Fritz Gottschalk
Geständnis in den Feuerbergen
Verlag Neues Leben Berlin
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Fritz Gottschalk
Geständnis in den Feuerbergen
Verlag Neues Leben Berlin
© Verlag Neues Leben, Berlin 1975 Lizenz Nr. 303(305/76/75) LSV 7004 Umschlag und Illustrationen: Horst Kleint Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Excelsior Gesamtherstellung: Druckerei Neues Deutschland (140) Berlin Bestell-Nr. 6420764 EVP 0,25 Mark
Zu der Zeit, in der die Dämmerung zaghaft aus dem dichten Nadelholzgewirr kriecht, gleiten drei Hundeschlitten durch die tief verschneite Taiga. Die Gespanne sind hoch mit Pelzballen und Gerätschaften beladen. Sie werden von sechs bewaffneten Männern gelenkt. Diese Männer sind zaristische Steuerbeamte. Sie haben die Aufgabe, die Naturalsteuer einzutreiben, die den sibirischen Ureinwohnern auferlegt ist. In schneller Fahrt nähern sich die Schlitten dem portalartigen Eingang der Tigerschlucht. Die Felswände zu beiden Seiten der Schlucht ragen hoch und steil empor. Ein völlig zugefrorenes Flußbett windet sich auf dem bewaldeten Grund entlang. Die ersten beiden Hundegespanne passieren das Portal und gleiten die sich sanft neigende Schlucht hinab. Dann halten sie vor einer Felshöhle, deren. Eingang von einem schützenden Halbkreis dichtästiger Fichten umstanden ist. Der Lenker des letzten Schlittens stoppt sein Gefährt noch vor dem Eingang zur Schlucht, er beugt sich fluchend über die Zugstränge der Hunde. Ein untersetzter Beamter, der ein Stück hinter dem Schlittenzug zurückgeblieben ist, kommt eifrig heran. „Was ist los, Grigori?“ Er wirft einen Blick auf die zerrissenen Stränge. „Verdammt! Das hätte auch noch einen Werst halten können…“ Während er sprach, richtete er den Blick auf den Eingang der Tigerschlucht. Ihm ist der Schreck in die Glieder gefahren. Dort oben waren für einen Moment Kopf und Schultern eines Mannes zu sehen gewesen. „Achtung, Banditen!“ schreit er. Dabei reißt er den kurzen Kavalleriekarabiner von der Schulter und wirft sich in den Schnee. Die Bewegung rettet ihm das Leben. Genau in diesem Moment richtet der Bandit sein Gewehr auf ihn. Das Geschoß reißt ihm nur den Pelz auf und fährt wie ein glühendes Stück Eisen über seinen Rücken. Der Schlag ist so hart, daß der Mann für einige Sekunden starr und bewegungsunfähig in den Schnee stürzt.
Der mit Grigori Angesprochene hat sich geistesgegenwärtig hinter den Schlitten geworfen. Nun hebt er vorsichtig die Hand und versucht sein zwischen Pelzbündeln eingebettetes Gewehr hervorzuziehen. Doch der Gegner ist auf der Hut, seine Kugel durchbohrt die Hand des Mannes. Die vier Beamten in der Schlucht lösten gerade die Bindungen ihrer Schneeschuhe, als der Knall des ersten Büchsenschusses ertönte. Sofort greifen sie nach ihren Gewehren. Es ist für sie schon zu spät. Hinter den Fichtenstämmen blitzen Mündungsfeuer auf, ein Schwarm gut gezielter Kugeln wirft die vier Männer mit tödlichen Verwundungen in den Schnee. Der Bandit, der den Schluchteingang bewacht, versucht den Schlittenlenker vollends außer Gefecht zu setzen. Er gerät immer mehr in Wut, als er merkt, daß seine Schüsse den Mann nicht erreichen. Um besseres Schußfeld zu gewinnen, richtet er sich halb auf. Das wird ihm zum Verhängnis, denn der zweite Beamte hat den Schock überwunden. Vorsichtig hebt er den Karabiner. Im gleichen Moment legt auch der Bandit an. Der Schuß des Beamten löst sich zuerst. Der Wegelagerer stößt einen Schmerzensschrei aus. Das Stahlmantelgeschoß hat das Schloß seiner Waffe getroffen, ihm das eigene Gewehr aus den Händen gerissen und mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Der Beamte hat die Wirkung seines Schusses beobachtet. Er springt auf. „Komm, wir müssen hier weg!“ „Aber der Schlitten…“ „Laß ihn. Schneeschuhe genügen.“ Er reißt einen Lebensmittelpacken und eine Deckenrolle vom Schlitten und läuft los. Der Schlittenlenker wirft noch einen ängstlichen Blick auf den Schluchteingang und folgt seinem Gefährten. Fünf Tage nach diesem Vorfall bringen die beiden Taiga Jäger Nikolai Terechow und sein Neffe Boris Dwornikow ihre Pelze zum Verkauf. Der Pelzhändler und Kaufmann Alexej
Bukatyj begrüßt sie mit lärmender Freundlichkeit. Noch bevor er auf Nikolai zugeht und ihn umarmt, taxiert er die Pelzbündel mit einem schnellen Blick. „Nikolai Wassiljitsch, welche große Freude, dich hier gesund wiederzusehen! Tritt ein, lieber Freund, tritt ein!“ Der Kaufmann zieht Nikolai in den Geschäftsraum. Boris folgt und wirft die Pelzbündel auf den Ladentisch. „Heilige Mutter Gottes“, ruft Bukatyj, als er Boris die Hand schüttelt. „Sie sind ja in diesem Winter ein wahrer Recke geworden!“ Mit dieser Bemerkung hat der Händler dem jungen Trapper nicht nur schmeicheln wollen. Boris wirkt in der Tat noch breiter und kräftiger als im Herbst des vorangegangenen Jahres. Er ist jetzt ein herkulisch, doch ebenmäßig gewachsener zwanzigjähriger Mann, der das harte Trapper- und Jägerleben schon sechs Winter lang kennt. Seine Muskulatur verrät ungewöhnliche Kraft und Behendigkeit, obgleich seine Bewegungen ruhig, ja fast gemessen wirken. Die großen grauen Augen in seinem offenen Gesicht sprühen vor jungenhaftem Feuer. Vergnügt mustert Bukatyj die Pelzbündel. Dann stellt er flink drei Gläser und eine Flasche auf den Tisch. Ohne zu fragen, schenkt er ein. „Trinken wir auf eure glückliche und erfolgreiche Rückkehr.“ Nikolai leert das große Glas mit einem Zug. Boris hingegen nippt nur an dem scharfen Getränk. „Nun, junger Freund, mein Wodka ist Ihnen wohl nicht gut genug?“ „Ich mag nicht, Alexej Iwanytsch. Vielleicht nachher, wenn wir das Geschäft abgeschlossen haben.“ Bukatyj läßt sich seinen Ärger nicht anmerken, aber Pelzjäger, die nicht trinken wollen, mag er nicht. Diese Leute sind meist nicht bereit, seine Preisangebote zu akzeptieren. Lachend füllt er Nikolais Glas aufs neue und sagt: „Richtig, junger Freund! Trinken Sie das, was Ihnen am besten bekommt. Ich
rate Ihnen zu Milch.“ Dann wendet er sich Nikolai zu. „Trinken wir, und dann zeig mir deine Pelze.“ Nikolai leert bedächtig das Glas. Dann bedeutet er dem verärgerten Händler, in diesem Jahr werde Boris als sein Kompagnon die Pelze verkaufen. „Das sind fünfunddreißig Rotfüchse“, sagt Bukatyj, als Boris die ersten beiden Bündel öffnet und Balg für Balg nebeneinander auf den Tisch legt. „Sie sind unterschiedlich. Die elf da aus dem ersten Bündel sind ausgesprochen schlechte Ware. Diese vierundzwanzig aus dem zweiten Bündel sind, na, ich will großzügig sein, von mittlerer Qualität und bringen…“ „Nein“, sagt Boris „die letzten sind von ausgezeichneter Qualität und die ersten elf Füchse sind zwar nicht besonders gut, aber von mittlerer Qualität sind sie immer noch. Ja, und anders
gehen sie hier auch nicht über Ihren Ladentisch.“ Der Händler macht eine resignierende Bewegung. „Na schön, ich bin ein gutwilliger Mensch. Die vierundzwanzig Füchse sind von guter Qualität, und wir machen das Geschäft, wenn
die Bezahlung in Waren erfolgen kann.“ Boris schüttelt energisch den Kopf. „Daraus wird nichts. Diese Füchse sind von ausgezeichneter Qualität, und dann verkaufen wir nur gegen bares Geld.“ Bukatyj verliert die Beherrschung und braust auf. „Gut, machen wir es so. Aber erst zahlt ihr mir eure Schulden, dann kaufe ich die Pelze. Vorher nicht!“ Nikolai springt auf und tritt an den Kaufmann heran. „Wovon sollen wir bezahlen, solange wir die Pelze noch nicht verkauft haben?“ Alexej Bukatyj zuckt gleichgültig die Schultern. „Was geht es mich an? Zahlt erst eure Schulden, dann machen wir ein neues Geschäft.“ Bestimmt wäre ein heftiger Streit aufgeflammt, wenn nicht in diesem Moment die Aufmerksamkeit der drei Männer auf ein anderes Ereignis gelenkt worden wäre. Boris sieht sie zuerst, die zwei Männer, die kaum noch die Kraft haben, sich auf den Beinen zu halten. „Die Jassak-Eintreiber!“ stößt Nikolai hervor. „Mein Gott, was ist denn da schon wieder geschehen?“ Die beiden erschöpften Steuerbeamten, die nach der von ihnen eingetriebenen Naturalsteuer, dem Jassak, auch JassakEintreiber genannt werden, taumeln auf das Haus des Kaufmanns zu. Direkt vor der Tür sinkt der an der Hand verwundete Beamte bewußtlos zu Boden. Nikolai und Boris laufen auf die Straße und tragen ihn in Bukatyjs Haus. Als sich die Jassak-Eintreiber etwas erholt haben, berichten sie vom Überfall. „Verdammt!“ sagt der Händler. „Das ist nun schon der dritte Überfall dieser Art.“ Er wendet sich eilig an Boris und fordert ihn auf, den Polizeikommandanten zu benachrichtigen. Die ersten Verhöre führt der Polizeichef gleich im Kontor des Kaufmanns durch. Aber die überfallenen Beamten sind nicht in der Lage, auch nur einen brauchbaren Hinweis zu geben.
Der Kaufmann mischt sich ein. „Euer Wohlgeboren“, sagt er, „die Polizei muß natürlich jeder Spur nachgehen, und wenn der Fingerzeig auch noch so winzig ist. Ich habe da einen Hinweis, von dem ich glaube, er könnte wichtig sein. Dabei schade ich mir zwar am meisten, denn es sind gute Kunden von mir. Aber um der Gerechtigkeit willen…“ Bukatyj verstummt, geht zu seinem Pult und schlägt das Kontobuch auf, blättert suchend darin herum. Neugierig schaut ihm der Polizeichef Dimitri Tscheremnyehin über die Schulter. Als auch die beiden Jäger näher treten wollen, sieht sie der Kaufmann scharf an und runzelt die Brauen. Der Polizeikommandant scheucht sie mit einer ärgerlichen Handbewegung zurück. Nun spricht der Kaufmann eifrig auf den Kommandanten ein. Sosehr sich die beiden Taigaläufer mühen, sie können nur Bruchstücke des Gespräches auffangen und es daher nur dem Sinne nach verfolgen. Mit Erstaunen stellen sie fest, daß Bukatyj den Polizeichef zu überzeugen sucht, daß nur die Sippe der Jominkas vom Volksstamm der Golden in erster Linie als Täter in Frage kämen. Diese Beschuldigung begründet er mit dem Hinweis, die Sippe habe sehr hohe Schulden, die sie nur durch Pelzwerk abdecken könne. Weiterhin brauchten die Jominkas noch Waffen und Gerätschaften. All das hätten sie durch den Überfall erhalten. „Sehen Sie, Euer Wohlgeboren“, sagt der Kaufmann zum Schluß und hebt dabei die Stimme, „in diesem Jahr sind die Schlitzäugigen fast vier Wochen früher als sonst gekommen. Bei ihrer Abreise versprach mir der alte Aktan, die Sippe werde mir im kommenden Winter noch viel mehr Pelzwerk liefern. Dann sind sie kaum fünf Tage aus Uwat fort, da werden die Beamten überfallen und der Jassak geraubt.“ Nachdenklich läuft der Kommandant im Raum auf und ab. Dann bleibt er stehen, macht auf dem Absatz kehrt, stellt sich vor Nikolai und mustert ihn scharf. „Du weißt, wo die Jominkas jetzt zu finden sind?“
„Ja, Euer Wohlgeboren, am Ufer des kleinen Elchsees.“ Einen Moment zögert der Jäger, dann sagt er unsicher: „Euer Wohlgeboren, wenn ich meine Meinung sagen darf, ich weiß, daß die Jominkas ehrliche Leute sind. Sie würden niemals…“ „Genug, Terechow!“ sagt der Polizeigewaltige. „Ich will nicht deine Meinung, ich will deinen Dienst. Hör zu! Morgen meldest du dich bei Sonnenaufgang im Polizeikommando. Du wirst uns zu den Jominkas führen.“ Mit einem Blick auf Boris fügt er hinzu: „Deinen Neffen nimmst du mit. Richtet euch für zwei bis drei Wochen ein!“ Ehe die beiden Taigaläufer noch etwas sagen können, hat der Polizeichef den Raum bereits verlassen. „Verdammt!“ flucht Nikolai. „Das hat mir gerade noch gefehlt!“ „Ich verstehe dich nicht, Nikolai Wassiljitsch, du dienst doch nach Kosakenart der Obrigkeit, und damit der Gerechtigkeit.“ Diesen Worten des Händlers kann Nikolai nichts entgegensetzen. Er weiß nur zu gut, daß der Polizeichef ein häufiger Gast im Hause des Händlers ist. Darum schweigt er lieber. „Es hat keinen Sinn, sich zu streiten“, sagt Boris. „Das war für uns ein Befehl, Onkel.“ Er beginnt die ausgebreiteten Pelze zu bündeln. „Was soll denn das?“ fragt der Händler aufgebracht. „Da wir uns doch nicht einigen können, ist es das beste, wir nehmen die Pelze wieder mit und verkaufen sie später woanders.“ „Nein, nein, junger Mann, das kommt gar nicht in Frage. Ich kaufe sie. Aber nicht, weil Sie recht haben, sondern nur, weil ich Ihrem Onkel entgegenkommen will. Immerhin muß er, kaum von der Winterjagd zurück, schon wieder in die Taiga hinaus.“ Auf dem Heimweg klopft Nikolai seinem Neffen auf die Schulter. „Du hast die Sache großartig gemacht. Alle Achtung! Der alte Wolf hat gekuscht wie ein Hund. Ab jetzt wirst nur
noch du unsere Felle verkaufen.“ Boris ist glücklich. Das ist eine große Anerkennung, die ihm der Onkel ausspricht. Boris lebt seit dem Tode seiner Eltern in dessen Haus. Doch in diesen zehn Jahren hat Nikolai Terechow zumeist mit Lob gegeizt. Kam er einmal nicht umhin, dann war sicher ein Vorbehalt dabei. Kein Wunder, daß der junge Mann vor Freude nicht mehr an den Auftrag des Polizeichefs denkt. Er wird schnell wieder in die rauhe Wirklichkeit zurückgerufen, denn zu Hause angekommen, bittet sie Walkow zu einem Tee in sein Zimmer und möchte einiges über die Vorfälle erfahren. Wadim Stepanowitsch Walkow ist ein langer hagerer Mann von sechzig Jahren. Weil er, der Petersburger Hochschullehrer, einige revolutionäre Studenten unterstützte, wurde er vor fünf Jahren in die fernöstliche Taiga nach Uwat verbannt und lebt seitdem im Haus der Terechows. Die drei Töchter der Familie und Boris fanden in ihm einen ausgezeichneten Lehrer. Das freilich gegen den Willen Nikolais, der nicht recht begreifen wollte, welchen Nutzen eine größere Bildung haben kann. Ihm genügen Grundkenntnisse im Rechnen, Lesen und Schreiben vollauf. Der alte Lehrer aber fand in Mascha Viktorowna, Nikolais Frau, eine energische Verbündete, sie setzten sich letztlich mit viel Geduld und Überzeugungskraft bei dem Hausherrn durch. Dabei kam Walkow zustatten, daß er Kenntnisse vom Pelzhandel besaß und Nikolai zu günstigeren Verkaufsabschlüssen als üblich verhelfen konnte. „Diese Höllenhunde“, sagt Walkow knirschend. „Sie werden die Jominka-Sippe schinden; unbarmherzig und ohne Gewissensbisse.“ „Vor drei Jahren habe ich gesehen, wie sie fast alle Angehörigen einer Tungusen-Sippe auspeitschten“, sagt Boris. „Das war furchtbar!“ Walkow hat inzwischen seine Erregung gedämpft und überlegt wieder besonnen. „Wir wollen uns nichts vormachen. Es
geht hier um das nackte Leben der Jominkas. Wenn es nach dem Polizeichef geht, werden viele von ihnen umkommen, durch die Kugel, durch die Knute, durch den Hunger oder weil ihnen die Freiheit geraubt wird. Und ihr beide, ihr sollt dabei helfen.“ Nikolai hebt bekümmert die Schultern. „Was soll ich dagegen schon tun, Wadim Stepanowitsch? Es ist ein Befehl.“ Nach kurzem Zögern fügt er unsicher hinzu: „Vielleicht wird es auch gar nicht so schlimm, wie Sie denken.“ Wadim Stepanowitsch steht auf und geht mit langen Schritten durch den Raum. Dabei beugt er den Oberkörper vor, als fürchte er, mit dem Kopf gegen die Deckenbalken zu stoßen. Eine Weile bleibt er vor Nikolai stehen. Ruhig sieht er den Taigaläufer an. Während er mit der Hand den grauen Kinnbart streichelt, beginnt er zu reden. „Ich will gar nicht davon sprechen, Nikolai Wassiljitsch, daß der alte Aktan, das Oberhaupt der Jominka-Sippe, Ihr Freund ist. Nein, ich will Sie nur an das erinnern, was hier in der letzten Zeit geschehen ist. Da sind im vergangenen Jahr zwei Jassaktransporte geplündert worden. Daraufhin wurde ganz einfach der Jassak bei den Golden- und Turigusen-Sippen nochmals eingetrieben. Dabei hatten die Leute keine Pelze mehr und natürlich auch kein Geld. Aber“, an dieser Stelle hebt Walkow die Stimme, „es bot sich ein Helfer aus der Not. Unser tüchtiger Handelsmann Alexej Bukatyj! Er bezahlte ihre Steuer mit klingenden Rubeln. Damit…“ „Damit“, Nikolai unterbricht den Lehrer einfach, „damit hat er ihnen doch wirklich geholfen.“ Walkow tritt einen Schritt zurück, senkt den Kopf und sieht den Jäger über die Gläser seiner randlosen Brille hinweg an. „Ist das ernstlich Ihre Meinung?“ „Natürlich“, sagt Nikolai. „Viele Leute hier in Uwat denken so, nicht wahr, Boris?“ Er sieht Boris auffordernd an.
„Ja, Wadim Stepanowitsch, ich glaube das auch.“ Boris zögert einen Moment und fügt dann hinzu: „Bukatyj ist sicherlich ein Halsabschneider, wenn es um Geschäfte geht, aber hier hat er wirklich geholfen.“ Walkow lächelt nachsichtig, setzt sich zu Boris auf die Bank. „Sicher hat er geholfen. Er war dabei genauso selbstlos wie ein hungriger Kater, der eine Maus aus dem Wassergraben zieht. Du meinst auch, es ging hier um Hilfe und Nächstenliebe?“ Boris nickt. „Nein“, sagt Wadim Walkow, „ich denke, es ging um ein immerwährendes Geschäft. Jawohl, ich habe gesehen, was diese Sippen ihrem ,Nothelfer’ für Pelze gebracht haben. Und nicht einmal den vierten Teil dessen, was er normalerweise einem russischen Jäger zahlt, haben diese armen Kreaturen von ihm dafür erhalten. Obendrein zog er dann auch noch die Zinsen für das von ihm verauslagte Geld davon ab. Ich sage dir, diese Leute sind schlechter dran als ein Maus in der Gefangenschaft einer Katze. Bukatyj will die Leute nämlich am Leben erhalten, damit sie für ihn Pelze herbeibringen.“ Walkow macht eine kleine Pause, ehe er weiterspricht. „So, und nun zu den Jominkas; Sie sind weitaus schlechter dran, weil sie des Mordes und des Raubes beschuldigt werden. Ich weiß zwar nicht, warum Bukatyj dem Polizeichef diesen Gedanken eingegeben hat. Er verliert dadurch sehr sichere Pelzlieferanten. Da muß einfach noch etwas dahinterstecken.“ Die letzten Worte hat der alte Lehrer schon mehr zu sich selbst gesagt. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens wendet er sich lebhaft an die beiden Taigaläufer. „Tja, ihr müßt sie führen. Da hilft nun alles nichts. Aber heimlich versucht noch drei Dinge zu erreichen.“ „Und was wäre das?“ fragt Boris. „Ihr müßt Zeit gewinnen, die Jominkas unbemerkt warnen und vor allem die Banditen finden. Es waren bestimmt keine dem Zuchthaus entsprungenen Straßenräuber, die zufällig auf
die Steuereintreiber gestoßen sind. Immerhin handelt es sich um den dritten Überfall. Also muß zumindest einer von der Bande hier bei uns in Uwat zu finden sein. Und dieser Mann muß genau wissen, wann und wo die Jassak-Eintreiber zu erwarten sind.“ Boris hat harte Augen bekommen und nickt schweigend. Nikolai fährt mit unsicheren Fingern durch seinen Bart. „Ja natürlich, Sie haben recht, Wadim Stepanowitsch. Aber wird das nicht gefährlich werden?“ „Bestimmt, bestimmt wird es das. Aber wenn ihr es nicht tut, dann werden viele eurer Freunde umkommen. Dieses Mal geht es um den höchsten Einsatz, es geht um Tod und Leben.“ – Am nächsten Morgen finden sich die beiden Taigaläufer pünktlich vor dem Polizeikommando ein. In der Nacht hat es stark geschneit, und nun sehen Nikolai und Boris belustigt zu,
wie sich vor dem steinernen Gebäude ein Trupp von fünfzehn Polizisten und einige Hundeschlitten in dem hohen
Schnee zu einer Kolonne ordnen. Ein aufgeblasener Wachtmeister läuft aufgeregt von einem zum anderen und überprüft Schneeschuhe, Kleidung, Gepäck und Waffen. Als er die beiden Jäger bemerkt, winkt er sie eifrig heran. „Schnell, beeilt euch! Gleich wird Seine Hochwohlgeboren kommen.“ Und wirklich, fast wie aufs Stichwort, tritt der Kommandant aus dem Haus, gekleidet in Halbpelz, Pelzmütze und gefütterte Stiefel. Während der die Meldung des Wachtmeisters entgegennimmt, raunt Boris seinem Onkel zu: „Ich glaube, der Polizeichef will mit.“ Nikolai nickt schweigend, mit besorgter Miene. Eine halbe Stunde später steht die Truppe am Seeufer. Hier wendet sich der Kommandant zum erstenmal an Nikolai. „Hör zu, Terechow, du hast den Befehl erhalten, mich auf dem schnellsten und kürzesten Weg zum Lager der Jominka-Bande zu führen. Also richte dich danach!“ „Jawohl, Euer Wohlgeboren, das werde ich tun.“ Nikolai schiebt die Pelzmütze in die Stirn und kratzt sich den Hinterkopf. „Was aber ist, Euer Wohlgeboren, wenn die Jominkas nun nicht zum kleinen Elchsee gehen? Ich meine“, fügt er erläuternd hinzu, „sie könnten nach dem Überfall anderen Sinnes geworden sein.“ „Das ist wahr! Was schlägst du vor, Terechow?“ „Wir sollten erst die Tigerschlucht aufsuchen“, sagt Nikolai. „Dort werden wir Spuren finden und können ihnen folgen.“ „Gut, so wollen wir es halten. Setz dich an die Spitze!“ Die beiden Taigaläufer haben sich vorgenommen, das Marschtempo zu mindern. Nun aber sehen sie, wie unnötig dieses Vorhaben ist, denn die Polizisten sind ungeübte Schneeschuhläufer und bei weitem nicht so ausdauernd wie die beiden Jäger. So kommt es, daß die Truppe am Abend kaum die Hälfte der Strecke zurückgelegt hat, die die Jäger sonst während eines Tagesmarsches bewältigen. Dazu trägt natürlich auch mit bei, daß Nikolai und Boris die Truppe nicht auf ge-
radem Wege führen und sie um jedes Hindernis einen über Gebühr großen Bogen schlagen lassen. Gegen Abend ballen sich erneut Schneewolken zusammen. Kaum haben die Polizisten und die beiden Jäger ihre Zelte aufgestellt und zu Abend gegessen, beginnt es zu schneien, ruhig und gleichmäßig. Bald wird es im Lager still. Nur der Wachposten stapft in unförmigen Filzstiefeln und in einem dicken Schaffellmantel durch den Schnee. Schon bald wird er des Laufens überdrüssig, setzt sich auf einen umgestürzten Baumstamm und dreht sich eine Zigarette. Vor ihm liegt reglos die Taiga. Es scheint so als sind es einzig und allein die weich fallenden Schneeflocken, die eine Bewegung verursachen. Doch der Schein trügt. Kaum einen Kilometer entfernt, für den Posten nicht mehr sichtbar, beginnt es sich in einem Windbruch aus Kiefernstämmen zu regen. Nicht lange danach schiebt ein Vielfraß seinen Kopf aus dem unzugänglichen Gewirr, windet vorsichtig nach allen Richtungen, verschwindet dann wieder. Aber kurz danach reckt er seine Nase wieder heraus, prüft noch einmal die Umgebung und verläßt den Windbruch. Ohne sich aufzuhalten, springt das plumpe Raubtier in hohen Bogensätzen davon. Das sieht aus, als ob der Vielfraß humpelt und nur unter großen Anstrengungen so schnell vorankommt. Nach einigen hundert Metern verhält er. Er steht reglos auf seinen kurzen Beinen im Schnee. Während er den Wind prüft, zuckt seine kurze buschige Rute aufgeregt, denn seine empfindliche Nase hat einen sonderbaren Geruch aufgenommen. Zwar schwach, aber schon spürbar. Der Vielfraß setzt sich auf seine schweren Keulen, prüft immer wieder den Geruch. Dann aber springt er auf und hüpft zielstrebig durch die schwebenden Flocken dem immer stärker werdenden Geruch entgegen. Es riecht nach Rauch, nach Menschen und Hunden. Es riecht aber auch nach Fleisch und Dörrfisch. Der Taigavagabund weiß, woran er ist. Oft genug hat er auf seinen Wanderungen Siedlungen aufgesucht und beraubt.
Vorsichtig nähert sich der Großmarder dem Lager. Langsam, fast auf dem Bauch kriechend, schleicht er sich gegen den Wind an, ohne daß die Hunde ihn wittern. „He, Boris!“ flüstert Nikolai. „Hörst du nicht?“ Boris fährt vom Lager hoch, greift zum Gewehr und kniet sich neben Nikolai, der durch einen Spalt der Zeltplane späht. Boris kann nur mit Mühe einen Überraschungsruf unterdrücken. An einem Zelt steht der Vielfraß, zerfetzt mit seinen Krallen vorsichtig die Leinwand und macht sich nun über die Fleisch- und Dörrfischvorräte der Polizeitruppe her. Gierig schlingt er, was er nur erreichen kann. Nikolai zieht das Gewehr in die Schulter. Doch Boris legt seine Hand auf die Laufschiene. „Warte noch“, sagt er leise. „Erst wenn die Hunde ihn bemerken.“ Auf die fragende Gebärde seines Onkels: „Wenn den Polizisten das Fleisch ausgeht, müssen wir eine Jagd machen. Das kostet ein bis zwei Tage.“ Nikolai setzt das Gewehr ab. „Du bist ein Fuchs“, sagt er anerkennend. Eine Weile geht alles gut. Das plumpe Raubtier schlingt in sich hinein, was es nur erreichen kann. Dann aber stößt es gegen einen Kupferkessel, der laut polternd umfällt. Erschrocken prallt der Vielfraß zurück. Da ist nichts mehr zu retten, denn die Hunde fahren kläffend aus ihren Schneelagern und rasen, vorerst noch blindlings, durch das Lager. Dem bepelzten Dieb bleibt keine andere Wahl, als sich in schnellem Galopp in die Taiga zurückzuziehen. Aber Boris kommt ihm zuvor. Er springt aus dem Zelt, wirft blitzschnell einen Schuß hin, der Vielfraß rollt mit zerschmettertem Schädel in den Schnee. Das Gebell der Hunde und Boris’ Schuß reißen die Polizisten aus ihrem Schlaf. Der auf dem Baumstamm dösende Wachposten erinnert sich plötzlich an seine Pflichten. Hastig reißt er das Gewehr von der Schulter. Drei Schüsse krachen in kurzer Folge, und dazwischen gellt sein Schrei: „Überfall,
Alarm, Alarm!“ Im Lager quirlt augenblicklich alles durcheinander. Mit schußbereiten Gewehren rennen die Polizisten aus den Zelten und werfen sich in den Schnee. Flüche ertönen und Kommandorufe. Dazwischen die sich wie rasend gebärdenden Hunde, die den Vielfraß am liebsten zerreißen möchten, aber von Boris mit Hieben und Tritten abgedrängt werden. Es dauert eine Weile, bis sich im Lager alles wieder einigermaßen beruhigt und Nikolai dem Polizeichef den „wahren“ Sachverhalt schildern kann. Wütend schickt der Kommandant die Polizisten in die Zelte. Dem Posten versetzt er einen Faustschlag und kündigt ihm eine harte Bestrafung an. Zu allem Überfluß kommt nun auch noch der Wachtmeister und meldet: „Euer Wohlgeboren, das Biest hat einen Teil unserer Fleischvorräte auf- oder angefressen. Fast ein Viertel davon können wir nur noch als Hundefutter verwenden.“ Boris tritt heran. Er kann seine Schadenfreude nur mit Mühe verbergen. „Die Hunde haben das schon begriffen, Euer Wohlgeboren.“ Er zeigt hinüber zum Vorratszelt. Dort balgt sich jetzt die ganze Meute der Schlittenhunde um die Fleisch- und Fischvorräte. Mit unflätigen Flüchen springen der Polizeikommandant und sein Wachtmeister dazwischen, treiben die Hunde auseinander. Auch die beiden Taigaläufer beteiligen sich, um nicht das Mißtrauen der Polizisten zu erwecken. Aber heimlich freuen sie sich, als sie sehen, daß die so brutal vertriebenen Hunde nicht ohne ein Stück Fleisch oder Fisch im Rachen das Weite suchen. Der Posten drückt sich ängstlich in den Schatten einer Ulme und bemüht sich redlich, seinem tobenden Vorgesetzten nicht mehr unter die Augen zu kommen. Die Untersuchung der Lebensmittel ergibt, daß der Fleischund auch der Fischvorrat erheblich zusammengeschrumpft sind, der größte Teil kann tatsächlich nur noch als Hundefutter verwendet werden. Der Kommandant flucht. Nikolai und
der Wachtmeister ziehen sich vorsichtig einige Schritte zurück. Boris aber sagt: „Euer Wohlgeboren, wenn Sie gestatten, mache ich einen Vorschlag.“ Der Polizeioffizier nickt. „Ich denke, wir sollten morgen unsern Marsch fortsetzen. In der Nähe der Tigerschlucht werden mein Onkel und ich versuchen, recht schnell ein Stück Wild zu erlegen, um den Fleischvorrat aufzufüllen. Vielleicht“, so fügt Boris noch schnell hinzu, „vielleicht können wir schon eins auf dem Marsch erlegen.“ „In Ordnung“, sagt der Kommandant. „Wachtmeiser, Sie sorgen dafür, daß die Mannschaft bei Sonnenaufgang abmarschbereit ist!“ Am Morgen bricht die Truppe auf. Der frisch gefallene Schnee hemmt die Schritte der Polizisten, die sich müde und unlustig auf den Schneeschuhen vorwärtsbewegen. Während Nikolai, wie schon an den Vortagen, an der Spitze der Gruppe läuft, um die Richtung zu bestimmen, muß Boris auf Befehl des Polizeichefs das umliegende Gelände nach Wild absuchen. Der junge Jäger zieht zwar los in die Taiga, doch er denkt gar nicht daran, auf die Jagd zu gehen. Kurz bevor die Truppe das Tagesziel erreicht, findet er sich wieder ein und meldet, die Jagd sei bisher ergebnislos verlaufen. Zur gleichen Zeit, als die Polizeitruppe zum zweitenmal in der Taiga ihr Nachtlager aufschlägt, rast ein Hundeschlitten in das Jurtendorf der Jominka-Sippe. Er wird gelenkt von dem jungen Jäger Salju einem Enkel des Sippenältesten Aktan. Salju nimmt sich nicht die Zeit, die Hunde zu versorgen. Er überläßt das abgehetzte Gespann und die Jagdbeute seinen Geschwistern und huscht eilig in das Rindenzelt des Sippenältesten. Drinnen ist es heiß und stickig. Ein beklemmender Dunst, gemischt aus Schweiß, Tabakqualm und Kochgerüchen schlägt ihm entgegen. Am Feuer sitzt Aktan und raucht, die Au-
gen halb geschlossen, einen übelriechenden Tabak in seiner klobigen Holzpfeife. „Ah, Salju. Setz dich zu mir und iß etwas.“ „Dazu ist jetzt nicht die Zeit.“ „Dazu ist immer Zeit“, sagt Aktan. Salju kennt den Alten. Er wagt keinen Widerspruch mehr und hockt sich an das Feuer. Aktan sieht zu, wie der junge Jäger heißhungrig ein Stück Fleisch verschlingt. Schweigend pafft der alte Jäger dicke Wolken, und seine schwarzen Augen gleiten immer wieder forschend über das Gesicht seines Enkels. Aktan hat schon weit über sechzig Winter in der Taiga erlebt, aber er wirkt jünger. Sein Haar, das er stets zu einem straffen Zopf geflochten trägt, ist immer noch tief schwarz, und seine gelblichen Zähne präsentieren sich beim Lachen und Sprechen in zwei lückenlosen Reihen. Die Backenknochen stehen ein wenig aus dem weichen Oval seines lederhäutigen Gesichts hervor. Salju ist gesättigt. Er legt sich ein Stück glühender Holzkohle auf seine Pfeife. Als er die ersten Züge getan hat, nickt ihm der Alte zu. „Ich war bis zur Tigerschlucht“, sagt Salju. „Das ist gut, dort gibt es immer Wild.“ Salju nickt. „Diesmal habe ich dort aber noch etwas anderes gefunden.“ Er hebt eine Patronenhülse hoch. „Damit sind in der Schlucht vier Jassak-Eintreiber erschossen worden. Zwei andere sind entkommen. Die Schlitten mit den Pelzen wurden von drei Männern geraubt.“ Aktans Augen verengen sich immer mehr, als Salju berichtet, was er noch aus den Spuren herausgelesen hat. Schweigend pafft er Qualmwolken in das Zelt. Dann hebt er den Kopf. „Diesmal haben die Banditen also auch getötet. Und zwar Männer, die im Dienst des russischen Zaren stehen. Dann wird man bald die Mörder suchen. Die Tigerschlucht aber gehört mit zum Jagdgebiet der Jominkas. Und Jominkas haben
diesmal viel, sehr viel Jassak geben müssen. Wird da der Polizeikommandant nicht denken, Jominkas haben sich Pelze wiedergeholt? Jominkas sind Diebe und Mörder?“ Salju will den Alten beschwichtigen. Doch der wehrt mit einer Handbewegung ab. Schweigend sieht er ins Feuer. Dann hebt er den Kopf. „Salju“, sagt er, „ich werde die Banditen suchen. Du und Monguli werdet mich begleiten. Noch bevor sich die Sonne von ihrem Lager erhebt, werden wir aufbrechen.“ Nach einem siebentägigen Marsch gelangt die Polizeitruppe in die Gegend der Tigerschlucht. Vor dem Schluchteingang läßt der Polizeichef seine Truppe zurück, begleitet vom Wachtmeister und Nikolai, sucht er den Ort des Überfalls. Nikolai ist innerlich aufgewühlt. Er glaubt nicht an die Schuld der Jominkas, aber er hat auch keine Beweise für ihre Unschuld. Die sind, so sagt er sich, nur hier in der Schlucht zu finden. Die drei nähern sich langsam der Stelle, an der die JassakEintreiber unter den Kugeln der Banditen starben. Nachdem er sich umgesehen hat, wendet sich Nikolai an den Polizeichef. „Hier wollten die Beamten lagern.“ Er schiebt den Schnee mit dem Fuß beiseite. Nikolai ist jetzt ganz und gar Jäger und Fährtensucher. „Hier standen die Schlitten, und dort, von den Bäumen her, kamen die Kugeln der Banditen.“ Nikolai geht auf die Gruppe riesiger Bäume zu. „Kommen Sie her, Euer Wohlgeboren, ich habe eine Spur gefunden!“ Die beiden Polizisten sehen sich ratlos um. Unter den großen Bäumen sind – alle Spuren mit lockerem, frisch gefallenem Schnee bedeckt und wohl nur für ein kundiges Auge erkennbar. „Hier haben zwei Männer gestanden und dann wohl auch geschossen“, sagt Nikolai. Dann aber stutzt er. „Was ist, Terechow?“ „Seltsam.“ Nikolai deutet auf eine weniger verwehte Spur. „Diese Spur hier ist frischer, etwa eine Woche alt. Was mag
das bedeuten?“ „Was ist das für eine Spur?“ fragt der Polizeichef. Nikolai betrachtet die Abdrücke unter dem dichten schützenden Zweigdach. „Sie stammt von Eingeborenenschneeschuhen, Euer Wohlgeboren“, sagt er langsam. „Sieh an, das ist doch interessant, ein Eingeborener. Das bedeutet in dieser Gegend, es war ein Jominka.“ Nikolai schüttelt den Kopf. „Das muß es nicht besagen, Euer Wohlgeboren. Viele Jäger, auch Boris und ich, benutzen diese Schneeschuhe.“ Der Kommandant wirft Nikolai einen ärgerlichen Blick zu. Der Jäger nimmt ihn in seinem Eifer nicht wahr, er fischt einen Zigarettenstummel aus einem Astloch hervor. „Hier sehen Sie, Euer Wohlgeboren. Ich glaube nicht, daß die JominkaJäger…“ „Schluß jetzt!“ schnauzt der Kommandant Nikolai an. „Führ ich die Untersuchung oder du?“ Nikolai verstummt, will sich dann aber rechtfertigen. Der Polizeichef geht nicht darauf ein. „Du bist unser Jäger und Führer, Terechow. Polizeiangelegenheiten gehen dich nichts an. Richte dich danach! Du kannst jetzt mit deinem Neffen auf die Jagd gehen. In der Zwischenzeit wird der Fall von mir gründlich untersucht.“ Gehorsam geht der Taigajäger zurück und zieht gleich darauf mit Boris los. Der Wachtmeister und einige Polizisten durchsuchen die Schlucht. Die letzten Schneefälle haben alle auffallenden Spuren verdeckt. Da sich die Suchenden keine große Mühe geben, finden sie keinerlei Hinweise auf die Täter. Doch das verlangt der Polizeichef auch gar nicht. Für ihn stehen die Täter fest. Er mißt Nikolais Fund keinerlei Bedeutung bei. Am Abend .kommen die beiden Jäger mit einem erlegten Wildschwein zurück und erleben eine böse Überraschung. „Hör zu, Jäger“, sagt der Wachtmeister zu Nikolai. „Seine
Hochwohlgeboren hat gefunden, daß die Jominkas den Überfall durchgeführt haben. Morgen brechen wir zu ihrem Lager auf.“ Für einen Moment ist Nikolai wie betäubt. Bis jetzt hat er immer noch geglaubt, der Polizeichef würde sich objektiv verhalten und nach Beweisen suchen. In seiner Erregung hält er das dem Wachtmeister vor. Der unterbricht ihn scharf. „Misch dich nicht in die Angelegenheiten der Polizei, Jäger. Das könnte dir am Ende schlecht bekommen. Du hast nur das zu tun, wozu du einen Befehl erhältst. Doch jetzt geht ins Zelt des Kommandanten. Seine Hochwohlgeboren will mit euch sprechen.“ „Nun“, fragt sie dort der Polizeichef, „wart ihr erfolgreich?“ „Ja, Euer Wohlgeboren. Wir haben ein Wildschwein erlegt.“ „Das ist schön, dann waren wir heute alle erfolgreich.“ Als er die fragenden Blicke der Jäger bemerkt, fügt der Polizeichef genießerisch hinzu: „In der Zeit, da ihr das Wildschwein gejagt habt, fingen wir die Mörder. Den Anführer und zwei seiner Helfer.“ Mit dieser Mitteilung haben die Jäger nicht gerechnet. „Ich verstehe nicht ganz, Euer Wohlgeboren“, sagt Nikolai. „Dann kommt mir“, sagt der Kommandant gut gelaunt. „Ich will euch etwas zeigen.“ Sie gehen ein Stück durch das Tal. Dort stehen im Schutz der Baumgruppen mehrere Zelte. Die beiden Taigaläufer müssen ein Zelt betreten, vor dem ein Wachposten steht. Und hier erwartet sie eine Überraschung. Auf dem Boden liegen drei gefesselte Männer, Angehörige der Jominka-Sippe; ihrer buntbestickten Kleidung nach. Einer hebt den Kopf: Aktan Jominka. Boris ist etwas im Hintergrund geblieben. Er legt nun geistesgegenwärtig einen Finger auf den Mund. Der Polizeichef wendet sich an die Jäger. „Die habe ich ohne eure Hilfe gefangen. Und zwar an der Stelle, an der die vier Leichen verscharrt sind. Wie ihr seht, geht es auch ohne euch Jäger.“
„Und was geschieht nun?“ fragt Boris. „Wir haben das Oberhaupt der Sippe. Nun muß es schon mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht wieder zu unseren Pelzen kommen.“ „Ich nichts wissen von Mord und Jassak-Pelzen“, beteuert Aktan. Der Polizeichef verzieht das Gesicht. „Darüber werden wir uns später unterhalten. Du wirst dich bestimmt wieder an alles erinnern. Das verspreche ich dir.“ Er verläßt das Zelt, und die beiden Jäger müssen ihm folgen. Boris macht den Gefangenen ein aufmunterndes Zeichen. „Behaltet die Ruhe“, flüstert er ihnen zu, „wir helfen euch.“ Als die beiden Taigaläufer allein in ihrem Zelt sind, können sie endlich ungestört sprechen. Nikolai ist noch immer sehr erregt. „Nein, das ist nicht gerecht. Ich habe die Spuren gesehen. Es deutet nichts darauf hin, daß die Jominkas den Überfall durchgeführt haben. Was soll das alles?“ „Weißt du, Onkel, ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht. Mir wollen Wadim Stepanowitschs Worte nicht aus dem Kopf. Aber welchen Sinn soll es für die Polizei haben, ein Eichhörnchen zu fangen und dann zu behaupten, es wäre ein Zobel. Das nützt doch nichts?“ Nikolai sieht seinen Neffen halb spöttisch, halb belustigt an. „Wenn wir von einem Eichhörnchen behaupten, es sei ein Zobel, dann lacht man uns aus und bezahlt uns auch nur den Preis für ein Eichhörnchen. Der Polizeichef aber, der kann selbst bestimmen, was er gefangen hat. Wenn er sagt, es ist ein Zobel, dann ist es eben einer.“ Am nächsten Morgen erhält Nikolai den Auftrag, die Polizeitruppe auf dem kürzesten Weg zum Jurten-Dorf der Jominkas am kleinen Elchsee zu führen. Vor dem Abmarsch wirft Nikolai noch einen prüfenden Blick auf die Polizisten. Sie stehen auf Scheeschuhen neben den Schlitten, die alle mit fünf Hunden bespannt sind. Die Jomin-
kas, an den Händen gefesselt, hat man mit Leinen an die Schlitten gebunden. „Wir können“, sagt Nikolai zum Polizeichef. Der hebt die Hand. Peitschen knallen, die Hunde legen sich in die Sielen, die Kolonne setzt sich schwerfällig in Bewegung. Die beiden Jäger laufen an der Spitze der Polizeitruppe. Nikolai ist immer noch ärgerlich und schimpft leise vor sich hin. „Es hat keinen Zweck zu schimpfen“, sagt Boris. „Das gibt nur Ärger und Mißtrauen. Wir aber brauchen jetzt das Vertrauen des Polizeichefs mehr als vorher.“ „Wie meinst du das?“ „Es ist mir gestern am Abend und auch vorhin nicht möglich gewesen, mit Aktan unter vier Augen zu sprechen.“ „Du glaubst, der Polizeichef mißtraut uns?“ „Zumindest ist er sehr vorsichtig. Vorhin habe ich gesehen, wie er unsere Marschrichtung mit dem Kompaß prüfte. Zeig dich hilfsbereit.“ Nach diesem Gespräch tun die beiden Taigaläufer alles, um den Polizeichef zufriedenzustellen. Aber Nikolai bleibt dabei still, fast mürrisch. Er spielt den in seiner Eitelkeit gekränkten Pfadfinder. Boris hingegen ist ständig in eilfertiger Emsigkeit unterwegs, um die Gruppe vor Überraschungen zu sichern und um sie mit frischem Fleisch zu versorgen. Diese letzte Aufgabe löst er so gut, daß der Kommandant ihn lobt. „Alle Achtung, Dwonikow, du machst deine Sache wirklich gut. Auf dich werde ich bestimmt noch öfter zurückgreifen.“ Am Ende des fünften Marschtages wendet Nikolai sich an den Polizeichef. „Euer Wohlgeboren, wir sind höchstens noch einen Tagesmarsch vom Lager der Jominkas entfernt Es wäre sicher gut, einige Späher vorauszusenden.“ Der Polizeichef billigt den Vorschlag, und lange vor dem Morgengrauen bricht Boris in Begleitung von zwei Polizisten zu dem Lager auf. Die große Gruppe soll einige Stunden spä-
ter bis zu einem vereinbarten Treffpunkt nachrücken. Der junge Jäger führt die beiden Uniformierten vorsichtig an das Lager heran. Sie müssen damit rechnen, daß Jäger der Jominka-Sippe auftauchen. Doch an diesem Tag scheint sich keiner der Jäger in dieser Gegend aufzuhalten, sie kommen unbehelligt in die Nähe des Jurten-Dorfes. Hinter einem dichtbewaldeten Hügel entdecken sie Rauchwölkchen in der Luft. Von der Kuppe des Hügels aus sehen sie etwa zwei Kilometer entfernt die um einen freien Platz errichteten Jurten aus Zirbelkiefernrinde, in denen die Jominkas zu allen Jahreszeiten leben. Die beiden Polizisten suchen mit ihren Feldstechern das Gelände ab. Sie können nirgendwo etwas Verdächtiges entdecken. Aus den Jurten ziehen dünne Rauchfähnchen, und nur gelegentlich huscht eine pelzvermummte Gestalt über den freien Platz. Ein harmlos friedliches Bild. „Ich denke“, sagt Boris, „die Jominkas sind völlig ahnungslos. Von dort droht uns keine Gefahr.“ „Es sieht so aus“, antwortet einer der Polizisten. Und da er von dem Anmarsch schon ermüdet ist, sagt er ziemlich ärgerlich: „Was bleibt uns anderes übrig, als zum Treffpunkt zurückzulaufen.“ Boris wehrt ab. „Das geht auf keinen Fall. Zurück darf nur einer von uns. Wir dürfen die Jominkas nicht aus den Augen lassen. Zwei Mann müssen hierbleiben. Das muß jetzt alles ganz schnell gehen. Davon kann unser Leben abhängen.“ Der Vorschlag findet Gehör. Für die Polizisten ist es selbstverständlich, daß der Jäger die Gruppe heranholen wird. Das wollte Boris erreichen. Während sich die beiden Uniformierten auf dem Hügel einrichten, läuft er auf der alten Spur zurück. Als er sich weit genug entfernt hat, wirft er sich mit einem weiten Sprung aus der Spur. Vorsichtig gleitet er einige Meter weiter und verwischt mit einem Fichtenzweig die Abdrücke seiner Schneeschuhe. Prüfend sieht er zurück und
nickt zufrieden. Im großen Bogen erreicht er die Waldlichtung, auf der das Dorf der Jominkas steht. Die Dämmerung hat den Wald bereits verlassen und füllt die baumfreien Räume aus. Der junge Jäger kann, ohne die Blicke der Polizisten fürchten zu müssen, auf die Jurte von Aktan Jominka zugehen. Er hat sie noch nicht ganz erreicht, als der Fellvorhang von innen beiseite geschoben wird und Aktans Sohn Jessi ins Freie tritt. Sein Gesicht erhellt sich zu einem freundlichen Lächeln, als er den jungen Taigaläufer erkennt. „Boris Sergejewitsch, welch eine Freude, welch eine Überraschung! Komm, gehen in Jurte, wollen essen…“ Boris nimmt sich nicht einmal Zeit, Jessi zu begrüßen. Er unterbricht ihn einfach: „Hör zu, Jessi. Ich muß schnell mit dir sprechen. Ich habe eine wichtige Nachricht.“ Aber Jessi ist nicht zu beeindrucken. „Gut, gut. Aber erst an Feuer setzen, essen und trinken. Dann du sprechen. Sonst denken, Jominka ehren Gast nicht.“ Boris verstößt gegen alle guten Sitten. „Jessi“, sagt er eindringlich, „hör mir zu, es geht hier um Tod oder Leben.“ Der tiefe Ernst, mit dem Boris das sagt, läßt Jessi und die anderen Jominkas, die sich inzwischen eingefunden haben, verstummen. Mit fliegenden Worten berichtet Boris. Seine Schilderung erschreckt die meisten. Ängstlich und verwirrt sehen sie den jungen Russen an. Nur Jessi läßt sich nicht anmerken, welch einen Schlag ihm die Nachricht versetzt hat. „Wann kommst du mit Polizisten?“ fragt er Boris. „Morgen, wenn die Sonne ganz hoch steht.“ Jessi atmet auf. „Gut, ich denken, das reicht.“ Er tritt an Boris heran. „Danke, lieber Freund, danke. Jominka werden sich schützen, du keine Sorgen machen.“ Doch dann kommt ihm ein Gedanke, Schreck fährt ihm in die Glieder. „Aktan“, stammelt er, „Aktan, Salju und Monguli dann immer noch in
Gewalt von Polizei.“ „Beruhige dich, Jessi, Nikolai Wassiljitsch und ich werden sie befreien, sobald wir Gelegenheit dazu haben.“ Während Boris mit langen Schritten in den Abend davonstürmt, hebt in und um den Jurten ein leises, aber recht geschäftiges Treiben an. Gegen Mittag des nächsten Tages taucht auf dem Hügel die Haupttruppe der Polizei auf. Einer der Wachposten meldet: „Euer Wohlgeboren, im Jominkadorf ist alles ruhig. Wir haben heute noch keinen Menschen gesehen.“ Mißtrauisch sieht der Polizeichef durch den Feldstecher. Tatsächlich, es ist alles ruhig, das Lager wirkt wie ausgestorben. Doch dann scheint ihm die Ruhe nicht mehr besorgniserregend, denn er bemerkt etwas, was auf die Anwesenheit der Jominkasippe hindeutet, die dünnen Rauchfahnen, die aus den Jurtendächern ziehen. Nikolai und Boris stehen in der Nähe des Kommandanten. „Mir will die Ruhe nicht gefallen“, sagt Boris. „Vielleicht schlafen sie noch“, sagt Nikolai. Doch dann korrigiert er sich mit einem Blick auf die Sonne. „Schlafen, nein, der Tag ist schon zu alt.“ Er wendet sich an den Polizeichef, der ihr Gespräch verfolgt hat. „Euer Wohlgeboren, wir sollten vorsichtig sein. Wer weiß, ob da nicht irgend etwas dahintersteckt.“ Der Polizeikommandant erteilt den Befehl, das Lager der Jominkas zu umstellen. Die Polizisten gleiten hangabwärts. Die Schlitten, das schwere Gepäck und die Gefangenen bleiben unter Bewachung zurück. Kurze Zeit später ist der Befehl ausgeführt. Der Kommandant zieht die schwere Mauserpistole aus dem Halfter, er schießt in die Luft und fordert die Jominkas auf, die Jurten waffenlos zu verlassen.
Alle warten. Doch nichts rührt sich in den Rinderzelten. Keine Bewegung, kein Hundegebell, nicht der kleinste Laut. Manchem der Polizisten kriecht ein leiser Schauer über die Haut. Die Stille und die Bewegungslosigkeit im Jurtendorf ist bedrückend. Alle warten, daß etwas passiert, damit diese unheimliche Spannung nachläßt. Der Wachtmeister kann nicht mehr an sich halten. „Vorwärts!“ brüllt er und springt an die ersten Jurten heran. Die Polizisten folgen mit schußbereiten Waffen. Sie stürmen ins Leere. Diese und auch die anderen Jurten sind von ihren Bewohnern verlassen. Nur auf den Feuerstellen glühen unter einer dicken Aschenschicht mächtige Holzklötze. Die Jominkasippe hat in der Nacht in aller Stille, unter Mitnahme ihrer gesamten Habe, das Lager verlassen und ist tief in die Taiga gezogen. Der Kommandant tobt vor Wut. Sein Schlag gegen das Dorf ist ins Leere gegangen. In sinnloser Hast durchsuchen die Polizisten immer wieder das Lager und dessen Umgebung.
Nikolai und Boris beteiligen sich nicht daran. Sie lehnen sich auf ihre Gewehre und sehen dem hektischen Treiben zu. Da schallt die Stimme des Polizeichefs herüber: „Terechow, Dwornikow, her zu mir!“ Die beiden Taigaläufer beeilen sich, dem Befehl zu folgen. Der Polizeichef deutet auf das von der Sippe verlassene Lager. „Hast du dafür eine Erklärung, Terechow?“ Nikolai schüttelt den Kopf. „Nein, Euer Wohlgeboren. Ich kann nur vermuten, ein Jäger der Jominkas hat unsere Annäherung beobachtet und die Sippe gewarnt.“ „Und du, Dwornikow“, Wendet sich der Polizeichef an Boris, „was meinst du?“ „Ich kann es nicht verstehen, Euer Wohlgeboren. Als ich gegen Abend den Rückmarsch antrat, waren die Jominkas noch im Lager. Das nehme ich auf meinen heiligen Eid.“ Wütend winkt der Kommandant ab. „Was nützt mir das! Geht, forscht nach, wohin sich die schlitzäugigen Banditen verzogen haben!“ Dieser Befehl kommt den beiden sehr gelegen, und sie halten sich den ganzen Nachmittag in der Taiga auf. Erst am Abend kehren sie in das Jominkadorf zurück. „Wir haben die Spur gefunden und auch verfolgt, Euer Wohlgeboren“, meldet Nikolai. „Die Jominkas sind auf geradem Wege in die Berge. Es wird schwer, sie dort aufzuspüren, sehr schwer.“ Nach kurzem Zögern fügt er hinzu: „Es ist auch gefährlich, denn wir müssen bald mit Tauwetter rechnen.“ „Du hast recht, Terechow“, sagt der Polizeichef. „Das wäre aussichtslos. Morgen kehren wir nach Uwat zurück. Du sagtest doch, es sind drei Banditen gewesen, deren Spuren am Ort des Überfalls zu sehen waren?“ „Ja, Euer Wohlgeboren. Ich glaube fest, es waren drei.“ „Nun gut, da brauchen wir ja nicht weiterzusuchen.“ Boris mischt sich ein. „Hat Aktan Jominka denn gestanden, Euer Wohlgeboren?“
Der Polizeichef schüttelte den Kopf. „Der schweigt. Er hat nicht mal eine Spur Angst!“ Nikolai hebt die Schulter. Boris nimmt wieder das Wort. „Er läßt sich seine Angst nicht anmerken, weil er damit rechnet, daß seine Jäger zurückkommen und ihn befreien werden.“ „Du glaubst das auch, Dwornikow?“ „Zumindest halte ich es für sehr wahrscheinlich, Euer Wohlgeboren. Ich vermute, daß die Jominka, falls sie es nicht schon tun, uns bald beobachten werden. Und dann, Euer Wohlgeboren, dann dauert es nicht lange, bis sie wissen, daß die drei in unserer Gewalt sind.“ „Ja!“ Der Kommandant nickt. „Sie werden es versuchen, sobald sie erfahren, daß die drei Halunken in unserer Gewalt sind.“ Er überlegt noch einen Moment. „Wir müssen unser Nachtlager besser bewachen.“ Er sieht die beiden Taigaläufer an. „Ihr beide werdet ab sofort nächtliche Streifen durchführen, damit wir die Bande schon vor dem Lager aufspüren!“ Später verzehren die beiden Jäger in der ihnen zugewiesenen Jurte ihr Abendbrot. Boris unterbricht das nachdenkliche Schweigen. Abrupt stellt er den Teebecher zurück und macht eine wütende Geste. „Verdammt, was machen wir nur? Ich habe Jessi versprochen, den drei Gefangenen zu helfen. Bis jetzt habe ich sie immer nur im Beisein eines Polizisten sprechen können.“ Nikolai hebt langsam den Kopf und sieht Boris ratlos an. Diese Augen, denkt Boris, diese Augen passen gar nicht zu ihm, und er mustert verstohlen den Mann, der ihm seit zehn Jahren Vater und Lehrmeister zugleich war. Nikolai ist ein schweigsamer und bedächtiger Mann, an die dreißig Jahre älter als Boris und von mittelgroßer, plump untersetzter Statur. Die harte Arbeit des Jägers und Fallenstellers hat seinen Rücken schon leicht gekrümmt und die knochigen Hände hart und schwielig werden lassen. Eine dunkle, fast lederne Haut spannt sich über das hagere, zerfurchte Gesicht. Die buschigen dichten
Augenbrauen, die Adlernase und die lange Narbe von der rechten Schläfe über die Wange bis fast zur Kinnspitze verleihen dem Gesicht einen verwegenen Ausdruck, zu dem der meist demütig-sanfte Blick seiner dunklen Augen in auffallendem Widerspruch steht. „Heute früh war ich einen Augenblick mit Aktan allein“, sagt Nikolai. „Und was war da?“ ( „Nichts war. Aktan sprach nicht mit mir. Offensichtlich glaubt er, wir machen mit der Polizei gemeinsame Sache.“ „Das wundert mich nicht, Onkel. Wir müssen etwas unternehmen.“ Nikolai sagt stockend: „Du weißt es doch selbst, wir haben getan, was wir konnten.“ „Wirklich?“ fragt Boris. „Wirklich?“ Unter Boris Blick wird es Nikolai unbehaglich. Er spürt die heranreifende Entscheidung und versucht ihr auszuweichen. „Aufsässig wirst du“, sagt er mürrisch. „Gib nur acht, daß das Mütterchen Plet nicht auf deinen Rücken tanzt.“ „Dazu braucht man nicht aufsässig zu werden. Du weißt, mein Vater war nur so vermessen, von dem Kosakenhetman den vereinbarten Lohn für seine Führung zu fordern. Dafür erhielt er fünfundzwanzigmal die Knute, und es wurde ihm dabei eine Niere zerschlagen. Zwei Tage später war er tot.“ Als Nikolai ihn unterbrechen will, macht er eine abwehrende Geste, aus seinen Worten klingt Entschlossenheit. „Ich kann das niemals vergessen. Darum mache ich keine gemeinsame Sache mit diesen Leuten! Das lederschwänzige Mütterchen fürchte ich nicht.“ Nikolai ist erregt, er möchte seinen Neffen zurückhalten. „Ich versteh dich, Söhnchen. Ja, ich versteh dich. Doch was nützt das schon? Sie sind doch Gefangene, Gefangene des Zaren.“ Boris tritt dicht an Nikolai heran. „Nein, Onkel, nein! So darfst du nicht sprechen. Du weißt doch, sie sind unschuldig. Kei-
ner weiß es besser als du, daß schon nur der Gedanke an Raub und Mord ihnen völlig fremd ist.“ „Ja, ich glaube auch, sie sind unschuldig. Aber jetzt können wir ihnen nicht mehr helfen, selbst wenn wir es wollten.“ Boris spürt, daß der Onkel nachgibt. „Ich habe alles überdacht und vorbereitet. Die drei Jominkas müssen noch heute nacht fliehen. Sie sind allein in der Jurte und werden nur von einem Posten bewacht. Wenn sich allein in der Jurte und werden nur von einem Posten bewacht. Wenn sie müssen von der Tigerschlucht aus die Spur der wirklichen Banditen suchen und aufnehmen. Das bleibt der einzige Rettungsweg für die gesamte Sippe.“ „Das ist wahr.“ Nikolai nickt bedächtig. „Und welche Rolle hast du uns in diesem Spiel zugedacht?“ „Wir werden dafür sorgen, daß die Polizisten so langsam wie nur irgend möglich nach Uwat zurückmarschieren. Dort werden wir erfahren, was die Jominkas erreicht haben.“ Nikolai erhebt sich und legt Boris die Hände schwer auf die Schultern. „Ich will mich nicht mit dir streiten. Du hast ja recht mit deinen Überlegungen. Aber das, was du vorhast, ist kein Schelmenstreich mehr. Du hebst da die Hand wider die Obrigkeit.“ Er schweigt einen Moment, man merkt es ihm an, wie er mit sich ringt. Er ballt die Fäuste. Doch dann hat er sich schon wieder in der Gewalt. „Hör zu, Söhnchen, ich will dich nicht hindern – aber helfen, nein, helfen kann ich dir nicht.“ „Das ist auch nicht nötig.“ Boris drückt Nikolai fest die Hand. „Wenn du nur ein wenig die Augen offenhälst, ist alles gut.“ „Was willst du tun?“ „Nun ja, ich werde in der Nacht um das Dorf hier streifen, wie es der Herr Polizeichef wünscht. Alles andere wird sich finden. Solltest du eine Gefahr sehen, nur ganz zufällig, Onkelchen, ein Eulenruf genügt.“ Ehe Nikolai antworten kann, werden draußen eilige Schritte laut. Gleich darauf schlägt ein Polizist den Zeltvorhang zurück.
„Du sollst zum Kommandanten kommen, Jäger!“ sagt er. „Aber beeil dich! Du weißt, er wartet nicht gern.“ „Ist gut“, brummt Nikolai, „ich komm schon.“ Er zieht sich den Pelz über. Auch Boris greift nach seinem Pelz. „Ich gehe auch.“ „Gib nur gut acht“, hört er Nikolai doppelsinnig sagen. Boris lacht jungenhaft, steckt die kurze Axt in den Gürtel und wirft das Gewehr über den Rücken. „Keine Sorge, Onkelchen. Ich bin doch kein Selbstmörder.“ Nikolai nickt wieder vor sich hin, er folgt dem Polizisten in das Zelt des Kommandanten. Boris tritt, zum Streifzug gerüstet, aus dem Zelt. Während er mit den Schneeschuhen beschäftigt ist, sieht er sich unauffällig uni. Zwei Posten bewachen das Lager. Einer steht vor der Jurte der Gefangenen. Der andere geht vor dem Zelt des Polizeichefs auf und ab. Der junge Jäger ist zufrieden, er beginnt mit der Streife um das Lager. Eine Stunde später beobachtet er, von Baumschatten gegen die Sicht der Posten gedeckt, aufmerksam die Zelte. Alles ist ruhig. Die Polizisten scheinen zu schlafen. Boris stellt die Schneeschuhe und das Gewehr an einen Baum und schleicht lautlos wie ein Luchs vorwärts. An der baumfreien Fläche bleibt er noch einen Moment ruhig stehen, sieht sich nach allen Seiten um und eilt dann auf die Jurte mit den Gefangenen zu. Das haarscharfe Messer zerschneidet geräuschlos die Rindenhaut, binnen weniger Sekunden klafft eine breite Öffnung in der Rückwand der Jurte. „Aktan“, flüstert Boris, „Aktan, hier ist Boris.“ Aktan regt sich kaum, seine Erwiderung ist fast nur ein Hauch. „Leiser, Boris Sergejewitsch. Posten stehen genau an Wand.“ Vorsichtig zerschneidet Boris die Fesseln. Es vergeht einige Zeit, bevor die drei in der Lage sind, ihre Glieder wieder richtig zu gebrauchen. Dann drängen sie auf die Öffnung zu. Aktan deutet auf den Waldrand. „Ein paar Schritte, und wir werden
sein frei.“ Boris schüttelt den Kopf. „Das wäre aber eine schlechte Freiheit, die würde euch nichts nützen. Ihr braucht Schneeschuhe, Gewehre, Munition und Lebensmittel.“ Aktan lächelt. „Du bist Freund, Boris Sergejewitsch. Ich denken nur an Freiheit. Aber woher Jominka nehmen alles?“ „Wir holen es, Aktan. Alles, was wir brauchen, finden wir in der Nachbarjurte. Nur die Hunde, an die kommen wir nicht ran.“ „Es muß ohne gehen…“ Aktan verstummt. Der Posten ist unruhig geworden. Offenbar hat er etwas gehört, was ihn mißtrauisch macht. Plötzlich öffnet er den Vorhang. Einen Moment bleibt er stehen, um die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sein Blick fällt auf die klaffende Öffnung in der Zeltwand. Instinktiv macht er einen Schritt darauf zu. In diesem Moment springt Boris vor. Er schmettert dem Überraschten die Faust gegen die Kinnspitze. Schwer stürzt der Polizist zu Boden. Aktan und seine beiden Gefährten wollen ihn fesseln und knebeln. Boris flüstert: „Halt, wir brauchen seinen Mantel, die Mütze und das Gewehr. Sonst wird der andere Posten mißtrauisch.“ Die Jominkas begreifen sofort, und kurze Zeit später steht der Jäger Monguli, in den weiten Mantel gehüllt, vor der Jurte. Auf den Lauf seines Gewehres gestützt, scheint er vor sich hin zu starren, aber in Wirklichkeit beobachtet er voller Spannung und Anteilnahme, wie sich Boris und beiden anderen unendlich vorsichtig an die Nachbarjurte heranpirschen und darinverschwinden. Wenig später kommen sie unangefochten zurück. Monguli atmet erleichtert auf, doch er muß sich noch gedulden, Boris bespricht mit Aktan, wie die Jominkas weiter vorgehen werden. „Ich dir danken, Boris Sergejitsch, und auch Nikolai Wassiljitsch. Ihr gute, sehr gute Freunde. Wir werden Banditen suchen, Salju und Aktan.
Monguli geht zurück und sagt Jessi, Jominkas sollen noch in Taiga bleiben.“ „Gut“, sagt Boris, „so soll es geschehen.“ Wenige Augenblicke später verschwinden drei dunkle Gestalten lautlos in der Taiga. Dann krachen rasch hintereinander zwei Schüsse, Boris’ Stimme schallt durch die Nacht. „Alarm, die Jominkas!“ Der Alarm löst wieder eine große Aufregung unter den Polizisten aus. Es vergehen fast fünfzehn Minuten, ehe der junge Taigaläufer dem Kommandanten, der inzwischen schon von der Fluchtder Gefangenen weiß, berichten kann. „Hast du die Leute nicht kommen sehen, Dwornikow?“ Boris schüttelt den Kopf. „Nein, Euer Wohlgeboren. Ich war schon nahe am Lager und stieg den Hügel empor. Plötzlich sausten einige Männer auf Schneeschuhen den Hang herab. Ich riß das Gewehr vom Rücken und schoß. Aber da waren sie schon durch die Bäume gedeckt.“ Boris gibt sich zerknirscht. „Es war
meine Schuld, daß die entkommen sind.“ „Wie meinst du das, Dwornikow?“ „Ich hätte damit rechnen müssen, daß die Jominkas nicht nur aus der Taiga kommen können“, sagt Boris. „Aber es war ja ganz still im Lager. Nicht einmal die Hunde haben sich gerührt.“ „Das ist wahr“, sagt der Polizeichef. „Aber was soll nun werden?“ Diese Frage hätte er unter anderen Umständen nie gestellt. Aber er ist völlig deprimiert, weil er weiß, daß ihm seine Vorgesetzten diese Schlappe so schnell nicht nachsehen werden. Er würde wohl noch lange in Uwat, diesem abgelegenen Taigawinkel, bleiben müssen. Boris ahnt, was in dem Polizeichef vor sich geht. Da durchzuckt ihn ein Gedanke. „Euer Wohlgeboren, Sie haben es ja schon gesagt, es ist unmöglich, mit der ganzen Truppe die Verfolgung aufzunehmen. Aber wenn Sie erlauben, dann könnte ich der Spur der Jominkas folgen. „Und was willst du damit erreichen?“ fragt der Kommandant halb zweifelnd, halb hoffnungsvoll. „Ich will auskundschaften, wo die Banditen zu finden sind und wo sie die geraubten Pelze versteckt halten. Sobald ich das weiß, kehre ich wieder nach Uwat zurück.“ Nachdenklich bohrt der Polizeichef die Stiefelspitze in den Schnee. Dann wendet er sich an Nikolai. „Deine Meinung, Terechow!“ „Der Vorschlag ist gut“, sagt Nikolai. „So kriegen wir die Füchse doch noch ins Eisen.“ „Gut, wir machen es so. Wann willst du aufbrechen?“ „Am liebsten gleich, jetzt werden wir bestimmt nicht beobachtet. Aber ich brauche einen Schlitten und die fünf besten Hunde.“ Der Polizeigewaltige nickt und gibt dem Wachtmeister einen Wink. Im Morgengrauen ist Boris schon weit entfernt von dem Quartier der Polizisten, die sich jetzt zum Rückmarsch nach
Uwat rüsten. Der junge Taigaläufer hält scharf Ausschau nach der Fährte der Jominkas. Es dauert nicht lange, bis er sie entdeckt. Eingehend mustert er die Spur. Die Flüchtenden sind nach Jägerart einer hinter dem anderen gelaufen, daß die Anzahl der Personen nicht aus der Spur abzulesen ist. Boris erkennt dennoch, daß die Spur nur von zwei Männern getreten wurde. Also, so sagt er sich, ist Monguli schon unterwegs, um die Sippe zu benachrichtigen. Aktan und Salju aber haben sich in Richtung Tigerschlucht auf den Weg gemacht. Auf der Schneeschuhspur der Jominkajäger kommen die Schlittenhunde gut voran. Boris holt die beiden noch vor Beginn der Dämmerung ein. Aktan und Salju begrüßen den jungen Jäger freudig überrascht. „Wir jetzt gemeinsam Spur von Banditen suchen“, sagt Aktan. „Wenn Kommandant wieder in Uwat, wir schon lange fertig damit. Haben jetzt Zelt und Schlitten.“ „Aber wenig Fleisch“, sagt Salju. Aktan winkt ab. „Wir immer Fleisch haben, wir Jäger.“ Daß Aktan darin recht hat, das zeigt sich schon am nächsten Tag. Es ist kurz nach der Mittagszeit, als Aktan auf einen großen Weidenkomplex in einer Flußniederung deutet. Dorthinein steht eine frische Hirschfährte. Die Jäger umkreisen das Dickicht und stellen fest, daß die Fährte nicht herausführt. Daraufhin dringt Boris vorsichtig in das Dickicht hinein. Als er es fast zur Hälfte durchquert hat, prasselt und kracht es vor ihm. Dann sieht er einen mächtigen dunklen Wildkörper durch den Weidendschungel rasen. Boris reißt das Gewehr hoch, der Schuß dröhnt. Der Hirsch flüchtet weiter. Wenig später ertönt außerhalb des Dschungels der dumpfe Knall des Berdangewehres, das Aktan führt. Als Boris sich aus dem Dickicht herausgearbeitet hat, ist Aktan bereits damit beschäftigt, den jungen Hirsch aus der Decke zu schlagen. „Du gut schießen, Boris“, sagt er und deutet auf den Kugeleinschuß hinter dem Blatt des Hirsches, der den Tod
binnen weniger Minuten gebracht hätte. Aktan hebt bedauernd die Hände. „Ich das nicht gesehen und schießen noch Kugel in Kopf.“ „Hauptsache ist, wir haben ihn“, sagt Boris. Er und Salju beteiligen sich an der Arbeit. Sie zerwirken den Wildkörper, schneiden einen Teil des Fleisches in Streifen und lassen diese im heißen Qualm eines Feuers zusammenschrumpfen. Am Abend macht Aktan das dichte Fell des Hirsches zurecht. Es soll ihnen als Zeltdecke dienen. Boris, Aktan und Salju erreichen nach einem Gewaltmarsch durch das weißglitzernde Waldmeer bereits am Abend des dritten Tages die Tigerschlucht. Als die beiden jungen Jäger am nächsten Morgen nach bleischwerem Schlaf erwachen, sehen sie, daß Aktan schon den Ort des Überfalls untersucht. Schnell erhebt sich Boris und geht zu dem Alten. „Ich das nicht verstehen, Räuber sind wieder auf ihrer Spur zurück.“ Aktan wiegt nachdenklich den Kopf. „Machen vielleicht so wie Hase, bevor in Sasse geht. Wollen uns verwirren.“ Boris besieht sich die kaum sichtbare Spur. „Du hast recht, aber überleg mal, wohin sollten die Banditen sonst gehen? Um diese Jahreszeit muß man, so schnell es geht, in eine Siedlung zurück. Es kann nicht mehr lange dauern, und das Tauwetter setzt ein. In der Taiga wird jeder Golde oder Tungunse, der sie sieht, fragen, warum drei Männer mit so vielen Pelzen nicht aus dem Wald gehen. Nein, nein, im Frühling und im Sommer hat die Taiga für diese Leute zu viele Augen. Sie müssen unbedingt zurück, nach Uwat oder noch weiter.“ Aktan nickt. „Was werden wir tun?“ „Es gibt um diese Zeit nur noch zwei sichere Wege, um von hier in die Siedlungen oder in die Stadt zu kommen. Ein Weg führt direkt nach Uwat. Der wäre viel zu auffällig und gefährlich für die Banditen. Der zweite Weg verläuft unterhalb der Feuerbergkette. Den werden sie genommen haben.“
„Wir dorthin laufen“, schlägt Aktan vor. „Wir finden dort Spuren.“ Nach dem Frühstück brechen die drei Jäger auf. Boris führt sie. Er tut es, ohne zu zaudern, ohne ein technisches Hilfsmittel, das ihm Standort und Richtung bestimmen hilft. Und den beiden anderen kommt gar nicht der Gedanke, Boris könne sich verirren oder den Platz verfehlen. Die drei legen ohne Zwischenfälle mehrere Tagesmärsche zurück. Trotz aller Strapazen sind sie guten Mutes, denn sie sind auf Spuren gestoßen. Eine nur leicht mit Schnee bedeckte Feuerstelle und Zigarettenreste deuten darauf hin, daß die Banditen hier gelagert haben. Boris läuft wie gewöhnlich an der Spitze der kleinen Gruppe. Auf einmal zögert er. Seitlich von ihnen zieht sich im Schnee eine Fährte hin. Eine breite, mehrspurige und frische Fährte. „Hier Wildschweine gegangen!“ ruft nun auch Aktan. „Ja“, sagt Boris. „Aber uns geht das nichts an.“ „Oh, das nicht sagen. Wildschwein ist frisches Fleisch“, sagt Aktan. „Frisches Fleisch ist gut, und Jominkas lieben frisches Fleisch.“ „Ja, lieben frisches Fleisch!“ bestätigt der sonst so zurückhaltende Salju. „Aber die Jagd kostet uns zuviel Zeit“, wendet Boris ein. „Nicht viel Zeit“, wehrt Aktan ab, „Wildschweine gerade erst gegangen. Wir schnell da sein und schießen.“ „Gut, schießen wir das Wildschwein“, sagt Boris ergeben. Er weiß, jedes weitere Wort ist sinnlos und bringt nur noch mehr Zeitverlust. Frisches Fleisch, das ist ein Zauberwort für die Taigakinder. Darüber vergessen sie schnell alle anderen Belange. Boris will die Jagdzeit verkürzen und stürmt mit langen Schritten vorwärts. Dabei ist der Weg nicht gerade angenehm. Immer wieder muß er Schluchten hinab, muß sich einen Weg bahnen durch sperrendes Unterholz, muß wieder hangaufwärts steigen. Ihm folgen die beiden Jominkas, schweißüberströmt, aber mit regelmäßigem Atem. Dabei lenkt Salju noch den
Hundeschlitten. Die drei Jäger steigen auf der Fährte der Schwarzwildrotte einen steilen Hang empor. Die an den beiden Enden spitz zulaufenden und vorn aufgebogenen Schneeschuhe ermöglichen ihnen einen sicheren Anstieg, denn die Gleitflächen sind mit Fell bespannt und verhindern ein Zurückrutschen. Die Spur verläuft noch eine kurze Strecke auf dem Hang, dann verschwindet sie in einem großen und dichten Kiefernbestand. Boris bleibt stehen. „Ich denke, die Wildschweine sind hier drin“, sagt er. „Folgt ihr der Spur. Ich laufe um den Kiefernwald und warte an der ,Tiefen Schlucht’ auf die Schweine. Dort kommen sie bestimmt, wenn ihr sie vorsichtig treibt.“ Er nimmt das Hundegespann und läuft los. Er ist überzeugt, daß die Jagd so erfolgreich verlaufen könnte. Die ,Tiefe Schlucht’ ist ein Verbindungsstück zwischen zwei Talkesseln, geschickt getriebenes Wild würde mit großer Sicherheit seinen Weg durch dieses Nadelöhr nehmen. Boris wartet schon zwei Stunden. Es rührt sich nichts. Kein Laut dringt zu ihm herüber. Etwas Unvorhergesehenes muß geschehen sein. Kurz entschlossen holt Boris Hunde und Schlitten. Er macht sich auf den Weg, die beiden Jominkajäger zu suchen. Nach kurzer Zeit stößt er auf ihre Spuren. Er stellt an ihnen nichts Auffälliges fest. Die beiden Jäger verfolgten, wie abgesprochen, die Schwarzwildrotte. Plötzlich macht BoTis eine Entdeckung, er stoppt auf der Stelle die Fahrt: Die beiden Jominkas liegen im Schnee, reglos, das Gesicht nach unten. Boris nimmt das Gewehr zur Hand, spannt beide Hähne und nähert sich vorsichtig, Schritt für Schritt. Aber soviel er auch Ausschau hält, er kann nichts Bedrohliches feststellen. Die Jominkas sind einfach in ihrer Spur zu Boden gesunken. Langsam tritt Boris an Aktan heran, kniet sich neben ihn und will ihn umdrehen. Der Alte hebt den Kopf. „Amba“, flüstert er. „Wildschweine gehören Amba.“
Boris ergreift wilde Erregung. Amba, der Tiger, von den Eingeborenen als heiliges Tier, von den Russen als begehrenswerte Beute betrachtet, hat also sein Recht auf das Schwarzwild geltend gemacht. Vielleicht ist er sogar der zehrende „Hirt“ dieser Rotte, er „hütet“ sie so lange, bis auch das letzte der schmackhaften Borstentiere unter seinen Pranken verröchelt. Aus dem Verhalten der beiden Jominkas schließt Boris, daß der Tiger seine Beute ganz in der Nähe geschlagen hat. Und da packt es ihn, dieses unwiderstehliche und zugleich unsinnige Verlangen. Ohne auf Aktans erschreckten Ruf zu achten, stürmt er vorwärts. Doch mit jedem Schritt wird seine Erregung mehr gedämpft. Die beiden Jominkas sehen, wie er erst langsamer wird, dann stehenbleibt und zurückkommt. „Lassen wir den Tiger“, sagt er. „Wir müssen die verlorene Zeit wettmachen.“ Aktan richtet seine Sachen. „Wir werden schnell laufen“, sagt er laut. Und er denkt, daß den jungen Russen nun auch eine Scheu vor dem heiligen Tier ergriffen hat. Die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht, als die drei Männer einen lichten Wald durchqueren. Boris hält an. „Hier! Hier an dieser Stelle muß man nach links einbiegen, wenn man nach Uwat will. Dort an der gespaltenen Eiche vorbei.“ Er deutet nach vorn. „Wir gehen weiter in Richtung Feuerberge.“ Aktan nickt. „Wir wollen uns nicht länger aufhalten.“ , Boris läuft los, die beiden Jominkas müssen weit ausschreiten, um nicht zurückzubleiben. Ein dichtbewaldeter Höhenzug versperrt ihnen den Weg. Das verfilzte Unterholz erscheint undurchdringlich. Aber die drei kennen eine Schlucht, die wie ein tiefer Riß den Höhenzug teilt. Auf ihrem Grund windet sich ein Bachlauf, über den gelangen sie gut vorwärts. Ab und zu müssen sie gestürzten Stämmen und überhängenden Zweigen oder Ästen ausweichen. „Hallo“, ruft Boris auf einmal, „hier sind wir richtig.“ Er zeigt auf einen abgehackten Ast, dessen Stumpf noch halb über dem
Bachbett steht. Die Jominkajäger nicken. Sie sehen, daß der Ast mit einem Beilhieb getrennt wurde, um so mit dem Schlitten leichter durchzukommen. Spuren dieser Art finden die Jäger auch noch an anderen Stellen, ein Zeichen, daß die Banditen sich sehr sicher gefühlt haben. Die drei verlassen den Hohlweg, zugleich haben sie auch den Höhenzug überwunden und gleiten schnell hangabwärts. Nach einer kurzen Talfahrt breitet sich vor ihnen eine leichte wellige und spärlich bewachsene Hochebene aus, in der Ferne durch eine Gebirgswand begrenzt, deren Berggipfel sich mit den Wolken vereinigen. Mit untrüglicher Sicherheit, so, als gehe er den Weg im Sommer, folgt Boris den unsichtbaren Windungen des verschneiten Pfades. Nach zweistündigem Lauf nähern sie sich der Gebirgswand und legen in einer Schlucht Rast ein. „Du bist hier oft gegangen?“ fragt Aktan Boris, als sie am Feuer sitzen. Boris nickt. „Ja, vor allem im Herbst zur Hirschjagd. Tja, und nun bin ich zur Menschenjagd hier.“ „Noch wissen wir nicht, ob die Kerle hier gegangen sind“, widerspricht Salju. „Sie sind“, sagt Boris. „Wenn sie bei Schnee über die Berge wollen, dann müssen sie den Pfad entlang.“ „Aber wir wissen nicht, welche Richtung gegangen“, ruft Salju. „Sind nach links oder rechts?“ Daraufhin runzelt Boris unwillig die Brauen. „Salju, du denkst nicht nach. Die Banditen sind nach links.“ Als er das fragende Gesicht des Jominkajägers sieht, erläutert er ihm, daß jeder der Banditen einen schwerbeladenen Schlitten lenken muß. Die rechte Schlucht sei für Schlittengespanne nicht passierbar. Die Banditen haben wahrscheinlich in der Siedlung auch Helfer und rechnen mit deren Unterstützung. Immerhin sind es bis zur Stadt noch gute zwanzig Tagesreisen, die so einfach nicht zu bewerkstelligen sind. „Ja“, sagt Aktan, „ich denke auch, Räuber hier oben Versteck
und vielleicht sogar in Uwat wohnen.“ Die Jäger folgen bald dem Pfad, der in die linke Schlucht führt. Als sie eine der vielen sanften Windungen hinter sich lassen, fällt ihr Blick auf einen hohen, oben abgeplatteten Bergkegel, einem erloschenen Vulkan. Der Kegel ist von einem hohen, wulstartigen Ringwall aus Felsen und Geröll umgeben. Unterhalb dieses Berges steht ein kleiner, dichter Fichtenbestand. Boris deutet auf die Fichtengruppe. „Wir werden dort unser Lager aufschlagen.“ Am nächsten Morgen stehen die Jäger etwas später als üblich auf. Sie hocken um das wärmende Lagerfeuer und verzehren ihr Frühstück. Plötzlich stößt Salju einen erstaunten Ruf aus und deutet zum Bergkegel hinüber. Seine Gefährten blicken auch dorthin. Dort ist gerade ein riesiger Krähenschwarm aufgeflattert, und nun umkreisen die Vögel die Plattform. „Vielleicht ist Wild verendet“, sagt Boris. „Die Krähen haben gefressen und sind gestört worden.“ „Vielleicht durch Luchs oder Vielfraß“, sagt Aktan. „Ich kenne diese Gegend“, sagt Boris. „Dort oben kommt kein großes Tier hin, höchstens Bergschafe, aber die gibt es nicht in dieser Gegend. Mir scheint, da ist etwas nicht in Ordnung.“ „Wir dann nachher nachsehen.“ Aktan wendet sich wieder dem Frühstück zu. Lange suchen die Jäger zwischen den verschneiten Felsen. Nirgends ist ein Durchschlupf oder eine Überstiegmöglichkeit zur Bergkuppe zu finden. Boris kriecht zwischen Felsspalten herum, er findet neben einer schartigen Felskante einige ausgerissene Haare im Schnee. „Da Tier durchgegangen“, sagt Aktan. Boris schüttelt den Kopf. „Nein, hier sind die geraubten Pelze durchgetragen worden.“ Er legt die Haare auf die Handfläche und hält sie den beiden Jominkas hin. Aktan wirft nur einen Blick darauf. „Boris Sergejitsch“, sagt er mit unverhohlener Anerkennung, „du wirst ein ganz großer
Jäger.“ Boris hat tatsächlich einen wichtigen Fund gemacht. Auf seiner Hand liegen Biberhaare. Biber sind aber keine Bergtiere. Wieder dringt Boris in den Spalt ein. Ein Felsblock versperrt den Weg. Als er sich dagegenstemmt, läßt sich der Block ohne Mühe zurückdrücken und gibt einen geräumigen Durchgang frei. Nach wenigen Schritten bleiben die Männer verwundert stehen. Hinter der Fels- und Geröllmauer zeigt sich ihnen die Kuppe als eine sanfte Mulde, die mit dichtem Buschwerk und mit kleinen Baumgruppen bestanden ist. Sie hatten einen Krater erwartet. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Krähenschwarm. Die schwarzberockten Vögel sitzen zu Hunderten auf einer Stelle, zerhacken etwas mit ihren starken Schnäbeln, flattern durcheinander, lärmen und krächzen. Die drei laufen darauf zu. Nur widerwillig, heiser krächzend, erheben sich die „Totenvögel“. Dann sehen die Männer von Krähen zerhackte, von Füchsen, Mardern, Vielfraßen und Luchsen zerfressene Kadaver. Aktan sieht Boris an. „Du weißt, was das ist?“ Boris nickt. „Das sind die Schlittenhunde der JassakEintreiber. Die Banditen haben die Transporte hierhergebracht und die Hunde getötet.“ „Ich denke auch so“, sagt Aktan. „Schlechte Menschen, die Hunde tot machen.“ Er wendet sich ab. „Kommt, suchen Pelze!“ Eifrig durchsuchen sie wieder die zahlreichen Felsspalten und höhlenartigen Vertiefungen. Es zeigt sich keine weitere Spur von den Pelzen. Sie dringen in die dichten Baum-und Gebüschgruppen ein. Unerwartet stoßen sie da auf eine kleine roh gefügte Blockhütte, sie ist vollständig verdeckt von den Zweigen einer Fichtengruppe. Ihre Erbauer hätten keinen besseren Platz für sie finden können. Nicht einmal mit einem guten Fernrohr konnte jemand von den umliegenden Höhen das Blockhaus entdecken.
Die Tür ist von außen nur mit einem schweren Holzriegel verschlossen und läßt sich ganz einfach öffnen. Im Innenraum türmen sich Felle! Eichhörnchen, Marder, Biber, Füchse in verschiedenen Farben, Zobel, Luchse, Bären. Die gesamte Beute von drei Überfällen. Die beiden Jominkajäger sind glücklich und erleichtert, weil sie glauben, daß nun nur noch die Polizei zum Pelzversteck geführt werden muß. Boris kommen nach dem ersten Freudenrausch leise Bedenken. „Ich weiß nicht, ob wir recht daran tun, der Polizei die Pelze sofort zu zeigen.“ „Was? Willst du die Pelze etwa behalten?“ fragt Aktan. Boris wehrt ab. „Nein, nein! Ich habe nur das Gefühl, daß wir einen großen Fehler begehen… Aber ich kann…“ Er verstummt und winkt resignierend ab. Aktan sieht Boris schweigend an. Seine schmalen Augen verengen sich noch mehr. Boris wird es unbehaglich unter diesem Blick. „Warum du jetzt von Gefühlen reden? Wir haben doch Pelze.“
„Aber wir können sie nicht einfach abliefern.“ „Aber warum nicht?“ Aktan wird ärgerlich. „Überleg doch, bei dem letzten Überfall sind vier Menschen ermordet worden. Der Polizeichef braucht dringend die Mörder, sonst fällt er bei seinen Vorgesetzten in Ungnade. Neue Pelze hätten die Jassak-Eintreiber schon wieder beschafft. Wenn ihr den Polizisten das Pelzversteck zeigt, werden sie euch trotzdem festnehmen und als Mörder behandeln.“ „Was sollen wir tun?“ fragt Aktan. „Wir müssen dafür sorgen, daß die Banditen überführt und gefaßt werden.“ Boris hat plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Er dreht den Kopf, und sein Blick fällt auf ein Paar Filzstiefel. Seine Augen fahren hoch und sehen in drei Gewehrmündungen. In der Hüttentür steht der Kaufmann Alexej Bukatyj. Hinter ihm drei Männer, die Boris schon einmal bei dem Händler getroffen hat. Angeblich sind sie wie er und Nikolai Jäger und Fallensteller. Schußbereit haben diese drei ihre Gewehre auf Boris und seine beiden Gefährten gerichtet. „Hände hoch!“ befiehlt der Kaufmann. Die drei Jäger folgen der Aufforderung. „Dein Vorhaben gefällt mir nicht, Boris Dwornikow“, sagt Bukatyj. „Du scheinst mir überhaupt etwas zu klug, und ich bin daher herzlich froh, daß nicht du der Polizeichef bist. Und nimm zur Kenntnis, ab heute mache ich wieder die Preise.“ „Ja“, sagte Boris, „das sieht fast so aus.“ „Eigentlich ist es schade um dich, Dwornikow, du bist trotz deiner Jugend ein tüchtiger und erfolgreicher Jäger. Unter meinen Fittichen hättest du dich zu einem…“ „Zu einem Banditen und Mörder entwickeln können“, unterbricht ihn Boris. „Das ist ein hartes Wort, Dwornikow. Aber dieses Wissen kommt für dich ohnehin zu spät. Du gefährdest meine Unternehmungen, und ich laß mir meine Geschäfte nicht kaputtma-
chen. Jetzt schon gar nicht, wo ich die ganze Ware direkt und reell nach St. Petersburg verkaufen kann. Nein, nein, da pfuschst du Grünschnabel mir nicht rein.“ „Wenn nicht ich, dann eben die Polizei.“ Der Händler lacht belustigt auf. „Die Polizei hält die Jominkas für die Mörder. Für sie ist das der einfachste Weg. Da braucht man keine Beweise, da genügt eine Beschuldigung vollauf. Und solange ich ein freier Mann bin, wird das auch so bleiben.“ „Bestimmt“, sagt Boris, „bestimmt, aber auch nur so lange.“ Bukatyj streift die Maske wohlwollender Überheblichkeit ab. „Schluß! Einer nach dem anderen verläßt jetzt die Hütte. Wer auch nur eine verdächtige Bewegung macht, wird auf der Stelle erschossen.“ Boris lacht auf, und eine hemmungslose, draufgängerische Lust erfüllt ihn. Aktan verläßt langsam die Hütte und wird draußen von einem Söldling Bukatyjs gefesselt. Die beiden jungen Jäger wechseln einen kurzen Blick. Dann geht Salju und gleich darauf auch Boris hinaus. Er muß an Bukatyj vorbei. In diesem Moment macht Boris ein überraschtes Gesicht und blickt zu einer Baumgruppe hinüber, die gegenüber der Hüttentür steht. Der Händler beobachtet das und reißt den Kopf herum. Den Augenblick nutzt Boris. Seine Fäuste schnellen vor, Bukatyj erhält einen gewaltigen Stoß. Vor Schmerz und Schreck aufschreiend, fliegt er taumelnd gegen den Banditen, der dabei ist, Salju zu fesseln. Salju erfaßt die Situation, er entreißt dem Banditen das Gewehr, springt mit einem Satz hinter die Hüttenecke und richtet die Waffe auf die Banditen. Der letzte von Bukatyjs Mordgesellen hat den Schreck schnell überwunden. Er feuert hastig die Gewehrladung ab, und als er Boris nicht trifft, stürzt er auf ihn los. Boris, der sich durch eine schnelle Bewegung aus der Ziellinie gebracht hat, wird vom Anprall zu Boden geworfen. Der Bandit nutzt die Chance. Mit
der Linken umklammert er Boris’ Kehle und schmettert ihm die Rechte ins Gesicht. Nur kurz fühlt sich Boris benommen, dann bäumt er sich auf, wirft sich geschmeidig herum und packt den Mann mit hartem Griff. Der Bandit kann der ungestümen Kraft des jungen Taigajägers bald nichts mehr entgegensetzen. Kurze Zeit später liegen Bukatyj und seine drei Helfer, an Händen und Füßen gefesselt, in der Hütte. „So, verehrter Alexej Iwanitsch“, sagt Boris, „jetzt hast du Zeit, in Ruhe ungestört alles zu überdenken. Wir werden uns ein andermal weiter unterhalten.“ „Sei doch vernünftig“, fleht der Händler. „Ich zahle dir jeden Preis, wenn…“ „Ich sagte ein andermal, Bukatyj. Das gilt!“ Boris wirft die schwere Tür zu, und Salju schiebt den Riegel vor. Eine Stunde später sind Boris und Aktan auf dem Weg nach Uwat. Salju bleibt zurück, um die Gefangenen zu bewachen. Nach großen Anstrengungen erreichen die beiden Jäger die große langgestreckte Ortschaft Uwat am Nordostufer des Blauen Sees. Dort trennen sie sich. Boris schlägt den Weg zum Zentrum der Siedlung ein, dem Marktplatz, um den sich eine Holzkirche mit Zwiebelturm sowie ein Dutzend geräumiger undfarbig gestrichener Holzhäuser drängen. Sein Ziel ist der einzige Steinbau des Ortes, der das Polizeikommando und die Amtsstuben der Jassak-Eintreiber beherbergt. Aktan läuft auf der Straße weiter. An ihr entlang reihen sich eintönig graue Gehöfte, die Anwesen der Bauern, Fischer und Jäger. Er geht bis ans letzte Haus in dieser Reihe, es gehört Nikolai Terechow und ist aus schweren, kunstgerecht mit der Axt behauenen Baumstämmen zusammengefügt, mit schmalen Fenstern; die an Schießscharten erinnern. Boris erläutert dem diensthabenden Wachtmeister sein Anliegen. Der Mann ist von der Aussicht, Banditen und Pelze zu
bekommen, hell begeistert. Sie verabreden, am nächsten Morgen gemeinsam aufzubrechen. Danach geht Boris nach Hause. Der Wachtmeister benachrichtigt die Jassak-Eintreiber und bestellt einige Bauern mit Schlittengespannen. „Es war klug von dir, Boris“, sagt Wadim Walkow, „daß du nicht gesagt hast, wer die Banditen sind. Woher sollen wir wissen, ob nicht einige Beamte mit Bukatyj unter einer Decke stecken. Geschenke jedenfalls haben sie fast alle von ihm genommen.“ Walkow schweigt einen Moment. Dann sagt er eindringlich zu Aktan und Boris: „Ihr dürft euch auf keinen Fall das Heft aus der Hand nehmen lassen. Erst dann, wenn ihr von Bukatyj eine öffentliche Bestätigung seiner Schuld habt, könnt, ihr ihn und seine drei Halsabschneider der Polizei überlassen.“ Aktan, der in seinem Leben bestimmt noch nie gelogen hat, kann sich in seiner Naivität kaum vorstellen, daß es so etwas gibt. Er blickt Walkow verständnislos an. „Aber Bukatyj doch gesagt, er Ältester von Banditen.“ „Ja, das hat er zu euch gesagt. Ob er es auch den Polizisten
gegenüber tun wird?“ Walkow wiegt zweifelnd den Kopf. „Ich bin mir da nicht sicher. Er könnte den Beamten gegenüber behaupten, ihr haltet ihn gefangen, weil er euer Versteck entdeckt hat. Und den meisten der Beamten sind die Jominkas als Täter bedeutend lieber.“ Am Morgen treffen sich auf dem Marktplatz Polizisten, Jassak-Eintreiber und die Bauern mit ihren Schlittengespannen. Als sich der Zug in Bewegung setzt, kommen noch einige Jäger hinzu. „Was wollt ihr?“ fragt der Wachtmeister. Als er hört, daß die Jäger sich dem Zug anschließen wollen, ist er nicht ungehalten, sondern kommt sich außerordentlich wichtig vor. Einer der Jäger fragt Boris flüsternd, wann Aktan aufgebrochen ist. „Vor etwa zwei Stunden mit Kusma Baiaschoff. Sie bereiten alles vor.“ Zur gleichen Zeit nähert sich noch ein anderer Zug den Feuerbergen, die Polizeitruppe. Sie hatte beim Rückmarsch die Spur der drei Jäger gekreuzt, und der Polizeichef hatte Befehl gegeben, ihr zu folgen. Boris bittet seine Begleiter um absolutes Schweigen und führt sie durch den verborgenen Eingang in den Talkessel auf den Bergkegel. Als sie sich der Blockhütte nähern, treten die beiden Jominkas und Kusma Baiaschoff hinter einem Busch hervor. Erschrocken greifen die Beamten nach ihren Waffen. „Lassen Sie das!“ sagt Boris. „Es sind Freunde.“ Er zeigt zur Blockhütte hinüber. „Die Banditen sind dort drüben. Salju wird sich jetzt mit ihnen unterhalten.“ Salju führt die Gruppe an die Blockhütte heran. Auf seinen Wink hin gruppieren sich alle schweigend im Halbkreis um die Hütte. Salju öffnet die Tür und tritt in ihren Rahmen. „Endlich“, ertönt die Stimme des Händlers, „warum läßt du dich nicht blicken. Ich will mit dir reden!“ „Du hast wohl Angst, Alexej Iwanitsch Bukatyj?“ fragt Salju.
„Nein, zum Donnerwetter! Aber du mußt mich anhören.“ „Und was hast du so Wichtiges?“ fragt Salju. Die Stimme des Händlers wird demütig-süßlich. „Salju, Brüderchen, laß uns hier raus. Ich gebe dir Wodka, soviel du nur willst, und für jeden Pelz hier bekommst du von mir einen blanken Rubel.“ „Gut.“ Salju freut sich. Dann aber besinnt er sich. „Geht nicht, ist doch Jassak, gehört Väterchen Zar.“ „Was macht das schon, mein Junge. Deinen Wodka bekommst du trotzdem und auch die Rubel.“ Aber Salju zweifelt immer noch. „Ich soll das glauben?“ „Traust du mir etwa nicht?“ „Du bist Ältester von Jassak-Räuber“, stellt Salju fest. „Das ist doch kein Grund, mißtrauisch zu sein“, sagt Bukatyj. „Sieh mal, ich meine es doch nur gut mit dir.“ „Dann mußt du mir noch sagen, warum du das mit Jominkas gemacht.“ „Laß das jetzt. Darüber können wir uns noch später unterhalten.“ „Nein!“ sagt Salju. „Ich muß das sofort wissen, sonst ich nicht Fesseln aufschneiden.“ „Mir blieb doch keine andere Wahl“, sagt wehleidig der Händler. „Und was kann ich denn dafür, daß diese drei Idioten sich in der Tigerschlucht so blöd anstellten? Ja, als dann die beiden Überlebenden ins Dorf kamen, da fiel mir eben deine Sippe ein, weil sie sich einige Tage vorher in Uwat aufgehalten hatte. Versteh doch, Salju, das war ein Zufall, eine Notlösung ohne böse Absicht. Der eigene Kopf ist einem immerhin noch am nächsten. Das verstehst du doch, nicht wahr?“ „Ja“, sagt Salju, „ich gut verstanden.“ Damit tritt er an die Gefangenen heran und löst ihnen die Beinfesseln. „Die Hände auch!“ fordert Bukatyj. Aber Salju hört nicht, er geht ins Freie. Fluchend stolpern die Banditen hinterdrein. Dort sehen sie sich plötzlich den Beamten und Jägern gegenüber.
Der Schreck bannt ihre Bewegungen. In diesem Moment des Schrecks und der Erwartung ertönt die Stimme des Polizeichefs: „Was geht hier vor?“ Er drängt sich an die Spitze seiner Männer. Boris nutzt sofort die neue Situation aus. „Euer Wohlgeboren, ich habe meine Aufgabe erfüllt. Ihr Wachtmeister hat eben die Jassak-Räuber festgenommen.“ Fragend sieht der Kommandant den Wachtmeister an. Der nimmt Haltung an. „Jawohl, Euer Wohlgeboren. Der Anführer ist der hiesige Kaufmann Alexej Iwanitsch Bukatyj. Er ist geständig.“ „Und wir alle, Euer Wohlgeboren“, mischt sich Boris ein und zeigt auf die Beamten und Jäger, „wir alle können es bezeugen.“ Der Kommandant wendet sich an den Händler. „Stimmt das?“ fragt er. Bukatyj hat den Schreck überwunden. Er weiß, daß nun doch alles verloren ist. „Auf die Gefahr hin, daß die Geschichte Ihnen nicht gefällt, es stimmt.“ Der Polizeichef mustert ihn unwillig. Dann dreht er sich um und gibt den Polizisten einen Wink.
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James Aldridge
Der letzte Zoll Nicht zum erstenmal hat er den Jungen in der kleinen Maschine mitgenommen. Doch er hat noch nicht bemerkt, daß David Spaß und Interesse am Fliegen gezeigt hätte. Er hat bei seinem unsteten Leben auch noch nie Zeit und Gelegenheit gehabt, sich wirklich um seinen Sohn zu kümmern. Jetzt ist er – von Haien schwer verletzt – auf den Jungen angewiesen. Beider Leben hängt davon ab, ob David die Maschine hoch bekommt und seine Angst so weit überwindet, daß er das Flugzeug nach den Anweisungen des Vaters über die Wüste steuern kann.