GUSTAV JANOUCH
GESPRÄCHE MIT KAFKA
Aufzeichnungen und Erinnerungen
Erweiterte A...
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GUSTAV JANOUCH
GESPRÄCHE MIT KAFKA
Aufzeichnungen und Erinnerungen
Erweiterte Ausgabe
S. Fischer Verlag
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Umschlagentwurf: Herbert Schwöbel Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany
DIE GESCHICHTE DIESES BUCHES
Die erste Fassung dieser meiner Erinnerungen und Aufzeichnungen, die ich ursprünglich Kaa sagte mir nannte und die ihren heutigen Titel Gespräche mit Kaa von der Leitung des Verlages erhielten, erschien zuerst im Jahre . Das lesende Publikum, die Rezensenten der Presse und Rundfunkstationen sowie die zünigen Literaturwissenschaler widmeten ihnen sofort ein großes Interesse, das im Laufe der Jahre nicht nachließ, sondern sich nur noch vertiee. Aus meinem anspruchslosen Buch wurde ein ernst bewertetes literarisches Forschungsdokument. Deshalb kam es nach dem Erscheinen des deutschen Originals der Gespräche mit Kaa auch sehr bald zu einer französischen, italienischen, schwedischen, amerikanischen, südslawischen, spanischen – ja! – und sogar zu einer japanischen Ausgabe. Die Post brachte mir dann aus den verschiedensten Ecken und Enden der Welt eine recht ansehnliche Menge von Briefen und Anfragen, die ich stets – so gut ich nur konnte – bereitwillig beantwortete. Das war leicht, denn ich konnte ja Fragen, die mir irgendwelche Schwierigkeiten bereiteten, einfach mit einem Schweigen übergehen. Das war jedoch in den sich häufenden Gesprächen mit den Kaa-Verehrern, die aus den verschiedenen Ländern zu mir nach Prag kamen, nicht immer so einfach. Ich mußte o verstummen, denn sie alle kannten Kaas Werk – vor allem seine Romane – viel besser als ich. Für sie waren Der Prozeß,
Amerika und Das Schloß nicht nur Buchtitel wie für mich; sie haben diese Bücher meistenteils auch wirklich studiert. Das habe ich nie getan. Doch das konnte ich meinen Besuchern aus Frankreich, Amerika, Deutschland, Australien, Schweden, Italien, Japan und Österreich nicht sagen. Sie hätten mich ja auch sicherlich gar nicht richtig verstanden. Davon überzeugte mich der fast entsetzte Gesichtsausdruck einer jungen talentierten Prager Literaturwissenschalerin, der ich mich anzuvertrauen versuchte. Der zugespitzte Mund und die großen, vor Erstaunen fast kreisrunden dunklen Augen der Frau Doktor Kveta Hyrslová, welche der literarischen Erscheinung Franz Kaa eine umfassende Doktorarbeit widmete, sagten wortlos, jedoch überaus deutlich: »Das ist doch absurd.« Für mich ist aber die Tatsache, daß ich Franz Kaas posthum erschienenes Werk im Grunde nur vom Hörensagen kenne, etwas durchaus Natürliches, das – meiner Ansicht nach – für jeden Menschen eigentlich sehr leicht verständlich sein könnte. Ich kann die Romane und Tagebücher des Dichters Franz Kaa nicht lesen. Nicht weil er mir fremd, sondern weil er mir allzu nahe ist. Die Verwirrung der Jugend und die nachfolgende innere und äußere Not, die durch die Erfahrung restlos zerbrochenen Glücksvorstellungen und die abrupt einsetzende Entrechtung und dadurch täglich wachsende innere und äußere Vereinsamung, mein ganzer grauer, von Sorgen und Ängsten zernagter Alltag fixierten mich an den geduldig leidenden Menschen Doktor Franz Kaa. Er war und ist für mich keine Literaturerscheinung. Er ist für mich viel mehr. Doktor Franz Kaa ist für mich wie vor Jahren noch immer die schützende Hülle meines ureigenen menschlichen Wesens. Er ist der Mensch, der durch seine Güte, Nachsicht und posenlose Wahrhaigkeit die frostumwehte Entfaltung meines Ich förderte und behütete. Er ist der Erkenntnis- und Gefühlsgrund, auf dem ich noch heute in der gespenstischen Flut dieser Zeit dastehe.
Was können mir da neben dieser Kra der eigenen unauslöschlichen Jugenderfahrungen die Lebens- und Deutungsversuche seiner Bücher schon geben? Es sind nur hart in sich verkapselte Gefühls- und Gedankenkonserven. Der lebendige Doktor Franz Kaa, den ich kannte, war viel größer als seine Bücher, die sein Freund Doktor Max Brod vor der Vernichtung rettete. Doktor Franz Kaa, den ich besuchte und bei seinen Spaziergängen durch Prag begleiten dure, war so groß und in sich selbst festgefügt, daß ich mich noch heute bei jeder scharfen Krümmung meines Lebensweges in der Erinnerung an seinen Schatten wie an einem solid geschmiedeten Eisengeländer festhalten kann. Was sind da für mich Franz Kaas Bücher? Sie stehen auf dem asbestunterlegten hölzernen Bücherbord über der olivgrün angestrichenen Ziehharmonika des unförmig plumpen Heizkörpers meines kleinen Zimmers auf der Prager Nationalstraße. Ich nehme ab und zu diesen oder jenen Band in die Hand, lese einige Sätze oder gar ein, zwei Seiten, doch dann überfällt mich immer ein rasch anwachsender Druck in den Augenhöhlen, mein Blut pocht laut in den Halsschlagadern, und ich muß das Buch, das ich eben in der Hand habe, rasch auf das Bücherbrett zurückstellen. Das Lesen seiner Bücher widerstrebt allen meinen sorgsam gehüteten und immer noch wachen Eindrücken und Erinnerungen aus der Zeit, da ich von Doktor Franz Kaa und von dem, was er mir sagte, ganz erfüllt und bezaubert war und, durch seine Worte gestärkt und ermutigt, den ersten bewußten Durchbruch zum kritischen Bewerten und Erfassen der Welt und damit zu mir selbst wagte. Ich kann Franz Kaas Bücher nicht lesen, weil ich mich fürchte, daß ich durch das Studium der erst nach seinem Tode herausgegebenen Schrien den in mir nachklingenden Zauber seiner Persönlichkeit abschwächen, verfremden oder vielleicht sogar ganz verlieren könnte. Ich fürchte
um das Bild ›meines‹ Doktor Kaa, das in mir weiterlebt und das mir bisher immer als unerschütterliches Denkund Lebensvorbild neue Kra und Haltung verlieh, wenn ich mich schon bis zum Hals hinauf im Sog der Angst und Verzweiflung fühlte. Ich fürchte, daß ich durch das Lesen der nachgelassenen Schrien zu meinem Doktor Kaa eine unheilvolle Distanz gewinnen und damit den ständig belebenden Auftrieb meiner großen Jugendbezauberung verlieren könnte. Denn – wie ich schon sagte – Franz Kaa ist für mich keine abstrakte, überpersönliche, literarische Angelegenheit. Mein Doktor Kaa ist für mich ein tief erlebtes und darum auch durchaus reales Idol einer persönlichen, dabei aber über alles lediglich Individuelle hinaus wirkenden Privatreligion, deren geistige Kra mir die Bewältigung mancher absurden, bis in den eisigen Schatten der Vernichtung hineinreichenden Situation ermöglichte. Für mich ist der Dichter der Verwandlung, des Urteils, des Landarztes, der Straolonie und der Briefe an Milena, die ich kenne, ein Künder konsequenter ethischer Verantwortung für alles Lebendige, ein Mann, in dessen scheinbar alltäglicher Kanzleiexistenz eines durch die Dienstpragmatik gebundenen Beamten der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt die hemmungslos prasselnde Glut der erdumspannenden Gottes- und Wahrheitssehnsucht der größten jüdischen Propheten wetterleuchtete. Franz Kaa ist für mich einer der letzten und darum vielleicht auch einer der größten, weil uns am allernächsten, Glaubens- und Sinnverkünder der Menschheit. Der in den Jahren, da ich mit ihm zusammenkam, schon im Schatten des Vergehens erlöschend lächelnde Doktor Franz Kaa erweckte mein Fühlen und Denken. Er war die geistig größte Gestalt und damit auch schon der mächtigste Gestalter meiner Jugendjahre, ein wirklicher, um Wahrheit und Lebensbewährung ringender Mensch, dessen in der
Stille versunkenen erbitterten Kampf um die menschliche Existenz ich mitansah. Sein Gesichtsausdruck, seine leisen Worte und die lauten Hustenanfälle, das Bild seiner hohen, schmalen Gestalt und die eleganten Bewegungen seiner gütigen Hände, der Schatten und Glanz seiner großen, wandlungsfähigen Augen, mit deren Licht er seine Aussagen zu unterstreichen pflegte, das unvergänglich Einmalige und darum nie Wiederkehrende und Ewige seiner Person, sein äußeres und inneres Wesen zittert in mir wie ein Echo, das die Gänge und Schluchten meiner Tage und Jahre in ständiger Bildwiederholung durchhallt, um mit der Zeit nicht zu verschwinden, sondern nur noch immer größer und deutlicher hervorzutreten. Mein Doktor Kaa ist für mich keine früher oder später verblassende Figur des Schritums unserer Zeit, sondern ein immer noch lebendiges, beispielha wirkendes Menschenleben, eine Lichterscheinung, deren Wärme und ständig wachsende Helligkeit mich all die Jahre, von meiner Jugend bis heute an die Schwelle des rasch heranrückenden persönlichen Erlöschens, treu wie ein untrüglicher Kompaß der Güte und der wahren Menschlichkeit begleitet. Mein Doktor Kaa war für mich das wichtigste Grunderlebnis meiner Jugend, eine süß-herbe, alle Existenzkräe des Ich mobilisierende Erschütterung, ein Wachstums-Wirbel, den ich in der Zeit, da ich mit dem Dichter Franz Kaa direkt zusammenkam, vor allem durch sorgfältig durchgeführte Tagebucheintragungen zu bewältigen versuchte. Dabei hielt ich in erster Linie seine Aussprüche fest. Die Umstände, die sie hervorriefen, wurden nur äußerst spärlich und flüchtig angedeutet. Sie schienen mir nicht wichtig zu sein. Ich sah nur ›meinen‹ Doktor Kaa. Er war ein Gedankenfeuerwerk. Alles andere verschwand im Schatten. Das wirkte natürlich auch auf die Sprache und Form meiner Eintragungen, nicht einmal so sehr in meinen Tagebüchern wie in den speziellen Aufzeichnungen, die ich
in ein dickes graues He eintrug, das ich als mein ständiges ›Gedankenlager‹ betrachtete. Hier deponierte ich im bunten Durcheinander Zitate, Gedichte, kleine Zeitungsausschnitte, literarische Pläne und Einfalle, Anekdoten, kurze Geschichten, Dinge, die mir einfielen, neben denen, die ich von verschiedenen Menschen hörte, also vor allem auch Kaas Aussprüche über die verschiedensten Dinge und Begebenheiten. Sie könnten – aus dem ›Gedankenlager‹ herausgehoben – eine ansehnliche Sammlung überraschender Aphorismen bilden. Das läßt sich aber durch ein mechanisches Zusammensuchen der entsprechenden Texte nicht durchführen, da ich häufig die Angaben über die Quelle und das Entstehen der verschiedenen Sentenzen unterließ. Mein ›Gedankenlager‹ war – wie ich heute sehe – nur ein Sammelsurium abrupt und formlos niedergeschriebener Lese- und Konversationssplitter, über deren nähere Entstehungsumstände ich wahrscheinlich nur im Augenblick ihrer Niederschri genau Bescheid wußte. Das wurde mir klar, als ich zwei Jahre nach Franz Kaas Tod bei dem tschechischen orthodox-katholischen Publizisten und Verleger Josef Florian in Stará Ríse (deutsch: Altreusch) auf der böhmisch-mährischen Hochebene weilte und mit ihm und dem in Florians Familienkommune lebenden Pater Vrána viele Nachmittage und Abende hindurch über Franz Kaa und die sich darbietenden Entwicklungsmöglichkeiten der modernen Kultur diskutierte. Auf Florians Verlangen machte ich aus meinen ganz und gar unliterarisch konzipierten Eintragungen der Tagebücher und des ›Gedankenlagers‹ eine Sammlung sprachlich allgemein zugänglicher Aufzeichnungen, welche Josef Florian in tschechischer Sprache veröffentlichen wollte. Doch dazu kam es nicht, da ich mein Fühlen und Denken nicht mit Florians Orthodoxie zu einem Akkord vereinen konnte. Darum mußte ich fort. Es begann für mich eine
lange Zeit unruhigen Herumtappens zwischen verschiedenen Menschen, Städten, Wertbegriffen und Berufen. Dabei wurden die Gefühls- und Gedankenerlebnisse meiner Jugend von einer Unmenge neuer Erfahrungen überspült. Das Bild Doktor Kaas verblaßte. Ich entfernte mich von dem geistigen Grunderlebnis meiner Jugend und damit eigentlich von mir selbst, von allen spezifischen, nur mir vorbehaltenen Entwicklungsmöglichkeiten meiner ureigenen Wirklichkeit. Wie in meinem Schrank unter dem Papierschutt alter Notenhee, Kompositionsskizzen, Bilder und Zeitungsausschnitte unausgenützt der Umschlag mit den säuberlich abgeschriebenen Erinnerungen und Aufzeichnungen zusammen mit dem dicken grauen He meines ›Gedankenlagers‹ ruhte, so waren die Bilder und Worte der Tage, da ich mit Doktor Kaa zusammenkam, in einem Wust falscher Glücks- und Sinnvorstellungen versunken. Zu einer Entrümpelung meines Bewußtseins kam es erst unter dem Druck des Krieges und der Gewalt. Das Insektendasein der Verwandlung und die unbarmherzig kalte Nadelmaschinerie der Straolonie standen plötzlich ganz handgreiflich vor mir, der brennende Dornbusch, mit dem mein Buchbinder seinerzeit meinen Sammelband der ersten Erzählungen von Franz Kaa verzierte, die Weltsicht und Glaubensverkündigung, die vor Jahren ›mein‹ Doktor Kaa nur als einen zu verwerfenden Nachtmahr zu bewerten versuchte, Franz Kaas Inferno war plötzlich ein ganz gewöhnlicher Bestandteil meiner Alltagserfahrung geworden. Mein Freund, der bekannte Prager Musiker Georg Vachovec und seine Frau Jana, mit denen ich über diese mich unheimlich berührende Verwandlung der Weltatmosphäre sprach, waren der Meinung, daß meine Erinnerungen an Franz Kaa nicht allein mir gehören. »Der Wein der Erfahrung, den man aus den süßen und bitteren Trauben des Erlebens herauspreßt, gehört allen«,
sagte Jana. »Darum wird er ja in der Schale der Sprache weitergegeben.« Mein Freund schloß sich ihr an. Er sagte: »Du mußt die Gespräche herausgeben. Du bist Kaas Zeuge, der vielleicht wichtige Schlüssel zu seinem inneren Wesen besitzt.« Darauf entgegnete ich, daß ich nicht den ganzen Umfang seines Werkes kenne; ich sei nicht mit dem Dichter, sondern nur mit dem Bürofreund meines Vaters zusammengekommen. Doch da wurde die Frau meines Freundes wild. Sie warf beide Hände in die Höhe und schrie: »Bist du ganz und gar vernagelt? Große, für die ganze Menschheit bedeutsame Dichtung erfordert den Einsatz des ganzen Menschen. Das sieht man eben hier überaus deutlich. Zwischen dem Justitiar Doktor Kaa und dem Dichter Franz Kaa ist keine trennende, schalldichte Betonwand. Das kann man aus den Gesprächen, die er mit dir führte, ganz deutlich heraushören. Deine Gespräche gehören zu seinem Werk. Daher darfst du sie der Welt nicht vorenthalten.« Darauf konnte ich nichts mehr entgegnen. Ich holte meine Aufzeichnungen aus dem Papierverließ meines Schrankes hervor und übergab sie der Frau meines Freundes zum Abtippen, da ich damals, im Jahre , nach einer fast vierzehn Monate dauernden schweren und unschuldig erlittenen Untersuchungsha in dem berüchtigten Prager Gefängnis Pankrác, seelisch und körperlich sehr herabgekommen war. Johanna Vachovec tippte in einigen wenigen Tagen ein Original und zwei Durchschläge meines Manuskriptes, zu dem sie die erklärenden Anmerkungen und Hinweise verfaßte. Ohne mich zu fragen, schickte sie das Original am . Mai von der Prager Hauptpost an Doktor Max Brod nach Tel Aviv in Israel. Da von dort jedoch wochenlang keine Antwort kam und die Frau meines Freundes sehr ungeduldig war, sandte sie einen Durchschlag an ihren Onkel, den Druckereifachmann Emil Kossak nach Stock
holm. Doch von dort kam auch keine Antwort. Also entschloß ich mich, mein Buch einer kleinen jüdischen Verlagsbuchhandlung, die Frau Mary S. Rosenberg, West nd Street in New York, gehörte, anzubieten. Frau Rosenberg anwortete fast sofort, und am . September war sie schon in Prag, wo sie vom Staat große Bestände beschlagnahmter antiquarischer deutscher Bücher für den Import nach den Vereinigten Staaten kaue. Für mein Manuskript Kaa sagte mir zeigte sie – wie mir erst später bewußt wurde – nur ein höfliches Anstandsinteresse. Doch das war für einen kurz zuvor entlassenen, zerschundenen Untersuchungshäling, dessen Briefe man wochenlang einfach überhaupt nicht beantwortete, schon sehr viel. Ich gab also Frau Rosenberg ohne jede Bestätigung – von vagen Publikationshoffnungen berauscht – das letzte getippte Exemplar meines Buches, um es nie wiederzusehen. Um mein Kaa-Dokument, wie Jana Vachovec meine Erinnerungen nannte, wurde es still. Ich suchte die Aufzeichnungen wie einen mißglückten und darum bedeutungslosen literarischen Gehversuch zu vergessen. Doch da kam die Weihnachtswoche und mit ihr ein Brief mit dem Datum . Dezember , in welchem sich Kaas treuer Freund und Weggenosse Max Brod über mein Manuskript äußerte. Er machte mich auf ein paar kleine sachliche Fehler in den Anmerkungen aufmerksam, bezeichnete jedoch ansonsten meine Aufzeichnungen als ein »gutes, aufschlußreiches und bedeutsames Buch«, für das er sich gern voll einsetzen werde. Der Brief endete mit der Erklärung: »Zum Schluß möchte ich Ihnen noch einmal sagen, wie sehr mich Ihre Aufzeichnungen gefreut haben, die mir wesentliche Züge meines unvergeßlichen Freundes – zum Teil mit neuen Details – auf ergreifende Art lebendig gemacht haben. Teilen Sie mir mit, wie es Ihnen geht.« Das war nach einer schier endlosen Zeit der Angst und Er
niedrigung das erste gütige, mein angeschlagenes Selbstbewußtsein stärkende Wort, das um so mächtiger auf mich wirkte, da es ein Mann aussprach, den ›mein‹ Doktor Kaa hochschätzte und auf seine stille, aber eindringliche Art gern hatte. Ich setzte mich also hin und schrieb am . Jänner an Doktor Max Brod einen Brief, in welchem ich sagte: »Ihr Brief war für mich ein wunderbares Weihnachtsgeschenk. Natürlich können Sie in dem Nachtrag (die Anmerkungen, die Jana Vachovec mit dem Namen Alma Urs unterzeichnete), wie Sie wollen, Änderungen und Berichtigungen durchführen. Ich werde Ihnen dafür nur dankbar sein. Ich betrachte mein Buch über Franz Kaa nicht als literarisches Werk, sondern als ein Dokument: es ist nichts als eine Zeugenaussage und Abrechnung mit dem Klima meiner Jugend – wenn man so sagen kann …« Zum Schluß gab ich dann Doktor Max Brod das Recht, alle notwendigen Änderungen in dem Buch vorzunehmen. Ich reagierte auf Doktor Brods freundliche Zeilen mit einem hemmungslosen Vertrauen, das nach dem Erscheinen des Buches – dessen Vertrag und Korrekturen ich nie gesehen habe – einen niederschmetternden Schlag bekam. In dem Buch fehlte nämlich ein beträchtlicher Teil des ursprünglichen Textes, darunter nicht wenige Stellen, denen ich einen besonders großen Wert beimaß, denn sie zeigten das bisher verborgene Rebellengesicht des traumdurchglühten Dichters der Verwandlung und der Straolonie, seinen konsequenten Antibürokratismus, sein Stöhnen und sporadisch auretendes bitteres Verzweifeln in der Qualmfabrik seiner Kanzlei, seine tiefe Anteilnahme an der Prager Geschichte, sein phantastisches Haen an dem doppelgründigen Wortsinn der Sprache, den Sarkasmus, mit dem er die pseudosozialistischen Parteibonzen abtaxierte, seinen realen Blick für jede Art politischer Illusionen, seinen leicht gespenstischen Humor und sein handfestes kritisches Zupacken.
Alles das fehlte fast gänzlich in dem gedruckten Text, der im Jahre bei S. Fischer herauskam. Mein Buch war nur ein Torso, ein Krüppelorganismus, ein trauriger Rest, bei dessen Anblick sich mein Herz zusammenkrampe. Es war ein Buch mit Scheuklappen, ein durch Auslassungen vernebelter Horizont, ein müder, schief gezogener Mund mit herausgebrochenen Fangzähnen, ein kastrierter Wisch! Warum hatte Max Brod das getan? Warum erschienen meine Aufzeichnungen in dieser, den Menschen Kaa entwürdigenden, verstümmelten Form? Störte mein Mosaik anspruchsloser Erinnerungsbilder ein mir unbekanntes kulturpolitisches Konzept? War mein Doktor Kaa anders, als ihn der Herausgeber von Kaas nachgelassenen Werken haben wollte? Warum strich er den Absatz, der die bisher unbekannte Wurzel von Kaas Zugehörigkeit zu den Anarchisten bloßlegte? War Max Brod wirklich nur ein großbürgerlicher Nationalist, wie ihn in einem Flugblatt Ernst Kollmann, der kommunistische Herausgeber der linksgerichteten Prager Zeitschri Jung Juda, im Jahre genannt hatte? Warum wurde in meinen Aufzeichnungen herumgestrichen? Für wen waren sie unbequem? Je weniger ich nur eine einzige dieser Fragen beantworten konnte, um so mehr rumorten sie alle in meinem Gehirn. Ein Brief an Max Brod wäre da wohl das Einfachste gewesen, um hier Klarheit zu schaffen. Doch gerade das konnte ich nicht tun. Brod hatte sich um die Herausgabe meiner Aufzeichnungen gekümmert, ich war ihm zu Dank verpflichtet, und dann – ich hatte ihm eine Blankovollmacht zu allen etwaigen Strichen und Änderungen erteilt. Ich konnte jetzt nicht protestieren. Ich mußte daher – wie man sagt – das Maul halten. Doch dazu besitze ich wirklich nicht die geeignete Begabung. Ich kann nur sehr schwer unlustbetonte Stimmungen verbergen. So war es auch im
Falle meines verkrüppelten Buches. Ich schwieg, ich hielt mich zurück, doch ich murrte. Und o sehr laut. * Die Menschen, die mein Murren vernahmen, reagierten darauf im Einklang mit ihren sonstigen Interessen. Der italienische Publizist Nerio Minuzzo aus Rom, Via Ludovisi , mit dem mich kurz vor seiner Abreise aus Prag der junge tschechische Reporter Jan Parik zusammenbrachte, erklärte: »Sie sind der letzte in Prag noch lebende Mensch, der den Dichter Franz Kaa persönlich kannte. Sie müssen alles, was Sie über ihn wissen, sagen und weitergeben. Jedes Detail kann ein Schlüssel sein. Sie dürfen seine Persönlichkeit nicht durch ein Schweigen vernebeln.« Das war ein Schock für mich. Ich sollte das geistige Antlitz eines Menschen, dessen Erscheinung ich als ein weithin leuchtendes Fanal der tiefsten und schmerzlichsten Seelenkonflikte unserer Zeit betrachte, ich sollte dieses richtunggebende Licht vernebeln? – Mir blieb die Sprache weg. Ich gestehe: ich war froh, als sich Nerio Minuzzo und seine Freunde plötzlich erhoben, um zum Flugplatz zu eilen. Ich habe nicht die Lücken in meinem Buch verursacht. Es kam schon als Torso zu mir. Ich hätte es gern ergänzt, doch es fehlten mir die Mittel dazu. Das abgetippte Original und die zwei Durchschläge waren fort. Ich hatte keine Kopie. Die Tagebücher hatte meine Frau in der Zeit, da ich unschuldig im Gefängnis saß, verbrannt. Und das ›Gedankenlager‹? Ich weiß nicht, wohin es verschwand. Wie sollte ich mich da in der Vergangenheit orientieren? Klaus Wagenbach, der ausgezeichnete Kaa-Biograph, mit dem ich monatelang korrespondierte und tagelang in Prag den Spuren des Dichters der Verwandlung und der Straolonie nachging, sagte mir: »Sie müssen alles, was * Wie unrecht ich Max Brod mit all diesen Verdächtigungen getan habe, sollte sich erst sehr viel später herausstellen.
Sie aus Kaas Zeit wissen, aufschreiben. Es wird ja gar nicht mehr lange dauern, und es wird niemand hier sein, der sich an jene Zeit erinnern können wird.« Wagenbach brachte mir erst die Tatsache meiner Schwäche und Sterblichkeit voll zum Bewußtsein. Er hatte recht. Was sollte ich tun? Sollte ich mich über Doktor Max Brod und die unvollständige Ausgabe der Gespräche mit Kaa beklagen? Klaus Wagenbach war Brods Bekannter und einer der Lektoren des S. Fischer Verlages. Ich zog mich also unter einem nichtigen Vorwand, den ich heute schon vergessen habe, von Klaus Wagenbach zurück. Allein dadurch wurde meine innere Situation nicht besser. Im Gegenteil: das verkrüppelte Buch verursachte mir ein seelisches Trauma. Ich war ein wichtiger Zeuge, der versagte. Gewissensbisse verfolgten mich. Deshalb war es ganz natürlich, daß ich bei verschiedenen Menschen Rat und Hilfe suchte. Doch in einer Not, die bis zu den verborgensten Wurzeln der Existenz hinabreicht, ist man immer allein. Da können Menschen nicht helfen. Da gehen alle Menschenworte vorbei – wenn sie nicht von wahrer, konventionsloser Liebe erfüllt sind. So erklärte mir Doktor Wolfgang Kraus, der Sekretär der österreichischen Gesellscha für Literatur, mit dem ich einmal an einem durchsonnten Spätnachmittag in dem schon geschlossenen stillen Friedhof am Grabe Franz Kaas saß, daß ich meine Erinnerungsbilder festhalten und publizieren solle. Er sagte: »Es steht nirgends geschrieben, daß Sie außer den erfolgreichen Gesprächen mit Kaa Ihre eigenen Betrachtungen über das Werk des Prager Dichters, den Sie kannten, nicht herausgeben könnten.« Ich äußerte mich nicht zu dieser Erklärung. Ich konnte ja dem sympathischen Wiener Literaturwissenschaler nicht sagen, daß Franz Kaa für mich nicht die Materialgrundlage literarischer Betrachtungen, sondern die Achse
einer im stillen sich kristallisierenden Privatreligion sei. Franz Kaa war und ist für mich keine unterhaltsame, belletristische Angelegenheit, sondern ein sehr ernstes, richtunggebendes Glaubens- und Lebensbeispiel. Das wußten und wissen natürlich bis heute nur die wenigsten Menschen, darum wandten sich an mich auch verschiedene ausländische Verlagsfirmen, mit den verschiedensten belletristischen Angeboten. So wurde ich z. B. vom KindlerVerlag in München aufgefordert, in meine Dokumententruhe zu greifen und mich als Helfer bei der Herausgabe einer Publikation über die Kaa-Nachfolge einzuschalten. Es ist klar, daß ich diesen Antrag am . Mai höflich zurückweisen mußte, da ich ja nicht über die notwendigen Dokumente und Voraussetzungen verfügte. Ich besaß weder einen Durchschlag meines ungekürzten Manuskriptes Kaa sagte mir, noch mein altes ›Gedankenlager‹. Und dann – selbst wenn ich das verschollene graue He gefunden hätte – könnte ich mich, meiner Ansicht nach, nur sehr schwer an das Zustandekommen der verschiedenen Aussprüche erinnern. Es wäre nach all den langen Jahren ganz gut möglich gewesen, daß ich irgendwelche Eintragungen irrtümlicherweise Franz Kaa zuschreiben könnte, anstatt sie – dem wirklichen Tatbestand entsprechend – als Zitate eines nun schon dem Gedächtnis entfallenen Lesestoffes zu deklarieren. Wie konnte ich da noch irgendeine Zeugenscha abgeben? Ich konnte doch nicht einfach herumphantasieren, um irgendwelchen publizistischen Detailjägern irgendwo in der Welt einige anekdotische Leckerbissen zu servieren. Ich mußte mich in jeder Äußerung streng nur auf eine möglichst exakte Zeugenaussage beschränken. Allein das wurde auch mißverstanden. »Sie sind ein Dichter«, sagte mir der italienische Filmregisseur Fernando di Giammatteo, der für das italienische Fernsehen einen Streifen über Franz Kaa und Prag
drehte, als ich ihn durch einen schlauchartigen dunklen Häuserdurchgang führte, vor dem plötzlich der hohe Turm der Karlsbrücke mit der Silhouette des Prager Schlosses aus dem Dämmernebel emporschnellte. »Sie sind ein Dichter«, wiederholte er. »Kaa ist für Sie kein gewöhnlicher Mensch, dem Sie in Ihrer Jugend begegneten.« »Das stimmt«, sagte ich. »Er ist ein Seher. Franz Kaa lebte nicht in Prag. Prag war nur ein Sprungbrett für ihn. Franz Kaa lebte im Absolutorium.« Darum empfand ich auch den Verlust meiner Erinnerungen direkt wie eine Schuld und ein schweres Vergehen. Lucy Ulrych, die Leiterin des Pariser Clavis-Film, der ich während ihres Aufenthaltes in Prag dies anvertraute, sagte: »Seien Sie ruhig. Kaa ist ein Prophet. Sie haben seine Stimme festgehalten. Die Stimme eines Propheten kann nicht verlorengehen. Ihre restlichen Gesprächs-Fragmente werden sich bestimmt noch finden, Franz Kaa ist keine gewöhnliche literarische Angelegenheit. Kaas Stimme ist eine wichtige Botscha an alle Menschen unserer Zeit. Ihre Gespräche mit Kaa werden bestimmt noch ungekürzt herauskommen.« Wir gingen unter den bunten Neonlichtern des abendlichen Wenzelsplatzes auf und ab. Frau Lucys Stimme war von einem inbrünstigen Glauben erfüllt. Ich fühlte ihn, doch ich glaubte ihr nicht. Für mich war ihre Inbrunst nur eine exaltiert aufgeplusterte Pose. Das Original und die Durchschläge meiner Gespräche waren weg. Kein Wunder konnte sie zurückbringen. Mir wurde schlecht. Ich fühlte mich einem diabetischen Koma nahe. Mein Atem drang nicht in die Tiefe. Schweiß rann mir den Rücken hinunter. Frau Lucy brachte mich mit einem Taxi in das Haus am Stadtrand, wo ich nun schon längere Zeit übernachtete. Beim Abschied sagte sie mir: »Sie dürfen nicht schwach werden. Die Verzweiflung ist – wie Kaa sagte – eine der größten Sünden. Sie müssen an das Recht und die Gnade
glauben, dann wird alles gut werden. Das Gute kommt o im Mantel des Schreckens zu uns.« Frau Lucy Ulrych hatte recht. Doch das erfuhr ich erst viel später. Was ich in der Zeit, da ich mit Frau Lucy sprach, wirklich sah und erlebte, das war nur eine schier ausweglose Umklammerung der Not und Entrechtung, die nicht durch die äußeren Umstände der Gesellscha und der Staatsordnung, sondern nur durch die innere Dämonie der Dinge und Menschen selbst verschuldet wurde. Ich lebte, als ich mit Frau Lucy Ulrych gesprochen hatte, schon viele Monate unter einem schrecklichen Druck, dem ich trotz aller Bemühungen nicht entkommen konnte. Ich verhedderte mich in ihm nur von Tag zu Tag immer mehr und mehr. Meine Frau, Helene Janouch, war nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Kurze Zeit darauf ist meine Tochter Anna bei einer Motorradfahrt ums Leben gekommen. Ich konnte mich an ihrer Beisetzung nicht beteiligen, und das Begräbnis meiner Frau habe ich auch nur zum Teil bezahlt, da alle meine bisherigen Geldquellen versiegten. Die Leiterin eines namhaen Prager Verlages, für den ich als externer Lektor und Übersetzer arbeitete, hatte Selbstmord verübt. Die neue Verlagsleitung wollte die vorwiegend nur mündlich erteilten Arbeitsauräge nicht anerkennen. Die Arbeit eines ganzen Jahres wurde mir nicht bezahlt, und als ich mich gegen dieses Unrecht wehrte, wurden mir noch darüber hinaus alle Arbeitsmöglichkeiten entzogen. Gleichzeitig rasselte ich auf dem deutschen Büchermarkt mit ein paar Nazis zusammen. Sie hintertrieben die Herausgabe eines Buches, in welchem ich die seelischen Folgen der Rassenverfolgung und den Jazz als einen psychischen Befreiungsversuch des rassisch unterdrückten Menschen herausstellte. Ich kannte ja nicht nur die Negermusik, sondern auch das »tönende Brot« der jungen Juden im Ghetto eresienstadt, die mein langjähriger Freund, der Komponist Emil Ludvík, aufopferungsvoll unterstützte.
Das waren natürlich Tatsachen, die den ehemaligen Rassenreferenten und frischgebackenen Patentdemokraten nicht paßten, darum hintertrieben sie auf ganz infame Weise die Herausgabe meines Buches Der Todesblues, und als ich mich dagegen wehrte, wurde mein Buch Prager Begegnungen, dessen erste Auflage kurz zuvor in wenigen Wochen vergriffen war und von der Kalifornischen Universität in Berkeley – USA – und der Russischen Universität in Lwov – Sowjetunion – von dem Verlag Paul List in Leipzig vergeblich verlangt wurde, einfach unterdrückt und nicht mehr herausgegeben. Ich wurde wegen meiner konsequenten humanistischen, dem Glauben und Andenken Franz Kaas verhaeten Gesinnung ohne jede Rechtsgrundlage verfolgt und in die Zwangsjacke erhöhter Brot- und Existenzsorgen gepfercht. Man verstope mir den Mund und versuchte mir alle Mittel menschlicher Aktivität zu nehmen, um mich durch einen auf diese Weise hochgetriebenen Abnützungsprozeß zu zerbrechen. Das wäre auch fast schon gelungen. Mein durch langjährige Krankheiten, seelische Leiden und eine nun planmäßig gesteigerte Menge ganz gewöhnlicher Alltagssorgen geschwächter Stoffwechselmechanismus verlor sein Gleichgewicht. Ich verfiel seelisch und körperlich. Es kam zu einem allmählichen Absacken in eine äußere und innere Vereinsamung, die nicht zu einer inneren Vereisung und Härte, sondern – ganz im Gegenteil! – zu einem hilflosen Gefühl des Ausgeliefertseins und zu einer ständig wachsenden Reizbarkeit führte. Befreundete Ärzte konstatierten bei mir eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber allen möglichen Infektionen. Ich kam fast nicht mehr aus dem Fieber und dem Krankenbett heraus. Neben diesem körperlichen Verfall machte sich dann auch schon ein allmählicher Schwund der geistigen und moralischen Kräe bemerkbar. Mein bisher wunderbares
Gedächtnis bekam Lücken. Ich vergaß im Handumdrehen stereotype Handlungen und kleine, ganz alltägliche Dinge. Das Leben erschien mir nicht mehr lebenswert. Ich wurde reif für Camus, Beckett und die ganze übrige illustre Plejade der Absurdisten. Vor mir stand nur noch eine einzige Perspektive: das Sterben. Ich wollte es ruhig und ohne viel Auebens erwarten. Der einzige Wunsch, den ich noch hatte, war der Wunsch nach Ordnung. Ich wollte den guten Menschen, mit deren selbstloser Güte und Hilfe ich bisher durchhalten konnte, keine Schulden und Unordnung zurücklassen. Deshalb ging ich in meine alte Wohnung auf der Nationalstraße, die ich seit dem Tode meiner Frau nur noch einigemal und da immer nur auf ganz kurze Zeit aufsuchte. Ich wollte alles, was hier noch an Bildern, Kleidungsstücken, Porzellan und anderen Dingen übrigblieb, heraussuchen und verschenken. Nach einer knappen halben Stunde lag ein Haufen verschiedener Sachen auf dem Tisch. Ich sah mich nach einem Koffer um. Im Zimmer gab es keinen. Ich hatte vordem ein paar alte Kollis im Klosett auf einem Abstellregal gesehen. Ich holte mir also von dort einen großen, alten, abgewetzten Papierkoffer. Er war mit Stoff- und Wollresten, Bündeln von Stricknadeln und vergilbten Schnittmustern vollgefüllt. Ich entleerte den Koffer auf den Fußboden. Ganz unten lag ein He alter Walzer von Johann Strauß und unter ihm mein altes, graues ›Gedankenlager‹. Aus den Straußwalzern lugte dann eine betippte Papierlage heraus. Sie war das Original der fehlenden Stellen meiner Gespräche mit Kaa. Ich mußte mich hinsetzen. Doktor Max Brod hat in meinem Buch nicht willkürlich herumgestrichen. Er hat keinen einzigen Absatz unterdrückt und weggelassen. Ich habe ihm jahrelang Unrecht angetan. Der Fehler war meine alles trivialisierende Bequemlichkeit. Ich habe dem Nahen mehr Vertrauen als dem Entfernten geschenkt. Und Johanna Vachovec hatte
in ihrer gutgemeinten Ungeduld einfach nicht das ganze Original des abgetippten Manuskriptes an Max Brod geschickt. Das war alles. Wie die Blätter in das Notenhe und in den Koffer kamen – das weiß ich nicht. Doch das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Frau Lucy Ulrych hatte recht. Sie hatte tausendmal recht. Ihre Inbrunst war keine Pose. Ich hatte ihr wie auch Max Brod und damit mir selbst Unrecht getan. Die Stimme eines Propheten kann nicht verlorengehen. Das hatte Frau Lucy richtig gesehen und gesagt. Das Ordnen meines Lebensnachlasses kann deshalb nur mit der Ergänzung meiner Kaa-Zeugenscha beginnen. Das ist aber kein Ende, kein Absturz in die Auflösung, sondern ein Anfang, eine Umkehr. Nicht nur für mich, sondern auch für viele unsichtbar wirkende und dem Morgen entgegenstrebende Menschen. Mein Doktor Kaa ist – wie der gute und treue Doktor Max Brod sagte – eine wegweisende Gestalt, und darum ist das, was ich hier als eine öffentliche Beichte und Abbitte niederschreibe, kein Abschluß, sondern eine geöffnete Tür, ein kleines Stück Hoffnung, ein Ein- und Ausatmen und dadurch schon eine Stärkung dessen, was in uns gebrechlichen Menschen nach all den Qualen der Angst und Enttäuschung, die wir erlebten, noch immer lebendig und unzerstörbar ist.
GESPR ÄCHE MIT K AFK A
Eines Tages gegen Ende März sagte mir mein Vater beim Abendessen, ich solle ihn im Laufe des nächsten Vormittags in seiner Kanzlei besuchen. »Ich weiß, wie o du die Schule schwänzt, um in die städtische Bibliothek zu gehen«, bemerkte er. »Komme morgen also zu mir. Und ziehe dich anständig an. Wir werden jemanden besuchen.« Ich fragte, wohin wir zusammen gehen würden. Es schien mir so, als hätte ihn meine Neugierde unterhalten. Doch eine Auskun gab er mir nicht. »Frage nicht«, sagte er. »Sei nicht neugierig und laß dich überraschen.« Als ich mich dann am nächsten Tage kurz vor Mittag in seiner Kanzlei im dritten Stock der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt einstellte, musterte er mich sorgfältig vom Scheitel bis zur Sohle, öffnete die mittlere Schublade des Schreibtisches, entnahm ihr eine grüne Mappe mit der kalligraphischen Aufschri Gustav, legte sie vor sich hin und betrachtete mich lange. »Warum stehst du?« fragte er nach einer Weile. »Setz dich.« Der gespannte Ausdruck meines Gesichtes verursachte ein leichtes, schelmisches Zusammenziehen seiner Augenlider. »Fürchte dich nicht, ich will dich nicht ausschimpfen«, begann er freundschalich. »Ich will mit dir sprechen wie ein Kamerad mit einem Kameraden. Vergiß, daß ich dein Vater bin, und hör mich an. Du schreibst Ge
dichte.« Er sah mich an, als würde er mir eine Rechnung vorlegen. »Wieso weißt du das?« stotterte ich. »Wie hast du das erfahren?« »Das ist einfach«, sagte der Vater. »Jeden Monat kommt eine große Rechnung für das Licht. Ich forschte nach der Ursache dieses erhöhten Verbrauches, und so entdeckte ich, daß du in deinem Zimmer bis spät in die Nacht hinein Licht hast. Ich wollte wissen, was du da eigentlich treibst, also paßte ich auf. Ich stellte fest, daß du schreibst und schreibst und immer wieder das Geschriebene zerreißt oder schamha unten im Pianino versteckst. Ich habe mir die Sachen also eines Vormittages, als du in der Schule warst, angesehen.« »Und?« Ich schluckte den Speichel. »Und nichts«, sagte der Vater. »Ich entdeckte ein schwarzes He mit der Aufschri Buch der Erfahrungen. Das interessierte mich. Als ich jedoch feststellte, daß das dein Tagebuch war, legte ich es zur Seite. Ich will dir nicht die Seele ausplündern.« »Aber die Gedichte hast du gelesen.« »Ja, die habe ich gelesen. Sie waren in einer dunklen Aktenmappe mit der Aufschri Buch der Schönheit. Vieles war mir unverständlich. Etwas davon muß ich als dumm bezeichnen.« »Warum hast du es gelesen?« Ich war siebzehn Jahre alt, und darum war jede Berührung eine Majestätsbeleidigung. »Warum soll ich es nicht lesen? Warum soll ich deine Arbeit nicht kennenlernen? Einige von den Gedichten haben mir sogar gefallen. Ich hätte gern ein fachliches Urteil aus berufenem Munde gehört. Also habe ich sie abstenographiert und in der Kanzlei auf der Schreibmaschine abgeschrieben.« »Welche Gedichte hast du abgeschrieben?«
»Alle«, antwortete mein Vater. »Ich achte nicht nur das, was ich verstehe. Ich wollte doch nicht meinen Geschmack, sondern deine Arbeit beurteilen lassen. Darum habe ich alles abgeschrieben und Doktor Kaa zur Beurteilung vorgelegt.« »Was ist das für ein Doktor Kaa? Du hast nie von ihm gesprochen.« »Er ist ein guter Freund von Max Brod«, erklärte der Vater. »Max Brod widmete ihm sein Buch Tycho Brahes Weg zu Gott.« »Das ist also der Dichter der Verwandlung«, rief ich aus. »Eine phantastische Erzählung! Du kennst ihn?« Mein Vater nickte. »Er ist in unserer Rechtsabteilung.« »Was sagte er über die Sachen von mir?« »Er lobte sie. Ich dachte, daß er das nur so meint. Dann ersuchte er mich aber, ich solle ihn mit dir bekannt machen. Ich sagte ihm also, daß du heute kommst.« »Das ist also der Besuch, von dem du gesprochen hast.« »Ja, das ist der Besuch, du Kritzler.« Der Vater führte mich in den zweiten Stock hinunter, wo wir in eine ziemlich große, gut eingerichtete Kanzlei eintraten. Hinter einem von zwei nebeneinander stehenden Schreibtischen saß ein hoher, schlanker Mann. Er hatte schwarzes, zurückgekämmtes Haar, eine höckerige Nase, wunderbare graublaue Augen unter einer auffallend schmalen Stirn und bittersüß lächelnde Lippen. »Das ist sicher derjenige«, sagte er an Stelle einer Begrüßung. »Das ist er«, sagte mein Vater. Doktor Kaa reichte mir die Hand. »Vor mir brauchen Sie sich nicht zu schämen. Ich habe auch eine große Lichtrechnung.« Er lachte, und meine Schüchternheit schwand.
›Das ist also der Dichter der geheimnisvollen Wanze Samsa‹, sagte ich mir, enttäuscht davon, einen einfachen, zivilen Mann vor mir zu sehen. »In Ihren Gedichten ist noch viel Lärm«, sagte Franz Kaa, als uns der Vater allein in der Kanzlei zurückließ. »Das ist eine Begleiterscheinung der Jugend, die auf einen Überschuß von Lebenskräen hinweist. Es ist also selbst dieser Lärm schön, obwohl er mit der Kunst nichts gemeinsam hat. Im Gegenteil! Der Lärm stört den Ausdruck. Aber ich bin kein Kritiker. Ich kann mich nicht rasch in etwas verwandeln, dann zu mir zurückkehren und die Entfernung genau abmessen. Wie gesagt – ich bin kein Kritiker. Ich bin nur Gerichteter und Zuschauer.« »Und der Richter?« fragte ich. Kaa lächelte verlegen. »Zwar bin ich auch der Gerichtssaaldiener, doch kenne ich die Richter nicht. Wahrscheinlich bin ich ein ganz kleiner Aushilfsgerichtsdiener. Ich habe nichts Definitives.« Kaa lachte. Ich lachte mit ihm, obwohl ich ihn nicht verstand. »Definitiv ist nur das Leid«, sagte er ernst. »Wann schreiben Sie?« Ich war durch diese Frage überrascht, darum antwortete ich schnell: »Abends, in der Nacht. Während des Tages sehr selten. Ich kann während des Tages nicht schreiben.« »Der Tag ist ein großer Zauber.« »Es stört mich das Licht, die Fabrik, die Häuser, die Fenster gegenüber. Hauptsächlich aber das Licht. Das Licht lenkt die Aufmerksamkeit ab.« »Vielleicht lenkt es vom Dunkel des Inneren ab. Es ist gut, wenn das Licht den Menschen überwältigt. Wenn es nicht diese grauenvollen, schlaflosen Nächte gäbe, so würde ich überhaupt nicht schreiben. So wird mir aber immer wieder meine dunkle Einzelha bewußt.« ›Ist er nicht selbst die unglückliche Wanze aus der Verwandlung?‹ fiel mir ein.
Ich war froh, daß sich die Tür öffnete und mein Vater eintrat.
Kaa hat große graue Augen unter dichten dunklen Brauen. Sein braunes Gesicht ist sehr lebha. Kaa spricht durch sein Gesicht. Wo er das Wort durch eine Bewegung der Gesichtsmuskeln ersetzen kann, tut er es. Ein Lächeln, Zusammenziehen der Augenbrauen, Kräuseln der schmalen Stirne, Vorschieben oder Spitzen der Lippen – das sind Bewegungen, die gesprochene Sätze ersetzen. Franz Kaa liebt Gesten, und darum geht er mit ihnen sparsam um. Seine Geste ist keine das Gespräch begleitende Verdoppelung des Wortes, sondern Wort einer gleichsam selbständigen Bewegungssprache selbst, ein Verständigungsmittel, also keineswegs passiver Reflex, sondern zweckmäßiger Willensausdruck. Falten der Hände, ausgebreitetes Hinlegen der Handflächen auf die Schreibunterlage des Schreibtisches, behagliches und dabei doch gespanntes Zurückbeugen des Oberkörpers im Stuhl, Vorbeugen des Kopfes in Verbindung mit Hochziehen der Schultern, Pressen der Hand ans Herz – das ist ein kleiner Teil seiner sparsam angewendeten Ausdrucksmittel, die er immer mit einem entschuldigenden Lächeln begleitet, als wollte er sagen: ›Es ist wahr, und ich gestehe, daß ich spiele; doch hoffe ich, daß euch mein Spiel gefällt. Und dann – dann mache ich das ja nur, um euer Verständnis auf eine ganz kleine Weile zu gewinnen.‹
»Doktor Kaa hat dich sehr gern«, sagte ich zu meinem Vater. »Wie seid ihr eigentlich miteinander bekannt geworden?«
»Wir kennen einander aus der Kanzlei«, antwortete mein Vater. »Näher zusammengekommen sind wir erst nach meinem Entwurf der Kartothekschränke. Doktor Kaa hat das Modell, welches ich verfertigte, sehr gefallen. Wir kamen ins Gespräch, und er gestand mir, daß er nachmittags nach den Kanzleistunden bei dem Tischler Kornhäuser in der Poděbradgasse in Karolinenthal ›Stunden nehme‹. Von der Zeit an sprachen wir öer über persönliche Dinge. Dann gab ich ihm deine Gedichte, und so wurden wir – gute Bekannte.« »Warum nicht Freunde?« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Für eine Freundscha ist er zu scheu und zu verschlossen.« Während meines nächsten Besuches bei Kaa fragte ich: »Gehen Sie noch zu dem Tischler nach Karolinenthal?« »Sie wissen davon?« »Mein Vater hat es mir gesagt.« »Nein, ich gehe schon lange nicht mehr hin. Mein Gesundheitszustand erlaubt es nicht mehr. Seine Majestät der Körper.« »Das kann ich mir vorstellen. Die Arbeit in der verstaubten Werkstätte ist nichts Angenehmes.« »Da irren Sie aber. Ich liebe die Arbeit in der Werkstätte. Der Geruch des gehobelten Holzes, das Singen der Säge, die Hammerschläge, alles bezauberte mich. Der Nachmittag schwand nur so dahin. Der Abend setzte mich immer in Erstaunen.« »Da waren Sie sicherlich müde.« »Ich war müde, aber auch glücklich. Es gibt nichts Schöneres als so ein reines, greiares, allgemein nützliches Handwerk. Außer der Tischlerei habe ich schon in der Landwirtscha und in der Gärtnerei gearbeitet. Das war alles viel schöner und wertvoller als der Frondienst in der Kanzlei. Anscheinend ist man da etwas Höheres, Besseres; aber das
ist eben nur Anschein. In Wirklichkeit ist man bloß einsamer und darum unglücklicher. Das ist alles. Intellektuelle Arbeit reißt den Menschen aus der menschlichen Gemeinscha. Das Handwerk dagegen führt ihn zu den Menschen. Schade, daß ich nicht mehr in der Werkstatt oder im Garten arbeiten kann.« »Sie möchten doch nicht Ihren Posten hier aufgeben?« »Warum nicht? Ich träume davon, daß ich als Landarbeiter oder Handwerker nach Palästina gehe.« »Sie würden alles hier zurücklassen?« »Alles, um ein sinnvolles Leben in Sicherheit und Schönheit zu finden. Kennen Sie den Dichter Paul Adler?« »Ich kenne nur sein Buch Zauberflöte.« »Er ist in Prag. Mit seiner Frau und den Kindern.« »Was hat er für einen Beruf?« »Gar keinen. Er hat keinen Beruf, sondern nur seine Berufung. Mit seiner Frau und den Kindern fährt er von einem Freund zum anderen. Ein freier Mensch und Dichter. Ich bekomme in seiner Nähe immer Gewissensbisse, daß ich mein Leben in einer Kanzleiexistenz ertrinken lasse.«
Im Mai schrieb ich ein Sonett, das Ludwig Winder in der Sonntagsbeilage der Bohemia veröffentlichte. Kaa sagte bei dieser Gelegenheit: »Sie beschreiben den Dichter als einen wunderbar großen Menschen, dessen Füße sich auf der Erde befinden, während der Kopf in den Wolken schwindet. Das ist natürlich ein ganz gewöhnliches Bild im Vorstellungsrahmen der kleinbürgerlichen Konvention. Es ist eine Illusion verborgener Wünsche, die mit der Wirklichkeit nichts Gemeinsames hat. In Wirklichkeit ist der Dichter immer viel kleiner und schwächer als der gesellschaliche Durchschnitt. Er empfindet darum die Schwere des Erdendaseins viel intensiver und stärker
als die anderen Menschen. Sein Gesang ist für ihn persönlich nur ein Schreien. Die Kunst ist für den Künstler ein Leid, durch das er sich für ein neues Leid befreit. Er ist kein Riese, sondern nur ein mehr oder weniger bunter Vogel im Käfig seiner Existenz.« »Sie auch?« fragte ich. »Ich bin ein ganz unmöglicher Vogel«, sagte Franz Kaa. »Ich bin eine Dohle – eine kavka. Der Kohlenhändler im Teinhof hat eine. Haben Sie sie gesehen?« »Ja, sie läu vor dem Geschä herum.« »Ja, meiner Verwandten geht es besser als mir. Es ist zwar wahr, sie hat die Flügel beschnitten. In meinem Falle war es aber überhaupt nicht notwendig, da meine Flügel verkümmert sind. Aus diesem Grunde gibt es für mich keine Höhen und Weiten. Verwirrt hüpfe ich zwischen den Menschen herum. Sie betrachten mich voller Mißtrauen. Ich bin doch ein gefährlicher Vogel, ein Dieb, eine Dohle. Das ist aber nur Schein. Ich Wirklichkeit fehlt mir der Sinn für glänzende Dinge. Aus dem Grunde habe ich nicht einmal glänzende schwarze Federn. Ich bin grau wie Asche. Eine Dohle, die sich danach sehnt, zwischen den Steinen zu verschwinden. Aber das ist nur so ein Scherz, damit Sie nicht merken, wie schlecht es mir heute geht.«
Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie o ich bei Franz Kaa in der Kanzlei war. An eines erinnere ich mich jedoch ganz genau: An seine Körperhaltung, wenn ich – eine halbe oder eine ganze Stunde vor Schluß der Amtsstunden – die Tür im zweiten Stock der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt öffnete. Er saß hinter dem Schreibtisch, den Kopf nach rückwärts gebeugt, die Beine ausgestreckt, die Hände lose auf der Tischplatte. Fillas Bild Dostojewskijs Leser erfaßt ein wenig
die Pose, welche er einnahm. Es war hier eine große Ähnlichkeit zwischen Fillas Bild und Franz Kaas Körperhaltung. Doch das war nur etwas rein Äußerliches. Hinter der formalen Ähnlichkeit war eine große innere Verschiedenheit. Fillas Leser war durch etwas überwältigt, wogegen Kafkas Körperhaltung eine gewollte und darum sieghae Hingabe ausdrückte. Die schmalen Lippen umgab ein dünnes Lächeln, welches viel mehr der rührende Abglanz einer entfernten, fremden Freude als ein Ausdruck eigenen Frohseins war. Die Augen sahen den Menschen immer ein wenig von unten an. Franz Kaa hatte so eine seltsame Haltung, als möchte er seine schlanke Größe entschuldigen. Seine ganze Gestalt sah aus, als möchte sie sagen: ›Ich bin, bitte, ganz unwichtig. Sie machen mir eine große Freude, wenn Sie mich übersehen,‹ Er sprach mit einer schütteren, verschleierten Baritonstimme, welche bewunderungswürdig melodiös war, obwohl sie nie die Mittellage von Kra und Höhe verließ. Stimme, Gebärde und Blick, alles strahlte die Ruhe des Verstehens und der Güte aus. Er sprach tschechisch und deutsch. Jedoch mehr deutsch. Dabei hatte sein Deutsch einen harten Akzent, ähnlich demjenigen, der das Deutsch der Tschechen charakterisiert. Aber das ist nur eine entfernte, ungenaue Ähnlichkeit. In Wirklichkeit war es doch ganz anders. Dieser tschechische Akzent des Deutschen, an den ich denke, ist scharf. Die Sprache klingt zerhackt. Diesen Eindruck machte aber Kaas Sprache nie. Sie wirkte eckig durch die innere Spannung: jedes Wort ein Stein. Seine Härte der Sprache wurde durch die Sehnsucht nach Abgemessenheit und Genauigkeit verursacht. Sie wurde also durch aktive persönliche Eigenschaen und nicht durch passive Gruppenmerkmale bedingt. Seine Sprache ähnelte seinen Händen.
Er hatte große starke Hände, breite Handflächen, schlanke feine Finger mit flachen, spatenförmigen Fingernägeln und hervortretenden, dabei aber sehr zarten Gliedern und Knöcheln. Wenn ich mich an Kaas Stimme, sein Lächeln und seine Hände erinnere, fällt mir immer eine Bemerkung meines Vaters ein. Er sagte: »Kra in Verbindung mit einer ängstlichen Feinheit; Kra, für die alles Kleine eben das Schwerste ist.«
Das Büro, in welchem Franz Kaa amtierte, war ein mittelgroßer, ziemlich hoher, dabei aber beengend wirkender Raum, dessen Aussehen an die würdige Eleganz des Chefzimmers einer besseren Advokatenkanzlei erinnerte. Dem entsprach auch die übrige Einrichtung. Es gab hier zwei schwarzpolierte, doppelflügelige Türen. Durch die eine konnte man von dem dunklen, mit hohen Registraturschränken überfüllten und ständig nach erkaltetem Zigarettenrauch und Staub riechenden Gang in Kaas Bürozimmer eintreten. Die zweite, vom Eingang her inmitten der rechten Seitenwand angebrachte Tür führte zu den übrigen Amtsräumen im ersten Stock der Hauptfront der Unfall-Versicherungs-Anstalt. Diese Tür wurde jedoch – soweit ich mich erinnern kann – fast nie geöffnet. Die Besucher sowie die Beamten benutzten gewöhnlich nur die vom Gang hereinführende Tür. Sie klopen an, worauf Franz Kaa mit einem kurzen, nicht allzu lauten »Bitte!« antwortete, wogegen Kaas Kanzlei- und Abteilungspartner gewöhnlich ein herrisch verdrossenes »Herein!« ausstieß. Der Ton dieser Aufforderung, der dem Besucher schon vor der Tür seine Bedeutungslosigkeit zu Bewußtsein zu führen versuchte, entsprach den stets zusammengezogenen gelben Augenbrauen, der peinlich genauen, bis in den Nacken ver
laufenden ›Lausallee‹ der harnfarbenen, schütteren Haare, dem hohen Stehkragen mit der breiten, dunklen Krawatte, der hochgeknöpen Weste und den etwas vorstehenden, wässrigblauen Gänseaugen des Mannes, der in der Kanzlei Kaa jahrelang gegenübersaß. Ich erinnere mich, daß Franz Kaa bei dem herrischen »Herein!« seines Bürokollegen immer leicht zusammenzuckte. Er schien sich zu ducken und blickte darauf sein Gegenüber mit unverhohlenem Mißtrauen von unten an, als ob er im nächsten Augenblick einen Schlag zu erwarten hätte. Diese Haltung nahm er übrigens auch dann ein. wenn ihm sein Bürokollege mit freundlicher Stimme etwas sagte. Man sah, daß Kaa gegenüber Treml unangenehme Hemmungen hatte. Deshalb fragte ich ihn bald, nachdem ich zu ihm in die Unfall-Versicherungs-Anstalt zu gehen begann: »Kann man vor ihm sprechen? Ist er nicht vielleicht ein Zuträger?« Doktor Kaa schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Doch die Menschen, die sich um ihren Posten so wie er ängstigen, sind unter Umständen verschiedener Schweinereien fähig.« »Sie fürchten sich vor ihm?« Kaa lächelte verlegen: »Ein Henker ist immer anrüchig.« »Wie meinen Sie das?« »Ein Henker ist heute ein ehrsamer, nach der Dienstpragmatik wohlbezahlter Beamtenberuf. Warum sollte also nicht in jedem ehrsamen Beamten ein Henker stecken?« »Die Beamten bringen doch keine Menschen um!« »Und ob sie es tun!« entgegnete Kaa und legte die Hände mit lautem Aulatschen auf den Tisch. »Sie machen aus den lebendigen, wandlungsfähigen Menschen tote, jeder Wandlung unfähige Registraturnummern.« Darauf reagierte ich nur mit einem kurzen Kopfnicken, da mir klar war, daß Doktor Kaa durch die eben vorgebrachte Verallgemeinerung einer klaren Charakteristik sei
nes Bürokollegen ausweichen wollte. Er verbarg die Spannung, die zwischen ihm und seinem unmittelbaren Kanzleigenossen jahrelang herrschte. Doch Doktor Treml schien von Kaas Abneigung zu wissen, deshalb sprach er mit ihm – amtlich wie privat – von oben herab in einem leicht gönnerhaen Ton, wobei seine schmalen Lippen stets ein weltmännisch sarkastisches Lächeln umspielte. Denn Doktor Kaa und seine vorwiegend jugendlichen Besucher – und da besonders ich! –, welche Bedeutung hatten die schon? Tremls Gesichtsausdruck sagte ganz deutlich; ›Ich verstehe nicht, weshalb Sie, der Justitiar der Anstalt, sich mit solchem bedeutungslosen menschlichen Grünzeug wie mit ranggleichen Leuten unterhalten, ihnen interessiert zuhören und sich von ihnen mitunter sogar belehren lassen.‹ Kaas unmittelbarer Bürokollege verbarg nicht die Abneigung, die er gegenüber Kaa und seinen privaten Besuchern empfand. Da er sich in ihrer Gegenwart doch einer gewissen Zurückhaltung befleißigen mußte, verließ er – wenigstens wenn ich die Kanzlei betrat – stets das Zimmer. Doktor Kaa atmete dann gewöhnlich mit übertriebener Deutlichkeit auf. Er lächelte, doch er konnte mich damit nicht hinters Licht führen. Treml war für ihn eine Qual. Darum sagte ich einmal: »Das Leben ist schwer mit so einem Bürokollegen.« Doch Doktor Kaa winkte energisch mit hochgehobener Hand ab. »Nein, nein! Das ist nicht richtig. Er ist nicht ärger als die anderen Beamten. Im Gegenteil: er ist viel besser. Er hat große Kenntnisse.« Ich entgegnete: »Vielleicht will er damit nur protzen.« Kaa nickte. »Ja, das ist möglich. Das machen viele Menschen, ohne dabei eine wirkliche Arbeit zu leisten. Doktor Treml ist jedoch ein wirklich fleißiger Mensch.« Ich seufzte: »Na ja, Sie loben ihn, dabei haben Sie ihn
aber überhaupt nicht gern. Sie wollen durch Ihr Lob nur Ihre Abneigung verbergen.« Darauf flimmerten Kaas Augenlider, er zog seine Unterlippe nach innen, und ich ergänzte meine Erklärung: »Für Sie ist er etwas ganz Fremdartiges. Sie betrachten ihn wie ein fremdartiges Tier im Käfig.« Doch da sah mir Doktor Kaa fast erbost in die Augen und meinte leise, mit einer von verhaltener Energie rauhen Stimme: »Sie irren. Nicht Treml, sondern ich bin im Käfig.« »Das ist erklärlich. Die Kanzlei –« Doktor Kaa unterbrach mich: »Nicht nur hier in der Kanzlei, sondern überhaupt.« – Er legte die geballte rechte Hand auf die Brust. »Ich trage die Gitter ständig in mir.« Wir sahen einander einige Sekunden stumm in die Augen. Dann wurde angeklop. Mein Vater trat ins Zimmer. Die Spannung schwand. Es wurde nur noch über belanglose Dinge gesprochen, doch der Eindruck von Kaas Worten »Ich trage die Gitter in mir!« zitterte in mir weiter. Nicht nur an jenem Tag, sondern viele Wochen und Monate lang. Es war wie ein ständig glimmender Brand unter der Asche kleiner Ereignisse, welcher viel später – ich glaube im Frühjahr oder im Sommer – plötzlich wie eine laut aufzischende Stichflamme hervorbrach. Ich kam damals öer mit dem Studenten Bachrach zusammen, den – soweit mir bekannt war – nur drei Dinge interessierten: Musik, die englische Sprache und Mathematik. In diesem Sinne erklärte er mir einmal: »Die Musik, das ist das Tönen der Seele, die unmittelbare Stimme der Innenwelt. Die englische Sprache entspricht dem weltweiten Imperium des Geldes. Hier spielt die Mathematik schon eine Rolle. Doch das ist nicht so bedeutend. Die Mathematik überragt das Reich plumper Zahlenmechanik. Sie ist die an das Metaphysische heranreichende Wurzel aller rationellen Ordnung.«
Ich verfolgte immer, sprachlos vor Staunen, seine Ausführungen. Das freute ihn. Er brachte mir dafür sehr o Zeitschrien, Bücher und eaterkarten. Ich war daher überhaupt nicht überrascht, als er mir einmal ein ganz neues Buch überreichte. »Ich bringe dir heute etwas ganz Besonderes.« Das Buch war englisch; es hieß: Lady into Fox by David Garnett. »Was soll ich damit?« fragte ich enttäuscht. »Du weißt doch, daß ich nicht englisch kann.« »Das weiß ich. Ich bringe es ja gar nicht als eine Lektüre für dich. Das Buch ist nur ein Beleg für das, was ich dir jetzt sagen werde. Dein bewunderter Doktor Kaa wird weltberühmt. Das beweist die Tatsache, daß er schon kopiert wird. Dieses Buch von Garnett ist eine Nachbildung der Verwandlung.« »Ein Plagiat?« fragte ich scharf. Bachrach hob abwehrend beide Arme. »Nein. Das habe ich nicht gesagt. Garnetts Buch hat nur den gleichen Ausgangspunkt. Eine Dame verwandelt sich in eine Füchsin. Ein Mensch verwandelt sich in ein Tier.« »Kannst du mir das Buch borgen?« »Natürlich. Deshalb habe ich es ja mitgebracht. Du kannst es Kaa zeigen.« Am nächsten Tag ging ich in Kaas Wohnung, da er nicht in der Kanzlei war. Es war dies – nebenbei gesagt – mein erster sowie auch letzter Besuch in Franz Kaas Wohnung. Eine hagere, schwarz gekleidete Frau öffnete mir. Ihre glänzenden, graublauen Augen, die Form des Mundes und die etwas höckrige Nase deklarierten sie als Kaas Mutter. Als ich mich als der Sohn eines Bürokollegen von Doktor Kaa vorstellte und fragte, ob er zu sprechen sei, sagte sie: »Er ist im Bett. Ich werde fragen.« Sie ließ mich im Treppenhaus stehen. Nach einigen Minu
ten kam sie zurück. Ihr Gesicht erhellte nun eine Freude, die man spürte, ohne daß sie in Worten ihren Ausdruck fand. »Es freut ihn, daß sie ihn besuchen. Er verlangte sogar etwas zum Essen. Doch bitte – bleiben Sie nicht lange. Er ist müde. Er kann nicht schlafen.« Ich versprach, daß ich gleich wieder gehen würde. Darauf wurde ich durch ein schlauchförmiges Vorzimmer und einen großen Raum mit dunkelbraunen Möbeln in ein schmales Zimmer geführt, wo in einem einfachen Bett, unter einer dünnen, weißbezogenen Steppdecke, Franz Kaa lag. Er reichte mir lächelnd die Hand und wies mit einer lässigen Geste auf einen Stuhl am Fußende des Bettes: »Nehmen Sie Platz. Ich werde wahrscheinlich nur sehr wenig sprechen können. Verzeihen Sie.« »Sie müssen mir verzeihen«, entgegnete ich, »daß ich Sie da so überfalle. Aber es erschien mir wirklich wichtig. Ihnen etwas zu zeigen.« Ich zog das englische Buch aus der Jackentasche, legte es vor Kaa auf die Bettdecke und referierte über das letzte Gespräch mit Bachrach. Als ich ihm sagte, daß Garnetts Buch die Methode der Verwandlung kopiere, lächelte er müde und meinte mit einer kleinen, abweisenden Handbewegung: »Ach nein! Das hat er nicht von mir. Das liegt in der Zeit. Wir haben es beide von ihr abgeschrieben. Das Tier ist uns näher als der Mensch. Das ist das Gitter. Die Verwandtscha mit dem Tier ist leichter als die mit den Menschen.« Kaas Mutter trat ins Zimmer. »Womit kann ich Sie bewirten?« Ich stand auf. »Danke, ich will nicht mehr stören.« Frau Kaa sah ihren Sohn an. Er hatte das Kinn in die Höhe gestreckt und die Augen geschlossen. Ich sagte: »Ich wollte nur das Buch herbringen.«
Franz Kaa schlug die Augen auf und sagte mit dem Blick zur Decke: »Ich werde es lesen. Vielleicht werde ich nächste Woche wieder in der Kanzlei sein. Ich werde es mitbringen.« Er reichte mir die Hand und schloß die Augen. Nächste Woche war er nicht in der Kanzlei. Ich konnte ihn erst zehn oder vierzehn Tage später heimbegleiten. Er gab mir das Buch und sagte: »Jeder lebt hinter einem Gitter, das er mit sich herumträgt. Darum schreibt man jetzt so viel von den Tieren. Es ist ein Ausdruck der Sehnsucht nach einem freien, natürlichen Leben. Das natürliche Leben für den Menschen ist aber das Menschenleben. Doch das sieht man nicht. Man will es nicht sehen. Das menschliche Dasein ist zu beschwerlich, darum will man es wenigstens in der Fantasie abschütteln.« Ich entwickelte seinen Gedanken weiter: »Es ist eine ähnliche Bewegung wie vor der großen Französischen Revolution. Damals sagte man: Zurück zur Natur.« »Ja!« nickte Kaa. »Doch heute geht man weiter. Man sagt es nicht nur – man tut es. Man kehrt zum Tier zurück. Das ist viel einfacher als das menschliche Dasein. Wohlgeborgen in der Herde marschiert man durch die Straßen der Städte zur Arbeit, zum Futtertrog und zum Vergnügen. Es ist ein genau abgezirkeltes Leben wie in der Kanzlei. Es gibt keine Wunder, sondern nur Gebrauchsanweisungen, Formulare und Vorschrien. Man fürchtet sich vor der Freiheit und Verantwortung. Darum erstickt man lieber hinter den selbst zusammengebastelten Gittern.«
Etwa drei Wochen nach der ersten Begegnung mit Franz Kaa kam es zum ersten Spaziergang mit ihm. Er sagte mir in der Kanzlei, ich solle auf ihn um vier Uhr beim Hus-Denkmal auf dem Altstädter Ring warten, er
werde mir ein He mit Gedichten, das ich ihm borgte, bringen. Ich war zur angegebenen Zeit am vereinbarten Ort, aber Franz Kaa kam fast eine ganze Stunde später. Er entschuldigte sich: »Nie kann ich eine Vereinbarung genau einhalten. Immer komme ich zu spät. Ich will die Zeit beherrschen, ich habe den aufrichtigen, guten Willen, die Vereinbarung der Zusammenkun einzuhalten, aber die Umwelt oder mein Körper zerbricht immer diesen Willen, um mir meine Schwäche zu beweisen. Das ist wahrscheinlich auch die Wurzel meiner Krankheit.« Wir gingen um den Altstädter Ring. Kaa sagte, daß einige meiner Gedichte veröffentlicht werden könnten. Er wollte sie Otto Pick geben. »Ich habe mit ihm darüber schon gesprochen«, sagte er. Ich ersuchte ihn, die Gedichte nicht zu veröffentlichen. Kaa blieb stehen. »Sie schreiben also nicht darum, um die Sachen zu veröffentlichen?« »Nein. Es sind nur Versuche, ganz bescheidene Versuche, mit denen ich mir beweisen will, daß ich nicht ganz dumm bin.« Wir setzten den Spaziergang fort. Franz Kaa ›stellte mir das Geschä und das Haus seiner Eltern vor‹. »Sie sind also reich«, sagte ich. Franz Kaa verzog den Mund. »Was ist Reichtum? Für jemanden ist ein altes Hemd schon Reichtum. Ein anderer ist mit zehn Millionen arm. Reichtum ist etwas ganz Relatives und Unbefriedigendes. Im Grunde ist es nur eine besondere Situation. Reichtum bedeutet eine Abhängigkeit von Dingen, die man besitzt und die man durch neuen Besitz, durch neue Abhängigkeiten vor dem Dahinschwinden schützen muß. Es ist nur eine materialisierte Unsicherheit. Aber – das gehört meinen Eltern, nicht mir.«
Der erste Spaziergang mit Franz Kaa endete in dieser Weise: Wir waren auf unserem Rundgange wieder zum KinskyPalais gekommen, als aus dem Geschä mit der Firmentafel H K ein hoher, breiter Mann in einem dunklen Überzieher und mit glänzendem Hut herauskam. Er blieb etwa fünf Schritte vor uns stehen und erwartete uns. Als wir uns drei Schritte näherten, sagte der Mann sehr laut: »Franz. Nach Hause. Die Lu ist feucht.« Kaa sagte mit seltsam leiser Stimme: »Mein Vater. Er hat Sorge um mich. Liebe hat o das Gesicht der Gewalt. Leben Sie wohl. Sie kommen zu mir.« Ich nickte. Franz Kaa ging, ohne mir die Hand zu reichen.
Einige Tage später erwartete ich Doktor Kaa – nach vorhergehender Absprache – um fünf Uhr nachmittags vor dem Geschä seiner Eltern. Wir wollten einen Spaziergang auf den Hradschin unternehmen. Doktor Kaa ging es jedoch nicht gut. Er atmete schwer. Wir schlenderten daher nur über den Altstädter Ring, an der Niklas-Kirche vorbei in die Karpfengasse, um das Rathaus herum auf den Kleinen Ring. Vor dem Schaufenster der Calve’schen Buchhandlung blieben wir stehen. Ich beugte den Kopf abwechselnd zur rechten und linken Schulter, um von den Rücken der Bücher die Titel ablesen zu können. Doktor Kaa lächelte belustigt. »Sie sind wohl auch ein Büchernarr, dem die Lektüre den Kopf hinund her reißt.« »Ja, so ist es. Ich glaube, daß ich ohne Bücher nicht existieren könnte. Für mich sind sie die Welt.« Doktor Kaa zog die Augenbrauen zusammen. »Das ist ein Irrtum. Das Buch kann die Welt nicht ersetzen. Das ist unmöglich. Im Leben hat alles seinen Sinn und seine Aufgabe, die von etwas Anderem nicht restlos erfüllt
werden kann. Man kann – zum Beispiel – sein Erleben nicht mittels eines Ersatzmannes bewältigen. So ist es auch mit der Welt und dem Buch. Man versucht das Leben in Bücher wie Singvögel in Käfige einzusperren. Doch das gelingt nicht. Im Gegenteil! Der Mensch baut sich aus den Abstraktionen der Bücher nur einen Systemkäfig für sich selbst. Die Philosophen sind nur buntgekleidete Papagenos mit verschiedenen Käfigen.« Er lachte. Das führte nur zu einem dumpfen, häßlichen Husten. Als der Anfall verebbte, meinte er lächelnd: »Ich sagte die Wahrheit. Sie haben es eben gehört und gesehen. Was andere Leute beniesen, das muß ich mit meiner Lunge bestätigen.« Das erweckte in mir ein unangenehmes Gefühl. Um es zu verdrängen, fragte ich: »Sind Sie nicht verkühlt? Haben Sie nicht eine erhöhte Temperatur?« Doktor Kaa lächelte müde: »Nein … Ich bekam nie genug Wärme. Darum verbrenne ich – an der Kälte.« Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirne. Die schmalgeschlossenen Lippen wurden von zwei tief eingekerbten Mundwinkeln begrenzt. Sein Gesicht war schwefelgelb. Er reichte mir die Hand. »Auf Wiedersehen.« Ich konnte kein Wort aus mir herausbringen.
Ich war gerade bei Franz Kaa in der Kanzlei zu Besuch, als er von der Post ein Belegexemplar seiner Erzählung In der Straolonie bekam. Kaa öffnete den grauen Umschlag, ohne den Inhalt zu kennen. Als er aber das schwarzgrün gebundene Buch aufschlug und seine Arbeit erkannte, geriet er sichtlich in Verlegenheit. Er öffnete die Schublade des Tisches, sah mich an, schloß die Lade und reichte mir das Buch.
»Sicherlich wollen Sie das Buch sehen.« Ich antwortete mit einem Lächeln, öffnete den Band, betrachtete flüchtig Satz und Papier und gab ihm das Buch zurück, da ich seine Nervosität spürte. »Es ist sehr schön ausgestattet«, bemerkte ich. »Wirklich ein repräsentativer Drugulindruck. Sie können zufrieden sein, Herr Doktor,« »Das bin ich aber wirklich nicht«, sagte Franz Kaa und schob den Band achtlos in die Lade, welche er abschloß. »Die Veröffentlichung eines Gekritzels von mir beunruhigt mich immer.« »Warum lassen Sie es also drucken?« »Das ist es eben! Max Brod, Felix Weltsch , alle meine Freunde bemächtigen sich immer irgendeiner Sache, die ich geschrieben habe, und überraschen mich dann mit dem fertigen Verlagsvertrag. Ich will ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, und so kommt es zum Schluß zur Herausgabe von Dingen, die eigentlich nur ganz private Aufzeichnungen oder Spielereien sind. Persönliche Belege meiner menschlichen Schwäche werden gedruckt und sogar verkau, weil meine Freunde, mit Max Brod an der Spitze, es sich in den Kopf gesetzt haben, daraus Literatur zu machen, und ich nicht die Kra besitze, diese Zeugnisse der Einsamkeit zu vernichten.« Nach einer kleinen Pause sprach er mit veränderter Stimme: »Was ich hier sagte, ist natürlich nur eine Übertreibung und kleine Boshaigkeit meinen Freunden gegenüber. In Wirklichkeit bin ich schon so verdorben und schamlos, daß ich selbst an der Herausgabe dieser Dinge mitarbeite. Um meine Schwäche zu entschuldigen, mache ich die Umwelt stärker, als sie in Wirklichkeit ist. Das ist natürlich ein Betrug. Ich bin eben Jurist. Darum kann ich vom Bösen nicht loskommen.«
Doktor Kaa saß müde, mit grauem Gesicht, schlaff herabhängenden Armen und einem leicht zur Seite geneigten Kopf hinter dem Schreibtisch. Ich sah: es ging ihm nicht gut. Ich wollte mich deshalb schon mit einer Entschuldigung entfernen, doch er hielt mich zurück. »Bleiben Sie. Ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Erzählen Sie mir etwas.« Ich begriff, daß er damit seiner Depression zu entkommen versuchte. Ich legte also sofort los und erzählte ihm eine ganze Anzahl kleiner Geschichten, die ich gehört oder selbst erlebt hatte. Ich schilderte ihm verschiedene Figuren der Vorstadtgasse, wo ich mit meinen Eltern wohnte, ließ an ihm dicke Gastwirte, Hausbesorger und etliche meiner Schulkameraden vorbeimarschieren, erzählte ihm von dem alten Karolinentaler Moldauhafen und den erbitterten Straßenkämpfen der verschiedenen Knabenrudel, bei denen meistens die herumliegenden Pferdeexkremente als gefürchtete Wurfgeschosse verwendet wurden. »Brr!« machte darauin Doktor Kaa, der ein peinlich sauberer Mensch war, welcher sich in der Kanzlei jeden Augenblick die Hände wusch. Nun schnitt er eine Grimasse, in der sich Ekel und Belustigung zu einer koboldhaen Maske vereinten. Die Depression war gebrochen. Ich konnte also ein Gespräch über Ausstellungen, Konzerte und Bücher beginnen, deren Lektüre fast meinen ganzen Tag erfüllte. Doktor Kaa war immer wieder erstaunt über die von mir vertilgten Büchermengen. »Sie sind ja eine ausgesprochene Makulaturablagerungsstätte! Was machen Sie abends? Wie schlafen Sie?« »Ich schlafe tief und ruhig«, erklärte ich darauf selbstbewußt. »Mein Gewissen weckt mich erst am Morgen. Da aber mit einer Regelmäßigkeit, als ob ich im Kopf einen Wecker eingebaut hätte.« »Und Träume – haben Sie welche?« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich erinnere mich
zwar ab und zu nach dem Erwachen an das eine oder andere Traumbruchstück, doch das ist dann sofort weg. Ich behalte nur sehr selten einen Traum im Gedächtnis. Dann ist es aber gewöhnlich nur ein ganz dummes, verworrenes Zeug. Wie zum Beispiel vorgestern.« »Was hat Ihnen da geträumt?« »Ich war in einem großen Warenhaus. Ich ging mit jemandem, den ich nicht kannte, durch einen großen Saal mit Fahrrädern, Bauernwagen und Lokomotiven. Mein Begleiter sagte: ›Hier bekomme ich keine neue Mütze, wie ich sie haben möchte.‹ – Darauf meinte ich bissig: ›Wozu eine neue Mütze? Sie sollten sich lieber ein neues, angenehmeres Gesicht kaufen.‹ – Ich wollte ihn ärgern, doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. – ›Das ist richtig‹, sagte er. ›Da müßten wir aber hinauf in eine andere Abteilung gehen‹. Und er eilte auch sofort zu einer breiten Wendeltreppe. Gleich darauf waren wir in einem großen, blaugrün beleuchteten Saal, wo – wie in einem großen Konfektionshaus – an unendlichen Kleiderstangen verschiedene Mäntel, Jacken, Damenkleider und Männeranzüge hingen, in denen sich verschiedenartige kleine und große, dicke und magere kopflose Körper mit schlaff herabhängenden Armen und Beinen befanden, so daß ich tief erschrocken meinem Begleiter zuflüsterte: ›Das sind ja lauter geköpe Leichen!‹ – Doch mein Begleiter lachte nur: ›Unsinn! Sie verstehen nichts vom Geschä. Das sind keine Leichen, sondern neue, versandfertige Menschen. Der Kopf wird ihnen nebenan anmontiert.‹ – Dabei zeigte er nach vorne in einen etwas dunkleren Gang. Da trugen zwei alte, bebrillte Krankenschwestern eine Bahre zu einem erhöhten Bahnsteig mit der Aufschri Schneiderei – Eintritt verboten. Die beiden Krankenschwestern bewegten sich vorsichtig mit sehr kleinen Schritten vorwärts, daß ich mir das, was sie trugen, genau ansehen konnte. Es war ein Mann, der auf der Tragbahre seitlich aufgestützt wie eine ruhende Odaliske lag.
Er trug schwarze Lackschuhe, gestreie Hosen und einen grau-schwarzen Cutaway, wie ihn mein Vater bei festlichen Gelegenheiten gewöhnlich anhat.« »Der Mann auf der Tragbahre erinnerte Sie an Ihren Vater?« »Nein. Ich sah ihm ja überhaupt nicht ins Gesicht. Sein Kopf war – bis tief in den Westenausschnitt hinein – von einem großen weißen Mullverband verhüllt. Er war wie ein Schwerverletzter verbunden. Dabei schien es ihm aber ganz gut zu gehen. Er hatte in der Hand einen dünnen schwarzen Spazierstock mit einem gebogenen Silbergriff, mit dem er kokett in der Lu herumwirbelte. Mit der zweiten Hand hielt er dann auf der unförmigen Mullkugel, die seinen Kopf darstellte, einen ständig zur Seite rutschenden Tschakko fest, wie ihn mein Bruder Hans vor Jahren als österreichischer Kanonier am Sonntag getragen hatte. Ich erinnerte mich daran, und diese Erinnerung war es auch, was mich dazu bewogen hatte, in den Gang einzubiegen, um herauszubekommen, wer der Mann auf der Bahre eigentlich sei. Doch da waren die beiden Krankenschwestern und die Tragbahre plötzlich weg, und ich stand vor einem kleinen, mit Tintenflecken bedeckten Schreibtisch, hinter dem Ihr Kanzleikollege Doktor Treml saß. Links und rechts neben mir standen dann unerwartet zwei Männer in langen weißen Leinenmänteln. Ich wußte jedoch, daß es als Krankenhausdiener verkleidete Polizisten waren, die unter den Leinenmänteln große Säbel und Pistolentaschen trugen.« Doktor Kaa seufzte: »Na ja! Das erschreckte Sie, was?« »Ja«, gab ich kopfnickend zu. »Ich hatte Angst. Nicht einmal so vor den beiden Männern, wie vor Doktor Treml, der mich zynisch anlächelte und mit einem dünnen, silbern glänzenden Brieföffner spielte, als er mich anfauchte: ›Sie tragen mit Unrecht Ihr Gesicht. Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben. Wir werden da Ordnung scharfen. Wir
werden Ihnen die gestohlene Gesichtshaut von den Knochen loslösen.‹ – Dabei machte er mit dem Brieföffner in der Lu einige heige Schnittbewegungen. Ich bekam Angst und sah mich nach meinem Begleiter um. Doch der war weg. Doktor Treml meckerte: ›Bemühen Sie sich nicht! Sie können nicht weglaufen!‹ – Das machte mich wütend. Ich schrie ihn an: ›Was erlauben Sie sich da, Sie Kanzleihampelmann. Mein Vater ist höher gestellt als Sie. Ich fürchte mich nicht vor Ihrem Brieföffner.‹ – Das saß. Doktor Treml bekam ein ganz grünes Gesicht. Er sprang auf und schrie: ›Das ist ein Operationsmesser. Sie werden es kennenlernen. Abführen!‹ – Die beiden verkleideten Polizisten faßten mich. Ich wollte schreien. Doch da wurde mir eine große schwarzbehaarte Polizeitatze auf den Mund gepreßt. Ich biß in die nach Schweiß stinkende Faust und erwachte. Das Blut pochte mir in den Schläfen. Ich war ganz verschwitzt. Das war der häßlichste Traum, den ich je hatte.« Kaa rieb sich das Kinn mit dem linken Handrücken. »Das glaube ich Ihnen.« Er beugte sich über die Tischplatte und schob die Finger langsam ineinander. »Die Welt der Konfektionsmenschen ist eine Hölle, eine stinkende Mistgrube, ein Wanzennest.« Er sah mich einige Minuten starr an. Ich war gespannt, was er mir sagen werde. Doch dann meinte er in einem ganz glatten Konversationston: »Sie gehen zu Ihrem Vater, nicht war? Ich werde doch noch arbeiten.« – Er reichte mir lächelnd die Hand. – »Die Arbeit ist die Befreiung der Sehnsucht vom Traum, der den Menschen o nur blendet und zu Tode schmeichelt.«
Jugend bezauberte Franz Kaa. Seine Erzählung Der Heizer ist voller Sanmut und Ergriffenheit. Ich sagte ihm das, als wir zusammen die tschechische Übersetzung Milena
Jesenskás, welche in der literarischen Zeitschri Kmen [Der Stamm] erschienen war, durchsprachen. »In der Erzählung ist so viel Sonne und gute Stimmung. Es ist da so viel Liebe – obwohl von ihr überhaupt nicht gesprochen wird.« »Die ist nicht in der Erzählung, sondern im Gegenstand des Erzählens, in der Jugend«, bemerkte Franz Kaa ernst. »Die ist voll Sonne und Liebe. Die Jugend ist glücklich, weil sie die Fähigkeit besitzt, Schönheit zu sehen. Wenn diese Fähigkeit verlorengeht, beginnt trostloses Alter, Verfall, das Unglück.« »Alter schließt also jede Möglichkeit von Glück aus?« »Nein, das Glück schließt das Alter aus.« Lächelnd beugte er den Kopf nach vorn, als ob er ihn zwischen den hochgezogenen Schultern verbergen wollte. »Wer die Fähigkeit, Schönheit zu sehen, behält, der altert nicht.« Lächeln, Körperhaltung und Stimme erinnerten an einen stillen, vergnügten Jungen. »Im Heizer sind Sie also sehr jung und glücklich.« Ich hatte diesen Satz noch nicht beendet, als sich sein Gesichtsausdruck verdüsterte. »Der Heizer ist sehr gut«, beeilte ich mich zu bemerken, aber Franz Kaas große dunkelgraue Augen waren voll Trauer. »Am besten spricht man über ferne Dinge. Die sieht man am besten. Der Heizer ist die Erinnerung an einen Traum, an etwas, was vielleicht nie Wirklichkeit war. Karl Roßmann ist nicht Jude. Wir Juden werden aber schon alt geboren.«
Bei einer anderen Gelegenheit, als ich Doktor Kaa einen Fall jugendlicher Kriminalität erzählte, kamen wir im Gespräch wieder auf die Erzählung Der Heizer.
Ich fragte, ob die Gestalt des sechzehnjährigen Karl Roßmann nach einer Vorlage gezeichnet sei. Franz Kaa sagte: »Ich hatte viele und keine Vorlage. Aber das ist ja alles schon Vergangenheit.« »Die Gestalt des jungen Roßmann sowie die des Heizers sind so lebendig«, meinte ich. Kaas Miene verdüsterte sich. »Das ist nur ein Nebenprodukt. Ich zeichnete keine Menschen. Ich erzählte eine Geschichte. Das sind Bilder, nur Bilder.« »Dann muß es doch eine Vorlage geben. Die Vorbedingung des Bildes ist das Sehen.« Kaa lächelte. »Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschließen.«
Gespräche über seine Bücher waren immer sehr kurz. »Ich habe Das Urteil gelesen.« »Hat es Ihnen gefallen?« »Gefallen? Das Buch ist schrecklich!« »Das ist richtig.« »Ich möchte wissen, wie Sie dazu kamen. Die Widmung ›Für F.‹ ist sicherlich nicht nur eine Formalität. Bestimmt wollten Sie mit dem Buche jemandem etwas sagen. Ich möchte gerne den Zusammenhang kennen.« Kaa lächelte verlegen. »Ich bin unverschämt. Verzeihen Sie.« »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Der Mensch liest, um zu fragen. Das Urteil ist das Gespenst einer Nacht.« »Wieso?« »Es ist ein Gespenst«, wiederholte er mit hartem Blick in die Ferne.
»Sie haben es doch geschrieben.« »Das ist nur die Feststellung und dadurch vollbrachte Abwehr des Gespenstes.«
Mein Freund Alfred Kämpf aus Altsattl bei Falkenau, den ich in Elbogen kennenlernte, bewunderte Kaas Erzählung Die Verwandlung. Er nannte den Verfasser ›einen neuen, tieferen und darum wertvolleren Edgar Allan Poe‹. Auf einem Spaziergang um den Altstädter Ring erzählte ich Franz Kaa von diesem, seinem neuen Bewunderer, fand aber weder Interesse noch Verständnis. Im Gegenteil: Kaas Gesichtsausdruck verriet, daß ihm ein Gespräch über sein Buch unangenehm sei. Ich war aber von einer Sucht nach Entdeckungen erfüllt und darum taktlos. »Der Held der Erzählung heißt Samsa«, sagte ich. »Das klingt wie ein Kryptogramm für Kaa. Fünf Buchstaben hier wie dort. Das S im Worte Samsa hat dieselbe Stellung wie das K im Worte Kaa. Das A –« Kaa unterbrach mich. »Es ist kein Kryptogramm. Samsa ist nicht restlos Kaa. Die Verwandlung ist kein Bekenntnis, obwohl es – im gewissen Sinne – eine Indiskretion ist.« »Das weiß ich nicht.« »Ist es vielleicht fein und diskret, wenn man über die Wanzen der eigenen Familie spricht?« »Das ist natürlich in der guten Gesellscha nicht üblich.« »Sehen Sie, wie unanständig ich bin?« Kaa lachte. Er wollte das ema des Gespräches erledigen. Das wollte ich aber nicht. »Ich denke, daß eine Bewertung ›anständig‹ oder ›unanständig‹ hier nicht richtig ist«, sagte ich. »Die Verwandlung ist ein schrecklicher Traum, eine schreckliche Vorstellung.« Kaa blieb stehen. »Der Traum enthüllt die Wirklichkeit, hinter der die Vor
Stellung zurückbleibt. Das ist das Schreckliche des Lebens – das Erschütternde der Kunst. Jetzt muß ich aber schon heimgehen.« Er verabschiedete sich kurz. Vertrieb ich ihn? Ich schämte mich.
Wir sahen einander vierzehn Tage nicht. Ich nannte ihm die Bücher, welche ich inzwischen ›verschlungen‹ hatte. Kaa lächelte: »Aus dem Leben kann man verhältnismäßig leicht so viel Bücher herausheben, doch aus Büchern so wenig, ganz wenig Leben.« »Literatur ist also ein schlechtes Konservierungsmittel«, sagte ich. Er lachte und nickte.
Franz Kaa und ich haben zusammen o recht ausgiebig und laut gelacht, wenn man bei Franz Kaa überhaupt von einem lauten Lachen sprechen konnte. Ich wenigstens habe nicht den Klang, sondern nur die Körperhaltung, durch die er sein Vergnügen auszudrücken pflegte, im Gedächtnis behalten. Er neigte den Kopf – je nach der Intensität des Lachreizes – schnell oder langsam nach rückwärts, öffnete ein wenig den breitgezogenen Mund und schloß die Augen zu ganz schmalen Sehschlitzen, als ob er das Gesicht der Sonne entgegenhalten würde. Oder er legte die Hände auf die Tischplatte, hob die Schultern in die Höhe, zog die Unterlippe nach innen, duckte sich und kniff die Augen zusammen, als ob ihn jemand beim Baden plötzlich bespritzen würde. Unter dem Einfluß dieser Haltung erzählte ich ihm einmal eine kleine chinesische Geschichte, die ich kurz zuvor – ich weiß nicht mehr wo – gelesen hatte.
»Das Herz ist ein Haus mit zwei Schlaammern. In der einen Kammer wohnt das Leid und in der anderen die Freude. Man darf nie allzu laut lachen, sonst weckt man den Kummer in der Nebenkammer.« »Und die Freude? Weckt sie der laute Kummer?« »Nein. Die Freude ist schwerhörig. Sie hört nicht das Leid in der Nebenkammer.« Kaa nickte. »Das stimmt. Darum tut man o auch nur so, als ob man sich freuen würde. Man stop sich das Wachs des Vergnügens in die Ohren. Wie zum Beispiel ich. Ich heuchle Fröhlichkeit, um hinter ihr zu verschwinden. Mein Lachen ist eine Betonwand.« »Gegen wen?« »Natürlich gegen mich.« »Aber die Wand ist doch der Außenwelt zugekehrt«, meinte ich. »Sie ist eine nach außen gekehrte Abwehr.« Doch Kaa trat dieser Meinung sofort mit großer Bestimmtheit entgegen. »Das ist es eben! Jede Abwehr ist ja schon ein Zurückweichen, ein Verkriechen. Der Griff nach der Welt ist deshalb immer ein Griff nach innen. Darum ist jede Betonwand nur ein Schein, der früher oder später zerfällt. Denn Innen und Außen gehören zusammen. Voneinander losgelöst sind es zwei verwirrende Ansichten eines Geheimnisses, das wir nur erleiden, aber nicht enträtseln können.«
Ein verregneter, nasser Oktobertag. Auf den Gängen der Unfall-Versicherungs-Anstalt brannten die Lampen. Doktor Kaas Kanzlei glich einer dämmerigen Höhle. Er saß tiefgebeugt vor dem Schreibtisch. Vor ihm lag ein aufgeschlagener Oktavbogen weißgrauen Kanzleipapiers. In der Hand hatte er einen langen gelben Bleisti. Als ich mich
Doktor Kaa näherte, legte er den Bleisti auf das Papier, das mit nachlässig hingeworfenen Zeichnungen bizarrer Gestalten bedeckt war. »Sie zeichnen?« Doktor Kaa lächelte entschuldigend: »Nein! Das ist nur so ein Geschmiere.« »Darf ich es sehen? Ich interessiere mich ja – wie Sie wissen – für Zeichnungen.« »Aber das sind doch keine Zeichnungen, die ich jemandem zeigen könnte. Das sind nur ganz persönliche und darum unleserliche Hieroglyphen.« Er ergriff den Papierbogen und knüllte ihn mit beiden Händen zu einer Papierkugel zusammen, die er in den Papierkorb neben dem Schreibtisch warf. »Meine Figuren haben keine richtigen räumlichen Proportionen. Sie haben keinen eigenen Horizont. Die Perspektive der Figuren, deren Umriß ich da zu erfassen versuche, liegt vor dem Papier, am anderen, ungespitzten Ende des Bleisties – in mir!« Er griff in den Papierkorb, hob die Papierkugel heraus, die er kurz zuvor weggeworfen hatte, entfaltete den zusammengeknüllten Bogen und zerriß ihn in ganz kleine Papierschnitzel, die er mit einer heigen Handbewegung in den Papierkorb fegte. Ich überraschte Doktor Kaa dann noch einigemal beim Zeichnen, und er warf sein ›Geschmiere‹, wie er seine Zeichnungen nannte, jedesmal wieder zusammengeknüllt in den Papierkorb, oder er verbarg es schnell im mittleren Schubfach seines Schreibtisches. Seine Zeichnungen waren für ihn demnach also eine noch intimere Privatsache als das, was er schrieb. Das erweckte in mir natürlich eine wachsende Neugierde, die ich vor Doktor Franz Kaa geflissentlich zu verbergen suchte. Ich tat so, als ob ich das eilige Beiseiteschaffen der Zeichnungen überhaupt nicht bemerken würde. Doch blieb von dieser Verstellung stets eine etwas gepreßte und gespannte Atmosphäre zurück. Ich konnte nicht so frei und unbe
schwert sprechen und zuhören wie sonst, da vor mir – wie ich glaubte – nichts verborgen wurde. Doktor Kaa entging das nicht, er sah meine Beklemmung, darum schob er mir, als ich ihn eines Tages wieder beim Zeichnen antraf, sein Papierblatt zu und sagte, meinem Blick ausweichend: »Sehen Sie sich meine Schmierereien an. Es hat keinen Sinn, daß ich in Ihnen weiterhin eine unbefriedigte Neugierde erwecke und Sie damit zur Verstellung zwinge. Seien Sie mir, bitte, nicht böse.« Darauf konnte ich nichts erwidern. Ich fühlte mich wie bei einer Unanständigkeit ertappt. Im ersten Augenblick wollte ich die Zeichnungen einfach über den Schreibtisch zurückschnipsen. Dann beherrschte ich mich und sah mir das Papier mit schräggeneigtem Kopf von der Seite an. Es war mit seltsamen kleinen, nur die Bewegung abstrakt betonenden Skizzen laufender, fechtender und auf dem Boden kriechender und knieender Männchen bedeckt. Ich war enttäuscht. »Das ist doch nichts! Das brauchten Sie vor mir ja wirklich nicht zu verstecken. Das sind ja ganz harmlose Zeichnungen.« Kaa bewegte den Kopf langsam hin und her. – »O nein! Die sind nicht so harmlos, wie sie erscheinen. Die Zeichnungen sind Spuren einer alten, tief verankerten Leidenscha. Darum versuchte ich sie zu verstecken.« Ich sah mir das Blatt mit den Männchen noch einmal an. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor. Wo ist hier eine Leidenscha?« Kaa lächelte nachsichtig. – »Die ist natürlich nicht auf dem Papier. Da sind nur die Spuren. Die Leidenscha ist in mir. Ich wünschte mir immer, zeichnen zu können. Ich wollte sehen und das Gesehene festhalten. Das ist meine Leidenscha.« »Sie lernten zeichnen?« »Nein. Ich versuchte das Gesehene auf eine ganz eigene Weise zu umgrenzen. Meine Zeichnungen sind keine Bilder,
sondern eine private Zeichenschri.« – Doktor Kaa schmunzelte. – »Ich bin eben noch immer in der ägyptischen Gefangenscha. Ich habe noch nicht das Rote Meer durchschritten.« Ich lächelte: »Nach dem Roten Meer kommt zuerst mal die Wüste.« Kaa nickte: »Ja, so ist es in der Bibel und überhaupt.« Er stützte die Hände gegen die Tischkante, lehnte sich im Stuhl zurück und sah – in gelöster Körperhaltung – gespannt zur Decke. »Die falsche, nur durch äußere Maßnahmen angestrebte Scheinfreiheit ist ein Irrtum, ein Durcheinander, eine Wüste, wo außer den bitteren Gräsern der Angst und Verzweiflung nichts gedeihen kann. Das ist natürlich, denn was einen wirklichen, beständigen Wert hat, ist immer ein Geschenk von innen. Der Mensch wächst ja nicht von unten nach oben, sondern von innen nach außen. Das ist die Grundbedingung aller Lebensfreiheit. Sie ist kein künstlich erzeugtes Gesellschasklima, sondern eine ständig zu erkämpfende Haltung sich selbst und der Welt gegenüber. Eine Bedingung, durch die man frei wird. »Eine Bedingung?« fragte ich mißtrauisch. »Ja«, nickte Kaa und wiederholte seine Definition. »Das ist aber ganz paradox!« rief ich. Kaa holte tief Atem. Dann sagte er: »Ja, so ist es tatsächlich. Der Funke, der unser bewußtes Leben ausmacht, muß die Klu der Gegensätze überbrücken und von einem Pol zum anderen springen, damit wir die Welt für einen Augenblick im Blitzlicht erblicken.« Ich schwieg einen Augenblick. Dann wies ich mit der Hand auf das Papier mit den Zeichnungen und fragte leise: »Und die Männchen – wo sind die?« »Die kommen aus dem Dunkel, um im Dunkel zu verschwinden«, sagte Kaa, zog die Schublade heraus, schob
das vollgekritzelte Papier in den Schreibtisch und sagte mit ganz nebensächlich klingender Stimme: »Mein Herumzeichnen ist ein sich ständig wiederholender und mißlingender Versuch primitiver Magie.« Ich sah ihn verständnislos an. Dabei mußte ich ein recht dummes Gesicht gemacht haben. Denn Kaas Mundwinkel zuckten. Offenbar verbiß er ein Lachen. Er verbarg den Mund hinter der erhobenen Hand, hüstelte und sagte dann: »Alle Dinge der Menschenwelt sind zum Leben erweckte Bilder. Die Eskimos zeichnen auf das Holz, das sie entzünden wollen, einige Wellenlinien. Das ist das magische Bild des Feuers, das sie dann durch die Reibung des Entzündungsbolzens zum Leben erwecken. Dasselbe mache ich. Ich will mittels meiner Zeichnungen mit den Gestalten, die ich sehe, fertig werden. Doch meine Figuren zünden nicht. Vielleicht verwende ich nicht das richtige Material. Vielleicht hat mein Bleisti nicht die richtigen Eigenschaen. Es ist auch möglich, daß ich schon selbst und ganz allein nicht die notwendigen Eigenschaen besitze.« »Das wird so sein«, pflichtete ich ihm bei und versuchte dabei ironisch zu lächeln. »Schließlich sind Sie, Herr Doktor, ja kein Eskimo.« »Ja, das stimmt. Ich bin kein Eskimo, aber ich lebe, so wie heute die Mehrzahl der Menschen, in einer bitterkalten Welt. Dabei haben wir aber weder den Lebensfond noch die Pelze und andere Existenzhilfsmittel der Eskimos. Wir sind – im Vergleich zu ihnen – alle nackt.« – Er spitzte die Lippen. – »Am wärmsten bekleidet sind heute eigentlich nur die Wölfe in den Schafspelzen. Denen geht’s gut. Die haben die richtige Bekleidung. Was meinen Sie?« Ich protestierte: »Danke. Da erfriere ich lieber!« »Ich auch!« rief Doktor Kaa und wies auf den Heizkörper der Zentralheizung, auf dem das Wasser in einer länglichen Blechschüssel dampe. »Wir wollen keine eigenen noch geborgten Pelze. Da behalten wir lieber unsere kom
fortable Eiswüste.« Wir lachten beide: Doktor Kaa um mein Nichtverstehen zu verdecken, und ich – um seine Güte als etwas ganz Selbstverständliches hinzunehmen.
Ich kam aufgeregt zu Doktor Kaa. »Was ist Ihnen passiert? Sie sind ja ganz grau im Gesicht.« »Das wird schon vergehen«, würgte ich aus mir heraus und versuchte zu lächeln. »Man hielt mich für etwas, das ich nicht bin.« »Das ist nichts Außergewöhnliches«, konstatierte Doktor Kaa mit leicht gekräuselten Lippen. »Das ist ein alter menschlicher Verkehrsfehler. Immer wieder neu ist nur der Schmerz, der damit verursacht wird.« – Er nahm eine Akte vom Tisch. – »Bleiben Sie hier eine Weile ruhig sitzen. Ich habe nebenan etwas zu tun. Ich komme sofort wieder zurück. Wollen Sie, daß ich hier für ein paar Augenblicke abschließe, damit Sie niemand stört?« »Nein, danke. Es wird mir schon besser werden.« Kaa verließ leise das Zimmer. Ich lehnte mich im Stuhl zurück. Ich litt damals an schweren, in ganz unregelmäßigen und daher nicht vorauszuschauenden Zeitabständen auretenden Kopfschmerzen, die durch eine erhöhte Reizbarkeit des Gesichtsnervs – Trigeminus – verursacht wurden. So ein Anfall hatte mich vor nicht ganz einer Stunde gerade auf dem Wege zur Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt erfaßt. Ich mußte mich in der Nähe des Staatsbahnhofs, auf dem Florenz, an eine Plakatwand lehnen und den Anfall geduldig über mich ergehen lassen. Der Gipfel war dann ein heiger Schweißausbruch, verbunden mit einem ruckartigen Erbrechen. Damit war aber auch schon die Schwelle des raschen Abklingens des Anfalls erreicht. Mir wurde von Minute zu Minute besser, ich blieb jedoch noch ruhig
bei der Plakatwand stehen, da die Beine unter mir zitterten. Die Leute, die an mir vorbeigingen, sahen mich mißmutig und – wie mir schien – voller Verachtung an. Eine ältere Frau sagte dann zu einer jüngeren, die sie begleitete: »Schau dir den da an! So ein Rotzer und ist schon besoffen wie ein alter Sauruder. So ein Schwein! Was kann aus so einem Kerl noch werden?« Ich wollte die Frau über meinen Zustand aulären, doch ich konnte kein Wort aus mir herausbringen. Ich hatte die Kehle wie zugeschnürt. Ehe ich mich aufrae, waren die beiden Frauen schon hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. Ich ging also langsam zur Unfall-VersicherungsAnstalt. Ich war noch schwach in den Knien, als ich die Treppe hinaufstieg. Doch Kaas Stimme wirkte auf mich wie ein stärkendes Medikament, dazu kam noch die Stille, in der alle Lautreize versiegten, und so verschwanden in einigen Minuten die letzten Spuren des Anfalls. Als Doktor Kaa in das Zimmer zurückkam, erzählte ich ihm, was mir auf dem Florenz widerfuhr, und beendete meinen Bericht mit den Worten: »Ich hätte die Frau anfahren und zusammenschimpfen sollen! Statt dessen sagte ich kein Wort. Ich bin ein jämmerlicher Schwächling!« Doch Doktor Kaa schüttelte den Kopf. »Sagen Sie das nicht! Sie wissen nicht, welche Kra im Schweigen verborgen ist. Die Agression ist nur ein Blendwerk, ein Manöver, mit dem man gewöhnlich nur die Schwäche vor sich und der Welt verschleiern will. Wirklich beständige Kra ist nur im Ertragen. Nur der Schwächling wird ungeduldig und grob. Damit wir er gewöhnlich seine ganze Menschenwürde von sich.« Kaa öffnete eine Lade des Schreibtisches und holte aus ihr eine Zeitschri hervor. Es war Nummer des vierten Jahrganges der Zeitschri Kmen – deutsch: Der Stamm –, die er vor mich hinlegte.
Dabei sagte er: »Auf der ersten Seite sind vier Gedichte. Eins ist besonders rührend. Es heißt Pokora – Demut.« Ich las: Ich werde kleiner und noch kleiner werden – Bis ich dastehe als der Kleinste auf Erden. Früh morgens, auf einer Wiese im Sommer, Werde ich nach dem kleinsten Blümlein die Hand ausstrecken Und flüsternd mein Gesicht bei ihm verstecken: Du mein Kindlein, ohne Schuh’ und Gewand, Der Himmel stützt auf dich seine Hand Mit einem strahlenden Tropfen Tau, Damit nicht zusammenbreche Sein Riesenbau.
Ich flüsterte: »Das ist Poesie.« »Ja«, meinte darauf Kaa, »das ist Poesie – die Wahrheit im Wortkleid der Freundscha und Liebe. Jeder von uns, die struppigste Distel sowie die eleganteste Palme, alles stützt den Himmelsraum über uns, damit der Riesenbau, der Riesenbau unserer Welt, nicht zusammenbreche. Man muß über die Dinge hinwegblicken, dann kommt man ihnen vielleicht näher. Denken Sie nicht an Ihre heutige Straßenbegegnung. Die Frau irrte sich. Allem Anschein nach kann sie nicht den Eindruck von der Wirklichkeit unterscheiden. Das ist ein Gebrechen. Die Frau ist arm. Ihr Gefühl ist gestört. Wie o mag sich da diese Frau schon an den kleinsten Dingen wundgestoßen haben?« Er berührte zart meine Hand, die wie ein Brieeschwerer auf der vor mir liegenden Zeitschri ruhte, und meinte lächelnd: »Der Weg vom Eindruck zur Erkenntnis ist o sehr beschwerlich und weit, und viele Menschen sind eben nur schwache Wanderer. Man muß ihnen verzeihen, wenn sie gegen uns wie gegen eine Wand torkeln.«
Ich bekam von einem Bekannten, dem ich einige geringfügige Geldbeträge geborgt hatte und dem ich nun nichts mehr leihen konnte, einen groben, mit Schimpfwörtern gespickten Brief. Eingebildeter Affe, Ochse und Trottel waren die zahmsten Bezeichnungen. Ich zeigte den Brief Doktor Kaa, der ihn mit spitzen Fingern – wie einen gefährlichen Gegenstand – auf den entferntesten Tischrand legte. Dabei sagte er: »Schimpfwörter sind etwas Schreckliches. Der Brief wirkt auf mich wie eine qualmende, den Atem und die Augen verätzende Brandstätte. Jedes Schimpfwort demoliert die größte Erfindung des Menschen, die Sprache. Wer schimp – insultiert die Seele. Es ist ein Mordanschlag gegen die Gnade. Den begeht aber auch derjenige, welcher die Worte nicht richtig abwägt. Denn sprechen heißt wägen und abgrenzen. Das Wort ist eine Entscheidung zwischen Tod und Leben.« »Was meinen Sie«, fragte ich, »soll ich dem Menschen einen Brief von einem Advokaten schreiben lassen?« Kaa schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Wozu? Er würde sich so eine Warnung sowieso nicht zu Herzen nehmen. Und wenn er es auch tun würde – lassen Sie ihn bleiben. Der Ochse aus seinem Brief wird ihn schon früher oder später auf die Hörner nehmen. Man entgeht keinem Gespenst, das man in die Welt hinausläßt. Das Böse kehrt immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.«
Ich überraschte Franz Kaa in der Kanzlei beim Studium eines Prospektes der Reclam-Bücherei. »Ich berausche mich an Buchtiteln«, sagte Kaa. »Bücher sind ein Narkotikum.«
Ich öffnete meine Aktentasche und zeigte ihm den Inhalt. »Ich bin ein Haschischesser, Herr Doktor.« Kaa staunte. »Lauter neue Bücher!« Ich entleerte die Aktentasche auf seinen Schreibtisch. Kaa nahm ein Buch nach dem anderen, blätterte in ihm, las – ab und zu – eine Stelle und reichte mir den Band. Als er alle Bücher durchgesehen hatte, fragte er mich: »Das werden Sie alles lesen?« Ich nickte. Kaa verzog die Lippen. »Sie beschweren sich zu sehr mit Eintagsfliegen. Die Mehrzahl dieser modernen Bücher sind nur flackernde Spiegelungen des Heute. Das erlischt sehr rasch. Sie sollten mehr alte Bücher lesen. Klassiker. Goethe. Das Alte kehrt seinen innersten Wert nach außen – die Dauerhaigkeit. Das Nur-Neue ist die Vergänglichkeit selbst. Die ist heute schön, um morgen lächerlich zu erscheinen. Das ist der Weg der Literatur.« »Und die Dichtung?« »Die Dichtung wandelt das Leben. Das ist manchmal noch ärger.« Anklopfen. Mein Vater trat ein. »Mein Herr Sohn belästigt Sie wieder.« Kaa lachte: »O nein! Wir unterhalten uns über Teufel und Dämonen.«
Wenn ich es mir heute recht überlege, so muß ich gestehen, daß ich mich Kaa gegenüber recht rücksichtslos benahm: ich kam häufig unangemeldet und wann es mir gerade paßte in seine Kanzlei. Trotzdem empfing er mich aber immer mit freundlichem Lächeln und weit entgegengestreckter Hand. Ich fragte zwar immer: »Störe ich nicht?« Doch Kaa antwortete darauf gewöhnlich mit einem verneinenden
Kopfschütteln oder einer nachlässig abwinkenden Handbewegung. Nur einmal erklärte er mir: »Einen unvorgesehenen Besuch als Störung zu empfinden, ist ein untrügliches Schwächezeichen, eine Flucht vor dem Unvorgesehenen. Man verkriecht sich in eine sogenannte Privatexistenz, weil einem die Kräe zur Bewältigung der Welt fehlen. Man flieht vor dem Wunder zur Selbstbegrenzung. Das ist ein Rückzug. Das Dasein ist ja vor allem ein Mit-den-Dingen-Sein, ein Zwiegespräch. Dem darf man nicht ausweichen. Sie können immer und wann Sie wollen zu mir kommen.«
Kaa bemerkte meine Unausgeschlafenheit. Wahrheitsgemäß sagte ich ihm, daß ›es mich so packte, daß ich bis morgens geschrieben habe‹. Kaa legte seine großen, wie holzgeschnitzten Hände auf die Tischplatte und meinte langsam: »Das ist ein großes Glück, wenn man die innere Bewegung so glatt nach außen stoßen kann.« »Es war wie ein Rausch. Ich habe noch nicht gelesen, was ich eigentlich geschrieben habe.« »Natürlich. Das Geschriebene ist ja nur Schlacke des Erlebnisses.«
Mein Freund Ernst Lederer schrieb Gedichte mit besonderer heller blauer Tinte auf dekorativen Bogen handgeschöpen Papiers. Ich erzählte davon Kaa. Er bemerkte: »Das ist richtig. Jeder Magier hat sein eigenes Zeremoniell. Haydn komponierte – beispielsweise – nur in feierlich gepuderter Perücke. Das Schreiben ist eben eine Art von Geisterbeschwörung.«
Alfred Kämpf schenkte mir die in einem Band des ReclamVerlages vereinten drei Bändchen der Ausgewählten Novellen von Edgar Allan Poe. Ich zeigte Doktor Kaa das kleine Buch, das ich einige Wochen stets bei mir trug. Er blätterte in ihm, las den Inhalt und fragte mich dann: »Kennen Sie Poes Leben?« »Ich weiß nur, was mir Kämpf erzählte. Poe soll ein notorischer Säufer gewesen sein.« Kaa zog die Augenbrauen zusammen. »Poe war krank. Er war ein armer Mensch, welcher der Welt wehrlos gegenüberstand. Darum floh er in den Rausch. Die Phantasie war für ihn nur eine Krücke. Er schrieb unheimliche Geschichten, um in der Welt heimisch zu werden. Das ist ganz natürlich. In der Phantasie gibt es nicht so viele Wolfsgruben wie in der Wirklichkeit.« »Sie haben sich mit Poe eingehend beschäigt?« »Nein. Ich kenne eigentlich sehr wenig von dem, was er geschrieben hat. Doch ich kenne seinen Fluchtweg, das Traumgesicht. Es ist immer dasselbe. Das sieht man zum Beispiel hier an diesem Buch.« Kaa öffnete die mittlere Schublade seines Schreibtisches und reichte mir einen graublauen Leinenband: Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson. »Stevenson war lungenkrank«, sagte Kaa, während ich mir flüchtig das Titelblatt und den Inhalt ansah. »Er übersiedelte deshalb in die Südsee. Er lebte dort auf einer Insel. Doch er sah nichts von ihr. Die Welt, in der er lebte, war für ihn nur die Bühne kindischer Piratenträume, ein Sprungbrett der Phantasie.« »Soviel ich auf den ersten Blick erkennen konnte«, sagte ich und wies mit einer Kopewegung auf das Buch, das ich auf den Tisch gelegt hatte, »schildert er aber auch das Meer, die Menschen und die Tropenvegetation der Südsee.« »Ja, er tut es sogar sehr eingehend.«
»Dann steckt aber in seinem Buch auch ein Stück Wirklichkeit.« »Natürlich«, sagte darauf Kaa. »In den Träumen gibt es immer eine Unmenge unverarbeiteter Tageserfahrungen.« »Vielleicht«, bemerkte ich vorsichtig, »versucht man eben im Traum mit dieser Schuld gegenüber der Erfahrung fertig zu werden. Was meinen Sie?« »Ja, so ist es«, nickte Kaa. »Die Wirklichkeit ist die stärkste, die Welt und den Menschen modellierende Kra. Sie wirkt. Darum hat sie eben die Wirklichkeit. Man kann ihr nicht entfliehen. Der Traum ist nur ein Umweg, auf dem man zum Schluß immer wieder zur allernächsten Erfahrungsumwelt zurückkehrt. Stevenson zu seiner Südseeinsel und ich –«, er hielt inne. »Und Sie«, beendete ich seinen Gedanken, »hier in diese Kanzlei und in die Wohnung am Altstädter Ring.« »Ja, Sie haben recht«, hauchte darauf Kaa. Dabei hatte er in seinem Gesicht plötzlich so einen von Sorgen gehetzten Ausdruck, daß ich unwillkürlich entschuldigend murmelte: »Verzeihen Sie, Herr Doktor, meine Frechheit. Ich bin vorlaut. Das ist meine Schwäche.« »Im Gegenteil«, entgegnete darauf Kaa. »Das ist eine Kra. Der Eindruck verdichtet sich bei Ihnen früher zum Wort als bei den anderen. Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen.« Ich widersprach: »Doch! Ich habe mich ungehörig benommen.« Kaa hob den linken Arm bis zur Achselhöhe, ließ ihn kralos niedersinken und meinte dann mit einem bezaubernden Lächeln: »Das ist auch ganz normal. Sie sind un-gehörig. Sie gehören noch nicht der Welt der festgefrorenen Gebräuche an. Darum ist Ihre Sprache – um zu Stevensons Südseeinsel zurückzukommen – noch ein scharfes, unverbrauchtes Buschmesser. Sie müssen aufpassen, um nicht danebenzuhauen und sich so selbst zu verstümmeln.
Das ist nach dem Mord das schrecklichste Vergehen gegen das Leben.«
Unter den Jungen, mit denen ich im Sommer auf der Schwimmschule und im Winter auf dem Eislaufplatz zusammenkam, war auch ein gewisser Leo Weisskopf, ein bebrillter, semmelblonder, schmächtiger Bursche mit einem runden, rosigen Mädchengesicht. Sein Vater besaß auf dem Petersplatz ein Büro, wo er verschiedene Vermittlungen auf dem Gebiete des Großhandels mit Chemikalien abwickelte. Leo Weisskopf gehörte demnach zu dem ›besseren‹ Bürgertum. Er war immer manierlich und adrett angezogen, ohne jedoch irgendeinem Geckentum zu verfallen. Der Kleidung entsprach auch sein Benehmen. Er war im Gespräch stets zurückhaltend und betont angenehm. Man konnte ihn nie als Spiel- oder Spaßverderber bezeichnen, doch konnte man in seiner Gesellscha auch nie richtig warm werden. Seine Gegenwart wirkte wie ein Dämpfer. Mein Freund Ernst Lederer bezeichnete deshalb den etwas jüngeren Leo Weisskopf als einen Leisetreter. Er sagte: »Der ist so freundlich und umgänglich, nur um uns auszuweichen. Er versteckt sich vor uns.« »Warum sollte er das tun?« fragte ich. Mein Freund zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich spüre es nur.« »Du hast ihn eben nicht gern«, sagte ich. »Das ist alles.« »Ja, das stimmt«, gestand Ernst Lederer. »Meine Abneigung ist eine ausgesprochene Gefühlssache. Leo Weisskopf ist anders als wir. Zwischen ihm und uns ist etwas Dunkles, Ungreiares. Vielleicht ist er irgendwie süchtig. Vielleicht ist er irgendeinem geheimen Laster verfallen.« Darauf sagte ich höhnisch: »Vielleicht bist du ein Idiot.« Doch mein Freund, der sonst sehr hitzig war, sagte ganz
ruhig: »Du oder ich, einer von uns beiden wird es bestimmt sein. Das wird sich mit der Zeit zeigen.« Damit war unser Gespräch über Leo Weisskopf beendet. Zwei Tage später erfuhren wir dann – ich weiß nicht mehr wie und von wem –, daß Leo Weisskopf tot sei. Selbstmord. Zyankali. Er soll in eine bedeutend ältere, verheiratete Frau verliebt gewesen sein. Ob dies tatsächlich das einzige Motiv seines Freitodes gewesen ist, erfuhren wir nicht. Ernst Lederer bezweifelte es. Ich erzählte die Geschichte Doktor Franz Kaa. Er hörte mir mit geschlossenen Augen zu. Als ich mit meinem Bericht fertig war, schwieg er noch ein, zwei Minuten, dann öffnete er die Augen und sagte, den Blick zur Decke gerichtet: »Das ist eine recht undurchsichtige Angelegenheit. Der Mensch wird sich seiner selbst eigentlich nur in der Liebe und in der Todesgefahr voll bewußt. Vielleicht wurde Ihr Bekannter von der Frau, die er liebte, enttäuscht. Vielleicht benutzte sie ihn nur als ein vorübergehendes Spielzeug. Vielleicht glaubte er, daß sein Leben ohne die geliebte Frau ganz zwecklos sei. Vielleicht wollte er ihr durch den Tod seine Wertschätzung beweisen. Vielleicht wollte er ihr damit sagen, daß ihm – nachdem sie ihn verlassen hat – nur das Verfügungsrecht über sich selbst geblieben sei. Verstehen Sie mich?« Er sah mich mit ängstlich zusammengekniffenen Augen an. »Ja«, sagte ich. Kaa fuhr fort: »Man kann das nur wegwerfen, was man wirklich besitzt. Deshalb kann man den Selbstmord als einen ins Absurde überspitzten Egoismus betrachten. Als einen Egoismus, der sich das Recht der Gottesgewalt anmaßt, wobei es sich aber in Wirklichkeit um überhaupt keine Gewalt handeln kann, denn es ist hier ja eigentlich gar keine Kra vorhanden. Der Selbstmörder tötet sich selbst nur aus Unvermögen. Er vermag nichts mehr. Dadurch hat er schon alles verloren. Nun nimmt er das letzte,
was ihm noch übrig blieb. Dazu braucht man keine Kra. Es genügt die Verzweiflung, das Aufgeben jeder Hoffnung. Das ist kein Risiko. Ein Wagnis ist nur das Dauern, die Hingabe an das Leben, das scheinbar unbesorgte Dahingleiten von Tag zu Tag.«
Franz Kaa forderte mich einigemal auf, ihm etwas von meinem ›ungereimten Geschreibsel‹ – wie ich mich ausdrückte – zur Ansicht zu bringen. Ich durchsuchte also mein Tagebuch nach geeigneten Absätzen, die ich zu einer Sammlung kleiner Prosastücke zusammenstellte, mit dem Titel Der abgrundtiefe Augenblick versah und Kaa vorlegte. Er gab mir die Handschri erst nach einigen Monaten zurück, als er sich zur Reise in das Sanatorium Tatranské Matlyary vorbereitete. Er sagte bei dieser Gelegenheit: »Ihre Erzählungen sind so rührend jung. Sie sagen viel mehr von den Eindrücken, die die Dinge in Ihnen erwecken, als von den Geschehnissen und Gegenständen selbst. Das ist Lyrik. Sie streicheln die Welt, anstatt sie zu erfassen.« »Was ich geschrieben habe ist also nichts wert?« Kaa ergriff meine Hand. »Das habe ich nicht gesagt. Sicher haben diese kleinen Erzählungen einen Wert für Sie. Jedes geschriebene Wort ist ein persönliches Dokument. Aber Kunst –« »Kunst ist das nicht«, ergänzte ich bitter. »Das ist noch nicht Kunst«, sagte Kaa bestimmt. »Dieses Äußern der Eindrücke und Gefühle ist eigentlich ein ängstliches Abtasten der Welt. Die Augen sind noch traumbeschattet. Das wird aber mit der Zeit schon verschwinden, und die tastend ausgestreckte Hand wird vielleicht zurückzucken, als hätte sie ins Feuer gegriffen. Vielleicht werden Sie aufschreien, zusammenhanglos stammeln oder die Zäh
ne zusammenbeißen und die Augen weit, ganz weit aufmachen. Aber – das sind alles nur Worte. Die Kunst ist immer eine Angelegenheit der ganzen Persönlichkeit. Darum ist sie im Grunde tragisch.«
Ich sollte – nach vorhergehender Verabredung – Doktor Kaa in der Kanzlei besuchen. Am Tag zuvor brachte mir aber mein Vater ein He der Berliner Aktion mit einem Zettel, auf dem mir Doktor Kaa mitteilte, daß er erst nächste Woche in der Kanzlei sein werde. Als ich dann zu ihm kam, fragte er mich gleich nach der Begrüßung: »Konnten Sie meine Schri lesen?« »Ja, sehr gut. Ihre Schri ist eine klar verlaufende Wellenlinie.« Kaa faltete die Hände über der Schreibtischplatte und meinte mit einem bittersüßen Gesichtsausdruck: »Es ist die Wellenlinie eines zu Boden fallenden Strickes. Meine Buchstaben sind Schlingen.« Ich wollte Kaas depressive Stimmung, die damit in Erscheinung trat, entkräen und sagte darum lächelnd: »Es sind also Lassos.« Kaa nickte wortlos. Ich stichelte weiter: »Was wollen Sie mit den Lassos fangen?« Doktor Kaa antwortete mit einem leichten Hochziehen beider Schultern: »Ich weiß nicht. Vielleicht will ich ein unsichtbares Ufer erreichen, an dem mich schon längst zuvor der reißende Strom meiner Schwäche vorbeigetrieben hat.« Franz Kaa zeigte mir den Fragebogen einer Enquête über die Literatur, welche, denke ich, von Otto Pick für die literarische Sonntagsbeilage der Prager Presse veranstaltet wurde. Er wies mit dem Zeigefinger auf die Frage Was können
Sie über Ihre literarischen Zukunspläne sagen? und lächelte: »Das ist dumm. Darauf kann man gar nicht antworten.« Ich sah ihn verständnislos an. »Kann man vorhersagen, wie das Herz in der nächsten Zeit schlagen wird? Nein, das ist nicht möglich. Die Feder ist aber nur ein seismographischer Griffel des Herzens. Erdbeben lassen sich damit festhalten, aber nicht vorhersagen.«
Ich kam zu Doktor Kaa in die Kanzlei. Er war gerade im Weggehen, als ich eintrat. »Sie gehen weg?« »Nur auf einen Augenblick, zwei Stockwerke höher in die Abteilung Ihres Vaters. Setzen Sie sich und warten Sie auf mich. Es wird nicht lange dauern. Vielleicht schauen Sie inzwischen in diese neue Zeitschri. Die Post brachte sie gestern.« Es war die erste Nummer einer großen, repräsentativen, in Berlin erscheinenden Revue. Sie hieß Marsyas. Der Herausgeber war eodor Tagger. Inliegend war ein Prospekt, in welchem unter den Anzeigen neuer versprochener Werke auch eine Arbeit eoretische Prosa von Franz Werfel angekündigt war. Das war ein Freund Kaas, darum fragte ich ihn nach seiner Rückkehr in die Kanzlei, ob er etwas von dieser Sache wisse. »Ja«, sagte Franz Kaa kurz. »Werfel sagte zu Max, daß das eine Erfindung des Herausgebers sei.« »Das darf man? Das ist doch eine Lüge.« »Das ist Literatur«, bemerkte Doktor Kaa lächelnd. »Flucht vor der Wirklichkeit.« »Dichtung ist also Lüge?« »Nein. Dichtung ist Verdichtung, eine Essenz. Literatur ist
dagegen Auflösung, ein Genußmittel, das das unbewußte Leben erleichtert, ein Narkotikum.« »Und Dichtung?« »Dichtung ist das gerade Gegenteil. Dichtung erweckt.« »Dichtung tendiert also zur Religion.« »Das würde ich nicht sagen. Zum Gebet aber sicherlich.«
Bei einer anderen Gelegenheit, als ich mit Doktor Kaa die Franziskanerkirche auf dem Jungmannplatz besuchte, wo wir gleich neben dem Eingang vor einem dunklen Altarbild eine voll Inbrunst betende alte Frau sahen, sagte er mir nach dem Verlassen der Kirche: »Das Gebet und die Kunst sind leidenschaliche Willensakte. Man will den Bereich der normal vorhandenen Willensmöglichkeiten überschreiten und steigern. Die Kunst ist so wie das Gebet eine ins Dunkle ausgestreckte Hand, die etwas von der Gnade erfassen will, um sich in eine schenkende Hand zu verwandeln. Beten heißt, sich in den umgestaltenden Lichtbogen zwischen Vergehen und Werden werfen, in ihm ganz aufgehen, um sein unermeßliches Licht in die zerbrechliche kleine Wiege der eigenen Existenz einzubetten.«
Ich staunte o über Doktor Kaas umfassende Kenntnis der verschiedensten Baulichkeiten der Stadt. Er war nicht nur mit den Palästen und Kirchen, sondern auch mit den verstecktesten Durchhäusern der Altstadt wohlvertraut. Er kannte die altertümlichen Namen der Häuser auch dann, wenn ihre alten Wahrzeichen nicht mehr über dem Eingang, sondern im Städtischen Museum auf dem Poříč hingen. Doktor Kaa las von den Wänden der alten Häuser die Geschichte der Stadt ab. Er führte mich durch
winklige Gassen in kleine, trichterförmige Altprager Innenhöfe, die er ›Lichtspucknäpfe‹ nannte; ging mit mir in der Nähe der alten Karlsbrücke durch einen barocken Hausflur, über einen handtuchbreiten Hof mit runden Renaissance-Arkaden und durch einen dunklen schlauchartigen Tunnel hindurch zu einer winzigen, in einem kleinen Hof eingeklemmten Gaststätte, die den Namen Zu den Sternguckern (tschechisch: U hvezdáru) trug, weil hier eine Zeitlang Johannes Kepler wohnte und hier, in dem höhlenartigen dunklen Gewölbe, im Jahre sein berühmtes, die damaligen Ergebnisse der Wissenscha weit überragendes Werk Astronomia Nova entstand. Doktor Kaa liebte die alten Gassen, Paläste, Gärten und Kirchen der Stadt, in der er geboren wurde. Er blätterte freudig interessiert in jedem, den Prager Altertümlichkeiten gewidmeten Buch, das ich ihm in die Kanzlei brachte. Seine Augen und Hände liebkosten förmlich die Seiten dieser Publikationen, obwohl er sie alle längst vordem, ehe ich sie ihm auf den Tisch legte, schon gelesen hatte. Seine Augen strahlten wie die Blicke eines entzückten Sammlers. Dabei war er aber alles andere als ein Sammler. Das Alte war für ihn kein geschichtlich erstarrtes Sammlerobjekt, sondern ein elastisches Erkenntnisinstrument, eine Brücke zum Heute. Das erkannte ich, als Doktor Kaa und ich einmal auf dem Wege von der Unfall-Versicherungs-Anstalt zum Altstädter Ring bei der Jakobskirche, schräg gegenüber dem Teinhof, stehenblieben. »Kennen Sie diese Kirche?« fragte mich Kaa. »Ja. Aber nur oberflächlich. Ich weiß, daß sie zu dem benachbarten franziskanischen Minoritenkloster gehört. Das ist alles.« »Die Hand, die in der Kirche an einer Kette hängt, haben Sie aber sicherlich schon gesehen?« »Ja, sogar einigemal.«
»Wollen wir uns die Hand zusammen ansehen?« »Sehr gern.« Wir betraten die Kirche, deren drei Kirchenschiffe zu den längsten Prager Kirchenräumen gehören. Links, gleich neben dem Eingang, hängt an einer oben an der Decke befestigten langen Eisenkette ein rauchgeschwärzter, mit vertrockneten Fleisch- und Sehnenresten bedeckter Knochen, welcher der Form nach das traurige Überbleibsel eines menschlichen Unterarmes sein könnte. Er soll im Jahre oder kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg einem Dieb abgehackt und ›zum ewigen Gedenken‹ hier in der Kirche aufgehängt worden sein. Nach alten Chroniken und einer ständig erneuerten mündlichen Überlieferung soll dieser grausige Akt folgende Vorgeschichte gehabt haben: In der Kirche, die übrigens noch heute mit einer beträchtlichen Zahl von Nebenaltären ausgestattet ist, stand auf einem der zahlreichen Seitenaltäre eine holzgeschnitzte Statue der heiligen Maria, die mit Ketten aus Gold- und Silbermünzen bedeckt war. Ein entlassener Söldner, den dieser Reichtum fasziniert hatte, versteckte sich in einem Beichtstuhl, wo er das Schließen der Kirche abwartete. Dann verließ er sein Versteck, ging zu dem Altar, stieg auf einen Schemel, den der Küster beim Anzünden der Altarkerzen gewöhnlich zu verwenden pflegte, streckte die Hand aus und versuchte den Schmuck der Statue an sich zu bringen. Doch die Hand erstarrte. Der Dieb, der sich zum ersten Mal in eine Kirche eingeschlichen hatte, glaubte, daß ihn die Statue fest bei der Hand halte. Er versuchte sich loszureißen. Doch das gelang ihm nicht. Der Küster, der ihn am Morgen erschöp auf dem Schemel vor dem Altar vorfand, alarmierte die Mönche. Vor dem Altar, wo die Muttergottesstatue noch immer den schreckensbleichen Dieb festhielt, versammelte sich alsbald eine große betende Menschenmenge; darunter auch der Bürgermeister und
einige Älteste der Prager Altstadt. Der Küster und die Mönche versuchten die Hand des Diebes der Statue zu entwinden. Es gelang ihnen nicht. Der Bürgermeister berief also den Henker, welcher den Unterarm mit einem einzigen Schwertstreich vom Körper des Diebes lostrennte. Nun ›ließ auch die Statue die Hand los‹. Der Unterarm fiel zu Boden. Der Dieb wurde verbunden und ein paar Tage später wegen versuchten Kirchenraubes zu einer langjährigen Kerkerstrafe verurteilt, nach deren Verbüßung er als Laienbruder in den Minoritenorden eintrat. Die abgeschlagene Hand befestigte man in der Kirche an einer Eisenkette in der Nähe des Grabsteines des Altstädter Ratsherrn Scholle von Schollenbach. Auf dem daneben stehenden Pfeiler wurde dann eine primitive bildliche Darstellung des Ereignisses mit einem erläuternden Text in lateinischer, deutscher und tschechischer Sprache angebracht. Doktor Kaa sah eine Weile interessiert zu dem verdorrten Gliederstumpf empor, warf einen Blick auf die kleine Tafel mit der Beschreibung des Wunders und ging zum Ausgang. Ich folgte ihm. »Das ist grausig«, sagte ich draußen. »Das Madonnenwunder war natürlich nur ein Starrkrampf.« »Doch wodurch wurde er ausgelöst?« fragte mich Kaa. Ich sagte: »Wahrscheinlich durch eine plötzlich auretende innere Hemmung. Das von der Sucht nach dem Madonnenschmuck verdeckte religiöse Gefühl des Diebes wurde durch die Tat plötzlich wachgerüttelt. Es war stärker als der Dieb annahm. Dadurch erstarrte seine Hand.« »Stimmt!« nickte darauf Franz Kaa und schob seine Hand unter meinen Arm. »Die Sehnsucht nach dem Göttlichen und die sie ständig begleitende Scheu vor der Schändung des Heiligtums sowie das dem Menschen innewohnende Gerechtigkeitsbedürfnis – das alles sind mächtige und unbesiegbare Kräe, die sich im Menschen auäumen, wenn er ihnen entgegenhandelt. Sie sind ein sittliches Re
gulativ. Ein Verbrecher muß deshalb immer zuerst diese Kräe in sich selbst niederschlagen, um überhaupt zu einer verbrecherischen Handlung in der Welt zu gelangen. Darum beginnt jedes Verbrechen mit einer seelischen Selbstverstümmelung. Die ist dem Söldner, der die Statue bestehlen wollte, nicht gelungen. Darum erstarrte seine Hand. Sie wurde von seinem eigenen Gerechtigkeitsgefühl gelähmt. Der Eingriff des Henkers war für ihn deshalb gar nicht so grausig, wie Sie annehmen. Im Gegenteil: der Schreck und der Schmerz haben dem Mann die Erlösung gebracht. Die seelische Selbstverstümmelung wurde durch den körperlichen Henkersakt ersetzt. Dadurch wurde der arme entlassene Söldner, der nicht einmal eine Holzpuppe bestehlen konnte, von seiner Gewissensverkrampfung befreit. Er konnte als Mensch weiterbestehen.« Wir gingen schweigend weiter. In der Mitte des engen Gäßchens zwischen dem Teinhof und dem Altstädter Ring blieb Kaa jedoch plötzlich stehen und fragte mich: »Woran denken Sie?« »Ich denke darüber nach, ob so etwas wie die Geschichte mit dem Dieb in der Jakobskirche wohl heute noch möglich wäre«, antwortete ich freimütig und sah Franz Kaa fragend an. Der zog nur die Augenbrauen zusammen. Nach zwei, drei Schritten sagte er: »Ich glaube – kaum. Die Sehnsucht nach Gott und die Angst vor der Sünde sind heute äußerst geschwächt. Wir stecken in einem Sumpf der Überheblichkeit. Das bewies der Krieg, dessen Massenentmenschung die sittlichen Kräe des Menschen – und damit ihn selbst! – für viele Jahre narkotisierte. Ich glaube, daß heute ein Kirchenräuber nicht mehr in einen Starrkrampf verfallen würde. Sollte aber so etwas geschehen, so würde man so einem Menschen nicht den halben Arm abhacken, sondern ihm seine ganz unmoderne sittliche Phantasie amputieren. Man würde ihn in ein Irrenhaus bringen. Dort würde man ihm dann seine veralteten sittli
chen Regungen, die sich als ein hysterischer Starrkrampf manifestierten, einfach weganalysieren.« Ich grinste: »Der Kirchenräuber würde sich in ein Opfer eines versteckten Ödipus- oder Mutterkomplexes verwandeln. Er versuchte ja die Mutter Gottes zu bestehlen.« »Natürlich!« nickte Kaa. »Es gibt keine Sünde und keine Sehnsucht nach Gott. Alles ist ganz irdisch und eindeutig zweckmäßig. Gott ist jenseits unserer Existenz. Darum leben wir auch in einer allgemeinen Gewissenserstarrung. Es verschwanden scheinbar alle transzendenten Konflikte, doch alle – alle verteidigen sich wie die Holzfigur in der Jakobskirche. Wir bewegen uns nicht. Wir stehen nur da. Nicht einmal das! Die meisten von uns sind nur durch den Dreck der Angst an die wackligen Stühle billiger Grundsätze festgeleimt. Das ist die ganze Lebenspraxis. Ich – zum Beispiel – sitze in der Kanzlei, blättere in den Akten herum und versuche meine Abneigung gegen die ganze Unfall-Versicherungs-Anstalt hinter einer seriösen Miene zu stecken. Dann kommen Sie. Wir reden über alles mögliche, gehen durch die lärmenden Straßen in die stille Jakobskirche, sehen uns die abgehackte Hand an, sprechen über den sittlichen Starrkrampf der Zeit, und ich gehe in den Laden meiner Eltern, um etwas zu essen und dann ein paar höfliche Mahnbriefe an einige säumige Schuldner zu schreiben. Nichts geschieht. Die Welt ist in Ordnung. Wir sind nur starr wie die Holzfigur in der Kirche. Doch ohne Altar.« – Er berührte leicht meine Schulter. »Auf Wiedersehen.«
Wir gingen – Doktor Kaa und ich – durch die Zeltnergasse zum Altstädter Ring. Wir hörten schon von der Ferne das Rauschen und den Gesang einer großen Menschenmenge; bei dem Haus Zum weißen Pfau wurden wir dann
von einem träge vorüberrollenden Demonstrationszug an die Wand gedrückt. »Das ist die Kra der Internationale«, sagte ich lächelnd, doch Kaas Gesicht verfinsterte sich. »Sind Sie taub? Hören Sie nicht, was die Leute singen? Das sind doch ausgesprochen nationalistische Lieder aus dem alten Österreich.« Ich fragte protestierend: »Was bedeuten dann die roten Fahnen?« »Ach was! Das ist nur eine neue Packung alter Leidenschaen«, sagte Franz Kaa, ergriff meine Hand und zog mich in das Haus hinter unserem Rücken, über einen dunklen Hof, durch einen kurzen Gang und an einer weißgetünchten Treppe vorbei in das enge Gemsengäßchen und von dort durch die Eisengasse in die breite Rittergasse, wo man von dem Umzug überhaupt nichts mehr merkte. »Ich vertrage nicht diese lauten Straßenkrawalle«, sagte Kaa aufatmend. »Es steckt in ihnen der Terror neuer, von Gott befreiter Religionskriege, die mit Fahnen, Gesang und Musik anfangen und mit Raub und Blut enden.« Ich opponierte: »Das ist nicht wahr! In Prag gibt es jetzt fast täglich irgendwelche Umzüge, die alle ruhig verlaufen. Blut gibt es nur bei den Selchern in den Blutwürsten.« »Die Dinge entwickeln sich hier eben etwas langsamer. Aber das macht nichts! Sie werden schon kommen.« Kaa wedelte ein paarmal mit der erhobenen Hand, um seine Bedenken auszudrücken, und fuhr dann fort: »Wir leben in einer Zeit des Bösen. Das ist schon daran ersichtlich, daß nichts mehr seinen richtigen Namen trägt. Man gebraucht das Wort Internationalismus und meint damit Menschentum, also einen sittlichen Wert, wogegen das Wort Internationalismus nur eine vorwiegend geographische Praxis bezeichnet. Die Begriffe werden wie entkernte, leere Nußschalen hin- und hergeschoben. So spricht man
zum Beispiel von der Heimat jetzt, in diesem Augenblick, da die Wurzeln des Menschen schon längst aus dem Boden gerissen sind.« »Wer hat das getan?« fragte ich. »Das machen wir alle! An der Entwurzelung sind wir alle beteiligt.« »Aber jemand muß doch die treibende Kra sein«, sagte ich trotzig. »Wer ist es? An wen denken Sie?« »An niemanden! Ich denke weder an die Treiber, noch an die Getriebenen. Ich sehe nur das Geschehen. Die Personen sind ganz nebensächlich. Und dann – welche Kritik könnte die Leistung der Akteure richtig abschätzen, da sie ja mit ihnen auf einer Bühne steht? Es gibt keinen Abstand. Dadurch wird alles unsicher, alles schwankt. Wir leben in einem Sumpf zerfallender Lügen und Illusionen, wo grausame Ungeheuer zur Welt kommen, die den Reportern freundlich ins Objektiv lächeln und dabei – ohne daß es jemand merkt – eigentlich schon über Millionen Menschen wie über lästige Insekten hinwegtrampeln.« Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte. Wir gingen schweigend durch die Melantrichgasse und an der alten Rathausuhr vorbei, um Doktor Kaas Wohnung an der Ecke der Altstädter und Pariser Straße zu erreichen. Als wir uns in der Nähe des Hus-Denkmals befanden, sagte Kaa: »Alles segelt unter falscher Flagge, kein Wort entspricht der Wahrheit. Ich – zum Beispiel – gehe jetzt nach Hause. Doch das schaut nur so aus. In Wirklichkeit steige ich in einen speziell für mich installierten Kerker, der um so härter ist, da er einer ganz gewöhnlichen bürgerlichen Wohnung gleicht und von niemandem – außer von mir – als ein Gefängnis erkannt wird. Dadurch schwinden auch alle Ausbruchsversuche. Man kann keine Ketten zerbrechen, wenn es keine sichtbaren Ketten gibt. Die Ha ist daher als ein ganz gewöhnliches, nicht übertrieben kom
fortables Alltagsdasein organisiert. Alles scheint aus gediegenem Material und stabil zu sein. Dabei ist es aber ein Li, in welchem man einem Abgrund entgegenstürzt. Man sieht ihn nicht. Doch man hört ihn vor sich schon dröhnen und rauschen, wenn man die Augen schließt.«
Ich zeigte Franz Kaa den Entwurf eines Dramas über ein biblisches ema. »Was werden Sie damit machen?« fragte er. »Ich weiß nicht. Der Stoff gefällt mir, aber die Bearbeitung … Ein Ausführen des Entwurfs käme mir jetzt vor wie eine Art von Schneiderarbeit.« Kaa reichte mir die Handschri. »Sie haben recht. Nur das Geborene lebt. Alles andere ist eitel: Literatur ohne Existenzberechtigung.«
Ich brachte Doktor Kaa eine tschechische Anthologie französischer religiöser Gedichte. Kaa blätterte eine Weile in dem Bändchen. Dann schob er es mir behutsam über die Tischplatte zurück. »Diese Art von Literatur ist ein raffiniertes Genußmittel, das ich nicht mag. Die Religion wird hier restlos ins Ästhetische umdestilliert. Das Mittel zu einer Sinngebung des Lebens wird zu einem Reizmittel, zu einem protzigen Ziergegenstand wie es zum Beispiel teuere Vorhänge, Bilder, geschnitzte Möbel und echte Perserteppiche sind. Die Religion dieser Art von Literatur ist ein Snobismus.« »Da haben Sie recht«, pflichtete ich ihm bei, »durch den Krieg entstand auch auf dem Gebiet des Glaubens ein Ersatzmittel. Das ist diese Art von Literatur. Die Dichter schmücken sich mit dem Gottesgedanken wie mit einer bunten Modekrawatte.«
Doktor Kaa nickte lächelnd: »Dabei handelt es sich nur um eine ganz gewöhnliche Halsschlinge. Wie eben immer, wenn man die Transzendenz als Fluchtweg benutzt.«
Auf der vierten Seite des gelblichen Vorsatzpapieres in meinem Exemplar des Buches Ein Landarzt befindet sich folgende Eintragung: »Literatur bemüht sich, die Dinge in ein angenehmes, gefälliges Licht zu stellen. Der Dichter ist aber gezwungen, die Dinge in den Bereich der Wahrheit, Reinheit und Dauer emporzuheben. Literatur sucht Bequemlichkeit. Der Dichter aber ist ein Glücksucher, und das ist alles andere, nur nicht bequem.« Ich weiß nicht, ob es sich hier um die Fixierung eines AusSpruches Franz Kaas, oder um eine von mir formulierte Eintragung eines Gesprächsergebnisses handelt.
Ich bekam von meinem Mitschüler Ernst Lederer eine Anthologie expressionistischer Dichtung: Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung. Mein Vater, der sich o meinen Lesesto ansah, bemerkte: »Das sind keine Verse. Das ist ein sprachlicher Hackbraten.« Ich protestierte: »Du übertreibst. Die neue Dichtung bedient sich eben einer neuen Sprache.« »Das stimmt!« nickte mein Vater. »Jeden Frühling wächst neues Gras. Doch dieses Gras ist unverdaulich. Das ist ein sprachlicher Stacheldraht. Ich werde mir das Buch nochmals ansehen.« Als ich dann einige Tage später auf dem Weg zur Abteilung meines Vaters im ersten Stock der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt bei Doktor Kaa vorsprach, legte er
nach der Begrüßung die expressionistische Anthologie vor mich hin und meinte vorwurfsvoll: »Warum haben Sie Ihren Vater mit diesem Buch erschreckt? Ihr Vater ist ein aufrechter, ehrlicher Mensch, der über eine Unmenge wertvoller Erfahrungen verfügt, der aber keinen Sinn für so ein Herumspielen mit dem Verfall logischer Sprachmittel besitzt.« »Das Buch ist also Ihrer Meinung nach schlecht?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Ist es ein verlogener Sprachsalat?« »Nein. Im Gegenteil: das Buch ist ein erschreckend aufrichtiges Zeugnis der Loslösung. Die Sprache ist hier nicht mehr ein Bindemittel. Die Autoren sprechen hier jeder nur noch für sich selbst. Sie tun so, als würde die Sprache nur ihnen gehören. Dabei wird die Sprache den Lebenden nur für eine unbestimmte Zeit verliehen. Wir dürfen sie nur gebrauchen. In Wirklichkeit gehört sie den Toten und den noch Ungeborenen. Man muß mit ihrem Besitz vorsichtig umgehen. Das haben die Autoren dieses Buches vergessen. Sie sind Sprachzerstörer. Das ist ein schweres Vergehen. Eine Sprachverletzung ist immer eine Gefühls- und Gehirnverletzung, eine Verdunklung der Welt, eine Vereisung.« »Dabei operiert man immer mit der Glut hochgespannter Gefühle!« »Nur in Worten. Das ist eine Art von Couéismus.« »Das ist ein Betrug«, brauste ich auf. »Die Leute spielen sich als etwas auf, das sie nicht sind.« »Na und? Was ist daran außerordentliches?« – Sein Gesicht bekam einen faszinierenden Ausdruck von Mitleid, Geduld und Verzeihen. – »Wieviel Unrecht wird im Namen des Rechtes begangen? Wieviel Verdummung segelt unter der Flagge der Aulärung? Wie o maskiert sich der Verfall als Aufschwung? Man sieht es ja jetzt schon ganz deutlich. Der Krieg hat die Welt nicht nur verbrannt
und zerrissen, er hat sie auch beleuchtet. Wir sehen, daß es ein von den Menschen selbst erbautes Labyrinth ist, eine frostige Maschinenwelt, deren Komfort und scheinbare Zweckmäßigkeit uns immer mehr und mehr entmachten und entwürdigen. Das sehen Sie ganz deutlich an dem Buch, das mir Ihr Vater geborgt hat. Die Dichter winseln lyrisch wie frierende Kinder, oder sie grölen hymnisch wie wildgewordene Fetischanbeter, die um so mehr ihre Worte und Glieder verrenken, je weniger sie an den Götzen glauben, vor dem sie tanzen.«
Als mein Freund Alfred Kämpf aus Altsattl an der Eger zur Vorbereitung seines weiteren Studiums nach Prag kam, stiefelte ich mit ihm durch die Prager Gassen, Paläste, Museen und Kirchen, um ihn mit der von mir geliebten Stadt bekannt zu machen. Während eines dieser Spaziergänge überraschte mich Alfred mit der Erklärung: »Alle die reichen gotischen und barocken Verzierungen und Ornamente haben eigentlich nur einen einzigen Sinn: sie sollen die Dienstbarkeit, das Nur-Zweckhae der verschiedenen Dinge verdecken. Der Mensch soll das Funktionelle und damit auch seine eigene Natur- und Weltverbundenheit vergessen. Die zweckferne Schönheit soll ihm ein Gefühl der Freiheit suggerieren. Die künstlerische Kultur der ornamentalen Verzierung ist eine Dressurmethode, mit welcher der zivilisierte Mensch dem in ihm steckenden Menschenaffen zu Leibe rückte.« Alfreds Worte machten auf mich einen ungeheuren Eindruck. Ich schrieb sie daheim auf und teilte sie Wort für Wort Franz Kaa mit, der mir mit halbgeschlossenen Augen zuhörte. Ich hatte damals keine Ahnung, daß er längst zuvor den Bericht für eine Akademie geschrieben hatte, in welchem er sich mit der ›Menschwerdung‹ eines Affen befaßte. Ich war deshalb ziemlich enttäuscht, als er mir sagte: »Ihr Freund hat
recht. Die zivilisierte Welt beruht größtenteils auf einer Folge gelungener Dressurakte. Das ist der Sinn der Kultur. Im Lichte des Darwinismus erscheint die Menschwerdung als ein Sündenfall der Affen. Ein Wesen kann jedoch von etwas, das seine Existenzgrundlage bildet, nie ganz und gar abfallen.« Darauf meinte ich lächelnd: »Es bleibt immer ein Stück des alten Affenschwanzes zurück.« »Ja«, nickte Kaa. »Man kann seinem Ich nur sehr schwer beikommen. Die Sehnsucht nach einer scharfen Abgrenzung gegenüber dem zu überwindenden Stadium führt ständig zu Begriffsüberspitzungen und damit immer wieder zu neuen Täuschungen. Doch das ist gerade der augenfälligste Ausdruck des Wahrheitshungers. Man findet sich nur im dunklen Spiegel der Tragik. Da ist es aber auch schon vorbei.« »Der Affe stirbt!« rief ich vorlaut. Doch Kaa bewegte mit einem unbeschreiblich zarten Lächeln verneinend den Kopf hin und her. »Woher!« Das Sterben ist eine ausgesprochen menschliche Angelegenheit. Darum vergeht jeder Mensch. Der Affe lebt jedoch im ganzen Menschengeschlecht weiter. Das Ich ist ja nichts anderes als ein Käfig der Vergangenheit, umrankt von zeitbeständigen Zukunsträumen.«
Ich begrüßte Kaa nach seiner Rückkehr von einem kurzen Besuch bei seinem Schwager auf dem Lande: »Nun sind wir wieder daheim.« Kaa lächelte wehmütig. »Daheim? Ich wohne bei meinen Eltern. Das ist alles. Zwar habe ich ein eigenes kleines Zimmer, das ist aber keine Heimat, sondern nur eine Zufluchtsstätte, wo ich meine innere Unruhe verbergen kann, um ihr noch mehr zu verfallen.«
Kurz vor Mittag bei Doktor Kaa. Er stand vor dem geschlossenen Fenster. Mit der hochgehobenen Hand stützte er sich am Fensterrahmen. Zwei Schritte seitwärts stand S., ein untersetzter Beamter mit kleinen Triefaugen, einer komischen Knollennase, rotgeäderten Hamsterbacken und einem zerzausten, rötlichen Schnauzbart. Als ich eintrat, fragte gerade S. besorgt: »Sie haben also keine Ahnung, wie die Reorganisation unserer Abteilung aussehen wird?« »Nein«, sagte Doktor Kaa, begrüßte mich mit einem Kopfnicken, wies auf den ›Besucherstuhl‹ neben dem Schreibtisch und fuhr sofort weiter: »Ich weiß nur eines, daß die Reorganisation alles durcheinanderwerfen wird. Doch fürchten Sie sich nicht! Dadurch werden Sie weder emporsteigen, noch herunterfallen. Zum Schluß wird alles wieder schön beim alten bleiben.« Darauf schnaue der Beamte: »Sie glauben also, Herr Doktor, daß man meine Verdienste wieder übergehen wird?« »Ja, das ist anzunehmen.« – Kaa setzte sich zum Schreibtisch. – »Der Vorstand wird doch nicht seine eigene Bedeutung herabsetzen! Das wäre doch unsinnig.« S. wurde rot im Gesicht. »Das ist eine Schweinerei! So eine Ungerechtigkeit. Man sollte hier die ganze Bude in die Lu sprengen!« Darauf machte Dr. Kaa einen Katzenbuckel, sah S. besorgt von unten an und meinte leise: »Sie wollen doch nicht die Quelle Ihres Einkommes zuschütten! Oder doch?« »Nein«, entgegnete darauf S. entschuldigend. »Ich meinte es nicht so. Sie kennen mich ja, Herr Doktor. Ich bin ein ganz harmloser Mensch, doch diese Reorganisation, diese ständige Unsicherheit hier in dem Laden, geht mir schon an die Galle. Ich mußte mir Lu machen. Was ich hier sagte, waren nur Worte –« Doch da unterbrach ihn Kaa: »Das ist eben das Gefähr
liche. Worte sind Wegbereiter kommender Taten, Funken kommender Feuersbrünste!« »So war es nicht gemeint«, beteuerte der erschrockene Beamte. »Das sagen Sie«, entgegnete lächelnd Kaa, »Doch wissen Sie, wie die Dinge eigentlich aussehen? Vielleicht sitzen wir schon auf einem Pulverfaß, das Ihren Wunsch in die Tat umsetzt.« »Das kann ich nicht glauben.« »Warum nicht? Schauen Sie zum Fenster hinaus! Da marschiert schon der Sprengstoff, der unsere Unfallversicherung und alle anderen Einrichtungen ringsherum in die Lu sprengen wird.« Der Beamte faltete seine kurzen Wurstfinger vor dem Kinn. – »Sie übertreiben, Herr Doktor. Die Straße ist keine Gefahr. Der Staat ist stark.« »Ja«, nickte Kaa, »seine Kra stützt sich auf die Trägheit und das Ruhebedürfnis der Leute. Doch was geschieht, wenn wir sie nicht mehr befriedigen können? Dann kann sich Ihr heutiges Schimpfen in eine allgemein gültige Abwertungsnorm verwandeln, denn Worte sind Zauberformeln. Die lassen in den Gehirnen Fingerabdrücke zurück, die sich im Handumdrehen in Fußspuren der Geschichte verwandeln können. Man muß auf jedes Wort aufpassen.« »Ja, da haben Sie recht, Herr Doktor, da haben Sie recht«, sagte S. ganz verdattert und empfahl sich. Als die Tür hinter ihm zuklappte, lachte ich. Doktor Kaa warf mir einen pfeilscharfen Blick zu. »Warum lachen Sie?« »Der arme Kerl war schrecklich komisch. Er hat Sie überhaupt nicht verstanden.« »Wenn ein Mensch den anderen nicht versteht, dann ist er nicht schrecklich komisch, sondern isoliert, arm und verlassen.« Ich versuchte mich zu verteidigen: »Sie machten doch
Spaß!« Doch Doktor Kaa machte eine langsame, verneinende Kopewegung. »Nein! Das, was ich S. gesagt habe, war durchaus ernst gemeint. In der ganzen Welt geistern heute Reorganisationsträume. Da kann verschiedenes geschehen. Verstehen Sie mich?« »Ja«, sagte ich leise und spürte, wie mir das Blut warm ins Gesicht stieg. »Ich bin gefühllos und dumm. Verzeihen Sie mir.« Doktor Kaa ließ jedoch – den Kopf zurückwerfend – nur ein leises Kichern vernehmen. Dann sagte er begütigend: »Nun sind Sie aber – um Ihre Worte zu gebrauchen – schrecklich komisch.« Ich sah zerknirscht zu Boden. »Ja, ich bin ein armer Hund.« Ich stand auf. »Was machen Sie da? Setzen Sie sich!« – Er öffnete mit einem jähen Ruck seine Schreibtischlade. – »Ich habe Ihnen heute einen ganzen Packen verschiedener Zeitschrien mitgebracht.« Er lachte, und ich schämte mich noch mehr. Doch ich blieb sitzen.
Ich wurde dann noch zweimal Zeuge dessen, wie verschiedene Beamte an Doktor Kaa herantraten, um ihn über die zu erwartende Reorganisation auszuholen. Doktor Kaa konnte ihnen jedoch nichts Bestimmtes sagen. Das bedrückte ihn, da die Leute glaubten, daß er nicht ein Freund der Beamten, sondern nur ein devoter Diener der Versicherungs-Anstalt sei. Deshalb erlaubten sich einige Beamte gegen den Justitiar Franz Kaa einige unangenehme Bemerkungen; so vor allem der Vater eines meiner Mitschüler, ein gewisser M., den ich bei Doktor Kaa getroffen hatte. »Na ja«, sagte er mit einer Stimme, durch deren sachlichen Ton ein verstecktes Haßgefühl deutlich durchschimmerte, »Sie schweigen. Das ist natürlich. Der Rechtsvertreter der
Anstalt kann ja nicht gegen die Direktion sein. Er muß den Mund halten. Verzeihen Sie, Herr Doktor, daß ich aufrichtig bin und daß ich Sie gestört habe«. M. verneigte sich und ging. Kaas Gesicht war wie aus Holz geschnitzt. Er hatte die Augen geschlossen. »So ein frecher Lackel«, bemerkte ich feindselig. »Er ist nicht frech«, flüsterte Kaa und sah mich mit dunklen, traurigen Augen an. »Er ist nur verängstigt. Dadurch wird er ungerecht. Die Angst um’s Brot zerfrißt den Charakter. So ist es im Leben.« Ich maulte: »Na danke! Ich würde mich so eines Lebens schämen.« »Die Mehrzahl der Menschen lebt ja auch gar nicht«, sagte darauf Kaa ungemein ruhig. »Sie kleben nur am Leben wie die kleinen Korallentierchen an einem Riff. Dabei sind die Menschen aber noch viel ärmer als diese primitiven Lebewesen. Sie haben kein festes, der Brandung trotzendes Felsenriff. Es fehlt ihnen auch ein eigenes Kalkgehäuse. Sie geben nur einen ätzenden Gallenschleim von sich, der sie noch schwächer und einsamer macht, da er sie von den anderen trennt. Was kann man da tun?« Franz Kaa breitete die Arme aus und ließ sie wie ein Paar gelähmter Flügel hilflos herabfallen. »Soll man gegen das Meer protestieren, das solche unvollkommene Geschöpfe ins Leben setzt? Damit würde man ja nur gegen sein eigenes Leben protestieren, da man ja auch nur so ein armes Korallentierchen ist. Man kann sich also nur der Geduld befleißigen und allen, allen ätzenden Gallenschleim, der in einem aufsteigt, wortlos hinunterwürgen. Das ist alles, was man tun kann, um sich nicht der Menschen und seiner selbst schämen zu müssen.«
In dem Direktionszimmer der Rechtsabteilung standen beim Fenster, mit der einen Breitseite aneinandergerückt, zwei schwarze, aufsatzlose Diplomatenschreibtische. Der – von der Eingangstür aus gesehen – linke Tisch war Doktor Kaas Arbeitsplatz. Ihm gegenüber saß Doktor Treml, der stark dem ehemaligen österreichisch-ungarischen Außenminister Leopold Grafen Berchtold ähnelte. Kaas Bürogenosse war darauf sehr eingebildet. Er trachtete deshalb, diese Ähnlichkeit noch durch den Bart, den Haarschnitt, einen hohen Stehkragen mit einer breiten Krawatte, in der eine Goldnadel steckte, eine hochgeschlossene Weste und einen überlegenen, respektgebietenden Ton der Sprache zu unterstreichen. Das machte ihn bei den meisten Beamten der Unfall-Versicherungs-Anstalt unbeliebt. Sie nannten ihn untereinander den ›verarmten Justizgrafen‹. Nach einer Bemerkung meines Vaters soll diesen Spitznamen ein gewisser Herr Alois Gütling erfunden haben. Das war – soweit ich mich seiner noch erinnern kann – ein kleiner, zierlicher, immer elegant gekleideter Beamter mit wohlgepflegtem, schwarzen Scheitel. Gütling schrieb Gedichte und – wenn ich nicht irre – auch Dramen, die nie aufgeführt wurden, bewunderte Richard Wagner und den, wie er sagte, altgermanischen Stabreim und konnte Doktor Treml nicht leiden, da Kaas unmittelbarer Bürokollege Gütlings Literarprodukte mit der »hell hinauf wabernden Waberlohe«, die Gütling im Selbstverlag herausgab, unverhohlen als eine »vollbärtige Mittelstandspoesie« bezeichnete, die einen »von der Herrscha abgelegten altgermanischen Spießeridealismus« verzapfe. Doktor Treml war nämlich außer auf seine Ähnlichkeit mit dem Grafen Berchtold noch auf seine prononciert bürgerlich-materialistische Weltanschauung eingebildet. Ich sah auf seinem Tisch o Bücher von Ernst Haeckel, Charles Darwin, Wilhelm Bölsche und Ernst Mach herumliegen. Es
war also nichts Außergewöhnliches, daß ich einmal, als ich Doktor Kaa besuchte, neben seinem Schreibtisch Herrn Gütling antraf, der in der Hand ein großes, schwarzgebundenes Buch hielt, dessen goldgepreßten Titel er eben vom Lederrücken des Bandes ablas. »Darwin – Die Entstehung der Arten«. – Er seufzte. »Na ja, der Herr Graf sucht bei den Affen seine Vorfahren.« Dabei suchte Gütling durch ein Augenzwinkern Doktor Kaa zu einer Beipflichtung zu bewegen. Doch Kaa schüttelte energisch den Kopf und bemerkte ohne besondere Betonung: »Ich glaube, daß dies nicht mehr aktuell ist. Es handelt sich jetzt nicht mehr um die Vorfahren, sondern um die Nachkommen.« »Wieso?« Gütling legte das Buch auf den Tisch. »Treml ist doch Junggeselle!« »Ich spreche nicht von Treml, sondern von der ganzen Menschenfamilie«, sagte Kaa und schob seine knochigen Finger vor der Brust ineinander. »Denn wenn es so weitergeht, werden die Welt sehr bald nur noch in Serien erzeugte Automaten bevölkern.« Gütling lächelte: »Sie übertreiben, Herr Doktor. Das ist eine Utopie.« – Sein Blick pendelte einige Augenblicke hilflos zwischen Doktor Kaa und mir. Dann blieb er an Doktor Kaas Nasenwurzel haen, und Gütling mekkerte: »Das ist so etwas wie Ihre Verwandlung. Ich verstehe solche Dinge. Ich bin ja selbst Dichter.« Kaa nickte: »Ja, das sind Sie.« Gütling hob abwehrend beide Hände. »Nur im Nebenberuf! Im Hauptberuf bin ich nur ein ziemlich bedeutungsloser Beamter. Darum muß ich jetzt auch schon gehen.« Er verabschiedete sich. Nachdem er gegangen war, fragte ich – wie ich mich heute noch genau erinnere – mit bekümmerter Enttäuschung in der Stimme: »Sie halten ihn wirklich für einen Dichter?«
In Kaas Augen erschienen kleine, grünliche Funken. Er schmunzelte: »Ja, wörtlich. Er ist ein Dichter, ein dichter Mensch.« Ich lachte: »Also vernagelt!« Kaa hob abwehrend beide Hände, als wollte er mein Auflachen an mich zurückschieben und meinte mit leisem Protest in der Stimme: »Das habe ich nicht gesagt! Er ist dicht. Die Wirklichkeit kann in ihn nicht eindringen. Er ist von ihr vollkommen abgedichtet.« »Wodurch?« »Durch den Mist verbrauchter Worte und Vorstellungen. Die sind fester als dicke Panzerplatten. Die Menschen verbergen sich hinter ihnen vor dem Wandel der Zeit. Darum ist die Phrase das stärkste Bollwerk des Bösen. Sie ist das beständigste Konservierungsmittel aller Leidenschaen und Dummheit.« Kaa ordnete die Papiere auf seinem Tisch. Ich sah ihm schweigend zu und ließ die Worte, die ich eben gehört hatte, nochmals in mir aulingen, wobei meine Finger unwillkürlich über das vor mir liegende Buch strichen, welches Gütling bei meinem Eintreten in der Hand gehabt hatte. Doktor Kaa, der dies sah, sagte: »Das Buch gehört Doktor Treml. Legen Sie es, bitte, auf seinen Tisch. Er würde sehr bös dreinschauen, wenn er das Buch nicht auf seinem Tisch vorfinden würde.« Ich gehorchte. Dabei fragte ich: »Er interessiert sich wirklich für diese Sachen?« »Ja«, nickte Kaa. »Er studiert Naturgeschichte, Biologie und Chemie. Er will in die Mechanik der kleinsten Teile der Schöpfung eindringen, um die Sinnstruktur des Lebens zu erfassen. Das ist aber natürlich ein Holzweg.« »Warum?« »Weil der Sinn, den wir auf diese Weise finden können, nur eine geringfügige Spiegelung darstellt. Er ist der Him
mel in einem Wassertropfen, ein Bild, das durch unser leisestes Erzittern verschoben und getrübt wird.« »Sie meinen also, Herr Doktor, daß uns die Wahrheit ewig verschlossen bleibt?« Kaa schwieg. Seine Augen wurden ganz schmal und dunkel. Sein stark ausgeprägter Adamsapfel glitt unter der Haut des Halses einigemal hinauf und herunter. Er betrachtete einige Augenblicke die Fingerspitzen seiner auf der Schreibtischplatte aufgestützten Hände. Dann sagte er leise: »Gott, das Leben, die Wahrheit – das sind nur verschiedene Namen einer Tatsache.« Ich bohrte weiter: »Können wir sie erfassen?« »Wir erleben sie«, sagte Kaa, dessen Stimme eine leise Unruhe durchzitterte. »Die Tatsache, der wir verschiedene Namen geben und der wir mit verschiedenen Gedankenkonstruktionen beizukommen versuchen, rinnt durch unsere Adern, Nerven und Sinne. Sie ist in uns. Vielleicht ist sie eben deshalb für uns unüberblickbar. Was wir wirklich erfassen können, ist das Geheimnis, das Dunkel. In ihm wohnt Gott. Und das ist gut, denn ohne diese schützende Dunkelheit würden wir Gott überwinden. Das entspräche der Natur des Menschen. Der Sohn entthront den Vater. Deshalb muß Gott im Dunkel verborgen bleiben. Und da der Mensch nicht zu ihm vordringen kann, attackiert er wenigstens das die Gottheit umgebende Dunkel. Er wir Feuerbrände in die frostige Nacht. Doch die ist elastisch wie Gummi. Sie weicht zurück. Dabei dauert sie aber weiter. Vergänglich ist nur das Dunkel des Menschengeistes – das Licht und der Schatten des Wassertropfens.«
Mit Doktor Kaa auf dem Kai. Hochgeladene Kohlenwaggons auf dem Eisenbahnviadukt. Ich erzählte, wie im letzten Kriegsjahr die Jungen aus der
Straße in Karolinental, wo ich wohnte, Expeditionen auf den Zizkaberg unternahmen, wo sie in der ansteigenden Streckenbiegung auf die langsam fahrenden Lastzüge sprangen und von den offenen Waggons Kohle herabwarfen, welche sie dann zusammenklaubten und in mitgebrachten Säcken heimtrugen. Dabei wurde einer meiner Mitschüler – Karel Benda, der schielende Sohn einer abgerackerten Aufwartefrau – von den Rädern erfaßt und zerstückelt. Kaa fragte: »Sie haben es mitangesehen?« »Nein. Ich habe es nur von den Jungen gehört.« »Sie haben sich an den Kohlenexpeditionen der Jungen nicht beteiligt?« »O ja! Ich bin mit der Kohlenbande – wie sich die Jungen nannten – einigemal mitgegangen. Doch ich blieb nur Zuschauer. Ich stahl keine Kohle. Wir hatten daheim Kohle genug. Wenn ich mit den Jungen auf den Zizkaberg ging, saß ich gewöhnlich abseits, hinter einem Busch oder Baum und hab’ mir die Sache nur von der Ferne angesehen. Das war o sehr spannend.« »Der Kampf um die Wärme, ohne die man nicht leben kann, ist immer sehr spannend«, sagte Kaa mit einer scharfen Betonung der Worte, die er meinem Bericht entnahm. »Es handelt sich ja um eine Entscheidung zwischen Tod und Leben. Da kann man nicht nur zuschauen. Da gibt es keinen schützenden Busch oder Baum. Das Leben ist kein Zizkaberg. Da kann jeder unter die Räder stürzen. Der Schwache und Arme früher als der Starke und Reiche, der mit Wärme genügend versorgt ist. Ja, der Schwache bricht o früher zusammen, als ihn die Räder erfassen.« Ich nickte: »Das ist wahr. Der kleine Benda saß einigemale neben mir im Gebüsch. Die Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Er fürchtete sich. Er wollte keine Kohle stehlen. Er tat es nur deshalb, weil ihn die anderen Buben auslach
ten und weil ihn seine Mutter einigemal mit einem Teppichklopfer geprügelt hatte, als er nichts heimbrachte.« »Da haben Sie es!« rief Doktor Kaa mit breit ausladender Handbewegung. »Ihr Mitschüler, der kleine Karel Benda wurde nicht von einem Lastzug, sondern schon längst zuvor von der Lieblosigkeit seiner Umgebung zerfetzt. Der Weg zur Katastrophe ist ärger als ihr Abschluß. Das ist anders auch gar nicht möglich! Durch einen Gewaltakt, wie ihn ein so verwegener Sprung auf einen fahrenden Eisenbahnzug repräsentiert, kann man nur sehr wenig gewinnen. Man ra ein paar Kohlenstücke zusammen, die bald verfeuert sind. Dann steht man wieder zitternd da in der Kälte. Die Kräe, die man zu den immer von neuem sich wiederholenden Sprüngen benötigt, werden von Tag zu Tag kleiner und kleiner. Die Gefahr des Absturzes wächst. Da ist es dann schon besser, zu betteln. Vielleicht findet sich jemand, der uns ein paar Kohlenstücke zuwir –« »Ja, das ist richtig!« unterbrach ich ihn. »Die Expeditionen der Kohlenbande haben als eine Art von Bettelei begonnen. Die Jungen standen entlang der Bahnstrecke und baten die Eisenbahner um etwas Kohle. Die Eisenbahner warfen ihnen dann gewöhnlich ein paar Kohlenklumpen zu. Die Jungen sprangen auf die Lastzüge erst dann, wenn sich kein freigebiger Eisenbahner zeigte.« Doktor Kaa nickte abermals. »Ja, so ist es. Die Jungen wagten den Sprung erst dann, als alle Aussichten auf ein Geschenk schwanden und sie hoffnungslos dastanden. Ich sehe sie direkt vor mir, wie sie die Hoffnungslosigkeit unter die Räder treibt.« Wir gingen schweigend weiter. Doktor Kaa sah eine Weile auf den rasch dunkler werdenden Fluß. Dann sprach er von etwas ganz anderem.
Mein Vater, dem ich einmal nach dem Abendbrot über den Nachmittagsspaziergang mit Franz Kaa referierte, sagte: »Doktor Kaa ist die personifizierte Geduld und Güte. Ich kann mich nicht erinnern, daß es seinetwegen in der Anstalt je einen Konflikt gegeben hat. Dabei ist seine Umgänglichkeit kein Zeichen von Schwäche oder Bequemlichkeit. Im Gegenteil: Doktor Kaas Umgänglichkeit besteht darin, daß er durch sein äußerst genaues, gerechtes und dabei verständnisvolles Verhalten gegenüber den Menschen seiner ganzen Umgebung unwillkürlich die gleiche Haltung aufzwingt. Die Menschen sprechen ihm nach dem Mund, und wenn es ihnen schwerfällt mit seiner Meinung eins zu sein, dann schweigen sie lieber, um ihm nicht widersprechen zu müssen. Das geschieht nämlich auch ziemlich o, denn Kaa äußert öer ganz eigene, unpopuläre und aller Routine widerstrebende Ansichten. Die Leute in der UnfallVersicherungs-Anstalt verstehen ihn nicht immer. Trotzdem aber haben sie ihn gern. Er ist für sie ein sonderbarer Heiliger. Doch das ist er auch für viele andere Menschen. Es ist gar nicht so lange her, da sagte mir ein alter Hilfsarbeiter, dem der Bausteinelevator auf einem Bau das linke Bein zermalmt hatte: ›Das ist kein Advokat, das ist ein Heiliger.‹ – Der Hilfsarbeiter sollte von uns nur eine geringfügige Rente bekommen. Er reichte gegen uns eine Klage ein, die juridisch nicht richtig formuliert war. Der alte Mann hätte den Prozeß bestimmt verspielt, hätte ihn nicht im letzten Augenblick ein namhaer Prager Rechtsanwalt besucht, welcher – ohne von dem verkrüppelten Alten einen einzigen Heller zu nehmen – die Klage des Hilfsarbeiters sachkundig ergänzte und so der gerechten Sache des armen Schluckers zum Sieg verhalf. Den Rechtsanwalt hat – wie ich dann später erfuhr – Doktor Kaa bestellt, beraten und bezahlt, damit er als Rechtsvertreter der Unfall-Versicherungs-Anstalt den Prozeß mit dem alten Hilfsarbeiter in Ehren verspielen könne.«
Ich war entzückt, doch mein Vater machte ein ziemlich besorgtes Gesicht. Er sagte: »Das ist nicht der einzige Fall, der auf diese Weise von Doktor Kaa geregelt wurde. Unter den Beamten wird darüber schon verschiedenes herumgesprochen. Einge bewundern ihn. Andere sagen, er sei ein unfähiger Jurist«. »Und du?« unterbrach ich den Vater. »Wie stellst du dich in dieser Sache zu ihm?« Mein Vater antwortete darauf mit einer hilflosen Geste: »Wie kann ich mich schon zu Doktor Kaa stellen? Er ist für mich mehr als nur ein Bürokollege. Ich habe ihn gern. Deshalb bin ich besorgt wegen dieser Gerechtigkeitsoperationen.« Er griff mit düsterer Miene nach der vor ihm stehenden Kaffeetasse. Später erfuhr ich, daß mein Vater Doktor Kaa bei diesen ›Gerechtigkeitsoperationen‹ mehrmals tätige Beihilfe leistete; daß er also wirklich mehr als nur ein Bürokollege, sondern in verschiedenen Fällen Franz Kaas mitverschworener Komplice war. Als er dann die Kaffeetasse wieder vor sich hingestellt hatte, sagte er: »Die Menschenliebe ist o recht riskant; darum ist sie auch eines der größten sittlichen Güter. Doktor Kaa ist Jude, dabei ist er jedoch viel mehr der christlichen Nächstenliebe fähig, als die lieben guten Katholiken und Protestanten bei uns im Büro. Sie werden sich dessen auch früher oder später schämen müssen. Das kann dann zu irgend einer Schweinerei führen. Die Menschen pflegen o einen Fehler durch einen noch größeren zu tarnen. Ein ertappter Beamter könnte sehr leicht etwas von Kaas Gerechtigkeitsoperationen ausplaudern. Doktor Kaa sollte daher mit seiner Menschenliebe etwas vorsichtiger umgehen. Sag es ihm.« Als ich dann zwei Tage später Kaa heimbegleitete, erzählte ich ihm, was mein Vater gesagt hatte. Darauf
schwieg er einige Augenblicke, um dann folgende Erklärung abzugeben: »Es ist nicht ganz so, wie es Ihr Vater sieht. Zwischen der christlichen Menschenliebe und dem Judentum ist kein Gegensatz. Im Gegenteil! Die Menschenliebe ist eine ethische Errungenscha der Juden. Christus war ein Jude, der seine Heilsbotscha der ganzen Welt brachte. Ferner: jeder Wert – ein materieller so wie ein geistiger – ist mit einem Risiko verbunden. Denn jeder Wert erfordert die Bewährung. Was dann die Scham der Umwelt betri, da hat Ihr Vater recht. Man darf die Menschen nicht irritieren. Wir leben in einer so von Dämonen besessenen Zeit, daß wir das Gute und Gerechte bald nur noch in tiefster Verschwiegenheit wie einen Rechtsbruch werden verwirklichen können. Der Krieg und die Revolution klingen nicht ab. Im Gegenteil! Durch das Erkalten unserer Gefühle steigt ihre Glut.« Kaas Ton gefiel mir nicht, also sagte ich: »Wir sind demnach – wie in der Bibel – im Feuerofen!« »Ja«, nickte Kaa, »es ist ein Wunder, daß wir noch da sind.« Darauf schüttelte ich den Kopf. »Nein, Herr Doktor, das ist ganz normal. Ich glaube nicht an den Weltuntergang.« Kaa lächelte: »Das ist Ihre Pflicht. Sie sind jung. Eine Jugend, die nicht an ein Morgen glaubt, übt Verrat an sich selbst. Wenn man leben will, muß man glauben.« »Woran?« »An den sinnvollen Zusammenhang aller Dinge und Augenblicke, an die ewige Dauer des Lebens als Ganzes, an das Nächste und an das Entfernteste.«
Ich erzählte Kaa von der Aufführung zweier, stilistisch ganz verschiedener Einakter von Walter Hasenclever und Arthur Schnitzler, die ich im Neuen Deutschen eater gesehen hatte.
»Die Vorstellung war nicht ausgeglichen«, sagte ich, meinen Bericht abschließend. »Der Expressionismus des einen Stückes drang in den Realismus des anderen und umgekehrt. Wahrscheinlich hat man dem Studium nicht genug Zeit gewidmet.« »Das ist möglich«, meinte Kaa. »Die Lage des deutschen eaters in Prag ist sehr schwierig. In seiner Gesamtheit ist es ein großer Komplex von finanziellen und menschlichen Verbindlichkeiten, dem nicht das entsprechende große Publikum zur Verfügung steht. Es ist eine Pyramide ohne Basis. Die Schauspieler sind Spielleitern untergeordnet, welche von der Direktion gelenkt werden, die dem Ausschuß des eatervereins verantwortlich ist. Das ist eine Kette, der das abschließende, alles zusammenhaltende Glied fehlt. Es gibt hier kein richtiges Deutschtum und darum auch kein verläßliches, ständiges Publikum. Die deutschsprechenden Juden in den Logen und auf den Parkettsitzen sind doch keine Deutschen, und die nach Prag kommenden deutschen Studenten auf den Balkonen und Galerien, das sind nur Vorposten einer vordringenden Macht, Feinde – nicht Zuhörer. Unter solchen Bedingungen kann man natürlich zu keinem ernsten Kunstschaffen gelangen. Die Kräe nützen sich ab an Nebensächlichkeiten. Was übrigbleibt, ist Bemühung, Anstrengung, die fast nie das Ziel einer guten Wirkung erreichen. Ich gehe darum nicht ins eater. Es ist zu traurig.«
Im Deutschen eater spielte man das Drama Der Sohn von Walter Hasenclever. Franz Kaa sagte: »Die Revolte des Sohnes gegen den Vater ist ein uraltes ema der Literatur und ein noch älteres Problem der Welt. Es werden darüber Dramen und Tragödien geschrieben, in Wirklichkeit ist es aber ein Ko
mödienstoff. Das hat der Irländer Synge richtig erkannt. In seinem Drama Der Held des Westens ist der Sohn ein jugendlicher Schwätzer, der prahlt, seinen Vater erschlagen zu haben. Dann kommt aber der Alte und macht den jungen Bezwinger der väterlichen Autorität unmöglich.« »Wie ich sehe, stehen Sie dem Kampf der Jugend gegen das Alter sehr skeptisch gegenüber«, bemerkte ich. Kaa lächelte. »Meine Skepsis ändert doch nichts an der Tatsache, daß dieser Kampf eigentlich nur ein Scheinkampf ist.« »Wieso – Scheinkampf?« »Das Alter ist die Zukun der Jugend, die sie früher oder später erreichen muß. Wozu also kämpfen? Um ein schnelleres Altwerden? Um einen rascheren Abgang?« Das Eintreten eines Beamten unterbrach das Gespräch.
Im Deutschen eater gastierte der Wiener Hofschauspieler Rudolf Schildkraut in dem Drama Der Gott der Rache von Schalom Asch. Wir sprachen darüber mit Kaa. »Rudolf Schildkraut ist ein anerkannter großer Schauspieler«, sagte Franz Kaa. »Ist er aber ein großer jüdischer Schauspieler? Ich glaube, daß das zweifelha ist. Schildkraut spielt jüdische Gestalten in jüdischen eaterstükken. Da er aber nicht ausschließlich jüdisch für Juden, sondern deutsch für jedermann spielt, ist er kein ausgesprochener jüdischer Schauspieler. Er ist eine Randerscheinung, ein Mittler, der einen Blick in die Intimität des jüdischen Lebens ermöglicht. Er erweitert den Horizont der Nichtjuden, ohne die Existenz der Juden eigentlich zu klären. Das machen nur die armen jüdischen Schauspieler, die für Juden jüdisch spielen. Die blasen durch ihre Kunst die Ablagerungen fremden Lebens vom Wesen der Juden hinweg,
stellen das verborgene, in die Vergessenheit versinkende jüdische Gesicht in ein helles, offenes Licht und festigen so den Menschen im Trubel der Zeit.« Ich erzählte davon, wie ich gegen Ende des Krieges in dem kleinen Kaffeehaus Savoy auf dem Geisplatz zwei Vorstellungen jüdischer Wanderschauspieler besucht hatte. Kaa war sehr erstaunt. »Wie kamen Sie dorthin?« »Mit meiner Mutter. Die lebte lange Zeit in Polen.« »Und wie gefiel Ihnen das eater?« Ich zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich nur, daß ich die Sprache fast überhaupt nicht verstanden habe. Es wurde im Jargon gespielt. Meiner Mutter gefielen aber die Schauspieler.« Kaa sah in die Ferne. »Ich kannte jüdische Schauspieler im Kaffeehaus Savoy. Das war etwa vor zehn Jahren. Mir machte ihre Sprache auch gewisse Schwierigkeiten. Dann entdeckte ich, daß ich mehr jiddisch verstehe, als ich ahnte.« »Meine Mutter spricht fließend jiddisch«, sagte ich stolz. Ich erzählte ihm, wie ich als sechsjähriges Kind mit meiner Mutter in die Schwarzgasse des Judenviertels in Przemysl kam. Wie aus alten Häusern und dunklen Kramläden Männer und Frauen herausliefen, meiner Mutter die Hände und den Rocksaum küßten, lachten und weinten und »Unsere gute Frau! Unsere gute Frau« riefen. Ich erfuhr später, daß meine Mutter während Pogromunruhen viele Juden in ihrem Hause verborgen hatte. Franz Kaa sagte, als ich das Erzählen dieser Erinnerungen beendete: »Und ich möchte zu diesen armen Juden des Ghetto hinlaufen, ihnen den Rocksaum küssen und nichts, gar nichts sagen. Ich wäre vollkommen glücklich, wenn sie stillschweigend meine Nähe ertragen würden.« »So einsam sind Sie?« fragte ich. Kaa nickte.
»Wie Kaspar Hauser?« bemerkte ich. Kaa lachte: »Viel ärger als Kaspar Hauser. Ich bin einsam – wie Franz Kaa.«
Mein Freund Alfred Kämpf sagte mir, als wir auf einem unserer Spaziergänge einige enge Gassen und Durchhäuser der Prager Altstadt passierten und dann den modernen Graben betraten: »Prag ist eine tragische Stadt. Das sieht man schon an der Architektur, deren mittelalterliche und neuzeitliche Formen fast übergangslos ineinandergreifen. Dadurch bekommen die Häuserreihen etwas Schwebendes und Visionäres. Prag ist eine expressionistische Stadt. Die Häuser, Straßen, Paläste, Kirchen, Museen, eater, Brükken, Fabriken, Türme und Mietkasernen sind steingewordene Spuren einer tiefen, inneren Bewegung. Prag hat im Stadtwappen nicht umsonst eine eiserne Faust, die das Gittertor einer beengenden Burgmauer zerschlägt. Das Alltagsgesicht der Stadt verbirgt einen rabiat-dramatischen Lebenswillen, der durch das Zerschlagen der alten Formen immer wieder das neue Leben befestigen will. Doch darin steckt schon gerade der Untergang. Gewalt ru Gewalt hervor. Die wachsende Technik wird die eiserne Faust zerbrechen. Die Gegenwart durchweht schon ein Ruinengeruch.« Als ich heimkam, schrieb ich Kampfs Worte in mein Tagebuch, um sie am nächsten Tag Doktor Kaa in der Arbeiter-Unfall-Versicherung vorzulesen. Er hörte mir aufmerksam zu, und als ich mein Tagebuch geschlossen und in die Aktentasche auf meinen Knien geschoben hatte, zog er die Unterlippe für einige Augenblicke nach innen. Dann beugte er sich langsam nach vorn, legte die Arme bequem auf den Schreibtisch, die Spannung seiner Gesichtszüge löste sich, und er meinte behutsam mit leiser Stimme: »Die Worte Ihres Freundes sind eigentlich selbst
schon eine Eisenfaust. Ich kann mir vorstellen, wie Sie unter ihnen zusammenzuckten. Mir ergeht es o auch so mit meinen Freunden. Sie sind so beredt, daß sie mich immer wieder zum Selbstdenken zwingen.« Er kicherte in der ihm eigenen Art, die an ein leises Papierrascheln erinnerte, legte den Kopf in den Nacken und sagte dann mit einem gesammelten Blick zur Decke: »Nicht nur Prag – die ganze Welt ist tragisch. Die eiserne Faust der Technik zerschlägt alle schützenden Mauern. Das ist kein Expressionismus. Das ist das alltägliche nackte Leben. Wir werden zur Wahrheit wie die Verbrecher zur Richtstätte getrieben.« »Warum? Stören wir die Ordnung? Sind wir Friedensbrecher?« Der etwas keifende Ton in meiner Frage erschreckte mich, so daß ich unwillkürlich den Daumenwinkel meiner Hand an die Lippen führte und die Reaktion auf meinen Ausbruch in Kaas Blick zu erspähen versuchte. Doch der sah über mich und alle Dinge hinweg ins Unendliche, wobei er jedoch auf jedes Wort meiner Frage ganz genau reagierte. Er sagte: »Ja, wir sind Ordnungs- und Friedensstörer. Das ist unsere Erbsünde. Wir stellen uns über die Natur. Wir wollen nicht nur als Gattungswesen sterben und wiederkehren. Wir wollen jeder als Einzelwesen das Leben möglichst lange in Freuden bewahren und halten. Das ist eine Auflehnung, durch die wir das Leben verwirken.« »Das verstehe ich nicht« meinte ich darauf offenherzig. »Daß wir leben und nicht sterben wollen, ist doch natürlich. Worin besteht hier also das außerordentliche Vergehen?« Meine Stimme erfüllte eine leise Ironie, doch Franz Kaa schien davon nichts zu spüren. Er sagte ganz ruhig: »Wir versuchen unsere beschränkte Eigenwelt über die Unendlichkeit zu stellen. Dadurch stören wir den Kreislauf der Dinge. Das ist unsere Erbsünde. Alle Erscheinungen des Kosmos und der Erde bewegen sich wie die Himmelskörper im Kreise, sie sind eine ewige Wiederkehr, nur der Mensch,
das konkrete menschliche Lebewesen durchläu eine gerade Strecke zwischen Geburt und Tod. Für den Menschen gibt es keine persönliche Wiederkehr. Er spürt nur den Abstieg. Dadurch durchschneidet er die kosmische Ordnung. Das ist die Erbsünde.« Ich unterbrach ihn: »Aber dafür kann er doch nicht! Es kann doch nicht etwas eine Sünde sein, was uns vom Schicksal auferlegt wurde.« Darauf wandte mir Kaa langsam sein Gesicht zu. Ich sah seine großen, grauen Augen: sie waren dunkel und undurchsichtig. Das ganze Gesicht erfüllte eine tiefe, steinerne Ruhe. Nur die leicht vorgeschobene Unterlippe zuckte ein wenig. Oder war es ein Schatten? Er fragte mich: »Wollen Sie gegen Gott protestieren?« Ich sah zu Boden. Still. Hinter der Wand rumorte eine Stimme. Dann sagte Franz Kaa: »Die Erbsünde leugnen, bedeutet Gott und den Menschen leugnen. Vielleicht wird dem Menschen seine Freiheit erst durch die Sterblichkeit gegeben. Wer kann das wissen?«
Während eines Spazierganges rund um den Altstädter Ring sprachen wir über das eaterstück Die Fälscher von Max Brod. Ich erklärte Kaa, wie ich mir die Regie vorstelle. Wir kamen im Gespräch bis zu der Stelle, wo das Eintreten einer Frau die ganze Situation ändert. Ich wollte, daß die Personen auf der Bühne vor der Eintretenden langsam zurückweichen, aber Kaa stimmte dem nicht bei. »Alles muß wie vom Blitz getroffen zurückweichen«, sagte er. »Das wäre zu theatralisch«, entgegnete ich. Aber Franz Kaa schüttelte den Kopf. »So soll es ja sein. Der Schauspieler soll theatralisch sein.
Seine Gefühle und Äußerungen müssen größer sein als die Gefühle und Äußerungen des Zuschauers, um bei diesem die gewünschte Wirkung zu erreichen. Soll das eater auf das Leben wirken, muß es stärker, intensiver als das alltägliche Leben sein. Das ist das Gesetz der Schwere. Wenn man schießt, muß man höher, über das Ziel hinaus zielen.«
Im Prager Ständetheater spielte man das Revolutionsdrama Tanja von Ernst Weiß, der zu Max Brods Freundschaskreis gehörte. Als ich Kaa über die Vorstellung, welche ich sah, berichtete, sagte er: »Am schönsten ist die Traumszene mit Tanjas Kind. Das eater wirkt am stärksten, wenn es unwirkliche Dinge wirklich macht. Dann wird die Bühne zum Seelenperiskop, das die Wirklichkeit von innen beleuchtet.«
Ein Verwandter des Komponisten Gustav Mahler, mein Schulfreund George Kraus, borgte mir zwei Bücher des französischen Schristellers Henri Barbusse: Le Feu und Clarté. Kaa, für den ich die Bücher eigentlich entliehen hatte, sagte: »Das Feuer, das Bild des Krieges, entspricht der Wahrheit. Die Klarheit ist jedoch ein Traum- und Wunschtitel. Durch den Krieg wurden wir in einen Irrgarten verbogener Spiegel versetzt. Wir stolpern von einer Scheinperspektive zur anderen, verwirrte Opfer falscher Propheten und Quacksalber, die einem mit ihren billigen Glücksrezepten nur die Augen und Ohren verkleben, so daß wir durch die Spiegel wie durch Falltüren von einem Verließ in das andere stürzen.« Ich konnte, ehrlich gesagt, das, was mir Kaa sagte, im Augenblick nicht voll bewältigen. Gleichzeitig wollte ich
aber nicht als ein Mensch mit geringer Auffassungsgabe dastehen, also versteckte ich mich hinter der Frage: »Was hat uns in diese Situation gebracht? Und was hält uns in ihr fest? Wir mußten den Weg durch den Spiegelsaal doch auch irgendwie aus eigenem Willen betreten haben? Was führte uns dazu?« »Unsere übermenschliche Gier und Eitelkeit, die Hybris unseres Machtwillens. Wir ringen um Werte, die keine wirklichen Werte sind, um achtlos Dinge zu zertrümmern, an die unsere ganze menschliche Existenz gebunden ist. Das ist eine Verwirrung, die uns in den Kot zerrt und umbringt.«
Ich brachte in die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt das Buch Die doppelköpfige Nymphe von Kasimir Edschmid, welcher in dem Kapitel eodor Däubler und die Schule der Abstrakten sich auch über Franz Kaa äußerte. »Kennen Sie das?« fragte ich. Franz Kaa nickte: »Man hat mich darauf aufmerksam gemacht.« »Was sagen Sie dazu, Herr Doktor?« Franz Kaa zuckte die Achseln und machte eine hilflose Bewegung mit der rechten Hand. »Edschmid spricht von mir so, als ob ich ein Konstrukteur wäre. Dabei bin ich nur ein sehr mittelmäßiger, stümperhaer Abzeichner. Edschmid behauptet, daß ich Wunder in gewöhnliche Vorgänge hineinpraktiziere. Das ist natürlich ein schwerer Irrtum von seiner Seite. Das Gewöhnliche selbst ist ja schon ein Wunder! Ich zeichne es nur auf. Möglich, daß ich die Dinge auch ein wenig beleuchte, wie der Beleuchter auf einer halbverdunkelten Bühne. Das ist aber nicht richtig! In Wirklichkeit äst die Bühne gar nicht verdunkelt. Sie ist voller Tageslicht. Darum schließen die Menschen die Augen und sehen so wenig.«
»Zwischen Anschauung und Wirklichkeit ist o eine schmerzliche Diskrepanz«, bemerkte ich. Kaa nickte. »Alles ist Kampf, Ringen. Nur der verdient die Liebe und das Leben, der täglich sie erobern muß.« Er machte eine kleine Pause. Dann bemerkte er leise mit ironischem Lächeln: »Sagte Goethe.« »Johann Wolfgang von Goethe?« Ein kurzes Nicken. »Goethe sagt fast alles, was uns Menschen betri.« »Mein Freund Alfred Kämpf sagte mir, daß Oswald Spengler seine Lehre vom Untergang des Abendlandes ganz aus Goethes Faust geschöp habe.« »Das ist ganz gut möglich«, sagte Franz Kaa. »Viele sogenannte Wissenschaler transponieren die Welt des Dichters auf eine andere, wissenschaliche Ebene und gelangen so zu Ruhm und Bedeutung.«
Mein Vater, der von einem passionierten Interesse für jede Art von Holzarbeiten erfüllt war, auf dem Dachboden eine eigene kleine Tischlerwerkstätte mit einer Hobelbank und einer richtigen kleinen Kreissäge besaß und ständig von der Anschaffung einer Holzdrehbank träumte, hatte einen langjährigen Freund, den er ungemein bewunderte. Er hieß Jan Cerný und war Steuerbeamter. Doch das war nur sein Brotberuf. Was ihn wirklich interessierte, war das Geheimnis der italienischen Geigenbauer. Um in ihre Kunst einzudringen, beschäigte er sich in seiner Freizeit viele Jahre mit der Erforschung der Lacke, des Holzes, des Raumvolumens und der Struktur alter italienischer, deutscher und tschechischer Geigen. Er studierte Chemie, Geschichte und Akustik. Er besaß eine ansehnliche Sammlung von Streichinstrumenten, spezielle elektrische Meßgeräte
und dann selbstverständlich auch eine gut ausgestattete Werkstatt mit zwei Holzdrehbänken, die meinen Vater faszinierten. Deshalb ging er o gleich nach Büroschluß zu Cerný, zu dem er mich einmal mitnahm, um mich als Klavierbegleiter bei dem Ausprobieren einer neuen Schöpfung des fanatischen Geigenbauers zu verwenden. Ich erinnere mich genau an den Tag – es war Anfang Mai, es regnete – doch die damalige Adresse Cernýs habe ich schon vergessen. Dafür blieb mir die Atmosphäre des ›Geigenlaboratoriums‹ – wie mein Vater Cernýs Wohnung zu nennen pflegte – genau im Gedächtnis haen. Man hatte beim Betreten von Cernýs Behausung zuerst den Eindruck einer geordneten, kleinen Beamtenwohnung. Doch das war nur ein trügerischer Schein, hinter dem sich die Existenz einer ganz speziellen Alchimistenhöhle verbarg. Die Spaltung der Lebensinteressen des Besitzers der Wohnung äußerte sich schon in der Anordnung von Cernýs Heim. Auf der linken Seite des schmalen, gangartigen Vorzimmers befand sich eine kleine Küche, neben der ein ziemlich düsteres Wohnzimmer lag. Das war die Bühne der ausgesprochen kleinbürgerlichen Existenz des Herrn Cerný und seiner Frau Agnes. Doch gleich gegenüber, auf der anderen Seite des Vorzimmers, war der Schauplatz seiner verzehrenden Leidenscha, ein großes, weißgetünchtes Zimmer, wo an den Wänden seltsame Diagramme, Kurventabellen und einige Violinen hingen und lange Wandgestelle mit einer Unmenge von chemischen Reagenzgläsern, Dosen, Lampen, Meßgeräten und großen Töpfen mit Pinseln angebracht waren. Daneben waren zwei Fenster. Davor stand eine Hobelbank und neben ihr ein großes schwarzes Klavier. An der linken Wand befanden sich zwei Drehbänke, ein hohes Regal mit einem wirren Kunterbunt von Aktenmappen und ein kleiner Tisch mit einem Gaskocher. Ihm gegenüber, rechts neben der Tür, hingen an einem ver
staubten, eisernen Kleiderständer einige schmutzige Malerkittel, ein paar alte, abgewetzte und farbbekleckste dunkle Hosen und ein von Staub rostbrauner Melonenhut. An der Wand daneben lehnte eine Lage kurzer und längerer schmaler Bretter. Den ganzen Raum erfüllte ein durchdringender Öl-, Kleister- und Tabakgeruch, der mich unangenehm in der Nase kitzelte. Doch die Augen meines Vaters glänzten. Er sagte: »Das ist eine Werkstätte, was? Siehst du die Drehbänke?« Ich machte nur: »Hm.« Dann gingen wir in das Wohn- und Schlafzimmer, wo grüne Plüschmöbel, ein runder Tisch und zwei sarkophagähnliche Ehebetten standen. Frau Cerný servierte Kaffee mit Sahne und einen hohen, eiergelben Kuchen. Der Kaffee roch nach Petroleum, dafür knirschte aber der nach Vanille duende Kuchen wie Sand oder Glaspapier zwischen den Zähnen. Möglich aber, daß mir das nur so vorkam, da mich der Eindruck des Geigenlaboratoriums ganz übermannte. Um den Eindruck loszuwerden, schrieb ich nach dem Besuch eine Geschichte, die ich Die Musik der Stille nannte. Ich ging in ihr davon aus, was Cerný während unseres Besuches geäußert hatte. Er sagte: »Leben heißt Bewegung erleiden und Bewegung machen. Die Bewegung tritt jedoch nur zum Teil als räumliche Veränderung in Erscheinung. Ein viel größerer Teil der Bewegung, die wir erleiden, geht ohne jede Standortveränderung vor sich. Alles, was lebt, befindet sich in Schwingungen. Alles, was lebt, tönt. Wir vernehmen jedoch nur einen Teil davon. Wir hören nicht den Kreislauf des Blutes, das Sterben und Wachsen unseres Körpergewebes, das Tönen der chemischen Prozesse. Doch die feinen Zellen unseres Organismus, unserer Gehirn-, Nerven- und Fleischfasern werden von dem unhörbaren Tönen durchspült. Sie schwingen mit den Dingen, die uns umgeben, mit. Darauf ist die Macht der Musik aufgebaut. Wir können
mit ihr tiefe Gefühlsschwingungen auslösen. Dazu benutzen wir Musikinstrumente, bei denen hauptsächlich das ihnen innewohnende Tonvermögen entscheidend ist. Das heißt: entscheidend sind nicht die Lautstärke und die Tonfarbe, sondern der verborgene Toncharakter, die Intensität, mit welcher der musikalische Reiz die Nerven berührt. Das ist das Hauptproblem jedes Musikinstrumentes und jedes Instrumentenbauers. Er muß sich bemühen, seine Musikinstrumente mit einer möglichst hohen Tonintensität auszustatten. Das heißt: er muß solche Instrumente bauen, die ansonsten ungehörte und ungefühlte Schwingungen ins menschliche Bewußtsein heben. Das Problem des Instrumentenbauers ist demnach die Belebung der Stille. Er muß den verborgenen Ton aus der Stille herausschälen.« Von diesen Gedanken ausgehend, schrieb ich die phantastische Geschichte eines Instrumentenbauers, der durch neue Tongeräte den Hörern ganz neue, über alle bisherige Fassungskra hinausgehende, lustvolle Reize vermittelte, ihr Intensitätsgrad steigerte sich bis in die Sphäre eines Schmerzes, der die Nerven der Hörer zerfetzte und den Erfinder nach einer gewissen Zeit in Wahnsinn stürzte. Die Geschichte brachte ich Doktor Kaa, der mir nach einigen Tagen lächelnd sagte: »Ich kenne die akustische Hexenküche, von der Sie schreiben. Ich war mit Ihrem Vater einigemal bei Herrn Cerný. Wir haben dort einige Bretter zurechtgehobelt. Dafür duren wir einige Kleinigkeiten auf den Drehbänken herstellen. Herr Cerný erklärte uns seine eorie der musikalischen Potenz der Stille und zeigte uns auch seine sonderbaren neuen Violinen mit den akustischen Öffnungen an den schmalen Seitenwänden. Er spielte uns sogar etwas vor, doch das verstehe ich nicht. Soviel ich mich erinnern kann, hatten die neuen Geigen einen spröden, leicht metallisch klingenden Ton. Das war das einzige, was mir an Cernýs Musikinstrumenten auffiel. Ich sagte es ihm. Wahrscheinlich be
trübte ich ihn damit, denn er war dann zu mir nicht mehr so freundlich wie früher. Ich bin also nicht mehr hingegangen.« »Was sagen Sie zu Cernýs eorie der Stille?« »Sie ist nichts Neues. Wie die X-Strahlen, so gibt es natürlich auch für das menschliche Ohr unhörbare Schallwellen. Ich glaube, ein Franzose – ich erinnere mich jetzt nicht mehr an seinen Namen – stellte durch eine Reihe scharfsinniger Experimente fest, daß sich die Insekten untereinander mittels solcher, für einen Menschen unvernehmbarer Schallwellen verständigen. Warum sollten sich also die Grenzen unserer Empfangsmöglichkeiten nicht erweitern lassen? Der Mensch ist ja kein Stein. Doch der ist ja auch verwandlungsfähig. Ein Mineral zerfällt, löst sich auf, verdichtet sich zum geometrisch gesetzmäßigen Kristall. Der Mensch ist nicht nur ein Werk der Natur, sondern auch ein Werk seiner selbst, ein Dämon, der die gegebenen Grenzen immer wieder durchbricht und das sichtbar macht, was bisher noch im Dunkel lag.« »Ihrer Meinung nach ist also Cerný ernst zu nehmen?« »Natürlich! Man muß jeden Menschen ernst nehmen. In jedem ist ein nur ihm eigenes Glücksbedürfnis. Ob es sich dabei um eine geniale Vision oder nur um eine närrische Eigenbrötlerei handelt – darüber kann nur die Zeit entscheiden.« »Glauben Sie, Herr Doktor, daß sie gerecht ist?« fragte ich mißtrauisch. »Die Zeit trägt einen Januskopf. Sie hat ein doppeltes Gesicht –« »Sie hat sogar einen doppelten Boden!« lächelte Kaa. »Sie ist das Dauern, der Widerstand gegenüber dem Verfall, verbunden mit der Zukunsmöglichkeit, mit der Hoffnung auf ein neues Dauern, die Wandlung, die jeder Erscheinung das bewußte Dasein verleiht.«
Ich war bei Kaa in der Kanzlei. Ich hatte Die Galgenlieder von Christian Morgenstern mit. »Kennen Sie seine ernsten Gedichte?« frug mich Kaa. »Zeit und Ewigkeit? Stufen?« »Nein, das wußte ich gar nicht, daß er ernste Gedichte schreibt.« »Morgenstern ist ein schrecklich ernster Dichter. Seine Gedichte sind so ernst, daß er sich vor seinem eigenen, unmenschlichen Ernst in die Galgenlieder retten muß.«
Der Prager deutsche Dichter Johannes Urzidil sammelte und veröffentlichte die Gedichte seines verstorbenen, kaum zwanzigjährigen Freundes. Ich frug Franz Kaa, ob er den Verstorbenen gekannt habe. Ich erinnere mich nicht mehr der Antwort, doch die abschließende Bemerkung behielt ich. »Es war so ein unglücklicher junger Mensch, der zwischen den hundertjährigen Juden der Kaffeehäuser sich verirrte und starb. Was sollte er auch tun? Die Kaffeehäuser sind die Katakomben der Juden in dieser Zeit. Ohne Licht und Liebe. Das erträgt nicht jeder.«
Auf den Namen des geheimnisvollen Findlings Kaspar Hauser, welcher im Jahre in Nürnberg auauchte, stieß ich zum erstenmal in den Gedichten Georg Trakls. Lydia Holzner borgte mir später den großen Roman Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens von Jakob Wassermann. Franz Kaa bemerkte bei dieser Gelegenheit: »Wassermanns Caspar Hauser ist schon lange kein Findling mehr. Er ist jetzt legitimiert, in die Welt eingeordnet, polizeilich gemeldet, ein Steuerzahler. Seinen alten Namen hat er
allerdings abgelegt. Er heißt jetzt Jakob Wassermann, ist deutscher Romanschristeller und Villenbesitzer. Im geheimen leidet er auch an Trägheit des Herzens, welche ihm Gewissensbisse verursacht. Die verarbeitet er aber zu gut bezahlter Prosa, und so ist alles in bester Ordnung.«
Mein Vater liebte Altenbergs Gedichte in Prosa. Wenn er in der Zeitung eine dieser kleinen Skizzen fand, schnitt er sie aus und verwahrte den Ausschnitt sorgfältig in einer besonderen Mappe. Franz Kaa, dem ich davon erzählte, lächelte, beugte sich nach vorn, klemmte seine gefalteten Hände zwischen die Knie und sagte ganz leise: »Das ist schön. Das ist sehr schön. Ich habe Ihren Vater immer gern gehabt. Auf den ersten Blick scheint er so kühl und nüchtern zu sein. Man denkt, daß er nur ein ernster und tüchtiger Beamter sei. Doch wenn man ihn näher kennenlernt, entdeckt man unter der täuschenden Oberfläche einen lebendigen Quell erwärmender Menschlichkeit. Ihr Vater hat – trotz alles Wissens – eine rege schöpferische Phantasie. Darum liebt er die Dichtung. Peter Altenberg ist nämlich wirklich ein Dichter. In seinen kleinen Geschichten spiegelt sich sein ganzes Leben wider. Und jeder Schritt, jede Bewegung, die er macht, bestätigen die Wahrheit seiner Worte. Peter Altenberg ist ein Genie der Nichtigkeiten, ein seltsamer Idealist, der die Schönheiten der Welt wie Zigarettenstummel in den Aschenbechern der Kaffeehäuser findet.«
Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg war Der Golem von Gustav Meyrink der erfolgreichste deutsche Roman. Franz Kaa äußerte sich über das Buch mir gegenüber.
»Die Atmosphäre der alten Prager Judenstadt ist wunderbar festgehalten.« »Sie erinnern sich noch an das alte Judenviertel?« »Eigentlich kam ich schon zum Ende. Aber –« Kaa machte mit der linken Hand eine Bewegung, als würde er sagen: »Was wurde damit erreicht?« Sein Lächeln antwortete: »Nichts.« Dann sprach er weiter. »In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neuerbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß noch nichts von der durchgeführten Assanierung. Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische neue Stadt um uns. Wachend gehen wir durch einen Traum: selbst nur ein Spuk vergangener Zeiten.«
Bei einem Antiquar fand ich die tschechische Übersetzung des Buches Das Blut der Armen von Léon Bloy. Franz Kaa interessierte sich sehr für meinen Fund. Er sagte: »Ich kenne von Léon Bloy ein Buch gegen den Antisemitismus Le salut par les Juifs. Die Juden werden hier von einem Christen – wie ärmere Verwandte – in Schutz genommen. Es ist sehr interessant. Und dann – Bloy kann schimpfen. Das ist etwas ganz Außergewöhnliches. Bloy besitzt ein Feuer, das an die Glut der Propheten erinnert. Was sage ich: Bloy schimp viel besser. Das ist leicht erklärlich, da sein Feuer von allem Mist der modernen Zeit genährt wird.«
Franz Kaa schenkte mir eine kleine Schri über Sören Kierkegaard von Carl Dallago. Er sagte bei dieser Gelegenheit: »Kierkegaard steht vor dem Problem, entweder das Sein ästhetisch zu genießen oder sittlich zu erleben. Mir scheint aber, daß die Fragestellung hier falsch ist. Das Entweder-Oder gibt es nur im Kopfe von Sören Kierkegaard. In Wirklichkeit kann man zu einem ästhetischen Genießen des Seins nur durch ein demütiges sittliches Erleben gelangen. Das ist aber nur eine augenblickliche persönliche Ansicht, die ich vielleicht nach einer näheren Prüfung aufgeben werde.«
Bei Franz Kaa kam ich einigemal mit Hans Klaus zusammen, den ich zwar schon aus der Schule kannte, mit dem ich aber vordem nicht näher bekannt wurde, da er um einige Jahre älter war. Außerdem war er zu der Zeit schon bekannt als Dichter einer ganzen Reihe von Gedichten und Erzählungen. Ich war ihm gegenüber nur ein kleiner, unerwachsener Schüler. Doch schien mir, daß Franz Kaa mit mir freundlicher sprach als mit Klaus. Ich war dadurch erfreut, gleichzeitig aber auch beschämt vor mir selbst. ›Bist du für Doktor Kaa nur ein Kind?‹ fragte ich mich, um mich sogleich selbst zu beschwichtigen: ›Du redest dir das wahrscheinlich nur ein, daß er zu dir freundlicher als zu Klaus sei.‹ Ich hatte keine Ruhe. Darum wandte ich mich einmal an Kaa, als ich ihn aus der Kanzlei auf den Altstädter Ring begleitete. »Was denken Sie, Herr Doktor – bin ich eitel?« Kaa staunte. »Wie kommen Sie zu dieser Frage?« »Ich denke, daß Sie zu mir freundlicher sind als zu Klaus.
Das freut mich. Das freut mich sehr. Gleichzeitig sage ich mir aber, daß das nur eine Einflüsterung der Eitelkeit sei.« Kaa nahm mich unter den Arm. »Ein Kind sind Sie.« Mein Kinn begann zu zittern. »Sehen Sie, Herr Doktor, ich denke immer, daß Sie zu mir nur darum so lieb sind, weil ich noch ein dummes, unerwachsenes Kind bin.« »Sie sind für mich ein junger Mensch«, sagte Franz Kaa. »Sie haben Zukunsmöglichkeiten, die andere schon verloren haben. Die Menschen sind Ihnen so nahe, daß Sie sich sehr genau beobachten müssen, um sich selbst nicht zu verlieren. Bestimmt bin ich zu Ihnen freundlicher als zu Klaus. Spreche ich doch mit meiner Vergangenheit, wenn ich mit Ihnen spreche. Da muß man freundlich sein. Und dann: Sie sind jünger als Klaus, also brauchen Sie mehr Verständnis und Liebe.« Von dem Tage an änderte sich mein Verhältnis zu Klaus. Wir wurden fast Freunde. Er machte mich mit seinen literarischen Gefährten, dem Mediziner Rudolf Altschul und dem Architekten Konstantin Ahne, welcher unter dem Namen Hans Tine Kanton Gedichte veröffentlichte, bekannt. Wir besuchten einander, gingen zusammen ins eater, machten Ausflüge, borgten einander Bücher, führten Diskussionen und – bewunderten einer den anderen. So entstand die Gruppe Protest, welche einen eigenen Rezitationsabend im Mozarteum veranstaltete. Wir wollten den Zuhörern auch etwas von Franz Kaa vorlegen; er hatte es uns aber streng verboten. »Ihr seid verrückt geworden«, sagte er mir. »Ein polizeilich gemeldeter und genehmigter Protest! Das ist lächerlich und traurig gleichzeitig. Das ist ärger als eine wirkliche Auflehnung, da es nur ein vorgetäuschter Sturm ist. Ich
bin aber überhaupt kein Protestant. Ich will alles hinnehmen und geduldig ertragen, nur so ein öffentliches Aureten will ich nicht auf mich nehmen.« Ich beeilte mich zu erklären, daß ich mit Altschul, Klaus und Ahne nichts gemeinsam habe. Das Kleeblatt zerfiel. Kaa war mir näher als die eigene Eitelkeit.
Als es – einige Monate später – zwischen Hans Klaus und mir zu einem Konflikt kam, erzählte ich davon Kaa, der ruhig zuhörte, um dann die Achseln zu zucken und zu sagen: »Sie möchten jetzt einen Rat von mir hören. Ich bin aber kein guter Ratgeber. Für mich ist jeder Rat im Grunde immer nur ein Verrat. Er ist ein feiges Zurückweichen vor der Zukun, die der Prüfstein unserer Gegenwart ist. Vor der Prüfung fürchtet sich aber nur der, der ein schlechtes Gewissen hat. Das ist so ein Mensch, welcher die Aufgabe seiner Gegenwart nicht erfüllt. Wer kennt aber ganz genau seine Aufgabe? Niemand. Darum hat jeder von uns ein schlechtes Gewissen, dem er durch ein möglichst rasches Einschlafen entrinnen will.« Ich bemerkte, daß Johannes R. Becher in einem Gedicht den Schlaf als freundschalichen Besuch des Todes bezeichne. Kaa nickte: »Das ist richtig. Vielleicht ist meine Schlaflosigkeit nur eine Art von Angst vor dem Besucher, dem ich mein Leben schulde.«
Der Dichter Hans Klaus schenkte mir ein kleines Buch: Tubutsch von Albert Ehrenstein mit zwölf Zeichnungen von Oskar Kokoschka. Kaa sah das Büchlein bei mir, ich lieh es ihm, und er retournierte mir das Buch bei meinem nächsten Besuch in seiner Kanzlei.
»So ein kleines Buch und so viel Lärm in ihm«, bemerkte er. »Der Mensch schreit. Kennen Sie das?« »Nein.« »So heißt – glaube ich – ein Gedichtband von Albert Ehrenstein.« »Sie kennen ihn also gut.« »Gut«, meinte Kaa und zuckte verneinend die Achseln. »Die Lebenden kennt man nie. Die Gegenwart ist Wandlung und Verwandlung. Albert Ehrenstein ist einer des Geschlechts dieser Zeit. Er ist ein ins Leere verlorenes, schreiendes Kind.« »Was sagen Sie zu Kokoschkas Zeichnungen?« »Ich verstehe sie nicht. Zeichnung ist abgeleitet von zeichnen, bezeichnen, zeigen. Mir zeigt das nur eine große innere Wirrnis und Unordnung des Malers.« »Ich sah auf der Expressionistenausstellung im Rudolfinum sein großes Bild von Prag.« Kaa drehte seine auf dem Tisch liegende linke Hand mit der Handfläche nach oben. »Das große – mit der grünen Kuppel der Niklaskirche im Mittelpunkt?« »Ja, das meine ich.« Er beugte den Kopf. »Auf dem Bilde fliegen die Dächer weg. Die Kuppeln sind Regenschirme im Wind. Die ganze Stadt ist am Auf- und Davonfliegen. Prag steht aber – trotz aller inneren Zwiespälte. Das ist gerade das Wunderbare an ihm.«
Ich habe zwei Gedichte aus der Sammlung Frühling Johannes Schlaf vertont. Eine Abschri habe ich dem fasser der Worte zugeschickt. Johannes Schlaf dankte mit einem langen, kalligraphisch geschriebenen Brief, ich Franz Kaa zeigte.
von Vermir den
Er lachte, als er ihn mir über den Schreibtisch zurückreichte. »Schlaf ist so rührend. Wir besuchten ihn, als wir mit Max Brod in Weimar waren. Er wollte von Literatur und Kunst nichts wissen. Sein ganzes Interesse war auf die Umstoßung des bestehenden Sonnensystems konzentriert.« »Unlängst sah ich ein dickes Buch von Schlaf, worin er die Erde zum Mittelpunkt des Kosmos erklärt.« »Ja, das war schon damals seine Idee, von deren Richtigkeit er uns durch eine besondere eigene Erklärung der Sonnenflecken überzeugen wollte. Er führte uns zum Fenster seiner Kleinbürgerwohnung und zeigte uns die Sonne mit Hilfe eines alten Schülerfernrohres.« »Ihr habt gelacht.« »Woher! Die Tatsache, daß er es wagte mit diesem lächerlichen Gegenstand aus der Verlassenscha einer alten Zeit gegen Wissenscha und Kosmos auszuziehen, das war so komisch und rührend gleichzeitig, daß wir ihm fast Glauben geschenkt hätten.« »Was hinderte euch daran?« »Eigentlich der Kaffee. Er war schlecht. Wir mußten gehen.«
Ich erzählte Reimanns lustige Geschichte, wie der Verleger Kurt Wolff in Leipzig um acht Uhr morgens die Übersetzung Rabindranath Tagores ablehnte, um zwei Stunden später den Lektor des Verlages auf das Hauptpostamt um die zurückgesendete Handschri zu jagen, da er inzwischen aus der Zeitung erfahren hatte, daß Rabindranath Tagore Nobelpreisträger wurde. »Seltsam, daß er ablehnte«, meinte Franz Kaa langsam. »Tagore ist doch nicht so weit von Kurt Wolff. Indien– Leipzig, diese Entfernung ist doch nur scheinbar. In Wirklichkeit ist Rabindranath Tagore nur ein verkleideter Deutscher.«
»Vielleicht ein Oberlehrer?« »Ein Oberlehrer?« wiederholte Kaa ernst, zog die Mundwinkel seiner festgeschlossenen Lippen herab und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das nicht, aber ein Sachse könnte er sein – wie Richard Wagner.« »Also Mystik im Lodenmantel?« »So etwa.« Wir lachten.
Ich borgte Kaa eine deutsche Übersetzung des indischen Religionsbuches Bhagavad Gita. Kaa sagte: »Die indischen Religionsdokumente ziehen mich an und stoßen mich gleichzeitig ab. Wie ein Gi haben sie etwas Verlockendes und Abschreckendes in sich. Alle diese Yogis und Zauberer beherrschen das naturverhaete Leben nicht durch glühende Liebe zur Freiheit, sondern durch einen unausgesprochenen, eisigen Haß des Lebens. Die Quelle der indischen Religionsübungen ist ein abgrundtiefer Pessimismus.« Ich erinnerte an Schopenhauers Interesse für die indische Religionsphilosophie. Kaa bemerkte: »Schopenhauer ist ein Sprachkünstler. Daraus entspringt sein Denken. Wegen der Sprache allein muß man ihn unbedingt lesen.«
Franz Kaa lachte, als er bei mir einen kleinen Gedichtband von Michael Mareš sah. »Den kenne ich«, sagte er. »Das ist ein grimmiger Anarchist, den sie im Prager Tagblatt als Kuriosität aushalten.« »Sie nehmen die tschechischen Anarchisten nicht ernst?« Kaa lächelte verlegen. »Das ist sehr schwer. Diese Leute, die sich selbst Anarchi
sten nennen, sind so lieb und freundlich, daß man ihnen jedes Wort glauben muß. Gleichzeitig aber kann man ihnen – eben wegen dieser ihrer Eigenschaen – nicht glauben, daß sie wirklich solche Weltzerstörer sein könnten, wie sie behaupten.« »Sie kennen sie also persönlich?« »Ein wenig. Es sind sehr liebe, lustige Menschen.«
Einige Tage später erfuhr ich dann einige interessante Einzelheiten über sein Verhältnis zu den Anarchisten. Wir gingen, Doktor Kaa und ich, vom Altstädter Ring in die Geistgasse, an der Kirche der Barmherzigen Brüder vorbei zur Moldau, wandten uns nach links, überquerten den Platz vor dem Parlament, schlenderten die Kreuzherrengasse entlang bis zur Karlsbrücke, wo wir die Karlsgasse betraten, um zum Altstädter Ring zurückzukommen. Während unseres Spazierganges begegneten wir verschiedenen Passanten, die uns nicht weiter auffielen. An der Ecke der Egidi- und Karlsgasse wären wir jedoch fast mit zwei Frauen einer ganz eindeutigen Sorte zusammengestoßen. Die eine hatte ein fast kreisrundes, weißgepudertes Gesicht unter einem großen Vogelnest roter Haare, wogegen die zweite, etwas kleinere, ein spitzes Mausgesicht und das leicht schmuddelige Aussehen einer Zigeunerin hatte. Wir traten zur Wand, doch die beiden Frauen hätten sowieso keine Notiz von uns genommen. So tief waren sie mit einem kurz vorher stattgefundenen Ereignis beschäftigt. »Er hat mich am Hals gefaßt und zur Tür hinausgefeuert«, maulte die Schwarze. Darauf meckerte die Rote triumphierend: »Was habe ich dir gesagt? Du darfst nicht in das Lokal.«
»Blödsinn! Das Altstädter Kaffeehaus ist ein öffentliches Lokal wie jedes andere Beisel.« »Aber nicht für dich! Du darfst nicht hinein. Das hast du davon, daß du der dicken Emma ’n paar in die Fresse gehauen hast.« »Sie hat es verdient. So ’ne Sau.« »Ja, das ist sie. Doch der Portier ist ihr Alter. Darum hat er dich ’rausgefeuert.« »So ein Ravachol! Wie er mich faßte –« Die Frauen verschwanden in einem Durchhaus. Wir gingen in entgegengesetzter Richtung weiter. »Haben Sie das letzte Wort gehört?« fragte mich Kaa. »Sie meinen Ravachol?« »Ja. Wissen Sie, was es bedeutet?« »Natürlich! Ravachol ist ein Prager Jargonausdruck. Er bedeutet soviel wie gewalttätiger Kerl, Rauold, Grobian.« »Ja«, nickte Kaa. »In diesem Sinne habe ich dieses Wort auch zum erstenmal gehört. Es handelt sich aber um einen französischen Familiennamen, der sich – in tschechischer Version – mit der Zeit in ein eigenschasbezeichnendes tschechisches Hauptwort verwandelte.« »Etwa so wie Salomon oder Herodes?« »Ja, so ähnlich«, sagte Kaa. »Ravachol war ein französisischer Anarchist. Er hieß eigentlich Franz Augustin Königstein. Der deutsche Name gefiel ihm nicht. Deshalb benutzte er den Namen seiner Mutter – französisch gelesen – Ravaschool. Die einfachen Prager Zeitungsleser sprachen ihn aber so aus, wie sie ihn im Druck zu Gesicht bekamen: Ravachol. Die Presse beschäigte sich ziemlich lange mit ihm.« »Wann war das?« »Das war zwischen und . Da war ich noch ein kleiner Junge, den das tschechische Kinderfräulein Tag für Tag über den Altstädter Ring und durch die Teingasse auf
den Fleischmarkt zur Schule führte. Nach dem Unterricht wartete das Fräulein gewöhnlich schon wieder vor dem Schultor auf mich. Doch manchmal kam sie zu spät, oder es wurde in der Schule etwas früher Schluß gemacht. Da war ich immer sehr froh. Ich schloß mich dann immer einem Rudel der größten Lausbuben unserer Klasse an, mit denen ich in entgegengesetzter Richtung, aus der ich das Fräulein nicht zu erwarten hatte, in die Ziegengasse marschierte, wo es dann gewöhnlich zu irgendeiner Keilerei kam.« »An denen haben Sie sich doch nicht beteiligt?« stieß ich unwillkürlich im Ton tiefster Überzeugung hervor, denn ich konnte mir Doktor Kaa wirklich nicht als Schuljungen inmitten einer Rauferei vorstellen. Doch Doktor Kaa lachte, warf den Kopf in den Nacken und sagte: »Und ob ich mich an diesen Keilereien beteiligte! Obwohl ich keine Kampferfahrung besaß und mich im Grunde fürchtete, drängte ich mich immer in das dichteste Handgemenge, um meine Mitschüler zu überzeugen, daß ich kein verzärteltes Muttersöhnchen sei, wie sie mich nannten. Und dann: ich wollte nicht als schwächlicher Judenjunge dastehen. Doch ich überzeugte sie nicht, denn ich bekam gewöhnlich Haue. Ich kam nach solchen Extratouren sehr o verweint, schmutzig, mit knopfloser Jacke und einem zerrissenen Hemdkragen nach Hause. Das war hier.« Doktor Kaa blieb auf dem Kleinen Ring neben dem barocken Eingang des Schuberthauses stehen und zeigte mit einer kurzen Kopewegung auf das aus der gegenüberliegenden Häuserfront hervorbrechende mittelalterliche Haus Minuta, welches, dicht neben dem Rathaus, den Altstädter Ring vom Kiemen Ring trennt. »Die Eltern wohnten hier oben. Doch sie waren nur am Abend daheim. Tagsüber arbeiteten sie in ihrem Geschä. Sie überließen den Haushalt der Köchin und unserem Kinderfräulein. Die waren immer sehr aufgeregt, wenn ich aus einer dieser
Straßenschlachten weinend, zerrissen und schmutzig heimkehrte. Das Fräulein rang die Hände, weinte und drohte mir damit, daß sie mein Vergehen den Eltern melden werde. Sie hat es aber nie getan. Im Gegenteil! Das Fräulein und die Köchin beseitigten gemeinsam – so rasch wie möglich – die Spuren meiner Kämpfe. Dabei brummte die Köchin einigemal: ›Du bist ein Ravachol!‹ Ich wußte nicht was das ist. Ich fragte sie, doch sie sagte nur: ›Das bist du. Du bist ein richtiger Ravachol.‹ Damit reihte sie mich in eine mir ganz unbekannte Menschengruppe ein. Sie machte mich zum Bestandteil eines dunklen Geheimnisses, das mich erschauern ließ. Ich war ein Ravachol! Das Wort wirkte auf mich wie eine schreckliche Zauberformel, die mich in eine unerträgliche Spannung versetzte. Um ihr zu entgehen, fragte ich einmal abends, als meine Eltern im Wohnzimmer Karten spielten, was ein Ravachol sei. Darauf sagte mein Vater, ohne von den Karten aufzusehen: ›Das ist ein Verbrecher, ein Mörder.‹ – Ich muß sehr überrascht und dumm ausgesehen haben, denn die Mutter fragte mich besorgt: ›Wo hast du das gehört?‹ – Ich stotterte irgendetwas. Das Bewußtsein, daß die Köchin in mir einen Verbrecher erkannt hatte, lahmte mir die Zunge. Die Mutter sah mir forschend ins Gesicht. Sie schickte sich schon an, die Karten auf den Tisch zu legen und mit mir ein Verhör anzustellen. Der Vater wollte jedoch im Kartenspiel fortfahren, und so sagte er ziemlich unwirsch: ›Wo wird er es schon gehört haben? In der Schule oder irgendwo auf der Straße! Man spricht ja jetzt überall über diese Kerle.‹ – Darauf meinte die Mutter: ›Ja, es wird mit diesem Gelichter wirklich ein allzu großer Krach gemacht.‹ Darauf schnalzte mein Vater – Trumpf! – eine Karte auf den Tisch, und ich schlich ganz verdattert aus dem Zimmer. Am nächsten Morgen hatte ich Fieber. Der herbeigeholte Arzt konstatierte eine Halsentzündung. Er verschrieb mir irgendeine Medizin. Als das Fräulein mit dem Rezept in die
Apotheke ging, setzte sich die Köchin an mein Bett. Sie war eine große, dicke und gutmütige Person, die wir ›Frau Anna‹ nannten. Nun streichelte sie meine Hände, die auf der Bettdecke lagen, und sagte: ›Nur keine Angst, es wird alles gut werden.‹ – Doch ich versteckte die Hände unter der Bettdecke und fragte: ›Warum bin ich ein Verbrecher?‹ – Die Köchin machte große Kulleraugen und sagte: ›Ein Verbrecher? Wer sagte dir das?‹ – ›Sie! Sie selbst!‹ – ›Ich?‹ – ›Frau Anna‹ preßte ihre Fäuste an ihren mächtigen Busen und meinte entrüstet: ›Das ist ja überhaupt nicht wahr!‹ – Doch ich sagte: ›Das ist die reine Wahrheit. Sie nannten mich einen Ravachol. Das ist ein Verbrecher. Meine Eltern sagten so.‹ – Darauf schlug ›Frau Anna‹ die Hände über dem Kopf zusammen und erklärte lachend: ›Ja, Ravachol, das hab’ ich gesagt. Ich habe es aber nicht schlecht gemeint. Ravachol – das sagt man doch nur so. Ich wollte dich damit nicht beleidigen.‹ – Sie strich mir begütigend über die Wange. Doch ich drehte mich zur Wand. Gleich darauf kam das Fräulein mit der Medizin. Der Name Ravachol wurde bei uns nie mehr ausgesprochen, aber er blieb in mir wie ein Stachel, oder besser gesagt, wie eine abgebrochene Nadelspitze, die durch den Körper wandert. Die Halsentzündung schwand, doch ich blieb ein innerlich angeschlagener Kranker, ein Ravachol. Dabei hatte sich äußerlich nichts geändert. Man behandelte mich so wie früher, ich wußte jedoch, daß ich ein Ausgestoßener, ein Verbrecher, kurz und gut – ein Ravachol sei. Das änderte mein ganzes Benehmen. Ich beteiligte mich nicht mehr an den Raufereien der anderen Jungen, ich ging immer schön brav mit dem Fräulein nach Hause. Man sollte mir nicht dahinterkommen, daß ich eigentlich ein Ravachol sei.« »Das ist doch Unsinn!« entfuhr mir unwillkürlich. »Das mußte doch die Zeit hinwegschwemmen.« »Ganz im Gegenteil!« Kaa lächelte schmerzlich. »Nichts haet so fest in der Seele wie ein unbegründetes Schuld
gefühl, denn man kann es – da es eben keinen realen Grund hat – durch keine Reue und keine Wiedergutmachung beseitigen. Darum blieb ich ein Ravachol auch dann, als ich die Begebenheit mit unserer Köchin scheinbar schon lange vergessen und die wahre Bedeutung des Wortes bereits erfahren hatte.« »Sie haben Ravachols Lebensgeschichte studiert?« »Ja! Und nicht nur die Ravachols, sondern auch das Leben der verschiedenen anderen Anarchisten. Ich habe mich in das Leben und in die Ansichten Godwins, Proudhons, Stirners, Bakunins, Kropotkins, Tuckers und Tolstojs vertie, besuchte verschiedene Zirkel und Versammlungen, stecke in die Sache viel Geld und Zeit. Ich beteiligte mich im Jahre an den Sitzungen der tschechischen Anarchisten im Karolinentaler Gasthaus Zum Kanonenkreuz , wo der anarchistische Klub der Jungen, getarnt als Mandolinenklub, zusammenkam. Max Brod begleitete mich einigemal zu diesen Versammlungen, für die er aber im Grunde nichts übrig hatte. Er betrachtete sie als eine Art politischer Jugendverirrung. Für mich war es jedoch eine sehr ernste Angelegenheit. Ich verfolgte die Spuren Ravachols. Die führten mich später zu Erich Mühsam, Arthur Holitscher und dem Wiener Anarchisten Rudolf Grossmann, der sich Pierre Ramuz nannte und die Zeitschri Wohlstand für alle herausgab. Sie alle versuchten das Menschenglück ohne die Gnade zu verwirklichen. Ich verstand sie. Doch –«, Kaa hob beide Arme wie ein eingeknicktes Flügelpaar, daß er hilflos herabsinken ließ, »ich konnte mit ihnen nicht lange Schulter an Schulter weitermarschieren. Ich blieb bei Max Brod, Felix Weltsch und Oskar Baum. Sie sind mir näher.« Er blieb stehen. Wir hatten das Haus, in dem er wohnte, erreicht. Er lächelte mich ein, zwei Sekunden versonnen an. Dann sagte er leise: »Alle Juden sind – so wie ich – ausgestoßene Ravachols. Ich spüre noch die Hiebe und Fußtritte
der bösen Buben auf dem Umweg nach Hause, doch ich kann nicht mehr raufen. Ich besitze nicht mehr die Kra der Jugend. Und ein schützendes Kinderfräulein? Das habe ich auch nicht mehr.« Er reichte mir die Hand. – »Es ist spät geworden. Gute Nacht.«
Ich brachte Kaa ein neues He der von Karl Kraus in Wien herausgegebenen Fackel. »Er zerpflückt die Journalisten wunderbar«, sagte er beim Durchblättern. »Nur ein gerissener Wilddieb kann so ein strenger Waldhüter sein.« »Karl Kraus enthüllt den Dramaturgen des Wiener Burgtheaters, Georg Kulka, als Plagiator. Was sagen Sie dazu?« »Das ist doch nichts. Das ist ein kleiner Fehler in den Gehirnwindungen, nichts mehr.«
Wir sprachen über die kleinen, glänzend stilisierten Aufsätze von Alfred Polgar, die öer im Prager Tagblatt erschienen. Kaa sagte: »Seine Sätze sind so glatt und gefällig, daß man die Lektüre von Alfred Polgar als eine Art unverbindlicher gesellschalicher Unterhaltung hinnimmt und gar nicht merkt, daß man eigentlich beeinflußt und erzogen wird. Unter dem Glacéhandschuh der Form verbirgt sich ein fester, unerschrockener Wille als Inhalt. Polgar ist ein kleiner, aber tüchtiger Makkabäer im Lande der Philister.«
Franz Kaa sagte, als er mir ein Gedichtbuch von Francis Jammes zurückgab: »Er ist so rührend einfach, so glücklich und stark. Sein Leben ist für ihn kein Geschehen zwi
schen zwei Nächten. Er kennt überhaupt keine Dunkelheit. Er und seine ganze Welt sind wohlgeborgen in Gottes allmächtiger Hand. Wie ein Kind duzt er den lieben Gott wie irgendein Familienmitglied. Darum altert er nicht.«
Lydia Holzner schenkte mir einen chinesischen Roman Die drei Sprünge des Wang-lun von Alfred Döblin. Ich zeigte das Buch Kaa, welcher sagte: »Das ist ein großer Name unter den neuen deutschen Romanschristellern. Ich kenne von ihm – außer diesem, seinem ersten Buch – nur einige kleine Erzählungen und einen seltsamen Liebesroman Der schwarze Vorhang. Döblin kommt mir so vor, als würde er die sichtbare Welt als etwas ganz Unvollkommenes auffassen, das er erst mit seinem Wort schöpferisch ergänzen muß. Das ist nur mein Eindruck. Wenn Sie aber gut lesen, so werden Sie schon darauf kommen.«
Ich las – auf Grund von Franz Kaas Äußerung – den ersten Roman von Alfred Döblin Der schwarze Vorhang, Roman von den Worten und Zufällen. Als ich mit ihm darüber sprach, sagte er: »Ich verstehe das Buch nicht. Zufall nennt man das Zusammentreffen von Ereignissen, deren Ursächlichkeit man nicht kennt. Ohne Ursache gibt es aber keine Welt. Darum gibt es Zufälle eigentlich nicht in der Welt, sondern nur hier –«, Kaa berührte mit der linken Hand seine Stirn. »Zufälle gibt es nur in unserem Kopf, in unseren beschränkten Wahrnehmungen. Sie sind die Spiegelung der Grenzen unserer Erkenntnis. Der Kampf gegen den Zufall ist immer ein Kampf gegen uns selbst, den wir nie ganz gewinnen können. Aber davon ist gar nichts in diesem Buch.«
»Sie sind also von Döblin enttäuscht?« »Eigentlich bin ich nur von mir selbst enttäuscht. Ich erwartete etwas anderes, als er vielleicht geben wollte. Die Hartnäckigkeit meiner Erwartung verblendete mich aber so, daß ich die Seiten und Zeilen und zum Schluß das ganze Buch übersprang. Ich kann also nichts über das Buch sagen. Ich bin ein sehr schlechter Leser.«
Franz Kaa sah bei mir das Buch Die Ermordung einer Butterblume von Alfred Döblin. Er sagte: »Wie seltsam das klingt, wenn man einen ganz alltäglichen Begriff aus dem Bereiche der Fleischesserkultur mit einem zarten Blumennamen verbindet!«
In drei nachfolgenden Sonntagsnummern der Prager Presse erschien ein Feuilleton Großes Literarisches Bestiarium von Franz Blei. Der Verfasser beschrieb die verschiedensten Schristeller und Dichter als Fische, Vögel, Maulwürfe, Hasen und so weiter. Über Kaa sagte er unter anderem, daß das ein besonderer Vogel sei, der sich von bitteren Wurzeln nähre. Ich befragte Kaa über Franz Blei. »Das ist eine alte, langjährige gute Bekanntscha von Max Brod«, sagte er lächelnd. »Blei ist riesig gescheit und witzig. Es ist immer lustig, wenn wir mit ihm zusammenkommen. Die Weltliteratur defiliert in Unterhosen an unserem Tisch vorbei. Franz Blei ist viel gescheiter und größer als das, was er schreibt. Das ist auch ganz natürlich, da es nur eine hingeschriebene Unterhaltung ist. Der Weg vom Kopf zur Feder ist aber viel länger und schwieriger als der Weg vom Kopf zur Zunge. Da geht manches verloren.
Franz Blei ist ein nach Deutschland verirrter orientalischer Anekdotenerzähler.«
Als Kaa bei mir ein Gedichtbuch von Johannes R. Becher sah, bemerkte er: »Ich verstehe diese Gedichte nicht. Es herrscht hier so ein Lärm und Wortgewimmel, daß man von sich selbst nicht loskommen kann. Die Worte werden nicht zur Brücke, sondern zur hohen, unübersteigbaren Mauer. Man stößt sich fortwährend an der Form, so daß man überhaupt nicht zum Inhalt vordringen kann. Die Worte verdichten sich hier nicht zur Sprache. Es ist ein Schreien. Das ist alles.«
Doktor Kaa zeigte mir zwei Flugblätter, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Das eine hatte die Nationale Gemeinscha der tschechoslowakischen Legionäre herausgegeben und war an die Nation gerichtet. Das zweite Flugblatt, das die Unterschri der Linken Fraktion der tschechischen Sozialdemokratie trug, forderte die »Arbeiterklasse zu einer mächtigen Maidemonstration« auf. Doktor Kaa fragte mich: »Was sagen Sie dazu?« Ich schwieg verlegen, da ich nicht wußte, wie ich die beiden Flugblätter beurteilen sollte. Doktor Kaa, der den Grund meines Schweigens erkannte, erklärte darauf, ohne meine Antwort abzuwarten: »Die beiden Flugblätter, die zwei politisch entgegengesetzten Lagern entstammen, haben etwas Gemeinsames. Sie sind an ganz unreale Adressaten gerichtet. Die Nation sowie die Arbeiterklasse sind nur abstrakte Verallgemeinerungen, dogmatische Begriffe, nebelhae Erscheinungen, die erst durch eine Sprachoperation greiar wurden. Die beiden Begriffe sind nur als Sprachschöpfungen real. Ihr Leben ist
im Sprechen, in seiner Innenwelt, aber nicht in der Außenwelt des Menschen verankert. Wirklich ist nur der konkrete, wirkliche Mensch, der Nächste, den uns Gott in den Weg stellt und dessen Wirken wir unmittelbar ausgesetzt sind.« Darauf bemerkte ich: »Wie zum Beispiel der Heizer dem jungen Karl Rossmann in den Weg gestellt wurde.« »Ja«, nickte Kaa. »Das ist wie jeder konkrete Mensch ein Bote der Außenwelt. Abstraktionen sind nur Zerrbilder der eigenen Leidenschaen, Gespenster aus den Verliesen der Innenwelt.«
Ich bekam zwei Bücher von G. K. Chesterton. Die Orthodoxie und Der Mann, der Donnerstag war. Kaa sagte: »Er ist so lustig, daß man fast glauben könnte, er habe Gott gefunden.« »Das Lachen ist für Sie also ein Zeichen von Religiosität?« »Nicht immer. In einer so gottlosen Zeit muß man aber lustig sein. Das ist Pflicht. Die Schiffskapelle spielte auf der untergehenden Titanic bis zum Ende. Man entzieht damit der Verzweiflung den Boden.« »Eine krampae Lustigkeit ist aber viel trauriger als eine offen eingestandene Trauer.« »Das ist richtig. Die Trauer ist aber aussichtslos. Und um die Aussicht, um die Hoffnung, um das Vorwärts, nur darum handelt es sich. Die Gefahr ist nur im engen, begrenzten Augenblick. Hinter dem ist der Abgrund. Hat man den überwunden, ist alles schon anders. Es kommt nur auf den Augenblick an. Der bestimmt das Leben.«
Wir sprachen über Baudelaire. »Dichtung ist Krankheit«, sagte Franz Kaa. »Durch die
Unterdrückung des Fiebers wird man aber noch nicht gesund. Im Gegenteil! Die Glut reinigt und leuchtet.«
Ich borgte Doktor Kaa die tschechische Übersetzung der Erinnerungen an Leo Nikolajewitsch Tolstoj von Maxim Gorki. Kaa sagte: »Es ist ergreifend, wie Gorki die Charakterzüge eines Menschen nachzeichnet, ohne eine Beurteilung auszusprechen. Ich möchte gerne einmal seine Aufzeichnungen über Lenin lesen. »Gorki hat Erinnerungen an Lenin veröffentlicht?« »Nein, das hat er noch nicht getan. Ich nehme aber an, daß er sie einmal sicher veröffentlichen wird. Lenin ist mit Gorki befreundet. Maxim Gorki sieht und erlebt alles aber nur durch die Feder. Das sieht man an diesen Aufzeichnungen über Tolstoj. Die Feder ist nicht ein Instrument, sondern ein Organ des Schristellers.«
Ich zitierte aus Grusemanns Buch über den Verfasser der Dämonen den Satz: »Dostojewski] ist ein blutiges Märchen.« Franz Kaa sagte darauf: »Es gibt keine unblutigen Märchen. Jedes Märchen kommt aus der Tiefe des Blutes und der Angst. Das ist die Verwandtscha aller Märchen. Die Oberfläche ist verschieden. Nördliche Märchen sind nicht von so einer üppigen Fauna der Phantasie erfüllt wie afrikanische Negermärchen, aber der Kern, die Tiefe der Sehnsucht ist die gleiche.« … Später einmal empfahl er mir die Lektüre der Sammlung afrikanischer Volkserzählungen und Märchen von Frobenius.
Heinrich Heine. Kaa: »Ein unglücklicher Mensch. Die Deutschen warfen und werfen ihm das Judentum vor, und dabei ist er doch ein Deutscher, sogar ein kleiner Deutscher, der mit dem Judentum in Konflikt steht. Das ist gerade das typisch Jüdische an ihm.«
Meine Eltern hatten vor und während des ersten Weltkrieges eine ganze Anzahl deutscher und tschechischer Zeitungen und Zeitschrien abonniert. Darunter auch die Wiener Kronen-Zeitung, ein kleines, billiges Tratschorgan, auf dessen Titelblatt sich immer Reproduktionen schmissiger Federzeichnungen befanden, die mich faszinierten. Es gab hier Erzherzöge, brennende Wirtshäuser, Kaiserparaden, Luangriffe der damals ganz neu eingesetzten Zeppelin-Luschiffe, von den Pferden stürzende Kosaken, schottische Dudelsackpfeifer, Mord- und Einbruchsszenen, Lebensretter, die mit straffer Bügelfalte und aufgezwirbelten Schnurrbärten in brennende Häuser stürzten, Polizisten mit Pistolen und geschwungenen Säbeln, preisgekrönte Hunde und Pferde, Damen mit Federboas und Hüten, die wohlsortierten Obstschüsseln glichen, und viele, viele andere Sensationen, die das verborgene Gesicht der Zeit enthüllten. Ich sammelte die für mich interessanten Titelblätter der Kronen-Zeitung und ließ sie im Sommer zu einem buntmarmorierten Buch zusammenbinden, das ich stolz in mein Bücherregal stellte. Als dann beiläufig drei Jahre später Doktor Kaa im Gespräch über einen – ich weiß nicht mehr welchen – modernen Dichter die Ansicht äußerte, daß der Ton eines Dichters immer von »den Altarbildern seiner Jugend abhängig sei«, bemerkte ich auflachend: »Mir wurden meine Altarbilder von der KronenZeitung geliefert.«
Bei der nächsten Zusammenkun zeigte ich dann Doktor Kaa meine gebundene Auswahl der Titelblätter. Kaa blätterte interessiert in dem Band, betrachtete schmunzelnd die Obst- und Blumenschüsseln auf den Köpfen der Damen, verweilte etwas langer bei den Szenen aus der russischen Revolution und schüttelte sich, übertrieben schockiert, – »Brr, wie scheußlich!« – beim Anblick der zerstückelten Leiche auf dem Bett einer Wiener Prostituierten. Ich sagte: »Es ist ein Bildersalat – bunt und widerspruchsvoll wie das Leben.« Doch Kaa entgegnete kopfschüttelnd: »Nein, das stimmt nicht. Die Bilder verdecken mehr als sie enthüllen. Sie gehen nicht in die Tiefe, wo alle Widersprüche mit einander korrespondieren. Die Darstellung eines Vorganges ist hier nur ein Mittel zum Geldverdienen. In dieser Beziehung sind die Bilder der Kronen-Zeitung eindeutiger und darum minderwertiger als die primitiven Holzschnitte der alten Jahrmarktsmoritaten. Die boten noch einen Anreiz der Phantasie, mit welcher man über sich hinausreichen konnte. Das tun diese Zeitungen nicht. Sie brechen der Vorstellungskra die Flügel. Das ist ganz natürlich. Je mehr sich die Bildertechnik verbessert, um so schwächere Augen haben wir. Der Apparat lahmt die Organe. So ist es mit der Optik, in der Akustik, im Verkehrswesen. Durch den Krieg ist Amerika nach Europa gekommen. Die Kontinente haben sich ineinandergeschoben. Ein Funke trägt die menschliche Stimme im Nu um die Erde. Wir leben nicht mehr in menschlich beschränkten Räumen, sondern auf einem kleinen, verlorenen Stern, umgeben von Milliarden großer und kleinerer Welten. Der Weltraum tut sich auf wie ein Rachen. In seinem Schlund verlieren wir jeden Tag mehr und mehr von unserer persönlichen Bewegungsfreiheit. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, und wir werden besondere Passierscheine besitzen müssen, um auf unseren eigenen Hof hinausgehen zu dürfen. Die Welt
verwandelt sich in ein Ghetto.« Ich fragte vorsichtig: »Ist das nicht übertrieben?« Doch Kaa schüttelte den Kopf: »Nein, nicht im geringsten! Ich sehe das ja schon hier in der Unfall-Versicherung. Die Welt tut sich auf, doch wir werden in enge Papierschluchten getrieben. Sicher ist nur der Stuhl, auf dem wir im Augenblick sitzen. Wir leben nach dem Lineal, obwohl jeder eigentlich ein Labyrinth ist. Die Schreibtische sind Prokrustesbetten. Doch wir sind keine antiken Helden. Darum sind wir, trotz der Qual, nur tragikomische Gestalten.«
»Die meisten Menschen sind gar nicht böse«, sagte Franz Kaa im Gespräch über Leonhard Franks Buch Der Mensch ist gut. »Die Menschen werden schlecht und schuldig dadurch, daß sie sprechen und handeln, ohne die Wirkung ihrer eigenen Worte und Taten sich vorzustellen. Es sind Traumwandler, nicht Bösewichte.«
Kaa war in sehr guter Stimmung. »Sie strahlen«, bemerkte ich. Kaa lächelte: »Das ist nur geborgtes Licht. Ein Abglanz freundlicher Worte. Ein guter Freund, Ludwig Hardt, ist in Prag.« »Das ist der Rezitator, der in der Produktenbörse vortragen wird?« »Ja, das ist Ludwig Hardt. Sie kennen ihn?« »Nein, ich kenne ihn nicht. Ich habe nur die Anzeige in der Zeitung gelesen. Im übrigen interessieren mich Rezitationen nicht« »Ludwig Hardt muß Sie interessieren. Das ist kein aufgeblasener Artist. Ludwig Hardt ist ein Diener des Wortes.
Er erweckt und belebt Dichtungen, die unter dem Staub der Konventionen versinken. Er ist ein großer Mensch.« »Wie sind Sie mit ihm bekannt geworden?« »Ich habe ihn vor zehn Jahren durch Max kennengelernt. Ich habe ihm gleich bei der ersten Begegnung den ganzen Abend zugehört. Er ist ein bezaubernder Mensch. So frei, unbeschwert, kräig. Er stammt irgendwo aus dem Norden, ist ein typischer Jude, und doch ist er nirgends ein Fremdling. Ich sah ihn zum erstenmal, und mir war so, als ob ich ihn schon sehr, sehr lange kennen würde. Er ist ein Zauberer.« »Wieso ein Zauberer?« »Das weiß ich nicht. Er kann aber ein starkes Gefühl der Freiheit herbeirufen. Darum ist er ein Zauberer. Übrigens werden wir seinen Vortrag zusammen besuchen. Ich besorge die Karten.« Vor Hardts Vortag trafen wir auf der Stiege der Produktenbörse den Dichter Rudolf Fuchs. Wir standen mit ihm vorne in der Nähe des Einganges. Kaa verfolgte aufmerksam den Künstler, sein Gesichtsausdruck war aber von einer inneren Bedrücktheit. Ich sah, daß er sein Interesse sehr schwer auf das Programm sammelte. »Ist Ihnen nicht gut, Herr Doktor?« fragte ich in der Pause, als sich Rudolf Fuchs auf einen Augenblick entfernte. Kaa zog die Augenbrauen hoch. »Sehe ich anders aus? Ist etwas Auffälliges an mir?« »Das nicht. Sie sind nur so sonderbar.« Kaa lächelte mit engen, festgeschlossenen Lippen. »Es wäre sehr einfach, mich auf ein körperliches Unwohlsein auszureden. Leider ist so etwas nicht vorhanden. In mir ist nur eine tödliche Müdigkeit und Leere, die sich immer einstellt, wenn ich von etwas bezaubert bin. Wahrscheinlich habe ich keine Phantasie. Die Dinge entschweben. Nur die graue, trostlose Zelle bleibt.«
Ich begriff nicht den vollen Sinn seiner Worte, ein Fragen wurde mir aber durch die Rückkehr von Rudolf Fuchs unmöglich gemacht. Nach dem Vortrag verabschiedete ich mich von Kaa, der mit Fuchs, Weltsch, Frau Brod und anderen auf Hardt wartete. Am nächsten Tag besuchte ich Franz Kaa in der Kanzlei. Er war ziemlich wortkarg und ließ sich in kein Gespräch über den Abend in der Produktenbörse ein. Erst als ich bemerkte, daß ich von Rudolf Fuchs den Gedichtband Die Karawane und Übersetzungen der Hymnen von Otokar Březina kenne, wurde er ein wenig lebendiger und bemerkte: »Rudolf Fuchs ist ein so tief ergebener Leser, daß er nicht nur jedes gute Buch, sondern schon jedes ehrliche Wort eines Dichters hoch über die eigene demütige Seele stellt. Darum ist er ein so guter Übersetzer und sparsamer Autor. Seine Karawane vermittelt Güter fremder Produktion. Er ist ein Diener des Wortes.« Über Ludwig Hardt sprachen wir nie mehr wieder.
Mein Vater schenkte mir zum Geburtstag die Gedichte von Georg Trakl. Franz Kaa erzählte mir, daß Trakl Selbstmord durch Gi verübt habe, um den Schrecknissen des Krieges zu entgehen. »Fahnenflucht in den Tod«, bemerkte ich. »Er hatte zuviel Phantasie«, sagte Kaa. »Darum konnte er den Krieg nicht ertragen, der vor allem aus einem ungeheuren Mangel an Phantasie entstanden ist.«
Ich war zehn Tage krank, lag im Bett und besuchte nicht die Schule. Mein Vater brachte mir von Doktor Kaa
herzliche Grüße und einen bunten Band der Insel-Bücherei: Arthur Schopenhauer Über Schristellerei und Stil. Einige Tage nach meiner Genesung ging ich in die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt. Doktor Kaa war sehr gut aufgelegt. Als ich ihm sagte, daß ich mir nach der Krankheit viel stärker als vordem vorkomme, erschien auf seinem Gesicht ein bezauberndes Lächeln. »Das ist verständlich«, sagte er. »Sie haben eine Begegnung mit dem Tode überwunden. Das stärkt.« »Das ganze Leben ist ja nur ein Weg zum Tode«, bemerkte ich. Franz Kaa sah mich einen Augenblick ernst an, dann senkte er den Blick zur Tischplatte: »Das Leben bedeutet für den gesunden Menschen eigentlich nur eine unbewußte und uneingestandene Flucht vor dem Bewußtsein, daß man einmal wird sterben müssen. Krankheit ist immer eine Mahnung und Kraprobe zugleich. Darum sind Krankheit, Schmerz, Leid auch die wichtigsten Quellen der Religiosität.« »Wie meinen Sie das?« fragte ich. Kaa lächelte: »Jüdisch. Ich bin an meine Familie, an meinen Stamm gebunden. Die überdauern das Individuum. Aber das ist ja auch nur ein Fluchtversuch vor dem Wissen vom Tode. Es ist nur ein Wunsch. Damit gewinnt man aber keine Erkenntnis. Im Gegenteil – durch diesen Wunsch stellt sich das kleine, furchtsam egoistische Ich vor die nach Wahrheit suchende Seele.«
»Was lesen Sie«, frug Kaa. »Taschkent, die brotreiche Stadt … von – « Er ließ mich den Satz nicht beendigen. »Das ist wunderschön. Ich habe es vor kurzer Zeit während eines Nachmittags gelesen.«
»Ich denke, daß das Buch mehr Dokument als Kunstwerk ist«, bemerkte ich. »Jede wirkliche Kunst ist Dokument, Zeugenscha«, sprach Franz Kaa ernst. »Ein Volk mit solchen Knaben, wie der in dem Buche ist, so ein Volk kann nicht unterliegen.« »Auf den einzelnen kommt es vielleicht nicht an.« »Im Gegenteil! Die Art des Stoffes wird durch die Anzahl der Elektronen im Atom bestimmt. Das Niveau der Masse hängt vom Bewußtsein des einzelnen ab.«
Doktor Kaa beschäigte sich mit der Durchsicht seines Schreibtisches, als ich seine Kanzlei betrat. An der rechten Schmalseite des Tisches, wo für einen eventuellen Besucher ein Stuhl bereitgestellt stand, lag ein hoher Berg von Büchern, Zeitschrien und Büroschristücken. Doktor Kaa winkte mir über ihn hinweg mit der Hand zu. »Ich grüße Sie aus meinem Papierverlies!« »Störe ich nicht?« »Nicht im geringsten. Setzen Sie sich.« Ich ließ mich auf dem Besucherstuhl nieder und bemerkte: »Das ist ja ein wirklicher Aktenwald. Sie sind hinter ihm ganz verschwunden.« Ich hörte Doktor Kaa kurz auflachen; gleich darauf sagte er: »Dann ist ja alles in Ordnung. Das Geschriebene beleuchtet die Welt; den Schreiber läßt es im Dunkel verschwinden. Also weg damit!« Er zog die mittlere Schublade heraus, öffnete die Seitenfächer und begann den Bücher- und Zeitschrienberg in den Schreibtisch zu stopfen. Ich wollte ihm dabei helfen. Als ich ihm eine der Aktenmappen reichte, schüttelte er jedoch heig den Kopf. »Lassen Sie das! Es könnte uns das Unglück passieren, daß wir die Dinge da ganz zufällig in Ordnung bringen. Dann
säße ich plötzlich in der Patsche. Ich könnte dadurch die für jedes Beamtengewissen außerordentlich wichtige Ausrede verlieren, daß ich von der Erledigung der mir zugewiesenen Arbeit nicht durch einen mangelnden Bürosinn, sondern nur durch die teuflische Unordnung in meinem Schreibtisch abgehalten werde. Das wäre eine schreckliche Entdeckung, der ich unbedingt ausweichen muß. Darum muß ich die Unordnung in meinem Schreibtisch sorgsam behüten.« Als Beweis schob er die große mittlere Lade mit einem heftigen Ruck in den Schreibtisch zurück und bemerkte mit karikierter dumpfer Verschwörerstimme: »Meine Klage über die Unordnung in der Kanzlei und überhaupt um mich herum ist nur ein Trick, mit dem ich die Haltlosigkeit meiner Existenz vor den strafend-neugierigen Blicken der Umwelt zu verbergen suche. In Wirklichkeit lebe ich eigentlich nur noch von der Unordnung, durch die ich mir das letzte Stück persönlicher Freiheit erschleiche.«
Ich begleitete Kaa aus der Kanzlei nach Hause. Es war ein kalter, von Wind und Regen zerzauster Herbsttag. Kaa sagte mir auf der Stiege, daß er bei diesem Wetter auf der Straße nicht werde sprechen können. »Das macht nichts«, antwortete ich. »Wir werden einander schon verstehen.« Als wir jedoch aus dem Tor der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt heraustraten, duckte sich Kaa, schüttelte sich heig, bekreuzigte sich mit einem großen römischen Kreuz, und mit meinem Verstehen war es zu Ende. Kaa lachte über mein erstauntes Gesicht, ging in das Gebäude zurück und sagte mir: »Ich sprach eben tschechisch – sakramentská velká zima! Das Ducken bezeichnet die Größe, welche mich überwältigte, das Zittern ist eine alte
Art, die Kälte auszudrücken, und das Kreuz, das ist eben das sakramentská.« Aus einem mir unbekannten Grunde gefiel mir seine Heiterkeit nicht, darum sagte ich: »Das Kreuzzeichen ist kein Sakrament.« Er legte die Hand auf meine Schulter. »Nicht nur jedes Zeichen, sondern jede, selbst die kleinste Bewegung ist heilig, wenn sie vom Glauben erfüllt ist.«
Ich erzählte Kaa von dem Hunger und Elend der Spitzen- und Spielzeughersteller im Erzgebirge, das ich im Jahre mit meinem Bruder Hans, einem Bahnbeamten in Obergeorgenthal (tschechisch: Horní Jiretín) bei Brüx, durchwandert hatte. Ich schloß meinen Bericht mit den Worten: »Der Handel und die Industrie, das Gesundheitswesen und die Lebensmittelversorgung, nichts, nichts funktioniert richtig. Wir leben in einer zerstörten Welt.« Damit war aber Kaa nicht einverstanden. Er zog die Unterlippe nach innen, massierte sie einige Sekunden mit den Zähnen und sagte dann äußerst bestimmt: »Das ist nicht wahr. Wäre alles zerstört, so hätten wir damit auch schon den Ausgangspunkt einer neuen Entwicklungsmöglichkeit erreicht. Aber so weit sind wir noch nicht. Der Weg, der uns hierher führte, ist verschwunden. Damit sind auch alle bisherigen gemeinsamen Zukunsperspektiven dahin. Wir erleben nur noch ein hoffnungsloses Dahinstürzen. Ein Blick aus dem Fenster zeigt Ihnen die Welt. Wohin laufen die Leute? Was wollen sie? Wir erkennen nicht mehr die überpersönliche Sinn Verkettung der Dinge. Trotz des Gewimmels ist jeder stumm und in sich selbst isoliert. Das Ineinandergreifen des Welt- und Selbstbewertens funktioniert nicht mehr richtig. Wir leben nicht in einer zerstörten, sondern in einer verstörten Welt. Alles klirrt und knarrt
wie die Takelung eines gebrechlichen Segelschiffes. Das Elend, das Sie mit Ihrem Bruder gesehen haben, ist nur die Oberflächenerscheinung einer viel tieferen Not.« Doktor Kaa sah mir in die Augen, als ob er besorgt fragen würde: ›Verstehst du mich? Verwirre ich dich nicht?‹ Ich beeilte mich daher wenigstens mit einer Frage zu reagieren: »Meinen Sie damit die soziale Ungerechtigkeit?« Doch da wurde Kaas Gesicht hart und undurchdringlich. Er sagte: »Damit meine ich den Abfall vom Recht. Wir sind an ihm alle beteiligt. Wir spüren es. Viele wissen es sogar. Doch niemand will es bekennen, daß wir im Unrecht leben. Darum erfinden wir Ausflüchte. Wir sprechen von sozialer, seelischer, nationaler und ich weiß nicht von welchen anderen Ungerechtigkeiten, nur um die eine einzige Schuld, unsere eigene Schuld, zu beschönigen. Denn was ist das Wort Ungerechtigkeit? Das ist eine Zusammenziehung der Bezeichnung unsere Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit, die aber nur für mich gilt, ist daher eine Gewaltnorm, eine Ungerechtigkeit. Die Bezeichnung sozialer Ungerechtigkeit ist nur eines ihrer zahlreichen Verdunkelungsmanöver.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Doktor, damit kann ich nicht übereinstimmen. Ich sah die Not im Erzgebirge. Die Fabriken sind –« Kaa unterbrach mich: »Die Fabriken sind nur Organe zur Gewinnvermehrung des Geldes. Dabei spielen wir alle nur eine untergeordnete Rolle. Das wichtigste ist das Geld und die Maschine. Der Mensch ist nur noch ein altmodisches Gerät der Kapitalvermehrung, ein Restbestand der Geschichte, dessen wissenschalich ungenügende Fähigkeiten sehr bald reibungslos denkende Automaten ersetzen werden.« Ich seufzte geringschätzig: »Ach ja, das ist eine beliebte Phantasie von H. G. Wells.«
»Nein«, sagte darauf Kaa mit harter Stimme, »das ist keine Utopie, sondern nur die Zukun, die schon jetzt vor uns emporwächst.«
Kaa war überzeugter Anhänger des Zionismus. Wir berührten dieses ema zum erstenmal, als ich im Frühjahr von einem kurzen Landaufenthalt nach Prag zurückkehrte. Ich besuchte damals Franz Kaa in der Kanzlei am Poříč. Er war in guter Stimmung, gesprächig und – wie es mir schien – von meinem unangemeldeten Besuch wirklich erfreut. »Ich dachte, Sie wären in weiter Ferne, und Sie sind in nächster Nähe. Gefiel es Ihnen nicht in Chlumetz?« »O ja, aber –« »Aber hier ist es schöner«, ergänzte Kaa lächelnd. »Das wissen Sie – daheim ist daheim. Da ist es ganz anders.« »Daheim ist es immer anders«, sagte Franz Kaa mit traumverschleierten Augen. »Die alte Heimat ist immer wieder neu, wenn man bewußt lebt; mit dem wachen Bewußtsein seiner Bindungen und Pflichten den anderen gegenüber. Der Mensch wird eigentlich nur so, durch die Bindungen, frei. Und das ist das Höchste im Leben.« »Leben ohne Freiheit ist unmöglich«, erklärte ich. Franz Kaa sah mich an, als ob er sagen möchte: ›Nur langsam, langsam‹, lächelte traurig und meinte: »Das scheint so überzeugend zu sein, daß wir es fast glauben. In Wirklichkeit ist es aber viel schwerer. Freiheit ist Leben. Unfreiheit ist immer tödlich. Der Tod ist aber ebenso wirklich wie das Leben. Das Schwere ist nun eben darin, daß wir beidem ausgesetzt sind – dem Leben wie dem Tode.« »Demnach betrachten Sie die Unselbständigkeit eines Vol
kes als ein Anzeichen des Absterbens. Der Tscheche vom Jahre ist weniger lebendig und daher schlechter als der Tscheche aus dem Jahre .« »Das wollte ich nicht sagen«, verwahrte sich Kaa gegen meine Worte. »Man kann nicht so absolut die Tschechen von von den Tschechen des Jahres unterscheiden. Die Tschechen der Gegenwart haben viel mehr Möglichkeiten. Darum könnten sie – wenn man so sagen kann – besser sein.« »Das verstehe ich nicht gut.« »Ich kann es Ihnen nicht besser sagen, und vielleicht kann ich mich überhaupt nicht besser ausdrücken in dieser Sache, weil ich Jude bin.« »Wieso, was hat das damit zu tun?« »Wir sprachen über die Tschechen vom Jahre und . Das ist gewissermaßen ein geschichtliches ema, und da muß sofort eine – möchte ich sagen – moderne Unzulänglichkeit der Juden ans Licht treten.« Wahrscheinlich machte ich ein sehr dummes Gesicht, denn – der Stimme und Körperhaltung Kaas nach zu schließen – handelte es sich ihm in diesem Augenblick nicht so sehr um die besprochene Sache selbst wie um mein Verständnis, Vorgebeugt sprach er leise, jedoch klar und deutlich: »Den Juden genügt heute nicht mehr die Geschichte, diese heroische Heimat in der Zeit. Sie sehnen sich nach einem ganz kleinen, gewöhnlichen Heim im Raum. Immer mehr und mehr jüdische junge Leute kehren zurück nach Palästina. Das ist eine Rückkehr zu sich selbst, zu den eigenen Wurzeln, zum Wachstum. Die Heimat Palästina ist für die Juden ein notwendiges Ziel. Die Tschechoslowakei ist dagegen für den Tschechen ein Ausgangspunkt.« »Eine Art von Flughafen.« Franz Kaa neigte den Kopf zur linken Schulter. »Sie denken, daß es zum Flug kommt? Es scheint mir, als würde ich ein zu großes Abweichen von der Grundlage,
von den eigenen Kraquellen sehen. Ich habe nie davon gehört, daß ein junger Adler einen wirklichen Adlerflug durch beständiges und hartnäckiges Beobachten des Herumschwimmens eines fetten Karpfens erlernen könnte.«
Mit Doktor Kaa entlang der Moldau bis zum Nationaltheater. Von dort auf den Graben und links durch die Bergmann- und Eisengasse zurück auf den Altstädter Ring. Auf dem Wege begegneten wir Franz P., dem Vorzugsschüler und ›Besserwisser‹, mit dem ich einige Jahre in die Schule gegangen bin. Nun glitten wir mit einem flüchtigen Gruß aneinander vorüber. Im Weitergehen erzählte ich dann Doktor Kaa, wie wir – d. h. die Meute der übrigen Jungen, der ich auch angehörte – P. nicht leiden konnten und ihn bei jeder Gelegenheit ›vermöbelten‹. Abschließend sagte ich: »Das ist nun schon sehr lange her. Ich habe mich später mit P. versöhnt und an seiner Seite sogar gegen die anderen Jungen gekämp.« »Mit welchem Erfolg?« fragte mich sachlich Kaa. »Ich glaube, mit gutem«, antwortete ich. »Zuerst gab es auf beiden Seiten Beulen und angerissene Ohrläppchen, aber das dauerte nicht lange. Dann sahen die Burschen, daß sie auf P. und mich nicht mehr nur so zum Vergnügen losdreschen konnten, also ließen sie ihre Feindseligkeiten bleiben.« »Die Angriffs- und Abwehrkräe waren demnach im Gleichgewicht«, bemerkte Doktor Kaa. Ich nickte: »Ja, man wich uns aus.« Doktor Kaa ließ ein leises, in der Kehle glucksendes Lachen vernehmen und meinte dann: »Das war ein bedeutender Sieg. Dem Feind einen Abstand aufzuzwingen, das ist wohl der größte Triumph, der sich erreichen läßt. Denn mit einer endgültigen Vernichtung des Bösen? Mit der kann
man nicht rechnen. Das ist nur ein wahnwitziger Traum, durch den das Böse nicht geschwächt, sondern – ganz im Gegenteil! – nur gestärkt und in seiner Wirkung beschleunigt wird, da man über seine wahre Existenz hinwegsieht und die Wirklichkeit damit eigentlich nur zu einer eigenen, von täuschenden Wünschen durchsetzten Vorstellung umlügt.« Wir blieben vor Kaas Haustür stehen. Er legte den Kopf in den Nacken, ließ den Blick langsam über die Hausfront emporgleiten und fragte dann, ohne mich anzusehen: »Wissen Sie, wieviel Stufen zu mir hinaufführen?« »Ich hab’ keine Ahnung.« Kaa sah über mich hinweg. »Ich auch nicht; ich habe sie nie gezählt. Ich kann mir das nicht erlauben. Wüßte ich die genaue Anzahl der Stufen, so würde ich mit meiner Atemnot wahrscheinlich vor jeder einzelnen Stufe zurückschrekken.« Er lächelte. – »Es ist besser, wenn man den Beschwerden so wie sich selbst gegenübersteht und sie nur von Minute zu Minute erhellt.« Doktor Kaa sah mir ernst ins Gesicht. Nach ein, zwei Minuten meinte er dann, den Blick wieder abwendend: »Der Traum von der Vernichtung des Bösen ist nur ein bildgewordenes Verzweiflungsgefühl, das aus dem Verlust des Glaubens hervorgeht.«
Nachdem in der ersten, von T. G. Masaryk gelenkten Tschechoslowakischen Republik im April die ersten allgemeinen Wahlen in das Parlament und in den Senat ausgeschrieben wurden, kam es zu einem so mächtigen Propagandakampf aller beteiligten Parteien, daß an ihm niemand achtlos vorbeigehen konnte. Er drang auch in unsere Gespräche, da Kaas langjähriger Freund Max Brod für die Zionistische Partei der CSR kandidierte. Das war ge
wissermaßen eine Sensation, da man Brod bisher wohl als Kritiker, Romanschristeller und Kulturphilosophen, nicht aber als praktischen Politiker kannte. Man widmete deshalb seinen Artikeln in der zionistischen Selbstwehr ein erhöhtes Interesse. Mein Vater war jedoch der Ansicht, daß Brods Partei kaum die in einem Wahlbezirk notwendige Anzahl von Stimmen gewinnen werde. Im bestimmten Sinne teilte diese Meinung auch Doktor Kaa. Er sagte: »Brod und seine politischen Freunde sind überzeugt, daß die Zionistische Partei die notwendige Wahlziffer bestimmt in der ostslowakischen Stadt Eperjes erzielen werde.« »Ist das auch Ihre Meinung, Herr Doktor?« »Um es ehrlich zu sagen – nein! Brods Ansicht, daß es dort die Voraussetzung für einen Sieg der Zionisten gibt, stützt sich auf die Tatsache, daß in Eperjes nach dem Kriege für eine ganz kurze, nur einige Tage währende Zeit eine eigene tschechoslowakische Räteregierung entstand, die in erster Linie darum zusammenbrach, weil sie von den in Eperjes ansässigen Juden nicht unterstützt wurde. Max schließt daraus auf zionistische Entwicklungsmöglichkeiten. Doch das ist ganz falsch. Die Juden von Eperjes sind – so wie überall in der Welt – nur ein Anklebsel der verschiedenen Parteien. Sie haben kein modernes National-, sondern nur ein altes Sippenbewußtsein. Sie sind Juden nur nach innen. Außenhin gleichen sie sich vorwiegend der herrschenden legalen Macht an. Darum unterstützten die Juden von Eperjes nicht die voreilig improvisierte Räteregierung. Ihre Passivität war nicht im jüdischen Nationalismus, sondern vorwiegend im jüdischen Anlehnungsbedürfnis verwurzelt. Ich versuchte diese Ansicht Max Brod beizubringen. Doch er verstand mich nicht. Er begriff nicht, daß der jüdische Nationalismus, wie er im Zionismus zum Ausdruck kommt, nur eine Abwehr ist. Dabei heißt ja das Prager zionistische Parteiblatt Selbstwehr. Der jüdische
Nationalismus ist das strenge, von außen erzwungene Zusammenhalten einer Karawane, die durch den Frost einer Wüstennacht zieht. Die Karawane will nichts erobern. Sie will nur zu einem festumfriedeten Daheim gelangen, das den Männern und Frauen der Karawane die Möglichkeit eines frei entfalteten Menschendaseins geben würde. Die jüdische Sehnsucht nach einer Heimstätte ist kein Angriffsnationalismus, der – im Grunde in sich und in der Welt heimatlos – wütend nach fremden Wohnstätten grei, weil er – wieder von Grund aus gesehen – eigentlich einer Entwüstung der Welt nicht fähig ist.« »Meinen Sie damit die Deutschen?« Kaa schwieg; er legte – hüstelnd – die Hand vor den Mund und sagte müde: »Ich meine damit alle beutegierigen Menschengruppen, die durch die Verwüstung der Welt nicht ihren Machtbereich erweitern, sondern nur ihr Menschentum einengen. Der Zionismus ist, im Vergleich dazu, nur ein mühseliges Zurücktasten zu einem eigenen Menschengesetz.«
Ich suchte in einem großen Eckhause auf dem Bergstein das Versammlungslokal des jüdischen Arbeitervereins Poale Zion. Als ich auf dem dunklen Hofe eine Gruppe von Leuten ansprach, erhielt ich – an Stelle der gewünschten Auskun – einige Ohrfeigen, so daß ich flüchten mußte. Der von mir herbeigeholte Wachmann fand selbstverständlich niemanden mehr auf dem Hofe. Übelgelaunt fragte er mich: »Was wollen Sie eigentlich bei diesen Juden? Sie sind doch kein Jude.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin kein Jude.« »Also sehen Sie«, meinte darauf der Hüter des Gesetzes triumphierend. »Da haben wir es! Was haben Sie bei diesem Gesindel zu suchen? Seien Sie froh, daß Sie nur ein
paar Ohrfeigen bekommen haben, und gehen Sie heim. Anständige Menschen verkehren nicht mit Juden.« Darauf drehte er sich um und ging. Einige Tage später erzählte ich den Vorfall Kaa. »Mit dem Zionismus wächst der Antisemitismus«, sagte er. »Die Selbstbesinnung der Juden wird als Verneinung der Umwelt empfunden. Dadurch entstehen Minderwertigkeitsgefühle, die man mit Haßausbrüchen leicht zum Abklingen bringt. Natürlich, daß man dadurch für die Dauer gar nichts gewinnen kann. Aber das ist ja die Wurzel jedes Verschuldens des Menschen, daß er an Stelle des anscheinend schwer erreichbaren sittlichen Wertes den verlockend naheliegenden Unwert wählt.« »Vielleicht kann der Mensch nicht anders handeln«, bemerkte ich. Kaa schüttelte heig den Kopf. »Nein. Der Mensch kann anders handeln. Der Sündenfall ist der Beweis seiner Freiheit.«
Franz Kaa bemerkte im Gespräch über eine Anthologie ostjüdischer Erzählungen: »Perez, Asch und alle die anderen Schristeller des jüdischen Ostens bringen eigentlich immer nur Volkserzählungen. Das ist richtig. Das Judentum ist ja nicht nur eine Sache des Glaubens, sondern vor allem die Sache der Lebenspraxis einer durch den Glauben bestimmten Gemeinscha.«
Ich bekam von meinem Freunde Leo Lederer eine illustrierte Monographie über Michelangelo. Franz Kaa, dem ich das Buch zeigte, verweilte lange bei dem Bilde der Statue des sitzenden Moses.
»Das ist kein Führer«, sagte er. »Das ist ein Richter, ein strenger Richter. Schließlich kann der Mensch nur durch ein hartes, unerbittliches Richten führen.«
Ich ging erhitzt auf die Schwimmschule. Die Folge war eine leichte Lungenentzündung. Als ich wieder ausgehen konnte, besuchte ich Doktor Kaa in der Versicherungs-Anstalt. »Sie sind unbeherrscht«, sagte er mir nach der Begrüßung vorwurfsvoll. »Die Krankheit war eine Warnung. Sie müssen besser auf sich selbst aufpassen. Die Gesundheit ist kein persönlicher Besitz, über den man willkürlich verfügen kann. Sie ist nur ein verliehenes Gut, eine Gnade. Die Mehrzahl der Menschen weiß das nicht. Deshalb haben sie keine Gesundheitsökonomie.« »Sie springen erhitzt ins Wasser«, sagte ich lächelnd. Kaa nickte: «Ja, sie verausgaben sich. Dadurch wird das Warnungszeichen der Krankheit ausgelöst. Man ist gewöhnlich selbst schuld daran. Doch das sieht man nicht. Im Gegenteil: schuld ist das Leben. Also läu man zu den ärztlichen Gesundheitsadvokaten, um gegen die Bosheit des Lebens einzuschreiten. Dabei ist die Krankheit gar keine Bosheit, sondern ein Warnungssignal, eine Hilfe des Lebens.« Ich sah verwirrt zu Boden. Darauf fragte mich Kaa: »Nun, was gefällt Ihnen nicht? Heraus damit!« »Es ist seltsam, Herr Doktor«, antwortete ich verlegen, »daß gerade Sie, der sich so o mit der Krankheit herumschlagen muß, so – möchte ich sagen – freundlich von ihr sprechen.« »Das ist gar nicht seltsam!« rief darauf Kaa mit einer heigen Handbewegung. »Das ist ganz natürlich. Ich bin
ein hoffärtiger, überheblicher Mensch; ich will die Schwere des Daseins nicht im vollen Ausmaß zur Kenntnis nehmen. Ich bin der einzige Sohn ziemlich begüterter Eltern; ich glaube, daß das Leben einfach etwas ganz Natürliches ist Darum wird mir durch die Krankheit immer wieder meine Gebrechlichkeit und damit das Wunder des Daseins im vollen Umfang vordemonstriert.« »Die Krankheit ist demnach also eigentlich eine Gnade.« »Ja. Sie gibt uns die Möglichkeit, uns zu bewähren.«
Als er mir über seine Reisen nach Deutschland und Frankreich erzählte, bemerkte er über Max Brod: »Diese Reisen festigen unsere Freundscha. Das ist etwas ganz Natürliches. Durch die fremde Umgebung wird uns das Wesensnahe und Verwandte klarer und deutlicher. Das ist – denke ich – auch die Wurzel der jüdischen Witze über die Juden. Wir sehen einander besser als die anderen, da wir ja zusammen auf der Reise sind.«
Spaziergang am Kai. Ich fragte nach der Bedeutung des Wortes ›Diaspora‹. Kaa sagte, daß dies die griechische Bezeichnung für die Zerstreuung des jüdischen Volkes sei. Hebräisch heißt es ›Galut‹. Er sagte: »Das jüdische Volk ist zerstreut, wie eine Saat zerstreut ist. Wie ein Saatkorn die Stoffe der Umwelt heranzieht, sie in sich aufspeichert und das eigene Wachstum höher führt, so ist es Schicksalsaufgabe des Judentums, die Kräe der Menschheit in sich aufzunehmen, zu reinigen und so höher zu führen. Moses ist noch immer aktuell. Wie Abiram und Datan sich Moses widersetzten mit den Worten ›Lo naale! Wir gehen nicht hinauf!‹, so widersetzt sich
die Welt mit dem Geschrei des Antisemitismus. Um nicht zum Menschlichen aufzusteigen, stürzt man sich in die dunkle Tiefe der zoologischen Lehre von der Rasse. Man schlägt den Juden und erschlägt den Menschen.«
»Juden und Deutsche haben vieles gemeinsam«, sagte Kaa in einem Gespräch über Dr. Karel Kramář. Sie sind strebsam, tüchtig, fleißig und gründlich verhaßt bei den anderen. Juden und Deutsche sind Ausgestoßene.« »Vielleicht sind sie eben wegen dieser ihrer Eigenschaen verhaßt«, meinte ich. Aber Kaa schüttelte den Kopf. »O nein! Der Grund ist viel tiefer. Letzten Endes ist es ein religiöser Grund. Bei den Juden ist es klar. Bei den Deutschen sieht man das nicht so gut, weil man ihnen noch nicht ihren Tempel zerstört hat. Aber das kommt noch.« »Wieso?« wunderte ich mich. »Die Deutschen sind doch kein theokratisches Volk. Sie haben doch keinen nationalen Gott in einem eigenen Tempel.« »Das nimmt man allgemein an, in Wirklichkeit ist es aber ganz anders«, sagte Kaa. »Die Deutschen haben den Gott, der Eisen wachsen ließ. Ihr Tempel ist der preußische Generalstab.« Wir lachten, Franz Kaa behauptete dabei aber, daß er es ganz ernst meine und daß er nur darum lache, weil ich lache. Sein Lachen sei nur eine Ansteckung.
Ich habe Doktor Kaa von der Unfall-Versicherungs-Anstalt nach Hause begleitet. Wir gingen diesmals jedoch nicht durch die Zeltnergasse, sondern über den Graben. Dabei sprachen wir über einen neuen Novellenband eines erfolg
reichen österreichischen Autors phantastischer Romane und Geschichten. »Er verfügt über eine unerhörte Erfindungsgabe«, sagte ich anerkennend. Doch Doktor Kaa kräuselte nur etwas die Lippen und meinte: »Erfinden ist leichter als Finden. Die Wirklichkeit in der ihr eigenen, womöglich breitesten Mannigfaltigkeit darzustellen, ist wohl das Schwerste, das es gibt. Die Alltagsgesichter laufen an einem wie eine geheimnisvolle Insektenarmee vorbei.« Er betrachtete eine Weile versonnen den Betrieb auf dem Kommunikationsknotenpunkt unterhalb des Wenzelsplatzes, wo wir an der Ecke des Brückeis und der Obstgasse stehengeblieben waren. »Was begegnet einander da alles? Jedes Gesicht ist ein Festungsturm. Dabei verschwindet nichts so rasch wie ein Menschengesicht.« Ich lächelte: »Flöhe und Fliegen sind schwer zu kriegen.« »Ja, kommen Sie«, nickte Kaa, drehte sich um und eilte mit langen Schritten die Gasse Am Brückel hinunter.
Wir besuchten auf dem Jungmannplatz die Franziskanerkirche der Heiligen Maria im Schnee, die das höchste Prager Kirchenschiff besitzt. Kaa interessierte der Name. Glücklicherweise konnte ich ihm die Herkun der sonderbaren Kirchenbezeichnung erklären, da ich mir hier einigemal die Aufführung alter tschechischer Kirchenmusik anhörte und mich bei dieser Gelegenheit näher über diese Kirche informierte. Laut einer uralten Legende soll im . Jahrhundert in Rom ein reicher und dabei sehr frommer Bürger gelebt haben, den die Mutter Gottes im Traum beauragte, eine ihr geweihte Kirche an der Stelle erbauen zu lassen, wo am näch
sten Tag Schnee liegen werde. Das soll während der größten Hitze im Hochsommer des Jahres geschehen sein. Es war also ein ganz absurder Traum, doch er sollte sich als ein Wahrtraum erweisen, denn am nächsten Morgen war die römische Anhöhe Esquilinus mit Schnee bedeckt. Der römische Bürger, dessen Namen ich vergessen hatte, ließ hier also die erste Kirche der Heiligen Maria im Schnee errichten. Das Traumereignis, welches zu dieser Kirchengründung in Rom geführt haben soll, ist auf dem Bild des Hauptaltars der Prager Franziskanerkirche St. Maria im Schnee dargestellt. Ich zeigte es Doktor Kaa und beendete meinen Bericht: »Der Name der Kirche beruht auf dieser Wunderlegende.« Darauf sagte Doktor Kaa: »Das wußte ich nicht. Ich kenne nur die Nachrichten der neueren Chronisten. Nach ihren Angaben soll diese Kirche im fünfzehnten Jahrhundert ein wichtiges Zentrum der extremsten Hussiten gewesen sein.« Wir gingen weiter. Für einen Augenblick flackerte in Kaas Gesicht der Schimmer eines Lächelns auf, der jedoch gleich darauf in einer harten Mundfalte versiegte, und er sagte: »Das Wunder und die Gewalt, das sind nur zwei Pole des Unglaubens. Man verzettelt das Leben in passiver Erwartung einer richtunggebenden Botscha, die nie eintri, weil wir uns gerade durch unsere hochgespannte Erwartung vor ihr verschließen; oder man wir voll Ungeduld alle Erwartung zur Seite und ertränkt sein ganzes Leben in einer verbrecherischen Feuer- und Blutorgie. Beides ist falsch.« Ich fragte: »Was ist richtig?« »Dies«, antwortete darauf Kaa ohne zu überlegen und zeigte auf eine alte Frau, die vor einem der Seitenaltäre in der Nähe des Ausgangs kniete. »Das Gebet«.
Er schob die Hand unter meinen Arm und zog mich mit leisem Nachdruck zur Kirchentür. Als wir auf dem Vorhof angelangt waren, meinte er: »Das Gebet, die Kunst und die wissenschalichen Forschungsarbeiten, das sind nur drei verschiedene Flammen, die aus einem einzigen Brandherd emporzüngeln. Man will die im Augenblick gegebenen persönlichen Willensmöglichkeiten überschreiten, sich über die Grenzen seines eigenen kleinen Ich hinwegsetzen. Die Kunst und das Gebet, das sind nur ins Dunkel ausgestreckte Hände. Man bettelt, um sich zu verschenken.« »Und die Wissenscha?« »Das ist dieselbe Bettlerhand wie das Gebet. Man wir sich in den dunklen Lichtbogen zwischen Vergehen und Werden, um das Sein in die Wiege des kleinen Ich einzubetten. Das tun die Wissenscha, die Kunst und das Gebet. Darum ist die Versenkung in sich selbst kein Abstieg ins Unbewußte, sondern ein Emporheben des nur dunkel Geahnten an die helle Bewußtseinsoberfläche.«
Wir standen – Doktor Kaa, mein Vater und ich – am Fenster der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt. Auf der Straße marschierte mit Fahnen und Blasmusik ein Verein in bunten Volkstrachten vorbei. Ich sagte: »Was wollen die Leute noch immer mit diesen alten Uniformen feudaler Leibeigenscha? Das ist ja alles schon längst vorbei.« »Wie du siehst, lebt es«, bemerkte mein Vater. »Es ist eine alte Volkstradition.« Kaa lächelte: »Das ist jeder Götzendienst.« »Sie meinen den Nationalismus?« fragte ich. »Ja«, nickte Kaa. »Das ist auch ein Religionsersatz. Die Leute, die hier vorbeimarschieren, tragen jeder einen Göt
zen bei sich. Er ist nach außen hin ganz klein und handlich. Die Leute haben ihn während gemütlicher Bierabende aus ihrer Angst und ihrem Geltungswillen zusammengepappt. Trotzdem werden wir aber alle mit ihrem Popanz noch unser Kreuz erleben, denn es gibt keine gefräßigeren Götzen als diese Dreckkobolde aus Bier, Speichel und Zeitungspapier.«
Franz Kaa erzählte mir: Der Prager jüdische Dichter Oskar Baum hat als kleiner Junge die deutsche Volksschule besucht. Auf dem Heimwege kam es gewöhnlich zu Schlägereien zwischen deutschen und tschechischen Schülern. Bei einer solchen Rauferei wurde Oskar Baum mit einer hölzernen Federbüchse so über die Augen geschlagen, daß sich die Netzhaut vom Hintergrund des Augapfels loslöste und Oskar Baum das Augenlicht verlor. »Der Jude Oskar Baum verlor sein Sehvermögen als Deutscher«, sagte Franz Kaa. »Als etwas, was er eigentlich nie war und was ihm nie zuerkannt wurde. Vielleicht ist Oskar nur ein trauriges Symbol der sogenannten deutschen Juden in Prag.«
Wir sprachen über die Beziehungen der Tschechen und Deutschen. Ich sagte, daß es für die bessere Verständigung beider Nationen gut wäre, die tschechische Geschichte in deutscher Bearbeitung herauszugeben. Kaa verwarf dies jedoch mit einem resignierten Handschwenken. »Das ist zwecklos«, sagte er. »Wer würde das lesen? Nur Tschechen und Juden. Die Deutschen bestimmt nicht, denn die wollen nicht erkennen, begreifen, lesen. Die wollen nur besitzen und regieren, und da ist gewöhnlich das Begreifen nur ein Hindernis. Man unterdrückt den Nächsten doch viel
besser, wenn man ihn nicht kennt. Es entfallen die Gewissensbisse. Darum kennt niemand die Geschichte der Juden.« Ich protestierte: »Das ist nicht richtig. Schon in den ersten Klassen der Volksschule wird biblische Geschichte, also ein Teil der Geschichte des jüdischen Volkes, gelehrt.« Kaa lächelte bitter: »Das ist es ja! Die Geschichte der Juden bekommt so das Gesicht des Märchens, das der Mensch später mit seiner Kindheit in den Schlund des Vergessens wir.«
Ich verabschiedete mich auf dem Platz der Republik von meinem Freund Leo Lederer, als unerwartet Franz Kaa auf mich zutrat. »Ich gehe schon vom Teschnov hinter Ihnen«, sagte er nach den üblichen einleitenden Sätzen. »Sie waren ganz im Gespräch verloren.« »Leo erklärte mir den Taylorismus und die Arbeitsteilung in der Industrie.« »Das ist eine schreckliche Sache.« »Sie denken dabei, Herr Doktor, an die Versklavung der Menschen?« »Es handelt sich um mehr als das. Bei so einem gewaltigen Frevel kann zum Schluß nur die Knechtung durch das Böse herauskommen. Das ist natürlich. Der erhabenste und am wenigsten abtastbare Teil aller Schöpfung, die Zeit, wird in das Netz unreiner Geschäsinteressen gepreßt. Damit wird nicht nur die Schöpfung, sondern vor allem der Mensch, der ihr Bestandteil ist, befleckt und erniedrigt. So ein vertaylorisiertes Leben ist ein grauenvoller Fluch, aus dem nur Hunger und Elend an Stelle des gewünschten Reichtums und Gewinnes erwachsen können. Das ist ein Fortschritt …« »Zum Weltuntergang«, ergänzte ich seinen Satz. Franz Kaa schüttelte den Kopf.
»Wenn man das wenigstens mit Sicherheit sagen könnte. Es ist aber nichts sicher. Darum kann man nichts sagen. Man kann nur schreien, stammeln, keuchen. Das laufende Band des Lebens trägt einen irgendwohin – man weiß nicht wohin. Man ist mehr Sache, Gegenstand – als Lebewesen.« Kaa blieb plötzlich stehen und streckte die Hand aus. »Sehen Sie! Hier, hier! Sehen Sie es?« Aus einem Haus der Jakobsgasse, wohin wir während des Gesprächs gelangt waren, lief ein kleiner, einem Wollknäuel ähnlicher Hund, überquerte unseren Weg und verschwand hinter der Ecke der Tempelgasse. »Ein niedliches Hündchen«, bemerkte ich. »Ein Hund?« fragte Kaa mißtrauisch und setzte sich langsam in Bewegung. »Ein kleiner, junger Hund. Haben Sie ihn nicht gesehen?« »Gesehen habe ich. Ob es aber ein Hund war?« »Ein Pudelchen war es.« »Ein Pudel! Das kann ein Hund, aber auch ein Zeichen sein. Wir Juden irren uns manchmal in tragischer Weise.« »Es war nur ein Hund«, sagte ich. »Das wäre gut«, nickte Kaa. »Doch das Nur gilt allein für den, der es gebraucht. Was für den einen ein Abfallbündel oder ein Hund ist, das ist für den anderen ein Zeichen.« »Odradek aus der Geschichte Die Sorge des Hausvaters«, bemerkte ich. Kaa reagierte aber nicht auf meine Worte, sondern sprach in der begonnenen Richtung weiter den abschließenden Satz: »Etwas geht immer über die Rechnung hinaus.« Wir durchschritten schweigend den Teinhof. Vor dem Seitenportal der Teinkirche sagte ich: »Bloy schreibt, daß die tragische Schuld der Juden darin bestehe, daß sie den Messias nicht erkannt haben.« »Vielleicht ist dem wirklich so«, sagte Kaa. Vielleicht
haben sie ihn wirklich nicht erkannt. Wie grausam ist aber ein Gott, der zuläßt, daß seine Geschöpfe ihn nicht erkennen. Es meldet sich doch immer der Vater zu den Kindern, da diese nicht richtig denken und sprechen können. Das ist aber kein ema für ein Gespräch auf der Straße. Außerdem bin ich am Ziel.« Kaa deutete mit einer Kopewegung auf das Geschä seines Vaters, reichte mir die Hand, grüßte und verschwand mit raschen Schritten im Kinsky-Palais.
Ich bekam eine salesianische Zeitschri, in der eine Nachricht über eine Knabenstadt war, welche im Jahre von dem irischen Priester Father Flanagan bei Omaha in Nebraska gegründet wurde. Kaa las den Artikel und sagte: »Alle unsere Städte und Werke entstanden durch die Arbeit solcher verirrter Knaben, welche die Freiheit dadurch gefunden haben, daß sie sich unterordneten.«
Spaziergang über die Karlsbrücke, an den Kleinseitner Brückentürmen vorbei, durch das Sachsengäßchen zum Großprioratsplatz. Von dort durch das Prokopiusgäßdien zum Eiermarkt – heute: Kleinseitner Marktplatz –, die Bretislavgasse hinauf und über die breiten Stufen des Johannesberges zur Spornergasse. Diese hinunter zum Kleinseitner Ring und zur Straßenbahn. Kaa erklärte mir die Statuen auf der Brücke, machte mich auf verschiedene Einzelheiten aufmerksam, zeigte mir alte Häuserzeichen, Tore, Fensterumrahmungen und Schlosserarbeiten. Auf der Karlsbrücke wies er mit der ausgestreckten Rechten auf einen kleinen Sandsteinengel, der
sich hinter einer Marienstatue mit gespreizten Fingern die Nase zuhielt. »Er tut so«, sagte Kaa, »als ob es im Himmel stinken würde. Für ein himmlisches Wesen, wie es ein Engel ist, muß alles Irdische jedenfalls von üblem Geruch sein.« »Die Statue, zu deren Füßen der Engel kauert«, meinte ich, »ist aber ein Muttergottesbild.« »Na eben.« rief darauf Kaa. »Es gibt nichts Irdischeres und dabei mehr über die Erde Hinausragendes als das Muttertum. Durch den Schmerz der Geburt wird ein neuer Hoffnungsschimmer und damit eine neue Glücksmöglichkeit in den irdischen Staub gepflanzt.« Ich schwieg. Als wir auf dem Eiermarkt an dem Schönbornpalast vorbeigingen, sagte Kaa: »Das ist keine Stadt. Das ist der zerklüete Boden eines Zeitozeans, bedeckt mit dem Steingeröll verglühter Träume und Leidenschaen, zwischen denen wir – wie in einer Taucherglocke – spazieren gehen. Es ist hier interessant, doch mit der Zeit verliert man den Atem. Man muß – wie alle Taucher – emporsteigen, sonst sprengt einem das Blut die Lunge. Ich habe hier eine Zeitlang gewohnt. Ich mußte weg. Es war zu weit.« »Ja«, nickte ich, »die Verbindung mit der inneren Stadt ist nicht gut. Man muß über die alte Steinbrücke und dann durch ein Gewirr von winkeligen Gassen. Es gibt hier keinen direkten Weg.« Kaa schwieg einige Augenblicke. Dann schloß er sich meinen Ausführungen mit einer Frage an, die er sofort selbst beantwortete. Er sagte: »Gibt es für uns überhaupt irgendwo einen direkten Weg? Ein direkter Weg ist nur der Traum, und der führt nur in die Irre.« Ich sah Doktor Kaa verständnislos an. Wie hing der Weg von der Kleinseite zur Versicherungs-Anstalt auf dem Poříč mit einem Traum zusammen?
Um die in mir aufsteigende Verwirrung zu verbergen, sagte ich halblaut: »Mit der Straßenbahn kommt man auch nicht richtig vorwärts. Man muß umsteigen, und es dauert da gewöhnlich ziemlich lange, ehe man eine passende Verbindung bekommt.« Doktor Kaa schien mich jedoch überhaupt nicht zu hören. Er ging, das Kinn vorgestreckt und die Hände in den Taschen des dünnen, grauen Überziehers vergraben, mit so eiligen Schritten die steile Spornergasse hinunter, daß ich, der ich ihm knapp zur Schulter reichte, mich tüchtig abzappeln mußte, um ihn nicht zu verlieren. Kaa selbst schien dieser Eilmarsch aber erst unten auf dem Kleinseitner Ring ins Bewußtsein zu treten. Er blieb bei der Haltestelle der elektrischen Straßenbahn stehen und meinte mit einem verlegenen Lächeln: »Es sieht so aus, als wollte ich Ihnen durchgehen. Bin ich nicht zu schnell gegangen?« »Es war nicht so arg«, entgegnete ich und fuhr mit dem Taschentuch hinter den schweißfeuchten Hemdkragen. »Man geht immer etwas schneller, wenn man einen Berg hinuntergeht.« Doch damit war Doktor Kaa nicht einverstanden. »Nein, nein! Das tut nicht der Berg allein. Da ist noch die schiefe Ebene in mir. Ich rolle wie eine Kugel der Ruhe entgegen. Das ist eine Schwäche, durch die man jede Haltung verliert.« »Es war nicht so arg«, wiederholte ich, aber er schüttelte nur den Kopf. Er sah über mich hinweg zur Mündung der omasgasse. Dabei sprach er leise weiter. Es klang wie ein lautgewordenes Selbstgespräch: »Die Ruhe zwischen den alten Häusern wirkt wie eine Sprengladung, die alle inneren Dämme zerbricht. Die Beine laufen den Berg hinunter, und die Stimme baut – Wort um Wort – einen Bilderberg auf. Die Grenze zwischen außen
und innen verschwindet. Man treibt durch die Gassen wie durch Kanäle dunkler Zeitabwässer dahin. Man lauscht seiner eigenen Stimme und glaubt etwas besonders Kluges und Witziges zu hören. Dabei handelt es sich aber nur urn eine krampae Verschleierung der Selbstentwertung. Man blickt sich selbst – sozusagen – verächtlich über die Achsel an. Es fehlt nur noch, daß man in die Tasche nach Papierblock und Füllfeder grei, um sich selbst einen anonymen Brief zu schreiben.« In der Mündung der omasgasse erschien nun eine langsam fahrende Straßenbahn. Kaa fuhr auf, als ob er erwachen würde. Er sagte: »Nun, unsere Nummer ist da. Wir können einsteigen« – und schob lächelnd die Hand unter meinen Arm.
Franz Kaa blätterte in dem Buch Der Geist der russischen Revolution von Alfons Paquet, das ich in seine Kanzlei mitgebracht habe. »Wollen Sie das Buch lesen?« fragte ich. »Danke«, sagte Kaa und reichte mir das Buch über die Tischplatte. »Ich habe jetzt keine Zeit. Schade. Die Menschen versuchen in Rußland eine vollkommen gerechte Welt aufzubauen. Das ist eine religiöse Angelegenheit.« »Der Bolschewismus wendet sich aber gegen die Religionen.« »Er tut es, weil er selbst eine Religion ist. Diese Interventionen, Aufstände und Blockadebestimmungen, was sind das für Dinge? Das sind kleine Vorspiele großer, grausamer Religionskriege, die über die Welt hinwegrasen werden.«
Wir begegneten einer großen Gruppe von Arbeitern, die mit Fahnen und Standarten zu einer Versammlung zogen. Kaa bemerkte: »Die Leute sind so selbstbewußt, selbstsicher und gut aufgelegt. Sie beherrschen die Straße und meinen darum, daß sie die Welt beherrschen. In Wirklichkeit irren sie doch. Hinter ihnen sind schon die Sekretäre, Beamten, Berufspolitiker, alle die modernen Sultane, denen sie den Weg zur Macht bereiten.« »Sie glauben nicht an die Kra der Massen?« »Ich sehe sie, diese formlose, scheinbar unbändige Kra der Massen, welche sich danach sehnt, gebändigt und geformt zu werden. Am Schluß jeder wirklich revolutionären Entwicklung erscheint ein Napoleon Bonaparte.« »Sie glauben nicht an eine weitere Ausbreitung der russischen Revolution?« Kaa schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Je weiter sich eine Überschwemmung ausbreitet, um so seichter und trüber wird das Wasser. Die Revolution verdamp, und es bleibt nur der Schlamm einer neuen Bürokratie. Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier.«
Man brauchte nicht über einen besonderen Scharlick zu verfügen, um zu sehen, daß für Doktor Kaa das Kanzleileben eine Qual war. Er saß o ganz krumm und in sich zusammengesunken, mit gelblich-grauem Gesicht, hinter dem großen, blankgefegten Schreibtisch. Fragte man ihn aber nach seinem Befinden, so antwortete er immer künstlich munter: »Danke, es geht mir gut.« Diese Abwehr war eine bewußte Unwahrheit, etwas, das zu Doktor Kaa überhaupt nicht paßte, denn nach den Mitteilungen meines Vaters und einiger seiner Amtskollegen, die ich auch kannte, gab es in der ganzen Arbeiter-Un
fall-Versicherungs-Anstalt keinen zweiten so wahrheitsund gerechtigkeitsbesessenen Menschen wie den Leiter der Rechtsabteilung. Nach dem Bericht meines Vaters soll ihm Kaa einigemal gesagt haben: »Ohne Wahrheit, die jeder begrei und der sich deswegen eben jeder freiwillig unterwir, ist jede Ordnung nur eine rohe Gewalt, ein Käfig, der früher oder später unter dem Druck des Wahrheitsbedürfnisses zerfällt.« Mein Vater und seine Bürokollegen sahen in Kaas Wahrheitsliebe die Manifestation eines stark entwickelten ethischen Willens; in Wirklichkeit handelt es sich jedoch – nach Kaas eigenen Worten – um etwas ganz anderes. Das erfuhr ich folgendermaßen: In der Zeit meiner ersten Besuche bei Doktor Kaa reagierte ich o auf seine Aussprüche mit der erstaunten Frage: »Ist das wirklich wahr?« Darauf pflegte Doktor Kaa in der ersten Zeit nur mit einem kurzen Nicken zu antworten. Als ich ihn dann aber schon längere Zeit kannte und als Ausdruck meines Erstaunens immer noch diese stereotype Frage des Zweifelns verwendete, sagte er mir einmal: »Unterlassen Sie, bitte, diese Frage. Sie stellen mich schon mit diesem einzigen Satz immer wieder vor mir bloß. Ich sehe mein Unvermögen. Die Lüge ist nämlich eine Kunst, die – wie jede andere Kunst – alle Kräe des Menschen erfordert. Man muß sich ihr ganz und gar hingeben, man muß der Lüge zuerst selbst glauben, dann erst kann man mit ihr die anderen Menschen überzeugen. Die Lüge benötigt das Feuer der Leidenscha. Dadurch enthüllt sie aber mehr als sie verbirgt. Das kann ich mir nicht leisten. Darum gibt es für mich nur ein Versteck – die Wahrheit.« Zwischen seinen leicht geöffneten Lippen strömte, leise zischelnd, ein koboldhaes Lachen hervor. Ich schloß mich ihm an. Doch das war nur ein mattes Verlegenheitslachen.
Denn im Grunde schämte ich mich vor mir selbst, wie oberflächlich ich bisher im Verkehr mit Doktor Kaa mit der Sprache umgegangen war. Ich schämte mich dessen um so mehr, als mir Kaa kurz zuvor gesagt hatte: »Die Sprache ist das Kleid des Unzerstörbaren in uns, ein Kleid, das uns überdauert.« Ich weiß nicht mehr, wie ich mich damals aus diesem Strudel der Scham herausstotterte, allein eines weiß ich ganz genau: von dem Tag angefangen, beachtete ich besser das, was ich sagte. Nicht nur im Verkehr mit Doktor Kaa, sondern während aller Begegnungen. Das schäre meine Aufnahmefähigkeit. Ich lernte besser sehen und zuhören. Dadurch wurde meine Welt tiefer und komplizierter, ohne kälter und entfernter zu werden. Im Gegenteil: durch die schier bodenlose Vielfalt der Dinge und Menschen, die mich immer wieder erstaunen ließ, wurde mein Dasein reicher und lebenswerter. Ich wurde auf einer Welle beglückender Ergriffenheit durch die Zeit getragen. Ich war nicht mehr ein kleiner, unbedeutender Beamtensohn, sondern ein Mensch, der um das Maß der Welt und seiner selbst rang, ein kleiner Mensch- und Gottesstreiter. Und das verdankte ich Doktor Kaa. Darum bewunderte und verehrte ich ihn. Ich spürte, wie ich durch die Intensität des Erlebens, zu der er mich hingeführt hatte, von Tag zu Tag wuchs und innerlich freier und besser wurde. Deshalb gab es damals für mich nichts Schöneres als bei Doktor Kaa in der Kanzlei zu sitzen oder mit ihm durch die Prager Gassen, Gärten und Durchhäuser zu streifen und ihm immer wieder voll Bewunderung zuzuhören. Dabei gab es für mich – ich gestehe es – nur eine einzige störende Kleinigkeit. Das war der Satz: Danke, es geht mir gut. Fühlte sich Kaa so elend und einsam, daß er sich hinter diese stereotype Redensart vor dem Zugriff der Neugierde flüchtete?
War es ein Abwehren lästiger Menschen, die ihn besuchten, ein Zurückstoßen? War das auch gegen mich gerichtet? Mir wurde bei diesem Gedanken immer elend und bange. Darum richtete ich später an Kaa nie die Frage nach seinem Wohlbefinden, und ich wurde unruhig, wenn sie jemand in meiner Gegenwart aussprach und ich Kaa mit schlecht gespielter Unbefangenheit lügen hörte. Bei solchen Gelegenheiten konnte ich einfach nicht ruhig bleiben. Ich mußte mich auf dem Besucherstuhl nervös hinund herbewegen, an den Knöpfen meiner Jacke und an meinen Fingernägeln herumzupfen, nach einer Zeitung oder nach einem Buch greifen oder einfach – gähnen. Doktor Kaa mußte das sicher bemerkt und durchdacht haben, denn einmal – ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr es war, doch die Sonne schien, es düre also an einem hellen Sommertag gewesen sein – erklärte er mir plötzlich ganz von selbst die Gründe seiner einzigen Konventionslüge, die ich kannte. Wir schlenderten durch den Stadtpark unterhalb des heutigen Hauptbahnhofs, standen lange bei dem Eisengeländer des kleinen Teiches, auf dessen dunkler Wasserfläche sich ein Rudel braungetigerter und schwarz-weiß-grüner Enten herumtummelte, und betrachteten eine Weile die neben uns stehenden Frauen und Kinder, die von einem alten, hinkenden Mann mit einem mächtigen weißen Nikolobart, der ihm bis zu seinem ovalen Verkaufskorb herabhing, Semmeln und Salzstangen kauen, die sie zerbröckelt den schnatternd herumrudernden Enten zuwarfen. »Wer, glauben Sie, hat eine größere Freude?« fragte mich Kaa. »Die Enten oder die Kinder?« Ich antwortete: »Ich glaube – die Enten. Sie bekommen ja Nahrung, das Material zum Weiterleben.« »Und die Kinder, die bekommen nichts?« Doktor Kaa sah mich vorwurfsvoll an. »Die Freude ist eine Nahrung
der Menschenseele. Ohne sie ist das ganze Leben nur noch ein Sterben.« Er drehte sich um und erzählte langsam im Weitergehen: »Ich erinnere mich noch daran, wie ich als kleiner Junge verzweifelt weinte und mich in unserem Speisezimmer in den dunklen Winkel zwischen dem Büffet und dem Wäscheschrank verkroch, wenn mir unser Kinderfräulein drohte, daß sie mich zur Strafe für meine Unfolgsamkeit nicht in den Stadtpark zu den Enten mitnehmen werde. Damals hinter dem Schrank hörte ich zum erstenmal mein Herz ängstlich in der Brust schlagen. Der Weg vom Kleinen Ring in den Stadtpark war ja schon von allem Anfang an ein gewaltiges Abenteuer. Dabei spielten die Hauptrolle die Handschuhe unseres Kinderfräuleins, das mich führte. Das Fräulein trug braune, schon etwas altersmürbe Glacéhandschuhe. Später kaue sie sich neue, gehäkelte. Doch die hatte ich nicht gern. Ich liebte die alten, braunen Glacéhandschuhe. Ihre Berührung verursachte mir immer ein lustvolles Frösteln im Rücken. Deshalb bettelte ich vor jedem Spaziergang: ›Bitte, Fräulein, nehmen Sie Ihre alten Glacéhandschuhe. Da ist das Bei-der-Hand-Halten ein Streicheln‹. – Als ich das zum erstenmal sagte, lachte das Fräulein: ›Du bist ein Genießer!‹ – Und das war ich auch. Ich habe später nie mehr so eine tiefe Lust und Freude erlebt wie damals, als ich an der Hand des Kinderfräuleins im Stadtpark die Enten füttern dure.« Kaa schwieg. Wir gingen über einen kurzen Verbindungspfad zu einem Seitenweg, der – von dichten Büschen und vereinzelten Bäumen umsäumt – parallel zur Hauptallee am Rand der Anlagen verlief, so daß man hinter ihm den oberen Teil der Fassaden der damals sehr noblen Mariengasse sah. Auf diesem Seitenweg kamen wir an einer Bank vorbei, auf der, dem Aussehen nach, drei Bettler saßen: zwei Männer und eine Frau.
Der erste von ihnen, ein grauhaariger, struppiger Mensch mit einem verbeulten Melonenhut über einem blauvioletten Säufergesicht, löste den Tabak aus Zigarettenstummeln, die er aus seiner Jackentasche herausholte. Den so gewonnenen Tabak stope er dann in ein schmutziges Leinensäckchen, das er vor sich auf dem Schoß liegen hatte. Neben ihm saß eine sonnverbrannte alte Frau in einem verschossenen, grünen Samtkleid und einer verspeckten schwarzen Männerjacke. Auf dem Kopf trug sie ein sorgfältig umgebundenes graubraunes Kattuntuch, das alle ihre Haare verdeckte. Den Mund – mit einem starken, gelben Gebiß – hatte sie weit geöffnet, da sie eben einen Kuchen von der Größe und Form eines halben Ziegelsteines zu den Lippen führte. Drei Spannen von ihr entfernt saß dann, mit dem ganzen Oberkörper nach vorn gebeugt, ein verhutzeltes, altes Männlein mit einem in den Nacken geschobenen, einstmals grün gewesenen Jägerhut und einer großen, altmodischen Drahtbrille, die ihm – in der Zeit, da wir vorbeigingen – dreimal zu der Spitze der etwas kurzen Nase herabglitt und die er deshalb dreimal mit einer mechanischen Bewegung des dürren Zeigefingers zurechtrückte. Dabei sortierte er ein Häufchen kleiner Münzen, die er vor sich auf den Knien in einem rot-blau-karierten Taschentuch liegen hatte. Wir hörten im Vorbeigehen ein kurzes Bruchstück des Gesprächs dieser Leute, das sie ganz eindeutig als Bettler deklarierte. Die Frau hatte den Kopf, mit vollem Mund, zu dem Bebrillten gewendet: »Wie ist es heute ausgefallen?« »Es geht, es geht!« meckerte der Alte. »Gott sei Dank«, sagte darauf anerkennend der Mann, der aus den Zigarettenstummeln seinen Tabakvorrat bereitstellte. »Heute war ein guter Tag. Ich habe im Emmauskloster zwei Suppen bekommen.« Die Frau lehnte sich, genießerisch lächelnd, zurück. – »Eine Krankenschwester, der ich auf dem Karlsplatz aus der
Hand eine schöne Zukun vorhersagte, steckte mir eine Krone und zwei Kuchen zu.« »Das war ein Fang!« riefen gleichzeitig die beiden Männer hinter unserem Rücken. »Nun, was sagen Sie?« fragte mich Kaa nach ein paar Schritten. »Sind wir so glücklich wie die drei auf der Bank?« »Ich glaube, nicht.« »Ja«, nickte Kaa. »Wir haben bestimmt keinen so guten Tag gehabt.« »Das will ich meinen!« rief ich lachend. »Wir haben auf den Gehsteigen keinen Tabak geerntet und auf dem Karlsplatz keinen Kuchen bekommen. Dafür haben wir aber auch niemandem eine schöne Zukun vorhergesagt.« »Sie scherzen«, murrte darauf Kaa, »doch ich meine es ernst. Das Glück hängt nicht vom Besitz ab. Das Glück ist nur eine Frage der Orientierung. Das heißt: der Glückliche sieht nicht den dunklen Saum der Wirklichkeit. Sein Lebensgefühl übertönt den hämmernden Holzwurm des Todesbewußtseins. Man vergißt, daß man nicht geht, sondern fällt. Man ist wie betäubt. Darum ist es direkt unanständig, wenn uns jemand nach unserem Wohlbefinden fragt. Es ist so geschmacklos, wie wenn ein Apfel sich an einen anderen Apfel mit der Anfrage wenden würde: ›Wie geht es Ihren Würmern, die Sie durch die Insektenstiche bekamen?‹ – Oder wenn ein Grashalm den anderen fragen würde: ›Wie verwelken Sie? Was macht Ihre werte Verwesung?‹ – Wie wäre das?« »Das wäre scheußlich!« entfuhr mir unwillkürlich. »Na sehen Sie!« sagte Kaa und hob sein Kinn so in die Höhe, daß die Halsmuskeln wie gespannte Seile hervortraten. »Die Frage nach dem Wohlbefinden verstärkt im Menschen das Bewußtsein des Vergehens, dem ich als Kranker besonders wehrlos gegenüberstehe.«
Ich hörte, wie er durch die Nase tief Atem holte. »Vielleicht ist es nicht so arg«, sagte ich unbeholfen. »Sie dürfen eben an Ihre Krankheit nicht denken.« »Das sage ich mir selbst auch, aber dadurch denke ich schon an sie. Ich kann sie nicht vergessen. Ich habe nichts, womit ich sie aus dem Bewußtsein herausdrängen könnte. Es fehlt mir eben eine anständige Arbeit.« »Wieso?« entgegnete ich leicht entrüstet. »Sie haben doch Ihren Posten in der Versicherungs-Anstalt, wo man Sie hochschätzt …« Allein Doktor Kaa unterbrach mich: »Das ist keine Arbeit, sondern ein Verfaulen. Jedes wirklich tätige, zielstrebige Leben, das einen Menschen ganz ausfüllt, hat den Aufschwung und Glanz einer Flamme. Doch was tue ich? Ich sitze in der Kanzlei. Das ist nur eine übel riechende Qualmfabrik, wo es kein Glücksgefühl gibt. Darum lüge ich die Leute, die mich nach meinem Befinden fragen, auch ganz ruhig an, statt mich wie ein Verurteilter – der ich ja auch tatsächlich bin – ganz einfach schweigend abzuwenden.«
Ich berichtete Franz Kaa von einem Vortrag über die Lage in Rußland, welcher vom Verband der marxistischen Studenten im Rosa-Saal des Sozialdemokratischen Volkshauses in der Hybernergasse veranstaltet und von mir in Begleitung meines Vaters besucht wurde. Nachdem ich meinen Bericht beendet hatte, bemerkte Franz Kaa: »Ich verstehe nichts von politischen Dingen. Das ist natürlich ein Mangel, den ich gerne beseitigen möchte. Ich habe aber so viele Fehler! Die allernächsten Dinge fliehen vor mir immer mehr und mehr in die Ferne. Ich bewundere Max Brod, der sich selbst im Gestrüpp der Politik auskennt. Er erzählt mir o sehr viel und lange über das Tagesgeschehen. Ich höre ihm zu, so wie ich jetzt Ihnen zu
hörte, und doch – kann ich in die Sache nicht ganz eindringen.« »Habe ich mich nicht gut ausgedrückt?« »Sie mißverstehen mich. Sie haben sich gut ausgedrückt. Der Fehler ist in mir. Der Krieg, die Revolution in Rußland und das Elend der ganzen Welt erscheinen mir wie eine Flut des Bösen. Es ist eine Überschwemmung. Der Krieg hat die Schleusen des Chaos geöffnet. Die äußeren Hilfskonstruktionen der menschlichen Existenz brechen zusammen. Das geschichtliche Geschehen wird nicht mehr vom einzelnen, sondern nur noch von den Massen getragen. Wir werden gestoßen, gedrängt, hinweggefegt. Wir erleiden die Geschichte.« »Sie meinen also, daß der Mensch nicht mehr Mitschöpfer der Welt sei?« Kaa machte einige kleine, pendelnde Bewegungen mit dem Oberkörper. »Sie verstehen mich wieder nicht. Im Gegenteil: der Mensch hat seine Mitarbeit und Mitverantwortung an der Welt von sich geworfen.« »Das ist nicht möglich. Sehen Sie nicht das Anwachsen der Arbeiterpartei? Die Mobilität der Massen?« [Meine Bemerkung war ein Widerhall des Vortrages über die Lage in Rußland und die daran geknüpen Äußerungen meines Vaters.] »Das ist es eben«, sagte Franz Kaa. »Die Bewegung nimmt uns die Möglichkeit des Schauens. Unser Bewußtsein wird verengt. Ohne daß wir es merken, verlieren wir die Besinnung, ohne das Leben zu verlieren.« »Sie meinen also, daß die Menschen verantwortungslos werden?« Franz Kaa lächelte bitter. »Wir alle leben so, als ob wir Alleinherrscher wären. Dadurch werden wir zu Bettlern.« »Wohin wird das führen?«
Kaa zuckte die Achseln und sah zum Fenster hinaus. »Die Antworten sind nur Wünsche und Versprechungen. Das ist aber keine Sicherheit.« »Wenn es aber keine Sicherheit gibt, was ist dann das ganze Leben?« »Das ist ein Sturz. Vielleicht ist es ein Sündenfall.« »Was ist Sünde?« Kaa befeuchtete die Unterlippe mit der Zungenspitze, ehe er antwortete. »Was ist Sünde … Wir kennen das Wort und die Handhabung, aber das Empfinden und die Erkenntnis sind uns abhanden gekommen. Vielleicht ist das schon die Verdammung, die Gottverlassenheit, das Sinnlose.« Das Eintreten meines Vaters unterbrach das Gespräch. Beim Abschied sagte mir Doktor Kaa plötzlich mit dem Ton der Entschuldigung in der Stimme: »Grübeln Sie nicht darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe.« Ich war überrascht. Kaa war für mich Lehrer und Beichtvater. Darum fragte ich ihn bedrückt: »Warum? Sie haben ja alles ganz ernst gemeint.« Er lächelte. »Eben darum. Mein Ernst könnte auf Sie wie ein Gi wirken. Sie sind jung.« Das beleidigte mich. »Jugend ist doch kein Gebrechen. Deswegen kann ich immer noch denken.« »Ich sehe, daß wir einander heute wirklich nicht verstehen. Das ist aber gut. Das Mißverstehen schützt Sie vor meinem bösen Pessimismus, der – eine Sünde ist.«
Zu Weihnachten bekam ich von meinem Vater ein Buch: Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen der Vergangenheit und Gegenwart.
Als ich – ich denke im Frühling – diesen umfangreichen Band Franz Kaa zeigte, betrachtete er lange die Reproduktionen der Bilder Der Krieg von Arnold Böcklin und Die Schädelpyramide von W. W. Weresschtschagin. »Der Krieg wurde eigentlich noch nie richtig dargestellt«, sagte Kaa. »Gewöhnlich werden nur Teilerscheinungen oder Ergebnisse – wie diese Schädelpyramide – gezeigt. Das Schreckliche des Krieges ist aber die Auflösung aller bestehenden Sicherheiten und Konventionen. Das animalische Physische überwuchert und erstickt alles Geistige. Es ist wie eine Krebskrankheit. Der Mensch lebt nicht mehr Jahre, Monate, Tage, Stunden, sondern nur noch Augenblicke. Und selbst die lebt er nicht mehr. Er wird sich ihrer nur noch bewußt. Er existiert bloß.« »Das wird durch die Nähe des Todes verursacht«, bemerkte ich. »Das wird durch das Wissen und die Angst vor dem Tode verursacht.« »Ist das nicht dasselbe?« »Nein, das ist nicht dasselbe. Wer das Leben voll begrei, hat keine Angst vor dem Sterben. Todesangst ist nur das Ergebnis eines nichterfüllten Lebens. Es ist eine Äußerung der Untreue.«
Wir sprachen über eine der zahlreichen internationalen Konferenzen der Nachkriegszeit. Franz Kaa sagte: »Diese großen politischen Zusammenküne haben ein ganz gewöhnliches Kaffeehausniveau. Die Leute reden sehr viel und sehr laut, um so wenig wie möglich zu sagen. Es ist ein lärmendes Schweigen. Das wirklich Wahre und Interessante dabei sind nur die Geschäe im Hintergrund, die mit keinem Wort erwähnt werden.« »Ihrer Ansicht nach dient die Presse also nicht der Wahrheit.«
Ein schmerzliches Lächeln verzog Kaas Mundwinkel. »Die Wahrheit gehört zu den wenigen, wirklich großen und wertvollen Dingen des Lebens, die man nicht kaufen kann. Der Mensch bekommt sie geschenkt, so wie die Liebe oder Schönheit. Die Zeitung ist aber eine Ware, mit der gehandelt wird.« »Die Presse dient also der Verdummung der Menschheit«, bemerkte ich ängstlich. Franz Kaa lachte und schob sein Kinn triumphierend nach vorne. »Nein, nein! Alles, selbst die Lüge dient der Wahrheit. Schatten löschen die Sonne nicht aus.«
Franz Kaa war Zeitungen gegenüber sehr skeptisch. Er lächelte, wenn er bei mir ein Paket von verschiedenen Zeitungen sah. Einmal sagte er: »Die Redewendung ›in der Zeitung vergraben zu sein‹ erfaßt wirklich die Situation. Die Zeitung bringt die Ereignisse der Welt – Stein neben Stein, Schmutzklumpen neben Schmutzklumpen. Es ist ein Erd- und Sandhaufen. Wo ist der Sinn? Die Geschichte als eine Anhäufung von Geschehnissen zu sehen, bedeutet nichts. Es kommt auf den Sinn der Ereignisse an. Den finden wir aber nicht in der Zeitung, sondern nur im Glauben, im Objektivieren des Anscheinend-Zufälligen.«
Doktor Kaa sagte einmal – ich weiß jetzt nicht mehr bei welcher Gelegenheit –, daß das Zeitungslesen ein Zivilisationslaster sei. »Es ist wie das Rauchen: man muß den Unterdrückern seine eigene Vergiung bezahlen.« Doktor Kaa war Nichtraucher, doch – wie es mir wenig
stens schien – ein passionierter Zeitungs- und Zeitschrienleser. Auf seinem Tisch lagen immer verschiedene deutsche, tschechische und mitunter auch französische Periodika, zu deren Nachrichten er sich häufig im Gespräch äußerte. So erinnere ich mich zum Beispiel ganz genau an Kaas Bewertung des italienischen Faschismus, zu der wir von der Betrachtung des Bildes einer Reihe hochbeiniger Revuegirls unwillkürlich hinüberglitten. Das war – glaube ich – im Oktober oder November . Auf Kaas Schreibtisch lag aufgeschlagen eine in Wien erscheinende, große eaterzeitschri, in der – mit einigen Bildreproduktionen belegt – über die neuen Pariser und Berliner Tanzrevuen berichtet wurde. »Das sind Tänzerinnen?« fragte ich tolpatschig mit einem Seitenblick auf die scharf ausgerichtete Kette einer Tanzgruppe. »Nein, das sind Soldaten«, entgegnete darauf Kafka. »Der Revuetanz ist ein maskierter Parademarsch.« Ich sah Doktor Kaa verständnislos an. Also erweiterte er seine Erklärung. »Der preußische Paradeschritt und der Tanz der verschiedenen Girls haben das gleiche Ziel. Beide unterdrücken die Individualität. Der Soldat wie das Girl sind nicht mehr freie Einzelpersonen, sondern gebundene Einzelteile einer Gruppe, die sich nach einem ihnen im Grunde wesensfremden Kommando bewegen. Deshalb sind sie das Ideal aller Kommandanten. Man muß nichts erklären, nichts neugestalten. Das Kommando genügt. Die Soldaten und Girls marschieren wie Puppen. Das macht den an sich unbedeutendsten Kommandierenden groß. Da sehen Sie ihn!« Kaa entnahm der mittleren Schublade seines Schreibtisches ein He der Zeitschri Die Woche, schlug es auf und zeigte auf ein Bild Mussolinis: »Der Mann hat das Quadratmaul eines Tierbändigers und die Ernst und Tiefe vortäuschenden Glasaugen eines Schmierenkomödianten. In summa: er ist der richtige Rummelplatzprinzipal der unpo
litisch-politischen Girls, die nur als Masse wirken. Da sind sie!« Er wies auf die nächste Seite, wo eine Gruppe grinsender Teilnehmer des Marsches auf Rom abgebildet war. Sehen Sie die Gesichter der Leute? Sie sind kreuzfidel, weil sie nicht denken müssen und davon überzeugt sind, daß in Rom schon fette Pfründen und volle Fleischtöpfe auf sie warten. Mussolinis Leute sind keine Revolutionäre, sondern nur Abfallmenschen, die ihre Pratzen nach den Schüsseln ausstrecken, die sie selbst nicht vollfüllen können.
Ich kam in Kaas Kanzlei. Niemand war dort. Aufgeschlagene Schristücke, ein Teller mit zwei Birnen und einige Zeitungen auf Kaas Tisch zeugten dafür, daß er im Gebäude sei. Ich setzte mich also auf den ›Besuchersessel‹ neben dem Schreibtisch, nahm das Prager Tagblatt und las. Nach einer Weile kam Kaa. »Haben Sie lange gewartet?« »Nein. Ich habe gelesen«, sagte ich und zeigte ihm die Zeitung mit dem Artikel Die Tagung des Völkerbundes. Kaa machte eine hilflose Geste. »Der Völkerbund! Ist das überhaupt ein Bund der Völker? Ich denke, daß die Bezeichnung Völkerbund nur die Maske eines neuen Kampfplatzes ist.« »Sie meinen, daß der Völkerbund keine Friedensorganisation sei?« »Der Völkerbund ist eine Organisation, die der Lokalisierung des Kampfes dient. Der Krieg geht ja weiter, nur werden jetzt andere Kampfmittel angewendet. Divisionen von Soldaten wurden durch Banken der Händler ersetzt. An Stelle des Kriegspotentials der Industrie trat die Kampffähigkeit der Finanzen. Der Völkerbund ist kein
Bund der Völker, sondern nur eine Umschlagstätte der verschiedenen Interessengemeinschaen.«
Ich machte Franz Kaa auf einen großen Aufsatz über das Reparationsproblem aufmerksam. Er sah über das Zeitungsblatt hinweg, schob die Unterlippe ein wenig nach vorne und bemerkte: »Das alles ist im Grunde ganz einfach. Wirklich schwer und unlösbar sind nur die Probleme, die man nicht formulieren kann, weil sie die Problematik des ganzen Lebens zum Inhalt haben.«
Wir sprachen über einen Zeitungsartikel, in welchem über die schlechten Friedensaussichten in Europa geschrieben wurde. »Der Friedensvertrag ist doch endgültig«, bemerkte ich. »Nichts ist endgültig«, sagte Franz Kaa. »Nach Abraham Lincoln ist nichts endgültig geregelt, solange es nicht gerecht geregelt ist.« »Wann wird das sein?« fragte ich. Kaa zuckte die Achseln. »Wer kann das wissen? Menschen sind keine Götter. Die Geschichte wird durch die Fehler und das Heldentum jedes unbedeutenden Augenblickes gebildet. Wenn man einen Stein in den Fluß wir, bilden sich Wellenkreise. Die Mehrzahl der Menschen lebt aber ohne das Bewußtsein überindividueller Verantwortung, und das ist – denke ich – der Kern des Elends.« »Was sagen Sie zu dem Fall Max Hoelz?« fragte ich. [Der Führer des Mitteldeutschen Aufstandes im Jahre wurde jenseits der deutschen Grenze verhaet. Die tschechoslowakische Regierung lehnte es ab, ihn an Deutschland auszuliefern.]
Kaa zuckte die Achseln. »Kann man das Gute durch das Böse erreichen? Die Kra, welche sich gegen das Schicksal stellt, ist eigentlich eine Schwäche. Hingabe und Hinnahme sind viel stärker. Das kann aber der Marquis de Sade nicht verstehen.« »Marquis de Sade?« wunderte ich mich. »Ja«, nickte Franz Kaa. »Marquis de Sade, dessen Lebensgeschichte Sie mir geborgt haben, ist der eigentliche Patron unserer Zeit.« »Das doch vielleicht nicht.« »O ja. Marquis de Sade kann Lebensfreude nur durch das Leid des anderen gewinnen, so wie der Luxus der Reichen durch das Elend der Armen bezahlt wird.« Um meine Niederlage zu bemänteln, griff ich in die Aktentasche und zeigte ihm Reproduktionen der Bilder von Vincent van Gogh. Kaa war sehr erfreut. »Dieser Kaffeehausgarten mit der violetten Nacht im Hintergrund ist wunderschön«, sagte er . »Die anderen Bilder sind auch schön. Der Kaffeehausgarten bezaubert mich aber. Kennen Sie seine Zeichnungen?« »Nein, die kenne ich nicht.« »Das ist schade. Sie sind in dem Buche der Briefe aus dem Irrenhaus. Vielleicht kommen Sie irgendwo zu dem Buch. Ich möchte so gerne zeichnen können. In Wirklichkeit versuche ich es auch immer wieder. Aber es kommt dabei nichts heraus. Es ist eine ganz persönliche Bilderschri, deren Sinn ich selbst nach einer gewissen Zeit nicht mehr entdecken kann.«
Ich zeigte ihm die Jubiläumsbroschüre einer Wiener Wochenschri mit Bildern der wichtigsten Ereignisse der letzten fünfzig Jahre . »Das ist Geschichte«, sagte ich.
Kaa verzog den Mund. »Woher! Die Geschichte ist noch viel lächerlicher als diese alten Bilder, da sie ja meistens von Amtshandlungen gebildet wird.«
Als ich zwei Tage nach diesem Gespräch zu Doktor Kaa in die Kanzlei kam, war er gerade im Begriff, mit einer Akte in der Hand, das Zimmer zu verlassen. Ich wollte weggehen, doch er hielt mich zurück. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er und rückte mir den Besucherstuhl zurecht. »Blättern Sie einstweilen in den Zeitungen.« Damit schob er mir einige deutsche und tschechische Tagblätter zu. Ich nahm sie mir also vor, las die fettgedruckten Schlagzeilen, durchflog einen Bericht aus dem Gerichtssaal und die spärlichen eaternachrichten, die sich eigentlich nur auf einige eatervoranzeigen beschränkten. Dann drehte ich das Blatt um. Unter den Sportnachrichten war die Fortsetzung eines Kriminalromans. Ich hatte von ihm zwei, drei Absätze gelesen, als Kaa zurückkehrte. »Wie ich sehe, haben Ihnen Räuber und Detektive Gesellscha geleistet«, bemerkte er mit einem kurzen Seitenblick auf meine Lektüre. Ich legte die Zeitung rasch auf den Tisch zurück. »Ich habe den Schmarren nur flüchtig angesehen.« »Einen Schmarren nennen Sie die Literatur, welche den Herausgebern das meiste Geld einbringt?« fragte Kaa mit gespielter Entrüstung, setzte sich zum Tisch und fuhr fort, ohne auf meine Antwort zu warten: »Das ist eine wichtige Ware. Der Kriminalroman ist ein Narkotikum, das alle Lebensproportionen verschiebt und damit die Welt auf den Kopf stellt. Im Kriminalroman handelt es sich immer um die Aufdeckung von Geheimnissen, die hinter
außerordentlichen Ereignissen verborgen sind. Im Leben ist es aber gerade umgekehrt. Das Geheimnis sitzt nicht verkrochen im Hintergrund. Es steht – im Gegenteil! – ganz nackt vor unserer Nase. Es ist das Selbstverständliche. Darum sehen wir es nicht. Das Alltägliche ist der größte Räuberroman, den es gibt. Wir gehen jede Sekunde achtlos an tausenden Leichen und Verbrechen vorbei. Das ist unsere Lebensroutine. Sollte uns aber trotz der Gewöhnung doch noch etwas überraschen, so haben wir ein wunderbares Beruhigungsmittel, den Kriminalroman, der uns jedes Geheimnis des Daseins als eine straare Ausnahmeerscheinung hinstellt. Der Kriminalroman ist daher kein Schmarren. Er ist – um mit Ibsen zu sprechen – eine Stütze der Gesellscha, eine weißgestärkte Hemdbrust der herzlosen Unmoral, die sich ansonsten selbst als gutbürgerliche Gesittung bezeichnet.«
Ich erzählte Kaa meinen Traum: Präsident Masaryk ging – wie ein ganz gewöhnlicher Bürger – am Kai spazieren. Ich sah genau seinen Bart, den Kneifer, seine hinter dem Rücken verschränkten Arme, den losen, geöffneten Wintermantel. Franz Kaa lächelte. »Ihr Traum paßt zu Masaryks Persönlichkeit. So eine unformelle Begegnung des Staatsoberhauptes könnte leicht stattfinden. Masaryk ist eine so starke Persönlichkeit, daß er fast ganz auf die äußeren Attribute der Macht verzichten kann. Er ist undogmatisch, darum wirkt er so menschlich.« Ich erzählte den Verlauf einer Versammlung der Nationaldemokraten in Karolinenthal, deren Hauptredner der Finanzminister Doktor A. Rašin war. »Das ist ein routinierter Arenakämpfer«, meinte Kaa. »Kampf mit den Deutschen ist seine Paradenummer, und
dabei ist er der Sprecher von Leuten, die zu den verhaßten deutschen Machthabern viel näher haben als zu der machtlosen tschechischen Volksmenge.« »Wieso?« »Die Gebirgsgipfel sehen einander. Mulden und kleine Täler, welche sich in ihrem Schatten drücken, wissen dagegen nichts voneinander, obwohl sie gewöhnlich auf gleichem Niveau leben.«
Als die Engländer im Jahre Mahatma Gandhi, den stärksten Mann des Indischen Nationalkongresses, gefangen nahmen, sagte Franz Kaa: »Jetzt ist es klar, daß Gandhis Bewegung siegen wird. Gandhis Einkerkerung wird seiner Partei nur noch einen größeren Aufschwung verleihen. Denn ohne Märtyrer verflacht jede Bewegung zu einer Interessengemeinscha billiger Erfolgsspekulanten. Der Strom wird zum Tümpel, in dem alle Zukunsgedanken zerfallen. Denn Ideen leben – wie überhaupt alles, was in der Welt einen überpersönlichen Wert hat – nur von persönlichen Opfern.«
Ich fand auf Kaas Schreibtisch ein gegen den Außenminister Beneš gerichtetes Flugblatt Očista [Die Läuterung]. Franz Kaa sagte: »Doktor Beneš wird Reichtum vorgeworfen. Das ist armselig. Doktor Beneš ist außerordentlich tüchtig. Auf Grund seiner Eigenschaen und Verbindungen würde er auf jeden Fall zu Reichtum gelangen. Dabei könnte er Socken oder Altpapier verkaufen. Der Gegenstand seiner Operationen ist ganz nebensächlich. Er ist ein großer Mann der Handelswelt. Das ist entscheidend für ihn – und für die anderen. Darum sind diese Beschimpfun
gen stilgemäß zwar richtig, politisch aber ganz unmöglich. Man schießt auf den Mann, ohne seine Taten zu treffen.«
Kurz vor den Wahlen im Jahre verteilten die tschechischen Sozialdemokraten in der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt eine kleine Werbeschri, welche die Lebensgeschichten und Bilder der sozialdemokratischen Spitzenkandidaten enthielt. Ich fragte, nachdem ich das kleine He bei Doktor Kaa flüchtig durchgeblättert hatte: »Finden Sie es, Herr Doktor, nicht seltsam, daß all die Leute so verfressene Spießervisagen haben?« »Nein«, antwortete Doktor Kaa gleichgültig und fegte das Werbehe mit einer Handbewegung in den Papierkorb. »Es sind ja die Kriegsgewinnler des Klassenkampfes.«
In der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt sollten irgendwelche Änderungen der Organisation durchgeführt werden . Mein Vater arbeitete an einer Denkschri über diese Sache. Beim Mittagessen machte er Notizen am weißen Rand der Zeitung, und abends sperrte er sich im Speisezimmer ein. Kaa lächelte, als ich ihm davon erzählte. »Ihr Vater ist ein liebes, altes Kind«, sagte er. »So sind aber alle Menschen, die an Reformen glauben. Sie sehen nicht, daß sich das Bild der Welt nur dadurch ändert, daß etwas in ihr stirbt und etwas geboren wird. Etwas fällt und etwas erhebt sich. Das ändert die Zusammenstellung der Glassplitter im Kaleidoskop. Nur sehr kleine Kinder denken, daß sie das Spielzeug umgebaut haben.«
Mein Vater sprach über Franz Kaa sehr vorsichtig. Aus der Art seiner Äußerungen konnte man schließen, daß mein Vater Doktor Kaa beobachtete, dabei aber immer das Gefühl hatte, ihn nicht ganz zu verstehen. Franz Kaa dagegen hatte für meinen Vater nicht nur Achtung, sondern auch ein tiefes Verständnis. »Ihr Vater überrascht mich immer wieder mit seiner Vielseitigkeit«, sagte er einmal. »Die Dinge sind für ihn so wirklich. Alles ist ihm so nahe und vertraut. Er muß ein tiefgläubiger Mensch sein, sonst könnte er an die anscheinend einfachsten Dinge der Welt nicht so nahe herankommen.« Ich erzählte, wie mein Vater seine freie Zeit Tischler- und Schlosserarbeiten widmet. Ich schilderte, mit humoristischen Übertreibungen, seinen Eifer und Handwerkerehrgeiz. Franz Kaa gefiel aber die Art meines Berichtes nicht. Er zog die Augenbrauen zusammen, schob die Unterlippe nach vorne, sah mich streng an und sagte: »Lächeln Sie nicht! Tun Sie nicht so, als ob Sie das Schöne nicht sehen würden. Sie maskieren doch nur Ihren Stolz. Denn Sie sind stolz auf Ihren Vater. Und mit Recht. Er ist so rührend fruchtbar, weil er gar nicht eitel ist. Durch diese Tatsache werden Sie aber ganz befangen. Sie lächeln, weil es Ihnen leid tut, daß Sie mit Ihrem Vater nicht mittischlern und mitschlossern können. Ihr Lächeln? Das sind ungeweinte Tränen.«
»Ich habe Werfels Bühnendichtung Spiegelmensch gelesen.« »Ich kenne diese Arbeit schon lange«, sagte Kaa. »Werfel hat uns zweimal verschiedene Teile davon vorgelesen. Die Sprache klingt schön, aber – um es aufrichtig zu sagen – ich verstehe die Sache nicht gut. Werfel ist ein dickwandiges Gefäß. Das ertönt viel leichter durch verschiedene
mechanische Erschütterungen von außen als durch den gärenden Inhalt.« »Ist es wahr, daß er einen großen Musikroman schreibt?« fragte ich. Kaa nickte. »Ja, daran arbeitet er schon lange. Es soll ein Roman über Verdi und Wagner werden. Er wird uns daraus sicherlich vorlesen, sobald er nach Prag kommt.« »Sie sagen das mit so bedrücktem Gesichtsausdruck«, bemerkte ich. »Haben Sie Werfel nicht gern?« »O ja, ich habe ihn sogar sehr gern«, sagte Franz Kaa lebha. »Ich kannte ihn ja schon als Gymnasiasten. Max Brod, Felix Weltsch, Werfel und ich sind o zusammen auf Ausflügen gewesen. Er war der jüngste und darum vielleicht der ernsteste. Die Jugend kochte in ihm. Er trug uns seine Gedichte vor. Wir lagen im Gras und blinzelten in die Sonne. Das war eine so schöne Zeit, daß ich allein schon wegen der Erinnerung an sie Werfel lieben muß wie die übrigen Gefährten dieser Zeit.« »Sie sind aber traurig«, sagte ich. Kaa lächelte, als ob er sich entschuldigen möchte. »Schöne Erinnerungen schmecken mit Trauer gemischt viel besser. Ich bin also eigentlich nicht traurig, sondern nur genußsüchtig.« »Das sind die bitteren Wurzeln von Franz Blei.« Wir lachten beide. Das war aber nur ein Augenblick. Franz Kaa war gleich wieder ernst. »In Wirklichkeit ist es ja ganz anders«, sagte er. »Wenn ich daran denke, daß ich von der Liebe meiner besten Freunde, von der Musik nichts verstehe, so ergrei mich immer eine Art leiser, bittersüßer Trauer. Es ist nur so ein Windhauch, ein Anhauchen des Todes. Im Augenblick ist es weg. Doch wird mir dabei klar, wie unendlich fern mir selbst die allernächsten Menschen sind, und so bekommt mein Gesicht einen bösen Ausdruck, den Sie mir verzeihen müssen.«
»Was soll ich Ihnen verzeihen? Sie haben mir ja nichts getan. Im Gegenteil, ich muß mich wegen meiner Fragerei bei Ihnen entschuldigen.« Kaa lachte. »Die einfachste Lösung: die Schuld wird auf Sie ausgedehnt. Ich werde Sie bestechen.« Kaa öffnete die Schublade seines Schreibtisches und reichte mir ein buntes Bändchen des Insel-Verlages. »Was sich Wüstenväter und Mönche erzählten«, las ich laut den Titel. »Es ist reizend«, sagte Kaa. »Ich habe mich wunderbar unterhalten. Die Mönche sind in der Wüste; die Wüste ist aber nicht in ihnen. Das ist Musik! Sie brauchen mir das Büchlein nicht mehr zurückzugeben.«
Franz Kaa konnte strittige Dinge schon mit einer einzigen Bemerkung blitzartig beleuchten. Dabei bemühte er sich nie, geistreich oder gar witzig zu erscheinen. Was immer er sagte, aus seinem Munde klang es einfach, selbstverständlich, natürlich. Das wurde nicht durch irgendeine besondere Wortkonstellation, das Mienenspiel oder den Ton der Stimme erzielt. Kaas ganze Persönlichkeit wirkte auf den Zuhörer. Er war so ruhig und still. Dabei hatte er lebhae, leuchtende Augen, mit denen er – voller hilfloser Verlegenheit – zu zwinkern begann, wenn ich im Gespräch Musik oder seine schristellerische Arbeit berührte. »Die Musik ist für mich so etwas wie das Meer«, sagte er einmal. »Ich bin überwältigt, hingerissen zur Bewunderung, begeistert und doch so ängstlich, so schrecklich ängstlich vor der Unendlichkeit. Ich bin eben ein schlechter Seemann. Max Brod ist ganz anders. Der stürzt sich kopfüber in die tönende Flut. Das ist ein Preisschwimmer.« »Max Brod ist Musikliebhaber?«
»Er versteht Musik wie selten jemand. Wenigstens hat es Vítězslav Novák gesagt.« »Sie kennen Novák?« Kaa nickte. »Flüchtig. Novák und viele andere tschechische Komponisten und Musiker kommen ständig zu Max. Sie haben ihn sehr gerne. Er sie auch. Er hil jedem, wo er nur kann. Das ist Max.« »Doktor Max Brod spricht also gut tschechisch?« »Ausgezeichnet. Ich beneide ihn darum. Sehen Sie –« Kaa öffnete ein Seitenfach des Schreibtisches. »Hier sind zwei vollständige Jahrgänge der Zeitschri Naše Reč [Unsere Sprache]. Ich lese und studiere sie eifrig. Schade, daß ich nicht alle bis jetzt erschienenen Hee habe. Ich würde sie wirklich gerne besitzen. Die Sprache ist der tönende Atem der Heimat. Ich – ich bin aber ein schwerer Asthmatiker, da ich weder tschechisch noch hebräisch kann. Beides lerne ich. Das ist aber so, als ob man einem Traum nachlaufen würde. Wie kann man außen etwas finden, das aus dem Innern kommen soll?« Kaa schloß das Seitenfach des Schreibtisches. »Aus der Karpfengasse in der Judenstadt, wo ich geboren wurde, zur Heimat ist es unermeßlich weit!« »Ich wurde in Südslawien geboren«, bemerkte ich, da mich der Ausdruck seiner Augen rührte. Kaa schüttelte aber langsam den Kopf. »Aus der Judenstadt zur Teinkirche ist es viel, viel weiter. Ich bin aus einer anderen Welt.«
Als wir einmal – das genaue Datum weiß ich nicht mehr – an einem Nachmittag vom Altstädter Ring durch die Pariser Straße zur Moldau schlenderten, blieb Doktor Kaa plötzlich gegenüber der Alten Synagoge stehen und sagte,
das vorhergehende Gespräch ganz außer acht lassend: »Sehen Sie die Synagoge? Sie wird von allen Gebäuden ringsherum überragt. Sie ist unter den modernen Häusern, die hier stehen, nur ein altertümliches Einsprengsel, ein Fremdkörper. So ist es mit allem Jüdischen. Das ist der Grund feindlicher Spannungen, die sich immer wieder zu aggressiven Reizhandlungen verdichten. Das Ghetto war – meiner Meinung nach – zuerst ein drastisches Befriedigungsmittel. Die Umwelt der Juden wollte das Unbekannte von sich abtrennen, die Spannung durch die Ghettomauern entschärfen.« Ich unterbrach ihn: »Das war natürlich ein Unsinn. Durch die Ghettomauern wurde das Fremde nur noch verstärkt. Die Mauern sind weg, der Antisemitismus ist aber geblieben.« »Die Mauern wurden nach innen verlagert«, sagte Doktor Kaa. »Die Synagoge liegt jetzt schon unter dem Niveau der Straße. Doch man wird weiter gehen. Man wird die Synagoge schon durch die Vernichtung der Juden selbst zu zerstampfen versuchen.« »Nein, das glaube ich nicht«, rief ich. »Wer könnte das tun?« Doktor Kaa wandte mir sein Gesicht zu. Es war traurig verschlossen. In seinen Augen war kein Licht. »Die Tschechen sind keine Antisemiten«, sagte ich. »Sie würden sich nie zu Pogromen verleiten lassen. Sie sind keine Haschischesser überheblicher Ideologien.« »Das stimmt«, sagte darauf tonlos Doktor Kaa und setzte sich wieder in Bewegung. »Die Tschechen sind ja selbst nur ein kleines Einsprengsel im Existenzraum der Großen. Man wollte deshalb schon mehrmals ihre Seele erwürgen. Es sollte die Sprache und damit das Volk verschwinden. Doch man kann nichts, was aus dem Staub der Erde entstand, mit Gewalt auslöschen. Es bleibt immer der Ursamen aller Wesen und Dinge zurück. Der Staub ist ewig.«
Hinter Kaas enggeschlossenen Lippen ertönte ein undefinierbarer Laut. Ich weiß nicht, ob es ein kurzes Brummen oder ein glucksendes Lachen war. Ich sah ihm forschend ins Gesicht. Doch da begann er mit mir über meine Markensammlung zu sprechen.
Bei einer anderen Gelegenheit, als wir auf die tschechischen Sprachreiniger zu sprechen kamen, bemerkte er: »Die größte Schwierigkeit der tschechischen Sprache besteht darin, sie richtig von den anderen Sprachen abzugrenzen. Sie ist jung, und darum muß man sie sorgsam hüten.«
»Musik zeugt neue, feinere, kompliziertere und darum gefährlichere Reize«, sagte Franz Kaa einmal. »Dichtung will aber die Wirrnis der Reize klären, in das Bewußtsein heben, reinigen, und dadurch vermenschlichen. Musik ist eine Multiplikation des sinnlichen Lebens. Die Dichtung dagegen ist seine Bändigung und Höherführung.«
Ich bemühte mich, den Ideengehalt eines eaterstückes, das ich eben gelesen hatte, zu erklären. »Und alles das wird dort einfach gesagt?« frug Kaa. »Nein«, antwortete ich. »Der Verfasser arbeitet an einer bildlichen Darstellung dieser Dinge.« Er nickte kurz: »Das ist richtig. Etwas nur sagen ist zu wenig. Man muß die Dinge leben. Die Sprache ist da ein wesentlicher Mittler, etwas Lebendiges, ein Medium. Das darf man aber nicht wie ein Mittel behandeln, sondern
man muß es auch erleben, durchleiden. Die Sprache ist eine ewige Geliebte.«
Über eine Anthologie von Arbeiten expressionistischer Dichter sagte er: »Das Buch macht mich traurig. Die Dichter strecken nach den Menschen die Hände aus. Die Menschen sehen aber keine freundschalichen Hände, sondern nur krampa geschlossene Fäuste, die nach den Augen und Herzen zielen.«
Wir sprachen über Platons ideale Staatsgesetze, die ich in der Ausgabe des Verlages Eugen Diederichs las. Ich hatte Bedenken dagegen, daß Platon die Dichter aus der Gemeinscha seines Staates ausschloß. Kaa sagte: »Das ist durchaus verständlich. Die Dichter versuchen es, dem Menschen andere Augen einzusetzen, um dadurch die Wirklichkeit zu verändern. Darum sind sie eigentlich staatsgefährliche Elemente, denn sie wollen ändern. Der Staat und mit ihm alle seine ergebenen Diener wollen nämlich nur dauern.«
Als wir einmal über den Graben gingen, sahen wir im Schaufenster der Buchhandlung Neugebauer eine kleine, schwarzweiße Einladung zu einem Vortrag des eosophen Rudolf Steiner.“ Kaa fragte mich, ob ich ihn kenne. »Nein«, sagte ich. »Ich weiß nur, daß er existiert. Mein Vater ist der Meinung, daß er ein Mystagoge sei, der für
die reichen Leute einen gefälligen Religionsersatz fabriziert.« Doktor Kaa schwieg. Anscheinend dachte er darüber nach, was ich ihm gesagt hatte, denn als wir in die Herrengasse einbogen, erklärte er: »Der Begriff ›Ersatzreligion‹ ist schrecklich. Damit will ich nicht sagen, daß so etwas nicht existiert. Im Gegenteil: es gibt eine ganze Reihe von Ersatzreligionen, von denen jede ein spezieller Wahn- und Irrglaube ist.« »Wie wollen Sie hier das Richtige vom Wahn unterscheiden?« »Durch die Praxis. Der Mythos wird erst durch den Alltagsgebrauch wahr und wirksam, sonst bleibt er nur ein verwirrendes Spiel der Phantasie. Darum ist jeder Mythos mit der Gebrauchsanweisung eines Ritus verbunden. Die Religionspraktik wird vereinfacht, doch sie ist nichts Einfaches. Sie verlangt Opfer. Man muß vor allem ein Stück seiner Bequemlichkeit aufgeben. Das paßt nicht den Leuten, denen es – wie man sagt – gut geht. Deshalb suchen sie einen bequemen Ersatz. Da hat Ihr Vater recht. Doch ist der Ersatz einer Wahrheitsgrundlage überhaupt möglich?« »Nein!« pflichtete ich ihm bei. »Das ist eine Verirrung.« »Natürlich! Wie die Lu für den Körper, so ist die Wahrheit für die Seele und damit natürlich auch für den Körper unersetzlich.« Er lächelte. »In der Schöpfung gibt es keine Arbeitsteilung. Da kommt es immer gleichzeitig auf das Ganze und auf das Einzelne an. Die Aueilung in Spezialgebiete ist eine Erfindung des Menschen, der vor dem Meer der Ganzheit, vor dem Gestern, Heute und Morgen zurückschreckt. Die eosophie, die Liebe zum Sinn ist aber nichts anderes als eine Sehnsucht nach der Ganzheit. Man sucht einen Weg.« »Zeigt ihn Steiner?« fragte ich. »Ist er ein Prophet oder ein Scharlatan?« »Ich weiß nicht«, erklärte darauf Doktor Kaa. »Ich bin
mir über ihn nicht im Klaren. Er ist ein ungemein wortgewandter Mann. Diese Eigenscha gehört aber auch zu dem Rüstzeug der Bauernfänger. Damit will ich nicht sagen, daß Steiner ein Bauernfänger sei. Doch möglich wäre auch das. Betrüger versuchen es immer, auf billige Art schwierige Probleme zu lösen. Das Problem, mit dem sich Steiner beschäigt, ist dann das Schwierigste, das es überhaupt gibt. Es ist der dunkle Riß zwischen Bewußtheit und Sein, die Spannung zwischen dem begrenzten Wassertropfen und dem unendlichen Meer. Ich glaube, daß hier nur Goethes Haltung das Richtige ist. Man muß in ruhiger Verehrung des Unerkennbaren alles Erkennbare geordnet in sich aufnehmen. Das Kleinste wie das Größte muß einem nahe und wert sein.« »Ist das auch Steiners Ansicht?« Kaa bemerkte darauf achselzuckend: »Ich weiß nicht. Aber das ist vielleicht nicht seine, sondern meine Schuld. Steiner ist mir zu fern. Ich kann ihm nicht näherkommen. Ich bin zu sehr in mich selbst eingesponnen.« »Sie sind eine Schmetterlingspuppe!« lachte ich. »Ja«, nickte darauf ernst Doktor Kaa, »ich stecke in einem eisenharten Spinnwebennetz, ohne die leiseste Hoffnung, daß aus dieser Verpuppung einmal ein Falter herausfliegt. Aber das ist auch nur mein Fehler – besser gesagt – eine immer wiederkehrende Sünde der Hoffnungslosigkeit.« »Und das, was Sie schreiben?« »Das sind nur Versuche, in den Wind geworfene Papierschnitzel.« Wir waren an der Ecke gegenüber der Hauptpost angelangt. Doktor Kaa reichte mir die Hand – »Verzeihen Sie, ich bin mit Brod verabredet!« – und eilte mit langen Schritten über den Fahrdamm.
Ich begleitete Kaa aus der Kanzlei nach Hause. Vor dem Eingang des Hauses seiner Eltern auf dem Altstädter Ring trafen wir unerwartet mit Felix Weltsch, Max Brod und seiner Frau zusammen. Es wurden einige Worte gewechselt und ein Besuch bei Oskar Baum für den Abend vereinbart. Als Kaas Freunde uns verließen, erinnerte er sich plötzlich, daß ich Brods Frau zum erstenmal sah. »Und ich habe Sie gar nicht richtig vorgestellt«, sagte er. »Das tut mir wirklich leid.« »Das macht nichts«, meinte ich. »Ich konnte sie mir wenigstens besser ansehen.« »Gefiel sie Ihnen?« fragte Kaa. »Sie hat märchenha blaue Augen«, bemerkte ich. Kaa erstaunte. »Das haben Sie sofort entdeckt?« »Ich studiere Augen. Sie sagen mir mehr als Worte«, sagte ich großartig. Aber Franz Kaa hörte nicht. Ernst sah er über mich hinweg. »Alle meine Freunde haben wunderbare Augen«, sagte er. »Die Strahlen ihrer Augen sind die einzige Beleuchtung des dunklen Verlieses, in dem ich lebe. Doch das ist auch nur ein Kunstlicht.« Er lachte, reichte mir die Hand und ging in das Haus.
Über die Schlaflosigkeit, an der er litt, sagte er einmal: »Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Schlaflosigkeit nur eine große Todesangst. Vielleicht fürchte ich mich, daß die Seele – welche mich im Schlafe verläßt – nicht mehr zurückkehren könnte. Vielleicht ist die Schlaflosigkeit nur das allzu wache Bewußtsein der Sünde, das sich vor der Möglichkeit eines raschen Gerichtes fürchtet. Vielleicht ist die
Schlaflosigkeit selbst schon Sünde. Vielleicht ist sie eine Auflehnung gegen das Natürliche.« Ich bemerkte, daß Schlaflosigkeit eine Krankheit sei. Kaa antwortete darauf: »Die Sünde ist die Wurzel jeder Krankheit. Das ist der Grund der Sterblichkeit.«
Ich war mit Kaa in einer Ausstellung französischer Maler im Ausstellungssaal am Graben. Es waren dort Bilder von Picasso: kubistische Stilleben und rosa Frauen mit riesigen Füßen. »Das ist ein mutwilliger Deformator«, bemerkte ich. »Das glaube ich nicht«, sagte Kaa. »Er notiert bloß die Verunstaltungen, die noch nicht in unser Bewußtsein eingedrungen sind. Kunst ist ein Spiegel, der ›vorausgeht‹ wie eine Uhr – manchmal.«
Im Frühling wurden in Prag zwei vor kurzer Zeit im Ausland erfundene Lichtbild-Automaten aufgestellt, welche auf einem Papierbogen – ich glaube – sechzehn oder noch mehr verschiedene Gesichtsausdrücke der photographierten Person festhielten. Als ich mit einer solchen Serie von Bildern zu Doktor Kaa kam, sagte ich gutgelaunt: »Man kann sich für ein paar Kronen von den verschiedensten Seiten photographieren lassen. Der Apparat ist das mechanisierte Erkenne-dichselbst.« »Sie wollen sagen: Verkenne dich selbst!« meinte darauf Doktor Kaa mit einem feinen Lächeln. Ich protestierte: »Wieso? Die Photographie lügt doch nicht!« »Wer sagt Ihnen das?« Doktor Kaa neigte den Kopf zur Schulter: »Die Photographie fesselt den Blick an die Ober
fläche. Damit vernebelt sie gewöhnlich das verborgene Wesen, das nur wie ein Licht- und Schattenhauch durch die Züge der Dinge hindurchschimmert. Dem kann man mit den schärfsten Linsen allein nicht beikommen. Man muß sich da schon mit dem Gefühl vortasten. Oder glauben Sie, daß man der abgrundtiefen Wirklichkeit, welcher während all der vorhergehenden Epochen ganze Legionen von Dichtern, Künstlern, Wissenschalern und anderen Zauberern voll banger Sehnsucht und Hoffnung gegenüberstanden, daß man dieser immer wieder zurückweichenden Wirklichkeit nun einfach durch das Niederdrücken der Knöpfe einer billigen Apparatur erfolgreich beikommen kann? – Ich bezweifle es. – Dieser Lichtbild-Automat ist kein multipliziertes Menschenauge, sondern nur ein phantastisch vereinfachter Fliegenblick.«
Ich brachte Photographien konstruktivistischer Bilder. Kaa sagte: »Das alles sind nur Träume von einem wunderbaren Amerika, von einem Zauberland unbeschränkter Möglichkeiten. Das ist durchaus verständlich, da Europa immer mehr und mehr zum Land der unmöglichen Beschränktheit wird.«
Wir sahen eine Sammlung politischer Zeichnungen von George Grosz an. »Das ist aber ein Haß«, bemerkte ich. Franz Kaa lächelte sonderbar. »Enttäuschte Jugend«, sagte er nach einer Weile. »Es ist Haß, der aus der Unmöglichkeit zu lieben entsteht. Die Kra des Ausdruckes entspringt einer ganz bestimmten Schwäche. Das ist die Quelle der Verzweiflung und Gewalttätigkeit dieser Zeichnungen. Übrigens habe ich in
einem Almanach irgendwelche Gedichte von Grosz gelesen.« Kaa zeigte auf die Zeichnungen: »Das ist gezeichnete Literatur.«
Franz Kaa stieß sich manchmal mit einer Vehemenz, die an die ungestüme Beharrlichkeit fanatischer Talmudisten erinnerte, an dem beschränkten Wortsinn der Begriffe, die für ihn nicht Lautsymbole von Tatsachen, sondern selbst eine autonome und unumstößliche Wahrheit darstellten. »Die Worte müssen genau und fest umgrenzt sein«, sagte er mir einmal, »sonst könnten wir in ganz unerwartete Abgründe stürzen. Statt auf glattbehauenen Stufen emporzukommen, könnten wir in unförmigem Sand und Schlamm versinken.« Doktor Kaa konnte daher nichts mehr auringen, als eine ungenaue, unbestimmt und unverantwortlich hingeplapperte Aussage. In solchen Fällen konnte dann seine Stimme mitunter – was bei ihm etwas ganz Außergewöhnliches war – sehr scharf und hart werden. Den Anlaß dazu lieferte o ein ganz gewöhnliches, unbedeutendes Wort oder eine für jeden anderen Menschen scheinbar nichtige Begebenheit. So kam ich einmal in seine Kanzlei gerade in dem Augenblick, da er ganz verstört auf ein großes, braunes Buch auf seinem Schreibtisch starrte. Er beantwortete meinen Gruß nur mit einem ganz kurzen Kopfnicken und sagte dann sofort anklagend: »Schauen Sie, was man mir auf den Tisch legte!« Ich sah nach der Tischplatte hin und meinte: »Ein Buch.« Doch darauf wurde er ungeduldig. »Ja, ein Buch! In Wirklichkeit ist es aber fast nur eine hohle, leere Attrappe. Es ist ein Kunstlederband. Das heißt: es ist hier weder eine
Spur von Kunst, noch eine solche von Leder. Alles ist Papier. Und innen? Da schauen Sie!« Er schlug den Band auf. Ich sah reine Blätter gelblich-grauen Kanzleipapiers. »Innen ist nichts, gar nichts!« sagte Doktor Kaa erregt. »Will man mir damit etwas andeuten? Was soll dieses Buch, das gar kein Buch ist, bedeuten? Ich war nur einige Minuten in der Kanzlei daneben. Als ich zurückkam, lag diese Sache schon da auf dem Tisch.« »Vielleicht«, bemerkte ich vorsichtig, »ist die Sache gar nicht für Sie bestimmt. Soviel ich weiß, beschäigt sich der Diener Seidel in der Registratur mit Buchbinderarbeiten. Rufen Sie ihn an. Vielleicht hat er das Buch für jemanden hergegeben.« Doktor Kaa befolgte meinen Rat, er griff zum Telefon und erfuhr, daß Seidel den Kunstlederband für Doktor Treml auf den Tisch gelegt hatte, da sich Kaas Bürokollege ab und zu solche Bände mit leeren Papierblättern für seine Privatexzerpte anfertigen ließ. Das beruhigte Doktor Kaa. Er legte die Hände mit auseinandergespreizten Fingern auf die Tischplatte und blickte eine Weile versonnen auf den Kunstlederband, den ich auf Doktor Tremls Tisch gelegt hatte. Dann wandte er mir langsam sein Gesicht zu, lächelte wie ein kleiner, schüchterner Schuljunge und meinte mit leiser, durch innere Widerstände gehemmter Stimme: »Mein Verhalten kam Ihnen etwas verdreht vor. Ich kann mir aber nicht helfen: ich fürchte mich vor allen Scheingebilden. Das Als-Ob ist immer eine Schlinge des Bösen. Sie können es auf Schritt und Tritt sehen. Es gibt nichts Ärgeres als den Schein, der alles Wirken ins Gegenteil umdreht.
Ich weiß nicht, wie das Lichtspielwesen im alten ÖsterreichUngarn organisiert war. In der Ersten Tschechoslowakei konnte man jedenfalls ein Lichtspieltheater nur auf Grund einer besonderen Kinokonzession betreiben. Diese Bewilligung wurde jedoch grundsätzlich nicht physischen Personen, sondern nur ›vaterländischen Rechtspersonen‹, wie z. B. der Feuerwehr, den Turnern und ›anderen gemeinnützigen Körperschaen‹ erteilt, die sie dann in der Regel wieder gegen ein Fixum oder einen Anteil am Reinertrag an verschiedene kapitalkräige Unternehmen verpachteten. Eine Kinokonzession war demnach ein Wertpapier, dessen Kurs und Ertrag in der Ersten Tschechoslowakischen Republik von Jahr zu Jahr stieg, da nach den Entbehrungen des Ersten Weltkrieges das Unterhaltungsbedürfnis breiter Bevölkerungsschichten und damit die Zahl der Kinobesucher sprungha emporschnellte. Dadurch bekamen dann natürlich auch die Konzessionäre von den Pächtern der Kinolizenzen ein schönes Stück Geld, das die Eitelkeit der verschiedenen Vereinsmeier so stärkte, daß sie auf der Verewigung des Namens ihrer gemeinnützigen oder vaterländischen Körperscha in der Bezeichnung des von ihrem Verein konzessionierten Lichtspieltheaters bestanden. So geschah es dann, daß alle Kinos der tschechischen Turnerscha Sokol (deutsch: Falke) in allen Städten und Dörfern der Republik Sokol hießen. Die Vereinigung der tschechischen Legionäre, welche die Konzession des Lichtspieltheaters neben der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt besaß, nannten ihr Kino – gedenkend des Auretens der Legionäre in Rußland – Sibirien (tschechisch: Sibír). Das Kino der sozialdemokratischen Parteileitung hieß dann Lido-Bio, was eigentlich eine Abkürzung der Bezeichnung Lidový biograf (Volkskino) darstellte. Neben solchen einfach verständlichen Kinonamen gab es jedoch in der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine
Anzahl von Lichtspieltheatern mit ganz ausgefallenen Namen. So hieß z. B. das größte Kino eines bedeutenden Industriezentrums Sanitas. Die Konzession gehörte dem Roten Kreuz. Das war vielen Leuten nicht bekannt. Dagegen kannte man damals in der ganzen Republik den Begriff Sanitas als die Wortmarke einer Bruchbandfabrik. Das Kino des Roten Kreuzes wurde deshalb von den Spaßvögeln sehr häufig das Kino der Ersten Hilfe oder das BandagenKino genannt. Das Absurdeste, was es aber wohl auf dem Gebiete der Kinonamen je in der Welt gegeben haben düre, war die Inschri über dem Portal eines kleinen Lichtspieltheaters in dem Prager Arbeiterviertel Žižkov. Sie lautete Kino der Blinden (tschechisch: Bio slepcu), da die Kinolizenz dem Unterstützungsverein der Blinden gehörte. Doktor Franz Kaa, dem ich von dem Kino erzählte, machte zuerst große Augen, um dann im nächsten Augenblick so ein lautes Lachen auszustoßen, wie ich es von ihm nie zuvor und auch später nie wieder hörte. Dann sagte er: »Bio slepcu! So sollten eigentlich alle Kinos heißen. Man wird durch die Flimmerbilder ja nur wirklichkeitsblind. Wie haben Sie dieses Blindenkino gefunden?« »Ich arbeite dort«, sagte ich und erzählte ihm, wie es dazu gekommen war. Das Kino der Blinden befand sich in Žižkov in einem ehemaligen alten Speicher, den ein aus Amerika zurückgekehrter tschechischer Auswanderer erstanden und zu einem ziemlich primitiven Lichtspieltheater umgebaut hatte. Deshalb wurde es von den Bewohnern der Umgebung mit deutlicher Verachtung nur Scheunenkino genannt. Das Kino war hier kein festlich aufgezogener eaterersatz, sondern nur eine kahle und ziemlich schäbige Kulturfutterkrippe, zu der die Leute aus der nächsten Umgebung o nur in Hausschuhen und ohne Hemdkragen kamen und die ab
rollende Filmhandlung sehr häufig mit recht groben Glossen begleiteten. Der Kinobesitzer, der während jeder Vorstellung (mit einem großen Melonenhut auf dem Kopf) neben dem Orchester stand, empfand diese Glossen in der Regel als persönliche Beleidigungen, gegen die er sich mit grölender Stimme verwahrte. Wurde ihm darauf aus dem dunklen Saal noch irgendeine Bemerkung entgegengeschleudert, so stürzte er – von zwei stämmigen Platzanweisern begleitet – in den verdunkelten Zuschauerraum, ergriff einen der Glossatoren und zerrte ihn zur Tür, wobei er gewöhnlich brüllte: »Raus! Wir sind kein Beisel, sondern ein eater. Mit Ihrem Herumquatschen beleidigen Sie alle Leute, die hier gebildet und ruhig auf ihren Plätzen sitzen. Also müssen Sie raus. Habe ich recht?« Die Frage wurde an das Publikum gerichtet, das auf dieses Stichwort sofort – wie ein antiker Sprechchor – laut in Aktion trat. »Richtig! Raus! Schmiert ihm eine! Stille! Weiterspielen!« Der dreiste Glossator wurde mit Musikbegleitung aus dem Saal entfernt, denn das kleine Kinoorchester hatte während der ganzen Kracheinlage ruhig weitergespielt. Dazu wurde jeder Musiker beim Übernehmen des Postens sofort ausdrücklich verpflichtet. Das Weiterspielen während der Wortduelle und des Abtransportes des jeweiligen Zwischenrufers gehörte demnach zu den vereinbarten Arbeitsbedingungen, die auch im übrigen nicht besonders vorteilha waren. Im Kino der Blinden gab es an den Wochentagen nur eine einzige Abendvorstellung. Drei Vorstellungen gab es nur an Sonn- und Feiertagen. Die Musiker konnten hier also kein anständiges Einkommen erzielen, da sie nur nach der Anzahl der wenigen absolvierten Vorstellungen entlohnt wurden. Darum spielten im Kino der Blinden keine Be
rufsmusiker, sondern Angehörige anderer Berufe, die das Musizieren lediglich als einen bequemen Nebenberuf betrieben. Unter ihnen war auch mein ehemaliger Schulkollege Olda S., der tagsüber hinter dem Verkaufstisch einer kleinen Drogerie in der Nähe des Wenzelsplatzes stand, um dann abends in dem Žižkover Scheunenkino als zweiter Geiger Märsche, Operettenmelodien, Intermezzos, Opernpotpourris, Walzer und andere Musikstücke herunterzufiedeln. Als dann einmal – ich weiß nicht mehr, wann es eigentlich war – in dem Blindenkino der Harmoniumspieler – ein alter, dem Trunk ergebener, ehemaliger Lehrer – bei einer Probe vom Schlag getroffen vom Stuhl fiel und das kleine Orchester plötzlich ohne den Holzbläserersatz des Harmoniums dastand, holte mich Olda als Aushilfe. Da ich jedoch die erforderlichen musikalischen Arbeitsfähigkeiten besaß, schloß man mit mir sofort einen Vertrag, und so bediente ich in dem Scheunenkino eine gewisse Zeit den – Harmonium genannten – asthmatisch ächzenden Holzbläserersatz. Die Kronen, die ich hier für jede Vorstellung bekam, waren für mich ein immenser Reichtum, und so ließ ich mir für den ersten Wochenlohn Kaas drei Erzählungen – Die Verwandlung, Das Urteil und den Heizer – in einen dunkelbraunen Lederband binden, auf dessen Deckel der Buchbinder einen brennenden Dornbusch und darunter den Namen Franz Kaa in zart gezeichneter Goldprägung anbrachte. Das Buch lag in der Aktentasche auf meinen Knien, als ich Doktor Kaa von dem Scheunenkino erzählte. Nun zog ich den Lederband aus der Tasche und reichte ihn, voll Stolz, Franz Kaa über den Tisch hinüber. »Was ist das?« fragte er erstaunt. »Das ist mein erster Wochenlohn.« »Ist das nicht schade?«
Kaas Augenlider flatterten. Sein Mund war schiefgezogen. Er betrachtete einige Sekunden die Goldprägung mit dem Namen, blätterte flüchtig in dem Buch und legte es – mit deutlich sichtbarer Verstimmung – vor mich auf den Tisch. Ich wollte schon fragen, was ihm an dem Buch nicht gefalle, als er zu husten begann. Er holte aus der Jacke ein Taschentuch hervor, hielt es vor den Mund, steckte es ein, als der Anfall verging, stand auf und ging zu dem kleinen Waschtisch hinter seinem Rücken, wusch sich die Hände und meinte dann beim Abtrocknen: »Sie überschätzen mich. Ihr Vertrauen erdrückt mich.« Er setzte sich zum Schreibtisch und bemerkte mit den Händen an den Schläfen: »Ich bin kein brennender Dornbusch. Ich bin keine Flamme.« Ich unterbrach ihn: »Das dürfen Sie nicht sagen. Das ist ungerecht. Für mich – zum Beispiel – sind Sie Feuer, Wärme und Licht« »Nein, nein!« entgegnete er kopfschüttelnd. »Sie irren. Mein Geschreibsel verdient keinen Ledereinband. Es ist nur mein ganz persönliches Schreckgespenst. Man sollte es überhaupt nicht drucken. Man sollte es verbrennen und auslöschen. Es hat keine Bedeutung.« Ich wurde wild. »Wer sagt Ihnen das?« – Ich mußte ihm widersprechen. – »Wie können Sie so etwas sagen? Können Sie in die Zukun sehen? Das, was Sie mir hier sagen, sind nur subjektive Gefühle. Vielleicht wird Ihr Gekritzel, wie Sie sagen, schon morgen eine bedeutungsvolle Stimme der Welt darstellen. Wer kann das heute schon wissen?« Ich holte tief Atem. Kaa starrte auf die Tischplatte. In seinen Mundwinkeln hingen zwei kurze, scharfe Schattenstriche. Ich schämte mich meiner Heigkeit, darum sagte ich nun ruhig, in leise erklärendem Ton: »Erinnern Sie sich, was Sie mir auf der Picasso-Ausstellung sagten?«
Kaa sah mich verständnislos an. Ich fuhr fort: »Sie sagten, daß die Kunst ein Spiegel sei, der – wie eine verstellte Uhr – vorausgeht. Vielleicht ist das, was Sie schreiben, in dem heutigen Kintopp der Bünden auch nur ein Spiegel des Morgen.« »Bitte, lassen Sie das«, sagte Kaa gequält und bedeckte mit beiden Händen die Augen. Ich entschuldigte mich: »Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht aufregen. Ich bin dumm.« »Nein, nein – das sind Sie nicht!« Er bewegte – ohne die Hände vom Gesicht abzunehmen – den ganzen Oberkörper hin und her. »Sie haben recht. Sie haben bestimmt recht. Deshalb kann ich wahrscheinlich nichts beenden. Ich schrecke vor der Wahrheit zurück. Aber kann man anders handeln?« – Er riß die Hände von seinen Augen los, stemmte die geballten Fäuste auf die Tischplatte, beugte sich vor und meinte mit leiser, gepreßter Stimme: »Man muß schweigen, wenn man nicht helfen kann. Niemand darf durch seine Hoffnungslosigkeit den Zustand der Patienten verschlimmern. Deshalb soll mein ganzes Gekritzel vernichtet werden. Ich bin kein Licht. Ich habe mich nur in den eigenen Dornen verrannt. Ich bin eine Sackgasse.« Kaa lehnte sich zurück. Seine Hände glitten kralos von der Tischplatte. Er schloß die Augen. »Ich glaube nicht daran«, sagte ich voll Überzeugung, fügte jedoch sofort beschwichtigend hinzu: »Und sollte es schon so sein, so ist es verdienstvoll, wenn man den Menschen die Sackgasse zeigt. Ihren Weg gehen bestimmt auch andere.« Darauf schüttelte Kaa nur langsam den Kopf: »Nein, nein … Ich bin schwach und müde.« »Sie sollten die Arbeit hier aufgeben«, sagte ich leise, um die Spannung, die ich zwischen ihm und mir spürte, zu mildern. Kaa nickte. »Ja, das sollte ich. Ich wollte mich hier hinter dem Kanzlei
tisch verkriechen, doch er verstärkte nur meine Schwäche. Er wurde –« Kaa sah mich mit einem unbeschreiblich schmerzlichen Lächeln an – »zu einem Kino der Blinden.« Dann schloß er wieder die Augen. Ich war froh, als in diesem Augenblick hinter mir an der Eingangstür geklop wurde.
Ich brachte Kaa einige neue Bücher aus der Buchhandlung Neugebauer zur Ansicht. Als er in einem Band mit Zeichnungen von George Grosz blätterte, sagte er: »Das ist die alte Ansicht vom Kapital – der dicke Mann im Zylinderhut sitzt auf dem Geld der Armen.« »Das ist ja nur eine Allegorie«, bemerkte ich. Franz Kaa zog die Augenbrauen zusammen. »Sie sagen ›nur‹! Die Allegorie wird im Denken der Menschen zum Abbild der Wirklichkeit, was natürlich falsch ist. Aber die Verirrung ist schon hier.« »Sie meinen also, Herr Doktor, daß das Bild falsch sei.« »Das möchte ich nicht gerade sagen. Es ist richtig, und es ist falsch. Richtig ist es nur nach einer Richtung hin. Falsch ist es, insofern es diese Teilansicht zur Gesamtansicht proklamiert. Der dicke Mann im Zylinderhut sitzt den Armen im Nacken. Das ist richtig. Der dicke Mann ist aber der Kapitalismus, und das ist nicht mehr ganz richtig. Der dicke Mann beherrscht den armen Mann im Rahmen eines bestimmten Systems. Er ist aber nicht das System selbst. Er ist nicht einmal sein Beherrscher. Im Gegenteil: der dicke Mann trägt auch Fesseln, die in dem Bild nicht dargestellt sind. Das Bild ist nicht vollständig. Darum ist es nicht gut. Der Kapitalismus ist ein System von Abhängigkeiten, die von innen nach außen, von außen nach innen, von oben nach unten und von unten nach oben gehen. Alles ist abhängig,
alles ist gefesselt Kapitalismus ist ein Zustand der Welt und der Seele.« | »Wie würden Sie ihn also darstellen?« Doktor Kaa zuckte die Achseln und lächelte traurig. »Ich weiß nicht. Wir Juden sind eigentlich keine Maler. Wir können die Dinge nicht statisch darstellen. Wir sehen sie immer im Fluß, in der Bewegung, als Wandlung. Wir sind Erzähler.« Das Eintreten eines Beamten unterbrach das Gespräch. Als der störende Besuch die Kanzlei verließ, wollte ich auf das eben begonnene, interessante Gesprächsthema zurückkommen. Kaa sagte jedoch abschließend: »Lassen wir das. Ein Erzähler kann nicht über das Erzählen sprechen. Er erzählt oder er schweigt. Das ist alles. Seine Welt beginnt in ihm zu tönen, oder sie versinkt in Schweigen. Meine Welt verklingt. Ich bin ausgebrannt.«
Ich zeigte ihm mein Porträt, das mein Freund Vladimír Sychra zeichnete. Kaa war von der Zeichnung begeistert. »Die Zeichnung ist wunderschön. Sie ist voller Wahrheit«, sagte er einigemal. »Meinen Sie damit, daß sie getreu wie eine Photographie ist?« »Was fällt Ihnen ein? Nichts kann Sie so täuschen wie eine Photographie. Die Wahrheit ist doch eine Angelegenheit des Herzens. Dem kann man nur mit der Kunst beikommen.«
»Wirkliche Realität ist immer unrealistisch«, sagte Franz Kaa. »Sehen Sie sich die Klarheit, Reinheit und Wahr
haigkeit eines chinesischen farbigen Holzschnittes an. So sprechen zu können – das wäre etwas!«
Doktor Kaa bewunderte aber nicht nur die Kunst der alten chinesischen Bilder und Holzschnitte; es bezauberten ihn auch die Sprichwörter, Gleichnisse und scharf pointierten Geschichten der altchinesischen Philosophie – und Religionsbücher, die er aus den Übersetzungen des deutschen Sinologen Richard Wilhelm-Tsingtau kannte. Das zeigte sich, als ich einmal mit der ersten tschechischen Übersetzung des Tao-Te-King des Laotse in die Unfall-Versicherungs-Anstalt kam. Doktor Kaa blätterte eine Weile interessiert in dem auf schlechtem Papier gedruckten Bändchen, legte es auf den Tisch und meinte dann: »Ich habe mich – soweit das in der Übersetzung überhaupt möglich ist – ziemlich tief und lange mit dem Taoismus beschäigt. Ich besitze fast alle Bände der deutschen Übersetzung dieser Richtung, die bei Diederichs in Jena herauskamen.« Um es zu beweisen, öffnete er ein Seitenfach seines Schreibtisches, dem er fünf gelbe, mit reichen, schwarzen Ornamenten verzierte Leinenbände entnahm, die er vor mich auf den Tischrand hinlegte. Ich nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand: , Gespräche; , Die große Lehre von Maß und Mitte; , Das Buch des Alten vom Sinn und Leben; , Das wahre Buch vom quellenden Urgrund; , Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. »Das ist ein mächtiger Reichtum«, sagte ich, als ich die Bücher auf die Schreibtischplatte zurückgelegt hatte. »Ja«, nickte Doktor Kaa, »die Deutschen sind gründlich. Sie machen aus allem ein Museum. Die fünf Bände sind nur die Häle der ganzen Sammlung.« »Die übrigen werden Sie noch nachbekommen?«
»Nein. Mir genügt das, was ich hier habe. Das ist ein Meer, in dem man leicht untergehen könnte. In Kung-Futses Gesprächen ist man noch auf festem Boden; doch später löst sich alles immer mehr und mehr in der Dunkelheit auf, Laotses Sprüche sind steinharte Nüsse. Ich bin von ihnen bezaubert, doch ihr Kern bleibt mir verschlossen. Ich habe sie mehrmals gelesen. Dann entdeckte ich aber, daß ich sie – wie ein kleiner Junge bunte Glaskugeln – aus einem Gedankenwinkel in den anderen gleiten ließ, ohne damit nur ein Stück weiterzukommen. Ich entdeckte mit den Glaskugeln dieser Sprüche eigentlich nur die trostlose Seichtheit meiner Gedankenmulden, die Laotses Glaskugeln nicht begrenzen und aufnehmen konnten. Das war eine ziemlich deprimierende Entdeckung, also ließ ich das Spiel mit den Glaskugeln bleiben. Ich habe von den Büchern eigentlich nur eines halbwegs verstanden und liebgewonnen. Das ist das Buch vom südlichen Blütenland.« Doktor Kaa nahm den Band mit der Bezeichnung in die Hand, blätterte in ihm einige Augenblicke und bemerkte dann: »Ich habe einige Stellen unterstrichen. Zum Beispiel: Durch das Leben wird nicht der Tod lebendig; durch das Sterben wird nicht das Leben getötet. Leben und Tod sind bedingt; sie sind umschlossen von einem großen Zusammenhang. Das ist – glaube ich – das Grundund Hauptproblem aller Religion und Lebensweisheit. Es handelt sich darum, den Zusammenhang der Dinge und Zeit zu erfassen, sich selbst zu entziffern, das eigene Werden und Vergehen zu durchdringen. Ich habe hier, ein paar Zeilen tiefer, einen ganzen Absatz angestrichen.« Er reichte mir das offene Buch, wo auf Seite vier kräftige Bleististriche folgende Stelle umrahmten: Die Männer des Altertums wandelten sich äußerlich, aber blieben innerlich ungewandelt. Heutzutage wandeln sich die Menschen innerlich, aber bleiben äußerlich unverwandelt. Wenn man sich in Anpassung an die Verhältnisse wandelt
und dabei doch ein und derselbe bleibt, so ist das in Wirklichkeit kein Wandel. Man bleibt ruhig im Wandel und bleibt ruhig im Nichtwandel; man bleibt ruhig bei allen Berührungen mit der Außenwelt und läßt sich nicht in die Vielheit hineinreißen. So hielten’s die Leute in den Gärten und Hallen der alten Weisen. Die Herren aber, die sich in den verschiedenen Gelehrtenschulen zusammenschlössen, bekämpen einander mit Behaupten und Widerlegen. Und wie sieht es da erst heutzutage aus! Der berufene Heilige weilt in der Welt, aber er verletzt nicht die Welt. Ich reichte Doktor Kaa das offene Buch und blickte ihn, in Erwartung eines erklärenden Kommentars, fragend an. Da er es jedoch wortlos zusammenklappte und es mit den anderen gelben Leinenbänden in den Schreibtisch zurückgab, sagte ich etwas kleinlaut: »Ich verstehe das nicht. Für mich ist die Stelle – offen gestanden – zu tief.« Darauf erstarrte Doktor Kaa. Er sah mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf einige Augenblicke still an und meinte dann langsam: »Das ist normal. Die Wahrheit ist immer ein Abgrund. Man muß – wie auf der Schwimmschule – den Sprung von dem schwankenden Brett der schmalen Alltagserfahrung wagen und in der liefe versinken, um dann – lachend nach Atem ringend – an der nun doppelt lichtdurchfluteten Oberfläche der Dinge aufzutauchen.« Doktor Kaa lächelte wie ein glücklicher Sommerfrischler. Er hätte mir bestimmt die strichumrandete Stelle des Buches erklärt. Doch wir wurden gestört. Mein Vater holte mich, um mich mit verschiedenen Besorgungen wegzuschikken. Es blieb mir also nur noch die Hoffnung, daß Doktor Kaa vielleicht später einmal zu dem ema der alten chinesischen Philosophen zurückkehren werde. Um den Glauben an diese Möglichkeit in mir zu stärken, kaue ich das für meine damaligen Verhältnisse außerordentlich teuere Buch von Dschuang Dsi, bezeichnete mit
Bleisti den durch Doktor Kaas Unterstreichung hervorgehobenen Text und trug den Band einige Wochen ständig bei mir in der Aktentasche, um ihn bei einem eventuellen Gespräch sofort bei der Hand zu haben. Allein dazu kam es nicht. Doktor Kaa erwähnte nie wieder Das wahre Buch über das südliche Blütenland. Also stellte ich die Übersetzung, die ich mir unter großen Opfern gekau hatte, in den Bücherschrank, wo sie alsbald von dem Zauber neuer Bücherentdeckungen überstrahlt wurde. Doktor Kaa beschäigte sich aber scheinbar, trotz des Schweigens, immer noch mit den Problemen des Taoismus. Das beweisen zwei kleine Bücher, die ich noch heute besitze: Mensch, werde wesentlich! Laotse-Sprüche, deutsch von Klabund; und Laotses Tao-Te-King, in der Übersetzung von F. Fiedler. Ich bekam sie von Doktor Kaa, der verlegen die Schultern hochzog, als ich ihn nach Gustav Wyneken, den Herausgeber der Fiedlerschen Übersetzungen fragte. Dann sagte er: »Das ist der Begründer und Hauptsprecher des deutschen Wandervogels. Gustav Wyneken und seine Freunde wollen dem Zugriff unserer Maschinenwelt entkommen. Sie wenden sich an die Natur und das älteste Gedankengut des Menschen. Sie buchstabieren – wie Sie hier sehen – in den Übertragungen alter chinesischer Übersetzungen der Wirklichkeit, statt im Originaltext ihrer eigenen Existenz und Verantwortung geduldig zu lesen. Das Vorgestern scheint ihnen zugänglicher zu sein als das Heute. Dabei ist die Wahrheit nie und nirgends zugänglicher als im Augenblick des eigenen Lebens. Nur hier kann man sie gewinnen oder verlieren. Was sie verbirgt, ist nur das Offensichtliche, die Fassade. Die muß man durchbrechen. Dann ist alles klar.« Doktor Kaa lächelte, doch ich fragte mit zusammengezogenen Stirnfalten: »Wie soll man es aber tun? Wie soll man dabei vorgehen? Gibt es da eine sichere Anleitung?«
»Nein, die gibt es nicht«, antwortete darauf Doktor Kaa kopfschüttelnd. »Der Weg zur Wahrheit hat keinen Fahrplan. Hier gilt nur das Wagnis der geduldigen Hingabe. Ein Rezept wäre schon ein Zurückweichen, ein Mißtrauen und damit schon der Anfang eines Irrweges. Man muß eben alles geduldig und ohne Angst hinnehmen. Der Mensch ist zum Leben und nicht zum Tode verurteilt.« Sein Gesicht überflutete ein bezauberndes, jungenha verschmitztes Lächeln, als er seinen bisher ernst vorgetragenen Sätzen nachfolgende leicht hingeworfene tschechische und deutsche Wort anhängte: »Kdo se bojí, nesmí do lesa. Ale v lese jsme vsichni. Kazdý jinde a jinak. * Es gibt nur einen festen Punkt. Das ist die eigene Unzulänglichkeit. Von der muß man ausgehen.«
Als ich einmal mit meinem Vater über Doktor Kaa sprach, charakterisierte er ihn als einen konsequenten Eigenbrötler. Er sagte: »Doktor Kaa würde am liebsten das Brot, das er ißt, mit eigenen Händen kneten und im eigenen Ofen backen. Er würde am liebsten sich selbst auch die Kleider verfertigen. Er verträgt keine Konfektion. Stehende Redensarten machen ihn mißtrauisch. Die Konvention ist für ihn nur eine Denk- und Sprachuniform, die er als erniedrigende Hälingsklu zurückweist. Doktor Kaa ist ein konsequenter Zivilist, ein Mensch, der die Bürde der Existenz mit niemandem teilen kann. Er marschiert allein. Er ist bewußt und aus eigenem Willen einsam. Das ist das ausgesprochen Militante an ihm.« Wenige Tage später kam es dann in Doktor Kaas Kanz-
* Wer sich fürchtet, darf nicht in den Wald. Im Wald sind wir aber alle. Jeder anders und an einer anderen Stelle.
lei zu einer kleinen Begebenheit, welche die Worte meines Vaters bestätigte. An der Unfall-Versicherungs-Anstalt marschierte mit wehenden Fahnen und dröhnender Blasmusik ein langer Zug blitzblanker Soldaten vorbei. Doktor Kaa, mein Vater und ich standen am offenen Fenster. Mein Vater photographierte den Umzug. Er brachte seine Spiegelkamera in die verschiedensten Positionen und war sehr um den Ausgang seiner photographischen Bemühungen besorgt. Doktor Kaa beobachtete ihn mit einem leisen, schwer zu definierenden Lächeln. Mein Vater, der dies sah, sagte: »Ich habe jetzt sechs Doppelkassetten verbraucht. Unter den zwölf Aufnahmen wird sich – glaube ich – vielleicht etwas Anständiges finden.« »Schade um das Material«, sagte darauf Doktor Kaa. »Die ganze Geschichte ist ja langweilig.« »Wieso« fragte erstaunt mein Vater. »Es ist ja nichts Neues«, entgegnete Doktor Kaa und ging zum Schreibtisch. »In Wirklichkeit haben ja alle Armeen nur einen einzigen Wahlspruch: Vorwärts für alle die, welche hinter uns an den Kassen und Schreibtischen sitzen! Die modernen Heere haben die wahren Ideale der Menschheit nicht als Ziel vor sich, sondern als einen Verrat alles Menschlichen hinter dem Rücken.« Mein Vater blickte betroffen zu Boden. Er fand die Sprache erst wieder, als sich Doktor Kaa zum Schreibtisch setzte. Dann sagte er: »Sie sind ein Rebell, Herr Doktor.« »Leider«, bemerkte darauf Kaa. »Ich bin in die aufreibendste und dabei fast gänzlich aussichtslose Rebellion, die es gibt, verwickelt.« »Gegen wen?« fragte mein Vater. »Gegen mich selbst«, antwortete Doktor Kaa mit halbgeschlossenen Augen und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Gegen die eigene Beschränktheit und Trägheit. Im Grunde
also gegen diesen Schreibtisch und den Stuhl, auf dem ich sitze.« Doktor Kaa lächelte müde. Mein Vater reflektierte seinen Gesichtsausdruck, er versuchte sich in ein Mitlächeln zu retten, doch das gelang ihm nicht gut: seine Lippen umrahmten zwei dünne Kummerfalten, seine Augenlider zitterten. Doktor Kaa, der dies gesehen haben mußte, reichte meinem Vater einige amtliche Schristücke. Er versuchte, die Verstimmung meines Vaters durch ein paar sachliche, die Akten betreffende Bemerkungen niederzuschlagen. Das gelangt ihm auch. Mein Vater verließ mit mir, verbindlich lächelnd, die Kanzlei. Doch auf dem Gang meinte er plötzlich nach einigen Schritten: »Da hast du es!« »Was?« fragte ich. »Sein Wesen! Das ist er«, murrte mein Vater. »Er kann den Menschen mit ein paar Worten vor sich selbst ganz unmöglich machen. Man kommt sich dann vor – wie ein mit Phrasensand ausgestoper Hampelmann. Dabei hat er recht. Man kann es ihm nicht verübeln. Das ganze Herumphotographieren war ein Blödsinn. Am liebsten möchte ich den Schmarren, den ich da in den Kassetten habe, belichten und auslöschen.«
Wir betrachteten Josef Čapeks Linoleumschnitte in der radikalen Zeitschri Červen [Juni]. »Die Ausdrucksform ist mir etwas unverständlich«, bemerkte ich. »Dann verstehen Sie auch nicht den Inhalt«, sagte Franz Kaa. »Die Form ist nicht der Ausdruck des Inhaltes, sondern nur sein Anreiz, das Tor und der Weg zum Inhalt. Wirkt er, dann öffnet sich auch der verborgene Hintergrund.«
Als nach dem Ersten Weltkrieg die ersten großen amerikanischen Filme und mit ihnen auch die kurzen Filmgrotesken Charlie Chaplins in Prag erschienen, bekam ich von dem damaligen jungen Lichtspielschwärmer und heutigen Filmredakteur Ludwig Venclík einen ganzen Packen amerikanischer Filmzeitschrien sowie einige Propagandaaufnahmen aus Chaplins Filmgrotesken. Doktor Kaa, dem ich die Bilder zeigte, begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Sie kennen Chaplin?« fragte ich. »Nur flüchtig«, antwortete Kaa. »Ich habe ein oder zwei seiner Grotesken gesehen.« Er betrachtete sehr ernst und aufmerksam die Bilder, die ich vor ihn hingelegt hatte, und meinte dann nachdenklich: »Das ist ein sehr energischer, arbeitsbesessener Mann. In seinen Augen qualmt die Glut der Verzweiflung über die Unveränderlichkeit des Niedrigen, doch er kapituliert nicht. Wie jeder echte Humorist, hat er ein Raubtiergebiß. Damit geht er auf die Welt los. Er tut es auf eine nur ihm eigene Art. Er ist – trotz des weißen Gesichts und der dunklen Augenreifen – kein sentimentaler Pierrot, aber auch kein bissiger Kritiker. Chaplin ist Techniker. Er ist Mensch einer Maschinenwelt, in der die Mehrzahl seiner Mitmenschen nicht mehr über das notwendige Gefühl und Gedankenwerkzeug verfügen, um sich das ihnen verliehene Leben wirklich anzueignen. Sie haben keine Phantasie. Also beginnt Chaplin zu arbeiten. Wie ein Zahntechniker falsche Gebisse, so erzeugt er Phantasieprothesen. Das sind seine Filme. Das ist der Film überhaupt.« »Mein Bekannter, der mir die Bilder geschenkt hat, sagte, daß man auf der Filmbörse eine ganze Serie von ChaplinGrotesken zeigen werde. Möchten Sie nicht mit mir hingehen? Venclík würde uns bestimmt gern mitnehmen.« »Nein, danke. Lieber nicht«, sagte darauf kopfschüttelnd Kaa. »Der Spaß ist für mich eine viel zu ernste Angele
genheit. Ich könnte da sehr leicht wie ein total abgeschminkter Clown dastehen.«
Franz Kaa schenkte mir einige Hee der Zeitschri Der Brenner, in denen sich Aufsätze von eodor Haecker, Kierkegaard-Übersetzungen sowie Carl Dallagos Abhandlungen über Giovanni Segantini befanden. Die Lektüre erweckte in mir das Interesse für den Maler der südlichen Alpen. Ich war also sehr erfreut, als mein Freund, der junge Schauspieler Franz Lederer, mir Segantinis Schrien und Briefe schenkte. Ich zeigte das Buch Kaa, wobei ich ihn besonders auf folgenden Absatz aufmerksam machte, der mir sehr gefiel: »Kunst ist nicht jene Wahrheit, die ist und außerhalb von uns besteht. Die hat und kann keinen Wert als Kunst haben: Diese ist und kann nur blinde Nachahmung der Natur sein, das heißt eine einfache Wiedergabe der Natur der Materie. Die Materie jedoch muß durch den Geist bearbeitet werden, um zu ewiger Kunst emporzuwachsen.« Franz Kaa reichte mir das Buch über die Tischplatte, sah einen Augenblick ins Leere, dann wandte er sich heig zu mir: »Die Materie muß durch den Geist bearbeitet werden. Was ist das? Das ist das Erleben, nichts als das Erleben und Bewältigen des Erlebten. Darauf kommt es an.«
Franz Kaa machte immer ein sehr verwundertes Gesicht, wenn ich ihm sagte, daß ich im Kino gewesen sei. Einmal reagierte ich auf den Wandel seines Gesichtsausdruckes mit der Frage: »Sie lieben das Kino nicht?« Kaa antwortete nach kurzer Überlegung: »Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht. Es ist zwar
ein großartiges Spielzeug. Ich vertrage es aber nicht, weil ich vielleicht zu ›optisch‹ veranlagt bin. Ich bin ein Augenmensch. Das Kino stört aber das Schauen. Die Raschheit der Bewegungen und der schnelle Wechsel der Bilder zwingen den Menschen zu einem ständigen Überschauen. Der Blick bemächtigt sich nicht der Bilder, sondern diese bemächtigen sich des Blickes. Sie überschwemmen das Bewußtsein. Das Kino bedeutet eine Uniformierung des Auges, das bis jetzt unbekleidet war.« »Das ist eine schreckliche Behauptung«, bemerkte ich. »Das Auge ist das Fenster der Seele, sagt ein tschechisches Sprichwort.« Kaa nickte. »Filme sind eiserne Fensterläden.« Einige Tage später knüpe ich an dieses Gespräch an. »Das Kino ist eine schreckliche Macht«, bemerkte ich. »Sie ist viel mächtiger als die Presse. Ladenmädchen, Modistinnen und Schneiderinnen, alle haben sie die Gesichter von Barbara La Marr, Mary Pickford und Pearl White.« »Das ist natürlich. Die Sehnsucht nach Schönheit macht die Frauen zu Schauspielerinnen. Das reale Leben ist nur ein Abglanz der Träume der Dichter. Die Saiten der Lyra moderner Dichter sind eigentlich endlose Zelluloidstreifen.«
Wir sprachen über die Enquete einer Prager Zeitschri, deren erste Frage lautete: Gibt es eine junge Kunst? Ich meinte: »Ist es nicht sonderbar, nach einer jungen Kunst zu fragen? Es gibt nur Kunst oder Kitsch. Dieser verbirgt sich o unter der Maske verschiedener Ismen und Moden.« Franz Kaa sagte: »Das Schwergewicht der Frage ruht nicht auf dem Hauptwort ›Kunst‹, sondern auf der näheren
Bezeichnung ›junge‹. Daraus ist ersichtlich, daß man eigentlich das Vorhandensein einer künstlerischen Jugend ernstlich bezweifelt. Es ist auch heute wirklich schwer, sich eine freie, unbeschwerte Jugend vorzustellen. Die grauenvolle Flut dieser Jahre überschwemmte alles. Auch die Kinder. Wohl schließen Unreinheit und Jugend einander gegenseitig aus. Wo ist aber die Jugend der Menschen von heute? Sie ist mit der Unreinheit so vertraut und befreundet. Die Menschen kennen die Macht der Unreinheit. Die Macht der Jugend haben sie aber vergessen. Darum zweifeln sie an der Jugend selbst. Und Kunst ohne den Rausch der Sicherheit der Jugend?« Franz Kaa breitete die Arme aus, um sie wie gelähmt in den Schoß sinken zu lassen. »Die Jugend ist schwach. Der Druck von außen ist so stark. Sich wehren und gleichzeitig hinzugeben – daraus entsteht ein Krampf, der das Gesicht entstellt. Die Sprache der jungen Künstler verbirgt mehr, als sie offenbart.« Ich sagte ihm, daß die jungen Künstler, mit denen ich bei Lydia Holzner zusammengekommen war, gewöhnlich schon Menschen um die vierzig Jahre herum waren. Franz Kaa nickte. »Das stimmt. Viele Menschen holen erst jetzt ihre Jugend nach. Erst jetzt absolvieren sie ihre Räuber- und Indianerspiele. Natürlich machen sie das nicht in der Weise, daß sie mit Pfeil und Bogen über die Wege des Stadtparkes laufen. Nein! Sie sitzen im Kino und sehen sich Abenteuerfilme an. Das ist alles. Das verdunkelte Kino ist die Laterna magica ihrer versäumten Jugend.«
Im Gespräch über junge Schristeller sagte Franz Kaa: »Ich beneide die Jugend.« Ich bemerkte: »Sie sind ja noch nicht so alt.«
Kaa lächelte: »Ich bin so alt wie das Judentum, wie der Ewige Jude.« Ich sah ihn von der Seite an. Kaa legte mir seinen Arm auf die Schulter. »Jetzt sind Sie erschrocken. Das war nur ein armseliger Versuch, einen Witz zu machen. Die Jugend beneide ich aber wirklich. Je älter der Mensch wird, um so breiter wird sein Horizont. Die Lebensmöglichkeiten werden aber kleiner und kleiner. Zum Schluß bleibt nur ein einziges Aufschauen, ein einziges Ausatmen. Der Mensch überblickt in dem Augenblick wahrscheinlich sein ganzes Leben. Zum erstenmal – und zum letztenmal.«
Ich brachte Doktor Kaa den Sonderdruck eines Hees der Prager tschechischen Zeitschri Červen (deutsch: Juni) mit der Übersetzung des breit dahinströmenden Gedichtes La Zone von Guillaume Apollinaire. Doktor Kaa kannte jedoch bereits das Gedicht. Er sagte: »Ich habe die Übersetzung gleich nach ihrem Erscheinen gelesen. Außerdem kannte ich das französische Original. Es erschien in dem Gedichtband Alcools. Diese Gedichte und eine billige Neuausgabe der Briefe von Flaubert waren die ersten französischen Bücher, die ich nach dem Krieg wieder in die Hand bekam.« Ich fragte: »Welchen Eindruck machte es auf Sie?« »Was? Apollinaires Gedicht oder Čapeks Übersetzung?« präzisierte Kaa meine Frage in der ihm eigenen kurz angebundenen Art. »Beides!« erklärte ich und äußerte sofort meine Meinung: »Ich bin davon hingerissen.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Kaa. »Es ist eine sprachliche Extraleistung. Das Gedicht wie die Übersetzung.« Das brachte mich in Fahrt. Es freute mich, daß meine ›Ent
deckung‹ bei Doktor Kaa Anklang gefunden hatte, und so versuchte ich mein Entzücken noch weiter auszubreiten und zu begründen. Ich zitierte aus dem Anfang des Gedichtes die Zeile, in welcher Apollinaire den Eiffelturm als Schäferin einer Herde blökender Automobile anspricht, berührte die von ihm erwähnte Uhr des Prager jüdischen Rathauses mit den hebräischen Stundenzeichen, zitierte den Text der Beschreibung der Achat- und Malachitwände der Wenzelskapelle im Veitsdom auf dem Hradschin und ließ mein Urteil über Apollinaires Werk in dem Satz gipfeln: »Das Gedicht ist ein großer, vom Eiffelturm bis zum Veitsdom geschwungener lyrischer Bogen, der die ganze bunte Erscheinungswelt unserer Zeit umspannt.« »Ja«, nickte darauf Doktor Kaa, »das Gedicht ist wirklich ein Kunststück. Apollinaire hat hier seine visuellen Begegnungen zu einer Art von Vision zusammengefaßt. Er ist ein Virtuos.« Der letzte Satz war von einem sonderbaren, zwiespältigen Ton erfüllt. Ich fühlte unter der wörtlichen Bewunderung eine unausgesprochene, jedoch deutlich spürbare Zurückhaltung, die – ohne daß ich es wollte – bei mir ein leise anwachsendes Echo fand. »Ein Virtuos?« sagte ich langsam. »Das gefällt mir nicht.« »Mir auch nicht«, schloß sich mir Kaa freimütig und – wie mir schien – erleichtert an. »Ich bin gegen jedes Virtuosentum. Der Virtuos steht durch seine Fertigkeit eines Gauklers über der Sache. Kann aber ein Dichter über der Sache stehen? Nein! Er wird von der Welt, die er erlebt und darstellt, so wie Gott von seiner Schöpfung gefangen gehalten. Um von ihr frei zu werden, stellt er sie aus sich heraus. Das ist kein Virtuosenakt. Das ist eine Geburt, eine Lebens Vermehrung wie jede andere Geburt. Haben Sie aber je gehört, daß eine Frau eine Virtuosin im Gebären sei?« »Nein, das habe ich noch nicht gehört. Die Worte Geburt und Virtuosentum passen nicht zueinander.«
»Natürlich«, nickte Doktor Kaa. »Es gibt keine virtuose Geburt. Es gibt nur eine schwere oder leichte, in jedem Falle aber eine schmerzliche Geburt. Die Virtuosität ist nur Komödianten vorbehalten. Die beginnen aber immer dort, wo der Künstler auört. Das sehen Sie auch an dem Gedicht von Apollinaire. Er verdichtet seine verschiedenen Raumerlebnisse zu einer überpersönlichen Zeitvision. Es ist ein Wortfilm, was da Apollinaire vor uns ausbreitet. Er ist ein Gaukler, der dem Leser ein unterhaltsames Bild suggeriert. Das macht kein Dichter, sondern nur ein Komödiant, ein Unterhalter. Ein Dichter versucht seine Vision in die Alltagserfahrung des Lesers einzubetten. Dazu benutzt er eine scheinbar ganz glatte, dem Leser wohlvertraute Sprache. Das sehen Sie zum Beispiel hier.« Doktor Kaa griff in ein Seitenfach seines Schreibtisches und legte einen kleinen grünlich-grauen Pappband vor mich hin. »Das sind die Erzählungen von Kleist«, sagte er. »Das ist wirkliche Dichtung. Dabei ist die Sprache ganz klar. Sie finden hier keine Sprachschnörkel, keine Wichtigtuerei. Kleist ist kein Gaukler und Stimmungsmacher. Sein ganzes Leben verlief unter dem Druck der visionären Spannung zwischen Mensch und Schicksal, die er in einer klaren, allgemein verständlichen Sprache beleuchtet und festhält. Seine Vision soll ein allgemein zugängliches Erfahrungsgut werden. Um das bemüht er sich ohne Wortakrobatik, Kommentare und Suggestion. In Kleist vereinten sich Bescheidenheit, Verständnis und Geduld zu einer Kra, die für das Gelingen jeder Geburt notwendig ist. Darum lese ich ihn immer wieder und wieder. Die Kunst ist nicht eine Frage der rasch dahinschwindenden Verblüffung, sondern des lange wirkenden Beispiels. Das können Sie an den Erzählungen von Kleist ganz deutlich sehen. Hier ist die Wurzel der modernen deutschen Sprachkunst.«
Richard Huelsenbeck, der Führer der deutschen Dadaisten, hielt einen Vortrag in Prag. Ich schrieb einen Informationsbericht darüber. Die Handschri brachte ich Kaa. »Ihr Bericht sollte nicht Dada, sondern Dudu heißen«, sagte er, nachdem er den Artikel gelesen hatte. »Die Sätze sind von einer großen Sehnsucht nach Menschen erfüllt. Also im Grunde von einer Sehnsucht nach Wachstum, Erweiterung des eigenen, kleinen Ich, nach Gemeinscha. Man flüchtet dabei aus der Einsamkeit des kleinen, traurigen Ich in den Radau kindlicher Torheiten. Es ist ein freiwilliger, und darum lustiger Irrsinn. Aber Irrsinn. – Wie kann man den anderen finden, wenn man sich selbst verliert? Der andere – das ist die Welt in ihrer ganzen großartigen Tiefe – eröffnet sich nur in der Stille. Sie selbst beruhigen sich aber nur darum, um den Zeigefinger tadelnd zu erheben: ›Du, du!‹« Ich verbrannte die Handschri.
Ich hatte einen Artikel über den Roman Die Tür ins Unmögliche von Oskar Baum geschrieben. Franz Kaa gab meine Arbeit Felix Weltsch, welcher sie als Feuilleton in der Zeitschri Selbstwehr veröffentlichte. Einige Tage darauf traf mich in Kaas Kanzlei ein Beamter – ich glaube, daß er Gütling hieß –, welcher gleich meinen Artikel zu analysieren begann. Seine Kritik war natürlich ablehnend. Meine Abhandlung sowie Baums Roman waren – in den Augen des Sprechers – »dadaistische Äußerungen eines krankhaen Geistes«. Ich schwieg. Als er aber die angeführte Behauptung schon etwa zum fünenmal wiederholte, rührte sich Kaa.
»Wenn der Dadaismus krankha ist, dann ist er aber doch nur ein äußeres Anzeichen. Nichts mehr. Die Krankheit vernichten Sie aber nicht dadurch, daß Sie Ihre Äußerung isoliert unterdrücken. Im Gegenteil: damit wird es noch ärger. Ein einziges, nach innen durchbrechendes Geschwür ist viel gefährlicher als einige Oberflächengeschwüre. Soll eine wirkliche Besserung herbeigeführt werden, so muß die Grundlage der krankhaen Veränderungen beseitigt werden. Die durch den Krampf verursachten Verunstaltungen verschwinden dann allein.« Gütling antwortete nicht. Das Kommen eines anderen Beamten beendete die Debatte. Als ich mit Kaa wieder allein in der Kanzlei war, fragte ich: »Sind Sie auch der Meinung, daß mein Aufsatz über Baums Buch dadaistisch sei?« Kaa lächelte. »Woher? Über Ihren Aufsatz wurde überhaupt nicht gesprochen.« »Ich bitte Sie –« Kaa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist doch kein Urteil! Der Kritiker schwenkte das Wort ›dadaistisch‹ so wie ein kleiner Junge einen Kindersäbel. Der will mit der schrecklichen Waffe nur blenden, da er sehr gut weiß, daß seine Waffe eigentlich nur ein Spielzeug ist. Es genügt, wenn man ihm einen wirklichen Säbel entgegenhält, dann ist der Junge gleich ruhig, da er um sein Spielzeug bangt.« »Sie sprachen also nicht über Baum und meine Zeilen, sondern über den Dadaismus.« »Ja, ich besah mir den Säbel.« »Den Dadaismus betrachten Sie aber auch als Krankheitsanzeichen«, bemerkte ich. »Der Dadaismus ist – ein Gebrechen«, sagte Franz Kaa sehr ernst. »Das geistige Rückgrat ist geknickt. Der Glaube ist gebrochen.«
»Was ist Glaube?« »Wer den Glauben hat, der kann ihn nicht definieren, und wer ihn nicht hat, auf dessen Definition lastet der Schatten der Ungnade. Der Gläubige kann nicht, und der Ungläubige sollte darum nicht sprechen. Die Propheten sprechen eigentlich immer nur von den Stützpunkten des Glaubens und nie vom Glauben allein.« »Es spricht aus ihnen der Glaube, der über sich selbst schweigt.« »Ja, so ist es.« »Und Christus?« Kaa neigte den Kopf. »Das ist ein lichterfüllter Abgrund. Man muß die Augen schließen, um nicht abzustürzen. Max Brod schreibt ein großes Werk Heidentum, Christentum, Judentum. Vielleicht werde ich durch die Zwiesprache mit dem Buche etwas Klarheit in mir finden.« »Sie erwarten so viel von dem Buch?« »Nicht nur von dem Buch, sondern vor allem von jedem Augenblick. Ich bemühe mich, ein richtiger Anwärter der Gnade zu sein. Ich warte und schaue. Vielleicht kommt sie – vielleicht kommt sie nicht. Möglich, daß diese ruhige-unruhige Erwartung schon ihr Vorbote oder sie selbst ist. Ich weiß es nicht. Doch das beunruhigt mich nicht. Ich habe während der Zeit – mit meiner Unwissenheit Freundscha geschlossen.«
Wir kamen im Gespräch auf den Wert und Unwert der verschiedenen Konfessionen zu sprechen. Ich versuchte, von Kaa eine persönliche Erklärung zu bekommen; das gelang mir jedoch nicht. Franz Kaa sagte: »Gott ist nur persönlich faßbar. Jeder Mensch hat sein Leben und seinen Gott. Seinen Verteidiger
und Richter. Priester und Riten sind nur Krücken des erlahmenden Erlebens der Seele.«
Als Kaa einmal unter den Büchern in meiner Aktentasche einen Kriminalroman sah, sagte er: »Sie brauchen sich nicht zu schämen, daß Sie so etwas lesen. Schuld und Sühne von Dostojewskij ist ja eigentlich auch nur ein Kriminalroman. Und Shakespeares Hamlet? Das ist ein Detektivstück. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Geheimnis, das langsam gelüet wird. Gibt es aber ein größeres Geheimnis als die Wahrheit? Dichtung ist immer nur eine Expedition nach der Wahrheit.« »Was ist aber die Wahrheit?« Kaa schwieg einen Augenblick, dann lächelte er spitzbübisch. »Das sieht so aus, als hätten Sie mich gerade bei einer leeren Phrase ertappt. In Wirklichkeit ist dem nicht so. Die Wahrheit ist das, was jeder Mensch zum Leben braucht und doch von niemand bekommen oder erstehen kann. Jeder Mensch muß sie aus dem eigenen Inneren immer wieder produzieren, sonst vergeht er. Leben ohne Wahrheit ist unmöglich. Die Wahrheit ist vielleicht das Leben selbst.«
Doktor Kaa schenkte mir ein zentimeterdickes ReclamBändchen: das Gedichtbuch Grashalme des Amerikaners Walt Whitman. Dabei sagte er mir: »Die Übersetzung ist nicht besonders gut. Sie ist stellenweise sogar recht holprig. Doch man bekommt durch sie wenigstens ungefähr ein Bild dieses Dichters, der zu den größten Forminspiratoren der modernen
Lyrik gehört. Man kann seine reimlosen Verse als das Vorbild der freien Rhythmen von Arno Holz, Emile Verhaeren, Paul Claudel sowie des tschechischen Dichters Stanislav Kostka Neumann und anderen ansehen.« Darauf beeilte ich mich zu bemerken, daß Jaroslav Vrchlický, welcher – nach Ansicht der offiziellen Prager Literaturwissenscha – »dem tschechischen Schritum das Fenster in die Welt geöffnet hatte«, auch Walt Whitmans Grashalme schon vor Jahren als ein kurioses Sprachexperiment ins Tschechische übersetzte. »Das weiß ich«, sagte Doktor Kaa. »Das Formale von Walt Whitmans Gedichten hat in der Welt einen ungeheueren Widerhall gefunden. Dabei liegt Walt Whitmans Bedeutung aber eigentlich ganz woanders. Er hat die Betrachtung der Natur und der ihr augenscheinlich ganz entgegengesetzten Zivilisation zu einer einzigen berauschenden Lebensempfindung zusammengeschlossen, weil er ständig die kurze Dauer aller Erscheinungen vor sich sah. Er sagte: ›Das Leben ist das wenige Übriggebliebene vom Sterben.‹ Deshalb widmete er sein ganzes Herz jedem Grashalm. Damit hat er mich schon sehr früh bezaubert. Ich bewunderte seine Übereinstimmung zwischen Kunst und Leben. Als in Amerika zwischen den Nord- und Südstaaten der Krieg ausbrach, durch den die größte Kra unserer heutigen Maschinenwelt eigentlich erst richtig in Bewegung kam, wurde Walt Whitman Krankenpfleger. Er tat das, was heute eigentlich jeder von uns tun sollte. Er half den Schwachen, Kranken und Geschlagenen. Er war wirklich ein Christ und deshalb – besonders uns Juden sehr nah verwandter – bedeutsamer Grad- und Wertmesser der Menschlichkeit.« »Sie kennen also seine Schrien sehr gut?« »Nicht einmal so seine Schrien wie sein Leben. Denn das ist ja eigentlich sein Hauptwerk. Das, was er schrieb, seine Gedichte und Aufsätze, sind nur glimmende Aschenherde
der Feuergarben eines konsequent gelebten, werktätigen Glaubens.«
Ich zeigte Franz Kaa die deutsche Übersetzung der Aufsätze Ziele von Oscar Wilde, die mir Leo Lederer schenkte. Kaa blätterte in dem Buch und sagte: »Das funkelt und lockt, wie eben nur ein Gi funkeln und locken kann.« »Das Buch gefällt Ihnen nicht?« »Das habe ich nicht gesagt. Im Gegenteil: es kann zu leicht gefallen. Das ist auch eine der großen Gefahren dieses Buches. Denn gefährlich ist das Buch, weil es mit der Wahrheit spielt. Das Spiel mit der Wahrheit ist immer ein Spiel mit dem Leben.« »Sie meinen also, daß es ohne Wahrheit kein wirkliches Leben gibt?« Franz Kaa nickte schweigend. Nach einer kleinen Pause sagte er: »Die Lüge ist o nur der Ausdruck der Angst, daß man von der Wahrheit erdrückt werden könnte. Es ist die Projektion der eigenen Kleinheit, der Sünde, vor der man sich fürchtet.«
»Ich bin ein ganz und gar unfähiger Beamter«, lamentierte Doktor Kaa, als ich ihn einmal in seiner Kanzlei mit einem ganz verknitterten Gesicht vor seinem Schreibtisch antraf. »Ich kann kein Aktenstück sauber erledigen. Alles bleibt bei mir hängen.« »Ich sehe nichts davon«, bemerkte ich. »Ihr Schreibtisch ist leer.« »Das ist es eben«, erwiderte darauf Doktor Kaa und setzte sich. »Ich gebe jedes Aktenstück so schnell, wie ich es nur vermag, weiter. Doch damit ist es für mich nicht erledigt. Ich verfolge es in Gedanken weiter. Von einer Ab
teilung zur anderen, von Schreibtisch zu Schreibtisch, die Kette der Hände hindurch bis zu dem Adressaten. Meine Phantasie durchbricht immer wieder die vier Wände meiner Kanzlei. Doch damit wird aber mein Horizont nicht größer. Im Gegenteil: er schrump zusammen. Und ich mit ihm.« – Er lächelte schmerzlich. – »Ich bin ein Stück Mist und nicht einmal das! Ich komme nicht unters Rad, sondern nur unter die Räderchen, ein Nichts in der klebrigen Beamtenwabe der Unfall-Versicherungs-Anstalt.« Ich unterbrach ihn: »Kurz und gut – wie es mein Vater sagt – das Beamtenleben ist ein Hundeleben!« »Ja«, nickte Doktor Kaa. »Doch ich verbelle niemanden und beißen tu’ ich auch nicht. Wie Sie wissen – ich bin Vegetarier. Die leben nur vom eigenen Fleisch.« Wir lachten beide so laut, daß wir das Anklopfen eines eintretenden Beamten beinahe überhörten.
Ich erzählte davon, wie ich mit meinem Vater das Franziskanerkloster in der Nähe des Wenzelsplatzes in Prag besuchte. Franz Kaa bemerkte: »Das ist eigentlich eine Wahl-Familiengemeinscha. Der Mensch beschränkt freiwillig sein eigenes Selbst, entäußert sich des höchsten und realsten Besitzes, seiner eigenen Person, um erlöst zu werden. Er will durch die äußere Bindung die innere Freiheit erlangen. Das ist der Sinn des Sich-Unterordnens unter das Gesetz.« »Wer das Gesetz aber nicht erkennt«, meinte ich, »wie gelangt der zur Freiheit?« »Dem wird das Gesetz durch Schläge bekanntgegeben. Wer es nicht erkennt, der wird zur Erkenntnis geschlei und geprügelt.« »Sie meinen also, daß früher oder später jeder Mensch zur richtigen Erkenntnis gelangen muß.«
»Das habe ich nicht so gesagt Ich sprach nicht von der Erkenntnis, sondern von der Freiheit als Ziel. Die Erkenntnis ist nur ein Weg …« »Zur Erfüllung? Dann ist das Leben also nur eine Aufgabe, ein Aurag?« Kaa machte eine hilflose Geste. »Das ist es eben. Der Mensch kann sich selbst nicht überblicken. Er ist im Dunkel.«
Als ich einmal zu Doktor Kaa kam, stand er mit meinem Vater beim Fenster. Sie drehten sich um, beantworteten jedoch meinen Gruß nur mit einem kurzen Kopfnicken. Gleich darauf fragte Doktor Kaa meinen Vater: »Sie haben also während der kurzen Zeit, da Sie im Kriege waren, schon die Erfahrung gemacht, daß es den Soldaten relativ besser ging als der Zivilbevölkerung?« »Ja«, nickte mein Vater. »Beim Militär gab es nicht so große Nahrungssorgen wie unter der Zivilbevölkerung. Wir hatten immer Brot. Für die Soldaten wurde besser gesorgt als für die Zivilisten.« »Das ist verständlich«, meinte darauf Doktor Kaa und rieb sich nachdenklich das glattrasierte Kinn. »In den Soldaten steckte Geld. Sie waren Träger von Staatsinvestitionen, die man betreuen mußte. Es waren Spezialisten. Die Zivilisten waren dagegen nur Menschen, in die der Staat so wenig wie nur möglich hineinsteckte.« »Ja«, seufzte mein Vater. »Das sah man mit erschreckender Deutlichkeit in den Typhusbaracken. Gott sei Dank, daß dieses Grauen vorbei ist.« »Es ist nicht vorbei«, sagte darauf Doktor Kaa leise und ging zum Schreibtisch, wo er mit gesenktem Kopf stehenblieb. »Das Grauen sammelt nur seine Kräe, um in verbesserter Auflage wieder loszumarschieren.«
»Sie rechnen mit einem neuen Krieg?« fragte mein Vater mit einem erschrockenen Augenaufschlag. Allein Doktor Kaa schwieg. »Das ist unmöglich!« rief mein Vater darauf mit einem erregten Emporwerfen des Armes. »Es kann zu keinem neuen Weltkrieg kommen!« »Warum nicht?« fragte Doktor Kaa tonlos und sah meinem Vater starr in die Augen. »Sie äußern nur einen Wunsch. Oder können Sie mit voller Überzeugung sagen, daß dieser Krieg der letzte Krieg gewesen sei?« Mein Vater schwieg. Ich sah, wie seine Augenlider zuckten. Doktor Kaa setzte sich, schob die knochigen Finger über der Tischplatte ineinander und holte tief Atem. »Nein, das kann ich nicht sagen«, erklärte mein Vater endlich leise. »Sie haben recht, es ist nur ein Wunsch.« »So ein Wunsch ist etwas Erklärliches, wenn man bis zum Hals im Sumpf steckt«, sagte darauf Doktor Kaa ohne meinen Vater anzusehen. »Wir leben in einer Menscheninflation. Man verdient an der Vernichtung von Zivilisten, die billiger als Soldaten und Kanonen sind.« »Trotzdem!« erklärte mein Vater. »Ich glaube nicht an einen Krieg. Die Mehrzahl der Menschen ist dagegen.« »Das spielt keine Rolle«, sagte darauf Doktor Kaa resigniert. »Die Mehrzahl entscheidet nicht. Sie tut ja doch immer nur das, was man ihr anordnet. Entscheidend ist der einzelne, der sich dem Strom entgegenwir. Doch diesen einzelnen gibt es jetzt auch nicht mehr. Er hat sich durch sein Bequemlichkeitsbedürfnis selbst liquidiert. Kosile blizsí nezlí kabát. Tím zajdeme ve vlastní spine. * Wir werden alle elend krepieren, wenn jeder einzelne nicht sofort seine moralische Schmutzwäsche wegwir.«
* Das Hemd ist einem näher als die Jacke. Dadurch werden wir im eigenen Schmutz zugrundegehen.
Franz Kaa war der erste Mensch, der mein geistiges Leben ernst nahm, mit mir wie mit einem erwachsenen Menschen sprach und so mein Selbstbewußtsein stärkte. Sein Interesse an mir war ein großes Geschenk für mich. Ich war mir dessen immer bewußt. Einmal äußerte ich mich ihm gegenüber sogar in dieser Richtung. »Beraube ich Sie nicht ihrer Zeit? Ich bin ja so dumm. Sie geben mir so viel und ich Ihnen gar nichts.« Kaa wurde durch diese Worte direkt verlegen. »Aber, aber«, sagte er beschwichtigend. »Sie sind ein Kind. Sie sind kein Räuber. Ich schenke Ihnen doch meine Zeit, die gar nicht mir, sondern der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt gehört. Der stehlen wir gemeinsam meine Zeit. Das ist doch wunderbar! Und dumm sind Sie auch nicht Also lassen Sie solche Redensarten, mit denen Sie mich nur dazu zwingen würden, zu gestehen, daß mich die Hingabe und das Verständnis Ihrer Jugend erfreut.«
Spaziergang am Kai. Ich erzählte Kaa davon, daß ich krank gewesen sei, mit einem Grippefieber im Bett gelegen und an einem Drama Saul gearbeitet habe. Kaa interessierte sich sehr für diesen literarischen Versuch, bei dem ich eine dreiteilige Treppenbühne benützen wollte. Drei übereinanderliegende Plattformen sollten drei geistige Welten darstellen: die Straße oder den freien Platz des Volkes unten, darüber den Palast des Königs oder das Haus des einzelnen Menschen, und ganz oben den Tempel der geistlich-weltlichen Macht, mit der die Stimme des Unsichtbaren spricht. »Das Ganze ist also eine Pyramide, deren Spitze sich in den Wolken verliert«, sagte Franz Kaa.
»Und der Schwerpunkt? Wo ist der Schwerpunkt der Welt dieses Dramas?« »Der liegt unten in der Massenbasis des Volkes«, antwortete ich. »Trotz der einzelnen individuellen Gestalten ist es ein Drama der anonymen Menge.« Franz Kaa zog die dichten Augenbrauen zusammen, schob die Unterlippe etwas nach vorn, benetzte die Lippen mit der Zungenspitze und meinte, ohne mich anzusehen: »Ich denke, daß Sie von falschen Voraussetzungen ausgehen. Anonym ist gleichbedeutend mit namenlos. Das jüdische Volk ist aber nie namenlos gewesen. Im Gegenteil! Es ist das auserwählte Volk eines persönlichen Gottes, das nie auf die niedrige Stufe einer anonymen und darum geistlosen Masse herabsinken kann, wenn es an der Erfüllung des Gesetzes festhält. Zur grauen, formlosen und darum namenlosen Masse wird die Menschheit nur durch den Abfall von dem formgebenden Gesetz. Dann gibt es aber kein Oben und Unten mehr; das Leben verflacht zur bloßen Existenz; es gibt kein Drama, keinen Kampf, sondern nur die Abnützung des Stoffes, Verfall. Das ist aber nicht die Welt der Bibel und des Judentums.« Ich verteidigte mich. »Mir handelt es sich nicht um das Judentum und die Bibel. Der biblische Stoff ist für mich nur ein Mittel zur Darstellung der heutigen Massen.« Kaa schüttelte den Kopf. »Eben! Das, was Sie wollen, ist nicht richtig. Sie können das Leben nicht zur Allegorie des Todes machen. Das wäre sündig.« »Was nennen Sie Sünde?« »Sünde ist das Zurückweichen vor der eigenen Sendung. Mißverstehen, Ungeduld und Lässigkeit – das ist Sünde. Der Dichter hat die Aufgabe, das isolierte Sterbliche in das unendliche Leben, das Zufällige in das Gesetzmäßige hinüberzuführen. Er hat eine prophetische Aufgabe.«
»Schreiben heißt also führen«, bemerkte ich. »Das richtige Wort führt; das unrichtige verführt«, sagte Kaa. »Es ist kein Zufall, daß die Bibel Schri genannt wird. Es ist die Stimme des jüdischen Volkes, die nicht etwas historisch Gestriges, sondern etwas durchaus Gegenwärtiges ist. In Ihrem Drama wird sie aber als geschichtlich mumifizierte Tatsache behandelt, und das ist falsch. Wenn ich Sie richtig verstehe, so wollen Sie die heutigen Massen auf die Bühne bringen. Die haben mit der Bibel nichts gemeinsam. Das ist der Kern Ihres Dramas. Das Volk der Bibel ist die Zusammenfassung von Individuen durch ein Gesetz. Die Massen von heute widersetzen sich aber jeder Zusammenfassung. Sie streben auseinander auf Grund der inneren Gesetzlosigkeit. Das ist die Triebkra ihrer rastlosen Bewegung. Die Massen hasten, laufen, gehen im Sturmschritt durch die Zeit. Wohin? Von wo kommen sie? Niemand weiß es. Je mehr sie marschieren, um so weniger erreichen sie ein Ziel. Nutzlos verbrauchen sie ihre Kräe. Sie denken, daß sie gehen. Dabei stürzen sie – auf der Stelle marschierend – nur ins Leere. Das ist alles. Der Mensch hat hier seine Heimat verloren.« »Wie erklären Sie dann das Anwachsen des Nationalismus?« fragte ich. »Das ist eben ein Beweis der Richtigkeit meiner Behauptung«, antwortete Franz Kaa. »Man strebt immer danach, was man nicht hat. Der allen Völkern gemeinsame technische Fortschritt entkleidet sie immer mehr und mehr ihrer völkischen Eigenart. Darum werden sie national. Der moderne Nationalismus ist eine Abwehrbewegung gegen das rohe Zugreifen der Zivilisation. Das sieht man am besten bei den Juden. Würden sie sich in der Umwelt wohlfühlen und sich in ihr leicht zurechtfinden, so würde es keinen Zionismus geben. So läßt uns aber der Druck der Umwelt unser eigenes Gesicht finden. Wir kehren heim. Zu den Wurzeln.«
»Sie sind also überzeugt davon, daß der Zionismus der einzige richtige Weg sei?« Kaa lächelte verlegen. »Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Weges erkennt man immer erst am Ziel. Jedenfalls gehen wir jetzt. Wir bewegen uns, also leben wir. Um uns wächst der Antisemitismus, aber das ist gut. Der Talmud sagt, daß wir Juden wie die Olive unser Bestes geben, wenn wir zermalmt werden.« »Ich denke, daß die fortschrittliche Arbeiterbewegung der Welt ein weiteres Anwachsen des Antisemitismus nicht zulassen wird«, bemerkte ich. Franz Kaa neigte aber melancholisch den Kopf. »Sie irren sich. Ich denke, daß der Antisemitismus auch die Arbeiterscha ergreifen wird. Das sieht man an der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt. Sie ist ein Ergebnis der Arbeiterbewegung. Sie sollte also vom lichten Geiste des Fortschrittes erfüllt sein. Wie sieht es aber dort aus? Die Anstalt ist ein dunkles Bürokratennest, in dem ich als einziger Paradejude fungiere.« »Das ist trostlos.« »Ja, der Mensch ist trostlos, weil er inmitten der ständig anwachsenden Massen von Minute zu Minute immer mehr und mehr vereinsamt.«
Wir sprachen über das Rauchen. Ich sagte: »Die Mehrzahl der Burschen, die ich kenne, begann zu rauchen, um sich selbst Erwachsenheit vorzutäuschen. Ich habe diesen Unsinn nie mitgemacht.« »Das verdanken Sie Ihrem Vater«, sagte Doktor Kaa. »Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Man kann – so wie mein Vater – ein erwachsener Mensch sein, ohne die dummen Gebräuche der Erwachsenen zu imitieren.«
»Im Gegenteil!« erklärte Kaa mit der erhobenen Hand in der Lu schüttelnd. »Wer sich von den üblen Ansichten und Gewohnheiten seiner Umgebung führen und herumkommandieren läßt, hat keine Achtung vor sich selbst. Ohne Selbstachtung gibt es aber keine Moral, keine Ordnung, keine Beständigkeit und keine lebensfördernde Wärme. So ein Mensch zerfällt wie ein formloser Kuhfladen. Der kann nur für Dreckkäfer und andere Insekten etwas bedeuten.«
Bei Franz Kaa in der Kanzlei. Müde saß er hinter dem Schreibtisch. Herabhängende Arme. Enggeschlossene Lippen. Er reichte mir lächelnd die Hand. »Ich hatte eine erstaunlich böse Nacht.« »Waren Sie beim Arzt?« Er spitzte den Mund. »Der Arzt …« Er hob die rechte Hand mit der Handfläche nach oben und ließ sie sinken. »Man kann sich selbst nicht entgehen. Das ist das Schicksal. Die einzige Möglichkeit, die man hat, ist im Zuschauen zu vergessen, daß mit uns gespielt wird.«
Frau Svátek aus der Jesenius-Gasse in Žižkov war im Haushalte meines Vaters vormittags als Bedienerin beschäigt. Nachmittags arbeitete sie in der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt als Aufräumefrau. Sie sah mich einige Male mit Franz Kaa, den sie kannte, und so begann sie mir eines Tages von ihm zu erzählen. »Doktor Kaa ist ein braver Herr. Der ist ganz anders als
die anderen. Das erkennt man schon daran, wie er dem Menschen etwas gibt. Die anderen stecken es einem zu, daß es den Menschen geradezu sticht. Sie geben nicht – sie erniedrigen und beleidigen. Manchmal möchte man so ein Trinkgeld am liebsten wegwerfen. Herr Doktor Kaa gibt es aber wirklich so, daß er damit Freude macht. Zum Beispiel Weintrauben, welche er vormittags nicht aufgegessen hat. Das sind Überreste. Wir wissen, wie die gewöhnlich aussehen – bei den anderen. Doktor Kaa läßt das aber nie so stehen, daß es wie irgendein geschmackloser Klumpen aussieht. Er läßt die Weintrauben oder das Obst schön auf dem Tellerchen. Und wenn ich in die Kanzlei komme, so sagt er nur so nebenbei, ob ich das vielleicht gebrauchen könnte. Ja, Doktor Kaa behandelt mich nicht wie eine alte Aufräumerin. Das ist ein braver Herr.« Frau Svátek hatte recht Kaa beherrschte die Kunst des Schenkens. Er sagte nie: »Nehmen Sie das, ich schenke es Ihnen.« Wenn er mir ein Buch oder eine Zeitschri gab, sagte er immer nur: »Das brauchen Sie mir nicht mehr zurückzugeben.«
Wir sprachen über N. Ich sagte, daß N. dumm sei. Darauf meinte Kaa: »Dummheit ist menschlich. Viele gescheite Leute sind nicht weise und darum letzten Endes auch gar nicht gescheit. Sie sind nur unmenschlich aus Angst vor ihrer eigenen bedeutungslosen Vulgärheit.«
Bei Kaa war ein Beamter, der in einer etwas groben Art sprach. »Was ist das für ein Mensch«, fragte ich, als wir in der Kanzlei allein blieben. »Das ist Doktor N.«, sagte Kaa. »Ein Grobian«, meinte ich.
»Woher! Er hat nur so eine andersartige Konvention. Wahrscheinlich hat er erfahren, daß Schue durch feine Manieren gesellschasfähig werden, also zieht er statt des Frackes den groben Sack an. Das ist alles.«
Auf Doktor Kaas Schreibtisch lag eine Menge von Briefen, Bildern und Reiseprospekten. Auf meinen fragenden Blick hin erklärte er, daß er einige Zeit in einem kleinen Gebirgssanatorium verbringen möchte. »Ich will in keine große Gesundheitsfabrik«, sagte er. »Ich will einfach in eine Art von Familienpension, wo man unter ärztlicher Aufsicht ist. Ich will keinen Komfort und Krankenluxus.« Ich sagte: »Für Sie ist das Wichtigste die Lage und die Gebirgslu.« »Ja, das auch«, nickte Doktor Kaa. »Das Wertvollste ist dann wohl aber auch das, daß man die Kette der alten Gewohnheiten wenigstens für eine Weile abstreifen muß und genötigt ist – vor dem durch die Erinnerung verklärten Schaufenster der Welt eine Inventur seines reichlich abgewetzten Lebensportemonnaies durchzuführen. Fährt man irgendwohin, so reist man ja immer nur seiner mißverstandenen eigenen Natur nach.«
Das feuchte Herbstwetter und der überraschend früh und hart einsetzende Winter steigerten Kaas Krankheit. Leer und verlassen stand sein Tisch in der Kanzlei. »Er hat Fieber«, sagte mir Doktor Treml, der beim zweiten Schreibtisch saß. »Vielleicht sehen wir ihn nicht mehr.« Traurig ging ich nach Hause. Sein Tisch blieb leer – wochenlang.
Eines Tages aber war Franz Kaa wieder in der Kanzlei. Bleich, gebeugt, lächelnd. Mit müder, leiser Stimme sagte er mir, daß er nur gekommen sei, um einige Akten zu übergeben und verschiedene private Schristücke aus seinem Schreibtisch zu holen. Es gehe ihm gar nicht gut. In den nächsten Tagen werde er in die Hohe Tatra fahren. In ein Sanatorium. »Das ist gut«, sagte ich. »Fahren Sie so schnell wie möglich – wenn Sie die Möglichkeit haben.« Franz Kaa lächelte traurig. »Das ist eben das Aufreibende und Schwere. Es gibt so viele Möglichkeiten des Lebens, und in allen spiegelt sich nur die eine unentrinnbare Unmöglichkeit der eigenen Existenz.« Die Stimme mündete in einen trockenen, krampaen Husten, den er rasch bewältigte. Wir lächelten einander an. »Sehen Sie«, bemerkte ich. »Es wird schon alles gut werden.« »Es ist schon gut«, sagte Franz Kaa langsam. »Ich habe zu allem ja gesagt. So wird das Leid zum Zauber und der Tod – der ist nur ein Bestandteil des süßen Lebens.«
Beim Abschied vor seiner Abreise nach dem Sanatorium in der Tatra sagte ich: »Sie werden sich erholen und gesund zurückkommen. Die Zukun wird alles gutmachen. Alles wird sich ändern.« Kaa legte lächelnd den Zeigefinger seiner rechten Hand auf seine Brust. »Die Zukun ist schon hier in mir. Die Änderung ist nur ein Sichtbarwerden der verborgenen Wunden.« Ich wurde ungeduldig. »Wenn Sie nicht an eine Genesung glauben, warum fahren Sie dann in das Sanatorium?«
Kaa beugte sich über die Tischplatte. »Jeder Angeklagte bemüht sich, eine Vertagung des Urteilsspruches zu erlangen.«
Ich kam mit meiner Freundin Helene Slaviček aus Chlumetz nach Prag. Wir gingen zu meinem Vater in die Kanzlei, um unsere Ankun zu melden. Auf der Stiege trafen wir Franz Kaa. Ich stellte ihm Helene vor. Zwei Tage später sagte er mir: »Die Frauen sind Fallen, die den Menschen von allen Seiten belauern, um ihn in das Nur-Endliche zu reißen. Sie verlieren ihre Gefährlichkeit, wenn man in eine Falle freiwillig hineinspringt. Überwindet man aber diese durch Gewöhnung, so öffnen sich wieder alle weiblichen Fangeisen.«
Als ich nach dem Besuch mit Helene Slaviček am nächsten Tag allein in die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt kam, fragte ich Doktor Kaa: »Wie gefällt Ihnen, Herr Doktor, Helene?« Er neigte den Kopf zur linken Schulter und meinte: »Das ist doch ganz nebensächlich. Es ist ja Ihre Freundin. Sie müssen bezaubert sein. In der Liebe hängt ja – wie bei jedem Zauber – alles von einem einzigen Wort ab. Die weitgespannte unbestimmte Bezeichnung eine Frau muß der scharegrenzten Bezeichnung die Frau weichen. Aus einem Gattungsbegriff muß eine Schicksalskra werden. Dann ist alles in Ordnung.«
Als wir im Gespräch über die verschiedenen leitenden Persönlichkeiten der Prager Vereinigung Poale Zion auch auf den unbestritten besten Redner dieser Gruppe, den ehe
maligen Schauspieler Rudolf K. zu sprechen kamen und ich dabei die Erfolge des ›schönen Rudi‹ bei den Frauen erwähnte, sagte Doktor Kaa: »So ein Männerglück ist für die Frauen ein Unglück, das ihr Leben verwüstet. Es ist ein schweres Vergehen, ein Verbrechen wie jedes einseitige, der Schwäche und Not abgepreßte Glück. Ein Mensch, der sich im Licht so eines falschen Glückes sonnt, wird zum Schluß irgendwo in einem verlassenen Winkel an seiner eigenen Angst und Selbstsucht ersticken.«
Der junge F. W. beging Selbstmord aus unglücklicher Liebe. Wir sprachen darüber. Franz Kaa sagte während des Gespräches: »Was ist Liebe? Das ist doch ganz einfach! Liebe ist alles, was unser Leben steigert, erweitert, bereichert. Nach allen Höhen und Tiefen. Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur der Lenker, die Fahrgäste und die Straße.«
Ich erzählte von meinem Schulfreund W., welcher als zehnjähriger Knabe von seiner Französischlehrerin verführt wurde und seit jener Zeit Angst vor allen jungen Mädchen, selbst vor seiner eigenen Schwester hatte, so daß er nun die ärztliche Hilfe des Psychoanalytikers Doktor Pötzl in Anspruch nehmen mußte. »Die Liebe schlägt immer Wunden, die eigentlich nie richtig heilen, da die Liebe immer in Begleitung von Schmutz erscheint«, sagte Kaa. »Zu einer Scheidung von Liebe und Schmutz kommt es nur durch den Willen des Geliebten. So ein hilfloser Mensch, wie Ihr junger Freund, hat aber eigentlich noch keinen eigenen Willen in der Liebe, und so
wird er vom Schmutz infiziert. Er ist ein Opfer seiner Verwirrung der Unreife. Dadurch können schwere Schäden entstehen. Die verbitterten Gesichtszüge eines Mannes sind o nur die festgefrorene Verwirrung eines Knaben.«
Als ich einmal während eines Spazierganges von meiner Freundin Helene S. sprach, sagte Franz Kaa: »Im Augenblick der Liebe wird der Mensch nicht nur für sich, sondern auch für den anderen Menschen verantwortlich. Er befindet sich dabei in einer Art von Rauschzustand, der seine Urteilskra vermindert. Der Inhalt des menschlichen Ichs ist größer als das festumgrenzte Blickfeld des augenblicklichen Bewußtseins. Das Bewußtsein ist nur ein Teil des Ichs. Mit jeder Entscheidung gibt man aber seinem ganzen Ich die Richtung. So kommt es zu den gewöhnlichsten und schwersten Zusammenstößen des Mißverstehens.«
Im Gespräch über C. bemerkte Kaa: »Der Stamm des Wortes Sinnlichkeit ist Sinn. Das hat seine ganz bestimmte Bedeutung. Der Mensch kann zum Sinn nur durch seine Sinne kommen. Natürlich ist auch dieser Weg mit Gefahren verbunden. Man kann das Mittel über den Zweck setzen. So kommt man zur Sinnlichkeit, die unsere Aufmerksamkeit vom Sinn gerade ablenkt.«
Ich erinnere mich, daß ich bei Franz Kaa eine große Vorliebe für ironische Wortspiele und Sprachvorstellungen eigener Prägung bemerkte. Doch findet sich in meinen Aufzeichnungen nur ein einziger Ausspruch dieser Art.
Ich erzählte, wie in der vierten Realschulklasse mit dem Verleihen des Romanes Prinz Kuckuck von Otto Julius Bierbaum ein schwungvoller Handel betrieben wurde. »Die Schilderung der Ausschweifungen lockte uns«, sagte ich. »Also Wüstlinge«, meinte Kaa. »Das Wort erweckt in mir immer die Vorstellung der Wüste, der Verlorenheit. Der Wüstling ist verloren in der Wüste.« »Die Frau ist die Wüste«, bemerkte ich. Franz Kaa zuckte die Achseln. »Vielleicht. Die Lustquelle ist die Quelle seiner Einsamkeit. Je mehr er trinkt, um so nüchterner wird er. Zum Schluß kann er seinen Durst nicht mehr stillen, und so trinkt er also, ohne von seinem Durst erlöst zu werden. Das ist der Wüstling.«
Gegenüber dem alten Gebäude der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt auf dem Poříč war ein altes, braungelb angestrichenes Hotel Zum goldenen Fasan. Das einstöckige Haus wurde hauptsächlich von den Frauen benützt, die vor dem Hotel auf- und abspazierten. Als ich einmal vor der Versicherungs-Anstalt auf Doktor Kaa wartete, bemerkte er: »Ich sah von oben, wie Sie gesammelt die Mädchenpromenade betrachteten. Also beeilte ich mich.« Ich fühlte, wie ich im Gesicht rot wurde, darum sagte ich: »Mich interessieren nicht diese Frauen. Ich bin eigentlich nur – nur auf ihre Kunden neugierig.« Kaa sah mich von der Seite an, wandte den Blick geradeaus und sagte nach einer kleinen Weile: »Die tschechische Sprache ist so tief und so aufrichtig. Die Bezeichnung ›bludčika‹ [Irrlicht] für diese Art von Frauen ist überraschend richtig. Wie arm, verlassen und erfroren müssen die Menschen sein, die sich an diesen flackernden Sumpfgasen
erwärmen wollen. Die müssen so elend und verloren sein, daß man sie mit jedem neugierigen Blick schon verletzen könnte. Man sollte sie daher nicht anschauen. Ein Abwenden des Kopfes könnte man aber als eine Äußerung von Verachtung auffassen. Es ist schwer … Der Weg zur Liebe führt immer durch Schmutz und Elend. Die Verachtung des Weges könnte aber leicht zum Verlust des Zieles führen. Man muß daher die verschiedenen Wegerscheinungen demütig hinnehmen. Nur so kommt man an das Ziel heran – vielleicht.«
Als ich einmal Doktor Kaa in der Kanzlei beim Studium der verschiedenen tschechoslowakischen Gesetzordnungen antraf, fegte er sie mit einer mißmutigen Handbewegung in die herausgezogene Schublade seines Schreibtisches und seufzte mit einem karikierenden Augenaufschlag. Ich bemerkte: »Das ist eine langweilige Lektüre, was?« »Nicht einmal so langweilig wie abstoßend!« sagte darauf Doktor Kaa. »Für die Gesetzgeber sind die Menschen nichts anderes als Verbrecher und Feiglinge, die sich nur mittels Gewaltandrohung und Furcht leiten lassen. Das ist aber nicht nur falsch, sondern auch sehr kurzsichtig und darum – vor allem für die Gesetzgeber selbst – sehr gefährlich.« »Warum für die Gesetzgeber?« »Weil ihnen die Menschen innerlich entgleiten. Die Gesetzgeber schaffen auf Grund ihrer Menschenverachtung statt der Ordnung nur eine mehr oder weniger sichtbare Anarchie.« »Das verstehe ich nicht gut.« »Das ist doch sehr einfach«, sagte Doktor Kaa und lehnte sich bequem im Stuhl zurück. »Durch die fortschreitende Technisierung der Welt werden immer mehr und mehr
Einzelmenschen zu einer großen Menschenmasse zusammengeballt. Der Charakter jeder Masse ist aber von dem Auau und der inneren Bewegtheit seiner kleinsten Teile abhängig. Das gilt auch für die Menschen als Masse. Darum muß man jeden einzelnen durch das Vertrauen, das man ihm schenkt, aktivieren. Man muß ihm Selbstvertrauen und Hoffnung und damit wirklich die Freiheit geben. Nur so können wir arbeiten und leben und die uns umgebende Gesetzapparatur nicht als einen erniedrigenden Pferch empfinden.« In der Zeit meiner Besuche bei Franz Kaa in der Kanzlei am Poříč war die Ehe meiner Eltern in einer schweren Krise. Ich litt unter den häuslichen Zwistigkeiten. Ich beklagte mich darüber bei Kaa und gestand ihm, daß die Unruhe um mich eigentlich der entscheidende Anlaß meiner literarischen Versuche sei. »Vielleicht würde ich gar nicht schreiben, wenn es daheim anders wäre«, sagte ich. »Ich will der Unruhe entrinnen, die Stimmen um mich und in mir nicht hören, und darum schreibe ich. So wie jemand mit der Laubsäge verschiedene Dummheiten erzeugt, um die Langeweile häuslicher Abende auszufüllen, so kleistere ich Worte, Sätze und Absätze zusammen, damit ich Grund habe, allein zu sein, mich von der Umwelt, die mich bedrängt, abzuschließen.« »Das ist richtig«, sagte Kaa darauf. »Das machen viele Menschen. Flaubert schreibt in einem Brief, daß sein Roman ein Felsen sei, an den er sich halte, um nicht in den Wogen der Umwelt unterzugehen.« »Ich bin zwar auch ein Gustav, aber kein Flaubert«, meinte ich lächelnd. »Die Technik seelischer Hygiene ist nicht einzelnen vorbehalten. Damit Sie Flauberts Name nicht stört, verrate ich Ihnen, daß ich es in einer gewissen Zeit ebenso gemacht habe, wie Sie es jetzt tun. Nur ist die Sache bei mir etwas komplizierter. Durch das Gekritzel laufe ich vor mir selbst
davon, um mich beim Schlußpunkt selbst zu ertappen. Ich kann mir nicht entrinnen.«
Die Spannung zwischen meinen Eltern spiegelte sich auch in den Gesprächen mit Franz Kaa wider. »Ich vertrage das sogenannte Familienleben nicht«, bemerkte ich. »Das ist böse«, sagte Kaa mit innerer Anteilnahme. »Wie wäre es, wenn Sie das Familienleben nur beobachten würden? Die Familie würde denken, daß Sie mit ihr leben, und Sie hätten Ruhe. Schließlich wäre es ja auch teilweise wahr. Sie würden mit Ihrer Familie von einem anderen Standpunkt aus leben. Das wäre alles. Sie wären außerhalb des Kreises, mit dem Gesicht der Familie zugewendet, und das würde genügen. Vielleicht könnten Sie sogar ab und zu in den Augen der Familie Ihr Bild – ganz klein und verzeichnet wie auf einer Glaskugel im Garten – entdecken.« »Sie schlagen mir die reine Seelenakrobatik vor«, bemerkte ich. »Richtig«, nickte Kaa. »Es ist die Akrobatik des Alltags. Die ist sehr gefährlich, weil man sie gewöhnlich gar nicht sieht. Und doch kann man bei dieser Akrobatik nicht das Genick, sondern unmittelbar die Seele brechen. Daran stirbt man nicht, sondern existiert als verdienstvoller Invalide des Lebens weiter.« »Wen führen Sie als Beispiel an?« »Niemanden. Beispiele kann man nur bei Ausnahmen anführen. Die sogenannten verständigen Leute sind aber gewöhnlich nur solche Lebensbeschädigte. Und das ist die herrschende Mehrzahl, die keine Beispiele zu ihren Ungunsten duldet.« Als ich einmal wieder über die Zwistigkeiten in meiner Familie klagte, sagte Kaa: »Bäumen Sie sich nicht auf. Blei
ben Sie ruhig. Ruhe ist Ausdruck der Kra. Man kann aber auch durch Ruhe zur Kra gelangen. Das ist das Gesetz der Pole. Bleiben Sie also ruhig. Ruhiges Stillhalten macht frei – selbst vor der Hinrichtung.«
Daheim gab es einen Riesenkrach. Die Mutter verfolgte meinen Vater mit immer lauter und lauter werdenden Eifersüchteleien. Sie kam sich neben dem um ganze vierzehn Jahre jüngeren Mann verbraucht und alt vor. Damit entstand in ihr ein Minderwertigkeitsgefühl, das sie durch eine entwertende Beurteilung ihres Ehepartners nur noch verstärkte. Sie verdächtigte ihn der Untreue, und da sie keine objektiven Belege dafür finden konnte, mutete sie ihm eine ungeheure Verlogenheit und Verschlagenheit zu. Das äußerte sich in gehässigen Blicken, lieblosen Worten und kleinen, jedoch ständig anwachsenden Herabsetzungsakten. Das Essen war nicht bereitgestellt; Vaters Lieblingsgerichte verschwanden vom Speisezettel; die Wohnung war bei Vaters Rückkehr aus dem Büro nicht in Ordnung; in den offenen Fenstern wehten die Vorhänge; auf dem Tisch in der Küche stand ein Eimer mit Schmutzwasser; in den Zimmern waren die Matrazen und Betten durcheinandergeworfen; die Hausfrau war weg; und das Dienstmädchen hatte einen Extraurlaub bekommen. Der Vater stand unschlüssig in einer ihm verfremdeten, ungemütlichen Welt. Das führte zuerst zu halblaut mürrischen und dann zu immer lauter und heiger werdenden Wortgefechten. Nach so einem Krach, der sich – mit der geringen Unterbrechung für die notwendige Nachtruhe – vom Nachmittag des einen Tages bis zum Morgen und frühen Vormittag des nächsten Tages hingezogen hatte, kam ich von Scham, Wut und Hilflosigkeit ganz durcheinandergeschüttelt zu Doktor Kaa. Er hörte sich ruhig meinen erregt hervorgestotter
ten Bericht an. Dann schloß er den Schreibtisch, steckte die Schlüssel in die Hosentasche, stand auf und sagte: »Wissen Sie was? Ich pfeife auf die Kanzlei, und Sie pfeifen auf alle die Dinge, die Sie bedrücken. Wir bilden ein Pfeifduett und gehen spazieren. Musíme se vyluovat.« * Vor dem Gebäude schob er die Hand unter meinen Arm und erklärte lächelnd: »Wir machen einen Rundgang durch die ehemals königliche Hauptstadt. Anständige Flaneure beginnen gewöhnlich damit, daß sie ein Glas Wein oder Cognac zu sich nehmen. Leider sind wir beide nicht so bescheidene Rauschkonsumenten. Wir brauchen kompliziertere Narkotika. Also gehen wir zum Andrée.« »Ich habe nur ein paar Kronen«, bemerkte ich kleinlaut. »Ich auch«, sagte Doktor Kaa mit einer leichtsinnig wegwerfenden Handbewegung. »Ich kenne dort aber einen gewissen Herrn Demi; der wird sich unser schon annehmen.« Doktor Kaa irrte sich nicht. Herr Demi, ein gebürtiger Rostocker, der sich in die Stadt Prag verliebte und hier als Fachmann im Buchhandel sehr bald einen ausgezeichneten Ruf gewann, legte auf das schwarze Verkauf spult des handtuchbreiten Geschäes neben dem Pulverturm eine Unmenge neuer und alter Bücher. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was uns damals Herr Demi alles zeigte. Ich erinnere mich nur daran, was Doktor Kaa für sich und für mich kaue und mit welchen Worten er die einzelnen Bücher charakterisierte. Doktor Kaa kaue mir David Copperfield von Charles Dickens, Vorher und Nachher von Paul Gauguin und Leben und Dichtung von Arthur Rimbaud. Das Buch von Dickens habe ich selbst gewählt, es war eines der wenigen Bücher dieses Autors, das in meiner Sammlung fehlte. Doktor Kaa billigte meine Wahl. * Wir müssen uns auslüen.
Er sagte: »Dickens gehört zu meinen Lieblingsautoren. Ja, er war eine gewisse Zeit sogar ein Vorbild dessen, was ich vergeblich zu erreichen versuchte. Ihr geliebter Karl Rossmann ist ein entfernter Verwandter von David Copperfield und Oliver Twist.« »Wodurch fesselte Sie, Herr Doktor, Dickens?« Kaa antwortete ohne zu überlegen: »Durch die Beherrschung der Dinge. Durch sein Gleichgewicht zwischen dem Außen und Innen. Durch die meisterha und dabei ganz einfache Darstellung der Wechselbeziehungen zwischen der Welt und dem Ich. Durch sein ganz natürliches Ebenmaß. Das fehlt der Mehrzahl der heutigen Maler und Schristeller. Das sehen Sie, zum Beispiel, schon bei den beiden Franzosen.« Und er drängte mir direkt die schon genannten beiden Bücher von Gauguin und Rimbaud auf. Für sich kaue er drei Bände der Tagebücher von Gustave Flaubert. Dabei sagte er: »Flauberts Tagebücher sind äußerst wichtig und interessant. Ich habe sie schon sehr lange. Jetzt kaufe ich sie nochmals für Oskar Baum.« Ich wollte beide Bücherpäckchen tragen, allein Doktor Kaa verbot es mir: »Ne, ne! To nejde. * Sie dürfen nicht mein Rauschmaterial tragen. Im Rausch wie im Tod kann man sich nicht vertreten lassen.« Ich opponierte: »Wenn Sie die Bücher für Baum gekau haben, dann sind sie ja gar nicht Ihr Rauschmaterial. Also kann ich sie tragen.« Doch Kaa schüttelte heig den Kopf: »Nein, nein! Das geht nicht. Mein Rausch ist eben das Schenken. Das ist der raffinierteste Rausch, den es überhaupt gibt. Den lasse ich mir durch keine Dienstleistung schmälern.« Wir marschierten also zusammen, jeder mit einem Bücherpäckchen unter dem Arm, über den Graben, den Wenzels* Nein, nein! Das geht nicht.
platz hinauf, links an der Reiterstatue des Heiligen Wenzel und rechts an dem Neuen Deutschen eater vorbei in den Stadtpark, tranken jeder ein Glas Milch in dem kleinen Kiosk am Rande der Bredauer Gasse, blieben eine Weile bei dem kleinen Ententeich mit dem plätschernden künstlichen Wasserfall stehen, gingen hinter ihm einen schräg geneigten Weg zur Station der Straßenbahn hinauf und fuhren mit ihr zur Burg. Unterwegs äußerte sich Doktor Kaa über die Autoren der Bücher, die er mir außer dem David Copperfield gekau hatte. Er sagte: »Die Spannung zwischen der subjektiven Ich-Welt und der objektiven Außenwelt, zwischen Mensch und Zeit, das ist das Hauptproblem aller Kunst. Damit muß sich jeder Maler, Schristeller, Dramatiker und Verseschmied auseinandersetzen. Dabei kommt er natürlich zu den verschiedensten Mischungen der vorhandenen Elemente. Für den Maler Paul Gauguin ist die Wirklichkeit nur ein Zirkustrapez ganz individueller Kunststücke der Form und Farbe. Dasselbe macht Rimbaud mit der Sprache. Ja, Rimbaud geht dabei noch über die Worte hinaus. Er verwandelt die Vokale in Farben. Durch diesen Laut- und Farbenzauber nähert er sich der magischen Religionspraxis primitiver Naturvölker. Die knien, von Angst und Schatten durchdrungen, vor verschiedenen Götzen aus Holz oder Stein. Durch den Fortschritt kam es jedoch zu einer Materialverbilligung. Wir vergötzen uns selbst. Dafür werden wir aber um so tiefer und härter von den Schatten der Angst umklammert und durchknetet.« Doktor Kaa sah nachdenklich zum Fenster hinaus. Ich versuchte später, auf dieses von ihm angeschnittene ema des modernen Götzendienstes noch einmal zurückzukommen, allein – es gelang mir nicht. Doktor Kaa reagierte nicht auf meine Andeutungen und Fragen, die ich in dieser Richtung an ihn stellte.
Wir verließen die Straßenbahn an der Nordseite des Hradsdnn, gingen ein kleines Stück über die Marienschanze und Staubbrücke, durch zwei Höfe der Burg, an dem Schwedischen Palais und der Aussichtsrampe vorbei, über die Alte Rathausstiege in die Lorettogasse und auf den Lorettoplatz, wo wir wieder die Straßenbahn bestiegen, da Doktor Kaa müde war. Auf dem Altstädter Ring sagte er mir dann unweit seines Wohnhauses: »Die Unruhe bei Ihnen daheim, von der Sie mir erzählten, quält nicht nur Sie. Ihre Eltern werden von ihr noch mehr zermürbt und zerschunden. Ihre Eltern haben durch die Entfremdung, die sie auseinanderriß, viel von dem Kostbarsten, was wir Menschen überhaupt besitzen, vom eigenen Leben und Lebenssinn verloren. Dadurch sind Ihre Eltern – so wie übrigens die Mehrzahl der Menschen unserer Zeit – eigentlich seelisch verstümmelt. Die Leute sind heute zum größten Teil Empfindungs- und Vorstellungskrüppel. Sie dürfen deshalb Ihre Eltern nicht zurückstoßen. Im Gegenteil. Sie müssen sie wie Blinde und Lahme führen und stützen.« »Wie kann ich das tun?« fragte ich verzweifelt. »Durch Ihre Liebe.« »Wenn beide auf mich einhacken?« »Ja, gerade dann. Sie müssen durch Ihre Ruhe, durch Ihre Nachsicht und Geduld, kurz und gut – durch Ihre Liebe in den Eltern das zum Leben erwecken, was in den beiden schon im Absterben ist. Sie müssen sie trotz aller Schläge und Ungerechtigkeiten lieben und sie zum Recht und zur Selbstachtung hinführen. Denn was ist Un-ge-rechtigkeit? Kein richtiges Ergehen, ein Irren und Hinfallen, ein Kriechen im Staub, eine des Menschen unwürdige Stellung. Sie müssen die Eltern wie zwei Verirrte durch Ihre Liebe erheben und aufrichten. Das müssen Sie tun. So wie wir alle. Sonst sind wir nicht Menschen. Sie dürfen sie aus dem Schmerz heraus nicht verurteilen.«
Seine Hand strich flüchtig über meine linke Wange. »Auf Wiedersehen, Gusti.« Doktor Kaa drehte sich um und verschwand hinter der dunklen Glastür des Hauses. Ich stand hier wie gelähmt. Er hatte, wie meine Eltern, Gusti gesagt und seine Hand … Ich spürte noch die hauchzarte Berührung seiner Fingerspitzen. Doch da lief mir ein Schauer über den Rücken hinunter, ich mußte mich plötzlich schneuzen, als sei ich verkühlt, und mein Kinn zitterte, als ich langsam quer über den Altstädter Ring zur dunklen Eisengasse schritt.
Ich erzählte Kaa, daß mir der Vater das Musikstudium nicht bewilligen wolle. »Werden Sie sich diesem Verbot unterordnen?« fragte Kaa. »Woher«, antwortete ich. »Ich habe meinen eigenen Kopf.« Kaa sah mich sehr ernst an. »Durch den eigenen Kopf verliert man ihn am leichtesten«, sagte er. »Damit will ich natürlich nichts gegen Ihr Musikstudium sagen. Im Gegenteil! Nur die Leidenscha, welche die Prüfung des Verstandes aushält, hat Kra und Tiefe.« »Musik ist doch keine Leidenscha, sondern eine Kunst«, meinte ich. Franz Kaa lächelte aber. »Hinter jeder Kunst ist Leidenscha. Darum leiden und kämpfen Sie um Ihre Musik. Darum fügen Sie sich nicht dem väterlichen Verbot, weil Sie die Musik und was mit ihr zusammenhängt mehr lieben als die eigenen Eltern. So ist es aber in der Kunst immer. Man muß das Leben wegwerfen, um es zu gewinnen.«
Als die Spannung zwischen meinen Eltern bis zur Scheidungsklage angewachsen war, sagte ich Kaa, daß ich von zu Hause weggehen werde. Franz Kaa nickte langsam. »Es ist schmerzlich. Aber es ist das beste, was man in dem Falle tun kann. Manche Dinge kann man nur durch einen entschlossenen Sprung in das Gegenteil erreichen. :Man muß in die Fremde gehen, um die Heimat, die man verlassen hat, zu finden.« Als ich ihm mitteilte, daß ich als Musiker in der Nacht arbeiten werde, sagte er: »Gesundheitlich ist das sehr schädlich. Außerdem reißen Sie sich aus der Gemeinscha der Menschen. Die Nachtseite des Lebens wird zu Ihrer Tagesseite, und der Tag der Menschen wandelt sich zum Traum. Ohne daß Sie es merken, werden Sie zum Gegenfüßler der Umwelt. Jetzt, wo Sie jung sind, werden Sie nichts davon merken, aber später, in einigen Jahren, werden Sie vor der eigenen Leere die Augen schließen, Sie werden die Kra des Blickes verlieren, und die Umwelt wird Sie überschwemmen.«
Nach der ersten Gerichtsverhandlung in der Scheidungsangelegenheit meiner Eltern besuchte ich Franz Kaa. Ich war sehr aufgeregt, schmerzerfüllt und darum – ungerecht. Kaa sagte mir nach der Erschöpfung meiner Klagen: »Seien Sie ruhig und geduldig. Lassen Sie das Böse und Unangenehme ruhig über sich ergehen. Weichen Sie ihm nicht aus. Im Gegenteil: betrachten Sie es genau. Setzen Sie das aktive Verständnis an Stelle des reaktiven Reizes, und Sie werden über die Dinge hinauswachsen. Der Mensch kann zur Größe nur über die eigene Kleinheit gelangen.«
»Geduld ist der Patentschlüssel jeder Situation. Man muß mit allem mitschwingen, sich allem hingeben, dabei aber ruhig und geduldig sein«, sagte mir Doktor Kaa, als wir einmal an einem glasklaren Herbstnachmittag langsam durch den laubverwehten Baumgarten gingen. »Es gibt kein Biegen oder Brechen. Es gibt nur ein Überwinden, das mit der Selbstüberwindung beginnt. Dem kann man nicht ausweichen. Ein Ausbrechen aus dieser Bahn ist immer ein Zusammenbrechen. Man muß geduldig alles in sich aufnehmen und wachsen. Die Grenzen des ängstlichen Ich lassen sich nur durch die Liebe sprengen. Man muß hinter dem abgestorbenen Laub, das uns umraschelt, schon das junge, frische Frühlingsgrün sehen, sich gedulden und warten. Die Geduld ist das einzige wahre Fundament der Verwirklichung aller Träume.« Das war Doktor Kaas Lebensgrundsatz, den er mir mit beharrlicher Nachsicht einzuimpfen versuchte, ein Grundsatz, von dessen Richtigkeit er mich mit jedem Wort, jeder Handbewegung, jedem Lächeln und Blinzeln seiner großen Augen und dem ganzen langjährigen Dienstaufenthalt in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt überzeugte. Wie ich von meinem Vater wußte, saß Franz Kaa vierzehn Jahre, also fast das halbe Durchschnittsalter einer Generation, hinter dem glattpolierten Schreibtisch der Qualmfabrik auf dem Poříč No. , wo er am . Juli als Aushilfsbeamter eintrat, um sie am . Juli auf Grund eines eigenen Gesuches als pensionierter Obersekretär zu verlassen. Frau Svátek, welche Kaas Kanzlei und unsere Wohnung in Karolinenthal aufräumte, sagte mir: »Doktor Kaa verschwand still und unauffällig wie ein Mäuslein. Er verschwand so wie er all die Jahre hindurch in der Versicherungs-Anstalt gelebt hatte. Ich weiß nicht, wer seinen Schreibtisch ausräumte. Im Schrank hing nur Doktor Kafkas altersdünner, grauer Reservemantel, den er anzog, wenn
es plötzlich regnete. Ich habe bei ihm nie einen Regenschirm gesehen. Den Mantel nahm einer der Diener. Ob er ihn zu Doktor Kaa trug oder behalten hat – das weiß ich nicht. Ich habe den leeren Schrank mit Wasser und Seife gereinigt. Auf dem Schreibtisch war eine alte, längliche Glasschale mit zwei Bleistien und einem Federhalter. Daneben stand eine schöne, goldblaue Teetasse und ein zu ihr passendes Tellerchen. Doktor Treml, der mir bei dem Aufräumen zusah, sagte: ›Schaffen Sie da die Scherben weg! – Die Glasschale gehörte zu Doktor Kaas Arbeitsgerät. Aus der Tasse hat er öer Milch und manchmal Tee getrunken.‹ Also habe ich die Scherben, wie Doktor Treml sagte, nach Hause genommen.« Frau Svátek trat in ihrer Wohnküche, wo ich ihr gegenübersaß, zu der Glasvitrine eines weißgestrichenen Geschirrschrankes, aus dem sie die von Doktor Kaa zurückgelassenen ›Scherben‹ hervorholte, sie mit einem Tuch sorgfältig abwischte und sie dann behutsam vor mich auf den Tisch stellte. »Nehmen Sie, junger Herr, die Sachen zu sich. Sie haben Doktor Kaa sehr gern. Ich weiß es. Sie brauchen mir nichts zu erzählen. Er war sehr brav zu Ihnen, als Sie es wirklich brauchten. Ich glaube, daß das Töpfchen, aus dem er zu trinken pflegte, bei Ihnen gut aufgehoben sein wird.« So war es dann auch wirklich. Die kleine Porzellanschale hat mich durch die verschiedensten Situationen und Wohnungen begleitet. Ich habe sie aber nie benutzt. Ich scheute mich, ihren Rand, den Franz Kaa an seine Lippen geführt hatte, mit meinen Lippen zu berühren. Ich mußte beim Anblick der goldblauen Tasse, die mir Frau Svátek geschenkt hatte, immer wieder an Doktor Kaas Worte denken, die er mir einmal in der Dämmerung auf dem Wege durch den regenschraffierten Teinhof gesagt hatte: »Das Leben ist so unermeßlich groß und tief wie der Sternenabgrund über uns. Man kann nur durch das kleine
Guckloch seiner persönlichen Existenz hineinblicken. Und da spürt man mehr als man sieht. Darum muß man das Guckloch vor allem rein halten.« Habe ich das immer getan? Ich weiß nicht … Ich glaube: Das kann nur so ein wahrheitsbesessener Heiliger tun – wie es Doktor Kaa war.
Im Sommer war ich in Obergeorgenthal bei Brüx. Freitag, den . Juni, ja Freitag, den . Juni erhielt ich einen Brief von meinem Freunde, dem Maler Erich Hirt aus Prag. Er schrieb: »Ich erfuhr eben aus der Redaktion des Tagblatt, daß der Dichter Franz Kaa am . Juni in einem kleinen Privatsanatorium in Kierling bei Wien gestorben sei. Begraben wurde er aber hier, in Prag, Mittwoch, den njuni , auf dem jüdischen Friedhof in Straschnitz.« Ich sah auf das kleine Bild meines Vaters, das über meinem Bett an der Wand hing. Am . Mai verließ er freiwillig das Leben. Einundzwanzig Tage später, am . Juni, ging Kaa. Einundzwanzig Tage später … Einundzwanzig Tage … Einundzwanzig … So viel Jahre zählte ich eben, als der Gefühls- und Geisteshorizont meiner Jugend zusammenbrach.
ANMER KU NGEN
Max Brod ermöglichte Franz Kaas literarisches Debüt durch Befürwortung der Betrachtung im Verlag Rowohlt, vorher () hatte er zwei kleine Prosastücke an die Zeitschri Hyperion gesandt, wo sie auch erschienen. – Max Brods Werk Tycho Brahes Weg zu Gott erschien mit der Widmung ›Meinem Freunde Franz Kaa‹ im Verlag Kurt Wolff. Der Romanschristeller und Dramatiker Ludwig Winder (geb. ) war bis zum Jahre an der Prager Tageszeitung Bohemia als Redakteur tätig. Otto Pick (–), bekannt als Übersetzer aus dem Tschechischen, war zuerst Bankbeamter, dann Redakteur der Tageszeitung Prager Presse. Zur Zeit, da diese Gespräche geführt wurden, befand sich das Geschä von Kaas Vater im Kinsky-Palais am Altstädter Ring; Kaa wohnte mit seinen Eltern im Oppelt-Haus, Eckhaus Pariser Straße und Altstädter Ring. Der Philosoph und Publizist Felix Weltsch (–) war leitender Redakteur der in Prag erscheinenden zionistischen Wochenschri Selbstwehr. Die Erzählung Der Heizer ist das erste Kapitel von Franz Kaas Roman Amerika. Milena Jesenská (–) übersetzte als erste Kaas Arbeiten ins Tschechische. Über ihr Verhältnis zu ihm vgl. Franz Kaa Briefe an Milena. Frankfurt: S. Fischer . F. – Felice Bauer (–), mit der sich Franz Kaa zweimal ( und ) verlobte. Über die Hintergründe der Widmung vgl. Franz Kaa, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Frankfurt: S. Fischer .
Das Gedicht Pokora (Demut) stammt von dem tschechischen Lyriker Jirí Wolker, Es erschien im . Jahrgang der literarischen Wochenschri Kmen (Der Stamm) am . September . Ernst Lederer (geb. ) schrieb lyrische Gedichte, von denen einige in der Revue Jung Juda erschienen. eodor Tagger (Psd. Ferdinand Bruckner) (–), gründete das Renaissance-eater in Berlin; Intendant bis , emigrierte und ließ sich in den USA, in Paris nieder. Das Buch war ein Band der in unregelmäßigen Abständen erscheinenden Anthologie-Zeitschri Nova et Vetera, welche Josef Florian in Stará Rîse (Altreusch bei Iglau) herausgab. Hier ist dann später auch das erste Holzschnittportrait Kaas (von Votlucka) und die erste tschechische Übersetzung der Erzählung Die Verwandlung erschienen. Es handelte sich um die berühmte Anthologie expressionistischer Dichtung Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, herausgegeben von Kurt Pinthus. Berlin: Ernst Rowohlt . Emile Coué (–), französischer Apotheker und Heilpraktiker, dessen auf Autosuggestion aufgebautes Heilverfahren, der sogenannte Couéismus, in den zwanziger Jahren eine starke Beachtung fand. Es handelt sich um die Einakter Der Retter von Walter Hasenclever und Der grüne Kakadu von Arthur Schnitzler. Walter Hasenclevers Drama Der Sohn war im Jahre und später ein Modestück des deutschen Bühnenexpressionismus. John Millington Synges e Hero of the Western World erschien auch in tschechischer Übersetzung in der Büchersammlung Dobre Dílo [Das gute Werk] von Josef Florian. Rudolf Schildkraut (–) war einer der größten deutschen Schauspieler, der sich für die Verbreitung der neueren jiddischen Autoren auf den Bühnen in Wien, Hamburg und New York einsetzte. Über Franz Kaas Verhältnis zu der jiddischen Schauspielertruppe vgl. Franz Kaa, Tagebücher, Briefe an Felice und Max Brod, Franz Kaa; alle Frankfurt: S. Fischer.
Ernst Weiß (–) war Arzt und Schristeller. Henri Barbusse (–), französischer sozialistischer Schristeller, veröffentlichte den Roman Das Feuer – das schonungslose Tagebuch einer französischen Korporalscha im . Weltkrieg – und , unter dem Eindruck der russischen Revolution, den Roman Klarheit. Kasimir Edschmid (eigtl. Eduard Schmid), Die doppelköpfige Nymphe. Aufsätze über die Literatur und die Gegenwart. Berlin: Paul Gassirer, . Kaa wird im zweiten Kapitel Däubler und die Schule der Abstrakten erwähnt. Johannes Urzidil (geb. ) war Presseattaché der deutschen Gesandtscha in Prag. Er schrieb Gedichte und kunstpolitische Abhandlungen. Lydia Holzner besaß und leitete eine Privatschule in Prag ., Poříč Nr. . In ihrem Hause kamen deutsche, tschechische und ausländische Literaten, Maler, Bildhauer und Musiker zusammen. Lydia Holzners Bruder, Dr. Karl Holzner, war Hauslehrer des jungen Franz Werfel. Léon Bloy, Le sang du pauvre. Juven []. Die tschechische Übersetzung von Josef Florian erschien . – Léon Bloy, Le salut par les Juifs. Paris: A. Desnay . Hans Klaus, Hans Tine Kanton (Konstantin Ahne) und Rudolf Altschul veranstalteten im November einen Vortragsabend im Mozarteum in Prag. Die einleitenden Worte verfaßte Otto Pick, der sich beeilte festzustellen, daß Der Protest nicht der Name einer literarischen Gruppe sei. Der Sprecher des Abends war Otto Soltau, Mitglied des Prager Deutschen eaters, der durch seine Verkörperung von Hasenclevers Sohn bei den Veranstaltern des Vortragsabends Beachtung fand. – Konstantin Ahne veröffentlichte unter dem Namen Hans Tine Kanton ein Gedichtbuch Leben – Nebel. Von Hans Klaus erschienen Erzählungen und Gedichte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschrien; wurde von ihm ein Drama im Neuen Deutschen eater in Prag uraufgeführt. – Rudolf Altschul wurde als bedeutender Prager Nervenarzt bekannt. Johannes R. Becher, An den Schlaf. Leipzig: Insel Verlag, Insel-Almanach .
Albert Ehrenstein, Tubutsch. Mit Zeichnungen von Oskar Kokoschka. Insel-Bücherei Nr. (). – Das von Kaa erwähnte Buch Der Mensch schreit erschien in Leipzig bei Kurt Wolff. Das geozentrische Problem beschäigte Johannes Schlaf viele Jahre. Seine erste Buchpublikation über dieses ema stammt aus dem Jahre : Professor Plassmann und das Sonnenfleckenphänomen. Leipzig: Hephaistos-Verlag. – Seine Hauptwerke über das ema: Die geozentrische Tatsache als unmittelbare Folgerung aus dem Sonnenfleckenphänomen. Leipzig: R. Hummel . Kosmos und kosmischer Umlauf. Die geozentrische Lösung des kosmischen Problems. Weimar: Literarisches Institut H. Doetsch . Die Bhagavad Gita. Das hohe Lied, enthaltend die Lehre der Unsterblichkeit. In poetischer Form nach Edwin Arnods Sanskrit-Übersetzung ins Deutsche übertragen von Franz Hartmann, M. D., eosophisches Verlagshaus s. d. Es handelt sich um das im Jahre im Selbstverlag erschienene Gedichtbuch Prichazim z periferie (Ich komme von der Peripherie) von Michael Mareš. Das Altstädter Kaffeehaus war seinerzeit ein bekanntes, an der Mündung der Egidigasse gelegenes Nachtlokal, das noch in den Zwanzigerjahren geschlossen wurde. Am Anfang des . Jahrhunderts war das Gasthaus Zum Kanonen-Kreuz ein bekanntes Anarchistenlokal, das im Jahre in dem Prozeß des tschechischen antimilitaristischen Jugendbundes eine bedeutende Rolle spielte. Max Brod, der mit Franz Kaa die Anarchistenversammlungen in diesem Gasthaus besucht hatte, hielt die Atmosphäre in seinem Roman Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung fest. Er nannte dabei eine ganze Anzahl der Teilnehmer mit ihren richtigen Namen; so auch Michael Mareš, dessen Erinnerungen an Kaas Teilnahme in der Prager Anarchistenbewegung Klaus Wagenbach im Jahre in seinem Buch Franz Kaa – Eine Biographie seiner Jugend. Bern: A. Francke, abdruckte. Es handelt sich um den von Ernst Stadler zusammengestellten und übersetzten Auswahlband der Gedichte von Francis Jammes Die Gebete der Demut, der bei Kurt Wolff in der Sammlung Der jüngste Tag als Band erschien.
Michael Grusemann, Dostojewski. Philosophische Reihe. . Herausgegeben von Dr. Alfred Werner. München: Verlag Rösl & Co. . Leo Frobenius (Hrsg.), Atlantis. Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas. Veröffentlicht durch das Forschungsinstitut für Kulturmorphologie in München, verlegt bei Eugen Diederichs, Jena. Bände (–). Der von Leonhard Frank vor Beendigung des Ersten Weltkrieges () in Zürich und Leipzig bei Rascher erschienene Novellenband Der Mensch ist gut wurde zum Manifest des pazifistischen Deutschlands der Nachkriegszeit. Ludwig Hardt (–). Der Dichter Rudolf Fuchs (geb. ) war eine der leitenden Persönlichkeiten des Verlages H. Mercy in Prag, welcher die bekannte bürgerlich-liberale Zeitung Prager Tagblatt herausgab. Er veröffentlichte sein erstes Gedichtbuch Meteor im Jahre . Seine Gedichtsammlung Die Karawane erschien bei Kurt Wolff in Leipzig, wo er auch seine Übersetzungen und Nachdichtungen der Gedichte von Otokar Březina und Petr Bezruč herausbrachte. Alexander Neverov, Taschkent, die brotreiche Stadt. Die deutsche Übersetzung erschien im Malik-Verlag, Berlin. Poale Zion (Arbeiter Zions) war der Name der jüdischen Arbeiterpartei innerhalb der zionistischen Bewegung. Sie entstand in Polen und Rußland als Versuch einer Synthese zwischen Zionismus und Sozialdemokratie. Es handelt sich um den von Artur Landsberger herausgegebenen Sammelband Das Ghettobuch. Die schönsten Geschichten aus dem Ghetto. Berlin-Wien: Verlag Benjamin Harz . Dr. Karel Kramář (–) wurde Abgeordneter der Jungtschechischen Partei. Nach der Auflösung ÖsterreichUngarns im Jahre wurde er der erste Ministerpräsident der Tschechoslowakei. Dr. Karel Kramář war der anerkannte Führer der tschechischen Nationalisten, die in der ehemaligen nationaldemokratischen Partei vereinigt waren. Als solcher war er ein ausgesprochener Gegner von omas G. Masaryk und Dr. Edvard Beneš.
Oskar Baum (–) erblindete früh und brachte sich als Musiklehrer durch. Er schrieb die stark autobiographischen Werke Uferdasein. Aus dem Blindenleben von heute. Stuttgart-Berlin: Axel Juncker ; Das Leben im Dunkel. Stuttgart-Berlin: Axel Juncker ; weiter Die Tür ins Unmögliche. München: Kurt Wolff ; sein Drama Das Wunder (München: Drei Masken Verlag ) wurde in Prag uraufgeführt. Odradek ist der Name einer Erscheinung, von der Kaas kleine Erzählung Die Sorge des Hausvaters in dem Buch Ein Landarzt handelt. – Siehe das schon früher (Anm. ) erwähnte Buch von Léon Bloy, Le salut par les Juifs. Der ›Verband marxistischer Akademiker‹ in Prag war eine sozialdemokratische Vereinigung, welche sich nach der Spaltung der Partei den Kommunisten anschloß. – Der sogenannte Rosa-Saal war ein mittelgroßer Vortragsraum im Sozialdemokratischen Volkshaus Lidovy dum in Prag , Hybernergasse Nr. . Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart. Unter Mitwirkung von Paul Adler, Adolf Behne, Eduard Bernstein, Leo Bloch, August Conrady, Paul Darmstädter, Alfred Döblin, Max Hochdorf, Paul Kampffmeyer, Ernst Lederer, Friedrich Mückle, Robert Müller, Paul Olberg, Albert Pohlmeyer, A. E. Ströbel, Veit Valentin, herausgegeben von Ignaz Jezower. Berlin: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. []. Kaa gefiel Vincent van Goghs Bild Le café, le soir (×) Arles, septembre . Es befindet sich im Rijkmuseum Kröller-Müller in Otterlo. Es handelt sich um die Jubiläumsnummer der illustrierten Wochenschri Wiener Bilder. Das Flugblatt Očista (Die Läuterung) wurde – von A. V. Fric gegen den damaligen Außenminister Edvard Beneš geschrieben und herausgegeben. Er wollte nach der Errichtung der Tschechoslowakischen Republik Gesandter in Mexiko werden. Dr. Beneš nahm sein Anerbieten nicht an, und so kam es zu den oben erwähnten Pamphleten. Franz Kaas Denkschri über die vorzunehmenden Änderungen in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt des Kö-
nigreiches Böhmen befindet sich noch im Archiv obengenannter Anstalt. Franz Werfel Spiegelmensch. Magische Trilogie. München: Kurt Wolff . Der von Kaa angekündigte Musikroman von Franz Werfel ist Verdi. Roman der Oper, erschienen bei Paul Zsolnay in Wien. Vítězslav Novák (–) gehörte zu den führenden Erscheinungen moderner Musik. Wie für Leos Janacek, so hat sich Max Brod auch für die Verbreitung der Musik von Vítězslav Novák sehr stark und erfolgreich eingesetzt. Naše Řeč (Unsere Sprache) war der Titel einer der Erforschung der tschechischen Sprache gewidmeten Zeitschri, deren führender Redakteur Prof. Dr. Miroslav Haller war. Es handelt sich um die Anthologie Menschheitsdämmerung, vgl. Anm. . Rudolf Steiner (–), Begründer der Anthroposophie, kam zuweilen nach Prag, wo ihn verschiedene deutsch-jüdische Zirkel und Familiengesellschaen unterstützten und förderten. George Grosz, Das Gesicht der herrschenden Klasse. Berlin: Malik-Verlag. Vladimír Sychra (geb. ) ist einer der bedeutendsten tschechischen modernen Maler, die die Vereinigung Manes bilden. Er ist Professor der Akademie der bildenden Künste. Die von Eugen Diederichs in Jena herausgegebene Sammlung der Werke alter chinesischer Denker war eine zehnbändige, von dem deutschen Sinologen Richard Wilhelm-Tsingtau aus den Originalurkunden übersetzte und herausgegebene Reihe, welche die wichtigsten Werke der klassischen Religion und Philosophie, der mittelalterlichen Staats- und Naturphilosophie, sowie des Taoismus und seiner Sekten umfaßte. Josef Čapek (–) verfaßte gemeinsam mit seinem Bruder Karel Čapek (–) eine Reihe erfolgreicher Bücher. Er war aber vor allem ein eigenwilliger Maler, der die Gruppe Tvrdosijni (Die Unentwegten) gründete.
Giovanni Segantini (–) war ein bedeutender Maler der Alpen. Der erwähnte Band seiner Schrien und Briefe wurde von seiner Witwe herausgegeben. Guillaume Apollinaire, Alcools. Poèmes -. Paris: Mercure de France . Die Übersetzung von Karel Čapek erschien in der Prager Zeitschri Cerven am . . . Max Brod, Heidentum, Christentum, Judentum erschien in München bei Kurt Wolff ( Bde). Walt Whitman (–). Leaves of Grass erschien ; Aufsätze und Prosaskizzen wurden unter dem Titel Democratic Vistas in einem Band zusammengefaßt. Oscar Wilde, Ziele. Übersetzt von Paul Wertheimer. Inhalt: Der Kritiker als Künstler. Der Verfall des Lügens. Feder, Pinsel und Gi. Die Wahrheit der Masken. Bd. der Werke in Bänden, Berlin: Globus Verlag []. Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. In einem Zeitroman von Otto Julius Bierbaum. München: Georg Müller – ( Bde). Franz Kaa hat bei verschiedenen Gelegenheiten seine Bewunderung für Charles Dickens zum Ausdruck gebracht. Leider habe ich nicht alle diesbezüglichen Aussprüche festgehalten. Franz Kaa ist auf dem jüdischen Friedhof in Prag-Straschnitz in einem Grabe mit seinem Vater Hermann Kaa (–) und seiner Mutter Julie Kaa, geb. Löwy ( bis ) bestattet.
R EGISTER
. Abiram Adler, Frau Adler, Paul , Zauberflöte Ahne, Konstantin (Psd. Hans Tine Kanton) f. Die Aktion Altenberg, Peter (eigtl. Richard Engländer) Altschul, Rudolf f., Apollinaire, Guillaume (eigtl. Wilhelm Apollinaris de Kostrowitski) Alcools. Poemes - , La Zone ff. Arnod, Edwin Asch, Schalom Der Gott der Rache Bachrach ff. Bakunin, Michail Alexandrowitsch Barbusse, Henri Clarté (Klarheit) , Le feu (Das Feuer) , Baudelaire, Charles Bauer, Felice , Baum, Oskar , , , ,
Das Leben im Dunkel Die Tür ins Unmögliche f., Uferdasein, Aus dem Blindenleben von heute Das Wunder Becher, Johannes R. An den Schlaf , Beckett, Samuel Behne, Adolf Benda, Frau f. Benda, Karel f. Beneš, Edvard f., f. Berditold, Leopold Graf Bernstein, Eduard Bezruč, Petr Die Bhagavad Gita , Bibel Bierbaum, Otto Julius Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings , Blei, Franz Großes Literarisches Bestiarium Bloch, Leo Bloy, Léon Marie Das Blut der Armen (Le sang du pauvre) , Le salut par les Juifs , ,
Böcklin, Arnold Der Krieg Bölsche, Wilhelm Bohemia , Der Brenner Březina, Otokar (eigtl. Václav Jebarý) , Brod, Elsa , Brod, Max , –, f., , , , , , , , , f., , , ff., f., , , . Die Fälscher Heidentum, Christentum, Judentum , Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung Tycho Brahes Weg zu Gott , Blüher, Johannes (Hrsg.) Was sich Wüstenväter und Mönche erzählten C. Camus, Albert Čapek, Josef , Čapek, Karel , f. Cerný, Agnes f. Cerný, Jan – Červen (Juni) , , Chaplin, Charlie Chesterton, Gilbert Keith Der Mann, der Donnerstag war Die Orthoxie Claudel, Paul Conrady, August Coué, Emilie Dallago, Carl , Darmstädter, Paul Darwin, Charles Robert
Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl Datan Demi (Buchhändler) Dickens, Charles , David Copperfield ff. Oliver Twist Dobre Dílo (Das gute Buch) (Buchserie) Döblin, Alfred Die drei Sprünge des Wang-lun Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen Der schwarze Vorhang. Roman von den Worten und Zufällen f. Dostojewskij, Fedor Michailowitsch Die Dämonen Schuld und Sühne (Rodion Raskolnikow) Dschuang Dsi (Chuang-tzu) Das wahre Buch vom südlichen Blütenland – Dschung Yung Die große Lehre von Maß und Mitte Edschmid, Kasimir (eigtl. Eduard Schmid) Die doppelköpfige Nymphe. Aufsätze über die Literatur und die Gegenwart , - eodor Däubler und die Schule der Abstrakten , Ehrenstein, Albert Der Mensch schreit , Tubutsch ,
F. s. Bauer, Felice F. W. Die Fackel Fiedler, F. Filla Dostojewskijs Leser f. Flanagan, Father Flaubert, Gustave Briefe Tagebücher Florian, Josef , Frank, Leonhard Der Mensch ist gut , ›Frau Anna‹ Fric, A. V. Frobenius, Leo (Hrsg.) Atlantis. Volksmärchen und Volksschilderungen Afrikas , Fuchs, Rudolf f., Die Karawane , Meteor Gandhi, Mahatma Garnett, David Lady into Fox (Meine Frau, die Füchsin) ff. Gauguin, Paul Vorher und Nachher ff. Giammatteo, Fernando di f. Godwin, William Goethe, Johann Wolfgang von , Faust Gogh, Vincent van Briefe aus dem Irrenhaus Le café, le soir , Gorki, Maxim (eigtl. Alexej Maximowitsch Peschkow) Erinnerungen an Leo Nikolajewitsch Tolstoj Grossmann, Rudolf (Psd. Pierre Ramuz)
Grosz, George Das Gesicht der herrschenden Klasse f., Grusemann, Michael Dostojewskij , Gütling, Alois ff., f. Haeckel, Ernst Haecker, eodor Haller, Miroslav Hardt, Ludwig ff., Hartmann, Franz Hasenclever, Walter Der Retter , Der Sohn , f. Hauser, Kaspar , Haydn, Joseph Heine, Heinrich Herodes Hirt, Erich Hochdorf, Max Hoelz, Max Holitscher, Arthur Holz, Arno Holzner, Karl Holzner, Lydia , , , Huelsenbeck, Richard Hyperion Hyrslová, Kveta Ibsen, Henrik Jammes, Francis f, Die Gebete der Demut , Janaček, Leos Janouch, Anna Janouch, Eltern , f., ff. Janouch, Hans , f. Janouch, Helene, geb. Slaviček ,
Janouch (Mutter) , , Janouch (Vater) , –, , , , f., , f., ff., , ff., –, , , , f., ff., f., f., , ff., ff., f., , , , , Jesenská, Milena f., Jesus Christus , Jezower, Ignaz (Hrsg.) Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart f., Der jüngste Tag (Buchserie) Jugendbund Jung Juda , K., Rudolf Kaa, Eltern , , Kaa, Hermann f., , Kaa, Julie, geb. Löwy f., , , Kämpf, Alfred , , , , Kampffmeyer, Paul Kanton, Hans Tine (eigtl. Konstantin Ahne) Leben – Nebel Kepler, Johannes Astronomia Nova Kierkegaard, Sören , Klabund (eigtl. Alfred Henschke) Klaus, Hans ff., Kleist, Heinrich von Erzählungen Klub der Jungen Kmen (Der Stamm) , , Kokoschka, Oskar f.,
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Marsyas Masaryk, omas G. , , Max s. Brod, Max Meyrink, Gustav Der Golem f. Michelangelo Buonarroti Moses f. Minuzzo, Nerio Morgenstern, Christian Galgenlieder Stufen Zeit und Ewigkeit Moses Mückle, Friedrich Mühsam, Erich Müller, Robert Mussolini, Benito f. N. N., Dr. Napoleon Bonaparte Naše Řeč (Unsere Sprache) , Nationale Gemeinscha der tschechoslowakischen Legionäre Neugebauer, Buchhandlung , Neumann, Stanislav Kostka Neverov, Alexander (eigtl. Alexander Sergejewitsch Skobelev) Taschkent, die brotreiche Stadt Nova et Vetera , Novák, Vítežslav , Očista (Die Läuterung) Olberg, Paul
P., Franz Paquet, Alfons Der Geist der russischen Revolution Parik, Jan Perez, Jizckak Leib Picasso, Pablo Pick, Otto , , , Pickford, Mary Pinthus, Kurt (Hrsg.) Menschheitsdämmerung, Symphonie jüngster Dichtung ff., , , Platon Der Staat Poale Zion (Arbeiter Zions) , , Poe, Edgar Allan , Ausgewählte Novellen Pötzl, Dr. Pohlmeyer, Albert Polgar, Alfred Prager Presse , , Prager Tagblatt , , , , Der Protest , Proudhon, Pierre-Joseph Rašin, A. Ravachol (eigtl. Franz Augustin Königstein) , Reimann, Hans Rimbaud, Arthur Leben und Dichtung ff. Rosenberg, Mary S. S. ff. S., Olda Sade, Donatien-AlphonseFrançois de Salomon Schildkraut, Rudolf ,
Schlaf, Johannes f., Frühling Die geozentrische Tatsache als unmittelbare Folgerung aus dem Sonnenfleckenphänomen Kosmos und kosmischer Umlauf. Die geozentrische Lösung des kosmischen Problems Professor Plassmann und das Sonnenfleckenphänomen Schnitzler, Arthur Der grüne Kakadu , Scholle von Schollenbach (Prager Ratsherr) Schopenhauer, Arthur Über Schristellerei und Stil Segantini, Giovanni , Schrien und Briefe , Seidel (Bürodiener) Selbstwehr , , Shakespeare, William Hamlet Slaviček, Helene , Soltau, Otto Spengler Oswald Der Untergang des Abendlandes Stadier, Ernst Steiner, Rudolf ff., Stevenson, Robert Louis Die Schatzinsel ff. Stirner, Max Strauß, Johann Ströbel, A. E. Svátek, Frau f., f. Sychra, Vladimír , Synge, John Millington Der Held des Westens (e Hero of the Western World) ,
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In der Straolonie , , , , fDer Prozeß Die Sorge des Hausvaters , Das Urteil , , Die Verwandlung , , , , f., f., , , ,