Carol Higgins Clark
Getäuscht
s&p 06-08/2007
Die gewiefte Privatdetektivin Regan Reilly hat einen neuen Fall: Sie sol...
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Carol Higgins Clark
Getäuscht
s&p 06-08/2007
Die gewiefte Privatdetektivin Regan Reilly hat einen neuen Fall: Sie soll die verreiste Schauspielerin Whitney Weldon finden. Erscheint deren Familie nämlich vollzählig bei der Hochzeit der vermögenden Tante Lucretia, so erhält jedes Familienmitglied 2 Millionen Dollar! Aber genau das will Lucretias junger Bräutigam, der Heiratsschwindler Edward, vermeiden. Er beauftragt einen Kriminellen, Whitneys Teilnahme an der Hochzeit zu verhindern … ISBN: 978-3-548-26442-4 Original: Jinxed (2002) Aus dem Englischen von Hedda Pänke Verlag: Ullstein Erscheinungsjahr: 1. Auflage August 2006 Umschlaggestaltung: Büro Hamburg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Regan Reilly und ihr Freund Jack genießen ihren Urlaub, als geschäftliche Verpflichtungen Jack nach New York rufen. Überstürzt müssen sie das etwas verwahrloste, aber charmante Weingut Altered States in Kalifornien verlassen, das von den drei sympathischen Geschwistern Lilac, Earl und Leon Weldon betrieben wird. Doch kaum zu Hause angekommen, erreicht die Privatdetektivin Regan der aufgeregte Anruf von Lilac: Die Weldons wurden zur Hochzeit ihrer 93-jährigen Tante Lucretia eingeladen, die scheinbar plant, jedem Weldon zwei Millionen Dollar zu schenken, wenn die Familie vollzählig zur Trauung erscheint. Die Hochzeit soll in zwei Tagen stattfinden und genau darin besteht ein Problem: Lilacs Tochter Whitney ist nämlich zu einem Erholungswochenende verreist und nicht erreichbar. Nun ist es an Regan, Whitney ausfindig zu machen und der Familie acht Millionen Dollar zu sichern. Regan weiß allerdings nicht, dass noch jemand auf der Suche nach Whitney ist – und der hat ganz andere Motive, die junge Schauspielerin zu finden …
Autor Carol Higgins Clark ist die Tochter von Mary Higgins Clark und Autorin von mehreren Romanen um die Detektivin Regan Reilly. Auch als Schauspielerin hat sich Carol Higgins Clark einen Namen gemacht: Sie trat in Theaterstücken, Filmen und Fernsehserien auf. Die Autorin lebt in New York.
Für meine Großmütter Nora Cecilia Higgins und Alma Claire Clark. In liebevoller Erinnerung!
DONNERSTAG, 9. MAI
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D
a vorne nach rechts auf die holprige Schotterstraße«, wies Regan Reilly ihren Beifahrer Jack Reilly an, mit dem sie neben der zufälligen Namensgleichheit noch einiges mehr verband. Er saß hinter dem Steuer ihres Lexus und sie waren unterwegs zur letzten Weinkellerei auf ihrer Tour durch das Napa Valley und das Santa Barbara County. Regan las in einem Reiseführer, der aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. »Auf diese holprige Schotterstraße?«, fragte Jack ungläubig, als der Wagen um die Ecke rumpelte und hinter sich eine Wolke aus Staub und Sand aufwirbelte. Regan lächelte. »Ich sehe hier keine andere.« »Ich kann mir gut vorstellen, wie es da aussehen wird«, antwortete Jack. »Allein der Name, Altered States, und dazu diese gottverlassene Gegend.« »Es soll ein idealer Ort zum Entspannen sein: ein gutes Glas Wein trinken, meditieren, in einer romantischen Lodge schlafen – man kann einfach mal alles hinter sich lassen und den ganzen Stress vergessen.« »Nun, wir sind in der Tat dabei, alles hinter uns zu lassen.« Jack drückte Regans Hand. »Die Unterkunft befindet sich weiß Gott fern jeder Zivilisation. Und da, wo wir letzte Woche gewesen sind, war es ja auch schon recht einsam.« Vor fünf Monaten hatten sich die beiden kennen gelernt, kurz vor Weihnachten, als Regans Vater Luke in New York entführt worden war. Als Leiter der Major Case Squad in Manhattan und damit zuständig für Kapitalverbrechen aller Art, war Jack maßgeblich daran beteiligt gewesen, ihn wiederzufinden. Am Nachmittag des 24. Dezember konnte Luke schließlich unverletzt aus den Händen der Kidnapper befreit werden und am 6
selben Abend hatte Regans und Jacks Romanze begonnen. Eine recht seltsame Art des Kennenlernens vielleicht, dennoch rechnete Luke es sich als sein persönliches Verdienst an und beschwerte sich bitter darüber, kein »Vermittlungshonorar« erhalten zu haben. Für ihn und Regans Mutter, die Kriminalschriftstellerin Nora Regan Reilly, passten die beiden perfekt zusammen. Der vierunddreißigjährige Jack war nicht nur gut aussehend, intelligent und sympathisch, sondern auch ein Mann mit Ambitionen. Er hatte am Boston College studiert, besaß zwei Master-Abschlüsse und strebte die Position des New Yorker Polizeipräsidenten an. Und kaum einer, der ihn kannte, zweifelte daran, dass er sein Ziel erreichen würde. Ihr erster gemeinsamer Urlaub neigte sich nun dem Ende zu, eine Autotour, die sie von Los Angeles nach Norden über den Pacific Coast Highway ins Weinanbaugebiet von Napa Valley geführt hatte. Altered States sollte ihr letzter Aufenthalt vor der Rückfahrt nach Los Angeles sein, wo die einunddreißgjährige Regan als Privatdetektivin arbeitete. Bisher war die Reise einfach großartig gewesen. Sie hatten lange Strandspaziergänge unternommen, in malerischen Küstenorten übernachtet und bezaubernde kleine Restaurants entdeckt, in denen vorzügliches Essen serviert wurde. In den billigen Motels wiederum waren sie auf einige schräge Typen gestoßen, über die sie noch eine ganze Weile lachen mussten. »Ist dir eigentlich klar, dass wir uns kein einziges Mal auf die Nerven gegangen sind?«, fragte Jack mit einem breiten Grinsen. »Ein wahres Wunder.« Regan lachte und betrachtete sein Profil. Gott, sieht er gut aus!, dachte sie. Und wie glücklich er mich macht! Mit einer Größe von eins fünfundachtzig, breiten Schultern, hellbraunem, leicht lockigem Haar, ebenmäßigen, markanten Zügen und haselnussbraunen Augen war er die perfekte Ergänzung zu Regan, die ihr Äußeres von der irischstämmigen Familie ihres Vaters geerbt hatte: rabenschwarzes Haar, ein heller Teint und blaue Augen. 7
»Diese holprige Piste scheint die Mutter aller holprigen Schotterpisten zu sein.« Geschickt steuerte Jack das Auto über die offenbar endlose unbefestigte Straße. Es war kurz vor fünf Uhr nachmittags. Sie waren seit Stunden unterwegs und sehnten sich danach, endlich aus dem Auto zu steigen und auf der Terrasse der Lodge mit ihrer angeblich atemberaubenden Aussicht ein gepflegtes Glas Wein trinken zu können. Auf einmal tauchte in der Ferne zwischen den ausgedehnten Weinbergen eine Ansammlung alter Holz- und Steingebäude auf. »Der Reiseführer hat nicht zu viel versprochen. Es wirkt tatsächlich wie eine alte Geisterstadt«, flüsterte Regan. »Das Anwesen stand doch jahrzehntelang leer, nicht wahr?« »Ja. Während der Prohibition musste die Weinkellerei schließen und blieb lange Jahre ungenutzt. Dann kaufte ein Ehepaar den Besitz und begann mit Renovierungen, hatte sich aber finanziell übernommen. Die neuen Eigentümer sind noch nicht allzu lange im Geschäft.« Langsam durchquerten sie einen Zitronenhain und hielten schließlich vor dem Hauptgebäude. Jack schaltete den Motor aus. Sie stiegen aus dem Wagen und atmeten die frische, aromatische Luft tief ein. »Wie still und friedlich es ist«, bemerkte Regan. Plötzlich klingelte Jacks Mobiltelefon. »Was du nicht sagst …« Er zwinkerte ihr zu und meldete sich. Sein Tonfall sagte Regan, dass es sich um ein Dienstgespräch handelte. Also schlenderte sie zum Eingang und betrat den Empfangsraum der Lodge. »Guten Tag.« Die große, schlanke Frau an der Rezeption lächelte sie freundlich an. Im Regal hinter ihr flackerten zahllose Kerzen. Sie schien um die fünfzig zu sein und ihr wehendes blondes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar verlieh ihr eine leicht entrückte Ausstrahlung. »Es ist uns eine Freude, Sie in Altered States willkommen heißen zu dürfen.« 8
Der Name scheint Programm zu sein, dachte Regan. Man fühlt sich hier tatsächlich wie in einem anderen Dasein. »Vielen Dank. Wir sind froh, endlich hier zu sein.« »Haben Sie reserviert?« »Ja«, erwiderte Regan. »Wunderbar. Wenn Sie sich bitte in unser Gästebuch eintragen würden. Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?« »Aus Los Angeles.« »Großartig. Haben Sie vielleicht eine Visitenkarte? Wir würden Sie gern in unsere Gästeliste aufnehmen, dann können wir Sie über unsere Sonderangebote und Extras informieren.« Regan zog eine Karte hervor und reichte sie der Frau. Die Frau studierte sie einen Moment lang und sah Regan dann mit undurchdringlicher Miene an. »Sie arbeiten als private Ermittlerin?« Regan nickte. »Ja.« »Oh, prima. Das ist aber wirklich große Klasse.« »Ja, das ist es in der Tat«, gab Regan zurück und lachte. Dann bemerkte sie, dass sich die Tür öffnete. Sie drehte sich erleichtert um, wobei sie inständig betete, dass es Jack sein möge. Diese Frau machte einen ziemlich sonderbaren Eindruck. Ihre Gebete wurden zwar erhört, aber Jack schien nicht halb so entspannt wie kurz zuvor. »Tut mir leid, Regan. Aber ich muss morgen zurück nach New York. Es geht um den Fall, von dem ich dir erzählt habe …« »Oh, Jack, dann ist unser Urlaub heute schon zu Ende!«, rief Regan enttäuscht. »Ich weiß. Und ich fühle mich wirklich mies dabei. Trotzdem sollten wir noch heute Abend nach Los Angeles zurückfahren.«
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Die Frau musterte sie mitfühlend. »Vielleicht lässt sich Ihr Aufenthalt ja auf einen anderen Termin verschieben. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns wieder besuchen würden.« »Wir kommen bestimmt bald einmal wieder«, antworteten Jack und Regan wie aus einem Mund, als plötzlich eine schwarze Katze mitten auf den Empfangstisch sprang. Und keiner von ihnen ahnte auch nur im Geringsten, dass Regan in weniger als vierundzwanzig Stunden hierher zurückkehren würde.
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Z
um dritten Mal, seit sie in ihrem luxuriösen Schlafzimmer in Beverly Hills erwacht war, drückte Lucretia Standish ungeduldig den Klingelknopf auf ihrem Nachttisch. Sie wohnte erst seit kurzem hier, und es befriedigte sie jedes Mal zutiefst, bei allem Möglichen, was ihr durch den Kopf schoss, nach der Haushälterin klingeln zu können. Die Hausangestellte hingegen rang um Gelassenheit und Geduld und sehnte sich verzweifelt nach ihrer alten Arbeitgeberin zurück, die vor gerade einmal drei Monaten so friedlich verschieden war, wie sie gelebt hatte. Danach war das Haus samt Mobiliar an Lucretia verkauft worden. Im gesegneten Alter von dreiundneunzig Jahren wollte und konnte es sich Lucretia nicht leisten, ihre Zeit mit Renovierung und Neueinrichtung zu vergeuden. »Es kostet eine Ewigkeit, es richtig hinzubekommen. Man erteilt einen Auftrag, aber die Ausführung dauert und dauert. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Mir gefällt das Haus so, wie es ist. Ich kaufe es mitsamt dem ganzen Plunder.« »Aber vielleicht ist das den Erben gar nicht recht …«, hatte der Makler eingewandt. »Ich mache ihnen ein gutes Angebot. Sie können es annehmen oder es sein lassen.« Wie sich herausstellte, waren die Erben heilfroh, das Anwesen nebst Einrichtung auf einen Schlag los zu sein. Das Haus entsprach Lucretias Vorstellungen geradezu vollkommen. Es war ein Ranchhaus mit großem Garten und Swimmingpool, elegant und zugleich behaglich. Im Schlafzimmer herrschten vom plüschigen Teppichboden über die seidenen Vorhänge bis zum flaumigen Quilt und Dutzenden von Kissen 11
Pfirsichtöne vor – alles Farben und Stoffe, die angeblich eine beruhigende Wirkung ausüben sollten. Keine leichte Aufgabe für diese leblosen Gegenstände, manche hielten sie sogar für unlösbar, denn Lucretia konnte eine ziemliche Nervensäge sein. In ihren dreiundneunzig Jahren hatte sie einiges erlebt. Ihr Vater besaß eine Weinkellerei im Napa Valley, die dank der Prohibition ihren Betrieb einstellen musste. Als Teenager zog Lucretia nach Hollywood und trat als hoffnungsvolle Nachwuchsschauspielerin in Stummfilmen auf. Doch gerade als sie auf dem Weg zu einigem Ruhm war, wurde der Tonfilm erfunden und Lucretias kreischende Stimme zerstörte jede Hoffnung auf eine weitere Karriere. Schließlich krachte dann auch noch die Börse – ausgerechnet an ihrem Geburtstag. »Es kommt auf das richtige Timing an«, erklärte Lucretia von Zeit zu Zeit. »Und in dieser Hinsicht hat es bei mir oft gehapert. Für meine Familie erwiesen sich die Zwanziger nicht gerade als golden.« Doch dann pflegte sie stets mit einem schelmischen Lächeln hinzuzufügen: »Aber die letzten siebzig Jahre waren nicht die schlechtesten.« Ihr Optimismus war und blieb einfach unverwüstlich. Lucretia hatte fünfmal geheiratet, war um die ganze Welt gereist und auf drei Kontinenten zu Hause. Als ihr letzter Mann, Haskell Weldon, während einer Bingopartie auf einer Kreuzfahrt starb, kehrte Lucretia als Witwe in ihr Apartment in New York zurück. Einige Zeit später lernte sie auf einer Party einen jungen Mann kennen, der ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit einen heißen Investitionstipp anvertraute. »Es gibt da ein neues Dotcom, bei dem sagenhafte Gewinne garantiert sind«, raunte er ihr zu. »An Ihrer Stelle würde ich jeden Penny hineinstecken, den ich entbehren kann.« »Und was ist ein Dotcom?«, wollte sie wissen. Dreizehn Monate später und in dem sicheren Bewusstsein, dass Gutes nicht ewig währt, versilberte sie ihre Anteile, kurz 12
bevor das Unternehmen in Konkurs ging. Mit fast sechzig Millionen Dollar auf ihrem Konto beschloss sie, das Apartment in New York zu verkaufen und des besseren Wetters wegen wieder nach Kalifornien zu ziehen. Als sie an ihrem ersten Sonntag daheim durch Beverly Hills kurvte, stellte sie fest, dass das Haus, in das sie sich bereits als junge Schauspielerin so sehr verliebt hatte, zum Verkauf stand – Besichtigung heute, wie das Schild an der Auffahrt verkündete. »Ein Wink des Schicksals!«, rief sie, sprang aus dem Auto und eilte ins Haus. Sie überlegte nicht lange und machte ein Angebot. »Vor mehr als siebzig Jahren habe ich bereits mein Herz an dieses Haus verloren. Vielleicht bin ich inzwischen ein bisschen zu alt für die wilden Partys, die ich darin gefeiert hätte, wenn mein Leben anders verlaufen wäre, aber trotzdem bedeutet es für mich immer noch die Erfüllung eines Traums!«, erklärte sie dem Immobilienmakler. Zwei Wochen später gehörte das Haus ihr. Erneut drückte sie auf den Klingelknopf und endlich erschien die Haushälterin. »Ja, Miss Lucretia?« »Warum ist Edward noch nicht da, Phyllis?«, fragte Lucretia ungeduldig. Auch wenn ihre Stimme ihre Filmkarriere einst abrupt beendet hatte, so klang sie doch nun, mit dreiundneunzig Jahren, noch immer erstaunlich kräftig und energisch. Dabei war sie ein winziges, drahtiges Persönchen mit rosagetöntem Kraushaar und feinen Gesichtszügen. Ihre Haut wirkte straff und jugendlich – den Genen und gelegentlichen Liftings sei Dank. Es lag auf der Hand, warum die Kamera sie geliebt hatte. Zu schade nur, dass man dasselbe nicht über das Mikrofon sagen konnte. Da hatte es keinerlei Zuneigung gegeben. Ganz im Gegenteil. »Keine Ahnung.« Phyllis, eine Frau Anfang sechzig, machte nicht gern viel Worte. Sie liebte Quizshows und hatte im Laufe 13
der Jahre als Kandidatin an etlichen von ihnen teilgenommen. Sie war eine korpulente Frau mit einem Bulldoggengesicht und hängender Unterlippe, die ihrer Miene stets etwas Bekümmertes verlieh. Lucretia zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht.« Die Frage hätte sie sich natürlich schenken können. Edward war schließlich erst in zehn Minuten fällig. »Ich werde mich in den Patio setzen. Schicken Sie ihn zu mir, wenn er endlich auftaucht.« »Selbstverständlich.« Hastig lief Phyllis in die Küche zurück, wo in dem Minifernseher ein Kandidat um das ganz große Geld spielte. Acht Minuten später parkte Edward Fields seinen BMW auf der Einfahrt. Lucretia hatte ihn schon früh am Morgen angerufen, weil sie ihn dringend sprechen müsse, wie sie sagte. Durch seinen Tipp war sie sehr reich geworden und nun vertraute sie ihm. Ein gutes Zeichen, dachte er. Er konnte auf sie nicht verzichten. Er fungierte zwar inzwischen als ihr Finanzberater, aber sie war seine einzige Klientin in L. A. Er hatte sich buchstäblich an Lucretias Fersen geheftet, und als sie von New York nach Kalifornien zog, war er ihr gefolgt. Mit seinen sechsundvierzig Jahren kultivierte er ganz bewusst ein etwas trotteliges Aussehen. Drei alte, aber vermögende Ladys vor Lucretia hatte er erkannt, dass es den größten Erfolg versprach, wenn man wie eine Mischung aus wohltätigem Gemeindediener und gewissenhaftem Bankangestellten wirkte, wie jemand, der für das seelische Wohlergehen ebenso sorgt wie für das Konto. Kurzes, gegeltes braunes Haar mit messerscharfem Scheitel und eine unablässig ernste Miene mit traurigen, braunen Augen hinter einer dicken Hornbrille vervollständigten den erwünschten vertrauenerweckenden Eindruck.
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Edward schaltete den Motor aus, griff nach der Aktentasche auf dem Beifahrersitz und stieß die Tür auf. Er trug einen mausgrauen Anzug zu weißem Hemd und schwarzer Krawatte. »Sie ist hinten am Pool«, beschied ihn Phyllis knapp, als sie ihn am Eingang stehen sah. »Vielen Dank, Ma’am«, erwiderte Edward ausnehmend höflich. Er gestand sich nur ungern ein, dass sie ihm Angst einjagte. Der Himmel mochte wissen, wie sie sich in seiner Abwesenheit Lucretia gegenüber äußerte, und er wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, dass sie ihn durchschaute. Entwaffne deine Feinde mit Freundlichkeit, dachte er jedes Mal, wenn er ihr Bulldoggengesicht erblickte. Er fand Lucretia am Tisch neben dem Pool. In einen bunten Kaftan gehüllt, saß sie unter einem pinkfarbenen Sonnenschirm und nippte an einem Glas rosa Limonade. »Darling!«, rief sie ihm erfreut entgegen. »Lucretia.« Er beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, richtete sich wieder auf und sah sich um. »Es ist kaum zu fassen, wie wunderschön es hier ist. Einfach perfekt für Sie. Es freut mich unglaublich, dass Sie in der Lage waren, dieses Anwesen zu kaufen.« Wieder einmal wollte er ihr zu verstehen geben, dass sie ihr Paradies einzig und allein ihm zu verdanken hatte. Das tat er bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit mehr oder weniger Nachdruck. »Mir gefällt es auch. Sehr sogar.« Bewundernd blickte Lucretia über die buntgestreiften Bälle auf der Wasseroberfläche, den samtgrünen, kurzgeschnittenen Rasen und das kleine Gartenhaus, das passend zum Sonnenschirm pinkfarben gestrichen war. »Und ich habe beschlossen, dass es höchste Zeit ist, eine Party zu geben.«
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»Eine ausgezeichnete Idee!« Fieberhaft begann Edward zu überlegen, wen er einladen würde – oder vielmehr: bei wem er Eindruck schinden wollte. »Eine Familienparty«, fügte Lucretia hinzu. »Und genau darüber möchte ich heute mit Ihnen reden.« »Eine Familienparty?«, echote Edward überrascht. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie lebende Verwandte besaß. Aus irgendeinem Grund begann er zu schwitzen. »Mein teurer Haskell hatte eine Nichte, zwei Neffen und eine Großnichte. Sie leben alle hier in Kalifornien und ich möchte Kontakt zu ihnen aufnehmen.« Die Kinder des Bruders ihres verstorbenen Mannes seien »Hippies«, klärte Lucretia Edward auf. Jeder von ihnen sei auf der Suche nach innerer Harmonie, etwas, was pfirsichfarbene Kissen und Vorhänge wohl nicht bieten könnten. Kurz vor Haskells Tod hätten sie ein altes Weingut gekauft, das nach der Prohibition jahrelang verlassen war. Dem letzten Besitzer war beim Renovieren irgendwann das Geld ausgegangen und die Geschwister hatten das Anwesen zu einem Spottpreis erwerben können. Sie planten die Eröffnung eines Meditationszentrums, eines Wellnesscenters und eines Geschäfts für handgezogene Wachskerzen. Als sie Haskell um seine Meinung fragten, riet er ihnen dringend zum Zugreifen. »Nehmt euch Großes vor und zieht es durch«, lautete seine Empfehlung. »Das war der Schlüssel zu meinem Erfolg.« Über die Hochzeit ihres Onkels mit Lucretia waren sie nicht allzu glücklich gewesen. Er kannte sie schließlich erst seit kurzer Zeit. Lucretia und Haskell heirateten in Europa, lebten in New York und verbrachten die meiste Zeit ihrer zweijährigen Ehe auf Kreuzfahrtschiffen, daher hatte Lucretia Haskells Familie nie kennen gelernt. Ein Treffen war zwar bereits ins Auge gefasst, doch dem kam sein überraschender Tod während einer aufreibenden Bingorunde zuvor. 16
»Warum wollen Sie sie denn so plötzlich kennen lernen?«, erkundigte sich Edward mit heiserer Stimme. Mein Gott, dachte er, das hat mir gerade noch gefehlt, dass mir irgendwelche Verwandte einen Strich durch die Rechnung machen! »Weil ich sie zu unserer Hochzeit einladen möchte«, erwiderte Lucretia und blickte lächelnd zu ihm auf. »Ich habe mich entschlossen, Ihren Antrag anzunehmen.« Edward griff nach ihrer zarten Hand und hob sie an die Lippen. »Liebste, teure Lucretia«, flüsterte er. »Sie überwältigen mich. Nie hätte ich geglaubt, dass Sie …« »Ich auch nicht«, unterbrach ihn Lucretia freimütig. »Aber Sie waren sehr gut zu mir. In meiner Jugend wären Sie allerdings nicht unbedingt mein Typ gewesen. Damals zog ich offengestanden schneidigere und aufregendere Männer vor. Aber jetzt, da ich reifer geworden bin, weiß ich es sehr wohl zu schätzen, einen umsichtigen, ernsthaften und fürsorglichen Partner an meiner Seite zu haben.« »Das bin ich – und mehr«, brachte er über die bebenden Lippen. Ein wenig beleidigt war er schon, zugleich aber erleichtert, dass sein Auftritt als Liebhaber so glatt über die Bühne ging. »Aber warum brennen wir nicht einfach durch?« Lucretia lachte. »Sie schlimmer, schlimmer Junge! Ich möchte mich mit Haskells Familie aussöhnen. Deshalb die Einladung zu unserer Hochzeit. Seine Verwandten haben mich nie akzeptiert, weil sie glaubten, ich wäre nur hinter Haskells Geld her. Aber das stimmt nicht. Haskell und ich haben uns wirklich geliebt. Ich habe mich übrigens entschlossen, ihnen die acht Millionen Dollar zu schenken, die er mir hinterlassen hat. Damit erhält jeder zwei Millionen. Das wird bestimmt eine große Überraschung. Und der Rest bleibt für uns.« »Noch Limonade?« Lucretia und Edward drehten sich um und bemerkten Phyllis mit einem Krug in der Hand. 17
»Jetzt nicht, Phyllis!«, fauchte Lucretia. Hastig verschwand die Haushälterin Richtung Küche. In Edwards Kopf drehte sich alles. Acht Millionen Dollar einfach so zu verschenken, dachte er fast trübsinnig. Aber dann fielen ihm die anderen Millionen ein, die eines nicht allzu fernen Tages ihm allein gehören würden … Lucretia schlang ihre dünnen Ärmchen um ihn. »Gib mir einen kleinen Kuss, mein Lieber. Ich denke, wir sollten endlich zum ›Du‹ übergehen. Ich weiß, dass du eine Villa in Südfrankreich besitzt und das Apartment in New York. Aber ich habe jetzt dieses wundervolle Traumhaus hier. Wir könnten hier zusammen wohnen. Eine Wahrsagerin hat mir einmal prophezeit, dass ich im Ausland sterben werde. Also muss ich von nun an zu Hause bleiben! Ich hoffe, das macht dir nichts aus.« »Nicht das Geringste«, antwortete er eine Spur zu schnell. Sie klopfte mit der flachen Hand neben sich. »Setz dich zu mir, Darling. Was hältst du davon, wenn wir am Sonntag heiraten?« »Am Sonntag?«, ächzte Edward. »Das ist in vier Tagen. Ich kann es kaum erwarten. Die ganze Nacht habe ich wach gelegen und stundenlang über die Feierlichkeiten nachgedacht. Also habe ich das alte Fotoalbum hervorgekramt, das Haskells Neffen und Nichte ihm geschenkt hatten, kurz bevor wir uns kennen lernten. Ich muss Phyllis bitten, die jungen Leute sofort anzurufen, damit sie alles Nötige für ihren Besuch am Sonntag vorbereiten können.« Edward zog sein Taschentuch aus der Tasche und tupfte sich die Schweißperlen unter dem perfekt gezogenen Scheitel von der Stirn. Seine Handflächen fühlten sich feucht an. Am Sonntag wäre er um zweiundfünfzig Millionen Dollar reicher. Lucretia schlug das Fotoalbum auf. »Ich möchte, dass wir beide alle auf Anhieb erkennen und uns an ihre Namen erinnern 18
können. Wir werden eine große, glückliche Familie sein. Ich glaube, Haskell wäre sehr stolz auf mich.« Lucretia zeigte auf das Foto eines Mannes in mittleren Jahren mit glattrasiertem Schädel, der in etwas steckte, was einem Pyjama zum Verwechseln ähnlich sah. »Das da ist Earl. Er meditiert für sein Leben gern, der gute Junge. Und das ist Leon. Er leitet die Weinkellerei.« Lucretia zuckte mit den Schultern. »Das erinnert mich an meinen Vater. Er besaß früher ein prachtvolles Weingut, aber dann erklärte die Regierung kurzerhand das Trinken zur Sünde.« Sie blätterte um. »Und hier siehst du Lilac mit ihren Kerzen und Räucherstäbchen. Das Zeug verursacht ja bei mir immer einen akuten Juckreiz.« Sie hob den Kopf und sah Edward an, der das Foto unter der Aufnahme mit Lilac anstarrte. »Was ist, mein Lieber?« Er deutete mit dem Finger auf das Bild einer attraktiven Blondine Mitte zwanzig. »Wer ist das?«, fragte er und hüstelte, um die Furcht in seiner Stimme zu kaschieren. »Lilacs Tochter. Sie heißt Freshness.« »Freshness?«, wiederholte Edward, auf einmal erleichtert. Lucretia verdrehte die Augen. »So wurde sie von ihrer Mutter genannt. Haskell zufolge, weil die Luft am Tag ihrer Geburt so unglaublich frisch und rein war. Ein Hippie-Name eben. Aber selbst Freshness merkte, wie albern er klingt. Als sie Schauspielerin wurde, entschied sie sich stattdessen für Whitney. Jetzt heißt sie Whitney Weldon und bekommt anscheinend ein paar sehr hübsche Filmrollen angeboten.« Edward spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. »Und du willst sie zur Hochzeit einladen?« »Aber natürlich. Ich brenne förmlich darauf, mit ihr über ihren Beruf zu sprechen. Ich bedaure immer noch, dass ich die Filmarbeit aufgeben musste. Mit ihr werde ich wohl am Sonntag die meiste Zeit verbringen.« 19
Nicht wenn ich es verhindern kann, dachte Edward grimmig, während er sich krampfhaft bemühte, Ruhe zu bewahren. Unter keinen Umständen würde er zulassen, dass Freshness ihm seinen Hochzeitstag ruinierte. Ganz gleich was es kostete.
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FREITAG, 10. MAI
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3
R
egan öffnete die Tür und trat vorsichtig über den Stapel Post hinweg, der sich auf dem Fußboden angesammelt hatte. Es kam ihr vor, als läge bereits ein langer Tag hinter ihr, dabei war es gerade einmal acht Uhr. Gegen sieben hatte sie Jack am Flughafen abgesetzt und dann beschlossen, im Büro nach dem Rechten zu sehen. Eigentlich liebte Regan ihre Arbeit. Aber heute nicht. Physisch mochte sie es vielleicht ins Büro geschafft haben, aber in Gedanken befand sie sich noch immer im Urlaub mit Jack. Doch jetzt war er fort, und sie würde ihn erst in zwei Wochen wiedersehen, wenn sie für das Memorial-Day-Wochenende nach New York flog. Seufzend stellte sie die Tüte mit einem Becher Kaffee und einem Blaubeer-Muffin darin auf den Schreibtisch, ließ ihre Tasche von der Schulter gleiten und bückte sich, um die Briefe aufzuheben. Dann richtete sie sich wieder auf und blickte sich um. Normalerweise vermittelte ihr der Raum immer ein Gefühl von Behaglichkeit, das ihr das Arbeiten erleichterte, aber heute wirkte er so leer, fast vernachlässigt. Wie ich, dachte sie. Ihr Büro befand sich in einem alten Haus nahe der Kreuzung Hollywood Boulevard und Vine Street. Die Fußböden waren schwarzweiß gefliest, in den Wänden ächzten und gurgelten uralte Wasserleitungen und in den dunklen Fluren hausten Gespenster. Jedenfalls wurde das behauptet. Regan gefiel das sehr. Ein hypermodernes Glas-und-Chrom-Büro war nichts für sie. Sie bevorzugte Räumlichkeiten mit Charakter. Regan trat ans Fenster und öffnete es. Ein Schwall kühler Morgenluft wehte herein. »Gut so«, murmelte Regan. »So wird mein Kopf durchgelüftet. Höchste Zeit, in die Gänge zu kommen.« 22
Sie schnippte den Deckel von ihrem Kaffeebecher und ließ sich auf ihren sündhaft teuren Sessel fallen, der angeblich für jede Lebenslage der richtige war, egal ob es sich um einen müden Rücken oder um einen plötzlichen Anfall leidenschaftlicher Gefühle handelte. Sie trank einen Schluck Kaffee und hatte gerade begonnen, in der Post zu blättern, als das Klingeln des Telefons die Stille durchbrach. Verblüfft sah Regan auf die Uhr. Ihre Mutter befand sich auf einer Lesetour in Los Angeles, und ihr Vater war gestern ebenfalls eingeflogen, um ein paar Tage mit Nora zu verbringen. Außerdem wollte er mit einigen Produzenten über die Verfilmung ihres neuesten Buches verhandeln. Jack und sie hatten sich mit den beiden noch zu einem späten Abendessen getroffen. Ihre Eltern würden auf keinen Fall so früh anrufen. Und Jack befand sich inzwischen irgendwo über Nevada. Wieder klingelte es. Vermutlich will mir jemand irgendwas andrehen, dachte Regan und griff nach dem Hörer. »Regan Reilly.« »Regan Reilly selbst?«, fragte eine raue Frauenstimme. »Ja.« »Es freut mich, Sie erwischt zu haben. Hallo.« »Hallo. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« Die Anruferin seufzte. »Nun, die ganze Angelegenheit ist ziemlich verdreht. Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Lassen Sie mich überlegen …« Regan griff nach einem Stift, zog den Schreibblock näher an sich heran und wartete darauf, dass die Anruferin etwas sagte, was sich aufzuschreiben lohnte. Die Frau machte irgendwie einen reichlich weltfremden, versponnenen Eindruck. Dennoch hatte das Gespräch auch etwas Positives. Es lenkte Regan von ihren Gedanken an Jack ab.
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»Also, wir haben uns ja gestern persönlich kennen gelernt – auf Altered States.« Regan hob die Augenbrauen. »Oh, Sie sind die Frau am Empfang.« »Ja, das stimmt. Mein Name ist Lilac Weldon. Ich bin so froh, dass ich eine Privatdetektivin getroffen habe. Ich halte das für Kismet.« »Kismet?«, wiederholte Regan. »Was ist Kismet?« Lilac Weldon räusperte sich dezent und dämpfte ihre Stimme. »Gestern rief mich die Haushälterin dieser Exfilmschauspielerin an, die mein Onkel vor ein paar Jahren geheiratet hat. Er ist inzwischen gestorben und sie möchte eine neue Ehe eingehen. Sie hat meine beiden Brüder, meine Tochter und mich am Sonntag zur Hochzeit eingeladen.« So weit, so gut, dachte Regan. »Die Sache ist nur, dass wir uns überhaupt nicht nahe stehen. Wir haben diese Frau noch nicht einmal kennen gelernt. Sie waren nur zwei Jahre verheiratet gewesen und er hat ihr sein ganzes Vermögen hinterlassen. Wir gingen damals leer aus, bekamen nicht einen Cent. Na ja, ich blieb selbstverständlich höflich und meinte, die Einladung käme recht kurzfristig und ich sei mir nicht sicher, es einrichten zu können. Vielleicht könne man sich ja auch ein anderes Mal besuchen und so weiter. Sie verstehen schon, nicht wahr? Sonntag ist immerhin Muttertag und wir sind ausgebucht. Bestimmt war der Haushälterin sofort klar, dass ich nur Ausflüchte suchte.« Noch immer stand kein einziges Wort auf Regans Block. »Jedenfalls rief sie heute früh tatsächlich noch einmal an. Mich rührte fast der Schlag. Dann erzählte sie mir Folgendes: Sie glaube, dass Lucretia – das ist die, die heiratet – uns das Geld geben würde, das unser Onkel ihr vererbt hat, wenn wir allesamt zur Hochzeit erscheinen. Ohne uns vorher etwas zu 24
sagen natürlich. Weil sie wissen will, ob wir auch so kommen. Aus familiärer Verbundenheit sozusagen …« »Wie viel?«, fragte Regan. »Zwei Millionen für jeden.« »Na ja, also ich würde hingehen«, entgegnete Regan. Lilac Weldon lachte nervös. »Ich weiß, es hört sich verrückt an. Aber Lucretia hat mehr als fünfzig Millionen bei einer Dotcom-Investition verdient. Also, wie auch immer, ich habe gerade mit meinen Brüdern geredet und sie wollen die Einladung annehmen.« Klar, dachte Regan. »Natürlich könnten wir das Geld gut gebrauchen. Wir haben nämlich unser ganzes Vermögen in das Anwesen gesteckt und es bleibt noch immer viel zu tun. Das Problem besteht nur darin, dass meine Tochter nicht hier ist. Wir erwarten sie zum Dinner am Muttertag, aber dann ist es zu spät.« »Können Sie sie denn nicht irgendwie erreichen?«, erkundigte sich Regan. »Nun, sie ist Schauspielerin und wohnt in Los Angeles. Zurzeit filmt sie in der Nähe von Santa Barbara. Gestern Vormittag habe ich noch mit ihr telefoniert, und sie erzählte mir, dass sie von Freitag an ein paar Tage frei hat und noch nicht genau weiß, was sie machen wird. Es ist eins von ihren Selbstfindungswochenenden.« »Selbstfindungswochenenden?« »Manchmal setzt sie sich in ihr Auto, fährt los und ist für Tage nicht erreichbar. Um in der Natur zu sich selbst zu finden, verstehen Sie? Ich rief vorhin in ihrem Hotel an, bekam sie jedoch nicht an den Apparat. Ich habe eine Nachricht hinterlassen, aber vielleicht ist sie schon längst fort.« »Hat sie denn kein Handy?«
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»Das ist an solchen Wochenenden absolut tabu. Sie hat ihres zwar dabei, benutzt es jedoch nur im Notfall. Wenn ihr Auto streikt beispielsweise. Es stört ihre innere Harmonie, ständig auf Nachrichten reagieren und Anrufe beantworten zu müssen. Folglich bleibt sie bis Sonntagabend für uns buchstäblich verschollen.« Für mich wäre das nichts, sagte sich Regan. Es erstaunte sie, dass jemand einfach ins Blaue aufbrechen konnte, um tagelang wie vom Erdboden verschluckt zu sein. In ihrer Familie musste man jederzeit wissen, wo der andere war. Es würde sie tief beunruhigen, wenn ihre Eltern sie nicht jederzeit erreichen könnten. Aber diese Leute tickten offenbar ganz anders. »Wie heißt Ihre Tochter?« »Freshness.« »Wie bitte?« »Ja, Freshness. Sie wurde an einem wundervollen Frühlingsmorgen geboren. Aber inzwischen nennt sie sich Whitney.« Eins zu null für die Tochter, dachte Regan. »Und was kann ich nun für Sie tun, Lilac?« »Suchen Sie Freshness.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Wir können das Geld wirklich brauchen, Regan. Wir haben Schulden und …« »Das verstehe ich natürlich«, erwiderte Regan schnell, doch plötzlich schoss ihr die Frage durch den Kopf, warum die Haushälterin sich die Mühe gemacht und ein zweites Mal angerufen hatte. Konnte es sich vielleicht um irgendeinen Trick handeln? »Ihnen sollte klar sein, dass Sie möglicherweise gar kein Geld erhalten«, warnte Regan. »Woher wissen Sie, dass diese Frau die Wahrheit gesagt hat?« »Das habe ich mir auch schon überlegt«, räumte Lilac ein. »Trotzdem, es kann eigentlich nicht schaden, zu der Hochzeit zu fahren. Onkel Haskell war ein feiner Kerl und er muss diese Frau wirklich geliebt haben. Auch wenn es mich noch immer ein 26
wenig kränkt, dass er uns nichts vererbt hat. Und da ist noch etwas …« Für einen Augenblick versagte ihr die Stimme. Dann aber fuhr sie fort: »Wissen Sie, Regan, ganz plötzlich mache ich mir Sorgen um Freshness. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich habe große Angst, dass ihr etwas zustößt, wenn Sie sie nicht vor Sonntag finden. Geht es Ihnen vielleicht hin und wieder ähnlich?« »O ja«, antwortete Regan leise. »Und meine abergläubische irische Großmutter hat ständig Vorahnungen, die sich mitunter sogar bewahrheiten. Aber kommen wir zu den Fakten. Wo finden die Dreharbeiten statt? Ich könnte hinfahren, um mich mit den Filmleuten zu unterhalten. Und wie lautet überhaupt der Titel des Streifens?« Lilac Weldon zögerte einen Moment, bevor sie Regans letzte Frage beantwortete. »Der Film heißt Getäuscht.«
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inter Eddie Fields lag eine schlaflose Nacht. Ausgerechnet in dem Moment, in dem sein Ziel zum Greifen nahe war, sollte eine kleine Schlampe namens Freshness alles ruinieren? Warum hatte er nur diese Schauspielschule in New York besucht? Weil er glaubte, seine Rolle als seriöser Investmentberater dadurch noch überzeugender spielen zu können? Nein, darin brauchte er wirklich keinen Nachhilfeunterricht. Er war längst ein wahrer Meister der Täuschung. Whitney Weldon war in derselben Schauspielklasse gewesen. Einmal sollten sie eine gemeinsame Szene einstudieren und hatten sich deshalb in seiner Wohnung getroffen. In seiner Abwesenheit hatte jedoch ein Freund angerufen und eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, die Eddie dummerweise bei voller Lautstärke abhörte. »Glückwunsch. Wie ich höre, hast du die alte Schachtel dazu gebracht, die achthunderttausend herauszurücken. Aber vergiss deinen guten alten Partner nicht. Du schuldest mir zehn Prozent. Glatte achtzigtausend. Und diesmal wirst du dein Geld nicht wieder auf die Pferderennbahn bringen.« »Nett«, bemerkte Whitney sarkastisch. »Schätze, die Polizei würde sich für das Band sehr interessieren. Du bist ein echter Mistkerl!« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und rauschte aus dem Apartment. Eddie verzichtete auf einen weiteren Besuch der Schule. Das war vor drei Jahren gewesen. Einige Zeit später bescherte das Dotcom-Unternehmen, für das er Investoren suchen sollte, Lucretia einen ansehnlichen Gewinn. Sie zog nach Kalifornien und er reiste ihr nach.
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Er brauchte Lucretia. Ihre Millionen. Denn er hatte sich nicht an den Rat seines Freundes gehalten und prompt all sein Geld erneut bei Pferdewetten verloren. Sein Apartment hier in Venice Beach war wirklich schäbig. Absolut unzumutbar, dachte er, trat unter die Dusche und bemühte sich, die Schimmelflecken zu ignorieren. Aber wenn alles läuft wie geplant, brauche ich es nur noch wenige Tage zu ertragen. Edward seifte sich ein und wusch sich gründlich das Gel aus den Haaren. Er hasste das Zeug, aber im Moment konnte er noch nicht darauf verzichten. Wenn er erst einmal mit Lucretia verheiratet war, würde er sie nach und nach mit seinem wahren – dem wesentlich attraktiveren – Aussehen vertraut machen. Er musste lachen, und wieder einmal fiel ihm auf, wie entscheidend doch Äußerlichkeiten waren. Kleidung, Frisur, Verhalten. Würde Lucretia den »wahren Eddie« in seinem psychedelischen T-Shirt, den ausgeblichenen Denim-Shorts und den wirren, lockigen Haaren ausgelassen in der Strandbar tanzen sehen, bekäme sie vermutlich einen Herzschlag. Nein, das musste sein Geheimnis bleiben. Andererseits fuchste es ihn, dass sie ihn für einen langweiligen Spießer hielt. Hatte sie nicht gesagt, dass sie früher an Männern seines Typs nicht interessiert gewesen wäre? Ha! Das bewies doch nur, dass sie überhaupt keine Ahnung hatte. Er schlang sich ein Handtuch um die Hüften und ging ins Schlafzimmer, in dem er seine irdischen Habseligkeiten aufbewahrte. Ein fadenscheiniger Quilt bedeckte die durchgelegene Matratze, die als Bett diente. Er hatte das Apartment möbliert gemietet, und offensichtlich waren seine zahllosen Vorbewohner mit der Einrichtung nicht so schonend umgegangen, wie sie es mit ihrem Eigentum sicherlich getan hätten. Im Schrank hingen seine wenigen guten Anzüge. Sie und sein Auto waren in seiner Branche einfach unverzichtbar. Sobald man anständig gekleidet und mit einem schicken Wagen 29
irgendwo auftauchte, hatte man praktisch schon gewonnen, vor allem in Los Angeles. Als er eine Viertelstunde später die Wohnung verließ, war er vom Scheitel bis zur Sohle Lucretia Standishs solider, seriöser Verlobter. Aber er fuhr nicht direkt nach Beverly Hills. Zuerst musste er zum Flughafen. Am Los Angeles International Airport parkte er direkt vor Terminal A. Sein Freund hatte ihn kurz zuvor angerufen. Seine Maschine sei soeben gelandet. Und da stand er auch schon, sein alter Partner und Komplize Rex. Mr Zehn Prozent. Nachdem er seine Reisetasche in den Kofferraum geworfen hatte, riss Rex die Beifahrertür auf und begann schallend zu lachen. »Mann, du siehst ja umwerfend aus! Klasse Frisur. Wann steigt denn der Junggesellenabend?« Eddie trat aufs Gas. Abrupt schoss das Auto los. »Hey, Mann!«, protestierte Rex. »Du lässt mich ja nicht mal den Gurt anlegen.« Er war ein kräftig gebauter Mann Mitte dreißig. Er hatte strähnige, blonde Haare, grüne Augen und ein zerfurchtes Gesicht. Je nach Stimmungslage konnte sein kantiges Kinn sehr brutal oder äußerst attraktiv wirken. Hatte er gute Laune, strahlte er fast so etwas wie Charme aus; wenn nicht, war er schlichtweg zum Fürchten. Langsam fädelten sie sich in den Strom der Fahrzeuge ein, die den Flughafen verließen. »Na, was sagst du nun, Rex? Ich habe endlich den Volltreffer gelandet.« »Und ich kriege zehn Prozent. Das macht rund fünf Millionen Dollar, würde ich sagen. Ab Sonntag bist du schließlich um fünfzig Millionen schwerer.« »Aber nur, wenn du Freshness aufspürst und in Verwahrung nimmst, bis die Hochzeit vorüber ist.«
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»Ich tue mein Bestes«, erwiderte Rex so entschlossen, dass Eddie ihm unwillkürlich einen prüfenden Blick zuwarf. »Ich kann immer noch nicht fassen, wie ich auf den dämlichen Einfall mit der Schauspielschule kommen konnte. Ohne diese Schnapsidee wäre ich jetzt alle Sorgen los«, stöhnte er kurz darauf. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Du kommst mit vielen Leuten zusammen. Wer weiß, ob nicht irgendwann eine der anderen alten Ladys aufkreuzt, die du beraten hast?« Geringschätzig wedelte Eddie mit der Hand. »Na schön. Und wo ist nun das Foto meiner neuen Freundin?« Eddie griff links neben sich und streckte seinem Partner einen Umschlag entgegen. Er enthielt das Foto, das er aus Lucretias Album entwendet hatte. »Nicht übel. Das typische Mädchen von nebenan: blonde Haare, Sommersprossen. Vielleicht muss ich sie heiraten.« »Aber nicht vor nächster Woche«, gab Eddie bissig zurück. »He, immer mit der Ruhe, Junge. Ich weiß ja, dass du unter Druck stehst, aber ich will doch, dass dein Hochzeitstag so perfekt wie möglich wird. Genau so, wie du es dir immer erträumt hast.« Eddie zwang sich zu einem Lachen. »Okay, tut mir leid, Rex.« Er bog nach links ab und hielt vor einem Gebrauchtwagenhändler. »So. Jetzt schwing dich bitte in eine dieser Karren und fahr zum Filmset. Das ist in der Nähe von Santa Barbara. Dort sollte sie eigentlich zu finden sein.« »Sollte?« »Wo könnte sie denn sonst schon sein? Ihre Mutter hat Lucretia erzählt, dass sie da einige Wochen mit Dreharbeiten beschäftigt ist.« »Und mehr weißt du nicht?« »Nein. Nur noch den Titel des Films. Er heißt Getäuscht.« 31
»Klingt ja nicht gerade nach einem großen Knüller.« Eddie parkte vor dem Büro des Autohändlers. »Hör zu, Rex. Du hast ihr Foto. Du kennst die Adresse der Produktionsfirma. Ich bin sicher, dass du unsere kleine Freshness finden wirst.« »Schon klar. Der Gedanke an fünf Millionen Dollar verleiht meinen Fähigkeiten natürlich Flügel«, erwiderte Rex ironisch und stieß die Tür auf. »Bis bald. Wir bleiben in Kontakt.« Er stieg aus, drehte sich dann aber noch einmal um. »Es könnte aber nichts schaden, wenn du Weiteres in Erfahrung bringen könntest, Partner.« »Ich bemühe mich«, versprach Eddie. »Ruf mich an, sobald du vor Ort bist, und halte mich auf dem Laufenden.« Rex schlug die Tür zu und Eddie fuhr auf schnellstem Weg zu Lucretia. Er stoppte nur einmal vor einem Blumengeschäft, um einen riesigen Strauß rote Rosen zu kaufen.
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egan fuhr zu ihrem Apartment in den Hollywood Hills oberhalb des Sunset Boulevard. Die kleine Wohnanlage wirkte ruhig und friedlich. Die Sonne kletterte am Himmel empor, Vögel zwitscherten. In der komfortablen Zweizimmerwohnung stand ihr Koffer noch immer unausgepackt auf dem Boden. Aber sie beachtete ihn nicht weiter, sondern warf ein paar Kleidungsstücke in eine kleine Reisetasche und suchte ihre Toilettensachen wieder zusammen. Die Zeiger der Schlafzimmeruhr standen auf 9.02 Uhr. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Four Seasons Hotel. Einen Moment später meldete sich ihre Mutter. »Hallo, Regan. Wie geht es Jack?« »Vermutlich nicht anders als gestern Abend«, zog Regan ihre Mutter auf. »Ich habe ihn vor zwei Stunden zum Flughafen gebracht.« »Ich mag ihn«, erklärte Nora fast feierlich. »Das weiß ich doch, Mom.« »Zu schade, dass er früher zurückfliegen musste.« »Nun, er wird in New York gebraucht. Und ich habe auch einen neuen Fall.« »Tatsächlich?« »Ja, ich muss noch heute nach Santa Barbara.« »So schnell?« »Ich habe vorhin einen Anruf erhalten. Es hieß, ich soll ein Mädchen ausfindig machen, das dort einen Film dreht.« »Kaum zu Hause und schon einen neuen Auftrag?« 33
»Ja. Ich war kurz im Büro, bin aber inzwischen wieder daheim, um ein paar Sachen zu packen. Ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass ich heute Abend nicht mit euch essen kann.« »Wie schade! Wally und Bev haben sich schon so auf dich gefreut.« Wally war der Fernsehproduzent, der bereits etliche von Noras Büchern auf den Bildschirm gebracht hatte, und Bev seine geduldige, stille Frau. Sie waren wirklich ein ungleiches Paar, denn Wally hatte die Angewohnheit, ständig mit den Fingern zu schnippen, wenn er auf die Action in seinen Filmen zu sprechen kam. In seinen »Pausen« kaute er dann auf einem Zahnstocher herum. »Es tut mir leid, dass ich nicht dabei sein kann«, antwortete Regan höflich. »Aber ich habe das dumpfe Gefühl, es nicht rechtzeitig zum Dinner zu schaffen.« Dann schilderte sie ihrer Mutter kurz die Umstände des neuen Auftrags. »Zwei Millionen für jeden?«, entfuhr es Nora überrascht. »Weil sie an einer Hochzeit teilnehmen?« »So ist es. Woher kommt es eigentlich, dass wir keine so großzügige Tante in der Familie haben?« »Gute Frage. Aber vergiss nicht, dass Tante Annie dir diese reizende kleine Hütte vererbt hat. Und das hübsche Porzellan, das man heutzutage kaum noch irgendwo bekommt.« »Ich hätte aber lieber zwei Millionen.« »Ein verständlicher Wunsch, mein Kind. Sie war also früher ein Stummfilmstar? Nun, Regan, pass gut auf dich auf. Aber hier ist Dad. Er möchte unbedingt kurz mit dir sprechen.« »Hallo, Regan!«, dröhnte Lukes Stimme an ihr Ohr. »Hallo, Dad.« Regan stellte sich vor, wie ihre Eltern in ihrer luxuriösen Four-Seasons-Suite ein Frühstück einnahmen. Der hochgewachsene Luke mit seiner eindrucksvollen silbergrauen Haarmähne und der James-Stewart-Gestalt und die zierliche, 34
blonde Nora mit ihren feinen Gesichtszügen. Sie waren ein attraktives Gespann, der Bestattungsunternehmer und die Kriminalautorin, die mittlerweile mehr als fünfunddreißig Jahre miteinander verbrachten. »Wie geht es Jack?«, wollte ihr Vater wissen. Regan lächelte. Sogar ihre Gedanken waren die gleichen. »Gut, Dad. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann am Wochenende. Aber jetzt muss ich wirklich los. Auf mich wartet ein Auftrag.« »Habe ich mir schon gedacht. Gib gut auf dich Acht.« »Na klar. Ich melde mich.« Als sie den Hörer auflegte, musste Regan erneut lächeln. Sie hatte ein Riesenglück mit ihren Eltern. Im Auto schließlich richtete sie den Rückspiegel, setzte eine Sonnenbrille auf und schaltete den Motor ein. »Und jetzt geht’s auf die Suche nach Freshness«, sagte sie laut und rangierte rückwärts aus ihrem Parkplatz.
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egan nahm die Fernstraße 101 nach Unxta, dem Nachbarort von Santa Barbara, wo der Film gedreht wurde. Hin und wieder verlief die 101 direkt am Pazifik entlang, und Regan konnte kaum glauben, dass es erst gestern gewesen war, als sie neben Jack auf dem Pacific Coast Highway ähnliche Ausblicke genossen hatte. Bei der Ausfahrt Unxta verließ Regan die Autobahn. Sie hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass die Produktionsleitung in demselben Hotel untergebracht war, in dem auch die Darsteller und weitere Mitarbeiter wohnten. Als Regan an Lehmhäusern mit roten Ziegeldächern vorbei der hügeligen Straße folgte, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie sehr sie diese Gegend mochte. Santa Barbara County war ebenso schön wie vielseitig: Weinberge, Palmen, gute Einkaufsmöglichkeiten, ein ausgeglichenes Klima und die Lage zwischen Meer und Bergen machten die Umgebung zu einem begehrten Ort, das Leben zu genießen. Kurz nach elf hielt Regan vor dem Hotel. Es hatte weder ein rotes Ziegeldach noch versprach es ein sonderlich reizvolles Ambiente. Stattdessen prangte ein schrilles Neonschild an der Wand, das für preiswerte Zimmer mit Kabelfernsehern warb. Aber es wirkte trotzdem recht anständig und drinnen war es sauber und behaglich. Der Mann an der Rezeption schien zwar die Langsamkeit erfunden zu haben, wies Regan jedoch schließlich den Weg um die Ecke und den Korridor entlang zum Büro der Produktionsleitung. Kaum angekommen, klopfte Regan an die Tür. »Herein!«, rief jemand. Aber gern, dachte Regan, als sie der Aufforderung folgte. Im Raum standen vier Schreibtische eng beieinander, an den 36
Wänden hingen mit Zetteln und Listen gespickte Pinboards, und eine Frau mit lauter, gereizter Stimme saß am Telefon. Sie legte auf und wandte sich Regan zu. »Kann ich etwas für Sie tun, Schätzchen?« Sie war vielleicht in den Vierzigern, mit messingblonden Löckchen unter einer Baseballkappe, einem Stift hinter dem Ohr und einem sehr bestimmten Ausdruck im Gesicht. »Das hoffe ich. Ich bin auf der Suche nach Whitney Weldon.« »Whitney?« Die Frau nahm ein Klemmbrett vom Schreibtisch und verfolgte mit dem Finger die Namen auf einer Liste. »Wie ich vermutet habe. Sie hat bis Montag drehfrei.« Das Clipboard fiel wieder auf die Tischplatte. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo sie sein könnte?«, hakte Regan nach. Ungläubig sah die Frau sie an. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, mit wie vielen Schauspielern ich es hier täglich zu tun habe? Wenn sie ein paar Tage nicht drehen müssen, fahren die meisten irgendwo in der Gegend herum. Diese ganze Umgebung ist nämlich einfach traumhaft. Einige besuchen Weinkellereien, andere fahren an den Strand oder verschanzen sich mit Depressionen in ihren Zimmern. Was weiß ich.« Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. »Es geht um eine dringende Familienangelegenheit«, erläuterte Regan. »Whitneys Mutter muss sie unbedingt erreichen und hat mich gebeten, ihr bei der Suche zu helfen.« Sie verschwieg, dass etliche Millionen Dollar auf dem Spiel standen. Das hätte den unangenehmen Eindruck von Habgier erwecken können. Andererseits würde es diese Schnepfe vielleicht auf Trab bringen. Die Frau seufzte. Sie sah zu Regan auf. »Muss ich Ihnen wirklich erklären, wie problematisch solche Dreharbeiten mit launischen Schauspielern sind? Dies ist eine Low-BudgetProduktion! Aber die Agenten schert das wenig. Einmal 37
verlangen sie dies, am nächsten Tag verlangen sie das. Ich halte das nicht aus. Einem Darsteller gefiel das Auto nicht, mit dem er vom Flughafen abgeholt wurde. Ist das zu fassen? Er wird nach Tarif bezahlt. Er ist schließlich kein Star!« »Ganz schön nervend, was?« Regan schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Nervend? Nicht zu er-tra-gen!« Schnaufend holte die Frau Luft. »Gestern hat die Cateringfirma Geflügelsalat geliefert, bei dem die Mayonnaise verdorben gewesen sein muss, denn heute klagten die Leute über Magenbeschwerden. Man kann das Essen eben nicht stundenlang in der Sonne herumstehen lassen. Wenn Sie mich fragen, gilt hier Murphys Gesetz. Was schief gehen kann, geht auch schief.« Sie zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Kaffee. »Was machen Sie beruflich? Sind Sie eine Freundin von Whitneys Familie?« »Eigentlich bin ich Privatdetektivin.« Die Frau musterte Regan, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Oh, also ist es Ihnen wirklich ernst. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?« »Gern.« Regan blickte sich um und bemerkte die Kaffeemaschine in einer Ecke. »Ich hole mir eine.« Sie lief hinüber und goss sich etwas von der abgestandenen Brühe in einen Imus in the Morning-Becher. Er erinnerte sie an ihre Mutter. Nora war bereits häufig zu Gast in der Radiotalkshow von Imus gewesen. »Milch ist im Kühlschrank.« »Danke.« Regan beugte sich hinunter, zog die Tür auf und holte eine fast leere Tüte fettarmer Milch heraus. Sie schüttete den Rest in ihre Tasse und warf den Karton in den Mülleimer. Dann drehte sie sich um, damit sie einen genaueren Blick auf eine Reihe von Schauspielerfotos an der Wand werfen konnte. Die junge Darstellerin sprang ihr auf Anhieb ins Auge. Whitneys Mutter hatte ihr heute früh noch ein Bild per E-Mail ins 38
Büro geschickt. Das hier war jedoch eine Profiaufnahme, Format achtzehn mal vierundzwanzig, und Whitney sah bezaubernd darauf aus. Die Frau folgte Regans Blick. »Ja, das ist sie. Ich kann Ihnen das Bild kopieren, wenn Sie wollen.« »Das wäre sehr nett von Ihnen«, erwiderte Regan, während die Frau bereits den Reißnagel herauszog, der das Bild an der Pinnwand festhielt. »Bin gleich wieder da.« Sie verschwand im Nebenzimmer. Als Regan auf einem der Besucherstühle Platz nahm, hörte sie nebenan das Surren des Kopiergeräts. Gott sei Dank ist sie ein bisschen zugänglicher geworden, dachte sie. Das macht es leichter. Einen Moment später hielt Regan eine perfekte Kopie des Bildes von Whitney Weldon in dramatischer Pose in den Händen. Auf dem Schnappschuss, den die Mutter ihr geschickt hatte, lächelte sie ganz natürlich und offen. Whitney besaß vermutlich noch eine Reihe weiterer Porträts, die sie in den verschiedensten Stimmungen zeigten: ernst, komisch, durchtrieben, sexy. Je nachdem, für welche Rolle sie vorsprach. »Ich heiße übrigens Joanne«, sagte die Frau, als sie sich wieder hinter ihren Schreibtisch setzte. »Und ich bin Regan Reilly.« »Sagten Sie Regan Reilly?« »Ja.« »Sind Sie etwa Nora Regan Reillys Tochter?« »So ist es.« »Wahnsinn! Ist das zu fassen? Ich habe an ihrem letzten Film mitgearbeitet. Sie hatte ganz nebenbei erwähnt, dass ihre Tochter als private Ermittlerin arbeitet.« Regan lächelte. »Da ist ja ein Zufall.« 39
»Der Film wurde auch hier in der Gegend gedreht.« »Ich erinnere mich. Allerdings habe ich es nie zum Set geschafft.« »Es wurde ein ziemlich spannender Streifen.« »Ich weiß«, nickte Regan. »Bestellen Sie Ihrer Mutter herzliche Grüße von Joanne. Vermutlich wird sie sich gar nicht mehr an mich erinnern.« »O doch, sie wird«, versicherte Regan. »Wir haben viel miteinander gelacht. Das macht manchmal vieles leichter.« Sie warf einen fast verzweifelten Blick auf ihren Schreibtisch. »Nun sehen Sie sich nur dieses Durcheinander an!« »Na, Sie haben auch sicher eine Menge zu tun«, meinte Regan. »Bei den Dreharbeiten kommt man keine Sekunde zur Ruhe. Man fühlt sich wie ein Hamster im Rad. Und wenn alles vorüber ist, geht man nach Hause und klappt zusammen.« »Das kann ich mir gut vorstellen. Ich bräuchte von Ihnen auch nur noch ein paar Auskünfte, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Kein Problem. Fragen Sie nur. Aber trinken Sie doch Ihren Kaffee – oder schmeckt er Ihnen nicht?« »Im Gegenteil. Ganz ausgezeichnet«, log Regan routiniert. »Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann, Regan. Aber wenn das Telefon klingelt oder einer von diesen Chaoten hereinkommt, weil er unbedingt etwas von mir will, dann geht das vor. Aber das verstehen Sie sicher, nicht wahr?« »Selbstverständlich. Aber fangen wir an. Was können Sie mir über Whitney erzählen?« »Sie ist ein nettes, sympathisches Mädchen. Mitte zwanzig. Seit gut fünf Jahren im Geschäft. Die Rolle hier ist ihre bisher größte und das scheint sie ziemlich nervös zu machen.« 40
»Tatsächlich?« »Zumindest ist das mein Eindruck. Irgendwie spüre ich das. Gestern lief es gar nicht gut für sie. Es sah ganz so aus, als herrschte eine äußerst schlechte Stimmung am Set. Der Regieassistent schrie ständig herum, die Leute sollten ruhig sein und sich gefälligst konzentrieren. Nein, es war wirklich kein besonders erfolgreicher Tag.« »Also wird sie froh gewesen sein, dem Trubel für einige Zeit entkommen zu können?« »Mir wäre es an ihrer Stelle jedenfalls so gegangen. Das können Sie mir glauben.« Die Umgebung ist ziemlich weitläufig, überlegte Regan. Und Whitney wird erst am Sonntagabend von ihrer Mutter zum Essen erwartet, also in zweieinhalb Tagen. Sie kann überall und nirgends sein. »Fallen Ihnen vielleicht ein paar Orte ein, an denen sich die Filmleute besonders gern aufhalten? Wohin könnte sie gefahren sein?« »Sie ist nicht weit von hier aufgewachsen, hat sie mir einmal erzählt. Wer weiß? Man kann so unglaublich viel unternehmen. Es kommt nur darauf an, wie viel Geld man ausgeben kann oder will.« Joanne schwieg und runzelte die Stirn. »Aber ich muss zugeben, dass es mich schon interessiert, warum Sie Whitney unbedingt finden wollen. Stimmt irgendetwas nicht?« Regan schüttelte den Kopf. »Am Sonntag heiratet jemand aus der Familie. Und ihre Mutter möchte unbedingt, dass sie daran teilnimmt. Es ist sehr wichtig.« »Erfährt man so etwas nicht längere Zeit im Voraus?« »Nein. Eine ältere Tante hat sich verlobt und scheint mit der Hochzeit nicht warten zu wollen. Deshalb findet die Feier schon jetzt am Wochenende statt.« Joanne lächelte. »Was bringt mich nur auf den Gedanken, dass die alte Dame einige Dollars auf der Kante haben muss?« 41
»Davon weiß ich nichts«, wich Regan aus. Joanne rümpfte die Nase. »Ich hatte eine Tante, die wir alle jahrelang buchstäblich auf Händen getragen haben. Und dann vererbte sie alles einem Tierheim. Wir konnten es erst nicht glauben. Ich meine, wir haben wirklich nichts gegen Hunde und Katzen, aber das fanden wir dann doch reichlich absurd. Keinen einzigen Cent haben wir erhalten, nur weil wir weder bellen noch auf vier Pfoten laufen.« Regan lachte. »So war es. Aber wenn Sie mich fragen: Ich würde mir kein Bein ausreißen, um an so einer Hochzeit teilzunehmen. Reine Zeitverschwendung. Wenn jemand mir etwas vermachen will, dann tut er es auch so. Betuchte Leute können Erbschleicherei meistens meilenweit riechen. Und außerdem: Wen heiratet diese Tante eigentlich?« »Ich kenne ihn nicht. Weder der Braut noch dem Bräutigam bin ich jemals begegnet. Ich habe nur den Auftrag, Whitney aufzuspüren.« Joanne trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte und schob sich die Baseballkappe zurecht. »Warum kommen Sie nicht mit uns essen? Sie könnten mit den Leuten vom Set sprechen. Vielleicht weiß einer von denen, wohin sie wollte. Ich stecke hier nämlich bis zum Hals in Arbeit und komme gar nicht dazu, mehr als zwei, drei Worte mit den Schauspielern zu wechseln.« »Vielen Dank, das wäre großartig«, sagte Regan. »Und falls sich Whitney bei einem von ihnen meldet, kann der oder die sie vielleicht bitten, sich sofort bei ihrer Mutter zu melden.« Joanne warf einen Blick auf die gewaltige Uhr an ihrem sonnengebräunten Handgelenk. »In einer Stunde ist Mittagspause. Der Lunch wird in einem kleinen Park ein paar Meter die Straße hinauf serviert. Warum treffen wir uns nicht dort wieder?« 42
Mit anderen Worten: Verschwinde jetzt, ich habe zu tun, dachte Regan. »Gute Idee.« Dann beugte sie sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Ich weiß, dass Whitney hier im Hotel wohnt. Ihre Mutter hat sie heute früh mehrfach angerufen, aber leider nicht erreicht. Was meinen Sie, könnte ich einen Blick in ihr Zimmer werfen?« Joanne kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht recht, Regan …« »Ich möchte nur sehen, ob ich dort einen Hinweis finde, wohin sie gefahren sein könnte«, fuhr Regan beschwichtigend fort. »Einen Prospekt, eine Notiz – irgendetwas. Wenn Sie wollen, rufe ich ihre Mutter an und Sie können mit ihr reden.« Joanne hob die Hand. »Nicht nötig. Ich gebe Ihnen einen Schlüssel. Wir bewahren für jedes Zimmer einen Ersatzschlüssel auf, falls ein Schauspieler bereits am Set sein sollte und etwas vergessen hat.« Sie hob die Brauen. »Sein Drehbuch beispielsweise! Na, wie auch immer, es ist bestimmt nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie sich mal umsehen.« Sie sah auf einer Liste nach, zog die Schublade auf und holte den Schlüssel zu Zimmer 178 hervor. »Das muss ja eine tolle Hochzeit sein«, murmelte Joanne, als sie ihn Regan reichte.
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ls zu Edwards Überraschung niemand auf sein Klingeln reagierte, öffnete er die Tür mit dem Schlüssel, den Lucretia ihm gegeben hatte. Das Haus war angenehm kühl und still. Die Einrichtung entsprach nicht unbedingt seinem Geschmack, und so schickte er ein kleines Stoßgebet zum Himmel, dass Lucretia schon bald im Jenseits ihren verdienten Lohn erhielt, damit er eine anständige Ledergarnitur anschaffen konnte. In der makellos aufgeräumten Küche fand er eine Kristallvase für den Rosenstrauß. Auf dem Tisch lag eine Nachricht in Lucretias krakeliger Handschrift: Mein lieber Edward, Phyllis und ich sind zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Ich brauche unbedingt ein neues Kleid für unseren großen Tag! Du fehlst mir bereits. Sehr! In Liebe, Lucretia »Ich kann es kaum erwarten«, sagte er und füllte Wasser in die Vase. Das Wandtelefon klingelte. Eddie streckte die Hand aus und nahm den Hörer ab. »Hallo?«, meldete er sich. »Ist Lucretia zu sprechen?«, fragte eine Frauenstimme. »Nein, sie ist nicht da.« »Hier ist Lilac Weldon, ihre Nichte. Mit wem spreche ich denn?« Eddie schluckte. »Mit Edward. Wie nett von Ihnen, dass Sie anrufen.« 44
»Oh, Sie sind das. Wir freuen uns alle, Sie am Sonntag endlich kennen zu lernen.« »Und ich kann es kaum erwarten, Sie hier begrüßen zu dürfen.« »Vielen Dank. Aber eigentlich brauche ich gar nicht mit Lucretia zu sprechen, wenn ich es mir recht überlege. Sie könnten mir auch helfen. Ich möchte Ihnen beiden ein ganz besonderes Hochzeitsgeschenk kaufen, nur leider kenne ich Ihren Nachnamen nicht.« O Gott, dachte Eddie. Wie gut, dass ich meinen Namen geändert habe! »Edward Fields.« »Nur Edward? Kein zweiter Vorname?«, fragte Lilac. »Nein. Meine Eltern waren nicht besonders einfallsreich, fürchte ich.« »Meine Tochter wünschte sich, ich hätte weniger Phantasie gehabt«, lachte Lilac. »Ich habe ihr den Namen Freshness gegeben, aber mittlerweile nennt sie sich Whitney.« »Oh, wie interessant!«, heuchelte er und hielt sich haltsuchend an der Tischkante fest. »Lucretia hat mir erzählt, sie sei Schauspielerin.« »Ja. Und jetzt hat sie endlich eine Rolle, die ihr wirklich den Durchbruch bringen könnte. Aber über das Wochenende macht sie irgendwo Urlaub. Sie verschwindet gern hin und wieder ein paar Tage, um zu sich selbst zu finden. Da ich jedoch weiß, wie gern sie zu Ihrer Hochzeit kommen würde, habe ich jemanden beauftragt, sie zu suchen.« »Sie lassen sie suchen?« »Ja. Durch eine private Ermittlerin. Sie heißt Regan Reilly. Ich fand, es sei höchste Zeit, dass sich die Familie wieder näher kommt, und die Hochzeit ist ein wunderbarer Anlass. Ich glaube, es wird Lucretia freuen, wenn wir alle zusammen in Beverly Hills erscheinen.« 45
»Davon bin ich fest überzeugt«, hüstelte Eddie, krampfhaft darum bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. »Es wird sie bestimmt sehr beeindrucken, dass Sie sogar eine Privatdetektivin eingeschaltet haben, um alle Familienmitglieder zusammenzutrommeln.« »Bitte erzählen Sie ihr noch nichts davon. Ich möchte, dass es eine Überraschung wird. Regan Reilly sucht bereits intensiv nach Freshness, wie sie mir mitteilte. Und wissen Sie was? Sie wird sie ganz bestimmt finden.« »Wir wollen es hoffen.« »Erwarten Sie Ihre Familie auch zur Hochzeitsfeier, Edward?« »Nein. Ich habe bedauerlicherweise keine engen Verwandten mehr.« »Oh, das tut mir wirklich leid«, säuselte Lilac mitfühlend. »Nun, aber Sie haben ganz gewiss Ihre Freunde eingeladen. Es wird sicher sehr nett, wenn sie am Sonntag ebenfalls dabei sind.« »Na ja, die in … meisten meiner Freunde … leben in New York«, stotterte Eddie nervös. »Ich fürchte, sie werden es nicht einrichten können, so kurzfristig nach Kalifornien zu kommen. Wir haben uns ja auch ein bisschen plötzlich zur Heirat entschlossen. Aber Lucretia und ich wollen sie im Sommer besuchen.« »Wo in New York?« »New York City«, entgegnete er. »Oh, das andere Telefon klingelt … Wir sehen uns dann am Sonntag.« »In Ordnung. Auf Wiedersehen, Edward«, flötete Lilac. Edward hängte den Hörer auf und schloss einen Moment lang die Augen, um sich zu beruhigen. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und rief Rex an. »Jetzt sind es bereits zwei Frauen, um die du dich kümmern musst«, stöhnte er, nachdem Rex sich gemeldet hatte. »Die andere heißt Regan Reilly.« 46
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hyllis und Lucretia fuhren mit dem Rolls-Royce nach Beverly Hills. Phyllis saß am Steuer. Schon für ihre alte Arbeitgeberin hatte sie Chauffeursdienste geleistet und ihre neue, ebenso betagte Chefin hatte den Wagen zusammen mit dem Anwesen erworben. »Gefällt Ihnen die Arbeit bei mir?«, fragte Lucretia Phyllis unvermittelt. »Na, sagen wir mal so: Nach einem Hauptgewinn in einer Quizshow würde ich auf der Stelle kündigen!« Lucretia lachte. »Sie würden mir fehlen.« Phyllis warf ihr einen Seitenblick zu. »Wirklich?« Auf einmal empfand sie leichte Gewissensbisse wegen ihres zweiten Anrufs bei Lilac Weldon. »Ja natürlich. Es ist wichtig, Menschen um sich zu haben, denen man sich nahe fühlt. Und wenn man in meinem Alter ist, sind viele Freunde schon längst gestorben.« »Deswegen finde ich es auch gut, dass Sie Ihre Familie zur Hochzeit eingeladen haben. Blut ist nun mal dicker als Wasser.« »Sie sind keine Blutsverwandten von mir. Es ist Haskells Familie.« »Egal«, murmelte Phyllis, als sie auf den Rodeo Drive einbog. »Wo lebt eigentlich die Familie ihres Bräutigams?« »Er hat leider keine Verwandten mehr«, antwortete Lucretia bedrückt. »Überhaupt keine? Jeder hat doch irgendwo einen entfernten Cousin oder eine Cousine.«
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»Ich glaube, es fällt ihm nicht leicht, darüber zu sprechen«, sagte Lucretia nachdenklich, während sie an einer Designerboutique nach der anderen vorbeifuhren. O Mann …! Verstohlen blickte Phyllis auf ihre Armbanduhr. Wenn das so weiterging, würde sie noch ihr Lieblingsquiz versäumen. Und endlich: Bei Saks fand Lucretia ein pinkfarbenes, perlenbesticktes Kleid mit passenden Schuhen. »Sie sehen hinreißend aus«, versicherten ihr die jungen Verkäuferinnen. »Nun, das ist zwar reichlich übertrieben, aber wenn Sie meinen.« Lucretia lächelte ihrem Spiegelbild zu. »Und jetzt suchen wir noch etwas Nettes für Phyllis aus.« »Aber nein, das ist doch nicht nötig«, protestierte die Haushälterin energisch. »Doch, Sie brauchen unbedingt ein hübsches Kleid. Keine Widerrede!« Eine Viertelstunde später, als Phyllis mit einem Arm voller Kleider in einer Kabine verschwunden war, versuchte eine höfliche Verkäuferin, Lucretia die Zeit mit einem Gespräch zu vertreiben. »Ich habe Sie noch nie bei uns gesehen. Wohnen Sie schon lange hier in der Gegend?« »Ich habe vor vielen Jahren hier gelebt«, begann Lucretia. »Ich war damals ein Stummfilmstar. Eine wundervolle Zeit …« Phyllis hatte alle Kleider anprobiert und sich schließlich für ein dezentes seidenes entschieden, da kam Lucretia zum Schluss ihrer Lebensgeschichte. »Ich habe ein paar Milliönchen mit Dotcom-Investitionen gemacht und in wenigen Tagen heirate ich wieder.« »Ihren sechsten Ehemann! Wie wunderbar! Und sich vorzustellen, dass Sie ein Stummfilmstar waren! Bitte glauben Sie mir, Sie sind wirklich ein leuchtendes Vorbild für uns alle.« 48
Lucretia lächelte geschmeichelt. »Nun ja, heute Nachmittag besorgen wir uns die Heiratserlaubnis. Und am Sonntag werde ich dann endlich mein wunderschönes Kleid von Saks tragen können.« Sobald Lucretia und Phyllis mit Tüten beladen das Geschäft verlassen hatten, griff die Verkäuferin nach dem Telefon. »Hallo? Hör zu, ich habe da eine tolle PR-Geschichte für uns«, begann sie.
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egan betrat Nummer 178, ein einfaches Hotelzimmer mit Doppelbett, zwei Nachttischen, einem kleinen Schreibtisch und einer wuchtigen Schrankkommode mit TV-Gerät und etlichen Schubladen. Der Anblick dieser sterilen Räume löste in Regan stets eine gewisse Ernüchterung aus. Das Braungrau von Bettdecke und Vorhängen konnte einen fast depressiv stimmen. Vielleicht hatte Whitney deshalb versucht, alles ein wenig persönlicher zu gestalten. Auf dem Bett entdeckte Regan mehrere buntbestickte Kissen, auf dem Schreibtisch gerahmte Fotos, auf der Kommode einen farbigen Hut und Kerzen, die offensichtlich von Altered States stammten. Es konnte nicht lange dauern, sich hier umzusehen. Eine Glasschiebetür eröffnete einen weiten Blick über die Hügel hinweg bis zum Meer. Das Zimmer mochte vielleicht nicht gerade luxuriös sein, aber diese Aussicht war einfach herrlich. Regan setzte sich an den Schreibtisch und nahm eine der Fotografien zur Hand. Sie zeigte Whitney und ihre Mutter. Sie waren einander sehr ähnlich. Auf einem anderen Bild stand das Mädchen zwischen zwei Männern, die ebenfalls mit ihr verwandt zu sein schienen. Von Lilac wusste Regan, dass Whitney ihren Onkeln sehr nahe stand, da ihr Vater, dieser Spinner, die Familie verlassen hatte, als sie noch ganz klein war. Seit Jahren hatte niemand mehr etwas von ihm gehört. Regan zog die Schreibtischschublade auf und entdeckte eine Kopie des Drehbuchs zu Getäuscht. Auf der Titelseite stand mit roter Schrift der Name »Judy« geschrieben. Sie blätterte das Heft durch und bemerkte, dass alle Stellen, die die Rolle von Judy betrafen, unterstrichen worden waren. Komisch, dass Whitney das Script hier gelassen hat, wunderte sich Regan. 50
Warum hat sie es nicht mitgenommen, wenn sie ein paar freie Tage hat? Sie zog die Schublade ein bisschen weiter auf und entdeckte einen Taschenkalender und ein Adressbuch. Sie schlug die Seite für den heutigen Freitag auf, doch sie erwies sich als leer. Der Sonntag war als Muttertag vermerkt. Auch ein schnelles Durchblättern brachte keinerlei zweckdienliche Informationen. Aber dann fiel hinten ein Zettel heraus. Unbedingt erledigen, las Regan. Mom etwas Hübsches zum Muttertag kaufen. Keramik? Hautcreme Vitamine RUHE BEWAHREN! Donnerwetter, dachte Regan. Wann hat Whitney das geschrieben? Sie warf einen Blick in die anderen Schubladen, fand jedoch nichts, was sie weitergebracht hätte. Im Schrank stand ein großer, leerer Koffer. Im Bad lagen diverse Toilettenartikel, aber Regan fand weder Zahnbürste noch Zahnpasta. Auf dem Weg zur Tür bemerkte sie schließlich eine Broschüre, die zwischen Bett und Nachttisch gerutscht war: Ausflugsziele und Freizeittipps. Im Innern waren etliche Anzeigen für Restaurants, Hotels und Fitnesscenter in Zentralkalifornien mit Anmerkungen versehen. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich sie mitnehme, Whitney«, sagte Regan laut. »Vielleicht hilft mir die Broschüre, Sie zu finden.« Der kleine Radiowecker auf dem Nachttisch zeigte 12.15 Uhr an. Zeit für einen Lunch, dachte Regan, als sie das Hotelzimmer verließ.
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inter Whitney Weldon lag eine harte Woche. Sie hatte eine Affäre mit dem Regisseur Frank Kipsman begonnen, aber sie waren gezwungen, ihr Verhältnis bis zum Ende der Dreharbeiten für sich zu behalten. Außerdem machte sich Whitney fürchterliche Sorgen, ob sie ihre Rolle auch gut genug spielte, und Frank bereitete die Tatsache Magenschmerzen, dass ihnen langsam das Geld ausging. Und dann hatte auch noch Whitneys Agent angerufen und mitgeteilt, dass sie ein Rollenangebot an eine andere Schauspielerin verloren hatte, die ihr offenbar ständig zuvorkam. Gestern Abend war sie endlich dem Stress entkommen und an der Küste entlang nach Norden gefahren. In einem kleinen Motel direkt am Wasser hatte sie sich ein Zimmer gemietet. Heute Morgen hatte sie lange ausgeschlafen und war dann zu einem Spaziergang am Strand aufgebrochen. Hier konnte sie ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden. Immer wieder jedoch kam ihr dieses Schauspielseminar in den Sinn, das Ricky, einer der Produktionsassistenten, erwähnt hatte. Er meinte, es sei bestimmt hochinteressant und würde am Samstag in einem kleinen Ort in den Bergen stattfinden. Es waren nur noch wenige Plätze frei, und Ricky hatte sie gebeten, niemandem davon zu erzählen. Zuerst hatte sie abgelehnt, doch nun wollte es ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Vielleicht sollte ich doch daran teilnehmen, überlegte sie. Es könnte mich weiterbringen. Ich habe ohnehin nichts anderes zu tun, und Frank fährt nach Los Angeles, um Geld für den Film aufzutreiben. Whitney zog den Zettel hervor, den Ricky ihr gegeben hatte, und starrte unschlüssig auf die Telefonnummer. Hatte sie das wirklich nötig? Immerhin war sie vermutlich bekannter als alle anderen Teilnehmer. 52
Allerdings – gerade hatte man bei der Vergabe einer großen Rolle einer anderen Schauspielerin den Vorzug gegeben. Whitney Weldon zog ihr Mobiltelefon hervor, wählte die Nummer auf dem Zettel und bekam tatsächlich den Kursleiter an den Apparat. Er war Regisseur und Drehbuchautor und schien sich zu freuen, dass sie teilnehmen wollte. Das Seminar sollte fünfhundert Dollar kosten und endete bereits am Sonntag. Perfekt. Ohne ihre Mailbox oder die SMS-Mitteilungen zu kontrollieren, schaltete sie das Handy wieder aus. »Gut«, sagte sie laut. »Ich habe einen Schritt in die richtige Richtung getan.« Kurz dachte sie daran, in das Hotel in Unxta zurückzukehren. Sie würde dort die Nacht verbringen. Es lag näher am Seminarort und sie könnte ein paar bequeme Sachen mitnehmen. Nach ihren Erfahrungen wurden die meisten solcher Workshops auf dem Fußboden verbracht. Nein, ich möchte mich dieser hektischen, nervösen Atmosphäre dort nicht früher als nötig wieder aussetzen. Ich bleibe hier, beschloss sie und blickte nachdenklich auf die peitschenden Wellen des Pazifiks.
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itten in dem kleinen Park wartete ein opulentes Lunchbuffet auf die Schauspieler und die Crew. Salate, Nudelgerichte und Sandwiches standen auf einem großen Tisch bereit. Auf dem Grill lagen Hot Dogs und Hamburger. Es fehlten weder Obst noch Kekse und Kuchen. Fünf Minuten nachdem die letzte Szene des Vormittags beendet worden war, bildete sich vor dem Buffet schon eine lange Schlange. Regan war den kurzen Weg zum Park zu Fuß gelaufen. Sie entdeckte Joanne auf Anhieb. »Hier bin ich, Regan!« Sie winkte ihr zu. Regan schlenderte auf den Tisch im Schatten zu, an dem Joanne saß, und wunderte sich wieder einmal, dass ein einziger Film so viele Mitarbeiter benötigte. Es war ein herrlicher Tag und alle schienen den Aufenthalt im Freien zu genießen. Die Tabletts füllten sich schnell und vom Grill stieg Rauch auf. Regan dachte kurz darüber nach, wie viele der Anwesenden wohl Vegetarier waren und ob sie der Geruch nach gebratenem Fleisch abstieß. »Wollen Sie nichts essen?«, erkundigte sich Joanne. »Vielen Dank. Aber ich warte lieber, bis der Ansturm ein wenig nachgelassen hat.« Eine Frau an die sechzig, mit feuerroten Haaren, in schwarzen Stretchhosen, einer weißen Bluse und Sneakers kam an den Tisch gestürmt. Gewaltige Ohrringe und eine riesige Sonnenbrille vervollständigten das Bild. Regan sah auf den ersten Blick, dass sie kein Kind von Traurigkeit war. »Hi, ich bin Molly, die Maskenbildnerin.« »Hallo, Molly«, erwiderte Regan. 54
»Joanne sagte mir, dass Sie Whitney suchen. Ist denn etwas passiert?« »Nein, keine Sorge. Am Sonntag findet eine Hochzeit statt, bei der ihre Familie sie gern dabei hätte. Deshalb versuche ich, sie zu finden.« Molly schob sich die Brille höher auf die Nase. »Wissen Sie, gestern machte sie keinen besonders glücklichen Eindruck.« Sie setzte sich neben Regan auf die Bank. »Als Maskenbildnerin kommt man den Leuten recht nahe. Man redet miteinander. Und gestern erzählte sie mir, dass sie sich verbessern und endlich selbstsicherer werden möchte. Das soll natürlich nicht heißen, dass sie nicht schon jetzt eine gute Schauspielerin wäre. Ich bin sicher, dass sie das Zeug zu einem echten Star hat.« »Nimmt sie eigentlich Schauspielunterricht?«, fragte Regan. »Ja. Bei Clay Ruleman in Beverly Hills. Viele Schauspieler, mit denen ich gearbeitet habe, schwören auf ihn.« »Aber zu ihm wird sie kaum gefahren sein. Schließlich ist Wochenende«, überlegte Regan laut. »Ausschließen kann man es nicht. Er gibt auch am Samstag Unterricht.« »Zumindest sollte ich da mal anrufen«, beschloss Regan. »Sie wandert übrigens auch gern. Sie sagt, es würde sie so gut entspannen.« Na großartig, dachte Regan. In Kalifornien einen Wanderfreund finden zu wollen heißt, die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen. Bei einem Hot Dog und einer Coke erfuhr Regan noch, dass die Filmleute sich abends immer zu einem Drink an der Hotelbar trafen. Auch Whitney tauchte gelegentlich dort auf, um ein Glas Wein zu trinken, ging aber stets recht früh zu Bett. Für Regan lag es auf der Hand, dass Whitney alles tat, um ihre erste
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größere Rolle möglichst gut zu spielen, und ihre freien Tage deshalb zur Entspannung nutzen wollte. Regan verteilte Visitenkarten mit ihrer Handynummer und bat: »Melden Sie sich bitte bei mir, wenn Sie irgendetwas von Whitney hören.« Zurück im Auto, rief sie die Auskunft an und erkundigte sich nach der Nummer von Clay Rulemans Studio. Eine Minute später hörte sie, dass der Unterricht am Samstag ausfallen würde. Ruleman war verreist. Regan schaltete den Motor ein. Sie fuhr an dem Haus vorbei, in dem die Dreharbeiten stattfanden. Drinnen saß Frank Kipsman und nahm einen einsamen Lunch ein. Er hatte keine Ahnung, dass sie nach Whitney suchte.
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ex hatte sich für einen unauffälligen Geländewagen mit dunkelgetönten Fenstern entschieden. Wegen des sonnigen Wetters wäre ihm ein Kabrio natürlich lieber gewesen, aber er musste nun einmal jedes Aufsehen unbedingt vermeiden. Als er auf dem Highway Richtung Unxta war, packte ihn eine erregte Vorfreude. Fünf Millionen Dollar. Die würden ihm gehören, wenn es ihm gelang, Whitney Weldon bis nach der Hochzeit am Sonntag vom Ort des Geschehens fern zu halten. Nervös lachte Rex auf. Junge, hatte Eddie ein Schwein! Dies war mit Abstand sein bisher größter Deal. Und was für ein Glück, dass Lucretia rechtzeitig aus ihrer Dotcom-Beteiligung ausgestiegen war, sonst hätte sie ihr ganzes Geld verloren wie tausend andere, die in das Unternehmen investiert hatten. Rex konnte kaum glauben, dass Eddie damals nichts weiter zu tun hatte, als Investoren ausfindig zu machen. Das war bestimmt einer seiner wenigen ehrlichen Jobs gewesen. Wer hätte aber auch ahnen können, dass er ganz groß absahnen würde, während diese smarten Senkrechtstarter, die ihn angeheuert hatten, jetzt finanziell auf dem Trockenen saßen? Wie ihre Reaktion wohl aussähe, wenn sie erfuhren, dass Eddie dabei war, sich mit ihrem Unternehmen dauerhaft und glänzend zu sanieren? Rex seufzte tief und fuhr sich durch die Haare. Wie viele Jahre würde sich Eddie gedulden müssen, bis Lucretia endlich das Zeitliche segnete? Zur Hölle, für weitere fünf Millionen wäre er nur zu gern bereit, ihm die Wartezeit zu verkürzen! Nach fast zwei Stunden hatte Rex Unxta erreicht und steuerte das Hotel an, in dem das Produktionsbüro untergebracht war. Ich werde dort einen kleinen Happen essen und sehen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann, dachte er. Aber als Rex auf
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den Hotelparkplatz einbiegen wollte, entdeckte er in einiger Entfernung am Straßenrand eine Reihe von Film-Fahrzeugen. Er fuhr weiter. »Sieh da, sie veranstalten ein Picknick«, murmelte Rex beim Anblick des belagerten Buffets auf dem Rasen. Er nahm die nächste Parklücke, kurbelte das Fenster herunter und schaltete den Motor aus. Gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, wie eine Frau mit Baseballkappe einer anderen erzählte, dass eine private Ermittlerin namens Regan Reilly nach Whitney Weldon suchte und eigentlich bald auftauchen müsste. Er vermochte sein Glück kaum zu fassen. Ich werde auf sie warten, beschloss er bei sich. Dann hefte ich mich an ihre Fersen und warte ab, was sie unternimmt, um diese Schauspielerin aufzuspüren. Wenn sie damit Erfolg hat, schnappe ich sie mir beide. Whitney und Regan würden gemeinsam verschwinden. Rex lachte. Der gute alte Eddie hatte wirklich Dusel. Er bekam zwei für den Preis von einer. Ein paar Minuten später erschien eine junge, dunkelhaarige Frau, offenbar die Ermittlerin. Rex stieg aus und setzte sich in ihrer Nähe auf eine Bank. Als sie den Park wieder verließ, sprang er zurück in sein Auto und folgte ihr. Er dachte gar nicht daran, sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
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egan saß in ihrem Auto und blätterte in der Touristenbroschüre, die sie in Whitneys Zimmer gefunden hatte. Neben anderen Informationen waren Hotels, Restaurants, Erholungsmöglichkeiten und Strände aufgeführt. Santa Barbara County besaß eine atemberaubende, hundertfünfzig Kilometer lange Küste, und Whitney hatte alle Abschnitte, die von Stränden handelten, unterstrichen und jeden erwähnten Sandstreifen mit einem Ausrufezeichen versehen. Das macht mir die Sache echt leichter, dachte Regan. Frustriert verzog sie das Gesicht und warf das Heft neben sich auf den Beifahrersitz. Der Hotelparkplatz wirkte ruhig und verlassen. Es war die heißeste Zeit des Tages. Früher, als Kind, hatte sie auch noch in der größten Hitze stundenlang unermüdlich im Pool geplanscht. Aber wenn man älter wird, fällt es einem schwerer, die hohen Temperaturen zu überstehen. Wenn ich jetzt doch bloß mit einem kalten Getränk irgendwo im Schatten sitzen könnte, seufzte Regan. Sie holte ihren Block hervor und machte sich Notizen. Whitney sorgte sich um ihr Auftreten vor der Kamera. Sie wollte ihre Darstellungsfähigkeiten verbessern. Von der Mutter wusste Regan, dass sie ihre freien Wochenenden gern allein verbrachte. Um zu sich zu finden. Das hatte auch Regan einige Male versucht, war aber immer wieder nach Hause zurückgekehrt, um sich mit Freunden zum Abendessen zu verabreden. Bei ihrer Tätigkeit als Privatdetektivin verbrachte sie genügend Zeit mit sich. Und sie war ein Einzelkind gewesen, lieber allein in ihrem Apartment als auf der Straße, wo alle anderen immer gruppenweise aufzutreten schienen. Aber wohin geht eine Frau wie Whitney, wenn sie die Einsamkeit sucht? 59
Natürlich! Sie geht irgendwo an den Strand. Das bietet sich doch förmlich an, dachte Regan. Regan startete den Motor, verließ den Parkplatz und steuerte auf den Highway zu. Wahrscheinlich ist Whitney nach Norden gefahren, sagte sie sich. Denn da oben wurde sie ja am Sonntagabend ohnehin erwartet. Zurück in Richtung Los Angeles zu fahren wäre völlig unsinnig. Auf der Route 1 hielt Regan an einer ganzen Reihe von Hotels und Motels. Aber in keinem war eine Whitney Weldon abgestiegen. Sie wählte Lilacs Nummer und kündigte ihr Kommen an, damit sie und ihre Brüder ihr halfen, alle in der Broschüre verzeichneten Hotels anzurufen. Gegen fünf Uhr befand sie sich wieder auf der holprigen Zufahrtsstraße zum Weingut. Als sie ankam, war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. In der Halle saß Lilac hinter dem Empfang. Sie stand auf, um Regan zu begrüßen. In ihrem weiten, bodenlangen Rock, der geblümten, bäuerlichen Bluse und den derben Sandalen wirkte sie wie eine Verkörperung von Mutter Erde. »Ich freue mich, dass Sie endlich hier sind, Regan. Earl und Leon brennen darauf, Sie kennen zu lernen. Einen Moment bitte. Ich werde sie holen.« Sie lief davon, und Regan bekam die Chance, sich ein wenig gründlicher umzusehen als am Tag zuvor. Die stattliche Lodge verbreitete eine rustikale Atmosphäre. Hohe, breite Fenster gewährten einen weiten Ausblick auf die Weinberge. Zwei Glastüren öffneten sich auf eine große Terrasse. Auf der einen Seite der Empfangshalle führte ein Korridor zu den Gästezimmern, auf der anderen befand sich der Speisesaal. Zehn Minuten später saßen Regan, Lilac, Leon und Earl bei einem Glas Limonade auf der Terrasse.
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»Wollen Sie nicht doch einen Schluck von unserem Wein probieren?«, fragte Leon. »Wir haben einen wunderbaren Pinot Noir und einen ganz weichen Chardonnay.« »Später gern«, lächelte Regan. Die Brüder hätten gegensätzlicher kaum sein können. Leon trug knappe Jeans, ein T-Shirt und wirkte ein wenig machohaft. Seine Haut war tiefbraun, sein Haar dunkel und seine Oberlippe bedeckte ein buschiger Schnurrbart. Er hatte eine kompakte, muskulöse Figur und sah aus, als würde er vor allem körperlich arbeiten. Im Gegensatz dazu war Earl sehr groß, dünn und knochig. Er hatte seinen Kopf kahl geschoren und trug einen pyjamaähnlichen Baumwollanzug und Plastiklatschen. Erstaunlich, dass selbst leibliche Geschwister so verschieden sein können, dachte Regan und fragte sich, wie ein Bruder oder eine Schwester von ihr ausgefallen wäre. An Lilacs Hippie-Vergangenheit konnte kein Zweifel bestehen. Mit ihrem langen, blonden, von grauen Strähnen durchzogenen Haar und ohne Make-up hätte sie Werbung für Müsliriegel machen können. Sie strahlte etwas Entrücktes aus, und Regan konnte sich gut vorstellen, wie sie, fünfundzwanzig Jahre jünger, ihre neugeborene Tochter Freshness nannte. »Eigentlich verblüffend, dass Sie alle drei hier zusammen wohnen und arbeiten«, stellte Regan fest. »Es war schon immer mein Traum, ein Weingut zu besitzen«, antwortete Leon. »Ich arbeite gern mit meinen Händen in der Erde.« Regan lächelte verständnisvoll. »Drüben in Italien hat unser Großvater den Wein in einer Badewanne gekeltert. Soweit ich weiß, konnte er damit keinen Preis gewinnen, aber er liebte seine Arbeit. Als unsere Mutter mit unserem Vater, den sie während des Zweiten Weltkriegs kennen gelernt hatte, nach Amerika ging, schickte sie Großvater Fotos von den kalifornischen Weinbergen. Er hat uns vor 61
seinem Tod mehrmals besucht. Und ich weiß noch, wie oft er zu mir sagte: ›Such dir einen Job in der Landwirtschaft, Leon. Das ist das Beste, was du tun kannst. Es macht einen glücklich, die Erde zwischen den Fingern zu spüren.‹« Und die Weinbeeren zwischen den Zehen, dachte Regan. »Zunächst verdiente ich gar nicht schlecht als Gärtner, ich hatte mich auf Baumschnitt spezialisiert. Damals war ich noch verheiratet und musste eine Frau ernähren. Mir blieb nicht genug, um ein Weingut kaufen zu können. Aber vor ein paar Jahren las ich in der Zeitung von der geplanten Versteigerung dieses Anwesens. Angeblich soll es hier ja spuken. Vielleicht wurde der Besitz deshalb so günstig angeboten. Da ich den Kaufpreis dennoch nicht allein aufbringen konnte, überredete ich meinen Bruder und meine Schwester, sich mit mir zusammenzutun. Unsere Eltern hatten uns nämlich ein kleines Erbe hinterlassen.« Earl und Lilac lächelten ihren Bruder an. »Earl hatte die Idee mit den Meditationskursen. Lilac ist für den Souvenirshop, die Weinproben und die Gästezimmer verantwortlich. Unser Ziel ist eine nette, kleine Weinkellerei, die sich von anderen unterscheidet. Ein kleines, erholsames Paradies, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Regan nickte. »Aber das Ganze kostet eine Menge Geld. Wir stehen beim Finanzamt in der Kreide. Einige für teures Geld gekaufte Geräte haben bereits den Geist aufgegeben. Und Einrichtungsgegenstände sind auch nicht billig. Zusätzlich wollen wir den alten Schuppen am Rand des Grundstücks renovieren, in dem sich im Moment nichts als Gerümpel befindet. Und eine Weinkellerei in der Nähe befürchtet von uns Konkurrenz.« »Tatsächlich?«, fragte Regan überrascht nach. »Ja. Oben im Napa Valley gibt es zahllose Weingüter, aber auch jede Menge Touristen. Also gleicht es sich einigermaßen 62
aus. Aber selbst dort hat man Probleme. Einige Umweltschützer wollen verhindern, dass für den Weinanbau weitere Bäume gefällt werden. Manche Leute haben Bedenken, dass man sich im Napa Valley übernimmt. Es wird einfach zu viel angebaut. Der Staat Kalifornien überschwemmt den Markt mit Wein, was sich negativ auf die Preise auswirkt.« »So habe ich das noch gar nicht gesehen«, murmelte Regan. Leon hob die Schultern. »Was wollen Sie machen? Dennoch bereue ich keinen Moment, das Anwesen gekauft zu haben. Die Gegend hier unten ist nicht so bekannt für den Weinanbau und das gefällt uns. Altered States ist für uns einfach perfekt. Wir wollen uns auf dem Gelände sogar kleine Cottages bauen. Wenn einer von uns doch noch heiratet, treten wir einander nicht auf die Füße.« »Das wäre ein Ding!«, warf Earl ein. »Die Scheidungsrate in dieser Familie liegt weit über dem nationalen Durchschnitt.« Regan musste grinsen. »Wurden bei der Auktion eigentlich viele Gebote abgegeben?« »Nein. Das hat mich damals auch sehr überrascht. Ich hätte mit weit mehr Interessenten gerechnet.« »Und jetzt, da Sie begonnen haben …« Sie verstummte mitten im Satz, da Earl aufstand, sich nach vorn beugte und mit den Fingerspitzen seine Zehen berührte. Die anderen zuckten mit keiner Wimper. Earl richtete sich wieder auf und streckte die Arme aus. »Es heißt, dass Wein dem Wohlbefinden dienlich ist, die Verdauung fördert und die Seele besänftigt. Genau das tut die Meditation auch. Deshalb bieten wir hier beides an.« »Klingt verlockend«, sagte Regan. »Mein Bruder und ich sind sehr verschieden«, fuhr Earl fort und bewegte seinen Kopf von einer Seite zur anderen. »Setz dich«, knurrte Leon. 63
Earl ließ sich langsam auf dem Boden nieder und nahm die Lotusposition ein. Erbost musterte Leon seinen Bruder. Er sieht aus, als würde er ihn am liebsten umbringen, fand Regan. Vermutlich trifft hier der alte Spruch zu, demzufolge Verwandte alles miteinander tun können, nur keine Geschäfte. »Wir sind alle sehr glücklich hier«, mischte sich Lilac ein, offensichtlich bemüht, die Atmosphäre zu entspannen. »Wir sind uns zwar nicht sehr ähnlich, hielten es aber für eine großartige Idee, die Erinnerung an unseren Großvater wachzuhalten und eine Art Kommune ins Leben zu rufen. In Italien, wo Großvater aufwuchs, lebten die Familien früher in kleinen Dörfern eng zusammen. Da es die hier nicht gibt, haben wir eben eine eigene kleine Gemeinschaft gegründet. Die Dorfbewohner sind unsere Freunde und Gäste.« Kein Wunder, dass Whitney ihre freien Wochenenden allein und woanders verbringt, dachte Regan. Earls Armbanduhr meldete sich. Er stand auf. »Zeit für meinen Vitamindrink.« »Einen Moment!« Leon musterte ihn finster. »Lass uns erst unser Gespräch beenden. Es ist für die Zukunft des Weinguts wichtig, dass wir Whitney finden.« Earl nickte kaum merklich. Irgendwie vermochte Regan nicht zu glauben, dass er Leon eine große Hilfe in den Weinbergen war. Und Leon wiederum konnte sie sich nicht so recht in einer meditativen Sitzung vorstellen. Nein, er war der praktische, erdige Typ und Earl ein Phantast mit dem Kopf in den Wolken. Und Lilac hatte ein bisschen von beiden. »Lilacs Worten zufolge können Sie mit nicht unerheblichen Summen rechnen, wenn Sie zu Lucretias Hochzeit fahren.« »Das bezweifle ich stark!«, erklärte Leon mit Nachdruck. »Warum gibt sie uns das Geld nicht einfach so?« 64
»Warum sollte sie?«, fragte Lilac. »Wir haben uns ja nie für sie interessiert.« Leon wandte sich Earl zu. »Ich wünschte, du hättest Whitney nicht diesen Floh mit den Selbstfindungswochenenden ins Ohr gesetzt. Wir sollten sie jederzeit erreichen können.« »Sie braucht nun einmal ihren Freiraum«, widersprach Earl. »Also, wissen Sie, ich war am Drehort und habe mich ein wenig umgehört«, unterbrach Regan hastig. »Es sieht so aus, als wäre Whitney mit ihrer Arbeit in dieser Woche nicht ganz zufrieden.« »Aber sie ist eine sehr gute Schauspielerin«, wandte Lilac ein. »Sie hat ein großes Talent für Komik.« »Natürlich, davon bin ich überzeugt«, entgegnete Regan. »Und die Rolle könnte ein Durchbruch für sie sein. Aber im Moment ist sie verschwunden, und wir sollten alles dafür tun, dass sie am Sonntagvormittag die Hochzeit mit ihrer Anwesenheit beehrt. Ich möchte, dass wir anfangen, Hotels und Motels im ganzen Bezirk von Santa Barbara anzurufen und zu fragen, ob sie in einem von ihnen untergekommen ist.« Stirnrunzelnd blickte Earl auf seine Uhr. »Um sechs beginnt meine tägliche Schweigestunde.« »Dann können Sie sich unterdessen die Gelben Seiten vornehmen und für uns eine Liste mit den Hotels und den Telefonnummern herausschreiben.« »Dagegen ist nichts einzuwenden.« Halleluja, stöhnte Regan unhörbar. »Haben Sie an diesem Wochenende Gäste, um die Sie sich kümmern müssen?«, erkundigte sie sich bei dem Trio. »Nein«, lächelte Lilac. »Eigentlich hatten sich drei Paare aus New York anlässlich einer Hochzeit angemeldet, aber die Braut scheint kalte Füße bekommen zu haben. Also haben sie die
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Reservierung storniert. Sie und ihr Freund Jack Reilly wären unsere einzigen Gäste gewesen.« Himmel, wäre es schön, ihn jetzt hier zu haben!, dachte Regan. Sie konnte es kaum erwarten, ihm alles zu erzählen. Er war schließlich derjenige gewesen, der die Anzeige von Altered States in irgendeinem Reiseführer gefunden hatte. »Ich muss noch einmal schnell zum Alito, um ein paar Dinge zu holen«, verkündete sie und nahm sich vor, die Zeit für einen kurzen Anruf bei Jack zu nutzen. »Treffen wir uns doch in fünf Minuten im Büro«, schlug Lilac vor. »Dort gibt es mehrere Telefonanschlüsse.« »Ich bin sofort wieder da.« Regan stand auf und wäre fast über Earls ausgestreckte Beine gestolpert. Dieser Kerl wuchs sich zu einer echten Plage aus. Menschen wie er machten Meditationen überhaupt erst nötig. Sie unterdrückte einen Fluch. »Verzeihung«, murmelte er, zog die Beine ein und hätte Regan damit um ein Haar wirklich zu Fall gebracht. »Keine Ursache.« Nur mit Mühe bewahrte sie ihr Gleichgewicht. Fast hätte sie laut gelacht. Plötzlich war sie sehr froh, dass er in der nächsten Stunde wenigstens den Mund halten würde. Zu schade, dass sie ihn nicht auch festbinden konnten. Wenn Jack hier wäre, würde er sich köstlich amüsieren. Und sie könnte ihm vorwerfen, dass alles nur seine Schuld war, weil er den Reiseführer gekauft hatte. Mit schnellen Schritten eilte sie zu ihrem Wagen.
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14 wie ein junges Mädchen kehrte Lucretia von Ü bermütig ihren Einkäufen zurück. »Du darfst mein Kleid auf keinen
Fall sehen!«, rief sie Edward zu. »Das bringt Unglück. Außerdem soll es eine Überraschung sein.« »Du bist bestimmt sehr schön, ganz gleich was du anziehst«, versicherte Edward. Sie hatte ihn im Garten gefunden, wo er am Pool in der Sonne lag. »Ich möchte ein bisschen Farbe bekommen«, erklärte er. »Um für dich besser auszusehen.« »Ich weiß, dass du dein Bestes tust, um am Sonntag einen guten Eindruck zu machen. Und in meinen Augen bist du sowieso attraktiv genug.« Die Bemerkung versetzte ihm einen kleinen Stich, aber Eddie beruhigte sich schnell mit dem Gedanken an mehr als fünfzig Millionen Dollar. Auf der anderen Seite des Zauns umsorgte der alternde Filmstar Charles Bennett seine Rosen. Ab und zu warf er einen neugierigen Blick hinüber und sah Lucretia mit diesem Edward Fields zusammensitzen. Er konnte das Bürschchen nicht ausstehen. Mit Lucretia hingegen wechselte er nur zu gern hin und wieder ein paar Worte und gestern hatte sie ihn sogar angerufen und zu ihrer Feier am Sonntag eingeladen. Diese plötzliche Hochzeit weckte seinen Argwohn. Lucretia war so eine reizende, sympathische Lady, die an diesem Hallodri offenbar einen Narren gefressen hatte. Er fand das sehr bedauerlich, aber es ging ihn ja nichts an. Seufzend wandte er sich wieder seinen Rosen zu.
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»Wir müssen nachher unsere Heiratslizenz abholen«, meinte Lucretia. »Aber vorher macht Phyllis uns ein leichtes Mittagessen.« Sie gingen in die Küche und setzten sich auf die Hocker am Küchenbuffet. Nur widerwillig hatte Phyllis den Fernseher ausgeschaltet, bevor sie ihnen Sandwiches servierte. »Willst du denn gar keinen deiner Freunde einladen, Edward?«, fragte Lucretia. »Bestimmt bin ich am Sonntag wahnsinnig nervös. Lieber würde ich in einem oder zwei Monaten eine tolle Party geben. Dann können wir allen zeigen, wie herrlich das Eheleben ist.« Phyllis musste die Lippen fest zusammenpressen, um nicht laut loszulachen. »Ich fand große Hochzeiten immer ganz wundervoll. Zu meinen ersten drei kamen Hunderte von Gästen, die letzten jedoch verliefen leider eher ruhig. Übrigens muss ich dringend den Caterer anrufen, um ihm die endgültige Gästezahl durchzusagen. Ich habe auch noch ein paar Nachbarn eingeladen.« »Tatsächlich?«, erkundigte sich Eddie beunruhigt. »Ja, Darling. Warum denn nicht?« »Wir kennen sie doch gar nicht.« »Nun, das wird sich ändern. Es sind unsere Nachbarn. Am liebsten würde ich in alle Welt hinausposaunen, dass wir heiraten, und jedermann zu unserer Feier einladen.« Edwards Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. »Und ich hoffe sehr, dass die Kinder kommen können.« »Ich habe so eine Ahnung, dass sie alle erscheinen werden«, bemerkte Phyllis trocken. »Glauben Sie wirklich?«, zirpte Lucretia fröhlich. »Ich würde fast darauf wetten.«
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Edward funkelte sie mürrisch an und wandte sich dann Lucretia zu. »Wenn du fertig bist …« Lucretia sprang von ihrem Hocker. »Auf geht’s!« Im Rathaus von Beverly Hills wartete ein Fernsehteam. Als Lucretia die Eingangstür öffnete, stürzte die Reporterin mit den Kameraleuten im Schlepptau auf sie zu. »Sind Sie Lucretia Standish?«, erkundigte sie sich. »So ist es«, lächelte Lucretia, sichtlich erfreut über das unerwartete Medieninteresse. »Ich bin von GOS. Wir machen eine Reportage über ausgewählte Paare, die im Mai heiraten. Wir haben gehört, dass Sie heute bei Saks Ihr Hochzeitskleid gekauft haben. Herzlichen Glückwunsch!« »Danke.« Lucretia strahlte in die Kamera. »Wir wissen auch, dass Sie mit einer Dotcom-Investition sehr erfolgreich waren. Also haben Sie nicht nur Glück im Börsenspiel, sondern auch in der Liebe.« »Ja, Sie haben ja so Recht! Ich bin bis über beide Ohren verliebt. Und das hier ist übrigens mein Verlobter …« Lucretia drehte sich um. Edward war verschwunden. Lucretia wandte sich wieder der Reporterin zu. »Er ist sehr schüchtern. Aber es ist ja auch seine erste Hochzeit. Meine sechste, seine erste.« »Das wird eine großartige Story.« »Einfach wunderbar!«, jubelte Lucretia. »Wann wird sie denn ausgestrahlt?« »Heute Abend in den Lokalnachrichten. Vermutlich folgt am Wochenende auch noch eine Wiederholung.«
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Lucretia kam eine Idee. »Wie ist es? Wollen Sie nicht zur Hochzeit kommen? Sie findet am Sonntagmittag in meinem Garten statt. Es wird bestimmt ganz reizend.« »Vielen Dank für die Einladung. Ich komme gern.« Die Journalistin schrieb sich die Adresse auf. »Aber jetzt möchte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Wo haben Sie denn Ihre neue Liebe kennen gelernt, und wie kamen Sie darauf, sich rechtzeitig aus dem Dotcom-Unternehmen zurückzuziehen, bevor es Pleite ging?« »Nun«, begann Lucretia und zupfte selbstvergessen an ihren rosagetönten Löckchen. »Ich muss Ihnen gestehen, ich wusste schon immer, dass mich das Schicksal zur Millionärin auserkoren hat.«
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er junge Produktionsassistent fühlte sich so elend, dass er am liebsten gestorben wäre. Eine schwere Lebensmittelvergiftung hatte ihn fast an den Rand des körperlichen Ruins gebracht. Verzweifelt und sich immer wieder übergebend, lag er im Bett seines Hotelzimmers und wagte kaum, auf Besserung zu hoffen. Vermutlich waren von dem ganzen Berg auf dem Buffet lediglich zwei Sandwiches verdorben gewesen. Wie hatte er es nur geschafft, eins davon zu erwischen? Er griff nach dem Glas auf dem Nachttisch und hob es an seine Lippen. Vorsichtig, ganz vorsichtig nippte er an dem inzwischen lauwarmen Ginger Ale. Schließlich durfte er seinen Körper nicht überfordern. Schon ein kleiner Schluck Ginger Ale konnte in seinem Zustand höchst verhängnisvoll sein. Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte und das penetrante Schrillen steigerte seine Kopfschmerzen ins Unerträgliche. So schnell es ihm möglich war, langte er nach dem Hörer. »Ja bitte?« »Ricky?« »Ja.« »Hier Norman. Was ist los? Du hörst dich ja grauenhaft an.« »Es geht mir auch grauenhaft. Ich habe etwas Schlechtes gegessen. Wahrscheinlich habe ich mir eine Lebensmittelvergiftung zugezogen.« »Das gefällt mir aber gar nicht.« »Mir auch nicht.« Ricky schloss die Augen und drückte eine Hand gegen die Stirn.
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»Hör mal, ich möchte mich bei dir bedanken. Whitney Weldon hat angerufen. Sie nimmt morgen an meinem Seminar teil.« »Klasse! Dann schuldest du mir jetzt hundert Kröten. Es wundert mich übrigens nicht, dass sie sich bei dir gemeldet hat.« »Warum nicht?« »Aus mehreren Gründen. Zwischen ihr und unserem Regisseur Frank Kipsman bahnt sich gerade etwas an. Sie möchte um jeden Preis eine gute Darstellung hinlegen und sie will selbstsicherer werden. Außerdem habe ich ein Gespräch zwischen den beiden mitbekommen. Ihnen scheint das Geld auszugehen. Und das ist schade, denn der Film könnte für sie ein echter Durchbruch werden. Kipsman steht schwer unter Druck.« »Ihnen wird das Geld knapp?« »So ist es. Sie hatten gerade genügend beisammen, um mit den Dreharbeiten beginnen zu können, aber bisher haben sich keine neuen Quellen aufgetan. Ich glaube, Kipsman ist nach L. A. gefahren, um Kapital aufzutreiben. Bisher weiß niemand, dass Whitney mit Kipsman etwas hat oder wie trostlos die finanzielle Lage ist.« »Bis auf dich.« »Du kennst mich. Mir entgeht nie etwas. Ich habe auch mitbekommen, dass Kipsman Whitney geraten hat, über das Wochenende wegzufahren. Deshalb nahm ich an, sie würde sich bei dir melden.« Norman ließ einen tiefen Seufzer hören. »Bist du sicher, dass sie mit Kipsman liiert ist?« »Es sieht ganz so aus. Und sie hat ihm erklärt, wie sehr sie sich wünschte, genügend Geld zu haben, um den Film zu retten.« »Wie romantisch!« »Du sagst es.« Ricky stöhnte schwer auf.
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»Geh und trink ein Ginger Ale. Das hilft. Und wenn du noch jemanden findest, der sein Selbstvertrauen steigern will, dann gib ihm bitte meine Nummer.« »Das macht hundert Kröten pro Vermittlung.« »Okay, okay. Ich schicke einen Scheck.« Norman legte auf. Ricky drehte sich auf die Seite und zog die Knie fest an den Oberkörper. Gott sei Dank ist Freitag, dachte er. Für die nächsten drei Tage bringt mich niemand mehr aus diesem Bett heraus.
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egan kletterte in ihr Auto, ihr kleines Büro auf Rädern, und rief Jack an. »Ich vermisse dich schrecklich«, beteuerte er zärtlich. »Bist du zu Hause?« »Nein.« Regan lächelte. »Sitzt du im Auto?« »Ja. Aber es bewegt sich nicht.« »Hast du etwa eine Panne? Ich würde dir gern helfen, aber ich bin leider dreitausend Meilen weit weg.« »Nein, ich habe keine Panne. Und ich möchte auch nicht an die Entfernung zwischen uns erinnert werden.« Jack lachte. »Soll ich weiterraten, wo du dich aufhältst? Spielen wir etwa gerade Twenty Questions?« Regan kicherte. »Nein. Ich werde dich nicht länger auf die Folter spannen.« Sie räusperte sich und dämpfte ihre Stimme. »Mein Wagen steht in der Auffahrt zum Weingut, in dem wir gestern fast übernachtet hätten.« »Machst du Witze? Fehle ich dir denn so sehr, dass du dorthin zurückfahren musstest?« »Ja. Es hat mich in Erinnerung an unsere flüchtigen gemeinsamen Momente buchstäblich hierher getrieben.« »Stellt man dir den Zimmerpreis etwa doch in Rechnung? Hast du dich deshalb entschlossen, das Beste daraus zu machen?« »Natürlich nicht! Im Gegenteil, ich werde für meinen Aufenthalt hier sogar bezahlt.« »Werde endlich deutlicher, Liebes.« Als Regan ihre Geschichte beendet hatte, schüttelte er lachend den Kopf. »Ich nehme an, es ist alles meine Schuld, weil ich Altered States in diesem 74
Reiseführer entdeckt habe. Aber du überraschst mich. Da sitze ich den ganzen Tag im Flugzeug und bilde mir ein, du gönnst dir eine kleine Ruhepause, dabei bist du längst wieder bei der Arbeit.« »Wären wir gestern hier geblieben wie geplant, würden wir sehr wahrscheinlich beide zusammen an dieser Sache arbeiten.« »Das Ganze ist ein ziemlich ungewöhnlicher Fall, muss ich schon sagen. Eine junge Frau zu suchen, damit sie bei der Hochzeit einer Großtante erscheinen und zwei Millionen Dollar kassieren kann.« »Ich weiß, es geht hier nicht gerade um Leben oder Tod, aber für diese Leute ist das Geld scheinbar ungemein wichtig.« Auf einmal beschlich Jack ein unbehagliches Gefühl. »Mir gefällt nicht, wie du das sagst. Das bringt mich sonderbarerweise auf den Verdacht, es könnte sich doch noch als eine Frage von Leben oder Tod herausstellen.« »Es wird mir schon nichts passieren«, beruhigte ihn Regan schnell. »Aber ich würde dich gern um einen Gefallen bitten, wenn du nichts dagegen hast. Sieh doch bei Gelegenheit einmal nach, ob du etwas über Lucretia Standish in Erfahrung bringen kannst. Irgendwie habe ich so eine leise Vorahnung, dass das ganz hilfreich sein könnte.« »Mach ich.« Ein Signalton in der Leitung kündigte Jack einen neuen Anrufer an. »Jetzt muss ich leider Schluss machen. Wir reden später wieder miteinander. Sei bitte vorsichtig.« Regan lächelte. Jack machte sich stets Sorgen um sie. Das tat ihr gut. »Du bist die größte Aufregung in meinem Leben«, versicherte sie ihm. »Dann sollten wir es auch dabei belassen, nicht wahr?«
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hitney empfand eine eigentümliche Unruhe, die partout nicht vergehen wollte. Nachdem sie stundenlang am Strand entlanggewandert war, kehrte sie in ihr Motelzimmer zurück und ließ sich Wasser für ein Bad ein. Sie schüttete ein wenig von dem beruhigenden Badesalz in die Wanne, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte, und betrachtete sich dann im Spiegel. Ich sehe erschöpft aus, dachte sie. Und besorgt. Aber ich mache mir ja auch Sorgen. Über meine Rolle, über Frank und über den Film und dass die Dreharbeiten möglicherweise abgebrochen werden müssen. Whitney hätte Frank zu gern nach Los Angeles begleitet, doch für derlei gemeinsame Ausflüge war es noch zu früh. Schließlich hatten sie erst vor kurzem angefangen, sich zu treffen – seit dem Casting, um genau zu sein. Frank wollte aber nicht, dass am Set über sie geklatscht wurde; dass man annahm, es wäre bloß eine Affäre. Er hatte bereits genügend andere Probleme. Im Grunde genommen war es die typische Büroliebe, von der niemand erfahren durfte. Nur eben in anderen Kulissen. Und wennschon!, dachte Whitney, als sie ins dampfende Wasser glitt und spürte, wie sie sich langsam entspannte. Heißt es nicht immer, der beste Ort, den Partner fürs Leben zu finden, sei der Arbeitsplatz? Schwierig ist es doch nur, in dieser Umgebung ein richtiges Paar zu werden – und noch schwieriger die Trennung, wenn es dann doch nicht klappt, besonders wenn man dem oder der Ex jeden Tag über den Weg läuft. Die Wanne war zwar nicht die größte, aber sie fasste genügend Wasser, um ihren Zweck zu erfüllen. Whitney schloss die Augen und überließ sich ihren Gedanken. Getäuscht war irgendwie ein merkwürdiger Titel für einen Film. Sie hoffte, dass er sich nicht als prophetisch erwies. Nein, Frank brachte 76
bestimmt genügend Geld zusammen, um das Projekt beenden zu können. Eine Viertelstunde lang aalte sich Whitney genüsslich im warmen, aromatisch duftenden Wasser. Aber irgendetwas ließ ihr immer noch keine Ruhe. Abrupt stand sie auf und griff nach einem der dünnen, weißen Handtücher, die sich so hart anfühlten wie ein Brett. Hastig trocknete sie sich ab und schlüpfte in Jeans und einen Baumwollsweater. Es war kurz vor sieben und sie hatte einen Entschluss gefasst. Ich zahle jetzt meine Rechnung und fahre nach Hause aufs Weingut. Mir ist nach Gesellschaft. Ich trinke ein Glas Wein mit meiner Mutter und wir unterhalten uns. Dann wird es mir bald viel besser gehen. Und morgen stehe ich früh auf und fahre zu diesem Seminar; das Studio ist ja nicht weit von Altered States entfernt. Sie warf ihre wenigen Sachen in eine Tasche und sah sich um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Der Angestellte am Empfang musterte sie überrascht über seine Brille hinweg. »Aber ich dachte, Sie wollten bis morgen bleiben!« »Meine Pläne haben sich geändert.« »Leider muss ich Ihnen auch die zweite Nacht berechnen. Wären Sie bereits vor zwölf ausgezogen, sähe die Sache anders aus.« »Das macht nichts.« »Sagen Sie, habe ich Sie nicht in irgendeinem Film gesehen?«, fragte der Angestellte und runzelte die Brauen. »Ich bin mir fast sicher.« »Ich bin in einigen Filmen aufgetreten«, antwortete Whitney und wünschte, er würde endlich die Rechnung fertig machen. »Wusste ich es doch! Sie hatten eine sehr komische Rolle … Ich versuche gerade, mich an den Titel zu erinnern.« 77
»Ich spiele meistens komische Rollen«, erwiderte Whitney so höflich, wie es ihre Ungeduld zuließ. »Darf ich Sie vielleicht um ein Autogramm bitten?« Er riss einen Zettel von einem Block mit dem Namen des Motels darauf und schob ihn ihr zu. »Gern. Wie heißen Sie?« »Herman.« Sie schrieb Für Herman mit besten Wünschen, Whitney Weldon auf den Zettel und streckte ihn dem Mann entgegen. Er kniff die Augen zusammen. »Könnten Sie vielleicht noch das heutige Datum hinzufügen?« »Selbstverständlich.« Während Whitney die Bitte erfüllte, nahm er ihre Kreditkarte entgegen und druckte die Rechnung aus. »Jetzt habe ich zwei Autogramme von Ihnen«, scherzte er, als sie unterschrieb. »Aber ich schätze, das Kreditkartenunternehmen braucht Ihre Unterschrift dringender als ich.« Er lachte so meckernd, dass es an Whitneys Nerven zerrte. Als sie höflich in sein Lachen einstimmte, veranlasste ihn das unglücklicherweise dazu, seinen Witz zu wiederholen. »Ja, die brauchen Ihr Autogramm auf jeden Fall mehr als ich.« Es dauerte eine Ewigkeit, bis er ihre Rechnung gefaltet und in einen Umschlag gesteckt hatte. »Bitte besuchen Sie uns bald wieder, Miss Weldon. Irgendwann sind Sie sicher ein berühmter Filmstar, und dann kann ich sagen, dass ich Sie schon lange kenne.« Inzwischen hatte Whitney große Mühe, sich zu beherrschen. »Vielen Dank«, sagte sie, griff nach ihrer Tasche und lief zur Tür und auf den Parkplatz hinaus. Versonnen lächelnd blickte der Angestellte ihr nach, bis ihm plötzlich einfiel, dass er vergessen hatte, ihr die Kreditkarte zurückzugeben. So schnell ihn seine Füße trugen, eilte er aus 78
dem Motel, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Der Parkplatz war leer und Whitney Weldon fort. Missmutig schnalzte er mit der Zunge. »Das ist nun wirklich zu dumm!« Er schlenderte in die leere Halle zurück. Das Klingeln des Telefons unterbrach die Stille, und er beeilte sich, den Hörer abzuheben. »Pacific Waters Motel«, säuselte er beflissen. »Nun, Sie werden es nicht glauben«, ächzte er einen Moment später in die Muschel, »aber sie hat vor zwei Minuten ausgecheckt … Nein, sie ist fort. Ich bin ihr noch nachgelaufen. Sie hat ihre Kreditkarte hier vergessen. Aber eigentlich ist das mein Fehler, ich habe sie ihr nicht zurückgegeben. Falls sie wiederkommt, werde ich ihre Mutter selbstverständlich anrufen. Sie ist übrigens eine ganz hinreißende Schauspielerin.« Am anderen Ende der Leitung gab Regan die Neuigkeiten an die anderen weiter. Lilac und Leon stöhnten enttäuscht auf, während Earl nur das Gesicht verzog. Es war noch nicht ganz sieben und Lautlosigkeit das Gebot der Stunde. »Sie ist fort?«, erkundigte sich Lilac ungläubig. »Ich kann es nicht fassen!« Leon schlug mit der Faust auf den Tisch und warf Earl einen wütenden Blick zu. Regan wusste sofort, was er dachte. Hätte sein Bruder sich in der letzten Stunde an den Anrufen beteiligt, wäre es mit Sicherheit gelungen, Whitney vor ihrer Abfahrt zu erreichen. »Jetzt haben wir keine Ahnung, wohin sie will. Sie könnte sogar in einer der Unterkünfte landen, in denen wir bereits nachgefragt haben!«, rief Lilac verzweifelt. »Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen.« »Eigentlich können wir mit den Anrufen zunächst einmal aufhören«, stellte Regan fest. »Sie ist unterwegs und hat offenbar vor, eine längere Strecke zurückzulegen, sonst hätte sie nicht ausgecheckt.« 79
»Weiß der Himmel, wo sie hin will«, murmelte Leon mürrisch. Earls Uhr piepte. »Sieben Uhr«, verkündete er seine Rückkehr in die sprechende Welt. »Nun, meine Lieben, ich bin fest davon überzeugt, dass wir sie finden. Das Universum wird sie zu uns führen.« »Ich sollte noch einmal in dem Motel anrufen und den Mann am Empfang bitten, auch seine Kollegen darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, dass sich Whitney hier meldet. Hoffen wir, dass sie den Verlust ihrer Kreditkarte bald bemerkt«, sagte Regan in dem Bemühen, Zuversicht zu verbreiten. Lilac nickte und schaltete den Fernseher im Büro ein. Die Nachrichten begannen und Laufschriften am unteren Rand des Bildschirms präsentierten die Schlagzeilen des Tages. »Und später geht es um Hochzeiten im Mai«, kündigte der Moderator an. »Das ist ja ein sehr beliebter Monat für Eheschließungen und wir wollen Ihnen ein ganz besonderes Paar vorstellen. Lassen Sie sich überraschen, Ladys! Sie lernen eine Frau kennen, die früher ein bekannter Stummfilmstar war. Nun heiratet Lucretia Standish zum sechsten Mal und ihr glücklicher Auserwählter ist um einiges jünger als sie.« »O mein Gott«, ächzte Lilac. »Da ist sie!« Um einiges jünger?, schoss es Regan durch den Kopf. Wie viel jünger? »Wenn sie einen jüngeren Kerl heiratet, wird der die Verwaltung ihres Vermögens übernehmen«, erklärte Leon finster. »Wir können jede Hoffnung auf die Millionen fahren lassen, wenn wir nicht alle vollzählig bei der Hochzeit erscheinen.« Damit dürften Sie Recht haben, stimmte Regan ihm lautlos zu. Endlich machte sich auch Earl nützlich, indem er den Raum verließ und wenig später mit einer Flasche Pinot Noir und vier Gläsern wiederkam. Es überraschte Regan, wie geschickt er die 80
Flasche entkorkte und mit fast eleganten Bewegungen den Wein einschenkte. Auf dem Etikett entdeckte sie eine Zeichnung: Ein alter Mann stand in einer Badewanne voller Trauben. Der Großvater vermutlich. Mit ausdrucksloser Miene griff Leon nach seinem Glas und trank einen großen Schluck. Die Verlockung des Geldes, sinnierte Regan. Ob man es gewinnt oder verliert – es macht die Menschen verrückt. »Ich bin mir fast sicher, dass sich Whitney bald in dem Motel meldet«, sagte sie laut. »Wenn sie woanders übernachten will, braucht sie ihre Kreditkarte.« »Sie hat mehrere Karten«, erklärte Lilac. »Wenn es mal eng wird, lässt sie Bares von einer Karte auf eine andere übertragen. Ihr Kreditrahmen ist nicht schlecht, aber ich weiß genau, dass sie nie zweimal hintereinander mit derselben Karte bezahlen würde.« Na großartig … Regan nahm einen vorsichtigen Schluck von Großvaters Wein. Sie wusste nicht, warum sie das erstaunte, aber er schmeckte wirklich gut. Sie hoffte inständig, dass der Fernsehbericht über die heiratslustige Tante bald anfing. »Sie haben Lucretia also nie kennen gelernt«, meinte sie nachdenklich zu den Geschwistern. Die drei sahen sie schuldbewusst an. »Es hat sich nie so recht ergeben …«, begann Lilac in dem Moment, in dem das Gesicht des Moderators wieder auf dem Bildschirm erschien. »Und nun zu Lucretia Standish …« Verblüfft sahen die vier zu, wie die zierliche Dreiundneunzigjährige munter von ihren Heiratsplänen erzählte. »Mein Zukünftiger ist sehr schüchtern«, sagte sie, während die Kamera sich an die Fersen von Edward Fields heftete, der über den Flur zu entkommen suchte. 81
»Er ist ziemlich flink«, stellte Regan fest. »Kann man wohl sagen«, murmelte Leon. »Und etwas daran stinkt zum Himmel.« »Dabei gibt es nichts, was wir unternehmen könnten«, seufzte Earl. »Wenn wir Lucretia besser kennen würden, wären wir dazu vielleicht in der Lage, aber so nicht.« Edward Fields … Regan nahm sich vor, Jack zu bitten, auch diesen Namen für sie zu überprüfen. Wenn ihre Instinkte sie nicht täuschten, würde Lucretia Standish große Probleme bekommen, sollte sie diesen Ganoven ehelichen. Als die vier wie gebannt auf den Bildschirm starrten, hatten sie keine Ahnung, dass ein großer, finsterer Kerl sie seit einer Weile beobachtete. Rex alias Don Lesser war auf Altered States eingetroffen.
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r war Regan bis zur Abbiegung Richtung Weingut gefolgt. Doch an den beiden großen Schildern mit der Aufschrift Altered States Winery und Deep Breaths-Meditations Center hatte er aus Furcht vor einer Entdeckung angehalten. Wo konnte er sich hier bloß im Notfall verbergen? Aber immerhin hatte er diesen gottverlassenen Ort gefunden, an dem Whitney Weldons Mutter wohnte. Mit der Perücke, die er sich gekauft hatte, und seinen farbigen Kontaktlinsen war er zwar noch immer ein Hüne, doch jetzt einer mit dunklen Haaren und braunen Augen. Er sah ganz anders aus. Er fuhr noch ein paar Meter weiter, drehte um, hielt am Straßenrand, kurbelte das Fenster herunter und schaltete den Motor aus. Die Weinfelder und die sanften Hügel waren einfach ein wundervoller Anblick. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und das Licht wurde langsam milder. Er liebte den Nachmittag, denn nun war die Nacht nicht mehr fern. Und in der Dunkelheit fühlte sich Rex nun einmal am wohlsten. Eines war Rex mit Sicherheit nicht: ein Morgenmensch. Er zog sein Mobiltelefon heraus und rief Eddie an. »Ich bin jetzt vor diesem Weingut.« »Einen Moment!«, sagte Eddie hastig, dann hörte Rex: »Entschuldige, Lucretia, aber hier geht es um eine Überraschung für dich.« Tja, damit hat er noch nicht einmal so Unrecht, dachte Rex. »In Ordnung«, meldete sich Eddie schließlich wieder. »Die Luft ist rein.« »Ich bin dieser Regan Reilly zu dem Weingut gefolgt, wo Whitneys Mutter lebt.« 83
»Wie hast du sie so schnell finden können?« »Sie war vorhin auch am Drehort. Wie auch immer: Ich werde jetzt hineingehen und fragen, ob sie ein Zimmer für mich frei haben.« »Hältst du das nicht für ein bisschen riskant?« »Mag sein. Aber so bekomme ich vielleicht heraus, wie weit sie mit ihrer Suche nach Whitney sind. Und wie stehen die Dinge bei dir?« »Lucretia möchte unbedingt aller Welt von unserer Hochzeit erzählen. Am liebsten würde ich ein paar Schlaftabletten in ihren Kaffee werfen, damit sie erst am Sonntag wieder aufwacht.« »Keine schlechte Idee.« »Und diese blöde Haushälterin wieselt ständig um uns herum. Die Frau scheint irgendetwas zu riechen.« »Dazu gehört schließlich nicht viel Phantasie.« Seufzend tippte Rex mit der Fingerspitze auf das Lenkrad. »Ich werde noch ein wenig durch die Gegend fahren, bevor ich einchecke.« »Solltest du nicht vorher anrufen, um ein Zimmer zu reservieren?« »Nein, ich möchte ihnen keine Gelegenheit geben, mich abzuweisen. Allerdings will ich auch nicht gleich nach der Reilly dort erscheinen. Lieber verbringe ich noch ein paar Stunden draußen.« »Okay. Aber halte mich auf dem Laufenden.« Irrte sich Rex oder klang Eddies Stimme ziemlich resigniert? »Keine Angst, Eddie. Am Sonntag um diese Zeit bist du Mr Lucretia Standish.« Rex hörte ein scharfes Klicken. »Der Junge hat einfach keinen Humor«, murrte er, als er das Auto startete und losfuhr. 84
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ora und Luke Reilly fuhren mit dem Fahrstuhl zu ihrer Suite im Four Seasons Hotel hinauf. Ihnen blieb gerade einmal eine halbe Stunde, um sich für das Dinner mit Wally und Bev fertig zu machen. »Wie war ich?«, fragte Nora, als ihr Luke die Lifttür aufhielt, und meinte ihren Zweizeilenauftritt in dem Fernsehfilm, der zurzeit nach einem ihrer Bücher gedreht wurde. »Brillant wie immer«, erklärte ihr Mann trocken. »Wie du weißt, bin ich dein größter Fan.« Lachend betrat Nora den elegant eingerichteten Wohnraum und blickte sehnsüchtig auf die Tür zum Schlafzimmer. »Ich würde mich zu gern ein paar Minuten aufs Ohr legen, aber ich glaube, wir sollten uns lieber gleich umziehen.« Gähnend schlenderte sie in das große, mit Marmor geflieste Bad. In diesem Augenblick klingelte das Telefon und Luke eilte zum Apparat. »Hallo? Ach, du bist es, Wally … Du holst uns ab? Großartig! … Also dann bis halb acht.« Er legte den Hörer auf. »Wir haben Zeit gewonnen. Wallys Besprechung dauerte länger als angenommen.« »Herrlich! Dann kann ich ja meinen Bademantel nehmen und mich ein bisschen entspannen.« Um acht Uhr saßen Nora, Luke, Wally und Bev in einem italienischen Restaurant in Beverly Hills. Sie hatten die gemütliche Ecke ganz für sich und im ganzen Gastraum war es ungewöhnlich still.
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»Ich kann mich hier fast denken hören«, verkündete Wally, schnippte mit den Fingern und langte nach ein Stück backfrischem Brot. Bev nickte zustimmend und nippte an ihrem Mineralwasser. »Zu schade, dass Regan verhindert ist«, fuhr Wally fort. »Eure Tochter ist ein echt tolles Mädchen.« »Das finden wir auch. Sie kam gerade erst aus dem Urlaub zurück, da hatte sie schon einen neuen Auftrag. Es geht um eine junge Schauspielerin, die spurlos von ihrem Filmset verschwunden ist. Irgendwo bei Santa Barbara.« »Wie heißt der Film?«, wollte Wally wissen. »Getäuscht.« Wally riss die Augen auf. »Ich kenne den Regisseur, ein noch junger Bursche, so um die dreißig. Er ist nicht schlecht. Ich dachte schon daran, ihn bei einem meiner Projekte einzusetzen. Ich sollte ihn wirklich bald mal anrufen.« Er zog das kleine, schwarze Notizbuch hervor, das er stets bei sich trug, und schrieb sich etwas auf.
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ch kümmere mich mal um das Abendessen«, verkündete Lilac, als die Nachrichten zu Ende waren. »Sie bleiben doch bei uns, Regan, oder?« »Das ist keine schlechte Idee«, stimmte Regan zu. »Nach dem Dinner könnten wir dann wieder anfangen, die Hotels abzuklappern.« Leon leerte sein Weinglas. »Wie groß sind wohl die Chancen, dass wir Whitney zum zweiten Mal an einem Tag aufspüren?« »Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen«, gab Earl zurück. »Vielleicht sollte ich Ihnen jetzt erst einmal Ihr Zimmer zeigen, Regan. Haben Sie Gepäck im Auto?« »Ja.« »Wie wäre es, wenn wir in einer Stunde essen?«, schlug Lilac vor. »Klingt verlockend«, antwortete Regan. Das Zimmer hatte den gleichen rustikalen Charme wie alles andere auf Altered States. Die Kommode aus Kiefernholz, das Bett mit einer schlichten, weißen Tagesdecke und ein farbenfroher Teppich vermittelten eine behagliche Atmosphäre. Eine Glasschiebetür führte auf den Garten und die dahinterliegenden Weinberge hinaus. »Es ist sehr hübsch«, sagte Regan, als Earl ihre Reisetasche auf das Bett stellte. »Es bleibt noch viel zu tun, um Altered States zu einer wirklich erstklassigen Weinkellerei mit Meditationszentrum und Hotel zu machen«, entgegnete er. »Es ist hier unglaublich friedlich. Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, der allgemeinen Hektik entronnen zu sein.« 87
Hektik? Der Bursche sah nicht so aus, als hätte er jemals auch nur einen Schritt zu schnell getan. »So?«, erkundigte sie sich unschuldig. »Womit haben Sie denn Ihren Lebensunterhalt verdient?« »Ich habe eine Ölbohrgesellschaft geführt, zusammen mit einem Partner. Manchmal wurden wir fündig, manchmal nicht. Aber alles in allem war es ein unerträglicher Stress. Aber dann entdeckte ich die Spiritualität für mich.« Jetzt ist mir alles klar, dachte Regan. Der Typ sieht nicht gerade aus wie der typische Ölbaron. Als Earl verschwunden war, wählte Regan Jacks Nummer. Sie erreichte seine Mailbox und bat ihn um Nachforschungen nach Edward Fields. Dann öffnete sie die Glastür und trat ins Freie. Es roch nach Erde und Frische. Freshness … Wo steckte sie nur? Regan wusch ihr Gesicht, putzte sich die Zähne, zog etwas anderes an und legte ein leichtes Make-up auf. Ich suche nicht nur nach Freshness, ich möchte sogar unbedingt welche haben, murmelte sie vor sich hin, als sie ihr Zimmer verließ. »Kommen Sie in den Speisesaal!«, rief Lilac Regan entgegen. Sie hatte einen einladenden Tisch gedeckt. Flackernde Kerzen spiegelten sich in großen Kristallgläsern. In der Mitte stand eine Vase mit frisch geschnittenen Blumen, über die man gerade noch hinwegblicken konnte. Aus den Lautsprechern ertönte leise, sanfte Musik. Es herrschte eine Atmosphäre friedlicher Harmonie. »Meine Brüder müssen gleich hier sein.« Wie auf Kommando drehten sich Regan und Lilac um, als sie plötzlich in der Empfangshalle eine fremde Männerstimme vernahmen. »Hallo?« Ein hochgewachsener Mann in dunklen Jeans und dunkler Lederjacke erschien in der Tür. Seine schwarzen Haare kamen Regan zwar sonderbar unnatürlich vor, aber ansonsten machte er einen offenen, freundlichen Eindruck. 88
»Kann ich etwas für Sie tun?«, erkundigte sich Lilac zur Begrüßung. »Das hoffe ich. Haben Sie vielleicht noch ein Zimmer zu vermieten?« »Selbstverständlich. Gehen wir doch zum Empfang, um die nötigen Formalitäten zu erledigen.« Jetzt hat Altered States zwei Gäste, dachte Regan. Mit Jack wären es drei. Ja, aber er war nun einmal in New York. Sie hatte den Eindruck, als hielte sich Lilacs Begeisterung über den neuen Gast in Grenzen. Allerdings wäre das nur verständlich, denn sie wollte sich wahrscheinlich auf die Suche nach Whitney konzentrieren. Immerhin konnte das wesentlich mehr einbringen als ein Gast für eine Nacht. Als die beiden in den Speisesaal zurückkehrten, stellte Lilac Don Lesser und Regan einander vor und bot auch ihm ein Abendessen an. Er nahm dankend an, bestand aber darauf, allein zu sitzen. »Ich möchte Sie nicht stören. Bringen Sie mir einfach ein Glas Wein, etwas Brot und was immer Sie sonst entbehren können. Dann kann ich mich in Ruhe in mein Buch vertiefen.« Sein Tisch stand zwar in einiger Entfernung, aber es war so still, dass er jedes ihrer Worte würde hören können. Das ist das Unangenehme, wenn man in der Nähe eines Singleessers sitzt. Man weiß, dass er nichts Besseres zu tun hat, als zu lauschen. Leons Laune hatte sich im Verlauf des Abends nicht gebessert. »Und was wollen Sie tun, wenn sich bei unseren Anfragen bei den Hotels nichts ergibt?«, fragte er Regan. »Eigentlich hatte ich vor, zu dem Hotel zu fahren, in dem die Filmcrew wohnt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass niemand dort weiß, wo sie sich aufhält.« »Eine logische Überlegung«, bemerkte Earl und stopfte sich eine Gabel Pasta in den Mund.
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Lilac hatte einen knackigen Salat zubereitet, knuspriges Weißbrot aufgebacken und ihre Tomatensauce schmeckte geradezu köstlich. Regan wickelte gerade ein paar Spaghetti um ihre Gabel, als Lilacs durchdringender Schrei sie zusammenfahren ließ. »Was ist?« »Freshness!« Lilac sprang auf und rannte auf die Tür und ihre Tochter zu. Die anderen starrten die junge Frau an wie einen Geist. »Mom!«, lachte Whitney. »Was ist denn in dich gefahren? Eine derart begeisterte Begrüßung habe ich von dir ja noch nie erlebt.« Die folgende Szene erinnerte Regan an den Moment in einer Quizshow, bei der ein Kandidat das ganz große Geld einheimst. Sein Glück lässt ihn jede Beherrschung verlieren. Und Lilac und ihre Brüder hatten gerade den Jackpot gewonnen. Leon sprang so abrupt hoch, dass er die Weinflasche umstieß, und selbst Earl vergaß seine innere Gelassenheit. Die beiden stürzten auf ihre Nichte zu, um sie zu umarmen. »Was ist denn nur los?«, wunderte sich Whitney und nickte grüßend zu dem einsamen Gast hinüber, der sie höchst intensiv musterte, wie Regan fand. Aber Whitney war schließlich ein sehr attraktives Mädchen und diese stürmische Empfangsszene konnte schon einige Neugier beim Zuschauer auslösen. »Du wirst es nicht glauben!« Lilac zog ihre Tochter an den Tisch. Schnell wurde ein weiterer Stuhl geholt und Regan vorgestellt. Dann erzählte Lilac ihrer Tochter von Lucretias Heirat und dem Geld, das sie erhalten sollten, wenn sie alle auf der Hochzeitsfeier aufkreuzten.
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»Zwei Millionen!«, rief Whitney. »Und ich wäre um ein Haar erst am Sonntagabend hier erschienen … Wen heiratet sie denn?« »Einen Schwindler und Betrüger, wenn du mich fragst«, erwiderte Leon mürrisch. »Aber wenn wir jeder zwei Millionen bekommen, soll es mir recht sein. Dennoch könnte es nicht schaden, wenn Sie ein paar Nachforschungen nach dem Kerl anstellen, Regan. Aber jetzt möchte ich erst einmal einen Toast auf meine schöne Nichte ausbringen. Gott sei Dank bist du nach Hause gekommen. Und auf Onkel Haskell … möge er in Frieden ruhen. Jetzt erhalten wir sein Geld doch noch.« Sie lachten, hoben ihre Gläser und gratulierten einander zu ihrem Glück. Regan bemerkte, wie wohl sich Whitney bei ihrer Mutter und deren Brüdern zu fühlen schien. Sie war wirklich ein nettes, liebenswürdiges Mädchen. Gut, dass sie sich entschieden hatte, nach Altered States zurückzukehren. Jetzt würde alles gut werden. »Morgen Vormittag muss ich zu einem Seminar«, verkündete Whitney und leerte ihr Glas. »Was?«, entfuhr es Lilac besorgt. »Es handelt sich um einen eintägigen Workshop, der ganz in der Nähe stattfindet. Er endet schon am Sonntagmorgen, sodass ich rechtzeitig bei Lucretia sein kann.« »Irgendwie passt es mir nicht, dich aus den Augen zu lassen«, brummte Leon und legte eine Hand auf ihren Arm. »Keine Angst, Leon, ich bin bestimmt pünktlich in Beverly Hills. Glaubst du denn, ich könnte das Geld nicht auch gut gebrauchen? Und ich freue mich darauf, Lucretia endlich kennen zu lernen. Ich möchte alles über ihre Stummfilmkarriere wissen.« »Wir haben sie vorhin im Fernsehen erlebt«, lächelte Lilac. »Sie ist noch immer eine sehr beeindruckende Persönlichkeit.« 91
Regan beobachtete die ungewöhnliche Familie und freute sich mit ihr über die unverhoffte Lösung ihrer finanziellen Probleme. Aber meine Tätigkeit ist hiermit beendet, dachte sie. Morgen früh fahre ich nach Hause. Natürlich kam es anders. An seinem Tisch in der Ecke wollte Rex seinen Ohren nicht trauen. Diese Leute sollten pro Nase zwei Millionen Dollar bekommen? Davon hatte dieser Idiot Eddie kein einziges Wort gesagt. Vermutlich hielt er es nicht für wichtig, weil er davon ausging, dass sie niemals vollzählig bei der Hochzeit erscheinen würden. Es war sein Job, dafür zu sorgen, dass die kleine Whitney noch nicht mal in die Nähe der Hochzeitsgesellschaft kam. Und jetzt saß sie nur wenige Meter von ihm entfernt am anderen Ende des Speisesaals. Wieder konnte Rex sein Glück kaum fassen: Es war so einfach! Er brauchte Whitney nur noch auf irgendeine Weise für die nächsten vierundzwanzig Stunden aus dem Verkehr zu ziehen – bis Edward und Lucretia »Ja, ich will« gesagt hatten und die Zeugen der Zeremonie aufgefordert worden waren, begründete Einwände gegen die Eheschließung vorzubringen oder für immer zu schweigen. Sie wird für immer schweigen, dachte Rex. Das garantiere ich. Er trank gemächlich seinen Wein aus und spähte hin und wieder verstohlen zu den fünf Leuten hinüber, die miteinander schwatzten und lachten. Am Sonntag werden sie bestimmt nicht so vergnügt sein, dachte er, denn die liebe Whitney wird erneut verschwinden. Und diesmal bedauerlicherweise für immer.
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ach dem Abendessen setzten sich die Weldons mit Regan vor den Kamin in der Halle. Lilac servierte Kaffee und Obst und Regan erfuhr mehr über die Familie. Lilac und Leon waren beide geschieden. Earl hatte nie geheiratet. Die Eltern der drei waren vor wenigen Jahren gestorben. Somit hatte Whitney weder Geschwister noch Cousins oder Cousinen. »Ich vermag noch immer nicht zu glauben, dass Sie heute meinetwegen am Set waren, Regan«, bemerkte Whitney. »Wir wollten dich so schnell wie möglich finden, mein Schatz«, erläuterte ihre Mutter. »Und dann erwischen wir sogar das richtige Motel, aber nur, um zu hören, dass du kurz zuvor ausgezogen warst.« Leon tippte sich an die Stirn. Whitney lachte. »Ich muss da noch meine Kreditkarte abholen.« Don Lesser war hinausgegangen, um einen Spaziergang zu unternehmen. Nach einer guten Stunde kam er wieder und zog sich sofort in sein Zimmer zurück. »Ich sollte auch zu Bett gehen.« Whitney gähnte. »Morgen muss ich schon früh aufstehen.« »Aber lass diesmal dein Handy eingeschaltet«, riet Leon. »Bitte! Dein Beharren auf absoluter Isolation hätte uns fast acht Millionen Dollar gekostet!« Sogar Earl räumte ein, dass Selbstfindungswochenenden mitunter gewisse Nachteile haben konnten.
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»Keine Angst. Ich schätze, ich möchte nie wieder unerreichbar sein. Ach Mom, mir fällt gerade ein, dass ich gar nichts dabeihabe, was ich am Sonntag anziehen könnte.« »Wirf doch einen Blick in meinen Kleiderschrank«, schlug Lilac vor. »Vielleicht findest du da etwas Geeignetes.« Regan wünschte allen eine gute Nacht und ging auf ihr Zimmer. Einen so leichten Fall hatte sie noch nie gehabt. Sie soll ein Mädchen suchen und dann taucht es einfach von selbst wieder zu Hause auf. Nicht schlecht. Regan setzte sich aufs Bett und schaltete ihr Handy ein. Jack hatte eine Nachricht auf ihre Mailbox gesprochen. »Hallo, Regan. Ich hoffe, du kommst gut voran. Viel habe ich noch nicht über Lucretia Standish und ihren Zukünftigen in Erfahrung gebracht, aber ich bleibe dran. Jetzt fahre ich erst einmal nach Hause, um ein paar Stunden zu schlafen. Wenn du willst, sprich mir etwas auf die Mailbox. Ich höre sie gleich morgen früh ab. Ich vermisse dich. Gute Nacht, Herzchen.« Lächelnd wählte Regan seine Nummer und berichtete: »Mein Fall ist abgeschlossen. Whitney ist unvermutet wieder auf Altered States aufgetaucht. Du hättest das Gesicht ihrer Mutter sehen sollen! Der Bräutigam weckt offenbar den Argwohn der Familie. Ich glaube, ich werde Whitneys Mutter vorschlagen, morgen früh bei der nicht mehr ganz so jungen Braut anzurufen und ein paar diskrete Fragen nach ihm zu stellen. Er scheint etwas zu verbergen zu haben. Heute wurde im Fernsehen ein kleines Interview mit Lucretia gezeigt und da ergriff er förmlich die Flucht vor der Kamera. Schlaf gut. Du fehlst mir auch.« Regan öffnete die Glasschiebetür einen Spalt, um frische Luft hereinzulassen. Der Sicherheitsriegel an der Fliegenschutztür würde verhindern, dass sie ungebetenen Besuch bekam, während sie schlief. Als sie sich ausgezogen und gewaschen hatte, freute sie sich auf ihr bequemes Bett. Hinter ihr lag ein langer 94
Tag, und sobald sie sich ausgestreckt hatte, fiel sie auch schon in Schlaf. In der Nacht wurde Regan mehrmals wach. Gegen vier Uhr glaubte sie, Schritte auf dem Flur gehört zu haben. Gegen halb sechs schreckte sie erneut aus dem Schlaf hoch, weil sie seltsame Geräusche im Stockwerk über ihr hörte, in dem die Familie ihre Schlafzimmer hatte. Sie lauschte. Aber alles war wieder ruhig und still. Nur ein leichtes Rascheln war zu vernehmen – der Wind, der sanft um das Gitter der Fliegenschutztür strich. Vermutlich ist Whitney aufgestanden, dachte Regan, sie wollte ja schon um sechs losfahren. Sie drehte sich auf die Seite und schlief wieder ein.
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hitney fand kaum Schlaf. War es tatsächlich möglich, dass sie Frank bald mit Kapital aushelfen konnte und der Film doch noch beendet wurde? Aber sie würde es ihm erst erzählen, wenn sie den Scheck in den Händen hielt. Sie hätte seine Enttäuschung nicht ertragen können, wenn unerwartet doch noch etwas schief ging. Um fünf Uhr stand sie auf, zog sich einen Bademantel an und lief über den Korridor ins Bad, um sich zu duschen. Zwanzig Minuten später war sie angezogen und bereit zum Aufbruch. Das Kleid, das ihre Mutter ihr für die Hochzeit geliehen hatte, hing ordentlich auf einem Bügel am Schrank. Whitney legte es sich samt Plastikschutzhülle über den Arm, griff nach ihrer Tasche und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Den Gang in die Küche sparte sie sich. Sie würde sich im Diner an der Straße einen Becher Kaffee holen. Dort gab es einen wunderbaren heißen Java und sie machten bereits vor Tau und Tag auf. Im Haus war alles still. Die anderen schliefen offenbar noch tief und fest. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das Leben ihrer Familie hier auf Altered States würde sich schon bald entscheidend verändern. Endlich hätten die nervenden Geldsorgen ein Ende. Und was es für Frank und sie bedeuten würde, wenn der Film ein Erfolg wurde, wagte sie nicht einmal zu denken. Mit so vielen Dollars auf dem Konto gehörte das vorsichtige Lavieren mit Kreditkarten endlich der Vergangenheit an! Ihr Auto parkte unter einer der mächtigen Eichen, deren Kronen jedes Licht aufzusaugen schienen und die Welt unter ihnen in Düsternis hüllten. Im Osten begann das dunkle Nachtblau des Himmels der aufgehenden Sonne langsam zu weichen. 97
Da durchbrach der Ruf eines verschlafenden Vogels die Stille. Was für eine seltsam faszinierende Tageszeit, dachte Whitney. Aber auch ein wenig unheimlich. Sie lief zu ihrem Jeep, öffnete die Tür und warf ihre Tasche hinein. Dann kniete sich auf den Fahrersitz und streckte den Arm aus, um ihr Kleid an den Haken über dem hinteren Fenster zu hängen. »Was ist denn …?« Sie verstummte abrupt und zog scharf den Atem ein. Normalerweise lag die große Decke, die sie für ihre Strandbesuche stets dabeihatte, zusammengeknüllt auf dem Boden. Aber selbst im Halbdunkel des frühen, grauen Morgens sah Whitney, dass sich da etwas entscheidend verändert hatte. Unter der Decke befand sich etwas, was gestern Abend noch nicht dort gewesen war. Sie wollte gerade ängstlich zurückweichen, als eine Hand unter dem Quilt hervorschoss und sie derb am Arm packte. »Hier bleiben!«, kommandierte eine raue Stimme. »Tür zu! Und keine Mätzchen! Ich habe eine Waffe.« In Whitneys Kopf begann sich alles zu drehen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Nur wenige Meter entfernt schlief ihre Familie. Niemand hatte eine Ahnung, was hier geschah, und wenn es irgendwann auffiel, war es wahrscheinlich zu spät. »Los jetzt«, knurrte die Männerstimme. Nur nicht die Nerven verlieren, sagte sich Whitney. Das Kleid in seiner Plastikhülle befand sich noch immer in ihrer linken Hand. Das hatte der Unbekannte unter der Decke aber noch nicht bemerkt, dessen war sie sich sicher. Sie rutschte auf den Fahrersitz und ließ das Kleid mit Bügel neben dem Auto auf die Erde gleiten. Dann zog sie die Tür zu und setzte den Motor in Gang. Der Quilt auf dem Rücksitz kratzte unangenehm an Hals und Schultern.
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»Fahren Sie jetzt schön langsam die Auffahrt entlang und biegen auf die Schotterpiste ein, die zu dem alten Schuppen führt. Sie kennen den Weg, oder?« »Ja«, erwiderte Whitney so ruhig wie möglich. In dem Schuppen stand ein Haufen verrostetes Gerümpel. Leon wollte das Gebäude ausräumen und renovieren, sobald die zwei Millionen auf seinem Konto waren. Über diese Pläne hatten sie gestern Abend ausführlich gesprochen. »Prima, denn genau dorthin werden wir fahren.« Will er mich etwa umbringen?, fragte sich Whitney verzweifelt. Hat er tatsächlich eine Pistole? Ihr Verstand riet ihr, seinen Anordnungen genau zu folgen. Aber wer war das bloß? Und was wollte er von ihr? Ich werde es schnell genug erfahren, dachte sie und biss sich auf die Lippen, als sie an dem Schild mit der Aufschrift Altered States Winery vorbeikamen, von dem sie sich gestern Abend so freundlich begrüßt gefühlt hatte.
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m Viertel nach acht betrat Regan den Speisesaal, in dem Lilac und Earl bereits beim Frühstück saßen. »Offenbar hat es Whitney geschafft, rechtzeitig aufzustehen«, meinte Regan, als Lilac ihr heißen Kaffee einschenkte. »Ihr Zimmer ist leer. Vermutlich hat sie ihr Seminar längst erreicht.« Leon kam an den Tisch. »Das lag draußen auf der Erde«, berichtete er und hielt ein Kleid nebst Bügel und Plastikhülle in der ausgesteckten Hand. »Das ist doch das Kleid, das ich Whitney für die Hochzeit geliehen habe!«, rief Lilac überrascht. »Wo hast du es gefunden?« »An der Stelle, an der sie ihren Wagen geparkt hatte.« In Regan regte sich ein unbehagliches Gefühl. Sie wusste, dass Whitney nur wenig Gepäck hatte. Wie konnte sie da das Kleid fallen lassen, ohne es zu merken? »Typisch Whitney«, stellte Earl fest, schälte eine Banane und begann, sie in sein Müsli zu schneiden. Keiner von ihnen scheint sich Sorgen zu machen, dachte Regan verwundert. »Ich werde sie anrufen und ihr sagen, dass das Kleid hier ist«, sagte Lilac und griff nach einem Brötchen. Leon wirkte erschöpft. Er setzte sich auf den Stuhl neben Regan und rieb sich die Augen. »In der Nähe sind Brände ausgebrochen und der Wind treibt das Feuer offenbar in unsere Richtung.« »Wirklich?« Erschrocken sah Lilac ihn an. »Woher weißt du das?« 100
»Ich habe es gerade in den Nachrichten gehört. Gestern haben ein paar Kinder hinter einer Schule geraucht. Eine Zigarette genügte, um den Brand auszulösen. Die Feuerwehr war die ganze Nacht im Einsatz, aber der Wind wechselt ständig die Richtung, daher breiten sich die Flammen unkontrolliert aus.« Regan kannte die Gefahr von Waldbränden. An einem Tag besaß man üppig grüne Weinberge und am nächsten nur noch verkohlte Reste. Sie bezweifelte, dass Leon zur Hochzeit fuhr, wenn sein Besitz bedroht war. Leon hatte das Kleid über eine Stuhllehne gelegt. Sein Anblick ließ Regan unruhig werden. Irgendetwas stimmt da nicht, dachte sie. Vielleicht sollte ich zunächst doch lieber hier bleiben. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich heute Vormittag an Ihrem Meditationskurs teilnehme?«, fragte sie Earl. »Nein, natürlich nicht. Er beginnt um zehn im Nebengebäude. Ziehen Sie sich etwas Bequemes an.« »Wundervoll, Regan!«, lächelte Lilac. »Bleiben Sie hier und entspannen Sie ein wenig. Es ist ein herrlicher Tag. Sie brauchen doch nicht sofort nach L. A. zurück, oder?« »Nein, eigentlich nicht.« Regan sah keinen Sinn darin, Lilac mit ihren Befürchtungen zu beunruhigen, beschloss jedoch, auf Altered States zu bleiben, bis feststand, dass mit Whitney alles in Ordnung war. »Nun, wie ist es, wollen Sie nicht ein kleines Telefongespräch mit Lucretia führen?«, schlug sie Lilac vor. »Vielleicht können wir ein bisschen mehr über ihren Verlobten herausfinden.« »Gute Idee. Es ist nur vielleicht noch etwas zu früh dafür. Aber ich werde gleich mal Whitney anrufen.« »Wahrscheinlich wird sie sich nicht melden«, warnte Earl. »Ich weiß, wie es auf diesen Seminaren zugeht. Handys müssen ausgeschaltet werden.« »Dann spreche ich ihr etwas auf die Mailbox.« 101
»Ich würde gern dabei sein, wenn Sie mit Lucretia sprechen, Lilac«, sagte Regan. »Können wir vielleicht vom Büro aus telefonieren?« »Na klar, kein Problem.« Regan strich Himbeerkonfitüre auf ein Maisbrötchen und biss hinein. Es schmeckte köstlich. Sie lächelte unwillkürlich. Noch mochte Altered States vielleicht ein Geheimtipp sein, aber die behagliche, liebenswürdige Unterkunft und das leckere Essen würden das bald ändern. Die Weinkellerei machte Fortschritte, sie hatten sogar schon einen Preis für ihren Pinot Noir errungen. Die Weinproben würden bestimmt in nicht allzu ferner Zeit Scharen von Menschen anziehen. Und Earls Meditationszentrum? Wer weiß, vielleicht wurde selbst das ein Erfolg. Lilac, Earl und Leon waren dabei, sich ihre Lebensträume zu erfüllen. Später wollten sie Land dazukaufen, um noch mehr Wein anzubauen. Nicht schlecht, überlegte Regan. Nach dem Frühstück entschuldigte sie sich und ging auf ihr Zimmer. Es wäre zu schön, wenn ich Jack jetzt erreichen würde, dachte sie, während sie seine Nummer wählte. Als er sich tatsächlich meldete, erzählte sie ihm schnell, was sich inzwischen ereignet hatte. »Du hast Recht, das hört sich nicht gut an«, meinte Jack nachdenklich. »Und ich frage mich, wer alles davon weiß, dass die Familie bald zu Geld kommen wird.« »Sie schwören, niemandem davon erzählt zu haben.« »Diese Lucretia Standish ist auf allen Kanälen offenbar das Thema des Tages.« »Tatsächlich?« Regan war überrascht. »Ihre Heirat und die Prahlerei mit ihren Dotcom-Millionen ist doch genau das, was die Zuschauer sehen wollen. Nach dem Motto: Mit dreiundneunzig fängt das Leben erst richtig an! Sie
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können das Interview mit ihr anscheinend gar nicht oft genug wiederholen.« »O Gott!«, stöhnte Regan. »Die Lady liebt eindeutig das Rampenlicht. Ganz im Gegensatz zu ihrem Zukünftigen. Ich habe die Kollegen in L. A. übrigens gebeten, ein paar Nachforschungen anzustellen.« »Danke, Jack.« »Sobald ich mehr weiß, melde ich mich.« Regan hatte sich kaum von Jack verabschiedet, da klingelte ihr Handy. »Hallo, mein Schatz!«, rief ihre Mutter vergnügt. »Hallo, Mom. Was gibt’s?« »Nun, wie es aussieht, haben dein Vater und ich bis morgen Nachmittag nichts Besonderes vor. Wir würden dich gern mal wieder sehen.« Ein Gedanke zuckte Regan durch den Kopf. Warum eigentlich nicht?, fragte sie sich. Die Weldons konnten Gäste doch immer gebrauchen. »Was hältst du von einem Aufenthalt auf Altered States?« Sie informierte Nora kurz über den Stand der Dinge. »Aber es ist wirklich wunderschön hier und es sind noch Zimmer frei. Außerdem dauert die Anreise nicht mehr als zwei Stunden.« »Mich hast du schon überredet, aber lass mich ganz kurz mit Dad sprechen«, erwiderte Nora. »In Ordnung«, erklärte sie zwei Minuten später. »Du kannst rechtzeitig zum Lunch mit uns rechnen.«
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nfangs freute sich Lucretia wie ein Kind über den Wirbel, den das Fernsehinterview auslöste. Am Freitagabend stand das Telefon gar nicht mehr still. Sie erhielt Anrufe von Leuten, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie noch am Leben waren. Andere behaupteten wiederum, gar nicht gewusst zu haben, dass sie noch am Leben war. Sogar Freunde aus ihrer Kinderzeit meldeten sich und verkündeten triumphierend, dass auch sie dem Sensenmann bislang erfolgreich getrotzt hatten. Alte Kameraden ihrer fünf Verflossenen riefen ebenso an wie flüchtige Bekannte, die sie auf ihren Kreuzfahrten kennen gelernt hatte. Lucretia lud sie alle zur Hochzeit ein. Einige, die in der Nähe wohnten, nahmen die Einladung sogar an. Die Drohanrufe begannen mitten in der Nacht. »Die Millionen haben Sie mir gestohlen!«, schrie ihr eine Stimme um vier Uhr morgens ins Ohr. »Dafür werden Sie mir bitter bezahlen!« »Ihr Verlobter ist ein Betrüger und Schnorrer. Heiraten Sie ihn nicht«, warnte eine andere. Und dann rief auch noch eine Frau an, die sich Lucretias Filme angeschaut hatte und erklärte, dass sie sie für eine lausige Schauspielerin hielt. Das allerdings erboste sie mehr als alles andere. Sie konnte kaum einschlafen. Um sechs Uhr trat sie vor das Haus, um die Zeitung hereinzuholen, und musste feststellen, dass jemand im Schutz der Nacht Tomaten gegen die Tür geschleudert hatte, die nun matschig und zerplatzt auf ihren sonst so sauberen Eingangsstufen lagen. »Bewirft man Hochzeitspaare sonst denn nicht mit Reis?«, murmelte sie beleidigt vor sich hin. Sie überlegte, ob sie Edward anrufen sollte, um ihm von dieser Freveltat zu berichten. Aber 104
sein Nachtschlaf war Edward ja heilig. Gott, war der Mann manchmal langweilig! Wäre ich fünfzig Jahre jünger, ich würde ihn auf gar keinen Fall heiraten, dachte sie, bekam aber gleich darauf leichte Gewissensbisse. Lucretia hob die Zeitung auf, die nach den Tomaten gekommen sein musste, denn sie war makellos, und ging wieder ins Haus. Sie legte sich noch einmal ins Bett und döste wenig später ein, um erst wieder zu erwachen, als Phyllis’ Auto in der Auffahrt hielt. Die Haushälterin stieg aus, bemerkte die zermatschten Tomaten vor der Tür und runzelte auf ihre unnachahmliche Art die Stirn. »Was soll denn das?«, knurrte sie, schloss die Tür auf und betrat das Haus. In der Küche setzte sie die Kaffeemaschine in Betrieb und wartete auf Lucretias Klingeln. Ihre Chefin enttäuschte sie nicht. Phyllis schenkte Kaffee in eine Tasse und trug sie in Lucretias Zimmer. »Mein letzter Tag als alleinstehende Frau«, erklärte Lucretia kokett, richtete sich auf und stopfte ein Kissen in ihren Rücken. Allmächtiger!, dachte Phyllis. »Es wird wohl meine letzte Ehe sein.« »Man kann nie wissen«, sagte Phyllis, als sie das Tablett vorsichtig auf dem Bett absetzte. »Bleiben Sie einen Moment bei mir, Phyllis. Hinter mir liegt eine grauenhafte Nacht.« »Ich habe die Tomaten auf der Treppe gesehen.« »Wer tut so etwas nur?, frage ich Sie.« »Keine Ahnung.« »Ich bin doch nur eine arme, alte Frau, die sich nach ein bisschen Glück sehnt.«
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»Sie sind eine reiche, alte Frau, die sich nach ein bisschen Glück sehnt«, korrigierte die Haushälterin. »Für manche Menschen ist das ein großer Unterschied. Besonders für Leute, die viel Geld auf dem Aktienmarkt oder gar bei DotcomInvestitionen verloren haben. Vielleicht hat das Fernsehinterview etwas ausgelöst – Neid, Verbitterung oder gar Wut, wer weiß.« Nachdenklich trank Lucretia einen Schluck Kaffee. »Vielleicht gönnen sie es mir nicht, dass ich Edward heirate.« Phyllis zuckte nur mit den Schultern. Es kostete sie ihre ganze Selbstbeherrschung. »Ist für morgen auch alles ordentlich vorbereitet?«, fragte Lucretia. »Ja. Und wenn Sie jetzt endlich aufhören, noch mehr Leute einzuladen, dann können wir dem Caterer heute die endgültige Gästezahl mitteilen.« »Aber es macht mir doch so viel Freude, Phyllis!« Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte. Die beiden Frauen schauten auf. Schließlich nahm Phyllis den Hörer ab und meldete sich mit: »Haus Standish.« Sie lauschte einen Moment und schrie dann: »Entschuldigung, aber Sie sind einfach unverschämt!« »Wer war das?«, wollte Lucretia wissen. »Jemand, der sich verwählt hat.« »Das glaube ich Ihnen nicht!«, jammerte Lucretia. »Morgen will ich heiraten und diese Tage sollten eine unbeschwerte, glückliche Zeit für mich sein. Und jetzt ist es schon so weit, dass ich mich in meinem eigenen Haus nicht mehr wohl fühle; dass ich mich schon vor dem nächsten Telefonklingeln furchte.« Und wie aufs Stichwort ertönte das gefürchtete Geräusch.
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Wieder griff Phyllis nach dem Hörer. »Haus Standish … Oh, Lilac Weldon … Ja, selbstverständlich ist sie hier. Einen Augenblick bitte.« »Lilac!«, schluchzte Lucretia erleichtert in die Muschel. Es hörte sich an, als hätte ihr jemand gerade einen Rettungsring zugeworfen. »Ich hoffe sehr, dass ihr morgen alle kommt.« Aber sicher, dachte Phyllis und verkniff sich ein Grinsen. »Wie schön! Ich kann es kaum erwarten, euch zu begrüßen … Du hast mich im Fernsehen gesehen? … Nun, ich fürchte, das hat ein paar Leute ziemlich aufgebracht.« Und mit dramatischen Ausschmückungen berichtete sie ihrer Nichte von den Drohanrufen und dem Tomaten-Attentat. »Buchstäblich überall klebt Tomatensauce. Ich habe unglaubliche Angst hier allein im Haus! Mein ganzer Körper zittert wie Espenlaub.« Junge, Junge, kann irgendjemand noch besser auf Mitleid machen?, dachte Phyllis genervt. Aber Lucretias nächste Worte ließen sie förmlich erstarren. »Den Tag bei euch verbringen?« Ein Lächeln trat auf Lucretias Lippen. »Meditation … ein nettes Abendessen … ein paar Stunden im Kreis der Familie … morgen früh könnte ich nach Beverly Hills zurückfahren … Das hört sich wirklich wundervoll an. Hier ist alles schon bis ins Letzte vorbereitet und ich würde mir sowieso nur den ganzen Tag Sorgen machen …« »Sollten Sie sich heute nicht lieber gründlich ausruhen?«, unterbrach Phyllis. »Nein!«, zischte Lucretia zurück und wandte sich wieder dem Hörer zu. »Nein, nichts Wichtiges … Alles in Ordnung, Lilac, Liebes. Ich rufe sofort Edward an und erzähle ihm von unseren Plänen … Natürlich wird er mitkommen! Ich war seit Jahren nicht mehr auf einem Weingut. Es wird bestimmt ganz wunderbar. Und so eine Landpartie hat mir schon immer gut getan.« Sie notierte sich die Wegbeschreibung, versprach Lilac, im Laufe des Nachmittags da zu sein, und legte auf. 107
Was soll das alles? Ich kann doch nicht zulassen, dass sie meine Pläne durchkreuzt!, dachte Phyllis entsetzt. »Kann ich mitkommen?« Lucretia sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Seit wann begleiten Sie mich auf meinen Ausflügen? Abgesehen davon ist es so etwas wie eine vorweggenommene Hochzeitsreise. Außerdem müssen Sie unbedingt hier bleiben. Wollten der Caterer und der Florist nicht heute schon liefern?« Dagegen konnte Phyllis kaum etwas einwenden. Aber sie befürchtete bedrückt, dass ihre Abmachung mit Lilac irgendwie platzen könnte. Plötzlich schien ihr alles aus den Händen zu gleiten. »Ich muss unbedingt Edward anrufen«, krähte Lucretia. »Und Sie holen mir jetzt meine Reisetasche!«
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ehaglich räkelte sich Rex im Bett und beglückwünschte sich selbst zu seiner perfekten und problemlosen Entführung. Whitney war in dem alten Geräteschuppen eingesperrt, wo sie kaum jemand finden würde – zumindest nicht so bald. Vor mehr als zwei Stunden war er unbemerkt in sein Zimmer zurückgeschlüpft. Er stand auf, schnappte sich sein Handy, ging ins Bad und stellte die Dusche an. Erst dann wählte er eine Nummer. Ein schläfriger Eddie meldete sich. »Ich bin’s«, informierte ihn Rex. »Was liegt an?« »Auftrag ausgeführt. Sie ist in einem Schuppen. Gefesselt und geknebelt.« »Ehrlich?« Eddies Stimme steigerte sich um eine Oktave. »Ist sie auch wirklich sicher verwahrt?« »Sicherer geht es gar nicht. Ich überlege gerade, was ich jetzt tun soll.« »Was heißt das?« »Ich frage mich, ob ich bleiben oder verschwinden soll.« »Bleib, wo du bist. Sorge dafür, dass Whitney den Schuppen nicht verlassen kann. Wo ist diese Regan Reilly?« »Noch hier, nehme ich an. Ich bin im Moment auf meinem Zimmer.« »Bleib, wo du bist«, wiederholte Eddie. »Behalte die Dinge im Auge.« »Okay. Und wie läuft es bei dir?«
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»Es ist ein wahrer Albtraum. Gestern Abend waren wir im Fernsehen. Lucretia hat aller Welt verkündet, dass wir heiraten. Ich bin fix und fertig.« »Ihr seid im Fernsehen gewesen? Wie ist es denn dazu gekommen?« »Sie hat bei Saks ein Hochzeitskleid gekauft und kam mit der Verkäuferin ins Plaudern. Dann führte eins zum anderen.« »Niemand hat behauptet, dass die Eheschließung mit einer vielfachen Millionärin einfach und unbemerkt über die Bühne geht. Ist dir übrigens bekannt, dass Whitney und ihre Familie pro Kopf zwei Millionen bekommen, wenn sie vollzählig bei der Hochzeit antreten?« »Was? Woher weißt du das? Lucretia hat mich gebeten, die Schecks vorzubereiten, aber es sollte eine Überraschung sein.« Eddie schwieg kurz. »Und sie bekommen das Geld auf jeden Fall. Warum nehmen sie an, es wäre von ihrer Teilnahme an der Hochzeit abhängig? Da frage ich mich doch, ob diese neugierige Haushälterin ihre Hände im Spiel hat. Das ergäbe zumindest einen Sinn. Ja, jetzt begreife ich auch, warum sie eine Privatdetektivin engagiert haben, um Whitney zu finden! Weil sie glauben, nur ihr vollzähliges Erscheinen garantiere die Millionen. Ziemlich geldgierig, finde ich.« »Nun, für die Weldons bist du der Habgierige, mein Freund. Sie halten dich für einen Betrüger und Schwindler. Und damit haben sie sogar Recht.« »Einen Augenblick!«, sagte Eddie. »Da versucht jemand, mich anzurufen.« Rex setzte sich auf den Badewannenrand und wartete. Minuten vergingen. Er stand wieder auf und betrachtete sich im Spiegel. Mit dieser schwachsinnigen Perücke sehe ich aus wie ein Idiot, stellte er fest. Er überlegte gerade, ob er die Tränensäcke unter seinen Augen wegoperieren lassen sollte, als sich sein Freund wieder meldete. 110
»O mein Gott!«, kreischte Eddie. »Was ist denn passiert?«, fragte Rex beunruhigt. Noch nie hatte sich Eddie so verzweifelt angehört. »Lucretia hat offenbar schlecht geschlafen. Außerdem erhielt sie vorhin einen Anruf von Whitneys Mutter. Und jetzt sind wir eingeladen, einen gemütlichen Abend mit der Familie auf dem Weingut zu verbringen, um uns zu erholen. Morgen früh wollen wir rechtzeitig zur Hochzeit wieder nach Beverly Hills zurückfahren. Verdammt!« Rex pfiff leise durch die Zähne. »Oh – oh. Kannst du dich nicht irgendwie davor drücken?« »Nein. Lucretia klang ganz anders als sonst. Da war so ein neuer Ton. Sie scheint fest entschlossen zu sein.« »Nun, dann sehen wir uns heute noch, Kumpel. Aber vergiss bloß nicht, dass wir uns offiziell nicht kennen.« Rex schaltete das Handy aus. Vielleicht sollte ich lieber doch nicht bleiben, dachte er. Unter Umständen könnte die Sache ein bisschen ungemütlich werden. Solange Whitney sicher in ihrem Versteck saß, hatte Rex sowieso nichts zu tun. Also rief er einen seiner Kumpane in New York an, um sich nach dem Stand eines weiteren »Projekts« zu erkundigen. Doch was er hörte, gefiel ihm gar nicht. »Jimmy wurde geschnappt, als er das Kunstwerk einem Undercoveragenten verkaufen wollte. Im Moment wird er vom FBI in die Mangel genommen.« Na großartig, dachte Rex. Nein, ich rühre mich hier besser nicht vom Fleck. Ich verstecke mich hier und warte ab, bis sich der Rauch verzogen hat. Vielleicht sollte ich an diesem Meditationskurs teilnehmen.
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rank Kipsman erwachte mit heftigen Kopfschmerzen. Kein Wunder, sagte er sich. Gestern Abend war er nach einer äußerst anstrengenden Reise mit Heidi Durst, der Drehbuchautorin und Produzentin von Getäuscht, im Beverly Hills Hotel abgestiegen. Die Frau war eine Katastrophe. Schlimm genug, dass sie am Set ständig für Unruhe und Spannungen unter den Schauspielern sorgte; aber nun hatte sie ihm während der gesamten Autofahrt damit in den Ohren gelegen, dass Getäuscht unbedingt und um jeden Preis ein Erfolg werden musste. Eine ganze Liste von Versäumnissen und angeblichen Fehlern schien sie vorbereitet zu haben. Er ließ sie reden, obwohl sie beide wussten, dass die finanziellen Probleme allein ihre Schuld waren. Sie hatte die Kapitalgeber durch ihre unangenehme Art schlicht verprellt. O Gott, wie er Whitney vermisste, wie sehr er sie liebte! Was für ein Glück, dass sie damals für Getäuscht vorgesprochen hatte. Sie war einfach perfekt für die Rolle. Eine junge Goldie Hawn. Sie spielte die geplagte Chefin einer Internetfirma mit unwahrscheinlicher Konzentration und Souveränität. Der Film konnte zum Meilenstein ihrer Karriere werden. Ihrer beider Karriere. Frank knipste die Nachttischlampe an. Gestern hatte er Whitney einen dieser Piepser gegeben, weil er wusste, dass sie es hasste, ständig ihr Handy zu überprüfen. Außerdem war es eine sehr viel einfachere und so »romantische« Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Niemand außer ihnen kannte die Nummer. Frank piepste Whitney an, gab seine Nummer ein und wartete. Nach zehn Minuten sah er auf seine Armbanduhr. Es war Viertel nach acht. Er hatte ihr doch gesagt, dass er sie gleich
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morgens anrufen würde. Wo ist sie nur?, fragte er sich und begann unruhig zu werden. Mit seinen achtundzwanzig Jahren besaß Frank in Hollywood bereits einen Namen als hoffnungsvoller Nachwuchsregisseur. Nachdem er mit ein paar billig produzierten Horrorfilmen einiges Aufsehen erregt hatte, war Getäuscht nun seine erste Komödie. Als Junge war er ein glühender Fan der Three Stooges gewesen, dieser verrückten Komikertruppe. Keinen ihrer Filme hatte er versäumt. Sie waren seine großen Vorbilder – ohne sie wäre er nie zum Film gegangen. Getäuscht sollte ihm nun den Durchbruch bescheren, er glaubte fest an seinen Film und nur das ließ ihn Heidi Durst ertragen. Sie war eine egozentrische Person, die hohe Anforderungen an andere stellte, allerdings auch eine hoch begabte Produzentin. Und sie konnte sehr komisch sein, wenn auch häufig auf Kosten anderer. Am meisten Unbehagen bereitete Frank jedoch die Vermutung, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte. Das wäre ein Fall von unerwiderter Liebe, der selbst Shakespeares Phantasie glatt überfordert hätte. Heidi war erst einunddreißig, wirkte aber schroff und giftig wie eine alte Spinne. In ihrer Verbitterung darüber, ihren Mann vor Jahren an eine andere verloren zu haben, setzte Heidi nun alle Hoffnungen auf diesen Film. Frank stand auf und zog die Vorhänge zurück. Wie immer strahlte die Sonne über Los Angeles. Um Viertel vor neun sollte er sich mit Heidi zum Frühstück in der Polo Lounge treffen. Ich bin gespannt, was sie geplant hat, dachte er, als er ins Bad ging. Wir sind nach L. A. gekommen, um eine Million Dollar aufzutreiben, ohne zu wissen wie, und wohnen in einem teuren Hotel, nur um potenzielle Kapitalgeber zu beeindrucken. Fünfzehn Minuten später betrat er in Chinos, einem marineblauen Blazer und seinen unvermeidlichen Sneakers das Restaurant. Heidi saß bereits an einem Tisch, trank Kaffee, machte sich Notizen auf einem Block und rief dem Kellner barsch irgendwelche Anordnungen zu. Offenbar kann sie nicht 113
anders, ging es Frank durch den Kopf. Dabei ist sie gar nicht so unattraktiv, aber mit ihrem schroffen Benehmen jagt sie jeden in die Flucht. Sie hat viel zu kurz geschnittene braune Locken, durchdringende blaue Augen und ein energisches Kinn. Heute trug sie einen khakifarbenen Hosenanzug, in dem sie aussah, als würde sie gleich in die Schlacht ziehen. Nun, vielleicht tut sie das ja auch, dachte Frank, als er ihr gegenüber Platz nahm und sie anlächelte. »Morgen, Kipsman!«, bellte sie ihn an. »Guten Morgen.« Frank griff nach seiner Serviette und legte sie sich auf den Schoß. Er seufzte unhörbar. Vermutlich würde es ein langer Tag werden. Dabei wollte er nur eins: Filme machen. Heidi blickte angelegentlich auf ihren Block. »Meine Assistentin hat mich vorhin angerufen. Ein paar von den Leuten, die wir angesprochen hatten, sind offenbar bereit, sich heute mit uns zu treffen. Aber mir ist inzwischen eine viel bessere Idee gekommen.« »Und die wäre?« Frank nickte dem Kellner zu, der ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. »Da ich gestern Abend nicht einschlafen konnte, habe ich GOS eingeschaltet. Da wurde immer wieder ein Interview mit einer Frau wiederholt, die an diesem Wochenende heiraten will. Sie hat mehr als fünfzig Millionen mit einer der Dotcom-Pleiten verdient.« Frank nickte nur. »Sie ist dreiundneunzig.« Frank nickte wieder. »Sie heiratet einen sehr viel jüngeren Mann.« »Soso.« »Sie war ein Stummfilmstar.« »Oh, tatsächlich?« 114
»Ja, tatsächlich«, wiederholte sie gereizt. »Sie war für kurze Zeit anscheinend ganz groß – vor rund fünfundsiebzig Jahren.« Frank kannte nicht viele Stummfilme. Er hatte immer nur die drei Stooges gesehen. »Ich habe nachgeschaut: Sie wohnt in Beverly Hills und steht im Telefonbuch. Ich habe vor, sie anzurufen und ihr eine Rolle in unserem Film anzubieten.« »Wie bitte?« Fast hätte sich Frank an seinem Kaffee verschluckt. »Aber sicher! Irgendetwas fällt uns schon ein. Sie kann sich selbst spielen … Jemanden, der reich wurde wie Krösus, anstatt alles zu verlieren. Ich denke an eine kleine Szene kurz vor dem Abspann. Das kann doch sehr witzig sein und wäre darüber hinaus auch gut für unsere PR.« »Und gut für unsere Probleme, wenn ich mich nicht sehr irre. Denn du willst die Frau doch dazu bringen, unseren Film zu finanzieren, oder?« »Was denn sonst?« Heidi musterte ihn, als wäre er schwer von Begriff. »Ich rufe sie nachher an und sage, wir hätten ein Hochzeitsgeschenk für sie, das wir zu gern persönlich vorbeibringen würden, und da wir gerade in der Stadt sind …« »Hast du denn ein Geschenk?«, erkundigte sich Frank. »Natürlich nicht. Das kaufen wir erst, wenn sie bereit ist, uns zu empfangen.« Schweigend trank Frank seinen Kaffee. Warum um Gottes willen hatte Whitney nur noch nicht angerufen?
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as Meeting war eine Katastrophe. Der potenzielle Investor erklärte ihnen unverblümt, wie wenig er von ihrem Film hielt. Frank hatte den Eindruck, dass er mit ihnen nur über die lausigen Streifen quatschen wollte, die er selbst in grauer Vorzeit mal gedreht hatte. Also saßen sie in seinem Arbeitszimmer und hörten geduldig zu, wie er sich über diesen oder jenen Schauspieler verbreitete. Jeder seiner Sätze begann mit: »Früher, zu meiner Zeit …« Als ersichtlich wurde, dass er sein Scheckbuch in diesem Jahrtausend mit Sicherheit nicht mehr hervorziehen würde, verabschiedeten sie sich so höflich wie möglich. Sie steckten zwar in einer Klemme, doch noch war ihre Lage nicht hoffnungslos. »Mit dem nächsten Geldsack sind wir in einer halben Stunde verabredet, aber lass mich sehen, ob ich Lucretia Standish erreichen kann«, erklärte Heidi im Auto und zog ihr Handy hervor. Ihren entschlossenen Gesichtsausdruck kannte Frank nur zu gut. Sie war wie eine Tigerin auf dem Sprung, bereit, sich in jedem Augenblick auf ihre ahnungslose Beute zu stürzen. »Wäre es vielleicht möglich, mit Miss Standish zu sprechen?«, zwitscherte sie mit honigsüßer Stimme. Frank lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Er verstand nicht, warum sich Whitney bisher noch nicht gemeldet hatte. Aber davon kein Wort zu Heidi. Wenn sie erfuhr, dass zwischen ihnen etwas lief, würde sie ausflippen. Sie hatte sich bereits ein paar ziemlich schnippische Bemerkungen über Whitney erlaubt. Keine Kritik an ihren schauspielerischen Leistungen natürlich, denn da war sie unangreifbar. Aber es passte ihr nicht, dass jedermann Whitney mochte. 116
Wenn ich doch endlich nicht mehr auf Leute wie Heidi angewiesen wäre!, dachte Frank missmutig. Nun ja, vermutlich müsste ich auch dann Kompromisse eingehen. Nur eben mit anderen. »Hier spricht Heidi Durst, ich bin Präsidentin von Gold Rush Films … Nein, ich kenne Miss Standish noch nicht persönlich … Nun, ich glaube, wir haben eine gute Nachricht für sie. Wir möchten ihr eine Rolle in dem Film anbieten, den wir gerade drehen.« Heidi hob den Kopf und sah Frank triumphierend an. »Die Haushälterin holt sie ins Haus zurück. Sie sitzt bereits draußen im Auto. Es ist doch wirklich erbärmlich, wie die Leute rennen, wenn Hollywood anruft.« Sie verzog das Gesicht. Aber ihre Überheblichkeit fand ein schnelles Ende. »Guten Tag, Miss Standish, ich freue mich, mit Ihnen sprechen zu können«, flötete Heidi. »Ja, so ist es. Wir würden zu gern mit Ihnen arbeiten und dachten, wir könnten Sie heute kurz aufsuchen, um … Wie bitte? Ein ungünstiger Zeitpunkt?« Frank war nicht im Geringsten überrascht. »Oh, verstehe … Sie wollen gerade zum Weingut Ihrer Familie fahren. Morgen findet die Hochzeit statt und dann werden Sie zwei Wochen lang nicht in der Stadt sein … Nun, wir rechnen mit einem weiteren Monat für die Dreharbeiten, daher spricht von unserer Seite nichts gegen Ihren Auftritt in unserem Film. Es wäre zu schön, wenn Sie ein paar Minuten Zeit für uns hätten. Wir sind zufällig ganz in der Nähe …« Frank fand, dass sich die Stimme am anderen Ende der Leitung anhörte wie die von Cousin Itt von der Addams Family. Das war eine weitere seiner Lieblingsserien, auch wenn sie lange vor seiner Geburt produziert worden war. Aber zum Glück gab es ja Videorecorder. »Um am Nachmittag mit Ihnen ein Glas Wein zu trinken? Das ist ja eine wundervolle Idee! Wir wollten ohnehin in die
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Richtung. Herzlichen Dank für die Einladung.« Hastig machte sich Heidi ein paar Notizen. »Die Altered States Winery …« Frank holte scharf Luft, sodass Heidi ihn fragend ansah. Er lächelte, als wäre alles absolut in Ordnung. Alles bis auf die Tatsache, dass es sich um das Weingut von Whitneys Familie handelte. Was wusste man dort von ihm?
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orman Broda blickte in die Runde. Elf Teilnehmer waren zu seinem Seminar erschienen, die an einem Tag lernen würden, ihre Kreativität freizusetzen, Blockaden zu überwinden, ihre Stimme, ihr ganzes Selbst zu entfesseln. »Werden Sie zum Goldgräber – entdecken Sie den Reichtum Ihrer inneren Potenziale«, lautete Normans Werbeslogan. Ein eintägiger Lehrgang mit zwölf Teilnehmern brachte ihm sechs Riesen ein. Nicht schlecht, wenn man das Seminar mehrmals im Monat veranstaltete. Einzig Whitney Weldon war bisher noch nicht aufgetaucht. Norman war tief enttäuscht. Ihretwegen hatte er bereits den Beginn um einige Minuten verschoben, aber noch immer ließ sie auf sich warten. Er fragte sich, wo sie wohl stecken konnte. Die fünfhundert Mäuse hatte sie ja gestern geblecht. Dass sich jemand so spät anmeldete und dann nicht erschien, war reichlich ungewöhnlich. Norman Broda galt zwar weithin als wahrer Zauberer unter den Schauspiellehrern, der alles aus seinen Schülern herausholte, aber dennoch hatte er gehofft, mit Whitney Weldons Namen weitere Interessenten für seine Seminare zu gewinnen. Früher hatte er in Hollywood unterrichtet, sich aber vor drei Jahren in die Berge zurückgezogen, um sich dem Drehbuchschreiben zu widmen. Für zwei Geschichten waren tatsächlich Optionen abgegeben worden. Daneben führte er gelegentlich bei Fernsehproduktionen Regie. Alles in allem war es ein angenehmes Dasein. Privat lebte der Zweiundfünfzigjährige mit seiner Freundin Dew zusammen, die nur halb so alt war wie er und bei einem lokalen Rundfunksender arbeitete. Er dachte darüber nach, ob er Whitney anrufen und fragen sollte, ob sie noch kommen würde. Normalerweise lief er den 119
Leuten nicht hinterher. Wenn sie trotz Anmeldung nicht auftauchten, dann eben nicht. Aber gestern am Telefon hatte Whitney so geklungen, als wollte sie unter allen Umständen an seinem Seminar teilnehmen. Nein, entschied er. Ich warte bis zur Lunchpause. Falls sie dann noch nicht hier ist, versuche ich sie zu erreichen. Wenn sie sich nicht meldet, rufe ich Ricky an und frage, was geschehen sein könnte. Er wollte ihr unbedingt sein neuestes Drehbuch zeigen. Sie wäre geradezu perfekt für die Hauptrolle. Norman Broda klatschte lächelnd in die Hände. »Fangen wir an, liebe Leute. Es wäre schön, wenn ihr euch alle mit euren Stühlen im Kreis setzt. Wir beginnen mit ein paar Gedächtnisübungen.« Während er seine Gruppe zur Konzentration animierte, ging ihm Whitney Weldon nicht aus dem Kopf. Wo steckte sie nur?
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hitney war eine Gefangene in ihrem eigenen Auto. Ihre Hände und Füße waren gefesselt, ihre Augen verbunden, ein Knebel steckte in ihrem Mund. Der Wagen stand in der hintersten Ecke des Schuppens, wo man ihn erst entdecken würde, wenn gründlich aufgeräumt wurde. Das baufällige Gebäude enthielt nur altes Gerümpel: ausgemusterte Traktoren, schadhafte Weinfässer, zerbrochene Möbelstücke. Whitney glaubte gehört zu haben, dass ihr Entführer irgendwelche Gegenstände auf den Jeep warf, wahrscheinlich um ihn zu tarnen. Er war mit Sicherheit schon einmal hier drinnen gewesen, er kannte sich aus. Sobald sie auf seinen Befehl hin den Motor ausgeschaltet hatte, hatte er schnell die Decke über ihren Kopf geworfen. In diesem kurzen Moment hatte sie im Rückspiegel erkennen können, dass er eine Skimaske trug. Dann hatte er sie gepackt und sie grob auf die Ladefläche hinter dem Rücksitz gezerrt, wo er sie fesselte und knebelte. Wann wird mich bloß jemand vermissen?, fragte sie sich mutlos. Ihre Familie hatte sie dringend gebeten, ihr Handy eingeschaltet zu lassen, um jederzeit erreichbar zu sein. Und jetzt saß sie hier fest. Dabei durfte sie auf keinen Fall morgen die Hochzeit versäumen. Mit auf dem Rücken gebundenen Händen lag Whitney auf dem Wagenboden und stöhnte verzweifelt. Jedes Mal wenn sie den Mund öffnen wollte, um zu schreien, hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen. Die Binde vor ihren Augen saß so stramm, dass sie bereits Kopfschmerzen bekam. Was wird mit mir geschehen? Wann wird mich jemand finden?, fragte sie sich. Oder bin ich dazu verurteilt, hier zu verhungern und zu verdursten? 121
Aber vielleicht, vielleicht fällt ja auf, dass ich nicht bei dem Seminar aufgetaucht bin. Möglicherweise erkundigt man sich dort, wo ich bleibe. Es war ihre einzige Hoffnung.
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achdem Regan das Telefongespräch mit ihrer Mutter beendet hatte, kehrten ihre Gedanken an Whitney wieder zurück. Es ergab keinen Sinn, dass sie das Kleid verloren haben sollte, ohne es zu bemerken. Selbst wenn sie in Eile oder noch ein wenig verschlafen gewesen war. Aber was in aller Welt könnte geschehen sein? Regan verließ ihr Zimmer und lief über den Flur in die Halle. Sie blickte zum Fenster hinaus und bemerkte, wie drei Frauen aus ihren Autos stiegen. Sie sahen aus, als wollten sie an Earls Meditationskurs teilnehmen. Es war ein wunderschöner Maimorgen. Die Sonne schien von einem blitzblanken Himmel und es versprach ein guter Tag zu werden. Im Büro traf Regan auf Lilac. Sie sprach mit einer Frau, die Regan noch nie gesehen hatte. Die Unbekannte war vielleicht in den Vierzigern, trug Jeans und einen geblümten Pullover. »Darf ich Ihnen Bella vorstellen, Regan? Sie hilft uns hier bei allen möglichen Dingen.« »Oh, dabei genieße ich jede einzelne Minute«, versicherte Bella, griff nach Regans Hand, drückte zu und bewegte sie einige Male kräftig auf und ab wie einen Pumpenschwengel. »Wie geht es Ihnen, Regan?«, erkundigte sie sich. Sie war von eher stämmigem Wuchs, aber ihr Gesicht glich dem einer Kewpie-Puppe – zart, rund und wie aus Porzellan. Die sorgfältig ausgemalten knallroten Lippen erinnerten Regan unwillkürlich an die Schleife eines modemutigen Frackträgers. Kleine braune Locken ergänzten ihre Erscheinung. Regan zog ihre Hand zurück und widerstand tapfer der Versuchung, sie heimlich zu massieren. »Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Bella.« 123
Bella wandte sich wieder Lilac zu. »Ich werde den Kerzenladen aufschließen. Haben wir heute auch durchgehend für Weinproben geöffnet?« »Beim Saft der Reben lässt sich’s gut leben«, trällerte Lilac. »Allerdings. Ich komme sofort nach.« Als Bella gegangen war, sagte Lilac: »Sie haben bisher noch gar nichts von Altered States gesehen, Regan. Kommen Sie, die Kerzenboutique und der Raum für die Weinproben befinden sich gleich neben dem Meditationszentrum.« »Sie haben Recht. Ich würde mir zu gern alles anschauen«, lächelte Regan. »Seit wann arbeitet Bella eigentlich schon für Sie?« »Sie hat erst diese Woche angefangen.« »Tatsächlich?« Das Erstaunen in ihrer Stimme überraschte selbst Regan. »Sie parkte einfach vor der Lodge, stieg aus und begann ohne Punkt und Komma auf mich einzureden. Zusammen mit ihrem Mann war sie vor wenigen Wochen aus dem Norden, von Washington, hierher gezogen. Er hat hier eine neue Anstellung gefunden. Sie erzählte mir, dass dieses Anwesen ihrem Großvater gehört hatte, bevor es der Prohibition zum Opfer fiel. Sie war vorher noch nie hier und wollte sich alles ganz genau anschauen. Wie gesagt, wir kamen ins Plaudern, und ehe ich michs versah, hatte ich sie engagiert.« »Donnerwetter!«, grinste Regan. »Und was macht ihr Mann?« »Er arbeitet im Pub unten im Ort.« Regan machte große Augen. »Da haben sie den Absatz von Wein und Bier ja gut untereinander aufgeteilt.« »So kann man es sehen«, lachte Lilac. »Übrigens habe ich mit Lucretia telefoniert.« »Jetzt schon?«
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»Ja. Erst habe ich Whitney eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen und dann bei Lucretia angerufen.« Hervorragend!, dachte Regan. Mit Lilacs Gedächtnis steht es offenbar nicht zum Besten. Anscheinend hat sie völlig vergessen, dass ich bei dem Gespräch dabei sein wollte. »Sie kommt übrigens heute Nachmittag mit ihrem Verlobten hierher.« »Wie bitte?« Während sie sich von Lucretias schlafloser Nacht berichten ließ, überlegte Regan, welche Überraschungen Lilac wohl noch bereithielt. »Nun, wenn das kein Zufall ist«, meinte Regan, als Lilac geendet hatte. »Ich habe vorhin mit meinen Eltern gesprochen und sie würden gern eine Nacht auf Altered States verbringen.« »Wunderbar! Dann sind wir beim Abendessen eine richtig große Runde.« »Ja, und wir können dabei Lucretias Zukünftigen persönlich in Augenschein nehmen.« Sie faltete die Hände zusammen und zögerte kurz. »Aber ich würde zu gern versuchen, ob ich Whitney bei ihrem Seminar erreichen kann.« »Warum?« »Vermutlich mache ich mir völlig unnötige Sorgen. Ich möchte mich einfach nur davon überzeugen, dass sie wohlbehalten dort angekommen ist.« Lilac lächelte. »Sie kennen unsere Whitney nicht. Früher als Kind ist sie morgens häufig beim Frühstück über der Müslischüssel wieder eingenickt. Sie wird nur schwer wach. Ich bin mir sicher, dass sie das Kleid noch gar nicht vermisst hat.« Lilac drehte sich um und löste einen Zettel von der Pinnwand. »Diese Nummer hat sie mir genannt. Dort können wir anrufen.« »Bitte lassen Sie mich das machen.« Regan nahm ihr den Zettel ab, ging zum Telefon auf dem Schreibtisch und wählte. Die Frau am anderen Ende der Leitung sprach nicht besonders 125
gut Englisch. Regan hatte einige Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. »Ich werde Mr Norman bitten, Sie später zurückzurufen«, versprach die Frau. »Im Moment ist er mit seinem Workshop beschäftigt. Sie sind alle im Studio hinten im Hof. Sie rufen und schreien, dass die Wände zittern. Klingt total verrückt.« »Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie ihm meine Nummer geben könnten.« Regan bezweifelte irgendwie, dass die Frau ihr Versprechen auch halten würde. Aber eigentlich machte das nicht viel aus. Schließlich könnte sie es später noch einmal versuchen. Regan hängte auf und sah Lilac an. »So, und jetzt gehe ich zu meiner ersten Meditationsstunde.« »Earl ist wirklich großartig«, versicherte Lilac. »Hinterher werden Sie sich absolut ruhig und entspannt fühlen.« Lassen wir uns überraschen, dachte Regan, als sie zur Tür hinausging.
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m Samstagmorgen klingelte in Lynne B. Harrisons Wohnung mitten in Los Angeles das Telefon. Verschlafen nahm die Reporterin den Hörer ab und meldete sich. »Raus aus den Federn, Lynne!«, dröhnte die Stimme ihres Chefs an ihr Ohr. »Sie müssen unbedingt mehr über diese alte, steinreiche Lady herausfinden, die morgen heiraten will. Wir werden mit Anrufen und E-Mails förmlich bombardiert.« Blinzelnd sah Lynne auf die Uhr. Es war noch nicht einmal neun Uhr und samstags hatte sie normalerweise frei. Sie war erst spät in der Nacht nach Hause gekommen und sicher gewesen, mindestens bis Mittag schlafen zu können. »Was wollen Sie denn von mir?«, seufzte sie. »Bringen Sie irgendetwas Neues in Erfahrung. Die Geschichte hat unglaublich viel Staub aufgewirbelt. Die Vorstellung, selbst in diesem hohen Alter noch zu einem Batzen Geld zu kommen und eine neue Liebe zu finden, lässt niemanden kalt. Sind Sie zur Hochzeit eingeladen?« »Ja.« »Gehen Sie hin.« Das klang nicht nach einer Frage. »Das habe ich vor. Aber die Hochzeit ist erst morgen.« »Nun, Sie müssen heute schon hin. In einer halben Stunde steht ein Kameramann vor Ihrer Tür. Wir kennen Lucretia Standishs Adresse. Fahren Sie hin und graben Sie irgendeine interessante Story aus. Suchen Sie einen neuen Ansatzpunkt – was auch immer. Wie Sie wissen, lassen im Mai die Werbeeinnahmen bedenklich nach. Wir müssen unbedingt unsere Einschaltquoten verbessern. Und zu dieser Zeit wollen immer viele heiraten. Lucretia Standish inspiriert die Zuschauer, es ihr nachzutun und niemals die Hoffnung auf Glück vorzeitig 127
aufzugeben. Dieses Thema dürfen wir uns einfach nicht entgehen lassen!« Lynne setzte sich im Bett auf. Wenn sich ihr Chef Alan Wakeman etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht locker. Er war noch jung und wollte sich in der Branche einen Namen machen. Sobald er glaubte, einen Knüller aufgetan zu haben, reizte er die Story bis ins kleinste, nebensächlichste Detail aus, nur um am Ball zu bleiben. »Okay, Alan. In einer halben Stunde bin ich so weit.«
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it Edward am Steuer fuhr der Rolls-Royce auf dem Highway 101 nach Norden. Lucretia saß neben ihm. »Ich kann es kaum glauben, dass du nie geheiratet hast, Liebling«, dachte sie laut nach. Edward warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich habe eben darauf gewartet, dass die Richtige kommt.« »Warum klingt dieser Satz für mich nur so einstudiert?«, kicherte Lucretia. »Nein, es ist mein Ernst«, protestierte er. »Du weißt doch, dass ich keine Bessere finden konnte als dich, Lucretia. Keine, die mich fröhlicher machen wurde.« »Das stimmt. Alle meine Männer fanden mich ungemein spaßig.« Edward hatte das Gefühl, zu seiner eigenen Hinrichtung zu fahren. Es war ein wundervoller Frühlingstag und er saß in einem Rolls auf dem Weg zu einem Weingut, Meditationszentrum oder was auch immer. Und trotzdem wäre er lieber sonst wo gewesen. Dieses ärgerliche Fernsehinterview! Wenn er doch nur endlich diese verdammte Hochzeitszeremonie hinter sich bringen könnte, danach wäre alles in Ordnung. Die Vorstellung, dass sich Whitney – wenn auch gut versteckt, gefesselt und geknebelt – an dem Ort befand, dem sie gerade entgegenfuhren, machte ihn irgendwie völlig verrückt. »Mir kommt da gerade eine großartige Idee«, verkündete er plötzlich. »Welche, Liebling?« »Warum fahren wir eigentlich nicht nach Las Vegas? Wir könnten auch dort heiraten. Unbehelligt von neugierigen Blicken. Damit wären wir diese schrecklichen Tomatenwerfer 129
ebenso los wie alle anderen Neidhammel, die uns unser Glück nicht gönnen.« Lucretia sah aus, als würde sie tatsächlich über seinen Vorschlag nachdenken. »Das wäre mir ein bisschen zu einsam«, entgegnete sie schließlich. Einsam? Am liebsten hätte Edward laut aufgeschrien. »Aber wir haben doch uns«, sagte er stattdessen. »Und das ist alles, was zählt.« Lucretia lächelte ihn an. »Wir können für den Rest unseres Lebens miteinander allein sein. Bei meiner Hochzeit möchte ich meine Familie dabeihaben.« »Sicher«, gab er zurück und schaltete das Radio an. »… Gebiet nördlich von Santa Barbara breiten sich Waldbrände aus. Bisher ist es der Feuerwehr nicht gelungen, die Flammen unter Kontrolle zu bringen.« »Das ist genau die Gegend, in der die Weldons ihr Anwesen haben.« Lucretia hörte sich besorgt an. »Ich hoffe, sie bleiben verschont.« O mein Gott, dachte Edward. Whitney befindet sich in irgendeinem verlassenen Schuppen. Wie nahe war die Gefahr? Würde Rex das Weite suchen, wenn die Situation bedrohlich wurde? Aber natürlich. Das würde er. In diesem Moment überholte ein Auto voller junger Mädchen den Rolls und begann wild zu hupen. Offensichtlich hatte man Edward und Lucretia erkannt. Die Fahrerin kurbelte das Fenster herunter und reckte übermütig den Daumen. »Alles Gute!«, rief sie. Lachend schob Lucretia ihren Kopf aus dem Fenster und winkte. Eins der Mädchen hob eine Kamera und machte ein Foto. Immer noch lachend, lehnte sich Lucretia wieder zurück und fuhr sich mit der Hand über das Haar. »Diese Mädchen erinnern 130
mich an meine Jugend. Bevor ich nach Hollywood ging. Meine beiden besten Freundinnen und ich waren damals unzertrennlich. Wir gingen abends oft auf den Friedhof, um uns zu unterhalten und uns zu schwören, ewig Freundinnen zu bleiben, ganz gleich was auch geschieht. Wir haben uns sogar in die Finger geschnitten und unser Blut miteinander vermischt. Wir standen einander näher als Schwestern.« Lucretia seufzte. »Und dann?«, fragte Edward. »Ich ging nach Hollywood und kehrte nie zurück. Ich drehte einen Film nach dem anderen und meine Eltern waren ohnehin fortgezogen. Und nach dem abrupten Ende meiner Karriere – schämte ich mich.« Lucretia zuckte mit den Schultern. »Aber ich habe immer bedauert, dass meine Verbindung zu Polly und Sarah abgerissen ist. Sie waren die besten Freundinnen, die ich jemals hatte.« »Und wo sind sie jetzt?«, erkundigte sich Edward pflichtschuldig. »Ich habe keine Ahnung. Wenn ich es wüsste und sie noch am Leben sind, würde ich sie zur Hochzeit einladen.« Dem Himmel sei Dank, dass mir das erspart bleibt!, dachte Eddie, legte aber einen Arm um Lucretias Schultern. »Sie würden sich mit dir über dein Glück freuen, dessen bin ich mir ganz sicher.« »Und ich weiß, wie sehr es sie überraschen würde, dass ich dich heirate.« Edward war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. Aber er wusste, dass er alles tun würde, um ihre Ankunft auf Altered States hinauszuschieben. »Was hältst du von einer kleinen Lunchpause? Nur wir zwei. Unser letztes Junggesellenmahl, bevor wir den Bund fürs Leben schließen.« Lucretia strahlte ihn an. »Unser letztes Essen als Unverheiratete.« 131
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n ihrem Haus in den Bergen oberhalb von San Luis Obispo starrten Lucretias Jugendfreundinnen wie gebannt auf den Bildschirm. »Was sagst du dazu?« Polly schüttelte den seit drei Jahrzehnten schneeweißen Kopf. »Sie heiratet schon wieder. Und auch diesmal sind wir nicht eingeladen.« »Nun«, meinte Sarah und wiegte sich in ihrem Schaukelstuhl hin und her, »wir haben sie auch zu keiner unserer Hochzeiten eingeladen.« Sie beugte sich näher zum Fernseher. »Unglaublich, wie jung dieser Bursche ist! Sie muss den Verstand verloren haben. Eine Schande!« »Ich hätte absolut nichts dagegen, es noch einmal mit einem knackigen jungen Kerl zu versuchen«, versetzte Polly. »Ganz im Gegenteil.« »Wenn du meinst.« Sarah musterte sie missbilligend. Der Moderator forderte die Zuschauer auf, ihre Meinung zu den gesendeten Nachrichten per E-Mail an die eingeblendete Adresse zu schicken. Polly und Sarah sahen sich an. Sie lebten nun schon fünfzehn Jahre zusammen – seit ihre Männer gestorben waren. Sie pflegten viele gemeinsame Hobbys, unternahmen gern ausgedehnte Spaziergänge und hatten jüngst auch ihr Interesse für das Internet entdeckt. »Wollen wir Lucretia nicht eine E-Mail schicken?«, schlug Polly vor. »Mit welchem Inhalt?« »Wir fragen sie, ob sie sich an uns erinnert.« Sie lachten. 132
Polly stand auf und ging zu einem antiken Sekretär. Sie zog eine Schublade auf und wühlte in einem Stapel alter Fotografien. »Na bitte, hier ist es.« Versonnen betrachtete sie die drei Teenager, die eng umschlungen in die Kamera lächelten. Sie streckte Sarah das Bild entgegen. »Erinnerst du dich noch an unser Geheimnis?« »Wie könnte ich das vergessen!« »Seither ist viel Zeit vergangen.« »Kann man wohl sagen.« Die beiden Frauen liefen zum Computer und tippten an die Adresse des Senders eine E-Mail an Lucretia. Sie hegten nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie schon bald von ihr hören würden.
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ls Regan vor die Tür trat, spürte sie die warmen Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht. Eigentlich könnte ich jetzt auch einen kleinen Spaziergang durch die Weinberge unternehmen, dachte sie. Aber da sie Earls Schüler kennen lernen wollte, lief sie über den Parkplatz zu einer kleinen Ansammlung von Gebäuden gegenüber dem Haupthaus. Die Architektur erinnerte sie unwillkürlich an einen Cowboyfilm, und Regan stellte sich vor, wie sie auf einem Pferd heranpreschte, aus dem Sattel sprang und die Zügel des Tieres an einen dieser Pfosten band, die in alten Western immer und überall zur Verfügung standen. Aber nirgendwo konnte sie ein Pferd erblicken. Das einzige Tier weit und breit war Lilacs Katze, die im Schatten eines Zitronenbaums hockte und gelangweilt in die Welt schaute. Meine erste Meditationsstunde, ging ihr durch den Kopf, als sie den Holzbau mit dem Schild Deep Breaths über dem Eingang betrat. Regan hatte es zwar schon mit Aerobic und Stretching versucht, mit Joga oder Meditation jedoch kannte sie sich nicht aus. Scheppernd fiel die Fliegenschutztür hinter ihr zu und durchbrach die morgendliche Stille. Erschreckt zuckte sie zusammen und sah sich um. Offenbar muss ich tatsächlich ein wenig zu innerer Ruhe finden, grinste sie in sich hinein. Rechts von ihr führte eine Tür in einen großen Raum mit glänzenden Holzdielen und verspiegelten Wänden, der Ähnlichkeit mit einem Tanzstudio hatte. Beim Anblick der Stange an einer Wand fiel Regan der Ballettunterricht ein, zu dem Nora sie einmal angemeldet hatte. Fünf Jahre alt war sie gewesen. Sie hatte sich die ganze Zeit an die Stange geklammert und damit abgequält, den Anordnungen der strengen Lehrerin zu folgen und ihre Füße in die befohlene Position zu setzen. Nach ein paar Stunden verweigerte sie die 134
Gefolgschaft und Nora hatte es stattdessen mit Klavierunterricht versucht. Ähnlich erfolglos. Die Frauen, die Regan vorhin bereits beobachtet hatte, saßen mit verschränkten Beinen auf ihren Matten und unterhielten sich leise. Regan zog sich ebenfalls eine Unterlage vom Stapel in der Ecke und ließ sich in einigem Abstand von ihnen auf dem Boden nieder. Nach ihr betraten noch vier oder fünf weitere Teilnehmer den Raum, darunter auch der Gast, der sich gestern ein Zimmer in der Lodge gemietet hatte. Wie hieß er doch gleich? Ach ja, Don. »Hallo!«, rief sie ihm zu. Er nickte und schloss schnell die Augen. Wahrscheinlich will er sich konzentrieren, nahm Regan an. Das überraschte sie. Sie wusste zwar nicht warum, aber er schien so gar nicht der Typ für Meditationen zu sein. Das lag bestimmt an seinem Macho-Gehabe. Da erschien Earl in der Tür und sein Auftritt hätte selbst dem Dalai-Lama alle Ehre gemacht. Er breitete die Arme aus und verkündete in einer Art Sprechgesang: »Wir leben in einer Zeit, in der nahezu alles für unser körperliches Wohlbefinden zur Verfügung steht. Gutes Essen, guter Wein …« Nicht schlecht, diese Werbung in eigener Sache, dachte Regan boshaft. »… oder jede Menge anderer leiblicher Genüsse. Trotzdem leiden wir unter Stress und Unzufriedenheit. Und darum ist es so wichtig, unseren Lebensrhythmus zu verlangsamen und zu lernen, unser Bewusstsein zu erweitern. Denn unser hektischer Alltag wirkt sich höchst negativ auf unseren Geist aus. Wir sind hier heute zusammengekommen, um unseren Körper zu entspannen und den Geist zur Ruhe zu bringen. Zieht jetzt bitte alle eure Schuhe und Strümpfe aus und legt euch lang zurück auf eure Matten.«
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Regan brauchte einen Moment, um die Senkel ihrer Sneakers zu lösen. Währenddessen warf sie einen verstohlenen Blick zu Don hinüber. Als er sich auf seiner Matte ausstreckte, rutschte sein T-Shirt hoch und gab den Blick auf einen straffen, mit feinen, blonden Härchen bedeckten Bauch frei. Regan ertappte sich dabei, die Tätowierung direkt oberhalb seines Nabels anzustarren: ein Totenkopf über gekreuzten Knochen. Wie bizarr!, dachte sie. Dann fiel ihr seine pechschwarze Haarmähne ins Auge. Gestern Abend hatte sie es in dem nur von Kerzen erhellten Speisesaal nicht deutlich erkennen können, aber schon irgendwie geahnt, dass sein Haar gefärbt war. Und nicht nur das. Er trägt eine Perücke, schoss es ihr durch den Kopf, und zwar eine ziemlich miese. Aber warum steht er bloß auf Schwarz, wo doch der Rest der Welt sich die Haare lieber aufhellen lässt? Als hätte er ihre Blicke gespürt, öffnete Don die Augen. Einen Moment lang musterte er sie ausgesprochen feindselig. Aber dann verzog er die Lippen zu einem dünnen Lächeln und schob sich das Hemd zurecht. Regan tat so, als wäre nie etwas geschehen. Aber ihr Herz begann ein wenig schneller zu klopfen, als sie sich, nur einen halben Meter von dem sonderbaren Fremden entfernt, auf ihrer Matte ausstreckte. Los, Earl, betete sie lautlos, fangen Sie endlich an! Ich brauche jetzt dringend ein bisschen innere Gelassenheit. Endlich schob Earl eine Kassette in die Stereoanlage und die beruhigenden Klänge plätschernden Wassers erfüllten den Raum. »Eure Gedanken sind wie Affen, die sich rastlos von Ast zu Ast schwingen«, begann Earl. Dem kann ich nur zustimmen, dachte Regan. »Mit der Meditation ist es möglich, sich innerlich auf einen Punkt zu konzentrieren.« Wie auf die Frage, wo Whitney steckt, überlegte Regan.
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»Von morgens bis abends überschlagen sich unsere Gedanken. Unsere Sorgen, Erinnerungen und Empfindungen beherrschen uns. Also müssen wir das Tempo des Affen verlangsamen. Jetzt wollen wir uns in unsere inneren Organe versenken.« Wie das denn?, fragte sich Regan. »Also, schließt eure Augen. Konzentriert euch darauf, eure physische Anspannung zu lockern, sie buchstäblich aufzulösen. Beginnt mit eurem Atem. Atmet so tief wie möglich. Ein … aus … ein … aus. Und nun bewegt eure Zehen. Lasst sie kreisen … kreisen … kreisen. Erlebt jeden einzelnen Körperteil ganz bewusst.« Während der nächsten Stunde vollführte Regan auf Earls Anweisungen hin eine Reihe von gymnastischen Übungen, die mit der Lotusposition ihren Abschluss fanden. Sie gab ihr Bestes, um innere Ruhe zu finden, aber Whitney und das auf dem Parkplatz zurückgelassene Kleid wollten einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden. Was war da nur geschehen? Kurz vor Ende der Stunde schaltete Earl das Licht aus. »Und jetzt möchte ich euch bitten, an gar nichts zu denken. Einfach nur tief Luft holen. Noch einmal. So ist es gut, sehr gut. Zum Schluss ein kleiner Hinweis: Kerzen und Räucherstäbchen sind nebenan erhältlich. Mit ihnen könnt ihr euch zu Hause euer eigenes kleines Meditationszentrum einrichten.« Ja, ja. Geschäft ist Geschäft, dachte Regan. Das Licht brannte kaum wieder, als Don auch schon aufstand, seine Schuhe anzog und die Matte aufhob. Regan sah ihm nach, wie er sie auf den Stapel in der Ecke warf und dann hastig den Raum verließ. Der wirkt auch nicht gerade sehr entspannt, dachte sie. Und was versprach er sich eigentlich von seiner grauenhaften Perücke?
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hyllis war zutiefst deprimiert. Deprimiert und nervös. Nachdem Lucretia das Haus verlassen hatte, hockte sie sich in die Küche und wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. Zweihunderttausend Dollar! Stand ihre »Kommission« jetzt etwa auf dem Spiel? Dabei war ihre Strategie doch geradezu genial gewesen. Besser als jede Quizshow. Der Plan lautete, die Familie nach Beverly Hills zu locken, indem sie Lilac unter dem Siegel der Verschwiegenheit von Lucretias Absicht erzählte, jedem von ihnen zwei Millionen zu schenken – allerdings nur, wenn die Familie geschlossen zur Hochzeit erschien. Jetzt sollte Phase zwei folgen: Lilac gegenüber andeuten, dass sie für ihren »Tipp« eine kleine Gegenleistung erwartete. Damit war schließlich allen gedient. Und was sind schon lumpige fünfzigtausend, wenn man soeben zwei Millionen bekommen hatte? Wie Phyllis wusste, wünschte sich Lucretia nichts mehr, als Haskells Verwandte allesamt auf ihrer Hochzeit um sich zu haben. Und sobald sich abzeichnete, dass es dazu kaum kommen würde, hatte Phyllis ihren kleinen Schlachtplan ausgebrütet. Ihre Absicht war doch nur, dass sie alle am Sonntag hier waren und Lucretias Wünsche Wirklichkeit wurden. Phyllis war überzeugt, dafür eine Belohnung verdient zu haben. Lilac hatte ihr außerdem versprochen, über ihre kleine Absprache Stillschweigen zu bewahren. Was im Grunde nur mehr recht als billig war, denn wenn sie etwas davon verriet, sah es schließlich so aus, als käme ihre Familie nur wegen der Millionen zum Fest. Doch nun wollten sie sich alle auf dem Weingut treffen, und Phyllis befürchtete, dass ihre kleinen Machenschaften ans Licht kommen würden. Lilac könnte sich unter Umständen verplappern. Oder, wer weiß, vielleicht auch mit Absicht etwas durchblicken lassen. Wenn sie das tat, würde Phyllis ihren 138
Anteil ganz bestimmt verlieren. Und nicht nur das. Sie konnte nicht ausschließen, dass Lucretia ihr auf der Stelle kündigte. Sie brühte sich eine Tasse Tee und schaltete den Quizshowkanal ein. Es lief gerade die Wiederholung einer uralten Folge von Dick Clarks $25,000 Pyramid. Es war bereits die Bonusrunde und der siegreiche Kandidat erhielt von einem Promi hilfreiche Tipps. Sein Name war Phyllis allerdings entfallen. Der Kandidat musste herausfinden, was all die Hinweise miteinander verband: »Man nimmt einen Kredit auf … Man verhökert seinen Schmuck … Man bittet seinen Lebenspartner, einen zusätzlichen Job anzunehmen … Man …« »Weil man pleite ist!«, schrie Phyllis den Bildschirm an, als es gerade an der Haustür klingelte. »Ich muss es ja schließlich wissen.« Wahrscheinlich will irgendjemand irgendwas für die große Feier loswerden, sagte sie sich und trank erst einmal einen Schluck Tee. Ohne jede Hast durchquerte sie das Wohnzimmer und bewunderte angelegentlich, wie ordentlich und aufgeräumt alles war. Ich bezweifle doch stark, dass sie so schnell jemanden findet, der dieses Haus genauso sauber hält wie ich, dachte sie. Als Phyllis die Tür öffnete, sah sie sich zu ihrer Überraschung der blonden Reporterin, die gestern das Interview geführt hatte, und einem Kameramann gegenüber. »Hallo«, begann die Reporterin und lächelte strahlend. Phyllis starrte sie mürrisch an. Sie hatte die Tomaten noch nicht beseitigt und die blonde Frau stand direkt neben der Matschlache. Wie auch der Kameramann. »Ich bin Lynne B. Harrison von GOS News. Wir haben gestern einen kleinen Bericht über Miss Standish gemacht. Können wir vielleicht kurz mit ihr sprechen?« »Sie ist nicht da«, verkündete Phyllis brüsk. »Und dank Ihrer Sendung hat jemand Tomaten gegen die Haustür geschleudert. 139
Zum Glück wurde kein allzu großer Schaden angerichtet.« Stirnrunzelnd sah sie zu Boden. Lynne B. Harrison folgte ihrem Blick. »Was sagt man dazu?« Mit einer Handbewegung forderte die Reporterin ihren Begleiter auf, den Tomatenbrei filmisch zu dokumentieren. »Glauben Sie etwa, dass einer unserer Zuschauer dafür verantwortlich ist?« »Eindeutig.« »Wie bedauerlich«, merkte Lynne B. Harrison an und dachte angestrengt darüber nach, wie sie diese störrische Haushälterin dazu bringen konnte, sie doch noch ins Haus zu lassen. Denn mit leeren Händen brauchte sie ihrem Boss gar nicht erst unter die Augen zu treten. »Wir haben Hunderte von E-Mails erhalten, in denen die Leute betonen, wie sehr es sie freut, dass Miss Standish ein neues Glück gefunden hat. Natürlich gibt es da auch einige wenige, die sich nicht so erfreut über ihren neuen Reichtum geäußert haben. Hier, sehen Sie, sogar eine E-Mail von zwei alten Jugendfreundinnen von Lucretia. Sie würden gern mit ihr über ein Geheimnis sprechen, das sie seit mehr als siebzig Jahren für sich behalten haben.« Phyllis kniff die Augen zusammen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, Lucretia unbedingt schützen zu müssen. Schlimm genug, dass jedermann nur an ihr Geld wollte. Aber falls jemand versuchen sollte, Lucretia in aller Öffentlichkeit bloßzustellen … »Ich bin bereit, Ihnen ein Interview zu geben, wenn Sie mir diese E-Mail aushändigen und dafür sorgen, dass lediglich Miss Standish, aber niemand sonst mit diesen Freundinnen Kontakt aufnehmen kann«, begann Phyllis zu feilschen. Vielleicht konnte sie sich auf diese Weise Lucretias Wohlwollen erhalten. Himmel, möglicherweise wurde sie sogar für ihre Umsicht und Loyalität mit einer kleinen Extrazuwendung belohnt.
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Lynne B. Harrison erkannte, dass sie keine Wahl hatte. Natürlich konnte sie sich ins Auto setzen, um auf Lucreria Standish zu warten, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wann die alte Dame zurückkam. Möglicherweise war die E-Mail ein dreister Schwindel. Es gab ja leider jede Menge Spinner, die sich mit ihren angeblichen Beziehungen zu Prominenten brüsteten. Um ein paar Minuten im Brennpunkt der Öffentlichkeit zu stehen, kamen manche Leute auf die sonderbarsten Ideen. Aber ihr Boss wollte unbedingt am Thema bleiben. Eine Homestory in Lucretia Standishs Villa wäre einfach brillant. Lynne B. Harrison reichte der Haushälterin das Blatt Papier. »Kommen Sie herein«, sagte Phyllis und riss die Tür weit auf.
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ach der Meditationsstunde ging Regan nach nebenan in den Laden, in dem neben Kerzen und anderen Souvenirs auch die Weinproben angeboten wurden. Der Raum machte einen unprätentiösen, rustikalen Eindruck. An einem Ende des langen Holztresens stand eine altmodische Registrierkasse. Davor waren ein paar Hocker aufgereiht, im Regal dahinter die Weingläser. Die Glasvitrinen vor der Backsteinwand enthielten Dutzende von Weinflaschen. Wohin sie auch blickte: überall Kerzen, Räucherwerk und diverser Schnickschnack. Auf einem runden Eichentisch in einer Ecke waren Weingläser in allen Größen und Formen dekoriert. Im Hintergrund spielte leise klassische Musik. An der hinteren Seite des Raums führte eine Glasschiebetür auf einen Patio mit kleinen Picknicktischen hinaus. Bella saß hinter der Kasse. »Herzlich willkommen in unserem Weinproben- und Souvenirshop!«, rief sie Regan entgegen. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, sagen Sie einfach Bescheid.« »Vielen Dank«, erwiderte Regan und fand Bella eigentümlich verändert. Mit ihrem singenden Tonfall und dem fast starren Blick vermittelte sie den Eindruck, als wären bei ihr nicht alle Tassen im Schrank. Regans Blick fiel auf ein Buch vor der Kasse. Sie streckte die Hand danach aus. Altered States – Ein Rückblick lautete der Titel, und der Inhalt bestand aus um die Jahrhundertwende aufgenommenen Schwarzweißfotos. Viele der Bilder ähnelten sich. Als Regan die Seiten durchblätterte, sah sie Bäume, Bäume und immer wieder Bäume. »Von Lilac habe ich erfahren, dass Ihr Großvater einmal der Besitzer dieses Weinguts war«, sagte sie beiläufig. 142
»Die Prohibition hat ihn ruiniert«, entgegnete Bella verdrossen. »Vielleicht wissen Sie es nicht, aber das Gesetz hat damals die Existenz vieler Familien vernichtet.« Abrupt hob sie den Kopf und blickte Regan fast zornig an. »Offengestanden bin ich der Meinung, dass uns die Regierung eigentlich für die großen finanziellen Verluste unserer Vorfahren entschädigen müsste.« Großer Gott!, dachte Regan, während die Titelmusik von The Twilight Zone in ihrem Kopf aufklang. »Wissen Sie, ohne dieses verdammte Gesetz würde das alles hier immerhin mir gehören.« Regan fragte sich, ob Bella darüber vor ihrer Anstellung mit Lilac gesprochen hatte. Wohl kaum. »Nun, denken Sie doch nur an die großen Pleiten auf dem Internetmarkt«, wandte Regan ein. »In fünfzig Jahren werden einige Leute möglicherweise behaupten, dass sie reich sein könnten, wenn ihre Großeltern nur rechtzeitig ihre Aktien verkauft hätten.« Abwehrend schüttelte Bella den Kopf. »Das kann man nicht vergleichen.« Regan versuchte das Thema zu wechseln. »Es heißt ja, dass es hier spuken soll. Kennen Sie vielleicht Geistergeschichten aus der Zeit, in der Ihr Großvater noch Besitzer des Anwesens war?« »Nein, ich weiß nur, dass er durch die Schulden von seinem Grund und Boden vertrieben wurde. Und das finde ich nicht gerecht. Das war nicht gerecht.« Und warum sind Sie dann eigentlich zurückgekommen?, fragte Regan lautlos. Doch bestimmt nicht, um hier in angenehmen Erinnerungen zu schwelgen. Sie grinste in sich hinein. Ein paar kleine Meditationsstunden mit Earl würden Bella bestimmt gut tun.
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Ein Paar kam herein und wurde von der Verkäuferin in ähnlicher Weise begrüßt wie Regan. Mit den gleichen Worten, mit der gleichen Singsangstimme. Regan fühlte sich an die Durchsagen auf Flughäfen erinnert, mit denen man aufgefordert wurde, sich beim Be- oder Entladen seines Autos zu beeilen, anderenfalls würde es abgeschleppt. Regan hatte den schmalen Band noch immer in der Hand. »Wie viel kostet das?« »Die Broschüre ist gratis.« Bellas Frackschleifenlippen deuteten ein Lächeln an. »Oh, vielen Dank. Wir sehen uns sicher später noch.« Regan verließ den Weinproben- und Souvenirshop genau in dem Moment, in dem der Wagen ihrer Eltern heranrollte. »Man kann nicht gerade sagen, dass ihr gebummelt habt«, stellte Regan fest, als Luke das Auto einen knappen Meter vor ihr stoppte. »Was haltet ihr davon, wenn wir erst einmal im Ort einen Happen essen?« Sie empfand eine gewisse, unerklärliche Unruhe und wollte sich ein paar Minuten ungestört mit ihren Eltern unterhalten, bevor diese sich auf Altered States einmieteten. »Gern, mein Schatz«, stimmte Nora schnell zu, der die Nervosität ihrer Tochter nicht entgangen war. »Wir hatten auch ein eher frugales Frühstück. Und jetzt verspüre ich langsam regelrechten Hunger.« Regan öffnete die Tür und glitt auf den Rücksitz. Sie überlegte flüchtig, ob sie Lilac über ihren Ausflug in den Ort informieren sollte, sagte sich dann aber, dass sie ihre Abwesenheit wahrscheinlich gar nicht bemerken würde. Wenn sie sich schon keine Sorgen über ihre Tochter machte, dann bestimmt nicht über sie.
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ls Ricky erwachte, fühlte er sich fast wieder wie ein normaler Mensch. Er konnte sich sogar vorstellen, unter Umständen eine kleine Scheibe Toast bei sich zu behalten. Obwohl noch immer ein bisschen wacklig auf den Beinen, schleppte er sich ins Bad und drehte die Dusche auf. Das Wasser war eine Wohltat für seinen schmerzenden, ausgedörrten Körper. Begierig öffnete er den Mund und ließ es über sein Gesicht und die papiertrockenen Lippen hinunterströmen. Dann griff er nach dem Duschgel und schäumte seine Haut gründlich ein. Es kam ihm vor, als würden mit dem Gel alle Qualen des gestrigen Tages hinweggespült. Drei Minuten später drehte er das Wasser wieder ab und langte nach einem Handtuch. Jetzt geht es mir schon sehr viel besser, dachte er. Vielleicht nicht gut genug für die kleine Joggingstrecke, die samstags für gewöhnlich auf seinem Programm stand, aber eindeutig besser. Ricky war zweiundzwanzig Jahre alt und sportliche Übungen gehörten zu seinem Alltag. Er war kompakt gebaut, eins neunundsiebzig groß und recht muskulös, und mit seinen dunklen Locken und dem sonnengebräunten Teint fanden ihn die meisten Mädchen, die ihn kennen lernten, ziemlich süß. In Jeans und T-Shirt ging er zur Tür. Das Wetter war traumhaft und im Hotelzimmer würde ihm mit Sicherheit bald die Decke auf den Kopf fallen. Er musste einfach an die Luft, wenn auch nur für kurze Zeit. In der Halle war alles ruhig, keine Menschenseele zu sehen. Ricky ging in den Coffeeshop und bestellte das, was ihm seine Mutter immer vorgesetzt hatte, wenn er krank war: Tee und Toast. Es schmeckte nicht schlecht, aber noch besser war, dass sein Magen nichts dagegen zu haben schien. Nachdem Ricky 145
gezahlt hatte, trat er vor die Hoteltür und überdachte seine weiteren Aktivitäten. Laufen und Radfahren dürfte noch zu anstrengend sein, aber irgendwas muss ich tun. Ich weiß: Ich fahre zu Norman und erkundige mich, ob er meinen Scheck schon abgeschickt hat. Vielleicht lässt er mich auch noch an seinem Seminar teilnehmen. Wenn ich ihn und seine Lehrgänge schon empfehle, muss ich schließlich wissen, worum es eigentlich geht. Entschlossen strebte Ricky dem Hotelparkplatz zu. Es wäre sicher lustig, Whitney einmal abseits der Dreharbeiten zu erleben. Vielleicht lernte er sogar ein paar hübsche Mädchen kennen. Kürzlich hatte seine Freundin sich von ihm getrennt, weil er so häufig unterwegs war. »Ich bin zu jung, um mich mit diesen langen Zeiten der Trennung abzufinden«, hatte sie erklärt, als sie sich die Haare bürstete und ihr Make-up erneuerte. »Ich bin in meinen besten Jahren und wünsche mir einfach jemanden, der für mich da ist, wenn ich ihn brauche, Ricky. Manchmal sehne ich mich nur danach, in den Arm genommen zu werden. Verstehst du, was ich meine?« »Na klar«, hatte Rickys Antwort gelautet, als er zur Tür ging und verschwand. Voller Vorfreude setzte er sich jetzt in sein Auto. Das wird bestimmt ein großer Spaß, dachte er. Ich lerne ein paar neue Leute kennen. Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er sich vor allem auf Whitney freute. Wenn sie doch nur nicht mit Frank Kipsman zusammen wäre! Er lachte. Aber man kann nie wissen. Vielleicht erliegt sie eines Tages meinem Charme. Er fuhr vom Parkplatz und legte eine CD ein. Normans Haus lag an einem malerischen Fleck hoch oben in den dicht bewaldeten Bergen. Und es war ein idealer Tag für eine kleine
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Spritztour. Wenn Ricky statt der CD die Nachrichten eingeschaltet hätte, wäre er vermutlich umgekehrt. Die Waldbrände breiteten sich immer weiter aus.
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n dem kleinen Dorf nahe Altered States hielt sich das kulinarische Angebot in Grenzen. Da Luke und Nora stundenlang unterwegs gewesen waren, hatten sie keine große Lust auf eine weitere lange Erkundungstour in den nächsten Ort. Es gab nur ein Pub, das Muldoon’s. Wahrscheinlich arbeitete hier Bellas Mann, nahm Regan an. Ein Schild im Fenster pries als Spezialität des Hauses mit Käse überbackene TomatenSandwiches an. »Wollen wir es versuchen?«, fragte Regan. »Es sieht aus, als hätte es so etwas wie Lokalkolorit.« »Überbackene Tomaten-Sandwiches waren schon immer mein Traum«, bemerkte Luke trocken, als er vor dem Muldoon’s parkte. Drinnen spielte die Jukebox einen Roy-Orbison-Song. Von Überfüllung konnte keine Rede sein. Regan und ihre Eltern entschieden sich für einen Tisch am Fenster, von dem man einen Ausblick auf die fernen Berge hatte. Mit seiner düsteren Einrichtung war das Muldoon’s das typische Pub. Der Geruch nach schalem Bier hing in der Luft. Eine Kellnerin kam und fragte nach ihren Wünschen. Sie hatten sich jedoch alle bereits für die Spezialität des Hauses entschieden. »Eine gute Wahl«, versicherte die Bedienung, deren Namensschildchen verriet, dass sie Sandy hieß. Sie war etwa sechzig und hatte ein Gesicht, das an gegerbtes Leder erinnerte. »Und was möchten Sie trinken? Wir haben ein ganz besonderes Bier …« »Welche Weine schenken Sie denn offen aus?«, erkundigte sich Nora. 148
Die Serviererin schnaubte verächtlich. »Sie meinen im Glas? Wir sind hier zwar in einem Weinanbaugebiet, aber das schert meinen Chef wenig. Er kauft den Wein in großen Mengen ein, aber nicht gerade von den besten Winzereien, glauben Sie mir.« Regan ergriff die Gelegenheit, der Frau ein paar Informationen zu entlocken. »Wir wohnen draußen auf Altered States …« Sandy verzog das Gesicht. »Na ja …« »Wie meinen Sie das?« »Das Anwesen scheint irgendwie vom Pech verfolgt zu sein. Der ursprüngliche Eigentümer musste während der Prohibition aufgeben. Dann stand es jahrelang leer. Wie es heißt, sollen dort Geister umgehen. Die letzten Besitzer sind Bankrott gegangen. Jetzt scheint die Familie, die es vor kurzem erworben hat, auf Meditation und diesen ganzen esoterischen Unsinn zu setzen. Warum beschränken sie sich nicht einfach darauf, einen guten Wein zu produzieren?« Regan dachte an Leons Verärgerung über Earl. »Nur ein Familienmitglied beschäftigt sich bereits seit längerer Zeit mit Meditationen.« »Earl.« »Ja, Earl.« »Er hat in einem anderen Meditationszentrum buchstäblich in Saus und Braus gelebt, bis man ihn schließlich vor die Tür setzte. Danach hat er dort im Garten gearbeitet und Gelegenheitsjobs gemacht, aber das reichte natürlich nicht aus, um ihm für den Rest seines erleuchteten Lebens freie Kost und Logis zu garantieren.« »Ich dachte, er wäre früher in der Ölbranche tätig gewesen.« »Na, wenn das stimmt, dann muss das schon sehr lange her sein.«
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Nora und Luke nahmen das alles schweigend in sich auf. Sie mischten sich nie ein, wenn ihre Tochter Informationen sammelte. »Sie scheinen sich gut auszukennen, Sandy«, stellte Regan fest. »Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Da bekommt man einiges mit. Als Kinder sind wir oft nachts über das verlassene Gelände gestromert und haben uns fast zu Tode gefürchtet. Wir schlichen uns in den alten Schuppen am Rand des Grundstücks und erzählten einander die wildesten Gruselgeschichten. Außerdem arbeite ich seit Jahren hier im Pub. Und in einem Pub verraten einem die Leute irgendwann alles.« »Im Souvenirshop des Altered States hilft zurzeit eine Frau aus, deren Großvater das Weingut offenbar während der Prohibition besessen hatte …« »Ja. Ihr Mann wurde gerade hier eingestellt.« Sandy dämpfte ihre Stimme. »Er hatte sich um die Stelle des Barkeepers beworben, und der Boss gab ihm den Job, ohne viele Fragen zu stellen. Als ich ihn neulich bat, mir einen Singapore Sling zu machen, hat er mich angestarrt, als hätte ich zwei Köpfe. Sehe ich etwa aus, als hätte ich zwei Köpfe?« »Nein«, erwiderte Regan pflichtgemäß. »Na bitte. Und nun frage ich Sie: Wie kann der Mann behaupten, ein Barkeeper zu sein, wenn er nicht weiß, was ein Singapore Sling ist? Aber da wir gerade von Getränken sprechen: Was darf ich Ihnen denn bringen?« Die drei bestellten Eistee. »Das Dinner mit Wally und Bev gestern Abend war übrigens sehr nett«, sagte Nora, als Sandy verschwunden war. »Er kennt anscheinend den Regisseur des Films, in dem Whitney Weldon mitspielt.«
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Überrascht sah Regan sie an und berichtete daraufhin ihren Eltern in knappen Worten, was sich am Vormittag ereignet hatte. »Ich bin erst wieder beruhigt, wenn ich weiß, dass Whitney heute früh ihren Parkplatz nicht unter Zwang verlassen hat.« Sandy servierte ihnen den Eistee. Regans Gedanken sprangen »wie Affen von Ast zu Ast«. Von Whitney zu Bella und zu Bellas Mann, der Sandy zufolge nicht der zu sein schien, den er vorgab. Aber warum? Dann tauchte vor ihrem inneren Auge eine Tätowierung auf: ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Mit dem Kerl stimmt etwas nicht, dachte Regan. Das ahne ich nicht nur, das weiß ich einfach!
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ucretia und Edward nahmen ihren Lunch im Kreis tätowierter Motorradfahrer ein, deren schwere chromglänzende Maschinen vor der Raststätte aufgereiht waren. Lucretia bedauerte, dass sie keine Kamera dabeihatten. Sie wäre zu gern im Rolls-Royce neben all den Harley-Davidsons fotografiert worden. »Ich weiß, dass es eine Überraschung bleiben soll, Darling«, begann Lucretia zögernd, während sie am Tresen auf pappigen Cheeseburgers herumkauten, »aber ich sterbe nun einmal vor Neugier darauf, wohin du mich wohl in den Flitterwochen entführst.« »Du wirst dich wohl bis morgen Nachmittag gedulden müssen, wenn wir den Hochzeitsempfang verlassen. Auf dem Landweg«, fügte Eddie hinzu, »aber das ist auch alles, was du von mir erfährst. Nimm einfach für jede Gelegenheit etwas zum Anziehen mit.« Eddie hütete sich, Lucretia zu verraten, dass er mit ihr nach Denver fahren wollte, weil ihr in der dortigen Höhenlage das Atmen schwer fallen würde. Irgendwie musste es ihm doch gelingen, ihre verblüffend robuste Kondition nachhaltig zu schwächen. Natürlich durfte das keiner mitbekommen. Im Anschluss plante er Aufenthalte in anderen Städten. Nachts würde er sich dann aus dem Hotelzimmer schleichen, um sich ein bisschen zu amüsieren. Er wollte so lange wie möglich fortbleiben und erst nach Beverly Hills zurückkehren, wenn sich die Aufregung über die Hochzeit gelegt hatte. Plötzlich füllte das Gesicht von Phyllis den Bildschirm des Fernsehers, der hoch an der Wand über einer Glasvitrine mit Kuchen und Gebäck hing. Sie stand in Lucretias Wohnzimmer neben der Reporterin, die auch das Interview mit den glücklichen Verlobten geführt hatte. 152
»Wir sind hier im Haus des früheren Stummfilmstars Lucretia Standish«, verkündete Lynne B. Harrison und hielt ein goldgerahmtes Foto von Lucretia in die Kamera, das normalerweise seinen Platz auf dem Couchtisch hatte. »Miss Standish konnte mit Investitionen in ein Dotcom-Unternehmen mehr als fünfzig Millionen Dollar verdienen, weil sie sich klugerweise rechtzeitig vor dem Konkurs der Firma zurückgezogen hat.« »Lauter bitte!«, kreischte Lucretia. Angesichts von Lucretias offenbar akuter Verzweiflung oder vielleicht weil sie dieses schrille Kreischen nicht noch einmal hören wollte, drehte die Bedienung hastig die Lautstärke hoch. »Morgen ist Lucretias großer Tag, sie wird heiraten, und wir sprechen hier mit ihrer Haushälterin Phyllis. – Was können Sie uns über Lucretia und ihren Verlobten erzählen, Phyllis? Machen die beiden auf Sie einen glücklichen Eindruck?« Phyllis blickte direkt in die Kamera. Edward hatte das Gefühl, dass sie nur ihn ansah. Sein ganzer Körper krampfte sich zusammen. »O ja«, flötete Phyllis. »Sie sind geradezu verrückt nacheinander.« Edward entspannte sich. »Über Lucretia Standish wissen wir einiges, aber was können Sie uns über ihren Zukünftigen sagen?« Eddie zuckte wieder zusammen. »Nicht viel«, räumte Phyllis ein. »Ich kenne ihn kaum. Aber ich bin mir sicher, dass sich das bald ändern wird.« »Großartig. Können wir jetzt vielleicht einen Blick in den Garten werfen, in dem die Hochzeit stattfinden wird?« »Gern.« Die Kamera folgte Phyllis und Lynne hinaus an den Swimmingpool, wo Angestellte der Cateringfirma Dutzende von Tischen aufstellten. Andere schmückten eine Pergola mit 153
Blumen und bunten Bändern. Eine Schanktheke wurde herangerollt, für den Champagner vermutlich. Lucretia klatschte in die Hände. »Sieh doch nur, Darling. Sie bereiten alles für morgen vor.« »Ich kann es kaum erwarten«, hauchte Edward. »Es wird bestimmt eine ganz wundervolle Hochzeit«, begeisterte sich die Reporterin. »Ich wünschte, wir könnten noch einmal mit Lucretia Standish sprechen, aber wie ich gehört habe, bereitet sie sich an einem geheimen Ort auf ihren großen Tag vor. Verehrte Zuschauer, wir würden gern Ihre Meinung über die Heirat von Lucretia Standish mit Edward Fields erfahren. Halten Sie einen Altersunterschied von siebenundvierzig Jahren für zu groß? Oder zählt allein die Liebe? Wir melden uns später wieder, mit Berichten über die Vorbereitungen für die Hochzeit.« Schmunzelnd wandte sich Lucretia zu Edward. »Offenbar sind wir das Paar des Wochenendes. Was sagst du dazu? Für dich sind doch siebenundvierzig Jahre Altersunterschied nicht zu groß, oder?«, erkundigte sie sich kokett. Hast du den Verstand verloren?, hätte er am liebsten gebrüllt. Aber stattdessen zwang er sich zu einem Lächeln. »Ich finde siebenundvierzig Jahre genau richtig. Fünfzig wären möglicherweise zu viel, aber siebenundvierzig sind für uns einfach perfekt.« »Das finde ich auch«, stimmte Lucretia zu. Für einen winzigen Augenblick schien sie verwirrt zu sein. Dann fuhr sie fort: »Lass uns vom Autotelefon aus Phyllis anrufen. Ich möchte wissen, was da sonst noch vor sich geht.« »Vielleicht sollten wir lieber wieder nach Hause fahren«, schlug Edward eifrig vor, fest davon überzeugt, dass dies das kleinere Übel wäre. »Nein! Ich habe versprochen, dass wir die Nacht bei meiner Familie auf dem Weingut verbringen. Abgesehen davon könnte 154
ein noch größeres Medieninteresse nur schaden. Der Sender wird morgen über die Hochzeit berichten. Das genügt. Lass uns zahlen, Darling.« Lucretia sprang vom Hocker und blickte sich unter den Motorradfahrern um. Sie hatten die Ereignisse auf dem Bildschirm verfolgt und die beiden offensichtlich erkannt. »Na, Lucretia«, rief einer. »Was halten Sie von einer kleinen Spritztour auf meinem Bike?« »Viel! Sehr viel!«, jubelte sie, begeistert über die allgemeine Aufmerksamkeit. Donnernder Applaus brach los und die gellenden Pfiffe der Männer drohten sämtliche Trommelfelle in der Raststätte bersten zu lassen. »Lucretia …«, warnte Edward. »Nur ganz kurz. Nur einmal um den Block«, erwiderte sie entschlossen. Zwei Biker begleiteten das Paar vor die Tür. »Heiße übrigens Dirt, Ma’am«, sagte der bullige Typ, der Lucretia einen Sitz auf seinem Sozius angeboten hatte. Er trug eine ärmellose Lederweste, seine muskulösen Arme waren mit Tätowierungen bedeckt und ein Bandana umschlang seinen kahl werdenden Schädel. »Gestatten Sie …« Mühelos hob er die strahlende Lucretia auf die Maschine, sprang selbst hinauf, drückte den Gashebel durch und dann brausten sie unter ohrenbetäubendem Geknatter davon. »Mein Name ist Big Shot«, verkündete der stiernackige Riese neben Edward. »Und jetzt hör mir gut zu, Bürschchen. Sobald uns zu Ohren kommt, dass bei deiner Heirat mit dieser reizenden Lady nicht alles mit rechten Dingen zugeht, bekommst du es mit uns zu tun. Und das wird nicht lustig, kann ich dir sagen.« Er verstummte kurz, um zu grinsen, und zeigte das schauerlichste Gebiss, das Eddie je gesehen hatte. »Wir mögen es nämlich 155
nicht, wenn liebenswürdige alte Ladys ausgeplündert werden. Kapiert?« Eddie hoffte, dass Big Shot nicht bemerkte, wie sehr ihm die Knie schlotterten. »Sie können überzeugt sein, dass ich ihr meine ganze Fürsorge angedeihen lasse«, versicherte er. »Meine ganz besondere Fürsorge.« Big Shot lachte. Es klang wie das drohende Knurren eines angriffslustigen Hundes. »Dann ist es ja gut. Denn wir behalten dich im Auge, Kleiner.« Und dabei war es meine Idee, eine Lunchpause einzulegen, dachte Edward, als er ängstlich Big Shots muskelbepackte Arme und Beine betrachtete. Auch er trug eine ärmellose Weste und Denimshorts, und es war nur schwer zu erkennen, wo eine Tätowierung endete und die nächste begann. Einen Moment später stoppte Dirt sein Bike wieder auf dem Parkplatz. »Darling!«, schrie Lucretia. »Diese netten Jungs kommen alle zu unserer Hochzeit!«
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efesselt und geknebelt lag Whitney auf dem Boden des Jeeps. Sie hatte Durst und jede Sehne ihres Körpers schmerzte. Bleibt mir etwa nichts anderes übrig, als hier auf meinen Tod zu warten?, fragte sie sich. Wann wird mich endlich jemand finden? Immer wieder grübelte sie verzweifelt darüber nach, warum sie überfallen worden war. Wenn dieser Unbekannte sie umbringen wollte, hätte er es sofort tun können. Also war sie entführt worden. Aber aus welchem Grund? Ging es ihm um Lösegeld? Hatte er auf irgendeine Weise erfahren, dass ihre Familie bald ein paar Millionen besitzen würde? Aber außerhalb der engsten Familie wusste fast niemand von dem Geld. Wer war der Mann, der ihr aufgelauert und sie hier im Schuppen zurückgelassen hatte? Vielleicht der Gast, der gestern Abend zusammen mit ihnen im Speisesaal gegessen hatte? Er könnte unsere Unterhaltung belauscht haben, überlegte Whitney. Aber dann müsste er auch wissen, dass wir die Millionen nur erhalten, wenn wir alle an der Hochzeit teilnehmen. Dann fiel ihr ein, dass der Mann nach dem Abendessen einen längeren Spaziergang unternommen hatte. Möglicherweise hatte er dabei das Gelände erkundet und war auf den alten Geräteschuppen gestoßen. Plötzlich hörte sie, dass die Tür aufgeschlossen wurde. Ihr Herz begann wild zu klopfen. Würde er sie jetzt töten? Sie hielt den Atem an. Alles war still. Und so unvermittelt, wie sich die Tür geöffnet hatte, fiel sie wieder ins Schloss. O mein Gott!, dachte Whitney. Ist er das? Oder ein anderer, ein Retter? Verzweifelt versuchte sie, mit den Füßen gegen die Seitenwand des Autos zu stoßen. Sie stöhnte vor Anstrengung und der Knebel in ihrem Mund würde sie wahrscheinlich bald 157
ersticken. Es muss jemand anders gewesen sein, dachte sie schließlich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Aber wer? Nur selten verirrte sich jemand hierher in den abgelegensten Teil des Anwesens. In ihrer Handtasche auf dem Vordersitz begann es zu klingeln. Whitney seufzte. Warum war der Anrufer nicht eine Minute früher auf den Gedanken gekommen, die Nummer ihres Handys zu wählen? Dann hätte der Unbekannte, der sich eben noch hier aufhielt, unter Umständen das Klingeln mitbekommen. Ich sollte aufhören, so herumzuzappeln, und lieber meine Kräfte sparen, sagte sie sich. Falls wieder jemand hereinkommt, der mich retten könnte, werde ich meine ganze Energie brauchen, um ihn auf meine Lage aufmerksam zu machen.
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it einem Spaten in der Hand lief Bella um den Schuppen herum und begann in der Erde zu graben. Wie in den vergangenen Tagen auch nutzte sie ihre Mittagspause dazu, nach dem verborgenen Schatz ihres Großvaters zu suchen. Sie wusste zwar nicht genau, um was es sich dabei handelte, aber was immer es auch sein mochte, es gehörte rechtmäßig ihrer Familie, ganz gleich wer jetzt der Chef auf dem Gut war. Grandpa Ward war nach seiner Flucht aus Kalifornien in Kanada sesshaft geworden. Schon bald lernte er Bellas Großmutter kennen und heiratete sie. Nie wieder hatte er einen Fuß auf US-amerikanischen Boden gesetzt. Ein paar Jahre darauf kam Bellas Mutter Rose zur Welt. Als kleines Mädchen saß sie oft auf den Knien ihres Vaters und hörte zu, wenn er die stets gleiche Geschichte erzählte. »Ich habe mein Weingut sehr geliebt«, erklärte er immer wieder. »Und wenn die Prohibitionsgesetze nicht erlassen worden wären …« »Aber ohne die Prohibition wären wir einander nie begegnet«, wandte seine Frau mehr als einmal ein. »Wir hätten uns trotzdem kennen gelernt«, versicherte er ihr, manchmal mit einem kleinen Lachen. »Du weißt doch, Liebes, du bist ein Glückskind. Wir waren einfach füreinander bestimmt. Aber das mit dem Weingut, das sollte nicht sein. Wenn doch nur die Prohibition nicht gekommen wäre …« Wenn, wenn, wenn. Die Familie wohnte in Vancouver und Ward hatte einen Job auf einem Fischfangboot angenommen. »Eines Tages gehe ich nach Kalifornien zurück«, sagte er. Aber er starb jung, noch vor dem Ende der Prohibition. Bellas Großmutter fand es nie der Mühe wert, die Unterlagen und Dokumente ihres Mannes durchzusehen. Und Bellas Mutter 159
Rose, die aus dem gleichen Holz geschnitzt war, interessierte sich ebenso wenig dafür. Nach dem Tod ihrer Mutter verstaute sie die Dinge kurzerhand auf dem Dachboden. »Dein Großvater war ein furchtbarer Sammler und Horter«, sagte sie zu Bella. »Weil er Kalifornien mit leeren Händen verlassen musste, hat er danach alles aufgehoben – und damit meine ich wirklich alles. Eines Tages werde ich die ganzen Kisten und Kästen einmal ausmisten.« »Eines Tages« brach letzten Monat an, als Rose beschloss, zu ihren Freundinnen in eine Apartmentanlage für Senioren zu ziehen. Ihr Mann war gestorben und sie sehnte sich nach Gesellschaft. Und so war Bella nach Vancouver gefahren, um ihrer Mutter bei der Räumung des Hauses zu helfen. Dabei zeigte sie herzlich wenig Skrupel bei der Entsorgung lieb gewordener und vertrauter Objekte. »Weg damit«, entschied sie jedes Mal, wenn Rose etwas hochhielt und hin und her überlegte, ob es tatsächlich in den Müll geworfen werden sollte. Rose konnte nur wenige Möbelstücke in ihr neues Heim mitnehmen. Nach längeren Diskussionen wurde beschlossen, dass die Kuckucksuhr und der große La-Z-Boy-Sessel mit umziehen durften. Nie war Bella glücklicher als in dem Moment, als sie Rose’ abgetretenen grünen Teppich an den Rand des Bürgersteigs warf, damit die Müllabfuhr ihn mitnahm. Weitere altersschwache Gegenstände folgten. Schließlich nahmen sie den Dachboden in Angriff. Bella krempelte ihre Ärmel hoch und stürzte sich mit Feuereifer auf die alten Kartons. Die meisten von ihnen enthielten alte Zeitschriften und Zeitungen. Rose schüttelte den Kopf. »Dad konnte keine Zeitung wegwerfen, bevor er nicht jede Zeile gelesen hatte.« Die Staubwolken ließen Bella niesen, als sie ein vergilbtes Magazin nach dem anderen in einen Müllsack stopfte.
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In einem der Kartons entdeckten sie alte Fotografien. Durch den Fund kam es zu einer geringfügigen Verzögerung ihrer konzentrierten Altpapierbeseitigungsaktion. »Willst du ihn dir nicht ansehen?«, fragte Rose voller Bewunderung. »Er war stets sehr schick gekleidet.« Das Foto zeigte Ward mit einem Glas Wein vor einem Strandcafé. Er trug einen weißen Leinenanzug und zog seinen Strohhut vor dem unbekannten Fotografen. Lächelnd warf Bella einen Blick auf das Bild, aber zwei Sekunden später riss sie schon voller Ungeduld den nächsten Karton auf. Er war mit Briefen und vergilbten Dokumenten gefüllt. Sie zog ein schmales Heft mit dem Titel Impressionen heraus und schlug es auf. Die Seiten waren eng mit einer altmodischen, aber schwungvollen Handschrift beschrieben. »Mom, hör dir das mal an!«, rief Bella aufgeregt. Rose ließ fallen, was sie gerade in der Hand hielt, und lauschte mit geneigtem Kopf, während Bella aus Wards Tagebuch vorlas. Auf den ersten Seiten schilderte er seine Weinkellerei – wie sehr er den frischen Geruch der Reben liebte, das Gefühl der Trauben zwischen seinen Fingern, den Geschmack in seinem Mund. Auf einer Seite standen nur zwei Sätze: »Das Glas zu schwenken, den Duft einzuatmen, den Geschmack auf der Zunge zu genießen und dann zu schlucken. Kann es auf der Welt etwas Besseres geben?« Gegen Ende der Aufzeichnungen änderte sich der Inhalt: »Muss aufgeben. Kann das Weingut nicht halten. Auch mein letzter Versuch, die Kirche zum Kauf von Messwein zu bewegen, hatte keinen Erfolg. Das ist der einzige Wein, der jetzt noch konsumiert werden darf. Gerade habe ich meine Schätze vergraben und hoffe, sie mir irgendwann zurückholen zu können.« Als Bella die letzte Zeile las, entglitt das Heft ihren Händen.
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»Welche Schätze?«, rief Rose, als ihre Tochter sich wieder nach dem Tagebuch bückte. Ein Zettel war herausgefallen. »Keine Ahnung«, entgegnete Bella ächzend, faltete den Zettel auseinander und holte tief Luft. »Eine Schatzkarte! Das ist eine Karte von Grandpas Weingut, von neunzehnhundertzwanzig. Und die Stelle, an der er den Schatz vergraben hat, ist mit einem Kreuz markiert. Und hör dir das an …« »Ich tue schon die ganze Zeit nichts anderes, als dir zuzuhören, Liebes.« »Unten auf dem Zettel hat Grandpa etwas notiert: Da mich meine Schulden gezwungen haben, das Weingut Hals über Kopf zu verlassen, konnte ich nicht alles mitnehmen, was mir lieb und teuer ist. Daher habe ich meine Wertsachen hinter dem alten Schuppen am Rand des Anwesens vergraben. Sollte ich eines Tages zurückkehren, werde ich sie wieder in Besitz nehmen. Aber falls ich vorher sterbe, kann derjenige, der diese Zeilen nach meinem Tod liest, sich selbst auf die Suche machen. Wenn er den Schatz findet, gehört er ihm.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Bella ihre Mutter an. »Das ist ja unglaublich! Hat dir Dad je etwas von seinem Schatz erzählt?« »Nein. Er ist ganz unerwartet gestorben. Als er noch ein junger Mann war. Aber er hat immer gesagt, wenn er genügend Geld beisammen hat, geht er nach Kalifornien zurück.« Mutter und Tochter waren eine Weile lang ungewöhnlich still. »Ich wünschte, ich wäre noch kräftig genug, um ein bisschen in der Erde zu buddeln«, sagte Rose halb im Scherz. »Ich fahre hin«, verkündete Bella. »Ich muss hinfahren!« »Aber der Schatz könnte längst fort sein. Und das Weingut hat bestimmt längst neue Besitzer.« 162
»Na und? Ich stelle ein paar Nachforschungen an. Und wenn da tatsächlich noch etwas ist, gehört es uns – dir und mir.« »Und Walter vermutlich«, erwiderte Rose kopfschüttelnd. Walter war Bellas Mann, ein US-Amerikaner, zu dem Rose noch nie sonderlich viel Zuneigung empfunden hatte. Er und Bella lebten in Washington, gleich hinter der kanadischen Grenze. Walter hatte vor kurzem seinen Job bei einer Luftfahrtgesellschaft verloren. Genug Motivation für Bella, nach Kalifornien zu fahren, um nach dem Schatz zu suchen, der ihr Reichtum und Wohlergehen bringen sollte. »Er wird mitkommen«, erklärte Bella. »Und wenn er das nicht will?« »Ihm bleibt wohl kaum eine andere Wahl.« Das war vor wenigen Wochen gewesen. Und jetzt, nachdem sie es geschafft hatte, einen Job auf Altered States zu bekommen, nutzte Bella eine weitere Mittagspause zum emsigen Graben. Niemand hatte sie bisher bei ihren Wanderungen über das Gelände beobachtet, und niemand schien etwas dagegen zu haben, wenn sie ihre freie Zeit am liebsten an der frischen Luft verbrachte. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass man sie bei ihrer Tätigkeit ertappte, hatte sich Bella bereits eine Erklärung ausgedacht. Sie würde behaupten, dass es einer alten Legende zufolge Glück brachte, den Boden eines Weinguts häufig umzugraben. Ihrer Überzeugung nach waren die Weldons verdreht genug, ihr diesen Unsinn abzunehmen. Mit Hinweis auf seine chronischen Rückenbeschwerden hatte sich Walter allerdings geweigert, ihr beim Graben zu helfen. »Da hinten ist alles so gespannt wie eine Geigensaite«, klagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. Und so riet ihm Bella, im Pub den Job des Barkeepers zu übernehmen, bis sie den Schatz gefunden hatte. Dann konnten sie nach Hause zurückkehren. Das mache auch einen weit besseren Eindruck, als wenn er den ganzen Tag in ihrer gemieteten Unterkunft vor dem Fernseher 163
hockte, betonte sie. Nur widerwillig hatte Walter sich gefügt. Aber inzwischen machte ihm seine Arbeit im Pub wirklich Spaß. »Lass dich bloß nicht erwischen!«, warnte er seine Frau. »Sonst landest du noch hinter Gittern.« Doch nach fast einstündiger Buddelei hatte Bella nichts anderes zu Tage gefördert als Würmer und Steine. Seufzend ließ sie den Spaten fallen und ging zu dem kleinen Bach, der die Grenze des Anwesens bildete, um sich die Hände im klaren, funkelnden Wasser zu kühlen. »Ah, das tut gut«, murmelte sie halblaut und machte ein paar Lockerungsübungen mit den Fingern. Sie hob die Hände aus dem Wasser. Die Blasen an ihren Hände taten weh, die Muskeln schmerzten, aber der Geruch erschien ihr wie duftendes Parfum. Sie konnte den penetranten Gestank der Duftkerzen und Räucherstäbchen im Souvenirshop kaum noch ertragen, aber sie musste nun mal gute Miene zum bösen Spiel machen. Sie brauchte schließlich einen Grund, täglich wieder auf Altered States aufzutauchen. Nach ein paar Minuten stand Bella auf und schlug langsam den Weg zur Lodge ein. Nach ein paar Schritten fiel ihr auf, dass sie den Spaten hinter dem Schuppen vergessen hatte. Nun ja, dachte sie, kein Problem. Ich mache ja morgen weiter. Sie lächelte in sich hinein. Der Spaten ist ohnehin so alt, dass ich mich frage, ob ihn nicht schon Grandpa Ward in den Händen hielt – und damit gehört er mir.
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ofort nach Ende der Meditationsstunde eilte Rex schnurstracks zu seinem Auto. Obwohl er beschlossen hatte, zunächst hier zu bleiben und auf die Ankunft von Eddie und seiner »großen Liebe« zu warten, fühlte er sich wie eine Ratte im Käfig. Er machte sich Sorgen um seine Kumpel in New York. Und die Fernsehberichte über Eddie und Lucretia vergrößerten seine Nervosität nur noch. Wenn sie zu gründlich in Eddies Vergangenheit schnüffelten, würde auch sein eigener Name zur Sprache kommen – und das auf wenig schmeichelhafte Weise. Auf der Fahrt in den Ort steigerte sich seine Rastlosigkeit von Minute zu Minute. Er parkte, lief die Straße hinauf und hinab, betrat jeden Laden und verließ ihn wieder. Das dauerte ungefähr zehn Minuten. Er überlegte, ob er sich im Pub ein Glas genehmigen sollte, verwarf diese Idee aber, als er Regan Reilly mit einem Mann und einer Frau aus dem Auto steigen und das Muldoon’s betreten sah. Ihr Anblick trieb ihm fast den Angstschweiß auf die Stirn. Er dachte an Whitney in ihrem Versteck. Immer mit der Ruhe, sagte er sich. Sie werden dich schon nicht schnappen. Nachdem Eddie unter der Haube ist, rufe ich Whitneys Familie von einer Telefonzelle aus an und sage ihnen, wo sie zu finden ist. Rex betrat das Deli an der Main Street und bestellte ein Truthahn-Sandwich. »Nein, lieber zwei«, setzte er schnell hinzu. Ihm war der Gedanke gekommen, dass er Withney etwas zu essen und zu trinken bringen sollte. Außerdem würde er ihr den Gang zur Toilette gestatten. In einer Ecke des großen Schuppens befand sich ein altertümliches Klosett. Er hoffte nur, dass sie seine Großzügigkeit nicht ausnutzte.
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Eigentlich bin ich gar kein schlechter Kerl, sagte er sich. Ich versuche doch nur, mich in dieser kalten, grausamen Welt nicht unterkriegen zu lassen. Er grinste, als er zwei Flaschen Mineralwasser aus dem Kühlregal nahm. Wenn sich mir allerdings jemand in den Weg stellt … »Was ist Ihnen lieber – Chips oder saure Gurken zu Ihren Sandwiches?«, fragte der Mann hinter der Theke. »Kartoffelchips.« »Ihre Entscheidung, Sir. Also keine Gurken.« »Könnten Sie mir die Sandwiches bitte getrennt verpacken?« »Aber gern. Ich hoffe, Sie genießen diesen herrlichen Tag und schauen sich die wundervolle Gegend an.« »Das habe ich vor«, knurrte Rex unfreundlich, um weiteren Höflichkeiten vorzubeugen. Die Sandwiches wanderten in Plastiktüten, Rex zahlte und verließ den Laden. Ein hübsches kleines Nest, dachte er und bewunderte die Berge ringsumher, die den Ort zu bewachen schienen. Ganz anders als Manhattan. Rex kletterte in sein Auto und fuhr zu einem kleinen Parkplatz in der Nähe. Er kurbelte die Fenster herunter und schaltete das Radio ein. Das Sandwich schmeckte ihm, das Wasser war kalt und erfrischend. Als er auch die Kartoffelchips verputzt hatte, knüllte er die Tüte zusammen und stopfte sie in einen der Plastikbeutel. Auf dem Rückweg nach Altered States beschloss er, dass es am sichersten war, das Auto vor der Lodge abzustellen und dann zu Fuß weiterzulaufen. Wenn jemand zufällig beobachtete, wie er mit dem Auto zum Schuppen fuhr, könnte das eine unerwünschte Aufmerksamkeit erregen, möglicherweise sogar einen Verdacht. Und das wollte er unter keinen Umständen. Auf dem Parkplatz war alles ruhig. Rex griff nach der Plastiktüte mit dem Sandwich für Whitney und der zweiten Flasche Wasser und machte sich auf den Weg. Wohin er auch blickte, 166
sah er nichts als Reihen von mächtigen, alten Eichen. Er beschleunigte seine Schritte. Schließlich konnte man nie wissen. Vielleicht verlockte das sonnige Wetter jemanden zu einem Spaziergang. Er musste jede Begegnung verhindern. Als Rex endlich am Ziel angelangt war, hörte er hinter dem Gebäude seltsame Geräusche. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er lauschte mit angehaltenem Atem. Jetzt war wieder alles still. Er schlich an der Wand des Schuppens entlang, spähte vorsichtig um die Ecke und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Jemand hatte ein Loch nach dem anderen in die Erde gegraben und am Bachufer kniete eine fremde Frau! Er zwang sich zur Ruhe und trat so schnell wie möglich den Rückzug an. Wer ist das?, fragte er sich, als er hinter einigen Bäumen Deckung fand. Und was macht sie da eigentlich?
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uf dem Rückweg nach Altered States klingelte Regans Mobiltelefon. Es amüsierte sie, dass Nora und Luke in dem Moment ihre Unterhaltung abbrachen, als sie mitbekamen, wer da anrief. Es war Jack. »Was gibt es Neues?«, fragte er. »Einiges. Meine Eltern sind hier, sie wollen die Nacht auf Altered States verbringen. Lucretia und ihr Zukünftiger haben gleichfalls ihren Besuch angekündigt. Sie werden am Nachmittag erwartet.« Dass sie ihn vermisste, sagte Regan nicht, denn ihre Eltern hingen wie gebannt an ihren Lippen. »Einen Tag vor der Trauung?« »Das Fernsehinterview scheint einen beträchtlichen Wirbel ausgelöst zu haben. Lucretia braucht offenbar etwas Ruhe.« »Vielleicht lädt sie dich zur Hochzeit ein«, überlegte Jack. »Hat sich Whitney Weldon gemeldet? Konntet ihr sie erreichen?« »Nein. Aber wir waren gerade zum Lunch im Ort. Vielleicht hat sie inzwischen ihre Mutter angerufen. Ich hoffe es.« »Ich auch.« Jack räusperte sich. Wie immer, wenn etwas Wichtiges folgte. »Na, dann wirst du Lucretias Verlobten also bald kennen lernen. Nach allem, was ich bisher über ihn in Erfahrung bringen konnte, ist Edward Fields übrigens ein ziemlich mieser kleiner Gauner.« »Tatsächlich?« »Ja, Eigentlich heißt er Hugo Fields, aber seit einiger Zeit benutzt er nur noch seinen zweiten Vornamen Edward. Ob nun Edward oder Hugo: Gegen ihn liegt einiges vor. Im Laufe der Jahre hat er sich auf Kosten von diversen älteren Ladys ein recht bequemes Leben gemacht. Vor rund zehn Jahren hatte er mal 168
einen Job an der Wall Street, aber nicht für lange. Dann trat er als Spendensammler für Wohltätigkeitsorganisationen auf, von denen das meiste allerdings in seiner eigenen Tasche landete. Danach vermittelte er Beteiligungen an verschiedenen Unternehmen und kassierte satte Provisionen. Weiterhin betätigte er sich an der Börse: Er kaufte in großem Stil Aktien und beschwatzte andere, es ihm gleichzutun, so lange, bis der Kurs stieg, und stieß sie im günstigsten Moment wieder ab. Offiziell nennt er sich Finanzberater. Aber er ist ein gewieftes Kerlchen und wir haben nichts gegen ihn in der Hand. Eine Straftat konnte ihm nie nachgewiesen werden. Lucretia Standish ist der größte Fang seines Lebens. Nach der Trauung kann er sich zur Ruhe setzen und sein Hobby pflegen – Glücksspiel. Hoffen wir, dass er ihre Millionen nicht gleich beim Black Jack oder auf der Rennbahn verjubelt.« Regan seufzte. »Es ist doch unglaublich, wie viele solcher Männer ihr Unwesen treiben und dass wir nichts gegen sie unternehmen können. Und jetzt wird auch dieser Hugo Fields höchstwahrscheinlich ungestraft davonkommen. Schließlich ist es nicht verboten, jemanden wegen seines Geldes zu heiraten.« »Und wer will schon derjenige sein, der einer glücklichen Braut sagt, dass ihr Auserwählter nur auf ihre Konten aus ist?« »Die Überbringer einer schlechten Nachricht werden erschossen«, witzelte Regan. »Ich wette, dass Fields erpicht darauf ist, bei Lucretia Nägel mit Köpfen zu machen, bevor ein solcher Überbringer überhaupt auftaucht. In Kalifornien gilt nämlich prinzipiell Gütergemeinschaft. Da sie gerade einmal zwei Tage miteinander verlobt sind, bezweifle ich stark, dass ein davon abweichender Ehevertrag geschlossen wurde.« »Nun, Lucretias einzige Angehörige sind die Eigentümer von Altered States und die lernt sie heute erst persönlich kennen«, überlegte Regan laut. 169
»Fields muss sich wünschen, dass es nie dazu gekommen wäre. Und übrigens: Seine Freunde nennen ihn Eddie«, fügte Jack hinzu. »Nur wenn es offiziell wird, heißt er Edward.« In Regans Hinterkopf regte sich eine Vermutung. Noch wurde Whitney Weldon zwar offiziell nicht vermisst, aber wenn da wirklich etwas nicht stimmte, wenn sie nun Opfer eines Verbrechens geworden war … Könnte Edward dahinterstecken? Wusste er, dass Lucretia den Verwandten ihres Mannes einige Millionen schenken wollte, wenn sie zu ihrer Hochzeit kamen? »Ich freue mich schon darauf, wenn wir uns am Nachmittag zu einem Glas Wein zusammensetzen«, plante Regan ihren nächsten Schachzug. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie zuckersüß ich ihn dann bitten werde, mir doch ein wenig mehr von sich zu erzählen.« Jack lachte. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie du ihn ausquetschen wirst.« »Und wie kommst du mit deinem Fall voran?« »Wir verhören noch immer den Burschen, der die gestohlenen Kunstwerke verhökern wollte. Er ist ganz eindeutig kein Einzeltäter. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl erwirkt und ein paar Jungs nehmen gerade sein Apartment unter die Lupe. Vielleicht finden sie etwas, was uns zu seinen Komplizen führt. Ich habe so eine Ahnung, dass wir es mit einer nicht ganz ungefährlichen Bande zu tun haben. – Einen Moment, Regan …« Sie brauchte nicht lange zu warten. »Ich muss leider los«, sagte Jack eine Minute später. »Ich melde mich wieder bei dir.« »Also auf diese Lucretia Standish bin ich schon echt gespannt«, meinte Nora, nachdem Regan das Gespräch beendet hatte.
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»Und ich kann es kaum erwarten, ihren sonderbaren Verlobten kennen zu lernen«, fügte Luke hinzu, als er auf die Schotterpiste einbog, die nach Altered States führte. »Nichts spricht dagegen, dass du ihm ein wenig auf den Zahn fühlst, Dad«, grinste Regan und schlug ihrem Vater leicht auf die Schulter. Während sie auf den Parkplatz fuhren, kam Lilac aus dem Kerzenladen geeilt. »Herzlich willkommen!«, rief sie strahlend. »Wir freuen uns sehr, Sie auf Altered States begrüßen zu dürfen.« Regan stellte ihr gerade Nora und Luke vor, als Bella in der Ferne zwischen den Feldern auftauchte. »Wie schön«, erklärte Lilac. »Bella ist von ihrer Lunchpause zurück. Sie kann hier übernehmen und ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.« »Haben Sie eigentlich etwas von Whitney gehört?«, erkundigte sich Regan. »Nein.« »Und hat der Seminarleiter inzwischen zurückgerufen?« »Bisher nicht.« Lilac wirkte noch immer völlig unbesorgt. »Aber Earl meinte, bei diesen Workshops würde oft stundenlang keine Pause gemacht.« Als sie Noras und Lukes Gepäck aus dem Kofferraum hoben, war Bella angekommen. Sie winkte ihnen kurz zu und verschwand sofort im Laden. Regan fand, dass sie mit ihrem leicht geröteten Gesicht ein bisschen abgespannt aussah. Nach ihrer Mittagspause? Die Frau gibt mir Rätsel auf, dachte Regan, zuckte dann aber gleichmütig mit den Schultern. Im Augenblick galt ihre Hauptsorge Whitney. Ich werde gleich noch einmal bei dem Seminar anrufen, nahm sie sich vor. Eine kleine Mittagspause wird man den Kursteilnehmern ja schließlich gönnen.
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mgeben von einer dichten Harley-Davidson-Phalanx, schnurrte Lucretias Rolls-Royce über den Highway. Edward tat zwar so, als würde ihn die eines Staatsoberhauptes würdige Eskorte köstlich amüsieren, aber jedes Mal wenn er in den Rückspiegel blickte, nervte ihn Big Shots Grinsen ein bisschen mehr. Bestimmt hatte sich der Kerl mit voller Absicht direkt hinter ihn gesetzt. Dirt fuhr an der Spitze und der Rest der Road’s Scholars – so nannten sie sich – bildete eine enge Formation um den Rolls. Keinem von ihnen wäre Eddie gern allein im Dunkeln begegnet. »Hast du nicht selbst gesagt, dass das Leben mit mir Spaß macht?« Lucretias Augen funkelten vergnügt. »Das habe ich«, erwiderte Edward und fragte sich, ob er das Wochenende heil überleben würde. Ich muss unbedingt Rex anrufen und dafür sorgen, dass er nichts unternimmt, was Whitney schaden könnte, schoss es ihm durch den Kopf. Edward hatte sich in der Vergangenheit zwar einiges zuschulden kommen lassen, aber noch nie hatte er einem Menschen körperlichen Schaden zugefügt. Er hatte gewissermaßen immer nur auf ihre Brieftaschen gezielt. Kalter Schweiß rann ihm über den Rücken, und er wusste, dass er unter keinen Umständen in Verbrechen verwickelt werden wollte, bei denen das Leben von Menschen aufs Spiel gesetzt wurde. Nicht mit jemandem wie Big Shot im Nacken. Er hoffte, das Rex unmissverständlich klar machen zu können. »Oh, in der ganzen Aufregung habe ich ganz vergessen, dass ich Phyllis anrufen wollte!«, rief Lucretia und streckte die Hand nach dem Autotelefon aus, das zwischen ihren Sitzen installiert war. Sie wählte ihre Nummer in Beverly Hills und drückte die Lautsprechertaste. 172
Edward fühlte sich wie ein zum Tode Verurteilter, während sie beide darauf warteten, dass der Hörer abgenommen wurde. »Hier bei Lucretia Standish, guten Tag«, meldete sich Phyllis schließlich mit sonderbar gedämpfter Stimme. »O mein Gott, Phyllis!«, schrie Lucretia. »Ich habe Sie gerade im Fernsehen gesehen. Wie aufregend!« »Sie haben nichts dagegen?« »Nein. Der Garten sah wundervoll aus. Aber Sie hätten die Reporterin ruhig zu den Fotos aus meiner Hollywood-Zeit führen können.« »Tut mir leid.« »Schon gut, macht nichts. Warum war sie eigentlich da? Was wollte sie?« »Sie ist immer noch hier«, tuschelte Phyllis. »Im Moment holt sie gerade etwas aus ihrem Wagen. Die Zuschauerreaktion auf das Interview war so groß, dass der Sender weiter berichten möchte. Ich wollte sie erst abwimmeln, aber die Reporterin meinte, die hätten eine E-Mail von zwei Jugendfreundinnen von Ihnen erhalten, die behaupten, es gäbe da ein Geheimnis zwischen Ihnen.« »Polly und Sarah!« Lucretias Stimmlage schraubte sich in schwindelerregende Höhen. »Sie erinnern sich an sie?« »Aber natürlich!« »Auch an das Geheimnis?« »Ja.« Lucretia schwieg. Die unbeschwerte Freude, die sie eben noch empfunden hatte, schien sich in Luft aufzulösen. »Ist es unangenehm?«, wollte Phyllis wissen. »Nein. Vermutlich gibt es Schlimmeres.« »O weh! Nun, ich habe die Reporterin nur ins Haus gelassen, weil sie mir die E-Mail ausgehändigt hat.« 173
»Sie wird sie also nicht veröffentlichen?« »Sie hat nein gesagt, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Den größten Teil der E-Mail haben Ihre Freundinnen übrigens direkt an Sie gerichtet.« »Und was schreiben sie?« Lucretias Herz begann wild zu klopfen. »Einen Moment.« Phyllis ließ den Hörer auf den Tisch sinken, stellte den Fernseher leiser und holte das Blatt Papier, das sie aus Sicherheitsgründen in ihrer Handtasche verwahrt hatte. Sie suchte nach ihrer Brille und setzte sie auf. »Also gut, ich lese es Ihnen jetzt vor: Liebe Lukey …« Lucretia stieß einen durchdringenden Schrei aus. Phyllis verstummte. »Entschuldigung«, sagte Lucretia und gewann schnell die Fassung wieder. »Aber es ist lange her, seit mich jemand so genannt hat. Bitte lesen Sie weiter.« »Okay. Also noch einmal von vorn. Liebe Lukey, erinnerst du dich an uns? An Polly und Sarah? Wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen, als wir dich heute im Fernsehen entdeckt haben. Es ist so lange her, seit du irgendwo auf einer Leinwand oder einem Bildschirm zu sehen warst …« »Ziemlich gehässig«, unterbrach Lucretia. »Wie auch immer«, murmelte Phyllis und fuhr lauter fort: »Aber du hast ganz großartig ausgesehen, und wir möchten dir dazu gratulieren, einen so jungen Mann gefunden zu haben. Nicht zum ersten Mal, wie wir wissen! Weißt du noch, wie wir 174
am Schwarzen Freitag, als die Börse krachte, nach Hollywood kamen, um deinen Geburtstag mit dir zu feiern? War das eine tolle Party! Erinnerst du dich auch noch an den Pakt, den wir an diesem Abend geschlossen haben? Wir sind uns sicher, dass du ihn nicht vergessen hast. Leider haben wir uns danach kaum noch gesehen. Was nicht an uns lag. Im Gegensatz zu dir waren wir beide nur einmal verheiratet. Nach dem Tod unserer Männer sind wir zusammengezogen, weil das angenehmer ist, als ganz allein im Schaukelstuhl auf das letzte Stündchen zu warten. Gern denken wir an die Zeiten zurück, die wir drei als junge Mädchen auf dem Friedhof hinter dem Weingut deines Vaters verbrachten. Wir dachten, wir wüssten ganz genau, wie unser Leben verlaufen würde, nicht wahr? Wir haben so großartige Gespräche geführt. Nachdem wir dich heute im Fernsehen sahen, fragen wir uns, was die Leute denken würden, wenn sie von dem Pakt wüssten, den wir am Tag deiner Geburtstagsparty geschlossen haben. Ob du es glaubst oder nicht, aber der Gedanke bringt uns zum Lachen.« Wieder kreischte Lucretia laut auf. »Da steht noch ein letzter Satz.« »Wie lautet er?« »Wir würden uns freuen, von dir zu hören.« »Wie lautet ihre Telefonnummer?«, fragte Lucretia leise. »Die kenne ich nicht.« »Warum nicht?« »Sie haben nur ihre E-Mail-Adresse genannt.« »Wo wohnen sie?« »Keine Ahnung. – Oh, ich glaube, die Reporterin kommt zurück.« »Richten Sie ihr aus, sie kann von mir alles haben, was sie will!« 175
»Wie bitte?« »Ich möchte nicht, dass sie sich mit den beiden in Verbindung setzt. Lassen Sie mich mit ihr sprechen.« »Hier ist sie.« Phyllis reichte den Apparat an Lynne weiter, die inzwischen neben ihr stand. »Guten Tag, Miss Standish«, flötete die Reporterin so übertrieben herzlich, dass es an Lucretias Nerven zerrte. »Unsere Zuschauer wollen unbedingt alles über Sie wissen. Sie können gar nicht genug von der Hochzeitsstory bekommen.« »Wie schmeichelhaft!«, antwortete Lucretia und zwang sich zu einem munteren Plauderton. »Wir sind gerade auf dem Weg zum Weingut meiner Nichte und meiner Neffen nördlich von Santa Barbara. Dort findet kurz vor der Hochzeit noch ein Familientreffen statt.« Sie dämpfte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüsterton. »Sie werden nicht glauben, was sich hier abspielt.« »Was denn?« »Eine einundzwanzigköpfige Motorrad-Eskorte begleitet uns zum Weingut. Sie kommen morgen auch alle zu unserer Hochzeit.« »Das muss ja ein toller Anblick sein!«, begeisterte sich Lynne. »Wo haben Sie die Biker denn kennen gelernt?« »In einer Raststätte.« »Das ist ja fast zu schön, um wahr zu sein! Lassen Sie mich nachdenken … Am liebsten würde ich ein Kamerateam unseres Partnersenders in Santa Barbara losschicken, um Ihre Ankunft auf dem Weingut zu filmen. Ich hoffe nur, die Jungs können rechtzeitig da sein.« »Sie haben mindestens eine Dreiviertelstunde Zeit«, erwiderte Lucretia. »Ich werde Edward bitten, ein wenig langsamer zu fahren.«
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Die Reporterin lachte. »Sehr gut. Hätten Sie übrigens etwas dagegen, wenn ich mich selbst auch auf den Weg mache? Ich würde zu gern Ihre Verwandten interviewen.« »Warum nicht? Je mehr, desto besser.« »Großartig!« »Fragen Sie Phyllis nach der Adresse. Wenn ich jetzt noch einmal mit ihr sprechen dürfte …« »Selbstverständlich. Hier ist sie.« »Ja, Miss Standish?« »Nennen Sie mir bitte die E-Mail-Adresse der beiden. Ich muss sie unbedingt kontaktieren. Über Edwards Blackberry, Blueberry oder wie diese Minicomputer auch immer heißen.« Edward stöhnte laut auf, kaschierte es dann aber hastig mit einem Hüsteln. »Darf ich vielleicht fragen, was dieser geheimnisvolle Pakt eigentlich ist?«, wisperte Phyllis neugierig, während die Reporterin ihren Chef am Handy über die neuesten Entwicklungen informierte. »Sie dürfen, aber ich werde Ihnen nichts darüber sagen! Geben Sie mir jetzt die Adresse.« Nachdem Lucretia das Gespräch mit Phyllis beendet hatte, griff Edward nach ihrer Hand. »Ein Geheimnis? Wie spannend! Aber mir wirst du es doch anvertrauen, nicht wahr?« »Nein! Warum auch? Es war eine Sache unter halbwüchsigen Mädchen. Im Grunde handelt es sich um eine Lappalie, aber ich will nicht, dass alle Welt davon erfährt.« Fast kokett lächelte sie ihn an. »Außerdem hat doch jeder von uns ein paar kleine Geheimnisse, oder?« O ja, dachte Eddie. Und nicht nur ein paar. Mehr, als du dir vorstellen kannst.
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achdem Norman seinen Schülern vier Stunden lang eingetrichtert hatte, wie sie ihre Kreativität abrufen und ihr Charisma wecken konnten, glaubte er, seine Schuldigkeit erst einmal getan zu haben. Die heutigen Teilnehmer arbeiteten gut zusammen. Wie immer gab es aber auch diesmal einen oder zwei, die sich ständig in den Vordergrund drängten. Das beobachtete er in allen seinen Seminaren. Irgendwo hatte Norman gelesen, dass in jeder zufällig zusammengewürfelten Gruppe dieselbe Rollenverteilung zu beobachten ist. Wenn jemand in einer Gruppe den Leitwolf spielt, kann er sich in einer anderen durchaus in Zurückhaltung üben, wenn sich bereits ein Anführer etabliert hat. Aber irgendwie wurden alle Rollen immer wieder besetzt. Das schien eine Art Naturgesetz zu sein. Stets gibt es die Ruhigen, Unauffälligen und einen, der den Clown mimt. »Machen wir jetzt eine Pause«, schlug er vor. »Im Haus wartet ein Lunch auf euch. In einer Stunde geht es weiter.« Da der Workshop in einer ziemlich abgelegenen Gegend stattfand, folgten die meisten Kursteilnehmer seiner Einladung zum gemeinsamen Essen – der Seminarpreis umfasste schließlich auch Verpflegung und Übernachtung. Im Erdgeschoss seines Hauses hatte Norman zwei schlafsaalähnhche Ruheräume eingerichtet. Der Workshop endete meistens erst gegen Mitternacht oder ein Uhr morgens, und Norman war überzeugt, mit der gemeinsamen Übernachtung und dem engen Beisammensein die Lektionen des Tages nachhaltig intensivieren zu können – es drehte sich ja alles um das Niederreißen persönlicher Grenzen. Das Ganze war wie ein Zeltlager für Erwachsene. Außerdem glaubte er, dass sie dadurch die Bequemlichkeit ihrer eigenen Betten und ihres individuellen Freiraums mehr schätzen lernten, 178
und das konnte ihnen bei ihrer Arbeit als Schauspieler nur von Nutzen sein. »Macht euch immer ganz bewusst, was ihr tut«, riet Norman seinen Schülern wieder und wieder. »Wenn ihr jemanden anseht, dann nehmt ihn auch wirklich wahr. Wenn ihr esst, macht euch klar, wie es schmeckt. Achtet genau darauf, was ihr empfindet, wenn ihr schwitzt, friert oder erschöpft seid. Versucht auch in euren Gefühlen so präzise wie möglich zu sein.« Broda verließ das Studio und ging auf das Haus zu. »Norman?« Er drehte sich um und sah sich Adele gegenüber. Sie war eine der Wichtigtuer, eine Rothaarige mit umwerfender Figur. Sie trug eines der offenherzigsten Tops, die er je gesehen hatte, und hautenge Designerjeans. »Ja, bitte?«, antwortete er wachsam. »Ich habe große Probleme damit, aus mir herauszugehen«, vertraute sie ihm an. »Irgendwie kann ich zwar spüren, wie meine Kreativität förmlich nach Befreiung schreit, aber sie wird hier drinnen irgendwie blockiert.« Sie drückte beide Hände seufzend auf ihre üppige Oberweite. Großer Gott, dachte Norman. Ich bezweifle doch stark, dass du dich von irgendwas behindern lässt. »Daran werden wir heute Nachmittag noch ausführlich arbeiten«, versicherte er ihr. Sie packte seinen Unterarm und schloss die Augen. »Danke! Ich glaube, dieser Vormittag hat mein Leben verändert.« »Das freut mich. Und wie wäre es jetzt mit einem kleinen Lunch?« Adele öffnete ihre Augen wieder. »Ich muss eine bestimmte Diät einhalten, daher habe ich mir etwas mitgebracht.« »Hervorragend«, bemerkte Norman und ging schnell weiter. Es sind doch immer wieder die Unbegabtesten, die das größte Theater veranstalten, ärgerte er sich. Whitney Weldon war 179
sicherlich aus anderem Holz geschnitzt und er bedauerte ihr Fehlen zutiefst. Er überlegte gerade, ob er versuchen sollte, sie anzurufen, als er Ricky in der Küche entdeckte. »Hallo, mein Freund.« Norman streckte ihm die Hand entgegen. »Wie geht es dir?« »Gut genug, um einen kleinen Ausflug zu unternehmen.« »Möchtest du einen Happen essen?« Ricky schüttelte den Kopf. »Keinen Appetit. Aber hast du vielleicht ein Ginger Ale?« »Klar.« Norman holte zwei Dosen mit Sodawasser und Ginger Ale aus dem Kühlschrank. »Lass uns in mein Büro gehen.« Sie schlenderten über den Flur, an den Schlafräumen vorbei und betraten Normans Arbeitszimmer. Es war ein angenehmer Raum mit deckenhohen Bücherregalen und einem riesigen Fenster mit Blick auf den Rasen. Auf dem gewaltigen Schreibtisch stand eine Computeranlage und an der Wand gegenüber dem Fenster eine bequeme Couch. Sie setzten sich und rissen ihre Dosen auf. »Willst du ein Glas?« »Nein, danke, nicht nötig.« Norman nahm einen Schluck Mineralwasser. »Whitney Weldon ist nicht gekommen.« Erstaunt sah Ricky ihn an. »Nicht?« »Nein. Aber ich bin genauso überrascht wie du. Ich habe gestern noch mit ihr gesprochen und sie hat die Gebühren auch per Kreditkarte bezahlt. Ziemlich kostspieliger Spaß, dann einfach nicht aufzutauchen.« »Hast du sie angerufen?« »Das hatte ich vor, habe es aber doch bis zum Ende der Mittagspause verschoben. Wenn sie dann noch immer nicht hier sein sollte, versuche ich sie auf jeden Fall telefonisch zu erreichen.« 180
Der Apparat auf dem Schreibtisch klingelte. »Ich wette, das ist Dew«, sagte Norman, als er aufstand und zum Schreibtisch ging. »Sie hat heute Dienst im Sender.« Er nahm den Hörer ab. »Hier Norman Broda … Hallo, Schatz … Ja, alles läuft ganz prima … Was? … Die Brände konnten nicht eingedämmt werden und man denkt über Evakuierungsmaßnahmen nach? … Nun, das sollte ich meinen Schülern mitteilen. Vielleicht möchten einige lieber nach Hause fahren. Ruf mich sofort über das Handy an, sobald du Näheres weißt. Ich lasse es auch während des Unterrichts eingeschaltet … Also dann bis später, Süße.« »Was gibt es?« Fragend sah Ricky ihn an. »Im Norden von hier sind Waldbrände ausgebrochen und breiten sich offenbar immer weiter aus. Wegen der anhaltenden Trockenheit brennen die Sträucher und Bäume wie Zunder. Die Häuser hier oben in den Bergen sind am meisten gefährdet. Ich werde die Schüler über die Situation informieren. Vielleicht will der eine oder andere den Kurs sicherheitshalber abbrechen.« Hastig verließen sie den Raum. Norman übersah die Notiz, die ihm die Hausangestellte neben den Computer gelegt hatte. Die Kursteilnehmer nahmen ihren Lunch im großen Terrassenzimmer neben der Küche ein. Einige drängten sich auf den Sofas, andere hockten auf dem Fußboden. »Gerade habe ich einen Anruf von meiner Freundin erhalten«, verkündete Norman und klatschte in die Hände. »Sie arbeitet bei einem Lokalsender und hat von den Waldbränden in der näheren Umgebung berichtet. Sie breiten sich immer mehr aus. Unter Umständen muss die Gegend hier evakuiert werden.« Entsetztes Stöhnen wurde laut. »Falls jemand von euch den Workshop lieber abbrechen möchte, kann er kostenlos am nächsten Seminar teilnehmen. Ich möchte vor allem, dass ihr euch sicher fühlt. Im Moment sind jedoch noch keine Evakuierungen eingeleitet. Meine Freundin 181
wird mich auf dem Laufenden halten, und ich lasse mein Handy auch während des Unterrichts eingeschaltet, sodass wir sofort erfahren, wenn irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden.« Genau in diesem Moment machte sich Normans Mobiltelefon bemerkbar. Er löste es schnell von seiner Gürtelschnalle, drückte eine Taste, meldete sich und lauschte angespannt. Er schüttelte mehrfach den Kopf und schaltete das Gerät schließlich wieder aus. »Okay, meine Lieben. Die Entscheidung ist gefallen. Die Feuerwehr will kein Risiko eingehen. Noch sind die Flammen zwar nicht hier, aber ein weiteres Vordringen kann nicht ausgeschlossen werden. Wir müssen das Haus und die Gegend verlassen. Ich muss euch leider bitten, nach Hause zu fahren.« »Oh, wie schade!«, jammerte Adele. »Ich war mir ganz sicher, dass ich heute Nachmittag einen entscheidenden Durchbruch erlebe.« »Beim nächsten Mal«, vertröstete sie Norman und wandte sich Ricky zu. »Wie ist es – hast du Lust, mich zum Sender zu begleiten?« »Na klar.« In diesem Augenblick verschwendete keiner der beiden auch nur einen Gedanken an Whitney.
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inter Charles Bennett lag eine schlaflose Nacht. Er hatte ferngesehen und von Lucretias bevorstehender Hochzeit mit diesem windigen Burschen erfahren. Das ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Es war so offensichtlich, dass Edward Fields es allein auf ihr Geld abgesehen hatte. Schön und gut, er hatte ihr damals diesen ungemein profitablen Investitionstipp gegeben. Aber was bedeutete das schon? Von einer ihrer kleinen Plaudereien über den Gartenzaun hinweg wusste Charles, dass es Lucretias eigene Entscheidung gewesen war, ihre Einlagen zu einem Zeitpunkt abzuziehen, an dem noch niemand Böses ahnte. Ein Entschluss, von dem niemand sie abbringen konnte. Wäre es nach Fields gegangen, hätte sie ihr Geld weiterhin belassen, wo es war, und schließlich alles verloren wie die anderen Investoren auch. Wie bezaubernd Lucretia doch ist, dachte er. Und so lebendig! Seit dem Tod seiner Frau vor fünf Jahren kümmerte er sich nur noch um seinen Garten und hegte keinerlei Interesse an Begegnungen mit der holden Weiblichkeit. »Doch nicht mehr in meinem Alter!«, erklärte er jedem, der mehr oder weniger diskret seine Kupplerdienste anbieten wollte. Charles erinnerte sich daran, in welche Verwirrung und Verlegenheit ihn die Annäherung an das andere Geschlecht bereits früher schon gestürzt hatte. Bereits mit Anfang zwanzig kam ihm häufig der unangenehme Verdacht, dass viele Mädchen nur mit ihm ausgehen wollten, weil er es beim Film zu einigem Ruhm gebracht hatte. Als er schließlich seine spätere Frau kennen lernte, empfand er das als große Erleichterung. Er erkannte auf Anhieb, dass er die Richtige getroffen hatte und sich künftig um Verabredungen und Rendezvous keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Und so war es auch – siebenundfünfzig Jahre lang. 183
Am Tag ihres Einzugs wollte er Lucretia Standish eigentlich ganz unverbindlich zu einem kleinen Abendessen in seinem Haus einladen. Sie standen gerade im Garten und wechselten ein paar höfliche Worte über den Zaun, als dieser pomadige Gauner erschien und sie »Liebling« nannte. Charles wusste, dass das als warnender Hinweis in seine Richtung gedacht war, und entfernte sich angewidert. Seither unterließ er es zwar nie, Lucretia einen Gruß zuzurufen, beschäftigte sich aber angelegentlich mit seinen Rosen, sobald Edward Fields auftauchte. An diesem Morgen hatte er seine müden Knochen irgendwann aus dem Bett gehievt und war nach dem Frühstück in den Ort gefahren, um ein paar Dinge zu erledigen. Unter anderem wollte er ein Geschenk für Lucretia kaufen. Als er zurückkam, parkte der Übertragungswagen eines Fernsehsenders vor dem Nachbarhaus und Angestellte der Cateringfirma stellten im Garten Tische auf. Ein Kameramann wanderte herum und filmte das Geschehen. Noch war sich Charles nicht ganz schlüssig, ob er Lucretias Einladung zur Hochzeit folgen sollte oder nicht. Würde er mit seiner Teilnahme nicht ein gewisses Einverständnis andeuten? Und davon konnte beileibe keine Rede sein. Lucretia konnte nichts gewinnen, aber viel verlieren. Er machte sich wirklich große Sorgen um sie: Wer konnte schon wissen, wozu dieser Kerl sonst noch fähig war? Er fragte sich, was Phyllis von der ganzen Sache hielt. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitete sie nebenan als Haushälterin. Charles kannte sie zwar nicht besonders gut, war ihr jedoch häufig bei den Partys der früheren Besitzer begegnet. Die Howards … Er musste lachen. Sehr nette, aber irgendwie sonderbare Leute waren das gewesen. Sie schienen nicht einmal etwas dagegen zu haben, dass Phyllis einen ihrer Partygäste buchstäblich auf Knien anflehte, ihr eine Chance in einer Quizshow zu geben. Der Produzent brauchte seine ganze Diplomatie, um Phyllis verständlich zu machen, dass er sie nicht als Kandidatin benennen könne, weil er sie einige Male persön184
lich getroffen habe, und nach den Betrugsskandalen der fünfziger Jahre bei den Sendern sehr strenge Regeln galten. Charles machte sich eine Tasse Tee und setzte sich mit der Zeitung ins Esszimmer. Er überflog die Schlagzeilen, konnte sich aber nicht recht konzentrieren. Immer wieder wanderten seine Gedanken ins Nachbarhaus. Ich weiß, was ich mache, beschloss er endlich. Lucretias Rolls ist nicht da. Vielleicht sollte ich hinübergehen, mein Geschenk abgeben und versuchen, ein bisschen mit Phyllis zu plaudern. Mich mit ihr über die Situation auszutauschen. Natürlich werde ich kaum etwas ändern können, aber es kann ja nicht schaden, es einmal zu versuchen.
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ex versteckte sich hinter dem dicken Stamm einer Eiche und ließ die Frau nicht eine Sekunde aus den Augen. Jetzt schlenderte sie gemächlich durch die Weinfelder auf die Lodge zu. Nachdem er sie ein paar Minuten lang intensiv beobachtet hatte, erkannte er sie endlich: Es war die Frau aus dem Souvenirladen! Aber warum wühlte sie in der Erde? Was suchte sie denn da nur? Und dann auch noch in ihrer Mittagspause. Das waren beunruhigende Entwicklungen. Wenn sie zufällig Whitney im Schuppen entdeckte, war alles verloren. Noch vierundzwanzig Stunden, dachte er. In vierundzwanzig Stunden ist es überstanden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass weit und breit niemand mehr zu sehen war, rannte Rex zum Schuppen hinüber, huschte hinein und zog hastig die Tür hinter sich zu. Sein Herz begann heftig zu klopfen. Aus der Ecke, in der der Jeep versteckt war, erklangen dumpfe Geräusche. Whitney musste den Verstand verloren haben. Sie versuchte anscheinend, Aufmerksamkeit zu erregen. Rex raste zum Jeep und riss die Hintertür auf. »Lassen Sie das«, knurrte er. »Damit machen Sie mich nur wütend und das kann nicht in Ihrem Interesse sein.« Whitney erstarrte. »Da bin ich so nett, Ihnen etwas zu essen zu bringen, und wie danken Sie es mir?« Whitneys ganzer Körper verspannte sich. Ihr entging nicht, wie nervös dieser Mann war, und das konnte gefährlich werden. Sie nahm sich fest vor, ihn auf keinen Fall noch weiter zu reizen.
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»Hier, ein Sandwich und eine Flasche Wasser. Und da hinten in der Ecke gibt es einen Abtritt, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Er ist sicher nicht das luxuriöseste aller WCs, aber irgendetwas sagt mir, dass Ihnen das nichts ausmacht. Wenn Sie auf dumme Gedanken kommen, mache ich Sie kalt. Und dann marschiere ich ins Haus und erschieße auch Ihre Familie. Ist das klar?« »Ich muss aber gar nicht«, stammelte Whitney so abweisend, wie es der Knebel in ihrem Mund zuließ. Falls er glaubte, sie erniedrigen zu können, indem er neugierig Wache stand, während sie sich »erleichterte«, unterlag er einem schweren Irrtum. Sie war allerdings heilfroh, dass sie heute früh vor dem Weggehen nichts getrunken hatte. »Donnerwetter, Sie scheinen ja eine strapazierfähige Blase zu haben!«, tat er verwundert. »Und einen ziemlich eigenen Kopf. Ich wette, Sie lehnen auch mein Angebot ab, Ihnen für Ihr Lunch kurz die Fesseln zu lösen.« Er warf den Plastikbeutel auf die Ladefläche des Jeeps. »Allerdings dürfte es Ihnen nicht gerade leicht fallen, in Ihrer verschnürten Lage zu essen.« Rex musste sich beherrschen, die Jeeptür nicht laut zuzuschlagen, und verließ schnell den Schuppen. Als er auf den Bach zulief, beschloss er, auf einem anderen Weg zum Haus zurückzukehren. Er würde eine kleine Wanderung den Hügel hinauf unternehmen, um dann sehr viel näher an der Lodge wieder aufzutauchen. Sollte er beobachtet werden, sah es so aus, als käme er aus einer ganz anderen Richtung. Eins war klar: Er wollte Altered States so schnell wie möglich weit hinter sich lassen. Sobald Eddie eintraf, würde er diskret ein paar Takte mit ihm reden und dann verschwinden. Falls die Frau aus dem Souvenirladen Whitney fand, bekäme er ernste Probleme, und davon hatte er bereits mehr als genug. Rex kannte die Polizei und ihre Methoden nur zu gut. Sollten sie Whitney befreien, würden sie ihm die Entführung anhängen und auch nachweisen können. Auch wenn Whitney ihn vermutlich 187
nicht zu identifizieren vermochte, würde die Polizei mit Sicherheit einige Fasern von seiner Kleidung in ihrem Auto entdecken. Er musste unbedingt mit Eddie sprechen. Und ihn auch vor dieser Regan Reilly warnen, denn ihm war nicht entgangen, wie sie ihn während der Meditationsstunde unter die Lupe genommen hatte. Sie war entschieden zu neugierig. Der Weg bergan brachte Rex bald ins Schwitzen. Was als bequemer Job begonnen hatte, wurde zunehmend riskanter. Wer hätte auch ahnen können, dass Eddie landesweit im Fernsehen zu bewundern sein würde? Und wer hätte damit gerechnet, dass eine Privatdetektivin den Auftrag erhielt, nach Whitney zu suchen? Wer wäre auf den Gedanken gekommen, dass so eine blöde Kuh, die auf dem Weingut arbeitete, nichts Besseres zu tun haben würde, als ausgerechnet hinter diesem Schuppen in der Erde zu wühlen? Als Rex oben auf dem Hügel angekommen war, glaubte er von fern Rauch riechen zu können und erinnerte sich an die Berichte über Waldbrände nördlich von Altered States. Er blickte auf den Schuppen hinunter, der weit abseits von den anderen Gebäuden stand. Wenn die Flammen das Weingut erreichten, würde ihm vermutlich die wenigste Sorge gelten. Bei dem Gerümpel, das er enthielt, waren sie möglicherweise sogar froh, wenn er niederbrannte. »Tut mir echt leid, Whitney«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Sieht ganz so aus, als würden Sie keine Chance erhalten, an der Hochzeit Ihrer Tante Lucretia teilzunehmen. Oder an irgendeiner anderen Hochzeit. Ich wünschte wirklich aufrichtig, Ihnen da heraushelfen zu können.« Abrupt drehte er sich um und schwor sich, keinen weiteren Blick auf den Schuppen oder Whitney zu verschwenden. Nie wieder.
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n dem Apartment auf der Lower East Side, das dem kürzlich geschnappten Kunstdieb gehörte, suchten zwei New Yorker Polizisten nach Beweisen. Sie stellten einen Computer, Adressbücher, persönliche Unterlagen, einen Anrufbeantworter und eine ID-Box sicher. In der Box waren die letzten hundert Anrufe gespeichert. Eine schnelle Überprüfung ergab, dass die meisten von ihnen über Mobiltelefone erfolgt waren. Die Identifizierung stellte kein größeres Problem dar, da die meisten in New York benutzten Handys mit den Zahlen 9-1-7 begannen. Die aufgezeichneten Anrufe stammten ausnahmslos aus der letzten Woche. »Ich bin schon sehr gespannt, wem diese Nummern gehören«, bemerkte einer der beiden Beamten. In einem Schrank entdeckten sie Skimasken und Einbruchswerkzeug, aber auch Gemälde, Orientteppiche, antike Uhren, Silbergegenstände, Porzellan und feingeschliffene Gläser – alles offensichtlich gestohlen. »Immerhin hat er einen ausgezeichneten Geschmack«, murmelte er. »Na, wenn das nicht hinreißend ist!«, rief sein Kollege, streckte die Hand nach einem Regalbrett aus und griff nach einem hinter Schnickschnack und Nippes halb verborgenen Foto. »Was hast du entdeckt?« Neugierig trat sein Partner näher. »Sieh mal. Stehen da wie ein Barbershop-Quartett, allerdings ohne die üblichen Hüte und Fliegen. Dafür mit identischen Tattoos.« »Heiliger Strohsack!« Vier Männer, die nicht unbedingt den Eindruck ehrenwerter Bürger machten, präsentierten stolz ihre blanken Bäuche. Das 189
Bild war eindeutig in einer Bar aufgenommen, nachdem die Truppe schon etliche Gläser geleert hatte. Jeden Bauch zierte oberhalb des Nabels eine Tätowierung: ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. »Ungemein sexy, was? Ich habe so eine leise Ahnung, dass diese Burschen mehr verbindet als gemeinsame Barbesuche und eine Vorliebe für Tätowierungen.«
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h, das ist aber hübsch hier!«, staunte Nora und sah sich bewundernd in dem großen, behaglichen Empfangsraum
um. Lilac schaute geschmeichelt. »Danke. Manchmal bin ich richtig stolz auf das, was wir bereits geschafft haben.« »Regan hat uns erzählt, dass Sie das Weingut erst seit kurzem bewirtschaften.« »So ist es«, bestätigte Lilac und trat hinter die Rezeption. »Ich hatte gar keine Ahnung, wie viel Wein in dieser Gegend produziert wird«, fuhr Nora fort. Lilac lachte. »Dabei ist man gerade erst dabei, die Küstenregion Zentralkaliforniens für den Weinanbau zu entdecken – aber vielleicht sollte ich sagen: ›wieder‹ zu entdecken. Vor gut hundert Jahren gab es im Bezirk Santa Barbara eine ganze Reihe von Weingütern, die dann wegen der Prohibition schließen mussten. Wie auch Altered States. Erst neunzehnhundertzweiundsechzig hat hier die erste Kellerei wieder geöffnet. Inzwischen schießen neue Winzereien buchstäblich aus dem Boden.« »Das Klima ist angenehm, die Landschaft atemberaubend, Santa Barbara liegt nahe – selbst Los Angeles. Man ist nirgendwo weit vom Meer entfernt und hat die Berge quasi hinter der Tür.« Nora sah ihren Mann an. »Vielleicht sollten wir uns hier ein Haus anschaffen.« Luke legte einen Arm um sie. »Das sagst du jedes Mal, wenn es dir irgendwo gefällt.« »Mag sein …« Sie seufzte. Regan half ihren Eltern, ihr Gepäck in das Zimmer am Ende des Flurs zu schleppen, das Lilac für sie vorgesehen hatte. 191
»Vermutlich hatte sie so eine Vorahnung, dass ihr kommen würdet. Mein Zimmer ist erheblich kleiner.« »Wir zahlen ja auch dafür«, bemerkte Luke trocken. »Nun, ich frage mich, wo sie Lucretia wohl unterbringen wird.« Regan setzte sich auf das Sofa und blickte auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach zwei. »Und was habt ihr für den Nachmittag geplant?« »Lilac sagte, sie würde gegen fünf gern ein Glas Wein auf der Terrasse mit uns trinken.« Nora wandte sich ihrem Mann zu, der sich bereits auf dem Bett ausgestreckt hatte. »Was willst du bis dahin unternehmen, Schatz?« »Sei doch nicht so hektisch. Ich fühle mich hier im Moment ausgesprochen wohl.« Nora lachte. »Zugegeben, auch ich hätte gegen ein kleines Nickerchen nichts einzuwenden. Danach könnten wir vielleicht einen kleinen Spaziergang machen.« »Direkt gegenüber liegt der Souvenirladen«, informierte Regan ihre Mutter. »Und ich bin mir sicher, dass Earl gerne mit euch meditieren würde.« »Nein, vielen Dank«, murmelte Luke. »Das habe ich mir schon gedacht«, grinste seine Tochter. Sie stand auf. »Ich werde versuchen, Whitney zu erreichen. Auch wenn sich ihre Mutter keine Sorgen zu machen scheint – ich tue es schon. Aber entspannt euch doch erst mal ein bisschen. Ich bleibe in der Nähe.« Ohne Vorwarnung durchbrach ein ohrenbetäubendes Motorengeräusch die friedliche Stille des Raums. Entsetzt sprangen die drei hoch. »Was ist denn das?«, schrie Nora. »Keine Ahnung!« Regan raste zur Tür, dicht gefolgt von ihren Eltern. Lilac war bereits vor das Haus gerannt. In offensichtlicher Panik, denn die Tür stand sperrangelweit offen.
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Auf dem Parkplatz scharten sich einundzwanzig chromblitzende Motorräder um einen weißen Rolls-Royce. »Mom, Dad – wenn ich mich nicht irre, ist Lucretia soeben eingetroffen.«
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amstags fuhren Polly und Sarah gern ins Zentrum von San Luis Obispo. An den Wochenenden wimmelte der Ort von Studenten der Cal Poly, wie die California Polytechnic State University knapp, aber liebevoll genannt wurde. San Luis Obispo lag dreißig Kilometer von der Küste entfernt und war eine bezaubernde Kleinstadt inmitten üppig grüner Berghänge. Polly und Sarah hatten ihre Kindheit und Jugend zwischen diesen Hügeln verbracht und waren nun zurückgekehrt, um ihre Tage in der Stadt zu beschließen, in der sie das Licht der Welt erblickt hatten und in der 1925 das Motel erfunden wurde, wie sie gern betonten. Man könnte sich vielleicht fragen, warum die alten Damen ausgerechnet an dem Tag der Woche ins Zentrum fuhren, an welchem es förmlich aus den Nähten platzte. Aber die beiden empfanden es einfach als eine Art Jungbrunnen, all die jungen Leute in den Cafés sitzen, Einkäufe machen und über die von Bäumen gesäumten Straßen bummeln zu sehen. »Samstags ist es am lebendigsten«, erklärten sie. »Samstags und am Donnerstagnachmittag, wenn der Farmermarkt stattfindet.« Vor dem Frühstück warfen sie einen Blick in ihr elektronisches Postfach, aber noch war keine Nachricht von Lucretia eingetroffen. »Hältst du es für möglich, dass sie uns einfach ignoriert?«, fragte Polly. Sarah trank einen Schluck Kaffee und dachte kurz nach. »Das glaube ich nicht. Wir haben unsere E-Mail gerade erst gestern Abend an den Sender geschickt. Möglicherweise hat Lucretia sie
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noch gar nicht erhalten. Aber vielleicht steht ihre Nummer ja im Telefonbuch von Beverly Hills.« »Kommt nicht in Frage! Wir laufen ihr doch nicht hinterher. Aber wenn das Fernsehen von uns unbedingt etwas über das Geheimnis wissen will, dann bitte …« »Polly! Du durchtriebene alte Schachtel!« Sarah kicherte leise und biss genüsslich in eins der Blaubeer-Muffins, die sie gestern Abend gebacken hatte. Meine schmecken viel besser als ihre, dachte sie. Aber Polly bestand darauf, hin und wieder auch zu backen. Leider war sie beim Abmessen der Zutaten immer sehr nachlässig. Das trieb Sarah jedes Mal an den Rand des Wahnsinns. Nach dem Frühstück fuhren sie in die Stadt. Sarah saß hinter dem Steuer, denn Polly hatte das Autofahren seit längerem aufgegeben. Sie parkten den Wagen, schlenderten durch die Straßen, erledigten ihre Einkäufe und gingen schließlich zu einem kleinen Imbiss in ihr Lieblingscafé. Auf ihre Bitte hin bekamen sie einen Tisch im Freien, denn sie wollten sich nichts von dem lebhaften Treiben auf der Straße entgehen lassen. Es war ein angenehm sonniger Tag. Wie sonst auch immer würden sie ihren Lunch einnehmen und danach gemütlich eine Tasse Tee trinken, bevor sie sich schließlich wieder auf den Heimweg machten. Polly und Sarah saßen an einem Randtisch, direkt neben einem Zeitungskiosk, dessen Inhaber einen Ständer mit Zeitschriften und Zeitungen vor die Tür gestellt hatte. Sarah musterte das vielfältige Angebot und kniff die Augen zusammen, um eine der Schlagzeilen besser lesen zu können. »Verdammt«, äußerte sie leise. »Was hast du?« Polly musterte sie erstaunt. »Willst du lieber woanders sitzen, oder was?« »Großer Gott, nein!« Sarah sprang auf. »Ich komme gleich wieder.« Da die Tische im Freien eingezäunt waren, musste sie 195
zunächst in das Restaurant und dann durch eine andere Tür wieder hinaus. »Wohin willst du denn?«, rief Polly ihr nach. Aber Sarah ignorierte sie. Sie trat an den Kiosk und kaufte ein Exemplar der Luis Says. Das älteste Lokalblatt von San Luis Obispo und Umgebung wurde von Thaddeus Washburne Jr. geleitet, dem siebzigjährigen Sohn des Zeitungsgründers. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: WIEDER IM RAMPENLICHT: UNSERE LUCRETIA STANDISH. Die rechte obere Ecke der ersten Seite zierte ein Foto von Lucretia. Sarah bezahlte die Zeitung und eilte ein wenig kurzatmig an ihren Tisch zurück. »Was sagst du dazu?«, fragte sie Polly, die beschlossen hatte, sich einfach zurückzulehnen und erst einmal abzuwarten, bis Sarah sich wieder im Griff hatte. Hin und wieder gingen eben die Pferde mit ihr durch. »Wozu?« »Hier ist ein Bericht über Lucretia.« Polly beugte sich vor. »Und?« Sarah blätterte um. »O mein Gott!« »Was ist?« Sarahs Mund bewegte sich, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Polly lehnte sich wieder zurück. Wir kommen schon zum Punkt. Wann immer Sarah auch diesmal wieder so weit sein würde. Kopfschüttelnd blätterte Sarah erneut um. »Grundgütiger Himmel!« »Was?« »Hier ist ein Foto von uns dreien, wie wir auf diesem Fest damals am Strand die Beine schwenken.«
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»Gib her!« Polly riss Sarah das Blatt aus den Händen. Das Foto von Lucretia, Polly und Sarah trug die Unterschrift: Lucretia Standish mit zwei unbekannten Freundinnen beim großen Strandfestival. Vermutlich 1919. »Unbekannt?«, fauchte Polly. »Wie kommt es, dass sie unsere Namen nicht kennen?« »Und woher haben sie das Bild? Ich glaube nicht, dass es mir jemals unter die Augen gekommen ist.« Polly vertiefte sich in den Artikel. »Viel Neues steht nicht drin«, erklärte Sarah schnell. »Lass uns zahlen und auf dem Rückweg bei der Redaktion vorbeifahren. Wir sollten ihnen klar machen, wer wir sind, damit sie eine Richtigstellung bringen können.« »Du bist ganz schön mutig.«
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rank und Heidi hatten an diesem Tag kein Glück. Sie waren bei zwei weiteren Geldgebern gewesen, aber nur einer hatte einen Scheck ausgeschrieben. Über magere tausend Dollar. »Das reicht nicht einmal für die Doughnut-Rechnung«, maulte Heidi. »Wir sitzen bis zum Hals in der Tinte, Kipsman, und das ohne Rettungsring.« Sie fuhren auf der 101 nach Norden. Frank konnte es noch immer kaum fassen, dass sic zu dem Weingut wollten, das Whitneys Familie gehörte. Doch er wagte nicht, darüber mit Heidi zu sprechen. Auch nicht über seine Vermutung, dass Lucretia Standish irgendwie mit Whitney verwandt sein musste. In diesem Fall wäre sie vielleicht bereit, in den Film zu investieren, weil Whitney darin eine große und erfolgversprechende Rolle spielte. Aber zwei Dinge bereiteten Frank Sorgen. Würde es Whitney nicht in Verlegenheit bringen, wenn ihre Kollegen vom Film eine Verwandte von ihr um Geld anschnorrten? Noch mehr beunruhigte ihn allerdings, dass sie sich noch immer nicht gemeldet hatte. Wo war sie nur? Natürlich wäre es unmöglich gewesen, in Heidis Gegenwart mit ihr zu sprechen, aber er hatte mehrmals seine Mailbox überprüft. Kein Lebenszeichen von Whitney. Hatte er sie vielleicht aus irgendeinem Grund verärgert? War sie wütend auf ihn? Und was wäre, wenn sie sich überraschend zu einem Besuch auf Altered States entschlossen hatte? »Das Drehbuch ist doch gut, oder?«, vergewisserte sich Heidi, plötzlich verunsichert. »Es ist phantastisch. Und ich bin fest überzeugt, dass wir mit dem Film einen echten Hit landen.« Er zögerte. Ich darf ihr nicht 198
verschweigen, dass wir auf dem Weg zu Whitneys Familie sind, dachte er, denn sie neigt bei ihren Bemühungen um die Finanzierung meist zu eklatanten Übertreibungen. Sie log zwar nicht direkt, verbreitete aber mitunter doch eine ganze Menge heißer Luft. Und sie würde ziemlich dumm dastehen, wenn sich herausstellte, dass Whitney mit den Weingutbesitzern verwandt ist. Nein, es wäre auf jeden Fall besser, Heidi rechtzeitig zu informieren. Dann kann sie betonen, wie begabt Whitney ist, wie gut in dieser Rolle, und dass der Film einen Durchbruch in ihrer Karriere bedeute – was ja auch stimmte. »Wie heißt dieses Weingut doch gleich?«, fragte Frank beiläufig. Heidi blickte in ihr Notizbuch. »Altered States.« »Seltsam«, begann er nachdenklich, »aber irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Wo habe ich ihn nur schon mal gehört? Hm … Ah, jetzt weiß ich es wieder. Das ist das Weingut von Whitneys Familie.« »Was? Ihre Familie besitzt ein Weingut?« Heidi musterte ihn ungläubig. Dann warf sie einen Blick in ihr Notizbuch. »Moment mal! Lucretia Standish hat gesagt, dass sie ihre Nichte und ihre Neffen besuchen möchte. Dann sind die beiden also miteinander verwandt.« Ein breites Lächeln überzog Heidis Gesicht. »Das könnte unsere Chance sein. Sie dazu zu bewegen, sich finanziell an unserem Film zu beteiligen.« »Hoffen wir es.« Frank schaltete das Radio an. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass Whitney auf irgendeine Weise in Schwierigkeiten steckte. Nun, ich werde bald genug Näheres erfahren, sagte er sich. »Wann hat Whitney dir denn erzählt, dass ihrer Familie ein Weingut gehört?«, erkundigte sich Heidi neugierig. Das war ja zu erwarten, dachte Frank resigniert. Auf ihre Art war Heidi eine gute Produzentin und er arbeitete gern mit ihr zusammen. Wenn er sie doch nur davon abbringen konnte, sich
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gewisse Hoffnungen auf ihn zu machen. »Bei ihrem ersten Vorsprechen.« »Wie ist dieses Thema denn zur Sprache gekommen?«, bohrte Heidi hartnäckig weiter. Frank seufzte. »Irgendwann meinte ich, dass Whitney Weldon kein schlechter Name für eine Schauspielerin sei. Dass er ausgesprochen gut klingen würde. Sie lachte und fragte: ›Und was halten Sie von Freshness Weldon?‹« »Freshness Weldon?« Heidi verzog das Gesicht. »Ihre Mutter war früher mal ein Hippie. Sie gab ihrer Tochter diesen Namen, weil am Tag der Geburt die Luft so frisch und klar war. Und dann fügte sie hinzu, dass ihre Mutter das Weingut ihrer Familie auch noch ›Altered States‹ genannt hätte.« Frank lachte. »Sie war unglaublich witzig, als sie das erzählte.« »Wie originell!«, kommentierte Heidi knapp. »Sonderbar, dass es bei dem Namen Altered States nicht gleich bei dir geklingelt hat. An Whitneys Geschichte erinnerst du dich im Gegensatz dazu ja sehr genau.« Sie wühlte in ihrer Handtasche und zog ihr Mobiltelefon heraus. »Aber jetzt muss ich unbedingt meine Assistentin anrufen.« Frank atmete erleichtert auf. Bei dir wird mit Sicherheit niemand auf den Gedanken kommen, dich Freshness zu nennen, dachte er. Aber Whitney ist Freshness. Und so nenne ich sie künftig auch. Sie wird darüber lachen. Auf ihre eigene, unnachahmliche Art. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.
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st das zu fassen?«, flüsterte Nora, als sie vom Eingang zur Lodge aus zusahen, wie Lucretia in Filmstarpose dem RollsRoyce entstieg und der schnell größer werdenden Schar von Schaulustigen huldvoll zuwinkte. Earl war mitten in einer Meditationsstunde, als die Limousine mitsamt ihrer Motorrad-Eskorte heranbrauste. Auf einen Schlag löste sich die friedliche Stille im Studio in nichts auf. Earls Worte über die Meditation als Pfad zur Erleuchtung verhallten ungehört. Wie auf Kommando sprangen seine Schüler von ihren Matten hoch und stürzten zur Tür. »Bewahrt doch die Ruhe! Bitte mehr Gelassenheit!«, rief Earl, aber natürlich nutzte es nichts. »Verbünde dich mit dem, was du nicht verhindern kannst«, murmelte er ergeben vor sich hin und eilte ebenfalls hinaus, um den Grund der allgemeinen Aufregung zu erkunden. Einen Moment später starrte die ganze Gruppe wie gebannt auf die Neuankömmlinge. Ein Kamerateam filmte emsig: die Road’s Scholars auf ihren blitzenden Maschinen, Lucretias unermüdliches Winken und die Reaktionen der Zuschauer, die neugierig und aufgeregt aus Souvenirladen und Meditationszentrum strömten. »Und das da ist offensichtlich der zukünftige Mr Lucretia Standish«, bemerkte Regan, als Edward Fields aus dem Auto stieg. Eine große Sonnenbrille verdeckte die Hälfte seines Gesichts. Er sah aus wie jemand, der soeben eine Augenoperation hinter sich gebracht hatte und unter gar keinen Umständen erkannt werden wollte. »Gehen wir auch hinüber«, sagte Regan zu ihren Eltern. Lilac, Earl und Leon gingen gemeinsam Lucretia entgegen und begrüßten ihre Tante respektvoll. Ihr Onkel Edward in spe hielt sich dezent im Hintergrund, ganz wie es einem Prinzgemahl 201
zukam. Die Motorradfahrer waren von ihren Maschinen gestiegen und nahmen die Helme ab, als hätten sie die Absicht, länger zu bleiben. Regan kam es so vor, als würden einige vor der Kamera regelrecht posieren. »Was für ein Theater!«, wisperte Regan ihren Eltern zu, als Lilac sie zu sich winkte. »Kommen Sie, ich möchte Sie mit unserer Tante bekannt machen. – Lucretia, das sind Luke und Nora Regan Reilly.« Nora und Luke schüttelten Lucretias Hand. »Nora Regan Reilly? Die Schriftstellerin? Wie schön! Ich habe alle Ihre Bücher gelesen!«, jubelte Lucretia. »Das freut mich.« »Und das ist Regan Reilly, die Tochter«, fuhr Lilac fort. »Sie arbeitet als private Ermittlerin. Wir haben sie gebeten, uns bei der Suche nach Whitney zu helfen, die leider zu einem Wochenendausflug aufgebrochen ist, bevor wir sie über die Hochzeit informieren konnten.« »Und haben Sie sie gefunden?«, fragte Lucretia Regan aufgeregt. »Sie kam gestern ganz überraschend nach Hause. Heute nimmt sie an einem Schauspielseminar teil, ist aber morgen früh rechtzeitig wieder hier.« »Wundervoll! Ich freue mich schon darauf, mit ihr über ihre Arbeit zu sprechen.« Lucretia gefiel Regan auf Anhieb. Dieses zierliche Persönchen schien ein wahres Energiebündel zu sein. Aber als Regan Edward Fields begrüßte, verspürte sie sofort eine instinktive Abneigung. Seine Hand war schweißfeucht, der Griff lasch und er wirkte sehr distanziert. »Freut mich, Sie kennen zu lernen. Wenn ich mich nicht irre, sind Sie Edward Fields, nicht wahr?« »Ja.« Sonnenbrille oder nicht – er blickte eindeutig an ihr vorbei. 202
So etwas kann ich auf den Tod nicht ausstehen, dachte Regan und wandte den Kopf, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit derartig fesselte. Don, ihr Nachbar aus dem Meditationskurs, kam auf die Gruppe zugeschlendert. Sein Totenkopf ist nichts im Vergleich zu den Tätowierungen der Biker, schoss es Regan durch den Kopf. »Diese netten Jungs haben uns hierher begleitet.« Lucretia zeigte auf die Road’s Scholars. »Und morgen kommen sie zur Hochzeit. Wir haben sie unterwegs in einer Raststätte kennen gelernt und Dirt hat sogar eine kleine Spritztour mit mir unternommen.« »Wie freundlich«, murmelte Leon zurückhaltend. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel, eine Bande wie diese Road’s Scholars auf seinem Anwesen zu haben. »Wie wäre es mit einem Glas Wein für alle?«, rief Lilac mit lauter Stimme. »Keine Drinks, wenn wir unterwegs sind«, verkündete Dirt jedoch mit der Autorität eines Anführers. »Wir genehmigen uns erst einen Schluck, wenn wir unser Tagesziel erreicht haben.« »Und wo wollen Sie übernachten?«, erkundigte sich Lilac. »Das wissen wir noch nicht. Wir haben Isomatten dabei. Irgendwo, wo es uns gefällt.« »Bleiben Sie doch hier!«, rief Lucretia. »Das wäre bestimmt ein großer Spaß. Und morgen können wir alle gemeinsam nach Beverly Hills fahren. Ganz stilvoll, mit Eskorte.« »Es wäre uns selbstverständlich eine Freude, Sie zu beherbergen«, meinte Lilac zögernd. »Ich fürchte nur, wir haben nicht genug Zimmer.« »Wir schlafen unter den Sternen«, erklärte Dirt. »Bei unseren Wochenendtrips nehmen wir es so, wie es kommt.« »Meine Tochter unternimmt auch sehr gern Fahrten ins Blaue«, erzählte Lilac. 203
»Wir weniger«, murmelte Leon. »Was hast du gerade gesagt?«, fragte ihn Lucretia. »Oh, nichts Wichtiges. Wir machen uns nur Sorgen, dass Whitney verschwunden ist und wir sie nicht erreichen können.« Vor allem, weil Millionen Dollar auf dem Spiel stehen, dachte Regan. »Sie können gern hier unter unseren Sternen schlafen«, lächelte Lilac. »Und selbstverständlich sind Sie alle zum Dinner eingeladen.« »Lassen Sie nur. Wir möchten Ihnen nicht zur Last fallen. Uns kam es vor allem darauf an, diese Lady hier wohlbehalten ans Ziel zu bringen. Wir möchten auf keinen Fall, dass ihr irgendetwas zustößt«, fügte Dirt hinzu, blickte Edward an und grinste beziehungsreich. Sehr interessant, dachte Regan. Die Jungs haben Edward offenbar durchschaut. Es entging ihr nicht, dass sich Edward nervös lächelnd mit der Hand über die Stirn fuhr. Leon bemerkte, wie sympathisch Lucretia die Road’s Scholars zu sein schienen. Und wir haben allen Grund, sie bei Laune zu halten, dachte er. »Es wäre uns wirklich eine Freude, wenn Sie bleiben würden«, erklärte er mit Bestimmtheit. »Sie fallen uns nicht zur Last.« Dirt lehnte sich gegen sein Motorrad, verschränkte die Arme vor der Brust und verfiel in tiefes Grübeln. Die Kamera richtete sich auf ihn, filmte jede seiner Gesten. Er blickte seine Kumpel an. Keiner zuckte auch nur mit der Wimper. Er drehte sich wieder um. »Okay, wir nehmen Ihr Angebot gern an. Allerdings unter einer Bedingung: Wir besorgen alles für das Dinner. Haben Sie einen Grill?« »Sogar einen recht großen«, erwiderte Lilac stolz. »Hinten auf der Terrasse.«
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»Gut. Wir holen Burger, Hot Dogs, vielleicht auch Maiskolben, Kartoffelsalat und so etwas. Und dann probieren wir Ihren Wein.« Lucretia sprang von einem Fuß auf den anderen. »Ist das nicht toll, Edward? Wir veranstalten ein richtiges ProbeHochzeitsessen.« Ihr Verlobter verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. Regan beschlich das untrügliche Gefühl, dass Edward Fields die Situation nicht annähernd so erfreulich fand wie Lucretia. Bestimmt wünscht er uns alle zum Teufel, dachte sie. Er will sie so schnell wie möglich heiraten, um endlich an ihr Geld zu gelangen. Dirt räusperte sich. »Wie ich von Lucretia weiß, haben Sie sich alle heute erst persönlich kennen gelernt. Daher halten wir es für angebracht, Sie erst einmal allein zu lassen, während wir uns ein bisschen in der Gegend umsehen und die Einkäufe erledigen. Gegen sechs kommen wir wieder und heizen den Grill an. Und dann stoßen wir gemeinsam auf das glückliche Paar an. Na, wie klingt das?« »Großartig!«, strahlte Lilac. »Könnten Sie vielleicht auch ein paar Truthahn-Burger mitbringen?« »Kein Problem.« Während die Biker zu ihren Maschinen gingen und Lucretia begann, jedem zu erzählen, wie glücklich sie doch war, trat einer der Road’s Scholars auf Edward zu. Regan hörte, wie er ihn fragte, ob er ihm etwas Besonderes mitbringen sollte. »Sie scheinen mir ja eher der Hühnchen-Typ zu sein«, sagte der Biker mit einer ganz eigentümlichen Betonung. »E … ein normaler H … Hamburger genügt v … völlig, d … danke«, stotterte Edward. Sonderbar, dachte Regan. Aber war nicht alles recht sonderbar? Was eigentlich ein gemütlicher Abend im Familienkreis 205
hätte werden sollen, uferte nun zu einem riesigen Barbecue mit einer Horde Biker aus, die vor den Fenstern der Lodge schlafen würden. Aber das bereitete ihr die geringsten Sorgen. Sie fragte sich vielmehr, was mit Whitney los war. Sie hatte noch immer nicht zurückgerufen und das beunruhigte sie sehr. Als die Motorräder unter Hinterlassung beträchtlicher Staubwolken in der Ferne verschwanden und die Meditationsjünger und Weinverkoster wieder ihren jeweiligen Beschäftigungen nachgingen, machte sich der Rest der Gruppe auf den Weg in die Lodge. Lilac wandte sich an das Fernsehteam. »Wollen Sie nicht mit hineinkommen?« »Danke, aber wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir jetzt gern noch ein paar Ansichten vom Weingut filmen«, antwortete der Kameraassistent. »Und dann müssen wir leider wieder nach Santa Barbara zurück.« »Kommen Sie mit«, schlug Leon vor. »Ich werde Ihnen meine Anlagen und Maschinen zeigen. Dann können Sie sich mit Ihren eigenen Augen davon überzeugen, wie guter Wein gekeltert wird.« Und dann geschah noch etwas, was Regan stutzen ließ. Als Edward das Gepäck aus dem Rolls-Royce hieven wollte, tauchte plötzlich Don Lesser hinter den Bäumen auf und bot ihm seine Hilfe an. Sie wusste nicht warum, aber es kam ihr merkwürdig vor. Jetzt rufe ich drinnen erst einmal Whitney an, dachte sie. Und dann würde ich doch zu gern kurz mit Jack sprechen.
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ella fühlte sich einem Nervenzusammenbruch bedenklich nahe. Sie hatte jedes Wort gehört, das auf dem Parkplatz gewechselt worden war. Diese irren Typen würden also die Nacht hier verbringen! Und wenn sie sich nun auf dem Gelände herumtrieben und dabei die ausgehobenen Gruben und die Erdhaufen hinter dem Schuppen entdeckten? Sie wäre ertappt. Oder Lilac und ihre Brüder könnten selbst zu graben anfangen und Grandpa Wards Schatz finden. Das durfte unter keinen Umständen geschehen. Und wenn die Bande nun ausgerechnet hinter dem Schuppen »unter den Sternen« schlafen wollte? In den letzten Tagen hatte Bella absolut ungefährdet ihre Pläne verfolgen können. Earl rührte sich kaum aus seinem Meditationszentrum, Lilac war im Souvenirladen oder in der Lodge beschäftigt und Leon verließ nur höchst selten die Weinkellerei. Er verbrachte den Tag mit seinen Stahltanks, Eichenfässern, Bottichen, Pressen und all dem anderen Zeug, das für die Produktion einer Flasche Wein anscheinend unerlässlich war. Keiner der Weldons würde auch nur auf die Idee kommen, zum Schuppen hinüberzuwandern. Dessen war Bella sich ziemlich sicher. Aber nun drohten diese Biker alles durcheinander zu bringen. Eine Frau trödelte mit ihrer halbwüchsigen Tochter im Souvenirladen herum, ohne sich für etwas entscheiden zu können. Bella hatte zwei Ehepaaren Wein eingeschenkt, die dann mit ihren Gläsern hinausgegangen waren, um sich an die Picknicktische zu setzen. Sie wünschte, die sechs würden endlich verschwinden, denn sie brannte darauf, zum Schuppen zu laufen. Sie beschloss, Walter anzurufen und aufzufordern, seine trägen vier Buchstaben hierher zu bewegen und endlich auch 207
einmal zu graben. Auf seine Rückenschmerzen konnte sie unter diesen Umständen wirklich keine Rücksicht mehr nehmen. Wenn sie den Schatz gefunden hatten, konnte er sich jeden Tag eine Massage leisten. Auf dem Tresen stand ein Telefon, von dem aus sie ein Ortsgespräch führen konnte, aber sie hatte Angst, belauscht zu werden. Sobald die Luft rein war, würde sie ihn schnell anrufen. Endlich näherte sich die Frau mit einem Dutzend Kerzen in den Händen der Kasse. »Tauchen diese Motorrad-Typen eigentlich häufiger hier auf?«, fragte sie, als Bella die Kerzenpreise addierte. »Oh, ich glaube nicht«, antwortete Bella. »Aber ich arbeite erst seit einer Woche hier.« »Was Sie nicht sagen!« »Doch, so ist es.« Hastig gab Bella der Frau Geld heraus und verpackte die Kerzen in einem Geschenkkarton. Am liebsten hätte sie die Kundin zur Tür hinausgeschoben. Sie wollte, musste unbedingt Walter anrufen. »Es ist wirklich wunderschön hier. Wir sind gerade mit dem Auto aus Los Angeles gekommen. Im Radio hieß es, dass überall in der Umgebung Waldbrände ausgebrochen sind. Ich kann nur hoffen, dass sie keinen allzu großen Schaden anrichten.« »Das Frühjahr war sehr trocken. Das ist immer gefährlich.« Geh!, flehte Bella unhörbar. Geh doch endlich … Doch dazu schien die Frau noch nicht bereit. »Sie haben auch ein Interview mit einem Mann gebracht, der in Oceanview wohnt«, fuhr sie fort, während sie in ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln kramte. »Wie es hieß, musste da oben aus Sicherheitsgründen sogar eine Schule evakuiert werden, in der auch am Samstag unterrichtet wird.«
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»Die Schüler haben sich bestimmt gefreut«, mischte sich die Tochter ein, die bisher keinen Mucks von sich gegeben hatte. »Aber hier geht es um Waldbrände, Kind. Darüber macht man keine Scherze.« Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. Verschwindet!, stöhnte Bella lautlos. Verschwindet, aber schnell! Wenn die Flammen auf Altered States übergreifen, finde ich meinen Schatz nie. »Hast du nun alle Kerzen, die du wolltest?«, fragte die Frau ihre Tochter. Das Mädchen nickte. »Nun, dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag.« »Ich Ihnen auch.« Aber nicht hier, hätte Bella fast hinzugefügt. Sie griff nach dem Hörer und wählte. »Walter?«, ächzte sie, als er abnahm. Er lag auf der Couch ihres kleinen Apartments. »Ja. Hallo, Schatz.« »Steh sofort auf.« »Woher weißt du, dass ich mich hingelegt habe?« »Ich kann hellsehen, das weißt du doch. Hör zu, du musst unverzüglich zu diesem Schuppen und nach dem … du weißt schon … suchen.« »Was?« »Du musst!« »Warum?« »Weil die Zeit knapp wird. Eine Motorradbande will auf dem Gelände übernachten, die Waldbrände breiten sich weiter aus, ein Kamerateam schnüffelt hier herum, und es sieht ganz danach aus, als könnten wir leer ausgehen, wenn wir uns nicht sehr beeilen.«
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Im Fernseher lief ein Baseballspiel. »Aber ich habe schon wieder grauenhafte Rückenschmerzen.« »Walter …!« Walter wusste aus leidvoller Erfahrung, dass ihm gar keine Wahl blieb. »Also gut.« Da Bella ihm genau geschildert hatte, wo der Schuppen lag und wie man zu ihm gelangte, brauchte er zumindest keine weiteren Fragen zu stellen. »Aber vergiss nicht, dir einen eigenen Spaten zu kaufen. Sobald ich hier fertig bin, helfe ich dir. Ich erwarte, dass du bis dahin nicht untätig bleibst.« In diesem Moment betrat der Mann das Geschäft, der vorhin von den Weinfeldern her angeschlendert kam, als sie alle auf dem Parkplatz standen, um Lucretia zu begrüßen. »Okay, mein Schatz«, flötete Bella. »Bis später.« Sie legte auf. »Was darf ich für Sie tun?« »Ich würde gern ein paar Weine probieren. Kann ich mich da drüben an den Tisch setzen?« »Aber natürlich«, lächelte Bella gut gelaunt. Zwei Minuten später kam der nicht ganz so glückliche Bräutigam herein. »Oh, guten Tag«, begrüßte ihn Bella. »Und übrigens: meinen herzlichen Glückwunsch.« »Danke«, erwiderte er nervös. »Woher wissen Sie?« »Ich war vorhin auch draußen auf dem Parkplatz.« Edward blickte sich um. »Ich möchte ihr bloß ein Geschenk kaufen.« »Wie wäre es zunächst mit einem Schluck Wein?«, schlug Bella vor. »Das klingt nicht schlecht.« »Dann nehmen Sie doch Platz«, erwiderte Bella aufmunternd, während sie zwei Gläser aus dem Regal holte. 210
Die beiden Männer setzten sich an den langen Tisch. Bella konnte nicht ahnen, dass es sich keineswegs um ein zufälliges Zusammentreffen handelte, sondern dass die beiden sie ein wenig unter die Lupe nehmen wollten. »Das Weingut hat früher einmal meinem Großvater gehört«, begann sie munter draufloszuplaudern, als sie den Wein einschenkte. Jemand betrat das Geschäft und sie hob den Kopf. »Ach, hallo, Regan. Möchten Sie auch ein Glas?« »Vielen Dank, nein.« Überrascht sah Regan Don und Edward miteinander am Tisch sitzen und sich mit Bella unterhalten. An der Wand über ihnen hing ein Schild mit der Aufschrift: In vino veritas. Und ich würde wirklich zu gern die Wahrheit über die drei erfahren, dachte sie. Jeder von ihnen macht einen ziemlich verdächtigen Eindruck. Was ging da wohl vor sich?
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orsichtig lugte Charles Bennett aus dem Fenster. Als er sah, dass der Übertragungswagen verschwunden war, verließ er mit seinem Hochzeitsgeschenk in der Hand das Haus und lief quer über den Rasen auf das Nachbargrundstück zu. Er hatte für das junge Paar einen Satz Weingläser von Tiffany ausgewählt. Er drückte auf die Klingel und wartete. Ein wirklich wundervolles Anwesen, und in der ganzen Zeit, in der ich nun schon nebenan wohne, haben hier stets sympathische, anständige Leute gelebt, dachte er fast trübsinnig. Mit Edward Fields’ Einzug würde sich das entscheidend ändern. »Ich komme schon!«, rief eine Stimme von innen. Zwei Sekunden später öffnete Phyllis die Tür. »Mr Bennett! Was für eine nette Überraschung!« »Ich möchte eigentlich nur mein Geschenk abgeben.« »Kommen Sie doch bitte herein.« Seit Lucretias Einzug war Charles nicht mehr in der Villa gewesen. »Falls mich meine Erinnerung nicht täuscht, hat sich hier absolut nichts verändert. Es sieht noch genauso aus wie vor Jahren, als ich hier zu einer Party eingeladen war«, stellte er erstaunt fest und sah sich um. »Miss Standish hat auch alles so gelassen, wie es war«, bestätigte Phyllis. »Dieselben Möbel, dieselben Gemälde, dieselbe Haushälterin. Ich habe gerade Teewasser aufgesetzt. Wie wäre es mit einer Tasse?« »Oh, sehr gern«, erwiderte Charles, erfreut über die Chance, sich ein wenig mit ihr unterhalten zu können. Allerdings wirkte die Haushälterin ziemlich gestresst.
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Bei einem flüchtigen Blick aus dem Küchenfenster bemerkte Charles, dass die Tische für den Hochzeitsempfang bereits aufgestellt worden waren. »Wie ich sehe, ist für den großen Tag schon alles vorbereitet«, meinte er mit einem Hauch von Resignation in der Stimme. Phyllis nickte und goss Wasser in die Teekanne. »Ja, in den letzten Stunden herrschte hier eine ziemliche Hektik.« »Ich habe übrigens gestern Abend das Fernsehinterview gesehen.« »Offensichtlich waren Sie da nicht der Einzige. Es hat einen ganz schönen Wirbel verursacht.« Charles runzelte die Stirn. »Was ist denn geschehen?« »Mitten in der Nacht erhielt Miss Standish Anrufe von wütenden Zuschauern. Das geht immer noch weiter. Und heute früh musste sie feststellen, dass jemand Tomaten gegen das Haus geschleudert hat. Irgendwann wurde es ihr zu viel. Deshalb hat sie die Stadt verlassen.« »Wohin ist sie gefahren?« »Heute Morgen hat ihre Nichte angerufen. Sie und ihre beiden Brüder besitzen ein Weingut in der Nähe von Santa Barbara. Sie haben Miss Standish eingeladen, den Tag und die Nacht bei ihnen zu verbringen. Es soll ein großes Familienessen geben. Kaum waren Miss Standish und ihr Verlobter fort, tauchte diese Reporterin wieder auf, weil sie ›unbedingt am Thema dranbleiben‹ wollte, wie sie sagte. Diesen Bericht haben Miss Standish und Mr Fields zufällig gesehen, als sie in einer Raststätte eine Lunchpause einlegten. Und jetzt ist auch die Reporterin auf dem Weg zum Weingut.« »Warum?« »Weil die Lunchpause damit endete, dass eine Eskorte von einundzwanzig Motorrädern das Paar zu seinem Ziel begleitet. Typisch Miss Standish, wenn Sie mich fragen.« 213
Charles lachte schallend. »Ich kenne sie zwar nicht besonders gut, aber ich glaube, ich kann Ihnen ohne Bedenken voll und ganz zustimmen.« Er setzte sich auf einen der Hocker neben dem Küchenbuffet und fühlte sich plötzlich zutiefst deprimiert. Morgen würde Lucretia einem Mann das Jawort geben, dem ausschließlich ihr Geld etwas bedeutete, dem an ihrer Person nicht das Geringste lag. »Dieser Kerl, den sie da heiraten will, der gefällt mir ganz und gar nicht!«, brach es unerwartet heftig aus ihm heraus. Phyllis hatte soeben zwei Tassen aus dem Schrank genommen. Jetzt drehte sie sich blitzschnell zu ihm um. »Stimmt. Ich kann ihn auch nicht ausstehen.« »Was sollen wir nur machen?«, überlegte Charles laut. Phyllis holte tief Luft. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was wir tun könnten.« Sie blickte ihm in die Augen, musterte ihn forschend. »Sie haben sich doch nicht etwa in Miss Standish verknallt, oder?« »Doch. Selbstverständlich.« Beide brachen in Lachen aus. »Nehmen Sie mir meine Offenheit nicht übel, Phyllis, aber wenn man in meinem Alter nicht sagen darf, was man fühlt, wann dann? Als Miss Standish hier einzog und ich erfuhr, wer sie ist, habe ich mich unglaublich gefreut. Es kommt nicht mehr oft vor, dass ich auf jemanden treffe, mit dem ich in Erinnerungen an früher schwelgen kann. Wir haben ja beide in der guten alten Zeit beim Film gearbeitet. Sie trat zwar nie in einem Tonfilm auf und ich in keinem Stummfilm, aber das macht überhaupt nichts aus. Wir würden uns bestimmt ganz ausgezeichnet miteinander verstehen. Wirklich, wir könnten noch ein paar sehr gute Jahre miteinander verbringen.« Was für ein angenehmer, liebenswürdiger Mann!, dachte Phyllis. Wenn er erfährt, dass ich Lilac belogen habe, um etwas
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von Lucretias Geld abzubekommen, wird er mir das mit Sicherheit nie verzeihen. Auf einmal läutete das Telefon. »Hören Sie sich das ruhig mit an«, sagte Phyllis und schaltete den Ton lauter. »Bei Lucretia Standish, guten Tag.« »Gehen Sie zum Teufel! Ich hoffe, dass Lucretia Standish die Hochzeitstorte im Hals stecken bleibt!« »Ich werde Miss Standish Ihre guten Wünsche gern übermitteln«, entgegnete Phyllis trocken und legte auf. Wieder musste Charles lachen. »Ich wusste ja gar nicht, dass Sie so viel Humor haben.« »Ach, wissen Sie, nach all diesen Jahren als Haushälterin und den wirklich ganz unglaublichen Dingen, die ich schon erlebt habe, nehme ich vieles gar nicht mehr so ernst. Ich versuche immer wieder, mir das Komische einer Situation bewusst zu machen.« »Aber der Anruf bereitet mir dennoch Sorgen.« »Ich sage Miss Standish, dass sie eine Geheimnummer beantragen soll«, beruhigte ihn Phyllis. »Aber im Moment lässt es sich leider nicht ändern. Am besten lassen wir diese Anrufe mit Fassung über uns ergehen.« Sie goss Tee in die Tassen. »Es gefällt mir trotzdem nicht, dass Miss Standish so ungestraft als Zielscheibe für jeden Irren da draußen dienen kann. Ich wünschte wirklich, ich könnte sie zurückholen und ihr meinen Schutz anbieten.« Charles verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. »Es trifft Sie ganz eindeutig schwerer, als ich angenommen hatte.« Gespielt beunruhigt runzelte Phyllis die Stirn. »Scherz beiseite, Phyllis. Wir sollten uns jetzt mal zusammensetzen und gründlich überlegen, wie wir diesen Burschen loswerden.«
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Wenn ich trotzdem meine Kommission erhalte, dachte Phyllis. Nur wenn ich mein Geld bekomme.
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D
ie Wochenzeitung Luis Says hatte ihre Büroräume in einem weißgestrichenen kleinen Backsteinhaus an einer ruhigen Nebenstraße von San Luis Obispo. Drinnen saß Thaddeus Washburne allein an seinem Schreibtisch. Da er seine Arbeit sehr liebte, kam er selbst am Samstag für ein paar Stunden hierher. Die Zeitung befand sich bereits so lange im Besitz seiner Familie, dass sie ihm vorkam wie ein echtes Familienmitglied, das im Übrigen genauso der Fürsorge und Hingabe bedurfte wie ein echter Verwandter, vielleicht sogar mehr. Andere Männer spielten am Wochenende Golf, Thaddeus Washburne ging ins Büro und stöberte ein wenig in seinen Unterlagen. Und seit dem Tod seiner Frau verbrachte er noch mehr Zeit in der Redaktion als früher. Am späten Freitagabend war Andruck für die aktuelle Ausgabe gewesen, und Thaddeus hatte sich noch immer im Büro aufgehalten, als GOS News das Interview mit Lucretia Standish ausstrahlte. Schnell hatte er einen eigenen Artikel für die Zeitung formuliert, die in wenigen Stunden erscheinen sollte. Seine Familie hatte seit jeher großen Wert auf eingängige, bunte Reportagen gelegt, am liebsten waren ihnen die Geschichten über lokale Berühmtheiten. Und so hatte bereits Thaddeus’ Vater nach Lucretia Standishs ersten Stummfilmerfolgen ein kleines Archiv über sie angelegt. Auf dieses Material hatte Thaddeus nun zurückgegriffen und passende alte Fotos herausgesucht, um seinen Text zu bebildern. Lucretias Leben war definitiv mehr als eine Story wert. Er hatte kurz über einen weiteren, ausführlicheren Artikel nachgedacht, dann aber befürchtet, dass es nicht leicht sein würde, sie persönlich zu befragen. Er hatte das Fernsehgerät in der Ecke des Raums angelassen und die ganze Nacht hindurch die weitere 217
Berichterstattung über Lucretias Abenteuer verfolgt. Aber GOS schien lediglich das Interview im Stundentakt zu wiederholen. Erst heute Vormittag hatte Thaddeus etwas Neues gesehen: das Gespräch mit ihrer Haushälterin und Ansichten des imposanten Gartens. Unglaublich, dass die alte Dame so viel Geld mit Dotcom-Aktien hatte machen können. Plötzlich klingelte es an der Tür. An einem Samstag? Wer kann das sein?, fragte er sich verwundert, als er von seinem Sessel aufstand. Er öffnete die Tür und sah sich zu seiner Überraschung zwei älteren Damen gegenüber. »Womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte er höflich. »Wir haben etwas, was wir unbedingt loswerden wollen.« Mit spitzen Fingern hielt Sarah die neueste Ausgabe von Luis Says in die Höhe. »Wir sind nämlich Lucretia Standishs ›unbekannte Freundinnen‹.« Thaddeus lachte laut und herzlich. »Was Sie nicht sagen! Kommen Sie doch bitte herein.« Sie folgten ihm in das Büro. Die Washburnes hatten vor Jahren die Wände einreißen lassen, damit die Mitarbeiter wie in der Großraumredaktion einer Großstadtzeitung auf Rufweite beieinander saßen. Es blieb natürlich die kleine Redaktion einer Kleinstadtzeitung, vermittelte aber dennoch eine gewisse Weitläufigkeit. Schnell zog Thaddeus zwei Stühle vor seinen Schreibtisch. »Ich heiße übrigens Thaddeus Washburne.« Er streckte die Hand aus. Wie immer griff Sarah als Erste zu. »Ich bin Sarah Desmond.« »Und ich Polly Cook. Wir können Ihnen unsere Namen gern für das nächste Mal buchstabieren, wenn Sie ein Foto von uns veröffentlichen wollen.« Thaddeus lachte erneut auf. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« 218
»Vielen Dank, aber ein Glas Wasser genügt völlig«, erwiderte Sarah. Polly nickte. »Ja, ein Wasser wäre nicht schlecht. Ich könnte den ganzen Tag Kaffee oder Tee trinken, aber dann kann ich nachts nicht schlafen.« »Haben Sie es schon mal mit coffeinfreiem versucht?«, erkundigte sich Thaddeus teilnahmsvoll. Polly verzog das Gesicht. »Der schmeckt doch nicht.« »Wir bemühen uns, täglich acht Gläser Wasser zu trinken«, klärte Sarah ihn auf. »Leicht ist das nicht, das können Sie mir glauben.« »Ja, nach ein paar Stunden gluckert es immer so komisch im Bauch«, stimmte Polly zu. »Nun, aber anscheinend machen Sie ja alles richtig«, bemerkte Thaddeus. »Wüsste ich nicht von Ihnen, dass Sie die Freundinnen der dreiundneunzigjährigen Lucretia Standish sind, hätte ich Sie auf mindestens fünfzehn Jahre jünger geschätzt.« Scheu lächelten Polly und Sarah ihn an, doch als er verschwand, um die Getränke zu holen, verwandelte sich ihrer beider Gesichtsausdruck in ein triumphierendes Grinsen. In der kleinen Teeküche füllte Thaddeus zwei Gläser aus dem altersschwachen Wasserkühltank, der nachhaltig schnaufte, als der Verleger an seinen Schreibtisch zurückkehrte. In diesem Moment verkündete ein GOS-Moderator, dass »Lucretia Standish zurzeit ein wirklich dramatisches Wochenende« verbrachte. Polly und Sarah ächzten laut auf und ermahnten sich dann gegenseitig zur Ruhe. Thaddeus stellte die Gläser auf den Tisch, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Ton lauter. Ein Schild mit der Aufschrift Altered States Winery füllte den Bildschirm. Dann fuhr ein recht robust aussehender Biker an dem Schild vorbei, gefolgt von einem weißen Rolls-Royce 219
sowie einem schier endlosen Trupp weiterer Motorradfahrer in enger Formation. »Lucretia Standish ist zu einem kurzen Besuch bei Verwandten aufgebrochen, die ein großes Weingut besitzen. Dort ist für den Abend ein großes Barbecue geplant. Sie wurde dabei von einer Gruppe Motorradfahrer eskortiert, die sich Road’s Scholars nennen.« Die nächste Einstellung zeigte Lucretia, wie sie dem Auto entstieg, einer Art Empfangskomitee huldvoll zuwinkte und strahlend in die Kamera lächelte. »O mein Gott!«, stöhnte Polly. »Was sagt man dazu?« »Neidisch?«, erkundigte sich Sarah spitz. Polly hob die rechte Braue. »Vielleicht.« »… werden Lucretia und ihr Verlobter von ihrer Familie begrüßt.« »Der ist ja noch ein ganz junger Spunt«, sagte Thaddeus halblaut und wie zu sich selbst. »Wie können Sie das erkennen? Mit dieser Brille, die er da auf der Nase hat!«, schnaubte Sarah. Sie beugte sich vor und starrte auf den Fernsehschirm. »Ist das da nicht Nora Regan Reilly?« Lucretia schüttelte diverse Hände. »Ich glaube, du hast Recht«, nickte Polly. »Erinnerst du dich an ihren Vortrag vor ein paar Jahren an der Cal Poly?« »Natürlich.« »Stimmt. Wir haben darüber damals berichtet. Das ist ohne jeden Zweifel Nora Regan Reilly«, bestätigte Thaddeus. »Ich weiß noch genau, wie attraktiv ich sie fand. Ihr Mann ist ja ein wahrer Riese. Da – er steht direkt neben ihr.« »Er wirkt aber sehr sympathisch. Wir haben übrigens alle ihre Bücher gelesen«, erklärte Sarah. »Ich frage mich, was sie dort überhaupt macht.« 220
»… Wir kommen später zurück mit neuesten Meldungen über Lucretia Standishs Hochzeitswochenende. Wenn Sie uns Ihre Meinung dazu mitteilen wollen, schicken Sie bitte eine E-Mail an die eingeblendete Adresse …« Thaddeus schaltete den Ton leiser. »Herr im Himmel! Wo ist sie bloß an diese Biker-Typen gekommen?« »Sie hat sich schon immer gern einen Spaß erlaubt.« Sarah schüttelte nachdenklich den Kopf. »Unsere Jahre mit ihr waren die besten, die allerbesten«, fügte Polly hinzu. »Sie war eine richtige Draufgängerin. Scheute buchstäblich vor nichts zurück.« »Ihren Äußerungen entnehme ich, dass Sie Lucretia Standish seit längerem nicht mehr gesehen haben.« »Nein, seit Jahrzehnten nicht mehr. Wir haben uns aus den Augen verloren, als ihre Karriere zu Ende ging und sie Kalifornien verließ. Es ist ein komisches Gefühl, dass sie wieder heiratet. Wir hatten uns damals fest versprochen, bei den Hochzeiten der anderen die Brautjungfern zu sein.« Bekümmert starrte Polly auf das Fernsehgerät. »Ich würde gern ein Feature über Sie drei schreiben«, meinte Thaddeus versonnen. »Haben Sie Ihr ganzes Leben hier zugebracht?« »O nein! Wir haben geheiratet und sind fortgezogen. Ich nach San Francisco und Polly nach San Diego. Nach dem Tod unserer Männer beschlossen wir, uns wieder zusammenzutun. Da keine von uns in die Stadt der anderen ziehen wollte, einigten wir uns auf einen Kompromiss, auf den Ort, in dem wir uns in unserer Kindheit und Jugend immer so wohl gefühlt hatten. Und wir leben hier nicht weit entfernt von unseren Familien – im äußersten Fall eine Tagesreise.« »Wir brauchen nur den Highway an der Küste abzufahren. Manchmal müssen wir rechts abbiegen, manchmal links«, erklärte Polly. 221
»Verstehe. Es wäre doch wundervoll, Sie drei nach all diesen Jahren wieder zusammenzubringen. Vielleicht können wir Lucretia zu einem unserer Sommerfestivals einladen. Das wäre eine großartige Geschichte! Warum versuchen Sie nicht, Kontakt zu ihr aufzunehmen?« »Das ist bereits geschehen!«, brüstete sich Sarah. »Wir haben eine E-Mail an den Sender geschickt und eine persönliche Nachricht an Lucretia beigefügt. Aber bisher hat sie sich nicht gemeldet.« »Die E-Mail haben wir doch erst gestern Abend abgeschickt und waren den ganzen Tag nicht zu Hause«, rief Polly ihrer Freundin in Erinnerung. »Vielleicht finden wir eine Antwort vor, wenn wir zurück sind.« »Welchen Internetserver benutzen Sie?«, fragte Thaddeus schnell. »Pluto.« »Ich auch! Wenn Sie möchten, können Sie gerne in meinem Computer nachschauen, ob eine E-Mail für Sie eingetroffen ist.« Polly, die ein noch größerer Internetfan als Sarah war, sprang hoch und eilte um den Schreibtisch herum. Thaddeus stand auf und Polly nahm schnell seinen Sitz ein. »Bequemer Sessel.« »Danke.« Hastig tippte Polly das Passwort ein, wartete einen Moment und rief ihren Mailordner auf. »Lucretia hat tatsächlich geantwortet!«, jauchzte sie. Gespannt sahen Sarah und Thaddeus ihr über die Schulter, als Polly Lucretias E-Mail anklickte. Liebe Sarah und Polly, wie wundervoll, endlich wieder etwas von euch zu hören! Inzwischen ist so viel Zeit vergangen. Zu viel! Ich würde euch gern zu meiner Hochzeit einladen, weiß 222
aber leider nicht, wo ihr wohnt. Wenn ihr diese Zeilen erhaltet und nicht allzu weit entfernt lebt, erwarte ich euch am Sonntagvormittag um elf in meinem Haus in Beverly Hills. Selbstverständlich könnt ihr meine Brautjungfern sein! Erinnert ihr euch an unseren Schwur? Apropos Schwüre … Bitte schweigt über unser Geheimnis wie ein Grab. BITTE! BITTE! Wenn ihr wollt, könnt ihr Freunde mitbringen. Je mehr, desto besser! Unten findet ihr meine Adresse und Telefonnummer. Heute bin ich verreist, würde mich aber sehr freuen, euch beide morgen zu sehen. Alles Liebe, Lukey PS: Ich wünschte, wir könnten heute Abend eins unserer Friedhofsgespräche führen! »Das muss ja ein ungemein wichtiges Geheimnis sein«, bemerkte Thaddeus, der seine Neugier nur schlecht verbergen konnte. Polly und Sarah kicherten. »Darüber dürfen wir nichts sagen«, erklärte Sarah. »Schließlich hat sie uns zu ihrer Hochzeit eingeladen«, fügte Polly hinzu. »Und? Fahren Sie hin?« »Aber sicher«, erwiderte Sarah wie aus der Pistole geschossen, ohne Polly auch nur anzusehen. »Wollen Sie nicht mitkommen? Als unser ›Freund‹?«, fragte sie Thaddeus nach ein paar Sekunden. Sie spürte, dass er sich ausgeschlossen vorkam. Sein Gesicht strahlte. »Es wäre mir eine große Ehre, zwei so zauberhafte Damen begleiten zu dürfen. Ich nehme auch meine Kamera mit, um ein aktuelles Foto von Ihnen allen zu schießen. Himmel, wir werden eine Sonderausgabe herausbringen! Das heißt, wenn Lucretia Standish nicht Millionen für die Rechte von mir fordert …« »Das braucht sie nicht. Sie hat bereits Millionen.« 223
»Wenn ich es mir recht überlege«, begann Polly versonnen, »sind die Probeessen am Abend vorher immer lustiger als die eigentlichen Hochzeiten – jedenfalls nach meiner Erfahrung.« »Aber wir sind nicht eingeladen.« »Zum Probe-Hochzeitsessen brauchen Brautjungfern nicht extra eingeladen zu werden. Sie gehören dazu.« Polly sah Thaddeus an. »Wie heißt dieses Weingut noch gleich?. Altered was? Und wo liegt es genau?« »Altered States. Sehen wir doch einmal, ob wir Näheres in Erfahrung bringen können.« Thaddeus beugte sich vor und begann auf der Tastatur herumzutippen. In Recherchen kannte er sich aus – nicht nur bei seinen Gesprächspartnern, sondern auch mit dem Computer. »Schauen Sie her … So weit ist dieses Altered States nicht entfernt. Höchstens eine Autostunde, würde ich sagen.« Polly und Sarah blickten sich an. »Aber wäre es nicht ziemlich dreist, einfach dort aufzutauchen?« »Wenn sie wüsste, dass wir in der Nähe sind, hätte sie uns sicher eingeladen. Außerdem könnten wir jederzeit sagen, dass wir nur auf einen Sprung vorbeikommen, um ihr unsere Glückwünsche zu überbringen.« »Sie wünscht sich doch ein ›Friedhofsgespräch‹ mit Ihnen, wie sie schreibt. Vielleicht lässt sich das heute Abend sogar noch realisieren«, lockte Thaddeus. »Lasst es uns machen«, drängte Sarah. »Was haben wir in unserem Alter schließlich zu verlieren?« Thaddeus schüttelte den Kopf. »Dreiundneunzig. Nicht zu glauben.« »Wie auch immer. Wie ist es, Mr Washburne? Fahren Sie uns hin?« »Selbstverständlich. Mit dem allergrößten Vergnügen.«
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achdenklich verließ Regan den Souvenirladen. Edward Fields war nicht unbedingt das, was man einen Bilderbuchbräutigam nennen könnte, bei Bella saßen definitiv ein paar Schrauben locker und dieser Don erregte bei ihr immer größeres Misstrauen. Regan hatte das unbedingte Gefühl, dass Edward und Dun irgendwie miteinander in Verbindung standen. Sie dachte nach. Allerdings hatten sich Lucretia und Edward erst heute entschlossen, Altered States einen Besuch abzustatten, während Don bereits gestern hier erschienen war. Und die beiden konnten sich kaum abgesprochen haben, denn der Vorschlag für den Familienabend stammte von Lilac. Regan zuckte mit den Schultern und lief über den Parkplatz auf die Lodge zu. Weder Whitney noch Jack hatte sie bisher angerufen. Aus einem Grund, den sie sich nicht recht erklären konnte, drehte sie sich plötzlich um und ging zurück in den Souvenirladen. »Wenn ich es mir recht überlege, möchte ich doch einen Schluck Wein trinken«, sagte sie zu Bella, die über Regans erneutes Auftauchen nicht halb so verdutzt war wie die beiden Männer. »Aber sicher, sehr gern. Wollen Sie nicht an dem Tisch da Platz nehmen? Was soll es sein? Roter oder Weißer?« »Ein Glas Roten bitte.« Regan setzte sich neben Edward Fields. »So sieht man sich wieder«, murmelte sie, als Bella aus einer Flasche Weldon Estate einschenkte. Woher kommt bloß der Schmutz unter ihren Fingernägeln?, fragte sich Regan überrascht. Ihr war am Vormittag nicht entgangen, welchen Wert Bella auf ihr Make-up legte. Eine Frau, die so sorgfältig ihre Lippen schminkte, achtete doch bestimmt auch sonst penibel auf ihr Äußeres. Außerdem sahen ihre Fingernägel 225
ziemlich brüchig aus. Bella beendete das Einschenken und stellte die Flasche auf den Tisch. »Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.« Regan griff nach ihrem Glas. »Prost, meine Herren!« Sie lächelte den Männern zu. Beide nickten und nippten an ihren Gläsern. »Falls Sie noch etwas brauchen sollten … Ich bin drüben an der Kasse«, flötete Bella und huschte davon. Lächelnd hob Regan erneut ihr Glas. »Auf Ihre Hochzeit, Edward!« »Danke.« Er trank einen Schluck. »Sie können Ihren großen Tag vermutlich kaum erwarten. Wohnen Sie schon lange in Beverly Hills?« »Nein.« »Woher kommen Sie?« »Aus New York.« »Tatsächlich? Und woher genau?« Er räusperte sich. »Ursprünglich aus Long Island. Aber in den letzten Jahren habe ich in Manhattan gewohnt.« »Und Sie, Don?« Er blickte zum Fenster hinaus. »Don?«, hakte sie nach. »Was? Wie? Oh …« Abrupt wandte er sich ihr zu. Sonderbar, dachte Regan. Wirklich, sehr sonderbar. »Woher kommen Sie?« »Von weit her.« Hektisch leerten die beiden ihre Gläser und standen auf. »Ich muss zu Lucretia zurück«, entschuldigte sich Edward. »Und ich sollte mich endlich auf den Weg machen«, erklärte Don. 226
»Sie verlassen uns?« Er nickte. »Ich will mich mit ein paar Freunden treffen.« Seine Miene sagte Regan, dass ihm ihre Fragen äußerst unangenehm waren. Aber das wusste sie bereits. »Nun, ich wünsche Ihnen viel Spaß, was auch immer Sie vorhaben«, strahlte Regan. Immerhin ist es mir gelungen, sie ein bisschen nervös zu machen, dachte sie, als die Männer den Laden verließen. Ich sollte mich über seine Zulassungsnummer informieren, bevor er für immer verschwindet, beschloss sie bei sich. Sie wartete ein paar Minuten und ging hinaus. Don fuhr einen dunklen Geländewagen und im Moment konnte sie auf dem Parkplatz nur einen Wagen dieser Bauart entdecken. Neugierig umkreiste sie ihn und entdeckte auf dem Vordersitz diverse Mietunterlagen. Interessant. Wer ein Auto ausleihen wollte, musste seinen Führerschein vorweisen. Die darin enthaltenen Informationen wurden gespeichert und könnten notfalls in Erfahrung gebracht werden. Der Wagen war in Kalifornien zugelassen. Regan merkte sich die Nummer, eilte in ihr Zimmer und schrieb sie in ihr Notizbuch. Zufrieden darüber, wenigstens etwas erreicht zu haben, griff sie nach ihrem Mobiltelefon und rief Whitney an. Doch wieder erreichte sie nur die Mailbox. »Hier Regan Reilly, Miss Weldon. Bitte rufen Sie mich so bald wie möglich auf meinem Handy an.« Regan nannte die Nummer. »Vielen Dank. Ich hoffe, es läuft bei Ihrem Seminar alles wie geplant.« Als sie den Anruf beendete, dachte sie über ihre letzten Worte nach. Irgendwie klangen sie wie ein lautes Wunschdenken. Als würde man jemandem versichern, er sähe einfach blendend aus, obwohl er schwer krank war. Hastig blätterte Regan in ihrem Notizbuch und wählte die Nummer des Seminarleiters. »Hier sind Norman und Dew«, meldete sich eine Stimme. »Leider sind wir im Moment nicht erreichbar, aber …«
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Ich schätze, auch Dews Eltern waren Hippies, dachte Regan grinsend. Wer sonst würde wohl sein Kind »Morgentau« nennen? »Hallo, mein Name ist Regan Reilly«, begann sie nach dem Signalton und bat höflich, aber dringend um Whitneys Rückruf. Dann wählte sie Jacks Nummer. Gott sei Dank erreichte sie wenigstens ihn. »Westküste ruft Ostküste«, scherzte Regan. »Und wie geht es so da drüben?« »Wie man’s nimmt. Wir haben einen echten Durchbruch in Hinblick auf diese Kunsträuberbande. Vermutlich können wir sie festnageln, auch wenn einer der Ganoven noch fehlt. Er wird in mehreren Staaten gesucht, schafft es aber immer wieder, sich dem Zugriff zu entziehen. Na, und wie stehen die Dinge bei dir?« »Nun, Lucretia ist eingetroffen. Samt Motorrad-Eskorte.« Jack lachte. »Machst du Witze?« »Nein, natürlich nicht. Zurzeit sind sie unterwegs, um die Zutaten für ein abendliches Barbecue einzukaufen. Ich wünschte wirklich, du könntest sie sehen. So richtige Muskelprotze, aber nicht unsympathisch. Anscheinend wollen sie Lucretia beschützen.« »So wie es aussieht, könnte die alte Dame es durchaus nötig haben.« »Ich hätte jedenfalls nichts dagegen, diese Typen auf meiner Seite zu haben, kann ich dir sagen. Die meisten von ihnen sind so groß und breit wie Kleiderschränke. Und ich habe noch nie so viele Tattoos auf einmal gesehen.« »Tätowierungen?«, wiederholte Jack. »Komischer Zufall. Unsere Kunstdiebe hier haben auch eine ausgesprochene Vorliebe für so etwas.« »Tatsächlich?«
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»Ein Kollege hat bei der Wohnungsdurchsuchung ein Foto gefunden. Es zeigt vier der Ganoven, die ihre entblößten Bäuche zur Schau stellen. Auf ihnen sind Totenköpfe über gekreuzten Knochen zu sehen.« Unwillkürlich legte sich Regans Finger fester um das Handy. »Das ist nicht dein Ernst!« »Doch. Was ist denn, Regan?« Sie dämpfte ihre Stimme. »Hier auf Altered States wohnt seit gestern ein Typ, der genau so eine Tätowierung über dem Bauchnabel trägt. Ich traue ihm bereits alles zu, nur nichts Gutes.« »Sieh dich vor, Regan. Diese Kerle sind extrem gefährlich«, erwiderte Jack beunruhigt. »Und jetzt erzähl mir bitte alles, aber wirklich alles, was du über ihn weißt.«
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obald er seine Schüler aus dem Haus gescheucht hatte, hastete Norman in sein Arbeitszimmer zurück und zog die unterste Schublade seines Aktenschranks auf. In ihr befanden sich seine und Dews wichtigste Dokumente: Pässe, Geburtsurkunden, Normans Scheidungsurteil (sein wertvollster Besitz), der Kaufvertrag für das Haus, Versicherungspolicen, sein Scheckbuch sowie weitere Papiere, die er seit Jahren nicht mehr angesehen hatte. Er warf alles in eine Sporttasche und eilte ins Schlafzimmer, um das Drehbuch zu holen, das vor einigen Tagen erst fertig geworden war. Die Hauptrolle hatte er im Grunde genommen Whitney Weldon auf den Leib geschrieben. Ihr Anruf gestern war ein Anlass gewesen, es noch einmal zu lesen, und er war zu der festen Überzeugung gelangt, dass es sich um das Beste handelte, was er je verfasst hatte. Norman rannte über den Flur zur Hintertür und schaltete die Alarmanlage ein. Er verließ das Haus und schloss hinter sich ab. »Ich hoffe, diese Vorsicht lohnt sich«, murmelte er halblaut. »Denn was ein Raub der Flammen wird, braucht keine Einbrecher mehr zu fürchten.« Ricky saß schon in seinem Käfer, um Norman zum Rundfunksender zu folgen. Im Rückwärtsgang verließ Norman die Einfahrt, setzte sich vor Rickys VW und gab ihm das Zeichen zum Aufbruch. Über gewundene Bergstraßen fuhren sie zu dem fünf Meilen entfernten Dörfchen Calimook. In der Ferne zogen bereits erste Rauchwolken über die Baumwipfel. Eine Viertelstunde später trafen sie in der kleinen Radiostation ein, in der Dew als Discjockey arbeitete. Sie liebte ihren Job, plauderte fröhlich mit den Gästen ihrer Sendung und hielt ihre Zuhörer über die letzten Neuigkeiten und Aktivitäten in Cali230
mook und Umgebung auf dem Laufenden. Natürlich legte sie auch CDs auf. Die Beach Boys waren ihre Favoriten. Norman, der mit den drei Wilson-Brüdern aufgewachsen war, hatte seine Begeisterung für diese Gruppe irgendwann auf sie übertragen. Dew erfreute sich einer treuen sowie ständig wachsenden Fangemeinde und die Eigentümer des Lokalsenders redeten ihr deshalb auch nicht in ihre Arbeit hinein. An diesem Nachmittag berichtete sie in regelmäßigen Abständen über die Waldbrände, die in weitem Umkreis an vielen Orten ausgebrochen waren. Manche Feuer waren so klein, dass sie problemlos gelöscht werden konnten, andere jedoch gerieten rasch außer Kontrolle. Dew gab die ersten Räumungsmaßnahmen bekannt und versprach, sich sofort wieder zu melden, sobald dem Sender neue Informationen über etwaige Evakuierungen vorlagen. Als eine Werbepause begann, blickte Dew flüchtig durch die Glasscheibe ihres winzigen Studios und bemerkte Norman und Ricky im Empfangsbereich. Sie nahm die Kopfhörer ab, schob ihren Stuhl zurück und lief hinaus, um die beiden zu begrüßen. Mit langen, hellbraunen Haaren, reizvollen Sommersprossen auf Nase und Wangen sowie strahlend blauen Augen war Dew das typische California Beach Girl. Ihre Garderobe bestand aus Jeans und zahllosen Tops. Sich schick anzuziehen gehörte nicht zu ihren Prioritäten. »Hallo, Schatz.« Sie gab Norman einen hastigen Kuss und sah sofort, wie besorgt er war. »Schön, dich zu sehen, Ricky«, fügte sie hinzu und zog ihren Jugendfreund kurz an sich. »Ich kam gerade bei Norman vorbei, als du anriefst«, erklärte er. »Beeil dich, Dew!«, rief der Toningenieur dazwischen. »Die Werbepause ist kurz. In einer Minute bist du wieder auf Sendung.« Dew packte Norman am Arm. »Wollt ihr beide nicht mit hineinkommen?« 231
»Aus welchem Grund?« »Als Gäste für einen Dialogue with Dew. Wir könnten uns über die Evakuierungen unterhalten.« »Mach schon, Dew!«, mahnte der Toningenieur. Norman und Ricky folgten Dew in das Studio und setzten sich ihr gegenüber auf zwei mit Mikrofonen ausgestattete Ledersessel. Als der letzte Werbespot verklang, zwinkerte Dew ihnen aufmunternd zu. »Hier meldet sich wieder Dew«, säuselte sie ins Mikrofon. »Und inzwischen habe ich zwei Gäste in meiner Sendung. Wie viele von euch vielleicht wissen, bin ich mit Norman Broda befreundet. Wir wohnen in dem Berggebiet, das inzwischen wegen der akuten Waldbrandgefahr evakuiert wurde. Norman ist jetzt bei mir im Studio, wie auch unser Freund Ricky Ortiz, der als Produktionsassistent bei Filmarbeiten in der Nähe von Santa Barbara arbeitet. – Wer spielt eigentlich mit, Ricky?« »Die Hauptrolle wurde mit Whitney Weldon besetzt. Sie ist vielleicht noch nicht das, was man einen Superstar nennt, hat aber bereits in vielen Rollen ihr Talent unter Beweis gestellt.« »O ja, natürlich, Whitney Weldon. Ich habe sie bereits in einigen Filmen gesehen. Norman hält in unserem Haus wirklich phantastische Seminare für Schauspieler ab. Wie er mir sagte, hatte sie sich für den heutigen Workshop angemeldet. – Und, war sie da?«, erkundigte sich Dew bei Norman. Er zögerte eine Sekunde. »Nein. Sie hat es leider nicht geschafft.« »So? Nun, wahrscheinlich hat sie von den drohenden Waldbränden gehört …« »Nach deinem Anruf haben wir die Teilnehmer aus Sicherheitsgründen nach Hause geschickt«, erläuterte Norman. »So entgeht Whitney eigentlich nichts. Sie kann jederzeit an einem unserer nächsten Seminare teilnehmen.« 232
»In unserem Film ist sie unglaublich witzig«, mischte sich Ricky ein. »Echt komisch.« »Und wie lautet der Titel des Films?«, fragte Dew. »Getäuscht.«
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egan durchquerte ihr Zimmer und schloss die Glasschiebetür. Sie wollte nicht, dass jemand sie zufällig belauschte. »Er nennt sich Don Lesser. Aber als ich ihn einmal mit ›Don‹ ansprach, reagierte er erst mit deutlicher Verzögerung. Es kam mir ganz so vor, als wäre er an den Namen nicht gewöhnt.« »Die meisten Bandenmitglieder benutzen Pseudonyme«, erwiderte Jack und notierte sich den Namen. »Er trägt eine schwarze Perücke, ganz bestimmt, denn seine Körperhaare sind blond. Das habe ich bemerkt, als ihm beim Meditationskurs das T-Shirt verrutschte. Er könnte auch Kontaktlinsen benutzen, aber da bin ich mir nicht so sicher. Und noch etwas …« »Was?«, fragte Jack. »Ich glaube, er kennt diesen Edward Fields. Er hat ihm beim Ausladen des Gepäcks geholfen, was ich merkwürdig fand. Und dann hockten sie im Souvenirladen bei einem Glas Wein zusammen, bis ich auftauchte und sie offensichtlich störte. Daraufhin konnten sie gar nicht schnell genug verschwinden.« »Das Weingut verfügt doch bestimmt über einen Computer, Regan.« »Ja, im Büro steht einer.« »Versuch bitte, ob du die E-Mail-Adresse herausbekommst. Ich besorge mir das Foto von den vier Burschen mit den Tätowierungen und schicke es dir. Vielleicht erkennst du darauf diesen Don.« Jack verstummte kurz und holte tief Luft. »Das wäre doch sehr interessant.« »Gut, Jack, aber wir müssen uns beeilen. Don meinte zu mir, er wolle bald abreisen.« 234
»Keine Sorge. Ich möchte auf keinen Fall das Risiko eingehen, einen der Typen entwischen zu lassen.« »Dann gehe ich schnell ins Büro und erkundige mich nach der Adresse. Ich rufe dich gleich wieder an.« Regan stürzte auf den Flur hinaus und wäre fast mit Don Lesser zusammengestoßen. »Oh, hallo, Don«, grüßte sie ihn leicht verlegen. »Hallo, Regan«, antwortete er. Unwillkürlich lief sie schneller. Die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ ihr einen Schauer den Rücken hinunterlaufen. In der Halle war niemand zu sehen. Ihre Eltern hielten ein Mittagsschläfchen und auch Lucretia hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Im Büro traf Regan auf Lilac. »Ich finde es einfach großartig, Ihre Eltern hier auf Altered States zu haben«, begann Lilac. »Entschuldigen Sie, Lilac«, unterbrach Regan. »Mein Freund Jack möchte mir unbedingt so schnell wie möglich ein Foto aus New York schicken. Es hat mit dem Fall zu tun, an dem er gerade arbeitet. Könnten wir dazu vielleicht Ihren Computer benutzen?« »Aber sicher, Regan.« Lilac schrieb ihre Adresse auf einen Zettel und klickte den Mailordner an. »Rufen Sie Jack an und sagen Sie ihm, dass er es sofort losschicken kann. Ich lasse Sie allein.« Sie stand auf und schickte sich an, hinauszugehen. »Ich habe ohnehin jede Menge zu tun, um alles für heute Abend vorzubereiten! Sie finden mich in der Küche. Geben Sie mir doch bitte kurz ein Zeichen, falls ich am Empfang gebraucht werde.« »Gern.« Regan wählte bereits Jacks Nummer. »Ich bin jetzt am Computer, Jack. Hier ist die E-Mail-Adresse …«
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»Großartig. Moment.« Er gab die Adresse an einen Kollegen weiter. »Scannen Sie das Foto ein!«, befahl er knapp. »Sofort.« Regans Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ihr Herz klopfte bis in den Hals. Viel schienen die Meditationsübungen am Vormittag nicht genutzt zu haben. Bisher hatten Jack und sie noch nicht einmal darüber gesprochen, was geschehen sollte, wenn sie Don Lesser als einen der Verdächtigen erkannte. »Hör mal, Regan, ich muss abbrechen. Da wartet ein Gespräch auf einer anderen Leitung auf mich. Ich melde mich gleich auf deinem Handy.« »Okay.« Wie gebannt starrte Regan auf den Bildschirm. Eine Sekunde später kündigte sich Jacks Nachricht an. Sie klickte auf »Öffnen!« und sah zu, wie das Foto allmählich Gestalt annahm. Adrenalinstöße schossen durch ihren Körper. Der Bursche da links … Er war blond, aber seine Gesichtszüge, sein Körperbau und sein Lächeln ähnelten Don Lesser. Regan kniff prüfend die Augen zusammen. Kein Zweifel, das war er! »O mein Gott!«, entfuhr es ihr. »Hallo? Jemand da?« Don Lesser bog um den Türrahmen und betrat den Raum. Als sein Blick auf den Computerschirm fiel, blieb er wie angewurzelt stehen. Hastig drückte Regan die Löschtaste und drehte sich zu ihm um. Zu spät. Die Wut auf seinem Gesicht war unübersehbar. »Was machen Sie da?«, herrschte er sie an. Er zog die Tür zu, drehte den Schlüssel um und kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Laut schreiend sah sich Regan nach einer Waffe um. Sie griff einen Briefbeschwerer vom Schreibtisch und schleuderte ihn Lesser entgegen. Er traf zielgenau seine Stirn. Aber Lesser taumelte nur kurz, schüttelte energisch den Kopf und machte erneut einen Satz auf sie zu. Immer noch schreiend, hob sie ihr rechtes Bein und versetzte ihm mit dem Knie einen kräftigen Stoß in den Unterleib. Aber er hatte leider die Konsti236
tution eines Ringers. Als sich Lessers Finger um ihren Hals legten, begann ihr Mobiltelefon zu klingeln. Mit eisernem Griff pressten seine Hände ihre Kehle zusammen. Verzweifelt nach Luft ringend, reckte Regan die Arme, riss ihm die Perücke vom Kopf und stieß ihm ihre Zeigefinger in die Augen. Für einen Moment abgelenkt, ließ er von ihr ab. Behände versetzte sie ihm einen zweiten Stoß. »Hilfe! Hilfe!«, brüllte sie, so viel ihre Lungen hergaben. Draußen näherten sich schnelle Schritte, Fäuste hämmerten gegen die Tür. »Regan? Regan!«, schrie Luke. Lesser fuhr herum und ließ Regan los. Er erkannte, dass er in der Falle saß, sprang zum Fenster, riss es auf und kletterte hinaus. Drei Sekunden später sah Regan ihn in Richtung der Weinfelder davonlaufen. Das Handy gab noch immer keine Ruhe. Luke schlug weiterhin unablässig gegen die Tür. Regan drückte auf eine Telefontaste und schlich mit unsicheren Füßen zur Tür, um ihrem Vater zu öffnen. »Ich habe das Foto erhalten«, sagte sie mühsam zu Jack. »Und darauf diesen Don Lesser identifiziert. Eindeutig.«
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o schnell er konnte und ohne sich umzuschauen, rannte Rex durch die Weinfelder. Was mache ich jetzt bloß?, fragte er sich verzweifelt. Wohin soll ich flüchten? Warum habe ich mich überhaupt tätowieren lassen? Das war Jimmys Idee gewesen. Sie hatten ein großes Ding abgezogen und waren danach in eine Kneipe gegangen, um zu feiern, und ehe er es sichs versah, waren sie alle tätowiert. Ich hätte diese Regan Reilly einfach umbringen sollen, dachte er, Nägel mit Köpfen machen müssen. Zumindest hätte Jimmy das getan. Wer hat ihr nur das Foto geschickt? Egal, sagte er sich. Ich muss jetzt dringend von hier verschwinden. Aber wie? Eine rettende Idee zuckte ihm durch den Kopf. Natürlich, Whitneys Auto, dachte er. Das ist meine einzige Chance. Wie gehetzt rannte er weiter, blieb aber unvermittelt stehen, als der Schuppen in Sichtweite kam. Direkt vor der Tür parkte ein altes Auto und blockierte den Ausgang. Wem zum Teufel gehörte der Wagen? Und warum stand er da? Fieberhaft blickte Rex sich um. Niemand war in Sicht. Er rannte auf den braunen Viertürer zu. Glück gehabt – der Zündschlüssel steckte. Er sprang hinein und drehte den Schlüssel um. Stotternd erwachte der Motor zum Leben – und erstarb. Immer wieder trat Rex aufs Gas, aber erst beim dritten Versuch sprang der Wagen an. Rex atmete auf. Doch als er den Rückwärtsgang einlegte, kam plötzlich ein massiger Mann mit einem Spaten in der Hand um den Schuppen gelaufen. »He! Was fällt Ihnen ein?«, schrie er. Rex fluchte laut und drückte aufs Gaspedal. Ächzend setzte sich der Wagen in Bewegung. Sofort bremste er ab und wechsel238
te in den Vorwärtsgang. Er riss das Auto haarscharf herum, schoss auf die Sandstraße und deckte seinen Verfolger mit einer Ladung Staub ein. Im Rückspiegel sah er, wie der Mann in hilfloser Wut die Faust schüttelte. »Na los, geh wieder zu deinen Grabungen!«, feixte Rex und raste weiter. Wenigstens war die Straße keine so erbärmliche Buckelpiste wie die andere Zufahrt zum Altered States. Er blickte auf das Armaturenbrett. Es sah aus wie eines aus den sechziger Jahren. Sehr elementar. Es gab nicht viele Knöpfe und Tasten, über deren Funktion man erst groß nachgrübeln müsste. Völlig unübersehbar war der Zeiger, der empört im roten Feld der Tankskala zitterte. Leer. Fahr endlich an eine Säule, du Idiot!, schien er zu sagen. Wütend hieb Rex mit der Faust auf das Lenkrad ein und wollte gerade in einer großzügigen Kurve nach rechts auf die Hauptstraße einschwenken, als der Van, der ihm dort entgegenkam, sein Tempo drosselte. Der Fahrer suchte offenbar nach einer Abbiegung. Mit viel zu viel Schwung prallte Rex gegen die vordere Stoßstange des Transporters mit der Aufschrift GOS News. Keep Watching und schrappte an der Seite entlang. Das erwies sich jedoch für seinen gestohlenen Oldtimer als höchst fatal. Er drehte sich halb um die eigene Achse und – aus. Fieberhaft versuchte Rex, wieder zu starten. Nichts ging. Der Tank war endgültig leer. Rex stieß die Tür auf und flüchtete zurück die Sandpiste hinunter, als ein Polizeifahrzeug mit heulender Sirene den Highway entlanggebraust kam. Der Streifenwagen bog hinter Rex auf die Zufahrt ein und bremste erst knapp zwei Meter hinter ihm. Zwei Beamte sprangen heraus. »Stehen bleiben! Hände hoch!«, schrie einer. »Sofort!« Rex hetzte weiter, warf aber einen schnellen Blick über die Schulter zurück. Ein verhängnisvoller Fehler. Lilacs schwarze Katze unternahm gerade ihren Nachmittagsspaziergang und kreuzte in diesem Augenblick seinen Weg. Als er sich nun wieder umdrehte, bemerkte er das Tier vor seinen Füßen und 239
wollte ihm mit einem hastigen Schritt zur Seite ausweichen. Aber er trat fehl, verlor das Gleichgewicht und landete mit dem Gesicht nach unten im Dreck. Zwei Sekunden später hatten ihm die Polizisten Handschellen angelegt. Lynne B. Harrison jauchzte vor Entzücken. Ihr Kameramann hatte das gesamte Geschehen eingefangen. Innerhalb kürzester Zeit würde die Verbrecherjagd landesweit über die Fernsehschirme flimmern. Das machte jede Beule und jede Schramme am Ü-Wagen definitiv wett.
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alter war fuchsteufelswild, aber auch verunsichert und ein wenig ängstlich. Bella würde ihn umbringen! Er hatte den Zündschlüssel stecken lassen und nun war der Wagen weg. Er hatte es gründlich vermasselt. Aber wer konnte auch ahnen, dass jemand diese Rostlaube stehlen würde? Und dann ausgerechnet hier, im Nirgendwo. Und wer war der Bursche? Ein entflohener Sträfling? Mürrisch sah er dem Schrotthaufen auf vier Reifen nach, bis er seinen Blicken entschwunden war. Und was jetzt?, fragte er sich. Ich muss den Diebstahl bei der Polizei melden. Aber dann will man bestimmt von mir wissen, was ich hier eigentlich zu suchen habe. Man wird herumschnüffeln und dabei auf die tiefen Löcher hinter dem Schuppen stoßen. Bella wird mich jedenfalls umbringen. Seit einer Woche opferte sie jede Mittagspause für die Suche nach dem Schatz ihres Großvaters. Und nun war alles umsonst. Jetzt weiß ich, was ich mache, dachte er. Ich schaufle die Löcher einfach wieder zu. Dann laufe ich zu diesem Kerzenund-Weinladen und wir rufen die Polizei. Walter schulterte den Spaten und marschierte los. Doch als er zur Rückseite des Schuppens kam und die vielen Gruben nebst den dazugehörenden Erdhaufen erblickte, hätte er am liebsten geheult. »So ein verdammter Mist!«, schrie er und schleuderte frustriert den Spaten von sich. Er flog durch die Luft und landete in dem am weitesten entfernten Loch. Die scharfe Kante des Metallblatts schürfte eine Grubenseite auf, Sandbrocken lösten sich. Es war das Loch, mit dem Bella am Montag begonnen hatte.
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Walter holte tief Luft und stapfte auf das Loch mit dem Spaten zu. Als er nach dem Werkzeug greifen wollte, stutzte er. In der Grubenwand, die der Spaten aufgeschürft hatte, schimmerte es rötlich. Walter ging in die Knie und kratzte mit den Fingern die Erde fort. Die rötliche Fläche wurde breiter, höher. Sah sie nicht aus wie die Seitenwand eines Behälters, einer Truhe? Gott im Himmel!, durchzuckte es ihn. Könnte das vielleicht Bellas Schatz sein? Walter packte den Spaten und begann mit für ihn untypischer Energie das geheimnisvolle Objekt freizulegen. O bitte, flehte er inbrünstig, lass das Ding Grandpa Wards Schatz sein! Dann wäre der Verlust des Autos leichter zu verschmerzen. »Es ist eine Truhe!«, jubelte er wenige Minuten später. »Eine wirkliche, wahrhaftige Schatztruhe!!!« Die Truhe steckte zwar noch immer teilweise in der Erde, aber der Riegel lag frei. Walter fummelte nervös an ihm herum, bis er ihn geöffnet hatte. Er hielt inne. Bitte lass mich etwas Gutes und Kostbares finden, betete er, atmete tief durch und hob langsam den Deckel. In der Kiste lagen alte Weinflaschen in unterschiedlichen Formen, Größen und Farben. Walter nahm eine weitbauchige Flasche heraus und betrachtete sie genauer. Auf das grüne Glas waren ein Wappen, die Jahreszahl 1698 und das Wort London geprägt. »O mein Gott, sind die schön«, seufzte er hingerissen und griff nach einer weiteren Flasche. Sie zeigte ein anderes Wappen, die Jahreszahl 1707 und stammte offenbar aus Rom. Walter zählte aufgeregt. Insgesamt zwölf Flaschen! Der Wunschtraum eines jeden Sammlers! Vor ein paar Tagen erst war Walter im Pub mit Touristen ins Gespräch gekommen, die sich als Weinexperten ausgegeben hatten. »Aber hin und wieder brauchen wir einfach ein Bier«, meinten sie lachend.
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Von den Touristen hatte Walter erfahren, dass für eine Weinflasche aus dem siebzehnten Jahrhundert bei einer Auktion in Edinburgh kürzlich mehr als zehntausend Pfund erzielt wurden. Sie hatten ihm erklärt, dass Weinfreunde damals zunächst die Flaschen kauften und diese dann in einer Kellerei ihrer Wahl abfüllen ließen. Der hohe Preis hatte allerdings selbst den Auktionator überrascht. Der war von höchstens vierhundert Pfund ausgegangen. »Heureka!«, schrie Walter. »Wir haben einen Schatz gefunden!« Mit einem hastigen Blick vergewisserte er sich, dass niemand herumschlich und darauf wartete, Bellas – und seinen – Schatz zu rauben. Schließlich hatte man ihm bereits seinen Wagen gestohlen, doch das war ihm inzwischen egal. Die Flaschen würden ihnen wahrscheinlich Hunderttausende von Dollars einbringen! Er und Bella konnten sich neue Autos kaufen. Jetzt gab es nur noch ein Problem: Wie bekamen sie ihren Schatz sicher nach Hause? Walter klappte den Deckel zu, bedeckte die Kiste mit Sand und markierte die Stelle mit ein paar Steinen. Schnell schüttete er auch alle anderen Gruben zu. Dann lief er zum Bach, wusch sich die Hände und trocknete sie sich an seinen Chinos ab, auf denen die Feuchtigkeit den Staub zu Dreckschlieren verkrustete. »Macht nichts«, lachte er. »Kaufe ich mir eben neue Hosen.« Mit federnden Schritten lief er auf den Souvenirladen zu. »Ich kaufe mir ein Paar neue Hosen«, sang er unbeschwert vor sich hin. »Und dann kaufe ich mir neue Schuhe und einen Sakko und neue Hemden und …« Wer ihn durch die Weinfelder schlendern sah, hätte annehmen können, dass Walter soeben eine Einladung zum Vorsingen am Broadway erhalten hatte.
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as geht da draußen vor?, fragte sich Whitney. Sucht mich vielleicht endlich jemand? Irgendwann hatte sich ein Auto genähert und vor dem Schuppen gehalten. Eine Weile später hörte sie, wie der Motor wieder gestartet wurde. Und dann hatte ein Mann irgendetwas geschrien. Wie sonderbar! Sonst interessierte sich doch niemand für diesen Schuppen. Er lag so weit abseits und wurde seit Jahren nicht mehr genutzt. Whitney rief sich die Entspannungstechniken ihres Onkels in Erinnerung und bemühte sich um Gelassenheit und innere Ruhe. Sie versuchte, jeden Gedanken an ihre verzweifelte Situation zu verdrängen und ihre Angst durch positive Gedanken zu ersetzen. Sie redete sich sogar ein, dass sie eine Rolle spielte, in der sie zwar entführt, aber bald gerettet wurde. Der Knebel verhinderte zwar ein tiefes Luftholen, dennoch konnte sie ihre Atmung kontrollieren. Immer schön langsam und regelmäßig, sagte sie sich. Denk an etwas Angenehmes. Beständig und methodisch bewegte Whitney ihre Hände und Füße, um die Fesseln zu lockern. Dabei dachte sie an Frank. Wenn ich doch wenigstens schlafen könnte, überlegte sie. Das wäre eine Erleichterung. Wenn ich danach erwache, bin ich vielleicht gerettet. Er kann mich schließlich nicht für immer hier gefangen halten – oder doch? Whitney schloss die Augen und glaubte, einen kaum wahrnehmbaren Rauchgeruch zu verspüren. O Gott, mach, dass ich mir das nur einbilde!, flehte sie inständig. Aber sie wusste sofort, dass ihre Phantasie ihr keinen Streich spielte. In den letzten Monaten hatte es kaum geregnet und die Gefahr von Waldbränden war allgegenwärtig. Ich darf auf keinen Fall einschlafen, sagte sie sich.
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Whitney kniff die Augen ganz fest zu. An alle Schutzengel und guten Geister im Universum, betete sie, könnt ihr mich hören? Wenn ja, schickt die Botschaft aus, dass ich dringend Hilfe brauche. Irgendjemand muss mich doch finden. Bitte! Helft mir!
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ie haben ihn gerade festgenommen!«, rief Regan. Sie stand in der Empfangshalle und telefonierte mit der Besatzung des Streifenwagens. An ihrem Hals zeigten sich rote Druckspuren. »Er hat mit einem gestohlenen Auto auf dem Highway den Ü-Wagen eines Fernsehteams aus Los Angeles gerammt.« »Wenn ich den zu fassen kriege …«, knurrte Luke. Alarmiert von Regans gellenden Hilfeschreien, waren Luke, Nora und Lilac herbeigeeilt. Lilac hatte sofort die Polizei gerufen, die auf ihrem Weg zum Altered States Lesser festnehmen konnte. Darüber wollten die Beamten Regan so schnell wie möglich in Kenntnis setzen. Inzwischen hatten sich ihre Eltern, Lilac und deren Brüder um sie und das Telefon geschart. »Sein richtiger Name ist Rex Jordan«, verkündete der Polizist. »Und wem gehört der gestohlene Wagen?«, fragte Regan. Der Beamte am anderen Ende der Leitung sah in der Zulassung nach. »Walter und Bella Hagan.« »Bella?«, wiederholte Regan überrascht. »Sie arbeitet hier auf dem Weingut. Lesser – nein, Jordan – ist nach hinten raus über die Weinfelder geflüchtet. Jetzt frage ich mich nur, wo er an dieses Auto gekommen sein könnte.« Lilac sah Earl an. »Hol Bella.« Ihr Bruder nickte und eilte zur Tür hinaus. »Wir bringen Jordan jetzt erst mal aufs Revier«, fuhr der Beamte fort. »Okay. Ich rufe meinen Freund Jack Reilly in New York an und teile ihm die Neuigkeit mit. Vermutlich wird er sich dann mit Ihnen in Verbindung setzen.« »Davon gehe ich aus. Er kann uns jederzeit anrufen.« 246
Für einen kurzen Augenblick zögerte Regan. Doch dann beschloss sie, dem Polizisten nichts von ihrer Sorge um Whitney zu erzählen und ihren vagen Verdacht, dieser Lesser-Jordan könnte etwas mit ihrem Schweigen zu tun haben, für sich zu behalten. Nicht vor Lilac. Regan dankte dem Beamten und beendete das Gespräch. Sie würde Jack bitten, später mit ihm über Whitney zu sprechen. »Ich denke, es ist höchste Zeit für ein schönes Glas Wein«, verkündete Lilac lächelnd. »Irgendwo auf der Welt ist es ja sicher längst fünf Uhr«, witzelte Luke. Er legte einen Arm um Regan. »Komm, mein Schatz. Entspannen wir uns ein bisschen. Wir haben es alle dringend nötig.« »Gleich, Dad. Aber erst muss ich Jack anrufen.« Regan ging mit ihrem Handy auf die hintere Terrasse hinaus. Die Nachmittagssonne tauchte die Weinberge in ein sanftes Licht. War es wirklich erst zwei Tage her, dass Jack und sie hier ein ruhiges Wochenende hatten verbringen wollen? Regan wählte seine Nummer und blickte in die Ferne. Ein leicht ätzender Geruch lag in der Luft – der Wind trieb die Rauchschwaden der fernen Waldbrände auf das Weingut zu. »Hallo?« Jack meldete sich nach dem ersten Klingelzeichen. »Wenn du mich nicht hättest …« »Ich weiß, wie wichtig du für mich bist, aber was meinst du genau?«, lachte Jack. »Er sitzt bereits hinter Gittern.« »Wer?« »Die hiesige Polizei hat soeben Rex Jordan geschnappt.« »Unglaublich!« »Er hat mit einem gestohlenen Auto einen Unfall verursacht. Ich habe dem Beamten gesagt, dass du dich melden wirst. Könntest du bitte Whitney erwähnen, wenn du mit ihm sprichst? 247
Sie hat noch immer nichts von sich hören lassen, und ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Jordan auf irgendeine Weise dahinterstecken könnte. Vielleicht bringt ihn die Polizei ja zum Reden.« »Mache ich«, versprach Jack. »Außerdem bin ich mir fast sicher, dass er mit Lucretias Verlobtem gemeinsame Sache macht. Wenn du darüber auch noch etwas herausfinden könntest …« »Ich bemühe mich.« »Vielen Dank Jack. Melde dich, sobald du etwas weißt.« »Aber Regan, du bist doch diejenige, die Neuigkeiten zu berichten hat.« »Nun, lieber wäre mir im Moment allerdings die Gewissheit, dass Whitney gesund und munter ist.« »Mir auch«, versicherte Jack.
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dward Fields war mit seinen Nerven am Ende. Er hatte gerade seine Unterhaltung mit Rex beendet und wollte in sein Zimmer zurück, als er lautes Geschrei hörte. Er blickte aus dem Fenster und musste feststellen, dass Rex dabei war, über die Weinfelder zu flüchten. Das sah nicht gut aus, gar nicht gut. Ob Rex alles ausplauderte, wenn er geschnappt wurde? Es klopfte an seine Tür. »Ja?«, fragte er misstrauisch. »Ich bin’s, Darling.« »Oh, aber komm doch herein.« Lucretia betrat den Raum. Sie hatte ein wenig geschlafen und sich für das Abendessen in ihren apricotfarbenen Seidenanzug geworfen. Edward verharrte zusammengekrümmt auf seinem Bett. »Was ist denn? Hast du etwa Schmerzen?«, erkundigte sich Lucretia besorgt und setzte sich neben ihn. »Mir geht es gar nicht gut.« Lucretia legte eine Hand auf seine Stirn. »Fieber hast du nicht.« »Aber scheußliche Magenschmerzen«, stöhnte er gequält auf. »Wie unangenehm!«, gurrte Lucretia sanft. »Aber du solltest wirklich dafür sorgen, dass es dir bald wieder besser geht, Darling. Zu unseren Ehren wird immerhin ein ProbeHochzeitsessen vorbereitet und es ist so viel los hier, ganz unglaublich aufregende Dinge sind geschehen.« »Aufregende Dinge?«, mimte Edward den Unwissenden. »Irgend so ein Kerl hat diese sympathische Miss Reilly im Büro brutal überfallen. Sie hat herausgefunden, dass nach ihm gefahndet wird. Aber inzwischen befindet er sich Gott sei Dank hinter Schloss und Riegel.« 249
»Tatsächlich?« »Ja, ist das nicht großartig? Er scheint ein ganz übler Ganove zu sein, einfach schrecklich. Die Polizei in New York sucht ihn schon seit einer Weile und genau dorthin wird er nun gebracht. Wie es heißt, muss er wohl mit einer sehr langen Gefängnisstrafe rechnen. Lilac kann sich beim besten Willen nicht erklären, was er hier eigentlich wollte. Nun, das wird man vermutlich auch noch herausbekommen.« Fürsorglich tätschelte Lucretia Edwards Wange. »Im Moment versammeln sich alle, um ein Glas Wein miteinander zu trinken. Warum gehst du nicht ins Bad und nimmst eine Dusche? Vielleicht fühlst du dich danach wohler und kannst uns Gesellschaft leisten. Es ist doch auch dein großer Abend, Darling.« »Ich weiß.« Als Lucretia die Tür hinter sich geschlossen hatte, starrte Edward reglos zur Decke hinauf. Was soll ich nur tun?, fragte er sich verzweifelt. Vielleicht sollte ich ihnen verraten, dass Whitney hier auf dem Gut gefangen gehalten wird. Falls Rex mich tatsächlich bei der Polizei verpfeift, muss es sich schließlich günstig für mich auswirken, dass ich zu ihrer Befreiung beigetragen habe. Ich könnte sagen, dass eine Entführung niemals und unter keinen Umständen beabsichtigt gewesen war und dass Whitney lediglich von ihrer Teilnahme an der Hochzeit abgehalten werden sollte. Aber damit wäre alles aus. Lucretia würde ihn nie heiraten und er säße sehr wahrscheinlich für einige Jahre hinter Gittern. Nein. Ich lasse es drauf ankommen. Ich gehe das Risiko ein. Whitney muss sich eben noch ein wenig gedulden. Sobald Lucretia und ich verheiratet sind, wird sie freigelassen und alles ist in Ordnung. Edward stand auf, lief ins Bad und musste sich prompt übergeben. Immerhin, diesbezüglich habe ich nicht gelogen, dachte er. 250
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ella stand mitten im Souvenirladen. Unwillkürlich hielt sie die Luft an, als Earl zur Tür hereinkam, langsam auf sie zuging und behutsam nach ihrer Hand griff. »Ich möchte, dass Sie sich jetzt nicht aufregen.« »Was ist passiert?«, kreischte Bella. »Ist Walter etwas zugestoßen?« Bedächtig schüttelte Earl den Kopf. »Was dann?«, zischte Bella. Earl war wirklich unmöglich. Sie ohne Not derart aufzuregen! »Ihr Auto wurde gestohlen.« »Gestohlen? Wo?« »Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Earl und berichtete von den Vorfällen im Büro, von »Dons« Flucht über die Weinfelder, wo er irgendwo den Wagen gestohlen und dann einen Unfall gebaut hatte. Bellas Herz setzte einen Schlag aus. Dieser Mann musste ihn vor dem Schuppen entdeckt haben. Aber wo war Walter? »Gehen Sie ins Haus«, drängte Earl. »Ich bleibe für den Fall, dass Kunden auftauchen.« Bella verließ den Laden genau in dem Moment, da Walter angelaufen kam. Übermütig hob er sie hoch, wirbelte sie durch die Luft und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Lippen. »Mein Gott, Walter!«, rief Bella. »Geht es dir gut?« »Natürlich. Warum denn nicht?« »Aber das Auto wurde gestohlen.« »Woher weißt du das?«
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»Es wurde von einem Typen gestohlen, der hier auf dem Weingut eine junge Frau umbringen wollte. Dann hat er unseren Wagen auf der Hauptstraße zu Schrott gefahren.« Walter lächelte unverwandt weiter. Langsam bekam Bella es mit der Angst zu tun. »Warst du vielleicht zu lange in der Sonne, Walter?« Walter grinste sie nur an. »Nein?« »Nein. Ich muss dir unbedingt etwas sagen, Bella.« »Was?« »Ich habe den Schatz gefunden.« Außer sich vor Freude, hopste Bella von einem Fuß auf den anderen. »Was ist es?«, flüsterte sie atemlos. Hastig berichtete Walter von seinem Fund. »Aber wir müssen jetzt schleunigst ein Auto mieten, um die Flaschen zu holen. Glaub mir, sie sind mindestens ein paar hunderttausend Dollar wert.« »Ich fasse es nicht!«, jubelte Bella. »Grandpa Ward hat alte Weinflaschen gesammelt. Und später in Kanada waren es dann alte Zeitungen.« Wieder dämpfte sie ihre Stimme. »Wir müssen ins Haus und die Polizei wegen unseres Wagens anrufen. Aber wie erklären wir, dass er vor dem Schuppen stand?« »Ich wollte dich besuchen und habe die falsche Abbiegung erwischt.« »Aber du hast mich heute früh hier auf dem Parkplatz abgesetzt.« »Mein Orientierungssinn lässt zu wünschen übrig.« Lachend gab Bella ihm einen flüchtigen Kuss. Gemeinsam und zutiefst zufrieden betraten sie die Empfangshalle der Lodge.
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ynne B. Harrison berichtete live vom Unfallort. »Ein unglaublicher Zufall«, begann sie aufgeregt. »Wir waren gerade auf dem Weg zu Lucretia Standish, die sich zu einem Familienbesuch in der Altered States Winery aufhält, als wir von einem gestohlenen Wagen gerammt wurden! Am Steuer saß ein gesuchter Verbrecher, der die letzte Nacht als Gast auf Altered States verbracht hat. Wir hatten gerade die Gutsgrenze erreicht, als der Wagen aus einer Seitenstraße geschossen kam und mit uns zusammenstieß …« Es folgten Aufnahmen von Rex, wie er aus dem Auto sprang, zu flüchten versuchte und über die Katze stolperte. Dem Kameramann war es gelungen, Rex’ Gesicht in Großaufnahme einzufangen. »… Der Fahrer wurde als Rex Jordan aus New York identifiziert. Sobald Näheres über Jordans dubioses Vorleben bekannt gegeben wird, erfahren Sie es hier bei uns. Und jetzt begeben wir uns erst einmal zu Lucretia Standish, unserer jungen Braut. Das war Lynne B. Harrison für GOS-TV. Wir melden uns später wieder mit den neuesten Nachrichten!«
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ls Regan von der Terrasse zurückkam, warf sie zufällig einen Blick aus dem Fenster und bemerkte, wie Bella auf dem Parkplatz einen Mann küsste. Das Paar wirkte ausgesprochen vergnügt. Sonderbar, dachte sie. Ist nicht gerade ihr Auto gestohlen worden? Sie nahm von Lilac ein Glas Wein entgegen und setzte sich gerade auf eine der Couchs, da rauschte Lucretia herein. »Ihr Lieben«, lächelte sie strahlend. »Ich denke, es ist wirklich allerhöchste Zeit, ein wenig zu feiern.« »Und wo bleibt Edward? Müssen wir etwa auf seine Gesellschaft verzichten?«, fragte Regan. »Ich hoffe nicht. Aber der Arme hat Bauchschmerzen.« Das wundert mich überhaupt nicht, dachte Regan. Lucretia setzte sich Regan gegenüber auf die andere Couch neben Nora und Luke. Lilac reichte ihr ein Glas Wein. »Leon will schnell noch ein paar Dinge erledigen«, entschuldigte sie ihren Bruder. »Aber er müsste gleich hier sein. Oh, da kommt Bella.« Lilac machte alle miteinander bekannt und wandte sich dann an Bellas Mann, der aussah, als hätte er sich ausgiebig in schmutziger Erde herumgewälzt. »Es tut mir sehr leid, dass Ihr Wagen gestohlen wurde, Walter. Wo hatten Sie ihn denn geparkt?« Walter lachte. »Ich wollte Bella einen Besuch abstatten, erwischte aber die falsche Zufahrtsstraße und landete an einem uralten Schuppen irgendwo ganz hinten auf dem Gelände. Aber die Berge waren so verlockend, dass ich beschloss, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Als ich zurückkam, macht 254
sich da so ein Typ an meinem Wagen zu schaffen und rast auf einmal davon. Also komme ich hierher, um die Polizei zu alarmieren, und Bella erzählt mir, dass der Bursche einen Unfall gebaut hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Ist das zu fassen?« Klingt wenig glaubhaft, dachte Regan. Wenn jemand mein Auto gestohlen hätte, würde ich jedenfalls nicht so feixen. Was ist mit den beiden eigentlich los? Anscheinend haben sie ein seltsames Faible für Sand und Erde. Bella verschwindet in der Mittagspause irgendwo in den Weinfeldern und kommt mit schmutzigen Fingernägeln zurück. Und Walters Hosen sehen aus, als müssten sie dringend in die Waschmaschine. »Nun rufen Sie erst einmal die Polizei an und dann setzen Sie sich zu uns. Trinken Sie doch ein Glas Wein«, schlug Lilac vor. »Das würden wir zu gern tun«, erklärte Bella, »aber ich muss in den Laden zurück.« »Ich werde Earl sagen, dass er zumachen kann. Jetzt kommen ohnehin keine Kunden mehr.« »Wenn Sie meinen …«, strahlte Bella. Der kann wohl nichts die gute Laune verderben, dachte Regan. Die Tür öffnete sich und ein Pärchen betrat die Empfangshalle. »Guten Tag. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«, fragte Lilac zur Begrüßung. Der Blick der Frau blieb an Lucretia hängen. »Wir sind hier mit Miss Standish verabredet.« Lucretia sprang auf die Füße. »Hallo!« »Guten Tag, Miss Standish. Ich bin Heidi Durst und das hier ist Frank Kipsman.« Sie wandte sich Lilac zu. »Und Sie sind bestimmt Whitney Weldons Mutter, nicht wahr?« »Ja.« »Das dachte ich mir! Die Ähnlichkeit ist unverkennbar! Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen. Ich bin die Produzentin von Getäuscht, Ihre Tochter spielt darin eine Hauptrolle und 255
Frank ist unser Regisseur. Jetzt habe ich auch Lucretia eine Rolle angeboten, und sie meinte, wir könnten uns hier auf ein Glas Wein treffen.« »Da kommen Sie ja gerade richtig«, lächelte Lilac. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Regan hatte den Eindruck, dass der Regisseur sich äußerst unbehaglich fühlte. »Ist Whitney hier?«, fragte er Lilac. »Nein. Sie nimmt heute an einem Seminar teil. Aber morgen fahren wir gemeinsam mit ihr zu Lucretias Hochzeit.« Nein, er fühlt sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut, dachte Regan. Ich kann förmlich spüren, dass er lieber ganz woanders wäre. Diese Probleme scheint Heidi Durst hingegen nicht zu haben. Jetzt sitzt sie schon direkt neben Lucretia und schwatzt auf sie ein. Regan stand auf und trat auf Frank Kipsman zu. »Mein Name ist Regan Reilly. Ich habe Whitney gestern Abend hier auf dem Weingut kennen gelernt.« »Tatsächlich?« Er sah sie überrascht an. »Haben Sie vielleicht zufällig heute schon mit ihr gesprochen?«, wollte Regan wissen. Wieder wirkte er erstaunt. »Nein. Warum fragen Sie?« »Ich habe gehofft, Sie hätten vielleicht mit ihr telefoniert. Wir haben nämlich mehrmals versucht, Whitney zu erreichen, aber sie hat nie zurückgerufen.« Jetzt wich die Überraschung auf seinem Gesicht aufrichtiger Sorge. »Ich habe sie heute früh gegen acht angepiepst. Bisher hat sie sich darauf immer gemeldet. Aber auch ich habe heute noch nichts von ihr gehört.« »Entschuldigung, aber könnte es sein … sind Sie beide ein Paar?«, fragte Regan leise. »Ja.« Und da wusste Regan mit Sicherheit, dass Whitney Weldon etwas zugestoßen war. 256
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hyllis sah auf die Uhr. Nach etlichen Tassen Tee war Charles Bennett mit der Erkenntnis nach Hause gegangen, dass sie Miss Standishs Eheschließung beim besten Willen nicht mehr verhindern konnten. Wenn sie diesen Kerl heiraten wollte, dann war das allein ihre Sache. Keiner von ihnen verfügte über handfeste Argumente, um sie von ihren Plänen abzubringen. Schön und gut, Edward Fields gefiel ihnen nicht, sie konnten ihn nicht ausstehen, er erfüllte sie mit Misstrauen, aber das reichte kaum aus. »Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, geben Sie mir bitte sofort Bescheid«, sagte Charles, als sie ihn zur Tür brachte. Phyllis ging zurück in die Küche. Sie machte sich große Sorgen. Eigentlich war sie immer noch der Meinung, dass ihr eine Bezahlung von Lilac zustand, denn Lucretia wollte den Weldons das Geld in jedem Fall schenken. Es war, als würde man in einer Quizshow eine Runde verlieren, aber trotzdem den Hauptpreis einheimsen. Außerdem befand sich Lucretia ja nur deshalb bei dem »Familientreffen« auf Altered States, weil Phyllis Lilac benachrichtigt hatte. Sonst wäre diese Einladung nie zustande gekommen. Himmel, wenn Lucretia nicht heiraten würde, könnten die Weldons irgendwann sogar mit weit mehr Millionen rechnen als jetzt, wo die Eheschließung mit dem grässlichen Edward Fields drohte. Sie würden doch aber nicht etwa versuchen, Phyllis um ihre Provision zu betrügen, oder? Sie seufzte tief und wischte noch einmal über das Küchenbuffet, blickte sich um und befand, dass alles blitzblank genug war. Morgen würde sie noch etwas früher kommen als sonst, um die letzten Vorbereitungen für das Fest zu treffen. Jetzt gehe ich erst einmal nach Hause, lege die Füße hoch und sehe ein bisschen fern, nahm sie sich vor. Sie verschloss sorgfältig die Tür zum 257
Garten und wollte gerade die Küche verlassen, als das Telefon klingelte. Um ein Haar hätte sie sich auf den Anrufbeantworter verlassen. Na gut, auf eine Beschimpfung mehr oder weniger kommt es auch nicht an, dachte sie, als sie zum Hörer griff. »Hier bei Lucretia Standish.« »Guten Tag, spreche ich mit Phyllis, Lucretia Standishs Haushälterin?«, fragte die Anruferin. »Am Apparat.« »Oh, das ist gut. Ich muss unbedingt mit Ihnen über Miss Standish sprechen. Seit Tagen verfolge ich nun schon die Sendungen im Fernsehen, aber der Bericht vor wenigen Minuten ließ mich zum Telefon greifen.« »Welcher Bericht?« »Über den Mann, den die Polizei auf dem Weingut festgenommen hat.« »Auf dem Weingut wurde ein Mann festgenommen?«, rief Phyllis aufgeregt. »Und ausgerechnet das habe ich jetzt verpasst!« »Wie gesagt, der Bericht wurde gerade erst ausgestrahlt. Der Kerl ist ein gesuchter Verbrecher und war als Gast in der Lodge.« »Du meine Güte …!« »Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Ich saß gestern auf dem Flug von New York nach Los Angeles direkt neben ihm.« »Was Sie nicht sagen!« »Ich fand ihn reichlich unhöflich. Er machte sich auf der Armlehne breit und musterte mich finster, als ich mich auf dem Weg zur Toilette an ihm vorbeizwängen musste. An der Gepäckausgabe drängelte er sich rücksichtslos vor, um als Erster an seinen Koffer zu kommen. Zufällig verließen wir zur selben 258
Zeit den Terminal, und ich bemerkte, dass er von einem Freund erwartet wurde, den er mit ›Hallo, Eddie‹ begrüßte. Und nun halten Sie sich fest: Ich habe ihn einwandfrei als den Mann erkannt, den Miss Standish morgen heiraten will.« Phyllis brauchte einen Moment, um die Information zu verdauen. »Edward hat diesen Kerl vom Flughafen abgeholt?« »Eddie, Edward – wie auch immer. Er kennt diesen Typen, und offenbar auch sehr gut. Ich finde, das sollte Miss Standish unbedingt erfahren. Sie ist schließlich nicht unvermögend, und dieser Mann, den sie heiraten will, scheint nicht gerade ehrenwerte Absichten zu haben. Meine Schwester hat einen Mann geheiratet, den niemand ausstehen konnte, aber keiner hatte den Mut, etwas zu sagen. Er hat ihr nur Kummer und Elend gebracht und natürlich endete es mit einer Scheidung. Jetzt will sie von uns wissen, warum sie niemand vor ihm gewarnt hat. Das höre ich so oft von ihr, dass ich beschlossen habe, diesmal meinen Mund aufzumachen, auch wenn ich Miss Standish gar nicht kenne. Wenn ich auch nur einer Frau ersparen kann …« »Sehr klug und vernünftig«, unterbrach Phyllis ihren Redefluss. »Und Sie sind sich wirklich ganz sicher, dass es Edward Fields war, der diesen Kerl abgeholt hat?« »Ja, absolut sicher. Als ich ihn gestern im Fernsehen sah, trug er dasselbe Hemd wie auf dem Flughafen. Rosa. Das ist mir aufgefallen, weil ich gerade ein rosafarbenes Hemd für meinen Mann gekauft hatte. Als ich mir heute das Fernsehinterview mit Ihnen ansah, hatte ich das Gefühl, dass Sie für mich die richtige Gesprächspartnerin sind. Und nun möchte ich nur eins von Ihnen wissen: Warum tut sich Miss Standishs künftiger Mann mit einem gesuchten Verbrecher zusammen?« »Ich glaube, damit stellen Sie die Vierundsechzigtausenddollarfrage.« »Vermutlich.« »Nun, auf jeden Fall … vielen Dank für Ihren Anruf, Miss …« 259
»Green. Sherry Green.« »Sagen Sie mir doch, wo man Sie erreichen kann«, schlug Phyllis vor. »Gern.« Phyllis machte sich eine Notiz und verabschiedete sich. Sie legte auf und wählte sofort Charles Bennetts Nummer, um ihm von den neuesten Ereignissen zu berichten. »Das müssen wir Miss Standish unverzüglich mitteilen«, erklärte er entschlossen. »Damit können wir nicht bis morgen warten.« »Aber über so etwas spricht man doch nicht am Telefon.« »Dann lassen Sie uns zu diesem Weingut fahren.« »Jetzt?« »Warum nicht? Was sollte uns davon abhalten? Es ist schließlich wichtig. Sehr wichtig.« »Aber wir müssen vorher unbedingt bei mir vorbeifahren, damit ich mir etwas anderes anziehen kann.« »Ganz wie Sie wollen.« Charles legte auf. »Endlich!«, rief er und klatschte in die Hände. »Wir machen diesem elenden Wurm einen Strich durch seine Rechnung, bevor es zu spät ist!«
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a kommt meine Fernsehreporterin!«, jubelte Lucretia und sprang wie ein Gummiball in die Höhe. Begleitet von einem Kameramann, betrat Lynne B. Harrison den Raum und winkte grüßend in die Runde. »Hinter uns liegt eine ziemlich aufregende Fahrt.« »Ich hoffe, Sie haben alles schadlos überstanden. Aber nun möchte ich Ihnen erst einmal alle vorstellen.« Lucretia begann mit Heidi, die praktisch schon auf ihrem Schoß saß. »Das ist Heidi Durst, die Produzentin des Films, in dem meine Nichte Whitney Weldon eine …« »Whitney Weldon ist Ihre Nichte?«, unterbrach Lynne. »Was für ein merkwürdiger Zufall! Ihr Name wurde gerade im Radio erwähnt.« Regan spitzte die Ohren. »In welchem Zusammenhang?« »Oh, sie erzählten, wie gut sie ihre Rolle spielen würde, wie komisch und witzig sie sei.« »Wer würde so etwas sagen?«, wunderte sich Heidi. »Ich meine, wer könnte sich so detailliert über die Dreharbeiten äußern?« »Einer Ihrer Produktionsassistenten. Er war Gast der Talkrunde. Zusammen mit einem Schauspiellehrer, der heute offenbar ein Seminar abhalten wollte, das dann jedoch wegen der Waldbrandgefahr abgebrochen werden musste.« »Whitney wollte zu diesem Seminar«, warf Regan ein. Die Reporterin sah sie an. »Sie ist dort nicht aufgetaucht.« »Nicht aufgetaucht?«, wiederholte Lilac ungläubig. Im Raum wurde es mucksmäuschenstill.
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»S … so habe ich es zumindest v … verstanden«, stammelte Lynne verwirrt. »O mein Gott!«, stöhnte Lilac, als ihr der Ernst der Situation schließlich bewusst wurde. »Wurde sonst noch etwas über Whitney berichtet?«, wollte Regan wissen. »Nein. Sie haben hauptsächlich über die Brände gesprochen.« »Ich werde im Sender anrufen und fragen, ob der Seminarleiter noch da ist«, beschloss Regan. »Vielleicht hat sich Whitney heute früh bei ihm gemeldet, um ihre Teilnahme abzusagen. Wissen Sie zufällig den Namen des Senders?« »Die Talkshow nannte sich Dialogue with Dew.« Lynne wandte sich an ihren Kamermann. »Scott, erinnerst du dich an den Sendernamen?« »Nein. Aber ich laufe schnell zum Ü-Wagen. Das Radio muss noch auf ihn eingestellt sein. Bin gleich wieder da.« Bedrücktes Schweigen breitete sich aus. »Vielleicht hat sie sich entschieden, heute doch etwas anderes zu unternehmen«, bemerkte Heidi plötzlich hoffnungsvoll. Frank gab sich einen Ruck. »Ich habe sie heute früh angerufen. Sie hätte sich bestimmt bei mir gemeldet, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Aber das hat sie nicht getan.« Heidi musterte ihn durchdringend und verstand. Lilac sah Frank an. »Whitney kam mir gestern Abend irgendwie verändert vor. Sie sagte, sie wolle sich am Sonntag ausführlich mit mir unterhalten«, sagte sie leise. Frank und Lilac tauschten einen Blick voller Verzweiflung. Einen Moment später kam der Kameramann zurück und streckte Regan einen Zettel entgegen. »Ich habe kurz in den Sender hineingehört. Hier ist die Telefonnummer, über die die Hörer Kontakt aufnehmen können.« 262
Hastig drückte Regan auf die Tasten ihres Mobiltelefons. Eine Stimme meldete sich mit dem Sendernamen und bat um Geduld. »Komm schon, beeil dich!«, murmelte Regan. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, meldete sich die Zentrale wieder. »Ja. Ich muss dringend mit einem Gast Ihrer Talkrunde sprechen. Er veranstaltet Seminare für Schauspieler …« »Das ist Norman. Einen Moment bitte. Bleiben Sie dran.« Wieder wartete Regan und hoffte inständig, dass Whitney ihre Teilnahme kurzfristig abgesagt hatte. Vielleicht hatte sie spontan beschlossen, den Tag lieber am Strand zu verbringen. Vielleicht gab es für alles eine ganz einfache Erklärung … »Hallo? Hier spricht Norman Broda.« Schnell stellte Regan sich vor. »Ich bin hier bei Whitneys Familie und wir machen uns Sorgen um sie. Wir haben gehört, dass sie nicht zu Ihrem Seminar erschienen ist. Hat sie sich denn bei Ihnen gemeldet?« »Nein«, seufzte Norman. »Das fand ich auch ein bisschen erstaunlich, weil sie sich erst gestern angemeldet hatte. Und sie klang ausgesprochen interessiert.« Regan schüttelte den Kopf. »Lassen Sie es uns bitte wissen, sobald Sie etwas von ihr hören.« »Meine Freundin ist hier beim Sender beschäftigt. Ich werde ihr vorschlagen, die Hörer zu bitten, nach Whitney Ausschau zu halten, und falls sie selbst zufällig die Sendung hört, sich bei Ihnen zu melden.« »Ja. Das ist eine gute Idee. Danke, vielen Dank.« Regan nannte ihm die Telefonnummer von Altered States, beendete das Gespräch und blickte schulterzuckend in die Runde. »Jetzt rufe ich bei der Polizei an. Aber da Whitney erst seit heute früh verschwunden ist, können wir sie noch nicht als vermisst melden …« 263
»Aber hier hat immerhin ein polizeilich gesuchter Krimineller übernachtet«, gab Lynne zu bedenken. Lilac sah aus, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Ich weiß«, entgegnete Regan. »Aber ich denke, wir sollten anfangen, selbst nach Whitney zu suchen. Sie könnte überall zwischen dem Weingut und dem Studio von diesem Norman Broda sein – also rund siebzig Meilen entfernt. Allerdings glaube ich nicht, dass sie sehr weit gekommen ist. Sie wollte um sechs Uhr früh aufbrechen. Falls Rex Jordan etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat, musste er spätestens um acht Uhr wieder hier sein, denn sonst wäre seine Rückkehr bemerkt worden. Das heißt, dass er nicht lange fort gewesen sein kann, und das zu Fuß, weil Whitneys Auto mit ihr verschwunden ist.« »Ich werde sofort eine Suchmeldung nach Whitney ausstrahlen lassen«, bot die Reporterin an. »Haben Sie vielleicht ein Foto von ihr?« »Im Büro!«, rief Lilac und rannte hinaus. Edward erschien in der Halle, hielt sich aber ein wenig abseits. »Whitney ist verschwunden, Darling!«, rief Lucretia ihm zu. »Das ist ja furchtbar!«, erwiderte er. »Wenn wir alle …« Das Klingeln ihres Handys ließ Regan verstummen. Sie blickte auf das Display, sah, dass Jack sie anrief, und meldete sich sofort. »Regan, ich habe gerade Rex Jordans Verbindungsnachweise vor mir. In den letzten Tagen hat er wiederholt ein und dieselbe Nummer angerufen. Es könnte die unseres Freundes Edward sein. Ich habe sie angerufen, aber nur die elektronische Voicemail erreicht.« Regan sah zu Edward hinüber, der sich mittlerweile in die hinterste Ecke des Raums verdrückt hatte, als wollte er jeden Augenblick die Flucht ergreifen. »Wie lautet die Nummer?«, 264
fragte sie Jack. »Einen Augenblick bitte, ich schreibe sie mir lieber auf. Ich wiederhole: drei-eins-null-fünf-fünf-fünfsechzehn-zweiundvierzig.« »Das ist ja Edwards Nummer!«, rief Lucretia erstaunt. »Moment, Jack. – Ist das Ihre Handynummer?«, fragte Regan und blickte Edward durchdringend an. »Äh …« Er räusperte sich. »Ja.« »Gibt es einen besonderen Grund, warum Rex Jordan Sie in den letzten Tagen mehrmals angerufen hat?« »Was?«, ächzte Lucretia. »Ich … äh … ich …« »Du bist ein Komplize dieses Gangsters!«, kreischte Lucretia. »Ich kenne ihn aus New York … Ich habe versucht, ihm Probleme zu ersparen.« »Du hast mich angelogen!« Lucretia riss sich mit dramatischer Geste den Ring vom Finger und schleuderte ihn Edward vor die Füße. »Hugo, Edward, Eddie oder wie immer Sie auch heißen: Wo ist Whitney? Raus mit der Sprache!«, herrschte Regan ihn an. Edwards Gesicht wurde kalkweiß. »Woher soll ich das wissen? Ich habe nichts Unrechtes getan. Du musst mir glauben, Lucretia.« »Falls Whitney Weldon etwas zugestoßen sein sollte«, fuhr Regan in eiskaltem Ton fort, »werden Sie wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, dass in Kalifornien auf Entführung und Mord die Todesstrafe steht.« Auf einmal durchschnitt das Dröhnen von einundzwanzig Motorrädern die Luft. Gleich darauf stürmte Dirt herein, gefolgt von Big Shot. »Der Wind treibt die Brände von Westen auf Altered States zu. Wir
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sind gerade an Ihrem Schuppen da hinten vorbeigekommen – er steht bereits in Flammen. Überall fliegen Funken herum.« »Schnell, wir müssen sofort löschen!«, schrie Leon. »Gott sei Dank ist es nicht die Lodge. In dem Schuppen befindet sich nichts als altes Gerümpel.« »Das stimmt nicht«, flüsterte Edward mit bebenden Lippen. Es war vorbei. »Whitney ist im Schuppen. Gefesselt in ihrem Auto.« Lucretia schluchzte auf wie eine tödlich Verwundete. »Whitney!«, stieß sie den Namen ihrer Nichte hervor, der sie noch nie begegnet war – voller Schmerz und Angst, dass sie nun keine Chance mehr dazu erhielt.
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hitney wusste, was ihr bevorstand. Sie würde sterben und sie konnte es nicht verhindern. Rauch füllte den Schuppen. Die Hitze nahm immer mehr zu. Alle Meditationsübungen der Welt würden ihr nun nicht mehr helfen. Warum?, fragte sie sich. Warum gerade jetzt, wo mein Leben endlich eine so glückliche Wendung genommen hat? Sie hatte Frank kennen gelernt, genau den Mann, den sie sich immer erträumt hatte. Tränen traten ihr in die Augen. Whitney dachte an ihre Mutter, die sie allein aufgezogen hatte, und wünschte, sich nicht ständig über ihren Namen beklagt zu haben. Sie musste lachen. Dabei hätte es noch weit schlimmer kommen können. Sie wusste von ihrer Mutter, dass auch Poetry zur Wahl gestanden hatte. Ja, ihre Mom war vielleicht ein Hippie, aber eine bessere Mutter als sie gab es nicht. Jetzt befürchtete Whitney, dass Lilac an ihrem Tod zerbrechen könnte. Das hatte ihre Mom nicht verdient. Und Onkel Earl. Er war ein wunderbarer Mensch! Er hatte ihr das Meditieren beigebracht und erklärt, dass man das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden muss. »Konzentrier dich besser«, sagte er, wenn sie sich darüber beschwerte, dass ihre Gedanken so unkontrolliert herumvagabundierten. »Nutze diese Sprunghaftigkeit für komische Rollen, aber lass dein wirkliches Leben nicht davon beherrschen.« Onkel Leon verdrehte jedes Mal die Augen, wenn er das hörte. »Da schilt ein Esel das andere Langohr«, brummte er. Leon war derjenige in ihrer Familie, der sich ständig kümmerte und stillschweigend hinter den Kulissen dafür sorgte, dass es allen gut ging.
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Ich werde euch alle vermissen, dachte Whitney verzweifelt, als der Rauch sie krampfhaft husten ließ. O Gott, wie werde ich euch vermissen!
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ringen Sie mich zum Schuppen!«, schrie Regan Dirt an. »Ich komme mit!«, rief Frank. Von ängstlicher Zurückhaltung konnte keine Rede sein. Jeder wollte, musste unbedingt etwas tun. »Ich rufe die Feuerwehr«, verkündete Nora hastig. Leon rannte zur Tür und rief den Bikern zu: »Los, helft mir, die Schläuche fertig zu machen!« Regan sprang hinten auf Dirts Maschine. Er ließ den Motor an, umrundete die Lodge und raste quer durch die Weinfelder. Big Shot folgte mit Frank auf dem Sozius. Bitte!, flehte Regan lautlos, während sie sich an Dirts Lederweste klammerte. Bitte, lass sie wohlauf sein! Von Meter zu Meter wurde der Rauchgeruch unerträglicher. Sie erreichten das Ende der Baumallee, bogen nach rechts ab und sahen, dass die linke Seite des Schuppens schon in hellen Flammen stand. Dirt trat auf die Bremse und Regan glitt herunter. Sie rannte auf das Gebäude zu. Der Eingang zum Schuppen brannte. Verzweifelt schaute sich Regan nach einem Werkzeug um, mit dem sie die Tür aufbrechen konnte. Sie lief um das Gebäude herum und sah zwei Spaten auf dem Boden liegen. Hastig packte sie beide und lief zurück. Frank riss ihr einen davon aus der Hand. Gemeinsam hämmerten sie so lange gegen die Tür, bis sie endlich nachgab. Sofort quollen ihnen dichte Rauchschwaden entgegen und weder Regan noch Frank, Dirt oder Big Shot konnten die Hand vor Augen sehen. Nahezu blind stolperten sie in den Schuppen und begannen, nach Whitney zu rufen. »Whitney!« 269
»Whitney, wo sind Sie?« »Freshness!«, schrie Frank, so laut er konnte. Schweiß lief in Strömen über Whitneys Gesicht. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Ruft da jemand nach mir oder bilde ich mir das nur ein?, fragte sie sich benommen. »Freshness!« Da rief tatsächlich jemand. Wollte sie offenbar retten. Sie musste sich bemerkbar machen. Aber sie war so müde, so unendlich müde. Es kostete sie ihre letzte Kraft, aber irgendwie schaffte sie es, ihre Beine zu heben und mit den Füßen gegen die Heckscheibe des Jeeps zu klopfen. »Ich höre etwas!«, hustete Regan. »Da hinten, glaube ich.« Den Spaten wie einen Spieß vor sich her haltend, näherte sich Regan den Geräuschen. Dann traf das Spatenblatt auf etwas, was sich wie Glas anhörte. Tastend streckte Regan die Hand aus. Eine Autotür. »Ich habe den Wagen gefunden!«, rief Regan und riss die Tür auf. »Whitney?«, keuchte Regan, bevor ein erneuter Hustenanfall sie überwältigte. Von der Ladefläche des Geländewagens war ein gedämpftes Stöhnen zu hören. Regan befühlte das Armaturenbrett. Der Zündschlüssel steckte! »Ich bringe Sie hier raus, Whitney.« Regan kletterte hinter das Steuer und startete den Motor. Sie ließ eine Hand auf der Hupe liegen, während sie das Auto mit der anderen geschickt ins Freie steuerte und erst stoppte, als sie weit genug vom Gebäude entfernt war. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass die Flammen mittlerweile den gesamten Schuppen erfasst hatten. Regan hielt kaum, als Frank auch schon die Hintertür öffnete. Er sprang hinein, hob Whitney auf, trug sie aus dem Jeep und legte sie behutsam auf den Boden. Dirt eilte mit einem Taschenmesser herbei. Vorsichtig durchtrennte Frank die Fesseln 270
an ihren Füßen und Händen, den Knebel und die Binde über ihren Augen. Whitney blinzelte vorsichtig und bemerkte zu ihrem größten Erstaunen, dass tatsächlich ihr geliebter Frank neben ihr kniete. »Ich glaube, ich bin dir einen Anruf schuldig«, krächzte sie mit rauer Stimme. Frank lächelte sie an und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. »Schon gut. Aber dass mir das nicht noch einmal passiert!«
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ella und Walter war das Lachen vergangen. Gemeinsam mit Nora, Luke, Lilac und Earl liefen sie zum Schuppen. Währenddessen halfen die Biker Leon, die Schläuche für die Löscharbeiten zu aktivieren. Zwei von ihnen waren jedoch in der Lodge geblieben, um den guten Edward bis zum Eintreffen der Polizei zu bewachen, der seine Festnahme schon fast herbeisehnte. Alles war besser, als sich Lucretias wüste Beschimpfungen noch länger anhören zu müssen. Schwer nach Atem ringend, trafen Bella und Walter beim Schuppen ein und bekamen gerade noch mit, wie Whitney aus dem Geländewagen gehoben wurde. Das war wirklich eine Rettung in letzter Sekunde. Weinend vor Freude, lief Lilac auf ihre Tochter zu und schloss sie in die Arme. Da raste schon unter lautem Sirenengeheul die Feuerwehr heran. Mit geübten Handgriffen setzten die Männer die Spritzen in Betrieb und richteten sie auf die lodernden Flammen. »Walter, was machen wir denn jetzt mit unserem Schatz?«, wisperte Bella. Ihr Mann blickte sich verstohlen um. Niemand achtete auf sie, alle hatten nur Augen für Whitney. »Ich möchte die Kiste auf keinen Fall da in der Erde lassen. Sie ist immerhin aus Holz. Wenn der Brand weiter um sich greift, wird sie Feuer fangen. Wer weiß, was dann aus den Flaschen wird. Lass sie uns ausgraben. Uns wird schon niemand beobachten. Wir können die Kiste irgendwo in den Weinfeldern verstecken, bis die Luft wieder rein ist.« »Und wo sind die Spaten?«, wollte Bella wissen. Verblüfft runzelte Walter die Stirn. »Vorhin waren sie noch da. Keine Ahnung, wo sie geblieben sein könnten.« 272
»Na schön. Jeder von uns hat zwei gesunde Hände«, stellte Bella das Selbstverständliche fest. »Fangen wir an.« Nur wenige Meter vom brennenden Schuppen entfernt gingen sie in die Knie und begannen fieberhaft zu buddeln. »Schnell, Walter! Beeil dich!« »Ich beeile mich ja«, knurrte er mürrisch. Wie zwei Hunde, die einen vergrabenen Knochen suchen, wühlten sie in der Erde. Schon bald lief ihnen der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter. »Ich bin froh, dass Whitney nichts geschehen ist.« »Ich auch, Bella. Ich auch.« Sie bemerkten nicht, dass sie Regan aus einiger Entfernung höchst amüsiert beobachtete. »Da ist sie!«, japste Walter, als das Rot der Kiste durch den Sand schimmerte. »Ohhhh!«, jubelte Bella. Eifrig befreiten sie die Kiste von der restlichen Erde und hoben sie aus der Grube. »Willst du kurz einen Blick hineinwerfen?«, fragte Walter. »Jetzt nicht. Wir sollten sie so schnell wie möglich in ein Versteck bringen.« »Aber ich würde zu gern sehen, was da drin ist!«, rief Regan ihnen zu. Bella fuhr herum und starrte Regan finster an. »Hören Sie zu. Das hier geht Sie überhaupt nichts an. Die Kiste stammt von meinem Großvater. Und jetzt gehört sie mir.« »Nun, das wird sich sicher klären lassen«, erklärte Regan ruhig. »Ich werde zwei Biker bitten, die Kiste ins Haus zu tragen. Dann können wir die Weldons fragen, was mit einem Objekt geschehen soll, das auf ihrem Grundstück vergraben war.« Wusste ich’s doch, die beiden haben irgendwo im Boden 273
herumgebuddelt, dachte sie. Aber ein verborgener Schatz? Regan brannte förmlich darauf, einen Blick auf den Inhalt zu werfen.
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bwohl sie erschöpft war und von krampfhaften Hustenanfällen geplagt wurde, bestand Whitney darauf, zu Fuß zur Lodge zurückzulaufen. »Schließlich heiße ich Freshness«, grinste sie und warf die Arme hoch in die Luft. »Ich möchte draußen sein, an der frischen Luft, mit Menschen, die ich liebe.« Sie ließ die Arme wieder sinken, legte einen um Frank und den anderen um Lilac. Beide stützten sie auf dem Heimweg durch die Weinfelder. Leon und Earl folgten in dichtem Abstand. Heidi hingegen ließ nichts unversucht, mit Leon ins Gespräch zu kommen. Sie fand es faszinierend, wie er diese bulligen Biker herumkommandiert und mutig die Flammen bis zur Ankunft der Feuerwehr bekämpft hatte. Faszinierend? Sexy! Regan lief neben Nora und Luke. Sie zog ihr Handy hervor und rief Jack an. »Es gibt weitere aufregende Neuigkeiten«, verkündete sie, als er sich meldete. Dirt und Big Shot schleppten derweil die rote Kiste zum Haus zurück. Bislang wusste keiner der Weldons, was sich in ihr befand. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Whitney. Bella und Walter bildeten die Nachhut. Bella ballte wütend die Hände zu Fäusten. »Es ist mir egal, was sie sagen werden. Diese Flaschen hat Grandpa Ward vergraben. Sie müssen in der Familie bleiben.« »Ich weiß, ich weiß«, murmelte Walter. »Wir werden sehen, was wir tun können.« »Whitney!« Mit flatternden Seidenhosen kam Lucretia aus dem Haus geeilt. »Lucretia!« Die beiden Frauen umarmten einander. »Es tut mir ja so unendlich leid«, jammerte Lucretia. 275
»Was tut dir leid?« »Dass dieser erbärmliche Schuft, den ich fast geheiratet hätte, dich entführen ließ. Nur damit du nicht zu meiner Hochzeit kommen kannst.« In diesem Augenblick führten zwei Polizisten Edward Fields in Handschellen aus dem Haus. Kurz vor Whitney blieben sie stehen. Sie sah ihm direkt in die Augen. »Warum wollten Sie nicht, dass ich an Ihrer Hochzeit teilnehme?« Kein Wort kam über seine Lippen. »Er heißt Edward Fields, früher bekannt als Hugo Fields«, half Lucretia nach. Whitney schüttelte den Kopf. »Und was hat er gegen mich?« »Du hast ihn noch nie gesehen?«, fragte Lucretia. Ihre Nichte hob die Brauen. »Möglicherweise habe ich ihn schon mal gesehen. Aber ich weiß beim besten Willen nicht wo.« Gequält verzog Edward das Gesicht. »Du erinnerst dich tatsächlich nicht mehr an mich?« »Tut mir leid, aber mein Personengedächtnis ist wirklich lausig«, meinte Whitney schulterzuckend. »Onkel Earl sagt immer, dass ich mich in dieser Hinsicht mehr konzentrieren muss.« Edward sah sie an, wie vom Donner gerührt. Diese ganzen Mühen und Risiken waren also absolut unnötig gewesen? Sie erkannte ihn gar nicht wieder? O Gott. Am liebsten wäre er auf der Stelle gestorben. »Wir waren zusammen auf der Schauspielschule! In New York!«, schrie er sie an. »Wir haben gemeinsam eine Szene einstudiert.« »Und deshalb wollten Sie nicht, dass ich zur Hochzeit komme?«, fragte Whitney verständnislos. »Weil Sie befürchteten, ich könnte Sie vielleicht für einen schlechten Schauspieler halten?« 276
»NEIN!«, brüllte Edward, als sich die Polizisten wieder in Gang setzten und ihn zum Streifenwagen führten. Er begann hilflos zu schluchzen. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich, wie Earls Affen, die von Ast zu Ast turnten. Wenn er den Dingen doch nur ihren Lauf gelassen hätte. Wenn er doch nur diesen Rex nicht angerufen hätte. Wenn, wenn, wenn … »Meine Güte«, murmelte Whitney. »Er scheint mich echt nicht leiden zu können.« »Aber wir können dich leiden, mein Schatz«, versicherte Lilac ihrer Tochter. »Mehr als das. Komm, lass uns ins Haus gehen. Du musst unbedingt etwas essen und trinken.« »Jetzt ist es kein Probe-Hochzeitsessen mehr«, verkündete Lucretia. »Und dafür danke ich Gott!« Regan zog Lilac beiseite. »Bella und Walter haben hinter dem Schuppen eine Kiste gefunden, die ihr Großvater vor achtzig Jahren dort vergraben hat. Der Inhalt besteht aus ein paar sehr wertvollen, alten Weinflaschen. Bella glaubt, dass sie rechtmäßig ihr gehören. Das lässt sich aber durchaus bestreiten. Und ich sollte Sie darauf hinweisen, dass die Flaschen unter Umständen eine Menge Geld einbringen können.« Lilac sah Regan an und dachte an den Tag, an dem sie erfuhr, dass Onkel Haskell sein ganzes Geld Lucretia hinterlassen hatte. Sie kannte die Verbitterung, die Menschen überfallen konnte, wenn ihnen etwas versagt wurde, was ihnen ihrer Überzeugung nach rechtmäßig zustand. »Allerdings«, fuhr Regan fort, »wäre es uns nicht möglich gewesen, die Schuppentür aufzubrechen, wenn die beiden nicht gegraben und ihre Spaten dort deponiert hätten.« »Ich weiß«, flüsterte Lilac und blickte zu Whitney hinüber, die glücklich neben Frank auf der Couch saß. »Ich habe alles, was ich mir wünschen kann. Sagen Sie den beiden, dass sie die Flaschen behalten können.«
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Regan wandte sich zu Bella und Walter um, die verunsichert an der Wand lehnten. Sie fing ihre Blicke ein und reckte den Daumen. Bella brach in Schluchzen aus und verbarg ihren Kopf an Walters Schulter. »Lass uns Mutter anrufen. Sie wird außer sich sein vor Freude.« »Und gleich morgen kaufen wir uns ein neues Auto.« Die Road’s Scholars feuerten auf der Terrasse den Grill an und bereiteten das Buffet vor, während drinnen in der Lodge einige Toasts ausgebracht wurden. Frank und Whitney schmusten verstohlen auf der Couch miteinander. So weit war Heidi mit Leon zwar noch nicht, machte aber erkennbare Fortschritte. Nora und Luke saßen Seite an Seite neben Bella und Walter, die Lilac spontan zum Barbecue eingeladen hatte. Lynne und ihr Kameramann ließen sich keine Einzelheit entgehen. »Auf das Karma!«, verkündete Earl und hob sein Glas. »So erntet jeder, was er sät. Whitney, wir freuen uns, dich wieder bei uns zu haben, und Lucretia, es wurde höchste Zeit, dich endlich im Kreis unserer Familie begrüßen zu können.« »Und ich bin glücklich, euch kennen gelernt zu haben«, zwitscherte Lucretia. »Euch und alle neuen Freunde. Was nützt mir denn mein ganzes Geld, wenn ich nichts Gutes damit tun kann?« Ganz sicher, sie werden ihre Millionen bekommen, dachte Regan lächelnd. »Nun ja, nur mein Liebesleben hat sich in letzter Zeit nicht ganz so befriedigend entwickelt …« Unter dem schallenden Gelächter aller Anwesenden betraten Phyllis und Charles Bennett den Raum. »Aber man weiß schließlich nie, was noch passieren kann!«, fügte Lucretia
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augenzwinkernd hinzu. »Charles und Phyllis, wie schön! Kommt doch herein.« »Phyllis?« Lilac machte große Augen. »Ja, ich bin’s wirklich. Wir waren einfach sehr beunruhigt.« »Aber wir haben gerade aus dem Radio erfahren, dass der Grund unserer Sorgen dingfest gemacht wurde.« Charles griff nach Lucretias Hand und drückte sie zärtlich. Sie nickte. »Er befindet sich jetzt hinter Schloss und Riegel.« »Nun, dann lasst uns alle darauf anstoßen, dass sie den Schlüssel ganz weit wegwerfen«, schlug Charles vor. »Genau! Zum Wohl allerseits!«, riefen alle, hoben die Gläser und stießen fröhlich miteinander an. »Das alles ist einfach wunderbar!«, jauchzte Lucretia. »Ich wüsste nicht, was unsere Party noch schöner machen könnte.« »Und wie wäre es mit uns?« Alle wandten sich der Tür zu. Dort standen zwei alte Damen und ein weißhaariger Mann. Mit halb offenem Mund starrte Lucretia sie an. »Nun komm schon, Lukey!«, rief Polly. »Du hast geschworen, uns nie zu vergessen!« »O nein! Meine beiden allerältesten Freundinnen auf der Welt!« Polly und Sarah liefen auf Lucretia zu, um sie zu umarmen. »Deine beiden allerältesten Freundinnen, die um keinen Preis unser Geheimnis verraten würden«, versicherte Sarah. »Ach was! Wen interessiert das jetzt noch? Ich bin sogar aufrichtig stolz auf die Tatsache, dass wir drei sechsundneunzig Jahre alt sind!« »Lucretia!«, lachte Charles. »Sie haben gelogen, Sie haben sich jünger gemacht!« 279
»Welche Schauspielerin täte das nicht? Übrigens, ich werde wieder vor der Kamera stehen.« Sie lächelte Heidi an. »Mir wurde eine Rolle in Whitneys Film angeboten. Und noch eins, Charles. Ich habe vor, eine Produktionsfirma zu gründen. Also vergessen Sie Ihren Ruhestand. Wir sind wieder im Geschäft und wir werden eine Menge Spaß dabei haben.« »Darauf trinke ich.« Auch Lilac hob ihr Glas. »Ich möchte noch einen Toast ausbringen. Auf Regan Reilly! Wenn sie nicht gewesen wäre … Nun, daran wage ich nicht einmal zu denken.« »Vielen Dank, Lilac.« Regan lachte. »Die Fälle mit gutem Ausgang sind mir die liebsten.« Dirt steckte seinen Kopf zum Fenster herein. »Es ist angerichtet.« Lilac zog Phyllis beiseite. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.« Leicht verlegen senkte Phyllis den Blick. »Ich war vielleicht nicht ganz aufrichtig …« »Davon will ich nichts hören«, unterbrach Lilac. »Ohne Sie hätten wir niemals jemanden mit der Suche nach Whitney beauftragt. Ihr Anruf hat meiner Tochter das Leben gerettet. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Aber sobald Lucretia …« Phyllis kam sich vor wie die Gewinnerin ihrer Lieblingsquizshow. »Das Geld ist eigentlich nicht mehr so wichtig«, unterbrach sie Lilac mit leicht zittriger Stimme. »Es macht mich glücklich, ein bisschen zu Whitneys Rettung beigetragen zu haben.« Lilac legte ihr einen Arm um die Schulter. »Kommen Sie, gehen wir auf die Terrasse und essen einen Happen.«
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Es wurde ein rundum gelungener Abend. Sie aßen, tranken, sangen zusammen die verrücktesten Lieder und plauderten unbeschwert. Und irgendwann bestand Lilac darauf, dass alle über Nacht blieben. »Wir haben genug Platz«, sagte sie. »Im Büro steht eine Ausziehcouch und ich kann noch ein Klappbett aus dem Keller holen und …« Als Regan schließlich ihr Zimmer aufsuchte, blickte sie aus dem Fenster und musste lächeln. In dichten Reihen lagen die Biker auf ihren Isomatten unter den Sternen. War das ein aufregender Tag!, dachte sie kurz vor dem Einschlafen. Und das Schönste ist, dass ich in spätestens zwei Wochen Jack wiedersehe.
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SONNTAG, 12. MAI
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D
er Sonntagmorgen war klar und sonnig. Die Vögel zwitscherten und sangen und lange vor Anbruch des neuen Tages hatte auch der letzte Waldbrand gelöscht werden können. Als Regan erwachte, blieb sie noch eine Weile liegen, lauschte auf die Geräusche um sich herum und warf einen lässigen Blick auf die Uhr. Es war fast neun. Ich habe geschlafen wie eine Tote, dachte sie. Junge, war ich fertig gestern Abend! Sie stand auf, duschte, zog sich an und ging in den Speisesaal. Er war bis auf den letzten Platz gefüllt. Allein die Biker besetzten etliche Tische. Ihre Eltern saßen mit Lucretia, Charles Bennett und Lucretias Freundinnen zusammen. »Herzlichen Glückwunsch zum Muttertag, Mom.« Regan küsste Nora auf die Wange. »Vielen Dank, mein Schatz.« Mit Bergen duftender Pfannkuchen kamen Lilac und Phyllis aus der Küche. »Könnten Sie bitte so lieb sein, noch zwei Stühle von der Terrasse zu holen, Regan?«, rief Lilac. »Sofort.« Regan verließ den Speisesaal und trat ins Freie. Auf der Terrasse stand nur ein einziger Stuhl und auf dem saß Jack Reilly. »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr wach«, grinste er. »Jack!« Sie setzte sich auf seinen Schoß und umarmte ihn. »Was machst du denn hier?«
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»Ich hatte noch ein paar freie Tage und dachte, wir könnten unseren Urlaub dort fortsetzen, wo wir ihn neulich abbrechen mussten …« »Aber bitte nicht hier! Ich kann es kaum erwarten, von hier zu verschwinden.« Jack lachte. »Ein kleiner Scherz. Irgendjemand muss Rex nach New York bringen, also warum nicht ich? Ich wollte einfach nicht noch zwei Wochen warten, bis ich dich wiedersehe.« Lucretia tauchte in der Terrassentür auf. »Beeilt euch, ihr Lieben! Wir wollen los. Es war schon zu spät, der Cateringfirma abzusagen. Darum fahren wir jetzt alle nach Beverly Hills und feiern dort weiter.« Sie brach kurz ab und zwinkerte. »Es sei denn, ihr möchtet die Gelegenheit für eine kostenlose Hochzeitsfeier nutzen.« »Danke, aber wir brauchen mehr Zeit für die Planung«, entgegnete Jack. Er sah Regan an. »Findest du nicht auch?« Regan strahlte ihn an. »Ja.«
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DANKSAGUNG Ich möchte allen danken, die mir beim Schreiben und bei der Herstellung dieses Buchs behilflich waren. Zunächst und vor allem meinem Lektor Roz Lippel, der ein wahrer Quell guter Ratschläge ist und für mich stets ein offenes Ohr hatte. Die Arbeit mit ihm war eine große Freude. Auch seine Assistentin Laura Petermann stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Besonderen Dank an Michael Korda und Chuck Adams für ebenso kluge wie anregende Beratung. Ein Hoch auf meine PR-Agentin Lisl Cade, die meine Interessen so außerordentlich gut vertritt. Dank auch an meinen Agenten Nick Ellison sowie an Alicka Pistek, meine Agentin für Auslandsrechte. Artdirector John Fulbrock hat wie immer bewundernswerte Arbeit geleistet, wie auch Gypsy da Silva, die stellvertretende Leiterin der Herstellungsabteilung. Besondere Anerkennung gilt meiner Herstellerin Carol Catt. Vielen, vielen Dank, Mom! Meine Mutter Mary Higgins Clark ist immer für mich da, wenn ich Aufmunterung brauche! Schließlich herzlichen Dank meiner Familie und meinen Freunden für ihre unablässige Unterstützung.
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