Claudia Equit Gewaltkarrieren von Mädchen
Claudia Equit
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Claudia Equit Gewaltkarrieren von Mädchen
Claudia Equit
Gewaltkarrieren von Mädchen Der „Kampf um Anerkennung“ in biografischen Lebensverläufen
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Lothar Wigger
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Technische Universität Dortmund, 2010
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18390-9
Für meinen Vater
Geleitwort
Das Gewalthandeln von Jugendlichen ist ein Thema großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Zur Gewalt von Jugendlichen gibt es eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien und Diskurse, die vorliegenden empirischen Befunde sind aber in der Zusammenschau nicht eindeutig, die verschiedenen Erklärungsansätze durchaus heterogen und inkompatibel. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung steht zumeist die Gewalt von Jungen. Statistische Erhebungen und wissenschaftliche Studien zeigen, dass Mädchen weniger häufig und in weniger harten und ernsten Formen Gewalt ausüben. Zugleich gibt es einen tendenziell wachsenden Anteil weiblicher gewaltbereiter Jugendlicher, deren Biografien geprägt sind durch Viktimisierungen und hohe Problembelastungen sowie Stigmatisierungsprozesse in der Schule, die letztlich zu Exklusionsprozessen führen. In der wissenschaftlichen Diskussion ist die Gewalt von Mädchen aber ein bisher noch relativ wenig untersuchtes Thema. Im wissenschaftlichen Diskurs ist auch weitgehend ungeklärt, ob das Gewalthandeln von Jungen und Mädchen die gleichen Ursachen und Gründe, Entstehungsbedingungen und Entwicklungsverläufe aufweist oder ob von einer Spezifik weiblicher Gewalt gesprochen werden kann. Im Kontext dieser offenen Fragen und Probleme ist die qualitativ empirische Untersuchung von Claudia Equit situiert. Ihre Studie zielt zum einen auf die Erhebung und Analyse situativer Gewalterzählungen bzw. Gewalterfahrungen ab, zum anderen berücksichtigt sie die Biografien der befragten Mädchen und jungen Frauen, die Genese des Gewalthandelns, die individuellen Ressourcen und Leidensprozesse. Das Gewalthandeln der Mädchen wird als eine „Gewaltkarriere“ konzeptualisiert, in der unter bestimmten institutionellen und biografischen Bedingungen eine Expansion der Gewalt stattfindet. Grundlegend für eine solche Expansion sind Erfahrungen „biografischer Abwärtsschübe“, die Prozesse von Viktimisierungen und Herabsetzungen umfassen. Im Zentrum dieser biografischen Krisen stehen institutionelle Anerkennungsverluste, so dass die Jugendlichen um das Anerkennen ihrer Person zu kämpfen beginnen und zwar nicht nur, weil ihnen Anerkennung entzogen wurde, sondern weil sie zudem keine Möglichkeit haben, die institutionellen Regeln, die zum Verlust von Anerkennung führten, zu verändern. Den erlittenen Herabsetzungen und Viktimisierungen entgegen gesetzt inszenieren sie sich als „ehrenhafte Siegerinnen“, vor allem mit der Ausübung von Gewalt im Peergroup-Kontext. Die Betroffenen treten in
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Geleitwort
einen permanenten „Kampf um das Anerkennen“ ihrer Person ein – um den Preis institutioneller Sanktionen und weiterer biografischer Kosten. Durch die Rekonstruktion von Ausstiegen aus der gewaltförmigen Konfliktbewältigung kann Claudia Equit darüber hinaus zeigen, wie die Mädchen und jungen Frauen ihre Situationseinschätzungen von Konflikten und Problemen ändern und neue Handlungsmuster ausbilden konnten, wenn Hilfestellungen und institutionelle Spielräume ihnen neue Handlungsoptionen und Möglichkeiten für alternative Anerkennensprozesse eröffneten. Im Zentrum der fallspezifischen und subtilen Interpretationen von Claudia Equit steht die Deutung der gewaltsamen Auseinandersetzungen unter den Jugendlichen sowie der schulischen und familiären Problematiken als eines „Kampfes um Anerkennung“. Während in der Regel in der erziehungswissenschaftlichen Forschung und in der Pädagogik der Gegenwart die sozialphilosophische Anerkennungstheorie von Axel Honneth rezipiert wird, stützt sie sich angesichts von erziehungswissenschaftlichen Applikationsproblemen wie auch von immanenten Theorieproblemen dieses Ansatzes auf die von Ludwig Siep aktualisierte Theorie der Anerkennung von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Sie nutzt nicht nur Hegels Analyse des „Kampfes um Ehre“ als eine Form des Anerkennens und Anerkanntwerdens zur Deutung der Handlungsmotive und Geschehensverläufe, sondern vor allem seine doppelte Sicht auf Anerkennung als Interaktion (als Verhältnis von Ich und Du) und als Integration des Individuums in die Gemeinschaft (als Verhältnis von Ich und Wir). Im wechselseitigen Anerkennen beziehen sich die Interagierenden immer zugleich auf ein gemeinsames Normsystem, ein Anerkennen vollzieht sich immer im Horizont von (begründungsbedürftigen) gesellschaftlichen Institutionen und sozialen Verhältnissen. Damit legt Claudia Equit eine Erklärung des Gewalthandelns von Mädchen und jungen Frauen wie auch eine empirisch gestützte Interpretation von Anerkennung und Integration vor, die sowohl für den erziehungswissenschaftlichen Theoriediskurs als auch für die pädagogische Diskussion von Prävention und Intervention angesichts von Anerkennungskonflikten und Phänomenen der Gewalt neue und bedenkenswerte Perspektiven eröffnen. Lothar Wigger
Danksagung
Diese Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich in den Jahren 2006 bis 2010 an der TU Dortmund erarbeitet und verfasst habe. Mein herzlicher Dank gilt Lothar Wigger, der meine Arbeit begleitet, begutachtet und in allen Phasen unterstützt hat. Darüber hinaus danke ich Franz Bettmer und Ulrike Mietzner sowie Peter Kauder für die Unterstützung und Begleitung im Promotionsverfahren und für ihre hilfreichen Ratschläge und Denkanstöße. Zudem möchte ich mich für das Engagement der pädagogischen Fachkräfte bedanken, die mir die Interviewkontakte ermöglichten. Trotz ihrer fordernden Tätigkeiten nahmen sie sich Zeit für Gespräche und gaben mir den Raum für Fragen. Schließlich möchte ich mich bei den interviewten Mädchen und jungen Frauen selbst bedanken für die Einblicke, die sie mir in ihr Leben gewährt haben und für ihr Vertrauen, einer Fremden von ihren Belangen und Schwierigkeiten zu berichten. Ohne sie hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können. Einige von ihnen gaben mir das Interview in der Hoffnung, dass die Erkenntnisse aus meiner Arbeit dazu beitragen mögen, zukünftig die Situation viktimisierter und gewaltaktiver Mädchen zu verbessern. Ich fürchte, diesem Anspruch nicht gerecht zu werden, hege aber die Hoffnung, zumindest Denkanstöße und Ideen für pädagogische Interventionen und weitere Forschungen zu liefern. Viele Freundinnen und Kolleginnen haben meine Arbeit unterstützt, indem sie mit mir Ideen und Ansätze kritisch diskutiert, Hinweise gegeben und Vorschläge zu Korrekturen eingebracht haben. Bei ihnen möchte ich mich in besonderer Weise bedanken: Anna Maibaum, Barbara Platzer, Susanne Grothe, Corinna Behrendt, Yvonne Yannopoulos, Ingeburg Paatz, Nermina Ahmic, Nushin Hosseini, Anna Curic, Claudia Lak, Mareen Biermann und Sonja Herzog. Ebenso bedanken möchte ich mich bei Gaby Flösser und Hans-Rüdiger Müller für ihre hilfreichen Fragen in Bezug auf die Auswertung des Materials. Meinen Schwiegereltern Magda und Sandor Müller bin ich sehr verbunden für ihre aufmunternde Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt meinem Mann Ralf Müller für seine Ideen und sein Gespür für die Praxis. Sein Vertrauen in mich und seine Unterstützung haben mich in allen Höhen und Tiefen, die solch eine Arbeit mit sich bringt, begleitet. Gewidmet ist diese Arbeit meinem verstorbenen Vater Klaus Peter Equit, dessen lebendige Spuren mich stets begleiten. Claudia Equit
Inhalt
Geleitwort ............................................................................................................ 7 Danksagung9 1
Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit ................................................... 15
2
Weibliche Jugendgewalt im Spiegel statistischer Daten und empirischer Untersuchungen .................................................................. 23 2.1
Die theoretische Perspektive auf den Gewaltbegriff ........................... 24
2.1.1 Das kulturelle Gewalttabu ........................................................... 24 2.1.2 Der verwendete Gewaltbegriff .................................................... 25 2.2 Gewaltkriminalität .............................................................................. 28 2.2.1 Entwicklungen jugendlicher Gewaltkriminalität ........................ 28 2.2.2 Geschlechtstypische Verteilung der Jugendgewaltkriminalität... 31 2.2.3 Jugendliche als Opfer von Gewaltkriminalität ............................ 34 2.3 Empirische Ergebnisse zur weiblichen Jugendgewalt im schulischen Kontext ............................................................................ 35 2.3.1 Schulformspezifische Verteilung von Jugendgewalt .................. 36 2.3.2 Jugendliche als Gewaltopfer im schulischen Kontext................. 38 2.4 Jugendliche als Opfer familiärer Gewalt............................................. 41 3
Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt ............................................................................................ 43 3.1
Erklärungsansätze auf der Basis quantitativer Untersuchungen ......... 44
3.1.1
Weibliche Jugendgewalt aufgrund von Verunsicherung und Desintegration ............................................................................. 44 3.1.2 Kritik an quantitativen Zugangsweisen ....................................... 49 3.2 Erklärungsansätze auf der Basis triangulierender Zugangsweisen ..... 50 3.2.1 Weibliche Jugendgewalt im schulischen Kontext ....................... 50 3.2.2 Kritik an triangulierenden Verfahren .......................................... 53 3.3 Erklärungsansätze auf der Basis qualitativer Untersuchungen ........... 55
12
Inhaltsverzeichnis
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 4
Weibliche Jugendgewalt aufgrund der Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Peergroups ..................................................... 55 Weibliche Jugendgewalt als adoleszenztypische Erscheinung ... 60 Jugendgewalt aufgrund von Anerkennungskonflikten ................ 64 Kritik an qualitativen Zugangsweisen ......................................... 69
Die adoleszente Entwicklung weiblicher Jugendlicher ......................... 73 4.1
Grundlegende Begriffe und Konzepte adoleszenter Entwicklung ...... 73
4.1.1 Die Begriffe Jugend, Adoleszenz und Pubertät .......................... 73 4.1.2 Grundannahmen zur Kategorie Geschlecht................................. 76 4.2 Adoleszente Entwicklung und jugendliches Gewalthandeln .............. 78 4.2.1 4.2.2 4.2.3
Körpersozialisation ..................................................................... 80 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität .................................. 88 Reflexionen zum Identitätsbegriff............................................... 91
5
Fazit der Literaturanalyse ....................................................................... 95
6
Theoretische Grundlagen und Heuristiken zum Kampf des Anerkennens ............................................................................................. 97 6.1
Die Anerkennungstheorie (Hegel) ...................................................... 99
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.2
Anerkennen als Relation ............................................................. 99 Anerkennen im System der Institutionen .................................. 100 Der Kampf des Anerkennens .................................................... 103 Hegels Anerkennungstheorie - Reichweite und Kritik.............. 107 Zeitgenössische Weiterentwicklungen der Anerkennungstheorie ................................................................ 109 Heuristiken zum Kampf des Anerkennens........................................ 119
6.2.1 6.2.2 6.2.3 7
Anerkennen als Relation ........................................................... 119 Anerkennen in Institutionen ...................................................... 121 Der Kampf des Anerkennens .................................................... 123
Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign ................................................................................... 131 7.1
Grundannahmen qualitativer Sozialforschung .................................. 131
7.2
Der methodische Zugang zum Gewalthandeln ................................. 133
7.2.1 7.2.2
Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im situativen Kontext133 Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im biografischen Kontext ............................................................... 136
Inhaltsverzeichnis
7.3
13
Grounded Theory .............................................................................. 138
7.3.1 Grounded Theory, ein umfassendes Forschungsparadigma ...... 138 7.3.2 Kritik an der Grounded Theory ................................................. 142 7.3.3 Die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten............................ 145 7.4 Forschungsdesign der Arbeit ............................................................ 147 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 8
Sample und theoretische Fallauswahl ....................................... 147 Interviewform und Leitfadenkonzeption................................... 152 Datenauswertung ...................................................................... 156 Datenschutz und Forschungsethik ............................................ 158
Der „Kampf um Anerkennung“ in Gewaltkarrieren von Mädchen .. 163 8.1
Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere ........................................ 163
8.2
Bedingungen der Entstehung und Expansion von Gewaltkarrieren .. 168
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4
Biografische Abwärtsschübe..................................................... 168 Der Kampf um Ehre .................................................................. 177 Das Selbstbild der Siegerin ....................................................... 192 Der Kampf des Anerkennens in der Gewaltkarriere von Mädchen .................................................................................... 201 8.2.5 Der Kampf des Anerkennens in der Gewaltkarriere Jannikas... 204 8.3 Ausstiege aus der Gewaltkarriere ..................................................... 214 8.3.1 Aspekte des Ausstiegs............................................................... 214 8.3.2 Adoleszenztypische Aspekte des Ausstiegs .............................. 229 8.3.3 Birgits Ausstieg aus der Gewaltkarriere ................................... 232 8.4 Grenzen des Erklärungsmodells........................................................ 237 8.4.1 Ein abweichender Fall: Mediha ................................................ 237 8.4.2 Das Problem der anerkennungstheoretischen Begründung des Kampfes um Ehre ............................................................................... 244 8.5 Zur Güte der Arbeit........................................................................... 247 9
Zusammenfassung der Ergebnisse und erziehungswissenschaftlicher Ausblick ................................................................... 253
10
Literatur .................................................................................................. 261
11
Anlagen.................................................................................................... 285
1 Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit
Häufig bilden Einfälle oder Ideen, die aus der persönlichen Erfahrung entstehen, die Initialzündung für ein Forschungsprojekt.1 Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss, die Begründer der Grounded Theory empfehlen, Erfahrungen nicht als persönliche Meinung anzusehen, sondern als produktiven Teil des Forschungsprozesses zu reflektieren. Neue Ideen oder auch persönliche Irritationen bieten aus dieser Perspektive „Sprungbretter für eine systematische Theoriebildung“2. Dieser Sichtweise folgend wird statt einer Einleitung die Entstehungsgeschichte dieser Arbeit nachgezeichnet, um das Forschungsinteresse und die Anlage dieser Untersuchung nicht nur lediglich vorzustellen, sondern zu plausibilisieren. Dem schließt sich die Erörterung des Aufbaus dieser Arbeit an. Die Idee zur Erforschung des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher entstand im Zusammenhang mit einer Irritation der Verfasserin: Bei der Einarbeitung in die Literatur zum Thema Jugendgewalt im Rahmen einer Referatsvorbereitung als Studierende fiel auf, dass Mädchen ein prinzipiell anderes Gewalthandeln bescheinigt wurde als Jungen. Sie würden zumeist nicht wie Jungen zuschlagen, sondern neigten zum Kratzen, Beißen, Zerren an den Haaren und tendierten überhaupt eher zu verbalen Aggressionen.3 Insbesondere letztere Aussagen waren für die Verfasserin hochgradig irritierend, weil sie sich nicht mit der Erfahrungswirklichkeit der eigenen Schulsozialisation deckten. Insofern war das Interesse geweckt, einen umfassenderen Einblick in die Thematik zu gewinnen und nach eben solchen Studien Ausschau zu halten, in denen Schülerinnen nicht grundsätzlich ein von der männlichen Norm „abweichendes“ Gewalthandeln bescheinigt wurde. Weitere Literaturrecherchen verwiesen auf die Veröffentlichung von Kirsten Bruhns und Svendy Wittmann (2002): Ich meine mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen. Den Autorinnen gelang es mit erheblichem Aufwand gewaltaktive Mädchen im Kontext ihrer Peergroups zu erforschen. Die in dieser 1 2 3
Vgl. Glaser/Strauss 2005, S. 258. Ebd., S. 256. Vgl. beispielsweise Heitmeyer u.a. 1998; Findeisen/ Kersten 1999; Werner u.a. 1999; Wippermann u.a. 2002; darüber hinaus lassen sich eine Vielzahl von Einzelbeiträgen zur Marginalität weiblicher Gewalt oder geschlechtstypischen „weicheren“ Formen der Gewaltausübung, wie z.B. die verbale Gewalt, finden (vgl. exemplarisch Buskotte 1999; Lütkes 2002).
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit
Studie geschilderte Bandbreite des gewaltbereiten Verhaltens weiblicher Jugendlicher, das von der unbeteiligten Mitläuferin über gelegentlich zuschlagende Mädchen bis hin zu stark gewaltaktiven weiblichen Jugendlichen reichte, stellte ein wesentlich differenziertes Bild des Gewalthandelns junger Frauen dar, als es die mir bislang bekannten Studien zu zeichnen vermochten. Insbesondere die bereits im Titel angesprochene Thematik des Respekts und der Anerkennung leiteten das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Zum anderen ist die im selben Jahr erschienene Studie von Ferdinand Sutterlüty (2002): Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Missachtung und Gewalt zu nennen. Die vom Autor dargestellten theoretischen Einsichten in die Dynamik jugendlicher Gewalthandlungen einerseits und ihre biografische Bedingtheit andererseits, zeichnen ein umfassendes Bild jugendlicher Gewalt. Allerdings ergaben sich bei der Lektüre der Studie Zweifel: Beispielsweise fokussiert der Autor familiale Missachtungserfahrungen als wesentliche Erfahrung, welche die Basis für die Gewaltkarrieren bildet. Die Schule, insbesondere repräsentiert durch das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Lehrerinnen und Lehrern, bleibt als gewaltgenerierende Institution ebenso wie Institutionen der Jugendhilfe, wie z.B. Heime, Jugendschutzstellen oder Intensivwohngruppen, fast gänzlich ausgeklammert. Beides, der Mangel an Berücksichtigung weiterer Instanzen zur Generierung von Missachtungserfahrungen die Jugendliche motivieren, Gewalt anzuwenden und die ebenso mitschwingende Thematik der Anerkennung um die das Gewalthandeln kreist, motivierte die Verfasserin, ein Forschungsprojekt zur Untersuchung der Bedingungen des Gewalthandelns von Mädchen zu initiieren. Dabei war die Arbeit zunächst als eine theoretische Erweiterung Sutterlütys Theorie der Gewaltkarriere geplant und zwar im Hinblick auf eine stärkere Fokussierung der Instanzen Schule und Jugendhilfe (im Hinblick auf mögliche Missachtungserfahrungen) und in Bezug auf den stärker geschlechtervergleichenden Aspekt, der Theorie Sutterlütys. Um die Darstellung des Forschungsprozesses an dieser Stelle abzukürzen: das Vorhaben scheiterte. Es scheiterte daran, dass in den selbst geführten Interviews mit weiblichen Jugendlichen wesentliche Theoriemerkmale der Gewaltkarriere nach Sutterlüty (z.B. die Konstitution eines Wendepunktes vom Opfer zur Täterin oder die Schilderung familiärer Opfererfahrungen) häufig schlichtweg fehlten. Das Bemühen um eine geschlechtervergleichende Analyse jugendlichen Gewalthandelns erwies sich als aussichtslos angesichts der – im Vergleich zur Jungengewalt – wenigen gesicherten Erkenntnisse zur weiblichen Jugendgewalt und den entmutigenden Anfängen der ersten eigenen Interviewauswertungen.4 4
Von 1994 bis 2004 sind folgende Beiträge (Monografien) in der Bundesrepublik Deutschland erschienen, die sich ausschließlich mit der Erforschung gewaltaktiver Mädchen beschäftigen:
Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit
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Die Verfasserin gelangte zu der Erkenntnis, dass aufgrund des bisherigen Forschungsstandes eine Vergleichbarkeit weiblicher und männlicher Jugendgewalt gar nicht vorausgesetzt werden konnte. Vielmehr warfen die Analysen von Sybille Artz, Candice L. Odgers und Marlene M. Moretti, aber auch die (etwas später veröffentlichten) Ausführungen von Jessica Ringrose zur medialen Inszenierung eines vermeintlich neuen Typus des „bösen Mädchens“ die Frage auf, inwieweit Mädchengewalt nicht ein ganz anderes Phänomen darstellt als durch Jungen verübte Gewalt.5 Mit anderen Worten: Bildet die Kategorie Geschlecht als grundlegendes Differenzmerkmal unserer Gesellschaft nicht unterschiedliche (sozialisatorische) Voraussetzungen für Mädchen und Jungen, auch in Bezug auf das Gewalthandeln? Wenn dies der Fall ist, handelt es sich bei Gewalt, ausgeübt durch Mädchen und Jungen, nicht doch um zwei grundlegend differente Phänomene, die es getrennt zu analysieren gilt? Angesichts dieser Fragen entschied sich die Verfasserin für eine Beschränkung der Fragestellung auf die Untersuchung weiblicher gewaltaktiver Jugendlicher. Dies zog eine Veränderung der methodischen Herangehensweise nach sich: Es wurde die Bildung einer Theorie zum Gewalthandeln von Mädchen im Sinne einer Grounded Theory, d.h. einer gegenstandsverankerten Theorie angestrebt.6 Das vorgestellte Konzept der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher fokussiert daher nicht mehr den Aspekt einer geschlechtervergleichenden Auswertung, sondern geht kleinschrittiger vor. Es soll folgende Fragen beantworten: Unter welchen Bedingungen üben Mädchen und junge Frauen Gewalt aus? Wie genau sieht diese Gewaltausübung aus und wie unterscheiden sich die häufig Gewalt anwendenden Mädchen von solchen, die so gut wie nie Gewalt ausüben? Gibt es zwischen ihnen Unterschiede? Wenn ja, wie lassen sie sich erklären? Dabei spezifizierte sich im Laufe des Erhebungsprozesses die Fragestellung weiter aus, so dass nicht das Gewalthandeln weiblicher Jugendlicher im Allgemeinen untersucht wurde, sondern das Gewalthandeln derjenigen Mädchen im Zentrum steht, die in Konflikten häufig und intensiv Gewalt anwenden. Aus dem Interesse heraus, theoretisch konsistente Erklärungen für das Gewalthandeln so genannter Mehrfachtäterinnen zu eruieren, entwickelte sich das Forschungsdesign der Studie. Als Datenbasis dienten 20 leitfadengestützte Interviews mit weiblichen Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren. Die Wahl leitfadenstrukturierter Interviews begründet sich darin, dass sich die Ver-
5 6
Bruhns/Wittmann 2002. (Nicht aufgeführt sind Beiträge die sowohl Jungen als auch Mädchen erforschen wie z.B. Möller 2001; Popp 2002; Silkenbeumer 2000; Sutterlüty 2002). Vgl. Artz 1998; 2004; Odgers/Moretti 2002; Ringrose 2006. Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei männlicher und weiblicher Jugendgewalt um zwei verschiedene Phänomene handelt, kann daher abschließend nicht beantwortet werden. Die hier vorgestellte Arbeit reicht in ihrer konzeptionellen Reichweite nicht aus, um diese Fragestellung beantworten zu können. Sie liefert jedoch erste Hinweise zur Erforschung dieser Fragestellung.
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Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit
fasserin aufgrund der Einarbeitung in die Fachliteratur dafür entschied, die Schilderungen von Gewaltsituationen und -erfahrungen selbst ins Zentrum der Auswertung zu rücken.7 Die Analyse der biografischen Erfahrungsaufschichtung der Interviewten dient der Rekonstruktion des Gewaltkarriereverlaufs und der Erfassung der Dynamik von Konfliktsituationen. Erfragt wurden anhand des offen gehaltenen Leitfadens jedoch nicht nur relevante Lebensbereiche aus Sicht der Interviewten, sondern die Erzählpersonen wurden ebenso angeregt, eigene Themen, die ihnen in ihrem Alltag wichtig erscheinen, zu verbalisieren. Ein Thema, das im Zuge dieser Offenheit des Leitfadens Eingang in die Arbeit fand, ohne dass es zuvor von der Verfasserin intendiert war, betrifft die Ausstiege aus der Gewaltkarriere. „Irritationen“ im Feld regten zu einer ausführlichen Reflexion und Aufnahme in die Untersuchung an, denn einige Interviewten thematisierten von sich aus den Ausstieg aus ihrer gewaltbereiten „Phase“, ohne dass die Interviewerin sie dazu explizit aufforderte. Dabei war die Verfasserin anfänglich verwirrt: einige Mädchen gaben an, dass sie ihre „gewaltbereite Phase“ bereits überwunden hätten, obwohl ihre Ausführungen zu (aktuellen) gewaltsamen Vergeltungen eine ganz andere Sichtweise enthielt. Andere wiederum erzählten, dass sie seit längerem keine Gewalt mehr anwendeten. Lediglich im äußersten Notfall, z.B. zur Verteidigung des eigenen Lebens, wäre Gewalt aus ihrer Perspektive eine angemessene Handlungsoption. Die Irritation bot Gelegenheit, diesen Aussagen genauer nachzugehen und sie zu systematisieren.8 Die Arbeit beginnt mit der Darlegung des theoretischen Vorwissens der Verfasserin. Diese Vorgehensweise geschieht aus zwei Gründen: Zum einen verhilft die Einarbeitung in die Literatur der Ausbildung einer theoretischen Sensibilität, die für qualitative Forschung notwendig und hilfreich ist.9 „Die ForscherInnen sehen die Realität ihres empirischen Feldes stets durch die ‚Linsen‘ bereits vorhandener Konzepte und theoretischer Kategorien, sie benötigen eine bestimmte theoretische Perspektive, um ‚relevante‘ Daten zu ‚sehen‘.“10 Insofern bildet die Explikation theoretischen Vorwissens die Basis für diese Forschungsarbeit. Zum anderen bietet die umfassende Darlegung des Forschungsstandes den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, aus der theoretischen Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Forschungsergebnissen den Erkenntnisprozess der Bildung einer Theorie der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher nachzuvollziehen. Das Ziel, den Forschungsprozess möglichst transparent und somit für die Leserinnen und Leser überprüfbar darzulegen, bildet ein 7
Die Begründung der gewählten Interviewform ist in Kapitel 7.4.2 Interviewform und Leitfadenkonzeption ausführlich dargelegt. 8 Vgl. Kapitel 8.3 Ausstiege aus der Gewaltkarriere. 9 Vgl. Glaser/Strauss 2005, S. 54ff.; Strauss/Corbin 1996, S. 25ff. 10 Kelle/Kluge 1999, S. 25.
Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit
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Kriterium qualitativer Forschung.11 Bevor nun die Arbeit mit der Darstellung des rekonstruierten Forschungsstandes und den Ergebnissen der Materialauswertung beginnt, wird zuvor noch ein thematischer Überblick zur Arbeit vorgestellt. In Kapitel 2 werden zunächst einige grundlegende theoretische Einsichten zum Phänomen Gewalt diskutiert. Dem schließt sich die Darstellung statistischer Daten zur Prävalenz weiblicher Jugendgewalt im Allgemeinen und der Häufigkeit von Gewalt und Aggressionen im schulischen sowie familiären Kontext an. Die Illustration der Ergebnisse zum so genannten Hellfeld12 weiblicher Jugendgewalt gewährt Einblicke nicht nur in die Häufigkeit und Entwicklung der Prävalenz der letzten zehn Jahre, sondern stellt darüber hinaus auch Erkenntnisse für die materiale Theoriebildung bereit. Beispielsweise ist die aus den Daten gewonnene Einsicht, dass Jugendgewalt ein passageres und ubiquitäres Phänomen darstellt – auch im Bereich der so genannten Mehrfachtäterinnen – von Belang, wenn es darum geht, das Gewalthandeln als ein situatives, zumeist gruppendynamisches und entwicklungsbedingtes Geschehen zu begreifen. Die Diskussion der vielfältigen theoretischen Erklärungen weiblicher Jugendgewalt ist Gegenstand des 3. Kapitels. Dabei umfasst die vorgestellte Diskussion nicht nur die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Erklärungsansätzen zur weiblichen resp. geschlechtstypischen Jugendgewalt, sondern in die Darstellung eingebettet ist ebenso die damit eng verknüpfte Diskussion der methodischen Erhebung des Forschungsgegenstandes. Insofern gliedert sich das Kapitel in die Erörterung quantitativer, triangulierender und qualitativer Studien. Neben der ausführlichen Erörterung der Gewaltthematik bilden die Aspekte der Lebensphase Jugend und adoleszente Entwicklung ein weiteres Thema dieser Arbeit, das in Kapitel 4 erörtert wird. Da die Theoriebildung zu jugendlichen Gewaltkarrieren eine theoretische Sensibilisierung für die Lebensphase Jugend und ihre Strukturmerkmale in den westlichen Industriegesellschaften voraussetzt, ist eine Reflexion dieses Themas ein notwendiger Bestandteil der Untersuchung weiblicher Jugendgewalt. Dabei liefert die inhaltliche Auseinandersetzung mit den grundlegenden Begriffen wie Adoleszenz, Pubertät und Geschlecht wichtige methodische Bezugspunkte. Kapitel 5 enthält eine Zusammenfassung wesentlicher Aspekte der Literaturanalyse für die Datenerhebung und -auswertung. Dem schließt sich die Erörterung der anerkennungstheoretischen Grundlagen dieser Arbeit an. Kapitel 6 stellt die Anerkennungstheorie Georg Wilhelm Friedrich Hegels in ihren Grundzügen dar, um diese anschließend kritisch zu reflektieren und zeitgenössischen Weiter11 Vgl. Kapitel 7.1 Grundannahmen qualitativer Sozialforschung. 12 Das Hellfeld umfasst lediglich die offiziell bekannt gewordenen Tatverdachtsmomente oder auch Verurteilungen. Es wird durch die amtlichen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken repräsentiert (vgl. BdI/BdJ 2006, S. 1).
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Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit
entwicklungen gegenüber zu stellen. Das Kapitel endet mit der Darstellung anerkennungstheoretischer Heuristiken, die wie „Linsen“ theoretische Kriterien zur Analyse des Materials bereitstellen. Insofern nimmt diese Arbeit Bezug auf die philosophischen Grundlagen der Anerkennungstheorie durch Hegel, ohne jedoch das Material der Theorie im Sinne einer deduktiven, Hypothesen testenden Forschungslogik unterzuordnen. Vielmehr bestehen die vorgestellten Heuristiken aus aufeinander Bezug nehmenden sensibilisierenden Konzepten zur Bestimmung von Anerkennungsbeziehungen, der Verortung dieser in Institutionen und der Konkretisierung des Kampfes um Anerkennung. Die Reflexion der normativen Grundlagen solcher Konzepte ist dabei eine wichtige Voraussetzung. Das methodologische Fundament der Arbeit wird in Kapitel 7 entwickelt. Es enthält zum einen die Darstellung grundlegender Prinzipien qualitativer Forschung, auf die im Verlauf der theoretischen Diskussion in den vorangegangenen Kapiteln Bezug genommen wurde. Zudem bietet es einen Einblick in die Grounded Theory als Forschungsparadigma einerseits und konkrete Methode zur Datenerhebung und -auswertung andererseits. Die Kritik der Grounded Theory mündet in die Erörterung sensibilisierender Konzepte, wie sie von Susann Kelle und Udo Kluge vorgestellt wurde. Die Arbeit mit den so genannten „sensitizing concepts“ dient der Ergänzung und Kontrolle des qualitativen Forschungsprozesses und erlaubt eine genauere inhaltliche Justierung der Auswertungsarbeit. Dieser Diskussion schließt sich die Entfaltung des methodischen Zugangs zum Gewalthandeln und die Darstellung des Forschungsdesigns an. Das Kapitel endet mit der Diskussion qualitativer Gütekriterien sowie ethischen Erwägungen. Die Ergebnisse der (materialen) Theoriebildung werden in Kapitel 8 vorgestellt. Dabei beginnen die Ausführungen zunächst in 8.1 mit einem Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere und den zugrunde gelegten Fällen der Untersuchung. Kapitel 8.2 umfasst die Darlegung der Bedingungen zur Entstehung von Gewaltkarrieren bei Schülerinnen. Es lassen sich zum einen das Gewalthandeln als Kampf um Ehre und den darin zum Ausdruck gelangenden Selbstbild einer „Siegerin“ aufführen. Der Zeitpunkt der Expansion der Gewaltkarriere lässt sich auf biografisch einschneidende Abwertungen und Negationen von Anerkennung im institutionellen Kontext zurückführen, die als so genannte „biografische Abwärtsschübe“ charakterisiert werden. Sie motivieren die Schülerinnen in einen gewaltsamen Kampf des Anerkennens13 zu treten, indem sie dem erlittenen Ver13 Der Begriff „Kampf um Anerkennung“ ist in zeitgenössischen Bezugnahmen auf die Anerkennungstheorie inzwischen etabliert (vgl. etwa Honnteh 2003; Siep 2009; 1974). Ludwig Siep weist in seinem Aufsatz Kampf um Anerkennung bei Hegel und Honneth darauf hin, dass Hegel in seinen Ausführungen stets den Ausdruck „Kampf des Anerkennens“ verwendet hat (vgl. Siep 2009, S. 181). Dieser Ausdruck betont, dass sich über die konflikthafte Auseinandersetzung das Anerkennen als Prozess realisiert. Der Terminus „Kampf um Anerkennung“ fokussiert hingegen das Ergebnis des Anerkennungsprozesses. In dieser Arbeit wird der genauere Begriff „Kampf
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lust institutioneller Anerkennung die gewaltsame Selbstbestätigung als Siegerin im Peergroup-Kontext gegenüber stellen. An einem Fallbeispiel werden die zunächst abstrakt vorgestellten Bedingungen konkretisiert. Der sich nun anschließende Abschnitt 8.3 fokussiert Aspekte des Ausstiegs aus der Gewaltkarriere. Waren zuvor noch Motive der Ehre und unbedingten Selbstbehauptung zentral, so lässt sich der prozessual verlaufende Ausstieg als ein Aufheben dieser Dynamik beschreiben, in der es den Biografieträgerinnen gelingt wichtige Anerkennensverlust aus ihrer Perspektive ein Stück weit aufzuheben resp. symbolisch zu bewältigen. Zentral für diesen Prozess ist, dass den Mädchen in Institutionen wie Familie, Schule und Einrichtungen der Jugendhilfe Spielräume für Anerkennensprozesse alternativer Selbstbilder und Handlungsorientierungen eröffnet werden. Diese Öffnung von institutionellen Handlungsspielräumen mündet nicht in eine sofortige Beseitigung der komplexen Problemlagen, doch führt sie zu einer Veränderung der Handlungsorientierung des Kampfes. Diese Dynamik ist zugleich verbunden mit einem Wandel des Selbstbildes. Die Position der Siegerin mit ihrem unbedingten Durchsetzungswillen wird zugunsten eines veränderten Selbstbildes aufgegeben, das eine differenziertere Selbst- und Weltsicht ermöglicht. Die hier vorgestellten Dynamiken werden abschließend durch ein Fallbeispiel in Abschnitt 8.3.4 konkretisiert. In Abschnitt 8.4 werden die Grenzen des vorgestellten Erklärungsansatzes diskutiert, bevor anschließend in Kapitel 8.5 die Güte dieser Arbeit dargelegt wird. Kapitel 9 enthält eine kurze Zusammenfassung der Arbeit. Ihr schließt sich ein allgemeiner Ausblick zur Thematik weiblicher Jugendgewalt aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive an. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf der pädagogischen Dimension dieser grundlagentheoretischen Arbeit.
des Anerkennens“ verwendet, denn das Anerkennen realisiert sich grundlegend über Interaktionsprozesse (vgl. Kapitel 6.1.1 Anerkennen als Relation). Andererseits ist dieser Terminus lediglich in solchen Fachdiskursen präsent, die sich eingehend mit Aspekten Hegels Anerkennungstheorie beschäftigen. Insofern wurde im Titel dieser Arbeit der Begriff „Kampf um Anerkennung“ in Anführungsstrichen gewählt, um zunächst Konfusionen von Leserinnen und Lesern zu vermeiden, denen der zeitgenössisch etablierte Begriff bekannt ist.
2 Weibliche Jugendgewalt im Spiegel statistischer Daten und empirischer Untersuchungen
Begriffsbestimmungen strukturieren die Auswahl der zu erforschenden Wirklichkeitsausschnitte. In Abschnitt 2.1 werden daher die kulturelle Einbettung des Gewalthandelns sowie die zugrunde gelegte Gewaltdefinition dargelegt. Dem schließt sich der Überblick über statistische Befunde weiblicher Jugendkriminalität in Kapitel 2.2 an. Der rekonstruierte Forschungsstand bietet Anhaltspunkte für mögliche Übereinstimmungen oder Besonderheiten weiblicher Jugendgewalt, daher erfolgt die Darstellung statistischer Entwicklungen im Vergleich der Entwicklungstendenzen weiblicher und männlicher Jugendkriminalität in den vergangenen zehn Jahren (von 1997 bis 2007).14 Darüber hinaus werden in Kapitel 2.3 empirische Ergebnisse zur weiblichen Jugendgewalt im schulischen Kontext vorgestellt. In diesem Abschnitt rückt die Schule als mögliche gewaltgenerierende Instanz in den Fokus der dargestellten Untersuchungen. Das Kapitel endet mit der Darstellung des Gewaltvorkommens in Familien und ihren Auswirkungen für die betroffenen Jugendlichen (Kapitel 2.4). Zunächst wenden sich die Ausführungen jedoch der theoretischen Grundlage dieser Arbeit zu: der Bestimmung des Gewaltbegriffs.
14 Um den in den Kapiteln 2, 3 und 4 dargestellten Forschungsstand pragmatisch abschließen zu können, wurde der 30.06.2009 als Schlusspunkt für die Aufnahme neuer Untersuchungen, Statistiken etc. gewählt. Damit konnten die Ergebnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik aus dem Jahre 2008 nicht mehr in der Darstellung der Ergebnisse berücksichtigt werden. (Die PKSZeitreihen bis einschließlich 2008 wurden erst Anfang Juli 2009 veröffentlicht, die vollständigen statistischen Ergebnisse sollten voraussichtlich erst Mitte August 2009 vorliegen.). Unberücksichtigt bleibt zudem der Konsum gewaltaffiner Filme in Bezug auf das Gewalthandeln weiblicher Jugendlicher. Diese Einschränkung begründet sich im gewählten Fokus der Arbeit: die Untersuchung biografischer Konflikte der Befragten. Die Analyse des Konsums gewaltaffiner Filme oder Computerspiele ist nicht Gegenstand der Untersuchung, da sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Darüber hinaus wird die Prävalenz von Jugendgewalt nicht im Hinblick auf differente Migrationshintergründe vorgestellt. Zwar umfasst das Sample der Arbeit sowohl Mädchen mit als auch ohne Migrationshintergrund, doch eine umfangreiche Analyse des Zusammenhangs von Migrationshintergrund und weiblichem Gewalthandeln konnte aufgrund der Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Interviewpersonen nicht realisiert werden.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2.1 Die theoretische Perspektive auf den Gewaltbegriff 2.1.1 Das kulturelle Gewalttabu Gewalthandlungen unterliegen kulturell variierenden Bedeutungszuschreibungen. Die Erfahrung und Ausübung von Gewalt ist in ihrer Bedeutung abhängig von kulturellen, religiösen, geschlechtstypischen, politischen und sonstigen Vorstellungen und Erfahrungen der Betroffenen.15 Beispielsweise waren körperliche Ausschreitungen von Heranwachsenden bei Festen, karnevalistischen Veranstaltungen und Initiationsriten in traditionellen Gesellschaften sozial geduldet. Diese Handgemenge auf Jahrmärkten und Festen dienten insbesondere männlichen Jugendlichen dazu, ihren Mut unter Beweis zu stellen.16 Die geselligen mittelalterlichen Ausschreitungen waren dermaßen gewalttätig, dass nicht selten einige Tote zurück gelassen wurden.17 Diese Form geselliger Gewalt, so erklärt Francois Dubet, wirkte sozial integrierend, insbesondere für junge Heranwachsende im Übergang zum Erwachsenenstatus. Zwar wurden gesellschaftliche Verhaltensregeln überschritten, aber zugleich in ihrer prinzipiellen Geltung anerkannt.18 Solche Formen der geselligen Gewalt sind in Ansätzen ebenso in modernen, westlichen (Jugend-) Kulturen vorhanden. Etwa weist der aggressive Tanzstil von Hardcore-Fans Elemente gesellschaftlich erlaubter Gewalt auf.19 Allerdings nehmen diese Gewaltformen nicht die gleiche Funktion ein, wie dies in traditionellen, stark integrierten Gesellschaften möglich war.20 So finden die Tanzveranstaltungen der jugendlichen Hardcore-Fans, separiert von der übrigen Gesellschaft, in ihrer spezifischen Subkultur statt, während die Ausschreitungen auf karnevalistischen Veranstaltungen im Mittelalter im Beisein der gesamten Dorfgemeinschaft durchgeführt wurden. Ebenso ist das Gewaltverhältnis im Mittelalter ein wesentlich anderes: „Die Grausamkeitsentladung schloss nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude.“21 Dabei war das Recht auf Gewalt Kennzeichen des freien Mannes.22 Gewalt hatte bis in die frühe Neuzeit eine positive Bedeutung. Sie implizierte im Assoziationsfeld von potentia/ potestas eine Kompetenz und war legitimes Mittel der von Gott gesetzten Herr15 16 17 18 19 20 21
Vgl. ebd. Vgl. Dubet 1997, S. 221f. Vgl. ebd. Vgl. Nunner-Winkler 2004, S. 22. Vgl. Inhetveen 1997, S. 235f. Vgl. Dubet 1997, S. 222. Elias 1997a, S. 361. Der Autor charakterisiert den Prozess der Zivilisation mit der Etablierung des Gewalttabus in der modernen Gesellschaft (vgl. ebd., S. 370ff.; Elias 1997b, S. 362ff.) 22 Vgl. ebd.
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schaftsausübung. Die sich im Zuge der fortschreitenden Neuzeit etablierende Idee der besonderen Wertschätzung individuellen Lebens, setzte im Zuge der Säkularisierung ein und förderte diejenigen Bestrebungen, in denen die soziale Ordnung zunehmend weniger durch physische Gewalt hergestellt und gewahrt wurde. Mit der Entwicklung staatlich organisierter Gesellschaftsformen wurde Gewalt zum legitimen physischen Zwang monopolisiert. Zugleich veränderte sich die Bedeutung von Gewalt. Im 18. Jahrhundert setzte sich in Deutschland der Gewaltbegriff im Sinne von vis/violentia als körperlicher Angriff durch. Körperliche Gewaltausübung gilt in den zeitgenössischen modernen Gesellschaften als Tabu. Es basiert auf der normativen Annahme der Verwerflichkeit körperlicher Gewaltakte. Daher führt die Einordnung einer Handlung als Gewalt in den meisten Fällen zu der Frage, ob und inwieweit dieser Akt als legitim oder illegitim zu bewerten ist. Gewalt ist somit keine objektiv bestimmbare Größe, sondern unterliegt historischen und kulturellen Veränderungen. Gleichwohl prägen diese kulturellen Veränderungen die Bewertung von Gewalt. Die Erforschung des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher kann daher nicht losgelöst vom kulturellen Gewalttabu erfolgen. Vielmehr spiegelt es sich in den Deutungsmustern der interviewten Mädchen und pädagogischen Betreuerinnen und Betreuern ebenso wider, wie in den Überlegungen der Verfasserin. Insofern ist die Einsicht in die kulturelle Bedingtheit von Gewalt grundlegend für den Zugang zum Feld. Eine nicht bewertende Haltung gegenüber den interviewten Mädchen ist insbesondere für eine umfassende Erforschung von Gewalt unabdingbar. Zugleich erschwert das einsozialisierte kulturelle Gewalttabu eine neutrale Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand. Da eine Lösung dieses Widerspruchs nicht möglich ist, wurde ein forschungspragmatischer Umgang angestrebt: Die Äußerungen und Erzählungen der Interviewten wurden in der Erhebungs- und Auswertungsphase nicht bewertet. Zudem wurden von der Interviewerin unabsichtlich geäußerte Bewertungen und Präsuppositionen im Interview als Fehler kodiert und je nach Kontext von der Auswertung ausgeschlossen oder auf der Ebene des Interviewverhaltens von Erzählperson und Interviewerin analysiert.23 Die dargelegten kulturellen Aspekte von Gewalt bieten die Grundlage für die Bestimmung des zugrunde gelegten Gewaltbegriffs dieser Arbeit. 2.1.2 Der verwendete Gewaltbegriff In fachlichen Diskursen zu Gewaltphänomenen ist eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen anzutreffen. Christoph Liell erklärt, dass die Bestimmungen 23 Vgl. ausführlich Kapitel 7.4 Forschungsdesign der Arbeit.
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nicht abschließend systematisierbar seien: „physische, psychische, strukturelle, kulturelle, legitime, legale, offene, verdeckte, stille, soziale, politische Gewalt, Gewalt gegen Personen, gegen Sachen sind nur einige Begriffe aus dieser Fülle.“24 Diese Vielfalt ergibt sich aus der Erweiterung des Bedeutungskerns der körperlichen Zwangseinwirkung auf Personen.25 Wilhelm Neidhardt hat in seinem Aufsatz Gewalt – soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs eine Fülle der Bedeutungsvarianzen dargelegt und systematisiert.26 Er erklärt, dass die Erweiterung des Bedeutungskerns der körperlichen Zwangseinwirkung auf unterschiedlichen Ebenen Einzug hält.27 Sie betrifft zum einen die Art der angewandten Zwangsmittel: Wird Gewalt lediglich als Anwendung physischer Zwangsmittel bestimmt oder fallen darunter ebenso psychische Angriffe, wie beispielsweise Erpressung oder das Androhen von Gewalt? Eine erweiterte Definition auf dieser Ebene führt zu einer Überschneidung mit dem Aggressionsbegriff.28 Ferner führt eine Ausweitung des Gewaltbegriffs auf der Ebene der Beschädigten dazu, dass die Zerstörung von Eigentum oder anderen Gegenständen ebenso als Gewalt bezeichnet wird, wie die Schädigung von Personen. In diesem Falle werden etwa Formen des Vandalismus unter Gewalt subsumiert.29 Die Bestimmung der Verhaltenseffekte, d.h. die Frage, ob Gewaltanwendung lediglich aus körperlichen Verletzungen abgeleitet wird oder auch psychische Beeinträchtigungen hinzugezogen werden, ist ebenfalls an die Bestimmung des Gewaltbegriffs gebunden. Schließlich ist Gewaltausübung nicht immer mit einer Abweichung von sozialen Normen verbunden. Wann die Anwendung von Gewalt als legitim oder unerlaubt interpretiert wird, hängt beispielsweise von den ermittelten Verhaltensgründen der Täter ab.30 Doch Gewalt ist nicht ausschließlich auf Personen begrenzt, etwa wenn Institutionen oder soziale Strukturen als Täter resp. Täterinnen bestimmt werden, die auf Menschen schädigend einwirken. Diese sogenannten weiten Gewaltdefinitionen, wie die 24 25 26 27 28
Liell 2002, S. 6f. Vgl. Eisner/Ribeaud 2003; Imbusch 2002; Neidhardt 1986; Nunner-Winkler 2004. Vgl. Neidhardt 1986. Vgl. ebd., S. 121ff. Die weite Fassung des Aggressionsbegriffs umfasst das menschlich latente Potenzial, auf körperlicher oder mentaler Ebene anderen Menschen Schädigungen zuzufügen. Die enge Fassung des Aggressionsbegriffs umfasst absichtliche physische oder psychische Verletzungen oder Schädigungen einer Person. Diese Definition überschneidet sich mit dem erweiterten Gewaltbegriff (vgl. Imbusch 2002, S. 33). Der Nachteil des Aggressionsbegriffs liegt darin, dass er zwei verschiedene Interaktionsformen, die körperliche und verbale, unter einen Begriff subsumiert. Beide Interaktionsformen wirken jedoch auf unterschiedliche Weise: Physische Aggression wirkt direkt auf den Körper des Opfers und ist nicht von seiner Reaktion abhängig. Die Wirkung verbaler Aggression ist hingegen auf die Mitwirkung des Opfers abhängig, etwa, indem eine Beleidigung als solche angenommen wird (vgl. ausführlich Nunner-Winkler 2004, S. 41f.). 29 Vgl. Neidhardt 1986, S. 121ff. 30 Vgl. ebd.
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der „Strukturellen Gewalt“31 oder der „Symbolischen Gewalt“32, benennen gesellschaftliche Strukturen oder Institutionen als Zwang ausübende Akteure. Allerdings überschneiden sich diese weiten Bestimmungen von Gewalt mit jedweden alltäglichen Zwängen und Machtkonstellationen.33 Liell merkt diesbezüglich kritisch an, dass Gewalt zu einem „ununterscheidbaren Phänomen [wird, C.E.], das alle Übel dieser Welt differenzlos erfassen soll.“34 Aufgrund der dargelegten Argumentationen wurde der Arbeit ein enger Gewaltbegriff zugrunde gelegt. In Anlehnung an die Ausführungen der Gewaltkommission bezeichnet Gewalt eine „zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen“35. Die Wahl dieses „Minimalkonsens“36 bietet sich hauptsächlich aus zwei Gründen an: Gewalt wird aus handlungstheoretischer Sicht deutlich unterscheidbar vom Modus der Kommunikation. Sie wirkt direkt auf die Körper ein. Der unmittelbare Schmerz, der einer Gewalteinwirkung folgt, bedarf anders als bei der sprachlichen Verständigung, keiner weiteren symbolischen Vermittlung. Im Vergleich zu psychischen Zwangsmitteln ist der körperliche Zwang direkter hinsichtlich der Kontrollierbarkeit seiner Wirkung sicherer und unbedingter.37 Die enge Gewaltdefinition ist ein neutraler Begriff in dem Sinne, dass er keine Abstufungen der Gewaltarten nach dem Grad der moralischen Verfehlung vornimmt.38 Insbesondere der letzte Punkt ist entscheidend für die Wahl einer engen 31 Vgl. Galtung 1975. 32 Vgl. Bourdieu/Passeron 1973. 33 Sozialer Zwang zielt auf die gesellschaftliche Kontrolle von Menschen durch andere Menschen und ist aus dieser Perspektive eine Form der Machtausübung, aber nicht gleichzusetzen mit Gewalt (vgl. Imbusch 2002, S. 33). Im engen Sinne wird unter Zwang die Androhung physischer Übergriffe und anderer Erzwingungsmittel verstanden. Er bildet nach dieser Auffassung eine Vorstufe zur Gewalt. Dem gegenüber impliziert Macht „ein Verhältnis der Über- oder Unterordnung zwischen Personen, Gruppen, Organisationen oder Staaten.“ (Rosner 2008, Stichwort Macht) Max Weber bezeichnet Macht als Chance oder auch Potenzial zur Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Widerstand anderer in einer sozialen Beziehung (vgl. Weber 1976, S. 28f.). Ein weiter Gewaltbegriff, welcher soziale Verhältnisse und Institutionen als gewaltausübende Akteure bezeichnet, überschneidet sich zum Großteil mit dem Machtbegriff. Gewalt wird aus dieser Perspektive zu einem „end-of-the-line“ Konzept von Macht (Neidhardt 1986, S. 136). Gewalt kann als ein Mittel zur Wahrung oder Durchsetzung von Machtansprüchen gebraucht werden (vgl. ebd.). 34 Liell 2002, S. 7. 35 Schwind/Baumann u.a. 1990, S. 36. 36 Ebd., S. 36. 37 Vgl. Neidhardt 1986, S. 134. Die Besonderheit dieses Interaktionsverhältnisses wird im Kontrast zur Kommunikation deutlich: Gerade in Konflikten, in denen die sprachliche Verständigung eingeschränkt ist, wie z.B. unter kleinen Kindern, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung oder im Umgang mit Fremden, kann Gewalt als Mittel zur Klärung nicht eindeutiger Situationen verwendet werden (vgl. ebd.). 38 Vgl. Nunner-Winkler 2004, S. 26f.
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Begriffsdefinition. Der Verzicht einer wertenden Komponente im Gewaltbegriff soll dazu dienen, möglichst umfassend und unvoreingenommen den Forschungsgegenstand zu untersuchen. Dies ist im Hinblick auf das kulturell etablierte Gewalttabu von besonderer Bedeutung: „Im Interesse der Eindeutigkeit sieht die vorgeschlagene Gewaltdefinition von der Bewertung der Legitimität der Handlung ab, da diese je nach Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. aggressiv versus verträglich), nach Rolle (z.B. Täter versus Opfer), nach Deutungssystem (z.B. Revolutionär versus loyaler Staatsbürger), nach historischer Epoche (z.B. Züchtigungsrecht des pater familias versus Tabuisierung der Prügelstrafe) differieren mag. Auch die Schwere der Folgen gehen nicht in die Begriffsbestimmung ein […].“39
Gertrud Nunner-Winkler verdeutlicht in ihrem Zitat, dass die Wahl einer engen Gewaltdefinition, wie etwa der körperlichen Zwangseinwirkung, am ehesten die Einflüsse des kulturellen Gewalttabus auszugrenzen vermag. Ein weiterer Vorteil dieser Begriffsdefinition umfasst ihren Fokus: die Ebene der Leiblichkeit. Sie bildet die Basis des Gewalthandelns.40 Gleichwohl sind nicht alle zuvor diskutierten Zuordnungsprobleme durch die Wahl einer engen Gewaltdefinition lösbar. Eine enge Definition birgt Nachteile, etwa, wenn es um quantitative Abgrenzungsfragen geht. Ab welcher Stärke eine Berührung als Schlag bestimmt werden kann, ist letzten Endes ein Bewertungsvorgang, der auf der Basis kulturell geprägter Norm- und Wertvorstellungen stattfindet. 2.2 Gewaltkriminalität 2.2.1 Entwicklungen jugendlicher Gewaltkriminalität Hinsichtlich der jugendlichen Gewaltkriminalität41 weisen die Autoren und Autorinnen des Zweiten Periodischen Sicherheitsberichtes 2006 darauf hin, dass junge Menschen unter 21 Jahren in Relation zum Anteil an der Gesamtbevölke39 Ebd., S. 31f., kursiv i. O., C.E. 40 Vgl. Kapitel 4.2.1 Körpersozialisation sowie ausführlich Kapitel 8.2 Bedingungen der Entstehung und Expansion der Gewaltkarriere. 41 Die Kategorie der Gewaltkriminalität umfasst die Delikte wie Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme sowie Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr. Personenbezogene Delikte wie Nötigung oder leichte Körperverletzung werden in der Kategorie der Gewaltkriminalität jedoch nicht erfasst.
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rung deutlich überrepräsentiert sind.42 Die Zahl der jugendlichen deutschen Tatverdächtigen steigt im Zeitraum von 1997 bis 2007 auf 24,7% (1997 waren es 786,6 und 2007 waren es 1044,5). Der Zuwachs in der Altersgruppe der Heranwachsenden beträgt 31% (von 786,7 auf 1140,6 im gleichen Zeitraum). Die Tatverdächtigenbelastungszahlen in der Rubrik der Erwachsenen liegen hingegen mit einer durchschnittlichen Zunahme von etwa 23,5% auf einem deutlich niedrigeren Niveau. Das hohe Niveau an Gewaltkriminalitätsdelikten im Bereich der Altersgruppen der Jugendlichen (14- bis 17-Jährigen) und Heranwachsenden (18- bis 20-Jährigen) ist ebenso durch zahlreiche empirische Studien der vergangenen letzten Jahre belegt.43 Das erhöhte Aufkommen jugendlicher Gewalthandlungen tritt bei Jugendlichen seit mehr als hundert Jahren in allen westlichen Ländern auf.44 Die dargelegten statistischen Abweichungen sind nicht Kennzeichen einer Gefährdung der Jugend, sondern beschreiben die „Normalität“ adoleszenter Entwicklung: „Delinquentes Verhalten bei jungen Menschen ist, nach gesicherten Erkenntnissen nationaler wie auch internationaler jugendkriminologischer Forschung, weit überwiegend als episodenhaftes, d. h. auf einen bestimmten Entwicklungsabschnitt beschränktes, ubiquitäres, d. h. in allen sozialen Schichten vorkommendes, und zudem
42 Vgl. BdI/BdJ 2006, S. 361ff. Bei den Periodischen Sicherheitsberichten handelt es sich um eine umfangreiche Studie zur Delinquenz in der Bundesrepublik Deutschland auf der Metaebene. Es werden aktuelle Erkenntnisse aus den amtlichen Statistiken (Polizeiliche Kriminalstatistik und Strafrechtspflegestatistiken) mit den Ergebnissen aus den Studien im Bereich der selbstberichteten Delinquenz in einen Erklärungszusammenhang gesetzt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik enthält eine Zusammenfassung aller der Polizei bekannt gewordenen strafrechtlichen Sachverhalte. Bei der Bewertung der Befunde aus der Polizeilichen Kriminalstatistik sollten folgende Einschränkungen berücksichtigt werden: Sie listet Tatverdächtige auf, nicht Tatverurteilte. Es spielt dabei keine Rolle, ob dem Betroffenen die Tat nachgewiesen werden konnte und ob es zur Anzeige kommt (vgl. Mansel/ Raithel 2003, S. 9). Allerdings werden beispielsweise Bagatelldelikte nicht immer von den zuständigen Beamten vor Ort als solche in die Statistik aufgenommen. Zudem wird jeder Tatverdächtige pro Bundesland nur einmal registriert. Begeht er in einem anderen Bundesland einen Verstoß gegen das Strafgesetz wird er erneut gezählt. Die Aufnahme in die Polizeiliche Kriminalstatistik erlaubt keine Aussagen über die Intensität der Tat (vgl. Diob 2007, S. 15). Mehrfachtäter werden in der Statistik nur unvollständig erfasst. Strafunmündige Kinder und schuldunfähige psychisch Kranke werden ebenso als Tatverdächtige aufgeführt, wie Mittäter, Gehilfen und Anstifter (vgl. ebd). 43 Vgl. BDI/BDJ 2006, S. 356ff. 44 Vgl. ebd. Das Phänomen des erhöhten Aufkommens abweichenden Verhaltens in den Altersgruppen der Jugendlichen und Heranwachsenden ist nicht nur auf den Bereich der Gewaltkriminalität beschränkt, sondern umfasst ebenso den Bereich der Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und einfachen Körperverletzungen, die ja nicht im Summenschlüssel der Gewaltkriminalität enthalten sind (vgl. BDI/BDJ 2006, S. 366f.).
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im statistischen Sinne normales, d. h. bei der weit überwiegenden Mehrzahl junger Menschen auftretendes Phänomen zu bezeichnen.“45
Gewalt und andere abweichende Verhaltensweisen sind zunächst einmal ein häufiges anzutreffendes und zugleich episodisches Phänomen jugendlicher Normsozialisation.46 Von diesem typischen Entwicklungsverlauf unterscheidet sich eine kleine Gruppe junger Menschen, die mehrfach und massiv auffällig sind. „Diese Gruppe ist nicht nur für einen großen Teil der von jungen Menschen begangenen Kriminalität verantwortlich. Sie trägt auch ein deutlich erhöhtes Risiko längerfristiger krimineller Entwicklungen.“47 Die Gruppe der Mehrfachund Intensivtäter ist sowohl in amtlichen Statistiken wie auch in empirischen Untersuchungen zur Gewaltkriminalität nachweisbar.48 Dabei ist die überwiegende Anzahl dieser Gruppe männlichen Geschlechts, allerdings ist auch in dieser Gruppe eine kleine Minderheit von Mädchen vertreten.49 Die Fragen, ob und inwieweit sich weibliche und männlich Mehrfach- und Intensivtäter resp. -täterinnen im Jugendalter voneinander unterscheiden, wird in den Fachdiskursen sehr unterschiedlich beantwortet. Während in der deutschen Forschungslandschaft vor allem die Position vertreten wird, dass bei der Gruppe der so genannten Mehrfachtäter und -täterinnen die Kategorie Geschlecht ihre differenzierende Wirkung verliere50, erkennt beispielsweise die kanadische Forscherin Sibylle Artz deutliche Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Tätern. Sie postuliert, dass die Gruppe der gewaltaktiven Mädchen im Vergleich zu gewaltaktiven männlichen Altersgenossen ein deutlich höheres Niveau an Viktimisierung und Missbrauch aufweise.51 Weibliche Mehrfachtäterinnen zeichnen sich durch größere Problembelastungen in Rahmen ihrer adoleszenten Entwicklung aus.52 Ebenso kontrovers werden die Begriffe der Intensiv- oder Mehrfachtäterschaft diskutiert. Dabei gibt es weder in der Wissenschaft noch in der Praxis eine einheitliche Bestimmung der Termini. Die Übergänge von entwicklungsbedingten Abweichungen zum Mehrfachtäter resp. zur Mehrfachtäterin sind fließend; 45 46 47 48 49 50
Ebd., S. 357. Vgl. Walter 2005, S. 223; S. 227ff. BdI/BdJ 2006, S. 403. Vgl. Guttke/Jasch 2003; Steffen 2003. Vgl. Vogel 1999. Vgl. hierzu die referierten Ansätze von Bruhns/Wittmann 2002 (Kapitel 3.3.1 Weibliche Jugendgewalt aufgrund der Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Peergroups) Sutterlüty 2002 (Kapitel 3.3.3 Jugendgewalt aufgrund von Anerkennungskonflikten) und Popp 2002 (Kapitel 3.2.1 Weibliche Jugendgewalt im schulischen Kontext). 51 Vgl. Artz 2004. 52 Diese Feststellung findet im Hinblick auf die Forschungsergebnisse dieser Arbeit Bestätigung (vgl. Kapitel 8.2 Bedingungen der Entstehung und Expansion der Gewaltkarriere).
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qualitative und quantitative Angaben schwanken erheblich.53 Zudem begeht die Gruppe der Mehrfachtäter strafrechtlich gesehen zwar deutlich mehr und auch deutlich schwerere Straftaten, jedoch lassen diese Tendenzen keine sicheren Prognosen hinsichtlich einer „kriminellen Gefährdung“54 zu. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der Aspekt erhöhter Delinquenz resp. Gewaltkriminalität im Jugendalter wichtige Hinweise für die Erklärung jugendlicher Gewalt liefert. Die Erkenntnis, dass Jugendgewalt ein ubiquitäres und passageres Phänomen darstellt weist darauf hin, dass die jugendliche Entwicklung ein wichtiger Aspekt für die Erklärung des Gewalthandelns darstellt. Insofern ist sie von der Gewalt Erwachsener abzugrenzen. Ein weiterer relevanter Aspekt für die Darstellung jugendlicher Gewaltkriminalität ist die Frage nach der Geschlechtstypik. 2.2.2 Geschlechtstypische Verteilung der Jugendgewaltkriminalität Insgesamt zeigt sich, trotz bestehender Geschlechterlücke, eine Tendenz zur Abnahme geschlechtstypischer Differenzen. Im Jahr 2007 liegt die Zahl der weiblichen unter 21-jährigen Tatverdächtigen bei 12.593. 1997 sind es lediglich 7.955.55 Obwohl im Bereich der Gewaltkriminalität über einen Zeitraum von zehn Jahren männliche Personen eindeutig häufiger tatverdächtig sind, beträgt die Steigerung innerhalb der Gruppe der Mädchen und jungen Frauen 58,3%. Bei den männlichen unter 21-jährigen Tatverdächtigen ist eine Zunahme hingegen um 30,5% zu konstatieren. Mit Blick auf die absoluten Zahlen lässt sich jedoch feststellen, dass ein deutlicher Überhang männlicher Tatverdächtiger besteht. Während im Jahr 2007 81.178 Tatverdächtige unter 21 Jahren männlichen Geschlechts sind, liegt der Anteil der Mädchen bei 12.593 Fällen. Dieser Trend bestätigt sich ebenso für den Deliktbereich der leichten Körperverletzung. Auch hier lässt sich eine Zunahme weiblicher Tatverdächtiger in Relation zu ihren männlichen Altersgenossen konstatieren56, zugleich sind diese Steigerungen angesichts der absoluten Zahlen zu relativieren.57 53 Vgl. Walter 2003; Steffen 2003. 54 Steffen 2003, S. 153. Ein gezieltes Erreichen dieser Gruppe durch präventive Maßnahmen ist nicht möglich, da die Einordnung in den Bereich der Mehrfach- und Intensivtäter nur ex post vorgenommen werden kann. Dies gilt auch für theoretische Modelle der „Gewaltkarriere“ (vgl. Sutterlüty 2004) oder riskanter Entwicklungspfade (vgl. Scheithauer/Petermann 2000). 55 BKA 2008c. 56 Der Anteil weiblicher Tatverdächtiger am Gesamtvolumen der unter 21-jährigen Tatverdächtigen verändert sich von 17,1% im Jahr 1997 auf 18,8% im Jahr 2007 (vgl. BKA 2008b,c). 57 Im Jahr 2007 waren 67.593 deutsche Tatverdächtige unter 21 Jahren männlichen Geschlechts gegenüber 15.673 weiblichen Altersgenossen (vgl. BKA 2008b,c).
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Die hier referierten Ergebnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik führen zu der Frage, inwieweit die zu verzeichnenden Anstiege eine Zunahme und/oder Brutalisierung (weiblicher) Jugendgewalt in der Bundesrepublik Deutschland anzeigen. Die Antworten auf diese Frage fallen im Fachdiskurs sehr unterschiedlich aus. Während die Autorinnen und Autoren des Jahresberichts der Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2007 eine „steigende Gewaltbereitschaft junger Mädchen“58 konstatieren, führen die Forscherinnen und Forscher des Zweiten Periodischen Sicherheitsberichts den Anstieg auf eine erhöhte Sensibilisierung und Aufmerksamkeit gegenüber Gewalt und eine gestiegene Anzeigebereitschaft der Bevölkerung zurück.59 Zudem erhöhen veränderte Gesetzesgrundlagen die Wahrscheinlichkeit der Registrierung von Gewalttaten bei Jugendlichen.60 Eine reale Zunahme der Gewalt wird aus verschiedenen Dunkelfeldstudien nicht bestätigt: Die steigenden Kriminalitätsraten in den amtlichen Statistiken bedeuten, so der Tenor der deutschen kriminologischen Forschung, keine Zunahme der realen Kriminalität, sondern lediglich eine Aufhellung des Dunkelfeldes.61 Die Untersuchungen zur selbstberichteten Delinquenz weisen darauf hin, dass die polizeilich nicht zur Kenntnis gebrachten Straftaten auffallend hoch sind.62 Ein verändertes Anzeigeverhalten der Bevölkerung sowie Novellierungen des Strafgesetzes oder Änderungen der Erfassungspraxis von Straftaten können zu Scheinanstiegen der Gewaltkriminalität im polizeilich registrierten Hellfeld63 führen, „die dadurch bedingt sind, dass ein größerer Teil des Dunkelfeldes im Wege der Strafanzeige ausgeleuchtet wird oder dass durch Erweiterungen der Gewaltdefinition zusätzliche Verhaltensweisen kriminalisiert werden.“64 Christian Pfeiffer und Peter Wetzels betonen in diesem Zusammenhang, dass die Daten der Opferbefragung keine Hinweise auf eine Intensivierung der Jugendgewalt geben. Stattdessen sei ein Rückgang selbstberichteter Delinquenz in den Rubriken Raub und Körperverletzungsdelikten zu verzeichnen.65 Sie berichten aus ihrer Studie zur selbstberichteten Delinquenz zwar von einer Zunahme der leichten und sehr leichten Schäden bei Gewaltvorfällen (1998 waren es 45%, 2005 waren es 53%), dafür verringerte sich jedoch der Anteil der mittleren 58 59 60 61 62 63 64 65
BDI 2008, S. 10. Vgl. BdI/BdJ 2006, S. 354. Vgl. ebd., S. 355f. Vgl. BdI/BdJ 2006, S. 356. Das Dunkelfeld umfasst Angaben und Forschungsergebnisse zu den nicht zur Anzeige gebrachten Vorfällen. Es wird durch Bevölkerungsumfragen zur selbstberichteten Delinquenz erfasst (vgl. BdI/BdJ 2006, S. 1). Vgl. Boers u.a. 2006, S. 6f.; Mansel/Raithel 2003, S. 9; BdI/BdJ 2001, S. 498f. Das Hellfeld umfasst lediglich die offiziell bekannt gewordenen Tatverdachtsmomente oder auch Verurteilungen. Es ist durch amtliche Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken repräsentiert (vgl. BdI/BdJ 2006, S. 1). Naplava/Walter 2006, S. 340. Vgl. Pfeiffer/Wetzels 2006, S. 1119.
Gewaltkriminalität
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und schwerwiegenden Schädigungen (von 55% im Jahr 1998 auf 47% im Jahr 2005). Katrin Brettfeld und Peter Wetzels verweisen zudem auf eine erhöhte Aufklärungsquote bei konstantem Deliktaufkommen. Aus diesen Bedingungen resultiere eine Erhöhung der Tatverdächtigenbelastungszahlen.66 Zugleich gibt der überproportionale Anstieg der Einstellung von Verfahren – nach der vorsichtigen Einschätzung der Autorinnen und Autoren – Hinweise darauf, dass eine Verschiebung der qualitativen Struktur der Kriminalität in Richtung weniger schwer wiegende Delikte stattgefunden hat.67 Die in den Medien häufig vertretene These einer zunehmenden Brutalisierung weiblicher Jugendgewalt68 kann somit nicht bestätigt werden.69 Aus den aufgeführten Einschätzungen kriminologischer Forscher und Forscherinnen kann kein eindeutiger Anstieg weiblicher Jugendgewalt abgeleitet werden. Stattdessen ist davon auszugehen, dass eine Sensibilisierung der Bevölkerung für die Thematik der (Jugend-) Gewalt zu einer vermehrten Wahrnehmung von Gewalthandlungen sowie einer gestiegenen Anzeigebereitschaft führt, die wiederum Anstiege in der Polizeilichen Kriminalstatistik evozieren. Geschlechterdifferenzen im Hinblick auf Häufigkeit und Intensität der erfassen Gewaltkriminalität werden in Bezug auf geschlechtstypische Maxima von Jugendgewalt diskutiert. In der Polizeilichen Kriminalstatistik lassen sich die Maxima weiblicher Tatverdächtiger für die Bereich schwere und leichte Körperverletzung in den vergangenen zehn Jahren (2007-1997) in der Gruppe der 14bis unter 16-Jährigen verorten. Dem gegenüber liegen die Maxima der männlichen Tatverdächtigen einige Jahre später. Im Deliktbereich der gefährlichen und schweren Körperverletzung lässt sich das Maximum männlicher Tatverdächtiger 2 Jahre später verorten (männliche Altersgruppe der 16- bis unter 18-jährigen), bei den Delikten der vorsätzlichen leichten Körperverletzung sind es vier Jahre (männliche Altersgruppe der 18- bis unter 21-jährigen). Insgesamt divergieren die Angaben zu den altersspezifischen Höhepunkten weiblicher (und männlicher) Gewalt in den jeweiligen Untersuchungen und amtlichen Statistiken erheblich, so dass kein einheitlicher Kenntnisstand angenommen werden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass sie in nur sehr eingeschränktem Maße miteinander vergleichbar sind. Ulrike Popp etwa, führt aus, dass in ihren Forschungsergebnissen „die stärkste Beteiligung an Körperverletzung und Prügeleien bei den jüngsten Schülerinnen der 6. Jahrgänge zu verzeichnen sind.“70 Dies entspricht in etwa einem Alter von 11-13 Jahren. Die Autorin er66 Vgl. Brettfeld/Wetzels 2004, S. 236. 67 Vgl. ebd., S. 237. 68 Allgemein siehe Bruhns/Wittmann 2002, S. 11f. Beiträge der Medien exemplarisch: Schröder 2009, Spiegel-Online 2008a; Spiegel-Online 2008b; Esser u.a.2008. 69 Vgl. Bund-Länder-AG 2007, S. 5; vgl. BdI/BdJ 2006. 70 Popp 2002, S. 128.
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Weibliche Jugendgewalt im Spiegel statistischer Daten und empirischer Untersuchungen
klärt das Phänomen der einsetzenden weiblichen Maxima von Jugendgewalt mit der zu einem früheren Zeitpunkt eintretenden physischen und psychischen Reife der Mädchen. Klaus Boers und Christian Walburg stellen in der Münsteraner Dunkelfeldstudie hingegen keine zeitlichen Verzögerungen in der Altersentwicklung fest. Sie konstatieren, „dass die Täteranteile bei Jungen und Mädchen in der Altersentwicklung zwar auf unterschiedlichen Niveau, aber doch weitestgehend parallel verlaufen.“71 Die Autoren und Autorinnen des Zweiten Periodischen Sicherheitsberichts konstatieren wiederum, dass das Maximum abweichenden Verhaltens bei männlichen Jugendlichen etwa im Alter von 17 bis 18 Jahren liege.72 Dieser Entwicklungsverlauf trete bei weiblichen Jugendlichen hingegen „etwas früher“73 ein. Neben den skizzierten Einblicken in geschlechtstypische Häufigkeitsverteilungen von Tatverdächtigen Jugendlichen liefert die Polizeiliche Kriminalstatistik Hinweise auf die Opfer von Jugendgewalt, die nun näher erörtert werden. 2.2.3 Jugendliche als Opfer von Gewaltkriminalität Ein Blick auf die Zahlen der Opferstatistik belegt, dass Jugendliche nicht nur überproportional häufig als Tatverdächtige im Bereich der Gewaltkriminalität in Erscheinung treten, sondern ebenso überproportional häufig Opfer von Gewalt sind: „Jugendliche (14 bis unter 18 Jahren) waren vor allem bei Sexualdelikten, aber auch bei Raubdelikten, überdurchschnittlich betroffen.“74 Insgesamt werden Jugendliche bedeutend häufiger Opfer der Gewalt Erwachsener, als dass sie Täter sind.75 Die Ergebnisse der Dunkelfelduntersuchung von Nicola Wilmers u.a. stimmen mit den statistischen Befunden überein.76 Hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses liegt die Opfergefährdung bei Minderjährigen überwiegend auf der Seite männlicher Personen. So zeigt sich für das Jahr 2007, dass 75,4% der jugendlichen Opfer männlich sind.77 Für die Gruppe der Heranwachsenden erhöht sich der Anteil männlicher Opfer auf 79,8%.78 Untersuchungen zu selbstberichteten Viktimisierungen bestätigen die Befunde des 71 72 73 74 75 76 77
Boers/Walburg 2007, S. 86. Vgl. BdI/BdJ 2006, S. 357. Ebd. BKA 2008, S. 19. Vgl. ebd.; vgl. BdI/BdJ 2006, S. 362. Vgl. Wilmers u.a. 2002, S.321ff. Insgesamt waren 31.958 jugendliche Opfer männlich und 10.423 weiblich. Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Opferstatistik (vgl. BKA 2008e). 78 Insgesamt waren 31.636 Heranwachsende unter den Opfern männlichen und 8008 weiblichen Geschlechts. Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Opferstatistik (vgl. BKA 2008e).
Empirische Ergebnisse zur weiblichen Jugendgewalt im schulischen Kontext
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Hellfeldes. Weibliche Jugendliche wurden – abgesehen von sexuellen Übergriffen – wesentlich seltener Opfer von Gewalt als junge Männer. „So liegt die Opferrate der Jungen etwa bei dem 2,5-fachen der Mädchen.“79 Jugendliche sind im statistischen Hellfeld in der Gruppe von Opfern noch stärker überrepräsentiert als in der Tätergruppe.80 Diese Befunde legen die These nahe, dass sich die Gewalthandlungen junger Tatverdächtiger überwiegend gegen gleichaltrige Opfer richten. „Insgesamt gesehen heißt dies, dass junge Menschen zwar relativ häufig als Täter von Gewaltkriminalität in Erscheinung treten, dass sie aber noch häufiger Opfer von Gewalt sind; dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung auch der innerfamiliären Gewalt, deren Vorkommen in der PKS deutlich unterrepräsentiert ist.“81
Insofern relativiert der Blick auf die Opferstatistik die Fokussierung Jugendlicher als ausschließliche Gewalttäter und -täterinnen. Daher sind Modelle zur Erfassung von Jugendgewalt wichtig, die Jugendliche nicht nur einseitig aus der Perspektive der Täterschaft erfassen, sondern ebenso das Wechselspiel von Viktimisierung und Täterschaft reflektieren. Die Erkenntnisse der Opferstatistik führen zu der Frage, welche Opfererfahrungen jugendliche Gewalttäterinnen aufweisen und wie diese mit ihrer Täterschaft in Zusammenhang stehen. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der in den Polizeilichen Kriminalstatistiken aufgeführte Anstieg der Jugendgewaltkriminalität nicht auf eine dramatische Zunahme oder gar Brutalisierung der Jugendgewalt schließen lässt. Stattdessen legen die bisherigen Erkenntnisse nahe, dass u.a. eine verstärkte Anzeigebereitschaft der Bevölkerung die Registrierung von (jugendlichen) Tatverdächtigen verstärkt. Die Ergebnisse zur Gewaltkriminalität im Kontext der amtlichen Statistiken sind hinsichtlich ihrer Aussagen und Reichweite begrenzt. Sie werden daher ergänzt durch die im folgenden Abschnitt dargestellten Befunde zur selbstberichteten Gewalt im schulischen und familiären Kontext. 2.3 Empirische Ergebnisse zur weiblichen Jugendgewalt im schulischen Kontext Empirisch umfangreiche Untersuchungen zur selbstberichteten Jugendgewalt haben sich in den vergangenen 15 Jahren in der Schulforschung etabliert.82 Daher liegt mittlerweile eine unüberschaubare Fülle an Studien zum Thema Schul79 80 81 82
Wilmers u.a. 2002, S. 33. BdI/BdJ 2007, S. 29. Ebd., S. 29. Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 11ff.; Brondies 2007, S. 303.
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Weibliche Jugendgewalt im Spiegel statistischer Daten und empirischer Untersuchungen
lischer Gewalt erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr wurden aktuelle Längsschnittstudien83 sowie umfangreiche Querschnittstudien84 ausgewählt, um einen Einblick in die gegenwärtige Prävalenz von Jugendgewalt im schulischen und familiären Kontext zu geben und darüber hinaus zeitliche Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre (1999 bis 2009)85 darzustellen.86 2.3.1 Schulformspezifische Verteilung von Jugendgewalt Obwohl ein Großteil der Schülerinnen und Schüler verbale und/oder physische Gewalt gegen andere eingesetzt und/oder das Eigentum anderer beschädigt haben, bewegt sich die Schwere der Taten auf einem eher niedrigen Niveau.87 Dabei fällt der Großteil aggressiver Verhaltensweisen in den Bereich verbaler Aggressionen unter Jugendlichen.88 Schwerwiegende Formen der Gewaltausübung treten recht selten auf.89 Beispielsweise gaben 5,4% der Schüler der bundesweiten Studie zur Jugendgewalt von Baier u.a. (2009a) an, schwere Gewaltdelikte wie schwere Körperverletzung, Raub oder sexuelle Gewalt in den letzten 12 Monaten begangen zu haben.90 2% dieser Gruppe waren fünf Mal oder häufiger an schweren Gewaltdelikten beteiligt. Insgesamt ist ein leichter Rückgang selbstberichteter Gewalthandlungen über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren zu konstatieren.91 In Bezug auf das Geschlechterverhältnis weisen Jungen gegenüber Mädchen durchweg eine höhere Prävalenz sowohl bei verbaler als auch körperlicher Gewalt auf. Marek Fuchs u.a. geben an, dass in Bezug auf die Verhaltensweisen wie Schlagen und Treten sowie Erpressung und Raub, der Gewalttäteranteil männlicher Jugendlicher etwa um das 7,3-fache über dem der Mädchen im schu83 Vgl. Fuchs u.a. 2009; Baier u.a. 2009; Boers/Reinecke 2007. 84 Vgl. Baier u.a. 2006; Dünkel u.a.2008. 85 Je nach Erhebungszeitraum der Längsschnittstudien kann sich der Zeitraum auf die letzten 15 Jahre (2009 bis 1995) erstrecken. 86 Die Erörterung geschlechtstypischer Unterschiede bildet einen Schwerpunkt dieses Abschnitts. Da nicht alle aktuellen Studien zur Schulgewalt den Geschlechteraspekt ausführlich berücksichtigen, wurde an einigen zentralen Stellen der Forschungsstand durch die Ergebnisse der Studie von Popp Geschlechtersozialisation und Gewalt an Schulen (2002) ergänzt, auch wenn der Erhebungszeitpunkt der quantitativen Daten im Jahr 1995 bereits 15 Jahre zurück liegt. 87 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 88; Baier u.a. 2006, S. 141; Dünkel u.a. 2008, S. 30f.; Klewin u.a. 2002, S. 1093. 88 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 57, S. 86f.; Baier u.a. 2006, S. 141f.; Fuchs u.a. 2009, S. 81ff.; Baier u.a. 2006, S. 131f.; Popp 2002, S. 135ff.; Tillmann 2009; S. 16. 89 Vgl. Boers/Reinecke 2007, S. 83; Brondies 2007, S. 307ff.; allgemein: Tillmann 2009, S. 15f.; Baier u.a. 2009, S. 64; Brondies 2007, S. 308f. 90 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 64. 91 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 91; Boers/Walburg 2007, S. 91ff.; Baier u.a. 2006, S. 332.
Empirische Ergebnisse zur weiblichen Jugendgewalt im schulischen Kontext
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lischen Kontext liegt.92 Während sich die Geschlechterlücke auch im Bereich der Schulgewalt bestätigt, schmilzt der Abstand der Geschlechter in Bezug auf verbale Aggressionen.93 In den Ergebnissen der Studie von Fuchs u.a. liegt die Prävalenz für Hänseleien von Schülern bei 8,6%, bei Mädchen beträgt sie 7,6%.94 Ein Vergleich der verbalen Gewaltniveaus an unterschiedlichen Schularten ergibt, dass der Abstand der Gymnasien zu anderen Schulformen schmilzt.95 Beispielsweise berichtet Popp in ihrer Reanalyse der repräsentativen Schulbefragung im Bundesland Hessen, dass sich „psychische Attacken in allen Schulformen etwa gleich oft“96 ereignen. In einigen aggressiven Verhaltensweisen, die darauf abzielen andere zu ärgern, liegen die Gymnasiasten und Gesamtschüler „noch vor ihren altersgleichen Mitschülern an Sonder-, Haupt- und Realschulen.“97 Ergebnisse zur selbstberichteten verbalen resp. psychischen Gewalt von Schülerinnen bestätigen, dass sich zwar ein deutlicher Unterschied in der Prävalenz körperlicher Gewalt zwischen den Schülerinnen der Schulformen Sonderschulen und Gymnasien zeigt, doch im Bereich der Beschimpfungen, Hänseleien usf. schmelzen diese Differenzen.98 Beispielsweise gaben 50,2% (n=446) der Gymnasiastinnen an hessischen Schulen an, andere Mitschüler im vergangenen Jahr alle paar Monate gehänselt zu haben. Bei den Schülerinnen der Sonderschule liegt die Quote bei 55,1% (n=49).99 Zwar üben Sonderschülerinnen häufiger psychische resp. verbale Gewalt aus als Gymnasiastinnen, doch sind diese Differenzen weitaus geringer als bei der Ausübung körperlicher Gewalt. Zusammenfassend konstatiert Popp: „Im Unterschied zur körperlichen Gewalt sind Mädchen an psychischen Übergriffen deutlich häufiger beteiligt. Der Mädchenanteil dominiert bei psychischen Attacken und Provokationen zwar nie den Anteil der Jungen, der Abstand zwischen den Geschlechtern ist jedoch deutlich geringer als bei physischer Gewalt.“100 Im Bereich psychischer Gewalt weisen Mädchen an allen Schulformen eine deutliche Beteiligung auf. Insgesamt divergiert das Gewaltniveau stark nach Schulformen, dies gilt insbesondere für die Kategorie physischer Gewalt.101 Studien zur Jugendgewalt im schulischen Kontext belegen, dass Gymnasien auf signifikantem Niveau die niedrigste Prävalenz aufweisen. Die Unterschiede im Gewaltniveau der Gymna92 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 87. 93 Vgl. ebd., S. 98ff., S. 111f.; Baier u.a. 2006, S. 143; Popp 2002, S. 135ff. 94 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 88. 95 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 98ff.; Popp 2002, S. 136ff. 96 Popp 2002, S. 136. 97 Ebd., S. 136. 98 Vgl. Popp 2002, S. 137; Fuchs u.a. 2009, S. 123. 99 Vgl. Popp 2002, S. 137. 100 Ebd., S. 135. 101 Vgl. Popp 2002, S. 128ff.; Dünkel u.a. 2008, S. 39ff.; Brondies 2007, S. 307ff.
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Weibliche Jugendgewalt im Spiegel statistischer Daten und empirischer Untersuchungen
sien und Hauptschulen sind zudem zeitlich stabil.102 Für die Gruppe weiblicher Jugendlicher zeigt sich, dass Sonderschülerinnen wesentlich häufiger physische Gewalt ausüben als Gymnasiastinnen. Beispielsweise geben 44,9% (n=49) der Sonderschülerinnen an, sich im vergangenen Jahr mindestens alle paar Monate mit einem Mitschüler oder einer Mitschülerin geschlagen zu haben.103 Für Gymnasiastinnen liegt der Wert hingegen bei 8.1% (n=447). Für den Bereich der Auseinandersetzung im Kontext einer Gruppe ist der Unterschied der Schulformen bei den Mädchen noch ausgeprägter. 23,3% der Sonderschülerinnen gaben an, im letzten Jahr alle paar Monate ein Mädchen oder einen Jungen zusammen mit anderen geschlagen zu haben. Bei den Gymnasiastinnen waren dies lediglich 2%. Angesichts dieser Ergebnisse konstatiert die Autorin: „Immerhin 45% aller Mädchen an Sonderschulen hat sich im Verlauf des vergangenen Schuljahres mit jemanden ernsthaft geprügelt, über 30% der Sonderschülerinnen haben Mitschüler(inne)n mindestens alle paar Monate etwas mit Gewalt weggenommen. Die Diskrepanz zwischen Gymnasiastinnen und Sonderschülerinnen an der Beteiligung physischer Gewalthandlungen ist erheblich größer als die zwischen den entsprechenden männlichen Schülern.“104
Insgesamt differiert die Gewalthäufigkeit je nach Schulform erheblich. Während auf dem Gymnasium Jungen im Vergleich zu ihren weiblichen Altersgenossen drei- bis fünfmal so häufig physische Gewalt ausüben, liegt die Differenz zwischen Sonderschülern und Sonderschülerinnen bei teilweise weniger als 10%.105 Insofern der in der polizeilichen Kriminalstatistik konstatierte Überhang männlicher jugendlicher Tatverdächtiger zu relativieren und zu spezifizieren im Hinblick auf die jeweilige Schulform. 2.3.2 Jugendliche als Gewaltopfer im schulischen Kontext Insgesamt weisen die Studien zur Gewalt im schulischen Kontext darauf hin, dass die überwiegende Zahl der Jugendlichen nicht Opfer physischer Gewalt wurden.106 Beispielsweise beträgt der Anteil der Opfer in der Greifswalder Studie für die Messzeitpunkte 1997, 2001 und 2005 bei den Neuntklässlern
102 Vgl. Baier 2006, S. 332; Fuchs u.a., S. 96; Dünkel u.a. 2008, S. 39ff.; Tillmann 2009, S. 22f. 103 Vgl. Popp 2002, S. 129. 104 Ebd., S. 128. 105 Vgl. ebd. 106 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 57ff.; Fuchs u.a. 2009, S. 102ff.; Dünkel u.a. 2008, S. 25ff.; Vgl. Baier u.a. 2006, S. 105; S. 132.
Empirische Ergebnisse zur weiblichen Jugendgewalt im schulischen Kontext
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16,7%.107 Ein überregionaler Vergleich von zehn Städten resp. Landkreisen in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1998 bis 2006 ergibt, dass mit einer Ausnahme (München) an allen Orten ein Rückgang der Jahresprävalenz zu verzeichnen ist. Während 1998 durchschnittlich 21,4% der Jugendlichen in den zehn Erhebungsgebieten Opfer einer Gewalttat wurden, waren es (mit Ausnahme Münchens) 2005 resp. 2006 nur noch 19,1%.108 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen die Autoren Fuchs u.a. Sie stellen über einen Zeitraum von 1994, 1999 und 2004 bei den Opfern psychischer und physischer Gewalt an bayrischen Schulen ebenfalls einen minimalen Rückgang fest. 109 Die häufigste Form der Viktimisierung liegt auf der Ebene verbaler Aggressionen.110 Beispielsweise gaben 43,9% der bundesweit befragten Neuntklässler in der Studie von Baier u.a. an, dass sie von der Schülerschaft im vergangenen Schuljahr gehänselt wurden.111 Dabei zeigt sich insbesondere für den Bereich physischer Gewaltviktimisierung, dass die Opfererfahrungen der Jugendlichen zumeist auf Auseinandersetzungen unter Jugendlichen zurück zu führen sind.112 Insgesamt tragen Täterinnen und Täter zugleich ein erhöhtes Risiko selbst Opfer von Gewalttaten zu werden.113 Eine Differenzierung der Opferangaben nach Schulformen ergibt, dass mit steigendem Bildungs- und Aspirationsniveau die Opferprävalenz sinkt.114 Bei Förderschulen liegen die höchsten Mehrfachopferraten vor, gefolgt von Hauptund Gesamtschulen. Die geringste Rate weisen Gymnasiasten auf: „Insgesamt betrachtet liegt die Rate der Mehrfachviktimisierungen an Förderschulen mit 3,2% um das 1,8 fache und an Hauptschulen mit 3,0% um das 1,7 fache über der an Gymnasien anzutreffenden Rate von 1,8%.“115 Im zeitlichen Verlauf wird an bayrischen Gymnasien ein stabiler Rückgang der Opfer in den letzten zehn Jahren zu verzeichnet. Im Gegensatz dazu steigen die Opferraten an Hauptschulen von 1994 bis 1999 in den Bereichen verbaler, psychischer und physischer Gewalt an. Danach verbleiben die Opferraten im Bereich physischer Gewalt (von
107 Vgl. Dünkel u.a. 2008, S. 25. 108 Vgl. ebd., S. 28. Folgende Städte resp. Landkreise wurden miteinander verglichen: Dortmund, Kassel, München, Oldenburg, LK Peine, Schwäbisch-Gmünd, LK Soltau-Fallingbostel, Stuttgart, Lehrte und Greifswald. 109 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 108f. 110 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 57f.; Fuchs u.a. 2009, S. 103f. 111 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 57. 112 Vgl. Dünkel u.a. 2008, S. 106. 113 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 102f. 114 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 120f.; Baier u.a. 2009, S. 60, Baier u.a. 2006, S. 112f. 115 Baier u.a. 2009, S. 60. Signifikante Unterschiede bezüglich der Opferprävalenz im Vergleich der Schulform werden ebenso in der Studie von Dirk Baier u.a. 2006, S. 112f. bestätigt.
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Weibliche Jugendgewalt im Spiegel statistischer Daten und empirischer Untersuchungen
1999 bis 2004) auf gleichem Niveau. Die Opferindizes für psychische und verbale Gewalt hingegen sinken an Hauptschulen (von 1999 auf 2004) leicht.116 Schülerinnen und Schüler werden jedoch nicht nur Opfer ihrer Altersgenossen. Ebenso sind sie aggressiven Verhaltensweisen durch die Lehrerschaft ausgesetzt. Empirische Erkenntnisse zur Gewalt von Lehrerinnen und Lehrern sind jedoch wenig ausgeprägt. Obwohl Forscherinnen und Forscher um die Bedeutung von „Lehrergewalt“ im Hinblick auf Maßnahmen der Gewaltprävention wissen, gestaltet sich die Erforschung dieses Tabuthemas offenbar als äußerst schwierig.117 Die hier vorgestellten Befunde sind heterogen und verweisen auf die Relevanz dieses noch unerforschten Themengebiets. Wilmers u.a. konstatieren, dass die schulformspezifische Gewaltprävalenz unter Schülerinnen und Schülern dem Niveau der Gewaltausübung von Lehrerinnen und Lehrern entspricht. 5% der Hauptschülerschaft berichten von physischen Übergriffen durch Lehrerinnen und Lehrer. Demgegenüber liegt der Anteil der Gymnasien bei lediglich 0,8%.118 Dafür berichten etwa ein Drittel der Gymnasiasten von verbalen Aggressionen, während lediglich ein Viertel der Hauptschüler davon betroffen sind. Die Ergebnisse von Wilmers u.a. decken sich jedoch nicht mit den Befunden zur verbalen Aggression der Lehrerschaft von Baier u.a. Sie konstatieren, dass es kaum schulformtypische Unterschiede im Bereich verbaler Aggressionen durch Lehrerinnen und Lehrer gebe.119 Zwischen 4,5% bis etwa 5% der Befragten gaben an, dass sie von Lehrpersonen gemein behandelt wurden. Etwa 3% aller Schülerinnen und Schüler wurden lächerlich gemacht. Lediglich die Schülerschaft der Förderschule berichten etwas seltener vom Mobbing durch Lehrerinnen und Lehrer.120 Die Angaben zu geschlechtstypischen Verteilungen von Opferraten belegen, dass Mädchen prinzipiell seltener Opfer von Gewalt werden als Jungen.121 Zudem konstatieren Baier u.a., dass Jungen von Lehrerinnen und Lehrern wesentlich häufiger „lächerlich gemacht, gemein behandelt oder sogar geschlagen werden als Mädchen.“122 Etwa 6,2% der Schüler berichten, von einer Lehrkraft gemein behandelt worden zu sein. Der Anteil der Mädchen liegt hingegen bei 3,1%. Die Geschlechterlücke zeigt sich ebenso in der Erfahrung körperlicher Gewalt durch Lehrer: Während 1,1% der männlichen Jugendlichen angaben, von einer Lehrkraft mehrfach monatlich geschlagen worden zu sein, beträgt der An116 Vgl. ebd. 117 Vgl. Marek u.a. 2009, S. 46ff. 118 Vgl. Wilmers u.a. 2002, S. 156. 119 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 59f. 120 Vgl. Ebd. 121 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 111; Baier u.a. 2006, S. 111ff.; Popp 2002, S. 164; Dünkel u.a. 2008, S. 104. 122 Baier u.a. 2009, S. 58.
Jugendliche als Opfer familiärer Gewalt
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teil der Mädchen lediglich 0,2%.123 Insgesamt sind die Opferraten im Bereich der schweren Gewaltviktimisierung über die vergangenen zehn Jahre tendenziell rückläufig.124 Neben dem schulischen Kontext bildet die Familie ein weiteres Feld, in dem Kinder und Jugendliche Opfer von verbalen Aggressionen und/oder physischer Gewalt werden. Die wichtigsten Befunde zum Vorkommen und Häufigkeit familiärer Viktimisierung werden im Folgenden Abschnitt dargelegt. 2.4 Jugendliche als Opfer familiärer Gewalt Studien zur familiären Viktimisierung erheben zumeist die Ausübung körperlicher Gewalt durch Eltern gegenüber ihren Kindern. Dabei zeigt sich, dass ein Großteil der Kinder und Jugendlichen überhaupt nicht oder nur in geringem Maße elterlichen Übergriffen ausgesetzt ist.125 Beispielsweise gaben 4,1% der Jugendlichen der 9. Jahrgangsstufe an, von ihren Eltern in den letzten 12 Monaten misshandelt worden zu sein.126 Ebenso gaben 3,3% der bayrischen Schülerinnen und Schüler an, dass sie wegen „Dummheiten“ regelmäßig von ihren Eltern körperlich bestraft wurden.127 Dabei zeigt sich, dass mit zunehmendem Alter die elterliche Gewaltausübung durch Eltern abnimmt.128 Bundesweit waren 9% der Befragten in ihrer Kindheit Opfer elterlicher Misshandlung. Der Anteil der betroffenen Jugendlichen beträgt hingegen 4,1%.129 Jugendliche, die in ihrer Kindheit elterliche Gewalt miterleben mussten, tragen ein höheres Risiko im Jugendalter Opfer von Gewalt zu werden.130 Dabei stellen Baier u.a. keine wesentlichen Differenzen in der Prävalenz ausgeübter Gewalt durch Vater oder Mutter fest. Allerdings greifen Väter etwas häufiger zu schweren Gewaltformen. Mädchen werden häufiger von ihren Müttern und Jungen häufiger von ihren Vätern geschlagen.131 Eindeutige Hinweise auf geschlechtstypische Viktimisierungen von Heranwachsenden im familiären Kontext lassen sich jedoch nicht finden. Baier u.a. konstatieren, dass Mädchen etwas häufiger angaben, dass sie von ihren Eltern geschlagen wurden als Jungen.132
123 Vgl. ebd. 124 Vgl. Dünkel u.a. 2008, S. 104; Fuchs u.a. 2009, S. 106f. 125 Vgl. ebd.; Fuchs u.a. 2009, S. 139f.; Kanz 2007, S. 280f.; Baier u.a. 2006, S. 123f. 126 Vgl. Baier u.a. 2006, S. 52. 127 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 141. 128 Vgl. ebd., S. 141; Baier u.a. 2009, S. 52; Baier u .a. 2006, S. 123f. 129 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 52. 130 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 52f.; Baier u.a. 2006, S. 124; Dünkel u.a. 2008, S. 98f. 131 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 53. 132 Vgl. Baier u.a. 2009, S. 52f.; Baier u.a. 2006, S. 128; Fuchs u.a. 2009, S. 141.
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Weibliche Jugendgewalt im Spiegel statistischer Daten und empirischer Untersuchungen
Fuchs u.a. stellen hingegen fest, dass männliche Jugendliche in Bayern zu Hause durchweg mehr Gewalt erfahren als ihre weiblichen Altersgenossen.133 Insgesamt wird der Einfluss des ökonomischen Status der Eltern im Hinblick auf das Risiko von Heranwachsenden, Opfer familiärer Gewalt zu werden, hervorgehoben.134 Trotz der eher uneinheitlichen Befunde, erkennen die Autorinnen und Autoren im sozioökonomischen Status der Familie einen grundlegenden Einfluss auf das Risiko von Jugendlichen, durch die Anwendung körperlicher Gewalt sanktioniert zu werden.135 Dabei wird der Zusammenhang hergestellt, dass je besser der sozioökonomische Status der Familien ist, desto geringer sei das Risiko von Kindern und Jugendlichen Opfer elterlicher Gewalt zu werden. In diesem Zusammenhang nicht reflektiert werden beispielsweise Konstellationen, in denen Kinder und Jugendliche Gewalt in familiären Kontexten mit ansehen müssen, etwa, weil ein Geschwisterkind geschlagen wird oder weil die Eltern sich gegenseitig schlagen und misshandeln. Insgesamt konstatieren die Studien lediglich mittelbare Zusammenhänge zwischen der familiären Viktimisierung von Heranwachsenden und ihren Gewaltaktivitäten im schulischen Peergroup-Kontext. Den Opfern familiärer Gewalt wird ein erhöhtes Risiko bescheinigt sowohl als Opfer als auch als Täter resp. Täterin im Peergroup-Kontext in Erscheinung zu treten. Wie ein solcher Gewalttransfer sich konkret vollzieht, bleibt jedoch in diesen Studien offen. Erklärungsansätze zur weiblichen sowie männlichen Jugendgewalt nehmen auf diese Aspekte Bezug. Sie werden im folgenden Kapitel 3 darstellt.
133 Vgl. Fuchs u.a. 2009, S. 148. 134 Vgl. ebd.; Baier u.a. 2009, S. 55. 135 Vgl. ebd., S. 141ff.; Baier u.a. 2009, S. 55.
3 Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt136
Gegenstand dieses Kapitels ist die Diskussion von Erklärungsansätzen zum Phänomen weiblicher resp. geschlechtstypischer Jugendgewalt.137 Darüber hinaus werden die zugrunde gelegten methodischen Herangehensweisen der Untersuchungen reflektiert. Die Perspektiven auf jugendliches Gewalthandeln unterscheiden sich nicht lediglich in den zugrunde gelegten differenten theoretischen Bezugsrahmen, sondern ebenso im Hinblick auf ihre methodischen Voraussetzungen und Implikationen. Aus diesem Grunde sind die dargestellten Erklärungsansätze weiblicher Jugendgewalt nach quantitativen, qualitativen und triangulierenden Studien systematisiert. Diese Form der Darstellung dient dazu, die Reichweite und Grenzen der vorgestellten Untersuchungen zu eruieren. Das Kapitel beginnt in Abschnitt 3.1 mit der Darstellung und Kritik des Desintegrationsansatzes, der in den Studien zur Jugendgewalt und darüber hinaus häufig Verwendung findet. Dem schließt sich die Erörterung triangulierender Studien zu geschlechtstypischen Aspekten von Jugendgewalt in Abschnitt 3.2 an. Die Darstellung schließt mit einer kritischen Diskussion triangulierender Verfahren zur weiblichen Jugendgewalt. Zuletzt werden Erklärungsansätze auf Basis qualitativer Zugangsweisen in Abschnitt 3.3 vorgestellt. Diese beginnen mit der Erörterung weiblichen Gewalthandelns im Kontext jugendlicher Peergroups in Abschnitt 3.3.1. Dem schließt sich die Illustration von Untersuchungen im Kontext weiblicher Adoleszenz in Abschnitt 3.3.2 an. Des Weiteren werden anerkennungstheoretische Ansätze zur geschlechtstypischen Jugendgewalt in Abschnitt 3.3.3 vorgestellt. Das Kapitel endet mit der kritischen Reflexion qualitativer Verfahren zum Gewalthandeln weiblicher Jugendlicher.
136 Um die in Kapitel 2, 3 und 4 dargestellten Forschungsbefunde zur weiblichen Jugendgewalt pragmatisch abschließen zu können, wurde der 30.06.2009 als Schlusspunkt für die Aufnahme neuer Untersuchungen, Statistiken etc. gewählt. Alle Studien, die nach dem angegebenen Stichtag erschienen sind, sind nicht mehr in der Darstellung enthalten. 137 Aufgrund der Fülle von Erklärungsansätzen und Studien zur Jugendgewalt werden lediglich diejenigen Studien vorgestellt, welche explizit weibliches oder geschlechtstypisches Gewalthandeln umfassen (nicht diskutiert werden Konzepte, die Gewalt durch männliche Jugendliche fokussieren wie etwa Findeisen/Kersten 1999; Sitzer 2009).
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt
3.1 Erklärungsansätze auf der Basis quantitativer Untersuchungen 3.1.1 Weibliche Jugendgewalt aufgrund von Verunsicherung und Desintegration Einen wichtigen Ansatz zur Erklärung von Jugendgewalt haben Wilhelm Heitmeyer u.a. mit der repräsentativ angelegten Studie Gewalt: Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus vorgelegt.138 Obwohl die Studie geschlechtstypische Aspekte des Gewalthandelns Jugendlicher nur am Rande berücksichtigt, stellt sie mit dem Desintegrationsansatz eine theoretische Folie zur Bestimmung jugendlichen Gewalthandelns bereit, die von vielen anderen Forscherinnen und Forschern zur Untersuchung jugendlichen Gewalthandelns oder anderer sozialer Probleme genutzt wurde.139 Insofern wird der Erklärungsansatz skizziert, um anschließend auf die Befunde und Erklärungen geschlechtstypischer Gewalt Bezug zu nehmen. Ergänzt werden die Erkenntnisse durch die Ergebnisse einer Befragung von Jugendlichen von Marek Fuchs und Jens Luedtke: Weibliche Jugendgewalt: „doing gender“?140. Sie stellen über die Reanalyse einer quantitativen Befragung wesentliche Merkmale weiblicher Mehrfachtäterinnen vor. Beide Untersuchungen folgen quantifizierenden Verfahren. Der Abschnitt endet daher mit einer kritischen Reflexion quantitativer Zugangsweisen zur Erforschung weiblicher Jugendgewalt. Heitmeyer u.a. sowie Fuchs und Luedtke erkennen in spezifischen psychosozialen Prozessen, die durch eine mangelnde Integration der Jugendlichen in die deutsche Gesellschaft ausgelöst werden, die „Ursache“ für Jugendgewalt. Sie 138 Vgl. Heitmeyer u.a. 1998. Die Forscher legten die Studie in zwei Teilen an. Der erste sekundäranalytisch-statistische Teil erforscht generelle Entwicklungstrends in Ost- und Westdeutschland im Hinblick auf mögliche Desintegrationspotenziale. Der zweite Teil analysiert die Ergebnisse empirischer Befragungsdaten (vgl. Heitmeyer u.a. 1998, S. 79). Die Befragungsdaten beruhen auf einer von Oktober 1992 bis Januar 1993 durchgeführten Fragebogenerhebung von Jugendlichen im Alter von 15 bis 22 Jahren an allgemeinbildenden und Berufsschulen. Ergänzt wurde die Zielgruppe durch arbeitslose Jugendliche und Studenten im ersten Semester (vgl. ebd., S. 126). Der Schwerpunkt der Erhebung lag auf der Befragung Jugendlicher deutscher Nationalität. In den alten Bundesländern wurden 1.709 Jugendliche und in den neuen Bundesländern 1.692 Schülerinnen und Schüler befragt. Insgesamt fand die Befragung in sechs Bundesgebieten statt, die einzelnen Schulformen der allgemeinbildenden Schulen fanden Eingang in die Auswahl der Stichprobe (vgl. ebd.). 139 Vgl. exemplarisch Fuchs/Luedtke 2003; Popp 2002; Holtappels/Hornberg 2004; Kühnel 2004; Heitmeyer 2004. 140 Fuchs/Luedtke 2003 reanalysierten die Daten einer Befragung zum Thema Rechtsextremismus aus dem Jahr 2001. Insgesamt wurden 5.042 Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 bis 21 Jahren im Bundesland Bayern befragt. In der Studie wurden Skalen zur Gewalttätigkeit sowie zur Gewaltbereitschaft gebildet, die den Autoren als Basis für die geschlechtsspezifische Auswertung des erhobenen Materials diente (vgl. ebd., S. 90).
Erklärungsansätze auf der Basis quantitativer Untersuchungen
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nehmen Bezug auf die Ausführungen Ulrich Becks zur Risikogesellschaft und zwar insbesondere im Hinblick auf die Verschärfung sozialer Ungleichheit in Deutschland.141 Sie postulieren, dass das Zusammenwirken von Individualisierungsprozessen und sozialer Ungleichheit zur Desintegration benachteiligter Gesellschaftsmitglieder führt. Speziell benachteiligte Jugendliche würden durch Desintegrationsprozesse in ihrer adoleszenten Entwicklung und Identitätsbildung negativ beeinträchtigt. Gewalt erscheint aus dieser Perspektive als eine Form der Bewältigung des gesellschaftlichen Ausschlusses. Dieser zeichne sich durch die Auflösung von Zugehörigkeiten und Beziehungen zu Personen(-gruppen), durch Ausgrenzung aus relevanten Institutionen und durch einen Abbruch der Verständigung über gemeinsame Werte und Normen, aus.142 Dabei pointieren Heitmeyer u.a., dass Desintegrationsprozesse aus der Perspektive der Betroffenen als „Verlust von Zugehörigkeit, Teilnahmechancen oder Übereinstimmung erfahren“143 werden müssten, damit die erlebten Exklusionsprozesse ihr gewaltverstärkendes Potential entfalteten. Diese Erfahrung könne wiederum zur Verunsicherung Einzelner führen, die sich auf der emotionalen Ebene in Form von niedrigem Selbstwertgefühl oder Unsicherheitsgefühlen äußerten und auf der Handlungsebene als Handlungsunsicherheiten, wie etwa Orientierungsproblemen, Entscheidungsproblemen usf., sichtbar würden.144 Gewalt stelle ein Mittel zur Kompensation dieser Verunsicherungen dar.145 Insbesondere das Ausblenden der persönlichen Verunsicherung senke die Gewaltschwelle der Jugendlichen und fördere gewaltbereite Einstellungen.146 Hinsichtlich der Frage, inwieweit die beschriebenen Zusammenhänge gesellschaftlicher Desintegration und Gewaltbereitschaft bei männlichen und weiblichen Jugendlichen gleichermaßen gelten, 141 Beck prägt den Begriff der „Risikogesellschaft“, in der das Leben der Menschen bestimmt ist durch das Bewusstsein erhöhter Risiken und globaler Gefahren (Pongs 1999, S. 65). Zu diesen Risiken zählen Umwelt- und atomare Gefahren ebenso, wie die Verantwortung persönlicher Bedrohungen, wie etwa Arbeitslosigkeit und Armut. Aufgrund des sozialen Wandels und dem raschen Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen müssen sozialstrukturelle Risiken vom Einzelnen verantwortet werden. Mit dem Begriff der Individualisierung beschreibt Beck die veränderte Lebensführung der Menschen in Gesellschaften der Moderne: Sie umfasst die Herauslösung des Einzelnen aus seinen tradierten Gemeinschaftsbezügen, in denen jeder die Gestaltung des alltäglichen Lebens individuell bewältigt (vgl. Beck 1986, S. 122ff.). Diese Individualisierungsprozesse implizieren für die Individuen ambivalente Wirkungen. Einerseits ermöglichen sie persönliche (Entscheidungs-)Freiheiten, andererseits müssen die gesellschaftlichen Risiken vom Einzelnen persönlich verantwortet werden. Beck betont in diesem Zusammenhang, dass die Auflösung tradierter Lebenszusammenhänge und der rasante Abbau sozialer wohlfahrtsstaatlicher Sicherheiten die ambivalenten Wirkungen von Individualisierungsprozessen wesentlich verstärken. 142 Vgl. Heitmeyer u.a. 1998, S. 60. 143 Ebd., S. 60. 144 Vgl. ebd., S. 67. 145 Vgl. ebd., S. 141ff. 146 Vgl. ebd.
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Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt
verweisen Heitmeyer u.a. sowie Fuchs und Luedtke auf die bereits konstatierte Geschlechterlücke hinsichtlich der Jugendgewaltprävalenz147, die sich auch in ihren Untersuchungen widerspiegelt.148 Beide Ansätze erkennen in der Gruppe weiblicher Gewaltaktiver so genannte „Modernisierungsverliererinnen“149, die von Desintegrationsprozessen in besonderem Ausmaß betroffen seien. Ausgehend von den (wenig überraschenden) Befunden geschlechtstypischer Verteilung von Jugendgewalt erklären sie weibliches Gewalthandeln als Angleichung an männlich konnotierte gewaltaffine Verhaltensweisen.150 Allerdings stehen die gleichermaßen erhöhten Verunsicherungswerte bei Jungen und Mädchen im Widerspruch zu den desintegrationstheoretischen Annahmen der Autorinnen und Autoren. Männliche Jugendliche weisen durchschnittlich häufiger gewaltbereite Einstellungen auf als weibliche. Daraus müsse sich theoretisch der Befund ableiten lassen, dass männliche Jugendliche stärkere Verunsicherungswerte (und insofern Desintegrationserfahrungen) aufweisen als Mädchen.151 Dies ist jedoch nicht der Fall. Heitmeyer u.a. erklären diesen Widerspruch, indem sie auf divergente geschlechtstypische Rollenerwartungen verweisen: Die (zukünftige) Doppelbelastung der weiblichen Jugendlichen in ihrer Rolle als Mutter und Erwerbstätige scheinen die erhöhten Verunsicherungswerte zu verursachen.152 Fuchs und Luedtke führen aus, dass gewaltaktive Mädchen die Unterordnung unter das männliche Geschlecht akzeptierten und sich einen überlegenen und starken Partner wünschten. Sie bevorzugten eher eine traditionelle Arbeitsteilung. Während Fuchs und Luedtke diese Haltung als eine Form männlich konnotierter Weiblichkeit charakterisieren, in der die Mädchen bewusst Risikoverhaltensweisen eingehen, um an der hegemonialen Männlichkeit teilzuhaben,153 gehen Heitmeyer u.a. von geschlechtstypischen weiblichen Aggressionsformen aus.154 Sie konstatieren:
147 Vgl. Kapitel 2.2.2 Geschlechtstypische Verteilung der Jugendgewaltkriminalität. 148 Heitmeyer u.a. 1998, S. 276; Fuchs/Luedtke 2003, S. 94. 149 Fuchs/Luedtke 2003, S. 94. 150 Vgl. Heitmeyer u.a. 1998, S. 418; Fuchs/Luedtke 2003, S. 100. 151 Die Verunsicherung der Einzelnen stellt einen Indikator für das Ausmaß an erfahrener Desintegration dar. Sie umfasst die psychische Verarbeitung von sozialer, ökonomischer und politischer Desintegration. Verunsicherung äußert sich aufgrund erfahrener Verluste, beispielsweise in der Erschütterung des Kontinuitätserlebens und dem Verlust von Konsistenzgefühlen (Heitmeyer u.a. 1998, S. 67). 152 Leider differenzieren Autoren nicht nach Altersklassen. Dies wäre insofern aufschlussreich, weil insbesondere weibliche Jugendliche in der frühen Adoleszenz nicht im gleichen Maße mit den Anforderungen der Doppelbelastung konfrontiert sind, wie etwa erwachsene Frauen. 153 Vgl. Fuchs/Luedtke 2003, S. 105. 154 Vgl. Heitmeyer u.a. 1998, S. 276.
Erklärungsansätze auf der Basis quantitativer Untersuchungen
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„Nur bei männlichen Befragten spielt auch eigene Gewalterfahrung bei der Herausbildung gewaltbefürwortender Einstellungen eine Rolle. Da jedoch auch junge Frauen nicht ohne Gewalterfahrungen aufgewachsen sind, ist zu befürchten, daß Frauen diese Demütigungen mit autoaggressiven Formen und selbstschädigendem Verhalten bearbeiten.“155
Männlichen und weiblichen Jugendlichen werden geschlechtstypische Verarbeitungs- und Bewältigungsformen ihrer Opfererfahrungen bescheinigt. Jungen neigten bei Verunsicherungen zu physischer Gewalt, Mädchen übten verdeckte Formen der Aggression wie Demütigungen und Selbstschädigungen aus.156 Kritik Der desintegrationstheoretische Erklärungsansatz zur Jugendgewalt ist mit dem Anspruch verbunden, Prozesse sozialer Desintegration auf der Makroebene (Gesellschaft resp. Milieus), der Mesoebene (Institutionen) und der Mikroebene (Sozialisation in Familie und Peergroup) zu bestimmen. Für Leserinnen und Leser ist der Nachvollzug der desintegrationstheoretischen Bestimmungen jedoch zum Teil schwer nachvollziehbar, denn die konkreten Bedingungen von Desintegrationsprozessen im Hinblick auf die Gruppe gewaltaktiver und nichtgewaltaktiver Jugendlicher werden in den Beiträgen nicht konkretisiert. Inga Diop kritisiert in diesem Zusammenhang, dass Heitmeyer u.a. vom Forschungsgegenstand Jugendgewalt zu sehr abstrahierten und stattdessen „Abstrakta wie‚ Überforderung durch einen gewissen Zwang zur Individualisierung“157 angäben. Die Bestimmung der „Ursachen“ des Gewalthandelns in Zwängen der Individualisierung lassen Interpretationsspielräume zu, die von der Autorin kritisiert werden. Mit der Anwendung des Desintegrationstheorems auf soziale Probleme ist zudem die Gefahr verbunden, dass gesellschaftskritische Aspekte ausgeblendet werden. Diop kritisiert diesbezüglich, dass die Gruppe der Jugendlichen für sozial nicht angemessene Bewältigungsformen von Desintegrations- und Verunsicherungserfahrungen problematisiert werde, ihre desolaten Lebensbedingungen jedoch aus der kritischen Reflexion weitgehend ausgeschlossen blieben.158
155 Ebd., S. 277. 156 Eine Darstellung weiterer Einflüsse auf das Gewalthandeln wie etwa Milieu oder auch Migrationserfahrungen sind aufgrund des eingeschränkten Datensamples der Studie in Bezug auf weibliches Gewalthandeln nicht möglich. Daher endet die Darstellung der Ergebnisse an dieser Stelle. 157 Diop 2007, S. 160. 158 Vgl. ebd. S. 161.
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Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt
Darüber hinaus problematisiert Gerda Nüberlin, dass die Manifestation von Gewalt bei einer kleinen Gruppe von Jugendlichen nicht schlüssig erklärt werde vor dem Hintergrund, dass eine ganze Gesellschaft Desintegrationsprozessen ausgesetzt sei. Sie fragt diesbezüglich „weshalb die am meisten ohnmächtigen und vereinzelten Menschen dieser Gesellschaft wie die Rentner, aber auch viele junge Arbeitslose, Erwerbsunfähige oder Alleinerziehende keine brutale Gewalt gegen ihre inländischen oder ausländischen Mitmenschen ausüben.“159 Heitmeyer u.a. unterstellen implizit, dass vor allem Jugendliche aufgrund von Desintegrationserfahrungen Gewalt ausübten. Sie begründen diese Engführung, indem sie auf die adoleszente Identitätsentwicklung verweisen und erklären, dass Desintegrationserfahrungen Identitätskrisen bedingen könnten, die wiederum gewaltaffine Verarbeitungsmuster begünstigten.160 Dieser Zusammenhang ist jedoch theoretisch und empirisch problematisch. Theoretisch basieren diese Annahmen auf einem Identitätsmodell, das eine konsistente und einheitliche IchIdentität voraussetzt, ohne diese selbst zu begründen. Insbesondere im Kontext der Diskussion um Individualisierungsprozesse und einer Pluralisierung von Lebensstilen werden jedoch Identitätsmodelle diskutiert, die den konsistenten Charakter der Ich-Identität infrage stellen.161 Auf empirischer Ebene ist die Engführung gewaltaffiner Verarbeitungsmuster von Desintegrationserfahrungen auf die Zielgruppe Jugendliche problematisch, weil ungeprüft der Unterschied zur Gewalt Erwachsener vorausgesetzt wird. Die Fokussierung Jugendlicher erscheint nicht plausibel, da Erwachsene und Jugendliche gleichermaßen von Desintegrationsprozessen betroffen sind. Die divergente Verarbeitung von Exklusionsprozessen bei Erwachsenen und Jugendlichen wäre zunächst empirisch nachzuweisen. Dieser Aspekt wird in beiden dargelegten Beiträgen nicht thematisiert. Die Darstellung der Ergebnisse zur geschlechtstypischen Jugendgewalt gibt ebenso Anlass zur kritischen Reflexion, da die Autorinnen und Autoren eine Angleichung des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher an das Männliche postulieren und zugleich auf der Basis geschlechtstypischer Verhaltensweisen argumentieren. Entweder übernehmen Mädchen männliche Formen der Durchsetzung, dann kann die Angleichungshypothese bestätigt werden. Oder weibliche Jugendliche neigen zu geschlechtstypischen aggressiven Handlungen wie etwa Autoaggression. Dabei ist jedoch eine Angleichung an männliche Verhaltensweisen ausgeschlossen. Hinsichtlich der Breite erfasster Verhaltensweisen, wie etwa physische Gewalt, üble Nachrede, Demütigungen und Selbstschädigungen stellt sich jedoch die Frage, ob das Konzept der Verunsicherung als Indikator gesellschaftlicher Desintegration nicht einen „catch-all“ Begriff darstellt, der 159 Nüberlin 2002, S. 47. 160 Vgl. Heitmeyer u.a. 1998, S. 45ff. 161 Vgl. Keupp 1999.
Erklärungsansätze auf der Basis quantitativer Untersuchungen
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sämtliche Probleme des Jugendalters umfasst. Im Hinblick auf die hier vorgestellten Ansätze und deren Kritik wird im folgenden Abschnitt der Aspekt des quantitativen Zugangs zur Erforschung des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher grundsätzlich reflektiert. 3.1.2 Kritik an quantitativen Zugangsweisen Insgesamt zeigt sich in den vorgestellten quantitativen Untersuchungen von Heitmeyer u.a. (1998) sowie Fuchs und Luedtke (2003), dass geschlechtstypische Aspekte mit dem Hinweis der Marginalität weiblicher Jugendgewalt nur am Rande oder lediglich im Rahmen von Reanalysen ausführlicher berücksichtigt werden. Das Besondere weiblicher Jugendgewalt wird durch diese Vorgehensweise nur unzureichend erfasst, da die Erhebung und Auswertung der Daten nicht genuin auf die Erfassung weiblichen Gewalthandelns ausgerichtet ist.162 Dabei nehmen quantitative Studien zumeist Bezug auf das Desintegrationstheorem.163 Hinsichtlich der Analyse gewaltbegünstigender Einflüsse bietet es die Möglichkeit, unterschiedliche Faktoren, wie etwa ein geringes Selbstwertgefühl, desolate berufliche Zukunftsaussichten oder das Erleben von Restriktionen in der Herkunftsfamilie – um nur einige der genannten Risikofaktoren zu nennen – in einem theoretischen Überbau, der gesellschaftlichen Desintegration, zu erfassen. Dadurch gerät die Spezifik des Forschungsgegenstands Jugendgewalt jedoch aus dem Blick. Desintegrationsanalysen neigen dazu, die vermeintliche Unordentlichkeit moderner gesellschaftlicher Verhältnisse in den Blick zu nehmen, ohne dass sie erklären können, weshalb Jugendgewalt einerseits ein passageres und ubiquitäres Phänomen darstellt und andererseits eine lediglich kleine Gruppe von Jugendlichen so genannte Gewaltkarrieren einschlagen. Zudem reicht die Auflistung probabilistischer Zusammenhänge von Faktoren, die ein wahrscheinliches Zusammenspiel von unterschiedlichen Kontextbedingungen angeben, nicht aus, um die konkreten situativen Auslöser des Gewalthandelns zu erklären. Doch gerade die Gewaltforschung hebt die Bedeutung situativer Dynamiken für die Erklärung jugendlicher Gewalthandlungen hervor.164
162 Im deutschsprachigen Raum untersucht lediglich die Studie von Ulrike Popp (2002) das geschlechtstypische Gewalthandeln Jugendlicher im Kontext Schule. Da die Studie ein triangulierendes Forschungsdesign aufweist, ist sie in Kapitel 3.2.1 Weibliche Jugendgewalt im schulischen Kontext gesondert aufgeführt. Schlusspunkt der Rekonstruktion des Forschungsstandes ist der 30.06.2009. 163 Vgl. Heitmeyer u.a. 1998; Fuchs/Luedtke 2005; Popp 2002. 164 Vgl. Dubet/Lapeyronnie 1994; Sutterlüty 2002; 2004; von Trotha 1997.
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Aufgrund dieser Kritik werden z.T. quantitativ angelegte Studien durch qualitative Methoden ergänzt. Eine Kombination quantitativer und qualitativer Vorgehensweisen erscheint als sinnvolle Alternative, da sie eine Kompensation von methodischer Einseitigkeit versprechen. 3.2 Erklärungsansätze auf der Basis triangulierender Zugangsweisen 3.2.1 Weibliche Jugendgewalt im schulischen Kontext Ulrike Popp hebt in ihrer Studie Geschlechtersozialisation und schulische Gewalt die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für das Gewalthandeln von Jugendlichen hervor.165 Dabei konzentriert sich die Autorin auf den Einbezug des gesellschaftlichen Kontextes resp. sozialen Umfeldes, in dem Jugendliche aufwachsen. Sie betont, dass Jungen qua ihrer Geschlechtszugehörigkeit stärker in gewaltförmige Konflikte eingebunden und zugleich häufiger Opfer von Gewalt werden. Im Peergroupkontext werden männliche Jugendliche im Vergleich zu weiblichen viel häufiger mit der Fremderwartung konfrontiert, „cool“ und „mutig“ zu sein. Popp erkennt hingegen bei Mädchen viel häufiger die Chance, sich aus gewalttätigen Konflikten heraus zu halten.166 Die Autorin erklärt geschlechtstypisches Gewalthandeln mit Bezugnahme auf differente Interaktionsordnungen. Während die Geschlechtsidentitätsbildung von Jungen eher mit gewaltaffinen Verhaltensformen verknüpft sei, werde Weiblichkeit eher in Bezug zu gewaltfernen Verhaltensweisen konstituiert.167 Jugendgewalt als ubiquitäres, 165 Die Studie von Popp (2002) greift auf die Daten einer repräsentativen Querschnittstudie des DFG-Projekts von 1995-1997 unter Beteiligung von Noller-Nowitzki, Holtappels, Meier, Popp und Tillmann zurück sowie auf die qualitative Erhebung im Rahmen eines weiteren DFGProjekts unter Beteiligung von Klewin, Meier, Popp und Tillmann von 1998-1999. Der quantitative Teil der Untersuchung besteht aus einer standardisierten Fragebogenerhebung im Bundesland Hessen an allen Schulformen im Bereich der Sekundarstufe I. Befragt wurden 1.796 männliche und 1.722 weibliche Schüler im Alter von 10-17 Jahren im Hinblick auf geschlechtstypische Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Gewaltausübung. In der sich daran anschließenden qualitativen Erhebung (1998 bis 1999) wurden qualitative Schulfallstudien in drei 9. Klassen an drei hessischen Sekundarschulen durchgeführt, die nach den Erkenntnissen der quantitativen Befragung das höchste Gewaltniveau besaßen (vgl. ebd., S.99ff.). Hierzu wurden problemzentrierte Interviews mit Schülern im Alter zwischen 15-16 Jahren der 9. Klasse der Schulformen Gymnasium, Gesamtschule und Hauptschule erhoben; insgesamt neun weibliche und neun männliche Jugendliche. Ebenso wurden Lehrkräfte an ausgewählten Schulen befragt (insgesamt drei Lehrerinnen und drei Lehrer). Der Abgleich der Daten beider Forschungsprojekte erfolgte über eine Datentriangulation, da hier Datensätze aus zwei zeitlich versetzten Erhebungen zusammengefügt wurden. Ziel der Triangulation war die Ergänzung der quantitativen Befunde durch illustrierende Fallbeispiele und Erweiterung der Erkenntnisse aus der quantitativen Erhebung (vgl. 114ff.). 166 Vgl. Popp 2002, S. 287f. 167 Vgl. ebd., S. 282.
Erklärungsansätze auf der Basis triangulierender Zugangsweisen
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passageres und zugleich überwiegend männliches Phänomen erklärt die Autorin als Ausdruck einer interaktionellen Geschlechterordnung, in der gewaltförmiges Handeln durch männliche Jugendliche akzeptiert werde. Diese Geschlechterordnung spiegelt sich in spezifischen Strukturen der Peerkultur wider. Dabei differenziert die Autorin zwischen jugendtypischen Formen der Gewalt und sogenannten Mehrfachtätern, die häufig Gewalt in Konfliktsituationen anwenden.168 Letztere wiesen eine besondere Konstellation von Risikofaktoren auf, die sich auf allen Ebenen von nicht aggressiven Schülerinnen und Schülern unterscheide. Popp erläutert, dass sich bei dieser Gruppe ungünstige Bedingungen summierten, wie etwa auf der Ebene gewaltaffirmativer Einstellungen, im Erleben von Restriktionen innerhalb der Herkunftsfamilie, in devianten Cliquen, im Leistungsbereich und interaktionellen Kontext Schule.169 Zudem wurden bei der Gruppe hochaggressiver Schülerinnen und Schüler differente interaktionelle Geschlechterordnungen nachgewiesen. Während Jugendliche in vereinzelt oder überhaupt nicht gewaltaktiven Freundesgruppen darin übereinstimmen, dass insbesondere ältere Jungen eine „Beschützerrolle“ gegenüber jüngeren Mädchen einnehmen und sie notfalls mit Gewalt verteidigen, gilt diese Form der Interaktionsordnung für stark gewaltaktive Jugendgruppen nicht. Stark gewaltaktive Mädchen und Jungen konstruieren alternative Interaktionsordnungen, in der sie sich im Kontrast zum anderen Geschlecht verorten. Die Kategorie Geschlecht verliert, so Popp, „bei hochaggressiven Schülergruppen ihre differenzierende Wirkung“170. Dies führt sie auf das von Desintegrationsprozessen geprägte Umfeld der Betroffenen zurück: „Kulturelle Konflikte, mangelnde Kontrolle, geringe ökonomische Ressourcen der Bewohner und offene soziale Spannungen werden auch als desintegrationsfördernde Prozesse im Sinne ‚misslingender‘ Individualisierungsprozesse angesehen. […] die außerschulisch erfahrenen Desintegrationsprozesse können auch innerhalb der Schule zu einer Kultur von Desintegration, Verunsicherung und Gewalt führen.“171 In diesem Zusammenhang betont die Autorin, dass Mehrfachtäter und -täterinnen einerseits hohe Gewaltbereitschaft aufwiesen und andererseits erheblich problembelastet seien, etwa aufgrund von Schwierigkeiten im schulischen Leistungsbereich und/oder Stigmatisierungserfahrungen.172 Aggressive Mädchen und Jungen seien, so die Ergebnisse der Studie, in der Klasse häufiger unbeliebt und würden sozial gemieden. Popp betont, dass die Unterschiede zwischen nicht gewaltbereiten und hoch 168 In die Gruppe der Mehrfachtäter wurden Schülerinnen und Schüler eingeordnet die zugaben, im vergangenen Jahr, mehr als vier (von acht im Fragebogen vorgegebenen) Gewalthandlungen ausgeführt zu haben (vgl. ebd., S. 127). 169 Vgl. ebd., S. 201. 170 Ebd., S. 198. 171 Ebd., S. 285. 172 Vgl. ebd., S. 193f.
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aggressiven Mädchen wesentlich ausgeprägter ausfallen, als die Differenzen zwischen nichtgewaltbereiten Mädchen und Jungen.173 Schülerinnen gerieten in die Rolle der Außenseiterin, wenn sie von Schönheitsidealen abwichen oder „wenn sie sich in sexueller Hinsicht nicht den sozialen Wertvorstellungen gemäß verhalten, wenn sie beispielsweise mit Unterstützung des äußerlichen Erscheinungsbildes zu offensiv sexuelles Interesse signalisieren oder ihren Sexualpartner häufig wechseln.“174. Daher bildeten Etikettierungen wie „Schlampe“ oder „Hure“ Zuschreibungen, die zu Prozessen sekundärer Devianz führen könnten.175 Nach dieser Darlegung des komplexen Erklärungsansatzes geschlechtstypischer Jugendgewalt richtet sich der Fokus nun auf eine kritische Diskussion der Ergebnisse im Hinblick auf gewonnene Einsichten zur weiblichen Jugendgewalt. Kritik Obwohl die Autorin mit Bezug auf soziale Stigmatisierungsprozesse neue Aspekte in Bezug auf die Erklärung weiblichen Gewalthandelns darlegt, fehlt eine genaue Rekonstruktion der Wirkungsweise von Etikettierungsprozessen auf das Gewalthandeln der Jugendlichen. Nicht alle Schülerinnen und Schüler, die als Versager oder „Schlampe“ stigmatisiert werden, üben verstärkt Gewalt aus. Da Mehrfachtäter und -täterinnen offenbar gleichermaßen mit Schulleistungsproblemen konfrontiert sind, stellt sich zudem die Frage, wie die Aspekte Leistungsversagen und Stigmatisierungen zusammenhängen und auf welche Weise sie das Gewalthandeln bedingen resp. fördern. Der Einbezug gesellschaftlicher Bedingungen, die das Gewalthandeln fördern, erfolgt über die Kategorie des sozialen Brennpunktes. Dieser wird leider nicht genau bestimmt, sondern die Autorin setzt voraus, dass der Leser resp. die Leserin immer schon weiß, was unter diesem Phänomen zu verstehen sei. Darüber hinaus zieht sie aus den Äußerungen von Schülerinnen und Schüler in qualitativen Interviews Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit aller Mehrfachtäter und -täterinnen. Diese Bezugnahme ist deshalb problematisch, weil die Kategorie der hohen Gewaltbelastung von Schulen (und damit das Kriterium des sozialen Brennpunkts) das entscheidende Merkmal für die qualitative Stichprobenziehung bildet.176 Hier besteht die Gefahr, dass es sich aufgrund einer zu eng gefassten Fallauswahl um ein theoretisches Artefakt handeln könnte.
173 Vgl. ebd. 174 Ebd., S. 283. 175 Vgl. ebd. 176 Vgl. ebd., S. 106f.
Erklärungsansätze auf der Basis triangulierender Zugangsweisen
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3.2.2 Kritik an triangulierenden Verfahren Insgesamt gibt es keine triangulierende Untersuchung, die sich ausschließlich dem Thema Gewalthandelns von Mädchen widmet. Die Studie von Popp bildet die einzige Analyse geschlechtstypischer Jugendgewalt, die triangulierende Verfahren einsetzt. Die ausführliche Darstellung und Kritik triangulierender Verfahren im Bereich geschlechtstypischer Jugendgewalt orientiert sich daher an der einzig vorhandenen Studie. Popp formuliert in der Reflexion zum methodischen Vorgehen vier Empfehlungen, welche die Qualität einer Methodentriangulation erhöht. Sie erklärt, dass triangulierende Untersuchungen mindestens aus zwei unterschiedlichen Datensätzen zu einem Forschungsgegenstand beziehen sollten, um unterschiedliche Forschungslogiken miteinander zu kombinieren.177 Dabei sollten beide Datensätze in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Zudem verweist sie auf die Vorteile einer zeitlich versetzten Erhebung qualitativer und quantitativer Daten und betont, dass in der 2. Feldphase bereits Ergebnisse der ersten Untersuchung vorliegen sollten, um die Folgeuntersuchung strukturieren und relevante Entdeckungen aufgreifen zu können.178 Mit ihren dargestellten Empfehlungen bezieht sich die Forscherin auf das Konzept zur Triangulation von Norman Denzin, der die Idee der Methodenkombination zur Validierung erhobener Daten entwickelte.179 Er vertritt die Auffassung, dass sich die Validität der Ergebnisse steigere, je mehr Informationen aus unterschiedlichen Quellen über den Forschungsgegenstand erhoben werden. Dabei werden vier Möglichkeiten der Kombination unterschieden: die Daten-, Beobachter-, Theorie- sowie Methodentriangulation.180 Popp charakterisiert ihre Untersuchung als eine Kombination aus Methoden-, Daten-, sowie Theorietriangulation. Die Methodentriangulation lässt sich als eine Strategie charakterisieren, in der unterschiedliche Methoden – in diesem Fall die Fragebogenerhebung und die geführten problemzentrierten Interviews – miteinander kombiniert werden, um „unterschiedliche Dimensionen der beobachteten Realität zu erfassen.“181 Popp verbindet diese Zugangsweisen wie folgt: die „quantitativen Daten [liefern, C.E.] zum Teil die Ergebnisse, Hypothesen und Strukturen für den Ablauf der qualitativen Interviews“182. Zudem dienten die qualitativen Daten der Hypothesengenerierung, welche mit Hilfe des quantitativen Materials getestet und modifiziert wurden.183 Darüber hinaus wurden qualitative Interviews für 177 Vgl. ebd., S. 287. 178 Vgl. ebd. 179 Vgl. Denzin 1977, S. 301. 180 Vgl. Ebd., S. 301. 181 Prein u.a. 1993, S. 15. 182 Popp 2002, S. 114. 183 Vgl. Ebd., S. 119.
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Fragestellungen eingesetzt, die sich mit quantitativen Fragestellungen nicht ermitteln ließen. Insofern verbindet die Forscherin unterschiedliche Methoden mit Hilfe einer iterativen Prozesslogik, wie sie in der Grounded Theory eingesetzt wird, mit dem Ziel „differenziertere Einblicke und Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand zu gewinnen“184. Während diese Forschungslogik sehr gut geeignet ist, die Kenntnisse zum Untersuchungsgegenstand zu vertiefen, bleibt die Frage nach der Validität der gewonnenen Daten unbeantwortet. Dieser Aspekt wird besonders deutlich bei der durchgeführten Datentriangulation, in der die Forscherin unterschiedliche Datenquellen miteinander kombiniert. Die Datentriangulation zielt auf die Erhebung unterschiedlicher Datenquellen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten.185 Eine Analyse dieser unterschiedlichen Stichproben soll die Differenziertheit des Forschungsgegenstands im Sample ablichten. Daher bezieht sich Popp auf zwei unterschiedliche Samples, die zu den Zeitpunkten 1995 (quantitative Erhebung) und 1997/8 (qualitative Erhebung) gewonnen wurden. Sie betont den Vorzug dieser Vorgehensweise, denn aufgrund der Ergebnisse der quantitativen Befragung von 1995 konnten „neue Überlegungen und Fragestellungen, die sich nicht quantitativ ermitteln ließen“186 für die qualitative Erhebung formuliert werden. Der kritische Einwand, der sich gegen das Denkmodell der Datentriangulation wendet, betrifft die ungenügende Reflexion der Reaktivität von Forschungsmethoden. Mit anderen Worten: „unterschiedliche Methoden erfassen nicht nur verschiedene Aspekte desselben sozialen Phänomens, sondern jede Methode konstituiert ihren spezifischen Erkenntnisgegenstand. […] Wenn man diese Grundposition akzeptiert, dann erscheinen durch die Triangulation verschiedener Datenquellen nicht unbedingt nur verschiedene Aspekte eines einzigen sozialen Phänomens, sondern möglicherweise unterschiedliche Phänomene.“187 Insofern stellt sich die Frage, inwieweit die Untersuchung von Popp mit der Bezugnahme auf zwei unterschiedliche Samples nicht auch zwei unterschiedliche Phänomene erfasst. Diese Frage gewinnt auch deshalb an Gewicht, weil die Erhebung der Samples zugleich mit einem Methodenwechsel kombiniert wurde. Eine solche komplexe Methodentriangulation wirft Fragen hinsichtlich der Validität der gewonnenen Daten auf, die jedoch von der Forscherin selbst nicht beantwortet werden. Insgesamt bieten triangulierende Verfahren den Vorteil, den Forschungsgegenstand in seiner Breite und Tiefe erfassen zu können. Zugleich birgt die Wahl methodentriangulierender Verfahren Nachteile, wie etwa das ungelöste Problem der Datenvalidierung. Die Rekonstruktion des Forschungsstandes zeigt, dass das 184 Ebd., S. 118. 185 Vgl. Prein u.a. 1993, S. 14. 186 Popp 2002, S. 288. 187 Prein u.a. 1993, S. 17.
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Phänomen weiblicher Jugendgewalt, insbesondere in Bezug auf die Gruppe der sogenannten Mehrfachtäterinnen, ein noch recht unerforschtes Phänomen darstellt.188 Diese Arbeit verfolgt daher das Ziel, die Bedingungen des Gewalthandelns gewaltaktiver Mädchen vertiefend zu untersuchen. Für diese Fragestellung bietet sich eine qualitative Vorgehensweise an.189 Methodentriangulierende Verfahren sind erst im Hinblick auf umfassendere Erkenntnisse zur weiblichen Jugendgewalt sinnvoll einzusetzen. Die Reflexionen begründen die qualitative Vorgehensweise dieser Arbeit, die in Kapitel 7 Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign, erörtert wird. Im Folgenden werden Erklärungsansätze zur geschlechtstypischen und zur weiblichen auf Basis qualitativer Untersuchungen vorgestellt. 3.3 Erklärungsansätze auf der Basis qualitativer Untersuchungen Qualitative Studien zur weiblichen Jugendgewalt erforschen zumeist bestimmte Ausschnitte des Phänomens. Im Folgenden sind die wesentlichen Untersuchungen, geordnet nach ihren jeweiligen Schwerpunktsetzungen, aufgeführt.190 Dabei beginnt die Darstellung mit dem Aspekt der Zugehörigkeit zu gewaltaffinen Peergroups jugendlicher Gewalttäterinnen in Kapitel 3.3.1, um anschließend das Verhältnis von weiblicher Jugendgewalt und Adoleszenz in Kapitel 3.3.2 zu erörtern. Studien, die sich auf anerkennungstheoretische Grundlagen beziehen, sind in Abschnitt 3.3.3 dargestellt. Das Kapitel endet mit der kritischen Diskussion qualitativer Untersuchungsmethoden in Abschnitt 3.3.4. 3.3.1 Weibliche Jugendgewalt aufgrund der Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Peergroups Kirsten Bruhns und Svendy Wittmann untersuchten in ihrer Studie Ich meine mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen die Gewaltbereitschaft und das Gewalthandeln weiblicher Jugendlicher in gewaltaffinen Jugendgruppen.191 Sie 188 Vgl. hierzu auch Kapitel 5. Fazit der Literaturanalyse. 189 Vgl. Kapitel 7.1 Grundannahmen qualitativer Sozialforschung. 190 In der Darstellung ist die Studie von Möller (2001) nicht enthalten, weil sie vornehmlich die Gewaltakzeptanz von Jugendlichen untersucht. Forschungsergebnisse zur Gewaltakzeptanz lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres auf das Gewalthandeln übertragen. 191 Bruhns und Wittmann untersuchten die Gewaltbereitschaft und -aktivitäten von Mädchen in gewaltauffälligen Jugendgruppen. Sie verglichen einerseits vier gewaltauffällige Cliquen mit nicht gewaltbereiten Peergroups sowohl in Bezug auf Mädchengruppen und gemischtgeschlechtliche Cliquen. Untersuchungsorte waren eine westdeutsche und eine ostdeutsche Stadt, in der mit Jugendlichen Gruppendiskussionen an zwei Erhebungszeitpunkten (in einem Abstand von ca.
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Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt
erklärten, dass die Mädchen dieser Gruppen sich ebenso gewaltbereit präsentierten wie männliche Jugendliche und verwiesen beispielsweise auf bestimmte „Kampfregeln“ und „normative Übereinkünfte“ in gewaltbereiten Gruppen, wie der „gute Ruf“ der Gruppe oder Einzelner zu verteidigen sei.192 Diese Formen eines „Ehrenkodex“ gelten für weibliche wie männliche Gruppenmitglieder gleichermaßen und stellten eine Ansammlung kollektiv geteilter Normen und Regeln dar, die das Kollektivbewusstsein der Gruppe stärkten.193 Im Gegensatz zu männlichen Peers liegen die Übergriffe weiblicher Jugendlicher jedoch häufig auf der Beziehungs- und Kommunikationsebene. Bruhns und Wittmann konstatierten, dass Beleidigungen, Verleumdungen oder auch die Infragestellung partnerschaftlicher Besitzansprüche durch externe Mädchen und junge Frauen zu Sanktionierungen mit Hilfe körperlicher Gewalt führten. Verbale Lösungen von Konflikten würden von den interviewten Mädchen abgelehnt, körperliche Gewalt als einzig angemessene Handlungsoption bewertet.194 Die Autorinnen charakterisierten die Lebensbedingungen der Interviewten als „problembelastet“195 etwa durch „familiäre[r] Konfliktsituationen, Gewalterfahrungen in der Familie, problematische[r] Erziehungsstile und unzureichender elterlicher Unterstützung, vor dem Hintergrund prekärer ökonomischer Verhältnisse und schulischer Probleme.“196 Daher erkennen sie bei den untersuchten gewaltbereiten Mädchen ein verstärktes Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstwirksamkeit. Die Demonstration von Gewaltbereitschaft verschaffe den weiblichen Jugendlichen in gewaltbereiten Gruppen auf diese Weise „Respekt“. Das Streben nach Respekt und Anerkennung kompensiere die von den Mädchen erlittenen Ohnmachtserfahrungen aufgrund erfahrener Ausgrenzungen: „Gewaltbereitschaft ergibt sich demnach aus Motiven der Selbstwerterhaltung, aus individuellen und kollektiven Anerkennungsbedürfnissen und Machtansprüchen, aber auch aufgrund der Notwendigkeit, in einem gewaltaffinen Umfeld zu ‚überleben‘“197. Gewalt diene weiblichen Jugendlichen als „aussichtsreiche Handlungsstrategie, um in den relevanten sozialen Netzwerken Achtung und Wertschätzung zu erfahren.“198 einem Jahr) durchgeführt wurden. Insgesamt waren 65 Jugendliche in die Untersuchung involviert (vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S. 61ff.). Zusätzlich wurden mit ausgewählten Cliquenmitgliedern leitfadenstrukturierte Interviews zu beiden Erhebungsphasen durchgeführt sowie Experteninterviews mit pädagogischen Fachkräften. Ziel der Untersuchung sind Einblicke zu gewinnen in das Gewalthandeln der Mädchen, ihre Gruppenzugehörigkeit sowie die in den Cliquen bestehenden Gruppenbindungen, -strukturen und Hierarchien (vgl. ebd., S. 36). 192 Vgl. ebd., S. 144f. 193 Vgl. ebd., S. 144f. 194 Vgl. ebd., S. 142. 195 Ebd., S. 269. 196 Ebd., S. 269. 197 Ebd., S. 142. 198 Ebd., S. 207.
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Da weibliches Gewalthandeln mit geschlechterstereotypen Vorstellungen kollidiere, untersuchten die Autorinnen die Weiblichkeitskonzepte der interviewten Mädchen exemplarisch an Fallbeispielen. Sie stießen auf alternative Auffassungen, in denen einige Interviewte alternative Formen durchsetzungsfähiger Weiblichkeit präsentierten.199 Die Forscherinnen betonen, dass die Interviewten einerseits im Widerspruch zu traditionellen Typisierungen von Weiblichkeit stehen, andererseits jedoch mit dem spezifischen Werthorizont der Peergroup übereinstimmen. Darüber hinaus begaben sich einige Interviewte in partnerschaftliche Abhängigkeiten, die dem Bild der durchsetzungsfähigen jungen Frau widerspreche.200 Die Autorinnen interpretieren diesen Gegensatz als „Ausdruck von Ambivalenzen – einerseits den ‚typisch weiblichen‘ Verhaltensanforderungen zu entsprechen, andererseits aber damit verbundenen Abwertungen zu entkommen und das Bedürfnis nach Anerkennung zu befriedigen.“201 Damit schließen sie sich der These Helga Bildens an, die angesichts der Anforderungen zwischen Familie und Beruf für Frauen keine Möglichkeit sieht, eine eindeutige Identität auszubilden. Stattdessen bildeten Frauen mehrere Selbste aus, um die z.T. widersprüchlichen Anforderungen und Bedürfnisse zu erfüllen.202 Dieser Lesart folgend, postulieren Bruhns und Wittmann, dass die gewaltbereiten Mädchen nicht mehr über eine konsistente Ich-Identität verfügten. Ihre Persönlichkeit umfasse ein Nebeneinander von geschlechtlichen Identitätskonzeptionen, die in jeweils unterschiedlichen Kontexten zum Tragen komme.203 Im Hinblick auf die adoleszente Entwicklung konstatieren die Forscherinnen, dass eine Veränderung gewaltaffiner Handlungsstrategien der Umgestaltung sozialer Netzwerke sowie der Identifikation mit traditionellen Rollenbildern eng verknüpft sei. Der Wandel vom Bild eines durchsetzungsfähigen Mädchens hin zu einer angepassten Frau, werde insbesondere durch den Übergang von der Schule in die Ausbildung bzw. in das Erwerbsleben befördert. Die Studie liefert einerseits wichtige Erkenntnisse auf dem bisher noch wenig erforschten Gebiet weiblichen Gewalthandelns in jugendlichen Peergroups, andererseits gibt es einige kritisch anzumerkende Gesichtspunkte, die im Folgenden erörtert werden.
199 Vgl. ebd., S. 168. 200 Vgl. ebd., S. 263. 201 Ebd., S. 270. 202 Vgl. Bilden 1997, S. 227. 203 Vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S. 271.
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Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt
Kritik Die Rekonstruktion der Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher weist z.T. nicht schlüssige Argumentationen auf. Etwa konstatieren Bruhns und Wittmann, dass vielfältige Faktoren wie z.B. familiäre Konflikte, Gewalterfahrungen, problematische Erziehungsstile, unzureichende elterliche Unterstützung sowie prekäre ökonomischer Verhältnisse und schulische Probleme das Bedürfnis der Mädchen nach Anerkennung verstärken. Daraus folgt, dass die Autorinnen die Peergroup selbst als einen Ort bestimmen, indem die Gewaltbereitschaft der Mädchen wesentlich verstärkt wird, die Entstehungsbedingungen jedoch in den Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und/oder der sozialen Lage liegen. Insofern verweisen sie auf Entstehungsbedingungen jugendlicher Gewaltbereitschaft, ohne deren Wirkung und Stellenwert präzise zu explizieren. Daher wird beispielsweise nicht deutlich, weshalb weibliche Jugendliche in ähnlichen Problemlagen keine körperliche Gewalt anwenden. Des Weiteren weisen die Autorinnen auf ein verstärktes „Anerkennungsbedürfnis“ problembelasteter weiblicher Jugendlichen hin, dass die Suche nach Anerkennung in gewaltaffinen Peergroups erkläre. Leider führen die Wissenschaftlerinnen nicht aus, was sie unter „Anerkennungsbedürfnis“ verstehen, was dies im Kontext der Peergroup bedeutet und welche Wechselwirkungen zur (weiblich-adoleszenten) Identitätsbildung bestehen. Eine Anerkennungsproblematik weiblicher Jugendlicher wird als kausale Bedingung für ihre Gewaltaktivitäten unterstellt, aber nicht im Einzelnen belegt. Trotz der aufgeführten Kritik enthält die dargestellte Studie wichtige Erkenntnisse hinsichtlich des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher, die mit ausgewählten Aspekten ethnografischer Studien zur Gang-Forschung übereinstimmen. Anne Campbell verweist ebenso wie Bruhns und Wittmann auf die schutz- und statussichernde Funktion von Gewalthandlungen.204 Der Einsatz körperlicher Gewalt dient den jungen Frauen als Schutz vor körperlichen Übergriffen und als Mittel den eigenen Status innerhalb der Gruppe zu erhalten oder zu verbessern. Zugleich prägt Gewalt die Gruppenidentität der Mädchen-Gang.205 Die Verteidigung des guten Rufs mit Hilfe von Gewalt ist aus Campbells Perspektive ein wichtiger Schlüssel für die
204 Vgl. Campbell 1984, S. 262ff. Campbell untersuchte zwei Jahre lang die Gang-Strukturen in New York im Hinblick auf die Präsenz und die Rollen weiblicher Mitglieder. In ihrer ethnografischen Studie konzentrierte sie sich auf drei Gangs, welche die Unterschiedlichkeit der Banden in New York veranschaulichen: eine Straßengang, eine Motorradgang und eine religiös-kulturell ausgerichtete Bande. Während die Mitglieder der einen Gang unterschiedlicher ethnischer Herkunft waren, stammten in der anderen die Mitglieder ausschließlich aus Puerto Rico. Die dritte Gang bestand aus schwarzen Mitgliedern (vgl. ebd., S. 1ff.). 205 Vgl. ebd., S. 239ff.
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Etablierung gewalttätigen Verhaltens.206 Neuere qualitative Studien zur GangForschung belegen, dass die Motive, sich einer Gang anzuschließen, bei Männern und Frauen die gleichen sind: die Flucht vor ökonomischer Marginalisierung, Erhöhung des Selbstwerts sowie sozialer Zusammenhalt und Identifikation.207 Ebenso wie bei männlichen Gangs ist körperliche Gewalt eine „normale“ soziale Interaktion und dient als „legitimes“ Mittel zur Konfliktlösung.208 Beispielsweise belegt David Brotherton, dass Mädchen in Gangs ebenso Gewalt ausüben wie ihre männlichen Altersgenossen, um den Drogenhandel der Gang und damit ihr Einkommen zu sichern.209 Gewalt ist in diesem Kontext vornehmlich Mittel zum Zweck: Violence „was a function of their business, much like in other studies of street dealing in the drugs economy“210. Der Vergleich von Ergebnissen aus der Gangforschung mit Befunden aus der deutschen Jugendforschung ist jedoch nur in sehr eingeschränktem Maße möglich. Einerseits belegen Befunde zu europäischen Banden, dass die Varianz des Gewaltverhaltens verschiedener Gangs untereinander größer ausfällt als das Gewaltverhalten Jugendlicher, die nicht in Banden organisiert sind.211 Andererseits zeigt sich, dass hierarchisierte und durch territoriale Ansprüche etablierte Gangs nicht ohne weiteres mit dem eher lockeren Zusammenschluss Jugendlicher in Cliquen vergleichbar sind. Gewaltbereite Mädchen in Jugendcliquen treffen auf eine weniger stark strukturierte Gemeinschaft, die Organisation von kriminellen Aktivitäten zur Sicherung des Lebensunterhalts steht nicht im Vordergrund gemeinsamer Aktivitäten. Von daher bieten Erkenntnisse aus der Gangforschung Hinweise, etwa zur Funktion von Gewalt für den Statuserhalt innerhalb des Gruppengefüges. Eine Übertragung auf jugendliche Cliquen und Freundschaften ist jedoch nicht möglich. Weitere Studien zum weiblichen Gewalthandeln untersuchen das jugendliche Gewalthandeln in Bezug zur adoleszenten Entwicklung.
206 Vgl. Campbell 1995, S. 189. 207 Vgl. Leschied u.a. 2000, S. 43ff. 208 Vgl. ebd. 209 Vgl. Brotherton 1996, S. 269. Brotherton interviewte weibliche Gang-Mitglieder dreier sehr unterschiedlicher Banden im Zeitraum von 1991-1993. Insgesamt wurden 46 Gang-Mitglieder zwischen dem 15. bis 22. Lebensjahr in San Francisco interviewt. Die Gangs repräsentieren sehr unterschiedliche ethnische Gruppen: Afro-Amerikaner(-innen), Puerto-Ricaner(-innen) und Mexikaner(-innen) (vgl. ebd., S. 264). Der Autor richtet sein Erkenntnisinteresse auf die Aktivitäten weiblicher Bandenmitglieder im Hinblick auf Ausübung delinquenter Verhaltensweisen, insbesondere der Organisation und Durchführung des Drogenverkaufs. 210 Ebd., S. 269. 211 Vgl. Klein u.a. 2006. Zudem ist die Schwere der verübten Gewalt hinsichtlich der Nutzung von Feuerwaffen und die Beanspruchung resp. Verteidigung von Territorien in europäischen Gangs weniger stark ausgeprägt als im amerikanischen Bereich (vgl. ebd.).
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3.3.2 Weibliche Jugendgewalt als adoleszenztypische Erscheinung Die Untersuchung adoleszenztypischer biografischer Konflikte gewaltbereiter Mädchen ist Gegenstand zweier Studien, die im gleichen Jahr erschienen sind.212 Es handelt sich zum einen um die Studie von Frauke Koher Gewalt und Geschlecht.213 Sie analysierte „Handlungsmuster und die zugrundeliegende innere Psychodynamik von adoleszenten, gewalttätigen Mädchen“214. Die zweite Studie wurde von Mirja Silkenbeumer mit dem Titel Biografische Selbstentwürfe und Weiblichkeitskonzepte aggressiver Mädchen und junger Frauen vorgelegt.215 Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung liegt in der Rekonstruktion biografischer Selbstdeutungen aggressiver Mädchen, die wichtige Hinweise zu den Motiven und Bedingungen von Gewalthandlungen aufzeigen. Beide Untersuchungen legen ihren Fokus auf die Rekonstruktion der Geschlechtskonzeptionen gewaltaktiver Mädchen. Sie erkennen in der weiblichen Adoleszenz eine Altersphase, in der verstärkt Aggressionen auftreten. Mit dem Einsetzen der Adoleszenz werde die elterliche Bindung tendenziell problematisch. Selbst für die vermeintlich normale adoleszente Entwicklung sei ein erhöhtes Aggressionspotential festzustellen. Koher betont, dass sich das Aggressionspotential der Mädchen durch eine konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung erhöhe. Die Abgrenzungsversuche weiblicher Jugendlicher zur eigenen Mutter stellten ein zentrales Moment in der Entwicklung von Gewaltbereitschaft dar. Die Autorin sieht jedoch adoleszente Entwicklungsprozesse nicht in ursächlichem Zusammenhang zur jugendlichen Gewaltbereitschaft. Vielmehr bildeten familiäre Konflikt- und Gewalterfahrungen sowie prekäre ökonomische Verhält-
212 Vgl. Koher 2007; Silkenbeumer 2007. 213 Insgesamt wurden 20 weibliche Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren von 2000-2001 interviewt, die wegen ihrer körperlichen Gewalttätigkeit aufgefallen, aber nicht unbedingt straffällig waren. Als Interviewform wählte die Autorin das biografisch narrative Interview (vgl. Koher 2007. S. 113ff.). Aus diesem Fundus wählte sie vier Fälle aus, die sie in ihrer Studie ausführlich vorstellt und diskutiert. Die Fallauswahl richtete sich danach, ein möglichst heterogenes Sample in den Bereichen soziale Herkunft, Bildung und sozialer Kontext der Befragten darzustellen (vgl. ebd.). Die Textanalysen und anschließenden Fallinterpretationen orientieren sich an der psychoanalytisch fundierten Auswertungsmethoden (vgl. ebd., S. 119ff.). 214 Ebd., S. 15. 215 Vgl. Silkenbeumer 2007, S. 320ff. Untersucht wurden anhand 15 leitfadengestützter Interviews mit weiblichen Jugendlichen im Alter von 13 bis 21 Jahren von 2001-2002 die Weiblichkeitskonstruktionen und biografischen Selbstentwürfe aggressiver Mädchen. Der Geburtsort Deutschland und ausreichende Deutschkenntnisse waren eine notwendige Bedingung für die Auswahl der Interviewerin. Die Autorin hinterfragt die Bedeutung von Gewalttätigkeit und Aggression hinsichtlich der Geschlechtskonzeptionen der interviewten Mädchen. Nach der Methode der Grounded Theory legt sie in einer vergleichenden Analyse Deutungsmuster zur Gewaltausübung und Geschlechtskonzeptionen vor dem Hintergrund biografischer Selbstdeutungen dar.
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nisse gewaltfördernde Bedingungen für adoleszente Mädchen.216 Silkenbeumer deutet aggressive Verhaltensweisen als einen Verarbeitungsprozess biografischer Konflikte und Belastungen adoleszenter Mädchen. Aus der Perspektive der interviewten Mädchen stellten Gewalt und Aggressionen mitunter eine Handlungsressource dar, die dem Schutz vor Viktimisierungen oder dem Verlassen des Opferstatus dienten. Die Mädchen erführen sich in der Ausübung körperlicher Gewalt und verbaler Aggressionen als handlungsmächtig und nutzen diese Macht, um ihren Status in der Peergroup zu sichern resp. zu steigern. Dabei weist die Autorin auf die Erlebnisqualität des Gewalthandelns hin, in der das Machterleben im Gegensatz zu erlebten Handlungssicherheiten im Alltag der Betroffenen stehe. Gewalt stellt aus Sicht der Autorin eine biografisch ambivalente Ressource dar, die einerseits zu einer „einengenden Konstruktionen von Weiblichkeit und Ausgrenzungserfahrungen“ sowie „zu weiteren inneren und äußeren Konflikten beitragen“217 kann, andererseits jedoch die Chance biete, sich angesichts vielfältiger Belastungen als aktive und starke Persönlichkeit zu erfahren. Diese Ambivalenz fasst die Autorin unter dem „handlungsleitende[n] Orientierungsmuster ‚Stärke‘“218 zusammen. Es repräsentiert den allgemeinen Aspekt der untersuchten individuellen biografischen Konflikte. Silkenbeumer betont, dass das biografische Orientierungsmuster „Stärke“ keine defizitäre Handlungsorientierung sei, sondern eine „heilsame“219 Aufarbeitung von Belastungen und Konflikten ermögliche. Sie erkennt in den Wünschen der interviewten Mädchen nach Dominanz und Selbstbehauptung auf der einen Seite und ihrem Streben nach Anerkennung und sozialer Konformität auf der anderen, ein Spannungsverhältnis, das auf tieferliegende Weiblichkeitskonflikte verweise. Diese Weiblichkeitskonflikte spiegelten die Ambivalenz gesellschaftlicher Strukturen wider, in denen Bereiche der Gleichberechtigung unvermittelt neben Sphären traditioneller Geschlechterhierarchien bestünden. Während Silkenbeumer eine fallübergreifende Leitmaxime „Stärke“ eruiert, erklärt Koher, dass sich die von ihr dargelegten Fallbeispiele nicht unter abstrakt allgemeine Erklärungsansätze fassen ließen, sondern in ihrer Besonderheit jeweils für sich ständen. Sie lehnt die Subsumption ihrer Fallbeispiele unter „allgemeine Aussagen über ‚typisch weibliches‘ Aggressionsverhalten“220 ab. Beispielsweise läge bei lediglich drei der vier referierten Fälle die Betonung des eigenen Körpers und des (weiblichen) Erscheinungsbildes vor. Eine kausale Beziehung zwischen dem Gewalthandeln der Interviewten und ihrem sozialen Milieu könne nicht bestätigt 216 Vgl. ebd., S. 253. 217 Ebd., S. 323. 218 Ebd., S. 324. 219 Ebd., S. 325. 220 Koher 2007, S. 253f.
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werden. Obwohl drei der vorgestellten Fälle in einem ähnlichen Milieu verortet sind, erkennt Koher keine gemeinsamen Konfliktkonstellationen, die eine Integration des Gewalthandelns in die weiblicher Geschlechtsidentität bedingen. Zusammenfassend konstatiert sie: „Es ist also deutlich geworden, dass kein einheitliches Bild der gewalttätigen Mädchen beschrieben werden kann: Gewaltbereite Mädchen sind sehr unterschiedlich in ihren Motiven für die Gewalttätigkeit, sie werden zu unterschiedlichen Anlässen gewalttätig und die Gewalttätigkeit hat eine unterschiedliche Bedeutung für ihre Identität.“221
Die Unvereinbarkeit traditionell weiblicher Geschlechterstereotype und weiblichen Gewalthandelns bildet für die Autorin ein bisher nur ungenügend erforschtes Phänomen. Insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang von weiblichem Gewalthandeln und veränderten Weiblichkeitsbilden.222 Sie formuliert die These, dass veränderte Bilder von Weiblichkeit nicht mehr im Konflikt zur weiblichen (Jugend-)Gewalt stünden, weil neue Formen der Aggressionsverarbeitung entstanden seien. Zu diesem Ergebnis kommt ebenso Silkenbeumer. Sie postuliert, dass das veränderte Weiblichkeitsideal eines „starken“ Mädchens in den Biografien der interviewten Mädchen fortwirke, zugleich aber durch gesellschaftliche Bedingungen und Gegebenheiten ebenso gebrochen werde. Das moderne Selbstverständnis des „starken“ Mädchens sieht die Autorin in gesellschaftlichen Ansprüchen von Selbstverantwortung und biografischer Selbststeuerung gegeben Es halte eine positive Chance für die biografische Entwicklung adoleszenter Mädchen bereit. Zugleich könne die Leitmaxime „Stärke“ für die Ausbildung von Weiblichkeit zu einer persönlichen Überforderung führen, wenn Mädchen und junge Frauen den Anspruch einer problemlosen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben hegten.223 Insgesamt enthalten die Studien neue Einsichten, allerdings gibt es auch kritische Aspekte, die nun dargelegt werden. Kritik Obwohl die Studien wichtige Erkenntnisse zur der Thematik weiblicher Adoleszenz und Aggressionen vorstellen, stehen aggressive Verhaltensweisen von Mädchen eigentümlich unverbunden neben persönlichen Belastungen und adoleszenten Konflikten. Z.B. nimmt Silkenbeumer in ihrer Arbeit Bezug auf die 221 Ebd., S. 255. 222 Vgl. ebd., S. 256. 223 Vgl. Silkenbeumer 2007, S. 332.
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Grounded Theory als umfassendes Verfahren qualitativer Datenerhebung und Auswertung. Mit Hilfe der Auswertung 15 erhobener Fälle generiert die Autorin das „handlungsleitende[n] Orientierungsmuster ‚Stärke‘“224 als fallübergreifende „Schlüsselkategorie“225, mit der sie die „biografiestrukturierende[n] Wirkung“226 in ihren verschiedenen Facetten verdeutlicht. Die Schlüsselkategorie umfasst sowohl unterschiedliche Handlungsmotive der Interviewten wie etwa Schutz vor Übergriffen, Überwindung des Opferstatus, etc. als auch Identitätskonstruktionen227. Die begriffliche Ungenauigkeit der eruierten Schlüsselkategorie betrifft sowohl das Verhältnis von Handlungsmotiven und Identitätsentwürfen als auch den Zusammenhang von konkretem (Gewalt-)Handeln und gewaltaffinen Einstellungs- und Selbstdeutungsmustern. Insofern ermöglicht die abstrakte Fassung der Leitmaxime „Stärke“ zwar die Subsumption aller 15 Fälle unter eine gemeinsame Schlüsselkategorie, doch geht dies mit einer begrifflichen Unschärfe einher, die letztendlich die Frage unbeantwortet lässt, unter welchen Bedingungen sich das eruierte Orientierungsmuster „Stärke“ als handlungsleitend erweist und unter welchen Bedingungen nicht. Insofern liegt in der Konstruktion einer abstrakten „Schlüsselkategorie“, wie sie in der Grounded Theory nahe gelegt wird, die Gefahr, eine „catch all“ Kategorie zu konstituieren, in der die Frage nach den Grenzen eines solchen Konzepts unbeantwortet bleibt. Insgesamt setzt sich Koher zum Ziel, die Bedeutung von Aggressionen und Geschlechtskonzeptionen im Kontext sozialer Herkunft und Bildung zu rekonstruieren. Leider präzisiert die Autorin ihre verwendeten Begrifflichkeiten nicht. Sie stellt nicht dar, nach welchen Kriterien etwa das soziale Milieu oder Bildungsprozesse der interviewten Mädchen bestimmt wurden. Die Aussage, dass drei von vier Mädchen dem gleichen sozialen Milieu zuzuordnen seien, bleibt vor diesem Hintergrund vage und inhaltsleer. Zudem lassen sich Inkonsistenzen hinsichtlich der Reichweite der dargestellten Ergebnisse erkennen. Einerseits lehnt die Autorin eine Verallgemeinerung der Fälle ab, indem sie postuliert, dass jeder Fall für sich stehe. Andererseits stellt sie fallübergreifende Abstraktionen dar, etwa, wenn sie Bezugnahmen zum gemeinsam geteilten sozialen Milieu der Fälle vornimmt. Da sowohl die Studie von Bruhns und Wittmann als auch die Studie von Silkenbeumer auf das Streben nach Anerkennung im Kontext weiblichen Gewalthandelns Bezug nehmen, erscheint die Darlegung und Diskussion anerkennungstheoretisch fundierter Studien zur Jugendgewalt lohnenswert.
224 Ebd., S. 324. 225 Ebd., S. 324. 226 Ebd., S. 324. 227 Vgl. ebd., S. 326.
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3.3.3 Jugendgewalt aufgrund von Anerkennungskonflikten Die Untersuchung von Ferdinand Sutterlüty228 mit dem Titel Gewaltkarrieren steht im Zentrum der Diskussion von anerkennungstheoretischen Ansätzen zur Jugendgewalt.229 Seine Ausführungen werden ergänzt durch die anerkennungstheoretischen Überlegungen von Werner Helsper.230 Sutterlüty entwirft in seiner Studie eine gegenstandsbegründete Theorie der Gewaltkarriere Jugendlicher. Der Begriff der Gewaltkarriere ist eng mit dem Terminus der Suchtkarriere verwandt. Die Gewalt Jugendlicher umfasst nicht lediglich zielgerichtete Aktionen, sondern ebenso Phasen des Getriebenseins und Kontrollverlusts. Insofern wird die Expansion des Gewalthandelns als ein „Verlaufsprozess“231 rekonstruiert, der von „bewussten Entscheidungen, zwanghaften Verhaltensweisen und tragischem Erleiden, von Zufällen, Schüben und Kehrtwendungen bestimmt ist.“232 Der Autor bestimmt die Gewaltkarriere als eine biografische Entwicklung, die jedoch nicht einem bestimmten Ziel linear entgegen strebe: „Vielmehr sind Gewaltkarrieren von kontingenten Ereignissen und Handlungsfolgen abhängig, die als lebensgeschichtliche Weichen fungieren und als soziale Sperren wirken. Eine Gewaltkarriere ist eine in diesem Sinne pfadabhängige biografische Entwicklung.“233 Sie zeichnet sich durch biografische Brüche und unvorhersehbare Entwicklungspfade aus, die nicht prognostizierbar sind. Vielmehr gelingt die Erfassung der Handlungsfolgen und lebensgeschichtlichen Wendepunkte erst durch die biografische Rekonstruktion des Falles. Obwohl Sutterlüty betont, dass die Gewaltkarriere durch kontingente Ereignisse bestimmt ist, erkennt er in der Erfahrung familiärer Gewalt und Missachtung eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass die Jugendlichen in späteren Konflikten Gewalt anwenden. Die Viktimisierungserfahrungen der Heranwachsenden bestünden beispielsweise darin, dass sie in ihren Familien geschlagen, gedemütigt oder ihnen Anerkennung verweigert wurde. Diese Prozesse des Erleidens wirkten sich 228 Sutterlüty führte 1996 mit 18 Jugendlichen zwischen 15 und 21 Jahren je zwei leitfadengestützte Interviews, um die Gewalterfahrungen und -orientierungen der Jugendlichen zu erfassen. Die Fallauswahl richtete sich nach Intensität und Häufigkeit verübter Körperverletzungen. Drei Jugendliche, die lediglich singulär gewalttätig waren, wurden als Vergleichsgruppe den „IntensivtäterInnen“ gegenübergestellt. Von den 18 in Ost- und Westberlin wohnenden Jugendlichen waren 15 männlich und drei weiblich. Die Auswertung erfolgte nach dem dreistufigen Kodierverfahren der Grounded Theory (vgl. ebd., S. 17ff.). 229 Vgl. Kapitel 1. Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit. 230 Der Autor stellt in der Diskussion von Fallbeispielen jugendlicher Gewalttäter und -täterinnen Differenzen und Gemeinsamkeiten in der biografischen Entwicklung heraus und entwickelt eine anerkennungstheoretische Heuristik, auf der diese Aspekte in Bezug zur Adoleszenz und zur gesellschaftlichen Bedingtheit gesetzt werden (vgl. Helsper 1995). 231 Sutterlüty 2004, S. 267 232 Ebd., S. 267. 233 Ebd., S. 268.
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destruktiv auf das Selbstbild der Betroffenen aus. Sutterlüty betont, dass der Wunsch nach Anerkennung, d.h. nach Achtung und Wertschätzung, in Anlehnung an Axel Honneth und Tzvetan Todorov eine anthropologische Grundbestimmung des Menschen sei. Ohne ein Mindestmaß an erlebter Anerkennung könnten Heranwachsende keine positive personale Identität entfalten. Auch Helsper verweist auf die identitätsschädigende Wirkung der Missachtung und Anerkennungsverweigerung im familiären Kontext. Die Erfahrung des Scheiterns elterlicher Anerkennungsbeziehungen durch frühe Trennung, Anerkennungsverweigerung, Gleichgültigkeit, Entwertung oder Idealprojektionen von Seiten der Eltern, in denen das Kind vermeintliche Wunderdinge vollbringen solle, führten bei Kindern zu Angstgefühlen, Entwertungserfahrungen und zur Desintegration ihres Selbst. Diese Erfahrungen könnten zu gewaltaffinen Bewältigungsformen führen, wenn Kinder ihre schmerzlichen Erfahrungen abwehrten und sich entweder mit „grandiosen, starken mächtigen anderen“234 identifizierten oder das eigene Selbst über „imaginäre Phantasien eigener Grandiosität und Stärke“235 überhöhten. Kinder, die sich mit imaginären Phantasien der eigenen Grandiosität und Stärke identifizieren, bilden, so Helsper, eine psychische Disposition zu Dominanz und Herrschaft aus und präferierten somit gewaltförmige Verhaltensweisen zur Durchsetzung ihrer Belange.236 Er hebt zudem hervor, dass Eltern in gesellschaftliche Konkurrenzverhältnisse eingebunden sind, in denen sie z.T. selbst Missachtungen und Anerkennungsverlusten ausgesetzt seien. Darüber hinaus seien Kinder und Jugendliche in institutionalisierten Anerkennungsbeziehungen der Schule eingebunden, die geprägt sind durch soziale Distanz.237 Die Schule trage wenig zur Konsolidierung und Stabilisierung von Selbstvertrauen Heranwachsender bei. Mit ihrem Fokus auf formale Urteilsgerechtigkeit negiere die Schule die soziale Wertschätzung des Einzelnen. Die Überführung von Leistungsunterschieden in eine individualisierte Schulbiografie impliziere zugleich die persönliche Entwertung der Schülerinnen und Schüler. Der Autor postuliert, dass scheiternde Anerkennungsverhältnisse im familialen Rahmen zur Ausbildung gewaltbereiter Dispositionen führen, die durch schulische Missachtungserfahrungen verstärkt werden. Diese motivierten die Jugendlichen, in einen gewaltförmigen Kampf um Anerkennung zu treten, um sich wieder in das Bewusstsein der missachtenden und gleichgültigen Institutionen zu setzen. Während Helsper im Zusammenspiel familiärer und schulischer Anerkennungsverluste die Verfestigung jugendlichen Gewalthandelns erkennt, fokussiert 234 Ebd., S. 134f. 235 Ebd., S. 134f. 236 Vgl. ebd., S. 136f. 237 Vgl. ebd., S. 143.
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Sutterlüty vornehmlich familiäre Viktimisierungen als Grundlage für die Ausbildung einer Gewaltkarriere. Missachtungs- und Ohnmachtserfahrungen führen, so der Autor, zu gewaltaffinen Fantasien, in denen die Jugendlichen den Wechsel vom Opfer zum Täter bereits imaginär vollziehen.238 Der konkrete Übergang von der Opfer- zur Täterrolle wird von den Jugendlichen zumeist als Wendepunkt resp. Epiphanie geschildert. In den Erzählungen des Wendepunktes verdichte sich das Erleben als handlungsmächtige Täter, das im Kontrast zur familialen Viktimisierung stehe.239 Die Erfahrung des berauschenden Sieges bilde zugleich eine intrinsische Motivationsquelle des Gewalthandelns. Der Triumph physischer Überlegenheit, die Verursachung von Schmerzen beim Gegner und die Überschreitung des Alltäglichen seien die wesentlichen Beweggründe der Jugendlichen ihr Gewalthandeln fortzusetzen. Zugleich relativierten sie die biografischen Kosten der Gewaltkarriere, wie z.B. Schulverweise, Jugendarrest usf.240 Im Gruppenkontext entwickelten die jugendlichen Täter und Täterinnen zudem Gewaltmythologien, „die nicht nur eine Habitualisierung der Gewaltbereitschaft, sondern eine normative Aufladung gewalttätigen Handelns“241 umfassten. In konflikthaften Situationen deuten die betroffenen Jugendlichen diese dann vorschnell aus der Kampfperspektive. Die Situationseinschätzung des Kampfes bezeichnet Sutterlüty als gewaltaffines Interpretationsregime.242 Es umfasst die Sensibilität für Konflikte, unter denen die Jugendlichen in ihren Familien leiden oder gelitten haben und ihre Bereitschaft, Gewalt anzuwenden.243 Helsper unterscheidet im gewaltförmigen Kampf um Anerkennung zwei Gruppen von Jugendlichen: Selbstbewusste Jugendliche und entwertete und von Desintegration betroffene Heranwachsende. Während selbstbewusste Jugendliche Anerkennung erhielten, indem sie andere Mitschüler negierten und sich selbst mit ihren Belangen gegenüber anderen durchsetzten, demonstrierten entwertete und desintegrierte Jugendliche über Gewalt eine Form von Souveränität, die sie in anderen Situationen nicht erreichen würden. Dabei folgte der Anerkennungserwerb dem Prinzip des Kampfes um Anerkennung: Die Jugendlichen agierten über Gewalt „Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Wut und Haß aus und bringen sich damit zugleich dem mißachtenden Anderen wieder zur Kenntnis“.244 Die vorgestellten anerkennungstheoretischen Erklärungsansätze zur Jugendgewalt umfassen einige Gemeinsamkeiten. Sie betonen die gewaltgenerierende Kraft familiärer Missachtung und Anerkennungsverluste und sie beschrei238 Vgl. Sutterlüty 2002, S. 41ff. 239 Vgl. ebd., S. 209ff. 240 Vgl. ebd., S. 77ff. 241 Ebd., S. 293. 242 Vgl. ebd., S. 277ff. 243 Vgl. ebd., S. 277ff. 244 Helsper 1995., S. 137.
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ben das jugendliche Gewalthandeln als eine Dynamik, in der Anerkennungsprozesse eine zentrale Rolle einnehmen. Darüber hinaus ergeben sich Unterschiede, etwa, wenn Helsper weitere Instanzen, wie etwa die Schule, als wichtige gewaltgenerierende Instanzen in den Fokus der Überlegungen rückt oder wenn Sutterlüty explizit die biografische Dynamik des Gewalttransfers vom Opfer im familiären Kontext hin zum Täter resp. der Täterin beschreibt. Kritik Einer der wichtigsten und für die Erklärung von Jugendgewalt zentralsten Aspekte der Gewaltkarriere ist das Konzept des so genannten Gewalttransfers. Es beschreibt die Dynamik, in der viktimisierte Jugendliche zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung von der (familiären) Opferrolle zur Täterrolle wechseln, indem sie Gewalt gegenüber Gleichaltrigen, Erwachsenen und/oder Gegenständen ausüben. Die Jugendlichen erfahren sich als handlungsmächtige Täter und Täterinnen im Kontrast zur erfahrenen Ohnmacht im Kontext ihrer familialen Viktimisierung.245 Ausgeblendet bleiben andere Institutionen, wie etwa die Schule, in denen Jugendliche ebenso Missachtungs- und Ohnmachtserfahren erleiden. Die Ergebnisse zur schulformspezifischen Verteilung von Jugendgewalt sowie zu schulischen Leistungsproblemen bei der Gruppe der Mehrfachund Intensivtäter und -täterinnen geben jedoch Hinweise darauf, dass Schule Einfluss auf die Bedingungen des Gewalthandelns der Jugendlichen nimmt bzw. nehmen kann.246 Während Helsper in seinen Ausführungen einen umfassenden Erklärungsansatz vorlegt, der sowohl gesellschaftliche Bedingungen auf allgemein institutioneller Ebene einbezieht als auch psychische Strukturen reflektiert, fehlt die konkrete Konzeptualisierung des Gewalttransfers, d.h. des Übergangs vom Opfer zum Täter resp. zur Täterin. Darüber hinaus postulieren beide Ansätze, dass sie das Gewalthandeln männlicher und weiblicher Jugendlicher gleichermaßen erklären. Die Annahme, dass Mädchen unter den gleichen Voraussetzungen Gewalt wie Jungen Gewalt ausüben, steht jedoch im Widerspruch zu den Befunden geschlechtstypischer Verteilung von Jugendgewalt.247 Darüber hinausgehend reflektiert Sutterlüty explizit die geschlechtstypischen Aspekte des Gewalthandelns, wenn er konstatiert, dass für Mädchen kein kulturell etabliertes Muster existiere, „in dessen Rahmen gewalttätiges Handeln als eine Verwirkli-
245 Vgl. Sutterlüty 2002, S. 209ff. 246 Vgl. Kapitel 2.3.2 Schulformspezifische Verteilung von Jugendgewalt sowie Kapitel 3.2.1 Weibliche Jugendgewalt im schulischen Kontext. 247 Vgl. etwa Kapitel 2.2.2 Geschlechtstypische Verteilung der Jugendgewaltkriminalität.
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Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt
chung von ‚Weiblichkeit’ durchgehen könnte“248. Der Autor erklärt, dass die weibliche Geschlechtszugehörigkeit als „kulturelle Bremse“249 wirke. Während sich Gewalthandeln für Mädchen eher identitätsschädigend auswirke, könne es für Jungen identitätsunterstützend wirken. Insofern stimmt der Autor zwar dem Umstand zu, dass Gewaltausübung für männliche und weibliche Jugendliche nicht unter gleichen Voraussetzungen stattfindet, allerdings wird die Kategorie Geschlecht in der Theorie der Gewaltkarriere nicht systematisch berücksichtigt. Sutterlüty unterscheidet zwischen intrinsischen (Gewalt-) Motiven, die sich erst aus der Gewaltsituation selbst ergeben und extrinsischen Motiven, d.h. zuvor getroffenen Handlungsabsichten.250 Er argumentiert, dass extrinsische Gewaltmotive von intentionalen, absichtsvollen Handlungen zu unterscheiden seien. Lothar Wigger pointiert in diesem Zusammenhang, dass eine Handlung aber erst in ihrem Gesamtzusammenhang als solche identifizierbar werde.251 Die von Sutterlüty getroffene Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Motiven ist aus analytischer Perspektive nicht sinnvoll, denn sie setzt ein intentionales Handlungsmodell voraus, das der Autor jedoch selbst kritisiert. Die Klassifikation von Motiven ist ohne die vorausgesetzte Intentionalität des Handelns gar nicht möglich. Dass sich die Zwecke einer Handlung situativ ändern können, spricht nicht gegen den theoretischen Grundgedanken, der besagt, dass Handlungen in den Kategorien Zweck und Mittel zu bestimmen sind. Neben den genannten Aspekten basiert das Forschungsdesign der Arbeit Sutterlütys auf einer methodisch zu kritisierenden Annahme. Der Autor führte mit den Jugendlichen jeweils zwei Interviews zu unterschiedlichen Zeitpunkten durch.252 Er erklärt, dass das Ziel einer solchen Vorgehensweise die Überprüfung der Aussagen der Erzählpersonen im ersten Interview sei.253 Diese Annahme ist aus biografietheoretischer Perspektive jedoch problematisch. Zwar kann über die Rekonstruktion biografischer Erfahrungen immer auch ein gemeinsamer Kern von „Leitlinien und Leitthemen, zentrale Kraftfelder und Interessen“254 der erzählten Lebensgeschichte eruiert werden, aber die aktuelle Lebenssituation der 248 Sutterlüty 2004, S. 276. 249 Ebd., S. 276. 250 Mit dieser Unterscheidung kritisiert er das in der Gewaltsoziologie häufig zugrunde gelegte Modell rationalen Handelns von Max Weber (vgl. Sutterlüty 2004, S. 277). 251 Vgl. Wigger 1983, S. 104f. 252 Während im ersten Interview der schulische und berufliche Werdegang, die familiäre Situation, Freizeitaktivitäten und Freundesgruppen sowie das Erleben von Gewalt thematisiert wurde, enthielt der zweite Leitfaden weiterführende Themen, in denen Lebensstilpräferenzen, Gewalterfahrungen, Einstellungen gegenüber bestimmten Menschen und Gruppen sowie die Wahrnehmung und Einstellung gegenüber Polizei und gegenüber ausländerfeindlichen Anschlägen usf., erhoben wurden (vgl. Sutterlüty 2002, S. 20ff.). 253 Vgl. ebd., S. 25f. 254 Schulze 2006, S. 44.
Erklärungsansätze auf der Basis qualitativer Untersuchungen
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Erzählpersonen fließt deutlich in die Strukturierung des Erfahrungszusammenhangs mit ein.255 Das bedeutet, dass es sich im Grunde genommen bei Interviews ein und desselben Jugendlichen zu zwei verschiedenen Erhebungszeitpunkten, um unterschiedliche biografische Entwürfe und Erzählungen handeln (kann). Ein gemeinsamer Kern von Lebenserfahrung kann zwar plausibel angenommen, jedoch nicht empirisch vorausgesetzt werden. Wenn sich die interviewten Jugendlichen zum Zeitpunkt des 2. Interviews in einer grundlegend anderen Lebenslage befinden als zum Zeitpunkt des 1. Interviews, kann die angenommene Übereistimmung biografischer Erfahrungen nicht vorausgesetzt werden. Die Biografieforschung geht noch einen Schritt weiter. Sie erkennt im „Selbst“ resp. „Selbstkonzept“ gerade nicht die grundlegende Bedingung für die Konstitution biografischer Erfahrungen. „Die Persönlichkeit und das Selbstkonzept sind nicht Voraussetzungen, sondern ein Produkt und eine Begleiterscheinung der Biografie.“256 Die vom Forscher angestrebte Prüfung der Validität jugendlicher Erzählungen kann mit diesem Vorgehen nicht eingelöst werden. Die in den Abschnitten 3.3.1 und 3.3.2 dargelegten Erklärungsansätze zur weiblichen Jugendgewalt im Kontext von Peergroupzugehörigkeiten und adoleszenter Entwicklung verweisen darauf, dass gewaltaktive Mädchen und junge Frauen Opfer von sozialer Ausgrenzung und Viktimisierungen sind, die sie über das gewaltförmige Streben nach Anerkennung und Respekt kompensieren.257 Die hier vorgestellten anerkennungstheoretischen ausgesuchten Arbeiten nehmen Anschluss an diese Annahmen. Es bleibt jedoch bei den dargelegten Erklärungsansätzen der Zusammenhang von Anerkennungsverlusten und Opfererfahrung auf der einen und dem gewaltförmigen Kampf um Anerkennung auf der anderen Seite unbestimmt. Aus diesem Grund und infolge vieler Hinweise aus dem erhobenen Material wurde die Anerkennungstheorie als ein theoretischer Bezugspunkt für die Datenauswertung gewählt.258 Zunächst wenden sich die Ausführungen jedoch der Reflexion der qualitativen Zugangsweisen zu. 3.3.4 Kritik an qualitativen Zugangsweisen In Bezug auf die Erforschung weiblicher Jugendgewalt ergeben sich für qualitative Zugangsweisen folgende Nachteile: In der qualitativen Sozialforschung erfolgt die Stichprobenziehung nicht nach dem Kriterium des Zufalls resp. der 255 Vgl. ebd., S. 42ff. 256 Ebd., S. 45. 257 Vgl. Kapitel 3.3.1 Weibliche Jugendgewalt aufgrund der Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Peergroups und 3.3.2 Weibliche Jugendgewalt als typische Erscheinung weiblicher Adoleszenz. 258 Vgl. Kapitel 6 Theoretische Grundlagen und Heuristik zum Kampf des Anerkennens.
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Methodische Zugangsweisen und Erklärungsansätze zu weiblicher Jugendgewalt
häufig angestrebten Repräsentativität, sondern die Fallauswahl richtet sich nach der Maxime, theoretisch relevante Fälle zu erheben.259 Die theoriegeleitete Auswahl ist jedoch im Bereich der Erforschung weiblicher Jugendgewalt mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Beispielsweise weist Sutterlüty in seiner Untersuchung darauf hin, dass er die Datenerhebung nach der Methode des theoretical sampling nicht durchführen konnte, weil keine ausreichenden Informationen über die gesuchten gewaltbereiten Jugendlichen vorhanden waren.260 Silkenbeumer problematisiert hingegen, dass das iterative Vorgehen des theoretical sampling aus forschungspraktischen und zeitlichen Gründen nicht realisierbar war.261 Bruhns und Wittmann schildern zudem in ihrer kriteriengeleiteten Fallauswahl, ähnlich wie Sutterlüty, dass es sich als außerordentlich schwierig erwies, ihre vorab bestimmten Zielgruppen aufzufinden. Viele pädagogische Fachkräfte bestätigten zwar das Vorkommen gewaltbereiter Mädchen resp. Mädchencliquen, doch sie hatten keinen Kontakt zu entsprechenden Gruppen im Feld. Daher war die Suche nach geeigneten Fällen zeit- und kostenaufwändig.262 Die nur eingeschränkte Realisierung theoretisch konzeptionierter Samplingstrategien kann jedoch zur Verzerrung der vorgestellten Befunde und Theoriebildung führen. Insgesamt führten die Schwierigkeiten zu einer forschungspragmatischen Modifikation der angestrebten Verfahren, indem sie alternative Samplingstrategien umsetzten oder versuchten, der anvisierten Forschungsstrategie möglichst nahe zu kommen.263 Neben der Schwierigkeit des Feldzugangs erweist es sich in der qualitativen Forschung als Nachteil, dass es keine einheitlich verbindlichen Gütekriterien gibt, wie es etwa in quantifizierenden Verfahrensweisen der Fall ist.264 Zudem nehmen die Autorinnen und Autoren häufig nicht explizit Bezug auf die Güte ihrer Untersuchungen.265 Der Mangel an einheitlichen Gütekriterien in der qualitativen Sozialforschung sowie die ungenügende explizite Reflexion der Güte in den qualitativen Studien kann dazu führen, dass die Reichweite ermittelter Forschungsbefunde nicht deutlich wird. Neben den aufgeführten Nachteilen gibt es Vorteile einer qualitativen Zugangsweise: Es gibt nur wenig gesicherte Erkenntnisse zum Phänomen weiblicher Jugendgewalt. Angesichts der unbeantworteten Fragen und aufgezeigten Wissensdefizite erscheinen quantifizierende Verfahren nicht geeignet, weil die hypothesentestende Methodik ein Mindestmaß an Wissen über den Forschungs259 Vgl. Kelle/Kluge 1999, S. 38ff. 260 Vgl. Sutterlüty 2002, S. 27. 261 Vgl. Silkenbeumer 2007, S. 110f. 262 Vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S. 54ff. Diese Einschätzung wurde in der Stichprobenziehung dieser Arbeit ebenso bestätigt (vgl. Kapitel 7.4.1 Sample und Theoretische Fallauswahl). 263 Vgl. Silkenbeumer 2007, S. 110f.; Sutterlüty 2002, S. 27; Bruhns/Wittmann 2002, S. 54ff. 264 Vgl. Steinke 2005. 265 Vgl. Silkenbeumer 2007; Sutterlüty 2002; Koher 2007.
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gegenstand voraussetzt. Insbesondere für unerforschte soziale Phänomene bieten sich qualitative Studien an, weil sie explorativ und theoriegenerierend vorgehen und somit grundlagentheoretische Befunde zum Forschungsstand generieren. Zudem legt die Literaturanalyse offen, dass es keinen handlungstheoretischen Ansatz gibt, der die Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher erforscht. Lediglich die Studie von Sutterlüty (2002) fokussiert diese Forschungsfragestellung, allerdings nimmt er Bezug auf weibliche und männliche Jugendliche gleichermaßen. Dies ist insofern problematisch, als dass Mädchen und Jungen im Kontext der hegemonialen Geschlechterordnung unter differenten Voraussetzungen gewaltförmig handeln.266 Daher bietet sich für die Generierung eines theoretischen Ansatzes zur weiblichen Jugendgewalt eine qualitative Vorgehensweise trotz der diskutierten Nachteile an. Im Rückblick auf den vorgestellten Forschungsstand zeigt sich, dass zentrale Begrifflichkeiten der aufgeführten Erklärungsansätze, wie etwa Adoleszenz, Geschlecht oder Geschlechtsidentität in ihrer Bedeutung lediglich vorausgesetzt wurden. Da die Grundbegriffe der Jugendforschung jedoch in ihrer Bedeutung und Reichweite keineswegs eindeutig definiert sind, sondern vielmehr unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Konzepte nebeneinander stehen, erfolgt eine Darstellung zentraler Aspekte weiblicher adoleszenter Entwicklung im folgenden Kapitel 4.
266 Vgl. umfassend Kapitel 4.2 Adoleszente Entwicklung und jugendliches Gewalthandeln.
4 Die adoleszente Entwicklung weiblicher Jugendlicher
Die Spezifik jugendlichen Gewalthandelns als ubiquitärem und passagerem Phänomen wurde anhand ausgewählter Befunde zur Prävalenz bereits in Kapitel 3 dargelegt. Gegenstand dieses Kapitels ist nun die Erörterung grundlegender Termini, wie etwa Jugend, Adoleszenz, Pubertät (Kapitel 4.1.1) oder Geschlecht (Kapitel 4.1.2), sowie die Entwicklung einer adoleszenztheoretisch begründeten Perspektive auf den Forschungsgegenstand (Kapitel 4.2). Hervorgehoben werden insbesondere Aspekte zur Körpersozialisation (Kapitel 4.2.1) und zur Entwicklung der Geschlechtsidentität (Kapitel 4.2.2), weil sie sich als besonders aufschlussreich für die Konzeptualisierung der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher am Material erwiesen. Das Kapitel endet mit der grundlegenden Reflexion des Identitätsbegriffs im Hinblick auf die Untersuchung weiblicher Jugendgewalt (Kapitel 4.2.3). 4.1 Grundlegende Begriffe und Konzepte adoleszenter Entwicklung 4.1.1 Die Begriffe Jugend, Adoleszenz und Pubertät267 Der Begriff Jugend dient der Kennzeichnung einer bestimmten Altersphase im Lebensverlauf. Jugend ist, „durch spezifische biologische, psychologische und soziale Erfahrung gekennzeichnet […] deren Beginn in klassischen Definitionen mit dem Einsetzen der Geschlechtsreife und deren Abschluss durch Aufnahme einer dauerhaften Berufstätigkeit und die Familiengründung festgelegt wird.“268 Diese Bestimmung ist jedoch abhängig von historischen sowie kulturellen und ökonomischen Veränderungen. Zeitgenössische Studien zur Jugendphase betonen, dass sich die Jugendphase ausdifferenziert und ausdehnt.269 Beispielsweise 267 Die Begriffe Jugend und Adoleszenz werden in der umfangreichen Forschungsliteratur divergierend und uneinheitlich gebraucht. Die dargestellte Charakterisierung erhebt nicht den Anspruch einer umfassenden Wiedergabe aller Definitionen. Stattdessen wird der jeweilige Bedeutungskern der Begriffe dargelegt. 268 Krüger 2007, S. 370; vgl. Fend 2003, S. 129ff. 269 Vgl. beispielsweise Hurrelmann 2007, S. 11ff.; King 2004, S. 81ff.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die adoleszente Entwicklung weiblicher Jugendlicher
setzte die Jugendphase in den Jahren zwischen 1900 und 1950 in Deutschland mit dem Eintreten der Geschlechtsreife bei Frauen mit 15 Jahren und bei Männern mit 16 Jahren ein und endete mit dem Eintritt in den Beruf resp. der Familiengründung im Alter von etwa 20 Jahren.270 In der zeitgenössischen, bundesrepublikanischen Gesellschaft hingegen beginnt das Jugendalter mit etwa dem 12. Lebensjahr und endet mit 27. Es lässt sich für den angegebenen Zeitraum von etwa 60 Jahren eine Ausdehnung der Jugendphase von etwa 5 auf 15 Jahre konstatieren. Mit dieser Expansion ist zugleich eine Ausdifferenzierung der jugendlichen Altersphase verbunden. Gestand man gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschen Kaiserreich zunächst den bürgerlichen männlichen Jugendlichen eine Phase des Moratoriums zu, damit diese sich für die im Zuge des zweiten Industrialisierungsschubs entstehenden erhöhten beruflichen Anforderungen qualifizieren konnten, so wurde spätestens in der Weimarer Zeit schrittweise die Jugendphase auf andere Zielgruppen, wie etwa die Angehörigen der Arbeiterschicht, der bäuerlichen Familien und des weiblichen Geschlechts, ausgedehnt. Insbesondere die Etablierung der allgemeinen Schulpflicht förderte die Konsolidierung und Ausdifferenzierung der Jugendphase.271 Doch der Begriff Jugendphase fokussiert nicht nur eine spezifische Altersspanne. Er bezeichnet ebenso eine soziale Gruppe im Generationszusammenhang oder impliziert ein gesellschaftliches Leitbild, in der historisch und kulturell geprägte Vorstellungen über Jugendliche zum Ausdruck gelangen.272 Aus soziologischer Perspektive ist die Jugendphase durch die Merkmale ausgedehnter Rechtsunmündigkeit und Statusunsicherheit charakterisiert.273 Dies ist bedeutsam im generationellen Zusammenhang, denn über die Vergabe des Status ausgedehnter Rechtsunmündigkeit werden zugleich gesellschaftliche Machtpositionen der rechtsmündigen Bürgerinnen und Bürger bestimmt.274 Mit dem Erwachsenwerden der adoleszenten Generation verliert die fürsorgende Generation (allmählich) ihre Wirkmächtigkeit.275 Die gesellschaftliche Rolle und ihre Funktion bilden das zentrale Moment des Jugendbegriffs.276 Der Terminus Adoleszenz umfasst die „typischen intrapsychischen Verarbeitungsmuster zwischen Kindheit und Erwachsensein.“277 Er entstammte zunächst vornehmlich psychologisch orientierten Diskursen, findet inzwischen jedoch auch in interdisziplinären Abhandlungen und Zusammenhängen Verwen270 Vgl. Hurrelmann 2007, S. 20f. 271 Vgl. ebd., S. 21f. 272 Vgl. Krüger 2007, S. 370. 273 Vgl. King 2004, S. 91. 274 Vgl. ebd., S. 92. 275 Vgl. ebd., S. 52. 276 Vgl. Barz 2007. 277 Ebd., S. 4.
Grundlegende Begriffe und Konzepte adoleszenter Entwicklung
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dung. Dabei beschreibt Adoleszenz nicht nur eine bestimmte Qualität des Übergangs von der Kindheit in das Erwachsenenalter. Sie bildet zugleich einen psychosozialen „Möglichkeitsraum“278 in dem Individuierungsprozesse initiiert, jedoch nicht determiniert werden. Der Identitätsbegriff ist eng mit dem Terminus Adoleszenz verknüpft. Identität als „Entdeckung des Ich, die Erschließung und Selbstkultivierung der Innenwelt sowie die allmähliche Herausbildung und Stabilisierung eines Persönlichkeitsideals“279 ist der wesentliche Bezugspunkt adoleszenter Entwicklung, die sich jedoch konfliktreich vollzieht. Adoleszenz wird im Spannungsfeld von Tradierung und Transformation der Kulturgüter im generationalen Zusammenhang verortet, so dass die Ablösung von „der je vorausgehenden Generation“280 in den Fokus gerückt wird. Vera King erkennt in der Ablösung von Vorstellungen, Normen und Werten der adoleszenten Generation von der Älteren einen grundlegend ambivalenten Vorgang: Einerseits werde den Heranwachsenden ein Moratorium gewährt, in dem sie Spielräume für Neuschöpfungen sozialer Praxen erhielten. Andererseits würden sie zum Durchlaufen dieser Entwicklung gezwungen.281 King pointiert, dass die heranwachsende Generation nicht bruchlos das bereits Bestehende von der fürsorgenden Generation übernähme, sondern es verändere.282 Der Terminus Pubertät fokussiert vor allem körperliche Reifungsprozesse, wie etwa das Einsetzen der Menarche bei Mädchen oder die sogenannte „Spermarche“283 bei Jungen. Die körperliche Reifung setzt im Vergleich zum vorherigen Jahrhundert heute deutlich früher ein.284 Neben diesen tendenziellen biologischen Veränderungen variieren ebenso gesellschaftliche Praktiken im Umgang mit geschlechtlich heranreifenden Jugendlichen sowie ihrem Status, der ihnen aufgrund ihrer körperlichen Reifungsmerkmale von der Gesellschaft zugewiesen wird. Der Vergleich unterschiedlicher gesellschaftlicher Praxen im Umgang mit der Menarche heranwachsender Mädchen illustriert den divergierenden Umgang mit dem Körper einerseits sowie die gesellschaftliche Eingliederung in die bestehende Geschlechterordnung andererseits. Während das Einsetzen der Menarche in den westlichen Industrieländern aus dem öffentlichen Bereich verbannt ist, so dass Einweisungen zur Hygiene usf. zumeist über die Mutter-TochterBeziehung im privaten Bereich erfolgen, wird die erste Menstruation von Mädchen in einigen traditionellen Kulturen öffentlich gefeiert und ist mit entsprechenden Unterweisungen verbunden. „Ihre Fähigkeit, Leben zu empfangen und 278 King 2004, S. 28f., kursiv i. O., C.E. 279 Ebd., S. 4. 280 Ebd., S. 53. 281 Vgl. ebd. 282 Vgl. ebd., S. 52. 283 Barz 2007, S. 4. 284 Vgl. ebd.; Fend 2003, S. 105ff.
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Die adoleszente Entwicklung weiblicher Jugendlicher
zu gebären wird gewürdigt und vermittelt dem Mädchen ein neues Selbstwertgefühl [...].“285 Insofern ist hier die Verarbeitung der körperlichen Reife nicht nur an die Familie gebunden, wie in westlichen Industrieländern, sondern sie markiert mithin den Übergang der Tochter in die Gruppe der erwachsenen Frauen. Die Bestimmung einer Altersphase als Jugendphase oder Adoleszenz ist abhängig vom gesellschaftlichen, historischen sowie kulturellen Kontext. Zudem hängt die Bestimmung des adoleszenten Alters stark von den zugrunde gelegten Kriterien ab.286 Während Klaus Hurrelmann aus soziologischer Perspektive eine Untergliederung in die frühe (12- bis 17-Jährige), mittlere (18- bis 21-Jährige) und späte Jugendphase (22- bis 27-Jährige) vorschlägt287, empfiehlt Peter Blos aus psychoanalytischer Sicht eine feinere Gliederung adoleszenter Entwicklungsphasen. Sie erstrecken sich über die frühe (13. bis 15. Lebensjahr), mittlere (15. bis 17. Lebensjahr), bis hin zur späten Adoleszenz (18. bis 20. Lebensjahr). Ab dem 21. bis zum 25. Lebensjahr schließt sich die Postadoleszenz an.288 In der vorliegenden Arbeit wurden weibliche Jugendliche im Alter von 13 bis 21 Jahren interviewt. In Anlehnung an die von Blos vorgestellte Feingliederung umfasst das Sample daher einen recht breiten Bereich adoleszenter Entwicklung, ausgehend von der frühen bis hin zur späten Adoleszenz. Die Wahl einer solch weiten Spanne diente der Erfassung von Mädchen in möglichst unterschiedlichen Problemlagen und Entwicklungsprozessen, um die Breite des zu erforschenden weiblichen Gewalthandelns erfassen zu können. Neben zentralen Begriffen wie Jugend und Adoleszenz ist ebenso die Kategorie Geschlecht zentral für ein umfassendes Verständnis der Jugendphase, da die Bildung der Geschlechtsidentität eine wichtige gesellschaftlich strukturierte Herausforderung für Jugendliche darstellt. 4.1.2 Grundannahmen zur Kategorie Geschlecht Der Begriff Geschlecht umfasst neben der Bezeichnung der Genitalien die biologische Bestimmung einer Gattung oder Rasse. Darüber hinaus findet er Verwendung für die Bezeichnung einer Altersgruppe oder eines Familienclans.289 In der Genderforschung290 wird der Terminus Geschlecht zumeist als soziale Kategorie 285 Nestvogel 2002, S. 303. 286 Vgl. Blos 1973 S. 13ff.; Hurrelmann 2007. 287 Vgl. Hurrelmann 2007, S. 41. 288 Vgl. Blos 1973, S. 13ff. 289 Vgl. Rosner 2008. 290 Der Begriff Gender stammt aus dem Englischen und bezieht sich ursprünglich auf das grammatische Geschlecht der Substantive. Er wird in der Geschlechterforschung sehr häufig verwendet, um zu verdeutlichen, dass die Geschlechtsidentität und -zugehörigkeit nicht angeboren, sondern
Grundlegende Begriffe und Konzepte adoleszenter Entwicklung
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bezeichnet. Diese Einordnung basiert auf der Annahme, dass die Unterscheidung in männlich und weiblich eine soziale Konstruktion darstellt, die eine grundlegende Differenz unter den Gesellschaftsmitgliedern erzeugt. Die Geschlechtszugehörigkeit strukturiert grundlegend soziale Interaktionen.291 Zugleich bildet die Kategorie Geschlecht in ihrem Geflecht von Bedeutungen und Einschätzungen eine historisch und kulturell veränderliche Größe. Die soziale Konstruktion von (Zwei-)Geschlechtlichkeit lässt sich durch Befunde aus kulturanthropologischen Studien plausibilisieren, die auf Kulturen etwa mit drei Geschlechtern oder mit einer variablen Geschlechtszugehörigkeit verweisen.292 Zudem ist die biologische Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht in vielen Fällen keine eindeutige „natürliche“ Angelegenheit.293 Das biologische Geschlecht kann anhand chromosomaler, hormoneller oder phänotypischer (körperliche Geschlechtsmerkmale) Gegebenheiten festgestellt werden, allerdings stimmen diese unterschiedlichen Ebenen nicht immer überein.294 Carol Hagemann-White verweist in ihren Ausführungen zur Geschlechtersozialisation auf grundlegende implizite Vorannahmen, die eine Herstellung und Aufrechterhaltung von Zweigeschlechtlichkeit in sozialen Interaktionen erst ermöglichen. Zu nennen ist einerseits die Prämisse, dass es lediglich zwei Geschlechter gebe, die zudem eindeutig zuordenbar seien. Darüber hinaus könne die Vorstellung einer (vermeintlich) natürlichen Geschlechtszugehörigkeit lediglich unter der Voraussetzung aufrechterhalten werden, dass es eindeutig männliche und weibliche körperliche Geschlechtsmerkmale gebe, die sich wiederum gegenseitig ausschließen.295 Die Autorin betont, dass aufgrund dieser impliziten durch sprachliche Zuschreibung erworben wird (vgl. Wende 2002, S. 141). Die Begriffe „Gender“ und Geschlecht werden im Folgenden synonym verwendet. 291 Vgl. Rendtorff/Moser 1999, S. 16f. 292 Vgl. Gildemeister/Wetterer 1992, S. 208; Fausto-Sterling 2002, Kessler 1990. 293 Vgl. Faulstich-Wieland 2004, S. 176. 294 Vgl. Fausto-Sterling 2002. Der Fall der spanischen Hürdenläuferin Maria Patino während der Olympischen Spiele 1988 illustriert die Differenz phänotypischer Ausprägung auf der einen und genotypischer Merkmale auf der anderen Seite. Die Athletin vergaß ihr ärztliches Zertifikat und unterzog sich einem Geschlechtstest des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Der Chromosomentest zur Erteilung des Weiblichkeits-Zertifikats fiel negativ aus. Weitere Untersuchungen ergaben, dass sie den Geschlechtstest nicht bestanden hatte: „Sie sah zwar aus wie eine Frau, war mit der Kraft einer Frau ausgestattet, und hatte nie Grund gehabt anzunehmen, dass sie keine Frau war, aber die Untersuchungen enthüllten, dass ein Y-Chromosom Patinos Zellen schmückte und dass sich innerhalb ihrer Schamlippen Hoden verbargen. Außerdem hatte sie weder Eierstöcke noch einen Uterus. Gemäß der Definition des IOC war Patino keine Frau. Sie wurde für den Wettkampf gesperrt und vom spanischen Team ausgeschlossen.“ (Ebd., S. 17) 295 Vgl. Hagemann-White 1984, S. 79ff. Die Vorstellung des Zwei-Geschlechter-Modell ist aus historischer Perspektive recht neu. Erst mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft werden Vorstellungen von einem grundlegenden Geschlecht mit unterschiedlichen Ausprägungen verdrängt (vgl. Lacqueur 1996). Dieses sogenannte Ein-Geschlechter-Modell lässt sich bis in die Antike zurück verfolgen (vgl. ebd.).
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Vorannahmen der Interagierenden die Zweigeschlechtlichkeit als fraglos und naturgegeben erscheine. Die impliziten Prämissen würden den sozialen Orientierungsrahmen bilden, in dem eine breite kulturelle Varianz der alltäglichen Praxis der Geschlechterunterscheidung verortet sei.296 Neben der Kategorie Geschlecht stellen Termini wie etwa Geschlechterrolle und -stereotype wichtige Begrifflichkeiten dar. Während die Geschlechterrolle diejenigen sozial geteilten Verhaltenserwartungen bezeichnet, die aufgrund der jeweiligen Geschlechtszugehörigkeit aktiviert werden297, umfasst der Begriff Geschlechterstereotyp Wissensbestände und schematische Vorstellungen über männliche und weibliche Personen. Frauen werden etwa Eigenschaften wie Wärme, Expressivität und Gemeinschaftsorientierung zugeschrieben, Männer hingegen gelten als kompetent und instrumentell denkend. Hier steht der Aspekt der (männlichen) Selbstbehauptung stärker im Vordergrund.298 Die mehr oder weniger implizit vermittelten Wissensbestände und Erfahrungen werden umfassend als Geschlechtertheorien bezeichnet. Sie beinhalten Alltagskonzepte über typische Vorstellungen und Einstellungen gegenüber dem eigenen und anderen Geschlecht ebenso, wie die „jeweiligen Rollen, Bewertungen von Individuen mit rollenabweichendem Verhalten sowie geschlechtsbezogene Wahrnehmungen und Einschätzungen der eigenen Person.“299 Implizite alltagstheoretische Geschlechtskonzepte enthalten nicht nur geschlechterstereotype Annahmen, sondern auch Werthierarchien, die das Verhältnis der Geschlechter strukturieren. In der Rekonstruktion adoleszenter Dynamiken des Gewalthandelns am Material konnten zwei Bereiche als besonders bedeutsam eruiert werden: die Berücksichtigung der leiblichen Dimension des Gewalthandelns und die Prozesse des doing gender im Rahmen der Geschlechtsidentitätsentwicklung. Beide Aspekte werden in den folgenden Abschnitten (4.2.1 und 4.2.2) vorgestellt. Das Kapitel endet mit einer grundsätzlichen Reflexion zur Erfassung adoleszenter Identität und zum jugendlichen Gewalthandeln (Kapitel 4.2.3). 4.2 Adoleszente Entwicklung und jugendliches Gewalthandeln Der hier gewählte Ansatz, die adoleszente Entwicklung (weiblicher) Jugendlicher zu erfassen, geht auf die Ausführungen von Cornelia Helfferich zurück. Ihr ethnografisch orientierter Ansatz stellt die kollektiven Probleme des Heranwach296 Vgl. Hagemann-White 1984, S. 79ff. 297 Vgl. Eckes 2004, S. 165f. Innerhalb des Fachdiskurses gibt es divergierende Geschlechterrollenansätze, die jedoch für die beschriebenen Zusammenhänge nicht bedeutsam sind. 298 Vgl. ebd., S. 166. 299 Ebd., S. 166.
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sens in den Fokus der Analyse.300 Ausgehend von der Lebensphase Jugend als gesellschaftlich strukturierter Statuspassage, in der Jugendliche mit spezifischen Anforderungen qua ihres Alters konfrontiert sind, betont Helfferich, dass Jugendliche in kollektiven Prozessen mit Gleichaltrigen neue Symbole und Sinnkonstruktionen erzeugten. Insbesondere in Jugendszenen und -gruppen fänden sie Eingang in den Gruppenstil. Sie böten die Grundlage für die Schaffung von jugendlichen Gemeinsamkeiten einerseits und die Abgrenzung zu anderen Gruppen – insbesondere den Erwachsenen – andererseits. Laut der Autorin diene das Aufgreifen gemeinsamer Symbole resp. die Umgestaltung von Elementen aus der Erwachsenenwelt dem Ausdruck der kollektiven Identität der Jugendgruppe.301 Allerdings werden diese jugendtypischen Sinnkonstruktionen und Deutungsmuster von Peers nicht explizit reflektiert. Dennoch sind in ihnen (kollektive) Handlungsmuster erkennbar. Helfferich verortet jugendtypische Sinnkonstruktionen im Kontext gesellschaftlicher Anforderungen und Zumutungen, gegebener sozialer Widersprüche und Problemlagen der Lebensphase Jugend. Die von Heranwachsenden erfahrenen gesellschaftlichen Widersprüche werden im Peergroup-Kontext und über diesen hinaus symbolisch bewältigt: „Im aktiven Handeln werden spezifische soziale Situationen und Normen verarbeitet, sei es die soziale Verteilung von Zukunftschancen, seien es die Werte, auf die schon immer rekurriert wurde, um ‚Benachteiligungen‘ zu kompensieren.“302
Die Autorin betont, dass die sogenannte Stilbildung subkultureller Jugendgruppen nicht lediglich eine Antwort auf soziale Widersprüche bilde, sondern eine imaginäre Lösung des Konflikts darstelle. Sie führt hierzu weiter aus: „Sie sind ‚Lösungen‘ in dem Sinne, daß die Widersprüche aufgegriffen, gespiegelt und so ‚bearbeitet‘ werden; es wird ein Verhältnis zu ihnen (kollektiv) entwickelt. Auf diese Weise wird die Handlungsfähigkeit bewahrt und es eröffnet sich die Möglichkeit, die eigene soziale Lage zu transzendieren.“303
Der Begriff der imaginären Lösung bezöge sich, so die Autorin, auf die symbolische Bearbeitung eines Konflikts der Jugendlichen in ihrer konkreten Lebenslage: Imaginäre Lösungen implizieren nicht die faktische Lösung sozialer Probleme, doch sie versetzten die Jugendlichen in die Lage, ihre Lebenssituation zu transzendieren und über die symbolische Bearbeitung zu bewältigen, damit sie handlungsfähig bleiben können. Die symbolische Bearbeitung kollektiver Prob300 Vgl. Helfferich 1994, S. 102ff. 301 Vgl. ebd., S. 103. 302 Ebd., S. 103. 303 Ebd., S. 103.
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leme stelle eine imaginäre Lösung dar, weil sie eine „‚vorgestellte‘ und keine reale Lösung“304 sozialer Lebensbedingungen sei. Helfferich betont, dass imaginäre Lösungen soziales Handeln als sinnhafte Verarbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse erfassen würden.305 Der Ansatz imaginärer Lösungen kollektiver Probleme des Heranwachsens diente bei der Auswertung des erhobenen Interviewmaterials als theoretische Folie bzw. sensibilisierendes Konzept306 für die Eruierung adoleszenztypischer Themen und Dynamiken. Die konkreten inhaltlichen Dynamiken gewaltaktiver Mädchen sind etwa in Kapitel 8.3.2 Adoleszenztypische Aspekte des Ausstiegs aus der Gewaltkarriere illustriert. Für eine abschließende Klärung der zugrunde gelegten Begrifflichkeiten wird an dieser Stelle daher ein weiterer wesentlicher Aspekt des Forschungsgegenstands aufgegriffen: der Umgang mit dem eigenen Körper. 4.2.1 Körpersozialisation Die mit der Pubertät einsetzenden körperlichen und psychischen Veränderungen sowie die damit einhergehenden veränderten sozialen Rollen Heranwachsender werden im Folgenden unter dem Aspekt des Umgangs mit dem eigenen Körper zusammengefasst. King konstatiert in diesem Zusammenhang: „In der Adoleszenz sind die Einzelnen in verstärktem Maße konfrontiert mit den geschlechtstypischen Veränderungen des Körpers und den damit auferlegten Möglichkeiten und Begrenzungen. Zugleich werden Individuen in dieser Lebensphase gesellschaftlich in die unterschiedlichen Praxen der Geschlechterordnung konsequent und folgenreich eingeordnet.“307
304 Ebd., S. 104. 305 Dabei entspricht die Lösung kollektiver Probleme nicht der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben (vgl. etwa Havighurst 1964; Hurrelmann 2007). Helfferich kritisiert das Konzept der Entwicklungsaufgaben, weil diese letztlich normative Vorgaben und Maßstäbe implizieren, welche Forscherinnen und Forscher mehr oder weniger reflektiert zur Bewertung der „Lösung“ postulierter Entwicklungsaufgaben heranziehen. Damit läuft die Nutzung des Konzepts der Entwicklungsaufgaben Gefahr, Abweichungen von gesetzten Rollenanforderungen als persönliches Defizit oder gar psychosoziale Störung zu etikettieren (vgl. Helfferich 1994, S. 187ff.). 306 Sensibilisierende Konzepte sind Heuristiken, die wie ein Blick durch bestimmte „Linsen“ theoretisch relevante Vorkommnisse oder Begebenheiten hervorheben, während andere Ereignisse in den Hintergrund treten. Mit fortschreitender Theorieentwicklung „füllen“ sich die Konzeptionen mit empirischen Beobachtungen und Informationen aus den erhobenen Daten (vgl. Kapitel 7.3.3 Die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten). 307 King 2004, S. 168.
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Körperliche Veränderungen initiieren in der Adoleszenz Entfremdungsprozesse, die zu Problemen führen können, weil die „gewohnte Selbstverständlichkeit des leiblich-körperlichen Seins in fundamentale Erschütterung und Unruhe versetzt wird“308. Die (Wieder-) Aneignung des heranwachsenden genitalen Körpers und die Verankerung dieses Körperempfindens in das eigene Selbstbild, sind zentrale Prozesse der adoleszenten Entwicklung.309 Die phasenweise auftretenden Entfremdungsgefühle werden von der kulturellen Umgebung mit entsprechenden Bedeutungszuschreibungen belegt: „[D]as ist dein Körper, der dies und jenes bedeutet und damit bist du Frau oder Mann geworden.“310 Zugleich sind die leiblichen Bedeutungseinschreibungen geschlechtlich konnotiert. King betont in diesem Zusammenhang, dass auf diese Weise Geschlechterbedeutungen und implizite Geschlechterordnungen in die Körper eingeschrieben werden.311 Die sozialen Praxen, welche den Umgang mit dem Körper strukturieren, werden von Luc Boltranski im Konzept der somatischen Körperkultur beschrieben. Diese umfasst den kulturell geprägten Umgang und die davon nicht loszulösende Wahrnehmung des Körpers. Somatische Körperkulturen stellen, so der Autor, eine Art Kodex der guten Sitte im Umgang mit dem eigenen Körper dar, der allen Mitgliedern einer bestimmten sozialen Gruppe gemein ist.312 Dazu gehören nicht nur gesundheitliche Aspekte, wie etwa präventive Arztbesuche, sondern ebenso körperbezogene Einstellungen, Mimik, Gestik, Bewegung sowie beispielsweise der Körpereinsatz bei der Erwerbsarbeit zur Körperkultur. Der Zusammenhang zwischen somatischer Körperkultur und Geschlechtlichkeit wird von Petra Kolip wie folgt charakterisiert: „Nicht das biologische Geschlecht bestimmt den Umgang mit dem Körper, sondern in den somatischen Kulturen wird Weiblichkeit und Männlichkeit erworben und ausgedrückt.“313 Die Autorin postuliert, dass die situationsangemessene Darstellung als junge Frau oder junger Mann für Jugendliche eine Leistung sei, die zugleich eine kulturelle Praxis des Umgangs mit dem eigenen Körper sowie den körperlichen Veränderungen umfassen. Jugendliche müssten nicht nur körperliche Veränderungen in ihr Selbstbild integrieren. Ihr Körper sei zugleich „das zentrale Medium für die Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit, die im Jugendalter eine bedeutende Rolle einnimmt.“314 Dabei bestimmten die somatischen Kulturen in denen sich Jugendliche bewegen zugleich ihren Umgang mit dem Körper. Sowohl Helfferich als auch Kolip betonen, dass adoleszente Veränderungen der 308 Ebd., S. 170. 309 Vgl. ebd. 310 Ebd., S. 172. 311 Vgl. ebd., S. 172. 312 Vgl. Boltanski 1976, S. 154. 313 Kolip 1999, S. 292. 314 Ebd., S. 292.
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somatischen Kultur nicht geschlechtsneutral erfasst werden könnten.315 Mediale Inszenierungen von Schönheitsidealen sowie Reaktionen von Eltern und Gleichaltrigen übten wesentlich Einfluss auf die Verinnerlichung von Schönheitsnormen und die Ausbildung eines negativ oder positiv konnotierten Körperbildes.316 Kolip erkennt in diesem Zusammenhang geschlechtstypische Unterschiede in der Relevanz von Schönheitsidealen: „Mädchen lernen spätestens mit der Pubertät, daß die Anerkennung durch andere an gutes Aussehen gekoppelt ist. Während Jungen Anerkennung auch über spezifische Fähigkeiten und Leistung erwerben können, gilt dies für Mädchen nur in eingeschränkten Maße.“317
Sie erklärt, dass der Aspekt der Sexualität eine besondere Rolle spiele, da in der somatischen Kultur der pubertierende Mädchenkörper wesentlich stärker unter dem Aspekt der Sexualität wahrgenommen werde als der männliche. Diese Form der Sexualisierung sei „Bestandteil des weiblichen Lebensgefühls im Jugendalter“ und beeinflusse „stark die Aneignung des Körpers“318. Damit verbunden sei zugleich die Kehrseite der Sexualisierung. Die Angst vor körperlicher und/oder sexueller Gewalt sei Bestandteil weiblicher Identität.319 Zudem seien Mädchen in weitaus höherem Maße von sexuellem Missbrauch betroffen als Jungen.320 In Bezug auf die Gruppe gewaltaktiver Mädchen hebt Artz in ihrer Untersuchung hervor, dass die Gruppe gewaltaktiver Schülerinnen im Vergleich zu gewaltaktiven männlichen Altersgenossen ein wesentlich höheres Niveau an Viktimisierung und Missbrauch aufweisen würden, d.h. ihr Umgang mit dem eigenen Körper auch die Bewältigung eigener Opfererfahrungen impliziere.321 Dieser Zusammenhang legt nahe, die spezifischen Bedingungen weiblicher Körpersozialisation im Hinblick auf die Gruppe gewaltaktiver Mädchen zu untersuchen.322 Kritisch anzumerken ist, dass beim Konzept somatischer Körperkulturen nicht geklärt ist, wie ihre Aneignung erfolgt. Ebenso wenig wird der Terminus des Körpers bestimmt. Damit setzten die Autorinnen Helfferich und King voraus, das eindeutig geklärt ist, was unter den Begriffen „Körper“ und „Leiblichkeit“ zu verstehen sei. Angesichts differenter theoretischer Auffassungen zur 315 Vgl. Helfferich 1994; Kolip 1999. 316 Vgl. Nestvogel 2002, S. 314f. 317 Kolip 1999, S. 297. 318 Ebd., S. 297. 319 Vgl. Nestvogel 2002, S. 317. 320 Vgl. Kolip 1999, S. 297f. 321 Vgl. Artz 2004, S. 155. 322 Die physische Dimension des Gewalthandelns wurde mithilfe des theoretischen Konzepts der Mimesis erfasst (s.u.). Das Ergebnis der Auswertung zu mimetischen Prozessen ist vor allem in den Kapiteln 8.2.2.1 Kampfbereitschaft und 8.2.2.2 Der gewaltaffine Ehrenkodex dargelegt.
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Bestimmung des Körpers resp. dem Phänomen der Leiblichkeit, ist jedoch eine solche Vorgehensweise infrage zu stellen.323 Die bisherigen Ausführungen weisen darauf hin, dass konkrete Prozesse der Körpersozialisation einen wichtigen Aspekt für die Erforschung der Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher darstellen. Um die physische Dimension der Gewalt am Material zu rekonstruieren wurde das sensibilisierende Konzept der Mimesis gewählt.324 Sie bezeichnet einen theoretischen Ansatz von Gunter Gebauer und Christoph Wulf, in dem Lernprozesse und soziales Handeln auf leiblicher Ebene bestimmt werden.325 Da der Begriff der Leiblichkeit zentral für das Verständnis des Mimesis-Konzepts ist, wird zunächst die Bedeutung der Leiblichkeit erläutert. Lediglich in der deutschen Sprache wird explizit zwischen Körper und Leib unterschieden. Dabei umfasst der Begriff des menschlichen Körpers „das Organische und Biologische – das, was medizinisch behandelt, operiert und ‚repariert‘ werden kann.“326 Dem gegenüber impliziert der Begriff des Leibes etwas Lebendiges, das „auf die Welt gerichtet ist“327 und „Empfindungen wie Schmerz und Freude hat“328. Leiblichkeit beinhaltet jedoch nicht lediglich die Empfindsamkeit, sondern ebenso die Verletzbarkeit und Leidensfähigkeit.329 Insofern umfasst der Begriff des Leibes resp. der Leiblichkeit eine größere Bedeutungsvielfalt. Er beschreibt nicht nur die physische Dimension des Menschen, sondern ebenso seelische Aspekte.330 Leiblichkeit zeichnet sich für Merleau-Ponty durch die Verschränktheit von Körper und Geist, Mensch und Welt aus. Für ihn ist das Bewusstsein immer schon an den Leib gebunden und existiert nicht außerhalb des Leibes. Die Cartesianische Trennung von Körper und Geist wird aufgehoben, der Leib als Schnittstelle beider Bereiche konzeptualisiert: „Der Leib ist weder ideell noch natürlich, sondern ist die Schnittstelle beider Welten. […] Diese Mittlerfunktion im Modus des Weder – Noch ermöglicht, daß der 323 Vgl. beispielsweise Plessner 1980; Merleau-Ponty 1966; Haraway 1995. 324 Der Begriff des sensibilisierenden Konzepts wird ausführlich in Kapitel 7.3.3 Die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten, diskutiert. 325 Vgl. Gebauer/Wulf 1998. 326 Platzer 2001, S. 2. 327 Ebd., S. 3. 328 Ebd., S. 3. 329 Vgl. ebd. Die theoretische Darstellung des Phänomens Leiblichkeit erfolgt hier mit Bezug auf die Ausführungen von Maurice Merleau-Ponty. Dieser Ansatz wurde zum einen gewählt, weil er insbesondere die Verschränkung von Leib und Welt thematisiert und seine Ausführungen sich daher besonders gut für die Reflexion leiblichen Handelns eignen. Zum anderen schließt das Konzept der Mimesis, wie es von Gebauer und Wulf entworfen wurde, an die Theorie der Leiblichkeit von Merleau-Ponty an. 330 Vgl. ebd., S. 7.
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Leib sowohl Bewußtem als auch Unbewußtem Ausdruck verleihen kann, ohne deshalb dem einen oder dem anderen anzugehören.“331
Körper und Geist bilden für den Philosophen keine getrennt zu denkenden Aspekte des Menschen, stattdessen wird erst in ihrer chiastischen Verschränkung menschliches Handeln möglich. Leiblichkeit lässt sich als ein „Dazwischen“ kennzeichnen, als ein Zustand der weder (nur) Geist noch (nur) Körper umfasst. Ein weiterer Aspekt der Philosophie der Leiblichkeit umfasst die Stellung des Individuums zur Welt. Der Leib eröffnet den Zugang zur Welt: „So steht der Körper aufrecht vor der Welt und die Welt aufrecht vor ihm, und zwischen ihnen besteht ein Verhältnis des Sich-Umschlingens. Und zwischen diesen beiden vertikalen Wesen gibt es keine Grenze, sondern eine Fläche des Kontakts.“332
Die chiastische Verschränkung bezieht sich nicht lediglich auf die Bereiche Körper und Geist, sondern ebenso auf die Verflechtung des Leibes mit der Welt. Für den Philosophen sind Objekt und Subjekt miteinander verschränkt. Der Leib eröffnet nicht nur den Zugang zur Welt, der Leib wird von der Welt umschlossen und er umschließt die Welt. Merleau-Ponty betont, dass der Zugang zur Welt nur über die leibliche Ebene erfolge. Dabei erhielte die Wahrnehmung eine Vermittlungsposition zwischen Welt und Individuum. Über die Wahrnehmung eignet sich das leibliche Ich die Welt an. Sie ist die Verbindung, der Kontakt zwischen leiblichem Ich und Welt. Zugleich sei die Wahrnehmung an die Perspektive des Subjekts gebunden. Zwar könne das leibliche Ich unterschiedliche Perspektiven zur Welt resp. Wahrnehmung von Objekten einnehmen, doch bliebe die Einnahme der bestimmten Perspektive notwendig beschränkt.333 Dabei sei die Welt keine abhängige Größe, die lediglich vom Subjekt rezipiert würde, sondern besitze Eigenständigkeit: „Das, was das Subjekt ansieht, blickt zurück.“334 Mit diesen Einsichten relativiert der Philosoph die Trennung zwischen Körper und Geist sowie die Trennung zwischen leiblichem Ich und Welt. Zwar kann der Einzelne von seiner konkreten Existenz abstrahieren, doch kann er nicht von seinem Leib absehen, ihn vollkommen beherrschen. „Die soziale Welt bezieht sich nicht auf mich als Ich-Zentrum, sondern sie durchdringt den ganzen Körper, so dass in dieser wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Welt das Ich als eine mit dem Körperlichen unmittelbar verbundene In-
331 Platzer 2001, S. 7. 332 Merleau-Ponty 1986, S. 324. 333 Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 117ff. 334 Wulf 2001, S. 264.
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stanz gebildet wird, als eine sozial und kulturell erzeugte Konstruktion, die nur analytisch vom Körper getrennt werden kann.“335
Das leibliche Ich wird geprägt durch die soziale Welt, ebenso wie es die Welt selbst prägt. Dieses Wechselverhältnis verweist auf die Prozesse von Inkorporation und Verkörperung. Das Subjekt nimmt Aspekte der Welt in sich auf, verarbeitet und verkörpert diese im Prozess des sozialen Handelns.336 Wulf baut auf dieses Verständnis von Leiblichkeit auf, wenn er menschliches Handeln über das Mimesis-Konzept erfasst. Er charakterisiert den Menschen als ein Wesen, das aufgrund seiner Offenheit und mangelnder Instinkte darauf angewiesen ist, sich die Welt mithilfe von Bewegungen, Handlungen und Aktivitäten anzueignen und zu gestalten.337 Diese Form der selbstständigen Welterschließung beschreibt der Autor als mimetische Handlung: „In einer ersten Annäherung wollen wir soziale Handlungen als mimetisch bezeichnen, wenn sie als Bewegungen Bezug auf andere Bewegungen nehmen, wenn sie sich als körperliche Aufführungen oder Inszenierungen begreifen lassen und wenn sie eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden werden können und die auf andere Handlungen oder Welten Bezug nehmen. Davon zu unterscheiden sind nicht - körperliche Handlungen wie mentale Berechnungen, Entscheidungen, reflexhaftes Verhalten oder auch einmalige Handlungen und Regelbrüche.“338
Mimetische Handlungen sind gebunden an die Leiblichkeit der Subjekte. Handlungen sind an leibliche Aktivitäten wie etwa Bewegungen, Darstellungen, Gesten, Mimik usf. gebunden und ohne sie nur unzureichend erfasst. Wulf erkennt zugleich eine Verschränkung menschlicher Aktivitäten mit anderen Menschen, Handlungen oder Welten. Mimetische Prozesse sind daher geleitet durch das praktische Wissen der Akteure, was in welcher Situation wann und wie zu tun sei. Insofern sind sie gerade in der chiastischen Verschränkung leiblicher und mentaler Aktivitäten des Menschen verortet. In dieser Verknüpfung erhalten sie den Charakter von körperlichen Aufführungen oder Inszenierungen. Insgesamt umfasst der Begriff Mimesis mehrere Bedeutungsebenen. Er bezeichnet die nachahmende Darstellung im Bereich der Kunst (wie etwa bei Platon) oder im Bereich der antiken Rhetorik, etwa, wenn die Rede eines anderen spottend wiederholt wurde oder ein Charakter dadurch, dass man ihm typische Worte in den Mund legte, besonders treffend dargestellt wurde. Gemeinsam ist diesen Bedeutungen eine nachahmende Tätigkeit mit der zugleich etwas Neues hervorgebracht 335 Ebd., S. 265. 336 Vgl. Ebd., S. 265. 337 Vgl. ebd., S. 265. 338 Ebd., S. 254.
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wird.339 Gebauer und Wulf konstatieren, dass mimetische Prozesse sich in Handlungen realisieren, „in denen unter Bezug auf andere Menschen, Situationen oder Welten etwas noch einmal gemacht wird, und in denen dadurch etwas entsteht, das sich vom Bezugspunkt der Handlung unterscheidet.“340 Der leibliche Nachvollzug von Aktivitäten in Bezug zur Welt beinhalte zugleich die Verkörperung eines bestimmten Sinngehaltes. Wulf betont, dass beispielsweise Kinder über die Nachahmung von Tätigkeiten konkreter oder imaginierter Bezugspersonen Verhaltensformen erwerben würden, indem ihnen zugleich ein handlungspraktisches Wissen darüber vermittelt werde, in welcher Situation diese Aktivitäten angemessen seien. Der Autor erklärt, dass mimetische Lernprozesse eine individuelle Seite aufweisen würden, weil jedes Kind auf eine andere Art und Weise die Verhaltensweisen nachahme und lerne. Zugleich enthielten mimetische Lernprozesse eine soziale Seite, weil die erlernten Verhaltensweisen in einen kulturellen Kontext eingebettet seien, den die Kinder sich während des leiblichen Vollzugs mit aneigneten. „Da in der Verkörperung dieser Bewegung die individuelle und die soziale Seite unauflösbar verschränkt sind, entsteht eine Handlung, in deren Folge sich das Kind eine soziale Technik erschließt und zugleich durch diese Technik sozial erschlossen wird.“341
Insofern kommt in mimetischen Lernprozessen der bei Merleau-Ponty beschriebene Weltbezug des Subjekts zum Tragen: Über die leiblichen Aktivitäten eignet sich das Subjekt die Welt an, es verleibt sich diese ein. Zugleich wird es durch diese Aktivitäten von der Welt geprägt, es verkörpert sie. In der mimetischen Bezugnahme wird die vorgängige Welt interpretiert. Die entstehenden Handlungsmuster müssen jedoch von den Akteuren nicht notwendig reflektiert werden. Sie bewegen sich in ihrer chiastischen Verschränkung von Geist und Körper auf einer Ebene handlungspraktischen Wissens, das sich in Situationen vollzieht und Ausdruck eines bestimmten Sinngehalts ist. Kennzeichen für mimetisches Lernen ist der Einsatz praktischen Wissens, ohne dass es bewusst resp. reflektiert eingesetzt wird. Das praktische Handlungswissen der Akteure beinhaltet Handlungsmuster, in der die Wahrnehmung der Situation Interpretations- und Reaktionswissen bereitstellen, welche „die nächste Handlungsschritte antizipieren lassen.“342 In mimetischen Prozessen laufen motorische Schemata, die bereits vom Akteur erworben wurden, wiederholt ab, wobei in der 339 Damit grenzt sich der Begriff Mimesis von dem Terminus Mimikry ab, einer der Täuschung und dem Selbstschutz dienenden Anpassungsgabe (vgl. Rosner 2008). 340 Wulf 2001, S. 257. 341 Ebd., S. 267. 342 Gebauer/Wulf 1998, S. 431.
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Wiederholung eine neue Qualität der Handlung liegt. Diese Neuschöpfung erfolgt nicht zufällig, es handelt sich vielmehr um wiedererkennbare habitualisierte Schemata.“343 Gebauer und Wulf pointieren in diesem Zusammenhang: „Mimesis ist ein freies Funktionierenlassen von Handlungsschemata und, auf höheren semiotischen Ebenen, von Techniken des Benennens, Bedeutens, Darstellens.“344 In Bezug auf die Funktion des Darstellens und Inszenierens sozialer Handlungen im Kontext mimetischer Prozesse verweisen die Autoren auf die Metapher des Theaters. Über mimetische Prozesse könnten die Akteure eine mimetische Welt erschaffen, die eine Art höhere Wirklichkeit formiere - wie auf einer Bühne, „die die Welt so präsentiert, wie sie sein soll“345. Auf diese Weise erhielte das Handeln Inszenierungscharakter. Die Ausführungen zu mimetischen Prozessen sowie die skizzierten Einsichten Merleau-Pontys in die Phänomenologie der Leiblichkeit legen dar, wie sich Prozesse der Körpersozialisation etwa im Rahmen des theoretischen Modells somatischer Körperkulturen vollziehen können. Prozesse körperlicher Reife im Rahmen der Pubertät sowie neue gesellschaftliche Statuszuweisungen, die mit dem Jugendalter verbunden sind, greifen ineinander. Über den Nachvollzug gesellschaftlich neuer Praktiken entwickeln die Jugendlichen veränderte Handlungsmuster, die der Repräsentation eines neuen jugendlichen Selbstbildes entsprechen. Diese Inszenierung eines veränderten adoleszenten Ich können jedoch nicht lediglich auf der Ebene bewusster Repräsentationen angesiedelt werden. Vielmehr bilden sich über Prozesse des mimetischen Lernens neue Interpretationen sozialer Situationen und innovative Verhaltensmuster aus, in denen die Jugendlichen sich auf eine neue jugendliche Weise inszenieren, ohne dies explizit zu reflektieren. Dabei können weibliche wie männliche Jugendliche über Prozesse der Mimesis eine eigene mimetische Welt erschaffen, in denen Bezugspunkte zur Erwachsenenwelt verändert und symbolisch bearbeitet werden. Damit hält das Konzept der Mimesis Erklärungen bereit, wie Subjekte sich somatische Körperkulturen aneignen. Diese Form der Aneignung ist insbesondere zur Erfassung der leiblichen Dimension von Jugendgewalt relevant, wenn dieses nicht aus der Perspektive eines Komplexes an Ursachen und Faktoren erforscht werden soll, sondern situative Bedingungen der Gewalt in den Fokus der Analyse rücken.346 Der Einbezug von Leiblichkeit in der Rekonstruktion adoleszenter Thematiken und Problemstellungen der Interviewten führt zugleich zu einem zentralen Aspekt jugendlicher Entwicklung: der Ausbildung einer sexuellen Identität. 343 Ebd., S. 432. 344 Ebd., S. 432. 345 Ebd., S. 434. 346 Zur Gewaltanalyse vgl. Kapitel 7.2.1 Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im situativen Kontext. Zu mimetischen Prozessen vgl. Kapitel 8.2.2.1 Kampfbereitschaft.
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4.2.2 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität Bereits in der Kindheit entwickeln Mädchen und Jungen eine Vorstellung über Geschlechtszugehörigkeit und geschlechtstypische Verhaltensweisen. Während Kleinkinder im Alter von etwa zwölf Monaten andere Personen eindeutig als männlich oder weiblich wahrnehmen, bilden sie vom ersten bis etwa dritten Lebensjahr geschlechtstypische Vorlieben für Spielzeug und Aktivitäten sowie Spielpartner aus.347 Stereotypisierungen werden von Kindern rigide bis etwa zum Grundschulalter angewendet. Zum Ende der Schulzeit können diese strikten Anwendungen geschlechtertypisierten Wissens auf konkrete Personen flexibler gehandhabt werden. Mit dem Beginn der Adoleszenz verändert sich die Qualität der Geschlechterstereotypisierungen: Die negativ konnotierten Charakterisierungen werden positiver, wobei „die positiven Merkmale […] auf die jeweilige traditionelle Geschlechterrolle beschränkt“348 bleibt. Zugleich finden gegengeschlechtliche Kontakte sowie das Schließen von Freundschaften im Jugendalter nicht nur häufiger statt, die Erlebnisqualität der Kontakte zum anderen Geschlecht verändert sich im Vergleich zur Kindheit zusehends.349 Die Ausbildung einer konsistenten sexuellen Identität unterscheidet die Jugendphase deutlich von der Kindheit: „Erst, wenn die Sexualität – wie man so bildlich sagt: – ‚erwacht‘, entsteht der Druck, die Geschlechtsidentität eindeutig und frei von spielerischen Ambivalenzen zu gestalten.“350 Die damit verbundenen Umwälzungen betreffen u.a. die Beziehung zu Gleichaltrigen, die nun eine sexuelle Konnotation erhalten, beispielsweise durch Flirts, Verliebtsein oder die erste Intimbeziehung.351 Die Aufnahme von sexuellen Kontakten geht einher mit einem veränderten Körpererleben, welches zugleich das Selbstbild und das mit ihm verbundene Verständnis von Weiblichkeit resp. Männlichkeit wesentlich beeinflusst. Jugendliche werden mit der gesellschaftlichen Anforderung bzw. Erwartungshaltung konfrontiert, ihren eigenen Körper als weiblich oder männlich akzeptieren und sich als geschlechtsreife und zeugungsfähige Personen zu begreifen.352 Die Ausbildung sexueller Identität im Jugendalter ist gebunden an kontextuelle Bedingungen in Familie, Schule und Peergroup sowie mediale Inszenierungen. Insbesondere die Gleichaltrigengruppe bietet Mädchen und jungen Frauen Handlungsspielräume für die Inszenierung der eigenen Weiblichkeit. Die Jugendgruppe kann zudem ein Ort der Inszenierung alternativer Geschlechts347 Vgl. Helfferich 1994, S. 106f.; Eckes 2004, S. 168. 348 Eckes 2004, S. 168. 349 Vgl. ebd., S. 168. 350 Helfferich 1994, S. 47. 351 Vgl. ebd., S. 47. 352 Vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S. 161.
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identitäten sein, in der sich Jugendliche zugleich vor dem Hintergrund der (dominanten) Kultur der Zweigeschlechtlichkeit positionieren.353 Der Aspekt der Inszenierung und Darstellung des Selbst ist außerdem, verbunden über die Leiblichkeit, verknüpft mit der Inszenierung als Mädchen resp. junge Frau. Candance West und Don Zimmerman erklären in ihrem Ansatz des doing gender auf welche Art und Weise Geschlechtlichkeit im Alltag sozial hergestellt wird.354 Sie unterscheiden drei voneinander unabhängige Voraussetzungen des doing gender: das körperliche Geschlecht (sex), die soziale Zuordnung zu einem Geschlecht (sex category) und das soziale Geschlecht (gender).355 Sex umfasst die Bestimmung einer Kombination von biologischen Kriterien, die aufgrund des gesellschaftlichen Konsens eine Klassifikation von Individuen als männlich und weiblich erlauben. Die soziale Zuordnung des männlichen und weiblichen Geschlechts entspricht dem Begriff der sex category. Sie erfolgt in der modernen westlichen Gesellschaft zumeist vor der Geburt (chromosomale Bestimmung) oder kurz nach der Geburt (Bestimmung anhand der sichtbaren primären Geschlechtsmerkmale). Die Darstellung als weibliche oder männliche Person im Alltag charakterisieren die Autoren mit dem Begriff gender. Er beschreibt die Fähigkeit, das alltägliche Handeln auf die zuvor von der Gesellschaft vorgenommene sex category abzustimmen. Die Kategorie gender trägt dem Umstand Rechnung, dass das genitale Geschlecht in der sozialen Interaktion nicht ständig sichtbar ist, aber den beteiligten Personen trotzdem eine Zuordnung zum reibungslosen Ablauf der Interaktion gelingen soll. Die Darstellung des Geschlechts ist im Alltag in der Regel nicht Gegenstand der Reflexion, sondern erweckt den Anschein des „natürlich“ Gegebenen.356 Das doing gender ist im Hinblick auf die Erforschung weiblichen Gewalthandelns von besonderer Bedeutung. Wie bereits in Kapitel 2.1.1 Das kulturelle Gewalttabu dargelegt wurde, ist Gewalt gegen andere Personen in den westlichen Industriegesellschaften ein gesellschaftlich etabliertes Tabu, das typisierte Vorstellungen von Geschlecht beinhaltet. Michael Meuser betont in diesem Zusammenhang: „Anders als männliches verstößt weibliches Gewalthandeln sowohl gegen die Rechts- als auch gegen die Geschlechterordnung.“357 Während Gewalthandeln Stereotypen von Weiblichkeit, wie etwa Wärme und Gemeinschaftsorientierung, diametral entgegen gestellt sei, könnten männliche Jugendliche und Erwachsene über Gewalt eine Form von Männlichkeit verkörpern.358 Gewalttäterinnen begehen im Kontext westlicher moderner Industrienationen 353 Vgl. Mönks/Knoers 1996, S. 197; Breidenstein/Kelle 1998. 354 Vgl. West/Zimmermann 1991. 355 Vgl. ebd., S. 18ff. 356 Vgl. ebd., S. 22ff. 357 Meuser 2003, S. 49. 358 Vgl. Findeisen/Kersten 1999, S. 89ff.
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einen doppelten Tabubruch: Sie verstoßen gegen die etablierte strafrechtliche Norm und gegen geläufige Stereotype von Weiblichkeit. Insofern müssen Frauen und junge Mädchen als Täterinnen nicht nur mit strafrechtlichen Sanktionen rechnen, sie sind ebenso mit Abwertungen ihrer Weiblichkeit konfrontiert. Sutterlüty bezeichnet diesen Umstand als „kulturelle Bremse“359 und erkennt in diesem doppelten Tabubruch einen Grund, weshalb Gewalt aus statistischer Perspektive ein zumeist männliches Phänomen darstellt. In der Untersuchung weiblichen Gewalthandelns stellt sich daher die Frage, welcher Zusammenhang zwischen dem Gewalthandeln und der weiblichen Selbstpräsentation zu erkennen ist. Berichten die Interviewten von Abwertungen ihrer Weiblichkeit und nehmen diese in Kauf oder gelingt es ihnen, Deutungsmuster zu etablieren, in dessen Rahmen sie sich als durchsetzungsfähige junge Frauen inszenieren können? Die Antwort auf diese Fragen ist in einerseits Kapitel 8.2.2.2 Der gewaltaffine Ehrenkodex zu finden. Hier zeigt sich, dass die Etablierung gewaltaffiner Normen und Werte in Jugendgruppen oder im familiären Kontext eine wesentliche Basis für die Selbstpräsentation als durchsetzungsfähige junge Frau bildet. Adoleszenztypische Aspekte der Weiblichkeitskonstruktionen gewaltaktiver und nicht gewaltaktiver Mädchen sind in Kapitel 8.2.3.2 Weiblichkeitskonstruktionen im Kontext des Selbstbildes der Siegerin aufgeführt. Obwohl gewaltaktive Mädchen für sich eine Sonderstellung gegenüber anderen Jungen und Mädchen einnehmen, lassen sich die Weiblichkeitskonstruktionen nicht ausschließlich auf die Dynamik der Gewaltkarriere und dem damit verbundenen Selbstbild der Siegerin reduzieren. Vielmehr weisen sowohl gewaltaktive als auch nicht gewaltbereite Mädchen adoleszenztypische Unterschiede in der Selbstpräsentation als Mädchen oder junge Frau auf. Neben Aspekten des doing gender ist die Verortung von Heranwachsenden im gesellschaftlich etablierten System der Zweigeschlechtlichkeit ein weiteres Thema jugendlicher Identitätsbildung. Die Geschlechterordnung bezeichnet im Allgemeinen die soziale Rangordnung bzw. Hierarchie auf der Basis der Geschlechtlichkeit von Individuen. Die Zuordnung der Individuen, etwa zum weiblichen oder männlichen Geschlecht, ist somit verbunden mit der Einreihung in die bestehende Geschlechterhierarchie. In Bereichen westlicher Industrienationen und auch andernorts erfährt allem die männliche Geschlechtergruppe eine Aufwertung. Diese ist verknüpft mit einer Abwertung und Unterdrückung des Weiblichen.360 Da die adoleszente Identitätsentwicklung mit der Verortung des Einzelnen im Kontext der bestehenden Geschlechterordnung verbunden ist, berührt sie Aspekte sozialer Ungleichheit. Insgesamt wird in den Diskursen der 359 Sutterlüty 2004, S. 276. 360 Vgl. ausführlich Kroll 2002b, S. 158.
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Geschlechterforschung die Frage kontrovers diskutiert, inwieweit das Verhältnis der Geschlechter als prinzipiell gleiche oder ungleiche Beziehung gestaltet ist.361 Diese Arbeit schließt an die Ausführungen von Helfferich an. Die Autorin vertritt die Position, dass konkrete Geschlechterverhältnisse Momente der Gleichheit und Ungleichheit aufweisen würden. Im Rahmen der Geschlechterordnung konstituieren sich Geschlechterbeziehungen, in denen sowohl Momente der Gleichheit als auch Aspekte der Ungleichheit enthalten seien. Beide Aspekte würden Facetten der Geschlechterbeziehungen in posttraditionalen Gesellschaften bilden, die sich nicht gegenseitig ausschlössen, sondern gleichermaßen das Geschlechterverhältnis strukturieren.362 Insofern geht es in dieser Arbeit nicht darum, den Einfluss der Kategorie Geschlecht hinsichtlich ihrer gewaltfördernden oder gewalthemmenden Eigenschaften zu diskutieren. Vielmehr setzt sich diese Arbeit zum Ziel, die Geschlechtertheorien der interviewten Mädchen zu rekonstruieren und in Bezug zum Gewalthandeln zu setzen. Der Fokus liegt auf der Rekonstruktion von typisierten Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen im Kontext des eigenen Selbstbildes.363 Rekonstruktionen des Selbstbildes berühren die Thematik der Identitätsbildung. 4.2.3 Reflexionen zum Identitätsbegriff In der Darlegung und Diskussion der Weiblichkeitskonstruktionen gewaltaktiver Mädchen wird zumeist auf das Problem der Widersprüchlichkeit rekonstruierter Selbstdeutungen hingewiesen. Beispielsweise räumen Bruhns und Wittmann in ihrer Studie zu gewaltaktiven Mädchen in Jugendgruppen ein, dass die ermittelten Geschlechtskonzepte der Befragten nicht frei von Widersprüchen und Ambivalenzen seien.364 Die dargelegten Ambivalenzen und der damit verbundene Hinweis der Autorinnen, es handele sich lediglich um wenige widersprüchliche Fälle, verweisen auf die implizite normative Vorstellung einer konsistenten und insofern ambivalenzfreien Geschlechtsidentität. Diese zugrunde liegende Normativität ist jedoch nicht ein Spezifikum geschlechtstypischer Identitätskonzepte, sondern lässt sich bereits auf die Wurzeln des Identitätsbegriffs von Erich E. Erikson und George Herbert Mead zurückführen. Hans Joas bemerkt in diesem Zusammenhang:
361 Zur Kritik an den Positionen ausschließlicher Gleichheit oder Ungleichheit der Geschlechter vgl. Helfferich 1994, S. 15ff. 362 Vgl. ebd., S. 32ff. 363 Vgl. Kapitel 8.2.3.2. Weiblichkeitskonstruktionen im Kontext des Selbstbildes. 364 Vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S. 186.
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Die adoleszente Entwicklung weiblicher Jugendlicher
„Die Leistungen der Synthese zu einer konsistenten und kontinuierlichen Identität wurden nicht einfach nur beschrieben, sondern es gab bei Mead und Erikson wie bei allen Anhängern und Fortsetzern die stillschweigende Hintergrundannahme, daß es auch gut sei, eine Identität zu bilden – gut zumindest in dem auch empirisch bestätigbaren Sinn, daß das Maß seelischer und körperlicher Gesundheit und subjektiven Glücksempfindens bei gelingender Identitätsbildung höher sei. Gut aber sei Identitätsbildung auch noch in einem tieferen und eindeutiger normativen Sinn, nämlich dem, daß Identitätsbildung Autonomiegewinn darstelle und damit ein Mißlingen der Identitätsbildungsversuche einem Verharren in Unmündigkeit gleichzusetzen sei.“365
Der Autor legt in seiner Kritik zur Vorstellung einer konsistenten Ich-Identität die zugrunde liegenden normativen Annahmen dar: Es sei erstens für Individuen (westlicher Industrienationen) gut und notwendig, eine konsistente Ich-Identität auszubilden. Und zweitens trage eine solche Identitätsbildung zur Autonomie der Subjekte bei. Die Abweichung von einer einheitlichen Identität führe hingegen zur Diagnose der Unmündigkeit. Ebenso wie Joas kritisiert beispielsweise King die normativen Vorstellungen zur adoleszenten Entwicklung. Sie pointiert einerseits, dass die sozialen Normen westlicher Industrienationen als universaler Standard definiert und andererseits aktuelle gesellschaftliche Veränderungen, wie sie etwa durch Globalisierungsprozesse entstünden, nicht berücksichtigt würden.366 Kings Kritik an der normativen Grundlage (heterosexueller) Geschlechtsidentität ist nachvollziehbar, trifft aber aus der Perspektive von Joas nicht den Kern der Kritik am Identitätskonzept. Während King als Bezugspunkt „die gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich bestimmter Qualitäten der individuellen Persönlichkeit“367 wählt, fokussiert Joas kritisch die normativen Implikationen, welche der „kommunikative[n] Struktur der Selbstbeziehung der Person“368 zugrunde liegen. Mit anderen Worten: Die moderne Gesellschaft erwartet, dass ihre Mitglieder eine konsistente und stabile (Geschlechts-)Identität aufbauen. Dies ist der implizite normative Anspruch Abweichungen gelten auf dieser Ebene im schlimmsten Fall als pathologisch. Aus dieser Erwartung kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass das individuelle Selbstverhältnis dieser Anforderung tatsächlich nachkommen muss. Inwieweit Individuen den an sie gerichteten Anspruch der vollständigen Identität erfüllen oder auch nicht, kann lediglich auf empirischer Ebene ermittelt werden. Die Bewertung eines Selbstkonzepts als ambivalent oder konsistent ist von dem Vorgang seiner Rekonstruktion an sich zu unterscheiden. 365 Joas 1994, S. 112. 366 Vgl. King 2004, S. 87. 367 Joas 1994, S. 113. 368 Ebd., S. 113.
Adoleszente Entwicklung und jugendliches Gewalthandeln
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Insofern sind ambivalente Weiblichkeitskonzepte zu erwarten, insbesondere dann, wenn es sich um Mädchen oder junge Frauen in der Adoleszenz handelt. Widersprüchliche Geschlechtertheorien sind kein Hinweis auf mögliche Abweichungen vom vermeintlichen Normalstandard, sondern verdeutlichen vielmehr, dass doing gender-Prozesse stets eingebettet sind in konkrete Situationen und in widersprüchliche gesellschaftliche Strukturen. Das Changieren zwischen widersprüchlichen Positionen kann Ausdruck der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorstellungen von der „Angemessenheit“ weiblichen und männlichen Verhaltens sein. Die Anforderung, divergierende Perspektiven auf Weiblichkeit in ein konsistentes Selbstbild einzupassen, ist ein gesellschaftlicher Anspruch. Empirisch ermittelte Ambivalenzen im Selbstbild bieten Hinweise darauf, dass das Geschlechterverhältnis als „Gleichheit bei gleichzeitiger Ungleichheit“ eine äußerst widersprüchliche Folie bildet, auf der diese Mädchen nach einer Bewältigung gegensätzlicher Anforderungen suchen.369 Die dargestellte Diskussion zeigt auf, dass der Identitätsbegriff nicht obsolet, jedoch hinsichtlich seiner impliziten Normativität notwendig zu reflektieren ist. Im folgenden Kapitel 5 werden zunächst die wichtigsten Erkenntnisse des Forschungsstandes im Hinblick auf die Forschungsfragestellung erörtert.
369 Vgl. das Fallbeispiel „Branka“ in Bruhns/Wittmann 2002, S. 169ff.
5 Fazit der Literaturanalyse
In diesem Kapitel werden noch einmal die wesentlichen Erkenntnisse und Befunde, die im Forschungsstand zur weiblichen Jugendgewalt in den Kapiteln 2 bis 4 aufgeführt wurden, vorgestellt. Jugendgewalt ist ein passageres und ubiquitäres Phänomen, dies gilt für beide Geschlechter gleichermaßen. Allerdings lassen sich deutliche Unterschiede zwischen gewaltaktiven Mädchen und Jungen finden, die an dieser Stelle noch einmal skizziert werden: Die Ergebnisse der polizeilichen Kriminalstatistik und aktueller Dunkelfeldstudien belegen, dass männliche Jugendliche ein deutlich höheres Niveau hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere verübter Gewalttaten aufweisen. Im adoleszenten Entwicklungsverlauf liegen die Maxima der Mädchen mit etwa 14 bis 16 Jahren etwa zwei Jahre vor dem Höhepunkt der Gewaltausübung männlicher Jugendlicher im Alter von etwa 16 bis 18 Jahren.370 Analysen der kanadischen Forscherin Artz weisen auf eine divergente Problembelastung weiblicher und männlicher gewaltaktiver Jugendlicher hin. Gewaltaktive Mädchen weisen ein deutlich höheres Niveau der Viktimisierung und Problembelastung auf als ihre männlichen gewaltaktiven Altersgenossen. Die Diskussion divergenter geschlechtstypischer Entwicklungsverläufe und Problembelastungen stützt die Vermutung, dass Mädchen unter anderen Bedingungen physische Gewalt ausüben als dies bei männlichen Jugendlichen der Fall ist. Eine abschließende Diskussion des Themas ist an dieser Stelle nicht möglich, da für die Klärung dieser Fragestellung weitere vergleichende Forschungsarbeiten notwendig sind. Aufgrund der dargelegten geschlechtertypischen Differenzen erscheint die Eingrenzung der Zielgruppe auf gewaltaktive Mädchen und junge Frauen jedoch notwendig und sinnvoll. Neben den hier aufgeführten Unterschieden weiblicher und männlicher Jugendgewalt ergibt die methodische Reflexion der vorgestellten Untersuchungen, dass sich eine qualitative Zugangsweise anbietet aufgrund des unzureichend erforschten Feldes und aufgrund der Zielsetzung der Arbeit, die Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher zu erforschen. Erklärungsansätze zur weiblichen Jugendgewalt betonen, dass gewaltaktive Mädchen und junge Frauen Opfer von sozialer Ausgrenzung und Viktimisierungen sind, die sie über
370 Vgl. Kapitel 2.2.2 Geschlechtstypische Verteilung der Jugendkriminalität.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Fazit der Literaturanalyse
das gewaltförmige Streben nach Anerkennung und Respekt kompensieren.371 Insgesamt bleibt jedoch bei den dargelegten Erklärungsansätzen der Zusammenhang von Anerkennungsverlusten und Opfererfahrung auf der einen und dem gewaltförmigen Kampf um Respekt und Anerkennung auf der anderen Seite unbestimmt. Dieser Zusammenhang soll in dieser Arbeit näher bestimmt werden. Zudem zeigt sich, dass Schule als gewaltbegünstigende Instanz weiblichen Gewalthandelns von Forscherinnen und Forschern bisher nicht genügend Beachtung fand. Erklärungsansätze, die Gewalthandeln lediglich in Bezug auf familiäre Missachtungserfahrungen erklären, greifen jedoch zu kurz, wenn es um eine umfassende Konzeptualisierung des weiblichen Gewalthandelns geht. Daher wird die Institution Schule als gewaltgenerierende Instanz ebenso in den Blick genommen wie Familie, Peergroup und Einrichtungen der Jugendhilfe.372 Neben den klassischen Sozialisationsbereichen wie Familie, Schule und Peergroup stellt sich in Bezug auf weibliche Jugendgewalt die Frage, inwieweit die geschlechtstypische Identitätsentwicklung Einfluss auf das Gewalthandeln der Interviewten nimmt. In der Rekonstruktion des Forschungsstandes zur adoleszenten Entwicklung erweisen sich zwei Bereiche für die Erforschung weiblicher Jugendgewalt als zentral: die Berücksichtigung der leiblichen Dimension von Jugendgewalt und die Analyse der Prozesse weiblicher Identitätsentwicklung. Dabei verweisen insbesondere die theoretischen Ansätze zur Mimesis und zum doing gender auf den Inszenierungscharakter von Gewalthandlungen, in denen jugendtypische Deutungen und Symbolisierungen enthalten sind. Die vorliegende Arbeit fokussiert vor allem gewaltaktive Mädchen, die überdurchschnittlich häufig und zumeist schwerwiegende Gewalttaten verüben resp. verübt haben. Der biografische Verlauf und die Bedingungen ihres Gewalthandelns sind in Kapitel 8.1 unter dem Begriff der Gewaltkarriere zusammengefasst. Die Konzeptualisierung des „Kampfes um Anerkennung“ in Gewaltkarrieren von Mädchen nimmt Anschluss an die in Kapitel 3.3.3 diskutierten Erklärungsansätze zum jugendlichen Gewalthandeln aus anerkennungstheoretischer Perspektive. Die kritische Reflexion dieser Ansätze bietet die Grundlage, weibliche Jugendgewalt im Kontext von Anerkennung zu analysieren. Im folgenden Kapitel 6 werden daher die anerkennungstheoretischen Grundlagen dieser Arbeit dargestellt. Dem schließt sich die Erörterung der methodologischen Grundlagen in Kapitel 7 an. Schließlich werden die Ergebnisse der Interviewauswertung in Kapitel 8 vorgestellt und kritisch reflektiert. Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem die pädagogischen Aspekte der Prävention und Intervention betreffenden Ausblick in Kapitel 9. 371 Vgl. Kapitel 3.3.1 Weibliche Jugendgewalt aufgrund der Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Peergroups und 3.3.2 Weibliche Jugendgewalt als typische Erscheinung weiblicher Adoleszenz. 372 Vgl. Kapitel 7.4 Forschungsdesign der Arbeit.
6 Theoretische Grundlagen und Heuristiken zum Kampf des Anerkennens373
Häufig nehmen Erklärungsansätze zur Jugendgewalt auf das Thema Anerkennung Bezug, ohne jedoch genauer die theoretischen Grundlagen des Begriffs zu erörtern.374 Stattdessen wird vorausgesetzt, dass dem Leser resp. der Leserin bekannt sei, was unter dem Begriff der Anerkennung zu verstehen ist. Dieser bezeichnet im umgangssprachlichen Gebrauch jedoch höchst unterschiedliche Phänomene wie etwa Achtung, Ansehen, Auszeichnung, Ehrerbietung sowie Legitimation, Absegnung, Akzeptanz, Bejahung und Duldung.375 Ebenso lassen sich auf philosophischem, psychologischem und soziologischem Gebiet eine Vielzahl an theoretischen Überlegungen zum Begriff bzw. „Problem“ der Anerkennung finden, wie beispielsweise von Martin Buber, Johann Gottlieb Fichte, Erving Goffman, Emmanuel Lévinas, Georg Herbert Mead, Jean Paul Sartre, Charles Taylor u.a.376 Im Folgenden werden daher die anerkennungstheoretischen Grundlagen dieser Arbeit, die sich auf die Ausführungen Georg W. F. Hegels beziehen, unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das Anerkennen dargestellt, denn seine grundlegenden Gedanken zu diesem Thema sind anschlussfähig an die Semantiken der Ehre und des Respekts der interviewten gewaltaktiven Mädchen. Die Ausführungen Hegels zum Kampf des Anerkennens bilden daher die theoretische Grundlage für die Erklärung gewaltsamer Konflikte, in denen die Ehre ein zentrales Motiv darstellt. Die Erörterung der Anerkennungstheorie ist jedoch von einem Rezeptionsproblem begleitet, das in zweierlei Hinsicht besteht: Zum einen liegt die Anerkennungstheorie in diversen, nicht vollständigen Fassungen vor. Der Autor formulierte seine teilweise konträren Überlegungen zum Phänomen 373 Wie bereits in der Einleitung dargelegt wurde, hat Hegel den Ausdruck „Kampf des Anerkennens“ verwendet, um den Prozesscharakter des Anerkennens zu verdeutlichen (vgl. Kapitel 1 Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit; ausführlich Siep 2009, S. 181). Die häufig verwendete zeitgenössische Bezeichnung „Kampf um Anerkennung“ fokussiert hingegen stärker das Ergebnis des Anerkennensprozesses. Im Folgenden wird der Terminus „Kampf des Anerkennens“ verwendet, weil er sprachlich exakter die konfliktreiche Prozessdynamik des Anerkennens erfasst. 374 Vgl. Kapitel 3.3 Erklärungsansätze auf der Basis qualitativer Untersuchungen sowie zusammenfassend Kapitel 5 Fazit der Literaturanalyse. 375 Vgl. Wermke u.a. 2007, S. 73. 376 Vgl. Dungs 2006; Ziegler 1992; Siep 1992a.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Theoretische Grundlagen und Heuristiken zum Kampf des Anerkennens
der Anerkennung in verschiedenen Werken mit z.T. unterschiedlichen Prämissen (etwa in den Schriften aus der Frankfurter Zeit377, in den Jenaer System– entwürfe III378 und in der Phänomenologie des Geistes379). Es fehlt eine ausformulierte und abgeschlossene Fassung. Zum anderen liegt das Rezeptionsproblem in der schwindenden Bedeutung des Anerkennungsbegriffs für das sich fortentwickelnde philosophische System. Anerkennung als eine wesentliche Kategorie der praktischen Philosophie verliert ihre zentrale Bedeutung zugunsten der Rechtsphilosophie und Enzyklopädie.380 Das dargestellte Rezeptionsproblem impliziert Konsequenzen für die Verwendung und Darstellung der Anerkennungstheorie: Dem Problem des sich verändernden philosophischen Systems wird insoweit Rechnung getragen, als dass die folgende Darstellung sich auf die Jenaer Systementwürfe III, in welchen die Anerkennungsthematik das Zentrum der Theorie bildet, und auf die Ausführungen zur Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes, da hier wesentliche Aspekte des Ehrkampfes thematisiert sind, bezieht.381 Die Schwierigkeit des Manuskriptcharakters der Jenaer Systementwürfe III und der damit einhergehenden Unverständlichkeit einiger Stellen kann nicht gänzlich gelöst werden. Um Fehldeutungen und Missverständnisse zu vermeiden, stützen sich die skizzierten anerkennungstheoretischen Grundlagen auf die Originalquellen und die Interpretation wichtiger zeitgenössischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.382 Neben der Darstellung der Grundlagen Hegels Anerkennungskonzeption (Kapitel bis 6.1.3) und ihrer kritischen Diskussion (Kapitel 6.1.4) richtet sich der Fokus auf die Beschäftigung mit zwei zentralen zeitgenössischen Entwicklungen der Anerkennungstheorie (Kapitel 6.1.5). Diskutiert werden die Ansätze von Ludwig Siep, der den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Theorie sozialer Institutionen legt und Axel Honneth, der das Prinzip des Kampfes um Anerkennung für die Entwicklung posttraditionaler Gesellschaften erörtert. Die kritische Diskussion der dargestellten Ansätze sowie die methodische Reflexionen zur Untersuchung weiblicher Jugendgewalt (Kapitel 7.3) begründen die Bildung anerkennungstheoretischer Heuristiken (Kapitel 6.2). Das Ziel dieser Vorgehensweise ist die Bildung eines theoretisch begründeten Rahmens, mit dessen Hilfe biografische Dynamiken und Konflikte aus anerkennungstheoretischer Perspektive analysiert werden können.
377 Vgl. Hegel 1966. 378 Vgl. Hegel 1987. 379 Vgl. Hegel 1986. 380 Vgl. Halbig 2006, S. 303f. 381 Vgl. Siep 1992a, Fußnote 1.; Hegel 1986, S. 145ff. 382 Vgl. bspw. Cobben 2006a, 2006b, 2006c; Honneth 2003; Kimmerle 1970; Riedel 1969; Schnädelbach 2000; Siep 1974, 1979, 1992, 1992a, 1992b; 2009; Wildt 1982.
Die Anerkennungstheorie (Hegel)
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6.1 Die Anerkennungstheorie (Hegel) 6.1.1 Anerkennen als Relation Hegels theoretische Überlegungen zur Anerkennung basieren zunächst auf dem von Johann G. Fichte beschriebenen Rechtsverhältnis.383 Das Anerkennen der Freiheit des Anderen führe so Fichte, über die Selbstbeschränkung der eigenen Freiheit zur Realisierung der Freiheit eines jeden Bürgers.384 Hegel übernimmt diese Idee wechselseitiger Anerkennung kollektiver Freiheitsansprüche, welche sich im Recht durch die Selbstbeschränkung der Individuen verobjektivieren. Er löst die Idee reziproken Anerkennens aus dem Kontext der Rechtsbegründung und erhebt es „zum Grundprinzip von Sittlichkeit überhaupt“385. Dabei wohnt dem Prozess des Anerkennens eine spezifische Interaktionsdynamik inne, die pointiert in der Phänomenologie des Geistes386 zusammengefasst ist.387 In ihr wird das Anerkennen im Rahmen von Interaktionsmustern zweier Selbstbewusstseine bestimmt.388 Dabei gestaltet sich der Erfahrungsprozess der Selbstbewusstseine wie folgt: Ego findet in Alter ein Wesen vor, „an dem das eigene Wesensmerkmal der Selbstständigkeit als Bestimmung eines anderen Wesens (sagen wir: Alter) hervortritt!“389 Der Autor postuliert, dass Ego sich über die Erkenntnis der Wesensgleichheit mit Alter selbst im Anderen erkenne, obwohl es sich zugleich von Alter als eigenständiges Wesen unterscheide. Ego erkenne sich jedoch nicht lediglich in Alter, es anerkenne zugleich an, dass sein Gegenüber ihm wesensgleich sei. Hegel beschreibt den zugrunde liegenden Reflexionsprozess dieser Erfahrung wie folgt: „Das Tun ist also nicht nur insofern doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das Andere, sondern auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Anderen ist.“390 Ego erkenne, dass Alter ebenso wie es selbst sein Handeln stets im Bewusstsein des Anderen entwirft und vollzieht. Im Anerkennen der Struk383 Vgl. Fichte 1960. 384 Vgl. Siep 1992a, S. 176; Schnädelbach 2000, S. 150; Honneth 2003, S. 30. 385 Schnädelbach 2000, S. 150. 386 Vgl. Hegel 1986. 387 Sie bildet die Basis für den in Kapitel 6.1.3 dargelegten Kampf um Ehre. 388 Vgl. Ritsert 2002, S. 89. Der Begriff des Selbstbewusstseins bezeichnet nicht die konkrete Selbsterfahrung bzw. das Selbstwertgefühl einer Person in sozialen Beziehungen, sondern er charakterisiert „eine allen Individuen gemeinsame Form oder Struktur von Bewußtsein und Erkenntnis.“ (Siep 1992, S. 11). Insofern bedeutet das Anerkennen nicht, wie der alltagssprachliche Gebrauch zunächst nahe legt, das „Akzeptieren“ oder „Annehmen“ des Gegenübers (vgl. Wermke u.a. 2007, S. 73), sondern die Ausbildung spezifischer Bewusstseinsstrukturen, die sich als grundlegendes Selbst- und Weltverhältnis charakterisieren lassen. 389 Ritsert 2002, S. 90, kursiv i. O., C. E. 390 Hegel 1986, S. 147.
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Theoretische Grundlagen und Heuristiken zum Kampf des Anerkennens
turgleichheit ihres Bewusstseins liege die Einheit von Ego und Alter. Zugleich handele Ego in Differenz zu Alter, gerade weil es um die Perspektive des Anderen wisse. Darin liege ihre Selbstständigkeit und Differenz: „[I]n der Autonomie des anderen Subjekts begegnet Ego zugleich seiner eigenen Kompetenz der Reflexion, der nämlichen Fähigkeit zu seiner selbst bewussten und selbstbestimmten Handlungen.“391 Das Erkennen und Anerkennen des Gegenübers als selbstständiges Bewusstsein strukturiere auf diese Weise die Erfahrung und das Handeln der Subjekte. Die reziproke Anerkenntnis der Wesensgleichheit des Gegenübers bei gleichzeitiger Anerkenntnis seiner prinzipiellen Unterschiedenheit umfasse die grundlegende interaktionistische Bestimmung des Anerkennungsverhältnisses und bildet zugleich das Ziel dyadischer Anerkennungsbeziehungen.Diese Idee der grundlegenden dyadischen Wechselbeziehung von Individuen ist einer der zentralen Bezugspunkte für die Heuristik zur Bestimmung von Anerkennensprozessen am Material.392 Das Anerkennen als dyadischer Prozess bildet in Hegels Anerkennungstheorie die Grundlage für die Vergesellschaftung der Individuen. Er charakterisiert den Erfahrungsprozess über die „Bildung des Bewußtseins in Gestalt einer Folge von Verständnisweisen des handelnden Selbst von seinem Handeln und von den Institutionen des Volkes“393. Anerkennungsprozesse beschreiben kollektive Bildungsprozesse, die nicht lediglich auf die dyadische Beziehung von Ich und Du beschränkt bleiben, sondern ebenso die Beziehung von Ich und Wir umfasst.394 Der Autor beschreibt die Vergesellschaftung der Individuen sowie ihre Individuation über die Einbettung von Anerkennungsprozessen in Institutionen der Gemeinschaft (wie beispielsweise der Familie, der Gerichtsbarkeit sowie der Organisationen des Staates). 6.1.2 Anerkennen im System der Institutionen Das grundlegende Prinzip praktischer Philosophie verortet Hegel im Bildungsprozess der Subjekte während ihres Fortgangs in komplexer werdenden Institutionen.395 Dabei unterscheidet er drei Stufen der Anerkennungsbeziehungen: Erstens „Institutionen im Sinne aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen, durch die soziale Beziehungen selbstbewußter Wesen erst zustande“396 kommen, wie beispielsweise in der Familie, in Arbeitsverhältnissen usf. Zum Zweiten „Institutionen als Regeln des Zustandekommens oder Vollzugs eines gemeinsamen, 391 Ritsert 2002, S. 89, kursiv i. O., C. E. 392 Vgl. ausführlich Kapitel 6.2.1 Anerkennen als Relation. 393 Siep 1992a, S. 179. 394 Vgl. Siep 1979. 395 Vgl. Hegel 1987. 396 Siep 1979, S. 224f.
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allgemein ‚zustimmungsfähigen‘ Willens“397, wie er sich beispielsweise in Vertragsabschlüssen, Eigentumsverhältnissen oder der Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit realisiert. Und drittens „Institutionen im Sinne von Einrichtungen einer Gemeinschaft und ihrer Gruppen, die deren Selbstverständnis in Bezug auf die gemeinsame Lebensweise und die Lösung gemeinsamer Aufgaben zum Ausdruck bringen“398. Aus der Perspektive Hegels enthalten diese Stufen basale Prinzipien des Anerkennens: Während auf der ersten Stufe sich die Individuen in der Familie oder in Arbeitszusammenhängen in ihren jeweiligen charakterlichen Besonderheiten anerkennen, vollzieht sich das Anerkennen in Rechtsverhältnissen hingegen in der Negation dieser Besonderheit. Als Rechtspersonen sind die Individuen mit prinzipiell gleichen Rechten und Pflichten ohne Ansehen ihrer charakterlichen Besonderheiten oder Herkunft ausgestattet. Auf der dritten Stufe der Sittlichkeit realisiert sich das Anerkennen in der Erfüllung eines standesspezifischen Arbeitsethos und in der ständischen Gesinnung. Die Bürgerinnen und Bürger verwirklichen über diese Gesinnung und Lebensweise nicht lediglich ihren ständischen Arbeitsethos, sondern zugleich die Idee eines guten und sittlichen Lebens. Lothar Wigger pointiert, dass das Anerkennen sittlicher Lebensweise „durch die Rechtschaffenheit und den Patriotismus – als der komplementären politischen Gesinnung – charakterisiert [sei]. Das wahre Gute sei Pflichterfüllung und das Wissen um das Allgemeine als Grundlage der Lebensverhältnisse und als Zweck.“399 Rechtschaffenheit und Patriotismus bilden für Hegel die Basis, auf welche sich die Bürger und Bürgerinnen in ihrer ständisch geprägten Idee sittlichen Lebens wechselseitig anerkennen. Anerkennensprozesse in den Institutionen Familie und Arbeit sowie in der institutionalisierten Sphäre des Rechts ergänzen diese sittliche Lebensweise. Dabei sind Prozesse des Anerkennens an die bestehenden Institutionen von Gesellschaft und Staat gebunden.400. Über die Teilnahme an den jeweiligen Einrichtungen des Staates und der Stände gelangen die Individuen über den Prozess des Anerkennens zu einem differenzierteren Selbst- und Weltverhältnis. Der Wandel von der konkreten Wechselbeziehung der Individuen untereinander zu einem abstrakteren Anerkennungsverhältnis des Individuums in der Gemeinschaft bildet für Hegel eine dialektische Erkenntnisbewegung, in der die Subjekte sich in immer abstrakteren Formen als individuelle Mitglieder einer Gesellschaft begreifen. Diese Form des Erkenntnisfortschritts 397 Ebd., S. 225. 398 Ebd., S. 225. 399 Wigger 1983, S. 69. 400 Die prinzipielle Gleichheit und Freiheit der Mitglieder des Staates ergänzt Hegel durch die relative Selbständigkeit ständischer Institutionen gegenüber den Einrichtungen des Rechtsstaates. Allerdings begrenzt er diese Freiheit in der Annahme, dass nur diejenige Gesinnung sittlich sei, welche mit den Sitten des Standes übereinstimme (vgl. Siep 1979, S. 96).
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Theoretische Grundlagen und Heuristiken zum Kampf des Anerkennens
beschreibt der Autor in den Jenaer Systementwürfe III als Anerkennungsbewegung. Sie umfasst nach Siep folgende Momente: Die Anerkennungsbewegung stellt eine aufeinanderfolgende Stufung von Erfahrungen und Verständnisweisen des handelnden Selbst von seinem Handeln und dem Handeln Anderer in der Gemeinschaft dar.401 Zudem stellt sie einen immanenten Zusammenhang zwischen den einzelnen Institutionen (wie z.B. Familie, Recht und Staatsverfassung) her, die „Stufen einer teleologisch sich erfüllenden Struktur des Anerkennens“402 beschreiben. Der Wandel von der konkreten Wechselbeziehung der Individuen untereinander zu einem abstrakteren Anerkennungsverhältnis des Individuums in der Gemeinschaft bildet für Hegel eine Entwicklung, in der die Subjekte sich in immer abstrakteren Formen als individuelle Mitglieder einer Gesellschaft begreifen. Das dritte wesentliche Moment der Anerkennungsbewegung beschreibt ihre Dynamik. Sie entsteht aus dem jeweiligen Mangel, den die erreichte Bewusstseinsstufe impliziert und welche die Individuen zur Anerkenntnis abstrakterer gesellschaftlicher Verhältnisse motiviert. Das Ziel der Anerkennungsbewegung ist die ideale bürgerliche Gesellschaft. Hegel wollte Moralität nicht in Form von Ge- und Verboten darstellen, sondern die institutionalisierten „bürgerlichen Lebenssphären von Familie, Gesellschaft und Staat als vernünftig ausweisen. Dieser Nachweis ist seine Handlungsorientierung, insofern seine Leser und Hörer im bildenden Nachvollzug die Wirklichkeit der Vernunft in den sittlichen Institutionen erkennen und auf der Grundlage dieser Einsicht ihr Leben gestalten: als liebendes Familienmitglied, als rechtschaffener Bürger und als patriotischer Staatsbürger.“403 Dabei sieht der Philosoph die Idee der Vernunft in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit verwirklicht. Diese Voraussetzung verleiht der Anerkennungsbewegung ihr Ziel: der Fortschritt der Bewusstseinsentwicklung der Subjekte hin zu einem sich selbst begreifenden (Welt-)Geist.404 Diese idealistische Annahme kann nicht ungebrochen für Anerkennungsverhältnisse in modernen Gesellschaften übernommen werden.405 Gleichwohl sind der Anerkennungsbewegung wichtige Heuristiken entnehmbar. Sie basieren auf der Grundannahme, dass die Vergemeinschaftung der Subjekte sowohl durch die Anschauung des Selbst im Anderen erfolgt als auch durch die Negation des Andersseins (im Anderen). Während zeitgenössische sozialisations- resp. interaktionstheoretische Ansätze 401 Dieser Aspekt der Ausbildung von Identität und eines Gemeinschaftsverständnisses kommt den „Problemen der heutigen Interaktions- und Sozialisationstheorien nahe, wie sie heute Sozialwissenschaften und praktische Philosophie beschäftigen.“ (Siep 1992, S. 180) 402 Siep 1992, S. 180. 403 Wigger 1983, S. 54. Kursiv i. O., C. E. 404 Vgl. ebd.; vgl. Siep 1979, S. 231ff. 405 Vgl. etwa gesellschaftskritische Analysen von Bourdieu 1987, 1997; Foucault 1974, 1976 oder Fraser 2001, 2003.
Die Anerkennungstheorie (Hegel)
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vor allem die Selbstanschauung des Subjekts im Anderen fokussieren, umfasst die Anerkennungstheorie beide Vorgänge: die konflikthafte Auseinandersetzung mit dem Anderssein ist Teil des Vergemeinschaftungsprozesses.406 Diese konflikthafte Auseinandersetzung der Individuen beschreibt Hegel als wichtigen Bestandteil ihrer Vergesellschaftung in seinen Ausführungen zum Kampf des Anerkennens. 6.1.3 Der Kampf des Anerkennens Hegel war sich der Konflikthaftigkeit von Vergesellschaftungsprozessen bewusst und erfasste sie mithilfe der Bestimmung des jeweiligen (praktischen)407 Verhältnisses von Einzelwillen und Allgemeinwillen. Während der Einzelwille die subjektiven Zwecke der Individuen enthält, repräsentiert der Allgemeinwille kollektive Normen und Werte der Gemeinschaft. Das Konfliktpotenzial von Anerkennensrelationen bestimmt sich an der Entgegensetzung von subjektiven Zwecken und objektiven Pflichten und realisiert sich im Kampf des Anerkennens. Dabei konzipiert Hegel diesen Kampf als einen Bildungsprozess der Individuen. Über den Kampf des Anerkennens erreicht der Einzelne bestimmte Einsichten über sich selbst und seine Stellung zur Gemeinschaft. Dabei impliziert die jeweils erreichte Bewusstseinsstufe erneut einen Mangel an noch nicht anerkannten Aspekten des Individuums. Dieses Fehlen motiviert die Individuen erneut zum Kampf um die Anerkenntnis noch nicht erreichter Aspekte ihrer Stellung in der Gemeinschaft und ihres Selbstverhältnisses. Am Beispiel des Verbrechens entfaltet Hegel in den Jenaer Systementwürfe III die grundlegende Dynamik des Anerkennens: Der „Verbrecher“, so die gedankliche Konstruktion des Autors, sehe sich mit seinen subjektiven Zwecken (z.B. Besitzaneignung) im Allgemeinwillen (genereller Erhalt und Schutz bestehender Besitzverhältnisse) nicht anerkannt. Er verstoße im Bewusstsein der geltenden Ordnung gegen bestehendes Recht, etwa, indem er Diebstähle begeht, um seinen Wunsch nach Besitzaneignung zu erfüllen. Durch diesen Rechtsbruch verschaffe er seinem 406 Vgl. Siep 1992, S. 178. 407 Das Praktische und das Theoretische resp. Abstrakte erhalten in Hegels Überlegungen grundsätzlich andere Bedeutungen als im alltäglichen Gebrauch. Das Praktische lässt sich als eine Erkenntnisbewegung von innen nach außen beschreiben, in der abstrakte Ideen mit der äußeren Welt in Bezug gesetzt werden. Dieses Verständnis beschreibt im allgemeinen Sprachgebrauch das Verständnis des Theoretischen. Das Theoretische resp. Abstrakte hat für Hegel seinen Ausgangspunkt in der Praxis, d.h. den vorliegenden Gegebenheiten und Erscheinungsformen. Insofern umfassen das Abstrakte resp. Theoretische im Sinne Hegels praktische Verhältnisse (vgl. Stederoth 2006, S. 363ff.). Im Folgenden werden, entgegen Hegels spezifischen Konnotationen, die Begriffe Theorie/Abstraktion und Praxis im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet, um Konfusionen des Lesers bzw. der Leserin zu vermeiden.
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Theoretische Grundlagen und Heuristiken zum Kampf des Anerkennens
Willen Geltung gegenüber den (kodifizierten) Normen der Gesellschaft.408 Obwohl der „Verbrecher“ den Besitz einer konkreten Person stehle, läge in diesem Akt zugleich die Negation der Anerkennung des allgemein geltenden Rechts. Dieses Beispiel illustriert, dass der Kampf des Anerkennens gleichsam eine zweite Ebene enthält: Er realisiert sich im persönlichen Verhältnis, doch zugleich ist in diesem die Relation des Einzelnen zur Allgemeinheit Gegenstand der Auseinandersetzung. Für den Autor bildet der beschriebene Widerstreit von Einzelund Allgemeinwillen einen grundlegenden Konflikt, der die Subjekte motiviert, in einen Kampf zu treten, um dem eigenen Willen ihren Geltung zu verschaffen. Da der Kampf des Anerkennens aus dieser Perspektive zugleich die Erkenntnisbewegung der Subjekte in den verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen resp. Lebensbereichen fortschreibt, gibt es in der Ausführung Hegels Jenaer Systementwürfe III nicht den Kampf des Anerkennens.409 Vielmehr bildet die Denkfigur der konflikthaften Negation des Anderen ein notwendiges Moment der Anerkennungsbewegung: „Darin, daß jede Bewußtseinsstufe nur Momente ihrer Gesamtstruktur enthält, liegt ein ‚Mangel‘, der die Notwendigkeit des Übergehens zur nächsten Stufe begründet: das Anerkennen ohne Selbständigkeit des Willens (Liebe) muß übergehen in das Anerkennen solcher, die sich einander als absolut selbständig erweisen (Kampf). Das Anerkennen des Selbst als Negation des Anderen muß übergehen in ein Anerkennen der Negation des eigenen Andersseins etc. Das Telos des Prozesses ist erreicht, wenn sich einzelnes Selbst und allgemeiner Geist wechselseitig als Einzelheit von Einzelheit und Allgemeinheit anerkennen.“410
Die Anerkennungsbewegung beschreibt den dialektischen Bildungsprozess des Selbstbewusstseins, der ausgehend von der Erfahrung der Negation des Andersseins die Individuen in einen Kampf des Anerkennens treten lässt. Erst durch die Aufhebung des Kampfes ist reziprokes Anerkennen möglich, nämlich dann, „wenn sie nicht mehr als Ehre des Einzelnen gefaßt und im Kampf angestrebt wird, sondern dieser sich als Glied eines Volkes weiß.“411 Das Ziel der Anerkennungsbewegung sieht Hegel erreicht, wenn sich der Einzelne dem Allgemeinwohl unterordnet und sich als rechtschaffener Bürger in der Gemeinschaft anerkannt weiß. Er betont, dass in der Pflichterfüllung zugleich die Realisierung der Freiheit aller liege.412 Im sittlichen Handeln sei der Gegensatz von Allgemein408 Vgl. Hegel 1987, S. 212ff. 409 Vgl. Hegel 1987. 410 Siep 1979, S. 231f. 411 Siep 1974, S. 179. 412 Vgl. Siep 1992a, S. 175. Zur Anerkennung auf der Stufe der Sittlichkeit vgl. Kapitel 6.1.2 Anerkennen im System der Institutionen.
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und Einzelwillen, der für den Kampf des Anerkennens bestimmend ist, aufgehoben.413 Das Anerkennen des Einzelnen realisiere sich über die Prozesse von Kampf und Versöhnung in den gesellschaftlichen Institutionen. Der Kampf um das Anerkennen der eigenen Person vollzieht sich jedoch nicht lediglich auf der abstrakten Ebene, sondern lässt sich ebenso als praktischphysischer Konflikt beschreiben. Hegel pointiert, dass in physischen Auseinandersetzungen eine besondere Form des Kampfes um Anerkennung vorliege: der Kampf um Ehre. Dieser beginne dort, wo die Geltendmachung des Einzelnen, seine Unterschiedenheit zur Gruppe einsetze. Er umfasse das „Einander-GeltenWollen auch in der Andersheit, im Sich-Absetzen vom Anderen, ja in der Negation des Anderen.“414 Insbesondere in der Phänomenologie des Geistes415 beschreibt Hegel den Kampf des Anerkennens als einen Kampf um Ehre, indem zwei sich selbst bewusste Individuen bestrebt seien, ihre Totalität gegenüber dem Anderen zu beweisen.416 Diese radikalste Form der Selbstbehauptung führe letztlich zu einem Kampf auf Leben und Tod.417 Der Kampf um Ehre beginne mit dem Selbstbewusstsein, dass „zunächst einfaches Fürsichsein [ist], sichselbstgleich durch das Ausschließen alles anderen aus sich; sein Wesen und absoluter Gegenstand ist ihm Ich; und es ist in dieser Unmittelbarkeit oder in diesem Sein seines Fürsichseins Einzelnes.“418 Die grundlegende Haltung, die hier in der Position des einfachen Fürsichseins charakterisiert wird, ist das Absolutsetzen des Ich, um sich seiner Selbstständigkeit zu vergewissern. In dieser Position kann das Individuum keine anderen selbstständigen Selbstbewusstseinsformen neben sich gelten lassen. Es tritt in einen Kampf um seine absolute Selbstständigkeit zu behaupten. Hegel fasst diese Ausgangslage des Ehrkampfes wie folgt zusammen: 413 Vgl. Wigger 1983, S. 69. 414 Siep 1979, S. 121. 415 Vgl. Hegel 1986. 416 Hegel beschreibt den Kampf um Anerkennung in Form einer Auseinandersetzung zweier Selbstbewusstseine. Siep betont jedoch in diesem Zusammenhang ebenso wie Ritsert, dass es sich hierbei um konkrete intersubjektive Verhältnisse handelt, auch wenn Hegel an späterer Stelle in der Phänomenologie des Geistes den sich realisierenden Weltgeist in allgemeinen sozialen Verhältnissen bestimmt (vgl. Siep 2009, S. 185f.; Ritsert 2002, S. 89). 417 Dabei ähnelt der vom Philosophen beschriebene Kampf um Ehre den Ehrenduellen. Besonders der Aspekt der Gegenüberstellung zweier Selbstbewusstseine resp. Personen, die ihren unbedingten Durchsetzungswillen demonstrieren, indem sie bereit sind, einen Kampf auf Leben und Tod zu führen, erinnert stark an die zu Zeiten Hegels verbreiteten Duelle unter Ehrenmännern (vgl. Burkhart 2006, S. 100ff.). Es bestehen jedoch auch grundlegende Differenzen, etwa darin, dass das Ehrenduell eingebunden ist in spezifisch geprägte Vorstellungen von Ehre wie etwa die Verteidigung der Familienehre etc. (vgl ebd.). Von all diesen inhaltlichen Bestimmungen abstrahiert Hegel und reduziert den Kampf um Ehre auf die dem Duell zugrunde liegende Haltung des unbedingten Durchsetzungswillens. 418 Hegel 1986, S. 147f. kursiv i .O., C.E.
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„Das Verhältnis beider Selbstbewußtsein[e] ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Anderen und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird […].“419
Die Verteidigung des Geltungsanspruchs absoluter Selbstständigkeit erfolgt für beide Selbstbewusstseinsformen im Kampf auf Leben und Tod. Dieser ließe, so der Autor, keine Einschränkung oder Rücksichten auf etwas außerhalb des eigenen Geltungswillens zu. Das Absolutsetzen des eigenen Geltungsanspruchs ist zugleich Merkmal des Kampfes um Ehre: Der Andere wird nicht ausschließlich negiert, sondern dieser Ausschluss zugleich im Anderen angeschaut. Die Selbstbehauptung der eigenen Totalität realisiert sich in der absoluten Negation alles anderen. Im Kampf um Leben und Tod erweist sich der Geltungswille als absolut unabhängig – letztlich unabhängig vom eigenen Leben. Doch mit dem Tod des sich selbst bewussten Wesens verschwindet zugleich die anerkennende Instanz, welche den Sieger in seiner Totalität bestätigt. Mit dem Tod endet der Kampf des Anerkennens. Charakteristisch für den Kampf um Ehre ist der unbedingte Geltungsanspruch des Subjekts. Es ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen und setzt notfalls sein Leben aufs Spiel, um seinem Willen Geltung zu verschaffen. Erst in der Realisierung des unbedingten Durchsetzungswillens im Kampf wird die Ehre, die durch Nicht-Anerkennung verletzt wird, wiederhergestellt. Doch in diesem Bestreben, der Herstellung der verletzten Ehre im Ausweis und der Bestätigung der eigenen Totalität im Kampf gegen den resp. die Anderen, liegt zugleich ein grundlegender Widerspruch: Zur Bestätigung der eigenen Totalität und Selbstständigkeit ist das beleidigte Selbstbewusstsein letztlich abhängig von der Anerkenntnis durch das unterlegene Selbstbewusstsein. Diese Abhängigkeit im Ausweis der absoluten Selbstständigkeit thematisiert Hegel im Herr-KnechtVerhältnis. Er bezeichnet den Herrn, der sich als Sieger über das unterlegene, knechtische Bewusstsein erweist, letztlich als abhängiges Bewusstsein. Die Selbstständigkeit des Herrn ist abhängig von der Arbeit und der Anerkennung des Herrschaftsverhältnisses durch den Knecht. Der Knecht hingegen, so Hegel, bilde sich an der Arbeit, trotz und gerade wegen seiner Stellung als Untertan.420 Die dargelegten Aspekte sind für die Analyse praktischer Anerkennenskonflikte von zentraler Bedeutung.421 Bevor jedoch die aus den Grundlagen von Hegels 419 Ebd., S. 149. 420 Vgl. ebd., S. 149f. Die Darstellung des Kampfes um Ehre kommt an dieser Stelle zum Abschluss. Hegels Fokus geht in seinen weiteren Ausführungen in der Phänomenologie des Geistes vom Prozess des Anerkennens über zur Entfaltung seiner Geistesphilosophie, die jedoch in der Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit nicht weiterführt. 421 Vgl. insbesondere Kapitel 6.2.3 Kampf des Anerkennens.
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Anerkennungstheorie gewonnenen Heuristiken vorgestellt werden, sind die Reichweite der Theorie und die Kritik daran ebenso Gegenstand der folgenden Ausführungen, wie die Skizzierung zeitgenössischer Weiterentwicklungen. 6.1.4 Hegels Anerkennungstheorie - Reichweite und Kritik Hegel gilt als ein wichtiger Vertreter des deutschen Idealismus, auch wenn er selbst diese Einschätzung nicht geteilt hat.422 Sein idealistischer Anspruch lässt sich an dem Vorhaben ablesen, die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als vernünftig und Endpunkt der idealen Vernunftentwicklung der Menschheit auszuweisen. Damit steht er in seiner Theoriekonstruktion vor dem Problem, den in praktischen Verhältnissen gegebenen Widerspruch von Einzel- und Allgemeinwillen, d.h. die Entgegensetzung von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Pflicht, auflösen zu müssen, um seine zeitgenössische Gesellschaftsform als ideale Gemeinschaft legitimieren zu können.423 Hegel postuliert in diesem Zusammenhang, dass die Gemeinschaft nicht eine Beschränkung der wahren Freiheit impliziere, sondern Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen sei. Der Widerspruch zwischen der Realisierung von Freiheit eines jeden Bürgers und der Unterordnung subjektiver Freiheitsansprüche zum Wohle der Gemeinschaft wird von ihm einseitig aufgelöst: Die Freiheit realisiert sich in der Pflichterfüllung des Einzelnen.424 Hegels Ausführungen beziehen sich daher auf das Anerkennen des Einzelnen in seiner Eigenschaft als Glied des Volkes und nicht etwa auf seine unverwechselbare Individualität.425 Die Gleichsetzung von bürgerlicher Pflicht und Freiheit vernachlässigt jedoch die Tatsache, dass es sich bei der Pflicht um ein Zwangsverhältnis handelt. Anerkennungsverhältnisse bedingen nicht lediglich eine Realisierung der Sittlichkeit, sondern implizieren ebenso gesellschaftliche Zwangsverhältnisse, die Hegel jedoch ausblendet zugunsten eines bürgerlichen Ethos. Er weist dem Staat die Aufgabe zu, „den Einzelnen gegen den Rechtsbruch anderer zu schützen“ 426, ohne jedoch die Verfügungsgewalt des Staates kritisch zu reflektieren. Die Beschneidung rechtlich verbürgter Freiheiten in praktischen Anerkennensverhältnissen durch den Staat ist nicht Gegenstand seiner Ausführungen. Aus
422 Vgl. Hoffmeister 1955, S. 316; Arndt 2006, S. 262ff. 423 Dies führt zu der eigentümlichen Situation, dass Hegel in den Jenaer Systementwürfe III die Gegensätze von Armut und Reichtum sowie Prozesse der Industrialisierung, Verelendung und Entfremdung als prinzipiell vernünftig und daher gewollt bewertet (vgl. Hegel 1987, S. 233f.) 424 Vgl. Verbrugge 2006. 425 Vgl. Wigger 1983, S. 69; Wigger 1994, S. 249ff.; Siep 1992a, S. 181. 426 Siep 1979, S. 126.
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folgenden Gründen ist trotz dieser Einwände eine Rezeption der Anerkennungstheorie im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit sinnvoll und notwendig: Die unterschiedlichen Variationen von dem Kampf des Anerkennens sowie dem Kampf um Ehre geben wichtige Hinweise auf die implizite Dynamik von (gewalttätigen) Konflikten. Zudem bildet die Konstitution des „Wir-Bewusstseins“ und die darin enthaltene Entgegensetzung von Einzel- und Allgemeinwillen ein wichtiges Thema adoleszenter Entwicklung, in der die generationale Frage nach der Übernahme gesellschaftlicher Normen und Werte sowie nach der Konstitution neuer Wertvorstellungen eine wichtige Rolle spielen.427 Die Anerkennungstheorie erfasst Prozesse der Identitätsbildung nicht nur über die vermeintlich harmonische Selbstanschauung im Anderen, sondern sie reflektiert ebenso Identitätsbildungen im Zuge konfliktreicher Auseinandersetzungen.428 Insofern enthält die Anerkennungstheorie positive Potenziale im Hinblick auf die Erklärung weiblicher Jugendgewalt. Sie bietet eine Folie, Auseinandersetzungen im Kontext ihrer Vergesellschaftung resp. Individualisierung zu verstehen. Eine Analyse des Materials mithilfe der anerkennungstheoretischen Heuristik ermöglicht es, die Identitätsbildung über den Ausschluss resp. die Negation von Anerkennung in ihrer Dynamik zu untersuchen und in Bezug zur adoleszenten Entwicklung zu stellen. Über mögliche Bezugspunkte zur Erklärung weiblicher Jugendgewalt hinaus führt die dargelegte Kritik jedoch zu der Frage, wie in posttraditionalen Gesellschaften Anerkennungsverhältnisse beschaffen sind. Eine Übernahme der Ausführungen Hegels ist wegen der oben beschriebenen idealistischen Prämissen seiner Geistesphilosophie nicht möglich. Zeitgenössische Weiterentwicklungen des Ansatzes wie etwa die Veröffentlichungen von Siep und Honneth erheben den Anspruch, die Anerkennungstheorie als kritische Folie zur Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse zu nutzen und bieten somit wichtige Anregungen für die zu bildende Anerkennensheuristik.
427 Vgl. Kapitel 4.1 Grundlegende Begriffe und Konzepte adoleszenter Entwicklung. 428 Vgl. Siep 1992a, S. 178.
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6.1.5 Zeitgenössische Weiterentwicklungen der Anerkennungstheorie 6.1.5.1 Der Kampf um Anerkennung (Honneth)429 Honneth setzt sich mit seiner Veröffentlichung Kampf um Anerkennung zum Ziel, „Prozesse des gesellschaftlichen Wandels mit Bezugnahme auf die normativen Ansprüche zu erklären, die in der wechselseitigen Anerkennung strukturell angelegt sind.“430 Er konstatiert, dass Anerkennung die Grundlage posttraditionaler Gesellschaft bilde, denn erst über sie reproduziere sich das gesellschaftliche Leben. Indem sich die Subjekte in den jeweiligen gesellschaftlichen Sphären als solche wechselseitig erkennen und anerkennen bildet Anerkennung die Voraussetzung für soziale Reproduktion und Innovation. Dabei eruiert Honneth drei grundlegende Formen von Anerkennung, die sich in differenten gesellschaftlichen Sphären realisieren: die affektive Anerkennung resp. Liebe, die rechtliche resp. kognitive Anerkennung und die soziale Wertschätzung resp. Solidarität. Die Liebe verortet Honneth in starken Gefühlsbeziehungen zwischen wenigen Personen wie etwa erotischen Zweierbeziehungen, Freundschaften und ElternKind-Beziehungen.431 Dabei charakterisiert er die Liebe als ein Spannungsverhältnis zwischen emotionaler Abhängigkeit resp. Symbiose und Selbstständigkeit. Eine gelungene Balance zwischen diesen Polen wäre für Honneth erreicht, wenn ein Subjekt „von einer als unabhängig erlebten Person geliebt wird, der gegenüber es seinerseits ebenfalls emotionale Zuneigung oder Liebe empfindet.“432 Er illustriert dieses Anerkennungsverhältnis, indem er mit Bezug auf Erkenntnisse psychoanalytischer Objektbeziehungstheorien die frühkindliche Mutter-Kind-Beziehung als Anerkennungsverhältnis beschreibt. Im Laufe der Entwicklung entstehe zwischen Mutter und Kind idealerweise eine Balance zwischen den Polen von Symbiose und Selbstständigkeit. Dieses Gleichgewicht impliziere ein Spannungsverhältnis von gleichzeitiger Freigabe und emotionaler Bindung an den Anderen. Das liebende Anerkennungsverhältnis zur Mutter bilde die Grundlage für die Ausbildung von Selbstvertrauen.433 Da die Liebe Selbstvertrauen schaffe und somit für die Autonomie und Teilhabe des Einzelnen am öffentlichen Leben unverzichtbar sei, erkennt der Autor in ihr eine universelle 429 Die Darstellung und Kritik seiner theoretischen Ansätze beschränkt sich auf seine Ausführungen zum Kampf um Anerkennung (vgl. Honneth 2003). Seine späte Variante der Anerkennungstheorie (vgl. Honneth 2005; Forst u.a. 2009) wird in der Darstellung nicht aufgegriffen, da in ihr der Kampf um Anerkennung aus dem Fokus der Theoriebildung rückt. Dieser ist jedoch zentral für die Untersuchung konfliktreicher Entwicklungsprozesse. 430 Honneth 2003, S. 148. 431 Vgl. ebd., S. 153. 432 Ebd., S. 167. 433 Vgl. ebd., S. 169.
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Form der Anerkennung.434 Die rechtliche Anerkennung stelle ein neues Interaktionsmuster der Vergesellschaftung dar, das allein durch den Bezug auf liebende Primärbeziehungen nicht erklärt werden könne. In der Anerkennung als freie und gleiche Wesen komme, so der Autor, die wechselseitige kognitive Achtung zum Ausdruck.435 Das reziproke Anerkennen von Gesellschaftsmitgliedern als Rechtspersonen kennzeichne die historisch gewachsene Form von Interaktionsmustern in posttraditionalen Gesellschaften. Sie sei daher historisch und kulturell variabel. Die Grundlage der rechtlichen Anerkennung bilde die freie und vernunftbasierte Zustimmung zum bestehenden Recht und Rechtssystem. Diese grundlegende autonome und vernünftige Zustimmung sei konstitutiv für die Anerkennungsform des Rechts, denn „die Rechtssubjekte erkennen sich dadurch, daß sie dem gleichen Gesetz gehorchen, wechselseitig als Personen an, die in individueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen.“436 Honneth erklärt, dass die Subjekte eine universale Form des Respekts entwickeln würden, in dem sie sich als moralisch zurechnungsfähige und autonome Personen achten. Mit ihr sei zugleich die Ausbildung von Selbstachtung verbunden, denn die Individuen erführen die Möglichkeit, ihr Handeln „als eine von allen geachtete Äußerung der eigenen Autonomie begreifen zu können.“437 Als Beleg für seine Ausführungen verweist er auf die Publikationen zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1950er und 1960er Jahre. In ihnen sei stets die Rede von der Erduldung rechtlicher Unterprivilegierung, die „zu einem lähmenden Gefühl der sozialen Scham“438 führte, „von dem nur der aktive Prostest und Widerstand befreien könnte.“439 Im Protest der Bürgerrechtsbewegung erkennt der Autor einen empirischen Beleg dafür, dass der Entzug rechtlicher Anerkennung sich auf die Persönlichkeit eines jeden auswirkt und zu einem Verlust von Selbstachtung führt. Die soziale Wertschätzung bildet ein drittes grundlegendes Muster von Anerkennung. Die Individuen respektieren sich in dieser Sphäre wechselseitig in ihren Leistungen und Fähigkeiten, mit denen sie einen Beitrag zur Verwirklichung gesellschaftlicher Zielvorgaben leisten. Diese Form sozialer Wertschätzung realisiert sich über solidarische Beziehungen. Honneth führt diesbezüglich aus: „[N]ur in dem Maße, indem ich aktiv dafür Sorge trage, daß sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.“440 Erst in solidarischen Beziehungen würden sich die Indivi434 Vgl. ebd., S. 174. 435 Vgl. ebd., S. 174. 436 Ebd., S. 177. 437 Ebd., S. 192. 438 Ebd., S. 195. 439 Ebd., S. 195. 440 Ebd., S. 209f.
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duen in ihren jeweiligen besonderen Leistungen zur Verwirklichung allgemeiner gesellschaftlicher Ziele anerkennen. Dabei sei die Anerkennung der jeweiligen gesellschaftlichen Zielvorstellungen historisch und kulturell variabel. Der Autor illustriert diese These, indem er den Wandel der ständisch geprägten Gesellschaft und Lebensführung hin zur Leistungsgesellschaft darlegt. Während in der ständischen Gesellschaft die kollektiv festgelegte Lebensweise und Ehre Gegenstand sozialer Wertschätzung gewesen sei, könne sich die posttraditionelle Leistungsgesellschaft nicht mehr auf einen solchen kollektiven Konsens beziehen. In der modernen Leistungsgesellschaft bemesse sich die soziale Wertschätzung daran, inwieweit der Einzelne mit seinen Fähigkeiten zum Bestehen der Gemeinschaft beitrage. Im Gegensatz zur ständischen Gesellschaft umfasse der kulturelle Orientierungsrahmen der posttraditionellen Leistungsgesellschaft ein plurales klassen- und geschlechtsspezifisches Wertesystem.441 Aus der Erfahrung solidarischer Anerkennung konstituiere sich eine Selbstbeziehung, die der Autor Selbstschätzung nennt. Der Einzelne beziehe seine Leistungen positiv auf sich selbst im Kontext der Verwirklichung kollektiv geteilter Zielvorstellungen. Honneth nimmt Anschluss an Hegels Idee der Realisierung unterschiedlicher Formen der Anerkennung in den jeweiligen gesellschaftlichen Sphären. Während die Liebe den Bereichen Familie und Freundschaft zugeordnet wird, findet die rechtliche Anerkennung ihre Verortung in der bürgerlichen Gesellschaft. Die solidarische Wertschätzung realisiert sich in der Sphäre des Staates. Jede dieser Bereiche enthalte, so der Autor, ein besonderes Potenzial an moralischer Entwicklung und individueller Selbstbeziehung, denn mit der Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen gehe zugleich eine Erweiterung der Autonomie der Subjekte im gesellschaftlichen Kontext einher.442 Diesen drei Anerkennungsformen stellt Honneth drei Formen ihrer Verweigerung gegenüber, die er als Missachtung bezeichnet. Er postuliert, dass diese aus der Verletzung der intersubjektiv erworbenen Selbstbeziehung einer Person resultierten. Mit Missachtung wird jenes schädigende Verhalten bezeichnet, das Individuen in ihrem positiven Selbstverständnis verletzt, das sie auf intersubjektivem Wege erworben haben. Der Autor erklärt, dass der Verweigerung von Anerkennung eine identitätsschädigende Kraft innewohne, weil sie den Individuen in sozialen Zusammenhängen die Möglichkeiten nehme, sich positiv auf sich selbst zu beziehen.443 Die jeweiligen Entwertungen resp. Missachtungen entsprechen den drei dargelegten Anerkennungsformen. Die erste Form der Missachtung schädigt die leibliche Integrität der Person und umfasst Praktiken wie Folter
441 Vgl. ebd., S. 203. 442 Vgl. ebd., S. 152. 443 Vgl. ebd., S. 212f.
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oder Vergewaltigung. Sie wird als „elementarste Art der Erniedrigung“ 444 eingeordnet, da sie das durch Liebe erlernte Vertrauen in die autonome Verfügung über den eigenen Leib infrage stelle und nachhaltig verletze. Die Folgen physischer Misshandlung werden daher als universell bezeichnet. Die zweite Form der Missachtung umfasst die Entrechtung oder den sozialen Ausschluss. Geschädigt werde auf dieser Ebene die Selbstachtung der Person, denn dem Betroffenen werde die Anerkennung als vollwertiger, moralisch gleichberechtigter Interaktionspartner entzogen.445 Die Herabwürdigung individueller und kollektiver Lebensweisen impliziere die Verweigerung sozialer Wertschätzung resp. Solidarität. Sie führe, so der Autor, zum Verlust der Selbstschätzung. Über die Verknüpfung der Anerkennung mit gesellschaftlichen Ansprüchen und Funktionen verleiht Honneth Anerkennungsverhältnissen eine moralische Dimension. Die Realisierung normativer Ansprüche im Kontext von Anerkennungsbeziehungen ermöglicht oder limitiert den Zuwachs an Autonomie im gesellschaftlichen Kontext. Insofern enthält die Gesellschaftstheorie der Anerkennung eine normative Implikation: Die Vergesellschaftung und Individuierung des Einzelnen geht mit einem schrittweisen Zuwachs an Autonomie einher. Dabei enthielten die dargelegten Formen der Anerkennung grundlegende Interaktionsmuster zur Realisierung der Autonomie. Dabei räumt er ein, dass die normativen Implikationen rechtlicher und solidarischer Anerkennung in wertpluralistischen Gesellschaften keineswegs eine gegebene Konstante darstellen, sondern Gegenstand moralischer Kämpfe um die Durchsetzung erweiterter sozialer Ansprüche seien. Honneth postuliert, dass der Anstoß zum Kampf um Anerkennung die Bewusstwerdung verweigerter Anerkennung voraussetze. Diese Bewusstwerdung geschehe über die Reflexion der durch Missachtungserfahrungen ausgelösten Gefühle von Scham und/oder Wut. Diese affektiven Reaktionen könnten als motivationaler Anstoß für einen Kampf fungieren, wenn es den betroffenen Subjekten gelänge, „Artikulationsmittel einer sozialen Bewegung“ 446 bereitzustellen. Der moralische Kampf um Anerkennung ist aus der Perspektive des Autors ein kollektiver Kampf um die Erweiterung sozialer Ansprüche, der jedoch erst im Kontext der sozialen Bewegung seine Wirkung entfalten könne.
444 Ebd., S. 214. 445 Vgl. ebd., S. 216. 446 Ebd., S. 224f.
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Kritik Honneth verfolgt mit seiner (frühen) Theorie der Anerkennung das Ziel, einerseits eine Theorie der Sozialwerdung der Menschen in posttraditionalen Anerkennungsbezügen darzulegen und andererseits eine kritische Folie für gesellschaftlich-historische Entwicklungen zu liefern. Dabei wirft sein Ansatz folgende Fragen resp. Kritikpunkte auf: Einerseits behauptet der Autor, dass Anerkennung ein bestimmtes Muster der Interaktion darstelle, welches das Fundament für menschliche Gesellschaft sei. Andererseits verortet er Anerkennungsverhältnisse in der Sphäre des Staates, in der die Individuen aufwachsen und sozialisiert werden. Wenn aber die Anerkennungsverhältnisse das Fundament der Gesellschaft bilden würden, dürften diese nicht an die Sphäre des Staates gebunden sein. Mit anderen Worten: Honneth erklärt einerseits, dass die Gesellschaft resp. der Staat sich durch das Prinzip der Anerkennung konstituiere, andererseits beschreibt er die Vergemeinschaftung Einzelner im Rahmen staatlich gebildeter Anerkennungsverhältnisse. Die vom Autor dargestellten Anerkennungsformen sind in sich heterogen und die Zuordnung zu den jeweiligen Missachtungsformen z.T. nicht plausibel. Beispielsweise umfasst die Anerkennungsform der Liebe sehr unterschiedliche Qualitäten von Beziehungen, wie etwa Freundschaften, frühe Mutter-Kind-Beziehungen oder die erotische Liebesbeziehung. Durch die Subsumption höchst unterschiedlicher emotionaler Bindungen und die affektive Anerkennung bleibt diese in ihrem Charakter indifferent. Während jedoch die Anerkennungsform der Liebe affektive Beziehungen des sozialen Umgangs umfasst, charakterisiert der Autor ihre Missachtung eindeutig als physische Schädigung, wie etwa Vergewaltigung und Folter. Diese Reduktion erscheint nicht plausibel, denn ebenso lassen sich Verletzungen der Integrität als Formen emotionaler Missachtung beschreiben, z.B. die Erfahrung andauernder Gleichgültigkeit oder des Hasses in familiären Beziehungen. Mit dem geschilderten Problem ist eine weitere Schwierigkeit verbunden: Aus den Darstellungen Honneths zur affektiven Anerkennung und ihrer Missachtung geht nicht hervor, wie sich im skizzierten Rahmen emotionaler Zuwendung der Kampf um Anerkennung realisiert. Der Übergang von der individuellen Erfahrung emotionaler Missachtung in einen kollektiven Kampf führt stets in den Bereich rechtlicher und/oder solidarischer Anerkennung im Hinblick auf gesellschaftlich noch nicht anerkannte Ansprüche. Bezüglich der Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung kritisiert Rutger Claassen, dass die Anerkennung individuell erbrachter Leistungen nicht im Kontext von Wettbewerb und Leistungskonkurrenz verortet werde.447 Zwar benenne Honneth im Rahmen sozialer Wertschätzung das 447 Vgl. Claassen 2008, S. 1035ff.
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Prinzip der Anerkennung individuell erbrachter Leistungen, allerdings bleibe der gesellschaftliche Hintergrund von Leistungskonkurrenz in diesem Zusammenhang ausgeblendet. Claassen bezeichnet den Ansatz Honneths kritisch als „harmonische“ Fassung einer Gesellschaftstheorie und verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Anerkennung über Leistung in posttraditionalen Gesellschaften gerade nicht im solidarischen Zusammenhang erfolge, sondern eingebettet sei in Prinzipien des Leistungsvergleichs und der Leistungskonkurrenz. Über diesen Weg würden die Subjekte Anerkennung und soziales Prestige erwerben. Der Kampf um Anerkennung gewinnt aus dieser Perspektive eine andere Bedeutung: Er besteht aus dem Kampf des Einzelnen um seinen Platz in der Gesellschaft in Konkurrenz zu Anderen. In diesem Wettstreit gibt es unweigerlich Verlierer, die ungeachtet ihrer persönlichen Eignung oder ihrem Leistungsbestreben keine Chance auf Anerkennung erhalten. Claassen kritisiert daher, dass Honneth mit der Ausblendung der Anerkennungsform Leistungskonkurrenz das gesellschaftskritische Potenzial seiner Theorie vergebe. Denn die posttraditionale Leistungsgesellschaft erzeuge Verlierer ohne legitimen Anspruch auf Anerkennung, ohne dass sie ihren Verliererstatus selbst aufgrund von mangelnder Begabung oder Leistungsbereitschaft zu verantworten hätten.448 Zudem lasse die Einengung des Kampfes auf soziale Solidarisierungsformen alle von Marginalisierung und sozialer Ausgrenzung Betroffenen außer Acht, die nicht in der Lage sind, ihr Leiden an der Gesellschaft in kollektive Deutungsmuster zu überführen, welche anschlussfähig wären für die Etablierung sozialer Bewegungen. Der von Hegel beschriebene Kampf um Anerkennung, der zunächst den grundlegenden Erkenntnisprozess der Individuen im Kontext institutionalisierter Beziehungen beschreibt, wird von Honneth auf einen moralischen Kampf einer gesellschaftlichen Minorität um noch nicht anerkannte Rechte oder Wertschätzungen reduziert. Gesellschaftliche Mechanismen, die eine Solidaritätsbildung der Benachteiligten konterkarieren, werden damit ebenso aus der Analyse der „kontrollier[ten] normative[n] Fortentwicklung“449 einer Gesellschaft ausgeschlossen wie etwa die Frage, unter welchen Bedingungen überhaupt soziale Bewegungen entstehen und ob diese mehr oder weniger zufälligen Entstehungsbedingungen den Anspruch eines kontrollierten Fortschrittsideals nicht gerade grundsätzlich infrage stellen. Neben den diskutierten Kritikpunkten bleibt die Rolle von Anerkennensprozessen für die Identitätsbildung des Einzelnen unbestimmt. Siep fragt in diesem Zusammenhang kritisch:
448 Vgl. ebd., S. 1037. 449 Halbig 2006, S. 306.
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„Die Angewiesenheit auf liebende Bestätigung, rechtliche Anerkennung von Autonomie und soziale Wertschätzung für Leistungen und Beiträge zur Erhaltung der gemeinsamen Kultur macht das Individuum für Verletzungen anfällig – aber sind diese Verletzungen und ihre Überwindung notwendig für die Bildung einer stabilen Selbstachtung?“450
Die Frage, inwieweit der Kampf um Anerkennung konstitutiv für die Identitätsbildung des Einzelnen – jenseits der gesellschaftlichen Fortentwicklung – ist, lässt sich mithilfe der Ausführungen Honneths nicht eindeutig beantworten. Einige der dargelegten Kritikpunkte, etwa im Hinblick auf die konzeptualisierten Anerkennungsformen, könnten entkräftet werden, wenn sie als Ausdruck empirischer Verhältnisse nicht als „entweder-oder-Kategorien“, sondern im Modus des „sowohl-als-auch“ gelesen würden. Leider erklärt der Autor nicht, wie die Kategorien der Anerkennungs- und Missachtungsformen empirisch anzuwenden seien und wo die Grenzen ihrer Anwendung liegen. Insofern bergen sie für die Analyse empirischer Verhältnisse eine große theoretische Ungenauigkeit. Henning Röhr nimmt in diesem Zusammenhang Anstoß daran, dass der weitreichende Anerkennungsbegriff Honneths an Kontur verliere, so dass die unterschiedlichen Qualitäten sozialer Beziehungen nicht mehr scharf unterschieden werden können.451 Aufgrund der dargelegten Kritikpunkte und theoretischen Unklarheiten wurde Honneths Ansatz für die Entwicklung von Heuristiken zur Materialanalyse nicht ausgewählt. In der Auswertung des Materials wurde nicht lediglich die Rekonstruktion der physischen Auseinandersetzungen angestrebt, sondern ebenso die Verknüpfung von Gewaltausübung mit Viktimisierungen und gesellschaftlicher Marginalisierung. Diese Perspektive auf Opfer- und Tätererfahrungen dient nicht dazu die Taten der Mädchen zu relativieren, sondern soll einen umfassenden Blick auf die Dynamik von Gewalterleiden und -ausübung gewähren. Eine auf kollektive Moralkämpfe zugeschnittene Version des Kampfes um Anerkennung blendet die Erfahrung nicht verbalisierter und kollektiv anschlussfähiger Verweigerungen von Anerkennung im Kontext von Leistungskonkurrenz und Leistungsstreben aus. Im Folgenden wird eine zeitlich etwas weiter zurückliegende Entwicklung der Anerkennungstheorie von Siep vorgestellt, die insbesondere die Verknüpfung von Anerkennungsbeziehungen in institutionalisierten Lebensbereichen fokussiert. Sie bildet die Grundlage der anschließend in Kapitel 6.2 vorgestellten anerkennungstheoretischen Heuristiken.
450 Siep 2009, S. 195. 451 Vgl. Röhr 2009, S. 97.
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6.1.5.2 Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie (Siep) Siep misst den Schwerpunkt seiner Weiterentwicklung von Hegels Anerkennungstheorie an den zwei grundlegenden Aufgaben der zeitgenössischen praktischen Philosophie: erstens der Erklärung der Grundprinzipien sozialen Handelns und zweitens der Begreifbarmachung der historischen Genese der Institutionen einer Gesellschaft.452 Der Autor erkennt das Potenzial der Anerkennungstheorie, beide Aufgaben der Praktischen Philosophie miteinander zu verknüpfen: „Mit dem Prinzip ‚Anerkennung‘ hat Hegel ferner nicht die Struktur eines besonderen Typs des Handelns oder der sozialen Beziehungen verallgemeinern wollen, sondern die Struktur eines Bildungsprozesses von einzelnem und gemeinsamem Bewußtsein anzugeben versucht, der die verschiedenen Interaktionsformen und sozialen Beziehungen von Sprache, Arbeit, Liebe, Vertrag, Tausch, Recht usw. auf jeweils spezifische Art bestimmt. Die Weise, wie sich die Momente dieser Struktur in solchen Beziehungen ‚konkretisieren‘, macht die Darstellung eines Systems der Institutionen und ihrer historischen Genese möglich.“453
Insofern nehmen die Überlegungen des Autors Anschluss an Hegels zentralen Gedanken, dass die Bewusstseinsstruktur der Subjekte wesentlich durch die institutionalisierten Lebensformen, in denen sich Anerkennung realisiert, geprägt werde.454 Siep pointiert, dass das Anerkennen an die Bildungsprozesse der Subjekte gebunden sei, die sich über die historisch gewachsenen Interaktionsformen wie Arbeit, Liebe, Tausch usf. vollzögen. Sie prägten das Bewusstsein und das Handeln der Individuen. In diesem Zusammenhang betont der Autor, dass das Konzept institutionalisierter Anerkennungsbeziehungen keine Idealisierung von Handlungsformen darstelle, sondern offen bleibe „für je spezifische Konkretisierungen in ganz unterschiedlichen und miteinander verbundenen Formen sozialer Interaktion (z.B. Familie, Staat, Wirtschaftsleben).“455 Folglich löst Siep Hegels Anerkennungstheorie aus ihrem idealistischen Zusammenhang und öffnet sie für die Analyse zeitgenössischer sozialer Prinzipien, die das Handeln der Individuen in Institutionen wie Familie, Schule usf. strukturieren und zugleich die Selbst- und Weltsicht der Handelnden grundlegend formen. Das soziale Handeln der Individuen gewinnt über den institutionellen Kontext erst seine Bedeutung und lässt sich nur in der Berücksichtigung dieses Zusammenhangs sinnvoll erklären. Siep erläutert jedoch, dass der Bildungsprozess der Individuen nicht harmonisch ver452 Vgl. Siep 1979, S. 14f. 453 Ebd., S. 17f. 454 Vgl. ebd. 455 Halbig 2006, S. 305.
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laufe, sondern durch die konflikthafte Auseinandersetzung mit den bestehenden Institutionen geprägt sei. Er nimmt in diesem Zusammenhang explizit Bezug auf Hegels Kampf des Anerkennens: Die Distanznahme und Versöhnung stellten „‘Stationen‘ einer Bewußtseinsentwicklung dar, die über das Sich-Finden in einer unmittelbaren Gemeinschaft und das Bewußtsein der Freiheit reinen Fürsichseins zum Bewußtsein der Verwirklichung dieser Freiheit in dem […] Leben eines Volkes“456 verliefen. Der Kampf um Anerkennung bildet aus dieser Perspektive einen notwendigen Schritt in der Bildungsbewegung der Subjekte. Siep betont, dass Distanznahme und Versöhnung Aspekte des Erfahrungsprozesses seien, der die Individuen zu einem reflektierten Verständnis des Selbst und ihrer Stellung in der Gemeinschaft führe. Darüber hinaus biete dieser Ansatz der Anerkennungstheorie die Möglichkeit einer deskriptiv-erklärenden und normativ-kritischen Analyse bestehender Institutionen.457 Deskriptiv-erklärend könnten mithilfe der Anerkennungstheorie die grundlegenden Prinzipien sozialen Handelns vor dem Hintergrund der Ausbildung eines komplexeren Selbst- und Weltverhältnisses rekonstruiert werden. Ebenso sei über einen Bedeutungswandel sozialer Prinzipien des Handelns die Veränderung historisch gewachsener Institutionen rekonstruierbar.458 Eine normativ-kritische Analyse erhebe hingegen die gelingende Anerkennung zum Maßstab für die Beurteilung bestehender Institutionen.459 Gelingende Anerkennung lässt sich für Siep jedoch nicht a priori deduzieren, sondern leitet sich aus „einer Erfahrungsgeschichte gelingender und scheiternder Anerkennung“460 ab. Für die posttraditionale Gesellschaft formuliert er ein gelingendes, institutionalisiertes Anerkennungsverhältnis: „Ein Verhältnis der Teilnahme an der Bildung des gemeinsamen Willens bzw. der Loyalität zu seinen rechtmäßigen Akten auf der einen Seite, und eines der Freigabe des Individuums durch diesen Willen, sei es in Form des Grundrechtsschutzes oder der Ermöglichung einer nicht ausschließlich politischen Existenzform oder der Respektierung gesellschaftlicher ‚Non-Konformität‘, auf der anderen Seite.“461
Siep beurteilt Institutionen in posttraditionellen Gesellschaften dahingehend, inwieweit sie Individuen die Teilhabe an der gemeinsamen Willensbildung ermöglichen und zugleich Existenzformen, die den etablierten Bedeutungen sozialen Handelns zuwiderlaufen, tolerieren.
456 Siep 1979, S. 225. 457 Vgl. Siep 1979, S. 14. 458 Vgl. ebd., S. 296. 459 Vgl. ebd., S. 297. 460 Halbig 2006, S. 305. 461 Siep 1979, S. 297f.
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Die hier lediglich in ihren Grundzügen skizzierte Weiterentwicklung der Anerkennungstheorie weist folgende Vorteile auf: Sie bietet konkrete Anknüpfungspunkte für eine Analyse gelingender und misslingender Anerkennung in den Lebensbereichen Familie, Schule usf. Insofern erlaubt dieser Ansatz, das Gewalthandeln der Mädchen in Bezug zu ihrer biografischen Perspektive auf ihre Lebensbereiche und -konflikte zu setzen. Die institutionellen Anerkennungsprozesse sind inhaltlich nicht determiniert, stattdessen orientiert sich ihre Rekonstruktion an der Realisierung oder der Verweigerung des Anerkennens im Kontext der jeweiligen Institution.462 Gleichwohl nimmt eine institutionenkritische Analyse normativ Bezug auf die Realisierung der Teilhabe an der gemeinsamen Willensbildung und der Akzeptanz non-konformer Lebensweisen. In dieser Weise eröffnet dieser Ansatz die Möglichkeit, institutionalisierte Lebensbereiche der Biografieträgerinnen kritisch hinsichtlich der Ermöglichung oder auch Verweigerung von Anerkennung zu reflektieren. Mit der Bezugnahme auf diese Weiterentwicklung der Anerkennungstheorie ist es zudem möglich, die Prinzipien sozialen Handelns in ihrer Verwobenheit von subjektiven Bewusstseinsstrukturen und objektiver Gegebenheiten zu rekonstruieren. Insofern zielt eine anerkennenstheoretisch begründete Analyse auf die Rekonstruktion des Zusammenhangs von subjektiver Sichtweise und gegebenen gesellschaftlichen Strukturen. Im Kampf um Anerkennung realisiert sich die konflikthafte Vergesellschaftung und Identitätsentwicklung der Individuen. Biografische Konflikte sind auf dieser Folie nicht lediglich als Ausdruck normabweichenden Verhaltens einzuordnen, sondern stellen eine notwendige Erfahrung im Prozess der gesellschaftlichen Integration dar. Identität generiert sich aus dieser Perspektive nicht ausschließlich über die Selbstanschauung im Anderen, sondern ebenso über die Auseinandersetzung und Negation des Anderen. Für eine Analyse des Materials erscheint der anerkennungstheoretische Ansatz von Siep daher als besonders geeignet. Allerdings verbleiben die Fassung der Anerkennungsrelation und die Dynamik des Kampfes um Anerkennung auf abstraktem Niveau. Eine konkrete Erfassung und Beurteilung von institutionalisierten Anerkennungsbeziehungen wird zwar aufgrund der Ausführungen zur deskriptiv-erklärenden und normativkritischen Analyse gesellschaftlicher Institutionen nahe gelegt, jedoch erfährt dieser Aspekt keine weitere Konkretisierung. Im Folgenden werden daher auf der Grundlage der Anerkennungstheorie von Hegel und Siep Heuristiken zur Erfassung von Anerkennungsrelationen und -konflikte in Interaktionen vorgestellt, die es erlauben, Anerkennensprozesse am Material zu rekonstruieren. 462 Dies ist insbesondere für eine qualitative Herangehensweise wichtig (vgl. Kapitel 7.1 Grundannahmen qualitativer Sozialforschung).
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6.2 Heuristiken zum Kampf des Anerkennens Die hier vorgestellten Heuristiken dienen aus methodischer Perspektive nicht lediglich der theoretischen Sensibilisierung, um das erhobene Material in theoretischen Begriffen reflektieren zu können.463 Sie sind sogenannte sensibilisierende Konzepte, die als „theoretische Matrix“464 helfen, das empirische Material zu analysieren ohne es unter eine bereits bestehende Theorie zu subsumieren.465 Die anerkennungstheoretischen Heuristiken bieten einen theoretischen Rahmen, um theoretische Einsichten und Verallgemeinerungen aus dem Material methodisch kontrolliert gewinnen zu können. Kapitel 6.2.1 stellt grundlegende Interaktionsdynamiken des Anerkennens vor. Dem schließt sich in Abschnitt 6.2.2 die Explikation des institutionellen Kontextes von Anerkennensprozessen an. Das Kapitel endet mit der Darlegung der Heuristik zum Kampf des Anerkennens in Kapitel 6.2.3. 6.2.1 Anerkennen als Relation Anerkennen ist ein intersubjektiver Prozess, in dem zwei natürliche Personen sich hinsichtlich bestimmter charakterlicher Aspekte wechselseitig bestätigen. Die folgende Heuristik zur Anerkennungsrelation beschreibt, wie sich Anerkennensprozesse in sozialen Situationen bestimmen lassen.466 Christoph Halbig konstatiert, dass Anerkennen als eine Relation beschrieben werden könne, in der Person(-engruppe) (x) als (y) von Person(-engruppe) (z) Bestätigung findet. Dies sei sowohl zwischen einzelnen Individuen als auch Gruppen möglich. Dabei beziehe sich das Anerkennen stets auf einen bestimmten, evaluativen Gesichtspunkt (y).467 Während dieser evaluative Gesichtspunkt in Hegels Darlegung wesentlich um den Aspekt der Selbstständigkeit kreist468, ist diese thematische Einengung für die Analyse praktischer Verhältnisse nicht geeignet. Das Anerkennen in konkreten Situationen ist zwar stets an einen bestimmten inhaltlichen Aspekt gebunden, doch seine inhaltliche Festlegung ist vorab nicht möglich. Das Anerkennen realisiert sich in Beziehungen nicht abstrakt als solche, sondern als Bestätigung oder auch im Falle des Kampfes, in der 463 Vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 25ff. Zusammenfassend vgl. Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln. 464 Kelle/Kluge 1999, S. 34. 465 Vgl. ausführlich Kapitel 7.3.3 Die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten. 466 Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist die dargestellte Dynamik dyadischer Anerkennungsbeziehungen in Kapitel 6.1.1 Anerkennen als Relation. 467 Vgl. Halbig 2006, S. 303. 468 Vgl. Hegel 1986, S.145ff.
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Negation eines bestimmten Aspekts der (Selbst-)Bestätigung.469 Da der evaluative Bezugspunkt auf eine Person oder Gruppe bezogen ist, enthält er zugleich eine implizite normative Ebene: mit der Bestimmung der Ausprägung eines sachlichen Aspekts ist zugleich ein Werturteil über die Beziehung und über die Akteure der Anerkennensrelation verknüpft.470 Der anzuerkennende Sachverhalt (y) strukturiert auf diese Weise die Beziehung und das Handeln von Person(-engruppe) (x) zu Person(-engruppe) (z). Um die dargelegten Bestimmungen der Anerkennensrelation zu konkretisieren, wird ein Beispiel vorgestellt. Es handelt sich um eine konstruierte LehrerSchüler-Beziehung, in der Lehrperson (z) Schüler (x) als hochbegabt anerkennt. Der Prozess des Anerkennens realisiert sich etwa darin, dass die Lehrperson (z) nun von Schüler (x) erwartet, er könne eine komplizierte Mathematikaufgabe lösen. Diese Erwartung verbalisiert die Lehrperson: Sie teilt ihr Urteil dem Schüler mit und stellt ihm im Unterricht zusätzliche Aufgaben mit höherem Schwierigkeitsgrad. Schüler (x) erfährt sich über die Zuschreibung des Lehrers (z) jetzt aus einer neuen Perspektive: Er ist offenbar „hochbegabt“. Damit erkennt er den evaluativen Gesichtspunkt „hochbegabt“ des Lehrers (z) an und fühlt sich verpflichtet, den Erwartungen des Lehrers (z) zu entsprechen. Über die Vergabe und das Erfüllen der Mehrarbeit realisiert sich das Anerkennen als „hochbegabter“ Schüler. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie der evaluative Gesichtspunkt (y) nicht nur das Verhältnis von Person (x) zu Person (z) strukturiert, sondern auch das Selbstkonzept der Personen beeinflusst und zugleich zu einer Fortschreibung des Anerkennungsprozesses führt. Denn das Anerkennen der vermeintlichen Hochbegabung wird über die sich fortschreitende Mehrarbeit (in Differenz zu den übrigen Schülern) konstituiert.471 Darüber hinaus wird im Beispiel die normative Dimension von Anerkennung sichtbar: Lehrperson (z) fällt mit der Annahme der „Hochbegabung“ ein Urteil über Schüler (x). Dieses Urteil prägt seine Verhaltenserwartungen gegenüber Schüler (x). Über das engagierte Lösen komplizierter Mathematikaufgaben erkennt Schüler (x) das Werturteil der Hochbegabung an. Die Normativität der Anerkennungsbeziehung wird über die praktische Selbstbestätigung der Individuen insbesondere dann sichtbar, wenn Anerkennung verweigert wird. Beispielsweise führt die Verweigerung der Erwartungshaltung des 469 Vgl. Kapitel 6.1.1 Anerkennen als Relation. Daher besteht eine Nähe der Anerkennungstheorie zur Theorie der Identitätsbildung von Mead, der Interaktionen unter dem Fokus der wechselseitigen Verhaltenserwartung von Individuen konstituiert (vgl. Mead 1991, S.177ff.). 470 Insofern kann eine Person als solche in ihrer „Persönlichkeit“ nicht anerkannt werden. Im Zentrum der Anerkennungsrelation steht lediglich ein bestimmter Aspekt der Persönlichkeit, wie z.B. die Anerkennung als liebenswerte Person. Begriffe wie beispielsweise „soziale Anerkennung“ sind aus dieser Perspektive zu ungenau, weil sie die inhaltliche Dimension des Anerkennungsverhältnisses außer Acht lassen. 471 Vgl. Kapitel 6.1.1 Anerkennen als Relation
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Lehrers (z) durch Schüler (x), der keine Mehrarbeit im Unterricht leisten will, zugleich zu einem Werturteil über Schüler (x) durch Lehrer (z) (wie beispielsweise „erweckt bloß den Anschein der Hochbegabung“), aber zugleich auch zu einem Werturteil über die Lehrperson (z) durch Schüler (x) (wie etwa „für ihn zählt bloß die Mathematik“). Das Anerkennen führt zur praktischen Selbstbestätigung oder Negation der Individuen in ihren sozialen Bezügen. Dabei schreibt sich der normative Selbstanspruch über die Erfahrungen und Handlungen der Akteure weiter fort und prägt das Selbst- und Weltverhältnis der Individuen. Allerdings ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis wesentlich durch die Institution Schule gerahmt, denn weder die Beziehung von Lehrer und Schüler, noch die im Beispiel aufgeführten Verhaltenserwartungen, können ohne den institutionellen Bezug sinnvoll erklärt werden. 6.2.2 Anerkennen in Institutionen Hegel erkennt im institutionellen Zusammenhang die grundlegende Bedingung für die Vergesellschaftung resp. den Erkenntnisfortschritt der Subjekte.472 Erst über die Einbettung in Institutionen erhält der Prozess der Anerkennung seine vergesellschaftende Funktion, in welcher der Einzelne nicht nur zu einer reflektierten Ich-Du-Beziehung gelangt, sondern ein Bewusstsein von gesellschaftlichen Zusammenhängen und seiner Stellung in dieser Gemeinschaft entwickelt.473 Wie bereits dargelegt wurde, enthält Hegels Institutionsbegriff eine idealistische Ausrichtung: Er umfasst geregelte soziale Beziehungen, in denen die Individuen Bildungsprozesse durchlaufen, bis sie sich schließlich als Mitglieder der idealen bürgerlichen Gesellschaft anerkannt wissen und sich ihr unterordnen. Weder die Bezugnahme auf ständische Gesellschaftsstrukturen noch die Annahme, es handele sich um eine ideale resp. in sich vernünftige Gesellschaft, bilden eine angemessene Basis für die Beschreibung posttraditionaler Gesellschaften. Vielmehr sind Spannungsverhältnisse von Individuum und Gesellschaft anzunehmen, in dem sich das Leid des Einzelnen nicht durch die als prinzipiell vernünftig ausweisbare Gesellschaft aufhebt oder gar legitimieren lässt.474 Daher ist es notwendig, den Institutionsbegriff kritisch zu reflektieren. Der Terminus der Institution wird in der Soziologie häufig gebraucht, wenn Phänomene geregelter sozialer Kooperation erklärt werden.475 In der Bestimmung der Ehe und Familie 472 Vgl. Kapitel 6.1.1 Anerkennen als Relation. 473 Vgl. ausführlich Kapitel 6.1.2 Anerkennen in Institutionen. 474 Vgl. etwa Adorno 1973;1977; 2003; vgl. Bourdieu 1987; Bourdieu u.a. 1997; Schultheis/ Schulz 2005. 475 In der Soziologie liegen divergierende Bestimmungen des Institutionsbegriffs vor, deren Ausführungen jedoch den Rahmen der Arbeit sprengen würden.
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als Institutionen oder gar „Keimzelle“ der modernen, bürgerlichen Gesellschaft, lassen sich Institutionen als „Vergesellschaftungsformen mit einer langen historischen Lebensdauer auf juristisch modifizierter Grundlage“476 charakterisieren. Wesentlich für die Bestimmung von Institutionen ist ihre gesetzliche Grundlage. Sie legitimieren sich über ihren gesellschaftlichen Auftrag. Darüber hinaus lassen sich Institutionen charakterisieren als „im kulturellen Wertsystem verwurzelte verhaltensregulierende Normen, mit einem hohen Grad an Erzwingbarkeit.“477 Insofern verkörpern sie tradierte Sitten und Gebräuche, deren Befolgung notfalls erzwungen werden kann. Im Gegensatz zu spontanen Zusammenschlüssen (z.B. Jugendclique) können Institutionen wie Familie oder Schule im Falle des Scheiterns von Anerkennensrelationen nicht einfach verlassen werden. Institutionen stellen an Individuen Verhaltenserwartungen und verfügen qua ihrer kulturell verankerten Legitimation über größere Möglichkeiten der Sanktionierung und der Durchsetzung von Verhaltenskonformität. Dabei werden sie durch sogenannte Repräsentanten verkörpert, die legitime Vertreter der Institution darstellen und Autorität gegenüber den Mitgliedern besitzen.478 Insofern üben Institutionen Zwang zur Wertübernahme und Verhaltenskonformität auf ihre Mitglieder aus, der je nach Kontext und Bedingung wenig oder stark ausgeprägt sein kann. Institutionalisierte Anerkennungsbeziehungen sind daher stets in ein Macht- resp. Autoritätsverhältnis eingebunden. Ihre Legitimation erhalten Institutionen über das etablierte kulturelle Wertesystem. Talcott Parsons pointiert, dass Institutionen „von einem allgemeinen moralischen Empfinden“ getragen seien, d.h. institutionelle Verhaltensanforderungen würden als legitime Pflichten anerkannt.479 Die Verletzung institutioneller Verhaltenserwartungen sei eingebettet in Reaktionen moralischer Empörung sowie Prozessen der Stigmatisierung bei anhaltender Abweichung im institutionellen Kontext. Häufig rückt der Terminus Institution in die Nähe des Organisationsbegriffs, weil beide Phänomene eine geregelte soziale Kooperation voraussetzen.480 Im Gegensatz zu Organisationen grenzen sich Institutionen jedoch durch ihr hohes Maß an Dauerhaftigkeit und innerer Stabilität aus.481 Während Institutionen langfristig gewachsene Ordnung menschlichen Zusammenlebens umfassen, die auf Traditionen und Sitten gewachsen sind, bilden Organisationen eher zielgerichtete Zusammenschlüsse „auf dem Boden der Rationalität“482. Im Gegensatz zur Institution wird die Organisation geplant konstituiert, um ein zuvor be476 Prott 2001, S. 90. 477 Ebd., S. 91. 478 Vgl. Berger/Luckmann 2007, S. 49ff.; vgl. Prott 2001, S. 94f. 479 Vgl. Parsons 1964, S. 140. 480 Vgl. Gurkenbiehl 2002, S. 144. 481 Vgl. Prott 2001, S. 94. 482 Gurkenbiehl 2002, S. 152.
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stimmtes Ziel (dauerhaft) zu erreichen.483 Gleichwohl zeigt insbesondere die letztere Bestimmung, wie sehr sich die Bedeutungen der Begriffe Institution und Organisation überschneiden. Diese Überschneidung spiegelt sich ebenso in der gesellschaftlichen Praxis wider. Beispielsweise sind Schulen Institutionen, die aufgrund der historischen Entwicklung für die Bildung und Erziehung von Heranwachsenden dauerhaft eingerichtet wurden. Zugleich bilden Schulen komplexe Organisationen, in denen die Unterrichtung der Heranwachsenden tagtäglich gesichert wird. Der den Heuristiken des Anerkennens zugrunde gelegte Institutionsbegriff lässt sich in Anlehnung an Jürgen Prott als normative Ordnung „jener Verfahrens- und Verhaltensweisen“484 beschreiben, die „für Bestand und Entwicklung der Gesamtgesellschaft wie für das Handeln der Menschen in ihr von strategischer Bedeutung sind.“485 Familien und Schulen sowie Einrichtungen der Jugendhilfe bilden in posttraditionalen Gesellschaften (westlicher Industrienationen) zentrale Institutionen, welche die Kindheit und Jugendphase wesentlich strukturieren. Die institutionellen Anerkennensbeziehungen sind eingebettet in bestehende Autoritätsverhältnisse, in denen die Repräsentanten der Institutionen, wie etwa Eltern oder Lehrpersonen, auf die Einhaltung bestehender Normen achten. Damit unterscheiden sich Anerkennensprozesse in Spielgruppen von Kindern, Jugendcliquen oder Sportvereinen grundlegend von institutionalisierten Anerkennensbeziehungen. Die Negation von Anerkennung in institutionellen Kontexten umfasst nicht nur eine Verweigerung der positiven Selbstbestätigung der Personen, sondern ebenso die Abwertung als Mitglied oder Repräsentant der Institution. Dabei kann das Scheitern von institutionalisierten Anerkennensbeziehungen gesetzlich kodifizierte Maßnahmen nach sich ziehen, die tiefe Einschnitte in Lebenslauf und Biografie der Heranwachsenden hinterlassen, wie etwa Fremdunterbringungen, Schulverweise etc. Das Scheitern von Anerkennensbeziehungen ist zumeist Ergebnis eines Prozesses, der auf die Konflikthaftigkeit und Kontingenz des Anerkennens in praktischen Verhältnissen verweist. 6.2.3 Der Kampf des Anerkennens Der Kampf des Anerkennens beginnt dort, wo das Anerkennen des Anderen verweigert wird, um eigene Geltungsansprüche durchzusetzen oder die Unterschiedenheit zu anderen zu behaupten. Diese Form der Verweigerung resp. Negation des Anerkennens betrifft nicht lediglich die Ebene eines sachlichen Widerstreits, sie wirkt sich ebenso auf die Beziehungsebene aus. Anerkennens483 Vgl. ebd. 484 Prott 2001, S. 96 kursiv i. O., C. E. 485 Ebd. S. 96, kursiv i. O., C. E.
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relationen enthalten immer auch ein Werturteil über die betreffende Person (-engruppe), die Verweigerung des Anerkennens impliziert daher einen Konflikt auf der moralischen Ebene. Die Konfliktdynamik schreibt sich weiter fort, wenn die vom Anerkennensverlust betroffene Person(-engruppe) in der Folge ihre Anerkennung des Gegenübers verweigert, die erfahrene Negation also nun selbst negiert. Gelangt die beschriebene Konfliktdynamik an einen Punkt, an dem die sachliche Ebene des Konflikts vollständig ausgeblendet wird zugunsten der ausschließlichen Durchsetzung des persönlichen (Geltungs-)Willens, dann kann sie in Anlehnung an Hegel als Kampf um Ehre bezeichnet werden.486 Dabei lässt sich seinen Ausführungen die folgende Dynamik des Kampfes um Ehre auf allgemeiner Ebene entnehmen: Die verweigerte Anerkennung im Hinblick auf einen bestimmten sachlichen Aspekt wird vom negierten Subjekt selbst als eine Ehrverletzung interpretiert, die es motiviert den Kampf aufzunehmen, um die verletzte Ehre wiederherzustellen. Im Kampf erhebt sich das (beleidigte) Subjekt zur Totalität, es vertritt ausschließlich die Position der eigenen Selbstbehauptung. In dieser Position des absoluten Geltungsanspruchs lässt es keine Einwände gelten, auch nicht die Rücksichtnahme auf das eigene Leben. In der Demonstration des unbedingten Durchsetzungswillens erweist sich das beleidigte Subjekt als Sieger resp. Siegerin gegenüber dem/den Beleidigenden.487 Doch in der Wiederherstellung der verletzten Ehre liegt zugleich ein Widerspruch: In der Demonstration absoluter Selbstständigkeit ist das beleidigte Subjekt abhängig von der Anerkenntnis des/der Unterlegenen. In Hegels Ausführungen bleibt jedoch die Frage unbeantwortet, inwieweit Beobachter resp. signifikante Dritte die Rolle der anerkennenden Instanz übernehmen (können). Sollte dies der Fall sein, dann vollzieht sich der Kampf des Anerkennens nicht ausschließlich über die dyadische Beziehung von Beleidiger(-in) und Beleidigtem, sondern ist in eine triadische Konstellation eingebettet, in der eine, wenn nicht gar mehrere Personen den Sieger/die Sieger(-in) als solchen/solche anerkennen. Eine theoretische Fundierung, in der triadische Anerkennungsstrukturen einbezogen werden, ist in der anerkennungstheoretischen Forschung bisher lediglich in Ansätzen vorhan-
486 Vgl. Hegel 1986, S. 145ff.; insbesondere jedoch Kapitel 6.1.3 Der Kampf des Anerkennens. Nicht berücksichtigt werden kulturell und historisch geprägte Konzepte von Ehre (vgl. beispielsweise Burkhart 2006; Steuten 2005) sowie soziologische Ausführungen zur Ordnungsfunktion von Ehre im menschlichen Zusammenleben (vgl. etwa Vogt 1997). 487 Eine konkrete Schilderung von Ehrkonflikten und ihrer Dynamik ist in Werner Schiffauers Die Gewalt der Ehre enthalten. Der Autor belegt sehr eindrücklich in der Analyse des Fallbeispiels der 18-jährigen Petra K., die von 13 türkischen Jugendlichen und einem Erwachsenen vergewaltigt wurde, die eskalierende Dynamik von Ehrkonflikten sowie die differenten Semantiken der Ehre im Kontext eines deutsch-türkischen Kulturkonflikts (vgl. Schiffauer 1983).
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den.488 Hinweise zur Rolle signifikanter Dritter lassen sich in den Ausführungen von Erving Goffman in seinem Aufsatz Techniken der Imagepflege finden.489 In ihm beschreibt der Autor Strategien, welche Individuen in direktem Kontakt einsetzen, um ihr „Gesicht“ zu wahren. Sein Beitrag widmet sich u.a. der Fragestellung, welche Möglichkeiten Individuen zur kommunikativen „Deeskalation“ besitzen, damit alltägliche Anerkennenskonflikte nicht in Ehrkämpfe münden. Der Begriff „Imagepflege“ wird im Deutschen zumeist mit dem Ausdruck „das eigene Gesicht wahren“ gleichgesetzt. Goffman beschreibt das Image wie folgt: „Image ist ein Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild, ࡳ ein Bild, das die anderen übernehmen können.“490 Das Image müsse nicht mit dem umfangreichen, durch biografische Erfahrungen konstituierten Selbstbild der Person übereinstimmen. Es realisiere sich in direkten Interaktionen über sogenannte Handlungsstrategien. Diese seien „Muster verbaler und nichtverbaler Handlungen“491, in denen die Beurteilung der Situation und die Einschätzung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen zum Ausdruck gelangen. Goffman postuliert, dass Handlungsstrategien auch dann wirksam seien, wenn die Akteure ihre Taktik als solche nicht explizit reflektieren. Handlungsstrategien liegen Interaktionen zugrunde, sie sind in der Regel nicht selbst Gegenstand der Kommunikation. Wesentliche Aspekte einer Handlungsstrategie sind die Wahrnehmung der sozialen Situation durch die Teilnehmer und Teilnehmerinnen und die damit verbundene Einschätzung der wechselseitigen (Verhaltens-)Erwartungen. Das Image entstehe im situativen Zusammenhang und nehme über diesen hinaus durch entsprechende Reflexionen der Handelnden Einfluss auf das Selbstbild der Interagierenden. Goffman hebt des Weiteren hervor, dass Akteure ihr Image emotional besetzen würden. Die Interaktion erhielte auf diese Weise einen verpflichtenden Charakter, denn die Interagierenden engagierten und identifizieren sich mit dem entstehenden Image, sie können ihren Ruf und vermeintlich ihr „Gesicht“ verlieren.492 Das Image wird somit, nach der kritischen Einschätzung des Soziologen, zum sozialen Zwang. Die Verteidigung des mit Emotionen besetzten Images wird in Interaktionen zu einer Verpflichtung, die alle übrigen Beteiligten mit dem Akteur teilen. Hat also eine Person die Vorstellung ihrer selbst, die durch
488 Siep hat dieses Problem mit Verweis auf die Ausführungen von Jean-Paul Sartre und Georg Simmel diskutiert. Er kommt jedoch zu dem Schluss, dass „für die Struktur von DreierAnerkennungsbeziehungen […] weder bei Hegel noch in der gegenwärtigen Sozialphilosophie Aufschlussreiches zu finden“ ist (Siep 1979, S. 86). 489 Vgl. Goffman 1986. 490 Ebd., S. 10. 491 Ebd., S. 10. 492 Vgl. ebd., S. 29.
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ihr Image zum Ausdruck gebracht wird, angenommen, dann wird von ihr erwartet, dass sie danach lebt. In der Regel haben die Interaktionsteilnehmer ein Interesse daran, das eigene Image und das des Gegenübers zu wahren. Ein Infragestellen des Images kann über kollektive Handlungsstrategien ausgeglichen werden. Diese Strategien bezeichnet Goffman als Techniken der Imagepflege. Sie basieren auf Anerkennensrelationen: „Während einer bestimmten Interaktion kann ein Interagierender, der bekannte oder sichtbare Eigenschaften besitzt, erwarten, daß er in seinem Auftreten bestärkt wird; er nimmt dann an, daß dieses Auftreten moralisch angemessen ist.“493
Der Autor hebt an dieser Stelle den wechselseitigen Bestätigungscharakter von Interaktionen hervor sowie das damit verbundene (moralische) Werturteil über die betreffende Person. Insbesondere der Anspruch gegenseitiger Bestätigung von Aspekten einer Person und die implizite moralische Dimension dieser Bestätigung kennzeichnen Anerkennensrelationen. Die von Goffman erläuterten Techniken der Imagepflege lassen sich aus dieser Perspektive als Handlungsstrategien im Rahmen von Anerkennungsverhältnissen beschreiben. Das Image einer Person realisiert sich in der konkreten Interaktion über das Anerkennen durch andere Interaktionsteilnehmer. Die sich in der Interaktion konstituierende moralische Dimension lässt sich aus anerkennenstheoretischer Perspektive als evaluativer Gesichtspunkt darstellen. Goffman fasst die basale Anerkennungsstruktur sozialer Interaktion wie folgt zusammen: „Diese Art gegenseitiger Anerkennung scheint ein strukturelles Merkmal von Interaktion zu sein, besonders der Interaktion von direkten Gesprächen.“494 Er pointiert, dass der reziproken Anerkennung eine interaktionsstabilisierende Wirkung zukomme. Sie entlaste die Situation von ständig neuen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen. Beleidigungen und Bedrohungen des Images führen nicht zwangsläufig zum Kampf um Ehre. Der Autor analysiert eine Vielzahl an Techniken, die deutlich werden lassen, dass die Negation von Anerkennung über kompensatorische Handlungen ausgeglichen werden können. Der Soziologe bezeichnet sie daher als Ausgleichshandlungen. Sie sind für die Fragestellung dieser Arbeit besonders aufschlussreich, weil in ihnen Konfliktverläufe sichtbar werden, die sich ohne Weiteres dem Kampf um Anerkennung zuordnen lassen, aber vom Kampf um Ehre deutlich unterscheiden. Ausgleichshandlungen zur Wahrung des Images werden zumeist von anderen Interaktionsteilnehmern ausgeführt. Sie stellen den Ausgleich zur anerkannten Bedrohung des Images dar und übernehmen die Ver493 Ebd., S., 12. 494 Ebd., S. 17.
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antwortung, den Beleidiger auf sein Fehlverhalten hinzuweisen.495 Die einzelnen Varianten und Möglichkeiten der Ausgleichshandlung werden im Detail nicht dargelegt, doch das folgende Zitat mag einen Einblick in die Vielzahl der Ausgleichshandlung gewähren: „Einerseits kann man zu beweisen suchen, daß das, was zugegebenermaßen als bedrohliche Äußerung erschien, in Wirklichkeit ein bedeutungsloses Ereignis ist, eine unbeabsichtigte Handlung, ein Scherz, der nicht ernst gemeint war, oder eine unvermeidbare ‚verständliche‘ Folge enervierender Umstände. Andererseits kann man sich die Bedeutung des Ereignisses eingestehen und sich auf dessen Urheber konzentrieren. Man kann den Nachweis erbringen, daß der Urheber unter irgendeinem fremden Einfluß gestanden hat, oder daß er dem Befehl eines anderen gefolgt ist und nicht eigenverantwortlich gehandelt hat.“496
Die Optionen für Ausgleichshandlungen ließen sich noch weiter fortsetzen. Für die Entwicklung der Heuristik eines Kampfes um das Anerkennen sind sie insofern aufschlussreich, als dass signifikante Dritte wesentlich in den Fokus der Analyse rücken. Sie können über Ausgleichshandlungen eine Wiedergutmachung der Beleidigung erreichen und somit das infrage gestellte Image der beleidigten Person rehabilitieren.497 Daher kommt bedeutsamen Anderen in sozialen Konflikten eine wesentliche, strukturierende Funktion zu. Sie können im Zweifelsfall beschwichtigend eingreifen oder aber den bestehenden Konflikt verschärfen.498 Die gewaltsame Vergeltung, wie sie Hegel in seinen Ausführungen zum Kampf um Ehre thematisiert, stellt für Goffman einen Sonderfall sozialer Interaktion dar und ist zu ergänzen durch die Anwesenheit bedeutsamer Anderer sowie die in der Gruppe geltenden Normen situativ „angemessener“ Strategien der Imagepflege. Aus den bisherigen Ausführungen lassen sich folgende Aspekte für eine Heuristik des Kampfes um Ehre, als einem besonderen Teil im Kampf um das Anerkennen zusammenfassen: Der Kampf um Ehre ist keine notwendige Folge der Negation von Anerkennung. Vielmehr gibt es viele alltägliche Konflikte in denen Anerkennung verweigert wird. Sie werden über Ausgleichshandlungen oder andere kollektive Handlungsstrategien ausgeglichen. Im Kampf um Ehre realisiert sich die Position des unbedingten Geltungsanspruchs. Angst vor 495 Vgl. ebd., S. 25ff. 496 Ebd., S. 26. 497 Zugleich entscheiden die kollektiv geteilten Gruppennormen, welche Ausgleichshandlungen der Teilnehmer und welche Abwehrhandlungen bezüglich der Beleidigung durch den Betroffenen als angemessen und legitim erscheinen. 498 Neben den erwähnten Ausgleichshandlungen benennt der Autor sogenannte Schutzstrategien, die ebenfalls in Konfliktsituationen zur Wahrung des Images eingesetzt werden. Solche Strategien bestehen beispielsweise darin, dass die Betroffenen kompromittierende Situationen grundsätzlich meiden oder aber Beleidigungen vermeintlich „überhören“.
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Verletzungen oder ein Zurückweichen und Aufgeben werden als unehrenhaft angesehen. Der oder die Beleidigten, welcher/welche sich gegen persönliche Abwertungen wehrt/wehren, demonstriert/demonstrieren den eigenen Durchsetzungswillen nicht lediglich gegenüber den Beleidigenden, sondern ebenso gegenüber allen Anwesenden. Gelingt eine Kompensation des Imageverlustes nicht, dann kann den Beleidigenden mithilfe von Gewalt der Status als anerkannter Interaktionspartner entzogen werden. Die Regeln der Gruppe und die Reaktion der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bieten einen Rahmen, innerhalb dessen Handlungen als Beleidigung und Ehrverletzung bestimmt werden. Ebenso enthalten gemeinsam geteilte Gruppennormen Bestimmungen, wie weit der Einzelne gehen darf, um Ehrverletzungen zu sanktionieren und die persönliche Ehre wieder herzustellen. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden, ihre Definition der Situation und die kollektiv geteilten Normen strukturieren die sozialen Interaktion und somit den Umgang mit Beleidigungen resp. Anerkennenskonflikten. Die dargestellte Heuristik bildet eine Art „theoretische Matrix“, mit deren Hilfe Anerkennungs- resp. Ehrkonflikte in Erzählungen von Gewaltsituationen und Problematiken in Lebensbereichen wie Schule, Familie usf. analysiert werden können. Die Auswertung konzentrierte sich dabei zunächst auf die Erzählungen, in denen Konfliktsituationen sehr dicht in ihrem Eskalationsverlauf beschrieben wurden. Im Zentrum der Analyse standen etwa die Fragen, ob die geschilderte Gewaltdynamik als Ehrkonflikt im Sinne der beschriebenen Kriterien eingeordnet werden kann, welche Rolle bedeutsame Andere in den Erzählungen einnahmen, in welchen Lebensbereichen diese Auseinandersetzungen stattfanden usf. Ein weiteres Hauptaugenmerk legte die Analyse auf die Rekonstruktion von Gruppennormen, d.h. kollektiv geteilten Regeln des Umgangs miteinander und „angemessenen“ Reaktion auf Ehrverletzungen.499 Neben der situativen Bedingtheit sozialer Konfliktaustragung ist für die Heuristik zum Kampf des Anerkennens zudem die institutionelle Eingebundenheit der Akteure zentral, denn sie nimmt Einfluss auf kollektive Gruppennormen und die darin eingebettete Beurteilung der Situation durch die Akteure. Aus theoretischer Perspektive bietet sich eine normativ-kritische Reflexion institutionalisierter Anerkennungsbeziehungen an, in der Institutionen dahingehend beurteilt werden, inwieweit sie Individuen an der gemeinsamen Willensbildung teilhaben lassen und zugleich Existenzformen, die den etablierten Bedeutungen sozialen Handelns zuwider laufen, respektieren können.500 Erst in der Möglichkeit der Partizipation und der Veränderung bestehender institutioneller Normen 499 Zur Methode der Analyse von Erzählungen des Gewalterlebens vgl. 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln. Die Ergebnisse zum Kampf um Ehre sowie zu den kollektiven Gruppennormen sind in Kapitel 8.2.2 Der Kampf um Ehre aufgeführt. 500 Vgl. Siep 1979, S. 297f.
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liegt für Heranwachsende die Chance, „von eigenen Interessen abstrahieren zu können, um gemeinsame Regeln zu erzeugen und zu akzeptieren.“501 Franz Bettmer kritisiert in diesem Zusammenhang, dass die Notwendigkeit von Partizipation „in zunehmenden Maße auch für Kinder und Jugendliche unterstrichen“ werde, ohne dass daraus verbindliche Vorgaben und Regelungen in pädagogischen Einrichtungen erwüchsen.502 Er konstatiert, dass die „empirischen Ergebnisse zur bisherigen Entwicklung von Partizipation […] ein eher ernüchterndes Bild“503 ergäben. Häufig werde die Beteiligung der Schülerschaft lediglich in den Bereichen angestrebt, in denen sie keine Veränderung der organisatorischen Schulstrukturen nach sich zögen. Angesichts scheiternder Partizipationsverfahren, in denen die Mitbestimmung der Schülerschaft auf symbolische Gesten der Mitwirkung beschränkt bleibe504, konstatiert Bettmer, dass „die Bedingungen für eine selbstständigere Gestaltung von Einzelschulen […] offensichtlich nicht soweit entwickelt [seien], dass die Bedingungen für eine ernst gemeinte Partizipation erreicht werden könn[t]en.“505 Der Zwang zur Unterordnung von Heranwachsenden unter die in Institutionen repräsentierten Normen, bleibe ein fortbestehendes Dilemma für die Betroffenen. In Bezug auf die Materialauswertung wurde daher die Frage gestellt, inwieweit die Verweigerung von Partizipation und Anerkennung in Zusammenhang mit der Eskalation von Konfliktlagen der interviewten Mädchen steht. In der Auswertung wurde auf solche Gesprächspassagen geachtet, in denen die Interviewten ihre Teilhabemöglichkeiten in Institutionen wie Familie, Schule und/oder Einrichtungen der Jugendhilfe schilderten oder in denen eine zunehmende institutionelle Einengung ihrer Handlungsspielräume deutlich wurde. Dieser Aspekt der Teilhabe oder Verweigerung von Teilhabemöglichkeiten wurde über den rekonstruierten Lebensverlauf der Interviewten zu den jeweiligen Handlungsmustern in Konfliktsituationen in Bezug gesetzt.506 Insgesamt lässt sich der Kampf des Anerkennens einerseits auf der Ebene konkreter sozialer Interaktionen verorten, andererseits sind diese durch institutionelle Rahmen wesentlich strukturiert. Der Kampf des Anerkennens lässt sich 501 Bettmer 2008, S. 216. Das Phänomen der Negation institutioneller Normen und Werte wurden von Graham M. Sykes und David Matza in ihrem Aufsatz Techniken der Neutralisierung aufgegriffen. Die Autoren erklären, dass bestimmte Deutungsmuster, in denen die delinquenten Jugendlichen die eigenen Taten relativieren, die Voraussetzung für ihr abweichendes Verhalten darstellen (vgl. Sykes/Matza 1968; zur Bedeutung in dieser Arbeit vgl. Kapitel 9.2.2.2 Der gewaltaffine Ehrenkodex). 502 Vgl. Bettmer 2008, S. 213. 503 Bettmer 2009, S. 172. 504 Vgl. etwa Helsper/Lingkost 2002; Helsper 2001. 505 Ebd., S. 173. 506 Zu den Ergebnissen dieser institutionell geprägten Dynamik vgl. ausführlich Kapitel 8.2.4 Die Dynamik der Gewaltkarriere: Der Kampf des Anerkennens und 8.3.1 Aspekte des Ausstiegs.
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als Negation erfahrener Anerkennensverluste beschreiben, der in der Auswertung des Materials Verhaltensweisen wie etwa Schulabstinenz, Störung des Unterrichts, Weglaufen von zu Hause, etc. zugeordnet werden konnten. Darüber hinaus impliziert der gewaltsame Kampf des Anerkennens die Demonstration des unbedingten Durchsetzungswillens, wie er sich im Kampf um Ehre realisiert. Er ließ sich anhand der detaillierten Schilderungen der Interviewten zu erlebten gewalttätigen Auseinandersetzungen rekonstruieren. Unter welchen Bedingungen Anerkennenskonflikte umschlagen in einen (gewaltsamen) Kampf um Ehre und wie sich dies im Selbstbild der Akteure niederschlägt, kann lediglich mithilfe des ausgewerteten empirischen Materials beantwortet werden.507 Zuvor richtet sich der Fokus jedoch auf die methodologischen Grundannahmen und Grundlagen der Untersuchung. Insgesamt bietet Einbezug der Anerkennungstheorie über die Analyse des Materials hinaus Vorteile für eine grundsätzliche Diskussion erziehungswissenschaftlicher Grundbegriffe. Während etwa Kritiker der Anerkennungstheorie pointieren, dass der Anerkennungsbegriff zu unscharf sei und in seiner Verwendung überzogen werde508, zeigt diese Arbeit, dass mithilfe anerkennungstheoretischer Heuristiken biografische Problemlagen und Dynamiken erfasst werden, die über die bisherigen Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft wie Lernen, Bildung, Sozialisation oder Erziehung nicht erklärt werden können. Der Anerkennungsbegriff bietet eine theoretische Folie, auf der erziehungsrelevante Probleme Heranwachsender in ihrer Dynamik bestimmt werden können, die in ihrer Tragweite über Prozesse der Erziehung hinausragen. Insofern stellt das vorgestellte theoretische Konzept des Anerkennens eine Heuristik bereit, mit deren Hilfe komplexe soziale Phänomene im Bereich der Erziehung erklärt werden können, ohne dass diese sich auf den Begriff der Erziehung reduzieren lassen.
507 Vgl. Kapitel 8 Der Kampf des Anerkennens in Gewaltkarrieren von Mädchen. 508 Vgl. etwa Röhr 2009, S. 105.
7 Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
Gegenstand dieses Kapitels ist die Darlegung der methodologischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit. Es beginnt zunächst mit der Vorstellung einiger Grundannahmen qualitativer Sozialforschung, die für die Datenerhebung und -auswertung von Bedeutung sind (Kapitel 7.1). Dem schließen sich die Darstellung des methodischen Zugangs zum Gewalthandeln (Kapitel 7.2) und die Diskussion der gewählten Forschungsmethodologie (Kapitel 7.3) an. Die Schilderung der konkreten Umsetzung von Datenerhebung und -auswertung ist für eine bessere Übersicht am Ende dieses Kapitels zusammengefasst (Kapitel 7.4). 7.1 Grundannahmen qualitativer Sozialforschung Der Bereich qualitativer Sozialforschung umfasst ein heterogenes Feld mit einer Vielzahl an divergenten Forschungsrichtungen und methodologischen Konzepten.509 Qualitative Methoden nehmen nicht lediglich auf differente theoretische Grundlagen Bezug, sondern beinhalten sehr unterschiedliche Zugänge zu der erforschenden Wirklichkeit. Daher ist die Auswahl des Forschungsdesigns begründungsbedürftig ࡳ nicht nur in Bezug auf die ausgewählten methodischen Erhebungs- und Auswertungsmethoden, sondern ebenso in Bezug auf den methodologisch gewählten Zugang zum Forschungsgegenstand. Diese Reflexionen setzen voraus, dass trotz der Heterogenität des Feldes ein „kleinster gemeinsamer Nenner“ 510 bestimmt werden kann, der die Grundlage qualitativer Sozialforschung benennt. Ernst von Kardorff führt in diesem Zusammenhang aus:
509 Vgl. Kelle/Kluge 1999. 510 Kardorff 1995, S. 4.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
„Qualitative Forschung hat ihren Ausgangspunkt im Versuch eines vorrangig deutenden und sinnverstehenden Zugangs zu der interaktiv ‚hergestellt‘ und in sprachlichen wie nicht-sprachlichen Symbolen repräsentiert gedachten sozialen Wirklichkeit. Sie bemüht sich dabei, ein möglichst detailliertes und vollständiges Bild der zu erschließenden Wirklichkeitsausschnitte zu liefern. Dabei vermeidet sie so weit wie möglich, bereits durch rein methodische Vorentscheidungen den Bereich möglicher Erfahrung einzuschränken oder rationalistisch zu ‚halbieren‘. Die bewusste Wahrnehmung und Einbeziehung des Forschers und der Kommunikation mit den ‚Beforschten‘ als konstitutives Element des Erkenntnisprozesses ist eine zusätzliche, allen qualitativen Ansätzen gemeinsame Eigenschaft: Die Interaktion des Forschers mit seinen ‚Gegenständen‘ wird systematisch als Moment der ‚Herstellung‘ des ‚Gegenstandes‘ selbst reflektiert.“511
Der Autor konstatiert, dass im verstehenden Nachvollzug der sprachlichen wie nicht-sprachlich erzeugten sozialen Wirklichkeit der Beforschten ein möglichst vollständiges und zugleich detailliertes Bild dieses Wirklichkeitsausschnittes entstehe. Daher bilde die Rekonstruktion von Deutungsmustern und Handlungsstrategien der Akteure einen wichtigen Kern qualitativer Sozialforschung. Dem liegt die grundlegende theoretische Auffassung zugrunde, dass soziale Wirklichkeit über Interaktion erzeugt wird und somit Ergebnis intersubjektiv hergestellter Bedeutungen und Zusammenhänge ist.512 Kardorff pointiert, dass das Ziel qualitativer Forschung eine möglichst umfassende und detaillierte Rekonstruktion dieser Wirklichkeitsausschnitte sei. Daher werde die Datenerhebung und -auswertung möglichst offen gestaltet, um den verstehenden Nachvollzug der Lebenswelten und Sichtweisen der Akteure nicht durch methodische oder theoretische Engführungen einzuschränken und zu verkürzen. Da Forscher und Forscherinnen mit den Akteuren des Feldes in der Phase der Datenerhebung immer auch in Interaktion treten würden und somit nicht als neutrale Wesen agieren könnten, bilde die Rekonstruktion und Reflexion der Interaktion von Befragten und Forschenden ein weiteres zentrales Charakteristikum qualitativer Sozialforschung. Der Erhebungsprozess werde nicht aus der Perspektive einer möglichst störungsfreien Gewinnung von Aussagen oder Beobachtungen im Forschungsfeld beurteilt, sondern systematisch in die Auswertung eingebracht. Eine systematische Reflexion des methodischen Zugangs zur Erforschung des Gewalthandelns erfordert weitere Überlegungen, die über diesen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ qualitativer Sozialforschung hinaus reichen. Sie sind Gegenstand des folgenden Abschnitts.
511 Ebd., S. 4. 512 Vgl. Flick u.a. 2005.
Der methodische Zugang zum Gewalthandeln
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7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln 7.2.1 Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im situativen Kontext Die Forderung Trutz von Trothas, die Erforschung der situativen Dynamik von Gewalt solle zum Gegenstand der Analyse erhoben werden, ist Ausgangspunkt der Konzeptualisierung eines methodischen Zugangs zum Gewalthandeln weiblicher Jugendlicher. Trotha übt in seinem Aufsatz Zur Soziologie der Gewalt513 grundlegend Kritik an einer quantifizierend arbeitenden Gewaltforschung, die er als „ein Wechselbad von mehr oder minder quantifizierender und biederer ‚Faktoren-Soziologie‘“ und als „Theorien des großen Gestus“514 aburteilt. Mit diesen Äußerungen wendet sich der Autor gegen Untersuchungen, in denen korrelationsstatistische Zusammenhänge in einem alltagstheoretischen Verständnis von Gewalt in Zusammenhang gebracht werden. Denn dieses Alltagsverständnis werde über Operationalisierung und Prüfung statistischer Zusammenhänge als wissenschaftlich fundiert und belegt ausgewiesen. Als Gegenentwurf schlägt Trotha eine Forschung vor, die das Gewalthandeln der Akteure selbst in das Zentrum der Analysen stellt. Ein geeigneter theoretisch-methodischer Zugang bildet für ihn das Konzept der „dichten Beschreibung“ von Clifford Geertz.515 Dieser fasst unter der dichten Beschreibung „eine Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen“516 seien. Dichte Beschreibungen enthielten empirisch gesättigte und zugleich theoretisch abstrahierte Zusammenhänge der Forschenden darüber, wie die Kultur das Handeln der Akteure jeweils strukturiere.517 In Bezug auf die Erforschung des Gewalthandelns folgert Trotha: „So nimmt die Gewaltanalyse das gewaltsame Handeln und Leiden der Beteiligten, ihre Wahrnehmungen, ihr Denken und Empfinden, die Beziehung zwischen den Tätern, Helfershelfern, Zuschauern und Opfern in den Blick. Sie fragt: Um welchen Typ von Gewalt handelt es sich genau? Welche Art von sozialer Beziehung stellt das gewalttätige Handeln her? Was wird bei der Ausübung von Gewalt verletzt, wobei die Körperlichkeit der Verletzung wiederum der zentrale Ausgangspunkt sein muß?“518
513 Vgl. von Trotha 1997. 514 Ebd., S. 18. 515 Vgl. Geertz 1994. 516 Ebd., S. 15. 517 Vgl. Wolff 2005, S. 84ff. 518 Von Trotha 1997., S. 21.
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Eine „mikroskopische Analyse der Gewalt“519 rückt das gewaltsame Handeln der Akteure ins Zentrum der Betrachtung. Deren Aktivitäten sowie die Wahrnehmungen und Deutungen des Geschehens sind ihr Gegenstand. Daraus ergibt sich, dass der Nachvollzug der situativen Dynamik konstitutiv für die Erfassung des Phänomens Gewalt ist. Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen Täterinnen und Tätern, Beobachtern und Opfern ebenfalls relevant für das Geschehen. Trotha postuliert, dass der Einfluss signifikanter Dritter, die dem Gewaltgeschehen beobachtend oder eingreifend beiwohnen, für die Rekonstruktion der Eigenlogik der ablaufenden Ereignisse von zentraler Bedeutung sei.520 Signifikante Dritte, wie etwa Beobachter, strukturierten das Gewaltgeschehen und bildeten eine sogenannte „Gewalt-Triade“, deren Bedingungen es zu rekonstruieren gelte. Darüber hinaus erklärt der Autor, dass die Gewaltanalyse sich explizit der Leiblichkeit der Akteure zuwenden müsse. Das körperliche Erleben, der Schmerz und/oder der Triumph physischer Überlegenheit sollten zentrale Bezugspunkte einer mikroskopischen Untersuchung sein. Die dargestellten Aspekte bieten wichtige Anhaltspunkte für den methodischen Zugang zur Erforschung des Gewalthandelns von Mädchen und jungen Frauen. Beispielsweise trägt eine mikroskopische Analyse der Tatsache Rechnung, dass Gewalt in Konflikten eine eigene Qualität des Erlebens besitzt. Das Konzept der Mimesis zur Erfassung des leiblichen Aspekts sozialer Handlungen stellt eine theoretische Folie bereit, die leibliche Dimension des Gewalterlebens zu erfassen.521 Mimesis beschreibt die menschliche Fähigkeit zur Nachahmung und der damit verbundenen Sinnkonstruktion.522 Der leibliche Nachvollzug von Aktivitäten beinhaltet zugleich eine Interpretation der konkret gegebenen Situation. In der Wiederholung habitualisierter Schemata gelangt zugleich die Deutung der Situation zum Ausdruck. Dabei betonen Gebauer und Wulf die Verschränkung von Körper und Geist in mimetischen Prozessen. Sie erklären, dass soziale Handlungen von den Akteuren zumeist nicht explizit reflektiert würden, denn Situationsdeutungen und Handlungen bewegen sich auf der Ebene handlungspraktischen Wissens. Die Autoren heben jedoch hervor, dass sich neben diesem Aspekt höhere semiotische Ebenen über mimetisches Handeln realisier-
519 Ebd., S. 20. 520 Bereits in Kapitel 6.2 Heuristiken zum Kampf des Anerkennens ist die bedeutende Rolle signifikanter Dritter in konflikthaften Anerkennungsbeziehungen aufgeführt. Die Relevanz von Beobachtern oder intervenierenden Personen wird in der mikroskopischen Gewaltanalyse noch einmal hervorgehoben. 521 Vgl. Kapitel 4.2.1 Körpersozialisation. 522 Vgl. Wulf 2001, S. 257.
Der methodische Zugang zum Gewalthandeln
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ten, in denen die gegebene Situation symbolisch bearbeitet werde.523 Das Erfassen der situativen Gewaltdynamik und der Beziehungsstrukturen der Akteure stehen im Zentrum einer mikroskopischen Gewaltanalyse. Mithilfe der bereits vorgestellten Heuristik zu Anerkennensrelationen und -konflikten wurde eine theoretische Matrix eröffnet, die es erlaubt, die dichten Beschreibungen des Gewalterlebens der Interviewten hinsichtlich ihrer Eskalationsverläufe und Dynamiken zu rekonstruieren. Die von den Interviewten geschilderten Situationen wurden als praktische Verhältnisse erfasst, in denen sich Interaktionen in Form von alltäglichen Anerkennensrelationen realisieren.524 Anerkennen wurde charakterisiert als wechselseitige Bestätigung der Akteure hinsichtlich eines bestimmten, evaluativen Gesichtspunktes. Wird diese Bestätigung verweigert, entstehen Konflikte, deren Bearbeitung durch die Akteure mithilfe der Ausführungen Goffman am Material systematisiert wurde.525 Der Autor weist ausdrücklich auf die Bedeutung signifikanter Dritter im Konfliktgeschehen hin, weil diese Anerkennensverluste kompensierten oder aber zur Eskalation der Situation beitragen könnten.526 Insofern bestätigt Goffman auf theoretischer Ebene die Forderung von Trotha, Beobachter und sonstige Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Gewaltgeschehens systematisch zu berücksichtigen. Die im Rahmen einer mikroskopischen Gewaltanalyse verwendeten Heuristiken resp. sensibilisierenden Konzepte wurden erst im Laufe der iterativen Prozesslogik von Datenerhebung und -auswertung entwickelt. Sie stellen eine Vorgehensweise dar, in der über den Austausch von Materialerhebung, -auswertung und Literaturstudium theoretisch relevante Ereignisse in Bezug auf die gewählte Forschungsfragestellung herausgearbeitet wurden.527 Insgesamt werden die referierten Forschungsdefizite und -ausblicke der Gewaltsoziologie Trothas in den Diskursen der Jugendgewaltforschung kontrovers diskutiert.528 Dabei ist insbesondere die Frage, inwieweit die vorgetragene Forderung einer mikroskopischen Gewaltanalyse innovativen Charakter besitzt, ein strittiges Thema. Ebenso wird die zugespitzte Gegenüberstellung von Ursachenforschung einerseits und Gewaltanalyse andererseits abgelehnt. Unabhängig von diesen Kontroversen um die „Innovateure“ der Gewaltforschung geben die von Trotha dargestellten Forschungsdefizite einer quantifizierenden Forschungslogik und seine analytische Perspektive auf Gewalt Anlass, das Erleben und die 523 Vgl. Gebauer/Wulf 1998, S. 432ff. Auch Goffman nimmt Bezug auf die Metapher der Bühne in seiner Konzeptualisierung sozialen Handelns. Allerdings berücksichtigt er, im Gegensatz zu Gebauer und Wulf, die leibliche Ebene sozialen Handelns nicht explizit (vgl. Goffman 1969). 524 Vgl. Kapitel 6.2.1 Anerkennen als Relation. 525 Vgl. Goffman 1986. 526 Vgl. Kapitel 6.2.3 Der Kampf des Anerkennens. 527 Vgl. ausführlich Kapitel 7.3.3 Die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten. 528 Vgl. Hüttermann 2004; Imbusch 2004.
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Erfahrungen der Interviewten in das Zentrum der Analyse zu rücken. Das subjektive Gewalterleben wurde über leitfadenstrukturierte Interviews erfasst, in denen die Interviewten über offene Erzählimpulse dazu ermuntert wurden, die von ihnen erlebten Gewaltsituationen zu schildern.529 Narrationen zum Gewalterleben liefern wichtige Hinweise zur Eskalation des Gewaltgeschehens, zu situativen Auslösern, Beweggründen, bedeutsamen Anderen und subjektiven Relevanzsetzungen der Befragten. Dabei geht die Analyse situativer Gewalterlebnisse notwendig über diese hinaus und reflektiert die biografische Dimension der beschriebenen Erfahrungen. 7.2.2 Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im biografischen Kontext Biografie lässt sich wörtlich als „Lebensbeschreibung“530 übersetzen. Dabei nehmen Biografieforscherinnen und -forscher an, dass sie nicht den wahrhaftigen Ablauf von Lebensereignissen widerspiegelt, sondern die durch vergangene Lebensereignisse sedierten Erfahrungen einer Erzählperson darstellt. Die erzählte Lebensgeschichte, ist aus dieser Perspektive, eine komplexe soziale Konstruktionsleistung, die erst im Vorgang des Erzählens ihre konkrete Gestalt annimmt. Insofern ist die Erzählung der Lebensgeschichte zugleich mit ihrer Bewältigung verknüpft.531 „Biografien haben einen narrativen Charakter. Sie erzählen eine Geschichte. Eine Geschichte umfasst eine zeitliche Folge von Ereignissen, die in irgendeiner Weise aufeinander bezogen sind, und sie hat einen Anfang und ein Ende. GeschichtenErzählen gilt als Form der Bearbeitung von Kontingenzerfahrungen, als Darstellung von Vorfällen, Zufällen und unerwarteten Ereignissen in Handlungszusammenhängen.“532
Theodor Schulze erklärt, dass erst im Vorgang der Erzählung die dargebotene Lebensgeschichte ihren „roten Faden“ resp. ihre Gesamtformung annehme. Zugleich würden im Zuge dieser Darstellung Erfahrungen bearbeitet und zum Teil vor dem Hintergrund gegenwärtiger Ereignisse und Lebensumstände reinterpretiert. Neben Aspekten der Konstruktion und Reinterpetation von Biografie wird die gesellschaftliche Verortung des Menschen in seiner „Lebensbeschreibung“533 betont. Biografieanalysen ermöglichen die Erfassung des gesell529 Vgl. Kapitel 7.4.2 Interviewform und Leitfadenkonzeption. 530 Schulze 2006, S. 37. 531 Vgl. Kruse 2008, S. 24; vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 148f. 532 Schulze 2006, S. 38. 533 Ebd., S. 37.
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schaftlichen Einflusses auf das Leben der Einzelnen. Bettina Dausien beschreibt Biografie als eine komplexe soziale Konstruktionsleistung, in der die Lebensgeschichte durch institutionalisierte Strukturen geprägt und in Form erzählter konkreter Lebenspraxen, der sogenannten biografischen Arbeit, realisiert werde.534 Lebensgeschichten seien, so die Autorin, nicht lediglich durch gesellschaftliche Vorgaben beeinflusst. Stattdessen präsentierten die Individuen durch ihre (erzählten) Lebensgeschichten zugleich den vorgegebenen sozialen Rahmen.535 Der Begriff biografische Arbeit fokussiere die subjektive Herstellungspraxis der Lebensgeschichte, d.h. die Individuen führen ihr Leben entlang eines mehr oder minder expliziten biografischen Entwurfs. „Auch die auf der zweiten Ebene beschriebene biografische Arbeit ist ࡳ obwohl sie nur von individuellen Subjekten auf der Basis ihrer leiblichen Existenz geleistet werden kann ࡳ kein individueller kognitiver Akt, sondern eine komplexe soziale Praxis, die in pragmatische Handlungskontexte eingebunden ist, […] und somit auch ‚Wirklichkeit schafft‘. Der innere, selbstreflexive Prozeß der Subjekte ist notwendiger Aspekt, integraler Bestandteil biografischer Konstruktionsprozesse und zugleich Teil einer grundlegend sozialen Praxis.“536
Wie der Akteur seine Lebensgeschichte erzählt und was er als bedeutsam herausstellt ist also nicht Produkt eines individuellen Prozesses, sondern grundlegend durch die Gesellschaft bestimmt. Beide Ebenen, die Biografie als institutionalisierte Struktur und als biografische Arbeit, schaffen die Voraussetzung dafür, den Zugang zum Gewalthandeln nicht nur in seiner zeitlichen Dimension zu verorten, sondern zugleich den gesellschaftlichen Einfluss auf das Handeln der Akteure zu rekonstruieren. Bezugnehmend auf die Erzählungen der Interviewten lassen sich die biografischen Selbstkonstruktionen in Anlehnung an Dausien auf beiden Ebenen beschreiben und in Bezug zueinander setzen. Zum einen findet die Charakterisierung der eigenen Person vor dem Hintergrund institutioneller Rahmungen statt (wie beispielsweise Schulbesuch, Familiensituation, PeergroupZusammenhänge). Zum anderen besteht die biografische Arbeit in spezifischen Selbstrepräsentationen in sozialen Interaktionen (z.B. als gute Schülerin, geliebtes Familienmitglied, beliebte Freundin usf.).537 Die biografische Bedingtheit des Gewalthandelns erweitert den Blick von der Fokussierung der Gewaltsituation hin zu einer Verortung des Gewalthandelns im Rahmen institutionalisierter Strukturen. Ergänzend zu den Ausführungen Dausiens wurde im Laufe der Auswertung eine Heuristik institutionalisierter Anerkennensbeziehungen entwickelt, 534 Vgl. Dausien 2000, S. 101. 535 Vgl. ebd. 536 Ebd., S. 104. 537 Vgl. etwa Kapitel 8.3.1.1 Das Bemühen um Selbstkontrolle.
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die es erlaubt, die Erzählungen der Interviewten stärker im Hinblick auf Prozesse der Begrenzung und/oder Erweiterung von Spielräumen des Anerkennens durch gesellschaftliche Vorgaben zu analysieren.538 Die situative und die biografische Perspektive auf Gewalt bilden eine „theoretische Matrix“539, mit deren Hilfe das Gewalthandeln der interviewten Mädchen rekonstruiert wurde. Die Entwicklung und Anwendung dieser theoretischen Matrix wurde angeleitet durch die Grounded Theory, einem umfassenden qualitativen Forschungsparadigma. 7.3 Grounded Theory 7.3.1 Grounded Theory, ein umfassendes Forschungsparadigma Die erste Konzeption dieser Methodologie wurde von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss 1967 mit dem Titel The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research veröffentlicht.540 Sie kann als ein umfassendes Forschungsparadigma charakterisiert werden, indem Datenerhebung und -auswertung in einer iterativen Prozesslogik miteinander verknüpft sind. Dabei lässt sie sich als ein kodierendes Verfahren beschreiben, in dem über eine enge Verzahnung von Datenerhebung und -auswertung Kategorien gebildet werden, die es erlauben, eine theoretische Erklärung zum untersuchten Forschungsgegenstand zu liefern. Der Begriff Grounded Theory wird häufig mit dem Ausdruck „gegenstandsverankerte Theorie“ übersetzt. Sie wird von Strauss und Corbin wie folgt beschrieben: „Die Grounded Theory ist eine qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte Theorie über ein Phänomen zu entwickeln. Die For538 Die Heuristik ist in Kapitel 6.2.2 Anerkennen in Institutionen dargelegt. Ergebnisse zu Begrenzungen oder Erweiterungen von Spielräumen des Anerkennens sind in den Kapiteln 8.2.1 Biografische Abwärtsschübe und 8.3.1 Aspekte des Ausstiegs enthalten. 539 Kelle/Kluge 1999, S. 34. 540 Vgl. Glaser/Strauss 2005. Die Begründer der Grounded Theory Anselm Strauss und Barney Glaser vertraten im Laufe der Weiterentwicklung des Forschungsparadigmas divergierende erkenntnistheoretische Haltungen, so dass sich zwei nebeneinander existierende Varianten der Grounded Theory entwickelten (vgl. Strübing 2008, S. 66ff.; Mey/Mruck 2007, S. 12). Während Strauss eine interaktionistisch-pragmatische Variante vertritt, orientiert sich die Grounded Theory nach Glaser an einer kritisch-rationalistischen Forschungsmethodik. Der Variante von Strauss wird hier der Vorzug gegeben aus zwei Gründen: Zum einen entspricht die zugrunde gelegte erkenntnistheoretische Haltung dem hier gewählten rekonstruktiven Zugang zum Gewalthandeln und zum anderen wird die Orientierung an einer quantifizierenden Forschungslogik im Sinne Glasers, wie sie etwa bei der Verwendung von Indikatoren in der vergleichenden Auswertung sichtbar wird, abgelehnt (vgl. Strübing 2008, S. 70).
Grounded Theory
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schungsergebnisse konstituieren eine theoretische Darstellung der untersuchten Wirklichkeit […]. Ziel der Grounded Theory ist das Erstellen einer Theorie, die dem untersuchten Gegenstandsbereich gerecht wird und ihm erhellt.“541
Die Grounded Theory ist eine in empirischen Daten begründete Theorie, die sich aus der Untersuchung eines spezifischen sozialen Phänomens entwickelt und ein theoretisches Abbild der erforschten sozialen Realität liefert. Die Autoren erläutern, dass das Ziel dieser Vorgehensweise die Erklärung eines gewählten Wirklichkeitsausschnitts und nicht die Darstellung allgemein abstrakter Zusammenhänge sei. Insofern grenzen sich die Autoren von Ansätzen ab, die ein hohes Abstraktionsniveau aufweisen und universelle Gültigkeit für sich beanspruchen. Glaser und Strauss fordern, „dass die meisten Hypothesen und Konzepte […] im Laufe der Forschung systematisch mit Bezug auf die Daten ausgearbeitet werden“542 sollten. Dabei differenzieren Glaser und Strauss gegenstandsverankerte Theorien im Hinblick auf ihren Abstraktionsgrad und unterscheiden zwischen materialer und formaler Theorie. Materiale Theorien zeichneten sich, so die Autoren, durch ihre Begrenzung auf ein spezifisches Phänomen resp. spezifisches Sachgebiet aus. Sie bildeten die Vorstufe zu formalen Theorien, die aus ihrer Perspektive das Endziel wissenschaftlicher Theorieentwicklung darstellten, da formale Theorien Aussagen und Erklärungen zu einem größeren Wirklichkeitsbereich umfassen würden. Glaser und Strauss erklären, dass formale Theorien über einen höheren Allgemeinheitsgrad verfügen und sich in der Regel aus der Abstraktion und Verallgemeinerung materialer Theorien entwickelten. Die in Kapitel 8 vorgestellte Gewaltkarriere von Mädchen ist dem Typus der materialen Theorie zuzuordnen, weil sie auf die Zielgruppe der Mädchen resp. jungen Frauen begrenzt ist. Insofern bietet die generierte Theorie einen Ausgangspunkt für mögliche Weiterentwicklungen einer Theorie der Gewaltkarriere. Die Reichweite materialer Theorie ist begrenzter, zugleich bildet sie einen differenzierten Einblick in das noch recht unerforschte Feld weiblicher Jugendgewalt. Glaser und Strauss haben jedoch nicht nur eine begründete Zielvorstellung zur (soziologischen) Theoriebildung formuliert, sondern zugleich ein umfassendes Forschungsparadigma konzeptioniert, das den Datenerhebungs- und Auswertungsprozess wesentlich steuert.543 Ihre Methodologie erstreckt sich von der Konzeption einer Forschungsfragestellung über die Strategie zur Erhebung und Auswertung des empirischen Materials bis hin zum Verfassen eines Ergebnisberichts. Zentral für jeden Schritt des qualitativen Forschungsprozesses ist die Methode des ständigen Vergleichens. Die stetige Kontrastierung von Erkenntnis541 Strauss/Corbin 1996, S. 8f. hervorgehoben i. O., C.E.. 542 Glaser/Strauss 2005, S. 15. 543 Vgl. Glaser/Strauss 2005; Strauss/Corbin 1996; zusammenfassend Strübing 2008.
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sen und Informationen macht die grundlegende Konstante der Methodologie aus, die sowohl die Sampleauswahl als auch die Datenauswertung lenkt. Sie bildet eine umfassende Heuristik auf verschiedenen Ebenen des Forschungsprozesses, welche die Forscherinnen und Forscher dazu anleitet, die „richtigen Fragen“ für den jeweiligen Schritt der Erkenntnisgewinnung zu stellen. Fallauswahl und Analyse des Materials verschmelzen zu einem zyklisch-iterativen Forschungsprozess insofern, als dass die Ergebnisse der ersten Fallauswertung die Auswahl der nächsten Fälle bestimmen, deren Auswertungsergebnisse wiederum mit den Ergebnissen der ersten Fallanalysen verglichen und synthetisiert werden, bevor die weitere Fallauswahl nach den neu gewonnenen Einsichten erfolgt. Diese Vorgehensweise wird als theoretisches Sampling bezeichnet. Strauss und Corbin schlagen für den Prozess der Datenerhebung und Auswertung ein dreistufiges Kodierverfahren vor, das über die Schritte des offenen, axialen und selektiven Kodierens den systematischen Fallvergleich in der Datenauswertung ermöglicht. Für den Modus des offenen Kodierens empfehlen sie, einzelne Sätze, Beobachtungen oder Ereignisse Zeile für Zeile zu kodieren.544 Jeder einzelne Vorfall, jede Idee oder jedes Ereignis soll zunächst kodiert werden im Sinne einer stichwortartigen Paraphrasierung. Der Inhalt des Ereignisses sollte so gut wie möglich mittels des vergebenen Stichworts (oder Titels) beschrieben werden. In-vivo-Codes gelten zu diesem Zeitpunkt der Analyse als besonders gewinnbringend. Sie umfassen konzeptualisierte Ereignisse oder Vorfälle, die in der Sprache des Untersuchungsfeldes benannt und charakterisiert werden.545 Der Prozess des offenen Kodierens soll Forscher und Forscherinnen anregen, das Material zu analysieren ohne verfrüht auf theoretische Wissensbestände zurück zu greifen. Strauss und Corbin betonen, dass in diesem Modus die Erfassung einzelner Ereignisse oder Vorkommnisse des Geschehens im Vordergrund stehe, die es zu analysieren und zu konzeptionieren gelte. Diesem Prozess des „Aufbrechens“ des Materials schließt sich das sogenannte axiale Kodieren an. Es umfasst „[e]ine Reihe von Verfahren, mit denen durch das Erstellen von Verbindungen zwischen Kategorien die Daten […] auf neue Art zusammengesetzt werden.“546 Strauss und Corbin erklären, dass in diesem Schritt die Erarbeitung von Kategorien und die Ermittlung von Beziehungen der Kategorien untereinander im Zentrum der Analyse stünden. Die sogenannten Achsenkategorien würden relevante Schlüsselkategorien bilden, die wesentliche Elemente der Theorie darstellten. Die Autoren schlagen folgende Systematik für die Ermittlung der Beziehungen zwischen Kategorien vor, die sie als Kodierparadigma bezeichnen: 544 Vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 45. 545 Vgl. ebd., S. 50f.; Böhm 2005, S. 478. 546 Strauss/Corbin 1996, S. 75.
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Grounded Theory
Abbildung 1:
Kodierparadigma der Grounded Theory547
Die Ausdifferenzierung der Achsenkategorien erfolgt nach Strauss und Corbin über das systematische Inbezugsetzen zuvor ermittelter Subkategorien. Im Zentrum einer solchen Achsenkategorie stehe das zu erklärende Phänomen, d.h. die zentrale Idee, das Ereignis oder „Geschehnis, auf das eine Reihe von Handlungen/Interaktionen gerichtet s[eien], um es zu bewältigen oder damit umzugehen“.548 Für die Konzeptualisierung eines Phänomens sei die Bestimmung seiner Ursache(n) nötig.549 Ursächliche Bedingungen umfassen aus der Perspektive der Autoren Begebenheiten oder Vorfälle, die zum Auftreten oder der Entwicklung des Phänomens führen. Davon zu unterscheiden seien sogenannte intervenierende Bedingungen, die das Phänomen allgemein rahmten, wie etwa Zeit, Raum, Kultur, usf.550 Handlungsstrategien hingegen erfassen, so die Autoren, Tätigkeiten oder Verhaltensweise der Akteure, mit denen sie das Phänomen bewältigen resp. damit umgehen. Darüber hinaus sollte die Bestimmung der Konsequenzen eines Phänomens ebenso in die Ausdifferenzierung der Achsenkategorie einfließen. Mithilfe des dritten Auswertungsschritts, dem selektiven Kodieren, werden die zentralen Bezugspunkte der entwickelten gegenstandsverankerten Theorie festgelegt. Strauss und Corbin erklären, dass die Kernkategorie bereits in der Fragestellung der Untersuchung enthalten sein könne. Es gebe jedoch auch Fälle, in denen „ein anderes Phänomen als ursprünglich angenommen für den Gegenstandsbereich zentrale Bedeutung gewinn[e]“551. Darin liege die Stärke des Ver547 Böhm 2005, S. 479. 548 Strauss/Corbin 1996, S. 79. 549 Vgl. ebd., S. 80ff. 550 Vgl. ebd., S. 83. 551 Böhm 2005, S. 482.
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fahrens der Grounded Theory. Über die Verschiebung des Fokus auf den zu untersuchenden Gegenstandsbereich, z.B. indem die erarbeiteten Achsenkategorien neu zusammen gestellt werden, könnten überraschende Erkenntnisse gewonnen werden, die den zu untersuchenden Forschungsbereich aus einer ganz anderen Perspektive beleuchteten. Neben der Konzeptualisierung zentraler Regelmäßigkeiten und Muster sollte die generierte Grounded Theory auf Lücken oder fehlende Details überprüft und anschließend mithilfe des Materials vervollständigt werden. Das Ziel dieses Vorgangs liege in der Erhöhung der konzeptuellen Dichte und Spezifität der generierten Theorie.552 Die dargestellten Kodiermodi bilden keine getrennt voneinander zu absolvierende Stufenfolge, sondern sie gehen ineinander über. Zugleich sind die jeweiligen Formen des Kodierens eingebunden in die theoretische Fallauswahl. Zu Beginn der Untersuchung, während des Prozesses des offenen Kodierens, ist die Fallauswahl offen gestaltet, um vielfältige Aspekte des zu untersuchenden Phänomens einzufangen. Mit fortschreitendem Erkenntnisgewinn wird die Suche nach ähnlichen oder sehr unterschiedlichen Fällen gezielter erfolgen, um die gebildeten Kategorien zu prüfen und ggf. zu modifizieren. Der beschriebene iterativ-zyklische Forschungsprozess von Datenerhebung und -auswertung, der stets den Vergleich entwickelter Konzepte resp. Kategorien impliziert, charakterisiert das Wesen der Grounded Theory: Sie ist eine komparative Methode und zugleich ein kodierendes Verfahren, dessen Stärke im systematischen Fallvergleich und dem darin enthaltenen Potenzial der Theoriebildung liegt. 7.3.2 Kritik an der Grounded Theory Der Vorteil der Grounded Theory liegt in der Prozesshaftigkeit und der damit verbundenen Flexibilität des Erkenntnisprozesses. Durch die Gleichzeitigkeit von Datensammlung und Analyse lassen sich neue Aspekte und Erkenntnisse in jedem Stadium der Theoriebildung berücksichtigen. Insofern resultiert die Stärke der Grounded Theory aus ihrer umfangreichen und erschöpfenden theoretischen Erfassung des Forschungsgegenstands. Der iterative Prozess der Theoriebildung entspricht den Prämissen qualitativer Sozialforschung.553 Kritisch einzuschätzen ist jedoch das von Strauss und Corbin vorgeschlagene Kodierparadigma zur Konzeptualisierung sozialer Phänomene. Die Autoren erklären, der Schwerpunkt dieses Kodierschemas liege auf der Erfassung sozialer Interaktionen. Sie differenzieren zwischen Phänomenen, Kontexten, Handlungsstrategien der Akteure sowie intervenierenden und kausalen Bedingungen. Dabei bestimmen die Auto552 Vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 116f. 553 Vgl. Kapitel 7.1 Grundannahmen qualitativer Sozialforschung.
Grounded Theory
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ren kausale Bedingungen als „Ereignisse oder Vorfälle, die zum Auftreten oder zu der Entwicklung des Phänomens führen“554. Die Konzeptualisierung sozialer Handlungen im Kontext von Ursache und Wirkung ist aber aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive mit Vorbehalt zu betrachten, denn sie lässt die geistige Bestimmtheit menschlichen Handelns außer Acht: „Der Mensch ist nicht wie das Tier völlig in Naturprozesse eingeordnet und ihnen unterworfen. In und aufgrund seines Denkens ist er frei, er kann die Natur und ihre Gesetze erkennen und sich aufgrund seines Wissens aus der Abhängigkeit von der Natur durch ihre Bearbeitung und Umformung nach seinen Zwecken befreien. So kann er sein Leben nach seinem Willen statt nach aufgeherrschten Notwendigkeiten und nach selbstgegebenen Gesetzen anstatt nach vorgegebenen gestalten.“555
Wigger pointiert, dass der Mensch sich aufgrund seiner geistig-kognitiven Ausstattung von der Abhängigkeit der Natur ein Stück weit distanzieren und aus selbst gesetzten Zwecken handeln könne. Der Aspekt der Willensfreiheit unterscheide den Menschen vom Tier und begrenze kausalistische Erklärungsmodelle des Handelns, die lediglich auf einen kleinen Ausschnitt menschlichen Verhaltens, wie etwa angeborene Reflexe etc., begrenzt sind. Der Autor führt weiter aus, dass Willensfreiheit und Intentionalität nicht die einzigen Merkmale seien, anhand derer menschliches Handeln bestimmt werden könne. Schließlich werde der Handlungsentwurf des Einzelnen begrenzt durch „objektive Handlungsbedingungen und situative Umstände“ sowie der subjektiven Bedeutungen der Handlungen für den Akteur.556 Die hier aufgeführten Einwände gegen eine kausalistische Auffassung menschlichen Handelns führen die Problematik der Analyse des (Gewalt-) Handelns unter Zuhilfenahme des Kodierparadigmas vor Augen, denn eine Erklärung im Rahmen von Ursache und Wirkung verfehlt die Komplexität menschlichen (Gewalt-)Handelns.557 Weitere Kritikpunkte im Fachdiskurs beziehen sich auf das erkenntnistheoretische Fundament der Grounded Theory. Bereits die erste gemeinsame Veröffentlichung von Glaser und Strauss enthält ein methodologisches Problem: Einerseits befürworten die 554 Strauss/Corbin 1996, S. 79. 555 Wigger 1983, S. 104. 556 Vgl. ebd., S. 105. 557 Zu relativieren ist diese Kritik jedoch angesichts des pragmatistischen Hintergrunds der Grounded Theory nach Strauss. Die theoretischen Beziehungen der Konzepte und Kategorien untereinander geben keine „universell-logische[n] Beziehungen zwischen Daten und Theorie“ wieder, sondern stellen die „Repräsentation dieser Beziehungen aus einer theoretisch relevanten Perspektive“ dar (Strübing 2008, S. 61). Insofern stellt die Grounded Theory ihre Anwender und Anwenderinnen vor die Aufgabe, das Passungsverhältnis von Kodierschema einerseits und dem zu erforschenden Phänomen andererseits zu reflektieren und ggf. die Methodologie zu verändern.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
Autoren das Konzept der „Emergenz“ der theoretischen Einsichten und Kategorien aus dem Material. Sie fordern, dass Forschende ihr theoretisches Vorwissen suspendieren sollten, um theoretisch offen für das Auftauchen von Erkenntnissen und Einsichten zu bleiben. Andererseits propagieren sie mit dem Konzept der theoretischen Sensibilität den systematischen Einbezug des theoretischen Vorwissens durch die Forschenden.558 Zu diesem grundlegenden Dilemma lassen sich folgende Kritikpunkte formulieren: Das Konzept der „Emergenz“ der Daten ist von Udo Kelle und Susann Kluge als induktivistisches Missverständnis beanstandet worden. Sie distanzieren sich von der Vorstellung eines „tabula rasa Konzept[s] menschlicher Erkenntnis“559 und betonen, dass diese Form des „naiven Empirismus“ spätestens durch die erkenntnistheoretische Kritik Immanuel Kants obsolet geworden sei.560 Denn die Erfassung von Phänomenen, etwa durch die Beobachtung sozialer Wirklichkeit, setze immer schon Kategorien und basale theoretische Annahmen der Erkennenden, was das Phänomen sei, voraus. Die Konsequenz einer vermeintlich theoriefreien Datenerhebung wäre die konfuse, chaotische Erfassung von Phänomenausschnitten, so dass letztlich die Forschungsbemühungen aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit eingestellt werden müssten.561 Kelle bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Kategorien der Wahrnehmung, Bewertung und Reflexion aufgrund (impliziter) theoretischer Annahmen, was relevant und was bedeutungslos sei, nicht als „theorielos“ bezeichnet werden könnten. Das Postulat der „Emergenz“ der Daten aus dem Material führe letztlich zu unproduktiven Arbeitsweisen.562 Das Konzept der theoretischen Sensibilität, mit dem der Einbezug von Fachwissen in die Theoriebildung vollzogen werden soll, wird von Glaser und Strauss nicht genügend expliziert. Kelle erklärt diesbezüglich: „The concept of theoretical sensitivity is not converted into clear cut methodological rules: it remains unclear how a theoretically sensitive researcher can use previous theoretical knowledge to avoid drowning in the data.”563
Das Konzept der theoretischen Sensibilität enthält keine Hinweise auf seine methodische Umsetzung. Es bleibt daher unklar, auf welche Art und Weise die Forschenden ihr Wissen nutzen können, um nicht in der Fülle des Materials buchstäblich zu ertrinken. Der Widerspruch zwischen der geforderten Abstinenz von Fachwissen einerseits und dem systematischen Einbezug der Fähigkeit theo558 Die theoretische Sensibilität kennzeichnet die Fähigkeit, erhobene Daten aus verschiedenen theoretischen Perspektiven zu reflektieren. 559 Kelle/Kluge 1999, S. 17. 560 Vgl. Ebd., S. 17f. 561 Vgl. Kelle 2007, S. 136. 562 Vgl. ebd., S. 136. 563 Kelle 2007, S. 137.
Grounded Theory
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retisch sensibel zu forschen andererseits, verweist auf ein grundsätzliches Problem der Grounded Theory: Es fehlt an einer erkenntnistheoretisch fundierten Theorie zu abduktiven Prozessen. Abduktive Prozesse werfen die Frage auf, wie jenseits bereits bekannter Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster neue Ereignisse oder Vorfälle wahrgenommen und als neue Informationen beurteilt werden können.564 Die Forschenden stehen vor der Aufgabe, nicht systematisierbare Wahrnehmungsinhalte zu erkennen und diese zum Anlass für eine kreative Neuschöpfung von Bedeutungen und Zusammenhängen zu nehmen.565 Dabei sind diese Erkenntnisprozesse letztlich begrenzt auf die Neukombination bereits bekannten Vorwissens., so dass die Reflexion des Vorwissens eine wichtige Rolle einnimmt. Da sie in der Grounded Theory im Allgemeinen und in dem Konzept der theoretischen Sensibilität im Besonderen lediglich unzureichend Beachtung findet, schlägt Kelle für die Förderung der praktischen Erkenntnisfähigkeit der Forschenden den verstärkten Einbezug sensibilisierender Konzepte vor.566 7.3.3 Die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten Der Begriff Sensitizing Concept wurde von Herbert Blumer geprägt. Seine Besonderheit liegt in der mit ihm verbundene Unschärfe oder Vagheit, die Blumer an den Beispielen etwa zur Sitte oder Assimilation verdeutlicht.567 Dabei hebt der Autor hervor, dass diese Vagheit vieler Termini kein Mangel der sozialwissenschaftlichen Forschung sei, sondern ihrem Erkenntnisgegenstand der sozialen Realität entspringe. Die konkrete Bedeutung sozialer Phänomene erschließe sich in der Regel erst aus dem jeweiligen Handlungskontext. Kelle und Kluge erklären in diesem Zusammenhang: „Das, was etwa der soziologische Begriff ‚Assimilation‘ bedeutet, läßt sich nicht klären anhand abstrakter Definitionen, sondern nur durch das Studium konkreter Assimilierungsprozesse konkreter Bevölkerungsgruppen. Die Vagheit soziologischer Konzepte erweist sich dabei nicht mehr als ein Hindernis für die Erforschung der sozialen Realität. Vielmehr stellt sie eine notwendige Voraussetzung für die Sozialforschung dar. Diese benötigt gerade nicht definitive Konzepte, d.h. scharf umrissene, wohldefinierte und präzise operationalisierte Begriffe, sondern offene Konzepte, die den Untersucher oder die Untersucherin für die Wahrnehmung sozialer Bedeutungen in konkreten Handlungsfeldern sensibilisieren.“568 564 Vgl. Strübing 2008, S. 44f.; Reichertz 1993, S. 268ff. 565 Vgl. ebd. 566 Vgl. Kelle 2007, S. 146f. 567 Vgl. Blumer 1954, S. 7. 568 Kelle/Kluge 1999, S. 26.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
Die Unschärfe sozialwissenschaftlicher Konzepte sensibilisiere die Forschenden in ihrer Wahrnehmung der jeweils konkreten sozialen Bedeutungen im Untersuchungsfeld. Sensibilisierende Konzepte bilden eine „theoretische Matrix“ die im Verlauf des Forschungsprozesses mit „empirischen Beobachtungen zunehmend ‚aufgefüllt‘ werden“569 könnten. Kelle und Kluge charakterisieren sensibilisierende Konzepte als Heuristiken, die wie Blicke durch bestimmte „Linsen“ theoretisch relevante Vorkommnisse oder Begebenheiten hervorheben würden, während andere Ereignisse in den Hintergrund träten. Solch offene Konzepte wirkten sensibilisierend, weil sie den Untersuchenden die Wahl ihrer grundlegenden theoretischen Perspektive vor Augen führen. Die den Beobachtungen und Relevanzsetzungen zugrunde liegende theoretische Richtung, wie etwa die Bezugnahme auf Rational-Choice-Theorien, auf den Symbolischen Interaktionismus etc., würde mithilfe der gezielten Wahl sensibilisierender Konzepte reflexiv zugänglich.570 Damit die Forschenden die Grenzen und Nachteile ihrer theoretischen Orientierung reflektieren können, empfiehlt Kelle sensibilisierende Konzepte aus möglichst unterschiedlichen theoretischen Schulen resp. Richtungen zu verwenden.571 Diese Kombination sei kein Nachteil oder gar eine methodische Inkonsistenz, sondern eine gewünschte Vorgehensweise, um eine umfassende Konzeptualisierung des Forschungsgegenstands zu realisieren. Kelle postuliert, dass Sensitzing Concepts erkenntnistheoretisch begründete Werkzeuge seien, die sich ausgezeichnet zur Ergänzung der Methode der Grounded Theory eigneten, da ihr formaler Charakter das Risiko minimiere, die erhobenen Daten in bereits bekannte Theorien einzupassen. Er pointiert, dass sie aufgrund der beschriebenen Orientierungsfunktion eine systematische Hilfestellung zur Ausbildung der theoretischen Sensibilität böten. Für die Ergänzung der Grounded Theory durch die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten schlägt der Autor daher vor: „Previous empirical knowledge can be used at any stage of the process of empirically grounded theory construction if the researchers draw on theoretical concepts with limited empirical content […]. Thereby the researcher may start qualitative analysis by using heuristic concepts and may then proceed to the construction of categories and propositions with growing empirical contend. In this process grand theories play the role of theoretical axis or a ‘skeleton’ to which the ‘flesh’ of empirically contentful information from the research field is added in order to develop empirically grounded categories and propositions.”572
569 Ebd., S. 34. 570 Vgl. Blumer 1954, S. 7f. 571 Vgl. Kelle 2007, S. 148f. 572 Kelle 2007, S. 149.
Forschungsdesign der Arbeit
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Die Nutzung sensibilisierender Konzepte wird in jedem Stadium der Theorieentwicklung. Zu Beginn der Untersuchung dienten sensibilisierende Konzepte der ersten tentativen Fallauswahl zum erforschenden Gegenstand. Mit fortschreitender Theorieentwicklung „füllten“ sich die Konzeptionen jedoch mit den empirischen Beobachtungen und Informationen aus den erhobenen Daten. Die Sensitizing Concepts wurden differenzierter, aber auch komplexer. Die Fallauswahl erfolge entlang der Kriterien der verwendeten offenen Konzepte. Sensibilisierende Konzepte wurden jedoch nicht nur für die Konzeptualisierung des Materials verwendet, sondern ebenso für die Verknüpfung der ermittelten Achsenkategorien. Damit wurde das kausalistische Kodierparadigma von Strauss und Corbin umgangen. Die Entwicklung der Achsen- und Kernkategorien vollzog sich entlang ausgewählter sensibilisierender Konzepte, die in ihren Grundzügen, etwa zur Gewaltanalyse, erörtert wurden.573 Die Angemessenheit der gewählten Konzepte leitet sich aus dem theoretischen Fachwissen, der Forschungsfragestellung sowie der geprüften „Passung“ zum Material ab. Informationen zum Sample, zu der gewählten Interviewform sowie konkrete Aspekte der Datenauswertung und des Datenschutzes werden im folgenden Abschnitt vorgestellt. 7.4 Forschungsdesign der Arbeit 7.4.1 Sample und theoretische Fallauswahl Im Rahmen der Untersuchung wurden 30 problemzentrierte Interviews mit gewaltbereiten Mädchen im Alter von 13- bis 21 Jahren im Erhebungszeitraum 2006 bis 2007 durchgeführt. 20 von ihnen fanden Eingang in die Analyse. Ergänzend wurden Gespräche mit dem pädagogischen Fachpersonal der Einrichtung geführt. Ebenso wurden, je nach Möglichkeit der Einrichtungen, die Umgangsweisen der Interviewten mit anderen Jugendlichen sowie mit dem pädagogischen Personal beobachtet und in Gedächtnisprotokollen schriftlich festgehalten. Diese Beobachtungen und verschriftlichten Gespräche dienten der Sammlung weiterer Informationen zur Lebenswelt der Interviewten und der Interaktionsdynamiken in den Einrichtungen, die über das Interview hinausgehen. Sie wurden in die Auswertung der Interviews mit einbezogen. Der Zugang zu den Interviewpartnerinnen erfolgte über sogenannte „Gatekeeper“ resp. „Türsteher“, die aufgrund ihrer pädagogischen Tätigkeit gewaltbereite Mädchen kannten und sich gewillt zeigten, einen Kontakt herzustellen. „Gatekeeper“, Interviewpersonen und Personensorgeberechtigte wurden über die Themenstellung des Projekts, 573 Vgl. ausführlich Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln und. 4.2 Adoleszente Entwicklung und jugendliches Gewalthandeln.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
datenschutzrechtliche Bestimmungen und den Verwendungszweck der erhobenen Daten informiert. Über einem Zeitraum von etwa einem Jahr erfolgten telefonische, schriftliche und persönliche Anfragen an verschiedene pädagogische Einrichtungen.574 Einige Gatekeeper erklärten sich bereit, Gespräche zu arrangieren. Häufig wurden die Interviewtermine recht kurzfristig vereinbart, so dass das Einhalten der iterativen Prozesslogik von Datenerhebung und -auswertung im Sinne des theoretischen Samplings nicht möglich war. Die Erhebung der Daten orientierte sich an den zumeist kurzfristig entstehenden Interviewterminen. Das Theoretische Sampling bildet die bevorzugte Methode der Fallauswahl für die Generierung einer Grounded Theory.575 Aufgrund der forschungspraktischen Probleme bei der Rekrutierung von Interviewpersonen konnte diese Vorgehensweise nicht vollständig eingehalten werden. Strauss und Corbin schlagen vor, dass die Forschenden in Fällen, in denen ein theoretisches Sampling im Sinne der zyklisch-iterativen Prozesslogik nicht möglich ist, die Methode des ständigen Vergleichens innerhalb der erhobenen Daten anwenden sollen. Insofern ist die Grounded Theory eine forschungspragmatisch begründete Methode, in der eine Abwandlung des Forschungsprozesses aufgrund von gegebenen Einschränkungen nicht ein Abbruchkriterium darstellt, sondern eine Modifikation der Methode erfordert.576 Es erfolgte daher eine Begrenzung auf folgende grundlegende Kriterien: Es wurden sowohl Mädchen interviewt, die häufig und intensiv Gewalt anwenden als auch solche, die nur im Notfall zur Selbstverteidigung physische 574 Dabei erwies sich der Zugang zum Feld als außerordentlich schwierig. Schriftliche Anfragen an Einrichtungen wurden nicht beantwortet. In telefonischen Gesprächen wurde häufig die Information gegeben, dass sich zurzeit keine gewaltbereiten Mädchen in der Einrichtung befänden. Es hätte der Eindruck entstehen können, dass gewaltbereite Mädchen ein außergewöhnlich seltenes Phänomen darstellen. Dieser Eindruck wurde jedoch durch den Umstand korrigiert, dass sich in einigen Fällen das pädagogische Personal bereit erklärte, entsprechende Kontakte zu vermitteln, die Leitung hingegen die Anwesenheit der erforschten Zielgruppe in ihrer Einrichtung dementierte. Offenbar existierten Ängste bezüglich der rufschädigenden Wirkung einer solchen Befragung für die Institution. Diese Ängste konnten in einigen Einrichtungen weder durch schriftliche Informationen noch durch Gespräche hinsichtlich der Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen sowie der Wahrung der Anonymität der Institution ausgeräumt werden. Auf der anderen Seite gab es engagierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die aus Interesse am Forschungsthema und/oder aus der Motivation heraus, erziehungswissenschaftliche Forschung im Allgemeinen zu unterstützen, die Kontakte zu gewaltbereiten Mädchen herstellten. Dies war keineswegs eine einfache Aufgabe, weil die angesprochenen Mädchen zum Teil zu den vereinbarten Terminen nicht erschienen oder über eine Freundin ausrichten ließen, dass sie das Interview lieber zu einem anderen Zeitpunkt führen würden. Der Organisationsaufwand war für die „Gatekeeper“ oft erheblich und wurde zusätzlich zu den ohnehin vielfältigen Arbeitsaufgaben und Terminen bewältigt. Die Verfasserin möchte den Mädchen, die sich die Zeit für ein Interview nahmen und bereitwillig über ihr Leben Auskunft gaben sowie den engagierten pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich danken. 575 Vgl. Kapitel 7.3.1 Die Grounded Theory, ein umfassendes Forschungsparadigma. 576 Vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 164.
Forschungsdesign der Arbeit
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Gewalt ausüben. Diese Varianz diente der Untersuchung differenter Handlungsund Deutungsmustern des Gewalthandelns. Aufgrund von Irritationen in den ersten Interviews geriet nicht nur die Untersuchung gewaltaktiver Mädchen in den Blick, sondern ebenso die Analyse der Ausstiege aus dem gewaltförmigen Handeln. Es wurden daher Mädchen gesucht und befragt, die ihre sogenannte „gewaltbereite Phase“ bereits hinter sich gelassen hatten, um Prozesse des Ausstiegs aus der Gewaltkarriere zu rekonstruieren. Eine weitere Steuerung des theoretischen Samplings erfolgte über die Kontaktaufnahme zu unterschiedlichsten Einrichtungen wie etwa Jugendtreffs, Trainingsmaßnahmen zur Aggressionsbewältigung, Regelschulen, Abendschulen, Intensivwohngruppen, Jugendschutzstellen usf. Diese Vorgehensweise sollte sicher stellen, dass nicht nur Erzählpersonen mit hoher Problembelastung befragt werden, sondern ebenso Mädchen, die noch keine „Heimkarriere“ aufweisen. Eine weitere formale Kategorie des Samplings ist die Variation des (Jugend-) Alters von 13 bis 21 Jahren, um Mädchen in unterschiedlichen Phasen der Adoleszenz zu befragen. Ziel war es, mögliche alterstypische Verläufe der Gewaltentwicklung zu untersuchen.577 Es wurden Schülerinnen von Haupt- und Realschulen, Gesamtschulen, Schulen für Erziehungshilfen, Abendschulen und Berufsschulen befragt sowie Mädchen, die sich in Maßnahmen von freien oder öffentlichen Trägern befanden, weil sie voraussichtlich keinen Schulabschluss erwerben würden. Nicht erreicht wurden trotz mehrfacher Anfragen gewaltaktive Gymnasiastinnen. Alternativ wurden Schülerinnen befragt, die einen erfolgreichen Übergang ins Berufsleben vollzogen hatten. Diese Interviews ersetzen freilich nicht die fehlenden Interviews der Gymnasiastinnen, sie bieten jedoch die Möglichkeit, das Selbstbild gewaltaktiver Schülerinnen mit Schulproblemen mit dem von Mädchen zu kontrastieren, die keine deutlichen Schulprobleme (mehr) aufweisen. Die Befragung von Schülerinnen unterschiedlicher Schulformen zielte darauf ab, die Institution Schule als mögliche gewaltgenerierende Instanz näher in den Blick zu nehmen. Die dargestellten formalen Kategorien ergaben sich z.T. aus den gewonnenen Erkenntnissen durch die Literaturanalyse in den Kapiteln 2 bis 4 sowie aus Beobachtungen und „Irritationen“ im Prozess der Datenerhebung selbst. Infolge der dargelegten Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Interviewpersonen konnte die Kategorie der Ethnizität nicht systematisch im Sampling berücksichtigt werden. Zwar wurden in der Gruppe der Gewaltaktiven und nicht-gewaltbereiten Mädchen Migrantinnen interviewt, doch ein theoretisches Sampling für die Generierung der Grounded Theory konnte auf diese Weise nicht eingelöst werden. Das erhobene Material ist für eine umfassende Konzeptualisierung der Wechselwirkungen
577 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 8.3.2 Adoleszenztypische Aspekte des Ausstiegs.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
von Ethnizität und Gewaltkarriere nicht hinreichend.578 Trotzdem fand der Aspekte der Ethnizität Eingang in die Theoriebildung.579 Überblick der analysierten Fälle Wie bereits erörtert, wurden insgesamt 20 problemzentrierte Interviews mit weiblichen Jugendlichen im Alter von 13- bis 21 Jahren ausgewertet. Davon waren 14 Mädchen zum Zeitpunkt des Interviews gewaltaktiv oder hatten die „gewaltaktive Phase“ bereits hinter sich gelassen. Das Sample umfasst: x x x x x
8 Fälle, in denen das Gewalthandeln zum Zeitpunkt des Interviews praktiziert wird, 6 Fälle, in denen ein Ausstieg aus der Gewaltkarriere resp. dem Gewalthandeln zum Zeitpunkt des Interviews erfolgt resp. erfolgt ist. 1 Fall, in dem die Gewaltaktivität zum Zeitpunkt des Interviews besteht, aber dieser des Konsums psychoaktiver Substanzen abweicht.580 2 gewaltbereite Fälle, die in Konfliktsituationen jedoch vornehmlich verbale Gewalt ausüben. Der Einsatz physischer Gewalt bildet die Ausnahme. 3 Fälle, in denen die Interviewten als nicht gewaltbereit eingestuft wurden. Sie übten sehr selten Gewalt aus.
Die folgende Tabelle gewährt einen Überblick über das Sample der Arbeit:
578 Vgl. Kapitel 8.4 Grenzen des Erklärungsmodells. 579 Vgl. Kapitel 8.2.1 Biografische Abwärtsschübe. 580 Vgl. Kapitel 8.4.1 Ein abweichender Fall: Mediha.
151
Forschungsdesign der Arbeit
Tabelle 1: Überblick zu den Fällen Alter581
Falleinordnung582
Bildungs-/Berufsstand
1.
Deckname Aysa
15 Jahre
gewaltaktiv
2.
Dahab
14 Jahre
gewaltaktiv
3.
Eve
16 Jahre
gewaltaktiv
4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Jannika Melanie Merva Samira Tanja Andrea Benita Birgit
15 Jahre 14 Jahre 14 Jahre 13 Jahre 13 Jahre 17 Jahre 15 Jahre 17 Jahre
gewaltaktiv gewaltaktiv gewaltaktiv gewaltaktiv gewaltaktiv Aussteigerin Aussteigerin Aussteigerin
12. 13.
Manuela Melusine
21 Jahre 18 Jahre
Aussteigerin Aussteigerin
14. 15. 16. 17.
Simone Alice Caro Hamide
Aussteigerin verbal gewaltaktiv verbal gewaltaktiv nicht gewaltbereit
18. 19. 20.
Tülay Yessica Mediha
17 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 15/18583 Jahre 19 Jahre 14 Jahre 17 Jahre
Schule für Erziehungshilfe, 7. Klasse Fördermaßnahme, voraussichtl. kein Schulabschluss Fernschule zur Erlangung des Realschulabschlusses Realschule, 8. Klasse Hauptschule, 8. Klasse Gesamtschule, 8. Klasse Hauptschule, 8. Klasse Realschule, 8. Klasse in Ausbildung Hauptschule, 9. Klasse tritt in Kürze einen Ausbildungsplatz an Hauptschulabschluss Fördermaßnahme, voraussichtl. kein Schulabschluss in Ausbildung Hauptschule, 8. Klasse Gesamtschule, 9. Klasse Hauptschule, 8. Klasse
nicht gewaltbereit nicht gewaltbereit abweichender Fall
in Ausbildung Hauptschule, 8. Klasse Fördermaßnahme, voraussichtl. kein Schulabschluss
581 Zum Zeitpunkt des Interviews. 582 Zum Zeitpunkt des Interviews. 583 Hamide gibt im Interview ihr Alter mit 18 Jahren an. Ihr „offizielles“, d.h. in den Ämtern geführtes Alter macht sie um drei Jahre jünger. Diese Differenz erklärt sich aus ihrer Flüchtlingsgeschichte. Auf nähere Angaben wird aus Datenschutzgründen jedoch an dieser Stelle verzichtet.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
7.4.2 Interviewform und Leitfadenkonzeption Aufgrund des bereits skizzierten rekonstruktiven Zugangs zum Gewalthandeln wurde für die Datenerhebung das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel gewählt.584 Es bietet den Vorteil, biografisch relevante Erfahrungen hinsichtlich eines zuvor bestimmten Problems erheben zu können.585 In ihm wird den Beteiligten Raum für die Darlegung ihrer Deutungsmuster und Relevanzsetzungen gegeben, aber zugleich werden theoretisch wichtige Themen gemäß der Forschungsfragestellung angesprochen. Das problemzentrierte Interview ist unter den diversen Formen von Leitfadeninterviews im Hinblick auf die Forschungsfragestellung besonders geeignet, weil sie die Konzentration auf das Gewalthandeln erlaubt und zugleich den biografischen Kontext der Befragten einschließt.586 Diese Aspekte, die als eine Balance von theoretischer Offenheit einerseits und Strukturierung durch das Forschungsinteresse andererseits charakterisiert werden können, beschreibt Witzel wie folgt: „Das unvermeidbare, und damit offenzulegende Vorwissen dient in der Erhebungsphase als heuristisch-analytischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewern und Befragten. Gleichzeitig wird das Offenheitsprinzip realisiert, indem die spezifischen Relevanzsetzungen der untersuchten Subjekte insbesondere durch Narrationen angeregt werden.“587
Während die Strukturierung also über den Leitfaden erfolgt, realisiert sich die Offenheit der Interviewform über erzählgenerierende Frageformen und eine prinzipielle Offenheit für neu eingeführte Themen durch die Befragten. Mit dieser angestrebten Balance von Offenheit und Strukturierung soll gewährleistet werden, dass die Problemsicht des Interviewers nicht die Sichtweise des Interviewten überdeckt.588 Dabei umfasst das problemzentrierte Interview drei relevante Grundpositionen: Die Problemzentrierung, die Gegenstandsorientierung und die Prozessorientierung. Die Problemzentrierung impliziert die Orientierung „an einer gesellschaftlich relevanten Problemstellung“589. Sie beschreibt darüber hinaus die Haltung des Interviewers, Erzählungen der Interviewten verstehend 584 Vgl. Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln. 585 Vgl. Witzel 2000. Dem Interview war ein Kurzfragebogen vorgeschaltet, der die wichtigsten soziodemografischen Daten der Interviewten abfragte und zugleich eine Art „Warming up“ für das anschließende Interview darstellte. Das Interview wurde mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet. Besonderheiten der Interviewsituation und der besuchten Einrichtungen wurden mithilfe eines Postskriptums festgehalten. 586 Vgl. Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln. 587 Witzel 2000, Abs. 3. 588 Vgl. ebd. 589 Ebd., Abs. 4.
Forschungsdesign der Arbeit
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nachzuvollziehen und im Hinblick auf die untersuchte Fragestellung durch problemorientierte Nachfragen zu fokussieren.590 Die Gegenstandsorientierung „betont die Flexibilität der Methode gegenüber den unterschiedlichen Anforderungen des untersuchten Gegenstands.“591 Für eine angemessene Erschließung des Forschungsgegenstands fordert Witzel den flexiblen Einsatz von Methoden. Die Prozessorientierung fokussiert das Interview als einen Entwicklungsprozess. Die Interviewenden unterstützen die Befragten in der Entfaltung subjektiver Deutungsmuster, so dass im Verlauf ein vertrauensvoller Arbeitskonsens entsteht, auf dessen Grundlage Ambivalenzen angesprochen werden können. Insbesondere die Thematisierung von widersprüchlichen Aussagen und Erinnerungen ist hilfreich, weil sie häufig eine „interpretationserleichternde Neuformulierung enthalten“592. Die Prozessorientierung umfasst die Förderung narrativer Erzählungen von Lebensereignissen und biografisch relevanten Begebenheiten. Die Wahl leitfadengestützter Interviews ist wegen der biografisch ausgerichteten Forschungsfragestellung dieser Arbeit zu begründen, da sich insbesondere narrative Interviews zur Erhebung biografischer Erfahrungsaufschichtung eignen.593 Aus folgenden Gründen wurde dennoch die leitfadengestützte Interviewform gewählt: Die Fragestellung umfasst nicht ausschließlich die Rekonstruktion der biografischen Erfahrungsaufschichtung der Interviewten. Der ausschließliche Fokus auf die Erfassung biografischer Prozessstrukturen birgt das Risiko, dass Narrationen zur Gewaltsituation und -dynamik nicht oder in nicht ausreichendem Maße erfasst werden. Dies gilt umso mehr, als dass Gewalthandeln ein soziales Tabu darstellt und Mädchen darüber hinaus gegen gängige Weiblichkeitsstereotype verstoßen. Die Hemmschwelle, über eigene Gewalttaten ausführlich zu berichten, war bei einigen Mädchen zu Beginn des Interviews recht hoch. Erst im weiteren Verlauf ließen sie sich ermutigen, ihre Gewaltaktivitäten zu schildern. Zudem setzen narrative Interviews eine hohe Erzählkompetenz voraus, die nicht bei allen interviewten Jugendlichen gleichermaßen erwartet werden konnte. Ziel der Untersuchung war jedoch, auch solche Mädchen zu befragen, deren Erzähl- und Konzentrationsfähigkeit nicht gut ausgeprägt war. Diesem Vorgehen liegt die These zugrunde, dass auch „karge“ Interviews gewinnbringend für die Auswertung sind. Da Gewalt eine Ressource darstellt, mit deren Hilfe jenseits verbaler Äußerungen soziale Ordnungen (zumindest kurzzeitig) erzeugt werden können, war eine Befragung weniger verbal eloquenter Mäd590 Vgl. ebd. 591 Ebd., Abs. 5. 592 Ebd., Abs. 6. 593 Vgl. Schütze 1983; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1993; Küsters 2006. Im narrativen Interview wird zu Beginn ein erzählgenerierender Stimulus gesetzt, der zumeist eine ausgedehnte Stegreiferzählung erzeugt. Der Interviewer resp. die Interviewerin selbst äußern während dieser Erzählung keine Fragen.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
chen ein notwendiger Aspekt im Sampling. Narrative Interviews sind aufgrund ihrer Strukturierung nicht geeignet, die situativen Bedingungen des Gewalthandelns zu eruieren, weil in ihnen die Biografie der Interviewten ins Zentrum rückt. Es fehlt damit der Ansatzpunkt, die situative Gewaltdynamik selbst und zudem die Einflüsse von Familie, Schule, Peergroup und Jugendhilfe im Hinblick auf die Gewaltdynamik systematisch zu erheben. Das narrative Interview birgt mit seiner starken Offenheit den Nachteil, dass Bedingungen und Einflüsse des Gewalthandelns, die den Beteiligten selbst nicht reflexiv zugänglich sind, im Interview nicht oder über den Nachfrageteil nur unzureichend erhoben werden können. Aufgrund der aufgeführten Nachteile narrativer Interviews wurde die dargelegte strukturiertere Variante des problemzentrierten Interviews gewählt. Zur Erhebung problemzentrierter Interviews wurde folgender Leitfaden genutzt: Tabelle 2: Interviewleitfaden: Sozialisation
Situative Anlässe
Sozialisation
Eingangsfrage: Bitte erzähle mir doch mal, wie du hier so lebst.
Konflikte erlebt? Welche? Wann war das? Weitere Konflikte in anderen Lebensbereichen?
Geschlecht Was ist typisch weiblich/männlich? Wunsch Mädchen oder Junge Warum? War das früher anders?
Streitereien - geschlagen? Selbst beteiligt? Beispiele? Häufigkeit? Streitthemen sind, war das früher anders? Wie? Beispiele….
Geschlecht Schlagen sich Jungs anders als Mädchen? Wie?
Gruppe Wie ist es in Gruppe? Was ist wichtig an Gruppe? Reine Mädchengruppe? Freunde in Gruppe? War das früher anders? Wie? Beispiele….
Bestimmter Punkt wo zugeschlagen wird? Warum dann? Gefühle? War das früher anders? Wie? Beispiele….
Gruppe Gruppe ggfs. bewusst gemieden? Wann? Wie ist es dazu gekommen? Von Gruppe bedroht? Beispiel?
Forschungsdesign der Arbeit
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Freundschaften Was ist für dich Freundschaft? Warum? Beispiel? War das früher anders? Wie? Beispiel...
Freundschaften Freundschaft zerbrochen? Welche Situationen? Warum Situation kritisch?
Familie Verhältnis zu Eltern? Zeitliche Veränderung… Verhältnis zu Geschwistern? Zeitliche Veränderung? Was ist dir an Familie wichtig? War das früher anders? Wie? Beispiele?
Familie Streit mit Eltern: Beispiel? Streitthemen? Häufigkeit? Typ. Ausgang? Streit mit Geschwistern? Beispiel? Streitthemen? Häufigkeit? Typ. Ausgang? War das früher anders? Wie? Beispiele?
Jugendhilfeinstitutionen Kontakte mit Jugendamt/Maßnahme594: Wie war das für dich? Ggfs: War das früher anders? Wie? Beispiele?
Jugendhilfeinstitutionen Streit oder Konflikte in Jugendhilfeeinrichtung/Maßnahme? Ggfs. War das früher anders? Wie? Beispiele?
Schule: Wie ist es in der Schule? Geht gern zur Schule? Warum? Lieblingsfächer? Warum? Beziehung zu Lehrern und Schülern, Ruf der Schule, „Unterrichtsqualität“, Erlebte Schulwechsel: wie war das? Beispiele, angestrebter Schulabschluss? Warum?
Schule In Schule geschlagen? Welche Situationen? Beispiele? Rolle Schüler, Rolle Lehrer. War das früher anders? Wie? Beispiele….
594 Vor dem Interview wurde ein Fragebogen zu soziodemografischen Aspekten von den Interviewten ausgefüllt. Dort wurden mögliche Jugendhilfemaßnahmen und Kontakte mit dem Jugendamt oder anderen Institutionen erhoben, so dass im Leitfaden an dieser Stelle die Erfahrungen zu den konkreten Maßnahmen im Vordergrund standen.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
Die Einstiegsfrage des Interviews ist in der oberen linken Spalte aufgeführt. Sie enthält einen Erzählimpuls zur Lebenssituation. Dem schließen sich Fragen zu Erfahrungen in den Sozialisationsbereiche Familie, Schule, Jugendgruppe, Freundeskreis und Jugendhilfeinstitutionen an. Zudem wurden über die Fragen, die in der linken Spalte aufgeführt sind, Ressourcen, Lebensziele und Relevanzsetzungen der Interviewten eruiert. Die mittlere Spalte umfasst die Fokussierung auf Gewalt- und Konfliktsituationen, die rechte Spalte Fragen zu Konflikten in unterschiedlichen Sozialisationsbereichen. Insgesamt wurde der Leitfaden flexibel eingesetzt, eine Reihenfolge von Zeilen oder Spalten ist daher mit dem Raster nicht in Verbindung zu setzen. Er diente in der Interviewsituation als Stichwortgeber für den Nachfrageteil, bei dem noch einmal überprüft werden konnte, ob wichtige Aspekte bereits angesprochen oder einige Nachfragen erforderlich waren. Dieser flexible Einsatz, bei dem die Frageformulierungen ad hoc an das Erzählte angepasst wurden, ermöglichte einerseits eine große Flexibilität und Offenheit. Andererseits birgt sie jedoch den Nachteil, dass Formulierung z.T. nicht gut gelingen, so dass einige Interviewfehler begangen wurden. Um diese Fehlerquelle zu berücksichtigen, wurden die Fehler in jedem Interview kodiert und bei der Auswertung entsprechend miteinbezogen. Die Interviews wurden transkribiert nach den in Anlage 1 aufgeführten Transkriptionsregeln. Die Wahl der Transkriptionsregeln begründet sich in ihrer Feinheit, denn mit ihnen konnten nicht nur Pausen oder Betonungen ins Schriftliche übersetzt werden, sondern es war ebenso möglich, über die lautgerechte Schreibweise die Darstellung von Verschleifungen, Dialekte und Sprachfehler der Interviewten wiederzugegeben. Auch lässt sich etwa das Zögern der Interview-ten, etwas zu erzählen oder die Wiedergabe von Zitaten durch die Erzählperson verschriftlichen. Diese stark ins Detail gehende Übersetzung des Gesprächs in Textform war notwendig, um Narrationen zu Gewaltsituationen oder biografisch relevanten Ereignissen angemessen analysieren zu können. 7.4.3 Datenauswertung Für die aufgeführten Fälle wurde jeweils der Lebensverlauf rekonstruiert, welcher eine Übersicht über die chronologische Reihenfolge der erzählten Lebensereignisse bietet. Daran schloss sich die Auswertung mithilfe des modifizierten Verfahrens der Grounded Theory an.595 Die Analyse beginnt mit dem Schritt des offenen Kodierens, indem die Kodierung nach Themenwechsel erfolgte.596 In 595 Vgl. Kapitel 7.3. Grounded Theory. 596 Eine Kodierung nach Kommunikationsschemata wurde getestet, aber verworfen, weil mit ihr die Rekonstruktion der Eskalationsverläufe in Konflikten nur ungenügend berücksichtigt wurde.
Forschungsdesign der Arbeit
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einem kleinschrittigen Verfahren wurde jedes neue Thema der Interviewten erfasst und über die Verwendung von In-vivo-odes wiedergegeben. Das auf diese Weise „aufgebrochene“ Material wurde anschließend im Hinblick auf verschiedene Themen konzeptualisiert. Hierzu wurde ausgehend von den im Leitfaden enthaltenen sensibilisierenden Konzepten597, eine erste Kodierung des Materials vorgenommen und erkenntnisleitende Fragen in Form von Memos entwickelt, die wiederum die Grenzen der verwendeten Konzepte offen legten und zur gezielten Suche nach geeigneteren sensibilisierenden Konzepten anregten. Auf diese Weise wurden Kategorien zu bestimmten Aspekten wie Gewalthandeln, adoleszente (kollektive) Problemlagen und deren symbolische „Lösung“, zentrale Abwertungserfahrungen, Geschlechtertheorien etc. entwickelt.598 In diesem Prozess des axialen Kodierens stand die Konzeptualisierung zentraler Phänomene am Material im Vordergrund. Die Entscheidung, welche Phänomene relevant für die Theoriebildung sind und welche eine eher untergeordnete Rolle einnehmen, hängt zum einen von der Forschungsfragestellung ab (sowie dem darauf basierenden Fachwissen) und zum anderen vom Material selbst. Hilfreich war an dieser Stelle, die Perspektive und Relevanz von Ereignissen resp. Phänomenen aus Sicht der Befragten zu rekonstruieren. An einigen zentralen Punkten der Interviews wurden daher Narrationsanalysen durchgeführt. Wichtige (narrative) Textpassagen wurden hermeneutisch in Anlehnung an Elemente der strukturellen Beschreibung von Fritz Schütze interpretiert, um etwa den Erzählkern, Detaillierungen und Hintergrundkonstruktionen rekonstruieren zu können.599 Das Ziel einer solchen Vorgehensweise war die Gewinnung von Thesen zur Relevanz biografischer Erfahrungen und geschilderten Ereignissen aus Sicht der Befragten. Diese Thesen wurden über die Methode des ständigen Vergleichens im Rahmen der Grounded Theory zunächst innerhalb des Falls und anschließend anhand der Kontrastierung mit unterschiedlichen Vergleichsfällen geprüft und ggf. modifiziert. Diese Methodenkombination war besonders zweckdienlich für die Konzeptualisierung der biografischen Entwicklung des Selbstbildes der befragten Jugendlichen. Über die gezielte Thesengenerierung der Haltung der Biografieträgerinnen zu bestimmten lebensgeschichtlichen Ereignissen konnte sukzessive die spezifische Selbst- und Weltsicht der Interviewten bestimmt werden. In einem dritten Schritt, dem selektiven Kodieren, wurden die erarbeiteten Kategorien und Phänomene in Bezug zueinander gesetzt und die Suche nach der 597 Wichtige sensibilisierende Konzepte, die dem Leitfaden zugrunde liegen, sind z.B. Gewaltsituation, Konfliktsituation, die Rolle von Lehrern und Schülern bei Unterrichtsstörungen, Beziehungskonzepte zu Eltern und Geschwistern, Freundschaftskonzepte und Geschlechterstereotype. 598 Eine Darstellung des Entwicklungsprozesses von den anfänglichen sensibilisierenden Konzepten bis hin zur Generierung der sogenannten Achsenkategorien im Modus des axialen Kodierens ist nicht möglich, weil dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. 599 Vgl. Schütze 1987, S. 99ff.
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zentralen Kernkategorie abgeschlossen. Über die Wahl des Konzepts der Gewaltkarriere, konnten wesentliche Achsenkategorien, wie beispielsweise der gewaltförmige Kampf des Anerkennens, das Selbstbild der Siegerin und erlittene biografische Abwärtsschübe, integriert werden. Daher wurde diese Kategorie als Kernkategorie bestimmt und die Bezüge der genannten Kategorien im Kontext der Gewaltkarriere eruiert. Zudem konnten mithilfe der gewählten Kernkategorie Ausstiege aus der Gewaltkarriere nachgezeichnet werden, in denen die Bemühung um eine Kontrolle des Gewalthandelns oder die Anwendung alternativer Handlungsmuster in Konfliktsituationen erkennbar sind.600 7.4.4 Datenschutz und Forschungsethik Cornelia Helfferich postuliert, dass sich qualitativ Forschende mit ethischen Fragen der Forschung auseinander setzen und beispielsweise Aspekte des Datenschutzes umfassend reflektieren sollten.601 Rechtsgrundlage des Datenschutzes ist das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) das die Erhebung, Preisgabe und Verarbeitung personenbezogener Daten regelt.602 Für die Durchführung von Interviews sind mehrere Aspekte des BDSG relevant: Zum einen ist die Preisgabe personenbezogener Daten ein Grundrecht, über das jede Person selbst entscheiden kann.603 Dieses Recht ist nicht auf andere Personen übertragbar.604 Die 600 Vgl. Kapitel 8.3 Ausstiege aus der Gewaltkarriere. Eine Typenbildung wurde in dieser Arbeit nicht angestrebt. Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen. Zum einen passt die generierte Theorie der Gewaltkarriere von weiblichen Jugendlichen nicht zu der häufig gewählten Form des Idealtypus. Dieser befindet sich auf einem höheren Abstraktionsniveau, weil mit ihm beispielsweise universale Prozessstrukturen erfasst werden (vgl. Gerhardt 1995, S. 438). Dieser Typus ist vergleichbar mit der formalen Grounded Theory. Das Ergebnis dieser Arbeit bewegt sich jedoch auf dem konzeptuellen Niveau der materialen gegenstandsverankerten Theorie (vgl. Kapitel 7.3.1 Grounded Theory, ein umfassendes Forschungsparadigma). Darüber hinaus gibt es weitere Typenformen. Zu erwähnen sind der Prototyp, in dem reale Fälle die Charakteristika des Typus am besten repräsentieren; der Durchschnittstyp, der eine regelmäßige Erscheinungsform im Kontext sich ähnelnder Fälle wiedergibt, der Extremtyp, welcher bei heterogenem Material die jeweiligen maximalen Kontraste umfasst und der Realtypus, der konkrete, in der Realität existierende Merkmalskombinationen umfasst (vgl. Lamnek 2005, S. 230ff.). Diese Typenformen werden jedoch nicht ausführlich erörtert, da sie für die Beantwortung der Forschungsfrage nicht zielführend sind. Weder der Prototyp noch die Präsentation von Durchschnittswerten oder Extremen sind geeignet für eine Konzeptualisierung biografischer Dynamiken oder situativer Bedingungen. Auch die Bildung von Realtypen ist für die Konzeptualisierung einer Theorie der Gewaltkarriere ungeeignet, weil die Bindung an in der Realität vorhandene Merkmalskombinationen dazu führt, dass es so viele Realtypen wie Fälle gibt. 601 Vgl. Helfferich 2005, S. 169. 602 Vgl. BDSG 2009. 603 Vgl. ebd., § 1, Abs. 1. 604 Vgl. ebd., § 4 Abs. 1.
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schriftliche Einwilligung der Erzählpersonen ist die grundlegende Voraussetzung für die Durchführung qualitativer Interviews. Bei Minderjährigen sind die Personensorgeberechtigten schriftlich um eine Einwilligung zu bitten.605 Damit die Erzählpersonen in die Lage versetzt werden, sich für oder gegen ein Interview und die damit verbundene Weitergabe vertraulicher Sachverhalte zu entscheiden, sind die Forschenden verpflichtet, Betroffene umfassend über die Verwendung der vorgesehenen Daten zu informieren. Die Erzählpersonen sollten vor dem Interview darüber in Kenntnis gesetzt werden, welchem Zweck die Forschung dient, wer Leiter(-in) des Forschungsprojektes ist, wer Zugang zu den Daten erhält, wie die Daten verarbeitet und wann sie gelöscht werden. Ebenso ist es im Sinne des Prinzips der „Nicht-Schädigung“ wichtig, potenzielle Interviewpartner darauf hinzuweisen, dass eine Absage des Vorhabens keinerlei Nachteile für sie nach sich zieht.606 Des Weiteren ist eine Anonymisierung der Daten im Forschungskontext unbedingt notwendig. Bei der Anonymisierung werden personenbezogene Einzelangaben so weit verändert, „dass die Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person zugeordnet werden können.“607 Beim sogenannten Pseudoanonymisieren werden Namen und andere Identifikationsmerkmale der Betroffenen ersetzt, um eine Bestimmung der Person zu verhindern.608 In jedem Interview sollten daher Angaben anonymisiert resp. pseudoanonymisiert werden. Da dies ein Akt der Datenverarbeitung ist, muss die Erzählperson der Anonymisierung vorher zustimmen. Für qualitative Interviews, in denen die Personen in der Regel viele persönliche Angaben und Daten äußern, ist insbesondere zu prüfen, inwieweit ein Risiko der Bestimmbarkeit der Interviewten besteht und wie dieses zu mindern ist. Die Interviewten wurden vor Interviewbeginn darüber informiert zu welchem Zweck und in welchem Rahmen die Daten erhoben werden. Den Erzählpersonen wurde zudem ausdrücklich erklärt, dass die Teilnahme am Interview freiwillig sei und ihnen keinerlei Nachteile entstünde, wenn sie sich gegen eine Teilnahme am Interview entscheiden würden. Zudem wurde den Interviewten die Funktion der Einwilligungserklärung erläutert. Es wurden entsprechende Einwilligungserklärungen erhoben, die nach dem Interview eingesammelt und noch einmal thematisiert wurden. Bei einigen Erzählpersonen stellten sich erst nach dem Interview Fragen zur Anonymisierung, die dann entsprechend beantwortet
605 Vgl. Helfferich 2005, S. 170. 606 Vgl. ebd. 607 BDSG 2009, § 3, Abs. 6. 608 Vgl. ebd., §3, Abs. 6a.
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werden konnten.609 Um eine Wiedererkennung der Interviewten zu vermeiden, wurden alle Namen und Ortsangaben in den Interviews bereits während der Transkription pseudoanonymisiert. Die Interviewten wurden nach dem Gespräch gefragt, ob sie sich einen Decknamen aussuchen wollten. In einigen Fällen konnte dieser Deckname verwendet werden, weil er so allgemein gehalten war, dass er keine Rückschlüsse auf die Person zuließ. In anderen Fällen wurden andere Synonyme verwendet, da es sich bei dem ausgesuchten Decknamen um einen bekannten Kosenamen der Interviewten handelte. Zur weiteren Minimierung des Risikos einer Bestimmung der Identität der interviewten Personen wurde darauf verzichtet, die in der Darstellung der Forschungsergebnisse zitierten Interviews in ihrer Gesamtfassung als Anhang der Arbeit beizufügen. Es werden daher lediglich Interviewpassagen vorgestellt. Mit dieser Vorgehensweise sollen Rückschlüsse auf die interviewten Personen minimiert werden, denn oft stellt ein Interview erst in seiner Gänze die Informationen bereit, um Personen als solche identifizieren zu können. Letztlich wurde das Risiko der Bestimmung der interviewten Personen nach bestem Wissen und Gewissen der Interviewerin minimiert, kann jedoch nicht ganz ausgeschlossen werden. Neben diesen datenschutzrechtlichen Bestimmungen sind zudem ethische Erwägungen relevant.610 609 Die Einwilligungserklärung der Personensorgeberechtigten wurde bereits vor der Interviewerhebung über die „Gatekeeper“ eingeholt. Sie enthielt Informationen zur Tätigkeit der Interviewerin, dem Forschungsprojekt und der Verwendung der Daten. 610 Ein besonderes Problem der Forschungsethik im Bereich der Interviewführung bildet der Umgang mit symbolischer Gewalt. Pierre Bourdieu erklärt aufgrund seiner kritischen Untersuchungen zu gesellschaftlichen Zwängen, dass diese in Interviewsituationen aufgrund der Differenzen des Habitus von Interviewer(-in) und Interviewten stets eine Rolle spiele (vgl. Bourdieu u.a. 1997, S. 779ff. sowie Rieger-Ladich 2010). Die gesellschaftlichen Zwänge können, so Bourdieu, in Forschungssituationen nicht grundsätzlich ausgeschaltet, wohl aber reflektiert und durch Bemühungen der Forschenden im Interview reduziert werden. Bourdieu schlägt eine spezielle Form der Interviewführung vor, die nicht nur eine Sensibilität für die Ausübung symbolischer Gewalt durch die Forschenden im Feld verlangt, sondern die Wahl des Interviewers durch die Interviewten vorschlägt (z.B. sollten Bekannte der Interviewpersonen das Gespräch durchführen). Ziel ist es die soziale Nähe der Gesprächspartner zu nutzen, um auf diese Weise symbolische Gewalt zu reduzieren. Insgesamt liefern Bourdieus Einsichten wichtige Hinweise zur kritischen Reflexion der Interviewforschung. Die ethischen Überlegungen dieser Arbeit bilden einen Versuch, die Ausübung symbolischer Gewalt in Interviews zu reflektieren und möglichst zu minimieren. Eine Schulung möglicher Bekannter der Interviewten für die Interviewführung wurde im Rahmen dieser Arbeit aus folgenden Gründen jedoch abgelehnt: Zum einen war die Kontaktherstellung zu den Interviewten, die Einhaltung von Interviewterminen etc. äußerst schwierig (vgl. 7.4.1 Sample und theoretische Fallauswahl). Eine Schulung von Freunden oder Bekannten wäre aus forschungspraktischen Gründen nicht möglich gewesen. Zum anderen ist die Erfassung alltagstheoretischer Konzepte und dichter Beschreibungen zu Eskalationsverläufen von Konflikten ohne die explizite Klärung der von den Interviewten verwendeten indexikalischen Ausdrücke und Begriffe nur unzureichend möglich. Die persönliche Nähe der Gesprächspartner erschwert eine solche Erhebung, weil eine „gemeinsame Sprache“ von Interviewtem und Interviewer vorausgesetzt wird. Schließlich ist kritisch zu hinterfragen, ob eine Auswahl von Interviewpartnern die symbo-
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Die Verfasserin bezieht sich diesbezüglich auf den Ethik-Kodex der Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes Deutscher Soziologen (BDS) thematisiert sind.611 Er enthält „einen Konsens über ethisches Handeln innerhalb der professionellen und organisierten Soziologie in Deutschland“612. Unter dem Aspekt „Rechte der Untersuchten“ greift der Ethik-Kodex Bedingungen auf, die insbesondere auch die Forschungsarbeit mit gewaltbereiten Mädchen betrifft: „Besondere Anstrengungen zur Gewährleistung einer angemessenen Information sind erforderlich, wenn die in die Untersuchung einbezogenen Individuen über einen geringen Bildungsgrad verfügen, einen niedrigen Sozialstatus haben, Minoritäten oder Randgruppen angehören.“613
Dieser Punkt wurde in der Forschungspraxis aufgegriffen, indem Fremdwörter vermieden und stattdessen Ziele des Forschungsprojekts in alltäglichen Begriffen dargelegt wurden. Ein weiteres Anliegen des Ethik-Kodexes ist die Antizipation möglicher Nachteile der Interviewten durch die Datenerhebung, die negative Folgen für die Betroffenen nach sich ziehen kann. Die Reflexion möglicher negativer Folgen für die Interviewerhebung bezog sich auf die Darstellung des Projekts gegenüber Personen im Feld. Die Interviewerin achtete bei der Vorstellung des Forschungsprojekts darauf, das Gewalthandeln der Mädchen nicht einseitig zu etikettieren oder deren Verhaltensweisen sprachlich herabzusetzen. Es wurde das Themenspektrum des Projekts vorgestellt: Die Erfassung der Gewaltbereitschaft und Lebenskonflikte der Mädchen sowie die Erhebung bestehender Ressourcen. Eine weitere Sorge der Interviewerin galt den erzählten Inhalten. Da es sich in der Regel um eine stark problembelastete Gruppe handelt, kann das Wiedererleben traumatischer Erlebnisse negative Folgen für die betroffenen Personen implizieren. Es wurden folgende Maßnahmen ergriffen, um dieses Risiko zu minimieren: Die Interviewerin sprach vorab mit den „Gatekeepern“ und betonte, dass Mädchen in akuten Krisensituationen nicht als Interviewpartnerinnen kontaktiert werden sollten. Des Weiteren ging die Interviewerin gegenüber den Erzählpersonen besonders deutlich auf den freiwilligen Charakter des Gesprächs ein. Fragen, die nicht beantwortet werden möchten, sollten als solche benannt oder einfach lische Gewalt im Interview tatsächlich reduziert oder ob nicht andere Mechanismen der Distinktion greifen (vgl. Bourdieu 1989). Gegen Bourdieus methodische Überlegungen sowie den Ausführungen von Rieger-Ladichs ist einwenden, dass soziale Mechanismen der Distinktion in Forschungssituationen stets vorhanden sind, so dass die soziale Nähe der Gesprächspartner nicht per se das Niveau symbolischer Gewalt reduziert, sondern lediglich andere Formen der symbolischen Gewalt konstituiert. 611 Vgl. DGS/BDS 2009. 612 Ebd. 613 Ebd.
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Methodologische Grundlagen der Untersuchung und Forschungsdesign
übergangen werden. Dieses Angebot wurde zum Teil von den Interviewten wahrgenommen. Die Rolle der Interviewerin wurde den Jugendlichen ausführlich erklärt. Sie wurde als Wissenschaftlerin vorgestellt, die großes Interesse an ihren Erfahrungen und Lebensthemen habe, aber keine Therapeutin sei. Im Interview werde das Erzählte nicht bewertet, es gehe ausschließlich um die Sichtweise der Interviewten. Die Interviewerin bot an, Kontakt zu einer therapeutischen oder beratenden Einrichtung im Umfeld der Interviewten herzustellen und diese bei der Kontaktherstellung zu begleiten, wenn dies gewünscht werde. Den Mädchen wurde nach dem Interview die persönliche Telefonnummer ausgehändigt. Ihnen wurde angeboten, dass sie sich jederzeit melden könnten, falls sich diesbezüglich Wünsche oder Gesprächsbedarf ergeben sollten. Die Interviewerin klärte im Vorfeld der Befragung ab, welche Möglichkeiten der Beratung und therapeutischen Begleitung vor Ort gegeben waren und wer möglicherweise als Ansprechpartner zur Verfügung stünde, falls ein Mädchen eine Kontaktherstellung und Begleitung zur Beratungseinrichtung wünsche. Der Leitfaden enthielt keine Fragen zu sexuellem Missbrauch oder zu Vergewaltigungen. Diese Themen wurden aufgrund der Gefahr des Aufbrechens negativer Erinnerungen und Traumatisierungen von der Interviewerin nicht aufgegriffen. Gleichwohl gab es Interviewende, die diese Sachverhalte von sich aus ansprachen. Ihnen wurde zugehört und je nach Verfassung der Interviewten angeboten, das Interview für eine Pause zu unterbrechen und das Diktiergerät abzuschalten. Trotz dieser Maßnahmen ist eine vollständige Eliminierung möglicher negativer Auswirkungen des Interviews auf die Erzählpersonen nicht möglich. Allein die Zugzwänge des Erzählens, die bei offenen Fragen greifen, können zur Wiedergabe von Inhalten führen, welche die Interviewten im Alltagsgespräch nicht spontan schildern würden.614 Dies ist einerseits wünschenswert und ein besonderer Vorteil offener Interviews, weil gerade über die Zugzwänge des Erzählens dichte Erfahrungsaufschichtungen erzeugt werden. Auf der anderen Seite ist damit die Gefahr der Fremdbestimmung der Interviewpersonen gegeben, indem Erinnerungen an problematische Ereignisse angeregt werden, die sich negativ auf das Befinden auswirken können. Mit den vorgestellten Maßnahmen und Interventionen bemühte sich die Interviewerin, in dem besonders sensiblen Feld jugendlicher Gewalterfahrung nicht nur methodisch richtig, sondern auch ethisch verantwortbar umzugehen.
614 Vgl. Schütze 1976; 1983.
8 Der „Kampf um Anerkennung“ in Gewaltkarrieren von Mädchen
Gegenstand dieses Kapitels ist die Darstellung und Diskussion der Ergebnisse aus den Interviewauswertungen. Zunächst wird ein Überblick zu den wichtigsten Erkenntnissen bezüglich der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher gewährt (Kapitel 8.1). Dem schließt sich die detailliertere Diskussion der Ergebnisse zur Expansion des Gewalthandelns (Kapitel 8.2.1), zum Kampf um Ehre als einem zentralen Aspekt der Gewaltkarriere (Kapitel 8.2.2), zum Selbstbild gewaltaktiver Mädchen (Kapitel 8.2.3) sowie zur Dynamik der Gewaltkarriere (Kapitel 8.2.4) an. Abschnitt 8.2.5 erörtert wesentliche Aspekte der Gewaltkarriere am Fallbeispiel Jannika am Material. Merkmale und biografische Verläufe zu den Ausstiegen aus der Gewaltkarriere werden ebenfalls dargelegt (Kapitel 8.3.1) und in Bezug zur Adoleszenz gesetzt (Kapitel 8.3.2). Dem schließt sich die Diskussion des Fallbeispiels Birgit an (Kapitel 8.3.3). Die Grenzen der entwickelten Theorie der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher (Kapitel 8.4) sowie die Güte der Forschungsarbeit (Kapitel 8.5) werden abschließend behandelt. In Übereinstimmung mit den Anforderungen der Grounded Theory bemisst sich die Plausibilität einer generierten Theorie nicht allein an ihrem Aussagegehalt, sondern ebenso an der Reflexion ihrer Entstehungsbedingungen.615 Daher werden die primären Aspekte der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher nicht nur hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausprägung vorgestellt, auch die konzeptuelle Entwicklung der Theorie ist Gegenstand der Ausführungen. Freilich hat die Dokumentation der Generierung von Kategorien und theoretischen Bezügen am Material ihre Grenzen im Hinblick auf die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit der vorgestellten Ergebnisse. 8.1 Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere Der Terminus Gewaltkarriere lehnt an den Karrierebegriff an, der für eine Entwicklung, eine Laufbahn oder einen Werdegang steht.616 Die Gewaltkarriere umfasst die Entstehung und den Verlauf jugendlicher Gewaltausübung. In An615 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 8.5 Zur Güte der Arbeit. 616 Vgl. zur etymologischen Bedeutung des Begriffs Karriere vgl. Rosner 2008.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Der „Kampf um Anerkennung“ in Gewaltkarrieren von Mädchen
lehnung an den Terminus Suchtkarriere, der die Entstehung, Steigerung und Ausstieg aus konsumierenden Handlungs- und Denkweisen umfasst, lässt sich die Gewaltkarriere durch ihre Entstehung und Expansion des Gewalthandelns sowie ihre biografischen Phasen des Ausstiegs charakterisieren. Sutterlüty hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Gewalt- ebenso wie die Suchtkarriere durch biografische Kontingenz, Prozesse des Erleidens, des Kontrollverlusts sowie der bewussten Entscheidungen geprägt sei.617 Die Wahl des Karrierebegriffs begründet sich darin, dass im Lebensverlauf aller gewaltaktiver Mädchen eine Expansion des Gewalthandelns zu einem bestimmten biografischen Zeitpunkt sowie daraus resultierende weitere negative Entwicklungen und Leidensprozesse im Leben der Betroffenen rekonstruiert wurde. Gewaltexpansion und biografische Abwärtsschübe Die Ausweitung der Gewaltaktivitäten im Leben der Interviewten bildet ein wesentliches Merkmal der Gewaltkarriere. Sie zeigt sich zum einen in einer gesteigerten Häufigkeit und Intensität der ausgeübten Gewalt und zum anderen in der Ausdehnung gewalttätiger Verhaltensweisen auf weitere Lebensbereiche, indenen zuvor keine Gewalt ausgeübt wurde. Bei einigen Mädchen war die Erfahrung der Gewaltexpansion explizit in den Deutungsmustern vorhanden. In der biografischen Rekonstruktion der Gewaltkarriere offenbarte sich, dass dieser Expansion die Erfahrung eines biografischen Abwärtsschubs vorausgeht. Er beschreibt einen Entwicklungsprozess biografischer Brüche und Viktimisierungen, die bei allen Interviewten, die eine Gewaltkarriere aufweisen, analysiert wurde. Die Mädchen berichteten von Gewalt in Familie, von sexuellem Missbrauch, von chronischen Bullying-Erfahrungen in der Schule, von schulischen Überforderungen und Abwertungen oder von Viktimisierungen im Bereich der Heimerziehung oder sonstigen Maßnahmen der Jugendhilfe.618 Diese negativen Ereignisse prägen einen Entwicklungsprozess, in dem die Betroffenen einen grundlegenden Anerkennungsverlust ihrer Person in einer ohnehin prekären Lebenssituation erfahren. Dieser Anerkennungsverlust stellt aus Sicht der Jugendlichen eine Krise dar, weil die institutionellen Abwertungen zugleich die Anerkennung ihrer gesamten Person infrage stellen. Die Betroffenen berichten von subjektiven Verlusten von Anerkennung, etwa wenn sie sich als 617 Vgl. Sutterlüty 2004, S. 267. Während der Autor Gewaltkarrieren von weiblichen und männlichen Jugendlichen rekonstruiert, beschränkt sich diese Arbeit aufgrund der nicht gewährleisteten Vergleichbarkeit männlicher und weiblicher Jugendgewalt auf die Zielgruppe weiblicher Jugendlicher (vgl. zusammenfassend Kapitel 5 Fazit der Literaturanalyse). 618 Zur Übersicht der Fälle vgl. Kapitel 7.4.1 Sample und theoretische Fallauswahl.
Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere
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diejenige beschreiben, die aufgrund von familiären Problemen fremduntergebracht619 werden, obwohl die Angehörigen gleichermaßen an der Familienproblematik beteiligt sind. Zugleich wohnt dieser subjektiven Sichtweise ein objektiver Verlust von Anerkennung inne, wenn sie aus dem Familiensystem exkludiert und ihr Lebensverlauf durch die Prozesse der Fremdunterbringung, zumeist verbunden mit einem Wohnort- und Schulwechsel, gravierend beeinflusst wird. Dabei findet ihre prekäre Lage keine Berücksichtigung in den institutionellen Routinen. Die Vertreter der Institutionen sind zumeist selbst stark beansprucht, die Mädchen erhalten keine grundlegenden Optionen der Partizipation und Modifikation institutioneller Normen und Routinen. Diese biografischen Tiefpunkte im Leben der Erzählpersonen wurden als biografische Abwärtsschübe bezeichnet, um ihren Prozesscharakter zu betonen. Sie lassen sich nicht lediglich auf familiäre Gewalterfahrungen reduzieren, sondern umfassen vielfältige schulische, familiäre und soziale Problemlagen. Das Gewalthandeln der weiblichen Jugendlichen lässt sich daher als eine Überlagerung von Viktimisierung sowie hoher Problembelastung einerseits und kompromissloser Gewaltanwendung gegen sich selbst und andere andererseits charakterisieren. Ein zentrales Moment in dieser Dynamik bilden Deutungsmuster der Ehre und des Respekts. Der Kampf um Ehre Die gewaltaktiven Mädchen beschreiben Konfliktsituationen aus der Perspektive des Kampfes um Ehre. Beleidigungen oder Herabsetzungen der eigenen Person werden als Ehrverletzung gedeutet, die allein durch verbale Gegenangriffe nicht wieder hergestellt werden können. Lediglich der Einsatz physischer Gewalt bildet aus ihrer Sicht ein angemessenes Mittel, um die verletzte Ehre wiederherzustellen und den oder die Beleidiger(-in) in Misskredit zu bringen. Dabei abstrahieren die Interviewten vom konkreten Konfliktgeschehen. Im Kampf um Ehre zählt lediglich die Selbstbehauptung und Vergeltung der eigenen Ehre ohne Ansehen der Person. Diese Sichtweise auf Konflikte zeichnet sich durch eine starke Verschränkung physischer und psychischer Aspekte aus. Die Mädchen versetzen sich in einen leiblichen Modus von Kampfbereitschaft, der es ihnen im Kampfgeschehen ermöglicht, ihren unbedingten Durchsetzungswillen zur Verteidigung der eigenen Ehre zu demonstrieren. Dieser Modus leiblicher Kampfbereitschaft kennzeichnet einen physisch-mentalen Vorgang, ähnlich wie bei Kampfsportlern, die sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung mental fokussieren. Wut ist ein wesentliches Kennzeichen dieses Modus. Sie versetzt die Interviewten in 619 D.h. die vorübergehende oder dauerhafte Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung.
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Der „Kampf um Anerkennung“ in Gewaltkarrieren von Mädchen
einen aktivierten körperlichen Zustand und führt zu Momenten des Kontrollverlusts und der Enthemmung der Gewalt. Viele Mädchen berichten in diesem Zusammenhang von einer verminderten Wahrnehmung der Schmerzen. Trotz der Momente des Kontrollverlusts ließ sich in den Erzählungen zu Gewaltsituationen ein Handlungsmuster rekonstruieren, indem die Selbstbehauptung der eigenen Person im Zentrum des Handelns steht. Die Interviewten schildern Konflikte als Eskalationsverläufe, in denen bestimmte Grenzverletzungen einen Punkt markieren, an dem das Gewalthandeln aus ihrer Perspektive notwendig wird, um ihre Ehre zu verteidigen. Gewalt nimmt dabei einen ausgesprochen positiven Stellenwert ein. Sie ist legitimes Mittel zur Verteidigung der eigenen Ehre oder der von Bezugspersonen. Der sogenannte Ehrenkodex umfasst im Rahmen der Peergroup oder Familie kollektiv geteilte Normen und Werte, die sich auf die Ehre der Person und deren gewaltförmige Verteidigung beziehen. In den Deutungsmustern gewaltaktiver Mädchen spiegelt sich zudem eine bestimmte Auffassung von weiblicher Ehre wider. Diese ist eng mit der Leiblichkeit der Betroffenen verbunden. So bilden etwa die Unterschreitung des sogenannten „personal space“ oder körperliche Berührungen gegen den eigenen Willen Formen der Grenzverletzung, die aus Sicht der Interviewten eine gewaltsame Vergeltung legitimieren. Ebenso sind Herabsetzungen der eigenen Weiblichkeit wie z.B. Abwertungen der eigenen Figur, Hautfarbe oder Frisur Gründe, sich mit anderen zu schlagen. Darüber hinaus beschreiben sich die Mädchen als ehrenhafte Personen, die schwache und/oder ihnen nahestehende Personen mit Gewalt verteidigen. Sie inszenieren620 sich als Mädchen oder junge Frauen, die Herabsetzungen nicht dulden. Die befragten gewaltaktiven Mädchen charakterisieren sich selbst als durchsetzungsfähig und häufig auch als diejenigen, denen in Gruppen ein hoher Status zukommt. Sie stellen sich als Personen dar, die bereit sind bis zum Äußersten zu gehen, um ihrem persönlichen Willen Geltung zu verschaffen. Dies entspricht dem Sinnbild der Siegerin. Sie sind jeweils die Besten, Ersten, die Gewinnerinnen im Wettkampf mit anderen. Im Zuge ihres Selbstbildes als Siegerin verorten sich die Interviewten in der sozialen Rangfolge, etwa im Kontext von Jugendgruppen, ganz oben, während die Verlierer das Schlusslicht bilden. Sie signalisieren bei Beleidigungen oder Herabsetzungen kompromisslos ihren Durchsetzungswillen und ihre Kampfbereitschaft und inszenieren sich auf diese Weise als
620 Der Begriff Inszenierung bezieht sich auf das Konzept der Mimesis (vgl. ausführlich Kapitel 4.2.1 Körpersozialisation). Den Mädchen wird nicht unterstellt, dass sie andere „täuschen“ oder gar eine bewusst gewählte „Rolle“ in Auseinandersetzungen spielen.
Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere
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ehrenhafte und zu respektierende Personen, die für ihre Ehre oder die signifikanter Personen einstehen.621 Der Kampf des Anerkennens in der Gewaltkarriere von Mädchen Die Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher ist durch eine Dynamik von biografischen Abwärtsschüben sowie hoher Problembelastung und kompromissloser Gewaltanwendung gegen andere (und zum Teil gegen die eigene Person) gekennzeichnet. Die Betroffenen weisen eine dominante Handlungsorientierung des Kampfes auf, die sich auf weite Bereiche ihrer Lebenswelt erstreckt und nur schwer aufheben oder „irritieren“ lässt. Die Biografie der Interviewten ist geprägt durch den Verlust von Kontrolle über das eigene Leben einerseits und gezielter physischer Sanktion von Ehrverletzungen im Kontext von Peergroup, Schule und/oder Familie/Heimeinrichtung andererseits. Die permanente Kampfbereitschaft der weiblichen Jugendlichen ist eine Reaktion auf eklatante Anerkennensverluste in wichtigen Lebensbereichen wie etwa Gewalterfahrungen, jahrelanges Mobbing und/oder permanente Überforderungen in Familie, Schule und/oder Heim. Ihr Streben nach Anerkennung als ehrenhafte Siegerin im Kontext der Jugendgruppe impliziert weitere biografische Abwärtsschübe und Gewalt. Die Rekonstruktion der Lebensläufe dieser Mädchen ergibt, dass sich aus dem Kampf des Anerkennens eine Dynamik von institutionellen Sanktionen auf der einen Seite und weiteren Gewalthandlungen und abweichenden Verhaltensweisen auf der anderen entwickelt. Sanktionen wie der Ausschluss vom Schulunterricht, Jugendarreste oder Prozesse der Fremdunterbringung führen nicht dazu, dass die Betroffenen ihren Kampf aufgeben. Ganz im Gegenteil: Aus ihrer Perspektive bieten institutionelle Sanktionen eine weitere Bestätigung ihrer Einschätzung des Kampfes, die wiederum ihre Bereitschaft zur Auseinandersetzung fordert und fördert. Ausstiege aus der Gewaltkarriere Angesichts der Dynamik des Kampfes um Anerkennung stellt sich die Frage nach möglichen Ausstiegen aus der Gewaltkarriere. Diese ließen sich als ein 621 Die Demonstration des unbedingten Durchsetzungswillens ist jedoch nicht an den physischen Sieg in Auseinandersetzungen gebunden. Die Mädchen können im Kampf unterlegen sein und sich trotzdem als ehrenhafte (moralische) Siegerin erweisen, etwa, wenn sie zum Schutz einer schwächeren Bezugsperson in einen Kampf gegen wesentlich stärkere Gegner treten. Solche Konstellationen sind in Interviews ebenso zu finden wie Schilderungen gewaltsamer Siege gegenüber Unterlegenen.
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Der „Kampf um Anerkennung“ in Gewaltkarrieren von Mädchen
Zusammenspiel von einer Veränderung habitualisierter gewaltaffiner Handlungsmuster, der Aufhebung erfahrener institutioneller Anerkennungsverluste und einer Veränderung des Selbstbildes als Siegerin im Kampf um Ehre rekonstruieren. Dieses Zusammenspiel ist abhängig von den spezifischen Lebenssituationen und Hilfestellungen, welche die Betroffenen erfahren. Veränderte Lebenssituationen und das Bemühen um eine gesicherte Integration ins Erwachsenenleben eröffnen Spielräume für Anerkennensprozesse alternativer Selbstbilder und Handlungsorientierungen. Obwohl die Öffnung institutioneller Handlungsspielräume nicht zu einer sofortigen Beseitigung der komplexen Problemlagen führt, initiiert sie eine Veränderung der Handlungsorientierung des Kampfes, sodass sich die Eskalationsdynamik der Gewaltkarriere aufhebt. Die Wahrnehmung und Interpretation von Konflikten als Kampf um Ehre wird abgelöst von der Sorge um eine konforme Bewältigung von Konflikten, die es erlaubt, den Schritt in eine gesicherte erwachsene Existenz zu schaffen. Dabei stellen die jeweiligen biografischen Verläufe des Ausstiegs einen Entwicklungsprozess dar, der ebenso von Zufällen, bewussten Entscheidungen und Prozessen des Erleidens geprägt ist wie die Entwicklung und Expansion der Gewaltkarriere selbst. Die skizzierten Aspekte der Gewaltkarriere werden nun ausführlicher vorgestellt und anhand zentraler Interviewausschnitte plausibilisiert. 8.2 Bedingungen der Entstehung und Expansion von Gewaltkarrieren 8.2.1 Biografische Abwärtsschübe Die in den Interviews geschilderten Gewalterfahrungen enthalten einerseits verschiedene Situationen und Formen der persönlichen Gewaltausübung, andererseits Erzählungen über persönliche Viktimisierungen und Krisen. Die Ausführungen nehmen auf sehr unterschiedliche Ereignisse Bezug wie etwa das Erleben von familiärer Gewalt und/oder Missachtung, von Prozessen der Fremdunterbringung, von jahrelangem Mobbing durch Schülerinnen und Schüler, von schulischer Überforderung und Stigmatisierung als (moralisch) schlechte Schülerin, Stigmatisierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe etc. Diese kritischen Lebensereignisse ziehen wie ein Sog weitere negative Folgen nach sich. Die dargestellte biografische Dynamik wurde daher als sogenannter „biografischer Abwärtsschub“ bezeichnet. Aufgrund forschungspraktischer Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Interviewpersonen konnte der Migrationshintergrund nicht systematisch im Sampling und in der Generierung des theoretischen Ansatzes berücksichtigt werden. Gleichwohl wurden (wenn auch unsystematisch) Mädchen mit differen-
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tem Migrationshintergrund interviewt. Ihre Erfahrungen wurden im Auswertungsprozess mithilfe der Kategorie Ethnizität kodiert. In der Gruppe gewaltaktiver Mädchen befinden sich mehrere Mädchen mit Migrationshintergrund. Lediglich in einem Fall (Samira) konnten explizit Benachteiligungen und Ausgrenzungserfahrungen entlang der Kategorie Ethnizität rekonstruiert werden. Samiras biografischer Abwärtsschub unterscheidet sich hinsichtlich seiner Qualität und Dynamik nicht von den Krisenerfahrungen der übrigen gewaltaktiven Mädchen. Er wird daher nicht explizit vorgestellt. Darüber hinaus berichteten Interviewte aus der Gruppe nicht gewaltaktiver Mädchen (Alice und Yessica) ebenfalls von Ausgrenzungserfahrungen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Sie bezogen sich im Interview zudem auf die Kategorie Ethnizität, um die eigene Jugendgruppe von anderen vermeintlich „deutschen“ Jugendgruppen abzugrenzen. Im Fall Hamide, die ebenfalls in die Gruppe nicht gewaltbereiter junger Frauen eingeordnet wurde, ließen sich aufgrund ihrer Flüchtlingsgeschichte massive Benachteiligungen durch das deutsche Schulsystem rekonstruieren.622 Anhand des Fallbeispiels Eve wird ein solcher biografischer Abwärtsschub vorgestellt. Eve ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt. Zum leiblichen Vater besteht zum Zeitpunkt des Interviews kein Kontakt. Bis zum zehnten Lebensjahr lebt sie bei ihrer Mutter, die wieder geheiratet hat. Das Ehepaar trennt sich, als Eve etwa zehn Jahre alt ist. Die Interviewte berichtet, dass die Mutter Alkoholikerin sei und den Stiefvater im betrunkenen Zustand häufig geschlagen und beschimpft habe. Sie selbst habe dabei zusehen müssen. Eves familiäre Gewalterfahrungen und das Übermaß an Fremdbestimmung, welches sie durch ihre Mutter erfährt, verdichten sich zu einem biografischen Tiefpunkt. Im Interview spricht über ihre Beziehung und Kontakte zu den Stiefgroßeltern: E: Ja wir treffen uns manchmal, also ich besuch´ die immer noch, ich war irgendwie vor zwei Wochen dat letzte Mal da. Weiß=ich=nich´, die sind einfach so wie Ersatz. Die sind Großeltern für mich - ohne Wenn und Aber. Die haben, meine Mutter hat sich ja, als die sich dann von dem Herr Rund getrennt hat, im Jahr xy, hat die mich halt äh nach Kontinent X gebracht. So wo ihre ganzen Ver// wo sie herkommt und ihre ganze Familie. I: Ach so. E: So. So nach dem Motto: „Ja äh äh wir, Kind wir machen jetzt Urlaub und das geht dann auch nur ähm zwei Wochen und dann kommste wieder mal mit zur Schule." Ich war inner vierten Klasse. Mitten im Schuljahr. Ich denk so: "Oh, wie kann das denn sein!" und so. Bei meine Mutter ließ auch gar keinen hinterfragen. Dat muss man ers´ ma´ so akzeptieren. Und ähm, da bin ich da halt einfach drei-, vier Monate geblieben und meine Großeltern haben mich wieder zurück geholt. I: Ja? 622 Zur Kritik vgl. Kapitel 8.4 Grenzen des Erklärungsmodells.
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Der „Kampf um Anerkennung“ in Gewaltkarrieren von Mädchen
E: Ja. Und das war ja dann auch der Grund, warum ähm meine Mutter dieses Sorgerecht entzogen bekommen hat. I: Ja. Und wer hat jetzt das Sorgerecht? E: Jetzt hat- das äh (.), - das Jugendamt. I: Ah ja. E: Also Vormundschaft.623
Eve erzählt von ihren Stiefgroßeltern, d.h. den Eltern ihres zweiten Stiefvaters Herrn Rund, von dem sich die Mutter trennt, als sie etwa zehn Jahre alt ist. Die Scheidung liegt zum Zeitpunkt des Interviews etwa sechs Jahre zurück. Der Kontakt zu den Stiefgroßeltern ist trotz der Scheidung und Eves schwierigen Lebensumständen, die durch Umzüge in verschiedene Jugendhilfeeinrichtungen und Städte geprägt sind, erhalten geblieben. Eve beschreibt die Stiefgroßeltern als Familienersatz und legitimiert deren Relevanz für sie, indem sie sich an den kritischen Zeitpunkt ihres Lebens erinnert: Es ist die Phase kurz nach der Scheidung. Die Mutter nimmt Eve aus dem laufenden Grundschulunterricht, reist mit ihr zusammen zu ihrer Herkunftsfamilie und lässt sie dort zurück. Es wird nicht deutlich, aus welchen Motiven heraus die Mutter diese Reise unternimmt. Eve kann sich als zehnjähriges Kind nicht gegen ihre Mutter durchsetzen oder sie überzeugen, sie wieder nach Deutschland zurückkehren zu lassen. Sie muss sich dem Willen der Mutter beugen, wie die Äußerung „meine Mutter ließ auch gar keinen hinterfragen. Dat muss man ers´ ma´ so akzeptieren“ belegt. Sie bleibt für einige Monate zwangsweise bei der Herkunftsfamilie ihrer Mutter. Die dortigen Verwandten sind ihr fremd, sie befindet sich in einer gänzlich neuen Umgebung. Eve schildert in dieser Erzählung nicht nur lediglich die Durchsetzung des mütterlichen Willens. Sie berichtet von ihrer Verstoßung durch die Mutter. Der biografische Abwärtsschub lässt sich als ein Prozess beschreiben, indem der Anerkennensverlust eng verknüpft ist mit der Person der Mutter. Die mütterliche Verstoßung bildet den (vorläufigen) Tiefpunkt der negativen biografischen Entwicklung. In ihm gelangt die Negation des Anerkennens als zu liebende und zu umsorgende Tochter vollends zum Ausdruck. Die Erzählung impliziert eine doppelte Viktimisierung: Zum einen ist Eve Opfer der mütterlichen Abweisung. Zum anderen wird sie aus ihrer Perspektive für die Erziehungsfehler der Mutter zur Verantwortung gezogen, denn sie wird infolge des Sorgerechtsentzug fremduntergebracht und aus der Familie exkludiert. Während die Mutter eine neue Familie gründet und mit ihrem Lebenspartner zum Zeitpunkt des Interviews zwei Kinder gezeugt hat, bleibt Eve die Möglichkeit der Rückkehr in die Familie verschlossen: 623 Interview Eve, Z. 86-92. Aus Datenschutzgründen wurden nicht nur Namen, sondern auch Ortsund Zeitangaben im Interviewauszug verfremdet.
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I: a. O.K. Und wie-wie sind die Kontakte mit´m Jugendamt? Wie findest du die? E: Och. Ja ich bin ja nich´ umsonst indem System total drinne. "(I: Ja.)" E: Ähm Jugendhilfesystem und so. Also ich möcht schon behaupten, ich hab ja jetzt schon einiges bis jetzt gesehen - nich´ alles, aber viel ähm (..). Das jetzt hier so (Einrichtung der Jugendhilfe), das ist schon ganz wat besonderes. "(I: Ja?)" E: Die sich ziemlich engagieren und wirklich bis zum letzten geh´n, und viel halt machen. Aber insgesamt find ich dat alles öh, ich weiß nich´, scheiße. "(I:Ja)" E: Auf deutsch gesacht. Und ich finde irgendwie Ziel sollte nich´ irgendwie sein, da (..) irgendwie jemanden dann rauszuholen, und es gibt ja superviele WGs und Einrichtungen und so weiter, und wo man halt immer die Jugendlichen aus den richtigen Familien rausholt und die halt woanders hinsteckt. Man sollte erstma´ wirklich bis zum geht nich´ mehr daran arbeiten, dass es doch noch in der Ursprungsfamilie klappt. Und das (.) wurde halt damals gar nicht gemacht. I: Bei dir nich´ wahr? E: Ja.624
Eves Kritik am Jugendhilfesystem zielt auf die mangelnde Arbeit an möglichen Rückkehroptionen der Heranwachsenden in die Herkunftsfamilie. Das pädagogische Engagement und die Reichhaltigkeit differenzierter pädagogischer Maßnahmen relativieren sich aus ihrer Sicht gegenüber der Erfahrung der endgültigen Exklusion aus dem Familiensystem. Ihr Wunsch, in die Familie zurückzukehren, scheitert bis zum Zeitpunkt des Interviews an der Verweigerung von Anerkennung durch die Mutter. Die pädagogische Betreuerin betonte im Gespräch, dass diese bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht bereit und aus Sicht der pädagogischen Betreuer aufgrund ihres übermäßigen Alkoholkonsums auch nicht fähig sei, Eve wieder in die Familie zu integrieren. Die dargelegten Erkenntnisse und weitere Interviewanalysen führten schließlich zu der These, dass die kritische Erfahrung der Mädchen in der subjektiv bedeutsamen Verweigerung institutioneller Anerkennung liege. Anhand des Fallbeispiel Eve kann diese These plausibilisiert werden. Ihr biografischer Abwärtsschub lässt sich erst dann verstehend nachvollziehen, wenn die Prozesse der Fremdunterbringung und verpasster Rückkehroptionen vor dem Hintergrund der erfahrenen Negation als zu liebende und zu umsorgende Tochter reflektiert werden. Eve erleidet jedoch den Anerkennensverlustes nicht nur auf der persönlichen Beziehungsebene. Sie erfährt durch die Prozesse der Fremdunterbringung ebenso die Verweigerung von Anerkennung als Mädchen, das sein eigenes Leben mitbestimmen und etwa seinen Wohn- und Lebensort selbst wählen darf. Beide Aspekte des Verlustes von Anerkennung sind miteinander verwoben und betreffen die Ebene institutioneller Anerkennung, denn sowohl der Bereich der
624 Interview Eve, Z. 93-97.
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Familie als auch die Einrichtungen der Jugendhilfe lassen sich als gesellschaftliche Einrichtungen resp. Institutionen begreifen.625 Die Auswertung und der Vergleich der erhobenen Fälle ergaben, dass die biografischen Abwärtsschübe nicht ausschließlich durch Opfererfahrungen in der Familie bedingt sind. Es existierten ebenso Fälle, in denen die Erfahrung jahrelangen Mobbings durch Mitschülerinnen und Mitschüler einen subjektiv bedeutsamen Verlust des Anerkennens darstellten. Die erfahrenen Krisen der weiblichen Jugendlichen lassen sich nicht ausschließlich auf problematische Familiensituationen zurückführen. Sie können ebenso durch Konflikte außerhalb der Familie ausgelöst werden. Die Gemeinsamkeit der sehr unterschiedlichen kritischen Lebensereignisse liegt in der Erfahrung des Verlusts institutioneller Anerkennung. Darüber hinaus belegte die Fallkontrastierung, dass sich die Betroffenen in prekären Lebenssituationen befinden. Der biografische Abwärtsschub lässt sich als ein Zusammenspiel von problematischer Lebenssituation und der Erfahrung des Anerkennensverlustes in einem (subjektiv) als sehr wichtig erachteten Lebensbereich beschreiben. Die Mädchen erleiden den grundlegenden Verlust des Anerkennens ihrer Person in einer prekären Lebenssituation ohne die Möglichkeit, die Bedingungen des Anerkennens selbst zu verändern. Dabei zeigt sich, dass ihnen entweder von institutioneller Seite kein Raum für alternative Anerkennensprozesse gegeben wurde oder die ihnen gewährte Anerkennung aus ihrer Perspektive nicht bedeutsam war für die Bearbeitung der bestehenden Konflikte. In den institutionellen Routinen zur Bearbeitung ihrer Problematik sind keine grundlegenden Optionen der Partizipation und Modifikation der bestehenden Regeln und Normen vorgesehen. Zumeist stellt sich heraus, dass die Vertreter der Institutionen selbst stark beansprucht sind. Der biografische Abwärtsschub kann daher als subjektiv relevante Annerkennensverweigerung bei gleichzeitig institutioneller Einschränkung in verschiedenen Lebensbereichen charakterisiert werden. Er lässt sich aus der Perspektive der Betroffenen als basale Infragestellung der eigenen Person und persönliche Krise beschreiben. Die Interviewten berichten von Viktimisierungen und Benachteiligungen etwa in Form von Überforderungen in der Schule, einhergehend mit Stigmatisierungen durch Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler, Gewalt in Familien, Trennung der Eltern, jahrelangen Abwertungen durch Familienmitglieder, Zwangsunterbringungen in psychiatrische Einrichtungen, Fremdunterbringungen ohne Rückkehroption in die Herkunftsfamilie, Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch, etc.626 Diese Beispiele illustrieren, dass es sich nicht um alltägliche
625 Vgl. ausführlich Kapitel 6.2.2 Anerkennen in Institutionen. 626 Leider ist eine Gesamtdarstellung der jeweiligen biografischen Abwärtsschübe der Interviewten nicht möglich, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Es sind daher exemplarisch zwei
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Anerkennenskonflikte handelt, in denen bestimmte Aspekte des Selbst keine Bestätigung erhalten. Vielmehr wird die leibliche Integrität der Mädchen grundsätzlich missachtet. Diese Erfahrung kulminiert zumeist in die Erzählung einer Krise, welche die erfahrenen Leidensprozesse auf einen lebensgeschichtlichen Tiefpunkt verdichtet. Im Auswertungsprozess wurde ein enger Zusammenhang zwischen den Ereignissen im Kontext des biografischen Abwärtsschubs und der Expansion des Gewalthandelns der Interviewten rekonstruiert. Dieser Zusammenhang wird nun anhand von Auszügen aus dem Interview mit Eve näher erörtert. Eve schildert hier eine physische Auseinandersetzung mit einer Schülerin. Zu diesem Zeitpunkt besucht sie die 5. Klasse einer Gesamtschule. E: Die hat mich ma´ feddich gemacht, keine=Ahnung. Ich hab, hab´ ja schon geraucht und so "(I: Ja)" E: Und dann hat die immer so dumme Sprüche: "So klein und schonn am rauchen?" und so, und hat sich total cool gefühlt. So voll ein auf erwachsen gemacht und so. "(I: Mhm)" E: Und ähm (..) weiß=ich=nich´, so voll die dummen Sachen. Weil die hat mir mal inne Haare ´rumgewuschelt. Weiß=ich=nich´ "(I: Oh.)" E: "Äh, Kleine!" und so weiter, so voll dumme Sachen! "(I: Mhm)" E: Die hat sich richtisch cool gefühlt! Und dat war auch noch so´ne richtich Dünne (.), mit null drauf! Die sah schon nach nix aus so, da war ich echt mehr n´ ähm mit drei Jahre Unterschied irgendwie als sie! Und irgendwann nach´e Schule, genau mein Opa hat mich abgeholt ࡳ ja, der hat dat alles noch mitgeseh´n ࡳ und die äh, kam dann so´n Weg entlang gefahr´n und auf´m Fahrrad. Joa und dann is´ die irgendwie einmal rechts um mich gefahr´n, ´ne? Und dann nochma´ nach links um mich gefahr´n so als wenn die so´n paar Kreise um mich dreht, ´ne? Dann bin ich steh´n geblieb´n, ´ne? So. (.) Weil die nich´ irgendwie so´n kleinen Kreis dreh´n konnte, wat=weiß=ich, is´ die auch vom Fahrrad abgestieg´n. Da hab´n wir uns irgendwie beleidigt, richtisch asozial bis zum geht=nich´=mehr, […] und dann ging dat irgendwie die ganze Zeit so weiter und irgendwann hab´ ich dann echt zuviel gekricht, die saß dann auch irgendwie auf ihr´m Fahrrad, und das war echt- das war Hardcore! Also das war wirklich richtich übertrieb´n. Die war irgendwie zwei Köpfe größer als ich, aber total dünn halt. (EINATMEN) Dann hab´ ich die gepackt irgendwie am Arm und an//andre Hand ging irgendwie zum Kopf Reflex, hab´ die richtich ´runtergeschlagen vom Fahrrad, "(I: Ja.)" E: Hab´ ihr´n Kopf gepackt, ich=weiß=auch=nich´ , also das war wirklich ´n Gefühl, als ob ich mich gar nich´ mehr unter Kontrolle hätte. "(I: Mhm)" E: Richtich übel. Dat Fahrrad is´ dann irgendwie umgekippt und ich hab irgendwie ihren Kopf gegen die Reifen oder irgendwie so wat gequetscht, keine Ahnung. So richtich mit all´m an Kraft wat ich hatte. Und hab die ganze Zeit dabei angeschrien: Du wat=weiß=ich=wat. Und ähm, ja, mein Opa hat dat dann gesehen, ´ne? Der hat sich dat ersma´ ´n bischen angeguckt, so - hat er mir dann später gesacht: "Ich stand da schon ziemlich lange" und so - und dann, ich hab´ halt wirklich nich´ aufgehört, und dann is´ der ´rausgekomtypische Abwärtsschübe aufgeführt, welche die Negation von Anerkennung in der Familie (im Falle Eves s.o.) und in der Schule (im Falle Jannikas vgl. Kapitel 8.2.5) enthalten.
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men, keine Ahnung, hat mich dann losgerissen, hat mich auch richtich au// richtisch hart angepackt, weil ich wollt´ die einfach nich´ loslassen. Hat mich dann mitgezerrt, mitgerissen, ins Auto gesteckt und dann (.) sind wer losgefahr´n. "(I: Mhm ja.)" E: Und dat Mädchen war echt am bluten. Und ich hab der Haare ´rausgerissen, am nächsten Tag inner Schule, durft´ ich einmal zum äh, hier wie heißt das nochma´, ähm (.) ja nich´ Schulleiter, gibt´s nochma´ für fünfte-sechste Klasse gibt´s nochma´ extra so´n Jahrgangsleiter "(I: Ja mhm)" E: Ja, da musste ich zu dem da hin und weiß=ich=nich´, und dat war jetz´ schon so dat erste Mal, dat ich richtich übel, dat da sowat passiert is´. I: Ja. (..) Wie hat sich dat angefühlt? E: (..) Bezogen auf dieses Mädchen? Ich sach ich hab´ nie gern´ gemacht. Aber, et hat sich auch nich´ gut angefühlt, aber die war richtich ࡳ die war einfach nur noch ätzend! Ich war viel viel jünger als sie, (.) die war viel größer als ich, und die hat angefang´n. So! Ich hätte nich´ mit´e Gewalt darauf rea//reagieren können, weil ganz klar hab´ ich ja angefang´n, ich hab´ ja angefang´n sie irgendwie anne Haare ´runterzureißen und so weiter "(I: Mhm, O.K.)" E: (.) Aber die äh die is´ mir so nah gekommen, die hat diese Drehungen um mich drum gemacht, die hat mich so eingekreist, so eingeschränkt, verbal und und halt au// wirklich so (.) um mich herum gefahr´n, ich konnt´ einfach nich´ mehr. "(I: Mhm.) E: Irgendwo is´ dann auch so bei mir ´ne Grenze erreicht gewesen. Ich bin echt als Kind selten an solche Grenzen gekommen. "(I:Mhm) E: Ich hatte im Kindergarten keine Auseinandersetzungen oder sowat (.), später inne Grundschule auch nich´ wirklich, weil (...) is´ halt irgendwie nie passiert. Und dann sowas. Und dann die hat ganz klar ´ne Grenze überschritten. "(I: Mhm.)" E: Und ich wusste mir nich´ anders zu helfen, als (.) so.627
Eve berichtet von der Auseinandersetzung mit dem Mädchen, das älter ist, sie verbal beleidigt und physisch einschränkt. Im Hintergrund befindet sich ihr Stiefgroßvater, der die Szene zunächst lediglich beobachtet, später jedoch einschreitet, als Eve die Kontrolle über sich verliert und den Kopf des Mädchens weiter gegen das Rad schlägt, obwohl diese bereits am Boden liegt. Die Erzählung ist von der Erfahrung des Kontrollverlusts über die eigene Person geprägt. Eve schildert, wie sie die Gegnerin trotz des Alters- und Größenunterschieds reflexartig vom Fahrrad schlägt und sie mit dem Kopf gegen das Rad drückt. Äußerungen wie „also das war wirklich ´n Gefühl, als ob ich mich gar nich´ mehr unter Kontrolle hätte."(I: Mhm.)" E: Richtich übel.“ verbalisieren explizit den erfahrenen Kontrollverlust, der ihr hier zum ersten Mal passiert sei. In dieser Erzählung dominieren nicht das Machtgefühl und der Sieg über die Gegnerin, sondern das Erschrecken über die eigene Brutalität und Enthemmung der Gewalt. Auf Nachfrage der Interviewerin, wie sich die Situation angefühlt habe, geht Eve noch einmal auf die Grenzverletzung des älteren Mädchen und die Erfahrung des Kontrollverlusts: 627 Interview Eve, Z. 256-258.
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E: Irgendwo is´ dann auch so bei mir ´ne Grenze erreicht gewesen. Ich bin echt als Kind selten an solche Grenzen gekommen. "(I:Mhm.)" E: Ich hatte im Kindergarten keine Auseinandersetzungen oder sowat (.), später inne Grundschule auch nich´ wirklich, weil (...) is´ halt irgendwie nie passiert. Und dann sowas.628
Eve schildert ihr Erschrecken über das eigene „Ausrasten“ und kontrastiert es mit ihrer Kindheit. Mit dieser Kontrastierung markiert sie den Beginn ihrer Gewaltkarriere. Sie ist zu diesem Zeitpunkt etwa elf Jahre alt. In der Rekonstruktion ihres Lebensverlaufs ergibt sich ein Zusammenhang zwischen der Verstoßung durch die Mutter und dem Beginn der Gewaltexpansion. Als Eve nach der Verstoßung nach Deutschland zurückkehrt, wird sie von den Stiefgroßeltern aufgenommen und wechselt in die 5. Klasse einer Gesamtschule. Dort findet die Auseinandersetzung mit der älteren Schülerin statt, die aus Eves Perspektive das erste Mal dieses überschießende Moment an Brutalität innehat, in der sie die Kontrolle über sich selbst verliert. Der biografische Zusammenhang zwischen dem Anerkennungsverlust durch die Mutter und der Expansion der Gewalt lässt sich auf der Erzählebene in der verbindenden Rolle der Stiefgroßeltern rekonstruieren. In beiden Erzählungen treten die Stiefgroßeltern resp. der Stiefgroßvater als vermeintliche Retter auf, welche die Interviewte vor Schlimmerem bewahren. In der Erzählung zum biografischen Abwärtsschub retten die Stiefgroßeltern sie aus dem Herkunftsland der mütterlichen Familie (s.o.), in der Auseinandersetzung mit der älteren Schülerin bewahrt der Stiefgroßvater sie vor ernsteren Folgen ihrer enthemmten Gewalt. In den Erzählungen des institutionellen Anerkennungsverlusts durch die Mutter und dem Verlust von Selbstkontrolle verdichtet sich Eves Krisenerlebnis. Die Stiefgroßeltern resp. der Stiefgroßvater erscheinen angesichts der gravierenden Erfahrungen von Abwertung als die letzte Instanz, die ihr angesichts der eskalierenden Lebenssituation Halt bieten. Sie werden aus dieser Perspektive als „Retter“ in ihrer Not wahrgenommen. Anhand von Interviewauszügen zum Fall Eve wurde der Zusammenhang von biografischem Abwärtsschub und der Expansion des Gewalthandelns illustriert. Über den minimalen Kontrast zur Gruppe der gewaltaktiven Mädchen und über den maximalen Kontrast zur Gruppe der Aussteigerinnen aus der Gewaltkarriere wurde dieser Zusammenhang bestätigt. In allen 14 Fällen ging ein biografischer Abwärtsschub der Expansion der Gewaltkarriere voraus. Die bisher dargelegten Ergebnisse unterscheiden sich grundlegend von den Erkenntnissen zur jugendlichen Gewaltkarriere von Sutterlüty.629 Er erkennt lediglich in familiären Gewaltund Missachtungserfahrungen die Grundlage für eine jugendliche Gewaltkarrie-
628 Interview Eve, Z. 258. 629 Vgl. Sutterlüty 2002; 2004 ; Kapitel 3.3.3 Jugendgewalt aufgrund von Anerkennungskonflikten.
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re. Im Gegensatz zu seiner Untersuchung weisen die interviewten gewaltaktiven Mädchen vielfältige Erfahrungen von Abwertungen und Viktimisierungen auf, die sich nicht allein auf das familiäre Umfeld beschränken lassen. Stattdessen wurden biografische Abwärtsschübe ebenso im Kontext von Stigmatisierungen und Mobbingerfahrungen in der Schule und/oder in Einrichtungen der Jugendhilfe rekonstruiert. Ein weiterer Unterschied in der Auswertung ergab sich in Bezug auf die vom Forscher rekonstruierten Epiphanien. Hinweise auf einen biografischen Wendepunkt, an dem die Mädchen den Wechsel vom Opfer zur handlungsmächtigen Täterin vollziehen, wie ihn Sutterlüty in seinen Ausführungen zur Jugendgewaltkarriere beschreibt, ließen sich in den Interviews weiblicher Jugendlicher nicht rekonstruieren. Die Erzählpersonen berichten von der Expansion ihres Gewalthandelns sehr ambivalent. Einerseits inszenieren sie sich als Siegerinnen in Auseinandersetzungen, andererseits berichten sie von Opfererfahrungen und vom Verlust der Kontrolle über ihr eigenes Leben. Die Gewaltausübung und Einnahme der Rolle als Täterin ist keineswegs ausschließlich an das Machterleben geknüpft, wie die Ausführungen Eves belegen. Die Interviewten beschreiben die Expansion der Gewalt vielmehr als Verlust von Kontrolle über sich selbst und das eigene Leben.630 In der Rekonstruktion der Lebensläufe aller 14 gewaltaktiven Mädchen konnte ein Zusammenhang von biografischem Abwärtsschub und der Expansion des Gewalthandelns nachgewiesen werden. Diese Verknüpfung ist jedoch genauer in ihrer Dynamik zu bestimmen und zu plausibilisieren. Dafür ist es jedoch notwendig, die biografische Perspektive auf das Gewalthandeln kurzfristig zu
630 Die Konsequenzen des Gewalthandelns sowie die bereits erfahrenen Anerkennungsverluste und Viktimisierungen stehen bei einigen Betroffenen zugleich in Zusammenhang mit verlaufskurvenförmigen Prozessen des Erleidens (vgl. Wiezorek 2010; Sutterlüty 2002; zum Konzept der Verlaufskurse vgl. Schütze 1999). Gleichwohl lässt sich keine Parallelität von Gewaltexpansion und der Aufschichtung von Verlaufskurvenpotenzial erkennen. Die Auslöser für eine Verlaufskurve des Erleidens sind ebenso kontingent und von biografischen Ereignissen abhängig wie die Entstehung und der Verlauf der Gewaltkarriere. Beide Prozesse sind nicht notwendig kongruent. Für die Beschreibung der krisenhaften Erfahrungen wurde daher nicht der Terminus der Verlaufskurve des Erleidens verwendet. Sie unterscheidet sich in ihren Prozessen (wie etwa Aufschichtung von Verlaufskurvenpotenzial, Grenzüberschreitung, Phasen der Stabilisierung etc.) von Prozessen biografischer Abwärtsschübe. Besonders gut erkennbar ist die differente Dynamik von Gewaltkarriere und Verlaufskurve des Erleidens am Fallbeispiel Manuela, auf das an dieser Stelle lediglich exemplarisch verwiesen werden kann. Manuela ist eine 21-jährige Frau, deren familiäre Leidensprozesse in der Kindheit beginnen und deren Verlaufskurve trotz Phasen der Stabilisierung bis zum Zeitpunkt des Interviews anhält. Zugleich hat sie die Gewaltkarriere erfolgreich überwunden. Die Gewaltkarriere ist zwar in die Dynamik der Verlaufskurve eingebettet, doch zugleich deutlich von ihr unterschieden, denn die Expansion von Manuelas Gewalthandelns und auch ihr Ausstieg ist unmittelbar an den schulischen Kontext gebunden, während die Verlaufskurve des Erleidens geprägt ist durch die familiäre Dynamik.
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verlassen, um den Fokus auf die Rekonstruktion der situativen Bedingungen des Gewalthandelns zu richten.631 8.2.2 Der Kampf um Ehre Die Interviewten berichteten häufig von Beleidigungen durch Gleichaltrige, von der Verteidigung ihres Rufs und der Sicherung von Respekt durch Gewaltanwendung. Die Konzeptualisierung der Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher als einem Kampf um Ehre ist das Resultat einer ständigen Auseinandersetzung mit den theoretischen Einsichten und Erzählungen gewaltaktiver Mädchen. In Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln sind die grundlegenden theoretischen Aspekte einer Analyse personaler Gewalt sowie die im iterativen Forschungsprozess generierten sensibilisierenden Konzepte formuliert.632 Die verbale und physische Kampfbereitschaft der Mädchen bildet eine wichtige Kategorie der Gewaltkarriere. Sie umfasst einerseits eine leibliche Ebene, in der die Jugendlichen sich in eine Art physische Kampfbereitschaft versetzen (Kapitel 8.2.2.1) und andererseits das Handlungsmuster der Selbstbehauptung, indem Handlungsschritte der potenziellen Gegner(-innen) unter dem Vorzeichen der unbedingten Verteidigung der eigenen Ehre als Grenzverletzung wahrgenommen und mit Gewalt geahndet werden (Kapitel 8.2.2.2). Darüber hinaus liegt dem Deutungsmuster des Kampfes um die eigene Ehre oder die von Bezugspersonen in physischen Auseinandersetzungen eine bestimmte Vorstellung von respektvollem und achtbarem Verhalten zugrunde. Diese Vorstellungen wurden als gewaltaffiner Ehrenkodex bezeichnet. 8.2.2.1 Kampfbereitschaft 8.2.2.1.1 Der leibliche Modus der Kampfbereitschaft In der Analyse der Gewalterzählungen berichteten die Mädchen häufig von intensiven Gefühlen der Wut, des Hasses und der leiblichen Erregung. Einige erklärten, dass sie „schwarzsähen“ und sich ausschließlich auf das Kampfgeschehen fokussierten. Aktivitäten um sie herum nähmen sie nicht mehr oder nur noch vermindert wahr. Während diese Ausführungen zunächst als typische Begleiterscheinungen körperlicher Erregung im Kontext der Auseinandersetzung kategorisiert wurden, stellte die folgende Äußerung Simones diese Einschätzung grund631 Vgl. Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln. 632 Vgl. Kapitel 7.3 Grounded Theory.
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legend infrage. Ihre Schilderungen lassen nämlich den Schluss zu, dass dieser enervierende leibliche Zustand von den Mädchen (mehr oder weniger explizit) angestrebt wird, bevor sie sich in eine gewaltsame Auseinandersetzung begeben. Simone ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt. Sie weist eine ausgeprägte Gewaltkarriere auf, die bereits im Grundschulalter im Zusammenhang mit familiären Misshandlungen beginnt und sich etwa bis zum 16. Lebensjahr fortsetzt. Danach folgt ein biografischer Wendepunkt, sodass sie zum Interviewzeitpunkt seit circa einem Jahr in Konfliktsituationen keine (physische) Gewalt angewandt hat. Simone wurde daher als Aussteigerin eingestuft. Im vorgestellten Gesprächsauszug berichtet sie über eine Auseinandersetzung, in der sie physisch dem Anderen unterlegen war. S: I: S: I: S: I: S:
I: S: I: S:
I: S: I: S:
Dat war´n Kerl. (LACHT) Ja? Ja. Doch, da hatt ich auch Glück gehabt. Ja? Ja, da hatt ich auch Nase gebrochen und alles. Also (..) Wat hast du da gemacht? Ähm dat war, äh ich war bei meinem Bruder, also n Wochenende bei meinem Bruder, mein Bruder wohnt bei meiner Mama wieder, "(I: Ja,)" S: und ähm, mein meine Eltern waren also meine Mama war nich da, und mein großer Bruder auch nich, nur halt, meine, mein kleiner Bruder. "(I: Hmhm,)" S: Der Siebenjährige. Der war da. Und die waren draußen Fußball spielen. Und ähm irgendwie war das wohl zu laut oder so, und dann hat der Typ äh meinen kleinen Bruder mit nem Messer bedroht. Mit nem Messer #bedroht?# #Ja, # und ähm, ganz schwarz gesehen. "(I: Ja,)" S: So. Obwohl ich eigentlich nich so ne Beziehung zu ihm bin so. Ja Aber trotzdem. "(I: Hmhm,)" S: Und dann, ähm, hat n Freund, von meinem Bruder halt mich geholt, der sieht ja so putzig aus der Kleine. "(I: Mhm,)" S: Und dann bin ich dahin und hab mich natürlich eingemischt. "(I: Ja,) S: So. Ja und dann hat der mit mir angefangen. Und dann hab ich eine gekricht, auf=e Nase direkt, "(I: Mhm,)" S: da hab ich erst mal nix mehr gesehen. Und dann hat mein Bruder der hing mir so am Bein, so. Ich konnt mich auch nich bewegen oder so, weil der hat sich richtich festgeklammert immer am Bein und=so. Und dann hab mich irgendwie versucht zu wehren, aber ich weiß nich, ich hab immer wieder einen gekricht und immer wieder. Und ich hatte Glück gehabt, dass äh von meinem großen Bruder n Kollege vorbeikam, weil die wohnen alle da bei uns "(I: Mhm,)" S: so´n Dorf is’ dat. Und dass der kam und halt mir dann geholfen hat. Ja. Ich hatte, ehrlich, ich hatte Glück. Ja, hmhm, und wie war dat für dich das so mitzukriegen? Ja Scheiße.
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I: S: I: S: I: S:
Ja, hast du da auch Schmerzen gefühlt oder auch gar nich so. Doch, doch doch. Da ja? Doch, da ja. "(I: Hmhm,)" S: Dat, ich weiß nich, dat war wat anderes so. Wie anders? Ähm (...) ich weiß nich, ich kann nich so beschreiben "(I: Hmhm,)" S: (HUSTET) Dat boh, wie soll ich sagen? Dat war wat anderes als das oh. Ich wollte eigentlich nur meinen Bruder verteidigen. Ich hab damit ja nich gerechnet. "(I: Ja,)" S: Dass ich halt eine krich oder=so. Ich hab auch nich damit gerechnet, dass ich mich jetzt mit dem prügeln muss. "(I: Ja,)" S: Und so wars da ähm, wie soll ich sagen? Sonst war die Situation immer anders. I: Ja, wie war die anders? S: Sonst ham wir halt gesacht so: "Die verprügeln wir jetzt" und dann ham wir die verprügelt. "(I: O.K.)" S: So oder, der hat mir nich äh so irgendwat gemacht wo ich ausrasten konnte oder=so. "(I: Mhm,)" S: Sondern weil, ich war halt nur sauer dadrüber, halt, ich hatte Angst um meinen kleinen Bruder, aber ich bin halt nich ausgerastet so. "(I: Mhm)" S: Und dann äh, bin ich, boh, ich hab keine Ahnung! (LACHT) Und dann äh (..) keine Ahnung, dann hab ich halt eine gekricht und dann hatt ich auch Nase gebrochen und hier alles blau (LACHT).633
Der Interviewauszug beginnt mit der Frage der Interviewerin, ob Simone schon einmal in einer Auseinandersetzung unterlegen war. Sie beschreibt einen brutalen Streit mit einem erwachsenen Mann, der ihren jüngeren Stiefbruder mit dem Messer bedroht und den sie zu schützen versucht. Diese Konfrontation unterscheidet sich deutlich von den Konflikten mit Gleichaltrigen. Sie wird überraschend angegriffen und geschlagen. Zugleich ist sie im Nachteil, weil der kleine Bruder sich an ihr Bein klammert und somit ihre Bewegungsfreiheit einschränkt. Simone erzählt, dass sie Schmerzen empfunden habe, der Mann bricht ihr die Nase. Im gesamten Bericht fehlen Hinweise auf Wutgefühle, die Simone im Zusammenhang mit ihren übrigen Auseinandersetzungen stets erwähnt. Im Unterschied zu den anderen Konfrontationen wurde sie in diesem Fall von der Situation überrascht. Sie erklärt der Interviewerin, dass sie nicht damit gerechnet habe, sich nun schlagen zu müssen. Diese Überraschung Simones bildete den Anlass, Erzählungen und Hinweise auf eine leibliche Kampfbereitschaft genauer zu untersuchen. Der Analyse lag die These zugrunde, dass die Mädchen sich in Konfliktsituationen in einen leiblichen Modus der Kampfbereitschaft versetzen, der wesentlich über das Wutgefühl ausgelöst wird. Diese These wurde über die Kontrastierung von Narrationen zum Gewalterleben geprüft und führte schließlich zur Konzeptualisierung des Modus leiblicher Kampfbereitschaft.
633 Interview Simone, Z. 276-316.
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Der leibliche Modus der Kampfbereitschaft bezeichnet einen aktivierten physischen Zustand, indem die Betroffenen in starke Erregung versetzt sind. Sie fühlen intensive Wut und Hass, die z.T. in Erinnerung des Geschehens nochmals erlebt werden. Die Interviewten berichten von einer Fokussierung auf die bevorstehende Kampfsituation. Alle anderen Eindrücke oder Interventionen durch Dritte werden ausgeblendet. Darüber hinaus zeigte sich, dass der leibliche Modus der Kampfbereitschaft häufig zu einer Unterdrückung oder verminderten Wahrnehmung der eigenen Schmerzen im Kampf führt. Ebenso erzählen die Mädchen, dass sie häufig von selbst nicht aufhören konnten sich zu schlagen. Sie schildern diese Momente enthemmter Gewalt als Verlust von Selbstkontrolle, aber z.T. ebenso als Moment der leiblichen Überlegenheit und des Machtgefühls. Insgesamt umfasst der leibliche Modus Kampfbereitschaft folgende Dimensionen: die leibliche Aktivierung kurz vor bevorstehenden Auseinandersetzung, die Fähigkeit, Schmerzen in Auseinandersetzungen auszuschalten oder zumindest zu kontrollieren, um handlungsfähig resp. kampfbereit zu bleiben, ein überschießendes Moment der Gewaltanwendung, das sich in Aspekten des „NichtAufhören-Könnens“ und der Enthemmung des Gewalthandelns und äußert. Der leibliche Modus Kampfbereitschaft kennzeichnet einen physisch-mentalen Vorgang, den man auch bei Kampfsportlern beobachten kann, die sich kurz vor dem Wettkampf konzentrieren und auf die physische Auseinandersetzung vorbereiten. Goffman postuliert, dass Wut ein Merkmal sozialer Interaktion sei.634 Sie bilde in direkten sozialen Interaktionen einen notwendigen Schritt im Rahmen der interaktionellen Ordnung und zeige den Akteuren Beleidigungen und Abwertungen ihres Images an.635 Insofern erhält Wut eine anzeigende Funktion in Interaktionen. Sie weist darauf hin, dass das Image einer Person abgewertet wird resp. zu Disposition steht. Wut aktiviert die leibliche Kampfbereitschaft, die sich durch die Verschränkung physischer und psychischer Momente charakterisieren lässt. Die Interviewten richten all ihre Konzentration auf das Geschehen und die Ausführung des nächsten Konters. Zugleich sind sie dermaßen erregt, dass sie Schmerzen nicht oder nur vermindert wahrnehmen. Die Fähigkeit der Schmerzunterdrückung oder -kontrolle ist eine wichtige Kompetenz, um in physischen Auseinandersetzungen bestehen zu können. Ähnlich wie im Kampfsport stellt diese Fertigkeit die Voraussetzung dar, um den 634 Vgl. Goffman 1986, S. 29. 635 Das Image einer Person entstehe, so Goffman, in sozialen Interaktionen und umfasse jenes Selbstbild, von dem die Individuen annehmen, es in den Augen anderer besitzen (Goffman 1986, S. 10f.). Insofern kann das Image auch als „Gesicht“ bezeichnet werden, das Akteure im Laufe der direkten Interaktion wahren, aber auch verlieren können. Der Soziologe geht davon aus, dass in solchen „face-to-face interactions“ das Selbstbild einer Person und ihr Image in Widerspruch zueinander geraten könne. Er verweist Handlungsstrategien resp. Muster, mit denen die Akteure versuchten, ihr Gesicht wahren oder das verlorene Image wiederherzustellen (vgl. ebd.).
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nächsten Konter auszuführen und nicht von den Schmerzen überwältigt zu werden. Zudem impliziert der leibliche Modus der Kampfbereitschaft ein überschießendes Moment der Gewalt. Die Mädchen berichten, dass sie keine Kontrolle mehr über ihr Handeln erlangen und deshalb nicht mit dem Schlagen aufhören können, obwohl das Opfer bereits verletzt am Boden liegt. Sie sprechen von Gefühlen des Kontrollverlusts und beschreiben ihr Wutgefühl z.T. als „schwarzsehen“. Simone beschreibt ihre leibliche Kampfbereitschaft wie folgt: S: Ja. Aber bei mir war dat auch immer dat Problem, wenn ich einen verprügelt hab, ich wusste nich, wann gut is’. Wann zu Ende is’. I: Ja, S: Das war auch dat Schlimme. I: O.K., also du hast auch weitergemacht, auch wenn die verletzt waren. S: #Ja.# I: #dann noch# zugeschlagen. S: Ja, ich wusst// ich konnte, konnte nich von mir selber sagen, so jetzt is’ gut, ne? Geht nich mehr. "(I: Hmhm)" S: Und halt (2 SEK. UNV.) I: Hast du das nich gemerkt? S: Nä ich war nicht dat, ich sach´ ja, dat war wie so, so als wenn in meinem Kopf alles schwarz is’, ne? "(I: Ja,)" S: Und dann ich nur noch die Situation, die jetzt da is' vor meinen Augen hab, "(I: Ja,)" S: und aber nich mehr irgendwie drüber nachdenke oder sonst irgendwat. "(I: Hmhm,)"S: War komisch. "(I: Ja,)" S: So. I: Merkste dann auch Schmerzen, also wenn du getroffen wirst? S: Nee. I: Gar nich? S: Nee. I: Ach so und ähm aber du kriegst das schon noch mit wie du dann schlägst? S: Ja das krieg ich mit so. "(I: Ja,)" S: Aber ich hab, hab mich dann so halt selber nich unter Kontrolle.636
Die Interviewte führt aus, dass sie in der Gewaltsituation in einen Zustand versetzt wird, in dem sie nicht „rot“ sieht was die übliche alltagssprachliche Wendung zur Verdeutlichung von Wut und Kampfbereitschaft wäre. Simone sieht stattdessen alles „wie schwarz“, hat nur noch das Kampfgeschehen vor Augen und agiert dementsprechend. Sie ist nicht mehr in der Lage, sich vom Geschehen zu distanzieren und alternative Möglichkeiten der Konfliktlösung in Betracht zu ziehen. Der leibliche Erregungszustand selbst führt zu einer Überfokussierung auf den Kampf und mündet schließlich in einem Gefühl des Kontrollverlusts und einer Enthemmung der Gewalt. Die Mädchen berichten häufig, dass sie nicht selbst vom Opfer abließen, sondern erst von Dritten „gestoppt“ werden mussten. Simone beschreibt diesen Zustand, indem sie sagt, sie habe nicht gewusst, „wann 636 Interview Simone, Z. 276-290.
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gut ist“. Neben den Ausführungen zum leiblichen Modus Kampfbereitschaft wird in den Erzählungen zur Gewaltausübung deutlich, dass es spezifische Schlüsselelemente der Interaktion gibt, die das Gefühl der Wut steigern. Offenbar verfügen die Interviewten über ein spezifisches Handlungsmuster, das wesentlich Einfluss auf den Eskalationsverlauf von Konflikten nimmt. 8.2.2.1.2 Das Handlungsmuster der Selbstbehauptung Der Begriff des Handlungsmusters umfasst in Anlehnung an das Konzept der Handlungsstrategie von Goffman ein Modell von Interaktionsschritten, in dem die Beurteilung der Situation und das Selbstbild des Akteurs im intersubjektiven Kontext zum Ausdruck gelangen.637 Das Handlungsmuster enthält ein Set an typisierten Deutungen bezüglich der Einschätzung der Situation, der Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie der jeweils angemessenen Reaktion auf diese Einschätzung. Das Handlungsmuster Selbstbehauptung wurde in der Kontrastierung unterschiedlicher Erzählungen der Interviewten zu physischen Auseinandersetzungen entwickelt. Der minimale Kontrast umfasste Erzählungen, in denen die Mädchen eine Art „Zweikampf“ beschrieben, d.h. einen eskalierenden Konflikt zwischen jemand anderem und sich selbst. Die Konzeptualisierung der Gemeinsamkeiten ergab, dass die Eskalation von Konflikten nach bestimmten impliziten Regeln erfolgt, also Gefühle der Wut nicht zufällig auftreten, sondern wesentlich durch das Handeln der Akteure beeinflusst werden. In den Schilderungen der Biografieträgerinnen ist ein spezifisches Muster erkennbar, in dem die persönliche Selbstbehauptung aufgrund von Beleidigungen und Herabsetzungen der eigenen Person oder Bezugspersonen zum Ausdruck gelangt. Die Interviewten schlagen erst dann zu, wenn eine sogenannte „Grenzverletzung“ vorliegt, d.h. eine Verletzung ihrer persönlichen Integrität und Ehre oder die von Bezugspersonen. Obwohl die Mädchen von Momenten des Kontrollverlusts und der Enthemmung ihres Gewalthandelns berichten, spielen strategische Überlegungen wie etwa die Einschätzung der Gegnerin durchaus eine Rolle im Kampfgeschehen. Die Einschätzung der Gegner ist ebenso Teil der Interaktion wie die Wahrnehmung von Beobachtern und Teilnehmern der Konfliktsituation. Insgesamt lassen sich für das Handlungsmuster der Selbstbehauptung drei wesentliche Aspekte aufführen: die Einschätzung der Situation als Kampf um Ehre, die Einschätzung des Gegenübers als potenziellem Gegner resp. potenzieller Gegnerin und das Anerkanntsein als Siegerin durch signifikante Dritte. In den Interviews tauchen häufig bestimmte Signalwörter wie etwa „Hurentochter“ oder 637 Vgl. Goffman 1986, S. 10f.
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„Schlampe“ auf. Die Mädchen erklären der Interviewerin, dass diese Beleidigungen zwangsläufig zu einer gewaltsamen Vergeltung führen, da sie sich verpflichtet fühlen, ihr Ansehen zu verteidigen. Während besonders schwerwiegende Formen der Beleidigung aus der Perspektive der Interviewten keinen Spielraum für verbale Auseinandersetzungen zulassen, wurde über die Schwere der Herabsetzung bei anderen Provokationen offenbar verhandelt. Der z.T. hohe argumentative Aufwand, mit dem die Interviewten ihr Handeln legitimieren und die Übereinstimmung in der Auffassung der ehrförmigen Verteidigung des eigenen Rufs führten schließlich zu der These, dass die Interviewten die Konfliktsituation als einen Kampf um Ehre deuten. Zur Illustration einer solchen Situationsdeutung wird die Äußerung Eves herangezogen.638 Im Interview berichtet sie auf Nachfrage der Interviewerin von ihrem ersten sogenannten „Ausraster“, in dessen Rahmen sie eine ältere Schülerin, die sie provoziert, so heftig schlägt, dass ihr Großvater, der das Geschehen beobachtet hat, sie wegzerrt, mit ihr ins Auto steigt und nach Hause fährt. Als die Interviewerin daraufhin die Frage stellt, was sie während der Auseinandersetzung gefühlt habe, führt Eve aus: E: (..) Ich sach ich hab´ nie gern´ gemacht. Aber, et hat sich auch nich´ gut angefühlt, aber die war richtich - die war einfach nur noch ätzend! Ich war viel viel jünger als sie, (.) die war viel größer als ich, und die hat angefang´n. So! Ich hätte nich´ mit´e Gewalt darauf rea//reagieren können, weil ganz klar hab´ ich ja angefang´n, ich hab´ ja angefang´n sie irgendwie anne Haare ´runterzureißen und so weiter "(I: Mhm, O.K.)" E: (.) Aber die äh die is´ mir so nah gekommen, die hat diese Drehungen um mich drum gemacht, die hat mich so eingekreist, so eingeschränkt, verbal und und halt au// wirklich so (.) um mich herum gefahr´n, ich konnt´ einfach nich´ mehr. "(I: Mhm) E: Irgendwo is´ dann auch so bei mir ´ne Grenze erreicht gewesen. Ich bin echt als Kind selten an solche Grenzen gekommen. "(I:Mhm) E: Ich hatte im Kindergarten keine Auseinandersetzungen oder sowat (.), später inne Grundschule auch nich´ wirklich, weil (...) is´ halt irgendwie nie passiert. Und dann sowas. Und dann die hat ganz klar ´ne Grenze überschritten. "(I: Mhm)" E: Und ich wusste mir nich´ anders zu helfen, als (.) so. I: Ja. (.) O.K. Gibt´s denn so´n Punkt wo de sachst, da is´ so´ne Grenze, da weiste, da schlägste zu? E: Mhm. (...) Können vollkommen unterschiedliche Sachen einfach sein. "(I: Ja.)“ E: Man kann die Grenze irgendwie mit Beleidigungen an Eltern oder sowat erreichen, 638 Der Fall Eve wurde bereits in Kapitel 8.2.1 Biografische Abwärtsschübe vorgestellt. Zur Erinnerung soll an dieser Stelle lediglich eine kurze Fallcharakterisierung erfolgen: Eve ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt. Ihre Gewaltkarriere expandiert mit etwa elf Jahren, nachdem sie zunächst aufgrund des Sorgerechtsentzugs der leiblichen Mutter bei ihren Stiefgroßeltern untergebracht wird. Dem schließen sich weitere Fremdunterbringungen in verschiedenen Einrichtungen und Maßnahmen der Jugendhilfe an. Zum Zeitpunkt des Interviews übt Eve gegen ihre Mitbewohnerinnen und Mitbewohner Gewalt aus, obwohl sie selbst um eine Kontrolle ihres Gewalthandelns bemüht ist.
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aber bei mir auch mit persönlichen Beleidigungen. Oder mit Sachen die man getan hat. Wat=weiß=ich=wat, ich lass´ mich bis zum gewissen Punkt auf irgendwat ein, und guck mir dat an, auch wenn ich dat Gefühl hab, jemand nimmt mich da grad nich´ ernst, und wenn das z// äh zu weit geht, dann werd´ ich richtich wütend einfach. "(I: Ja.)" E: Ich merk, der versucht mich an der Nase herzumzuführen.639
Eve berichtet von eindeutigen physischen Grenzüberschreitungen wie etwa der Missachtung ihrer Individualdistanz sowie verbalen Grenzüberschreitungen durch beleidigende, provokante Äußerungen. Zudem hat sie den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden. Die ältere Schülerin dreht um Eve immer engere Kreisen und bedrängt sie auf verbaler Ebene, sodass Eve sich nicht mehr „zurückhalten“ kann. Sie plausibilisiert gegenüber der Interviewerin ihren eigenen Schock über ihr enthemmtes Gewalthandeln, indem sie anführt, dass ihr das als Kind nie passiert sei. Sie erklärt sich ihr eigenes Gewalthandeln als Grenzüberschreitung, die sich in enthemmter Gewalt entlädt. Dies wird gegen Ende ihrer Erzählung deutlich: „Und dann die hat ganz klar ne Grenze überschritten. "(I: Mhm)" E: Und ich wusste mir nich´ anders zu helfen, als (.) so.“ Im Vergleich der Erzählungen zum Gewalterleben zeigt sich, dass die Einschätzung einer Konfliktsituation als Kampf um Ehre auf der Identifikation von bestimmten Beleidigungen basiert, die als Ehrverletzung gedeutet werden. Dabei beschreiben die Interviewten die Verletzung ihrer Ehre als sogenannte Grenzverletzung, in welcher das beleidigende und ehrverletzende Handeln symbolisch an einer konkreten Äußerung oder Handlung festgemacht wird. In der Rekonstruktion der Eskalationsverläufe erzählter Gewalterlebnisse konnte das Konzept der Grenzverletzung weiter ausdifferenziert werden. Es stellt eine Art „neuralgischen Punkt“ im Kampfgeschehen dar, denn es markiert die Situationseinschätzung eines Konflikts als Kampf um Ehre. Die Einschätzung des Gegners oder der Gegnerin ist ein weiteres Merkmal des Handlungsmusters der Selbstbehauptung. Einige Interviewte berichteten, dass sie gezielt zuschlagen würden, um in Auseinandersetzungen als Siegerin hervorzugehen. Während ein Teil der Interviewten äußerte, ihre Kontrahenten durch gezielte Schläge kampfunfähig zu machen, zeigte sich bei einem anderen Teil, dass die Einschätzung eher beiläufig erfolgt, also weniger einen explizit strategischen Charakter besitzt. Für die Einschätzung der Konfliktsituation sind ebenso bedeutsame Andere relevant. Ein Vergleich von Narrationen, in denen von signifikanten Anderen berichtet wurde, ergibt, dass Beobachter des Geschehens wesentlich Einfluss auf den Eskalationsverlauf des Konflikts nehmen, etwa indem sie die Interviewten verbal und physisch tatkräftig unterstützen. Die Mädchen berichteten, dass sie in einigen Fällen aus ihrer Sicht von Gleichaltrigen 639 Interview Eve, Z. 258-261.
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regelrecht dazu aufgefordert wurden, ihre Kontrahentin resp. den Kontrahenten zu schlagen. Die folgende Passage aus dem Gespräch mit Birgit illustriert einen solchen Vorfall. Birgit ist zum Zeitpunkt des Gesprächs 17 Jahre alt. Ihre Gewaltkarriere beginnt und expandiert, als sie etwa 14 Jahre alt ist. Zum Interviewzeitpunkt übt sie seit ungefähr einem halben Jahr keine Gewalt mehr aus.640 Birgit schildert die weiter zurückliegende physische Auseinandersetzung mit einer Schülerin aus einer distanzierten Perspektive. Dieser Gesprächsauszug wurde gewählt, weil durch diese Distanzierung die Rolle der Mitschülerinnen und Mitschüler besonders deutlich hervortritt. I: Hmhm. Und wie war so die Ausnandersetzung in der Schule? B: Ach weiß ich nicht, da hab ich glaub ich einfach nur ged// da fühlt ich mich halt cool, weil weiß ich nicht, wie viele Leute hinter mir standen, und dann hab ich der eine geknallt und fand dat dann supertoll und alle "Oh, Birgit" und hier und da, ja. I: Hmhm, O.K. Wat hatte die gemacht? B: Och, mir hat die eigentlich gar nichts getan. I: Ach so! B: Die war aber mit dem Freund von meiner besten Freundin halt zusammen, während sie auch mit dem zusammen war und die wusste ganz genau, dass meine Freundin auch mit dem zusammen war und dann hat sie wohl mit dem fremdgeschlafen und weiß ich nicht was und dann, ja. I: Und die Klasse war dann da und hat sich dat angekuckt, oder wie? B: Och der halbe Schulhof stand dann da daneben. I: Ach so! B: Dat is bei uns immer so, wenn irgendwo Diskussion is oder sonst irgendwat, dann steht da immer sofort der halbe Schulhof da. I: Und wie ham die reagiert, die Mitschüler? B: Ja die ham mir die ganze Zeit gesagt, dass ich der eine knallen soll. I: Ach so, ja. B: Die standen hinten immer, hinter mir und: "Birgit, hau zu, hau zu", und sie die ganze Zeit. Ja und dann hab ich der eine geknallt und bin gegangen.641
Birgit beginnt ihre Erzählung mit der Einschätzung, dass sie sich damals, zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung, einfach nur „cool“ gefühlt habe. Sie erinnert sich nicht mehr an die genaue Anzahl der anwesenden Schülerinnen und Schülern, doch sie weiß noch sehr genau, dass diese sie ermutigten, die Kontrahentin zu schlagen. Auf die Frage der Interviewerin, was die Kontrahentin genau gemacht habe, antwortet Birgit, dass diese ihr „eigentlich gar nichts“ getan habe. Der Anlass der Auseinandersetzung ist nicht eine konkrete Ehr- resp. Grenzver640 Diese Einschätzung beruht auf den Angaben Birgits und der Einschätzung der pädagogischen Betreuerinnen und Betreuer. 641 Interview Birgit, Z. 414-427.
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letzung, sondern die Aufforderung der Schülerinnen und Schüler, das Mädchen zu schlagen. Ein Ignorieren dieser Aufforderung hätte ihr Image als durchsetzungsstarkes und ehrenhaftes Mädchen gefährdet. Damit wird deutlich, dass Birgit und die dabeistehenden Schülerinnen und Schüler den Konflikt als Kampf um Ehre inszenieren.642 Um diese Inszenierung aufrechterhalten zu können, benennt Birgit den vermeintlichen Grund der Auseinandersetzung, nämlich das Fremdgehen des Mädchens mit dem Freund ihrer besten Freundin, der jedoch nicht Anlass der Auseinandersetzung ist. Ein Vergleich der Schilderungen von Gewaltsituationen ergibt, dass signifikante Dritte, die in Gewaltsituationen als Beobachter oder Beteiligte aus der Perspektive der Interviewten eine Rolle spielen, eskalierend auf das Gewalthandeln einwirken (können). Ihr Einfluss führt im Extremfall dazu, dass die Erzählpersonen Gewalt ausüben, ohne dass eine Grenz- resp. Ehrverletzung vorliegt. Die Relevanz signifikanter Dritter lässt sich jedoch nicht aus dem Konfliktgeschehen selbst erklären. Birgits Erzählungen weisen aber darauf hin, dass sie im Kampf als „supertolles“ Mädchen nicht von dem Opfer selbst anerkannt wird, sondern von den umherstehenden Mitschülerinnen und Mitschülern. Um den Einfluss bedeutsamer Anderer besser zu verstehen und genauer zu untersuchen, wurde folgende These aufgestellt und am Material überprüft: Bei den geschilderten Konflikten handelt es sich um triadische Anerkennungsrelationen.643 Im Vergleich der Erzählungen von Konfliktsituationen konnte diese These bestätigt werden. Im Kampf um Ehre werden die Interviewten von bedeutsamen Anderen als ehrenhafte Siegerinnen anerkannt. Sie inszenieren sich als Mädchen resp. junge Frauen, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen, um die verletzte Ehre wiederherzustellen.644 Bedeutsame Andere bestätigen sie als ehrenhafte Personen und als Mädchen, die als Siegerinnen aus der Auseinandersetzung hervorgehen. Dabei ist das Anerkennen durch bedeutsame Andere nicht ausschließlich an deren physische Anwesenheit gebunden. Ebenso berichten die Mädchen von Geschichten über vermeintliche Zweikämpfe, die sie ihren Freundinnen und Freunden erzählen. In diesen inszenieren sie sich als ehrenhafte Siegerinnen und werden auf symbolischer Ebene in ihrem Tun bestätigt. Die Relevanz signifikanter Dritter in der Gewaltsituation erklärt sich aus ihrem Status als anerkennende Instanz. Bezugspersonen oder aus der Perspektive der Mädchen bedeutsame Beobachter oder Teilnehmer des Geschehens bestätigten die Wiederherstellung der verletzten Ehre der Mädchen. Sie anerkennen die 642 Dabei verweist der Inszenierungscharakter auf das Konzept der Mimesis (vgl. ausführlich Kapitel 4.2.1 Körpersozialisation). Den Mädchen wird nicht unterstellt, dass sie andere „täuschen“ oder gar eine bewusst gewählte „Rolle“ in Auseinandersetzungen spielen (s.u.). 643 Die Heuristik zu Anerkennensrelationen ist in Kapitel 6.2.1 dargelegt. 644 Vgl. hierzu Kapitel 8.2.3 Das Selbstbild der Siegerin.
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Interviewten als ehrenhafte und durchsetzungsfähige junge Frauen, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen, um ihre verletzte Ehre wiederherzustellen. Darüber hinaus weist der Einfluss signifikanter Dritter hinsichtlich der Situationsdeutung darauf hin, dass die Auseinandersetzungen, wie im Falle Birgits, zugleich als Kampf um Ehre unter Jugendlichen inszeniert sind. Inszenierungen von Situationen und die damit einhergehende Herstellung von Bedeutungen verweisen auf das Konzept der Mimesis. „Mimesis ist ein freies Funktionierenlassen von Handlungsschemata und, auf höheren semiotischen Ebenen, von Techniken des Benennens, Bedeutens, Darstellens.“645 Erworbene Handlungsschemata verkörpern einen symbolischen Sinn, der in der Situation zum Ausdruck gelangt und von den Beteiligten intendiert ist. Das Handlungsschema der Selbstbehauptung ist nicht lediglich ein Muster, indem Konflikte gewaltförmig bearbeitet werden. Es symbolisiert in sozialen Situationen den Kampf um Ehre. Der Inszenierungscharakter dieses Kampfes wird sichtbar über den Einfluss signifikanter Dritter, welche die Interviewten z.T. erfolgreich auffordern, Gewalt auszuüben, obwohl keine Ehrverletzung vorliegt. Die Metapher des Kampfes um Ehre wird von den Mädchen dennoch eingehalten und grenzverletzende Verhaltensweisen der Kontrahentin werden in der Regel nachträglich aufgeführt. Die kollektive Inszenierung des Kampfes um Ehre ist dabei eingebunden in gemeinsam geteilte gewaltaffine Normen und Werte. 8.2.2.2 Der gewaltaffine Ehrenkodex Die Sichtweise der Interviewten, alltägliche Konflikte als Kampf um Ehre zu deuten, weist auf Einstellungen und Normen hin, in denen Gewalt eine legitime Maßnahme zur Vergeltung von Ehrverletzungen darstellt. Diese normative Aufladung wird als gewaltaffiner Ehrenkodex bezeichnet. Er umfasst kollektive Normen und Werte, die sich auf die Ehre der Person und deren gewaltförmige Verteidigung beziehen. Bereits Sutterlüty konnte in seinen Ausführungen zur Gewaltkarriere eine positive Aufladung des Gewalthandelns feststellen, die er unter dem Begriff der Gewaltmythologien zusammenfasst.646 Der Begriff Gewaltmythologie verdeutliche, so der Autor, „die vielfältigen Glorifizierungen von Macht und Stärke“647 sowie die „hohen Erwartungen“648, welche die Jugendlichen mit der Ausübung 645 Gebauer/Wulf 1998, S. 432. Ebenso nimmt Hans-Rüdiger Müller Bezug auf die leibliche Dimension zur Erfassung des Gewalthandelns (vgl. Müller 2010). 646 Vgl. Sutterlüty 2002, S. 293ff. 647 Ebd., S. 194. 648 Ebd., S. 194.
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von Gewalt verbänden. Zudem verweise der Begriff auf den mythologischen Charakter den Gewalt für diese Jugendlichen besitze. Langfristige Folgen des Gewalthandelns, z.B. der Erhalt von Anzeigen, die Stigmatisierung im privaten Lebensumfeld sowie negative schulische oder berufliche Konsequenzen, brächten den Jugendlichen zu Bewusstsein, dass der Glaube an die positive Wirkung von Gewalt letztlich eine Chimäre sei.649 Insofern enthält der gewaltaffine Ehrenkodex in Anlehnung an Sutterlüty Deutungsmuster moralischen Handelns, in denen „moralischen Regeln nicht nur das Merkmal der 'Pflicht' oder der 'Obligation', sondern auch das des 'Erstrebenswertseins' zukommt.“650 In der Auswertung des Interviewmaterials konnten eindeutig Aspekte der Gewaltmythologien eruiert werden. Allerdings glorifizieren die Interviewten nicht lediglich die Gewalt, sondern im Zentrum ihrer Geschichten steht die gewaltsame Verteidigung der persönlichen und/oder kollektiven Ehre. Die normative Aufladung der Gewalt entspringt subjektiven sowie kollektiv geteilten Deutungsmustern der Jugendlichen zu ehrenhaftem Handeln und der gewaltsamen Sicherung von Respekt. Gewalt erhält ihre Legitimation in diesem Kontext, ebenso wie das geschilderte Machterleben der gewaltaktiven Mädchen im Zeichen des Kampfes um Ehre steht. Die negativen biografischen Auswirkungen ihrer Gewaltkarriere stehen unverbunden neben der positiven Aufwertung der Gewalt zur Verteidigung des eigenen Rufs oder des Ansehens der Bezugspersonen, denn die Aufgebe des gewaltförmigen Anspruchs auf Selbstbehauptung impliziert aus der Perspektive der Interviewten den Verlust des eigenen Ansehens sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber bedeutsamen Anderen. Die Reflexion negativer Konsequenzen der Gewaltausübung ist zumeist mit dem Wunsch verbunden, die negativen Auswirkungen des Gewalthandelns zu kontrollieren, ohne aber die Wertvorstellungen von der gewaltsamen Verteidigung der Ehre aufzugeben. Normen und Werte, die Gewalthandlungen nicht nur in ein positives Licht rücken, sondern zugleich die Enthemmung des Gewalthandelns legitimieren, wurden mit dem Begriff des gewaltaffinen Ehrenkodex bezeichnet. Ein Kodex umfasst eine Sammlung von Gesetzen, Handschriften usf.651 Der Ehrenkodex enthält implizite und explizite handlungspraktische Wissensbestände über angemessenes, ehrenhaftes Verhalten und unehrenhaftes Benehmen. Ehrenkodizes enthalten nicht notwendig Legitimationen des Gewalthandelns. Daher wurde der Begriff mit dem Adjektiv gewaltaffin belegt, um die positive Aufladung der Gewalt zu verdeutlichen. Im gewaltaffinen Ehrenkodex erhält der Kampf um Ehre eine größere Relevanz als das Wohlergehen der eigenen Person.
649 Vgl. ebd., S. 294. 650 Ebd., S. 293. 651 Vgl. Rosner 2008.
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Der Ehrenkodex beinhaltet einerseits Konzepte der Interviewten zur weiblichen Ehre und andererseits die positive Bewertung des Gewalthandelns (Gewaltmythologien). Die Auffassungen der gewaltaktiven Mädchen über die weibliche Ehre, d.h. über Ehrverletzungen und allgemeine Vorstellungen ehrenhaften Handelns, ähnelten sich sehr. Illustrierend wird ein Gesprächsausschnitt mit Tanja vorgestellt. Tanja ist zum Zeitpunkt des Interviews 13 Jahre alt, in wenigen Tagen wird sie 14. Die Expansion ihrer Gewaltkarriere steht in Zusammenhang mit einem Schulwechsel zu Beginn ihres 13. Lebensjahres sowie einer fast zeitgleichen Verschärfung familiärer Problemlagen (die Pflegeeltern ließen sich scheiden). Als kritisches Lebensereignis schildert sie ihr Leistungsversagen und vor allem die Stigmatisierung als „schlechte“ Schülerin durch die Lehrerinnen und Lehrer. Auf der neuen Schule knüpft sie Kontakte zu einer Mädchenclique, mit der sie zusammen andere Gleichaltrige schlägt, dem Unterricht fernbleibt, Schuleigentum beschädigt usf. Auf die Frage der Interviewerin, aus welchen Anlässen sie sich mit anderen Mädchen geschlagen habe antwortet sie: T: Ja, also, ich weiß jetzt nich wenn, also wo ich sofort ausraste is wenn jemand zu mir Schlampe sacht "(I: Ja)" T: das kann ich überhaupt nich leiden, und äh so wenn jemand über mich lästert oder so "(I: Ja)" T: sowas kann ich nich leiden. Und dann geh ich zu den Leuten hin, dann red ich mit denen und irgendwann is dann son Punkt erreicht, wenn die immer so sagen: "Ne, hab ich nich, ne hab ich nich" und so, wenn die das einfach nich zugeben wollen, sowas kotzt mich total an "(I: Hmhm)" T: wenn man dann auch noch lügt, wenn man lästert, jemanden beleidigt und so und dann auch noch meint: "Ne hab ich nich gesagt und so".652
Tanja benennt als Anlass ihrer Gewalttätigkeit Beleidigungen wie beispielsweise „Schlampe“ oder rufschädigende Äußerungen und Lügen, die über ihre Person verbreitet werden. Das Lügen und Lästern von Jugendlichen stellt ebenso wie Beleidigungen ihr Ansehen infrage. Tanja scheint sich jedoch bewusst zu sein, dass körperliche Gewalt nicht die allgemein übliche Handlungsweise im Umgang mit Konflikten darstellt. Sie erläutert der Interviewerin, dass sie die Betroffenen stets zur Rede stellt, also nicht sofort zuschlägt. Wenn die vermeintlichen Beleidiger der Konfrontation jedoch ausweichen oder ihre Anschuldigungen nicht bestätigen, wird sie wütend und schlägt zu.653 Tanjas Äußerung ist ein 652 Interview Tanja, Z. 86. 653 Dieses Deutungsmuster der Rechtfertigung bietet Hinweise auf Neutralisierungstechniken der eigenen Tat (vgl. Sykes/Matza 1968). Die Autoren erklären, dass bestimmte Deutungsmuster, in denen die delinquenten Jugendlichen die eigenen Taten relativieren, die Voraussetzung für ihr abweichendes Verhalten darstelle (vgl. ebd.). Insgesamt geben die Autoren fünf Techniken der Neutralisierung des Unrechts an: 1. Die Ablehnung der Verantwortung, 2. Die Verneinung des Unrechts, 3. Die Ablehnung des Opfers, 4. Die Verdammung der Verdammenden und 5. Die Berufung auf höhere Instanzen (vgl. ebd., S. 366 ff.). Tanja weist in der Legitimation ihres Gewalt-
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typisches Beispiel für sogenannte Ehrverletzungen. Signalwörter wie etwa „Hurentochter“ oder „Schlampe“ stellen aus der Perspektive der Interviewten eine Grenzüberschreitung dar, die konsequent mit Gewalt zu ahnden ist. Da diese Beschimpfungen nicht nur die Herabsetzung der Person im Allgemeinen implizieren, sondern eine Abwertung der Weiblichkeit enthalten, wurde für die weitere Konzeptualisierung des Kampfes um Ehre die folgende These gebildet und am Material geprüft : Die Interviewten verteidigen eine spezifische Auffassung weiblicher Ehre. Im minimalen Kontrast zur Gruppe der Aussteigerinnen und im maximalen Kontrast zur Gruppe nicht gewaltbereiter Mädchen zeigt sich, dass gewaltaktive Mädchen im Kontext ihrer Jugendgruppe und z.T. in ihrer Familie gemeinsame Wissensbestände zur weiblichen Ehre teilen. Sie reagieren aus ihrer Perspektive nicht auf jegliche Beleidigungen, sondern wenden nur bei der Herabsetzung ihrer Weiblichkeit resp. ihrer weiblichen Leiblichkeit Gewalt an. Demütigungen wie etwa „Schlampe“ oder „Hurentochter“ implizieren die Abwertung von Weiblichkeit: Ihnen oder ihrer Mutter wird ein ehrenloses, weil promiskuitives Handeln unterstellt. Des Weiteren äußerten die Interviewten, dass sie zum Schutze anderer Bezugsperson ebenfalls Gewalt anwenden, etwa wenn die Freundin beleidigt wird oder die Geschwister bedroht werden. Auch in diesem Fall inszenieren sich die Interviewten nicht lediglich als vermeintliche Schlägerinnen, sondern als ehrenhafte junge Frauen, die für das Ansehen ihrer Bezugspersonen einstehen und diese schützen. Ein weiterer Aspekt der weiblichen Ehre umfasst die Gewaltausübung gegen Kontrahentinnen, die den eigenen Freund „angemacht“ haben, ihnen ihren Freund wegnehmen wollten. Die Abwertung als begehrenswerte junge Frau, die in der vermeintlichen Annäherung an den Freund enthalten ist, ahnden die Mädchen häufig ebenso mit Gewalt, weil sie dies als Herabsetzung ihrer Weiblichkeit und Verletzung ihrer weiblichen Ehre bewerten. Die Auffassung einer weiblichen Ehre steht in engem Bezug zur Leiblichkeit der Mädchen. Analysen zu den Eskalationsverläufen der Gewalterzählungen legen offen, dass die Mädchen zuschlagen, wenn sie gegen ihren Willen berührt oder eine bestimmte Individualdistanz unterschritten wird. Die Situationsdeutung von Konflikten als Kampf um die Wiederherstellung der eigenen leiblich-weiblichen Ehre verleiht der Gewaltausübung eine positive Eigenschaft: Über die Kompehandelns als Selbstbehauptung gegen erfahrene Beleidigungen und Herabsetzungen ein Deutungsmuster auf, das als „Ablehnung des Opfers“ bezeichnet wird (ebd., S. 268). In den Äußerungen der Mädchen konnten einige Aspekte der Neutralisierungstechniken eruiert werden. Allerdings ist der theoretische Stellenwert dieser Deutungsmuster nicht eindeutig geklärt. Es fehlt an empirisch eindeutigen Belegen, ob Neutralisierungstechniken vor der devianten Handlung ausgebildet sind und somit durch das Lernen dieser Techniken der Weg zur Delinquenz bereitet wird oder ob die Techniken erst nach der begangenen Tat als Rechtfertigung dienen (vgl. Bertsch 2008, S. 31f.). Aufgrund dieser Unklarheit wurde das Konzept nicht systematisch in die Konzeptualisierung der Theorie der Gewaltkarriere einbezogen.
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tenz der Gewaltausübung können die Mädchen ihre eigene Ehre und die anderer Bezugspersonen erfolgreich verteidigen. Darüber hinaus schützen sie sich vor leiblichen und verbalen Übergriffen. Gewalt erhält aus dieser Perspektive den Sinn, sich als ehrenhafte junge Frau zu erweisen. Obwohl die Ausübung von Gewalt zunächst den femininen Geschlechterstereotypen wie Wärme, Expressivität und Gemeinschaftsorientierung widerspricht, vermag die Perspektive der Verteidigung der leiblich-weiblichen Ehre die zunächst männlich konnotierte Form körperlicher Gewaltausübung zu entkräften. Das Gewalthandeln impliziert Prozesse des doing gender.654 Der kollektiv geteilte gewaltaffine Ehrenkodex stellt den Rahmen bereit, in dem weibliches Gewalthandeln gerade nicht als (doppelter) Tabubruch bewertet wird, sondern als eine Form weiblichen Durchsetzungsvermögens, das der konformen Weiblichkeit überlegen ist.655 Die Interviewten berichten insbesondere im Rahmen gewaltaffiner Einstellungen und Anlässen der Gewaltausübung davon, dass sie sich gegen die Herabsetzung ihrer (leiblichen) Weiblichkeit erwehrten, während die übrigen (konformen) Mädchen die Herabsetzungen über sich ergehen ließen. Aus dieser Perspektive erscheint Gewalt nicht nur ein legitimes Durchsetzungsmittel in Konflikten, es ist zugleich eine Methode zur Herstellung einer überlegenen Form von Weiblichkeit.656 Darüber hinaus stellt Gewalt zur Verteidigung der weiblichen Ehre in einigen Fällen eine Ressource dar, erfahrene Viktimisierungen zu bearbeiten und zwar sowohl auf handlungspraktischer als auch auf symbolischer Ebene. Auf handlungspraktischer Ebene berichten die Interviewten, dass sie sich aufgrund ihrer Fähigkeit, sich physisch durchzusetzen, erfolgreich gegen sexuelle Übergriffe wehren konnten. Auf der symbolischen Ebene stellt das Vermögen, sich körperlich zur Wehr zu setzen, für einige Betroffenen eine Möglichkeit dar, erlittene sexuelle Viktimisierungen, wie etwa Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch, symbolisch zu bearbeiten. Während in ihrer Kindheit die eigene weiblichleibliche Ehre durch sexuelle Gewalt verletzt wurde, erfahren sie sich nun als physisch überlegene oder zumindest ebenbürtige Gegnerinnen, die ihre Ehre gegenüber sexuellen Übergriffen verteidigen können. Damit setzen sie den in ihrer Kindheit gemachten Viktimisierungserfahrungen die eigene Wehrhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit in der Jugendphase entgegen.657 In vielen anderen Fällen steht die Verteidigung der weiblich-leiblichen Ehre resp. die Expansion des Ge654 Vgl. ausführlich Kapitel 4.2.2 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität. 655 Der doppelte Tabubruch umfasst den Verstoß gegen die strafrechtliche Norm und die Abweichung von typisierten Vorstellungen von Weiblichkeit wie Wärme, Expressivität und Gemeinschaftsorientierung (vgl. ebd.) 656 Weitere Ausführungen hierzu sind zusammenfassend in Kapitel 8.2.3.2 Weiblichkeitskonstruktionen im Kontext des Selbstbildes dargestellt. 657 Inwieweit jedoch die Verteidigung der eigenen weiblichen Ehre zu einer Bewältigung der traumatischen Erfahrungen führt, kann aufgrund der Anlage der Studie nicht beantwortet werden.
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walthandelns in Zusammenhang mit weniger geschlechtskonnotierten Abwertungen und Anerkennungsverlusten, z.B. Mobbing unter Gleichaltrigen, Leistungsversagen und schulische Überforderung usf. Zum gewaltaffinen Ehrenkodex gehören ebenso Deutungsmuster zur positiven Aufladung von Gewalt, die in Anlehnung an die Ausführungen Sutterlütys als Gewaltmythologien bezeichnet werden.658 Einige Mädchen berichten von Machtgefühlen während oder nach der Auseinandersetzung. Der Glaube an die positive Wirkung der Gewalt verstellt jedoch nicht den Blick auf ihre negativen Folgen. Viele Interviewte berichten zwar einerseits über die positive Wirkung ihres Gewalthandelns, dem Machterleben und Respektsbezeugungen durch andere. Andererseits erkennen und benennen sie aber die negativen Folgen ihrer Gewaltkarriere wie etwa Schulverweise, Anzeigen und z.T. auch Angst vor bleibenden Schädigungen der Opfer. Häufig stehen beide Aspekte in ihren Äußerungen unvermittelt nebeneinander. Gewaltaffine Jugendgruppen und Familien stellen soziale Räume dar, in denen der gewaltsame Kampf um die persönliche und Gruppenehre ein gemeinsames Deutungsmuster in Abgrenzung zu anderen Gruppen darstellt. In allen 14 Fällen, in denen eine Gewaltkarriere rekonstruiert werden konnte, waren die Interviewten entweder Mitglied einer gewaltbereiten Peergroup oder einer gewaltaffinen Familie. Dabei bildet das Selbstbild der Interviewten einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Gewaltkarriere. 8.2.3 Das Selbstbild der Siegerin Das rekonstruierte Selbstbild gewaltaktiver Schülerinnen umfasst ihre grundsätzliche Haltung zur Gewaltexpansion in ihrem Leben, zu biografisch einschneidenden Abwertungen und Viktimisierungen und zur aktuellen Lebenssituation. Die Einschätzung einer Situation als Ehrkonflikt und die Bereitschaft, sich selbst im Kampf gegenüber anderen zur Verteidigung des eigenen Rufs zu behaupten, steht in engem Zusammenhang mit dem Selbstbild der Interviewten. Die Mädchen beschreiben sich selbst als durchsetzungsfähig und häufig auch als diejenigen, denen in Gruppen ein hoher Status zukommt. Sie stellen sich als Personen dar, die bereit sind bis zum Äußersten zu gehen, um ihrem Willen Geltung zu verschaffen. Dies entspricht dem Sinnbild der Siegerin. Sie steht den Verlierern diametral gegenüber. Die Siegerin steht in der sozialen Rangfolge ganz oben, während die Verlierer das Schlusslicht bilden.659 Für die Erörterung des Selbst658 Vgl. Sutterlüty 2002, S. 293ff. 659 Dabei ist nicht so sehr von Belang, ob die Mädchen in Auseinandersetzungen dem Gegner resp. der Gegnerin tatsächlich physisch überlegen sind.
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bildes der Siegerin wird nun ein Auszug mit Manuela vorgestellt. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 21 Jahre alt, lebt mit ihrem Freund in einer gemeinsamen Wohnung und hat durch eine schulische Fördermaßnahme in Abendform ihren Hauptschulabschluss nachgeholt. Ihre biografische Phase der Gewaltexpansion liegt zeitlich weit zurück. Sie dauerte etwa vom 11. bis zum 14. Lebensjahr. Im Folgenden berichtet Manuela von der Auseinandersetzung mit einem Jungen auf der Gesamtschule in der 7. Klasse. Sie ist damals ungefähr 13 Jahre alt. Auf die Frage der Interviewerin, ob sie ein Beispiel für eine physische Auseinandersetzung mit Schülern geben könne, antwortet Manuela: M: Das war damals in der Siebten. Da hab ich mir morgens mein Frühstück rausgeholt. "(I: Ja,)" M: In der Frühstückspause. Ich wollt´ aber noch nicht hier ´rausgehen, ich war noch in der Klasse drin. Und da hat sich ein Favoriten bei uns in der Klasse, der musste wirklich jeden ärgern. Der hat denen das Essen weggenommen, der hat das Trinken weggenommen, der hat, der hat gemacht was er wollte, als ob er King Loui wär´, sag ich mal. "(I: Mhm,)" M: Und jeder war auch meistens so: Die haben die plattgemacht vor ihm. Weil er und ich die Größten aus in der Klasse waren. Er war ´n bisschen kleiner. Und natürlich hab´n wir dann n bisschen so Platz gemacht, so wir hab´n den wirklich behandelt als ob der der King wirklich wär´ von der Klasse. Aber ich nicht. Und da ich ja dicker war, wollte der mir mein Frühstück wegnehmen. Wollte mich damit natürlich mich vor (2 SEK. UNV.). Hab ihm dreimal gesagt, ich will mein Frühstück wiederhaben. Aber er wollte nicht hören. Und ehe er gucken konnte, is er auße Klasse geflogen. Fragen se mich nicht, wie ich das da schon hingekricht hab´, nur ich war so wütend, und in dem Moment kommt ja auch noch mein Lieblingslehrer, der Herr Quaddel ´rein, ne, und sieht das. Und da hab ich dem das auch erzählt, was er gemacht hat: Da hab ich ihm dreimal gesagt, dass ich möchte mein Frühstück haben, aber da meine Sicherung ausgeschaltet ist. Und von Stund an hat mich keiner mehr auff=e Schule geärgert, die ham mir alle "Guten Morgen" gesagt, ich hatte keine Probleme mehr, die haben meine große Schnauze damals auch akzeptiert […].660
Manuela erklärt, dass ein Junge in der Klasse von den Klassenmitgliedern behandelt wurde als ob er „King Loui“ sei. Von ihm wurde sie gehänselt. Zu diesem Zeitpunkt war sie stark übergewichtig. Die Wegnahme des Frühstücks ist somit eine Provokation und Anspielung auf Manuelas Übergewicht und impliziert eine Abwertung ihrer (weiblichen) Leiblichkeit. Zunächst lässt sie sich die Provokationen gefallen, doch als der Junge nicht von ihr ablässt, wird sie dermaßen wütend, dass sie ihn buchstäblich aus dem Klassenzimmer wirft. Mithilfe ihrer physischen Überlegenheit demonstriert Manuela ihren unbedingten Durchsetzungswillen: Die anderen aus der Klasse mögen ihn als „King Loui“ respek660 Interview Manuela, Z. 85.
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tieren und seine Abwertungen hinnehmen, sie selbst duldet dies jedoch nicht. Mit der Demonstration ihrer physischen Überlegenheit wehrt sie jedoch nicht nur die Provokation des Jungen ab, zugleich stellt sie wirksam seinen hohen Status infrage, den sie nicht akzeptiert. Dabei enthält die Abwertung des Jungen einen geschlechtskonnotierten Aspekt: In der Demonstration ihrer körperlichen Überlegenheit wertet sie ihn in seiner Männlichkeit ab, so wie er zuvor versucht hat, ihre (weibliche) Leiblichkeit mit Anspielungen auf ihr Übergewicht in Misskredit zu bringen. Manuela geht aus dieser Auseinandersetzung zwischen den beiden „Größten“ der Klasse als Siegerin hervor. Sie unterstreicht dies, indem sie von der positiven Wirkung dieses Erfolgs berichtet: Nach dem Vorfall traut sich kein Mitschüler und keine Mitschülerin sie zu ärgern. Sie hat sich mit ihrer Gewaltanwendung den Respekt ihrer Altersgenossen erworben. Während sich bei der Gruppe der gewaltaktiven Mädchen sowie der Gruppe der Aussteigerinnen (in rückblickenden Erzählungen) das Selbstbild der Siegerin rekonstruieren ließ, ergaben sich im Vergleich zur Gruppe nicht gewaltaktiven Mädchen deutliche Unterschiede. Dieser Vergleich diente zur Ermittlung der Reichweite und Bedeutung des Selbstbildes der Siegerinnen im Hinblick auf das Gewalthandeln. In der Kontrastierung zeigt sich, dass nicht gewaltaktive Mädchen Konfliktsituationen anders bewerteten und darüber hinaus auch ein anderes Selbstverständnis aufweisen. Die Differenz wird am Beispiel der Äußerungen Hamides deutlich. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews etwa 18 Jahre alt und auf der Hauptschule gemeldet, geht jedoch seit Monaten nicht mehr dorthin. Hamide unterscheidet sich von den gewaltaktiven Mädchen gravierend in ihrem Konfliktverhalten, wie die folgende Gesprächspassage illustriert: I: H: I: H:
Wie verstehste dich so mit denen? Mit meine Freundinnen? Mhm (BEJAHEND) Ja gut. Die also wenn es nicht gut ist dann, dann sag ich einfach: "Am besten gehst du dein´n Weg, ich mein Weg. Ich will nicht soviel äh so alles groß machen".661
Hamide erklärt, dass sie in Konfliktsituationen von den anderen distanziere. Auch an weiteren Aussagen wird deutlich, dass sie an der Vergeltung erfahrener Beleidigungen oder Herabsetzungen nicht interessiert ist. Sie erhebt weder den Anspruch, sich den Respekt anderer gewaltsam zu sichern noch äußert sie den Wunsch, ihre Ehre zu verteidigen. Gleichwohl ist sie keine Person, die sich von anderen Jugendlichen dominieren lässt. Sie beschreibt sich als junge Frau, die ihren Weg allein ginge, und ihren Freunden beweisen wolle, dass sie etwas leisten könne. An einer Stelle im Interview resümiert sie diesbezüglich: „Ich weiß 661 Interview Hamide, Z. 69-72.
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nicht so ich will einfach zeigen so ich habs drauf. "(I: Mhm,)" H: Egal ich kann wenn ich wieder am Boden bin, ich steh wieder auf.“662 Hamide charakterisiert sich als Kämpfernatur, die gegen die Widrigkeiten des Lebens ankämpfe und sich durchs Leben schlage. Im Gegensatz zu den gewaltaktiven Mädchen, die bei Provokationen zuschlagen, wendet Hamide lediglich in äußerster Bedrängnis Gewalt an. Sie berichtet im Interview lediglich von einer körperlichen Auseinandersetzung, in der eine Mitschülerin sie monatelang beleidigt habe, obwohl sie ihr immer aus dem Weg gegangen sei. Erst als familiäre Probleme und die Provokationen des Mädchens situativ zusammentreffen, verliert Hamide die Kontrolle über sich und schlägt zu. Es bleibt jedoch bei dieser einmaligen Auseinandersetzung, wie die folgende Äußerung belegt: I: Und wie is dat ausgegangen? H: Gar nichts so. Ich hab// die wo// dann kam die mit ihre Schwester und=so, "(I: Ja.)" H: dann wollten die mich wieder schlagen, ich zu denen gegangen: "Du kannst mit deine ganze Familie kommen, wenn du mit deine Leute kommst, dann hol ich auch meine Leute.""(I: Ja,)" H: "Am Besten geh du deinen Weg, ich geh mein Weg." Dan//da die hat mich immer wieder weiter dies das da meinte ich so: "Ich hab kein Bock. Lass das, lass das." Ich hab immer selber zu mir gesacht: "Scheiß drauf. Ich weiß ganz genau ich kann diese Mädchen schlagen und seine Schwester auch."663
Hamide geht im Gegensatz zu den gewaltaktiven Jugendlichen nicht auf die Sticheleien des Mädchens ein. Sie distanziert sich von Beleidigungen, indem sie sich in ihrer Überlegenheit gegenüber dem Mädchen selbst bestärkt. Sie stellt sich als junge Frau dar, die es nicht nötig hat, Gewalt anzuwenden. Aus ihrer Perspektive ist die Anwendung von Gewalt kein angemessenes Mittel zur Konfliktlösung. Hamide beschreibt sich als ein starkes Mädchen, dessen Kompetenz gerade darin liegt, Konflikte nicht eskalieren zu lassen, sondern sich von ihnen zu distanzieren. Sie setzt den Abwertungen der Kontrahentin die eigene Stärke entgegen, ohne diese anderen beweisen zu wollen. Das Deutungsmuster, das der Verzicht auf Gewalt eine persönliche Stärke sei, konnte bei allen Mädchen rekonstruiert werden, die lediglich in Situationen der Notwehr oder in großer Bedrängnis Gewalt anwenden. Sie bezeichnen sich als starke Persönlichkeiten, die kompetent mit anderen umgehen und in Konfliktsituationen bemüht sind, den Schaden für sich und andere zu begrenzen. Gewalt stellt für sie kein angemessenes Mittel zur Konfliktlösung dar, sondern ist lediglich Ausdruck des Verlusts an Selbstkontrolle. Über den kontrastiven Fallvergleich konnte bestätigt werden, 662 Ebd., Z. 84. 663 Ebd., Z. 149-152.
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dass sich das Selbstverständnis gewaltaktiver Mädchen wesentlich unterscheidet vom Selbstbild der nicht gewaltaktiven Interviewten. Die Bedeutung des Selbstbildes der Siegerin ergibt sich jedoch erst im Kontext der Gewaltkarriere: Im Kampf um Ehre inszenieren sich die Interviewten als Siegerinnen, die bereit sind, ihre Ehre (oder die von Bezugspersonen) mit allen Mitteln zu verteidigen. Die Inszenierung als ehrenhafte Siegerin ist den Erfahrungen biografischer Abwärtsschübe diametral entgegengestellt. Die gewaltaktiven Mädchen inszenieren sich in Interviews nicht ausschließlich als Opfer, sondern als junge Frauen, die „tough“, vertrauenswürdig und den Respekt anderer genießen. 8.2.3.1 Street Credibilty: Adoleszente Aspekte des Selbstbildes Die jugendtypischen Aspekte der Selbstinszenierung als Siegerin wurden mit dem Begriff der Street Credibility charakterisiert. Der englische Terminus Street Credibility resp. Street Cred. bedeutet: „Commanding a level of respect in an urban environment due to experience in or knowledge of issues affecting those environments.”664 Die Akteure genießen in ihrer städtischen Lebenswelt großen Respekt dank ihrer Erfahrung oder ihres Wissens hinsichtlich lebensweltlicher Belange. Häufig wird der Begriff im Zusammenhang mit der Glaubwürdigkeit einer Person verwendet. Aus dieser Perspektive benötigen etwa Börsenmakler ebenso Street Cred., wie etwa Undercoveragenten. Über diese allgemeine Bedeutung hinaus findet der Terminus in bestimmten Jugendszenen Verwendung.665 Street Credibility ist ein Ausdruck für die persönliche Glaubwürdigkeit und Authentizität, die zugleich mit dem Image, auf der Straße zurechtzukommen und sich dabei auszukennen, verbunden ist. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen die eigene Glaubwürdigkeit und der damit verbundene Kampf gegen alle, die diese infrage stellen. Als Siegerin mit Street Credibility inszenieren sich die Mädchen als Jugendliche mit einer eigenen Härte, die sich nicht von physischen Schmerzen oder einem physisch überlegenen Gegner resp. Gegnerin davon abbringen lassen, ihre Ehre zu verteidigen. Sie präsentieren sich als diejenigen, die dem Leben in ihrem „Viertel“ resp. auf der "Straße" gewachsen sind und dort einen respektablen Ruf erworben haben, den es zu verteidigen gilt. Diese Form der Selbstpräsentation enthält jugendtypische Aspekte. Zunächst entstammt das Deutungsmuster der Street Credibility aus verschiedenen Bereichen der Jugendszenen, in denen die Interviewten z.T. involviert waren. Obwohl jugendliche 664 Urbandictionary 2009. 665 Vgl. etwa zur Street Cred. in der Hip-Hop-Szene: Berns/Schlobinski 2003, S. 200ff.; zur Street Cred. in der Punk-Szene: Mc Kay 2002, S. 57 sowie zur Credibility in der Blackmetal-Szene: Wanzek 2009 und zur Credibility in der Graffiti-Szene: Schneider 2009.
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Punk- und Hip-Hop-Szenen usf. durch sehr unterschiedliche Musik- und Moderichtungen geprägt sind, stellt ihre Entgegensetzung zur Welt der Erwachsenen ein einheitliches Prinzip dar. Auch wenn die Mädchen den Begriff der Street Cred. für sich nicht verwenden, heben sie sich dennoch durch ihre Zugehörigkeit zu devianten Jugendgruppen von der (bürgerlichen) und z.T. als spießig empfundenen Erwachsenenwelt ab. Im Mittelpunkt stehen das Eintreten für den eigenen Ruf, die persönliche Glaubwürdigkeit sowie die Bekanntheit im eigenen „Viertel“. Daher ist Street Cred. eng verknüpft mit einer positiven Aufwertung devianter Aktivitäten und Gewalt. Um diesen jugendtypischen Aspekt des Selbstbildes der Siegerin zu illustrieren, wird im Folgenden die Äußerung Tanjas vorgestellt.666 Auf die Frage der Interviewerin, was sie unter Anerkennung verstehe, antwortet sie: T: (...) Ja, Anerkennung ist, für mich, so wenn ich irgendwo hinkomme, dass ich eigentlich immer irgendwen kenne, "(I: Ja)", T: und äh, dass die auch nie Scheiße über mich labern würden oder so, jetzt wenn irgendwer was Schlechtes über mich sagt, dass die mir das dann erzählen oder mich halt in Schutz nehmen, ja. Sowas eigentlich also hier in B-Stadt kennt eigentlich fast jeder meinen Namen. "(I: Ja)" T: Und äh, ich hab äh eigentlich (...) also eigentlich traut sich das keiner über mich zu lästern also. "(I: Ja)" T: Und wenn ich das rauskrich, dann, ja.667
Zu Tanjas positiver Selbstcharakterisierung gehören ein hoher Bekanntheitsgrad unter den Jugendlichen sowie der Anspruch, dass keiner über sie etwas Schlechtes sagen soll. In ihrer Sorge um die Wahrung ihres „guten Rufs“ verlangt von ihren Freunden deren Verteidigung. Gleichzeitig gibt sie der Interviewerin zu verstehen, dass sie selbst Gewalt anwenden würde, sollte sie von Herabsetzungen ihrer Person erfahren. Tanja inszeniert sich hier als Mädchen mit Street Credibility, die im Stadtteil und darüber hinaus unter Gleichaltrigen bekannt ist und ihren guten Ruf mit Gewalt verteidigt. Das Selbstbild des Mädchens mit Street Cred. ist mit dem Anspruch eines hohen Status unter Jugendlichen verbunden. Die Mädchen erklären, dass sie eine führende Position in Jugendgruppen innehätten und von anderen Jugendlichen aufgrund ihres lebensweltlichen Wissens um Rat gefragt würden. Als tonangebende Person kümmern sie sich um die Belange anderer, verbinden ihre Sorge um sie jedoch zugleich mit dem Anspruch, dass ihre Ratschläge auch befolgt werden. Um die Reichweite des jugendtypischen Aspekts der Street Credibility in der Selbstpräsentation der Inter666 Der Fall Tanja wurde bereits in Kapitel 8.2.2.2 vorgestellt. Zur Erinnerung sei lediglich ihre Kurzbiografie aufgeführt: Sie ist zum Interviewzeitpunkt 13 Jahre alt. Ihre Gewaltkarriere expandiert im Alter von 13 Jahren im Zusammenhang mit einem Schulwechsel und der Scheidung ihrer Pflegeeltern. 667 Interview Tanja, Z. 299.
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viewten zu eruieren, wurden Erzählungen gewaltaktiver Mädchen verglichen mit Berichten nicht gewaltaktiver Mädchen. Es zeigt sich, dass einige nicht gewaltaktive Jugendliche ebenfalls Aspekte der Street Cred. von Bedeutung sind, etwa wenn sie für sich z.B. Authentizität, Glaubwürdigkeit und Bekanntheit im Viertel in Anspruch nehmen. Diese Selbstwahrnehmung ist jedoch nicht mit der Ausübung von Gewalt verknüpft. In Schilderungen von Konflikten wurde sichtbar, dass nicht gewaltaktive Mädchen sich zwar als durchsetzungsfähig (insbesondere auch verbal schlagfertig) charakterisieren, jedoch die Ausübung physischer Gewalt ablehnen. Sie erklären, dass sie nur in Ausnahmefällen physische Gewalt anwenden, z.B. zum Schutze schwächerer Freundinnen oder anderen Bezugspersonen. In dieser maximalen Kontrastierung wird deutlich, dass das Selbstverständnis als Mädchen mit Street Cred. ein durchaus geläufiges Deutungsmuster in Peer-Zusammenhängen darstellt, auf das sowohl gewaltaktive wie nicht gewaltaktive Mädchen Bezug nehmen. Gleichwohl bietet die Inszenierung als Mädchen mit Street Cred. Anknüpfungspunkte für eine gewaltaffine Selbstpräsentation, etwa wenn die Interviewten bei der Infragestellung ihrer Glaubwürdigkeit Gewalt anwenden. Der jugendtypische Aspekt der Street Credibility ist bei den gewaltaktiven Mädchen im Gegensatz zu den nicht gewaltbereiten Interviewten eng verbunden mit einer grundlegenden Kampfbereitschaft und mit Deutungsmustern eines gewaltaffinen Ehrenkodex. Erst in diesem Zusammenspiel werden Konfliktsituationen unter Gleichaltrigen als Kampf um Ehre wahrgenommen, in denen sich die Interviewten als „tough“ und authentisch präsentieren, indem sie ihre Ehre mit Gewalt verteidigen. 8.2.3.2 Weiblichkeitskonstruktionen im Kontext des Selbstbildes der Siegerin Die Inszenierung und Selbstcharakterisierung als vermeintliche Siegerin erfolgt keineswegs geschlechtsneutral, sondern ist in Prozesse des doing gender eingebettet.668 Die Weiblichkeitskonstruktionen gewaltaktiver Mädchen wurden einerseits anhand der Antworten zu den im Leitfaden enthaltenen Fragen zum Thema Geschlecht rekonstruiert. Darüber hinaus konnten Hinweise auf doing genderProzesse in der Schilderung der Beziehung zu Bezugspersonen, über Bezugnahmen der Interviewten zum eigenen Gewalthandeln und aufgrund der Rekonstruktion geschlechtlich konnotierter Äußerungen und Verhaltensweisen gegenüber der Interviewerin ausgemacht werden. Die Auswertung dieser Aspekte ergibt, dass sich die Interviewten als Mädchen oder junge Frauen inszenieren, denen prinzipiell ein Sonderstatus zukommt. Prozesse des doing gender sind bei ihnen 668 Zum Konzept des doing gender vgl. Kapitel 4.2.2 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität.
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mit einer Aufwertung der eigenen Weiblichkeit verknüpft. Diese Aufwertung vollzieht sich sowohl gegenüber weiblichen als auch männlichen Jugendlichen und Erwachsenen. Die Aufwertung der (eigenen) Weiblichkeit in Bezug auf das männliche Geschlecht erfolgt z.B. über explizit als männlich ausgewiesene Verhaltensweisen und Eigenschaften mit dem Hinweis, dass die Interviewte sich diesen angleiche. Die Aufwertung der eigenen Weiblichkeit wird über die Anpassung an vermeintlich „höherwertige“ männliche Verhaltensweisen vollzogen.669 Sie basiert jedoch auf der impliziten Annahme, dass das männliche Geschlecht prinzipiell höherwertig sei als das weibliche. Illustrierend wird an dieser Stelle die Äußerung Jannikas aufgeführt. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 15 Jahre alt. Auf die Frage der Interviewerin, ob es für sie etwas typisch Weibliches gebe antwortet sie: J: Ja erstmal Titten und ´n Arsch. Mh (...) (..) ja dann sich nicht so wie ´n Mann benehmen. Weiß´=ich=nich´. (..) Wie bei kleinen Kindern so, die spielen ja mit Puppen ansta// anstatt mit Autos oder=so "(I:Mhmm)". Ja, ich hab´ aber auch mit Autos gespielt "(I:Ja?!)" J: und mit Puppen.670
Jannika beschreibt zunächst die körperlichen Merkmale, die für eine Frau aus ihrer Sicht charakteristisch sind. Darüber hinaus geht sie auf differente Verhaltensweisen ein, die sie bei Kindern auf die Wahl unterschiedlicher Spielzeuge zurückführt. Mädchen spielen eher mit Puppen, Jungen mit Autos. Sie selbst nimmt sich jedoch von diesem typischen Bild aus: Sie habe sich gleichermaßen mit Autos und Puppen beschäftigt. Sie präsentiert sich als Mädchen, das über Kompetenzen und Praktiken verfügt, welche typischerweise männlichen Jugendlichen zugeschrieben werden. Indem sie neben weiblich konnotierten Verhaltensmustern ebenso vermeintlich männliche Fähigkeiten aufweisen kann, wertet sie sich als Mädchen auf. I: […] Ähm kämpfen Jungs anders als Mädels? J: Ähm die meisten Mädchen die kratzen immer und ziehn in=ne Haare und beißen nur oder=so. Aber so weiß=ich=nich´. So Jungs boxen und schubsen und=so und ich auch! I//ich box´ auch direkt drauf! Die Tanja und=so auch!671
Während Mädchen also lediglich kratzten und bissen, könnten Jungen hingegen boxen und schubsen. Die Interviewte beschreibt sich, ebenso wie ihre Freundin Tanja, in Bezug auf diese typisierten Verhaltensweisen als Ausnahmeerscheinung: Sie schlagen zu wie Jungen. Die Fähigkeit zur Gewaltausübung stellt vor 669 Vgl. ebd. 670 Interview Jannika, Z. 224. 671 Ebd., Z. 345-346.
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dem Hintergrund Jannikas positiver Sicht auf Gewalt eine Kompetenz und Aufwertung ihrer zunächst untypischen Weiblichkeit dar. Mit ihrem Sonderstatus gegenüber Mädchen gelingt es Jannika über die implizite Bezugnahme auf vermeintlich männliche Verhaltensweisen, sich als überlegen gegenüber vermeintlich typischen Mädchen zu inszenieren. Sie verfügt über die Kompetenz, sowohl weiblich als auch männlich konnotierte Verhaltensweisen auszuführen. Neben diesen Angleichungen an scheinbar männlichen Verhaltensweisen nehmen die Interviewten explizite Abwertungen des Männlichen vor. Beispielsweise werteten die Mädchen ihre Brüder oder männlichen Freunde und Bekannte als „dumm“ oder schwächlich ab und inszenieren sich im Kontrast zu ihnen als diejenigen, die Problematiken im Alltag durchschauen und sich physisch durchsetzen können – auch gegenüber Jungen. Die Interviewten präferieren ein Bild von Männlichkeit, in der physische Überlegenheit, Stärke und Durchsetzungsvermögen begehrenswerte und positive Eigenschaften eines Mannes darstellen. Sie charakterisieren ihren Partner häufig als gegenüber anderen Männern physisch überlegen, als attraktiv und um einige Jahre älter. Zugleich betonen sie, dass sie trotz des Altersunterschieds diejenigen sind, welche die Beziehung gestalten und darüber hinaus kompetent sind, eine Intimbeziehung zu führen. Insofern lässt sich im doing gender gegenüber dem männlichen Geschlecht der Aspekt des Selbstbildes der Siegerin erkennen. Die gewaltaktiven Mädchen charakterisieren sich gegenüber männlichen Bezugspersonen als führungs- und durchsetzungsstark. Dass diese Inszenierungen in sich widersprüchlich und z.T. Inkonsistenzen aufweisen, wird von den Interviewten selbst nicht reflektiert. Die Aufwertung der eigenen Weiblichkeit gewaltaktiver Mädchen ließ sich jedoch nicht nur gegenüber dem männlichen Geschlecht rekonstruieren, sondern bezieht sich ebenso auf die gleichgeschlechtliche Gruppe. Die Interviewten behaupten ebenso, gegenüber anderen Mädchen eine Art Sonderstatus innezuhaben, beispielsweise indem sie sich im Interview als diejenigen darstellen, die anderen Mädchen überlegen sind, weil sie über die „Kompetenz“ männlich konnotierter Verhaltensweisen verfügen. Darüber hinaus werten sie jene Mädchen ab, die aus ihrer Perspektive typisch weibliches, sprich friedfertiges oder gemeinschaftsorientiertes Benehmen zeigen. Die Aufwertung eigener Weiblichkeit erfolgt jedoch nicht nur über die Abwertung der vermeintlich „angepassten“ Formen von Weiblichkeit. Einige der Gewaltaktiven realisieren eine Aufwertung ihrer Weiblichkeit über das Erklärungsmuster der „Frühreifen“. Sie beschreiben sich als diejenigen, die anderen Mädchen in ihrem Alter in Denken und Aussehen weit voraus seien. Darüber hinaus verschaffe ihnen ihre „Reife“ Zugang zu devianten Cliquen, in denen die Jugendlichen älter resp. „erwachsener“ seien. Sie berichten vom Neid, den andere Mädchen ihnen gegenüber äußern würden, weil sie so gut aussehen resp. schon so weit „entwickelt“ seien. Eine weitere Aufwertung der
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eigenen Weiblichkeit und Überlegenheit gegenüber anderen Mädchen war in Schilderungen zu erkennen, in denen die Mädchen ihre Attraktivität und herausgehobene Stellung gegenüber der Interviewerin betonten, die sie gegenüber ihren Freundinnen einnehmen. Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass die Gruppe gewaltaktiver Mädchen über spezifische Deutungsmuster eine Aufwertung ihrer eigenen Weiblichkeit vollzieht. Die ihr angehörenden jungen Frauen inszenieren sich als Personen, denen eine Art Sonderstatus sowohl in der eigenen Geschlechtergruppe als auch gegenüber männlichen Jugendlichen und Erwachsenen zukommt. Die Kontrastierung der Geschlechtertheorien von gewaltaktiven Mädchen und Aussteigerinnen mit der Gruppe nicht gewaltaktiver Mädchen ergibt, dass die Weiblichkeitskonstruktionen nicht einfach von Dynamiken der Gewaltkarriere oder eines adoleszenten Entwicklungsprinzips in dem Sinne, dass mit steigendem Alter die Geschlechterkonstruktionen konformer werden, abgeleitet werden können. Vielmehr weist die Auseinandersetzung der Interviewten mit Aspekten der Geschlechterordnung und ihrer Verortung in dieser darauf hin, dass der Entwicklungsverlauf der Geschlechtsidentität gebunden ist an kollektive Probleme des Heranwachsens, die sich in den individuellen Lebenssituationen der Interviewten widerspiegeln.672 So bilden bei älteren Jugendlichen (16 bis 21 Jahre) wie Manuela, Simone, Birgit, Andrea sowie Caro partnerschaftliche Beziehungen einerseits und die Integration ins Berufsleben andererseits die Folie, auf der konformere Aspekte von Weiblichkeit konstituiert werden. Ihre Zukunftsentwürfe kreisen beispielsweise um die Vereinbarkeit von Familiengründung und Beruf. Bei den jüngeren, 13- bis 15-jährigen Interviewten spielt vor allem die Auseinandersetzung mit der eigenen Weiblichkeit eine große Rolle. Damit einher geht zum einen die Abgrenzung zur Geschlechtergruppe der Jungen als dem anderen und fremden Geschlecht, zum anderen die Selbstverortung in der eigenen Geschlechtergruppe, die erfolgt, indem sie sich von anderen Mädchen abgrenzen und z.T. Bezug nehmen auf weibliche (erwachsene) Vorbilder. Diese Verortung als weibliche Jugendliche in Abgrenzung zum vormals kindlichen Status ist zudem geprägt durch Reflexionen und Alltagstheorien der eigenen Reife, Prozesse des Erwachsenwerdens und ebenso einer Abgrenzung zu Erwachsenen. 8.2.4 Der Kampf des Anerkennens in der Gewaltkarriere von Mädchen Bisher wurde das Gewalthandeln der Mädchen als Kampf um Ehre konzeptualisiert. Die Mädchen erweisen sich in Auseinandersetzungen als ehrenhafte Siege672 Zum Konzept der kollektiven Probleme des Heranwachsens vgl. Kapitel 4.2 Adoleszente Entwicklung und jugendliches Gewalthandeln.
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rinnen und werden als solche von anderen Jugendlichen anerkannt. In den zumeist in Peer-Zusammenhängen inszenierten Kämpfen um die weibliche Ehre werden sie von bedeutsamen Anderen wie etwa Freunden und Freundinnen oder Mitschülern und Mitschülerinnen als ehrenhafte Siegerinnen bestätigt. In der Rekonstruktion der biografischen Verläufe der Interviewten zeigte sich, dass diesen gewaltförmigen Inszenierungen von Anerkennungserfahrungen als Siegerinnen ein biografischer Abwärtsschub vorausgeht, der sich aus Sicht der Jugendlichen als kritisches Lebensereignis charakterisieren lässt. Zentral für den Abwärtsschub ist die Erfahrung der Negation von Anerkennung in einer ohnehin problematischen Lebenssituation. Die gewaltaktiven Mädchen berichten von sich häufenden Viktimisierungen und Benachteiligungen, wie etwa Erfahrungen institutioneller Überforderung in der Schule, einhergehend mit Stigmatisierungen durch Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler, Gewalt in Familien sowie Trennung der Eltern, jahrelange Abwertungen durch Familienmitglieder, Zwangsunterbringungen in psychiatrische Einrichtungen, Fremdunterbringungen ohne Rückkehroption in die Herkunftsfamilie, Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch, etc. Diese Beispiele zeigen, dass in den Prozessen biografischer Abwärtsschübe das Anerkennen der eigenen Person und der leiblichen Integrität grundsätzlich infrage gestellt wird. Die Erfahrung der Infragestellung der eigenen Person, etwa als leistungsfähige Schülerin mit guten Zukunftschancen und/oder als zu umsorgende, liebenswerte Tochter, wird von den Jugendlichen als Lebenskrise erlebt. Der Umstand, dass gewaltaktive Mädchen in Untersuchungen häufig als diejenigen hervortreten, die in außerordentlich hohem Maße selbst Opfer von Gewalt, Marginalisierung und Benachteiligung sind, ist somit ein wichtiger und konstitutiver Bestandteil zur Erklärung der Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher, denn er weist darauf hin, dass sie um das Anerkennen ihrer Person kämpfen müssen. Ihnen wurde die Anerkennung ihrer Person in wichtigen Institutionen entzogen, zudem erhielten sie keine Gelegenheit, die von Institutionen gerahmten Anerkennensrelationen zu verändern. Ihnen fehlen grundsätzliche Partizipationsmöglichkeiten, mit denen sie eine Verbesserung resp. Anerkennung ihrer Lage bewerkstelligen könnten. Die z.T. jahrelange Abwertung und Negation von Anerkennung, verbunden mit der Einsicht, die institutionellen Bedingungen nicht ändern zu können, veranlasst die Mädchen, ohne Rücksichtnahme auf negative Konsequenzen ihres Handelns in einen Kampf um ihre Person resp. leibliche Integrität zu treten. Dabei realisiert sich der Kampf des Anerkennens auf zwei Ebenen: Zum einen findet er im gewaltsamen Kampf um Ehre statt. Er eröffnet den Mädchen Räume, in denen sie als Siegerin Anerkennung erhalten. Zum anderen richtet sich der Kampf gegen die Anerkennung vergebende Institutionen. Die gewaltaktiven Mädchen negieren die gesetzten
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Regeln der Institution, etwa indem sie den Unterricht stören oder nur noch unregelmäßig zur Schule gehen, Schuleigentum beschädigen, indem sie von zu Hause weglaufen, ihre Eltern beschimpfen, sich mit Geschwistern schlagen, Geld entwenden etc. Die Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen Verhaltensweisen liegt in der Negation der erfahrenen Verweigerung einer Anerkennung ihrer Person. Dabei nimmt der gewaltsame Kampf um Ehre einen Schwerpunkt im Kampf des Anerkennens ein. Die Mädchen befinden sich in einer Art permanentem Kriegszustand, in dem geringfügige Anlässe genügen, um ihre leibliche Kampfbereitschaft zu aktivieren und sie „ausrasten“ zu lassen. Die Expansion der Gewaltkarriere kann daher als eine negative Abwärtsspirale beschrieben werden, in der gewaltbereite Mädchen ihre erfahrenen Viktimisierungen und Abwertungen biografisch bearbeiten, indem sie sich in Peergroup-Zusammenhängen über Gewalt als Siegerinnen und ehrenhafte Mädchen inszenieren. Die Expansion des Gewalthandelns in wichtigen Lebensbereichen ist dem Umstand geschuldet, dass das Anerkanntsein als Siegerin mithilfe von Gewalt lediglich von kurzer Dauer ist. Die Mädchen müssen sich in Konfliktsituationen immer wieder aufs Neue als Siegerinnen gegenüber anderen behaupten. Die grundlegende Kampfbereitschaft gewaltaktiver Mädchen zieht viele negative Konsequenzen für die eigene Biografie nach sich. Ihr deviantes, d.h. den Regeln der Institutionen diametral entgegengesetztes Verhalten fördert die Eskalation biografischer Problemlagen. Die Betroffenen werden zunehmend mit institutionellen Sanktionen wie etwa vermehrten Anzeigen wegen Diebstahls, Körperverletzung etc., Schulverweisen, Fremdunterbringung, Jugendarrest etc. konfrontiert. Diese können zu weiteren biografischen Krisen resp. Abwärtsschüben führen und zugleich die Kampfbereitschaft der Jugendlichen verstärken. Damit eröffnet sich neben der gesellschaftlich etablierten Einordnung von Gewalthandeln als sozialem Tabubruch eine weitere Dimension: Im Zuge der geschilderten Viktimisierungserfahrungen der Mädchen und den fehlenden Hilfestellungen vonseiten der Gesellschaft lässt sich kritisch hinterfragen, inwieweit die Gesellschaft sich der Verantwortung und dem Engagement zum Wohle der Heranwachsenden entzogen hat und erst dann zumeist sanktionierend tätig wird, wenn die Betroffenen institutionelle Regeln grundsätzlich infrage stellen. Diese Deutung soll die Täterschaft der gewaltaktiven Mädchen nicht relativieren. Sie rückt jedoch eine gesellschaftskritische Perspektive in den Blick, die insbesondere für die Konzeption und Bewertung pädagogischer Maßnahmen zur Intervention und Prävention von Gewalt von Interesse sein kann. Bereits in Kapitel 6.1.5.2 Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie (Siep) wurde auf das Potenzial der Anerkennungstheorie hingewiesen: Sie kann als kritischer Maßstab für bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Bedingungen des Aufwachsens fungieren. Eine normativ-kritische Analyse er-
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hebt die gelingende Anerkennung zum Maßstab für die Beurteilung bestehender Institutionen. Insofern lassen sich Institutionen in posttraditionellen Gesellschaften dahingehend beurteilen, inwieweit sie die Individuen an der gemeinsamen Willensbildung teilhaben lassen und zugleich Existenzformen, die den etablierten Bedeutungen sozialen Handelns zuwiderlaufen, tolerieren können. Im Hinblick auf den Kampf des Anerkennens gewaltaktiver Mädchen lassen sich über die Rekonstruktionen ihrer biografischen Krisenerfahrungen institutionelle Bedingungen eruieren, in denen ihnen einerseits die Zustimmung zu ihrer Person verweigert wird und in denen sie andererseits aus ihrer Perspektive nicht die Chance auf Teilhabe und Mitgestaltung sozialer Lebensverhältnisse erhalten. Individuelle pädagogische Maßnahmen der Intervention und Prävention greifen zu kurz, wenn sie lediglich die Mikroebene fokussieren und Verfahren zur Verhaltenskonformität vorschlagen. Stattdessen ist eine kritische Analyse bestehender institutioneller (Gewalt-) Verhältnisse grundlegend für die Schaffung alternativer sozialer Räume, in denen die Betroffenen Anerkennung und Möglichkeiten der Mitbestimmung erfahren.673 Am Fallbeispiel Jannika wird nun exemplarisch die Dynamik der Gewaltkarriere vertiefend am Material vorgestellt. 8.2.5 Der Kampf des Anerkennens in der Gewaltkarriere Jannikas Die Entscheidung für die Erörterung des Fallbeispiels Jannika begründet sich in ihren ausführlichen Erzählungen zum Gewalthandeln und ihren besonders deutlichen Semantiken der Ehre und des Respekts. Während andere gewaltaktive Mädchen (zum Zeitpunkt des Interviews) Relativierungen der eigenen Gewaltausübung vornehmen (ohne dass sich jedoch eine Veränderung ihrer Handlungsmuster rekonstruieren lies), inszeniert sich Jannika gegenüber der Interviewerin in besonders deutlicher Form als ehrenhafte Siegerin mit unbedingtem Durchsetzungswillen. Jannikas Lebensverlauf674 Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 15 Jahre alt und bei ihrer leiblichen Mutter sowie ihrem Stiefvater aufgewachsen, zusammen mit ihrem einige Jahre jüngeren Stiefbruder und einer Stiefschwester im Grundschulalter. Beide Eltern sind berufstätig. Die Mutter arbeitet als Reinigungsfachkraft und Verkäuferin, der 673 Vgl. Kapitel 9 Zusammenfassung der Ergebnisse und erziehungswissenschaftlicher Ausblick. 674 Aus Gründen des Datenschutzes werden genaue Angaben wie etwa zum Alter des Bruders und der Eltern, zu Länge und Zeitpunkt des Jugendarrests etc. nicht genannt.
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Vater ist Installateur. Beide heiraten als Jannika etwa ein Jahr alt ist. Zum leiblichen Vater besteht kein Kontakt. Jannika besucht den Kindergarten und die Grundschule in einer deutschen Großstadt. Sie berichtet, dass sie sich bereits im Grundschulalter vornehmlich mit Jungen zusammenschloss und mit ihnen Diebstähle beging oder andere Kinder schlug. Sie charakterisiert sich als Mädchen, das trotz dieser devianten Aktivitäten eine gute Schülerin gewesen sei. Von der Grundschule wechselt sie zunächst auf die Hauptschule, doch aufgrund ihrer guten Schulleistungen und ihren Bildungsaspirationen – sie will später Dolmetscherin werden – gelingt ihr mithilfe der Unterstützung ihrer Großeltern und einer Bekannten der Großeltern der Wechsel zur Realschule im Übergang von der 6. zur 7. Klasse. Die Eltern unterstützen sie in ihren schulischen Bemühungen, wie sie selbst sagt, „nicht wirklich“. Stattdessen sucht sie zusammen mit einer Bekannten der Großeltern eine geeignete Realschule und bewirbt sich dort erfolgreich mit dem Ziel, besser Englisch zu lernen, als dies auf der Hauptschule möglich ist. Auch andere Fremdsprachenkenntnisse, wie Französisch und Italienisch, möchte sie erwerben. Jannika wird an der Realschule mit einem größeren Pensum an Lerninhalten und einem erhöhten Lerntempo konfrontiert. Hinzu kommt eine systematische Überforderung vonseiten der Schule, die ihr lediglich die Lehrbücher aus der 5., 6. und 7. Klasse zur Verfügung stellt, ohne sie jedoch konkret zu fördern. Die Interviewte selbst fordert eine schulische Unterstützung nicht ein, sie glaubt bis zum Zeitpunkt des Interviews, diese institutionelle Überforderung eigenständig meistern zu müssen, und bemüht sich daher ausschließlich in privaten Nachhilfestunden bei der Bekannten der Großeltern um ein Auffüllen ihrer Wissenslücken. Von den Lehrerinnen und Lehrern sowie ihren Eltern erhält sie keinerlei Unterstützung. Während sich Jannika in der 7. Klasse noch um gute Leistungen bemüht, schlägt nach etwa einem Jahr die institutionelle Überforderung in Schulunlust um. In der 8. Klasse stellt sie ihre Lernaktivitäten zusehends ein. Sie verlagerte ihr Interesse auf die Freizeit, konsumiert Alkohol mit anderen Jugendlichen, stört im Unterricht und verweigert die Hausaufgaben. Als sie mit etwa 14 Jahren die 8. Klasse wiederholen muss, schließt sie sich mit drei Klassenkameradinnen zusammen, mit denen sie zusammen den Unterricht versäumt oder stört, das Schuleigentum beschädigt und andere Mitschülerinnen und Mitschüler schlägt. Ab diesem Zeitpunkt expandiert Jannikas Gewaltkarriere. Ihre Beziehungen zu den Lehrerinnen und Lehrern beschreibt sie zu diesem Zeitpunkt als „katastrophal“. Sie gibt an, dass die sämtlichen Lehrkräfte und Schüler sie und ihre Freundinnen gehasst hätten. Zugleich eskalieren die familiären Konflikte. Jannika berichtet von häufigen, z.T. physischen Konfrontationen mit der Mutter und verbalen Auseinandersetzungen mit dem Vater. Sie ist in dieser Zeit mehrmals abgängig und hält sich nicht an Vereinbarungen. Zugleich schildert sie, dass die Eltern ihr kein Vertrauen schenkten. Beispielsweise wird
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sie von einem Freund ihres Stiefvaters beinahe vergewaltigt, doch die Eltern stellen lediglich ihre Glaubwürdigkeit infrage. Während sie die Beziehung zur wesentlich jüngeren Schwester im Interview insgesamt sehr positiv beschreibt, lässt sich ihr Verhältnis zum jüngeren Stiefbruder als wechselhaft charakterisieren. Einerseits betont sie, dass er immer zu ihr halte und sie ihn bei Gewaltandrohungen durch ältere Jungen in Schutz nehme, andererseits hält sie ihn für dumm und schlägt ihn, wenn er sie beleidigt. Aufgrund der eskalierenden Konflikte, insbesondere mit der Mutter, schaltet diese schließlich das Jugendamt ein. Jannika ist damals 15 Jahre alt. Anschließend wird sie für mehrere Wochen bei ihren Großeltern untergebracht, ohne dass sich die familiären und schulischen Problemlagen verbessern. Für die Misshandlung eines Mädchens wird sie zusammen mit ihren Freundinnen vor Gericht zu mehreren Tagen Jugendarrest verurteilt. Anschließend wechselt sie in eine Einrichtung der Jugendhilfe. Den Schulverweis von der Realschule erhält sie kurze Zeit später. Der biografische Abwärtsschub Vor dem ersten biografischen Abwärtsschub, der mit dem Wechsel an die Realschule zusammenfällt, beschreibt sich Jannika als Mädchen, das einerseits in devianten Peer-Kontexten gut zurechtkommt und andererseits eine sehr gute Schülerin ist. Dabei nimmt die Schule für Jannika eine hervorgehobene Stellung ein. Mit ihrem Ziel, Dolmetscherin zu werden, und ihren Bemühungen, auf die Realschule zu wechseln, strebt sie ein besseres Leben jenseits des familiären Herkunftsmilieus an. Ihre positiven Zukunftsaussichten enden jedoch mit dem Wechsel auf die Realschule. Ab diesem Zeitpunkt wird sie nach eigener Aussage mit eklatanten schulischen Abwertungserfahrungen konfrontiert. Auf die Frage der Interviewerin, wie sie den Unterricht der Realschule empfunden hat, antwortet sie: J: Das war schonn bisschen schwerer. Weil da ging alles schneller und=so. "(I: Mhm)" J: Und auch die wussten mehr, zum Beispiel in Englisch, die wussten mehr Worte und=so, die hab´ ich in meinem Leben noch nie gehört #gehabt!# I: #Ja.# Wurd´ dir das dann auch erklärt oder wie is´ dat dann abgelaufen? J: Ja ich hab´ dann die Bücher gekriegt von der Fünften und Sechsten "(I: Ja)" und dann konnt´ ich damit lernen. I: Hast du´s gemacht? J: Halb halb. Hinterher hat´ ich keinen Bock mehr. I: Warum nich´?
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J: Weil Fünft// in=ner siebten Klasse das Buch von=ner Fünften, von=ner Sechsten und auch noch gleichzeitich siebte Klasse das Buch zu nehmen und lernen, das war mir´n bisschen viel und da hatt´ ich keinen Bock mehr.675
Die Interviewte erklärt, wie schwer ihr die Bewältigung der erhöhten Leistungsanforderungen auf der Realschule fiel, insbesondere auch im Fach Englisch. Auf die Frage, welche Unterstützung sie vonseiten der Institution Schule erhalten hätte, berichtet sie, dass ihr lediglich die Bücher von den auf der Realschule verpassten Schuljahren ausgehändigt wurden, die sie selbstständig aufarbeiten soll. Jannika bekommt also keine schulische Förderung. Stattdessen lässt sie sich auf die Anforderungen und Überforderungen der Schule ein, bis sie schließlich aufgibt und „keinen Bock mehr“ hat. Das Selbstbild der guten Schülerin mit guten Zukunftsaussichten zerbricht, wie ihre folgenden Ausführungen belegen: I: Ja. Ähm wie is´ so die Beziehung zu den Lehrern gewesen #auf der Realschule#? J: #Auf der Realschule#? Katastrophal. Ich hab´ meiner Deutschlehrerin fast eine gek// geklatscht. "(I: Ja)" J: Weil die, die hat schon weiß=ich=nich´ Einbildungen, dat gibt´s gar nich´ mehr! I: Kanns=e mal ´n Beispiel nennen, wo=e dich mit der gestritten has´? J: Jeden Tag. Zum Beispiel wir hab´n Zeitung gelesen und dann hab´ ich zur Tafel geguckt und da meinte die: "Ja Jannika du solls´ mehr in die Zeitung gucken, nich´ an die Tafel!" Dann hab´ ich in die Zeitung geguckt, ja dann meinte sie "Ja du solls´ zur Tafel komm´n " ja dann hab´ ich die angeschrieen: "Ja was denn jetz`?" und=so. Oder die hat mir in=ner Stunde weiß=ich=nich´ (..) zehn mal was weggenommen: Stifte, Blätter, alles hat die mir immer weggenommen. Weil ich gemalt hab´ und=so.(.) "(I: Ja.)" J: Und meine Klassenlehrerin auch. Die hat´s auch übertrieb´n. Alle Lehrer hab´n mich gehasst und Tanja und Janny. Die ganze Schule kannte uns und boa war´n voll schlimm ey. Keiner, kein Lehrer konnt´ uns leiden […].676
Diese Äußerung zeigt, wie sehr Jannika im Unterricht inhaltlich abgehängt war. Sie erlebt sich nun nicht mehr, wie in der Hauptschule, als gute Schülerin, sondern als diejenige, die dem Unterricht nicht mehr folgen kann und ihn stört. Sie schildert im Interview Leidensprozesse, in denen sie sich als Hassobjekt der Lehrerinnen und Lehrer erfährt. Jannika beschreibt die Wirkung sozialer Etikettierung, die den Zusammenhang von schlechten Noten und einem desolaten Verhältnis zu den Lehrern zementiert. Ihre Freundinnen und sie selbst sind nicht mehr Schülerinnen mit schlechten Noten, sondern moralisch schlechte Schülerinnen. Ihr biografischer Abwärtsschub beginnt mit der Verweigerung von Anerkennung als gute bzw. förderungswürdige Schülerin auf der Realschule und 675 Interview Jannika, Z. 156-162. 676 Ebd., Z. 163-166.
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endet mit der Abwertung und Stigmatisierung als (moralisch) schlechte Schülerin, die durch den Schulverweis ihren Höhepunkt findet. Da ihre positiven Identitätskonstruktionen in der Kindheit und im Übergang zum Jugendalter wesentlich durch das Selbstbild der guten Schülerin geprägt sind, sieht sie sich durch den Prozess der schulischen Verweigerung von Anerkennung grundlegend infrage gestellt. Jannika verfügt nicht über Deutungsmuster, wie etwa das Recht auf schulische Förderung, die den institutionellen Prozess der Negation von Anerkennung aufhalten können und ihr die Möglichkeit zur Teilhabe an schulischer Förderung und Anerkennung einräumen. Das Gewalthandeln als Kampf um Ehre Angesichts der Erfahrungen von Leistungsversagen und Stigmatisierung als moralisch schlechte Schülerin begibt sie sich in einen gewaltförmigen Kampf, in dem die Selbstbehauptung und Verteidigung der eigenen Ehre in Zentrum der Auseinandersetzungen stehen: I: Und ähm (..) glaubst du es gibt n´ bestimmten Punkt, da sach=se, dann hau´ ich zu? J: Ja wenn jemand äh die Grenze überschreitet. Wenn jemand anfängt, ich mein´ meine Eltern und=so hab´n mir schon soviel Scheiße angetan, aber wenn jemand die beleidicht, dann rast´ ich aus. So bei meiner Familie oder meinen Freund oder wenn jemand mich beleidicht. So Fotze oder so is´ dann noch (.) nich´ so schlimm, aber wenn dann so Hurentochter oder so=wat kommt, is´ dann vorbei. Ja, dann kann die Klappe rennen geh´n. I: Und warum is´ dat so? J: (LAUTER): Ja weil ich mir das doch nich´ gefall´n lass, von irgend einem Asi mich so betiteln zu lassen. (NORMALE LAUTSTÄRKE):Ich glaub es geht los! "(I: O.K.)" J: Und die kenn´n meine Familie nich´, und brauchen die auch nich´ so äh weiß=ich=nich´zu beleidigen oder so. "(I: Mhm)" J: (.) Mir is´ dann egal wer das is´. Ich hab´ schon alle Leute geschlagen. Ob das kleine Kinder sind, ob das Mütter von meinen Freundinnen sind, ich hab´ (.) überall schon draufgehaun. "(I: Ja.)" J: Weil die sich solche Sprüche erlauben und=so=was (.) gibt´s nich´.677
Die Verteidigung von Ansehen und Ehre mithilfe körperlicher Gewalt ist aus der Perspektive Jannikas legitim und angemessen. Der uneingeschränkte Anspruch auf Vergeltung von Ehrverletzungen führt dazu, dass Jannika keine Einschränkungen oder Differenzen mehr gelten lässt. Sie abstrahiert von der Person des Beleidigers und dem konkreten Situationskontext und präsentiert sich auf diese Weise als zu achtende Person, die bei einer Ehrverletzung jederzeit zum bedin677 Ebd., Z. 87-90.
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gungslosen Kampf bereit ist. Sie schlägt im Falle der Beleidigung alle Personen, auch Mütter und kleine Kinder. In der Auseinandersetzung verlieren die Unterlegenen in ihren Augen Ansehen und Ehre, und zwar unabhängig von der konkreten Situation. Ihre Äußerungen lassen eine bestimmte Vorstellung von Ehre zutage treten, die sich nicht ausschließlich auf die eigene Person beschränkt, sondern ebenso die Verteidigung der Ehre von Bezugspersonen, wie beispielsweise Familienmitglieder und Freunde, umfasst. In Jannikas Darlegung ist erkennbar, dass sie Konflikte aus der Perspektive des Kampfes um Ehre deutet, in denen sie sich gegenüber Beleidigern behauptet. Diese Vorstellung ist Teil des gewaltaffinen Ehrenkodex. Neben der positiven Aufladung von Gewalt stellt der gewaltaffine Ehrenkodex Deutungsmuster bereit, die das Gewalthandeln der Mädchen, wie hier im Falle Jannikas, legitimieren. Sie legitimiert ihr Gewalthandeln, indem sie Beleidigungen als Ehrverletzung ausweist, die eine prinzipielle und sofortige Vergeltung mithilfe physischer Gewalt erfordert. Eine Rücksichtnahme auf spezielle Personen oder Umstände ist aus dieser Perspektive nicht möglich, da die prinzipielle Selbstbehauptung resp. Ehrverteidigung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Neben dem gewaltaffinen Ehrenkodex, der Deutungsmuster bereitstellt, in dessen Rahmen die Gewalt ein legitimes Mittel zur Wiederherstellung der eigenen Ehre (oder der von Bezugspersonen) darstellt, erklärt sich die Relevanz des Gewalthandelns als Kampf um Anerkennung aus den Dynamiken, die das Gewalthandeln implizit begleiten. Jannikas gewaltförmiger Kampf schafft im Kontext gewaltaffiner Peergroups Spielräume, in denen sie als ehrenhafte Siegerin anerkannt wird. Dieses Anerkennen ist dem Verlust von Ansehen im Zuge ihres Leistungsversagens und ihrer Stigmatisierung als moralisch schlechte Schülerin diametral entgegengestellt. Der folgende Interviewauszug illustriert das Anerkennungsverhältnis im Rahmen gewaltförmiger Konflikte. Jannika berichtet von einer physischen Auseinandersetzung mit einer Schülerin. Auf die Frage der Interviewerin, welche Rolle die übrigen Schülerinnen und Schüler eingenommen hätten, antwortet sie: J: Mja, die haben mich unterstützt, die waren ja alle auf meiner Seite, ich hab´ mich, das war ja auch warum ich geflogen bin, und warum ich jetzt ne Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung hab´, weil ich hab´ mich mit ´nem Mädchen geschlagen, ähm, ja, und alle waren auf meiner Seite, weil das Mädchen is´ voll die Kaputte, die denkt, die hätte Freunde und die lügt sich dat Leben zusammen, und dann dachte die, die könnt sich ja mit mir anlegen, weil se sowieso alle hinter ihr stehen und so, ja aber verkackt, die waren alle auf meiner Seite und haben, ich hab´ mich mit der geboxt, und dann haben die alle noch von hinten in die ´reingetreten.678 678 Ebd., Z. 186.
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Jannika beschreibt sich als diejenige, die Unterstützung von den Schülerinnen und Schülern erhält. Die Beobachter sind alle auf ihrer Seite, das Opfer wird abgewertet als „Kaputte“, die sich das Leben „zusammenlüge“. Jannika hält dem Schulverweis und der Anzeigen wegen gefährlicher Körperverletzung die vermeintliche Solidarität der Mitschüler entgegen, die alle „auf ihrer Seite“ gewesen seien. Im Peergroup-Kontext kann sie sich als ehrenhafte Siegerin inszenieren, die der Verliererin resp. der „Kaputten“ überlegen ist. Sie ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um ihre (vermeintlich) verletzte Ehre wiederherzustellen. Anerkennung als ehrenhafte Siegerin bekommt Jannika jedoch nicht vom Opfer, denn diese hat aufgrund ihrer Abwertung als „Kaputte“ nicht den Status inne, sie als solche anzuerkennen. Vielmehr handelt es sich um ein triadisches Anerkennensverhältnis indem die Beobachter eine wichtige Rolle einnehmen. Im weiteren Gesprächsverlauf berichtet die Interviewte, wie sie sich mit einer Mitschülerin kurz nach Schulschluss schlägt. Beide werden zunächst von einer Lehrerin getrennt, doch die Auseinandersetzung setzt sich nach dieser kurzen Unterbrechung in der Nähe des Schulgeländes weiter fort: J: #wir ham so#, wir sind im Neubau und da is so ´ne Tür, "(I: Ja)" , J: kannst=e durchgehen, und dann waren wir so draußen und Tanja hat se, und Tanja und noch n paar Freundinnen hatten irgendwie Stress mit der und dann ham die das geklärt, und dann meinten die so, ja, kann ich die fragen, weil die hatte mich angelogen, und dann ähm, ja dann hab ich die drauf angesprochen, was das soll, hab ihr so gegen de Stirn gehaun und dann kam die direkt auf mich los, hat mir inne Haare gezogen und so, ja, ähm hab´ ich die weggetreten und dann kam so ´ne Lehrerin, hat uns ausnandergehalten und dann draußen ähm weil die meint so: "boh, Hure" und=so, und dann, ja, hab ich der Hure gegeben. Und wir waren draußen und die so: "Ja, komm doch, komm doch." Und ich so: "Ja, ok." Bin da hingekommen, und dann meint die so, ich so: "Ja, ich bin jetzt da" , die so: "Ja, schlag mich." Ich so: "Ja wie, schlag mich, sind wir hier im Kindergarten, du hast gesagt ich soll kommen, jetzt bin ich da, also, mach was." Die so: " Näh, ich mach nichts." Und alle so: "Janny, hau drauf!" und=so, da hab´ der ich versucht, der ausm Kopf rauszukriegen, dass das nicht stimmt, was die da labert, ja, und anders ging das halt nich´.679
In dieser Erzählung sind zwei Ebenen sichtbar, die einander widersprechen: Die erste Ebene stellt die Legitimation von Jannikas Gewalthandlungen dar (fett gedruckt). In dieser Begründung wird das Opfer als die eigentliche Provokateurin dargestellt, die schließlich nichts anders verdient habe als sanktioniert zu werden. Hier wird die Semantik des Respekts und der Ehre deutlich: Die Bezeichnung „Hure“ gilt aus Jannikas Perspektive als eindeutige Ehrverletzung, die eine physische Vergeltung nach sich zieht. Die zweite Ebene betrifft den Ablauf 679 Ebd., Z. 360-377.
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des Konflikts (kursiv gedruckt). Jannika stellt das Mädchen vor den anderen Schülern bloß. Beim ersten körperlichen Angriff stößt sie die Kontrahentin vor den Kopf. Das zweite Mal attackiert sie diese aufgrund der Aufforderungen der Mitschülerinnen und Mitschüler. Beide widersprüchliche Ebenen veranschaulichen den Inszenierungscharakter680 des Gewalthandelns als Kampf um Ehre: Auf der Legitimationsebene konstruiert Jannika einen Ehrkonflikt, in dem das Mädchen eindeutig als diejenige eingeordnet wird, die sie in ihrer Ehre verletzt. Im Kontext des kollektiv geteilten gewaltaffinen Ehrenkodex stellt Gewalt nun ein legitimes Mittel zur Verteidigung der Ehre dar. Auf der Handlungsebene wird die Abhängigkeit der Interviewten von der Anerkennung der Mitschülerinnen und Mitschüler sichtbar: Nicht das Opfer bestätigt sie als Siegerin, sondern die Umherstehenden, die sie anfeuern und ihre Solidarität erweisen, indem sie das Opfer nachträglich treten. An diesem Interviewausschnitt lässt sich rekonstruieren, dass der Kampf um Ehre wesentlich durch triadische Anerkennungsbeziehungen geprägt ist. Die Beleidigung durch die Mitschülerin wird erst durch die Anwesenheit der übrigen Mitschüler, die Jannika auffordern, das Mädchen zu schlagen, zu einer Ehrverletzung. Das Anerkennen als Siegerin im Zweikampf erfolgt über bedeutsame Dritte. Obwohl sich Jannika als diejenige präsentiert, die in der Rangordnung oben steht, ist sie vom Anerkennen der Mitschüler abhängig und muss in konflikthaften Situationen ihren Ruf stets auf Neue verteidigen. Ein Ignorieren dieser Aufforderung hätte Jannikas Image als durchsetzungsstarkes und ehrenhaftes Mädchen gefährdet. Das Selbstbild der Siegerin Jannikas Expansion ihres Gewalthandelns bildet eine Reaktion auf erfahrene Anerkennungsverluste in der Schule. Gewalt bietet ihr die Möglichkeit, als ehrenhafte Siegerin anerkannt zu werden, anstatt wie im Unterricht und in der Familie als unglaubwürdiges und moralisch schlechtes Mädchen degradiert zu werden. Zentral für den Kampf um das Anerkennen ihrer eigenen Person ist das Selbstbild der Siegerin. Es ist den Stigmatisierungen als (moralisch) schlechte Schülerin und später auch als (moralisch) schlechte (Enkel-) Tochter diametral entgegengestellt. Jannikas Selbstbild lässt sich ab der Phase einsetzender schulischer Probleme als das der Siegerin charakterisieren. Sie beschreibt sich selbst 680 Der Begriff des Inszenierungscharakters verweist auf das Konzept des Mimetischen Handelns (vgl. Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln). Jannika deutet die Konfliktsituationen, die sie erlebt, in einer bestimmten wiederkehrenden Weise. Sie verkörpert resp. repräsentiert einen bestimmten Sinn, der eng verbunden ist mit ihren biografischen Problemlagen. Inszenierung meint in diesem Zusammenhang also nicht die bewusste Täuschung oder das Vorgeben einer Handlung, sondern die leibliche Realisation von Deutungen in Situationen.
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als laut und als diejenige, die bereit ist bis zum Äußersten zu gehen, um ihrem persönlichen Willen Geltung zu verschaffen. Dies entspricht dem Sinnbild der Siegerin. Sie steht den Verlierern diametral gegenüber, weil sie in der sozialen Hierarchie einer Gruppe ganz oben steht. Im folgenden Interviewauszug wird die Selbstcharakterisierung als Siegerin sichtbar. Auf die Feststellung der Interviewerin, dass die Interviewte „nicht so ruhig“ sei antwortet diese: J: Ja die Tanja auch nich´ so. I: Ne? Ihr seid eher so lauter #wahrscheinlich ´ne?# J: #Ja# auch die Jungs hier. Also ich, wir sind "(I: Mhm)" J: warte mal, ich, Tanja, Stefan, Dominik und Dieter ja und der eine is´ nach Polen abgeschoben worden. Wir sind fünf Leute hier, und ich bin die die hier die Schuhe anhat. Also und Tanja so auch bisschen. Weil wenn die Jungs nich´ hörn was wir sagen, dann krieg´n die ´n paar gek// in die Fresse gehaun. "(I: Ja.)" J: So wie der Dings, der holt, ich schmeiß´ immer Zahnpasta und alles aus´m Fenster von irgend so´m Kind- aber die wohnt nicht mehr hier, und der holt das immer hoch. Und da hab´ ich den grad aus seinem Bett getreten. Ich so: "Guten Morgen" (MACHT EINE TRITTBEWEGUNG IN DIE LUFT). I: Ja und wie reagier´n hier die Betreuer? J: (.) (TRINKT ETWAS) also wenn ich überreagier, dann sagen die: "Ja Janny, halt´ mal den Ball flach." oder=so. Oder ich wollte die Amelie schon zusammen schlagen da stand ich in ihrem Zimmer und hab´ die schon geschubst und=so, da hab´n die mich da aus´m Zimmer gezogen und=so. Weil ich hör´ gar nich´ was die sagen. Ich darf auch gar nich´ nach oben. Weil ich hier unten mein Zimmer hab´ und ich geh´ einfach immer nach oben. I: Ja und dann machen die nix? J: Die sagen immer (VERSTELLTE STIMME) "Jannika runter! Du weist doch, du darfst da nich´ hoch!" Ja weil ich geh´ immer wieder da hoch.681
Jannika beschreibt sich und ihre Freundin Tanja als laut und dominant. Sie ist in der Einrichtung der Jugendhilfe diejenige, welche „die Schuhe anhat“. Die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner stehen vermeintlich unter ihrer Führung. Jannika setzt sich an die Spitze der sozialen Rangordnung, während sie ihrer Freundin Tanja den zweiten Platz zuweist. Abweichungen von ihren Führungsansprüchen werden sanktioniert. Die Geschichte von der Zahnpasta, die ein Mitbewohner stets heraufholt, obwohl Jannika diese immer wieder aus dem Fenster wirft, verdeutlicht ihren Führungsanspruch: Sie tritt den Jugendlichen, der sich ihrem Willen widersetzt aus dem Bett und fordert ihn auf diese Weise auf, sich ihren Anforderungen zu beugen. Jannika inszeniert sich als Siegerin im Kampf um die soziale Rangfolge innerhalb der Peergroup und damit als diejenige, die in diesem Umfeld das Sagen hat. Ebenso stellt sich Jannika gegenüber den pädago681 Interview Jannika, Z. 377-384.
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gischen Betreuerinnen und Betreuern als Siegerin dar. Indem sie sich wiederholt über die institutionellen Regeln des Zusammenlebens hinwegsetzt, gewinnt sie den „Kampf“. Die Inszenierung als Siegerin gegenüber Gleichaltrigen und Vertretern wichtiger Institutionen, wie etwa der Jugendhilfeeinrichtung, ist Kennzeichen von Jannikas Kampf des Anerkennens. Sie repräsentiert sich als vermeintliche Siegerin in einer Phase, in der ihr mehr und mehr die Kontrolle über ihr eigenes Leben entgleitet. Jannikas Kampf des Anerkennens Die Expansion des Gewalthandelns bildet eine Reaktion Jannikas auf erfahrene Anerkennungsverluste in der Schule. Gewalt bietet Jannika die Möglichkeit, auf Umwegen Anerkennung als ehrenhaftes und glaubwürdiges Mädchen zu erhalten, die ihr zunächst in schulischen und später auch in familiären Zusammenhängen versagt bleibt. Ihre Abwertungserfahrungen und Anerkennungsverluste sind geprägt durch Jannikas grundlegende Akzeptanz institutioneller Normen und Werte. Beispielsweise akzeptiert sie die ungleichen Bedingungen und bemüht sich um das für sie aussichtslose Unterfangen, die Unterrichtsinhalte von drei Jahrgängen selbstständig aufzuarbeiten. Ebenso wenig hat sie Einfluss auf ihre Eltern, die sie in ihren Bildungsaspirationen nicht unterstützen und ihr das Vertrauen entziehen, als sie von einem Vergewaltigungsversuch durch den Freund ihres Stiefvaters berichtet. Die aufgeführten Anerkennungsverweigerungen und der Mangel an Veränderungs- und Partizipationsmöglichkeiten im Kontext von Familie und Schule verdeutlicht, dass Jannika aus ihrer Perspektive keine Chance erkennt, die erfahrenen Anerkennungsverluste im institutionellen Rahmen zu bearbeiten. Sie führt stattdessen einen Kampf um das Anerkennen ihrer Person, indem sie in gewaltförmigen Ehrkonflikten als ehrenhafte Siegerin inszeniert. Zugleich negiert sie die institutionellen Regeln, etwa indem sie Schuleigentum beschädigt, den Unterricht stört oder indem sie von zu Hause wegläuft und sich nicht mehr an Vereinbarungen hält. Dabei ist das Mädchen in der Bestätigung ihres Selbstbildes als Siegerin in gewaltförmigen Auseinandersetzungen stets auf der Anerkennung von Gleichaltrigen angewiesen. Daraus resultiert eine Dynamik, in der sie sich immer wieder aufs Neue ihrer sozialen Position als Siegerin versichern muss. Zugleich vermehren sich die sozialen Sanktionen aufgrund ihres als abweichend bewerteten Verhaltens (z.B. Schulkonferenzen, Schulverweis, Strafanzeigen, Jugendarrest etc.). Jannikas Kampf um Anerkennung als glaubwürdiges Mädchen und ehrenhafte Siegerin bildet die Grundlage für die Expansion und den Ausbau ihrer Gewaltkarriere. In dieser Dynamik wird die Perspektive des Kampfes zu einem dominanten Deutungsmuster alltäglicher
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Interkation. Jannika befindet sich fast zwei Jahre nach der Expansion ihres Gewalthandelns in einer Art permanentem Kriegszustand. Die Beziehung zu sich selbst und zu anderen charakterisiert sie vornehmlich unter dem Fokus des Kampfes, in dem es entweder Freunde oder Feinde gibt. Aus dieser Perspektive lässt sie keine Einwände, auch keine persönlichen Nachteile wie etwa Schulverweis, Hafterfahrung etc. gelten. Gerade im Anerkennen ihrer selbst als ehrenhafte Siegerin ist sie gezwungen, von diesen negativen biografischen Kosten abzusehen. Angesichts dieser Dynamik stellt sich die Frage, inwieweit Ausstiege aus der Gewaltkarriere möglich sind und empirisch vollzogen wurden. 8.3 Ausstiege aus der Gewaltkarriere Ausstiege aus der Gewaltkarriere konnten als ein Zusammenspiel der Veränderung habitualisierter gewaltaffiner Handlungsmuster, der Aufhebung erfahrener institutioneller Anerkennungsverluste und einer Veränderung des Selbstbildes als Siegerin im Kampf um Ehre konzeptualisiert werden. In der Rekonstruktion der Lebensläufe der Aussteigerinnen zeigte sich, dass dieses Zusammenspiel abhängig ist von den jeweiligen Lebenssituationen und Hilfestellungen, welche die Betroffenen erhalten. Eine veränderte Lebenssituation einerseits und das Bemühen um eine gesicherte Integration ins Erwachsenenleben andererseits eröffnen den Aussteigerinnen Spielräume für Anerkennensprozesse alternativer Selbstbilder und Handlungsorientierungen. Diese lassen sich ebenfalls in einer veränderten Einschätzung von Konfliktsituationen wiederfinden. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Wahrnehmung und Interpretation von Konflikten als Kampf um Ehre, sondern vielmehr die Einlösung spezifischer Interessen, wie etwa die Erreichung eines Schulabschlusses, die Vermeidung von Konflikten etc. Dabei ließen sich die Ausstiege nicht im Sinne eines geradlinigen Prozesses rekonstruieren. Sie sind vielmehr ebenso von Zufällen, bewussten Entscheidungen und Prozessen des Erleidens geprägt wie die Entwicklung und Expansion der Gewaltkarriere selbst. 8.3.1 Aspekte des Ausstiegs Wie bereits in der Entstehungsgeschichte dieser Arbeit in Kapitel 1 dargelegt wurde, war die Konzeptionierung der Ausstiege aus der Gewaltkarriere zunächst nicht vorgesehen. Irritationen während der Interviewsituation, etwa wenn die Interviewten einerseits bekräftigten ihre gewaltbereite „Phase“ hinter sich gelassen zu haben und andererseits ihr Gewalthandeln gegenüber bestimmten Perso-
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nen als angemessen und richtig beurteilten, führten zu einer Berücksichtigung dieses Phänomens in der Samplingstrategie und in der Auswertung der erhobenen Interviews.682 Von den insgesamt 15 gewaltaktiven Mädchen (inklusive eines abweichenden Falles), sind sechs den sogenannten Aussteigerinnen zuordenbar.683 Für die Einordnung der Aussteigerinnen wurden folgende Kriterien für den Ausstieg gewählt: Distanzierung vom eigenen Gewalthandeln und Reduktion des Gewalthandelns oder Versuche der Reduktion des Gewalthandelns. In die Gruppe der Aussteigerinnen wurden keine Interviewten aufgenommen, die sich zwar verbal vom eigenen Gewalthandeln distanzierten, aber keine Verhaltensänderungen in den Erzählungen der Interviewten erkennbar waren. Dieses Kriterium sollte sicherstellen, dass nicht lediglich sozial erwünschte Aussagen gegenüber der Interviewerin zu einer Einordnung in die Kategorie der Aussteigerinnen führen. Ergänzend wurden die Angaben der pädagogischen Betreuerinnen und Betreuer hinzugezogen. Diese zusätzlichen Informationen dienten nicht der Infragestellung der Erörterungen der Interviewten oder gar der vermeintlichen Überprüfung des „Wahrheitsgehaltes“ ihrer Aussagen, sondern der vertieften Einsicht in die Lebenssituation der Mädchen. Sie lieferte wichtige Hinweise zur Interpretation der Schilderungen. Angesichts der dargelegten Kriterien zur Einordnung der Aussteigerinnen ließen sich zwei Themenschwerpunkte zum Ausstieg eruieren. Eine Gruppe der Interviewten thematisiert ihre Ausstiegsbemühungen, indem sie sich vom eigenen Gewalthandeln distanzieren und explizit den Wunsch äußern, ihr Gewalthandeln „in den Griff“ zu bekommen. Sie unternehmen darüber hinaus Versuche Konflikte zu umgehen oder ihr Handeln in problematischen Situationen zu modifizieren. In ihren Erzählungen zu aktuellen Konflikteskalationen zeigt sich, dass sich ihr Handeln und die Einschätzung des Konflikts in einem Spannungsfeld bewegt zwischen der Einschätzung der Situation als Kampf und dem Bemühen um eine Kontrolle der Wutgefühle und des eigenen Handelns. Die Interviewten verbinden ihr Streben nach Selbstkontrolle mit dem Ziel, das eigene Gewalthandeln zu steuern und zu reduzieren. In diese Phase des Ausstiegs lassen sich Andrea, Melusine und Benita einordnen. Aussteigerinnen, in deren Darlegungen die Etablierung alternativer Handlungsweisen in Konfliktsituationen eine wichtige Rolle spielt, distanzieren sich von ihrer gewaltbereiten „Phase“. Sie benennen deutlich eigene Anteile bei der Eskalation von Konflikten. In ihren Erzählungen zu aktuellen Konfliktsituationen ließen sich merklich veränderte Handlungsmuster rekonstruieren. In Übereinstimmung mit pädagogischen Betreuerinnen und Betreuern wenden sie zum Zeitpunkt des Interviews keine Gewalt mehr an. Bei einigen Aussteigerinnen sind gewaltaffine Einstellungen zu erkennen, z.B. wenn 682 Vgl. Kapitel 7.4 Forschungsdesign der Arbeit. 683 Vgl. ausführlich Kapitel 8.4 Grenzen des Erklärungsmodells.
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sie Gewalt durch männliche Stellvertreter befürworten. In diese Phase der Stabilisierung des Ausstiegs befinden sich Simone, Birgit und Manuela. 8.3.1.1 Bemühung um Selbstkontrolle Bei der Auswertung der Interviews wurde eine Gruppe von Mädchen eruiert, die nicht nur explizit die Abkehr von der eigenen Gewaltbereitschaft postulieren, sondern auch von Versuchen berichten, in Konfliktsituationen keine Gewalt mehr anzuwenden. Zum Teil gelingt ihnen dies, in wenigen Fällen greifen sie dennoch auf Gewalt zurück. Während viele Interviewte aus der Gruppe der Gewaltaktiven im Gespräch teilweise vom eigenen Gewalthandeln distanzierten, jedoch in den Erzählungen zu vergangenen und gegenwärtigen Konfliktsituationen eine solche Distanzierung nicht erkennbar war, ließen sich in den Äußerungen Andreas, Benitas und Melusines Versuche der Veränderungen ihres Gewalthandelns eruieren. Die Interviewten meiden Auseinandersetzungen und bemühen sich bei Provokationen um die Kontrolle der in ihnen aufsteigenden Wut. Während Andrea und Benita vor allem von einer erhöhten Hemmschwelle der Gewaltausübung berichten und lediglich dann zuschlagen, wenn die Beleidigungen und Herabsetzungen trotz ihrer Aufforderungen nicht eingestellt werden, richtet Melusine die in Konfliktsituationen empfundene Wut gegen sich selbst. In der Analyse des Materials hinsichtlich der Ausstiegsbemühungen wird deutlich, dass die Interviewten über keine alternativen Handlungsmuster in Konfliktsituationen verfügen. Sie interpretieren Auseinandersetzungen aus der Perspektive des Kampfes, wie es für das Handlungsmuster Selbstbehauptung typisch ist. Um dennoch ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, bemühen sie sich um Heraufsetzung ihrer Toleranzgrenze. Sie berichten, dass sie nun nicht mehr aufgrund einer singulären Beleidigung zuschlagen, sondern erst, wenn die Provokationen trotz mehrerer Warnungen nicht eingestellt werden. Sie schildern Konfliktsituationen aus der Perspektive des Bemühens um Selbstkontrolle trotz intensiver Wutgefühle. Angesichts dieser Schilderungen wurde die These aufgestellt und am Material geprüft, dass der Ausstieg der Interviewten geprägt ist durch die Trägheit habitualisierter Kampfbereitschaft, welche den intentionalen Ausstiegsbemühungen der Interviewten zuwiderläuft. Um jene Annahme zu plausibilisieren, wird an dieser Stelle ein Auszug aus dem Interview mit Andrea vorgestellt, in dem sie sich auf eine Auseinandersetzung bezieht, die wenige Tage vor dem Gespräch stattfand. Andrea ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt und lebt seit einigen Wochen in einer Einrichtung der Jugendhilfe für Jugendliche, die bereits in verschiedenen Einrichtungen erfolglos untergebracht waren. Ihre Gewaltkarriere beginnt etwa mit dem elften Lebensjahr. Damals wird
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sie aufgrund des Todes der Eltern in ein Heim untergebracht. Sie schlägt sich mit Gleichaltrigen in der Schule und in ihrer Freizeit. Zugleich berichtet sie von Herabsetzungen und Stigmatisierungen durch Gleichaltrige im Heim und in der Schule. Zum Zeitpunkt des Interviews schlägt Andrea erst dann zu, wenn Beleidigungen oder Herabsetzungen trotz mehrmaliger Warnung nicht enden. Ihre Selbsteinschätzung stimmt mit den Angaben der pädagogischen Betreuerinnen und Betreuer überein. Andrea, die noch nicht lange in der Einrichtung wohnt, in der das Gespräch stattfindet, erklärt, dass sie sich bereits mit einer Mitbewohnerin geschlagen habe. Auf die Frage nach den Gründen der Auseinandersetzung antwortet sie: A: Nee, war einfach ähm ´ne Situation, so wegen mein´n Eltern, weil die ja beide gestorben sind und so was. Und wir hab´n ´n Film geguckt, keine Ahnung, ja und=dann, das hat mich schon sehr getroffen, weil das alles erinnert hat und dann fing sie an zu provozier´n, (I: Mhm)" A: Ja und das war auch´n bisschen Eifersucht mit im Spiel, weil ich mich halt, weil ich sie// ich für sie wie ´ne beste Freundin war, "(I: Mhm)" A: und ich aber noch andre Dinge die sie hat, die ich kennenlern´n wollte und so. Ja und bis wir dann, hab´n wer uns dann gestritt´n (.) und alles, ja und dann irgendwann hier im Zimmer hat die angefang´n ihre Sachen rauszuholen und ich bin ganz locker geblieben (LACHEN) "(I: Mhm)" A: Na und irgendwann hat sie meine Sachen einfach da hingeschmissen, und dann hab´ ich gesacht: "Leg´ die Sachen ordentlich da hin." Hat sie nich´ gemacht und dann hab´ ich einfach genommen und sie gegen die Wand gehau´n. "(I: Mhm?)" A: Ja! I: Was is´ dann passiert? A: Ja ha´n wer uns geprügelt, was heißt geprügelt, sie hat mich nur festgehalten und ich hab´die dann (.) also ich hab´ versucht mich loszureißen, und hab´ die dann da anne Wand gedrückt unterm Hals gepackt, ich hab´ der ´ne Kopfnuss gegeben, wovon ich ´n Horn hatte, ja. Und dann sind wer dann ganz kurz aus´m Weg gegang´n, weil wer aus´nander gehalten worden sind. Ich denk´ ma´ die wär die Treppe oder so ´runtergefall´n. "(I: Ja.)" A: Wenn die, wenn uns keiner jetz aus´nandergehalten hätte. "(I: Ja.)" A: Weil ich bin echt aggressiv dann geworden. "(I: Mhm) A: Ja und dann hab´n wir dann noch ´n Gespräch geführt, und hat sich dann schon (..) wieder alles (..) eingelegt. "(I:Ja.)" A: So wie das vorher war. "(I: Ja.)" A: Und da war ich echt froh ´drüber. I: Ja. (..) Und was hast du dabei empfunden? Also... A: Hass. I: Ja? A: Hass. Weil (..) die A// dies A// die Aus´n// die Aus´nandersetzung hat auch eig´ntlich mit unsern Eltern was zu tun gehabt, weil warn, die meinte zu mir die hatte keine Liebe bekomm´n, "(I: Mhm)" A: un´ ich jetz´ hab´ auch keine Liebe bekomm´n. Ich hab´ mit vier Jahr´n meine Mutter verlor´n, mein Vater hat dann zum Alkohol gegriffen, hat mich dann nur noch geschlagen und=so=was, "(I: Mhm)" A: und alles, bis der dann auch gestorb´n is´. Mhm dann sind wer ins Heim gekomm´n,
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da gab´s auch so was nich´. "(I: Mhm)" A: Inner Pflegefamilie hab=ich// hab´ ich als einzigste auch keine Liebe bekommen. Und nur meine kleine Schwester so´n bisschen und alles, und ich hab´ auch öfters nachgefragt, wieso das so is´ und ja, (.) die meinten, die einzigste Antwort is´ dann gekommen, dass ich zu alt bin, dass ich so was nich´ mehr brauche. (Andrea weint) […].684
In der Schilderung der Szene wird der Grund für die Auseinandersetzung zunächst nicht genau deutlich. Andrea erzählt, dass sie während eines Films mit ihrer Mitbewohnerin in Streit gerät. Dieser eskaliert, als diese nicht nur ihre eigenen Sachen aus den Schränken räumt, sondern ebenso Andreas Habseligkeiten auf den Boden wirft. Diese Handlung führt dazu, dass Andrea zuschlägt. Sie wird, wie sie selbst sagt, „echt aggressiv“ und empfindet Hass. Obwohl Andrea an einigen Stellen im Interview ihre Absicht bekräftigt, keine Gewalt mehr anzuwenden, gibt sie unumwunden zu, dass sie von sich aus den Streit nicht beigelegt hätte, sondern das Mädchen die Treppe hinabgestürzt hätte, wenn die Betreuer resp. Betreuerinnen nicht eingegriffen hätten. In dieser Ausführung sind zwei Aspekte im Hinblick auf die Konzeptualisierung des Ausstiegs aus der Gewaltkarriere bemerkenswert: Zunächst erstrebt Andrea die Kontrolle ihres Gewalthandelns, sie will „locker“ zu bleiben und keine Gewalt anzuwenden. Dann verliert sie die Kontrolle über sich, als das Mädchen ihre Sachen auf den Boden wirft. Auf symbolischer Ebene stellt diese Handlung einen Hinauswurf aus dem gemeinsamen Zimmer dar. Eben diese Geste ist für Andrea, die bereits mehrere Enttäuschungen und Beziehungsabbrüche im häuslichen Zusammenleben erlebt hat, eine Grenzverletzung. Sie empfindet Hass. Im Kontrast zu der Gruppe der gewaltaktiven Mädchen lassen sich bei Andrea wie bei den übrigen beiden Interviewten Benita und Melusine Bemühungen um die Kontrolle des eigenen Gewalthandelns erkennen. Obwohl die Betroffenen den Wunsch haben, sich vom eigenen Gewalthandeln zu distanzieren, führen Herabsetzungen und grundlegende Infragestellungen ihrer Person dennoch zu einem Kontrollverlust und den Eintritt in einen leiblichen Modus der Kampfbereitschaft. Aus ihren Versuchen zur Modifikation des habitualisierten Handlungsmusters der Selbstbehauptung erwächst ein Spannungsfeld, das die Mädchen in ihren Erzählungen sehr explizit darlegen. Einerseits nehmen sie noch immer Konfliktsituationen als Kampf um die eigene Ehre wahr. Es fehlt ihnen der Zugang zu differenten Situationseinschätzungen, die es ihnen erlauben, den habitualisierten Handlungsschritt der Wut zu vermeiden oder zumindest nicht in der vorhandenen Intensität zu vollziehen. Andererseits gelingt es ihnen teilweise, Beleidigungen und Herabsetzungen ihrer Person auf verbaler Ebene relativieren oder entgegnen. Das Engagement in Bezug auf eine Kontrolle 684 Interview Andrea, Z. 13-15.
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und Reduktion des eigenen Gewalthandelns führt z.T. zu prekären Formen der Bewältigung von Konflikten. Während Andrea oder Benita bei Grenzverletzungen zuschlagen, richtet Melusine die Gewalt gegen sich selbst. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 18 Jahre alt. Ihre Gewaltkarriere expandiert im Kontext eskalierender familiärer Konflikte. Sie weist eine ausgesprochen negative Schulkarriere auf, die geprägt ist von Leistungsversagen, Gewalt gegen Mitschülerinnen und Mitschüler, Beschädigung von Schuleigentum sowie Schulabstinenz. Zum Zeitpunkt des Interviews besucht sie eine Fördermaßnahme für Jugendliche ohne Schulabschluss. Sie möchte nach dieser Maßnahme ihren Hauptschulabschluss nachholen und eine Ausbildung absolvieren. Melusine ist bemüht ihr Gewalthandeln zu reduzieren, um ihr zukünftiges Ziel einer beruflichen Ausbildung erreichen zu können. Auf die Feststellung der Interviewerin, dass sie sich früher leicht provozieren ließ entgegnet Melusine: M: Ja lass ich heute auch noch, aber ich schlag manchmal auch noch. Aber nich mehr so oft wie früher. I: Ja, wann passiert dir das heute so? M: Weiß ich nich. Wenn einer provoziert dann. "(I: Ja,)" M: Aber richtich provoziert. I: Kannste mal n Beispiel nennen? M: So wie heute ist? Mittwoch. Sonntag! "(I: Ja,)" M: Mein Schwester hat mein MP3Player geklaut. Ich weiß das 100%ig. Der is weg. "(I: Ja,)" M: die wollten den haben und auf einmal war der weg. Bisschen komisch ne? I: Mhm (BEJAHT) M: Und dann provoziern die mich "Wäwäwä ich hab dein mp3player" und bohar, dann tick ich immer aus. I: Mhm.(..) und was haste dann gemacht? M: (..) Ich hab die nich gehaun. I: Nee, aber was has//#was is# M: #ich bin dann# einfach in mein Zimmer, hab die Tür zugeknallt und Musik gehört. I: O.K. ja, (...) O.K. (..) um dich zu beruhigen? M: Ja. I: Ja? M: Ich guck dann Fernsehen oder dings "(I: Ja,)" M: Dafür hab ich geritzt aber dann. I: Ach so. Dir die Haut aufgeschnitten dann. (...) Weiste warum? M: Ja weil mich immer die so wütend gemacht hat und dann weiß=ich=nich hab ich mich besser gefühlt nach dem Ritzen "(I: Ja,)" M: dann. I: Wo hast dich geritzt? M: Überall.685
Melusine berichtet von einem Vorfall im mütterlichen Haushalt wenige Tage vor dem Interviewtermin. Ihre jüngere Schwester entwendet ihren MP3-Spieler und 685 Interview Melusine, Z. 341-359.
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provoziert sie. Obwohl sie wütend wird, schlägt sie nicht zu sondern schließt sich in ihr Zimmer ein, hört Musik und ritzt sich die Haut auf. Danach fühlt sie sich besser, wie sie selbst sagt. Die Interviewte bewältigt ihre intensiven Gefühle der Wut, die aus der empfundenen Grenzverletzung resultieren, indem sie bei (geschwisterlichen) Provokationen ihre Wut nicht mehr gegen andere richtet, sondern gegen sich selbst. Obwohl sie die Auslöser ihrer Wut sehr klar benennen kann, gelingt es ihr in der Konfliktsituation nicht, sich vom Verhalten der Geschwister zu distanzieren. Die Wut überwältigt sie. Insgesamt illustrieren die Interviewauszüge, dass die Bemühung um Selbstkontrolle konterkariert wird durch die im Laufe der Gewaltkarriere habitualisierte Kampfbereitschaft. Die Mädchen deuten Konfliktsituationen grundlegend als einen Kampf. Der Wille, sich selbst zu kontrollieren, kann dabei dazu führen, dass die Betroffenen in Konfliktsituationen die Gewalt nicht mehr gegen andere, sondern gegen sich selbst richten. Angesichts der Trägheit habitualisierter Kampfbereitschaft betreiben die Interviewten einen hohen Aufwand an biografischer Arbeit, um sich dennoch als konforme junge Frau darzustellen. Das Selbstbild der konformen jungen Frau Biografie als biografische Arbeit fokussiert die subjektive Herstellungspraxis der Lebensgeschichte, d.h. die Individuen leben ihr Leben entlang eines mehr oder minder expliziten biografischen Entwurfs. „Auch die […] biographische Arbeit ist - obwohl sie nur von individuellen Subjekten auf der Basis ihrer leiblichen Existenz geleistet werden kann - kein individueller kognitiver Akt, sondern eine komplexe soziale Praxis, die in pragmatische Handlungskontexte eingebunden ist, […] und somit auch ‚Wirklichkeit schafft‘. Der innere, selbstreflexive Prozeß der Subjekte ist notwendiger Aspekt, integraler Bestandteil biografischer Konstruktionsprozesse, aber zugleich Aspekt einer grundlegend sozialen Praxis.“686
Insofern ist die reflexive Erfassung und Bearbeitung der Lebensgeschichte über die Erzählung eingebunden in die gesellschaftliche Praxis. Die biografische Arbeit der Aussteigerinnen lässt sich hier begreifen als einen neuen „Selbstentwurf“, indem die Interviewten sich vom Selbstbild der ehrenhaften Siegerin distanzieren und stattdessen konforme Entwürfe des eigenen Selbst explizieren. Dieser alternative Selbstentwurf, den die Mädchen im Gespräch gegenüber der 686 Dausien 2000, S. 104; vgl. ausführlich Kapitel 7.2.2 Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im biografischen Kontext.
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Interviewerin konzipieren, ist nicht lediglich Ergebnis eines selbstreflexiven Prozesses, sondern in Anlehnung an Dausien zugleich die grundlegende Praxis biografischer Selbstkonstitution. Der Wunsch, das Gewalthandeln zu kontrollieren resp. damit aufzuhören, steht in engem Zusammenhang mit dem Übergang vom Jugendalter ins Erwachsenenleben. Die Interviewten Andrea und Melusine stehen mit 17 resp. 18 Jahren vor dem Schritt in die Selbstständigkeit. Benita (15 Jahre) ist bestrebt, einen möglichst guten Schulabschluss zu erreichen. Am Beispiel Andreas wird die Orientierung an der gelingenden Integration ins Erwachsenenleben vorgestellt. Bei ihr steht nicht so sehr eine gelingende berufliche Integration, sondern die Aufhebung ihrer wechselvollen Lebenssituation, die geprägt war durch wechselnde Jugendhilfemaßnahmen, Beziehungsabbrüche und Kontakte zu devianten Cliquen im Vordergrund. Auf die Frage der Interviewerin, ob ihr in Bezug auf das Gespräch noch etwas wichtig sei, äußert sie: A: An dem Thema - eigentlich kann man sagen nich´ so, weil ich weiß, dass ich ´ne Vergangenheit hatte (..) und ich will das halt nur noch alles vergessen. "(I: Ja.)" A: Einfach, dass das alles wie´n Stückchen Asche irgendwann weggeweht is´. "(I: Ja.)" A: Und nich´ wieder zurück kommt. (3 SEK. UNV.:STÖRUNG MIKRO). Den Leuten mit den ich Probleme hatte, das ich einfach gar keinen Kontakt mehr mit denen hatte - habe, so=was. Das ich jetzt einfach nur noch leb´, dass ich´n ruhiges Leben führe. (.) Mhm (BESTÄTIGEND).687
Andrea wünscht sich einen Wendepunkt in ihrem Leben, in der sie die Vergangenheit hinter sich lassen kann, wie ein „Stückchen Asche“, das „irgendwann weggeweht is“. Sie sagt nicht nur an dieser Stelle im Interview, sondern auch an mehreren anderen, dass sie keinen Kontakt mehr mit den Personen haben möchte, mit denen sie „Probleme“ hatte. Andrea berichtet über Konflikte mit gleichaltrigen Mädchen, die ihr aus ihrer Perspektive den Freund neideten, sie erzählt von ihrer Zugehörigkeit zu „kriminellen“ Cliquen, die Einbrüche begehen, Drogen konsumieren und andere Leute schlagen, und thematisiert die Probleme mit ihren Pflegeeltern, die ihr kein Vertrauen schenkten, sondern sie zwangen eine Ausbildung zu absolvieren, obwohl sie gern einen „besseren“ Schulabschluss als ihren Hauptschulabschluss erreichen wollte. Das ersehnte „ruhige“ Leben steht im Kontrast zu ihrer Einbindung in Jugendcliquen, mit denen sie immer „PartyParty oder=so“ gemacht hat, wie der folgende Gesprächsauszug zeigt. Auf die Frage der Interviewerin, wo sie sich in zehn Jahren sehe, antwortet sie: A: (...) (.) Wo ich mich sehe? Also wenn ich jetzt so (.), äh wenn ich jetzt auf dem Weg bin mich zu ändern. Und ich bin schon ´n ganzen Fortschritt, also Schritt gegangen. 687 Interview Andrea, Z. 259.
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Dann würd´ ich also in zehn Jahren so denk´=ich=ma hab// äh hat=ich vielleicht so n viel viel mehr gelebt, ich vielleicht ´n ganz andrer Mensch bin, ´ne Familie habe, meine Ausbildung absolviert hab´ und das ich vielleicht ´n ganz glückliches Leben führe. "(I: Ja.)" A: Ja. So=was wünsch´ ich mir einfach. Nich´ so, dass dann nur Party Party Party oder=so, "(I: Mhm)" A: Ja einfach nur ´n ganz schönes ruhiges Leben führn.688
Andrea entwirft von sich das Bild einer konformen jungen Frau, die sich von ihrer turbulenten Vergangenheit löst und „vielleicht“ ein glückliches und harmonisches Leben führen wird. Dieser Wunsch nach einem „ruhigen“ Leben als bald volljährige junge Frau ist ihrem Gewalthandeln und ihren devianten Verhaltensweisen in der Vergangenheit diametral entgegengestellt. Ihre Distanzierung vom Gewalthandeln ist von dem Wunsch motiviert, ein konformes und „ruhiges“ Leben führen zu können. Dabei ist die Distanzierung vom Gewalthandeln eingebettet in biografische Konstruktionsprozesse, in denen Andrea einen Neuentwurf ihres Selbst sowie ihrer Biografie vorlegt. Sie erzählt ihre Lebensgeschichte als eine Leidensgeschichte, in der sie nun vor einem wichtigen Wendepunkt steht: dem Übergang ins Erwachsenenleben. Dieser konstruierte Wendepunkt lässt sich jedoch nur dann in seiner Bedeutung erfassen, wenn neben der Perspektive der Vergangenheit Andreas Lage zum Zeitpunkt des Interviews hinzugezogen wird. Ihr Wunsch nach einem „ruhigen“ Leben ist ihrer häuslichen Lebenssituation zum Zeitpunkt des Interviews diametral entgegengestellt. Andrea war bereits in mehrere Einrichtungen und Maßnahmen der Jugendhilfe integriert. Wenn ihr Aufenthalt in der Einrichtung zum Zeitpunkt des Interviews ebenfalls scheitert, etwa weil sie die Regeln des Zusammenlebens missachtet, dann droht ihr die Unterbringung in einem Appartement mit sehr niedrigschwelliger pädagogischer Betreuung. Andrea beschreibt sich als geselligen Menschen, der schnell Freundschaften knüpft und sich gut in Gemeinschaften einfügen kann. Die Integration in die Wohngemeinschaft steht für sie synonym mit einem gelungen Übergang in das „konforme“ Erwachsenenleben. Gemeinsam ist den Aussteigerinnen die Selbstpräsentation als konformes Mädchen resp. junge Frau, die ihre gewaltaffinen Verhaltensweisen hinter sich lässt sowie das Bemühen um ein zukünftig gesichertes (Erwachsenen-)Leben, in dem die erfahrene desolate Lebenssituation ersetzt wird durch eine stabile häusliche Situation und/oder einen gelungenen Einstieg ins Erwerbsleben. Die biografische Arbeit eines neuen Selbstentwurfs lässt sich vor dem Hintergrund der adoleszenten Entwicklung als eine imaginäre Lösung kollektiver Probleme des Heranwachsens charakterisieren.689 Die Interviewten stehen vor dem (kollekti688 Ebd., Z. 264-265. 689 Vgl. Kapitel 4.2 Adoleszente Entwicklung und jugendliches Gewalthandeln.
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ven) Problem, trotz ihrer biografischen Konflikte und Problemlagen den Übergang in die Erwerbstätigkeit und persönliche Selbstständigkeit zu bewältigen. Die „Lösung“ dieser Anforderung liegt in einem biografischen Neuentwurf, indem die Mädchen einen Wendepunkt resp. Ausstieg aus der Gewaltkarriere konstruieren. Diese Lösung ist jedoch imaginär, weil die Selbstentwürfe als konforme und „friedfertige“ junge Frau gebrochen sind durch Erfahrungen von Kontrollverlusten über das eigene (Gewalt)Handeln sowie z.T. prekäre Handlungsstrategien des Ausagierens der Wut gegen sich selbst. Das Bemühen um Selbstkontrolle im Ausstieg aus der Gewaltkarriere ist eine imaginäre Lösung kollektiver Problemlagen des Heranwachsens, denn der Wunsch nach Selbstkontrolle impliziert die Hoffnung auf Kontrolle der eigenen Biografie. Der Ausstieg aus der Gewaltkarriere durch ihr Streben nach Selbstkontrolle ist eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit ihrer prekären Lebenssituation und den sich immer deutlicher abzeichnenden Einschnitten in ihrem Lebensverlauf, die ihre Chancen auf eine gesicherte Existenz als Erwachsene verschlechtern. Der Kampf des Anerkennens Andrea, Benita und Melusine beschreiben Konflikte aus einer Perspektive, in der sie sich nicht mehr als durchsetzungsfähige Mädchen mit Street Credibility präsentieren, sondern als Opfer widriger Lebensumstände und z.T. ihrer eigenen unkontrollierten Gewaltausbrüche. Sie berichten von jahrelangen Herabsetzungen und Viktimisierungen im familiären Bereich, von Schicksalsschlägen wie dem Tod der Eltern und der Unterbringung in scheiternden Betreuungsverhältnissen durch die Jugendhilfe. Angesichts der prekären biografischen Abwärtsschübe ist ihr gewaltförmiger Kampf des Anerkennens gescheitert, da er lediglich zu weiteren biografischen Abwärtsschüben führt. Ihr Blick auf den zukünftigen Erwachsenenstatus ist mit der Hoffnung verbunden, über konforme Verhaltensweisen Anerkennung in neuen Lebenszusammenhängen zu erhalten und damit den Weg zu ebnen für ein gesichertes Leben als erwachsene junge Frauen. Angesichts dieser Motivlage sind ihre Bemühungen um den Ausstieg aus der Gewaltkarriere resp. den Kampf des Anerkennens nachvollziehbar. Allerdings zeigen die aufgeführten Analysen zur Habitualisierung ihres Gewalthandelns, dass ihnen konkrete soziale Unterstützung fehlt, etwa in Form von Trainingsmaßnahmen zur produktiven Bewältigung ihres Modus der leiblichen Kampfbereitschaft oder zu alternativen Umgangsweisen mit Provokationen. Die Mädchen bearbeiten diese kollektiven Probleme des Heranwachsens, indem sie sich als konforme junge Frauen präsentieren. Um ihren Anspruch als Aussteigerinnen aufrechtzuerhalten, relativieren sie ihre physischen Auseinandersetzungen
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in den Interviews, indem sie auf ihre Opfererfahrungen oder den Ausnahmecharakter des Ereignisses verweisen. Eine Stabilisierung ihrer desolaten Lebenssituation ist zum Zeitpunkt der Gespräche nicht erkennbar. Trotzdem arbeiten die Aussteigerinnen an der Verbesserung ihrer Lebenssituation und äußern sich zuversichtlich dahingehend, dass sie den Sprung in eine gesicherte Lebenssituation schaffen werden. Damit unterscheiden sie sich wesentlich von den gewaltaktiven Mädchen. Diese sind zum Teil hinsichtlich ihrer zukünftigen Pläne desillusioniert und/oder für die Bestrebungen zur Verbesserung der desolaten Lebenssituation sind keine Ressourcen im Alltag vorhanden. Einige Interviewte verfügen bereits über alternative Handlungsmuster in Konfliktsituationen. 8.3.1.2 Stabilisierung alternativer Handlungsmuster Die Stabilisierung alternativer Handlungsmuster in Konfliktsituationen beschreibt einen weiteren Aspekt des Ausstiegs aus der Gewaltkarriere. Die Interviewten Birgit, Simone und Manuela distanzieren von ihren früher begangenen Gewalthandlungen und weisen deutlich auf ihre eigenen Anteile an vergangenen eskalierenden Konflikten hin. Die Mädchen begegnen Provokationen sowie Beleidigungen und Herabsetzungen auf verbaler Ebene, etwa indem sie selbst schlagfertig die Person des Beleidigers infrage stellen oder die Beleidigung ignorieren. Sie stehen aus ihrer Perspektive vor dem Übergang ins Erwachsenenleben und wünschen sich ein gesichertes zukünftiges Leben, in das gewaltförmige und abweichende Verhaltensweisen nicht mehr zu passen scheinen. Im Gegensatz zu den Interviewten, die vor allem versuchen, ihre Selbstkontrolle in Konfliktsituationen zu bewahren, lassen sich bei Birgit, Manuela und Simone alternative Konfliktlösungsstrategien rekonstruieren. Sie geben in schwierigen d.h. konfliktreichen Situationen keine nachteiligen Informationen über sich selbst preis. Das Handlungsmuster des Informationsmanagements wirkt Konflikten in gewisser Weise „präventiv“ entgegen, weil nachteilige Auskünfte über die eigene Person, die Anlass zu Herabsetzungen und Konflikten geben könnten, gar nicht erst gegeben werden. Daneben war zudem das Bestreben der Interviewten erkennbar, sich in Konflikten von den vermeintlichen Kontrahentinnen zu distanzieren, etwa indem sie nicht mehr mit ihnen redeten und/oder sich neue Freundinnen und Kontakte suchten. Diese Form der Distanzierung verhindert weitere Konflikte im Vorfeld, da die Interviewten konfliktbeladene Beziehungen meiden und sich stattdessen um alternative Kontakte und Freundschaften bemühen. Außerdem wurde deutlich, dass die Interviewten in Konfliktsituationen nun auf verbaler Ebene kontern. Sie beschreiben sich selbst als schlagfertige Personen, die es nötig haben bei Provokationen Gewalt anzuwen-
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den. Diese alternativen Umgangsweisen mit Konflikten lassen sich in den Bereich der Techniken der Imagepflege von Goffman einordnen.690 Sie erlauben den Interviewten in Konfliktsituationen das eigene Image zu wahren oder die Herabsetzung der eigenen Person zu vermeiden. Mit diesen unterschiedlichen Handlungsweisen gelingt es ihnen, sich gegenüber vermeintlichen Beleidigern resp. Beleidigerinnen ohne Anwendung von Gewalt zu behaupten. Die ausführliche Diskussion der jeweiligen alternativen Handlungsstrategien im Kontext der einzelnen Fälle kann an dieser Stelle leider nicht erfolgen. Dies würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Zur Illustration wird daher das Handlungsmuster des Informationsmanagements und der Distanzierung am Beispiel einer Äußerung Manuelas vorgestellt. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 21 Jahre alt. Ihre Gewaltkarriere beginnt und expandiert während des Übergangs von der Grundzur Gesamtschule aufgrund schulischer und familiärer Problemlagen, als sie ungefähr elf Jahre alt war. Sie wendet mit der Unterstützung eines Lehrers, der ihr Techniken zur Bewältigung der eigenen Wut in Konfliktsituationen vermittelt, erfolgreich und dauerhaft alternative Handlungsmuster zur Konfliktbewältigung ab etwa dem 14. Lebensjahr an. Im Folgenden werden zwei alternative von Manuela praktizierte Umgangsweisen deutlich. Sie berichtet von ihrem Wechsel auf eine Abendschule, in der sie ihren Hauptschulabschluss nachholt: M: Und dann kam ich ja hier=drauf. (.) Ja, die erste Zeit jetzt ganz am Anfang hier, hab´ ich gedacht: "Nä, wo bist du denn gelandet!" Was ich manchmal für Gestalten hier gesehen hab´. "(I: Mhm,)" M: Schminken sich im Unterricht und so statt wirklich am Unterricht teilzunehmen. Und da hab´ ich einigen auch schon gesagt: "Ja geht doch lieber ins Kosmetikstudio und schminkt euch da den ganzen Tag" I: # Mja# M: #Bevor# ihr in der Schule abhängt, andere brauchen den Abschluss." Und da war ich unten=durch, weil ich das gesagt hab´. Als würd ich ja hier quasi nur die Zeit absitzen. I: Und was ist dann passiert? M: Gar nix. Guten Morgen, guten Weg und das war alles. "(I: Mhmh)" M: Ja dann quasi am Ende, das letzte Halbjahr. Hab´ ich dann mit einem hier, nee, mit zwei. Mit zwei Jungs aus meiner Klasse. Kamen wa dann mal so im Gespräch und (..), privat ham wir uns auch die Nummern ausgetauscht, also, da ging das dann. Als se geseh´n ham, dass ich gar nich´ so bin, wie ich mich gegeben habe. „(I: Ja)" M: Bei manchen hab´ ich ´ne Mauer auf mich gebaut, dass heißt, ich hab´ größer und stärker getan so nach´m Motto, dass die mich nich´am Knackpunkt erwischen „(I: Ja)" M: dass die nix über mich ´rauskriegen, wo die ansetzen könnten. I: Was ist dein Knackpunkt. M: Sobald einer irgendwas über meine Mutter, Familie sagt. „(I: Ja)" M: Oder wenn andere in meiner Umgebung reden: "Ja meine Eltern, das und das, oder meine Mut690 Vgl. Goffman 1986.
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ter hat mir das und das", dann hör´ ich schon weg, weil ich hab´ ja keine Eltern mehr und dann möcht´ ich auch so darüber nichts hör´n. Ja das ist mein Knackpunkt. "(I: Ja)" M: Da werd´ ich sofort (...) wie´n Wasserfall. Dann könnt´ ich am liebsten heulen manchmal. I: Ja M: Und ich hab´ vor allen, so groß, und wie ´ne Mauer aufgebaut. Ich hab´ gesagt: "Ihr könnt mir nichts, ich will das nicht," hat geklappt. Das ganze Jahr hab´ ich das so durchgezogen, weil ich wollte nicht, dass die anderen, ich hab´ gesehen, bei uns in der Klasse waren so (..) Streitereien, der eine hat das erzählt, dann ging das zu dem anderen, den das brennend interessierte, und dann wurde das um tausend Ecken ganz anders erzählt, und dann gab´s Streit „(I: Hmh)" M: und das wollt´ ich nicht, dass das bei mir auch der Fall ist. Ja, und das hat auch gut geklappt. I: Ja? M: Ich kam mir geschützt vor, ich hab´ meine Schule gemacht, hab´ gesagt: "Ihr könnt mich alle mal so. Ich will meine Ruhe haben." und das hat auch gut geklappt.691
Manuela berichtet von Startschwierigkeiten, zu Beginn ihres Einstiegs an der neuen Abendschule. Sie trifft auf Schülerinnen, die sich im Unterricht schminken und offenbar ihr Ziel, einen Schulabschluss zu erwerben, nicht teilen. Manuela passt sich diesen Verhaltensweisen nicht an. Im Gegenteil: sie distanziert sich von den „Nebenbühnenaktivitäten“, und erzeugt damit Unmut in der Lerngruppe. Trotz der Spannungen verbleibt sie in ihrer distanzierten Haltung. Erst gegen Ende ihres letzten Halbjahres freundet sie sich mit zwei Jungen aus der Klasse an, ohne aber ihr Ziel, die Konzentration auf die Unterrichtsinhalte, aus den Augen zu verlieren. Manuela weiß um ihre Schwächen, ihren sogenannten „Knackpunkt“. Um diesen nicht preiszugeben und Gegenstand von Gerüchten und Konflikten zu werden, erzählt sie nichts über ihre Familie und signalisiert stattdessen Stärke. Sie inszeniert sich als „groß“ und als diejenige, die sich von anderen durch verbale Angriffe nicht aus dem Gleichgewicht bringen lasse. Die Umgangsweise kann, in Anlehnung an Goffman, als Informationsmanagement bezeichnet werden. Es ist eine Handlungsstrategie, in der die Beteiligten versuchen, die Informationen über ihre Person zu kontrollieren und nachteilige Wissensbestände in Kommunikation mit anderen auszublenden, um ihr Image zu wahren. Beide Umgangsweisen mit Konflikten, die Distanzierung von der Lerngruppe und das Bemühen, die Informationen über die eigene Person zu kontrollieren, helfen Manuela zwischenmenschliche Kontroversen und Spannungen im Bereich Schule zu bewältigen. Dabei sind die Umgangsweisen strategisch darauf ausgerichtet, Konflikteskalationen zu vermeiden. Dieses Bestreben lässt sich lediglich im Kontext ihrer bisherigen Schulversagensverlaufskurve verstehen. Manuela bewegt sich im Spannungsfeld, sich einerseits auf die Institution Schule 691 Interview Manuela, Z. 36-42.
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einlassen zu müssen, in der sie bisher grundlegend gescheitert ist, um andererseits ihre Chance auf einen Schulabschluss zu realisieren. Sie bewältigt diese Anforderung mithilfe einer distanzierten Selbstpräsentation gegenüber der Lerngruppe, die es ihr erlaubt, sich vor verbalen Angriffen zu schützen, um ihr Image zu wahren und zugleich ihr Ziel, den Schulabschluss zu bestehen, zu erreichen. Anhand der exemplarischen Erzählung Manuelas wird deutlich, dass alternative Handlungsstrategien differente Strategien im Umgang mit Konflikten darstellen. Gewalt ist aus der Perspektive der Interviewten keine angemessene Option der Konfliktlösung. Stattdessen bemühen sie sich auf verbaler Ebene gegenüber anderen zu distanzieren und/oder verbal zu behaupten. Im Gegensatz zur Vergleichsgruppe der Aussteigerinnen, die sich um Selbstkontrolle in Konfliktsituationen bemühen, fehlen in ihren Erzählungen gegenwärtiger Konflikte Äußerungen zu intensiven Gefühlen der Wut. Um die These zu illustrieren, wird dieser Stelle eine Äußerung Birgits vorgestellt. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt. Birgits Gewaltkarriere beginnt und expandiert mit etwa 14 Jahren als sie die 8. Klasse freiwillig wiederholt. Sie schließt sich einer gewaltbereiten Clique an und schlägt andere Mitschüler und Mitschülerinnen. Aufgrund dessen erhält sie mehrere Anzeigen wegen Körperverletzung, sodass sie mit 16 Jahren vor Gericht verurteilt wird. Birgit berichtet, dass sie seit etwa einem halben Jahr, d.h. seit der Gerichtsverhandlung, keine Gewalt mehr ausgeübt habe. Auf die Frage der Interviewerin, weshalb sie nun keine Gewalt mehr ausübe, antwortet sie: B: Weil mein Freund mich sonst verlässt. Der sacht, wenn ich dat noch einmal mach, " (I: Ja)" […] Und weil ich dat jetz ganz ander seh, wenn mich jetzt irgendeiner provoziert dann sag ich: "Ja und? Pft (.) , interessiert mich gar nich mehr. Wenn mir irgendeiner erzählt, mein Freund geht mir fremd, dann sag ich: "Ja woher weiste dat?" ("I: Mhm)" B: Oder sowat alles. Weil ich weiß dass mein Freund mir nicht fremdgeht. I: Ja O.K. (...). Also dann biste nich mehr so wütend oder wie? B: Nö. Also wütend natürlich denk ich schon, aber ich hau dann nicht mehr zu. Weil eigentlich im Endeffekt schad ich mir ja nur selber damit und nicht denen. Die haben dann einmal den körperlichen Schmerz, ja und wenn se mich dann anzeigen hab ich halt die richtig dicken Probleme danach.692
Bemerkenswert an Birgits Äußerung ist die grundlegend andere Sichtweise auf Konfliktsituationen. Sie schildert Herabsetzungen der eigenen Person nicht mehr als Kampf um Ehre, sondern als Provokationen, auf die sie sich nicht mehr einlässt, sondern stattdessen auf verbaler Ebene kontert. Aufgrund der fehlenden Situationsdeutung als Kampf um Ehre bewertet Birgit die Herabsetzung nicht 692 Interview Birgit, Z. 158-161.
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mehr als Grenz- resp. Ehrverletzung. Diese veränderte Situationsdeutung führt dazu, dass das intensive Gefühl der Wut nicht eintritt. Im Gegensatz zur Vergleichsgruppe der Aussteigerinnen, die in Konflikten um Selbstkontrolle bemüht sind, um nicht zuzuschlagen, spielt die Wut für Birgit nur noch eine untergeordnete Rolle. Sie wird zwar wütend, aber dieses Gefühl bestimmt nicht ihre Handlungen. In den Interviews der übrigen Befragten aus dieser Gruppe der Aussteigerinnen (Simone und Manuela) lassen sich ebenso wie bei Birgit Hinweise auf eine Distanzierung der habitualisierten Kampfbereitschaft finden. Darüber hinaus distanzieren sie sich explizit von gewaltaffinen Einstellungen und ihrer Zugehörigkeit zu gewaltbereiten Peergroups. In den Schilderungen der Interviewten zu alltäglichen Konflikten fehlt die Semantik der Ehre und des Respekts, wie sie bei den gewaltaktiven Mädchen zum Zeitpunkt des Interviews zu erkennen sind. Sie berichten aus einer kritisch distanzierten Perspektive vom kollektiven Zusammenhalt gewaltaffiner Cliquen, in denen sie zuvor Mitglied waren. Gewalt ist aus ihrer Perspektive nun nicht mehr eine positive Kompetenz, sondern ein soziales Tabu. Sie beschreiben Konflikte aus der Perspektive der Durchsetzung eigener Ziele und Interessen mithilfe sozial konformer Handlungsstrategien. Die vorgestellten zwei Aspekte von Ausstiegen aus der Gewaltkarriere lassen sich nicht als Stufenfolgen einer vermeintlich linearen biografischen Entwicklung begreifen. Die Ausstiege sind nicht ausschließlich abhängig von den Bemühungen der Interviewten. Soziale Ressourcen, Öffnungen institutioneller Spielräume und Zufälle nehmen ebenso Einfluss auf ihre Distanzierung zum Gewalthandeln. Die dargestellten Momente des Ausstiegs charakterisieren wichtige strukturelle „Problembereiche“ der Interviewten: Ein Bereich betrifft die Bewältigung der habitualisierten Kampfbereitschaft und Handlungsorientierung des Kampfes, die für die Mädchen ein zentrales Problem darstellt, wenn sie sich von ihren gewaltförmigen Handlungsmustern lösen wollen. Zum anderen spielt der Aspekt der krisenhaften biografischen Entwicklung, in denen den Interviewten in ihnen relevanten institutionellen Zusammenhängen das Anerkennen ihrer Person verweigert wurde, sodass sie ihre gesamte Person infrage gestellt sahen, eine wichtige Rolle. Ein Ausstieg aus der Gewaltkarriere, der nicht zugleich prekäre Strategien von Kontrollverlusten und Selbstverleugnung (wie etwa die Ausübung von Gewalt gegen sich selbst) impliziert, ist an institutionelle Hilfestellungen gebunden, in denen die Mädchen neue Spielräume des Anerkennens zur Verfügung gestellt werden. Der gewaltförmige Kampf des Anerkennens hebt sich erst dann auf, wenn den Interviewten einerseits Möglichkeiten der Partizipation in wichtigen Lebensbereichen gegeben werden, die ihnen andererseits zur Bearbeitung und Bewältigung der bestehenden Anerkennenskonflikte verhelfen. Wesentlich für das Aufheben des Kampfes um das Anerkennen der eigenen Person und der damit verbundene Ausstieg aus der Gewaltkarriere ist die Bereit-
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stellung von Ressourcen durch die Gesellschaft, die den jungen Frauen eine realistische Chance auf ein gesichertes zukünftiges Leben in Aussicht. Insofern greifen gewaltpräventive Maßnahmen und Interventionen zu kurz, die ausschließlich auf der Ebene gewaltaffiner Einstellungen oder habitualisierter Handlungsmuster eine Distanzierung vom Gewalthandeln anstreben, ohne dass individuell zugeschnittene soziale Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die den Betroffenen eine realistische Chance auf die angestrebte Integration ins Erwachsenenleben, z.B. in Form eines Ausbildungsplatzes oder eines pädagogisch begleiteten selbständigen Wohnens, ermöglichen.693 Dieser wichtige Aspekt des Übergangs in das Erwachsenenalter wird im Folgenden noch etwas genauer dargelegt. 8.3.2 Adoleszenztypische Aspekte des Ausstiegs Der Vergleich der Gruppe der Aussteigerinnen mit der Gruppe der gewaltaktiven Mädchen ergab, dass bis auf Benita alle Aussteigerinnen um mindestens ein Jahr oder mehrere Jahre älter sind als die gewaltaktiven Mädchen. Gemeinsam ist den Aussteigerinnen die Hoffnung auf ein gesichertes Leben als junge Frau sowie das Bemühen und die Veränderung ihrer bisherigen jugendlichen Lebensweise. Die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen der Interviewten ihr habitualisiertes Gewalthandeln zu verändern stehen in engem Zusammenhang mit einem „neuen“ Selbstentwurf, indem sich die Interviewten als konforme Mädchen resp. Frauen beschreiben. Die Interviewten verweisen sehr deutlich und z.T. mit hohem argumentativen Aufwand auf ihre biografischen Veränderungen im Zuge ihres Ausstiegs. Es wurde daher die These aufgestellt, dass der Wandel von der ehrenhaften Siegerin zur konformen jungen Frau mit der Konstruktion eines biografischen Wendepunktes einhergeht. Die Aussteigerinnen inszenieren sich als konforme Mädchen oder junge Frauen, die ihre gewaltbereite und deviante Phase hinter sich gelassen haben und nun den Übergang ins Erwachsenenleben meistern. Diese Konstruktion wird mithilfe eines biografischen Wendepunktes plausibilisiert. Illustrierend wird hier ein Gesprächsauszug mit Simone vorgestellt. Auf die Eingangsfrage der Interviewerin, wie sie in ihrer Stadt so lebe antwortet sie: S: Was soll ich dazu sagen? Ich hab ne eigene Wohnung, "(I: Ja)" S: also mit meinen Eltern hab ich kaum Kontakt, hab viele Freunde, bin auch oft mit meinen Freunden unterwegs. Ja und in der Woche hab ich eigentlich wenig Zeit. I: Warum? 693 Vgl. Kapitel 9 Zusammenfassung der Ergebnisse und erziehungswissenschaftlicher Ausblick.
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S: I: S: I: S: I: S: I: S: I: S:
Weil, halt, weil ich halt arbeiten muss. Ja, Nach der Schule. Ja, wie is die Arbeit für dich? Gut. Gefällt #dir?# #Ja# Was gefällt dir so dadran? Ich weiß nich so. Das Umfeld so. "(I: Hmhm)"S: So alles halt. Ja was// sind die Leute da nett oder? Hm, ja auch, aber ich weiß nich, ich hab ne andere Einstellung gekricht als als ich die mal hatte so. "(I: Ja,)" S: Find ich I: Hmhm, was is´ da jetz #anders?# S: #Weil,# weil früher, hab ich immer gedacht,: "Ach wofür Schule, wofür arbeiten" und so "(I: Hmhm,)" S: und aber, heut is´ dat nich mehr. Also ich bin froh, dat ich irgendwat hab. Und dass ich die Ausbildung gekricht hab.694
Simone skizziert mit 17 Jahren zunächst ihre Lebenssituation zum Zeitpunkt des Interviews: Sie lebt in einer eigenen Wohnung, Kontakte zu ihren Eltern bestehen kaum. Dafür unternimmt sie viel mit Freunden. Die Ausbildung bildet ein wichtiges Thema für sie. An ihr verdeutlicht sie gegenüber der Interviewerin den Wendepunkt ihrer Biografie: Während sie sich „früher“, d.h. während ihrer Schulzeit vom 11. bis etwa zum 16. Lebensjahr, als desinteressiert beschreibt und nicht wusste wofür sie zur Schule oder arbeiten gehen sollte, ist sie Zeitpunkt des Interviews froh, dass sie einen Ausbildungsplatz erhalten hat. Simones Wandel von einer Jugendlichen, die „null Bock“ hat hin zu einer jungen Frau, die ihre Chance auf den Ausbildungsplatz zu schätzen und zu nutzen weiß, ist lebensgeschichtlich eng verknüpft mit ihrem Ausstieg aus der Gewaltkarriere. Erst nach der Schulzeit, mit etwa 16 Jahren, stabilisiert sich die Reduktion ihres Gewalthandelns. Sie verlässt die Schule ohne einen Abschluss sowie die Einrichtung der Jugendhilfe, in der sie seit ihrem 11. Lebensjahr gelebt hat. Simone wird ins selbstständige Wohnen entlassen und erhält die Möglichkeit, über eine Ausbildung den Sprung ins Erwerbsleben zu vollziehen. Erst unter diesen neuen Lebensbedingungen resp. in der neuen „Umgebung“, wie Simone selbst sagt, ergeben sich alternative institutionalisierte Räume, in denen sie nun die Chance erhält, sich als Person zu erfahren, die ihre gewaltbereite und deviante Lebensphase abgeschlossen hat. Die These, dass die Erzählpersonen den Wandel ihres Selbstbild als einen biografischen Wendepunkt konstruieren, der eng verknüpft ist mit dem Ausstieg aus der Gewaltkarriere, konnte für alle Aussteigerinnen bestätigt werden. Eine veränderte Konfliktbewältigung geht mit der biografi694 Interview Simone, Z. 6-18.
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schen Arbeit eines neuen Selbstentwurfs einher, in dem sich der Wandel von der gewaltaktiven, ehrenhaften Siegerin zur konformen jungen Frau vollzieht. Aus biografietheoretischer Perspektive ist der Ausstieg wesentlich strukturiert durch den zu vollziehenden Übergang der Erzählpersonen in das „Erwachsenenleben“. In Anlehnung an Dausien lässt sich die Biografie als eine komplexe soziale Konstruktionsleistung beschreiben, in der die Lebensgeschichte durch institutionalisierte Strukturen geprägt und in Form erzählter konkreter Lebenspraxen, der sogenannten biografischen Arbeit, realisiert wird.695 Biografie als institutionalisierte Struktur beschreibt die Tatsache, dass Lebensgeschichten einerseits durch gesellschaftliche Vorgaben und Institutionen geprägt sind (Normierungen) und andererseits durch die Subjekte als solche im vorgegebenen sozialen Rahmen präsentiert werden. Insofern besteht ein wechselseitiges Verhältnis, in denen Lebensgeschichten als Ablauf institutioneller Rahmungen erzählt werden, unter denen sie geprägt wurden.696 Diese Art Passungsverhältnis von gesellschaftlichen Vorgaben durch Institutionen einerseits und der Selbstpräsentationen im Kontext dieses gegebenen sozialen Rahmens andererseits lässt sich in den biografischen Konstruktionen der Aussteigerinnen erkennen. Der vollzogene oder imaginierte Übergang ins Erwachsenenleben ist gesellschaftlich strukturiert durch den Erwerb von Schulund Ausbildungsabschlüssen und/oder der Veränderung der häuslichen Situation im Hinblick auf größere Freiräume und Selbstständigkeiten. Diese strukturellen Veränderungen spiegeln sich in einem Wandel der Selbstpräsentation wider. Die Betroffenen konstituieren einen biografischen Wendepunkt, indem sie sich von ihrer jugendlichen Gewaltkarriere distanzieren und ein neues Selbstverständnis als konforme junge Erwachsene präsentieren. In der Kontrastierung der Gruppe der Aussteigerinnen, die sich um eine Reduktion ihres Gewalthandelns bemühen, mit der Gruppe von Interviewten, die alternative Handlungsmuster in Konfliktsituationen einsetzen, wird jedoch deutlich, dass der Ausstieg wesentlich strukturiert wird durch das Aufheben des Kampfes um Anerkennung in wichtigen Lebensbereichen. Lediglich bei den Interviewten, denen institutionelle Ressourcen und alternative Spielräume des Anerkennens zur Verfügung stehen, ist eine Stabilisierung alternativer Handlungsmuster in Konfliktsituationen vorhanden. Ihnen gelingt eine Distanzierung zur habitualisierten Kampfbereitschaft. Ausführlich wird dies am Fallbeispiel Birgit illustriert.
695 Vgl. Dausien 2000, S. 101. 696 Vgl. ausführlich Kapitel 7.2.2 Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im biografischen Kontext.
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8.3.3 Birgits Ausstieg aus der Gewaltkarriere Die Entscheidung für die Erörterung des Fallbeispiels Birgit fiel zum einen aufgrund ihres deutlich vollzogenen Ausstiegs aus der Gewaltkarriere. Zum anderen ist der Fall Birgit besonders interessant, weil die Interviewte erst seit einem halben Jahr keine gewaltförmigen Handlungsmuster in Konfliktsituationen einsetzt. Die Erinnerungen an das Gewalthandeln, die Leidenserfahrungen und das Bemühen um den Ausstieg liegen noch nicht allzu lange zurück. Während etwa bei Manuela, deren Ausstieg etwa sechs Jahre zurückliegt, der Ausweis des Ausstiegs aus subjektiver Sicht keine große Relevanz mehr erhält, zeigt sich im Interview mit Birgit, dass diese sehr deutliche Aspekte der Biografisierung vornimmt, um sich als Aussteigerin gegenüber der Interviewerin zu plausibilisieren. Birgits Lebensverlauf697 Birgit ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt und hat seit einigen Wochen ihren Hauptschulabschluss absolviert. Bald wird sie eine Ausbildung beginnen. Sie lebt vorwiegend bei ihrem leiblichen Vater, die Eltern leben seit etwa drei Jahren aufgrund ihrer Scheidung getrennt. Birgit wechselt im 10. Lebensjahr von der Grundschule zu einer Gesamtschule. Dort ist sie bis zum 14. Lebensjahr regelmäßig Mobbing-Opfer durch Mitschülerinnen und Mitschüler. Sie bezeichnet sich selbst als „Ausgeschlossene“ aus dem Klassenverband und berichtet, dass sie zu diesem Zeitpunkt lediglich drei Freunde auf der Schule hatte. Als eher mittelmäßige Schülerin, so charakterisiert sie sich selbst, besucht sie die Schule nur ungern. Ihr Verhältnis zu den Lehrerinnen und Lehrern sieht sie durch soziale Kontrolle geprägt. Insgesamt lebt Birgit von der 5. bis zur 8. Klasse in einer prekären schulischen Situation, die gekennzeichnet ist durch eklatante Anerkennensverluste als respektierte Mitschülerinnen sowie durch mangelnde Anerkennung als selbständiges und vertrauenswürdiges Mädchen bei den Lehrerinnen und Lehrern. Demgegenüber schildert Birgit die familiäre Situation in dieser Phase als stabil. Sie lebt als jüngstes Kind der Eltern zusammen mit ihrem älteren Bruder in einem großen Haus. Auch die Kontakte zu den übrigen Geschwistern beschreibt sie mit einer Ausnahme als sehr positiv. Sie ist als jüngstes und zu umsorgendes Familienmitglied anerkannt. Das Verhältnis zu den Eltern ändert sich für Birgit, als diese sich scheiden lassen und aus dem gemeinsamen Haus ausziehen. Sie entscheidet sich zunächst dafür, bei der Mutter zu wohnen, zieht aber nach kurzer Zeit wegen des sich zusehends verschlechternden Ver697 Aus Gründen des Datenschutzes werden genaue Angaben wie etwa zum Alter der Verwandten usf. nicht genannt.
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hältnisses zum Vater. Birgits biografischer Abwärtsschub ist durch die chronischen Missachtungen der Mitschülerinnen und Mitschüler sowie durch die Erfahrung der Instabilität ihrer häuslichen Situation und der Negation von Anerkennung durch die Mutter als zu liebende und umsorgende Tochter gekennzeichnet. Diese Erfahrung bildet aus subjektiver Sicht den Umschlag, in dessen Folge Birgit sich nicht mehr nur als zu respektierende Schülerin und zu umsorgende Tochter missachtet, sondern sich aufgrund der Verschärfung bestehender Konflikte grundlegend als Person infrage gestellt sieht. Als sie mit 14 Jahren die 8. Klasse aufgrund ihrer schlechten Noten freiwillig wiederholt, schließt sie sich über den Kontakt zu einer neuen Mitschülerin einer devianten rechten Gruppe an, mit der sie zusammen Alkohol und Cannabis konsumiert. Während Birgit zuvor das Opfer von Herabsetzungen und Beleidigungen war, erhält sie nun Respekt als durchsetzungsstarkes Mädchen. Sie bleibt zeitweise der Schule fern und wird von der Polizei mehrmals gesucht, weil sie nicht mehr nach Hause kommt. Wegen Alkoholvergiftungen wird sie einige Male ins Krankenhaus eingeliefert. Aufgrund ihrer Gewaltausübung erhält sie einige Anzeigen wegen Körperverletzung. Birgits Ausstieg vollzieht sich prozesshaft: Ihre häusliche Situation bessert sich, als sie mit etwa 15 Jahren zu ihrem Vater zieht und vornehmlich dort lebt. Zugleich scheidet sie aus der gewaltbereiten rechten Clique aus und wechselt in der 9. Klasse den Klassenverband. Dort schließt sie sich einer nicht gewaltaffinen Clique an und lernt ihren Freund kennen, der sie in ihren Ausstiegsbemühungen unterstützt. Birgits Kampf um Anerkennung wird aufgehoben durch einen Kontextwechsel in verschiedenen Lebensbereichen, der ihr Spielräume des Anerkennens eröffnet. Zum einen verändert sich die prekäre häusliche Situation. Sie wohnt nun beim Vater, der sie nicht wie ihre Mutter kontrolliert, sondern sie, aus ihrer Perspektive vorbehaltlos, unterstützt ohne dafür bestimmte (konforme)Verhaltensweisen zu verlangen. Er begleitet sie während eines gerichtlichen Verfahrens und hält vor dem Richter ein Plädoyer für seine Tochter, wie Birgit berichtet. Die Cliquen- und Klassenwechsel führen dazu, dass das Mädchen neue Freundschaften knüpfen kann.698 In der neuen Klasse sieht sie sich als beliebte Mitschülerin anerkannt und von ihrem Freund in wichtigen Belangen ihres Lebens unterstützt. Selbstbild der konformen jungen Frau Die Interviewte kann in diesen neuen Beziehungen ein konformes Selbstbild als beliebte Schülerin und unterstützenswerte Tochter aufbauen, das dem Selbstbild 698 Der Lerngruppenwechsel ergab sich durch die Ausdifferenzierung des neunten Jahrgangs in eine berufsvorbereitende und abiturvorbereitende Klasse.
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der Siegerin mit Street Credibility diametral entgegen gestellt ist. Sie distanziert sich von ihrer Gewaltkarriere als gewaltbereiter „Phase“ und entwirft für sich das Bild einer konformen jungen Frau: I: Hmhm, ja (...) hmhm. Und ähm, also is das ´n Thema für dich, Kinder kriegen? B: Ja. Ich will auf jeden Fall ´n Kind kriegen. Zwar jetzt noch nicht, ich will erst noch meine Ausbildung und sowat alles haben, "(I: Hmhm)" B: damit ich dem Kind auch ne Zukunft bieten kann, bieten kann, oder dass mein Freund wenigstens sein Abi fertich hat und ähm arbeiten geht oder sowat, aber ich will jetzt noch kein Kind kriegen. Ich kann dem Kind ja gar keine Zukunft bieten. Wat soll ich denn machen? Ich will ja auch nicht, dass meine Mutter das Kind großzieht. "(I: Hmhm, ja,)" B: Würd ich jetzt dat Kind kriegen, dann würd, dann wär dat ja nich mein Kind, dann wär dat ja eigentlich dat Kind von meiner Mutter. I: Hmhm, ja. Warum is dir dat wichtich? B: Weiß ich nich, weil Kinder für mich total wichtich sind, die sind so mein, die sind ja dann eigentlich so weiß ich nich, die sind wat ganz Besonderes, eigentlich, mein eigenes Fleisch und Blut so und dann schweißen die natürlich auch mich und meinen Freund zusammen und sowat alles, aber ich will auch heiraten, also (RÄUSPERT SICH) "(I: Hmhm,)" B: Sowas is mir schon wichtich.699
Birgit setzt sich in dieser Äußerung intensiv mit ihrer zukünftigen Rolle als Frau und Mutter auseinander sowie mit der Vereinbarkeit von Beruf und Mutterrolle. Sie verschiebt die Erfüllung ihres Kinderwunschs auf einen späteren Zeitpunkt, um eine Ausbildung absolvieren und dem Kind eine Zukunft bieten zu können. Birgits Lebensentwurf kreist um ihren Eintritt ins Erwachsenenalter. Die Auseinandersetzung mit ihrer zukünftigen Rolle als Berufstätige und Mutter ist ein adoleszenztypisches Thema, das zugleich auf ihre Beziehung zu ihrem Freund verweist: Sie erhofft sich von der Mutterschaft eine engere Verbindung zu ihm. Birgit inszeniert sich gegenüber der Interviewerin als konforme junge Frau, die sich bereits gezielte Gedanken um ihre Zukunftsplanung gemacht hat. Dabei hat ihr Freund eine wichtige Stellung in ihrer Lebenssituation inne. Von ihm erhält sie Anerkennung als begehrenswerte junge Frau, zugleich hebt sie das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen beiden hervor. Sie betont, dass sie sich auf ihn verlassen könne.
699 Interview Birgit, Z. 334-337. Der Name des Partners wurde aus Datenschutzgründen durch „mein Freund“ ersetzt.
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Alternative Handlungsmuster in Konfliktsituationen Als die Interviewerin sie auf einen aktuellen Konflikt in der Clique, mit der zum Zeitpunkt des Interviews regelmäßig ihre Freizeit verbringt, anspricht, entwickelt sich folgendes Gespräch: I: Ja, ja du hast vorhin erzählt, ihr habt im Moment zwei Mädels, mit denen ihr Stress habt. B: Ja. I: Ja, wat is´ da so der Anlass, was sind so Themen, worüber ihr so #streitet?# B: Ja wir ham uns mit denen gestritten, also mit der einen hat sich halt meine beste Freundin und äh, ja meine beste Freundin gestritten, weil die hat ähm gesacht, die könnte da halt pennen, hat sie dann hängen lassen, dann sind se da nachts auf der Straße rumgerannt und sowat, mit der andern hab ich mich gestritten, weil die meint, öhm Leute zu uns schleppen zu müssen. Da warn wir zwar nich da, aber die weiß ganz genau, wo unsere Punkte sind, wo wir uns immer treffen, und dann hat se da Leute hingeschleppt, die mein Freund und ich wie die Pest hassen, "(I: Ja,)" B: mit denen wir auch schon Stress hatte und alles, also dat war nich so schön. Dann hab ich se darauf angesprochen, da meinte sie Kommentare wie zum Beispiel: "Ihr habt das hier nich gemietet, ich kann hinschleppen, wen ich will und wo ich will," und sowat alles hat die halt reingeknallt. Ja und dann fing dat an, dass die ähm mit Leuten rumgelaufen is, wie zum Beispiel diesem Mädel da, die ich hasse wie die Pest, ja und sowas halt und jetzt ham wir total Stress mit denen, dat wird aber auch nix mehr, nä. "(I: Hmhm)" B: Ich will auch mit denen nix mehr zu tun haben, das sind für mich keine Freunde. I: Ja, wie regelt ihr das dann unter=nander so ´n Stress? B: Gar nich. I: Ja, also B: Die sind jetzt einfach weg und fertig is die Sache.700
In dieser Schilderung eines aktuellen Konflikts zum Zeitpunkt des Interviews ist nicht mehr das Handlungsmuster der Selbstbehauptung erkennbar. Zwar wird in ihrer Erzählung deutlich, dass sie verärgert über das Verhalten ihrer ehemaligen Freundin ist, aber es fehlen jegliche Hinweise auf die Wut, die eine weitere Eskalation des Konflikts einleitet. Stattdessen distanziert sich Birgit, nachdem ihre Aussprache kein Einlenken des Mädchens erbringt. Sie bricht den Kontakt ab. Auf diese Weise umgeht sie weitere Auseinandersetzungen mit der Freundin sowie deren Freunde, die sie selbst nicht leiden kann. Semantiken der Ehre und des Respekts kommen nicht mehr zum Tragen. Stattdessen ist eine Distanzierung zum gewaltaffinen Ehrenkodex erkennbar. Beleidigungen und Herabsetzungen ihrer Person, die in ihrer sogenannten gewaltbereiten „Phase“ noch Anlässe für 700 Interview Birgit, Z. 494-501.
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eine gewaltförmige Konfliktlösung geboten hätten, relativiert sie aus ihrer Sicht zum Zeitpunkt des Interviews.701 Bezüglich ihrer Mitgliedschaft in einer rechten gewaltaffinen Clique mit 14 Jahren erklärt sie: B: Ach von denen will ich gar nicht reden, das warn so Asis. Dat sind so richtige Asis gewesen. So ja total auch öhm Nazis und so richtig Kaputte. So Verstrahlte. Also ich weiß auch gar nicht, wie ich mit denen auf die Straße gehen konnte. Und dann auch so welche, keine Arbeit, Hartz IV und keine Schule, nur am saufen den ganzen Tag, Drogen am nehmen und sowat alles. (I: Ja) B: Also total der falsche Freundeskreis. I: Ja. Und wie haste die kennen gelernt? B: (..) Durch eine aus meiner Klasse. Also ich hatte damals in meiner alten Klasse ne beste Freundin, "(I: Ja,)" B: und, ähm, die kannte halt auch so schon viele von denen und dann kam ich auch mit da rein so und dann (1 SEK. UNV.) aber die is völlig abgerutscht. Die hat dann auch angefangen Teile und sowat alles zu nehmen und da hab ich gesacht: "Ne komm, fahr ab." "(I: Ja,)" B: Da hab ich mit der nix mehr zu tun gehabt. I: Teile, was heißt dat? B: Ähm, Ecstasy.702
Birgit plausibilisiert gegenüber der Interviewerin ihre Distanz zur eigenen gewaltbereiten „Phase“, indem sie die Mitglieder der damaligen gewaltaffinen Clique abwertet und sie als „total falschen Freundeskreis“ bezeichnet. Die Interviewte konstruiert damit ihren Ausstieg als einen Wendepunkt, an dem sie sich von falschen Freunden aus eigenem Antrieb distanziert. Ihre Gewaltbereitschaft und abweichenden Verhaltensweisen (die z.B. in Bezug auf illegalen Drogenkonsum thematisiert) stellt aus dieser Sichtweise ein Ergebnis des schlechten Einflusses falscher Freunde dar. Ihre Distanzierung plausibilisiert und unterstützt aus dieser Perspektive die Selbstpräsentation als konforme junge Frau. An diesem Beispiel der Konstruktion eines biografischen Wendepunkts wird ebenso offensichtlich, dass der Betroffenen die Dynamiken des Kampfes um Anerkennung resp. des Kampfes um Ehre nicht reflexiv zugänglich ist. Dies ist auch in den anderen Interviews zu den Ausstiegen aus der Gewaltkarriere erkennbar. Die Interviewten entwickeln Deutungsmuster zum Ausstieg, welche zwar Rückschlüsse auf wichtige biografische Themen und Selbstpräsentationen zulassen, jedoch die zugrunde liegende Dynamik nur unzureichend reflektieren.
701 Ein weiteres Beispiel für die Distanzierung Birgits vom gewaltaffinen Ehrenkodex ist in Kapitel 8.2.2.1.2 Das Handlungsmuster Selbstbehauptung aufgeführt. Birgit erklärt der Interviewerin, dass die Anlässe, weswegen sie sich mit anderen Mitschülerinnen und Mitschülern geschlagen habe, kein Grund gewesen seien, Gewalt anzuwenden. Die Deutung einer Konfliktsituation als Kampf um Ehre stellt sie mit ihrer Äußerung grundsätzlich infrage. 702 Interview Birgit, Z. 212-221.
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8.4 Grenzen des Erklärungsmodells Eine kritische Diskussion der konzeptualisierten Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher dient der Bestimmung der Reichweite und der Offenlegung theoretischer Schwachstellen, die Ansatzpunkte für eine weitere Forschung auf diesem Gebiet darstellen können. Insgesamt lassen sich aus Sicht der Verfasserin drei wesentliche Kritikpunkte aufführen: 1.
2.
3.
Im Konzept der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher ist der Aspekt der Ethnizität nur unzureichend erforscht. Zwar wurde die Kategorie der Ethnizität, d.h. der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, in der Konzeptualisierung des Materials berücksichtigt, doch musste hier auf eine ausführliche Analyse aufgrund der Schwierigkeiten beim Sampling verzichtet werden.703 Die Untersuchung weiblicher Jugendgewalt im Kontext von Ethnizität ist ein bisher weitgehend unerforschter Bereich. Es gibt einen abweichenden Fall (Mediha), bei dem die dargelegte Dynamik der Gewaltkarriere nicht bestätigt werden konnte. Medihas Gewalthandeln unter Drogeneinfluss führt zu anderen situativen und biografischen Dynamiken, als bisher erläutert. Schließlich ergibt sich auf anerkennungstheoretischer Ebene das Problem der Differenzierung des Kampfes um Anerkennung vom Kampf um Ehre auf der Grundlage von Hegels Ausführungen.
Die Aspekte 2 und 3 werden im Folgenden ausführlicher diskutiert. 8.4.1 Ein abweichender Fall: Mediha In der Konzeptualisierung der Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher fällt Mediha auf, weil sie eine ausgeprägte Gewaltkarriere bis zum Zeitpunkt des Interviews aufweist. Einerseits sind typische Aspekte wie etwa das Selbstbild der Siegerin oder der gewaltaffine Ehrenkodex im Interview rekonstruierbar, andererseits wurde in der Analyse deutlich, dass Mediha vornehmlich im berauschten Zustand Gewalt ausübt. Medihas habitualisierte Kampfbereitschaft wird durch die Einnahme von psychoaktiven Substanzen wie Amphetamin, Cannabis und Kokain deutlich verändert. Bevor nun eine Kontrastierung der Kampfbereitschaft des Mädchens mit den Aspekten der Gewaltkarriere erfolgt, werden zunächst wichtige Eckpunkte ihrer Biografie vorgestellt. 703 Vgl. Kapitel 8.2.1 Biografische Abwärtsschübe.
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Medihas Lebensverlauf704 Mediha ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt und lebt in einer Einrichtung der Jugendhilfe. Sie absolviert einen Kurs in dem sie schulische Basisqualifikationen in einigen Grundfächern erwirbt, da sie über Jahre die Schule nicht oder nur vereinzelt besucht und keinen Abschluss erworben hat. Eine Vergewaltigung mit elf Jahren bildet eine deutliche Zäsur in Medihas Leben. Während sie sich vor diesem Ereignis als liebes und konformes Mädchen beschreibt, das gerne zur Schule gegangen sei, setzen mit der Vergewaltigung Leidensprozesse ein, die bis zum Zeitpunkt des Interviews anhalten. Mediha kommt nach dem traumatischen Erlebnis häufig nicht mehr nach Hause und verbringt die meiste Zeit in wechselnden Cliquen. Sie besucht kaum noch die Schule, stört den Unterricht und schlägt andere Mitschülerinnen und Mitschüler. Ein Jahr nach der Vergewaltigung, wird sie von der Schule verwiesen, zeitgleich beginnt sie Cannabis zu konsumieren. Die familiären Konflikte verschärfen sich zusehends. Als Mediha vom Vater geschlagen und erniedrigt wird, besteht sie auf eine Heimunterbringung, die in eine sogenannte Heimkarriere mündet. Sie kann sich an die Vielzahl der Jugendhilfemaßnahmen und Fremdunterbringungen nicht mehr erinnern. Auch die Schulen wechselt sie aufgrund der verschiedenen Maßnahmen häufig. Medihas Dasein ist seit dem zwölften Lebensjahr geprägt durch das Leben auf der Straße. Sie konsumiert zusammen mit Gleichaltrigen und Älteren Drogen (zunächst Cannabis, später raucht sie Amphetamin und schnupft Kokain) und pflegt wechselnde, sexuelle Kontakte mit den männlichen Cliquenmitgliedern. Den Drogenkonsum finanziert sie über Einbrüche, kleinere Diebstähle und Prostitution. Gewalt begleitet sie während dieser verlaufskurvenförmigen Entwicklung über die gesamte Zeitspanne vom elften bis zum 17. Lebensjahr: Sie wird mehrmals Opfer von gewaltförmigen Übergriffen und übt im berauschten Zustand selbst Gewalt gegen andere aus. Aufgrund ihrer devianten Aktivitäten hat sie bereits eine Reihe von Anzeigen erhalten und war bereits für einige Wochen im Jugendarrest. Aspekte des Selbstbildes „schlechtes Mädchen“ In Medihas erzählter Biografie ist deutlich eine verlaufskurvenförmige Entwicklung erkennbar. Diese bestimmt wesentlich ihr Selbstbild. Obwohl sie sich als Opfer schildert, das von Männern benutzt und herabgesetzt wird, relativiert sie diese Erfahrungen durch den Ausweis ihrer eigenen Täterschaft. Sie beschreibt 704 Aus Gründen des Datenschutzes werden genaue biografische Angaben, etwa zu Medihas Aufenthalten in Einrichtungen der Jugendhilfe oder dem Alter der Eltern etc., nicht genannt.
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sich als junge Frau, die nahe stehende Personen ausnutzt und manipuliert. Als die Interviewerin sie fragt, wie sie in die Einrichtung (in der sie sich zum Zeitpunkt des Interviews befindet) gekommen sei, berichtet sie: M: Ja, ich hab dann, äähm, (.) durch diese Freundin, die hab ich dann halt (..) ich wusst nich ob da Freundschaft ist, später, hab ich das ausgenutzt, ähm. Sie ist mir dann nur noch hinterher gerannt. (.) Ich hab sie erst eingeengt, dann hat sie mich auch so sehr geliebt, dann wollte sie bei mir sein dann hab ich sie ausgenutzt und auch mit so Geld und so. Was ich sehr bereut hab. Und dann hat sie ma irgendwann mir nich mehr verziehn, dann war ich ganz fertig, dann hab ich angefangen Internet zu Hause zu haben. War ich ganz alleine und dann hab ich Großstadtleute kennen gelernt und da hats angefangen mit Koks705 und so. Aber immer nur Männer. Ich war echt mies drauf da, ich war jedes Wochenende bei Männern. Auch ich hab manchmal mit Männern geschlafen nur dass sie mich im Arm nehmen und (…) dafür hab ich halt das Koks genommen, das ich das überstehe. "(I: Ja,)" M: Und dass sie ’n bisschen Zeit mit mir verbringen. Wenn ich Glück hatte wollten die mich, äh, wollten die mich noch bei sich haben oder ham mich direkt weggeschmissen so „Kanns jetzt gehen." Also, viele krasse Sachen passiert. (.) Und dann ähm, (.) irgendwann hab ich dann auch im Internet nen netten Älteren kennen gelernt (.) und der hat, und der sich in mich verliebt hat auch, ne? Und jeder Normale würd sagen kein normaler Mann würd sich in eine 17-Jährige, 30-Jährige, so verlieben, aber er hat gesehen dass eigentlich ein süßes Mädchen bin, und dass=ich viel zu schade für so was bin. Und dann hat er mich aus (1 SEK. UNV.) rausgebracht ey und so, ich hab mir eingebildet ich wär verliebt, aber (.) ich hab nur einmal geliebt, ich weiß es richtig selbst und er hat mich richtig verletzt, danach konnt ich keinen mehr lieben und (.) dann hab ich auch angefangen den auch auszunutzen. Ich hatte so Hass auf die Welt so, watt die mit mir gemacht haben (.) und auf Koks halt kann man eh alles so spiel// überspielen alles so und. Und der, der hat ja auch ne eigene Firma und so und ich=hab auch angefangen den auszunutzen und als ich gesehn hab es klappt, hab ich weiter mit Internet nur mit älteren Männern. Dann ging das weiter so und. Dann war ich irgendwann ganz kaputt. Also ich konnte psychisch gar nicht mehr.706
Mediha hat vor der Einweisung in die aktuelle Einrichtung bei einem wenige Jahre älteren Mädchen gelebt, das selbst drogenabhängig war und sie mit Kleidung und Geld versorgte. Sie schildert sich in dieser Beziehung als Täterin, die das Mädchen „einengt“ und ausgenutzt habe. Als die Beziehung zerbricht, lässt sich Mediha über das Internet auf Männer ein, die sie ausnutzen und ihr diejenige Verachtung entgegenbringen, die sie sich selbst (s.u.) gegenüber empfindet. Sie lernt einen 30-jährigen Mann kennen, der sich vermeintlich in sie verliebt und sie aus dem Prostitutionsmilieu herausholen will. Doch die Interviewte er705 Koks ist der umgangssprachliche Begriff für Kokain. 706 Interview Mediha, Z. 40.
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kennt, dass sie lediglich das Abhängigkeitsverhältnis zu wechselnden Männern eintauscht gegen die Abhängigkeit von diesem Mann. Trotz dieser Erkenntnis beschreibt sich Mediha als diejenige, die aufgrund einer enttäuschten Liebe andere Menschen kontrolliere und manipuliere. Sie charakterisiert sich als moralisch schlechtes Mädchen, die den Mann, der sie aus dem Prostitutionsmilieu retten will, ausnutzt und die sich weiterhin auf wechselnde Bekanntschaften einlässt. Zugleich kompensiert sie ihre Opfererfahrungen mit dem Konsum von Kokain. Medihas Selbst- und Weltverhältnis ist geprägt durch den alltäglichen Kampf ums Überleben auf der Straße, indem die Rolle der Täterin und des Opfers sehr schnell wechseln können. Sie beschreibt sich einerseits als Täterin, die andere manipuliert und ausnutzt und andererseits als Opfer, das in sexuellen Kontakten zum Objekt degradiert und ausgenutzt wird. Mediha schildert die ökonomischen und sozialen Abhängigkeitsverhältnisse, die mit ihrem Leben auf der Straße verbunden sind. Über den Ausweis der eigenen Täterschaft und ihren schlechten Absichten gegenüber anderen erlangt sie Momente der Kontrolle in ihrem durchweg durch heteronome Bedingungen bestimmten Leben. Einrichtungen der Jugendhilfe, aus denen sie häufig wegläuft, tauchen in ihrer Lebensperspektive als sichernde Instanz nicht auf. Die Selbstpräsentation als vermeintlich (moralisch) schlechtes Mädchen, das sich auf Prostitution einlässt und versucht, andere zu kontrollieren und zu manipulieren stellt ihre Form der imaginären Lösung zur Bewältigung ihrer durch Fremdbestimmung geprägten, verlaufskurvenförmigen Entwicklung dar. Als vermeintlich schlechtes Mädchen verschafft sie sich in den Abhängigkeitsverhältnissen, in denen sie sich bewegt, Freiräume, indem sie andere manipuliert und fremdbestimmt. Diese Form der biografischen Arbeit resp. Bewältigung ist prekär, denn das Selbstbild des vermeintlich schlechten Mädchens impliziert den grundlegenden Verlust von Selbstachtung. In der folgenden kurzen Äußerung bringt sie ihre Selbstverachtung zum Ausdruck. Die Interviewerin fragt sie, ob sie, wenn sie wählen könne, das Geschlecht wechseln würde. Die Interviewte antwortet: M: Junge! I: Warum? M: Ich mein, erstens ich hab auch früher, allein heutzutage die Männ// Männ// Männer, die Frauen verachten denk ich mal, kein Wunder, wenn ich ein Mann wär würd ich auch jede Frau verachten, glaub ich. Oder die, (.) mein Art viel mehr, (.) so wenn ich (.) manchmal. Ich wär gern Junge gewesen. Meine Mutter sagt auch irgendwie: „Du hätts’n Junge werden solln." (LACHT).707
707 Ebd. Z. 305-307.
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Mediha begründet ihre Geschlechterwahl mit der Verachtung, die sie für ihre „Art“ empfinde. Was sie genau damit meint, führt sie nicht aus, sondern unterbricht sich selbst mehrere Male. Sie beendet ihre Erörterungen, ohne diese verachtenswerten Aspekte zu benennen. Stattdessen bekräftigt sie, dass sie gern ein Junge geworden wäre. Die Wahl des anderen Geschlechts ist dabei zugleich verbunden mit dem Wechsel der eigenen Identität. Mediha wäre dann auf der Seite derer, die die Frauen verachten und missbrauchen, so wie sie selbst verachtet und missbraucht wurde. Medihas Verhältnis zu sich selbst ist gebrochen durch Selbstverachtung, die sich in verschiedenen selbstzerstörerischen Handlungsweisen ausdrückt. Sie ritzt sich die Haut auf, begibt sich in Abhängigkeitsverhältnisse zu anderen Männern, die sie ausnutzen, sie abwertend behandeln und ihre Selbstverachtung bestätigen. Ihr Selbstbild des „schlechten“ Mädchens unterscheidet sich diametral von dem Selbstbild der Siegerin der übrigen gewaltaktiven Mädchen, die ihren unbedingten Durchsetzungswillen demonstrieren und sich als in der sozialen Rangfolge unter Gleichaltrigen ganz oben sehen. Während sich die gewaltaktiven Interviewten als ehrenhafte Mädchen inszenieren, die in Konfliktsituationen bereits sind bis zum Äußersten zu gehen, um ihre weibliche Ehre zu verteidigen, präsentiert sich Mediha im Interview als moralisch schlechtes Mädchen, das seine Ehre bereits verloren hat. Divergente Bedingungen des Gewalthandelns Neben dem divergenten Selbstbild sind ebenso in der Konzeptualisierung der Bedingungen des Gewalthandelns grundlegende Unterschiede zwischen Mediha und den übrigen gewaltaktiven Interviewten zu erkennen. Sie schildert, dass sie im berauschten Zustand häufig aggressiv sei, an die Anlässe ihres Gewalthandelns kann sie sich nicht mehr erinnern. Auseinandersetzungen in ihrem Eskalationsverlauf kann sie ebenso nicht mehr wiedergeben, stattdessen berichtet sie von den ihr im Gedächtnis gebliebenen schemenhaften Eindrücken der Gewaltsituationen, wie der folgende Interviewauszug zeigt: M: Ja, Diskothek, ich kam besoffen, auf Teilen, auf Koks, alles (.) ich war auch kurz’n, kurzen Rock so um aufzufallen und so, (.) aber auch nich zu schlampig, so normal so halt, das war schon aufgestylt so. (.) Ähm, hat ‘n Kurde mit mir getanzt, und er hat ne deutsche Freundin gehabt (.) und Freunde von diesem Mädchen. Die schlagen Mädchen, also, wenn wir jetz, heutzutage, Libanesen, Türken, die schlagen jetz auch schon Mädchen, aber (.). Der hat halt ne Flasche auf mein Kopf geschmissen und ich bin dann vor Wut, äh, hab ich, Flasche meine Haare kaputt gemacht. Allein nur die Wut, und dann die Flasche so. (ATMET). Da hab ich gesehn, echt Blut gesehn wegen dem und da bin ich echt ausgetickt, hab ich mich umgedreht (.) auf den drauf.
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Ich hab nur noch so paar Gefühl//, also ich war auf, an dem Tag richtig weg. (.) Ich war, ma// man erinnert sich ja oft, ne?!"(I: Ja,)" M: Wenn man so, aber da war ich, (.) nur Bruchteil, so richtig weg war ich. (…) Hab ich nur gesehn wie er geblutet hat und ich bin auf den gesprung’n (.) Massenschläg//, da war’n ganz viel auf einmal. Und bei der Aussage später, ich wusste gar nich mehr was ich sagen sollte, ich weiß nur halt was ich wusste. (.) Und dann kam irgendwie (.) raus, dass der Typ gar nich mich angreifen wollte oder sonst irgendwas. War also alles voll, alles Missverständnis gewesen.708
In Medihas Schilderungen verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen den anderen und ihr selbst. Sie sieht beispielsweise Blut, aber es wird nicht ersichtlich, ob es sich um ihr eigenes Blut oder um das ihres Gegners handelt. Sie erklärt, dass sie einen „Blackout“ hatte. An die Verletzungen des Jungen erinnert sie sich. An anderer Stelle im Interview wird deutlich, dass sie ihm das Gesicht zerschnitten hat. Vor der Polizei und auch gegenüber der Interviewerin kann Mediha den Tathergang nicht mehr vollständig rekonstruieren. Mediha berichtet, dass sie im berauschten Zustand Schmerzen nicht oder nur vermindert wahrnimmt. Ihre Gewalthandlungen stehen nicht im Kontext der Situationsdeutung eines Konflikts als Kampf um Ehre. Stattdessen gibt sie an, bei der Einnahme von Kokain und Amphetamin dermaßen aggressiv zu werden, dass sie schon kleinere Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten zum „Ausrasten“ bringen. Im berauschten Zustand empfinde sie Hass. Zudem traue sie sich dann alles zu, auch, jemanden umzubringen. Doch sie kann nicht benennen, gegen welche Personen sich ihr Hass richtet. Sie führt sie ihre Aggressivität darauf zurück, dass es ihr nicht gut gehe und sie Angst habe allein zu sein. Diese Angst bildet für sie ein Motiv, ebenso im nicht berauschten Zustand zuzuschlagen. Sie erklärt der Interviewerin: M: Aber wenn ich merke dat die denken ich hab Angst, dann (.). Ich muss keinen was beweisen, aber manchmal dann muss ich wat beweisen für mich selbst so. Ich lass nich zu, dat jemand denkt ich hätte Angst. Und dann (.) geh ich auch direkt drauf und so.709
Diese Motive des Gewalthandelns unterscheiden sich deutlich von denen der Gruppe gewaltaktiver Mädchen. Während letztere sich gegen bestimmte Ehrverletzungen physisch behauptet und für ihre Ehre und die ihrer Bezugspersonen eintritt, sind die Motive Medihas nicht in diese Kategorie einordenbar. Stattdessen zeigt sich, dass die Einnahme psychoaktiver Substanzen ihre Wahrnehmung und Interpretation der Situation deutlich verändern. Die Anlässe für ein Gewalt708 Interview Mediha, Z. 88. 709 Ebd., Z. 116.
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handeln werden zum Teil nicht mehr erinnert. Stattessen scheint Angst ein grundlegendes Motiv für die Gewaltanwendung zu sein. Mediha kämpft offenbar gegen ihre eigenen übermächtigen Gefühle der Angst, der Angst vor dem Alleinsein. Es lässt sich lediglich vermuten, dass Medihas Kampf gegen die eigene Angst in engem Zusammenhang mit den traumatischen Erfahrungen der Vergewaltigung und ihrer sexuellen Ausbeutung steht. Eine vollständige Plausibilisierung dieses Zusammenhangs ist aufgrund des Materials nicht möglich. Mediha – wie auch den übrigen Interviewten – wurde viel Raum zur Äußerung eigener lebensgeschichtlicher Themen und Ereignisse gegeben. Über diese offene Interviewführung war es möglich, verlaufskurvenförmige Entwicklungen, wie sie sich bei Mediha, Andrea und Manuela zeigen, zu erfassen. Die Interviews weisen in langen Passagen die Leidenserfahrungen der Interviewten auf. Doch während Andrea oder Manuela ihre biografische Leidensgeschichte im Interview entfalten, gelingt dies Mediha nur in Ansätzen. An vielen Stellen im Interview brechen die Schilderungen ab, sie verliert häufig den roten Faden ihrer eigenen Erzählungen. Angesichts ihrer wechselvollen Biografie kann man annehmen, dass diese Erzähldynamik auf starke Traumatisierungen zurückzuführen ist. Damit ist jedoch die Grenze der biografietheoretisch ausgerichteten Arbeit erreicht. Psychologische Erklärungsmodelle, die insbesondere Erkenntnisse zu Traumatisierungen mit einbeziehen, bieten bei Fällen wie Mediha eine wichtige und sinnvolle Ergänzung. Sie werden an dieser Stelle jedoch nicht genutzt, weil das Forschungsdesign – z.B. in Bezug auf die Interviewführung, Fragestellungen etc. – nicht den Kriterien eines psychologisch basierten Erkenntnisinteresses genügt. Zu traumatischen Erfahrungen wie etwa Vergewaltigung, sexueller Missbrauch usf. wurden keine Fragen gestellt, um die Mädchen durch das Interview nicht zusätzlich psychisch zu belasten. Zudem fehlt eine Anamnese. Ein solches Vorgehen kann die Erkenntnisse zur Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher erweitern und sinnvoll ergänzen. Insgesamt offenbart der Fall Mediha, dass der enge Zusammenhang von Viktimisierung und Täterschaft, der charakteristisch ist für die Konzeptualisierung der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher, an seine Grenzen stößt. Nicht erfasst ist in der Dynamik des Kampfes um Anerkennung die Wirkung psychoaktiver Substanzen, welche die Wahrnehmung der Situation verzerren sowie die Bedingungen des Gewalthandelns im Kontext traumatischer Erfahrungen, in der Gewalt ein Mittel zum Kampf gegen die eigene Angst wird. Neben diesem abweichenden Fall, der eine kritische Perspektive auf die Konzeptualisierung des Kampfes um Anerkennung wirft, ergibt sich ein Problem für die theoretische Begründung des Kampfes um Ehre.
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8.4.2 Das Problem der anerkennungstheoretischen Begründung des Kampfes um Ehre Ein wesentliches Element in der Erklärung des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher ist der Umschlag von alltäglichen Anerkennenskonflikten, die den Akteuren in vielfältiger Weise in ihren jeweiligen Lebensbereichen begegnen, in einen Kampf um Ehre, indem sie ausschließlich um das Anerkennen ihrer Person als solcher kämpfen. Der Kampf um das Anerkennen der Person als solcher wurde von Hegel nur unzureichend theoretisch reflektiert. Um diesen Aspekt weiter auszuführen, wird zunächst der Anerkennensbegriff sowie der Kampf des Anerkennens im Unterschied zum Kampf um Ehre noch einmal skizziert, um auf dieser Grundlage das theoretische Problem des Kampfes um Ehre zu skizzieren. Der Begriff des Anerkennens ist weiter gefasst, als der Begriff der Ehre. Anerkennen ist ein intersubjektiver Prozess, in dem zwei natürliche Personen sich hinsichtlich bestimmter charakterlicher Aspekte wechselseitig bestätigen. Dabei ist dieses Verhältnis institutionell gerahmt.710 Das Anerkennen zwischen Personen(-gruppen) bezieht sich auf einen sogenannten evaluativen Gesichtspunkt. Das bedeutet, dass mit dem Begriff des Anerkennens nicht die wechselseitige Bestätigung der Personen als solche bezeichnet wird, sondern die Bekräftigung stets im Hinblick auf einen bestimmten sachlichen Aspekt erfolgt.711 Dieser sachliche Aspekt enthält immer auch ein Werturteil über die Person. Abgesehen von der sachlichen Dimension sind Anerkennensprozesse konstitutiv für das Selbstverhältnis der Person. Wechselseitiges Anerkennen bildet die Grundlage für die Identitätsbildung der Subjekte. Der Kampf des Anerkennens setzt ein, wenn einer Person die Anerkennung hinsichtlich eines bestimmten evaluativen Gesichtspunktes verweigert wird. Diese Erfahrung motiviert sie, in einen Kampf zu treten, der nicht lediglich den sachlichen Aspekt umfasst, sondern ebenso das Werturteil der Person zum Gegenstand hat. Von diesem Kampf des Anerkennens unterscheidet sich der von Hegel beschriebene Kampf um Ehre. In ihm werden der Sachaspekt sowie das mit ihm verbundene Werturteil ausgeblendet. Stattdessen will sich das beleidigte Subjekt in seiner Totalität, seinem unbedingten Durchsetzungswillen erweisen.712 Die Vorstellung der Selbstbehauptung einer Person in ihrer Totalität kollidiert jedoch mit den Ausführungen zur Anerkennensrelation, in der das Anerkennen einer Person als solcher nicht möglich ist. Stets stehen bestimmte Aspekt der Person im Fokus der wechselseitigen Bestätigung. Hegels Kampfes um Ehre befindet sich aus theoretischer Perspektive weder auf der Ebene des Anerken710 Vgl. Kapitel 6.2. Heuristik zum Kampf des Anerkennens. 711 Vgl. Kapitel 6.1 Die Anerkennungstheorie (Hegel). 712 Vgl. Hegel 1986, S. 145ff.
Grenzen des Erklärungsmodells
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nens hinsichtlich eines bestimmten evaluativen Gesichtspunktes noch auf der Ebene der Anerkennung als anthropologische Bedingung zur Konstitution von Selbstbewusstsein. Mit anderen Worten: Einerseits gründet der Kampf um Ehre auf der Kategorie der Anerkennung, andererseits unterscheidet er sich grundlegend von ihr. Dieser Widerspruch bildet eine Leerstelle in Hegels Ausführungen, der sich auch nicht unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Hegels Anerkennungstheorie in seinen frühen Schriften lösen lässt. Während der Kampf des Anerkennens in den Jenaer Systementwürfe III als einen Kampf um bestimmte sachliche Aspekte wie etwa Besitz, eine standesspezifische Lebensweise usf. konzeptualisiert wird, beschreibt der Kampf um Ehre in der Phänomenologie des Geistes den Kampf auf Leben und Tod, indem die Subjekte bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen, um sich der Anerkennung ihrer Person zu versichern.713 Das skizzierte theoretische Problem ist bedeutsam für die dargelegte materiale Theorie der Gewaltkarriere, die auf den Unterschied zwischen dem Kampf um Anerkennung hinsichtlich eines bestimmten evaluativen Gesichtspunktes und dem Kampf um Ehre Bezug nimmt. Der Umschlag von alltäglichen Konflikten und Kämpfen um das Anerkennen bestimmter sachlicher Aspekte zu einem grundsätzlichen Kampf um die Ehre realisiert sich in der Konzeptionierung des biografischen Abwärtsschubs. Er umfasst diejenigen krisenhaften Erlebnisse, in denen die Interviewten nicht nur die verweigerte Anerkennung hinsichtlich bestimmter Aspekte ihrer Person erfahren, sondern sich grundlegend im Anerkennen ihrer Person infrage gestellt sehen. Eine solche Bezugnahme ist daher kritisch zu beurteilen und begründungsbedürftig. In Kapitel 6.2 Heuristiken zum Kampf des Anerkennens wurden auf der Grundlage von Hegels Anerkennungstheorie sensibilisierende Konzepte entwickelt, die es erlauben, den Kampf um Ehre anhand der Interviews mit den gewaltaktiven Mädchen zu konzeptualisieren. Das Vorgehen wurde trotz der explizierten theoretischen Schwäche deshalb gewählt, weil sich im Material die grundlegende Haltung der Interviewten widerspiegelte, die Hegel in seinen Ausführungen zum Kampf um Leben und Tod in der Phänomenologie des Geistes beschreibt.714 In den Schilderungen von Gewaltsituationen trat die Haltung des unbedingten Durchsetzungswillens des beleidigten Subjekts deutlich hervor. Die Anlässe der physischen Auseinandersetzungen waren Beleidigungen oder Herabsetzungen, welche die Mädchen konsequent mit Gewalt ahndeten, ohne auf die eigene physische Unversehrtheit Rücksicht zu nehmen. Einzig die Wiederherstellung der verletzten Ehre steht im Mittelpunkt ihrer Erzählungen. In der Phä713 Vgl. Hegel 1986, S. 145ff.; Hegel 1987, S. 171ff. sowie ausführlich Kapitel 6. Theoretische Grundlagen und Heuristiken zum Kampf des Anerkennens. 714 Vgl. Hegel 1986, S. 145ff.
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nomenologie des Geistes schildert Hegel eine solche Haltung, in der die sich gegenüberstehenden Selbstbewusstseinsformen bereit sind bis zum Äußersten zu gehen, um sich ihrer Totalität zu erweisen. Von dieser Analogie ausgehend wurden sensibilisierende Konzepte entwickelt, die es ermöglichten das Material systematischer im Hinblick auf den Kampf um Ehre zu analysieren. Dabei spiegelt sich mit der Bezugnahme auf den Kampf um Ehre das bereits dargelegte theoretische Problem in der Theoriebildung der Gewaltkarriere wider: Einerseits kämpfen die Interviewten um die Ehre ihrer Person und demonstrieren ihren unbedingten Durchsetzungswille der von konkreten Konflikten und Anlässen abstrahiert. Andererseits ist dieser Kampf um Ehre eingebettet in triadische Anerkennensprozesse, in denen bedeutsame Andere die Mädchen als ehrenhafte Siegerinnen anerkennen. Damit setzt sich das theoretische Problem fort, dass der Kampf um Ehre einerseits Anerkennensprozesse voraussetzt und andererseits die Kategorie der Anerkennung sprengt, weil die Ehre von jeglichen sachlichen Aspekten des Konflikts abstrahiert. In der Konzeptualisierung der Theorie der Gewaltkarriere wurde diese theoretische Inkonsistenz in der Weise bearbeitet, dass der Kampf um Ehre durch das Konzept der Mimesis gerahmt wurde. Mithilfe des mimetischen Charakters sozialer Handlungen konnte gezeigt werden, dass aus der Perspektive der Interviewten Konflikte als Kampf um Ehre inszeniert werden.715 Im Rahmen dieser Inszenierung werden die Interviewten als ehrenhafte Siegerinnen von anderen Jugendlichen anerkannt. Gleichwohl kann den Interviewten selbst nicht eine intendierte Inszenierung unterstellt werden. Vielmehr wird über die nicht reflexiv zugängliche Inszenierung sozialer Sinn produziert, der das soziale Handeln der Akteure strukturiert. Der Kampf um Ehre ist insofern ein inszenierter Kampf, indem die Betroffenen über die Haltung des bedingungslosen Kampfes bestimmte Aspekte ihrer weiblichen Ehre verteidigen. Während mithilfe des Mimesis-Konzeptes eine Überbrückung der theoretischen Inkonsistenz am empirischen Material vollzogen wurde, bleibt der skizzierte theoretische Widerspruch zwischen dem Kampf um das Anerkennen und dem Kampf um Ehre ein bisher ungelöstes Problem in Hegels Anerkennungstheorie. Die Reflexion der Kritikpunkte zur entwickelten Theorie der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher führt zu der Frage, wie insgesamt die Güte der vorgestellten Arbeit beschaffen ist.
715 Vgl. Gebauer/Wulf 1998, S. 430ff.
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8.5 Zur Güte der Arbeit Im Gegensatz zu quantitativen Verfahrensweisen, die sich einheitlich an Kriterien wie etwa der Beurteilung der Objektivität, der Validität und der Reliabilität einer Studie orientieren, existieren in der qualitativen Sozialforschung keine einheitlichen Maßstäbe zur Beurteilung der Güte einer Untersuchung.716 Da sich diese Arbeit grundlegend an der Methode der Grounded Theory, insbesondere der pragmatistischen Variante von Strauss und Corbin orientiert, werden im Folgenden die Bewertungskriterien dieser Variante vorgestellt und für die Beurteilung der Qualität dieser Arbeit herangezogen. Strauss und Corbin erklären, dass für die Beurteilung von Grounded Theories grundsätzlich andere Kriterien als die der Reliabilität, Objektivität und Validität, herangezogen werden müssten.717 Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die zugrundeliegenden differenten Forschungslogiken. Während quantitative Erhebungen einer deduktiv-nomologischen Forschungslogik folgten und den Anspruch auf Objektivität und universeller Gültigkeit erheben würden, stehe bei der qualitativen Vorgehensweise die Prozesshaftigkeit sozialer Wirklichkeitsausschnitte im Vordergrund. Die Beurteilung einer Forschungsarbeit müsse die „Qualität der Beziehungen zwischen Theorie und Daten unter besonderer Berücksichtigung der aktiven Rolle der Forschenden“718 zum Gegenstand haben. Im Gegensatz zu den Gütekriterien für quantifizierende Untersuchungen stellen die Qualitätsindikatoren nicht nur Prinzipien zur Beurteilung der Güte der gebildeten Theorie dar, sondern sie sind ebenso Hilfsmittel zur Erfüllung der aufgeführten Kriterien. Die Autoren konstatieren, dass eine Forschungsarbeit folgende Komponenten des Forschungsprozesses ausweisen sollte: „Kriterium 1: Wie wurde die Ausgangsstichprobe ausgewählt? Aus welchen Gründen? Kriterium 2: Welche Hauptkategorien wurden entwickelt? Kriterium 3: Welche Ereignisse, Vorfälle, Handlungen usw. verweisen (als Indikatoren) – beispielsweise – auf diese Hauptkategorien? Kriterium 4: Auf der Basis welcher Kategorien fand theoretisches Sampling statt? Anders gesagt: wie leiteten theoretische Formulierungen die Datenauswahl an? In welchem Maße erwiesen sich die Kategorien nach dem theoretischen Sampling als nutzbringend für die Studie? Kriterium 5: Was waren einige der Hypothesen hinsichtlich konzeptueller Beziehungen (zwischen Kategorien) und mit welcher Begründung wurden sie formuliert und überprüft? 716 Vgl. Steinke 2005, S. 319f. 717 Vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 216ff. 718 Strübing 2008, S. 61.
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Kriterium 6: Gibt es Beispiele, daß Hypothesen gegenüber dem tatsächlich wahrgenommenen nicht haltbar waren? Wie wurde diesen Diskrepanzen Rechnung getragen? Wie beeinflussten Sie die Hypothesen? Kriterium 7: Wie und warum wurde die Kernkategorie ausgewählt? War ihre Auswahl plötzlich oder schrittweise, schwierig oder einfach? Auf welchem Boden wurden diese abschließenden analytischen Entscheidungen getroffen?“719
Die Kriterien dienen insgesamt der Beurteilung des zyklisch-iterativen Forschungsprozesses und nicht nur der Bewertung des Ergebnisses einer Untersuchung. Die vorgestellten Maßstäbe zur Erfassung der Qualität einer Grounded Theory beziehen sich zum einen auf das theoretische Sampling (Kriterien 1 und 4) und zum anderen auf die generierte Theorie selbst (Kriterien 2, 3 sowie 57). Beide Aspekte werden in Bezug auf die generierte Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher diskutiert. Reflexionen zur Stichprobe und Stichprobenziehung (Kriterien 1 und 4) „Kriterium 1: Wie wurde die Ausgangsstichprobe ausgewählt? Aus welchen Gründen?“ Kriterium 4: Auf der Basis welcher Kategorien fand theoretisches Sampling statt? Anders gesagt: wie leiteten theoretische Formulierungen die Datenauswahl an? In welchem Maße erwiesen sich die Kategorien nach dem theoretischen Sampling als nutzbringend für die Studie?“720
Beide Kriterien fokussieren die Wahl der Stichprobe und deren theoretische Begründung im Hinblick auf die gewählte Forschungsfragestellung. Die Überlegungen zur Auswahl von Interviewpartnerinnen, zur Stichprobengröße und Zusammensetzung sind in Kapitel 7.4.1 Theoretische Fallauswahl und Sample erörtert. Eine Realisierung des theoretischen Samplings, wie sie Glaser und Strauss postulieren, konnte aufgrund der Schwierigkeiten bei der Rekrutierung der Interviewpartnerinnen nicht durchgeführt werden. Daher fand die von den Autoren vorgeschlagene pragmatische Variante des theoretischen Samplings innerhalb des erhobenen Samples Anwendung. Einige wichtige Kriterien für die Stichprobenziehung konnten dennoch realisiert werden, z.B. die Befragung von gewaltbereiten Mädchen und „Aussteigerinnen“. Die Grenzen des Verfahrens wurden ebenfalls benannt. So konnte die Kategorie der Ethnizität beispielsweise nicht systematisch berücksichtigt werden.
719 Strauss/Corbin 1996, S. 217. 720 Ebd., S. 217.
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Reflexionen zum Prozess der Theoriebildung (Kriterien 2,3, 5 und 6) „Kriterium 2: Welche Hauptkategorien wurden entwickelt? Kriterium 3: Welche Ereignisse, Vorfälle, Handlungen usw. verweisen (als Indikatoren) – beispielsweise – auf diese Hauptkategorien? Kriterium 5: Was waren einige der Hypothesen hinsichtlich konzeptueller Beziehungen (zwischen Kategorien) und mit welcher Begründung wurden sie formuliert und überprüft? Kriterium 6: Gibt es Beispiele, daß Hypothesen gegenüber dem tatsächlich wahrgenommenen nicht haltbar waren? Wie wurde diesen Diskrepanzen Rechnung getragen? Wie beeinflussten Sie die Hypothesen?“721
Wesentlich für eine Beurteilung der Güte einer Grounded Theory ist die Transparenz in Bezug auf die gebildeten Kategorien. Glaser und Strauss fordern daher, die Haupt- resp. Achsenkategorien nicht nur als Ergebnis der Arbeit vorzustellen, sondern in ihrer Entwicklung nachzuzeichnen. Ein wichtiges Hilfsmittel, insbesondere zur Darstellung der Verbindungen der gebildeten Kategorien untereinander ist die Hypothesenbildung. Die Hauptkategorien der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher sind in Kapitel 8.1 Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere aufgeführt. Zentral für die Gewaltkarriere sind die Aspekte biografische Abwärtsschübe, die Kampfbereitschaft mit ihren Dimensionen des leiblichen Modus der Kampfbereitschaft und dem Handlungsmuster der Selbstbehauptung, der gewaltaffine Ehrenkodex, das Selbstbild der Siegerin sowie der Kampf des Anerkennens. Für die Ausstiege der Gewaltkarriere konnten zwei Aspekte konzeptualisiert werden, die unterschiedliche biografische Situationen und Handlungsmuster der Interviewten zusammenfassen. Zum einen lässt sich der Ausstieg als eine Bemühung um Selbstkontrolle erklären. Hier distanzieren sich die Interviewten vom Gewalthandeln und sind bestrebt, ihre Wut und habitualisierte Kampfbereitschaft in Konfliktsituationen zu kontrollieren. Zum anderen war das Moment der Stabilisierung alternativer Handlungsmuster in Konfliktsituationen erkennbar, über die es den Interviewten gelingt, einen Ausstieg aus der Gewaltkarriere zu vollziehen. Zur Plausibilisierung des Prozesses der Theorieentwicklung wurde auf das Hilfsmittel der Thesenbildung zurückgegriffen. Mithilfe einiger zentraler Thesen, die für die Konzeptualisierung der Grounded Theory entscheidend waren, wurde der Auswertungsprozess exemplarisch vorgestellt.722 Dabei diente die Hypothesenbildung einerseits der Darstellung kategorialer Zu-
721 Ebd., S. 217. 722 Vgl. insbesondere Kapitel 8.2 Bedingungen der Entstehung und Expansion der Gewaltkarriere und Kapitel 8.3. Ausstiege aus der Gewaltkarriere.
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sammenhänge, die an Interviewauszügen plausibilisiert wurden723 und andererseits der Überprüfung der Reichweite der gebildeten Kategorien724. Auf eine Darstellung der gesamten Konzeptualisierung wurde verzichtet, da dies zu Lasten der Stringenz und Lesbarkeit der Arbeit gegangen wäre. Darüber hinaus wurden bestimmte Merkmale des Materials (z.B. die häufig wiederkehrende Semantik der Ehre) oder Irritationen im Forschungsprozess (z.B. die häufige Thematisierung von der Abkehr gewaltbereiten Verhaltens) vorgestellt und im Kontext des Forschungsprozesses verortet (z.B. die Entwicklung der Heuristik des Kampfes um Ehre oder die Entwicklung von Kategorien zu Ausstiegen aus der Gewaltkarriere). Reflexionen zur Kernkategorie im Prozess der Theoriebildung (Kriterium 7) „Kriterium 7: Wie und warum wurde die Kernkategorie ausgewählt? War ihre Auswahl plötzlich oder schrittweise, schwierig oder einfach? Auf welchem Boden wurden diese abschließenden analytischen Entscheidungen getroffen?“725
Die Kernkategorie bezeichnet in der Grounded Theory den zentralen Baustein für die Erklärung des erforschten sozialen Phänomens. In der Kernkategorie drückt sich die grundsätzliche (theoretische) Perspektive auf den Forschungsgegenstand aus. Wie mit dem Objektiv eines Fotoapparats werden einige Aspekte des fokussierten (Forschungs-)Gegenstands besonders deutlich hervorgehoben, andere Bereiche hingegen verschwimmen in ihrer Kontur. Für den Forscher resp. die Forscherin ist es wichtig, die Kernkategorie (bzw. die gewählte Linse) als solche zu reflektieren, denn durch sie wird die Plausibilität und die Reichweite der gebildeten Grounded Theory sichtbar. Die in dieser Arbeit zugrunde gelegte Kernkategorie ist die der Gewaltkarriere. In Kapitel 8.1 Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere ist die Wahl dieser Kernkategorie begründet. Wesentliches Argument für diese Entscheidung ist zum einen die Erfassung der biografischen Dynamik des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher, die z.B. auch Aussagen darüber erlauben, inwieweit das Gewalthandeln adoleszente Aspekte aufweist. Darüber hinaus erlaubt die Kernkategorie der Gewaltkarriere eine Verknüpfung der biografischen Entwicklung mit der situativen Konfliktdynamik im Kontext der Peergroup. Beide Aspekte, die situative und die biografische Dynamik, ermöglichen den verstehenden Nach723 Vgl. etwa die Thesen zum biografischen Abwärtsschub anhand des Fallbeispiels Eve (vgl. Kapitel 8.2.1 Biografische Abwärtsschübe). 724 Vgl. etwa die Ausführungen zur überraschenden Erzählung Simones in Kapitel 8.2.2.1 Der leibliche Modus der Kampfbereitschaft. 725 Strauss/Corbin 1996, S. 217.
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vollzug der allgemeinen Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher, ohne den Prozesscharakter des Gewalthandelns auszublenden. Neben Kriterien zur Beurteilung des Forschungsprozesses führen Strauss und Corbin Kriterien zur Begutachtung der empirischen Verankerung der entwickelten Theorie auf. Um Wiederholungen zu vermeiden, werden nur diejenige Gütekriterien vorgestellt und reflektiert, die nicht bereits in der Aufstellung von Glaser und Strauss enthalten sind. Strauss und Corbin fordern die Reflexion der konzeptuellen Dichte der generierten Theorie. Hier sollen die Forscherinnen und Forscher die Konzeptualisierung der Kategorien mithilfe des Kodierparadigmas offenlegen. Die vorgestellten Kategorien sollten der Theorie ihre „Erklärungskraft“726 verleihen. Die Problematik des von den Autoren favorisierten Kodierparadigmas wurde in Kapitel 7.3.2 Kritik an der Grounded Theory in Bezug auf seine kausalistischen Annahmen thematisiert. Deshalb wählte die Verfasserin eine alternative Vorgehensweise: die Arbeit mit sensibilisierenden Konzepten, dargestellt in Kapitel 7.3.3. Die Kategorien wurden mithilfe der theoretisch begründeten Verwendung sensibilisierender Konzepte generiert und deren Erklärungskraft am Material illustriert. Darüber hinaus diente die Diskussion des abweichenden Falls Mediha der Bestimmung der Grenzen der entwickelten Theorie der Gewaltkarriere.727 Wesentlich für die Überprüfung der empirischen Verankerung ist die Frage, ob die generierte Theorie ausreichende Variationen enthält. Die gegenstandsverankerte Theorie sollte nicht lediglich ein Phänomen erklären können, sondern nach der „Bandbreite der Variationen und nach der Spezifität beurteilt werden“728. Die Bandbreite des Phänomens weiblicher Jugendgewalt lässt sich vor allem in der Prozessdynamik des Kampfes um Anerkennung darlegen. Erfasst wurde nicht nur die physische Gewaltanwendung, sondern ebenso Verhaltensweisen wie Schulabsentismus, Diebstahl etc. sowie Prozesse der Viktimisierung und deren subjektive Bewältigung durch die betroffenen Mädchen.729 Strauss und Corbin fordern den Einbezug der Randbedingungen des untersuchten Phänomens, um mit der generierten Grounded Theory nicht lediglich auf der mikrosoziologischen Ebene zu verbleiben, sondern auch „makroskopische Quellen“730 wie etwa ökonomische Bedingungen, soziale Bewegungen usf. zu nutzen. Die Überschreitung der mikrosoziologischen Ebene gelingt mithilfe der Anerkennungstheorie und des biografieanalytischen Forschungsansatzes. Beide Aspekte enthalten immer schon die Bezugnahme auf die institutionellen Rahmen726 Ebd., S. 219. 727 Vgl. Kapitel 8.4.1 Ein abweichender Fall: Mediha. 728 Strauss/Corbin 1996, S. 219. 729 Vgl. Kapitel 8.1 Überblick zur Theorie der Gewaltkarriere sowie 8.2.4 Die Dynamik der Gewaltkarriere: der Kampf des Anerkennens. 730 Strauss/Corbin 1996, S. 219.
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bedingungen, in denen sich die Individuen bewegen.731 Abschließend sollte die Beurteilung der Arbeit die Relevanz der theoretischen Ergebnisse umfassen. Mit anderen Worten: Welcher Erkenntnisgewinn und welche Konsequenzen sind aus der Darstellung der generierten Theorie entnehmbar?732 Die gebildete materiale Theorie lässt sich in den Bereich der Grundlagenforschung einordnen. Angesichts des ausgewiesenen Defizits zur Erforschung weiblicher Jugendgewalt733 wurde das Vorgehen gewählt, zunächst das Phänomen weiblicher Jugendgewalt zu beleuchten. Inwieweit die Forschungsergebnisse fruchtbar gemacht werden können für erziehungswissenschaftliche Perspektiven, etwa im Hinblick auf Maßnahmen zur Gewaltprävention und -intervention, ist Gegenstand des folgenden Ausblicks in Kapitel 9.
731 Vgl. Kapitel 6.1.2 und 6.2.2 Anerkennen im System der Institutionen sowie Kapitel 7.2.2 Die Rekonstruktion des Gewalthandelns im biografischen Kontext. 732 Vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 220. 733 Zusammenfassend vgl. Kapitel 5 Fazit der Literaturanalyse.
9 Zusammenfassung der Ergebnisse und erziehungswissenschaftlicher Ausblick
Zusammenfassung der Ergebnisse Insgesamt wurde eine qualitative Studie vorgelegt, in der Mädchen und junge Frauen im Alter von 13 bis 21 Jahren im Hinblick auf ihre Lebenssituation, ihr Gewalthandeln sowie ihre biografische Entwicklung interviewt wurden. Ziel eines solchen Vorgehens ist die Rekonstruktion der Bedingungen des Gewalthandelns weiblicher Jugendlicher. Dabei begründet sich die Wahl von Interviews zur Erforschung des Gewalthandelns über das zugrunde gelegte handlungstheoretische Verständnis: Soziales Handeln realisiert sich in gemeinsamen Situationsdeutungen der Akteure, die beeinflusst sind durch die leibliche Verfasstheit und biografischen Vorerfahrungen.734 Die Erforschung der Bedingungen des (Gewalt-)Handelns ist notwendig gebunden an die Rekonstruktion der Situationsdeutung der Akteure sowie ihre biografischen Erfahrungen. Die dargelegte Bestimmung von (Gewalt-) Handlungen realisiert sich in der Datenerhebung und -auswertung über zwei Ebenen: Zum einen steht die Erhebung und Analyse situativer Gewalterzählungen resp. -erfahrungen im Mittelpunkt der Untersuchung. Zum anderen wurde die Biografie der Interviewten im Hinblick auf das Gewalthandeln sowie bestehende Ressourcen und Leidensprozesse rekonstruiert. Beide methodische Zugänge bieten ergänzende Perspektiven, die im Konzept der Gewaltkarriere zusammengeführt wurden. Grundlegend für die Entstehung und Expansion der Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher ist die Erfahrung eines biografischen Abwärtsschubs, der Prozesse von Viktimisierungen und Herabsetzungen umfasst. Im Zentrum dieser biografischen Krise steht der institutionelle Anerkennungsverlust in einem für die Betroffenen relevanten Lebensbereich. Der biografische Abwärtsschub lässt sich als ein biografischer Prozess beschreiben, in dem die Mädchen den grundlegenden Verlust des Anerkennens ihrer Person in einer ohnehin prekären Lebenssituation erfahren, ohne dass sie einen Weg sehen, ihre Lebenssituation zu verändern. Den Betroffenen fehlen Spielräume für alternative Anerkennensprozesse sowie Möglichkeiten der Partizipation und der Veränderung bestehender institutioneller Regeln und Routinen. Die 734 Vgl. Kapitel 7.2 Der methodische Zugang zum Gewalthandeln.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zusammenfassung der Ergebnisse und erziehungswissenschaftlicher Ausblick
Interviewten kämpfen um das Anerkennen ihrer Person und zwar nicht nur, weil ihnen Anerkennung auf eklatante Weise entzogen wurde, sondern weil sie zudem keine Möglichkeiten sehen, die in Institutionen gesetzten Regeln und Anerkennensprozesse selbst zu verändern. Stattdessen treten die Betroffenen in einen Kampf um das Anerkennen ihrer Person, indem sie bestehende institutionelle Regeln brechen, also z.B. die Schule verweigern, Schuleigentum beschädigen, von zu Hause weglaufen, den Eltern Geld entwenden, etc. Die Ausübung von Gewalt im Peergroup-Kontext nimmt in diesem Kampf eine zentrale Stellung ein, da die Mädchen sich in ihm als ehrenhafte Siegerinnen inszenieren können. Diese Inszenierung ist den erlittenen Viktimisierungen und Anerkennensverlusten diametral entgegen gestellt. Das Anerkennen als ehrenhafte Siegerin muss jedoch situativ stets aufs Neue hergestellt werden, so dass sich eine Dynamik von biografischem Abwärtsschub und gewaltsamer Vergeltung bei geringfügigen Anlässen im Peergroup-Kontext entwickelt, die letztlich zu einer Expansion der Gewaltkarriere führt. Die von den Betroffenen vollzogenen Ausstiege aus der gewaltförmigen Konfliktbewältigung ließen sich dann rekonstruieren, wenn ihnen Hilfestellungen gewährt wurden, die ihnen institutionelle Spielräume alternativer Anerkennensprozesse erschlossen. Des Weiteren eröffnete der zukünftige Übergang ins Erwachsenenleben den Wunsch nach einer konformen Bewältigung von Konflikten, um die Chance auf eine gesicherte Erwachsenenexistenz zu erhalten. Institutionelle Spielräume des Anerkennens, verbunden mit dem Streben nach Verhaltenskonformität, eröffnen den Interviewten neue Möglichkeiten der Partizipation in wichtigen Lebensbereichen. Die Teilhabe an alternativen Anerkennensprozessen in Institutionen, in denen den Interviewten zuvor auf basaler Ebene Anerkennung verweigert wurde, führt zu einer grundlegend differenten Situationseinschätzung von Konflikten und Problemen. Die Beurteilung sozialer Situationen als Kampf tritt zurück. Stattdessen stehen Interessenlagen, wie etwa das Absolvieren einer Ausbildung oder ein erfülltes Beziehungsleben im Vordergrund. Erziehungswissenschaftlicher Ausblick Die skizzierten Aspekte des Ausstiegs bieten Anschlussmöglichkeiten für die Frage nach dem erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisgewinn der Arbeit. Die dargelegten Forschungsergebnisse lassen sich im Hinblick auf Maßnahmen zur Gewaltprävention und -intervention diskutieren. Der Begriff Prävention leitet sich aus dem Lateinischen ab und wird mit „Vorbeugung“ oder auch „Verhü-
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tung“ übersetzt.735 Gewaltprävention umfasst daher Maßnahmen und Methoden zur „Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung von Kriminalität und Gewalt“736. Dabei wurde aus dem medizinischen Bereich die Unterscheidung von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention in den Fachdiskurs zur Jugendgewaltprävention übernommen.737 Die primäre Prävention zielt auf die Verhütung von Gewalt. Hier sind insbesondere Maßnahmen und pädagogisch-psychologische Programme zu nennen, die emotionale und soziale Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen fördern und gewaltfreie Formen der Konfliktaustragung forcieren, etwa durch Stärkung des Selbstwertgefühls, der Empathie oder der Stärkung von Kooperations- und Kommunikationskompetenzen. Über diese Formen personenzentrierter Trainingsmaßnahmen hinaus fokussiert die primäre Gewaltprävention kontextbezogene Strategien und Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen aus belasteten Familien. Hierzu zählen politische Anstrengungen zur Optimierung der Bildungschancen benachteiligter Kinderund Jugendlicher und die verstärkte Integration ethnischer Minderheiten.738 Sekundäre Maßnahmen der Gewaltprävention umfassen pädagogische Hilfestellungen für Risikogruppen, d.h. potenzielle Gewalttäter und -täterinnen sowie mögliche Gewaltopfer. Ziel ist es, die bestehende Gefährdung abzuwenden, etwa durch Selbstsicherheitstrainings.739 Die tertiäre Gewaltprävention befasst sich mit der pädagogischen Intervention bei Gewalttätern resp. -täterinnen und Opfern. Ziel ist die Vermeidung weiterer Gewalttaten oder Opfererfahrungen. In diesen Bereich gehören pädagogische sowie therapeutische Unterstützungen sowie Arbeitsaufgaben und schließlich der Jugendarrest.740 Abgesehen von der unterschiedlichen Reichweite resp. den verschiedenen Zielen der Gewaltprävention lassen sich vorbeugende Maßnahmen und Interventionen dahingehend unterscheiden, ob sie personenzentrierte oder kontextzentrierte Programme umfassen. Personenzentrierte Programme zielen auf eine Beeinflussung spezifischer Verhaltensweisen und individueller Kompetenzen, während kontextzentrierte Präventionsmaßnahmen eine Veränderung der Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen herbeizuführen versuchen.741 Während männliche Jugendliche über Gewaltausübung Formen männlicher Dominanz und Stärke präsentieren können, Gewalt in diesem Zusammenhang also eine identitätsstiftende Funktion einnimmt, verstoßen weibliche Gewalttäterin735 Vgl. Rosner 2008. 736 Wahl/Hees 2009, S. 111. 737 Vgl. Caplan 1964. 738 Vgl. Wahl/Hees 2009, S. 111. 739 Vgl. ebd. 740 Vgl. ebd. 741 Vgl. Hurrelmann/Settertobulte 2000, S. 137.
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nen sowohl gegen die etablierte Rechts- als auch Geschlechterordnung.742 Gewaltausübung durch Mädchen und junge Frauen ist – im Gegensatz zu männlicher Jugendgewalt – gerade nicht als Zurschaustellung weiblicher Dominanz und Selbstbehauptung im gesellschaftlichen Kontext anerkannt. Darüber hinaus weisen gewaltaktive Mädchen und junge Frauen ein wesentlich höheres Maß an Viktimisierung und Missbrauch auf als ihre gewaltbereiten männlichen Altersgenossen.743 In den dargelegten Ergebnissen zur Gewaltkarriere weiblicher Jugendlicher zeigt sich, dass die Interviewten erst dann zuschlagen, wenn sie aus ihrer Perspektive nichts mehr zu verlieren haben. Sie berichten von desolaten Lebenssituationen, von Stigmatisierungen und Herabsetzungen der eigenen Person, die sie letztlich motiviert, in einen gewaltförmigen Kampf um das Anerkennen der eigenen Person zu treten. Dabei ergibt die Rekonstruktion der Lebensläufe, dass sich aus dem Kampf um das Anerkennen der eigenen Person eine Dynamik entwickelt, in der institutionelle Sanktionen die Ausübung von Gewalt und devianten Verhaltensweisen lediglich verstärken. Sanktionen wie Ausschluss vom Schulunterricht, Jugendarreste oder Prozesse der Fremdunterbringung führen nicht dazu, dass die Betroffenen ihren Kampf aufgeben. Ganz im Gegenteil: Aus ihrer Perspektive bilden institutionelle Sanktionen eine weitere Bestätigung ihrer Einschätzung des Kampfes und fordern und fördern ihre Kampfbereitschaft nur. In dieser biografischen Entwicklung weisen die Betroffenen eine dominante Handlungsorientierung des Kampfes auf, die sich auf weite Bereiche ihrer Lebenswelt erstreckt und sich nur schwer aufheben oder „irritieren“ lässt. Diese Ergebnisse verweisen auf die Notwendigkeit geschlechtssensibler Gewaltprävention. Im Bereich primärer Prävention, die darauf abzielt, dass Gewalt gar nicht erst entsteht, lassen sich aus den dargelegten Ergebnissen insbesondere solche Präventionsprogramme hervorheben, die auf eine Stärkung partizipativer Strukturen in den Institutionen Familie, Schule sowie den Einrichtungen der Jugendhilfe gerichtet sind. Möglichkeiten der Mitbestimmung in institutionellen Kontexten stellen einen Weg der Prävention dar. Zwar können auf diese Weise nicht unbedingt Anerkennensverluste insgesamt vermieden werden ࡳ dies ist aus pädagogischer Perspektive gar nicht möglich ࡳ aber zumindest können pädagogische Räume alternativer Anerkennensprozesse bereitgestellt werden, die den Betroffenen Ressourcen und Kompensationsmöglichkeiten für erlittene Viktimisierungen bieten. Ein institutionelles Klima, indem Heranwachsende die Chance erhalten, eigene Interessen und Anliegen – auch in Konflikten – einzubringen, birgt das Potenzial, auftretende Anerkennenskonflikte im institutionellen Rahmen bewältigen zu können. Wesentlich für die primäre Gewaltprä742 Vgl. Meuser 2003, S. 49; vgl. Kapitel 4.2.2 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität. 743 Vgl. Artz 2004, S. 155.
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vention im Bereich weiblicher Jugendgewalt ist die Schaffung institutioneller Kontexte, in denen Mädchen und junge Frauen über Möglichkeiten der Mitbestimmung alltägliche Anerkennenskonflikte produktiv bewältigen können. Für den Bereich Schule sind Bemühungen zu nennen, die auf programmatischer sowie organisatorischer Ebene eine stärkere Beteiligung von Schülerinnen und Schülern realisieren.744 Dabei zeigen Studien zur Schulkultur, dass insbesondere die Realisierung der Partizipation von Heranwachsenden auf organisatorischer Ebene ein bisher ungelöstes Problem darstellt.745 Auf der Ebene der Familienerziehung gibt es Programme, welche die Erziehungskompetenz der Eltern stärken, indem sie den Rechten von Kindern und Jugendlichen Geltung verschaffen.746 Im Bereich der Jugendhilfe spielen speziell Angebote der offenen Jugendarbeit eine wichtige Rolle. Sie stellen Heranwachsenden Spiel- und Erlebnismöglichkeiten zur Verfügung und können aufgrund ihrer Trennung von den Institutionen wie Familie und Schule alternative soziale Ressourcen und Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung aufbieten.747 Die Schaffung institutioneller Räume, in denen Heranwachsenden Möglichkeiten der Mitbestimmung eingeräumt werden, benötigen finanzielle und gesetzliche Rahmenbedingungen. Aus dieser Perspektive ist die Bereitstellung ausreichender finanzieller und sozialer Ressourcen durch die Bildungs- und Sozialpolitik eine Voraussetzung für die Gewaltprävention. Im Bereich der sekundären Gewaltprävention, d.h. der pädagogischen Hilfestellung für potenzielle Opfer- und Täterinnengruppen, sind beispielsweise soziale Trainingsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche zur Verbesserung sozialer Kompetenzen zu nennen. Diese Trainingsmaßnahmen sind im Hinblick auf die Gruppe potenziell gewaltaktiver Mädchen, die zuvor Mobbing-Opfer waren, von Bedeutung. Beispielsweise zeigt sich in den Erzählungen der Aussteigerinnen Manuela und Birgit, dass sie über Jahre der Schule gemobbt wurden. Gewalt bot ihnen eine Option der „Befreiung“ vom Opferstatus, indem sie nun selbst Gewalt gegen mögliche Beleidiger ausübten. In diesen Konstellationen können soziale Trainingsmaßnahmen für Lerngruppen insgesamt präventive Effekte erzielen, etwa indem sie allen Klassenkameraden gleichermaßen alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten aufzeigen und soziale Kompetenzen im Umgang mit Auseinandersetzungen vermitteln.748 Evaluationen zeigen jedoch, dass die Wirkung sozialer Trainingsmaßnahmen zeitlich begrenzt ist, wenn mit dem Kompetenztraining nicht auch eine Veränderung institutioneller Kontexte einhergeht.749 Insofern ist auch im Bereich der sekundären Prävention eine Aus744 Vgl. Helsper/Lingkost 2002; Helsper 2001. 745 Vgl. zusammenfassend Bettmer 2009. 746 Wie etwa das Konzept „starke Eltern – starke Kinder“ (vgl. Honkanen-Schoberth 2005). 747 Vgl. Wahl/Hees 2009, S. 140 f. 748 Vgl. Olweus 2004. 749 Vgl. Gollwitzer 2005, S. 276f.
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blendung institutioneller Kontexte und die ausschließliche Konzentration auf personenzentrierte Maßnahmen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive nicht sinnvoll. Pädagogische Interventionen tertiärer Gewaltprävention fokussieren die Vermeidung weiterer Gewaltausübung sowie Opfererfahrungen. In den Erzählungen der interviewten Aussteigerinnen ließen sich Hinweise finden, dass einige gewaltaktiven Mädchen sich zwar um einen Ausstieg aus der Gewaltkarriere bemühten, jedoch Schwierigkeiten hatten ihre Wut in Konfliktsituationen unter Kontrolle zu bringen.750 Obwohl die Betroffenen den Wunsch äußerten, sich vom eigenen Gewalthandeln zu distanzieren, führten Herabsetzungen und grundlegende Infragestellungen ihrer Person dazu, dass sie die Kontrolle über sich verloren und erneut zuschlugen. Ihre Bemühungen, in Konfliktsituationen keine Gewalt mehr auszuüben, wurden konterkariert durch ihre habitualisierte Kampfbereitschaft, die in Konflikten zu überschießenden Wutgefühlen und einer Fokussierung auf das bevorstehende Kampfgeschehen führen. Die gezielte Bewältigung habitualisierter Kampfbereitschaft stellt daher einen wichtigen Aspekt dar, der im Bereich weiblicher Gewaltprävention eine sinnvolle Ergänzung zu weiteren pädagogischen Hilfestellungen bildet. Konkrete Maßnahmen zur Bewältigung des Wutgefühls in Konfliktsituationen bereiten auf den Ausstieg aus der Gewaltkarriere vor und schützen zudem die Betroffenen davor, die empfundene Wut in Form von autoaggressiven Handlungen gegen sich selbst zu richten. Für den Ausstieg aus der Gewaltkarriere reichen jedoch pädagogische oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen zur Bewältigung habitualisierter Kampfbereitschaft nicht aus. Diese Arbeit belegt, dass eine dauerhafte Distanzierung vom Gewalthandeln lediglich über eine Verbesserung der desolaten Lebenssituation möglich ist, wenn Ausstiege aus der Gewaltkarriere nicht in prekäre Strategien der Selbstverletzung und Selbstverleugnung münden sollen. Dabei belegen die Ausführungen zum Kampf um Anerkennung, dass Hilfen zum Ausstieg aus der Gewaltkarriere gebunden sind an eine biografische Falldiagnostik. Die Gewährung von Anerkennung an sich löst nicht die bestehende Anerkennungsproblematik der Betroffenen. Vielmehr ist eine fallhermeneutische Herangehensweise notwendig, die z.B. mithilfe der Auswertung leitfadengestützter Interviews die spezifische Konstellation von Anerkennungsverlusten rekonstruiert und von dieser Basis aus individuelle Maßnahmen zur pädagogischen Bearbeitung der biografischen Anerkennensverluste konzeptioniert werden. Diese Maßnahmen können dann, je nach den gegebenen Problematiken und Ressourcen, sehr unterschiedlich gestaltet sein. Nicht zu unterschätzen sind institutionelle Hilfen zur Bewältigung des Übergangs in eine (vorerst) gesicherte 750 Vgl. Kapitel 8.3.1.1 Das Bemühen um Selbstkontrolle.
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Erwachsenenexistenz sowie pädagogische Räume zur Bearbeitung der erfahrenen Viktimisierung (wie etwa therapeutische Begleitungen, theaterpädagogische Maßnahmen etc.).751 Die biografischen Rekonstruktionen zu den Ausstiegen aus der Gewaltkarriere legen dar, dass die Interviewten erst dann den gewaltförmigen Kampf um Anerkennung aufgeben, wenn sie alternative Spielräume des Anerkennens erfahren und eine realistische Chance auf ein zukünftig gesichertes Leben erhalten. An diese Stelle stößt jedoch die Jugendhilfe, als wichtiger Adressat für präventive Maßnahmen, an ihre Grenzen, beispielsweise wenn die berufliche Integration durch eine prekäre Arbeitsmarktlagen erschwert wird oder gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen aufgrund der ethnischen Herkunft greifen. Diese Erfahrungen erfordern politische Hilfestellungen, um den Abbau gesellschaftlicher Benachteiligungen zur realisieren. Die in den Lebensläufen der Interviewten sichtbar werdenden fehlenden Hilfestellungen vonseiten der Gesellschaft eröffnen eine gesellschaftskritische Perspektive auf den pädagogischen Umgang mit gewaltbereiten weiblichen Jugendlichen: Die Förderung und Unterstützung der Emanzipationsbestrebungen der Interviewten gerät aus dem Fokus pädagogischer Unterstützung. Stattdessen stehen bei pädagogischen Einrichtungen zumeist sanktionierende oder Grenzen setzende Maßnahmen und Interventionen im Vordergrund. Diese berühren jedoch die grundlegende biografische Problematik der Betroffenen nicht. Diese Deutung soll die Täterschaft der gewaltaktiven Mädchen nicht relativieren. Sie leitet den Blick jedoch auf das Problem bezüglich der Bereitstellung finanzieller und sozialer Ressourcen für eine individuelle (und somit kostenaufwendigere) Beratung und Begleitung gewaltbereiter Mädchen. Ohne eine von der Politik befürwortete und finanzierte Veränderung von institutionellen Schieflagen und sozialen Marginalisierungen bilden pädagogische Projekte und Initiativen zur Gewaltprävention buchstäblich nur einen Tropfen auf dem heißen Stein.
751 Vgl. Mollenhauer/Uhlendorff 1992; sowie Krumenacker 2004 und Loch/Schulze 2002; Griese/ Griesehop 2007.
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11 Anlagen
Die Transkriptionsregeln wurden der Verfasserin von Lothar Wigger freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Tabelle 3: Transkriptionsregeln Thema Absatz
Anonymisierung (von Anfang an!) Ausgelassenen Buchstaben Betonung Dehnung Groß- und Kleinschreibung Interpunktion
Darstellung in Transkript/Beispiel Leerzeile bei Sprecherwechsel, Ausnahme: kurze Bemerkungen des Interviewers wie z.B. „(I:mhm)“ A, B, C oder Wahl eines anderen Namens; Interviewer: „I“ Wie spät iss`n? unbedingt Viiiel Da möchte ich meinen Kollegen mal fragen. ,.;:!?
Erläuterungen
Auch Orte und Institutionen (auf gleiche Silbenzahl achten) Auslassungen durch Apostroph ersetzen Unterstreichung der betonten Silbe oder Worte
Satzzeichen werden dem Sinn und der Betonung nach gesetzt, grammatikalische Richtigkeit ist nicht wichtig.
C. Equit, Gewaltkarrieren von Mädchen, DOI 10.1007/978-3-531-94090-8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
286 Kommentar
Eher lautgerechte Schreibung Pausen (mit Leerzeichen vom Wort trennen)
Anlagen
(SEUFZT) (TRINKT) (RAUCHT) (RÄUSPERT SICH) (IRONISCH) “Det is`keen Problem”, “äh”, “mhm” (.) (...) (...)(...)(...)
Simultansprechen Unklare Äußerungen, Unsicherheit
#und ging nach Hause# #Wann sind Sie# denn Die Vorlesung war (?schlecht)
Unverständliche Textpassagen Verschleifung
( 10 SEK. UNV.) oder (UNV.ETWA: ...) Da ham=se geklopft
Wortabbruch
Fotofpapp// Fotoapparat
Zitat
Der sagte zu mir: „Wie meinst Du das denn?“
Situationsbeschreibung in Klammern und Großbuchstaben Deutsche Orthografie Kleine Pausen (bis zu zwei Sekunden) Größere Pausen (zwischen zwei oder drei Sekunden Längere Pausen entsprechend auffüllen (im Bsp. Ca. 9 Sekunden) Der vermutete Wortlaut in Klammern mit vorangestellten Fragezeichen Kommentar mit Zeitangabe oder ungefährem Text Zusammengezogene Worte mit diesem Zeichen verbinden: = An ein abgebrochenes Wort diese Zeichen anhängen: // Anführungszeichen benutzen