarer sieht, die sich erschreckt an die Häuserwände flüchten. — Zwei kurze Glockenschläge . . . Noch eine halbe Stunde! denkt der Sekretär und greift den so jäh unterbrochenen Gedanken wieder auf. Ja, schon in frühester Kindheit ist dieser Goethe ein Dichter gewesen. Exzellenz hat es seinem Sekretär nicht erzählt, aber Riemer erfuhr recht viele Einzelheiten aus den Briefen der Bettina von Arnim, aus deren Hand heute das lange Schreiben eingetroffen ist. Der Minister hat das »Kind«, wie er seine glühende Verehrerin zu nennen liebt, vor längerer Zeit gebeten, Mutter Aja in Frankfurt aufzusuchen, sich von ihr alles aus seiner Jugend erzählen zu lassen und ihm darüber zu berichten. Und nun kommt Brief um Brief, und Herr Dr. Riemer hat die Ehre, jeden zu lesen und einzuordnen. Ja, der ,Hätschelhans' ist schon auf Mutters Schoß ein wunderliches Dichterkind gewesen: Mutter Aja erzählte ihm Märchen, oft selbst in Eile erfundene, von denen sie im Augenblick noch gar nicht wußte, wie sie die Geschichtlein glücklich zu Ende bringen werde. Da konnte es gar oft geschehen, daß das wunderliche Kind ,mit seinen großen schwarzen Augen' die Mutter plötzlich unterbrach, den Faden des Märchens an sich riß und aus eigener Fabulierlust weiter- und zu Ende spann. Gewiß, er spricht in diesen frühen Jahren noch keine Verse; aber schon sind seine Worte ,Signaturen' einer dichterisch-erregten Phantasie. Mit acht Jahren schreibt er mit seinen noch ungelenken Händlein das erste Gedicht, einen vorzüglich gereimten Neujahrsglückwunsch an die Großeltern: ». . . Ein neues J a h r erscheint, / drum muß ich meine Pflicht und Schuldigkeit entrichten, / die Ehrfurcht heißt mich hier aus reinem Herzen dichten, / so schlecht es ist, so gut ist 58
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gemeint . . .« Das klingt für einen Achtjährigen nicht schlecht, selbst wenn fremde Hilfe dem Poetenbüblein ein •wenig zur Seite gestanden haben sollte. Als Johann Wolfgang vierzehn J a h r e alt geworden, überreicht er Jahr für Jahr dem strengen Herrn Rat Johann Caspar Goethe einen Großquartband, wohl an die 500 Seiten stark, gefüllt mit eigenen Poesien. Gewiß, all diese Werke eines Knaben können noch nicht wie ausgereifte Früchte sein, noch atmen sie den Geist der Zeit und kleiden sich in die Form gewisser Vorbilder; aber der rätselhafte Drang, sich dichterisch zu »bekennen«, ist nicht »kommandiert«: die .Reim- und Verswut' der Kindheit ist Teil seiner inneren Natur. Mit achtzehn Jahren wird es ihm endgültig bewußt, daß er zum Dichter geboren ist: ». . . ich kann meiner innerlichen Überzeugung glauben, die mir sagt, daß ich Eigenschaften besitze, die zu einem Poeten erfordert werden.« eS
Die fremde Hülle, die Fesseln, die den jungen Dichter noch an die verschnörkelten Poesien seiner Zeit binden, zerreißen für immer im Erlebnis der Straßburger Studenten] ahre. Dr. Riemer wird die Jahreszahl, die das entscheidende Ereignis im Leben Goethes und im Leben der deutschen und ausländischen Dichtung verankert, nicht vergessen: 1770, im Oktober. Friederike Brion, die Tochter des Pfarrers von Sesenheim, begegnet dem Studenten und erregt seine leidenschaftliche Liebe. Aus dieser Herzensglut sprüht der Funke empor, wird zum Feuer, in dem das Fremde versinkt und die e i g e ne ,Natur' sich läutert. In der Wirklichkeit dieses ihn beglückenden und erschütternden Erlebnisses wachsen seine Gedichte endlich aus dem ihm zugemessenen »Grund und Boden«. Das Friederike-Erlebnis läßt in ihm eine ,neue Welt des Schönen' aufblühen, ein »Naturwesen« gibt ihm »Jugend, und Freud und Mut zu n e u e n Liedern«. Von nun an ist »alles Schreibens Anfang und Ende« nur noch »die Reproduktion der Welt um mich durch die innere Welt«, all sein Dichtwerk wird zum Bekenntnis »aufbewahrter Leiden und Freuden meines Lebens«; und nach dem Gesetz, nach dem er angetreten; muß er dem Zwang, sich dichterisch zu offenbaren, gehorchen, »solang es Tag ist«, bis der Tod dem 83jährigen die Feder aus der Hand nehmen wird. So weit du auch Gegenwart und Vergangenheit und die Völker aller Zeiten durchhorchst, um ein zweitesmal bei 59
einem Geistesschaffenden eine gleich dichterische Entfaltung von der Jugendfrühe bis ins hohe Greisenalter zu entdecken: Du wirst sie nicht mehr finden. Solcher Tage werden viele sein . . , H err Dr. Riemer kehrt zur festgesetzten Zeit zurück, und! sogleich wird die gemeinsame Arbeit wieder aufgenommen. Ein schneller Blick auf das Stehpult überzeugt den Sekretär, daß die Exzellenz inzwischen einige Strophen geschrieben hat. Riemer wird beim Aufräumen des Zimmers heimlich lesen, was dort auf dem Papier steht. Er sitzt mit gespannter Aufmerksamkeit am Tisch und schreibt, was Goethe spricht. Wie immer geht der Minister durch den Raum, unaufhörlich, er umkreist mit ruhigen Schritten den Tisch. »Was ich Gutes finde in Überlegungen, Gedanken, ja sogar im Ausdruck, kommt mir meist im Gehen. Sitzend bin ich zu nichts aufgelegt.« Er diktiert einen langen wissenschaftlichen Beitrag. — Um sechs Uhr ist die Arbeit für heute beendet. Sie ist nur unterbrochen, keineswegs abgeschlossen, und er könnte noch eine Stunde schaffen. Aber Müdigkeit kommt ihn an, und er' befolgt seinen eigenen Rat, »nichts zu forcieren . . . etwas machen zu wollen, woran man später keine Freude hat«. Im übrigen wartet Frau Christiane auf ihn. So verabschiedet er sich denn von Riemer, er lobt seinen Fleiß und sagt ihm ein »schönes Lebewohl« bis morgen. Die Vulpius hat den Tisch gedeckt, und sie hat — wie sie es immer mit treuer Beharrlichkeit tut — auch für Johann Wolfgang Teller und Besteck aufgelegt. Dabei weiß sie genau, j daß er am Abend nur ausnahmsweise einmal einen Bissen zu sich nimmt. Denn das Mittagessen ist meist die letzte Mahlzeit des Tages. Er kommt ein wenig abgespannt, aber in bester Laune, setzt sich an die Tafel und freut sich, wie ; seiner Christiane das Rebhuhn schmeckt. Er muß ihr viel von seiner heutigen Arbeit erzählen; wie sie sich aber neugierig nach dem Gespräch mit dem Berghauptmann erkundigt und allzu gerne wissen möchte, ob sich der Abbau (von dem alle Leute reden) noch rentiere, gibt er ihr nur ein verschmitztes Lächeln zurück. »Verplaudern ist schädlich, verschweigen ist 60
gU t«, denkt Philipp Seidel, der Madame bedient. Er kennt den Spruch, der im »Getreuen Eckart« steht, er weiß, daß sein yeber Herr die Verschwiegenheit als eine hohe Tugend preist: a ls die »Fürstin der Völker«, die treue »Göttin, die mich sicher durchs Leben geführt«. Die Vulpius ist natürlich ein wenig gekränkt. Aber das dauert nur wenige Augenblicke; denn es drängt sie doch allzu mächtig, noch einiges Neues zu erzählen, was sich heute ereignet hat: sie hat sich bemüht, eine andere Köchin zu finden, und es bestehen die besten Aussichten, daß morgen schon eine neue Küchenmamsell im Hause wirken wird. Auf dem Wege zur Kammerherrin von Könnritz, mit der sie eine kleine Kaffeefreundschaft pflegt, ist sie dem Chormeister Zwierlein begegnet, diesem dreisten Menschen, der sie nunmehr schon zum dritten Male auf offener Straße anhält: unbedingt will er der Exzellenz einen Besuch machen -—, „dabei hast du ihn doch schon einmal abgewiesen!" Frau Christiane ist über den Aufdringlichen, den nur die Neugier treibt, recht empört; doch Goethe lacht: »Die Menschen sind wie das Rote Meer: der Stab hat sie kaum auseinander gehalten, gleich fließen sie wieder zusammen.« Philipp Seidel wiederholt heimlich das famose Sätzchen und stopft es schnell zu den vielen anderen in sein Gedächtnis. „Und nun das letzte", — die Vulpius macht ein verschmitztes Gesicht und nickt dem Diener zu. Der hebt von einem Nebentisch die Päcklein auf, die heut' angekommen sind, und reicht sie der Exzellenz. Fast immer sind es freundlich übersandte Gaben von Verehrern ihres Johann Wolfgang, sie enthalten meist Geschenke, die Freude bereiten. Goethe öffnet das erste und entdeckt einen Kupferstich, der sogleich seine Aufmerksamkeit fesselt. Ein Signore Giuseppe del Monte aus Padua, der sich auf der Durchreise befindet, erlaubt sich, dem großen Dichter das Bild zu überreichen. Es ist ein Blatt aus dem 16. Jahrhundert und zeigt einen Ausschnitt aus der Campagna bei Rom. Goethe ist beglückt, es ist ein hübsches Bild und ein handwerklich-gelungenes dazu; auch ruft es kostbare Erinnerungen wach: in dieser Landschaft hat er gern geweilt, dort hat der Maler Tischbein ihn porträtiert. Morgen wird er den Kupferstich eingehend studieren, für heute hat er genug getan. Und nun das zweite Päckchen! Aber der Inhalt enttäuscht ihn: ein philosophischer Schriftsteller,' der Hochschullehrer Schirock, schickt ihm eine Broschüre, die Goethe bereits kennt und die er ablehnt, weil das Forschen dieses
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Mannes niemals ,bis zum Grunde' steigt und weil der Text] viele Fehler enthält, die schuldhafte Unkenntnis verraten.] Er legt das Buch beiseite: »Es ist nichts schrecklicher als ein] Lehrer, der nicht mehr weiß, als seine Schüler allenfalls] wissen sollen. Wer andere lehren will, kann wohl oft dasj beste verschweigen, was er weiß, aber er darf nicht halb-1 wissend sein.« Er erhebt sich, und nun gehen sie ins Neben-] zimmer. Noch immer steht er unter dem Eindruck des unwerten Buches, das ihm Schirock übersandt hat. Er wendet] sich an seinen getreuen Seidel, der zuzeiten wahllos Bücher verschlingt: »Man liest zu viel geringe Sachen, womit man die Zeit verdirbt und woran man weiter nichts hat . . . Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden.« Der Doktor macht es sich bequem, legt Schal, Rock und Weste ab, Frau Christiane bringt ihm eine wollene Jacke, 1 er setzt sich und streckt die Beine weit von sich. Die Vulpius muß ihren Stuhl gleich neben seinen rücken. Philipp darf sich an der anderen Tischseite niederlassen. Der Diener zieht sein Merkbuch aus der Tasche, und Goethe diktiert ihm den Tagesplan für morgen. „Und nun bring' den Homer!" befiehlt die Exzellenz. Der Diener liest vor, und Goethe lauscht mit geschlossenen Augen. So vergeht wohl eine halbe Stunde und dann beendet ein ,Merci!' die Lektüre. Philipp weiß,' daß er jetzt zur Ruhe gehen kann: auch er ist rechtschaffen müde, und morgen früh beginnt schon um fünf Uhr der Tag für ihn. „Gut' Nacht, Philipp!" Er geht, und nun ist es Abend, und die Welt ist still geworden. Frau Christiane ist eingeschlafen, ihr Kopf ist auf die Tischplatte gesunken. Goethe hat sich erhoben und steht am Fenster. Er schaut zum Sternenhimmel hinauf: »Nichts vom Vergänglichen, / wie's auch geschah! / Uns zu ver- ] ewigen, / sind wir ja da.« — Nicht lange wird es dauern, bis die Glocke die neunte Stunde schlägt. Dann wird er zu Bett gehen, müde vom langen reichen Tag. Und solcher Tage werden viele sein.
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Der Verfasser dieses Lesebogens, Hanns Maria Lux, schrieb auch ein köstliches Goethebuch für Kinder und alle, die sich ein junges Herz bewahrt haben, ein Zeitbild von intimem kulturgeschichtlichem Reiz. Das Buch ist unter dem Titel „Der Geheimbte Rat und die Kinder" im Verlag Enßlin und Laiblin, Reutlingen, erschienen.
Die Abbildungen dieses Heftes: Vordere Umschlagseite: Zeichnung nach einer zeitgenössischen Plastik. Letzte Umschlagseite: Goethe empfängt Besucher, nach einem Kupferstich von Friedrich Fleischmann. Abb. S. 2: Goethes Gartenhaus an der Um. Abb. S. 9: Hauptweg im Garten an der Um, nach einer Zeichnung von Paul Hain. Abb. S. 16: Frau Christiane Goethe, geb. Vulpius, nach einer Porträtzeichnung des Dichters. Abb. S. 21: Das Stadthaus am Frauenplan, Zeichnung von Heinrich Tessenow. Abb. S. 35: Empfangsraum im Hause Frauenplan (H. Tessenow). Abb. S. 51: Goethes Arbeitszimmer (H. Tessenow). Die Zeichnungen Seite 9, 21, 35, 51 sind dem im Verlag E. S. Mittler erschienenen Buch „Goethes Lebenskunst" von W. Bode entnommen. Goethe-Zitate sind an den eckigen Anführungszeichen (»«), zeitgenössische Zitate an den halben Anführungszeichen (, ') zu erkennen.
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