Buch: Die besten Gespenstergeschichten aus dem Gruselkabinett der berühmten englischen Schauerliteratur, schwarze Perle...
73 downloads
464 Views
723KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Buch: Die besten Gespenstergeschichten aus dem Gruselkabinett der berühmten englischen Schauerliteratur, schwarze Perlen von morbider Schönheit, düster, phantastisch und unheimlich… Erzählungen von klassischen und modernen Autoren aus der jenseitigen Welt der Geister, die in alten Schlössern spuken und die Nerven des Lesers kitzeln.
GESPENSTERGESCHICHTEN AUS ENGLAND Herausgegeben von Manfred Kluge Anthologie
Originalausgabe
HEYNE-BUCH Nr. 5443 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Amelia Edwards DIE PHANTOMKUTSCHE aus »Die Damen des Bösen« Copyright © by S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. M. R. James EIN HERZENSVETTER aus »Der Schatz des Abtes Thomas« Copyright © by Insel Verlag, Frankfurt a. M. W. H. Hodgson DAS PFEIFENDE ZIMMER aus »Das Haus an der Grenze« Copyright © by Insel Verlag, Frankfurt a. M. L. A. G. Strong DANSE MACABRE aus »Aus dem Geisterkabinett der Lady Cynthia Asquith« Copyright © by Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen 4. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Copyright © 1978 by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1980 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Satz: Friedrich Pustet, Regensburg Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-00838-3
INHALT SIR WALTER SCOTT ....................................................................................6 Das Zimmer mit den Wandbehängen AMELIA EDWARDS ...................................................................................21 Die Phantomkutsche MONTAGUE RHODES JAMES ..............................................................36 Ein Herzensvetter ALGERNON BLACKWOOD...................................................................49 Ein unangenehmer Mieter DICK DONOVAN .......................................................................................73 Eine Schreckensnacht WILLIAM HOPE HODGSON..................................................................89 Das pfeifende Zimmer OSCAR WILDE ...........................................................................................110 Das Gespenst von Canterville R. H. BENSON.............................................................................................141 Der Reiter H. R. WAKEFIELD ....................................................................................151 Das Gespensterschloß EDITH WHARTON...................................................................................156 Ein Geist, den man nicht gleich erkennt CHARLES BIRKIN.....................................................................................190 Besuch aus einer anderen Welt L. A. C. STRONG.........................................................................................209 Danse Macabre
SIR WALTER SCOTT
Das Zimmer mit den Wandbehängen Gegen Ende des Amerikanischen Krieges, als die Offiziere der Armee von Lord Cornwallis, die sich bei Yorktown und andernorts ergeben hatten, wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten, um von ihren Abenteuern zu berichten und sich von ihnen zu erholen, war unter ihnen ein General namens Browne. Er hatte sich hohe Verdienste erworben und entstammte einer außerordentlich geachteten und sehr begüterten Familie. Irgendeine Angelegenheit hatte General Browne durch die westlichen Grafschaften geführt; eines Morgens fand er sich in der Umgebung einer kleinen Stadt, die ungewöhnlich schön und ihrem Charakter nach ganz und gar englisch war. Die kleine Stadt hatte eine stattliche alte Kirche, deren Turm von der Frömmigkeit alter Zeiten kündete. Sie lag inmitten von Kornfeldern und Weiden und war von Wäldern mit uralten riesigen Bäumen umgeben. Sie wies nur wenig moderne Züge auf, aber hier herrschte weder die Einsamkeit des Niedergangs noch die Geschäftigkeit der Neuzeit. Die Häuser waren alt, doch in gutem Zustand, und der kleine nette Fluß murmelte frei auf seinem Weg links an der Stadt entlang und war weder von Dämmen eingeschränkt, noch von einem Treidelpfad begleitet. Etwa eine Meile südlich von der Stadt lag auf einer kleinen Anhöhe inmitten ehrwürdiger Eichen und umgeben von dichten Hecken ein Schloß mit vielen Türmen und Türmchen, das so alt war wie die Kriege von York und Lancaster, an dem aber während der Regierung der Königin Elizabeth und ihrer Nachfolger wichtige Verbesserungen vorgenommen worden waren. Sehr groß war das Schloß nicht, doch es schien noch alle Bequemlichkeiten früherer Zeiten zu bieten. Diesen Schluß zog jedenfalls General Browne, als er sah, daß sich der Rauch fröhlich aus den alten, verschnörkelten und geschnitzten Schornsteinkästen ringelte. Die Parkmauer folg-
te der Landstraße zwei- oder dreihundert Yards. Wo sich ein Durchblick in das Waldland ergab, schien es wohlgepflegt zu sein; dann war die Fassade des alten Schlosses in ihrer ganzen Ausdehnung zu sehen, schließlich sein seltsamer Hauptturm zu bewundern, der vom bizarren Reichtum der elizabethanischen Schule erzählte, während das übrige Gebäude von schlichter und zweckdienlicher Strenge war. Alles in allem ließ sich vermuten, daß das Schloß eher der Verteidigung als der Repräsentation gedient hatte. Der General freute sich an diesen Durchblicken und an den Wäldern und Tälern, von denen diese alte, feudale Festung umgeben war. Er war entschlossen, zu erfragen, ob sie einer näheren Betrachtung wert sei und ob sie vielleicht Familienbilder oder sonstige Gegenstände beherbergte, die des Interesses eines Fremden wert waren. Er verließ also die Parknähe, fuhr durch eine saubere, wohlgepflasterte Straße und hielt schließlich vor der Tür eines gut besuchten Gasthauses an. Ehe er frische Pferde bestellte, um seine Reise fortsetzen zu können, erkundigte sich General Browne nach dem Besitzer des Schlosses, das seine bewundernde Aufmerksamkeit gefunden hatte, und war überrascht und erfreut zu hören, daß es einem Edelmann gehörte, den wir Lord Woodville nennen wollen. Welch ein glücklicher Zufall! Viele von Brownes frühen Erinnerungen aus Schule und College waren mit dem jungen Woodville verbunden, und ein paar zusätzliche Fragen ergaben, daß er der Eigentümer des schönen Besitzes war. Vor einigen Monaten war sein Vater gestorben, von dem er die Peerswürde geerbt hatte; da die Trauerzeit nun zu Ende war, wie der General vom Wirt erfuhr, hatte er den väterlichen Besitz auch offiziell übernommen, mit ausgewählten Freunden einen fröhlichen Herbst verbracht und in den wildreichen Wäldern die Freuden der Jagd genossen. Das waren angenehme Nachrichten für unseren Reisenden. Frank Woodville war in Eton Richard Brownes Fuchs gewesen und in Christ Church sein gewählter Freund. Sie hatten Pflichten und Vergnügen miteinander geteilt, und dem ehrlichen Soldaten wurde es warm ums Herz bei dem Gedanken, daß sein Freund über einen so köstlichen Besitz verfügte. Der Wirt versicherte ihm nachdrücklich, daß das Gut seiner Würde voll entsprach und sie noch unterstrich. Nichts war also natürlicher, als daß der General seine Reise unterbrach; sie war sowieso nicht allzu
eilig, und so konnte er seinem alten Freund unter so angenehmen Umständen einen Besuch abstatten. Die frischen Pferde dienten also nur dazu, des Generals Reisewagen den kurzen Weg zum Schloß Woodville zu bringen. Ein Pförtner ließ sie an einem neuen, gotischen Pförtnerhaus ein, das im gleichen Stil wie das Schloß selbst errichtet war; der Mann läutete eine Glocke, um die Ankunft des Besuchers zu melden. Offensichtlich bewirkte die Glocke die Trennung der Gesellschaft, die dabei war, sich an die verschiedenen Vergnügungen des Morgens zu begeben. Als der General nämlich in den Schloßhof einfuhr, lungerten einige junge Männer in Sportkleidung herum; sie begutachteten und kritisierten die Hunde, die von ihren Wärtern vorgeführt und bereitgehalten wurden, um da- oder dorthin mitgenommen zu werden. Als General Browne dem Wagen entstieg, kam der junge Herr zum Tor der Halle und musterte einen Augenblick lang den Fremden. Infolge des Krieges, seiner Wunden und Müdigkeit hatte sich das Gesicht seines Freundes sehr verändert, aber die ganze Unsicherheit schwand, als der Besucher gesprochen hatte. Die nun folgende Begrüßung war so herzlich, wie sie sich nur zwischen jenen denken läßt, die gemeinsam die fröhlichen Tage einer sorglosen Kindheit und Jugend verbracht haben. »Wenn ich einen Wunsch hätte tun können, mein lieber Browne«, sagte Lord Woodville, »dann wäre es der gewesen, zu allererst dich bei dieser Gelegenheit hier zu haben, die meine Freunde als eine Art Urlaub betrachten. Glaub nur ja nicht, daß du in den Jahren deiner Abwesenheit nicht beobachtet worden wärest. Ich habe deine Spur verfolgt durch Gefahren, Triumphe, aber auch durch Unglück und bin beglückt, zu sehen, daß – egal, ob Sieg oder Niederlage – der Name meines alten Freundes immer durch Beifall geehrt wurde.« Der General gab eine passende Antwort und gratulierte seinem Freund zu seinen neuen Würden und zu dem Besitz eines so schönen Schlosses in so wundervoller Umgebung. »Du hast aber noch nichts davon gesehen«, antwortete Lord Woodville, »und ich hoffe, du wirst uns nicht verlassen wollen, ehe du dich hier besser auskennst. Ich gebe zu, es ist richtig, daß mein Besitz ziemlich groß ist, doch das alte Haus ist, wie ähnliche Häuser dieser Art, nicht mit
allen Annehmlichkeiten versehen, welche die Ausdehnung der äußeren Mauern zu versprechen scheinen. Aber wir können dir einen behaglichen, altmodischen Raum geben. Ich nehme an, daß die Feldzüge dich gelehrt haben, mit viel ärmlicheren Quartieren vorlieb zu nehmen.« Der General zuckte lachend die Achseln. »Ich nehme an, daß das schlechteste Zimmer in deinem Schloß bedeutend besser ist als die alte Tabaktonne, in der ich das Glück hatte, mein Nachtlager aufschlagen zu können, als ich mit dem leichten Korps im Busch war, wie die Leute von Virginia sagen. Wie Diogenes lag ich da drinnen und war glücklich, weil ich vor den Elementen Schutz gefunden hatte. Ich machte sogar den vergeblichen Versuch, sie zu meinem nächsten Quartier rollen zu lassen, doch mein damaliger Kommandeur wollte keinen solchen Luxus erlauben, und so mußte ich mich mit Tränen in den Augen von meiner geliebten Tonne trennen.« »Nun, da du ja keine Angst um dein Quartier zu haben brauchst«, sagte Lord Woodville, »wirst du ja wenigstens eine Woche bei mir verbringen. Wir haben genug Pistolen und Gewehre, Hunde, Angelzeug und alles, was du brauchst, um zu Wasser und zu Land jeden erdenklichen Sport zu betreiben. Du kannst dir ein Vergnügen aussuchen, und wir werden dir zur Verfügung stellen, was dazu gehört. Aber wenn du schießen willst, dann werde ich selbst mitkommen, um zu sehen, ob du vielleicht noch besser geworden bist als damals bei den Indianern der ersten Niederlassungen.« Gern nahm der General das liebenswürdige Angebot seines Gastgebers an. Nach einem Morgen männlicher Übungen traf sich die ganze Gesellschaft bei Tisch, und für Lord Woodville war es ein ganz besonderes Vergnügen, die Verdienste und hohen Talente seines wiedergefundenen Freundes zu rühmen und ihn seinen Gästen zu empfehlen, die größtenteils Leute von Rang waren. Er forderte den General auf, von dem zu sprechen, was er erlebt hatte. Da jedes Wort den tapferen Offizier bestätigte und den vernünftigen Mann verriet, der auch in den Augenblicken größter Gefahr einen kühlen Kopf behielt, behandelten die Gäste den Soldaten mit großem Respekt wie einen Mann, der in den schwierigsten Situationen ungewöhnlichen Mut bewiesen hatte, denn dies war eine Eigenschaft, die jeder zu besitzen wünschte oder wähnte.
Der Tag im Schloß Woodville endete wie üblich in solchen Herrenhäusern. Die Gastfreundschaft hielt sich in den Grenzen guter Ordnung. Die Musik, in welcher der junge Herr Meister war, folgte der kreisenden Flasche; Karten und Billard standen für jene bereit, die solche Vergnügungen bevorzugten. Aber die Aktivitäten des Morgens forderten frühes Aufstehen, und deshalb zogen sich die Gäste gegen elf Uhr abends in ihre Schlafzimmer zurück. Der junge Herr begleitete seinen Freund, den General Browne, persönlich zu dem für ihn bestimmten Raum, der ganz und gar seiner Beschreibung entsprach. Er war altmodisch, aber behaglich eingerichtet. Das massive Bett stammte aus dem ausgehenden siebzehnten Jahrhundert, und die Vorhänge aus verblichener Seide waren reich mit matt gewordenem Gold verziert. Wenn der anspruchslose Soldat an seine karge Luxusbehausung, die Tonne, dachte, dann erschienen ihm die Laken, die Kissen und Decken besonders köstlich. Die verblichenen, einstmals kostbaren Wandbehänge des Raumes ließen das Zimmer noch kleiner und vor allem düsterer erscheinen, als es war. Die Vorhänge bewegten sich ein wenig im sanften Herbstwind, der durch das halboffene Fenster mit den gitterförmig angeordneten Scheiben blies. Den hohen Spiegel am Toilettentisch krönte ein seidener braunroter Turban nach der Mode des Jahrhundertbeginns; zahllose merkwürdig geformte Behälterchen, Schächtelchen und Döschen, die nur hübsch oder kostbar waren, sonst aber keinen Zweck mehr hatten, schufen eine Atmosphäre altersschwerer Melancholie. Die beiden lustig flackernden Wandkerzen wetteiferten mit dem fröhlich knisternden Kaminfeuer in ihrem Bemühen, Wärme, Helligkeit und ein behagliches Gefühl zu vermitteln. Dem General gefiel der hübsche, kleine Raum außerordentlich, und nur allzu gern verzichtete er auf eine modernere Ausstattung, die ihm weder wünschenswert noch notwendig erschien. »Das ist ein ganz altmodisches Schlafkämmerchen, General«, sagte der junge Herr, »aber ich hoffe, du findest nichts darinnen, was dich nach deiner alten Tabakstonne sehnen läßt.« »Nun, was meine Wohnungen angeht – ich bin nicht sehr wählerisch«, antwortete der General. »Aber könnte ich mir’s aussuchen, würde ich
doch diesen Raum ganz gewiß den fröhlicheren und moderneren Zimmern deines Herrenhauses vorziehen. Glaub mir, wenn ich seine Behaglichkeit, das ehrwürdige Alter und seine Kostbarkeit mit dem Gedanken verbinde, daß dies ja alles dein Besitz ist, dann fühle ich mich hier ganz bestimmt wesentlich wohler als im elegantesten Hotel Londons.« »Ich hoffe, mein lieber General, und ich zweifle nicht daran, daß du es hier so behaglich hast, wie ich es dir wünsche«, sagte der junge Edelmann, wünschte seinem Gast noch einmal eine angenehme Nachtruhe, schüttelte ihm die Hand und zog sich zurück. Der General beglückwünschte sich zu dieser angenehmen Rückkehr in ein friedliches Leben, als er sich noch einmal umsah. Während er sich auskleidete, erinnerte er sich der Härten und Gefahren der vergangenen Zeit, und so bereitete er sich mit besonderem Genuß auf eine luxuriöse Nachtruhe vor. Entgegen der Sitte und Gepflogenheit dieser speziellen Form der Erzählung verlassen wir hier den General bis zum nächsten Morgen. Die Gäste versammelten sich schon zu früher Morgenstunde zum Frühstück, doch General Browne erschien nicht, obwohl er der Gast zu sein schien, den Lord Woodville mit seiner herzlichen und vorzüglichen Gastfreundschaft besonders zu ehren gedachte. Die Abwesenheit des Generals erstaunte ihn, und nach einer Weile schickte er einen Diener aus, der sich nach ihm erkundigen sollte. Der Mann brachte die Nachricht mit, daß General Browne schon seit dem allerfrühesten Morgen draußen herumlief, obwohl das Wetter neblig und unfreundlich war. »Das ist Soldatengewohnheit«, bemerkte der junge Edelmann seinen Freunden gegenüber. »Viele von ihnen machen sich Nachtwachen so sehr zur Gewohnheit, daß sie nach den frühen Morgenstunden, zu denen ihre Pflicht sie gewöhnlich ruft, nicht mehr schlafen können.« Aber ihm selbst erschien diese Erklärung, die er seinen Gästen gab, nicht befriedigend. Schweigend, besorgt und in sich gekehrt wartete er auf die Rückkehr des Generals. Er kam etwa eine Stunde nachdem die Frühstücksglocke geläutet hatte, und er sah müde und fiebrig aus. Zu
jener Zeit war eine sorgfältig geordnete und gepuderte Frisur eine unerläßliche Notwendigkeit und vielleicht die wichtigste Tagesbeschäftigung eines Mannes; sie war mindestens ebenso wichtig, wie heutzutage eine Krawatte. Aber das Haar des Generals war wirr, ungelockt und ungepudert und feucht vom Morgennebel. Seine Kleider schienen achtlos übergestreift worden zu sein, eine Nachlässigkeit, die einem Soldaten schlecht anstand, die aber auch nicht zu ihm paßte, denn jeder Soldat war und ist verpflichtet, immer so proper wie möglich auszusehen. Seine Wangen, nur unzulänglich rasiert, schienen eingefallen zu sein, sein Blick wirkte gehetzt. »Du hast uns also heute früh schon einen langen Marsch voraus, mein lieber General«, sagte Lord Woodville. »Oder hat dir etwa dein Bett nicht so zugesagt, wie ich hoffte und du erwarten konntest? Wie hast du vergangene Nacht geruht?« »Oh, ganz ausgezeichnet und in meinem ganzen Leben niemals besser«, versicherte ihm General Browne eilig, doch seinem Freund entging eine gewisse Verlegenheit nicht. Der General trank hastig eine Tasse Tee, übersah alles, was sonst geboten wurde, und schien in tiefe Nachdenklichkeit zu verfallen. »Du wirst also heute schießen wollen, General«, sagte sein Freund und Gastgeber, doch er mußte diese halbe Frage zweimal wiederholen, ehe er eine abrupte Antwort bekam. »Nein, Mylord. Ich bedaure außerordentlich, daß ich keinen weiteren Tag hier verbringen kann. Meine Postpferde sind schon bestellt und werden in Kürze hier sein.« Alle Anwesenden zeigten sich davon sehr überrascht. »Postpferde, mein lieber Freund!« rief Lord Woodville. »Wofür brauchst du Postpferde, wenn du mir doch versprochen hast, eine ruhige Woche hier bei mir zu verbringen?« »Ich glaube«, antwortete der General sichtlich verlegen, »daß ich in der ersten Freude des Wiedersehens etwas darüber sagte, ein paar Tage hierbleiben zu wollen, doch es hat sich herausgestellt, daß dies schlechterdings unmöglich ist.« »Das ist aber außergewöhnlich«, erwiderte der junge Edelmann. »Gestern schienst du es nicht besonders eilig zu haben, und heute kannst du noch nicht zurückgerufen worden sein, denn unsere Post ist noch nicht
aus der Stadt angekommen, und Briefe kannst du daher noch nicht empfangen haben.« General Browne murmelte etwas von unaufschiebbaren Geschäften und bestand so entschieden auf der Notwendigkeit einer sofortigen Abreise, daß sein Gastgeber auf jeden weiteren Einspruch verzichtete; er sah ja, daß sein Gast einen Entschluß gefaßt hatte, und deshalb versagte er sich jedes Drängen. »Gestatte mir aber wenigstens, mein lieber Browne, dir die Aussicht von der Terrasse zu zeigen, denn gleich wird sich der Nebel verziehen«, schlug der junge Edelmann vor. Er öffnete eine Schiebetür und trat, während er sprach, auf die Terrasse hinab. Der General folgte ihm mechanisch, schien jedoch wenig auf das zu achten, was sein Gastgeber sagte und auch kaum zu hören, wie ihm Lord Woodville die schöne Aussicht über das blühende Land erklärte. Jedenfalls war es dem Lord aber gelungen, seinen Gast von den übrigen Leuten abzusondern, und nun wandte er sich mit großem Ernst an ihn. »Richard Browne, mein alter und sehr lieber Freund, wir sind nun allein«, sagte er. »Ich möchte annehmen, du antwortest mir jetzt wie ein ehrlicher Soldat und ein guter Freund. Wie hast du in Wirklichkeit die vergangene Nacht verbracht?« »Schrecklich, einfach schrecklich«, antwortete der General fast düster. »So elend, daß ich das Risiko einer zweiten Nacht nicht eingehen möchte – nicht um all das Land, das zu diesem Schloß gehört oder das ich von diesem Punkt aus überschauen kann.« »Das ist ganz außerordentlich«, murmelte der junge Lord mehr zu sich selbst. »Dann muß also an dem, was man sich über diesen Raum erzählt, doch etwas Wahres sein.« Er wandte sich wieder an den General. »Um Himmels willen, mein lieber Freund, sei offen mit mir und berichte mir alle Unannehmlichkeiten, die dir unter meinem Dach zugestoßen sind, obwohl du nach meinem Willen und meiner Absicht nur Angenehmes hättest erleben sollen.« Den General schien das außerordentlich zu betrüben, und er überlegte erst eine Weile, ehe er antwortete. »Mein lieber Lord«, sagte er, »was mir vergangene Nacht zugestoßen ist, erscheint mir so ungeheuer seltsam
und unerfreulich, daß ich es fast nicht berichten kann, und ich würde es auch nicht tun, hättest du nicht die ausdrückliche Bitte an mich gerichtet. Ich denke auch, daß meine Aufrichtigkeit vielleicht zu einer Erklärung der Umstände führt, die gleich schmerzlich wie geheimnisvoll sind. Die Mitteilung, die ich zu machen habe, mag mich in den Augen anderer als einen schwachsinnigen, abergläubischen Narren darstellen, der sich von seinen eigenen Halluzinationen verführen und ängstigen ließ. Aber du kanntest mich in meiner Kindheit und Jugend und wirst nicht argwöhnen, ich hätte in meinen Mannesjahren jene Schwächen angenommen, von denen meine frühen Jahre frei waren.« »Sei versichert, ich zweifle nicht an der Wahrheit deiner Mitteilung, so seltsam sie vielleicht auch sein mag«, erwiderte Lord Woodville. »Ich kenne deinen aufrechten, festen Charakter viel zu genau, als daß ich dir eine Lüge oder einen Betrug zutrauen könnte. Deine Ehre und die Freundschaft zu mir werden dich auch vor Übertreibungen dessen bewahren, was du als Zeuge miterlebt hast.« »Nun gut«, sagte der General, »ich will also meine Geschichte so kurz erzählen, wie ich es vermag, und ich vertraue auf deine Unparteilichkeit. Trotzdem habe ich das sichere Gefühl, daß ich mich lieber einer feindlichen Batterie stellen würde, als mich noch einmal an die Ereignisse der vergangenen Nacht zu erinnern.« Er machte wieder eine Pause, wurde jedoch gewahr, daß Lord Woodville aufmerksam und schweigend auf den Bericht wartete, und so begann er, wenn auch noch immer zögernd und widerstrebend, das Abenteuer der letzten Nacht im Zimmer mit den Wandbehängen zu erzählen. »Ich zog mich aus und ging zu Bett, nachdem du mich am gestrigen Abend verlassen hattest; das Holz im Kamin, der meinem Bett nahezu gegenüberlag, knisterte und brannte in hellen Flammen. Die unerwartete Freude, dich wiederzusehen, rief unzählige alte Erinnerungen wach und ließ mich lange nicht einschlafen. Ich möchte jedoch bemerken, daß diese Erinnerungen ausschließlich angenehmer Art waren. Nach den Mühen und Gefahren meines Berufes erscheinen mir die Freuden eines friedlichen Lebens viel strahlender, und es lag mir sehr am Herzen, die herzlichen und freundschaftlichen Bande, welche von den rauhen Anforderungen des Krieges zerrissen worden waren, wieder anzuknüpfen.
Solche angenehme Überlegungen beschäftigten meinen Geist und wiegten mich allmählich in Schlummer. Plötzlich erwachte ich von einem Geräusch, das mich an das Rascheln eines seidenen Gewandes und an das Tappen hoher Absätze erinnerte, so als gehe eine Frau durch den Raum. Ehe ich den Vorhang wegschieben konnte, um zu sehen, was los war, ging die Gestalt einer kleinen Frau zwischen Bett und Kamin an mir vorüber. Sie wandte mir den Rücken zu, und aus der Haltung von Schultern und Rücken konnte ich schließen, daß es eine alte Frau war. Zudem war auch ihr Gewand altmodisch, hing ganz locker am Körper herab, war in breiten Falten an Hals und Schultern zusammengefaßt, die bis auf den Boden fielen und in einer Art Schleppe endeten. Ich glaube, man nannte ein solches Gewand eine Kontusche. Selbstverständlich kam mir dieses Eindringen recht merkwürdig vor, doch nicht einen einzigen Augenblick kam mir der Gedanke, diese Gestalt sei etwas anderes als die einer sterblichen Frau der Gesellschaft, der es vielleicht Spaß machte, sich wie ihre Großmutter zu kleiden. Vielleicht, dachte ich, war die Frau meinetwegen aus diesem Zimmer ausquartiert worden, da du ja erwähnt hattest, das Schloß biete nicht soviel Raum wie es den Anschein habe; sie werde die Umquartierung vergessen haben und sei nun gegen zwölf Uhr in ihr altes Zimmer zurückgekehrt. Um mich bemerkbar zu machen, bewegte ich mich ein wenig im Bett und hustete, um der eingedrungenen Frau ihren Irrtum zu Bewußtsein zu bringen. Langsam drehte sie sich zu mir um. Aber gütiger Himmel! Welches Gesicht bekam ich da zu sehen! Nun konnte ich nicht mehr an dem zweifeln, was sie war, noch war es mir möglich, sie für ein lebendes Wesen zu halten. Das Gesicht war das einer Leiche und trug die Spuren der gräßlichsten, verruchtesten Laster, deren sie während ihres Lebens verfallen gewesen sein mußte. Der Körper eines widerwärtigen Verbrechers schien aus dem Grab zurückgekehrt zu sein, die Seele aber aus dem Feuer der Hölle, um wieder Besitz zu ergreifen vom Komplizen ihrer Untaten. Im Nu saß ich aufrecht im Bett, stützte mich auf meine Hände und starrte dieses entsetzliche Wesen an. Die alte Hexe tat einen schnellen Schritt auf das Bett zu, in dem ich lag, und hockte sich genauso darauf, wie ich selbst in meinem Schrecken dasaß. Dabei schob sie ihre teufli-
sche Fratze immer näher an mein Gesicht, und dazu grinste sie voll so diabolischer Bosheit, daß sie nichts anderes sein konnte als der Hohn eines höllischen Feindes in Menschengestalt.« General Browne mußte eine Pause einlegen, in der er sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte, der ihm in der Erinnerung an dieses grauenhafte Erlebnis aus allen Poren brach. »Mein Freund«, fuhr er schließlich fort, »ich bin kein Feigling. Ich habe alle Gefahren für Leib und Leben erfahren, die mein Beruf mit sich bringt, und ich kann mich dessen rühmen, daß keiner, der je Richard Browne kennenlernte, mit Recht behaupten darf, ich hätte mein Schwert entehrt. Aber unter den gräßlichen Augen und, wie mir schien, in Griffweite dieses bösen Geistes, dieser teuflischen Inkarnation, verließ mich alle Kraft, und aller Mannesmut schmolz aus mir wie Wachs im Feuerofen, und mir stellten sich vor Grauen die Haare auf. Das Blut schien mir in den Adern zu gefrieren, und ich sank in einem Anfall von Schwäche zurück, wie es einem Dorfmädchen oder einem zehnjährigen Kind geschieht, das ein Opfer unbeschreiblichen Schreckens wird. Wie lange ich so dalag, kann ich nicht einmal vermuten. Aber die Schloßuhr weckte mich auf, als sie eins schlug, und ich hörte sie so laut, als schlage sie in meinem Schlafzimmer. Erst nach einer Weile wagte ich die Augen wieder zu öffnen, denn ich hatte grauenhafte Angst, dieses scheußliche Gesicht erneut sehen zu müssen. Als ich jedoch meinen ganzen Mut zusammengenommen hatte und die Augen öffnete, war sie nicht mehr zu sehen. Mein erster Gedanke war der, nach der Klingel zu greifen und die Dienstboten aufzuwecken, um in einen Wagenschuppen oder auf den Heuboden zu ziehen, weil ich mich ein zweites Mal einem so furchtbaren Anblick nicht aussetzen wollte und konnte. Aber ich will die Wahrheit bekennen. Ich änderte meinen Entschluß nicht deshalb, weil ich mich schämte, dieses Entsetzen einzugestehen, sondern deshalb, weil der Glockenstrang neben dem Kamin hing und ich Angst hatte, ich könnte auf dem Weg dorthin wieder dieser gräßlichen Hexe begegnen, die sicher noch in einer Ecke des Zimmers lauerte. Die fiebrigen Schauer, die mich für den Rest der Nacht quälten, mag ich nicht beschreiben, ebensowenig den Schrecken, der mich immer wieder aus einem beginnenden Schlummer riß. Tausend scheußliche Dinge
schienen mich zu jagen; aber zwischen der Vision, die ich beschrieben habe und denen, die ihr folgten, war ein großer Unterschied. Ich wußte, daß letztere die Ausgeburten meiner eigenen Fantasie und überreizter Nerven waren. Endlich kam die Morgendämmerung, und ich stand körperlich erschöpft und noch mehr geistig gedemütigt von meinem Bett auf. Ich schämte mich als Mann und Soldat vor mir selbst, um so mehr als ich keinen größeren Wunsch empfand als den, diesem gespenstischen Raum zu entrinnen. Dieser Wunsch fegte alle anderen Überlegungen hinweg. In größter Eile und ohne jede gewohnte Sorgfalt warf ich mich also in meine Kleider und verließ das Schloß, um meinem überreizten Nervensystem, das durch die grauenhafte Begegnung mit einem Wesen aus einer anderen Welt, wie ich glauben muß, völlig zerrüttet war, in der frischen Luft einige Erholung zu gönnen. Du, mein Freund, kennst jetzt die Ursache meiner Fassungslosigkeit und meines plötzlichen Wunsches, dein gastliches Haus zu verlassen. Ich hoffe, wir werden uns andernorts noch häufig begegnen, aber Gott bewahre mich davor, noch eine Nacht unter diesem Dach verbringen zu müssen!« Die Geschichte des Generals war seltsam genug, doch er erzählte sie mit so viel Überzeugungskraft, daß die üblichen Kommentare, die solchen Geschichten meistens folgen, als überflüssig angesehen werden können. Lord Woodville deutete nicht einmal an, daß er diese Erscheinung vielleicht doch nur geträumt haben könne, und er erwähnte auch nicht die Möglichkeiten, mit denen man heutzutage übernatürliche Vorgänge zu zerreden sucht, um sie als Sinnestäuschungen abzutun. Im Gegenteil, er schien von dem, was er gehört hatte, zutiefst beeindruckt zu sein und es für Wahrheit zu halten. Deshalb erklärte er auch mit dem größten Bedauern, wie unendlich leid es ihm tue, daß sein langjähriger Freund ausgerechnet in seinem Haus so schrecklich gelitten habe. »Mein lieber Browne, was mich am meisten betrübt«, fuhr er fort, »ist der Umstand, daß diese unerfreulichen Ereignisse auf mein eigenes Experiment zurückzuführen sind. Du mußt wissen, daß zu Zeiten meines Vaters und Großvaters der Raum, den ich dir vergangene Nacht zugewiesen hatte, abgeschlossen war, weil aus ihm unnatürliche Geräusche
und Visionen gemeldet worden waren. Als ich vor ein paar Wochen von diesem Schloß Besitz ergriff, glaubte ich, daß die Gästezimmer nicht ausreichten, um all meine Freunde unterzubringen, und da dachte ich, den ungebetenen Bewohnern einer unsichtbaren Welt müsse ich einen so behaglichen Raum doch entziehen können. Deshalb veranlaßte ich, daß das Zimmer mit den Wandbehängen, wie wir es nennen, geöffnet wurde. Ohne die Atmosphäre des Alten zu zerstören, ließ ich es nur mit solchen Möbeln ausstatten, die zur ganzen Art des Zimmers paßten. Die Hausbediensteten ließen es sich jedoch nicht ausreden, daß es in diesem Raum spuke, und diese Gerüchte hielten sich hartnäckig auch in der Nachbarschaft und bei meinen Freunden. Ich fürchtete also, daß der erste Bewohner dieses Schlafzimmers aus einem Vorurteil heraus die Einbeziehung dieses Raumes unmöglich machen würde. Ich muß bekennen, mein lieber Browne, daß mir deine gestrige Ankunft, so sehr sie mich aus tausend anderen Gründen erfreute, als passende Gelegenheit erschien, die unerfreulichen Gerüchte zu widerlegen, die sich mit diesem Raum verbanden, denn dein Mut konnte nicht angezweifelt werden, und voreingenommen warst du in dieser Angelegenheit auch nicht. Eine bessere Wahl für mein Experiment konnte ich also nicht treffen.« »Wahrlich nicht«, beeilte sich der General zu antworten. »Ich bin dir sogar zu außerordentlichem Dank verpflichtet, und der Konsequenzen dieses Experiments, wie du es nennst, werde ich mich noch sehr lange erinnern.« »Jetzt bist du aber ungerecht, mein lieber Freund«, sagte Lord Woodville. »Du brauchst doch nur einen einzigen Augenblick nachzudenken, um dich selbst davon zu überzeugen, daß ich die peinigenden Möglichkeiten, denen du unglücklicherweise ausgesetzt warst, nicht vorhersehen konnte. Gestern früh war ich noch außerordentlich skeptisch bezüglich dieser übernatürlichen Erscheinungen. Ich glaube sogar, wenn ich dir von diesen Gerüchten um diesen Raum erzählt hätte, wären gerade sie es gewesen, die dich veranlaßt hätten, um die Zuweisung dieses Raumes zu bitten. Jawohl, du hättest ihn selbst gewählt. Es war mein Pech, vielleicht mein Irrtum, aber es kann nicht meine Schuld genannt werden, daß dir auf so gräßliche und seltsame Art so sehr zugesetzt wurde.« »Sehr seltsam, in der Tat!« Dem General gelang es endlich wieder, zu seinem guten Humor zurückzufinden. »Und ich bestätige dir, daß ich
kein Recht habe, über die Behandlung gekränkt zu sein, die du mir als einem Mann, dem man Mut und Stärke nachsagt – ich halte mich selbst für einen solchen Mann –, hast angedeihen lassen. Doch ich sehe, daß meine Postpferde angekommen sind, und ich darf dich, mein Freund, nicht von deinem Vergnügen und dem deiner Gäste abhalten.« »Nein, mein alter Freund«, sagte Lord Woodville, »du solltest mir wenigstens noch eine halbe Stunde gönnen, wenn ich dich schon nicht überreden kann, wenigstens einen Tag länger zu bleiben, was ich recht gut verstehe. Aber du hast doch Bilder immer sehr geliebt, und ich habe hier eine Bildergalerie, in der die Porträts jener Vorfahren hängen, denen dieses Schloß früher gehörte. Einige dieser Porträts sind von van Dyke und anderen namhaften Künstlern gemalt, und ich denke, du wirst ihre Schönheit zu schätzen wissen.« Diese Einladung akzeptierte General Browne, wenn auch zögernd. Es war nur allzu offensichtlich, daß er erst wieder frei zu atmen vermochte, wenn er Woodville Castle weit hinter sich gelassen hatte. Doch er konnte diese Aufforderung seines Freundes nicht ausschlagen, um so weniger deshalb, weil er sich der Verdrießlichkeit schämte, mit der er seinem wohlmeinenden Gastgeber begegnet war. Der General folgte also Lord Woodville durch einige Räume in eine lange Galerie mit vielen Bildern. Der junge Edelmann erklärte sie seinem Gast, nannte ihm die Namen und schilderte die Persönlichkeiten, die auf den Bildern dargestellt waren. Das interessierte den General an sich herzlich wenig, denn solche Bilder mit ähnlichen Geschichten konnte man schließlich in allen Galerien alter Familien finden. Hier war ein Kavalier, der den Besitz in einem Prozeß mit dem Königshaus ruiniert hatte; jene feine Lady hatte ihn wieder zur Blüte gebracht, als sie sich mit einem reichen Puritaner zusammentat; dieser galante Mann hatte sich in Gefahr begeben, als er mit dem Hof von St. Germain korrespondierte, der sich im Exil befand; ein anderer hatte für William während der Revolution die Waffen ergriffen, und dessen Nachbar hatte sein Gewicht abwechslungsweise in die Waagschale der Whig und Tory geworfen. Während Lord Woodville seinem Gast die Geschichten erzählte, die dieser ja doch nur halb verdaute, hatten sie etwa die Mitte der Galerie erreicht. Da blieb der General unvermittelt stehen und sah ungeheuer
erstaunt drein, und in dieses Staunen mischte sich zweifellos auch Angst. Seine Augen hingen am Porträt einer alten Dame in einer Kontusche, wie sie gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts Mode war. »Das ist sie!« rief er. »Das ist sie, und sie ist es in jedem Zug, in jeder Kleinigkeit, wenn auch ihr Gesichtsausdruck noch viel dämonischer ist als der jener Hexe, die mich vergangene Nacht besucht hat!« »Wenn dem so ist«, antwortete der junge Edelmann, »dann kann nicht der geringste Zweifel mehr an der schrecklichen Wirklichkeit dieser Erscheinung herrschen. Das ist das Bildnis einer elenden Ahnin, deren Verbrechen einen gräßlichen Katalog in der Geschichte meiner Familie füllen. Es wäre zu grauenhaft, all ihre Untaten aufzuzählen. Es genügt zu sagen, daß in jenem Raum Inzest und Morde begangen wurden. Ich werde dieses Zimmer wieder jener Abgeschlossenheit überantworten, die meine einsichtigeren Vorfahren für zweckmäßig gehalten haben. Solange ich es verhindern kann, soll niemand mehr einer Wiederholung dieser grauenhaften Erlebnisse ausgesetzt werden, die einen so mutigen Mann wie dich so sehr erschüttern konnten.« So trennten sich also die Freunde, die einander voll überschwenglicher Freude begrüßt hatten, in einer ganz anderen Stimmung. Lord Woodville befahl, das Zimmer mit den Wandbehängen auszuräumen und die Tür zuzumauern. Und General Browne versuchte, in einem weniger schönen Land und bei Freunden von weniger hohem Rang jene grauenhafte Nacht zu vergessen, die er in Woodville Castle zugebracht hatte.
AMELIA EDWARDS
Die Phantomkutsche Was ich Ihnen heute berichten will, ist tatsächlich passiert, und zwar mir selbst, und meine Erinnerung an die Vorgänge ist so lebendig, als hätten sie sich erst gestern abgespielt. Es sind jedoch zwanzig Jahre seit jener Nacht vergangen. In diesen zwanzig Jahren habe ich die Geschichte nur einem anderen Menschen erzählt. Jetzt noch kann ich mein Widerstreben, sie einem weiteren Kreis mitzuteilen, kaum überwinden. Ich muß Sie jedoch um eines bitten, nämlich, daß Sie mir nicht Ihre eigenen Schlußfolgerungen aufzwingen mögen. Ich will nichts wegerklären lassen, ich möchte nichts diskutieren. Meine eigene Meinung über das Geschehen ist unverrückbar, und meine Sinne sind Zeugen, auf die ich mich verlassen kann; ich will mich von meiner Meinung nicht abbringen lassen. Es geschah also vor genau zwanzig Jahren, ein oder zwei Tage vor Ende der Rebhuhnsaison. Ich hatte den ganzen Tag mit dem Gewehr draußen verbracht, und es war mir fast nichts untergekommen. Der Wind kam von Osten; wir schrieben Dezember. Schauplatz: ein düsteres, weithin gestrecktes Hochmoor im äußersten Norden Englands. Ich hatte mich verlaufen, und dort verlorenzugehen ist nicht sehr angenehm. Die ersten fedrigen Flocken flatterten auf das Heidekraut – sie verkündeten den nahenden Schneesturm, bleierne Abendstimmung umgab mich bald von allen Seiten. Ich beschattete die Augen mit der Hand und starrte besorgt in die immer stärker werdende Dunkelheit; in eine Entfernung von zehn oder zwölf Meilen reichte mein Blick, bis dorthin, wo die tiefviolette Moorlandschaft mit einer niedrigen Hügelkette veschmolz. Nicht die leichteste Rauchfahne, nicht das kleinste Stück bebautes Land, kein Zaun, keine Schafspuren konnten meine Augen in irgendeiner Richtung entdecken. Es blieb mir also nichts übrig, als auf gut Glück weiterzuwandern in der Hoffnung, doch irgendwo Unterschlupf zu finden. Ich schulterte mein Gewehr und zog müde davon; seit dem Morgengrauen war ich auf den Beinen gewesen und hatte außer dem Frühstück nichts gegessen.
Inzwischen fiel der Schnee mit bedrückender Gleichmäßigkeit, der Wind ließ nach. Dann wurde es spürbar kälter, die Nacht brach fast übergangslos ein. Je dunkler der Himmel wurde, um so mehr verdunkelten sich auch meine Hoffnungen, das Herz war mir schwer bei dem Gedanken an meine junge Frau, die wohl schon vom Stubenfenster unseres kleinen Gasthofes nach mir Ausschau hielt, und ich dachte an all das Leid, das ihr während dieser Nacht bevorstand. Wir waren erst vier Monate verheiratet; wir hatten den Herbst schon im schottischen Hochland verbracht und wohnten jetzt in einem winzigen Dorf am Rande der großen englischen Moorlandschaft. Wir liebten einander sehr und waren natürlich sehr glücklich. Morgens beim Abschied hatte sie mich beschworen, vor der Dämmerung heimzukehren, und ich hatte es ihr versprochen. Was würde ich nicht darum gegeben haben, mein Wort halten zu können! Obwohl ich so müde war, glaubte ich, nach einem Nachtessen und einer Stunde Ruhe mit einem Führer vor Mitternacht zu ihr heimkehren zu können, falls es mir gelang, Unterkunft und einen solchen Führer zu finden. Während ich so dahinwanderte, fiel immer mehr Schnee, und die Nachtschwärze verdichtete sich. Ab und zu blieb ich stehen und schrie, meine Schreie schienen jedoch das Schweigen ringsum nur noch tiefer zu machen. Da überkam mich ein vages, ungemütliches Gefühl; ich erinnerte mich an die Geschichten von Reisenden, die im Schneetreiben weitergewandert waren, bis sie, völlig erschöpft, sich hinlegten und in den Tod hineinschliefen. Ob ich wohl die ganze dunkle Nacht lang durchhalten konnte? Würde nicht ein Zeitpunkt kommen, da meine Glieder versagten und mein Wille schwach wurde – wo auch ich den Todesschlaf schlafen mußte? Tod! Ich erschauerte. Wie schwer, gerade jetzt zu sterben, wo das Leben so hell und klar vor mir lag! Wie schwer für meine Liebste, deren Herz – aber dieser Gedanke war einfach zu unerträglich! Um ihn zu verbannen, rief ich nochmals, lauter und länger, und horchte auf Antwort. Hatte jemand geantwortet, oder bildete ich mir nur ein, von weither einen Schrei gehört zu haben? Noch einmal rief ich mein Hallo, wieder ein Echo. Dann kam plötzlich ein schwankender Lichtpunkt aus der Dunkelheit, tauchte auf, verschwand, wurde schließlich immer deutlicher und heller. So schnell ich konnte, rannte ich darauf zu und sah
mich zu meiner übergroßen Freude einem alten Mann mit einer Laterne gegenüber. »Gott sei Dank!« rief ich unwillkürlich aus. Blinzelnd und mit gerunzelter Stirn hob der Alte seine Laterne und starrte mir ins Gesicht. »Wofür danken Sie ihm?« knurrte er verbittert. » Für – für Sie! Ich hatte schon befürchtet, mich im Schnee zu verlaufen.« »Tja, gelegentlich kommt hier einer vom Wege ab, aber wenn’s der Herr so haben will, was wollen Sie dagegen tun, verlorenzugehen?« »Wenn es dem Herrn gefiele, daß wir beide uns verirren sollen, mein lieber Freund, dann müssen wir uns dem unterwerfen«, antwortete ich. »Ich habe aber nicht die Absicht, ohne Sie verlorenzugehen. Wie weit ist es von hier nach Dwolding?« »Gut zwanzig Meilen ungefähr.« »Und das nächste Dorf?« »Das nächste ist Wyke, zwölf Meilen auf der anderen Seite.« »Wo leben Sie denn dann?« »Da drüben«, sagte er und zeigte durch undeutliches Schwenken der Laterne die ungefähre Richtung an. »Ich nehme an, Sie sind auf dem Heimweg?« »Schon möglich.« »Dann gehe ich mit Ihnen.« Der alte Mann schüttelte den Kopf und rieb sich nachdenklich mit dem Laternengriff die Nase. »Hat gar keinen Zweck«, knurrte er. »Er läßt Sie nicht ’rein, der nicht!« »Das werden wir schon sehen«, antwortete ich unverdrossen. »Wer ist er?« »Der Herr.« »Und wer ist Ihr Herr?« »Geht Sie gar nichts an«, kam die höchst unfeierliche Antwort.
»So, so; gehen Sie voran, ich werde mich schon darum kümmern, daß Ihr Herr mir Unterkunft und ein Nachtessen gibt.« »Das können Sie ruhig versuchen!« murmelte mein widerstrebender Führer. Immer noch kopfschüttelnd, humpelte er gnomengleich durch den dichtfallenden Schnee weiter. Bald darauf erhob sich eine große Masse aus der Dunkelheit vor uns, ein riesiger Hund raste heran und bellte zornig. »Ist dies das Haus?« fragte ich. »Ja, dies ist das Haus. Sitz, Bey!« Er fummelte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. Ich stellte mich ganz dicht hinter ihn, um auf jeden Fall ins Haus gelangen zu können; im engen Lichtkreis seiner Laterne sah ich, daß die Tür mit Eisennägeln schwer beschlagen war, wie eine Gefängnistür. Nach einer Weile hatte der Mann den Schlüssel im Schloß umgedreht, und ich drängte mich ins Haus. Drinnen sah ich mich neugierig um; der erste Raum war eine riesige Halle mit freiliegenden Dachbalken und diente offenbar verschiedenen Zwecken. An einem Ende hatte man wie in einer Scheune Getreide gestapelt. Am anderen sah ich Mehlsäcke, landwirtschaftliche Geräte, Behälter und verschieden große Holzscheite; von den Dachbalken hingen reihenweise Schinkenstücke, Speckseiten und Bündel getrockneter Kräuter für den Winter. In der Mitte stand, in ein schmutziges Tuch eingewickelt, ein riesiger Gegenstand, der fast bis zu den Dachbalken hinaufreichte. Als ich eine Ecke der Schutzdrapierung hob, sah ich zu meiner Überraschung ein übergroßes Teleskop; es stand auf einer primitiven, beweglichen Plattform mit vier kleinen Rädern darunter. Das Rohr bestand aus bemaltem Holz, grobbearbeitete Metallbänder hielten es zusammen; soweit ich es in dem schwachen Licht sehen konnte, maß das Spekulum mindestens fünfzehn Zoll im Durchmesser. Während ich das Instrument noch betrachtete und mich fragte, ob es nicht das Werk eines Optiker-Autodidakten sei, erklang ein scharfes Läuten. »Das gilt Ihnen«, sagte mein Führer hämisch grinsend. »Drüben ist sein Zimmer.« Er wies auf eine niedrige schwarze Tür auf der anderen Seite der Eingangshalle. Ich ging hinüber, klopfte ziemlich laut an und betrat das
Zimmer dahinter, ohne auf ein ›Herein‹ zu warten. Ein riesengroßer, weißhaariger Mann erhob sich hinter einem Tisch, der über und über mit Büchern und Papieren bedeckt war, und sah mich streng an. »Wer sind Sie?« sagte er. »Wie kommen Sie hierher? Was wollen Sie?« »James Murray, Anwalt. Zu Fuß übers Moor. Essen, trinken und schlafen.« Er zog die buschigen Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. »Dies ist kein Gasthaus«, sagte er hochmütig. »Jacob, wie kannst du es wagen, diesen Fremden einzulassen?« »Ich habe ihn nicht eingelassen«, murmelte der alte Mann, »er ist mir übers Moor gefolgt und hat sich an mir vorbei ins Haus gedrängt. Gegen einen so großen Menschen bin ich machtlos.« »Mein lieber Herr, mit welchem Recht haben Sie sich gewaltsam Eingang in mein Haus verschafft?« »Mit demselben Recht hätte ich mich bei Ertrinkungsgefahr an Ihr Boot geklammert – das Recht der Selbsterhaltung.« »Selbsterhaltung?« »Schon jetzt liegt der Schnee zollhoch auf dem Boden«, antwortete ich schroff. »Bis morgen früh wird er hoch genug sein, meinen Körper ganz zu verdecken.« Er ging zum Fenster, zog einen schweren Vorhang zurück und sah hinaus. »Tatsächlich«, sagte er dann. »Wenn Sie wollen, können Sie bis morgen hierbleiben, Jacob, serviere bitte das Abendessen.« Dann winkte er mir zu, Platz zu nehmen, setzte sich selbst auch wieder und vertiefte sich sofort in die Studien, bei denen ich ihn unterbrochen hatte. Mein Gewehr stellte ich in die Ecke, zog einen Stuhl zum Kamin und betrachtete die neue Umgebung in aller Ruhe. Obwohl das Zimmer kleiner und weniger exzentrisch eingerichtet war als die Halle, enthielt es doch vieles, das meine Neugier weckte. Der Boden war unbedeckt, die weißgestrichenen Wände zum Teil mit merkwürdigen Diagrammen bekritzelt, ich sah Regale mit vielen, mir zum Teil unbekannten Geräten.
Zur einen Seite des Kamins stand ein Bücherregal voll abgegriffener Folianten, auf der anderen eine kleine Orgel; sie war in der fantastischsten Weise mit bemalten Schnitzereien – sie sollten wohl mittelalterliche Heilige und Teufel darstellen – geschmückt. Durch die halbgeöffnete Tür eines Schrankes am anderen Ende des Zimmers sah ich lange Reihen geologischer Funde, ärztlicher Hilfsmittel, Retorten, Tiegel mit Chemikalien, Mörser; auf dem Kaminsims neben mir stand unter vielen kleinen Dingen ein Modell des Sonnensystems, eine kleine galvanische Batterie und ein Mikroskop. Auf allen Stühlen lagen irgendwelche Gegenstände, in jeder Ecke Haufen von Büchern. Der Boden war mit Landkarten, Abgüssen, Papieren, Pauszeichnungen und anderem gelehrtem Kram aller vorstellbaren Arten dicht bedeckt. Überrascht sah ich mich um, und mein Erstaunen wuchs beim Anblick jedes neuen Gerätes, an dem mein Blick zufällig hängenblieb. Einen so merkwürdigen Raum hatte ich noch nie gesehen! Noch viel merkwürdiger schien es mir, ihn in einem einfachen Farmhaus inmitten der wilden, verlassenen Moorlandschaft anzutreffen! Immer wieder blickte ich von meinem Gastgeber auf seine Umgebung und von dort zurück auf ihn und fragte mich, wer und was er sein mochte. Er hatte einen ausgesprochen schönen Kopf, allerdings mehr den Kopf eines Poeten als eines Philosophen. Breit an den Schläfen, über den Augen hervorspringend, darüber eine wilde, sehr weiche Mähne – alles sah so idealisiert und zugleich ungepflegt aus, wie man es von Bildern Ludwig van Beethovens kennt. Dieselben tiefen Linien um den Mund, dieselben strengen Furchen der Stirn. Während ich ihn noch so betrachtete, öffnete sich die Tür; Jacob brachte das Nachtessen. Sein Herr schloß das Buch, in dem er gelesen hatte, erhob sich und bat mich mit mehr Höflichkeit, als er bis dahin gezeigt hatte, zu Tisch. Ein Gericht aus Schinken und Eiern, dazu ein Laib dunkles Brot und eine Flasche exzellenter Sherry wurden vor mich gestellt. »Ich kann Ihnen nur einfachste Farmerskost bieten, mein Herr«, sagte der alte Herr. »Ich nehme an, Ihr Appetit wird Sie die Kargheit unserer Vorräte vergessen machen.«
Ich war bereits über das Essen hergefallen und protestierte jetzt mit der Begeisterung des halbverhungerten Sportsmannes, daß ich nie Köstlicheres gegessen hätte. Er verbeugte sich steif und setzte sich dann zu seiner eigenen Mahlzeit, die nur aus einem Krug Milch und einer Schale voll Porridge bestand. Wir aßen schweigend, nach der Mahlzeit holte Jacob das Tablett ab. Ich zog meinen Stuhl wieder zum Kamin zurück. Zu meiner Überraschung tat mein Gastgeber dasselbe, wandte sich mir abrupt zu und sagte: »Dreiundzwanzig Jahre lebe ich nun schon in strikter Einsamkeit. In dieser Zeit habe ich kaum ein fremdes Gesicht gesehen und nie eine Zeitung gelesen. Seit mehr als vier Jahren sind Sie der erste Fremde, der wieder meine Schwelle überschritt. Wollen Sie mir freundlicherweise mit ein paar Worten sagen, was sich draußen in der Welt, die ich seit so langer Zeit verlassen habe, tut?« »Ich bitte um Ihre Fragen«, antwortete ich. »Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« Er nickte zustimmend und beugte sich vor; die Ellbogen ruhten auf den Knien, das Kinn stützte er mit den Händen. Er starrte unentwegt ins Feuer und fing dann mit seinen Fragen an. Hauptsächlich bezogen sie sich auf naturwissenschaftliche Gebiete; über die jüngsten Fortschritte darin, soweit sie praktische Anwendung aufs Leben betrafen, war er fast gar nicht informiert. Naturwissenschaften hatte ich nicht studiert und antwortete, so gut es meine geringen Kenntnisse erlaubten; die Aufgabe war nicht gerade leicht, und ich atmete auf, als er von Fragen zur Diskussion überging und seine eigenen Schlüsse über die Tatsachen, die ich, so gut es ging, ihm unterbreitet hatte, vorzutragen. Er sprach, ich hörte wie verzaubert zu. Ich glaube, zuletzt vergaß er meine Gegenwart und sprach nur seine Gedanken laut aus. Derartiges ist mir vorher noch nie vorgekommen und auch seither nie mehr. Er kannte sich in allen Philosophiesystemen aus, war geübt in der Analyse und verallgemeinerte kühn. Seine Gedanken flossen in einem ununterbrochenen Strom; immer noch saß er in der gleichen nachdenklichen Haltung und starrte ins Feuer, während er von Gegenstand zu Gegenstand, von einer Spekulation zur anderen schweifte wie ein begeisterter Träumer: von den praktischen Naturwissenschaften
zu höchster Philosophie, von der Elektrizität im Draht zur Elektrizität in den Nerven; von Watt zu Mesmer, von Mesmer zu Reichenbach, weiter zu Swedenborg, Spinoza, Condillac, Descartes, Berkeley, Aristoteles, Plato und den Weisen aus dem Morgenland, den Mystikern des Orients. Diese Übergänge, so verwirrend sie in ihrer Verschiedenheit und ihrem Umfang waren, kamen so leicht und harmonisch über seine Lippen wie Tonfolgen in der Musik. Nach und nach – ich weiß jetzt nicht mehr, wie er den Übergang dahin fand – wandte er sich jenem Gebiet zu, das jenseits der Grenzlinien sogar konjekturaler Philosophie liegt und so weit reicht, daß kein Mensch es völlig überblicken kann. Er sprach von der Seele und ihrem Streben; vom Geist und seiner Macht, von der Hellseherei und allen Phänomena, die unter dem Namen Geister, Erscheinungen und Phantome von Skeptikern geleugnet und von Leichtgläubigen aller Zeitalter bestätigt worden sind. »Die Welt wird stündlich skeptischer allem gegenüber, das jenseits ihres eigenen Radius liegt, und unsere Naturwissenschaftler tragen das Ihre dazu bei, diese fatale Tendenz zu stärken. Sie verdammen alles als Fabel, was sich nicht experimentell klären läßt. Sie weisen alles als falsch zurück, was im Laboratorium oder Sezierraum nicht geprüft werden kann. Gegen welchen Aberglauben haben sie wohl so einen langen und heftigen Kampf geführt wie gegen den Glauben an Erscheinungen? Und doch, welcher Aberglaube war es, der die Menschen so lange und so fest im Bann gehalten hat? Zeigen sie mir irgendeine Tatsache aus der Physik, Geschichte, Archäologie, die von so vielen und unterschiedlichen Zeugenaussagen bestätigt wird. Alle Menschenrassen in allen Zeitaltern und Regionen haben solche Erscheinungen bestätigt, sogar die vernünftigsten Weisen des Altertums, ebenso wie der primitivste Wilde unserer Zeit, Christen ebenso wie Heiden, Phanteisten und Materialisten, und nur von den Philosophen unseres Jahrhunderts wird dieses Phänomen als Ammenmärchen abgetan. Beweise gelten hier nichts. Der Vergleich von Ursachen und Wirkung, wie wertvoll er auch in der Physik sein mag, wird hier als wertlos und unverläßlich abgetan. Erklärungen glaubwürdiger Zeugen, soviel sie auch vor Gericht gelten, zählen hier nicht. Wer zögert, ehe er urteilt, wird als unseriös verdammt, wer glaubt, gilt als Träumer oder Narr.«
Bitter sprach er diese Worte aus und schwieg einige Zeit. Dann hob er den Kopf und fügte mit veränderter Stimme und Miene hinzu: »Ich habe gezögert, mein Herr, untersucht und geglaubt, und schämte mich nicht, der Welt meine Überzeugung darzulegen. Auch ich wurde als Geisterseher gebrandmarkt, von meinen Zeitgenossen verlacht und aus jenem Wissensgebiet, dem ich die besten Jahre meines Lebens gewidmet hatte, verstoßen. All dies passierte vor dreiundzwanzig Jahren. Seither lebe ich, wie Sie mich jetzt hier finden, und die Welt hat mich vergessen, wie ich sie vergaß. Das ist meine Geschichte.« »Und eine sehr traurige«, murmelte ich; was sonst sollte ich sagen? »Eine sehr gewöhnliche dazu«, antwortete er. »Ich habe um der Wahrheit willen gelitten, wie viele bessere und weisere Menschen vor mir es taten.« Er erhob sich, als wolle er das Gespräch beenden, und ging zum Fenster. »Es hat zu schneien aufgehört«, sagte er, während er den Vorhang wieder fallen ließ und zum Kamin zurückkehrte. »Aufgehört!« rief ich aus und sprang hoch. »Oh, wenn es doch möglich wäre – aber nein! Es ist ja hoffnungslos. Selbst, wenn ich den Weg übers Moor finden könnte, wäre es unmöglich, noch in dieser Nacht zwanzig Meilen zu laufen.« »Zwanzig Meilen in dieser Nacht?« wiederholte mein Gastgeber. »Was denken Sie sich denn?« »Ich denke nur an meine Frau«, antwortete ich ungeduldig. »Meine junge Frau, die nicht weiß, daß ich mich verirrt habe, und deren Herz jetzt wohl vor Angst und Sorge am Zerbrechen ist.« »Wo ist sie?« »In Dwolding, zwanzig Meilen von hier.« »In Dwolding«, wiederholte er nachdenklich. »Ja, es stimmt, zwanzig Meilen. Wollen Sie wirklich so schnell wie möglich dorthin?« »So sehr, daß ich zehn Guineas dafür geben würde, einen Führer und ein Pferd zu bekommen.«
»Ihr Wunsch läßt sich um einen geringeren Preis erfüllen«, sagte er lächelnd. »Die Nachtkutsche von Norden hält in Dwolding zum Pferdewechsel an. Sie fährt fünf Meilen von hier entfernt vorbei, und an einem bestimmten Kreuzweg wird sie in eineinviertel Stunden durchfahren. Wenn Jacob mit Ihnen übers Moor geht und Sie zur alten Fahrstraße führt, könnten Sie wohl selbst bis zur Kreuzung mit der neuen Straße hinfinden?« »Leicht und gern.« Wieder lächelte er, läutete nach dem alten Diener und gab ihm seine Instruktionen; er nahm eine Flasche Whisky und ein Glas aus dem Chemikalienschrank und sagte: »Der Schnee liegt tief, und es wird schwer sein, übers Moor zu gehen. Ein Glas vor dem Aufbruch?« Ich wollte ablehnen, aber er überredete mich, und ich trank es. Wie eine scharfe Flamme floß das Getränk durch meine Kehle, es benahm mir fast den Atem. »Es ist sehr stark«, sagte er, »aber es hält Sie warm. Und jetzt haben Sie keine Zeit mehr zu verlieren. Gute Nacht!« Ich dankte ihm für seine Gastfreundlichkeit und wollte ihm die Hand schütteln, aber noch ehe ich meinen Satz beendet hatte, wandte er sich ab. Eine Minute später war ich mit Jacob draußen vor dem Haus; er verschloß die Tür hinter mir, und wir wanderten über das weite, weiße Moor. Obwohl der Wind nachgelassen hatte, war es immer noch sehr kalt. Kein Stern glitzerte am Himmelsgewölbe über uns. Kein Laut war zu hören, nur das Knirschen des Schnees unter unseren Füßen störte die lastende Stille der Nacht. Jacob schien nicht allzu erfreut über seinen Auftrag zu sein; in düsterem Schweigen schlurfte er vor mir her, die Laterne in der Hand, sein Schatten zu seinen Füßen. Ich folgte ihm, Gewehr über der Schulter, ebenfalls zu keiner Konversation aufgelegt. Ich dachte ununterbrochen an den alten Herrn im einsamen Haus. Immer noch hörte ich seine Stimme, seine Reden fesselten meine Fantasie. Bis heute weiß ich zu meiner eigenen Überraschung noch ganze Sätze und Satzteile, wie er sie ausgesprochen hatte, sehe die brillanten Bilder, die er entwarf, und höre seine Argumente. Während ich so alles überlegte, was
ich gehört hatte, und versuchte, hier und da ein meinem Gedächtnis entfallenes Bindeglied zu finden, folgte ich meinem Führer auf dem Fuß, völlig in Gedanken versunken und ohne auf die Umgebung zu achten. Auf einmal – wie mir vorkam, nach wenigen Minuten – blieb er stehen und sagte: »Dort ist Ihre Straße. Geben Sie acht, daß die Steinmauer immer rechts von Ihnen verläuft, dann können Sie den Weg nicht verfehlen.« »Ist das die alte Fahrstraße?« »Ja, das ist sie.« »Und wie weit muß ich noch bis zum Kreuzweg gehen?« »Fast drei Meilen.« Ich zog meine Börse heraus, er wurde gesprächiger. »Die Straße ist recht gut«, sagte er, »zumindest für Fußgänger. Für den Verkehr nach Norden war sie jedoch zu steil und eng. Sie werden in der Nähe des Wegweisers aufpassen müssen, dort ist die Mauer gebrochen. Seit dem Unfall wurde sie nicht repariert.« »Welchem Unfall?« »Die Nachtkutsche fiel in das Tal drunter – fünfzig Fuß tief oder noch mehr –, ausgerechnet an der schlechtesten Stelle der Straße im ganzen Land.« »Gräßlich! Kamen viele ums Leben?« »Alle. Vier fand man tot, die anderen zwei starben am nächsten Morgen.« »Wann passierte das?« »Vor neun Jahren.« »Beim Wegweiser, sagen Sie? Ich werde daran denken. Gute Nacht.« »Gute Nacht und danke schön.« Jacob steckte seine halbe Krone ein, machte eine Gebärde, als wolle er an seinen Hut greifen, und trottete den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich sah dem Licht seiner Laterne nach, bis es ganz verschwunden war, dann marschierte ich allein weiter. Es gab keinerlei Schwierigkeiten mehr, denn trotz der undurchdringlichen Finsternis über mir konnte ich den Verlauf der Bruchsteinmauer im blassen Schneeglanz deutlich er-
kennen. Wie still jetzt alles schien: nur das Geräusch meiner eigenen Füße war zu hören; wie still und einsam! Ein merkwürdiges, unangenehmes Gefühl überkam mich. Ich ging schneller, summte eine Melodie vor mich hin. Im Kopf rechnete ich ungeheure Multiplikationen aus und die Zinsen und Zinseszinsen der Ergebnisse. Ich tat, kurz gesagt, alles, um jenes merkwürdige Gespräch, das ich mit dem alten Herrn geführt hatte, zu vergessen, und bis zu einem gewissen Grad gelang es mir auch. Die Nachtluft schien immer kälter zu werden; obwohl ich sehr schnell ging, konnte ich mich nicht warm halten. Meine Füße waren wie Eis, ich fühlte meine Hände nicht mehr, das Gewehr hielt ich nur mechanisch fest. Auch der Atem ging mir schwer: Es war, als marschiere ich nicht über eine ruhige Straße im Norden unseres Landes, sondern überquerte die höchsten Höhen gigantischer Alpen. Dieses Symptom wurde so unangenehm, daß ich einige Minuten stehenblieb und mich gegen die Steinmauer lehnen mußte. Während ich das tat, sah ich zufällig die Straße entlang und entdeckte zu meiner größten Erleichterung in einiger Entfernung ein Licht; es sah aus wie eine sich nähernde Laterne. Zuerst meinte ich, Jacob sei in seiner Spur zurückgegangen und mir gefolgt, dann kam jedoch ein zweites Licht in Sicht; offensichtlich stand es parallel zum ersten und bewegte sich mit gleicher Geschwindigkeit auf mich zu. Dies mußten die Lampen eines privaten Fahrzeugs sein! Allerdings schien es merkwürdig, daß irgend jemand eine nicht mehr benutzte und gefährliche Straße befahren sollte. Es war aber kein Zweifel mehr möglich, die Lampen wurden von Sekunde zu Sekunde größer und heller, ich bildete mir sogar ein, die dunklen Umrisse des Wagens zwischen ihnen zu erkennen. Ganz schnell und völlig geräuschlos kam das Gefährt heran, der Schnee lag ja bereits gut einen Fuß unter seinen Rädern. Endlich sah ich deutlich die Kutsche hinter den Lampen. Sie wirkte eigenartig hoch. Ein plötzlicher Verdacht kam mir. Hatte ich in der Dunkelheit das Wegkreuz übersehen, war dies vielleicht die Kutsche, mit der ich ohnehin hätte fahren sollen? Ich hatte keine Zeit, mir diese Frage ein zweites Mal zu stellen, denn schon kam die Kutsche um die Biegung, mit Bewachung und Kutscher; ein Passagier saß draußen, vier dampfende Grauschimmel zogen sie, und alles war von einem Lichtschimmer umgeben, aus dem die Lampen hervorstrahlten wie ein Paar feuriger Meteore.
Ich sprang vor, schwenkte meinen Hut und rief. Der Wagen kam mit voller Geschwindigkeit heran und fuhr an mir vorbei. Einen Augenblick lang fürchtete ich, man habe mich nicht gesehen oder gehört, aber dann griff der Kutscher in die Zügel; sein Helfer, bis über die Augen in warme Kleidung gehüllt und offensichtlich auf seinem Notsitz fest eingeschlafen, antwortete weder auf meinen Zuruf, noch machte er die geringste Anstrengung abzusteigen. Der draußen sitzende Passagier wandte nicht einmal seinen Kopf nach mir. Ich öffnete selbst die Tür und sah hinein: Drinnen saßen nur drei, also stieg ich ein und schloß die Tür, setzte mich in die leere Ecke und freute mich über mein unverhofftes Glück. Drinnen in der Kutsche schien es womöglich noch kälter zu sein als draußen, und ein eigenartig dumpfer, unangenehmer Geruch erfüllte sie. Ich betrachtete meine Mitpassagiere; es waren drei Männer – alle schwiegen. Sie schienen nicht zu schlafen, aber jeder lehnte in seiner Ecke, als sei er im Nachdenken versunken, als ich versuchte, ein Gespräch zu eröffnen. »Wie kalt es heute ist«, sagte ich zu meinem Gegenüber. Er hob den Kopf, sah mich an, antwortete aber nicht. »Der Winter scheint jetzt ernsthaft begonnen zu haben«, fügte ich hinzu. Obwohl es in der Ecke, in der der Mann saß, so düster war, daß ich seine Züge nicht klar unterscheiden konnte, merkte ich doch, daß er mich unverwandt ansah; dennoch kam keine Antwort. Bei einer anderen Gelegenheit hätte mich das vielleicht geärgert, und ich würde auch etwas darüber gesagt haben, aber damals war mir zu elend dazu. Die eisige Kälte der Nachtluft hatte mich bis ins Mark erfaßt, der merkwürdige Geruch in der Kutsche verursachte mir unerträgliche Übelkeit. Ich zitterte von Kopf bis Fuß, wandte mich dann an meinen linken Nachbarn und fragte, ob er etwas gegen ein offenes Fenster einzuwenden habe. Er sprach nicht und bewegte sich nicht. Ich wiederholte die Frage lauter, ohne Erfolg. Dann verlor ich die Geduld und löste die Fensterverriegelung. Der Lederriemen brach mir in der Hand, und ich sah jetzt, daß die Scheibe mit einer dicken, offensichtlich jahrealten Schimmelschicht überzogen war. Nun wandte ich dem
Zustand der Kutsche mehr Aufmerksamkeit zu; ich betrachtete alles genau und sah im ungewissen Schein der äußeren Lampen, daß das ganze Gefährt dem Zerfall nahe stand. Nicht nur, daß alles schlecht im Stande war, nein, wirklich dem Zerfall nahe. Die Fensterrahmen zersplitterten bei der geringsten Berührung. Der Lederbezug war von Schimmel überzogen, er faulte buchstäblich vom Holz ab. Der Boden brach unter meinen Füßen beinahe durch, und das ganze Ding war von Feuchtigkeit durchdrungen; man hatte es wohl aus irgendeinem Schuppen gezogen, in dem es seit Jahren dahinschimmelte, um es dann noch für einen Tag oder zwei auf der Straße zu verwenden. Ich wandte mich an den dritten Passagier, den ich bisher noch nicht angesprochen hatte, und versuchte es auch mit ihm. »Diese Kutsche ist ja in einem gräßlichen Zustand. Ich nehme an, das reguläre Fahrzeug mußte repariert werden?« Er bewegte langsam den Kopf, sah mir ins Gesicht, sprach aber nicht. Seinen Blick werde ich nie im Leben vergessen. Mein Herz wurde zu Stein dabei. Noch heute, wenn ich daran denke, wird mir kalt ums Herz. Seine Augen glühten mit einem unnatürlich feurigen Schein. Das Gesicht war bleigrau wie das einer Leiche, seine blutlosen Lippen zurückgezogen wie im Todeskampf, sie zeigten zwei glitzernde Zahnreihen. Die Worte, die ich hatte aussprechen wollen, erstarben mir auf den Lippen, ein merkwürdiger Schrecken – entsetzlicher Schrecken – überkam mich. Ich hatte mich inzwischen an das düstere Licht in der Kutsche gewöhnt und konnte ziemlich genau alles um mich erkennen. Ich wandte mich nochmals meinem Gegenüber zu. Der Mann sah mich an; auch er war gräßlich blaß im Gesicht, und auch seine Augen glitzerten eisig. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn, wandte mich dann an den neben mir Sitzenden und sah – o Himmel! Wie soll ich beschreiben, was ich sah? Ich sah, daß er nicht lebte – keiner von ihnen war lebendig wie ich selbst! Ein blasses phosphoreszierendes Licht – der Lichtschein der Fäulnis – überspielte ihre entsetzlichen Gesichter; es lag auf ihrem Haar, das vom Grabestau frisch war, auf ihren Kleidern, erdbeschmutzt und in Stücke zerfallend, und auf ihren Händen, die wie die lang schon begrabener Leichen waren. Nur ihre Augen lebten – diese entsetzlichen Augen –, und alle drei wandten mir drohend ihren Blick zu!
Mit einem Schreckensschrei, einem wilden, unverständlichen Schrei nach Hilfe und Gnade warf ich mich gegen die Tür, versuchte vergebens, sie zu öffnen. Im gleichen Augenblick sah ich kurz und deutlich, wie eine Landschaft, die ein Blitz erhellt, den Mond durch eine zerrissene Sturmwolke scheinen – das geisterhafte Wegzeichen reckte seinen Finger am Straßenrand – die gebrochene Steinmauer – die dahinstürmenden Pferde – die schwarze Schlucht unter uns. Dann schwankte die Kutsche wie ein Schiff in den Wogen. Ein gräßliches Krachen – Schmerz – Dunkelheit. Es kam mir vor, als seien Jahre vergangen, als ich eines Morgens aus tiefem Schlaf erwachte und meine Frau neben dem Bett sitzend fand. Ich will die Szene übergehen, die dann folgte, und Ihnen nur in wenigen Worten die Geschichte erzählen, die sie mir unter dankbaren Tränen berichtete. Ich war kurz vor der Kreuzung zwischen der alten und neuen Fahrstraße einen Abhang hinuntergefallen und nur durch eine tiefe Schneeverwehung, die sich am Fuß des Felsens gebildet hatte, vor dem sicheren Tod bewahrt worden. In dieser Schneewehe entdeckten mich bei Tagesanbruch zwei Hirten, die mich zur nächsten Unterkunft trugen und einen Arzt zu Hilfe riefen. Der Arzt fand mich im wildesten Dilirium, mit gebrochenem Arm und Schädelbruch. Die Briefe in meiner Brieftasche zeigten meinen Namen und meine Adresse, meine Frau wurde herbeigerufen, um mich zu pflegen. Dank meiner Jugend und guten Konstitution ging es mir endlich besser. Unnötig zu sagen, daß ich genau an jener Stelle heruntergefallen war, wo sich vor neun Jahren der entsetzliche Unfall mit der Postkutsche ereignet hatte. Meiner Frau habe ich von den gräßlichen Erlebnissen, über die ich Ihnen eben berichtete, nichts gesagt. Dem Arzt, der mich versorgte, berichtete ich davon; er sah das Ganze jedoch als einen bloßen Traum an, durch das Fieber in meinem Gehirn verursacht. Immer wieder diskutierten wir die Sache, bis wir entdeckten, daß wir uns dabei viel zu sehr aufregten, und davon abließen. Andere mögen ihre Schlüsse ziehen, wie sie wollten – ich weiß, daß ich vor zwanzig Jahren der vierte Innenpassagier jener Phantomkutsche war.
MONTAGUE RHODES JAMES
Ein Herzensvetter Meinen Ermittlungen zufolge war es im September des Jahres 1811, als eine Postkutsche am Eingang des inmitten von Lincolnshire gelegenen Landsitzes Aswarby Hall vorfuhr. Der kleine Junge, welcher ihr einziger Passagier gewesen und nach dem Anhalten des Gefährts sogleich herausgesprungen war, musterte während der kurzen Wartefrist zwischen dem Betätigen des Glockenzugs und dem Öffnen der Haustür seine Umgebung mit der brennendsten Neugier. Was er da vor sich hatte, war die geräumige, aus roten Ziegeln errichtete Rechtschaffenheit eines Hauses aus der Regierungszeit der Königin Anne. Das Gebäude wies zahlreiche schmale und hohe Fenster auf, deren winzige Scheiben von starkem, weißem Rahmenwerk eingefaßt waren. Man hatte ein steinernes Säulenportal im klassizistischen Stil von 1790 hinzugefügt, und das Ganze war bekrönt von einem Giebel, in den ein rundes Fenster eingelassen war. Die Flügelbauten zur Rechten und zur Linken waren mit dem Hauptgebäude durch merkwürdig verglaste, an Kolonnaden gemahnende Gänge verbunden und enthielten offenbar die Stallungen und Wirtschaftsräume des Hauses. Jeder Flügelbau trug eine Zierkuppel mit vergoldeter Wetterfahne. Im Glanz der scheidenden Sonne erstrahlten die Fenster des Hauses gleich lodernden Feuern. Vor dem Anwesen erstreckte sich nach allen Seiten hin der Eichenbestand eines weitläufigen Parks, an dessen Rändern Tannen den Himmel begrenzten. Eben schlug es sechs von dem Kirchturm herüber, den die Baumkronen am Rande des Parks fast zur Gänze verdeckten, so daß einzig der goldene Wetterhahn im Strahl der Abendsonne erglänzte. Sanft, auf den Schwingen des Windes, strich der Stundenschlag heran. Im ganzen war’s ein freundliches, wenngleich von der leisen Melancholie eines Abends im Nachsommer schon verschattetes Bild, das der Junge in sich aufnahm, wie er da unter dem Vordach darauf wartete, daß die Tür sich vor ihm auftun werde. Er war vor etwa sechs Monaten zum Waisenkind geworden, und die Postkutsche hatte ihn von Warwickshire hierhergebracht. Daß er nun
sein weiteres Leben in Aswarby verbringen sollte, verdankte er dem großmütigen Anerbieten seines bejahrten Vetters Mr. Abney. Nun verhielt es sich so, daß solch eine Einladung niemand erwartet hätte, denn jedermann, der Mr. Abney auch nur vom Hörensagen kannte, hielt ihn für einen knausrigen Hagestolz, in dessen strenggeführten Haushalt die Ankunft eines kleinen Jungen ein neues und – so wollte es den Leuten scheinen – störendes Element bringen würde. Es muß freilich gesagt werden, daß über Mr. Abneys Neigungen und Wesensart nur recht wenig bekannt war. Immerhin hatte dem Vernehmen nach der Griechischprofessor in Cambridge geäußert, kein Mensch sei in den Glaubensdingen des späten Heidentums besser bewandert denn der Besitzer von Aswarby Hall, und tatsächlich umfaßte ja seine Bibliothek die sämtlichen damals erhältlichen Werke über die Mysterien, die orphische Dichtung, den Mithraskult und die Neuplatoniker. In der mit marmornen Fliesen ausgelegten Halle stand denn auch eine sehr schöne Skulptur des stiertötenden Mithras, ein Werk, das der Hausherr unter beträchtlichen Kosten aus dem Vorderen Orient hatte herbeischaffen lassen. Eine Beschreibung davon hatte er für Gentleman’s Magazine verfaßt, und in der Zeitschrift Critical Museum war eine vielbeachtete Artikelserie aus seiner Feder erschienen, die den Aberglauben der Verfallszeit Roms zum Gegenstand hatte. Mit einem Wort, man hielt Mr. Abney für einen weltfremden Bücherwurm und steckte in der Nachbarschaft allerorten die Köpfe zusammen ob des befremdlichen Umstands, daß einem solchen Menschen die Kunde von seinem verwaisten Vetter Stephen Elliott überhaupt zu Ohren gekommen war, ja daß er ihn aus freien Stücken eingeladen hatte, mit ihm auf Aswarby Hall zu leben. Indes, welche Erwartungen die Nachbarn immer hegen mochten, so ist doch gewiß, daß Mr. Abney – der hochgewachsene, dürre, knausrige Mr. Abney – durchaus geneigt schien, seinem jungen Vetter einen freundlichen Empfang zu bereiten, denn sobald die Haustür geöffnet ward, kam er Hals über Kopf aus seinem Arbeitszimmer geschossen, wobei er sich vor Vergnügen die Hände rieb. »Wie geht’s dir, mein Junge – wie geht’s? Wie alt bist du denn?« stieß er hervor. »Ich meine, es ist wegen des Abendessens – du bist doch hoffentlich nicht zu müde von der Reise!«
»Nein, nein, keineswegs, Sir«, beteuerte der junge Mann. »Ich bin ganz wohlauf.« »Ein munterer Bursche!« sagte Mr. Abney. »Wie alt bist du denn, mein Junge?« Es war ein wenig sonderbar, daß er innerhalb der ersten zwei Minuten dieser neuen Bekanntschaft dieselbe Frage schon zum zweitenmal stellte. »Zwölf Jahre – am nächsten Geburtstag, Sir«, versetzte Stephen. »Und wann ist dein Geburtstag, mein lieber Junge? Am elften September, wie? Das trifft sich gut – sehr gut trifft sich das! Fast noch ein Jahr bis dahin, nicht wahr? Ich pflege nämlich – ha, ha! –, ich pflege nämlich derlei Dinge in meinem Buch festzuhalten. Zwölf Jahre, sagtest du? Bist du sicher?« »Aber natürlich – ganz sicher, Sir!« »Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Parkes, führen Sie ihn nur gleich ins Zimmer von Mrs. Bunch, damit er zu seinem Tee kommt, zu seinem Abendbrot – oder was immer es ist!« »Sehr wohl, Sir«, versetzte der unerschütterliche Mr. Parkes. Dann geleitete er Stephen in die unteren Regionen des Hauses. Mrs. Bunch war die umgänglichste und gemütlichste Person, der Stephen bisher in Aswarby Hall begegnet war. Er fühlte sich bei ihr sofort wie zu Hause, und innerhalb einer Viertelstunde waren die beiden schon dicke Freunde. Diese Freundschaft sollte von Dauer sein. Mrs. Bunch stammte aus der hiesigen Gegend, war hier etliche fünfundfünfzig Jahre vor Stephens Ankunft zur Welt gekommen und wirtschaftete nun schon seit zwanzig Jahren auf Aswarby Hall. So war es nur zu natürlich, daß, wenn irgendein Mensch über das Um und Auf dieses Hauses und des gesamten Landkreises Bescheid wußte, Mrs. Bunch dieser Mensch war. Und sie zeigte sich keineswegs abgeneigt, ihr Wissen weiterzugeben. Nun gab’s da ja gewiß eine Überfülle an Dingen, die mit Aswarby Hall und seinem Park zusammenhingen und denen der unternehmenslustige, wißbegierige Stephen durchaus auf den Grund gehen wollte. »Wer hat den Tempel am Ende des Lorbeerganges gebaut? – Wer war denn der alte Herr, der auf dem Bild im Treppenhaus an einem Tisch sitzt und die Hand auf einen Totenschädel stützt?« Solche und noch viele ähnlich
dunklen Punkte wurden durch das profunde Wissen und die gewaltigen Geistesgaben der Mrs. Bunch erhellt. Doch gab es auch andre Probleme, welche durch die gegebenen Erläuterungen durchaus nicht zu Stephens Zufriedenheit geklärt werden konnten. An einem Abend im November saß Stephen im Zimmer der Haushälterin am Kaminfeuer und machte sich Gedanken über seine neue Umgebung. »Ist Mr. Abney eigentlich ein guter Mensch? Wird er in den Himmel kommen?« fragte er plötzlich mit dem entwaffnenden Vertrauen des Kindes in die Fähigkeit der Älteren, Fragen zu beantworten, deren Entscheidung doch eigentlich einem höheren Tribunal vorbehalten ist. »Ein guter Mensch? – Was so ein Kind nicht alles fragt!« versetzte Mrs. Bunch. »Was heißt da ›guter Mensch‹ – eine Seele von einem Menschen ist er! So was hast du noch nicht gesehn! Hab’ ich Ihnen denn noch nicht von dem kleinen Jungen erzählt, den er, wie man so sagt, von der Straße aufgelesen und ins Haus genommen hat vor sieben Jahren? Und von dem kleinen Mädchen, zwei Jahre nachdem ich hier angefangen hab’?« »Nein. Das müssen Sie mir aber erzählen, Mrs. Bunch, jedes Wort – und zwar gleich jetzt, auf der Stelle!« »Na ja«, sagte Mrs. Bunch. »An die Kleine erinner’ ich mich nicht mehr so recht. Ich weiß nurmehr, daß der Master sie eines schönen Tages von einem Spaziergang mitgebracht und unsrer Mrs. Ellis, das war damals die Haushälterin, eingeschärft hat, sie soll sich nur ja um die Kleine kümmern. Und das arme Kind hatte überhaupt nichts anderes als das, was es auf dem Leib trug – das hat sie mir selbst gesagt! Na, und so ist sie eben bei uns geblieben, drei Wochen mögen’s gewesen sein. Aber dann – ob sie nun was Zigeunerisches im Blut gehabt hat oder nicht –, aber dann war sie eines Morgens auf und davon, noch bevor einer von uns auch nur aufgewacht war. Spurlos auf und davon, sag’ ich Ihnen, und seither hab’ ich von ihr nichts mehr gehört und gesehn! Der Master war ganz schön durcheinander und hat jeden Teich und jeden Tümpel in der Umgebung mit Netzen nach ihr abfischen lassen. Aber ich laß mir’s nicht ausreden, daß es die Zigeuner gewesen sind, denn in der Nacht, wo sie verschwunden ist, hab’ ich es eine Stunde lang ums Haus herum singen hören, und auch Parkes behauptet steif und fest, er hat den ganzen
Nachmittag lang gehört, wie sie im Wald Krach gemacht haben. Du meine Güte, sie war schon ein recht eigenes Kind, eigentlich viel zu still, aber ich hab’ sie furchtbar gerngehabt, und sie war ja auch schon wie zu Hause bei uns – es ist nicht zu glauben!« »Und was war mit dem Jungen?« beharrte Stephen. »Ach, der arme Junge!« seufzte Mrs. Bunch. »Er war ein Ausländer – Tschowanni hat er sich genannt – und war eines Tages plötzlich da, hat straßauf und straßab seinen Leierkasten gemartert, mitten im Winter war’s, und der Master hat ihn vom Fleck weg ins Haus geholt und ausgefragt nach dem Woher und Wohin und wie alt er denn ist und wie er zurechtkommt und wo er seine Leute hat – kurz, was man sich nur ausdenken kann. Aber es ist genauso gekommen wie mit dem Mädchen. Ein störrisches, dickköpfiges Pack sind sie, diese Ausländer, das sag’ ich ja immer, und so war er eines Morgens auf und davon, gerade wie das Mädchen auch! Warum er so plötzlich verschwunden ist und was er danach wohl getan und getrieben hat – darüber haben wir uns ein ganzes Jahr lang die Köpfe zerbrochen. Er hat ja nicht einmal seinen Leierkasten mitgenommen! Da drüben steht er noch immer, auf dem Regal!« Stephen verbrachte den Rest des Abends damit, Mrs. Bunch bis ins kleinste auszufragen, wobei er hartnäckig bestrebt war, dem Leierkasten eine Melodie zu entlocken. In der Nacht hatte er einen merkwürdigen Traum. Am Ende des Ganges im obersten Stockwerk, auf den auch seine Schlafkammer mündete, gab es ein altes, nicht mehr benütztes Badezimmer. Es war stets versperrt, doch wies die Tür ein Fenster auf, und so konnte man, da die Musselinvorhänge längst nicht mehr da waren, einen Blick ins Innere werfen und eben noch die an der rechten Wand fixierte, bleigefütterte Wanne sehen. Sie stand mit dem Kopfende zum Fenster. In eben jener Nacht nun fand sich Stephen Elliott im Traume an der Badezimmertür durch jenes Fenster spähen. Von draußen schien der Mond herein und enthüllte dem nächtlichen Späher eine in der Wanne liegende Gestalt. Die Beschreibung dessen, was der Junge gesehen hat, gemahnt mich an einen Anblick, der mir einmal in der berühmten Gruft der St. MichansKirche in Dublin zuteil geworden ist – in jenen Gewölben, welche die
grausige Eigenschaft haben, die dort beigesetzten Leichen jahrhundertelang vor aller Verwesung zu bewahren. Stephen behauptete nämlich, er habe eine unaussprechlich zarte, rührende Gestalt in der Wanne erblickt. Die Tote sei von bleiernem Grau gewesen und mit einem leichenartigen Hemd bekleidet. Ein leises, doch gräßliches Lächeln habe ihr die Lippen geschürzt, und beide Hände seien über dem Herzen gelegen, als würden sie mit aller Kraft dagegengepreßt. Während er noch auf die Tote starrte, entrang ein wie aus großer Ferne kommendes, nahezu unhörbares Stöhnen sich ihren Lippen, und die Arme begannen sich zu regen. Von Entsetzen gepackt, fuhr Stephen zurück – und fand sich beim Erwachen im vollen Mondlicht tatsächlich auf den kalten Dielenbrettern des Ganges stehen. Mit einer Beherztheit, die ich durchaus nicht bei allen Knaben seines Alters voraussetzen möchte, trat er auf die Badezimmertür zu, um sich zu vergewissern, ob jene Traumgestalt wirklich in der Wanne liegt. Doch die Wanne war leer, und so machte er, daß er ins Bett kam. Anderntags zeigte sich Mrs. Bunch durch seinen Traum tief beeindruckt, ja, sie verstand sich sogar dazu, den Musselinvorhang hinter der Glastür des Badezimmers zu erneuern. Und auch Mr. Abney, dem Stephen beim Frühstück von seinem Erlebnis erzählte, bekundete großes Interesse und machte sich Notizen für das, was er »sein Buch« nannte. Kurz vor Frühlingsbeginn ermahnte Mr. Abney, der sich dabei auf die Schriften der Alten berief, welche, wie er sagte, diese Zeit als besonders kritisch für die Jugend angesehen hätte, den Jungen zu wiederholten Malen, indem er sagte, Stephen würde gut daran tun, auf der Hut zu sein und das Fenster seiner Schlafkammer während der Nacht geschlossen zu halten. Überdies fänden sich ja auch bei Censorinus etliche wertvolle Hinweise zu diesem Thema. Und es war auch um eben jene Zeit, daß zwei Vorfälle sich zutrugen, die auf Stephen einen nachhaltigen Eindruck übten. Der eine ereignete sich nach einer ungewöhnlich bösen und bedrückenden Nacht, obschon der Junge sich nicht erinnern konnte, einen besonderen Traum gehabt zu haben. Aber am Abend des nämlichen Tages war Mrs. Bunch mit Nadel und Faden beschäftigt, sein Nachthemd auszubessern.
»Gott steh’ mir bei, Master Stephen«, brach’s nahezu unwillig aus ihr hervor, »wie bringen Sie’s nur fertig, Ihr Nachtgewand so zu zerfetzen? Da – sehn Sie nur, junger Herr, wieviel Mühe Sie den armen Dienstboten machen, die hinter Ihnen in einem fort stopfen und flicken müssen!« Tatsächlich, das Hemd wies eine Reihe recht böser, offenbar absichtlich erzeugter Risse oder Kratzer auf, so daß es einer schon sehr geübten Hand bedurfte, um den Schaden wiedergutzumachen. Die Risse befanden sich auf der linken Brustseite und verliefen in langen, etwa sechs Zoll messenden, parallelen Bahnen, wobei das Leinen nicht an allen Stellen schadhaft geworden. Stephen konnte lediglich beteuern, er habe keine Ahnung, auf welche Weise der Schaden entstanden sein könnte, und wußte nur, daß das Hemd am vergangenen Abend noch unversehrt gewesen war. »Mrs. Bunch«, sagte er plötzlich, »das sieht doch genauso aus wie die Kratzer an der Außenseite meiner Schlafzimmertür! Und bei denen bin ich ganz sicher, daß ich sie nicht gemacht habe.« Verblüfft starrte Mrs. Bunch ihn an, griff hastig nach einer Kerze, eilte aus dem Zimmer und stapfte die Treppe hinauf. Schon nach wenigen Minuten trat sie wieder ein. »Tja«, sagte sie, »Master Stephen, ich weiß wirklich nicht, wie die Kratzer dorthingekommen sind – es ist zu hoch für Katzen oder Hunde, und erst recht für die Ratten. Solche Krallen hat doch nur ein Chineser, das hat uns unser Onkel – er war Teehändler – immer erzählt, wenn wir Mädchen beisammengesessen sind. Ich an Ihrer Stelle würde dem Master gar nichts davon sagen, Master Stephen, glaub mir, mein Kind! Und vergessen Sie nur ja nie, den Schlüssel herumzudrehen, bevor sie sich schlafen legen!« »Das mach’ ich ohnehin immer, Mrs. Bunch, gleich nach dem Abendgebet.« »Das ist recht! Das nenn’ ich mir einen braven Jungen! Wer aufs Beten nicht vergißt, bleibt verschont als rechter Christ!« Dies gesagt, wandte Mrs. Bunch ihr Augenmerk wieder völlig der Ausbesserung des zerrissenen Nachthemdes zu, von welcher Arbeit sie, einige gedankenvolle Pausen ausgenommen, bis zur Schlafenszeit gänzlich ausgefüllt war. So geschehen an einem Freitagabend im März 1812.
Den darauffolgenden Abend wurde das übliche Duett zwischen Stephen und Mrs. Bunch bereichert durch den plötzlichen Eintritt von Mr. Parkes, dem Butler, der sich für gewöhnlich in der Anrichtekammer mit sich selbst am wohlsten fühlt. In seiner Aufregung übersah er Stephens Gegenwart. Auch sprach er viel schneller, als es sonst seine Art war. »Am Abend muß sich der Master seinen Wein schon selber aus dem Keller holen!« platzte er heraus. »Entweder ich mach’ es bei Tage oder überhaupt nicht, Mrs. Bunch. Ich weiß ja nicht, was es ist: Höchstwahrscheinlich sind’s nur die Ratten oder der Wind, der im Keller rumort. Aber ich bin nicht mehr so jung wie früher und werd’ einfach nicht mehr damit fertig!« »Aber, Mr. Parkes, Aswarby Hall und Ratten? Seit wann gibt’s denn so was bei uns?« »Das will ich gar nicht bestreiten, Mrs. Bunch. Glauben Sie mir, ich habe von den Werftarbeitern oft genug die Geschichte von der sprechenden Ratte gehört und habe bisher nicht im geringsten an so was geglaubt. Aber heut’ abend, wenn ich mich so weit erniedrigt hätte, mein Ohr an die Tür des hintersten Kellerverschlags zu legen – heut’ abend hätt’ ich sehr wohl verstehen können, was sie untereinander reden!« »Genug, genug, Mr. Parkes, ich hab’ keine Zeit für solche Überspanntheiten! Ratten, die im Weinkeller miteinander reden – das hat uns gerade noch gefehlt!« »Schön, Mrs. Bunch, ich will mich nicht streiten mit Ihnen! Ich sag’ Ihnen nur das eine: Gehn Sie selber hinunter zum hintersten Kellerverschlag, legen Sie das Ohr an die Tür, und Sie können sich sofort von der Wahrheit meiner Worte überzeugen.« »Was reden Sie denn für einen Unsinn daher, Mr. Parkes! Das ist doch nichts für Kinderohren! Wenn Sie nicht sofort aufhören, kommt unser Master Stephen noch von Sinnen vor Angst!« »Wie! Master Stephen?« rief Parkes, der den Jungen erst jetzt gewahrte. »Master Stephen weiß ganz genau, daß ich nur mit Ihnen spaße, Mrs. Bunch!« In Wahrheit aber wußte Master Stephen nur zu gut, daß Mr. Parkes beim Hereinkommen durchaus nicht zum Spaßen aufgelegt gewesen
war, und das interessierte ihn ebensosehr, wie es ihn ängstigte. Doch wie immer er auch dem Butler zusetzte, er bekam keinerlei nähere Antwort auf alle Fragen, soweit sie den Vorfällen im Weinkeller galten. Im Zuge unseres Berichtes schreiben wir nun den 24. März 1812. Das war für Stephen ein Tag höchst merkwürdiger Erlebnisse. Ein stürmischer Wind pfiff ums Haus und erfüllte dessen Inneres wie auch den Park mit bebender Unruhe. Und während Stephen am Zaun lehnte und auf die Bäume hinausblickte, war’s ihm, als striche mit dem Wind auch eine endlose, unsichtbare Prozession an ihm vorüber, eine Prozession von widerstandslosen, ziellos dahingetriebenen Wesen, die vergebens versuchten, sich irgendwo festzuklammern, vergebens versuchten, ihrem Flug Einhalt zu gebieten, um aufs neue in Verbindung zu treten mit der Welt der Lebenden, der ehedem auch sie angehört hatten. Und es war auch am nämlichen Tag, daß Mr. Abney nach dem Mittagsimbiß zu ihm sagte: »Stephen, mein Junge, glaubst du, daß du’s fertigbrächtest, heut’ Nacht um elf Uhr heimlich in mein Arbeitszimmer zu kommen? Nämlich, ich habe bis elf Uhr zu tun, möchte dir aber unbedingt etwas zeigen, das mit deiner Zukunft zusammenhängt und von solcher Wichtigkeit ist, daß du es erfahren mußt. Daß du mir aber weder vor Mrs. Bunch noch auch vor irgend jemand anderem im Haus ein Wort darüber verlauten läßt! Und daß du mir ja zur gewohnten Zeit auf dein Zimmer gehst!« Endlich – nun trat etwas Neues in sein Leben: Begierig ergriff Stephen die gebotene Gelegenheit, bis elf Uhr nachts aufbleiben zu dürfen. Als er aber am Abend die Treppe hinaufstieg, tat er einen Blick in die Bibliothek und bemerkte, daß jener Dreifuß mit Räucherpfanne, den er schon so oft in der Ecke des Raumes gesehen hatte, nunmehr vor das Feuer gerückt worden war. Auf dem Tisch stand ein alter, feuervergoldeter, mit Rotwein gefüllter Silberpokal, und daneben lagen mehrere Bogen beschriebnen Papiers. Mr. Abney war eben dabei, aus einer silbernen Büchse Weihrauchkörner auf die Pfanne zu streuen, schien aber den draußen vorbeikommenden Stephen nicht bemerkt zu haben. Der Wind hatte sich gelegt, und es war eine stille Vollmondnacht geworden. Um etwa zehn Uhr abends stand Stephen am offenen Fenster seiner Schlafkammer und ließ den Blick über die Landschaft gleiten. So
still die Nacht auch war – die geheimnisvolle Belebtheit der fernen mondbeglänzten Wälder war noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Ab und an tönte befremdliches Rufen über den Weiher herüber und klang, als käm’s aus den Kehlen verirrter und verzweifelnder Wanderer. Vielleicht auch, daß es die Schreie von Nachtkäuzen oder Sumpfvögeln waren, doch gemahnten sie in nichts an solchen Vogelruf. Kamen sie jetzt nicht näher? Jetzt erklangen sie schon vom diesseitigen Ufer! Und nur wenig später schienen sie schon aus dem Gesträuch unterm Fenster zu dringen! Dann erst erstarben sie. Doch gerade als Stephen im Begriff war, das Fenster zu schließen, um im Robinson Crusoe weiterzulesen, ward er zweier Gestalten ansichtig, die auf der kiesbestreuten Terrasse standen, welche die Gartenseite von Aswarby Hall gegen den Park hin begrenzte. Es waren, so hatte es den Anschein, ein Knabe und ein Mädchen. Nebeneinander standen sie da und spähten zu den Fenstern empor. Etwas an dem Mädchen rief in Stephen unabweislich die Erinnerung an seinen Traum von der gespenstischen Gestalt in der Badekammer herauf. Der Knabe aber flößte ihm noch viel tiefere Furcht ein. Während das Mädchen reglos verharrte, mit halbem Lächeln und gegen das Herz gepreßten Händen, hob die abgezehrte Knabengestalt mit dem schwarzen Haar und dem zerlumpten Gewand die Arme in die Luft in einer drohenden Gebärde aus unstillbarem Hunger und Verlangen. Das Licht des Mondes überflutete die nahezu durchsichtigen Hände, und Stephen bemerkte erst jetzt, wie furchtbar lang die in ihrer Transparenz schimmernden Nägel waren! Wie der Knabe so mit erhobnen Armen dastand, bot er einen grauenvollen Anblick. Seine linke Brustseite stand schwarz und klaffend offen, und der Schrei, der nun ertönte, drang Stephen nicht so sehr ins Ohr wie ins Gehirn – und klang genauso wie die hungrigen und verzweifelten Schreie, welche er den ganzen Abend lang aus den Wäldern von Aswarby herüberschallen gehört! Doch schon in der nächsten Sekunde war das schreckliche Paar ohne einen Laut und in zaubrischer Schnelle über den trockenen Kiesgrund davongehuscht – und nicht mehr zu sehen. Namenlos erschrocken wie er war, beschloß Stephen, sich mit seinem Nachtlicht hinunter in Mr. Abneys Arbeitszimmer zu flüchten, denn die vereinbarte Stunde rückte immer näher. Jenes Zimmer, welches auch als Bibliothek diente, mündete mit einer seiner Türen in die vordere Halle,
und so stand denn der vom Entsetzen Gejagte alsbald davor. Allein, es erwies sich als unmöglich, die Tür aufzustoßen! Sie war nicht versperrt, das sah er, denn der Schlüssel steckte außen wie gewöhnlich, doch wie sehr Stephen auch klopfen und gegen das Holz hämmern mochte – es erfolgte keine Antwort! Mr. Abney war wohl beschäftigt – er sprach ja mit jemandem! Doch nein – was war das? Was preßte jetzt diesen Schrei aus ihm hervor? Und was erstickte solchen Schrei ihm in der Kehle? Hatte auch er jene rätselhaften Kinder gesehen? Doch alles blieb nun still, und die Tür gab mit einem Mal nach unter Stephens entsetzensgepeitschten, wahnwitzigen Stößen. Auf dem Tisch in Mr. Abneys Arbeitszimmer fand man gewisse Schriftstücke, welche späterhin, als Stephen Elliott alt genug war, um ihren Sinn zu verstehen, ihm die Ergebnisse jener Nacht in klarerem Lichte zeigten. Die wichtigsten Passagen lauteten wie folgt: »Es ist bey den Alten ein tief verwurzelter und weithin verbreiteter Glaube gewesen – und besagter Glaube ward mir in diesem Respecte von ihren Weisthümern in einem Maaße bekräftigt, das mich in den Stand setzt, ihren Zusicherungen blind zu vertrauen –, daß durch die Vollziehung gewisser Proceduren, denen für uns späthe Nachfahren ein irgendwie barbarischer Character eignet, der Mensch eine höchste bedeutsame Erleuchtung seiner geistigen Fähigkeiten erlangen könne: daß er zum Beispiel in Aufsaugung der Persönlichkeit einer gewissen Zahl seiner Mitmenschen unumschränkte Macht gewinnen könne über jene Categorie von Geistwesen, von denen die Elementarkräfte unsres Universums regiert werden. Von Simon Magus ist überliefert, er sey im Stande gewesen, sich in die Lüfte zu erheben, sich unsichtbar zu machen, wie auch jede beliebige Gestalt anzunehmen, und Dieß Alles einzig vermöge der Seelenkräfte eines Knaben, den er, wie der Autor der Clementine Recognitions es mit einer abschätzigen Redewendung zu nennen beliebt, ›meuchlings umgebracht‹ hatte. Überdies ist in den Schriften des Hermes Trismegistos in allen Einzelheiten dargethan, daß man ähnlich günstige Wirkungen hervorrufen könne durch die Einverleibung der Herzen von nicht weniger als drey Menschenwesen, welche das Lebensalter von zwölf Lenzen noch
nicht erreicht haben. Ein Gutteil der letzten zwey Jahrzehnte meines Lebens habe ich einzig daran gewendet, die Wahrheit dieses Recepts zu erproben, indem ich danach getrachtet, als corpora vilia für mein Experiment Personen ausfindig zu machen, welche sich in aller Bequemlichkeit beseitigen ließen und in der menschlichen Gesellschaft keine fühlbare Lücke verursacht haben. Den ersten Schritt habe ich durch die Beseitigung einer gewissen Phoebe Stanley gethan, eines Mädchens zigeunerischer Abkunft, und zwar am 24. März 1792. Den zweyten durch die Beseitigung eines vazierenden italiänischen Burschen, Giovanni Paoli mit Namen, und zwar in der Nacht des 23. März 1805. Das letzte ›Opfer‹ – um ein Wort zu gebrauchen, welches meinen Gefühlen zutiefst widerstrebt – muß nun mein Vetter Stephen Elliott seyn. Und der dafür festgesetzte Tag der 24. März 1812. Der beste Weg, die nothwendige Einverleibung vorzunehmen, ist es, das Herz aus dem lebenden Körper zu entfernen, es zu Aschen zu verbrennen und dieselbe mit etwan einer Pinte rothen, nach Möglichkeit Port-Weines, zu verquirlen. Die Überreste zumindest der beiden ersten Versuchspersonen zu verbergen, hat mir nur geringe Sorge bereitet: ein unbenutztes Badezimmer, ein nicht mehr verwendeter Weinkeller haben sich dafür als durchaus convenirend erwiesen. Einige Beschwer mag noch von Seiten des seelischen Parts der Versuchspersonen zu gewärtigen seyn, von demjenigen nämlich, welcher vom gemeinen Volke mit dem Namen ›Geister‹ bezeichnet worden. Doch wird ein Mann von philosophischem Temperamente – und keinem Anderen steht es an, solches Experiment zu wagen – wenig Neigung verspüren, den nichtigen Anstrengungen jener Wesen, an ihm ihre Rache zu üben, sonderliches Gewicht beyzumessen. So sehe ich mit der lebhaftesten Satisfaction dem erweiterten und befreiten Daseyn entgegen, welches das Experiment, ist es erst von Erfolg gekrönt, mir verleihen mag, indem es mich nicht nur dem Arme der (so genannten) menschlichen Gerechtigkeit entrückt, sondern auch dem Tod durch dessen Entrückung in eine ferne Zukunft ein Gutteil seines Schreckens nimmt.« Man fand Mr. Abney in seinem Sessel sitzend, den Kopf hintübergeneigt, das Gesicht gezeichnet von Wut, Angst und Todesqual. Eine fürchterlich zerfleischte Wunde klaffte in seiner linken Brust. Das Herz
lag bloß. An des Toten Händen waren keinerlei Blutspuren, und auch das lange Messer, welches auf dem Tisch lag, war vollkommen blank. Man vermutete, eine von Tollwut befallene Wildkatze habe diese tödliche Wunde verursacht. Das Fenster des Arbeitszimmers stand offen, und der Leichenbeschauer neigte zu der Ansicht, ein wildes Tier müsse Mr. Abney getötet haben. Stephen Elliott freilich, als er die von mir zitierten Schriftstücke in die Hände bekam, zog daraus einen gänzlich anderen Schluß.
ALGERNON BLACKWOOD
Ein unangenehmer Mieter Merkwürdig, wie manchmal eine unbedeutende Kleinigkeit, ein Nichts, eine augenblickliche, instinktive Abneigung hervorrufen kann. Die Art, wie ein Mann seinen Hut trägt, die affektierte Grimasse, mit der eine Frau in der Öffentlichkeit Spiegel und Lippenstift gebraucht – mehr ist nicht nötig. Spätere Erfahrungen mögen diese Abneigung auf den ersten Blick rechtfertigen, aber begonnen hat es mit einer Geringfügigkeit. Mancher wird freilich sagen, so unbedeutend sei der erste Anlaß gewiß nicht gewesen. Eine Gebärde kann als unbewußter Ausdruck der Persönlichkeit mehr verraten als das gesprochene Wort, das stets wohl überlegt ist. Als Moleson an das schroffe Benehmen des Fremden im Hausflur dachte, an die Art, wie er sich ohne ersichtlichen Grund so unhöflich an ihm vorbei gedrängt hatte und die Treppe hinaufgerannt war, an seine Haltung, die Zorn und Unwillen ausdrückte, fiel ihm eine bedeutsame Antwort ein, die einmal ein kluger alter Mann auf eine sehr alltägliche Frage gegeben hatte. Nicht er, Moleson, hatte diese Frage gestellt. Er hatte nur zwei Freunden zugehört, die sich über einen Dritten unterhielten. »Ich müßte X. eigentlich gut leiden können«, sagte der eine in beiläufigem Ton. »Ich habe nichts gegen ihn, ganz im Gegenteil. Trotzdem mag ich ihn nicht. Ich kann ihn einfach nicht ausstehen. Woher kommt das wohl?« »Ihre Abneigung«, lautete die Antwort, »ist wahrscheinlich chemisch bedingt, ja, rein chemisch.« Daran mußte Moleson nun denken, als er seine Koffer auspackte und sich in dem Wohnzimmer im obersten Stockwerk einrichtete, das er an diesem Nachmittag gemietet hatte. Das Haus stand in Bloomsbury, in der Nähe des Britischen Museums. Die Novemberdämmerung setzte ein. Gas und elektrisches Licht gab es nur bis zum ersten Stock, seine Leselampe hatte er noch nicht ausgepackt. »Chemisch«, dachte er, als er einen Augenblick auf die graue Straße hinaussah, wo die dunklen, wuch-
tigen Massen der Museumsgebäude den Himmel verdeckten. »Ich möchte wirklich wissen…« Er hatte natürlich die ungenauen Vorstellungen des Laien von den Neigungen und Abneigungen der Atome, von ihrer gegenseitigen Anziehung und Abstoßung, von der atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der sie, ihren Sympathien und Antipathien folgend, aufeinander zurasten oder voneinander fortstrebten. Hatten sich sämtliche Atome, aus denen er bestand, instinktiv von denen, die den Körper des Fremden bildeten, abgewandt, und war es die Geschwindigkeit, mit der sie nun fortstrebten, die ihm dieses heftige Unbehagen bereitete? War sein Abscheu auf den ersten Blick wirklich ›rein chemisch‹? Während er seine Sachen einräumte, erlebte er die Szene in der Erinnerung ein zweites Mal. Er hatte am Morgen mit Mrs. Smith gesprochen und zunächst den Bescheid erhalten: »Im Augenblick nicht, Sir. Ich habe kein Zimmer frei.« Dann aber hatte die Frau nach einem kurzen, merkwürdigen Zögern gesagt: »Vielleicht ein bißchen später.« Und nach weiterem Zögern hatte sie hinzugefügt: »Vielleicht heute nachmittag… ich… ich will sehen, ob es sich einrichten läßt… Wenn es Ihnen nichts ausmacht, noch einmal vorbeizukommen?« Von diesem Haus bis zu der Bibliothek, in der er täglich zu arbeiten hatte, waren es nur ein paar Schritte. Moleson bot daher eine Vorauszahlung an, erkannte aber gleich darauf, daß es der Frau nicht allein um das Geld ging. An ihrem Zögern war nicht nur sein ärmliches Aussehen schuld. Es war ihr deutlich anzumerken, daß sie einen Mieter wollte – »wenn es sich einrichten ließ«, was immer das heißen mochte –, und sie hatte nichts gegen ihn persönlich. Er spürte, daß sie irgendwelche schwierigen Überlegungen anstellte und sich zu einem Entschluß durchzuringen versuchte, und er war klug genug, ihr Zeit zu lassen. »Ich komme noch einmal vorbei, sagen wir gegen drei.« Und mit seinem freundlichen Lächeln fügte er hinzu, daß er den größten Teil des Tages im Museum arbeiten würde. Als er am Nachmittag zurückkam, geschah es dann. Er läutete und wartete in dem engen Flur, während das Mädchen Mrs. Smith aus dem Keller holte. Die Haustür hinter ihm stand noch offen. Plötzlich stürzte ein Mann herein, vermutlich ein anderer Mieter. Moleson stand ihm vielleicht ein wenig im Wege. Der Mann berührte ihn zwar nicht, rannte aber, offenbar ergrimmt und ohne ein Wort der Ent-
schuldigung, so dicht an ihm vorbei, daß er ihn zur Seite zu springen zwang. Vielleicht brummte er etwas, was einer Entschuldigung gleichkam – Moleson war ein wenig schwerhörig –, aber seinem ganzen Benehmen nach zu urteilen, war das nicht sehr wahrscheinlich. Die Haltung des Kopfes und der Schultern und das abgewandte Gesicht deuteten eher auf Zorn und Unwillen. Moleson verabscheute ihn augenblicklich, nicht wegen seiner Grobheit, sondern weil seine äußere Erscheinung etwas ausströmte, was eine heftige, instinktive Abneigung auslöste, die an Ekel grenzte. Als Mrs. Smith einen Augenblick später schwer atmend erschien, war der Mann schon die Treppe hinaufgestürmt und verschwunden, aber der Eindruck, den er hinterließ, war so lebhaft, daß es Moleson nicht unangenehm gewesen wäre zu hören, daß letzten Endes doch kein Zimmer zu haben sei. Dem war jedoch nicht so. Eine Abmachung wurde getroffen, einige Banknoten wechselten den Besitzer, und das Zimmer gehörte ihm. Die meisten jungen Männer hätten sich in einer solchen Lage wahrscheinlich in erster Linie für die Zimmerwirtin interessiert, der sie die Miete zu zahlen hatten und von deren Wohlwollen ihre Bequemlichkeit abhing. Moleson dachte jedoch nur an den groben Mieter. Beim Abendessen in einem Restaurant in der Nachbarschaft überlegte er, daß seine plötzliche Abneigung doch sehr merkwürdig sei. Er hatte den Mann nie zuvor gesehen und kannte auch jetzt weder sein Gesicht noch seine Stimme. Trotzdem dieser Abscheu… Das Merkwürdige lag natürlich darin, daß die Heftigkeit seiner Empfindung in keinem Verhältnis zum Vorgefallenen stand. Flüchtig dachte er auch an seine Wirtin, aber eigentlich nur, um sie mit dem Mann zu vergleichen. Ihr eher finsternes, melancholisches Gesicht, das gewiß nicht anziehend war, weckte in ihm nichts anderes als eine unbestimmte, duldsame Sympathie. Jedenfalls empfand er keine Abneigung. Sie war für ihn nicht vorhanden. Eine ehrliche Haut, dachte er, vom Leben mißbraucht und enttäuscht. Der andere aber flößte ihm diesen tiefen, instinktiven Abscheu ein. Chemisch? Er wußte nicht, was er davon halten sollte, denn wenn es sich um eine chemische Reaktion handelte, warum erweckte dann der eine unangenehme Mensch Mitleid und der andere, ebenso unangenehme heftige Antipathie?
Als er beim Kaffee angelangt war, hörte er auf zu grübeln. Er dachte an sein Zimmer, das so herrlich nah beim Museum lag. Bloomsbury gefiel ihm. Es war auch die Hausnummer – Nr. 7 –, die ihm sein Freund und Auftraggeber in Manchester genannt hatte, und die niedrige Miete war ihm gerade recht, denn das Geld war knapp. Würde er sich sonst für einen andern plagen und gewisse historische Daten aus dem 17. Jahrhundert für einen Schriftsteller sammeln, der mit seinem albernen Buch an die tausend Pfund verdienen konnte und ›genaue Daten und Fakten‹ brauchte? Er, Moleson, bekam für seine Arbeit ›fünf Pfund die Woche und die Spesen‹… Der Schriftsteller hatte ihm die Straße und das Haus – nicht weit vom Museum – genannt, und Moleson, der London noch nicht kannte, hatte das Angebot begeistert angenommen. All das geschah vor dem Krieg. Jim Moleson, damals mit einem reizenden Mädchen verlobt, das heute seine Frau ist, erzählte es mir unlängst. Mittlerweile war er im Krieg gewesen. Er hatte etwas gelernt. Damals würde ich ihn als einen sehr empfindlichen oder jedenfalls empfindsamen, gewiß fantasiebegabten und wahrscheinlich poetisch veranlagten jungen Mann beschrieben haben. Ich, der ich ein Vierteljahrhundert älter war, hatte ihn im Verdacht, daß er heimlich romantische Verse schrieb. Der Krieg hat dann gezeigt, was in diesen romantischen jungen Männern steckte. Dieser erstaunliche Mut, der kühne Tatengeist, der einer lebhaften ›Fantasie‹ entsprang. Jim Moleson war starrsinnig, leidenschaftlich, er konnte ›eklig‹ werden, wenn seine Gefühle verletzt wurden, nur galten diese Gefühle meist anderen – einem lahmen Hund, einer verletzten Katze, einem eingesperrten Vogel, einem geschundenen Pferd. Kränkungen, Zurücksetzungen seiner eigenen Person ertrug er so geduldig, daß man ihn für feige halten konnte, doch dieser Eindruck war falsch. Er war tatsächlich so gleichmütig – bis zu einem gewissen Punkt. Wurde dieser Punkt überschritten, sah er rot… und schlug zu. Dieser wilde Zorn, der so selten erregt wurde, dann aber mit merkwürdiger Heftigkeit aufflammen konnte, war ein Wesenszug, der mir entging oder den ich nicht wahrhaben wollte. Es war jedoch ein menschlicher, kein bestialischer Zorn. Die Arbeit im Museum nahm ihn offenbar völlig in Anspruch, und abends kehrte er geistig und körperlich erschöpft in sein Zimmer zurück. Er war mit seinem dunklen Haar und seinen blauen Augen ein sehr an-
sehnlicher junger Mann, und Mrs. Smith hatte ihn bald ins Herz geschlossen. Seine Post bot den ersten Anlaß zu einem Gespräch. »Das wurde in Nummer siebzehn abgegeben«, sagte sie eines Abends und reichte ihm einige Briefe. Der gedruckte Name seines Auftraggebers auf den Umschlägen fesselte ihren geübten, wenngleich wehmütigen Blick. »Der Briefträger fragte mich, und ich dachte mir, das muß für Sie sein«, erklärte sie. Seine Schwerhörigkeit hatte ihm also wieder einmal einen Streich gespielt. Er wohnte im falschen Haus! Nicht ›Nummer sieben‹ hatte sein Auftraggeber gesagt, sondern ›Nummer siebzehn‹. Er unterhielt sich noch ein wenig mit der Frau. Er hatte das Gefühl, daß sie sprechen wollte, und zwar über etwas Bestimmtes und mit ihm und keinem andern. Er erklärte, was mit den Briefen geschehen war, und daß er auf einem Ohr sehr schlecht hörte. Wenn sie, beispielsweise, ›heißes Wasser‹ sagte, verstehe er ›keine Tasse‹ oder irgend so etwas Dummes, und nachdem sie noch eine Weile über das Wetter, die Preise und ›die Zustände heutzutage‹ geplaudert hatten, bemerkte er, daß sie plötzlich zögerte. Er wohnte damals eine Woche im Haus, erzählte er mir. Der melancholische Ausdruck ihres Gesichtes erschütterte ihn – anders als bisher, auf eine mehr persönliche Weise. Da standen sie also und sahen einander verlegen an, und jeder wartete darauf, daß der andere etwas sagte. Und der empfindsame Moleson dachte: »Das ist keine gewöhnliche Traurigkeit.« Er wollte etwas Freundliches sagen, aber es fiel ihm nichts ein, nichts Passendes. Zum erstenmal gewann er von dieser gewöhnlichen Frau einen klareren Eindruck. Er begriff, daß sie etwas von ihm wollte, vielmehr, daß sie ihm eine bestimmte Frage stellen wollte; daß sie sich, nachdem sie eine Woche lang bang gewartet und ihn sorgfältig beobachtet hatte, nun, da sie ihm vertraute, danach sehnte, ihn etwas Bestimmtes zu fragen, und es nicht über sich brachte. Das gleiche Zaudern, das ihm bei der ersten Begegnung vor der Tür aufgefallen war, drückte sich nun in ihrem melancholischen Gesicht, in ihren bekümmerten Augen aus. Auf unbestimmte Weise war er sich dessen schon seit längerem bewußt gewesen. Er hatte es sich nur nicht eingestanden. Es war, das glaubte er mit Sicherheit sagen zu können, keine Frage, die seine Bequemlichkeit betraf. Er war alt genug, um zu wissen, daß Zimmervermieterinnen solche Fragen selten stellen. Aber es gab da etwas, was sie wissen wollte,
etwas, was ihn selbst anging. Ihre leidende Miene bestürzte ihn. Er litt mit ihr, und plötzlich mußte er an den Papierwarenhändler in der Bury Street denken, bei dem er eingekauft hatte. »O ja, Sir, ich weiß, wo das ist. Bei Mrs. Warley. Ich schicke Ihnen das Paket hinüber.« Moleson berichtigte: »Nein, bei Mrs. Smith.« Der Mann sah ihn einen Augenblick verdutzt an, dann stimmte er ihm bei: »Ja, natürlich, bei Mrs. Smith… jetzt. Natürlich…« Dieses ›Jetzt‹ gab ihm zu denken. Sie hatte also ihren Namen geändert, zweifellos ein zweites Mal geheiratet, aber irgend etwas war an der Sache doch merkwürdig. Er hatte dann aber nicht weiter darüber nachgedacht, doch jetzt, als er mit ihr plauderte und nach irgendeinem freundlichen Wort suchte, fiel es ihm wieder ein. »Ich fühle mich hier sehr wohl«, sagte er endlich. »Das Zimmer ist gerade das, was ich brauche, ja wirklich…« Er wollte noch etwas Schmeichelhaftes hinzufügen, aber die Frau unterbrach ihn so plötzlich, daß er erschrak: »Es ist also alles in Ordnung, Sir? Sie haben Ihre Ruhe? Wenn Sie etwas belästigen…« Sie verbesserte sich: »Wenn Sie etwas stören sollte…« Plötzlich aber schwieg sie, ohne den Satz zu beenden. Nicht die Worte machten ihn stutzig – sie waren gewöhnlich genug –, sondern ihre erschrockenen Augen. Sie war nahe daran gewesen, ›jemand‹ statt ›etwas‹ zu sagen. Er spürte es. Und sie hätte sich die Zunge abschneiden können, weil sie gesagt hatte, was sie gesagt hatte. Auch das spürte er. Die Frage, die zu stellen sie ebensosehr fürchtete wie ersehnte, war ihr beinahe gegen ihren Willen herausgerutscht. Ihr Gesicht verriet jedenfalls eine Erregung, die für einen Augenblick die übliche Traurigkeit überdeckte, und es war die Erregung großer Angst. Moleson erschrak, als er sich dessen bewußt wurde. Der Instinkt sagte ihm, daß es besser war, nicht in sie zu dringen. Er beendete das Gespräch, so höflich er konnte. »Nein, nein, ich kann mich nicht beklagen«, sagte er. Dann lächelte er sie freundlich an und ging in sein Zimmer hinauf. Ihre Frage war der, die sie eigentlich stellen wollte, sehr nahe gekommen, so viel stand fest. Angst lag in dieser Frage verborgen, Angst umgab sie wie ein Kokon. Brach der Kokon auf, wurde er aufgebrochen, kam all das Scheußliche heraus, das sich darin versteckte. Diesen Ein-
druck nahm Moleson in sein Zimmer mit. Es war, als hätte er soeben durch ihre plötzlich so bleiche Haut hindurch einen kurzen Blick auf die grauenvollen Dinge geworfen, die die Ursache ihrer Traurigkeit und ihrer Angst waren. Und noch etwas wurde ihm in diesem Augenblick zur Gewißheit: Die Frage, die sie ihm gestellt hatte, diese einleitende Frage, die auf eine andere hinzielte, betraf jemanden, den er mit aller Kraft aus seinen Gedanken zu verbannen trachtete: Sie betraf den anderen Mieter. Moleson hatte die Gewohnheit, am Abend, nachdem er in dem Restaurant an der Straßenecke gegessen hatte, seine Aufzeichnungen zu ordnen, bevor er früh zu Bett ging. Eines Abends aber erinnerte er sich besonders lebhaft an das Gespräch mit der Wirtin und konnte nicht arbeiten. Er saß da und grübelte… und schließlich, nachdem seine Gedanken lange genug im Kreis gegangen waren, ohne daß er eine befriedigende Lösung gefunden hätte, schlief er ein. Eine Weile später schrak er in einem Zustand ungewöhnlicher Erregung wieder auf. »Ich hatte Angst«, gestand er mir, »richtiggehend Angst.« Ich finde, besonders merkwürdig und aufschlußreich an der ganzen Geschichte ist, daß er – selbst als er mir später alles erzählte – diesen ›unangenehmen Mieter‹, wie er ihn nannte, so lange in den Hintergrund verbannte. Anfangs hatte er nicht genug von der unbegreiflichen Abneigung sprechen können, die ihm der Mann einflößte. Immer wieder hatte er mir seine Empfindungen in allen Einzelheiten geschildert, so wie ich es in dieser schriftlichen Wiedergabe getan habe, aber als ich darauf gefaßt war, den Mieter in irgendeiner dramatischen Verkleidung erscheinen zu sehen – als Einschleichdieb, als Banknotenfälscher, der seine Werkstatt im Hause hatte, als Erpresser im Bunde mit Mrs. Warley-Smith (wie ich sie im stillen nannte) oder schließlich als Mörder, den die Frau vor der Polizei verbarg –, ließ Moleson ihn einfach fallen, erwähnte er ihn nicht mehr, tat er, als wäre der Mann nicht mehr vorhanden. Er erzählte mir von seiner Arbeit, von Mrs. Smith, von dem Haus, das ihm gut gefiel, von seinem Zimmer, das ihm nicht gefiel – weil er den Eindruck hatte, daß das Zimmer ihn nicht mochte und ›draußen haben wollte‹ –, kurz, er sprach von allem, nur nicht von dem unheimlichen Mieter. Als ich ihn auf sein Thema zurückzubringen versuchte, das heißt auf ebendiesen unheimlichen Mieter, den er mir zu Beginn seiner Erzählung als deren eigentlichen Gegenstand vorgestellt hatte, hielt er jäh inne und
starrte mich an. In seinem Gesicht zuckte es, seine Augen weiteten sich. Es war eine Angst in ihm, die er noch immer nicht überwunden hatte, und selbst mir wurde unheimlich zumute, als ich sein Gesicht betrachtete. Ich begriff allmählich, daß sein zögernder Bericht eine Art Beichte war, durch die er sich zu erleichtern hoffte. »Ich wußte, daß Sie mich früher oder später nach ihm fragen würden«, sagte er leise. »Wissen Sie, ich mied ihn.« »Sie meinen, Sie weigerten sich, ihn zu akzeptieren, sich mit seiner Existenz abzufinden? Sie versuchten sich einzureden, er sei nicht im Hause?« Er nickte und betrachtete seine Schuhspitzen. »So heftig war Ihr Abscheu?« fragte ich beharrlich weiter. Er blickte kurz auf, und sein Gesichtsausdruck beantwortete meine Frage besser als alle Worte. »Es ist unglaublich, wie dieser Mensch mich verfolgte«, flüsterte er. »Ja, ›verfolgte‹ ist das richtige Wort.« Ich fragte ihn, ob er ihn oft gesehen habe. »Nach der ersten Begegnung im Hausflur alles in allem zweimal.« Seine Verstörtheit, seine Zurückhaltung ließ mich zögern, doch nach längerem Schweigen fragte ich ihn offen: »Aber zuletzt erfuhren Sie, wer er war und was er dort trieb, mit einem Wort, warum Sie ihn verabscheuten?« Ich bekam keine klare Antwort, aber auf seine sonderbare, umschweifige Art erzählte er mir nun die ganze Geschichte. »Ich sagte, daß ich in meinem Sessel eingeschlafen war und plötzlich aufwachte und Angst hatte. Sehen Sie, das ist es.« »Das ist was?« fragte ich verständnislos. Er blickte zu Boden, als schämte er sich. »Ich hatte die ganze Zeit schon Angst gehabt«, murmelte er. »Entsetzliche Angst… seit ich dieses furchtbare Haus zum erstenmal betreten hatte.« »Vor… ihm?« Er nickte. Er glaubte, herausgefunden zu haben, warum ihm der Mann seine Anwesenheit verübelte. Er, Moleson, bewohnte sein Zimmer. Mrs. Smith hatte sich an jenem Morgen gefragt, ob sie ihn ausquartieren solle oder nicht – wahrscheinlich hatte er seine Miete nicht bezahlt, oder was im-
mer der Grund gewesen sein mag –, dann aber hatte sie sich irgendwie mit ihm geeinigt, und Moleson, der mit dem Geld in der Hand vor der Haustür stand, hatte das Zimmer bekommen. Eine einleuchtende Begründung. »Aber damit ist doch mein Abscheu vor diesem Menschen nicht erklärt, oder?« Nein, natürlich nicht. »Er war vielleicht wütend auf mich, weil ich sein Zimmer bekommen hatte, aber darum brauchte ich doch nicht diese an Ekel grenzende körperliche Abneigung zu empfinden, nicht wahr? Und diese Angst! Ich sah ihn nach der ersten Begegnung nur zweimal, aber trotzdem war mir stets bewußt, daß er sich mit mir in demselben Haus befand. Das konnte ich nie vergessen. Ich sollte besser sagen: Das ganze Haus war voll von ihm. Ich war ständig darauf gefaßt, ihm zu begegnen, auf der Treppe, im Flur. Wenn ich die Straße entlang kam, stellte ich mir vor, er stehe vor der Haustür und suche eben seinen Schlüssel. Wenn ich ins Badezimmer hinunterging, wenn ich am Abend noch einen Brief zum Postkasten brachte, wenn ich am Morgen meine Tür öffnete, um das heiße Wasser hereinzunehmen – immer erwartete ich, ihn plötzlich zu sehen, aber nein, er ließ sich nicht blicken. Ich traf nie mit ihm zusammen. Was trieb er den ganzen Tag? Ich habe keine Ahnung. Er ging, soviel ich sehen konnte, nie aus. Aber schließlich war ich selbst von neun bis fünf und dann noch einmal zwischen acht und neun, wenn ich essen ging, aus dem Haus.« Er leierte das alles sehr rasch herunter und gab mir mit wenigen Worten reichlich Stoff zum Nachdenken. Schließlich unterbrach ich seinen Bericht mit einer präzisen Frage, obwohl mir sonst daran gelegen war, die Geschichte so zu hören, wie er sie erzählen wollte. »Ob ich ihn beschreiben kann?« wiederholte er meine Frage. »So, wie ich ihn beim erstenmal sah? Ja, doch. Allerdings sah ich damals, wie ich schon sagte, sein Gesicht nicht.« Unversehens hob er in seiner Erregung die Stimme. »Verkrüppelt!« schrie er mir so laut ins Gesicht, daß ich zusammenfuhr. »Nun ja, Sie haben mich gefragt, und ich sage es, wie es ist. Aber mehr geistig oder moralisch als körperlich. Den Eindruck machte er mir damals.« Und dann schrie er: »Ein Ungeheuer!« Ein Schauder ü-
berlief ihn. »Das Gesicht sah ich nicht, weil er es mich nicht sehen lassen wollte. Er ging seitwärts und zog die mir zugewandte Schulter hoch, um es zu verbergen. Ich sah ein Stück Bart, struppige Haare jedenfalls, die mich an eine Täuschung, eine Maskerade denken ließen. Ein falscher Bart, eine Perücke, was weiß ich! Aber ich hatte in diesem Augenblick mein Geschäft mit Mrs. Smith im Sinn und achtete nicht auf das Aussehen eines Fremden, der sich unhöflich an mir vorbeidrängte. Es interessierte mich nicht… in diesem Augenblick. Seine Kleidung? Genau kann ich sie auch nicht beschreiben. Ein dunkler Anzug, eine Melone.« Er unterbrach sich und sagte dann nachdenklich und mit besonderer Betonung: »Dunkel… ja, der ganze Mann war dunkel.« Ich wartete noch immer darauf zu erfahren, was geschah, als Moleson voll Angst im Sessel erwachte, denn seine Erzählung fesselte nun meine ganze Aufmerksamkeit, aber ich faßte mich in Geduld. Was blieb mir anderes übrig? Er schilderte mir noch einmal, wie er den Mann ständig wiederzusehen erwartete und ihn doch nicht sah. Diese Wiederholung war, so wie er seine Geschichte erzählte, keineswegs überflüssig, wenngleich sich vielleicht in der schriftlichen Wiedergabe dieser Eindruck nicht vermeiden läßt. Sie steigerte vielmehr die Spannung, so daß die Begegnung, als sie endlich stattfand, gewissermaßen einen dramatischen Höhepunkt darstellte. Jeden Morgen also, wenn er in die Bibliothek ging, war er überzeugt, daß er den Mann auf der dunklen Treppe treffen werde, aber die Treppe war leer. Er erwartete, ihn auf dem Treppenabsatz zu sehen, wenn er seine Zimmertür öffnete, oder auf den Stufen vor dem Haus, wenn er abends heimkam, aber immer waren der Treppenabsatz und die Stufen leer. Er beobachtete die Haustür schon von weitem ganz genau, denn die Furcht vor einem Zusammentreffen war bereits tief in ihm verwurzelt. »Eine erwartungsvolle Furcht«, nannte er es. Und dann sah er ihn plötzlich. »Ich hatte mich kaum im Lesesaal an meinen Tisch gesetzt«, erzählt er, »als ich bemerkte, daß ich einen Brief meines Auftraggebers, der weitere Fragen enthielt, daheim vergessen hatte. Ich eilte zurück, um ihn zu holen, vergewisserte mich aber aus einiger Entfernung, daß niemand vor dem Haus stand. Der Zugang war frei. Ich lief zur Tür, und als ich den Schlüssel ins Schloß steckte, blickte ich nach oben – irgend etwas zwang mich, es zu tun –, und da starrte er aus dem Fenster auf mich herunter.«
»In Ihrem Zimmer?« »Ich sah das Gesicht zum erstenmal und auch nur für eine Sekunde – gerade lang genug, daß unsere Augen einander begegnen konnten –, denn er zog es sofort zurück. Ich würde nicht sagen, ein böses Gesicht im üblichen Sinne des Wortes, aber ein schreckliches Gesicht insofern, als es sich zu nichts, was ich kannte, in Beziehung setzen ließ; ja, schrecklich war es, scheußlich, furchteinflößend… wahnsinnig. Dunkel, aber darunter lauerte die Weiße des Grauens. Ich sah nicht mehr als das Gesicht, nur ein Stück Hals noch mit einem dünnen roten Schal… Der Schlüssel fiel klirrend auf die Stufen, ich zitterte am ganzen Körper. Er schnüffelt in meinem Zimmer herum, war mein erster Gedanke. In dem Zimmer, das ihm gehört hatte. Gleichzeitig kam mir aber ein zweiter Gedanke, der mich noch mehr entsetzte. Blitzartig wurde mir klar, daß mich der Mann seit meiner Ankunft ununterbrochen beobachtet hatte, daß er mir absichtlich ausgewichen war und auf eine Gelegenheit gewartet hatte, darauf nämlich, daß ich das Haus verließ. Ich weiß nicht, wie ich sagen soll… Ich meine: er kannte jede meiner Bewegungen.« Ich unterbrach ihn: »Sie liefen hinauf?« Zweifellos eine dumme Frage, aber dieser unheimliche Mieter erregte mich. Moleson zögerte. »Sie wissen, ich kann sehr jähzornig sein.« Er sagte es mit Nachdruck und doch verlegen. »Dieser Kerl in Ihrem Zimmer«, drängte ich, denn ich fürchtete, er werde mir von einer wüsten Schlägerei berichten. »Ich war in ein oder zwei Sekunden die Treppe hinauf gerannt«, fuhr Moleson fort, »und das erste, was ich bemerkte, als ich oben ankam, war, daß sich meine Tür bewegte. Ich sah jedoch niemanden auf dem Treppenabsatz, und das Zimmer selbst war leer.« Er machte eine Pause und sah mich bedeutsam an. »Der Mann war gerade noch rechtzeitig verschwunden.« Wieder unterbrach er sich, dann sagte er: »Wissen Sie, ich hätte nicht lang gefackelt…« Ich verstand, was er meinte, und war froh, daß es zu keinen Handgreiflichkeiten gekommen war. Molesons Jähzorn hat mich schon immer erschreckt. Ich glaube wahrhaftig, er hätte den Kerl erschlagen. Das Gesicht, mit dem er mir den Zwischenfall schilderte, sagte es mir. Mittlerweile hatte ich aber bereits einen Verdacht. Ich glaubte zu ahnen, wer der
unheimliche Mieter war. Ein Verrückter zweifellos, vielleicht ein Tobsüchtiger; ein Mörder, der sich als der Sohn dieser Mrs. Smith entpuppte. Daß ich teilweise recht hatte, mich zugleich aber irrte, zeigt vielleicht, wie geschickt Moleson seine Geschichte erzählte, indem er, sicherlich unbewußt, das Wesentliche verschleierte, ohne mich jedoch auf eine falsche Spur zu führen. Das Verbrechen des Mordes blieb ihm also erspart. Das Zimmer war leer, nichts war berührt worden, und leer war auch der Treppenabsatz. Seine Behauptung, daß er ›beobachtet‹ worden sei, nahm ich nicht ernst. Später dachte ich darüber jedoch ganz anders. Moleson fuhr mit seinem Bericht fort: »Auf der anderen Seite des Treppenabsatzes, der meinen gegenüber, gab es nur eine Tür. Die Tür seines Zimmers, davon war ich nun überzeugt. Sie war geschlossen. Im ersten Augenblick wollte ich ihn heraustrommeln und ihn fragen, was zum Teufel… nun, ja…« Er lachte. »Ich tat es dann doch nicht. Ich hatte mich schon wieder beruhigt. Daher nahm ich den Brief, den zu holen ich gekommen war, und kehrte in den Lesesaal des Museums zurück.« Ich sah ihn an und dachte an seine Tapferkeit, an die Auszeichnung, die er sich in Flandern erworben hatte, an den entsprungenen Sträfling, den er aufgehalten hatte, an die beiden stämmigen Kerle, die er einmal auf einer Straße in Surrey verprügelt hatte – der eine kam nur mit knapper Not mit dem Leben davon –, weil sie ihre Pferde unbarmherzig droschen und sich seine Einmischung nicht gefallen lassen wollten. Er hatte sich einige Stücke dieser Art geleistet. Dabei war er schlank, schmächtig, beinahe zierlich. Von Bizeps keine Spur. Dieser Moleson verdiente ernst genommen zu werden. Ich meine: was er erzählte, hatte zweifellos Hand und Fuß… Jetzt werde ich endlich erfahren, was damals geschah, als er einschlief und plötzlich voller Angst aufwachte, dachte ich. Nein. Er mußte mir erst noch etwas über Mrs. Smith erzählen, und obwohl dadurch das, was ich hören wollte, einen weiteren Aufschub erlitt, lohnte es sich doch, zuzuhören. Armselige Mietshäuser haben ihre Geheimnisse und sicherlich auch ihre geheimnisvollen Mieter. Sein Zimmer war billig, zu billig. Aber das war schließlich nicht seine Angelegenheit. Es war besser, nicht davon zu
reden. Eines aber beunruhigte ihn an dieser Mrs. Smith. Warum hatte sie ihn gefragt, ob er ›belästigt‹ werde. Klang das nicht so, als hätte sie erwartet, daß ihn etwas oder jemand belästigt? Diese Frage ging ihm nicht aus dem Kopf. Unaufhörlich mußte er an sie denken. Warum sollte er ›belästigt‹ werden? Wer oder was sollte ihn ›belästigen‹? Wer anders als dieser Mann, überlegte er. Dieser Mann, der ihm sein Zimmer hatte abtreten müssen. Und da Mrs. Smith der Frage, die sie ihm eigentlich stellen wollte, nicht näher gekommen war, beschloß er die Frage an sie zu richten, die ihm auf der Zunge lag: »Wer ist Ihr anderer Mieter?« Das Stockwerk unter ihm war leer, das wußte er. Es gab also nur zwei Mieter im Haus: ihn und den andern. Nach verschiedenen Anspielungen, Andeutungen und dergleichen, nach einigen Gelegenheiten, die er ihr bot und die sie nicht ergriff, wobei ihr Gesichtsausdruck ihn jedesmal davon abhielt, den letzten, entscheidenden Schritt zu tun, kurz: Nach zahllosen vergeblichen Vorstößen packte er eines Tages den Stier bei den Hörnern. Er war der Spiegelfechterei müde, sein ungeduldiges Temperament regte sich. Er wollte nun wissen, woran er mit dieser Frau war. Daher stellte er die bewußte Frage, und er tat es nicht ohne Takt: »Übrigens«, sagte er, als sie in dem engen Flur standen und er ihr gerade die Miete bezahlt hatte, »ich wollte Sie schon lange einmal fragen, Mrs. Smith, ob meine Schreibmaschine am Abend niemanden stört. Den Herrn mir gegenüber meine ich.« Er war auf eine ausweichende Antwort gefaßt, aber nicht auf das, was nun kam. »Sie bestritt, daß Ihnen gegenüber jemand wohnte?« fragte ich, als Moleson zögerte. »Sie antwortete überhaupt nicht«, sagte er schroff. »Sie wurde weiß wie ein Leintuch. Sie fiel gegen den Kleiderhaken. Sie schrie. Ganz merkwürdig schrie sie… so leise, und vor Schmerz, nicht vor Angst. Und dann begann sie zu weinen…« Später sagte sie, sie habe es ›plötzlich mit dem Herzen gehabt‹, das schon immer schwach gewesen sei, und das war die einzige Erklärung für den seltsamen Kollaps. Moleson schilderte mir den Vorfall so knapp, wie ich es hier wiedergegeben habe, und da er weiter nichts hinzufügte, muß auch ich es bei diesen wenigen Andeutungen bewenden lassen.
An den folgenden Tagen ereignete sich nichts Besonderes. Den Mieter sah er nicht, der Wirtin ging er aus dem Wege. Er sehnte nun das Ende seines Aufenthalts herbei und versuchte mit seiner Arbeit in der Bibliothek so rasch wie möglich voranzukommen. Seine Gedanken kehrten jedoch immer wieder zu der merkwürdigen Frage, ob er ›gestört‹ werde, zurück, und eines Abends, als er nach dem Essen über seinen Aufzeichnungen saß, drängte sich ihm die Erinnerung an diesen Satz, der schuld an seinem großen Unbehagen war, mit besonderer Hartnäckigkeit auf. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, grübelte und fragte sich, wer der geheimnisvolle Mieter sein mochte, was er trieb, warum er sich so sorgfältig versteckte und warum er ihn beobachtete. Und da ihm nichts Neues einfiel, gingen ihm wieder die alten Vermutungen durch den Sinn. War der Mann ein Geldfälscher, ein Erpresser, ein Wahnsinniger, ein von der Polizei gesuchter Verbrecher, der hinter Schloß und Riegel gehörte, ein Mörder?… Nach einer Weile schlief er im Sessel ein und erwachte plötzlich wieder ›in einem Zustand ungewöhnlicher Erregung‹. So waren wir endlich wieder an diesem Punkte angelangt! Es war schon spät. Die Nacht war still, der Straßenlärm war verstummt, kein Schritt war mehr durch das offene Fenster zu hören. »Ich wachte auf und fror«, erzählte Moleson. »Ich fror bis auf die Knochen. Der Raum war trotz der warmen Sommerluft eisig. Ich zitterte.« Zuerst saß er schlaftrunken da, lauschte, wartete und fragte sich, woher diese Kälte kam und was geschehen war. Daß etwas geschehen war, gerade eben erst, während er geschlafen hatte, schien ihm gewiß. Aber was? Er sammelte sich, erinnerte sich, wo er war. Dann fielen ihm rasch wieder alle Einzelheiten ein. Das erste, was er bemerkte, war eine gewisse Veränderung im Zimmer. Es war irgendwie anders, merkwürdig verwandelt, nicht mehr derselbe Raum, in dem er eingeschlafen war. Er sah sich um und suchte voller Unbehagen Beweise, sichtbare Spuren der Veränderung, fand aber keine. Alles war an seinem Platz, die Möbel standen so wie zuvor. Dann aber fiel sein Blick auf die Tür. Die Tür, sagte er, zog seine Aufmerksamkeit an, obwohl ich meinen möchte, daß eine geschlossene Tür – und geschlossen war sie – immer gleich aussieht.
Moleson sagte: »Nein, sie sah eben nicht gleich aus.« Seine Stimme klang herausfordernd. Er schien vorauszusetzen, daß ich ihm nicht glauben würde. »Diese Tür«, erklärte er mir, »war, während ich schlief, geöffnet und wieder geschlossen worden.« Er machte eine kleine Pause und fügte dann mit Nachdruck hinzu: »Sie war gerade eben erst wieder geschlossen worden.« Diese fantasievolle Behauptung erschien mir recht dramatisch. Beweis gab es natürlich keinen, aber eine Tür, überlegte ich, ist gewiß der bedeutungsvollste Bestandteil eines Hauses. Man öffnet sie, schließt sie, klopft an sie, sperrt sie ab. Sie ist eine Schwelle, eine Grenze. Durchschreitet man sie beim Hinein- oder Hinausgehen, tritt man in andere Lebensbedingungen, in einen anderen Bewußtseinszustand ein, denn sie führt zu anderen Menschen, in eine andere Atmosphäre. Ich verstand daher bis zu einem gewissen Grade, daß Moleson diese Worte gebrauchte; ich will sagen: Er überzeugte mich beinahe von der Richtigkeit seiner Behauptung. »Und davon sind Sie aufgewacht?« sagte ich, um ihm weiterzuhelfen. »Ja. Während ich schlief, machte jemand diese Tür auf, trat ein, ging im Zimmer umher, tat irgend etwas und ging wieder hinaus. In diesem Augenblick wachte ich auf.« Er nahm also die Veränderung im Raum oder in der Atmosphäre des Raumes wahr, starrte eine Weile auf die Tür und lauschte angestrengt. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, daß es zwei Uhr morgens war. Er hatte also mehrere Stunden geschlafen. Die tiefe Stille im Haus berührte ihn unangenehm, und seine Erregung wuchs. Er zitterte noch immer, aber im nächsten Augenblick war seine kalte Haut plötzlich heiß, und er begann heftig zu schwitzen. Ursache dieser Veränderung war ein Geräusch… ein Geräusch, das er wiedererkannte. Es klang, als würden jenseits des Treppenabsatzes oder auf dem Treppenabsatz Möbel oder Gepäckstücke – schwere Gegenstände jedenfalls – hin und her geschoben. Er hatte diesen Lärm schon mehrere Male gehört, spät abends, früh am Morgen, auch in seinen Träumen, und er hatte angenommen, der Mieter stelle in seinem Zimmer die Möbel um und benutze dabei gelegentlich auch den Treppenabsatz. Er hatte diesen Lärm, der meist nach wenigen Minuten wieder aufhörte, nie sonderlich beachtet und sich je-
denfalls ein wenig über die Störung zu so später oder früher Stunde geärgert. Jetzt aber fielen ihm gewisse Unterschiede auf, denn erstens war es zwei Uhr morgens, eine Zeit, in der normale Menschen schlafen, und zweitens erkannte er deutlich, daß da nicht Möbel oder Gepäckstücke, in der Mehrzahl, herumgeschoben wurden, sondern daß es sich um ein einziges, sehr schweres Stück handelte. Das Geräusch war unverkennbar. Er dachte an einen Schrankkoffer. Außerdem ging nun alles unmittelbar vor seiner Tür vor sich. »Der Mann schob oder zog seinen Koffer über den Treppenabsatz vor meiner Tür«, betonte Moleson. »Und das um zwei Uhr morgens!« Die erste Wirkung auf ihn war eine seltsame geistige und körperliche Lähmung. Er konnte weder denken noch sich bewegen. »Ich saß da und horchte, wie der Mann seinen großen Koffer, oder was immer es war, über den Treppenabsatz schleifte, auf die Tür seines eigenen Zimmers zu, nahm ich an. Allmählich begann mein Hirn wieder zu arbeiten und ich fragte mich: Warum? Um zwei Uhr morgens! Was trieb er zu dieser unchristlichen Zeit mit einem Koffer auf dem Treppenabsatz eines Hauses in Bloomsbury? So dicht vor meiner eigenen Tür noch dazu? Das Poltern und Scharren war laut genug zu hören. Er versuchte nicht einmal, leise zu sein. Woher hatte er den Koffer geholt, wo schaffte er ihn hin? Dutzende Fragen stürmten auf mich ein. Was war dieses Ding, das sich so schwer bewegen ließ, wirklich? Ein Koffer, eine Reisetasche, ein Bündel? Was enthielt es? Was hatte er hineingetan, was hatte er mitgenommen?« »Mitgenommen?« fragte ich, außerstande, ihm zu folgen. »Was hatte er mitgenommen?« wiederholte er, und dabei sah er mich durchdringend an. Ich hatte keine Ahnung. Moleson deutete meine verdutzte Miene richtig und sagte: »Aber ich hatte eine Ahnung. Ich erriet es sofort, zumindest halb und halb.« Ich muß gestehen, daß ich nicht mehr wußte, woran ich war. Ich sagte jedoch nichts, sondern nickte nur. Seine nächsten Worte verblüfften mich noch mehr.
»Der große Koffer oder das Bündel enthielt etwas, was er gerade in meinem Zimmer mitgenommen hatte«, flüsterte er. »Während ich schlief, schlich der Mann ins Zimmer, fand, was er suchte, steckte es in sein Bündel und schlich wieder hinaus.« Ich schwieg noch immer. Diese Erklärung erschien mir so wahnwitzig, daß sich jede Diskussion erübrigte. Moleson war außerdem zu ernst und zu fest von seiner Sache überzeugt – er kannte ja die Lösung, während ich noch immer nichts Genaues wußte –, und es lag ihm zuviel daran, seine Beichte zu beenden, als daß er Kritik und Einwände zu schätzen gewußt hätte, die nur den Gang der Erzählung unterbrochen haben würden. »Vermißten Sie denn etwas?« fragte ich nur und versuchte, jeden Anschein von Ungläubigkeit zu vermeiden. Ich mußte meine Frage wiederholen. Seine Antwort brachte mich vollends außer Fassung, mehr noch, sie machte mich schaudern. Meine Kopfhaut prickelte, als ob sich mir die Haare sträubten. Er sagte nämlich sehr leise und sehr langsam: »Was er mitnahm, war nicht in meinem Zimmer…, als ich einschlief, meine ich. Aber es war einmal dort gewesen.« Darauf wußte ich begreiflicherweise nichts zu sagen. Ich zündete mir eine Zigarette an und wartete schweigend. »In diesem Augenblick«, flüsterte Moleson weiter, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Ekels, »in diesem Augenblick wußte ich, daß er ein Greuel war, ein Greuel in allen Bedeutungen des Wortes. Und plötzlich spürte ich den heftigen Drang, ihn aus der Nähe zu sehen, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, mit ihm zu sprechen – bedenken Sie, daß ich noch nie seine Stimme gehört hatte – und, ja, und den Kerl zu berühren und mich dadurch – Gott allein wußte, wie – von ihm zu befreien. Er war mir bis dahin ausgewichen, er wollte mir ausweichen, aber jetzt endlich hatte ich ihn, in nächster Nähe, nur wenige Meter entfernt, und er war beschäftigt und konnte mir nicht ausweichen. Ich brauchte nur die Tür zu öffnen, dann sah ich ihn und ertappte ihn dabei.« Ich wollte fragen, wobei er ihn denn ›ertappt‹ hätte. Statt dessen sagte ich auf gut Glück: »Sie waren wütend?«
Er gab es, leicht verlegen, mit einem Kopfnicken zu. »Ich fror am ganzen Körper, dann wieder schwitzte ich, und ich hatte Angst, große Angst, aber gleichzeitig war ich, wie Sie sagen, wütend.« Er gebrauchte ein seltsames Wort: »Lasterhaft… ja so kam ich mir vor, und verzweifelt. Ich wollte reinen Tisch machen, wollte mir den Kerl schnappen. Was, zum Teufel, fiel ihm ein, um zwei Uhr morgens einen solchen Lärm zu machen? Wie konnte er es wagen? Woher nahm er die Frechheit, das Zimmer eines anderen zu betreten – auch wenn es einmal sein Zimmer gewesen war? Warum beobachtete er mich, warum belästigte und verfolgte er mich, warum drängte er sich ständig in meine Gedanken? Ja, Sie haben recht. Ich war plötzlich wütend und beschloß hinauszugehen.« »Sie meinen: die Tür zu öffnen…?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. Ich würde um zwei Uhr morgens unter diesen Umständen die Tür nicht aufgemacht haben. »Ja, die Tür zu öffnen, hinauszugehen und dem Kerl zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Das wollte ich tun – und noch mehr.« Ich wußte, was er mit diesem ›noch mehr‹ meinte. »Als ich aber aus meinem Sessel aufstehen wollte, bemerkte ich, daß ich mich nicht bewegen konnte. Ich saß da, wütend, in Schweiß gebadet. Ich fühlte: Wenn der Kerl auch nur ein Wort sagt, wenn er unverschämt wird, erwürge ich ihn, ja, dann erwürge ich den Satan! Ich spürte schon seinen Hals in meinen Händen, seinen schmutzigen Bart, ich sah, wie er den schlaffen Mund aufriß und nach Atem rang, wie seine widerlichen Augen aus den Höhlen traten und wie sein Gesicht blau anlief. Ja, ich war außer mir vor Wut – und konnte mich nicht bewegen… Vielleicht – wahrscheinlich – gab ich irgendeinen Laut von mir. Ich nehme an, ich fluchte. Im gleichen Augenblick hörte der Lärm draußen auf. Eine tiefe, sonderbare Stille folgte. Ich hörte das Blut in meinem Kopf rauschen, saß wie eine Wachspuppe in meinem Sessel und starrte auf die Tür. Nur diese Tür trennte uns. Da draußen stand er, schwer atmend, nur ein paar Schritte entfernt, und ich saß steif und starr in meinem Sessel und war außerstande, einen Muskel zu bewegen. Er schien einen ungeheuren Druck auf mich auszuüben, meinen Willen zu lähmen, mich festzuhalten, wo ich war, hilflos…«
Moleson trocknete sich die Stirn. »Ich war so wütend«, fuhr er fort, atemlos vor Erregung, so als erlebte er seinen Zorn und seine Verzweiflung ein zweites Mal, »… so wütend, daß ich nur noch an Mord dachte. Ja, ich fühlte mich bereits als Mörder.« Plötzlich brach er ab und sah mich verlegen an. Ich hielt seinem Blick stand. Hätte ein anderer so gesprochen, ich würde ihn lediglich für überspannt, für hysterisch gehalten haben, aber Moleson meinte, was er sagte. Ich kannte seinen Jähzorn. In einem weniger ruhigen, zivilisierten Land wäre er ein Revolverheld geworden. Er war der Typ, der rot sah und tötete. In diesem Augenblick hatte ich eine Eingebung, eine intuitive Erkenntnis, wenn man so will. Ich erriet den Grund für sein plötzliches Schweigen und für seine Verlegenheit: Da er selbst diesen gefährlichen Drang in sich spürte, erkannte er ihn auch in anderen. Eine solche Einfühlung gibt es. Er erriet meine Gedanken. »Daher wußte ich es«, murmelte er. »Was er war?« fragte ich und blickte auf die Spitze meiner Zigarette. »Ein Mörder«, sagte er ruhig. Ich wartete schweigend. Sein Gesicht war sehr bleich, seine Erregung wurde nur beherrscht von der Befürchtung, ich könnte ihm nicht glauben. Ich fühlte, daß ich ihm keine Fragen stellen durfte. Ich mußte ihn auf seine Weise weitererzählen lassen. Aber die Neugier verzehrte mich. Öffnete er die Tür? Sah er den Mann, sprach er mit ihm, berührte er ihn, fiel er gar über ihn her? »Und als ich das erkannte«, fuhr er fort, »konnte ich mich auch wieder bewegen. Meine Muskeln spannten sich, der Druck, den er auf mich ausübte, ließ nach, denn wir verstanden einander. Ein schrecklicher Einklang herrschte zwischen uns. Ich stand auf, ging über den Boden, erreichte die Tür, blieb stehen und lauschte. Ich wußte, daß auch er lauschte, zwischen uns nur das Holz der Tür, einen halben Zoll stark; ich spürte, daß er auf meine Bewegungen horchte. Vielleicht bückte er sich zum Schlüsselloch nieder und ließ seinen Koffer einen Augenblick im Stich, um zu sehen, was ich tat. Eine Sekunde später drückte ich die Klinke nieder und stieß die Tür auf.
Da war er, ganz nah vor mir, gebückt, wie ich es mir vorgestellt hatte, mit gesenktem Kopf. Und zu seinen Füßen, knapp einen Meter von mir entfernt, sah ich den dunklen Schatten seines Gepäckstücks. Das Folgende geschah so schnell, daß es kaum eine Sekunde zu dauern schien. Er richtete sich nicht auf, machte auch gar nicht den Versuch, sich aufzurichten, sondern beschäftigte sich wieder mit seinem Gepäckstück. Er zerrte daran und schleifte es über den Boden, von mir, von meiner Tür weg und über den Treppenabsatz. Ich hatte die Hand erhoben, um zuzuschlagen, notfalls zu töten, aber meine Hand fiel nicht nieder. Ich tat nichts, denn ich machte in diesem Augenblick eine furchtbare Entdeckung: Er sah mich nicht. Er hatte mich nicht bemerkt. Er wußte nicht, daß ich so dicht neben ihm stand. Er reagierte auf meine Anwesenheit nicht, weil er sich ihrer nicht bewußt war. Er tat, was er zuvor getan: Er schleppte dieses Gepäckstück über den Treppenabsatz. Es war offenbar sehr schwer, und ich sah, wie es sich ruckartig bewegte. Die Erkenntnis, daß er mich nicht bemerkte, war für mich ein Schock. Vielleicht nur, weil ich so überrascht war. Es war das letzte, was ich erwartet hätte. Ich hatte mich auf einen hitzigen Streit, eine Schlägerei gefaßt gemacht. Daß er mich einfach nicht bemerkte, ernüchterte mich. Ich fand es unnatürlich. Ich stand da und starrte ihn an, denn ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich zitterte am ganzen Körper und spürte, wie mir die Beine schwach wurden. Ich sah ihm zu, wie er sich mit dem schweren Ding abquälte, das, wie ich nun erkannte, gar kein richtiges Gepäckstück war: weder Schrankkoffer noch Reisetasche noch irgend etwas dergleichen. Es war ein merkwürdig unförmiger Sack, und die Art, wie er sich an manchen Stellen ausbeulte, berührte mich unangenehm; mehr als das: ich fand diesen Sack grauenhaft. In diesem Augenblick muß ich eine unbewußte Bewegung gemacht haben, denn ich fühlte plötzlich, wie ich erschrocken den Atem einzog, und ich glaube, ich schwankte auch ein wenig. Ich hielt mich an der Kante des Türflügels fest, der natürlich unter meinem Gewicht nachgab, so daß ich vornüber taumelte, und ehe ich das Gleichgewicht wiedererlangte, war ich auch schon mit ihm zusammengestoßen. Ich fiel jedoch nicht, stürzte Gott sei Dank nicht über das Ungeheuer und seinen schrecklichen Sack, aber ich kam ihm so nahe, daß mein Herz eine Sekunde aussetzte, als ich entsetzt erkannte, daß da nichts
Festes war, keine Substanz, keine Materie. Ich rang nach Luft, und dann stieß ich einen Schrei aus, den man unten auf der Straße gehört haben muß. Ohne sein Bündel loszulassen, schrak er auf und drehte sich halb zu mir herum, und nun sah ich deutlich sein Gesicht. Was heißt ›deutlich‹… ich meine: ganz nah, schrecklich nah, aber ich sah es mehr von der Seite, und er sah noch immer nicht mich an. Durch die offene Tür hinter mir fiel Licht auf sein Gesicht. Ich sah die Augen, brennende Augen, die hängende Unterlippe, die bleiche Haut, die durch die schwarzen Bartstoppeln schmutzig wirkte, und zu meiner grenzenlosen Verblüffung sah ich Tränen auf seinen Wangen. Es war das Gesicht eines Wahnsinnigen, und dann erkannte ich, daß das, was ich für einen dünnen roten Schal gehalten hatte, gar kein Schal war. Es war eine dünne rote Linie, ein Bluterguß unter der Haut des Halses selbst – eine Linie, wie sie nur ein fest zusammengezogener Strick hinterläßt.« Moleson unterbrach sich. Er lehnte sich im Sessel zurück, wandte den Kopf ab und war, wie ich zu verstehen glaubte, froh, daß er so weit gekommen war, ohne unterbrochen zu werden. Seine Gebärden und vor allem sein Gesichtsausdruck vermittelten mir das Grauen besser als die atemlos hervorgestoßenen Sätze. Ich rauchte eine Weile schweigend und bot auch ihm eine Zigarette an, aber er lehnte sie ab. Er sagte lange nichts, und ich hielt ein Dutzend Fragen zurück, die mich quälten, aber zuletzt fragte ich doch: »Was geschah weiter? Was taten Sie?« »Nichts«, antwortete er kurz. Er sah mich wieder an, ruhig nun und gefaßt. »Ich tat nichts. Ich glaube, ich hatte gar nicht den Wunsch, irgend etwas zu tun. Der Drang zu schreien, zuzuschlagen, war vergangen. ET tat etwas. Ich sah nur zu. Ich empfand nichts, gar nichts, ich war wie betäubt. Wach waren nur meine Augen, und ich starrte und starrte… Er zog das schwere Bündel mit großer Anstrengung über den Treppenabsatz, immer ein Stück weiter von mir weg und auf seine Tür zu. Dann machte er die Tür auf, aber das Licht aus meinem Zimmer reichte nicht weit genug, und da drüben kein Licht brannte, sah ich nur eine schwarze Öffnung. Ich beobachtete alles, was er tat, jede seiner Bewegungen. Er trat über das Bündel hinweg und begann nun zu schieben, anstatt zu ziehen. Sein ganzer Körper krümmte sich, als er es durch die Tür ins Zimmer zu wuchten versuchte. Es gab da offenbar irgendeine Schwierigkeit. Nach einigen Minuten hatte er es jedoch geschafft. Er schloß die
Tür von außen, lehnte sich schwer dagegen und war auf einmal… nicht mehr da… einfach weg.« »In sein Zimmer gegangen?« Moleson zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er beinahe schroff. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß er nicht mehr da war. Ich sah ihn nicht mehr.« Verlegen fügte er hinzu: »Ich nehme an, mit meinen Augen war etwas nicht in Ordnung. Ich sah ihn nicht gehen, aber er war fort.« Volle fünf Minuten vergingen, bis er wieder fähig war, sich zu rühren, erzählte mir Moleson. Er war starr vor Schreck und Verblüffung, unfähig zu handeln. »Ja, ich denke, es waren fünf Minuten«, meinte er, »aber ebensogut können es auch zwanzig gewesen sein. Das einzige, woran ich mich deutlich erinnere, ist, daß der Schrei – dieser wilde Schrei, den ich ausgestoßen hatte – noch im Hause nachzuhallen schien. Ich glaubte, man müsse ihn auf der Straße gehört haben und gleich werde die Polizei erscheinen. Es geschah jedoch nichts. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie mich das Verschwinden des Mannes beunruhigte. Ich wußte, daß ich nicht geträumt hatte, aber ich fürchte, das war auch das einzige, was ich mit einiger Sicherheit zu sagen vermochte. Nach einer Weile trat ich endlich zwei, drei Schritte zurück. Ich stieß meine Tür auf, so weit es ging, um so viel Licht wie möglich zu haben, und das Licht fiel auf die Tür, auf seine Tür. Ich wußte, daß ich sie öffnen würde. Ich mußte sie öffnen.« Er hatte Mut, ich sagte es schon. Ich wäre um nichts in dieser Welt oder in der nächsten zu jener Tür gegangen. Moleson tat noch mehr. Er ging hinüber und klopfte. »Meine Schläge hallten wider«, erzählte er, »aber nicht drinnen, sondern draußen, im Treppenhaus. Das Holz gab einen flachen Ton.« Mit einem raschen Seitenblick auf mich fügte er hinzu: »Dieser Ton sagte natürlich alles.« Er schien anzunehmen, daß ich verstand, was er meinte, aber ich verstand nichts, gar nichts, und hob fragend die Brauen. »Es war keine gewöhnliche Tür«, sagte er. »Sie machten sie auf?« Ich wußte noch immer nicht, wovon er sprach.
»Ich ahnte schon, daß es keine richtige Tür war«, erwiderte er. »Keine gewöhnliche Tür«, hatte er zuerst gesagt. Nun sagte er »keine richtige Tür«. Ich begriff immer weniger. »Eine blinde Tür also?« »Nein, keine gewöhnliche Tür zu einem gewöhnlichen Zimmer«, erklärte er mit einer gewissen Ungeduld. »Als ich klopfte und keine Antwort erhielt, wußte ich, daß ich recht hatte. Der flache Ton bewies es mir.« »Ah!« »Ja, dieser flache Ton ohne Resonanz. Ich wartete einen Augenblick. Dann öffnete ich sie. Es war die Tür eines Schrankes von geringer Tiefe.« Er machte wieder eine Pause, und dann sagte er etwas, was mir das Blut in den Adern stocken ließ: »Darum mußte der Kerl so kräftig schieben… Er mußte das Bündel buchstäblich hineinstopfen, damit es drinnen blieb.« »Aufrecht?« stöhnte ich und begriff endlich die entsetzliche Wahrheit. »Aufrecht!« antwortete er. Es wurde dämmrig in unserem Zimmer, und ich sah die Glut meiner Zigarette im Spiegel hinter seinem Sessel. Ich hatte eine furchtbare Geschichte gehört und sehnte mich nach Licht und einem Glas Whisky. Moleson hatte mich von der Wahrheit seines Berichtes überzeugt, aber ich hatte das Gefühl, er hoffte, ich würde diesen Bericht zerpflücken, widerlegen, ihm beweisen, daß er völlig absurd sei, ihn beruhigen, indem ich von Halluzinationen, überreizten Nerven und dergleichen redete. Ich enthielt mich jedoch jeglichen Kommentars. Ich konnte ihm den Trost, den er von mir erhoffte, nicht bieten, ohne zu lügen. Nach längerer Pause nahm er seinen Bericht wieder auf, ruhig und mit leiser Stimme. »Ich sagte Ihnen, daß ich mir einbildete, mein Schrei halle noch durch das Haus. Wenig später, ich starrte noch immer in den Schrank, der dunkel und leer war, hörte ich Schritte auf der Treppe unter mir. Ich war jeder Bewegung unfähig, aber eines wußte ich: es war nicht…« Er brachte das Wort nicht heraus. »Es war nicht…« Wieder blieb er stecken.
»Wer war es?« fragte ich rasch, um ihm – um mir – zu helfen. »Ich sah zuerst das Licht, offenbar das Licht einer Kerze. Es huschte über die Wand, dann über die Decke. Dann kam der Schatten, grotesk, ins Riesenhafte vergrößert, dann ein weißes Gesicht, in dem sich Schwermut mit Grauen mischte. Es starrte mich über das Treppengeländer hinweg an. ›Belästigt…‹ hörte ich – aus großer Entfernung, wie mir schien. ›Er hat sich gezeigt, nicht wahr?… Gott verzeih mir…‹ Dann hörte ich etwas von einem Versprechen, das jemand nicht gehalten hatte. ›Ich hätte das Zimmer nicht vermieten dürfen…‹ Dann spürte ich, wie mir jemand vom Boden aufhalf. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß mir die Beine eingeknickt waren. ›Sie haben ihn dafür gehängt‹, hörte ich. ›O mein Gott, sie haben ihn gehängt. Es war sein Vater, müssen Sie wissen… zwanzig Jahre ist es nun her…‹« Moleson erinnerte sich, daß er ein Schluchzen hörte und diese seltsamen gebrochenen Worte. Er war der Sache merkwürdigerweise nicht nachgegangen, aber mich trieb meine lasterhafte Neugier, alles nachzuprüfen. Im Britischen Museum, wo er so eifrig gearbeitet hatte, fand ich in Zeitungen von vor dem Kriege alles, was ich suchte. Von Warley war da die Rede, der seinen Stiefvater, einen gewissen Smith ermordet hatte, und in gräßlichen Einzelheiten wurde berichtet, wie man die Leiche gefunden hatte: aufrecht im Schrank stehend. Die Öffentlichkeit unterzeichnete ein Gnadengesuch, und der Verteidiger plädierte auf Totschlag im Zustande geistiger Umnachtung… ohne den gewünschten Erfolg. Eine Zeitung wagte anzudeuten, daß der Innenminister zum zweitenmal verheiratet sei und selbst Stiefsöhne habe.
DICK DONOVAN
Eine Schreckensnacht Bleak Hill Castle »Mein lieber alter Freund, bevor Du England in Richtung Ferner Osten verläßt, möchte ich Dich noch an die Einlösung eines alten Versprechens erinnern. Du hast mir vor einiger Zeit nämlich zugesagt, daß ich fest damit rechnen könne, ein oder zwei Wochen in Deiner Gesellschaft zu verbringen. Wie Du Dir vielleicht vorstellen kannst, habe ich die Flausen meiner Studentenzeit längst über Bord geworfen und die entzückendste Frau der Welt geheiratet. Wir sind vor nunmehr sechs Monaten vor den Traualtar getreten und seither den lieben langen Tag nur noch glücklich. Bleak Hill Castle ist ganz nach unserem Herzen. Es wird mit unwiderstehlicher Macht Deine romantische Natur entfachen und all Deine künstlerischen Talente wecken. Das Gebäude ein Schloß zu nennen, mag irgendwie anmaßend klingen, aber meines Wissens ist es seit seiner Errichtung vor mehr als zweihundert Jahren immer Schloß genannt worden. Hester ist von dem Schloß entzückt, und wenn einer von uns beiden abergläubisch wäre, so könnten wir jede Stunde des Tages Geister sehen oder hören. Natürlich haben wir, wie es sich für ein veritables englisches Schloß gehört, auch ein Spukzimmer, obwohl mir eher scheint, daß nichts Schrecklicheres als Ratten darin spuken. Wie auch immer – es ist ein pittoreskes und höchst seltsames Zimmer, einer von jenen düsteren Räumen, in denen es unbedingt spuken sollte, falls nicht bereits ein Geist darin haust. Aber ich zweifle nicht daran, alter Freund, daß Du für uns einen solchen ausfindig machen wirst, denn Du hast immer, wenn ich mich recht erinnere, eine ausgeprägte Vorliebe für das Unheimliche und Gespenstische gehegt, und Du wirst auch sicherlich nicht vergessen haben, wie Du Dich über mich geärgert hast, wenn ich Dich dann und wann wegen Deines freimütig eingestandenen Glaubens an das Okkulte und Übernatürliche verspottete. Wie froh warst Du immer, wenn sich eine Gelegenheit ergab, über die ›unerklärlichen Phänomene des Psychischen‹ zu sprechen! Ich halte es für durchaus möglich, daß auch Du Deine Jugendirrtümer längst
abgelegt hast. Wie dem auch sei: Komme recht bald und sei versichert, daß wir Dich aufs herzlichste willkommen heißen werden, Dein alter Freund Dick Dirckman.« Diesen Brief erhielt ich von einem Freund, mit dem ich gemeinsam das College besucht hatte. Dick hatte dann später ein beträchtliches Vermögen geerbt, das ihn in die Lage versetzte, endlich seinen Neigungen nach Herzenslust leben zu können, vor allem seiner leidenschaftlichen Liebe für ein Leben auf dem Lande. Obwohl Dick und ich von Natur aus sehr verschieden waren, verband uns doch immer eine tiefe Zuneigung. Dick verkörperte im besten Sinne das, was man einen aufrechten, geradlinigen und praktischen Menschen nennt. Er pflegte häufig zu sagen, daß er niemals etwas glaube, das er nicht sehen könne, und wenn er etwas sehe, so sei er deswegen noch lange nicht bereit, es ohne weiteres als Wahrheit anzuerkennen, bevor er es nicht gründlich untersucht habe. Kurz, Dick war weder romantisch noch poetisch. Handfeste Tatsachen zog er allemal dem vor, was nur die Fantasie zu erahnen vermag; er war, ganz allgemein gesprochen, ›eine unempfängliche Natur‹. Fast vier Jahre lang hatte ich meinen Freund aus den Augen verloren, während ich als Tutor und Reisebegleiter eines zartbesaiteten jungen Adeligen durch Europa streifte. Sein früher Tod hatte mich wieder in den Stand der Freiheit versetzt, aber ich war erst nach England zurückgekehrt, als man mir eine lukrative Stellung in Indien angeboten hatte, die ich kurzerhand anzunehmen beschloß. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ich mehrere Jahre abwesend sein. Bei meiner Rückkehr nach England hatte ich Dick einen Brief geschrieben, in dem ich von meiner neuen Stellung berichtete und meine Befürchtung zum Ausdruck brachte, daß wir uns wohl kaum noch sehen würden, wenn er nicht für ein oder zwei Tage in die Stadt kommen könnte. Dringende Erledigungen ließen mir vor der Abreise nur noch wenig Zeit. Daß Dick inzwischen verheiratet war, hatte ich erst seinem Brief entnommen, und ich gestehe, daß ich ziemlich neugierig war, die junge Dame endlich kennenzulernen, die er mit so großem Erfolg eingefangen
hatte. Dick war nie der Typ gewesen, auf den Frauen fliegen, und schon in unserer Studienzeit hatte sich bei mir die Ansicht durchgesetzt, daß er zum Junggesellen geradezu prädestiniert sei. Und nun war Dick wider Erwarten verheiratet und lebte in einer jener entfernten ländlichen Gegenden, wo sich die meisten Städter zu Tode langweilen. Ich zögerte also nicht, Dicks herzliche Einladung anzunehmen, und beschloß, ein paar Tage von der mir noch verbleibenden Zeit bei ihm zu verbringen. Umgehend teilte ich Dick meinen Entschluß mit und schrieb ihm auch, an welchem Tag und zu welcher Stunde ich abreisen würde. Bleak Hill Castle liegt in einer malerischen Landschaft von Wales. An dem verabredeten Tag ließ ich mich im Raucherabteil des Zuges, der zwischen London und dem Nordwesten verkehrt, bequem nieder. Es war Mai, und als ich gegen Abend noch bei Tageslicht in dem Bahnhof nahe dem Schloß ankam, wo Dick mich mit einem zweirädrigen Einspänner erwartete, war ich der einzige Passagier. Er begrüßte mich herzlich und robust, gab der handsamen kleinen Stute die Zügel, nachdem sein Diener mein Gepäck im Wagen verstaut hatte, und fuhr schnell die Landstraße entlang. Es war schon dunkel, als wir nach einer Fahrt von acht Meilen durch die kräftige Landluft unser Ziel erreichten, weshalb es mir nicht vergönnt war, daß Äußere von Bleak Hill Castle genauer zu betrachten. Das Innere des Schlosses indes ließ auf keinerlei Unfreundlichkeit schließen. Es war bequem, warm und hell erleuchtet. Ich folgte dem Mädchen durch einen laut widerhallenden Korridor und über eine breite Treppenflucht zu meinem Schlafzimmer, einem großen, behaglich eingerichteten Raum. Im Kamin prasselten Holzscheite, denn es war ungeachtet der Jahreszeit in dieser bergigen Gegend noch empfindlich kühl. Nachdem ich hastig meine Kleider gewechselt hatte, beeilte ich mich, in das Speisezimmer zu gelangen, wo Mrs. Dirckman mich mit derselben Herzlichkeit willkommen hieß wie kurz zuvor ihr Mann. Sie war eine außerordentlich hübsche, sehr elegante kleine Frau, das genaue Gegenteil ihres großen, stämmigen, bäuerlich derb aussehenden Mannes. Ein paar Nachbarn hatten sich eingefunden, um mich kennenzulernen und dem köstlichen Dinner zuzusprechen. Als nach dem Dinner Kaffee und Zigarren gereicht wurden, schien es ganz natürlich, daß sich unser Gespräch dem Wohnsitz des Gastgebers
zuwandte. Man wollte mir, dem Fremden im hiesigen Distrikt, mit einigen Informationen aushelfen. Selbstverständlich war das, was ich im Verlauf des Gesprächs zu hören bekam, recht sprunghaft und unzusammenhängend, aber ich erfuhr immerhin, daß Bleak Hill Castle ursprünglich einer walisischen Familie gehört hatte, die in dem Ruf stand, daß sich ihre männlichen Mitglieder allein durch Extravaganz und Spielleidenschaft auszuzeichnen wüßten. Das Schloß hatte aufregende Zeiten hinter sich, und man erzählte sich viele erschreckende Geschichten von Bleak Hill Castle, Geschichten von Falschheit und Schmach, Tod und dunklen Verbrechen. Eine dieser Geschichten rankte sich um das geheimnisvolle Verschwinden von Frau und Tochter eines jungen Sprößlings dieses Hauses, dessen Lebenslauf recht düster gewesen war. Seine Frau war um vieles älter als er, und man nahm allgemein an, daß er sie nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte. Seine Tochter, ein Mädchen von zwölf Jahren, litt unter epileptischen Anfällen. Plötzlich verschwanden Frau und Tochter. Zuerst schien niemand sonderlich überrascht, dann aber versuchten ein paar Neugierige herauszufinden, wohin sich die beiden Verschwundenen begeben hätten. Die Leute auf dem Land klatschen gern, und so kam es bald zu Gerüchten. Mr. Greeta Jones, so hieß der Mann, mußte sich bezüglich des Aufenthaltes seiner Frau und seiner Tochter einem strengen Verhör unterziehen. Mr. Jones aber, von Natur aus grämlich und eigensinnig, begnügte sich mit der brüsken Aussage: »Sie sind nach London gefahren.« Man fand diese Aussage wenig glaubhaft, da niemand etwas von der Abreise gehört oder gesehen hatte. Nichtsdestoweniger hielt es niemand, so unglaublich dies auch scheinen mag, für notwendig, auf einer weiteren Untersuchung zu bestehen, und einige Wochen später verließ Mr. Jones die Gegend und fuhr nach London, wie zweifelsfrei festgestellt wurde. Für lange Zeit blieb Bleak Hill Castle fest verschlossen. Schon bald flüsterten sich die Leute raunend zu, daß man im Schloß seltsame Geräusche gehört und gespenstische Gestalten gesehen hätte, es könne da wohl nicht mit rechten Dingen zugehen, und es dauerte nicht lange, da glaubte jedermann, daß es in dem Schloß spuke. Man braucht nur Gespenster mit dem Namen eines alten Schlosses in Verbindung zu bringen, und schon ist es um seinen Ruf geschehen. So verhielt es sich auch mit Bleak Hill Castle, das fortan jeder zu meiden
bestrebt war. Das Schloß verwandelte sich mehr und mehr in eine Ruine und diente nur noch Schmugglern als Zufluchtsort. Schließlich erfuhr der nüchterne, praktisch gesinnte Dick Dirckman über einen Londoner Agenten von dem Schloß, sah es sich sogleich an, fand Gefallen daran und kaufte es für ein Butterbrot. In kurzer Zeit baute er die halb verfallenen Gebäude zu einem ansehnlichen Landsitz um, und dorthin brachte er seine Braut. Das war die Geschichte von Bleak Hill Castle, wie ich sie an jenem denkwürdigen Abend nach dem Dinner in groben Umrissen der angeregten Unterhaltung entnehmen konnte. Am nächsten Tag sah ich, daß der Landsitz wirklich so romantisch war, wie ihn mir mein Gastgeber beschrieben hatte. Er war außerordentlich schön gelegen, und von seinen Fenstern aus hatte man einen herrlichen Ausblick auf die Landschaft und das Meer. Wir sahen uns das Schloß an, und Dick fand besonderen Gefallen daran, mir jeden Winkel und jede Ecke zu zeigen, während er ständig von der Schönheit des Ortes im allgemeinen und von den Vorzügen des Landlebens im besonderen sprach. Warum er sich den Spaß bis zuletzt aufhob, mir das sogenannte Spukzimmer zu zeigen, habe ich nie erfahren, aber es war so. Als er die schwere Tür öffnete und mir den Raum zeigte, lächelte er ironisch und sagte: »Nun gut, alter Freund, hier residiert unser Gespenst. Und da ich der Ansicht bin, daß ein Landsitz dieser Art sein Spukzimmer haben sollte, habe ich diesen Raum bisher unberührt gelassen. Aber ich brauche dir ja nicht erst zu sagen, daß ich die Gespenstergeschichten für albernes Geschwätz halte.« Das Zimmer fesselte meine Aufmerksamkeit so sehr, daß ich meinem Freund nicht sofort antwortete. Es war zweifellos das größte Schlafzimmer im Schloß und unterschied sich in seinem Aussehen und seiner Atmosphäre ganz erheblich von allen anderen Räumen. Die Wände waren mit dunkler Eiche getäfelt, der Fußboden bestand aus poliertem Eichenholz. Ich sah einen tiefen, V-förmigen, durch die winkelige Bauweise des Gemäuers geformten Erker, der an jeder Seite Fenster mit rhombischen Scheiben hatte, unter denen schwere hölzerne Sitztruhen mit alten Eisenschlössern standen. In einer Ecke gewahrte ich ein großes Holzbett,
mit schweren Stoffen bekleidet. Der Rest des Mobiliars läßt sich nicht beschreiben – mit einem Wort, der Raum war so malerisch, daß in meiner Fantasie sogleich alle nur denkbaren dramatischen, unheimlichen und schrecklichen Situationen Gestalt annahmen. Da war ein riesiger Kamin, auf dem ein Paar wuchtiger, verrosteter Bronzehunde stand. Ein Blick aus dem Fenster enthüllte die schönste Aussicht. Meine Fantasie war entflammt, meine künstlerische Sensibilität auf geradezu unwiderstehliche Weise stimuliert. Erst jetzt antwortete ich meinem Freund: »Ich mag dieses Zimmer, Dick. Macht es dir etwas aus, wenn ich es beziehen würde?« Er lachte. »Auf mein Wort, du bist immer noch ein überaus exzentrischer Zeitgenosse, aber wenn du unbedingt deine komfortable Unterkunft um dieser modrigen, zugigen, schäbigen alten Rumpelkammer willen aufgeben willst – mir soll es recht sein. Wie auch immer« – hier zuckte er mit den Schultern – »über Geschmack läßt sich nicht streiten. Ich werde meine Diener anweisen, das Bett in Ordnung zu bringen, Feuer anzumachen und dein Gepäck herbeizuschaffen.« Ich bekenne freimütig, daß ich mich gern von romantischen Neigungen leiten lasse, und so war ich froh, meinen Willen durchgesetzt zu haben. Ich liebte das Alte, alte Geschichten, alte Legenden, alte Möbel und alles, was sich über das geistlose Niveau des allzu Gewöhnlichen erhob. Ich war entzückt, daß dieses alte Zimmer den Charakter des Einzigartigen bewahrt hatte. Als die hübsche kleine Mrs. Dirckman von unserer Vereinbarung erfuhr, sagte sie mit einem Lachen, das ihre Nervosität nicht verbergen konnte: »Ich bedauere, daß Sie in dem elenden Zimmer schlafen wollen. Es macht mich schaudern, denn es scheint alles andere als behaglich zu sein. Vielleicht wissen Sie, daß ich dazu neige, den umlaufenden Gerüchten eine gewisse Bedeutung beizumessen, obwohl Dick mich eine kleine dumme Gans schilt und über mich lacht. Ich würde nicht für eine Krone aus purem Gold in dem Zimmer schlafen. Aber ich hoffe, daß Sie sich darin wohl fühlen werden und sich nicht durch grauenhafte Erscheinungen zu Tode erschrecken lassen.«
Ich beeilte mich, meiner Gastgeberin zu versichern, daß ich mich ganz bestimmt sehr behaglich darin fühlen würde und – was die Erscheinungen beträfe – mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen würde. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, die Gegend um das Schloß herum zu inspizieren. Nach dem Dinner spielte ich mit Dick bis ein Uhr nachts Billard, dann zog ich mich zur Nachtruhe zurück. Als ich mein Spukzimmer betrat, sah ich, daß man inzwischen alle Anstrengungen gemacht hatte, dem Raum ein heiteres, gemütliches Aussehen zu geben. Auf dem Fußboden lagen einige Teppiche, ein oder zwei moderne Sessel waren dazugekommen, und im Kamin prasselten Holzscheite. Für den Fall, daß es mich noch nach einem Nachttrunk gelüstete, standen auf einem kleinen Tisch nahe dem Kamin ein silberner, mit heißem Wasser gefüllter Krug und eine alte Karaffe mit Whisky, daneben Zitrone und Zucker. Eine große Dankbarkeit für die Aufmerksamkeit und Umsicht meiner Gastgeber erfüllte mich. Nachdem ich mich meiner Schuhe und meines Anzugs entledigt hatte, zog ich mir einen Stuhl an den Kamin heran und stopfte mir eine letzte Pfeife, um noch ein paar Züge zu rauchen, bevor ich mich zu Bett begab. Diese Gewohnheit beruhigt mich und sorgt für einen erholsamen Schlaf. Ich zündete also meine Pfeife an und verfiel ins Grübeln, als plötzlich etwas sehr Merkwürdiges geschah. Sanft wurde mir die Pfeife von meinen Lippen genommen und auf den Tisch gelegt – im selben Augenblick vernahm ich ein Geräusch, das sich wie das Seufzen eines Menschen anhörte. Für einen kurzen Augenblick war ich verwirrt. Träumte ich oder war ich wach? Aber da lag die Pfeife auf dem Tisch, und ich hätte jeden feierlichen Eid geschworen, daß sie von unsichtbaren Händen dorthin gelegt worden war. Ich geriet, wie man sich vorstellen kann, in immer tiefere Verwirrung. Zum erstenmal in meinem Leben war ich mit einem übernatürlichen Phänomen in Berührung gekommen. Nach kurzer Selbstprüfung gelangte ich jedoch zu dem Schluß, daß mich meine eigenen Sinne genarrt hatten. Es war durchaus möglich, daß ich in einem traumähnlichen Zustand die Pfeife selbst auf den Tisch gelegt hatte. Nach diesen Überlegungen entledigte ich mich meiner Kleider, blies die beiden Kerzen aus und sprang ins Bett. Obwohl ich gewöhnlich gut schlief, schien mich diesmal der Schlaf zu meiden. Ich lag noch lange wach und dachte über viele
Dinge nach. In das wechselnde Spiel meiner Gedanken drang allmählich die Symphonie der Natur – die monotone Brandung des Meeres am entfernten Strand und der dunkle Baß des Windes, der gelegentlich zu schrecklich schrillen Obertönen anschwoll. Von seiner Lage her war das Schloß schutzlos allen Winden preisgegeben. Das stete Dröhnen der Brandung und des Windes schläferten mich langsam ein. Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht, aber plötzlich erwachte ich. Es schien mir, als hätte sich ein Strom eiskalten Wassers über mein Gesicht ergossen. Ein undefinierbarer Schrecken ließ mich im Bett auffahren, dann trafen meine Augen auf einen gespenstischen, furchtbaren Anblick. Ich erstarrte vor Schreck. Eine grauenhafte Faszination schlug mich so in ihren Bann, daß es mir unmöglich war, meine Augen abzuwenden. Ein entsetzlicher Zauber lähmte mich. Meine Glieder waren wie erstarrt, meine Augen brannten, mein Mund war ausgedörrt und trocken, meine Zunge geschwollen. Der lähmende Anblick spannte meine Nerven aufs äußerste an und stellte meine Gesundheit auf eine harte Probe. In der Luft zwischen Fußboden und Decke, umhüllt von einem zitternden, nebelhaften Licht – so unheimlich, daß die Kraft der Worte nicht ausreichen würde, es zu beschreiben – schwebten der Kopf und die Brüste einer Frau. Ihr Gesicht war in einem unerträglichen Ausdruck versteinerten Schreckens paralysiert, das lange schwarze Haar wirr und aufgelöst, die Augen schienen aus dem Kopf herauszuspringen. Aber das war noch nicht alles. Zwei Geisterhände wurden sichtbar. Die Finger der einen waren unlösbar in dem schwarzen Haar verschlungen, die andere Hand packte ein Messer mit langer Klinge und stach damit hauend, schneidend und reißend tief in die entblößte weiße Kehle der Frau ein. Das Blut spritzte aus den klaffenden Wunden, färbte die Phantomhand rot und floß in einem stetigen Strom auf den Eichenboden, wo ich es tropfen, tropfen, tropfen hörte, bis mein Kopf zu bersten drohte und ich nahe daran war, wahnsinnig zu werden. Dann sah ich das unmißverständliche Zeichen des Todes auf dem Gesicht der Frau erscheinen. Kurz darauf schleuderten die teuflischen Hände die zerstückelten Überreste weg, und ich vernahm von irgendwoher ein Kichern, das tiefste Befriedigung verriet: Ich schwöre, daß ich dieses Kichern hörte. Das Licht verflüchtigte sich, die Vision von Verbrechen und Tod war verschwunden, aber immer noch hielt mich der Zauber gefangen. Ich war in
Schweiß gebadet und versuchte zu schreien, aber kein Ton entrang sich meinen trockenen, brennenden Lippen; meine Zunge versagte ihren Dienst. Hätte ich mich nur einen Fingerbreit bewegen können, so wäre der Bann gebrochen gewesen, aber ich war unfähig, meiner Regungslosigkeit zu entrinnen. Es war ein Alptraum hellwachen Entsetzens, und ich schaudere auch heute noch, wenn ich mir die Ereignisse ins Gedächtnis zurückrufe. Aber die schreckliche Erscheinung – denn nur um eine solche konnte es sich handeln – hatte noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Aus der Dunkelheit hatte sich nochmals ein schwacher, phosphoreszierender Schimmer geschält, in dessen Mitte der Leichnam eines jungen Mädchens mit aufgeschlitzter, blutender Kehle schwebte. Rotes Blut rann über sein Nachthemd, als die grausamen, blutverschmierten Geisterhände wieder erschienen, nach dem Mädchen griffen, es hochhoben und fortzerrten. Dann verschwand die Erscheinung, und eine dritte tauchte auf. Diesmal glaubte ich in ein düsteres, modriges Kellerloch zu blicken. Jener lähmende Schrecken, der mein Blut zum Gefrieren brachte, steigerte sich noch, als ich die Hände damit beschäftigt sah, ein Loch in die Wand am Ende des Gewölbes zu schaufeln. Ich sah, wie die Geisterhände die blutbesudelten Körper der Frau und des jungen Mädchens hochhoben und in das Loch in der Wand warfen, um sie dann einzumauern. All diese Dinge sah ich genauso, wie ich sie beschrieben habe, und ich schwöre feierlich, daß ich die Wahrheit und nur die Wahrheit sage, wie ich sie vor dem Richterstuhl des Höchsten zu verantworten habe. Es war eine Vision von Verbrechen, eine Vision von erbärmlichem, verdammenswertem, gnadenlosem Mord. Wie lange das alles dauerte, weiß ich nicht. Die Wissenschaft hat uns gelehrt, daß Träume, die Jahre zu umspannen scheinen, oft nur wenige Sekunden dauern, und die wenigen Augenblicke, die einem Ertrinkenden noch bleiben, reichen aus, um sein ganzes Leben vor seinen Augen abrollen zu lassen. Deshalb halte ich es auch für möglich, daß meine Vision nur Sekunden gedauert hat, aber für mich schienen es Stunden und Jahre zu sein, eine ganze Ewigkeit. Mit diesem letzten Höhepunkt des Dramas von Blut und Tod war auch der Bann gebrochen; ich warf meine Arme in die Höhe und sprang mit einem wilden Schrei aus dem Bett. Ich erinnerte mich jeder Einzelheit der gespenstischen Erscheinung, und doch war es mir, als hätte mich
ein schrecklicher Alptraum heimgesucht. Noch nie hatte ich mich so krank und elend gefühlt. Nichtsdestoweniger sah ich alles ganz deutlich vor mir. Ich Kamin leuchtete unter einem Haufen rotglühender Asche immer noch die Glut, in der Ferne brandete das Meer, und der Wind heulte mit einem schauerlich geisterhaften Ton um das Haus. Getrieben von einem unwiderstehlichen Impuls, der mich zu gehorchen zwang, lief ich zur Tür, drückte die Klinke nieder und starrte durch die geöffnete Tür auf den langen dunklen Korridor hinaus. Ein Seufzen drang an mein Ohr, ohne Zweifel ein menschliches Seufzen, das alle Tiefen des Leidens ausdrückte und mir mit eisiger Hand ans Herz griff. Ich schauderte zurück und war schon nahe daran, die Tür wieder zu schließen, als aus der Dunkelheit die lichtumflossene Gestalt einer Frau auftauchte. Ihr Gewand war blutverschmiert, ihr Haar aufgelöst. Sie wandte mir ihr totenbleiches Antlitz zu, aus dem mich bittende Augen anflehten, während sie mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand abwärts deutete und mir mit der rechten winkte. Ich konnte nicht anders, als ihr zu folgen, wohin sie mich auch führen mochte. Ich konnte ihr ebensowenig widerstehen, wie eine unbefestigte Nadel der Anziehungskraft eines Magneten widerstehen kann. Ich folgte der Erscheinung, nur mit einem Nachthemd bekleidet und barfüßig, den Korridor entlang, die breite Eichentreppe hinunter und den hinteren Teil des Gebäudes durchquerend, bis ich vor einer schweren verriegelten Tür stand. In diesem Augenblick verschwand das Geisterbild, und ich lenkte meine Schritte wie ein Traumwandler zurück in mein Schlafzimmer. In der Tat weiß ich nicht mehr, wie ich dorthin gelangte, auch erinnere ich mich nicht, wie ich mich zu Bett begab. Stunden später erwachte ich bei hellem Tageslicht. Der Schrecken der vergangenen Nacht kam mit überwältigender Kraft zurück und machte mich schwach und krank. Dennoch schaffte ich es irgendwie, die Morgentoilette hinter mich zu bringen, bevor ich fluchtartig das Spukzimmer verließ. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne schien strahlend, und in den Bäumen und Hecken sangen die Vögel. Während ich auf dem Rasen vor dem Haus in seltsamer Aufregung auf und ab schritt, fragte ich mich immer wieder, ob die Ereignisse der vergangenen Nacht irgendwie von Bedeutung seien.
Im diesem Augenblick kam mein Gastgeber heraus. Er erstarrte sichtlich, als er mich sah. »Hallo, alter Freund. Was ist los mit dir? Du siehst etwas mitgenommen aus. Du hast doch nicht etwa eine böse Nacht hinter dir?« »Ich habe in der Tat eine schlimme Nacht verbracht.« »Hast du etwas gesehen?« fragte er mit nachdenklichem Ernst. »Ja.« »Zum Teufel! Das meinst du doch nicht wirklich!« »Ich meine es wirklich. Eine Nacht des Schreckens liegt hinter mir, eine Nacht, die ich um alles in der Welt nicht noch einmal erleben möchte. Aber laß uns zuerst das Frühstück einnehmen, dann werde ich dir zu erklären versuchen, was mich so erschüttert hat. Du kannst dann selbst beurteilen, was an meinem Traum dran ist – oder wie immer du es zu benennen liebst.« Wortlos gingen wir in das Frühstückszimmer, wo meine reizende Gastgeberin mich begrüßte, aber auch ihr fiel mein verändertes Aussehen sofort auf. Angst und Besorgnis zeigten sich in ihrem Gesicht. Ich versicherte ihr, daß ich eine ruhelose Nacht hinter mir hätte und mich nicht besonders wohl fühle, aber meine Worte schienen sie nicht zu besänftigen. Ich war einfach nicht in der Verfassung, das reichhaltige Frühstück zu genießen, und meine Gastgeber zeigten wieder Anzeichen einer unbestimmbaren Angst und drängten mich, ihnen den Grund meiner Qual zu nennen, was ich dann auch tat. Dick war weit davon entfernt, über mich zu lachen, wie ich es erwartet hatte. Er wurde sogar ungewöhnlich nachdenklich und sagte plötzlich: »Entweder handelt es sich um eine wilde Ausgeburt deiner Fantasie, oder es ist wirklich etwas dran. Die Tür, zu der dich der Geist dieser Frau geführt hat, liegt am Ende einer Flucht steinerner Stufen, die zu einem Gewölbe unterhalb des Gebäudes hinabführen. Ich habe niemals die Neugierde verspürt, dieses Gewölbe zu betreten, obwohl ich einmal bis zum Ende der Stufen hinabgestiegen bin. Aber der Ort erinnerte mich in so schauerlicher Weise an ein Grab, daß ich die Tür verriegelt und seitdem nie mehr geöffnet habe.«
Ich antwortete ihm, daß jetzt wohl die Zeit gekommen sei, nochmals in das Gewölbe hinunterzusteigen. Daraufhin fragte mich Dick, ob ich ihn begleiten würde, und ich erwiderte, daß ich dazu natürlich bereit sei. So ließ er denn seinen Gärtner rufen, und nach einigem Suchen fanden wir endlich den Schlüssel, aber auch mit diesem Schlüssel war die Tür nur unter größten Schwierigkeiten zu öffnen. Schloß und Schlüssel waren vom Rost der Jahre zerfressen. Als wir die glatten, schlüpfrigen Stufen hinabstiegen, jeder von uns mit einer Kerze in der Hand, begrüßte uns ein widerlicher Modergeruch. Eine kalte, dumpfe Atmosphäre durchdrang den Ort. Die Stufen führten in ein mächtiges Gewölbe, das offenbar einen großen Teil des Untergeschosses einnahm. Die Decke war bogenförmig gerundet und durch Ziegelpfeiler abgestützt. Der Boden bestand aus schlammiger Naturerde. Obwohl in den Wänden Luftschlitze angebracht waren, drohte uns der ansteckende Modergeruch zu überwältigen. Während wir die weiträumigen Kellergewölbe erforschten, fanden wir heraus, daß es einen Luftschacht gab, der bis unter das Dach führte, aber mit verrotteten alten Schachteln und ähnlichem Unrat verstopft war. Nachdem der Gärtner das Gerümpel beiseite geräumt hatte, konnten wir über uns den blauen Himmel sehen. Wir setzten unsere Untersuchungen fort und entdeckten in einer Wandnische einen Haufen Ziegelsteine und vertrockneten Mörtel. Unter anderen Umständen hätte eine solche Entdeckung wohl kaum unseren Verdacht erregt, aber in diesem Fall geschah es: Wir prüften die Wände mit argwöhnischem Interesse, bis wir überzeugt waren, daß vor noch nicht allzu langer Zeit ein ziemlich großer Hohlraum in der Wand ausgefüllt worden war. Eine grauenhafte Faszination zog uns mit magischen Kräften zu dem neuen Mauerwerk hin. Die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, während ich mit kritischem Interesse eingehend die Mauer einer Prüfung unterzog, spiegelten sich in den Gesichtern meiner Begleiter wider. Wir sahen einander an, und jedem verriet irgendein unerklärlicher Instinkt, was sich im Geist des anderen abspielte. »Mir scheint, wir stehen vor einem Mysterium«, bemerkte Dick feierlich. In all den Jahren unserer Bekanntschaft habe ich ihn nie so ernsthaft gesehen. Gewöhnlich sprach aus seinen Zügen ein gutgelaunter Zy-
nismus, aber jetzt glich er eher einem Richter, der im Begriff steht, das Todesurteil über einen auf frischer Tat ertappten Sünder zu fällen. »Wenn mir nicht meine eigene Fantasie einen Possen spielt, so stehen wir wirklich vor einem Mysterium«, antwortete ich. »Mh! Das ist seltsam«, murmelte Dick vor sich hin. »Sie wissen ja, Sir, daß seit einiger Zeit merkwürdige Gerüchte im Umlauf sind«, sagte der Gärtner. »Und bevor Sie kamen und das Schloß kauften, pflegten viele Leute von hier zu sagen, daß sie seltsame Dinge in Bleak Hill Castle gesehen hätten. Ich selbst habe diesen Geschichten keinen Glauben geschenkt, aber vielleicht enthalten sie nach allem doch ein Körnchen Wahrheit.« Dick ergriff einen halben Ziegel und begann, die Wand damit abzuklopfen, die vor nicht allzu langer Zeit zugemauert worden war. Ein hohler Ton hallte uns entgegen. »Auf mein Wort, alter Freund«, rief mein Gastgeber aus, »ich fange langsam an, etwas Unheimliches zu spüren.« Er bemühte sich um ein zaghaftes Lächeln. »Ich will gehenkt werden, wenn ich nicht ebenso abergläubisch bin wie du.« »Du kannst mich abergläubisch nennen, wenn es dir beliebt, aber entweder habe ich gesehen, was ich gesehen habe, oder meine Sinne haben mir übel mitgespielt. Wie dem auch sei – laß es uns überprüfen.« »Wie?« »Indem wir einen Teil der neuen Mauer herausbrechen.« Aus Dicks Lachen war alle Fröhlichkeit verschwunden, als er mich fragte: »Was erwartest du zu finden?« Ich zögerte noch, es ihm zu sagen, und so antwortete er sich selbst: »Vermoderte Gebeine, wenn dein Nachtgespenst dich nicht getäuscht hat.« »Vermoderte Gebeine«, sprach ich ihm wie unter Zwang nach. »Gärtner, haben Sie ein Brecheisen bei Ihrem Werkzeug?« fragte Dick. »Ja, Sir.« »Dann holen Sie es bitte.«
Der Gärtner entfernte sich. »Höchst merkwürdig«, fuhr Dick fort, nachdem er einen Blick durch den weiträumigen, dämmrigen Keller geworfen hatte. »Aber auf mein Wort und um dir die Wahrheit zu sagen – ich schäme mich ein bißchen, abergläubischen Regungen nachgegeben zu haben. Ich bin überzeugt, du wirst bald herausfinden, daß dich deine Einbildung zum Narren gehalten hat. Ich fürchte, deine Gespensterfantasien werden uns der Lächerlichkeit preisgeben.« Bevor ich auf diesen Vorwurf einging, konnte ich nicht umhin, Dick daran zu erinnern, daß sogar Wissenschaftler zugegeben haben, daß es gewisse Phänomene gibt, die sich mit den bekannten Gesetzen nicht erklären lassen. Dick zuckte mit den Schultern und sagte bewußt gleichgültig: »Vielleicht – vielleicht ist es so.« Er stopfte Tabak in seine Pfeife, zündete sie an und rauchte mit einer Nervosität, die ich an ihm gar nicht gewohnt war. Der Gärtner schien eine Ewigkeit fortgewesen zu sein, als er nach zehn Minuten wieder zurückkam. Er brachte ein Brecheisen und eine Spitzhacke mit und begann auf Dicks Geheiß hin die Wand einzureißen. Er schlug einen Ziegelstein heraus, stemmte das Brecheisen in das Loch und brach einen größeren Brocken heraus. Aus der Öffnung drang ein so ekelerregender Geruch, daß wir uns instinktiv zurückzogen. Wir schauderten. Ich sah, wie die Pfeife von Dicks Lippen fiel, aber er bekam sie schnell wieder in den Griff und paffte so heftig, daß eine dicke, unbewegliche Rauchwolke in der Luft hing. Er hob eine der Kerzen vom Boden auf, die wir dort abgestellt hatten, näherte sich dem aufgerissenen Loch und hielt die Kerze so, daß ihr Licht in die Öffnung fiel. Einen Augenblick später sprang er mit einem Aufschrei zurück. »Mein Gott! Der Geist hat nicht gelogen«, rief er aus. Sein Gesicht war weiß wie ein Bettlaken. Auch der Gärtner und ich sahen in das Loch und prallten erschrocken zurück – in der Maueröffnung lagen vermoderte menschliche Skelette. »Diese schreckliche Entdeckung muß gründlich untersucht werden«, sagte Dick. »Komm, laß uns gehen.«
Wir brauchten kein zweites Mal aufgefordert werden und waren heilfroh, diesen Ort des Grauens zu verlassen und in die frische, sonnendurchglühte Landluft zurückzukehren. Wir fühlten uns, als wären wir soeben einer eiskalten Grabkammer entronnen. Eine halbe Stunde später fuhren Dick und ich in die nahe Stadt, um die Behörden über die schreckliche Entdeckung zu informieren. Die folgende Untersuchung der Polizei förderte zwei Skelette zu Tage. Der Gerichtsmediziner ließ nicht den Schatten eines Zweifels daran, daß es sich bei den Leichenfunden um die sterblichen Überreste einer Frau und eines Mädchens handelte, beide Opfer eines brutalen Mordanschlages. Natürlich erwies es sich als notwendig, weitere Nachforschungen anzustellen, und die Polizei setzte alles daran, Beweismaterial zu sammeln, um die Identität der Ermordeten zu klären. Unsere Entdeckung gab den seit vielen Jahren hier umlaufenden Gerüchten selbstverständlich neue Nahrung. Mehr und mehr konzentrierte sich das allgemeine Interesse auf das seltsame Verschwinden von Frau und Tochter des letzten Schloßbesitzers, Greeta Jones. Jones hatte, wie man sich erinnerte, sein ganzes Vermögen verspielt und eine viel ältere Dame geheiratet, die ihm eine an epileptischen Anfällen leidende Tochter gebar. Als das Mädchen zwölf Jahre alt war, verschwand es zusammen mit seiner Mutter – nach London, wie der Mann damals bei der Untersuchung aussagte. Dann verließ auch er die Gegend, und die Leute kümmerten sich nicht weiter um ihn. Seither war ein Vierteljahrhundert vergangen, und Bleak Hill Castle hatte so manche Veränderung erlebt, bevor es Dick Dirckman übernahm. Je genauer man sich die Geschichte von Greeta Jones betrachtete, desto klarer wurde, daß es sich bei den Funden im Keller nur um die Leichen seiner Frau und Tochter handeln konnte. Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß diese beiden Unglückseligen auf brutale und barbarische Weise ermordet worden waren. Die Frage war nur, wer sie ermordet hatte. Wie sich herausstellte, führte Jones, nachdem er Wales verlassen hatte, in London ein ausschweifendes Leben. Eines Nachts war er in betrunkenem Zustand von einer Kutsche angefahren und so ernsthaft verletzt worden, daß er noch auf dem Weg ins Hospital starb. Jones nahm das
schreckliche Geheimnis mit in sein Grab. Aber konnte es wirklich einen vernünftigen Zweifel daran geben, daß er das Verbrechen begangen hatte? Es bestand nämlich Grund zu der Annahme, daß er Frau und Tochter tatsächlich mit eigenen Händen ermordet und dann mit Hilfe eines gedungenen Seemannes die beiden Leichen im Keller eingemauert hatte. Man erinnerte sich daran, daß ein Seemann namens Howell Williams häufig das Schloß besucht hatte und plötzlich in den Besitz einer für ihn beträchtlichen Geldsumme gelangt war. Einige Wochen lang trank er schwer, dann packte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen und gab vor, nach Kalifornien auszuwandern. Alle Versuche, seine Spur wiederzufinden, verliefen im Sand. So viel über das grausame Verbrechen. Was die Umstände betraf, die zu seiner Entdeckung führten, so ist es äußerst merkwürdig, daß ausgerechnet ich dazu ausgewählt worden war, es ans Licht zu bringen – warum, kann und will ich nicht erklären. Ich habe die Tatsachen so geschildert, wie sie sich ereigneten, und überlasse es anderen, das Rätsel zu lösen. Es überraschte mich nicht sehr, daß Mrs. Dirckman durch die schreckliche Entdeckung einen Schock erlitt. Sie erklärte ihrem Mann, daß sie entweder in geistige Umnachtung fallen oder aber sterben würde, wenn sie noch länger in dem Schloß bleiben müßte. Und so verließ der arme Dick, der seine reizende kleine Frau über alles liebte, das Schloß, das nun wieder zur Ruine verfiel, bis es schließlich ganz abgerissen wurde und modernen Gebäuden Platz machen mußte. Was mich selbst betrifft, so erschütterte mich die Schreckensnacht in einer Weise, daß mein Haar vorzeitig grau wurde. Wenn ich an das Grauen dieser Nacht zurückdenke, überfällt mich auch heute noch ein Schaudern, und ein unaussprechliches Gefühl der Angst quält mich.
WILLIAM HOPE HODGSON
Das pfeifende Zimmer Carnacki drohte mir freundschaftlich mit der Faust, als ich verspätet eintrat. Dann öffnete er die Tür zum Speisezimmer und bat uns vier – Jessop, Arkright, Taylor und mich – zum Dinner. Wir speisten so gut, wie es hier üblich war, und Carnacki verhielt sich, gleichfalls wie üblich, während der Mahlzeit recht schweigsam. Zum Abschluß nahmen wir Wein und Zigarren zu unseren gewohnten Plätzen mit, und Carnacki, der es sich in seinem voluminösen Lehnstuhl bequem gemacht hatte, begann ohne weitere Vorbereitung. »Ich bin soeben wieder von Irland zurückgekommen«, sagte er. »Und ich hab’ angenommen, daß ihr Burschen an meinen Neuigkeiten Interesse hättet. Außerdem stell’ ich mir vor, daß ich die Dinge klarer sehen werde, wenn ich mir alles heruntergeredet habe. Ich muß euch diese Sache schildern, obwohl ich vom Anfang bis zum gegenwärtigen Moment aufs äußerste in Verlegenheit war und bin. Jedenfalls bin ich auf einen der absonderlichsten Fälle von ›Spuk‹ – oder irgendeiner Art von Teufelei gestoßen –, die ich je erlebt habe. Also hört zu. Ich habe die letzten paar Wochen auf Iastrae Castle verbracht, etwa zwanzig Meilen nordöstlich von Galway. Vor ungefähr einem Monat bekam ich einen Brief von einem Mr. Sid K. Tassoc, der offenbar erst vor kurzem Grundstück und Burg gekauft und bezogen hatte, wobei er entdecken mußte, daß er einen höchst seltsamen Besitz erworben. Bei meiner Ankunft erwartete er mich an der Station; er fuhr einen zweirädrigen Wagen und brachte mich zur Burg, die er, nebenbei vermerkt, eine ›Bruchbude‹ nannte. Ich erfuhr, daß er dort mit seinem halbwüchsigen Bruder und einem anderen Amerikaner, der so etwas wie Diener und Freund in einer Person zu sein schien, schlecht und recht hauste. Anscheinend hatte das ganze Dienstpersonal geschlossen das Haus verlassen, und nun behalfen sich die drei auf eigene Faust, tagweise von einer Hilfskraft unterstützt.
Die drei kratzten ein Essen zusammen, und Tassoc erzählte mir bei Tisch von all seinen Schwierigkeiten. Es ist eine ungewöhnliche Angelegenheit und ganz verschieden von allen anderen Fällen, mit denen ich zu tun hatte. Tassoc kam sogleich auf den Kern der Sache. ›Wir haben in dieser Bude ein Zimmer‹, berichtete er, ›in welchem es ganz höllisch pfeift, so eine Art Spuk. Das Pfeifen kann zu jeder beliebigen Zeit losgehen, man hat keine Ahnung, wann, und es geht weiter, bis man völlig fertiggemacht ist. Es ist kein gewöhnliches Pfeifen und auch nicht der Wind. Warten Sie nur, bis Sie’s hören.‹ ›Wir tragen alle Schußwaffen bei uns‹, sagte sein jüngerer Bruder und klopfte auf die Rocktasche. ›Ist es so schlimm?‹, fragte ich, und der ältere Bruder nickte. ›Vielleicht bin ich empfindlich‹, erwiderte er, ›doch, wie gesagt, warten Sie nur, bis Sie’s gehört haben. Manchmal glaub’ ich, es ist ein Teufelsspuk, und im nächsten Moment bin ich fast sicher, daß uns jemand einen Streich spielt.‹ ›Warum?‹ erkundigte ich mich. ›Wozu sollte das führen?‹ ›Sie meinen also, daß die Leute gewöhnlich einen triftigen Grund haben, um Streiche so komplizierter Art zu spielen? Gut, ich erzähl’ Ihnen das Ganze. Hier in der Provinz gibt’s eine Dame – Miss Donnehue –, die ich in genau zwei Monaten heiraten werde. Sie ist noch schöner, als man von ihr sagt, und soweit ich im Bilde bin, hab’ ich meine Nase in ein irisches Hornissennest gesteckt. Eine ganze Schar heißblütiger junger Iren hat ihr den Hof gemacht, und dann bin eben ich dahergekommen und hab’ die Burschen aus dem Feld geschlagen, und nun sind sie gegen mich erbittert. Geht Ihnen jetzt ein Licht auf?‹ ›Ja‹, sagte ich. ›So einigermaßen vielleicht; aber ich verstehe nicht, wie das mit dem Zimmer zusammenhängt?‹ ›Von wegen‹, meinte Tassoc. ›Sobald ich mit Miss Donnehue einig war, sah ich mich nach einem Haus um und hab’ diese kleine Bruchbude gekauft. Nachher erzählte ich ihr – es war beim Dinner –, daß ich beschlossen hätte, hierzubleiben. Und dann fragte sie mich, ob ich mich nicht fürchte vor dem Pfeifenden Zimmer. Ich entgegnete, das müsse im Preis inbegriffen sein, weil ich nichts davon gehört hätte. Es waren einige
Herren aus Miss Donnehues Bekanntenkreis anwesend, und ich bemerkte, daß sie einander zulächelten. Nach einigen Fragen bekam ich heraus, daß während der letzten zwanzig blödsinnigen Jahre etliche Leute die Bude gekauft hatten. Und nachdem sie versuchsweise dort gewohnt hatten, war sie wieder zu haben. Nun also, die Kerle gingen daran, mich ein bißchen zu reizen, und erboten sich, nach dem Dinner mit mir Wetten abzuschließen, daß ich es keine sechs Monate dort aushalten würde. Ich blinzelte ein paarmal zu Miss Donnehue hinüber, um ihr zu zeigen, daß ich über den Zweck des Geredes Bescheid wußte, hatte aber nicht den Eindruck, daß sie das Ganze als Spaß auffaßte. Einerseits, glaub’ ich, war sie verdrossen, weil mich die Burschen in recht boshafter Art aufs Korn nahmen, andererseits, weil sie die Gruselgeschichte von dem Pfeifenden Zimmer für wahr hält. Jedenfalls, nach dem Essen tat ich, was ich tun konnte, um mit den andern quitt zu werden. Ich notierte alle ihre Wetten und brachte sie unter Dach und Fach. Vermutlich werden sich einige der Burschen ganz hübsch aufregen, wenn ich nicht verliere, und ich hab’ nicht die Absicht, den kürzeren zu ziehen. – Nun, da haben Sie praktisch die ganze Geschichte.‹ ›Nicht die ganze‹, erwiderte ich. ›Alles, was ich weiß, ist, daß Sie eine Burg gekauft haben mit einem Zimmer, in dem es ›nicht ganz geheuer ist‹, außerdem, daß Sie ein paar Wetten abgeschlossen haben. Auch ist mir bekannt, daß Ihr Dienstpersonal aus Angst davongelaufen ist. Aber können Sie mir Genaueres über das Pfeifen sagen?‹ ›O, das!‹ meinte Tassoc. ›Das ging los in der zweiten Nacht, die wir hier verbracht haben. Untertags hab’ ich mir den Raum gründlich angeschaut, was Sie sicher verstehen können, denn das Gespräch in Arlestrae – Miss Donnehues Wohnsitz – hat mich schon ein bißchen in Erstaunen versetzt. Aber das fragliche Zimmer scheint sich von den anderen Räumen in dem alten Flügel nicht zu unterscheiden; mag sein, daß es noch etwas einsamer wirkt. Aber das kann auch bloß eine Folge des Geredes sein. Das Pfeifen begann, wie gesagt, um zehn Uhr in der zweiten Nacht. Tom und ich waren in der Bibliothek, als wir ein scheußlich komisches
Pfeifen vom östlich gelegenen Korridor her vernahmen – das Zimmer liegt nämlich im Ostflügel. ›Das ist das verdammte Gespenst!‹ sagte ich zu Tom und wir nahmen die Lampen vom Tisch und zogen los, um nachzusehen. Ich sag’ Ihnen, als wir den Korridor entlanggingen, kriegte ich’s ein bißchen im Hals, es war so abscheulich seltsam. Es lag eine Art Melodie in dem Pfeifen, doch mehr, als ob ein Teufel oder irgendein Unding einen verspotte und schon dabei wäre, einen von hinten anzufallen. Dieses Gefühl hat man bei dem Gepfeife. Wir warteten nicht an der Tür, sondern stießen sie auf, und ich sag’ Ihnen, der Lärm fuhr mir ganz hübsch ins Gesicht. Tom sagte, ihm sei zumute wie mir – auch er war verblüfft und verstört. Wir blickten umher und wurden bald so nervös, daß wir abzogen. Ich versperrte die Tür. Wir kamen hier herunter und nahmen jeder einen steifen Drink. Auf diese Weise kamen wir wieder in Ordnung, und uns dämmerte, daß man uns ganz schön hereingelegt hatte. So nahmen wir Stöcke zur Hand und gingen ins Gelände hinaus mit der Vermutung, daß uns einer dieser verfluchten Iren einen Streich gespielt hätte. Aber wir konnten nichts und niemanden aufstöbern. Wir kehrten ins Haus zurück, betraten den Ostflügel und statteten dem Zimmer nochmals einen Besuch ab. Doch wir konnten es dort einfach nicht aushalten. Wir machten uns in aller Eile davon und sperrten die Tür wieder zu. Ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll, doch hatte ich das Gefühl, gegen etwas Widerliches und Gefährliches anzugehen. Sie verstehen mich doch? Seit damals haben wir immer die Revolver bei uns. Natürlich drehten wir am nächsten Tag das Zimmer und das ganze Haus von oben bis unten um, und genauso untersuchten wir das Grundstück, und da war nichts Absonderliches zu entdecken. Und jetzt weiß ich nicht, was ich davon halten soll, abgesehen davon, daß mir mein gesunder Menschenverstand sagt, es müsse sich um einen Versuch dieser irischen Wilden handeln, mich hochzunehmen und zu reizen.‹ ›Haben Sie seit damals etwas unternommen?‹ fragte ich. ›Ja‹, erwiderte Tassoc. ›Ich hab’ die Tür des Zimmers in der Nacht bewacht, habe das Grundstück durchstöbert und Wände und Boden des
Raums abgehorcht. Wir haben alles Erdenkliche getan, und jetzt fängt die Geschichte an, uns auf die Nerven zu fallen, also haben wir Sie hergebeten.‹ Nun hatten wir die Mahlzeit beendet. Als wir vom Tisch aufstanden, rief Tassoc plötzlich: ›– Pst! Horchen Sie!‹ Wir lauschten in angespanntem Schweigen. Dann hörte ich’s: ein außerordentlich höhnisches Pfeifen, ungeheuerlich und unmenschlich, das aus weiter Ferne durch den Korridor rechts von mir kam. ›Bei Gott!‹ sagte Tassoc. ›Und es ist noch nicht einmal dunkel. Nehmt beide die Kerzen, und kommt mit.‹ In ein paar Sekunden waren wir draußen und stiegen treppaufwärts. Tassoc bog in einen langen Gang ein, und wir folgten, wobei wir beim Rennen die Kerzenflammen schützten. Beim Näherkommen war’s, als füllte der Ton den ganzen Korridor, bis ich das Gefühl hatte, daß die Luft unter der Einwirkung einer üblen, unermeßlich starken Macht erzitterte; das Gefühl der geradezu infektiösen Gegenwart einer Monstrosität rings um uns. Tassoc öffnete mit einem Fußtritt die Tür, sprang zurück und zog den Revolver. Als die Tür aufflog, schlug uns der Lärm mit derartiger Kraft entgegen, daß man es jemandem, der es nicht selbst gehört hat, unmöglich schildern kann – eine gewisse anzügliche Note war in dem Klang, als ob man sich dort in der Finsternis das Zimmer schaukelnd und wackelnd vorstellen müßte, schaukelnd und wackelnd in einer verrückten, verderbten Freude über das eigene gemeine Quietschen und Pfeifen und Höhnen und dabei doch unseres Eindringens bewußt. Dazustehen und dies anzuhören, hieß wahrhaftig betäubt zu werden von der Plattheit solcher Realisierung. Es war, als zeigte einem jemand die Öffnung eines ungeheuren Abgrunds und sagte: ›Dies ist die Hölle.‹ Und man weiß, daß er die Wahrheit gesprochen hat. – Kommt ihr einigermaßen mit? Ich tat einen Schritt in das Zimmer, hielt die Kerze über meinen Kopf und blickte rasch umher. Tassoc und sein Bruder gesellten sich zu mir, und der andere Mann kam hinter uns drein, und wir alle hoben die Kerzen hoch. Ich war wie betäubt von dem schrillen, quiekenden Hohn des Pfeifens, und dann schien mir etwas deutlich ins Ohr zu sagen ›Fort von hier – schnell. Schnell, schnell!‹
Wie ihr Burschen wißt, hab’ ich dergleichen niemals unbeachtet gelassen. Manchmal mögen es lediglich die Nerven sein; aber denkt nur daran, daß mir eine solche Warnung in der Sache mit dem ›Grauen Hund‹ und bei den Experimenten mit den ›Gelben Fingern‹ wie auch bei anderen Gelegenheiten das Leben gerettet hat. Nun also, ich wandte mich rasch zu den andern: ›Hinaus!‹ sagte ich. ›Um Himmels willen, schnell fort von hier!‹ Und in einer Sekunde hatte ich sie auf dem Gang. In das unerträglich laute Pfeifen mischte sich ein ungewöhnlich schrilles Kreischen, und dann folgte, gleich einem Donnerschlag, völlige Stille. Ich schlug die Tür zu und versperrte sie. Dann, den Schlüssel in der Hand, blickte ich die andern an. Sie waren ziemlich bleich, und ich kann mir vorstellen, daß ich es nicht minder war. So standen wir einen Moment schweigend da. ›Kommt hinunter, und trinken wir einen Whisky‹, sagte Tassoc schließlich mit bemüht gleichgültigem Tonfall und wies den Weg. Ich ging als letzter und wußte, daß wir alle über die Schulter zurückblickten. Unten angekommen, ließ Tassoc die Flaschen rundgehen. Er nahm selber einen Drink und setzte sein Glas heftig auf den Tisch. Dann ließ er sich dröhnend in den Sessel fallen. ›Feine Sache, die man da im Haus hat, nicht wahr?‹ meinte er. Und gleich darauf: ›Warum in aller Welt haben Sie uns so hinausgedrängt, Carnacki?‹ ›Irgend etwas schien mich aufzufordern, wegzugehen, und zwar schnell‹, sagte ich. ›Klingt etwas dumm und abergläubisch, ich weiß, aber wenn man mit solcherlei Dingen zu tun hat, muß man auch verschrobene Fantasien zur Kenntnis nehmen und riskieren, verlacht zu werden.‹ Ich erzählte ihm dann den Fall mit dem ›Grauen Hund‹ und er nickte wiederholt. ›Natürlich‹, sagte ich, ›könnte es auch nicht mehr sein als ein Versuch Ihrer ausgebooteten Rivalen, Ihnen einen verrückten Streich zu spielen, doch ich für meine Person habe, wenn ich offen sein darf, das Gefühl, daß etwas Scheußliches und Gefährliches im Spiel ist.‹ Wir unterredeten uns noch eine Weile, und dann schlug Tassoc vor, Billard zu spielen, was wir auch taten, doch ohne recht bei der Sache zu sein und ständig sozusagen mit einem Ohr nach der Tür lauschend; doch keinerlei Geräusch war zu hören. Nach dem Kaffee empfahl Tassoc,
früh zu Bett zu gehen und am nächsten Morgen eine sorgfältige Überprüfung des Zimmers vorzunehmen. Mein Schlafzimmer befand sich im neueren Teil des Schlosses und öffnete sich in die Gemäldegalerie. Am östlichen Ende der Galerie befand sich der Eingang zum Korridor des Ostflügels; dieser war von der Galerie durch zwei alte und schwere Eichentore getrennt, die sich neben den moderneren Türen der verschiedenen Räumlichkeiten recht wunderlich und altmodisch ausnahmen. In meinem Zimmer angelangt, ging ich nicht zu Bett, sondern fing an, meinen Instrumentenkoffer auszupacken, dessen Schlüssel ich bei mir behalten hatte. Meine Absicht war, sogleich zwei, drei Sachen für die Untersuchung dieses ungewöhnlichen Pfeifens vorzubereiten. Sobald die Burg in völliger Ruhe lag, schlüpfte ich aus meinem Zimmer und hinüber zu dem Eingang des großen Korridors. Ich öffnete eine der niederen, massiven Türen und beleuchtete den Gang mit meiner Taschenlampe. Er war leer, und ich überschritt die Schwelle und schlug die Tür hinter mir zu. Dann ging’s den großen Korridor entlang, wobei ich das Licht vorwärts und rückwärts richtete und den Revolver bereithielt. Ich hatte einen Verteidigungsgürtel von Knoblauch um den Hals gehängt, und sein Geruch erfüllte den Korridor und gewährte mir Sicherheit, denn wie ihr alle wißt, bildet Knoblauch einen hervorragenden Schutz gegen die häufigeren Aeiirii-Formen der Halbmaterialisation, von denen meiner Vermutung nach das Pfeifen ausging, wiewohl ich zu dieser Zeit meiner Untersuchung noch durchaus darauf gefaßt war, irgendeine vollkommen natürliche Ursache herauszufinden, denn die Anzahl von Fällen solcher Art, die ganz und gar nichts Übernatürliches an sich haben, ist erstaunlich groß. Zur Ergänzung des ›Halsbands‹ hatte ich auch die Ohren leicht mit Knoblauch bestrichen, und da ich nicht länger als ein paar Minuten in dem Zimmer zu bleiben gedachte, hoffte ich, hinreichend gesichert zu sein. Als ich vor der Tür stand und nach dem Schlüssel in meiner Tasche griff, verspürte ich einen plötzlichen Anflug von Angst und Übelkeit. Aber ich durfte nicht zurückweichen, wenn es nur irgend anging. Ich sperrte auf und drückte die Klinke. Dann versetzte ich der Tür einen
heftigen Fußtritt, wie Tassoc es getan, und zog den Revolver, obgleich ich nicht ernstlich erwartete, von ihm Gebrauch zu machen. Ich durchleuchtete mit der Taschenlampe das ganze Zimmer und betrat es dann mit der widerlichen und schrecklichen Empfindung, geradewegs auf eine lauernde Gefahr zuzugehen. Einige Sekunden verharrte ich abwartend, und nichts geschah, und der Raum zeigte sich leer von Ecke zu Ecke. Und dann, versteht ihr, wurde mir bewußt, daß das Zimmer erfüllt war von einer ganz abscheulichen Stille – wenn ihr begreift, was ich meine. Es war eine Art absichtsvollen Schweigens, gerade so widerlich wie irgendeines der scheußlichen Geräusche, die hervorzubringen in der Macht außernatürlicher Wesen steht. Erinnert ihr euch, was ich von der Sache mit dem ›Schweigenden Garten‹ erzählt habe? Nun, in diesem Zimmer hier lastete das nämliche böswillige Schweigen – das schaurige Schweigen eines Wesens, das einen ansieht und seinerseits unsichtbar bleibt und glaubt, dich in der Gewalt zu haben. Oh, ich erkannte es sofort wieder und schob meine Lampe so zurecht, daß der gesamte Raum im Licht lag. Dann ging ich wie gehetzt an die Arbeit, wobei ich das Licht überallhin mitnahm. Ich ›versiegelte‹ die beiden Fenster mit langem Menschenhaar, das ich querüber spannte und an den Rahmen befestigte. Bei dieser Beschäftigung stahl sich eine kaum wahrnehmbare Spannung in die Atmosphäre des Zimmers, und die Stille schien sich zu verdichten. Ich wußte nun, daß ich kein Recht hatte, dort etwas ohne ›vollen Schutz‹ zu unternehmen, denn es war praktisch meine Überzeugung, daß es sich nicht bloß um eine Aeiirii-Materialisation handelte, sondern um eine der üblen Formen des Saiitii wie im Fall des ›Grunzenden Manns‹. Sobald ich mit dem Fenster fertig war, eilte ich hinüber zu dem Kamin. Er ist ungeheuer groß und weist ein seltsames Galgeneisen auf – ich glaube, so nennt man das –, welches aus der Hinterwand der Wölbung hervorragt. Ich verspannte die Öffnung mit sieben Menschenhaaren, deren siebentes die anderen kreuzte. Als ich soeben damit zu Rand gekommen, durchtönte ein leises, spöttisches Pfeifen den Raum. Ein kalter, nervöser Schauer lief mir über Kopf und Rücken. Der entsetzliche Ton durchdrang das Zimmer mit einer extravaganten, grotesken Parodie menschlichen Pfeifens, zu monströs,
um menschlich zu wirken – als ob ein gargantueskes Ungetüm sich bemühte, leise zu sein. Indes ich eine lange Sekunde verharrte und die beendete Versiegelung niederdrückte, hegte ich geringe Zweifel, daß ich auf einen der seltenen und gräßlichen Fälle gestoßen, in denen das Unbeseelte die Funktionen des Beseelten reproduziert. Ich griff nach meiner Lampe und ging schnell zur Tür, über die Schulter spähend und auf das, was ich erwartete, lauschend. Es kam, als ich soeben die Hand auf die Klinke legte – ein Kreischen von unglaublicher Bosheit und Wut, das den leisen Hohn des Pfeifens durchdrang. Ich stürzte hinaus, schlug die Tür zu und versperrte sie. Kurze Zeit lehnte ich mich an die gegenüberliegende Wand des Korridors, denn das Kreischen war fürchterlich nahe gewesen… ›– und da ist keine Sicherheit gewähret durch heiligen Schutz und Beistand, so dem Ungeheuer die Macht übergeben, zu reden durch Holz und Stein‹. So lautet der entsprechende Absatz im Sigsand-Manuskript, und ich erprobte seine Wahrheit bei der Sache mit dem ›Nickenden Tor‹. Es gibt keinen Schutz gegen diese besondere Art des Abseitigen, ausgenommen vielleicht für eine kurze Zeitspanne, denn es kann sich selbst aufs neue hervorbringen oder für seine Zwecke genau das Material, das Schutz gewähren sollte, verwenden und hat sogar die Kraft, sich ›innerhalb des Pentagramms‹ zu formen, wenn auch nicht unmittelbar. Natürlich gibt’s da noch die Möglichkeit der Unbekannten Letzten Grenze des Saaamaaa Rituals, doch ist deren Schutzkraft viel zu ungewiß, um darauf zu bauen, und die Gefahr viel zu groß; auch währt dieser Schutz nicht länger ›denn vielleicht der Herz-Schläge fünf‹, wie das Sigsand-Manuskript sagt. Drinnen im Zimmer pfiff es nun anhaltend, überlegt und höhnisch, doch unvermittelt hörte es auf, und das Schweigen wirkte noch schlimmer, denn in ihm lag eine Art geheimer Bosheit. Nach kurzer Zeit versiegelte ich die Tür mit gekreuzten Haaren und dann verschwand ich aus dem Korridor und ging zu Bett. Ich lag lange wach, ehe ich einschlafen konnte. Dennoch wurde ich um zwei Uhr nachts von dem höhnischen Pfeifen geweckt, das sogar durch die verschlossenen Türen zu mir drang. Der Klang war entsetzlich und schlug durch das ganze Haus, eine Atmosphäre des Schreckens schaffend. Als ob (ich entsinne mich dieser meiner Vorstellung) ein Riese von
monströser Größe und Beschaffenheit sich am Ende des großen Korridors eine tolle Lustbarkeit mache. Ich stand auf und setzte mich auf den Bettrand, wobei ich mich fragte, ob ich nach dem Siegel sehen solle, als es klopfte und Tassoc im Morgenrock über dem Pyjama hereinkam. ›Ich hab’ angenommen, daß der Lärm Sie geweckt hat‹, sagte er, ›und wollte mit Ihnen reden. Ich kann nicht schlafen. Reizende Sache! Nicht wahr?‹ ›Außerordentlich hübsch!‹ entgegnete ich und bot ihm mein Etui. Er zündete sich eine Zigarette an, und wir setzten uns nieder und plauderten etwa eine Stunde, und ununterbrochen schallte der Lärm vom Ende des großen Korridors. Plötzlich stand Tassoc auf: ›Nehmen wir unsere Schießeisen, und rücken wir der Bestie zu Leibe‹, sagte er und wandte sich zur Tür. ›Nein!‹ rief ich. ›Beim Himmel – Nein! Ich kann nichts Endgültiges sagen, doch ich glaube, daß dieses Zimmer so gefährlich ist, wie es nur irgend sein kann.‹ ›Verhext – wirklich und wahrhaftig verhext?‹ fragte Tassoc heftig und ohne seine üblichen Scherze. Ich erklärte ihm, daß ich diese Frage natürlich nicht definitiv bejahen oder verneinen könne, daß ich aber hoffte, bald etwas Sicheres darüber zu wissen. Hierauf erteilte ich ihm eine kurze Lektion über die Falsche Rematerialisation Beseelter Kräfte durch die Unbeseelte Träge Masse. Allmählich ging ihm ein Licht auf hinsichtlich der speziellen Gefährlichkeit des Pfeifenden Zimmers, falls es wirklich Gegenstand einer Manifestation wäre. Eine Stunde später hörte das Pfeifen ganz unvermittelt auf, und Tassoc ging wieder zu Bett. Auch ich legte mich nieder und erwischte zu guter Letzt ein paar Handvoll Schlaf. Am Morgen ging ich in das Zimmer hinüber. Die Siegel an der Tür waren intakt. Dann ging ich hinein. Auch die Siegel an den Fenstern und die Haare waren in Ordnung, nur das siebente Haar über dem großen Kamin war zerrissen. Das gab mir zu denken. Ich war mir der Möglich-
keit bewußt, daß dieses Haar, weil von mir zu sehr angespannt, entzweigerissen war, doch dann vermutete ich wieder eine andere Ursache seines Zerreißens. Dennoch war es kaum möglich, daß beispielsweise ein Mann zwischen den sechs unzerrissenen Haaren hindurchgekommen wäre, denn keiner hätte sie je bemerkt; sondern wäre, unkundig ihres Vorhandenseins, durchgegangen. Ich entfernte die anderen Haare und die Siegel. Dann beschaute ich den Kamin. Er führte geradewegs aufwärts, und ich konnte oben den blauen Himmel erblicken. Es war ein großer, offener Rauchfang und sah nicht im mindesten nach verborgenen Stellen und Winkeln aus. Dennoch traute ich natürlich einer solch flüchtigen Untersuchung nicht, und so legte ich nach dem Frühstück meinen Overall an und erkletterte seine höchste Stelle, wobei ich überall genauestens sondierte; ich konnte aber nichts finden. Dann stieg ich hinunter und durchforschte das ganze Zimmer – Boden, Decke und Wände, indem ich sie in sechs Zoll große Quadrate aufteilte, mit Hammer und Sonde. Doch nichts Ungewöhnliches war zu entdecken. Nachher untersuchte ich drei Wochen lang die gesamte Burg auf die nämliche sorgfältige Weise, doch auch hier war nichts zu finden, was Aufschluß hätte geben können. Ich ging noch weiter und machte nachts, wenn das Pfeifen ertönte, einen Mikrophontest. Wäre nämlich das Pfeifen auf mechanischem Weg produziert worden, so hätte mir der Test das Wirken des Mechanismus, falls ein solcher in den Wänden verborgen gewesen, offenbar gemacht. Bestimmt war dies, wie ihr zugeben müßt, eine Untersuchungsmethode neuesten Datums. Selbstverständlich war ich nicht der Meinung, einer von Tassocs Rivalen hätte einen mechanischen Apparat angebracht, doch hielt ich’s immerhin für nicht ausgeschlossen, daß vielleicht in vergangenen Jahren ein derartiges Zeug zum Hervorbringen der Pfeiftöne aufgestellt worden war, vielleicht mit der Absicht, dem Zimmer einen Ruf zu verleihen, der mit Sicherheit alle Neugierigen fernhalten würde. Versteht ihr, was ich damit meine? Und wenn dies der Fall war, mochte es ganz gut sein, daß irgend jemand das Geheimnis des Apparats kannte und sein Wissen benutzte, um Tassoc diesen teuflischen Streich zu spielen. Der Mikrophon-
test an den Wänden hätte mir, wie erwähnt, Gewißheit über die Existenz einer Maschinerie gegeben, doch war nichts dieser Art in der Burg zu entdecken, so daß ich praktisch nicht mehr zweifelte, daß es sich um einen authentischen Fall von dem, was die Umgangssprache als Spuk bezeichnet, handelte. Die ganze Zeit über, Nacht für Nacht und zuweilen den größten Teil der Nacht hindurch war das höhnische Pfeifen des Zimmers unerträglich. Es wirkte, als ob eine dort befindliche intelligente Wesenheit von den gegen sie unternommenen Schritten wüßte und nun mit einer Art zynischer Verachtung pfiffe und spottete. Ich kann euch bloß sagen, daß es so ausgefallen wie schrecklich war. Von Zeit zu Zeit, immer wieder, schlich ich auf den Zehenspitzen, die Füße nur mit Socken bekleidet, zu dem mit Siegeln versehenen Boden (denn ich hatte ständig Siegel in dem Spukzimmer angebracht). Ich tat dies in allen Nachtstunden, und häufig schien dann das Pfeifen drinnen zu einem grausamen Spott zu werden, als erblickte mich das halbbeseelte Ungeheuer deutlich durch die verschlossene Tür. Und solange ich auf Beobachtungsposten stand, füllte das höhnische Pfeifen den ganzen Korridor, so daß ich mir bei dieser eingehenden Beschäftigung mit den Mysterien der Hölle nicht wenig einsam und verlassen vorkam. Allmorgendlich betrat ich das Zimmer und prüfte die verschiedenen Haare und Siegel. Denn nach der ersten Woche hatte ich parallel laufende Haarfäden an den Wänden und der Decke des Zimmers ausgespannt, doch auf den Boden, der aus geglättetem Stein bestand, hatte ich kleine farblose Oblaten als Siegel gelegt, mit der klebrigen Seite nach oben. Jede Oblate war numeriert, und alle waren in bestimmter Reihenfolge arrangiert, die mich in den Stand setzen sollte, die genauen Bewegungen jeglichen Lebewesens, das darüberging, zu verfolgen. Ihr seht also, daß kein stoffliches Wesen, kein irdisches Geschöpf das Zimmer betreten haben könnte, nichts zeigte jemals irgendeine Beschädigung, und ich begann mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, den Versuch, eine Nacht innerhalb des elektrischen Pentagramms im Pfeifenden Zimmer zu verbringen, riskieren zu müssen. Natürlich wußte ich mit aller Deutlichkeit, daß es ein verrücktes Vorhaben war, doch war ich daran, außer Gefecht gesetzt zu werden, und wollte etwas unternehmen.
Einmal, um Mitternacht, zerbrach ich das Siegel an der Tür und warf einen hastigen Blick in das Zimmer, aber ich sag’ euch, der ganze Raum kreischte wie toll geworden und schien auf mich zuzukommen wie eine dicke Geschwulst aus lauter Schatten, als hätten sich die Zimmerwände gegen mich vorgewölbt. Sicherlich ist das bloß Einbildung gewesen. Wie dem auch sei, das Kreischen hatte mir gereicht – ich schlug die Tür zu und versperrte sie, wobei ich eine komische Schwäche im Rückgrat fühlte. Ob ihr dieses Gefühl wohl kennt? Und gerade in diesem Stadium der Bereitschaft, etwas zu unternehmen, machte ich zunächst eine Art Entdeckung. Es war an einem Morgen, und ich spazierte gemächlich um die Burg und hielt mich dabei im weichen Gras. Ich war im Schatten des Ostflügels angelangt, und hoch über mir ließ sich das böse, höhnische Pfeifen des Zimmers hören in der Dunkelheit des unbeleuchteten Flügels. Dann plötzlich vernahm ich ein kleines Stück vor mir die leise, doch offenkundig vergnügte Stimme eines Mannes: ›Donnerwetter! Also, Burschen, ich würde mich ja nicht getrauen, eine Frau hierher zu bringen!‹ Er sprach im Tonfall eines gebildeten Iren. Jemand setzte zu einer Antwort an, doch dann folgten ein heftiger Ausruf und ein Rascheln, und ich hörte Schritte, die sich nach verschiedenen Richtungen entfernten. Es lag auf der Hand, daß der Mann mich verspottet hatte. Sekundenlang blieb ich stehen und hielt mich für einen fürchterlichen Esel. Allem Anschein nach waren also diese Kerle für den ›Spuk‹ zuständig! Versteht ihr, daß ich als ausgemachter Narr gelten mußte? Ich zweifelte nicht mehr, daß es sich um einige von Tassocs Rivalen handelte, und doch hatte ich hier in allen Knochen gespürt, daß ich auf einen authentischen Fall gestoßen. Und dann kamen mir Hunderte Details in den Sinn, die mich neuerdings unsicher machten. Jedenfalls, ob nun auf natürliche Ursachen zurückzuführen oder nicht, gab es noch eine Menge an dieser Sache zu klären. Am nächsten Morgen berichtete ich Tassoc meine Entdeckung, und ganze fünf Nächte lang umstellten und bewachten wir geschlossen den Ostflügel, doch nie sprach irgendein Anzeichen dafür, daß sich dort jemand herumgetrieben hätte, und ununterbrochen, vom Abend bis zum
Tagesanbruch drang von hoch oben aus der Dunkelheit der unglaubliche Hohn des sonderbaren Pfeifens zu uns herab. Nach der fünften Nacht erhielt ich ein Telegramm von daheim, das mich veranlaßte, mit dem nächsten Schiff die Rückreise anzutreten. Ich erklärte Tassoc die unbedingte Notwendigkeit, für ein paar Tage wegzufahren, forderte ihn aber auf, die Bewachung der Burg fortzusetzen. Auch achtete ich sorgfältig darauf, ihm das unverbrüchliche Versprechen abzunehmen, das Pfeifende Zimmer niemals zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zu betreten. Ich machte ihm klar, daß wir weder so noch so Endgültiges wüßten, und sollte das Zimmer wirklich das sein, wofür ich es zunächst gehalten, dann wär’ es möglicherweise viel besser für ihn zu sterben, als es nach Einbruch der Dunkelheit zu betreten. Sobald ich hier eingetroffen war und meine Angelegenheiten geregelt hatte, fiel mir ein, daß euch die Geschichte interessieren könnte, auch war mir daran gelegen, sie in aller Ausführlichkeit darzustellen und zu überlegen, also hab’ ich euch herbeordert. Morgen geht’s wieder nach Iastrae Castle, und ich nehme an, daß ich euch dann bei meiner Rückkunft ein paar recht ausgefallene Sachen erzählen kann. Nebenbei, da gibt’s noch etwas Wunderliches, das ich vergessen habe euch zu berichten. Ich habe versucht, eine phonographische Aufnahme des Pfeifens zu machen, aber es hinterließ einfach keinen Abdruck auf dem Wachs. Das ist auch so ein Aspekt des Falls, der mir ein komisches Gefühl verursacht. Eine andere Ungewöhnlichkeit besteht darin, daß das Mikrophon den Ton nicht verstärken will – es will ihn nicht einmal übermitteln, es scheint ihn gar nicht zu berücksichtigen, sondern tut, als war’ er gar nicht vorhanden. Ich befinde mich in allergrößter Verlegenheit. Bin auch ein klein wenig neugierig, ob vielleicht einer von euch Neunmalklugen Licht in die Geschichte bringen kann. Ich kann es nämlich nicht – noch nicht.« Carnacki erhob sich. »Gute Nacht, ihr alle«, sagte er und schob uns unvermittelt, doch ohne beleidigende Absicht, in die Nacht hinaus. Vierzehn Tage später schickte er jedem von uns eine Einladung, und es läßt sich denken, daß ich diesmal nicht als letzter kam. Bei unsrer Ankunft führte uns Carnacki direkt zum Essen, und als wir fertig waren und
es uns bequem gemacht hatten, setzte er seine Erzählung, dort, wo er aufgehört hatte, wieder fort. »Hört jetzt ruhig und genau zu, denn ich hab’ euch höchst sonderbare Dinge zu berichten. Also, ich kam spätnachts an und mußte mich zu Fuß auf den Weg nach der Burg begeben, da ich Tassoc nicht von meinem Kommen verständigt hatte. Der Mond erstrahlte in vollem Glanz, so daß der Weg eher ein Vergnügen war. Bei der Burg angelangt, fand ich sie völlig unbeleuchtet, und ich gedachte, rundherum zu gehen und nachzusehen, ob Tassoc oder sein Bruder Wache hielten. Doch war keiner von ihnen zu finden, und ich schloß daraus, daß sie der Wache müde geworden und zu Bett gegangen waren. Als ich quer über den Rasen, der unter der Front des Ostflügels liegt, zurückging, hörte ich wieder das höhnische Pfeifen, das mit seltsamer Klarheit die Ruhe der Nacht durchdrang. Wie ich mich entsinnen kann, hatte es eine besondere Eigenart – es klang leise und anhaltend und auf eine vertrackte Weise absichtsvoll. Ich blickte hinauf zu dem im vollen Mondschein liegenden Fenster und hatte den plötzlichen Einfall, eine Leiter aus dem Hof zu holen und zu versuchen, von außen in den Raum zu schauen. Mit dieser Absicht rannte ich zum Hintertrakt des Gebäudes zwischen dem Durcheinander der Wirtschaftsräume und fand sogleich eine lange, ziemlich leichte Leiter, wenn sie auch bei Gott für einen allein schwer genug war. Zuerst vermeinte ich sie nicht heben zu können. Es gelang mir schließlich doch, und ich lehnte sie leise und vorsichtig gegen die Mauer, ein wenig unterhalb des Simses des größeren Fensters. Dann erstieg ich die Leiter möglichst geräuschlos. Kurz darauf befand sich mein Gesicht über dem Fensterbrett und ich blickte ins Zimmer, allein mit dem Mondlicht. Gewiß tönte das absonderliche Pfeifen dort oben noch lauter, doch noch immer vermittelte es die merkwürdige Vorstellung, daß dort jemand für sich selber pfiffe – versteht ihr? Denn ungeachtet der nachdenklichen Gedämpftheit des Klangs war seine schreckliche gargantueske Art deutlich – eine heftige Parodie auf alles Menschliche; es war, als bekäme ich ein Pfeifen zu hören von den Lippen eines Ungeheuers mit der Seele eines Menschen.
Und dann sah ich etwas. In der Mitte des riesigen, leeren Zimmers war der Boden aufgestülpt zu einem sonderbar weich anmutenden Hügel, der sich nach oben zu einer in stetem Wechsel begriffenen, nach dem Takt jenes bösen und gedämpften Höhnens pulsierenden Öffnung auftat. Zuweilen sah ich, während ich dieses Phänomen beobachtete, das gekerbte Hügelmaul sich heben mit einer befremdlich einsaugenden Bewegung, die an ein ungeheuerliches Atemholen gemahnte, worauf das Ding sich erweiterte und sich dann nochmals zu der unglaublichen Melodie spitzte. Und plötzlich, während ich das Ding oder was immer es sein mochte, anstarrte, ward mir bewußt, daß es lebendig war. Im bleichen Schimmer des Monds blickte ich auf zwei ungeheuerliche, geschwärzte Lippen, blasenbedeckt und von brutaler Form… Jählings blähten sie sich auf zu einer enormen Wölbung von Gewalt und Geräusch, zeigten sich starr und verschwollen und unerhört fest und klar umrissen in der Beleuchtung des Mondes. Und die riesige Oberlippe war von starkem Schweiß bedeckt. Im nämlichen Moment war aus dem Pfeifen ein wahnwitziges Kreischen geworden, das mich sogar auf meinem Standort draußen vor dem Fenster zu zerschmettern drohte. Und schon in der nächsten Sekunde glotzte ich leeren Blicks auf den festen, unbeschädigten Boden des Zimmers – ebener, geglätteter Steinboden von Wand zu Wand, mehr war nicht zu sehen. Und es herrschte vollkommene Stille. Vielleicht könnt ihr euch ausmalen, wie ich in das ruhevolle Zimmer starrte und wußte, was ich eben wußte. Ich fühlte mich wie ein von Übelkeit befallenes, verängstigtes Kind und hatte bloß den einen Wunsch, lautlos von der Leiter zu steigen und davonzurennen. Doch in eben dieser Sekunde hörte ich Tassocs Stimme aus dem Zimmer um Hilfe schreien, um Hilfe. Mein Gott! Doch fühlte ich mich furchtbar durcheinandergeraten und hatte eine vage, konfuse Vorstellung, daß es am Ende doch seine irischen Rivalen gewesen sein mochten, die ihn in das Zimmer gelockt hatten und ihr Mütchen an ihm kühlten. Und dann erklang der Hilferuf zum andern Mal und ich schlug das Fenster ein und sprang in den Raum, um Tassoc beizustehen. Irgendwie schien es mir, der Ruf sei aus der Verschattung des großen Kamins gekommen und ich hastete dorthin, doch war niemand zu sehen.
›Tassoc!‹ brüllte ich, und meine Stimme verlor sich in dem großen Raum, und dann durchzuckte mich blitzartig die Erkenntnis, daß Tassoc nie und nimmer gerufen hatte. Ich fuhr herum, krank und toll vor Entsetzen, und taumelte auf das Fenster zu. Bei dieser Bewegung dröhnte ein schreckliches, frohlockendes Pfeifen durchs Zimmer. Zur Linken hatte sich die Wand gegen mich vorgewölbt zu einem Paar gargantuesker Lippen, dunkel verfärbt und von äußerster Monstrosität, etwa ein Yard von meinem Gesicht entfernt. In einer Sekunde der Sinnesverwirrung tastete ich nach meinem Revolver; nicht um ihn gegen dieses unangreifbare Wesen zu richten, sondern gegen mich selbst, weil das, was mir drohte, tausendmal schlimmer war denn der Tod… Und da, auf dem Höhepunkt der Krisis, ward völlig unvermittelt die Unbekannte Letzte Grenze des Saaamaaa-Rituals deutlich vernehmbar ins Zimmer geflüstert. Augenblicklich geschah das, was ich einstmals schon erlebt hatte. Mich überkam eine Empfindung, als ob Nebel niedersänke, unaufhaltsam und monoton, und ich erfaßte in einem taumelnden Schwindelgefühl, einem Durcheinanderwirbeln unsichtbarer Dinge, daß mein Leben für die Dauer eines Blitzstrahls in ungewisser Schwebe hing… Dann endigte dieser Zustand, und ich wußte, daß ich gerettet war. Seele und Leib verbanden sich wieder miteinander, Leben und Lebenskraft kehrten in mich zurück. Ich stürzte gehetzt zum Fenster und warf mich kopfüber hinaus, denn ich hatte mich in meiner Todesangst nicht vom Fleck gerührt. Ich krachte auf die Leiter nieder und rutschte, greifend und tastend, weiter. Irgendwie gelangte ich lebend zu Boden. Und dort saß ich nun, beschienen vom Mondlicht, im weichen, feuchten Gras, und hoch droben tönte durch das zerschlagene Fenster des Zimmers ein leises Pfeifen. Damit ist das Wesentliche gesagt. Ich war unverletzt und ging zur Vorderfront des Gebäudes, wo ich Tassoc herausklopfte. Sobald man mich eingelassen hatte, besprachen wir uns lange bei einem stärkenden Whisky – ich kam mir wie gerädert vor – und ich erklärte die Sachlage, so gut ich es vermochte. Ich sagte Tassoc, daß das Zimmer abgerissen und jeder einzelne Teil in einem Hochofen innerhalb eines Pentagramms verbrannt werden müsse. Er nickte. Was hätte er auch sagen sollen? Dann ging ich zu Bett. Für die Erledigung der Sache war eine kleine Armee von Hilfskräften notwendig, und binnen zehn Tagen war dieses reizende Ding in Rauch
aufgegangen und das Übriggebliebene war von der Glut gereinigt worden. Als die Arbeiter die Täfelung entfernten, entdeckte ich einen Hinweis auf die Anfänge dieser scheußlichen Entwicklung. Ich fand über dem großen Kamin, nachdem man die Eichentäfelung heruntergerissen hatte, eine ins Mauerwerk eingelassen verschnörkelte Inschrift in altertümlichem Keltisch, die besagte, daß in eben diesem Zimmer Dian Tiansey, Hofnarr des Königs Alzof, der das Lied der Narrheit auf König Ernore von der Siebten Burg gemacht hatte, verbrannt worden war. Sobald ich mit der Übersetzung zurechtgekommen war, übergab ich sie Tassoc. Er zeigte sich äußerst aufgeregt, denn er kannte die alte Erzählung und führte mich in die Bibliothek, um mich in ein altes Pergament Einsicht nehmen zu lassen, das die Begebenheit in allen Einzelheiten darstellte. Später bekam ich heraus, daß der Vorfall in der ganzen Gegend wohlbekannt war, doch eher als Sage denn als historische Begebenheit gegolten hatte. Und niemand schien auch nur im Traum daran gedacht zu haben, daß der alte Ostflügel von Iastrae Castle ein Rest der Siebten Burg des Königs Ernore war. Aus dem alten Pergament erfuhr ich, daß sich da in weit, weit zurückliegenden Tagen eine reichlich dreckige Geschichte abgespielt hatte. Anscheinend waren die Könige Alzof und Ernore wegen des Erb- und Geburtsrechts verfeindet gewesen, um die Wahrheit zu sagen; doch war es, von kleineren Überfällen und Beutezügen abgesehen, zu keinen Feindseligkeiten gekommen, bis Dian Tiansey das Lied der Narrheit auf König Ernore dichtete und vor König Alzof vortrug, dem es so gut gefiel, daß er Tiansey, dem Hofnarren, eine seiner Damen zum Eheweib gab. Bald darauf war das Lied landauf, landab in aller Leute Munde und gelangte schließlich auch König Ernore zu Ohren, welcher dermaßen wütend wurde, daß er seinen alten Feind mit Krieg überzog, ihn gefangennahm und samt seiner Burg verbrannte. Doch Dian Tiansey, den Hofnarren, nahm er mit sich auf die eigene Burg, und nachdem er ihm zur Vergeltung für das von ihm gedichtete und gesungene Lied die Zunge hatte herausreißen lassen, kerkerte er ihn in einem Zimmer im Ostflügel (das offensichtlich nicht gerade menschenfreundlichen Zwecken diente)
ein, wogegen er des Hofnarren Gattin ob ihrer Schönheit für sich behielt. Doch eines Nachts war die Frau verschwunden, und am nächsten Morgen fand man sie tot in den Armen ihres Mannes, der das Lied der Narrheit pfiff, welches er nicht mehr singen konnte. Daraufhin rösteten sie Dian Tiansey auf dem großen Kamin, wahrscheinlich auf dem nämlichen ›Galgeneisen‹, das ich schon einmal erwähnt habe. Und bis zum Tode ließ Dian Tiansey nicht ab, das Lied der Narrheit zu pfeifen, das zu singen er nicht mehr fähig war. Nachher ward ›in diesem Zimmer‹ wiederholt ein Pfeifen gehört, und ›es wirkte dort eine Macht‹, so daß niemand es wagte, in dem Raum zu schlafen. Und bald darauf begab sich der König, beunruhigt von dem Pfeifen, auf eine andere Burg. Das also ist die Geschichte. Freilich ist’s nur eine beiläufige Wiedergabe der Übersetzung des alten Pergaments. Ein bißchen absonderlich, das Ganze! Findet ihr nicht auch?« »Ja«, antwortete ich für alle anderen. »Aber wie konnte sich diese Sache zu einer dermaßen entsetzlichen Manifestation des Bösen auswachsen?« »In Fällen von der Art des ›Pfeifenden Zimmers‹ bringt die unabänderliche Weiterführung bestimmter Gedanken und Gefühle eine deutliche und direkte Einwirkung auf die sie unmittelbar umgebende Materie hervor«, versetzte Carnacki. »Es hat eines Zeitraums von Jahrhunderten bedurft, eine derartige Monstrosität zu entwickeln. Es war ein authentischer Fall von Saiitii-Manifestation, welche ich am besten erklären kann durch den Vergleich mit einem weiterwuchernden – geistigen – Geschwür, das gerade die Struktur der feinsten spirituellen Existenzformen, ätherischer Bestandteile sozusagen, in Mitleidenschaft zieht und natürlich hierbei eine wesentliche Kontrolle über die dazugehörige materielle Substanz erlangt. In wenigen Worten läßt sich solch komplizierter Prozeß nicht genauer erklären.« »Wer oder was zerriß das siebte Haar?« erkundigte sich Taylor. Aber Carnacki wußte hierüber nichts Konkretes. Er meinte, daß er es vermutlich zu sehr angespannt hatte. Er berichtete uns weiter noch, daß der Mann, der davongelaufen war, nicht Übles vorgehabt hatte, sondern
bloß heimlich herübergekommen war, um das Pfeifen zu hören, von dem man begreiflicherweise in der gesamten Umgebung redete. »Noch etwas anderes«, ließ sich Arkright vernehmen. »Hast du irgendeine Vorstellung, was es mit der Unbekannten Letzten Grenze des Saaamaaa-Rituals auf sich hat? Ich weiß selbstverständlich, daß es von den unmenschlichen Priestern bei der Anrufung des Raaaee angewandt wurde, doch wer oder was hat es benutzt, um dir beizustehen, und worin bestand die Wirkung?« »Du hättest lieber Harzams Monographie und meine Ergänzung dazu lesen sollen – dies Werk über astrale und ›asterielle‹ Koordination und Interferenz«, sagte Carnacki. »Es ist ein Gegenstand ungewöhnlicher Art, und ich kann hic et nunc lediglich ausführen, daß die Vibrationen menschlicher Ausstrahlung von denen der ›Sternenwelt‹ nicht getrennt werden können (wie man immer glaubt, daß es bei Interferenzen, die von außermenschlichen Kräften verursacht werden, der Fall ist), ohne ein unmittelbares Eingreifen jener Mächte hervorzurufen, die für das ›Gespinst der Äußeren Kreise‹, also für die Regierung von Regionen außerhalb der uns bekannten, zuständig sind. Mit anderen Worten: es zeigt sich von Zeit zu Zeit, daß irgendeine unerforschliche Macht beständig zwischen der Menschenseele (nicht dem Körper, wohlgemerkt!) und dem Bezirk des Unbekannten und Ungeheuerlichen vermittelt. Kann ich mich euch verständlich machen?« »Ja, ich glaube schon«, antwortete ich. »Und du bist also der Überzeugung, daß jenes Zimmer die materielle Ausdrucksmöglichkeit des Dian Tiansey geworden war – daß seine Seele, vergiftet von Haß, sich zu einem Ungeheuer weiterentwickelt hat?« Carnacki nickte. »Ich finde, daß du meine Gedanken recht gut ausgedrückt hast. Übrigens ist es ein sonderbarer Umstand, daß Miss Donnehue aller Wahrscheinlichkeit nach (wie ich vor kurzem erfahren habe) von König Ernore abstammt. Bringt einen auf ziemlich wunderliche Gedanken, nicht wahr? Ihre Hochzeit steht bevor, und das Zimmer erwacht zu neuem, spukhaftem Leben. Wenn sie jemals diesen Raum betreten hätte… was dann? Dieses Wesen hatte sehr lange gewartet. Die Sünden der Väter… Ja, all dies ist mir durch den Kopf gegangen. Nächste Woche findet die Hochzeit statt, und ich soll Brautführer sein – eine
Aufgabe, die ich gar nicht mag. Und Tassoc hat seine Wetten gewonnen, und ob! Doch was wär’ nur geschehen, wenn Miss Donnehue jemals das Zimmer betreten hätte? Ziemlich scheußliche Vorstellung, wie?« Carnacki nickte grimmig, und wir nickten gleichfalls. Dann erhob er sich und brachte uns alle zur Tür und schob uns freundschaftlich aufs Embankment und in die frische Nachtluft hinaus. »Gute Nacht«, riefen wir ihm zu und verschwanden in Richtung unserer Wohnungen. … falls sie das Zimmer betreten hätte, nun? Falls sie es getan hätte! Dieser Gedanke läßt mich nicht los.
OSCAR WILDE
Das Gespenst von Canterville I Als Mr. Hiram B. Otis, der amerikanische Gesandte, Schloß Canterville kaufte, sagte ihm ein jeder, daß er sehr töricht daran täte, da dieses Schloß ohne Zweifel verwünscht sei. Sogar Lord Canterville selbst, ein Mann von peinlichster Ehrlichkeit, hatte es als seine Pflicht betrachtet, diese Tatsache Mr. Otis mitzuteilen, bevor sie, den Verkauf abschlossen. »Wir haben selbst nicht in dem Schloß gewohnt«, sagte Lord Canterville, »seit meine Großtante, die Herzoginmutter von Bolton, einst vor Schreck in Krämpfe verfiel, von denen sie sich nie wieder erholte, weil ein Skelett seine beiden Hände ihr auf die Schultern legte, als sie gerade beim Ankleiden war. Ich fühlte mich verpflichtet, es Ihnen zu sagen, Mr. Otis, daß der Geist noch jetzt von verschiedenen Mitgliedern der Familie Canterville gesehen worden ist, sowie auch vom Geistlichen unserer Gemeinde, Hochwürden August Dampier, der in Ring’s College, Cambridge, den Doktor gemacht hat. Nach dem Malheur mit der Herzogin wollte keiner unserer Dienstboten mehr bei uns bleiben, und Lady Canterville konnte seitdem des Nachts häufig nicht mehr schlafen vor lauter unheimlichen Geräuschen, die vom Korridor und von der Bibliothek herkamen.« »Mylord«, antwortete der Gesandte, »ich will die ganze Einrichtung und den Geist dazu kaufen. Ich komme aus einem modernen Lande, wo wir alles haben, was mit Geld zu bezahlen ist; und ich meine, mit all unseren smarten jungen Leuten, die Ihnen Ihre besten Tenöre und Primadonnen abspenstig machen, daß, gäbe es wirklich noch so etwas wie ein Gespenst in Europa, wir dieses in allerkürzester Zeit drüben haben würden, in einem unserer öffentlichen Museen oder auf dem Jahrmarkt.« »Ich fürchte, das Gespenst existiert wirklich«, sagte Lord Canterville lächelnd, »wenn es auch bis jetzt Ihren Impresarios gegenüber sich ableh-
nend verhalten hat. Seit drei Jahrhunderten ist es wohlbekannt, genau gesprochen seit 1584, und es erscheint immer wieder regelmäßig, kurz bevor ein Glied unserer Familie stirbt.« »Nun, was das anbetrifft, das macht der Hausarzt gerade so, Lord Canterville. Aber es gibt ja doch gar keine Gespenster, und ich meine, daß die Gesetze der Natur sich nicht der britischen Aristokratie zuliebe aufheben lassen.« »Sie sind jedenfalls sehr aufgeklärt in Amerika«, antwortete Lord Canterville, der Mr. Otis’ letzte Bemerkung nicht ganz verstanden hatte, »und wenn das Gespenst im Hause Sie nicht weiter stört, so ist ja alles in Ordnung. Sie dürfen nur nicht vergessen, daß ich Sie gewarnt habe.« Wenige Wochen später war der Kauf abgeschlossen, und gegen Ende der Saison bezog der Gesandte mit seiner Familie Schloß Canterville. Mrs. Otis, die als Miß Lucretia R. Tappan, W. 53. Straße, Neu York, für eine große Schönheit gegolten hatte, war jetzt eine sehr hübsche Frau in mittleren Jahren, mit schönen Augen und einem tadellosen Profil. Viele Amerikanerinnen, die ihre Heimat verlassen, nehmen mit der Zeit das Gebaren einer chronischen Kränklichkeit an, da sie dies für ein Zeichen europäischer Kultur ansehen; aber Mrs. Otis war nie in diesen Irrtum verfallen. Sie besaß eine vortreffliche Konstitution und einen hervorragenden Unternehmungsgeist. So war sie wirklich in vieler Hinsicht völlig englisch und ein vorzügliches Beispiel für die Tatsache, daß wir heutzutage alles mit Amerika gemein haben, ausgenommen natürlich die Sprache. Ihr ältester Sohn, den die Eltern in einem heftigen Anfall von Patriotismus Washington genannt hatten, was er zeit seines Lebens beklagte, war ein blonder, hübscher junger Mann, der sich dadurch für den diplomatischen Dienst geeignet gezeigt hatte, daß er im Newport Casino während dreier Winter die Francaisen kommandierte und sogar in London als vorzüglicher Tänzer galt. Gardenien und der Adelskalender waren seine einzigen Schwächen. Im übrigen war er außerordentlich vernünftig. Miß Virginia E. Otis war ein kleines Fräulein von fünfzehn Jahren, graziös und lieblich wie ein junges Reh und mit schönen, klaren blauen Augen. Sie saß brillant zu Pferde und hatte einmal auf ihrem Pony mit dem alten Lord Bilton ein Wettrennen um den Park veranstaltet, wobei sie mit anderthalb Pferdelängen Siegerin geblieben war, gerade vor der Achillesstatue, zum ganz besonderen Entzücken des jungen Herzogs von
Cheshire, der sofort um ihre Hand anhielt und noch denselben Abend unter Strömen von Tränen nach Eton in seine Schule zurückgeschickt wurde. Nach Virginia kamen die Zwillinge, entzückende Buben, die in der Familie, mit Ausnahme des Hausherrn natürlich, die einzigen echten Republikaner waren. Da Schloß Canterville acht Meilen von der nächsten Eisenbahnstation Ascot entfernt liegt, hatte Mr. Otis den Wagen bestellt, sie da abzuholen, und die Familie befand sich in der heitersten Stimmung. Es war ein herrlicher Juliabend, und die Luft war voll vom frischen Duft der nahen Tannenwälder. Ab und zu ließ sich die süße Stimme der Holztaube in der Ferne hören, und ein buntglänzender Fasan raschelte durch die hohen Farnkräuter am Wege. Eichhörnchen blickten den Amerikanern von den hohen Buchen neugierig nach, als sie vorbeifuhren, und die wilden Kaninchen ergriffen die Flucht und schossen durch das Unterholz und die moosigen Hügelchen dahin, die weißen Schwänzchen hoch in der Luft. Als man in den Park von Schloß Canterville einbog, bedeckte sich der Himmel plötzlich mit dunklen Wolken; die Luft schien gleichsam stillzustehen; ein großer Schwarm Krähen flog lautlos über ihren Häuptern dahin, und ehe man noch das Haus erreichte, fiel der Regen in dicken, schweren Tropfen. Auf der Freitreppe empfing sie eine alte Frau in schwarzer Seide mit weißer Haube und Schürze: das war Mrs. Umney, die Wirtschafterin, die Mrs. Otis auf Lady Cantervilles inständiges Bitten in ihrer bisherigen Stellung behalten wollte. Sie machte jedem einen tiefen Knicks, als sie nacheinander ausstiegen, und sagte in einer eigentümlich altmodischen Art: »Ich heiße Sie auf Schloß Canterville willkommen.« Man folgte ihr ins Haus, durch die schöne alte Tudorhalle in die Bibliothek, ein langes, niedriges Zimmer mit Täfelung von schwarzem Eichenholz und einem großen bunten Glasfenster. Hier war der Tee für die Herrschaften gerichtet; und nachdem sie sich ihrer Mäntel entledigt, setzten sie sich und sahen sich um, während Mrs. Umney sie bediente. Da bemerkte Mrs. Otis plötzlich einen großen roten Fleck auf dem Fußboden, gerade vor dem Kamin, und in völliger Unkenntnis von dessen Bedeutung sagte sie zu Mrs. Umney: »Ich fürchte, da hat man aus Unvorsichtigkeit etwas verschüttet.«
»Ja, gnädige Frau«, erwiderte die alte Haushälterin leise, »auf jenem Fleck ist Blut geflossen.« »Wie gräßlich!« rief Mrs. Otis. »Ich liebe durchaus nicht Blutflecke in einem Wohnzimmer. Er muß sofort entfernt werden.« Die alte Frau lächelte und erwiderte mit derselben leisen, geheimnisvollen Stimme: »Es ist das Blut von Lady Eleanore de Canterville, welche hier auf dieser Stelle von ihrem eigenen Gemahl, Sir Simon de Canterville, im Jahre 1575 ermordet wurde. Sir Simon überlebte sie um neun Jahre und verschwand dann plötzlich unter ganz geheimnisvollen Umständen. Sein Leichnam ist nie gefunden worden, aber sein schuldbeladener Geist geht noch jetzt hier im Schlosse um. Der Blutfleck wurde schon so oft von Reisenden bewundert und kann durch nichts entfernt werden.« »Das ist alles Humbug«, rief Washington Otis, »Pinkertons UniversalFleckenreiniger wird ihn im Nu beseitigen«; und ehe noch die erschrockene Haushälterin ihn davon zurückhalten konnte, lag er schon auf den Knien und scheuerte die Stelle am Boden mit einem kleinen Stumpf von etwas, das schwarzer Bartwichse ähnlich sah. In wenigen Augenblicken war keine Spur mehr von dem Blutfleck zu sehen. »Na, ich wußte ja, daß Pinkerton das machen würde«, rief er triumphierend, während er sich zu seiner bewundernden Familie wandte; aber kaum hatte er diese Worte gesagt, da erleuchtete ein greller Blitz das düstere Zimmer, und ein tosender Donnerschlag ließ sie alle in die Höhe fahren, während Mrs. Umney in Ohnmacht fiel. »Was für ein schauderhaftes Klima!« sagte der amerikanische Gesandte ruhig, während er sich eine neue Zigarette ansteckte. »Wahrscheinlich ist dieses alte Land so übervölkert, daß sie nicht mehr genug anständiges Wetter für jeden haben. Meiner Ansicht nach ist Auswanderung das einzig Richtige für England.« »Mein lieber Hiram«, sprach Mrs. Otis, »was sollen wir bloß mit einer Frau anfangen, die ohnmächtig wird?« »Rechne es ihr an, als ob sie etwas zerschlagen hätte, dann wird es nicht wieder vorkommen«, sagte der Gesandte, und in der Tat, schon nach wenigen Augenblicken kam Mrs. Umney wieder zu sich. Aber es war kein Zweifel, daß sie sehr aufgeregt war, und sie warnte Mr. Otis, es stände seinem Hause ein Unglück bevor. »Ich habe mit meinen eigenen
Augen Dinge gesehen, Herr«, sagte sie, »daß jedem Christenmenschen die Haare davon zu Berge stehen würden, und manche Nacht habe ich kein Auge zugetan aus Furcht vor dem Schrecklichen, das hier geschehen ist.« Jedoch Herr und Frau Otis beruhigten die ehrliche Seele, erklärten, daß sie sich nicht vor Gespenstern fürchteten, und nachdem die alte Haushälterin noch den Segen der Vorsehung auf ihre neue Herrschaft herabgefleht und um Erhöhung ihres Gehaltes gebeten hatte, schlich sie zitternd auf ihre Stube. II Der Sturm wütete die ganze Nacht hindurch, aber sonst ereignete sich nichts von besonderer Bedeutung. Am nächsten Morgen jedoch, als die Familie zum Frühstück herunterkam, fanden sie den fürchterlichen Blutfleck wieder unverändert auf dem Fußboden. »Ich glaube nicht, daß die Schuld hiervon an Pinkertons Fleckenreiniger liegt«, erklärte Washington, »denn den habe ich immer mit Erfolg angewendet – es muß also das Gespenst sein.« Er rieb nun zum zweitenmal den Fleck weg, aber am nächsten Morgen war er gleichwohl wieder da. Ebenso am dritten Morgen, trotzdem Mr. Otis selbst die Bibliothek am Abend vorher zugeschlossen und den Schlüssel in die Tasche gesteckt hatte. Jetzt interessierte sich die ganze Familie für die Sache. Mr. Otis fing an zu glauben, daß es doch allzu skeptisch von ihm gewesen sei, die Existenz aller Gespenster zu leugnen. Mrs. Otis sprach die Absicht aus, der Psychologischen Gesellschaft beizutreten, und Washington schrieb einen langen Brief an die Herren Myers & Podmore über die Unvertilgbarkeit blutiger Flecken im Zusammenhang mit Verbrechen. In der darauffolgenden Nacht nun wurde jeder Zweifel an der Existenz von Gespenstern für immer endgültig beseitigt. Den Tag über war es heiß und sonnig gewesen, und in der Kühle des Abends fuhr die Familie spazieren. Man kehrte erst gegen neun Uhr zurück, worauf das Abendessen eingenommen wurde. Die Unterhaltung berührte in keiner Weise Gespenster; es war also nicht einmal die Grundbedingung jener erwartungsvollen Aufnahmefähigkeit gegeben, welche so oft dem Erscheinen solcher Phänomene vorangeht. Die Gesprächsthemata waren, wie mir Mrs. Otis seitdem mitgeteilt hat, lediglich solche, wie sie unter gebildeten Amerikanern der besseren Klasse üblich sind, wie z. B. die ungeheure Überlegenheit von
Miß Fanny Davenport über Sarah Bernhard als Schauspielerin; die Schwierigkeit, Grünkern- und Buchweizenkuchen selbst in den besten englischen Häusern zu bekommen; die hohe Bedeutung von Boston in Hinsicht auf die Entwicklung der Weltseele; die Vorzüge des Freigepäcksystems beim Eisenbahnfahren; und die angenehme Weichheit des Neu Yorker Akzents im Gegensatz zum schleppenden Londoner Dialekt. In keiner Weise wurde weder das Übernatürliche berührt, noch von Sir Simon de Canterville gesprochen. Um elf Uhr trennte man sich, und eine halbe Stunde darauf war bereits alles dunkel. Da plötzlich wachte Mr. Otis von einem Geräusch auf dem Korridor vor seiner Tür auf. Es klang wie Rasseln von Metall und schien mit jedem Augenblick näher zu kommen. Der Gesandte stand sofort auf, zündete ein Licht an und sah nach der Uhr. Es war Punkt eins. Er war ganz ruhig und fühlte sich den Puls, der nicht im geringsten fieberhaft war. Das sonderbare Geräusch dauerte fort, und er hörte deutlich Schritte. Er zog die Pantoffel an, nahm eine längliche Phiole von seinem Toilettentisch und öffnete die Tür. Da sah er, sich direkt gegenüber, im blassen Schein des Mondes, einen alten Mann von ganz greulichem Aussehen stehen. Des Alten Augen waren rot wie brennende Kohlen; langes graues Haar fiel in wirren Locken über seine Schultern; seine Kleidung von altmodischem Schnitt war beschmutzt und zerrissen, und schwere rostige Fesseln hingen ihm an Füßen und Händen. »Mein lieber Herr«, sagte Mr. Otis, »ich muß Sie schon bitten, Ihre Ketten etwas zu schmieren, und ich habe Ihnen zu dem Zweck hier eine kleine Flasche von Tammanys Rising Sun Lubricator mitgebracht. Man sagt, daß schon ein einmaliger Gebrauch genügt, und auf der Enveloppe finden Sie die glänzendsten Atteste hierüber von unseren hervorragendsten einheimischen Geistlichen. Ich werde es Ihnen hier neben das Licht stellen und bin mit Vergnügen bereit, Ihnen auf Wunsch mehr davon zu besorgen.« Mit diesen Worten stellte der Gesandte der Unionsstaaten das Fläschchen auf einen Marmortisch, schloß die Tür und legte sich wieder zu Bett. Für einen Augenblick war das Gespenst von Canterville ganz starr vor Entrüstung; dann schleuderte es die Flasche wütend auf den Boden und floh den Korridor hinab, indem es ein dumpfes Stöhnen ausstieß und ein gespenstisch grünes Licht um sich verbreitete. Als es gerade die große eichene Treppe erreichte, öffnete sich eine Tür, zwei kleine weißgeklei-
dete Gestalten erschienen, und ein großes Kissen sauste an seinem Kopf vorbei. Da war augenscheinlich keine Zeit zu verlieren; und indem es hastig die vierte Dimension als Mittel zur Flucht benutzte, verschwand es durch die Täfelung, worauf das Haus ruhig wurde. Als das Gespenst ein kleines geheimes Zimmer im linken Schloßflügel erreicht hatte, lehnte es sich erschöpft gegen einen Mondstrahl, um erst wieder zu Atem zu kommen, und versuchte sich seine Lage klarzumachen. Niemals war es in seiner glänzenden und ununterbrochenen Laufbahn von dreihundert Jahren so gröblich beleidigt worden. Es dachte an die Herzogin-Mutter, die bei seinem Anblick Krämpfe bekommen hatte, als sie in ihren Spitzen und Diamanten vor dem Spiegel stand; an die vier Hausmädchen, die hysterisch wurden, als es sie bloß durch die Vorhänge eines der unbewohnten Schlafzimmer hindurch anlächelte; an den Pfarrer der Gemeinde, dessen Licht es eines Nachts ausgeblasen, als derselbe einmal spät aus der Bibliothek kam, und der seitdem beständig bei Sir William Gull, geplagt von Nervenstörungen, in Behandlung war; an die alte Madame du Tremouillac, die, als sie eines Morgens früh aufwachte und in ihrem Lehnstuhl am Kamin ein Skelett sitzen sah, das ihr Tagebuch las, darauf sechs Wochen fest im Bett lag an der Gehirnentzündung und nach ihrer Genesung eine treue Anhängerin der Kirche wurde und jede Verbindung mit dem bekannten Freigeist Monsieur de Voltaire abbrach. Es erinnerte sich der entsetzlichen Nacht, als der böse Lord Canterville in seinem Ankleidezimmer halb erstickt gefunden wurde mit dem Karobuben im Halse und gerade noch, ehe er starb, beichtete, daß er Charles James Fox vermittelst dieser Karte bei Crockfords um fünfzigtausend Pfund Sterling betrogen hatte und daß ihm nun das Gespenst die Karte in den Hals gesteckt habe. Alle seine großen Taten kamen ihm ins Gedächtnis zurück, von dem Kammerdiener an, der sich in der Kirche erschoß, weil er eine grüne Hand hatte an die Scheiben klopfen sehen, bis zu der schönen Lady Stutfield, die immer ein schwarzes Samtband um den Hals tragen mußte, damit die Spur von fünf in ihre weiße Haut eingebrannten Fingern verdeckt wurde, und die sich schließlich in dem Karpfenteich am Ende der Königspromenade ertränkte. Mit dem begeisterten Egoismus des echten Künstlers versetzte es sich im Geiste wieder in seine hervorragendsten
Rollen und lächelte bitter, als es an sein letztes Auftreten als »Roter Ruben oder das erwürgte Kind« dachte, oder sein Debüt als »Riese Gibeon, der Blutsauger von Bexley Moor« und das Furore, das es eines schönen Juliabends gemacht hatte, als es ganz einfach auf dem Tennisplatz mit seinen eigenen Knochen Kegel spielte. Und nach alledem kommen solche elenden modernen Amerikaner, bieten ihm Rising Sun-Öl an und werfen ihm Kissen an den Kopf! Es war nicht auszuhalten. So war noch niemals in der Weltgeschichte ein Gespenst behandelt worden. Es schwur demgemäß Rache und blieb bis Tagesanbruch in tiefe Gedanken versunken. III Als am nächsten Morgen die Familie Otis zum Frühstück zusammenkam, wurde das Gespenst natürlich des längeren besprochen. Der Gesandte der Unionsstaaten war selbstverständlich etwas ungehalten, daß sein Geschenk so mißachtet worden war. »Ich habe durchaus nicht die Absicht«, erklärte er, »dem Geist irgendeine persönliche Beleidigung zuzufügen, und ich muß sagen, daß es aus Rücksicht auf die lange Zeit, die er nun schon hier im Hause wohnt, nicht höflich ist, ihn mit Kissen zu bewerfen« – eine sehr wohlangebrachte Bemerkung, bei welcher, wie ich leider gestehen muß, die Zwillinge in ein lautes Gelächter ausbrachen. »Andererseits«, fuhr Mr. Otis fort, »wenn er wirklich und durchaus den Rising Sun Lubricator nicht benutzen will, so werden wir ihm seine Ketten fortnehmen müssen; bei dem Lärm auf dem Korridor kann man ganz unmöglich schlafen.« Die Schloßbewohner blieben jedoch die ganze Woche hindurch ungestört, und das einzige, was ihre Aufmerksamkeit erregte, war die beständige Erneuerung des Blutfleckes auf dem Boden der Bibliothek. Das war jedenfalls sehr sonderbar, da die Tür und das Fenster des Nachts immer fest verschlossen und verriegelt waren. Auch die wechselnde Farbe des Fleckes rief die verschiedensten Vermutungen hervor. Denn zuweilen war er ganz mattrot, dann wieder leuchtend, oder auch tiefpurpurn, und als einmal die Familie zur Vesper herunterkam, fand sie ihn hell smaragdgrün! Diese koloristischen Metamorphosen amüsierten natürlich die Gesellschaft sehr, und jeden Abend wurden schon Wetten darüber ge-
schlossen. Die einzige, welche nicht auf diesen und keinen anderen Scherz einging, war die kleine Virginia, die aus irgendeinem unaufgeklärten Grunde immer sehr betrübt beim Anblick des Blutfleckes war und an dem Morgen, an dem er smaragdgrün leuchtete, bitterlich zu weinen anfing. Das zweite Auftreten des Gespenstes war am Sonntag abend. Kurz nachdem auch die männlichen Erwachsenen zu Bett gegangen waren, wurden sie plötzlich durch ein furchtbares Getöse in der Eingangshalle aufgeschreckt. Alle stürzten hinunter und fanden dort, daß eine alte Rüstung von ihrem Ständer auf den Steinboden gefallen war, während das Gespenst von Canterville in einem hochlehnigen Armstuhl saß und sich seine Knie mit einer Gebärde verzweifelten Schmerzes rieb. Die Zwillinge hatten ihre Flitzbogen mitgebracht und schossen zweimal nach ihm mit einer Treffsicherheit, die sie sich durch lange sorgfältige Übungen nach ihrem Schreiblehrer erworben hatten. Der Gesandte der Unionsstaaten richtete unterdessen seinen Revolver auf den Geist und rief ihm nach kalifornischer Etikette zu: »Hände hoch!« Der Geist fuhr mit einem wilden Wutgeheul in die Höhe und mitten durch die Familie hin wie ein Rauch, indem er noch Washingtons Kerzenlicht ausblies und sie alle in völliger Dunkelheit zurückließ. Oben an der Treppe erholte sich das Gespenst wieder und beschloß, in sein berühmtes diabolisches Gelächter auszubrechen; das hatte sich ihm bei mehr als einer Gelegenheit schon nützlich erwiesen. Es soll Lord Rakers Perücke in einer einzigen Nacht gebleicht haben und hat jedenfalls drei der französischen Gouvernanten von Lady Canterville so entsetzt, daß sie vor der Zeit und ohne Kündigung ihre Stellungen aufgaben. So lachte er denn also jetzt dieses sein fürchterlichstes Lachen, bis das alte hochgewölbte Dach davon gellte; aber kaum war das letzte grausige Echo verhallt, da öffnete sich eine Tür, und Mrs. Otis kam heraus in einem hellblauen Morgenrock. »Ich fürchte, Ihnen ist nicht ganz wohl«, sagte sie, »und deshalb bringe ich Ihnen eine Flasche von Dr. Dobells Tropfen. Wenn es Verdauungsbeschwerden sind, so werden Sie finden, daß sie ein ganz vorzügliches Mittel sind.« Der Geist betrachtete sie zornrot und wollte sich auf der Stelle in einen großen schwarzen Hund verwandeln – ein Kunststück, wodurch er mit Recht berühmt war und dem der Hausarzt die Geistesgestörtheit von Lord Cantervilles Onkel, Herrn Thomas Horton, zuschrieb. Da hörte er
aber Schritte, und das ließ ihn von seinem grausen Vorhaben abstehen; er begnügte sich damit, phosphoreszierend zu werden, und verschwand mit einem dumpfen Kirchhofswimmern gerade in dem Moment, als die Zwillinge auf ihn zukamen. Als der Geist sein Zimmer erreicht hatte, brach er völlig zusammen und verfiel in einen Zustand heftiger Gemütsbewegung. Die Roheit der Zwillinge und der krasse Materialismus von Mrs. Otis waren natürlich außerordentlich verstimmend; aber was ihn am meisten betrübte, war doch, daß er die alte Rüstung nicht mehr hatte tragen können. Er hatte gehofft, daß sogar moderne Amerikaner erschüttert sein würden beim Anblick eines Gespenstes in Waffenrüstung, wenn auch aus keinem anderen vernünftigen Grunde, so doch aus Achtung vor ihrem Nationalpoeten Longfellow, bei dessen graziöser und anziehender Poesie er selbst so manche Stunde hingebracht hatte, während die Cantervilles in London waren. Und dabei war es noch seine eigene Rüstung! Er hatte sie mit großem Erfolg auf dem Turnier in Kenilworth getragen und darüber von niemand Geringerem als der jungfräulichen Königin selber viel Schmeichelhaftes gesagt bekommen. Und als er die Rüstung heute anlegen wollte, hatte ihn das Gewicht des alten Panzers und Stahlhelmes so erdrückt, daß er darunter zu Boden gestürzt war, sich beide Knie heftig zerschlagen und die rechte Hand verstaucht hatte. Mehrere Tage lang fühlte er sich nach diesem Vorfall ernstlich krank und verließ sein Zimmer nur, um den Blutfleck in Ordnung zu halten. Da er sich sonst jedoch sehr schonte, erholte er sich bald wieder und beschloß, noch einen dritten Versuch zu machen, den Gesandten und seine Familie in Schrecken zu jagen. Er wählte zu diesem seinem Auftreten Freitag, den 13. August, und beschäftigte sich den ganzen Tag damit, seine Kleidervorräte zu prüfen, bis er schließlich einen großen weichen Hut mit roter Feder, ein Laken mit Rüschen an Hals und Armen und einen rostigen Dolch wählte. Gegen Abend kam ein heftiger Regenschauer, und der Sturm rüttelte gewaltig an allen Türen und Fenstern des alten Hauses. Das war gerade das Wetter, wie er es liebte. Sein Plan war folgender: Er wollte sich ganz leise nach Washingtons Zimmer schleichen, ihm vom Fußende des Bettes aus wirres Zeug vorschwatzen und sich dann beim Klange leiser geisterhafter Musik dreimal den Dolch ins Herz stoßen. Er war auf Washington ganz besonders böse, weil er wuß-
te, daß dieser es war, der immer wieder den Blutfleck mit Pinkertons Fleckenreiniger entfernte. Wenn er dann den frivolen und tollkühnen Jüngling in den namenlosen Schrecken versetzt hatte, so wollte er sich nach dem Schlafzimmer von Herrn und Frau Otis begeben und dort eine eiskalte Hand Mrs. Otis auf die Stirn legen, während er ihrem zitternden Mann die entsetzlichen Geheimnisse des Beinhauses ins Ohr zischelte. Was die kleine Virginia anbetraf, so war er über sie noch nicht ganz im reinen. Sie hatte ihn nie in irgendeiner Weise beleidigt und war hübsch und sanft. Einige tiefe Seufzer aus dem Kleiderschrank würden mehr als genug für sie sein, dachte er, und wenn sie davon noch nicht aufwachte, so könnte er ja mit zitternden Fingern an ihrem Bettuch zerren. In bezug auf die Zwillinge war er aber fest entschlossen, ihnen eine ordentliche Lektion zu erteilen. Das erste war natürlich, daß er sich ihnen auf die Brust setzte, um das erstickende Gefühl eines Alpdrückens hervorzurufen. Dann würde er, da ihre Betten dicht nebeneinander standen, in der Gestalt eines grünen, eiskalten Leichnams zwischen ihnen stehen, bis sie vor Schrecken gelähmt waren; und zum Schluß wollte er mit weißgebleichten Knochen und einem rollenden Augapfel ums Zimmer herumkriechen als ›Stummer Daniel oder das Skelett des Selbstmörders‹. Diese Rolle hatte bei mehr als einer Gelegenheit den allergrößten Effekt gemacht und schien ihm so gut zu sein wie seine berühmte Darstellung des ›Martin, des Verrückten, oder das verhüllte Geheimnis‹. Um halb elf Uhr hörte er die Familie zu Bette gehen. Er wurde noch einige Zeit durch das Lachgebrüll der Zwillinge gestört, die mit der leichtfertigen Heiterkeit von Schuljungen sich augenscheinlich herrlich amüsierten, ehe sie zu Bett gingen; aber um ein viertel zwölf Uhr war alles still; und als es Mitternacht schlug, machte er sich auf den Weg. Die Eule schlug mit den Flügeln gegen die Fensterscheiben, der Rabe krächzte von dem alten Eichbaum, und der Wind ächzte durch das Haus wie eine verlorene Seele; aber die Familie Otis schlief, unbekümmert um das nahende Verhängnis, und durch und trotz Regen und Sturm hörte man das regelmäßige Schnarchen des Gesandten der Union. Da trat der Geist leise aus der Vertäfelung hervor, mit einem bösen Lächeln um den grausamen, faltigen Mund, so daß sogar der Mond sein Gesicht verbarg, als er an dem hohen Fenster vorüberglitt, auf dem das Wappen des Gespenstes und das seiner ermordeten Frau in Gold und Hellblau gemalt
waren. Leise schlürfte er weiter, wie ein böser Schatten; die Dunkelheit selber schien sich vor ihm zu grausen, wie er vorbeihuschte. Einmal kam es ihm vor, als hörte er jemand rufen; er stand still; aber es war nur das Bellen eines Hundes auf dem nahen Bauernhof, und so schlich er weiter, während er wunderliche Flüche aus dem sechzehnten Jahrhundert vor sich hin murmelte und dann und wann mit dem rostigen Dolch in der Luft herumstach. Nun hatte er die Ecke des Korridors erreicht, der zu des unglücklichen Washington Zimmer führte. Einen Augenblick blieb er da stehen, und der Wind blies ihm seine langen grauen Locken um den Kopf und spielte ein fantastisches und groteskes Spiel mit den umheimlichen Falten des Leichentuches. Da schlug die Uhr ein viertel, und er fühlte, jetzt sei die Zeit gekommen. Er lächelte zufrieden vor sich hin und machte einen Schritt um die Ecke; aber kaum tat er das, da fuhr er mit einem jammervollen Schreckenslaut zurück und verbarg sein erblaßtes Gesicht in den langen knochigen Händen: Gerade vor ihm stand ein entsetzliches Gespenst, bewegungslos wie eine gemeißelte Statue und fürchterlich wie der Traum eines Wahnsinnigen! Der Kopf war kahl und glänzend, das Gesicht rund und fett und weiß, und gräßliches Lachen schien seine Züge in ein ewiges Grinsen verzerrt zu haben. Aus den Augen kamen rote Lichtstrahlen, der Mund war eine weite Feuerhöhle, und ein scheußliches Gewand, seinem eigenen ähnlich, verhüllte mit seinem schneeigen Weiß die Gestalt des Riesen. Auf seiner Brust war ein Plakat befestigt, mit einer sonderbaren Schrift in alten ungewöhnlichen Buchstaben – wohl irgendein Bericht wilder Missetaten, ein schmähliches Verzeichnis schauerlicher Verbrechen – und in seiner rechten Hand hielt das Ungeheuer eine Keule von blitzendem Stahl. Da der Geist noch nie in seinem Leben ein Gespenst gesehen hatte, so war er natürlich furchtbar erschrocken; und nachdem er noch einen zweiten hastigen Blick auf die entsetzliche Erscheinung geworfen hatte, floh er nach seinem Zimmer zurück, stolperte über sein langes Laken, als er den Korridor herunterraste, und ließ schließlich noch seinen Dolch in die hohen Jagdstiefel des Gesandten fallen, wo ihn der Kammerdiener am nächsten Morgen fand. In seinem Zimmer angekommen, warf er sich auf das schmale Feldbett und verbarg sein Gesicht unter der Decke. Nach einer Weile jedoch rührte sich der tapfere alter Cantervillecharakter doch wieder, und der Geist beschloß, sobald der Tag graute, zu dem
anderen Geist zu gehen und ihn anzureden. Kaum begann es zu dämmern, da machte er sich auf und ging zur Stelle, wo seine Augen zuerst das gräßliche Phantom erblickt hatten; denn er fühlte, es sei doch schließlich angenehmer, zwei Gespenster zusammen zu sein, als eins allein, und daß er mit Hilfe dieses neuen Freundes erfolgreich gegen die Zwillinge zu Felde ziehen könne. Als er jedoch an die Stelle kam, bot sich ihm ein fürchterlicher Anblick. Dem Gespenst war jedenfalls ein Unglück passiert, denn in seinen hohlen Augen war das Licht erloschen, die glänzende Keule war seiner Hand entfallen und es selber lehnte in einer höchst unbequemen, gezwungenen Stellung an der Wand. Er stürzte vorwärts und zog es am Arme, da fiel zu seinem Entsetzen der Kopf ab, rollte auf den Boden, der Körper fiel in sich zusammen, und er hielt in seinen Händen eine weiße Bettgardine, mit einem Besenstiel und einem Küchenbeil, während zu seinen Füßen ein hohler Kürbis lag! Unfähig, diese wunderbare Veränderung zu begreifen, packte er mit wilder Hast das Plakat, und da las er im grauen Licht des Morgens die fürchterlichen Worte: Das Otis-Gespenst. Der einzig wahre und originale Spuk. Vor Nachahmung wird gewarnt. Alle andern sind unecht. Jetzt war ihm alles klar. Man hatte ihn zum besten gehabt, und er war hineingefallen! Der alte wilde Cantervilleblick kam in seine Augen; er kniff den zahnlosen Mund zusammen, und indem er seine knochigen Hände hoch in die Höhe warf, schwur er in der pittoresken Phraseologie des alten Stils: Wenn Chanticleer zum zweitenmal in sein lustiges Horn stieße, würden entsetzliche Bluttaten geschehen, und Mord würde auf leisen Sohlen durchs Haus schleichen. Kaum hatte er diesen furchtbaren Schwur zu Ende geschworen, als vom roten Ziegeldach eines Bauernhofes der Hahn krähte. Das Gespenst lachte ein langes, dumpfes, bitteres Lachen und wartete. Stunde auf Stunde verrann, aber der Hahn krähte aus irgendeinem Grunde nicht wieder. Endlich ließ ihn um halb acht das Kommen der Hausmädchen
seine grausige Nachtwache aufgeben, und er ging nach seinem Zimmer, in tiefen Gedanken über seinen vergeblichen Schwur und sein vereiteltes Vorhaben. Er schlug in verschiedenen alten Ritterbüchern nach, was er außerordentlich liebte und fand, daß noch jedesmal, wo dieser Schwur getan, Chanticleer ein zweitesmal gekräht hatte. »Zum Teufel mit dem faulen Hahn«, brummte er, »hätte ich doch den Tag erlebt, wo ich mit meinem sicheren Speer ihm durch die Gurgel gefahren wäre, und da würde er, wenn auch schon im Sterben, für mich zweimal haben krähen müssen!« Hierauf legte er sich in einem kostbaren ehernen Sarg zur Ruhe und blieb da bis zum späten Abend. IV Am folgenden Tage war der Geist sehr schwach und müde. Die furchtbaren Aufregungen der letzten vier Wochen fingen an, ihn anzugreifen, seine Nerven waren völlig kaputt, und beim geringsten Geräusch fuhr er erschreckt in die Höhe. Fünf Tage lang blieb er still auf seinem Zimmer und fand sich darein, die ewige Sorge um den Blutfleck in der Bibliothek aufzugeben. Wenn die Familie Otis den Fleck nicht zu haben wünschte, so war sie ihn auch nicht wert. Das waren überhaupt augenscheinlich Leute von ganz niederer Bildung und völlig unfähig, den symbolischen Wert eines Hausgespenstes zu würdigen. Die Frage nach überirdischen Erscheinungen und der Entwicklung der Himmelskörper, war natürlich eine ganz andere Sache, aber die ging ihn nichts an. Seine heilige Pflicht war es, einmal in der Woche auf dem Korridor zu spuken und jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat von dem großen bunten Glasfenster aus in die Halle hinab wirres Zeug zu schwatzen: von diesen beiden Verpflichtungen konnte er sich ehrenhalber nicht freimachen. Gewiß war ja sein Leben ein äußerst böses gewesen, aber andererseits mußte man zugeben, daß er in allen Dingen, die mit dem Übernatürlichen zusammenhingen, außerordentlich gewissenhaft war. Mit dieser Gewissenhaftigkeit wanderte er also an den folgenden drei Freitagen wie gewöhnlich zwischen zwölf und drei Uhr die Korridore auf und gab, gab aber schrecklich darauf acht, daß er weder gehört noch gesehen wurde. Er zog die Stiefel aus und trat so leise wie möglich auf die alten wurmstichigen Böden; er trug einen weiten schwarzen Samtmantel und gebrauchte den Rising Sun Lubricator gewissenhaft, um seine Ketten damit
zu schmieren. Dies letzte Vorsichtsmittel benutzte er, wie ich zugeben muß, erst nach vielen Schwierigkeiten. Eines Abends jedoch, während die Familie gerade beim Essen saß, schlich er sich in Mr. Otis’ Schlafzimmer und holte sich die Flasche. Zuerst fühlte er sich wohl ein wenig gedemütigt, aber schließlich war er doch vernünftig genug, einzusehen, daß diese Erfindung etwas für sich hatte, und jedenfalls diente sie bis zu einem gewissen Grade seinen Zwecken. Aber trotz alledem ließ man ihn noch immer nicht ganz unbelästigt. Beständig waren Stricke über den Korridor gespannt, über die er im Dunkeln natürlich fiel; und eines Abends, als er gerade als ›Schwarzer Isaak oder der Jäger vom Hogleywald‹ angezogen war, stürzte er plötzlich heftig zu Boden, weil er auf einer Schleifbahn von Butter, welche die Zwillinge vom Tapetenzimmer bis zur Eichentreppe hergerichtet hatten, ausgeglitten war. Diese letzte Beleidigung brachte ihn so in Wut, daß er beschloß, nur noch eine letzte Anstrengung zu machen, um seine Würde und seine gesellschaftliche Stellung zu sichern, und dies sollte (damit geschehen, daß er den frechen jungen Etonschülern die nächste Nacht in seiner berühmten Rolle als ›Kühner Ruprecht oder der Graf ohne Kopf‹ erscheinen wollte. Seit mehr als siebzig Jahren war er nicht in dieser Rolle aufgetreten, seit er damals die hübsche Lady Barbare Modish so damit erschreckt hatte, daß sie plötzlich ihre Verlobung mit dem Großvater des jetzigen Lord Canterville auflöste und statt dessen mit dem schönen Jack Castletown nach Gretna Green floh, indem sie erklärte, um keinen Preis der Welt in eine Familie hineinheiraten zu wollen, die einem abscheulichen Gespenst erlaube, in der Dämmerung auf der Terrasse spazierenzugehen. Der arme Jack wurde später vom Lord Canterville im Duell am Wandsworthgehölz erschossen, und Lady Barbara starb, noch ehe das Jahr vergangen war, in Tunbridge Wells an gebrochenem Herzen; so war also damals sein Erscheinen von größtem Erfolg gewesen. Aber es war mit dieser Rolle sehr viel Mühe verbunden, wenn ich so sagen darf, in Hinsicht auf eines der größten Geheimnisse des Übernatürlichen, und er brauchte volle drei Stunden zu den Vorbereitungen. Endlich war alles fertig, und er war sehr zufrieden mit seinem Aussehen. Die großen ledernen Reitstiefel, die zum Kostüm gehörten, waren ihm zwar ein bißchen zu weit, und er konnte nur eine der beiden großen Pistolen finden; aber im ganzen genommen war er doch befriedigt von sich, und um ein
viertel nach ein Uhr glitt er aus der Wandtäfelung hervor und schlich den Korridor hinab. Als er das Zimmer der Zwillinge erreicht hatte, das, wie ich erwähnen muß, wegen seiner Vorhänge auch das blaue Schlafzimmer genannt wurde, fand er die Tür nur angelehnt. Da er nun einen effektvollen Eintritt wünschte, so stieß er sie weit auf – schwupp! da fiel ein schwerer Wasserkrug gerade auf ihn herunter und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Im gleichen Augenblick hörte er unterdrücktes Gelächter vom Bett herkommen. Der Schock, den sein Nervensystem erlitt, war so stark, daß er, so schnell er nur konnte, nach seinem Zimmer lief; den nächsten Tag lag er an einer heftigen Erkältung fest im Bett. Sein einziger Trost bei der Sache war, daß er seinen Kopf nicht bei sich gehabt hatte, denn wäre dies der Fall gewesen, so hätten die Folgen doch sehr ernst sein können. Jetzt gab er alle Hoffnung auf, diese ordinären Amerikaner überhaupt noch zu erschrecken, und begnügte sich in der Regel damit, in Pantoffeln über den Korridor zu schleichen, mit einem dicken rotwollenen Tuche um den Hals, aus Angst vor Zugluft, und einer kleinen Armbrust, im Fall ihn die Zwillinge angreifen sollten. Aber der Hauptschlag, der gegen ihn geführt wurde, geschah am September. Er war in die große Eingangshalle hineingegangen, da er sich dort noch am unbehelligtsten wußte, und unterhielt sich damit, spöttische Bemerkungen über die lebensgroßen Platinfotografien des Gesandten und seiner Frau zu machen, welche jetzt an Stelle der Cantervilleahnenbilder hingen. Er war einfach, aber ordentlich gekleidet, und zwar in ein langes Laken, das da und dort bräunliche Flecken von Kirchhofserde aufwies, hatte seine untere Kinnlade mit einem Stück gelber Leinwand hochgebunden und trug eine kleine Laterne und den Spaten eines Totengräbers. Eigentlich war es das Kostüm von ›Jonas, dem Grablosen, oder der Leichenräuber von Chertsey Barn‹, eine seiner hervorragendsten Rollen, welche die Cantervilles allen Grund hatten zu kennen, weil durch sie der ewige Streit mit ihrem Nachbarn Lord Rufford verursacht worden war. Es ging so gegen ein viertel auf drei Uhr morgens, und allem Anschein nach rührte sich nichts. Als er jedoch langsam nach der Bibliothek schlenderte, um doch mal wieder nach den etwaigen Spuren des Blutfleckes zu sehen, da sprangen aus einer dunklen Ecke plötzlich zwei Gestalten hervor, welche ihre Arme wild emporwarfen und ihm »Buh!« in die Ohren brüllten.
Von panischem Erschrecken ergriffen, der unter solchen Umständen nur selbstverständlich erscheinen muß, raste er nach der Treppe, wo aber schon Washington mit der großen Gartenspritze auf ihn wartete; da er sich nun von seinen Feinden so umzingelt und fast zur Verzweiflung getrieben sah, verschwand er schleunigst in den großen eisernen Ofen, der zu seinem Glück nicht angesteckt war, und mußte nun auf einem höchst beschwerlichen Weg durch Ofenrohre und Kamine nach seinem Zimmer zurück, wo er völlig erschöpft, beschmutzt und verzweifelt ankam. Nach diesem Erlebnis wurde er nie mehr auf einer solchen nächtlichen Expedition betroffen. Die Zwillinge warteten bei den verschiedensten Gelegenheiten auf sein Erscheinen und streuten jede Nacht den Korridor ganz voll Nußschalen, zum großen Ärger ihrer Eltern und der Dienerschaft, aber es war alles vergebens. Augenscheinlich waren die Gefühle des armen Gespenstes derart verletzt, daß es sich nicht wieder zeigen wollte. In der Folge nahm dann Mr. Otis sein großes Werk über die Geschichte der demokratischen Partei wieder auf, das ihn schon seit Jahren beschäftigte; Mrs. Otis organisierte ein wunderbares Preiskuchenbakken, das die ganze Grafschaft aufregte; die Jungen gaben sich dem Vergnügen von Lacrosse, Euchre, Poker und anderen amerikanischen Nationalspielen hin, und Virginia ritt auf ihrem hübschen Pony im Park spazieren, begleitet von dem jungen Herzog von Cheshire, der die letzten Wochen der großen Ferien auf Schloß Canterville verleben durfte. Man nahm allgemein an, daß der Geist das Schloß verlassen habe, ja Mr. Otis schrieb sogar einen Brief in diesem Sinn an Lord Canterville, der in Erwiderung desselben seine große Freude über diese Nachricht aussprach und sich der werten Frau Gemahlin auf das angelegentlichste empfehlen ließ. Die Familie Otis hatte sich aber getäuscht, denn der Geist war noch im Hause, und obgleich fast ein Schwerkranker, so war er doch keinesfalls entschlossen, die Sache ruhen zu lassen, besonders als er hörte, daß unter den Gästen auch der junge Herzog von Cheshire sich befinde, dessen Großonkel Lord Francis Stilton einst um tausend Guineen mit Oberst Carbury gewettet hatte, daß er mit dem Geist Würfel spielen wollte, und der am nächsten Morgen im Spielzimmer auf dem Boden liegend, in einem Zustand hilfloser Lähmung gefunden wurde. Obgleich er noch ein hohes Alter erreichte, so war er niemals wieder imstande gewesen, etwas
anderes als zwei Atout zu sagen. Die Geschichte war seinerzeit allgemein bekannt, obgleich natürlich aus Rücksicht auf die beiden vornehmen Familien die größten Anstrengungen gemacht wurden, sie zu vertuschen; aber der ausführliche Bericht mit allen näheren Umständen ist in dem dritten Band von Lord Tattles Erinnerungen an den Prinz-Regenten und seine Freunde zu finden. Der Geist war natürlich sehr besorgt zu zeigen, daß er seine Macht über die Stiltons noch nicht verloren hätte, mit denen er ja noch dazu entfernt verwandt war, da seine rechte Cousine in zweiter Ehe mit dem Sieur de Bulkeley vermählt war, von dem, wie allgemein bekannt, die Herzöge von Cheshire abstammen. Demgemäß traf er Vorkehrungen, Virginias kleinem Liebhaber in seiner berühmten Rolle als Vampirmönch oder der blutlose Benediktiner zu erscheinen. Dies war eine so fürchterliche Pantomime, daß Lady Startup an jenem verhängnisvollen Neujahrsabend 1764 vor Schreck von einem Gehirnschlag getroffen wurde, an dem sie nach drei Tagen starb, nachdem sie noch schnell die Cantervilles, ihre nächsten Verwandten, enterbt und ihren ganzen Besitz ihrem Londoner Apotheker vermacht hatte. Im letzten Moment aber verhinderte den Geist die Angst vor den Zwillingen, sein Zimmer zu verlassen, und der kleine Herzog schlief friedlich in seinem hohen Himmelbett im königlichen Schlafzimmer und träumte von Virginia. V Wenige Tage später ritten Virginia und ihr goldlockiger junger Ritter über die Brockleywiesen spazieren, wo sie beim Springen über eine Hecke ihr Reitkleid derart zerriß, daß sie, zu Hause angekommen, es vorzog, die Hintertreppe hinaufzugehen, um nicht gesehen zu werden. Als sie an dem alten Gobelinzimmer vorüberkam, dessen Tür zufällig halb offen stand, meinte sie jemanden drinnen zu sehen, und da sie ihrer Mama Kammermädchen darin vermutete, die dort zuweilen arbeitete, so ging sie hinein, um gleich ihr Kleid ausbessern zu lassen. Zu ihrer ungeheuren Überraschung war es jedoch das Gespenst von Canterville selber! Es saß am Fenster und beobachtete, wie das matte Gold des vergilbten Laubes durch die Luft flog und die roten Blätter einen wilden Reigen in der langen Allee tanzten. Es hatte den Kopf in die Hand gestützt, und seine ganze Haltung drückte tiefe Niedergeschlagenheit aus. Ja, so verlassen und verfallen sah es aus, daß die kleine Virginia, deren erster Gedan-
ke gewesen war, zu fliehen und sich in ihr Zimmer einzuschließen, von Mitleid erfüllt sich entschloß zu bleiben, um das arme Gespenst zu trösten. Ihr Schritt war so leicht und seine Melancholie so tief, saß es ihre Gegenwart erst bemerkte, als sie zu ihm sprach. »Sie tun mir so leid«, sagte sie, »aber morgen müssen meine Brüder nach Eton zurück, und wenn Sie sich dann wie ein gebildeter Mensch betragen wollen, so wird Sie niemand mehr ärgern.« »Das ist ein einfältiges und ganz unsinniges Verlangen einem Geist gegenüber«, antwortete er, indem er erstaunt das hübsche kleine Mädchen ansah, das ihn anzureden wagte. »Ich muß mit meinen Ketten rasseln und durch Schlüssellöcher stöhnen und des Nachts herumwandeln, wenn es das ist, was Sie meinen. Das ist ja mein einziger Lebenszweck.« »Das ist überhaupt kein Lebenszweck, und Sie wissen sehr gut, daß Sie ein böser, schlechter Mensch gewesen sind. Mrs. Umney hat uns am ersten Tage unseres Hierseins gesagt, daß Sie Ihre Frau getötet haben.« »Nun ja, das gebe ich zu«, sagte das Gespenst geärgert, »aber das war doch eine reine Familienangelegenheit und ging niemand anderen etwas an.« »Es ist sehr unrecht, jemand umzubringen«, sagte Virginia, die zeitweise einen ungemein lieblichen puritanischen Ernst besaß, mit dem sie von irgendeinem Vorfahren aus Neu-England belastet war. »Oh, wie ich die billige Strenge abstrakter Moral hasse! Meine Frau war sehr häßlich, hat mir niemals die Manschetten ordentlich stärken lassen und verstand nichts vom Kochen. Denken Sie nur, einst hatte ich einen Kapitalbock im Hogleywald geschossen, und wissen Sie, wie sie ihn auf den Tisch brachte? Aber das ist ja jetzt ganz gleichgültig, denn es ist lange her, und ich kann nicht finden, daß es nett von ihren Brüdern war, mich zu Tode hungern zu lassen, bloß weil ich sie getötet hatte.« »Sie zu Tode hungern? Oh, lieber Herr Geist, ich meine Sir Simon, sind Sie hungrig? Ich habe ein Butterbrot bei mir, möchten Sie das haben?« »Nein, ich danke Ihnen sehr, ich nehme jetzt nie mehr etwas zu mir; aber trotzdem ist es sehr freundlich von Ihnen, und Sie sind überhaupt viel netter als alle anderen Ihrer abscheulich groben, vulgären, unehrlichen Familie.«
»Schweigen Sie!« rief Virginia und stampfte mit dem Fuß, »Sie sind es, der grob, abscheulich und gewöhnlich ist, und was die Unehrlichkeit betrifft, so wissen Sie sehr wohl, daß Sie mir alle Farben aus meinem Malkasten gestohlen haben, um den lächerlichen Blutfleck in der Bibliothek stets frisch zu machen! Erst nahmen Sie alle die roten, sogar Vermillion, und ich konnte gar keine Sonnenuntergänge mehr malen, dann nahmen Sie Smaragdgrün und Chromgelb, und schließlich blieb mir nichts mehr als Indigo und Chinesisch-weiß, da konnte ich nur noch Mondscheinlandschaften malen, die immer solchen melancholischen Eindruck machen und gar nicht leicht zu malen sind. Ich habe Sie nie verraten, obgleich ich sehr ärgerlich war, und die ganze Sache war ja überhaupt lächerlich; denn wer hat je im Leben von grünen Blutflecken gehört.« »Ja, aber was sollte ich tun«, sagte der Geist kleinlaut; »heutzutage ist es schwer, wirkliches Blut zu bekommen, und als Ihr Bruder nun mit seinem Fleckenreiniger anfing, da sah ich wirklich nicht ein, warum ich nicht Ihre Farben nehmen sollte. Was nun die besondere Färbung betrifft, so ist das lediglich Geschmackssache; die Cantervilles zum Beispiel haben blaues Blut, das allerblaueste in England: aber ich weiß, Ihr Amerikaner macht Euch aus dergleichen nichts.« »Darüber wissen Sie gar nichts, und das beste wäre, Sie wanderten aus und vervollkommneten drüben Ihre Bildung. Mein Vater wird nur zu glücklich sein, Ihnen freie Überfahrt zu verschaffen, und wenn auch ein hoher Zoll auf Geistiges jeder Art liegt, so wird es doch auf dem Zollamt keine Schwierigkeiten geben, denn die Beamten sind alle Demokraten. Wenn Sie erst mal in Neu York sind, so garantiere ich Ihnen einen großen Erfolg. Ich kenne eine Menge Leute, die tausend Dollars dafür geben würden, einen Großvater zu haben, und noch unendlich viel mehr für ein Familiengespenst.« »Ich glaube, mir würde Amerika nicht gefallen.« »Wahrscheinlich, weil wir keine Ruinen und Altertümer haben«, sagte Virginia spöttisch. »Keine Ruinen? Keine Altertümer?« erwiderte der Geist, »Sie haben doch Ihre Marine und Ihre Umgangsformen!«
»Guten Abend; ich gehe jetzt und will Papa bitten, den Zwillingen noch extra acht Tage länger Ferien zu geben.« »Bitte, gehen Sie nicht, Miß Virginia«, rief das Gespenst; »ich bin so einsam und unglücklich und weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich möchte nur schlafen und kann es doch nicht.« »Das ist töricht! Sie brauchen doch nur zu Bett zu gehen und das Licht auszublasen. Manchmal ist es so schwer, wach zu bleiben, besonders in der Kirche; aber beim Einschlafen gibt es doch gar keine Schwierigkeiten. Sogar die kleinen Kinder können das und sind doch gar nicht klug.« »Seit dreihundert Jahren habe ich nicht mehr geschlafen«, sagte das Gespenst traurig, und Virginias schöne blaue Augen öffneten sich weit in grenzenlosem Erstaunen, »seit dreihundert Jahren habe ich nicht mehr geschlafen, und ich bin so müde.« Virginia wurde auf einmal ganz ernst, und ihre kleinen Lippen zitterten wie Rosenblätter. Sie trat näher zu ihm, kniete sich an seine Seite und sah zu seinem alten gefurchten Gesicht auf. »Armer, armer Geist«, sprach sie leise, »haben Sie denn kein Fleckchen, wo Sie mal schlafen können?« »Weit hinter jenen Wäldern liegt ein kleiner Garten«, sagte der Geist mit verträumter ferner Stimme. »Da wächst langes Gras, da blühen die großen weißen Sterne des Schierlings und die Nachtigallen singen die ganze Nacht hindurch. Die ganze lange Nacht singen sie, und der kalte, kristallene Mond schaut nieder, und die Trauerweide breitet ihre Riesenarme über die Schläfer aus.« Virginias Augen füllten sich mit Tränen, und sie verbarg das Gesicht in den Händen. »Sie meinen den Garten des Todes«, flüsterte sie. »Ja, Tod. Der Tod muß so schön sein. In der weichen braunen Erde zu liegen, während das lange Gras über einem hin und her schwankt, und der Stille zu lauschen. Kein Gestern, kein Morgen haben. Die Zeit und das Leben vergessen, im Frieden sein. Sie können mir helfen. Sie können mir die Tore des Todes öffnen, denn auf Ihrer Seite ist stets die Liebe, und die Liebe ist stärker als der Tod.«
Virginia zitterte, und ein kalter Schauer durchlief sie, und einige Minuten lang war es still. Es schien ihr wie ein angstvoller Traum. Dann sprach der Geist wieder, und seine Stimme klang wie das Seufzen des Windes. »Haben Sie je die alte Prophezeiung an dem Fenster in der Bibliothek gelesen?« »Oh, wie oft«, rief das junge Mädchen aufblickend, »ich kenne sie sehr gut. Sie ist mit verschnörkelten schwarzen Buchstaben geschrieben und schwer zu lesen; es sind nur sechs Zeilen: Wenn ein goldenes Mädchen es dahin bringt, daß es sündige Lippen zum Beten zwingt, Wenn die dürre Mandel unter Blüten sich senkt, ein unschuldiges Kind seine Tränen verschenkt, Dann wird dies Haus wieder ruhig und still, und Friede kehrt ein auf Schloß Cantervill. Aber ich weiß nicht, was das heißen soll.« »Das heißt: daß Sie für mich über meine Sünden weinen müssen, da ich keine Tränen habe, und für mich für meine Seele beten müssen, da ich keinen Glauben habe, und dann, wenn Sie immer gut und sanft gewesen sind, dann wird der Engel des Todes Erbarmen mit mir haben. Sie werden entsetzliche Gestalten im Dunkeln sehen, Schauriges wird Ihr Ohr vernehmen, aber es wird Ihnen kein Leid geschehen, denn gegen die Reinheit eines Kindes sind die Gewalten der Hölle ohne Macht.« Virginia antwortete nicht, und der Geist rang verzweifelt die Hände, während er auf ihr gesenktes Köpfchen herabsah. Plötzlich erhob sie sich, ganz blaß, aber ihre Augen leuchteten. »Ich fürchte mich nicht«, sagte sie bestimmt, »ich will den Engel bitten, Erbarmen mit Ihnen zu haben.« Mit einem leisen Freudenausruf stand der Geist auf, ergriff mit altmodischer Galanterie ihre Hand und küßte sie. Seine Finger waren kalt wie Eis, und seine Lippen brannten wie Feuer, aber Virginia zauderte nicht, als er sie durch das dämmerdunkle Zimmer führte. In den verblaßten
grünen Gobelin waren kleine Jäger gewirkt, die bliesen auf ihren Hörnern und winkten ihr mit den winzigen Händen umzukehren. ›Kehre um, kleine Virginia‹, riefen sie, ›kehre um!‹ Aber der Geist faßte ihre Hand fester, und sie schloß die Augen. Greuliche Tiere mit Eidechsenschwänzen und feurigen Augen sahen sie vom Kaminsims an und grinsten: ›Nimm dich in acht, Virginia, nimm dich in acht! Vielleicht sieht man dich nie wieder!‹ Aber der Geist ging noch schneller voran, und Virginia hörte nicht auf die Stimmen. Am Ende des Zimmers hielt das Gespenst an und murmelte einige Worte, die sie nicht verstand. Sie schlug die Augen auf und sah die Wand vor sich verschwinden wie im Nebel, und eine große schwarze Höhle tat sich auf. Es wurde ihr eisig kalt, und sie fühlte etwas an ihrem Kleide zerren. »Schnell, schnell«, rief der Geist, »sonst ist es zu spät«, und schon hatte sich die Wand hinter ihnen wieder geschlossen, und das Gobelinzimmer war leer. VI Ungefähr zehn Minuten später tönte der Gong zum Tee, und da Virginia nicht herunterkam, schickte Mrs. Otis einen Diener hinauf, sie zu rufen. Nach kurzer Zeit kam er wieder und sagte, daß er Miß Virginia nirgends habe finden können. Da sie um diese Zeit gewöhnlich in den Garten ging, um Blumen für den Mittagstisch zu pflücken, so war Mrs. Otis zuerst gar nicht weiter besorgt; aber als es sechs Uhr schlug und Virginia immer noch nicht da war, wurde sie doch unruhig und schickte die Jungens aus, sie zu suchen, während sie und Mr. Otis das ganze Haus abgingen. Um halb sieben kamen die Jungen wieder und berichteten, sie hätten nirgends auch nur eine Spur von ihrer Schwester entdecken können. Jetzt waren alle auf das äußerste beunruhigt und wußten nicht mehr, was sie tun sollten, als Mr. Otis sich plötzlich darauf besann, daß er vor einigen Tagen einer Zigeunerbande erlaubt habe, im Park zu übernachten. So machte er sich denn sofort auf nach Blackfell Hollow, wo sich die Bande, wie er wußte, jetzt aufhielt, und sein ältester Sohn und zwei Bauernburschen begleiteten ihn. Der kleine Herzog von Cheshire, der vor Angst ganz außer sich war, bat inständigst, sich anschließen zu dürfen; aber Mr. Otis wollte es ihm nicht erlauben, da er fürchtete, der junge Herr würde in seiner Aufregung nur stören. Als sie jedoch an die gesuchte Stelle kamen, waren die Zigeuner fort, und zwar war ihr Abschied
augenscheinlich ein sehr rascher gewesen, wie das noch brennende Feuer und einige auf dem Grase liegende Teller anzeigten. Nachdem er Washington weiter auf die Suche geschickt hatte, eilte Mr. Otis heim und sandte Depeschen an alle Polizeiposten der Grafschaft, in denen er sie ersuchte, nach einem kleinen Mädchen zu forschen, das von Landstreichern oder Zigeunern entführt worden sei. Dann ließ er sein Pferd satteln, und nachdem er darauf bestanden hatte, daß seine Frau und die beiden Jungen sich zu Tisch setzten, ritt er mit einem Knecht nach Ascot. Aber kaum hatte er ein paar Meilen zurückgelegt, als er jemand hinter sich her galoppieren hörte; es war der junge Herzog, der auf seinem Pony mit erhitztem Gesichte und ohne Hut hinter ihm herkam. »Ich bitte um Verzeihung, Mr. Otis«, sagte er atemlos, »aber ich kann nicht zu Abend essen, solange Virginia nicht gefunden ist. Bitte, seien Sie mir nicht böse; wenn Sie voriges Jahr Ihre Einwilligung zu unserer Verlobung gegeben hätten, so würde uns all diese Sorge erspart geblieben sein. Sie schicken mich nicht zurück, nicht wahr? Ich gehe auf jeden Fall mit Ihnen!« Der Gesandte mußte lächeln über den hübschen Jungen und war wirklich gerührt über seine Liebe zu Virginia; so lehnte er sich denn zu ihm hinüber, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte: »Nun gut, Cecil, wenn Sie nicht umkehren wollen, so müssen Sie mit mir kommen, aber dann muß ich Ihnen in Ascot erst einen Hut kaufen.« »Ach, zum Teufel mit meinem Hut! Ich will Virginia wiederhaben!« rief der kleine Herzog lachend, und sie ritten weiter nach der Bahnstation. Dort erkundigte sich Mr. Otis bei dem Stationsvorstand, ob nicht eine junge Dame auf dem Perron gesehen worden sei, auf welche die Beschreibung von Virginia passe; aber er konnte nichts über sie erfahren. Der Stationsvorstand telegrafierte auf der Strecke hinauf und hinunter und versicherte Mr. Otis, daß man auf das gewissenhafteste recherchieren werde; und nachdem Mr. Otis noch bei einem Schnittwarenhändler, der eben seinen Laden schließen wollte, dem jungen Herzog einen Hut gekauft hatte, ritten sie nach Bexley weiter, einem Dorf, das ungefähr vier Meilen entfernt lag und bei dem die Zigeuner besonders gern ihr Lager aufschlugen, weil es bei einer großen Wiese lag. Hier weckten sie den Gendarmen, konnten aber nichts von ihm in Erfahrung bringen; und nachdem sie die ganze Gegend abgesucht hatten, mußten sie sich
schließlich unverrichteterdinge auf den Heimweg machen und erreichten todmüde und gebrochenen Herzens um elf Uhr wieder das Schloß. Sie fanden Washington und die Zwillinge am Tor, wo sie mit Laternen gewartet hatten, weil die Allee so dunkel war. Nicht die geringste Spur von Virginia hatte man bisher entdecken können. Man hatte die Zigeuner auf den Wiesen von Brockley eingeholt, aber sie war nicht bei ihnen, und die Zigeuner hatten ihre plötzliche Abreise damit erklärt, daß sie eiligst auf den Jahrmarkt von Chorton hätten müssen, um dort nicht zu spät anzukommen. Es hatte ihnen wirklich herzlich leid getan, von Virginias Verschwinden zu hören, und da sie Mr. Otis dankbar waren, weil er ihnen den Aufenthalt in seinem Park gestattet hatte, so waren vier von der Bande mit zurückgekommen, um sich an der Suche zu beteiligen. Man ließ den Karpfenteich ab und durchsuchte jeden Winkel im Schloß – alles ohne Erfolg. Es war kein Zweifel, Virginia war, wenigstens für diese Nacht, verloren. In tiefster Niedergeschlagenheit kehrten Mr. Otis und die Jungen in das Haus zurück, während der Knecht mit den beiden Pferden und dem Pony folgte. In der Halle standen alle Dienstboten aufgeregt beieinander, und auf einem Sofa in der Bibliothek lag die arme Mrs. Otis, die vor Schrecken und Angst fast den Verstand verloren hatte und der die gute alte Haushälterin die Stirn mit Eau de Cologne wusch. Mr. Otis bestand darauf, daß sie etwas esse, und bestellte das Diner für die ganze Familie. Es war eine trübselige Mahlzeit, wo kaum einer ein Wort sprach; sogar die Zwillinge waren vor Schrecken stumm, denn sie liebten ihre Schwester sehr. Als man fertig war, schickte Mr. Otis trotz der dringenden Bitten des jungen Herzogs alle zu Bett, indem er erklärte, daß man jetzt in der Nacht ja doch nichts mehr tun könne, und am nächsten Morgen wolle er sofort nach Scotland Yard telegrafieren, daß man ihnen mehrere Detektive schicken solle. Gerade als man den Speisesaal verließ, schlug die große Turmuhr Mitternacht, und als der letzte Schlag verklungen war, hörte man plötzlich ein furchtbares Gepolter und einen durchdringenden Schrei; ein wilder Donner erschütterte das Haus in seinem Grunde, ein Strom von überirdischer Musik durchzog die Luft, die Wandtäfelung oben an der Treppe flog mit tosendem Lärm zur Seite, und in der Öffnung stand, blaß und weiß, mit einer kleinen Schatulle in der Hand – Virginia! Im Nu waren alle zu ihr hinaufgestürmt. Mrs. Otis preßte sie leidenschaftlich in ihre Arme, der Herzog erstickte
sie fast mit seinen Küssen, und die Zwillinge vollführten einen wilden Indianertanz um die Gruppe herum. »Mein Gott! Kind, wo bist du nur gewesen?« rief Mr. Otis fast etwas ärgerlich, da er glaubte, sie habe sich einen törichten Scherz mit ihnen erlaubt. »Cecil und ich sind meilenweit über Land geritten, dich zu suchen, und deine Mutter hat sich zu Tode geängstigt. Du mußt nie wieder solche dummen Streiche machen.« »Nur das Gespenst darfst du foppen, nur das Gespenst!« schrien die Zwillinge und sprangen umher wie verrückt. »Mein Liebling, Gott sei Dank, daß wir dich wiederhaben, du darfst nie wieder von meiner Seite«, sagte Mrs. Otis zärtlich, während sie die zitternde Virginia küßte und ihr die langen zerzausten Locken glatt strich. »Papa«, sagte Virginia ruhig, »ich war bei dem Gespenst. Es ist tot, und du mußt kommen, es zu sehen. Es ist in seinem Leben ein schlechter Mensch gewesen, aber es hat alle seine Sünden bereut, und ehe es starb, gab es mir diese Schatulle mit sehr kostbaren Juwelen.« Die ganze Familie starrte sie lautlos verwundert an, aber sie sprach in vollem Ernst, wandte sich um und führte sie durch die Öffnung an der Wandtäfelung einen engen geheimen Korridor entlang; Washington folgte mit einem Licht, das er vom Tisch genommen hatte. Endlich gelangten sie zu einer schweren eichenen Tür, die ganz mit rostigen Nägeln beschlagen war. Als Virginia sie berührte, flog sie in ihren schweren Angeln zurück, und man befand sich in einem kleinen niedrigen Zimmer mit gewölbter Decke und einem vergitterten Fenster; ein schwerer eiserner Ring war in die Wand eingelassen, und daran angekettet lag ein riesiges Skelett, das der Länge nach auf dem steinernen Boden ausgestreckt war und mit seinen langen fleischlosen Fingern nach einem altmodischen Krug und Teller zu greifen versuchte, die man aber gerade so weit gestellt hatte, daß die Hand sie nicht erreichen konnte. Der Krug war wohl einmal mit Wasser gefüllt gewesen, denn innen war er ganz mit grünem Schimmel überzogen. Auf dem Zinnteller lag nur ein Häufchen Staub. Virginia kniete neben dem Skelett nieder, faltete ihre kleinen Hände und betete still, während die übrigen mit Staunen die grausige Tragödie betrachteten, deren Geheimnis ihnen nun enthüllt war.
»Schaut doch!« rief plötzlich einer der Zwillinge, der aus dem Fenster gesehen hatte, um sich über die Lage des Zimmers zu orientieren. »Schaut doch! Der alte verdorrte Mandelbaum blüht ja! Ich kann die Blüten ganz deutlich im Mondlicht sehen!« »Gott hat ihm vergeben!« sagte Virginia ernst, als sie sich erhob, und ihr Gesicht strahlte in unschuldiger Freude. »Du bist ein Engel!« rief der junge Herzog, schloß sie in seine Arme und küßte sie. VII Vier Tage nach diesen höchst wunderbaren Ereignissen verließ ein Trauerzug nachts um elf Uhr Schloß Canterville. Den Leichenwagen zogen acht schwarze Pferde, von denen jedes einen großen Panaschee von nickenden Straußenfedern auf dem Kopfe trug, und der eherne Sarg war mit einer kostbaren purpurnen Decke verhangen, auf welcher das Wappen derer von Canterville in Gold gestickt war. Neben dem Wagen her schritten die Diener mit brennenden Fackeln, und der ganze Zug machte einen äußerst feierlichen Eindruck. Lord Canterville als der Hauptleidtragende war zu diesem Begräbnis extra von Wales gekommen und saß im ersten Wagen neben der kleinen Virginia. Dann kam der Gesandte der Vereinigten Staaten und seine Gemahlin, danach Washington und die zwei Jungen, und im letzten Wagen saß Mrs. Umney, die alte Wirtschafterin, ganz allein. Man hatte die Empfindung gehabt, daß sie, nachdem sie mehr als fünfzig Jahre ihres Lebens durch das Gespenst erschreckt worden war, nun auch ein Recht hätte, seiner Beerdigung beizuwohnen. In der Ecke des Friedhofes war ein tiefes Grab gegraben, gerade unter der Trauerweide, und Hochwürden Augustus Dampier hielt eine höchst eindrucksvolle Grabrede. Als die Zeremonie vorüber war, löschten die Diener, einer alten Familiensitte der Cantervilles gemäß, ihre Fackeln aus, und während der Sarg in das Grab hinuntergelassen wurde, trat Virginia vor und legte ein großes Kreuz aus weißen und rosafarbenen Mandelblüten darauf nieder. Inzwischen kam der Mond hinter einer Wolke hervor und übersilberte den kleinen Friedhof, und im Gebüsch flötete eine Nachtigall. Virginia dachte an des Gespenstes Beschreibung vom
Garten des Todes, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sprach auf der Rückfahrt nicht ein Wort. Am nächsten Morgen hatten Mr. Otis und Lord Canterville vor dessen Rückkehr nach London eine Unterredung wegen der Juwelen, welche das Gespenst Virginia gegeben hatte. Sie waren von ganz hervorragender Schönheit, besonders ein Halsschmuck von Rubinen in altvenezianischer Fassung, ein Meisterwerk der Kunst des sechzehnten Jahrhunderts und so wertvoll, daß Mr. Otis zögerte, seiner Tochter zu erlauben, sie anzunehmen. »Mylord«, sagte er, »ich weiß sehr wohl, daß sich in diesem Lande die Erbfolge ebensowohl auf den Familienschmuck wie auf den Grundbesitz erstreckt, und ich bin dessen ganz sicher, daß diese Juwelen ein Erbstück Ihrer Familie sind oder doch sein sollten. Ich muß Sie demgemäß bitten, die Pretiosen mit nach London zu nehmen und sie lediglich als einen Teil Ihres Eigentums zu betrachten, der unter allerdings höchst wunderbaren Umständen wieder in Ihren Besitz zurückgelangt ist. Was meine Tochter betrifft, so ist sie ja noch ein Kind und hat, wie ich mich freue sagen zu können, nur wenig Interesse an solchen Luxusgegenständen. Mrs. Otis, die, wie man wohl sagen kann, eine Autorität in Kunstsachen ist – da sie den großen Vorzug genossen hat, als junges Mädchen mehrere Winter in Boston zu verleben – Mrs. Otis sagte mir, daß diese Juwelen einen sehr bedeutenden Wert repräsentieren und sich ganz vorzüglich verkaufen würden. Unter diesen Umständen bin ich überzeugt, Lord Canterville, daß Sie einsehen werden, wie unmöglich es für mich ist, einem Mitglied meiner Familie zu erlauben, in dem Besitz der Juwelen zu bleiben, und endlich ist dieser eitle Putz und Tand und dieses glänzende Spielzeug, so passend und notwendig es auch zur Würde der britischen Aristokratie zu gehören scheint, doch unter jenen niemals recht am Platze, die in den strengen und, wie ich bestimmt glaube, unsterblichen Grundsätzen republikanischer Einfachheit erzogen sind. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß Virginia sehr gern die Schatulle selbst behalten möchte, als Erinnerung an Ihren unglücklichen, irregeleiteten Vorfahren. Da selbe sehr alt und in einem Zustande großer Reparaturbedürftigkeit zu sein scheint, so werden Sie es vielleicht angemessen finden, der Bitte meiner Kleinen zu willfahren. Ich für mein Teil muß allerdings gestehen, daß ich außerordentlich erstaunt bin, eins von meinen Kindern Sympathie mit dem Mittelalter in irgendeiner Gestalt emp-
finden zu sehen, und ich kann mir das nicht anders als dadurch erklären, daß Virginia in einer Ihrer Londoner Vorstädte geboren wurde, kurz nachdem Mrs. Otis von einer Reise nach Athen zurückgekehrt war.« Lord Canterville hörte der langen Rede des würdigen Gesandten aufmerksam zu, während er sich ab und zu den langen grauen Schnurrbart strich, um ein unwillkürliches Lächeln zu verbergen; und als Mr. Otis schwieg, schüttelte er ihm herzlich die Hand und sagte: »Mein lieber Mr. Otis, Ihre entzückende kleine Tochter hat meinem unglücklichen Vorfahren, Sir Simon, einen höchst wichtigen Dienst geleistet, und meine Familie und ich sind ihr für den bewiesenen erstaunlichen Mut zu sehr großem Dank verpflichtet. Ganz zweifellos sind die Juwelen Miß Virginias Eigentum; und wahrhaftig, ich glaube, wäre ich herzlos genug, sie ihr fortzunehmen, der böse alte Bursche würde noch diese Woche wieder aus seinem Grabe aufstehen und mir das Leben hier zur Hölle machen. Und was den Begriff Erbstück anbelangt, so ist nichts ein Erbstück, was nicht mit diesem Ausdruck in einem Testament oder sonst einem rechtskräftigen Schriftstück also bezeichnet ist, und von der Existenz dieser Juwelen ist nichts bekannt gewesen. Ich versichere Sie, daß ich nicht mehr Anspruch auf sie habe als Ihr Kammerdiener, und wenn Miß Virginia erwachsen ist, so wird sie, meine ich, doch ganz gern solche hübschen Sachen tragen. Außerdem vergessen Sie ganz, Mr. Otis, daß Sie ja damals die ganze Einrichtung und das Gespenst mit dazu übernommen haben, und alles, was zu dem Besitztum des Gespenstes gehörte, wurde damit Ihr Eigentum; und was auch Sir Simon für eine merkwürdige Tätigkeit nachts auf dem Korridor entfaltet haben mag, vom Standpunkt des Gesetzes aus war er absolut tot, und somit erwarben Sie durch Kauf sein Eigentum.« Mr. Otis war anfangs wirklich verstimmt, daß Lord Canterville auf sein Verlangen nicht eingehen wollte, und bat ihn, seine Entscheidung nochmals zu überlegen; aber der gutmütige Lord war fest entschlossen und überredete schließlich den Gesandten, seiner Tochter doch zu erlauben, das Geschenk des Gespenstes zu behalten; und als im Frühjahr 1890 die junge Herzogin von Cheshire bei Gelegenheit ihrer Hochzeit bei Hofe vorgestellt wurde, erregten die Juwelen die allgemeine Bewunderung. Denn Virginia bekam wirklich und tatsächlich eine Krone in ihr Wappen, was die Belohnung für alle braven kleinen Amerikanerinnen ist,
und heiratete ihren jugendlichen Bewerber, sobald sie mündig geworden war. Sie waren ein so entzückendes Paar und liebten einander so sehr, daß jeder sich über die Heirat freute, jeder außer der Herzogin von Dumbleton – die den jungen Herzog gern für eine ihrer sieben unverheirateten Töchter gekapert hätte und nicht weniger als drei sehr teuere Diners zu dem Zweck gegeben hatte – und wunderbarerweise auch außer Mr. Otis selber. Mr. Otis hatte den jungen Herzog persönlich sehr gern, aber in der Theorie waren ihm alle Titel zuwider und ›er war‹, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, ›nicht ohne Besorgnis, daß inmitten der entnervenden Einflüsse der vergnügungssüchtigen englischen Aristokratie die einzig wahren Grundsätze republikanischer Einfachheit vergessen werden würden‹. Sein Widerstand wurde jedoch völlig besiegt, und ich glaube, daß es, als er in St. Georges Hanover Square mit seiner Tochter am Arm durch die Kirche schritt, keinen stolzeren Mann in ganz England gab als ihn. Der Herzog und seine junge Frau kamen nach den Flitterwochen auf Schloß Canterville, und am Tage nach ihrer Ankunft gingen sie des Nachmittags zu dem kleinen einsamen Friedhof unter den Tannen. Man hatte erst über die Inschrift auf Sir Simons Grabstein nicht schlüssig werden können, und nach vielen Schwierigkeiten war dann entschieden worden, nur die Initialen seines Namens und den Vers vom Fenster der Bibliothek eingravieren zu lassen. Die Herzogin hatte wundervolle Rosen mitgebracht, die sie auf das Grab streute, und nachdem sie eine Zeitlang still gestanden hatten, schlenderten sie weiter zu der halbverfallenen Kanzel in der alten Abtei. Dort setzte sich Virginia auf eine der umgestürzten Säulen; ihr Mann legte sich ihr zu Füßen in das Gras, rauchte eine Zigarette und blickte ihr verliebt und glücklich in die schönen Augen. Plötzlich warf er seine Zigarette fort, ergriff ihre Hand und sagte: »Virginia, eine Frau sollte keine Geheimnisse vor ihrem Mann haben!« »Aber mein lieber Cecil! Ich habe doch keine Geheimnisse vor dir.« »Doch, das hast du«, antwortete er lächelnd, »du hast mir nie gesagt, was dir begegnet ist, als du mit dem Gespenst verschwunden warst.« »Das habe ich niemandem gesagt«, sagte Virginia ernst. »Das weiß ich, aber du könntest es mir jetzt doch sagen.«
»Bitte, verlange das nicht von mir, Cecil, denn ich kann es dir nicht sagen… Der arme Sir Simon! Ich bin ihm so zu großem Danke verpflichtet. Ja, da brauchst du nicht zu lachen, Cecil, es ist wirklich wahr. Er hat mich einsehen gelehrt, was das Leben ist und was der Tod bedeutet und warum die Liebe stärker ist als beide zusammen.« Der Herzog stand auf und küßte seine junge Frau sehr zärtlich. »Du kannst dein Geheimnis behalten, solange mir nur dein Herz gehört«, sagte er leise. »Das Herz hat dir schon immer gehört, Cecil.« »Aber unsern Kindern wirst du einst dein Geheimnis sagen, nicht wahr?« Virginia errötete…
R. H. BENSON
Der Reiter An einem dieser Abende, als wir nach dem Essen vor dem knisternden Kamin in dem großen Zimmer saßen, unterhielten wir uns wieder über dieses alte Thema – die Beziehung der Wissenschaft zum Glauben. »Es ist kein Wunder«, erklärte der Priester, »wenn ihre Schlußfolgerungen unterschiedlich zu sein scheinen, um die Geister zu beruhigen, die da glauben, das letzte Wort sei auf beiden Seiten gesprochen; denn ihre Standpunkte sind äußerst unterschiedlich. Der wissenschaftliche Standpunkt ist dieser, daß man auch nicht nur einen Schritt weitergehen kann als es der intellektuelle Beweis gestattet. Der religiöse Standpunkt ist aber: Wenn man etwas erkennen will, was es wert ist zu wissen, dann muß der Glaube dem intellektuellen Beweis immer ein wenig vorauseilen; man muß schrittweise vorangehen. Einer der Glaubenssätze unseres Herrn lautet: ›Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.‹ Demgegenüber behauptet der Wissenschaftler: ›Glaube nicht, bevor du nicht siehst.‹ Der Unterschied beider Methoden liegt natürlich in der Tatsache, daß die Religion den Glauben voraussetzt und den ganzen Menschen im Zeugenstand beläßt, während die Wissenschaft nur den Verstand akzeptiert – und sogar kaum die menschlichen Gefühle in Betracht zieht. Und trotzdem begründet sich die Religion auf Erfahrungen. Jede wirklich große Erkenntnis wurde durch Motive des Glaubens errungen und nicht durch Motive der Vernunft; durch Gefühle und Leidenschaften und nicht durch Abschätzen der Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten. Und deswegen sind die Geheimnisse des Herrn denen offen, die ihn ohne innere Angriffe akzeptieren. ›Das Himmelreich erfordert Stärke, und die Starken erlangen es durch ihren Glauben.‹« »Zum Beispiel«, fuhr er nach einer kurzen Unterbrechung fort, »ist der Standpunkt der Wissenschaft über Spukhäuser der, daß es keinerlei Beweis für deren Existenz gibt, außer vielleicht, daß man diese Ereignisse mittels der Telepathie erklären kann – einer Art des Gedankenlesens. Aber wenn Sie den wissenschaftlichen Anstrich, der den meisten Men-
schen eigen ist, durchdringen, dann werden Sie feststellen, daß der größte Teil der Menschheit immer noch daran glaubt. Und tatsächlich akzeptiert niemand von uns den Standpunkt der Wissenschaft als wirklich angemessen!« »Aber haben Sie so etwas jemals selbst erlebt?« wollte ich von ihm wissen. »Nun«, meinte der Priester, wobei er leicht lächelte, »versprechen Sie, daß Sie nicht über meine Geschichte lachen werden? Der erste und auch natürliche Gedanke ist eben, daß man sich über diese Dinge lustig macht; und das kann ich nicht ertragen! Jede dieser Geschichten ist doch mindestens einer Person heilig, und deshalb sollte sie es auch jedem gottesfürchtigen Menschen sein.« Ich versicherte ihm, daß ich seinen Bericht äußerst respektvoll behandeln würde. »Ich glaube zwar nicht«, erwiderte er, »daß Sie das tun werden, aber ich werde Ihnen trotzdem die Geschichte erzählen. Sie hat sich erst vor einigen Jahren ereignet. Und so begann es: Einer meiner Freunde war, und ist es heute immer noch, Priester in einer Kirche in Kent; aber ich möchte den Namen dieser Kirche hier nicht erwähnen. Sie liegt ungefähr zwanzig Meilen von Canterbury entfernt. Diese Gegend war schon vor vielen Jahren zum katholischen Glauben bekehrt worden. Ein oder zwei Tage vor Weihnachten erhielt ich ein Telegramm meines Freundes, in dem er mir mitteilte, daß ihn plötzlich eine schlimme Grippe befallen habe, die zur Zeit ganz Kent heimsuche. Er bat mich, wenn möglich, sofort zu seiner Kirche zu kommen und statt seiner die Weihnachtsmesse zu lesen. Ich hatte erst kürzlich mit meiner aktiven Arbeit als Geistlicher aufgehört, da ich mich immer schwächer fühlte, aber ich konnte unmöglich diesen Wunsch abschlagen. Parker packte also meine Sachen, und wir fuhren gemeinsam mit dem nächsten Zug. Mein Freund war wirklich sehr krank; er konnte unmöglich die Weihnachtsmessen lesen. Ich versicherte ihm also, daß ich seinen geistlichen Pflichten nachkommen würde und daß er sich keinerlei Sorgen zu machen brauchte.
Am nächsten Tag, es war Heiligabend, ging ich in die kleine Kirche, um die Beichten abzunehmen. Es war eine wunderschöne, alte Kirche, und obwohl sie winzig war, fand ich doch viele interessante Dinge in ihr; der Altar war wieder aufgestellt worden; zu einer hochgelegenen Chorbühne führte eine Treppe hinauf; und ein herrlich geschnitzter, alter Schrein an der Nordseite des Allerheiligsten diente anstatt des alten, hängenden Hostienbehälters als Aufbewahrungsort für das Heilige Sakrament. Aber eine der interessantesten Entdeckungen, die ich in der alten Kirche machte, war der Beichtstuhl. In der unteren Hälfte der Trennwand, auf der südlichen Seite, fand ich ein quadratisches Loch, in das ein Eichenstück eingefügt worden war. Ein Antiquitätenhändler, den mein Freund gebeten hatte, die Kirche zu untersuchen, hatte erklärt, daß dies zweifellos der Ort war, an dem in der Vorreformation die Beichte abgenommen wurde. Er war wieder restauriert und seinem alten Gebrauch übergeben worden. Und nun saß ich an diesem Heiligabend in dem trüben, abnehmenden Licht in der Kanzel, während die Büßer draußen vor dem Schirm auf der einzigen Stufe knieten und ihre Beichte durch die Öffnung ablegten. Ich weiß, es hört sich etwas abgedroschen an, aber ich kann ein so altes Möbelstück einfach nicht ohne einen merkwürdigen Schauder betrachten, da ich immer daran denken muß, wie viele menschliche Gefühle diesem Möbel anhaften. Und dieser alte Beichtstuhl bewegte mich zutiefst. Durch diese kleine Öffnung waren Tausende von Sünden gebeichtet worden, kleine und große, die die Gläubigen beunruhigten. Und im göttlichen Austausch für diese Bürden wurde der Balsam des Blutes des Erlösers gegeben. ›Sehet, eine Tür hat sich im Himmel geöffnet, durch welche dieser allmächtige Tausch von Sünde in Gnade stattfinden kann – die übermächtige Gnade des Herrn senkte sich in die Herzen der Sünder. Oh, diese Güte des Herrn!‹« Der Priester schwieg einen Augenblick, und seine Augen leuchteten, dann berichtete er weiter: »Nun, Weihnachten und die folgenden Festtage verliefen äußerst glücklich. In der Sonntagnacht nach dem Gottesdienst sah ich, als ich aus der Sakristei trat, ein Kind warten. Es erklärte mir, als ich es fragte, ob es mich sprechen wolle, daß sein Vater und die anderen Familienangehörigen am nächsten Abend um sechs Uhr die Beichte ablegen woll-
ten. In dem Haus habe die Grippe geherrscht, so daß sie nicht früher hätten kommen können. Aber der Vater würde am nächsten Tag wieder aufstehen, da er zur Arbeit gehen wolle; er fühle sich wieder viel besser und wolle, wenn es mir recht sei, mit seinen Kindern am Abend zur Beichte kommen und am folgenden Morgen zur Kommunion gehen. Früh am Montagmorgen hielt ich wie gewöhnlich die heilige Messe und verbrachte den folgenden Morgen hauptsächlich mit meinem Freund, der schon wieder aufstehen konnte, aber noch nicht das Haus verlassen durfte. Wir unterhielten uns über viele Dinge. Am Nachmittag unternahm ich einen Spaziergang. Während des ganzen Morgens war meine Seele eigenartig niedergeschlagen gewesen, so wie ich es noch nicht häufig erlebt habe. Jede Seele, die versucht, Gott zu dienen – wie kläglich auch immer –, kennt durch Erfahrung diese Prüfungen, mit denen uns der Herr heimsucht und seine eigene Stärke unter Beweis stellt; aber diesmal war es ganz anders. Entsetzen war darein gemischt, so als ob Böses bevorstände. Als ich zu meinem Spaziergang über die hochgelegene Straße aufbrach, nahm diese Niedergeschlagenheit nur noch zu. Es gab keinen natürlichen Grund, mit dem ich mir dieses Gefühl hätte erklären können. Auch die frische Luft und die körperliche Bewegung konnten die Niedergeschlagenheit nicht verscheuchen. Schließlich machte ich kehrt; es war ungefähr halb vier, und ich befand mich genau am Kilometerstein, der sechzehn Meilen von Chanterbury entfernt war. Ich ruhte mich dort etwas aus und blickte nach Südosten; dabei bemerkte ich, daß sich am fernen Horizont schwere Wolken zusammenballten; ich machte mich auf den Heimweg. Während ich dahinging, vernahm ich ein weit entferntes Dröhnen, als ob in der Ferne Waffen brüllten; ich dachte zuerst, daß dort im Süden eine Seefestung sei, in der eine Artillerieübung abgehalten wurde. Aber dann erkannte ich plötzlich, daß das Geräusch zu unregelmäßig und anhaltend war, als daß es von Waffen herrühren konnte. Irgendwie erleichtert kam ich dann zu dem Schluß, daß es ein weit entferntes Gewitter sein müsse, und ich glaubte, daß die elektrisch geladene Atmosphäre meine Niedergeschlagenheit, die mich so merkwürdig beunruhigte, erklären konnte. Das Donnern schien näher
zu kommen, es krachte ein- oder zweimal noch lauter, dann war es wieder still. Aber ich konnte keine Erleichterung verspüren. Als ich kurz nach vier das Haus meines Freundes erreichte, brachte Parker mir den Tee; danach schlief ich in einem Sessel vor dem Kamin ein. Parker weckte mich aus einem bösen und furchterregenden Traum, als er mir meinen Mantel brachte und mir erklärte, daß es jetzt Zeit für meine Verabredung mit den Büßern in der Kirche sei. Ich kann mich an diesen Traum nicht mehr genau erinnern, aber ich weiß noch, daß er düster und voll des Bösen war; der Traum schwang immer noch in mir nach, als ich jetzt irgendwie furchtvoll Parker betrachtete, der schweigend neben meinem Sessel stand und mir den Mantel hinhielt. Die Kirche war nur ein paar Schritt weit von dem Haus entfernt; der Garten des Hauses und der Kirchhof stießen aneinander. Als ich zur Kirche hinüberging und mir den Weg mit der Laterne erleuchtete, die Parker für mich entzündet hatte, hörte ich weit entfernt im Süden, hinter dem Dorf, den Hufschlag eines Pferdes. Das Pferd schien zu galoppieren, aber plötzlich verklang das Geräusch hinter einem hohen Hügelkamm. Dann nahm ich auf meinem Stuhl hinter dem Schirm Platz, den ich schon beschrieben habe; einer nach dem anderen kamen sie, der Arbeiter und seine Kinder, um ihre Beichten abzulegen. Und wie auch am Heiligabend, so fühlte ich auch jetzt wieder den merkwürdigen Charme dieses alten Bußortes, der so von Gott und Mensch erfüllt war, jeder in seiner stärksten Erscheinung als Erlöser und Büßer. Vor mir in der Dunkelheit brannte das rote Licht wie eine leuchtende Blume und erinnerte mich daran, wie Gott seine Geschöpfe beherbergte und wie er sich ihnen als ihr Gott darstellte. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange ich dort war, als ich wieder den Hufschlag vernahm; aber diesmal schien er direkt hinter der Kirche in dem Kirchhof zu sein. Dann wurde es plötzlich wieder ruhig. Plötzlich warf eine Windbö die Tür auf, und die Kerzen begannen in dem Luftzug zu flackern. Eines der Mädchen ging und schloß die Tür wieder. In diesem Augenblick kam der Junge, der vor mir kniete, mit seiner Beichte zu Ende, und ich erteilte ihm die Absolution. Er ging den Kirch-
gang hinunter, und ich wartete auf den nächsten Büßer, da ich nicht wußte, wie vielen ich die Beichte abnehmen sollte. Nach ein oder zwei Minuten wandte ich mich auf meinem Stuhl um und wollte gerade aufstehen, da ich annahm, daß niemand mehr beichten wollte, als eine scharfe Stimme einen einzigen Satz durch das Loch wisperte. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber ich vermute, daß es die übliche Redewendung war, um den Segen zu erbitten. Ich erteilte also den Segen und wartete, ein wenig erstaunt darüber, weil ich nicht gehört hatte, wie der Büßer zu mir gekommen war. Dann sprach die Stimme wieder!« Der Priester unterbrach sich einen Augenblick und sah sich um. Ich bemerkte, daß er zitterte. »Nein, nein«, sagte er, »mir geht es gut, mir fehlt nichts. Aber es war schrecklich – sehr schrecklich. Die Stimme flüsterte wieder laut und schnell, aber das Merkwürdige war, daß ich kaum ein Wort von alledem verstand. Ich konnte nur ab und zu etwas auffangen, wie den Namen Gottes und den der heiligen Mutter Maria. Dann vernahm ich einige alte französische Worte, die ich kannte: Le Roy konnte ich wieder und wieder hören. Zuerst dachte ich, daß dies ein äußerst seltener Dialekt war, den ich nicht kannte. Dann aber kam mir der Gedanke, daß dort vor mir ein sehr alter, tauber Mann beichtete; denn als ich ihm nach einigen Sätzen zu erklären versuchte, daß ich ihn nicht verstehen konnte, schenkte mir der Büßer überhaupt keine Aufmerksamkeit, sondern flüsterte ohne Unterbrechung schnell weiter. Dann erkannte ich, daß er sich in einem schrecklichen Gemütszustand befinden mußte. Die Stimme brach, und der Mann schluchzte, dann weinte er beinahe, aber immer noch in diesem lauten Flüstern. Dann hörte ich auf der anderen Seite der Trennwand Finger, die sich unruhig bewegten, als ob sie versuchten, sich Zugang zu einer verschlossenen Tür zu verschaffen. Schließlich konnte ich einen Moment lang fast gar nichts hören, und dann wurde deutlich eine Schlußphrase wiederholt, die immer leiser wurde, bis sie endlich ganz verstummte. Als ich mich erhob, da ich um den Schirm treten wollte, um dem Mann noch einmal zu erklären, daß ich ihn nicht verstehen konnte, vernahm ich ein lautes
Stöhnen des Büßers. Ich erhob mich schnell und blickte über den Schirm, aber auf der anderen Seite war niemand zu sehen. ›Haben Sie gerufen, Sir?‹ Es war der Kirchendiener, der gekommen war und dort mit Schlüsseln und einer Laterne stand, um die Kirche abzuschließen. Ich stand immer noch da, gab einen Moment lang keine Antwort, bis ich ihn schließlich fragte, wobei mir meine Stimme seltsam in den Ohren klang: ›Ist dort noch jemand, Williams? Sind schon alle gegangen?‹ Vielleicht habe ich ihn auch etwas anderes gefragt, ich weiß es nicht mehr genau. Williams hob seine Laterne hoch und sah sich in der dämmrigen Kirche um. ›Nein, Sir. Es ist niemand mehr in der Kirche, außer ihnen und mir.‹ Ich ging an der Kanzel vorbei zur Sakristei; als ich die Sakristei halb erreicht hatte, brach plötzlich wieder im Dorf das Donnern eines verzweifelt galoppierenden Pferdes los. ›Dort! Dort!‹ schrie ich. ›Hörst du das?‹ Williams kam durch den Mittelgang der Kirche auf mich zu. ›Geht es Ihnen nicht gut, Sir?‹ erkundigte er sich besorgt. ›Soll ich Ihren Diener holen?‹ Ich beherrschte mich und bedeutete ihm, daß nichts sei; aber er bestand darauf, mich ins Pfarrhaus zu begleiten. Ich wollte ihn nicht fragen, ob auch er das Galoppieren des Pferdes gehört hatte. Denn trotz allem dachte ich, daß vielleicht zwischen dem galoppierenden Pferd und der flüsternden Stimme keine Beziehung bestand. Ich war erschüttert und äußerst verstört; nach dem Abendessen, das ich natürlich allein zu mir nahm, wollte ich sofort zu Bett gehen. Als ich die Treppe hinaufstieg, ging ich jedoch noch für ein paar Minuten zu meinem Freund in sein Zimmer. Er schien sich unbedingt mit mir unterhalten zu wollen, so daß ich sehr viel länger bei ihm blieb, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Ich berichtete ihm nichts von dem, was sich heute abend in der Kirche ereignet hatte, sondern ich hörte ihm nur zu, als er mir von dem Dorf und seinen Nachbarn erzählte. Schließlich, als ich ihm schon ›Gute Nacht‹ wünschen wollte, sagte er noch ungefähr folgendes:
›Ich weiß, ich sollte dich eigentlich nicht aufhalten, aber während du in der Kirche warst und die Beichten abgenommen hast, habe ich die ganze Zeit über eine alte Geschichte nachgedacht, die von vielen Altertumsforschern über diesen Ort berichtet wird. Es heißt, daß einer der Mörder von Thomas Becket genau in der Nacht des Mordes immer wieder hierher zurückkehrt. Und du mußt wissen, daß Becket heute vor vielen, vielen Jahren ermordet wurde; wahrscheinlich mußte ich deshalb auch die ganze Zeit an diese alte Geschichte denken.‹ Während mein Freund mir dies erzählte, begann mein Herz heftig zu schlagen; aber unter Aufbietung meiner ganzen Selbstbeherrschung erklärte ich, daß ich die Geschichte gern hören würde. ›Oh! Darüber gibt es nicht viel zu berichten‹, meinte mein Freund. ›Niemand weiß genau, wer der Mörder wirklich gewesen ist. Aber man vermutet, daß es entweder einer der vier Ritter oder ein königlicher Scherge gewesen sei.‹ ›Aber wie ist er hierhergekommen?‹ fragte ich meinen Freund. ›Und aus welchem Grunde?‹ ›Oh, man vermutet, daß er Seelenqualen erleidet und daß er hierherkommt, um die Absolution zu erhalten. Aber das ist natürlich unmöglich.‹ ›Aber erzähle mir‹, drang ich in ihn, ›kam er allein, oder wie?‹ ›Nach dem Mord wurden Haus und Ställe des Erzbischofs gründlichst durchsucht; und man berichtet, daß sich dieser Mann eines der schnellsten Pferde genommen habe und wie ein Verrückter geritten sei, ohne zu wissen, in welche Richtung er sich wandte. Und daß er in das Dorf und in die Kirche eilte, in der sich gerade der Priester aufhielt. Danach soll er wieder aufgesessen und davongeritten sein. Ich glaube, daß der Priester irgendwo im Altarraum begraben worden ist. Aber du siehst, dies ist eine sehr vage und nicht zu beweisende Geschichte. Und man berichtet, daß am Stadttor von Maling, eine Nacht nach dem Mord, einer der Ritter schlief.‹ Ich sagte nichts mehr, aber ich glaubte, daß ich sehr merkwürdig ausgesehen habe, denn mein Freund betrachtete mich ängstlich und befahl
mir fast, jetzt sofort ins Bett zu gehen. Ich nahm also meine Kerze auf und verließ ihn. Das ist also«, schloß der Priester und wandte sich mir zu, »die Geschichte. Ich brauche wohl nicht besonders zu erwähnen, daß ich seit dieser Zeit sehr viel darüber nachgedacht habe. Ich bin zu zwei Theorien gekommen, die mir glaubwürdig erscheinen, und zu zwei weiteren, die mir aber völlig unglaubwürdig erscheinen. Als erstes kann man annehmen, daß es mir schlecht ging. Meine vorangegangene Niedergeschlagenheit und auch der Traum beweisen dies, und deshalb habe ich wohl auch diese ganze Geschichte in einem Alptraum erlebt. Wenn Sie das glauben wollen – nun, dann glauben Sie es. Dann kann man annehmen, wenn man an die Arbeiten der Society for Psychical Research denkt, daß diese ganze Sache telepathisch von dem Geist meines Freundes auf mich überging, der zu der Zeit, als ich mich in der Kirche befand, über diese alte Geschichte nachdachte; daß sein Geist in einem energetischen und meiner in einem passiven Zustand war, oder so etwas ähnliches. Diese beiden Erklärungsmöglichkeiten würde man wissenschaftlich nennen. Dieser Begriff soll bedeuten, daß die Ereignisse innerhalb dessen erklärt werden, mit dem sich der Verstand – ein bestenfalls armseliges Instrument – befassen kann. Doch diese beiden ›wissenschaftlichen‹ Erklärungstheorien beinhalten schon wieder in sich neue, unlösbare Schwierigkeiten. Oder man macht sich den Standpunkt der geistigen Welt zu eigen und benutzt die Fähigkeit, die Gott dem Menschen verlieren hat, damit er mit ihnen arbeitet; dann wird man nicht weiter hilflos verwirrt sein, und der menschliche Verstand wird sich nicht mehr bei einer Aufgabe überanstrengen, für dessen Lösung er nicht geschaffen wurde. Ich bin ganz sicher, daß Sie einer dieser beiden Theorien den Vorzug geben werden. Als erstes: Menschliche Gefühle können die leblosen Dinge beeinflussen oder auch sättigen. Natürlich ist dies das alte, heilige Prinzip der Schöpfung. So zum Beispiel verändert sich Ihr Gesichtsausdruck bei Ihren verschiedenen Gefühlen, wenn sich die chemischen Partikel, aus denen ihr Gesicht besteht, anders anordnen. Man könnte sagen, daß die wilden Leidenschaften von Haß, Zorn, Entsetzen und Gewissensbissen
dieses armen Mörders vor siebenhundert Jahren mit einer starken geistigen Ausstrahlung verbunden waren, die sich so tief in diesen Ort senkte, daß alles damit getränkt wurde, so daß sich diese Gefühlsregungen unter bestimmten Umständen wieder reproduzieren können. Nehmen Sie nur einen Phonographen: In ihm werden die Geräuschschwingungen zuerst in Wachsrillen umgewandelt; wenn dann bestimmte Bedingungen erfüllt sind, so werden sie wieder als Geräuschschwingungen hörbar. Oder aber, wenn man altertümlich und einfach veranlagt ist, kann man sagen, daß durch irgendein unerbittliches Gesetz, welches weit jenseits unserer Vorstellungskraft liegt und das wir auch nicht erklären können, der persönliche Geist dieses Mannes an diesen Ort gefesselt und gezwungen wird, seine Sünde wieder und wieder zu büßen, Jahr für Jahr, indem er versucht, seinen tiefen Kummer auszudrücken und Vergebung zu suchen, die ihm natürlich nicht zuteil werden kann. Aber natürlich wissen wir nicht, wer es war; entweder einer der Ritter, der später die Absolution erhielt, die wahrscheinlich aber nicht von Gott gutgeheißen wurde; oder aber einer der Schergen, der dabei war, und, wie ein anonymer Chronist sagt, sine confessione et vatico subito rapti sunt. Ich glaube, es liegt nichts Materialistisches in dem Glauben, daß Geisterwesen dazu gezwungen sind, sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten auszudrücken; und daß die unbelebte Natur, wie auch die belebte, ein Vehikel des Unsichtbaren ist. Alle Argumente dagegen sind durch die Auferstehung des Heilands für alle Christen ganz bestimmt widerlegt worden, wie auch durch die Sakramente, die besagen, daß das Unendliche und Ewige sich einstmals und immer in Form von Raum und Zeit in der unbelebten Natur darstellt. Und, um noch auf etwas anderes anzuspielen, so brauche ich Sie vielleicht gar nicht daran zu erinnern, daß über Canterbury, genau an dem Tag und zu der Stunde, ein Gewitter tobte, als der Erzbischof ermordet worden war.«
H. R. WAKEFIELD
Das Gespensterschloß Nun, der Kerl schien sich wirklich auszukennen, dachte Mr. Cort bei sich. Erste Abzweigung rechts, dann die zweite links, schmiedeeisernes Tor. Dieser Idiot in Wendover, schickt mich sechs Meilen in die falsche Richtung. Hoffentlich erfriert er sich dafür die Füße! Und dazu dieses kalte Wetter. In England hat es das seit Jahren nicht gegeben. Er fürchtete, sein Ziel nicht vor Dunkelwerden zu erreichen und trat aufs Gaspedal, bis der Wagen halsbrecherisch über die vereiste, ausgefahrene Landstraße schlingerte. Dann sah er die Gabelung, bekam eben noch die Kurve und holperte langsamer weiter, bog bei der zweiten Kreuzung nach links ein – und da war das Tor. Er stieg aus, öffnete die Flügel und fuhr vorsichtig eine schmale, gewundene Zufahrt hinauf. Diese Hecken hätten schon lange beschnitten werden müssen, dachte er, und die Zufahrt gehörte ausgebessert – voller Schlaglöcher; würde aber einiges Geld kosten. Der Fahrweg stieg steil an und zog nach rechts hinüber, und auf einmal endeten die hohen Hecken, und Mr. Cort hielt vor Schloß Lorn. Er stieg aus, rieb seine Hände, stampfte mit den Füßen und blickte umher. Schloß Lorn – eigentlich war es nur ein besseres Herrenhaus – lag in halber Höhe auf einem Hügelausläufer, und wie der Immobilienmakler sich ausgedrückt hatte, ›überblickte es weite Ländereien.‹ Man sah ihm sein Alter an, fand Mr. Cort, oder vielmehr seine Zeitalter, denn die plumpen Doppelkamine aus Cromwells Zeiten lagen im Streit mit dem schlechten Barock aus Königin Annes Tagen. Am Giebel konnte er die Jahreszahl 1703 ausmachen. Und dieser ganze Flügel mußte wenigstens hundert Jahre jünger sein als der Rest. »Ein großer Besitz«, murmelte er. »Und gut erhalten. Für siebentausend Pfund ein unwahrscheinlich günstiger Kauf; kann ich nicht verstehen.« Und dann drehte er sich um und prüfte die Aussicht über die ›weiten Ländereien‹. Die alten Bäume waren in glühende Farben getaucht, als die untergehende Sonne rot hinter fernen Hügelketten versank. Das Tal von
Aylesbury träumte unter einer langsam sich verdichtenden Nebelbank. Die runden Hügelkuppen mit ihren grauviolett und rosa gefärbten Waldstücken lagen noch im tiefen Widerschein der letzten Strahlen. Es ist wie eine Traumwelt, dachte Mr. Cort, angetan von der stillen Schönheit. Aber das Haus ist ein bißchen zu einsam und isoliert. Und so wie die Nebel steigen, werde ich eine lange Rückfahrt haben. Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und ging drei Stufen hinauf und steckte ihn ins Schlüsselloch der massiven Eichentür. Als er sich noch einmal umwandte, war die Sonne untergegangen, und das Land lag in graublauen Schatten. Die Dämmerung vertiefte sich rasch. Er stieß die Tür auf, trat ein und blickte in absolute Finsternis. Die Tür schwang zu und schloß sich hinter ihm. Dies mußte die ›palastartige, getäfelte Halle‹ sein, die der Makler beschrieben hatte. Er mußte ein Streichholz anzünden und die Lichtschalter suchen. Ohne Erfolg wühlte er in seinen Taschen, und dann durchsuchte er sie noch einmal. Er dachte einen Moment nach. Ich muß sie im Wagen liegen gelassen haben, vermutete er. Er wandte sich um und tastete sich die paar Schritte zur Tür zurück und blieb dann abrupt stehen, denn ihm war, als ob etwas an ihm vorbeigeschlüpft sei. Aber es war nichts zu hören. Er streckte seine Hände aus, um die Tür zu finden – und berührte eine Stuhllehne, samtbezogen. Er bewegte sich links daran vorbei und stieß gegen eine Wand. Er änderte die Richtung, ging am Stuhl vorbei zurück und stand wieder vor der Wand. Er kehrte zum Stuhl zurück, setzte sich und durchsuchte noch einmal seine Taschen, diesmal gründlicher und sorgfältiger. Nun, es war kein Grund zur Aufregung; früher oder später mußte er die Tür finden. Er dachte nach: Als er hereingekommen war, war er geradeaus gegangen, drei Meter vielleicht; aber er konnte nicht gerade zurückgegangen sein, weil er auf diesen Stuhl gestoßen war. Die Tür mußte ein wenig weiter rechts oder links sein. Probierte er beide Möglichkeiten aus, mußte er die Tür finden. Er wandte sich zuerst nach links und geriet in eine schmale kleine Passage; mit ausgestreckten Armen konnte er beide Wände fühlen. Nun, dann mußte er es rechts versuchen. Er tat es und lief gegen eine Wand. Er tastete sich daran entlang, und wieder war es, als ob etwas an ihm vorbeihuschte. Er überlegte, ob es in dieser Halle Fledermäuse gab – und dann war er wieder beim Stuhl angelangt.
Rachel würde sich totlachen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Bestimmt hatte er irgendwo ein einzelnes Streichholz. Er zog seinen Mantel aus und befühlte jeden Taschensaum an seinem Anzug, und dann tat er dasselbe mit dem Mantel, bevor er ihn wieder anzog. Nichts. Er mußte es eben noch einmal probieren. Er beschloß, der Wand zu folgen. Er tat es und geriet in eine schmale Passage; vermutlich in einen abzweigenden Korridor. Plötzlich schoß seine rechte Hand vor, denn er hatte den Eindruck, daß etwas ganz leicht sein Gesicht streifte. Diese Fledermäuse werden allmählich lästig, dachte er, und dieser ganze verdammte Raum auch. Ein nervöserer Typ könnte in Panik geraten, aber das wollte er unbedingt vermeiden. Ah, da war wieder der Stuhl. Nun werden wir die Wand in der anderen Richtung untersuchen. Die Wand schien kein Ende zu nehmen, also kehrte er um und ging, bis er den Stuhl fand. Er setzte sich wieder und pfiff resigniert einen kleinen Gassenhauer. Was für ein Echo! Das kleine Lied wurde wild, beinahe drohend zurückgeschleudert. Ja, drohend, das war genau das panikerzeugende Wort, das ein nervöser Mensch gebrauchen würde. Nun, diesmal war wieder die linke Seite an der Reihe. Als er aufstand, fächelte ein kurzer kalter Luftzug sein Gesicht. »Ist jemand da?« fragte er. Er hatte seine Stimme absichtlich nicht erhoben – es war nicht nötig, zu brüllen. Natürlich antwortete niemand. Wer hätte auch antworten sollen, wo doch der Hausverwalter nicht da war? Er mußte die Sache ganz logisch durchdenken. Beim Eintreten war er genau geradeaus gegangen, und dann, auf dem Rückweg, mußte er ein wenig abgewichen sein; folglich – nein, sein Orientierungssinn begann sich zu verwirren. In diesem Moment hörte er das Pfeifen eines Zuges und fühlte sich ermutigt. Die Strecke von Wendover nach Aylesbury verlief halblinks von der Eingangstür, also mußte diese ungefähr dort sein – er zeigte mit dem Finger, stand auf, tastete sich vorwärts und kam in einen kleinen schmalen Korridor. Nun, jetzt mußte er umkehren und dann rechts gehen. Er tat es, und etwas schien dicht an ihm vorbeizuhuschen, und dann fühlte er den Samtbezug der Stuhllehne unter seinen Fingern. Ein Labyrinth ist nichts dagegen, seufzte er. Und dann murmelte er: »Diese verfluchte, gottverlassene Ruine!« Eine alberne, panische Reaktion, tadelte er sich – beinahe so schlimm wie lautes Rufen.
Gut, es hatte offensichtlich keinen Sinn, weitere Versuche zu machen; er konnte die Tür nicht mehr finden. Er fand sie einfach nicht. Es blieb ihm also gar nichts anderes übrig, als sich auf den Stuhl zu setzen und auf den Morgen zu warten. Er setzte sich. Es war völlig still. Seine Hände fingen wieder an, in den Taschen zu wühlen. Ganz still – bis auf ein wisperndes Geräusch irgendwo dort drüben. Was konnte es sein? Der Hausmeister war fort. Er drehte seinen Kopf ein wenig und lauschte angestrengt. Es klang beinahe, als ob dort mehrere Leute miteinander flüsterten. In alten Häusern gab es schon komische Geräusche! Wie absurd es war! Der Stuhl konnte nicht weiter als drei oder vier Meter von der Tür entfernt sein. Daran gab es keinen Zweifel. Sie mußte etwas mehr auf der rechten oder der linken Seite sein. Er wollte es noch mal mit der linken Seite probieren. Er stand auf, und etwas streifte leicht sein Gesicht. »Ist jemand da?« fragte er, und diesmal wußte er, daß er es laut gerufen hatte. »Wer hat mich angefaßt? Wer flüstert da? Wo ist die Tür?« Was für ein nervöser Dummkopf er war, so herumzubrüllen; aber vielleicht hatte ihn draußen jemand gehört. Er tastete sich wieder vorwärts und berührte eine Wand. Er folgte ihr, berührte sie mit seinen Fingerspitzen, und da war eine Öffnung. Die Tür! Es mußte die Tür sein! Und er kam wieder in einen schmalen kleinen Korridor. Er drehte um und rannte zurück. Und dann erinnerte er sich! Er hatte ein Zündholzkärtchen in seinem Notizbuch! Wie blödsinnig von ihm, das zu vergessen! Dieses lächerliche Herumtappen. Ja, da waren die Zündhölzer; aber seine Hände zitterten, und das Kärtchen fiel durch seine Finger. Er fiel auf die Knie und begann am Boden zu suchen. »Es muß hier liegen, ganz in der Nähe; es kann nicht weit sein…« Und dann wurde etwas Eiskaltes und Feuchtes gegen seine Stirn gedrückt. Er warf sich vorwärts, um es zu ergreifen, aber nichts war da. Und dann sprang er auf die Füße und schrie, während Tränen über sein Gesicht liefen: »Wer ist da? Helft mir! Rettet mich!« Und dann begann er mit vorgestreckten Armen im Kreis herumzulaufen. Zuletzt stolperte er gegen etwas – den Stuhl, und etwas berührte ihn im Vorbeihuschen. Und dann rannte er schreiend durch den Raum, immer im Kreis herum; und plötzlich schlugen seine Schreie gellend zurück an sein Ohr, denn er war wieder in den schmalen Korridor geraten.
»Nun, Mr. Runt«, sagte der Kronrichter, »Sie sagen, Sie hörten Schreie aus der Richtung des Herrenhauses. Warum sind Sie nicht hingegangen, um festzustellen, was dort los war?« »Von uns geht keiner nach Sonnenuntergang zum Herrenhaus«, sagte Mr. Runt. »Ach, ich weiß, daß es da einen absurden Aberglauben über das Haus gibt; aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Sie hörten Schreie, die offenbar von jemand kamen, der Hilfe brauchte. Warum gingen Sie nicht hin, um nachzusehen, statt wegzulaufen?« »Von uns geht keiner nach Sonnenuntergang zum Herrenhaus«, sagte Mr. Runt. »Weichen Sie meiner Frage nicht aus. Sie wissen, daß der Arzt sagte, Mr. Cort muß einen Schlaganfall erlitten haben, hätte aber gerettet werden können, wenn rasch Hilfe gekommen wäre. Wollen Sie sagen, daß Sie, selbst wenn Sie dies gewußt hätten, trotzdem in so feiger Weise gehandelt haben würden?« Mr. Runt richtete seine Augen auf den Boden und befingerte seine speckige Schirmmütze. »Von uns geht keiner nach Sonnenuntergang zum Herrenhaus«, wiederholte er.
EDITH WHARTON
Ein Geist, den man nicht gleich erkennt »Oh, es gibt einen, natürlich, aber du wirst es nie merken.« Diese Behauptung, die an einem sonnigen Junitag vor sechs Monaten lachend aufgestellt worden war, fiel Mary Boyne wieder ein und erhielt einen neuen Sinn, als sie in der Dezemberdämmerung darauf wartete, daß die Lampen in die Bibliothek gebracht würden. Diese Worte waren von ihrer Freundin Alida Stair ausgesprochen worden, und sie bezogen sich auf eben das Haus, dessen Mittelpunkt das große Bibliothekszimmer war. Mary Boyne und ihr Mann waren auf der Suche nach einem Landhaus in einer der südlichen oder südwestlichen Grafschaften gewesen und hatten nach ihrer Ankunft in England ihr Wohnungsproblem mit Alida Stair besprochen; aber erst, nachdem sie einige passabel klingende Vorschläge zurückgewiesen hatten, rückte Alida damit heraus: »Nun gut, da ist noch Lyng in Dorsetshire. Es gehört Hugos Cousin, und ihr könnt es für einen Pappenstiel haben.« Die Gründe, die sie dafür anführte, daß es zu einem Spottpreis zu haben war – die entfernte Lage von einer Bahnstation, kein elektrisches Licht, kein warmes Wasser und andere nicht gerade übertriebene Anfordernisse – waren gerade das, was für das Haus sprach, zumindest in den Augen zweier romantischer Amerikaner, die in geradezu spleeniger Weise solche primitiven Orte suchten, die ihrer Auffassung nach mit ungewöhnlichen architektonischen Glückseligkeiten verbunden waren. »Ich würde nie glauben, daß ich tatsächlich in einem alten Haus wohne, wenn es nicht vollkommen unbequem ist«, hatte Ned Boyne, der Extravagantere der beiden, scherzhaft behauptet; »die geringste Andeutung von Bequemlichkeit würde mich vermuten lassen, daß man es auf einer Fertighausausstellung gekauft und die numerierten Stücke zusammengesetzt hat.« Und sie hatten mit humorvoller Genauigkeit ihre verschiedenen Zweifel und Ansprüche aufgezählt und wollten nicht glauben, daß dieses Haus wirklich im Tudorstil gebaut war, bis sie hörten, daß es keine
Heizung hatte, und bis man ihnen versichert hatte, daß die Wasserversorgung ziemlich unregelmäßig war. »Es ist zu unbequem, um wahr zu sein«, hatte Ned Boyne weiter geschwärmt, als diese Nachteile zur Sprache kamen; aber dann hatte er seine Elogen unterbrochen, um mit erneutem Mißtrauen zu fragen: »Und der Geist? Du verbirgst uns die Tatsache, daß es dort einen Geist gibt!« Mary hatte damals mit ihm gelacht, aber dennoch war ihr eine Note von Entschiedenheit in Alidas fröhlicher Antwort aufgefallen. »Oh, weißt du, Dorsetshire ist voll von Geistern.« »Ja, ja. Aber das genügt nicht. Ich möchte nicht zehn Kilometer fahren müssen, um den Geist von jemand anderem zu sehen. Ich möchte einen eigenen haben. Gibt es einen Geist in Lyng?« Seine Erwiderung hatte Alida zum Lachen gebracht, und bei dieser Gelegenheit hatte sie, um ihn ein wenig auf die Folter zu spannen, zurückgegeben: »Oh, es gibt einen, natürlich, aber du wirst es nie merken.« »Nie merken?« zog sie Boyne auf. »Aber was in der Welt macht denn einen Geist aus, außer der Tatsache, daß er als solcher bekannt ist?« »Ich kann es nicht erklären, aber so ist es nun einmal.« »Daß es einen Geist gibt, aber daß es niemand merkt, daß es ein Geist ist?« »Nun – erst später merkt man es.« »Später?« »Erst viel, viel später.« »Aber wenn er schon als überirdischer Besucher identifiziert wurde, warum ist sein Steckbrief nicht in der Familie vererbt worden? Wie hat er es fertiggebracht, sein Inkognito zu wahren?« Alida konnte nur mit dem Kopf schütteln. »Frag mich nicht, er hat es geschafft.« »Und dann plötzlich« – Mary sprach wie aus der tiefsten Tiefe einer Eingebung – »und dann plötzlich, viel später, sagt man sich selbst ›das war es?‹«
Sie war selbst über den Grabeston erschrocken, mit dem diese Frage in die Ulkerei der anderen fiel, und sie sah einen Schatten der gleichen Überraschung in Alidas Pupillen aufleuchten. »Ich glaube, so ist es. Man muß nur warten.« »Oh, zum Teufel mit dem Warten!« fiel Ned ein. »Das Leben ist zu kurz für einen Geist, den man nur rückblickend genießen kann. Gibt es kein besseres Haus in der Gegend, Mary?« Es stellte sich heraus, daß kein geeigneteres vorhanden war, und knapp drei Monate nach dieser Konversation mit Miß Stair hatten sie sich in Lyng niedergelassen und begannen das Leben, das sie sich gewünscht und das sie im voraus in allen Details geplant hatten. Das bedeutete z. B. im Dezemberdüster am Kamin unter den schwarzen Eichenbalken zu sitzen, mit dem Gefühl, daß jenseits der verhüllten Fensterscheiben die Einsamkeit noch tiefer war; für das Schwelgen in solchen Empfindungen hatte Mary Boyne, die durch die Geschäfte ihres Gatten plötzlich aus New York vertrieben worden war, beinahe vierzehn Jahre die seelentötende Häßlichkeit einer Stadt im Mittelwesten Amerikas ertragen, und Boyne hatte verbissen in seinem Ingenieurberuf gearbeitet, bis sie dann mit einer Plötzlichkeit, die sie jetzt noch verwirrte, der ungeheure Glücksfall der Blue-Star-Mine mit einem Schlag in den Besitz des ungebundenen Lebens und der Muße, dieses Leben zu genießen, gebracht hatte. Sie hatten diesen neuen Zustand nicht einen Augenblick lang mit Müßiggang gleichgesetzt; aber sie wollten sich nur mehr harmonischen Tätigkeiten hingeben. Sie stellte sich vor, zu malen und im Garten zu arbeiten, und er träumte von der Arbeit an seinem langgeplanten Buch über die ›Wirtschaftliche Basis der Kultur‹. Und mit solch zeitraubenden Arbeitsplänen vor Augen, konnten sie nicht weit genug von der Welt entfernt sein oder tief genug in die Vergangenheit tauchen. Dorsetshire hatte sie von Anfang an durch seine Atmosphäre von Abgelegenheit angezogen, die in keinem Verhältnis zu seiner geographischen Lage stand. Aber für die Boynes war es eines der immer wiederkehrenden Wunder dieser unergründlichen Insel, daß so wenig nötig war, um gewisse Ergebnisse zu erzielen: daß so wenige Kilometer eine Entfernung ausmachten, und eine so kleine Entfernung so viel Unterschied.
Das alte Haus, das am Abhang eines Hügels lag, besaß sämtliche Merkmale einer langen Vergangenheit. Die bloße Tatsache, daß es weder groß noch sonstwie außergewöhnlich war, machte für die Boynes seinen besonderen Charme aus – den Charme eines tiefen, dunklen Lebensreservoirs über Jahrhunderte hin. Wahrscheinlich war das Leben nicht sehr lebendig gewesen: Durch lange Zeiträume war es zweifellos geräuschlos in die Vergangenheit gefallen, wie der stille Regen im Herbst Stunde auf Stunde in den Fischteich fiel; aber diese Stauseen der Existenz züchten manchmal in ihren schlammigen Tiefen eine seltsame Empfindungsschärfe, und Mary Boyne hatte von Anfang an die geheimnisvollen Regungen intensiverer Erinnerung gespürt. Dieses Gefühl war nie stärker gewesen als an dem erwähnten Nachmittag, als sie in der Bibliothek darauf wartete, bis die Lampen gebracht würden. Ihr Mann war nach dem Mittagessen zu einer seiner langen Wanderungen in das Hügelland aufgebrochen. Sie hatte in letzter Zeit bemerkt, daß er es vorzog, allein zu gehen; und in dem Gefühl der Sicherheit ihrer persönlichen Beziehungen zueinander war sie zu dem Schluß gekommen, daß sein Buch ihm Sorgen machte und daß er die Nachmittage brauchte, um in der Einsamkeit die Probleme zu überdenken, die von seiner Arbeit am Morgen übriggeblieben waren. Sicherlich ging es mit dem Buch nicht so glatt, wie er es sich vorgestellt hatte. Denn zwischen seinen Augen gab es eine Linie der Bestürzung, die sie während seiner Ingenieurtätigkeit nie bemerkt hatte. Er hatte damals oft erschöpft, ja manchmal krank ausgesehen, aber dieser Dämon ›Sorge‹ hatte nie seine Stirn gezeichnet. Und dennoch hatten die wenigen Seiten, die er ihr vorgelesen hatte – die Einführung und eine Zusammenfassung des ersten Kapitels –, gezeigt, daß er sein Thema beherrschte und seinem Können vertraute. Diese Tatsache stürzte sie in noch tiefere Verwirrung, weil jetzt, da er nichts mehr mit Geschäften zu tun hatte, die einzige Möglichkeit der Sorge ausgeschaltet war. Oder war es seine Gesundheit? Aber physisch hatte er eher dazugewonnen, seit sie nach Dorsetshire gekommen waren. Er war robuster geworden und hatte frischere Augen. Erst seit der letzten Woche hatte sie in ihm diese undefinierbare Veränderung gespürt, die sie unruhig machte, wenn er abwesend war, und sie am Reden hin-
derte, wenn er da war, als ob sie ein Geheimnis vor ihm verbergen müßte! Der Gedanke, daß es irgendwo ein Geheimnis zwischen ihnen gab, überfiel sie mit plötzlichem Erstaunen, und sie blickte sich in dem großen Bibliothekszimmer um. »Kann es das Haus sein?« überlegte sie. Der Raum selbst hätte voll von Wundern sein können. Sie schienen sich aufzutürmen, als der Abend einfiel, so wie die vielen Lagen des samtenen Schattens, der sich von der niederen Decke herabsenkte. »Aber natürlich – das Haus ist verwunschen!« dachte sie. Der Geist – Alidas unmerkbarer Geist – war, nachdem er in den ersten Monaten ihres Aufenthaltes in Lyng eine große Rolle in ihren Scherzen gespielt hatte, nun immer mehr verschwunden, weil er sich für den Fantasiegebrauch als zu unwirksam erwies. Mary hatte als Mieterin eines verwunschenen Hauses tatsächlich die üblichen Erkundigungen bei den ländlichen Nachbarn eingezogen. Aber die Dorfleute hatten nichts Wesentliches zu berichten. Das flüchtige Gespenst war offenbar niemals so ausreichend in Erscheinung getreten, um eine Legende entstehen zu lassen, und nach einiger Zeit hatten die Boynes die Angelegenheit auf die Verlustliste gesetzt und waren sich einig, daß Lyng eines der wenigen Häuser sei, das gut genug war, um auf übernatürliche Unterhaltung zu verzichten. »Und ich nehme an, daß unser armer unwirksamer Dämon deshalb vergeblich seine schönen Flügel in der Leere schlägt«, hatte Mary lachend geschlossen. »Oder«, antwortete Ned in derselben Tonart, »er kann inmitten von soviel Geisterhaftem niemals seine gesonderte Existenz als der Geist nachweisen.« Und von da an wurde ihr unsichtbarer Mitbewohner endgültig nicht mehr erwähnt. Aber nun, als Mary am Kamin stand, lebte der Gegenstand ihrer früheren Neugierde mit neuer Bedeutung wieder in ihr auf – einer Bedeutung, die ihm durch den täglichen Kontakt mit dem lauernden Geheimnis zukam. Es war natürlich das Haus selbst, das diese geisterseherische Fähigkeit besaß und das visuell, aber geheim, mit seiner eigenen Vergangenheit
in Verbindung stand; wenn man nur in ebenso enge Verbindung mit dem Haus käme, könnte man vielleicht das Geheimnis lüften und selbst diese Fähigkeit erwerben. Und vielleicht hatte ihr Mann in den langen Stunden, die er in diesem Raum verbrachte, die Fähigkeit schon erworben und trug nun schweigend die Last dessen, was immer sich ihm gezeigt hatte, mit sich herum. Mary kannte den Kodex der Geisterwelt gut genug, um zu wissen, daß man nicht über Geister sprach, die man sah. Aber diese Erklärung befriedigte sie nicht wirklich. »Warum sollte er sich, abgesehen von dem Vergnügen eines gewissen Erschauderns, wirklich um die alten Geister kümmern?« überlegte sie. Und damit war sie wieder bei dem ursprünglichen Dilemma, der Tatsache, daß eine größere oder geringere Empfänglichkeit gegenüber gespenstischen Einflüssen in diesem Fall keine Bedeutung hatte, weil man, wenn man in Lyng einen Geist sah, es nicht merkte. ›Erst viel später‹, hatte Alida Stair gesagt. Nun, wenn sie annahm, daß Ned bald nach ihrer Ankunft einen gesehen hatte und erst während der letzten Woche bemerkt hatte, was mit ihm geschehen war? Mehr und mehr von der Dämmerstunde beeinflußt, gingen ihre Gedanken zurück zu den ersten Tagen in Lyng, und sie erinnerte sich zunächst nur an das große Durcheinander beim Auspacken, beim Einrichten, beim Einordnen der Bücher und daran, wie sie aus den entferntesten Ecken des Hauses einander zugerufen hatten. Und in diesem speziellen Zusammenhang fiel ihr plötzlich ein ganz bestimmter milder Nachmittag im vergangenen Oktober ein, als sie nach dem ersten Rausch der Entdeckung zu einer detaillierten Inspektion des alten Hauses übergegangen waren und sie wie die Heldin im Roman eine Wandverkleidung berührt hatte, die sich auf eine Wendeltreppe öffnete, welche auf ein flaches Dach führte – ein Dach, das von unten viel zu steil schien, um begangen zu werden. Der Ausblick von dieser versteckten Ecke war bezaubernd, und sie war hinuntergeeilt, um Ned von seinen Papieren zu holen und ihn selber die Entdeckung machen zu lassen. Sie erinnerte sich noch genau, wie er, neben ihr stehend, den Arm um sie gelegt hatte, während ihr Blick zur Hügellinie am Horizont schweifte und dann hinunterwanderte zu den Hecken am Fischteich und zum Schatten der Bäume auf dem Rasen. »Und nun die andere Richtung«, hatte er gesagt und sie in seinem Arm umgedreht; eng an ihn gepreßt, hatte sie das Bild der grauen Wände im
Hof in sich aufgenommen, die liegenden Löwenskulpturen am Gittertor und die gerade Allee, die bis zur Straße führte. Und genau in diesem Augenblick, als sie hinunterblickten und einander umfaßt hielten, spürte sie, wie sein Arm nachgab und hörte ein scharfes »Hallo«, das sie veranlaßte, sich umzudrehen und ihn anzublicken. Ja, sie erinnerte sich nun deutlich, daß sie einen Schatten von Bestürzung und Furcht auf seinem Gesicht gesehen hatte; und als sie seinen Augen folgte, bemerkte sie die Gestalt eines Mannes – eines Mannes in weiter grauer Kleidung, wie es ihr schien –, der die Allee hinunter zum Hof schlenderte und wie ein Fremder aussah, der nach dem Weg sucht. Ihre kurzsichtigen Augen hatten ihr nur einen verwischten Eindruck von etwas Grauem vermittelt, etwas Fremdem oder zumindest nicht aus der Gegend Stammendem, das im Schnitt der Kleidung oder in der Gestalt selbst lag; aber ihr Mann hatte offensichtlich mehr gesehen – genug, daß er an ihr vorbei mit einem hastigen »Warte« hinuntereilte, ohne ihr beim Herabsteigen behilflich zu sein. Ihre Neigung zu Schwindelgefühlen zwang sie, nachdem sie sich zunächst an dem Schornstein angeklammert hatte, an dem sie gelehnt hatten, ihrem Mann vorsichtig nachzufolgen; als sie den Treppenabsatz erreicht hatte, hielt sie neuerlich inne, allerdings ohne bestimmten Grund, und beugte sich über das Geländer, um in die sonnenübergossene Tiefe zu schauen. Sie blieb hier, bis sie das Schließen einer Tür hörte; dann ging sie mechanisch die breiten Stufen hinunter, bis sie die Halle erreicht hatte. Die Eingangstür stand offen und ließ das Sonnenlicht aus dem Hof eindringen, die Halle und der Hof waren leer. Auch die Tür zur Bibliothek war offen, und nachdem sie vergeblich nach dem Geräusch von Stimmen darin gelauscht hatte, überschritt sie die Schwelle und fand ihren Mann allein vor, ziellos in den Papieren auf seinem Schreibtisch wühlend. Er blickte auf, als ob er durch ihr Eintreten überrascht worden wäre, und der Schatten von Sorge war aus seinem Gesicht verschwunden und hatte es, wie sie meinte, sogar heller und klarer als gewöhnlich zurückgelassen. »Was war es? Wer war es?« fragte sie.
»Wer?« wiederholte er, noch immer ganz erstaunt. »Der Mann, der zum Haus gekommen ist.« Er schien nachzudenken. »Der Mann? Ach, ich glaubte, ich hätte Peters gesehen; ich lief ihm nach, um mit ihm über die Rohrleitungen im Stall zu sprechen, aber er war verschwunden, bevor ich unten war.« »Verschwunden? Aber er schien doch so langsam zu gehen, als wir ihn sahen.« Boyne zuckte mit den Schultern. »Das habe ich auch geglaubt; aber er muß in der Zwischenzeit ein anderes Tempo eingeschlagen haben. – Was hältst du davon, noch vor dem Sonnenuntergang nach Meldon Steep zu gehen?« Das war alles. Damals war dieses Ereignis völlig unbedeutend erschienen und unmittelbar darauf durch den Zauber ihres ersten Ausblickes von Meldon Steep, einer Anhöhe, auf die sie schon lange hatten klettern wollen, verdrängt worden. Ohne Zweifel bewirkte die bloße Tatsache, daß dieser andere Vorfall an dem Tag ihres Aufstieges nach Meldon geschehen war, daß sie ihn überhaupt im Gedächtnis behalten hatte; denn in sich selbst hatte er keine Bedeutung gehabt. Es war ganz natürlich erschienen, daß Ned vom Dachgeschoß hinuntereilte, um säumigen Handwerkern nachzurennen, denn damals war es alltäglich gewesen, daß sie immer auf den einen oder anderen Handwerker warteten, um sich bei seinem Erscheinen mit Fragen, Vorwürfen oder Mahnungen auf ihn zu stürzen. Und sicherlich hatte die graue Gestalt aus der Entfernung wie Peters ausgesehen. Aber nun, als sie sich diese Szene wieder ins Gedächtnis zurückrief, spürte sie, daß die damalige Erklärung ihres Mannes durch seinen seltsamen Gesichtsausdruck irgendwie unwirksam wurde. Warum hatte ihn der Anblick von Peters, den er ja gut kannte, so erschreckt? Und warum vor allem hatte ihn die Tatsache, daß er ihn nicht mehr angetroffen hatte, so erleichtert, wenn es doch sehr wichtig war, mit ihm über die Rohrleitungen zu sprechen? Mary hätte nicht behaupten können, daß eine dieser Fragen ihr damals in den Sinn gekommen wäre, aber sie schloß aus der Geschwindigkeit, mit der sie sich ihr nun aufdrängten, daß sie alle lang in ihrem Gehirn gewesen sein mußten und nur auf ihre Stunde gewartet hatten.
Ihrer Gedanken überdrüssig, ging sie zum Fenster hinüber. In der Bibliothek war es nun ganz dunkel, und Mary war erstaunt zu sehen, wieviel Licht es in der Welt vor dem Fenster noch gab. Als sie auf den Hof hinausblickte, löste sich eine Gestalt aus der Dämmerung; sie sah eigentlich nur, wie ein Fleck von tieferem Grau in dem allgemeinen Grau sich auf sie zubewegte, und einen Augenblick lang schlug Marys Herz bei dem Gedanken: »Es ist der Geist!« In diesem Augenblick entstand in ihr plötzlich das Gefühl, daß der Mann, von dem sie vor zwei Monaten nur einen entfernten Eindruck vom Dach her gewonnen hatte, nun zu einer vorbestimmten Stunde auftauchte, um zu erkennen zu geben, daß er nicht Peters war; und ihr Mut sank unter dem Ansturm der Furcht vor dieser Eröffnung. Aber bereits mit dem nächsten Sekundenticken der Uhr erhielt die Gestalt Substanz und erwies sich ihren schwachen Augen als ihr Mann; sie wandte sich um, um ihm entgegenzugehen und ihm ihre dummen Gedanken einzugestehen. »Es ist wirklich absurd«, lachte sie, »aber ich kann einfach nicht immer daran denken!« »Woran denken?« fragte sie Boyne, als er näherkam. »Daß man es niemals merkt, wenn man den Lyng-Geist sieht.« Ihre Hand lag auf seinem Ärmel, und er ließ sie auch dort, ohne daß dabei aus seinen Gesten oder dem zerstreuten Ausdruck seines Gesichtes eine Antwort abzulesen war. »Hast du geglaubt, ihn zu sehen?« fragte er nach einer beträchtlichen Pause. »Ach, ich habe dich doch tatsächlich mit ihm verwechselt, mein Lieber, so fest war ich entschlossen, ihn wieder einmal zu sehen!« »Mich – gerade vorhin?« Sein Arm fiel herunter, und er wandte sich mit einem schwachen Lachen von ihr ab. »Wirklich, Liebste, du solltest es lieber aufgeben. Das ist das Beste, was du tun kannst.« »O ja, ich gebe es auf. Hast du es denn auch aufgegeben?« fragte sie, indem sie sich unvermittelt zu ihm umdrehte.
Das Dienstmädchen war inzwischen mit Tee und einer Lampe eingetreten, deren Licht von unten auf Boynes Gesicht fiel, als er sich über seine Tasse beugte. »Hast du?« bohrte Mary verbissen weiter, als das Mädchen wieder rausgegangen war. »Was habe ich?« gab er abwesend zurück, und im Schein der Lampe wurde wieder die scharfe Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen sichtbar. »Hast du es aufgegeben, zu versuchen, den Geist zu sehen?« Ihr Herz pochte ein wenig bei dem Experiment, das sie hier unternahm. Ihr Mann legte die Briefe zur Seite und ging zum Kamin. »Ich habe es nie versucht«, sagte er und riß das Streifband einer Zeitung auf. »Also gut. Natürlich«, bestand Mary auf ihrer Frage, »was einen verzweifeln läßt, ist ja, daß es gar keinen Sinn hat, es zu versuchen, weil man erst viel später sich seiner Sache wirklich sicher sein kann.« Ned entfaltete ruhig die Zeitung, als ob er gar nichts gehört hätte; aber nach einer Pause, während der die Blätter zwischen seinen nervösen Händen raschelten, blickte er auf und fragte: »Hast du eigentlich irgendeine Vorstellung, wieviel später?« Mary war in einen niedrigen Sessel neben dem Kamin gesunken. Von ihrem Platz aus blickte sie erschreckt auf das Profil ihres Mannes, das sich gegen den Kreis des Lampenlichtes abhob. »Nein. Ich habe keine Ahnung; du?« gab sie zurück und wiederholte damit ihre vorherige Frage jedoch mit zusätzlicher Betonung. »Gott, nein! Ich meinte nur so«, erklärte er mit einem leichten Ton der Ungeduld. »Gibt es denn irgendeine Sage oder irgendeine Überlieferung zu diesem Punkt?« »Nicht daß ich wüßte«, antwortete sie. Aber ihr Impuls, hinzuzufügen: ›Warum fragst du?‹ wurde durch das Wiedereintreten des Mädchens unterbrochen, das Gebäck und eine zweite Lampe brachte. Infolge des hellen Lichts, das nun den Raum durchflutete, und abgelenkt durch die Zeremonie des Teetrinkens, fühlte sich Mary Boyne nun weniger bedrückt durch dieses Gefühl von irgend etwas stumm Bevor-
stehendem, das ihr den Nachmittag vergällt hatte. Einige wenige Augenblicke widmete sie sich völlig dem Tee und Gebäck, aber als sie danach aufblickte, war sie leicht verwirrt durch die Veränderung, die sich im Gesicht ihres Mannes offenbarte. Er hatte sich neben die weiter entfernte Lampe gesetzt und war mit der Lektüre der Briefe beschäftigt; war es nun etwas, das er in diesen Briefen gefunden hatte, oder nur die Veränderung ihres eigenen Blickwinkels, das seine Züge nun wieder völlig normal erschienen ließ? Je länger sie hinsah, desto deutlicher fand sie ihre Beobachtung bestätigt. Die Linien der Spannung waren verschwunden, und die Spuren der Müdigkeit, die übrigblieben, konnten leicht der ständigen geistigen Anstrengung zugeschrieben werden. Er sah auf, als ob er ihren Blick bemerkt hätte, und begegnete lächelnd ihren Augen. »Ich verdurste beinahe, weißt du das? Und da ist ein Brief für dich«, sagte er. Sie nahm den Brief, den er ihr entgegenhielt, und gab ihm eine Tasse Tee. Dann kehrte sie zu ihrem Sessel zurück und öffnete nachlässig und ohne besonderes Interesse den Umschlag. Ihre nächste bewußte Bewegung war, daß sie aufsprang und den Brief fallen ließ, während sie ihrem Mann einen Zeitungsausschnitt entgegenstreckte. »Ned! Was ist das? Was bedeutet das?« Er war im selben Augenblick aufgestanden, als ob er ihren Schrei gehört hätte, bevor sie ihn noch ausstieß; und für einige Augenblicke beobachteten sie einander wie Gegner, die ihren Vorteil suchen – quer über den Raum zwischen ihrem Stuhl und seinem Schreibtisch. »Was soll es sein? Du hast mich richtig erschreckt«, sagte Boyne schließlich und ging mit einem unvermittelten, halb verzweifelten Lachen auf sie zu. Der Schatten von Furcht war nun wieder auf seinem Gesicht, aber diesmal war es nicht der Ausdruck einer Vorahnung, sondern die rasch wechselnde Wachsamkeit seiner Lippen und Augen, die ihr das Gefühl vermittelten, als fühlte er sich unsichtbar umstellt. Ihre Hand zitterte so, daß sie ihm kaum den Ausschnitt reichen konnte.
»Dieser Artikel – aus dem ›Waukesha/Sentinel‹ – daß ein Mann namens Elwell eine Klage gegen dich eingebracht hat – daß irgend etwas mit der Blue-Star-Mine nicht stimmt. Ich verstehe nur die Hälfte davon.« Sie standen einander noch immer von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, daß ihre Worte die fast hypnotische Wirkung hatten, die angestrengte Wachsamkeit seines Blickes auszuschalten. »Oh, das!« Er warf einen Blick auf das Stück Papier und faltete es dann mit der Geste eines Mannes zusammen, der mit etwas Harmlosem und Gewöhnlichem umgeht. »Was hast du nur heute nachmittag, Mary? Ich dachte schon, du hättest schlechte Nachrichten.« Sie stand vor ihm, und ihr undefinierbares Entsetzen verebbte langsam unter der beruhigenden Sicherheit seiner Stimme. »Du hast also davon gewußt – und es ist alles in Ordnung?« »Natürlich habe ich davon gewußt, und es ist alles in Ordnung.« »Aber was ist los? Ich verstehe es nicht. Und was wirft dir dieser Mann vor?« »Ach, fast jedes Verbrechen, das es gibt.« Boyne hatte den Zeitungsausschnitt weggelegt und sich in einem Sessel beim Kamin niedergelassen. »Möchtest du die Geschichte hören? Sie ist nicht besonders interessant – nur ein Streit über die Gewinne der Blue-Star-Mine.« »Aber wer ist dieser Elwell? Ich kenne den Namen nicht.« »Ach, es ist ein Bursche, den ich dort hineingesetzt habe – ich habe ihm ein bißchen geholfen. Ich habe dir davon erzählt.« »Das kann sein. Ich muß es vergessen haben.« Vergeblich bemühte sie ihr Erinnerungsvermögen. »Aber wenn du ihm geholfen hast – warum dankt er es dir so?« »Vielleicht ist er irgendeinem unseriösen Anwalt in die Hände gefallen und der hat ihn dazu überredet. Es ist alles sehr technisch und entsprechend kompliziert. Ich habe immer gedacht, so etwas langweilt dich.« Seine Frau empfand Gewissensbisse. Theoretisch mißbilligte sie die für amerikanische Frauen typische Isolierung von den beruflichen Angelegenheiten ihrer Männer, aber in der Praxis hatte sie es immer schwierig gefunden, Boynes Berichten über seine Transaktionen aufmerksam zu-
zuhören. Außerdem hatte sie in all den Jahren immer das Gefühl gehabt, daß die wenigen Mußestunden, die er und sie hatten, und die wie alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens nur durch solch ungeheure Anstrengungen wie die Berufstätigkeit ihres Mannes erzielt werden konnten, eher einen Fluchtweg bieten sollten in ein Leben, von dem sie immer geträumt hatten. Ein- oder zweimal hatten sie, nachdem nun dieses neue Leben seinen magischen Kreis um sie gezogen hatte, sich gefragt, ob sie recht getan hatte; aber bisher waren solche Mutmaßungen nichts anderes gewesen als rückblickende Abschweifungen einer aktiven Fantasie. Doch jetzt erschreckte es sie zum erstenmal, als sie feststellte, wie wenig sie über die materielle Grundlage wußte, auf der ihr Glück aufbaute. Sie schaute zu ihrem Mann hinüber und fühlte sich durch die Gelassenheit seines Gesichtes wieder beruhigt; und dennoch empfand sie das Bedürfnis einer Begründung für diese Beunruhigung»Aber beunruhigt dich dieses Vorgehen nicht? Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen?« Er beantwortete beide Fragen auf einmal: »Zuerst habe ich nicht davon gesprochen, weil es mich beunruhigt – oder eher geärgert hat. Aber jetzt ist das alles eine alte Geschichte. Wer immer dir das geschickt hat, muß eine alte Nummer vom ›Sentinel‹ gefunden haben.« Sie fühlte sich plötzlich erleichtert. »Du meinst, es ist vorbei? Hat er den Prozeß verloren?« Boyne zögerte unmerklich mit seiner Antwort. »Die Anklage ist zurückgezogen worden – das ist alles.« Aber sie bohrte weiter, als ob sie sich damit von dem inneren Vorwurf, sich zu leicht zufriedenzugeben, befreien könnte. »Ist sie zurückgezogen worden, weil er sah, daß er keine Chance hatte?« »Ja, er hatte keine Chance«, antwortete Boyne. Sie kämpfte noch immer mit einer nur dunkel empfundenen Verwirrung im Hintergrund ihrer Gedanken. »Wann wurde die Anklage zurückgezogen?« Er antwortete nicht gleich, als ob seine frühere Unsicherheit wieder zurückkäme. »Ich habe gerade eben die Nachricht bekommen; aber ich habe sie schon erwartet.«
»Gerade eben – in einem der Briefe?« »Ja, in einem der Briefe.« Sie brach das Gespräch ab und bemerkte nur, daß er nach einer Weile aufgestanden war, quer durch den Raum auf sie zuging und sich neben sie auf das Sofa setzte. Sie spürte, wie er einen Arm um sie legte, fühlte, wie seine Hand ihre suchte und festhielt, und sah, sich langsam umdrehend, in seine lächelnden Augen. »Es ist alles in Ordnung – nicht wahr?« fragte sie über die Flut ihrer sich auflösenden Zweifel hinweg. »Ich gebe dir mein Wort, es war nie besser in Ordnung!« lachte er und zog sie an sich. Eines der seltsamsten Dinge, die sie später von all dem Merkwürdigen, das sich am folgenden Tag ereignete, in Erinnerung behielt, war die plötzliche und vollständige Wiederherstellung ihres Gefühles der Sicherheit. Es lag in der Luft, als sie in ihrem niedrigen dämmrigen Zimmer erwachte; es ging mit ihr hinunter zum Frühstückstisch, blitzte aus den Flammen im Kamin und verdoppelte sich in den kräftigen Rillen der alten Teekanne. Es war, als ob all ihre undeutlichen Ängste des vergangenen Tages und die heftige Anspannung wegen des Zeitungsausschnittes, als ob dieses dunkle Infragestellen der Zukunft die Schuld irgendeiner bedrückenden moralischen Verpflichtung gelöscht hätte. Wenn sie sich wirklich zu wenig um die Angelegenheit ihres Mannes gekümmert hatte, geschah das nur – und das schien ihr derzeitiger Zustand zu beweisen –, weil ihr Glaube an ihn instinktiv die Sorglosigkeit rechtfertigte; und sein Recht auf ihren Glauben hatte sich nun im Angesicht der Bedrohung und des Verdachtes wieder bestätigt. Sie hatte ihn nie sorgenfreier, natürlicher und weniger befangen gesehen als nach diesem ›Kreuzverhör‹, das sie vorgenommen hatte. Es schien fast, als hätte er um ihre Zweifel gewußt und ebensosehr wie sie eine Bereinigung gewünscht. Es war alles, Gott sei Dank, so klar wie das helle Licht des Tages, das sie fast überraschte, als sie zu ihrem üblichen Morgenspaziergang in den
Garten hinausging. Sie hatte Boyne an seinem Schreibtisch zurückgelassen und sich nur im Vorübergehen von der Bibliothekstür her einen kurzen Blick auf sein ruhiges Gesicht gegönnt, wie er mit der Pfeife im Mund über seine Papiere gebeugt saß; nun mußte sie sich ihren eigenen Arbeiten widmen. Es lagen noch so viele Möglichkeiten vor ihr, den verborgenen Charme des Hauses aufzustöbern, ohne irgend etwas unnötig zu verändern, daß der Winter zu kurz war, um alles für den Frühling und Herbst zu planen. Und ihr wiedererlangtes Gefühl der Sicherheit verlieh ihr, besonders an diesem Morgen, eine unbändige Energie. Sie ging zuerst in den Küchengarten, wo die Zweige des Spalierobstes verwickelte Muster an den Wänden bildeten und Tauben über die silbernen Schindeln ihres Häuschens flatterten. Mit den Rohrleitungen des Treibhauses war irgend etwas nicht in Ordnung, und sie erwartete einen Handwerker aus Dorchester, der die Heizung überprüfen sollte. Aber als sie in die feuchte Hitze des Treibhauses eintauchte, zwischen die würzigen Gerüche und das wächserne Rosa und Rot unbekannter exotischer Pflanzen, erfuhr sie, daß der Mann noch nicht eingetroffen war. Der Tag schien ihr zu schön, um ihn in der Treibhausatmosphäre zu verbringen, und so ging sie hinaus und entlang der Gartenmauer zur Rückseite des Hauses. Am entfernten Ende stieg eine Grasterrasse auf, von wo man über den Fischweiher und die Eibenhecken zu der Längsseite des Hauses mit dem geknickten Schornstein und den blauen Dachwinkeln hinübersehen konnte, die nun alle in die blaßgoldene Feuchtigkeit der Luft getaucht waren. Als sie das Haus so sah, vermittelte es ihr mit seinen geöffneten Fenstern und dem gastlich rauchenden Schornstein das Gefühl einer warmen menschlichen Gegenwart. Sie hatte sich noch nie so vertraut mit ihm gefühlt und so sehr überzeugt davon, daß all seine Geheimnisse wohltätiger Natur waren, und sie vertraute nun vollkommen seiner Kraft, ihr Leben und das Neds in den harmonischen Verlauf seiner langen Geschichte einzubeziehen. Sie hörte Schritte hinter sich und wandte sich um, weil sie erwartete, den Gärtner in Begleitung des Handwerkers aus Dorchester zu sehen. Aber es war nur eine Gestalt in Sicht, nämlich die eines jüngeren schlanken Mannes, der aus Gründen, die sie nicht sofort hätte angeben können, absolut nicht ihrer Vorstellung von einem Heizungsfachmann ent-
sprach. Der Ankömmling lüftete seinen Hut, als er sie sah, und blieb stehen mit einem Verhalten eines Herren, der zu erkennen geben will, daß sein Eindringen unabsichtlich geschieht. Lyng zog gelegentlich kulturell interessierte Touristen an, und Mary erwartete beinahe schon, daß der Fremde eine Kamera hervorholen würde. Aber er machte keinerlei Bewegung, und nach einigen Augenblicken fragte sie in einem Ton, der diesem höflichen Zögern seiner Haltung entsprach: »Suchen Sie hier jemanden?« »Ich wollte Herrn Boyne besuchen«, antwortete der Fremde. Sein Tonfall war – mehr als sein Akzent – leicht amerikanisch, und Mary betrachtete ihn daraufhin näher. Der Rand seines weichen Filzhutes warf einen Schatten auf sein Gesicht, das für ihre kurzsichtigen Augen so seriös wirkte wie das eines Menschen, der geschäftlich unterwegs und sich höflich, aber sicher seiner Rechte bewußt ist. Ihre früheren Erfahrungen ließen sie Verständnis für solche Ansprüche aufbringen; aber sie behütete diese Morgenstunden ihres Mannes eifersüchtig und zweifelte daran, ob er jemandem das Recht einräumen würde, ihn zu stören. »Haben Sie eine Verabredung mit meinem Mann?« fragte sie. Der Besucher zögerte, als ob er auf diese Frage nicht vorbereitet wäre. »Ich vermute, er erwartet mich«, antwortete er. Nun war es an Mary, zu zögern. »Wissen Sie, er arbeitet immer zu dieser Zeit: und im allgemeinen empfängt er keine Besucher am Morgen.« Der Fremde sah sie einen Augenblick lang an, ohne zu antworten; dann begann er, sich zu entfernen, als ob er ihre Entscheidung anerkannt hätte. Als sie sich umwandte, sah Mary, wie er innehielt und an der friedlichen Hausfassade hinaufblickte. Irgend etwas in seiner Haltung drückte Müdigkeit und Enttäuschung aus, die Niedergeschlagenheit eines Reisenden, der von weither kommt und dessen Zeit beschränkt ist. Es fiel ihr ein, daß – sollte ihre Vermutung zutreffen – er nun vergeblich gekommen sein könnte, und eine Art Schuldgefühl veranlaßte sie, ihm nachzueilen. »Darf ich fragen, ob Sie von weither kommen?«
Er sah sie wieder mit dem gleichen ernsten Blick an. »Ja, ich komme von weither.« »In diesem Fall – wenn Sie ins Haus gehen wollen, wird Sie mein Mann zweifellos empfangen. Sie finden ihn in der Bibliothek.« Sie wußte nicht, warum sie diesen letzten Satz hinzugefügt hatte, außer vielleicht aus dem unbestimmten Impuls, ihre frühere Ungastlichkeit wieder wettzumachen. Der Besucher schien seine Dankbarkeit ausdrücken zu wollen, aber ihre Aufmerksamkeit wurde durch das Herannahen des Gärtners abgelenkt, der in Begleitung eines Mannes war, der alle Kennzeichen eines Fachmannes aus Dorchester hatte. »Dort entlang«, sagte sie und wies den Fremden zum Haus; einen Augenblick später hatte sie ihn vergessen, so war sie mit dem Boilermann beschäftigt. Die Untersuchung der Heizungsanlage war so umfangreich, daß der Handwerker die Abfahrt seines Zuges ignorierte, und als sie schließlich beendet war, merkte Mary zu ihrer Überraschung, daß es fast schon Zeit zum Lunch war; als sie zum Haus zurückeilte, erwartete sie irgendwie, daß ihr Mann ihr entgegenkäme. Aber sie begegnete niemandem im Hof außer einem Gärtnergehilfen, der den Kies harkte, und als sie in die Halle eintrat, war es so still, daß sie annahm, Boyne sei noch bei seiner Arbeit. Da sie ihn nicht stören wollte, ging sie ins Wohnzimmer und verlor sich an ihrem Schreibtisch in Berechnungen über die Kosten der unumgänglichen Heizungsreparatur. Die Tatsache, daß sie sich solche Hobbys erlauben konnte, hatte noch nicht den Reiz der Neuheit verloren. Und irgendwie schien es jetzt, im Gegensatz zu den vagen Ängsten des vergangenen Tages, ein Bestandteil ihrer wiedergewonnenen Sicherheit zu sein, daß, wie Ned gesagt hatte, die Dinge allgemein nie besser in Ordnung waren. Sie war noch immer in ein verschwenderisches Spiel mit Zahlen versunken, als das Dienstmädchen sie von der Tür her mit der Anfrage aufschreckte, ob der Lunch serviert werden könne. Es war einer ihrer üblichen Scherze, daß Trimmle den Lunch ankündigte, als ob sie ein Staatsgeheimnis enthülle, und Mary murmelte, noch in ihre Papiere versunken, nur eine abwesende Zustimmung.
Aber dann merkte sie, daß Trimmle unentschieden auf der Schwelle verharrte, so als ob sie ihr einen Vorwurf machen wollte; doch bald verhallten ihre Schritte im Gang, und Mary schob die Papiere weg und ging durch die Tür zur Bibliothek. Sie war noch immer geschlossen, und nun war sie unsicher, weil sie einerseits ihren Mann nicht stören, aber andererseits auch nicht wollte, daß er zuviel arbeitete. Als sie so dastand und ihre Impulse gegeneinander abwog, kam Trimmle zurück mit der Ankündigung, daß der Lunch serviert sei, und Mary fühlte sich dadurch gezwungen, die Bibliothekstür zu öffnen. Boyne war nicht an seinem Schreibtisch, und sie blickte umher, weil sie erwartete, ihn vor den Bücherstellagen irgendwo im Raum zu finden; aber auch auf ihr Rufen erfolgte keine Antwort, und langsam wurde ihr klar, daß er nicht da war. Sie wandte sich zurück zu dem Mädchen. »Mr. Boyne muß oben sein. Bitte sagen Sie ihm, daß der Lunch serviert ist.« Trimmle schien zu schwanken: zwischen der eindeutigen Pflicht des Gehorsams und ihrer ebenso eindeutigen Überzeugung von der Unsinnigkeit dieses Verlangens. Der Widerstreit endete damit, daß sie sagte: »Verzeihung, Madam, Mr. Boyne ist nicht oben.« »Nicht in seinem Zimmer? Sind Sie sicher?« »Ich bin sicher, Madam.« Mary war ratlos. »Aber wo ist er dann?« »Er ist ausgegangen«, verkündete Trimmle mit der überlegenen Miene eines Menschen, der respektvoll auf jene Frage gewartet hatte, die ein ordnungsliebender Geist als erste gestellt hätte. Marys Vermutung mußte also richtig gewesen sein: Boyne war ihr in den Garten entgegengegangen, und da sie ihn verfehlt hatte, war es klar, daß er auf dem kürzeren Weg über den südlichen Eingang zurückgekehrt war. Sie ging durch die Halle zu dem Terrassenfenster, das direkt auf den Eibengarten hinausführte, aber das Mädchen entschied sich nach einem weiteren inneren Kampf dazu, festzustellen: »Verzeihung, Madam, Mr. Boyne ist nicht dorthin gegangen.«
Mary wandte sich zurück: »Also, wohin ist er denn gegangen? Und wann?« »Er ging zum Vordereingang hinaus und den Fahrweg entlang, Madam.« Es war Trimmles Prinzip, niemals mehr als eine Frage auf einmal zu beantworten. »Den Fahrweg entlang? Um diese Zeit?« Mary begab sich nun selbst zur Tür und blickte über den Hof durch die Allee der kahlen Lindenbäume. Aber sie sah nichts. »Hat Mr. Boyne keine Nachricht hinterlassen?« Trimmle schien sich einem letzten Kampf mit den Mächten des Chaos zu unterwerfen. »Nein, Madam. Er ist einfach mit dem Herrn weggegangen.« »Dem Herrn? Welchem Herrn?« »Mit dem Herrn, der ihn besucht hat, Madam«, sagte Trimmle resigniert. »Wann hat ihn der Herr besucht? Sprechen Sie doch deutlich, Trimmle!« Nur die Tatsache, daß Mary sehr hungrig war und daß sie mit ihrem Mann über die Treibhäuser sprechen wollte, verursachte sie zu dieser ungewöhnlichen Schärfe gegenüber dem Dienstmädchen; aber sogar jetzt war sie aufmerksam genug, um in Trimmles Augen den aufsteigenden Trotz des respektvollen Untergebenen zu bemerken, den man zu sehr bedrängt hat. »Ich kann nicht genau sagen, wann es war, Madam, weil ich den Herrn nicht hereingelassen habe«, antwortete sie und schien dabei diskret das ungewöhnliche Verhalten ihrer Herrin zu ignorieren. »Sie haben ihn nicht hereingelassen?« »Nein, Madam. Als die Glocke läutete, war ich dabei, mich anzuziehen, und Agnes…« »Bitte, dann gehen Sie Agnes fragen«, sagte Mary. Trimmle zeigte noch immer einen Ausdruck von geduldiger Großmut. »Agnes weiß es auch nicht, Madam, weil sie sich unglücklicherweise ihre
Hand verbrannt hat, als sie den Docht der neuen Lampe aus der Stadt zustutzen wollte« – Trimmle war, wie Mary wußte, immer gegen die neue Lampe gewesen – »und so hat Mrs. Dockett das Küchenmädchen rausgeschickt.« Mary sah auf die Uhr. »Aber es ist zwei Uhr vorbei! So fragen Sie eben das Küchenmädchen, ob Mr. Boyne eine Nachricht hinterlassen hat.« Sie setzte sich zum Essen, ohne zu warten, und Trimmle kam sehr bald mit der Erklärung des Küchenmädchens, daß der Herr um etwa elf Uhr gekommen war und daß Mr. Boyne mit ihm weggegangen war, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Das Küchenmädchen wußte nicht einmal den Namen des Besuches, denn er hatte ihn auf ein Stück Papier geschrieben, das er zusammengefaltet übergeben hatte mit dem Auftrag, es sofort Mr. Boyne zu bringen. Mary beendete den Lunch und fragte sich noch immer, was wohl vor sich gegangen sei; und als Trimmle den Kaffee ins Wohnzimmer brachte, spürte sie bereits eine gewisse Unruhe. Es sah Boyne nicht ähnlich, sich zu einer so unpassenden Zeit ohne Erklärung zu entfernen, und die Schwierigkeit, den Besucher zu identifizieren, dessen Ruf er offenbar gefolgt war, machte sein Verschwinden noch unerklärlicher. Mary Boynes Erfahrung als Frau eines vielbeschäftigten Ingenieurs, der häufig unerwartete Besuche erhielt und unregelmäßige Arbeitszeiten besaß, hatte sie eine philosophische Haltung gegenüber Überraschungen gelehrt; aber seit sich Boyne aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte, führte er ein äußerst regelmäßiges Leben. Als ob er die unruhigen und irgendwie zerstreuten Jahre – mit Lunch im Stehen und Abendessen in ratternden Speisewagen – einholen müßte, kultivierte er jetzt das höchste Raffinement an Pünktlichkeit und Monotonie und erklärte – sehr gegen die Vorliebe seiner Frau für das Unerwartete –, daß die immer wiederkehrende Gewohnheit für den erlesenen Geschmack unendliche Abstufungen des Vergnügens biete. Aber schließlich kann sich kein Leben völlig von dem Unvorhergesehenen befreien, und so schloß Mary, daß er den lästigen Besuch dadurch abgekürzt hatte, daß er mit dem Besucher zur Eisenbahnstation gegangen war oder ihn zumindest ein Stück des Weges begleitet hatte.
Diese Erklärung enthob sie weiteren Nachdenkens, und sie nahm ihre Besprechung mit dem Gärtner wieder auf. Dann ging sie zum Postamt im Dorf, das etwa eine Meile entfernt war; und als sie sich heimwärts wandte, fiel bereits das erste Zwielicht ein. Sie hatte den Fußweg über die Hügel genommen, und da Boyne wohl inzwischen über die Straße gegangen war, schien es unwahrscheinlich, daß sie ihn treffen würde. Sie war jedoch sicher, daß er das Haus vor ihr erreicht haben würde, so sicher, daß sie, sobald sie eingetreten war, nicht einmal innehielt, um Trimmle zu befragen, und direkt in die Bibliothek ging. Aber die Bibliothek war noch immer leer, und mit einer unwillkürlichen Genauigkeit ihres visuellen Gedächtnisses beobachtete sie, daß die Papiere auf dem Schreibtisch ihres Mannes noch genauso dalagen wie mittags, als sie ihn zum Essen gerufen hatte. Plötzlich wurde sie von einer unbestimmten Furcht vor dem Unbekannten erfaßt. Sie hatte die Tür hinter sich geschlossen, und als sie nun allein in dem stillen Raum stand, schien ihre Angst Gestalt und Laut anzunehmen, sie schien zu atmen und zwischen den Schatten zu lauern. Sie strengte ihre kurzsichtigen Augen an und meinte fast, tatsächlich etwas wahrzunehmen, etwas Gegenwärtiges, das wußte und sie beobachtete; und im Zurückweichen vor dieser ungreifbaren Gegenwart stürzte sie zum Glockenzug hin und läutete heftig. Dieses Signal ließ Trimmle mit einer Lampe herbeistürzen, und Mary atmete bei der ernüchternden Wiederkehr des Gewohnten auf. »Sie können den Tee bringen, wenn Mr. Boyne da ist«, sagte sie, um ihr Läuten zu rechtfertigen. »Jawohl, Madam. Aber Mr. Boyne ist nicht da«, erwiderte Trimmle und stellte die Lampe nieder. »Nicht da? Sie meinen, er ist zurückgekommen und wieder weggegangen?« »Nein, Madam. Er kam noch gar nicht zurück.« Die Furcht machte sich wieder bemerkbar, und Mary wußte, daß sie ihr nun nicht mehr entkommen konnte. »Nicht, seit er mit dem Herrn weggegangen ist?«
»Aber wer war dieser Herr?« In Marys Stimme schwang ein schriller Ton, als ob sie sich in verwirrendem Lärm hätte hörbar machen müssen. »Das kann ich nicht sagen, Madam.« Trimmle schien, wie sie nun hier neben der Lampe stand, plötzlich weniger rund und rosig zu sein, als ob sie denselben Schatten von Furcht herankriechen spürte. »Aber das Küchenmädchen weiß es – hat nicht das Küchenmädchen ihn hereingelassen?« »Sie weiß es auch nicht, Madam, denn er hat seinen Namen auf ein zusammengefaltetes Papier geschrieben.« Mary wurde sich in all ihrer Aufregung bewußt, daß sie beide den unbekannten Besucher sehr vage bezeichneten. Im gleichen Augenblick brachte sie das zusammengefaltete Papier auf etwas: »Aber er muß einen Namen haben. Wo ist das Papier?« Sie ging zum Schreibtisch und begann die Papiere zu durchsuchen, die ihn bedeckten. Das erste, das ihr in die Augen fiel, war ein unvollendeter Brief in der Handschrift ihres Mannes und seine Feder, die quer lag, als ob er sie dann plötzlich hätte fallen lassen. »Mein lieber Parvis« – wer war Parvis? – »Ich habe gerade Ihren Brief mit der Mitteilung von Elwells Tod erhalten, und wenn ich auch glaube, daß es jetzt keine Risiken mehr gibt, wäre es vielleicht doch sicherer –« Sie schob das Blatt zur Seite und fuhr fort zu suchen; aber kein zusammengefaltetes Papier war unter den Briefen und Manuskripten zu entdecken, die wirr durcheinander lagen, als ob sie jemand eilig oder erschrocken weggeschoben hätte. »Aber das Küchenmädchen hat ihn doch gesehen. Schicken Sie sie her«, befahl Mary und wunderte sich zugleich, daß sie nicht früher auf diese einfache Lösung gekommen war. Trimmle verschwand wie der Blitz, als wäre sie froh, das Zimmer verlassen zu können, und als sie wiederkam und ihre aufgeregte Untergebene mitbrachte, hatte sich Mary wieder in der Gewalt und einige Fragen vorbereitet. Der Herr war ein Fremder – ja, das verstand sie. Aber was er gesagt hatte? Und vor allem, wie er ausgesehen hatte? Die erste Frage war leicht genug beantwortet und zwar aus dem Grund, daß er so wenig gesagt
hatte – er hatte bloß nach Mr. Boyne gefragt, etwas auf ein Stück Papier gekritzelt und verlangt, daß man es ihm sofort bringe. »Dann weißt du also nicht, was er geschrieben hat? Und du bist nicht einmal sicher, daß es sein Name war?« Das Küchenmädchen war unsicher, aber sie nahm an, daß es ein Name gewesen war, denn er hatte es als Antwort auf ihre Frage, wen sie melden sollte, geschrieben. »Und als du das Papier zu Mr. Boyne hineingebracht hast, was hat er da gesagt?« Das Küchenmädchen glaubte nicht, daß Mr. Boyne irgend etwas gesagt hatte, aber sie war sich nicht sicher, denn als sie ihm das Papier gerade gegeben hatte und er es entfaltete, war sie sich bewußt geworden, daß der Fremde ihr in die Bibliothek gefolgt war, und sie war hinausgeschlüpft und hatte die beiden Herren allein gelassen. »Aber wie kannst du dann wissen, daß sie aus dem Haus gegangen sind, wenn du sie in der Bibliothek zurückgelassen hast?« Diese Frage stürzte die Zeugin in eine momentane Sprachlosigkeit, aus der sie von Trimmle errettet wurde, die ihr durch einfallreiche Hilfsfragen die Erklärung entriß, daß sie die beiden Herren hinter sich gehört hatte, bevor sie noch die Halle verlassen hatte, und sie also auch gesehen hatte, wie sie zum Eingangstor hinausgingen. »Dann mußt du doch imstande sein, mir zu sagen, wie der Herr aussah, wenn du ihn zweimal gesehen hast!« Doch mit dieser endgültigen Herausforderung ihrer Ausdrucksfähigkeit wurde deutlich, daß die Grenze der Duldsamkeit bei dem Küchenmädchen erreicht war. Die Verpflichtung, zur Eingangstür zu gehen und einen Besucher einzulassen, war schon an sich eine Verletzung der fundamentalen Ordnung des Hauswesens und hatte ihre Fähigkeit in hoffnungslose Verwirrung gestürzt, und so konnte sie nur zwischen keuchenden Versuchen stammeln: »Sein Hut, Gnädige, war anders, wie könnte man sagen…« »Anders? Wie anders?« stieß Mary hervor, und in demselben Augenblick kam ihr ein Bild vom Vormittag in den Sinn, an das sie sich nun
wieder erinnerte, nachdem es unter den späteren Eindrücken verlorengegangen war. »Sein Hut hatte einen breiten Rand, meinst du? Und sein Gesicht war blaß – ein ziemlich junges Gesicht?« drängte Mary heftig und mit weißen Lippen. Aber falls das Küchenmädchen eine passende Antwort gefunden hatte, wurde diese für ihre Zuhörerin fortgeschwemmt vom Strom ihrer eigenen Überzeugung. Der Fremde – der Fremde im Garten! Warum hatte Mary nicht gleich an ihn gedacht? Sie brauchte nun niemanden mehr, der ihr sagen mußte, daß er es gewesen war, der ihren Mann besuchte und mit ihm weggegangen war. Aber wer war er und warum war ihm Boyne gefolgt? Es sprang sie an wie ein Grinsen im Dunkeln, daß sie sehr oft im Scherz England so klein genannt hatte – ›einen Platz, wo man so wahnsinnig schwer verlorengehen kann‹. Ein Platz, wo man so wahnsinnig schwer verloren gehen kann! Das hatte ihr Mann gesagt. Und nun, als die ganze Maschinerie der offiziellen Nachforschung das Land von Küste zu Küste ausleuchtete, nun, als Boynes Name ihr von den Wänden in jeder Stadt und in jedem Dorf entgegensah, und sein Bild – wie sie das marterte! – landauf landab gezeigt wurde wie das Bild eines gejagten Verbrechers, nun enthüllte sich diese kleine, kompakte und stark bevölkerte Insel samt ihrer Polizeiüberwachung und Verwaltung als sphinxähnlicher Wächter abgründiger Mysterien und schien in die verzweifelten Augen seiner Frau zu starren mit der bösen Freude von jemandem, der etwas weiß, was sie nicht wußte. In den vierzehn Tagen seit Boynes Verschwinden hatte sie keinerlei Nachricht von ihm bekommen und keine Spur seines Aufenthaltes gefunden. Sogar die üblichen irreführenden Zeugenaussagen, die in gequälten Herzen Erwartung wecken, waren spärlich gewesen. Niemand, außer dem Küchenmädchen, hatte Boyne das Haus verlassen gesehen, und niemand anderer hatte ›den Herrn‹ gesehen, der ihn begleitete. Alle Umfragen in der Nachbarschaft schlugen fehl. Niemand erinnerte sich an die Anwesenheit des Fremden an diesem Tag. Und niemand hatte Ned Boyne, weder allein noch in Begleitung, irgendwo gesehen, weder in einem
Nachbardorf noch auf der Straße oder in der nahen Eisenbahnstation. Der sonnige englische Nachmittag hatte ihn verschlungen. Während alle offiziellen Nachforschungen mit Hochdruck liefen, hatte Mary die Papiere ihres Gatten nach irgendeiner Spur früherer Komplikationen, Bindungen oder Verpflichtungen, die sie vielleicht nicht kannte, untersucht, die Licht in die Dunkelheit hätten bringen können. Aber wenn es etwas Derartiges im Hintergrund von Boynes Leben gegeben hatte, war es verschwunden wie das Stück Papier, auf das der Besucher seinen Namen geschrieben hatte. Es blieb kein Leitfaden aus diesem Labyrinth außer vielleicht dem Brief, den Boyne offensichtlich gerade hatte schreiben wollen, als ihn dieser geheimnisvolle Ruf erreicht hatte. Dieser Brief, den seine Frau immer und immer wieder las und den sie auch der Polizei vorgelegt hatte, erbrachte jedoch wenig genug. »Ich habe gerade von Elwells Tod erfahren, und wenn ich auch glaube, daß es keine weiteren Risiken gibt, könnte es sicherer sein –« Das war alles. Die ›Risiken‹ waren leicht erklärbar durch den Zeitungsausschnitt, der Mary von dem Prozeß in Kenntnis gesetzt hatte. Die einzige neue Information in diesem Brief war die Tatsache, daß Boyne, als er ihn schrieb, offenbar noch immer den Ausgang des Prozesses erwartete, obwohl er seiner Frau gesagt hatte, die Anklage wäre zurückgezogen und obwohl der Brief selbst bewies, daß der Kläger tot war. Es dauerte einige Tage, bis die Identität jenes ›Parvis‹, an den die Zeilen gerichtet waren, geklärt werden konnte. Aber selbst als die Nachforschungen ergeben hatten, daß er ein Anwalt in Waukesha war, wurden daraus keine neuen Tatsachen über den Elwell-Fall bekannt. Er schien nicht direkt damit befaßt zu sein, sondern lediglich als Freund von Boyne die Tatsachen zu kennen, vielleicht auch als Vermittler; und er erklärte, er wäre außerstande, auch nur zu erraten, in welcher Hinsicht Boyne seine Hilfe hätte suchen können. Diese negative Information – das einzige Ergebnis der Suche während der ersten vierzehn Tage – wurde in den sich hinschleppenden Wochen, die folgten, nicht um ein Jota vermehrt. Mary wußte, daß die Nachforschungen weiterliefen, aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß deren Intensität langsam nachließ, so wie die Zeit stehenzubleiben schien. Es war, als ob die Tage, die zunächst in Entsetzen vor dem verhüllten Bild des einen unauslotbaren Tages geflohen waren, nun mit zunehmender
Entfernung wieder Sicherheit bekämen und schließlich in ihren normalen Trott zurückfielen. Und so ähnlich war es wohl auch mit der menschlichen Fantasie, die sich mit diesem Vorfall beschäftigte. Sicherlich dachte man daran, aber Tag für Tag und Woche für Woche nahm das Ereignis weniger Raum ein und wurde langsam, aber unvermeidlich durch neue Probleme aus dem Vordergrund des Bewußtseins verdrängt. Sogar Mary Boynes Bewußtsein war der gleichen Geschwindigkeitsverminderung unterworfen. Zwar schwankte es noch immer im ständigen Auf und Ab der Vermutungen; aber sie kamen nun langsamer und rhythmischer. Es gab sogar Augenblicke der Müdigkeit, in denen sie, wie das Opfer eines Giftes, das den Körper bewegungsunfähig macht, aber das Gehirn klar läßt, bemerkte, daß sie sich mit dem Entsetzen bereits häuslich eingerichtet hatte und seine ständige Gegenwart als eine ihrer fixen Lebensbedingungen auffaßte. Diese Augenblicke dehnten sich zu Stunden und Tagen, bis sie schließlich in eine Phase stumpfer Ergebung geriet. Sie beobachtete die Routine des täglichen Lebens mit den uninteressierten Augen eines Wilden, auf den die bedeutungslosen Vorgänge der Zivilisation bloß einen geringen Eindruck machen. Sie war nun soweit, daß sie sich selbst als Teil dieser Routine betrachtete, als eine Speiche des Rades, und mit seiner Bewegung mitlief. Sie fühlte sich fast wie die Möbel des Zimmers, in dem sie saß, ein gefühlloser Gegenstand, den man abstaubt und so wie Tische und Stühle umherschiebt. Und diese sich vertiefende Apathie hielt sie in Lyng fest, entgegen den Ratschlägen von Freunden und den üblichen ärztlichen Empfehlungen einer ›Veränderung‹. Ihre Freunde glaubten, daß ihre Ablehnung jeder Veränderung aus dem Glauben herrührte, daß ihr Mann eines Tages wieder dorthin zurückkehren würde, von wo er verschwunden war, und sie bildete sich eine wunderbare Legende um ihr vermeintliches Warten. Aber in Wirklichkeit glaubte sie nicht daran; die Tiefen der Qual, die sie umschlossen, wurden nicht mehr durch Hoffnungsblitze erleuchtet. Sie war sicher, daß Boyne niemals zurückkehren würde und daß er aus ihrem Blickfeld so vollkommen verschwunden bleiben würde, als ob der Tod selbst ihn an jenem Tag abgeholt hätte. Sie hatte sogar die verschiedenen Theorien hinsichtlich seines Verschwindens, die durch die Presse, durch die Polizei und durch ihre eigene gequälte Fantasie aufgestellt worden waren, eine nach der anderen wieder
verworfen. Aus bloßer Müdigkeit wandte sich ihr Geist von diesen Alternativen des Entsetzens ab und fiel zurück auf die nackte Tatsache, daß Boyne verschwunden war. Nein, sie würde niemals erfahren, was mit ihm geschehen war – niemand würde es je erfahren. Aber das Haus wußte es, die Bibliothek, in der sie nun ihre langen einsamen Abende verbrachte, wußte es. Denn hier hatte sich die letzte Szene abgespielt, hierher war der Fremde gekommen und hatte das Wort gesprochen, das Boyne veranlaßte, aufzustehen und ihm zu folgen. Der Boden, über den sie ging, hatte seinen Schritt gefühlt; die Bücher in den Regalen hatten sein Gesicht gesehen; und es gab Augenblicke, in denen die intensive Bewußtheit der alten düsteren Wände in irgendeine hörbare Enthüllung des Geheimnisses auszubrechen schien. Aber diese Enthüllung kam nicht, und Mary wußte, sie würde nie kommen. Lyng war nicht eines der geschwätzigen alten Häuser, die Geheimnisse verraten, die man ihnen anvertraut hat. Seine eigene Legende bewies, daß es immer der schweigende Mitbeteiligte gewesen war, der unbestechliche Wächter der Mysterien, die es belauscht hatte. Und Mary Boyne fühlte, wie sie nun Angesicht zu Angesicht mit dieser Stille dasaß, und sie fühlte die Nutzlosigkeit, dieses Schweigen durch irgendwelche menschlichen Mittel brechen zu wollen. »Ich sage nicht, daß es nicht in Ordnung war, und ich sage aber auch nicht, es war in Ordnung. Es war einfach ein Geschäft.« Mary hob bei diesen Worten erschrocken ihren Kopf und sah den Sprecher aufmerksam an. Als man ihr eine halbe Stunde zuvor eine Visitenkarte mit dem Namen ›Mr. Parvis‹ überreicht hatte, war sie sich sofort klar gewesen, daß dieser Name ein Teil ihres Bewußtseins war, seit sie ihn zum erstenmal in dem angefangenen Brief Boynes gelesen hatte. In der Bibliothek hatte sie ein kleiner farbloser Mann mit kahlem Kopf und goldgerahmter Brille erwartet, und Mary überkam ein leichtes Zittern bei dem Gedanken, daß dieser Mann es war, an den die letzten bekannten Gedanken ihres Mannes gerichtet waren. Parvis hatte zwar höflich, aber ohne unnötige Einleitungen – in der Art eines Mannes, der die Uhr in der Hand hält – den Grund seines Besuches dargelegt. Er war beruflich nach England herübergekommen und
hatte, da er gerade in der Nähe von Dorchester war, nicht versäumen wollen Mary zu besuchen, um, ohne sie direkt zu fragen, doch bei der Gelegenheit herauszufinden, was sie wegen Bob Elwells Familie tun wollte. Diese Worte rührten an den Ursprung einer dunklen Drohung in Marys Brust. Wußte ihr Besucher vielleicht doch, was Boyne mit diesem unvollendeten Satz gemeint hatte? Sie bat um eine nähere Erklärung seiner Frage und bemerkte sofort, daß er über ihre Unkenntnis des Gegenstandes erstaunt schien. War es möglich, daß sie wirklich so wenig wußte, wie sie sagte? »Ich weiß nichts – Sie müssen es mir erzählen«, stammelte sie; und daraufhin legte ihr Besucher seine Geschichte dar. Sie eröffnete sogar für Marys verwirrtes Aufnahmevermögen eine unvollkommene Vision, ein gespenstisches Licht auf die ganze verschwommene Episode mit der Blue-Star-Mine. Ihr Mann hatte in dieser Brillantenspekulation sein Geld auf Kosten anderer gemacht, die weniger schnell ihre Chance begriffen hatten und die er überholt hatte; das Opfer seiner Tüchtigkeit war der junge Robert Elwell, der ihn überhaupt erst auf das Blue-Star-Geschäft aufmerksam gemacht hatte. Parvis hatte Mary bei ihrem ersten Schrei einen ernüchternden Blick durch seine unparteiischen Brillengläser zugeworfen. »Bob Elwell war nicht geschickt genug, das ist alles; wäre er es gewesen, hätte er umgekehrt Boyne in derselben Weise behandeln können. Solche Dinge geschehen im Geschäftsleben jeden Tag. Ich denke, es ist das, was die Wissenschaftler das Überleben der Stärksten nennen – verstehen Sie?« fragte Parvis und war mit diesem Vergleich sichtlich zufrieden. Mary fühlte, wie sie geradezu physisch vor der nächsten Frage zurückschreckte, die sie stellen wollte; es war, als ob die Worte auf ihren Lippen einen üblen Geschmack hätten. »Aber dann – klagen Sie meinen Mann an, daß er etwas Unehrenhaftes getan hätte?« Parvis überlegte die Frage leidenschaftslos. »O nein, das tue ich nicht. Ich sage nicht einmal, daß es nicht in Ordnung war.« Er blickte die lange Reihe der vielen Bücher entlang, als ob er in einem von ihnen die Defini-
tion, die er suchte, hätte finden können. »Ich sage nicht, daß es nicht in Ordnung war, und ich sage auch nicht, daß es in Ordnung war. Es war eben ein Geschäft.« Schließlich konnte keine Definition in dieser Art verständlicher Mary saß da und starrte ihn entsetzt an. Er schien ihr der unempfindliche Bote einer bösen Macht zu sein. »Aber Elwells Anwälte waren offensichtlich nicht Ihrer Anschauung, denn ich dachte, die Anklage wurde auf ihren Rat zurückgezogen.« »O ja, sie wußten, daß er rein sachlich auf nichts aufbauen konnte. Und als sie ihm den Rat gaben, die Anklage zurückzuziehen, wurde er erst völlig verzweifelt. Verstehen Sie, er hatte das meiste Geld, das er in der Blue-Star-Mine verloren hatte, geborgt und war nun vollkommen am Ende. Deswegen erschoß er sich, als sie ihm sagten, er hätte keine Chance.« Das Entsetzen schlug über Mary in einer großen dröhnenden Welle zusammen. »Er hat sich erschossen? Er hat sich deswegen das Leben genommen?« »Nun, er hat sich nicht getötet, genauer gesagt. Es dauerte noch zwei Monate, bis er richtig starb.« Parvis machte diese Feststellung so empfindungslos wie eine Grammophonplatte. »Sie meinen, daß er versuchte, sich zu töten, und daß es ihm nicht gelang? Und er hat es noch einmal versucht?« »Oh, er mußte es nicht noch einmal versuchen«, bemerkte Parvis grimmig. Sie saßen einander schweigend gegenüber. Er drehte seine Brille nachdenklich um seinen Finger, Mary saß bewegungslos, die Arme neben ihren Knien ausgestreckt, in einer Haltung starrer Spannung. »Aber wenn Sie das alles gewußt haben«, begann sie schließlich und war kaum imstande, ihre Stimme zu einem Flüstern zu zwingen, »warum sagten Sie dann, als ich Ihnen wegen des Verschwinden meines Mannes schrieb, daß Sie den Brief nicht verstehen?« Parvis nahm das ohne merkbare Verlegenheit auf: »Wieso? Ich verstand ihn ja auch nicht genau. Und es war damals nicht die Zeit, darüber zu sprechen, wenn ich es überhaupt mußte. Die ElwellAngelegenheit war erledigt, als die Anklage zurückgezogen war. Ich hätte
Ihnen nichts sagen können, das Ihnen geholfen hätte, Ihren Gatten zu finden.« Mary sah ihn noch immer forschend an: »Und warum erzählen Sie es mir jetzt?« »Nun, zunächst nahm ich an, Sie wüßten mehr, als offensichtlich der Fall ist – ich meine, über die Umstände von Elwells Tod. Und dann sprechen die Leute jetzt darüber; die ganze Sache wurde wieder ausgegraben. Und ich dachte, wenn Sie nichts wüßten, sollten Sie es jetzt erfahren.« Sie blieb still, als er fortfuhr: »Sehen Sie, es hat sich erst kürzlich herausgestellt, in welch üblem Zustand Elwells Geschäfte waren. Seine Frau ist eine stolze Person, und sie kämpfte, solange sie konnte. Sie ging arbeiten und machte daheim Näharbeiten, bis sie zu krank wurde – ich glaube, es ist etwas mit dem Herzen. Aber sie mußte sich um seine Mutter kümmern und um die Kinder, und schließlich brach sie zusammen und mußte doch um Hilfe bitten. Das hat die Aufmerksamkeit wieder auf den Fall gelenkt, die Zeitungen nahmen es auf, und eine Sammlung wurde veranstaltet. Jeder konnte Bob Elwell gut leiden, die prominentesten Namen sind auf der Liste, und die Leute begannen sich zu fragen, warum…« Parvis unterbrach sich, um etwas in seiner Brusttasche zu suchen. »Hier«, fuhr er fort, »hier ist ein Bericht von der ganzen Angelegenheit im ›Sentinel‹ – natürlich etwas sensationell aufgemacht. Aber ich denke, Sie sollten ihn sorgfältig durchlesen.« Er hielt Mary eine Zeitung entgegen, die sie langsam entfaltete, und während sie das tat, erinnerte sie sich an den Abend in demselben Raum, als ein Ausschnitt aus dem ›Sentinel‹ zum erstenmal ihre Sicherheit erschüttert hatte. Als sie die Zeitung öffnete, erschrak sie zunächst über die schreiende Überschrift: ›Witwe von Boyne-Opfer gezwungen, um Hilfe zu bitten‹ und überflog dann die Textspalte bis zu zwei eingeschobenen Bildern. Das erste war das Bild ihres Mannes, ein Foto, das im Jahr ihrer Ankunft in England aufgenommen war. Es war das Bild, das sie am liebsten hatte und das auch auf dem Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer stand. Als die Augen auf dem Foto ihre trafen, fühlte sie, es würde ihr
unmöglich sein, zu lesen, was man über ihn sagte, und sie mußte ihre Lider wie unter einem scharfen Schmerz schließen. »Ich dachte, wenn Sie sich in der Lage sähen, auch Ihren Namen einzutragen…« hörte sie Parvis sagen. Sie öffnete mit Anstrengung ihre Augen und sah nun das andere Bild. Es war das eines jüngeren Mannes, schlank und mit Zügen, die irgendwie durch den Schatten eines breiten Hutrandes verwischt waren. Wann hatte sie das schon gesehen? Sie starrte verwirrt darauf, und ihr Herz hämmerte bis in ihre Ohren. Und dann stieß sie einen Schrei aus. »Das ist der Mann – der Mann, der meinen Gatten geholt hat!« Sie hörte, wie Parvis aufsprang, und war sich dunkel bewußt, daß sie rückwärts in die Ecke des Sofas sank und daß er sich besorgt über sie beugte. Sie richtete sich auf und streckte die Hand wieder nach der Zeitung aus, die sie fallengelassen hatte. »Es ist der Mann! Ich würde ihn überall wiedererkennen!« beharrte sie, und ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren wie ein Schrei wieder. Parvis’ Antwort schien aus weiter Ferne, über endlose nebelverhüllte Windungen, zu ihr zu kommen. »Mrs. Boyne, Ihnen ist offenbar nicht wohl. Soll ich jemanden rufen? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« »Nein, nein, nein!« Sie warf sich ihm entgegen, und ihre Hand hielt krampfhaft die Zeitung fest. »Ich sage Ihnen, das ist der Mann! Ich kenne ihn! Er hat mit mir im Garten gesprochen!« Parvis nahm ihr das Journal aus der Hand und wandte seine Brillengläser dem Bild zu. »Das kann nicht stimmen, Mrs. Boyne. Das ist Robert Elwell.« »Robert Elwell?« Ihr leerer Blick schien weit in den Raum zu wandern. »Dann war es Robert Elwell, der ihn geholt hat.« »Boyne geholt hat? An dem Tag, als er hier wegging?« Parvis’ Stimme wurde leiser, als ihre lauter wurde. Er beugte sich hinüber und legte ihr väterlich die Hand auf den Arm, als ob er sie sanft auf ihren Sitz zurückdrücken wollte. »Aber Elwell war schon tot! Erinnern Sie sich nicht?« Mary saß da und hielt ihre Augen starr auf das Bild gerichtet, ohne zu hören, was er sagte.
»Erinnern Sie sich nicht an Boynes unvollendeten Brief an mich – jenen, den Sie an diesem Tag auf seinem Schreibtisch gefunden haben? Er hatte ihn geschrieben, gerade nachdem er von Elwells Tod gehört hatte.« Sie bemerkte in Parvis’ sonst so sachlicher Stimme ein merkwürdiges Zittern. »Aber sicher erinnern Sie sich«, drängte er sie. Ja, sie erinnerte sich – das war das Schlimme daran. Elwell war am Tag vor dem Verschwinden ihres Mannes gestorben; und das war Elwells Bild; und es war das Bild des Mannes, der mit ihr im Garten gesprochen hatte. Sie hob ihren Kopf und blickte langsam in der Bibliothek umher. Die Bücher hätten Zeugnis ablegen können, daß es das Bild des Mannes war, der an jenem Tag gekommen war, um Boyne zu besuchen. Durch die Nebelwellen in ihrem Gehirn hörte sie das schwache Dröhnen halbvergessener Worte – Worte, die Alida Stair gesprochen hatte, lange bevor Boyne und seine Frau das Haus in Lyng gesehen oder sich vorgestellt hatten, daß sie einmal dort leben würden. »Das war der Mann, der mit mir gesprochen hat«, wiederholte sie. Sie blickte wieder Parvis an. Er versuchte, seine Verwirrung hinter einer Miene nachsichtigen Mitleids zu verbergen; aber die Ränder seiner Lippen waren blau. ›Er glaubt, ich bin verrückt; aber ich bin nicht verrückt‹, dachte sie; und plötzlich kam ihr wie ein Blitz die Idee, wie sie ihre seltsame Überzeugung beweisen konnte. Sie saß ganz still, versuchte, das Zittern ihrer Lippen zu beherrschen, und wartete, bis sie ihrer Stimme wieder mächtig war; dann sagte sie, indem sie Parvis gerade anblickte: »Wollen Sie mir bitte eine Frage beantworten? Wann war das, als Robert Elwell versuchte, sich zu töten?« »Wann – wann?« stammelte Parvis. »Ja, das Datum. Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern.« Sie sah, daß er sich immer mehr vor ihr fürchtete. »Ich habe meine Gründe«, beharrte sie. »Ja, ja. Ich kann mich nur nicht erinnern. Ungefähr zwei Monate vorher, würde ich sagen.« »Ich möchte das genaue Datum«, wiederholte sie. Parvis nahm die Zeitung wieder auf. »Wir könnten es hier finden«, sagte er, bereit, ihr den Willen zu lassen. Er überflog die Seite. »Da ist es. Es
war im Oktober – am –« Sie nahm seine Worte auf. »Am zwanzigsten, nicht wahr?« Mit einem überraschen Blick auf sie stimmte er zu. »Ja, am zwanzigsten. Woher wissen Sie das?« »Ich weiß es jetzt.« Ihr Blick wanderte noch immer an ihm vorbei. »Am Sonntag, dem zwanzigsten. Das war an dem Tag, an dem er zum erstenmal gekommen ist.« Parvis’ Stimme war fast unhörbar. »Zum erstenmal hierhergekommen ist?« »Ja«. »Sie haben ihn also zweimal gesehen?« »Ja, zweimal.« Ihre Stimme war fast nur ein Atmen. »Er kam zum erstenmal am zwanzigsten Oktober. Ich erinnere mich an das Datum, weil wir an diesem Tag zum erstenmal auf den Meldon Steep gegangen sind.« Sie spürte fast so etwas wie ein inneres Lachen bei dem Gedanken, daß sie sich nur deshalb an diesen Tag erinnerte. Parvis sah sie weiterhin aufmerksam an, als ob er ihren Blick abfangen wollte. »Wir sahen ihn vom Dach aus«, fuhr sie fort, »er kam durch die Lindenallee auf das Haus zu. Er war genauso gekleidet wie auf diesem Bild. Mein Mann sah ihn zuerst. Er war erschrocken und lief mir voraus und ihm entgegen; aber es war niemand da. Er war verschwunden.« »Elwell war verschwunden?« stammelte Parvis. »Ja.« Die beiden flüsternden Stimmen schienen aneinander Halt zu suchen. »Ich konnte mir damals nicht vorstellen, was geschehen war; jetzt verstehe ich es. Er versuchte damals zu kommen; aber er war noch nicht genug tot – er konnte uns nicht erreichen. Er mußte zwei Monate warten, bis er starb; und dann kam er wieder zurück – und Ned ging mit ihm.« Sie nickte Parvis mit dem triumphierenden Blick eines Kindes zu, das ein schwieriges Rätsel gelöst hat. Aber plötzlich hob sie ihre Hände mit einer verzweifelten Geste und preßte sie an ihre Schläfen. »O mein Gott! Und ich schickte ihn zu Ned – ich habe ihm gesagt, wohin er gehen mußte! Ich schickte ihn in diesen Raum!«
Sie fühlte, wie die Bücherwände auf sie zukamen, Ruinen gleich, die in sich zusammenstürzen; und sie hörte Parvis aus weiter Ferne durch diese Ruinen nach ihr rufen. Aber sie war unempfindlich gegen seine Berührung, und sie wußte nicht, was er sagte. Durch all den Tumult hörte sie nur einen klaren Ton. Die Stimme von Alida Stair, wie sie sagte: »Du wirst es erst später merken, erst viel, viel später.«
CHARLES BIRKIN
Besuch aus einer anderen Welt Der Nachtklub ›Le Jongle‹ war überfüllt, die Luft blau von Zigarettenqualm und die Band schmetterte ohrenbetäubend. Es war halb vier Uhr früh, und ich hatte mehr Brandy und Ginger-Ale getrunken als gut für mich war. Ich hätte ja längst im Bett sein sollen, aber wenn man 22 Jahre alt ist und nach 18 Monaten, die schön gleichmäßig zwischen der Malkunst und dem Vergnügen aufgeteilt worden waren, Abschied von Paris nehmen muß, dann ist man geneigt, jede Stunde Schlaf als vergeudet zu betrachten. Ich blickte über den Tisch hinweg auf meine Gefährten, Georges Villard, mein bester Freund, den ich kritiklos bewunderte, und Eloise Vance. Ich hatte niemals verstehen können, was an Eloise so attraktiv war. Die Künstler und Musiker, mit denen wir beide verkehrten, machten geradezu einen Kult aus ihr. Sie sah wie ein Bild in Schwarz-Weiß aus, das mich an einen Holzschnitt erinnerte, und sie sprach nur selten. Was auf andere geheimnisvoll wirkte, fand ich bloß langweilig, und ich hatte den Verdacht, daß sie Rauschgift nahm. Sie war Amerikanerin, ich Engländer, und Georges hatte einen französischen Vater und eine dänische Mutter, was eine sehr reizvolle Mischung ergab. Eloise war Georges’ Geliebte, und sie hatte schon viele Männer vor ihm gehabt. Sie war dreißig, was mir etwas ältlich vorkam, und wenn sie sich einmal aufraffte und Lust hatte, als Mannequin zu arbeiten, konnte sie unter den führenden Modehäusern wählen. Also mußte sie wohl über das gewisse Etwas verfügen, auch wenn ich dagegen unempfindlich war. Das Negerquartett legte die Musikinstrumente beiseite – Saxophon, Trompete und Trommel –, der Pianist ließ den Schlußakkord erdröhnen und stand auf. Dann verließen sie das Podium für eine Atempause und einen wohlverdienten Drink. Nach ihrem Abzug herrschte für ein paar Sekunden totale Finsternis, bis der Lichtstrahl des Scheinwerfers sich gleißend auf das Klavier richtete, dann erschien ein Mädchen in einem
Kleid mit schwarzen Perlenfransen und einem scharlachroten Tuch um den Hals, setzte sich und begann zu spielen. Es wurde verhältnismäßig ruhig im Raum. Die Paare, die eng aneinandergeschmiegt getanzt hatten, lösten sich voneinander und gingen langsam zu ihren Plätzen zurück. Das Mädchen am Klavier spielte besser, als es sang, aber was ihr an Technik fehlte, machte sie durch Gefühl und Ausdruck wett. Sie war eine Mulattin und schien ihre Zuhörer gar nicht zu bemerken, und es konnte keinen Zweifel daran geben, daß sie eines Tages ein großer Star sein würde. Sie sang »The Man I Love«, »Mean to Me«, »Can’t We Be Friends« und viele andere der damals beliebtesten Schlager und erfüllte jeden Wunsch, der ihr aus dem enthusiasmierten Publikum zugerufen wurde. Als ich wieder auf die Uhr sah, war fast eine Stunde wie im Flug vergangen. Georges winkte dem Kellner, und nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, sagte er: »Wir setzen dich gern ab.« »Nicht nötig«, sagte ich. »Es sind ja nur ein paar Schritte, und die frische Luft wird mir gut tun.« »Es sind immerhin fünfzehn Minuten zu gehen«, korrigierte er mich. Ich lächelte. »Du hast wohl vergessen, daß ich heute bei René eingezogen bin. Ich hab’ dir doch erzählt, daß er mir bis zur Abreise sein Atelier überlassen hat.« Ich wollte die letzten drei Wochen dort wohnen. Dank meiner Verschwendungssucht war ich fast pleite, und die Gnadenfrist, die mein Vater mir gewährt hatte, lief ab. Im Gegensatz zu Georges hatte ich keines meiner Bilder verkaufen können, abgesehen von einem bestellten Porträt, und mein Vater und ich hatten vereinbart, daß ich Ende des Sommers, falls ich bis dahin nicht auf eigenen Füßen stehen konnte, in seine Immobilienfirma eintreten sollte. Er hatte damals gesagt, daß man immer noch über meine Zukunft reden könnte, wenn ich bei dieser Tätigkeit gar zu unglücklich wäre. Eloise brach das Schweigen. »Du wohnst bei René Chauvet?« fragte sie, ohne die Inspektion ihrer Fingernägel zu unterbrechen. »Du scheinst total verrückt zu sein.« »Er ist nicht da«, sagte ich. »Er ist nach Italien gefahren, nach Venedig. Bis Ende des Monats.«
»Er scheut sich davor, den September in seinem Atelier zu verbringen«, sagte Eloise. »Und das kann man ihm kaum verdenken.« Sie hob den Kopf und bedachte mich mit einem direkten Blick. »Bonne chance!« Das war für sie eine erstaunlich lange Rede gewesen. »Hat René dir nichts gesagt?« fragte Georges überrascht. »Von dem Geist? Natürlich. Fragte mich, ob ich vor Gespenstern Angst habe. Ich sagte nein – nicht in dieser Umgebung. Es gibt kaum ein altes Haus in Paris, in dem sich nicht irgendwann einmal eine Gewalttat zugetragen hat.« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Georges, »aber wohl kaum eine, an die man mit einer so marionettenhaft genauen Regelmäßigkeit erinnert wird wie in Renés Atelier. Natürlich«, sagte er mit der Überlegenheit, die ihm der Altersunterschied zwischen uns verlieh, »das war alles vor deiner Zeit. Erstens warst du damals in England, zweitens mußt du noch ein kleiner Junge gewesen sein.« »Nun, ich kam damals gerade in die höhere Schule«, sagte ich. Er rechnete nach. »Ja, das stimmt. Na ja, jedenfalls für mich warst du damals noch ein kleiner Junge. Ich dagegen hatte schon meine erste Ausstellung hinter mir.« »Kanntest du Edouard Delouvrier?« Ich übersah seine gönnerhafte Art. »Zu meinem Bedauern nein. Ich war ein überzeugter Bewunderer seiner Arbeit. Daß ein Genie von seinem Kaliber wegen des Mordes an einer so unbedeutenden, nichtssagenden Person hingerichtet wurde – denn das Mädchen war wirklich eine Hure –, ist in meinen Augen ein viel schwereres Verbrechen als das, wofür er auf die Guillotine geschickt wurde.« Eloise gähnte. »Nicolle war ein Flittchen«, sagte sie, »und außerdem fürchterlich langweilig.« Wir erhoben uns. »Ich werde euch morgen berichten, ob ich mein Lager mit einem Phantom teilen mußte«, sagte ich. »Vielleicht gelingt mir endlich einmal ein gutes Bild«, fuhr ich optimistisch fort. »Ich habe ja noch nie ein richtiges Atelier gehabt. Wenn ich Monsieur Delouvriers
Geist beschwöre, mir zu helfen und mich zu inspirieren, schaffe ich es vielleicht, euch alle zu überraschen.« »Er war Bildhauer«, sagte Eloise träge, »und kein Maler.« »Das war Michelangelo auch«, erwiderte ich spitz. Die frische Morgenluft wirkte wie eine kalte Dusche. Etwas unsicher ging ich über den Bürgersteig zum Auto, schüttelte Georges’ stützenden Arm ab und ließ mich bis vor die Haustür fahren. Das Schlüsselloch schien meinen Bemühungen auszuweichen, aber dann fand ich es doch und rief »Gute Nacht!« Ich hatte mir gemerkt, wo der Schalter für die Stehlampe war, die am Ende des Diwans stand, und außerhalb dieses Lichtkreises war der ganze große Raum in Dunkelheit getaucht. René gehörte eigentlich nicht zu meinem Freundeskreis, und es war sehr nett von ihm gewesen, mir seine Wohnung zur Verfügung zu stellen – das heißt, nur das Atelier, denn die eine Treppe höher gelegene Wohnung war abgeschlossen. Aber ich hatte alles, was ich brauchte. Das Haus stammte aus dem 18. Jahrhundert. Inzwischen ist es abgerissen worden. Es bestand aus dem großen, fast zehn Meter hohen Atelier, von dem eine Wendeltreppe zu einem Halbboden führte, der als Eßzimmer diente, und an den sich eine moderne Küche und eine Toilette anschlossen. Von dort aus führte eine gerade Treppe zum oberen Stockwerk, wo Schlaf- und Badezimmer lagen. Auch das Zimmer von Maria, Renés Dienstmädchen, war dort oben; sie hatte zur Zeit Urlaub. Eine schmale, gleichfalls verschlossene Tür versperrte den Weg zu der steilen Steintreppe in den Keller, wo René seine Weinvorräte lagerte, die er klugerweise vor meinem Zugriff schützen wollte. Wie ich gehört hatte, war es in diesem Keller gewesen, wo Delouvriers unselige Mätresse verscharrt worden war. Ich schlief die erste Nacht wie ein Stein. Vielleicht lag das daran, daß ich einen langen Tag hinter mir hatte, vielleicht auch daran, daß ich halb betrunken war. Ich machte mir weder die Mühe mich auszuziehen noch meinen Koffer auszupacken und warf mich einfach so, wie ich war, auf den Diwan. Es war schon nach zehn, als ich mit einem mordsmäßigen Kater erwachte und zum Waschen und Rasieren in die Küche ging. Danach begab ich mich zum Frühstück ins ›Dôme‹, und als ich sicher sein
durfte, daß ich auch diesmal überleben würde, kehrte ich ins Atelier zurück, hing meine Anzüge weg und baute meine Malutensilien auf. Aber ich versuchte erst gar nicht zu arbeiten, sondern saß den ganzen Nachmittag in den Tuilerien-Gärten. Der Spaziergang hatte mich neu belebt, und der warme Sonnenschein kurierte mich endgültig. Georges hatte mich zu einer Party eingeladen, die er abends geben wollte. Die Gäste sollten die Getränke mitbringen, er würde das Essen spendieren. Deshalb hatte ich auf das Mittagessen verzichtet und eine Flasche gelben Chartreuse gekauft, die ich mitzubringen gedachte. Denn obwohl ich in einer prekären Lage war, wollte ich nicht mit leeren Händen kommen. Zudem wußte ich, daß Eloise gelben Chartreuse verabscheute. Ich kam erst im Morgengrauen wieder nach Hause und fand mich resigniert mit der Tatsache ab, daß abermals ein unproduktiver Tag anbrach. Einige der Gäste hatten sich sehr interessiert gezeigt, als sie hörten, wo ich jetzt wohne. Sie schienen etwas enttäuscht gewesen zu sein, daß ich von keinen übernatürlichen Vorkommnissen berichten konnte. Sie hatten mir behutsam zu verstehen gegeben, daß ich vielleicht ein zu robustes Gemüt hätte, als daß ich mich auf eine Wellenlänge einschalten könnte, die für zartere und empfindlichere Seelen ohne weiteres zu finden wäre. Aber, so hatte Eloise gesagt, heute sei der Vierte, und der Mord – soweit es durch die Obduktion hatte festgestellt werden können – war erst am Zehnten passiert. Das war alles, was sie zu diesem Thema zu sagen hatte, und sie hatte sehr ruhig und sicher gesprochen. Die anderen, die wahrscheinlich weniger wußten als sie, hatten sich viel lebhafter an der Debatte beteiligt. Edouard Delouvrier, so entnahm ich dem Gespräch, war in den Pariser Künstlerkreisen eine populäre Figur gewesen. Leider hatte sein Talent erst nach seinem Tod Anerkennung gefunden. Der Umfang seiner Werke war zwangsläufig begrenzt, denn seine Karriere war unterbrochen worden, als er eingezogen wurde. Als der Krieg ausbrach, war er 26 Jahre alt gewesen. Drei Jahre nach dem Krieg war er wegen des Mordes an Nicolle Lavarre hingerichtet worden. Er hatte ein halbes Dutzend größere Arbeiten und vielleicht dreimal so viele kleinere Gruppen und Statuetten hinterlassen. In den Monaten
nach dem Kriegsende, als er Schwierigkeiten hatte, sich wieder an das zivile Leben anzupassen, hatte er hauptsächlich Trivia angefertigt, die er zu hohen Preisen meist an Italiener und Amerikaner verkaufte. Diese kleinen Figuren waren sehr gefragt gewesen. In mancher Hinsicht war Delouvrier seiner Zeit voraus gewesen, und die eigenartigen kleinen Meisterwerke aus Marmor hatten – wenn man so verschiedene Medien überhaupt miteinander vergleichen konnte – viel mit den Gemälden gemeinsam, die auch Dali schuf. Sie waren mit größter Sorgfalt ausgeführt: Hände, aus denen ein Büschel Winde wuchs; ein Ohr, das sich an ein zerbrochenes Rad schmiegte; das Stück eines Arms, der von der Schere eines Hummers umspannt wurde; manchmal auch nur ein winkend gekrümmter Finger oder der Umriß eines spöttisch lächelnden Mundes, der aus dem leeren Zifferblatt einer zerdrückten Taschenuhr hervorwuchs. Die Körperteile, die in diesen bizarren Arbeiten dargestellt wurden, zeigten kindliche Formen und hoben sich unglaublich plastisch und fein modelliert von dem grob angedeuteten Hintergrund ab. Delouvrier hatte auch andere Regionen der menschlichen Anatomie – sichtlich nach Erwachsenen gestaltet – als Vorlage zu Arbeiten benützt, die teilweise gewollt obszön waren. Alle diese Figuren waren begehrte Sammlerstücke geworden, und einige waren sogar in Museen ausgestellt. Im Laufe des Prozesses hatte sich ergeben, daß es in Edouard Delouvriers Familie erbliche Geisteskrankheit gab, aber das konnte ihn nicht vor der Guillotine retten. Ein paar Wochen vor der Exhuminierung von Nicolles Leiche hatte Delouvrier eine zweite Ausstellung veranstaltet, auf der eine prachtvolle Skulptur gezeigt wurde, die zwei marmorne Füße darstellte, welche von gekreuzten Floretts zusammengehalten wurden. Das Stück war von einem peruanischen Millionär gekauft worden, der sich später, nach dem Urteilsspruch, weigerte, es wieder herzugeben, selbst als man ihm das Fünffache des von ihm bezahlten Preises bot. Das Verbrechen lag schon lange zurück, und neuere sensationelle Mordfälle hatten dafür gesorgt, daß es für die jüngere Generation nur noch eine Geschichte aus der Vergangenheit war. Aber noch waren einige der grausigen Begleitumstände hinreichend bekannt, so daß ich ganz unverdient als Held betrachtet wurde, weil ich mich freiwillig an den düsteren Ort des schrecklichen Geschehens begeben hatte.
Am nächsten Tag riß ich mich trotz meiner jämmerlichen Verfassung zusammen und malte bis in die Dämmerung hinein. Erfüllt von einem ganz ungewöhnlichen Gefühl der Tugend, las ich ein Weilchen, machte mir ein paar Eier und lag um neun Uhr schon im Bett. Auch ein junger Mensch kann nur ein bestimmtes Maß an Strapazen aushalten, ohne daß sein Körper rebelliert. Ich schrieb noch einen längst fälligen Brief nach Hause und knipste eine halbe Stunde später das Licht aus. Ich schlief sofort ein, aber wie es einem manchmal ergeht, wenn man übermüdet ist, wachte ich gegen Mitternacht wieder auf und wälzte mich unruhig in einem Grenzzustand zwischen Wachsein und Dahindämmern hin und her. Da vernahm ich leise Geräusche – das Vorspiel zu dem Drama –, die sich wie das Getrappel rennender Füße anhörten, welche vom oberen Stockwerk herkamen, das Eßzimmer durchquerten, langsamer wurden, als sie die Wendeltreppe hinunterstiegen und dicht an meinem Bett vorbeihuschten. Es klang, als ob jemand auf der Flucht sei, aber kein Verfolger war zu hören, und nachdem die Fußschritte ein paarmal ziellos durch das Atelier gewandert waren, hielten sie zögernd inne. Ich fuhr hoch und knipste das Licht an. Alles sah ganz normal aus, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich nicht doch geträumt hatte. Und dann schlief ich wirklich wieder ein, und als ich die Augen aufschlug, stellte ich fest, daß die Lampe immer noch brannte und den Kampf gegen das Tageslicht längst verloren hatte. Wäre ich nicht überzeugt gewesen, daß es doch ein Traum gewesen war, würde ich viel beunruhigter gewesen sein. Ich sagte mir, daß das nur die Folge der übertrieben besorgten Fragen gewesen sein konnte, mit denen man mich auf Georges’ Party bestürmt hatte. Ich malte den ganzen Tag. Der Besitzer einer unwichtigen Galerie, ein guter Freund von Georges, hatte mir versprochen, einige Proben meiner Arbeit auszustellen, falls ich ihm eine genügend große Auswahl von Bildern vorlegte, so daß er seine Wahl treffen konnte. Er veranstaltete jeden Monat eine neue Ausstellung, und obwohl ich im November, wenn meine Bilder an die Reihe kommen sollten, in Yorkshire sein würde, fühlte ich mich geschmeichelt und war ihm für sein Interesse dankbar. Er war ein freundlicher, begüterter Mann, der junge Menschen gern ermutigte.
Gelegentlich gelang es ihm, ein Ausstellungsstück für einen bescheidenen Preis zu verkaufen, und er hatte sogar eine oder zwei kleinere Entdeckungen gemacht, was sein Vertrauen in sein eigenes Urteil stärkte. Wenn ich ein paar sichtbare Zeichen meiner Ambitionen zurückließ, würde mir das meine Rückkehr nach England versüßen. Ich ging ins ›Dôme‹, um etwas zu essen. Da ich keine Bekannten traf, war ich gegen neun Uhr schon wieder im Atelier. Noch lagen 18 Tage Paris vor mir, etwas über zwei Wochen der ›Freiheit‹, wie ich damals dachte. Ich war wie ein Schuljunge, der die Tage bis zu den Ferien zählt – nur rechnete ich kummervoll genau in die andere Richtung. Ich begriff gar nicht, wie tolerant mein Vater war, denn meine Berufswahl erschien ihm völlig unverständlich. Ich wollte mich mal gründlich ausschlafen, doch war ich nur körperlich müde; mein Gehirn blieb wach. Erst spät klappte ich mein Buch zu, und als ich mein Kissen zurechtgeknufft hatte, hörte ich ganz deutlich das bebende Schluchzen eines Mädchens. Es schien vom Fuß der Wendeltreppe herzukommen und war von einer verlorenen Hoffnungslosigkeit erfüllt. Irgendwie konnte man spüren, daß das Mädchen allein im Haus war. Ihr Kummer drückte eine Verzweiflung aus, die nicht zu überhören war, die aber auch nicht von der Art war, welche einen anderen Menschen erreichen oder rühren kann. Es war ein uferloser Gram, der da verströmte. Wenn ich schon sonst nichts in Paris erreicht hatte, die Sprache hatte ich jedenfalls gelernt, und jetzt begann das Mädchen mit zerbrochener, monotoner Stimme zu sprechen: »Das kannst du nicht tun, Edouard. Ich werde nie von dir weggehen. Eher würde ich mich selbst töten und auch dich vernichten als zuzulassen, daß du mich verläßt, und gar noch wegen dieser Teufelin Eloise. Sie ist böse, Edouard, und mit ihren Wünschen und Ansprüchen wird sie dir dein Talent stehlen und dich zerbrechen, und dann wird sie dich vergessen. Weil sie jung ist, glaubst du, daß du sie formen kannst, daß du etwas aus ihr machen wirst, worauf du stolz sein kannst. Du irrst dich, Edouard, mein Liebster. Sie ist hart, und sie ist egoistisch, und sie ist eine Ausländerin, die nur aus Eitelkeit und Selbstsucht besteht. Sie benützt dich nur als Sprungbrett zu anderen Männern.
Du wirst sie niemals ändern können, Edouard, aber sie wird dich ändern und ersticken, und wenn du die Wahrheit erkennst, wird es zu spät sein.« Ich lag auf dem Rücken und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Seltsamerweise hatte ich keine Angst. Eloise. Das war kein ungewöhnlicher Name, aber ich war sicher, daß Nicolles Rivalin die gleiche Frau war, die ich kannte und von der Georges so betört war. Das Weinen war wieder zu hören, und erst nach einer Weile sprach das Mädchen weiter: »Es ist doch wegen Eloise, daß du mich los sein willst – oder ist es, weil du denkst, ich weiß zuviel? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Was du mir auch antust, ich werde nie etwas verraten. Und als du sie entdecktest, die arme Kleine, da war sie schon tot, und deshalb kann man das, was nachher geschah, nicht als Grausamkeit verurteilen. Edouard, mein Liebling, ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben, und das ist etwas, das du niemals töten kannst.« Ich schwang die Beine über die Bettkante und knipste die Lampe an. Aber nichts und niemand war in den Schatten jenseits des ovalen Lichtkreises verborgen. Außer mir war niemand im Atelier. Die hölzernen Streben der Staffelei, auf der das halbfertige Bild stand, schimmerten tröstlich. Ich ging zu der Stelle hin, von wo ich die Stimme gehört hatte. Ich verspürte keine Furcht, nur Trauer. »Nicolle«, sagte ich, »kann ich dir irgendwie helfen?« Ganz still stand ich in dem Schweigen des riesigen, verstaubten Raums und fühlte, daß das geisterhafte Wesen, dessen Nähe ich eben noch gespürt hatte, verschwunden war. Obgleich ich noch stundenlang wach lag, hörte ich nichts mehr. Der nächste Tag war Mittwoch, und ich fühlte mich nach der gestörten Nacht unbehaglich und nervös. Nach den ersten paar Pinselstrichen wurde mir klar, daß ich nichts zustande brachte und nur das verschandelte, was ich so gut begonnen hatte. So erledigte ich lieber dringende Haushaltsarbeiten, brachte die Wäsche in die Wäscherei, spülte Geschirr ab, machte mein Bett und räumte auf. Nachdem ich einigermaßen Ordnung gemacht hatte, fuhr ich mit dem Bus nach Fontainebleau und ging eine Stunde im Wald spazieren. Gerade als ich wieder im Atelier ankam, klingelte das Telefon. Es war Georges.
»Na, was tut sich denn so in den jenseitigen Gefilden?« erkundigte er sich neckend. »Ist dein prächtiger schwarzer Schopf schon schneeweiß geworden?« »Nein«, sagte ich. Er war verblüfft über die Kürze meiner Antwort. »Hat es irgendwelche Erscheinungen gegeben?« fragte er in völlig verändertem Ton. »Ja«, sagte ich. »Wie wäre es, wenn du herkommst und mir alles erzählst? Eloise ist nicht da, ich glaube sie ist zu einem Diner eingeladen.« »Wenn das so ist, komme ich gern«, sagte ich hochnäsig. Georges lachte. »Was bist du noch für ein Kind!« sagte er. »Also komm, wann du willst. Ich habe für heute Schluß gemacht und bin den ganzen Abend zu Hause.« Gegen Mitternacht, nachdem er meinem Bericht mit großer Aufmerksamkeit gelauscht hatte, fuhr er mich in seinem zerbeulten Bugatti nach Hause. »Gute Nacht«, sagte er, »… und viel Glück.« Er warf mir ein kleines Päckchen zu. »Hier! Nimm das mit!« »Was ist es denn?« fragte ich mißtrauisch. Er legte den Gang ein, und der Wagen fuhr langsam an. »Mach’s auf und sieh nach«, rief er. Ich machte das Päckchen auf. Es enthielt einen goldenen St. Christophorus. Georges hatte keinerlei Anstalten gemacht, mir etwas über das zu erzählen, was sich in Delouvriers Atelier zugetragen hatte, aber obwohl ich von seiner Anteilnahme gerührt war, eignete sich sein Geschenk kaum dazu, mein Selbstvertrauen zu stärken. Der Schrei kam von der verschlossenen Tür zum oberen Stockwerk her. Er war von Entsetzen erfüllt und brach so plötzlich ab, als ob der Mund der Person, die ihn ausgestoßen hatte, durch eine fremde Hand verschlossen worden wäre. Eine Minute lang herrschte ein unheilträchtiges Schweigen, dann kamen Fußschritte die Treppe herunter. Sie waren langsam und schwer, die Schritte eines ermüdeten Mannes. Sie gingen durch das Atelier und verhielten vor der Kellertür. Und auf einmal schauderte es mich vor Angst, als ich das Knarren einer aufgehenden
Tür hörte, jener Tür, von der ich wußte, daß sie abgeschlossen war, und hinter welcher die Schritte jetzt verklangen. Ich wagte es nicht, Licht zu machen, denn ich wußte, daß ich von Haß umgeben war. Nach einer Weile kamen die Schritte zurück. Ohne Eile klommen sie die Wendeltreppe empor und verhallten. Erst als ich sie nicht mehr hörte, brachte ich den Mut auf, die Lampe anzuknipsen. Der Rest der Nacht verlief ohne Störungen. Ich redete mir ein, daß es bestimmt die Schritte von Delouvrier gewesen waren, der sich nur eine Flasche Wein aus dem Keller geholt hatte und durchaus kein anderes, makabres Motiv gehabt haben mußte. Im Laufe des Vormittags kam Georges vorbei. Mein übernächtigtes Aussehen entging ihm nicht. »Gib’s auf«, sagte er. »Du hast bewiesen, daß du Mut hast. Falls du, wie ich annehme, nur aus finanziellen Gründen hier wohnst, greife ich dir gern unter die Arme, damit du dir für die letzten Tage eine andere Bleibe suchen kannst – und wenn du auf deiner verdammten Unabhängigkeit bestehen mußt, kannst du mir das Geld zurückschicken, wenn du wieder in England bist.« »Nein«, sagte ich, »ich kann jetzt nicht aufgeben.« Ich glaube, daß ich einer Art Masochismus frönte. »Ich würde es an deiner Stelle nicht tun, Peter«, sagte er. »Man soll sein Glück nicht allzusehr strapazieren.« Er runzelte die Stirn. »Der wievielte ist heute? Der achte?« Ich nickte. »Dann ist übermorgen der Jahrestag.« »Willst du nicht herkommen und die Galanacht mit mir zusammen genießen?« »Kommt nicht in Frage!« sagte Georges mit ungewohnter Festigkeit. Er schüttelte eine Zigarette aus einer zerknitterten blauen Packung. »Wenn Eloise nicht wäre, würde ich dich einladen, bei mir zu wohnen.« Mit seinem blonden Bart und den verschmitzten blauen Augen sah er wie ein Wikinger aus. Ich bemühte mich, ihn möglichst vielsagend anzusehen. Er lachte und legte eine große Hand auf meine Schulter. »Du solltest endlich erwachsen werden, Peter, wirklich, es wäre höchste Zeit.«
»Ich nehme an«, sagte ich, »du weißt, daß Miß Eloise Vance früher einmal mit Edouard Delouvrier zusammenlebte, und daß sie – direkt oder indirekt –, an der Ermordung des unseligen Mädchens schuld hatte?« Georges blinzelte zwar nicht wirklich, aber er klappte ein Augenlid zu. »Das hast du neulich nacht schon erwähnt, wenn ich mich recht erinnere«, sagte er. »Eloise hat schon viele Anbeter gehabt, und zweifellos wird sie noch eine Menge mehr haben. Ich bin nicht eifersüchtig, und schon gar nicht auf meine Vorgänger, und, mein lieber Junge, wenn ich dir beibringen kann, daß Eifersucht die sinnloseste und frustrierendste aller Emotionen ist, dann hat unsere Freundschaft wenigstens etwas Gutes gehabt.« Er zündete die verbogene Zigarette an und fuhr fort: »Komm doch heute zum Abendessen zu mir. Ein kleiner Tapetenwechsel ist manchmal sehr erholsam.« »Ich komme gern«, sagte ich. »Vielen Dank.« Wir waren nicht zu dritt, wie ich angenommen hatte. Außer Eloise war noch eine Dame aus Virginia da, der ein avantgardistischer Verlag gehörte, dessen Programm auf obskure Pornographie spezialisiert war, und ein russisches Ehepaar, das zwischen Ausbrüchen wahrhaft alarmierender Fröhlichkeit und Anfällen tiefster Depression hin und her wechselte. Während des Essens sagte Georges: »Eloise, Peter erzählte mir, daß dein Name während der Unterhaltung fiel, die zwischen den seligen Verblichenen stattfand. Nur so nebenbei, natürlich.« Miß Vance sah mich mit leichtem Abscheu von der Seite an, ohne den Kopf zu bewegen. »Ich habe überall Bekannte!« Aus ihrer Stimme klang unbeschreibliche Langeweile, die aber von einer gewissen Wachsamkeit Lügen gestraft wurde. Der Russe sorgte für Abwechslung. Er hieb mit der Faust auf den Tisch und überblickte die Anwesenden mit äußerstem Wohlwollen. »Widerwärtige kleine Hure!« sagte er an keine bestimmte Adresse gerichtet. Georges kam nicht mehr auf meine Enthüllungen zurück, die er sowieso hätte vertraulich behandeln sollen, und die hausbacken aussehende Pornographie-Erbin gab eine langatmige Erklärung von sich, weshalb
man John Cleland und Frank Harris als Streiter für die wahre Keuschheit betrachten müsse. Niemand schenkte ihr viel Aufmerksamkeit, und als sie mit ihrem Diskurs fertig war, sagte Eloise frostig: »Wahrscheinlich sollte man es besser draußen als drinnen lassen, nehme ich an.« Ein Kommentar, der die Dame zum Schweigen brachte und nicht geeignet war, eine literarische Diskussion anzukurbeln. Die Gesellschaft war kein Erfolg, und ich ging ziemlich früh nach Hause. Die Nacht verlief ungestört. Frisch und ausgeruht malte ich am Vormittag das Bild fertig, das ich der Galerie zur Auswahl schicken wollte. Abends hatte ich eine Pflichtverabredung mit einem ungehobelten Cousin, den mein Vater aus irgendeinem unerfindlichen Grund sehr schätzte, und der auf der Durchreise nach Süden war. Er hatte eine Menge Geld und kannte niemanden in Paris, und so machte ich mit ihm einen Bummel durch alle möglichen Kneipen und Nachtlokale, in denen sich dicke und unattraktive Mädchen produzierten. Es war alles sehr ermüdend, aber er amüsierte sich, und mir gelang es, relativ nüchtern zu bleiben. Es war schon heller Tag, als ich ihn endlich in der Hut einer ältlichen Nutte lassen konnte. Ich war von tiefer Zufriedenheit über diese selbstlose und barmherzige Tat erfüllt, von der beide Seiten profitieren würden. Dann schlief ich ein paar Stunden, und als ich aufwachte, war die Mittagstunde des 10. September angebrochen. Ich skizzierte ein neues Bild. Es sollte ein Porträt werden, oder eher eine Wiedergabe nach dem Gedächtnis, und zwar von der farbigen Sängerin im ›Jongle‹. Dann arbeitete ich eine Weile daran und war überzeugt, daß es ein recht gutes Bild werden könnte. Ich rief Georges an und fragte ihn, ob er herkommen und sich das Bild ansehen wolle. Er antwortete, er würde bestimmt kommen, aber bis zum Abend sei er beschäftigt. Er pflegte meine künstlerischen Ambitionen immer ernst zu nehmen, und das war nett von ihm, denn schließlich war er selbst ja ein arrivierter Maler. Ich hatte noch eine Flasche Cognac, die zu einem Drittel voll war, und so ging ich noch eine Flasche Mineralwasser und einen Sodasiphon holen. Georges kam gegen halb acht. Er lobte das Bild. Wir diskutierten darüber, und er machte ein paar konstruktive Vorschläge, die ich akzep-
tierte. Ich gab ihm einen Drink und schenkte mir auch einen ein. Er wanderte im Atelier herum, kritisierte ein paar ältere Arbeiten von mir, und dann sagte er: »Hast du es dir überlegt?« Ich schüttelte den Kopf. »Na ja«, sagte er, »heute mußt du die letzte Hürde nehmen. Wie René behauptet – und sein Vorgänger in diesem Haus sagte dasselbe –, ist ab morgen ein Jahr lang alles ruhig. Allerdings habe ich die Feststellung gemacht, daß René Chauvet es nicht immer sehr genau nimmt.« Ich füllte sein Glas auf. »Ich habe ganz vergessen, dir für den Talisman zu danken«, sagte ich. »Das war sehr nett von dir, wenn auch etwas beunruhigend, weil es die Gefahren, die um mich herum lauern, noch deutlicher macht. Ich will nicht leugnen, daß ich Angst habe, aber ich gebe nicht auf. Wenn wirklich etwas Ernsthaftes passiert, rufe ich dich an. Wo kann ich dich erreichen?« »Ich fahre mit Eloise zu den Barrachins nach Neuilly«, sagte er. »Wir sind sicher gegen eins zurück und kommen dann bei dir vorbei. Ich werde auf jeden Fall kommen. Eloise scheint dieses Haus nicht sonderlich zu mögen. Vielleicht war wirklich etwas an deinem Traum dran.« Sein Blick schweifte über die vergitterten Fenster und die abgeschlossenen Türen, jene Türen, die aufsprangen, wenn ein unsichtbarer Arm sie berührte. Als er weggefahren war, ging ich zum Abendessen aus. Ich beschloß, nicht ins Bett zu gehen, sondern zu lesen, bis Georges aus Neuilly zurückkam. Es war jetzt ein Viertel nach zehn. Die Geräusche begannen fast sofort: zuerst die eiligen Fußschritte im oberen Stockwerk, dann das Trappeln auf den Metallstufen der Wendeltreppe. Aber diesmal wurden sie von einem zielbewußten Schritt verfolgt, der den Flüchtling kurz vor dem Ende der Wendeltreppe einholte. Dann waren heisere, keuchende Atemzüge zu hören, und die Stimme des Mädchens gellte in wilder Panik auf, während ihre Fäuste heftig, aber vergeblich gegen den harten Körper des Angreifers hämmerten. »Nein, Edouard, nein!« Sie keuchte. Das Keuchen ging in ein gräßliches Gurgeln über, die Absätze der Schuhe trommelten verzweifelt auf den Fußboden, bis auch das abbrach und nur noch der rasselnde, schwere Atem eines erschöpften Mannes zu hören war. Er stöhnte etwas, als
ob er versuchte, sich eine schwere Last über die Schulter zu werfen, und wieder schwang die Tür zur Kellertreppe auf. Ich saß unbeweglich da und umklammerte die Sessellehnen. Vom Keller wehte ein kalter Luftzug herein, dann schlug etwas dumpf zu, wie eine Axt, die fünfmal – nein, sechsmal – herniedersauste. Stroh raschelte, als es beiseite geschoben wurde, dann ein mehrmaliger gedämpfter Aufschlag wie von Steinplatten, die aus dem Boden gestemmt wurden und umfielen. Nach einer geraumen Weile war wieder das Rascheln von Stroh zu hören, das an seinen alten Platz zurück gescharrt wurde. Jetzt eine kurze Pause, bevor die Schritte die Kellertreppe heraufkamen, und in diesem Augenblick erlosch das Licht, und tiefste Dunkelheit umgab mich. Ich war vor Furcht wie versteinert, und während ich auf die näherkommenden Schritte lauschte, schien es hinter der offenen Tür etwas heller zu werden, so daß ich die Silhouette des Kopfes, dann der Schultern und schließlich des Körpers eines hochgewachsenen Mannes erkennen konnte, der jetzt erschien. Seine Gestalt war von einem fahl phosphoreszierenden Schimmer umgeben, und ich sah, daß er ein in ein fleckiges Tuch eingeschlagenes Bündel trug, das er überaus vorsichtig mit beiden Händen festhielt. Die leuchtende Aura umgab ihn auch noch, als der Mann dicht an mir vorbeiging, und als er so nahe war, daß ich ihn hätte berühren können, wandte er langsam den Kopf und blickte direkt in meine Richtung. Seine Gesicht, bis zu diesem Moment nur ein verschwommener Fleck, wurde deutlich und scharf, wie ein Film, der vom Vorführer eingestellt wird, und seine Miene spiegelte eine Mischung aus Erschöpfung und Befriedigung wider. Es war grauenerregend. Durch das karierte Tuch des Bündels sickerte Blut und breitete sich in zähflüssigen Rinnsalen über seine behaarten Arme aus. Er starrte mich volle zehn Sekunden lang aufmerksam an und ging dann weiter. Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich mich so sehr gefürchtet. Ich sprang auf und stolperte von Panik getrieben durch die Finsternis und tastete mich zur Haustür, die ich krachend hinter mir zuwarf. Ich taumelte auf die Straße.
An einer Ecke des Boulevard Raspail war das Café, wo ich zu Abend gegessen hatte. Dorthin rannte ich. Meine Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse. Ich würde mich dort hinsetzen und auf Georges warten, der auf dem Weg zum Atelier an dem Café vorbeifahren mußte. Obgleich es mir vorkam, als ob dieses alptraumhafte Erlebnis eine Ewigkeit gedauert hatte, war es doch erst kurz nach elf Uhr, und ich wußte, daß ich Gelächter der Menschen und den Straßenlärm um mich haben mußte, um wieder zu spüren, daß ich ein ganz gewöhnlicher Mensch und ein Teil des Alltagslebens war. Ich wollte eine Tasse Kaffee und vielleicht einen Cognac trinken und auf Georges warten. Der Besuch in Neuilly mußte wohl eher beendet gewesen sein, als Georges gerechnet hatte, denn Mitternacht war noch nicht lange vorbei, als ich ihn sah. Er war in einer Fahrzeugkolonne eingekeilt, und während ich mich zwischen den wartenden Autos durchschlängelte, rief ich immer wieder seinen Namen. Er war allein, also hatte er wohl erst Eloise nach Hause gebracht. Die Stauung begann sich aufzulösen, und ich versuchte, die Kakophonie der Hupen zu übertönen. Er bemerkte mich, beugte sich zur Seite, um die Wagentür aufzumachen. Ich stieg ein und setzte mich neben ihn. Er warf einen einzigen erschrockenen Blick auf mich und sagte kein Wort, sondern fuhr geradenwegs zum ›Jongle‹. Es war noch nicht sehr voll, die meisten Gäste pflegten erst später zu kommen. Wir suchten uns einen Tisch, der so weit wie möglich von der Band entfernt war. Georges winkte einen Kellner heran und bestellte für mich Rühreier und einen Cognac mit Wasser und für sich selbst ein Bier. Er rückte seinen Stuhl zurück und steckte sich eine Zigarre an. »Nun, Peter?« fragte er. »Du bist ja ganz fertig. Was ist passiert?« Ich hatte mich etwas gefangen, während ich auf ihn gewartet hatte, und so war ich fähig, ihm einen mehr oder minder verständlichen Bericht zu geben. Er hörte zu, ohne mich zu unterbrechen, dann sagte er: »Du solltest machen, daß du von da wegkommst. Bei mir ist immer Platz für dich. Ich kann dir zwar nur ein Sofa anbieten, aber das sehr gern. Im übrigen glaube ich, daß Edouard Delouvrier dich nicht mehr stören wird.«
»Was ist damals wirklich geschehen?« fragte ich. »Du scheinst der einzige zu sein, der es weiß und sich daran erinnert. Du und natürlich auch Eloise.« »Ich habe versucht, dich zu überreden, Renés freundliches Angebot abzulehnen, aber du bist ja immer so bockig.« Er lächelte mich freundlich an. »Was ist geschehen?« wiederholte ich. »Was war in dem grausigen Bündel?« »Teile von Nicolle«, sagte er. »Was für Teile?« »Die Ohren«, sagte Georges, »und die Hände und Füße.« Ich nippte an meinem Cognac. »Delouvrier machte davon Gipsabdrücke, nach denen er diese… diese exquisiten kleinen Figuren modellierte.« »Wie er es schon früher getan hatte?« fragte ich. »War es das, was Nicolle meinte, als sie davon sprach, daß sie wohl zuviel wüßte und dabei auch ›die arme Kleine‹ erwähnte?« »Höchstwahrscheinlich«, sagte Georges. »Die früheren Figuren wurden nach Kindern modelliert.« Er legte die Zigarre in den Aschenbecher. »Es war die Verstümmelung von Nicolles Leiche, die ihn das Leben kostete«, fuhr er fort. »Andernfalls wäre er vielleicht mit einer kurzen Gefängnisstrafe weggekommen, wenn er gesagt hätte, daß es ein Mord aus Leidenschaft gewesen sei.« »Und wie wurde er entdeckt? Nicolle hatte doch niemanden, der sich dafür interessierte, was aus ihr geworden war.« Georges lächelte. »Es war Eloise«, sagte er, »die der Polizei ihren Verdacht mitteilte, nachdem auch sie einer anderen hatte Platz machen müssen. Natürlich durchsuchte man zuerst den Keller. Ich war überrascht, daß er so fantasielos gewesen war.« Georges trank einen Schluck Bier. »Selbst seine Hinrichtung ließ Eloise völlig kalt. In vieler Hinsicht ist sie eine sehr bemerkenswerte Frau. Sie hat einen barbarischen Zug an sich, und ich bin beinahe überzeugt davon, daß in ihren Adern Indianerblut fließt.« Wir blieben eine Stunde in dem Nachtklub. Als wir gingen, überraschte ich Georges mit der Ankündigung, daß ich ins Atelier zurück wollte. »Du
hast gesagt, daß jetzt für ein Jahr Ruhe ist, mit den Erscheinungen, meine ich. Also gibt es nichts mehr, wovor ich mich fürchten müßte.« Ich sprach mit einer Gelassenheit, die ich keineswegs hatte. »Ich rufe dich morgen an.« Er widersprach nicht und sagte nur, ich müsse das tun, was ich für richtig hielte. Ich wußte, daß ich lieber allein im Atelier bleiben als ständig Eloise in meiner Nähe haben wollte, die moralisch die Schuld daran trug, daß zwei Menschen sterben mußten, und in meinen Augen eine Doppelmörderin war. Vor diesem kalten, verschlossenen Gesicht würde ich niemals eine Niederlage eingestehen. Noch 13 Tage und Nächte lagen vor mir, und bis zur letzten Nacht war das Atelier so spukfrei wie ein Kindergarten. Der 24. September war mein Geburtstag. Es war außerdem der Tag meiner Abreise aus Frankreich. Am letzten Nachmittag packte ich meine beiden Koffer, verstaute die Bilder, die ich nach Hause mitnehmen wollte und die nur meine Mutter bewundern würde, in Kisten und schrieb einen Brief an René Chauvet, in dem ich mich für seine Gastfreundschaft bedankte. Ich erwähnte meine Erlebnisse mit keinem Wort. Das würde er noch früh genug von Georges und den anderen hören, und schließlich hatte er mich gewarnt. Ich war deprimiert, weil ein Kapitel meines Lebens dem Ende zuging, weil es eine Zeit gewesen war, die ich in vollen Zügen genossen hatte, und weil ich nie wieder jung genug sein würde, mich so spontan ins Abenteuer zu stürzen. Georges gab eine Abschiedsparty für mich. Wir wollten erst bei Prunier essen, dann in seiner Wohnung ein paar Drinks nehmen und den Abend mit einem letzten Besuch im ›Jongle‹ beenden. Außer Georges und mir selbst würden Toto und Leslie Hascombe, Barby Cranworth, Steve Barnsley, Paul Lorraine und die alte Madame de la Brue dabei sein, die sich so mütterlich meiner angenommen hatte, als ich in Paris ankam und keine Seele kannte. Wir fuhren sie gleich nach dem Essen nach Hause. Es war ein bittersüßer Abend. Als ich wieder ins Atelier zurückkehrte, kam es mir vor, als ob ich schon ausgezogen sei. Die beiden Koffer, der
eine geschlossen, der andere noch mit hochgeklapptem Deckel, redeten eine deutliche Sprache. Nur noch vier kurze Stunden. Das war alles, was mir geblieben war, bis der Zug Paris verließ. Renés Faktotum war aus ihrem Urlaub in der Bretagne zurück. Sie sollte mich um sieben Uhr wecken, dann würde sie das Trinkgeld einstecken, für das sie keinen Finger gerührt hatte und anschließend gründlich aufräumen. Sie war eine mürrische, fleißige Frau mit einem prächtigen Schnurrbart. Als der Morgen heraufdämmerte, sah ich Edouard Delouvrier und Nicolle Lavarre noch einmal. Es war, als ob vor mir ein Stummfilm ablief. Edouard kauerte auf der obersten der drei Stufen, die zu der Nische unter dem Halbboden führte, und hatte die Arme auf die Knie gelegt. Er war nackt, seine Arme hörten an den Handgelenken auf, seine Beine an den Fußgelenken. Auf jeder Seite des Kopfes, wo einstmals die Ohrmuscheln gewesen waren, befand sich ein gezacktes Loch. Er saß da wie eine Statue. Ich verspürte weder Entsetzen noch Unbehagen, denn ich wußte, daß ich für ihn nicht existierte. Ich war nur ein Zuschauer. Dann erschien Nicolle. Sie trug ein Nachthemd, das ihre vollendet geformten Arme und die schlanken Füße freiließ. Ich erinnere mich, daß mir ihre langen zarten Finger auffielen, als sie neben Edouard niederkniete. Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre wunderschönen Hände und küßte ihn zärtlich, und ihre Augen waren voller Tränen, als sie die Armstümpfe streichelte. Sie sah so lieblich aus, wie eine rassige Zigeunerin, und ich konnte gut verstehen, daß Eloise eifersüchtig auf sie gewesen war. Und während ich noch hinausschaute, verschwamm das erst so deutliche Bild, und die Gestalten lösten sich auf, bis nichts mehr auf den Stufen zu der Nische zu sehen war als die beiden gedrungenen BronzeBuddhas, die immer dort standen.
L. A. C. STRONG
Danse Macabre »Tanzen Sie nicht?« fragte Mr. Mangan. »Selten«, antwortete ich. »Man hat mir dringend abgeraten.« »Wer hat Ihnen abgeraten?« »Meine weibliche Verwandtschaft.« Mr. Mangan ließ das Thema ohne Kommentar fallen, offenbar war er nicht neugierig darauf, mich tanzen zu sehen, er hatte die Frage nur aufgeworfen, um seine Reminiszenzen dran zu knüpfen. »Sie sind doch ein guter Beobachter, manchmal ein zu guter, will mir scheinen. Haben Sie sich den alten Flanagan jemals genauer angesehen?« »Sie meinen den Ladeninhaber unten im Dorf?« »Ja – wen sonst soll ich denn meinen?« Mr. Mangan stopfte sich die Pfeife und zündete sie an. Vor ungefähr dreißig Jahren, begann er, war dieser Flanagan ein verflucht hübscher Bursche und hat sich, weiß Gott, in den zehn Kirchsprengeln der ganzen Umgebung gründlich ausgetobt. Elegant war er, bis zum Exzeß, Geld hinausgeworfen hat er wie ein Lord, und alle Mädchen in der Gegend waren verrückt nach ihm. Gut aufgelegt war er von früh bis spät, getanzt hat er wie ein Gott, bei jedem Pferderennen war er dabei, ja, und Glück beim Wetten hat er auch gehabt. Mit Hilfe einer ganzen Serie von hohen Gewinnen hat er sich schließlich in der Eisenbranche eine Position gemacht. Eines Abends war ein Rot-Kreuz-Ball oben im Schulhaus. Meine Frau und ich waren auch dort, aus gesellschaftlichen Gründen, und natürlich war das etwas, wo der junge Flanagan nicht fehlen durfte, in einem Abendanzug, dem man seinen teuren Preis ansah, und mit Handschuhen, und er sah wirklich verdammt gut aus darin. Er tanzte mit einem Dutzend Mädchen, ganz gleich, wer es war, und die Mütter saßen an der
Wand aufgereiht und ließen sie nicht aus den Augen, wie lauter alte Gluckhennen ihre Küken, wenn sie flügge werden. Auf dem Podium, wo sonst der Lehrer saß, hatten wir eine Art Bartheke improvisiert, dort gab es Eis, Mineralwasser, Tee und solches Zeug. Na, und die besseren Leute, die Intelligentsia, die brauchten ja bloß zur Hintertür hinauszuschleichen und ein Stück den Heckenweg hinaufzugehen ins Gasthaus ›Zur Postkutsche‹. Meine Frau stand hinter der Bar und teilte aus, und ich wußte nicht recht, was ich da verloren hatte, außer, daß ich den jungen Leuten den Platz wegnahm. Aber auf einmal entdeckte ich ein ganz unbekanntes Gesicht. Ich hatte gedacht, jeden im Ballsaal zu kennen, ausgenommen diese großstädtisch wirkende, anmutige weibliche Schönheit, die soeben erst gekommen war. Ich weiß nicht, wie ich sie Ihnen beschreiben soll, irgendwie sah sie aus wie ein Bild von Burne-Jones – eine präraffaelitische Schönheit, wissen Sie, wie die rührseligen Maler jener Epoche sie mit Vorliebe gemalt haben, als Wasserleiche, die in einem grünlichen Sumpftümpel auf dem Rücken treibt, oder wie sie sich dutzendweise in wallenden Nachtgewändern über endlose Stiegenhäuser hinaufranken. Das Mädchen hatte ein langes Kleid an, Flor oder dergleichen, und eine falsche Perlenkette um den Hals. Sie trug goldene Schuhe mit hohen Absätzen, und, ehrlich gesagt, ich fand, daß sie ein bißchen altmodisch wirkte. Sie lehnte am anderen Ende der Bartheke und schien etwas atemlos, aber ich hatte sie nicht tanzen gesehen. Ich drängte mich durch bis zu meiner Frau. »Wer ist eigentlich das hübsche Mädchen dort?« fragte ich sie. »Die mit dem gelben Kleid. Dort drüben – schau…« Meine Frau warf einen kurzen Blick hinüber und goß weiter Tee ein. »Hör mir zu«, sagte sie verkniffen. »Das ist eine ehrenhafte Veranstaltung zugunsten des Roten Kreuzes, dem soll der Reingewinn gehören und nicht dem Wirtshaus ›Zur Postkutsche‹.« Hier mitten unter den Leuten wollte ich nicht mit ihr streiten, das ging nicht. Aber ich war richtig wütend auf sie, sie bringt mich oft ganz schön in Wut.
Daß ich stocknüchtern war, das kann ich beschwören. Ich sah das Mädchen ganz deutlich vor mir stehen, das war keine Halluzination. Daher beschloß ich, sie einfach anzusprechen, ich wollte hingehen und sagen, unterhalten Sie sich gut, Fräulein, oder fragen, ob ich ihr etwas zu trinken bringen soll. Meine Frau mochte ruhig zusehen – um so besser. Geschah ihr ganz recht. Aber ehe ich bis zu dem Mädchen durchkam, stürzte sich schon der junge Flanagan auf sie wie der Blitz, mit seinem strahlenden Lächeln, und im Handumdrehen schwenkte er sie schon im Kreis herum, zu den Klängen des ›Schicksals-Walzers‹. Ich sah ihnen zu, wie sie über das Parkett walzten, das Mädchen und der junge Flanagan, und er lachte und redete in einem fort und beugte sich tief zu ihr herunter, und sie schien halb und halb einverstanden, allerdings sah sie aber dabei aus – damals dachte ich, das bildest du dir sicher nur ein –, als sei sie in Gedanken weiß Gott wo, nicht hier und heute, sondern bei anderen durchtanzten Nächten von früher, mit anderen Partnern, anderen Walzermelodien. Hinterher läßt sich nie so genau unterscheiden, woran man sich wirklich erinnert und was man später dazugemacht hat, weil man inzwischen allerhand weiß. Als der Abend fortschritt, war ich sehr mit der Erfüllung meiner Repräsentationspflichten beschäftigt, und so verlor ich das Mädchen aus den Augen. Ich sah die beiden erst wieder, als die Tanzerei zu Ende war. Es gab damals hier im Dorf nur zwei Autos, das eine lebt immer noch – es gehört dem Bäcker Sheehy. Der andere Wagen gehörte dem jungen Flanagan, eine knallrote, auffallende Lärmmaschine, die er um fünfundsiebzig Pfund aus zweiter Hand in der Stadt gekauft hatte. Ich drehte noch die Lichter aus, und als ich danach aus dem Klassenzimmer kam, sah ich Flanagan mit seiner Dame, die neben ihm saß, gerade noch mit Vollgas losbrausen, wie Gewehrsalven und Donner gleichzeitig, und er warf dabei den schönen Kopf zurück und lachte laut und dröhnend. Kennen Sie die Straße von hier bis zur Stadt? Doch? Nun, dann kennen Sie sicher auch den kleinen Friedhof ganz oben auf der Hügelkuppe: nichts als ein paar Grabsteine und ein verrostetes Eisengitter. Sie haben sich sicherlich in Ihrer Ahnungslosigkeit gefragt, warum man gerade dort oben einen Friedhof angelegt hat. Nun, das nennt man bäuerliche Spar-
samkeit, mein Bester. Es bringt ohnedies nichts ein, wenn man auf so einem Steinhaufen ackert und Speckrüben oder Kartoffeln anbaut, aber zum Abhauen, wenn der Engel Gabriel ins Horn stößt, ist das kein unpraktischer Ort. Also zurück zu Flanagan. Ich habe ihn nach dem Ball zehn bis vierzehn Tage lang nicht gesehen. Hinterher hab ich erfahren, daß er zur Abwechslung einmal in der Stadt war, um sich zu amüsieren, und der Spaß dürfte nicht von schlechten Eltern gewesen sein, denn er kam erst nach einer Woche wieder, und zwar ohne den roten Wagen und für alle Zeiten restlos ernüchtert. Er kaufte sich das Geschäft, das er jetzt noch hat, und wurde ein seriöser Kaufmann. Anscheinend bekam ihm das aber gar nicht gut: Es dauerte nicht einmal ein Jahr, da redeten schon alle davon, wie sehr er sich äußerlich verändert habe. Er hatte nicht nur graue Haare bekommen, sondern richtig weiße, sein Gesicht sah gelb und faltig aus wie die Lippen am Hals eines Truthahns, man konnte es geradezu mitansehen, wie seine Schönheit sich verflüchtigte, und weiß Gott, jetzt, wo er finanziell als eine wirklich gute Partie galt, bestand überhaupt keine Gefahr mehr, daß er jemals heiraten würde. In zwei bis drei Jahren entwickelte er sich zu einem emsigen, ausschließlich fürs Geschäft lebenden Kaufmann. Dann hatten wir hier im Dorf vier Fälle von Typhus, und er war einer davon. Es waren die einzigen Typhusfälle hier, an die ich mich erinnern kann. Und er war der einzige von den vieren, der es überlebte. Sie können mir glauben, schöner ist er durch die Krankheit auch nicht geworden. Und jetzt hören Sie gut zu, jetzt erzähle ich Ihnen etwas. Sie kennen doch Mrs. Managan, meine Frau, darum werden Sie mir bestätigen, daß ich nicht voreingenommen bin, wenn ich behaupte, sie ist überglücklich, wenn sie einen armen Teufel hat, dem sie helfen kann, weil er sich selbst nicht zu helfen weiß. Jedenfalls, Flanagan befand sich bereits außer Lebensgefahr nach dem Typhus, aber er war sehr schwach, und da er niemanden hatte, der ihn gepflegt hätte, sah es aus, als würde er das Rennen nicht machen. Da überredete ihn meine Frau, für eine Weile zu uns zu ziehen und sich zu schonen und herumzufaulenzen, bis er sich erholt habe; und sie hatte auch einen Vetter, einen Burschen mit einem roten Bart, der so lang war wie Ihr Arm, und der hatte im Kolonialwarenhandel gearbeitet und sich etwas auf die Seite gelegt und sich vom Geschäft
zurückgezogen, um sein Leben zu genießen – wenn man davon absieht, daß er ein armseliger Wicht war, der überhaupt nichts genießen konnte; und den überredete sie nun, herzukommen und sich um Flanagans Geschäft zu kümmern, solange er pausieren mußte. In diesem Sinne machte sich also der Vetter daran, vier Posten von Zinntellern loszuwerden, auf denen Flanagan sitzengeblieben war, Ladenhüter, seit er das Geschäft eröffnet hatte. Der lange Rotbärtige schickte sie weg und ließ sie weiß emaillieren, dann dekorierte er das ganze Schaufenster über und über damit und bot sie für Sixpence pro Stück an, und weiß Gott, in einer Woche war keiner der Teller mehr zu haben. Aber Flanagan. Meine Frau mästete ihn wie einen Preisboxer, und nach sechs Wochen war er wieder auf den Beinen und konnte ausgehen und in meinem Eselkarren an die frische Luft fahren. Der Esel mußte sich mehr plagen, als er gewohnt und bereit war zu ertragen, aber er wurde trotzdem fett wie ein Faß. Wieso, konnte ich nicht verstehen. Dann kam ich darauf, daß sich Flanagan Karotten und Äpfel und Zuckerstangen kaufte und sie mitnahm auf seine Ausfahrten, und damit fütterte er den Esel. Es war ein Herbstabend, und wir saßen ums Feuer am Kamin, die Frau und ich und Flanagan, und der starrte mit seinen riesengroßen, verträumten Augen in die Vergangenheit. In der Zeitung war irgend etwas gestanden über einen Brand bei einem Ball, und plötzlich fängt meine Frau an, mit ihm zu reden, ohne von ihrer Näharbeit aufzusehen. »Sagen Sir mir eins, Mr. Flanagan«, sagt sie. »Ich hab oft darüber nachgedacht. Mangan, der hat doch behauptet, daß Sie damals nach dem letzten Rot-Kreuz-Ball davongefahren sind mit einem hübschen Mädchen in gelb. Er behauptet fest und steif, daß er sie mir damals gezeigt hat, aber ich schwöre, ich dachte damals, daß er heimlich im Gasthaus ›Zur Postkutsche‹ war.« Flanagan saß stocksteif da, während sie das sagte. Dann entspannte er sich und stieß einen langen Seufzer aus. »Ich bin froh, Mrs. Mangan, daß Sie mich fragen. Vielleicht fühle ich mich leichter, wenn ich es einmal jemandem sage. Es stimmt, sie und ich waren die ganze Nacht beisammen. Ich habe viel mit ihr getanzt. Sie war merkwürdig und geistesabwesend, aber sie regte mich auf, weil sie so
anders war als alle Mädchen, die ich vorher gekannt hatte. Anfangs war sie so ausweichend und unbestimmt, daß ich mich schon fragte, ja, Gott verzeih mir, ich glaubte schon, sie wolle nicht recht, weil sie schon einen anderen im Kopf habe. Ich fragte nach ihrem Namen und ihrer Adresse, und die gab sie mir auch: Maud Gillie hieß sie und wohnte in – ja, ist ja egal. Ich war verletzt und angestachelt, weil ich das nicht gewöhnt war, daß mich eine einfach so links liegen ließ, und als der Tanz vorbei war, fragte ich, ob ich sie heimfahren dürfe. Ja, sagte sie nur, ja; sozusagen achselzuckend. Nun, ich verstaute sie in meiner Karre, und wir fuhren los. Sie sagte kein Wort. Nachdem wir so vielleicht zehn Minuten lang im weißen Mondlicht gefahren waren, bei dem Hügel dort in Finstown, kurz vor dem Friedhof, wandte sie sich mir zu. ›Lassen Sie mich hier aussteigen‹, sagte sie. ›Wir sind noch nicht daheim‹, sagte ich. Ich glaubte, sie sei fast eingeschlafen. ›Bitte, lassen Sie mich hinaus‹, sagte sie. ›Was?‹ sagte ich. ›Hier beim alten Friedhof?‹ ›Lassen Sie mich augenblicklich aussteigen‹, sagte sie, ›oder ich gehe.‹ Ihre Stimme hatte so verkrampft geklungen, daß ich sofort an den Rand fuhr. Ich dachte, vielleicht ist ihr schlecht geworden. Wir waren direkt vorm Friedhofstor angekommen. Ich sprang hinaus und lief um den Wagen herum, um die Tür aufzumachen und sie herauszulassen. Und da hab ich sie, vielleicht drei Sekunden lang, nicht länger, aus den Augen gelassen. Und, Sie werden’s mir nicht glauben, und Sie auch nicht – aber als ich auf der anderen Seite des Wagens ankam und aufmachen wollte, war der Wagen leer.« Meine Frau und ich starrten ihn nur an, und mir lief es kalt über den Buckel. »Leer«, wiederholte er. »Da war der Sitz, vom Mondlicht bedeckt, und kalt. Ich schaute mich überall um. Keine Spur, kein Laut. Maud Gillie war weg. Verschwunden. Verdunstet. Wie lange ich dort stand, starr wie ein Erfrorener, das weiß ich nicht. Schweigen. Klares, eisiges Mondlicht. Ich meinte den Verstand verloren
zu haben. Ich sagte mir, da muß es doch irgendeine Erklärung geben. Dann sprang ich in den Wagen und raste wie ein Verrückter in die Stadt. Ich fuhr zu der Anschrift, die sie mir gegeben hatte, und läutete heftig, aber kein Mensch kam. Halb wahnsinnig machte ich mich auf die Suche nach einem Hotel. Ich fand eines, das spärlich beleuchtet war, parkte den Wagen davor und bekam ein Zimmer. Aber ich schwöre Ihnen, ich fand keinen Schlaf. Die ganze Nacht lang warf ich mich ständig herum und zitterte. So kam der Morgen, mit einem feinen, melancholischen Regen – so regnet es oft bei Begräbnissen. Ich brachte das Frühstück nicht hinunter. Ich wartete, bis es ohne Aufsehen möglich schien, zu dem Haus zu gehen, wo Maud Gillie wohnte. Ich läutete und läutete und klopfte und klopfte. Endlich kam ein schlampig aussehendes Mädchen an die Tür und öffnete, aber sie bezeigte keine Lust, mich hineinzulassen. Während wir noch auf der Türstaffel miteinander verhandelten, kam eine ältliche Frau durch die Halle herab, in einem schäbigen, vor Alter stumpfen schwarzen Kleid. Um den Hals trug sie einen fettigen Schal. ›So, und was wünschen Sie hier, junger Mann?‹ fragte sie. ›Um diese frühe Stunde!‹ ›Sie sind Mrs. Gillie, gnädige Frau, nicht wahr?‹ ›Allerdings. Und was weiter, bitte sehr?!‹ Ich berichtete von dem Ball und sagte, daß ich ihre Tochter heimfahren wollte, die mir aber unterwegs, weiß Gott wie, abhanden gekommen sei. ›Sie hat mich ersucht, sie in Finstown beim Friedhof abzusetzen, Madam. Und ich habe sie nicht mehr finden können. Ich war sehr besorgt. Ich – darum bin ich hergekommen, ich wollte sehen, ob sie nicht wie durch ein Wunder doch heimgefunden hat.‹ Dann aber wich ich schleunigst ein Stück zurück, denn die ergrimmte alte Dame war so dicht an mich herangetreten, daß wir fast Brust an Brust standen. Ihr Gesicht war verzerrt und sah erschreckend aus. Sie gab ein dünnes, schrilles Wimmern von sich, wie ein Kaninchen, das von einem Hermelin gebissen wird. ›Hinaus mit Ihnen, Sie teuflischer junger Spitzbube!‹ schrie sie mich an.
›Aber gnädige Frau, gnädige Frau!‹ Ich stolperte rückwärts die Treppe hinunter. ›Verzeihen Sie. Ich wollte doch nur fragen, ob Ihrer Tochter nichts zugestoßen ist!‹ ›Nichts zugestoßen! Was heißt, zugestoßen!‹ Sie ging mir nach bis hinaus und blieb auf der obersten Türstufe stehen. Ich sah, wie der Regen auf ihr schwarzes Kleid fiel. ›Eine feine Tochter war das, die mit ihrer ewigen Tanzerei und ihren Liebesaffären! Ich hab ihr immer gesagt, sie würde es büßen müssen. Sie ist gestorben, junger Narr, bei einem Autounfall, einer besoffenen Geschichte, ums Leben gekommen, und ich hab sie in Finstown auf dem Friedhof begraben. Und jetzt hinaus mit Ihnen, sonst hol ich die Polizei!‹ Ich machte, daß ich wegkam«, sagte Flanagan zu uns. »Den Wagen hab ich verkauft und das Geld durchgebracht, auf eine Weise, für die ich mich heute noch schäme: Ich mußte aber vergessen, ich glaube, sonst hätte ich den Verstand verloren. Da, sehen Sie mein Haar an, Mrs. Managan. Das hat mir diese eine Nacht eingebracht. Ich bin nie mehr derselbe Mensch geworden. Aber ich bin froh, daß ich es Ihnen erzählt habe. Sie sind so gut zu mir gewesen, eine Seele von einem Menschen sind Sie. Und ich bin fast wieder gesund. Vom nächsten Montag an werde ich dann wohl in der Lage sein, Ihren Vetter zu entlasten, Mrs. Managan. Doch jetzt fühle ich mich müde, und ich möchte gern zu Bett gehen, wenn Sie gestatten.« »Er ging hinauf«, sagte Mr. Managan, »und ließ uns beide dasitzen, und wir starrten über den Kamin hinweg einer den anderen an. Übrigens – kommen Sie auch nächste Woche zu dem Ball? Nicht wahr, Sie kommen!«