Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 664 Die Namenlose Zone
Gestrandet auf Zerberus von Horst Hoffmann
Die SOL...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 664 Die Namenlose Zone
Gestrandet auf Zerberus von Horst Hoffmann
Die SOL am Abgrund
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern auf der einen und Anti‐ES mit seinen zwangsrekrutierten Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Dann, mit knapper Mühe dem »Kerker der Ewigkeit« entronnen, kehrt Atlan mit seinen Kreuzern im Juli 3808 wieder in das Normaluniversum zurück, bevor der Junk‐Nabel endgültig vergeht. Bei seiner Rückkehr findet er das Mutterschiff nicht mehr vor, denn die SOL ist GESTRANDET AUF ZERBERUS …
Die Hauptpersonen des Romans: Borallu ‐ Ein Alternativ‐Toter. Cirfoniac und Ybolzerc ‐ Zwei Zyrvulner. Atlan ‐ Der Arkonide entdeckt ein Fallen‐System. Breckcrown Hayes ‐ Seine SOL ist energetisch tot. Bjo Breiskoll, Sternfeuer und Federspiel ‐ Die Telepathen büßen einen Teil ihrer Psi‐Kräfte ein.
1. Es geschah irgendwo in der Galaxis Bars, auf dem einzigen Planeten einer einsamen grünen Sonne, deren Licht viele Jahre benötigte, um den nächsten Stern zu erreichen. Für das Wesen, das nun dort, tief unter der Oberfläche, erwachte, hatte die Zeit ihre Bedeutung verloren. Doch hätte man dieses Erwachen in einem solanischen Schiff registrieren können, so wäre das Datum dort mit dem 23. Juli 3808 angegeben worden. Die Abdeckung des drei mal zwei Meter messenden Tiefschlafschreins war plötzlich verschwunden. Wo sie sich über das Dunkel des Überlebensbehälters gebreitet hatte, strahlten nun Lichter und beschienen die Umrisse eines Etwas, das noch keine erkennbaren festen Formen bildete. Psionische Sensoren fingen einen ersten Gedanken auf: Wann ist es? Und warum ist es? Die in lesbare Schrift umgesetzten Impulse leuchteten von einer Bildfläche, die eine ganze Wand des sechseckigen Raumes ausfüllte, in dem noch weitere zwölf Schreine standen. Auch über ihnen hatte sich die Abdeckung von einem Moment auf den anderen aufgelöst. Im ersten Überlebensbehälter stabilisierten sich die Konturen des Erwachten. Er wartete noch, bis er seinen Körper nach all den Jahrtausenden – oder waren es Jahrzehntausende? – wieder spürte. Erst dann schwebte er ganz langsam aus dem Schrein in die Höhe. Er drehte sich in der Luft so, daß er seine Sensoren auf die
Datenwand richtete. Warum ist es? las er seine Frage. Das Steuergehirn der Anlage antwortete auf dem gleichen Weg mit der sofortigen Gegenfrage: Du weißt, wer und was du bist? Es war bitterkalt in dem Raum, der nicht sehr groß war, und dessen andere fünf Wände in einem weißen, leblosen Licht schimmerten, ebenso wie die Decke und der Boden. Nur die Bildwand war die Ausnahme. Auf sie sollte sich alles konzentrieren. Der Erwachte litt nicht darunter. Die Kälte war er gewohnt. Sie hatte ihn über die Jahrtausende hinweg begleitet, und er erinnerte sich an den kurzen, schlimmen Frost, bevor er einschlief. Er erinnerte sich an seinen Namen, während er hinter sich die anderen zwölf aus ihren Behältern steigen sah. Ich bin Borallu! dachte er – und es erschien im gleichen Augenblick auf der Bildfläche. Antwort unbefriedigend, leuchtete es ihm entgegen. Was bist du? Er schwebte näher an die Bildwand heran. Sein Körper gehorchte jedem Willensbefehl. Das bedeutete, daß er durch den Tiefschlaf keinen Schaden genommen hatte. Borallu. Jetzt fiel ihm Weiteres ein. Er hatte nicht nur diese eine Gestalt, in der er jetzt existierte. Ich bin Borallu mit den drei Gesichtern! dachte er. Dann kam es wie ein Wasserfall von Erinnerungen über ihn. Ich war einmal ein Wissenschaftler, der meinem Volk zu immer größerer Macht verhalf. Er zögerte, bevor wieder er die Frage stellte, die ihn am meisten bewegte: Wie lange ist dies her? Die Bildwand antwortete: Mehr als vierzigtausend Jahre. Und wieder blinkte es: Was bist du? In Borallu regte sich die erste Ungeduld. Das Steuergehirn mußte es doch sehr genau wissen. Er hörte, wie die zwölf hinter ihm aufsetzten. Es klang metallisch, als ihre Füße den kalten Boden berührten – denn aus Metall waren sie. Das Blinken der Schrift wurde fast schmerzhaft. Borallu suchte nach weiteren Erinnerungen und stellte erschreckt fest, daß er in eine fast völlige Leere blickte. Sein Gedächtnis bestand nur noch aus
Bruchstücken. Es ist noch eine vorübergehende Folge des Tiefschlafs, redete er sich ein. Um das Blinken abzustellen, griff er nach einem der Bruchstücke: Ich bin ein Mutant. Ich besitze die Fähigkeit der Körperverwandlung. Ich kann drei verschiedene Gestalten annehmen. Er drehte den Kopf und blickte die zwölf der Reihe nach an. Ihre Bezeichnung fiel ihm ein. Sie wurden »Unterpagen« genannt und waren metallische Roboter mit je zwei Armen und zwei Beinen und einem zweimal eingekerbten Hauptkörper. Der Kopf war oval geformt und doppelt so groß wie ein Körpersegment, besaß zwei Sensoren für das Sehen, zwei für das Hören und einen Lautsprecher. Zwischen den Sensoren, die wie in die Schale gesetzte runde Gitternetze wirkten, leuchteten verschiedene Anzeigenfelder. In jeder dieser zwölf Roboterköpfe befand sich das Gehirn eines ehemaligen Mitarbeiters Borallus. Wie lautet der Name deines Volkes? fragte die Bildwand. Der ehemalige Wissenschaftler drehte sich wieder zurück. Ein kurzer Blick auf seinen eigenen Körper verdeutlichte ihm, daß er in der Gestalt eines Unterpagen vor der Leuchtfläche stand. Ohne sich dessen bewußt zu sein, hatte er sich auf die Füße sinken lassen. Ich bin ein Zyrtonier, dachte er. Wir sind dreizehn Zyrtonier aus der Zeit, bevor mein Volk seine angestammte Heimat verließ. Wir sind die Alternativ‐Toten. Und als Team hatten sie damals die riesigen Projektionsstationen und zugleich Raumschiffe gebaut, die nach ihm »Borallus Augen« genannt worden waren. Wo sind die Augen? Das Steuergehirn überging die Frage. Er projizierte: Nenne die Aufgabe der Alternativ‐Toten. Immer noch suchte Borallu vergeblich nach einer umfassenden Erinnerung. Es schien ihm jetzt, als hätte jemand sein Gedächtnis bis auf das gelöscht, das unmittelbar mit der Aufgabe zusammenhing.
Wir wurden vor dem Weggang unseres Volkes hier zurückgelassen, um nötigenfalls als Eingreifreserve dienen zu können. Das bedeutete, sie sollten durch einen Erweckungsimpuls aus dem Tiefschlaf geholt werden, wenn den Zyrtoniern dort, wohin sie gegangen waren, eine Gefahr drohte – oder wenn etwas ihre Pläne störte. Borallu flossen die Informationen über diesen Ort zu, der die Namenlose Zone genannt wurde. Von allen Zyrtoniern waren allein er und die Unterpagen im normalen Universum zurückgeblieben. Frage! dachte Borallu. Ich werde erst wieder antworten, nachdem zuerst sie beantwortet ist. Wurde mir die Erinnerung an mein früheres Leben genommen, und wo sind die sechs Augen? Diesmal leuchtete es ihm sofort entgegen: Der Verlust der Erinnerung ist eine Folge der langen Tiefschlafdauer. Die richtigen Informationen konnten gerettet werden. Die sechs Augen sind bereits dorthin abgezogen worden, wohin ihr euch nach Abschluß der Vorbereitungen begeben werdet. Das Steuergehirn der uralten Anlage ließ Borallu keine Zeit zur Bestürzung. Eine neue Schrift flammte auf und verkündete ihm seinen und der zwölf Unterpagen Auftrag. Demnach sollten sie zu einem Ort am Rand der Galaxis Bars fliegen, an dem fremde Störenfriede bereits in die Falle der Augen gegangen waren. Borallu erfuhr etwas von den Solanern und ihrem Schiff, der mächtigen SOL. Er bekam mitgeteilt, daß auch die drei Schiffe eines Volkes namens Vulnurer in der Falle hingen. Nun sollten die Alternativ‐Toten dafür sorgen, daß für die Zyrtonier in der Namenlosen Zone nie wieder eine Gefahr durch diese Gefangenen, vor allem die Solaner, bestehen konnte. Außerdem sollte er alles Negative aus dem Kreis der Solaner und Vulnurer sammeln und in die Namenlose Zone schaffen. Es war nichts, das Borallu und seine zwölf Helfer vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen sollte. Mit Hilfe der Augen, so glaubte er wieder zu wissen, konnte er jederzeit in die Namenlose Zone überwechseln. Außerdem wußte er jetzt, was ihn zu der Frage nach den Augen
veranlaßt hatte. Er hätte sofort nach dem Erwachen deren Zentralgehirn »spüren« müssen. Es gab eine Art geistigen Kontakt zwischen ihnen, der ihm das Auffinden der Augen jederzeit schnell ermöglichen sollte, sobald er ihre ungefähre Position kannte. Hätten sie sich noch über dem Planeten befunden, so hätte er es gewußt. Der Kontakt kam zustande, nachdem das Steuergehirn der Planetenanlage die Koordinaten des Fallensystems genannt hatte. Es teilte noch mit, wo ein Kleinraumschiff auf die Alternativ‐Toten wartete. Dann leuchteten nur noch die Zahlen eines Countdowns auf. Offenbar drängte die Zeit. Vor den Augensensoren der zwölf Unterpagen verwandelte sich Borallu in seine zweite Gestalt, die eines Zyrtoniers. Er wurde zu einem zeckenähnlichen Rieseninsekt von zwei Meter Länge und mit vielen Stacheln auf den Chitinplatten der gebogenen Oberseite. Er drehte sich und wandte den halslosen, breiten und gedrungenen Kopf den Unterpagen zu. Für einen Moment war er versucht, auch seine dritte Gestalt anzunehmen. Er wußte, daß er es nicht tun konnte und durfte – nicht vor den Augen anderer und nicht jetzt. Es war einfach eine Versuchung, die bei jedem Formwechsel über ihn kam. Die dritte Gestalt war sein ganz persönliches Geheimnis, und einmal angenommen, vermochte er sich aus ihr nie mehr zurückzuverwandeln. Irgendwo liefen Maschinen an. Der kalte Boden vibrierte leicht. Die Bildwand schickte einen immer dringender werdenden Signalton. »Ihr habt gehört, was von uns verlangt wird«, sagte Borallu zu seinen Helfern. »Wir werden den Auftrag erfüllen. Beeilen wir uns, an Bord unseres Schiffes zu kommen.« Und wenn wir die Gefahr eliminiert und das Negative in die Namenlose Zone geschafft haben, dachte er, als er sich auf ein offenes Türschott zu in Bewegung setzte, werden wir sehen, was aus unserem Volk geworden ist – nach vierzigtausend Jahren.
Es war diese Neugier, die ihn trieb und der Motor dafür sein würde, daß der Auftrag mit harter Kompromißlosigkeit ganz im Sinne der Heutigen erfüllt wurde. Skrupel kannte Borallu nicht. Als die dreizehn Alternativ‐Toten den Planeten der grünen Sonne in ihrem Raumschiff verließen, strahlte das Steuergehirn der Überlebensanlage einen Impuls ab, der dem Erweckungsimpuls energetisch verwandt war. In der Namenlosen Zone erfuhr der Rat der Pagen im gleichen Moment, daß die Aktivierung der Alternativ‐Toten erfolgreich verlaufen war, nachdem die sechs Augen Borallus bereits beim Anflug der Vulnurer abberufen und eingesetzt worden waren, um die unerwünschten Eindringlinge am Rand von Bars zu fesseln. Die Zeitspanne, die zwischen diesen beiden Schritten lag, betrug nach solanischen Maßstäben zehn Tage. Mit dem Eintreffen Borallus bei den Augen sollten dann auch die altersbedingten Störungen des Fallensystems kein Problem mehr darstellen. Für den Rat der Pagen stand nun fest, daß die Tage der Solaner endgültig gezählt waren. * »Was wir erwartet hatten, oder?« Hage Nockemann erwartete nicht wirklich eine Antwort. Er sah niemanden an. Sein Blick war starr auf einen der Bildschirme gerichtet, die in verschiedenen Ausschnitten das Ende des Planeten zeigten. Es war der erste im Junk‐System, jener am nächsten an der kleinen roten Sonne, in deren Korona vor drei Tagen der Nabel gewandert war. Was man vorhergesehen und befürchtet hatte, war pünktlich eingetreten. Seit dem 20. Juli 3808 gab es keinen passierbaren Junk‐ Nabel mehr – und somit keinen Weg zurück in die Namenlose Zone. Atlan biß sich auf die Unterlippe. In der Zentrale der MJAILAM
war es gespenstisch still geworden. Nur das leise Summen von Instrumenten und ab und zu ein leise gemurmelter Fluch waren zu hören. Junk I explodierte. Der Planet, in dessen Innerem die Stationen gelegen hatten, die von der Sonne Energien absaugten und Junk II und Junk III damit versorgten, war zu einem Glutball geworden. Überall auf der Oberfläche hatten sich Risse in der Kruste gebildet und die Kontinente in tausend und aber tausend Stücke gesprengt. Flüssiges Magma schoß in riesigen Fontänen in den Weltraum. Die Risse waren wie die Stränge einer orangeroten Netzes, an dessen Knotenpunkten das Glutinnere der marsgroßen Welt unter dem Druck ungeheuerlicher Kräfte nach außen spritzte. Nun wurde ein Krustenstück nach dem anderen ins All geschleudert. Der Tod des Planeten vollzog sich für die Beobachter lautlos, und lautlos begann der gleiche Prozeß auch bereits auf Junk II. »Was wir erwartet hatten.« Nockemann nickte. »Unser Gegner gibt sich mit halben Sachen nicht zufrieden. Daß der Junk‐Nabel in die Sonnenkorona gewandert ist, reicht ihm noch nicht. Er geht ganz auf Nummer sicher. Indem er die Planeten zerstört, sorgt er dafür, daß niemals wieder von hier aus ein Schiff in die Namenlose Zone vordringen kann.« Er drehte sich zu Atlan um. »Und umgekehrt nichts mehr aus ihr heraus. Junk II und III beherbergten die Schaltstationen zur Aufrechterhaltung des Nabels.« Noch existierte Nummer drei, dachte der Arkonide. Mit unbewegter Miene sah er dem deprimierenden Schauspiel zu. Natürlich hatte damit gerechnet werden müssen, daß es zu diesem letzten Gewaltakt kam. Die MJAILAM und die EMRADDIN standen in sicherer Entfernung im interstellaren Raum. Der dritte solanische Kreuzer, der in der Namenlosen Zone operiert hatte, war von den Verstyrern zerstört worden. Die Überlebenden seiner Besatzung befanden sich etwa gleichmäßig verteilt an Bord der beiden anderen Schiffe.
Atlan schauderte, als er daran dachte, wie knapp die Zeit für ihre Rückkehr ins Normaluniversum geworden war. Am 17. Juli, nur drei Tage vor dem Unpassierbarwerden des Nabels, hatten sie den Weg zurück gefunden. Doch da war keine SOL mehr, die auf sie wartete. Und auch die Hoffnung, Kontakt mit dem Mutterschiff zu erhalten, hatte sich nicht erfüllt. Und nun konnte der endgültige Zusammenbruch nur das Ende aller Bemühungen bedeuten, einerseits den teuflischen Plan der Zyrtonier zunichte zu machen, das Universum mit den Negativvölkern der Namenlosen Zone zu überschwemmen, und zweitens, Chybrain und die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst wiederzufinden. Als Junk I endgültig auseinanderbarst, schossen die ersten Glutfontänen von II in das All, und der dritte Planet begann von innen heraus zu glühen. »Keine Ortung des Nabels mehr«, sagte Uster Brick in die Stille. »Damit wäre dieses Kapitel zu Ende.« Atlan verließ ohne ein Wort die Zentrale und suchte nach einem Ort, wo er alleine mit sich und seinen Gedanken sein konnte. Alles, was zu sagen gewesen wäre, war schon gesagt worden. Jeder Trost, den ihm jemand zu spenden versuchte, klang wie Hohn. Für den Arkoniden war das Ende des Nabels wie eine persönliche Niederlage. Es gab keinen Weg zurück und zu den Koordinaten, die er so dringend benötigte, um den Auftrag der Kosmokraten auszuführen. Tyari fand ihn im Bordobservatorium in den Anblick der Sterne versunken, die hier an der ehemaligen äußeren Schnittstelle zwischen den Galaxien Bars und Farynt dünn gesät waren. Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. »Wir haben uns nichts vorzuwerfen«, sagte sie leise, »und du schon gar nicht. Was hätten wir noch tun sollen, um das Schließen des Nabels zu verhindern? In die Namenlose Zone zurückfliegen, wo wir nun für immer gefangen wären?«
»Vielleicht wäre es besser gewesen«, antwortete er. »Glaubst du das im Ernst? Auch du bist nur ein Mensch, Atlan. Du kannst nicht ein ganzes Universum umkrempeln, und die Namenlose Zone ist ein Universum für sich. Und wenn du an die Kosmokraten denkst, dann frage dich endlich einmal, was sie denn bisher getan haben, um uns zu unterstützen.« Sie lachte humorlos. »Nichts! Wenn ihnen diese Koordinaten und das, was du dort für sie holen sollst, so wichtig sind, dann sollen sie auch dafür sorgen, daß du nicht allein stehst.« Atlan runzelte die Stirn und blickte die Gefährtin in die forschenden Augen. Hatte er sich diese Gedanken nicht oft genug selbst gemacht? Er stand auf und starrte auf die Milliarden funkelnden Sternenlichter von Farynt. »Ich habe eine Verantwortung übernommen, Tyari, und ich bin noch nie vor etwas davongelaufen.« »Oh, wie edel!« Sie seufzte und zog ihn zu sich herunter. »Atlan, selbst falls du allein wärst und auf niemanden Rücksicht zu nehmen brauchtest, könnte ich dich nicht verstehen. Jeder Mensch muß einmal erkennen, daß er an seine Grenzen gestoßen ist. Wir haben gekämpft und verloren, doch nicht durch unsere Schuld oder unser Versagen. Und du bist nicht allein. Denke an mich, die dich nicht verlieren will. Und denke an die vielen Solaner, die jetzt ganz bestimmt heilfroh sind, nicht mehr in die Namenlose Zone zu können.« Ihre Stimme senkte sich. »Ich habe Respekt vor deinen Zielen und vor dem, was du getan hast, um sie zu erreichen. Obwohl wir oft auf phantastische Weise und von phantastischen Wesen Hilfe bekamen, warst immer du es, der als treibende Kraft wirkte. Aber das ist zu Ende, Atlan. Sieh es ein und laß uns mit aller Kraft nach der SOL suchen. Laß uns die Männer und Frauen zu ihren Familien zurückbringen.« Es waren ungewohnte Töne von ihr. Atlan betrachtete sie, als sähe er sie zum erstenmal.
Zärtlich drückte er sie an sich. »Vielleicht hast du recht, Tyari«, sagte er unsicher. »Aber die SOL ist nicht ohne Grund verschwunden. Breck hätte auf uns gewartet, wenn nicht etwas Unerwartetes und Wichtiges geschehen wäre. Wahrscheinlich erfolgte der Aufbruch in Eile, oder man glaubte, keine akute Gefahr zu sehen, sonst hätte Breck eine Info‐Sonde für uns zurückgelassen.« »Keine akute Gefahr wobei?« fragte die Telepathin. Atlan zuckte die Schultern. »Wenn wir das wüßten, wüßten wir auch, was geschehen ist. Wajsto sagte, daß Breck die SZ‐2 losgeschickt habe, um nach den Vulnurern zu suchen. Doch eben nur die eine Zelle, nicht das ganze Schiff.« »Wir brauchen eine Spur, oder?« »Falls es noch eine gibt«, sagte Atlan düster. »Es hat sich gezeigt, daß die Zyrtonier auch außerhalb der Namenlosen Zone präsent sein können. Denke an Zelenzo, der ein zyrtonischer Halbemulator war und versucht hat, die SOL zu warnen. Mit den Informationen, die Wajsto uns brachte, läßt sich nicht sehr viel anfangen, aber eines ist doch klar: es besteht eine Verflechtung auch über die Namenlose Zone hinaus. Was der SOL möglicherweise zugestoßen ist, kann seinen Grund dort haben.« »Du willst andeuten, daß die SOL … nicht mehr existieren könnte?« »Tatsache ist, daß wir weder eine Antwort auf unsere breit gestreuten Hyperfunkrufe bekamen, noch daß du etwas von Bjo, Sternfeuer oder Federspiel espern kannst.« Atlan holte tief Luft. »Ich will nur sagen, daß es eine Verbindung zwischen der SOL und den Zyrtoniern geben kann, und daß dann weder die SOL noch wir an irgendeinem Ort des Universums sicher sein können, den sie auf diese oder jene Art zu erreichen vermögen. Wir kennen ihre Pläne, Tyari, und das wissen sie. Wir sind so lange eine Gefahr für sie, wie wir leben. Und genau deshalb können wir uns nicht damit
begnügen, die Augen zu schließen und zu sagen, was vorbei ist, ist vorbei.« Sie schwieg lange. »Aber Tatsache ist«, sagte sie dann, »daß der einzige Weg in die Namenlose Zone nicht mehr existiert. Wir müssen uns darauf konzentrieren, die SOL wiederzufinden. Und dazu brauchen wir eine Spur – irgend etwas, das uns vielleicht einen noch so vagen Hinweis geben kann.« Sie bekamen ihn neun Stunden später, als von den drei Planeten des Junk‐Systems nur noch Trümmerbrocken übrig waren, die ausglühend in den Bahnen der ehemaligen Welten wirbelten und irgendwann vielleicht von der Schwerkraft der Sonne eingefangen werden oder Asteroidenringe um Junk bilden würden. Atlan und Tyari befanden sich wieder in der Zentrale. Ein Bildschirm zeigte die Einhundertmeterkugel der EMRADDIN, in der Wajsto Kölsch auf Instruktionen wartete. In Bars und Farynt herrschte schon seit Monaten absolute Ruhe. Es gab so gut wie keine interstellaren Raumfahrtaktivitäten mehr. Die Völker waren zur Genüge damit beschäftigt, die Schäden zu reparieren, die die heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen hinterlassen hatten. Das Schiff, das sich in den Randgebieten von Bars bewegte, mußte schon allein deswegen auffallen. Die Fernorter der MJAILAM hatten es routinemäßig erfaßt und an die Zentrale gemeldet. Dazu kam noch, daß es ganz außergewöhnlich stark hyperenergetisch strahlte. Wie ein Ertrinkender, der nach dem sprichwörtlichen Strohhalm greift, klammerte sich Atlan an dieses einzige Außergewöhnliche, das zwischen den Sonnen der Bars‐Galaxis festzustellen war, und befahl die Verfolgung des Objekts. Er machte sich nichts vor. Möglicherweise folgte er einem Phantom, doch auch das war besser als das ergebnislose, deprimierende Warten, das vor allem die Solaner an Bord nervte,
die zu dem Schiff zurückwollten, das ihnen die Welt bedeutete. Für den Fall, daß die SOL inzwischen doch noch zum Junk‐System zurückkehrte, hinterließ er eine Info‐Boje mit allem gespeicherten Wissen über die Namenlose Zone und die Zyrtonier. 2. Wer eigentlich auf die Idee gekommen war, den Planeten »Zerberus« zu nennen, das wußte Breckcrown Hayes nicht. Irgend jemand hatte ihm später erklärt, daß Zerberus in der Mythologie der alten Griechen der Höllenhund gewesen sei, der den Eingang zur Unterwelt bewachte und meist mit drei Köpfen dargestellt worden war. Wer immer den Namen geprägt hat, hat sich verdammt geirrt! dachte der High Sideryt, als er den Kopf aus dem Plastikzelt streckte und in die gelbe Sonne blinzelte. Wir sind in der Unterwelt, und bewacht wird sie höchstens von den sechs Gigantstationen, die wir geortet haben, als wir noch orten konnten. Die Sonne stand halbhoch am strahlenden Himmel ihres vierten Planeten, und von Hayesʹ Zelt aus gesehen, schräg hinter der mächtigen Hantel der SOL. Das Schiff lag noch da, wo es hart gelandet war, und wie die Dinge standen, gab es nicht die geringste Chance, es jemals wieder in Bewegung zu setzen. Es war tot, ohne Lichter, ohne jede Energie, der Kadaver eines Dinosauriers aus Terkonitstahl. Hayes trat ins Freie. Er fühlte sich elend, aber das ging vorbei. Was an seinem Körper fraß, machte sich in Schüben bemerkbar. Ihm wurde leicht schwindlig, als er zwischen den beiden langen Zeltreihen stand und sich um neunzig Grad drehte. Weiter hinten auf dem Hang waren Solaner damit beschäftigt, primitive Holzhütten zu bauen. Andere schleppten Baumstämme heran. Aus der Ferne waren die Schläge von Äxten zu hören. Dann fiel ein
Nadelbaumriese langsam und rauschte durch das Geäst der Nachbargewächse. Große Vögel stoben in die Lüfte und ließen sich an einem sichereren Ort nieder. Verdammte Steinzeit! dachte Hayes. Das Tal war gut drei Kilometer breit und reichte bis zum Horizont. Die SOL war zu einem Fünftel im weichen Grasboden eingesunken, doch immer noch überragten ihre Kugelzellen die nächsten Berggipfel um einige hundert Meter. Zu beiden Seiten und vor dem Schiff stieg das Gelände leicht an. Graswiesen mit allerlei blühenden und duftenden Kräutern und Büschen wechselten sich mit Bauminseln ab, bis in einer Höhe von etwa eintausend Metern der geschlossene Nadelwald begann. Dann wurden die Hänge steiler, und nach weiteren vier‐ bis fünfhundert Metern lichtete der Wald sich vor der Kulisse spärlich bewachsener Felskämme. Bei der Gewaltlandung hatten die Raumfahrer sehen können, daß sich das Gebirge viele hundert Kilometer weit nach allen Seiten ausbreitete. Erst dahinter begann Flachland, und dort gab es auch Meere. Das provisorische Lager befand sich auf einer ebenen Hochfläche knapp unterhalb der Baumgrenze und etwa auf einer Höhe mit der Polkuppel der. SZ‐1. Die Luftlinie von der SOL betrug rund zwei Kilometer, für die an Gleiterbenutzung oder Flugaggregate gewohnten Solaner im Grunde ein Katzensprung, hier jedoch eine harte Kletterstrecke ins Tal hinab zu den wenigen erreichbaren Schleusen. Hayes suchte den klaren Himmel ab, als hoffte er, etwas von den drei Vulnurerschiffen im Orbit um Zerberus sehen zu können – oder von den sechs Gigantstationen, die er für das Desaster verantwortlich machte. Der Schmerz verflog, nur das Ziehen im zerfressenen Gesicht des High Sideryt blieb. Hayes fuhr sich unbewußt mit einer Hand über die Narben. Vielleicht tat ihm die frische Luft gut. Er lachte lautlos. Wenigstens, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor, können wir hier für einige Zeit leben.
Die Mittagstemperaturen auf Zerberus betrugen im Durchschnitt 28 Grad Celsius, das hatte man mit einfachen Quecksilberthermometern feststellen können. Nachts wurde es um rund fünfzehn Grad kälter. Die Schwerkraft entsprach fast genau der in der SOL, also der irdischen. Das ließ sich ohne Hilfsmittel sagen. Intelligentes Leben war auf dem Planeten noch nicht entdeckt worden, und nichts sprach dafür, daß es existierte. Es gab viel Wild und kleinere Nagetiere, dazu Unmengen von lästigen Insekten. Bisher jedoch war zum Glück kein einziger Fall von einer Vergiftung durch Stiche oder Bisse bekannt geworden. Hayes ging zum Zelt zurück, das fünf Meter hoch und zehn mal zwölf Meter groß war und ihm und den Stabsspezialisten als behelfsmäßiger Kommandostand diente. Gerade kamen Boten vom Schiff, unter dem eine noch größere Zeltsiedlung immer noch wuchs. Hayes nickte ihnen kurz zu und sah an ihren Blicken, daß sie nichts Neues brachten. Auf dem freien Platz war eine lange Metallstange senkrecht in den Boden getrieben worden. In einem weiten Kreis um sie herum lagen zwölf große Steine als Stundenmarkierungen. Der Schatten der Stange näherte sich dem Stein, auf den mit weißer Farbe eine Elf gesprüht worden war. Neben der Sonnenuhr waren zehn Furchen in den Boden gezogen, und jede von ihnen bedeutete einen Tag auf dem Planeten. Am 14. Juli 3808 war die SOL dem aufgefangenen, abgebrochenen Notruf der Vulnurer zum Rand von Bars gefolgt. Sie hatte dieses Sonnensystem gefunden und auch die drei Schiffe GESTERN, HEUTE und MORGEN, die bewegungslos und schweigend im Orbit um den vierten Planeten hingen. Wir hätten da schon gewarnt sein müssen, dachte der High Sideryt. Doch andererseits funktionierten unsere Orter und alle anderen technischen Systeme noch einwandfrei. Wie hätten wir ahnen können, in welch raffinierte Falle wir flogen!
Bei der Annäherung an Zerberus dann hatte man sechs weitere Objekte orten können, riesige Kugeln von 6400 Metern Durchmesser und mit je einem Parabolspiegel im oberen Pol, jeweils eine Fläche von 5000 Metern bedeckend. Aber da war es bereits zu spät gewesen, um noch umkehren zu können. Etwas hatte die SOL erfaßt und auf den Planeten gezogen. Kein Antigravsystem und kein noch so konzentrierter Einsatz der Traktorstrahlen hatte gegen diese unheimliche Kraft etwas ausrichten können. Am Ende war nur noch die knappe Notlandung als Rettung geblieben, und seitdem lag die SOL dort in der Talmulde eingegraben und hatte kein Quentchen Energie mehr. Nichts, das auf energetischer Basis arbeitete, funktionierte noch. Für die fast hunderttausend Bewohner der SOL bedeutete dies nicht mehr und nicht weniger, als daß sie von einem Augenblick auf den anderen in ein vortechnologisches Zeitalter zurückgefallen waren. * Bjo Breiskoll war mit einem rehähnlichen Tier aus dem Wald zurückgekommen, das er mit seinem selbstgefertigten Bogen erledigt hatte. Als Pfeile dienten ihm dünne Metallstäbe, an deren Ende einfache Messerklingen befestigt waren. Messer, Holzkeulen und die eigenen Fäuste waren auch fast die einzigen Waffen der Solaner für den Fall eines Angriffs von Raubtieren. Hier und da waren solche Räuber beobachtet worden, wenngleich sie noch eine ziemliche Scheu vor den Menschen zu haben schienen. Es gab einige Dutzend mechanische Projektilpistolen und Gewehre, die den Posten vorbehalten bleiben mußten, die in den Nächten die Zeltlager sicherten, und eine ganze Gruppe von Männern und Frauen war damit beschäftigt, primitive Steinschleudern für die Hand oder auch Wurfgeschütze aus starken Ästen, Lianen und Stahlfedern herzustellen.
Bjo überlies das Tier dem stämmigen, rotbärtigen Mann, der wohl als einziger das Leben ohne den »Dämon« Technik auskostete. Walter von Bruchstein, nach eigenem Selbstverständnis letzter Verfechter der hohen Tugenden des Rittertums, spannte es auf zwei gekreuzt in den Boden getriebene Pflöcke mit angespitzten Enden und machte sich an das Ausweiden. In einem seiner vielen Bücher und Informationsträger über das Leben im terranischen Mittelalter hatte er etwas über diese Arbeit gefunden und betätigte sich inzwischen als Metzgermeister, Chefkoch für Hayesʹ Stab und Ideenlieferant für weitere einfache Waffen, vor allem zur Jagd. Nachdem es aus den Algentanks und hydroponischen Gärten der SOL nichts Eßbares mehr gab, waren die zehntausende von hungrigen Mägen auf das angewiesen, was der Planet ihnen gab. Das Angebot war zwar in Hülle und Fülle vorhanden und reichte von Wild über die Nager bis hin zu Baumfrüchten, Wurzelknollen und Beeren, doch noch längst vermochten sich die an andere Kost gewohnten Menschen nicht an gebratenes Fleisch und gekochte Pflanzenteile zu gewöhnen. Soweit es ging, zogen sie Konzentrate vor, aber schon jetzt zeichnete sich der Zeitpunkt ab, an dem es mit diesen zur Neige ging. Bjo sah von Bruchstein und den beiden Männern, die er zu seinen Gehilfen ernannt hatte, kurz dabei zu, wie sie das Tier abhäuteten, ausweideten und zerteilten. Über einer Feuerstelle aus Steinen hing an einem Metallgestell ein riesiger Kochtopf, über einer zweiten ein Bratrost. Als die ersten Fleischstücke darauf zischend und dampfend lagen und ihr Fett in die Glut zu tropfen begann, wandte Breiskoll sich ab und betrat das Hauptzelt. Aus der SOL waren Liegen und abmontierte Sitzmöbel herangeschafft worden. Hinter drei aneinandergeschobenen Tischen stand sogar eine Couch. Über den Boden waren Planen gespannt, und überall hingen an Metalldrähten ehemalige Trinkbecher und Ziergläser von der Decke, in die um einen Docht herum Wachs aus einem in der Nähe gefundenen Insektenstock gegossen worden war.
Trupps waren unterwegs, um weiteres Wachs herbeizuschaffen, denn auch elektrisches Licht gab es für die Solaner nicht mehr, geschweige denn batteriebetriebene Lampen. In einem Schiff, das an jeder Ecke Energieaufladevorrichtungen besaß, hatte es nie eine Notwendigkeit dafür gegeben. Bjo nickte den Anwesenden zu. Hayes saß über einer beschrifteten Folie gebeugt und studierte sie mit sichtbarem Argwohn. Solania von Terra, Curie van Herling, Sternfeuer und einige andere hockten zusammen und unterhielten sich leise. Kaum einer von ihnen sah herüber. Im schummerigen Licht des Zeltes wirkten ihre Gesichter und Gestalten verwaschen. Lyta Kunduran kam mit einem dampfenden Zweilitergefäß aus Nockemanns Labor herein, das als Kaffeekanne zweckentfremdet worden war. Jedenfalls sagte man zu dem Sud aus zerstoßenen schwarzen Samenkapseln eines hier weitverbreiteten Busches Kaffee, obgleich er eher nach Zitrone duftete und fast nach gar nichts schmeckte. Immerhin belebte das Getränk, und Lyta empfand ein bißchen Stolz dabei, es »entdeckt« zu haben. Gallatan Herts, Samgo Artz, Jessica Urlot, Gavro Yaal und Federspiel befanden sich entweder in der SOL oder im Lager unter dem Schiff. Sternfeuer hielt fast ständigen Telepathiekontakt mit ihrem Zwillingsbruder. Wenn sie einmal etwas zu berichten hatten, dann hing es allenfalls mit dem Erfolg von Demontagearbeiten zusammen. Überflüssige Wandverkleidungen, Gerüste und ähnliches sollten ins Freie geschafft werden, um zum Bau weiterer Unterkünfte dienen. Bjo verfolgte den Bau der Blockhütten mit gemischten Gefühlen. Niemand konnte ein Interesse daran haben, sich für länger als irgendwie nötig hier häuslich einzurichten. Lyta reichte ihm einen Becher. Er trank und setzte sich zu Hayes. Wie so oft in letzter Zeit erschrak er, als er den High Sideryt ansah. Breckcrowns Alterungsprozeß schien immer schneller voranzuschreiten. Der Mann sah heute schon aus wie ein
Hundertjähriger, dabei zählte er erst ganze 44 Lenze. »Die Geistesblitze unserer Besatzung«, knurrte Hayes, als er Bjo bemerkte. Er wischte mit dem Handrücken über die Folie und zog andere darunter hervor. »Windmühlen wollen sie bauen, damit wir Elektrizität bekommen. Wasserräder mit Kupferdrahtspulen!« Bjo zuckte mit den Schultern. »Ich halte es für ein gutes Zeichen, daß die Leute nicht einfach resignieren, Breck.« Hayes lachte rauh. »Warte. Das Verrückteste hast du noch nicht gesehen. Jemand schlägt vor, eine chemische Rakete zu bauen.« »Warum denn nicht?« fragte Bjo. »Verbrennungssysteme funktionieren doch noch.« »Bjo, dieser Mensch und seine Freunde wollen allen Ernstes eine Rakete bauen, um mit ihr eine nukleare Sprengstoffladung auf die Stationen zu verschießen, die uns mit höchster Wahrscheinlichkeit die Energien entziehen. Und das Ganze ohne Ortung und Fernkontrolle.« Natürlich war dies lächerlich. Bjo wußte aber, was der wirkliche Grund für Hayesʹ Verbitterung war. »Unsere Männer und Frauen beginnen zu akzeptieren, daß sie nie wieder in den Weltraum kommen. Ist es das, Breck? Wir haben den 23. Juli 3808. Bis vor drei Tagen hofften wir noch, Atlan könnte uns mit der MJAILAM und Wajstos beiden Kreuzern finden und retten. Nun aber muß sich der Junk‐Nabel geschlossen haben, und die Freunde sind entweder in der Namenlosen Zone gefangen, oder sie haben keine Ahnung, wo sie uns suchen sollen.« Er nickte. »Und das wissen alle.« Er dachte mit Schaudern an die ersten Stunden nach der Bruchlandung, als alle Energien schlagartig erloschen und man entsetzt feststellen mußte, daß sich nichts mehr per Knopfdruck in Gang setzen ließ. Jedes Schott mußte plötzlich von Hand geöffnet werden. Am schlimmsten waren die plötzliche Dunkelheit überall
und der Ausfall der künstlichen Schwerkraft gewesen. Da die SOL in der »Längslage« abgestürzt war, war unten auf einmal nicht mehr unten. Alles Gewicht verlagerte sich um neunzig Grad. Die Besatzungsmitglieder waren regelrecht vom Boden auf die Wände gefallen und hatten sich Knochenbrüche, Prellungen und vereinzelt sogar innere Verletzungen zugezogen. Die Panik, als die Menschen aus ihren Kabinen kletterten, wo kein Interkom ihre verzweifelten Hilferufe beantwortete und es stockdunkel blieb, war jetzt, nach zehn Tagen, kaum noch vorstellbar. Wer es schaffte, sich zu einem Medo‐Center durchzuschlagen, müßte erleben, daß kein Roboter mehr funktionierte, um eine Diagnose zu stellen und zu behandeln. Es war eine Katastrophe ganz neuer Art gewesen. Die Solaner hatten sich von einem Moment auf den anderen von allem verlassen gesehen, was bisher ihr halbes Leben ausgemacht hatte. Jetzt erschien es Bjo wie ein Wunder, daß es bei der panikartigen Flucht aus dem Schiff nicht mehr Tote und Schwerverletzte gegeben hatte. Er roch den Braten vom Rost. Er hörte sogar ausgelassene Stimmen. Noch war es für einige der Geretteten ein Abenteuer, sich an den Herausforderungen eines unbekannten Planeten zu versuchen, am Leben in der freien Natur. Doch viele litten bereits, ihre Welt war die SOL. Wenige mochten es schaffen, sich auf ein anderes Leben umzustellen, doch für die meisten würde dieses Abenteuer tödlich enden. Anfälle von Platzangst häuften sich, und die Kuriere vom Tallager hatten mehrere Selbstmordversuche gemeldet. Das Akzeptieren des Unvermeidlichen bedeutete den Anfang vom Ende. Um so wertvoller waren die Anstöße derjenigen, die sich nicht mit ihrem Schicksal abzufinden gedachten. Bjo ballte die Fäuste. »Etwas müssen wir unternehmen, Breck, und wenn es noch so sinnlos sein mag. Die Leute müssen beschäftigt werden, sie brauchen eine Hoffnung, an die sie sich klammern können. Die Idee mit der Rakete ist vielleicht doch nicht so schlecht.« Hayes schnitt eine Grimasse.
»Bjo, du hast gesehen, wie riesig diese Stationen sind.« »Ich denke nicht an sie. Aber wenn wir einen Peilsender anstatt eines Sprengsatzes in den Weltraum schießen, und zwar so, daß er irgendwann das Energieneutralisationsfeld verläßt, könnten wir Atlan damit einen Hinweis auf uns geben.« Lyta Kunduran war herbeigekommen und legte die Stirn in Falten. »Und wie lange sollten wir warten, Bjo? Selbst falls die MJAILAM, die DRONIA und die EMRADDIN noch – oder wieder – in unserem Universum existierten, würde eine Flüssigkeitsrakete mindestens Monate brauchen, um aus dem System zu gelangen.« »Vielleicht muß sie das gar nicht«, sagte Breiskoll rasch, »sondern eben nur aus dem Feld heraus, innerhalb dessen der Energieentzug wirksam ist. Wir wissen ja nichts über seine Ausdehnung. Theoretisch könnte es nur um Zerberus herum liegen. Verläßt die Rakete es, müßten ihre Energien wieder zum Tragen kommen, und sie beginnt zu senden.« »Bjo!« Hayes stand auf und zerknüllte die Folien. »Eine Sekunde später hätten die Gigantstationen sie abgeschossen! Wer uns hierher lockte und festsetzte, will ganz bestimmt nicht, daß wir ihm wieder entkommen.« »Ich sehe noch eine Gefahr«, meinte Lyta. »Die Fremden in den Stationen, falls es keine rein robotischen Anlagen sind, könnten auf den Gedanken kommen, den Sender funken zu lassen, bis Atlan und Wajsto tatsächlich eintreffen. Und dann hätten sie auch sie in der Tasche.« Draußen schlug von Bruchstein mit einem langen Eisenknüppel gegen eine aufgehängte Metallplatte, zum Zeichen, daß das Mittagessen fertig sei, und setzte damit der Diskussion ein Ende, die ebenso frustrierend verlaufen war wie alle anderen in den Tagen vorher. Solange es ums Überleben auf Zeberus ging, herrschte vollkommene Einigkeit unter den Verantwortlichen. Nur wenn es darum ging, Pläne für ein Entkommen aus der verzweifelten Lage zu schmieden, dann zeigte sich einfach kein Weg.
Vielleicht gibt es wirklich keinen mehr, dachte Bjo. Hayes wollte nichts essen. Sternfeuer, Lyta und Curie van Herling gingen mit Breiskoll zum Bratrost. In eine Wolke von schwarzem Rauch gehüllt, gab von Bruchstein mit einem langen Messer rußgeschwärzte Fleischstücke auf alles, was sich als Teller eignete. Curie rümpfte die Nase und schüttelte sich angewidert. »Wer soll dieses Zeug herunterkriegen, Walter!« brauste sie auf und schleuderte Teller und Braten wie einen Diskus fort. »Du bringst uns noch soweit, daß wir die Tiere roh essen – und Knollen, Beeren, Borke! Das ist widerlich!« »Aber …!« begehrte von Bruchstein auf. Er stemmte die fettigen Hände in die Seiten seiner über und über bespritzten Kombination. »Aber dann seht doch zu, wo ihr bleibt! Gestern habt ihr euch darüber beklagt, daß ich den Braten nicht würze. Heute habe ich Kräuter gesammelt und aufs Fleisch gestreut, und wenn die verbrennen, ist das auch nicht recht! Ihr seid ein ganz verwöhntes Volk. Im Mittelalter …« »Im Mittelalter wußten wir noch, was gut ist, stimmtʹs Walter?« Sternfeuer lächelte, nahm sich einen Teller und stieß von Bruchstein augenzwinkernd mit dem Ellbogen in die Rippen. Sie riß mit den Zähnen ein Stück aus der Keule. »Essen kann manʹs, aber dieses Gewürz schmeckt irgendwie nach kalter Asche. Wer geht mit mir in die SOL und nimmt eine der Robotküchen auseinander? Einen Kuß für den, der als erster ein Faß Salz auftreibt.« Es war als Scherz gemeint gewesen, aber von Bruchstein trat aus dem Qualm und drückte den Schöpflöffel für den Bratensud einem seiner Gehilfen in die Hand. »Ich bin schon dabei«, verkündete er. »Also gehen wir.« »Äh, Walter …«, wollte die Telepathin abwehren. Von Bruchstein ließ sie nicht weiter zu Wort kommen. Seufzend folgte sie ihm die Zeltstraße hinunter. Bjo warf sie einen schicksalsergebenen Blick zu. Zuerst werden einige von uns verrückt, dann schließlich alle, dachte Breiskoll. Am Ende werden wir als Steinzeitwilde in unseren
Hütten leben und einen Gott anbeten, der dort unten im Tal liegt und einmal das stolzeste Raumschiff der Menschheit war. In plötzlicher Wut legte er den Kopf in den Nacken und schüttelte eine Faust gegen den Himmel. Wir müssen etwas tun! Wir laufen umher wie die Ameisen, aber keiner kämpft! Von Bruchsteins massige Gestalt und Sternfeuer waren schon fast am Ende der Hochebene, zwei Winzlinge vor der spiegelnden oberen Halbkugel der SZ‐1. Einem Impuls folgend, lief Bjo ihnen nach und holte sie ein, als sie mit dem Abstieg begannen. Von Bruchstein blickte ihn unfreundlich an. »Keine Sorge, Walter«, sagte der Mutant. »Ich mache dir den Kuß nicht streitig, aber ich habe etwas mit euch beiden zu besprechen.« 3. Er hieß Cirfoniac und begriff sich selbst als einen »Halberwachten.« Im blaßblauen Licht des sechseckigen Kontrollstands schimmerte der Chitinpanzer seines zweifach eingekerbten Körpers tiefviolett. Wenn farbige Kontrolleuchten aufflammten, veränderte sich dieser Schimmer, und Schatten und Spiegelungen wanderten wie flüssiges Perlmutt über den Insektenleib. Cirfoniac maß in aufrechter Stellung von den Ballenfüßen des hinteren Beinpaares bis zum vorn spitz zulaufenden Kopf mit den zwei riesigen Facettenaugen, den beiden langen Fühlern und den messerscharfen Beißwerkzeugen etwa anderthalb Meter. Nur selten ließ er sich auf alle drei Gliedmaßenpaare nieder, etwa wenn er gezwungen war, schnell zu laufen. Diese Notwendigkeit hatte in der Station nie bestanden. Nun aber, nach all den vielen Jahren des Dämmerschlafs, konnte sich alles ändern. Cirfoniac berührte eine Taste und ließ sich über den Stand der
Vorbereitungen informieren. Eine monoton klingende Stimme sprach zu ihm. Eine Reihe von Sechseckbildschirmen erwachte zum Leben und unterstrich durch optische Information, was die Stimme verkündete: »Gemäß eurem Wunsch, Zyrvulner, habe ich alle Internschiffe des Auges in funktionstüchtigen Zustand versetzen und auftanken lassen. Zugleich läuft das Wecken der organischen Besatzung auf vollen Touren. Achtzig Prozent der Zyrvulner befinden sich mit ihren Führern bereits auf dem Weg zu den Hangars. Die Schleusentore öffnen sich in genau …« Das Steuergehirn des Auges nannte eine Zeitangabe. Cirfoniac nickte zufrieden. Auf den Schirmen wurden ihm Zyrvulner wie er gezeigt, die in langen Reihen hinter den Robotern her marschierten. Einige wirkten noch benommen. Für sie war alles sehr schnell gekommen. Andere stiegen noch aus den langen, offenen Schalen, die sie für viele Jahre mit allem Lebensnotwendigen versorgt hatten. Zyrvulner, Halberwachte – es waren zwei Begriffe für ein und dieselben Wesen. Halberwachte nannten sie sich, weil sie die meiste Zeit ihres Lebens im Dämmerschlaf verbrachten, denn an Bord der Station gab es kaum noch Nahrung für sie alle. Cirfoniac kannte ihre Zahl nicht genau, doch es waren Tausende. Also hatten sie den Ausweg wählen müssen, ihre Körperfunktionen auf ein Minimum zu reduzieren. Immer waren nur wenige von ihnen wach, um die anderen zu kontrollieren und kleinere Reparaturen auszuführen. Sie konnten das tun, weil sie mit den technischen Einrichtungen des Auges einigermaßen gut vertraut waren. Cirfoniac zählte zu jenen, die selbst mit dem Steuergehirn zu kommunizieren vermochten. Er glaubte von sich, einer der ältesten Halberwachten zu sein und ganz zweifellos der mit den meisten Wachperioden. Kein anderer hatte so viele Nachkommen gezeugt wie er, und kein anderer wußte sich noch an so vieles zu erinnern. Dennoch war es viel zu wenig. Wer lange wach war, war auch neugierig. Er mußte sich einfach die Fragen stellen, die den
Schlafenden nicht kamen. So war er nun schon seit dem Flug der sechs Augen in dieses neue Sonnensystem von einer Erregung ergriffen, die man ihm äußerlich nicht anmerkte. Der Planet auf den Schirmen war eine Verlockung, eine Herausforderung und eine der Fragen um die eigene Existenz. Es gab nämlich keine bekannte Entwicklungsgeschichte von Cirfoniacs Volk. Er und die anderen wußten nicht mehr, wie lange sie schon in der Station lebten. Es mußte Vorfahren gegeben haben, die sie einmal besiedelten. Hatten sie vorher eine Planetenheimat besessen? Manchmal glaubte Cirfoniac, das Steuergehirn könnte ihm alle Antworten geben, aber immer, wenn er es gefragt hatte, war es stumm geblieben. Der Zyrvulner atmete tief ein, als Ybolzerc den Kontrollstand betrat. Er stellte sich für einige Augenblicke neben den anderen und betrachtete das Abbild des Planeten und die endlosen Kolonnen auf dem Weg in die Hangars. »Es wird auch für uns Zeit, Cirfoniac«, sagte er zirpend. »Oder wollen wir die letzten sein?« »Nein«, antwortete Cirfoniac. »Sicherlich nicht. Es ist nur …« »Was?« »Es ist wie ein Abschied, wenn du verstehst, was ich meine. Wir verlassen das Auge nur vorübergehend, um die Sehnsucht zu stillen, die plötzlich in uns ist.« »Nicht nur in denen, die wach waren, als die Augen sich in Bewegung setzten«, meinte Ybolzerc. »Auch alle, die wir aus den Behältern holen ließen, denken weniger an ausreichende Nahrung und ein kurzes Abenteuer, sondern ihre Augen haben den gleichen Glanz wie die deinen. Wir haben uns oft darüber unterhalten, weißt du noch?« »Wir sind hier zu Hause«, sagte Cirfoniac leise, wie um sich selbst etwas zu versichern. »Und hierher werden wir auch zurückkehren.«
Wir wollen nur erleben, wie es auf einem Planeten ist, dachte er. Wir wollen die unendliche Weite einer Welt ohne Wände und Hüllen kennenlernen. Wir wollen sehen, ob wir überhaupt noch in einer anderen Umgebung als hier leben können. Doch die Frage, warum er sich das so sehr wünschte, daß er gleich alle Schläfer hatte wecken lassen, führte ihn nur wieder zu seinen Gedanken von vorhin zurück. Er verstand es nicht. Vielleicht war es nicht richtig, was sie taten. Vielleicht drängte es aus den Tiefen des Unterbewußtseins und einer verschütteten Erinnerung hervor. Vielleicht, so hoffte er, gibt uns der Planet eine Antwort. Auch vorher hatten die Augen einen Planeten umkreist, den einzigen einer kleinen grünen Sonne. Doch die Oberfläche dieser Welt war tot gewesen, radioaktiv verseucht und abschreckend. Außerdem hatte das Steuergehirn nie die Erlaubnis erteilt, dort das Auge zu verlassen. Das war es, was Cirfoniac innerlich beunruhigte. Warum gab es sie jetzt? Er fragte weder sich noch Ybolzerc, warum alle Halberwachten zum Planeten fliegen mußten, und nicht nur eine kleine Gruppe. Immer wenn seine Gedanken in die gefährliche Nähe dieser Frage gerieten, blieben sie an dem Punkt stehen, daß der eigentliche Grund der Expedition die Aufnahme von Nahrung für viele kommenden Generationen sei. »Komm jetzt«, sagte Ybolzerc. Cirfoniac folgte ihm nur ungern aus dem Kontrollstand. Ein Teil von ihm wollte so schnell wie möglich in eines der Schiffe, ein anderer aber zögerte immer noch. Cirfoniac traute dem Steuergehirn nicht. Es hatte ihm keinen konkreten Grund zum Mißtrauen geliefert, sondern im Gegenteil über all die vielen Jahre hinweg zufriedenstellend für die Halberwachten in den Schlafbehältern gesorgt. Es war mehr das Mißtrauen einem Etwas gegenüber, das mehr wußte als Cirfoniac. Die fünfzig Schiffe waren jedes knapp sechzig Meter lang und
halb so breit und hoch. Sie besaßen die Form von Quadern mit spitz zulaufendem Bug und Heckteil. Jedes vermochte bis zu hundert Zyrvulner aufzunehmen. Als Cirfoniac und Ybolzerc ihren Hangar erreichten, sahen sie in der blauen Deckenbeleuchtung die Schlangen der Halberwachten in großen, offenen Luken verschwinden, zu denen Rampen hinaufführten. Die Schiffe standen auf Dutzenden von hohen Teleskopsäulen, die sie ein wenig wie riesige Raupen aussehen ließen. Der schwere Leib einer der acht Königinnen schob sich in die Luke des Raumfahrzeugs, auf das die beiden Zyrvulner zugingen. Es ist wirklich wie ein Abschied! dachte Cirfoniac. Als er in einem der Passagierräume, stand und sich die Schleusen geschlossen hatten, überkam ihn eine bisher nie gespürte Angst. Plötzlich war ihm danach, in den Hangar zurückzulaufen und von der nächsten Kom‐Nische aus die ganze Aktion abzublasen. Sein Hals zog sich zusammen. Zwischen den Chitinringen seiner Körperunterseite trat ein klebriges, farbloses Sekret aus. Es war zu spät. Die Hangarschleusentore öffneten sich lautlos. Langsam schob sich ein Internschiff nach dem anderen auf Antigravpolstern bis in den freien Weltraum. Cirfoniacs feingliedrige, sechsfingrige Hand krampften sich um eine Haltesäule, als sein Fahrzeug aus dem Licht des Hangars in die Schwärze des Alls schwebte. Im nächsten Moment ging ein Ruck durch den Boden und die Wände. »Der Internantrieb ist in Aktion getreten«, verkündete die seelenlose Stimme des Steuergehirns aus verborgenen Lautsprechern. »Er wird euch zu dem Planeten bringen und später wieder ins Auge Borallus zurück. Ich wünsche viel Glück und werde auf eure Rückkehr warten.« Cirfoniac ließ die Stange los und drehte sich zu Ybolzerc um. Die Millionen Facetten seiner Kugelaugen funkelten in allen Farben und spiegelten seine aufgewühlten Gefühle wider. »Es wird kein Zurück für uns geben!« schrie er. »Ybolzerc, das
Steuergehirn hat nur von einem Später gesprochen! Das ist es!« »Beruhige dich doch«, versuchte der andere, ihn zum Schweigen zu bringen, als sich die Augen der übrigen Halberwachten im Passagierraum auf sie richteten. Die Internschiffe! dachte Cirfoniac. Sie heißen so, weil sie auch dort operieren können, wo die Augen alle Energieentfaltung unterbinden. Im Innern der Stationen können sie mit normaler Technik fliegen, einmal draußen aber nur mit einem Steuer‐ und Antriebssystem auf der Basis chemischer Verbrennung. Wieviel Treibstoff haben wir wirklich an Bord? Er stellte die Frage so laut, daß alle es hörten. Natürlich gab es nun auch keine Funkverbindung mehr mit dem Auge, das hinter den Bullaugen schon zu einer immer kleiner werdenden Kugel schrumpfte, während der Planet dem Schiff entgegenwuchs. In wenigen Minuten mußte es in seine Atmosphäre eintauchen. Cirfoniac riß sich von Ybolzerc los, der ihn festzuhalten versuchte. Er rannte durch zwei weitere Passagierräume und in die kleine Steuerzentrale im Bug. »Wieviel Treibstoff haben wir an Bord?« fragte er einen der Piloten. Die Schiffsführer, vier Halberwachte, waren vom Steuergehirn so weit unterwiesen worden, daß sie ein Internschiff fliegen konnten. Viel mehr war ihnen nicht beigebracht worden. Cirfoniac mußte selbst an den Flugrechner, um sich die benötigten Daten auf einen Bildschirm spielen zu lassen. Seine beiden Hinterbeine trugen ihn nicht mehr. Er knickte in der Körpermitte ein und mußte sich auf alle sechse fallen lassen. »Wir kommen zwar auf den Planeten«, zirpte er mit versagender Stimme, »aber nicht mehr zurück.« *
Das Zeltlager unter den weit vorgewölbten Wänden der SOL verdiente diese Bezeichnung kaum noch. Zwischen den in den ersten Tagen aufgestellten Plastikzelten und weit um sie herum, mittlerweile bis an den Rand der Talmulde, hatten Solaner sich primitive Behausungen aus allem gebaut, was sich nur irgendwie dazu eignete. Mit Druckluftpistolen waren Nieten in Metallteile geschossen worden, die einigen wahllos aufgestellten Verschlagen noch einen gewissen Halt gaben. Andere Unterkünfte waren wie Kartenhäuser, die beim ersten richtigen Sturm zusammenstürzen mußten. Die meisten Menschen aber hatten ihre Quartiere nur auf Decken aufgeschlagen und betrachteten die SOL als Dach über sich. Wie es hier bei einem Dauerregen und einer Überschwemmung des Tales aussehen mochte, daran wagte Bjo gar nicht zu denken. »Was sagt Hayes?« war die meistgestellte Frage, als Breiskoll sich mit Sternfeuer und von Bruchstein einen Weg durch das Lager bahnte. Immer wieder kamen Männer und Frauen zu ihnen gelaufen, hielten sie fest und fragten, fragten und fragten. Bjo sah in Gesichter, die mehr und mehr von der Auszehrung gekennzeichnet waren. Also stand es noch viel schlechter um die Versorgung, als er angenommen hatte. Überall waren Feuerstellen errichtet worden, über denen enthäutete und ausgenommene Tiere schmorten. In riesigen Kesseln brutzelten alle möglichen Arten von Suppen aus Gräsern, Wurzeln und Wasser. Konnte man da noch von Glück reden, daß die SOL nicht auf einem Planeten mit einer aggressiven Natur gestrandet war? Spätestens in weiteren drei oder vier Tagen würde der Hunger zu einer Zeitbombe werden. Noch so viele Jäger konnten keine fast hunderttausend hungrige Münder mit ihrer Beute stopfen. Und die pflanzliche Nahrung, zwar reichlich vorhanden, schien nicht genug Nährstoffe zu enthalten. »Der High Sideryt«, log Bjo, »hat bereits einen Plan, wie wir Hilfe heranholen. Wir sind hier, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.«
Der Abstieg hatte eine knappe Stunde gedauert, und noch einmal eine Stunde brauchten die drei Raumfahrer, um in eine der offenen Schleusen zu gelangen. Zu mehreren Luken, die normalerweise nicht mehr zu erreichen gewesen wären, führten inzwischen aus Baumstämmen und Erde gebildete Rampen hinauf. An den Fortbewegungsschwierigkeiten in der SOL hatte sich nichts geändert. Bjo, Sternfeuer und von Bruchstein gingen regelrecht die Wände hoch. Was früher links und rechts gewesen war, war oben und unten. In den finsteren Korridoren ließ sich noch relativ gut vorankommen, doch wo Schalttafeln und andere Unterbrechungen eingelassen waren, mußten Umwege gemacht werden, und Korridorkreuzungen mußten mit weiten Sätzen übersprungen werden. Nach dem Ausfall der künstlichen Bordschwerkraft war dies die Hauptschwierigkeit beim Verlassen des Schiffes gewesen, dies und die plötzliche Dunkelheit überall. Der Hall der Schritte auf den Korridorwänden klang gespenstisch. Wo sonst das indirekte Licht aus den Wänden für taghelle Beleuchtung gesorgt hatte, zeigte den dreien nun nur noch der flackernde Schein einer Kerzenlampe den Weg. Wer sich noch im Schiff aufhielt, der befand sich nahe der Peripherie, wo das Tageslicht durch offene Schotte und Schleusen einfiel. Weiter im Innern rührte sich nichts mehr. »Hier hinein«, sagte Sternfeuer nach einer Weile und deutete in den Eingang eines nun waagrecht liegenden Schachtes. »Federspiel und die Männer warteten in einem Hangar auf dem 59. Deck auf uns.« Der Schacht war nicht besonders weit. Bjo mußte kriechen, stellte das Licht ab und schob es mit den Fingerspitzen vor sich her. Die Kerze in dem kopfgroßen Glasgefäß flackerte schon bedrohlich. Er konnte kaum drei Meter weit sehen, und vor und hinter ihm schien die Schwärze sich zu verdichten, unheimliche Formen anzunehmen. Zum erstenmal hatte er das Gefühl, im Schiff seiner Vorfahren ein Fremder zu sein.
Von Bruchstein, bisher geduldig und schweigsam, fuhr sich mit einer Hand durch den roten, struppigen Rauschebart und brummte mißmutig: »Ich habe mir schon den ganzen Weg hierher eure seltsamen Andeutungen anhören müssen, vor allem deine, Bjo. Es geht also gar nicht mehr um das Salz?« »Vergiß es Walter. Morgen bauen wir einen Flugapparat und holen es uns aus dem Meer hinter den Bergen.« Von Bruchstein ballte eine Faust und knallte sie auf die Schachtverkleidung. »So! Mein junger katzenhafter Freund, paß nur auf, daß ich dir nicht mal zeige, wie man mit frechen Kerlen umgeht, die sich auch noch ungebeten anschließen! Auch wenn du einer von denen da oben bist!« Seine Stimme hallte dumpf aus dem Schacht zurück. Bjo fluchte und sah zu, daß er schneller vorankam. Sternfeuer blieb dicht hinter ihm und winkte Walter. »Nun komm schon. Er hat es nicht so gemeint. Das Salz ist jetzt wirklich nicht wichtig. Wir nehmen diese Abkürzung durch die dunklen Gänge und den Schacht, um schneller bei Federspiel und den Leuten zu sein, die die Rakete bauen wollen.« »Rakete?« Von Bruchstein beeilte sich, zu ihr aufzuschließen. »Du meinst, es geht endlich los? Wir schlagen zurück? Wir zeigen es den Kerlen, die diese Falle für uns aufgebaut haben?« »Warte doch ab.« »Ich melde mich freiwillig für die Besatzung der Kampfrakete!« rief der Rittersmann von eigenen Gnaden aufgeregt, noch vor wenigen Monaten ein kaum bekanntes, versponnenes Besatzungsmitglied namens Waltman Bryck. Sternfeuer seufzte tief und schüttelte nur stumm den Kopf. Federspiel und die vier Solaner warteten in einem Beiboothangar, wo sie auf der Seitenwand neben dem »umgekippten« Kontrollstand ein provisorisches Lager mit Sitzgelegenheiten und
einem Tisch errichtet hatten. Die Nachmittagssonne blendete durch das offene Schott. Bjo mußte einige Male blinzeln, bis er sich wieder an das Licht gewöhnt hatte. Er kannte keinen der vier Männer persönlich. Federspiel stellte sie vor, als Bjo ihnen die Hände reichte. Zu Sternfeuers Erstaunen war einer von ihnen ein Extra, also ein nichtmenschliches Wesen, das im Lauf der langen Odyssee der SOL an Bord genommen worden war. Die meisten von ihnen waren schon vor langer Zeit auf dem Planeten Osath geblieben, zusammen mit den durch Strahlung mutierten Solanernachkommen. Und dieser Extra war es dann auch, der die Pläne für eine Brennstoffrakete entwickelt hatte. Er hieß Ool‐Teybrrksch‐Zwata‐ Kzz‐Mrrbsch, wurde aber nur kurz »Ole« genannt. Seine Haut war olivgrün, und er hatte an jeder Hand sieben Finger und zwei Daumen, was ihnen etwas Spinnenartiges gab. Seine Gestalt glich der eines Menschen, nur war er furchtbar hager. Unter der Bordkombination zeichneten sich sechs Rippenpaare ab. Die Augen standen ungewöhnlich weit auseinander und funkelten tiefschwarz, und anstatt einer Nase besaß er zwei Atemschlitze, die sich in regelmäßigen Abständen öffneten und schlossen. Die Haare erinnerten an schwarze Kabeldrähte, sie reichten über die Schultern bis auf den Rücken und die Brust. Oles Blick war direkt. Sternfeuer fand in seinen Gedanken ein Gemisch aus Loyalität zur SOL und ihrer Besatzung, aus einer noch schwer deutbaren Persönlichkeitsverwirrung und aus einem damit verbundenen, sehr starkem Drang zur Aktivität. Sie wußte nicht genau, was sie von ihm halten sollte. Immerhin konnte sie nichts feststellen, das nicht ehrlich war. Die drei anderen hießen Jeremy Wilde, Laslo Syper und Kym Wilde. Jeremy und Kym waren Brüder, Jeremy der ältere. Etwa zwei Jahre mochten sie voneinander trennen, dennoch sahen sie aus wie Zwillinge, blondhaarig, schlank, mit einem offenen und klaren Gesicht. Laslo war das genaue Gegenteil. Waren die Wildes etwa dreißig Jahre alt, so konnte er auf das dreifache Alter zurückblicken
und übertraf an Korpulenz sogar von Bruchstein noch bei weitem. Wie bei den meisten Gestrandeten sproß sein Bart, doch auf dem Kopf hatte er kein einziges Haar mehr. Er trug mongoloide Züge. »Also das sind sie«, sagte Federspiel, als die Ankömmlinge sich gesetzt hatten. Er lächelte die Zwillingsschwester an. »Vermißt Breck nicht einen von euch? Ich meine, hätte es nicht genügt, wenn ein Telepath sein Lager verlassen hätte? Er wird fluchen, wenn er auf seine normalen Kuriere angewiesen ist.« Sternfeuer winkte ab. »Laß ihn fluchen, vielleicht tut es ihm gut. Es wird immer schlimmer mit ihm.« Sie holte tief Luft und beobachtete Ole aus den Augenwinkeln. »Dich wird man auch vermissen. Haben Herts und die anderen, die noch in der SOL aushalten, Verdacht geschöpft?« »Kaum. Als Bjo Walter und dir aus dem Hangarlager folgte und dir sagte, was er vorhat, wußte ich Bescheid. Ich fand Ole und seine Freunde und wartete hier mit ihnen.« Federspiels Augen wurden schmal. »Breck hält nichts von der Idee, aber ihr wollt, daß wir die Rakete trotzdem bauen?« »Das kommt auf Oles Vorstellungen an«, sagte Breiskoll. »Ein Beschuß der sechs Gigantstationen im weiten Orbit ist von vorneherein sinnlos. Aber ich denke, daß wir alles versuchen sollten, um Atlan ein Signal und eine Warnung zu geben. Wir müssen einfach davon ausgehen, daß er noch lebt und in unser Universum zurückgefunden hat.« Zum erstenmal sprach der Extra: »Ich habe mittlerweile auch eingesehen, daß ich in der ersten Begeisterung über das Ziel hinausschoß«, sagte er. »Und ich …« Bjo hob eine Hand. »Moment, Ole. Begeisterung?« Der Grünhäutige zuckte die schmalen Schultern. »Das ist so, Bjo. Ich kam vor zwanzig Jahren an Bord der SOL. Eure Versorgungsschiffe nahmen mich damals von einem Planeten mit, der kurz vor dem Atomkrieg stand. Inzwischen wird er nicht
mehr existieren. Ich war als einziger in der Nähe des Kreuzers, und ich hatte keine Angst, weil ich immer daran geglaubt hatte, daß es außer meinem Volk auch viele andere im weiten Universum geben mußte. Natürlich versuchten eure Pyrriden nicht, in Kontakt mit uns zu treten. Sie landeten in einer unwirtlichen Gegend, in der nur die Hütte meiner Eltern stand. Wir waren Einsiedler. Nur ich sah in der Nacht die Lichter des Schiffes und schlich mich unbemerkt an Bord.« Alles stimmte, erfuhr Sternfeuer wie auch Bjo aus Oles Gedanken. Aber was hatte es mit der jetzigen Situation zu tun? »Sie hätten mich aus einer Schleuse ins Vakuum stoßen können«, fuhr Ole fort, »aber sie taten es nicht und nahmen mich, ein halbes Kind, mit auf die SOL. Ich kam zu einer Pyrridenfamilie, die mich gut behandelte, trotz des Terrors der SOLAG. Und deshalb bin ich der SOL und ihren Bewohnern zu Dank verpflichtet. Ich habe oft versucht, etwas zu tun, um diesen Dank auszudrücken. Heute kann ich es endlich, denn wer von euch weiß noch, wie man aus den primitivsten Teilen eine chemische Rakete herstellt?« Sternfeuer nickte. Das also war der Grund für Oles Verwirrung. Was er nicht sagte, holte sie sich aus seinem Gedankenhintergrund. Sein Volk hatte Brennstoffraketen entwickelt und eine sogar auf den Mond seines Planeten schießen können. Alle anderen hatten dann Atomsprengköpfe getragen. Ole glaubte nun, den Solanern mit seinem Wissen helfen zu können, das er sich als technikbesessener Jugendlicher aus Büchern angeeignet hatte. Er fühlte nicht nur Dank den Solanern gegenüber, sondern kam sich auch schuldig vor, damals sein Volk verlassen zu haben. Jetzt wollte er alles wiedergutmachen. Daß es durch eine Atomrakete auf eine der sechs Stationen im Orbit geschehen sollte, wollte er im Grunde gar nicht. Er hatte den Vorschlag, obwohl er ihm angesichts seiner Vergangenheit widerstrebte, nur gemacht, um Hayesʹ Interesse zu wecken. »Wir sind keine Krieger, Ole«, sagte die Telepathin. »Bjo hat schon
gesagt, worauf es uns ankommt. Wie sehen also deine Vorstellungen aus?« Und er begann zu erklären, wie er sich eine primitive Rakete dachte, die aus Treibstofftanks und Brennkammern mit Ausströmdüsen bestand. Einfaches Schwarzpulver sollte als Zündungs‐ und Treibmittel dienen und das Flüssiggas komprimieren. Es hörte sich alles so einfach an. Die Wildes nickten zustimmend. Federspiel erklärte, daß sie Triebwerkstechniker und in ihrer Freizeit begeisterte Tüftler waren. Sie bauten Modellraumschiffe in einer kleinen Werkstatt, und eines dieser Modelle wickelte Kym nun vorsichtig aus einem Leinentuch. Es sah aus wie eine langgezogene Granate, pfeilförmig mit Steuer‐ und Landeflossen. Sternfeuer las überrascht die verschiedenen kleinen Beschriftungen. »Die STARDUST«, sagt Syper leise. Er lächelte dabei wie jemand, der in sein eigenes Werk verliebt war. »Ihr Mutanten müßtet sie noch kennen, obwohl Perry Rhodan vor fast zweitausend Jahren mit ihr zum Mond der Erde flog. Lange Zeit war sie eine Legende. Ich bin beim Durchforsten unserer historischen Archive auf sie gestoßen. Das tue ich oft und gebe Kym und Jeremy die Ideen für ihre Modelle. Wir kennen uns schon lange, und es war wohl mehr eine Fügung als ein Zufall, daß wir mit Ole zusammentrafen. Natürlich verfügte die STARDUST über elektronische Systeme, die wir nicht mehr haben. Ole sagte uns, wie wir das Modell dennoch fliegen lassen konnten. Er mischte uns den Treibstoff zusammen.« Jeremy zuckte etwas verlegen die Schultern. »Manchmal lassen wir unsere Schiffe in den Erholungsparks ferngesteuert herumsausen.« »Du meinst, dieses … dieses Ding ist tatsächlich geflogen? Und wir könnten eine große Rakete nach seinem Vorbild bauen?« fragte Bjo. »Im Prinzip ohne weiteres. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, einen Mantel und die Kammern zu fertigen. Schweißen können wir
nicht mehr, aber es gibt Flüssigplastik, das nach wenigen Minuten so hart ist wie Stahl. Wir können es schaffen. Gebt uns einige Tage Zeit und genügend Männer, die die benötigten Teile aus der SOL ausmontieren und uns bringen.« »Wir haben alles genau durchdacht«, sagte Ole. »Einen Peilsender einzubauen, ist keine Schwierigkeit. Sobald die Rakete aus dem Neutralisierungsfeld heraus ist, beginnt er zu funken.« Und es gibt Sender, dachte Bjo, die bereits mit bestimmten Signalen programmiert sind und eine eigene Energieversorgung besitzen. Sie können hier eingestellt werden und Atlan warnen. Breiskoll blickte Sternfeuer und Federspiel fragend an. Von Bruchstein schüttelte nur enttäuscht den Kopf und brummte etwas von »halben Sachen.« »Ich bin dafür, es zu versuchen«, sagte die Telepathin. »Was haben wir dabei zu verlieren? Breck wird seine Zustimmung geben, wenn die Rakete erst einmal fertig ist. Und vor allem sehen unsere Leute, daß etwas getan wird.« »Ich bin auch dafür«, sagte Federspiel. Bjo erhob sich und wollte den Bastlern Glück wünschen, als er von draußen einen vielstimmigen Aufschrei hörte. Er lief zum offenen Hangarschott. Inzwischen hatte es zu dämmern begonnen. Die Tage auf Zerberus waren nicht lang. Die Männer und Frauen unter der Öffnung waren erregt. Sie riefen alle durcheinander. Bjo verstand nichts, aber in ihren Gedanken las er etwas von einem Licht, das vom Himmel fiel. Es mußte ganz in der Nähe gewesen sein. Ein Meteor? Als Breiskoll noch auf das Menschengewimmel zwischen den Feuern und Öllichtem hinabstarrte, war Sternfeuer neben ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Dort, Bjo!« Er folgte ihrem Blick und sah das flammende Etwas in einer schrägen Bahn aus den Wolken schießen und hinter den Bergen verschwinden. Wieder schrien die Menschen auf. Dann folgten zwei
weitere Meteore – falls es sich wirklich um solche handelte, und noch einmal zwei. Sie gingen in allen Richtungen nieder. Erst jetzt kam von den Bergen ein dumpfes Grollen herüber, das sich in einem weit über das Land rollenden Donner verlor. »Was ist das, Bjo?« flüsterte Sternfeuer. Walter von Bruchstein stand breitbeinig hinter ihnen und nickte grimmig. »Wenn ihr es nicht wißt, sage ichʹs euch. Wir werden aus dem Weltraum angegriffen. Die Kerle da oben machen ernst. Entweder schießen sie mit Atomraketen auf uns, oder …« »Was, oder?« »Oder sie landen.« 4. Die starke Hyperstrahlung des fremden Schiffes war wie ein Leuchtfeuer, das es der MJAILAM und der EMRADDIN erlaubte, ihm im gebührenden Abstand zu folgen. Zwischen ihnen lagen Lichtjahre. Das Objekt bewegte sich anscheinend sehr zielsicher auf einem bestimmten Kurs. Kein einzigesmal hatte es seinen Flug unterbrochen, um Positionsbestimmungen vorzunehmen. Falls es wider Erwarten seine Verfolger ortete, so sah es keine Notwendigkeit, sie abzuschütteln. Daran änderte sich nichts, bis es sich einer gelben Normalsonne näherte. In einer Lichtstunde Entfernung begann es übergangslos mit phantastischen Werten zu verzögern. Brick brachte die MJAILAM geistesgegenwärtig aus dem Linearraum. Die EMRADDIN vollzog das Manöver synchron mit. Als die Normalortung das Schiff einfing, war es bereits tief in das Sonnensystem eingedrungen. Der gelbe Stern besaß insgesamt sieben Planeten, davon waren die drei äußeren Gasriesen und die beiden sonnennächsten
merkurgroße Himmelskörper mit glutflüssiger Oberfläche. Der dritte Planet war eine in dichte Wolkendecken gehüllte Welt vom Venustyp. Nur der vierte schimmerte blau, grün und braun und trug Leben. Und auf ihn hielt das fremde Schiff zu. »Ortungen!« rief Joscan Hellmut in die MJAILAM‐Zentrale. »Und zwar eine ganze Menge! Sechs riesige Objekte in einem weiten Orbit um den vierten Planeten! Schiffe oder Stationen, aber keine von einem uns bekannten Volk!« »Weiter verzögern, Uster!« rief Atlan dem Piloten zu. Die beiden Kreuzer waren ebenfalls bereits in das System eingedrungen. Atlan ging plötzlich alles viel zu schnell und zu hektisch. Funksprüche wurden mit der EMRADDIN gewechselt. Die beiden Kreuzer kamen auf der Bahn von Welt Nummer Sechs quasi zum Stillstand. Wenn es an Bord des Fremdschiffs und der georteten Riesenkugeln auch nur halbwegs brauchbare Orter gab, waren die Solaner spätestens jetzt entdeckt. Jeder redete. Kölsch schrie von einem Bildschirm Fragen. Atlan mußte sich mit Nachdruck Ruhe verschaffen. Er sah die Rasterbilder der Gigantobjekte und schauderte. In welches kosmische Wespennest war er da gestoßen? Wer steuerte das fremde Schiff, und was wollte er hier? Und vor allem, gab es in diesem System tatsächlich eine Spur von der SOL? Noch sah es jedenfalls nicht so aus. Atlan verzichtete auf Funkrufe. Etwas geschah hier, das spürte er deutlich. Doch was? »Das Schiff ändert den Kurs!« rief Hellmut. »Jetzt steuert es auf eine der Stationen zu. Und …« Atlan sah, was dem Kybernetiker die Sprache verschlug. Tyari kam zu ihm und nahm seinen Arm. »Drei weitere Ortungen«, flüsterte sie in die plötzliche, betretene Stille. »Aber es sind keine Energiequellen. Nur die Massetaster erfassen sie, drei Objekte in einem engeren Orbit als die Stationen oder Riesenschiffe. Nach dem Rasterbild sind sie …«
»Sie sehen aus wie die drei Schiffe der Vulnurer«, kam es von Nockemann, der in der Zentrale erschienen war. »Das meinst du doch?« »Aber sie strahlen keine Energieechos ab. Sollte das der Grund für das Verschwinden der SOL aus dem Junk‐Nabel sein? Sind die Vulnurer, nachdem Solania sie mit der SZ‐2 aufspüren konnte, in eine Falle gegangen? Es muß so sein, denn sonst hätten sie den Junk‐ Nabel erreicht.« »Und Breckcrown brach auf, um nach ihnen zu suchen?« fragte Brick. »Wo ist dann die SOL?« In die gleiche Falle gegangen, durchfuhr es Atlan. Aber das war alles nur Theorie. Es gab unzählige Möglichkeiten, was geschehen sein konnte. Tatsache schien nur zu sein, daß dort wahrhaftig die GESTERN, HEUTE und MORGEN energielos um den Planeten trieben, umgeben von einer Sechseckschale aus 6400 Meter großen Kugeln, die im Gegensatz zu ihnen energetisch aktiv waren. Sie waren überhaupt die einzigen Energiestrahler weit und breit, mit Ausnahme des Schiffes, das mit unverminderter Geschwindigkeit auf eine von ihnen zuhielt und jeden Augenblick an ihrer Hülle zerschellen mußte. Brick ließ in Erwartung einer hyperenergetischen Schockfront die Schutzschirme um die MJAILAM aufbauen, aber es kam nicht zu der erwarteten Katastrophe. »Das gibt es doch gar nicht!« rief Hellmut. Doch alle sahen sie es. Kurz vor der Kollision hörte das fremde Raumschiff von einem Moment auf den anderen zu existieren auf. Es hatte keine Explosion gegeben. Das Schiff war überhaupt nicht mit der Kugel in Berührung gekommen. Sekundenbruchteile, bevor es auf sie treffen mußte, hatte es sich wie in Luft aufgelöst. Atlan sah kurz ein feines Flimmern auf den Orterschirmen, wie die Reflexion von einer hauchdünnen, doch noch energetisch strahlenden Staubwolke dort, wo eben noch das Schiff gewesen war.
Er kam kaum dazu, seinen Verdacht zu denken, denn im gleichen Augenblick krampften sich Tyaris Finger tief in seinen Arm. Er fing die Gefährtin auf, als ihre Beine nachgaben. Tyaris Augen hatten sich in grenzenloser Irritation und Schrecken geweitet. Ihre Lippen zitterten. Atlan führte sie zu einem Kontursessel. Blödel kam auf Nockemanns Wink herbei und nahm eine Injektionspistole aus einer der Körperklappen. »Laß es«, brachte die Telepathin leise hervor. Mit einer bebenden Hand stieß sie den Spezialroboter zurück. Sie schloß die Augen und holte tief Luft. Die sechs Riesenobjekte und die Vulnurer waren vorübergehend vergessen. Jeder sah Tyari an und versuchte von ihren Lippen zu lesen. »Du hast etwas gespürt?« fragte Atlan. »Etwas aufgefangen?« Sie nickte. »Soll Blödel dir nicht doch etwas …?« »Nein, es geht schon wieder.« Noch einmal hob und senkte sich ihre Brust, verzog sie das Gesicht wie unter psychischen Qualen. Dann war es, als schöbe sie etwas Erdrückendes von sich. Ihr Körper entspannte sich langsam wieder. »Es war wie eine Explosion«, sagte sie leise. »Eine Explosion von Mentalimpulsen.« Die Gefährten sahen sich an. Die Kreuzer standen inzwischen völlig bewegungslos auf der Bahn des sechsten Planeten. »Du meinst mehrere Impulse?« fragte Atlan. Sie ließ seinen Arm los, ihre Stimme wurde fester. »Es ist vorbei, Atlan. Jetzt kommt es mir vor wie die Erinnerung an einen Traum. Es geschah nur zu unerwartet. Die Impulse waren auf einmal da, entweder als das Schiff sich auflöste, oder ganz kurz davor. Und fast im gleichen Moment noch teilten sie sich.« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. »Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber es war wie ein einziger, unglaublich starker Mentalimpuls, der sich explosionsartig teilte. Aus ihm wurden mehrere, die sich in alle Richtungen davonbewegten.«
»Also auch mehrere Wesen?« fragte Nockemann. Sie nickte. »In dem Schiff müssen sie eng beieinander gewesen sein, und deshalb wie eines. Ich verstehe nicht, daß ich sie nicht früher wahrnahm. Vielleicht sind sie erst kurz vor dem Gigantobjekt erwacht oder geistig aktiv geworden. Jedenfalls trennten sie sich, und sie …« Tyari stand auf und ging zu den Schirmen, die den vierten Planeten und die Objekte zeigten. Sie stützte sich mit beiden Händen auf ein Pult. Niemand stellte ihr Fragen, bis sie von sich aus fortfuhr: »Nein, sie explodierten nicht in alle Richtungen. Ich sehe es jetzt klarer wie ein Bild, dessen Linien sich ordnen. Es waren dreizehn Einzelimpulse, und sie haben sich auf diese sechs Stationen oder Schiffe verteilt.« »Dann gab es in dem Raumer, dem wir folgten, einen Transmitter?« fragte Atlan. »Aber einen, der dreizehn Wesen gleichzeitig abstrahlte? Bist du ganz sicher, was die Zahl angeht?« »Ziemlich sicher, fast hundertprozentig. Bevor jemand wissen will, ob mir die Impulse bekannt vorkämen – nein. Sie waren vollkommen fremd.« »Sie waren es? Du hast sie verloren?« »Sie sind wieder erloschen, Atlan. Ich kann mir nur denken, daß die Unbekannten sie bei einem Transmitvorgang in dieser Stärke abstrahlten. Und wenn das so ist, dann befinden sie sich jetzt in sechs Kugeln. Möglicherweise könnte ich sie aus größerer Nähe wieder empfangen.« * Sie beobachteten eine Stunde lang, ohne eine Aktivität irgendwelcher Art im Sonnensystem feststellen zu können, das
Brick inzwischen »Wespennest« getauft hatte. Der Name drückte das aus, was auch Atlan bei sich schon gedacht hatte: man war auf etwas gestoßen, von dem sich noch nicht sagen ließ, was es bedeutete. Aber daß hier etwas geschah oder in die Wege geleitet wurde, war offenbar. Daß die Schiffe der Vulnurer nach wie vor energielos um den vierten Planeten trieben, sprach dafür, daß die dreizehn geheimnisvollen Fremden keine guten Absichten verfolgten. Ein Zusammenhang zwischen ihren Gigantstationen und dem Schweigen der Vulnurer war unübersehbar. Die MJAILAM – Positronik errechnete eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Zutreffen des Verdachts, die SOL hätte einem Hilferuf folgen können. Nach langer Diskussion und vielem Für und Wider hatte der Arkonide sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Wenn vom vierten Planeten keine Informationen kamen, mußte man selbst versuchen, tiefer in das System vorzudringen und sie sich zu holen. Wajsto Kölsch hatte sich dazu bereit erklärt, mit der EMRADDIN einen Vorstoß zu wagen, während die MJAILAM zurückbleiben und beobachten sollte. Hellmut hatte als erster davon gesprochen, daß den Vulnurern die Energien nicht einfach davongeflossen sein konnten. Also mußte es etwas geben, das sie neutralisierte. Vielleicht wirkte es punktuell, vielleicht war es ein Feld mit begrenzter Ausdehnung, denn das Schiff der Fremden hatte ja bis ganz nahe an eine der Stationen heranfliegen können. Atlan wollte Kölsch und seine Besatzung nicht einem ungewissen Schicksal aussetzen. Erst als Tyari andeutete, daß sie vom vierten Planeten zweimal ganz schwach Mentalimpulse wahrgenommen habe, gab er die Erlaubnis zu dem Unternehmen. Die Impulse waren zu vage, um sie zu bestimmen, doch Tyari versicherte, daß sie auf keinen Fall identisch mit denen der dreizehn Fremden waren. Sie mußte näher an den Planeten heran, um mehr sagen zu können. Deshalb wechselte sie vor deren Aufbruch auf die EMRADDIN über. Atlan beobachtete den. Start des Kreuzers mit sehr gemischten
Gefühlen. Langsam, dann steil beschleunigend, nahm er Kurs auf den vierten Planeten. Hage Nockemann stand neben dem Arkoniden und versuchte, in dessen verschlossener Miene etwas zu lesen. »Du wärst lieber selbst geflogen«, erriet er. »Im Grunde ist das, was Wajsto jetzt auf sich nimmt, so etwas wie ein Himmelfahrtskommando. Bisher ließen uns die Stationen in Ruhe, aber wie lange noch? Könnten unsere Schutzschirme einem Beschuß standhalten?« Aus unbekannten Waffen, dachte Atlan, die von Unbekannten mit unbekannten Absichten bedient werden. »Aber Wajsto ist ein Dickkopf, und Tyari auch. Sie hättest du halten können, Wajsto nicht. Er wäre notfalls ohne deine Zustimmung auf eigene Faust gestartet.« »Laß es gut sein, Hage«, sagte der Arkonide. Er drehte sich nach Ticker um. Der Adlerähnliche hockte in einem Winkel der Zentrale und rührte sich nicht. Verrieten ihm seine Instinkte etwas? »Was hat Tyari wahrgenommen, Hage?« fragte Atlan. »Warum schweigt sie darüber?« »Sie sagte doch, daß es nur vage Impulse waren.« Nockemann zuckte die Schultern. »Sie will sich ihrer Sache erst sicher sein, aber hoffentlich ist es dann nicht zu spät.« Brick hob eine Hand. »Wenn ihr jetzt still sein würdet, könntet ihr vielleicht hören, was Wajsto uns sagt.« Kölsch hielt selbst die Funkverbindung mit der MJAILAM. Auf dem Bildschirm war Tyari neben ihm zu sehen. Offenbar versuchte sie konzentriert, etwas aus der Zielrichtung zu empfangen. Immer wieder schüttelte sie enttäuscht den Kopf. Atlan konnte sich nicht vorstellen, daß die SOL, dann ebenfalls ohne Energie, hinter oder auf dem Planeten stehen sollte. Dann müßte Tyari wenigstens mit Breiskoll oder den Zwillingen in
Telepathiekontakt treten können. »Wir nähern uns jetzt der Bahn der fünften Welt«, berichtete Kölsch. »Noch keine neuen Beobachtungen.« »Aber ich habe etwas!« rief Hellmut, der wieder vor den Orterschirmen saß. »Die energetische Aktivität der Stationen steigt geringfügig an.« Atlan versteifte sich. Etwas in ihm schlug Alarm, doch es war zu spät, um Kölsch zu warnen. Im gleichen Moment, in dem die kurzen Symbolfunksprüche zwischen den Kugelriesen aufgefangen wurden, schwieg die EMRADDIN. »Wir bekommen keine Verbindung mehr«, knurrte Brick. »Können wir auch nicht, ebensowenig wie zu den Vulnurern!« rief Hellmut. Er war aufgesprungen und gestikulierte heftig mit den Händen. »Die EMRADDDIN ist energetisch tot! Es hat ihr schlagartig die Energien entzogen, und … und jetzt greift etwas nach ihr!« Sie sahen es alle. Von einer der sechs Kugeln zuckte ein blauer Strahl durch das All und hüllte den Kreuzer in eine leuchtende Aureole. Er erlosch schon nach zwei Sekunden wieder, doch da hatte die EMRADDIN schon ihren Kurs geändert. »Bei allen Planeten«, entfuhr es Nockemann. »Das muß ein Fangstrahl gewesen sein. Er hat das Schiff aus der Bahn gerissen, und nun rast es ohne Eigenantrieb genau auf die Sonne zu. Es wird hineinstürzen!« »Nicht, solange wir es verhindern können.« Atlan handelte. Er warf sich neben Brick in einen Kontursessel und nickte dem Piloten grimmig zu. »Wir haben lange genug gewartet, Uster. Jetzt zeig uns, was du noch kannst. Wenn die Energieneutralisation schon dort beginnt, wo die EMRADDIN zu funken aufhörte, muß es sich wirklich um ein Feld handeln, das von den Stationen projiziert wird und den vierten Planeten vermutlich kugelförmig umgibt. Und wir kennen dann seine Grenzen. Wir
fliegen so dicht wie möglich heran und versuchen, unsere Leute mit den Traktorstrahlen der MJAILAM zurückzuholen.« »Endlich!« brummte Uster. »Ich will nur hoffen, daß unsere Zugenergien nicht ebenfalls neutralisiert werden.« »Nur, wenn du mit der MJAILAM in das Feld gerätst.« Der Kreuzer beschleunigte schon. Über die Positronik erschienen die genauen Koordinaten des Punktes auf den Schirmen, an dem die EMRADDIN zum energetischen Wrack geworden war. Atlan hielt den Atem an. Es war eine Grenze im Nichts, unsichtbar und vielleicht von den Stationen beliebig ausdehnbar. Das Risiko mußte der Arkonide eingehen, wenn die EMRADDIN nicht in der Sonne verglühen sollte. »Ich verstehe nur eines nicht«, hörte er Nockemann sagen. »Wenn die sechs Kugeln innerhalb des Neutralisationsfelds stehen, das sie produzieren, weshalb haben dann sie Energie? Und wie konnte das andere Raumschiff so tief in das System eindringen?« Das war ein Rätsel, mit dem Atlan sich in diesem Augenblick am wenigsten beschäftigte. Er dachte an Tyari und die vielen Menschen, denen ein grausamer Tod bestimmt war, falls das verzweifelte Rettungsmanöver nicht gelang. Brick flog die MJAILAM, als säßen ihm alle Teufel der Hölle im Nacken. Viel zu schnell jagte sie auf den errechneten Grenzpunkt zu. »Verzögern, Uster!« schrie Atlan. »Wir gehen schon nicht verloren«, erwiderte der Pilot hitzig. »Aber die anderen, wenn sie sich noch weiter entfernen.« »Was ist mit den Symbolsprüchen der Stationen, Joscan?« »Nichts mehr, Atlan. Für diese feigen Mörder in den Kugeln scheint die ganze Angelegenheit erledigt zu sein – bis wir dran sind.« Die Koordinatenreihe raste dem Nullpunkt entgegen. Atlan stieß Brick die Faust in den Arm. »Verdammt, Uster, Schluß jetzt!« »Ich bremse ja schon, oder seht ihr das nicht?« Atlan sah es weniger, als er es spürte. Die MJAILAM verzögerte
mit solch hohen Werten, daß die Andruckabsorber für Sekunden überlastet wurden. Es drückte die Raumfahrer in ihre Sitze und wollte ihnen die Luft aus den Lungen pressen. Wer gestanden hatte, wirbelte über den Boden und hatte Glück, wenn er sich irgendwo festhalten konnte. Ticker stieß einen heiseren Schrei aus. Als die dunklen Punkte vor Atlans Augen zu tanzen aufgehört hatten und die Solaner sich fluchend wieder aufrichteten, stand die MJAILAM denkbar knapp vor der unsichtbaren Grenze. Brick schien von dem nicht berührt, was um ihn herum vorging. Seine Hände huschten über Tastaturen, er rief der Positronik Befehle zu. Noch reagierte sie. Noch flossen die Energieströme durch das Raumschiff. Die unsichtbaren Traktorstrahlen griffen über Hunderttausende von Kilometern nach der abtreibenden EMRADDIN. Atlan mußte schlucken, um das Rauschen in den Ohren zu beenden. Jeder starrte gebannt auf die Schirme, als Augenblicke über das Schicksal des anderen Kreuzers entschieden. »Wir haben sie!« rief Hellmut. »Die EMRADDIN wird langsamer, aber wie werden die Fremden darauf reagieren?« Die Bordgeschütze der MJAILAM waren feuerbereit. Jetzt stand fest, daß nur Energiequellen von der Neutralisation betroffen waren, nicht aber eine einmal ausgesandte Energie. Dennoch wollte Atlan keine Wette darauf abschließen, daß ein Beschuß der Gigantkugeln etwas bewirkte. Wieder blickte er sich hilfesuchend nach Ticker um, und wieder sah er das Geschöpf des Arsenalplaneten schweigend in seiner Ecke hocken. Aber jetzt wirkte er wie ein Raubvogel, der eine Beute erspäht hatte und auf den richtigen Moment wartete, sie zu reißen. »Die Fahrt der EMRADDIN ist aufgehoben«, verkündete Brick triumphierend. »Jetzt zieht es sie auf uns zu.« »Dann schleppen wir sie in diesem Abstand aus der Gefahrenzone«, befahl Atlan. »Ich traue dem Frieden immer noch nicht.« Brick lachte rauh. »Frieden? Was meinst du denn damit? Ich …«
»Das, Uster.«
Die MJAILAM fing die gleichen Symbolfunksprüche wie vorhin auf, ohne daß die Positronik eine Dekodierung vornehmen konnte. Brick fragte nicht länger. Das Schiff setzte sich mit der EMRADDIN im Schlepptau auf die Grenzen des Sonnensystems zu in Bewegung und verzögerte erst wieder, als Kölsch zu funken begann. Gleichzeitig war sein Kreuzer offenbar wieder mit voller Energie versehen. Das geschah, als das Schiff den Punkt in der gedachten Kugel um den vierten Planeten überschritt, an dem die Neutralisation wirksam geworden war. Das heißt, dachte Atlan, die Fremden können ihr Feld nicht ausweiten. Falls der kurze Funkverkehr ein entsprechender Befehl gewesen ist, schränkte sein Extrasinn ein. Halte dich lieber an Fakten als an Spekulationen. Die beiden Raumer nahmen ihre ehemalige Warteposition auf der Bahn des sechsten Planeten wieder ein. Erst jetzt hatte Kölsch sich wieder so weit im Griff, daß er mehr hervorbrachte als Dank. »Das war verdammt knapp, Freunde«, funkte er zur MJAILAM. »Und auch verflixt unangenehm, als plötzlich alle Lichter erloschen und wir keine künstliche Schwerkraft mehr hatten. Atlan, ich glaube, Tyari hat etwas aufgefangen. Sie kommt zu euch zurück, aber richtet die Infrarot‐Fernoptiken schon einmal auf den vierten Planeten. Dorthin, wo er uns jetzt die bisher abgewandte Seite zudreht.« Auf einen entsprechenden Befehl begann die Positronik, die zur MJAILAM drehende Hälfte des Himmelskörpers mit extremster Vergrößerung abzusuchen. Bei der Größe der Welt war es kein Wunder, daß noch kein Ergebnis vorlag, als Tyari mit einem Ein‐ Mann‐Jäger in die MJAILAM einschleuste. Minuten später betrat sie die Zentrale. Sie wirkte erschöpft und zerschlagen und hatte diesmal nichts dagegen, als Blödel ihr eine stimulierende Injektion verabreichte. »Die SOL ist hier«, erklärte sie ohne Umschweife. »Ich weiß noch
nicht genau, wo, aber auf dem Planeten. Die Impulse, die ich von hier aus auffing, stammen von ihrer Besatzung. Ich war mir erst sicher, als wir uns in diesem Neutralisierungsfeld befanden, aber das war immer noch nicht nahe genug.« »Was soll das heißen?« fragte Atlan erschüttert. »Die Solaner leben. Ich konnte auch die Ausstrahlungen der Vulnurer espern. Sie sind in ihren Schiffen. Sie leben, doch konkrete Gedankeninhalte konnte ich weder von ihnen noch von den Männern und Frauen der SOL empfangen.« »Auch von den Telepathen nicht?« fragte Nockemann ungläubig. Tyari schüttelte den Kopf. »Nichts, Hage.« Atlan starrte auf die Schirme, die den Planeten zeigten, die Vulnurerschiffe und die geheimnisvoll drohenden Gigantstationen, aber noch nichts von der SOL. Die EMRADDIN war ohne Schäden aus dem Neutralisierungsfeld geholt worden. Also sollte das Feld nicht zerstören, sondern nur lähmen, festsetzen, gefangennehmen. Wozu? Hatten die Stationen auf die Ankunft der Fremden gewartet? Sollten diese nun die Initiative ergreifen? Nicht erst jetzt drängte sich dem Arkoniden der Vergleich mit den Schockfronten der Namenlosen Zone auf, obwohl die Wirkung und die Ursache des Feldes hier ganz anders war. Dann meldete die Positronik, daß die Optiken fündig geworden seien. Ein Ausschnitt der Planetenkugel wurde auf den Bildschirmen in noch stärkerer Vergrößerung abgebildet. Und dort, zwischen zwei auseinanderdriftenden Wolkenfeldern, lag die SOL auf der Nachtseite des Himmelskörpers. Die Infrarotoptik zeigte sie als genau umrissenen Schatten in einem weiten Tal zwischen Bergen – ein lebloses, kaltes Etwas mitten in einer wärmestrahlenden Umgebung. »Um Himmels willen«, seufzte Nockemann. »Dann ist es wirklich
wahr, und unser Mutterschiff liegt dort verlassen und hilflos, und es gibt nichts, daß wir tun können, ohne in die Sonne geschickt zu werden.« »Die Besatzung lebt«, flüsterte Tyari, die Augen starr auf das Infrarotbild gerichtet. Sie drehte sich zu Atlan um und nahm seine Hand. »Aber wie? Und wie lange noch?« 5. Das Landen der flammenden Objekte auf Zerberus hatte sich bis zum späten Abend hingezogen, und selbst in der Nacht war noch dann und wann so etwas wie ein Wetterleuchten am Himmel zu sehen gewesen. An Meteoriten glaubte niemand mehr. Bjo hatte getan, was er konnte, um die Menschen im Tal zu beruhigen. Doch viel war es nicht, was er mit einigen primitiven Lautsprechern zu erreichen vermochte. Die erste Panik hatte sich zwar gelegt, aber die Solaner drängten sich verängstigt unter ihrem Schiff zusammen und riefen nach dem High Sideryt, von dem sie sich im Stich gelassen fühlten. Einige hatten ihre Feuer gelöscht und suchten Schutz in der Dunkelheit. Andere schienen zu denken, daß gerade die Feuer das abschrecken mochten, was da vom Himmel gefallen war und sich vielleicht schon lautlos näherte. Die Rakete war vergessen, als Bjo mit Sternfeuer und von Bruchstein in Hayesʹ Zelt saß. Breiskoll wußte, daß Ole und seine Freunde trotz der neuen Situation an ihrem Projekt arbeiten würden. Er konnte sich vorerst nicht mehr darum kümmern. Sternfeuer stand in Telepathiekontakt mit Federspiel, der ständig über die Stimmung bei der SOL berichtete. »Meteoriten haben nicht solche Bahnen«, hörte er Hayes sagen. Der High Sideryt war wie verwandelt. Endlich zeigte er wieder die gewohnte Entschlossenheit. Wer ihn nicht kannte, mußte vor ihm erschrecken. Das Öllicht auf dem Tisch ließ die Narben in seinem
Gesicht als tiefschwarze Furchen erscheinen. »Also handelt es sich um gesteuerte Körper oder Geschosse.« Hayes warf von Bruchstein einen Seitenblick zu. »Allerdings keine Atomraketen, denn wer solche Stationen wie die im Orbit baut, der wirft nicht mit Steinen.« Von Bruchstein zuckte zusammen. Er saß im Schneidersitz neben Sternfeuer auf dem Boden und vermied es, jemanden anzusehen. »Ich bin fest davon überzeugt«, fuhr Hayes fort, »daß fremde Wesen auf Zerberus gelandet sind. Nach dem Feuerschein und dem Donner zu urteilen, kamen sie in relativ primitiven Flugkörpern, und es gibt nur eine Möglichkeit herauszufinden, wie das zu einer Supertechnologie paßt.« »Sie werfen nicht mit Steinen, aber kommen mit Silvesterraketen«, konnte von Bruchstein sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. Sternfeuer legte ihm eine Hand auf den Arm und flüsterte ihm etwas zu. Er schwieg. »Keine Landung erfolgte im Tal oder in unserer näheren Umgebung«, sagte Lyta Kunduran. »Ich meine übrigens immer noch, daß die Objekte nicht unbedingt von den Stationen gekommen sein müssen. Genausogut kann es sich um einfache Raumschiffe handeln, die in die gleiche Falle wie wir gerieten und notzulanden versuchten.« Bjo schüttelte den Kopf. »Eine ganze Flotte, Lyta? Eine, die aus Raketen mit einem Antrieb besteht, der bestimmt keine überlichtschnelle Raumfahrt erlaubt? Dann müßte sie aus diesem System gekommen sein, und außer auf Zerberus gibt es hier kein Leben.« »Außer auf Zerberus.« Hayes dehnte die Worte, sein Blick war eine Herausforderung. »Du sagst es, Bjo. Bisher nahmen wir an, daß es keine Zivilisation auf diesem Planeten gebe – aber haben wir seine Rückseite gesehen, als es uns auf ihn zuzog? Haben wir überhaupt mehr von ihm zu sehen bekommen als diesen winzigen Teil?« »Also doch Atomraketen«, kam es von Walter. »Von der anderen
Seite. Dort leben intelligente Eingeborene und feuern auf uns.« Er nickte stur. »Wir sollten nach ihnen suchen und ihnen die Spielzeuge abnehmen. Wir können sie viel besser gebrauchen.« »Hältst du jetzt den Mund, oder müssen wir dich zu deinen Kochtöpfen schicken!« schnappte Curie van Herling. »Streitet euch nicht.« Hayes stand auf und glättete mit den Händen eine Karte auf seinem Tisch. »Hier haben wir die Landungen – oder Einschläge – eingezeichnet, die wir beobachten konnten. Natürlich haben wir nur eine ungefähre Vorstellung, aber das Objekt, das uns am nächsten herunterkam, muß hinter dem Bergkamm niedergegangen sein. Ich sagte, wir haben nur eine Möglichkeit, uns Klarheit zu verschaffen – auch darüber, ob die Landungen überhaupt etwas mit uns zu tun haben. Ich brauche einen Trupp Freiwilliger, der bei Tagesanbruch mit mir über den Kamm geht. Das heißt, den Fußmarsch können wir uns zu einem guten Teil ersparen. Wir nehmen die Minkas.« Die Minkas, wußte Bjo, waren pferdeähnliche Tiere, die man schon seit der Bruchlandung mehrfach beobachtet hatte. Sie waren schnell und gute Kletterer. Während Bjos Abwesenheit aus Hayesʹ Lager hatten einige geschickte Solaner es geschafft, ein halbes Dutzend dieser Tiere mit Wurfschlingen einzufangen und zu bändigen. Die Minkas waren arglos und nicht besonders wild. Wie Lyta versichert hatte, waren ihre Fänger schon nach wenigen Stunden auf ihnen geritten. Was ihn bei dem Gedanken daran mehr beschäftigte als die Reitkünste von Menschen, die in ihrem Leben noch kein Pferd gesehen hatten, war der Umstand, daß er absolut nichts davon gewußt hatte. Die Tohuwabohu um ein solches Ereignis hätte er eigentlich aus der SOL heraus espern müssen. Und dies war nicht das einzige Beispiel. Auch Sternfeuer und Federspiel spürten, daß ihre Fähigkeiten zunehmend schwächer wurden. Sie konnten untereinander Kontakt halten und die Gedanken von Menschen
lesen, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden. Doch das war schon alles, und es schien noch schlimmer zu werden. Ging mit der Energieneutralisation auch eine Schwächung ihrer psionischen Sinne einher? Lyta Kunduran und Sternfeuer meldeten sich. Von Bruchstein tat, als müßte er sich erst lange durchringen, zog an seinem Bart und schickte einen gequälten Blick zur Zeltdecke. »Verdient habt ihrʹs nicht, daß ihrʹs nur wißt«, tat er grimmig kund, »aber ich kann euch nicht in euer Elend laufen lassen. Ohne einen Mann, der auch wie ein Mann zu kämpfen weiß, wäret ihr in den Bergen verloren. Also habe ich gewisse Dinge überhört und führe euch.« Die plötzliche Sprachlosigkeit um ihn herum hielt er offenbar für ein Zeichen der Bewunderung. Er warf sich in die Brust und legte väterlich einen Arm um Sternfeuer. »Na, dann kann uns ja nichts mehr passieren«, lachte Bjo. »Wir werden Vorräte für einige Tage brauchen, abgekochtes Fleisch und Wasser. Ich …« Hayes schüttelte den Kopf. »Du bleibst im Lager, Bjo, damit ihr Telepathen Kontakt halten könnt.« Lyta Kunduran nickte. »Das ist richtig, Breck. Aber genauso wichtig ist es, daß du ebenfalls zurückbliebst. Du bist der High Sideryt. Unsere Leute hier wollen dich sehen. Sonst heißt es sehr bald, daß du sie im Stich gelassen hast.« »Das ist lächerlich!« fuhr Hayes auf. »So?« Die Stabsspezialistin zuckte die Schultern. »Dann frage Bjo, wie unten im Tal die Stimmung ist.« * Der Aufbruch in aller Frühe verzögerte sich um eine halbe Stunde,
denn von den sechs gezähmten Minkas waren nur noch vier in der aus dünnen Baumstämmen und Plastikseil errichteten Koppel, die etwa zweihundert Meter hangaufwärts lag. Die Reiter hatten dort geschlafen und waren überrascht und betäubt worden. Keiner von ihnen war schwer verletzt, sie hielten sich nur die Beulen am Kopf. Sie hatten nichts gesehen und niemanden sich anschleichen gehört, doch was mit den fehlenden Tieren geschehen war, davon zeugte das zertrampelte und blutverschmierte Gras an zwei Stellen. Hayesʹ Zorn legte sich bald. Die Solaner holten sich ihre Nahrung, wo sie sie fanden. Er ließ nicht nach den Dieben suchen, sondern verkündete, daß er noch mehr Jagdexpeditionen ausschicken wollte. Aus dem Ritt wurde so vorerst nichts. Das Fleisch von dem Wild, das Bjo und einige Männer noch in der Nacht aufgespürt und erledigt hatten, ausgenommen und abgekocht, wurde in Doppelsäcken über die Rücken der vier verbliebenen Minkas gelegt. An einem einfachen Zaumzeug wurden Wasserbehälter, Waffen, Decken und dickere Bekleidung befestigt. Bevor man keine neuen Reittiere fand, mußten die Minkas als Lastenträger dienen – und die Teilnehmer der Expedition zu Fuß marschieren. Zu Sternfeuer, Lyta und von Bruchstein waren in der Nacht noch fünf Solaner gekommen, die nun mit den guten Wünschen des High Sideryt den Weg ins Ungewisse antraten. Denise Tyllong, 32 Jahre alt, pechschwarze Haare, Fremdvölkerpsychologin; Henry Bolten, 66 Jahre, Ernährungswissenschaftler und Heilpraktiker; Miami McDougall, 58 Jahre, Technikerin; Yoster Obryn, 26 Jahre, Sprachwissenschaftler; schließlich Kuno Krawynkel, seines Zeichens ehemaliger Kabinennachbar eines gewissen ritterlichen Raumhelden und von diesem nur »der Klotz« genannt. Von Bruchstein hatte darauf bestanden, seinen »Knappen« mitnehmen zu dürfen. Kuno hatte zwar zwei linke Füße, aber er war fleißig und verstand von allem ein bißchen. Diese acht Männer und Frauen des 39. Jahrhunderts, an Gleiter, Antigrav und energetische Rampen gewöhnt, machten sich mit
gemischten Gefühlen auf in die Wildnis des Planeten Zerberus. Sie hatten ausgiebig gefrühstückt und legten in der ersten Stunde ein gutes Tempo vor. Von Bruchstein marschierte und kletterte mit roten Backen emsig voran, Lyta und Sternfeuer bildeten den Abschluß. Es ging zuerst durch den allmählich dichter werdenden Wald, der ohne große Hindernisse zu durchdringen war. Vögel gaben ihr Morgenkonzert. Der Boden duftete frisch und würzig. Säugetiere huschten durch das karge Unterholz, und überall war ein Knacken, Pfeifen und Scharren zu hören. Der relativ hohe Sauerstoffgehalt der Luft ließ erste Müdigkeit erst aufkommen, als der Wald sich lichtete und stark ansteigende Geröllfelder vor den Solanern lagen. Hundert Meter höher machte die Gruppe die erste Rast. Von hier aus hatte man freien Blick auf das Tal. Die SOL war noch um einen halben Kilometer höher als der Geröllstreifen. Unter ihr lag noch der Morgennebel, kaum einmal durchbrochen vom Schein der Lagerfeuer. Es wehte ein kalter Wind aus der Richtung, in die das Tal sich öffnete, und am Himmel zogen sich dunkle Regenwolken zusammen. »Das sieht nicht gut aus«, meinte Lyta. Sie stand neben Sternfeuer, die mit zusammengekniffenen Augen den Kamm musterte. Von hier aus sah er schon weit weniger glatt aus. Es gab massive Felsbarrieren mit Einschnitten und Leisten, Überhängen und Zacken. »Nein«, sagte sie, »gar nicht gut.« Sie meinten beide etwas anderes, doch ob Wetter oder der unwegsame Kamm – sie mußten nehmen, was kam. Niemand wußte genau, wie es hinter den Gipfeln aussah, dazu war bei der Landung alles viel zu schnell gegangen. »Das sieht ganz miserabel aus«, knurrte von Bruchstein und machte sich an einem der Fleischsäcke zu schaffen. »Vor allem in meinem Magen.« »Wenn du jetzt schon anfängst, unsere Vorräte zu verschlingen, haben wir heute abend nichts mehr!« schimpfte Miami. »Besser
teilen wir die Rationen von vornherein auf.« Walter winkte ab. »Wer viel Energie verbraucht, muß essen. Und heute habe ich schon mehr getan als in einem halben Jahr in der SOL.« Lyta blickte Sternfeuer von der Seite an. »Wir sollten weitergehen. Ich habe das Gefühl, du wartest auf etwas?« Die Telepathin lächelte plötzlich. Sie deutete auf den Waldrand, von wo drei Gestalten sich anschickten, das Geröllfeld zu erklimmen. »Jetzt nicht mehr, Lyta. Es war ein kleines Geheimnis zwischen Bjo, Federspiel und mir. Das sind Ole und die Wildes, von der wir erzählt haben.« Die Ex‐Magnidin legte die Stirn in Falten. »Mir, aber nicht Breck. Ihr habt das hinter seinem Rücken gemacht?« »Nur, damit er sich keine zusätzlichen Gedanken machen muß. Falls wir ein primitives Raumschiff finden, können Ole und seine Freunde unersetzlich sein, Lyta. Sie brauchten keine eigene Rakete mehr zu bauen, wir müßten nur zusehen, wie wir uns mit den Fremden einigen könnten – falls sie noch leben.« »Warum sollten sie das nicht?« »Du hast selbst gesagt, es könnte sich um Wesen handeln, die in die gleiche Falle gerieten wie wir. Ich bemühe mich, mir dazu noch keine Meinung zu bilden. Aber mit Ole und den Wildes bei uns ist mir wohler. Ich verabredete über Federspiel diesen Treffpunkt mit ihnen.« »Eine Verschwörung der Telepathen!« sagte Lyta mit gespielter Strenge. Die beiden Frauen lachten und warteten auf die Ankömmlinge. Sie wurden den anderen vorgestellt, und es ging weiter. Nun elf, kamen die Solaner für eine weitere Stunde gut voran, bis das obere Ende des Geröll‐Streifens erreicht war. Dann wurde es ernst.
Von Bruchstein gefiel sich in der Rolle des Bergführers und deutete auf einen zungenförmigen Einschnitt im Osten, der bis zweihundert Meter unterhalb des Kamms weiterführte. »Wir kletterten dort entlang, und dann über diese Leiste da oben bis zu dem Spalt in der Steilwand. Mit etwas Glück sind wir am Nachmittag auf der anderen Seite.« Das Glück jedoch schien mit ihnen nicht viel im Sinn zu haben. Der Wind frischte auf und wurde kälter. Die Solaner nahmen die dickeren Kleider von den Minkas, die sie zwar wärmen, aber nicht vor dem Regen schützen konnten, der plötzlich über sie hereinbrach. Der Lößboden wurde bald unter ihren Füßen fortgeschwemmt. Sturzbäche rissen tiefe Furchen. Es gab keine Höhlen, nur unter einer überhängenden Wand konnten die Menschen sich für einige Zeit unterstellen, in der Hoffnung auf einen schnellen Wetterumschlag. Statt dessen sanken die schwarzen Wolken tiefer herab, hüllten sie ein und nahmen die Sicht bis auf wenige Meter. Es war naß, kalt und deprimierend. Selbst von Bruchsteins Zuversicht erhielt einen gehörigen Dämpfer. »Aber wir können hier nicht für alle Zeiten stehenbleiben!« rief er in das Klatschen und Mahlen der Wassern, das Heulen des Windes, das Schaben losgelöster Geröllmassen. »Weiter! Wir hängen uns die Plastikdecken über!« Er ließ sich seine von Kuno holen, wie Kuno überhaupt alles für ihn zu besorgen hatte. Es kam noch schlimmer. Dicht hintereinander arbeiteten sich die Solaner die Zunge hinauf, als aus dem Regen Hagel wurde. Sie kniffen die Augen zusammen. Die Wolkenfetzen drangen mit dem Atmen in ihre Nasen und machten die Glieder zu Brei. Sternfeuer war einige Male am Rand der Erschöpfung. Und immer, wenn sie nach einer Rast rufen wollte, dachte sie an das Vorbild, das sie den anderen sein sollte. Sie quälte sich. Ole tauchte aus dem Grau auf und legte einen Arm um ihre Schultern. Dem Extra schien das Unwetter nichts auszumachen. Im Gegenteil, er
wirkte frisch und tatenhungrig. Sie sahen die anderen stürzen. Wie oft sie selbst sich die Knie aufschlug, zählte sie nicht mehr. Auf dem glitschigen Fels fanden die Füße kaum einen Halt. Immer weiter! dachte sie. Es muß einmal zu Ende gehen. Es kam ihr wie ein Wunder vor, daß sie plötzlich am Ende der Zunge vor der Steilwand standen. Ein noch heftigerer Sturm drückte sie gegen den Stein. Die Minkas gaben wehmütige Laute von sich. Es klang wie eine Mischung aus Wiehern und Heulen. Doch der Sturm brachte die Sonne zurück. Er vertrieb die Wolken und den Regen, und als die Sicht wieder frei war, sahen die Verzweifelten, daß sie mehrere Stunden marschiert und geklettert sein mußten. Es war Nachmittag. Sie aßen. Denise Tyllong weinte leise. Nicht nur sie blutete aus mehreren Wunden. Yoster Obryn und Henry Bolten waren völlig entkräftet. »Wir lassen sie reiten«, sagte Lyta, als sie sich anschickten, das letzte und schwerste Stück bis zum Kamm zurückzulegen. »Die Minkas verkraften die zusätzliche Last.« Sie sah von Bruchstein kopfschüttelnd an, der sich ein weiteres Stück Fleisch in den Mund schob. »Vor allem, wo wir bald keine Vorräte mehr haben.« Walter empfand es wohl als unter der Würde eines Heerführers, darauf zu antworten. Er aß mit Genuß und gab das Zeichen zum Aufbruch. »Ich kann nicht verstehen, daß wir ihm diese Narrenfreiheit lassen«, schimpfte Miami. »Was kann er denn schon, außer sein Maul aufreißen?« »Täuscht euch nur nicht in ihm«, sagte Sternfeuer nur. »Komm.« * Der Weg über die manchmal nur einen Meter breite Felsleiste, die
sich steil an der Wand hinaufzog, war durch das nasse und rutschige Gestein noch gefährlicher geworden. Die Solaner banden sich mit ihren Seilen aneinander fest, zwischen ihnen die Minkas, die Denise, Yoster, Henry und den ebenfalls erschöpften Jeremy Wilde trugen. Die Tiere zogen die Menschen mit. Wer ausrutschte, fand einen Halt an den anderen, doch die Leiste schien sich unendlich lang zu dehnen. Sternfeuer sah kaum noch, wohin sie trat. Sie kletterte wie eine Marionette, nur von dem Willen aufrecht gehalten, das Begonnene zu Ende zu führen. In diesen Stunden dachten die Expeditionsteilnehmer nicht an das, was jenseits des Kammes lag – viel eher daran, daß bald die Dunkelheit hereinbrechen mußte. Doch war es, als habe das Schicksal plötzlich ein Einsehen. Noch lange bevor das Ende der Leiste in Sicht war, die Steilwand ein drohender Felsengott auf der einen, der Abgrund einer gähnenden Tiefe auf der anderen Seite, öffnete sich ein riesiger Kessel in der Wand, der von unten nicht zu sehen gewesen war. Ein kurzer Weg führte hinein, und dann standen die Solaner auf dem Grund eines weiten Schachts, der vielleicht einmal ein vulkanischer Krater gewesen war. Und an die Wände des Kessels scheu zusammengedrängt, standen zwei Dutzend Minkas. »Wer sagt es!« schrie von Bruchstein triumphierend. »Wer sagt denn, daß wir verloren sind! Mit einem Tier für jeden von uns sind wir über den Berg, bevor die Dämmerung einsetzt!« »Und mit deinem Gebrüll verscheuchst du sie höchstens!« fuhr Miami ihn an. »Sie haben sich vor dem Unwetter hierher geflüchtet, aber du bist schlimmer als Regengüsse, Hagel und Sturm zusammen.« Die Technikerin ging langsam auf die Minkas zu. So wie sie mit Walter umsprang, schien sie ihn ganz besonders in ihr Herz geschlossen zu haben. Dabei hätten sie gut und gern Bruder und Schwester sein können. Miami war korpulent wie er, hatte dicke
krause Haare und bewegte sich wuchtig. Sie war alles andere als eine Schönheit, nicht mit Freundlichkeit gesegnet, aber gut für die einfachen Arbeiten, die zu tun waren. Walter zog eine Braue in die Höhe und verschränkte die Arme vor der Brust, als sie alle Warnungen in den Wind schlug und sich den verängstigten Tieren weiter näherte. Lyta warf ihr ein Seil zu. Sie rollte es auf und knotete eine Schlinge. »Ich bin gespannt, was sie jetzt macht«, sagte von Bruchstein mit einer gewissen Vorfreude. Er winkte Kuno heran. »Meine Ideale verbieten es mir leider, ihr gebührend zu antworten. Du tust es für mich, wenn sie sich von den Huftritten wieder erholt hat, Knappe. Sage ihr, sie kann mich …« »Walter!« tadelte Sternfeuer ihn streng. Er grinste und wartete, doch seine stillen Hoffnungen wurden enttäuscht. Miami blieb vor den Minkas stehen. Sie drängten sich noch enger aneinander, bis sie laut »Ho!« rief. Die Tiere stoben auseinander. So schnell, daß man es kaum sehen konnte, warf Miami die Schlinge einem von ihnen um den Hals. Das Minka ging hoch, warf sich zurück, stemmte sich, aber das alles half ihm nichts. Die Technikerin nahm Anlauf und warf sich mit einer Geschicklichkeit auf seinen Rücken, die niemand ihr je zugetraut hätte. »Stellt euch vor den Ausgang des Kessels!« rief sie den anderen zu, während sie sich am Seil festhielt. Das Tier bockte und sprang im Kreis, um sie abzuwerfen. »Laßt die Herde nicht entkommen! Fangt genug für euch!« »Los, Walter«, rief Sternfeuer. »Du willst dich doch nicht von ihr beschämen lassen?« Kuno wich dem befürchteten Befehl aus, indem er sich sofort um sein eigenes Reittier kümmerte. Nach einer Viertelstunde saßen alle elf Solaner auf ihrem Minka, und nur von Bruchstein drückte sich eine Hand auf das schmerzende Gesäß. Die Seile waren so um die Hälse und den Vorderleib der Tiere gezogen, daß die Männer und
Frauen sich sicher genug daran festhalten konnten. Nach einigen Runden im Kessel waren sie einigermaßen mit dem Reiten vertraut und wußten auch, wie man die Minkas antrieb und wieder zum Stehen brachte. »Dann wollen wir sehen, was unsere Kletterer wirklich können«, sagte Lyta. »Vorsicht auf der Leiste, wir bleiben hintereinander.« Sie winkte zum Aufbruch. Sternfeuer hatte zwar gehofft, nun endlich schneller und besser voranzukommen, doch was sie dann erlebte, übertraf alle Erwartungen. Im Licht der Spätnachmittagssonne, die schon lange Schatten warf, bewegten die Minkas sich so sicher wie Bergziegen über die Leiste, und als deren Ende erreicht war, suchten sie sich so zielsicher immer neue Wege zum Kamm, daß es Sternfeuer schien, als brauchte sie nur zu denken, wohin sie wollte – und schon übernahmen die Tiere alles andere. War dies unmöglich? Besaßen die Minkas einen besonderen Sinn für die Wünsche jener Wesen, die sie gezähmt hatten? Es spielte jetzt keine Rolle. Wie eine Lawine, die einmal ins Rollen gekommen war, liefen die Tiere weiter. Wo sie das nicht konnten, sprangen sie von Vorsprung zu Vorsprung und setzte selbst über kleinere Einschnitte im Fels hinweg. Die Solaner wurden heftig durchgerüttelt. Die Angst, abgeworfen zu werden, ließ sie sich flach auf die Rücken der Minkas legen und mit Armen und Beinen festklammern. Trotz der Schnelligkeit des Vorankommens, schien der Weg bis zum Kamm bald so endlos zu sein wie der Fußmarsch vorher. Doch als die Sonne unterging, standen alle elf Minkas mit ihren Reitern auf dem schmalen Grat. Sternfeuer richtete sich auf. Sie hatte das Gefühl, kein Knochen sei mehr an der richtigen Stelle. Ihr Rücken schmerzte, aber das war vorbei, als sie in das weite Tal hinabsah, das jenseits des Berges lag. Sie hörte die überraschten Ausrufe der Gefährten, die sich in das Heulen des kalten Windes hier oben mischten. Ole sog scharf die
Luft ein. Von Bruchstein brummte etwas von »Blitz und Donner«. Auf dieser Seite war der Weg ins Tal hinab viel sanfter als auf der anderen. Es war, als hätten die Winde der Jahrtausende den Hang geglättet. Es gab auf halber Höhe über dem Talgrund einen einzigen größeren Vorsprung, eine Felsenplattform, die fast waagrecht aus dem Berg ragte. Und auf dieser Plattform lag das Raumschiff. »Also doch«, sagte Lyta Kunduran. »Keine Raketen, sondern ein Kasten von mindestens sechzig Meter Länge – und ein Wrack. Aber war es auch bemannt?« Und falls ja, dachte Sternfeuer, wo ist dann seine Besatzung? Es war nichts zu sehen, das sich bewegte. Die Plattform lag etwa fünfhundert Meter unterhalb des Kammes. Es wurde immer schneller dunkel. Sternfeuer drehte sich auf dem Rücken des Minkas um und sah auf der anderen Seite des Grates das Tal mit der SOL. Die im Regen nicht erloschenen Feuer der beiden Lager waren wie flammende Rubine in den Schatten. »Wir haben zwei Gründe, zur Plattform zu reiten«, sagte Ole. »Erstens können wir hier oben nicht übernachten. Ein neues Unwetter fegt uns und die Tiere vom Kamm. Und zweitens müssen wir wissen, mit wem wir dort unten vielleicht zu tun haben.« Er meinte noch etwas. Sternfeuer las es in seinen Gedanken. Er dachte daran, daß er jetzt möglicherweise gar keine eigene Rakete mehr bauen mußte. So schlimm schienen die Beschädigungen an dem Schiff nicht zu sein, daß man sie nicht reparieren konnte – auch mit einfachen Mitteln. »Wie es aussieht«, seufzte Lyta, »haben wir gar keine andere Wahl. Sternfeuer?« Die Telepathin nickte. Sie schickte Federspiel eine Botschaft, in der alles enthalten war, was er und Hayes wissen mußten. Die Bestätigung kam nur sehr schwach bei ihr an. »Unsere Leute wissen Bescheid«, sagte sie. Aber meine Fähigkeiten werden immer noch schwächer!
Sie erhielt ein Echo von Bjo. Als sie ihr Tier wendete und den anderen folgte, die mit flatternden Haaren schon den Abstieg begannen, kam es ihr vor wie eine Trennung. Sie wußte, daß sie Nerven zu zeigen begann, und verwünschte sich selbst dafür. Doch es wurde noch schlimmer, als sie den Hang soweit hinuntergeritten war, daß sie den oberen Rand der SOL‐Zellen nicht mehr über dem Kamm sah. Die Minkas bewegten sich auch in der Dunkelheit sicher wie immer. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, und einige der funkelnden Punkte waren die Stationen, die die SOL lähmten, einige vielleicht auch die Vulnurerschiffe. Es dauerte zwei Stunden, bis die Plattform erreicht war. Immer noch rührte sich auf dieser Stelle nichts. Nur Raubvögel verrieten durch ihre Schreie, daß sie ihre Kreise zogen und nach nächtlicher Beute suchten. Die Plattform ragte fast zweihundert Meter weit aus dem Hang und war am Berg doppelt so breit. Nach hinten wurde sie schmaler. Sternfeuer verglich sie mit einer riesigen Scheibe, die bis zur Hälfte in den Felsen getrieben worden war. Das Wrack lag hart an einem Rand. Die Solaner stiegen ab und führten die Minkas an den Seilen hinter sich her. Niemand sprach jetzt. Sternfeuer versuchte zu espern, doch nichts schien weit und breit zu leben. Oder waren die Fremden da, beobachteten sie schon lange aus ihrem Schiff heraus und ließen sich nur nicht feststellen, weil die Sinne der Telepathin wie gelähmt waren? Als der Angriff erfolgte, wußte sie es. 6. Borallu und die beiden Unterpagen, die mit ihm ins Hauptauge gestrahlt worden waren, standen inmitten von bewegten Bildern,
räumlichen Hologrammen, die vom Steuergehirn des Auges in eine riesige, sechseckige Zentrale projiziert wurden. Ein Gedankenbefehl genügte, und das Steuergehirn zeigte den Alternativ‐Toten alles, was die Optiken, Sensoren, Taster und Orter der Station von außerhalb aufzufangen vermochten – und darüber hinaus jede gewünschte Sektion innerhalb des Auges. Zum Zweck der besseren Kommunikation hatte Borallu wieder die Gestalt eines Unterpagen angenommen. Nur deshalb stand er äußerlich ruhig da. Sonst hätte sein Zeckenkörper vor Zorn gebebt. Er sah die beiden fremden Schiffe im Weltraum, die nun natürlich gewarnt waren und nicht mehr so leicht in die Energiefalle gingen. Und er bereute es, daß er und sein Team vor vierzigtausend Jahren kaum Offensivwaffen in die sechs Augen hatten einbauen lassen. Die Notwendigkeit hatte nicht bestanden, denn nichts konnte in ihre Nähe geraten und sie ernsthaft gefährden. So hatte es jedenfalls sein sollen. Borallu konnte die Fremden nicht einfach abschießen, und er konnte sie auch nicht aus dem System treiben. »Ich weiß jetzt, warum wir wirklich geweckt wurden!« rief er in den Raum. »Antworte! Wir sollen die Solaner nicht neutralisieren und das Negative unter ihnen aussondern, sondern die Augen in Ordnung bringen! Das Feld müßte sich bis hinter die Grenzen dieses Sonnensystems ausdehnen, aber es reicht gerade bis hinter die Bahn des fünften Planeten! Antworte! Wer ist für den Verlust an Kapazität verantwortlich?« »Nur zwei Ursachen sind denkbar«, verkündete das Steuergehirn. Die monotone Stimme war überall. »Die Zyrvulner und der Faktor Zeit, Herr. Die Zyrvulner waren nicht in der Lage, unbemerkt Manipulationen vorzunehmen. Du kennst inzwischen ihre Geschichte. In ihrer heutigen Form sind sie degeneriert und verstehen kaum noch etwas von technischen Dingen. Allerdings bildeten sie stets einen Unsicherheitsfaktor und mußten mit viel Aufwand am Leben erhalten werden.«
»Deshalb hast du sie alle aus dem Auge entfernt«, stellte Tronungu fest, der Unterpage zu Borallus rechter Seite. »Wirklich alle?« »Das trifft zu. Ich glaubte, in eurem Sinn zu handeln, Herr.« Borallu fragte sich, ob das Gehirn wirklich ihn und die Unterpagen als seine Herren ansah oder jene, die von der Namenlosen Zone aus wirkten. Er hatte gleich nach der Ankunft vergeblich versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Von der Namenlosen Zone besaß er im Grunde ja weniger als eine vage Vorstellung, und das Steuergehirn hatte erklärt, daß es keine Verbindung von hier nach dort gebe. Das stimmte nicht, wußte Borallu. Von dort aus war der Erweckungsimpuls gekommen. Dieses Wissen, als Konstrukteur der Augen nicht alles über sein Volk gesagt zu bekommen, machte den Alternativ‐Toten noch verbitterter. Seinen Unterpagen ging es nicht anders. Auf die anderen fünf Augen waren je zwei von ihnen verteilt, aber dort würden sie nicht lange bleiben. Borallu hatte nicht die Absicht, sich noch länger mit dem Steuergehirn abzugeben. Er nahm seine Aufgabe allein in die Hand. »Von jetzt an bist du nur noch mein Werkzeug«, rief er. »Du hast mir und den Unterpagen zu gehorchen und jede eigene Handlung zu unterlassen.« »Ja, Herr«, antwortete es. »Dann höre. Ich glaube nicht daran, daß die Zeit allein Störungen hervorrufen konnte, die die Ausdehnung des Feldes beeinträchtigen. Suche nach Ursachen. Kontrolliere jeden kleinsten Raum. Gegen die beiden Schiffe unternehmen wir vorerst nichts. Sie können sich nicht nähern und sind ungefährlich, solange sie warten.« Das stimmte allerdings nicht ganz. Sie waren bereits zu einer Gefahr geworden. Denn nichts, das je in die Falle geriet, sollte ihr je wieder entkommen dürfen.
Borallu verließ sich darauf, daß die Fremden entweder nur sehr neugierig waren oder etwas mit den Gefangenen auf dem vierten Planeten zu tun hatten. In beiden Fällen war es sehr unwahrscheinlich, daß sie einfach verschwanden. Das zweite Gesetz lautete, daß niemand in der Falle in Verbindung mit anderen kommen durfte, die in sie geflogen waren. Aus diesem Grund hatte das Steuergehirn die drei Schiffe der Vulnurer im Orbit um den vierten Planeten gelassen und die SOL mit starken Schubfeldern auf seine Oberfläche gelenkt. Aber es hatte dann einen Fehler gemacht! Es hatte geglaubt, sich der lästigen Zyrvulner dadurch entledigen zu können, daß es ihren Wunsch nach einem Ausflug auf den Planeten manipulierte – und ihnen gleichzeitig den Rückweg abschnitt. Durch Psychobeeinflussung hatte es ihnen eingegeben, daß sie alle hinab müßten. Die Zyrvulner in den primitiven Internschiffen waren nur gelandet. Wenn sie nicht alle tot waren, konnten sie auf die Solaner treffen! Beide für sich gesehen, waren sie harmlos. Ohne Energie fragte es sich, ob sie überhaupt länger als ein paar Tage auf dem Planeten überleben konnten. Doch kamen sie zusammen, so mochte sich das schon ändern. Borallu hatte einst gesehen, wozu Zyrtonier in der Lage waren, verlangte man das Äußerste von ihnen. Deshalb machte er nicht den Fehler, andere Wesen zu unterschätzen. Wenn sie nicht von selbst in der ungewohnten Wildnis sterben, dachte der Führer der Alternativ‐Toten, werden wir eben nachhelfen. Wir filtern das Negative aus ihnen heraus, und das Positive muß erlöschen. Der Erwachte verschwendete keinen Gedanken und noch weniger ein Gefühl daran, was die Zyrvulner einmal für ihn gewesen waren. Das war lange vorbei. Das Steuergehirn hatte ihm gesagt, wie alles gekommen war. Die Heutigen zählten nicht mehr. Sie waren Ballast wie die Solaner, Steine auf dem Weg, den er so schnell wie möglich gehen wollte.
Er dachte den Befehl, daß alle Hologramme bis auf die vom Planeten erlöschen sollten, und es geschah. Der Sechseckraum wurde um eine Spur dunkler und leerer. Wo eben noch Bilder gewesen waren, funkelten nur bläuliche Kontrollichter wie viele tausend kleine Augen. Dies ist mein Werk, dachte Borallu, und niemand wird es mir nehmen. Er verwandelte sich in die Riesenzecke, um das leichte Vibrieren unter seinen Flößen besser spüren zu können, den Herzschlag und das Fließen des Lebenssaftes in den energetischen Adern des Hauptauges. Wir haben die Energien geschaffen, die in einem Mikrokosmos der Energieneutralisation sich selbst speisen! Er gab sich einen Ruck. Dies war nicht die Zeit für Rückblicke. »Ich begebe mich auf den Planeten«, verkündete er seinen Begleitern, »um dort die Lage unter Kontrolle zu bringen. Von jedem Auge begleitet mich ein Unterpage. Von euch beiden gehst du mit, Tronungu. Wir lassen uns zuerst in die SOL strahlen, wo wir mit der Arbeit beginnen.« »Ich habe verstanden«, sagte Tronungu. »Du beobachtest die fremden Schiffe und hilfst dem Steuergehirn bei der Suche nach Fehlern im Auge, Krejulla. Wir bleiben in Kontakt.« Borallu ging zu einer Sechsecksäule genau in der Mitte der Zentrale und berührte eine Leuchtfläche, dreimal kurz hintereinander. Drei Öffnungen bildeten sich. Borallu nahm drei stabförmige Waffen heraus und reichte zwei an die Unterpagen weiter. Es handelte sich um Strahler mit speziellen Ummantelungen für die Energiezellen. Sie würden auf dem Planeten und überall im Neutralisationsfeld ebenso wirkungsvoll arbeiten wie auch die Mikrofunkgeräte in den Körpern der Unterpagen. Borallu trug seines in einem breiten Armband um eines der Vordergliedmaßen. Danach übermittelte er per Symbolfunk seine Befehle an die
anderen fünf Augen und sagte den Unterpagen, auf welches Ziel sie die Abstrahlfelder einzustellen hatten. Tronungu folgte ihm schwebend in einen Nachbarraum der Zentrale. Krejulla sah zu, wie die beiden sich auf eine sechseckige, weite Bodenfläche stellten, die durch den einfachen Kontakt immer heller zu leuchten begann, bis die Umrisse des Meisters und seines Helfers im grellen Licht fast verschwanden. »Strahle uns zur SOL, Krejulla!« Der Unterpage gehorchte. Seine Impulse erreichten und programmierten die Justierungseinheit und lösten den Transport aus. Vor Krejullas Sensoren verschwanden Borallu und Tronunga aus dem Hauptauge. Ein wesentlicher Vorteil dieser Beförderungsart war der, daß die Abgestrahlten für eine gewisse Zeit mit Transportenergie aufgeladen blieben. Diejenige aus den Anlagen der Augen war nicht mit der zu vergleichen, die vor der Selbstzündung des Kleinraumschiffs für das Abstrahlen der Alternativ‐Toten in die Stationen gesorgt hatte. Sie reichte auf jeden Fall aus, um Borallu und seine Helfer ihre Aufgabe bequem erledigen zu lassen. Borallu hatte es den »indirekten Personentransport« genannt, denn auch dieses System war seine Entwicklung. Mit der gespeicherten Transportenergie konnten er und seine sechs Begleiter so oft und so lange auf dem Planeten oder von dort in die Augen ent‐ und rematerialisieren, wie sie wollten. Krejulla hatte absolut keinen Grund, daran zu zweifeln, daß sie alle bald wieder zurück sein würden. Er wandte sich an das Steuergehirn. Wenn es eine Ursache für die Kapazitätsminderung der Feld‐Projektoren gab, dann mußte er sie hier finden, im Hauptauge. Denn nur hier hatten die Zyrvulner überlebt, und einen anderen Verursacher konnte er sich nicht denken. Das Hauptauge zu beschädigen, genügte. Die energetische Bindung der sechs Augen aneinander war so stark, daß ein Fehler in
einem von ihnen sich auf alle auswirkte. »Es gibt nichts, was nicht so ist, wie es sein sollte«, meldete das Steuergehirn. »Dann zeige mir das Auge Raum für Raum«, befahl Krejulla. »Wir haben Zeit.« * Als Cirfoniac neben Ybolzerc in der furchtbaren Dunkelheit und Kälte auf der Lauer lag, waren die höllischen Schmerzen im Leib und dort in seinem Panzer vergessen, wo es ihm bei der Bruchlandung das linke Hinterbein herausgerissen hatte. Er sah nur noch die Wesen, die den Berghang herunterkamen, und mußte sich beherrschen, um nicht frühzeitig aufzuspringen. Der Hunger wühlte in seinem Innern. Und was sich da langsam und vorsichtig dem Wrack näherte, mußte Nahrung sein. »Bleibt still«, zirpte Ybolzerc ihm und den anderen drei Zyrvulnern zu, die am Rand der Felsenplattform versteckt waren und ihre Gier kaum noch zu bezwingen vermochten. »Wir haben schon zu viele Fehler gemacht, und wenn wir jetzt nicht aus ihnen lernen, sterben wir.« An Hunger, an den Verletzungen, denen schon mehr als die Hälfte der hundert Zyrvulner erlegen waren – abgesehen von denen, die die Landung erst gar nicht mehr erlebt hatten. Auch die Königin gehörte dazu. Cirfoniac wollte es nicht, aber er mußte daran denken. Immer wieder sah er das schreckliche Bild, wie das Internschiff dem Planeten entgegenraste und aufschlug. Ybolzerc war es zu verdanken, daß der Sturz noch einigermaßen hatte abgefangen werden können. Die Piloten waren nicht mehr in der Lage gewesen, die Bremsdüsen zu zünden. Keiner der anderen Passagiere, Cirfoniac am wenigsten, hatte nach dem Schock noch klar denken können.
Dann war die Welt in einem Chaos aus Flammen, Blitzen, Schmerzen und Krachen explodiert. Cirfoniac wußte nicht mehr, wie er sich aus dem Wrack gerettet hatte, doch irgendwann hatte er auf dem kalten Gestein und unter dem grenzenlosen Nichts gelegen und zugesehen, wie andere sich ins Freie schleppten. Erst die Katastrophe hatte den Schock gelöst – und den Überlebenswillen wieder geweckt. Oder war es ein Instinkt? dachte Cirfoniac, um sich abzulenken. Die Wesen waren jetzt auf der Plattform. Cirfoniac sah sie nun auch besser, als gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, die er in der Station nie gekannt hatte. Und dann lösten sie sich in jeweils zwei Teile auf. Es waren zwei verschiedene Arten von Geschöpfen. Die einen hatten auf den anderen gesessen, und nun gingen sie hintereinanderher auf das Schiff zu. Der Hunger drohte ihm den Verstand auszulöschen. Kommt näher! dachte er verzweifelt. Kommt schneller! Ein Instinkt? drängte sich ihm die Frage wieder ins Bewußtsein. War es auch ein Instinkt, der ihm sagte, daß die Tiere dieser Welt das einzige waren, was ihm als Nahrung dienen konnte? Alle mitgeführten Vorräte waren in den Flammen vernichtet worden. Die Zyrvulner hatten sich nie vor der Notwendigkeit gesehen, sich selber ernähren zu müssen. Das hatte immer das Steuergehirn getan. Hier jedoch gab es keine Röhren, aus denen sich Platten mit Konzentraten schoben. Hier gab es überhaupt keine Konzentrate. Hier gab es nur Steine, dürre Pflanzen und Tiere. Einen ganzen Tag lang hatten die Überlebenden versucht, alles einzufangen, was sich bewegte. Immer war es schneller als sie gewesen. Es durfte nicht noch einmal so kommen, und falls sich die großen Wesen essen ließen, hatte man Nahrung für viele Tage. Bleibt nicht stehen! Kommt weiter! Die andere neben ihm wurden noch unruhiger. Bald nützten auch Ybolzercs Warnungen nichts mehr. Hinter dem Wrack und auf der anderen Seite der Plattform lauerten zwei weitere Gruppen.
Instinktverhalten? War es ein Instinkt, etwas im Unterbewußtsein Verankertes, das die Zyrvulner nach Höhlen im Berg hatte suchen lassen, damit sie nicht länger die grenzenlose Leere über sich ertragen mußten? Und hieß das nicht, daß ihre Vorfahren einmal auf einem Planeten wie diesem gelebt hatten? Nein, dachte Cirfoniac. So wie dieser war er bestimmt nicht gewesen. Aus dem Auge hatte diese Welt grün und fruchtbar ausgesehen – jetzt zeigte sie sich als eine deprimierende Einöde. »Jetzt sind sie nahe genug«, zirpte Ybolzerc, »genau zwischen uns und den anderen. Wir greifen sie an, laßt keinen entkommen! Tötet sie nicht gleich alle. Wer kann wissen, wann wir wieder ein solches Glück haben.« Cirfoniac hörte das letzte nicht. Er mußte jetzt etwas zwischen die Beißzangen bekommen, nicht später. Ybolzerc stieß einen lauten Schrei aus. Cirfoniac schnellte sich mit allen fünf Beinen über den Rand der Platte, knickte unter dem Schwung und dem Gewicht des eigenen Körpers vorn ein, stemmte sich wieder in die Höhe und rannte auf die Wesen zu, die jetzt schrien und noch wie gelähmt dastanden. Von der anderen Seite und vom Schiff kamen schon die anderen Zyrvulner. Blitzschnell waren die Wesen eingeschlossen. Cirfoniac sah eines der größeren vor sich, die vier Beine hatten und sich in ihrer kreatürlichen Angst um sich selbst drehten. Für die Zweibeinigen hatte er keine Augen. Sie waren dürrer. Fleisch, Fleisch für viele Tage, das waren die anderen! Der Zyrvulner kannte sich nicht mehr. Er wußte nicht, was er tat. Er ließ sich ganz von dem leiten, was in ihm tobte. Auch ohne sein linkes Hinterbein war er als einer der ersten heran und auf den Rücken eines Vierbeiners gesprungen. Um ihn herum begann ein Kampf. Die Zweibeinigen hatten plötzlich Schlagwaffen in den Händen und wehrten sich damit. Cirfoniac ging das nichts an. Das große Tier versuchte, ihn abzuschütteln. Mit allen fünf Gliedmaßen
klammerte er sich an ihm fest, und dann schlug er seine Beißzangen dem Opfer in den Nacken. Das Tier brach lautlos zusammen. Cirfoniac sah sich nicht um, riß die Haut und das Fleisch der Beute auf und fraß. Im Nu waren andere Zyrvulner bei ihm und stillten den grausamen Hunger. Das Schnappen ihrer Zangen zerhackte die Schreie der noch immer kämpfenden Zweibeinigen und das aufgeregte Zirpen der Artgenossen, die noch um ihre Nahrung kämpften. Als Cirfoniacs Magen zum Bersten gefüllt war, ließ er ab und richtete sich auf. Er drehte sich um, und jetzt erst fand er halbwegs wieder zu sich. Er erschrak. Er stand auf drei Beinen und starrte entsetzt auf das Bild, das sich seinen Facettenaugen bot. Noch zwei große Tiere lagen unter gierig fressenden Zyrvulnern auf dem Felsen. Die übrigen hatten die Flucht ergriffen und sprangen in weiten Sätzen den Hang hinauf. Die Zweibeinigen konnten ihnen nicht schnell genug folgen. Sie standen Rücken an Rücken und verteilten Hiebe, die einen Zyrvulner um den anderen zu Boden gehen ließen. Aber die Zyrvulner waren immer noch weit in der Überzahl. Vor allem jetzt, als die Vierbeiner auf und davon wären, wurden sie noch rasender. Cirfoniac wurde übel. Zwei seiner Artgenossen bekamen einen Zweibeinigen zu fassen und zerrten ihn von den anderen fort, die genug mit sich selbst zu tun hatten. Einer der Zyrvulner biß zu und riß dem Zweibeinigen ein Stück Fleisch aus dem Bein. Aufhören! dachte Cirfoniac. Sie benutzen Werkzeuge! Sie sind intelligent wie wir! »Aber wir haben uns in Bestien verwandelt!« zirpte er schrill. Er rannte auf die Kämpfenden zu. »Laßt von ihnen ab! Laßt sie laufen!« Er bekam unerwartete Hilfe, denn auf ihn hörte keiner. »Die Zweibeinigen schmecken schrecklich!« rief jener, der einem von ihnen ins Bein gebissen hatte. »Ihr Fleisch ist Gift für uns!«
Er stürzte sich zwischen die anderen, die sich noch an den Vierbeinigen sättigten. Das erst war das Signal für die Rasenden, es ihm gleichzutun. Einer der Zweibeiner, der lange Haare auch unten am Kopf hatte, setzte ihnen nach und drosch mit einer Schlagwaffe wild um sich, bis seine Gefährten ihn mit Gewalt zurückholten. Er stieß schaurige Laute aus, die Cirfoniac nie vergessen würde. Genau wie vorhin, wußte er nicht, was er tat, als er nun langsam auf die Zweibeinigen zuging. Hinter ihm schnappte und knackte es vom gierigen Mahl. Ein Zweibeiniger rannte auf seinen verletzten Artgenossen zu, hob ihn auf und warf ihn sich über die Schulter. Cirfoniac wußte, daß sie seine Sprache nicht verstehen konnten. Er blieb stehen und versuchte, sie mit Gesten auf sich aufmerksam zu machen. Für einen Moment hatte er auch das Gefühl, daß sie ihn sahen und seine Absicht begriffen. Dann war wieder der mit den Gesichtshaaren da und streckte den Zyrvulner mit einem einzigen Faustschlag nieder. Cirfoniac fiel hart. Eine Schwärze umfing ihn, tiefer als die Finsternis der Nacht. Als er wieder schemenhaft sehen konnte, schickten die Fremden sich an, ins Wrack des Raumschiffs zu fliehen. Nur einer zögerte. Ganz langsam drehte er sich zu Cirfoniac um. Der Zyrvulner hatte das Gefühl, daß etwas seinen Geist berührte. »Wir haben einen großen Fehler gemacht!« zirpte er. »Geht nicht dort hinein! Ich weiß, wo ihr sicherer seid!« Was war in ihn gefahren? Die Zweibeinigen blieben stehen. Jener, der sich zu Cirfoniac umgedreht hatte, rief ihnen etwas zu. Kann es sein, dachte er verzweifelt, daß sie mich doch verstehen? Dann waren sie noch intelligenter, als er geglaubt hatte. Er sah sich schnell um, und Ekel vor den eigenen Artgenossen erfüllte ihn. Wenn es hier noch etwas gutzumachen gab, so konnte nur er es tun. Vielleicht waren die Wesen genauso hilflos wie die Zyrvulner, und
nur gegenseitig konnten sie sich helfen. »Kommt mir nach!« rief er. Er mußte sich auf den Band der Felsenplatte zuschleppen, so geschwächt war er noch von dem Schlag. Zögernd folgten die Zweibeinigen ihm. 7. Bjo empfing Federspiels psionischen Alarm fast in dem gleichen Moment, als er die Entsetzensschreie der Solaner unten beim Schiff schwach wahrnahm. Er hatte unter freiem Himmel am Rand der Hochfläche geschlafen, nachdem das Regenwasser abgeflossen und die Erde wieder halbwegs trocken war. Die Plastikfolien unter den Decken schützten ihn vor der Nässe. Jetzt sprang er auf und starrte verwirrt und bestürzt hinunter ins Tal. Noch war es dunkel. Die Männer und Frauen dort hatten sich vor dem Wolkenbruch aus der Mulde zu höhergelegenen Plätzen flüchten müssen und die wenigen Feuer mitgenommen, die nicht erloschen waren. Die Feuer waren es auch nicht, die nun dort leuchteten. Bjo glaubte, an Halluzinationen zu leiden. Er kniff die Augen zusammen und sah die Lichter noch immer, die sich über dem Tal bewegten. Hinter ihm kamen Menschen aus ihren Zelten gelaufen. Hayes war bei ihnen. Er blieb neben Breiskoll stehen und sah es selbst. »Aber das gibt es doch nicht!« entfuhr es ihm. »Ich fürchte, doch«, flüsterte Bjo. »Federspiel empfängt fremde Gedankenimpulse, und ich nehme sie jetzt auch wahr, aber noch sehr schwach – und völlig verschwommen.« »Du willst sagen, das da unten etwas lebt?« Bjo nickte zögernd. Es waren fünf Lichter, die über dem Tallager kreisten. Jetzt sah er zwei weitere hinter der SOL hervorkommen – nein, aus der SOL.
Es hätten Roboter sein können, oder kleine Raumboote, wenn da nicht die Impulse gewesen wären. Das Unglaublichste aber war, daß diese Gebilde flogen und nun Lichtkegel aussandten, in denen die Solaner zu sehen waren, wie sie sich in heller Panik zusammenscharten oder Hals über Kopf die Flucht ergriffen. Sie besaßen Energie! »Sie können nur von den Stationen kommen«, war Curie van Herling zu vernehmen. »Dann ist es also soweit.« »Verständige Sternfeuer, Bjo«, sagte Hayes schnell. Er drehte sich um. »Und ihr anderen holt euch alles an Waffen zusammen, was wir haben. Und wenn es nur Steinschleudern sind. Wir …« »Breck!« rief Curie. »Da!« Fünf der Lichter senkten sich tiefer und jagten über den Köpfen der Entsetzten hinweg, als wollten sie sie rammen. Die anderen beiden lösten sich von ihnen und kamen rasend schnell am Hang herauf. Sie wurden scheinbar größer, stiegen hoch in die Luft, drehten und stießen auf das Zeltlager auf der Hochfläche herab. »Hinwerfen!« schrie Hayes. Bjo ließ sich schon fallen, als das erste der Lichter über ihn hinwegzischte. Verzweifelt versuchte er, in Kontakt mit Sternfeuer zu kommen. Entweder war er zu aufgeregt, oder seine Gabe taugte tatsächlich gerade noch dazu, mit Federspiel in der nahen SOL Informationen auszutauschen. Das letztere war wahrscheinlicher, denn schon vorher hatte Bjo vergeblich nach Sternfeuer gerufen. »Sie landen!« schrie jemand. Bjo drehte sich auf den Bauch. Atemlos sah er, wie die Lichter mitten zwischen den liegenden Solanern aufsetzten und schwächer wurden. Aus ihnen schalten sich zwei Robotergestalten mit zweifach eingekerbten, metallisch schimmerndem Körper, einem riesigen ovalen Kopf mit Leuchtfeldern, und je zwei Bein‐ und zwei Armgliedmaßen heraus. Ihre Größe betrug etwa mehr als zwei Meter. Ihr Leuchten reichte noch aus, um den Zeltplatz zu erhellen, aber
es schmerzte nicht an den Augen. »Wir unternehmen noch nichts«, sagte Hayes. »Wenn sie hier Energie besitzen, müssen sie zu jenen gehören, die diese Falle aufbauten.« Wie wenig die Solaner ausrichten konnten, zeigte sich auf dramatische Weise, als einer der Roboter aus einem Stab einen grellen Energiestrahl in den Himmel jagte. Ein zweiter Schuß ließ ein Zelt in Flammen aufgehen. »Es sind keine Roboter, Breck«, flüsterte Bjo dem High Sideryt zu. »Ich kann ihre Mentalimpulse jetzt deutlicher spüren, aber sie sind viel zu fremdartig, als daß ich etwas aus ihnen lesen könnte.« Langsam richtete er sich auf. Die Robotgestalten standen unbewegt und schweigend dort, wo sie gelandet waren, während die fünf weiter Angst und Schrecken unter den Menschen im Tal verbreiteten. »Sie beobachten uns«, flüsterte Breiskoll. »Sie stehen da und starren uns an. Vielleicht sollten wir versuchen, uns mit ihnen zu verständigen.« Hayes stand auch auf. Überall kamen Männer und Frauen in die Höhe. Niemand wagte, auch nur einen überflüssigen Schritt zu machen, geschweige denn, fortzurennen. Die Mündung der Strahlwaffe wanderte von einem zum anderen. Was dann kam, war nun nicht mehr auszuschließen gewesen. Dennoch war es ein weiterer Schock. »Ihr wollt euch verständigen«, hallte eine robotische Stimme über den Platz. Es war unmöglich festzustellen, zu welchem der beiden Fremden sie gehörte. »Ihr könnt es, soweit es ein sprachliches Verstehen zwischen euch und uns betrifft. Es genügt, wenn ihr hört, was wir euch zu verkünden haben. Wer ist euer Anführer?« Bjo hielt Hayes am Ärmel fest, als der High Sideryt zögernd vortreten wollte. Die Szenerie war unheimlich und voller Widersprüche. Im Leuchtschein der Fremden, die vielleicht halb Roboter und halb organische Wesen waren, verzerrten sich die
Gesichter der umstehenden Solaner zu Grimassen der Angst. Der Lagerplatz war eine Lichtinsel in der Dunkelheit. Die Stämme einiger naher Bäume wirkten vor dem finsteren Hintergrund wie Säulen, die eine Arena umgrenzten. »Noch nicht, Breck«, flüsterte Bjo, »sie sind nicht gekommen, um mit uns zu reden. Sie wollen nicht verhandeln, sondern uns etwas diktieren, und das kann nichts Gutes sein. Sie haben eine Teufelei vor. Ich spüre es.« »Spürst du dann auch, was sie tun werden, wenn wir nicht auf sie eingehen?« Bjo biß sich auf die Unterlippe. Jetzt drehte sich einer der Fremden genau auf ihn und Hayes zu, und die Waffe deutete auf sie. »Er hat schon gehört, was er wissen wollte«, knurrte Hayes. »Laß mich, Bjo.« Er trat vor und nickte. Der zweite Fremde hob jetzt auch einen Stab. »Schön«, sagte Breck. »Ihr habt also nicht nur Flugantriebe, die hier funktionieren, und nicht nur Waffen und Lichter. Ihr besitzt Translatoren – und was noch mehr?« Wenn wir sie blitzschnell angreifen und ihnen die Waffen entreißen könnten! dachte Bjo. »Du hast keine Fragen zu stellen, Solaner. Dein Name?« »Breckcrown Hayes. Ich bin das, was ihr einen Anführer nennt.« »Dann höre, Breckcrown Hayes.« Einer der Metallischen schwebte jetzt näher. »Du herrschst über viele Tausende von euch. Morgen um diese Zeit werden noch hundert davon leben. Ihr werdet darum kämpfen, zu diesen hundert zu gehören – jeder von euch. Sage das deinen Leuten. Wenn morgen um diese Stunde noch mehr als hundert Solaner leben, werden sie von uns eliminiert. Wir werden beobachten, wie ihr euch gegenseitig tötet. Den Siegern wird das Leben geschenkt, und sie werden diese Welt verlassen dürfen.« Hayes mußte schlucken. Er mußte erst begreifen, was er da gehört hatte.
»Das ist doch nicht euer Ernst!« schrie er den Fremden an. »Den Teufel werden wir tun, und wenn wir kämpfen, dann nicht gegen uns!« »Ich habe nichts hinzuzufügen. Die Zeit läuft für euch.« »Das ist Wahnsinn!« Eine Frau sprang vor und wollte sich auf den Fremden stürzen. Als ob sie damit ein Signal gegeben hätte, kam Bewegung in die Reihen der Solaner. Sie rückten vor, schüttelten Fäuste, schrien und warfen mit den Steinen, die sie gesammelt hatten. Die Geschosse prallten wirkungslos an den Hüllen der Unheimlichen ab. Die Frau verging im Energiefeuer des Metallenen. Der zweite stieg in die Höhe und gab ungezielt Schüsse in die Menge ab. Männer und Frauen starben oder wurden verletzt. Hayes und Breiskoll standen wie in Stein gemeißelt vor dem Roboterhaften. Bevor einer von ihnen seiner Bestürzung Luft machen konnte, verwandelte er sich. Aus dem Roboter wurde eine Riesenzecke von knapp zwei Metern Länge. Er sieht aus wie Zelenzo! durchfuhr es Bjo. Zelenzo in seiner wirklichen Gestalt! Aber Zelenzo war ein Zyrtonier gewesen, ein zyrtonischer Halbemulator! Bjo war gelähmt. Jemand schrie, andere stöhnten. Der zweite Fremde, noch als Roboterhafter, schwebte zehn Meter hoch über der Zecke und hielt die Solaner in Schach. »Braucht ihr noch mehr Beweise unserer Macht?« donnerte, die Stimme der Riesenzecke über den Platz. »Ich bin Borallu, der Herr der sechs Augen! Morgen um diese Zeit stehe ich wieder hier und erwarte die hundert Sieger. Wer sonst noch von euch lebt, wird sterben.« Damit verwandelte er sich in die Robotergestalt zurück und verschwand. Sein Begleiter schwebte in Richtung des Bergkamms davon.
Bjo drehte sich um und lief zum Hang zurück. Unten im Tal verschwanden die fünf Lichter in den offenen Luken der SOL. Dann verkündete eine Roboterstimme auch dort die Aufforderung zum Kampf jeder gegen jeden. Sie war so mächtig, als spräche SENEGA aus allen Lautsprechern des Schiffes. Mit hängenden Schultern kehrte Bjo zu den Zelten zurück. Weinende Menschen trugen die Toten fort und kümmerten sich um die Verletzten so gut es eben ging. Hayes, Curie van Herling und Solania standen zwischen ihnen und wußten nicht, was sie tun oder sagen konnten. »Federspiel muß her«, forderte Breiskoll. »Zusammen sind wir vielleicht so stark, daß wir die Gedanken der Fremden wirklich ausforschen können.« Hayes starrte ihn an. »Du hast gesagt, es geht nicht. Und wir haben jetzt anderes zu überlegen – nämlich, wie wir diesen Wahnsinn verhindern können.« »Ich kann nicht glauben, daß unsere Leute übereinander herfallen wie die Tiere«, flüsterte Solania. »Sie werden es«, prophezeite Curie düster. »Wenn man das eigene Leben nur dadurch retten kann, werden sie es. Ich habe Menschen ganz andere Dinge tun sehen, um nicht sterben zu müssen.« »So wartet doch!« verschaffte sich Breiskoll Gehör. »Ich bezweifle, daß es dazu kommen muß. Ich sagte, ich kann ihre Mentalimpulse spüren, aber nicht lesen. Ich kann keine Inhalte feststellen, keine konkreten. Aber als dieser Borallu seine Drohung aussprach, meinte er es nicht so. Fragt mich nicht weiter, aber er will etwas ganz anderes. Wir sollen glauben, daß alle außer hundert Siegern eliminiert werden, damit wir uns gegenseitig umbringen.« Hayes kniff die Augen zusammen. Kurz sah er zu den Zelten hinüber, wo die Toten in Tücher gewickelt wurden. Bjo nahm seinen unbändigen Zorn, seine Hilflosigkeit wahr und die Vorwürfe, die er sich machte. »Welchen Sinn soll das haben, Bjo?« fragte Solania.
Er zuckte heftig die Schultern. »Um das herauszufinden, bräuchte ich Federspiel, und besser auch Sternfeuer. Sie …« Er stockte. Eine grausame Ahnung beschlich ihn. »Dieser andere Roboter, oder das Wesen, das wie ein Roboter aussieht, ist zum Kamm hinaufgeflogen. Er muß dahinter verschwunden sein. Und dort sind Sternfeuer und ihre Expedition.« »Und dieser Roboter verschwand als einziger, alle anderen sind jetzt in der SOL.« Hayes schien zu ahnen, was Breiskoll dachte. »Sie hat uns über euch Telepathen mitgeteilt, daß sie ein Wrack gefunden haben und zu ihm hinunter wollen.« »Und das war das letzte, was ich von ihr empfing, Breck. Sie dachte daran, daß vielleicht jemand von der Besatzung überlebt hat. Diese sieben Fremden brauchen keine Helfer, die mit einfachen Raumschiffen kommen. Also gehören sie nicht zu ihnen. Wer oder was die anderen sind, sie könnten ihre Pläne durchkreuzen. Das ist der einzige Grund, den ich mir für das Verschwinden des Roboters denken kann. Elf Solaner können für Borallu nicht wichtig sein. Also muß etwas anderes dahinterstecken. Auf jeden Fall sind Sternfeuer und ihre Gefährten in Gefahr.« Bjo rief Federspiel. Er forderte ihn auf, so schnell wie möglich zum Zeltlager zu kommen. »In Gefahr sind wir alle!« brauste Hayes auf. Bjo nickte. »Aber wenn wir hinter dem Kamm etwas finden, das uns retten könnte? Vielleicht gibt es in dem Wrack Waffen, die auch funktionieren, oder Überlebende, die schon ihre Erfahrungen mit Borallu gemacht haben. Breck, ich gehe über den Berg, und Federspiel mit mir. Wir haben wieder einige Minkas und sollten es bis zum Morgen schaffen. Und noch etwas. Ich sagte vorhin, daß elf Solaner dort sind. Drei der Raketenbauer haben sich Sternfeuer angeschlossen. Das sind fähige Techniker mit viel Phantasie. Wir haben nur diese Chance.«
»Du vergißt«, sagte Curie, »daß der Roboter jetzt schon dieses Schiff erreicht haben muß.« »Das ist mir egal. Etwas liegt hinter dem Berg, das wichtig für die Mörder ist, und damit auch wichtig für uns. Ich will mir nicht einmal vorwerfen müssen, nicht alles getan zu haben, was uns wenigstens eine Spur Hoffnung geben kann.« Hayes rang mit sich. Schließlich willigte er ein. »Ich werde hier versuchen, unsere Leute bei Vernunft zu halten«, sagte er grimmig, »wir werden Trupps aus verläßlichen Leuten zusammenstellen, die verhindern müssen, daß es im Tal und hier zu Mord und Totschlag kommt.« Er ballte die Fäuste. »Wenn wir nur ein funktionierendes Kommunikationsnetz besäßen! Kuriere! Sie erreichen fünf oder zehn Solaner! Aber nicht Zehntausende! Wir brauchen einen Riesenlautsprecher so wie diese Zecken, um jeden einzelnen von uns zu warnen.« »Zecken?« Bjo schüttelte den Kopf. »Sprich es ruhig aus, Borallu ist ein Zyrtonier. Wie es möglich ist, daß er hier, jenseits der Grenzen der Namenlosen Zone, auftaucht, weiß ich nicht. Ich bin mir dafür aber ziemlich sicher, daß er der einzige ist. Die anderen denken anders als er. Besser gesagt, ihre Mentalstrahlung ist von seiner verschieden.« Bjo hatte nicht erwartet, daß jemand sich damit zufrieden gab. Hayes wandte sich den Menschen im Lager zu und appellierte an ihre Vernunft. Solania und Curie halfen ihm dabei nach Kräften. Die Blicke aber, mit denen sich die Männer und Frauen, Freunde und Freunde, Brüder und Brüder, mißtrauisch bedachten, konnten ihnen ebensowenig verborgen bleiben wie die Waffen, die sie sammelten und versteckten. Die Stunde, die Federspiel brauchte, um aus der SOL ins Höhenlager zu kommen, wurde für Breiskoll zur Qual. Denn so schwach seine Telepathiegabe auch geworden war – sie reichte allemal, um die Mischung aus Angst, Unsicherheit, Zweifeln und Argwohn zu registrieren, die sich der Solaner bemächtigte. Und der
Argwohn wuchs. Er war nur die Vorstufe zur offenen Aggression. Wenn kein Wunder geschieht, dachte Bjo, erreicht Borallu sein Ziel. Er fiel Federspiel fast um den Hals, und nach weniger als fünf Minuten sprengten sie auf ihren Minkas den Berghang hinauf. * Borallu war zufrieden. Seine Demonstration hatte ihre Wirkung auf die Solaner nicht verfehlt. Schon jetzt sah er aus der Luke der SOL, an deren Rand er sich geschoben hatte, die ersten Kämpfe entbrennen. Natürlich würden mehr als hundert Solaner übrigbleiben, aber um so besser. Um so mehr konnte er in die Negative Zone schaffen, denn wer dann noch lebte, hatte Dutzende seiner Artgenossen umgebracht. Und wer das vermochte, war negativ genug. So ließen sich die negativen Elemente auf denkbar einfache Weise herausfiltern. Und falls das nicht reichte, gab es immer noch die Vulnurer im Orbit. Die überlebenden Solaner konnten sich dann noch an ihnen beweisen. Borallu hoffte, daß es nicht zu dieser letzten Konfrontation kommen mußte, und das hatte nichts mit Mitleid zu tun. Er wartete auf ein Signal von Tronungu, den er ausgeschickt hatte, um dort einzugreifen, wo eine kleine Gruppe der Solaner nach einem der Internschiffe suchte, die auf dem vierten Planeten gelandet waren. Noch im Hauptauge hatte das Steuergehirn mitgeteilt, daß von allen fünfzig Internschiffen nur drei beim Aufprall nicht explodiert waren. Dieses eine jenseits des Berges gehörte dazu. Auf Tronungu war Verlaß. Alles entwickelte sich so, wie Borallu es sich vorgestellt hatte. Sicher mußte er die Vulnurer nicht holen
lassen, und dann würde er morgen um diese Zeit schon auf den Ruf warten können, der ihm befahl, das Negative von den Solanern in die Namenlose Zone zu bringen. Allein der Begriff »Namenlose Zone« elektrisierte ihn. Er konnte es kaum noch erwarten, zu sehen, was aus seinem Volk geworden war. Und nichts sollte ihn unnötig aufhalten. Dort unten im primitiven Lager der Solaner begannen sich die ersten Kämpfe zu entwickeln. Borallu lachte. * Sternfeuer hockte in der Höhle vor Jeremy Wilde, dem eine der Riesenameisen ein Stück Fleisch aus dem linken Oberschenkel gebissen hatte. Sie konnte nicht mehr tun, als das ganze Bein abzubinden. Die Wunde war übel. Jeremy hatte viel Blut verloren, und inzwischen auch das Bewußtsein. Man konnte nur hoffen, daß er sich keine Infektion zugezogen hatte. »Mit ärztlicher Hilfe würde er durchkommen«, sagte Henry Bolten, der Heilpraktiker. Er seufzte. »So leid es mir tut, ich kann nur die antiseptischen Salben auftragen und ein Mittel auf dem Bein verreiben, das es kühlt und die Schmerzen lindert. Ich habe nichts zur Verfügung, aus dem sich mehr machen ließe. Jeremey gehört in eine Medo‐Station, die funktioniert.« Und die gab es auf ganz Zerberus nicht. »Bleib bei ihm, ja?« bat Sternfeuer ihn. Sie stand auf und ging gebückt zu den anderen, die sich fest aneinanderkauerten. Es roch nach Moder. Die Höhle war feucht, aber nicht ganz dunkel. An den Wänden wuchsen fluoreszierende Moose und Flechten, die alles in ein fahles, grünliches Dämmerlicht tauchten, die Solaner und den Insektoiden. Er sah tatsächlich fast wie eine Riesenameise aus, die eines ihrer
Hinterbeine verloren hatte. Und die Höhle glich fast dem Innern eines Ameisenhaufens. Es gab natürlich entstandene Gänge, die wahrscheinlich noch viel tiefer in den Berg hineinführten. Daneben jedoch waren Teile des Wracks hierhergeschafft worden, die einige Eingänge in dieses Labyrinth verschlossen oder in der Höhle selbst Kammern bildeten. Die Lücken zwischen ihnen und dem Felsgestein waren mit einem Sekret zugemauert worden, das jetzt fest wie Beton war. Das Ganze befand sich unterhalb der Felsenplatte fast am Berghang. Die Solaner hatten an ihrem Rand entlang klettern und kriechen müssen, bis sie einen gangbaren Weg hinein fanden. Sauber aufgetürmte technische Geräte und Sechseckkisten mit noch unbekanntem Inhalt zeugten davon, daß die Insektoiden sich hier bereits wohnlich einzurichten begonnen hatten. Noch waren sie mit den drei getöteten Minkas beschäftigt. Doch was, wenn sie nun bald zurückkamen? Die Situation der elf Menschen war mehr als verzweifelt. Selbst wenn es ihnen gelang, sich gegen die Fremden zu wehren, hatten sie keine Reittiere mehr, um zur SOL zurückzukehren. Und wenn der Hunger der Insektoiden erst einmal wieder auflebte … Sternfeuer wollte nicht daran denken. Sie mußte sich schütteln. Ole tuschelte mit Kym Wilde, vermutlich über das Wrack. Glaubte er denn immer noch, etwas mit dem Schiff anfangen zu können? Er sah immer wieder zu dem Fremden hinüber, der sie hierher geführt hatte. Jetzt sagte der wieder etwas in seiner zirpenden Sprache. Immer sah er dabei die Mutantin an. Sternfeuer spürte nur, daß er sie nicht in eine Falle gelockt hatte. Er suchte aufrichtig nach einer Verständigungsmöglichkeit, und ebenso aufrichtig bereute er, was draußen geschehen war. Er schämte sich und wollte helfen wiedergutzumachen. Aber das war auch schon alles, was Sternfeuer aus seinen vagen Gedankenbildern herauslesen konnte. »Wir hätten nicht auf dich hören sollen«, brummte von Bruchstein. »Wir hätten ins Wrack gehen sollen, das wäre leichter zu verteidigen
gewesen.« »Halt du dich ganz heraus!« fuhr Miami ihn an. »Wenn du immer noch den Preisboxer spielen willst, geh raus und verprügele die Fremden weiter. Nach deinem großartigen Auftritt denken sie nicht mehr an eine Verständigung mit uns. Wir müssen ja für sie Feinde sein.« »Wenn mir jemand ans Fell will, dann wehre ich mich!« gab Walter feixend zurück. »Oder darf man das nicht mehr, meine Dame?« Der Insektoide hüpfte verzweifelt um sich selbst. Sternfeuer ging zu ihm und streckte impulsiv eine Hand aus. Er verharrte und starrte sie an. Zögernd hob er eines der Vordergliedmaßen. Doch bevor er die Hand berühren konnte, ließ ihn ein aufgeregtes Zirpen herumfahren. Die Solaner sprangen auf. Ein zweiter Insektoider kam in die Höhle gerannt und blieb erst kurz vor seinem Artgenossen stehen. Ihre Fühler berührten sich. Sternfeuer nahm einen kurzen Informationsaustausch wahr, ohne sagen zu können, was dort mitgeteilt wurde. Aber als er die Fühler zurückzog, war der Fünfbeinige noch aufgeregter. »Wenn wir nur einen Translator besäßen!« sagte Sternfeuer verzweifelt. »Wie haben wir uns früher mit anderen Intelligenzen verständigt, bevor es Translatoren gab?« »Die gab es immer schon, von den alten Arkoniden«, stellte von Bruchstein sein Wissen unter Beweis. »Aber warte. Ich weiß vielleicht eine Möglichkeit.« »Ja«, kommentierte Miami. »Blitz und Donnerschlag.« Walter beachtete sie nicht, kam zu Sternfeuer und den Fremden und hob einen scharfkantigen Stein vom Boden auf. Dann begann er, etwas in das Moos zu ritzen, wo er den Bewuchs abschabte, zogen sich dunkle Linien und Kurven durch das fahle Leuchten. Er zeichnete einen Solaner und einen der Insektoiden und zog um beide einen Kreis. Danach deutete er abwechselnd auf sich, dann auf
die Fremden. »Freunde?« Sternfeuer hielt den Atem an. Von draußen war jetzt das Fallen von Steinen zu hören, in das sich ein aggressiv klingendes Zirpen mischte. Der Fünfbeinige schien zu begreifen. Er wiederholte die Geste, berührte sich, seinen Artgenossen und Sternfeuer und von Bruchstein an der Brust und schloß mit einer Bewegung auch die übrigen Solaner mit ein. Anschließend legte er seine Ballenhand mit den sechs haarscharfen Klauen gegen das Bild. »Das heißt, die beiden stehen auf unserer Seite«, flüsterte Sternfeuer. »Gut gemacht, Walter. Und weiter?« Der Fünfbeinige nahm von Bruchstein den Stein aus der Hand und zog zwei dicke und lange Querstriche durch die Zeichnung. Mit dem anderen Vorderarm deutete er heftig zum Höhleneingang, von wo die Geräusche kamen. »Diese beiden sind unsere Freunde«, stellte Sternfeuer fest. »Aber die anderen nicht. Das sagte ihm sein Artgenosse. Hört ihr sie? Sie greifen uns an.« Der Fünfbeinige zeichnete einen zweiten Kreis und machte durch Gesten klar, daß er die Höhle darstellen sollte. Er fügte Linien an und blickte in die Richtung der weiterführenden Gänge. Schließlich zog er Pfeile in das Moos. »Es muß einen zweiten Ausgang geben«, sagte von Bruchstein, »durch den wir fliehen sollen.« »Ich vertraue ihnen«, rief Sternfeuer, als die Geräusche ganz nahe waren. »Schnell, sie werden uns führen!« Die Solaner machten sich bereit, doch da war es bereits zu spät. Der Gegner kam nicht vom Höhleneingang. Er kam überhaupt nicht aus irgendeiner Richtung. Er materialisierte aus dem Nichts und stand dort, wo der Fluchtweg liegen sollte. »Ein Roboter!« entfuhr es Lyta Kunduran. »Und er leuchtet und schwebt! Das ist unmöglich!«
Es war möglich. Und der Metallene begann, ohne zu zögern, mit seinem Zerstörungswerk. Sternfeuer kam nicht dazu, den Gefährten zuzurufen, daß sie Mentalimpulse wahrnahm. * Alles ging viel zu schnell, um die Solaner nach einer Deckung suchen zu lassen. Als jeder von ihnen wohl glaubte, im nächsten Moment in einem der wie ziellos abgegebenen Energiestrahlen vergehen zu müssen, drangen von der anderen Seite die Insektoiden in die Höhle ein. Sternfeuer sah aus den Augenwinkeln heraus, wie sich der Fünfbeinige und sein Freund mehr in Panik als aus Überlegung heraus in eine Wandnische warfen und darin offenbar in einer Mulde verschwanden. Ihre vielen Artgenossen wurden vollkommen überrascht. Schon quollen sie in die Höhle wie eine Mauer aus Chitinpanzer, riesigen Facettenaugen, zitternden Fühlern und zuschnappenden Beißzangen. Die Panzer schimmerten in der plötzlichen Energieflut orangerot, und bevor der Vormarsch zum Stoppen kam, fuhren die tödlichen Strahlen aus der Stabwaffe des Metallenen in sie hinein. Ein halbes Dutzend Insektoiden verging im ersten konzentrierten Feuerschlag. Die Höhle hatte sich in ein Chaos aus grellem Licht, entsetztem Zirpen und zischender Glut verwandelt. Es wurde unerträglich heiß. Die Solaner standen zusammengedrängt in einer Ecke und konnten kaum noch sehen, was vorging. Beißender Rauch stach ihnen in die Augen. Die Energieschüsse hallten ohrenbetäubend von den Wänden wider. Und im Zentrum der entfesselnden Gewalten schwebte der Metallene in einem irisierenden Körperschutzschirm auf die Insektoiden zu. Er hat es nicht auf uns abgesehen! begriff Sternfeuer. Er schoß in die Wrackteile, mit denen das Höhlenlabyrinth in eine Wohnstätte der Gestrandeten hatte verwandelt werden sollen. Er
feuerte weiter auf die Sechsbeinigen, und als diese die Flucht ergriffen, waren sie bereits um die Hälfte ihrer Anzahl dezimiert. Ungläubig sah Sternfeuer, wie der denkende Roboter ihnen folgte. Kein einziges Mal richtete er seine Waffe auf die Solaner. Er schwebte hinter den Fliehenden aus der Höhle und feuerte weiter. Und so, wie er es tat, konnte kein Zweifel daran bestehen, daß er sie bis auf das letzte Wesen vernichten wollte. Sternfeuer wußte nicht, wer ihn geschickt hatte und warum er das tat. Sie spürte nur, daß sie den Insektoiden helfen mußte. Die Mentalimpulse des Metallenen waren so negativ, daß ihr allein davon übel wurde. Außerdem konnte er nur aus einer der Gigantstationen kommen, wenn er hier solche Energien freizusetzen vermochte. »Kommt mit!« rief sie den Gefährten zu. »Wir fallen ihm in den Rücken!« »Bist du verrückt?« schrie Lyta in den Lärm. Sie hustete. »Du siehst doch, daß er einen Schutzschirm besitzt! Bis jetzt hat er uns in Ruhe gelassen, aber wenn wir ihm …« »Lyta, wir müssen etwas tun!« Sternfeuer wartete nicht darauf, daß jemand ihr folgte. Sie lief aus der Höhle und sah den Roboterhaften hinter der kleinen Plattform vor ihrem Eingang gerade noch in die Tiefe schweben. Als sie den Rand des Vorsprungs erreichte, sah sie den Grund dafür. Die Insektoiden, zwanzig oder dreißig mochten es noch sein, versuchten verzweifelt, sich hinter und unter Vorsprünge zu flüchten. Unterhalb der großen Felsplattform, auf der das Wrack lag, fiel der Berghang steil und felsig ab. Erst in zwanzig Meter Tiefe gab es wieder Vorsprünge und ebeneres Gelände. Einem Teil der Insektoiden gelang es, in verschiedene Löcher zu entkommen, vermutlich die Mündungen von weiteren Stollen, die in Höhlen führten. Der Metallene setzte auf einem der tiefgelegenen Vorsprünge auf und feuerte wild um sich. Von Bruchstein und Kuno erschienen neben der Telepathin, dann
auch Lyta, Ole und Miami. »Die Steine!« rief Walter. »Helft mir, vielleicht können wir eine Lawine ins Rollen bringen!« Gleich neben dem Höhleneingang türmten sich mehrere Felsbrocken auf, als hätte ein Titan sie zu einer Pyramide gestapelt. Sternfeuer zögerte nicht lange. Mit Ole und von Bruchstein stemmte sie sich gegen die Steine. Es mußte schnell gehen. Noch stand der Metallene fast genau unter ihnen. »So hat es keinen Sinn!« rief von Bruchstein. »Wir müssen die unteren Brocken lösen!« Man hätte dazu einen Bulldozer brauchen können. Von Bruchstein ließ sich fallen und stemmte sich mit den Schultern gegen den Eingang, mit den Füßen gegen den Felsen, der zuunterst und dem Abgrund am nächsten lag. Er rührte sich etwas, aber das reichte nicht. Sternfeuer versuchte, an ihm zu ziehen. Doch erst, als Ole es Walter gleichtat, löste er sich unter dem Gewicht der anderen Steine und kippte polternd über den Hang. »Zurück!« schrie Lyta. »Komm da weg, Sternfeuer!« Die Mutantin war schon zur Seite gesprungen, als die Felsenpyramide zusammenfiel und sich wahrhaftig wie eine Lawine in die Tiefe ergoß. Sternfeuer warf sich flach auf den Bauch, robbte zum Rand des Vorsprungs und hielt den Atem an. Der Metallene war getroffen worden. Er versuchte, davonzuschweben, aber die Beschädigungen mußten bereits zu schwer sein. Sein Schutzschirm bewahrte ihn vor Hitze und Energien, nicht aber vor der Lawine, die ihn unter sich begrub. Das Licht, das noch aus den Lücken des Steinhaufens drang, erlosch. »Er ist hinüber«, sagte Miami fassungslos. »Wir haben es tatsächlich geschafft.« »Du warst uns ja auch eine große Hilfe«, knurrte von Bruchstein sarkastisch. Sternfeuer hörte nicht hin. Sie sah die Insektoiden vorsichtig aus
ihren Verstecken zurückkommen. Jetzt hatten sie nichts Aggressives mehr an sich. Scheu richteten sie ihre Fühler auf die Felsen, und einige stellten sich auf die hinteren Beinpaare und sahen nach oben. Dorthin, wo der Fünfbeinige und sein Artgenosse nun aus der Höhle kamen und sich zu den Solanern gesellten. Was sie zirpten, verstand Sternfeuer nicht. Doch sie fühlte, daß ein Bann gebrochen war. »Sie wissen jetzt, wer sie gerettet hat«, murmelte sie. »Oder wenigstens noch einige von ihnen. Aber wenn es noch mehr von diesen denkenden Robotern gibt, haben die es zweifellos auch erfahren …« * Sie kehrten nicht in die Höhle zurück, die fast zur Todesfalle geworden war. Als die Sonne ihre ersten Strahlen über die Berge schickte, hockten sie im Kreis vor dem Raumschiff, Solaner und Insektoide. Und in diesem Kreis standen Ole und der Fünfbeinige sich gegenüber, gestikulierten, machten mit schwarzem Öl aus dem Wrack Zeichnungen auf dem Boden und gaben an ihre jeweiligen Parteien weiter, was sie voneinander verstehen und erfahren konnten. Sternfeuer unterstützte den Extra, indem sie den Gesten und Bildern die Gefühlsausstrahlungen der Insektoiden hinzufügte, was manches abrunden konnte. Ole schien sich in jedes Zeichen, jedes Symbol hineinversetzen zu können. Es verwunderte, daß er sich nicht schon in der Höhle an den Verständigungsversuchen beteiligt hatte. Jetzt brauchte er eine knappe Stunde, um folgendes zu erfahren: Die Insektoiden stammten eindeutig von einer der Gigantstationen im Orbit, aber sie beherrschten sie nicht. Sie lebten dort seit vielen Generationen, ohne zu wissen, ob sie jemals ein anderes Dasein geführt hatten. Als sie dem Planeten einen Besuch abstatten wollten,
sorgte etwas im Zentrum ihrer Station dafür, daß sie nicht mehr zurückkehren konnten. Das Schiff auf der Plattform war eines von fünfzig gewesen. Ob andere die Landung überstanden hatten, und ob es weitere Überlebende gab, wußten sie nicht. Ole sicherte ihnen zu, daß die Solaner, sollten sie je wieder über Energie verfügen, ihnen bei der Suche nach anderen Wracks behilflich sein würden. Lyta Kunduran nickte dazu, erschüttert vom bösen Schicksal der Wesen, die nur ihr Hunger zum Angriff auf sie und die Minkas getrieben hatte. Danach, so erfuhr Ole, waren sie wie von Sinnen gewesen. Angst vor den Solanern, Entsetzen über sich selbst und die Dunkelheit hatten sie rasend werden lassen. Jetzt bereuten sie und hofften, daß die Solaner ihnen vergaben. Ole verstand sie zu beruhigen. Denise Tyllong, die Fremdvölkerpsychologin, schüttelte ein ums andere Mal bewundernd den Kopf über die Feinfühligkeit, mit der der Extra zu Werke ging. Bald hatte er eine regelrechte Zeichensprache entwickelt, die die Insektoiden übernahmen. Sie konnte die Basis für eine weitere, noch bessere Kommunikation sein. Am Schluß stellte Ole einige Fragen über das Raumschiff. Die Antworten stellten ihn mehr als zufrieden. »Sie wissen jetzt«, sagte er, als er zu den Solanern zurückkam, »daß wir von einem Schiff kommen, das durch die Stationen energetisch lahmgelegt worden ist. Fünfbein hat mir bestätigt, daß die Augen dafür verantwortlich sind.« »Moment.« Lyta hob eine Hand. »Augen?« Er nickte. »Sie haben als Symbol für die Stationen ein Auge, ein Facettenauge. Sie wissen, daß sie in einem weiten Umkreis alle Energien neutralisieren, aber das ist schon alles, was für uns wichtig ist.« Er blickte zum Wrack hinüber. »Ihr Raumschiff flog mit einem Verbrennungsantrieb. Dieses Etwas im Zentrum ihrer Station muß ein Steuergehirn oder etwas Ähnliches sein. Es betrog sie, indem es die Treibstofftanks nur halb auffüllen ließ. Wenn wir Treibstoff von
der SOL herbeiholen könnten, wäre das Schiff vielleicht wieder flottzumachen. So schlimm sind die Beschädigungen gar nicht. Es würde die Funktion der Rakete erfüllen, die wir bauen wollten – und vielleicht noch mehr.« »Ole«, sagte Lyta. »Wir kommen selbst nur mit größten Schwierigkeiten zurück zur SOL. Wie wollen wir da noch Tonnen von Treibstoff hierher transportieren? Auf Minkas? Wo sind sie?« Es gibt Zufälle, die einfach eintreffen, ohne daß man sich groß darüber wundert. Und es gibt solche, die genau dann eintreten, wenn man an ein bestimmtes Ereignis dieser Art denkt – und die einen Menschen an ein Geschick, eine Fügung oder ein Wunder glauben lassen. Hier sah es wie ein doppeltes Wunder aus. Von Bruchstein, der sich offenbar beim Wrack langweilte und vom Rand der Plattform aus die weitere Umgebung in der zunehmenden Helligkeit in Augenschein nahm, entdeckte die sieben geflohenen Minkas in einer kleinen Mulde am Hang, wo sie sich ähnlich verängstigt zusammendrängten wie in dem Kessel auf der anderen Seite des Berges. Und Sternfeuer, die bei der Erwähnung der SOL wieder, und bestimmt zum hundertsten Mal, versucht hatte, etwas von Federspiel oder Bjo zu empfangen, erhielt plötzlich Kontakt zu beiden. »Sie kommen den Berg herauf«, sagte sie aufgeregt. »Bjo, Federspiel und einige andere. Sie glaubten kaum noch, daß wir leben, weil …« Und sie berichtete den Gefährten alles, was die beiden Telepathen ihr mit gemeinsamen Kräften mitteilen konnten. So erfuhren sie vom Auftauchen der Fremden bei der SOL und von deren Ultimatum. Sie wußten nun, wer der Angreifer aus dem Nichts gewesen war, und auch das Augensymbol für die Gigantstationen ergab einen Sinn. Allmählich kam wenigstens etwas Ordnung in den Alptraum, der durch die Informationen der Telepathen noch
düsterer geworden war. Es gab nur einen wirklichen Gegner, und das waren die sechs noch existierenden Roboterhaften. Vielleicht lebten in den Augen noch mehr von ihnen, aber diese sechs waren hier und jetzt da. Und sie mußten wissen, daß es Nummer Sieben nicht mehr gab. »Sternfeuer«, brach Lyta das bestürzte Schweigen, »wenn das alles wahr ist, sind wir verloren. Gegen diese Gegner haben wir nicht den Hauch einer Chance. Bjo hofft, hier Waffen zu finden?« Sie lachte humorlos. »Wir können selbst welche gebrauchen, und die Insektoiden besitzen keine.« »Ich muß gehen«, sagte die Mutantin. »Bjo glaubt, daß wir drei Telepathen einen Block bilden und mit vereinten Kräften herausfinden können, was dieser Borallu wirklich vorhat. Einzeln sind wir schwach, aber daß ich jetzt Kontakt habe, beweist doch, daß Bjo und Feder spiel zu zweit schon viel stärker sind.« Einem Impuls folgend, lief sie zu dem Fünfbeinigen und zeichnete einen der Metallenen auf den Felsen. Mit der nun bekannten Geste gab Fünfbein zu erkennen, daß er diese Art Wesen nicht kannte. Sternfeuer zeichnete die Riesenzecke, in die Borallu sich kurzzeitig verwandelt hatte. Fünfbein zögerte. Er ging um das Bild herum und blieb immer wieder stehen. Zum erstenmal sah Sternfeuer jetzt fast ein klares Gedankenmuster. Etwas schien in dem Insektoiden heraufzudämmern, eine längst begrabene Erinnerung, die sich nicht auf eine Beobachtung von ihm gründete. Es mußte eine Art Urerinnerung sein, die im Lauf der Generationen immer tiefer ins Unterbewußtsein gerutscht war. Ja! gab er endlich zu verstehen. Ja, ich kenne es! Das war alles, was ihm zu entlocken war, und alles, was er wußte. Und wie sollte zu deuten sein, daß er und seine Artgenossen sich plötzlich mit allen Anzeichen einer grauenhaften Angst von der Zeichnung zurückzogen? Daß sie erst wieder näherkamen, als Sternfeuer sie verwischte?
Die Mutantin wußte, daß sie die Antwort hier nicht erfahren würde. Sie machte sich zum Aufbruch bereit. Trotz der wärmenden Sonne war ihr bitterkalt. Lyta nickte. Es hatte keinen Sinn, daß man sich hier versteckte. »Wartet noch eine Stunde!« rief Walter von Bruchstein. »Dann haben wir wieder Reittiere.« Er winkte Kuno heran. Dann sah er Miami und verneigte sich tief. »Würde die Dame Spaß daran haben, uns noch einmal mit ihren Dressierkünsten zu beglücken?« »Quatsch nicht so gestelzt, sondern komm, Rotbart!« erwiderte sie. * Sie waren nur acht, als sie den Kamm überwanden und kurz darauf vor der Kulisse der SOL mit Breiskoll, Federspiel und drei anderen Solanern zusammentrafen. Ole, Kym Wilde und Denise Tyllong waren beim Wrack zurückgeblieben. Ole und Kym hatten das Schiff erforscht und noch Treibstoffreste gefunden. Zumindest, meinte Ole, sollte sich damit und aus Wrackteilen eine Flüssigstoffrakete herstellen lassen, die man eventuell als primitive, aber wirksame Waffe auf Borallu oder seine Artgenossen abfeuern konnte. Jeremy lag festgebunden auf dem Rücken eines Minkas und hatte inzwischen das Bewußtsein zurückerlangt. Er sollte mit Laslo Syper und einigen Freunden versuchen, das ursprüngliche Projekt zu verwirklichen und einen Peilsender in den Weltraum schicken. Die Chancen standen denkbar schlecht, aber nie waren die Solaner mehr auf Hilfe von außen angewiesen gewesen als jetzt. Die Insektoiden hatten damit begonnen, neue Höhlen in Wohnstätten zu verwandeln. Obwohl das Damoklesschwert der Metallenen über ihnen hing, gaben sie sich nicht auf. Sie hatten Freunde gefunden und schienen entschlossen zu sein, sich auf Zerberus eine neue Existenz zu schaffen. Allerdings brauchten sie dazu eine neue Königin, und die konnte sich nur bei einer anderen
Gruppe Überlebender finden lassen. Das lag vorerst weit hinter Sternfeuer. Die Minkas trugen die kleine Gruppe den Steilhang hinunter und über die Leiste und die Geröllzunge zum Wald. Bjo und Federspiel berichteten ausführlicher über die nächtlichen Vorgänge in den Lagern. Die Minkas führten ihre Reiter sicher und schnell durch das Baumdickicht und das Unterholz. Sternfeuer hatte dabei immer nur das Bild der wie tot daliegenden SOL vor Augen, des gefallenen Titanen, der ihre Heimat war. Vom Geröllfeld aus hatte sie nur einige Feuer als winzige Lichter gesehen. Der Tag verbarg nun mehr als die Nacht. Sie erwartete mit einer Mischung aus drängender Neugier und schrecklicher Vorahnung den Blick vom Hochlager aus. Was sie und die anderen beiden Telepathen schon jetzt wahrnahmen, war schrecklich genug. Dann teilte der Wald sich. Das Zeltlager unterhalb der Baumgrenze lag verlassen. Die dreizehn Solaner ritten in das Lager ein wie in eine aufgegebene Festung. Sie saßen ab und durchsuchten die Zelte. Kein Mensch befand sich noch hier. Bjo war bis zum Rand der Hochebene gegangen und gab ein klagendes Maunzen von sich. Sternfeuer kam an seine Seite. Sie konnte nicht mehr atmen. Dort unten herrschte das Chaos. Die Solaner lagen im Kampf miteinander, jeder gegen jeden. Und irgendwo in der SOL mußten Borallu und seine Artgenossen stecken und das Massaker genießen. »Das«, flüsterte die Telepathin, »ist unser Ende, Bjo. Das Ende der SOL. Auch wenn wir rechtzeitig zurückgekommen wären, wir hätten dies nicht mehr verhindern können.« Epilog Atlan stand starr vor den Ortungsschirmen, die nicht mehr länger nur die Reflexe der sechs Gigantstationen im Orbit um den vierten
Planeten zeigten, sondern nun auch schwache Echos von dem Planeten selbst – und zwar von genau dort, wo die SOL lag. Er drehte sich um und sah Tyari neben Ticker stehen. Die beiden schienen etwas auszutauschen. Doch als Tyari zu ihm zurückkam, konnte sie nur die Schultern zucken. »Ticker spürt etwas, Atlan«, sagte sie leise, »aber er ist noch nicht bereit, es uns mitzuteilen.« Das hatte sich in den vielen zurückliegenden Stunden bereits mehrfach wiederholt. Atlan fluchte und rief: »Positronik! Wann bekommen wir endlich den Wortlaut der aufgefangenen Symbolsprüche zwischen den Stationen!« »Ich arbeite an der Dekodierung«, antwortete die sonore Stimme. »Die Impulse sind zu fremdartig.« Eine Positronik, dachte der Arkonide wütend, dekodiert eine Botschaft eines noch so fremden Volkes in Bruchteilen von Sekunden! Die MJAILAM und die EMRADDIN standen bereit, um sofort vorzustoßen, sollte sich eine Veränderung der Lage ergeben. Doch weder zeigte sich eine Schwäche der Gigantkugeln, noch deutete etwas darauf hin, daß sie von einem erfaßbaren Wesen gesteuert wurden. »Die Solaner leben, Atlan«, war alles, was Tyari sagen konnte. »Sie können nicht wissen, daß wir hier sind, aber etwas ist jetzt bei ihnen, und ich …« Sie verstummte, als wollte sie dem Arkoniden eine Hiobsbotschaft ersparen. »Was weiter?« fragte er. Sie schlug die Augen nieder. »Aggression«, flüsterte sie. »Eine Aggression, als ob sie alle Amok liefen und sich gegenseitig umbrächten.« Atlan ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. Ihm war danach, Brick einfach zuzurufen, ohne Rücksicht auf Verluste zu beschleunigen und den vierten Planeten anzufliegen.
Eben das ging nicht. Nach wenigen Lichtminuten würde die MJAILAM ohne Energie sein und auf die Sonne zugezogen werden. Er dachte an die Feuerkraft seiner beiden Kreuzer, und an die lächerlich kurze Strecke, die es zum vierten Planeten zurückzulegen galt – aber dazwischen klaffte ein unüberwindlicher Abgrund. Er drehte sich wieder um und starrte Ticker an. Alles, was ich weiß, schien der Blick des Adlerähnlichen zu sagen, könnte euch nur dazu bringen, euch ins Verderben zu stürzen. Atlan dachte an die vielen Abenteuer, die er mit der SOL und den Solanern bestanden hatte. Aber zum erstenmal endeten seine Gedanken mit einem einzigen Wort. Aus! ENDE Die Solaner vor der Vernichtung zu retten sowie auch den Vulnurern erneut zu helfen ist Atlans und seiner Gefährten vordringlichste Aufgabe. Doch dem Arkoniden und seinem Team stehen die Unheimlichen entgegen – sie beherrschen Borallus Augen … BORALLUS AUGEN – so lautet auch der Titel des Atlan‐Bandes der nächsten Woche. Der Roman wurde ebenfalls von Horst Hoffmann geschrieben.