Eberhardt del' Antonio
Gigantum
Sein erster wissenschaftlich-phantastischer Roman, indem der Autor noch ganz erdverbun...
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Eberhardt del' Antonio
Gigantum
Sein erster wissenschaftlich-phantastischer Roman, indem der Autor noch ganz erdverbunden ist. Ein neues Element wird entdeckt, ein neuer Treibstoff entwickelt. Eine Bahn, die dem heutigen Transrapid erstaunlich ähnelt, verbindet die europäischen Metropolen. Der technische Fortschritt wird beleuchtet wie auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Spezielle DDR-Utopie: Der Roman spielt in einem vereinten Deutschland in Zeiten des Sozialismus. Das neue Berlin Erscheinungsdatum: 1957
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Es war Sommer. Schwer lastete brütender Sonnenschein auf der Landschaft, versengte Felder und Wiesen und löste die Konturen der Gebäude in siedender Luft. Auf goldreifen Kornfeldern wirbelten elektrische Mähdrescher hochauf flimmernden Staub, auf Landstraßen zogen eilende Lastkraftwagen dichte Staubfahnen hinter sich her. Waldstreifen warfen kühle Schatten, und Flüsse spiegelten gleißend das Sonnenlicht. Mensch und Tier stöhnten, gelähmt durch die drückende Hitze. Nur die Lerche trillerte, über den Feldern stehend, hell jauchzend in den lachenden Tag. Hoch über ihr huschte, einen pfeifenden Schall nachschleppend, ein Düsenflugzeug dahin und warf einen Schatten, den die Bodenwellen grotesk verzerrten. Hier oben spürte man die Schwüle nicht, die Klimaanlage der Flugzeugkabine bewahrte eine angenehme Temperatur. Dennoch ließ das hitzeflimmemde Sommerbild Professor Schlichtmann, den einen der beiden Fluggäste, unbewußt nach dem Taschentuch greifen und sich die kantige Stirn von nicht vorhandenen Schweißtropfen befreien. Belustigt ertappte sich der hochgewachsene Mann dabei, musterte mit flinken Augen verstohlen seinen Begleiter und steckte schnell das Tuch in die Tasche. Dr. Colmar, sein junger Assistent, hatte jedoch nichts bemerkt, er hielt die schweren Lider unter den starkwandigen Brillengläsern schläfrig gesenkt, sein Bewußtsein dämmerte in das Zauberreich der Träume hinüber. Glückliche Jugend, dachte der Grauköpfige lächelnd, verschläft unbeschwert die Sorgen und geht dann mit neuer -2-
Kraft an die Lösung der Probleme heran. Wenn er das noch könnte! Das Alter hockte in seinen Gliedern, die Erfahrung eines langen, arbeitsreichen Lebens nagte an der unbekümmerten Zuversicht. Die Jugend sah nur das Ziel und stürmte frisch darauflos, er dagegen sah die vielen Steine, die Hindernisse auf dem Weg dahin. Wer hatte nun recht? Lahmte das viele Wägen nicht von vornherein die Tatkraft? Aber bewahrte die Erfahrung nicht vor kraftraubenden Zusammenstößen mit unterschätzten Hindernissen? Was sollten diese Gedanken? Er war abgespannt! Die Besprechung in Berlin war anstrengend gewesen. Würde das, was er gehört hatte, ihn nicht mit banger Sorge erfüllen, ließe auch ihm jugendliche Spannkraft die Probleme kleiner erscheinen, er läge gewiß ebenso apathisch in den Polstern und träumte vom Erfolg wie Dr. Colmar. Etwas pedantisch, der Junge, für genaue Arbeiten gut geeignet - aber kein kühner Springer wie Dr. Schwigtenberg, dieses verflixte Mädel! Bei ihr hieß es bremsen, immer wieder bremsen... Sie war es, die das Neuland entdeckte, das Dr. Colmar dann bis ins kleinste vermaß. Sie steckte in großen Zügen die Grenzen ab, hob das Wesentliche hervor, während er in unermüdlicher Kleinarbeit jede Einzelheit erforschte und den von ihr urbar gemachten Boden bestellte. Schlichtmann verstand durchaus, daß es ihrem Entdeckerdrang zu langsam ging. Er gestand sich auch ein, daß sie mit feinem Instinkt bisher stets den Gefahren aus dem Wege gegangen war, dennoch hielt ihr unerschrockenes Vorwärtsstürmen ihn in ständiger Aufregung. „Die Atomforschung ist kein Sportplatz, und wehe dem, der eine einzige Stufe überspringt!" warnte er oft, doch sie erwiderte -3-
mit gewinnendem Lächeln - ohne allerdings direkt leichtsinnig zu sein -, daß das Glück der Schutzengel der Forscher sei. Er war gewohnt, sich mühsam vorwärtszutasten, hatte dabei große Erfolge errungen. Deshalb konnte er sich mit ihren blinden Sprüngen - wie er es nannte - nicht befreunden, und es war ihm nicht wo hl bei dem Gedanken, daß sie während seiner Abwesenheit unbeaufsichtigte Versuche unternahm. So stritten sich das Vertrauen zu ihrem Instinkt und seine jahrzehntelange Erfahrung. Selbst ihm war trotz tastendem Vorwärtsgehen allerlei um die Ohren geflogen; das wollte er dem Mädchen ersparen. Seufzend richtete er sich auf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Dr. Colmar zu. Dessen verwirrter Schöpf ließ ihn lächeln. Der alles verwandelnde Schlaf... Dahin der peinlich gerade Mittelscheitel, von einem Lächeln verschönt das sonst verkrampfte Gesicht, gelöst auch die linkische Haltung, weggeblasen die ewige Verlegenheit. Wenn man diesen Jungen doch aus seiner Verkrampfung reißen könnte - er müßte ja nicht gleich so ein Windhund werden wie Dr. Heilbert! Als er bemerkte, daß Dr. Colmars Schlaf unter seinem Blick unruhig wurde, wandte Professor Schlichtmann sich ab, beugte sich über das Fenster und ließ sich wieder von dem wechselnden Landschaftsbild fesseln. Fruchtschwere Felder umgaben spielzeugkleine Dörfer. Wie bunte Tupfen einer farbenreichen Palette prangten die Schiefer-, Ziegel- und Strohdächer unter den Kronen alter Bäume. Auf gepflegten Dorfstraßen rollte in großen Lastzügen das erste Korn den betonierten Hauptverkehrsstraßen zu, den Städten und Industriezentren entgegen. Er versank in Gedanken. Auf diesen Straßen pulsierte das Wirtschaftsleben, sie waren die Adern des Landes, Mittler des Stoffwechsels der -4-
Wirtschaft... Ungezählte Kraftfahrzeuge überall, Unmengen von Treibstoff ihr täglicher Bedarf... Wieder schob sich die heutige Besprechung vor seine Augen und verdüsterte das helle Bild. „Das ernsteste Kapitel unserer Wirtschaft, meine Damen und Herren, ist die Treibstoffknappheit der verbündeten Staaten! Unser Bedarf steigt sprunghaft, die industrielle Produktion kann nicht mehr Schritt halten, es fehlt an Rohstoffen!" Mit nüchterner, leidenschaftsloser Stimme zeichnete Staatssekretär Hänlein im Forschungsministerium in Berlin die schwerwiegenden Folgen, wies er darauf hin, daß die Erdölquellen und die Kohlevorkommen der vollentwickelten verbündeten Staaten nicht ausreichten, um ihren Bedarf zu decken, daß man also auf Einfuhr aus überseeischen Staaten, deren Bedarf ihre Vorkommen nicht erschöpfte, angewiesen sei. Dort werde jedoch aus dieser Zwangslage ein Geschäft gemacht, das in kurzer Zeit in Europa die Waren verteuern müsse. Das vollständige Mosaik der vielen Einzelheiten, die ihnen vorher nur teilweise bekannt waren, erschreckte die Anwesenden. „Verteuerte Waren bedeuten einen verschlechterten Lebensstandard, ich darf Ihnen das noch einmal ausdrücklich vor Augen führen!" schloß der Staatssekretär seinen Bericht. Dann kam er zur Schlußfolgerung, und seine Stimme wurde leidenschaftlich. „Meine Damen und Herren, wir müssen uns frei machen, uns auf eigene Füße stellen! Das erreichen wir nur, wenn wir neue Antriebsmöglichkeiten in großem Maßstab entwickeln! Greifen Sie auf die gespeicherte Elektroenergie, auf die Atombatterien zurück! Diese Forderung wird noch dringender, wenn wir in die Zukunft sehen. Die Erdöl- und die Kohlevorkommen erschöpfen sich langsam, der Raubbau der vergangenen Jahrzehnte rächt sich, man hat zu spät mit der rationellen Verwendung der -5-
Rohstoffe begonnen!" Dann traf Hänleins Blick ihn, blieb haften. Schlichtmann empfand sofort, daß Hänle in nach den vielen Jahren noch der alte war. Konsequent, zupackend und unerbittlich wie damals an der Front... „Was ist denn Mut, Unteroffizier Schlichtmann? Mit den Wölfen zu heulen? Gegen die eigene Überzeugung weiter mitzumachen? Auf der falschen Seite zu bleiben...? Oder die Konsequenzen zu ziehen?" „Hänlein, das ist Fahnenflucht... ist Verrat!" „Ich weiß, Unteroffizier, du hast geschworen! Ich übrigens auch... Aber ich habe ein Gewissen! Der Schwur löscht es nicht aus! Uns bleiben drei Möglichkeiten: Weiter mitmachen und den Kopf wegnehmen - wenn die drüben dir Zeit dazu lassen -, doch das tilgt nicht das Gefühl der Schuld! Oder eine Kugel durch den. eigenen Schädel - das nützt niemandem, am wenigsten dir selbst! Oder... ein Stellungswechsel nach drüben... sich bereithalten für das Morgen!" „Und wann beginnt dein Morgen?" „Wenn der Wahnsinn hier zu Ende ist. Es wird viel Arbeit geben, viel zu bauen!" „Und doch ist es Verrat... Verrat an den Kameraden!" „Bleiben ist Verrat an der Menschheit... auch an den Kameraden... und an dir selbst! Das Leben ist hart. Schlichtmann, der Weg zum Recht nicht leicht. Aber es gibt eine Schuld, die wir abtragen müssen!" „Die Kameraden, Hänlein, die Kameraden!" „Nehmen dir weder Gewissen noch Schuld ab! Ich bin klar... ich gehe morgen nacht! Komm mit. Schlichtmann!" Er war mitgegangen. Er sah nicht so klar wie Hänlein, aber er fand keinen andern Ausweg. Viele waren nachgekommen. Dann war Schluß gewesen. Und dann hatte es Arbeit gegeben. -6-
Hänleins Worte hatten ihn ständig begle itet. Jetzt war Hänlein Staatssekretär, sah Schlichtmann ihn wieder. Noch immer der alte! Noch immer blickte Hänlein zu ihm, als wollte er eine Brücke schlagen über die Kluft der vielen Jahre. War es eine Kluft? Hänleins Summe blieb unbeteiligt, sie galt den versammelten Betriebsleitern der verkehrstechnischen Entwicklungswerke. „Sie waren erstaunt, daß der Leiter des Deutschen Atomforschungsinstituts, Herr Professor Doktor Schlichtmann, zu dieser Besprechung über die Entwicklung neuer Antriebsarten geladen. wurde. Es geschah nicht ohne Grund! Gewiß, wir können im landgebundenen Verkehr, bei den leichten Flugzeugen und Schiffen, soweit für sie noch keine Atomenergie verwendet werden kann, auf andere Antriebsarten übergehen, aber damit ist diese Frage nicht endgültig gelöst! Von diesen Sorgen befreit uns nur ein neuer Treibstoff! Und zu diesem hat lediglich das Deutsche Atomforschungsinstitut den Schlüssel in der Hand!" Der Professor nickte gedankenverloren und stützte das Kinn auf die Hände. Ein neuer Treibstoff? Gut gesagt... Als wäre das so einfach! Ob Hänleinn glaubte, es bedürfe dieses Anstoßes durch eine großangelegte Besprechung? Hatte er nicht getan, was in seinen Kräften stand, würde er es nicht weiter tun? Er kannte diese Entwicklung seit langem, jagte seit langem - ohne Auftrag neuen Treibstoffen nach. Aber hatte er wirklich alles getan? Durfte er angesichts dieser Notlage noch peinlich korrekt auf dem Weg der Wissenschaft gehen - Schritt für Schritt? Aber war dieser endlos lange Weg nicht übersät mit Erfolgen, gewaltigen Erfolgen, auf denen das Leben der jetzigen Menschen aufgebaut war? Die Stimme des Piloten ertönte aus dem Lautsprecher und weckte ihn aus seiner Versunkenheit. -7-
„Auf der linken Seite kommt der Streckenabschnitt zwanzig in Sicht!" Schlichtmann fuhr sich, noch benommen, über die Stirn, wechselte den Platz und wandte sich um. „Kollege Colmar!" Sein Assistent seufzte im Schlaf und streckte die Beine aus. „Herrrr Doktor Colmar!" Der Schlafende schreckte zusammen und fuhr pfeilgerade in die Höhe. „Herr Professor?... Entschuldigen Sie... Ich war eingeschlafen!" Seine linkische Haltung drückte wieder hilflose Verlegenheit aus, Professor Schlichtmann bemerkte es mit Bedauern. „Das habe ich gesehen. Weiß bloß nicht, weshalb Sie sich entschuldigen? Sehen Sie, hier unten kommt Abschnitt zwanzig der Einschienenbahn in Sicht!" Dr. Colmar setzte sich, peinlich auf die Bügelfalten bedacht. Professor Schlichtmann schmunzelte. Ja, die Bügelfalten und der Mittelscheitel! Dann blickten sie nach unten. Auf einer Bahnlinie jagte gerade der planmäßige Schnelltriebwagen Berlin- München dahin, blieb hinter dem Flugzeug zurück und verschwand aus ihrem Blickfeld. „150 Stundenkilometer!" stellte Dr. Colmar, nach unten weisend, fest und freute sich der eigenen Geschwindigkeit. Neben der Bahnlinie erhob sich ein gewaltiger Zaun. Pfosten neben Pfosten säumte die Gleise. Genaueres ließ sich jedoch aus dieser Höhe nicht erkennen. Der Professor nahm das Bordtelefon zur Hand und gab dem Werkpiloten Anweisungen. Die Kanzel senkte sich, die Erde kam rasend näher. Dr. Colmar schloß entsetzt die Augen. -8-
Fünfzig Meter über dem Erdboden fing der Pilot die Maschine ab und drosselte die Turbinen. Dann schoben sich zwei Tragschrauben aus dem Rumpf, entfalteten sich und begannen zu rotieren. Die Turbinen fielen in Leerlauf. Das Düsenflugzeug hing an den Tragschrauben unbeweglich über der Baustelle. Deutlich ließen sich die Pfosten erkennen: Fünf Meter hohe, windschnittige Betonpfeiler, auf deren Krone langatmige Gleiskettenkräne spielend riesige Längsstrebe hoben. Längsstreb fügte sich an Längsstreb und verlängerte das endlos scheinende Betonband, das sich kühn über Täler, Felder, Wälder und Flüsse hinwegschwang und sich am dunstigen Horizont verlor. Kühn und exakt, urteilte der Professor, als er dieses Vorrücken des Bauwerkes verfolgte, kühn und doch exakt! Und doch exakt? - Schließt etwa die Kühnheit die Exaktheit aus? Und wieder peinigten ihn Zweifel. Bin ich kühn genug oder nur exakt gewesen? Meter um Meter schoben sich die Maschinen in die Landschaft hinein. Als Wegbereiter ebneten Planiermaschinen den Boden, dann fraßen sich Mammutbohrmaschinen in das Erdreich, setzten Kräne Pfeiler nach den Weisungen der Vermessungstrupps, rammten Elektrorammen sie fest und hoben neue Kräne neue Längsstrebe empor. Betonspritzkanonen vergossen die Strebe zu einem Band, auf das abschließend ein weit ausladender Schienenleger das Gleis der Einschienenbahn setzte. Rastlos schob sich die neue Strecke vorwärts. Zwischen den Maschinen schafften Scharen junger Menschen; Burschen und Mädchen in den grauen Kombinationen der Bahnpioniere, jener internationalen Jugendorganisation, deren Freiwillige aus allen Berufen kamen. Sie hatten sich den schnellen Aufbau des Einschienennetzes zum Ziel gesetzt, um ihre Länder durch schnellere -9-
Verkehrsverbindungen inniger zu verknüpfen. Fröhlichkeit wehte von dort unten herauf zu den müßigen Männern, hauchte sie an und drang erfrischend in ihr Blut. Wie in einem Ameisenhaufen krabbelte es durcheinander, und wie in einem Ameisenhaufen war - wenn man es genau betrachtete - System in der Bewegung. Dieses rastlose, zielstrebige Schaffen weckte in Professor Schlichtmann eine jungenhafte Begeisterung. Eine Woche noch, dann würde auf dieser Strecke der Einschienenschnellverkehr aufgeno mmen, die Geschwindigkeit auf das Doppelte gesteigert werden, bliebe der untere, zweigleisige Schienenstrang hauptsächlich den Güterzügen vorbehalten. Das Bild der Landschaft, unser Leben verändert sich von Tag zu Tag, stellte er mit innerer Freude fest. Dr. Colmar betrachtete die Bahnpioniere mit gemischten Gefühlen, ohne sich allerdings dem Eindruck entziehen zu können, der von dem gewaltigen Projekte ausging. Er war gepackt, aber zu sehr Eigenbrötler, um nicht bei dem Gedanken an das Gemeinschaftsleben der Bahnpioniere ein gewisses Unbehagen zu empfinden. Mochten sie ihren Spaß daran finden, in gleicher Kleidung zu gehen, in gemeinsamen Heimen zu leben - für ihn war das nichts. Professor Schlichtmann bemerkte verwundert das zwiespältige Mienenspiel und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe Sie nicht, Kollege Colmar! Ganz Europa ist vom Wettkampffieber gepackt, ist gespannt, welcher Streckenabschnitt den Kampf gewinnt, und Sie ziehen ein Gesicht, als würde Ihnen ein Zahn gezogen!" Dr. Colmar putzte schweigend seine Brille. Da ihn Professor Schlichtmann jedoch fragend anblickte, erwiderte er mit gewählten Worten, daß ihm diese Massenarbeit, noch dazu in -10-
gleicher Kleidung, widerstrebe - obwohl er ihre Notwendigkeit und wirtschaftliche Bedeutung nicht unterschätze. Gemeinplatz, mein Lieber, dachte der Professor und lächelte ironisch. Das verleitete Dr. Colmar zu der Behauptung, diese uniformierte Zusammenpferchung würdige den Menschen herab, zwänge seine Persönlichkeit in eine Schablone und unterbinde seine freie Entfaltung. Der Professor war entsetzt. Entgeistert hob er die Hände, ließ sie dann, hilflos gegenüber dieser Einfalt, auf die Knie fallen. „Junger Freund, kommen Sie zu sich! In welchem Jahrhundert, auf welchem Planeten leben Sie denn? Zusammengepfercht, Herabwürdigung der Persönlichkeit haben Sie eine Ahnung!" Dann erzählte er eindringlich, ja schonungslos von seinen Kriegserlebnissen, von denen er ungern und deshalb nur selten sprach. Bilder zogen an Dr. Colmars Augen vorüber, die ihm der diese Zeit nur aus dem Geschichtsunterricht kannte - ein Frösteln über den Rücken jagten. Er erlebte Professor Schlichtmanns Ausbildungszeit nach, ließ sich von den brüllenden Ausbildern hetzen und beschimpfen, hob heruntergefallene Patronen mit dem Mund aus dem Sand, warf sich in aufspritzende Pfützen, machte auf dem Koppelschloß kehrt, schrubbte mit der Zahnbürste Latrinen und entsetzte sich. Schlichtmann bemerkte es. Dieser Jüngling! Keine Ahnung von der Wirklichkeit und maßte sich Urteile an. Sollte endlich mal einen Roman über jene Zeit lesen, damit er Klarheit gewann! Aber das widersprach seinem „Wesen" - kein Wunder, wenn er verdrehte Ansichten hatte. Man mußte sich mit den Dingen auseinandersetzen - na, er wollte ihm die Augen schon öffnen! Grimmig fuhr er in seiner Schilderung fort. -11-
Viehwagen ratternder Transportzüge, vollgepfropft mit Soldaten, die einem Ungewissen Schicksal entgegenfuhren, die zwischen Dreckfontänen der aufgewühlten und zersiebten Erde, tausendfach gequält und furchtgepeitscht, ihr Menschsein vergaßen und zu Kreaturen wurden, die nur der Selbsterhaltungstrieb aufrecht hielt und die unerbittliche Befehle lenkten - das rollte wie ein Film vor Dr. Colmars Augen ab. Er schämte sich. „So sah es aus, junger Freund, das war die Uniformierung des Leibes und der Seele: der Einsatz des Lebens für finanzielle Interessen einiger weniger, ohne innere Überzeugung, nur unter dem äußeren Zwang des unwiderruflichen Befehls! Und diejenigen, die ehrlich glaubten, dem Vaterland zu dienen, waren sie besser dran? Sie wurden betrogen, ihre Vaterlandsliebe mißbraucht, ihre Persönlichkeit herabgewürdigt. Sehen Sie nun den Unterschied? Heute gibt es ein international gemeinsames Ziel; nicht Zerstörung, sondern Aufbau. Damals jeder gegen jeden, heute einer für den anderen. Unter diesen Voraussetzungen erhöht die gleiche Kleidung das Bewußtsein der Gemeinsamkeit, gibt dieses Bewußtsein Kraft! Natürlich gibt es eine Unterordnung, aber unter das Gemeinschaftsinteresse, das ihrem eigenen entspricht!" Dr. Colmar schwieg betreten. So gesehen, war er im Unrecht, war seine Behauptung töricht gewesen, aber trotzdem... Professor Schlichtmann unterbrach seine Gedanken. „Ich weiß, wo Sie der Schuh drückt! Sie haben Furcht vor der Anpassung, vor dem Abschleifen der eigenen Unebenheiten, die Sie mit Eigenarten der Persönlichkeit verwechseln!" Und er setzte mit der ihm eigenen vorbehaltlosen Offenheit hinzu: „Mein Lieber, ein derartiges Gemeinschaftserlebnis würde Ihnen nur zum Vorteil gereichen. Sie gewännen nämlich Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit, und das könnten Sie, -12-
scheint mir, dringend brauchen! Selbstvertrauen, mein Lieber, ist der beste Kraftquell!" Er wartete vergeblich auf eine Erwiderung. Dann konnte er Dr. Colmars betretenes Gesicht nicht länger ertragen. „Fliegen Sie weiter, Storch!" knurrte er verstimmt in das Bordtelefon und lehnte sich zurück. Dr. Colmar starrte auf seine Schuhspitzen, die Zähne mißhandelten die Unterlippe, stoßweise holte er Luft. Diese verdammte Schulmeisterei! Gewiß, er hatte die Dinge nicht zu Ende gedacht - aber mußte Schlichtmann deshalb gleich persönlich werden? Er war doch kein Schulbub mehr! Mit dem Chef war nach der Besprechung in Berlin nicht gut Kirschen essen! Sein Wesen war wechselnd spröde und ironisch, während er sonst besonders ihnen, den jungen Assistenten, mit väterlicher Güte entgegenkam. Ohne Notiz von Dr. Colmar zu nehmen, zog Schlichtmann ein Buch aus der Tasche und versenkte sich in Berechnungen. Doch immer wieder bannte ihn das Bild der Einschienenbahn, deren vorwärtsdrängenden Kopf sie längst hinter sich gelassen hatten. Vor einem Jahr erst hatte der Verkehrsrat beschlossen, das Eisenbahnnetz durch Einschienenschnellverbindungen zu ergänzen, und schon heute zogen sich von Hauptstadt zu Hauptstadt der Teilnehmerstaaten die grauen, hochbeinigen Tausendfüßler aus Beton. Von Moskau bis Paris... Mit dreihundert Stundenkilometer Reisegeschwindigkeit sollte demnächst der Betrieb aufgenommen werden. Dabei würde es nicht bleiben, war es doch der Hauptgrund für den Bau gewesen, nun endlich auch den Landverkehr zu beschleunigen, der seit Jahrzehnten fast die gleiche Höchstgeschwindigkeit behielt. Wie hatte doch Hänlein gesagt? „Namentlich für den Einschienenschnellverkehr ist ein -13-
billigerer und ergiebigerer Treibstoff von weittragender Bedeutung! Höhere Geschwindigkeiten bei billigsten Treibstoffen - das ist unser Ziel. Es hätte unabsehbar günstige Auswirkungen auf unsere gesamte Wirtschaft. Und noch eins, eine Zukunftsaussicht: Ein billigerer Treibstoff würde die Reisekosten verringern und erla uben, in absehbarer Zeit - wie es bisher mit der Elektroenergie für die Haushalte geschah - auch die Kosten für die Personenbeförderung aufzuheben!" Professor Schlichtmann entzündete eine Zigarre und blies stoßweise den Rauch in die Luft. Dabei fiel sein Blick auf Dr. Colmar und erinnerte ihn an dessen Anwesenheit. Bestrebt, ihn aus seiner Verlegenheit und Verstimmung zu reißen, zog er ihn in ein Gespräch über die neue Aufgabe. Dr. Colmar erwärmte sich zusehends, und der Professor gestand sich bald ein, daß seine Pedanterie auch ihr Gutes habe. Die Antworten waren unbestechlich sachlich und wohlüberlegt. „Man kann wohl von einem Stillstand der Entwicklung der Landfahrzeuge sprechen, Herr Professor!" sagte Dr. Colmar mit leiser Stimme. „Die Motoren und auch die Gasturbinen sind bis zur besten Ausnutzung der Treibstoffe durchkonstruiert, eine Verbesserung des Wirkungsgrades und damit der Wirtschaftlichkeit läßt sich kaum noch erreichen. Es sei denn durch neue Werkstoffe, die höhere Belastungen vertragen - die aber haben wir noch nicht." Der Professor hörte interessiert zu. Dr. Colmar hatte sich außer mit der Kernphysik intensiv mit Kraftmaschinen befaßt, sie waren auch sein Steckenpferd geblieben. Und mit der ihm eigenen Gründlichkeit hatte er sich ein tiefes Wissen angeeignet, das ihn bald zum Kraftmaschinenexperten des Instituts stempelte. „Sie sind also der Ansicht, daß eine Verbesserung der heutigen Motoren oder Gasturbinen nicht mehr möglich ist?" fragte der Professor skeptischer, als er es wirklich war. -14-
„Doch, aber es können nur minimale Verbesserungen sein. Wenn auch die Konstrukteure durch letzte Feinheiten des Mischungsverhältnisses, der Kompression und der aerodynamischen Form der Fahrzeugaufbauten Verbesserungen erreichen können, so sind diese jedoch so geringfügig im Verhältnis zu den heutigen Erfordernissen, daß man wohl von einem Stillstand sprechen kann!" „Hmm", brummte der Professor, „demnach ist auch den künftigen Geschwindigkeiten eine Grenze gesetzt?" „Höhere Geschwindigkeiten lassen sich natürlich erreichen, gehen jedoch zu Lasten der Wirtschaftlichkeit und damit der Betriebskosten! Der Leistungsbereich hat sich ziemlich stabilisiert. Die Verwendung von Kernbrennstoffen ist ja leider nicht in allen Fällen möglich, da die radioaktive Strahlung der Reaktoren zu starke Abschirmung und somit zu schwere Antriebsanlagen erfordert. Auch hier die Frage nach einem neuen Werkstoff." Schlichtmann zog überlegend an seiner Zigarre, streifte langsam drehend ihre Asche ab. „Der neue Treibstoff müßte also anderer Art sein als die bisherigen, müßte wirkungsmäßig besser sein. Eine nette Suppe, die mir Freund Hänlein da eingebrockt hat! Aber es nützt ja nichts, jetzt müssen wir sie auslöffeln." Dr. Colmar nickte zurückhaltend und lächelte dünn. Dann fügte er hinzu: „Der verkehrstechnischen Entwicklung fehlt ein Sprung nach vom, wie ihn die Erfindung der Dampfmaschine, des Elektromotors oder des Dieselmotors darstellten. Wir brauchen neue Treibstoffe mit höheren Heizwerten und billigeren Herstellungsmöglichkeiten, dazu neue Werkstoffe und möglichst neue Maschinen." „Eine ganze Speisekarte also", brummte der Professor mit einem Anflug von Galgenhumor. „Aussichten sind das, mein Lieber, Aussichten! Da heißt es völlig neue Wege gehen. Ich -15-
war bisher der Meinung, wir kämen mit der Verflüssigung des Methangases, das uns in den landwirtschaftlichen Dungzersetzungsspeichern in großen Mengen zur Verfügung steht, weiter. Ich hätte mich demnach etwas verfahren?" Dr. Colmar sah ihn verwirrt an, eine leichte Blässe überzog sein schmales Gesicht. Das hatte doch Dr. Schwigtenberg schon angedeutet, wußte Schlichtmann davon? „Die bisherigen Forschungsergebnisse erscheinen mir erfolgversprechend, das heißt, sie weisen in mancher Hinsicht den Weg, den wir einschlagen müssen", beschwichtigte er dann. „Die bisherigen Forschungsergebnisse? Welche denn?" fragte der Professor verwundert. „Die mit dem neuen Element, dem wir auf der Spur sind!" Auch das war Dr. Schwigtenbergs Meinung, daß sie nämlich einen Teil der Ergebnisse als richtungweisend verwenden könnten. Allerdings hatte sie noch geäußert, daß sie diesen Weg wahrscheinlich heimlich gehen müsse, denn der Chef... Dann hatte sie geschwiegen und ihn aus ihren großen, klaren Augen bedeutungsvoll angesehen. Bisher maß Dr. Colmar dieser Bemerkung allerdings keine besondere Bedeutung bei, er hatte sie für eine augenblickliche Verstimmung gehalten, zudem besaß für ihn ihr Blick mehr Wert als unpersönliche Worte. Professor Schlichtmann hob die Schultern. „Nichts als Vermutungen! Wir werden sehen, me in lieber Colmar, wir werden sehen. Wenn es so ist, dann wundert es mich, daß die fixe Lydia... ich meine Fräulein Doktor Schwigtenberg", verbesserte er sich, als er Dr. Colmars hochgezogene Augenbrauen sah schrecklich, diese Pedanterie -, „daß sie nicht energischer auf diesem anderen Weg bestand. Sie äußerte sich ähnlich wie Sie! Allerdings glaube ich nicht, daß uns das neue Element weiterbringt!" Nach kurzem Überlegen setzte er etwas boshaft hinzu: „Hätten Sie dem Staatssekretär nicht diesen Docht -16-
verschnitten, dann hätte er uns das Licht nicht aufgesetzt! Der gute Hänlein hat gut reden, mich wundert, daß er uns keinen Termin setzte, womöglich vorgestern!" Dr. Colmar war bestürzt. Diesen Vorwurf verdiente er nicht. Er hatte doch mit Hänlein nur darüber gesprochen, daß es vielleicht möglich wäre, den gewünschten Treibstoff zu finden, wenn eine langwierige Versuchsreihe fortgeführt würde. Genaueres hatte er nicht gesagt! Und das auch nur, um Hänlein zu zeigen, daß das Institut nicht erst auf die Treibstoffknappheit hingewiesen werden mußte, daß es selbst handelte. Konnte er ahnen, daß auf Grund der Lage die allgemeine Anregung sofort in einen verbindlichen Forschungsauftrag verwandelt werden würde? Was war mit Schlichtmann? Ihm war doch sonst keine Arbeit zuviel, kein Weg zu weit, wenn nur das Ziel erreicht wurde. Professor Schlichtmann haderte mit sich selbst. Verdammte Zweifel! Wenn die fixe Lydia recht behalten würde... So sehr er es wünschte - wie stand er dann da? Dennoch, versucht werden mußte es!
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Wenige Kilometer westlich von München lag eine dichtbewaldete Anhöhe. Aus der nahen Großstadt lief eine breite Betonstraße darauf zu und mündete am Waldsaum in einen Parkplatz, den ein breites Tor begrenzte. Neben dem Tor stand ein einstöckiges Gebäude im schlichten Baustil. Man schien vor dem Eingang eines Sanatoriums zu stehen, denn über der kleinen Pforte neben dem Tor bat ein Schild den Besucher, sich beim Pförtner zu melden. Doch über dem Tor glänzten auf einem Gitterband große Goldbuchstaben: „Deutsches Atomforschungsinstitut". Einen anderen Eingang gab es nicht. Dem Neugierigen verwehrte ein hoher Maschendraht rings um die Anhöhe den Zutritt, und Schilder warnten mit den gewichtigen Worten: „Halt! Lebensgefahr!" Eingeweihte wußten, daß diese Warnung nicht unbegründet war. Rings um das Institutsgelände zog sich eine Sperrzone, die mit gefährlichen Überraschungen gespickt war. Breite, weit ausladende Büsche und dichtgepflanzte Tannen machten unerwünschte Blicke in das Innere des geheimnisvollen Gebietes unmöglich. Von außen waren lediglich zwei gewaltige Gebäude zu sehen, die weit über die Tannenspitzen hinausragten. Hin und wieder landete ein Flugzeug in diesem Wald und verriet, daß auch ein Flugplatz von dem Drahtzaun umschlossen wurde. Es war ein offenes Geheimnis, daß das hohe Gebäude das Laboratorium und das etwas kleinere das Atomkraftwerk des Instituts war. Seine Leistung übertraf die des Atomkraftwerks der Stadt beträchtlich. Ja, man hatte Elektroenergie im Überfluß dort hinter dem Zaun. Und noch eins war bekannt, sogar öffentlich -18-
bekanntgemacht worden: Das Überfliegen des Instituts und die Annäherung unter fünf Kilometer Entfernung waren strengstens untersagt. Es mußte gewichtige Gründe zum Mißtrauen geben, obwohl Anschläge auf Industrieanlagen so weit zurücklagen, daß mancher versucht war, sie in das Reich der Fabel zu verweisen. Innerhalb des Zaunes, auf schmalen Pfaden längs der Umzäunung, gingen Betriebsschutzmänner in grünen Uniformen mit scharfen Schäferhunden die Runde und bewachten das ungestörte Schaffen der Forscher. Wären die goldenen Buchstaben über dem Tor nicht gewesen, man hätte glauben können, Forstbeamte auf einem Pirschgang zu treffen. Aber da war der Zaun, war zuweilen das Heulen von Turbinen und hin und wieder auch gehe imnisvolle Orgeltöne, die der Wind über den Zaun trug. Der Leiter dieser Waldinsel, Professor Dr. Schlichtmann, saß hinter seinem Schreibtisch und hielt den ergrauten Kopf in beide Hände vergraben. Vor ihm lagen Blätter mit Gleichungen, Zahlenreihen, Beschreibungen, lagen Protokolle. Seine Blicke hasteten darüber hin. Wenn er umblätterte, hörte man das Papier knistern. In dieser Stille, die das Empfinden nach innen lenkte, bedrängten ihn stürmende Gedanken. Sie raunten und zeterten, drängten sich vor, balgten sich, wichen anderen und zeichneten so im schnellen Wechsel flüchtige Bilder. Sie peinigten ihn. Seit der Besprechung in Berlin waren Wochen vergangen, Wochen planvoller, intensiver Forschungsarbeit. Professor Schlichtmann hatte manche Nacht im Institut verbracht, rechnend und grübelnd. Mit der Zahl der Zigarrenstummel im Aschenbecher wuchs die Ausweglosigkeit. Hatte er sich wieder festgefahren? Versuchsreihe auf Versuchsreihe - keine brachte einen nennenswerten Erfolg... Dabei saß ihm der Auftrag im Nacken, -19-
quälte ihn das Schreckgespenst der Treibstoffknappheit, ließ ihn nicht aus den Klauen. Und die Erfolglosigkeit lahmte seine Tatkraft, ließ dieses Gespenst immer drohender erscheinen. Auf sämtlichen Strecken des ersten Bauabschnittes rasten die Einschienen-Schnelltriebwagen dahin. Millionen von Menschen an den Strecken, am Bildschirm und am Lautsprecher waren Zeuge gewesen, wie der Betrieb aufgenommen wurde. Die ganze Alte Welt war ein einziger Festplatz gewesen. Dann waren die Bahnpioniere an den zweiten Bauabschnitt gegangen und hatten neue Erfolge errungen. Nur für das Institut waren es Wochen der Enttäuschung geworden, und Staatssekretär Hänleins unverbindliche Anfragen trugen keineswegs dazu bei, die Stimmung zu heben. Alle Mitarbeiter gingen mit verschlossenem Gesicht umher. Die gespannte Stimmung übertrug sich sogar auf Abteilungen, die nicht an der Treibstofforschung beteiligt waren - mit einer Ausnahme: Dr. Lydia Schwigtenberg! Sie hielt ihren Kopf unternehmungslustig aufgereckt, war gewinnend liebenswürdig - ja, in ihren Augen schien bisweilen ein schalkhaftes Licht aufzublitzen, als amüsiere sie sich über die Leichenbittermienen der ändern. Ihr Verhalten blieb für Schlichtmann eb Rätsel. Gerade sie hätte doch Grund zum Mißmut gehabt! Sie gehörte als seine Assistentin zu den Mitarbeitern, die unmittelbar mit der Treibstofforschung betraut waren, außerdem aber wurde sie ständig von ihm vor Eigenmächtigkeiten gewarnt. Kürzlich hatte sie vorgeschlagen, das Mammutum als Ausgangspunkt der Forschung zu nehmen. Es war ein neues Element mit dem Atomgewicht 412, das man glücklich aufgebaut, dessen weitere Erforschung er jedoch zugunsten anderer Treibstoffversuche als zu langwierig zurückgestellt hatte. Ein Element, das durch ein einfaches und billiges Verfahren in unbeschränkten Mengen zur Verfügung gestellt werden konnte. Von diesem Gesichtspunkt aus gut geeignet, aber für kurzfristige Forschungen zu -20-
gefährlich. Er hatte nach Luft geschnappt und dann brüsk abgelehnt. Ungeheure Energiemengen schlummerten im Mammutumkem, Energiemengen, die alles bisher Bekannte weit übertrafen; aber es war nicht gelungen, sie freizusetzen. Zudem kannte man das Verhalten des neuen Elements noch nicht. Die Erforschung konnte nur in kleinsten Etappen geschehen, Schritt für Schritt, wenn sie die Energien in der Gewalt behalten wollten. Der Weg aber, den Dr. Schwigtenberg vorgeschlagen hatte... Das war Wahnsinn in seinen Augen. Sie glaubte wohl, wenn sie bisher unerhörtes Glück gehabt hatte, daß es ihr treu bleiben müßte? Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht! Deshalb hatte er ihr mit ungewohnter Kürze die Rede abgeschnitten. „Larifari, schlagen Sie sich das aus dem Kopf!" Aber anstatt verbittert zu sein, blieb sie gelassen, und Schlichtmann wurde das Gefühl nicht los, daß ihr Gesicht von Tag zu Tag zufriedener würde. Der Teufel mochte sich mit diesen jungen Frauen auskennen, die genau das taten, was man niemals von ihnen erwartete. Ach was, der Treibstoff war wichtiger! Unzählige Versuchsreihen trennten ihn noch von dem erhofften Ziel. Und die Motoren schluckten täglich Unmengen von Treibstoff! Aufgepeitscht sprang er auf und trat ans Fenster. Während er in die Parkanlagen starrte, seinen Blick über die sattgrünen Tannenwipfel irren ließ, wütete er gegen sich selbst und gegen das Mißgeschick. Hänlein hatte Vertrauen zu ihm, zum Institut, die Wirtschaft brauchte dringend seine Hilfe - und er kam nicht weiter! Dieser dreimal verfluchte Treibstoff... Hatte er alles getan, was in seinen Kräften stand? Ruhelos wandte er sich vom. Fenster ab, wanderte durch das -21-
Zimmer und ließ sich wieder in den Sessel fallen. Seufzend lehnte er sich zurück. Abwesend betrachtete er den Musikschrank, die, gemütliche Leseecke... War sein Weg richtig...? Er war bei seinen Versuchen davon ausgegangen, daß Erdöl und demzufolge die daraus destillierten Treiböle Kohlenwasserstoffe sind, chemische Verbindungen von Kohlenstoff und Wasserstoff verschiedener Mengenverhältnisse. Künstlich erhielt man sie seit langem durch Verflüssigung von Kohle, indem man feingemahlenen Kohlenstaub mit Öl anrührte und ihn unter hohem Druck mit Wasserstoff und Katalysatoren behandelte. Kohle aber wurde knapp! Deshalb versuchte er den atomaren Aufbau von Kohlenstoff aus Wasserstoff, um ihn dann mit Wasserstoff chemisch zu Kohlenwasserstoffen zu verbinden. Bei dieser Verwandlung würde er zusätzliche Energie für die Wirtschaft erhalten, ungeheure Energiemengen! Und Kohlenstoff brauchte man auch für die Kunststoffherstellung dringend. Die Protokollbücher der durchgeführten Versuche stapelten sich, füllten bald einen Schrank, doch das Ziel lag noch weit... Das Ziel? Wie hatte noch Dr. Colmar gesagt? „Wir brauchen einen neuen Treibstoff mit höherem Heizwert und höherer Ergiebigkeit!" Na schön... Den erhielt man zwar auf diese Weise nicht, aber schließlich konnte man froh sein, den alten in ausreichender Menge zu erhalten. Und vielleicht ließ sich durch Zusätze der Heizwert erhöhen? Jedenfalls war das sicherer als die Phantastereien des tollwütigen Mädels. Das Mammutum umwandeln? Ja, wie denn? Wenn man dieses Teufelszeug aus der Kontrolle verlor, das gab mehr als ein blaues Auge! Sie hatte ja keine Ahnung! -22-
Erst einmal den Stoff richtig kennenlernen, dann Schritt für Schritt... Das nahm Jahre in Anspruch oder zumindest viele Monate. Und außerdem, wer weiß, ob sich dann das gewünschte Ergebnis einstellte, Er wandte sich zur Uhr. Wird Zeit, daß ich einmal ausspanne, so komme ich nicht weiter, dachte er. Schon wieder längst Feierabend! Gewohnheitsmäßig überflog er die Kontrollgeräte, die ihm einen Überblick über den Betriebszustand der Versuchsanlagen ermöglichten. Überrascht fuhr er zusammen, strich sich über die Augen. Die Betriebslampe des Synchrotrons glimmte! Zum Teufel, wer spielte da an den Beschleunigungsanlagen herum? Die waren weiß Gott kein Spielzeug! Entschlossen hastete er aus dem Zimmer, lief den Gang entlang, flog mit dem Fahrstuhl abwärts und kam ins Erdgeschoß. Ein Druck auf den Schalter, und geräuschlos schob sich das kleine Stahltor zum Strahllaboratorium zur Seite. Geblendet schloß er die Augen. Überflutet vom Sonnenlicht, das in breiten Bahnen durch ein wolkenhohes Glasdach und gläserne Wände fiel, lag vor ihm eine langgestreckte, domartige Halle. Die Sonnenstrahlen brachen sich blitzend in einer Reihe spiegelblanker Stahlhohlkugeln von mehreren Metern Durchmesser. Auf schlanken Säulen thronten sie hoch oben über den riesigen Apparaten, durch mächtige Röhren paarweise miteinander verbunden. Hier war alles von gigantischem Ausmaß: die Weite des Raumes und auch die Anlagen, deren geheimnisvolle Formen nur dem kundigen Betrachter den Verwendungszweck verrieten. Klein ist der Mensch, doch groß die Macht seines Geistes und seines Willens. Helfer hat er sich geschaffen, Riesen an Größe und Giganten an Kraft; er setzt sie überall dort ein, wo seine Kräfte versagen, und zwingt sie unter seinen Willen, unter seine -23-
kundige, lenkende Hand - doch wehe, wenn eine unkundige Hand im Spiel ihre Kräfte entfesselt! Professor Schlichtmann, geblendet, suchte mit zugekniffenen Augen das Synchrotron, dessen gedämpftes Summen den Raum erfüllte. Wie verloren unter diesen unförmigen Maschinenriesen saß an einem Schaltpult eine weibliche Gestalt; in ihrem duftigen Sommerkleid wie ein farbenprächtiger Schmetterling zwischen grauen Vorwelttieren. „Natürlich dieses Teufelsweib!" murrte er wütend. „Wer anders sollte es auch sein!" Mit raschen Schritten, hochaufgerichtet und schroff, trat er zu ihr. „Fräulein Doktor Schwigtenberg!" grollte er zornig, unüberhörbar warnend. Es schien jedoch, als hätte Lydia Schwigtenberg diesen Anruf überhort, als hätte sie nicht bemerkt, daß Schlichtmann hinter ihr stand und offensichtlich schlechter Laune war. Mit beherrschten Bewegungen beendete sie ihre Eintragungen und schaltete das Gerät aus. Dann erst erhob sie sich. Den Professor befiel ein zwiespältiges Gefühl. Sein Ärger verschmolz mit einer Bewunderung, die er in seinem Alter albern fand. Und doch erfaßte sie ihn immer, wenn er ihr gegenüberstand. Die Jahre schienen ausgelöscht, er fühlte sich in seine Studienzeit zurückversetzt. Neben ihm auf der Bank im Hörsaal der Universität saß ein junges Mädchen. Sie beeindruckte ihn so, daß er mehr auf ihre anmutigen Bewegungen achtete als auf die Experimente des Physikdozenten. Er kannte bald jede Einzelheit ihres Profils, dessen hohe Stirn und schlanke Nase ihn begeisterten, er berauschte sich mit der -24-
Leidenschaft seiner zwanzig Jahre an den weiblichen Linien ihrer Gestalt, alles erschien ihm schöner, erhabener, als er es je gesehen hatte - doch die Physikformeln erreichten nicht mehr sein Bewußtsein. Bis es ihm eines Tages gelang, sie in ein Gespräch zu ziehen. Dabei bemerkte sie seine Wissenslücken. Es war ihm peinlich, als sie ihm ihre Hilfe anbot, dennoch nahm er sie an. Das war eine Gelegenheit! Und sie trafen sich. Obwohl er das Versäumte bald nachgeholt hatte und, durch sie angespornt, bald zu den besten Studenten des Semesters gehörte, behielten sie die gemeinsame Arbeit bei. Spaziergänge kamen hinzu.. Schlichtmann schätzte diese Zeit als die schönste seines Lebens, und er verstand längst nicht mehr, daß es wegen einer Kleinigkeit zum Bruch kommen konnte. Lydia sah ihr verblüffend ähnlich. Dieselbe natürliche Würde, das gleiche samtartige, dunkle Haar, dasselbe energische Kinn. Nur ihre Augen waren anders - größer und ausdrucksvoller. Lydia könnte die Tochter jener Studentin sein. „Herr Professor?" Ihre Stimme, weicher und klingender als die seiner Erinnerung, riß ihn aus seinen Gedanken. Mit entwaffnender Ruhe wandte sie ihr Gesicht, maß ihn kurz mit einem prüfenden Blick und widmete sich gelassen wieder den Meßinstrumenten. „Stimmt genau!" sagte sie und ließ die Sperrzeiger in die Nullstellung zurückschnellen. Nichts verriet die beklemmende Erregung, die sie bei Schlichtmanns unerwartetem Erscheinen ergriffen hatte. Jetzt gab es ein Donnerwetter, das sich hören lassen konnte! Zu dumm, daß er ausgerechnet jetzt erschien. Nun mußte sie wohl oder übel die Karten aufdecken und das Strafgericht über sich ergehen lassen. Eigentlich war er selber schuld! Dieses Vorwärtstasten, Vorwärtskriechen nach Kohlenwasserstoff ging ihr allmählich auf die Nerven. Der neue Treibstoff muß her... So oder so... -25-
Dieser Entschluß machte sie stark. Furchtlos sah sie der Auseinandersetzung entgegen. Der Professor war verblüfft. Keine Spur von Schuldbewußtsein, obwohl sie doch offensichtlich die Betriebsvorschrift übertreten hatte, die eindeutig Versuche nach Arbeitsschluß von seiner Genehmigung abhängig machte. Sein Zorn loderte auf. Sie sollte nicht glauben, daß sie gegen seine Anweisungen verstoßen konnte. Schließlich war er für das Institut verantwortlich und erließ seine Anordnungen nicht zum Vergnügen. „Es ist längst Feierabend, Fräulein Doktor Schwigtenberg", rügte er scharf und klopfte mit dem Knöchel des gekrümmten Zeigefingers auf die Kalenderuhr. Ihr erstauntes Gesicht verriet nur zu deutlich, daß sie sich der Zeit nicht bewußt war. Das stimmte ihn etwas milder. Er kannte die Spannung der Forschungsarbeit selbst zu gut, um nicht zu wissen, daß dabei Raum und Zeit versanken und nur die tanzenden Zeiger der Meßinstrumente blieben. Schon halb versöhnt, wartete er nicht erst ihre Entschuldigung ab, sondern setzte fragend hinzu: „Welche Versuchsreihe haben Sie denn in Arbeit?" Und mit aufkeimender Hoffnung: „Haben Sie ein Ergebnis erzielt?" Sie reichte ihm wortlos, mit verschlossenem Gesicht, das Versuchsprotokoll. Mit wachsendem Befremden las er die Aufzeichnungen. Sein Gesicht erbleichte. „Sind Sie des Teufels?" Er rang nach Luft „Ich bin bei Ihnen ja allerhand gewohnt, aber das übertrifft alles bisher Dagewesene! Mammutum... Was haben Sie sich denn dabei gedacht? Wissen Sie nicht, daß Sie auf einem Pulverfaß sitzen und mit Streichhölzern spielen? So ein unverantwortlicher Leichtsinn! Ich hatte Ihren wahnwitzigen Vorschlag doch abgelehnt!" -26-
„Eben", betonte sie trocken. „Was heißt hier eben? Ich hielt Sie für eine gute Rechnerin, für eine gute, wenn auch ungeduldige Wissenschaftlerin... und nun das hier!" brüllte er, maßlos aufgebracht. „Herr Professor, ich darf Sie bitten, sich zu mäßigen schließlich gaben Sie mir noch keine Gelegenheit, meine Eigenmächtigkeit zu begründen", sagte sie mit ruhiger Stimme. Doch Professor Schlichtmann hatte sich nicht mehr in der Gewalt. „Begründen, sagen Sie!" höhnte er keuchend. „Begründen? Als gäbe es hier eine Rechtfertigung! Sie sprachen selbst von Eigenmächtigkeit - eine unerhörte Disziplinlosigkeit, leichtfertige Verantwortungslosigkeit... was sage ich, Unfähigkeit hätten Sie sagen müssen! Jawohl, Unfähigkeit! Wie ein Pferd mit Scheuklappen tanzen Sie am Abgrund! Haben Sie noch nicht begriffen, daß Sie sich in einem Atomforschungsinstitut befinden? Beschleunigungsanlagen sind keine Nähmaschinen, mit denen man Puppenkleider stickt!" Lydias feines Gesicht flammte auf, das Blut hämmerte in ihren Schläfen. Das ging zu weit! „Ich bin mir durchaus bewußt, daß ich mich in keinem Lebensversicherungsbüro befinde!" fauchte sie zurück, fing sich jedoch und erwiderte in einer Atempause des Professors mit erzwungener Ruhe, kühl und sachlich, sie müsse für sich das Recht in Anspruch nehmen, auf seine Vorwürfe hin ihr Verhalten zu erklären. „Wenn Sie glauben, dieser Versuch sei unüberlegter Leichtsinn gewesen, dann irren Sie! Ich war mir der Gefahr durchaus bewußt, denn..." „Um so schlimmer! Sind Sie lebensmüde? Man setzt sich nicht sinnlos einer Gefahr aus", sprudelte er dazwischen und schlug mit der Faust auf das Schaltpult, daß die Zeiger tanzten. „Sie wollten mich sprechen lassen", stellte sie unbeirrt fest. „In Ihren Ausführungen sind einige grundlegende Irrtümer. Ich -27-
bin weder lebensmüde, noch ist dieser Versuch sinnlos zu nennen. die Gefahren, Herr Professor, ich vermute sie nicht nur! Das Risiko ist nicht größer als bei ändern Versuchen!" „Wollen Sie damit sagen, daß Sie schon mehrere Versuche dieser Art unternommen haben?" „Allerdings, Herr Professor, genau das! Dieser Versuch ist der Abschluß einer langen Versuchsreihe!" Spöttisch triumphierend, setzte sie hinzu: „Meine Berechnungen scheinen also zufällig einmal gestimmt zu haben. Nach den Erfahrungen mit den Elementen 309 bis 376 müßte in Fortsetzung der periodischen Wiederkehr der chemischen Eigenschaften der Elemente zwei Ordnungszahlen niedriger ein Element liegen, das luftentzündlich ist! Ich bin ziemlich weit gekommen mit meiner Versuchsreihe!" Und spitz, angriffslustig, setzte sie hinzu: „Wie Sie sehen, ist sie mir ganz gut bekommen! Trotz meiner Unfähigkeit ist es mir gelungen, die genaue Kernladung des Atomkerns festzustellen, was nach Ihrer Ansicht einer langwierigen Erforschung bedurfte!" Fassungslos sank Schlichtmann auf einen Stuhl, starrte sie sprachlos an. Ungerührt setzte sie ihre Erläuterungen fort. Je länger sie sprach, desto bestürzter wurde er. Das Mädel wußte viel vom Mammutum, und er hatte dessen Erforschung als zu langwierig zurückgestellt! Sie hatte inzwischen eine Titanenarbeit geleistet, und das neben ihrer eigentlichen Arbeit! Sie kannte die Kernladung des Mammutumatoms... Dieser Gedanke packte ihn derart, daß er alles andere vergaß und sie mit schmerzhafter Spannung danach fragte. Erlöst atmete sie auf. Jetzt hatte sie gewonnen! Sie setzte sich zu ihm, zog einen Block heran und warf mit flüchtiger Hand Formeln und Zahlen auf ein Blatt. Dann gab sie Auskunft und belegte ihre Theorie mit Berechnungen und Versuchsergebnissen. „Das Element ist entgege n der Erwartung stabil, es wird durch Kernbeschuß jedoch radioaktiv." -28-
Während seine Blicke ihrem Bleistift folgten, saugte sein Geist gierig die entstehenden Formeln auf und setzte sie in Erkenntnisse um. Dort, wo er zähe Finsternis gesehen, zeigte sie ihm schmerzhaft blendendes Licht. Unglaublich, was sie geleistet hatte! Sie war über ihn hinausgewachsen. Diese Erkenntnis lahmte ihn. Müde fuhr er sich über die Stirn. Erst ihr letzter Satz schreckte ihn auf: „Wir müssen hart bis an die Grenze des explosiven Zerfalls gehen, wenn wir die Alphastrahlung durch Beschuß anregen wollen. Die Größe der frei werdenden Energie kann ich nicht genau voraussagen." Explosiver Zerfall! Das Wort jagte dem Professor einen Frostschauer über den Körper. „Bedenken Sie die Temperaturen, den Druck!" fuhr er auf. Das Tausendfache der Sonnenoberflächenwärme konnte frei werden! „Denken Sie an die Strahlung, Doktorin!" Dann besann er sich, seine Erregung verebbte. „Aber Sie sitzen doch am Synchrotron, damit erhalten Sie doch keinesfalls die erforderliche Bewegungsenergie!" „Ich habe erst noch einmal einige frühere Versuchsergebnisse überprüft, bevor ich den Beschuß mit dem Ultrakosmotron beginne", sagte sie beiläufig und betrachtete ihn verstohlen. Der Professor erwachte aus seiner Versunkenheit. Mit dem Ultrakosmotron, dem größten Beschleunigungsgerät, wollte sie dem Zeug zu Leibe, hart unterhalb der Zerfallsgrenze? Daraus wurde nichts! Ein kleiner Fehler in der Berechnung, nicht auszudenken die Folgen! Nein, das konnte er nicht zulassen, erst mußte er selbst die Versuchsergebnisse, die Berechnungen geprüft haben. Aber war er eigentlich berechtigt, ihrer Gewissenhaftigkeit, ihrem Können zu mißtrauen? Schwerfällig erhob er sich und wanderte auf und ab. Hatte sie -29-
nicht allein den Stoff erforscht, den er zurückstellen ließ, weil er jahrelange Forschungsarbeit erforderte? Und sie stand kurz vor dem Ziel, das er in weiter Ferne wähnte! Du hast geirrt... Das tropfte eisig in sein Inneres, legte sich lähmend auf die Glieder. Ihn fror plötzlich. Dann riß er sich zusammen. Zur Sache, Schlichtmann! Nein, er hatte kein Recht, ihr die selbständige Fortführung ihrer Arbeit zu untersagen, hatte kein Recht, sie zu beaufsichtigen! Er blieb vor Lydia stehen. „Ich kann meine Vorwürfe nicht aufrechterhalten. Ich geriet etwas aus der Fassung, entschuldigen Sie! Sie haben für Ihre Versuche selbstverständlich freie Hand!" sagte er bestimmt, um dem Streit in seinem Innern ein Ende zu bereiten. Doch leise und bitter setzte er hinzu: „Ich dürfte dabei wohl überflüssig sein. Viel Erfolg, Doktorin!" Er wandte sich zur Tür. Sie sprang auf und lief ihm nach, mit weiblicher Empfindsamkeit ahnend, was ihn bewegte. „Nicht so, Herr Professor, bitte nicht so", bat sie leise, erschüttert über seine Reaktion. „Bleiben Sie bitte! Es ist doch unser Erfolg, der Erfolg des Instituts, nicht der meine! Haben nicht Sie mir die Kenntnisse und Erfahrungen vermittelt... Glauben Sie, ich hätte es ohne diese geschafft?" Er blieb, weniger von den Worten als von der Herzlichkeit ihrer Stimme berührt, zögernd stehen. Er konnte ja eigentlich gar nicht gehen, jetzt, wo ein Schlußstein hinter eine Versuchsreihe gesetzt wurde, er war doch Wissenschaftler und zudem Leiter des Instituts. „Daß ich mich so irren konnte", sagte er mit belegter Stimme -30-
und faßte ihren Arm. „Ich habe Ihnen einiges abzubitten." „Was ist dieser Irrtum gegen die vielen Irrtümer meinerseits, die Sie lächelnd übergingen. Wie sagten Sie dann? ,Kleine Lydia, schon Goethe wußte: Es irrt der Mensch, solang' er strebt!' Wenn ich bisher ohne Ihre Hilfe auskam, richtig wohl war mir dabei nicht. Und jetzt brauche ich Sie, Herr Professor, brauche ich Sie dringend! Ganz allein möchte ich mich nicht an das Ultrakosmotron setzen. Lassen Sie mich jetzt nicht im Stich, es geht doch um den Treibstoff!" beschwor sie ihn. Schlichtmann blieb. Äußerlich beherrscht, besprach er mit ihr eingehend den Versuchsablauf und gewann bald seine innere Sicherheit zurück. Der Mensch machte wieder dem Forscher Platz, den das Geschehen in seinen Bann zog. Seine wertvollen Hinweise bewiesen, daß Lydias Bitte berechtigt war. Ihr trotziges Aufbegehren schien weit hinter ihr zu liegen, sosehr sie wochenlang den Augenblick ersehnt hatte, ihm effektvoll das Ergebnis dieses letzten Versuches auf den Tisch zu knallen. Er trat zum Befehlsgerät des Atomkraftwerks, sein Blick streifte die Meßgeräte: Zwei Millionen Kilowatt schluckte jetzt die Anlage. Lydia entnahm indessen dem Gerät die Versuchsprobe und sprang auf einen der elektrischen Hallenwagen, die zur Überwindung der beträchtlichen Ausdehnung der Halle dienten. Kaum saß der Professor neben ihr, rückte sie den Fahrschalter ein und steuerte dem hinteren Hallenteil zu. Hier bildete eine liegende, doppeltmannshohe Röhre einen riesigen Ring, der die halbe Halle einnahm. Der Ring war in vier Sektoren unterteilt, die jeweils ein gerades Zwischenstück verband. An zwei gegenüberliegenden geraden Strecken befand sich je ein kesselförmiger, elektrostatischer Generator. Lydia stoppte vor einem großen Schalttisch, der eine verwirrende Zahl -31-
von Meßinstrumenten aufwies. Dann eilte sie zur Beschußkammer des Ultrakosmotrons und setzte die Versuchsprobe, eine winzige Kugel, in die Halterung. Hier sollten die Alphateilchen, in der kreisförmigen Röhre unvorstellbar beschleunigt, auf die Atome des Mammutums auftreffen, in ihren Kern eindringen, deren Kräftegleichgewicht stören und so den Alphazerfall einleiten. Wie ein leichtfüßiger Kobold eilte sie hin und her, belebte sie mit ihren fließenden Bewegungen die starre Nüchternheit des Raumes. Unter dem Druck ihrer Finger leuchteten Lämpchen auf, stiegen Zeiger. Nun trat sie zum Schaltpult und nahm Platz. Es war soweit! Jetzt würde sich erweisen, ob ihre Berechnungen zur Atomumwandlung stimmten. Flüchtig blies sie sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn und sah fragend zu Professor Schlichtmann. Der nickte. „Alles klar, Doktorin!" Entschlossen drückte sie auf einen Knopf. Wie Blütenblätter am Abend ihre Staubgefäße, so umschlossen Bleiglaswände die Versuchsprobe. Ein Griff zum Schalter, und schon surrten mit hohem Ton die Vakuumpumpen, saugten die Luft aus der Beschußkammer und der Beschleunigungsröhre und entfernten so die Luftmoleküle aus der Flugbahn der Alphateilchen. Hell klickend spielten die Ventile. Ein Zeiger zitterte über eine mattleuchtende Skala, erreichte einen grünen Strich. Da schwiegen die Pumpen. Bereit zum Anfahren! Wieder griff Lydia in das Schalterheer. Langsam stiegen die Zeiger der Gasmanometer der Generatoren. -32-
Obwohl Schlichtmann nur assistierte, stand er auf dem Sprung, um sofort eingreifen zu können. Wieder der alte, unbestechliche Wissenschaftler, beobachtete er mit wachen Augen Lydia und die Instrumente, kontrollierte er ihre Reaktionsfähigkeit. Er mußte sich bei jedem Handgriff Lydias eingestehen, daß sie wohl kühne, aber keine blinden Sprünge wagte, daß sie genau wußte, was sie wollte und wie weit sie gehen durfte. Gut, sie ging bis an die Grenze des Möglichen, aber durfte sie das nicht, wenn sie die Grenze selbst genau kannte und respektierte? Er hatte sie also falsch eingeschätzt - schon deshalb war er froh, an dem Versuch teilgenommen zu haben, dieser Erkenntnis wegen. Lydia war verblüffend genau. Als der Gasdruck der Generatoren fünfundzwanzig Atmosphären erreichte und Schlichtmann in Gedanken „Jetzt!" rief, schaltete sie prompt die Generatoren ein. „Jetzt die Röhre!" Dumpf erhoben die 650 000 Tonnen schweren Magneten längs der vier Sektoren der Beschleunigungsröhre ihre brummende Stimme. Zwei Sekunden Spannung, dann entluden sich schlagartig die Generatoren, schossen die Alphateilchen in die Magnetsektoren, wurden durch das magnetische Wechselfeld bis zu einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Dann jagte sie das elektrische Wechselfeld in immer rasenderem Kreislauf durch die Röhre, um sie schließlich mit ungeheurer Energie auf die Mammutumatome aufzuschießen. Professor Schlichtmann starrte auf die verkleidete Röhre und sah diese Vorgänge bildhaft vor sich. Das Brummen wurde heller. Blitzschnell erfaßte sein Blick das Hauptkontrollgerät. „Die Leistung steigt!" wollte er rufen, als er den steigenden -33-
Zeiger sah, doch der Ruf blieb auf seinen Lippen. Lydias Hand lag auf dem Regler! Ihr schmales Gesicht war hart wie aus Stein gemeißelt und verriet äußerste Konzentration. Die großen Augen verkniffen, beobachtete sie gespannt die Meßgeräte. Alle zwei Sekunden blitzte eine rote Kontrolllampe auf und meldete ein neues Alphastrahlenbündel. Plötzlich leuchtete hinter der Probe der Fluoreszenzschirm auf. „Na also!" rief sie aufatmend und schaltete die Anlage aus. „Da haben wir's, der Stoff zerfällt!" Das Flimmern auf dem Schirm blieb. „Sie sind ein Teufelsmädchen, Lydia!" Strahlend wandte sie sich um. „Hoffentlich hält dieser Zerfall, was ich mir davon verspreche: ein luftentzündliches Element", sagte sie gezwungen sachlich, um die Schwäche zu überwinden, die nun die ungeheure Spannung der letzten Wochen ablöste. Es war geschafft, sie war in den Kern hineingekommen! Ihr eigenmächtiges Vorgehen war demnach berechtigt, der Vorwurf der Disziplinlosigkeit mußte zurückgenommen werden! Plötzlich riß sie erschrocken die Augen auf. Das Flimmern nahm mit rasender Geschwindigkeit zu. Das Kügelchen wurde zur leuchtenden Kugel, zur grellblendenden Sonne, der Schirm strahlte auf, und schon schmolz ein kleiner Fleck der Glaswand, vergrößerte sich... Fauchend zischte, die Luft durch die Bresche in die Kammer, schoß schrill heulend in die Beschleunigungsröhre. Eine Hitzewelle schlug an ihr Gesicht. „Den Kühlpanzer!" Sein Ruf gellte durch die Halle und brach sich hohl an den -34-
Wänden. Doch ihre Hand traf schon den Alarmschalter. Schamottegefütterte Stahlwände schlossen sich um den Feuerball und rasteten knallend ein. Verdichter heulten auf und preßten Kohlensäureschnee durch ein Fundamentrohr in die Kammer. Der Schnee verdunstete und riß ständig einen Teil der Hitze an sich. Als Gas schoß er hohl fauchend durch ein zweites Fundamentrohr über das Dach hinaus. Kühlwasser strömte über die Kammerwände und kühlte sie von außen. Kochend plätscherte es Ins Abflußbecken und gurgelte in die Schleuse. Damp fschwaden stiegen auf und hüllten die Kammer in dichten Nebel. Vor dem Schaltpult schob sich eine Bleiglaspanzerscheibe aus dem Boden und wehrte die Strahlung ab. Während ihre Blicke beklommen über die Skalen der Temperatur-Anzeigegeräte tasteten und sich an die Zeiger klammerten, legte sich eine bange Frage auf ihr Gemüt. Welche Intensität nimmt der Zerfall an? Werden die Sicherheitsvorrichtungen genügen? Hatte Schlichtmann doch recht mit seiner Warnung? Da begannen die Zeiger wieder zu klettern, sprachen eindringlich davon, daß die Höllenglut in der Kammer sich trotz der Kühlmittel vergrößerte. Lydia starrte unbeweglich auf die steigenden Zeiger, wartete gelähmt auf ihr Verharren, doch die Urkräfte hatten kein Erbarmen. Unaufhaltsam stieg die Temperatur. Wo war die Grenze? Machtlos war man, machtlos mußte man warten, bis sich die Energien ausgetobt hatten, bis der Stoff umgewandelt war. Wehrlos fühlte sie sich ausgeliefert, und dennoch kam ihr kein Gedanke an Flucht. Der Strudel der elementaren Gewalten bannte sie an ihren Platz. Wie hoch mochte die wirkliche Temperatur im Kern der -35-
Kammer, die Temperatur des Stoffes sein? Ein Vielfaches der angezeigten Temperatur, saß doch das Thermoelement im Stahlpanzer, abgeschirmt durch den Kohlensäureschnee. Unaufhaltsam näherten sich die Zeiger dem gefürchteten roten Strich und damit der höchstzulässigen Wärmebelastung der Stahllegierung. Bald würde sie glühen, dann schmelzen... Die Spannung wurde unerträglich. Lydias Nerven, durch die gewaltige Anspannung überreizt, wurden empfindungslos. Eine gefühllose Leere mächte sich in ihr breit, wesenlos kalt und abgrundtief. Ihre Glieder waren wie abgestorben. Rote Kreise tanzten ihr vor den Augen und verdrängten die verschwimmenden Zeiger, verdichteten sich zu grellen, schmerze nden Bildern. ... Hellglühend schmilzt die Kammer, ungehindert stürmt die Hitze in die Halle, krümmt die Stahlträger zusammen, stürzt Mauern um, wirbelt Dachträger durch die Luft, gebiert einen rasenden Orkan, wächst selbst unaufhaltsam, breitet sich aus, entflammt Häuser, versengt Menschen, hinterläßt Asche und Staub auf ihrem Weg... „Lydia!" Fern, ganz fern ertönte der Ruf durch das Brausen. Dann schon näher, lauter. „Lydia! Mädchen, durchhalten! Wir haben doch noch das Kühlaggregat! Noch hundert Grad Temperaturerhöhung, dann läuft es an!" Das war ja Schlichtmann! Jetzt fühlte sie auch seine Hand auf ihrer Schulter. Erwachend, straffte sie sich und sah sich um. Nichts war geschehen. Die Zeiger stiegen noch immer. Aber. das schreckte sie nicht mehr, blieb weit hinter den Bildern zurück, die sie gesehen! Dann erreichten die Zeiger den roten Strich. Würde die Sicherheitsanlage einwandfrei arbeiten? Aber weshalb denn nicht? Sie wurde doch regelmäßig überprüft! Da leuchtete die rote Kontrollampe des Kühlaggregats auf. Pfeifend liefen die Maschinen hoch, blitzend flogen -36-
Kolbenstangen hin und her. Die exakten, gleichförmigen Bewegungen wirkten beruhigend. „Na, sehen Sie!" sagte der Professor väterlich und löste seine Hand von ihrer schmalen Schulter. Flüssiges Helium ergoß sich in ein Netz von Kühlkanälen im Innern der Stahlwände. Grimmig fraß sich der klirrende Frost in das Stahl- und Steingefüge. Die Zeiger fielen. Nun stieg kein neuer Dampf mehr empor, und die Absaugvorrichtung schälte aus der Nebelwatte einen riesigen Edelstein, in dessen Eiskristallen sich das Sonnenlicht mit tausendfältigem Glitzern brach. Eisige Kälte wehte zu ihnen herüber und schnitt unbarmherzig ins Fleisch. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Der Eispanzer wuchs - schnell drehte Lydia das Wasser ab. Jetzt ärgerte sie sich. Weshalb war sie eigentlich schwach geworden? Der Ablauf der einzelnen Kühlungsvorgänge war ihr doch genau bekannt; erst Kohlensäureschnee und Wasser, dann flüssiges Helium! Daran war doch nichts Erregendes, oder mißtraute sie ihren Berechnungen, die einen explosiven Zerfall ausschlössen? Den hätte es zu Beginn gegeben! Oder war sie durch die Heimlichkeit der letzten Wochen und die damit verbundene erhöhte Verantwortung überanstrengt? Was geschah denn in der Kammer? Eine kleine Mammutumkugel verwandelte sich, hell glühend, eingeschlossen in einen Eispanzer, in ein neues Element. Trillionen Atome veränderten ihre Zusammensetzung, stießen Teilchen dabei aus und gaben Wärme frei. Daß diese Wärme etwas höher war als erwartet, war kein Grund zur Aufregung! Schlichtmann riß sie aus ihren Gedanken. „Innentemperatur steht!" frohlockte er und hielt ein kleines Gerät in der Hand, mit -37-
dem er die Temperatur des Kernzerfallbereichs auf größere Entfernung messen konnte. Das schaffte schlagartig gewohnte Nüchternheit. Lydia warf einen Blick auf das Gerät und stöhnte. „Sonnenoberflächentemperatur - und mich friert's, als säße ich auf einem Eisberg!" Zitternd schlug sie ihre Arme über der Brust zusammen. Er lachte fröstelnd und zeigte auf das Meßgerät „Das Sonnenhitze, Doktorin! Sie fällt!" Aufatmend rückte sie die Kältemaschinen und die Verdichter aus. Sie verstummten. Die Stille wurde körperlich fühlbar. Langsam taute der Eispanzer. Erst schlugen vereinzelte Tropren auf, dann plätscherten Bäche in das Abflußbecken; schäumend strömte das Wasser zur Schleuse. Endlich war es soweit. Die Stahlwände klappten zurück. Auf der Steinplatte des Fundaments lag ein kleines Kügelchen. Von der Glaskammer war nichts mehr zu sehen, auch die Halterung war zerstört. „Wie leicht kann das ins Auge gehen!" sagte sie forsch. Er vernahm jedoch, daß sie tief aufatmete, und zog lachend ein Elektroskop aus der Tasche. Mit klammen Fingern hielt er es prüfend in die Luft. Sie wartete ungeduldig auf seine Feststellung, daß keine Strahlung mehr vorhanden sei, und versenkte die Panzerglasscheibe vor dem Schaltpult. Dann plantschte sie durch das Schmelzwasser, kauerte am Kammerboden nieder und wog abschätzend das kleine Klümpchen in der Hand. „Zeigen Sie her - mal sehen, was Sie da zusammengebraut haben", sagte er launig und trat hinzu. „Farbe grau, Oberfläche glasig und hart", registrierte sie und reichte ihm die Kugel. -38-
„So ein kleines Biest!" bemerkte er kopfschüttelnd und umriß damit alles, was er in der letzten Stunde durchlebt hatte. „Und trotzdem nicht luftentzündlich! Das ist mein Irrtum, Herr Professor, leider!" Sie war jedoch nicht so enttäuscht, wie es den Anschein hatte. Wenn schon nicht luftentzündlich - es war ein neues Element und damit ein bedeutender Forschungserfolg erreicht. „Abwarten", erwiderte er, abwinkend. „Was dahintersteckt, wird die chemische Untersuchung ergeben. Aber für heute ist Schluß!" setzte er hinzu, als sie nach der Kugel griff. „Gehen Sie rudern, schwimmen, Tennis spielen, meinethalben auch boxen aber kommen Sie mir jetzt nicht noch mit chemischen Untersuchungen!"
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Lydias weißer Sportwagen hatte längst die Stadt erreicht, als des Professors BMW vor dem Tor hielt. Der diensthabende Betriebsschutzleiter trat heran und legte verbindlich die Hand an die Mütze. „Alles in Ordnung! Die Alarmvorrichtung ist betriebsbereit!" „Danke! Also dann bis morgen, Kollege Meisner!" Der lange Meisner schüttelte herzhaft die dargebotene Hand. Mühsam unterdrückte Professor Schlichtmann ein Stöhnen und war froh, als sich der Schraubstock öffnete. Meisner winkte dem Tordienst, lautlos glitten die schweren Torflügel zurück. Der weinrote BMW fuhr leise an und gewann schnell Geschwindigkeit. Während sich die Torflügel wieder schlössen, musterte Meisner prüfend den Abendhimmel. Die Sonne schob sich als rotglühender Ball unter den westlichen Horizont und ließ zarte Federwolken rosig aufstrahlen. Stille senkte sich über die Landschaft, der Tag dämmerte in eine friedvolle Abendstimmung hinüber. Leise fächelte der Abendwind die Wipfel. Es wird wieder schönes Wetter morgen, freute sich Meisner und trat in das Gebäude des Betriebsschutzes neben dem Tor. Ob Schlichtmann einmal pünktlich das Werk verließ? Immerhin ein Fortschritt, daß er überhaupt heimfuhr, oft genug hatte er hier übernachtet. Aber trotzdem, diese Wühlerei ging über die Gesundheit, blaß genug war er schon geworden. Wenn es so weiterging, würde er der Betriebsärztin einmal einen Wink geben! In den hellen Diensträumen des Betriebsschutzes saßen in tiefen Sesseln die Männer der Freiwache, lasen oder spielten im -40-
Schein der Leselampen und blickten zuweilen nach der Uhr, ob ihre Runde schon begänne. Meisner setzte sich an seinen Schreibtisch und legte den Alarmbereitschaftsschalter um. Relais knackten und schlössen Stromkreise, schufen Brücken, über die der Strom in Leitungen und Geräte längs der Werksumzäunung floß. Radargeräte warfen ihre Strahlen in die Sperrzone. Auf der Wand vor Meisners Schreibtisch leuchtete auf einer mattgrünen Glasplatte ein genauer Plan des Instituts auf. Betriebsschutzmann Lönnert, erst seit einigen Tagen im Wachdienst und heute zum erstenmal zum Nachtdienst eingeteilt, bestaunte die leuchtende Landkarte. Der lange, breitschultrige Meisner wandte sich um und blickte direkt in Lönnerts verständnisloses Jungengesicht. Lächelnd betrachtete er den jungen Kollegen. Hat er eigentlich schon einen richtigen Bartwuchs, schoß es ihm durch den Kopf. Oder reibt er seinen Flaum noch mit dem Handtuch ab? „Mach nicht so'n dummes Gesicht, Lönnert, das könnte chronisch werden!" Dann verlor sich der leise Spott aus seiner Miene. „Nimm dir einen Sessel und setz dich zu mir, ich erkläre dir den Zauber!" forderte er ihn kameradschaftlich auf. Meisner holte sich einen ausgedienten Besenstiel aus der Ecke, und Lönnert zog sich einen Sessel heran. Meisner zeigte mit dem Stiel auf den Plan. „Paß auf, Sportsfreund! Dieser helle Strich ist der äußere Drahtzaun. Nehmen wir an, es wolle jemand in das Werk eindringen, dann leuchtet auf dem Plan diejenige Stelle rot, die er draußen am Zaun berührt! Überklettert er den Zaun und dringt durch den Waldstreifen, dann kommt er in die Sicherheitszone der fünfzig Meter breiten, kahlen Schneise. Dort -41-
wird er von den Radarstrahlen erfaßt, der betreffende Sektor leuchtet rot auf, und er erscheint als gelber Punkt Wir können dann genau seine Bewegungen verfolgen. Automatisch flammen rings um ihn die Fünfzig-Kilowatt-Scheinwerfer auf und blenden ihn." „Und wenn er trotzdem weiter- oder zurückgeht?" warf Lönnert ein. „Dann hast du hier einen Flüsterkasten" - Meisner zeigte auf ein kleines Mikrophon, das vor ihm auf dem Schreibtisch befestigt war - „und kannst ihm über den Lautsprecher was erzählen!. , oder so. Überhört er das, dann genügt ein Hebeldruck dort links der rote Hebel -, und das zweite Drahtgitter hinter der Schneise steht unter Starkstrom!" Er machte eine Atempause. Lönnert mißverstand sie und glaubte, die Sicherheitsanlage sei erschöpft. „Und wenn er sich mit Isolierwerkzeugen daran vergreift?" „Alter Skeptiker!" Meisner lachte. „Dringt er weiter vor, dann kommt er in die Schallsperre, gegen die kein Gras gewachsen ist! Dort wird er mit Ultraschallwellen behandelt. Die Folgen sind rasende Schmerzen und schwere seelische Depressionen, unter Umständen zeitweise Lähmung. Aber ehe es soweit kommt, sind wir bereits in Schußweite!" „Schußweite?" wiederholte Lönnert fragend. Sinnend setzte er hinzu: „Muß ein komisches Gefühl sein, auf Menschen zu schießen!" „Da kannst du recht haben, aber meinst du, daß ungebetene Besucher auch solche Hemmungen haben? Übrigens wird es kaum zur Schießerei kommen. Wenn wir merken, daß er von der Waffe Gebrauch machen will, werfen wir Gasgranaten." Lönnert erschrak. „Mit Gas...?" fragte er entsetzt. „Mit Gas!" wiederholte Meisner ungerührt. „Allerdings ist es unschädlich, es lähmt nur für eine halbe Stunde, ohne jede -42-
Folgen. Bist du nun zufrieden?" Lönnert nickte. „Sind derart umfassende Sicherungen denn noch nötig?" fragte er nachdenklich. „Haben wir denn solche Schätze hier?" „Du denkst wohl, die Verbrecher wären ausgestorben?" fragte Meisner überlegen. „Früher gab es komische Käuze, die klauten Diamanten - heute lohnt es sich nicht mehr, da sie künstlich in großen Mengen hergestellt werden. Und ein derartiger Einbruch ist bei unseren Sicherheitsanlagen zu gewagt. Anders ist es mit unsem Forschungsanlagen! Die sind manchem ein Dorn im Auge, vor allem die Ergebnisse, die wir damit erzielen! Es ist zwar seit langem nichts mehr von dieser Seite geschehen aber trotzdem, man kann nie wissen! Da wir inmitten der verbündeten Staaten liegen, ist nicht so einfach an uns heranzukommen. Hier lohnt es sich nur in besonderen Fällen. An den Randgebieten der verbündeten Staaten ist das anders. Man weiß aber nie, ob wir in den Plänen jener Leute ein besonderer, das Risiko lohnender Fall geworden sind." Lönnert erhob sich und trat seine Runde an. Der Dienst verlief ruhig wie immer. Auf den Kontrollgängen wurde nichts Außergewöhnliches bemerkt. Die großen Schäferhunde trotteten gleichmütig neben den Männern einher. Nur bisweilen kam aus der langen Geschlechterreihe ihrer Ahnen, die einst in der Steppe den Mond mit schauerlichem Heulen begrüßt hatten, eine Erinnerung und ließ tief aus dem Blut ein weiches, leises Grollen in ihre Kehlen steigen. Ein mahnendes Wort ihrer menschlichen Begleiter indessen beruhigte sie sofort. Die Stunden vergingen. Wie verzaubert lag das Institutsgelände im silbernen Mondlicht. Verträumt öffneten sich vor dem Rundendienst die schmalen Kontrollwege, Lichtschluchten im Dunkel des Dickichts.
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* Meisner saß mit den sechs wachfreien Kollegen am Tisch im Aufenthaltsraum, trank genießerisch den letzten schwarzen Tee, lauschte wie die anderen dem Nachtprogramm des Fernsehfunks und betrachtete die farbigen Bilder auf dem Bildschirm. Leise summte die Klimaanlage. Ajax, wohl der stämmigste unter den Schäferhunden, rieb seinen Kopf an Meisners Knie. Ein Telefonanruf schreckte Meisner auf. Der Rundendienst meldete, daß die Ultraschall- Entstaubungsanlage des Labors nicht eingeschaltet sei, und fragte, ob sie eingerückt werden solle. „Klar, einrücken!" rief Meisner in die Sprechmuschel. „Der Professor frißt uns mit Haut und Haar, wenn morgen Staub herumwirbelt!" Ärgerlich darüber, daß es erst jetzt bemerkt wurde, schlug er das Wachbuch auf und griff nach dem Füllfederhalter. Dann zögerte er. Eigentlich ging der Entstauber den Betriebsschutz nichts an. Machte er eine Notiz, dann sah es aus, als läge ein Versäumnis des Betriebsschutzes vor. Trug er es nicht ein, dann krähte kein Hahn danach. Schon im Begriff, das Wachbuch wieder zu schließen, fielen ihm des Professors Worte ein, die er ausgesprochen hatte, als Meisner zum Betriebsschutzleiter ernannt wurde. „Jede noch so geringfügig erscheinende Begebenheit kann für uns von ausschlaggebender Bedeutung sein. Es darf für Sie nichts Nebensächliches geben. Auch keine persönlichen Erwägungen, solange Sie im Dienst sind. Deshalb müssen auch Versäumnisse des Betriebsschutzes unbedingt schriftlich festgehalten werden!" hatte der Professor gesagt. Nun war das eigentlich kein Versäumnis des Betriebsschutzes, aber eine „geringfügige Begebenheit" war es doch. -44-
Gut, er würde sie eintragen, aber der Reinigungsdienst konnte sich morgen gratulieren, dem würde er den Standpunkt klarmachen! Und den Professor wollte er bei der Wachbuchkontrolle darauf hinweisen, daß es kein Versehen des Betriebsschutzes war. Nach der Eintragung lehnte er sich zurück. Zwei der Männer unterhielten sich über die letzte Aufführung des „Tannhäuser" während der Bayreuther Festspiele, die sie als Delegierte des Instituts erlebt hatten. Ein anderer gab Lönnert praktische Hinweise, wie er seinen bald zu gründenden Haushalt am besten einrichten könne. So drangen monoton verworrene Gesprächsfetzen an Meisners Ohr, während er, trotz des Tees müde, Ajax den Kopf kraulte. „Elisabeth... Ultraschallteppichklopfer... Tannhäuser... Schallwäscher... Arien... Hochfrequenzkochschrank..." Meisner wurde dieses Durcheinander unerträglich, er war zu sehr Opernfreund, um die moderne Technik im Rahmen klassischer Opern zu ertragen. „Das ist ja nicht zum Aushalten!" rief er dazwischen. Als er die bestürzten Gesichter seiner Kollegen sah, lenkte er ein. „Lönnert behält den Wunschzettel ja doch nicht!" Dann empfahl er dem Ehekandidaten, sich die Wohnung nach modernsten Gesichtspunkten vom Kundendienst des Wohnkulturverbandes schlüsselfertig einrichten zu lassen. „Und was kostet das?" fragte Lönnert besorgt. „Weniger als die Ausstattung, nämlich nichts! Aber das kannst du bei der Ausstattung auch haben! Wenn du nicht zu große Ansprüche stellst, dürfte der Heiratszuschuß, den euch der Standesbeamte aushändigt, für die gesamte Einrichtung reichen!" „Langt nicht! Wir wollen uns den neuen Fernsehschrank -45-
kaufen!" „Hab' ich's nicht gesagt, Lönnert lebt auf großem Fuße! Ein Femsehschrank mit Hausbar, natürlich mit BildbandAufnahmeanlage, damit er rassige Frauen aufnehmen kann... Laß dich nicht von deiner Frau erwischen!" Meisner grinste und trat vor die Tür, hinaus in die Sommernacht. Der Mond versank am Horizont und ließ eine helle Dämmerung zurück, eine traumhaft unwirkliche Stimmung. Meisner streckte die Arme, holte tief Luft und gähnte. Verdammte Müdigkeit! Grillen zirpten in den Anlagen, im nahen Waldweiher des Instituts geckerten Frösche, irgendwo im Gebüsch schluchzte eine Nachtigall. Stiller Friede lag über der Landschaft, nichts übertönte die Stimmen der Nacht. Von fern drang zuweilen ein Hundebellen herüber, über München zerschnitt der Lichtfinger des Flughafens geisterhaft den nächtlichen Schleier. Da hörte Meisner hinter sich eine berstende Explosion. Er fuhr entsetzt herum und sah das Glasdach über dem Stofftresor in die Luft fliegen. Ein riesiger Feuerpilz wälzte sich nach und wölbte sich träge am Himmel. Splitter wirbelten jaulend umher, knickten Äste und schlugen klatschend auf die Erde. Klirrend zersprang eine Fensterscheibe. Schützend warf Meisner die Arme vors Gesicht, um die grellblendende Helligkeit und die beißende Hitze zu mildern. Schaurig heulte die automatische Feuersirene auf dem Laboratorium auf, erstickte das tierische Nachtkonzert. Nervenpeitschend schrillten die Alarmglocken am Wachgebäude. Mit einem Satz war Meisner im Wachraum. Erschrocken stürzten ihm die Männer aus dem Aufenthaltsraum entgegen. „Schutzanzüge anlegen!" donnerte er sie an. Sekundenschnell fuhren sie in die Anzüge, stülpten sich die -46-
gläsernen Helme mit dem kurzen, blinkenden Antennenstab über den Kopf und öffneten die Ventile der kleinen Sauerstoffflaschen, die auf dem Rückenteil der Anzüge befestigt waren. Meisner sprang zum Leuchtplan. Nicht ein Sektor leuchtete rot! Es konnte kein Unbefugter im Gelände sein. Ein Blick auf die Luftraum-Überwachungsanlage. Kein Flugzeug hatte das Gelände überflogen. War es eine Bombe, in großer Höhe ausgelöst? Ein Druck auf den Knopf der Flugzeugmelder. Die Bildschirme der dem Institut zugewiesenen Luftraumkontrollstationen meldeten übereinstimmend, daß kein Flugzeug in fünfzig Kilometer Umkreis mit der für einen Bombenfernwurf erforderlichen Höhe geflogen war. Zudem hätte eine Bombe von den Radargeräten der Luftsperrzone des Instituts erfaßt werden müssen. Keine Einwirkung von außen! Sollte von innen...? Er drückte auf den Alarmknopf. Gewaltige Scheinwerfer längs der Umzäunung strahlten auf, die Drahtzäune standen unter Hochspannung. Die Schallsperre begann zu arbeiten. Die Männer entsicherten ihre Pistolen und griffen nach den Maschinenwaffen. Der Wachmann der Runde stürzte taumelnd durch die aufgerissene Tür, Gesicht und Hände voller Blasen. „Ich war auf der Rückseite des Labors... als es knallte! Ehe ich im Schatten war... hatte ich schon Blasen!" keuchte er und sank in einen Sessel. Meisner riß ihn hoch, legte ihn auf die Couch und besprengte blitzschnell die Blasen mit einer Flüssigkeit. Dann warf er ihm eine Strahlschutzdecke über. Der Verletzte stöhnte. Der lange Meisner sprach mit weicher, beruhigender Stimme auf ihn ein. -47-
„Ein paar Minuten noch, Ferdi, gleich ist das Rettungskommando hier, es muß jeden Augenblick erscheinen." „Atombrand", murmelte einer der Männer vernehmlich. „Quatsch!" fuhr Meisner auf. „Du meinst eine Kettenreaktion... Aber wenn das eine ist, freß' ich 'nen Besen! Uns hätte es längst fortgeweht!" Lönnert hörte nur das Wort Atombrand und erbleichte. Radioaktive Strahlung... und er wollte im nächsten Monat heiraten! Da die Männer des Betriebsschutzes nichts unternehmen konnten, sondern auf die selbsttätig alarmierte Feuerwehr warten mußten, hatte er genügend Zeit, sich in Gedanken zu verlieren. Während er durch das Fenster in die Flammen starrte, schoben sich verschwommene Bilder vor seine Augen. Nackte Angst preßte ihm die Kehle zu. Was würde Margot machen, wenn er hier zugrunde ginge? Würde sie sich einen ändern nehmen? Es überlief ihn heiß. Wenn er nach draußen ginge und heimlich verschwände? Aber das wäre feige! Er konnte seine Kollegen nicht allein lassen. Meisner bemerkte, daß Lönnert verzweifelt vor sich hin starrte, und legte ihm den Arm um die Schulter. „Na, weich in den Knien? Was ist denn?" Lönnert stöhnte auf. „So ein Wahnsinn, hier im Strahlungsgebiet zu bleiben! Die Schutzanzüge helfen ja doch nichts! Was sollen wir hier, worauf warten wir noch!" stieß er hervor. Meisner packte ihn an den Schultern und sah ihm durch die Bleiglashelme schweigend in die Augen. Sein Gesicht war hart und kühl. Lönnert glaubte Verachtung darin zu lesen. Unter diesem Blick, der sich in seine Augen brannte, als wollte Meisner prüfend in sein Inneres sehen, verebbte Lönnerts Angst und wich dem Gefühl der Scham. Unbehaglich war dieser -48-
Blick; wenn Meisner doch endlich brüllen wollte! Ganz ruhig, betont sachlich, begann er endlich zu sprechen. „Unsere Aufgabe als Betriebsschutz ist es, das Eigentum der Gemeinschaft zu bewachen, zu seiner Erhaltung beizutragen. Das Eigentum der Gemeinschaft, sagte ich!" wiederholte er nachdrücklich. Immer mußte man selbst hinter der Gemeinschaft zurücktreten, sich ständig unterordnen! Lönnert begehrte innerlich auf und fühlte doch, daß er im Unrecht war. Meisner sprach weiter und zwang ihn, seinen Worten zu folgen. „Hier liegen Forschungsergebnisse, die vielen Kranken Rettung bringen, das Leben der Gesunden erleichtern und verschönen... Forschungsergebnisse, Lönnert, derentwegen sich die Kollegen der Forschungsabteilungen täglich feiwillig in Gefahr begeben, in eine Gefahr, die um keinen Deut geringer ist als die augenblickliche! Unser Professor, unsere Doktorin - für wen gefährden sie sich denn? Arbeiten sie für sich? Glaubst du, denen käme der Gedanke, wegzulaufen, wenn es brenzlig wird?" Er ließ plötzlich Lönnerts Schulter los. „So, und nun kannst du dich entscheiden. Wenn du gehen willst, bitte, wir halten dich nicht! Wir andern jedenfalls, wir Familienväter, bleiben!" Damit wandte er sich um und ließ Lönnert stehen. Lönnert schämte sich. Was war der einzelne allein? Ein kümmerliches Stämmchen auf kahler Fläche, jedem Wetter als Spielball preisgegeben. Erst der Wald, die Vielzahl der Stämme schaffte ein Bollwerk, das den Stürmen trotzen konnte. Lönnert blieb. Von fern hörte man die Martinshörner und das Klingeln der Löschzüge durch das Tosen der Flammen. Nervenzerreißend -49-
näherte sich das Sirenengeheul des Überfallkommandos und übertönte die Feuersirene des Instituts. Meisner drückte auf den Torschalter. Die Torflügel schoben sich zurück. Dann rannten die Männer nach draußen. Eine Kette blauer Lichter wuchs aus der Dunkelheit, dann brausten sechs Großraumlöschzüge, ein Überfallwagen, ein Rettungswagen und der weinrote BMW des Professors durch das Tor und stoppten mit kreischenden Bremsen. Professor Schlichtmann sprang aus dem Wagen und zog einen Geigerzähler aus der Tasche. Ein prüfender Blick, dann wandte er sich an den Brandmeister. „Keine Strahlung!" Sein weißes Haar schimmerte im flackernden Feuerschein. Schon ertönten die ersten Kommandos. Unter Wassersprühpilzen gegen die enorme Wärmestrahlung rückten die Feuerwehrmänner zum Brandherd vor, während die Polizisten mit Meisner die vermutliche Brandursache und zu treffende Sicherungsmaßnahmen besprachen. Der Rettungswagen brachte den Verletzten in schneller Fahrt ins Krankenhaus. Inzwischen raste ein weißer Sportwagen heran. Lydia sprang heraus und eilte auf Professor Schlichtmann zu. „Das kann nur der neue Stoff sein!" stieß sie aufgeregt hervor und wollte an ihm vorbei zum Laboratorium. Er hinderte sie daran. „Bleiben Sie hier, für uns gibt es im Moment nichts zu tun! Die Spezialmannschaften kennen sich aus!" „Wir können doch nicht die Hände in den Schoß legen! Unsere Arbeit..." Der Professor faßte sie hart am Arm und hielt sie zurück. „Sie bleiben hier! Wenn Sie jetzt nicht vernünftig sind, lasse ich Sie durch die Polizei vom Brandort entfernen! Begreifen Sie doch -50-
endlich, daß wir hier nichts ausrichten können! Das ist Sache der Feuerwehr! Wenn wir gebraucht werden, wird man über uns verfügen." Ihr verstörtes Gesicht und der flehende Blick besänftigten ihn. „Ich kann Sie ja verstehen, Mädel, aber man darf sich nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen! Wenn es Zweck hätte, wäre ich der erste, der Ihren Einsatz verlangte!" Professor Schlichtmann wandte sich den Betriebsschutzmännern zu, die bereits die Glashelme abgelegt hatten. Sie hätten gewiß bange Minuten überstehen müssen, bevor die Einsatzkommandos kamen. Ob jemand verletzt sei? Meisner berichtete. Schlichtmann gab, während die Luft vom Tosen der Flammen erfüllt war, Anweisung, sofort die Frau des Verletzten zu benachrichtigen. Dann besann er sich der Schutzanzüge. „Lassen Sie die Anzüge ablegen. Meisner! Morgen wird dem Betriebsschutz ein Geigerzähler ausgehändigt, damit Sie selbst feststellen können, ob Strahlung vorhanden ist!" fügte er hinzu, als wollte er sich für die schweren Minuten entschuldigen. Dann starrte er wieder in die Flammen, hilflos, mit gebeugten Schultern. Gemeinsam mit Lydia beobachtete er fast eifersüchtig die Feuerwehrleute. Die Männer an den Düsen der Schlauchleitungen arbeiteten sich an den Brandherd heran. Über die Brandleitern erklommen sie das Dach. Wenn sie jedoch in schwindelnder Höhe den Dachfirst erreichten, dann verdampfte die Wärmestrahlung das Wasser der Sprühpilze und zwang sie zum Rückzug. Verbissen kämpften sie mit der Hitze, doch der Druck der Sprühpilze reichte für diesen unvorhergesehenen Fall nicht aus. Da einer der Männer schwere Verbrühungen erlitten hatte und dem Krankenhaus zugeführt werden mußte, zog sie der Brandmeister zurück. Durch das Laboratoriumsgebäude war an den Brandherd nicht -51-
heranzukommen, die automatischen Brandschutztüren glühten. Der Brandschutzmeister rannte in großen Sprüngen zum ersten Löschzug und stülpte sich den Kopfhörer und das Kehlkopfmikrophon des UKW-Senders über. „Achtung, Achtung... Dezernat Schaum von Löschzug eins, Dezernat Schaum von Löschzug eins... Erbitte dringend Einsatz Schaumkanone mit Luftbeobachtung... Dezernat Schaum kommen, Dezernat Schaum kommen...", sprach er in singendem Tonfall. Schon ertönte eine klare Stimme im Kopfhörer und im Lautsprecher des UKW-Gerätes: „Dezernat Schaum an Löschzug eins... Verstanden..; Schaumkanone kommt sofort..." Währenddessen arbeiteten die Pumpen der Löschzüge auf Hochdruck. Drei Pumpen warfen Schaum auf das Dach, eine Pumpe schleuderte Kühlmittel gegen die Brandschutztüren im Laboratorium, und die beiden andern strahlten Wasser auf die umliegenden Tannen, um eine Brandausbreitung zu verhindern. Bald kreiste ein Hubschrauber über dem Institut. Dem Piloten bot sich ein fesselndes Bild, als er in weiten Kreisen um den Flammenpilz zog, um der Wärmestrahlung zu entgehen: Inmitten der fahlen Morgendämmerung ein greller Lichtwall. Hunderte von Fünfzig-Kilowatt-Scheinwerfern warfen blendende Helligkeit auf einen fünfzig Meter breiten Streifen, der sich im Quadrat um das Institutsgelände zog. In seinem Mittelpunkt schien ein Vulkan ausgebrochen zu sein. Vergeblich mühten sich drei weiße Schaumstrahlen und zwei glitzernde Wasserfontänen, die wie turmhohe Geisterfinger über dem riesigen Gebäude und den hohen Tannen einherirrten, des Feuers Herr zu werden. Der Brandmeister blickte aufatmend hinauf und horchte -52-
gebannt zum Lautsprecher. Da kam der erste Funkspruch: „FHS 12 an Löschzug eins... Schaumkanone im Anmarsch..; Zieht sofort die drei Löschzüge an Nordostecke des Gebäudes um mindestens sechs Wagenbreiten seitlich zurück... Stehen in Einsatzrichtung Schaumkanone..." Die drei Schaumstrahlen brachen in sich zusammen. Dröhnend heulten die Motoren auf, langsam schoben sich die schweren Wagen rückwärts und suchten seitlich einen neuen Standort. Die Männer rannten über den Platz und zerrten die naßschweren Schläuche zur Seite. Da brauste auch schon die Schaumkanone heran, ein übergroßes Fahrzeug auf Gleisketten mit maschinell verstellbarem Schaumwerfer auf der Plattform. Einen gewaltigen Tankanhänger schleppte sie nach. Ohne anzuhalten, fuhr sie langsam über den alten Standort der Löschzüge dem Brandherd zu, während Kühlmittel über die Motorhaube und die Fahrkabine sprühten. Die Mündung des Schaumwerfers schob sich drohend nach oben und richtete sich langsam auf das Gebäude. Gebannt verfolgten die Betriebsschutzmänner den Vorgang, interessiert die Feuerwehrleute, hoffnungsvoll Schlichtmann und Lydia. Eine Hupe quäkte durchdringend. Dann schoß ein baumdicker Strahl Trockenschaum in die Luft und näherte sich nach den Funkanweisungen des Luftbeobachters dem Loch im Dach, durch das die Feuersäule heulend in den fahlen Morgenhimmel fuhr. Triumphierend lenkte der Luftbeobachter den Schaumstrahl in die Feuersäule. Siegesgewiß und doch grimmig lachte er auf. Gegen das Zeug war kein Kraut gewachsen l Siegesgewiß denn der Schaum mußte sich in der Hitze ausdehnen, quellen -53-
und das Feuer überwuchern, ihm die Sauerstoffzufuhr rauben! Doch das Lachen auf seinen Lippen gefror, entsetzt riß er die Augen auf. Die aufschießenden Flammenbündel warfen den Schaum hoch in die Luft, ließen ihn weitab vom Brandherd als Schnee auf die Felder fallen! Mit fieberhafter Ungeduld warteten alle auf das Zusammenbrechen der Feuersäule. Da knarrte eine brüchige Stimme aus dem Lautsprecher. „Schaumkanone Einsatz abbrechen!" Lydia sah den Professor fassungslos an, der zuckte hilflos mit den Schultern. Dem Brandmeister lag ein kerniger Fluch auf der Zunge, dann fiel ihm Lydia ein, und er unterdrückte ihn. „Unsere Mittel sind erschöpft, Herr Professor! Sehen Sie noch eine Möglichkeit, Ihr Teufelszeug zur Ruhe zu bringen?" Der Professor schüttelte müde den Kopf. Das war alles so unverständlich! „Dann bleiben nur zwei Möglichkeiten: Flugzeugabwurf von Stickstoffbomben - oder Sprengung der Außenmauer des Gebäudes, damit wir an den Brandherd kommen. Beides ist nicht ohne größere Zerstörung möglich! In beiden Fällen sind die Nachbarabteilungen des Stofftresors gefährdet. Ein Bombenwurf vom Hubschrauber scheidet aus, da der Flammenpilz den genau gezielten, senkrechten Wurf unmöglich macht. Aber kommen Sie, sehen wir uns noch einmal auf dem Bauplan des Gebäudes an, was günstiger ist." Die schmalgepreßten Lippen und zwei scharfe Falten über der Nasenwurzel verrieten, wie schwer dem Professor die Entscheidung wurde. Beiderseits des brennenden Stofftresors lagen Räume mit wertvollen Anlagen, die Milliarden kosteten. Links das Strahllabor und rechts das Elektronenhirn. Beide Räume waren bei beiden Möglichkeiten gefährdet! -54-
Wenn doch Fenster im Stofftresor wären oder die Wände aus Glas wie im Strahllabor, dann... Aber was nützte das? Wenn man die Beschleunigungsanlagen und das Elektronenhirn demontieren könnte... Unwillig wies er den Gedanken von sich. Damit kommen wir nicht weiter, das nimmt Wochen in Anspruch. Aber wie sollte er sich entscheiden? Milliardenwerte hingen davon ab! Hilfesuchend sah er zu Lydia, doch deren Blicke hafteten an seinen Lippen, flehten um das richtige Wort. Da drängte der Brandmeis ter: „So schwer es Ihnen fallen mag, Herr Professor, Sie müssen sich entscheiden! Die Mauern des Stofftresors werden dem Ansturm der Flammen nicht mehr lange standhalten, dann breitet sich das Feuer aus, und das Labor ist nicht mehr zu retten! Ich empfehle in diesem Falle den Bombenwurf. Er verspricht bei der hochentwickelten Zieltechnik die geringsten Zerstörungen, zudem besitzt die Bombe keine starke Sprengladung. Allerdings darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dennoch ein Risiko besteht! Wenn die Bombe auch im Sturzflug geworfen wird, so muß dieser Wurf der Flammen wegen aus größerer Höhe erfolgen. Und hier geht es immerhin um Meter!" Der Professor richtete sich entschlossen auf. „Fordern Sie den Bomber an!" entschied er mit harter Stimme. Lydia kämpfte ein Schluchzen nieder, das aus ihrer Kehle quellen wollte. Ihr Schmerz beschämte Lönnert, der bei ihnen stand. Sie dachten nur an das Labor, nicht an sich... „Ich möchte nur wissen, woher die Luftzufuhr kommt... Mir ist das unbegreiflich", sinnierte der Professor. Lönnert - dem Professor als Verbindungsmann zum Werkschutz zugewiesen, der inzwischen mit der Polizei das Institutsgelände absuchte - horchte auf. Er vergaß sofort den -55-
Ärger, untätig bei Schlichtmann bleiben zu müssen, während die andern sich betätigen konnten. Wenn auch Meisner ihm absichtlich diese Aufgabe zugeteilt hatte, damit er fühlte, daß er nicht abseits stand, wenn diese Aufgabe auch wichtig war, so hatte sich Lönnert doch darüber geärgert. Schlimm genug, daß man ihm beweisen mußte, daß er zur Gemeinschaft gehörte über Meisners Absicht war er sich nicht im Zweifel. Doch dieser Ärger war weggewischt. Eine Frage dröhnte in seinem Inneren: Luftzufuhr - woher? Er hatte die Baupläne des Institutsgebäudes genau im Kopf. Baupläne waren nach Meisners Meinung seine Marotte, und er hänselte ihn oft damit, daß er keine Gelegenheit vergehen ließ, um die Pläne zu studieren. In Wirklichkeit wollte Lönnert nicht dauernd als „Neuer" fragen müssen, sondern schnellstens das Institut kennenlernen, und das möglichst besser als die anderen. Da zudem tief in seinem Innern noch ein Fünkchen Jungenromantik saß, die ihn davon träumen ließ, er sei als Kriminalbeamter eingesetzt und habe die Aufgabe, mysteriöse Vorgänge im Institut zu klären (und die andern, die ihn heute noch neckten, in Staunen zu versetzen), bemerkte er vieles, was die ändern übersahen. Da rief ihn der Professor an. „Kollege Lönnert! Bitte sagen Sie dem Kollegen Meisner, er möchte sofort sämtliche Streifen aus der Nähe des Laboratoriums zurückziehen, falls die Bombe danebenfällt." Während Lönnert zum Wachgebäude lief, wirbelte nur die eine Frage in ihm: Luftzufuhr - woher? Blitzartig begriff er. Das war der Schlüssel, nur das konnte es sein. Daß er nicht gleich darauf gekommen war! Jetzt konnte er die Scharte auswetzen, konnte beweisen, daß er doch ein Kerl war. Keuchend kam er bei Meisner an. „Sofort alle Streifen vom Labor zurückziehen! Es wird eine Stickstoffbombe geworfen. Der Bomber muß bald hier sein!" -56-
brüllte er und stürmte davon, noch ehe Meisner den Sinn der Worte erfaßt hatte. Ich habe es ja immer gesagt, das reinste Kind! Meisner ärgerte sich. Wegen der Bombe völlig aus dem Häuschen! Wenn ich die Worte nun nicht verstanden hätte? Na warte, Lönnert! Ich werde dich anschließend ins Gebet nehmen! Dann trat er zum Funksprechgerät und nahm Verbindung mit den Streifen auf. Im Gebäudeschatten stürmte Lönnert dahin, bis er die Höhe des Stofftresors erreicht hatte. An der hitzestrahlenden Wand, hinter der die Flammen tobten, verhielt er den Schritt. Neben sich, auf der freien, deckungslosen Fläche, die ungeschützt der Wärmestrahlung preisgegeben war, hörte er ein hohles Fauchen. Im Boden entdeckte er die gesuchte Öffnung, nicht größer als anderthalb Körperbreiten im Quadrat. Ein Gitter deckte sie ab. Pfeifend saugte sie die Luft in sich hinein. Obwohl die Öffnung mehrere Meter entfernt war, spürte er einen kräftigen Sog, der seine Hosenbeine klatschend flattern ließ. Also doch! Aber wie weiter? Wenn er sich auf die Öffnung warf? Aber er konnte sie nicht abdecken! Krampfhaft suchte er nach einer Lösung. Der Bomber war unterwegs! Der Bombenwurf mußte verhindert werden, sonst war es zu spät! An sich selbst dachte Lönnert nicht mehr, auch nicht daran, daß die ändern staunen sollten. Er wuchs in diesen Minuten, in denen er allein die Verantwortung trug, über sich hinaus. Da kam ihm der rettende Gedanke. Mit weiten Sätzen überquerte er die bestrahlte, deckungslose Fläche, ohne auf die Blasen Rücksicht zu nehmen, die sich im Nacken und an den Händen bildeten. Aufatmend erreichte er den Platzregen, den die beiden Pumpen unablässig auf die Tannen warfen. Augenblicklich war er durchnäßt. Ohne zu verschnaufen, rannte er an Professor -57-
Schlichtmann vorüber und stoppte seinen Lauf erst am unterirdischen Hydranten, aus dem die beiden Pumpen das Wasser saugten. Mit einem gewaltigen Ruck riß er den Stahlgußdeckel hoch und verschwand damit, ehe die verdutzten Feuerwehrleute etwas fragen konnten. Mit zusammengebissenen Zähnen, unter Anspannung seiner letzten Kraft, schleppte er den Deckel durch die unbarmherzige Wärmestrahlung, die auf seinem Leib die Feuchtigkeit der Kleider verdampfte, ihm die Haut verbrühte und nun auch im Gesicht große Brandblasen zog. Jeden Augenblick mußte der Bomber erscheinen! Da, schon ertönten die Sirenen der Feuerlöschzüge und riefen die Männer zurück. Schon klang fernes Turbinengeräusch auf! Hinter ihm brach der Platzregen ab, die Sirenen schwiegen und hinterließen eine schmerzhart drohende Stille, in der das Turbinengeräusch des Bombers unerbittlich anschwoll. Der Schall eilte dem Flugzeug voraus - es schien Lönnert wie Hohn, daß der Pilot die langsamste Geschwindigkeit flog, um einen genauen Überblick zu erhalten. Noch fünf Meter! Rote Kreise tanzten vor seinen brennenden Augen; das rohe Fleisch seiner verbrannten Hände umkrampfte den Deckel, der ihm zu entgleiten drohte, die Fingernägel brachen ab. Noch vier Meter! Durchhalten, Lönnert! Der Sog begann unwiderstehlich zu ziehen. Nur nicht stürzen jetzt, nicht eher, als der Deckel auf der Öffnung liegt! Da, die Turbinen heulen auf - der Bomber steigt auf Sturzhöhe! Noch zwei Meter, Lönnert, noch zwei Meter! Lönnert wurde vorwärts gerissen, langsam begann der Deckel zu rutschen. Seine Hände waren eine einzige, brennende Wunde. -58-
Die Kreise vor seinen Augen wurden zu wirbelnden Feuerrädern. Nur die Gewißheit, daß alles umsonst sei, wenn der Deckel vorzeitig oder falsch fiel, hielt ihn noch aufrecht. Da, der Rand! Für Sekunden tauchte er aus dem Nebel auf, der bereits sein Denken umfing, sah das Schachtgitter riesengroß vor sich und setzte den Deckel am Rand auf. Er wurde seinen Händen entrissen, knallte dröhnend auf das Gitter und saugte sich fest. Lönnert brach in die Knie. * Der Brandmeister sah erleichtert nach oben. Der Bomber schoß als letzte Warnung eine Leuchtkugel ab, setzte zum Sturz an. Da gellte ein Ruf: „Dort liegt einer neben dem Stofftresor!" Ein Feuerwehrmann wies entsetzt auf den zusammengekrümmten Körper. „Halt!" brüllten die Betriebsschutzmänner und hielten ihre Hände abwehrend nach oben, als könnten sie den Sturz des Bombers aufhalten. „Lönnert..." Dann erwürgte das Grauen den Ruf. „Zu spät!" stöhnte der Professor und schloß die Augen. Er sah die Bombe einschlagen, die von den Flammen mißhandelte Wand zusammenbrechen und den leblosen Körper unter sich begraben. Da ging ein Schrei durch die Menge. Die Feuersäule brach in sich zusammen, noch ehe die Bombe herniederschoß. Der Bomber stürzte weiter, dann fing er sich ab, ohne die Bombe auszulösen. Während der Rettungswagen zu dem Leblosen fuhr, schob sich die Schaumkanone wieder an das Gebäude heran und warf Trockenschaum nach oben. Ungehindert drang er nun durch das geborstene Glasdach. -59-
Der Katastrophendienst entwirrte das Durcheinander von Trägern, Laufschienen, Glasklumpen und deformierten Einrichtungsgegenständen, das den Boden des Stofftresors haushoch bedeckte. Ein riesiger Hubschrauber erschien und setzte einen brückenförmigen Kran über den erloschenen Kraterschlund des hohen Daches. Bald glitten fahrstuhlartige Schalen in den tiefen Schacht des Stofftresors. Meßgeräte fuhren mit hinab und überprüften jeden Zentimeter der Pfeiler und Wände auf Schadenstellen. Strahlen durchdrangen den Stahlbeton und tasteten das Stahlgerippe nach Rissen und Verformungen ab. Es war unbeschädigt. Die Schadenstellen des Betons waren schnell instand gesetzt. Dann spritzten Zerstäuber eine Chemikalie auf die geschwärzten Mauern und verwandelten den Ruß in einen porösen kristallischen Überzug, der die folgende weiße Farbe aufsaugte. Schon wuchsen wieder die verschließbaren Regale vom Boden her bis unters Dach. Gezahnte Laufschienen wurden montiert, Laufkatzen eingesetzt, dann brauste wieder der Hubschrauber heran, packte mit seinem Greifer wie ein gewaltiger Raubvogel den Kran und flog mit ihm davon. Zurückkehrend, setzte er neue Dachträger ein und belegte die Öffnung mit Glasplatten. Die Männer des Katastrophendienstes montierten unten bereits eine Plattform zwischen die Laufkatzen, zogen ein Geländer herum und setzten Elektromotoren ein. Dann brummten die Motoren auf, und schon fuhr die Plattform mit Schreibtisch und Sessel nach oben und ermöglichte es den Wissenschaftlern, selbst die Tresorkammern -60-
unmittelbar unter dem Dach zu erreichen, die geretteten Stoffproben in die Regale zu verschließen und die verminderten Bestände zu ergänzen. Professor Schlichtmann fand trotz der erhöhten Pflichten, die ihm die Beseitigung der Katastrophenschäden aufbürdete, noch Zeit, täglich die beiden Betriebsschutzmänner zu besuchen, die als Opfer der Katastrophe im Krankenhaus lagen. Während sein Kollege bald entlassen wurde, lag Lönnert noch in Mull verpackt. Allerdings mit jener gehobenen Stimmung, wie sie eine bestandene Bewährung verleiht. Als er damals nach zwölfstündiger Bewußtlosigkeit erwacht war und sich mühsam in den fremden Räumen zwischen weißen Schränken und Betten zurechtzufinden suchte, erinnerten ihn erst die Schmerzen und die Bindenhülle an das Vergangene. Während er wie ein Kleinstkind, das von der Umwelt Besitz ergreift, seine Umgebung musterte und bedrückend die Beschränkung seines Blickfeldes empfand, quälte ihn die Frage, was aus dem Labor geworden war. Selbst die Schwester und der Arzt, die bald nach seinem Erwachen an seinem Bett standen, konnten diese bange Frage nicht verdrängen. So wurde Lönnert eigentlich erst zum Leben erweckt, als einige Stunden später Meisner erschien; der lange Meisner mit einem riesigen Blumenstrauß! Meisners Bericht weckte eine riefe Freude, ließ ihn fast die Schmerzen vergessen. Doch dann geschah, was er sich selbst in den kühnsten Träumen nicht auszumalen gewagt hatte: Meisner teilte ihm seine Beförderung zum Gruppenleiter mit und fügte beruhigend hinzu, als er seine unsichere Miene sah, daß seine künftige Gruppe diese Ernennung begrüße. Zudem bekannte Meisner freimütig, daß er Lönnert verkannt habe; er sei nicht das verspielte Kind, für das er ihn gehalten. „Wenn wir bisher Kollegen waren, Lönnert, dann laß uns heute gute Freunde werden!" bat Meisner abschließend. -61-
Lönnert schloß die Augen. Der lange Meisner, zu dem er bisher respektvoll aufgeblickt hatte, bat ihn um seine Freundschaft! Dann öffnete er die Lider und seine verbundene Hand. Wortlos sah er Meisner in die Augen. Behutsam schob Meisner seine Finger zwischen die Binden, lachte und sagte burschikos: „Somit wurde wieder eine Freundschaft zwischen großen Männern geboren, einem Großen an Körperlänge und einem Großen an Pflichterfüllung! Schluß für heute, ich komme morgen wieder." Lönnert sann den Worten nach, die noch im Raum klangen. In seine Gedanken platzte der Professor. Lönnerts Blicke hingen an ihm. Der Professor kam zu ihm! Der Mann, der weit über Deutschlands Grenzen hinaus geachtet und verehrt wurde, der sich kaum eine Mittagspause gönnte, fand Zeit, ihn zu besuchen! Wenn Margot das erleben könnte! Professor Schlichtmann schob den Stuhl zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. „Ich danke Ihnen, Kollege Lönnert, im Namen der Regierung und in meinem eigenen Namen. Sie haben uns Werte erhalten, die mit Zahlen überhaupt nicht auszudrücken sind", sagte er und hielt Lönnerts Bindenknäuel, unter dem die verbrannten Finger zitterten, in seinen Händen. „Das Institut ist stolz, solche Männer in seinen Reihen zu wissen!" Dann bemerkte er Lönnerts Verlegenheit und begann sich in launigem Ton nach den Einzelheiten der Verletzungen zu erkundigen. „Übrigens muß ich mich auf den Arzt verlassen, daß hier keine Verwechslung vorgekommen ist, denn an der Augen- und Mundöffnung in Ihrem Bindenhelm allein kann ich Sie schlecht identifizieren. Andererseits werden derartige Bindenrüstungen wohl nur an die Ritter der Atomforschung verliehen?! Ihre Stimme ist auch nicht ganz die alte... Ich fürchte, mein lieber Lönnert, Ihre Braut wird Sie nicht erkennen. Da werde ich wohl -62-
erst ein Beweisverfahren einleiten müssen. Ach, Sie me inen, bis dahin sähe es anders aus? Sie irren, Lönnert, Sie irren! Ihre Braut muß jeden Augenblick hier eintreffen, unser Flugzeug holt sie aus Magdeburg! Ich möchte ihr zeigen, daß die Hochzeit verschoben werden muß, so traut Sie doch kein Standesbeamter! Zudem soll sie die Einrichtung Ihres Häuschens überwachen. Ach so, das wissen Sie noch nicht? Sie sind Hausbesitzer geworden! Die Regierung stellt Ihnen ein komplett eingerichtetes Eigenheim mit einer Einrichtung nach Ihren Wünschen zur Verfügung." Lönnert hob abwehrend die Hände, stöhnend ließ er sie sinken. „Sehen Sie, abwehren ist nicht! Nur keine falsche Bescheidenheit, Regierungsaufträge müssen erfüllt werden! Hoffen wir, daß in dem Haus bald viele kleine Lönnerts aufwachsen und die Söhne so werden wie ihr Vater!" * Lydia ging in diesen Tagen mit einem gespannten Gesicht umher, das jedem verriet, sie sei einem großen Geheimnis auf der Spur. Konzentriertes Denken hatte das Lächeln getilgt, dafür gruben sich zwei senkrechte Falten über der schmalen Nasenwurzel in ihre Stirn. Man mußte die Ursache ergründen, die zur Entzündung des Stoffes geführt hatte, und dann den Energieausbruch beherrschen lernen! Das wäre ein Treibstoff, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Sie hatte also doch recht gehabt, ein luftentzündlicher Stoff! Weshalb aber zündete er nicht sofort? Es war ihr Stoff, und sie mußte das Geheimnis finden, ehe die andern Kollegen Zeit gewannen, sich ebenfalls um die Lösung des Rätsels zu bemühen und ihr zuvorzukommen. Ein Gefühl erfaßte sie, das sie nie vorher gekannt hatte: Eifersucht. -63-
Eifersucht auf einen toten Stoff und sein Geheimnis! Schon während die Männer des Katastrophendienstes den Schaum und den Schutt entfernten, suchte sie nach den Überresten des neuen Stoffes und brachte die Männer fast zur Verzweiflung. So ein verschrobenes Frauenzimmer! Wühlte hier im Schutt nach einer kleinen Kugel, stand ihnen im Wege und brach sich womöglich ihre schlanken Beine. Obwohl diese Suche ein Unterfangen war, das nach Meinung der Männer dem berühmten Stecknadelsuchen im Heuhaufen gleichkam, gelang es Lydias methodischem Vorgehen und einem besonderen Suchgerät, das winzige Kügelchen zu finden. Die Strahlen des Gerätes durchdrangen den Schutt und wurden von den einzelnen Stoffen verschieden stark reflektiert. Je nach der Dichte des Materials zeichneten sich die Konturen auf dem Bildschirm ab. Da Lydia zudem schichtweise in die Tiefe des Gerölls eindringen konnte und vorerst an der Stelle suchte, wo das Kügelchen auf dem Tisch gelegen hatte, erschien bald ein auffälliger dunkler Punkt. Sie vergrößerte den Bildausschnitt. Der dunkle Punkt konnte nur von dem Stoff herrühren, dessen Dichte alles bisher Bekannte übertraf. Etwas widerwillig - da sie nicht an den Erfolg glaubten schafften die Männer den Schutt zur Seite. Lydia stand mit dem Gerät daneben und gab Anweisungen. „Noch einen halben Meter... noch dreißig Zentimeter!" Einer der Männer hob einen Glasklumpen heraus und wollte ihn zur Seite werfen. „Moment!" hielt ihn Lydia zurück. „Bitte zerschlagen Sie den Klumpen!" Die Männer schauten verdutzt auf, einige grinsten. Dann sahen sie das Gerät mit großen Augen an, denn der Glasklumpen zerfiel beim ersten Schlag und gab das Kügelchen frei. -64-
Und doch waren sie enttäuscht. Wegen dieser unscheinbaren Erbse solche Aufregung? „Na, Fräulein Doktor, das hat sich nicht gelohnt!" sagte einer geringschätzig. Lydia lachte. „Meinen Sie? Sehen Sie sich um, diese Zerstörungen hat dieser Kirschkern angerichtet!" Sie nahm das Kügelchen und bat den Zweifler, die Hand zu öffnen. Dann ließ sie es hineinfallen. Er hätte es beinahe fallen lassen. „Donnerwetter!" rief er aus. „Das wiegt mindestens ein Kilo!" Behutsam trug sie den Stoff auf das Versuchsfreigelände, das hinter einer hohen Mauer weitab vom Laboratorium lag, dicht umfaßt von den hohen Tannen der Waldinsel. Aus einem Bunker rückte sie einen klobigen Holztisch ins Freie, legte eine Stahlplatte darauf und zog sich einen Asbestanzug an. Dann stülpte sie Asbesthandschuhe über die Finger und ergriff einen Hammer, um erst einmal grob die Festigkeit zu erproben, bevor sie Meßgeräte und chemische Apparaturen ins Freie schaffen ließ. Ihr kam eine leise Ahnung, die sie sich durch das Experiment bestätigen wollte. Ein leichter Schlag mit dem Hammer, vielleicht bröckelte ein kleines Stück ab? Dann könnte man mit der Analyse beginnen, für die der Stoff sowieso in Milligramme aufgeteilt werden mußte. Das kleine, abgebröckelte Stück könnte man dann maschinell zerkleinern. Der Schlag verlief ergebnislos. Ein zweiter, stärkerer Schlag. Die Wirkung war ungeheuer. Sie hatte danebengeschlagen und das Kügelchen nur gestreift. Die scharfe Hammerkante ritzte den glasigen Überzug. Eine riesige bläuliche Stichflamme zischte auf. Nur der Umstand, daß der verfehlte Schlag die Kugel seitwärts wegschnellte, bewahrte sie vor schweren Verbrennungen. Obwohl die Stichflamme nur Sekunden dauerte - sie erlosch noch im Fluge des Kügelchens -, stand der Tisch in -65-
hellen Flammen. Nach dem ersten Schreck, der sie mehrere Schritte zurückweichen ließ, riß sie den Feuerlöscher vom Halter des Bunkers und deckte den Tisch mit Schaum ab. Dann hob sie das Kügelchen vom Boden auf und barg es sorgfältig im Bunker. Nachdem sie ihn verschlossen hatte, steckte sie den Schlüssel zu sich. Ihre Ahnung verdichtete sich. Einwirkungen von außen hatten den Brand ausgelöst, nur welche? War jemand im Stofftresor gewesen? Wer? Der Betriebsschutz...? Die Überprüfung des Wachbuches löste eine Aktivität aus, die selbst für Lydia ungewöhnlich war. Tage angestrengter Arbeit vergingen, Tage, in denen des Professors fürsorgliche Ermahnungen wirkungslos von ihr abprallten. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, daß sie allein mit diesem Stoff umging, er fand jedoch keine Zeit, sich näher mit ihrer Arbeit zu beschäftigen. Außerdem beruhigte sie ihn, ihre Arbeit sei völlig ungefährlich, sie wolle lediglich das Gewicht bestimmen und das chemische Verhalten untersuchen. Dabei traf sie geheimnisvolle Vorbereitungen auf dem Freiluftversuchsgelände, über deren Sinn sich nicht einmal die Monteure klar wurden. Dennoch arbeiteten sie schnell und zuverlässig, fragten auch nicht, obwohl in ihnen die Spannung wuchs. Die Doktorin, wie sie allgemein genannt wurde, liebte keine Fragen, andererseits gab es immer Überraschungen, wenn sie etwas unternahm. Als die letzten Männer des Katastrophendienstes das Institut verließen, atmete der Professor auf. Jetzt wollte er sich endlich Lydias Untersuchungen widmen und sich der Befürchtungen entledigen, daß sie wieder leichtsinnige Sprünge machte und sich in Gefahr begab. -66-
Auf seine Bitte, ihm Bericht zu erstatten, lud ihn Lydia zu einem Versuch ins Freigelände. Verwundert betrachtete er die Versuchsvorbereitungen, die inzwischen vollendet waren. Ein langes, baumdickes Rohr erhob sich senkrecht auf dem BetonFundament des großen Platzes, von straffen Drahtseilen gehalten. Eine dicke Druckleitung schlängelte sich zum Beobachtungsbunker, endete dort in einem starken Kompressor. Am Boden des Rohres hing ein Ultraschallstrahler, dicke Kabel liefen von ihm zum Bunker. Preßluft und Ultraschall? Der Professor wunderte sich. Da er jedoch Lydias Eigenart kannte, erst nach der effektvollen Überraschung zu erklären, schwieg er; und eine Überraschung stand ihm bevor, das sah er an Lydias Gesicht. Die Mitarbeiter des Instituts hörten die Sirene des Versuchsgeländes warnen, die jeden Zutritt zum Prüfstand untersagte, und blickten neugierig hinüber. Aus dem ummauerten Gelände schoß eine gewaltige Feuersäule empor. Vom Wissenschaftler bis zum Reinigungsdienst schüttelte man entsetzt den Kopf über das verrückte Mädchen, das anscheinend vom letzten Mal noch nicht genug hatte. Dann wurden sie nachdenklich, als die Flammensäule kleiner wurde, heulend wieder auffuhr, ganz in sich zusammenfiel, um erneut zu wachsen... und durch diesen willkürlichen Wechsel die beherrschende Menschenhand verriet. Nun sprachen auch sie vom „Teufelsmädchen". Der Professor saß neben Lydia im Beobachtungsbunker und verfolgte auf dem Beobachtungsspiegel gefesselt das Schauspiel. Immer, wenn ihre Hand auf die Taste des Strahlers drückte und draußen im Rohr das Quarzblättchen schwang, wenn unhörbare Schallwellen auf das neue Element trafen, das im Preßluftstrom befestigt war, dann schoß eine Stichflamme in die Luft und erhob sich weit über die Wipfel der Tannen, die das Versuchsgelände beschirmten. „Nun lüften Sie schon den geheimnisvollen Schleier, -67-
Doktorin, ich platze vor Neugierl" stöhnte er, als die Flamme zum drittenmal nach oben fuhr. Sie schaltete den Kompressor aus und lehnte sich zurück. Ein Klingen war in ihr, ein Jubeln. Wohltuende Müdigkeit rieselte durch ihren Körper, langsam löste sich die Anspannung der letzten Wochen, befreiend brach sich die Gewißheit Bahn: Ich habe es geschafft! Wie ein Bergsteiger, der auf den letzten Metern die letzten Kraftreserven einsetzt und auf dem Gipfel, überwältigt von der Schönheit des Ausblicks, zusammenbricht, so ermattete auch Lydia, schloß die Augen und ließ die plötzlich schweren Arme hängen. Auf ihre Antwort wartend, betrachtete Schlichtmann sie von der Seite und sah besorgt, daß ihre Zü ge erschlafften. Was mußte sie in den letzten Tagen geleistet haben, wenn sie unmittelbar nach dem Erfolg ermüdete! Als das Schweigen lastend wurde, begann sie zu sprechen, erst schleppend, als müsse sie jedes Wort zusammensuchen, dann freier; froh, sich endlich aussprechen zu können. Langsam überwand sie die Schwäche und richtete sich auf. „Wie Sie sicher bemerkt haben, Herr Professor, war ich sehr enttäuscht, als der Versuch damals kein luftentzündliches Element ergab. Beim nächtlichen Brand schöpfte ich dann wieder Hoffnung und war überzeugt, daß nur der neue Stoff als Brandstifter in Frage kam. Irgendeine äußere Einwirkung mußte die Luftentzündlichkeit bewirkt haben. Ich suchte die Überreste und trug sie vorsichtshalber auf das Freigelände. Dort beschädigte ich die Glasur mit dem Hammer und erntete eine gewaltige Stichflamme. Den Brand konnten also tatsächlich nur äußere Einwirkungen hervorgerufen haben. Eine Überprüfung des Wachbuches ergab für mich zwei wesentliche Anhaltspunkte. Um ein Uhr fünf wurde der Entstauber eingeschaltet - er mußte am Tage vorher ausgefallen sein -, und -68-
um ein Uhr zehn brach der Brand aus. Da es die einzigen Anhaltspunkte waren, suchte ich einen Zusammenhang. Ich wußte bald, daß der Stoff bei der Reaktion mit Sauerstoff einen glasigen Überzug bildet, der den Luftabschluß bewirkt und die Reaktion unterbricht. Der Entstauber arbeitet mit Ultraschall." „Wenn ich Sie recht verstehe", unterbrach er sie, „dann verhindert der Ultraschall die Neubildung des Überzuges?" „Ja, aber das hat erst der jetzige Versuch erwiesen!" bestätigte sie. „Ich vermutete es bis heute nur, da ich erst die provisorische Versuchsanlage montieren lassen mußte! Der Versuch war also immerhin ein Wagnis, zumindest meine Einladung dazu!" Plötzlich schrak er entsetzt zusammen, ein peinigender Gedanke durchzuckte ihn. „Um Himmels willen, Doktorin, wenn der Entstauber nicht ausgefallen wäre, dann hätte das Zeug beim Betreten des Stofftresors aufflammen müssen. Einige Sekunden später wären Sie ein Häuflein Asche gewesen!" Sie lächelte leicht „Habe ich nicht immer gesagt, daß das Glück der Schutzengel der Forscher sei?" Ernster werdend, fuhr sie fort: „Mich bewegt etwas ganz anderes! Lönnerts Verbrennungen, der kostspielige Einsatz der Schaumkanone und der Flugzeuge hätten sich vermeiden lassen, wenn jemand nach Brandausbruch den Entstauber wieder ausgeschaltet hätte! Dieser Gedanke quält mich. Den Schlüssel in der Hand zu haben und ihn nicht zu erkennen! Ich werde das Gefühl der Schuld nicht los, denn ich vermutete doch die Luftentzündlichkeit..." Betroffen wehrte er ab. „Womit befassen Sie sich denn, Mädel, das ist doch Unsinn! Kein Mensch konnte das voraussehen! Vergessen Sie nicht die Kehrseite der Medaille! Wie hätten Sie dann so schnell die Luftentzündlichkeit und die Rolle des Ultraschalls feststellen wollen? Und schlimmer noch, Lydia, Sie hätten womöglich das Zeug in die Zerkleinerungsmaschine gesteckt!" „Aber der glasharte Überzug hätte mir zu denken geben -69-
müssen..." „Ach was! Schluß damit!" unterbrach sieder Professor. Behutsam zog er sie aus dem Halbdunkel des Bunkers in die strahlende Helligkeit des Spätsommertages. Nach kurzen Anweisungen an die herbeieilenden Monteure, die Anlage zu sichern, nahm er ihren Arm und führte sie ins Klubhaus. „Eines ist mir noch unklar, Doktorin, wenn um ein Uhr fünf die Anlage eingerückt wurde und erst um ein Uhr zehn der Brand ausbrach, dann fehlen fünf Minuten!" „Diese fünf Minuten erklären sich dadurch, daß der Stoff im toten Winkel lag und die Schallwellen nur indirekt auf ihn einwirken konnten. Die Hitze muß das Gerät dann etwas verzogen haben, so daß der Schallstrahl voll auf den Stoff traf. Leider stand das Gerät über dem Luftzuführungsschacht und wurde von den Flammen verschont, sonst hätte das Feuer eher ein Ende gefunden!" „Ja, der Luftschacht! Ich habe mit keiner Faser mehr daran gedacht, daß der Schacht der alten Lüftungsanlage noch vorhanden ist." Im Klubhaus nötigte er sie in einen Sessel, setzte sich gegenüber und bestellte zwei doppelte Kognaks. „So, und nun zum Wohl, Mädchen! Das wird Ihnen guttun, auch wenn Sie sich schütteln! Und dann fahren Sie heimwärts, spannen einige Tage aus - Sie sind überarbeitet!" „Jetzt heimfahren... ich?" Dann kam ihr eine Erleuchtung. „Unmöglich, ich habe Alkohol getrunken!" Der Professor lachte herzlich. „Das war Medizin für Sie! Aber daran soll es nicht scheitern. Storch wird Sie mit meinem Wagen nach Hause bringen! Ihr Wagen folgt heute abend nach! Fahren Sie morgen gemütlich an die Nordsee, denken Sie an nichts als an Ihre Erholung! Sand, Sonne und Wasser... Schwimmen und segeln Sie und lassen Sie den lieben Gott einen guten Mann -70-
sein! Und wenn Sie wiederkommen, dann geht es an die Auswertung!" „Herr Professor, ich..." „Sie fahren zur Erholung, keine Widerrede! Vor uns liegt noch schwere Arbeit, dazu brauchen Sie Kräfte! Und wenn Sie zurück sind, aber nur wenn Sie sich erholt haben, dann vertreten Sie mich, und ich spanne einige Tage aus!" * „Warum ist Doktor Schwigtenberg nicht mitgekommen?" fragte Staatssekretär Häniein nach Schlichtmanns Bericht und beendete das Spiel mit seinem Briefbeschwerer. „Ich habe sie an die See geschickt, sie drohte zusammenzubrechen! Es war zuviel in den letzten Wochen! Übrigens möchte ich dich bitten, sie offiziell als stellvertretende Institutsleiterin zu bestätigen. Ich brauche dringend eine zuverlässige Unterstützung, das Alter läßt sich nicht mehr verleugnen! In nicht allzu ferner Zeit muß ich einen Nachfolger haben! Der kaufmännische und der technische Leiter vertreten mich doch nur auf ihren Fachgebieten." Der Staatssekretär, kleiner als der Professor, fuhr sich mit dem Taschentuch über den kahlen Schädel und tupfte Schweißperlen vom Rücken seiner großen Nase, die seinem Gesicht einen geierhaften Ausdruck verlieh. Dann zwängte er sich hinter dem Schreibtisch hervor, schloß das offene Fenster und warf sich in einen Sessel. „Bist du ganz sicher, daß sie für diese Stelle geeignet ist?" fragte er mit einer klaren Stimme, die niemand bei ihm vermutet hätte. Der Professor lehnte sich zurück und nickte. „Ganz sicher, Kurt! Sie hat mir eine umfassende Lehre erteilt! Ich warf ihr -71-
ständig Leichtsinn vor, muß aber heute bekennen, daß sie zwar kühn, aber niemals verantwortungslos handelt!" „Kühnheit ist kein Fehler, im Gegenteil, sie ist eine Forderung der heutigen Zeit, mein Lieber!" stimmte der Staatssekretär zu. „Aber nun berichte mal von ihr, ich kenne sie ja kaum!" Mit warmen Worten schilderte der Professor, wie Lydia gearbeitet hatte, beurteilte sachlich ihre Leistungen und entwarf ein derart lebendiges Bild, daß der Staatssekretär lächelnd feststellte: „Gibt es so etwas überhaupt? Ein Verliebter könnte keine besseren Farben finden! Aber du mußt sie am besten kennen, selbstverständlich werde ich sie bestätigen! Doch zurück zu eurem Stoff. Wie wollt ihr ihn nennen?" „Die Namenswahl möchte ich Dr. Schwigtenberg überlassen!" wandte der Professor ein. „Einverstanden, es ist ihr Kind, also soll sie den Namen finden. Aber wie nun weiter? Ich schlage vor, wir vereinbaren eine Besprechung mit den Raketa-Werken über die Verwendungsmöglichkeiten im Verkehr!" „Darum wollte ich dich bitten. Allerdings wäre es mir lieb, wenn wir bis zur Rückkehr Dr. Schwigtenbergs warten könnten; bis dahin werden auch meine beiden ändern Assistenten aus Paris zurück sein." Der Staatssekretär nickte zustimmend. „Sagen wir in acht Tagen! Ich werde selbst anwesend sein!"
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Ein weiter, gepflegter Park verbarg sich hinter der beschnittenen Hecke, die das Gelände umsäumte. Über dem Eingang verkündeten große Leuchtbuchstaben eine Firmenbezeichnung, die zu einem Begriff in aller Welt geworden war: Raketa-Werke Dresden. Weit ausladende Linden überdachten eine schnurgerade Allee, deren Betonband in der Tiefe des Parkes auf ein Wasserspiel zulief, das große Wasserfontänen emporschleuderte. Den Platz, in dessen Mitte die Fontänen rauschten, säumten zwei Verwaltungsgebäude, die sich gefällig in den Park einfügten. Dieser Platz bildete das Zentrum des Werkgeländes. Im weiten Halbkreis umschloß ihn die langgestreckte Montagehalle, den Blicken durch die Parkanlagen verborgen; nur ihr Glasdach hob sich hoch über die Wipfel der alten Linden hinaus und blitzte im Schein der Morgensonne. Folgte man der Allee, die auf der andern Seite des Platzes weiterlief, dann erreichte man den mittleren Durchgang der Halle, deren Oberteil sich wie ein Triumphbogen über die Betonbahn der Allee wölbte. Heller grober Putz, Stahl und Glas verschmolzen zu einer harmonischen Einheit und gaben der Halle das Gepräge einer Ausstellungsstätte. Der weite Hallenbogen drängte den Gedanken auf, daß hinter diesen Wänden Tausende schaffender Menschen ihre Hände regten. Verblüfft konnte man dann erfahren, daß das Werk nur zweihundertundfünfzig Belegschaftsmitglieder umfaßte, von denen nur einhundert die kilometerlangen Taktstraßen der breiten Montagehalle überwachten. Kontrollgeräte und Meßinstrumente berichteten, über das Gewirr leuchtender Lampen und tanzender Zeiger auf den -73-
Schaltpulten, den Technikern und Ingenieuren jede Einzelheit des Produktionsganges. Hinter der Halle duckte sich - inmitten der Steinplattenwege, Blumenrabatten und Bänke, umgeben von den Fontänen der Springbrunnen, die aus blumengesäumten Rondells glitzernd aufzischten - ein einstöckiges Gebäude unter die Linden. Hier befand sich das Gehirn des Werkes, das Konstruktionsbüro. Im Vorzimmer des Chefkonstrukteurs las die Sekretärin in akzentuierten Sätzen einen Bericht in die elektrische Diktatschreibmaschine. Eine rote Lampe glühte auf ihrem Schreibtisch auf. Sie unterbrach das Diktat und eilte in den Nebenraum, in dem ein Funkschreiber zu rasseln begann. Neugierig beugte sie sich über den Papierstreifen, der aus dem Schreiber lief. ... raketa dresden... chefkonstrukteur schreyer... übertragen raketa hiermit technische beratung und spätere übernahme neuer entwicklunge n atomforschungsinstitut münchen... erbitten entsendung eines technischen fachkollegen zwecks eingehender besprechung in antriebsfragen für montag 10 uhr nach münchen... schriftliche bestätigung zum betreuungsauftrag folgt... ministerium für forschung berlin... gez. Staatssekretär hänlein... Das Rasseln verklang. Sie trennte den Streifen ab und trat zum Spiegel. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild, ordnete ihre schwarzen Locken, zog das weiße, enganliegende Seidenkleid straft und betrat mit wiegenden Schritten das Zimmer des Chefkonstrukteurs. „Kollege Schreyer, ein Funkschreiben!" Ein breitschultriger Hüne mit ergrauten Schläfen richtete sich im Hintergrund des Zimmers auf, musterte sie kurz aus kühlblickenden Augen und beugte sich unberührt wieder über eine Zeichnung. Sie legte das Funkschireiben zögernd auf seinen Schreibtisch und verließ achselzuckend das Zimmer. -74-
Auf beide Arme gestützt, stand Schreyer vor dem runden Tisch, verfolgte die Linien eines neuen Triebwerkentwurfs, griff zum Rotstift und zeichnete mit sicheren Strichen einige Änderungen ein. Schließlich schob er die Hände in die Taschen seines weißen Mantels und ging überlegend durch das Zimmer, den Kopf leicht nach vorn geneigt. Dieser Hausberg war begabt, das stand fest! Solides Können und exakte Überlegung sprachen aus dem Entwurf, und was das wichtigste war: kühner Schwung. Er besaß einen bemerkenswerten Wagemut und klammerte sich nicht ans Übliche wie die Ängstlichen. Diese Kühnheit war Gold wert, man mußte sie hegen und pflegen wie eine junge Pflanze und darauf achten, daß sie nicht von unkundiger Hand verschnitten wurde. Dann ließ Hausbergs Begabung einiges erwarten! Natürlich müßte man ihn frei machen von Nebensächlichkeiten und wie einen Spürhund auf eine einzige Fährte setzen. Kleinliche Dinge - das zeigte der Entwurf - lagen ihm nicht, in dieser Hinsicht hatte sein Gruppenleiter recht. Was sagte Splitt bei der Übergabe des Entwurfs? „Kollege Hausberg ist leider oberflächlich, scheint Rosinen im Kopf zu haben!" Oberflächlich? Schreyer entsann sich, daß Splitt schon im Entwurf jede Schraube berechnete, Hausberg peilte da wohl über den Daumen und erwischte die größere! Aber schließlich waren sie im Versuchsbau und nicht in der Serienfertigung. Splitts Schrauben wurden teurer! Wenn das end gültige Muster für die Serie vorlag, dann konnte man die Schrauben immer noch berechnen. Und so war es mit allen Vorwürfen, die Splitt erhob. Splitt setzte Fuß vor Fuß. Hausberg stürmte mit großen Sätzen zum Ziel, übersprang im Entwurf die Einzelheiten und entwickelte nur das Prinzipielle. Die einzelnen Mosaiksteinchen des gesamten Bildes setzte er nachträglich ein oder überließ sie -75-
den Teilkonstrukteuren, die außerdem froh waren, wenn ihnen freie Hand gelassen wurde und sie die Einzelheiten nach eigenen Vorstellungen gestalten konnten. Und wenn Hausberg für Splitt arbeitete, dann mußte es zu Auseinandersetzungen kommen - die Ausführung der Entwürfe, die Splitt in allen Teilen vorschrieb, mußte Hausberg zwangsläufig als Unterdrückung seiner eigenen Entwicklung empfinden. Man müßte Hausberg mehr zu selbständigen Entwürfen heranziehen, aber nicht unter Splitts Aufsicht! Die beiden waren zu unterschiedlich, gegensätzlich wie Feuer und Wasser. Und Splitt war dabei das Wasser, das Hausbergs Feuer löschte. Oberflächlichkeit also? Es war mehr mangelnde Menschenkenntnis bei Splitt. Hausberg mußte für große Aufgaben frei gemacht werden, für Aufgaben, an denen er seine Kräfte messen, an denen er wachsen konnte. Er mußte sich frei entwickeln können, damit sein Schwung nicht verkümmerte! Chefkonstrukteur Schreyer zog sein Etui aus der Tasche und setzte eine Zigarette in Brand. Dabei fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Ein Funkschreiben? Er erinnerte sich, ließ sich in den Sessel fallen und nahm den Streifen zur Hand. Sie h mal an, die Feuerwerker brauchten Unterstützung! Ein nettes Feuer hatten die kürzlich abgebrannt, hundert Kilometer weit war es zu sehen, wie aus den Presseberichten hervorging. Eigentlich ein tolles Völkchen, laborierte mit Atomkräften, saß auf einem Vulkan, brachte ihn ab und zu zum Ausbruch und fühlte sich anscheinend ganz wohl dabei. Dagegen war ja ihre Knallerei auf dem Triebwerksprüffeld ein Kinderspiel! Wer wäre für diese Aufgabe geeignet? -76-
Diplomingenieur Buschner? Als Leiter der Abteilung Triebwerk kam in erster Linie er in Frage. Er besaß umfassende Erfahrungen, die er sich während seiner jahrelangen Tätigkeit als Triebwerksfachmann einer überseeischen deutschen Handelsvertretung erworben hatte. Damals mußte er allerdings abberufen werden, weil er sich immer mehr scheute, bei Besprechungen eine klare Linie zu beziehen und sich auf konkrete Angaben festzulegen. Das hatte einige Abschlüsse verdorben. Außerdem war er zu arrogant, seinen Fehler einzusehen und sich zu ändern. Deshalb wurde er nach Deutschland zurückgeschickt. Sollte man ihn nach München entsenden? Das wäre gewagt! Und Splitt? Er hing am Überlieferten, ihm fehlte der Mut zum schnellen Entschluß! Gewiß, auf ausgetretenen Pfaden war er gut zu gebrauchen... aber bei diesem Neuland? Prüfend ging Schreyer die Reihe seiner Mitarbeiter durch, kam jedoch zu keinem Resultat. Gedankenschwer erhob er sich und nahm den Gang durchs Zimmer wieder auf. Vor dem runden Tisch blieb er stehen. Hausberg? Das war es! Man muß ihn in den Teich hineinwerfen, dann schwimmt er schon! Hier würde sich zeigen, was in ihm steckt, was er wert ist! Er nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz und ließ Diplomingenieur Buschner, Hausbergs Abteilungsleiter, und Ingenieur Splitt durch seine Sekretärin zu sich bitten. Buschner verhielt sich, wie immer, abwartend. Der kleine kahlköpfige Splitt dagegen wandte in seiner erregten Art ein, daß Hausberg dafür kaum geeignet sei. Seine Oberflächlichkeit ließe ihn gewiß maßgebliche Details übersehen und voreilige Festlegungen treffen, schließlich seien große Projekte aus Kleinigkeiten zusammengesetzt, die erst in -77-
ihrer Gesamtheit das Projekt ergäben, wie bei einer Straße, die aus Tausenden von Pflastersteinen gebildet würde. Fehlten einige, gäbe es Schlaglöcher! Buschner zwang sein schwammiges Gesicht zu nichtssagendem Ausdruck. „Ihre Meinung, Kollege Buschner?" versuchte ihn Schreyer aus der Reserve zu locken. Doch Buschner hob nur langsam die Schultern. „Kollege Splitt müßte Hausberg doch am besten kennen!" Da wandte sich Schreyer wieder zu Splitt. „Ihr Gleichnis von der Straße ist nicht schlecht, Kollege Splitt. Aber nicht jeder eignet sich dazu, jeden einzelnen Stein zurechtzuhauen und ihn einzupassen; maßgebend ist, daß man weiß, wie die Straße sich zusammensetzt, wo die Steine lie gen müssen, wenn man eine Straße plant. Oder sind Sie der Ansicht, daß der Vermessungsingenieur selbst die Steine setzen, der Architekt selbst mauern muß, um seine Fähigkeit zu beweisen? Mir scheint, damit würde er kostbare Zeit vergeuden, die er nutzbringender verwenden kann." „Dann sind Sie also der Ansicht, daß Hausberg Architekt und seine Oberflächlichkeit Können ist?" fuhr Splitt auf. „Ich bin der Ansicht, daß Kollege Hausberg sehr begabt ist und daß man dieser Tatsache Rechnung tragen sollte! Und ich glaube, daß er für die Münchener Aufgabe geeignet ist! Nicht jeder Mensch, Kollege Splitt, hat die gleiche Veranlagung! Deshalb ist es unsinnig, jeden für die gleiche Aufgabe auch gleich geeignet zu halten oder einen Menschen nur nach einer Eigenschaft einzuschätzen l Es gibt Menschen, die einen großen Rahmen brauchen, um sich entfalten zu können, die sich in Kleinigkeiten verlieren würden!" erwiderte Schreyer ruhig. Buschner lehnte sich zurück. In seinen Mundwinkeln zuckte ein ironisches Lächeln, als er Splitt betrachtete, der tief Luft holte und dann Schreyer angriff. -78-
„Soll das heißen, daß ich Hausberg falsch eingeschätzt hätte? Sprechen Sie mir Menschenkenntnis ab?" bellte Splitt. Schreyer erwiderte nichts, maß ihn nur mit einem kühlen Blick, der ihn verstummen ließ, und wandte sich an Buschner. „Kollege Hausberg scheidet also aus Ihrer Abteilung aus und ist vorläufig direkt mir unterstellt!" Buschner verbeugte sich zustimmend und warf Splitt einen prüfenden Blick zu. Der kochte. Buschner hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Wie konnte man nur so unklug sein und Schreyer anbrüllen? Schreyer liebte eine beherrschte, sachliche Besprechung und verurteilte jede Heftigkeit Splitt erhob sich und verließ gekränkt den Raum. Busduier aber sagte, bevor er sich erhob: „Ihre Ansicht von der ungleichen Veranlagung entspricht ganz meiner Überzeugung. Je länger ich nachdenke, Kollege Schreyer, um so sicherer werde ich, daß dieser Versuch mit Hausberg gelingt! In der Jugend steckt oft viel mehr, als wir Älteren wahrhaben wollen oder erkennen!" Schreyer blieb ärgerlich zurück. Mußte er sich von Splitts Heftigkeit so aus dem Konzept bringen lassen, daß er zum Holzhammer griff? Gab es dafür eine Entschuldigung? Gut, er war davon überzeugt, daß seine Anordnung richtig war - aber wäre es nicht gerade deshalb besser gewesen, auch Buschner und Splitt davon zu überzeugen? Selbst wenn Splitt der Neid getrieben hätte, wenn er deshalb Hausberg unterdrücken wollte, selbst dann wäre es klüger gewesen, ihn durch geschickte Lenkung der Aussprache zu zwingen, seine Gegenargumente vorzubringen und sie dann sachlich zu widerlegen, bis Splitt kein Einspruchsgrund mehr blieb und er zustimmen mußte. Oder er hätte versuchen sollen, ihm den Spiegel vors Gesicht zu halten und ihn zu beschämen! -79-
Von diesem Fehler sprach ihn auch Buschners nachträgliche Zustimmung nicht frei! Wie nun weiter? Wenn Splitt neidisch war, dann mußte man ihm helfen, sich selbst richtig einschätzen zu lernen, seine eigenen Schwächen und Stärken zu erkennen - dann würde ihm klarwerden, daß seine Fähigkeiten auf anderen Gebieten lagen! * Ingenieur Rainer Hausberg stand an der Zeichenmaschine und entwarf mit flüchtigen Strichen ein neues Triebwerksteil. Hin und wieder trat er zurück, lehnte sich an die Kante seines Schreibtischs und nahm den Rechenschieber zur Hand. Es wurde schwül im Raum. Die Sonne stieg und brannte durch das Glasdach. Rainers Kollegen, drei Ingenieure in seinem Alter, warfen die Jacken ab und schlugen die Ärmel hoch. Ausführlich verbreiteten sie sich über den Vorteil der duftigen Sommerkleider des weiblichen Geschlechtes. Gisela Heymer, Teilkonstrukteur der Gruppe, überhörte lächelnd die Anspielungen der Männer. Derartige Neckereien war sie gewohnt, zudem blieben sie im Rahmen und liefen am Ende immer auf scherzhaft verblümte Komplimente hinaus. Sie hatten nichts von steifen und gedrechselten Übertreibungen an sich, verrieten vielmehr ehrliches, kameradschaftliches Gefallen und wärmten innerlich, schufen eine anheimelnde Atmosphäre der freundschaftlichen Verbundenheit. Heimlich betrachtete sie die Wortführer. Der kleine, flinke Rother, dessen rötlicher Haarschopf überall auftauchte, wo es etwas zu untersuchen gab; der schmale, pockennarbige Selbmann und der breitschultrige, spottlustige Bräuner prächtige Kerle! Und Bräuners Scherze berührten sie eigen, sie gefielen ihr, -80-
erschienen persönlicher als die der anderen, doch das schrieb sie ihrer Einbildung zu. Dann suchten ihre Augen den vierten des „Jungmännerquartetts", den ruhigen, selbstsicheren Rainer Hausberg. Er war ungewollt zum Mittelpunkt der Gruppe geworden. Irgend etwas in seinem Wesen - sie glaubte, es sei ausgeprägte Männlichkeit erzwang sich Anerkennung, ein gewisses Respektsverhältnis. Gisela sann über den Grund nach, fand jedoch keine Erklärung dafür. Als die Männer zu deutlich wurden, löste sie ihren grübelnden Blick von Rainer und wies darauf hin, daß unnütze Reden unnötigen Schweiß kosten und daß es vernünftiger sei, die Klimaanlage einzuschalten. Es wurde wieder still im Raum. Nur das Kratzen der Bleistifte auf dem Transparentpapier, vereinzeltes Klappern abgelegter Lineale und das leise Summen der Klimaanlage war zu hören. Kühlendes Wasser rann über das leicht geneigte Glasdach und warf zitternde Lichtreflexe in den Raum, wie leuchtende Wellen glitt es über Schreibtische, Reißbretter, Sessel und Aktenschränke, huschende Lichtkobolde trieben auf dem Bildfernsprecher ihr lockeres Spiel. Rainer kämpfte mit plötzlich aufkommender Müdigkeit. Die Zahlen vor seinen Augen begannen zu tanzen. Alles im Ra um schien zu schwanken, nichts hatte eine feste Gestalt. Ein leichter Schlag auf die Schulter ließ ihn zusammenfahren. „Na, Hausberg, wieder in die Arbeit versunken? Übertreiben Sie es nicht, gönnen Sie sich ab und zu eine Ruhepause!" sprudelte hinter ihm Splitt mit wohlwollender Stimme hervor. Rainer horchte auf. Der Ton erschien ihm eine Nuance zu liebenswürdig. Etwas unwillig wandte er sich um und sah fragend auf Splitt herab. „Sie möchten bitte zum Chef kommen", flüsterte Splitt -81-
geheimnisvoll. Und nach einer Weile knisternder Spannung: „Ich habe es endlich erreicht, eine große Sache für Sie!" Splitt dehnte die Sätze bedeutungsvoll. „Eine Besprechung in München... Atomforschungsinstitut... endlich mal eine Aufgabe für Sie!" „Um was handelt es sich denn?" fragte Rainer verwundert. „Das wird Ihnen der Chef sagen! Jedenfalls eine Sache, die Können erfordert!" „Aber wieso ich? Sie sind doch der Gruppenleiter, Kollege Splitt?" Splitt wehrte bescheiden ab, wieder berührte Rainer ein Gefühl des Unbehagens. „Aber Hausberg! Ich werde doch der Jugend nicht im Wege stehen! Wir Älteren müssen euch Jungen doch die Wege ebnen!" Er klopfte Rainer nochmals auf die Schulter und verschwand in sein Zimmer. Rainer blieb gedankenabwesend zurück. Er lehnte nachlässig am Schreibtisch, spielte zerfahren mit dem Rechenschieber und sann über das Gehörte nach. Was wollte Schreyer von ihm? Und Splitt hatte ihn empfohlen? Splitt, von dem er immer annahm, er habe etwas gegen ihn? Er glaubte eine Spannung zu fühlen, nicht greifbar, nicht zu beschreiben, aber dennoch vorhanden - und nun fand er in Splitt einen Fürsprecher? Die Stirn gefurcht, den Mund halboffen und die Augen blicklos auf den Entwurf gerichtet, bot er das Bild eines Träumers und reizte die Spottlust seiner Kollegen. „Studierst du ein Denkmal ein?" „Der steinerne Träumer!" „Gisela, reich mal den Wecker herüber!" -82-
„Kinder, sprecht ihn nicht an, sonst bleibt er so!" schwirrte es durcheinander. Rainer Hausberg richtete sich schmunzelnd auf und wehrte sich schlagfertig. Da trat Bräuner zu ihm, gegen seine Gewohnheit mit ernster Miene. Rainer fragte sich mißtrauisch, welche kameradschaftliche Spöttelei sich hinter dieser Maske verbarg. „Die Geschichte gefällt mir nicht, Rainer!" Bräuner war tatsächlich ernst! „Splitt troff vor Wohlwollen, da ist etwas faul! Splitt liebt sich selbst zu sehr, um andere zu fördern! Ich kann mir nicht helfen, hier stimmt etwas nicht!" warnte er eindringlich. „Unsinn, Günter, du siehst Gespenster!" wehrte Rainer ab und würgte sein eigenes Unbehagen hinunter. „Deine Antipathie geht mit dir durch!" Er glaubte, Splitts Partei ergreifen zu müssen, denn Bräuners Abneigung gegen Splitts süßliche Art war sprichwörtlich, zudem wirkte die Annahme, Splitt könnte seine Fähigkeiten tatsächlich richtig eingeschätzt haben, befreiend; so befreiend, daß Rainer alles Mißtrauen begrub. Es war so verlockend, an das Wohlwollen zu glauben, daß er nicht zu widerstehen vermochte. Doch Bräuner schüttelte den Kopf. „Ich weiß, ich bin ein Spötter, das habt ihr mir oft genug bestätigt, aber manchmal habe ich lichte Momente! Hier sehe ich klar; selten klar, mein Lieber!" „Ich gehe sofort zum Chef, dann werden wir sehen!" entschied Rainer und eilte aus dem Raum. Als Bräuner das frohe Gesicht des nach Stunden zurückkehrenden Rainer sah, verbiß er nur mit Mühe ein ironisches Bedauern. Hier war etwas faul - daß Rainer das nicht spürte! Splitt als Fürsprecher? „Na also, alter Pessimist!" sagte Rainer zu Bräuner und -83-
berichtete dann: „Splitt hatte recht! Eine tolle Sache!" Rainer erklärte seine n Auttrag, soweit er dem Funkschreiben zu entnehmen war, und erwähnte, daß er bereits am folgenden Montag nach München fahren werde. Mehr wisse er selbst nicht, hauptsächlich sei der neue Entwurf besprochen worden. „Sosehr ich mich freue, einen Haken hat es. Leider werden wir getrennt!" schloß Rainer seinen Bericht. „Ich unterstehe direkt Schreyer!" Versonnen setzte er hinzu: „Komisches Gefühl! Drei Jahre sind wir nun zusammen, drei Jahre gemeinsamer Arbeit... und jetzt soll ich einen Schlußstrich ziehen?" Auf allen Gesichtern malte sich Bedauern, auch unter den Kollegen griff ein Gefühl um sich, als würde ihnen ein Teil ihres Wesens genommen. Und wieder war es Bräuner, der die Stimmung rücksichtslos durchbrach. „Bitte kein Staatsbegräbnis! Laßt nicht den Kopf hängen, als würdet ihr zur Schlachtbank geführt! Hört denn die Zusammengehörigkeit auf, weil Rainer ein paar Türen weiter zieht? Kinder, freut euch lieber, daß er es endlich geschafft hat, betrachtet die Angelegenheit mal von diesem Standpunkt! Wenn ich Splitt auch nicht riechen kann, so hindert mich das nicht, mich über Rainers Erfolg zu freuen!" Rainer hatte sich noch eine Überraschung aufgehoben: Schreyer stellte ihm für die Fahrt die „Hexe" zur Verfügung. Die bedrückte Stimmung schlug in Staunen um, denn die Hexe war ein Versuchsfahrzeug der Kraftwagenabteilung, über das zwar viel vermutet, das bisher von der Kraftwagenabteilung jedoch eifersüchtig geheimgehalten wurde. Als man seinerzeit die Kfz-Abteilung gegründet hatte, überschlugen sich die Gerüchte förmlich. Wer sich aber Klarheit holen wollte, wurde von den Angehörigen dieser Abteilung mit nichtssagenden Worten abgespeist oder mit vielsagendem Lächeln und -84-
Schulterzucken abgewiesen. Bestenfalls bekam er Ermahnungen mit auf den Weg, die ihm den Appetit auf weitere Fragen restlos verdarben. „Amtsgeheimnis, Bruderherz! Neugier ist 'ne Krankheit, laß dich mal untersuchen!" riet man Rother. Selbmann dagegen mußte sich sagen lassen, daß kleine Kinder nicht so neugierig sein dürften. Und Bräuner schäumte damals, weil ihm geheimnisvoll zugeflüstert wurde, man baue ein Unterseeboot, das fliegen könne! So war es verständlich, daß die Fragen durcheinanderschwirrten. Doch Rainer zuckte die Achseln, er wußte selbst noch nichts. Dafür lud er sie zu seiner Abfahrt ein. „Dankend angenommen!" sagte Bräuner und gab dem Gespräch eine Wendung. „Du willst also in die Höhle des Löwen? Laß dir dort nicht das Fell verbrennen, die Brüder spielen mit Streichhölzern! Atomforschungsinstitut - hast du ein Glück! Von dort haben wir noch allerhand Überraschungen zu erwarten, bald werden sie Wurst in der Retorte erzeugen!" Rainer schüttelte nachsichtig den Kopf. „Du bist ein alter Spötter! Außerdem verrätst du den Vielfraß!" „Kunststück! Erblich belastet! Meine Mutter war eine geborene Spott, mein Vater hatte mal eine Schweinemästerei... gesehen! Aber nun mal ernst, was wird, dich in München erwarten?" Rainer hob die Schultern. Da dozierte hinter ihnen Rother mit schnarrender Stimme: „Eine alte Stadt mit historischen Bauwerken! München wurde nach einer kleinen Siedlung des Klosters Tegernsee so benannt. Der Name ist von dem Siedlungsnamen ,Zu den Mönchen' herzuleiten. Heinrich der Löwe verlieh München 1158 das Stadtrecht. Besichtige die Frauenkirche, einen Bau aus dem fünfzehnten Jahr hundert - und vergiß nicht das Hofbräuhaus! Ferner rate ich..." Bräuner stöhnte auf. „Du hättest Fremdenführer werden -85-
sollen, aber nicht Ingenieur!" Rainer wandte sich lachend um und nickte Rother zu, der befriedigt grinste. Ein seltenes Gespann, diese beiden! Der kleine, stämmige Rother, dessen scharfkantiges Gesicht den Schalk verbarg, und der lange, athletische Bräuner, dem der Spott verräterische Falten in die Mundwinkel gegraben hatte, hingen wie Kletten aneinander. Allerdings drückte sich ihre Zuneigung, ihrem Wesen entsprechend, in ironischen Wortgefechten aus. Rothers Steckenpferd hatte den Anstoß gegeben. Er widmete seine Freizeit dem Studium der Landschaft, ihrer Geschichte und der Eigenart ihrer Bewohner. Die veröffentlichten Ergebnisse seiner neuartigen Untersuchungen wurden von den Geschichtswissenschaftlern als wertvolle Ergänzung ihrer Forschungen anerkannt. Bräuner selbst las sie mit Interesse, aber - und hier lag der Grund der ständigen Plänkelei - er hatte daraufhin Rother bei einer technischen Fachtagung seinen Ingenieurkollegen als Fremdenführer vorgestellt. Die Bemühungen der anwesenden Ingenieure - die Tagungsgäste aus anderen Berufen gewohnt waren -, ihm, dem vermeintlichen Laien, in allgemeinverständlicher Form einfachste technische Grundbegriffe zu erklären, veranlaßten Rother, sich Bräuner gegenüber bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit nun auch als Fremdenführer aufzuführen. „Übrigens san dö bayrischen Deandl blitzsauber, mei Liaber!" rief Rother zu Rainer hinüber. „Nacha bist in fest'n Händ'n, wannst hoamkimmst. Dös wär a Gaudi!" Bräuner, froh, einen andern zur Zielscheibe des Spottes machen zu können, sagte geringschätzig: „Der? Der scheut doch vor der holden Weiblichkeit wie ein Droschkengaul vorm Wespenschwarml" Das allgemeine Gelächter wurde vom Betriebsfunk unterbrochen. Rainer war froh darüber, das Thema behagte ihm -86-
wenig. „Es ist vierzehn Uhr! Wir wünschen euch allen einen vergnügten Feierabend! Und nun der Kulturplan des Tages: Um sechzehn Uhr findet im Theatersaal die Aufführung des von Ludwig van Beethoven statt Leider ist die Veranstaltung bereits voll belegt. Um siebzehn Uhr sieht der Filmfreund im Kinosaal den Film , eine auf den Weltfilmfestspielen preisgekrönte Liebeskomödie der DEFA, im Beiprogramm einen Kulturfilm über die Entwicklung vom Stummzum heutigen Raumfarbfilm." Während der Sprecher die Kulturveranstaltungen des Werkes und der Stadt bekanntgab und die Hörer der Volkshochschule an ihre Vorlesungen erinnerte, packten die Ingenieure ihre Aktentaschen. Der sechsstündige Arbeitstag war zu Ende. Rainer verabschiedete sich und ging gedankenvoll durch die Anlagen. Für die Wasserspiele hatte er keinen Blick, obwohl er sonst gern den Regenbogen betrachtete, den die Sonne in den Wasserstaub des niedergehenden Sprühregens malte. Rothers Anspielung und Bräuners offener Spott hatten ihn getroffen. Bräuners Worte waren ein Steinchen, das eine Lawine ausgelöst hatte. Rainer sah sie wieder vor sich, jenes Mädchen, mit dem ihn eine brausende, ihn selber überraschende Leidenschaft verbunden hatte. Jede gemeinsame Stunde schien ihm damals ein einmaliges Erlebnis. Was hatte er an ungeahnten Kräften gespürt, mit welcher Kühnheit hatte er, von einer Woge unaussprechlichen Glückes emporgetragen. Zukunftspläne geschmiedet, und welche Luftschlösser hatte er gebaut! Für dieses Mädchen war ihm kein Ziel zu hoch erschienen... Und dann war der Tag gekommen, an dem sie ihm kühl erklärte, daß sie sich trennen müßten, da sie kurz vor der Hochzeit mit einem namhaften Künstler stehe. Unberührt von seinem Schmerz hatte sie auf seine Fragen geantwortet, daß diese Verbindung für sie vorteilhafter sei, ja, sie war empört -87-
gewesen, daß er kein Verständnis dafür fand. Für die Liebe kann man alles opfern; kein Einsatz ist zu hoch für sie, wenn man wirklich liebt... diese schönen Sprüche! Damals brach für ihn eine Welt zusammen und begrub für immer - wie er meinte - Vertrauen und Liebe unter sich. Mißtrauisch und verwundbar umgab er sich mit kühler Zurückhaltung, baute er jenen Panzer um sich, den heute eine einzige Frage zertrümmert hatte: Du hast heute einen großen Erfolg errungen, ein Entwicklungsabschnitt ist beendet... wer freut sich mit dir? Für wen erringst du diesen Erfolg? Für dich allein? Gewiß, er war ein Teil eines großen Ganzen, aber dieser Begriff war zu mittelbar, zu unpersönlich. Es fehlte der lebendige Ausdruck, das kleine Symbol der Gemeinschaft: ein Mensch, mit dem man unmittelbar verbunden war, der mit einem hoffte, mit einem strebte, bangte und glücklich war! Da schob sich ein Bild vor seine Augen. Gisela? Gisela war nah, der Gedanke verlockend! Und es kam ihm kein Zweifel, daß er sie gewänne, wenn er wollte. Dann schüttelte er unwillkürlich den Kopf. Gisela - nein! Bräuner hoffte auf sie, verband mit ihr viele Zukunftspläne, sah in ihr ein Ziel. Ihm das Ziel nehmen? Zeigte die Tatsache, daß er solche Betrachtungen darüber anstellen konnte, nicht ganz eindeutig, daß er kein Recht besaß, sich zwischen Bräuner und Gisela zu drängen? Bräuner vermochte nicht mehr abzuwägen - Bräuner mußte! Das war der Unterschied!
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Es war Montag. Bereits eine Stunde vor Arbeitsbeginn versammelten sich Rainers Kollegen vor der langgestreckten Werkgarage, um sich von ihm zu verabschieden und um die Hexe kennenzulernen. Während sie ungeduldig auf Rainer warteten und Bräuner, vor Spannung dem Zerbersten nah, ingrimmig feststellte, daß es wie bei der Bescherung sei, alles warte auf den Weihnachtsmann stand Rainer im Halbdunkel der Garage hinter einer Tür und spähte mit jungenhaftem Übermut durch einen Spalt in den hellen Morgen. Ein vorwitziger Sonnenstrahl stach ihn in die Augen, kitzelte in seiner Nase - um nicht niesen zu müssen, trat er zurück. Als die Gruppe vollständig versammelt war, eilte er zur Hexe und betrachtete sie noch einmal, ehe er einstieg. Den neuesten Stand der Technik verkörpernd, wich der Wagen völlig von der gewohnten Form ab, bot er ein ungewohntes und doch faszinierend harmonisches Bild. Als erstes einspuriges Modell lief er vom und hinten auf nur je einem Rad, deshalb konnte die Karosserie weitgehend der vollkommenen Stromlinienform angeglichen werden. Zwangsläufig erweckte die schnittige Form im Beschauer die Gewißheit hoher Geschwindigkeit. Zwei Ersatzräder, die knapp hinter den Spurrädern über dem Erdboden hingen und sich mit gleicher Geschwindigkeit drehten, da sie mit diesen gekuppelt waren, übernahmen bei Reifendefekten automatisch deren Funktion und gesellten noch das Gefühl unbedingter Sicherheit hinzu. Dieser Wagen mußte in jedem Motorsportbegeisterten - und wer war das nicht? - den Wunsch erwecken, einmal die Kräfte auszuschöpfen, die seine Gasturbine entwickeln konnte, einmal den Rausch der Geschwindigkeit auszukosten. -89-
Eine glückliche Lösung: Größte Zweckmäßigkeit und höchste Eleganz vereinten sich mit einladender Bequemlichkeit. Die Wartenden hatten sich inzwischen auf die Bänke niedergelassen, Rother lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, Selbmann zerkaute nervös eine Zigarette, nur Bräuner lief unruhig hin und her. Gisela starrte, in Gedanken verloren, zu ihm hinüber. Seine Unruhe übertrug sich auf sie, es rann ihr heiß durch die Glieder. Zwar verbarg sie ihre Erregung, aber ihre Bewegungen wurden gezwungen, ihre Gestalt straffte sich, jeder Muskel schien sich zu spannen. Ein eigenwilliger Reiz ging von ihr aus. Sie hätte ein schmales Gesicht, ihre Augen waren groß und klar und von einer Farbe zwischen grün und blau, die sich schwer bestimmen ließ. Blondes Haar, das in der Sonne glitzerte, fiel ihr in lockeren Wellen über die Schultern. Und ihre Gestalt? Bräuner hatte einmal zu Rother gesagt: „Nichts zuviel und nichts zuwenig... Man sieht, daß ihr Vater Kunstmaler ist, sie könnte aus einem Gemälde herabgestiegen sein!" Gisela wandte sich unwillig ab, als sie sich bewußt wurde, daß sie Bräuner anstarrte. Weshalb nur war sie so erregt? Was war das schon: ein neuer Wagen? Sie hatte schon ganz andere Neuentwicklungen mit aus der Taufe gehoben. Gut, es war der erste Versuchswagen der Raketa-Werke, mit ihm verknüpften sich viele Wünsche, daß er sich bewähren möge, und die geheime Furcht, er könnte enttäuschen. Da ertappte sie sich, daß sie wieder zu Bräuner hinübersah. Wie sagte er vorhin: „Wenn ich das Glück hätte, ich würde nicht allein fahren!" Und nach kurzem Zögern: „Gissi... Gisela, würden Sie mitkommen?" Jetzt bekamen manche Bemerkungen der letzten Tage eine andere Bedeutung. „Ich mir eine Frau suchen? Suchen...? Weshalb in die Feme schweifen, sieh, das -90-
Gute liegt so nah!" Und: „Ich bin nie so gern ins Büro gegangen wie jetzt. Das Bild, wissen Sie, Gissi, das Bild! Welches? Wenn man die Harmonie der Formen betrachtet und bedenkt, was sich dahinter verbirgt... Ich träume Tag und Nacht davon, daß ich derjenige sei, der das Feuer entzündet... Aber Splitt wird der Glückliche sein, der den Zündknopf betätigt und unsere Brennkammer zum Leben erweckt!" Kinder, das war ja direkt eine Frechheit gewesen... Daß sie das nicht gleich begriffen hatte! Na warte... Interessierte sich Bräuner für sie? Wie zur Bestätigung begegneten sich ihre Blicke, fragend tauchten sie ineinander. Zögernd verhielt er den Schritt. Sie wandte sich befangen ab. Also Bräuner...! Das war ungewohnt Und sie glaubte immer, er hätte nur Augen für die Technik, dächte nur an seine Arbeit. Weshalb hatte er solange gezögert? Weshalb sprach er nicht...? Bräuner war nicht schüchtern! Dann mußte sie ernsthaft über eine andere Frage nachdenken: Konnte dieser große Junge, dieser Bär, eigentlich zärtlich sein? Wann würde er offen sprechen? „Das dauert ja lange", sagte sie, um sich abzulenken. Dabei war sie sich nicht ganz klar, ob diese Frage Rainers Erscheinen oder ihren Gedanken galt. „Nichts ist so unwiderstehlich wie der menschliche Drang, die Neugier zu befriedigen! Das weiß jeder Reklamefachmann und schlachtet es gebührend aus! Sehen Sie sich Bräuner an, Gisela, den bringt die Neugier bald um!" sagte Rother. Ein leises Scharren, sie wandten sich um. Eine Garagentür schob sich auseinander. Rainer war also schon in der Garage, und sie glaubten, er hätte verschlafen. Aus der Garage schob sich ein spiegelblanker -91-
Stromlinienkörper, der nach hinten in eine schlanke Stabilisierungsfläche auslief. Gleißend blitzte die silbrige Kunststofikarosserie auf, wenn sie eine der vielen Lichtbahnen durchglitt, die von der Morgensonne durch das dichte Laub der Linden geworfen wurden. Spukhaft wie eine Erscheinung aus der Märchenwelt rollte der niedrige, geschlossene Wagen lautlos an ihnen vorüber und hielt im Schatten. Er wich so völlig von dem gewohnten Bild ab, daß erst Rainers vergnügtes Gesicht hinter den Scheiben die Verblüffung löste. Bräuner wies, noch immer fassungslos, auf die Räder. „Sechs Räder... seht euch das an... sechs Räder!" stöhnte er. Wie bei einem Teewagen befanden sich an schlanken Beinen beiderseits der Spurräder je zwei kleine Räder. Sprachlos umschritt Bräuner den Wagen. Die Vorderfront glich einer Flugzeugkanzel, ohne Motorvorsprung wölbte sich die Karosserie. Ungestört konnte die Luft auf der schimmernden Außenhaut entlangströmen, kein wirbelbildender Vorsprung, keine Klinke war zu entdecken. Am Heck liefen die Stabilisierungsflächen in ein Seitenruder aus. Bräuner suchte vergeblich nach einer Möglichkeit, in den Wagen hineinzukommen. Ungeduldig klopfte er an die Scheibe, hinter der Rainer lachend seine Bemühungen verfolgte. „Komm doch mal heraus, wenn du kannst... Oder bist du mit eingegossen worden?" rief Bräuner. Rainer drückte auf einen Knopf, langsam schoben sich die Fensterscheiben zurück. Bräuner steckte seinen Kopf durch die Öffnung und fragte erregt: „Wozu hat der Wagen denn sechs Be ine? Waren wir bisher nicht froh, mit vier Rädern auszukommen?" „Es sind acht, mein Lieber!" widersprach Rainer nachsichtig und sagte nach einer kurzen Pause: „Ich führe dir gleich -92-
praktisch vor, wozu sie notwendig sind!" Wieder griff er ans Armaturenbrett. Ehe Bräuner den Kopf zurückziehen konnte, stand er im Freien. Das Dach schob sich schnell ineinander, und Bräuners Ellbogen lehnten auf der niedrigen Wagenwand eines Kabrioletts. Zu den Kollegen gewandt, die inzwischen herangetreten waren, begann Rainer: „Ich versprach, Bräuner vorzuführen, wozu die sechs beziehungsweise acht Räder dienen. Wir benötigen bei Kreiselstillstand Seitenstützen, damit der Wagen nicht umfällt, denn das Gleichgewicht hält der rotierende Kreisel." „Das wissen wir", unterbrach Bräuner, „aber dazu genügen zwei Seitenstützen l" Rainer drückte statt einer Erwiderung auf einen Hebel des Armaturenbretts. Ungewollt richtete sich Bräuner auf, obwohl er die Arme fest aufgelegt hielt. Der Wagen hob sich! Plötzlich sprang Bräuner mit einem gewaltigen Satz zurück und erregte die Heiterkeit der anderen. Er hatte einen Schlag gegen sein Knie erhalten und hüpfte nun, mehr erschrocken als des Schmerzes wegen, auf einem Bein. Dann bückte er sich, um unter den Wagen zu sehen. Die Spurräder befanden sich jedoch mitsamt dem Wagen schon einen Meter über dem Erdboden, nur die kleinen Seitenräder standen fest auf der Betondecke des Garagenvorplatzes. Die Storchenbeine schoben sich langsam aus dem Wagen und drückten ihn hoch. Dort, wo Bräuner gestanden, hatte sich eine schmale Klappe geöffnet, aus der sich langsam eine Leiter senkte. „Genügt das?" fragte Rainer. Als Bräuner nickte, fuhr die Leiter wieder ein, der Wagen senkte sich. Dann schob sich eine eingelassene Klinke aus der Wagentür, und Rainer sprang heraus. -93-
Seine Kollegen überschütteten ihn mit Fragen. Er spürte, daß er nicht eher Ruhe bekäme, bevor er nicht alle Einzelheiten erklärt hatte. Wie eine tolle Hundemeute, dachte Gisela belustigt und hielt sich etwas abseits, nah genug jedoch, um jedes Wort verstehen zu können. Hier hatte sie Rainer und Bräuner vor sich, und ungewollt verglich sie die beiden miteinander. Bräuner schnitt besser ab, wenn er auch lausbübischer war als Rainer. Er kratzte sich am Kopf und fragte zweifelnd: „Aber wo kommen denn die langen Storchenbeine her? Wenn du den Wagen mit ihnen zwei Meter heben kannst, kann ich mir nicht erklären, wo sie untergebracht sind! Die Wagenwände sind doch zu schmal und zu niedrig, um sie aufzunehmen l" Rainer nickte verständnisvoll: „Diese Frage, Günter, habe ich mir am Anfang selbst gestellt Sie ist einfach zu beantworten, verblüffend eintach! Die Storchenbeine schieben sich wie Fotostative zusammen, während die Leiter aus einzelnen, zusammenlegbaren Gliedern besteht. Und gleich noch etwas: die kle inen Seitenräder blockieren automatisch, wenn sich der Wagen hebt!" Die Ingenieure waren hell begeistert. Gisela betrachtete sie schmunzelnd. Es stimmte also doch, daß in jedem Manne ein großes Stück Kind verborgen lag, namentlich im Techniker... Denn diese Freude an beweglichen, neuen Dingen - das konnte nur das Kind im Manne sein! Sicher würden sie mit der gleichen Begeisterung mit der elektrischen Eisenbahn spielen, wie sie jetzt Rainers Erläuterungen lauschten! Aber es war eigentümlich, sie vergaben sich dabei nichts, im Gegenteil... War das nun die Mütterlichkeit, was die Frauen daran Gefallen finden ließ? Chefkonstrukteur Schreyer, der Werbechef und der kleine Splitt traten unbemerkt hinzu. Schmunzelnd hörten sie, wie sich Bräuner als Kühlerfigur und Rother als Weichensteller anboten. -94-
Nur Splitt verzog sauer das Gesicht. Diese Kindsköpfe - und so etwas schimpfte sich Ingenieur! Ihm erschien das als Entwürdigung. „Sie freuen sich wie die Kinder", sagte er spöttisch. „Gott sei Dank! Sie sind noch jung... und Stehkrageningenieure sind mir ein Greuel!" erwiderte Schreyer liebenswürdig, doch so, daß sich Splitt auf die Zunge biß. „Weichensteller sind altmodisch, und Kühlerfiguren bilden energieverzehrende Wirbel!" warf Schreyer dann in die Debatte, um sich bemerkbar zu machen. Nach der Begrüßung fuhr er fort: „Gedulden Sie sich noch etwas! Ich kann Ihre Begeisterung verstehen, teile sie uneingeschränkt, wenn mein Alter auch keine Verwendung als Kühlerfigur mehr gestattet. Ich bin gern bereit, nach der offiziellen Probefahrt, die Kollege Hausberg jetzt unternimmt, den jungen Ingenieuren den Wagen zur Erprobung zu überlassen. Außerdem aber sind die ersten zwanzig Wagen der Serie eins für unseren Werkswagenverleih bestimmt. Sie haben dann die Wahl zwischen den zwanzig Vierbeinern und den zwanzig Zweibeinern!" „Dann kommen nur die Zweibeiner in Frage!" stellte Bräuner fest. „Sie vergessen uns ältere Herren, Kollege Bräuner!" wandte Schreyer ein. Splitt ärgerte diese Feststellung. Daß immer die Jugend bevorzugt wurde! So alt war er noch nicht, daß er hinter diesen Küken zurückstehen müßte. „Der Wagen ist bereits eingefahren, Kollege Hausberg, Sie unterliegen keiner Geschwindigkeitsbegrenzung!" sagte Schreyer. „Aber seien Sie mir ja vorsichtig. Hausberg", mischte sich Splitt ein, „die taufeuchten Straßen bergen Rutschgefahr in..." „Geschenkt, Splitt", unterbrach Rainer unwillig. Dieser verdammte, aufreizend herablassende Ton! -95-
Splitt war empört, ließ sich das jedoch nicht anmerken. Eine Frechheit - ihn zu unterbrechen, ihn einfach Splitt zu nennen! „Was heißt das: " fragte er mit sanftem Vorwurf. Rainer, zuckte mit den Schultern und erklärte unberührt: „Das heißt, daß ich meine Anweisungen von Kollegen Schreyer erhalte und daß ich Ihnen, Splitt, diese Ausführungen schenke!" „Splitt? Der Anstand erfordert wohl, daß man sich mit dem Ehrentitel Kollege anspricht!" mahnte Splitt mit überlegener Ruhe, wie sie zuweilen Ältere gegenüber Kindern herausstreichen. „Ich freue mich, daß wir einer Meinung sind, und hoffe, daß Sie Ihren Kollegen künftig diese Anrede nicht mehr vorenthalten!" erwiderte Rainer schroff. Schreyer bemühte sich um ein nichtssagendes Gesicht. War es ihm mit Splitt nicht ähnlich ergangen, hatte er nicht auch die Gewalt über sich verloren? Es wurde Zeit, daß man sich um Splitt kümmerte! Und auf Hausberg mußte man wohl auch achten, daß er nicht hochmütig wurde! Um die Auseinandersetzung zu unterbrechen, wandte er sich schnell an Rainer: „Ich habe Ihnen den Kollegen Lindberg mitgebracht, er hat Ihnen als Werbechef noch etwas mitzuteilen!" Rainer fragte sich vergeblich, was die Reklameleute wieder ausgeklügelt hätten, und sah erstaunt zum Werbechef. „Ich muß Ihnen etwas beichten, Kollege Hausberg", begann Lindberg vorsichtig. Schonungsvoll teilte er Rainer mit, daß seine Fahrt dem Fernsehfunk als Probefahrt gemeldet sei, da man einen Geschwindigkeitsrekord erwarte. Der Start sei für acht Uhr vorgesehen und werde vom Fernsehfunk übertragen. Außerdem ständen an der Strecke in bestimmten Etappen Fernsehreporter, um seine Vorbeifahrt direkt zu senden. Rainers verschlossenes Gesicht bewog ihn noch hinzuzusetzen, daß diese Probefahrt nötig sei, da die Hexe nun in die Serienfertigung gehe und vorher den künftigen Käufern -96-
vorgestellt werden müsse. Rainer war bestürzt. Eine öffentliche Leistungsprobe war gewiß richtig, sie zeigte einwandfrei, wie überlegen die Hexe war, aber die vielen Zuschauer! Ausgerechnet er sollte an den Femsehaugen vorüberparadieren... Er war doch kein Filmstar! Er war Ingenieur und nicht geneigt, sich öffentlich zur Schau zu stellen - das lag ihm nicht. Und das sagte man ihm kurz vor der Abfahrt! Sicher wußten sie, daß er nie gefahren wäre, wenn... Jetzt war er moralisch dazu gezwungen, konnte er nicht mehr zurück. „Hat man sich auch schon besonne n, daß der Fahrer dazugehört?" begehrte er verärgert auf. Seine Kollegen verstanden ihn nicht. Gut, man hätte ihn vorher einweihen sollen, um ihm eine freie Entscheidung zu ermöglichen, aber das war doch nebensächlich. Wesentlich war, daß er das Werk in der Öffentlichkeit zu vertreten hatte, eine Ehre, die sie ihm ungeschmälert gönnten. Splitt war verdutzt. Das hatte er nicht erwartet. Gab es das überhaupt, daß sich jemand ärgerte, weil er ins Licht der Öffentlichkeit treten mußte? Mußte...? Durfte! Sein Leben lang hatte er versucht, über die verborgene Arbeit im Konstruktionsbüro hinauszuwachsen, sich durch öffentliche Anerkennung selbst zu beweisen, daß er auch in dem Beruf, den er unter väterlichem Zwang erlernt hatte. Großes zu leisten vermochte. Ob er es tatsächlich nicht schaffte? Nein - man bot ihm nur keine Chance... Das Leben, die Menschen - sie setzten ihn zurück! Hausberg wehrte sich gegen die gleiche Chance, von der er, Splitt, sein Leben lang geträumt hatte. Größenwahnsinnig war dieser Grünschnabel, was wollte er denn noch? Im verborgenen bleiben - das gab es ja gar nicht! Und nun entschuldigte sich der Werbechef auch noch, anstatt Hausberg unmißverständlich zurechtzuweisen. Anstatt ihn -97-
auszuwechseln. „Ich glaubte. Sie wären unterrichtet worden, Kollege Hausberg. Es ist durch ein Versehen der Werbeabteilung unterblieben, ich erfuhr das leider erst heute früh", sagte Lindberg. Splitt verstand die Welt nicht mehr, denn Rainer erwiderte nur kurz, daß er nicht nachtragen wolle; es hätte ja auch wenig Sinn, denn den Ruf der Raketa-Werke könne er nicht aufs Spiel setzen, er sei also gezwungen zu fahren. Splitts Urteil stand fest. Hausberg war übergeschnappt - ließ sich bitten, als wäre man auf ihn angewiesen! Und schlimmer noch. Lindberg schien tatsächlich gleicher Ansicht zu sein. Jedenfalls ging Splitts Hoffnung, daß man Hausberg auswechseln werde, nicht in Erfüllung. Natürlich wäre er selbstlos eingesprungen! So wandte er sich gekränkt ab. Man verkannte ihn, wußte ihn nicht zu schätzen! Man stellte die Erfahrenen hintan... das nannte man Förderung der Jugend! Während Schreyer letzte Ratschläge erteilte, fuhr schon der Wagen des Fernsehstudios vor, wurde die Aufnahmekamera montiert. Rainer musterte kritisch den Aufbau. Schreyer legte ihm die Hand auf die Schulter, er ahnte, was ihn bedrückte. „Also, mein lieber Hausberg, ich weiß, daß wir viel von Ihnen verlangen. Sie haben sich nicht ausgiebig mit dem Wagen vertraut machen können. Dennoch ist mir nicht bange - der Wagen ist leicht zu bedienen, und zudem weiß ich, wem ich ihn anvertraue! Fahren Sie im 300-Kilometer-Schnitt, die Automaten sind auf Herz und Nieren geprüft!" Was Rainer bei Splitt verärgerte, das empfand er hier als Auszeichnung. Der Ton der Anrede verriet bei Schreyer Vertrauen und Anerkennung, hatte nichts gemein mit der überheblichen Herablassung, die sich hinter Splitts Jovialität verbarg. -98-
Bräuner flüsterte mit brechender Stimme Gisela zu: „Das Zeitalter der Automaten! Sie steuern, sie halten die Geschwindigkeit, sie kontrollieren... Man kommt sich richtig überflüssig vor!" Er hob anklagend die Hände, ließ sie kraftlos fallen und verdrehte die Augen. „Ein Automat, der Sie entbehrlich macht, ist leider noch nicht erfunden worden", seufzte sie. „Amor sei Dank, wenn Sie das erkennen!" rief er mit schmachtenden Blicken. Sie errötete, er bemerkte es mit freudiger Überraschung. „Weshalb sollte ich blind sein, Günter?" fragte sie leise zurück. Er horchte auf. Seinen Vornamen nannte sie... und wie sie ihn nannte. Na also! Das Visier herunter und auf in den Kampf! Da stieg Rainer in den Wagen. Nebenan hörten sie die Stimme des Rundfunksprechers, die Fernsehkamera lief. Es war etwas Erregendes an dem Gedanken an die vielen Rundfunk- und Fernsehteilnehmer. „Hier ist der deutsche Rundfunk, Rundfunk- und Fernseh-Studio Dresden. Angeschlossen sind die Studios Plauen, Nürnberg, Augsburg und München. Wir übertragen Ihnen die erste Leistungsfahrt des neuen Kraftwagenmodells Hexe der Raketa-Werke in Dresden." Der Rundtunkreporter lief auf Rainer zu und schleppte das Kabel nach. Das Mikrophon zu ihm neigend, bat er, den Hörern einige Merkmale der Hexe zu erklären. „Dieses erste einspurige Modell ist mit einer Gasturbine ausgestattet", begann Rainer schleppend, dann legte sich seine Befangenheit, sicherer fuhr er fort: „Die Turbine entwickelt eine Leistung von 250 PS und vermittelt dem Wagen eine Dauergeschwindigkeit von 350 Kilometern pro Stunde! Der Wagen besitzt eine automatische Steuerung, eine Geschwindigkeitsreglung..." -99-
„Was verstehen Sie darunter?" unterbrach der Reporter. „Der Geschwindigkeitsregler hält selbsttätig die Geschwindigkeit, man braucht den Wagen nach der Einstellung auf eine bestmimte Geschwindigkeit nicht mehr zu bedienen, er wird auf geraden Strecken immer die gleiche Geschwindigkeit beibehalten und sie nur in Kurven entsprechend den Kurvenverhältnissen und der Verkehrslage vermindern. Außerdem ist sowohl das Vorder- als auch das Hinterrad lenkbar. Bei hoher Geschwindigkeit wird die Hinterradlenkung allerdings blockiert." Bereitwillig beantwortete er eine Reihe weiterer technischer Fragen des Rundfunkreporters. Dann bedankte sich dieser und trat zurück. „Es ist etwas unfaßbar, meine verehrten Hörerinnen und Hörer, diesen Wagen zu sehen und zu wissen, daß man trotz der hohen Geschwindigkeit als Fahrer schlafen oder Karten spielen könnte, ohne Gefahr zu laufen, gegen einen Baum zu fahren... Doch da, ein letztes Händeschütteln ringsum..." Summend lief der Kreisel an. Auf dem Armaturenbrett stieg der Zeiger des Tourenzählers, näherte sich einem grünen Strich. Als er ihn erreichte, schoben sich die Storchenbeine langsam in den Wagen. Die Hexe stand nur noch auf den beiden Spurrädern, bot den Anblick eines überdimensionalen, verkleideten Motorrades. Mit dumpfen Schlägen zündete die Brennkammer. Die Gasturbine heulte auf. „Gute Fahrt, Hals- und Beinbruch, Kollege Hausberg! Wenn Sie nicht weiterkommen, benützen Sie während der Besprechung ruhig den Funksprecher!" wünschte Chefkonstrukteur Schreyer und trat zurück. Rainer nickte, kuppelte langsam ein und trat auf das Gaspedal. Sanft setzte sich der Wagen in Bewegung, beschleunigte schnell und verließ mit Sirenenheulen das Werk. Auf der erhöhten Schnellstraße durchquerte er in schneller -100-
Fahrt die betriebsame Stadt. Nur schnelle Kraftfahrzeuge durften sie benutzen. Seitenverkehr gab es nicht, er wickelte sich auf Unterführungen ab. So konnte Rainer mit der höchstzulässigen Stadtgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern fahren. Bald gewann er die Autobahn. Auf dem hellen Beton trat er die Gaspedale durch. Die Turbine heulte kilometerhungrig auf. Der Tachometerzeiger kletterte stetig. Bei 120 Stundenkilometern schloß sich automatisch das Verdeck, bei 150 leuchteten auf dem Armaturenbrett zwei Worte auf: Steuert selbst! Noch immer stieg der Zeiger. Rainer vergaß seinen Ärger über die Funkübertragung, seine Blicke hingen am Tachometer. 170... 190... 210... 230... 250... 280... 300...! Bei 300 Stundenkilometern schaltete er den Geschwindigkeitsregler ein und lehnte sich zufrieden zurück. Dann löste er den Fuß vom Gaspedal. Unter ihm sangen die gekühlten Reifen ihr helles Lied auf dem Beton. Pfeifend schoß die Hexe an anderen Wagen vorüber, die sich vergeblich mühten, in Sichtweite zu bleiben. Längs der Autobahn wechselte im Fluge das Landschaftsbild. Morgentrunkene Dörfer, riesige Felder und verträumte Waldstreifen flogen vorbei. Die Sonne stieg langsam und zerstach die letzten Dunste schleier in den Tälern. Unter den Uferbüschen der Teiche und Flüsse verjagte sie die spärlichen Nebelschwaden, die am Boden brauten. Über die Autobahn strich das Streifenflugzeug der Verkehrspolizei hinweg und verschwand am Horizont. Rainer pfiff vergnügt die Melodien mit, die aus dem Lautsprecher des Autosupers erklangen. Das Erlebnis der Fahrt, des auf ihn zulaufenden Bandes aus Beton, hatte ihn in einen Rausch versetzt. Er hätte übermütig schreien können, wie er es als Kind getan hatte, so vergnügt war er. Erst die Ankündigung des Rundfunks, daß der Versuchswagen in Kürze in Plauen erwartet und von dort die Vorbeifahrt übertragen werde, ernüchterte ihn. Ein leichter -101-
Ärger mischte sich in seine Freude. Dann fiel ihm ein, daß seine Wirtin nichts von dieser Übertragung wußte. Gewiß wäre sie schwer enttäuscht, wenn ihr das entginge. Ihr Rainer im Fernsehfunk, das war doch eine Sensation! Er lächelte, als er an ihre erstaunten Augen dachte, an ihren Stolz auf ihn, die mütterlichen Regungen, die sie für ihn empfand. Ihr Bild schob sich vor seine Augen, wie sie allabendlich am Fenster stand und nach ihm Ausschau hielt Ihre Leibesfülle unter einer makellos weißen Schürze verborgen, den unvermeidlichen Strickstrumpf auf dem Schoß, bildete sie einen schreienden Widerspruch zu dem gläsernen Hochfrequenzkochschrank und dem Schallwaschgerät, deren sie sich sonst bediente. Und doch, wenn sie auch recht altmodisch war - Strickstrumpf, wo gab es das noch -, so liebte er sie, so war sie ihm zum Inbegriff der Heimat geworden. Selber ohne Angehörige, übernahm sie damals, als er sein Studium begann, wie selbstverständlich die Mutterpflichten, ohne allerdings jene geschwätzige Aufdringlichkeit zu zeigen, die vielen Wirtinnen zu eigen ist Wenn sie etwas fragte oder riet, dann war es jedesmal von der Sorge um ihn getragen. Und wenn er persönlich auch wenig Wert auf diese Fernsehübertragung legte, so hatte er doch Verständnis für den mütterlichen Stolz der alten Frau. Er griff zum Autofunksprecher und meldete über das Selbstwählfernamt des Postfunks ihre Nummer an. „Hausberg! Hallo, Mutter Kusemann! Schalten Sie schnell den Fernseher ein und bleiben Sie am Bildschirm! Auf Wiederhören!" rief er der verblüfften Frau zu. In der Feme tauchte Plauen auf und näherte sich mit rasender Geschwindigkeit, die Häuser schienen aus dem Boden zu schie' ßen. Bei der Vorbeifahrt an der Fernsehkamera ließ er dreimal kurz die Sirene heulen und war sicher, daß Mutter Kusemann diesen Gruß erkannte. Dann flog Hof vorüber, der Wagen -102-
näherte sich Bayreuth. Lufttaxis, die den Nahverkehr vermittelten, überquerten die Autobahn. Einer dieser Hubschrauber schwenkte auf die Autobahn ein. Das empfand Rainer als Herausforderung und trat die Gaspedale durch. Die Tachometeraadel stieg auf die 350. Der Hubschrauber wurde größer, deutlich ließen sich die beiden Schraubenkreise erkennen. Wie ein Pfeil brauste die Hexe unter ihm hindurch. Eine Autobahngaststätte fesselte seinen Blick. Interessiert wandte er den Kopf, um den schönen Bau zu betrachten, doch ehe er das Bild erfaßt hatte, war es vorbei. Er brannte sich eine Zigarette an und grübelte darüber nach. Gewohnt, daß für den Verbraucher das Bestmögliche aus einer Sache herausgeholt wurde, verstimmte ihn diese Unzulänglichkeit, als die er das flüchtige Bild empfand. Vergeblich versuchte er sich einzureden, daß hohe Geschwindigkeiten nun einmal diesen Nachteil mit sich brächten und er sich damit abfinden müßte. Gewiß, Naturgesetze kann man nicht umstoßen, aber menschlicher Geist würde vielleicht... nein, würde sicher einen Ausweg finden, um diesen Eindruck der Flüchtigkeit abzumildern. Bei 350 Stundenkilometern war es noch erträglich, aber das war ja erst ein Anfang! Die Verkehrsentwicklung erforderte eine Steigerung der Geschwindigkeiten aller Landfahrzeuge! Wie sollte es erst werden, wenn der Einschienenzug einmal 500 Stundenkilometer fuhr. Dann blieb den Reisenden von nahen Objekten ein leichter, grauer Schleier, der sicher deprimierend wirkte. Während er, in Gedanken versunken, auf die Autobahn starrte, fraß der Wagen Kilometer auf Kilometer in sich hinein. Man müßte die Fensterscheiben des Zuges bei 200 Stundenkilometer automatisch durch ein Linsensystem ergänzen, das die Nahsichtzone ausschaltet und das Landschaftsbild zudem verkleinert auf einen Bildschirm wirft. Der Gedanke, dem Fahrgast auf dem Fernsehwege das Blickfeld des Zugführers in das Abteil zu bringen, löste heftige -103-
Zweifel aus. Das Bild des Hine infahrens in die Landschaft auf einem Schienenstrang ist zwar ein Erlebnis, das nur wenige kennen, war es aber ratsam, den Fahrgast hier einzuschalten? Tauchte irgendwo ein Hindernis auf der Schiene auf, dann konnte jetzt nur der Zugführer ermessen, ob der Bremsweg reicht! Aber gab es noch Hindernisse auf dem erhöhten Schienenstrang der Einschienenbahn, fünf Meter über der Erde? Er schrak erst aus seinen Gedanken auf, als am Horizont Nürnbergs Türme auftauchten. Noch keine Stunde war vergangen, seitdem er Dresden verlassen hatte, und nun schon Nürnberg. Jetzt erst, an diesem Vergleich, wurde ihm die Geschwindigkeit richtig bewußt. Es begeisterte ihn. In Gedanken hielt er einen Rechenschieber in der Hand und überprüfte die Materialbeanspruchung, die diese Geschwindigkeit den Einzelteilen des Wagens aufbürdete. Wieviel Geist, wieviel Können und Erfahrungen waren nötig, ehe dieser Wagen mit ihm auf dem Beton entlangrasen konnte. Der Weg zu diesem Wagen begann bei dem ersten Feuer, das Menschen entzündeten, er fü hrte über die ersten Karren zu dem ersten Kraftwagen eines Benz. Monoton heulte die Gasturbine. Nur auf Steigungen wurde ihr Ton heller, kraftvoller, während er auf Gefällen abfiel und durch das flatternde Brummen der Bremsturbine verstärkt wurde. Der Geschwindigkeitsregler drosselte oder vergrößerte die Brennstoffzufuhr, die Tachometernadel aber stand unbeirrt auf der 350. Ein großer Mercedes weckte Rainer aus seinen Gedanken. Mit 150 Stundenkilometer kroch er dahin, nötigte die Hexe zum Überholen. Auf dem Armaturenbrett leuchtete das Achtungssignal auf. Respektgebietend heulte die Warnsirene. Der Ultrarotscheinwerfer warf gebündelt rhythmische Impulse nach vorn, die der Empfänger des Mercedes auf dem Armaturenbrett in die leuchtende Anweisung: Rechts heran - wir überholen! verwandelte. -104-
Ohne einen Finger zu rühren, verfolgte Rainer den Ablauf des Überholungsmanövers, das vom Steuergerät exakt ausgeführt wurde. Halb spöttisch und halb mitleidig sah er zurück. Schneckenpost! Er wurde unsanft aus seiner Triumphstimmung gerissen. Der Alarmsummer erzwang seine Aufmerksamkeit. Das Manometerzifferblatt des Vorderrades blinkte in gleichmäßigen Intervallen rot auf. Der Zeiger aber stand auf Null. Reifenpanne! Im ersten Impuls tastete sein Fuß nach der Bremse, zuckte seine Hand nach dem Geschwindigkeitsregler, um das Gas wegzunehmen. Bei dieser Geschwindigkeit war das Risiko, mit dem Ersatzvorderrad zu fahren, sehr groß. Platzte der Reifen des Ersatzrades, dann würde sich die Hexe selbständig machen, gegen irgendein Hindernis rasen, und kein Autofriedhof würde die Trümmer mehr als zu einem Auto gehörig anerkennen! Aber da vorn, in zehn Kilometer Entfernung, lag Nürnberg, wartete die Aufnahmekamera des Fernsehfunks! Hatten die Kollegen der Kraftwagenabteilung, hatten die Raketa-Werke nicht ein Recht darauf, daß er ihre Interessen wahrnahm? Wenn ihm ein Reifen platzte, so konnte es ebenso den künftigen Käufern passieren... war es jetzt nicht seine Pflicht, der Öffentlichkeit den Vorzug des neuartigen Reifenwechsels vorzuführen? Schreyer hätte auf einem sofortigen Reifenwechsel bestanden, aber Schreyer war fern! Nein - bis zur Fernsehkamera mußte er es schaffen! Andererseits, sollte er sich tatsächlich öffentlich zur Schau stellen? Kein Mensch konnte ihn zwingen! Wenn auch der Ersatzreifen platzte... ein Trümmerhaufen und eine Leiche sind keine Reklame! Wenn er jetzt anhielt und den Reifen wechselte, dann konnte er mit 350 Sachen durchfahren, und der Präsentierteller wäre in Sekundenschnelle überstanden! Doch dann schalt er sich einen Narren. Das Ansehen des Werkes ging -105-
vor seine Empfindsamkeit. Mit zusammengebissenen Zähnen, in kaltblütiger Spannung, überwand er die letzten Kilometer. Nun ganz auf guten Eindruck bedacht, stoppte er erst im letzten Augenblick mit der Gefahrenbremse. Längs der Karosserie schoben sich Luftklappen heraus und vergrößerten den Luftwiderstand. Der Funkreportcr kam in Verlegenheit. Mit begeisterten Worten, hingerissen durch das Heulen des heranschießenden Wagens, malte er überschwenglich die bevorstehe nde Durchfahrt aus. Verstört mußte er erleben, daß die Hexe, durch die Luftklappen verändert, an Geschwindigkeit verlor, auf ihn zurollte und schließlich genau vor der Fernsehkamera hielt. Während sich das Verdeck zurückschob, rauschte der Mercedes vorbei. Rainer hatte nicht mehr das Gefühl, daß der Wagen kröche. Immerhin 150 Stundenkilometer! dachte er gönnerhaft und schmunzelte, denn er war sicher, daß der Fahrer den Aufenthalt des schnelleren und ihm gewiß großspurig erscheinenden Kollegen mit ironischem Grinsen wahrnahm. Wer zuletzt lacht, lacht am besten! Das wollte er ihm beweisen. Der Kameramann und mit ihm eine Unzahl Fernsehteilnehmer waren sprachlos vor Staunen. Die Storchenbeine schoben sich aus dem Wagen und drückten ihn hoch. Die Lenksäule des defekten Vorderrades und der Reserveradhalter unter dem Heck senkten sich. Rainer sprang heraus, klinkte die Räder aus, wechselte sie, dann turnte er wieder in den Wagen. Die Hexe senkte sich. Storchenbeine, Lenksäule und Reserveradhalter fuhren wieder ein. Ehe der Funkreporter seine Verblüffung überwand und den Vorgang nachträglich erklären konnte, schoß die Hexe wieder davon. Bald tauchte vor Rainer der Mercedes auf, er freute sich schon auf das Überholen. Da löste sich plötzlich bei dem anderen ein Rad, der Wagen kam ins Schleudern, überquerte die Fahrbahn, -106-
erreichte den Grünstreifen und wurde herumgerissen. Wie ein Pappkarton vor dem Wind, so überschlug sich der Mercedes seitlich und rollte auf dem Grünstreifen entlang. Instinktiv trat Rainer auf die Gefa hrenbremse und steuerte scharf nach rechts, da der Wagen vor ihm mit dem Heck auf der Fahrbahn lag. Flüchtig dachte er an den Geschwindigkeitsrekord, den man von ihm erwartete, an den Staatssekretär - dann wies er den Gedanken von sich. Noch bevor die Hexe hielt, schob sich eine Stabantenne aus dem Rahmen der Windschutzscheibe über ihr Verdeck. Ein schneller Griff zum Verbandskasten, dann stürmte Rainer mit großen Sätzen zum verunglückten Wagen, der auf der Seite lag. Der Fahrer war derart eingeklemmt, daß Rainer ihn nicht befreien konnte. Ohnmächtig und blutüberströmt, bot er einen grausigen Anblick. Bevor Rainer sich um den Verletzten kümmerte, zog er den Zündschlüssel heraus, um die Brandgefahr zu vermindern. Da bemerkte er, daß der Arm, der zwischen Lenk rad und Körper klemmte, stark blutete. Glassplitter mußten die Schlagader verletzt haben! Hastig riß er eine Gummibinde aus dem Verbandskasten und schnürte die Ader ab. An die Wunde selbst konnte er nicht heran, herausziehen wollte er den Arm nicht, um die Wunde nicht zu vergrößern. Mehr ließ sich im Augenblick nicht tun, deshalb eilte er zur Hexe zurück und griff zum Funksprecher. Fieberhaft wartete er auf Anschluß. Mit knappen Worten unterrichtete er die Zentralstelle des Katastrophendienstes über Art und Standort des Unfalls. Schnellste Hilfe wurde zugesagt. Wieder versuchte er vergeblich, den Verletzten aus den Trümmern zu bergen. Obwohl er nicht empfindlich war, würgte ihn doch eine beklemmende Übelkeit. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wie lange würde es dauern, ehe Hilfe kam? Er war der Verzweiflung nahe. Einen Menschen vor sich zu wissen, aus -107-
dessen zerschlagenem, gemartertem Körper das Leben sickerte, und nicht helfen zu können, das überstieg seine Kräfte. Stoßweise pumpte er seine Lungen voll, um die feurigen Kreise zu bannen, die vor seinen Augen tanzten. Er durfte nicht schlappmachen, mußte durchhalten, bis die Hilfe kam. Das konnte lange dauern, er befand sich zwischen Nürnberg und Augsburg. Träge wie Stunden vertropften die Minuten. Da hörte er ein Pfeifen über sich. Das Streifenflugzeug der Verkehrspolizei kreiste über der Unfallstelle, zog eine weite Schleife, drehte auf die Autobahn und raste im Tiefflug auf der rechten Fahrbahn entlang. Fünfhundert Meter vor Rainer zischte ein Rauchstreifen auf die Bahn. Beim Aufschlag schoß eine rote Stichflamme hoch, dann brannte es in drei Meter Umkreis mit tiefroten Flammen, die einen dunkelroten, weithin sichtbaren Rauch entwickelten. Nach einer Schleife wurde auch die linke Fahrbahn mit Rauchzeichen gesperrt. Dann setzte das Flugzeug zur Landung an. Da war wieder der Tanz der feurigen Kreise. Sie rasten auf Rainer zu, schnürten ihm den Hals ab. Ein schrilles Kreischen wie von zerreißendem Stahlseil gellte in seinen Ohren, verklang hallend und ließ Nacht und Leere zurück. Ein durchdringender Geruch weckte ihn. Gequält hob er die schweren Lider. Nebelschleier schwammen ihm vor den Augen. Dann lichtete sich der Schleier. Ein markantes Gesicht mit harten, wetterfesten Zügen wuchs herum. „Na, na, Kollege! Wir haben an einem Bewußtlosen genug!" Diese Töne rissen Rainer aus der Tiefe der Ohnmacht in die Wirklichkeit zurück. Der Pilot des Polizeiflugzeugs! Die Fliegerkappe verriet es. „Sie verständigten die Zentralstelle, nicht wahr?" fragte der Pilot und verschraubte das Riechfläschchen. „Wir fanden Sie neben dem Trümmerhaufen mit dem Pflasterkasten in der Hand! -108-
Ihre Abschnürung hat den Verunglückten vor dem Verbluten gerettet!" Jetzt erst bemerkte Rainer, daß er auf einer Trage lag. Noch immer schwelten die Rauchzeichen auf den Bahnen, Polizisten der Luftstreife standen daneben. „Wo ist der Mann? Hätten Sie mich doch ruhig liegenlassen!" stieß Rainer bestürzt hervor. Benommen richtete er sich auf. „Kommen Sie, zu zweit können wir ihn vielleicht herausziehen!" Doch der Pilot lachte leise und faßte seine Schulter, behutsam drehte er ihn um. „Es hat sich einiges ereignet, seitdem Sie geistig weggetreten sind!" sagte er. Und wirklich, hinter Rainer standen zwei große Hubschrauber auf dem Grünstreifen, große rote Kreuze leuchteten an ihrem Rumpf. Aus dem einen zogen sich zwei Kabel zum Trümmerhaufen. Zwei Männer mit pistolenförmigen Geräten fuhren in schnellen Zügen über die zertrümmerte Karosserie. Dort, wo die Pistolenmündung entlanggelaufen war, blieb ein feiner Schlitz, dort hatte Ultraschall das Materialgefüge zerstört. Daneben standen drei Männer in weißen Mänteln, offensichtlich der Arzt und zwei Sanitäter. In ihren Händen hielten sie Verbandszeug, neben ihnen befand sich eine Trage. Während der Verletzte aus den Trümmern herausgeschnitten wurde, sprach Rainer seine Beobachtungen auf ein ProtokollTonband. Dann eilte er zurück zum Arzt, der den Verletzten gerade auf die Trage bettete. „Sie wollen sich wohl wieder dazulegen? Gehen Sie lieber abseits, das ist nichts für schwache Gemüter!" riet der Arzt mit einem schnellen Seitenblick, dann kümmerte er sich nicht mehr um ihn. Unschlüssig verhielt Rainer und vernahm die Anweisung des Arztes, im Hubschrauber Blutkonserven zur Bluttransfusion vorzubereiten und das Isotopen-Röntgengerät zur Aufnahme fertigzumachen. Sinnend beobachtete er den Transport des -109-
Verletzten zum Hubschrauber. Die Untätigkeit weckte die Gedanken an den eigentlichen Zweck seiner Fahrt. Erschrocken dachte er an die Fernsehkameras in Augsburg und Münc hen, an den wartenden Staatssekretär im Institut. Es war sein erster großer Auftrag - ein Auftrag, der ihm endlich selbständige Entscheidungen ermöglichte, so wie er es sich schon immer gewünscht hatte. Ein Auftrag aber auch, von dessen einwandfreier Erledigung seine fernere berufliche Verwendung abhing. Staatssekretär Hänlein war bekannt als Muster der Pünktlichkeit, er wurde äußerst unangenehm, wenn man ihn warten ließ. Und Rainer selbst haßte Unpünktlichkeit, sie erschien ihm als mangelnde Wertschätzung des Wartenden. Obwohl er fest davon überzeugt war, daß sein Verhalten bei diesem Unfall einer selbstverständlichen Pflicht entsprach, bedrückte ihn doch der Gedanke an den wartenden Staatssekretär, an die enttäuschten Fernsehteilnehmer. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß seit dem Unfall erst eine halbe Stunde vergangen war. Wenn er sofort startete und das Letzte aus der Hexe herausholte, konnte er noch pünktlich in München eintreffen. Noch war es möglich, diese öffentliche Probefahrt vor den Augen Tausender Fernsehteilnehmer mit einem Geschwindigkeitsrekord, für die Raketa-Werke zu beenden; einem Geschwindigkeitsrekord, der einwandfrei die Überlegenheit des Modells erweisen, der in Verbindung mit dem Reifenwechsel das Vertrauen der künftigen Käufer erringen mußte! Er hätte gern erfahren, wie es um den Verletzten stand und ob er gerettet werden konnte, hatte er doch entscheidend in dessen Schicksal eingegriffen, dennoch entschloß er sich, sofort abzufahren. Der Polizeipilot war mit seiner Abfahrt einverstanden. Rainer eilte zum Hubschrauber, um wenigstens das Ergebnis -110-
der Röntgenuntersuchung zu erfahren. Er kam gerade dazu, wie der Arzt das Röntgengerät zurückschwenkte und die Platte aus der Kassette nahm, in der ein Trockenentwickler die Filmschicht sofort entwickelte. Die Platte vor den Leuchtkasten haltend, entschied der Arzt mit sicherem Blick: „Komplizierter Bruch der Schädelbasis, das ist das schlimmste! Muß nach der Transfusion schnellstens in klinische Behandlung. Wie schlägt der Puls?" „Schwach, aber gleichmäßig. In welche Klinik?" erwiderte der Sanitäter fragend. „Nürnberg", sagte der Arzt. „Scheidet aus! Keine Landungsmöglichkeit in Nähe der Klinik! Überall Baumbestand! Zwischentransport mit dem Krankenwagen würde nötig." „Augsburg ist zu weit! Fraglich, ob er bis dahin durchhält l Er muß schnellstens operiert werden", erwiderte der Arzt und zuckte hilflos mit der Schulter. Rainer wandte sich wortlos ab, es bedurfte keiner Frage nach dem Zustand des Verletzten mehr. Mit raumgreifenden Schritten eilte er zur Hexe. Jetzt schnell nach München, er hatte getan, was in seinen Kräften stand. Doch vergeblich versuchte er seine Gedanken auf die Fahrt zu lenken und den Unfall zu vergessen. Immer wieder drängten sich des Arztes Worte auf, bissen sie sich unbarmherzig fest ... Zu weit... Fraglich, ob er durchhält... Muß schnellstens operiert werden... War denn keine Hilfe möglich? Vielleicht saßen heute mittag irgendwo kleine Kinder an einem Tisch, warteten, daß der Vater zum Essen käme, wunderten sich über das versteinerte Gesicht der Mutter, lernten nach Tagen erst begreifen, daß Vaters Platz für immer leer blieb. Plötzlich wurde er sich bewußt, daß es sein -111-
eigenes Schicksal war, das er so deutlich vor sich sah. Auch seine Eltern waren durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Mit der Erinnerung kam der Schmerz von damals zurück, das Grauen vor der Leere, die nach dem Scheiden der beiden liebsten Menschen verblieb. Das mußte man den Kindern doch ersparen können, mußte man zumindest zu verhindern suchen. Helfen mußte man - aber wie? 300 Stundenkilometer flog ein Hubschrauber, und das reichte noch nicht aus. Das Düsenflugzeug der Polizeistreife schied aus, da es nur auf Flugplätzen landen konnte. Hubschrauben hatte es keine, das hatte er bemerkt. Alles schien sich verschworen zu haben. Ein Zwischentransport mit mehrfachem Umladen wäre unumgänglich. Da kam ihm eine Erleuchtung. Er rannte zur Hexe, klappte die Lehne des einen Vordersitzes zurück und schaffte so ein bequemes Ruhelager. Dann fuhr er an den Hubschrauber heran. „Laden Sie ihn um, Herr Doktor, ich bringe ihn nach Nürnberg!" rief er dem Arzt zu, der die Bluttransfusion beendet hatte. Unmutig über diesen unpassenden Scherz fuhr der Arzt herum, dann erblickte er die Hexe. Nach Art der Kurzsichtigen schob er die Brille in die Stirn und betrachtete mit unbewaffneten Augen den Wagen, als könnte er dem Bild der Brillengläser nicht trauen. Rainers Versicherung, daß sein Wagen schneller als die Hubschrauber sei, begrub den letzten Zweifel. Behutsam wurde der Verletzte umgebettet, dann nahm der Arzt Platz, und schon heulte die Gasturbine auf. Verblüfft bemerkte die Besatzung des Streifenflugzeugs, daß die Hexe in die falsche Richtung einschwenkte, zurück nach Nürnberg. -112-
Als sich die Hexe an dem Sperrfeuer vorüberschob, trat Rainer die Gaspedale durch, wie ein Pfeil schoß die Hexe davon. Ihr Tachometerzeiger tanzte um die 400. Die Augsburger Fernsehreporter warteten vergebens auf das Erscheinen des Silberpfeils. Nach Ablauf einer Frist, die eindeutig erwies, daß irgendein Zwischenfall eingetreten sein mußte, brachen sie die Übertragung mit einer vagen Bemerkung über eine technische Störung ab und versprachen, sich sofort wieder zu melden, wenn der Wagen erscheinen sollte. Dann setzten sie sich aufgeregt mit dem Funkhaus in Verbindung. Dort spritzten Funksprüche aus der Antenne, suchten und fanden das Streifenflugzeug. Die Antwort zuckte durch den Äther, eilte durch die Leitung zu den Reportern und erreichte Tausende von Hörern am Bildschirm. Teilnahmsvoll erfuhren sie den Unfall, hörten, daß Rainer Hausberg die Fahrt unterbrochen habe, um den Verletzten zu retten, daß die Rettungsaussichten erhöht würden, da die Hexe schneller sei als die Hubschrauber. Das machte Rainers Namen bekannt, vermittelte auch einen greifbaren Maßstab für die überragende Geschwindigkeit des Wagens. Voller Spannung warteten sie auf weitere Nachrichten. Als der Sprecher dann mitteilte, daß der Wagen gut in Nürnberg angekommen sei und daß nach Ansicht der Ärzte die Operation Erfolg versprach, daß sich ferner der Wagen bereits auf der Weiterfahrt nach München befand und jeden Augenblick in Augsburg eintreffen mußte, da hingen die Menschen am Bildschirm und beobachteten staunend den silbernen Blitz, der an der Kamera vorüberhuschte. Die Flugzeuge hatten versagt, er aber hatte geholfen!
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Staatssekretär Hänlein war pünktlich in München eingetroffen und saß mit Professor Dr. Schlichtmann und Dr. Lydia Schwigtenberg in Schlichtmanns Zimmer. Lydia, durch Sonne und Seeluft gebräunt und durch die Ruhe gekräftigt, erstattete dem Staatssekretär einen ausführlichen Bericht über die Arbeit der letzten Wochen. Da Lydia in satirischer Weise auch ihre schwachen Momente erwähnte, huschte verschiedentlich ein leichtes, wärmendes Lächeln über das kantige Gesicht des Staatssekretärs. Mit halbgeschlossenen Augen lehnte er im Sessel, damit ihm kein Wort entging. Auch Prof. Schlichtmann, der wortlos zuhörte, damit sich Hänlein selbst ein Bild von Schlichtmanns künftiger Stellvertreterin zeichnen konnte, lächelte bisweilen verständnisvoll. Lydias Lebendigkeit, ihre vorbehaltlose Offenheit, die fern jeder Gefallsucht auch eigene Schwächen und Fehler erwähnte, gewannen den Staatssekretär, wie sie bisher jeden Arbeitskollegen für Lydia gewonnen hatten. Dann fühlte sich Schlichtmann veranlaßt, ihrem Bericht einige ergänzende Worte beizufügen, um das rechte Bild von ihrer Leistung zu vermitteln. Daß sich Lydias Bräune verdächtig vertiefte und ihre Lippen sich zusammenpreßten, übersah er geflissentlich. Der Staatssekretär kam ihr zu Hilfe. „Jetzt haben wir also die Vorgeschichte!" sagte er beiläufig. „Aber etwas fehlt noch, Fräulein Doktor! Welchen Namen soll Ihr Kind eigentlich bekommen?" Der Ton seiner Worte trog. Er wartete gespannt, welchen Namen sie vorschlagen würde, davon überzeugt, daß sie die stille Hoffnung hegte, mit dem neuen Element ihren Namen zu verbinden. Und er empfand eine schadenfrohe Neugier, wie sie diesen Wunsch verwirklichen würde. Selbst -114-
konnte sie einen diesbezüglichen Namen doch nicht vorschlagen! Er würde sie ein Weilchen zappeln lassen, um ihr dann ritterlich zu Hilfe zu kommen. Denn zweifellos hatte sie ein Recht darauf. Und die Jugend träumt nun einmal mehr vom Ruhm als die Älteren. Dafür hatte er Verständnis, zudem verdiente ihre Leistung neidlose Anerkennung. Diese kleine Schelmerei mit dem hübschen Mädchen wollte er sich aber nicht versagen. Ohne jede Unsicherheit erwiderte Lydia freimütig: „Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht. Das Element entstand aus dem Mammutum. Da es gewaltiger, gigantischer als dieses ist, scheint mir Gigantum der beste Name." Hänlein hielt es für eine diplomatische Gesprächseinleitung, sie wollte ihm das Handeln, den nächsten Zug aufzwingen. Das war geschickt! Also gut, erfüllen wir ihr den Wunsch! „Ehre, wem Ehre gebührt, Fräulein Doktor! Es ist seit Jahren üblich, neuaufgebaute Elemente nach ihrem Erfinder zu benennen!" Zu seinem Erstaunen wehrte sie entschieden ab. „Machen wir eine Ausnahme, bleiben wir beim Gigantum", sagte sie bestimmt. Der Eintritt eines schmächtigen jungen Mannes, dessen Gesicht von einer starken Brille beherrscht wurde, und eines breitschultrigen Hünen, neben dem der Brillenträger seltsam hilflos erschien, enthob Hänlein einer Antwort. „Da ist ja unser junger Freund", sagte Hänlein und begrüßte Dr. Colmar. Dann wandte er sich an den Hünen. „Und das dürfte Dr. Heilbert sein, wenn mich nicht alles täuscht?" fragte er und reichte ihm die Hand. „Richtig geraten, Herr Staatssekretär. Heilbert, des Professors Alpdruck!" stellte sich der Hüne vor und lachte. Der Staatssekretär stimmte ein. Die Freimütigkeit des Riesen gefiel ihm, für den gab es gewiß keine unlösbaren Probleme, zumindest würde er innerlich mit ihnen fertig. -115-
„Ist es schon soweit?" fragte er dann mit einem Seitenblick auf die Atomuhr. Deren Zeiger wiesen unbestechlich darauf hin, daß es zehn Uhr war und somit Sitzungsbeginn. Hänlein wurde ungehalten. „Fehlt noch der Vertreter der Raketa-Werke! Vielleicht können wir inzwischen mit allgemeinen Dingen beginnen?" Während der Besprechung wanderte sein Blick immer häufiger zur Uhr. Sein Ärger wurde von Minute zu Minute offensichtlicher. Dann waren sie bei Problemen angelangt, die unbedingt die Anwesenheit des Vertreters der Raketa-Werke erforderten. Die Uhr zeigte halb elf. „Das ist unglaublich I" grollte er. „Chefkonstrukteur Schreyer schilderte mir den Mann als unbedingt zuverlässig, über große Menschenkenntnis scheint man in Dresden nicht zu verfügen! Und so etwas besitzt unbeschränkte Verhandlungsvollmacht! Das kostet eine Säumigkeitsstrafe von 200 Mark, damit er künftig Termine einhalten lernt! Würden Sie bitte" - er wandte sich an Schlichtmann - „eine Funkverbindung mit Dresden herstellen lassen? Ich wünsche Auskunft, wann der Vertreter hier eintrifft." Bereitwillig rief dieser die Funkstelle an, meldete sich, horchte verwundert auf und legte ab, ohne Hänleins Anliegen zu erfüllen. „Eben ist ein Funkspruch des Dresdner Vertreters eingetroffen. Er befindet sich zwischen Augsburg und München und trifft voraussichtlich in zehn Minuten hier ein." „Eine Begründung erfolgte wohl nicht?" unterbrach Hänlein ungehalten. Schlichtmann verneinte. Kurz darauf klingelte das Telefon. Der Pförtner teilte die Ankunft des Dresdner Wagens mit. Dann trat Rainer durch die Tür, nur in Hemd und Hose, ohne Jackett. Wenn auch seine Verbeugung durchaus korrekt war, so störten Lydia doch die schmutzstarrenden Handschuhe an seinen Händen. Vermutlich dienten sie ihm zum Wagenreinigen - aber -116-
weshalb zog er sie nicht aus? Sie war froh, daß er an der Tür stehenblieb und auf einen Händedruck verzichtete. Komische Ansichten über geeignete Werksvertreter hat man in Dresden, dachte auch Hänlein und machte ein hölzernes Gesicht. Rainer ließ sich von der unwilligen Zurückhaltung nicht einschüchtern, er fragte nur knapp, wo er sich waschen könnte. Ehe Hänlein bissig antworten konnte, daß er zur Besprechung und nicht zum Waschen bestellt worden sei, sprang Dr. Heilbert auf und führte Rainer in den Waschraum. Dort streifte Rainer die Handschuhe ab. Seine Hände waren blutüberkrustet. „Es ist nicht mein eigenes!" sagte er zu Dr. Heilbert, als dieser hinzusprang. Heilbert reichte ihm die Seife und blieb ungerührt, als wäre es alltäglich, daß sich Besucher des Instituts blutige Hände wuschen. Nach der Säuberung trocknete Rainer - noch immer wortlos - die Hände unter der Luftdusche, dann erst begrüßte er Heilbert durch Handschlag und bat ihn, während der Besprechung sein Jackett und die Polsterung des Wagens, auf dem es lag, von starken Blutspuren säubern zu lassen. Auch das brachte Dr. Heilbert nicht aus dem Gleichgewicht. Er musterte Rainer kurz und versprach es, als hätte ihn Rainer um Feuer gebeten. Dieser kurze Blick genügte jedoch, um eine wächserne Blässe in Rainers Gesicht festzustellen. Kollegial packte er ihn an der Schulter, schob ihn in den Vorraum des Besprechungszimmers und drückte ihn dort in einen Sessel. „Der Staatssekretär wartet!" wandte Rainer ein und wollte sich erheben. „Kann warten! Und Sie warten auch, ich bin gleich zurück!" wehrte Heilbert trocken ab und verschwand. Unwahrscheinlich schnell war er mit einem großen Schnapsglas zurück. „Ein doppelter Weinbrand!" kündigte er an und zog eine kleine Flasche aus der Tasche, aus der er zehn Tropfen ins Glas fallen ließ. „Das belebt und schlägt den Geruch nieder!" -117-
versicherte er lächelnd und verfolgte, wie Rainer den Weinbrand hinunterkippte und sich schüttelte. Durchdringende Frische peitschte die lähmende Müdigkeit aus Rainers Gliedern, befreite das Hirn von dem schmerzhaften Druck und beruhigte den gekränkten Magen. Das Blut rauschte durch die Adern und belebte das Gesicht. „Ein Teufelszeug, was? Schmeckt wie Seifenlauge, aber weckt Tote wieder auf! Nur der Geschmack muß verbessert werden!" stellte Heilbert fest und zog ihn zum Besprechungszimmer. „Jetzt sind Sie dem bärbeißigen Rachegott da drinnen gewachsen!" versicherte er lachend und schob Rainer durch die Tür. Und Rainer schien es tatsächlich, als weiteten sich die Schultern, wüchse seine Kraft ins Unermeßliche. Wo waren die Bäume, die er ausreißen sollte? Dieser Dr. Heilbert war ein Prachtkerl! Als käme er erst jetzt in den Raum, begrüßte er die Sitzungsteilnehmer und entschuldigte sich mit einem Verkehrsunfall, der ihn aufgehalten habe. Obwohl Hänlein bei seinem Eintreten noch fest entschlossen war, die Versäumnisstrafe zu verhängen, sagte er kein Wort davon. Er konnte nicht. Die Ausrede, wie ihm schien, war zu gut gewählt. Andrerseits rechtfertigte die dreiviertelstündige Verspätung keine genaue Nachprüfung, obwohl ein Anruf bei der Verkehrspolizei ergeben hätte, ob ein Unfall vorlag oder nicht. Aber dann bestand für Hausberg immer noch die Möglichkeit, sich damit auszureden, daß sein Wagen im Graben gelegen habe und herausgezogen werden mußte, die Verkehrspolizei aber nicht verständigt worden wäre. Rainer fühlte das Mißtrauen, aber er schwieg. Entweder man glaubte seiner Begründung, oder man glaubte ihr nicht - er war zur Besprechung gekommen, nicht um sich interessant zu machen! Trotz des Mißtrauens versöhnte sich Hänlein mit ihm, als -118-
Rainer nach Schlichtmanns umfassendem Bericht über die bisherigen Arbeiten durch präzise Fragen sich ein genaues Bild verschaffte und außergewöhnlich rege Aufnahmefähigkeit, großes Reaktionsvermögen und hohe Entschlußkraft bewies. Das war trotz allem ein Mann nach Hänleins Geschmack! Man besaß doch Menschenkenntnis in Dresden, das gestand er sich ohne jeden Vorbehalt bald ein. Um so größeres Gewicht maß er Rainers Antwort auf die Frage bei, welche Verwendungsmöglichkeiten er sehe. Rainer erbat sich noch einmal den Entwicklungsbericht und vertiefte sich darin. Die Wissenschaftler beobachteten gespannt sein Mienenspiel. Blatt für Blatt schlug er nachdenklich um. Endlich klappte er die Mappe zusammen und richtete sich auf. „Welche Verwendungsmöglichkeiten sich ergeben", begann er dann zurückhaltend, „das läßt sich aus dem Stegreif nicht erschöpfend beantworten. Fest steht, daß sich das Gigantum sowohl im Land- als auch im Luftverkehr verwenden läßt. Beim Kraftverkehr als Treibstoff für Gasturbinen, im Einschienenund im Luftverkehr dagegen als Treibstoff für Rückstoßtriebwerke. Und sonst...? Nun, so ließe es sich vielleicht als Antriebsmittel für Mammuthammerwerke, Explosionspressen und Befeuerungsanlagen verwenden!" Hänleins Geierkopf schoß vor. „Mit dem Gigantum könnte man ohne allzu große technische Schwierigkeiten die flüssigen Treibstoffe ersetzen?" Alle Anwesenden warteten gespannt auf die Antwort. „Gewiß! Soweit wir über das Maß der Schwierigkeiten übereinstimmen. Natürlich bedarf es konstruktiver Veränderungen und umfangreicher Entwicklungsarbeiten, namentlich für die Triebwerke; die Gasturbinen dürften schneller anzupassen sein. Und, Herr Staatssekretär, die Geschwindigkeit der Einschienenzüge müßte entscheidend erhöht werden. Mindestens um das Doppelte!" -119-
„Wie kommen Sie darauf?" fragte Hänlein überrascht. „Ganz einfach. Als Ingenieur habe ich mich natürlich oft mit der Frage der Geschwindigkeitserhöhung befaßt, zudem ist die Einschienenbahn ja nur gebaut worden, um die Verkehrszeiten zu verkürzen, der Gedanke lag also nahe. Am geeignetsten erschien mir immer das Staustrahltriebwerk, da es wenig mechanisch bewegte Teile erfordert und demzufolge geringe Fehlerquellen bietet. Je höher jedoch die Geschwindigkeit, desto größer die durchströmende Luftmenge, um so höher damit auch die Leistung des Triebwerkes. Am günstigsten bei der in Frage kommenden Geschwindigkeit wäre allerdings eine intermittierende, also pulsierende Verbrennung des Stoffes, da dann der Wirkungsgrad des Staustrahlrohres noch höher liegt! Vielleicht könnte man sie durch eine Weiterentwicklung erreichen?" „Das ist ohne Schwierigkeiten zu ermöglichen", versicherte Lydia. Erlöst atmeten alle auf, die Entscheidung war gefallen. Was sie sich erhofften - Austausch der knappen Flüssigkeitstreibstoffe gegen Gigantum -, das war bestätigt, war übertroffen! Höhere Geschwindigkeiten! Hänlein schmunzelte versteckt und verzieh Rainer die Verspätung und die vermeintliche Ausrede dazu. Und nach einigen ergänzenden Fragen wandte er sich langsam, mit betontem Ausdruck an Rainer: „Sagen Sie, Herr Hausberg, sagen Sie als bevollmächtigter Vertreter der Raketa-Werke, sind die Raketa-Werke in der Lage, a) entsprechende Triebwerke zu entwickeln und herzustellen; b) in Serie herzustellen; und c) bis zu welchem Zeitpunkt, glauben Sie, könnte die Entwicklung abgeschlossen sein?" Rainer fixierte ihn kurz. Das also war er, der Geierschnabel, wie er in eingeweihten Kreisen hieß, und das war die verdammte, zupackende Art des -120-
Staatssekretärs, die gefürchtet war, der man aber andrerseits große Erfolge zu verdanken hatte. Im ersten Impuls wollte er ausweichen. Dann fiel ihm ein, daß eine Zusage ihm Hänleins volle Unterstützung verschaffte. Der Staatssekretär nahm nicht nur Zusagen entgegen, er setzte sich auch mit ganzer Kraft und dem Gewicht seiner Funktion dafür ein, daß diese Zusagen gehalten werden konnten. Über organisatorische Fragen, personaltechnische Angelegenheiten und andere Dinge würde man also nicht stolpern, wenn er zusagte. Aber schaffte man die Entwicklung und bis wann? Natürlich konnten die RaketaWerke Triebwerke entwickeln, aber von vornherein den Termin zu bestimmen, das war riskant, denn Hänlein verlangte strikte Einhaltung der Termine. Riskant? Ach was, Unsinn war es! Wer weiß, welche Schwierigkeiten sich ergaben! Da fiel ihm Schreyer ein, und er fragte sich, wie dieser sich verhalten würde. Mit kühlem Kopf würde er alle Für und Wider erwägen und sich dann entscheiden. Entscheiden! Aber wie? Schreyer hatte ihn als Vertreter bestimmt, er durfte ihn nicht enttäuschen, durfte aber auch keine Zusagen geben, die nicht zu halten waren. Sosehr er sich auf die vollverantwortliche, selbständige Entscheidung gefreut hatte, jetzt drückte ihn die Verantwortung. Seine erste Entscheidung gleich von derartiger Tragweite! Hoffnungslos, wie ihm schien, drehten sich seine Gedanken im Kreis, ohne einen Ausweg. Er war Vertreter des Werks, Vertreter der Kollegen. Bräuner, Selbmann, Rother, Gisela... Er sah sie alle vor sich, mit denen er zusammengearbeitet hatte, denen er verbunden war. Wenn er jetzt auswich - war das nicht Mißtrauen gegenüber ihren Fähigkeiten, ihrer Einsatzbereitschaft? Da sagte Hänlein, dem es anscheinend zu lange dauerte: „Wenn Sie im Zweifel sind, so können Sie durchaus erst mit Ihrem Werk Rücksprache nehmen l" -121-
Klang da nicht Hohn in der Stimme, machte sich Hänlein vielleicht lustig über ihn? Traute er den Kollegen der RaketaWerke nichts zu? Der Verdacht, daß Hänlein ihn überlegen abtun wolle, weckte in Rainer Trotz und Widerspruch. Plötzlich sah er das Mädchen gegenüber. Hohn in Gegenwart einer Frau? Glimmte nicht auch Spott in ihren Augen? - Ach, ihr nehmt uns nicht für voll? Wir werden euch beweisen, daß wir mehr können als Brot essen! „Selbstverständlich können die Raketa-Werke die Herstellung übernehmen! Obwohl sich der Umfang der Entwicklungsarbeiten noch nicht ganz einschätzen läßt, könnte wohl in einem halben Jahr mit der Produktion begonnen werden. Vorausgesetzt, wir erhalten ausreichende Mengen des Stoffes für Versuche, können sofort mit der Arbeit beginnen und bekommen ausführliche Angaben über die chemischen und physikalischen Eigenschaften des Gigantums." Hänlein entsann sich seiner ersten vollverantwortlichen Entscheidung und wie unsicher er dabei war und wußte Rainers Zusage um so höher zu schätzen. Einer bedenkenlosen Zustimmung gegenüber hätte er sich skeptisch verhalten, ohne ihr bindenden Wert beizumessen. Da aber Rainer offensichtlich reiflich erwogen hatte, rechnete er mit dessen Entscheidung, betrachtete er sie als Grundstein, auf den man bauen konnte. Als Hänlein nun von Schlichtmann forderte, er solle innerhalb des nächsten Halbjahres Industrieanlagen für die Großproduktion des Gigantums entwickeln, da sagte auch dieser zu und wandte sich an Lydia: „Lydia, Sie kennen Ihren Stoff am besten, übernehmen Sie bitte die Zusammenarbeit mit Dresden! Und die Kollegen Heilbert und Colmar entwickeln wohl die industriellen Herstellungsverfahren? Nehmen Sie die technische Abteilung dazu!" Rainer horchte überrascht auf. -122-
Hatte er sich verhört? Oder hatte der Professor tatsächlich gesagt: „Lydia, Ihren Stoff"? War es denn möglich, daß dieses zurückhaltende Mädchen, das bisher kaum ein Wort gesagt hatte, die Erfinderin des Gigantums war? Er blickte auf seinen Notizblock und überflog die Stichworte, mit denen er den Besprechungsverlauf festgehalten hatte. Doch es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. Die Notizen verschwammen ihm vor den Augen. Er geriet ins Träumen. Anscheinend ließ die Wirkung von Heilberts Tropfen nach. Jetzt müßte er schlafen können... Wie hieß doch die Erfinderin? Lydia - ein klangvoller Name, aber ganz ungebräuchlich. Lydia - paßte der Name zu ihr? Da schreckte ihn eine Frauenstimme auf. Hastig blickte er auf und sah direkt in zwei kluge Augen. Lydia... Ihren Stoff! - Er musterte sie neugierig. So also sah sie aus! Das verblüffte ihn - er hatte sich einen Atomphysiker ganz anders vorgestellt! Mußte nicht der Umgang mit den Atomkräften sich in ihrem Gesicht widerspiegeln, mußten die Gefahren sich nicht darin eingrahen und den Gesichtsausdruck verhärten, vermännlichen? Während sie ihm vorschlug, wie sie am besten zusammenarbeiten könnten, betrachtete er sie mit heimlicher Neugier. Wie alt mochte sie sein? Sie sah aus wie neunzehn... Unmöglich, sie trug doch schon den Doktortitel, mußte also die Mitte der Zwanzig überschritten haben. Nein, hart war dieses Gesicht nicht. Es war fraulich weich, obwohl die hohe Stirn und das Kinn Mut und Energie verrieten. Rainer hätte nicht sagen können, ob sie schön sei... Aber er fand sie ungemein anziehend. Ihr Auftreten war natürlich, ihre Bewegungen schienen zu fließen, dennoch lag Zurückhaltung in ihnen. -123-
Sie schaffte eine Distanz, die man unbedingt respektieren mußte, die jedoch andrerseits den brennenden Wunsch hervorrief, sie zu überwinden und näher, gefühlsmäßig näher, an „sie" heranzukommen. Er konnte den Blick nicht wenden. Sie trug ein weißes, duftiges Sommerkleid, das sich an ihren Körper anschmiegte und dann in weiten, weichen Falten über die hochgestellten Beine fiel. Auf ihrer Brust blitzte an einer dünnen Kette ein sprühender Stein und verwirrte ihn. Da entsann er sich der anderen und sah betreten auf seinen Notizblock. Er fühlte sich plötzlich gehemmt, albern und unsicher. Seine Bewegungen kamen ihm ungeschickt und hölzern vor. Ich benehme mich wie ein Anfänger, dachte er betroffen. „Werden Sie selbst die Verbindung mit uns übernehmen?" fragte sie mit sanftem Vorwurf zum zweiten Male. Erschrocken fuhr er auf. Da haben wir's - wie ein Schulbub benahm er sich! Vor Ärger und Befangenheit flüchtete er sich in einen unwirschen Ton. „Entschuldigen Sie", erwiderte er mürrisch, „ich dachte eben an die Entwicklungsarbeiten, die nötig werden. Wer die Verbindung übernimmt, kann ich noch nicht sagen!" Er war froh, als Hänlein die Sitzung beendete und Schlichtmann die Gäste in das Klubhaus bat. * Die Sonne zeichnete flimmernde Silberbänder in den breiten Strom und brach sich blitzend in den Fenstern der Häuser am Hang der Loschwitzhöhe. Gleißend leuchteten die verchromten Beschläge einer schnittigen Motorjacht auf, die sich auf der Bugwelle eines vo rüberfahrenden Salondampfers schaukelte. An ihrem hohen Bug erstrahlte in silbernen Buchstaben der -124-
Name „DIXI". Aus dem spiegelnden Deck wuchsen mit schräggestellter Windschutzscheibe die stromlinienförmigen Aufbauten empor. Am Geländer des Laufsteges, an dem die Jacht vertäut war, lehnte Günter Bräuner und blickte gedankenverloren dem Salondampfer nach. Tanzmusik wehte herüber. Plötzlich sagte jemand hinter ihm mit verstellter Stimme: „Darf ich Herrn Kapitän aus seinen Träumen reißen? Ich wünsche wohl geruht zu haben!" Er fuhr herum. „Nett, daß Sie gekommen sind, Gisela!" „Haben Sie das bezweifelt? Was ich verspreche, das halte ich auch! Aber sagen Sie, nach welcher Seite wollen Sie mich entführen? Ich würde vorschlagen elbaufwärts, dort ist es schattig. Ich schmore schon im eigenen Saft!" Bräuner lachte auf, dann wies er auf die Jacht. „Spazierengehen? Bei der Hitze? Ich bin für Bequemlichkeit! Gehn Sie an Bord, meine Dame, in zwei Minuten stechen wir in See!" Sie stand wie festgewachsen und starrte auf das weiße Boot. „Machen Sie keine Witze, Günter!" „Das ist kein Witz, das ist eine Einladung!" Benommen folgte sie der einladenden Gebärde und betrat das blanke Deck, immer noch unsicher, ob es wirklich ernst gemeint sei. Da er nachkam, verlor sich das Gefühl und wich grenzenlosem Staunen. Wer konnte ihm das Boot geliehen haben? Kein Fleck trübte das reine Weiß des Decks, des Rumpfes und der Aufbauten. Sie getraute sich kaum aufzutreten. „Sauber ist das hier - wem gehört denn das Boot?" „Das Boot ist nicht schwer sauberzuhalten, Gisela, es besteht aus weißem Kunststoff und braucht nur abgespritzt zu werden. -125-
Es ist jetzt etwas älter als ein Jahr, hat aber noch keinen Pinsel gesehen, wird auch nie einen Anstrich bekommen!" „Kunststoff?" fragte sie und klopfte mit dem Knöchel auf die Aufbauten. „Kunststoff?" „Sie glauben mir nicht? Es ist Stahloplast, ein Kunststoff mit der Festigkeit von Stahl, die Elastizität ist sogar größer! Der Schmelzpunkt liegt bei neunhundert Grad, es verformt sich jedoch schon bei achthundert Es läßt sich hervorragend schweißen, deshalb ist der Bootskörper mit den Kunststoffspanten direkt verschweißt." Bräuners Erklärungen gaben ihr die Sicherheit zurück. „Interessant, aber wem gehört denn das Boot?" fragte sie zum zweitenmal. Er schwieg, trat zur Steuerkabine und drückte einen Sicherheitsschlüssel ins Schloß. Lautlos öffnete sich die Tür. In der Kabine begann eine Klimaanlage zu summen. „Märchenhaft!" seufzte sie und folgte seiner einladenden Gebärde. Innen klopfte er gegen die Glasscheiben, sagte stolz: „Plexiglas!" und wies auf ein vernickeltes Schild über dem Armaturenbrett: Eigentümer Günter Bräuner, Dresden. Darunter stand kleiner: „Diese Motorjacht trägt einen Entwicklungsauftrag des Ministeriums für Forschung Berlin!" Bescheiden setzte er hinzu: „Ich habe es selbst zusammengebaut, die Stahloplastplatten sind spottbillig, allerdings werden sie vorerst nur für Versuchszwecke ausgeliefert. Aber legen wir erst einmal ab, Sie übernehmen das Steuer!" Dabei drückte er sie sanft, aber bestimmt in den Stahlrohrsessel des Fahrstandes. Auf ihren Einwand, daß sie doch keine Ahnung habe, versprach er ihr eine genaue Erklärung. „Es geht nicht anders, Gisela, ich muß das Boot vom Landesteg abdrücken." -126-
Sie lehnte sich zurück, sah ihn vorwurfsvoll an, dann hob sie die Schultern. „Von mir aus!" „Es ist ganz einfach, Gisela - diese sieben Tasten sind das ganze Geheimnis. Wenn Sie die Starttaste drücken, dann läuft die Gasturbine an. Mit der Fahrtaste kuppeln Sie die Schraube ein, mit dem Knopf darüber wieder aus. Wollen Sie die Drehzahl erhöhen, dann drücken Sie so lange auf die Beschleunigungstaste, bis die gewünschte Geschwindigkeit erreicht ist! Wollen Sie die Geschwindigkeit verringern, dann benutzen Sie die Taste mit der Aufschrift.Drehzahl fällt'. Die Turbine selbst können Sie mit der Stoptaste stillsetzen. Rechts ist die Taste für Rückwärtsfahrt! Ist das alles klar? Bitte wiederholen Sie noch einmal!" Lächelnd über seinen bestimmten Ton, der ihr ungemein gefiel, wiederholte sie die Erklärung. Und sie hatte sich vorgenommen, mit ihm Katz' und Maus zu spielen! Als er sie nach Rainers Abfahrt kurzerhand um ein Stelldichein bat, hatte sie impulsiv zugesagt. Nur Freude erfüllte sie, doch dann ärgerte sie sich, daß sie es ihm so leicht gemacht hatte. Aber noch war nichts verdorben! Er würde nicht erfahren, woran er mit ihr war, erst wenn er völlig aus dem Gleichgewicht geriet, wollte sie ihm wieder etwas Hoffnung machen. Er sollte am Rost braten, sein Gefühl als Fegefeuer empfinden. Widerstand erhöht die Leidenschaft! Aber später, in ein, zwei Monaten, würde sie ihn entschädigen, würde sie recht lieb zu ihm sein. Das war dann gewiß noch einmal so schön! Bräuner sprang zur Leine, um im gegebenen Moment loszuwerfen. „Fertig!" rief er ihr zu und legte die Hand auf die Seilschlaufe. Gisela sah beklommen auf die Starttaste, dann holte sie tief Luft und drückte sie entschlossen ein. Die Gasturbine rührte sich nicht, selbst die rote Zündkontrolllampe blieb dunkel. -127-
Bräuner wartete gespannt auf das dumpfe Aufheulen der Turbine. Als nichts geschah, blickte er sich fragend um. „Na, Angst bekommen?" „Ich? Die Turbine springt nicht an!" widersprach sie empört. Er ging zurück und sah ihr über die Schulter. „Kräftiger drücken, Gisela!" Die Turbine schwieg. Bräuner machte ein ratloses Gesicht. Gisela sprang auf. „Na, Käptn", rief sie übermütig, „soll ich nicht lieber Segel setzen? Wenn man schon ein Mädel entführen will, dann müßte wenigstens das Fahrzeug in Ordnung sein! Vielleicht ist es besser, wenn wir wieder an Land gehen?" Bräuner schlug sich vor die Stirn und lachte. „Wir fahren doch! Nur, mit leerem Tank gelingt das natürlich nicht! Ich habe den Tank gereinigt, aber nicht neu gefüllt!" Ein Druck auf die Fülltaste, und glucksend füllte sich der Mischbehälter mit gefiltertem Elbwasser. Die Kontrollampe der Förderpumpe leuchtete auf. Langsam stieg der Zeiger: viertel, halb, dreiviertel, voll! Die Lampe erlosch, und der Zeiger verharrte. Mit lässiger Bewegung kramte Bräuner einen Kunststoffbehälter aus der Hosentasche, öffnete den Sicherheitsverschluß und schüttete den Inhalt, dreißig pfenniggroße Tabletten, in den Verschlußstutzen des Substanzreservebehälters. Sofort erschien eine 30 im rechteckigen Zifferblattfenster der Krattstoffuhr, während das Zifferblatt rot aufglühte.. Gebannt blickte Gisela aufs Armaturenbrett. Bräuner erklärte überlegen: „Jetzt wird eine Tablette in den Mischbehälter befördert, mischt sich mit dem Wasser..." Das Rot wechselte in Grün. -128-
,„.. ist nun restlos gelöst, das richtige Mischungsverhältnis ist erreicht!" Inmitten des grünen Leuchtens kletterte ein grellgelber Strich an den Marken 10... 20... 30... 40 vorüber und verhielt bei 50. „Der Fahrtank ist voll. Wenn er bis zur Hälfte geleert ist, füllt sich der Mischtank neu, dann löst sich eine neue Substanztablette. Fällt der Tankinhalt unter fünf Liter, dann füllt sich der Fahrtank aus dem Mischtank neu. Sind die Tabletten verbraucht, wird bei zwanzig Liter Tankinhalt ohne Reserve der Anker ausgelöst und die Turbine stillgesetzt, damit man wenigstens die nächste Tankstelle erreicht. Übrigens auch eine Versuchsreihe, diese Tabletten - wie fast alles an Bord. So, Gisela, nun versuchen Sie nochmals Ihr Glück." Jetzt flammte die Kontrollampe auf. Dumpf blubbernd zündete die Brennkammer, mit gedämpftem Heulen lief die Gasturbine hoch. Bräuner löste die Schlinge, schob DIXI vom Lautsteg ab und begab sich zu Gisela, um von Deck aus das Manöver zu dirigieren. Sie hatte das Lenkrad weisungsgemäß nach Strommitte eingeschlagen und ließ DIXI vom Ufer abtreiben. Während Bräuner seinen Blick nach vorn wandte und über den Bug nach einem Dampfer Ausschau hielt, der in der fernen Flußbiegung auftauchte, horchte er auf das Arbeitsgeräusch der Turbine, sie lief noch immer leer. „Weshalb zögern Sie? Nicht so zaghaft, die Fahrtaste 'rein!" Das Boot erzitterte, verhielt mitten in der Strömung imd kam langsam in Fahrt. Bräuner sprang in die Fahrkabine zurück und schaltete den Bordsuper ein. „So, Gissi, alle Kraft voraus!" forderte er und lächelte hintergründig. Leicht hob sich der Bug, zerschnitt zischend das Wasser und warf es in hohen Wellen zur Seite. Dreißig - vierzig - fünfzig Stundenkilometer zeigte der -129-
Tachometerzeiger. Gisela drückte noch immer die Beschleunigungstaste. „Herrlich..." Sie stockte erschrocken. Das Boot bäumte sich plötzlich auf, stieg über das Wasser und schoß voraus, seltsam ruhig wurde sein Lauf. Fassungslos nahm sie die Finger von der Beschleunigungstaste. Der Tachometer tanzte auf der Siebzig. „Aber Günter - was ist das?" fragte sie unsicher, als sie sein lachendes Gesicht bemerkte. „Nichts Besonderes - der Bootsrumpf befindet sich über dem Wasserspiegel." Er lehnte sich betont gelassen an die Kabinenwand und verschränkte die Arme. „Aber wieso denn... Etwa Tragflächen?" „Genau das! Unter dem Bootsrumpf befinden sich zwei Tragflächen mit je zwei Schrauben. Bis zu fünfzig Stundenkilometer; schwimmt das Boot wie jedes andere mit dem Rumpf, dann verstellen sich die Tragflächen und heben den Rumpf über den Wasserspiegel, bleiben selbst jedoch unter ihm. Die WasserVerdrängung verringert sich erheblich, und so können bei gleicher Leistung und bei ruhigerer Fahrt erheblich höhere Geschwindigkeiten erreicht werden als beim Schwimmen mit dem Rumpf." Gisela nickte. Das war ja eigentlich nichts Neues. „Aber wieso nur zwei Tragflächen? Wie sind sie angeordnet?" fragte sie lebhaft. „Bisher waren es doch mindestens drei!" Er schmunzelte stolz. „Ich habe nur noch eine unter dem Bug und eine unter dem Heck, jeweils in der Kiellinie angeordnet." „Und wie halten Sie das Gleichgewicht?" Er genoß ihr Interesse. -130-
„Die Tragflächen sind geteilt und gleichen jede Abweichung von der Horizontalen durch unterschiedlichen Auftrieb aus. In dieses Gleichgewichtssystem ist der bekannte Stabilisierungskreisel einbezogen. Übrigens wird beim Wenden die Schräglage nach innen ebenfalls durch unterschiedlichen Auftrieb erreicht., Der Gesamtauftrieb wird vollautomatisch entsprechend der Geschwindigkeit geregelt!" Sie überlegte und sah voraus auf den Fluß. Toll - und das hatte er allein ausgeknobelt und gebaut! Und sie saß am Steuer und konnte mit Schwung in die Kurven... Sie stutzte. „Aber bei der hohen Geschwindigkeit muß sich doch ein großer Wenderadius ergeben?" fragte sie dann und sah ihn erwartungsvoll an. Bräuner lachte und schüttelte den Kopf. Diese Zweifel machten ihm Spaß - konnte er sie doch alle entkräften! „Nein, Gisela", begann er ein wenig gönnerhaft. „Bei jeder Schraube befindet sich ein Seitenruder, es ist gleichzeitig ihr Schutz gegen Grundberührung. Zur Not kann man auf ihrem starren Rahmen über den Grund schliddern. Und die vorderen Seitenruder schlagen entgegengesetzt wie die hinteren aus! Ähnlich der Vierradlenkung des Kraftwagens." Gisela staunte. Wie sinnvoll er das gemacht hatte! An der Hexe hatte eine ganze Abteilung gearbeitet, das hier hatte Brauner allein ausgeknobelt. „Da können wir ja ruhig noch mehr aufdrehen!" sagte sie übermütig und drückte auf die Beschleunigungstaste. Der Tachometerzeiger stieg. „Neunzig Stundenkilometer - Höchstgeschwindigkeitsgrenze! Sonst kommt uns die Strompolizei auf den Hals! DIXI läuft zweihundertundzehn Stundenkilometer - die können Sie sowieso nicht ausfahren. - Na, alle Klarheiten restlos beseitigt?" fragte er, als sie noch immer nachdenklich nach vorn sah. „Ihr Boot hat eine schwache Seite! Es erfordert hohen -131-
Wasserstand! Die jetzige Tauchtiefe der Tragflächen plus die Höhe des Kiels über dem Wasserspiegel plus normaler Tiefgang des Bootsrumpfes - da sind schnell zwei Meter erreicht. Stellen Sie sich vor. Sie kommen bei hoher Fahrt aus der Fahrtrinne, müssen im flachen Wasser abstoppen, und der Rumpf taucht unter fünfzig Stundenkilometer ein. Er käme gar nicht bis ins Wasser! DIXI stünde wie ein Elefant im Bach!" Bräuner lachte. „Irrtum", erwiderte er trocken, „erstens hat ein Elefant vier Beine, DIXI nur zwei..." „Also gut, wie ein Storch", sagte sie nachsichtig. „... zweitens", fuhr er ungerührt fort, „können weder Elefant noch Storch das, was DIXI kann." „Da bin ich wirklich gespannt!" Das klang sowohl nach Spott als auch nach echter Neugier. „DIXI hat die Beine bei Normalfahrt angezogen und streckt sie erst aus, wenn fünfzig Stundenkilometer überschritten werden und die Überwasserfahrt beginnt. Wenn es Ihnen Spaß macht, können wir durchaus noch einen Meter höher gehen." „Ich gebe mich geschla gen", bekannte sie und lehnte sich bequem zurück. Draußen knatterte der Wimpel, der Fahrtwind fauchte. Hinter der Windschutzscheibe geborgen, jubelte Gisela hell auf. Jetzt fand sie Gefallen an der Fahrt, an der hohen Geschwindigkeit. Bräuner betrachtete ihr freudiges Gesicht und fragte herausfordernd: „So gefallen Sie mir besser, Gisela! Weshalb haben Sie vorhin eigentlich so ängstlich gezögert?" Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, errötete, als sie sein Lächeln bemerkte, und entgegnete gereizt: „Sie haben gut reden! Haben Sie noch nie im Leben gezögert?" Jetzt lachte er vernehmbar. -132-
„Gott bewahre! Wenn ich etwas will, führe ich es ohne Zögern aus!" „Beweise!" forderte sie spöttisch. „Nichts lieber als das!" sagte er schlagfertig und trat auf sie zu. Als er den Arm nach ihr ausstreckte und sie in seinen hellen Augen sein Vorhaben las, schlug sie nach ihm. Das war gemein von ihm - ausgerechnet jetzt, wo sie am Steuer saß! Bräuner wich gewandt aus, täuschte schmerzliche Überraschung vor und brachte sich mit einem Sprung durch die offene Tür an Deck in Sicherheit. Da traf ihn ein heftiger Schlag. Der Fahrtwind brachte ihn zum Taumeln, und ehe er das Gleichgewicht wiederfand, wirbelte er über das schmale Heck und stürzte in hohem Bogen in das aufgewühlte Wasser. Klatschend spritzte es auf. Geistesgegenwärtig schlug Gisela auf die Stoptaste. Doch das gedämpfte Heulen der Gasturbine verstummte nicht, der Tachometer zeigte unverändert 90 Stundenkilometer. Da heulte eine Sirene. Entsetzt sah sie nach vorn. Ein großer Dampfer kam ihr entgegen. Mechanisch drehte sie das Steuerrad nach rechts. Die Jacht reagierte nicht! Vor ihr, genau über dem weißen Wimpel mit dem Bootsnamen, wuchs der Bug des Dampfers empor; wie ein störrisches Pferd hielt DIXI eigensinnig direkt darauf zu. Gestikulierende Menschen räumten das Vorschiff. Der Kapitän versuchte zu manövrieren und dem Bug des schwerfälligen Schiffes eine andere Richtung zu geben, um wenigstens den direkten Anprall in ein Streifen abzumildern. Hinter dem Dampfer brodelte das Wasser auf, gepeitscht durch die rückwärtswirbelnden Schaufeln. Entgeistert, mit schreckgeweiteten Augen, lehnte Gisela im Sessel. Deutlich, wie auf einer Filmleinwand, sah sie jede -133-
Kleinigkeit in Übergröße. Sollte sie über Bord springen? Aber sie konnte nicht, sie war wie gelähmt. Die Jacht raste geduckt dahin, unbeirrt auf ihrem Kurs. * Bräuner wurde durch die Strömung abgetrieben und verlor DIXT bald aus den Augen, da ihm am Ufer ein Waldstreifen die Sicht auf den gekrümmten Strom verwehrte. Prustend kletterte er an Land, warf den nassen Anzug ab, streifte sein Hemd vom Körper und zog die Badehose zurecht. Dann schüttelte er den Anzug aus und breitete sein nasses Hemd in die Sonne. Während er seinen Anzug in das Geäst einer Weide hängte, ertönte hinter ihm ein gutmütiges Lachen. Ein alter Mann mit geschultertem Rechen, in dem noch Heufetzen hingen, stand vor ihm. „Eine unbequeme Art an Land zu gehen", sagte er bedächtig und nickte ihm freundlich zu. „Man tut, was man kann, Opa!" erwiderte Bräuner grinsend. „Ja, ja, aber mit 'nem Bauchklittscherl" In des Alten Augen lag noch immer Lachen. „Jedem gelingt es nicht, mit dem Hintersten zuerst über Bord zu gehen! Wissen Sie, Opa, ich bin gewohnt, der Gefähr ins Auge zu sehen, anstatt ihr die Kehrseite anzubieten", beteuerte Brauner. „Ehrenvoll, aber schmerzhaft, junger Freund", bestätigte der Alte. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Mein Häuschen ist hier in der Nähe und steht armen Schiffbrüchigen jederzeit zur Verfügung." Bräuner winkte ab. „Wer den Schaden hat, braucht für Spott nicht zu sorgen. -134-
Aber ich danke für das freundliche Angebot, in zehn Minuten bin ich wieder salonfähig!" „Na, da bin ich aber neugierig!" sagte der Alte und stützte sich auf den Rechen. Brauner wies auf eine Bank, die am Ufer in der Nähe stand, und schlug vor, sich dort solange zu setzen. Fern heulte eine Dampfersirene. Der Alte ließ sich nieder, indessen zog Bräuneraus dem Anzug einen schmalen Kasten und nahm ebenfalls Platz. Der Alte sah erstaunt auf, als neben ihm Radiomusik erklang. „Oh, ihr jungen Leute! Ihr kommt pudelnaß aus dem Wasser und wartet mit Radiomusik darauf, daß eure Anzüge trocknen. Aber der Apparat muß doch mit im Wasser gewesen sein?" fragte er dann verblüfft. „War er auch, aber das macht ihm nichts aus. So ein Sportgerät muß andere Dinge aushallen können, Opa", versicherte Bräuner und warf kurzentschlossen den Apparat in die Luft Sprachlos hörte der entsetzte Alte, wie das Kästchen auf den Steinen der Uferböschung aufschlug. „Oh!" sagte er bedauernd, dann horchte er gebannt. Von den Steinen her klang Radiomusik. „Glauben Sie nun, daß er sich um das bissel Wasser nicht kümmert?" fragte Bräuner, als er mit dem Apparat zurückkehrte. Der Alte starrte auf das notizbuchgroße Kästchen, das ihm Bräuner auf den Schoß gelegt hatte. Als er den Blick zu seinem Nachbarn hob, stand der wieder im weißen Anzug vor ihm. Kopfschüttelnd betrachtete der Alte die Hosen mit den haarscharfen Bügelfalten. „Kinder, habt ihr's gut! Früher, als die Anzüge noch aus Wollfasern waren, wären nach dem Bad keine Bügelfalten geblieben, die ganze Fasson wäre hingewesen! Zwei Tage trocknen ander Leine, und dann den Knüll zum Bügeln!" -135-
Doch Bräuner war noch nicht damit zufrieden. „Schade, daß man Hemden nicht auch aus wasserabstoßenden Kunstfasern herstellen kann, aber dann mußte man wieder Löschpapier dazwischenlegen, wenn man in Schweiß gerät. Schade, muß ich halt mein Hemd feucht unter den Arm klemmen!" Der Alte erhob sich bedächtig. „Es war mir ein Vergnügen, junger Wassermann. Meine bessere Hälfte wartet!" Bräuner sah dem gemütlichen Alten nach, bis seine gekrümmte Gestalt hinter dem Gebüsch verschwand, dann betrat er einen nahe gelegenen Dampferanlegeponton und starrte aufs Wasser. Wo blieb Gisela? Er mußte lächeln. Wenn sie ihm seiner Keckheit wegen böse gewesen war, so hatte inzwischen gewiß das Mitleid sie übermannt. Die Trümpfe lagen also in seiner Hand, das erfüllte ihn mit Zuversicht Der Dampfer nahm rasend an Größe zu, Gisela schloß in schmerzhafter Angst die Augen. Ihre Gedanken gipfelten in einem Wort: Günter! Wenn er doch bei ihr wäre. Er fände gewiß einen Ausweg aus dieser beklemmenden Hilflosigkeit. Neunzig Stundenkilometer... Das war das Ende! Jetzt bekam manches ein anderes Gesicht! Weshalb hatte sie mit ihm Versteck spielen wollen? Sie liebte ihn doch, sehnte sich nach ihm! Wie oft hatte sie geträumt, in seinem Arm zu liegen, von ihm geküßt zu werden - warum war sie vorhin ausgewichen? Sie hatte sich die Zukunft so schön gedacht... eine nette Wohnung... Kinder... Ein kurzer Blick zeigte ihr die Aufbauten des Dampfers in riesenhaftem Ausmaß. „Jetzt... Ach, Günter!" stöhnte sie und schloß die Augen. Da fühlte sie einen starken Druck in der Seite. Das -136-
Sirenenheulen war neben ihr. Und Wortfetzen von schimpfenden Menschen. Auch das blieb zurück. Überrascht öffnete sie die Augen. Seitlich hinter ihr lag der Dampfer. Seine Sirene brach ihren schauerlichen Gesang ab, langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Gespenstisch neigte sich DIXI wieder auf die Seite und steuerte auf den alten Kurs zurück. Fassungslos starrte sie auf das unbewegliche Steuerrad und bemerkte nun neben der Stoptaste eine zweite, eingedrückte Taste mit der Aufschrift: Steuer. Eine grüne Kontrollampe leuchtete daneben. Da löste sich der Bann, hilflos dem unerklärlichen Willen einer Maschine ausgeliefert zu sein. Sie hatte die falsche Taste gedrückt! Tränen rannen ihr übers Gesicht, ein Schluchzen stieg in ihren Hals und schüttelte sie. Frei und licht wurde es in ihr, ein stählerner Reifen schien von ihrer Brust gesprengt zu sein. Unter Anspannung aller Kräfte drückte sie auf „Stop!". Da sprang die Steuertaste heraus, die Kontrollampen erloschen, die Fahr- und Zündtaste kamen zurück, und das Steuerrad gehorchte wieder ihrem Willen. Aber auch das Heulen der Turbine fiel ab, und die Jacht verminderte die Fahrt, tauchte den Rumpf wieder ins Wasser und trieb bald willenlos im Strom. So glücklich sie war, daß die Pferdestärken der Turbine wieder gebändigt waren, nach einigen Minuten der Entspannung zwang sie die Sorge um Bräuner, DIXI erneut zum Leben zu erwecken. Vorsichtig, doch zum äußersten gespannt wie ein Dompteur, der seine Raubtiergruppe nicht reizen darf, sie aber dennoch zur Leistung zwingen muß, brachte sie DIXI in Fahrt. Die geheimnisvolle Taste aber vermied sie scheu. -137-
DIXI gehorchte willig dem Steuer. Nach einer zaghaften Wendung fuhr Gisela langsam stromabwärts, das Ufer nach Bräuner absuchend. Endlich erblickte sie ihn. Unbekümmert stand er auf dem Ponton und winkte mit seinem nassen Hemd. Er watete mit hochgeschlagenen Hosen seiner Jacht entgegen. Als er wieder an Bord geklettert war, bemerkte er ihr verstörtes Gesicht. Auf seine Frage berichtete sie mit noch bebender Stimme von ihrem Erlebnis. „Das Selbststeuergerät, es arbeitet mit Radar! Aber es ist nur für Geschwindigkeiten bis vierzig Stundenkilometer bestimmt. Ich erhielt es zur Erprobung von der Technischen Hochschule, wie den Tachometer auch! Mädel, das konnte schiefgehen!" Schuldbewußt kratzte er sich überm Ohr. „Und das alles nur wegen meines Unsinns!" sagte er verlegen. „War es wirklich nur Unsinn, Günter?" fragte sie. Überrascht blickte er auf, begriff und trat auf sie zu. Als seine Arme ihre Schultern umschlossen, wehrte sie sich nicht. Er zog sie zum Fahrstand und drückte sie in den Sessel. Trotz ihres Protestes schaltete er wieder das Selbststeuergerät ein. „Bei dreißig Kilometer kannst du dich darauf verlassen. Weißt du, ich möchte, daß wir Zeit für uns gewinnen!" Er formte das ungewohnte Du bedächtig mit den Lippen, sie bemerkte es lächelnd. „Jetzt hissen wir erst die Notflagge", sagte er und wies auf sein Hemd, „und dann sonnen wir uns an Deck!" Bald flatterte das Hemd über ihnen am Mast. Anstatt spazieren- und dann baden zu gehen, wie er ihr bei der Einladung vorgeschlagen hatte, lagen sie nun nebeneinander im Badeanzug auf der Kajüte. Obwohl sie eine Decke auf die heißen Kunststoffplatten gelegt hatten, wurde es bald zu heiß, der Schweiß perlte in hellen Tropfen über ihre Körper. „Setzen wir uns in den Salon, da.ist es kühl!" sagte er und sah -138-
sie fragend an. Sie erhob sich. „Gern, du wolltest mir sowieso noch das Boot zeigen!" Bräuner verringerte die Geschwindigkeit auf fünf Stundenkilometer und zog Gisela zur Kombüse im Vorschiff. Sie inspizierte neugierig die Konserven der Speisekammer. Erbsen mit Speck, Bohnen mit Rauchfleisch, Makkaroni mit Schinken und Schweizer Käse, Rinderbraten, Klöße... Nur durchwärmen, sofort tischbereit, wie auf den Büchsen stand. Daneben Obstkonserven, darunter Silberperlenlimonade gegen Müdigkeit, die Tote wieder beleben konnte, wie der Volksmund behauptete. Schauernd schloß sie die Tür. „Kalt ist's drin!" stellte sie fest und lehnte sich an ihn. Nachdem sie den Elektroherd besichtigt hatte, wandten sie sich nach hinten zur Kajüte. Gepolsterte Schlafbänke zogen sich an den Wänden entlang. In der Mitte des kleinen Raumes stand ein weißgedeckter Tisch. Bilder an den Wänden und glasverschlossene Büchernischen machten den Raum warm und gemütlich. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie eingebaute Schränke. „Schön hast du es, Günter, hier kann man glücklich sein!" „Mit dir - ja!" flüsterte er hinter ihr. Sie vernahm den werbenden Unterton seiner Stimme und drehte sich ängstlich um. Er umfaßte sie. Sie wollte sich wehren. Doch dann durchlebte sie in Sekundenbruchteilen noch einmal die Fahrt. Riesengroß stand der Dampfer vor ihr. Da schloß sie die Augen. * Gegen das Boot klatschten - rhythmisch schmatzend - die -139-
Wellen, unbeirrt zog es stromauf. Bald erhoben sich lange Felsketten an beiden Ufern. Wildzerklüftet säumten sie das Bett der Elbe. Links kam die Bastei auf, die Basteibrücke... Vorn über dem Bug grüßte der Kegel des Liliensteins.
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Vor dem Speisesaal des Klubhauses, an der Garderobennische, überreichte Dr. Heilberg Rainer das Jackett. „Ihr Wagen ist ebenfalls wieder in Ordnung!" versicherte er und ließ sich dessen technische Einzelheiten schildern. „Um diesen Wagen beneide ich Sie!" gestand er, als sie den Speisesaal betraten, und setzte unbefangen hinzu: „Vielleicht zeigen Sie ihn einmal unserer Doktorin? Sie ist ein Autonarr." Rainer winkte ab. Das fehlte noch - womöglich eine Rundfahrt? Da bemerkte er, wie ihm jemand winkte. Es war Lydia, die mit den ändern bereits am Tisch saß. Da Schlichtmann annahm, Rainer werde die Verbindung mit dem Institut übernehmen, bat er ihn, neben Lydia Platz zu nehmen, damit er schon Anknüpfungspunkte schaffen konnte. Rainer war befangen. Er vermied, sie anzublicken. Das allgemeine Gespräch, das er mit Lydia und den beiden jungen Doktoren begonnen hatte, gab ihm die Möglichkeit, im Raum umherzusehen und die Gesprächspartner nur mit flüchtigen Blicken zu streifen. Weißgedeckte Tische gruppierten sich um einen farbig erleuchteten Springbrunnen, der in der Saalmitte sprühende Fontänen emporschleuderte. Auf den Tischen strahlten in Kristallvasen fremdländische Blumen. Die Wand gegenüber dem Eingang trug ein großes flimmerndes Rechteck, ein Kristallmosaik, dessen Bestimmung verborgen blieb. Anstatt von Fenstern wurde die Längswand von großen Glastüren unterbrochen, die auf eine verglaste Veranda führten. Dort luden unter hochstämmigen exotischen Pflanzen runde Tische zum Verweilen ein. -141-
Rainer wunderte sich. Die Speisesäle der Raketa-Werke waren gewiß mit allem Komfort eingerichtet, man wußte schließlich in Dresden auch, was Kultur ist, aber einen solchen Aufwand, ach was, eine solche Verschwendung trieb man dort nicht! Und das war Verschwendung, mochte einer sagen, was er wollte. Allein die exotischen Pflanzen kosteten ein Vermögen, heimische hätten es auch getan. Ein leises Lachen klang an sein Ohr. „Begeistert scheinen Sie von unserem Klubhaus nicht zu sein?" fragte Lydia, als er sich umwandte. „Ihr Gesicht spricht Bände!" Er rettete sich in trotzige Ablehnung. „Es ist noch zu ungewohnt, unsere Speisesäle sind schlichter!" „Ungewohnt, schlichter?" fragte sie mit spitzbübischem Anflug. „Sagen Sie getrost, was Sie denken! Ihre Speisesäle sind nicht so protzig!" Er schwieg betreten, da man am Tisch aufmerksam wurde. Er war immerhin Gast... Aber sie sollte ihn nicht herausfordern, sonst würde er ihr gründlich die Meinung sagen! Doch er wußte im gleichen Augenblick, daß er schweigen würde. „Wie fühlen Sie sich denn?" fragte sie weiter. „Seltsam erfrischt, vorhin war eine gewisse Müdigkeit nicht zu verleugnen!" Er verhöhnte sich. Sogar seine Sätze gingen schon auf Stelzen. Zu Mutter Kusemann hätte er gesagt: Vorhin war ich müde! Obwohl er sich selbst mit einem balzenden Auerhahn verglich und sich unsagbar lächerlich vorkam, gelang es ihm nicht, ihr ungezwungen natürlich zu begegnen. „Sehen Sie, Herr Hausberg, die Erfrischung ist die Wirkung unsres Springbrunnens", behauptete sie. „Dem Wasser wird eine duftende Chemikalie zugesetzt, sie reichert die Luft mit -142-
Sauerstoff an und belebt die Nerven- und Gehirntätigkeit. Ein Versuchsbrunnen, der nach der Erprobung in sämtlichen Betrieben zu finden sein wird. Vielleicht erscheint er sogar zwischen den Maschinen in den Werkhallen!" „Springbrunnen in Werkhallen?" wiederholte er skeptisch. „Allerdings! Weshalb sollte man nicht das Angenehme mit dem Nützliche n verbinden? Ein Springbrunnen würde die strenge Nüchternheit des Arbeitsplatzes auflockern. Sechs Stunden sind wir täglich im Betrieb, das ist ein Tagesviertel! Gibt es einen Grund, diese Stunden nicht so angenehm wie möglich zu machen?" „Es gibt keinen", gab er widerwillig zu. „Aber wenn wir Blumen an die Arbeitsstätten bringen, können es dann nicht heimische sein? Erfüllen sie nicht den gleichen Zweck?" Lydia lachte belustigt auf. „Die exotischen Blumen also! Sehen Sie, die sind für uns kein Schmuck, es sind Versuchspflanzen. Wir versuchen, mit einem strahlenden Dünger unserer landwirtschaftlichen Abteilung Tropenpflanzen wie Kakao, Kaffee, Zitronen, Orangen, Dattelund Kokospalmen, vor allem aber Heilpflanzen in unserer gemäßigten Zone zum Wachstum und zur Reife bringen." Unwillkürlich wandte er sich zum flimmernden Kristallmosaik an der Wand. Professor Schlichtmann hatte schmunzelnd das Gespräch verfolgt; er sah Rainers Interesse und mischte sich in die Unterhaltung. „Ein Bildschirm, mit dem wir eine neue Fernsehversuchsröhre erproben. Diese Röhre gibt plastische und farbige Bilder wieder. Zudem versuchen wir mit infraroten Strahlen Geruchsempfin-. dungen zu erreichen, und wir können sagen, wir haben schon schöne Erfolge erzielt." Staatssekretär Hänlein weidete sich an Rainers ungläubigem Gesicht. „Tatsache, Herr Hausberg, kein aufgelegter Bluff!" bekräftigte er. -143-
Dr. Heilbert platzte heraus: „Es hat schon manchesmal bestialisch gestunken! Am Anfang war es nicht immer leicht. Die Bilder stimmten mit dem Geruch nicht überein. Da stanken Rosen wie Kuhmist, Kaffee wie Teer, Braten roch wie Schmierseife und Qualm duftete wie Veilchen! Nie waren wir vor Überraschungen sicher, ständig hatten wir das Taschentuch vor der Nase. Eine herrliche Zeit! Heute ist das behoben. Erschiene unsere Doktorin auf dem Bildschirm, duftete es bestimmt nach Juchten." „Aber wieso denn? Ich bevorzuge Juchten nicht!" entgegnete sie überrascht. „Sehr zu Unrecht, Doktorin, sehr zu Unrecht! Nur was Herbes paßt zu Ihnen!" „Was Herbes?" Dann wuchs ihr Verständnis. „Das scheint nur den Männern so, die das Süße lieben und an allem mal naschen wollen!" Zu Rainer gewandt setzte sie hinzu: „Ich fürchte, bei Dr. Heilbert würde es nach Schwefel stinken, er ist unberechenbar wie Mephisto! Hüten Sie sic h vor ihm!" Als das Lachen verklungen war, bat Rainer den Professor um nähere Einzelheiten. „Es ist praktisch wie beim Film! Dort wird der Duft wie die Musik als Diagrammstreifen auf den Film gebannt und mit Licht abgegriffen. Den Musikstreifen verwandelt man in Schallwellen, den Duttstreifen in infrarote Strahlen, die von den Geruchsnerven der oberen Nasenpartie entsprechend ihrer unterschiedlichen Wellenlänge als verschiedene Düfte dem Riechbezirk des Gehirns signalisiert werden. Die Wellenlängen liegen nach den Forschern Beck und Miles im Bereich zwischen siebeneinhalb Tausendstel und vierzehn Tausendstel Millimeter. Ähnlich ist es hier. Der Geruch des Aufnahmeortes wird mit infraroten Strahlen aufgenommen - jeder Duftstoff verschluckt Infrarotstrahlen einer bestimmten Wellenlänge -, in Funkwellen -144-
umgesetzt, durch den Äther übertragen und im Empfänger in die entsprechenden Infrarotstrahlen zurückverwandelt" „Wenn aber jetzt schnell der Schauplatz wechselt, dann gibt es doch mit der Zeit ein tolles Geruchs gemisch?" zweifelte Rainer. „Sie meinen, die Gerüche blieben? Sie werden lachen, mein Lieber, es ist überhaupt kein Geruch vorhanden! Das Ganze ist eigentlich Betrug, eine Täuschung der Geruchsnerven! Der einzige Nachteil dieses Verfahrens ist heute noch die Vielzahl der Infrarotstrahler, die erforderlich sind, um auch bei jedem Zuschauer die Geruchsempfindungen hervorzurufen. Wir arbeiten jedoch bereits an einem neuen Verfahren. Wir versuchen nämlich die Ströme zu erforschen, die als Signal vom Riechnerv an den Riechbezirk des Hirns gegeben werden. Gelingt uns das, dann übermitteln wir dem Hirn diese Ströme von außen, ohne die Nase in Anspruch zu nehmen!" Während des weiteren Gesprächs hing Rainer seinen Gedanken nach. Er hatte bemerkt, daß sowohl Dr. Heilbert als auch Dr. Colmar sich um Lydia bemühten. Er betrachtete die beiden Rivalen. Wenn ihr Wesen so verschieden war wie ihr Äußeres, dann hatte sie genug Abwechslung! Der eine hünenhaft, breit und von jener selbstverständlichen Frechheit, die man nicht übelnehmen kann - der andere blaß, schmal und verlegen. Der eine hatte sich lässig in den Sessel geworfen, der andere berührte nur die vordere Sesselkante und reckte sich mit aufreizender Steifheit in die Höhe. Wie wollte Colmar je mit Heilbert konkurrieren? Dr. Heilbert war zweifellos ein Typ, der Frauen gefiel. Aber über Geschmack ließ sich wohl nicht streiten. Und was würde Lydia von ihm denken? Wie ihn einschätzen? Was sollten diese Gedanken? Hatte er an der einen Enttäuschung noch nicht genug? -145-
Wollte er sich wieder durch einen Gefühlswirrwarr durcheinanderbringen lassen? Eine solche Belastung konnte er sich ganz einfach nicht noch einmal leisten. Er brauchte seine Kräfte für seinen Beruf, für die neue Aufgabe. Warum, zum Teufel, mußte er in dieser Wissenschaftlerin überhaupt das Weib sehen - sie ging ihn doch gar nichts an! Und doch suchte er wieder ihrem Blick zu begegnen. Diese Augen... Nie vorher war er so unsicher gewesen. Bloß raus hier, das war der einzige Wunsch, der ihn beseelte. Nach dem Essen, das schweigend verlief, bat der Professor, Lydia möge den Besucher durchs Institut führen, damit er bei der ferneren Zusammenarbeit über die Möglichkeiten des Instituts unterrichtet sei. Obwohl Rainer mit der Begründung ablehnen wollte, daß er schnellstens zurückfahren müsse und außerdem seine künftige Verwendung in Dresden noch nicht bekannt sei, sagte er kein Wort und folgte ihr. Von den ersten Abteilungen behielt er nicht viel in Erinnerung. Die Bilder, die seine Augen aufnahmen, vermochten nicht in sein Inneres vorzudringen, wie gärender Wein warfen seine brodelnden Gedanken diese Fremdkörper aus, trieben sie an die Oberfläche und ließen sie wie Blasen zerplatzen. Erst ein fragender Blick Lydias, der seine Unaufmerksamkeit tadelte, brachte ihn zu sich. Schamhaft ahnte er, daß er Dinge gesehen hatte, die umwälzende Auswirkungen haben, Dinge, um deren Kenntnis ihn viele beneiden würden. Er versäumte hier eine Gelegenheit, die er vielleicht nie wieder erhielt! Wenn sie ihn für einen Tölpel hielt, übet sein linkisches Benehmen lachte, dann war das bedauerlich - aber immerhin, sollte sie! Ihn aber für einen unfähigen Ingenieur halten, der sein -146-
Studiengeld vergebens vom Staat erhalten hatte und nun am falschen Platze saß, das durfte sie auf keinen Fall! Er war als Ingenieur hier, nicht als Privatmann... und er hatte die Raketa-Werke zu repräsentieren! Er zwang sich zu kühler Sachlichkeit und gewann äußerlich sein Gleichgewicht zurück. Lydia wunderte sich über sein plötzlich erwachtes Interesse. Während er vorher wenige zerfahrene Fragen stellte und die Einrichtungen wie alltägliche Dinge betrachtete, während er vorher nicht einmal bemerkte, wenn sie ihm unzureichende Erklärungen gab, weil sie die Zeit reute, die sie nutzlos mit ihm durch die Räume lief, so fragte er nun derart tiefschürfend, daß sie sich zusammennehmen mußte, um nicht in Verlegenheit zu kommen. Ein ausgezeichneter Ingenieur, gestand sie sich bald ein, aber ein hochnäsiger Mensch von verletzender Kälte. Und gerade das störte sie. Schlichtmann, Heilbert, Colmar, das waren Menschen, die bei allen Schwächen doch liebenswert waren, denen ihr Können nicht die menschliche Wärme raubte. Dieser Ingenieur aus Dresden dagegen - erkälten konnte man sich in seiner Nähe! Ein rechtes Ekel, sagte sie sich bald. Mit ihm zu arbeiten, das mußte furchtbar sein. Sie fand keine Freude mehr an dem gemeinsamen Rundgang. Rainer aber klammerte sich an die unpersönliche Kühle, die allein ihm Schutz vor seinem Gefühl zu bieten schien. Durch nichts ließ er sich aus der Fassung bringen, unterdrückte jeden erstaunten Ausruf. Bald betraten sie den Schaltraum des Atomkraftwerks, von dem aus die Atomzertrümmerungsanlagen ferngesteuert wurden. Nach einem Blick über die kombinierten Steuergeräte, die zahlreichen Kontroll- und Sicherungs geräte fragte er sie, nach welchem Prinzip die Energie gewonnen würde. „Wir verwandeln seit kurzem die Atomkernenergie direkt in -147-
Elektroenergie durch Ausnutzung der unterschiedlichen Reichweite und Polarität der Elementarteilchen, die beim Zerfall herausgeschleudert werden. Wir verteilen diese Teilchen als Träger einer elektrischen Ladung, also entsprechend ihrer Polarität auf verschiedene Pole und bauen so eine Spannung auf." „Das neuste Prinzip also", erwiderte er ungerührt, obwohl ihn diese Mitteilung überraschte. Man hatte demnach die ungeheuren Materialschwierigkeiten überwunden und eine Möglichkeit gefunden, die gewaltige Wärme abzuführen und auszunützen, die bei diesem Verfahren entstand. „Das heißt, der Gedanke ist nicht neu", verbesserte er sich, „schon 1955 hat Professor Prokowski diese Möglichkeit vorausgesehen. Eine Million Volt Potentialdiffereaz... ein netter Fortschritt!" Lydia haßte ihn wegen des „netten Fortschritts". Er wurde der wirklichen Bedeutung nicht gerecht und tat die überwundenen Schwierigkeiten ab, als lohne es des Erinnems kaum. So wanderten sie durch die medizinische, die landwirtschaftliche, die technische und die physikalische Abteilung. Sie erklärte ihm neue Behandlungsmethoden gegen Krebs und Tuberkulose, die Herstellung künstlicher Lebensmittel aus anorganischen Stoffen, erzählte ihm vom pflanzlichen Stoffwechsel und der Erforschung des lebenden Eiweißes, die den Aufbau künstlichen Lebens ermöglichte, von Kunststoffen und künstlichen Diamanten - und errang doch nichts als kühle Fragen oder oberflächliche Scherze. Oder war es nicht oberflächlich, wenn er fragte, ob sie schon den Homunkulus in der Retorte erzeugt hätten... Sie mußte sich zusammennehmen, daß sie nicht erwiderte, sie habe ihn im Verdacht, das erste Stück der Null-Serie zu sein, aus Versehen ohne Blut. Sie war so ärgerlich, daß auch seine Feststellung sie nicht versöhnte, daß die künstlichen Diamanten der handwerklichen -148-
Goldschmiedekunst einen gewaltigen Aufschwung bringen würden, weil dann nicht mehr der Seltenheitswert des Edelsteins, den es nun in genügenden Mengen gab, sondern ausschließlich seine Verarbeitung ausschlaggebend sei. Diese Feststellung bewies, daß er sich eingehend mit den Dingen befaßte - auf diese Auswirkung war sie noch nicht einmal gekommen, obwo hl künstliche Diamanten für sie bestimmt nichts Neues waren. Zimmer auf Zimmer, Stockwerk auf Stockwerk blieb hinter ihnen zurück. Lydia freute sich auf das Ende der Besichtigung. Das konnte ja heiter werden, daß ausgerechnet sie mit ihm zusammenarbeiten mußte! Hoch oben im 38. Stockwerk betraten sie einen domartigen Saal, in dem Wissenschaftler an allerlei Geräten arbeiteten, von denen nur die Töne bezeugten, daß es Musikinstrumente waren. „Unsere Abteilung Elektronik, Gruppe Ton. Die Elektronik ist unser Patenkind oder - wenn Sie wollen - unser Steckenpferd. Sie besitzt für uns große Bedeutung." Lydia führte ihn an eine Elektronenorgel. Zurückhaltend betrachtete er das riesige flügelähnliche Gerät, in dessen Saitenkasten an Stelle der Stahlsaiten eine Unza hl von Transistoren glänzten, ähnlich kleinsten Rundfunkröhren in Fingerhutgröße. Ein Mann in weißem Kittel trat heran und erklärte bereitwillig: „In den Transistoren werden elektrische Schwingungen erzeugt, die in den Lautsprechern in akustische Schwingungen, also Schall, verwandelt werden. Es ist uns nun gelungen, das weiche Einschwingen der Orgelpfeifen zu kopieren und die Starre des Tones zu beseitigen. Wir entwickeln jetzt eine Elektronenorgel, die klangmäßig dem Freiberger Silbermann-Original entspricht Allerdings arbeiten wir mit einer Klangfülle von etwa 20 000 Pfeifen." Rainer folgte der Erläuterung des Wissenschaftlers, ohne sich -149-
um Lydia zu kümmern. „Vielleicht spielt Ihnen Doktor Schwigtenberg etwas vor. Sie ist Bayerns beste Bach-Interpretin!" schlug der Wissenschaftler vor. Sie winkte ab. Diesem Holzklotz vorspielen, den gewiß die technischen Einzelheiten mehr interessieren als die Musik, der womöglich jeden Ton mit der Vorstellung verfolgte, in welcher Röhre er zustande käme? Sich dann gar mit derselben unpersönlichen Kälte sagen lassen, sie spiele recht nett, obwohl er nichts davon verstand? Doch dann ritt sie der Teufel. Bach... was wußte dieser Eisblock davon, dieses wandelnde Gefrierfleisch! Wütend sah sie ihn an. Sie wollte ihn blamieren, daß er das Wiederkommen vergaß! Und als er höflich bat, fragte sie ebenso kühlherablassend: „Und welches Werk wünschen Sie zu hören?" „Präludium und Fuge in G-Dur von Bach, wenn ich bitten darf!" erwiderte er bestimmt und ließ sich in einen Sessel sinken. Präludium und Fuge in G-Dur, wie er das sagte! Tat so, als verstände er etwas davon. So ein Fatzke! Er würde sich wundern! Wortlos nahm sie an der Orgel Platz. Einige spielerische Anschläge, ein stilles Verharren mit geschlossenen Augen, dann entlockten ihre Hände dem Instrument eine Flut weicher, voller Töne. Rainer lauschte mit geschlossenen Augen. Im Spiegel, den sie für das Zusammenspiel mit ändern Instrumenten benötigte, beobachtete sie ihn. Jetzt hatte er plötzlich ein menschliches Gesicht, keine ironische Maske mehr. Vielleicht war er eingeschlafen! Na, wenn schon. Sie hob leicht die Schultern. Dann vergaß sie ihn, verlor sich in ihr Spiel. -150-
Jubelnd schwangen sich die Töne auf, glitten weich zurück, türmten sich brausend zu Tongebirgen, schufen hohe Gipfel und fielen sanft in sich zusammen. Rein fluteten die Töne in den Saal, erklangen zart wie ein Hauch und schwollen an zum klangvollen Sturm. Rainer wurde gepackt, diese Musik rührte ihn seltsam an. Sie drang ungehindert in das Innere, zersprengte die harte, spröde Schale, die er sich aufgezwungen hatte, um nicht das Innerste zu offenbaren, nicht das geheimste Wesen und Empfinden preiszugeben, das ihm als Schwäche erschien. Die brausenden Wogen des inneren Widerstreits, die ihn unter der kühlen Maske bestürmt hatten, glätteten sich. Ihm war, als entspanne sich ein Krampf, der den ganzen Körper befallen hatte. Der Unfall, die Besprechung und dann der innere Zwiespalt hatten seine Kraftreserven aufgezehrt, Körper und Geist die Grenze erreicht, an der sie jedem Zuviel mit Empfindungslosigkeit begegnen und jene gleichgültige Leere zurücklassen, die es ermöglicht, sich selbst als Fremden zu betrachten. Das machte für Rainer alles leichter und erträglicher. Er verstand sich selbst nicht mehr, es war doch alles so einfach! Weshalb war er befangen? Sie kam für ihn nicht in Frage! Klar war, daß er sich wie ein Elefant im Porzellanladen benommen hatte. Er hatte an einer Enttäuschung genug. Und selbst wenn... was nützten ihm derartige Gedankenspielereien? Sie gingen auseinander, Heilbert und Colmar blieben, vielleicht war sie schon gebunden... und daß ausgerechnet er Eindruck auf sie machen, er sie gewinnen... lächerlich! Als die Töne verklungen waren, blieb warmes, trauliches Schweigen. Er machte ihr nicht das gefürchtete Kompliment. Endlich begann sie leise, als schäme sie sich jetzt ihres Streiches: „Wie gefiel Ihnen das Präludium?" -151-
„Gar nicht, Fräulein Doktor!" antwortete er trocken. „Weshalb denn nicht?" fragte sie verblüfft und richtete sich auf. Daß er an Stelle des unerwünschten Kompliments abfällig urteilte, gefiel ihr noch weniger. Sie erhob sich unwillig und zwang ihn damit aus seinem Sessel. Ein Lächeln keimte in seinen Mundwinkeln. „Es konnte mir nicht gefallen, weil es unter den vielen Themen, die Sie variierten, nicht enthalten war. Dennoch bin ich für diesen Verzicht reich entschädigt worden." Beiläufig erwähnte er die vielen Themen einzeln, die sie verknüpft hatte, und legte dar, weshalb dieses und jenes ihm besonders gefiel. Sie preßte die Lippen aufeinander. Wie sehr hatte sie ihn unterschätzt! Glücklicherweise polterte der Wissenschaftler in die Stille: „Und hier haben Sie eine Weiterentwicklung des Trautoniums, das mit elektrischen Schwingkreisen arbeitet!" Er wies auf ein neues Gerät im Hintergrund. Froh über diesen Ausweg, erläuterte sie lebhafter als sonst: „Auf diesem Instrument können Sie Hunde bellen, Katzen jammern und Pferde wiehern lassen, können Töne erzeugen, die Sie keinem ändern Instrument entlocken können. Nach Bach ersparen Sie mir wohl die Vorführung?" Er nickte. Schrille Töne hätten ihn jetzt gepeinigt. „Mit dem Trautonium können Sie gleichzeitig mehrere Instrumente nachahmen und so ein Orchester vortäuschen. Damit wird auch die Orchestermusik zur Hausmusik. Außerdem ist es möglich, Magnetophonbänder unmittelbar zu bespielen. Wir übertragen die elektrischen Schwingungen direkt auf das Band - ohne den bisherigen Umweg über die Schallwellen!" Sie sprach schnell, um möglichst rasch über ihren mißlungenen Streich hinwegzukommen. Auf einem andern Instrument, das einem Schaltpult ähnelte, -152-
waren Metallsaiten ähnlich den Saiten einer Violine befestigt. Sie erklärte, daß mit diesem Gerät die Töne der alten Meistergeigen, vor allem der Stradivari, kopiert würden und damit der Nachwelt erhalten blieben. Daß das Spiel ferner verblüffend einfach sei, der auf den Saiten gleitende Finger verändere den Ton. Jetzt zeichnete sich in Rainers Zügen ein Staunen ab, das die Freude des Musikliebhabers verriet. Nun wandte er sich interessiert dem nächsten Instrument zu, einem schreibtischartigen Gerät, das in der Mitte mit einer Schreibmaschinentastatur versehen war. „Eine elektrische Schreibmaschine?" Sie überhörte diese Frage und bat ihn, listig lächelnd, eine der Tasten zu drücken. „Eine Selbstlauttaste, bitte!" Sie wollte ihn schon verblüffen! Seine kühle Sachlichkeit trieb sie aus ihrer Zurückhaltung. Das war ungewohnt - bisher war ihr derartige Gleichgültigkeit ihr gegenüber nie begegnet. Und hoffnungslos schien dieser Fall nicht zu sein - nach der Musik erschien er etwas zugänglicher. Lässig schlug er eine Taste an. Ihn konnte nichts mehr erschüttern. Dennoch fuhr er zusammen, als der angeschlagene Selbstlaut klar und deutlich im Lautsprecher ertönte. Er wählte einen anderen Selbstlaut, auch der erklang. Das war gelungen, aber es kommt noch besser, dachte sie siegesgewiß. Sie fand selbst Freude an der Vorführung, sah sie jetzt doch alles neu, mit seinen Augen, ihr war es schon selbstverständlich geworden. „Wenn Sie einen Mitlaut anschlagen, erklingt er im Zusammenhang mit dem zugehörigen Selbstlaut, also p als pe. Schalten Sie aber auf Sprache um, dann erklingt er nur im Zusammenhang mit dem gewählten Selbstlaut, beispielsweise p, a, p und a als Papa!" -153-
Wortlos schlug er einige Buchstaben an. „Hexe!" brüllte es aus dem Lautsprecher. Sie zuckte zusammen. Dieser Sachse war ja noch ungehobelter als der Urbayer Heilbert! Die Empörung trieb ihr das Blut in die Wangen, er bemerkte es mit Vergnügen. „So heißt unser neuer Wagen", sagte er gemessen. „Er wurde so getauft, bevor unser Werk das Vergnügen hatte, mit der Erfinderin des Gigantums zusammenzuarbeiten!" Sie musterte ihn skeptisch. Dann wandte sie sich wieder zur Tastatur, zeigte auf einen Knopf und sagte mit kindlichem Stolz: „Wenn Sie hieran drehen, dann verändert sich die Tonlage. Auf diese Weise können Sie künstlichen Gesang erzeugen!" „Das ist ja gräßlich!" stöhnte er entsetzt. „Haben Sie etwas gegen Gesang?" fragte sie unschuldig. „Künstlicher Gesang - das ist der Grabgesang der Kunst!" fuhr er auf. Sie lächelte verstohlen. Na also! „Sie sprechen große Worte sehr gelassen aus!" stichelte sie spöttisch. „Und Sie spielen Bach und lassen die Kunst zertrümmern?" Sie lachte und legte mit einer bezwingenden Gebärde ihre Hand auf seinen Arm. Seinen Ohren entging es nicht, daß in ihrem Lachen kein Spott, nur ehrliche Heiterkeit lag. „Sie wird ja gar nicht zertrümmert, wackrer Tempelwächter der Kunst! Dieser Sprachbildner ist nur für Sprach- und Stimmenforschung gedacht und kann niemals das menschliche Gefühl ersetzen. Man merkt Ihnen die Kunststadt Dresden an!" „Immerhin ein Trost. Eines Tages wird auch unser Gefühl maschinell imitiert, dann bleiben die Liebesgeständnisse diesen Apparaten vorbehalten", sagte er ironisch und fügte leise hinzu: „Vielleicht ist es auch besser so." „Welch ein Widerspruch, Herr Hausberg! Den Gesang -154-
wünschen Sie mit Gefühl, Liebesgeständnisse dagegen, meinen Sie, kämen ohne Gefühl aus?" rief sie belustigt. „Ob natürlich oder maschinell - wo liegt da ein Unterschied? Doch höchstens darin, daß die Maschine nicht heucheln kann...", erwiderte er. Der Betriebsfunk erzwang ihre Aufmerksamkeit und ersparte ihm, seine Behauptung zu begründen, auf die er sich unüberlegt eingelassen hatte. „Doktor Schwigtenberg bitte zum Projekt Feuerpfeil!" „Kommen Sie, Herr Hausberg, ein interessantes Kapitel, unser eigenwilliges Sorgenkind!" Schnell durchliefen sie den Gang, schlüpften in einen Fahrstuhl, fielen in rasender Fahrt durch die Stockwerke, sahen die Leuchtzahlen der einzelnen Stationen vorüberfliegen und fühlten einen beklemmenden Druck im Leib. Ehe er sich versah, wurde der Fall gehemmt, fühlte er plötzlich ein Riesengewicht auf seinen Beinen, daß er fürchtete, durch den Boden hindurchzutreten. Dann hielt der Fahrstuhl. „Schon unten?" fragte er, noch unsicher auf den Beinen. Sie lachte über sein verzerrtes Gesicht. „Wir sind noch tiefer als unten! Nämlich fünf Stockwerke unter der Erde", erklärte sie, öffnete die Tür und fuhr fort: „Das ist unser unterirdischer Bahnhof!" Überrascht blickte er sich um. Sie betraten einen großen Raum, dessen mattenbedeckter Boden trotz der Kahlheit der Wände keinen Bahnsteig vermuten ließ, wenn nicht seitwärts dunkle Stollen ihren Rachen drohend geöffnet hätten, in die blinkende Gleise hineinliefen. „Das erinnert an die Vogelwiese: Auf zur Geisterfahrt! Aber wo bleibt denn der Luxuszug?" spottete er und schluckte das unbehagliche Gefühl, wie ein Blinder in unbekannte Regionen zu treten, hinunter. Gespannt wartete er, was nun weiter -155-
geschehe. „Hören Sie selbst!" forderte sie. Er lauschte. Aus dem rechten Schacht drang hohl das Grummeln eines noch fernen Fahrzeugs. „Haben Sie regelmäßigen Zugverkehr?" fragte er und starrte in den Schacht. „Das lohnte sich nicht. Normalerweise steht hier ein Fahrzeug bereit; ist es unterwegs, dann wird ein andres angefordert." „Angefordert? Ich habe doch gar nicht bemerkt, daß Sie..." „Nein, ich habe keins bestellt", unterbrach sie, „das waren Sie selber!" „Ich? Sie scherzen!" „Haben Sie nicht als erster den Raum betreten? Sehen Sie! Am Eingang befindet sich eine bewegliche Kontaktplatte, wer sie betritt, ruft automatisch den Wagen!" Da tauchte ein Licht auf aus dem Schacht. Ein stromlinienförmiger Wagen mit zwei Türen fuhr heran, bremste und hielt. Kaum hatten sie den Wagen betreten, da schlössen sich die Türen, und er fuhr an. Die starke Beschleunigung ließ Rainer taumeln. Er verlor das Gleichgewicht, wurde unwiderstehlich zurückgerissen und landete auf Lydias Schoß, ohne sich erheben zu können, da die Beschleunigung weiter anhielt und ihn an sie preßte. „Verzeihung!" ächzte er verlegen. „Sind Sie immer so stürmisch?" fragte sie erheitert. „Der Ruck", stammelte er, „die Beschleunigung, ich..." Da verlor sich der Druck und gab ihn frei. Taumelnd erhob er sich und setzte sich wieder auf seinen Platz. Donnerwetter, das hätte schiefgehen können! Er war neugierig, was sie von ihm dachte, „Versuchen Sie ja nicht, sich -156-
auf die Maschine herauszureden!" sagte sie lachend. „Ein erfahrener Ingenieur, und läßt sich umwerfen!" Er zögerte. Sollte er etwas Persönliches darauf erwidern? Sie war wieder so kühl und überlegen wie in der Besprechung. Gewiß lachte sie ihn aus. Nein, er mußte sachlich bleiben, den Techniker herauskehren, den nichts aus der Ruhe bringen kann. Das würde ihn vor ihrem Spott schützen. Der Wagen bremste, und Lydia mußte alle Geschicklichkeit aufbieten, um nicht ihrerseits auf seinem Schoß zu landen. Sie hielten unter einer hohen Glaskuppel, aus der vier fernrohrartige Geräte ihre riesigen Rohre gegen dunkle Wolken richteten, die vom Westen her aufzoge n. Zwischen den Rohren ruhte ein gewaltiger Reflektor. Rainer hatte vieles gesehen, interessierte sich für die verschiedenartigsten technischen Entwicklungen, dennoch gelang es ihm nicht, diese Geräte einzuordnen. „Die Wetterstation!" erklärte die Doktorin und wies ihm einen Sessel an, von dem aus er die gesamte Anlage überblicken konnte. Da saß er nun; ratend und beobachtend mühte er sich vergebens, die Vorgänge zu erklären. Wozu war er Ingenieur geworden, wenn er dabeisitzen mußte wie ein Lehrling, sich lediglich einige äußere Erscheinungen erklären konnte, hier ein Meßgerät, da einen Apparat - ohne deshalb einen Überblick zu gewinnen? Es schien eine eilige Sache zu sein. Kein Mensch kümmerte sich um ihn, er blieb sich selbst überlassen. Das Mädchen und zwei Kollegen - sie waren ihm in der Eile nicht einmal vorgestellt worden - liefen geschäftig zwischen den Geräten einher, richteten die Rohre, betätigten Schalter und Regler und beobachteten Meßinstrumente. Nichts hätte ihm deutlicher ihre Stellung im Institut vor Augen führen können als diese weißbekittelten Männer, die nach ihren Weisungen die Geräte steuerten, als die Anweisungen, die sie durch ein Mikrophon an -157-
die verschiedensten Stellen gab, die irgendwo in der Nähe oder Ferne, unter oder über der Erde mit diesem rätselhaften Geschehen verknüpft waren. Ob dieses schöne Mädchen auch derart verwirrt im Sessel sitzen würde, wenn er ihr einen Triebwerksversuch vorführte? Sicher nicht, denn Triebwerke waren bekannt, ein alter Schuh, den man höchstens noch modernisieren und aufpolieren konnte. Er verspürte ein Bedauern, das nicht weit vom Neid entfernt war. Mein Gott, was war nur mit ihm los? Er sprang auf und schritt auf die Apparaturen zu. Daß er nicht gleich darauf gekommen war! Sicher ließ sich aus den Überwachungsgeräten der Verwendungszweck der Anlage erraten. Na also, da lichtete sich schon der Schleier! Voltmeter, Amperemeter... Entsetzt starrte er auf die Zeiger. Das war unmöglich... das konnte nur eine Täuschung sein. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder - dasselbe Bild! Das waren doch Energien, die ein richtiges Gewitter vor Neid erblassen ließen! Was wollte man damit? Wohin führten die Kabel? Sie wälzten sich dick und gepanzert zu den... zu den Rohren? Einer von Lydias Kollegen bat ihn mit einer Handbewegung zurückzutreten. Verstört warf er sich wieder in den Sessel. Die Langrohre wurden auf die dunkle Wolke gerichtet. Sie war unheimlich rasch gewachsen, überspannte schon mehr als ein Viertel des Himmels. Jeden Augenblick mußte sich das Unwetter entladen. Drohend hing das unheilschwangere, verwaschene Grau über der gläsernen Kuppel. Diese gewaltige Energie - was hatte es für eine Bewandtnis damit? Was waren das für komische Rohre, die derartige Energiemengen verschluckten? Halt... Wetterstation und Energie - das war es, das war der Schlüssel! Na also, doch kein Lehrling! -158-
Selbstgefällig lehnte er sich im Sessel zurück und beobachtete nun mit wissenden Augen die Vorgänge. „Schallwerfer einschalten!" drang Lydias Stimme herüber. Er blickte sich um und sah nicht weit von der Wetterstation eine zweite Glaskuppel, auf der sich ebenfalls ein riesiger Reflektor und vier Langrohre der Wolkendecke zuwandten. Da, links und rechts, überall im Gelände verstreut standen solche Glaskuppeln, überall richteten sich Reflektoren und Langrohre auf die Wolke. Urplötzlich begann es zu regnen. Dicke schwere Tropfen knallten auf das Glas und zerspritzten zu sprühendem Wasserstaub. Ein Blitz flammte auf und fuhr in vielfachen Verästlungen zur Erde. Dröhnend folgte der Donner, die Scheiben klirrten. Rainer beobachtete gefesselt das infernalische Schauspiel. Da erklang Lydias Stimme ruhig und unberührt in die folgende Stille: „Fertig?" „Fertig!" bestätigten die Männer. „Achtung... frei!" rief sie. Rainer wartete auf... ja, auf was denn? Auf ein Krachen, Bersten, Heulen, auf irgend etwas Gewaltiges! Doch nichts geschah. Nicht einmal ein Blitz zuckte mehr hernieder, kein Donner erschütterte das Glasgebäude. Nur der Regen rauschte, und die Reflektoren der Schallwerfer spielten hin und her, während die Langrohre wie mahnende Zeigefinger unbeweglich aufragten - wie er es bei den nächstliegenden Stationen gerade noch durch den Regenschleier erkennen konnte. Doch... etwas geschah, etwas veränderte sich. Eine grelle rote Lampe leuchtete auf, und ein starker Ozongeruch breitete sich aus. Rainer wollte sich erheben, um die Meßgeräte zu betrachten. Man war also schon weiter, als er glaubte, das Ungeheuerliche war Wirklichkeit geworden? -159-
Zu den Meßgeräten! Sie konnten es bestätigen! „Bitte bleiben Sie sitzen, Herr Hausberg!" forderte Lydias Stimme freundlich. „Beobachten Sie den Himmel!" Vorerst sah er nichts als strömende Wassermassen, als einen respektablen Wolkenbruch. Draußen mußte das Wasser kniehoch stehen. Doch dann wurde der Himmel hinter dem Vorhang heller, der Vorhang selbst lichter, das Trommeln des Regens verklang. Bald war nur noch ein leichter Wolkenschleier zu sehen, der nicht einmal unfreundlich wirkte. Hier und da brach sich die Sonne Bahn und leckte gierig nach den großen Seen, die sich in der Umgebung gebildet hatten. „Nun haben Sie giesehen, wie man Wolken melkt!" sagte sie lächelnd, als sie wieder vor ihm stand. „Sie vereinigen oder besser die kleinen Tröpfchen der Wolken zu großen Tropfen ohne Schwebefähigkeit?" „Richtig! Und wir bauen der Spannung der Gewitterwolken eine Elektronenbrücke, auf der sie sich mit der Erde ausgleichen kann." „Und wozu soll das gut sein? Wollen Sie ängstlichen Gemütern die Aufregung ersparen?" fragte er scherzend. „Durch den Spannungsaus gleich ohne Blitz können wir große Städte und vor allem elektrische Kraftwerke schützen, hauptsächlich aber gewinnen wir auf die Wetterbildung überhaupt Einfluß. Beim jedoch liegt der Vorteil auf der Hand..." „Landwirtschaft und Stauseen der Wasserkraftwerke!" warf er ein. Sie sollte ruhig merken, daß er im Bilde war. „Aber dieses Melken, wie Sie sagen, müßte wenigstens im Bereich der Landwirtschaft etwas sanfter geschehen!" „Auch das kommt noch, wir sind ja noch im Versuch!" begütigte sie. -160-
Der gelungene Versuch und ihr sicheres Auftreten ließen für ihn das Frauliche ihrer Erscheinung zurücktreten. Er sah nur noch die Kollegin. Das machte ihn unbefangener. Nun hatte er diese blödsinnigen Empfindungen endlich überwunden. In angeregter Unterhaltung fuhren sie zurück, und Lydia gewann Gefallen an seiner aufgeräumten Art. Einen solch trockenen Humor hatte sie nicht in ihm vermutet. Weshalb er nur so reserviert gewesen war? Mußte er erst warm werden, ehe er aus sich herausging? Daß plötzlich mitten im Tunnel der Wagen hielt und das Licht erlosch, störte nicht ihre heitere Stimmung. Eine Weile blieben sie im Dunkel sitzen, wechselten Vermutungen über den Grund des unfreiwilligen Aufenthalts und warteten auf die Weiterfahrt. Dann erhob sich Lydia. Eine weiche Hand tastete über seinen Kopf, seine helfende Hand streifte ihre Brust, zog sich verlegen zurück, dann hatte Lydia sich zurechtgefunden und öffnete die Verbindungstür zum ferngelenkten Fahrstand. Er sann über den Augenblick nach, fühlte noch den Stoff ihres Kleides und fragte sich, ob er nicht ein Trottel gewesen sei. Da wurde Licht, hell und klar lag das Abteil vor ihm, klar wurde es auch in seinem Innern. Es hatte keinen Sinn! Plötzlich ruckte der Wagen an. Er erhob sich und trat durch die Verbindungstür. Sie stand am Fahrstand und bediente die Schalthebel. Der Wagen stürzte sich mit hoher Geschwindigkeit in das Ungewisse Dunkel des Tunnels. Die Scheinwerfer entrissen ihm vorüberhuschende Wände und dunkle Nischen, erweckten sie zu lebender Wirklichkeit und ließen sie wieder vergehen. „Die Stromzufuhr ist unterbrochen, ich fahre mit der Batterieanlage!" Am Bahnhof wurden sie vom Schaltmeister des Fahrdienstes empfangen. -161-
„Der Hambita, das Biest, ist zwischen die Schaltanlage geraten! Wenn man ihm nur mal den Hintersten versohlen könnte! So ein Lauser!" rief er ihr bekümmert entgegen. Sie lachte hell. „Sehen Sie, Herr Hausberg, wir haben auch Sorgen! Der Affe macht nichts als Dummheiten! Aber mir geschieht ganz recht, weshalb habe ich ihn so verwöhnt." Rainer war verwirrt. Es handelte sich offensichtlich um ein Kind, einen Jungen... um ihr Kind! Und dazu paßte der Ausdruck Affe nicht! Bei aller Toleranz, er paßte wirklich nicht. Und der Schaltmeister schien das nicht einmal zu empfinden. Hambita - eine ulkige Verzärtelung; von Kindererziehung schien man hier wenig zu verstehen. „Haben Sie ihn schon erwischt?" fragte sie den Meister, und als er nickte, setzte sie hinzu: „Schließen Sie ihn ein! Und wenn er noch so bettelt, er bleibt hinter Schloß und Riegel!" Und das sagte sie lächelnd! Kein Verständnis für eine zarte Kinderseele! „Wie alt ist denn der Junge?" fragte Rainer vorwurfsvoll. „Der Affe ist sechs!" Rainer unterdrückte nur mühsam eine Erwiderung. „Mit sechs hat er noch kein rechtes Verständnis für Dummheiten!" verteidigte er den Jungen. „Ein Affe hat überhaupt kein Verständnis für Dummheiten, Herr Hausberg! Es ist Neugierde, Schimpansen sind nun mal so!" „Schimpansen?" fragte er gedehnt, maßlos überrascht. „Allerdings, was dachten Sie denn?" Dann erfaßte sie den Zusammenhang und lachte Tränen, dieses Lachen steckte an, und bald schüttelten sich alle drei. „Herr Hausberg, Herr Hausberg, Sie haben ja ein schönes Bild von mir!" rief sie, noch immer vom Lachen unterbrochen, als sie mit dem Fahrstuhl aufwärts fuhren. -162-
„Im Gegenteil, Fräulein Doktor! Ich wußte dieses Bild und das Mißverständnis nicht in Einklang zu bringen!" „Dann war das Bild vor dem Affen ungetrübt?" „Völlig ungetrübt!" bestätigte er. Waren Frauen neugierig! „Davon habe ich aber nichts gemerkt", sagte sie hintergründig und verließ den Fahrstuhl.
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Die Hexe machte ihrem Namen alle Ehre. München lag längst hinter ihr. Mit 380 Kilometer Stundengeschwindigkeit stürmte sie über den Beton der Autobahn und ließ schnaufende Wagen hinter sich zurück, die sich vergebens mühten, mit ihr Schritt zu halten. Die Nachmittagssonne warf blendende Helligkeit auf den Beton. Flimmernd brodelte die Luft über ihm und verzerrte die Konturen auftauchender Wagen ins Groteske. Dicht über dem Boden löschte die kochende Luft die Konturen völlig aus, so daß es schien, als schwämmen die Wagen ohne Fahrwerk in der Luft. Ermüdend drückte die Hitze auf die Landschaft, ließ selbst die Tiere in der Treibhausschwüle des Waldes schweigen, dessen grüne Dämmrigkeit die Bahn wie eine Schlucht durchschnitt, und trieb den Menschen auf den Kartoffelrodemaschinen der umliegenden Felder perlende Schweißtropfen auf die Stirn. Rainer spürte nichts von der Hitze, die Klimaanlage funktionierte, und der silberne Kunststoffleib der Hexe warf den größten Teil der sengenden Strahlen zurück. Er lehnte im Polster und starrte nach vorn. „Lydia Schwigtenberg", hieß sie, das hatte er an ihrer Tür feststellen können. Lydia, ein klangvoller Name und ein tolles Mädchen, man wußte nicht recht, was man aus ihr machen sollte. Einmal war sie sachlich, nüchtern und von kühler Würde, dann wieder war sie ihm verträumt erschienen, weich und fraulich... dabei hatte sie etwas Frisches, Verwirrendes an sich. Auch spöttisch konnte sie sein, daß es sprühte. Er fand sich nicht zurecht. Aber wer kannte sich schon bei Frauen aus? - Und was ging es ihn an? Mochte sich Heilbert den Kopfzerbrechen! -164-
Jedenfalls wollte er ihr beweisen, daß die Dresdener Techniker auch keine Pappfiguren waren! Unter allen Umständen würde er versuchen, die Betreuung des Instituts und die Entwicklung geeigneter Triebwerke zu übernehmen. Als staunendes Fragezeichen wollte er nicht noch einmal vor ihr sitzen. Und die Hexe würde er auf Gigantum umstellen, mochte es kosten, was es wollte... Sie zweifelte daran, daß Gasturbinen ohne große Schwierigkeiten umgestellt werden könnten? Nun gut, er würde es ihr beweisen! Vor ihm huschte das Streifenflugzeug der Verkehrspolizei über die Bahn. Sofort schob sich der Antennenmast der Hexe über die Karosserie, stob ein Funkspruch hinter dem Düsenflugzeug her. „Hier die Hexe der Raketa-Werke. Wärmsten Gruß den weißen Himmelsmäusen l Wissen die Verkehrsgötter Näheres über Verunglückten?" Das Düsenflugzeug kam zurück und zog weite Kreise über ihm. „Hier die weißen Mäuse. Gruß der Betonratte dankend erwidert. Verunglückter außer Lebensgefahr. Erbitten Tachometerkontrolle!" „Tachometer zeigt 380 Stundenkilometer." „Stimmt auffallend. Verkehrsgötter sind erschüttert über Geschwindigkeitskonkurrenz der Landratten. Bitten Geschwindigkeitsbegrenzung am Abzweig Zwickau zu beachten! Wünschen weiterhin gute Fahrt!" Noch einmal heulte das Düsenflugzeug im Tiefflug über die Hexe hinweg, dann löste es sich im gleißenden Sonnenlicht auf. * In den Raketa-Werken hatte längst die Sirene den Arbeitstag -165-
beendet, als Rainer in München abfuhr. Die Betriebsangehörigen tummelten sich im Wasser der Wellenbäder, bummelten durch die duftenden Rosenrabatten der städtischen Grünanlagen oder beschäftigten sich mit den tausend Dingen, die nach der Arbeit Freude bringen. Chefkonstrukteur Schreyer hingegen - durch Funkspruch von Rainers Rückkehr unterrichtet - wartete an der langen Werksgarage. Nach der Begrüßung erhielt Rainer einen Verweis, daß er noch am gleichen Tage zurückgekehrt war. Rainer ließ ihn gelassen über sich ergehen. Dann faßte ihn Schreyer um die Schultern. „Mann, was haben wir für Angst ausgestanden, als Sie plötzlich verschwunden waren!" Auf Rainers fragenden Blick ergänzte er: „Natürlich haben wir Ihre Fahrt am Bildschirm verfolgt Im übrigen hat Staatssekretär Hänlein bereits telefonisch mit mir gesprochen..." „Weiß er denn...?" „Natürlich weiß er! Er hat es erfahren. Weshalb aber, in drei Teufels Namen, Hausberg, weshalb haben Sie ihm den Grund der Verspätung nicht mitgeteilt?" „Ich habe mich mit dem Unfall entschuldigt!" widersprach Rainer kurz. „Nun ziehen Sie sich nicht gleich wieder ins Schneckenhaus zurück! Hänlein läßt Ihnen durch mich seinen Dank aussprechen, und ich kann hinzufügen, daß er mit Ihnen sehr zufrieden war. Auch wir danken Ihnen! Die Verhandlungen hätten wir nicht besser führen können. Sie übernehmen die Triebwerkabteilung Gigantum. Lassen Sie mich aussprechen!" wehrte er Rainers Erwiderung ab. „Zu Ihrer Abteilung gehören die Ingenieure Bräuner, Selbmann und Rother, ebenso die Teilkonstrukteurin Heymer. Aber darüber morgen", unterbrach er sich. „Erst mache ich Ihnen Vorwürfe, daß Sie sich die Rückfahrt noch zumuteten, und jetzt fange ich eine dienstliche -166-
Besprechung an. Kommen Sie, Hausberg, feiern wir Ihre Ernennung, die Rückkehr und was weiß ich noch, jedenfalls trinken wir eine Flasche Wein!" „Eine gute alte Flasche!" stimmte Rainer zu, der Schreyers Vorliebe für uralten Wein kannte. „Der Louisenhof auf dem Weißen Hirsch hat noch 1955er Rüdesheimer. Das Zeug ist nichts wert!" „Eben, das muß schleunigst weg!" bestätigte Rainer lachend. Es wurde ein fideler Abend. Nach der dritten Flasche - sie waren im Jahrgang bereits zehn Jahre weiter gekommen - verstand Rainer schon nicht mehr, weshalb er sich bis her hinter Büchern vergraben hatte. Vom allgemeinen Frohsinn angesteckt, nützte er eine Unterhaltung Schreyers mit einem Bekannten und gab dem Locken der Tanzkapelle nach. Ihm kam nicht wie sonst der Gedanke, ob er wohl einen Korb bekäme, ganz selbstverständlich holte er sich ein schlankes Mädchen und mischte sich unter die tanzenden Paare. Übermütig preßte er das Mädchen an sich und wirbelte mit ihr über die Diele. Bei der scherzhaft leichten Unterhaltung, die ihm wie von selbst über die Lippen floß, bei den fließenden Bewegungen des Tanzes wurde ihm plötzlich eines klar: Er war doch ein Trottel! Diese Lydia. Und er hatte sie ohne jedes persönliche Gespräch den beiden Doktoren zurückgelassen. Erfahrungen? Was war das schon? Jeder Mensch war anders... Mußte Lydia so sein, wie die Mädchen bisher? Und überhaupt, hatten Erfahrungen der Vergangenheit eindeutig erwiesen, daß die Schuld bei den Mädchen lag? Oder lag sie in der Endkonsequenz in seinem Verhalten? Sollte man gerechterweise die Schuld nicht immer zuerst bei sich selber suchen? Er bemerkte den verwunderten Blick seiner Partnerin, nahm ernüchtert die Unterhaltung wieder auf und begleitete sie dann -167-
an ihren Tisch. Zurückgekehrt, berief er sich auf seine Ermüdung und bat Schreyer, ihn zu entlassen. Lydia saß daheim am Fernsehempfänger und verfolgte mit geteiltem Interesse eine Sendung des Landfunks. Ihre Gedanken waren nach der abendlichen Unterhaltung über das Tagesgeschehen längst wieder zu einem Problem zurückgekehrt, das sie seit einigen Tagen besonders bewegte. Während eines Versuches auf dem Freigelände war bei der Explosion einer Röhre ein strahlendes Präparat der technischen Abteilung verstreut worden. Nach einiger Zeit zeigte sich auf den bestreuten Flächen ein üppiger Pflanzenwuchs. Die Untersuchung ergab, daß die Strahlung ein starkes Wachsen der Zellen und eine schnelle Teilung derselben hervorrief. Planmäßig unternommene Versuche brachten überraschende Erfolge. Konzentrierte man die Strahlung auf bestimmte Zellen, dann konnte man den Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht bringen, es entstanden an dieser Stelle Wucherungen, da der Abbau der Zellen mit dem Neuaufbau nicht Schritt halten konnte. Sie hatten Pflanzen beschädigt und die verletzten Stellen mit diesen Strahlen behandelt - in kurzer Zeit waren sie geschlossen, verheilt! Sie hatten Fleischwunden bei Ratten bestrahlt und ebenfalls eine schnelle Heilung erzielt, allerdings waren Wucherungen rings um den Schnitt entstanden, aber der Beweis der Beschleunigung des Heilens war erbracht! Noch war das Verfahren nicht kontrollierbar, aber einmal mußte es auch für den Menschen Anwendung finden können. Nur wie? Eine Bestrahlung von außen kam wegen des Wachstums der gesunden Stellen im Strahlungsbereich nicht in Frage. Namentlich bei Knochenverletzungen würde das gesamte Fleisch ringsum wuchern und zu bösen Entstellungen führen. Auch eine Peilbestrahlung, bei der die benötigte Strahlenenergie auf mehrere Strahlungsquellen verteilt wurde, die ihre -168-
gebündelten Strahlen erst an der verletzten Stelle vereinigen wie sich kreuzende Scheinwerfer am Flugzeug, versprach nicht den gewünschten Erfolg. Aber wie... Wie konnte man anders die Strahlen heranführen, ohne das gesunde Gewebe zu übermäßigem Wachstum zu bringen? Der menschliche Körper führt alle verfügbaren Abwehrstoffe zur verletzten Stelle, die Phagozyten strömen aus sämtlichen Körperteilen zur Wunde und nehmen den Kampf mit den Bakterien auf. Wenn es gelänge, diesen Blutkörperchen eine strahlende Ladung mitzugeben, so würde sich diese erst an der Wunde zur erforderlichen Intensität vereinigen! Fragen über Fragen, auf die man noch keine Antwort fand. Fragen, die schlaflose Nächte brachten, in denen man grübelte und kombinierte, sich oft am Ziel glaubte, um dann am Morgen festzustellen, daß man im Gedankenflug einige wichtige Details übersehen hatte. Fragen, die Kräfte kosteten, deren Klärung Monate benötigte - Monate, in denen es Stunden gab, die wie ein Abgrund schienen. Man sah hinter der bodenlosen Kluft keine Fortsetzung des Weges, sah nicht mehr das Ziel. Dann wünschte man sich Ruhe, wünschte, irgendwo auf einer Terrasse im Liegestuhl zu liegen und zu dösen. Richtig zu dösen, ohne jeden Gedanken, mit entspannten Gliedern... Der Arzt sagte dann wohl: Erschöpfung! Darum ging man besser gar nicht erst zum Arzt, denn gewöhnlich folgten diesen ausweglosen Stunden Wochen der angespannten Arbeit wegen eines Lichtblicks, der wie ein Blitz in das Gedankendunkel fuhr. Oder es kam eine neue alarmierende Nachricht wie damals, als in Grönland die neue Infektionskrankhe it ausbrach. Seit Monaten wütete sie, vornehmlich unter jungen Menschen. Eine progressive Lähmung, deren Krankheitsverlauf auf die Stunde genau vorauszubestimmen war. Und hier schien es keine Hilfe zu geben, die Seuche wütete in den neuen Großstädten Grönlands und raffte die Opfer hinweg wie die Sense des Schnitters, die unter die Halme fährt. Was blieb hier zu tun? -169-
Die mit dieser Seuche infizierten Ratten der medizinischen Abteilung starben, ohne daß es über die radioaktive Stoffwechselforschung gelang, die geheimnisvollen Ursachen zu finden. Keine krankhafte Veränderung der Organe konnte festgestellt werden. Die sterbenden Ratten erinnerten die Forscher jedoch an den qualvollen Tod der Menschen im hohen Norden, denen keines der Institute eine Rettung zu bringen vermochte. Forschungskommissionen der verbündeten Staaten hatten den Kampf am Seuchenort aufgenommen - doch was nützte der Kampf mit blanker Faust, ohne jede medizinische Waffe? War er nicht ein Kuckucksduell, bei dem der Gegner unsichtbar, man selbst jedoch mit Leuchtfarbe kenntlich gemacht war? Lydia vergrub den Kopf in beide Hände und stöhnte auf. Frau Schwigtenberg, ihre Mutter, mittelgroß, leicht gebeugt, schob das Abendbrotgeschirr auf das Fließband des gläsernen Spülschranks. Langsam wanderte es durch die Schleuse, durchlief die Spülbrausen, die Luftdusche und verließ spiegelblank und trocken den Schrank. Ohne den Blick zu wenden, fragte sie leise, mit warmer Stimme: „Ohne Grübeln geht es wohl nicht, Lydia? Langt es nicht, wenn du dir im Institut den Kopf zerbrichst? Früher haben wir abends gespielt oder vorgelesen, jetzt sitzt du und grübelst oder rechnest. Einmal muß das doch ein Ende haben!" Lydia entsann sich gern der gemeinsamen Abende, wenn sie mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem Bruder beisammengesessen und gelesen, gespielt oder dem Fernsehfunk gelauscht hatte. Früher war Vater dabei, damals waren die Abende recht lustig gewesen - als Vater dann einem Blutsturz zum Opfer fiel, wurde es schon einsamer. Nun waren Rolf und Sibylle verheiratet... Blutsturz, ob man da mit den neuen Strahlen nicht auch helfen konnte? „Du solltest öfter einmal ausgehen, Lydia, den ganzen -170-
Betriebskram vergessen", mahnte Frau Schwigtenberg, als Lydia schwieg. Lydia lachte mit leiser Ironie. Als sei das so einfach! Einen Hebel drehen, schon schweigt das Gehirn l Dann erwiderte sie, noch immer lächelnd: „Ausgehen? Wohin denn? Übrigens gehe ich wöchentlich einmal in die Oper. Tennisspielen gehe ich auch, was soll ich denn noch unternehmen?" „Mal tanzen gehen! Andere Mädchen gehen auch." „Erstens liegt mir nicht viel am Tanz, jedenfalls nicht so viel, daß ich allein ginge..." „Wenn du nicht alle Einladungen abschlügest, brauchtest du nicht allein zu gehen", beharrte Frau Schwigtenberg. „Etwa mit Colmar oder Heilbert?" wehrte Lydia ab. „Sie sind ja ganz nette Kollegen, aber ausgehen? Sie machen mir so schon genug den Hof... Am Ende leiten sie Rechte daraus ab!" Frau Schwigtenberg setzte das Geschirr in den Schrank, dann zog sie sich einen Sessel heran und setzte sic h zu Lydia. „Wenn du so weitermachst", sagte sie bekümmert, „sehe ich schon kommen, daß du sitzen... daß du allein bleibst. Die Jugend ist bald vorbei!" „Ich verstehe dich nicht! Weshalb sollte ich nicht allein bleiben?" fragte Lydia ruhig. „Lydia", begehr te Frau Schwigtenberg auf, „willst du keine Mutter sein?" „Wir sprachen nicht vom Wollen und nicht von Kindern! Wir sprachen vom Ausgehen und von Männern! Natürlich will ich einmal Kinder haben!" „Ohne Mann dazu?" rief Frau Schwigtenberg entsetzt. „Wenn es sein muß, ja", erwiderte Lydia unberührt und bestimmt. „Lieber ist mir Mann und Kind - aber einen Mann, den ich nicht liebe? Nein! Die Versorgung steht heute nicht mehr im Vordergrund wie früher." -171-
„Lydia!" fuhr Frau Schwigtenberg zitternd auf. „Dich meine ich nicht, Mutter, du hast Vater geliebt, aber so viele Frauen deiner Generation haben geheiratet, weil sie vor allem versorgt sein wollten.- Oder sie priesen ihre materiellen Vorteile an, um unter allen Umständen einen Mann zu bekommen. sie boten sich an wie käufliche Ware!" „Was seid ihr nur für eine Jugend, Lydia! Ein Kind, ohne Mann dazu?" Frau Schwigtenberg sah ihre Tochter verstört an. Das sagte Lydia, die das doch gewiß nicht nötig hatte! „Lassen wir das, Mutter!" versuchte Lydia das Thema zu beenden. „Da hatten wir früher doch andere Ansichten", bemerkte Frau Schwigtenberg etwas bitter. „Die hattet ihr allerdings!" bestätigte Lydia trocken und erhob sich. Aus ihrem Schrank nahm sie eine Wochenschrift. „Ich habe hier eine Zeitschrift von 1954, ich fa nd sie unter Vaters Sachen. Wahrscheinlich interessierte ihn eine Debatte über künstliche Erdtrabanten, die wir heute längst haben, obwohl sie damals noch angezweifelt wurden. Auf der letzten Seite ist unter folgendes zu lesen: Und was hier noch für »Vorzüge« stehen. Gibt es etwas Widerlicheres als diese Anpreisung? Wenn du den Betrieb haben willst, dann mußt du mich mit in Kauf nehmen? Und hier: »Suche jg. Dame, hübsch, intelligent, und so weiter, zwecks späterer Heirat, Bedingung: Eigene Wohnung!« Oder hier: »Junge Dame sucht intelligenten Akademiker mit Auto und Eigenheim!« Und das ist noch nicht das Schlimmste; bitte: »Welcher junge Mann nimmt meinen Wagen und mich für Lebenszeit?« Nur materielle Gründe - nichts von Liebe! Willst du sagen, Mutter, daß diese Ansichten besser waren, als unsere es sind?" Sie klopfte auf die entfalteten Seiten. „Wir verkaufen -172-
uns nicht! Haben wir es wirklich nötig, darauf zu warten, daß uns irgendeiner nimmt? Wir haben es nicht einmal nötig, darauf zu warten, daß sich der geliebte Mann besinnt!" Lydia setzte sich wieder. Die Mutter schob die Zeitschrift ungelesen zurück. „Um Gottes willen, Mädel, hör auf! Am Ende sprichst du noch dafür, daß die Frauen die Männer zum Tanz holen?" „Weshalb eigentlich nicht?" Lydia geriet in Erregung. „Und das gilt nicht nur für den Tanzsaal!" „Willst du etwa einem Mann eine Liebeserklärung machen?" Frau Schwigtenberg machte große Augen und verhielt den Atem. „Auch das, wenn es sein muß! Allerdings auf weibliche Art, denn Frauen wollen wir letztlich bleiben - und ich denke, wir besitzen noch denselben weiblichen Charme wie früher, wissen unsere weiblichen Waffen genau wie früher zu gebrauchen." „Was für Ausdrücke hast du dir angewöhnt!" stöhnte Frau Schwigtenberg und schwieg verletzt. Lydia lächelte versonnen. Schön war es schon, wenn der Mann sich erklärte, wenn er die Frau umwarb - aber wie Ware auf einen Käufer warten? Sollte sie sich nicht bei einem geliebten Mann geborgen fühlen und nach der harten und verantwortungsvollen Tätigkeit im Beruf nur Frau sein können? Hatte sie nicht ein Recht darauf, das Gefühl der Verbundenheit kennenzulernen? Aber das konnte man nur bei und mit dem „einen" - und den würde sie sich notfalls erobern, wenn sie ihn sonst verlieren würde, der Liebe wegen erobern! Und sie sah nicht ein, daß sie das entwürdigen sollte! Beruhte nicht die Liebe auf Gegenseitigkeit, gab das beiden nicht auch gleiche Rechte? Hie Weiblichkeit und Anlehnungsbedürfnis - da Bereitschaft zur Liebeserklärung... kenne sich einer mit seinen eigenen Widersprüchen aus! -173-
Versöhnend wandte sie sich ihrer Mutter zu. „Die Zeit schreitet fort, Muttsch, und mit ihr die Sitten! Veränderte Lebensformen bringen zwangsläufig veränderte Gewohnheiten mit sich! So entsetzt, wie du heute, wäre deine Großmutter gewesen, wenn deine Mutter hätte in der Fabrik arbeiten wollen! Ein anständiges Mädchen geht nur in den Haushalt zu feinen Herrschaften, niemals wirst du Fabrikmädel, hätte sie gesagt... Das hast du mir oft genug erzählt. Und du bist schon mit der schönsten Selbstverständlichkeit in die Fabrik gegangen, hast trotzdem kochen können, warst geschickt im Nähen und anständig wie ein Hausmädchen seligen Andenkens, als du geheiratet hast!" „Na ja, du hast recht!" murmelte Frau Schwigtenberg ergeben, ohne sich jedoch mit Lydias Ansichten befreunden zu können. „Man wird alt, Mädel", setzte sie seufzend hinzu. Lydia bestritt es empört. Dann schlug sie vor, um das Thema endgültig zu beenden, im Berliner Fernsehprogramm den Wochenbericht der interplanetaren Station anzusehen. „Es ist nicht verkehrt, manchmal den Erdball von außerhalb zu betrachten, ihn als Planeten am Himmel zu sehen und zu denken, dort, wo die dunkle Färbung ist, liegt Europa. Dort etwa müßte Deutschland sein, und irgendwo, klein, kaum erkennbar, liegt München. In München aber, unter all den vielen Menschen, wie ein Sandkorn am Meer, bist du selbst!" „Und was versprichst du dir von solchen Betrachtungen?" fragte die Mutter, lächelnd über Lydias Eifer. „Oooch, weißt du, wenn einem die eigene Kleinheit einmal vor Augen geführt wird, das ist nicht ohne Erfolg! All der tägliche Kleinkram, über den man sich ärgert, die Mücken, die man im Trott des Alltags gern zu Elefanten erhebt, werden winzig und unscheinbar! Man spürt plötzlich, daß es den Einsatz nicht lohnt, daß es schönere und größere Aufgaben gibt, daß man seine Kräfte besser einsetzen..." -174-
Sie unterbrach sich mitten im Satz. „Wir wiederholen Ihnen die Übertragung der Leistungsfahrt des ersten einspurigen Kraftwagens der Raketa-Werke in Dresden", tönte es aus dem Lautsprecher. Auf dem Bildschirm erschien ein eigenartiges Fahrzeug auf zwei Rädern - das mußte die Hexe sein! Lydia rückte ihr en Sessel zurecht, um sich nichts entgehen zu lassen. Sie stutzte. War das nicht Herr Hausberg, dieser fast verletzend kühle und dann wieder humorvoll übersprudelnde Mensch? Selbst Frau Schwigtenberg verfolgte gespannt die Vorgänge auf dem Bildschirm, erschrak, wenn der silberne Blitz vorüberhuschte, und wartete entsetzt auf das Erscheinen des Wagens, als der Reporter mit schlecht verhehlter Besorgnis von einer kleinen Störung sprach. „Hoffentlich ist ihm nichts passiert!" rief sie aus. Verblüfft vernahm sie Lydias Behauptung, daß ihm kein Haar gekrümmt worden wäre. Wo das Mädel das herwissen wollte! Da erschien der Wagen, kam die Ankunft in München, und nun erfuhr Lydia den wahren Zusammenhang. Der Wagen wurde gestoppt. Blutverschmiert kletterte Rainer aus dem Wagen, müde und widerwillig. Widerstrebend ließ er sich von einer begeisterten Menschenmenge feiern, die sich rasch versammelt hatte, um den schnellen Wagen und den entschlossenen Fahrer zu sehen. Lydia erlebte das alles körperlich mit. Das war also Ingenieur Hausberg! Sie schämte sich, daß sie ihn als Eisblock ohne menschliches Empfinden betrachtet hatte. Weshalb sagte er nichts? Aber das lag ihm gewiß nicht, er ließ ja schon die Begeisterung unwillig über sich ergehen, man sah ihm an, daß er froh war, als er wieder in den Wagen steigen konnte. Das war Männlichkeit! Das war Körperbeherrschung! -175-
Jetzt fiel ihr sein Wunsch ein, sich vor der Sitzung zu waschen. Heilbert war ein Prachtkerl, aber trotzdem, er hätte ihr einen Wink geben können. Na warte Heilbert, morgen! „Lydia, du bist überarbeitet", mahnte Frau Schwigtenberg. „Wieso?" fragte sie abwesend. Was mochte Hausberg von ihr denken? „Du bist ganz blaß! Das darf dich doch nicht so angreifen!" „Mit diesem Mann war ich den ganzen Tag zusammen, und mir scheint, ich habe ihm unrecht getan!" sagte sie müde. „Geh schlafen, Mädel! Morgen sieht alles anders aus. Unrecht kann man wiedergutmachen", beruhigte die Mutter. „So war es nun auch wieder nicht!" sagte Lydia und erhob sich. * Diplomingenieur Buschner trommelte wütend mit den Fingernägeln auf seine Schreibtischplatte. Gedankenlos ergriff er einen Bleistift, drehte ihn unbewußt in den Händen. Erst als er in seinen Händen splitterte und sich ein spitzer Span in seinen Finger bohrte, fuhr er ernüchtert auf. „Verfluchter Dreck!" knurrte er leise. Da klopfte es an der Tür. Buschner warf die Bleistiftsplitter in den Papierkorb und beugte sich über ein Versuchsprotokoll. „Bitte!" Der kleine Splitt schob sich durch die Tür und fand nur noch den zuvorkommenden, liebenswürdigen Abteilungsleiter vor. „Was haben Sie denn, Splitt?" fragte Buschner lächelnd und betrachtete den kleinen, fast kahlköpfigen Ingenieur, dessen weißer Mantel kaum bis an die Knie reichte. Mit ruhiger Stimme bat er, Platz zu nehmen. Splitt warf sich erregt in den Sessel und -176-
schnappte erschöpft nach Luft. „Die Versuche mit Triebwerk TR-S 12 sind schiefgegangen, sie erreichen nicht die errechnete Leistung!" keuchte Splitt. Erregt fuhr er sich durch die spärlichen Haarreste, die seine kahle Schädeldecke umrahmten. Buschner richtete sich aufmerksam auf. „Seit dreißig Jahren bin ich schon im Triebwerkbau, aber das ist mir noch nicht passiert!" stöhnte der Kleine. Buschner lächelte höflich. „Sicher ein Rechenfehler, Splitt. Er wird sich bei der Überprüfung leicht herausstellen. Für einen Mann Ihres Formats kein Beinbruch!" „Wenn man nicht alles selbst macht! Auf die jungen Hüpfer ist kein Verlaß", knurrte Splitt. Obwohl Buschner wußte, daß Splitt grundsätzlich die Berechnungen selbst anstellte, um keinen der „Neulinge" einzuweihen und sich unentbehrlich zu machen - Splitt wollte ja vorwärts, wenn auch auf seine, gewinnversprechende Weise -, überging er diese Behauptung. Splitt war ein kleiner Krämer, der mit Pfennigen rechnete, der Pfennige wegen seine Stellung aufs Spiel setzte. Er zwang sich zur Aufmerksamkeit und begütigte: „Kein Grund, sich graue Haare wachsen zu lassen! Natürlich ärgerlich! Wenn Hausberg davon Wind bekommt, wird er lachen. Und Schreyer hat den Triumph, richtig gewählt zu haben, denn ob das Hausberg passiert wäre?" Splitt zuckte zusammen. Schon die Erwähnung Hausbergs genügte, um sein Gesicht zu verzerren. Darüber kam er nicht hinweg, daß Hausberg Abteilungsleiter wurde, während er Gruppenleiter blieb, daß der Junge nun ein höheres Geha lt bezog als er, sein ehemaliger Vorgesetzter! „Hausberg, das ist eine Ungerechtigkeit, Kollege Buschner, die zum Himmel stinkt! Lieb Kind hat er sich gemacht... Er ist -177-
für den Posten nicht geeignet, dazu gehört Erfahrung!" bellte Splitt böse. „Die hat Kollege Schreyer, Splitt - er wird damit nicht hinterm Berge halten! Ich habe mich natürlich für Sie eingesetzt, aber Kollege Schreyer meinte - das bleibt aber unter uns -, das wäre zu riskant! Sie würden nicht schnell genug vorwärtskommen, Ihnen fehlte der nötige Elan", warf Buschner bedauernd ein. Gelassen griff er in die Tasche, zog sein Etui heraus und bot Splitt eine Zigarette an. „Beruhigen Sie sich, Splitt, ich habe natürlich meine Bedenken geltend gemacht, ein derartiges Tempo, das Hausberg zweifellos besitzt, berge Gefahrenquellen in sich. Ich habe Schreyer vor Zwischenfällen gewarnt. Soweit ich übersehen kann - restlos bin ich noch nicht im Bilde -, ist der neue Treibstoff hochexplosiv! Schreyer hat mich rundheraus ausgelacht. Hausberg sei schnell und schwungvoll, ja, er sei kühn, sagte er, aber dennoch gewissenhaft und vorsichtig!" Jedes Wort traf Splitt wie ein Dolchstoß, er verstand sehr gut, daß das ein Vergleich mit ihm war, daß diese Eigenschaften bei ihm angezweifelt würden. Hastig, in unregelmäßigen Zügen saugte er den Rauch in sich hinein, seine Hand zitterte. „Und ich glaube jetzt beinahe selber, daß Hausberg das Zeug hat, die Versuchsreihe ohne selbstverschuldete Zwischenfälle abzuschließen! Fatal, lieber Splitt, sehr fatal für Sie!" fuhr Buschner mit kummervoller Miene fort. „Wenn etwas schiefginge, müßte man den Irrtum einsehen und auf Sie zurückgreifen! Aber dafür bestehen kaum Aussichten!" Splitt warf den Stummel in den Aschenbecher, drückte ihn wütend aus und sprang auf. „Bleiben Sie sitzen! Noch ist Polen nicht verloren, lassen Sie den Kopf nicht hängen! Vorläufig steckt Hausberg noch in der Konstruktion, bei den Versuchen werden wir weitersehen!" Splitt horchte.bei dem doppelsinnigen Unterton auf. -178-
Als sich hinter ihm die Tür schloß, grinste Buschner. Dieses Samenkorn würde aufgehen und üppige Blüten tragen!
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Witwe Kusemann saß am Fenster und lauschte in den herbstlichen Abend. Das dumpfe Heulen der Hexe war noch nicht zu hören - Rainer kam in letzter Zeit recht unregelmäßig! Das Grün des Laubes hatte sich in viele satte Farben aufgelöst. Gelb, braun und rot leuchtete es. Die Natur bereitete sich zum letzten Fest des Jahres, zum prangenden Leichenball. Sie entfaltete nochmals ihre ganze Pracht, ehe sie sich zum Vergessen neigte und dem eisbärtigen Winter die kahlen Totenfinger der Bäume zur Begrüßung entgegenstreckte. Schon spielte der Wind in den trocknen Blättern, löste Blatt auf Blatt von den Zweigen und verwob sie zum raschelnden Teppich, über den mit Riesenschritten bald der grimmige Frost einhergehen und das weiße Leichentuch entfalten würde. Sacht senkte sich die Dämmerung, breitete sich über das Land, Witwe Kusemann lauschte dem Pfeifen des Sturmes, der sich aufmachte, um des Windes Arbeit zu vollenden, und mit wachsender Kraft die Hausecken berannte. Morgen würden die Äste kahl sein. In letzter Zeit fühlte sie sich einsamer als sonst. Lag das an der herbstlichen Stimmung, lag es an Rainers Unpünktlichkeit, lag es daran, daß sie nun wirklich alt wurde oder daß er in seinem Alter daran denken mußte, bald einen Hausstand zu gründen, wenn er nicht seinen eigenen Kindern als Großvater erscheinen wollte? Eltern mußten jung sein, wenn sie ihre Kinder verstehen wollten! Deshalb hatte sie auf Kinder verzichtet, als sie so spät noch Kusemann kennenlernte... als zudem die ersten Jahre vergingen, ohne daß ihr Wunsch erfüllt wurde. Drei Stunden saß sie schon so. den Strickstrumpf auf dem -180-
Schoß, lauschte und spähte hinaus. Wo nur Rainer blieb? Er hatte recht wenig Zeit, seitdem er in München gewesen war und sich danach die Hexe ausgeliehen hatte. Auch so ein neumodischer Kram, ein zweirädriges Auto! Jeden Tag nach Feierabend bastelte er daran herum. Schlecht sah es ja nicht aus - aber komisch trotzdem... Ungewohnt! Kinder, zu ihrer Zeit, als sie in Rainers Alter war, begann der Krieg, fuhr man mit Holzgas, weil der Kraftstoff nicht reichte! Sie entsann sich noch gut der klobigen Vergaser, die wie Öfen hinterm Führerhaus der Lastwagen und am Kofferraum der Personenwagen angebracht wurden, Holz und Anthrazit fraßen und beim Anheizen mit hohem Summen übelriechende Wolken ausstießen. Den Kraftstoff schluckten die unersättlichen Tanks der Kampfflugzeuge und Panzer. Und nun war der Kraftstoff wiederum knapp. Er reichte nicht, um die vielen Motoren zu sättigen, die auf Straßen und Schienen, auf dem Wasser und in der Luft donnerten und Güter nach allen Ländern schleppten. Die Menschen waren anspruchsvoller geworden, erhoben Anspruch auf alle Erleichterungen, die die moderne Technik geschaffen hatte, um sich das Leben so schön wie möglich einzurichten. Das vergrößerte den Handel, verstärkte den Verkehr. Aber man griff nicht auf die Holzvergaser zurück! Rainer hatte ihr ein kleines Klümpchen unter die Nase gehalten und geheimnisvoll gesagt: „Damit, Mutter Kusemann, treiben wir bald die Fahrzeuge an, damit werden die Motoren gespeist, nicht mit dem Holzkocher von Anno Tobak! Und damit wird auch die Hexe bald laufen! Eine Woche lang kann ich damit fahren!" Sie hatte ebenfalls gelacht und erwidert - schließlich wußte sie auch allerlei von der Atomenergie: „Kunststück, Rainer, Atomzertrümmerung! - Aber ist das nicht gefährlich? Wenn Sie nun gegen einen Baum fahren, und der Reaktor fliegt -181-
auseinander, dann sind Sie der radioaktiven Strahlung ausgesetzt!" Sie schmunzelte noch heute über sein verblüfftes Gesicht. Darauf war er nicht gefaßt, daß sie so gut Bescheid wußte. Aber sie wollte doch nicht auf dem Mond leben, sie wollte mitreden können, wollte ungefähr wissen, womit er sich beschäftigte. Wenn er sic h einmal austauschen wollte, dann wollte sie bereit sein und nicht dastehen wie die Kuh vorm neuen Tor! Wen hatte sie denn außer Rainer... niemand! Und wen hatte er? Nur sie! „Mutter Kusemann!" hatte er damals erwidert. „Dieses Klümpchen wird nicht zertrümmert, sondern regelrecht verbrannt! Bei der Verbrennung ändert sich die Atomhülle, dabei werden Wärmeenergien im Größenbereich der Kernenergie frei. Das Zeug ist zwar stärker als Benzin, viel explosiver, aber auch viel ungefährlicher! Mit Feuer kann man es nicht entzünden." Das verstand sie zwar nicht, aber wenn er es sagte, mußte es wohl stimmen. Und daß sie es nicht verstand, das brauchte er nicht zu wissen! Ob er wieder mit seiner Hexe auf der Autobahn entlangraste? Aber dann hätte er angerufen. Schließlich wußte er, wie sehr sie darauf bedacht war, das Essen frisch und nicht gewärmt auf den Tisch zu bringen. Nur sagen durfte man nichts bei ihm! Einmal hatte sie geschimpft, am nächsten Tag war der Kundendienst vorgefahren und hatte einen Glasschrank abgeladen. Es hatte lange gedauert, ehe sie verstand, daß es ein Kochschrank war, ein Hochfrequenzkochschrank, wie Rainer sagte. Praktisch war er ja, der Schrank, man konnte das Essen beobachten beim Kochen, ohne den Schrank zu öffnen oder die gläsernen Töpfe anzufassen. „Von innen heraus, in der ganzen Masse wird das Essen warm", hatte er gesagt. Es stimmte ja, und das Essen blieb auch warm, ohne einzukochen, aber begriffen hatte sie es bis heute noch nicht. -182-
Überhaupt, viel technischen Kram hatte er angeschleppt. Seitdem er bei ihr wohnte, wusch sie mit dem Schallwäscher, bohnerte sie mit dem Staubsauger, hatte sie ein neumodisches Telefon, das außer der Stimme auch das farbige Bild brachte, so als stände der andere Teilnehmer vor ihr. Auch eine Klimaanlage hatte er einbauen lassen und eine Fernsehtruhe für farbige und plastische Bilder... Wo er nur blieb? Rainer war äußerst praktisch und ziemlich nüchtern, manchmal zu sehr... Ob er ein Mädchen hatte? Sie konnte es sich nicht recht vorstellen. Rainer im zärtliche n Gespräch - war er dafür nicht viel zu ernst und sachlich? Und doch, wie sagte er am Abend vor der Fahrt nach München, sie hörte es ganz deutlich noch: „Ich halte nichts vom Flirten, Mutter Kusemann! Wenn schon, dann muß man mit jeder Faser gepackt sein, darf nicht anders können! Dann darf es keine Erwägungen geben, es muß kommen wie der Frühling, unaufhaltsam, und sich entwickeln und reifen wie die Frucht. Nur dann, Mutter Kusemann, lohnt sich der Einsatz." Und unvermittelt nach einer kurzen Pause: „Gewöhnlich ist der Apfel madig und fällt vom Stamm. Mit diesen Dingen muß man vorsichtig sein!" Diese Ansichten schade für ihn... Er verbrachte seine Jugend, ohne richtig jung zu sein. Doch konnte es ihr eigentlich nicht recht sein, denn was wurde aus ihr, wenn er einmal ging? Dann verlor ihr Leben den Sinn, aber das ging sogar richtigen Müttern so, sollte sie dann klagen? So ist das Leben! Verdreht und hart... Aber sie wollte nicht ungerecht sein; seitdem Rainer bei ihr war, machte das Leben Freude... Schöne Jahre waren es gewesen, man mußte dankbar sein! Trotzdem seufzte sie und ließ die Stricknadeln wieder auf und ab hüpfen. Endlich das ersehnte Heulen. -183-
Geschäftig stemmte sie ihren schweren Körper aus dem Sessel, strich sich die weiße Schürze glatt und lief mit einer Beweglichkeit zum Kochschrank, die man ihrer Leibesfülle und ihrem Alter nicht mehr zugetraut hätte. Schnell das Essen heraus, in Schüsseln umgefüllt und dann das Waschwasser vorbereitet! Da war er schon. Behutsam faßte er sie um die Schulter. „Es hat heute lange gedauert, Mutter Kusemann. Ich hatte noch einige dringende Besprechungen abzuschließen." Mutter Kusemann bemerkte sein abgespanntes Gesicht und schwieg. Schlecht sah er aus, sehr schlecht! Die verdammte Arbeit! Erschrocken biß sie sich auf die Lippen. Nur nichts sagen von ihren Gedanken, sonst würde er sie wieder so verständnislos ansehen und vorwurfsvoll sagen: „Aber, Mutter Kusemann, verdammte Arbeit? Und das sagen Sie? Ohne Arbeit wäre ich ein halber Mensch! Man muß doch beweisen, was man wert ist. Wenn ich nicht arbeitete, ich könnte in kein Geschäft gehen und mir etwas kaufen! Etwas kaufen, was andere mir durch die verdammte Arbeit herstellten? Und was gäbe ich ihnen dafür? Es greift eins ins andere; man kann nichts nehmen, ohne dafür etwas zu geben." Nach dem Essen, das schweigsam verlief - Mutter Kusemann fühlte, daß er sich erst sammeln mußte -, lehnte sich Rainer zurück und sah sie von der Seite an. Sein Gesicht schien frischer, seine Bewegungen waren lebhafter - erstaunlich, wie schnell der Junge sich erholen konnte. „Was schätzen Sie, Mutter Kusemann, wie schnell heute die Triebwagen fahren?" fragte er langsam. Sie spürte, daß er ihr etwas von seiner Arbeit erzählen würde, wenn sie auf das Gespräch einging, und stellte schnell das -184-
Geschirr auf die Spülmaschine. Dann setzte sie sich zu ihm. „Die unten oder die oben fahren? Welche meinen Sie?" fragte sie vorsichtig. „Die oben fahren, Mutter Kusemann!" „Nun, zweihundert Kilometer in der Stunde." Dabei sah sie ihn mißtrauisch an. Lachte er sie wegen dieser unheimlichen Geschwindigkeit aus? „Sind sie früher einmal gefahren! Jetzt sind es dreihundert!" Sie verstand zuwenig davon, um das richtig einschätzen zu können, glaubte aber, ihm zuliebe staunen zu müssen. Doch Rainer beachtete sie kaum, er fragte weiter: „Und wie schnell, denken Sie, werden die Wagen in einem halben Jahr fahren?" Sie überlegte nicht lange. Es konnte nur noch schneller sein, also erwiderte sie aufs Geratewohl: „Vielleicht vierhundert?" „Neunhundert!" behauptete er fest und weidete sich an ihrer Überraschung. Sie war wirklich erschrocken. Neunhundert Stundenkilometer...! Das war ja wohl so schnell wie ein Flugzeug? Doch Rainer lachte und versicherte ihr, daß die zu dieser Zeit längst zwei- bis dreitausend Stundenkilometer fliegen würden! Wieder ein Gebiet, auf dem sie sich informieren mußte, gleich morgen würde sie sich ein populärwissenschaftliches Buch darüber kaufen. Mein Gott, stöhnte sie innerlich, was die Techniker alles wissen müssen. Dann fiel ihr ein, daß ergewiß nicht ohne Absicht danach gefragt hatte. Wahrscheinlich wollte er etwas andres erzählen, man mußte ihn nur herauslocken. „Woher wissen Sie denn das?" fragte sie deshalb. „Wir sind heute mit einer... na, sagen wir Maschine fertig geworden, die den Zügen derartige Geschwindigkeiten gibt!" „Das ist ja unheimlich! Was wollen Sie denn damit? Da fährt ja kein Mensch mehr mit! Wenn dabei ein Zug entgleist oder die -185-
Züge zusammenstoßen!" „Das bliebe sich ziemlich gleich, Mutter Kusemann, ob sie mit dreihundert oder mit neunhundert Stundenkilometer zusammenstoßen, viel bleibt in beiden Fällen davon nicht übrig!" „Sie haben Humor! Nur gut, daß ich nicht mehr verreisen muß!" „Feige, Mutter Kusemann?" fragte er pfiffig und kniff ein Auge zusammen. „Zusammenstöße sind ausgeschlossen! Es kann nichts passieren!" „Was seid ihr nur für eine Jugend!" Sie schüttelte den Kopf. „Eine glückliche Jugend, Mutter Kusemann, denn wir können das ernten, was Generationen vor uns, Väter, Großväter, Urgroßväter und so weiter, für uns gesät haben. Die Ernte ist reif, wir bringen sie ein! Die Aussaat war nicht leichter als die Ernte. Was wir heute verwirklichen, ist das Ende einer langen Reihe mühevoller Arbeit, deren Anfang so weit zurück liegt, wie Menschen denken können. Mühsam wurde Steinchen an Steinchen gereiht, wir sind in vielen Dingen in der glücklichen Lage, nur noch die Schlußsteine in das Mosaik einsetzen zu müssen! Manches jedoch ist noch im Anfang und wird erst von unseren Nachkommen vollendet werden." „Schön, daß ihr Jungen auch an die Verdienste der Alten denkt, damit befaßte man sich zu meiner Zeit kaum." „Man muß die historische Entwicklung und deren Zusammenhänge kennen, wenn man weiterbauen will, Mutter Kusemann!" Er schwieg nachdenklich. Mutter Kusemann betrachtete ihn verstohlen. Was mochte in dem kantigen Kopf vorgehen? Wenn sie das, was er in seinem Kopf trug, in ihrem verstauen wollte, dann müßte sie anbauen! Nicht den hundertsten Teil davon konnte sie -186-
unterbringen. Was für eine komplizierte Sache so ein Mensch ist, was alles von der Haut umschlossen wird; das Innenleben, die Gedanken, Empfindungen, Gefühle, Hoffnungen, Wünsche...! War er nicht ein Prachtkerl? Wochenlang mußte er schon an dieser neuen Sache gearbeitet haben, aber keinen Ton hatte er gesagt. Und nun kam er und fragte - als erkundige er sich nach der Wurstsorte, die es zum Abendbrot gab -: Wie schnell fährt ein Triebwagen? Plötzlich schrak sie zusammen. „Sagen Sie, Rainer, fährt Ihre Maschine mit dem... dem... dem kleinen Kügelchen?" fragte sie erregt. Rainer wandte sich ihr gedankenabwesend zu, dann begriff er und nickte lächelnd. „Das ist doch gefährlich, Rainer?" fragte sie bang. „Jetzt nicht mehr!" behauptete er. „Aber vorher!" „Machen Sie nicht solche Augen! Es kann ja gar nichts passieren! Haben Sie Angst vor dem Feuer im Ofen?" „Warum denn das, Rainer, da ist doch Eisen drum! Im übrigen. haben wir gar keinen mehr. Sie haben ja lauter neumodisches Zeug aufgestellt, Klimaanlage, Elektroofen..." „Das Gigantum wird auch in einem Ofen verbrannt. In einem Rohr, das man auf den Triebwagen montiert." „Wollen Sie mich auf den Besen laden?" „Nein, nein, Mutter Kusemann! Auf den Triebwagen wird ein Triebwerk montiert, das ist ein Rohr, vorn und hinten offen." „Und damit wollen Sie fahren können? Warum fährt denn dann der Ofen nicht?" „So einfach ist das nun wieder nicht. Passen Sie auf, Mutter Kusemann!" Er zog einen Block aus der Tasche und zeichnete -187-
mit schnellen Bleistiftstrichen ein zylindrisches Rohr auf das Blatt, dessen Enden sich verjüngten. „Wenn in das vordere, kleine Loch nun Luft einströmt, Mutter Kusemann, dann nimmt durch die Erweiterung des Rohres die Strömungsgeschwindigkeit ab, der Luftdruck aber steigt, und wenn diese angestaute Luft im Rohr erhitzt wird, dann dehnt sie sich aus und strömt mit einer größeren Geschwindigkeit aus dem hinteren kleinen Loch, der Düse. Dadurch erhält das Rohr einen Schub nach vorn. Wenn es nun auf einen Wagen montiert ist, dann rollt der nach vorn weg!" erklärte er. Mutter Kusemann sah auf das Blatt und überlegte. „Und wer bläst die Luft in das Rohr? Strömt sie allein ein?" „Wenn der Wagen fährt, sehr schnell fährt, dann strömt doch zwangsläufig Luft durch das Rohr!" „Also muß der Wagen erst einmal fahren?" „Bravo, Mutter Kusemann! Sie stellen Fragen wie ein angehender Ingenieur! Dieses Triebwerk - das sogenannte Staustrahlrohr - kann nur in strömender Luft arbeiten, wie wollte sich sonst die Luft aufstauen? Übrigens ist das eine alte Sache, schon 1941 erprobte sie Dr. Eugen Sänger mit einem Flugzeug. Neu ist nur, daß wir heute keinen andern Antrieb mehr brauchen, um dem Wagen die nötige Vorgeschwindigkeit zu verleihen. Und neu sind einige technische Einzelheiten, weil mit dem Gigantum ungeheure Temperaturen auftreten, die mir ziemliche Kopfschmerzen gemacht haben. Wissen Sie, wenn wir die vordere Öffnung schließen, dann erhalten wir eine Raketenbrennkammer. Pressen wir nun Sauerstoff hinein, dann können wir das Gigan-. tum verbrennen, und die Verbrennungsgase strömen ebenso durch die Düse wie bei geöffnetem Rohr!" „Hmm", brummte Mutter Kusemann und bemühte sich, der Erklärung zu folgen. Als sie glaubte, die Vorgänge richtig erfaßt zu haben, kam ihr ein Gedanke: -188-
„Und die ausströmende Luft schiebt das Triebwerk an der Außenluft ab!" Man sah ihr den Stolz darauf an, daß sie den Zusammenhang erkannt hatte. Er sollte ruhig merken, daß sie nicht dumm war und er getrost über technische Dinge mit ihr sprechen konnte! „Sie meinen, wie beim Schwimmer, der sich mit den Händen am Wasser vorwärtsdrückt? Das stimmt nicht ganz, Mutter Kusemann. Hier wirkt ein anderes Gesetz, das sogenannte dritte Newtonsche Axiom. Es besagt, daß Kraft und Gegenkraft, Wirkung und Gegenwirkung einander gleich sind und nur die entgegengesetzte Richtung haben." „Damit kann ich nichts anfangen", wehrte sie kleinlaut ab. „Moment, das werden wir gleich haben", versicherte er. „Bei der Verbrennung dehnen sich die Gase durch die Erwärmung aus. Es entsteht ein Druck, der nach allen Seiten gleich stark wirkt. Die Wirkung des Druckes hebt sich im geschlossenen Raum demnach auf, denn wenn zwei gleich starke Pferde mit der gleichen Kraft einen Wagen in die entgegengesetzten Richtungen ziehen, dann bleibt er stehen! In der Brennkammer drückt also die gleiche Kraft nach oben und unten, links und rechts, vorn und hinten. Wenn nun hinten eine Wand fehlt, dann kann sie nicht nach hinten drücken, sondern nur nach vorn, auf die vordere Wand. Es entsteht also ein Druckunterschied, und die Kraft schiebt die vordere Wand nach vorn, da hinten keine Wand ist, an der die Kraft in der anderen Richtung drücken könnte. Wird die vordere Wand nach vorn weggedrückt, dann auch der Wagen, der mit ihr verbunden ist." „Wie haben Sie das nur herausbekommen?" fragte sie mit naiver Begeisterung. „Das hat Isaac Newton schon 1687 entdeckt. Ohne diese Erkenntnis hätten wir heute keine Weltraumfahrt, könnte sich keine Rakete im luftleeren Raum bewegen!" erwiderte er lachend. -189-
„Aber Sie sagten doch...", warf sie ratlos ein, wurde jedoch von Rainer unterbrochen. „Neu ist nur die Verbindung der Raketenbrennkammer mit dem Staustrahlrohr und deren Verwendung für Landfahrzeuge. Bisher war für diesen Antrieb der Kraftstoff zu teuer und die Geschwindigkeit zu niedrig." „Eines verstehe ich doch noch nicht, weshalb fahren Sie nicht immer mit dieser... Raketenbrennkammer? Das wäre doch einfacher." „Für die Brennkammer brauchen wir Sauerstoff! Dieser muß in schweren Stahlflaschen mitgeführt werden. Ein Staustrahlrohr dagegen ist viel einfacher, denn die Luft und mit ihr der Luftsauerstoff strömt bei hoher Geschwindigkeit von selbst hinein." „Mir brummt der Kopf, Rainer", gestand sie leise und schwieg eine Weile. Rainer, dem ein neuer Gedanke gekommen war, entwarf eine Reihe Skizzen und schien ihre Anwesenheit zu vergessen. Mutter Kusemann betrachtete ihn versonnen. Das Leben hatte sie doch noch entschädigt für die schweren Jahre, ihr nach der trüben Einsamkeit noch Sonne gebracht. Ein kluger Kopf war das; sie war so stolz auf ihn wie eine richtige Mutter, und so sicher wie eine richtige Mutter war sie, daß alles, was er sagte, richtig war. * Im Lichtkreis der Tischlampe auf Rainers Schreibtisch lag eine Zeichnung von der Hexe. Die Couch, die Sessel, der Bücherschrank - das war nur undeutlich im Halbdunkel zu erkennen. Rainer hockte mit aufgestütztem Kopf im Schreibtischsessel, -190-
sog in kurzen Zügen den Rauch einer Zigarette in sich hinein, blies ihn in den Lichtkegel und verfolgte gedankenabwesend die wallenden Schwaden, bis sie die Grenze des Kegels überschritten und sich im Halbdunkel verloren. Seine Hände drückten spielerisch, als unterlägen sie nicht seinem Willen, die Tasten eines kleinen Elektronenhirns. Ein größerer Bruder davon befand sich im Werk, aber mit dem Elektronenhirn des Instituts, das ihm Lydia vorgeführt hatte, war das Hirn des Werkes nicht zu vergleichen. Ein Summen schreckte ihn aus den Gedanken, die sich wie sooft in München befanden. Auf dem Leuchtschirm des Elektronenhirns leuchtete ein Ergebnis. Verblüfft stellte er fest, daß er unbewußt eine Aufgabe gestellt hatte, die ihn seit Tagen bewegte. Der Luftdurchsatz stimmte also! Das bedeutete, er mußte für den Betrieb mit dem Gigantum der Hexe mehr Luft zuführen, um die Sauerstoftmenge zu erhöhen und damit die Verbrennung zu verbessern. Der Luftmantel um die Flamme in der Brennkammer der Gasturbine mußte ebenfalls verstärkt werden, damit die Kammerwand stärker gekühlt und durch die höhere Temperatur nicht zerstört würde. Und wo brachte man am zweckmäßigsten die Schallstrahler an, um das Material nicht zu gefährden? In einer langen Versuchsreihe hatten sie die günstigste Lösung für das Triebwerk des Triebwagens gefunden - ob man diese Lösung ohne weiteres übertragen, das heißt auch für die Gasturbine der Hexe verwenden konnte? Die Konstruktion des Triebwerks hatte mit dem Umbau der Hexe, den er in seiner Freizeit vorbereitete, viel gemeinsam. Wenn Mutter Kusemann auch glaubte, er bastelte bereits an der Hexe herum, hatte er bisher nur einige Teile der Gasturbine zerlegt, sie genau untersucht und dann wieder zusammengebaut. -191-
Wenn die Beschallung geklärt war, dann konnte er mit dem Umbau beginnen. Aber stimmten seine Berechnungen? Ob sich in der Praxis nicht noch andere Schwierigkeiten ergaben, als sich von vornherein rechnerisch erfassen ließ? Noch war das Gigantum nicht im Betrieb erprobt worden! Sollte er mit dem Umbau der Hexe so lange warten, bis man genügend Erfahrungen mit dem Triebwerk auf dem Prüfstand gesammelt hatte? Das konnte er nicht, denn die Hexe mußte gleichzeitig wachsen. Zum Abschlußversuch würde Lydia eingeladen werden, dann sollte die Hexe fertig sein. Er mußte ihr beweisen, daß der Umbau der Gasturbinen auf Gigantumbetrieb möglich war! Da fiel ihm Heinzel ein, Obermonteur Heinzel vom Prüfstand. Heinzel hatte in einer der ersten Konstruktionsbesprechungen eine entscheidende Verbesserung vorgeschlagen. Er verwarf das Verdichteraggregat, das die Konstruktionsgruppe als Starthilfe vorgesehen hatte. Da das Staustrahlrohr zum Betrieb strömende Luft benötigte, sah der Entwurf Verdichter vor, die so lange Luft in das Rohr hineinbliesen, bis der Triebwage n die erforderliche Eigengeschwindigkeit erreicht hatte. Natürlich war das keine Lösung, die restlos befriedigte. Doch die Aufgabe lautete: Antrieb durch Gigantum ohne Verwendung von Verbrennungsmotoren oder turbinen. Deshalb hatten sie im ursprünglichen Entwurf einen lange bekannten Effekt benutzt. Verbindet man nämlich zwei Drähte verschiedener Metalle durch zwei Lötstellen zu einem geschlossenen Stromkreis und erzeugt man an den Lötstellen unterschiedliche Temperaturen, dann entsteht ein meßbarer Strom, den man bisher wegen seiner niedrigen Spannung nur zum genauen Messen höchster und niedrigster Temperaturen verwenden konnte. Nach dem Entwurf dagegen sollte der Thermostrom zum ersten Mal als Kraftstrom verwendet werden. Das Institut hatte Rainer für diesen Zweck Drähte aus zwei neuen Metallen zur Verfügung gestellt, die bei -192-
einem Temperaturunterschied von 1000 Grad Celsius zwischen den Lötstellen eine Spannung von 1,1 Volt bei ungewöhnlich geringem spezifischem Widerstand erreichten. Rainer hatte viele solcher Stromkreise vorgesehen. Die eine der beiden Lötstellen lag unter dem Wagen im Schatten, die andere befand sich im Brennraum des Triebwerks, dessen Wand mit den Lötstellen von Tausenden solcher Stromkreise gepflastert war. Mit der gewonnenen Energie sollten die Sammler aufgeladen werden, die ihrerseits beim Anfahren die Elektromotoren der Verdichter speisen würden. Dieses Projekt hatte einige schwache Stellen, und Buschner hatte sie sofort herausgefunden. „Ein Windei, Kollegen!" sagte er während einer Abteilungsleiterbesprechung. „Nicht, daß ich die Leistungen unsres jungen Kollegen Hausberg unterschätze - für seine geringe Berufserfahrung immerhin beachtlich, ein Zeichen von Schwung und Phantasie -, aber das kann man doch nicht ernst nehmen! Ich will nicht nachrechnen, wie sich der Leistungsverlust auf den Schub des Triebwerks auswirkt - doch schon das Unterbringen der Leitungen im Brennkammermantel, das Isolieren der Lötstellen, ihre Montage, die Beanspruchungen im Dauerbetrieb... wie kompliziert! Bedenken wir doch die Festigkeitswerte der Brennkammer bei dieser Ausführung! Und wieviel Kilometer Draht will Kollege Hausberg noch einbauen? Läßt es sich verantworten, für diese Sackgasse weiterhin staatliche Mittel zu verbrauchen? Und es ist eine Sackgasse, denn..." Buschners Bedenken, flüssig vorgetragen und schier unerschöpflich, bewiesen, daß er über einen großen Erfahrungsschatz verfügte. Seine Einwände waren stichhaltig. Bald war allen das Projekt als phantastisch erschienen. Rainer gestand sich ein, daß Buschners Zweifel berechtigt waren. Doch wo lag der Ausweg? Es gab noch eine zweite Möglichkeit, aber die behagte ihm noch weniger. Man könnte -193-
die Räder mit Generatoren kuppeln, die die Sammler aufladen. Aber das bedeutete zusätzliche mechanisch bewegte Teile, bedeutete, daß durch den Generatorenantrieb Bewegungsenergie des Triebwagens verlorenging. Rainer hatte damals deprimiert die Sitzung verlassen und einen unangenehmen Abend verbracht. Seine bewährte Methode, auf die Autobahn zu fahren und sich im Geschwindigkeitsrausch die nötige Klarheit zurückzugewinnen, Mut, Kraft und Abstand zu finden, blieb erfolglos. Ihm glückte keine bessere Lösung. Am nächsten Tage kam Heinzel zu ihm. „Ich habe gehört, man will Ihrem Entwurf an den Karren fahren? Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Kollege Hausberg. Wir Prüfstandsmonteure gehören ebenso zu Ihrer Abteilung wie die Ingenieure. Bevor wir unsem Senf nicht dazugegeben haben,. kann der Entwurf nicht verworfen werden - es ist auch unser Kind! Veranstalten wir eine gemeinsame Besprechung, vielleicht fällt uns etwas ein." Und so war es geschehen. Aufmerksam hatte Heinzel die Erläuterung verfolgt, lange auf die Zeichnung gesehen und dann eine abweisende Grimasse gezogen. „Verdichteraggregat?" hatte er gefragt. „Verdichteraggregat? Nee, Kinder, das ist nichts! Ihr seht den Wald vor lauter Bäumen nicht! Zum Verdichteraggregat braucht ihr Getriebe, Kupplungen, Motoren..." Bräuner fuhr auf ihn los. „Und wo nehmen wir beim stehenden Wagen die strömende Luft her, wie erreichen wir die Stauung, wie also fahren wir an, Sie Weiser aus dem Morgenlande? Das ist eine umstrittene Stelle, klar, aber wie beseitigen?" Ehe Rainer hatte abwinken können, setzte Rother versonnen hinzu: „Keine mechanisch bewegten Teile, das wäre der ideale -194-
Antrieb - keine Schmierung, keine Reibungsverluste, keine Abnutzung, geringe Wartung... aber wie, Heinzelmann, wie?" Heinzel hatte sich nachdenklich das Kinn gerieben, die Schultern gehoben und dann plötzlich geschmunzelt: „Es ist keine Universalmedizin, aber weshalb kombiniert ihr nicht das Ofenrohr mit der Raketenbrennkammer? Dann fahrt ihr mit der Raketenbrennkammer an, setzt meinetwegen Preßluft zu, und wenn die Geschwindigkeit groß genug ist, öffnet ihr den Kammerkopf, dann habt ihr euer Ofenrohr und könnt die Preßluft abstellen! Wie ihr das macht, ist eure Sache. Man könnte vielleicht..." Und dann hatte er seine Gedanken dargelegt und die verblüfften Ingenieure mitgerissen. Nach der Besprechung war ein Patent geblieben, das nach der Ausarbeitung eingereicht wurde. Heute fuhr Heinzel einen stahlblauen Wagen, eine Anerkennungsprämie des Werkes, die Rainer jeden Morgen an den Wert praktischer Erfahrungen und an die Blindheit erinnerte, mit der manchmal diejenigen geschlagen werden, die sich zu sehr in einen Gedankengang verrennen. Er mußte Heinzel zu Rate ziehen. Zum Abschlußversuch des Triebwerks mußte auch die Hexe auf Gigantum umgestellt sein. Lydia sollte sehen, daß er nicht aufgeschnitten hatte! Er entzündete eine neue Zigarette und lehnte sich zurück. Heute waren sie mit der Konstruktion des Triebwerks endgültig fertig geworden, am Montag begann der Bau, dann kamen die Versuche auf dem Prüfstand. In seine Freude mischte sich ein leiser Schmerz. Nun würde die Verbindung mit München lockerer werden, würde nicht mehr täglich Lydias Bild auf dem Bildschirm erscheinen, farbig und plastisch, als könnte er sie ergreifen. Der Gedanke an Lydia erfüllte ihn mit einer brennenden Unruhe. Jetzt, wo er sie verlor, wurde ihm klar, daß es für sein Empfinden keinen Ausweg gab, daß kein Selbstbetrug ihn über -195-
diese Neigung hinwegtäuschen konnte. Seine Bedenken? Wie närrisch. Eine lächerliche Sucht zur Tragik, ein selbstgefälliger Enttäuschungskult! Er vermochte sich die Zukunft ohne Lydia nicht mehr vorzustellen. Die täglichen Bildgespräche hatten sie derart fest in sein Leben hineingestellt, daß er alles, sogar das Triebwerk, nur noch im Zusammenhang mit ihr sehen konnte. Sie war ein Teil seines Wesens - eines ohne das andere konnte nicht fortbestehen, mußte verkümmern. Sein Leben lag wie ein düsterer, bodenloser Abgrund vor ihm. Er sprang auf und irrte mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und ab. Was tun? Unvermittelt blieb er stehen. Was tun? Wollte er etwa die Hände in den Schoß legen? Was tun? Sie gewinnen! Und statt aus Furcht vor einer Enttäuschung zu resignieren - um sie kämpfen! Das war doch wohl männlicher als das weibische Gewäsch von Enttäuschungen der Vergangenheit. Litt er denn an Minderwertigkeitskomplexen? Ihm war, als hätte er ein beschmutztes Gewand abgestreift, das seine Selbstsicherheit beengte - jetzt stand er nackt, wie er war, kraftvoll und männlich... Und nur sich selbst wollte er in die Waagschale werfen, ohne jedes Beiwerk, aber mit ganzem Gewicht.
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Abseits der Stadt, am Fuße eines stubbenübersäten steilen Hanges, lehnte sich Heinzels Häuschen an den Waldrand. Oben auf dem Kamm des Hanges zog die Straße vorbei, sie senkte sich seitab in einer weiten Schleife und kehrte zwischen dem Häuschen und dem Hang zurück, vom Grundstück getrennt durch einen munter sprudelnden Bach, der das Betonband von der Kehre her begleitete. Eine breite Brücke wölbte sich von der Straße nach dem schmiedeeisernen Tor, das Zeugnis von Heinzels Handfertigkeit ablegte. Hinter dem Tor wusch Heinzel den Wagen und pfiff vor sich hin. Der Schwamm in der klotzigen Hand fuhr fast zärtlich über den Lack, ein verstohlenes Lächeln durchdrang Heinzels knorrige Züge. Das war ein Sonntag nach seinem Geschmack! Glänzen - ach was, spiegeln mußte der Wagen! Er beugte sich prüfend über die Motorhaube, betrachtete sein Spiegelbild und nickte ihm anerkennend zu. Das war Glanz! „Seht euch das Mannsbild an, begafft sich am Sonntagmorgen wie ein Spiegeläffchen! Nun wirst du wissen, woher ich meine zerschundenen Backen habe. Hättest dich wenigstens rasieren können, als dir einfiel, daß du noch verheiratet bist!" polterte es zärtlich über ihm. Er legte den Schwamm beiseite, wischte lachend die Hände an die Kombination und blickte auf. Ein zierlicher Frauenkopf schob sich aus dem Fenster. Frau Heinzel mochte fast gleichaltrig sein, aber ihre Züge waren weich, und ihre leuchtenden Augen verliehen dem Gesicht einen jugendlichen Hauch. Obwohl sie ein Gegensatz zu Heinzels -197-
Klotzigkeit war, konnte man sich doch vorstellen, daß sie wußte, wie sie mit ihm umgehen mußte. „So gefällst du mir schon besser, mein Lieber: Vor Andacht sprachlos mir zu Füßen!" spottete sie. „Komm wenigstens frühstücken." „Ich komme gleich - sind die Kinder schon wach?" „Nein, laß sie schlafen, heut ist Sonntag. Hans ist erst heute früh heimgekommen!" „Nanu - jetzt ist doch Herbst!" „Mann!" drohte sie von oben. „Laß gut sein, Mutter, wir waren auch mal jung. Ich komme gleich, nur den Schlauch noch wegräumen." Heinzel wandte sich um. Dabei streifte sein Blick den Hang. Plötzlich stutzte er. Gerade über ihm, auf der Straße, stand die Hexe. „Moment, Mutter, da oben kommt bestimmt Besuch - ein Werkswagen. Rück die Tassen zurecht!" Die nächsten Worte verschluckte er. Erschrocken schob er die Schirmmütze ins Genick und starrte hinauf. Die Hexe rollte an, bog ein und bewegte sich langsam auf den Hang zu. „Ist der denn von Gott verlassen? Der bleibt doch mit dem Chassis auf der Böschung hängen..." Er stöhnte vor Aufregung. Da schoben sich die Lenksäulen der Laufräder aus dem Wagen, der Wagen stemmte sich hoch. Er fuhr auf die steile Böschung zu und schob sich über sie hinaus. Jetzt mußte sich das Vorderteil senken und der Wagen in rasender Fahrt nach unten sausen! Aber da, was war das? Geisterhaft blieb das Fahrzeug in der Waagerechten,, als wäre kein Abhang vorhanden, und noch immer schob es sich in die Luft hinein. Nur das Hinterrad befand sich noch auf der Straße, -198-
das Vorderrad hing einen Meter über dem Abgrund. Heinzel hätte sich nicht mehr gewundert, wenn der Wagen in der Luft weiterge fahren wäre, aber das Hinterrad blieb auf dem Boden. Wie ein Pferd, das auf der Hinterhand tanzt. Waagerecht, das Vorderrad in der Luft, rutschte der Wagen langsam den Abhang auf dem Hinterrad hinunter. Da drehte der leichte Morgenwind ihn etwas aus der Richtung - mit einem Rad konnte er ja nicht steuern, obwohl auch das Hinterrad lenkbar war - schnell senkte sich der Wagen waagerecht auf das Hinterrad, als ginge er in die Knie, die vordere Lenksäule schob sich noch weiter heraus, das Vorderrad setzte auf dem Boden auf, und die Hexe stand seitlich am Hang. Seitlich und dennoch senkrecht dort, wo Heinzels Wagen umgeschlagen wäre! Dann lenkte sie, wieder auf beiden Rädern, in die gerade Richtung zurück und rollte hochbeinig zwischen den zahlreichen Baumstümpfe n hindurch. Schon hörte Heinzel das dumpfe Heulen der Turbine. Am Fuße des Hanges glichen sich die Lenksäulen wieder dem Gelände an. Noch immer waagerecht, fuhr die Hexe in schneller Fahrt über die schmalen Wiesenstreifen, über die Straße... und anstatt auf die Brücke geradewegs auf das Bachbett zu. Das Wasser spritzte auf, und die Hexe stand ausgerechnet an der tiefsten Stelle im Bach. Das Wasser verdeckte die Räder, nur zwei Säulen ragten aus dem Wasserspiegel und trugen den Wagen. Ehe Heinzel hinzulaufen konnte, heulte die Turbine auf. Die Hexe erklomm die Böschung und fuhr in schneller Fahrt auf Heinzel zu, der um Fassung rang. Zwei Schritt von ihm stoppte der Wagen und neigte dreimal grüßend die Kanzel. Harras, Heinzels Schäferhund, wütete heiser gegen das langbeinige Ungeheuer, das so frech in sein Grundstück drang. Nicht über die Brücke - wie ein Verbrecher kam es über den Zaun, als den Harras den Bach empfand. Gerade als er ihm an die langen Beine wollte, duckte sich das -199-
Ungeheuer zum Sprung, schmiegte sich, plötzlich auf sechs Beinen, flach auf den Boden. Mit einem mächtigen Satz brachte sich der Hund in Sicherheit, sträubte knurrend die Nackenhaare und wandte sich erst dann unsicher ab, als ein fremder Mensch heraussprang, dem Heinzel erfreut die Hand schüttelte. Jetzt sah das Ding dem Wagen seines Herrn verteufelt ähnlich! „Morgen, Heinzelmann! -- Darf ich Sie so früh überfallen? Mir brennt eine Sache unter den Sohlen, die ich gern mit Ihnen besprechen möchte." „Selbstverständlich! Ich bin noch ganz verdattert, der reinste Zirkusgaul. Sogar grüßen kann das Biest!" „Ja, die Möglichkeiten sind unerschöpflich. Der Gedanke kam mir erst heute früh. Das war nur die Generalprobe... immerhin sind Sie der erste, vor dem sie sich verneigte!" „Und wer wird erste sein?" fragte Heinzel verschmitzt. Rainer winkte lachend ab. Heinzel zog ihn ins Haus. Am Frühstückstisch, an den Frau Heinzel die Männer kategorisch gezwungen hatte, erbat Heinzel zwischen zwei Brötchen eine Erklärung der ungewöhnlichen Vorgänge. Rainer lachte. „Kreiselgesetze, Heinzelmann! Die Kreiselkraft hielt mich waagerecht. Daß sowohl die vordere als auch die hintere Lenksäule ausfahrbar sind wie die seitlichen Storchenbeine, war Ihnen doch bekannt?" Heinzel setzte - ungeachtet des vorwurfsvollen Blicks seiner Frau - die Chrysanthemen vom Tisch, um Rainer besser beobachten zu können. „Dann fahren Sie grundsätzlich waagerecht bergauf oder bergab und gleichen den Neigungswinkel durch die Lenksäulen aus?" „Nein!" wehrte Rainer ab. „Das ist anders: Die Stellung des Kreisels ändert sich nicht, aber er ist beweglich gelagert, wir können demnach die Stellung des Wagens verändern. Wenn wir -200-
beispielsweise einen Berg hinauffahren und der Wagen bliebe waagerecht, dann hinge das Hinterrad in der Luft - wie vorhin das Vorderrad. Das ganze Gewicht des Wagens ruhte also auf dem Vorderrad. Mit der Veränderung des Druckes auf die Räder verändern wir automatisch die Wagenlage zur Kreiselachse und passen sie der Straßenlage an. Blockiert man diese Ausgleichsvorrichtung, dann kommen solche Mätzchen wie vorhin heraus, als ich auf dem Hinterteil Fahrstuhl fuhr. Im Gelände gleicht eine besondere Anpassungsvorrichtung die Unebenheiten ebenfalls durch Ausnutzung des unterschiedlichen Raddruckes aus. Bekommt ein Rad mehr Druck, zieht es sich ein und umgedreht. Das Fahrzeug bleibt also waagerecht, nur die Lenksäulen fahren ein und aus." „Aber die Lenksäulen haben doch eine begrenzte Länge, demzufolge ist doch auch der Winkel begrenzt, den sie ausgleichen können", warf Heinzel unsicher ein. „Ja natürlich, Kollege Heinzel. Reicht die Länge nicht und sind die Vorrichtungen nicht absichtlich blockiert, dann schaltet sich die Straßenausgleichsvorrichtung hinzu, das heißt, die Lage des Wagens zum Kreisel ändert sich, er neigt sich so weit, daß die Räder auf dem Boden bleiben. Aber auch dann ist die Neigung des Wagens viel erträglicher als beim gebräuchlichen Straßenwagen - und Gefälle, die diese Wagen nicht mehr überwinden können, sind für die Hexe kein Hindernis." Heinzel schwieg, und Rainer ließ ihm Zeit, restlose Klarheit zu gewinnen. „Das Wundertier muß ich mir ansehen!" entschied Heinzel und sprang auf. „Nun iß doch erst einmal", sagte seine Frau kopfschüttelnd. „Das verstehst du nicht, Mutter, jetzt schmeckt mir kein Brötchen me hr", wehrte Heinzel ab. An der Hexe nützte Heinzel die Gelegenheit, sich einmal sämtliche technischen Neuheiten vorführen zu lassen. -201-
„Mir schwirrt der Kopf!" gestand er dann mit seiner rauhen, vom Qualm der Triebwerksversuche gebeizten Stimme. „Aber ich frage Ihnen Löcher ins Gehirn... Sie wollten mich sprechen." „Es dreht sich um die Hexe", begann Rainer vorsichtig und warf sich auf den Vordersitz. „Ich will die Hexe auf Gigantum umstellen." Heinzel setzte sich bedächtig neben ihn, bot ihm ein Zigarette an und fragte während des Anzündens: „Gibt es Schwierigkeiten?" „Theoretisch nicht, jedenfalls keine unüberwindlichen. Aber mich interessiert Ihre Meinung als Praktiker." Behutsam zog er die Zeichnung der Hexe aus der Tasche, entfaltete sie und nahm seinen Notizblock mit den Berechnungen zur Hand. „Sehen Sie, hier möchte ich die Schallstrahler unterbringen, von hier an den Luftansaugschacht vergrößern." Sie beugten sich tief über die Zeichnung und gingen Punkt für Punkt des Umbaues durch. „Hier, den Radius würde ich noch vergrößern; beim letzten Triebwerksversuch der TR-S-Reihe haben sich Risse gebildet, der Radius war der gleiche, die Beanspruchungen geringer." Heinzeis Vorschläge beschränkten sich auf Kleinigkeiten, der Entwurf war gründlich durchgearbeitet. Dennoch war Rainer für sie dankbar, sie ersparten zeitraubende Veränderungen, und die Zeit war kostbar. Heinzel war gefangen, er vergaß die Umwelt und schwelgte in Vorfreude. Das war wieder einmal etwas anderes, eine Aufgabe, die vom üblichen Rahmen abwic h. Er freute sich auf die Versuchsfahrten mit Rainer und auf die Schwierigkeiten, die gewiß eintreten würden. Diese Fahrten würden bestimmt nicht langweilig werden, nicht stur verlaufen - Hausberg hatte sich eine kleine -202-
Portion Lausbüberei bewahrt, wenn sie auch niemand bei ihm vermutete. Husarenstückchen waren ganz nach Heinzels Geschmack, man mußte ab und zu auch einmal etwas riskieren, dann spürte man den Wert des Lebens um so deutlicher - und riskant war es vorhin schon gewesen, allein auf theoretische Überlegungen vertrauend, solche Versuche anzustellen. Hausberg war der erste, der sich das leistete! Und er würde solche Dinge auch bei den Versuchsfahrten unternehmen, um den neuen Antriebsstoff auf Herz und Nieren zu prüfen. Pedanterie war Heinzel ein Greuel, er erlebte auf dem Prüfstand oft genug, daß man sich nicht stur an einen bestimmten, Weg halten konnte, daß man beweglich sein mußte und auch in der Wahl der Mittel nicht voreingenommen sein durfte. Deshalb hatte er sich auch aus Splitts in Hausbergs Prüfstandsgruppe versetzen lassen. Splitt hatte „Prinzipien", an die er sich ängstlich klammerte, er mußte seine „Ingenieurehre" bewahren, und die ließ es nicht zu, gewagte und unsichere Experimente durchzuführen, die er vorher nicht genau berechnen konnte. Hausberg war da anders; er vertrat den Standpunkt, daß der Zweck die Mittel heilige, wichtig sei das Ziel und die Tatsache, es erreicht zu haben; wie - das war nicht ausschlaggebend. Er verließ sich manchmal auch auf sein Gefühl und auf das Gefühl seiner Monteure, die er unter Umständen ruhig gewähren ließ, und ergründete das Ergebnis erst nachträglich mathematisch. Dabei hatte er wichtige Erkenntnisse gewinnen können. „Also, wann beginnen wir, Kollege Hausberg?" „Wir? Daraus wird nichts, Heinzelmann, das muß ich allein übernehmen", wehrte Rainer ab. Aker jedoch Heinzels beleidigte Miene sah, setzte er eindringlich hinzu: „So gern ich Ihre Hilfe dabei in Anspruch nehmen möchte, -203-
Heinzelmann, es geht beim besten Willen nicht. Der Umbau ist nicht genehmigt! Es handelt sich um ein Versuchsfahrzeug, bedenken Sie das. An Versuchsfahrzeugen darf nichts verändert werden - Schreyer würde nie seine Zustimmung geben. So unrecht hat er damit übrigens nicht, denn während der Versuchsfahrten der Hexe läuft die Erprobung des Gigantumtriebwerks auf dem Prüfstand. Diese Erfahrungen könnten nach Abschluß der Erprobung auch für die Hexe mit verwendet werden. Mit der Hexe gesondert experimentieren bedeutet also doppelte Anstrengungen, doppelte Fehlerquellen, doppelte Gefahren! Aber ich kann nicht warten, bis die Nullserie der Hexe anläuft, bis mir vielleicht ein anderes Fahrzeug zur Verfügung gestellt wird. Wenn es schiefgeht - und es gibt keinerlei Garantie dagegen -, dann raucht es im Direktorium, und ich werde gargekocht." „Das ist kein Grund, mich auszuschließen l Wenn Sie es riskieren, haben Sie Ihre Gründe... triftige Gründe", widersprach Heinzel heftig. „Allerdings, aber auch Gründe privater Art. Die Erfinderin des Gigantums bezweifelte, daß es möglich sei, ohne große Schwierigkeiten die Gasturbine auf Gigantum umzustellen." Heinzel überlegte kurz, kratzte sich am Hinterkopf, dann grinste er verstohlen. „Ich stelle fest, daß ich Ihre Krankheit kenne. Widersprechen Sie nicht!" polterte er in seiner geraden Art ohne Umschweife. Nun lachte auch Rainer. „Ich widerspreche nicht, Sie Hellseher - aber gerade deshalb ist Ihre Teilnahme nicht möglich. Ich kann privater Dinge wegen nicht Ihr Ansehen aufs Spiel setzen!" sagte Rainer fest. „Muß eine tolle Frau sein, wenn Sie ihretwegen das riskieren", brummte Heinzel. Nach einer Weile fragte er bedächtig: „Aber ihr Zweifel an der schnellen Umstellung ist doch nicht -204-
der einzige Grund?" „Sie sind ein furchtbarer Mensch, wären Sie Untersuchungsrichter geworden", seufzte Rainer auf. „Nun gut, es ist nicht der einzige Grund. Deshalb allein würde ich es nicht riskieren. Mir geht es um die Voraussetzung zu diesem Zweifel. Sie sagte mir, daß nur eine schnelle Umstellung der Kraftfahrzeuge uns vor wirtschaftlichen Auswirkungen der Treibstoffknappheit bewahren kann. Zeit ist also im wahrsten Sinne des Wortes Geld Geld, das unserer Wirtschaft verlorengeht, verstehen Sie? Und deshalb sagte ich eine schnelle Umstellung der Gasturbinen zu. Dieses Mädchen hat gegen den Willen ihres Institutsleiters am Gigantum gearbeitet; deshalb, denke ich - aus genau denselben Perspektiven heraus, nämlich Überwindung der Treibstoffknappheit so bald wie möglich -, kann ich den heimlichen Umbau der Hexe riskieren. Ich möchte diesem Mädchen zeigen, daß wir auch nicht ohne sind. Aber das ist meine Sache!" „Reden Sie doch nicht, Kollege Hausberg, wir vergeuden viel Zeit mit nebensächlichen Erwägungen. Wichtig ist, sobald wie möglich mit dem Umbau fertig zu werden! Das ist nicht Ihr Privatvergnügen, das ist auch meine Angelegenheit, nachdem ich davon weiß. Also beginnen wir gleich mit den Vorbereitungen - ich habe eine guteingerichtete Werkstatt, in der wir den Umbau vornehmen können." „Aber, wenn Kollege Schreyer..." „Kollege Schreyer kann mich im Mondschein besuchen, so sympathisch er mir ist! Übrigens, weshalb hat er Ihnen nicht beigestanden, als gegen Ihren Entwurf Sturm gelaufen wurde?" fragte Heinzel ärgerlich. „Er hat, Heinzelmann, aber er kam zu spät. Er vertrat den Standpunkt, daß wir selbst Kerls genug sind, um uns Gedanken zu machen, und er wollte nicht, daß wir das Gefühl bekämen, von ihm am Gängelband geführt zu werden. Überwundene -205-
Schwierigkeiten vermitteln Kraftgefühl. Als er dann nach dem Rechten sehen wollte, waren wir mit dem Entwurf des kombinierten Raketen-Staustrahlwerkes fertig. Wenn Sie nicht gewesen wären!" „Machen Sie es halblang. Es war nur ein grober Vorschlag; was aus ihm unter Ihren Händen geworden ist, hat mit mir nur wenig zu tun. Das Patent hätten Sie bekommen müssen!" „Streiten wir nicht, Heinzelmann. Also gut, helfen Sie mir, Sie lassen ja doch keine Ruhe."
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Lydia las in ihrem Zimmer den wöchentlichen Bericht über die Entwicklung des industriellen Herstellungsverfahrens des Gigantums, den Dr. Heilbert und Dr. Colmar ihr als Stellvertreterin und erster Assistentin abwechselnd zukommen ließen. Lydia war zerfahren und konnte ihre Gedanken nicht auf den Bericht konzentrieren, mit heißer Unruhe irrten ihre Blicke in immer kürzeren Zeitabständen zur Uhr, als könnte ihr Blick die Zeiger vorantreiben. Sie war voll Erwartung, was der Inhalt der Botschaft sei, die ihr Ingenieur Hausberg angekündigt hatte. Einer freudigen Erwartung, die auf nichts Bestimmtes gerichtet war und die ihr töricht erschien. Doch sowohl die Physikerin als auch die Frau meldeten einen Anspruch auf diese Botschaft an und befehdeten sich eifersüchtig. Die täglichen Gespräche mit Rainer Hausberg waren ihr zur lieben Gewohnheit geworden, sie hatte von ihm längst ein anderes Bild gewonnen. Seine bestimmte und schwungvolle Art in technischen Fragen gefiel ihr, sie vermittelte den Eindruck von Stärke und Mut - und doch hinterließ sie ein Bedauern. Nichts deutete darauf hin, daß er sich bewußt sei, mit einer Frau zu sprechen. Seit einiger Zeit betrachtete sie sich kritisch im Spiegel, wählte morgens so unschlüssig in ihrem Kleiderschrank, daß es bereits ihrer Mutter auffiel, frisierte sich öfter und sorgfältiger und erreichte nur, daß Heilbert sich noch starker um sie bemühte, sie mit Einladungen überhäufte und daß Colmar täglich unglücklicher aussah. Das war ihr mindestens so unangenehm wie Hausbergs -207-
unpersönliche Sachlichkeit Immer wieder rückte sie die Gegenstände auf ihrem Schreibtisch zurecht, ordnete die Unterlagen und ließ den Blick zur Uhr und durch den Raum schweifen, dessen nüchterne Zweckmäßigkeit in allen Dingen die sichere Hand weiblichen Geschmacks verriet. Endlich summte der Bildfemsprecher. Auf dem Bildschirm leuchtete der Ankündigungssatz auf: Es wünscht Sie zu sprechen -. Darunter erschien das Fernsprechzeichen der Raketa-Werke in Dresden. Ein letzter Blick zum Spiegel, ein letzter Griff ins Haar, dann drückte sie auf den Empfangsknopf. Rainers Bild trat aus dem Rahmen, so farbig und plastisch, daß sie versucht war, ihm die Hand zu reichen. Er saß wie sie hinter seinem Schreibtisch, der ebenso wie der ihre eine auffallende Ordnung verriet, die bei angespannter Arbeit mit vielen Unterlagen eigentlich nicht möglich war. „Guten Morgen, verehrte Kollegin!" grüßte er mit scherzhart übertriebener Verbeugung. Lydia kam sie linkisch und verkrampft vor. Betroffen über die Vorstellung, daß er Theater spiele, und doch irgendwie in ihrer Hoffnung bestärkt, nickte sie nur leicht. Ihre Spannung stieg. Was würde er zu sagen haben? „Ich versprach Ihnen eine frohe Botschaft!" fuhr er fort, nun wieder sicher. „Die Konstruktion des Triebwerks ist abgeschlossen - seit heute früh wird gebaut! In einigen Tagen beginnen die Versuche. Sehen Sie, das ist die endgültige Ausführung!" Er hielt eine große Fotografie der Schnittzeichnung des Triebwerkes hoch und erklärte ihr die technischen Einzelheiten. Ein leichtes Bedauern überschattete Lydias Freude. Das war also die angekündigte Nachricht. Aber was hatte sie sonst erwartet? Dennoch folgte sie interessiert der Erläuterung und machte sich Notizen. Rainer war wieder kühl und beherrscht; er -208-
erweckte wieder das Gefühl verhaltener Kraft. Lydia liebte den Siegeswillen an ihm, den er in den letzten Wochen gezeigt hatte, diese zähe Verbissenheit im Kampf mit den Schwierigkeiten. Er hatte seine Erklärung fast beendet, da blickte Rainer auf einmal zur Seite. Lydia bemerkte ein hübsches Mädchen, das zu ihm ins Zimmer getreten war. „Rainer, die Kollegen sind zur Besprechung versammelt", berichtete sie. „Der Reichsbahningenieur ist ebenfalls anwesend." Rainer entschuldigte sich bei Lydia und wandte sich dem Mädchen zu. Sie fuhr überrascht herum und entschuldigte sich verlegen. Sie habe nicht bemerkt, daß Rainer ein Gespräch führe. Er beendete die kurze Verlegenheitspause, indem er sie bekannt machte. „Fräule in Heymer! Fräulein Doktor Schwigtenberg!" Dann bat er Gisela, daß Bräuner schon mit der Besprechung beginnen und vorerst einen grundlegenden Überblick geben möge, da er noch einige wichtige Fragen zu klären habe. Lydia horchte auf. Sollte er doch etwas Besonderes auf dem Herzen haben? Doch als Gisela das Zimmer verlassen hatte, sprach er über nebensächliche Dinge. Lydia spürte, daß er Zeit gewinnen wollte, und machte der peinlichen Inhaltslosigkeit des Gespräches entschlossen ein Ende. „Sie wollten noch einige wichtige Fragen klären?" Rainer stutzte und drehte seinen Drehbleistift, als müßten seine Finger das, was er sagen wollte, vorher abtasten. „Ich wollte Ihnen etwas sagen...", begann er zögernd, „...aber das ist gar nicht so einfach! Es gibt Augenblicke, in denen trotz aller Vorsätze die richtigen Worte fehlen!" Lydia spürte plötzlich eine unbändige Freude. Sie glaubte zu -209-
wissen, was er sagen wollte. „Wenn Sie mich schon heute zum Abschlußversuch einladen wollen - ich nehme dankend an", sagte sie übermütig. „Dort können Sie mir auch die schweren drei Worte sagen, die Ihnen nicht über die Lippen wollen! Und drei Worte sind es doch...?" „Und Ihre Antwort?" fragte er schnell. Sie lachte leise. „So leicht soll man es den Männern nicht machen! Verschieben wir das auf meinen Besuch." „Foltern Sie mich nicht, Lydia!" „Und weshalb nicht? Und überhaupt, wieso foltern?" fragte sie und schüttelte mißbilligend den Kopf. „Weil ich Sie liebe!" sagte er grob, ärgerlich über sich selbst. „Sagen Sie das noch einmal!" „Weil ich Sie liebe!" wiederholte er fest. Sie lauschte dem Klang seiner Stimme nach. Dann lachte sie. Ihr Lachen wärmte wie ein Sonnenstrahl und brachte Licht. „Dann werde ich mir wohl noch überlegen müssen, ob ich mich in die Reichweite Ihrer Tatzen wagen kann, Sie Bär!" Ihre Summe strafte sie Lügen. „Ich werde mir noch heute die Tatzen verschneiden lassen!" versicherte Rainer, plötzlich heiter. Es lag wie ein erleichtertes Aufseufzen in seiner Haltung. Als Rainers Bild längst erloschen war, saß Lydia noch immer am Schreibtisch und starrte auf den weißen Bildschirm. Sie hatte auf einige persönliche Worte gehofft - und erhielt eine Liebeserklärung. Was nun? * -210-
Als Rainer den Sitzungssaal betrat, empfing ihn ein heftiges Stimmengewirr der Techniker und Prüfstandsmonteure. Dichte Rauchschwaden lagen im Raum und verwischten die Umrisse der Anwesenden. Es ging hoch her. Er liebte diese lebhaften Diskussionen, weil sie beweisen, daß die Partner das Projekt als ihr eigenes betrachten - und er liebte sie, weil es nur verschiedene Standpunkte ermöglichen, den strittigen Punkt von allen Seiten zu beleuchten und so jeder Möglichkeit gerecht zu werden. Nach dem Gespräch mit Lydia erfüllte ihn zudem ein berauschendes Kraftgefühl, ein Verlangen, sich mit anderen zu messen. Ungeduldig schaltete er die Ventilatoren ein, die gierig den Qualm in sich hineinfraßen und ihn jenseits der Mauer in die würzige Herbstluft ausstießen. Dann begrüßte Rainerden Reichsbahningenieur, nickte Schreyer zu, der sich zufrieden in seinen Sessel le hnte, und nahm selbst Platz. Nach Bräuners Schlußwort erhob er sich und trat mit federnden Schritten an die Wandtafel. Wartend ließ er seine Blicke durch den Saal schweifen, bis die letzten Gespräche verstummt waren. „Wir kommen jetzt zur Besprechung des Triebwagenentwurfs." Damit entfaltete er den großen Entwurf, den er mit Bräuner und Selbmann vorbereitet hatte. Als er ihn an die Wandtafel heftete, stieg die Spannung unter seinen Zuhörern. Projektiert war ein dreiteiliger, einspuriger Triebwagen mit länglich gewölbter Schnauze. „Der Antrieb und die technischen Daten des Triebwerks sind bekannt, damit brauche ich mich also nicht aufzuhalten. Die Form des Schnelltriebwagens ist bedingt durch seine hohe Reisegeschwindigkeit von mindestens neunhundert -211-
Stundenk ilometer. Wirbelbildende Vorsprünge, Klinken, Leisten und ähnliches mußten auf der Außenhaut vermieden werden. Der Triebwagen ist doppelstöckig und mit allem erforderlichen Komfort ausgestattet. Er ist mit zwei Triebwerken für Antrieb in beiden Richtungen ausgerüstet. Das hintere Triebwerk ist dabei jeweils das Arbeitstriebwerk. Der Reibung und der erhöhten Sicherheit wegen wurde auf die Räder mit doppelten Spurkränzen verzichtet. An ihre Stelle treten glatte Laufräder, die seitliche Führung erfolgt durch Begrenzungsrollen, die im rechten Winkel zum Laufrad stehen und an der Seitenfläche der Schiene laufen. Sicherheitshalber sind außerdem Fangräder vorgesehen, die sich notfalls von unten beiderseits an den Laufschenkelkopf der Schiene legen und ein Entgleisen verhindern." „Augenblick bitte!" unterbrach der schmächtige Reichsbahningenieur. „Diese Radanordnung erfordert Laufflächen an den Schienen, die nicht vorhanden sind!" Rainer nickte lächelnd. „Noch nicht vorhanden sind, Kollege Flottbeck! Wir haben eine Schleifmaschine entwickelt, die an den vorhandenen Schienen diese Laufflächen nachholt. An den üblichen Kontroll- oder Meßtriebwagen montiert, schafft sie diese Flächen beim Überfahren in einem Arbeitsgang. Ich denke, die Reichsbahn wird hier keine Schwierigkeiten machen." Flottbeck verneinte, und Rainer setzte seine Erläuterungen fort. „Um möglichst viel Hilfsaggregate zu sparen, werden die Stabilisierungskreisel durch den Rückstoß mehrerer kleinerer Triebwerke angetrieben, die auf dem Kreiselradumfang angebracht sind und nach dem gleichen Prinzip arbeiten wie das Fahrtriebwerk. Die Kreisel befinden sich in einem verkapselten Gehäuse und sorgen durch entsprechende Ausbildung selbst für den Durchsatz der Luft. In jedem Triebwagenteil befinden sich sicherheitshalber zwei gegenläufige Kreisel. Die Energie für die -212-
elektrischen Einrichtungen, Sicherheits- und Kontrollgeräte sowie für Lichtstrom und Klimaanlage wird durch Generatoren erzeugt, die mit den Kreiseln gekuppelt sind. Für den Stillstand dienen zu diesem Zweck eine große Anzahl Atombatterien. Der Funk wird grundsätzlich durch die Atombatterien gespeist. Ausgerüstet ist der Zug außer mit der üblichen Scheinwerferanlage mit einer kombinierten Radarklarsichtanlage und einem Schienenklanghorchgerät, das Hindernisse oder Defekte an der Schiene, wie Lockerungen der Befestigung, bis zu fünfunddreißig Kilometer Entfernung meldet. Eine kurze Distanz, wenn man bedenkt, daß der Zug bei neunhundert Stundenkilometer in der Minute fünfzehn Kilometer zurücklegt. Ausgestattet wird der Zug mit Fernsehund Bildfernsprech-Anlagen des farbigplastischen Systems. Er wird in beiden Stockwerken von Mittelgängen durchzogen, von denen beiderseits die Kabinen abgehen. Jeweils im Abstand einer Kabinenlänge werden diese Gänge durch Türen unterbrochen, die beim Beschleunigen und beim Bremsen automatisch verriegelt werden." Er schwieg einen Augenblick. „Und nun zu den Schwierigkeiten..." „Moment bitte!" unterbrach der Reichsbahningenieur interessiert. „Die hohe Geschwindigkeit erfordert doch eine erhöhte Fremdbeeinflussung. Was wurde in dieser Beziehung vorgesehen?" „Richtig, das vergaß ich zu erwähnen. Der Zug wird von außen beeinflußt. Er wird also vom Bahnhof aus gestartet, beschleunigt selbsttätig, wird bei geschlossenen Signalen automatisch gestoppt, seine Geschwindigkeit in den weiten Kurven durch Kurvensignale entsprechend dem Kurvendurchmesser und der Schienenschräglage vermindert. Ebenso erfolgt die Steuerung der Einfahrt in die Bahnhöfe vollautomatisch." „Und der Lokführer hat einen ungestörten Schlaf?" fragte -213-
Heinzel spöttisch. „Das könnte Ihnen so passen! Er übt eine Überwachungsfunktion aus, wobei er natürlich durchaus in der Lage ist, im Notfall einzugreifen", widersprach Rainer. „Feine Sache", brummte Heinzel launig. „Aber Sie sprachen vorhin von Schwierigkeiten, die interessieren mich mehr." „Ja, die Schwierigkeiten. Das schwerste Problem ist der Auftrieb, der bei neunhundert Stundenkilometer zu erwarten ist. Ich möchte ihn nicht durch die Fangrollen unter dem Schienenkopf abfangen lassen - das gäbe zu große Reibung und damit Energieverluste, ganz abgesehen vom unruhigen Lauf." Gisela reckte sich auf und fiel eifrig ein: „Wenn kurze, schräggestellte Leitbleche nach Art der Flugzeugtragflächen zuviel Strömungsverluste bringen, dann könnte man das Heck schräg nach oben auslauten lassen, umgekehrt wie beim Kraftwagen." Aber dann biß sie sich mißmutig auf die Lippe. Aussehen würde das! Und nun noch Rothers Einwand: „Und bei der Rückwärtsfahrt, da hebt er schon bei hundert Stundenkilometer das Hinterteil, was?" „Wie wäre es mit einem schwenkbaren Triebwerk, Kollegen?" warf Bräuner in die Diskussion. „Für Karussellfahrten gut geeignet, zugegeben - ansonsten sind Gedankensprünge unerwünscht!" knurrte Rother. Doch Bräuner musterte ihn mitleidig und winkte gönnerhart ab. „Quatsch! Mir kam gerade ein Gedanke: Mit dem schwenkbaren Triebwerk haben wir die Schienenhaftung!" Rainer stutzte, dann rief er freudig aus: „Richtig, das ist die Lösung! Der Ausstoß erfolgt dann schräg nach oben, das ergibt einen Rückstoß, dessen Richtung unterhalb der Waagerechten liegt - damit wäre der Haftdruck gewährleistet! Wir können ihn dann bei entsprechender -214-
Formgebung der Aufbauten während der Fahrt sehr gering halten und beim Bremsen stark erhöhen!" „Ich würde vorschlagen, durch ein SchienenhaftdruckMeßgerät automatisch den Ausstoßwinkel zu steuern, damit in jedem Falle der gleiche Haftdruck gewährleistet wird!" warf Selbmann ein. „Aber wie bremst ihr den Wagen? Wieviel Räder habt ihr denn zum Bremsen?" schnarrte Heinzels Stimme dazwischen. „Je Wagenteil zwei einspurige Gelenk-Drehgestelle mit je sechs Rädern, also insgesamt sechs Drehgestelle mit sechsunddreißig Rädern, dazu zwölf elektromagnetische Schienenbremsen l" gab Rainer bereitwillig Auskunft und wies auf die Zeichnung. „Wie wäre es, wenn ihr das gegenläufige Triebwerk, also das vordere, ebenfalls zum Bremsen verwenden würdet?" schlug Heinzel vor. Alle sahen auf den Entwurf. Rother wandte sich zu Heinzel: „Das ist gut, Heinzelmann! Allerdings muß es zum Bremsen als Raketenbrennkammer laufen, da der Luftstrom entgegengesetzter Richtung ist l" „Übrigens können wir das ruhende Triebwerk während der Fahrt einfahren!" warf Gisela ein. Ehe Rainer antworten konnte, meldete sich der Reichsbahningenieur zum Wort. „Mir ist etwas noch nicht ganz klar", gab er zu bedenken, „wie wirkt sich der Flammenstrahl des Triebwerkes auf den Verkehrsablauf aus? Wie lang wird die Flamme?" „Schätzungsweise fünf bis sechs Meter! Hinzu kommt eine glühendheiße Zone. Die Bahnsteige mü ssen natürlich bei der Abfahrt geräumt, ebenso muß für Luftausgleich in den Hallen gesorgt werden, denn die austretenden heißen Gase entfesseln einen Sturm, der nicht zu verachten ist. Oder aber man umgeht -215-
diese Nachteile und schleppt den Triebwagen mit elektrischen Zugvorrichtungen, die man neben dem Gleis anbringen könnte, aus dem Bahnhof", erwiderte Rainer nachdenklich. Gisela meldete sich ungeduldig. Der Eifer trieb ihr das Blut in die Wangen. „Gisela, bitte!" ermunterte Rainer gespannt. Sie hatte schon oft wertvolle Anregungen gegeben. Etwas zögernd begann Gisela, ihr errötendes Gesicht Bräuner zugewandt: „Soweit ich orientiert bin, ist für den Triebwagen Aluminium als Baustoff vorgesehen?" Als Rainer zustimmte, fuhr sie etwas verlegen fort: „Kollege Bräuner besitzt ein Motorboot, es ist aus einem Kunststoff hergestellt, der sehr widerstandsfähig und zudem sehr billig ist. Könnte man den nicht verwenden?" Hilfesuchend sah sie zu Bräuner. Der kam ihr schnell zu Hilfe, um von ihrer Verlegenheit abzulenken, obwohl ihm ihre Hilflosigkeit und vor allem der vertrauensvolle Blick ausgezeichnet gefiel. „Es handelt sich um Stahloplast - ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht und finde Giselas Vorschlag wertvoll." Nach einiger Überlegung setzte er hinzu: „Die Festigkeitswerte habe ich, sie genügen bestimmt! Mit Stahloplast würden wir sechzig Prozent Gewicht einsparen. Die Montage wäre ebenfalls viel einfacher, zudem würde viel Bauzeit gespart. Daß ich selbst nicht darauf gekommen bin!" Unerwartet schaltete sich Schreyer ein, der sich eigentlich vorgenommen hatte, nur zu beobachten und erst dann einzugreifen, wenn er um Hilfe gebeten wurde. „Wenn ich mich recht erinnere, so habe ich gelesen, daß man diese Plaste durch Pressen durchsichtig machen kann. Erkundigen Sie sich, Kollege Hausberg; wenn es stimmt, dann -216-
hätten wir einen Idealfall. Die Fenster nicht ausgespart, sondern verstärkt und dann auf das Maß der Außenhaut zusammengepreßt, das wären Fenster, wie man sie sich nur wünschen kann! Bei der hohen Geschwindigkeit müssen sowieso starre Fenster vorgesehen werden." Er wandte sich an Gisela: „Wenn die Einsparungsangaben des Kollegen Bräuner stimmen, gibt es eine hohe Beteiligungsprämie für Sie." Sie sank überwältigt in den Sessel zurück. * Rainer schien in den folgenden Wochen sich selbst zu vergessen. Er bemerkte kaum die ersten Schneeflocken, die den Pfosten und Säulen kecke Mützchen überstülpten und ein dickes Wattetuch über die Scheiben des Glasdachs spannten. Selbst die Telefongespräche mit Lydia bereiteten ihm nur kurze Freude; ein flüchtiges Sinnen nach dem Gespräch, dann marschierten wieder die Zahlenkolonnen und lösten ihr Bild in nüchterne Formeln auf. Am Tage pendelte er zwischen der Werkstatt, in der das Triebwerk hergestellt wurde, und den Zeichenmaschinen seiner Abteilung, auf denen die Einzelheiten des Triebwagens Gestalt gewannen. Oder er hockte hinter seinem Schreibtisch und formte aus mathematischen Ergebnissen neue Teile, benutzte das Elektronenhirn als Kompaß im Dschungel konstruktiver Schwierigkeiten. Abends aber arbeitete er mit Heinzel in dessen Werkstatt und bereitete die Austauschteile für den Umbau der Hexe vor. Heinzel verging bald das spöttische Lächeln über den „handwerkelnden Weißkittel". Es schien, als wüchsen Rainers Kräfte mit der Aufgabe. Die tiefe Befriedigung, die ihn erfüllte, -217-
wurde nur durch eine Spannung zwischen ihm und Bräuner getrübt, der ihm unter vier Augen oft zögerndes Verhalten vorwarf, ängstliche Überschätzung nebensächlicher Kleinigkeiten, und ihm prophezeite, daß der Termin nicht gehalten werden könnte, wenn Rainer nicht großzügiger verfahre. Rainer war Bräuner deshalb nicht böse. So würde er gewiß auch denken, wenn er an Bräuners Stelle wäre. Aber auf ihm lastete die Verantwortung, und jetzt, wo er in großen Zügen schaffen, seiner eigenen Idee Gestalt verleihen konnte, wo das gesamte Projekt in seine Hand gegeben war, erkannte er die Bedeutung des Details, aus dem sich das Gesamtprojekt erst zusammensetzt. Doch Bräuner das zu erklären, war unsinnig... Er selber hätte derartige Erörterungen früher auch abgelehnt. Bräuner hatte Feuer gefangen und sich derart in die Sache verbissen, daß es ihm nicht schnell genug ging. Auch in Rainer war ein banges Gefühl. Er trug die Verantwortung für die Arbeit einer ganzen Abteilung, für die umfangreichen staatlichen Mittel. Ob das Rennen mit dem Termin und damit das Rennen mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Treibstoffknappheit gewonnen wurde? Und Lydia? Er mußte sich ihr ebenbürtig zeigen, auf seinem Gebiet etwas Vollwertiges leisten! Die Spannung stieg mit jedem Tag, der den Triebwerksversuch näher brachte. Die Montage auf dem Prütstand begann, hier wurden noch Kleinigkeiten der Versuchsanordnung geändert, dort ein Kabel verlängert oder eine Meßstelle umgesetzt. Endlich kam der Tag, der die Richtigkeit ihrer Berechnungen erweisen mußte. Früh schon versammelten sich die Kollegen auf dem Prüf stand. In den benachbarten Prüfstandsboxen donnerten die -218-
Versuchstriebwerke der anderen Abteilungen und spien ihre Flammendolche auf die Betonbahnen zwischen den Birken und verkrüppelten Heidekiefem, entfachten einen gewaltigen Sturm und beraubten die Umgebung ihres veiträumten, glitzernden Winterzaubers. Mehrere solcher Bahnen liefen von dem großen Prüfstandsgebäude hinweg in die Heide und brachen sich an mächtigen Sandwällen, wohlbegrenzt durch hohe Maschendrahtzäune, damit kein Unbefugter die Bahn kreuze und ein Spielball der grausamen Flammen werde. Die Kollegen der Abteilung „Gigantum" vernahmen nichts von dem Tosen der benachbarten Boxen, das gedämpft durch die gekachelten Wände und die offene Schiebewand der Boxe 9 hereindrang. Sie hatten sich mit Rainer um ihr Triebwerk versammelt, das, auf einem stabilen Bock befestigt, einem dicken Rohrstück ähnlich sah. Es hätte fast harmlos ausgesehen, wären nicht auf dem runden Stahlleib zahlreiche Meßstellen verteilt gewesen, von denen Drähte und Schläuche zur Fahrkabine führten. Heinzel überprüfte noch einmal die Anlage, dann richtete er sich auf. „Alles klar, Kollege Hausberg!" Stolz und Freude leuchteten aus seinen Augen. Es war soweit! „Danke! Alles auf die Plätze, und dann hinein ins Vergnügen!"'ordnete Rainer an und schritt mit den anderen der Pahrkabine zu. Hier verteilten sie sich auf die Plätze und stülpten sich die Kopfhörer und Kehlkopfmikropho ne über. Rainer schloß die Tür und trat hinter das Fahrpult. Dort verhielt er und sah gedankenvoll durch die dicke Panzerglasscheibe auf das Triebwerk, dessen dickes Meßleitungsbündel sich auf ihn zu schlängelte. Wird der Versuch gelingen, stimmen die Berechnungen, zündet das Triebwerk, fliegt es auseinander? Doch sosehr er den Augenblick ersehnt hatte, jetzt zögerte er, Ihm war plötzlich, als -219-
ginge für ihn ein Lebensabschnitt zu Ende, als würde er durch den Versuch ein anderer Mensch. Aber was für einer? In einigen Minuten würde er klüger sein l Ob der Versuch gelang? Er schluckte den Zweifel hinunter und legte das Versuchsprogramm zurecht, in dem die einzelnen Leistungsstufen und Fahrzeiten genau angegeben waren. Die Überlegungen waren so oft geprüft worden, daß es nicht schiefgehen konnte. „Abschnitt eins: Betrieb als Raketenkammer! Sind die Meßposten betriebsbereit?" Die einzelnen Meßposten - jeder Kollege hatte eine andere Arbeit - legten die Versuchsprotokolle zurecht, in die der gemessene Wert jeder Fahrstufe eingetragen wurde, und meldeten ihre Einsatzbereitschaft. „Uhrenvergleich! Es ist genau... 8.10 Uhr!" gab Rainer bekannt. Die Posten stellten ihre Uhren. Dieser Uhrenvergleich war unbedingt notwendig, denn sämtliche Werte mußten zu genau der gleichen Zeit abgenommen werden. Verzögerte sich ein Posten mit der Abnahme und veränderte sich inzwischen der Betriebszustand, so war die ganze Messung wertlos, da erst die Zusammenfassung sämtlicher Werte die Feststellung der wirklichen Leistung ermöglichte. „Achtung!" ertönte Rainers neue Anweisung, dann rückte er den Hauptschalter ein. Da quäkte durchdringend eine Alarmhupe. Die Zugangstür zur Prüfstandsboxe verriegelte sich automatisch, und neben der Tür leuchtete auf einer roten Scheibe die Aufforderung: „N icht stören - Versuch!" „Achtung, ich zünde!" warnte Rainer. Er drückte auf den Fahrschalter. Der Schallstrahler begann zu arbeiten und zerstörte die glasige Hülle des Gigantumkügelchens, das in der -220-
Triebwerkskammer befestigt war. Eine lange Stichflamme schoß aus der Düse, trotz der dicken Wände, trotz der Kopfhörer war ein dumpfer Schlag zu hören. Dann fiel die Flamme in sich zusammen. Die Luft in der Kammer war verbraucht. Rainer öffnete langsam das Sauerstoffventil. Ein stärkerer Schlag erschütterte die Luft, dann stach eine neue Stichflamme aus der Düse. Flüssiger Sauerstoff strömte über das Gigantum, verband sich mit ihm und verließ als brennendes Gasgemisch mit Überschallgeschwindigkeit die Düse. Je weiter Rainer das Ventil öffnete, desto länger wurde die Flamme, desto lauter das Donnern. Die nachströmende Luft bildete gewaltige Wirbel, die als Orkan durch die Halle tobten, der selbst sturmerprobten Seeleuten eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen vermochte und Äolus vor Neid hätte erblassen lassen. Heinzel hatte seinen Hut auf einem Hocker neben der Tür liegenlassen. Er wurde erfaßt und schoß pfeilschnell mit der Flamme aus der Boxe, über die Betonbahn und in steilem Aufwärtsbogen über den Wall, dann entschwand er den Blicken. Dem Hocker erging es nicht besser. Als Rainer den Schub erhöhte, wirbelte er wie eine Strohpuppe davon und verschwand hinter dem Wall, wo er im Maschendraht hängenblieb. „Abschnitt zwei: Versuch als Staustrahlrohr, fertigmachen zur Messung!" erklang Rainers Stimme im Kopfhörer. Die Zeiger der Meßgeräte und die Schreibarme der grafischen Schreiber tanzten und stiegen. Da griff Rainer noch einmal zum Stopphebel und starrte prüfend nach draußen zum Triebwerk. Mit einem Hebeldruck schnitt er das Tosen ab. Die ungewohnte Stille schmerzte, nur langsam gewöhnten sich die Techniker daran. Benommen streiften sie die Kopfhörer zur Seite. „Kollege Heinzel! Wir sehen erst noch einmal nach dem Triebwerk!" -221-
Überlaut fielen Rainers Worte in die Stille. Die betäubten Ohren der Techniker nahmen nur zögernd das gedämpfte Tosen der benachbarten Prüfstandsboxen auf. Die Kollegen blickten verwundert zu Rainer, doch Heinzel nickte nur und schloß sich ihm an, ohne sein Erstaunen auszudrücken. Am Triebwerk hatte sich nichts geändert, lediglich die Düse zeigte eine blaue Färbung. Heinzel fragte, ob er eine andere Düsengröße montieren solle, doch Rainer wehrte ab. Zurückgekehrt, forderte er Bräuner als Hauptprotokollführer auf, einzutragen, daß die Düse Anlauffarben zeige. Währenddessen sah Heinzel die Meßstellenanschlüsse durch und strich noch einmal über das warme Blech des Brennkammerkopfes. „Mach keinen Ärger, Alter!" knurrte er. Mit seinen Händen hatte er das Triebwerk montiert, mit seinen Händen! Da war nichts falsch montiert, keine Schraube nachlässig angezogen, da stimmte alles! Und es lief, es lief! Als er den Pahrstand betrat, blickte sich Rainer fragend im Kreise um. „Alles fertig?" Die Kollegen schoben die Kopfhörer zurecht und nickten. Der Vorschrift entsprechend meldeten sie dennoch ausdrücklich ihre Einsatzbereitschaft, dann wandte sich Rainer an Bräuner. „Günter, bitte vermerken: Start mit Sauerstoff, Betrieb als Staustrahl!" Während Bräuner noch schrieb, mahnte bereits Rainers Stimme: „Fertig!... Achtung, ich zünde!" Bräuner trug die genaue Uhrzeit ein. -222-
Draußen donnerte es auf, ein langes Flammenbündel schoß aus der Düse und blieb zitternd hängen. Die Zeiger stiegen, erreichten eine grüne Markierung. „Achtung, ich schalte um!" schnarrte Rainers Stimme im Kopfhörer und zwang die Blicke nach draußen, wo hinter dem Panzerglas die Luftverdichter anliefen und dem Tosen der Flammen ein steigendes Heulen beifügten. Rainer verfolgte die Manometer. Je höher der Druck der hineingepreßten Luft stieg, desto mehr drosselte er den Sauerstoffdruck. Dann war das Sauerstoffventil geschlossen. Rainer wandte seinen Blick wieder nach draußen. Ein gelbes, langes Flammenbündel züngelte aus der Düse. Jenäher der Zeiger des Manometers und die Kurve der Druckschreiber der roten Höchstleistungsmarke kamen, desto stärker veränderte sich die Flamme. Erst gelb und stumpf, wurde sie bläulichglasklar, kürzer und spitzer. Das Triebwerk preßte sich rüttelnd gegen die Halterung und gab über die Meßgeräte von der Urgewalt der Flammen Kunde, die von den Technikern trocken als Schub bezeichnet wird. Plötzlich fuhr Rainer zusammen. Im Feuerstrahl leuchtete etwas grell auf und sauste glühend davon. Die Flamme wurde unruhiger, größer, huschte hin und her, die Brennkammer begann zu glühen. Wieder schnitt ein Hebeldruck Rainers die Flamme ab. Nur die Turboverdichter heulten noch. Das Glühen verschwand. Als auch die Verdichter schwiegen, stürmten sie nach draußen, während Bräuner pflichtgemäß den Vorgang vermerkte. Beklommen standen sie vor den Trümmern der Kammer. Die Düse fehlte, das Ausstoß-Ende war zerfranst. Sie kamen zu keinem Resultat. Das Material hätte diese Beanspruchung aushalten müssen - darin waren sie sich einig. Eine neue Berechnung brachte auch kein Licht in diesen -223-
Zwischenfall, da die errechnete Beanspruchung der gemessenen entsprach. * Rainer vermutete Materialfehler. Er wiederholte mit neuem Material dasselbe Versuchsprogramm, doch nach der gleichen Betriebsdauer flog die Düse abermals davon und franste die Kammer aus. Die Versuche der nächsten Tage brachten keine Veränderung. Wertvolle Wochen gingen verloren, der Termin rückte näher, die Nervosität stieg. Bräuner war von allen am ungeduldigsten, er verlor zeitweilig die Beherrschung und fuhr seine Kollegen wegen der geringsten Kleinigkeiten an. Schließlich entlud sich ein Teil seines Grimmes auf Rainer. Rainer hatte einen Entwurf Giselas, der für die Inneneinrichtung des Triebwagens verstellbare Polstersessel vorsah, abgelehnt. Die Rückenlehne sollte entsprechend der Fahrtrichtung umzuklappen und außerdem in jede Rückenlage zu verstellen sein. Rainer hatte Bedenken, daß sie dem Anfahrdruck nicht gewachsen wären, und schlug eine bessere Lösung vor. Bräuner, der mit Rainer die Versuchsanordnung zum wiederholten Male durchsprach, fuhr hoch. „Immer diesen verdammten Quatsch! Mit solchem Unsinn verplempern wir unsere Zeit Der Termin rückt immer näher, und wir befassen uns mit Kippsesseln! Verdammt, wir sind doch keine Stuhlbauer! Pfeif darauf, ob die Sessel mit Zähnen oder Stellschrauben ausgefühlt werden, leimt sie doch mit Alleskleber! Menschenskinder, ich habe den Mist hier satt, gründlich satt! Wir haben derartige Sorgen wie die zerfransten Brennkammern, und du befaßt dich mit solchem Unsinn!" brüllte er Rainer an. -224-
Gisela musterte ihn mißbilligend und verließ ohne ein Wort den Raum. Rainer aber sagte mit bedrohlicher Ruhe: „Wenn du wieder normal bist, sprechen wir weiter!" und wies mit eindeutiger Handbewegung nach der Tür. Draußen traf Bräuner Gisela und schimpfte weiter. „Dich mit solchem Blödsinn zu schikanieren! Er ist noch übler als Splitt!" Gisela schüttelte den Kopf. „Du bist im Unrecht, Günter! Es wäre gut, wenn du dich entschuldigst! Wenn die Versuche auch nicht termingemäß abgeschlossen werden sollten, deshalb können wir doch den Terminplan des Triebwagens einhalten! Und Rainers Vorschlag für die Kippsessel ist besser! Entschieden besser!" „Du mit deinen Kippsesseln! Dich hat er angesteckt! Immer nur Rainer hat recht, ich bin ja ein alter Esel! Und du verlangst, ich solle mich entschuldigen? Ausgerechnet du?" brauste er auf. Sie schwieg. „Anstatt dich zu freuen, daß ich dir den Rücken stärke, gibst du Rainer auch noch recht!" Er musterte sie wütend. „Na ja", setzte er bifter hinzu; „wirst ja wohl deine Gründe haben, schließlich ist er nicht unsympathisch..." Gisela wurde ble ich, ihr Mund schmal. „Laß mich allein, ich will dich nicht mehr sehen! Scheusal!" fauchte sie. Gekränkt zog Bräuner ab. Um allein zu sein, lief er auf den Prüfstand. Er mußte dem Geheimnis auf die Spur kommen. Unterwegs begegnete er Splitt, der die Auseinandersetzung mit Rainer durch die Tür gehört hatte. „Machen Sie sich nichts daraus, Kollege Bräuner!" begann er vertraulich. „Manchem steigt eben die Stellung zu Kopf! Als Abteilungsleiter entpuppen sich die Menschen! Und die -225-
Unfähigsten sind die Schlimmsten!" Bräuner ging auf ihn zu und faßte ihn mit eisiger Ruhe am obersten Mantelknopf. „Ich will Ihnen mal was sagen. Sie lächerlicher Intrigant! Zehn von Ihrer Sorte wiegen noch nicht einen Hausberg auf! Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre Angelegenheiten... und versuchen Sie nie wieder, aus meinen persönlichen Dingen für sich Kapital zu schlagen, sonst lernen Sie mich kennen! Mich können Sie nicht vor Ihren Wagen spannen, ich habe Sie durchschaut - Hausbergs Posten käme Ihnen zupaß, was? Aber solange ich in der Abteilung bin, werden Sie das nicht erleben!" Damit drehte er sich um und verließ den verdatterten Splitt. „Das ist unerhört!" stammelte Splitt und rang nach Fassung. „Unerhört ist, daß Sie von mir glauben, ich könnte wegen unterschiedlichen Ansichten einem guten Kollegen in den Rücken fallen; einem guten Kollegen, Splitt! Und das hofften Sie doch? Ein Versagen Hausbergs wäre Ihnen doch sehr angenehm, nicht wahr? Für was halten Sie mich denn? Menschenskind, wir müssen den Termin halten, verstehen Sie? Und Sie zetteln Intrigen an, pfui Teufel! Aber was verstehen Sie davon!" rief Bräuner und wandte sich endgültig ab. Er fühlte sich erleichtert, als er den Prüfstand betrat. * In diesen Tagen wurde der Umbau der Hexe beendet. Die Versuchsfahrten begannen. Rainer und Heinzel staunten, als wider Erwarten das Material hielt und keinerlei Veränderungen zeigte. „Heinzelmann!" sagte Rainer nach reiflicher Überlegung. „Heinzelmann, passen Sie gut auf! Es werden für die Triebwerkversuche sofort zwei Austrittsteile zur Reserve -226-
hergestellt! Ebenso zwei Düsen! Die Reserveteile werden geheim- und unter Verschluß gehalten! Niemand erfährt davon!" Heinzel nickte verwundert und schloß die Turbinenabdeckung. Dann richtete er sich auf. „Und weiter? Zum Ansehen werden sie wohl nicht hergestellt?" Rainer lachte. „Die Hauptsache kommt noch: Eine halbe Stunde vor den Versuchen werden die Austrittsteile ausgewechselt, heimlich! Ich werde dafür sorgen, daß Sie allein bleiben. Sie verlassen die Versuchsboxe dann nicht mehr bis zum Versuch!" So geschah es. Jetzt hielt die Kammer allen Beanspruchungen stand, eifrig stürzten sich die Techniker in die Versuche und versuchten den Rückstand aufzuholen.
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Ingenieur Splitt lehnte am Fenster und starrte verbittert in den Wintertag. Doch er sah nicht das zarte Spiel der Flocken und hörte nicht das entfernte Dröhnen der Versuchstriebwerke auf dem Prüfstand.. Ob sie liefen oder nicht, es ließ ihn kalt, denn das wichtigste Triebwerk schwieg: Hausbergs Gigantumtriebwerk! Dieses Schweigen aber hieß: Trotz allem vorfristige Fertigstellung des Triebwerks der Gigantumabteilung - hieß: Morgen Abnahmeversuch durch eine Regierungskommission - hieß: Hausbergs großer Tag, der Tag seines Triumphes brach an hieß: Seine, Splitts, Erwartungen erfüllten sich nicht... Wie ungerecht es doch auf der Welt zuging! Da hatte er sich geplagt, hatte gebüffelt, Erfahrungen gesammelt, hatte ein Leben lang auf die große Chance gewartet - und nun kam ein junger Hüpfer, schnappte ihm die große Aufgabe vor der Nase weg und feierte Triumphe! Es waren Siege über ihn, Splitt, den Alten! Machtlos war er, machtlos... Machtlos? Es mußte etwas geschehen, er mußte dem Schicksal in die Zügel fallen! Ihm schien plötzlich, als entschiede dieser Versuch auch sein Schicksal, als hinge die Erfüllung aller Wünsche, die er hegte, nur davon ab, ob dieser Versuch mißlang oder nicht. Dem wollte er nicht untätig gegenüberstehen... Er gab nicht freiwillig auf und räumte kampflos das Feld! Hausbergs Platz gebührte ihm, und es la g nun an ihm, Splitt, ihn sich zu erobern! Er würde es diesem grünen Gemüse schon zeigen... Unfair? - Notwehr! Prächtig, wie Hausbergs Düsen davongesegelt waren. Schönere Fransen hatte kein Stromer an seinem Hosenumschlag -228-
aufzuweisen als Hausberg an seiner Brennkammer, jeder Scheuerlappen mußte vor Neid erblassen! Unfair? War es fair, ihn an die Wand zu drücken, hatten sie es nicht schon erreicht? Da gaukelte ihm die Verbitterung den Traum der vergangenen Nacht noch einmal vor: Riesengroß wuchs der Staatssekretär vor Hausberg, dessen Scheitelhöhe gerade der Dicke von Hänleins Schuhsohlen gleichkam. Höhnisch lächelnd zeigte Hänlein auf ein Häufchen ausgefranstes glühendes Blech, das in nichts mehr das Gigantumtriebwerk verriet. Laut und hallend dröhnte seine Stimme durch die Boxen: Sie sind unfähig, Sie junger Hüpfer, unfähig - verstehen Sie! Ihre Abteilung übernimmt der bewährte Ingenieur Splitt! Dann hob er seine riesige Fußspitze, schob sie über Hausberg, trat zu... Aus, mein Freund! Ausgefranstes Triebwerk, grübelte Splitt, und die Verbitterung fraß gierig den letzten Rest Vernunft, ausgefranstes Triebwerk... aber sicher ließ Hausberg wieder das Hinterteil des Triebwerks auswechseln. Blieb nur das Vorderteil... Das dauerte zwar etwas länger und war gefährlicher, aber der Abnahmeversuch galt „Herz und Nieren", war langwierig, gründlich und somit ausreichend! Na, und wer auf einen Prüfstand geht, muß mit umherfliegenden Teilen rechnen... Nicht schlecht übrigens, wenn dem Vorbild an Arbeitsschutz mal eine Panne passierte! * Der aufgehende Mond fand, als er durch das Glasdach des Prüfstandes lugte, den kleinen Splitt, wie er vorsichtig den Verbindungsgang zur Prüfstandsboxe „Gigantum" entlangschlich. Behutsam hielt er einen Gummiball mit Hartgummizerstäuberdüse in Händen, tastete sich Schritt für Schritt über die Fliesen und sah im Geiste schon, wie der Nebel aus seinem Zerstäuber sich auf das Vorderteil des Triebwerks -229-
senkte und gierig den Stahl zerfraß. Als er den Universalschlüssel in die Boxentür einsetzen wollte, fuhr er zusammen. Am Haupttor erklang gedämpftes Klirren! Mit einem Satz verschwand er hinter einem zweirädrigen Schaumlöschgerät und beobachtete zitternd das Tor. Langsam öffnete sich dessen Flügel, eine vermummte Gestalt schob sich herein und hastete dann, behutsam auftretend, durch den Verbindungsgang. An der Tür, vor der Splitt schon gestanden hatte, verhielt der Vermummte seinen Schritt, öffnete fachkundig das Schloß und schob die Tür auf. Splitt vergaß seine Furcht und starrte gebannt auf die Gestalt. Wer war das nur? Die Schultern... den kannte er doch? Verdammt - eine Wolke schob sich vor den Mond! Da, eine abgeblendete Taschenlampe strahlte auf! Splitt sah, wie eine Hand einige dunkle Stäbe aus der Tasche zog. Vielleicht erspart der mir die Arbeit? dachte Splitt. Dann kann ich verschwinden und habe mit der Sache nichts zu tun I Dieser Gedanke erleichterte ihn, denn trotz aller Verbitterung war ihm nicht wohl, irgendwo in seinem Innern lehnte sich etwas auf, schwach zwar, viel schwächer als sein keuchender Haß, aber unüberhörbar! Als er gerade unbemerkt verschwinden wollte, kam ihm eine Erleuchtung. Nur Hausberg selber konnte der unbekannte Bekannte sein! Vermutlich wollte er durch irgendeinen faulen Trick sich ein überragendes Prüfergebnis sichern! Und richtig! Er sah, wie der Vermummte das Triebwerk öffnete, sachkundig und geschickt, und wie er die geheimnisvollen dunklen Stäbe in die hohlen Halterungsstützen des Gigantums schob und die Stützen wieder verschloß. Hausbergs Erfolge hatten Splitt niemals Achtung abgerungen, aber das imponierte ihm. Übrigens war das eine nette Sache! Jetzt konnte er auf ganz -230-
reellem Wege Hausberg zu Fall bringen. Er würde das Zeug entfernen - und morgen...! Wenn Hausberg es nicht nötig hätte, würde er nicht mit gezinkten Karten spielen! Arbeitete dieser junge Hüpfer doch tatsächlich mit Zusatztreibstoff, um die Leistung zu erhöhen... nicht schlecht, wirklich nicht schlecht! Jetzt fühlte Splitt eine riesige Erleichterung, als wären Zentner von seiner Schulter genommen - er brauchte nicht zur Notwehr zu greifen! Plötzlich war sie wieder da, die Erinnerung an die Stunden der Angst und des Abscheus vor sich selbst, als er Hausbergs Vorsichtsmaßnahme bemerkte. Damals hatte er sich geschworen, nie wieder zu solchen Mitteln zu greifen, sich nie wieder hinreißen zu lassen... bis dann gestern die Versuchsreihe abgeschlossen und für heute die Abnahme bekanntgegeben wurde. Da wuchs seine Verbitterung von neuem und wurde zu brennendem Haß. Als der Vermummte längst den Prüfstand verlassen hatte, löste sich Splitt von dem Schaumlöschgerät und verschaffte sich Zutritt zur Boxe. Er wollte diesem Hausberg schon die gezinkten Karten aus dem Spiel nehmen! Das Triebwerk ruhte wie vorher - als er es jedoch vorsichtig öffnete und die dunklen Stäbe aus der Halterung zog, um die Art des Zusatztreibstoffs zu prüfen, pfiff er unwillkürlich durch die Zähne. „Donnerwetter... hochbrisanter Sprengstoff l Also doch nicht Hausberg!" * Lydia musterte verstohlen den Professor, dem sie zur täglichen Berichterstattung gegenübersaß. Er streifte bedächtig die Asche seiner Zigarre ab und seufzte -231-
ergeben auf. „Das ist also noch nicht alles!" „Sie erraten es, Herr Professor, die Hauptsache kommt noch." „Na, dann schießen Sie los!" Er lehnte sich zurück. Lydia blätterte in ihrem Versuchsprotokoll. „Es handelt sich um die grönländische Seuche, um die progressive Lähmung. Ich darf noch einmal kurz zusammenfassen, was die Zusammenarbeit der europäischen Forschungsinstitute bisher ergab. Sie entwickelt sich in drei Stadien und ist im dritten infektiös. Die Inkubationszeit beträgt vermutlich drei Wochen. Im ersten Stadium, das etwa zwei Wochen dauert, wechselt Erregbarkeit mit körperlichen Schwächeanfällen, Schweißausbrüchen, längeren Ohnmächten und verzögertem Puls..." „Paßt auf viele Krankheiten, die richtige Diagnose dürfte den Medizinern nicht leichtfallen", warf Schlichtmann skeptisch ein. „Im zweiten Stadium um so leichter! Diese Phase dauert sechs Wochen, es zeigt sich eine Lähmung der Glieder, wobei die Arme beginnen, sie breitet sich rasch auf den ganzer! Körper aus und greift im dritten Stadium infolge Toxikose die inneren Organe wie Milz, Leber und Galle an. Sie ist also letal, und der Exitus erfolgt durch Herzlähmung." Der Professor hob beschwörend die Arme. „Letal, Exitus - medizinischer Trost für irdische Grausamkeiten. Ob ihr Mediziner euch noch einmal Deutsch angewöhnt?" Lydia überhörte diesen Ausfall des Professors, der ständig bemüht war, das Latein durch das Deutsch zu ersetzen. Sie überhörte sogar, daß er sie als Medizinerin angesprochen hatte. Der Bericht hielt sie völlig im Bann. „Gestern wurde - um zum eigentlichen Bericht zu kommen im Krankheitsverlauf der Versuchsratten eine überraschende -232-
Stagnation festgestellt." „Waas?" Er sprang auf und stieß den Stuhl zurück. Beide Hände auf die Tischplatte gestützt, reckte er seinen Kopf vor, als wollte er der weiteren Erklärung entgegenkommen. „Leider waren die Tiere nach einigen Stunden sämtlich verendet" Da ließ er sich zurückfallen und hob hilflos die Schultern. „Die Untersuchung ergab", fuhr Lydia ungerührt fort, ,,daß die Viren zwar sämtlich abgetötet, die Tiere jedoch an organischer Zersetzung verendet sind. Rückstände lassen auf das VersuchsPräparat Z 205 der landwirtschaftlichen Abteilung schließen. Entsprechende Recherchen, wie Z 205 in die Rattenkäfige kam, werden zur Zeit noch durchgeführt." „Operation gelungen - Patient tot", murmelte er bitter. „Es ist das alte Lied." „Keineswegs", widersprach Lydia mit leisem Tadel. „Jetzt wissen wir doch, daß es ein Mittel gibt, das den Virus tötet!" „Und den Patienten der Einfachheit halber gleich mit", setzte er abweisend fort. „Wir müssen eine Verbindung finden, die dem Körper bekommt, Herr Professor, eine Verbindung, die wir intravenös verwenden, damit sie mit dem Blut in den ganzen Körper dringt, nicht erst über den Umweg Magen und Darm. Es sterben ständig Menschen, Herr Professor!" mahnte sie flehend. „Bin ich ein Strolch, dem man das erklären muß?" entgegnete er unwillig. „Was ist zu tun? Darauf kommt es jetzt an. Welche Maßnahmen müssen getroffen werden?" „Ich bitte Sie, in Berlin um schnellste Erteilung eines Forschungsauftrages zu ersuchen. Wir beginnen noch heute mit entsprechenden Vorarbeiten - es ist jedoch unbedingt erforderlich, daß man uns über die neuen Ergebnisse der europäischen Forschungskommission auf dem laufenden hält." -233-
Schlichtmann nickte eifrig und erhob sich. „Gut, Lydia, fahren Sie morgen nach Berlin und reden Sie selbst mit Staatssekretär Hänlein!" „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich davon befreien würden - diese Sache kann ebensogut Dr. Heilbert erledigen, er ist über alles informiert" Der Professor war erstaunt, das kannte er bei Lydia nicht, derartige Aufträge hatte sie immer mit Freuden übernommen. „Ich bin überrascht, Doktor Schwigtenberg - wollen Sie sich erklären?" „Dresden hat mich für morgen zum Abnahmeversuch ejngeladen - davon hängt für mich sehr viel ab!" erwiderte sie freimütig. Der Professor sah sie prüfend an. „Privat?" Sie nickte. „Gut, sagen Sie Doktor Heilbert Bescheid!" bestimmte er und wandte sich seinem Schreibtisch zu. In der Tür verhielt Lydia plötzlich den Schritt. „Herr Professor! Ich übernehme den Auftrag doch!" sagte sie und kam zurück. Er schüttelte den Kopf. „Das kann Heilbert - Sie fahren nach Dresden!" „Ich fahre nach Dresden und übernehme dennoch den Auftrag, Herr Professor!" widersprach sie. „Mir fällt gerade ein, daß Staatssekretär Hänlein morgen auch in Dresden sein wird!" „Einverstanden! Wann fahren Sie?" „Heute mittagl" Schlichtmann stutzte, dann lächelte er verständnisinnig. „Also dann, Lydia - viel Erfolg und... viel Vergnügen!" -234-
* Als Lydia mittags heimkehrte, fiel sie beinahe über einen kleinen Koffer, der in der Diele stand. Nach der Begrüßung fragte sie gedehnt: „Sag mal, Muttsch - was steht denn draußen in der Diele?" Frau Schwigtenberg strich sich die Schürze glatt und antwortete unbefangen: „Dein Koffer, ich habe ihn schon gepackt!" „Dann verrate mir doch mal, was du alles eingepackt hast... oder nein, sag mir's lieber nicht! Ich suche mir schon selber aus, was ich mitnehme." „Das brauchst du doch alles, Kind, wirklich...", sagte Frau Schwigtenberg beschwörend, doch Lydia eilte davon und schleppte den Koffer in ihr Zimmer. „Muttsch, was ziehe ich am besten an?" hörte Frau Schwigtenberg rufen. Sie legte wie elektrisiert das Frottiertuch aus der Hand, das sie Lydia noch unbedingt mitgeben mußte. Sprachlos hastete sie durch die Diele. Ihre selbständige Tochter wußte nicht, was sie anziehen sollte? Verstört stürzte sie in Lydias Zimmer. Wahllos lagen Kleider und Blusen über das Bett und die Polsterhocker verstreut. „Was du anziehen sollst, ja... weißt du denn das nicht?" „Aber Muttsch, würde ich dann fragen?" Das Gesicht der Mutter erhellte sich. Sie ahnte etwas. „Nimm doch das Winterdirndl mit dem geschnürten Mieder!" sagte sie listig. „Das sieht besonders vorteilhaft aus!" Gespannt wartete sie auf Lydias Widerspruch. Lydia überlegte nur kurz, dann schlüpfte sie ohne ein Wort in das Dirndl, trat vor den Spiegel und knüpfte die Miederschnüre enger. Ihre Mutter lächelte vielsagend. Es war nicht Lydias Gewohnheit, ihre Figur zu betonen! -235-
Lydia aber trat an den Kleiderschrank, wählte ein Winterund ein Abendkleid, rollte beide zusammen und stopfte sie neben den Reiseutensilien, die keine Frau zu entbehren vermag, in ihre kleine Reisetasche. Ihre Mutter beobachtete kopfschüttelnd dieses gewaltsame Verfahren. Daran konnte sie sich nie gewöhnen, obwohl die Stoffe völlig knitterfrei waren und durch diese Behandlung nichts von ihrer Gefälligkeit einbüßten. Wie sorgsam verpackte man früher Kleider, und mußte sie dann doch noch bügeln. Die jungen Frauen von heute aber rollten sie lieblos zusammen und verstauten, sie wie Herrensocken! Lydia sah den entrüsteten Blick und lachte auf. „Ich weiß, Muttsch, früher war es anders! Du nennst im Innern noch immer das liederlich, was heute praktisch ist!" „Ich würde den Koffer nehmen!" beharrte Frau Schwigtenberg. „Eben! Und würdest dich gern schleppen, einen unbequemen Aufwand treiben, ohne auch nur einen kleinen Vorteil gegenüber unserer Methode zu gewinnen! Gewohnheiten richten sich nach den Umständen! Früher trugen Männer Rüstungen, die stellte man in die Ecke - versuche das doch mal mit 'nem Herrenanzug!" Ihre Mutter mußte wider Willen lachen. „Der Vergleich hinkt!" „Zugegeben, das tun alle Vergleiche... aber recht habe ich doch!" behauptete Lydia und schloß resolut ihre Reisetasche. „Ist schon gut, Mädel, die menschliche Gewohnheit hinkt immer etwas hinter der menschlichen Entwicklung her!" „Gewohnheit ist überhaupt ein Hemmschuh jeder Entwicklung!" sagte Lydia augenzwinkernd. Übermütig und doch etwas befangen setzte sie hinzu: „Und damit meine Entwicklung nicht gehemmt wird, -236-
Muttsch, trenne dich bitte vorsichtshalber von der Vorstellung, daß ich allein bin! Nach meiner Rückkehr erzähle ich dir alles!" An diese Bitte dachte Frau Schwigtenberg noch, als Lydia längst aus dem Haus geweht war. Kopfschüttelnd und ein wenig seufzend ließ sie sich in den Sessel fallen und schloß sinnend die Augen. Wie Liebe doch die Menschen wandelt... Ob ihre Hoffnungen in Erfüllung gingen? Hieß es nicht, daß Liebe mit Blindheit schlage und selbst die größten Fehler im Glorienschein erstrahlen lasse? War das nicht der Anfang eines Weges, der von ihr wegführte? Aber war es ihrer Mutter nicht auch so ergangen? Und lag es nicht auch an der Mutter, ob sie ein Kind verlor oder eins hinzugewann? Seufzend erhob sie sich aus dem Sessel und räumte die Zeugen des eiligen Aufbruchs - Koffer und Kleider - in den Schrank zurück. * Die große Uhr auf dem Kuppelbau des Dresdener Hauptbahnhofs schlug drei Viertel vier. Majestätisch überragte die neue Kuppel die umliegenden Straßenzüge. Die Dächer der neuen , Wohnblocks und Geschäftshäuser leuchteten verschneit zu ihr herauf. Zwischen ihnen zogen sich schnurgerade die Betonbahnen der Straßen dahin, frei von Schnee, ja, auf den Grünstreifen leuchteten bunte Blumensterne, die sich unter der Obhut der vielen Infrarotstrahler zu voller Pracht entfalteten. Gedämpft brandete der Verkehrslärm herauf. Durch das Verkehrsgetriebe bahnte sich die Hexe ihren Weg. Vor dem Haupteingang des Bahnhofs sprang Rainer heraus und eilte mit langen Schritten einem Blumenstand zu. -237-
„Wieviel rote Rosen wünschen Sie denn?" fragte lächelnd die Verkäuferin. „Sechs... aber woher wissen Sie?" fragte er verdutzt. „Das war keine Hellseherei!" antwortete sie scharmant, während sie ihm mit geübten Griffen Rosen und Grünstengel band. Mit dem Strauß unter dem Arm stürmte er die Rolltreppe hinauf, die den Hochbahntunnel, die Nah- und die Fernbahnsteige miteinander verband. Beim Überholen streifte er einen aufwärtsfahrenden älteren Herrn, der sich geduldig von der Treppe hinauftragen ließ und trotz Rainers Entschuldigung ihm unwillig hinterherbellte: „Unverschämtheit! Sich einfach vorzudrängeln! Keine Achtung vor dem Alter! Wenn wir Älteren Zeit haben, könnt ihr... Diese Jugend heute! In unserer Jugend..." „Gab es immerhin auch Leute, die verliebt waren und es eilig hatten! Oder sind Sie als Opa auf die Welt gekommen?" fuhr eine resolute Frauenstimme dazwischen. „Legen Sie doch mal eine andre Platte auf, bei der haben sich schon die alten Germanen gelangweilt!" Rainer hörte noch das Gelächter der Umstehenden, dann hatte er den obersten Treppenabsatz erreicht. „Achtung, Achtung! Fernbahnsteig fünf! Bitte von der Bahnsteigkante zurücktreten. Schnelltriebwagen RomMünchen-PragDresden-Berlin- Hamburg fährt ein!" hallte es über den Bahnsteig. Das verworrene Summen, aus dem nur bisweilen vereinzelte Gesprächsfetzen hervortraten, schwoll zum Brausen an, als der Einschienentriebwagen mit kreischenden Bremsen in die Halle rollte. Kaum hielt er, da schoben sich die Türen auseinander und ergossen sich Menschentrauben aus seinem Inneren, vereinten sich zu einem breiten Strom, der sich der Treppe zuwandte. -238-
Rainer hielt nur mühsam dem Drängen stand. Doch sein Spähen war vergebens. Das Getriebe lichtete sich bereits, löste sich in einzelne Gruppen auf, und seine Freude wehrte sich verzweifelt gegen die Enttäuschung, die ihn bescblich. Da erklang neben ihm ein leises Lache n. Überrascht fuhr er herum, dann erkannte er zwischen dem weiten Kragen eines silbergrauen Pelzmantels und unter einer Pelzkappe Lydias feines Gesicht. „Da bin ich! Ich hab's gewagt. Sie Bär!" sagte sie, und ihre Augen sprühten Freude. Aber in ihrer Stimme lag ein Hauch Überlegenheit, der ihm nicht gefiel. Nach der Begrüßung wies sie auf die Rosen, die vergessen unter seinem Arm klemmten. „Darf ich sie Ihnen abnehmen? Rosen sind noch mehr auf liebevolle Behandlung angewiesen als wir Frauen!" Erst als sie vor der Hexe standen, verlor Rainer seine Beklemmung. „Fräulein Doktor, das ist die Hexe!" „Ein eleganter Kinderschreck", sagte sie überrascht. „Übrigens entsinne ich mich, daß Sie mich schon mit dem Vornamen angesprochen haben, Rainer. Bleiben wir dabei!" Sie war sicherer als er, überlegener. „Gern, Lydia. Dieser elegante Kinderschreck birgt für Sie eine Überraschung!" zwang er sich, leichthin zu sagen. „Und das wäre?" „Gigantumbetrieb l" „Im Ernst? Erzählen Sie!" forderte sie überrascht. Doch Rainer wehrte ab und half ihr in den Wagen. „Morgen, Lydia, morgen! Heute gibt es soviel zu erzählen, Privates! Morgen sind wir wieder Techniker, heute aber..." In schneller Fahrt durchquerten sie die Stadt und tauchten im Verkehrsgetriebe unter, über das die vielfarbigen Lichtwellen -239-
der Leuchtreklame dahinliefen. Schon von weitem grüßte hoch über den Dächern der Stadt der Name „Elbflorenz", dessen gleißende Buchstaben in der aufkommenden Dunkelheit stetig an Deutlichkeit gewannen. Die Hexe rollte direkt darauf zu. „Ist das das bekannte Hotel?" fragte sie. „Unser Ziel, Ihr heutiges Zuhause!" Die Hexe hielt. Ein Boy sprang hinzu, öffnete die Tür und bemächtigte sich Lydias Tasche. Sein Interesse für den Wagen beherrschte er meisterhaft, um ihm unbeobachtet in einem freien Augenblick desto ausgiebiger zu frönen. Der Fahrstuhl brachte sie in schneller Fahrt in das vierzehnte Stockwerk zur Hotelgaststätte. Während Lydia ihr Zimmer belegte, wählte er im Spiegelsaal einen Tisch am Fenster und bestellte einen Imbiß. Unter ihm breitete sich das flimmernde Lichtermeer der Großstadt aus, das breite Band der Elbe glitzerte in springenden Reflexen, über dem fernen Flughafen drehte sich der Lichtbalken eines Scheinwerfers. Betroffen sah er auf, als Lydia durch die Flügeltür trat und auf ihn zuschritt. Sie trug ein duftiges Abendkleid, über dessen weichen Stoff bei jeder Bewegung eine harmonische Fülle warmer Farben lief, die sich ständig veränderten. Der selbstsichere Stolz, der aus ihrer Haltung und ihrem Gesichtsausdruck sprach, gefiel ihm, erfüllte ihn jedoch gleichzeitig mit Bedauern. Er war zu sehr Mann, um nicht die Schönheit der geliebten Frau mit trunkenen Augen in sich aufzunehmen, doch etwas weniger kühler Stolz, weniger liebenswürdige Unnahbarkeit wäre ihm beinahe lieber gewesen. Es drängte ihn, sich schnell Gewißheit zu verschaffen. Und während er ihr die angestrahlten Bauwerke, den Zwinger, das Schloß, die Frauenkirche und die Staatsoper zeigte, die von ihrem luftigen Standort gut zu erkennen waren, sann er nach -240-
einer Möglichkeit zu ungestörtem Gespräch, denn der helle und öffentliche Raum schien ihm nicht der rechte Ort. Zudem bereitete ihm die Einleitung des persönlichen Gesprächs einige Sorgen. Er konnte doch nicht mit der Tür ins Haus fallen. So klar und gewandt er in Gedanken schon in den letzten Tagen diese Klippe überwunden hatte, so läppisch und nichtssagend erschienen ihm jetzt seine wohlgesetzten Worte, mit denen er ihre Entscheidung herbeiführen wollte. Nach dem Imbiß, bei dem lediglich die ersten tastenden Worte fielen, wies er aus dem Fenster. „Sehen Sie dort unten im Lichtermeer die leuchtenden Schlangen?" fragte er und wies auf die Schnellbahnzüge, die kometengleich durch das Stadtbild huschten. „Vorstadtverkehr! In wenigen Minuten sind sie außerhalb der Stadt!" „Das glaubt man kaum, soweit man sieht, ein Lichterteppich wo ist das Ende?" fragte sie und wandte sich um. „Es gibt kein Ende für uns, es gibt nur einen Anfang!" „Und wo ist der Anfang?" fragte sie mit feinem Spott, der deutlich spüren ließ, daß sie sich der Doppelsinnigkeit bewußt war. „Er kann überall dort sein, wo wir allein sind!" Lydia blickte ihm forschend in die Augen, ernst und fragend dann schien es ihm, als breche eine milchige Eisdecke auf und gebe ihm den Blick frei in klare Tiefe. Die Spannung zwischen ihnen zündete ein wärmendes Lächeln auf ihrer beider Lippen. „Gut", sagte sie dann leise, „gut, Rainer... am Anfang war das Wort!" Dann wandte sie sich an den Ober. „Herr Ober! Bitte bringen Sie uns eine Flasche RomanéeConti auf mein Wohnzimmer!" „Bitte sehr - ich werde sofort dem Zimmerkellner Bescheid geben! Von welchem Jahrgang wünschen Sie?" -241-
„Er kann nicht alt genug sein!" Als sie den luxuriösen Raum betraten, verbreitete die Leuchtdecke gedämpftes Licht. Der Zimmerkellner hatte bereits den Farbfernsehempfänger eingeschaltet. Nichts erinnerte an ein Hotelzimmer; sowohl die weißen Chrysanthemen auf dem Schreibtisch als auch die reiche Buchauswahl im Bücherschrank gaben dem Raum eine persönliche Prägung. Die Polsterstoffe der Couch, der Sessel und der Teppich prangten in freundlichweichen Farben und verhalten zu einladender Wohnlichkeit. Die Tonfülle der Mozartschen Zauberflöte erfüllte den Raum. Lydia nötigte Rainer in einen der Sessel, schmiegte sich selbst behaglich in die Polster und bat ihn, vom Zigarettenständer Gebrauch zu machen. Dann war Schweigen zwischen ihnen, traulich und verbindend, nicht mehr lastend und erregend wie vorher. Zart spielten ihre Finger mit seinen Rosen, die sich über den Rauchtisch neigten. Sein Blick haftete auf den Gemälden, Reproduktionen alter Meister, die das Zimmer schmückten, dann fesselte ihn Paminas Arie „Ach, ich fühl's". „Sie irrten, Lydia, am Anfang war die Liebe!" flüsterte er halblaut und beugte sich zu ihr. „O nein - die Liebe ist der Anfang!" Das war echt, ohne jede spöttische Überlegenheit. „Lydia...!" Noch stritten sich Frage und jubelnde Gewißheit in seiner Stimme. Sie lächelte ihm zu und drückte auf den Klingelknopf. Der eintretende Ober füllte gewandt die geschliffenen Gläser. Als er das Zimmer verlassen hatte, hob sie das rotfunkelnde Glas. „Machen wir ein Ende, Rainer... oder einen Anfang. Du sagtest mir, etwas rauhbeinig zwar, daß du mich liebst... ich bin -242-
dir eine Antwort schuldig! Zuvor noch eine Frage; ich will keinen Treueschwur oder dergleic hen menschliche Irrtümer aber sag mir, ob du es innerlich ernst meinst, ob es wirklich Liebe ist!" Vor ihren forschenden Augen gab es kein Entrinnen. „Zweifelst du daran?" „Nein - aber ich mußte es noch einmal hören, klar und deutlich ausgesprochen. Man muß sich in der Liebe selbst aufgeben, muß versinken können - aber nur wenn Liebe Maßstab des Handelns ist, versinkt man im ändern, sonst fällt man allein ins Bodenlose... für eine Frau besonders schlimm!" „Und deine Antwort, Lydia?" In Lydias Augen lag plötzlich jene verklärte Weichheit, die nur Frauen eigen ist. „Meine Antwort, Rainer? Ist sie nicht längst gegeben?"
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Das Licht der Morgendämmerung fraß gierig die Schatten der Nacht und schälte aus dem Dunkel die Umrisse des Prüfstandes. Nur am Boden, unter den kahlen Baumkronen, braute noch Finsternis. Im Prüfstand brannte schon Licht. In der Ferne erklang dumpfes Heulen. Am Haupttor tauchten zwei starke Scheinwerfer auf und stachen wie blinkende Dolche nach dem Prüfstand, ihr Schein vermä hlte sich mit den Lichtbalken der Fenster und wurde immer greller, bis er vor dem Haupteingang des Prüfstandes in sich zusammenbrach. Gleichzeitig verstummte auch das Turbinengeräusch der Hexe. Rainer sprang elastisch heraus. Bräuner, Rother und Heinzel machten bereits die Versuchsanlage betriebsfertig. Bräuner überprüfte die Meßleitungen, Heinzel untersuchte den Verdichteranschluß und setzte prüfend den Schraubenschlüssel an. Rother füllte Quecksilber auf die Uförmigen Meßsäulen. Bald kamen auch Gisela, Selbmann und die andern Kollegen der Abteilung. Jeder stürzte sich auf den Teil der Anlage, den Rainer ihm zuwies. Sie waren von banger Erregung gepackt: Würde es klappen? Nur Rainer blieb ruhig und gelassen wie seit langem nicht. Eine heitere Ruhe erfüllte ihn: Es wird klappen, schließlich ist Lydia dabei! Während Rainer sich vom festen Sitz des Gigantums überzeugte, pustete Bräuner mit vollen Backen in die vorher benannten Meßschläuche und versetzte Gisela in geheime Verwunderung über den Quecksilberausschlag, den er in den Meßsäulen erreichte, vor denen sie kontrollierend stand. Rainer hatte die beiden absichtlich für eine gemeinsame Aufgabe eingeteilt, denn obwohl das Triebwerk doch noch vor dem -244-
Termin fertig geworden, war die Spannung zwischen Gisela und Bräuner ebensowenig gewichen wie zwischen Rainer und Bräuner. Alle Versuche Rainers, das alte vertraute Verhältnis wiederherzustellen, scheitelten an Bräuners abweisendem Verhalten. Gisela jedoch bemühte sich nicht darum, Bräuner zu versöhnen. Er hatte sie verletzt, also mußte er kommen und sein Unrecht wieder aus der Welt schaffen. Und leicht würde sie es ihm nicht machen! Seine Zweifel an der Aufrichtigkeit ihrer Liebe hatten sie schwer getroffen. Sie entkleideten ihr Erlebnis auf dem Boot des tiefen Empfindens. Sie verzieh ihm nicht, daß er wegen einer vorübergehenden Verstimmung ihre schnelle, bedingungslose Hingabe der Verklärung beraubte: der Liebe... Sie litt unter dem Zerwürfnis, war aber zu stolz, es Bräuner spüren zu lassen. Endlich war die Anlage klar. Die Tore der Boxen schoben sich langsam zurück, fahles Morgenlicht drang herein. Das Triebwerk ruhte startfertig auf dem Meßbock. Nichts verriet die gewaltige Energie, die in seinem blanken Blechleib schlummerte. Fast harmlos sah er aus, nur die vielen Meßleitungen und vor allem der gewaltige Turboverdichter verrieten dem Fachkundigen seine Kraft. Als auch die abschließende Verständigungsprobe mit der Sprechanlage erfolgreich verlaufen war, war es mehr eine scherzhafte Geste, daß Rainer die Kollegen bat, ihm beide Daumen zu drücken. Heinzel dagegen spuckte trotz des Grinsens der anderen dreimal über das Triebwerk und schnitt ein unzufriedenes Gesicht. Rainer zog ihn unauffällig zur Seite. „Heinzel, was ist los mit Ihnen? Sie gefallen mir nicht! Was soll der Unfug mit dem Spucken?" „Ach, das war nicht ernst gemeint, quasi ein Theaterbrauch!" -245-
wehrte Heinzel ab. „Keine Ausrede! Was ist los!" drängte Rainer bestimmt. „Ich kann mir nicht helfen, mir gefällt das Triebwerk nicht", brummte Heinzel. „Mir kommt es vor, als wäre es verändert." Rainer schüttelte den Kopf und klopfte Heinzel kameradschaftlich auf die Schulter. „Nicht durchdrehen, Heinzelmann malen Sie den Teufel nicht an die Wand! Was soll denn verändert sein, wir haben doch alles überprüft." Heinzel hob die Schulter und sah ihn ratlos an. Rainer trat ans Triebwerk heran. Sollte er nicht lieber die gesamte Anlage noch einmal überprüfen, und wäre es nur, um Heinzel die Unsinnigkeit derartiger Ahnungen zu beweisen? Doch dazu war es schon zu spät. Vor dem Prüfstand fuhren drei Werkswagen vor. Die Vertreter der Regierung und der Reichsbahn waren eingetroffen. Sie erfüllten die Meßkabine mit Stimmengewirr und Füßetrappen. Während der Begrüßung erschien Lydia, frisch und strahlend verließ sie den Wagen, der sie vom Hotel abgeholt hatte. Selbmann sprang hinzu und half ihr nach einer korrekten Verbeugung aus dem Mantel. Rother nickte Bräuner vielsagend zu. Rainer umriß den Gästen, von der Entdeckung des Gigantums ausgehend, kurz den Werdegang des Triebwerks und die weitere Entwicklung bis zum fertigen Triebwagen. Die Versuchsgruppe stand ungeduldig abseits und wartete auf den Versuchsbeginn. Rother musterte Lydia und raunte Bräuner ins Ohr: „Teifi, Teifi, da legst di nieder! Die bayrischen Deandl san blitzsauber, mei Liaber! Dös begegnet oanem nur oamol aller tausend Joahr!" „Ich erkenne deine Landeskenntnisse neidlos an, sie beruhen gewiß auf eingehenden Studien?" fragte Bräuner höflich. Rother überhörte es vornehm und wandte sich an Gisela, die -246-
schweigend daneben stand. „Wie gefällt Ihnen das Mädchen? Schade, daß sie nicht mir begegnet ist, sondern ausgerechnet dem Rainer! Der wird mit ihr sicher nur die nüchternsten technischen Probleme erörtern und überhaupt nicht empfinden, daß es eine Frau ist, mit der er spricht - und was für eine!" „Eine gefährliche Frau, scheint mir", erwiderte Gisela anzüglich. „Aber Sie irren sich in Rainer!" „Wieso?" fragte Rother verdutzt. „Typisch - Sie achten nur auf die Beine und den Busen", griff ihn Gisela an, „aber wie sie Rainer betrachtet und wie er ihren Blick erwidert, und daß beide verdächtig neue Ringe tragen, von denen zumindest Rainers Ring gestern noch einem Juwelier gehörte - das sehen anscheinend nur wir Frauen!" Bräuner und Rother waren maßlos verblüfft. „Kinder, der Kerl hat uns hinters Licht geführt!" stöhnte Rother. „Armer Selbmann!" setzte Bräuner hinzu. „Ich wüßte nicht, daß Rainer uns Rechenschaft schuldig wäre!" erwiderte Gisela schnippisch, setzte jedoch versöhnend hinzu: „Die Hauptsache ist, er hat einen Menschen gefunden, der gut zu ihm paßt! Ich gönne es ihm von Herzen!" Das klang so ehrlich, daß Bräuner überrascht aufsah. Wie hatte er nur glauben können, daß Gisela und Rainer... Er zog Gisela beiseite. „Ich bin das größte Roß unter Gottes freiem Himmel, Gisela sei mir nicht böse." Doch Gisela schwieg, blieb kühl und unnahbar. Und sosehr er um eine Aussprache nach Feierabend bat, sie lehnte unnachgiebig ab. -247-
„Ich habe heute keine Zeit und auch in Zukunft keine - für dich nicht mehr, Günter! Wer eifersüchtig ist, denkt mehr an sich als an den anderen - das aber hat mit Liebe nichts zu tun! Du hast dich wie ein Flegel, aber nicht wie ein Mann benommen! Und wenn du dich meinetwegen nicht schämst, dann zumindest wegen Rainer!" „Gisela", beteuerte er, „glaub mir, ich..." Durchdringend erklang eine Hupe. Ein gelbes Achtungssignal leuchtete auf. „Auf die Plätze bitte!" Sie eilten zu ihren Meßgeräten, legten die Protokolle zurecht und stülpten sich die Kopfhörer auf, während die Gäste sich Ohrenstopfen einsetzten. Lydia stand neben Rainer, da sie als Erfinder des Gigantums die Zündtaste betätigen sollte. Wenn sie es sich auch nicht anmerken ließ, so war sie doch etwas beklommen. Inständig ersehnte sie einen vollen Erfolg - seit dem vorhergehenden Abend hegte sie leise Zweifel, daß dieser Versuch... Besaß Rainer den inneren Schwung, der nötig war, um das Gigantum zu beherrschen? Hatte er den Mut, der bei Entwicklungsarbeiten nun einmal unerläßlich war, auch einmal etwas zu riskieren? Er war so beängstigend korrekt... Gestern abend - erst war er so liebevoll, aber dann... Wenn er weniger Pedant, dafür aber mehr Mann gewesen wäre... Sie hatten sich doch verlobt! Nicht einmal in der Liebe riskierte er etwas - war er wirklich der Richtige...? Oder war er nur unsicher und kein Pedant? Da vernahm sie im Kopthörer seine Stimme, sie war sachlich kalt und hart, keine Spur der Unentschlossenheit vom Abend zuvor. „Achtung! Uhrenvergleich! Es ist genau neun Uhr siebenundfünfzigl" -248-
Die Kollegen verglichen und stellten ihre Uhren. Indessen sah sich Rainer suchend um. Schreyer fehlte noch, obwohl er zugesagt hatte. Sollte er ohne ihn beginnen? Als er jedoch Hänleins fragenden Blick sah, entschied er sich, sofort zu beginnen. Schließlich brauchte Hänlein nicht zu bemerken, daß Schreyer sich verspätet hatte. „Alles klar?" Nacheinander erhielt er die Meldungen: „Meßsäulen fertig!" - „Verdichter fertig!" - „Sauerstoff fertig!" - „Überwachung fertig!" Ein Hebeldruck Rainers, und das gelbe Signal wechselte in Rot, die große Sirene ertönte und mahnte weithin zur Vorsicht. Da erschien der Chefkonstrukteur und hinter ihm - Rainer traute seinen Augen nicht - der kleine Splitt. Rainer sah fragend auf. Doch Schreyer winkte ihm ermunternd zu. Lydia bemerkte auf Rainers Stirn eine fremde senkrechte Falte. Da gab sich Rainer sichtlich einen Ruck. „Anfahren!" „Sauerstoff läuft an!" kam die Meldung. Rainer spähte durch die Panzerglasscheibe in die Boxe. Mit einem versteckten Lächeln wandte er sich an Lydia. „Bitte zünden!" Splitt sah ihren Griff zur Zündtaste und erbleichte. Gebannt starrte er nach draußen in die Boxe. Dichte schwere Nebelschwaden umhüllten das Triebwerk. Da donnerte eine lange Stichflamme durch den Nebel und zerfetzte ihn. Rainers Finger spielten auf den Tasten der ferngesteuerten Ventile. Das Do nnern verstärkte sich. Das unruhig pulsierende Flammenbündel wurde heller, klarer und -249-
tanzte als kurze Spitze zitternd vor der Düse. Splitt atmete tief auf. Schreyer bemerkte es und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. Bräuner vermerkte es mit Befremden und knurrte vor sich hin: „Da hat sich der Alte wieder mal in der Adresse geirrt! Dem werde ich heimleuchten!" Er warf Splitt einen vernichtenden Blick zu. Frechheit, hier aufzukreuzen! „Achtung, Verdichter! Ich schalte zu!" Die Zeiger der Kontrollmanometer schlugen zitternd aus. Meßsäulen begannen zu steigen. „Achtung, ich schalte um auf Staustrahl!" Die Welt versank in einem gewaltigen Dröhnen. Nicht nur die Luft, das ganze Gebäude bebte. Die Druckwellen schlugen auf die Körper, und der Lärm zerrte an den überreizten Nerven. Plötzlich ertönte Rainers Stimme scharf und unduldsam im Kopfhörer. „Messung einstellen. Bräuner zu mir, Heinzel ein Seil, Brandschutzkombination und Gesichtsmaske fertigmachen, dazu den Sechzehner-Schlüssel!" Die Kollegen erstarrten. Messung einstellen? Die Abnahme sah eine sechsstündige Dauerbelastung nach genauen Meßpunkten vor, jetzt den Versuch abbrechen hieß einen schlechten Eindruck bei den Gästen hinterlassen! Hieß Terminverzögerung, denn der Versuch müßte dann auf Montag verschoben werden. Der morgige Samstag und der Sonntag kamen als arbeitsfreie Tage nicht in Betracht, Überstunden aber in Gegenwart der Regierungsvertreter... unmöglich! Bräuner rannte herzu. Rainer zog ihm den Kopfhörer ab und brüllte ihm Weisungen ins Ohr. Bräuner nickte und nahm Rainers Platz ein. Inzwischen hatte Heinzel alles vorbereitet. Während die Gäste der strengen Prütstandsvorschrift gemäß an ihren Plätzen blieben und mit unruhigen Blicken die -250-
Vorgänge beobachteten, trat Schreyer zu Bräuner. Hier, vo n dessen Standpunkt aus, bemerkte er, daß sich am Triebwerk ein Verkleidungsblech gelockert hatte und flatterte. Jeden Augenblick konnte es sich lösen, und davonfliegen. Gestikulierend redete er auf Bräuner ein. Bräuner schüttelte ablehnend den Kopf. Als Schreyer den Stoppschalter betätigen wollte, kam ihm Bräuner zuvor und hielt schützend die Hand darüber. Mit der anderen wies er auf ein Schild über dem Fahrstand: „Während der Versuche ist den Anordnungen des Versuchsleiters unbedingt Folge zu leisten! Zuwiderhandlungen werden mit fristloser Entlassung bestraft!" Er tippte auf das Wort „Versuchsleiter" und zeigte mit etwas boshafter Miene auf sich. Schreyer fuhr sich, verzweifelt über diese Auslegung der an sich notwendigen Vorschrift, durch das Haar. Doch sosehr er sich bemühte, Bräuner verdeckte geschickt den Weg zum Stoppschalter. Inzwischen war Rainer in die Kombination gefahren, hatte sich angeseilt, den Kopfschutz übergestülpt und war durch die Verbindungstür in die Boxe geschlüpft. Lydia lehnte, unfähig, sich zu rühren, am Schaltpult und verfolgte Rainers Weg. Hilflose und nackte Angst, wie sie Lydia noch nie empfunden hatte, lähmte ihre Glieder. Rainer arbeitete sich geduckt in das brausende und dröhnende Inferno der wirbelnden Luftmassen hinein und schob sich am Seil von hinten an das Triebwerk heran. Die Kombination flatterte am Körper wie Fahnentuch im Sturm. Er krümmte sich zusammen, um dem Luftwirbel möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Endlich berührten seine Hände das Triebwerk. Langsam tasteten sie sich an das lose Blech heran. Schraube um Schraube zog der Schlüssel nach und preßte das Blech in die alte Lage zurück. Endlich saßen sämtliche Schrauben fest, waren die bereits -251-
fehlenden ersetzt. Der Schraubenschlüssel entglitt Rainers ermatteten Händen und wirbelte auf dem Boden davon. Rainer selbst war erschöpft. Jetzt kam es auf Heinzel an, der das Seil sicherte. Erbittert rang er mit dem Luftsog, dessen Beute Rainer ohne das Seil geworden wäre. Meter um Meter trotzte Heinzel, in das Seil verkrampft, den tobenden Gewalten ab. Endlich schloß sich die Tür hinter Rainer. Während Heinzel Rainers Kombination abstreifte und ihm die Erfrischungsflasche reichte, die ständig auf dem Prüfstand vorrätig war, während Lydia die Augen schloß, damit niemand die Tränen bemerkte, die sie vergeblich zu unterdrücken suchte, ertönte Bräuners Stimme im Kopfhörer. „Achtung! Meßpunkt sieben! Messen!" * Nach sechs Stunden fiel die Flamme in sich zusammen, das Donnern verstummte, und die Quecksilbersäulen fielen. Das rote Licht erlosch. Benommen zogen die Gäste die Stopfen aus den Ohren. Die Stille war schmerzhaft, es blieb eine Leere, als fiele man ins Bodenlose. Staatssekretär Häniein brach als erster das Schweigen. „Hut ab, Kollege Schreyer, vor Ihrem Ingenieurnachwuchs!" Er klopfte Rainer anerkennend auf die Schulter und verließ mit den Gästen den Prüfstand, um nach einer Erfrischungspause im Sitzungszimmer den Versuch mit einer Besprechung abzuschließen. Zu aller Verwunderung sprach Schreyer nicht die gefürchtete Verwarnung wegen Rainers und Bräuners leichtsinnigen Verhaltens aus. Er sagte nur bedächtig einige Worte, die man nie von ihm -252-
erwartet hätte: „Kinder, seid ihr ein verrücktes Volk! Aber trotzdem - ihr habt mich nicht enttäuscht. Ich freue mich mit euch, auch wenn ihr mir mit fristloser Entlassung gedroht habt!" Dann wurde er ernst und wandte sich nach Splitt um, der im Hintergrund bescheiden wartete. „Kollege Hausberg, der Kollege Splitt möchte Ihrer Abteilung zugeteilt werden!" Rainer bemerkte nicht die verschmitzten Fältchen in Sdireyers Gesicht. Seine Züge erstarrten. Splitt? Wie froh waren sie gewesen, daß sie aus seiner Gruppe herauskamen. Wenn er auch äußerlich sein Gesicht gewahrt hatte, nicht zu fassen gewesen war - er war ein Intrigant, unkameradschaftlich bis ins Innerste! Und dann der Zusammenstoß mit Bräuner, das war zwar das offenste - aber nicht das letzte Mal geblieben... Hinter jeder sachlichen Schwierigkeit ließ sich Splitt vermuten... Er war gegen das Triebwerk - und ihn wollte man...? Nein! Kalt und abweisend musterte er den kleinen Splitt, die verblüfften Gesichter der ändern und sagte dann drohend leise: „Ich bedauere, Kollege Schreyer! Eine Zusammenarbeit mit Herrn Splitt ist für mich - und ich glaube, für das ganze Kollektiv unmöglich! Zusammenarbeit setzt Kameradschaft und Einsatzbereitschaft für die Sache voraus - Dinge, die Herr Splitt..." „Heute bewiesen hat!" fiel ihm Schreyer ins Wort. „Langsam, langsam, junge Freunde! Daß Sie heute Erfolg hatten, haben Sie Kollegen Splitt zu verdanken!" Bräuner, fuhr empört auf, doch Rainer schnitt ihm das Wort ab. „Sie sehen mich erstaunt, Kollege Schreyer!" sagte er noch immer leise - doch so, daß Gisela ein Schauer über den Rücken rieselte. Welches Übermaß an Empörung und Verachtung lag in seiner beherrschten Stimme, als er gemessen hinzusetzte: „Mir ist nicht bekannt, daß Herr Splitt auch nur den geringsten Anteil -253-
an unserer Arbeit hat! Ich lehne seine Versetzung in meine Abteilung mit aller Entschiedenheit ab!" Die Kollegen gruppierten sich fast herausfordernd um Rainer und nickten zustimmend. Lydia, die vor der Boxentür unbemerkt gewartet hatte, beobachtete verwirrt den Zwischenfall. Der Unterschied zwischen Rainers Befangenheit, seinem etwas unbeholfenen Zögern, zwischen seiner gestrigen liebevollen Wärme und dieser verletzenden, unerbittlichen Kälte war zu groß, als daß sie ihn gleich erfassen konnte. Welches war der echte Rainer? Konnte ein Mensch derartige Gegensätze in sich vereinen? Doch dann überwand die Freude ihre Zweifel, die Freude über sein bestimmtes Auftreten. Das war ein Lebenskamerad, den man nicht nur lieben, an den man sich bei aller Selbständigkeit anlehnen und bei dem man Kraft holen konnte. Doch Schreyers Worte erheischten ihre Aufmerksamkeit. „Er hat keinen geringeren Anteil, Kollege Hausberg, als die Rettung unserer Anlage und unseres Lebens!" Schreyer weidete sich an der Verblüffung der anderen und fuhr lebhaft fort: „Heute nacht wurde ein Anschlag auf das Triebwerk verübt... Aber, Kollege Splitt, erzählen Sie selbst!" Splitt räusperte sich und blickte verlegen auf den Boden. „Wenn zwischen uns auch eine Spannung bestand, weil ich Ihnen, Kollege Hausberg, Ihre Erfolge neidete, vor allem ihre Ernennung zum Abteilungsleiter, so interessierte mich der Fortschritt Ihrer Arbeit sehr... vielleicht gerade deshalb besonders!" Lydia verließ unauffällig den Prütstand. Diese Sache ging sie nichts an. Schreyer ermunterte Splitt, sein Bekenntnis fortzusetzen. Man sah deutlich, daß Splitt sich quälte, daß ihm seine Worte recht -254-
sauer wurden. „Diplomingenieur Buschner schürte meine Verbitterung, und ich sah langsam rot, verlor vor Wut den Verstand. Heute nacht wollte ich nun... die Stromzuführung zu den Schallstrahlern unterbrechen... farblosen Isolierlack auf die Verbindungskontakte, um den heutigen Versuch zu vereiteln, da... da wurde ich durch einen Unbekannten überrascht, der vor meinen Augen... ich stand im Schatten... er öffnete das Triebwerk... und füllte Sprengstoff in die Halterungsstützen." Gisela schloß entsetzt die Augen, alle erbleichten. Rainer dachte an Lydia, in seinen Ohren begann es zu brausen. Sie schwiegen, nur Bräuner fuhr Splitt mißtrauisch an: „Und dann? Wer war dieser große Unbekannte? Sicher haben Sie ihn entkommen lassen, was?" „Ich habe gar nicht versucht, ihn zu stellen, weil ich erst glaubte, das Triebwerk sei noch nicht betriebsfertig... beziehungsweise es erreiche nicht die erwartete Leistung, und Kollege Hausberg wolle diese Leistung durch einen... Zusatztreibstoff erreichen!" Bräuner holte tief Luft und wäre Splitt an den Kragen gefahren, wenn ihn Rainer nicht zurückgehalten hätte. „Ich wollte das aufdecken", setzte Splitt etwas flüssiger fort, da er Rainers Besonnenheit bemerkte und Schreyer neben sich wußte, „und die Treibstoffstäbe entfernen... war neugierig, was es sei. Da entdeckte ich, daß es Sprengstoff war! Der Unbekannte war inzwischen längst verschwunden!" „Das kam Ihrem außergewöhnlichen Mut sehr gelegen, was?" spottete Bräuner. Doch Rainer forderte ihn auf, den Bericht nicht zu unterbrechen. „Und weiter?" drängte Rother. „Ja... ich war entsetzt... und erkannte plötzlich, wie gemein mein Plan war, wie niederträchtig. Die ganze Verbitterung fiel -255-
ab... ich fühlte mich nur noch als Lump..." Das klang so aufrichtig, daß sogar Bräuner schwieg. „Dann hatte ich nur noch einen Wunsch; wiedergutzumachen, was gutzumachen war. Ich nahm den Sprengstoff an mich, fuhr sofort zu Kollegen Schreyer und holte ihn aus dem Bett. Leider machte ich einen Fehler... Buschner war der einzige, dem ich vertraute, und daß er mich absichtlich in diese Verbitterung getrieben hatte, war mir noch nicht klar. Ich rief ihn deshalb an und bat ihn, sofort zu Kollegen Schreyer in die Wohnung zu kommen, sagte ihm auch, daß ich ein Attentat auf das Triebwerk entdeckt habe. Er tat sehr überrascht und versprach sofort zu kommen. Er kam nicht. Kollege Schreyer verständigte sofort die Staatssicherheit... aber als wir in Buschners Wohnung erschienen, war er bereits ausgeflogen!" „So ein verfluchter Lump!" knirschte Bräuner. „Jetzt weiß ich, weshalb unser Triebwerk am Anfang ständig aus dem Leim gegangen ist!" rief Heinzel. „Erst als wir das Hinterteil auswechselten, weil das gleiche Material sich bei der Hexe bewährt..." Heinzel hielt erschrocken inne, doch Schreyer hatte den letzten Satz gehört und ve rlangte Aulklärung. Rainer gestand alles, auch, daß vor jedem Versuch das Austrittsteil ausgewechselt worden sei. Von einer Meldung habe er abgesehen, weil Heinzel und er gehofft hätten, den Täter selbst zu stellen. Zudem sei die beantragte Analyse des ausgefransten Bleches noch nicht zurück, so daß er nichts Bestimmtes sagen könne. Schreyer schüttelte bekümmert den Kopf. „Kinder, Kinder, das konnte schiefgehen! Ein unerlaubter Umbau des werkseigenen Wagens, eine unterlassene Anzeige... Mich enttäuscht das etwas! Hätten Sie damals sofort Anzeige -256-
erstattet und sich nicht auf die eigenen kriminalistischen Fähigkeiten verlassen, dann wäre die Analyse innerhalb weniger Stunden angefertigt und aus Ihrer Vermutung eine Gewißheit geworden! Und man hätte diesem Buschner schon damals sein schmutziges Handwerk legen können! Ich freue mich über eure Selbständigkeit, aber die Eigenmächtigkeit gefällt mir nicht!" „Und trotzdem - ohne Hausbergs Eigenmächtigkeit wären wir heute noch nicht soweit!" rief Bräuner angriffslustig. „Denn hätte Hausberg die Hexe nicht heimlich umgebaut - und offiziell wäre ihm das bestimmt noch nicht gestattet worden -, dann wäre er niemals dahintergekommen, daß die Materialzerstörungen nicht mit rechten Dingen zugingen! Sollte jedenfalls Hausberg abgelöst werden, dann sehe ich mich gezwungen, ebenfalls um meine Ablösung zu bitten!" Schreyer schmunzelte. „Ihr seid wahrhaftig ein verrücktes Volk! Strafe muß sein, aber ablösen? Wem ist damit geholfen? Das könnte euch so passen, was, mir jetzt den Laden lustig vor die Füße zu werfen. Daraus wird nichts, Freunde! Bei dieser Strafe wollen wir alle gewinnen! Der Triebwagen ist fristgemäß fertig, verstanden!" „Und das soll eine Strafe sein? Das ist doch Ehrensache!" stellte Bräuner fest. * Sie traten durch das Kronentor. Lydia verhielt überrascht den Schritt und preßte unbewußt Rainers Arm. Das hatte sie nicht erwartet. Auch hier - wie in den infrarotbeheizten Straßen - war der Sommer zurückgeblieben, obwohl die Höhen rings um die Stadt unter Schnee begraben lagen. Vor ihnen breitete sich - eine Insel der beschaulichen Ruhe -257-
der zweite Zwingerhof, erfüllt vom Rauschen der glitzernden Wasserfontänen, die auf dem Wasserspiegel zerstoben, und vom Gurren der Tauben, die über den kurzgehaltenen Rasen und die gepflegten Wege stelzten. Das Porzellanglockenspiel läutete mit zarten Schlägen die Mittagsstunde ein. Lydia atmete auf. Das Lärmen des nur wenige Schritte entfernten Postplatzes drang nur noch als Raunen herüber. Vorbei das schrille Klingeln der Straßenbahne n, das ungeduldige Hupen der Autos - nur der Ruf eines Obsthändlers gellte noch in ihrem Ohr: „Apfelsinen, Bananen... frisch eingetroffen... acht Pfennige das Stück... nur beste Ware!" Nach dem Knirschen des Schnees und dem Gurgeln vereister Bäche, dem sie vorher in der Umgebung lauschte, hatte sie den Trubel schmerzhaft empfunden. Rainer hatte sie gebeten, das Wochenende in Dresden zu verbringen. Lydia erfüllte diesen Wunsch. Und sie bereute es nicht. Er wurde nicht müde, sie auf die verborgenen Schönheiten der vielen Bauwerke hinzuweisen, die sie besuchten. Sein Bemühen, ihr alles das nahezubringen, was ihm lieb geworden war, ließ erkennen, daß er die Gemeinsamkeit mit ihr erstrebte, daß er es wirklich ernst meinte. Sie war sich klargeworden, daß Rainer doch der Richtige... Wie ritterlich er um sie bemüht war, wie besorgt... Das tat wohl und weckte in ihr den Wunsch, daß es immer so bleiben möge. Und doch - ob er immer so behutsam zurückhaltend blieb? Es müßte schön sein, wenn er sie zwar mit derselben Ritterlichkeit, aber weniger zurückhaltend in seine Arme... Sie liebte ihn doch, und er wußte es. Aber schließlich konnte sie -258-
nicht... „Es ist mir unbegreiflich, Rainer", sagte sie leise, „wir sehen uns erst zum zweiten Mal, und doch ist es mir, als würden wir uns seit Jahren kennen!" Er stutzte, denn er hatte einen anerkennenden Ausruf über den Zwinger erwartet. „Erstens stimmt das nicht", sagte er dann, „du vergißt den Bildfernsprecher, und zweitens, Lydia, ist die innere Verbundenheit nicht von der Dauer des Kennens abhängig." „Glaubst du denn an Liebe auf den ersten Blick?" fragte sie lächelnd. „Ich glaube nicht daran - ich habe sie erlebt! Natürlich nicht so wörtlich auf den ersten Blick, aber unsere Begegnung hatte mich getroffen, irgend etwas in mir aufgewühlt, was mich zur Abwehr drängte!" „Deshalb warst du anfangs auch so hölzern - aber weshalb hast du dich gewehrt?" „Ich fürchtete, enttäuscht zu werden, instinktiv, nicht so bewußt. Aber derartige Zweifel setzen eine Zuneigung voraus, denn von einem gleichgültigen Menschen erwarten wir keine Enttäuschung. Ihm fehlt die Gelegenheit dazu! Doch als ich das erkannte, hatte ich schon verspielt!" „Und heute zweifelst du nicht mehr?" fragte sie leise und schmiegte sich an ihn. „Es würde mir nichts nützen, Lydia. Und es hieße, dir unbegründet die Vertrauenswürdigkeit abzusprechen!" Ein Schatten flog über Lydias Gesicht. Er wurde doch schon wieder hölzern! Darauf hätte er eine andere Antwort geben können, mündlich, wortlos... und sei es vor allen Leuten! „Und wenn du mir wirklich nicht vertrauen kannst?" fragte sie dann mutwillig. „Diese Frage gibt es nicht mehr für mich. Wo Liebe auftritt, -259-
hat der Verstand sein Recht verloren! Ich habe mich einige Zeit lang wegen dieser Liebe albern genannt, habe mich eine Zeitlang albern benommen..." „Und heute?" unterbrach sie herausfordernd. „Heute stört es mich nicht mehr. Ob ich albern bin oder nicht, ich bin glücklich - selbst wenn das schon wieder albern ist!" „Wirklich glücklich?" In ihrer Stimme lag verhaltene Erregung. „Wirklich glücklich, Lydia!" bekräftigte er fest. „Und dir fehlt nichts zum Glück...?" forschte sie fast flüsternd. „Nein...", er brach verlegen ab. Herrgott, wie sollte er sich jetzt nur benehmen? Sie war so überlegen, so sicher - da war doch alles anders, aber wie? Sie war viel reifer als das Mädchen damals vor Jahren. Er konnte sie doch nicht einfach wie ein kleines Mädel in die Arme nehmen und als Antwort küssen. Und wenn er andeutete, was ihm noch fehlte - dann glaubte sie am Ende, er wäre nur darauf aus! „Fehlen... nun ja, Lydia... eigentlich nichts!" stammelte er. Dann nahm er sich zusammen und fuhr fließend fort - er mußte jetzt einen männlichbeherrschten Eindruck hinterlassen -: „Oder doch? Man sehnt sich manchmal nach Dingen, die erst reifen müssen, die nicht grün gepflückt werden dürfen! Es sei fern von mir, Lydia, derartigen Wünschen nachzugeben... Ich bin mir meiner Verpflichtung durchaus bewußt, so lange warten zu müssen, bis du mich richtig kennst... Schließlich ist es das Höchste, was du zu vergeben hast! Ich liebe dich doch nicht nur um dessentwillen... schließlich habe ich kein Recht, dergleichen zu fordern oder zu nehmen..." Lydia seufzte erschüttert auf und unterbrach ihn unvermittelt: „Entschuldige, wenn ich unterbreche. Lieber, aber wenn wir, in unser Gespräch vertieft, so weiterlaufen, dann haben wir -260-
nichts von den vielen Skulpturen rings um uns! Wir sprechen später darüber, ja?" Er war etwas verstimmt. Sie versuchte ihn durch Fragen über Einzelheiten des Zwingers abzulenken. Wer weiß, was Rainer noch für erhabenen Unsinn von sich gegeben hätte... Welcher Widerspruch in seinem Verhalten: Hier Männlichkeit - da... Hm. Ritterliches Benehmen, ja! Aber auch ein wenig stürmischen Mut! * „Wenn ich ehrlich sein darf, Fräulein Schwigtenberg - ich habe mich vor diesem Tag gefürchtet", gestand Mutter Kusemann und legte ihre Hand mütterlich auf Lydias Arm. „Weshalb denn, Mutter Kusemann?" fragte Lydia und sah sie erstaunt an. Mutter Kusemann lehnte sich im Sessel zurück und faltete die Hände im Schoß. „Wissen Sie, Rainer ist mir zum eigenen Sohn geworden, ich habe ihn liebgewonnen! Und man muß ihn liebgewinnen, nicht wahr? Sehen Sie, nun geht es mir wie allen Müttern - man verliert nicht gern sein Kind... Man wird egoistisch." „Aber, Mutter Kusemann, ich will ihn doch nicht wegnehmen." „Nein, nein, Fräulein Schwigtenberg, die Angst ist schon vorbei. Seitdem ich Sie kenne..." „Nennen Sie mich Lydia, Mutter Kusemann, und Sie haben mich dazugewonnen!" Als Witwe Kusemann den Tisch decken wollte, trat Lydia hinzu. „Ich darf Ihnen diese Arbeit abnehmen, ja? Lassen Sie mir die -261-
Freude, es ist das erste Mal, daß ich Rainer bewirte - und jetzt nach unserer Verlobung...", sie unterbrach sich verlegen. „Das sollte ich eigentlich noch nicht verraten, Rainer hatte Angst, Sie würden... deshalb haben wir die Ringe..." „Unsinn, Mädel!" sagte Witwe Kusemann resolut. „Ich ahnte es ja, und ich verrate auch nichts! Spielen Sie Hausfrau - ich freue mich ja, daß Sie Sinn dafür haben. Ich fürchtete immer, er würde mal ein Mädel nehmen, das einen männlichen Beruf ausübt, so in der Technik, er ist ja selber mit Leib und Seele dabei. Und die Mädels haben wenig Lust für den Haushalt, vielleicht auch wirklich keine Zeit dafür - ich bin alt und komme da nicht mehr so richtig mit." Lydia schwieg betreten. Hatte Rainer nichts von ihrem Beruf erzählt? Was sollte sie sagen? Am besten gar nichts, aber er mußte das in Ordnung bringen! Draußen fuhr die Hexe vor. Mutter Kusemann eilte ans Fenster. „Er kommt! Wie er den Tortenkarton balanciert!" Es wurde ein gemütlicher Nachmittag. Mutter Kusemann strahlte. Was für zwei prächtige Menschen! Herrlich, so jung zu sein. Wenn sie das noch einmal erleben könnte - sie würde viel darum geben. Wie anders sah jetzt im Alter so vieles aus, was damals schwerwiegend erschien. Was für Wünsche und Hoffnungen hatte sie damals gehabt, als sie Kusemann kennenlernte, beseligende Wünsche... Mit ihm allein zu sein, das war damals ihr größter Wunsch gewesen - aber ehe das einmal gelang! „Wann wollt ihr denn nun heiraten?" fragte sie beim Abendbrot „Das wird noch ein Weilchen dauern, Mutter Kusemann", sagte Rainer, beruhigend, im Glauben, daß sie der Gedanke daran bedrückte. „Vorläufig bleibt alles beim alten. Wir haben -262-
so viel Arbeit, daß wir uns in der nächsten Zeit höchstens zweimal im Monat für einige Stunden sehen können." Witwe Kusemann schüttelte den Kopf. Das war ja zum Erbarmen! „Ist verlobt sein heute schwer!" sagte sie dann mitleidig. „Uns stört das nicht, wir denken anders über Liebe. Und wir können warten, Mutter Kusemann!" erwiderte er. Sie stutzte. Was war denn das, er redete doch sonst nicht solches Blech l Da sah sie Lydias Blick, er schien traurig zu sein. Wer weiß, wie er sich anstellte... Dieser Holzklotz, so ein hübsches Mädchen, am Ende küßte er sie nicht mal richtig mein Gott, diese Jugend! Nach dem Abendessen legte sie ihren Kopf in beide Hände und klagte bekümmert: „Kinder, ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen!" Lydia erhob sich sofort. „Bleiben Sie sitzen, Lydia, man verlobt sich gewöhnlich nur einmal. Junge Menschen haben sich viel zu erzählen, kümmern Sie sich nicht um mich alte Frau. Ich gehe schlafen! Das beste ist, ich nehme zwei Schlaftabletten, dann werden die Kopfschmerzen schon vergehen. Aber verschlafen Sie morgen nicht, Rainer, ich wache kaum vor neun Uhr auf!" Lydia wollte dagegen protestieren, wollte Witwe Kusemann untersuchen, doch sie unterdrückte den Vorsatz. Für rasende Kopfschmerzen sprach Mutter Kusemann zu fließend, waren ihre Augen zu munter, zudem... nistete nicht ein verschmitztes Lächeln in ihren Mundwinkeln? Als Witwe Kusemann das Zimmer verlassen hatte - Lydia fühlte noch ihren herzhaften Händedruck -, blieb knisterndes Schweigen zurück. „Komisch", sagte Rainer in die Stille, „Kopfschmerzen hat sie noch nie gehabt." -263-
„Herrgott, sie hat auch keine - sie hat uns absichtlich allein ge...", fuhr es Lydia ungewollt heraus. Sie biß sich auf die Lippen. So leicht wollte sie es ihm wirklich nicht machen, aber wie sollte man seine Zunge im Zaum halten, wenn einer derartig schwer begriff? Er horchte auf - und zog sie in seine Arme. * „Rainer, hier... hier... lesen Sie das!" stammelte Witwe Kusemann überrascht und zeigte auf einen ganzseitigen Artikel der Monatsschrift „Der Mensch", die Rainer neben vielen anderen im Abonnement bezog. Eine fette Überschrift trug dieser Artikel: „Die grönländische Seuche." Und unter dem Artikel stand kleiner, bescheiden autgemacht: „Diese Abhandlung überließ uns Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. h. c. Lydia Schwigtenberg, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, stellv. Leiterin des Deutschen Atomforschungs-Instituts in München und Trägerin des Staatspreises in Gold für Wissenschaftler." „Was staunen Sie denn, Mutter Kusemann?" fragte Rainer interessiert und rekelte sich unter der Leselampe im Sessel. „Lydia ist dreifacher Doktor? Das ist toll - man sollte doch besser keine Vorurteile haben." „Wieso?" fragte er verdutzt. „Das hätte ich nicht gedacht, dreifacher Doktor! Und ich... um Himmels willen, ich habe zu ihr gesagt, Frauen mit solchen Berufen taugten nicht für den Haushalt!" Rainer lachte herzlich. „Aber sie war doch kein bissel eingebildet", stellte sie verwundert fest. -264-
„Eingebildet, worauf denn?" fragte er verständnislos, dann siegte wieder die übermütige Fröhlichkeit, die seit seiner Verlobung sein Wesen kennzeichnete. „Natürlichkeit ist die Zierde und der Ausweis der großen Geister, Mutter Kusemann!" deklamierte er. „Ach Sie mit Ihren Aphoren... Aphorumen... Apha..." „Aphorismen, Mutter Kusemann, Gedankensplitter!" half er bereitwillig. „Meinetwegen! Aber weshalb haben Sie mir nichts erzählt?" „Wovon?" * „Tun Sie nicht so scheinheilig! Daß Lydia dreifacher Doktor ist, natürlich! Oder bedeutet Ihnen das vielleicht nichts?" „Mutter Kusemann, ich habe mich mit dem Mädchen Lydia verlobt, nicht mit Doktor Doktor Doktor Schwigtenberg! Also war die Doktorwürde in diesem Fall unwichtig, hier galt es der weiblichen Würde!" „Gegen Ihre Spitzfindigkeiten ist kein Kraut gewachsen!" „Wer keine Ausreden findet, ist nicht wert, in Verlegenheit zu kommen!" erwiderte er heiter. „Und ich habe immer geglaubt", sagte sie kopfschüttelnd, „Wissenschaftler wären versponnen, wunderlich, steif und..." „... und trügen eine dicke schwarze Brille, ein künstliches Gebiß, wären entweder überheblich und gefühllos oder verschroben und hilflos auf anderen Gebieten! Mutter Kusemann, so sind Wissenschaftler nie gewesen! Muß ich Ihnen erst erklären, daß der Unterschied nur in der verschiedenen Tätigkeit besteht und in erhöhten Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und nicht in besonderen Rechten? Haben wir uns nicht oft genug darüber unterhalten? Oder sind Sie etwa der Ansicht, daß ich etwas Besonderes wäre, weil ich studiert habe?" „Bewahre", antwortete sie gemütlich, „Sie sind höchstens ein -265-
besonders ausgeprägter Lausbub!" Rainer lachte hell auf und fuhr geheimnisvoll fort: „Soll ich Ihnen mal was verraten, Mutter Kusemann? Lydia ist weder steif noch gefühllos, mir dürfen Sie das glauben!" „Sie sind das Mädel gar nicht wert!" „Das habe ich ihr auch schon gesagt", seufzte er. „Gott sei Dank glaub t sie es nicht."
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In der großen Montagehalle des Prüfstandes stand auf einer einzelnen Schiene der Unterbau des neuen Triebwagens, der den verpflichtenden Namen „Pfeil" tragen sollte. Große Laufkräne ergriffen die vielen Einzelteile der Inneneinrichtung, die in der Halle übersichtlich gelagert waren, und schleppten sie zu dem Unterbau, wo sie von fachkundigen Händen und modernen Maschinen montiert wurden. Man sah das Fahrzeug wachsen, von Stunde zu Stunde wurde es vollkommener. Und doch waren nur wenige Menschen in der Halle; wie bunte Tupfen huschten sie hin und her. Bräuner führte die Aufsicht. Er saß hinter dem Regiepult in halber Höhe der Halle und verglich den fristgerechten Ablauf der einzelnen Montageetappen mit dem vorliegenden Montageplan. Die Arbeitsgruppen trugen verschiedenfarbige Kombinationen, um dem Regieführenden einen besseren Überblick zu verschaffen. Diese Neuerung ging auf Bräuners Vorschlag zurück. Bisher ließen sich die hellen Kombinationen der Monteure von den weißen Kacheln der Wände und Fußböden nur schwer unterscheiden, die einzelnen Gruppen jedoch waren überhaupt nicht auseinanderzuhalten. Die Monteure hatten anfänglich Einwände erhoben; sie wollten nicht umherlaufen wie Zirkusclowns. Als Bräuner ihnen jedoch versic herte, daß durch die bessere Übersicht Stockungen im Arbeitsfluß schneller überwunden werden könnten, als Heinzel für sich eine violette Kombination forderte, damit er schneller an die Montageschwerpunkte dirigiert werden könnte - wenn Heinzel dafür war, mußte es vorteilhaft sein -, und als der Parteisekretär darauf hinwies, daß ein schnellerer Arbeitsablauf nicht nur den Gewinn erhöhen, sondern sie auch dem Fünfstundentag näherbringen würde, da hatten die Monteure -267-
zugestimmt. Bräuner frohlockte. Es ging wie am Schnürchen! Die roten Schweißer fügten die Bodenplatten und Zwischenwände ein und verschmolzen sie mit dem Spantengerüst; die blauen Schlosser montierten die Türen zwischen den Abteilen und Mittelgängen und schraubten die Sessel fest; ihnen folgten die grünen Elektriker und verbanden die eingegossenen Leitungen, setzten Schalter, schraubten Sicherungen und Tageslichtröhren ein. Dann kamen die braunen „Innenarchitekten", Handwerker, die Bilder, Aschenbecher, Fernsehgeräte, Telefone und die vielen anderen Dinge einbauten, die zur Bequemlichkeit unerläßlich sind. Bevor die schwarzen Reinigungsfrauen mit ihren staubsaugenden Bohnermaschinen kamen und spiegelnden Glanz verbreiteten, bezogen die gelben Sattler die Wände mit Stoff und die Sessel mit Polstern. Bräuner war so vertieft in das bunte Bild der Arbeitsgruppen, daß er den Chefkonstrukteur nicht bemerkte, der hinter ihn getreten war. Schon war das untere Stockwerk des hinteren Wagenteiles fertig, und das obere Stockwerk des Vorderteils wuchs, da stockte plötzlich der Arbeitsfluß. Die roten Schweißer wandten sich ihrem Ultraschallgenerator zu und begannen eine fieberhafte Untersuchung. Bräuner beugte sich vor, da erschien ein violetter Tupfen in seinem Blickfeld: Heinzel! Gespannt schob er die Kopfhörer zurechf. Endlich kamen Heinzels Worte: „Regiepult! Kabelschuhbruch am Zuführungskabel, bitte auswechseln!" „Wird ausgewechselt!" antwortete Bräuner, drückte einen Knopf und rief ins Kehlkopfmikrophon: „Reserve eins! Schweißgenerator oberes Stockwerk Wagenspitze ausgefallen, sofort zweihundertfünfzig Meter -268-
Reservekabel auslegen!" Er drückte einen anderen Knopf. „Kran zwei! Reserve eins legt Kabel von Anschluß sieben zum roten Schweißtrupp aus, bitte Hilfestellung." Die Kranmotoren brummten auf, der Laufkran setzte sich in Bewegung, die Seilkatze fuhr zur Seite und ließ langsam den Haken hinab. Schon hing die Kabeltrommel im Gabelgeschirr am Haken, und während der Kran bis in die Höhe der Triebwagenspitze fuhr, rollte das Kabel ab. Die hellblauen Männer der Einsatzreserve blieben am Kabel und verankerten es. Bis knapp über den roten Schweißtrupp senkte sich die Kabeltrommel. Die Männer rollten den Rest des Kabels ab und schlössen es an. Während die Trommel, hoch in der Luft hängend, davonfuhr, verschmolz der Ultraschall bereits wieder Wände und Bodenplatten. „Ihre Methode bewährt sich!" sagte Schreyer. „Zweieinhalb Minuten!" Doch Bräuner wandte sich nicht um. Er drückte einen neuen Knopf und sprach ins Mikrophon: „Polsterung für Mittelteil Oberstock bereitlegen!" dröhnte es aus dem Lautsprecher durch die Halle. Schreyer beugte sich verblüfft vor. Tatsächlich, die gelben Sattler näherten sich dem Mittelteil und brauchten wieder Nachschub. Endlich war es soweit. Bräuner verglich noch einmal den Montagestand mit der Uhr und dem Plan, dann schaltete er den Lautsprecher ein, grinste Schreyer freudig zu und befahl: „Achtung! Kran eins, vordere Verkleidung aufsetzen! Arbeitsgruppe bitte Vorsicht!" Für einen Augenblick ruhte die Arbeit. Alles beobachtete gespannt den großen Kranhaken, der sich über die stromlinienförmige Silberhaut des Vorderteils senkte. Schnell -269-
waren die Seilschlaufen eingehängt, dann schwebte die Verkleidung durch die Halle. Nur das Heulen der Kranmotoren erfüllte den Raum. Langsam wie eine Schneeflocke senkte sich die Silberhaut über das Eingeweide des Triebwagens. Einen Augenblick brauste Stimmengewirr auf und trug verhaltenen Jubel herauf, dann bewegten sich die bunten Wellen der Montagetrupps mit neuer Kraft dem Zugende zu. * „Mutter Kusemann läßt dich grüßen!" berichtete Rainer schmunzelnd. „Sie hofft, daß du ihr die Bemerkung über die Männerberufe nicht übelnimmst!" „Hast du ihr gesagt, daß ich...?" fragte Lydia befangen. „Sie hat deinen Artikel gelesen!" erwiderte er, ohne den Blick vom Straßenverkehr zu nehmen. Er bog in eine Nebenstraße ein und erhöhte die Geschwindigkeit. Hier war wenigstens Luft! Jede Minute war kostbar, er mußte ja abends schon zurück! Der Triebwagen mußte noch überprüft werden - die Versuchsfahrten standen bevor. Und die Brennkammerabnahme war ihm eine Warnung gewesen... „Und was sagte sie?" forschte Lydia gespannt. Daß man ihn erst danach fragen mußte! „Wer? Ach so-Mutter Kusemann." Er überlegte einen Augenblick. „Sie war entsetzt! Nun wird sie wohl mit Vorurteilen vorsichtiger sein." „War es wirklich nur ein Vorurteil?" fragte Lydia mutwillig. Rainer musterte sie mit einem schnellen Seitenblick und lächelte. „Du wirst es ihr schon beweisen, denke ich mir! Wenn wir erst verheiratet sind l" Sie erwiderte nichts. Es war schön, so in die Zukunft zu -270-
träumen... „Dann hören diese Minutenvisiten auf, bleibt die Hexe im Stall", begann er von neuem. „Dann können wir regelmäßig in die Oper gehen, oder wir hören die Kruzianer...!" Lydia horchte auf. Den Kreuzchor... Er setzte also voraus, daß sie nach Dresden käme. Aber was wurde aus ihrer Arbeit? Sollte sie sich ein eigenes Labor einrichten und frei schaffen... Aber das waren Wunschträume! Halt... „In Dresden soll doch ein medizinisches Forschungszentrum errichtet werden. Vielleicht könnte ich da...?" .„Medizin?" fragte er gedehnt. „Muß das sein? Du könntest doch in das Kernphysikalische Institut der Technischen Hochschule gehen." Sie stutzte. „Hast du etwas gegen die Medizin?" „Nun ja", begann er vorsichtig, ohne sie anzusehen. „Atomphys ik ist doch etwas ganz anderes! Und man soll sich nicht verzetteln. Gewiß, jeder hat sein Steckenpferd - aber einen Nebenberuf daraus machen?" „Du scheinst weder die Medizin noch mich ernst zu nehmen?" fragte sie verblüfft. „Ich nehme dich ernst, Lydia - aber die Medizin ist doch nicht das Richtige für dich. In der Physik kannst du exakt berechnen, gibt es konstante Größen - in der Medizin? Vermutungen, Hypothesen - Experimente... du weißt es ja selber! Nehmen Sie von den Pillen dreimal täglich eine - sollte es nicht helfen, dann fehlt Ihnen etwas anderes, dann versuchen Sie es mit viermal täglich sechs Tropfen aus dem Fläschchen", sagte er ironisch. „Wo sind da konstante Größen, unumstößliche Formeln? Du hast doch auf atomarem Gebiet Ungeheures geleistet, Lydia... Überlasse doch das medizinische Rätselraten denen, die nicht mathematischlogisch denken können! Das hast du als Erfinderin des Gigantums doch nicht nötig." -271-
Lydia schwieg verletzt. Diese Einstellung hatte sie nicht von ihm erwartet. Er nahm sie also nicht ernst, war wohl ein wenig eifersüchtig auf ihre Vielseitigkeit. Er kannte ja nur seine Technik... Dann wehrte sie sich gegen ihre Bitterkeit. Sie wollte nicht ungerecht sein - vielleicht müßte ihm die Medizin wirklich so erscheinen. Schade, daß sie sich hier nicht verstanden. Aber sie würde gelegentlich wieder auf dieses Thema zurückkommen, sie würde ihn schon überzeugen! Doch die kurzen Stunden, die ihnen gehörten, wollte sie sich nicht verderben. Daß in jedem Freudenkelch ein Tropfen Wermut sein mußte! * Während die Leser der Zeitschrift „Der Mensch" teils mit Entsetzen, teils mit fachlichem Interesse und teils mit dem wohligen Gruseln des Unbeteiligten Lydias Bericht über die progressive Lähmung lasen und sich damit trösteten, daß sie erstens nicht in ihrer Nähe auftrat und daß zweitens hervorragende Wissenschaftler sich damit befaßten, herrschte im Äther auf der Gemeinschaftswelle der wissenschaftlichen Institute der verbündeten Staaten helle Aufregung. Funksprüche jagten einander, kreuzten sich, setzten Funkschreiber in Bewegung und dröhnten in den Ohren der Funker. „Forschungskommission Grönland an alle: Progressive Lähmung breitet sich weiter seuchenartig aus. Gegenmaßnahmen bisher erfolglos. Versuchen Krankheitsprozeß zu verzögern. Schnellste Hilfe ist erforderlich. Zwei Kommissionsmitglieder bereits erkrankt!" Kaum war das letzte Wort aus den Funkschreibem gelaufen, schon hämmerten wieder die Tasten: „Atom München an alle: Achtung, Achtung! Melden Aktion Biene! Übermitteln neueste Forschungsergebnisse mit Gegenpräparat Progressive Lähmung..." -272-
Dieser Funkspruch verhundertfachte die Leistungsfähigkeit des Münchener Atomforschungsinstituts. München hatte „Biene" gemeldet, das bedeutete, daß sämtliche Forschungsinstitute sich einschalteten und München unterstützten. Schnellgebildete Forschungskollektive in den Instituten übernahmen Berechnungen, führten Großversuche durch, die München in der Arbeit aufgehalten hätten, prüften die Münchener Ergebnisse und gaben als Echo des Funkspruchs Hunderte von wertvollen Hinweisen, eigenen Ergebnissen und Ratschlägen. Doch nicht nur Funksprüche trafen in München ein, auch Flugzeuge landeten auf dem Flugplatz des Instituts und brachten Teilpräparate, Forschungsmaterial und Geräte. Diese Zusammenarbeit war erprobt und hatte bereits in anderen Fällen großartige Erfolge erzielt Erst im Vorjahr hatte Moskau zu einer Gemeinschaftsaktion aufgerufen, als es galt, ein Heilmittel gegen die Leukämie, eine bis dahin unheilbare Erkrankung der blutbildenden Gewebe mit tödliche m Ausgang, zu finden. Bereits nach drei Monaten war die Gemeinschaftsarbeit von Erfolg gekrönt. Fünf Menschen, die sich bei einem Versuch Strahlverbrennungen zugezogen hatten, konnten gerettet werden, und für alle Menschen hatte die Leukämie ihre Schrecken verloren. * Rainer stand vor einer großen Wandkarte von Europa. Sein Blick folgte der roten Linie, dem Schienenstrang der Einschienenbahn, der sich von Hauptstadt zu Hauptstadt zog. Eine Freundschaftsfahrt durch die Verbündeten Europäischen Staaten sollte den Abschluß der Versuchsfahrten des neuen Triebwagens bilden. -273-
Rainer war abgespannt. Es war eine Müdigkeit, wie man sie immer dann empfindet, wenn der schwerste Kampf vorüber ist, wenn der Strudel ungeklärter Aufgaben sich glättet und die vielen Nebenstränge eines wachsenden Werkes sich am Ziel harmonisch vereinen. Vor ihm lagen die Fernschreiben der Eisenbahnverwaltungen. Nur Italien hatte den Fahrplan noch nicht bestätigt. Jeden Augenblick mußte jedoch der Fernspruch eintreffen. Die Müdigkeit drückte auf seine Lider. Schwerfällig griff er zum Hausbildtelefon und wählte den Bereitschaftsdienst der Wirtschaftsabteilung. „Bitte einen Mokka auf mein Zimmer!" „Kollege Hausberg", sagte das Mädchen auf dem Bildschirm vorwurfsvoll, „die Betriebsärztin hat Ihnen geraten..." „Zum Donnerwetter, ich brauche keinen Vormund!" fuhr Rainer auf. „Ich wünsche einen Mokka, und wenn Sie mir keinen geben wollen, dann sagen Sie es gefälligst!" Als er die gekrankte Miene des Mädchens sah, lenkte er ein. „Bringen Sie mir schon, was ich haben möchte, ich brauche den Kaffee!" Kurz darauf stand der Mokka auf seinem Tisch. Während er den heißen Mokka mit Behagen schlürfte, suchte sein Blick erneut die Karte. Da trat der Parteisekretär ein, ein breitschultriger Hüne mit lachenden Augen und verschmitztem Mund. Wer ihn nicht kannte, lächelte über seinen Spitznamen „Eisenhans". Niemand hätte dem Monteur Hans Meinert, diesem gutmütigen, kugelrunden Phlegmatiker, Intelligenz oder gar Energie zugetraut. „Mahlzeit!" grüßte Meinert mit dröhnender Baßstimme und wies sogleich mit dem Zeigefinger auf die Tasse. „Das solltest du besser lassen, mein Lieber!" -274-
„Ihr fallt mir langsam auf die Nerven mit eurer Bevormundung!" erwiderte Rainer gereizt. „Arbeite du mal Tag und Nacht und werde dann nicht müde! Im übrigen rate ich dir auch nicht, deinen Kartoffelverbrauch dem Hosenbund anzupassen!" Meinert lachte nur und zog sich einen Sessel heran. „Bellende Hunde beißen nicht, Rainer, also sei friedlich! Daß du müde bist, kann ich verstehen, obwohl ich nicht begreifen darf, daß sich einer Tag und Nacht in die Arbeit verbohrt! Davon weiß ich nichts, will ich nichts wissen, verstehst du? Kannst das mal der Gewerkschaft erzählen - du wirst dich wundern! Und bevor die Versuchsfahrten beginnen, schläfst du gründlich aus, sonst übernimmt ein anderer die Fahrten!" „Das wäre..." „Gemein, wolltest du sagen", unterbrach Meinert. „Aber bleib unten, oben ist die Luft zu dünn! Begreife doch endlich, daß du als Mensch intakt sein mußt, wenn du als Techniker etwas leisten willst! Und der Mensch muß schlafen, muß Kräfte sammeln, verstehst du? Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten, ich wollte nur mal wissen, wie sich Splitt macht." Rainer musterte ihn kurz, dann lachte er auf. „Wenn man dich mal aus der Ruhe bringen könnte!" „Kannst du nicht, denn ich bin ausgeschlafen, verstehst du? Aber was ist mit Splitt?" „Ich bin zufrieden, gewisse Ecken wird er sich noch abschleifen, und umkrempeln können wir ihn nicht mehr; ein alter Baum kann nur beschnitten, nicht mehr gekrümmt werden. Ein Wunder, daß er begriffen hat, was Kollektivarbeit bedeutet." „Kein Wunder, Rainer, nach dem Schock mit Buschner! Wenn ich den zwischen die Finger bekommen könnte, würde sogar ich die Ruhe verlieren! Um Splitt werde ich mich weiterhin kümmern. Wenn er es ehrlich meint, dann ist kein -275-
Wort zuviel, um ihm das klarzumachen, was er noch nicht begriffen hat!" „Und wenn er es nicht ehrlich meint?" „Das möchte ich ihm nicht raten! Aber wir müssen uns davor hüten, seine falschen Meinungen sofort als Feindschaft auszulegen. Das ist zwar billig und bequem, aber es nützt uns nichts damit gewinnen und überzeugen wir ihn nicht! Und dann dürfen wir, glaube ich, uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir nicht schuldlos sind. Wir haben uns zuwenig um ihn gekümmert. Der Vorfall Buschner-Splitt ist für uns kein Reklameschild!" „Ich denke, mit Splitt werden wir es schaffen. Ich hätte weniger Hoffnung, wenn er den Überzeugten spielte, aber er scheut sich nicht, offen seine Ansicht zu sagen - die Versteckten, die Tausendprozentigen, denen der Holzhammer nicht schwer genug sein kann, waren schon immer die Gefährlicheren." „Es gibt da zwei Sorten, mein Lieber! Die einen wollen mit den tausend Prozent ihre innere Feindschaft verdecken oder sich ein Pöstchen erkaufen, die anderen sind wirklich überzeugt, sehen aber nicht den Zusammenhang und nicht den Schaden, den sie in ihrer Maßlosigkeit anrichten! Holzhammer ist immer ein Zeichen von ideologischer Schwäche, und wir haben ihn nicht nötig, - die Tatsachen sind stark genug! - Wie weit ist deine Freundschaftsfahrt?" Rainer zeigte ihm die Unterlagen, dann wies er auf die Wandkarte. „Da hast du es bildlich!" Meinert erhob sich, trat vor die Karte und fuhr mit dem Zeigefinger die rote Linie entlang. „Berlin, Warschau, Moskau, Kischinjow, Bukarest, Sofia - ob sie mit der Strecke fertig werden? Belgrad, Budapest, Bratislava, Wien, Prag, München, Innsbruck, Trient, Bologna, Florenz, Rom, Genua, Mailand, Genf, Paris, Brüssel, Antwerpen, über -276-
die große Brücke nach Rotterdam. Utrecht, Osnabrück, Hannover, Berlin... Junge, Junge, du hast dir allerhand vorgenommen, in der Besprechung ist mir das gar nicht so deutlich geworden! Wieviel Kilometer sind es denn?" „Rund achttausendfünfhundert, die Strecken laufen meistens schnurgerade." „Du würdest also bei voller Geschwindigkeit rund neuneinhalb Stunden brauchen... das ist unvorstellbar!" „Ich brauche mit den Zwischenaufenthalten von einer halben Stunde in den Hauptstädten insgesamt etwa sechzehn Stunden." „Und wann findet die Fahrt statt?" „Morgen in vier Wochen, mir fehlt nur noch die italienische Zusage!" „Na gut, wenn du Schwierigkeiten hast, komm zu mir, wenn ich dir helfen kann... an mir soll's nicht liegen!" sagte Meinert und verließ den Raum. Rainer wußte nicht recht, ob er lachen sollte. An mir soll's nicht liegen - wie sich der Eisenhans das wohl vorstellte? Andererseits, bisher hatte er immer einen Weg gefunden, das mußte man ihm lassen! Aber was kümmerte er sich um diesen Unsinn, es klappte, basta! * Doch es klappte nicht. Aus Rom traf ein Fernschreiben ein: „Freuen uns auf Pfeil, Streckenvorbereitung abgeschlossen. Alpentunnel leider nur mit 100 Stundenkilometer befahrbar, da für Druckausgleich zu eng." Rainer sank in seinem Sessel zusammen. -277-
Die Alpentunnel... verdammter Dreck! Daran hatte er nicht gedacht! Was nützten ihm die kühnsten Brückenbögen, wenn es noch Tunnel gab! Der Druckausgleich, was hatte der ihm schon zu schaffen geniacht! Handelte es sich bisher nur um die engen Bahnhofshallen, die der Triebwagen mit voller Geschwindigkeit durchfahren mußte, also um Bedenken wegen einiger Glasscheiben, so waren es jetzt enge Tunnel mit steinernen Wänden, die nicht nachgeben und davonfliegen und so den Druck ausgleichen würden! Er stellte sich den Vorgang noch einmal bildlich vor. Der Triebwagen fährt mit neunhundert Stundenkilometer in einen engen Tunnel, die Luft staut sich, da sie nicht so schnell weichen kann, der Druck erhöht sich, auf die Kunststoffverkleidung gibt es Schläge. Das schlimmste aber war: Die Luft wird durch den Überdruck vom und den Unterdruck hinter dem Wagen schneller als im Freien nach hinten gerissen und strömt deshalb auch schneller durch das Triebwerk. Jeder Querstollen verändert die Druckverhältnisse, das Triebwerk arbeitet unregelmäßig und entgleitet der Kontrolle... Stimmte diese Überlegung? Was nun? Mit hundert Stundenkilometer fahren? Ausgeschlossen! Der Fahrplan lag fest, und außerdem, wenn mehrere Tunnel hintereinander lagen, was sollte das für Leistungsverhältnisse ergeben, was sollte das für eine Zuckelei beim späteren fahrplanmäßigen Verkehr werden! Der Wirkungsgrad war bei hundert Stundenkilometer derart schlecht, daß er auf den Betrieb mit Sauerstoff zurückgreifen müßte; wieviel Sauerstoff aber sollte er denn mitschleppen? Das war doch kein Fahren mehr... Welchem Kraftfahrer konnte man zumuten, mit dem Anlasser Teilstrecken zu fahren? Wo lag der Ausweg? Die Fahrt verschieben? Bei der letzten Besprechung hatte Hänlein ausdrücklich -278-
darauf hingewiesen, daß die Einfuhrpreise für Treibstoffe rapide anstiegen, daß die Inlandspreise beim besten Willen nicht mehr lange zu halten wären... Das bedeutete erhöhte Transportkosten, verteuerte Waren... Was tun? Wenn die Fahrt verschoben wird, klettern die Preise lustig weiter - findet sie statt, wird sich das auf dem Weltmarkt auswirken, dann ist es offensichtlich, daß der flüssige Treibstoff für den Verkehr an Bedeutung verliert. Aber was nützte das alles! Plötzlich fiel ihm der Eisenhans ein. Was hatte der gesagt? Wenn du Schwierigkeiten hast, dann komm zu mir! Na bitte, mal sehen, was er nun sagt! Er wird ganz schön schlucken! Und doch war die Schadenfreude mit der uneingestandenen Hoffnung gemischt, daß Meinert einen Ausweg fände. „Laß hören!" sagte Meinert kurz. Die Behäbigkeit war verschwunden. Er war ene rgiegeladen und gespannt wie eine aufgezogene Stahlfeder, die jeden Augenblick auseinanderschnellen wird. Er lauschte Rainers Bericht - und sosehr sich Rainer dagegen. wehrte, in ihm rief schon dieses gespannte Lauschen ein Gefühl der Erleichterung hervor. „Wir müssen also auf Sauerstoff zurückgreifen!" beendete er seinen Bericht. „Betrachtest du das als Universallösung?" fragte Meinert leicht ironisch. „Zum Teufel, nein, aber es ist die einzige - eine andere ist in dieser kurzen Frist unmög..." „Unmöglich, wolltest du sagen. Gut, daß du es nicht ausgesprochen hast!" erwiderte Meinert trocken. „Dem festen Willen ist nichts unmöglich! Dreh nicht durch, Rainer! Zumindest muß man einen klaren Kopf behalten und sachlich -279-
die Möglichkeiten prüfen. Welche gäbe es denn, wenn wir die kurze Frist außer acht lassen?" Rainer überlegte kurz. „Stollenerweiterung...", dabei hob er die Schultern. Meinerts Lippen preßten sich aufeinander. „Und das sollte nicht möglich sein? Was sagen die Experten? Du mußt sie fragen, du bist doch nicht allein! Viele Köpfe - viele Gedanken! Nicht die Flinte vor dem Schuß aus der Hand werfen. Man müßte es versuchen... In drei Stunden, denke ich, könntest du die nötigen Fachleute zusammenbekommen - aber nimm die besten!" Rainer Hausberg bediente sich des Fernschreibers. Während er der Schreiberin den Text diktierte, lächelte er vor sich hin. Verdammt, der Eisenhans verdiente seinen Namen! Daß er nicht selbst darauf gekommen war - sich so zu verbiestern. Zwar stand auf einem anderen Blatt, was bei der Sitzung herauskam, aber ein Hoffnungsschimmer war es doch... „Ministerium für Bergbau, Berlin. Erbitten sofortige Entsendung eines Tunnelbaufachmanns per Sonderflugzeug nach Dresden. Erwarten ihn spätestens sechzehn Uhr." „Ministerium für Nationale Verteidigung, Berlin. Erbitten sofortige Entsendung eines Sprengstoffachmannes..." „Chemisches Forschungsinstitut Leuna. Erbitten sofortige Entsendung des Chefchemikers..." Der Fernschreiber rasselte. „Fertig? Wen brauchen wir noch? Einen Geologen?... Weiter , geht's: Spezialbohrer Leipzig! Denselben Text, nur soll uns der Chefkonstrukteur und ein Metallurge besuchen! Na, wenn bei dem Aufgebot nichts herauskommt..." Meinerts Vorschlag hatte ihn optimistisch gestimmt Jetzt lachte er leise. Wenn es bis sechzehn Uhr klappte, hatte er Meinert übertrumpft! In zwei -280-
Stunden die Fachleute zusammentrommeln - damit wäre ein Teil der Scharte ausgewetzt! * Die Zeiger der Uhr im Besprechungszimmer der Abteilung Gigantum zeigten genau sechzehn Uhr, als der letzte Sitzungs teilnehmer den Raum betrat. Rainer entwarf ein genaues Bild der Lage, das bei den Kollegen seiner Abteilung und bei Schreyer, der gerade von einer Dienstreise zurückkehrte, Bestürzung hervorrief. Die Gäste sahen sich vielsagend an. Dann entbrannte eine leidenschaftliche Diskussion. Als jemand vorschlug, vorerst die Tunnelstrecke mit Sauerstoff zu befahren und das Problem später zu lösen, stieß er bei Rainers Kollegen auf heftigen Widerspruch. „Keine halbe Arbeit, das haben wir uns geschworen!" rief Bräuner aus. Doch auch er fand keinen Ausweg. Nach der Darlegung der Fachleute war selbst bei Anwendung der neuesten Methoden, des besten Sprengstoffes und der hältesten Gesteinsbohrer die Frist zu kurz. Mit chemischen Mitteln bot sich jedoch überhaupt keine Möglichkeit, einen Ausweg zu schaffen. Der Direktor beugte sich zu Sdireyer und flüsterte: „Jetzt weiß ich, weshalb sie solche Erfolge erzielen! Ein tolles Völkchen haben Sie sich herangezogen, eine derartige Verbundenheit mit der Aufgabe hatte ich nicht erwartet! Wenn Sie mir sagten, daß sie ihr Leben für ihre Arbeit einsetzen, ich glaubte es Ihnen widerspruchslos. Aber hier gibt es keinen Ausweg, das muß man ihnen klarmachen, so schwer es ist." Er erhob sich. „Kollegen", begann er vorsichtig, „Kollegen, ich glaube, es ist -281-
nutzlos, hier eine Lösung erzwingen zu wollen. Es gibt keine! Und, bei Licht und in nüchterner Ruhe betrachtet, lohnt sich überhaupt diese Kraftanstrengung? Ist es wirklich so wichtig, ob ihr auf der ersten Fahrt schon mit neunhundert Stundenk ilometer durch die Tunnel brausen könnt? Rechtfertigt das die Kraftanstrengung, den Aufwand, den ihr treibt?" Splitt, der hinter Sdireyer saß, hatte die leisen Worte ebenso gehört wie des Direktors lauten Einwand. In sich zusammengesunken, hockte er in seinem Sessel. Seine Gedanken überschlugen sich. „Ein tolles Völkchen... daß sie ihr Leben für ihre Arbeit einsetzen...", hatte er gesagt Ihr Leben! So dachte man über Hausbergs Abteilung... Das war es, was Hausberg ihm voraus hatte, Aufopferung bis zur Selbstaufgabe, restlosen Einsatz der Person für die Sache! Und so waren sie alle! Alle? Außer ihm! Er hatte nur an sich... Und obwohl die Kollegen mit ihm verkehrten, als sei nie etwas zwischen ihnen gewesen, er fühlte sich doch nicht zugehörig, sondern stand abseits! Das war das schlechte Gewissen... Sie wußten nicht, daß er... Er hatte es verschwiegen und auf Buschner geschoben, dabei lag der Zerstäuber noch daheim! Der Parteisekretär sprach. „Ich bin nicht deiner Meinung, Genösse Direktor! Es ist keine nutzlose Kraftanstrengung! Nicht der Weg des geringsten Widerstandes ist der beste! Gerade derartige Aufgaben, die anscheinend das menschliche Leistungsvermögen übersteigen, die höchste Anforderungen an den menschlichen Geist stellen, gerade sie sind es, die neue Methoden zeugen, die uns unsere Kraft bewußt werden lassen, und das scheint mir nicht wenig zu sein! Selbst wenn wir uns hier vergebens versammelt hätten und wenn wir uns noch neunundneunzigmal vergebens versammeln werden, es ist keine verlorene Mühe! Wir entgehen der -282-
Gewohnheit des Einhertrottens auf dem ausgetretenen Pfad, wenn wir uns immer wieder dagegen aufbäumen - und neue Wege suchen! Und wir werden beim hundertsten Mal einen neuen Weg finden! Und dieses hundertste lohnt die übrigen neunundneunzig Mal!" Da erhob sich Splitt und begann mit einer Festigkeit, die keiner an ihm kannte: „Eine Frage an den Kollegen vom Ministerium für Bergbau: Wäre es möglich, den Stollen in dieser Zeit zu verbreitern, wenn der Berg... beispielsweise aus Kreide bestände?" Splitt beachtete nicht die mißbilligenden Blicke der Anwesenden. „Ja! Aber was nützen derartige Spekulationen?" „Dann ist der Tunnel termingemäß fertig! Es gibt einen Stoff, er nennt sich Atomoflor, der Stein und Stahl zermürbt. Lediglich Hartgummi und Spezialglas wiederstehen ihm. Wenn die Spezialbohrer und die Zähne der Schrämmaschinen aus unzerbrechlichem Spezialglas hergestellt, die anderen Arbeitsgeräte aber mit Hartgummi überzogen oder direkt daraus angefertigt werden, besteht keine Schwierigkeit mehr. Ich würde vorschlagen, einen Gummiüberzug aufzuspritzen! Ich habe im Umgang mit Atomoflor Erfahrung, wie Kollege Hausberg bestätigen kann, denn die zerfransten Triebwerke gehen auf mein Konto! Und ich stelle mich für das Zerstäuben im Berg zur Verfügung. Um diesen Einsatz bitte ich, bevor ich mich der gerichtlichen Aburteilung stelle!" Nach Splitts Worten herrschte Schweigen, abgrundtief, wie ihm schien. Dann löste sich die Verblüffung, und es dauerte geraume Zeit, ehe Meinerts Stimme durchdrang. „Ich denke, wir werden es schaffen! Und für Ihren Einsatz im Berg werde ich mich verwenden - wenn Sie sich dort bewähren, dann verspreche ich Ihnen, mich dafür einzusetzen, daß Ihre Schuld als verbüßt betrachtet wird! Bis dahin werden Sie allerdings -283-
verstehen, wenn ich die Staatssicherheit benachrichtige. Da Sie freiwillig gestanden haben, wird man lediglich von Ihnen verlangen, daß Sie sich täglich bis zur endgültigen Entscheidung auf der Dienststelle melden, vielleicht genügt es auch, wenn wir täglich Ihre Anwesenheit im Werk bestätigen! Und nun zum Werkzeug: Können derartige Glasbohrer in kurzer Zeit hergestellt werden?" „Ich werde dafür sorgen, daß bereits morgen das Rundglas geliefert wird, dann stellen wir täglich einhundert Bohrer her", versicherte der Fachmann der Spezialbohrerfabrik. „Die Schrämzähne übernehmen wir auch!" „Wie tief wirkt das Atomoflor, Kollege Splitt?" „Einen Meter!" „Woher haben Sie das Zeug? Gibt es das bei uns?" Der Chemiker schüttelte den Kopf, Splitt erhob sich. „Ich habe es von Buschner erhalten, als ich in meinem Grundstück ein Schwimmbecken anlegen wollte und auf Felsen stieß! Es müßte eingeführt werden." Rainer verließ leise das Zimmer, als sich Splitt wieder setzte. Die Diskussion über die notwendigen Maßnahmen ging weiter. Rainer kam gerade dazu, als Meinert abschloß. „Die Direktion wird also die erforderlichen Materialdispositionen veranlassen und die Verhandlungen mit Italien in die Wege leiten. Ich denke, der Verkehrsrat wird zustimmen. Und auf die italienischen Bahnpioniere können wir uns verlassen. Schwarz sehe ich allerdings mit der Einfuhr von Atomoflor... Wenn die erst spitz kriegen, wofür es gebraucht wird, werden sie die Ausfuhr sperren!" „Du irrst! Ich habe eben mit meiner Braut gesprochen", sagte Rainer. „Im Atomforschungsinstitut ist ein ähnliches Präparat entwickelt worden. Es ist zwar noch nicht freigegeben, könnte aber in ausreichender Menge zur Verfügung gestellt werden." -284-
„Dann bekommen wir es, verlaß dich darauf!" versicherte Meinert.
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Die Sonne leckte gierig an den weißen Matten, ließ Eiszapfen tropfen und Schneemänner weinen, weckte das Schmelzwasser und sprengte die Eisdecken, daß es dröhnte und krachte, als schritte ein Riese über das Eis. - Doch zur gleichen Stunde lockte sie die zarten Blüten der Schneeglöckchen hervor, damit sie den neuen Frühling einläuteten. In den Tälern tuckerten bereits Traktoren, und aus dem Dunkel der Wälder traten Hase und Reh, um vom ersten frischen Grün zu naschen, das die Sonne hervorbrachte. Rainer fand nicht die Muße, sich am Erwachen der Natur zu erfreuen. Seine Blicke galten dem silbernen Schienenband. Seit einer Woche flog der Triebwagen singend über die Schiene, hinterließ Staunen und Kopfschütteln bei den Uneingeweihten. Die ersten Kinderkrankheiten waren scho n überwunden, und Rainer konnte sich getrost an die Geschwindigkeitserprobung heranwagen. Noch war die Fremdbeeinflussung des Zuges nicht vollkommen. Wohl funktionierten die Signale, wohl konnten sie den Lauf des Zuges beenden, aber die Bahnhöfe vermochten noch nicht, den Triebwagen zu starten und zu beschleunigen. Das blieb noch Rainer und Bräuner vorbehalten, die im Fahrstand in den Ledersesseln saßen und sich mit Selbmann und Rother abwechselten. Hinter ihnen stand Gisela. Sie betreute eine Schar neugieriger Pressevertreter. Rainer staunte, mit welcher liebenswürdigen Geduld sie ihre Aufgabe erfüllte, und beglückwünschte sich zu dieser Wahl, denn er wäre bestimmt schon aus der Haut gefahren. Schon die Anwesenheit der Pressevertreter brachte ihn auf, -286-
immerhin war der Wagen noch nicht freigegeben! Der Teufel mochte wissen, wie die Reporter es durchgesetzt hatten, daß sie an einer Versuchsfahrt teilnehmen durften. Aber er hatte sich gerächt! Als sie ihn beim Start fragten, wozu auf dem Mittelgang die vielen Türen angebracht wären und wie hoch die Beschleunigung sei, hatte er, hintergründig lächelnd, um Geduld gebeten und sie aufgefordert, sich beim Anfahren in den Gang zu stellen. Dann war er zum Fahrstand gegangen und hatte vergnügt die Fahrtaste eingedrückt. Die Reporter verloren das Gleichgewicht und flogen an die Türen, von denen sie sich während der Beschleunigung nicht lösen konnten. Als sie danach den Fahrstand betraten, fragte Rainer väterlich: „Was glauben Sie, wie schnell Sie am anderen Zugende angekommen wären und mit welcher Geschwindigkeit, wenn die Zwischentüren nicht gewesen wären?" Aber das hatte nicht ausgereicht, um ihre Wißbegierde zu dämpfen, wenn sie sich auch vorsichtshalber nur noch an Gisela wandten. Während Rainer und Bräuner auf die Strecke starrten, die Meßgeräte überwachten und den Zeiger des Tachometers beobachteten, der auf der 900 zitterte, erklärte Gisela die Totmannsicherung, ein Gerät, das automatisch die Bremsen auslöste, wenn der Zugführer ausfiel. „Und wie weit ist dann der Bremsweg?" fragte ein Reporter. Rainer nickte Bräuner grinsend zu, dann zeigte er nach vom. „Sehen Sie dort vorn den Kirchturm, der gerade über den Horizont kommt? Bitte, klappen Sie die Haltegriffe heraus, die in der Wand eingelassen sind, und halten Sie sich fest!" Dann nahm er die Hände vom Fahrkontrollsdialter und stemmte sich gegen das Fahrpult. Warnhupen quäkten durch den ganzen Zug. „Festhalten!" rief er noch einmal, da schlugen schon die Bremsbacken auf die Räder, knallten die Magnetbremsen auf die Schienen, und auf dem Kontrollgerät -287-
sah man, daß das vordere Triebwerk ausfuhr und als Raketenkammer seine brodelnden Gase gegen die Fahrtrichtung schleuderte. Wie reife Früchte hingen die Reporter in den Griffen. Sie hielten sich nur mit äußerster Kraft. In der Luft lag ein Donnern und Kreischen, das an ihren Nerven riß. Stenogrammblöcke wirbelten durch die Luft, Bleistitte knickten zwischen klammernden Händen wie Streichhölzer. Das Blut schien durch die Haut zu treten. Ewigkeiten vergingen, und es waren doch nur Sekunden. Dann stand der Zug. Die Reporter richteten sich mit weichen Knien auf. Rainer erhob sich und nickte ihnen ernst zu. „Das war die Totmannsicherung, meine Herren! Schon der Name verrät, daß es kein Kinderspielzeug ist. Nichts ist, glaube ich, besser geeignet, Ihnen die Gewalt der Geschwindigkeit vor Augen zu führen, als dieser Bremsversuch I Die Kirche steht etwas seitlich hinter uns, wir sind bereits daran vorbei. Wenn Sie sich überzeugen wollen!" Die Reporter drückten ihre Nase an den dicken Scheiben platt. „Kollege Hausberg, ein Funkgespräch für Sie!" rief da der Punker aus der Funkkabine. „Ich lege es auf Zelle eins!" „Günter", sagte Rainer, „du fährst inzwischen bitte an, und Gisela, Sie vertreten mich wohl einen Augenblick!" Der Triebwagen befand sich schon in voller Fahrt, als Rainer zurückkehrte. Schweigend wechselte er mit Gisela den Platz und starrte auf das Gleis. Er war wie ausgewechselt, seine Kollegen bemerkten es sofort. Was mochte nur vorgefallen sein? Glauchau kam in Sicht, eine Weiche flog auf den Zug zu. Erschrocken stellten Rainers Kollegen fest, daß sie falsch gestellt war, denn der Triebwagen schwenkte statt nach links -288-
nach rechts ab. Das war die Leipziger Strecke, ihr Fahrziel aber hieß München! Dennoch zeigten die Signale grünes Licht, dennoch verminderte Rainer nicht die Fahrt! Irgend etwas stimmte nicht, doch die Anwesenheit der Reporter unterdrückte jede Frage. Die Reporter entdeckten bald, daß sich die Fahrtrichtung geändert hatte. „Fahren wir nicht nach München?" fragte der Vertreter der.„Tagesnachrichten", ein lebhafter, hochaufgeschossener Jüngling, dem man seine vierundzwanzig Jahre nicht ansehen konnte. „Offenbar nicht!" erwiderte Rainer abweisend. Doch dann setzte er sachlich hinzu: „Kurswechsel! Unser Ziel ist Berlin. Ich muß Sie bitten, meine Herren, dort den Zug zu verlassen. Ein Flugzeug wird Sie nach Dresden zurückbringen!" Rainers Kollegen horchten überrascht auf, doch sie schwiegen. Sie kannten Rainer. Wenn er nicht erklärte, weshalb der Wechsel vorgenommen wurde, mußte er gewichtige Gründe haben. Der Vertreter der „Tagesnachrichten" aber fuhr auf. „'raussetzen wollen Sie uns? Ich protestiere ganz entschieden!" Dabei pochte er mit dem Bleistift auf seinen Presseausweis und hielt Rainer erregt die Sondergenehmigung zur Teilnahme an der Versuchsfahrt unter die Nase. „Das Ministerium hat die Genehmigung erteilt, verstehen Sie? Das Ministerium!" „Bitte, nehmen Sie den Ausweis weg. Sie behindern die Sicht!" entgegnete Rainer kühl. Als der Reporter der Aufforderung nachgekommen war, fügte er etwas freundlicher hinzu: „Der Protest steht Ihnen frei, Kollege! Ich nehme ihn zur -289-
Kenntnis - mehr kann ich leider nicht tür Sie tun!" Damit wandte er sich wieder der Strecke zu. Schon von weitem ließ er die Sirene heulen, als der Leipziger Einschienenbahnhof auftauchte. Daß der Bahnsteig geräumt war und sich nicht einmal der Fahrdienstleiter sehen ließ, daß sowohl das Einfahrts- als auch das Ausfahrtssignal Grün zeigte und der Triebwagen mit unverminderter Geschwindigkeit durch die Halle brauste, das alles unterstrich das Ungewöhnliche der Situation und ließ auch den Vertreter der „Tagesnachrichten" schweigen. Auf freier Strecke wandte sich Rainer noch einmal an die Reporter: „Ich kann Ihren Unwillen verstehen, meine Herren! Dennoch muß ich Ihnen das Weitere vorenthalten. Es steht Ihnen jedoch frei, sich an Staatssekretär Hänlein direkt zu wenden, vielleicht erfahren Sie Näheres von ihm. Ich bin weder befugt noch genau Unterrichtet. Genaue Instruktionen erhalte ich erst in Berlin. Ich verspreche Ihnen jedoch, daß Sie bei der Freundschaftsfahrt berücksichtigt werden!" Das versöhnte sie, wußten sie doch, daß nur eine beschränkte Anzahl Reporter zugelassen wurde. „Aber unsere Genehmigung...", begehrte der Jüngling nochmals auf. „Junger Mann...", unterbrach ihn Rainer, und seine Stimme verriet jetzt Mißbilligung, „Ihren Eifer in Ehren, aber wenn Sie die Genehmigung in der Tasche haben, einen Steinbruch zu betreten, und bei Ihrem Erscheinen wird gerade gesprengt, gehen Sie dann trotzdem weiter? Es gibt unvorhergesehene Ereignisse, die auch eine Genehmigung aufheben!" In Berlin versammelte Rainer die Zugbesatzung. Gespannt saßen die Kollegen im Kinosaal und warteten auf seine Erklärung. Der Kurswechsel, die Verabschiedung der -290-
Reporter, die Übergabe neuer Fahrpläne und Anweisungen durch den Fahrdienstleiter an Rainer und nicht zuletzt der Wagen des Konsums auf dem Bahnsteig, aus dem einige Mädchen Getränke und Pakete in den Triebwagen umluden, ließ Großes erwarten. „Kollegen!" begann Rainer endlich. „Das Forschungsinstitut in München braucht dringend einige lebenswarme Blutproben eines an der neuen Lähmung erkrankten Seemanns, der heute in Trondheim eingetroffen ist. Flugzeuge können wegen eines orkanartigen Schneesturms in Norwegen nicht eingesetzt werden. Wir werden also einige frisch infizierte Meerschweinchen abholen. Die Fahrt geht über WarschauLeningrad-Haparanda, da die Brücke zwischen Dänemark und Schweden noch nicht fertig ist, es fehlt das Verbindungsstück Fünen-Seeland! Es sind rund viertausend Kilometer, die wir in viereinhalb Stunden zurücklegen können, wir werden also in etwa zehn Stunden wieder in München sein. Verhungern werden wir nicht, das habt ihr bestimmt festgestellt - die Strecken werden überall frei gemacht, es kommt also nur auf uns an!" „Bei aller Menschenliebe - so schnell arbeiten die Behörden nun doch nicht", sagte Heinzel ungläubig. „Es gibt ein Zauberwort: Biene! Eine Gemeinschaftsaktion aller Institute der verbündeten Staaten - diese Institute haben das Kunststück bereits fertiggebracht! Um aber unnütze Verzögerungen des normalen Reiseverkehrs zu vermeiden, müssen wir unbedingt pünktlich sein. Wir starten in fünfzehn Minuten. Auf der Rückfahrt ist der Zutritt zum Sanitätsraum des Zuges, in dem die Tiere untergebracht werden, wegen Infektionsgefahr grundsätzlich verboten. Wir müssen alles vermeiden, was die Seuche nach Deutschland einschleppen könnte!" Als sie wieder im Fahrstand saßen und auf das Abfahrtssignal warteten, fragte Bräuner zaghaft: -291-
„Kannst du Gisela nicht hierlassen?" Rainer stutzte. „Natürlich, wenn sie will!" „Man muß sie notfalls ausschließen!" drängte Bräuner. „Weshalb denn das? Das wäre eine Zurücksetzung, für die nicht die geringste Veranlassung besteht!" sagte Rainer erstaunt. „Und die Gefahr ist wohl keine Veranlassung, was? Sie kann sich ja ruhig anstecken!" fuhr Bräuner auf. „Beruhige dich, Günter, und bleibe sachlich! Würdest du etwa hierbleiben? Nur, weil es gefährlich sein könnte?" „Bei der Aufgabel Traust du mir das zu?" „Aber Gisela soll sich drücken, hmm?" „Versteh mich doch, Rainer! Eine Frau hat ganz andere Aufgaben zu erfüllen als wir! Viel höhere!" Unsicher setzte er hinzu: „Na, du weißt schon... Kinder kriegen und so..." „Hoppla! Ist es schon soweit?" fragte Rainer erstaunt. „Ich denke, ihr habt euch gekracht?" „Sei doch mal ernst, Rainer!" bat Bräuner beschwörend. „Einverstanden", sagte Rainer bereitwillig. „Gisela wird die Betreuung der Meerschweinchen übernehmen!" „Bist du verrückt? Das ist doch nicht dein Ernst?" „Weshalb soll Gisela eigentlich nicht mitfahren? Nun mal ganz ehrlich!" „Weil ich sie liebe, verdammt noch mal, weil ich um sie Angst habe!" „Na, also, du Holzklotz", sagte Rainer befriedigt, „so wird ein Schuh daraus! Du bist vielleicht ein ulkiges Stück! Du liebst sie, aber du steckst den Dickkopf heraus. Komische Liebe! Na, mich geht's nichts an. Wenn ich dir helfen kann - gern! Aber gegen ihren Willen nicht!" -292-
Er rief sie durch die Rufanlage. „Gisela, ich lege Wert darauf, daß Sie hierbleiben und unverzüglich zum Werk fahren! Die Versuchsergebnisse der Probefahrt müssen schnellstens nach Dresden!" „Und wer wertet sie aus, wenn nicht wir? Lassen Sie das, sagen Sie ehrlich, was ich verbrochen habe, schließlich kommt das einer Bestrafung gleich!" erwiderte sie betroffen. Rainer musterte sie mit unbewegter Miene. Was sollte er ihr entgegnen? Gewiß, ein sachlicher Vorwand ließe sich finden, aber war es richtig, sie mit einer Ausrede zu beschwichtigen? Würde er damit nicht Bräuners Dickkopf unterstützen? Sollte er Bräuner nicht besser veranlassen, Farbe zu bekennen... Sonst grollten sich womöglich die beiden bis an ihr Lebensende! Er streifte Bräuner mit einem flüchtigen Blick. Bräuner zuckte zusammen. Ahnte er etwas? „Strafe?" fragte Rainer gedehnt „Wie kommen Sie darauf, Gisela? Das war nicht mein Vorschlag. Er stammt von... Bräuner! Es ist ihm für Sie zu gefährlich!" Nach einem schnellen Seitenblick zu Bräuner, der ihn entsetzt anstarrte, setzte er entschlossen hinzu: „Bräuner hat Angst um Sie - ist das nicht ein gutes Zeichen?" „Günter - Angst um mich? Er soll sich gefälligst um sich selber kümmern." Sie wandte sich heftig an Bräuner: „Das war gemein, Günter! Wenn du noch einen Funken Liebe in dir hättest, würdest du nicht hinter meinem Rücken... Ach was, ich fahre mit!" Sie warf den Kopf herausfordernd in den Nacken und verließ den Raum. Rainer schüttelte bekümmert den Kopf. Es war offenbar nicht leicht, Schicksal zu spielen. Bräuner wollte aufspringen und ihr nacheilen, da wechselte das Rot des Abfahrtssignales in Grün. Rainer drückte auf den -293-
Knopf der Sirene. Ihr Heulen zwang Bräuner zurück in den Sessel. Seufzend, mehr stöhnend schon, griff er in die Bedienungsanlage. Der Triebwagen ruckte an und beschleunigte seine Fahrt. Der rasende Wechsel der heranfliegenden Landschaft, das flatternde Pfeifen des Fahrtwindes, die tanzenden Zeiger, das alles drängte Bräuners Gedanken zurück. Nach vier Stunden anstrengender Fahrt liefen sie in Trondheim ein. Ermattet, versuchte er eine Aussprache mit Gisela herbeizuführen. „Verschone mich mit deinen Märchen!" warf sie ihm an den Kopf und ließ ihn stehen. Und doch blieb ihr sein Blick im Gedächtnis, seine Augen hatten sie traurig angesehen. Er schien wirklich Angst um sie zu haben. Wenn ihr das auch albern erschien, so brach doch eine harte Schale in ihr auf und gab wärmende Hoffnung frei. Zwei Beamte des Norwegischen Gesundheitsdienstes verstauten die Meerschweinchenkiste. Die Tiere quietschten. Noch waren sie quicklebendig. Doch in ihren Adern tummelten sich bereits die Erreger der Seuche, wanderten mit dem Blut durch den ganzen Körper. Ohne Aufenthalt raste der Triebwagen mit seiner todgeweihten Fracht zurück. Es war ein Hineinstürzen ins Ungewisse, denn der Schneesturm verwehrte ihnen jede Sicht. Selbst der Radarschirm nützte ihren noch ungeübten Augen nicht viel, da die Radarstrahler durch die dichten Schneewolken geblendet wurden und nur unklare Bilder auf dem Schirm erschienen. Und wenn sie auch durch die elektrischen Signale sicher geleitet wurden, so bedeutete dieses blinde Fahren doch eine große Belastung der Nerven. Ständig glaubten sie, etwas bersten und splittern zu hören, und waren darauf gefaßt, daß der Wagen gegen ein Hindernis raste. Dagegen half auch nicht die nüchterne Überlegung, daß auf dem erhöhten Schienenstrang keine Hindernisse sein konnten. -294-
Als endlich die Sturmzone überwunden war und wieder die Sonne die Schneelandschaft mit ihrem bläulichen Glitzern überzog, überkam Rainer eine andere Furcht. Würden sie die Tiere bis nach München bringen? Lebten sie noch? Er mußte sich davon überzeugen. Nachdem Rother seinen Platz eingenommen hatte, eilte er zum Sanitätsraum. Ein Meerschweinchen lag tot in der Ecke, aber die anderen waren noch munter. Und doch - so schien ihm, hatten sie sich schon ein wenig verändert. Oder bildete er sich das nur ein? Ihn überkam Mitleid mit den Tieren. Wie drollig sie hin und her huschten - und mußten doch sterben, damit die Menschen gesund blieben. Noch knabberten sie mit flinken Zähnen - und trugen doch schon die Keime des Todes in sich. In Gedanken versunken, entfernte er die Plexiglasschutzscheibe der Transportkiste, griff nach einigen Mohren und schob sie durch das Maschengitter. Das war gegen die Quarantänevorschrift, aber er konnte nicht anders. Als er die Scheibe wieder einsetzte, lächelte er. Was sich die Mediziner so wichtig machten: Jede Berührung mit dem Transportkasten vermeiden - wo war da eine Ansteckungsmöglichkeit? Natürlich hätte er nie zugegeben, daß Gisela den Raum betrat. Er mußte lächeln. Wie Bräuner diesen Scherz gleich für bitteren Ernst gehalten hatte. Wie er sofort aus der Reserve geriet - das war viel wert. Hatten sie sich auseinandergestritten, so würden sie sich auch wieder zusammenstreiten! * Meinert machte seinem Spitznamen Ehre, denn eisern drängte er darauf, daß die nötigen Beschlüsse und Anordnungen in Berlin durchgesetzt wurden. Er erreichte sogar innerhalb von -295-
zwei Tagen über die höchsten Parteiorgane beider Länder die italienische Zustimmung zum Tunnelbau! Mehr noch, am dritten Tage lief eine Meldung ein, daß die Erweiterung des Stollens bereits projektiert werde und daß die italienischen Bahnpioniere selbstverständlich die Arbeiten übernähmen. Nun bewährte sich der eingespielte Mechanismus der Industrie, bewährte sich jedoch auch Bräuners Organisationstalent, das er ungehindert ausnutzen konnte, da er mit Sondervollmachten ausgestattet wurde. In Halle stapelten sich gläserne Bohrer und Schrämzähne, in München Hartgummikanister mit Kosmonit, dem deutschen Zermürbungspräparat, in Dresden Gummikombinationen für die Arbeitsgruppen, in Zwickau hartgummipräparierte Bergbaumaschinen, während in Italien die Tunnelspezialisten die letzten Einzelheiten des Ausgleichstollens festlegten. Hausbergs großer Tag stand bevor. Als aus Italien die Meldung eintraf, daß die Bahnpioniere zu ihren Einsatzstellen führen, als er auf den Alpenspezialkarten die genauen Materiallagerplätze der Baustellen einzeichnen konnte, war er nahe daran, seine Ruhe zu verlieren und Meinert zu umarmen, so hatte ihn das Wettkampffieber gepackt. „Heute geht's los, Eisenhans! In einer Stunde starten die Transportflugzeuge! Eben habe ich die Meldung bekommen, daß die italienischen Luftstreitkräfte auf den Baustellen Hubschrauber für den Materialtranspott einsetzen. Ich habe es ja immer gesagt: Eisenhans - du bist ein Prachtkerl! Wenn wir dich nicht hätten..." „Und die großen Kartoffeln, nicht wahr?" wehrte Meinert grinsend ab. „Aber was ist mit Splitt?" „Bewährungsprobe beim Stollenbau, wie ich es versprach. Wenn er sich bewährt, wird von einer Strafverfolgung abgesehen!" -296-
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Ein internationales Autorennen hätte nicht so viele Berliner auf die Beine gebracht, wie am Montagmorgen zum zentralen Bahnhof der Einschienenbahn unterwegs waren. Schnellbahnen, Autobusse, Personenkraftwagen und Lufttaxis vermochten die Menschenflucht kaum zu bewältigen. Immer neue Ströme spien sie auf den überfüllten riesigen Vorplatz. Freundschaftsfahrt, das war das Zauberwort, das die Berliner anzog, denn hinter diesem Wort verbarg sich die erste zusammenhängende Europarundfahrt eines Schienenfahrzeuges, verbarg sich ein neuer Geschwindigkeitsrekord und für die Nachdenklichen, die den Dingen auf den Grund gingen, der Beginn einer neuen Verkehrsepoche. Auch die Fahnen Chinas und Indiens flatterten im Spalier der bunten Tücher längs des Bahnhofs, denn nach China und Indien bestimmte Post sollte in Moskau vom Asien-Expreß übernommen werden. Ein brausendes Stimmengewirr lag über dem Platz. Endlich belebte sich der Bahnsteig. Elektrokarren brachten Postsäcke heran mit den Aufschriften: MoskauNanking-Delhi- Bukarest... Ein Blasorchester der Nationalarmee zog auf, der Rundfunkübertragungswagen erschien. Fernsehfunk und Film montierten ihre Kameras. „Und nun", ertönte die Stimme des Rundfunkreporters, „nun erscheint das Konstruktionskollektiv, in seiner Mitte Dr. Schwigtenberg, die Erfinderin des neuen Treibstoffs, und Staatssekretär Hänlein vom Ministerium für Forschung..." Seine Stimme ging im Jubel der Massen unter, die den Angekündigten einen begeisterten Empfang bereiteten. In einer kurzen Ansprache würdigte der Staatssekretär noch einmal die Verdienste aller, die dazu beigetragen hatten, daß die Fahrt stattfinden konnte, und verabschiedete das Kollektiv. -298-
Endlich war es soweit. Lydia betrat als erste den Zug, ihr folgte Gisela, dann das Kollektiv mit Splitt, dessen zwiespältiges Gesicht neben der Freude und dem Stolz noch etwas Schuldbewußtsein verriet, und Meinert, dem Parteisekretär. Schreyer ließ es sich nicht nehmen, ihnen als letzter die Hände zu schütteln. Inzwischen nahmen die Gäste in den beiden Stockwerken Platz. „Achtung, Achtung! Bitte den Bahnsteig räumen!" hallte es über den Bahnsteig. Die Türen schlossen sich, die Kreisel liefen an. Langsam zogen sich die Seitenstützen ein, der Triebwagen stand nur auf seinen Rädern. Das Triebwerk fuhr aus, das Stimmengewirr der Menge verstummte. Da wechselte das Rot des Abfahrtsignals in Grün. Die Sirene des Triebwagens heulte auf, dann fuhr donnernd eine lange Stichflamme aus dem Triebwerk. Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung und beschleunigte schnell, begleitet vom Jubel der Tausende und von den Klängen des Orchesters, begleitet von Hubschraubern, die bald hinter dem Wagen zurückblieben und das Feld einem Düsenflugzeuggeschwader überlassen mußten. Der Jubel der Berliner klang den Teilnehmern der Rundfahrt noch in den Ohren, da überflogen sie schon die erste Ländergrenze. Rainer lächelte. Früher gab es hier Zoll- und Paßkontrollen... Gleichmäßig raste der Zug über das Schienenband. Noch waren die letzten Berliner nicht daheim, da brauste neuer Jubel auf. Die Warschauer begrüßten den schnittigen Wagen. Eine kurze Begrüßung durch den polnischen Verkehrsminister, Übergabe der ersten Postsäcke. Dann blieb Warschau hinter ihnen zurück. Minsk flog vorbei, und Moskau raste heran. Lydia stellte ihren Koffer zurecht, da sie in Moskau aussteigen wollte, um an einer Tagung des Europäischen -299-
Atomwissenschaftlichen Arbeitskreises teilzunehmen. So entging ihr, daß sich Rainers Gesicht plötzlich verkrampfte und er mit äußerster Energie gegen einen Schwächeanfall kämpfte. Dicke Schweißtropfen perlten von seiner Stirn. Rother erfaßte Rainers Gebärde richtig und verwickelte Lydia in ein Gespräch über die Moskauer Architektur. Sie konnte sich, ohne unhöflich zu sein, Rother nicht entziehen. Der Schwächeanfall war schnell vorüber. Lydia hatte nichts bemerkt. Wenn sich diese Anfälle in den letzten Tagen auch häuften, so maß Rainer ihnen doch keine Bedeutung zu. Überanstrengung - damit erklärte sich alles. Nach der Fahrt würde er gründlich ausspannen und einen Arzt aufsuchen. Ganz Moskau schien auf den Beinen zu sein. Eine unübersehbare Menschenmenge hatte sich versammelt und feierte den Zug und den Rekord. Mit einem Landfahrzeug in knapp zwei Stunden von Berlin nach Moskau! Nach der Übergabe der Postsäcke bestiegen sie unter dem Jubel der Massen wieder den Triebwagen. Auf dem Nebengleis startete der Asien-Expreß. Lydia verabschiedete sich, neue Gäste stiegen ein, dann wurde der Bahnsteig geräumt. Grünes Licht! Und wieder ging der Zug auf die Reise. Mit hellem Singen jagte er auf dem Schienenband entlang, in rasendem Tempo wechselten die Bilder der Landschaft. Verschwiegene Wälder, riesige Industriegiganten, letzte Sumpfstreifen und herdenreiche Steppen zogen vorüber. Der schnelle Wechsel der Städte und Länder und das Erlebnis der hochentwickelten Technik, die sich im Triebwagen, in gewaltigen Brückenbauten und langen Tunneln darbot, wäre eine ungetrübte Freude gewesen, wenn sich nicht Rainers Schwächeanfall wiederholt hätte. Rom lag hinter ihnen, und der -300-
Zug raste am Golf von Genua entlang. Frische Meeresluft erfüllte die Fahrkabine und die Abteile. Meinert betrat den Fahrstand. Er trug auf einem Strohteller vorsichtig einige große Weintrauben vor sich her, die ihm in Rom von der Bevölkerung zugereicht worden waren. „Man könnte glauben, du bringst uns rohe Eier, Hans l" spottete Rother, als er Meinert vor sich bemerkte. „Bei euch kann man nie wissen! Kaum seid ihr angefahren, schon bremst ihr wieder ab. Das ist ja wie bei der Straßenbahn! 'raus aus Budapest, 'rein nach Wien, 'raus aus Wien, 'rein nach Prag. Da lohnt sich kaum das Hinsetzen, von anderem ganz zu schweigen!" „Na na! Schneid nicht so auf. Von Prag nach Rom hattest du vierundsiebzig Minuten Zeit", widersprach Rother gelassen. „Langt das zum Schlafen?" fragte Meinert vorwurfsvoll. „Schlafwagen führen wir nicht - oder hast du Zuschlag bezahlt?" mischte sich nun Bräuner ein. Meinert stellte den Strohteller aufs Armaturenbrett und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Zuschlag? Wir wollen die Fahrpreise senken, ganz aufheben... und du quasselst von Zuschlägen!" „Sei friedlich, Hans! Sag den Apenninen auf Wiedersehn. Gleich geht's wieder durch Alpentunnel", lenkte Bräuner ein. „Laß dir schnell noch von Rother die Visitenkarte Liguriens vortragen, sonst stirbt der an Stimmband Verkümmerung." Ehe Meinert etwas erwidern konnte, begann Rother: „Zweihundert bis einhunderteinundneunzig vor der Zeitrechnung von den Römern unterworfen..." „Ziemlich lange her, du hast ein gutes Gedächtnis!" unterbrach Meinert trocken. Dann wechselte er unvermittelt das Thema. „Du siehst nicht gut aus, Rainer, was ist?" Seine Stimme verriet Besorgnis. -301-
„Nichts! Etwas überanstrengt, das ist alles", erwiderte Rainer kurz. „Verfluchte Fragerei!" „Du gefällst mir nicht...", begann Meinert ungerührt vo n neuem. „Ich habe vor der Fahrt gründlich geschlafen, habe mich nicht Tag und Nacht in die Arbeit verbohrt, brauche also nicht abgelöst zu werden!" unterbrach Rainer grob. „Ich bin doch kein Neugeborenes, das die Hebamme trockenlegen muß!" „Das ist doch Unsinn! So ist es doch nicht gemeint. Aber wenn du dich nicht wohl fühlst, kann dich doch Bräuner ablösen und Rother Bräuners Stelle einnehmen", begütigte Meinert und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du redest mir noch eine Krankheit ein. Das fällt mir langsam auf die Nerven!" brauste Rainer ungewöhnlich heftig auf. Meinert hob die Schultern und verließ verstimmt den Fahrstand. Rother schloß sich mit unwilliger Miene an. „Ich möchte nur wissen, was in mich gefahren ist", sagte Rainer mit hilflosem Schulterheben zu Bräuner. „Laß gut sein, Rainer, du bist abgespannt. Es war zuviel in den letzten Wochen." * Das Licht des Tages verlor sich im wesenlosen Grau der Dämmerung. Langsam breitete sich die Nacht über die Landschaft. Da kündete ein heller Schein am Horizont Paris an. Der starke Scheinwerfer des Zuges stach wie ein ausgestreckter Zeigefinger in die unbestimmte Dunkelheit, das Licht der Fenster huschte, schemenhaft verzerrt durch Bodenwellen und Bäume, über die tiefer liegende Landschaft. Über dem Zug donnerte mit geisterhaft bläulichem Schein die Rückstoßflamme des Triebwerks. -302-
Während die Gäste, in die Polstersessel der Abteile gelehnt, das Fernsehprogramm des Pariser Senders verfolgten, herrschte zwischen den beiden Männern im Fahrstand Schweigen. Bräuner starrte in den Scheinwerferkegel, der die dichter werdende Finsternis aufriß und das Gleis aufblinken ließ. Rainer beobachtete die Strecke auf dem Radarbildschirm. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und doch hatten diese etwas gemeinsam. Bräuner befaßte sich entgegen allen Vorsätzen mit Gisela. Rainer sann erwartungsvoll Paris entgegen und bedauerte, daß Lydia nicht dabeisein konnte. In der Ferne ließ sich über dem glitzernden Lichtermeer, von vielen Scheinwerfern angestrahlt, der Eiffelturm erkennen. Ein Denkmal ingenieurtechnischer Kühnheit einer längst vergangenen Zeit, die Rainer als Anfang der Technik überhaupt erschien. Diese primitive Bauweise primitiv im Vergleich zum modernen Stahlbau - und doch... Was hatte man mit den damaligen Mitteln gewagt! Was mußte man mit den heutigen Mitteln erreichen können! Der Fernsehsender Paris übertrug die Einfahrt des Schnelltriebwagens. So konnten die Fahrtteilnehmer auf dem Bildschirm ihres Abteilempfängers im Innern des Zuges ihren Zug von außen betrachten. Und sie sahen, wie die Flamme des hinteren Triebwerks in sich zusammenbrach und das vordere Triebwerk als Raketenbrennkammer gegen die Fahrtrichtung arbeitete und den rasenden Lauf des Zuges bremste. Dieses Bild war von verblüffender Eindringlichkeit, da die Verzögerung für sie wirklich vorhanden war und jenes unsichere Gefühl im Magen hervorrief, das mit dem Bremsen eines Fahrstuhles untrennbar verbunden ist. Wieder brauste der Jubel auf. Rainer war froh, als der Zug wieder sein helles Lied auf der Schiene sang. Es waren zu viele Eindrücke... „So schön es ist - ich habe langsam die Nase voll", drückte -303-
auch Bräuner sein Empfinden mit der ihm eigenen unbekümmerten Grobheit aus. „Das war nun schon die elfte Begrüßung, zwei stehen uns noch bevor - ist dieses dauernde Begrüßen und Verabschieden anstrengend!" „Ja, es ist zuviel, ist...", Rainer brach plötzlich ab. Seine Glieder wurden weich und schwer, sein Kopf taumelte haltlos, vor seinen Augen verschwamm das Bild der Armaturen, und in seine Ohren bohrte sich ein schrilles Singen. Metallgeschmack lag auf seiner Zunge, spannte den Gaumen. Sein Atem wurde stoßend. Angstvoll öffnete er die Lippen. „Günter... schnell... übernimm den Fahrhebel... sonst... die Totmannsicherung...", preßte er röchelnd heraus. Als Bräuner an seiner Stelle den Fahrhebel herunterdrückte und so die Auslösung der Totmannsicherung verhinderte, die den Zug auf kürzeste Entfernung zum Stehen gebracht hätte, sank Rainer langsam vornüber und kippte dann seitwärts weg. Bräuner fing ihn mit der freien Hand ab, damit er nicht auf den harten Boden stürzte. Mühsam zog er ihn zu sich herüber und lehnte ihn gegen sich, dann schaltete er das Mikrophon ein, ohne die Hand vom Fahrschalter und die Augen von der Strecke zu lassen. „Achtung! Hier spricht der Zugführer! Bitte die Kollegin Heymer sofort in den Fahrstand! Ich wiederhole..." Gisela trat verwundert ein. Sie erschrak, doch Bräuner war ungeduldig. „Schnell... die Trage!" herrschte er sie an. Ehe Gisela zum Nachdenken kam, hatte sie mechanisch die federleichte Trage von der Wand gelöst, die Kunststoffholme zusammengesteckt und die Schaumgummimatratze ausgebreitet. „Jetzt bitte von der anderen Seite herantreten und den Fahrhebel herunterdrücken!" lautete Bräuners neue Anweisung. Sie sprang hinzu. Dann faßte er Rainer unter den Armen und schleppte ihn zur Trage. Erst als Rainer ausgestreckt lag, übernahm Bräuner wieder den Fahrhebel. Gisela stürzte zu -304-
Rainer, öffnete die Jacke, das Hemd und löste den Gürtel. Dann fühlte sie den Puls. „Der Puls schwindet!" Ihre Worte tropften drohend in den Raum, füllten ihn mit Furcht und Grauen. Bräuner wandte sich kurz um, sah, wie Gisela dem Unfallhilfskasten eine Spritze entnahm, und atmete tief auf. Allein die Gewißheit, daß er nicht untätig und hilflos auf Besserung hoffen mußte, daß etwas getan wurde, erleichterte ihn. Auch Gisela war jetzt ganz ruhig und sachlich. Ohne zu zittern, stach sie die Kanüle ein und drückte den Kampfer in die Muskel. Der ruhige, erschütterungsfreie Lauf war nie so deutlich geworden wie bei diesem Einstich. Während der Behandlung fragte sie: „Weshalb hast du gerade mich gerufen?" „Ich habe darüber nicht nachgedacht, es war ohne jede Überlegung... Oder vielleicht... Nein, bestimmt, weil du in Erster Hilfe ausgebildet bist!" stammelte er unsicher und starrte angestrengt nach draußen. „Weshalb hast du dann nicht gehalten?" „Ich kann doch wegen seiner Ohnmacht nicht die Strecke blockieren", erwiderte er müde. Dann raffte er sich auf und rief das Zugpersonal in den Fahrstand. „Was nun? In Brüssel ausladen und zum Arzt?" fragte Meinert. „Nein", widersprach Bräuner. „Das kostet Zeit - der Fahrplan! Und Rainer allein zurücklassen wegen einer Ohnmacht? Das würde er uns nie verzeihen. In Berlin gibt es genug Ärzte!" „Gut, aber wer fährt jetzt?" fragte Meinert weiter. „Ich! Und Rother als zweiter Zugführer! Wir kennen den Fahrstand am besten!" entschied Bräuner bestimmt, ohne seinen Blick vom Gleis zu wenden. „Aber ihr habt keine Fahrerlaubnis", gab Meinert zu -305-
bedenken. „Pfeif drauf! Halten können wir nicht, das blockiert die Strecke, fahren dürfen wir nicht, da fehlt der amtliche Segen und fliegen können wir nicht, wir haben keine Flügel! Also fahren, wir, ich übernehme den Zug!" Meinert und Selbmann trugen Rainer in den Sanitätsraum. Er kam bald wieder zum Bewußtsein, war aber zu schwach, um zum Fahrstand zurückzukehren. Wieder allein im Fahrstand, schwiegen die drei. Rother sah wie Bräuner in das nächtliche Dunkel. Bräuners Gesicht, vom Widerschein der Armaturen beleuchtet, grünlich überzogen, wirkte maskenhaft verzerrt. Wie aus Stein gehauen, saß er gekrümmt im Fahrsessel. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen, die Lippen waren aufeinandergepreßt. Das schien alles so unwirklich, daß Gisela versucht war, mit einer flüchtigen Handbewegung diesen Traum auszulöschen. Da bewegte sich Bräuner, seine Hand schob sich in die Tasche, kam mit dem Taschentuch zurück, trocknete die Stirn, fuhr zurück in die Tasche. Dann saß er wieder unbeweglich, als wäre er im Sprung erstarrt. Gisela bewunderte ihn. Lichter glommen auf, flogen aufstrahlend heran, mit einem dumpfen Luftschlag zuckte der Bahnhof vorüber. In Bräuners Gesicht bewegte sich kein Muskel. * Als der Zug hielt, war Bräuner restlos erschöpft. Er erhob sich und sank taumelnd in Giselas Arme. Erschrocken bettete sie ihn auf die Trage. Sie wurde erst ruhiger, als sie seinen regelmäßigen Pulsschlag fühlte. Der Schreck, der noch in ihren Gliedern saß, schlug eine -306-
Brücke zwischen ihnen, überwand ihren Trotz. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß sie mit ihm allein war, fuhren ihre Hände zärtlich durch das Haar des Ohnmächtagen. Die anderen halfen beim Ausladen der Postsäcke, da der Zug anschließend nach Dresden weiterfahren sollte. Sie fragte sich, während sie ihn betrachtete, ob sie sich bisher nicht kindisch benommen hätte, kindisch wie ein Backfisch. Konnte Liebe nicht verzeihen? Und war es wirklich so ein Kapitalverbrechen gewesen? Bewies seine damalige Eifersucht nicht, daß er sie gern hatte? Seine Lider waren geschlossen. Schönes welliges Haar hatte er. Und männliche Züge - diese schmale Nase, das energische Kinn, und seine breiten Schultern... Seine Muskeln waren stählern - und doch konnte er zärtlich sein... Aber sie gab nicht nach! Da mußte er schon noch einmal zu ihr kommen und bitten l Doch bis dahin verging gewiß noch lange Zeit, sie war wohl zu hart gewesen - etwas entgegenkommen mußte sie ihm schon. Dieser Mund - kräuselte er sich nicht zum Lächeln? Nein, er war ja ohnmächtig! Behutsam beugte sie sich über ihn und küßte ihn flüchtig. Er merkte es ja nicht! Sie fuhr erschrocken zusammen, als sich zwei Arme um ihren Nacken legten und sie ganz herunterzogen. Endlich - sie rang schon nach Luft - gab er sie frei. Dann sprang er mit beiden Beinen auf und legte die Arme um sie. „Du bist nicht...?" stammelte sie verblüfft „Ach wo, schon lange nicht mehr! Aber deine Hände, Gisela... du bist mir noch nie so durchs Haar gefahren." In seinen Augen tanzten kleine Lichter. „Du hast mich getäuscht...", begehrte sie trotzig auf, „ich mache mir Sorgen und..." -307-
„Nun werde nicht wieder kratzbürstig, ich weiß ja nun, wie du wirklich denkst! Gott, seid ihr Frauen verdreht!" Er zog sie zu sich heran, sie wehrte sich schwach. „Aber Günter", flüsterte sie, „doch nicht hier, die anderen kommen gleich zurück!" Bräuner lachte leise. „Es ist ja nur, weil mir wieder schwindlig wird." * Frau Schwigtenberg sah lächelnd auf, als Lydia frohgelaunt durchs Zimmer wirbelte. „Eine gute Laune bringst du mit, Mädel..." „leb habe auch allen Grund dazu! Die Tagung in Moskau ist vorüber, Rainers Rundfahrt auch - jetzt haben wir endlich mal etwas Zeit für uns! Ich werde ihm nachher schreiben, daß ich zurück bin. Dann verbringen wir einen dreitägigen Urlaub zusammen.... schön wird das werden!" „Auf deinem Bett liegt ein Brief von ihm, vielleicht kommt er zu Besuch", sagte Frau Schwigtenberg. Lydia stürmte übermütig hinaus. Frau Schwigtenberg lächelte. Sie kannte diese Freude. Sie war ja auch einmal gelaufen und hatte mit heißen Wangen Briefe geöffnet Plötzlich drang ein Stöhnen an ihr Ohr. Erschrocken eilte sie hinüber. Lydia lehnte mit geschlossenen Augen am Fenster, ihr Gesicht war kalkig und verfallen, ihre Hände umkrampften den Brief. Frau Schwigtenberg mußte sie mehrmals anrufen, ehe sie die Augen öffnete. Leer und ausdruckslos war ihr Blick. -308-
„Der Brief - laß mich bitte allein", flüsterte sie tonlos. Frau Schwigtenberg war ratlos. Die Tage vergingen, doch Lydia blieb verstört. Sie aß nichts, sie sagte nichts, sie weinte nicht Man mußte Fragen mehrmals wiederholen, ehe sie den Sinn begriff und einsilbige Antworten gab, die meist noch verdreht waren. Es gelang Frau Schwigtenberg nicht, sie aus dieser Lethargie zu reißen. Nur drei Worte hatte sie gesagt: „Es ist aus...", mehr nicht. Es genügte, um in Frau Schwigtenberg einen bitteren Groll auf Rainer zu entzünden, einen Groll, der sich bald in Haß verwandelte. Mit ihrem Mädel hatte er gespielt, leichtfertig ihr etwas vorgegaukelt! Das Mädel wurde immer weniger, sie ging daran zugrunde. Wie konnte ein Mann nur ihre Liebe so leichtfertig und achtlos beiseite werfen, einen Menschen wie Lydia zertreten? Hatte das Mädel ein Pech... Immer war sie allein geblieben, jetzt hatte sie einen Menschen gefunden - da entpuppte er sich als Lump! „Bitte laß das, Mutter, Rainer ist kein schlechter Mensch, er ist ehrlich, wie ich es von ihm verlangte. Daß ich jetzt mit dieser Ehrlichkeit nicht fertig werde, ist meine Sache!"
Rainer schwebte in einem unendlichen Raum, den hallendes Gelächter erfüllte. Zischendes Flüstern, dicht an seinem Ohr, schwoll an zu sinnlosen Lauten, die unsichtbare Wände sich als hohles Fauchen zuzuwerfen schienen. Er war wie aus kaltem Stahl - alles dröhnte. Ab und zu grellte ein Blitz vor seinen Augen, ließ ihn um so tiefer in die Finsternis zurückfallen. Und noch immer das peinigende Gelächter. Das Flüstern wurde lauter, übertönte alles andere, formte sich zu Worten: „... Nach der Blutuntersuchung wissen wir Bescheid! Warten -309-
wir also... Ich fürchte... progressive Lähmung!" „Pst! Er wird gleich erwachen", sagte eine Stimme, schon näher, deutlicher. Als er die Augen öffnete, erblickte er eine Krankenschwester und zwei Ärzte. Erstaunt wandte er sich um. Ein fremdes Zimmer... „Wo bin ich?" flüsterte er mit schwerer Zunge und versuchte sich aufzurichten. „Liegenbleiben, junger Freund! Sie sind im ParacelsusKrankenhaus. Eine kleine Schwäche, weiter nichts. Sie sind bei einer Besprechung im Forschungsministerium umgekippt. Nur eine Vorsichtsmaßnahme, Herr Hausberg. Sie haben sich überanstrengt, nun ruhen Sie sich erst gründlich aus. Bald können Sie wieder nach Hause", sagte der ältere der beiden Ärzte. Seine Stimme und sein Wesen strahlten Ruhe aus, die sich auf Rainer übertrug. Erleichtert ließ er sich zurückfallen. Der kleine untersetzte Arzt strich sich über seine schütteren, graumelierten Haare und musterte Rainer nachdenklich mit zusammengezogener Stim. „Haben Sie diese Schwächeanfälle schon länger? Ach so, entschuldigen Sie", unterbrach er sich, „Sie wissen ja noch nicht, mit wem Sie es zu tun haben." Er wies auf die Krankenschwester, an der Rainer die großen, warmen Augen auffielen und das lange blonde Haar; auf dem kokett eine weiße Haube befestigt war. „Das ist Schwester Marianne, sie wird Sie während Ihres kurzen Aufenthalts betreuen. - Und hier haben Sie Oberarzt Wendig, Ihren Stationsarzt", stellte er seinen Kollegen vor, einen langen, schlanken Mann mit schwarzer Brille. Schließlich wies der Kleine mit einer heiteren Verbeugung auf sich selbst und schmunzelte leicht. „Papa Spindler, wie man mich nennt, wenn ich nicht dabei bin. Stimmt's, Schwester Marianne?" -310-
Sie errötete und nickte verlegen. „Und nun wird geschlafen, Herr Hausberg, Sie haben viel nachzuholen." Als Rainer allein war, sah er sich im Zimmer um. Es war recht gemütlich, man konnte sich wohl fühlen. Eine gekachelte Waschecke mit großem Spiegel, eine Leseecke mit bequemen Stahlrohrsesseln und einem niedrigen Tisch, ein kleiner Strauß Frühlingsblumen darauf. Genau gegenüber seinem Bett stand auf einem Bücherschrank ein Fernsehempfänger. Rainer wollte sich erheben und sich einen Band ins Bett holen, aber es gelang ihm nicht. Erstaunt stellte er fest, daß er den linken Arm nicht mehr bewegen konnte. Er lächelte unwillkürlich und hob ihn mit dem rechten Arm. Schon Altersschwäche? Plötzlich durchzuckte ihn siedend heiß ein Gedanke, er ließ den Arm zurückfallen und starrte entsetzt zur Decke. Kalter Schweiß brach aus seinen Poren, er zitterte am ganzen Körper. Was hatte er vorhin gehört... Lähmung... Progressive Lähmung! Nein, schrie es in ihm, nein, das nicht, nur das nicht! Was hatte ihm Lydia erzählt? Erst die Glieder, dann die inneren Organe... Exitus! Aber wo sollte er sich infiziert haben, wo? Er war doch mit keinem Menschen in Berührung gekommen. Also war es doch nur Überanstrengung. Wer weiß, was er gehört hatte. Erleichtert atmete er auf. Blödsinn! Da fiel ihm die Fahrt nach Trondheim ein, die Meerschweinchen... Also doch... Gelähmt...! Ohne jede Rettung dem Tod verfallen! Mein Gott, Lydia... Was würde sie sagen, was sollte nun werden? Sie würde sich Vorwürfe machen, weil sie ihn um die Fahrt gebeten hatte! Mit einem Ruck griff er nach der Klingel. Gellend schlug sie an. „Was ist denn?" fragte die Schwester beruhigend. -311-
„Bitte schnell den Professor, schnell, Schwester, schnell!" keuchte er. Professor Spindler kam sofort, behutsam setzte er sich auf die Bettkante. „Nun, Herr Hausberg?" fragte er vorsichtig. Hatte der Patient schon etwas bemerkt, zeigten sich schon Lähmungserscheinungen? Gott sei Dank konnte er die ganze grausame Wahrheit nicht ahnen. „Bitte, Herr Professor, rufen Sie sofort Staatssekretär Hänlein an. Er möchte unter allen Umständen verhindern, daß meine Erkrankung veröffentlicht wird, er soll auch Dresden mitteilen, daß meine Braut nichts erfahren darf, und meine Wirtin soll mich schnellstens besuc hen!" * Die nächsten Tage verbrachte Rainer in schmerzhaftem Grübeln. Noch war es unfaßbar für ihn, noch schwebte er zwischen Furcht und Hoffnung. Schwester Marianne war häufig bei ihm, entriß ihn mit ihrem kecken Geplauder seinen trüben Gedanken. Doch ihr war in Wirklichkeit nicht nach Scherzen zumute. Er mußte doch bemerkt haben, daß sein Arm gelähmt war, sie gelbst sah es ja... nein, er hatte es bemerkt, er konnte ihn nicht mehr heben; weshalb sagte er nichts, weshalb fragte er nichts? Dieser bleiche junge Mann gefiel ihr, und wenn sie allein war, überfiel sie der ganze Jammer der eigenen Hilflosigkeit. In seinem Zimmer aber schien sie unbeschwert heiter, scherzte, neckte ihn und las ihm seine Wünsche von den Augen ab. Rainer hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Es nützte ja nichts - früher oder später wäre sowieso Schluß gewesen, einmal mußte jeder sterben! Er wurde wieder ruhig und ausgeglichen. Schade, daß er nun -312-
seine Pläne nicht verwirklichen konnte, aber den Triebwagen hatte er fertigbekommen, das hatte er noch geschafft! Nun galt es, die wenigen Tage noch zu nützen, vom Leben noch mitzunehmen, was es zu bieten hatte. Solange er noch gehen konnte, wollte er die Bewegungsfreiheit genießen. Er stand auf. Schwester Marianne prallte zurück,.als sie ihn im Sessel am Fenster fand. Er schaute in das junge Grün der Anlagen und lauschte dem Zwitschern der Vögel. „Wie können Sie nur aufstehen, marsch, ins Bett, Herr Hausberg!" forderte sie energisch. Doch Rainer lehnte sich belustigt zurück. „Nicht aufregen, Schwester - es ist so schön draußen, und man soll seine Zeit nützen!" „Was soll das heißen?" fragte sie verwirrt. „Daß ich Sie bitte, dem Professor mitzuteilen, daß ich ihn gern sprechen möchte." Er zog sein Etui heraus, öffnete es mühsam und entnahm ihm eine Zigarette. Dann griff er nach dem Feuerzeug und setzte sie in Brand. Sie war derart fassungslos, daß sie ihn nicht einmal auf das Rauchverbot hinweisen konnte. Wortlos verließ sie das Zimmer. Der Professor kam. Er fühlte sofort, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte, und übersah die brennende Zigarette. Rainer begann leise, aber ruhig und bestimmt „Lassen wir das Versteckspielen, Herr Professor! Wieviel Tage noch?" „Ich denke zwei Wochen!" „Dauert das zweite Stadium nicht sechs?" Der Professor zuckte zusammen, doch er fing sich schnell. -313-
„Zweites Stadium? In zwei Wochen können Sie nach Hause!" sagte er leichthin. „Und inzwischen greift die Lähmung des linken Armes auf eines der Beine, vermutlich das linke, über, und ich muß noch zwei Wochen warten. Dann kommt die rechte Seite dran, dann die inneren Organe... machen wir uns doch nichts vor", entgegnete Rainer mit ruhigem Vorwurf. „Woher wissen Sie?" fragte der Professor entsetzt. „Von Ihnen, als ich eingeliefert wurde und noch nicht völlig bei Bewußtsein war." Professor Spindler schlug sich vor den Kopf. „Mein Gott, das habe ich nicht gewollt!" stöhnte er. „Es ist besser so, Herr Professor! Ihr Schweigen hätte mir die wenigen letzten Tage geraubt, so kann ich sie nützen. Lassen Sie mich umherlaufen, solange ich es noch kann! Diesen Raum darf ich wohl nicht verlassen, es ist ein Isolierzimmer, nicht wahr?" Professor Spindler nickte nur, Rainers Gelassenheit brachte ihn aus dem Gleichgewicht. „Bitte lösen Sie die Schwester ab, sie ist zu jung, ich möchte nicht, daß sie durch mich angesteckt..." „Unsinn!" unterbrach ihn der Professor lebhaft. „In diesem Stadium ist die Lähmung noch nicht ansteckend, frühestens in fünf Wochen! Sie können übrigens gern in meinem Privatgrundstück spazierengehen, dort treffen Sie auf keine Patienten, es ist vielleicht besser so. Es ist ein kleiner Park, Schwester Marianne wird Sie begleiten!" Als Rainer allein war, legte er einen Schreibblock zurecht und lehnte sich zurück. Nun dies eine noch, das Letzte, aber auch das Schwerste: der Abschied von Lydia. Sie sollte sich keine Vorwürfe machen, durfte nicht ihr ganzes Leben lang damit belastet sein. Sie war jung und schön, sie hatte ein Recht auf eine unbeschwerte Zukunft. Sie würde einen anderen Menschen -314-
finden und das überwinden, was er ihr jetzt antun mußte. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende hieß es nicht so? Welch glückliche Stunden hätte er noch mit ihr verleben können... ihn liebte sie, ihn, ausgerechnet ihn... Damals bei Mutter Kusemann... die Gute hatte Kopfschmerzen... jede Einzelheit rief er sich ins Gedächtnis, schmerzhaft stieg die Erinnerung herauf. Das sollte vorbei sein? Für immer vorbei? Er stützte seinen Kopf in die rechte, seine linke Hand hing leblos nach unten. Nie war ihm so deutlich geworden, was Lydia ihm bedeutete, wie jetzt bei seinem Verzicht. Es brannte in seiner Kehle, tausend Nadelstiche wühlten, in seiner Brust. Diese Liebe... aus für immer! Nein! Jetzt mußte er erst beweisen, daß er sie liebte! Selbst wenn er ihr sein Bild zerstörte! Was kam es auf ihn an, sie sollte leben, sollte glücklich werden, Kinder haben... Er stöhnte. Aber er kannte sie zu gut und wußte, daß sie niemals einem anderen Manne gehören würde, wenn er diesen letzten Schritt nicht unternahm und ihr nicht den Vorwurf ersparte, den sie sich unsinnigerweise bestimmt machen würde. Er richtete sich auf, hob die leblose Linke auf den Rand des Bogens und begann zu schreiben. „Meine liebe Lydia!" Nein! Das war zu liebevoll. Kälter, Rainer!
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Als er den Brief schloß, hatte sein Gesicht jede Farbe verloren. Seine gesunde Hand zitterte, als er der Schwester den Brief übergab. * Witwe Kusemann kehrte als eine Greisin nach Dresden zurück. Rainer war das Letzte, was sie besaß - nein, besessen hatte. Es war ihr unfaßbar, daß sie ihn verlieren sollte. Weshalb hatte das Schicksal nicht getroffen... Nach Tagen erst fiel ihr Rainers Bitte wieder ein: „Mutter Kusemann, Lydia darf nie erfahren, was mit mir geschehen ist! Sagen Sie ihr, passen Sie gut auf, sagen Sie ihr, ich hätte ein andres Mädel kennengelernt und Hals über Kopf Deutschland verlassen. Genaueres wüßten Sie nicht, ich hätte auch keine Adresse hinterlassen. Merken Sie sich das genau, meine Kollegen sagen dasselbe, und ich habe es Lydia geschrieben! Es muß sein!" Oh, sie hatte es nicht vergessen - jedes Wort war eingegraben in ihr Gedächtnis. Wie gern mußte er das Mädel haben, daß er mit einer solchen Lüge starb! Sie würde ihm diesen Wunsch erfüllen! Daran klammerte sie sich, das machte sie zu ihrer Aufgabe, um nicht haltlos zusammenzubrechen, nicht zu verzweifeln. Und wieder flossen die Tränen. * Die Farben der Blumen, das Grün des Laubes und das Gezwitscher der Vögel im Geäst der Eichen - das alles schien -316-
Rainer schöner, bewundernswerter, als es ihm je erschienen war. Vier Wochen noch! Das lag über allem, was er erlebte. Gierig trank er alles in sich hinein. Die Spaziergänge in Professor Spindlers Park nützte er bis ins letzte, denn wer wußte, wie lange er noch gehen konnte? Ständig entdeckte er altbekannte Dinge neu - Dinge, die er bisher übersehen hatte, deren Schönheit ihm nie bewußt geworden war. Wie ein Roboter hatte er gelebt - nicht wie ein Mensch! Daß es immer zu spät sein mußte, ehe man das einsah! Sinnvoll hatte er leben wollen gehörte der Sinn für die Natur nicht auch dazu? Schwester Marianne begleitete ihn ständig und erlebte bewegt dieses dürstende Aufsaugen der Umwelt „Sehen Sie dort, Schwester, das Eichhörnchen... die Haarbüschel an den Ohren...", flüsterte er begeistert, als er wieder einmal mit ihr auf einer Bank saß und den Sonnenschein genoß. „Daß man immer erst dann die Dinge richtig zu schätzen weiß, wenn man sie verliert! Das ist tragisch... Rother würde spotten: Der Schmerz ist der Katalisator der seelischen Reaktion, er beschleunigt die Erkenntnis. Und man erlebt tatsächlich alles intensiver, wenn man sich sagen muß: Weißt du, ob du morgen noch laufen kannst, ob du nicht zum letzten Mal hier sitzt?" „Lassen Sie das bitte", bat sie gequält. „Noch haben Sie Zeit!" „Sie haben recht, Schwester, wie immer! Aber das war nicht b'itter gemeint, ich habe mich damit abgefunden!" Die ausgeglichene Ruhe, mit der er das sagte, ließ sie erschauem. Als wäre er schon tot...! Er blickte sie verstohlen an. Wer weiß, wie lange er noch neben ihr sitzen konnte, neben ihr, einem Mädchen... Und so, wie die Blumen und das Gezwitscher schöner schien als sonst, so wie sie ihm näher rückten, so kam ihm auch die -317-
Schwester näher. „Es müßte schön sein, jetzt mit Ihnen hier zu sitzen und zu wissen, daß man das so lange kann, wie man will, auch noch im Sommer, auch noch, wenn die Rosen blühen", sagte er leise. Schwester Marianne preßte die Lippen zusammen. Empfand er nicht, daß sie das quälte? Wenn er doch gesund wäre... Da begegnete ihr ein Mann, der ihr gefiel. Lag es an den Umständen, daß sie sich so schnell zu ihm hingezogen fühlte? Sie war doch sonst nic ht so! Aber er war anders, ruhig, ausgeglichen. Mit ihm durch die Felder und Wälder zu streifen oder eine Oper, ein Konzert zu erleben ohne die quälende Gewißheit, daß seine Tage gezählt waren wie reich müßten solche Stunden sein! Grausam, dieses Sichabfindenmüssen: Noch vierzig Tage - noch neununddreißig Tage... Noch zwei Tage - noch ein Tag - und doch, ohne Jammer wurde er damit fertig. Danebensitzen - und nicht helfen können... „Wir hatten Rosen vor unserem Haus", sagte er. Er schien. ihre Gegenwart vergessen zu haben. Vornübergebeugt malte er mit einem Ästchen Figuren in den Kies. Lebhafter fuhr er fort: „Im Sommer, wenn ich bei offenem Fenster schlief, lag ihr Duft betäubend im Zimmer. Einmal habe ich einen Strauß stibitzt - für meine Jugendliebe! Und zwischen Rosen habe ich das erste Mal geküßt - mit der ganzen Täppischkeit meiner fünfzehn Jahre, schüchtern, linkisch, verlegen! Das gab sich natürlich bald... Frauenlippen - das ist nun auch vorbei Das Leben gibt uns viel, wir merken das leider erst, wenn es zu spät ist. Wenn man das noch einmal erleben..." Er brach ab und blickte verstört auf. „Entschuldigen Sie, Schwester! Lassen Sie uns weitergehen, sonst verliere ich mich noch in Erinnerungen. Wir wollen doch die kurze Zeit nützen, die noch bleibt. Füllen wir sie mit Heiterkeit, schließlich soll man nicht danach fragen, was hätte -318-
sein können; wichtiger ist - und wertvoller -, was war!" Wenn man das noch einmal..., das klang in ihr nach. Was hinderte sie...? Er schwieg. In das Rauschen der Bäume mischten sich ferne Kinderstimmen, hell und voller Lebensfreude. Sie erhoben sich. Als er ihren Arm nahm, streifte er ihre feste Brust. Das Leben rührte ihn an. Wie jung sie ist! dachte er und schloß überwältigt die Augen. Vorbei...? Unwillkürlich seufzte er. Die Tragik seines Schicksals spiegelte sich in seinem Gesicht. Plötzlich fühlte er einen Arm um seinen Hals und weiche Lippen auf seinem Mund. „Marianne!" stöhnte er auf und umschlang sie mit der Rechten. Daß er sie nicht mit beiden Händen umarmen konnte, ernüchterte ihn. Er löste seinen Arm und trat zurück. „Nein, Schwester, kein Mitleid!" sagte er hart. „Ich werde damit allein fertig." „Es ist kein Mitleid, Rainer, wirklich nicht!" „Ich bin praktisch schon ein toter Mann...", erwiderte er zweifelnd. „Aber küssen kannst du noch!" scherzte sie mit feuchten Augen und schmiegte sich an ihn. Er hakte sie unter. Lydia? Er sah sie nie wieder... Und Marianne? Ein hübsches, liebes Mädel... das letzte, das ihm im Leben begegnete - noch lebte er! „Aber es ist doch sinnlos, Marianne, bald ist es sowieso vorbei!" widersprach er nach einigen Schritten ohne Nachdruck. „Solche Stunden können ein ganzes Leben aufwiegen", erwiderte sie. *
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Eines Morgens ließ der Professor Lydia zu sich bitten. Als sie mit gramgezeichnetem Gesicht sein Zimmer betrat, erhob er sich und wies mit einer leichten Verbeugung auf einen Sessel. „Nehmen Sie bitte Platz!" Schweigend saßen sie sich gegenüber, er betrachtete seine Fingerspitzen. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, die ersten Worte zu finden. Vorsichtig, ohne aufzusehen, begann er endlich mit brüchiger Stimme: „Ich habe Sie zu mir gebeten, um den neuesten Stand der Z 205-Versuche zu erfahren." Mißtrauisch sah sie ihn an. Seine Hände spielten nervös mit seinem Drehbleistift. Seltsam - wegen dieser Angelegenheit brauchte er doch nicht befangen zu sein, das war doch nicht seine Art! Sie nahm sich zusammen und berichtete sachlich: „Bekanntlich gelang es uns mit intravenös gegebenen Spritzen, einwandfrei nachzuweisen, daß das Z 205 die Viren der Lähmung zerstört. Die Tiere starben leider unter Vergiftungserscheinungen. Nun galt es festzustellen, ob die Zerstörung der Viren und die Vergiftung auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sind, die man voneinander trennen kann. Da die Alphastrahlung Bakterien tötet, nahmen wir dasselbe bei den Tieren an und bestrahlten die infizierten Blutproben mit der gleichen Intensität, wie sie die wirksamen Z 205-Spritzen aufwiesen." Schlichtmann richtete sich auf, seine Hände umkrampften die Armlehnen des Sessels. „Und...?" Sie hob die Schultern. „Die Bestrahlung von außen hat keinen Erfolg. Das bedeutet, -320-
daß die Strahlung die Viren in unserem Falle nicht getötet haben kann! Es sind andere, chemische Einwirkungen... Wir tippen auf Element 262 - ein Bestandteil des Z 205." „Welche?" unterbrach er, sich erregt vorbeugend. „Wenn wir das wüßten, Herr Professor! Die nächste Versuchsreihe soll erst einmal erweisen, ob tatsächlich das Element 262 die Viren tötet; wir wollen es für die Versuche ohne die anderen chemischen Bestandteile des Z 205 verwenden!" Wider Erwarten fragte er nicht weiter. Etwas anderes beschäftigte ihn offensichtlich. Obwohl er sich ruhig gab, spürte sie deutlich, daß er sich gewaltsam beherrschte. Weshalb war er so nervös? „Lydia, wir müssen schnellstens weiter, müssen zum Ziel kommen!" Zum ersten Mal sah er sie voll an. Sie empfand es als Vorwurf und fuhr auf. „Wir haben bisher nicht geschlafen...!" „Lydia, das war kein Vorwurf für Ihre Abteilung", unterbrach er sie und legte seine Hand begütigend auf ihre Finger, die ziellos im Versuchsbericht blätterten. „Sie brauchen nicht nachzuweisen, was Ihre Abteilung geleistet hat, ich weiß es! Aber es sind Umstände eingetreten, die mich zu dieser Feststellung zwingen, die schnellste Erfolge erfordern!" Er sagte das so ernst, daß sie ihn erschrocken ansah. „Lydia, wir haben in Deutschland einen progressiven Lähmungsfall im zweiten Stadium! Ein junger Mann... Ihm bleiben noch vier Wochen!"* Nun wunderte sie sich über Schlichtmanns teilnahmsvollen Blick. Gewiß, das gibt arbeitsreiche Wochen - aber ihr konnte das nur recht sein! Je weniger Zeit zum Erinnern, desto besser. „Wir tun doch, was wir können, Herr Professor!" begehrte sie -321-
dennoch leise auf. „Das weiß ich! Aber dieser junge Mann ist eine greifbare Mahnung, Lydia, eine Mahnung an die Tausende Gelähmter in Grönland, eine Mahnung zum letzten Einsatz! Wir müssen vorwärtskommen!" Als sie das Zimmer verließ, sagte er nochmals eindringlich: „Vier Wochen, Lydia, vergessen Sie das nicht! Dann werden die inneren Organe gelähmt, dann ist es vorbei!" Verstimmt zog sie die Tür ins Schloß. Er brauchte nicht zu mahnen. Als Schlichtmann wieder allein war, verließ ihn seine mühsam bewahrte Haltung. Erregt zog er unter seiner Schreibunterlage einen Brief mit der Aufschrift „Streng vertraulich" hervor. Er überflog noch einmal den Text. „... der Erkrankte ist Ingenieur Hausberg der Raketa-Werke. Er hat sich während der Fahrt von Trondheim nach München infiziert. Es ist sein ausdrücklicher Wunsch, daß Dr. Schwigtenberg nicht unterrichtet wird! Ebenfalls soll von der Veröffentlichung seines Namens abgesehen werden. Wir tragen diesem Wunsch unbedingt Rechnung..." Ob Hänlein wußte, wie die beiden zueinander standen? Lydia hatte keine Ahnung davon, daß es sich bei dem Erkrankten um Hausberg handelte. Andererseits - warum war sie so verstört? Schlichtmann begann den Zusammenhang zu ahnen. * Rainer lag mit offenen Augen im Bett. Durch das offene Fenster drang das Zirpen der Grillen. -322-
Das Zimmer lag in mildem Dämmerlicht, der Mond überschüttete das Land mit kaltem Silberglanz. Der Alltag war versunken, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit war verwischt Rainer lag in tiefem Sinnen. Er rief sich den Spaziergang mit Marianne in Erinnerung. Er fühlte wieder ihre Brust an seiner Hand, spürte ihre Lippen, empfand den Zauber des schlanken, biegsamen Körpers - doch ihr Gesicht trug Lydias Züge. Hatte er sie wirklich im Arm gehalten? Die Nacht weckte in ihm ein heißes Verlangen nach dieser Einheit Lydia-Marianne, die ihn verwirrend erfüllte. Er träumte mit offenen Augen, daß die Tür sich öffne, daß Marianne hereintrete und auf ihn zukomme. Nein... er träumte nicht... Marianne trat unhörbar herein. „Schläfst du, Rainer?" flüsterte sie behutsam. „Ganz fest!" erwiderte er und lachte leise. Sie setzte sich auf den Bettrand, deutlich hob sich ihr Schatten vom hellen Fenster ab. Sie trug keine Haube, ihr Haar fiel gelöst über die Schultern. War das nicht Lydia? Sein Blut begann zu rauschen. „Wir sind allein auf Station, ich habe Nachtdienst!" flüsterte sie und fuhr scheu über seine heiße Stirn. Diese Stimmung vertrug kein lautes Wort. „Aber die beiden Patienten von Zimmer drei?" fragte er leise zurück. „Sind heute entlassen worden!" „Dann sind wir wirklich allein!" murmelte er und richtete sich auf. „Soll ich wieder gehen?" Ihre Stimme klang gepreßt, ihr Mund schien verkrampft. „Ja, geh, Marianne, geh, wenn du kannst!" erwiderte er. Doch -323-
sie konnte sich nicht erheben, sein Arm umschlang sie und zog sie hernieder. Da versank für sie die Welt, und das Zirpen der Grillen verstummte. * Abseits der Hauptgebäude erhob sich auf dem Institutsgelände in München ein niedriger Neubau, der innerhalb der Werksumzäunung noch einmal besonders umzäunt war. Zu diesem Gebäude hatten nur die Mitarbeiter der medizinischen Abteilung Zutritt. In diesem Laboratorium wurden unter Lydias Leitung die Forschungen an dem neuen Mittel gegen die progressive Lähmung durchgeführt. In einem großen hellen Saal standen den Forschern die modernsten Apparaturen und Maschinen zur Verfügung. Hier wurden Blutproben bestrahlt, Versuchstiere mit dem Strahlpräparat Z 205 gespritzt, ihr Blut mikroskopisch betrachtet. Hier wurden auch die chemischen Bestandteile des Z 205 genau untersucht und auf ihr Verhalten überprüft. Besondere Aufmerksamkeit erregte allerdings der strahlende Bestandteil, das radioaktive Element 262. Im Nebenraum stapelten sich die Versuchsprotokolle; Versuchsproben reihten sich - peinlich genau ausgezeichnet - in Regalen zu riesigen Kolonnen aneinander. Auf der anderen Seite des Saales befand sich das Reich der Meerschweine und Ratten. Hier war ein ständiges Kommen und... Sterben in den Ställen. Um laufend mit lebenswarmen Viren versorgt zu sein, wurden kurz vor dem Tod der kranken Tiere - bei denen die Krankheit einen schnelleren Verlauf als beim Menschen nahm - mit deren Blut gesunde Tiere infiziert. -324-
Lydia saß vor dem Elektronenmikroskop und betrachtete wie sooft in den letzten Wochen - eine Blutprobe, die mit Spuren des strahlenden Elements 262 versetzt war. Sie war allein im Saal, ihre Mitarbeiter hatten längst das Werk verlassen. Doch Lydia kannte seit Rainers Brief nichts anderes mehr als das neue Heilmittel, sie verbiß sich in ihre Arbeit, um zu vergessen. Versunken in ihre Betrachtungen, überhörte sie nahende Schritte. Verstört fuhr sie herum, als hinter ihr der Professor hüstelte. Ob irgendein Erfolg erzielt worden sei, fragte er aufmerksam und lehnte sich an einen der vielen Rollschränke. „Ja und nein, Herr Professor", "antwortete sie gedehnt. „Die chemischen Bestandteile des Z 205 verhalten sich neutral, nur das Element 262 greift die Viren an. Bereits geringe Spuren zerstören die Viren, allerdings chemisch, denn diese schnelle Wirkung läßt sich durch die Strahlung erst bei viel höherer Intensität erreichen - dann aber gibt es Strahlungsverbrennungen im Organismus!" „Und bei den Tierversuchen sind keine Strahlungsschäden festzustellen?" „Nein! Wenn wir allerdings die bisherige Dosis des Elements 262 in neutraler Verbindung spritzen, dann zersetzt sich der Organismus vergiftungsähnlich!" sagte sie müde. „Und was haben Sie weiter vor?" „Ich sehe keinen Ausweg, Herr Professor!" Sie sah ihn mit kummervoller Miene an. Doch schien er nicht mehr richtig zuzuhören. Ihn bewegte offensichtlich ein Gedanke, mit dem er nur schwer fertig wurde. „Lydia", begann er nach einer Weile zögernd, „wir müssen unbedingt eine Lösung finden... unbedingt!" „Ja, aber wie denn?" fuhr sie auf. „Wir haben doch getan, was in unsern Kräften steht. Ich sehe keine Möglichkeit..." Sie brach hilflos ab. -325-
Er nickte begütigend. Fast schwerfällig zog er sein Zigarrenetui aus der Tasche, schnitt bedächtig die Spitze einer Zigarre ab, setzte sie in Brand und stieß nachdenklich einige dicke Wolken aus. „Berlin hat mir vorhin mitgeteilt", begann er dann, „daß morgen der deutsche Lähmungsfall nach München übergeführt wird. Ich bin mir im klaren, was das bedeutet! Moralischer Druck... Ansporn für uns... Veranlassung, das Letzte aus uns herauszuholen! - Ich habe manchmal das Gefühl, daß wir uns in eine Sackgasse verrannt haben. Das ist kein persönlicher Vorwurf... er träfe mich übrigens genauso!" „Aber die anderen Institute", widersprach sie ohne Überzeugung, „sie können doch nicht alle in die gleiche Sackgasse geraten!" Sie hatte dieses Gefühl ja schon selber. Ihr schien, als läge die Lösung vor ihr, sie brauchte nur zuzügreifen - und sah doch nichts. Schlichtmann schüttelte den Kopf. Er legte ihr seine Hand auf die Schulter und blickte sie durchdringend an. „Das spräche uns nicht frei, Lydia. Die anderen Institute sind nicht restlos im Bilde, sie bearbeiten nur Teilaufgaben - den Überblick haben wir!" Sie wurde ein Spur blasser, als sie ohnehin schon war. „Mein Gott, Herr Professor, wenn es nur an uns läge, wenn wir der Aufgabe nicht gewachsen wären... Tausende von Menschenleben liegen in unserer Hand... Man müßte noch andere Wissenschaftler heranziehen!" „Ehe sie mit allem vertraut sind, vergehen Wochen, Lydia. Der junge Mann und mit ihm Tausende in Grönland haben aber nur noch zwei Wochen Zeit! Wenn wir nur wüßten, ob es die gleiche chemische Eigenschaft ist, die dem Virus und auch dem Organismus schadet! Wenn nämlich nicht, könnte man die organismuszersetzende vielleicht isolieren? Arbeiten Sie in -326-
dieser Richtung, Lydia!" Sie richtete sich auf. „Das könnte der Ausweg sein! Ich will tun, was irgend möglich ist! Ich werde den Patienten morgen aufsuchen. Wohin kommt er?" „Ins Infektionskrankenbaus... aber der Besuch ist ausdrücklich untersagt!" sagte er mit Nachdruck. „Weshalb?" Sie war überrascht. „Darüber wurde ich nicht, unterrichtet!" erwiderte er verschlossen.
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Unweit der Institutsumzäunung,.noch auf der Anhöhe, befand sich ein großes Grundstück. Hohe Planken schlössen es von der Umwelt ab, nur das spitze Dach einer alten Villa blickte über die Bretterwand. „Paradies" stand an ihrem Giebel. Das verwahrloste Grundstück, von Unkraut und verfilztem Gestrüpp überwuchert, umgab einen tiefen Teich, der nur noch halb mit Wasser gefüllt war. Ein alter Sonderling hatte hier seinen Lebensabend verbracht, fernab vom Getriebe der Welt, der er früher einmal wertvolle Entdeckungen geschenkt hatte. Da er jede Veränderung ablehnte und sich Besuche verbat, da außerdem derartige Einsiedlergelüste in dieser Zeit höchst selten waren - wer hatte von dergleichen gehört? -, galt er als unzugänglicher Kauz. Man ließ ihn gewähren. Vor kurzem war er verstorben, nun zog ein neuer Hauswirt ein. Auch der neue Hausherr mußte ein Wissenschaftler sein, denn auch er ließ sich selten sehen. Am Zustand des Grundstücks änderte sich wenig. Doch der Schein trog. Der neue Bewohner war noch nicht alt, und er war nicht allein. Er saß, seine mittelgroße Gestalt gegen die Sessellehne gestützt, am runden Tisch des großen Salons, den er unverändert übernommen hatte. Sein Gesicht war schwammig, verriet aber Intelligenz. Er musterte aus verkniffenen Augen seinen Besucher und lächelte ironisch. Der breitschultrige Gast heftete den Blick auf die wippenden Beine des Hausherrn und bemühte sich, seinem brutalen Gesicht einen nichtssagenden Ausdruck zu verleihen. „Schließlich kann man erfahren, wofür man seinen Kragen riskiert!" knurrte er böse. -328-
„Wofür man sein Geld verdient, wollten Sie sagen!" parierte der Hausherr gelassen. „Aber das kann ich Ihnen sagen, Smilly: Für gute Arbeit! Für unbedingte Zuverlässigkeiti Schließlich fällt für Sie ein wenig dabei ab!" „Sie dürften auch ein wenig dabei verdienen, Bu..." „Bartusch!" fiel ihm der Hausherr scharf ins Wort. „Na ja. Bartusch! Diese dauernde Namensänderung kann ja kein Mensch behalten! Aber nun endgültig - entweder Sie legen die Karten offen auf den Tisch, oder ich ziehe mich zurück!" Bartusch lächelte und schwieg. „Wollen Sie im Ernst behaupten, daß Sie lediglich ein wissenschaftliches Expose suchen, ein Rezept für ein Heilmittel? Es muß doch einen Grund haben, wenn Sie dieses Expose an sich bringen und damit die Möglichkeit ausschalten, daß die Seuche unterdrückt wird! Bis jetzt haben Sie mit Menschenleben nur dann gespielt, wenn es Ihnen Vorteile brachte!" höhnte Smilly, dem das Schweigen zu lange dauerte. Bartusch kam zum Entschluß. Er brauchte Smilly, also mußte er erklären. Vielleicht war es auch besser so... „Erstens müssen einer guten Sache Opfer gebracht werden, zweitens aber wollen wir ja gar nicht Tausende aufs Spiel setzen!" begann er sanft. „Aber es läßt sich nicht ändern?" höhnte Smilly. „So kommen wir nicht weiter. Also paß auf! Grönland neigt zum Anschluß an das Europabündnis... Die Hilfsaktion gegen die Lähmung könnte gemeinsame Forschungen anregen, zum Eintritt Grönlands in die Zollunion führen, zur Koordinierung der grönländischen Industrie mit dem europäischen Produktionsprogramm - dann ist der Beitritt zum Pakt nicht mehr weit..." „Na und? Wenn es ihnen Spaß macht!" unterbrach Smilly ihn ungerührt. -329-
„Politik ist Ihre schwache Seite, Smilly! Verstehen Sie was von Bodenschätzen, von Aktien, Krediten und so weiter?" „Sparen Sie sich die Worte, bin im Bilde! Aber nun zum Plan!" unterbrach Smilly ihn schroff. Bartusch beugte sich vor. „Heute nachmittag kommt ein Möbeltransport für mich. Er bringt Kanister mit Atomoflor, Maschinen und sieben Mann, alles alte Bekannte! Sie werden unter Regie eines Vermessungstechnikers nach diesem Plan einen unterirdischen Gang graben - anders können wir die Sperrzone nicht überwinden. Nach unten ist nicht abgesichert, von dort erwarten sie keinen Besuch!" erklärte Bartusch leise, aber mit offensichtlichem Hohn und wies auf eine Karte. „Und wohin mit dem anfallenden Dreck? Das fällt doch auf!" warf Smilly ein. „Das Gestein kommt in den Teich, wir werden ihn etwas auffüllen. Vo m künftigen Stollen zum Teich und über den Teich sind bereits Tarnnetze gespannt. Dem Institutsflieger wird nichts auffallen, andere Luftbeobachter brauchen wir dank der LuftSperrzone nicht zu fürchten!" „Tarnnetze über dem Teich? Es fällt doch auf, wenn der Teich plötzlich verschwunden ist", gab Smilly zu bedenken. „Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?" fragte Bartusch ärgerlich. „Das Netz ist dem vorherigen Luftbild angepaßt!" „Und das Geräusch der Loren auf den Schienen?" „Die Laufflächen sind mit Gummi überzogen, und das Gestein wird derart mürbe, daß es wie Sand rieselt. Wer will mir verübeln, wenn ich den Teich zuschütte oder andere Arbeiten ausführe? Übrigens dringt das Rieseln des Gesteins nicht nach außen." „Und was bekomme ich zu tun?" fragte Smilly beruhigt. „Sie überwachen den Bau und erledigen mit mir das Weitere. -330-
Sie sind doch Panzerschrankexperte!" Smilly pfiff anerkennend durch die Zähne. * Lydia entnahm ihrer Mappe ein Aktenstück und legte es sorgsam auf ihren Schreibtisch. Auf dem Aktendeckel stand in roten Buchstaben: „Streng vertraulich, Verschlußsache!" Darunter in Schwarz: „Expose des Strahlpräparats Z 205." In der rechten unteren Ecke befand sich ein Stempel: „Landwirtschaftliche Abteilung". Sie betrachtete den Stempel und lächelte flüchtig. So war das nun! Ursprünglich ein Präparat für landwirtschaftliche Forschungen, bewegte es jetzt die Gemüter der medizinischen Abteilung. Und daran war das Versehen einer Kollegin schuld, die sich im Stofftresor in der Glasflasche vergriffen und statt des Versuchspräparats X 2-05 den infizierten Meerschweinchen das Strahlpräparat Z 205 ins Futter gegeben hatte. Kleine Ursache - große Wirkung! Bald darauf trug der Aktendeckel des Z 205 den roten Verschlußhinweis. Als Lydia die Fenster schloß, um die Nachtfalter abzuwehren, die dem Lichtkreis ihrer Schreibtischlampe zuflogen, betrat Frau Schwigtenberg das Zimmer und stellte ein Tablett mit Kanne und Teeglas auf die Schreibtischplatte. „Dein Tee, ich habe ihn stark gemacht. Eigentlich solltest du ins Bett gehen, es ist spät, und du bist abgespannt", sagte sie besorgt. „Ich finde ja doch keine Ruhe, Muttsch. Wenn ich mit dieser Aufgabe fertig bin, spanne ich aus." „Das kenne ich, das sagst du seit Jahren! Immer gibt es eine neue Sache, die unbedingt erledigt werden muß", wandte ihre -331-
Mutter ein. „Nur einmal sah es so aus, als würdest du dich deiner Jugend besinnen", fuhr sie fort, während sich Lydia schweigend in den Schreibtischsessel setzte. Frau Schwigtenberg nahm Rainers Bild in die Hand, das noch immer auf Lydias Schreibtisch stand. „Das solltest du besser entfernen, Mädel", riet sie mütterlich. „Das führt zu nichts! An solche Männer sollte man sich besser nicht erinnern!" „Bitte, stell das Bild zurück, Mutter, und schweige von Rainer!" forderte Lydia so erregt, daß ihre Mutter sofort dem Wunsch entsprach. „Liebst du ihn denn immer noch, trotz der..." „Bitte schweig!" brauste Lydia auf. „Ebensowenig wie ich mich gegen dieses Gefühl wehren kann, konnte sich Rainer dem Empfinden zu der anderen entziehen! Liebe ist keine Angelegenheit der Vernunft und des Willens!" „Aber eine Sache des Vertrauens und der Beherrschung", wandte ihre Mutter ein. „Und womit hat er gegen das Vertrauen verstoßen? Er war doch ehrlich, worauf anders soll man denn vertrauen? Auf die Beherrschung, von der du sprichst? Was für eine Ehe wäre das geworden, der die Grundlage, nämlich die Liebe, fehlen würde!" „Aber eure Verlobung...?" „War ein Versprechen, sich eingehend zu prüfen, ob die Liebe vorhanden ist, die allein eine Ehe rechtfertigt!" „Du liebst ihn also immer noch?" fragte Frau Schwigtenberg entgeistert. „Habe ich einen Grund, ihn nicht zu lieben? Ist Liebe von Bedingungen abhängig, die wir stellen?" Frau Schwigtenberg verließ kopfschüttelnd das Zimmer. Was sollte daraus werden? Lydia sann noch über das Gespräch nach. -332-
Sollte sie heucheln, was sie nicht empfand, nämlich Liebe zu einem ändern? Denn darauf lief doch Mutters Einwand hinaus, daß sie sich nicht in die Arbeit vergraben und ihre Jugend nicht versäumen sollte. Mutter meinte es gut, aber weshalb sollte sie nicht allein bleiben? Jedenfalls würde sie einen anderen betrügen, wenn sie ihm Hoffnung machte... Aber war es so sicher, daß dieses Gefühl nicht verging, daß die Zeit ihre Enttäuschung nicht überwand? Wenn sie nun eines Tages einem Menschen begegnete, der ihr dasselbe bedeutete? Aber um ihm zu begegnen, mußte sie unter Menschen! Lydia schlug den Aktendeckel auf und konzentrierte sich auf ihre Arbeit Indessen, bald bemerkte, sie, daß ihre Gedanken nichts aufnahmen. Sie ir rten zurück ins Institut, zu Schlichtmanns Vorschlag und den letzten Versuchsreihen. Sie schob das Expose zurück, rührte unbewußt im Teeglas, trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Um die chemischen Eigenschaften des Elements 262 auf ihre Wirkung zu überprüfen, hatte sie eine Reihe infizierter Versuchstiere mit Element 262 gespritzt. Dann war das Unfaßbare geschehen: Die Tiere verendeten weder durch die Lähmung, noch waren Zersetzungserscheinungen durch das Element 262 zu finden, sie waren nur schwach, doch die Lähmung ging zurück. Bestürzt hatte sie vermutet, etwas Falsches gespritzt, sich ebenfalls vergriffen zu haben - und richtig, die Untersuchung des gespritzten Mittels ergab andere chemische Eigenschaften und vor allem, es strahlte nicht! Aber weshalb war die Lähmung nicht fortgeschritten? Diese Frage hatte sie zur Blutuntersuchung veranlaßt. Zu ihrer grenzenlosen Überraschung hatte sie - abgestorbene Viren gefunden! -333-
Sie fand auch die Ursache für die Schwäche der Tiere: Toxikose-Anzeichen! Da längst Feierabend geworden war und sie vor allem selbst keine Erklärung gefunden harte, konnte und wollte sie Schlichtmann noch nicht unterrichten. Sie mußte das Rätsel selber lösen! Und nun saß sie vor ihrem Schreibtisch und grübelte, blätterte ratlos im Exposé des Z 205, das sie entgegen der Vorschrift mit heimgenommen hatte. Was hatte sie nur gespritzt? Es gab also ein Mittel, sie hatte es sogar in der Hand gehabt und wußte doch nicht, welches es war! Sie ging zu Bett, fand aber lange keinen Schlaf. Es war keine Täuschung gewesen! Sie war sicher, daß der Krankheitsverlauf der heute mit dem Rest des Mittels gespritzten Tiere ebenfalls zum Stillstand kommen würde. Was in aller Welt hatte sie gespritzt? Die chemische Untersuchung deutete auf ein bestimmtes Element niederen Atomgewichts hin, morgen würde sie... Endlich übermannte sie der Schlaf. Doch ihr Geist kam noch nicht zur Ruhe. Wie eine Maschine, die sich in Schwung befindet und langsam auslauten muß, arbeitete es in ihr weiter. Wunderliche Bilder mischten sich zu verworrenen Träumen. Plötzlich war sie hellwach. Wie war das eben? Aus Furcht, sich abzulenken, machte sie kein Licht. Ein großer Steinhaufen geriet in Bewegung und schleuderte nach allen Seiten Steine weg. Der Haufen wurde kleiner - dann kam er zur Ruhe. Oder war es ein Atom gewesen? Beim Element 262 wurden auch Elementarteilchen hinausgeschleudert! Sie faßte sich an die Stirn, preßte ihre Hände an die Schläfen. Das ist es! Nur so kann es sein! -334-
Sie hatte eine alte Probe des Elements 262 erwischt, eine Probe, die bereits zerfallen war - sie hatte also das Zerfallsprodukt gespritzt! Jetzt wußte sie auch, was von Anfang an die Viren zerstört hatte! Im Z 205 war das Element 262 enthalten, da es bei der Strahlung ständig neues Zerfallsprodukt bildete, war das schon bei sämtlichen Versuchen dabei. Dann griff das Zerfallsprodukt die Viren an und das Element 262 den Organismus - jetzt konnte man der Zersetzung begegnen! Das war die Lösung! Mit der Toxikose würde sie scho n fertig werden. Morgen konnte die planvolle Arbeit beginnen, der Weg war vorgezeichnet. Schlichtmann würde Augen machen! * Wie Fabelwesen erschienen die Männer im Scheinwerferlicht. Dicke Gummianzüge und gläserne Schutzscheiben vor den Gesichtern ließen sie unbeholfen aussehen. Zischend schoß das Atomoflor in einem dünnen Strahl gegen die Wände und fraß sich ins Gestein. Dann brach der Strahl ab. Der transportable Kleinbagger reckte seinen Ausleger nach vom und grub die Löffel gierig in den kreidemürben Felsen. Bartusch stand seitlich hinter der Lore, in die der Gesteinsstaub rieselte, und betrachtete seinen Plan. „Wo sind wir jetzt, Barby?" fragte er einen jüngeren Mann, der neben ihm stand. Der sah auf die Armbanduhr und warf noch einen Blick auf seine Karte, in die der Stollen rot eingezeichnet war. „In zwanzig Minuten an der frischen Luft, genau fünfzig Meter neben dem Labor!" antwortete er dann. Sein intelligentes -335-
Gesicht verriet Stolz. Er wäre sympathisch gewesen, wenn nicht seine Augen den Stempel der Verschlagenheit getragen hätten. „Verdammt sicher, diese Voraussage", brummte Bartusch anerkennend. „Dafür bin ich Vermessungstechniker", wehrte Barby bescheiden ab. „Hoffentlich kommen wir nicht unter irgendeinem neuen Fundament heraus. Meine Informationen sind immerhin einige Wochen alt - ich weiß zwar, wo das Labor steht, aber wer garantiert mir, daß nicht inzwischen gebaut worden ist? Das geht hier schnell!" sagte Bartusch, nachdem er eine Weile seine Karte betrachtet hatte. „Es wird schon schiefgehen! Ist alles zum Rückzug vorbereitet?" fragte Barby mit mutwilligem Spott. „Rückzug?" Bartuschs Augen funkelten böse. „Nicht, bevor wir das Expose in Händen haben, verstanden?" Barby schüttelte den Kopf und schob demonstrativ die Hände in die Taschen. „Irrtum, Bartusch. Ich bin nur für den Stollen verantwortlich! Das andere ist eure Sache!" Dann wandte er sich an die Baggerbedienung. „Vorsicht jetzt, wir müssen gleich durchkommen!" Er hatte es kaum ausgesprochen, da rieselte von oben Erde in den Stollen. „Licht aus!" fauchte Baitusch. „Verdammter Dreck!" fluchte Smilly und schüttelte sich. Über ihnen funkelte der Nachthimmel. „Schnauze halten!" zischte eine der unbeholfenen Gestalten am Bagger. Schweigend und vorsichtig wurde die Erde beseitigt. Der Stollen erhielt einen schrägen Auslauf. Während Smilly und zwei der anderen Männer ihre Schutzanzüge abwarfen, schaffte -336-
die Kolonne die Arbeitsgeräte zurück. Baltusch zog den Vermessungstechniker aus dem Stollen in das dichte Gebüsch. „Die Geräte werden sofort verpackt und in den Wagen geladen. Ihr könnt schon abfahren, die Papiere sind ja in Ordnung. Smilly folgt mit den andern per PKW." „Und Sie?" „Ich gehe als letzter zurück, ich sprenge den Stollen. Einer muß ja den Rückzug decken! Ich bleibe vorläufig in der Nähe der Stadt, bis sich der Trubel gelegt hat", flüsterte Bartusch zurück. „Donnerwetter! Kameradschaft bis zum letzten!" spottete der Techniker. „Verschwinden Sie und seien Sie froh, daß Sie als erster verduften können!" zischte Bartusch drohend. Der Techniker drückte sich an Smillys Leuten vorbei und verschwand im Stollen. Bartusch trat an Smilly heran. „Alles klar?" „Wir sind fertig!" „Entsichert die Waffen, aber spielt mir nicht am Abzug herum! Und nun los!" befahl Bartusch und schob sich an der Spitze des Trupps durch das Gebüsch. Es waren erfahrene Leute, kein Geräusch verriet ihre Bewegung. Geschickt jede Deckung ausnützend, pirschten sie sich an das Laboratorium heran, das sich vor ihnen als dunkler Klotz vom Nachthimmel abhob. Bartusch lachte lautlos. Sein Lageplan stimmte genau! Der Labordiener, dieser alte Trottel, ahnte bestimmt nicht, wie gut er alles erklärt hatte. Mit welcher Überlegenheit er dem vermeintlichen Arzt die -337-
Anlagen geschildert, wie leidenschaftlich er versucht hatte, die Zweifel des leutseligen Arztes zu entkräften und die Ehre der Wissenschaft zu retten! Prompt war der Alte auf den Leim gegangen, als er der Forschung vorwarf, zu langsam und vor allem unzweckmäßig zu arbeiten. „Wo denken Sie hin, Herr Doktor, wir sind so modern wie möglich ausgestattet!" hatte der Alte lebhaft behauptet „Das glaube ich schon. Ich verstehe ja nichts davon, habe auch keinen blassen Schimmer, wie so etwas gemacht wird. Aber wir Ärzte sind natürlich ungeduldig, die Seuche breitet sich weiter aus! Es muß doch einmal vorwärtsgehen. Habt ihr denn keinen Plan, nach dem ihr arbeitet?" Bartusch betonte das Ihr besonders, da der Alte das Wir so stolz betonte. „Natürlich haben wir einen Plan, ein Exposé von dem Strahlpräparat und Versuchsergebnisse... und wir sind bald soweit, im Vertrauen gesagt!" „Na, ich erzähl's keinem, guter Mann, habe ja sowieso keine Ahnung davon! Aber hebt nur das Expose gut auf... bei Versuchen soll es manchmal Explosionen oder Feuer geben!" Der Alte hatte gelacht über den naiven Arzt. „Keine Angst!" versicherte er. „Wir haben einen großen Wandtresor, absolut feuersicher! Da kann es im Labor ruhig brennen, da passiert nichts! Durch die dicke Betonwand kommt kein Feuer! Und außerdem steht er an dem Ende des Labors, das am wenigsten gefährdet ist, die Apparate sind entgegengesetzt!" Bartusch entsann sich jedes einzelnen Wortes. Ob der redselige Alte ahnte, daß er eine genaue Lagebeschreibung gegeben hatte? Bartusch verhielt plötzlich und lauschte angestrengt in die Nacht. Nichts war zu hören außer dem Atem seiner Begleiter. Beruhigt schlich er weiter. Es hatte lange gedauert, ehe er den Alten kennenlernte, ehe er etwas Genaues wußte. Der Chef war -338-
schon ungeduldig geworden, sicher hatte er von seinem Auftraggeber eins aufs Dach bekommen... aber dann hatte es geklappt! Wenn er, Bartusch, nicht den Gedanken gehabt hätte, nachts auf das Turmdach eine kompakte T-Stab-Antenne zu setzen, durch die man - wie durch ein Scherenfernrohr - das Institutsgelände einsehen konnte - wer weiß, wie lange es noch gedauert hätte! Trotzdem war es ein Wagnis... Bartusch unterbrach seine Gedanken. Vor ihm wuchs das Laboratorium über die Baumwipfel. Das Tor war schnell gefunden - nicht einmal ein Sicherheitsschloß hatte es. Die glaubten tatsächlich, sie wären sicher, wenn sie rundherum eine Sperrzone schufen und nach oben Luftsicherung einsetzten. Wer sollte auch von unten kommen. Maulwürfe waren nicht gefährlich! Bartusch grinste und teilte zwei der Leute als Rückendeckung ein. Sie bezogen neben dem Tor Stellung. Mit Smilly drang Bartusch ein. Mit dem Infrarotsucher erkundeten sie den Raum, hell erleuchtet erschien er auf dem Bildschirm. Der Tresor war dank der Auskunft des Alten schnell gefunden. Smilly nickte anerkennend, als er vor dem Betonklotz stand. Betonbewehrte Türen schlössen seine Kammer von der Außenwelt ab. „Ob eine Sicherungsanlage eingebaut ist?" flüsterte Smilly. „Nein, mir wurde versichert, daß er nur als Brandschutz gedacht ist!" hauchte Bartusch zurück. „Na, dann mal los!" knurrte Smilly und brachte die Spritzpistole in Anschlag. Das feine Zischen des Strahles schien weit in die Nacht zu dringen. Mit angespannten Nerven horchten die beiden. Irgendwo in den Baumgruppen klagte ein Käuzchen, sonst war Stille. Die beiden Männer atmeten auf und wandten -339-
sich wieder dem Tresor zu. Abwechselnd wurde die Spritzpistole und dann der Hartgummikratzer eingesetzt. Der Beton ließ sich an der bestäubten Stelle wie feuchter Sand ohne Mühe herauskratzen.
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