Andreas Hadjar (Hrsg.) Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten
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Geschlechtsspezifische B...
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Andreas Hadjar (Hrsg.) Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten
Andreas Hadjar (Hrsg.)
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt / Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Layout: Joëlle Arensdorff, Luxemburg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17288-0
Inhaltsverzeichnis
Andreas Hadjar Einleitung .............................................................................................................. 7 Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten im Überblick Andreas Hadjar/Joël Berger Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa: Die Bedeutung des Bildungs- und Wohlfahrtsstaatssystems .............................. 23 Rolf Becker/Walter Müller Bildungsungleichheiten nach Geschlecht und Herkunft im Wandel ................... 55 Sandra Hupka-Brunner/Robin Samuel/Evéline Huber/Manfred M. Bergman Geschlechterungleichheiten im intergenerationalen Bildungstransfer in der Schweiz ..................................................................................................... 77 Markus Lörz/Steffen Schindler Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Übergang ins Studium .................... 99 Auf der Suche nach Ursachen Gudrun Quenzel/Klaus Hurrelmann Entwicklungsaufgaben und Schulerfolg: Stehen geschlechtsspezifische Bewältigungsmuster hinter dem Bildungserfolg von Frauen? .......................... 125 Heinz Leitgöb/Johann Bacher/Norbert Lachmayr Ursachen der geschlechtsspezifischen Benachteiligung von Jungen im österreichischen Schulsystem ...................................................................... 149 Judith Lupatsch/Andreas Hadjar Determinanten des Geschlechterunterschieds im Schulerfolg: Ergebnisse einer quantitativen Studie aus Bern ................................................ 177 Elisabeth Grünewald-Huber/Stefanie Gysin/Dominique Braun Wie inszenieren sich Schülerinnen und Schüler im Unterricht? Ergebnisse aus den qualitativen Daten einer Berner Studie .............................. 203
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Inhaltsverzeichnis
Martin Neugebauer Werden Jungen von Lehrerinnen bei den Übergangsempfehlungen für das Gymnasium benachteiligt? Eine Analyse auf Basis der IGLU-Daten............... 235 Dirk Baier/Christian Pfeiffer Mediennutzung als Ursache der schlechteren Schulleistungen von Jungen ........................................................................................................ 261 Tina Hascher/Gerda Hagenauer Wohlbefinden und Emotionen in der Schule als zentrale Elemente des Schulerfolgs unter der Perspektive geschlechtsspezifischer Ungleichheiten .................................................................................................. 285 Rebecca Lazarides/Angela Ittel Soziale und individuelle Bedeutungsfaktoren für mathematisches Fachinteresse und geschlechtsspezifische Varianzen ........................................ 309 Rückblicke auf die Debatte um geschlechtsspezifische Ungleichheiten und den Bildungsmisserfolg der Jungen Heike Diefenbach „Bringing Boys Back in“ revisited: Ein Rückblick auf die bisherige Debatte über die Nachteile von Jungen im deutschen Bildungssystem............. 333 Becky Francis/Christine Skelton Geschlecht und Bildungserfolg – Eine Analyse aus der Perspektive der Feminist Theory .......................................................................................... 367 Hannelore Faulstich-Wieland Werden tatsächlich Männer gebraucht, um Bildungsungleichheiten (von Jungen) abzubauen? .................................................................................. 393 Regula Julia Leemann/Christian Imdorf Zum Zusammenhang von Geschlechterungleichheiten in Bildung, Beruf und Karriere: Ein Ausblick ................................................... 417 Elisabeth Grünewald-Huber Was können wir aus den Befunden lernen? Empfehlungen für Lehrpersonen, Lehrpersonenausbildende und die Bildungspolitik .............. 441 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren.......................................................... 449
Einleitung Andreas Hadjar
Der wissenschaftliche Diskurs um geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten hat sich – parallel zu strukturellen Entwicklungen, die zu einem Abbau geschlechtsspezifischer Ungleichheiten beigetragen haben – in den letzten Jahren stark gewandelt: weg von einer geringeren Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen, hin zur Benachteiligung der Männer im Bildungssystem. Der geringere Bildungserfolg von Schülern – im Hinblick auf Bildungszertifikate, Schulnoten oder Leistungstests – ist zum viel beachteten Thema geworden. Davon zeugen Thematisierungen von „angeknacksten Helden“, „Jungenkatastrophe“ oder Männer überholenden „Alpha-Mädchen“ (Der Spiegel). Es stehen verschiedenste Erklärungsansätze in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion, die oftmals mehr oder weniger ad-hoc in den Raum gestellt wurden. Die einen fokussieren dabei das Aufholen der Mädchen, die anderen den Bildungsmisserfolg der Jungen. Inzwischen gibt es auch eine ganze Reihe empirischer Befunde zu geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten, die einige der diskutierten Hypothesen stützen und andere widerlegen. Dieser Sammelband zielt darauf, einen aktuellen Überblick über den sozialwissenschaftlichen Stand der Forschung anhand ausgewählter empirischer Befunde zu geben. Der abschließende Teil des Buches enthält Rückschauen auf die Debatten um Geschlechterunterschiede aus unterschiedlichen Perspektiven. Im Rahmen dieser Einleitung, die mit Absicht kurz gehalten ist, um zu starke Überschneidungen mit den einzelnen Beiträgen zu verhindern, sollen zunächst anhand aktueller Zahlen die Geschlechterunterschiede im Bildungserfolg beschrieben werden. Dann wird auf einige derzeit diskutierte Ursachenfaktoren eingegangen. Schließlich werden der Aufbau und die Beiträge dieses Buches kurz dargestellt.
Die Ausgangslage Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten manifestieren sich aktuell in einer geringeren Chance von Jungen, höhere Schulformen der Sekundarbildung zu besuchen, oder in schlechteren Schulnoten der Jungen. Während hinsichtlich der Bildungsübergänge und der Schulleistungen Jungen klar benachteiligt erA. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
scheinen, sind die Geschlechterunterschiede in den Kompetenzen, die im Rahmen der PISA-Studien gemessen wurden, geringer ausgeprägt. Beachtet werden muss auch das Schulfach: Mädchen haben einen klaren Vorsprung in den Leseund Sprachkompetenzen – den sie offenbar bereits seit längerem haben. Jungen hingegen weisen bessere Fähigkeiten in Mathematik auf (vgl. u.a. Baumert et al. 2001 für Deutschland oder Zahner Rossier 2004 für die Schweiz). Neben der in diesem Buch fokussierten vertikalen Dimension von Geschlechterungleichheiten im Bildungssystem sind aber auch horizontale Ungleichheiten zu beachten, die sich in geschlechterdifferentiellen Präferenzen in der Fächer-, Berufs- und Studienfachwahl manifestieren. Beispielhaft soll nun die aktuelle Ausgangslage anhand den Befunden des Jahresgutachtens des Aktionsrats Bildung von 2009 (Blossfeld et al. 2009) zu Geschlechterdifferenzen im deutschen Bildungssystem skizziert werden, dass zu den aufeinander folgenden Bildungsphasen Stellung nimmt. Hinsichtlich der vorschulischen Bildung im Kindergarten sind noch keine Geschlechterunterschiede in der Beteiligung an formellen und informellen Bildungsangeboten feststellbar. Allerdings ist auf Verhaltens- und Interessenunterschiede zwischen Jungen und Mädchen bereits vor dem Primarschulalter zu verweisen, die aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Resultat geschlechtsspezifischer Sozialisation – u.a. auch geschlechtsspezifischer Erziehungspraxen der Eltern und Erziehenden für Kleinkinder – sind. Jungen erweisen sich als aggressiver und weniger kreativ als Mädchen, sie interessieren sich stärker für Fahrzeuge und weniger für Puppen. Auf der Primarstufe (Grundschule) konstatiert der Bericht von Blossfeld et al. (2009: 79-94) geschlechtsspezifische Einschulungsquoten. Jungen werden häufiger als Mädchen verspätet eingeschult. Mehr Mädchen als Jungen werden vorfristig eingeschult. Es zeigt sich bereits im 4. Schuljahr ein geringer Leistungsvorsprung der Mädchen gegenüber den Jungen bei den Leseleistungen. In Mathematik und Naturwissenschaften schneiden in den IGLULeistungstests (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) wiederum Jungen etwas besser ab als Mädchen. Der Aktionsrat Bildung weist für den Übergang von der Grundschule in die Sekundarschule in Deutschland auf eine deutliche Benachteiligung der Jungen hin: „Diese müssen für eine Gymnasialempfehlung eine höhere Leistung erbringen als Mädchen. Dies führt zu einer ungerechten Verteilung der Mädchen und Jungen auf weiterführende Schulen. Jungen sind in Gymnasien unterrepräsentiert und in der Hauptschule überrepräsentiert“ (Blossfeld et al. 2009: 15). Bei den Schulabbrechenden, die die Schule ohne Abschluss verlassen, finden sich ebenfalls mehr Jungen als Mädchen. Wenngleich Geschlechterunterschiede in den Leistungen und Kompetenzen auf Sekundarniveau geringer sind als die Unterschiede im Schulerfolg, d.h. hinsichtlich der Schulnoten oder erfolgreicher Bildungsübergänge, sind sie doch von
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großer Bedeutsamkeit: In der Lesekompetenz weisen Leistungstests wie PISA, IGLU oder die TIMSS-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study) einen klaren Vorteil für Mädchen aus, in den Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaften besteht ein – geringerer – Leistungsvorsprung für die Jungen. Ein geringerer Bildungserfolg von Jungen zeigt sich beim Übergang von der Sekundarschule in die Berufsausbildung. Da Jungen schlechtere Sekundarschulabschlüsse aufweisen und häufiger als Mädchen ohne Abschluss auf den Ausbildungsmarkt kommen, erleben sie in Deutschland seltener als Mädchen einen reibungslosen Übergang in die Berufsausbildung und müssen häufiger Übergangsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Starke horizontale Geschlechterunterschiede (Stichwort: Geschlechtersegregation) zeigen sich beim Blick auf die immer noch stark geschlechterdifferentiell geprägte Berufswahl. Die Folgen davon, dass – aus geschlechterdifferentiellen Kosten-NutzenAbwägungen heraus, aber auch in Orientierung an traditionellen Rollenbildern – Mädchen „weibliche“ Dienstleistungsberufe anstreben und Jungen technische Berufe, zeigen sich auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. So sind für viele Mädchen, die überlaufene, weiblich konnotierte Dienstleistungsberufe (z.B. Friseuse) anstreben, Phasen der Arbeitslosigkeit bereits vorprogrammiert, während es in typisch männlichen Berufen oftmals zu wenige Bewerber gibt (Blossfeld et al. 2009: 16). Im deutschen Hochschulsystem zeigt sich erst seit kurzem die Tendenz, dass es mehr Studienanfängerinnen als -anfänger gibt. Dies gilt jedoch nicht für wissenschaftliches Personal. Hier zeigt sich weiterhin eine „leaky pipeline“ (Leemann et al. 2010): Mit jedem weiteren Schritt in der Hierarchie vergrößert sich die Überrepräsentation der Männer gegenüber der Frauen. Auf der Stufe der Ordinarien sind Professorinnen weiterhin stark untervertreten. Wie Schubert und Engelage (2010) zeigen, scheint sich aber hier ebenso ein langsamer Abbau von Geschlechterungleichheiten abzuzeichnen. Auch bei der Studienfachwahl lösen sich die Geschlechterunterschiede nur langsam auf. Frauen sind weiterhin stark übervertreten in pädagogischen Fächern, in technischen Fächern gibt es weiterhin mehr Männer als Frauen. Frauen folgen offenbar bei der Studienfachwahl nicht nur Geschlechterstereotypen, sondern achten zudem auf die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie (Franzen et al. 2004), was wiederum geschlechtsspezifische Bildungsrenditen – geringere Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten bei Frauen – zur Folge hat (Blossfeld et al. 2009). Bei der Beschreibung aktueller Bildungsungleichheiten ist immer wieder zu betonen, dass diese in den letzten Jahrzehnten einem rapiden Wandel unterworfen waren. Noch vor zwanzig Jahren bestanden über den gesamten Bildungsverlauf hinweg Bildungsungleichheiten zu Ungunsten von Frauen (vgl. Hadjar und Berger 2010). Die vertikalen Geschlechterunterschiede haben sich über die letzten 50 Jahre aufgelöst und in vielen Ländern sogar umgekehrt. Dies nicht
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Einleitung
zuletzt wegen eines sich wandelnden Frauenbildes, aber auch als Folge neuer Erfordernisse des Arbeitsmarktes (Hecken 2006) sowie neuer Anreize für Frauen, in Bildung zu investieren. Während vertikale Unterschiede in der Bildungsbeteiligung zum Nachteil der Frauen europaweit reduziert wurden, erweisen sich horizontale Geschlechterunterschiede – Fächersegregation bei der Berufsund Studienwahl – von stärkerer Persistenz (Müller et al. 1997: 217).
Auf der Suche nach Ursachen Werden die diskutierten Ursachenfaktoren geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in Betracht gezogen, kristallisieren sich verschiedene Aspekte heraus. Die frühere mangelnde Bildungsbeteiligung von Frauen wird meist humankapitaltheoretisch (Becker 1964) damit begründet, dass eine Bildungsinvestition in Frauen nicht sinnvoll sei, wenn sie ihr Humankapitel später – zu Gunsten familialer Reproduktionsaufgaben – nicht in Einkommen und Status umsetzen. Im Hinblick auf die Geschlechtersegregation, d.h. die geschlechtstypischen Präferenzen bei der Berufs- und Studienfachwahl, werden unterschiedliche Interessenbereiche von Mädchen und Jungen thematisiert, die verknüpft sind mit geschlechtsspezifischen Selbstbildern bzw. Einschätzungen der Leistungsfähigkeit in bestimmten Fächern (vgl. Köller et al. 2000). Interessen, Wahrnehmungen über die Sinnhaftigkeit von Bildungsinvestitionen und das Selbstbild scheinen wiederum mit im Zuge der geschlechtsspezifischen Sozialisation erworbenen Rollenbildern verbunden zu sein (Jonsson 1999), die teilweise im Unterricht reproduziert werden (Dick 1991). Aber auch die Wahrnehmung der Benachteiligung von Frauen auf dem Ausbildungsmarkt (Borkowsky 2000) oder dem Arbeitsmarkt – Stichwort: statistische Diskriminierung – ist von Belang für die Bildungsentscheidungen von Frauen (Hecken 2006). Die aktuelle Diskussion um den Bildungsmisserfolg der Jungen kreiste von Beginn an um die Lehrperson bzw. deren Geschlechtszugehörigkeit. In Reaktion auf die Befunde von Diefenbach und Klein (2002), dass in allen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland Jungen gegenüber Mädchen Nachteile bezüglich der erreichten Sekundarschulabschlüsse haben, dies aber in unterschiedlichem Ausmaß, und dass in Bundesländern mit einem hohen Anteil an Primarschullehrerinnen der Geschlechterunterschied im Hinblick auf die Sekundarschulabschlüsse zu Ungunsten der Jungen stärker ausgeprägt ist als in Bundesländern mit niedrigerem Anteil an Primarschullehrerinnen, wurde in der Öffentlichkeit der Ruf nach mehr Lehrern für die Primar- und Sekundarstufe I laut. Die Idee dahinter ist, dass einerseits Lehrerinnen das Jungenverhalten anders wahrnehmen und sanktionieren würden als ihre männlichen Kollegen, was
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einer bewussten oder unbewussten subtilen Diskriminierung gleich käme. Andererseits wird in diesem Zusammenhang aber auch das Fehlen männlicher Rollenvorbilder beklagt, das als Ursache einer Krise der Jungen angesehen wird. So beschreibt der Schweizer Psychiater Guggenbühl (2008) die Schule insgesamt als weibliches Biotop mit zu wenig Wettbewerb und Kampfgeist, das Jungen nicht integrieren könne. Eine andere Sichtweise fokussiert auf die Schülerinnen und Schüler selbst und sucht nach Ursachen, die in unterschiedlichen Charakteristiken auf der individuellen Ebene liegen. Ein Argumentationsstrang baut auf dem Befund auf, dass Jungen ein stärkeres Selbstbild haben als Mädchen (z.B. in den PISAStudien; Baumert et al. 2003); sie überschätzen sich selbst hinsichtlich ihrer Begabungen und Leistungen und zeigen als Folge einen geringeren Einsatz in der Schule, der zu einem geringeren Schulerfolg führt (vgl. Rustemeyer und Jubel 1996). Der geringere Pflichteifer und die höhere Anstrengungsvermeidung von Jungen (Stichwort: Faulpelzsyndrom; Weinert und Helmke 1997) ist Ausdruck eines geschlechterdifferentiellen Lernverhaltens, das vielen als plausible Ursache des Geschlechterunterschieds im Schulerfolg erscheint. Nicht nur Lernverhalten, sondern auch deviantes Verhalten wird in Beziehung mit dem Bildungserfolg gesetzt. So ist zu fragen, inwieweit die eher nonkonformen Verhaltensweisen der Jungen (Eagly und Chravala 1986) diese vom Lernen abhalten und zu einer Sanktionierung durch die Lehrpersonen führen. Ebenso erscheinen außerschulische Verhaltensweisen als bedeutsam: Offenbar wirkt sich der höhere Medienkonsum der Jungen leistungsmindernd aus (Mößle et al. 2007), wobei sicher nach den Inhalten (z.B. Gewalt versus Bildung) zu unterscheiden ist. Die geschlechtsspezifische Wahrnehmung der Schule und entsprechende Bewertungen sowie motivationale Faktoren sind zudem zu nennen, die – wie einige andere der bisher genannten Erklärungsfaktoren – mit Geschlechterrollenvorstellungen verbunden sein können. In traditionellen Sichtweisen auf das Geschlechterverhältnis scheint ein Widerspruch zwischen Männlichkeit und Schule entstanden zu sein. Teilweise wird schulischer Erfolg als unmännlich abgewertet (Phoenix und Frosh 2005). Jungen sind weniger zufrieden mit der Schule und haben weniger Lust auf Schule als Mädchen (Baumert et al. 2000). Zu den in den Beiträgen dieses Sammelbandes thematisierten Erklärungsfaktoren des geschlechterdifferentiellen Schulerfolgs gehören Aspekte des Bewusstseins der Schülerinnen und Schüler wie Wohlbefinden in der Schule, Schulentfremdung, Bildungsaspirationen und Geschlechterrollenvorstellungen sowie Aspekte des Verhaltens der Lernenden wie Schuldelinquenz, Lernverhalten und Medienkonsum. Aber auch Elternhaus, Lehrpersonen, und Peergruppen werden betrachtet.
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Einleitung
Der Aufbau des Buches Im Aufbau folgt das Buch folgender Gliederung: In einem ersten Teil wird das Ausmaß an geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten im Hinblick auf zeitliche Entwicklungen – über die Bildungsexpansion bzw. die Kohortenabfolge – sowie im Bildungsverlauf betrachtet. Im zweiten Teil des Buches stehen Faktoren hinter den Geschlechterungleichheiten, insbesondere hinsichtlich des geringeren Bildungserfolgs der Jungen, im Fokus. Die Beiträge haben verschiedene inhaltliche und methodische Zugangsweisen zum Thema und beleuchten so auch bisher vernachlässigte Faktoren hinter den Geschlechterunterschieden im Bildungssystem. Schließlich wird im dritten Teil des Sammelbands zurückgeblickt auf die Debatten um Geschlechterungleichheiten. Es wird gefragt, wie diese Ungleichheiten im Bildungserwerb zu bewerten sind. Zudem werden Schlussfolgerungen für die Bildungs- und Schulpolitik sowie das alltägliche Handeln abgeleitet. Der erste Teil, der einen Überblick zu geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten bietet, beginnt mit einem Beitrag von Andreas Hadjar und Joël Berger, in welchem eine europäische Perspektive eingenommen wird. Gefragt wird, inwieweit sich in Europa die Geschlechterdifferenzen in den Chancen, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben, über die Kohortenabfolge (Geburtsjahrgänge 1924-1974) verändert haben. Die in die Analyse einbezogenen 25 europäischen Länder werden nach dem Stratifizierungsgrad des Bildungssystems und dem Wohlfahrtsregime kategorisiert. Die Ergebnisse zeigen, dass sich über die Kohortenabfolge – und damit im Zuge der Bildungsexpansion – die Bildungsungleichheiten zu Ungunsten von Frauen verringert haben. In gering und mittel stratifizierten Bildungssystemen sowie in sozialdemokratischen, postsozialistischen und familienorientierten Wohlfahrtsregimes haben sich die Ungleichheiten in den jüngsten Kohorten sogar zu Ungunsten der Männer umgekehrt. Rolf Becker und Walter Müller beleuchten im Rahmen ihrer Untersuchung der Bildungschancen westdeutscher Geburtskohorten (1919-1987) ebenfalls den Wandel von Bildungsungleichheiten. Von Interesse sind dabei insbesondere die Verschränkungen zwischen Differenzen im Bildungserwerb zwischen den Geschlechtern und sozialen Herkunftsschichten. Eine ihrer Kernthesen ist dabei, dass der höhere Bildungserfolg der Frauen auch damit zu erklären ist, dass die Unterschiede in den Bildungschancen zwischen den Sozialschichten bei Frauen geringer sind als bei Männern. Die Befunde der Analyse mit Lebensverlaufsdaten zeigen, dass geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten zu Ungunsten der Frauen abgebaut werden konnten. Vor allem bei den Frauen haben sich auch
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herkunftsbezogene Ungleichheiten verringert; insbesondere die Töchter aus Arbeiterfamilien haben gegenüber den Arbeiterjungen stark aufgeholt. Anhand der Schweizer TREE-Daten (Projekt „Transition von der Erstausbildung ins Erwerbsleben“) zeichnen Sandra Hupka-Brunner, Robin Samuel, Evéline Huber und Max Bergman Bildungsverläufe von jungen Männern und Frauen in der Schweiz nach. Ziel ist dabei, Benachteiligungen an verschiedenen Stellen des Bildungsverlaufs zu identifizieren. Aus den Resultaten kann abgeleitet werden, dass sich nach sieben Jahren trotz anfänglicher Unterschiede die Erwerbs- sowie Tertiärquoten von Frauen und Männern angleichen. Multivariate Analysen bestätigen den Einfluss der verschiedenen Kapitalsorten im Sinne von Bourdieu (1982) auf die Bildungswege für beide Geschlechter, wobei sich geschlechtsspezifische Muster dergestalt andeuten, dass zum Beispiel junge Frauen von objektiviertem kulturellen Kapital der Familie stärker profitieren können als Männer. Hinsichtlich der Wirkung des inkorporierten kulturellen Kapitals auf die zeitliche Strukturierung von Bildungsverläufen unterscheiden sich die Geschlechter jedoch nicht. Die Analysen von Markus Lörz und Steffen Schindler beziehen sich auf den Übergang ins Studium. Im Rahmen ihrer längsschnittlichen Analysen untersuchen sie die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium. Während sich die Chancen der Frauen beim Übertritt und erfolgreichen Absolvieren der Sekundarstufe II stark verbessert haben, ist für den Übergang ins Studium keine kontinuierliche Verbesserung der Bildungschancen von Frauen festzustellen. Frauen erweisen sich als sensibler gegenüber Kosten und Erträgen von Bildungswegen, d.h. eine wahrgenommene Verteuerung der Kosten des Studierens hält Frauen stärker als Männer vom Studieren ab. Im Studierverhalten spiegeln sich zudem unterschiedliche Akzente in der Berufs- und Lebensplanung von Frauen und Männern wider. Dies gilt insbesondere auch für die ausgeprägten Unterschiede in der Studienfachwahl. Am Beginn des zweiten Teils, im Rahmen dessen spezifische Ursachen der Geschlechterunterschiede im Schulerfolg detailliert betrachtet werden, fokussieren Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann auf vier Entwicklungsaufgaben, deren Bewältigung im Jugendalter eine besondere Bedeutung hat: Qualifikation, Ablösung und Bindung, Regeneration und Partizipation. In Geschlechterunterschieden hinsichtlich der Bewältigung der einzelnen Entwicklungsaufgaben lassen sich eine Vielzahl von Anhaltspunkten identifizieren, warum sich Bildungsungleichheiten zu Ungunsten von Jungen verschoben haben. Als Datenbasis der längsschnittlichen Betrachtungen dienen die Shell-Jugendstudien von 1953 bis 2010. Zu den Entwicklungen, die im Beitrag thematisiert werden, gehören unter anderem der Wandel der Lebensziele und die wachsende Bildungsmotivation der Mädchen, der Wandel des Freizeitverhaltens hin zur verstärkten
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Einleitung
Nutzung elektronischer Medien – vor allem Jungen verbringen immer mehr Zeit am Computer – sowie die zunehmende prekäre Situation in vormals von Männern dominierten Arbeitsmarktsegmenten. Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Österreich stehen im Zentrum des Beitrags von Johann Bacher, Heinz Leitgoeb und Norbert Lachmayr. Analysegrundlage ist dabei ein theoretisches Kausalmodell zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Bildungswahl, das als Erklärungsvariablen unter anderem Aktivitäten nach der Schule, geschlechtsspezifische Bevorzugungen durch die Lehrkräfte, die Anzahl der weiblichen Lehrkräfte und die Bildungsaspirationen hinsichtlich eines höheren Schulabschluss (Matura) beinhaltet. In den empirischen Analysen erweisen sich Bildungsaspirationen als wichtigster Faktor für die Wahl einer maturaführenden Schule. Bildungsaspirationen vermitteln sowohl den Geschlechter- als auch den Herkunftseffekt auf die Schulwahl. Auf der anderen Seite konnten weder Einflüsse des Lehrpersonengeschlechts, noch der familiären bzw. institutionellen Betreuung am Nachmittag nachgewiesen werden. Die nächsten beiden Kapitel gründen auf Daten einer Studie zum geschlechtstypischen Schulerfolg im Kanton Bern, die sowohl quantitative als auch qualitative Elemente enthielt. Judith Lupatsch und Andreas Hadjar berichten Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung in 8. Klassen. Bei der Erklärung der Geschlechterunterschiede im Schulerfolg werden Schulentfremdung als motivationaler Faktor, Geschlechterrollenorientierungen und schulerfolgsrelevante geschlechtstypische Verhaltensweisen (Schuldevianz) sowie die Einstellungen der Peergruppe zur Schule fokussiert. Jungen erweisen sich als stärker schulentfremdet und zeigen häufiger deviante Verhaltensweisen in der Schule als Mädchen. Die Freundesgruppen der Jungen haben einen negativeren Blick auf die Schule. Zudem hängen Jungen stärker traditionellen Geschlechterrollen an. All diese Faktoren sind direkt oder indirekt mit einem geringeren Schulerfolg der Jungen verknüpft. Den qualitativen Teil der Berner Schulstudie stellen Elisabeth Grünewald, Stefanie Gysin und Dominique Braun vor. Aufbauend auf eine Betrachtung des „Arme Jungen“-Diskurses suchen sie in Daten aus Gruppendiskussionen in geschlechterhomogenen Teilklassen (Klassenstufe 8) und Unterrichtsbeobachtungen (Videos) von jeweils einer Deutsch- und Mathematiklektion Hinweise auf Wahrnehmungen und subjektive Erklärungsmuster hinsichtlich des geschlechtstypischen Schulerfolgs aus Perspektive der Schülerinnen und Schüler. Die Ergebnisse weisen auf ein eher faires Verhalten der Lehrpersonen hin. Jungen berichten etwas häufiger von Diskriminierungen durch (weibliche und männliche) Lehrpersonen. Schülerinnen zeigen im Vergleich zu Schülern öfter hohe Leistungsaspirationen und legen mehr Wert auf gute Noten. Jungen versu-
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chen ihren Arbeits- und Lerneinsatz möglichst gering zu halten. Dies trifft besonders auf Jungen in Realklassen – dem niedrigsten Schulniveau in der Schweiz – zu. Martin Neugebauer widmet sich ebenfalls primär der Fragestellung, ob die Geschlechtszugehörigkeit der Lehrperson einen Einfluss auf die Beurteilung der Schulleistungen von Schülerinnen und Schülern hat und ob Jungen von Lehrerinnen benachteiligt werden. Im Brennpunkt des Interesses liegt die Grundschulempfehlung (GSE), in der die Lehrpersonen empfehlen bzw. festlegen, welche Art der weiterführenden Schule ein Kind nach der Grundschule besuchen soll. Datenbasis der quantitativen Analysen bildet die IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung). Die Ergebnisse sprechen klar gegen die These, Lehrerinnen würden einen Nachteil für Jungen bedeuten. Vielmehr bewerten Lehrer offenbar bei gleicher Kompetenzlage der Kinder sowohl Jungen als auch Mädchen etwas strenger als Lehrerinnen. Geschlechterdifferenzen im Schulerfolg scheinen sich vielmehr daraus zu ergeben, dass Jungen eine geringere Lernbereitschaft aufweisen als Mädchen. Den enormen Anstieg des Konsums von Bildschirmmedien in den letzten 15 Jahren thematisieren Dirk Baier und Christian Pfeiffer als wesentliche Ursache für die Umkehrung der Geschlechterdifferenzen im Schulerfolg. Im Rahmen ihres Beitrags untersuchen sie den Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Schulleistungen sowie inwieweit Geschlechterunterschiede in den Leistungen auf geschlechtsspezifische Medienumgangsweisen zurückzuführen sind. Die anhand einer Querschnitt- und einer Längsschnittstudie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen gewonnenen Befunde weisen darauf hin, dass die elterliche Investition in den Bildungserfolg ihrer Kinder geschlechtsspezifisch variiert und die schlechteren Schulnoten der Jungen hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass sie im stärkeren Maße jugendgefährdende Videos und Computerspiele konsumieren. Keine Belege finden sich hingegen für die Argumentationen, dass Lehrerinnen mitverantwortlich für den geringeren Schulerfolg der Jungen seien und dass Mädchen wegen häufigerer kreativer Freizeitaktivitäten bessere Schulleistungen hätten. Tina Hascher und Gerda Hagenauer wenden sich in ihrem Beitrag emotionalen Faktoren zu. Sie untersuchen anhand von Daten aus internationalen Längsschnittstudien (Schulstichproben aus der Schweiz, Deutschland, den Niederlanden, Tschechien und Österreich) die Bedeutung des Wohlbefindens in der Schule für den Schulerfolg. Die Ergebnisse zeichnen ein komplexes und diffiziles Bild. Festgehalten werden kann, dass Mädchen mehr Freude in der Schule erleben als Jungen und positiver gegenüber der Schule eingestellt sind. Bei Schülerinnen und Schülern verschlechtern sich Emotionen und Einstellungen gegenüber der Schule im Laufe der Sekundarstufe I gleichermaßen. In den hö-
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Einleitung
heren Klassen der Sekundarstufe 1 scheinen Mädchen stärker von Sorgen, Problemen und Beschwerden belastet zu sein als Jungen. Die Autorinnen resümieren, dass Maßnahmen zur Verbesserung der Unterrichtsqualität im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler notwendig sind. Das Fachinteresse als ein wichtiger Bestimmungsgrund für Schulerfolg wird von Rebecca Lazarides und Angela Ittel beleuchtet. Als Erklärungsfaktoren des Mathematikinteresses werden die schulische Förderung durch die Familie, die wahrgenommene Unterstützung durch die Fachlehrkraft in Mathematik und die schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen untersucht. Die Ergebnisse weisen auf viele Gemeinsamkeiten für Jungen und Mädchen bei den Zusammenhängen zwischen den Erklärungsvariablen und Mathematikinteresse hin, aber es gibt auch Unterschiede zu konstatieren: Der familiären Förderung als auch der Unterstützung durch die Fachlehrkraft in Mathematik kommt bei Jungen eine geringere Bedeutung für das Fachinteresse Mathematik zu als bei Mädchen. Ein schulförderndes Elternhaus bewirkt nur bei Jungen eine Erhöhung der Einschätzung eigener Fähigkeiten und dient damit auf diesem Weg allein den Jungen zur Interessenförderung. Die Rückblicke auf die Debatten und Befunde im letzten Teil des Buches werden angeführt von Heike Diefenbach, die Anfang des neuen Jahrtausends als gemeinsam mit Michael Klein in einem Artikel mit dem Titel „Bringing Boys Back in: …“ deutliche Nachteile von Jungen im deutschen Bildungssystem nachwies und damit das Thema auf der wissenschaftlichen Agenda platzierte. Im Zentrum ihres Beitrags in diesem Buch steht der Umgang von Wissenschaft und Politik mit diesem Thema. Sie weist auf Tabus hin, die sich letztlich blockierend auf die Untersuchung und breite Diskussion von Geschlechterunterschieden im Bildungssystem auswirken, und darauf, wie stark ideologisch bzw. wie wenig wissenschaftlich in einigen Institutionen mit diesem Thema umgegangen wird. Aus ihren eigenen Erfahrungen nach der Veröffentlichung von „Bringing Boys Back in“ – im Rahmen derer sie sich teilweise „zwischen allen Stühlen“ im Spannungsfeld zwischen anti-feministischen und feministischen Positionen wiederfand – ist abzuleiten, wie wichtig eine kritische Reflexion der eigenen Ideologie sowie der Positionen des wissenschaftlichen Umfelds für das wissenschaftliche Arbeiten ist. Die Betrachtung von Hannelore Faulstich-Wieland beschäftigt sich mit der Fragestellung, ob ein Mehr an männlichen Lehrpersonen die vermeintliche „Krise der Jungen“ lösen kann. Im Fazit hinsichtlich einer Vielfalt an Begründungsmustern und empirischen Befunden regt sie eine andere Sichtweise auf die Forderung nach mehr Männern in der Grundschule an: Würde diese Idee verbunden mit der politischen Vorstellung einer Geschlechterparität in allen gesellschaftlichen Bereichen, dann ginge es bei der Implemention von mehr Männern
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in das Lehrpersonal der Primarstufe nicht um das geschlechtsspezifische oder vermeintlich jungenadäquate Ausfüllen des Lehramts, sondern im Sinne eines diversity managements darum, der Vielfalt der Kinder – die sich nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach sozialer Schicht oder ethnischer Herkunft unterscheiden – eine Vielfalt an Lehrpersonen gegenüber zu stellen. Der Blickwinkel der feministischen Theorie wird explizit vertreten durch Becky Francis und Christine Skelton, die auf die Debatte um „failing boys“ in Großbritannien zurückschauen. Sie zeigen anhand empirischer Befunde, dass der vielfach dramatisierte Leistungsvorsprung der Mädchen nicht neu ist und einige in der Öffentlichkeit breit diskutierte Erklärungsversuche – Feminisierung von Schule, Lehrplan und Bewertung, essentielle Geschlechterunterschiede – einer empirischen Prüfung nicht Stand halten. Geschlechterkonstruktionen von Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern, die Auswirkungen auf Motivation und Verhalten haben, erscheinen aus Sicht der Autorinnen am ehesten als plausible Faktoren, wenn nach den Ursachen des Bildungsmisserfolgs der Jungen gesucht wird. Lehrpersonen sollten ihre Schülerinnen und Schüler zu einer Erweiterung ihrer geschlechtsspezifischen Horizonte und VerhaltensRepertoires anregen, statt bestehende Stereotype im Rahmen ihrer Lehraktivitäten zu festigen. In ihrem Ausblick beleuchten Regula Julia Leemann und Christian Imdorf die Konsequenzen der in den vorherigen Beiträgen untersuchten Geschlechterunterschiede im Bildungssystem für spätere Chancen in Beruf und Karriere. Eine solche Betrachtung ist dahingehend von Bedeutung, wenn gefragt wird, ob diese Geschlechterunterschiede in der Primar- und Sekundarbildung ein gesellschaftliches Problem darstellen und entsprechend eine Dramatisierung dieser Unterschiede sinnvoll ist oder nicht. Im Fokus des Beitrags stehen die Bildungswege von Frauen und Männern im Berufsbildungs- und Hochschulsystem, die von stabilen geschlechtsspezifischen Mustern – insbesondere bei der Geschlechtersegregation – gekennzeichnet sind und die zu Geschlechterunterschieden in den Berufschancen führen. Schließlich wird der Blick auf die höhere Ebene des Hochschulsystems gerichtet, auf der sich Geschlechterunterschiede zu Ungunsten hochqualifizierter Frauen trotz Abbautendenzen als relativ stabil erweisen. Aus der Perspektive der Lehrpraxis beleuchtet Elisabeth Grünewald-Huber im Schlusskapitel, was Lehrerinnen und Lehrer sowie die Lehrerbildung aus den Beiträgen des Sammelbands ableiten können und weitet dann die Perspektive hin zu einer bildungspolitischen Betrachtung, um schließlich auch gesamtgesellschaftliche Maßnahmen anzuregen. Dieses Buch, in dem Geschlechterungleichheiten im Bildungssystem aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven, aber auch aus unterschiedlichen
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Einleitung
gesellschaftspolitischen Blickwinkeln heraus betrachtet werden, soll als Teil einer Debatte verstanden werden. Dabei ist nicht auf die eine oder andere Geschlechterkategorie zu fokussieren – Verbesserungen hinsichtlich der Integration in die Schule und den Lernprozess, der Schulleistungen und Kompetenzen sowie des Schulerfolgs im Sinne von Schulnoten und Abschlüssen sind für Schüler und Schülerinnen gleichermaßen wünschenswert.
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Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten im Überblick
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa: Die Bedeutung des Bildungs- und Wohlfahrtsstaatssystems1 Andreas Hadjar und Joël Berger
1 Geschlechterunterschiede im Bildungserwerb im Wandel Wenngleich die Bildungsexpansion in Europa nicht zu einem radikalen Abbau schichtspezifischer Bildungsungleichheiten geführt hat, ist doch ein Ergebnis der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte unzweifelhaft: Frauen gehören zu den Gewinnerinnen der Bildungsexpansion, denn ihre Bildungsbeteiligung und ihr Bildungsniveau haben stetig zugenommen (Hadjar und Becker 2009; Hecken 2006). Wurde früher das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ (Dahrendorf 1965: 48) thematisiert, sind in den letzten Jahren Jungen zum Problemfall geworden (Diefenbach und Klein 2002). Offenbar hat eine Verschiebung von Geschlechterungleichheiten im Bildungssystem stattgefunden – weg von einer Überrepräsentation von Jungen in höheren Bildungsgängen, hin zu einer Überrepräsentation von Jungen in niedrigen Bildungsgängen (vgl. Blossfeld et al. 2009). Die vielfältigen Analysen und Befunde zu geschlechtstypischen Mustern des Bildungserwerbs sollen im Rahmen dieses Beitrags ergänzt werden um eine europäische Perspektive unter Fokussierung auf institutionelle Arrangements – das Bildungssystem und den Wohlfahrtsstaat. Ausgehend von einer rationalen Perspektive der Bildungswahl kann angenommen werden, dass diese institutionellen Settings spezifische Anreizstrukturen darstellen, welche die Chancen von Frauen und Männern im Bildungssystem mitbestimmen. Im Kern der Analysen stehen die geschlechtstypischen Chancen, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erreichen. Die Untersuchung soll dabei eher beschreibender Natur sein; die sozialen Mechanismen hinter den Geschlechterungleichheiten werden in den folgenden Beiträgen detailliert untersucht. Zu den verfolgten Problematiken gehören die Fragen danach, wie sich Geschlechterungleichheiten im Zuge der Bildungsexpansion in Europa gewandelt haben und ob Unterschiede nach Bildungssystem und Wohlfahrtsstaatsregime auszumachen sind. Die Entwicklung der Bildungsungleichheiten nach Geschlecht in Europa wird über Kohortenunterschiede (Geburtskohorten 1924 bis 1974) in den Bil1
Wir danken Edith Busse, Dirk Baier und Judith Lupatsch für die hilfreichen Kommentare zum Manuskript.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dungschancen rekonstruiert. Dabei wird jeweils auch für die soziale Herkunft (das Bildungsniveau der Eltern) kontrolliert. Als Datenbasis dient der European Social Survey/ESS 2004 (für Großbritannien 2006). Die Analyse bezieht sich auf 25 Länder bzw. Territorien (Ostdeutschland, Westdeutschland), in denen im Rahmen des ESS die benötigten Merkmale – Geschlecht, Geburtsjahr, Bildung der Eltern – auf der Individualebene erhoben wurden. Im folgenden theoretischen Abschnitt werden einige hinter den Bildungsungleichheiten nach Geschlecht vermutete Ursachen betrachtet – wobei diese Mechanismen in den späteren Analysen nicht detailliert Berücksichtigung finden, sondern nur der Ableitung von Hypothesen zu Geschlechterungleichheiten dienen. Ziel eines Abschnitts zur Bildungsexpansion ist es, Hypothesen über Wandlungsprozesse zu gewinnen. In einem weiteren theoretischen Abschnitt werden dann die Einflüsse von Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat thematisiert. Daran schließt sich ein methodischer Abschnitt an, der Informationen zum Untersuchungsdesign, zu verwendeten Datensätzen und Messinstrumenten sowie eine Kategorisierung der einbezogenen Länder/Territorien hinsichtlich ihrer institutionellen Settings (Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat) enthält. Am Beginn des Ergebnisteils stehen Graphiken zur Entwicklung des Einflusses des Geschlechts auf den Bildungserwerb über die Kohortenabfolge – getrennt nach Stratifizierungsgrad des Bildungssystems und nach Typus des Wohlfahrtsstaats. Dann folgen nach diesen systemischen Merkmalen getrennte, binär-logistische Mehrebenenmodelle zum Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung. Unabhängige Variablen sind dabei das Geschlecht, die Kohortenzugehörigkeit sowie die Bildung der Eltern als Kontrollvariable. Schließlich werden Mehrebenenmodelle präsentiert, in denen die Stratifiziertheit des Bildungssystems und das Wohlfahrtsstaatsregime als unabhängige Variablen auf der Makroebene Berücksichtigung finden – gefolgt von Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse.
2 Geschlecht und Bildungserwerb 2.1 Primäre und sekundäre Geschlechtereffekte auf den Bildungserwerb Im Anschluss an die klassische bildungssoziologische Unterscheidung von Boudon (1974) in primäre und sekundäre Effekte der sozialen Herkunft soll an dieser Stelle ein theoretischer Rahmen entwickelt werden, im Lichte dessen die später untersuchten Geschlechterunterschiede plausibel erscheinen. Primäre Herkunftseffekte basieren auf schichtspezifischen Ressourcen und Defiziten – etwa die Bildung der Eltern, die monetären Ressourcen des Eltern-
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hauses, soziale Unterstützung durch das Elternhaus oder das Umfeld –, aus denen Unterschiede in den Schulleistungen resultieren. Sekundäre Herkunftseffekte beziehen sich auf Bildungsaspirationen bzw. auf an einem Statuserhaltsmotiv orientierte Kosten-Nutzen-Abwägungen hinsichtlich bestimmter Bildungsabschlüsse sowie die Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit des Bestehens ihrer Kinder im Bildungssystem bzw. in den einzelnen hierarchisch gegliederten Schultypen (vgl. Becker 2004). Die Unterscheidung von primären und sekundären Herkunftseffekten soll nun auf Bildungsungleichheiten nach Geschlecht übertragen werden. Primäre Geschlechterungleichheiten im Bildungserwerb beziehen sich in dieser Argumentation auf im Zuge der geschlechtsspezifischen Sozialisation erworbene Motivations-, Einstellungs- und Handlungsmuster der Jungen und Mädchen. Dazu gehören etwa die bei Mädchen stärker ausgeprägte intrinsische Motivation (Kampshoff 2007), die bei Jungen größere Schulentfremdung (Hadjar und Lupatsch 2010), die stärkere Ausprägung störender Verhaltensweisen bei den Jungen (Hannover 2004) sowie der größere Fleiß der Mädchen (Weinert und Helmke 1997; Fend 1997). Sekundäre Bildungsungleichheiten basieren auf geschlechtsspezifischen Bildungsentscheidungen der Eltern, der Lehrpersonen – als wichtige Gatekeepers für höhere Bildungsgänge (Solga 2008: 30-31) – oder der Lernenden selbst. Die dahinterstehende Annahme ist, dass Bildung bzw. Bildungszertifikaten je nach Geschlecht ein anderer Nutzen zugewiesen wird, einen Abschluss in bestimmten (höheren) Bildungsgängen zu erreichen, bei Frauen und Männern unterschiedlich kalkuliert wird. So wurde lange Zeit der Bildungserwerb von Frauen als weniger ertragreich und entsprechend weniger sinnvoll – auch hinsichtlich eines Statuserhaltsmotivs (vgl. Becker 2004) – angesehen als der Bildungserwerb der Männer. Andererseits könnte angenommen werden, dass die breiten öffentlichen Diskussionen um den Bildungsmisserfolg der Jungen in den letzten Jahren dazu führen könnten, dass Eltern und Lehrpersonen die Erfolgswahrscheinlichkeiten der Jungen an höheren Schulen als tendenziell geringer als die der Mädchen einschätzen, was schließlich die Einschätzungen der Leistungen von Jungen und insbesondere die Entscheidungen hinsichtlich der Schullaufbahn von Jungen negativ beeinflussen könnte (Self-Fulfilling Prophecy). So könnten Geschlechterstereotype über die Leistungsfähigkeit und die schulische Motivation einen Einfluss auf Entscheidungen der Lehrpersonen und der Eltern haben. Dies wäre eine Form statistischer Diskriminierung (Arrow 1973): Aus Gruppenmittelwerten zum Schulerfolg – etwa die niedrigen Schulnoten von Jungen – würden dann das Leistungsniveau sowie die Erfolgswahrscheinlichkeiten hinsichtlich der Absolvierung höherer Bildungsgänge für alle Jungen abgeleitet. Dieses Argument bezieht sich auf die Annahme von Ankereffekten, d.h.,
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dass Lehrpersonenurteile bei der Leistungsbeurteilung durch Vorinformationen oder generelle Wissensbestände bezüglich bestimmter Sozialgruppen verzerrt sind (vgl. z.B. Mußweiler et al. 2004; vgl. Dünnebier et al. 2009). Sekundäre Geschlechtereffekte sowie institutionelle Benachteiligungen können aus der Perspektive der Humankapitaltheorie (Becker 1964) heraus betrachtet werden: Aus Kosten-Nutzen-Erwägungen heraus – ohne Berücksichtigung nicht-monetärer Bildungserträge oder von intrinsischem Nutzen – erscheint eine Investition in Bildung von Frauen nur dann als sinnvoll, wenn Frauen diese Investition später in Status und Einkommen transformieren können. Frauen setzen aber im Verlaufe ihres Lebens ihre Bildungsinvestitionen nicht im gleichen Maße wie Männer in Produktivität und damit in Einkommen und Status um (Hecken 2006; Schiener 2006), da ihre Funktion bei den familiären Reproduktionsleistungen Erwerbsunterbrechungen zur Folge hat, die je nach Struktur der Gesellschaft gering oder stark karrierehemmend sind. Die Umsetzung der Bildungsinvestitionen auf dem Arbeitsmarkt wird zusätzlich durch die Arbeitsmarktlage beeinflusst. Frauen werden von Arbeitgebern als Risiko betrachtet, da eine verminderte Erwerbskontinuität und Einsatzfähigkeit aufgrund von familiären Verpflichtungen qua Geschlecht unterstellt (These der statistischen Diskriminierung; Anker 1997, vgl. Engelage und Hadjar 2008) wird. Daraus ergibt sich, dass Frauen vor allem dann ermutigt werden, in Bildung zu investieren, wenn sie Chancen auf dem Arbeitsmarkt wahrnehmen, die ihnen die Umsetzung ihrer Investitionen in Status und Einkommen erlauben. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine gute Vereinbarkeit von familiären Reproduktionsleistungen (Erziehung von Kindern, Haushaltsarbeit etc.) und Erwerbsarbeit wahrgenommen wird, was ebenfalls verbesserte Chancen zur Umsetzung von Bildung in Status bedeutet. Diese humankapitaltheoretische Argumentation entspricht letztlich der patriarchalen Sichtweise, die in diesem Fall als Frame von Entscheidungsprozessen (u.a. zu Bildungsentscheidungen) thematisiert werden kann. Als solche Rahmen fungieren patriarchale Geschlechterstereotype, die Männern Rollen in der Berufswelt zuweisen, während Frauen auf ihre Rolle im Haushalt reduziert werden. Dies ist gleichbedeutend mit einer Arbeitsteilung in männliche Erwerbsarbeit und weibliche Haushaltarbeit (Coltrane 2000). Die antizipierte Rolle als Ehefrau und Mutter hatte somit lange Zeit einen Einfluss darauf, dass Eltern für ihre weiblichen Kinder höhere Bildungsabschlüsse als relativ nutzlos erachteten. Eine höhere Bildungslaufbahn für Frauen erschien mit Blick auf den antizipierten traditionellen Rückzug in die Familie nach der Geburt des ersten Kindes als Fehlinvestition in Bildung.
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Werden nun neuere Entwicklungen 2 – von denen nur die jüngeren untersuchten Geburtskohorten betroffen sind – zunächst in den Hintergrund gestellt, ergibt sich folgende Hypothese: Hypothese 1: Frauen haben eine geringere Chance, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erlangen, als Männer.
2.2 Die Bildungsexpansion und Bildungsungleichheiten nach Geschlecht Die politischen Debatten um die Bildungsreformen in den 1950er und 1960er Jahren werden sowohl in den kapitalistischen als auch in den staatssozialistischen Ländern durch zwei Motive dominiert: Während aus einer ökonomischen Motivation die Bildungssysteme ausgebaut werden sollten, um die Grundlage für wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu schaffen, erwuchs aus einer egalitären Perspektive das Ziel der Einebnung von schicht- und geschlechtsspezifischen Benachteiligungen im Bildungssystem. Beide Aspekte lassen sich beispielhaft anhand der Diskurse im westlichen Teil Deutschlands nachvollziehen: Die 1960er Jahre wurden dominiert durch die aus einer ökonomischen Argumentation heraus geführten Diskussion um die deutsche „Bildungskatastrophe“ und den „Bildungsnotstand“, die vor allem von Picht (1964) geprägt wurde. Picht malt ein Szenario, das dominiert wird von der Sorge, dass das für den wirtschaftlichen Fortschritt – insbesondere auch für den Wettlauf um die Vormachtstellung in der Welt zwischen kapitalistischen und staatssozialistischen Industriestaaten – benötigte Bildungsniveau der westdeutschen Gesellschaft nicht gehalten werden könne, weil Schulen, Ausstattung und Lehrerinnen und Lehrer fehlen und Wissenschaftler zunehmend das Land verlassen. Parallel zu dieser ökonomischen Sorge, die sich vor allem auch vor dem Hintergrund des „Sputnik-Schocks“ 1957 entwickelt hatte, findet sich in den Debatten der 1960er Jahre auch die sozialdemokratische und liberale Position, das Bildungssystem auszubauen, in der Hoffnung, Benachteiligungen im Hinblick auf bildungsferne Schichten und Frauen aufzulösen. Diese konflikttheoretische Argumentation findet ihren Ausdruck in der Forderung von Dahrendorf (1965) nach Bildung als Bürgerrecht. Ziel war es, allen gesellschaftlichen Gruppen die gleichen Bildungsangebote zu offerieren und somit herkunfts-, geschlechts-, konfessions- oder regionenspezifische Unterschiede zu reduzieren. Dabei wird Bil-
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Angesprochen ist hier das Kernthema dieses Sammelbands: die Umkehrung der Bildungsungleichheiten in vielen Ländern zu Gunsten der Frauen, d.h., dass nun Frauen eine höhere Chance haben, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erreichen.
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dung im Sinne kognitiver Fähigkeiten verstanden, die Grundlage von Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten sind. Bei der Betrachtung des Abbaus von Bildungsungleichheiten kann zwischen geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und Unterschieden in den Bildungschancen nach sozialer Herkunft, die sich als relativ persistent erweisen (vgl. Hadjar und Becker 2009), differenziert werden. Bezüglich der geschlechtsspezifischen Bildungsbeteiligung hat im allgemeinen Bildungssystem ein deutlicher Abbau vertikaler Unterschiede – d.h. im Bildungsniveau zwischen Männern und Frauen – stattgefunden (vgl. Henz und Maas 1995; Geißler 2002; Blossfeld et al. 2009). Frauen haben in ganz Europa Männer in verschiedenen Bereichen des Bildungssystems überholt, so dass die weibliche Geschlechterzugehörigkeit keine zentrale Kategorie der Bildungsbenachteiligung mehr darstellt (Thiel 2005). Nur in tertiären Bildungseinrichtungen ist die Entwicklung weniger schnell vorangegangen. Horizontale Unterschiede in der Fächerwahl und in den Berufsfeldern haben sich aber nur wenig verändert. So sind in der Mehrheit der europäischen Länder weiterhin Frauen in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studienfachrichtungen über- und in mathematisch-naturwissenschaftlichen Richtungen untervertreten (Müller et al. 1997; Blossfeld et al. 2009). Als Motoren für den zunehmenden Bildungserwerb von Frauen im Zuge der Bildungsexpansion kristallisieren sich die „Entfaltung des neuen und emanzipierten Verständnisses der Rolle der Frau“ (Müller 1998: 91) und damit verbundene „gravierende Veränderungen individueller, familiärer und sozialstruktureller Rahmenbedingungen“ (Reinberg et al. 1995: 314) sowie insbesondere der erweiterte Arbeitskräftebedarf im Dienstleistungssektor (vor allem Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen) heraus (Hecken 2006: 126). Aus Sicht nutzentheoretischer Argumentationen wird eine Investition in Bildung für Frauen zunehmend sinnvoller, wenn die Chancen auf eine adäquate Umsetzung dieser Bildungsinvestitionen auf dem Arbeitsmarkt in Status und Einkommen steigen, d.h., wenn freie Arbeitsmarktkapazitäten vorhanden sind, um Frauen aufzunehmen (vgl. Hadjar und Berger 2010). Nicht zu vernachlässigen sind auch die sich im Zuge der Bildungsexpansion und der veränderten strukturellen Gegebenheiten der europäischen Gesellschaften verbessernden Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Bildung, Beruf und Familie, die auf Verbesserungen bei den öffentlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten, der Sozialleistungen für Frauen und der Bildungsfinanzierung zurückzuführen sind (vgl. Lewis 2004). Hypothese 2: Der Geschlechterunterschied im Bildungserwerb zu Ungunsten von Frauen verringert sich über die Bildungsexpansion bzw. über die Kohortensukzession.
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3 Bildungssystem, Wohlfahrtsstaatstypus und Geschlechterunterschiede im Bildungserwerb Komparative Studien, etwa der 13-Länder-Vergleich von Blossfeld und Shavit (1993) oder vergleichende PISA-Studien (vgl. Hradil 2006: 156), legen offen, wie stark das Ausmaß an Bildungsungleichheiten zwischen Ländern variiert. Bei der Analyse der Bildungsungleichheiten nach Geschlecht in Europa werden zwei Merkmale auf der gesellschaftlichen Ebene betrachtet: der Grad der Stratifizierung des Bildungssystems und der Typus des Wohlfahrtsstaats, der mit spezifischen Genderregimes (Kulawik 2005) korrespondiert. Beide Charakteristika stehen für institutionelle Settings, welche die Möglichkeiten des Bildungserwerbs und die Kosten-Nutzen-Rechnungen hinsichtlich der verschiedenen Bildungsalternativen beeinflussen. Als theoretischer Hintergrund für diese Annahme dient das Modell der Bildungsentscheidung nach Esser kombiniert mit der Annahme, dass unter bestimmten Bedingungen die Unsicherheit über eine adäquate Entscheidung zunimmt (Esser 1999) und die Entscheidung dadurch weniger an rationalen Kosten-Nutzen-Überlegungen orientiert ist, sondern Substitute hinzugezogen werden, welche geschlechtsspezifische Disparitäten erhöhen.3 Einerseits beeinflussen die unterschiedlich ausgestalteten Bildungssysteme wie auch die Wohlfahrtsstaatsregimes die individuellen Logiken der Selektion, indem sie den Akteuren unterschiedliche Opportunitäten und Restriktionen auferlegen. Andererseits üben der Zeitpunkt der Entscheidung sowie die Anzahl der Entscheidungsalternativen einen Einfluss darauf aus, mit welcher Sicherheit die Erfolgswahrscheinlichkeit – des erfolgreichen Abschlusses eines höheren Bildungsgangs – geschätzt werden kann (Ambiguität; Esser 1999). Zudem sind die untersuchten Länder bzw. Territorien auch als Makrokontexte zu verstehen, die durch einen bestimmten Wertekosmos hinsichtlich der Stellung der Frau in der Gesellschaft bzw. im Bildungssystem gekennzeichnet sind und individuelle Entscheidungen und Handlungen beeinflussen.
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Esser (1999) fasst Bildungsentscheidungen in Form einer Kosten-Nutzen-Kalkulation auf Grundlage der subjektiven Wert-Erwartungstheorie (SEU-Theorie) in der Formel EU(A) = U + (c x SV) > C/p. Eine Bildungsalternative A wird dann gewählt bzw. angestrebt, wenn die Bildungsmotivation aus Nutzen (U) und dem Nutzen aus der Verhinderung des Statusverlusts c x SV höher ist als das Investitionsrisiko, das sich aus den Kosten dieser Bildungsalternative (C) und der Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Bildungserfolgs (p) zusammensetzt.
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3.1 Der Grad der Stratifizierung des Bildungssystems In der bildungssoziologischen Literatur wird dem Grad der Stratifizierung von Bildungssystemen, der erheblich zwischen den verschiedenen Ländern variiert, ein beträchtlicher Einfluss auf das Ausmaß an Bildungsungleichheiten zugeschrieben. Eine hohe Stratifizierung geht in der Regel mit ausgeprägtem, früh einsetzendem Tracking einher und führt zu sozial selektiver Zuteilung der Schülerschaft auf die verschiedenen Oberstufenzüge (Müller und Shavit 1998: 506; Müller et al. 1997: 220). Unter Stratifizierung wird entsprechend die Anzahl der parallel existierenden Oberstufenzüge (Tracks) verstanden, die spezifische Bildungslaufbahnen zur Folge haben und weitere Bildungschancen, Erwerbschancen und schließlich Lebenschancen determinieren. Oftmals wird der Zeitpunkt (das Alter) der Selektion mit in die Definition einbezogen. Sowohl aufgrund theoretischer Überlegungen als auch aufgrund empirischer Befunde kann davon ausgegangen werden, dass das Alter der Selektion wie auch die Anzahl paralleler Oberstufenzüge einen Einfluss auf das Ausmaß herkunftsbezogener Bildungsungleichheiten haben (vgl. z.B. Becker 2009; Horn 2008; Blossfeld und Shavit 1993). Zu fragen ist nun, inwieweit der Stratifizierungsgrad als strukturelles Merkmal auch einen Einfluss auf Geschlechterunterschiede auf der individuellen Ebene hat. Ein Einfluss des Stratifizierungsgrads des Bildungssystems auf Geschlechterunterschiede im Bildungserwerb kann dadurch erklärt werden, dass systematische Benachteiligungen an den „Gelenkstellen“, d.h. an den Bildungsübergängen, entstehen. Je mehr Übergänge und je mehr Tracks in einem Bildungssystem bestehen, desto mehr Einfluss hat die Deutungsmacht von Gatekeepern. Dadurch steigt die Chance, dass beim Selektionsprozess auf bestimmte Bildungswege Irrtümer entstehen (Solga 2008: 30-31). Zudem gilt: Je früher die selektiven Übergänge stattfinden, desto weniger Informationen stehen Lehrpersonen, aber auch Eltern zur Verfügung, um die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum erfolgreich einen höheren Bildungsgang absolvieren kann, adäquat einzuschätzen. Es handelt sich um eine Entscheidung unter Unsicherheit. Das Informationsdefizit in Bezug auf die Erfolgswahrscheinlichkeit – die Ambiguität (vgl. Esser 1999: 289-292) – wird u.a. durch die bewusste oder unbewusste Orientierung an subjektiven Theorien, welche Sozialschicht oder welches Geschlecht die besten Erfolgschancen auf höheren Bildungswegen hat, ausgeglichen (vgl. Esser 1999). Diese subjektiven Theorien beinhalten Aspekte statistischer Diskriminierung: So erscheint die Investition in Bildung von Frauen wegen ihrer – pauschal angenommenen – späteren Verortung im familialen Reproduktionsbereich bzw. ihrer unterstellten geringeren Produktivität und des höheren Risikos von Erwerbsunterbrüchen (Anker 1997) als weniger nutzbringend.
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Geschlechterstereotype über die Leistungsfähigkeit und die schulische Motivation sind ebenso in subjektiven Theorien enthalten. Lehrpersonenurteile orientieren sich bei der Beurteilung von Schülerinnen und Schülern auch an Ankerwerten (vgl. z.B. Dünnebier et al. 2009) – etwa den im Durchschnitt geringeren Schulleistungen der Jungen. Die Folgerung aus beiden Argumentationen wäre nun, dass in stratifizierten Systemen mit frühen selektiven Übergängen aufgrund von Informationsdefiziten subjektive Theorien bzw. Stereotype über die Geschlechter einen größeren Einfluss auf Entscheidungen haben. Je nach vorherrschenden Stereotypen hat das eine oder andere Geschlecht eine geringere Chance, auf den höheren Bildungsweg hin orientiert zu sein bzw. für diesen empfohlen zu werden. Ausgeprägtes Tracking und frühe Selektion fungieren also als Verstärker, die bereits existierende Ungleichheiten vergrößern, indem sie – infolge der Problematik des Informationsdefizits bei früher Selektion – ermöglichen, dass vorherrschende Stereotype einen größeren Einfluss auf das Handeln der Akteure haben. Da in den untersuchten Kohorten vor allem der Stereotyp vorherrschte, dass höhere Bildung für Frauen unwichtig ist, kann folgende Hypothese aufgestellt werden: Hypothese 3: In stratifizierten Systemen sind die Bildungsungleichheiten zu Ungunsten der Frauen stärker ausgeprägt. Da bestimmte Schultypen häufig in einem bestimmten Wohlfahrtsstaatstyp anzutreffen sind, erscheint es sinnvoll, den Typus des Bildungssystems und den Typus des Wohlfahrtsstaats simultan zu untersuchen. Zudem variiert das Ausmaß, inwieweit Frauen von Arbeitgebern als Risikofaktor angesehen werden, je nach Wohlfahrtsstaatsregime, die auch in bestimmte Genderregimes (Kuwalik 2005) eingeordnet werden können. Entsprechend erscheint es erfolgversprechend, den Typus des Wohlfahrtsstaates ebenfalls in die Analysen einzubeziehen.
3.2 Typen des Wohlfahrtsstaats und Geschlechterunterschiede im Bildungserwerb Nicht allein die Ausgestaltung des Bildungssystems kann für die Chancenstruktur innerhalb von Nationalstaaten verantwortlich gemacht werden. Auch der Grad und die Richtung der politischen Steuerung spielt eine Rolle. Denkbar wäre, dass durch Beratungsangebote und die Bereitstellung außerhäuslicher Kinderbetreuungseinrichtungen gezielt Frauen gefördert werden können. Staatliche Maßnahmen können die für die Bildungsinvestitionen der Frauen relevante
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Erwerbsbeteiligung lenken. Wohlfahrtsstaaten stellen eine Konfiguration institutioneller Arrangements dar, welche das Handeln der Individuen im Allgemeinen und ihre Bildungsentscheidungen im Speziellen systematisch beeinflussen, indem sie unterschiedliche Constraints setzten bzw. Opportunitäten bereitstellen (vgl. hierzu Blossfeld 1996). Insbesondere ist zu erwarten, dass sich in postsozialistischen und sozialdemokratischen Regimes die Bildungschancen der Frauen schneller erhöhten. In solchen Staaten war Frauenerwerbstätigkeit relativ früh der Normalfall, und dementsprechend wurden Kinderbetreuungseinrichtungen flächendeckend ausgebaut (Hofmeister et al. 2006; vgl. für die ehemalige DDR z.B. Hadjar und Berger 2010). Eine Assoziation zwischen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und Bildungsungleichheiten scheint deshalb plausibel, weil sich die Wohlfahrtsstaatstypen im Umgang mit sozialer Ungleichheit unterscheiden. Sie sind daher „key institutions in the structuring of class“ (Esping-Andersen 1990: 55). Entsprechend sind auch die Bildungssysteme je nach Wohlfahrtsstaatstypus unterschiedlich beschaffen, d.h., je nach Typus variiert die institutionelle Ausgestaltung der Bildungssysteme im Hinblick darauf, inwieweit diese auf den Abbau herkunfts- und geschlechtsspezifischer Unterschiede im Bildungserwerb zielen. Aber auch in Bereichen außerhalb des Bildungssystems halten Wohlfahrtsregimes politische Regelungen bereit, die indirekt die Bildungsbeteiligung der Frauen beeinflussen. Ein Defizit an Möglichkeiten der Umsetzung von Bildungsinvestitionen in Status und Einkommen führt dazu, dass (höhere) Bildung für Frauen weniger sinnvoll erscheint. Dieser Mechanismus dürfte vor allem in Ländern mit schlecht ausgebauter Infrastruktur zur Kinderbetreuung greifen (vgl. Blossfeld und Hofmeister 2006). Bevor Hypothesen hinsichtlich des Ausmaßes der Benachteiligung von Frauen in bestimmten Wohlfahrtsstaatsregimes aufgestellt werden, wird zuerst auf die zentralen Merkmale der Wohlfahrtsstaatstypen nach Esping-Andersen (1990; konservativer, liberaler und sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat) sowie den Ergänzungen von Ferrera (1996; südländischer Wohlfahrtsstaat) und Blossfeld et al. (2008; postsozialistischer Wohlfahrtsstaat) eingegangen – allgemein und konkret im Hinblick auf Geschlechterunterschiede entsprechend der Konzeptualisierung von Hofmeister et al. (2006). Eingebracht werden ebenfalls die neueren Unterscheidungen von Esping-Andersen (1999) zu familialisierten versus de-familialisierten Wohlfahrtsstaaten: Familialisierte Regimes bauen ihre sozialen Sicherungssysteme fast vollständig auf die Familien auf, denen weiterhin sämtliche Reproduktionsaufgaben obliegen. In de-familialisierten Regimes
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werden einige Aufgaben, z.B. die Kinderbetreuung, von Staat oder Markt übernommen und die Familien und insbesondere Frauen entsprechend entlastet. 4 In konservativen Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland und Frankreich ist die Umverteilung über Steuern und Sozialleistungen eher gering. Der konservative Wohlfahrtsstaat ist darauf ausgerichtet, soziale Ungleichheiten trotz eines breiten sozialen Sicherungssystems zu erhalten (Esping-Andersen 1990: 58). Es gilt das Subsidiaritätsprinzip, d.h., der Staat leistet erst Unterstützung, wenn sich die Familien oder Individuen nicht selbst helfen können. Insgesamt sind konservative Wohlfahrtsstaaten daher eher familienorientiert ausgerichtet, weil zunächst Familien in der Pflicht sind, Fürsorgeleistungen zu übernehmen. Das Geschlechterverhältnis wird vom konservativen Modell des „male breadwinner“ bestimmt, das durch steuerliche und sozialstaatliche Regelungen zusätzlich gestützt wird. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten die Erwerbsbeteiligung – und auch die Einschätzung des Nutzens einer höheren Bildungsbeteiligung – von Frauen zugenommen hat, sind diese konservativen Wohlfahrtsstaaten noch weit vom geschlechteregalitären „dual earner“-Modell (Hofmeister et al. 2006: 14-16) entfernt. Das öffentliche Dienstleistungsangebot an familiären Leistungen wie Kinderbetreuung ist ebenfalls gering. Der liberale Wohlfahrtsstaat zielt darauf, möglichst nicht in das Marktgeschehen einzugreifen und lediglich auf Basis punktueller Unterstützungsleistungen das größte Elend zu verhindern (EspingAndersen 1990: 64-65). Für Frauen zeigt sich ein Mangel an staatlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ein Defizit an öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen stellt eine große Hürde für Frauen dar, voll erwerbstätig zu sein (Hofmeister et al. 2006: 18). Liberale Wohlfahrtsstaaten sind entsprechend als eher familialisiert im Sinne von EspingAndersen (1999) einzustufen. Andererseits sind infolge mangelnder Absicherungen auch ökonomische Zwänge für Frauen vorhanden, erwerbstätig zu sein. In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten nach dem skandinavischen Modell hat sich ein besonders ausgeprägter Wohlfahrtsstaat durchgesetzt. Es findet eine starke finanzielle Umverteilung über Steuern und Sozialleistungen statt (Esping-Andersen 1990: 68-69). Frauen sind nicht nur in den Gesetzen den Männern gleichgestellt, sondern auch faktisch stark in den Arbeitsmarkt integriert (Hofmeister et al. 2006: 16). Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten sind überwiegend de-familialisiert und fördern entsprechend die Unabhängigkeit des Einzelnen von der Familie und entlasten Frauen von familiären Reproduktionsleistungen (vgl. Esping-Andersen 1999). Frauenförderung und die Gleichstel4
Damit wird quasi das ältere Konzept von Esping-Andersen (1990), das noch wegen seiner Vernachlässigung der Situation der Frau im Erwerbsbereich und in der Familie aus feministischer Sicht kritisiert wurde (Lewis 2004), verbunden mit aktuelleren Kategorisierungen, anhand deren die soziale Situation der Frauen thematisiert werden kann.
34
Andreas Hadjar und Joël Berger
lung der Geschlechter betreffen sowohl das Erwerbssystem als auch das vorgelagerte Bildungssystem. Dies lässt eine vergleichsweise hohe Bildungsbeteiligung von Frauen erwarten. Zusätzlich zu diesen Typen kann das familienorientierte bzw. das südliche Modell unterschieden werden. Dieses ist durch einen schwachen Staat gekennzeichnet, wohlfahrtsstaatliche Leistungen werden zu einem beträchtlichen Teil durch Klientelismus und Patronage-Systeme bereitgestellt – wobei aber auch punktuelle wohlfahrtsstaatliche Institutionen existieren (Ferrera 1996: 29-30). Griechenland, Italien oder Portugal können unter diesen Typ subsumiert werden. Fehlende staatliche Kinder- und Altenbetreuungseinrichtungen fördern den Erhalt traditioneller Familienstrukturen (Großfamilien), in denen den Frauen vor allem Betreuungsaufgaben im Haushalt zukommen (Hofmeister et al. 2006: 19). Damit entsprechen diese Länder dem Idealtypus des familialisierten Wohlfahrtsstaats (Esping-Andersen 1999). Bei den postsozialistischen Staaten (Blossfeld et al. 2008: 28) ist hervorzuheben, dass die vorliegend untersuchten Kohorten ihre Schulzeit großmehrheitlich während der kommunistischen Ära absolviert haben. Es sind daher die politischen Rahmenbedingungen während der Vorherrschaft des Staatssozialismus zu fokussieren, der durch massive sozialpolitische Maßnahmen zum Abbau von Ungleichheit und staatliche Kontrolle gekennzeichnet war. Insbesondere hinsichtlich herkunftsbezogener Ungleichheiten ist aber auch auf einen Bruch zwischen Ideologie und Realität zu verweisen.5 Die Stellung der Frau im Erwerbsleben wurde in diesen ex-staatssozialistischen Staaten über viele Jahrzehnte gestärkt, vollerwerbstätige Frauen stellten die Norm dar. Kinderbetreuungseinrichtungen standen zur Verfügung, und Frauen waren somit weitgehend von familiären Reproduktionsleistungen befreit, weshalb diese Staaten als stark de-familialisiert einzuordnen sind. Die hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen ist allerdings weniger auf moderne bzw. egalitäre Geschlechterrollen zurückzuführen als vielmehr auch auf die „socialist practice of setting salaries at levels that required two salaries for each family and enacting legislation that required men and women to be in the labor market“ (Hofmeister et al. 2006: 17). Allerdings waren infolge der erhöhten Arbeitslosigkeit im Zuge der wirtschaftlichen Umbruchprozesse in den ex-staatssozialistischen Ländern viele Frauen gezwungen, den Arbeitsmarkt zu verlassen oder nutzten die neuen ökonomischen Möglichkeiten, nicht mehr in Vollzeit oder gar nicht erwerbstätig zu sein. 5
Während in der Öffentlichkeit propagiert wurde, dass die Klassengegensätze abgebaut würden, war dies in Bezug auf Bildungsungleichheiten nur während der Aufbauphase der realsozialistischen Staaten der Fall. Sobald sich die neue Elite etablierte, nutzte sie die bürokratische Macht, um sich Privilegien zu sichern und die unteren Schichten am sozialen Aufstieg zu hindern (sozialistische Transformationshypothese; vgl. Blossfeld und Shavit 1993; Mayer und Solga 1994; Hadjar und Berger 2010).
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
35
Aus den Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Bildungserwerb und der später antizipierten Position der Frauen im Erwerbsleben können die Hypothesen zu den einzelnen Wohlfahrtsregimes (vgl. Hofmeister et al. 2006: 15) folgendermaßen zusammengefasst werden: Hypothese 4: Die Geschlechterunterschiede in der Bildungsbeteiligung zu Ungunsten von Frauen sind in ex-staatssozialistischen und sozialdemokratischen Staaten am geringsten ausgeprägt, dahinter folgen liberale Wohlfahrtsstaaten. In konservativen und familienorientierten Wohlfahrtsstaaten sind stärkere Ausprägungen an Geschlechterungleichheit zu erwarten.
4 Datenbasis und Messinstrumente Als Datenbasis der Analysen zu Geschlechterungleichheiten in Europa dient der European Social Survey 2004, weil dieser in Bezug auf die interessierenden Variablen die größte Anzahl an Erhebungsgebieten aufweist sowie durch eine hohe Datenqualität hinsichtlich der Stichprobenauswahl und der Messinstrumente gekennzeichnet ist (Keil 2009). Zudem wurde der ESS-Datensatz für Großbritannien aus der Erhebung 2006 mit in die Analysen aufgenommen. Insgesamt enthält der verwendete Datensatz Informationen aus 25 Ländern, darunter osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien und die Ukraine, nordeuropäische Länder wie Schweden und Finnland, zentraleuropäische Länder wie Frankreich und Deutschland – wobei zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland unterschieden wird – sowie südeuropäische Länder wie Spanien und Griechenland. Im Zentrum der Analysen steht die Chance, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erreichen. Die entsprechende abhängige Variable ist das erreichte höchste Bildungsniveau. Das bis zum Untersuchungszeitpunkt erreichte Bildungsniveau wird für den Vergleich in eine zweistufige Variable überführt. Eine solche Komplexitätsreduktion erscheint für den internationalen Vergleich und vor dem Hintergrund der verschiedenartigen Bildungssysteme als sinnvoll. In der niedrigen Kategorie (Referenzkategorie 0) sind Personen ohne Abschluss und Personen mit Hauptschulabschluss sowie Personen mit einem Abschluss mittlerer Reife (mit oder ohne berufliche Ausbildung) zusammengefasst (CASMIN-Gruppen 1a,b,c, 2a,b; Braun und Müller 1997). In Kategorie 1 finden sich die Personen, die als höchsten Bildungsabschluss zumindest eine Hochschulzugangsberechtigung erworben haben (CASMIN-Gruppen 2c, 3a,b). In dieser Gruppe sind somit nicht nur Personen mit Hochschulzugangsberechti-
36
Andreas Hadjar und Joël Berger
gung, sondern auch Individuen mit tertiären Bildungszertifikaten (Fachhochschule, Hochschule) enthalten. Die Kernvariable des Geschlechts wird dichotom entsprechend der Angabe zur biologischen Geschlechtszugehörigkeit erhoben. Die soziale Herkunft wird über den höchsten Bildungsabschluss der Eltern – entweder Mutter oder Vater – bestimmt, um auch Ein-Eltern-Familien zu berücksichtigen und der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit zu entsprechen (vgl. Hadjar 2004, Sørensen 1986). Es werden drei Bildungsgruppen unterschieden: 1) Personen ohne Abschluss bis hin zu Personen mit mittleren Bildungsabschlüssen (CASMIN-Gruppen 1a,b,c, 2a,b; Braun und Müller 1997), 2) Personen mit Hochschulzugangsberechtigung (CASMIN-Gruppe 2c) sowie 3) Personen mit tertiären Abschlüssen (Fachhochschule, Hochschule; CASMINGruppe 3a,b). Aufgrund der eher mäßigen länderspezifischen Fallzahlen werden nur drei Kohorten voneinander unterschieden. Die Einteilung der Geburtsjahrgänge in Kohorten erfolgt in Anlehnung an Bürklin et al. (1994: 598; vgl. Klein 1995), wobei allerdings bei der Interpretation weniger der politisch-soziale Sozialisationskontext um das 15. Lebensjahr der jeweiligen Geburtsjahrgänge als vielmehr der Verlauf der Bildungsexpansion, im Zuge der die Bildungsbeteiligung von Frauen gestiegen ist (vgl. Hecken 2006), betrachtet werden soll. Die Referenzgruppe bildet die Kohorte der zwischen 1924 und 1945 Geborenen, deren Mitglieder vor oder im Zweiten Weltkrieg geboren wurden und deren Ausbildung weitgehend vor der Bildungsexpansion stattgefunden hat. Die zweite untersuchte Generation beinhaltet die zwischen 1946 und 1964 Geborenen, die in politischen Betrachtungen meist als „1968er Generation“ gekennzeichnet werden und die stark von der Bildungsexpansion profitieren konnten. Die dritte Kohorte der zwischen 1965 und 1974 Geborenen ist ebenso eine Kohorte der Bildungsexpansion, wurde aber vor dem Hintergrund sich abzeichnender Wachstumsgrenzen und sozialer Probleme (Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Krisen) sozialisiert.
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
37
Tabelle 1: Länderübersicht: Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat
Belgien Dänemark Deutschland West Deutschland Ost Estland Finnland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Italien Luxemburg Niederlande Norwegen Österreich Polen Portugal Schweden Schweiz Slowakei Slowenien Spanien Tschechien Ukraine Ungarn
Bildungssystem (Stratifizierungsgrad) mittel gering hoch gering gering gering mittel mittel mittel mittel mittel mittel hoch gering hoch gering mittel gering hoch gering gering mittel gering gering gering
Wohlfahrtsstaat konservativ sozialdemokratisch konservativ ex-staatssozialistisch ex-staatssozialistisch sozialdemokratisch konservativ familienorientiert liberal familienorientiert familienorientiert konservativ konservativ sozialdemokratisch konservativ ex-staatssozialistisch familienorientiert sozialdemokratisch liberal ex-staatssozialistisch ex-staatssozialistisch familienorientiert ex-staatssozialistisch ex-staatssozialistisch ex-staatssozialistisch
Auf der Makroebene werden zwei Kategorisierungen in die Modelle integriert: der Stratifizierungsgrad des Bildungssystems und der Wohlfahrtsstaatstypus. Entsprechend der Einteilung von Müller und Shavit (1998) bzw. Müller et al. (1997) wird zwischen gering, mittel und hoch stratifizierten Bildungssystemen unterschieden.6 Hoch stratifiziert heißt dabei, dass es ein früh einsetzendes Tracking gibt, mehrere hierarchisch positionierte Bildungswege parallel laufen und nur wenige Möglichkeiten, zwischen den vorgegebenen Bildungswegen zu wechseln, bestehen. Die Schweiz, Westdeutschland und Österreich erweisen sich als besonders hoch stratifiziert, während die Bildungssysteme der skandinavischen Länder wie Norwegen und Finnland oder ehemaliger Ostblockstaaten wie Ungarn und Estland besonders gering stratifiziert sind. Die ehemaligen 6
Bei der Eingruppierung wurde neben den genannten Quellen auch auf EU-Informationen zu den Bildungssystemen von Eurydice zurückgegriffen (http://eacea.ec.europa.eu/education/eurydice/ eurybase_en.php).
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Andreas Hadjar und Joël Berger
staatssozialistischen Staaten wurden im Hinblick auf die vor den Umbrüchen in den Jahren 1989 und 1990 bestehenden Bildungssysteme klassifiziert, da die vor diesen Ereignissen ausgebildeten Kohorten von Interesse sind. 7 Der Typus des Wohlfahrtsstaats wird über die an Esping-Andersens (1990) klassische Typologie angelehnte und um familienorientierte und ex-staatssozialistische Länder erweiterte Kategorisierung nach Blossfeld und Hofmeister (2006) bestimmt (vgl. Zuordnung der Länder, vgl. Tabelle 1 oben).8
5 Ergebnisse Zur Betrachtung der sich verändernden Bildungsungleichheiten werden zunächst deskriptive Analysen präsentiert, in denen die Unterschiede zwischen den Bildungssystemen und Wohlfahrtsstaatstypen anschaulich dargestellt werden können, bevor dann Ergebnisse aus Mehrebenenanalysen erläutert werden.
5.1 Kohortenspezifische Geschlechterunterschiede nach Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat Kohortenunterschiede in den Bildungsungleichheiten nach Geschlecht in den verschiedenen Bildungssystemtypen sind in Abbildung 1 dargestellt. Die präsentierten Chancenverhältnisse (odds ratios) beziehen sich auf die Fragestellung, wie hoch die Chancen von Frauen im Vergleich zu Männern sind, eine Hochschulreife zu erwerben: Werte über 1 weisen auf Vorteile für Frauen hin, Werte unter 1 zeigen, dass Frauen schlechtere Chancen als Männer haben, über eine Hochschulzugangsberechtigung zu verfügen. Der Wert 1 würde auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Bildungserwerb hinweisen. Der Stern über oder unter dem odds ratio-Wert zeigt an, dass die Abweichung von der Geschlechtergleichverteilung mindestens auf dem 5-Prozent-Niveau statistisch 7
Für die Analysen werden die gering und mittel gegliederten Bildungssysteme zu einer Kategorie zusammengefasst. Dieser Schritt ist notwendig, weil in den vorliegenden Daten kein einziges sozialdemokratisches oder postsozialistisches Land mit einem nicht gering gegliederten Bildungssystem vorliegt. Ohne Kategorisierung könnten die Modelle aufgrund des empty cell problems nicht geschätzt werden (vgl. Long 1997). 8 Es ist zu beachten, dass in den ehemals staatssozialistischen Ländern frühe Geburtskohorten meist in einem vorsozialistischen System ausgebildet wurden, während die zwischen 1946 und 1964 Geborenen einen Großteil ihrer Bildungslaufbahn in gesamtschulartigen staatssozialistischen Bildungssystemen absolvierten. Die jüngsten Kohorten (Geburtsjahrgänge 1965-1974) begannen hingegen ihre Bildungslaufbahn im staatssozialistischen System, um die Tertiärstufe in einem neustrukturierten Bildungssystem abzuschließen.
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
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bedeutsam ist. Bei den zwischen 1924 und 1945 Geborenen zeigt sich ein klares Missverhältnis zu Ungunsten von Frauen, das in hoch stratifizierten Bildungssystemen stärker ausgeprägt ist als in gering oder mittel stratifizierten Ländern. In hoch stratifizierten Systemen hatten Frauen der Kohorten 1924-45 eine um den Faktor 0,32 geringere Chance, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erhalten, als Männer, d.h. dass die Chancen der Frauen um 68 Prozent geringer sind als die der Männer. Während das Geschlechterverhältnis in den niedrig und mittel stratifizierten Ländern in den Folgekohorten (Geburtsjahrgänge 1946-64) fast ausgeglichen ist, sind in hoch stratifizierten Ländern Frauen weiterhin benachteiligt. In den jüngsten betrachteten Kohorten (1964-74) haben sich in den Bildungssystemen mit niedrigem und mittlerem Stratifizierungsgrad die Bildungsungleichheiten hinsichtlich des Erwerbs der Hochschulreife zu Gunsten der Frauen umgekehrt – d.h., dass diese nun eine im Vergleich zu Männern um 35 Prozent höhere Chance auf eine Hochschulzugangsberechtigung haben –, während in hoch stratifizierten Systemen in diesen Kohorten auch weiterhin ein Rest an Benachteiligung von Frauen zu konstatieren ist. Entsprechend der Theorie (vgl. Müller et al. 1997) erweisen sich Ungleichheiten – auch nach Geschlecht – in hoch stratifizierten Systemen als besonders resistent. Abbildung 1: Geschlechterunterschiede im Bildungserwerb im Wandel nach Stratifizierungsgrad des Bildungssystems 10
* 1.35 0.98 1 0.6
*
0.72
0.58
*
*
0.32
* 0.1 Kohorten 1924-45
Kohorten 1946-64 niedrige und mittlere Stratifikation
Kohorten 1965-74 hohe Stratifikation
Anmerkungen: odds ratios, Signifikanz: * p < .05 Quelle: ESS 2004 (UK 2006)
Abbildung 2 ermöglicht einen Vergleich der kohortenspezifischen Geschlechterungleichheiten zwischen verschiedenen Wohlfahrtsstaatstypen. Tendenziell
Andreas Hadjar und Joël Berger
40
nimmt die Benachteiligung der Frauen im Bildungserwerb in allen Wohlfahrtsstaatstypen ab. In den jüngsten Kohorten der 1964-74 Geborenen kommt es allerdings nur in sozialdemokratischen und postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten sowie relativ unerwartet auch in familienorientierten Gesellschaften zu einer Umkehrung der Geschlechterungleichheiten zu Ungunsten von Männern. In liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaaten ist die Geschlechterverteilung bezüglich der Chance, die Hochschulreife zu erwerben, nahezu ausgeglichen. Abbildung 2: Geschlechterunterschiede im Bildungserwerb im Wandel nach Wohlfahrtsstaatsregime 10
1.17 1.15
* 1.64 * 1.39
* 1.34
1 0.57 0.47 * 0.44 * *
0.79 * 0.53
0.87
0.990.89
0.7 0.7 * *
*
0.1 Kohorten 1924-45 familienorientiert
konservativ
Kohorten 1946-64 liberal
Kohorten 1965-74
sozialdemokratisch
postsozialistisch
Anmerkungen: odds ratios, Signifikanz: * p < .05 Quelle: ESS 2004 (UK 2006)
In einem Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass in Europa über die Kohortenabfolge Geschlechterunterschiede beim Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung zu Ungunsten von Frauen abgenommen haben. Am stärksten ist diese Entwicklung in gering und mittel stratifizierten Bildungssystemen sowie in sozialdemokratischen, postsozialistischen und familienorientierten Wohlfahrtsstaaten. Hier erlangen in der jüngsten untersuchten Kohorte mehr Frauen als Männer die Hochschulreife (CASMIN 2c-Niveau).
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
41
5.2 Mehrebenenmodelle zum Wandel der Geschlechterungleichheiten Die nachfolgenden multivariaten Analysen werden mittels binär-logistischer Multilevel-Regressionsverfahren (random intercept) durchgeführt (vgl. Guo und Zhao 2000). Solche Modelle werden der hierarchischen Datenstruktur gerecht: Stichprobenelemente innerhalb sozialer Einheiten, hier Nationalstaaten, sind voneinander in der Regel nicht statistisch unabhängig – es existiert eine gewisse Intraklassenkorrelation. Inhaltlich bedeutet dies, dass Menschen einander innerhalb von Nationalstaaten aufgrund einer gemeinsamen Kultur und ähnlichen Lebensbedingungen in Bezug auf bestimmte Merkmale ähnlicher sind als Menschen zwischen verschiedenen Staaten. 9 Dies betrifft nicht zuletzt auch das abhängige Merkmal der folgenden Analysen: die Chance, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erreichen. Zunächst wird die Bildungsbeteiligung der Frauen im Vergleich zu Männern nach Stratifizierungsgrad des Bildungssystems – gering stratifizierte Bildungssysteme versus mittel bis hoch stratifizierte Systeme – beschrieben (Tabelle 2). Dabei werden auf der Individualebene die Kohortenzugehörigkeit und die Bildung der Eltern kontrolliert. In einem zweiten Schritt wird exploriert, ob – wieder unter Berücksichtigung von Kontrollvariablen – unterschiedliche geschlechtsspezifische Bildungschancen zwischen den einzelnen Wohlfahrtsstaatstypen vorliegen (Tabelle 3). Dann werden die unterschiedlichen Modelle integriert (Tabelle 4), und es wird geprüft, ob zwischen den verschiedenen Kontexten (Bildungssysteme und Wohlfahrtsstaats-Typen) tatsächlich systematische Differenzen in Bezug auf geschlechtsspezifische Bildungschancen bestehen. Dabei werden Struktur des Bildungssystems und Ausprägung des Wohlfahrtsstaates simultan getestet, um der Frage nachzugehen, ob eigenständige Effekte 9
In Random intercept-Modellen fängt eine länderspezifische Fehlerkomponente solche idiosynkratischen Momente auf (Kreeft und De Leeuw 2007: 9-10; vgl. auch Rabe-Hesketh und Skrondall 2008). In der Tat zeigen die von Null verschiedenen Schätzer für den Rho-Wert in den leeren Modellen für die einzelnen Wohlfahrtsstaatsregimes (Tabellen 1 und 2) deutlich, dass Intraklassenkorrelation vorhanden ist. Sie variiert von ρ = 0.07 in familienorientierten bis zu ρ = 1.10 in postsozialistischen Staaten. Da gerade bei großer Fallzahl innerhalb der Cluster bereits geringe Werte um 0.01 das Risiko eines Alpha-Fehlers deutlich erhöhen können (Kreeft und De Leeuw 2007: 10; vgl. auch Hadler 2004), sind Mehrebenen-Modelle adäquate Verfahren für die Analyse der vorliegenden Daten. In den berichteten Modellen wird jeweils die residuale Intraklassenkorrelation (d.h. die Intraklassenkorrelation hinsichtlich der unabhängigen Variablen) angegeben. Je kleiner die residuale (bedingte) Intraklassenkorrelation ausfällt, desto besser gelingt es zu erklären, warum sich Beobachtungen innerhalb von Ländern ähnlicher sind als zwischen den Ländern (Rabe-Hesketh und Skrondal 2008: 58-59). Die Entscheidung, nur ein Random interceptModell mit fixen Koeffizienten zu schätzen, stützt sich auf Snijders und Berkhof (2008). Damit können Aussagen über die inkludierten Länder getroffen werden, aber keine Generalisierungen für Gesamt-Europa. Dies würde aber auch keinen Sinn ergeben, weil die selektierten Länder keine Zufallsauswahl europäischer Länder darstellen.
Andreas Hadjar und Joël Berger
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beider Merkmale auf das Ausmaß an geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten vorliegen. Tabelle 2: Geschlechtsspezifischer Bildungserwerb in Europa nach Stratifizierungsgrad des Bildungssystems Binär-logistische Regressionsmodelle unter Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur (random intercept model; Maximum Likelihood Schätzung) Stratifizierung des Bildungssystems
Abhängige Variable: Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung
Niedrige und mittlere Stratifizierung OR s.e. Sig.
Hohe Stratifizierung OR s.e. Sig.
Ebene der Gesellschaften Individuelle Ebene Geschlecht (Ref. Mann) Frau
.58
.03
***
.28
.03
***
1946-1964 1965-1974
2.05 2.60
.10 .16
*** ***
1.88 2.50
.23 .39
*** ***
Interaktionseffekt Geschlecht • Geburtskohorten (Ref. Frau x 1924-45) Frau x 1946-1964 Frau x 1965-1974
1.70 2.50
.11 .21
*** ***
2.30 2.84
.37 .58
*** ***
Soziale Herkunft Bildung der Eltern (Ref. niedrige Bildung) Mittlere Bildung Hohe Bildung
5.22 12.10
.24 1.00
*** ***
5.47 13.52
.50 2.29
*** ***
Geburtskohorten (Ref. 1924-45)
Log Likelihood -13322.87 N Länder 21 N Individuen 26892 ρ 0.06 SD Interzept 0.47 Nullmodell: LL; ρ -8151.55 ; 0.09 Anmerkungen: Signifikanz: * p <. 05; ** p <. 01; *** p < .001 Quelle: ESS 2004 (UK 2006), Level-1 n = 157.931, Level-2 n = 24 ungewichtete Ergebnisse, eigene Berechnungen
-2455.62 4 5702 0.18 0.85 -11451.31; 0.24
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
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Zunächst wird der Einfluss des Bildungssystems auf das Ausmaß der Bildungsungleichheiten untersucht. Es werden das Niveau und die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Bildungschancen getrennt nach Stratifizierungsgrad des Bildungssystems über die Kohortenabfolge betrachtet – unter Kontrolle der sozialen Herkunft (Bildung der Eltern). Während sich Länder mit hoch stratifizierten im Vergleich zu solchen mit mittel und gering stratifizierten Bildungssystemen (Tabelle 2) in Bezug auf das Ausmaß der Bildungsexpansion kaum unterscheiden, zeigen sich tatsächlich deutliche Unterschiede in den geschlechtsspezifischen Bildungschancen: Während in Staaten mit niedrig und mittel stratifizierten Schulsystemen Frauen eine um den Faktor 0,58 geringere Chance auf eine Hochschulzugangsberechtigung haben, ist ihre Chance in stark stratifizierten Systemen gegenüber den Männern sogar um den Faktor 0,28 bzw. um 72 Prozent reduziert. In beiden Bildungssystem-Kategorien hat die Bildungsbeteiligung hinsichtlich allgemeinbildender Sekundarschulen über die Kohortenabfolge deutlich zugenommen, so dass die Geburtsjahrgänge 1965-74 gegenüber den zwischen 1924 und 1945 Geborenen um das 2,5fache häufiger eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben konnten. Die Interaktionseffekte aus Kohorten und Geschlecht zeigen, dass die Chancen auf eine Hochschulzugangsberechtigung bei Frauen stärker zugenommen haben als bei Männern. Die etwas geringere Zunahme der Bildungsbeteiligung der Frauen bei gleichzeitig höheren Bildungschancen in gering oder im mittleren Ausmaß stratifizierten Systemen ist wohl darauf zurückzuführen, dass solche Systeme vor allem in sozialdemokratischen und postsozialistischen Staaten zu finden sind, wo die Bildungsbeteiligung der Frau tendenziell bereits in den jüngeren Kohorten auf relativ hohem Niveau lag. Es liegt also ein Ceiling-Effekt vor. Der Effekt der in den Modellen kontrollierten sozialen Herkunft folgt dem bekannten Muster: Die Chance auf eine Hochschulzugangsberechtigung ist am größten, wenn die Eltern selbst ein hohes Bildungsniveau aufweisen, wobei die Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft in stark stratifizierten Systemen – insbesondere der Chancenunterschied zwischen Kindern aus hoch gebildeten Familien und niedrig gebildeten Familien – etwas stärker ausfallen als in gering oder mittel stratifizierten Bildungssystemen. Weiter wird angenommen, dass neben der Struktur des Bildungssystems die Ausgestaltung der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen einen Einfluss auf das Ausmaß von Bildungsungleichheiten hat. Im Folgenden steht die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Bildungschancen in verschiedenen Wohlfahrtsstaatsregimes – wiederum unter Kontrolle der sozialen Herkunft (Bildung der Eltern) – im Zentrum der Analysen.
Andreas Hadjar und Joël Berger
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Tabelle 3: Geschlechtsspezifischer Bildungserwerb in Europa nach Wohlfahrtsstaatsregime Binär-logistische Regressionsmodelle unter Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur (random intercept model; Maximum Likelihood Schätzung) Wohlfahrtsstaatsregime
Abhängige Variable: Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung
familienorientiert
konservativ
liberal
OR
s.e.
Sig.
OR
s.e.
Sig.
OR
s.e.
Sig.
Frau
.54
.06
***
.40
.04
***
.46
.07
***
Geburtskohorten (Ref. 1924-45) 1946-1964 1965-1974
2.80 4.37
.28 .50
*** ***
1.72 2.19
.16 .25
*** ***
2.08 2.18
.33 .43
*** ***
Interaktionseffekt Geschlecht x Geburtskohorten (Ref. Frau x 1924-45) Frau x 1946-1964 Frau x 1965-1974
1.62 2.75
.22 .43
*** ***
1.85 2.41
.23 .38
*** ***
1.35 2.12
.29 .55
ns **
8.36
1.00 5.64
*** ***
4.61 13.3
.34 1.82
*** ***
4.75 8.79
.63 1.59
*** ***
Ebene der Gesellschaften Individuelle Ebene Geschlecht (Ref. Mann)
Soziale Herkunft Bildung der Eltern (Ref. niedrige Bildung) Mittlere Bildung Hohe Bildung Log Likelihood N Länder N Individuen ρ SD Interzept Nullmodell: LL; ρ
25.9
-3659.74 5 7063 0.07 0.49 -4645.11; 0.07
-3893.06 6 7483 0.11 0.62 -4819.99; 0.17
-1402.42 2 3075 0.15 0.77 -1762.65; 0.23
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
Binär-logistische Regressionsmodelle unter Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur (random intercept model; Maximum Likelihood Schätzung) Wohlfahrtsstaatsregime
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Abhängige Variable: Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung
sozialdemokratisch OR s.e. Sig.
OR
postsozialistisch s.e. Sig.
Geschlecht (Ref. Mann) Frau
.78
.08
**
.49
.04
***
Geburtskohorten (Ref. 1924-45) 1946-1964 1965-1974
2.14 3.04
.22 .42
*** ***
1.67 1.53
.16 .19
*** ***
Interaktionseffekt Geschlecht x Geburtskohorten (Ref. Frau x 1924-45) Frau x 1946-1964 Frau x 1965-1974
1.56 2.16
.23 .45
** ***
2.43 3.15
.30 .52
*** ***
Soziale Herkunft Bildung der Eltern (Ref. niedrige Bildung) Mittlere Bildung Hohe Bildung
3.56 6.83
.35 .94
*** ***
6.50 18.38
.50 3.75
*** ***
Ebene der Gesellschaften Individuelle Ebene
Log Likelihood -2695.71 N Länder 4 N Individuen 5272 ρ 0.05 SD Interzept 0.43 Nullmodell: LL; ρ -3209.93; 0.09 Anmerkungen: Signifikanz: * p < .05; ** p <. 01; *** p <. 001 Quelle: ESS 2004 (UK 2006), Level-1 n = 157.931, Level-2 n = 24 ungewichtete Ergebnisse, eigene Berechnungen Random-intercept models
-4036.58 8 9701 0.93 0.21 -5163.95
Tabelle 3 legt zunächst offen, dass in sämtlichen Wohlfahrtsstaatsregimes eine Bildungsexpansion statt gefunden hat: die Kohorten 1946-64 sowie 1956-74 haben durchweg signifikant höhere Chancen, eine Hochschulzugangsberechti-
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gung zu erlangen als die zwischen 1924 und 1945 Geborenen. Besonders markant ist die Zunahme in den familienorientierten und sozialdemokratischen Ländern, etwas moderater in konservativen und liberalen und verhältnismäßig gering in postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten. Offensichtlich trifft die Diagnose einer „politisch blockierten“ (Geißler 2004: 17) Bildungsexpansion zwecks Sicherung der erlangten Pfründe durch die sozialistische Elite nicht nur für die ehemalige DDR zu (vgl. Mayer und Solga 1994; Hadjar und Berger 2010). Wird nicht nach Kohorten differenziert, zeigt sich, dass Frauen in sämtlichen Wohlfahrtsstaatstypen signifikant geringere Chancen haben, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erlangen. Mit einer gegenüber den Männern um 28 Prozent reduzierten Chance auf eine Hochschulzugangsberechtigung sind die Benachteiligungen der Frauen in sozialdemokratischen Staaten am geringsten ausgeprägt, gefolgt von den familienorientierten, den postsozialistischen Staaten, liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaaten. Auf den ersten Blick überrascht, dass die postsozialistischen Staaten mit einem odds ratio von 0,49 nur im Mittelfeld liegen. Dies liegt darin begründet, dass für die Kohortenabfolge kontrolliert wird: Wie ein Blick auf Abbildung 3 zeigt, unterscheidet sich das Ausmaß der geschlechtsspezifischen Ungleichheit in postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten in den ältesten Kohorten kaum von jener in anderen Wohlfahrtsstaatstypen – abgesehen von den egalitären Sozialdemokratien. In den mittleren Kohorten ist ein rasanter Abbau der Ungleichheiten zu verzeichnen ist. 10 Die Interaktionsterme aus der Kohortenzugehörigkeit und dem Geschlecht indizieren, dass Frauen massiv von der Bildungsexpansion profitieren konnten: Bis auf eine Ausnahme – die mittleren Kohorten in den liberalen Ländern – haben die Frauen in den mittleren und jüngeren Kohorten im Vergleich zu Frauen der Kohorten 1924-45 signifikant höhere Chancen auf eine Hochschulzugangsberechtigung. Die Bildung der Eltern, die in den Modellen als Kontrollvariable dient, hat wiederum den erwarteten Einfluss auf das Bildungsniveau. In sozialdemokratischen und liberalen Wohlfahrtsstaaten sind die herkunftsspezifischen Bildungsungleichheiten im Vergleich am geringsten ausgeprägt. 11 Allgemein stellt sich die Frage, ob beide Makro-Variablen, die strukturelle Ausprägung des Bildungssystems wie auch das Wohlfahrtsstaatsregime, je einen eigenständigen Effekt haben. Um diese Frage zu klären und die deskriptiv ge10 Wie hier nicht berichtete Analyen zeigen, beträgt der odds ratio-Wert in den postsozialistischen Ländern 0.81, wenn für die Entwicklung über die Kohorten nicht kontrolliert wird. 11 Im Vergleich zum jeweiligen Nullmodell sind die Log-Likelihood-Werte, die ein Maß für die Diskrepanz zwischen Modell und Daten darstellen, in sämtlichen Modellen geringer. Wenig überraschend leisten die Individualvariabeln einen Beitrag zur Vorhersage dafür, ob Individuen eine Hochschulzugangsberechtigung erlangen. Auch die durchwegs geringeren Werte der bedingten (residualen) Intraklassenkorrelation im Vergleich zur den unbedingten Werten in den Nullmodellen zeigen, dass die Modelle Erklärungskraft besitzen.
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
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fundenen Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Bildungssystemen und Wohlfahrtsstaatsregimes auf Signifikanz zu prüfen, wird nachfolgend ein integriertes Modell geschätzt. Dabei wird zuerst geprüft, ob sich die beschriebenen Unterschiede in den geschlechtsspezifischen Bildungschancen auf eine Hochschulzugangsberechtigung zwischen Bildungssystemen (Modell 1) und Wohlfahrtsstaatstypen (Modell 2) unterscheiden. In Modell 3 werden die beiden Makro-Variablen simultan getestet. Zentral dabei sind Cross-Level-Interactions, d.h. Interaktionsterme, die aus einer Kontext- und einer Individualvariable (Geschlecht) gebildet werden. Auf diese Weise kann untersucht werden, ob das Geschlecht als Individualmerkmal in verschiedenen Kontexten – hier: Bildungssysteme und Wohlfahrtsstaatstypen – eine unterschiedliche Wirkung auf die abhängige Variable hat (Hadler 2004: 67).12 Den Interaktionseffekten aus Geschlecht und Stratifizierungsgrad in Modell 1 kann entnommen werden, dass Frauen in Ländern mit niedrig bzw. mittel stratifizierten Systemen höhere Chancen haben, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erreichen, als in hoch stratifizierten Bildungssystemen. In Modell 2 werden die Unterschiede in den geschlechtsspezifischen Bildungschancen nach Wohlfahrtsstaatstypus deutlich. Im Vergleich zu konservativen Wohlfahrtsstaaten (Referenzkategorie) haben die Frauen in familienorientierten, postsozialistischen und vor allem in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten signifikant höhere Chancen auf eine Hochschulzugangsberechtigung. Im voll spezifizierten Modell 3 werden die Einflüsse des Wohlfahrtsstaates und des Bildungssystems simultan getestet. Während das Bildungssystem einen eigenständigen Effekt hat – in mittel und gering stratifizierten Systemen haben Frauen auch unter Kontrolle des Wohlfahrtsstaatsregimes eine größere Chance auf eine Hochschulzugangsberechtigung als in hoch stratifizierten Regimes –, unterscheiden sich die Bildungschancen der Frauen nur noch in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten von der Referenzkategorie der konservativen Regimes: Frauen haben hier eine höhere Chance auf eine Hochschulzugangsberechtigung als in konservativen Regimes. Das heisst, dass sich nur der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstypus hinsichtlich der Gleichstellung der Frauen im Bildungssystem von den anderen Regimes abhebt und die besten Bildungschancen für Frauen bietet.13
12 Während die Richtungen und die statistische Bedeutsamkeit (Signifikanz) dieser Interaktionseffekte sinnvoll interpretiert werden kann, lässt sich der odds ratio-Wert an sich nicht deuten. 13 Ein Vergleich der Log-Likelihood-Werte zeigt eine deutlich bessere Modellanpassung der spezifizierten im Vergleich zu den leeren Modellen. Auch die Intraklassenkorrelation wird markant reduziert.
Andreas Hadjar und Joël Berger
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Tabelle 4: Geschlechtsspezifischer Bildungserwerb in Europa Binär-logistische Regressionsmodelle unter Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur (random intercept model; Maximum Likelihood Schätzung)
Abhängige Variable: Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung Modell 1
OR
s.e.
.64
.30
Modell 2
Sig.
OR
s.e.
Modell 3
Sig.
OR
s.e.
Sig.
.51
.25
.64 1.82 1.70 2.45
.32 1.05 .88 1.12
*
Ebene der Gesellschaften Stratifizierung des Bildungssystems (Ref. hohe Stratifizierung) Geringe und mittlere Stratifizierung Wohlfahrtsstaatsregime (Ref. konservativ) Familienorientiert Liberal Sozialdemokratisch Postsozialistisch
.46 1.70 1.21 1.74
.20 1.99 .56 .67
+
Individuelle Ebene Geschlecht (Ref. Mann) Frau
.50
.04
***
.63
.04
***
.51
.04
***
Geburtskohorten (Ref. 1924-45) 1946-1964 1965-1974
2.75 4.26
.09 .17
*** ***
2.75 4.26
.09 .17
*** ***
2.80 4.27
.09 .17
*** ***
Soziale Herkunft Bildung der Eltern (Ref. niedrige Bildung) Mittlere Bildung Hohe Bildung
5.23 12.1
.22 .89
*** ***
5.25 12.1
.22 .89
*** ***
5.24 12.1
.22 .89
*** ***
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
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Cross-Level Interaktionen Interaktionsterme Geschlecht Frau x Stratifizierung (Ref. Frau x hohe Stratifizierung) Frau x mittlere und niedrige Stratifizierung
1.77
.14
***
Interaktionsterme Geschlecht Frau x Wohlfahrtsstaatsregime (Ref. Frau x konservativ) Frau x familienorientiert Frau x liberal Frau x sozialdemokr. Frau x postsozialistisch
1.39 .93 1.69 1.37
.11 .10 .15 .11
*** *** ***
-15860.50 -15857.16 Log Likelihood 0.18 0.13 ρ 0.68 0.71 SD Interzept -19608.576; 0.25 Nullmodell: LL; ρ Anmerkungen: Signifikanz: * p < .05; ** p < .01; *** p < .001 Quelle: ESS 2004 (UK 2006), Level-1 n = 32594, Level-2 n = 25 ungewichtete Ergebnisse, eigene Berechnungen
1.56
.16
1.10 .83 1.34 1.08
.10 .10 .14 .10
***
**
-15847.92 0.12 0.70
6 Schlussfolgerungen und Diskussion Ziel war es, das Ausmaß an Geschlechterungleichheiten im Bildungssystem nach Bildungssystem und Wohlfahrtsstaatstypus sowie den Wandel in den geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten zu untersuchen. Im Zuge der Bildungsexpansion bzw. über die Kohortenabfolge hat ein Abbau geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in den untersuchten europäischen Ländern stattgefunden. In Ländern mit einem niedrig oder im mittleren Ausmaß stratifizierten Bildungssystem sowie in sozialdemokratischen und postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten haben sich in den jüngsten Kohorten die Geschlechterunterschiede dahingehend gewendet, dass nun Jungen geringere Chancen auf eine Hochschulzugangsberechtigung haben. Offenbar haben die politischen Maßnahmen und institutionellen Settings eine starke Erhöhung der Bildungsbeteiligung von Frauen begünstigt. Die Hypothese 1 konnte bestätigt werden – mit Blick auf alle Kohorten und die untersuchten europäischen Länder sind Frauen im Bildungssystem benach-
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Andreas Hadjar und Joël Berger
teiligt. Auch Hypothese 2 fand durch die Daten Unterstützung, denn die Benachteiligungen von Frauen sind im Zuge der Bildungsexpansion zurückgegangen. Dieser Befund gilt, wie bereits erwähnt, für alle thematisierten Bildungssysteme und Wohlfahrtsstaatstypen. Unterschiede finden sich nur im Ausmaß der Reduktion dieser Benachteiligungen. Hypothese 3 konnte ebenso bestätigt werden, dass die Geschlechterungleichheiten in mittel und gering stratifizierten Bildungssystemen geringer sind als in hoch stratifizierten. Die Beurteilung von Hypothese 4 vor dem Hintergrund der Befunde fällt weniger eindeutig aus: Während Geschlechterunterschiede in der Bildungsbeteiligung zu Ungunsten von Frauen wie erwartet in ex-staatssozialistischen und sozialdemokratischen Staaten stärker als in liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaaten ausgeprägt sind, verwunderte auf der anderen Seite die relativ hohe Bildungsbeteiligung von Frauen in familienorientierten Systemen. Entgegen der Erwartung zeigte sich hier nicht das größte Ausmaß an Geschlechterunterschieden im Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung. Vielleicht ist dies darauf zurückzuführen, dass die Bildungsexpansion in diesen Ländern von besonderen Maßnahmen zur Integration von Frauen ins Bildungssystem begleitet war – insbesondere nach dem Ende der Diktaturen in Spanien oder Griechenland wurden im Zuge der Liberalisierung starke Anstrengungen zur Gleichstellung von Frauen unternommen. Interessant ist auch der Befund, dass bei simultaner Betrachtung von Bildungssystemen und Wohlfahrtsregimetypen sich die Bildungssysteme nicht mehr voneinander unterscheiden und bei den Wohlfahrtsstaatsregimes nur die sozialdemokratischen Gesellschaften signifikant bessere Bildungschancen von Frauen aufweisen (Referenzkategorie: familienorientierte Wohlfahrtsstaaten). Scheinbar sind Eigenschaften der eher gering stratifizierten Systeme für den Bildungserfolg der Frauen in den familienorientierten und postsozialistischen Staaten verantwortlich, während in sozialdemokratischen Staaten zusätzliche Mechanismen – etwa progressivere Vorstellungen zur Rolle der Frau und zur Sinnhaftigkeit von Investitionen in die Bildung von Frauen – eine Rolle spielen. Ein wesentlicher Punkt für Diskussion ist die Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse in den 25 Ländern bzw. Territorien. Die Ergebnisse reagieren sensitiv auf Zuordnungseffekte, wenn einzelne Bildungsabschlüsse einer nächst niedrigeren oder einer nächst höheren Kategorie zugeordnet würden, hätte das einen Effekt auf das gemessene Bildungsniveau und das Ausmaß an Ungleichheit. Des Weiteren können Wandlungsprozesse über eine Kohortenbetrachtung nur suboptimal rekonstruiert werden. Sinnvoll wären eine Betrachtung von Lebensverläufen sowie längsschnittliche Analysen unter simultaner Berücksichtigung von Alters-, Perioden- und Kohorteneffekten (vgl. Hadjar 2008). Interessant wäre zudem die Inklusion weiterer Variablen in die Modelle – zum Beispiel der Frauenerwerbstätigkeit sowie der gesellschaftsspezifischen Ausprägung der
Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Europa
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Geschlechterrollenvorstellungen. Leider standen für solche Analysen keine für alle Länder vergleichbaren Zahlen zur Verfügung. Einen weiteren Anlass für Kritik geben sicher auch die teilweise geringen Fallzahlen auf der Makroebene der Länder. So sind die Ergebnisse für den liberalen Wohlfahrtsstaatstypus in Anbetracht von nur zwei Ländern wenig aussagekräftig. 14 Auch die Betrachtung der postsozialistischen Wohlfahrtsregimes bedürfte einer dezidierteren Interpretation, da über die Kohortenabfolge teilweise mehrere Regimewechsel (Übergänge in ein staatssozialistisches Regime, Transformation nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regimes) stattgefunden haben. Dennoch sind Gemeinsamkeiten dieser Länder erkennbar, etwa die propagierte ZweiErnährer-Familie und Kinderbetreuungseinrichtungen sowie die Erfahrungen mit Regimewechseln. Zu fragen ist nun nach den verschiedenen Mechanismen, die den Abbau der Benachteiligung der Frauen und das Entstehen von Geschlechterunterschieden zu Ungunsten von Jungen begünstigt haben. Das soll im weiteren Verlauf dieses Sammelbandes geleistet werden.
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Wie erwähnt, stellen Random intercept-Modelle ohnehin ein Mittel zum Vergleich der Länder innerhalb der Stichprobe dar, auf eine Generalisierung sollte daher auch aus methodischen Gründen verzichtet werden.
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Andreas Hadjar und Joël Berger
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Bildungsungleichheiten nach Geschlecht und Herkunft im Wandel Rolf Becker und Walter Müller
1 Einleitung In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Bundesrepublik Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern ein enormer Wandel in der Bildungsbeteiligung nach Geschlechtern vollzogen (Breen et al. 2010). Während Frauen vor zwei bis drei Jahrzehnten noch deutlich niedrigere Bildungsabschlüsse als Männer erworben haben, so haben sie die Männer beim Bildungserwerb fast in jeder Hinsicht überholt. Inzwischen erwerben sie in deutlichem Maße höhere Schulabschlüsse als Männer (Becker 2007a; Müller 1998). Nach neueren Entwicklungen zeichnet sich auch bei den Promotionen und Habilitationen eine Angleichung ab, die sich in den nächsten Jahren verstärken wird, wenn die jüngsten Jahrgänge der Hochschulabsolventen das Promotions- und Habilitationsalter erreichen werden. Die Konturen dieser Entwicklung zeichnen sich bereits ab: Frauen jüngerer Geburtsjahrgänge setzen in den Hochschulen ihre Ausbildung im tertiären Bildungsbereich geradliniger fort als die älteren Kohorten. Diese Entwicklung in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte ist an sich schon deswegen bemerkenswert, als in den 1960er Jahren mit der bildungspolitisch einflussreichen Kunstfigur des katholischen Arbeitermädchens vom Lande in symbolischer Weise auf die Schlechterstellung von Mädchen und Frauen im deutschen Bildungssystem hingewiesen wurde (Carnap und Edding 1962; Dahrendorf 1965: 48; Peisert 1967: 99; Friedeburg 1992; Rodax und Rodax 1996; Becker 2007a). Gegenwärtig ist in der empirischen Bildungsforschung – um in der Sprachlichkeit in Form von Kunstfiguren zu bleiben – eher von schlechten Noten und Sitzenbleiben als „Bubenproblem“ oder vom „türkischen Arbeiterjungen in der Großstadt“ die Rede. Solch ein Wandel der kumulativen strukturellen Benachteiligungen nach Geschlecht im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland stellt für die mechanismenbasierte Erklärung eine besondere Herausforderung dar (Hedström 2008). Denn für einen längeren Zeitraum – wie etwa für die Weimarer Republik oder für die Nachkriegszeit – sind kaum ausreichende Datengrundlagen vorhanden, die eine soziologische Tiefenerklärung des Wandels geschlechtspezifischer Bildungschancen ermöglichen (Becker 2006, 2003; Müller 1998; Müller und Haun 1994). Aus diesem Grund beschränA. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Rolf Becker und Walter Müller
ken wir uns – anlehnend an die Arbeiten von Breen et al. (2009, 2010) – bei der Frage nach den Gründen für den Wandel von Geschlechterdisparitäten beim Bildungserwerb auf den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen nach Geschlecht. Im Vordergrund steht die Frage, ob bei den Mädchen und Frauen inzwischen die Disparitäten von Bildungschancen nach der sozialen Herkunft niedriger sind als bei den Männern und ihr höherer Bildungserfolg möglicherweise auch darin begründet liegt. Hieraus ergibt sich die Frage, welche Mädchen und Frauen im Zuge der Bildungsexpansion und im Vergleich zu den Jungen und Männern aufgeholt haben. Um diese Frage in systematischer Weise empirisch untersuchen zu können, wer im Hinblick auf das Geschlecht zu den „Gewinnern und Verlierern der Bildungsexpansion“ (Budde 2006: 488) zählt, werden im zweiten Abschnitt verschiedene Erklärungsstränge diskutiert. Im Vordergrund stehen hierbei das Wechselspiel von Geschlecht und sozialer Herkunft nach Klassenlage des Elternhauses. Im dritten Abschnitt werden die Daten der Deutschen Lebensverlaufsstudie und des ALLBUS sowie die Herangehensweise an die empirische Analyse beschrieben. Nachdem im vierten Abschnitt die empirischen Befunde dargestellt werden, erfolgt im abschließenden fünften Abschnitt die Diskussion dieser Befunde. Daraus sollen Schlussfolgerungen für weitergehende Forschung gezogen werden.
2 Theoretischer Hintergrund Bei den gegenwärtigen Versuchen, die Geschlechterdisparitäten bei den Bildungschancen und ihren Wandel zu erklären, dominieren im deutschsprachigen Raum Ad-hoc-Vermutungen und wenig überzeugende Analysen (z.B. Diefenbach und Klein 2002) über eindeutige empirische Evidenzen (vgl. Buchmann und DiPrete 2009; Jacob 2002: 597; Rodax und Rodax 1996; Blossfeld 1985). Aber was sind die Mechanismen des Wandels beim geschlechtsspezifischen Bildungsverhalten, auch nach sozialer Herkunft? Für unsere Fragestellung ist die von Boudon (1974) vorgeschlagene und populär gewordene Unterscheidung primärer und sekundärer Effekte sozialer Schichtung hilfreich. Die primären Herkunftseffekte beschreiben den Zusammenhang sozialer Herkunft, Sozialisation und Erziehung im Elternhaus und daraus resultierende Unterschiede in der schulischen Performanz mit ihren Konsequenzen für den Bildungserwerb. Als sekundäre Effekte dagegen werden die Einflüsse sozialer Herkunft auf Bildungsentscheidungen bezeichnet, die unabhängig von den schulischen Leistungen wirken und – insbesondere verursacht durch die für Bildungsinvestitionen verfügbaren sozioökonomischen Ressour-
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cen, die soziokulturelle Distanz des Elternhaus zum System höherer Bildung und die sozial differente Ausprägungen des Statuserhaltmotivs – Auswirkungen auf Bildungschancen, Bildungsbeteiligungen und Bildungswege im Lebensverlauf haben. Dieses Konzept lässt sich ebenfalls auf die Bildungschancen nach Geschlecht übertragen (vgl. dagegen Need und de Jong 2000: 94-95). Mädchen können ihren Bildungsrückstand gegenüber den Jungen aufgeholt und diese übertroffen haben, weil sich ihre Leistungen verbessert haben oder weil sie bei vergleichbaren Leistungen nun anspruchsvollere Bildungsziele verfolgen als früher. Allerdings ist wenig plausibel, dass der massive Wandel im geschlechtsspezifischen Bildungserwerb sich vor allem als Folge von Veränderungen in den schulischen Leistungen von Mädchen und Jungen vollzogen hat. Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft profitieren von frühester Kindheit an in unterschiedlicher Weise von kulturellen, sozialen, ökonomischen und auch genetischen Ressourcen für ihre kognitive Entwicklung und erhalten unterschiedliche Förderung und Motivierung für das Lernen in der Schule. Das dürfte für beide Geschlechter in ähnlicher Weise gelten. Deshalb sollte die soziale Herkunft bei beiden Geschlechtern in weitgehend ähnlicher Weise zu Leistungsunterschieden in der Schule führen. Dieses schließt begrenzte herkunftsspezifische Unterschiede in den schulischen Leistungen von Jungen und Mädchen nicht aus. Denn je nach schichtspezifisch unterschiedlichen schulischen Ambitionen für Jungen und Mädchen können diese von den Eltern unterschiedlich für schulische Leistungen gefördert oder motiviert werden. Es dürfte aber ziemlich unwahrscheinlich sein, dass die Mädchen die Knaben oder die Frauen die Männer vor allem durch die Verbesserung ihrer schulischen Leistungen bei den Bildungschancen überholt haben. Dann hätten sie diesbezüglich früher deutlich schlechter abgeschnitten haben müssen als die Jungen. Damit verneinen wir nicht, dass die Mädchen heute die Jungen in den schulischen Leistungen übertreffen (siehe Müller et al. 2010). Wir vermuten vielmehr, dass dies nicht neu, sondern schon früher der Fall gewesen ist, als die Mädchen in den Bildungsabschlüssen noch hinter den Jungen zurücklagen. Diese Vermutung können wir sogleich empirisch überprüfen (siehe Tabelle 1). Für die Entwicklung der guten vs. schlechten Schulnoten am Ende der Grundschulzeit ziehen wir für den recht einfachen historischen Vergleich zum einen Paneldaten aus der Studie „Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien“ (Fauser und Schreiber 1987; Becker 2000) und zum anderen Querschnittsdaten der IGLU-E-2001-Studie (Bos et al. 2003) heran. Noch im Jahre 1980, als die Knaben vergleichsweise günstigere Bildungschancen hatten als Mädchen, erzielten Mädchen – bei Kontrolle der sozialen Herkunft – eher gute Schulnoten in Deutsch (d.h. besser als der Notendurchschnitt von 2,4) als die Jungen, während
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Rolf Becker und Walter Müller
diese wiederum eher bessere Schulnoten in Mathematik erzielten als Mädchen. Bei Kontrolle der sozialen Herkunft hatten Mädchen eine rund zwei Mal bessere Chance, gute Deutschnoten zu erzielen als die Jungen; die Jungen hatten eine rund 1,2-mal bessere Chance, gute Mathematiknoten zu bekommen (siehe Modell 1). Damit werden ähnliche Ergebnisse in bereits vorliegenden Studien bestätigt (für Deutschland z.B. Bos et al. 2003; für andere Länder z.B. Downey und Yuan 2005). Wie erwartet, lagen auch Differenzen der Schulleistungen nach der Klassenlage des Elternhauses vor (vgl. Becker 2000). Diese bleiben auch dann bestehen, wenn die Interaktion von sozialer Herkunft und Geschlecht kontrolliert wird (siehe jeweils Modell 2). Die Interaktionseffekte für die Deutschnoten sind nicht signifikant, aber sie deuten an, dass bei den Mädchen aus den unteren und mittleren Sozialschichten der Vorsprung vor den Knaben nicht ganz so hoch ist wie in der oberen Dienstklasse. Dagegen haben vor allem die Arbeitermädchen signifikant schlechtere Mathematiknoten als die Arbeiterjungen. Da hierbei der Haupteffekt für das Geschlecht insignifikant wird, heißt das, dass vor allem die ungünstigen Mathematikleistungen der Arbeitermädchen den Geschlechtereffekt für die Mathematiknoten zu Gunsten der Knaben ausmachen, während in Deutsch als Schulfach die Mädchen durchgängig und unabhängig von der sozialen Herkunft bessere Leistungen als die Knaben aufwiesen. Tabelle 1: Entwicklung der guten vs. schlechte Schulnoten am Ende der Grundschulzeit (odds ratios, geschätzt mit binärer logistischer Regression) Periode 1980 2001 Schulfach Deutsch Mathematik Deutsch Mathematik Modell 1 2 1 2 1 2 1 2 Geschlecht Jungen 1 1 1 1 1 1 1 1 Mädchen 1,99* 2,68* 0,83* 1,02 2,21* 1,83* 0,81* 0,65* Soziale Herkunft Arbeiterklasse 0,27* 0,46* 0,45* 0,82 0,37* 0,33* 0,37* 0,31* Mittelschichten 0,51* 0,91 0,64* 0,83 0,69* 0,63* 0,65* 0,59* Obere Dienstklasse 1 1 1 1 1 1 1 1 Interaktion: Mädchen · Arbeiterklasse 0,69 0,67* 1,31 1,41* Mittelschichten 0,67 0,84 1,23 1,20 Obere Dienstklasse 1 1 1 1 Pseudo-R² 0,059 0,060 0,018 0,019 0,052 0,053 0,029 0,029 (McFadden) 2878 2878 2886 2886 4210 4210 5226 5226 N mindestens p ≤ 0.05 Quelle: Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien (1980) und IGLU-E 2001 – eigene Berechnungen
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Betrachten wir die Situation für das Jahr 2001, in dem die Mädchen bereits deutlich bessere Bildungschancen als die Jungen aufweisen (vgl. Diefenbach und Klein 2002): Was die reinen Geschlechter- und Herkunftseffekte anbelangt, gibt es für die Verteilungen der Deutsch- und Mathematiknoten keine Unterschiede zwischen den beiden Zeitpunkten. Selbst die Chancenverhältnisse sind in ihrer Größenordnung sehr ähnlich (vgl. Modell 1). Veränderungen haben sich allerdings für die Interaktionen von sozialer Herkunft und Geschlecht ergeben. Demnach haben vor allem die Arbeitermädchen und die Mädchen aus den Mittelschichten aufgeholt. Während bei den Deutschnoten keine signifikanten Interaktionen vorliegen, so haben sich die Verhältnisse für die Mathematiknoten umgekehrt: Im Jahre 1980 fanden sich nach Modell 2 keine signifikanten Haupteffekte (weder für Geschlecht noch für Herkunft), aber die Arbeitermädchen waren gegenüber den Jungen aus den Arbeiterklassen im Nachteil. Im Jahre 2001 dagegen ergeben sich für Geschlecht und Herkunft signifikante Haupteffekte. Die Interaktionseffekt lassen sich so deuten, dass in den Mathematiknoten vor allem die Mädchen aus der oberen Dienstklasse hinter den Jungen aus dieser Herkunftsschicht zurückbleiben, während die Arbeitermädchen ähnliche Noten wie die Arbeiterjungen erhalten (siehe Modell 2 für 2001 in Tabelle 1: 0,65 ∙ 1,41 = 0,92).1 Da sich bei dieser Analyse der Schulnoten in den Haupteffekten für Geschlecht und soziale Herkunft in beiden Fächern nach Modell 1 wenig ändert, können die zwischen den beiden Zeitpunkten bei den Mädchen im Vergleich zu den Jungen deutlich verbesserten Bildungsabschlüsse nicht ausschließlich auf verbesserte schulische Leistungen der Mädchen zurückgeführt werden.2 1
Für Deutschland kommt Klieme (1997) bezüglich der Mathematikleistungen zum Ergebnis, dass sich in den vergangenen 30 Jahren bei den Geschlechterunterschieden nicht viel verändert habe. In einer neueren Übersicht über die Befundlage in Mathematik und Naturwissenschaften stellen Becker et. al. (2006) für die Entwicklung seit den 1960er Jahren eine Verringerung des Vorsprungs der Jungen gegenüber den Mädchen fest. Dieses Faktum resultiert wahrscheinlich daraus, dass Mädchen mit der Zeit häufiger auf anspruchsvollere Schulformen überwechseln, während nach Hosenfeld et al. (1999) innerhalb der Schulformen die Unterschiede teilweise noch bestehen. Letztere Unterschiede lassen sich auch auf die Auswirkungen differentieller Lernmilieus in den Schullaufbahnen erklären: Die Mathematikleistungsdifferenzen zu den Jungen werden kleiner, weil Mädchen – ihren Leistungen entsprechend – häufiger ins Gymnasium oder die Realschule eintreten und dort größere Kompetenzgewinne als bei einem Verbleib auf der Hauptschule erzielen. Die Geschlechterdisparitäten in den Sprachen hingegen vergrößern sich (vgl. Becker et al. 2006). 2 Die Geschlechterdisparitäten in den Schulleistungen können auch nicht dadurch erklärt werden, dass aufgrund der Feminisierung des Primarlehrberufs und fehlender männlicher Vorbilder im Bildungssystem die Knaben in den letzten Jahren schlechter gestellt werden, weil die Lehrerinnen Mädchen bevorzugen, und die Mädchen deswegen bessere Chancen hätten, die Realschule oder das Gymnasium zu besuchen (Helbig 2010; Neugebauer et al. 2010; Schneider 2010). Mit den jüngst vorgelegten Befunden ist das Argument von Diefenbach und Klein (2002: 949-950) empirisch hinfällig, dass mit dem gesunkenen Anteil männlicher Grundschullehrer die Lehrerinnen die Schul-
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Insgesamt lassen sich diese Befunde zum Zeitvergleich in den primären Effekten auch als eine Entwicklung von etwas stärkeren zu etwas geringeren Herkunftsdisparitäten bei den Mädchen als bei Jungen interpretieren. Angesichts der Zahlenverhältnisse kann dies aber allenfalls in vergleichsweise geringem Maße den massiven Wandel in den Disparitäten des Bildungserwerbs zwischen den Geschlechtern erklären. Im Zusammenspiel der beiden Mechanismen haben eher die Wirkungen sekundärer Effekte – als Folge unterschiedlichen Bildungsverhaltens von Männern und Frauen trotz gleicher Leistungen – dominiert und dominieren weiterhin (vgl. Entwisle et al. 2005).3 Aus dieser theoretischen Perspektive ist die Konzeption primärer und sekundärer Effekte sozialer Ungleichheit nützlich, um das Zusammenwirken von sozialen und Geschlechterdisparitäten in einem einheitlichen Erklärungsmodell zu systematisieren. Wenn bei gleichen Leistungen oder bei gleichem Leistungsvermögen die Kinder und ihre Eltern an den entscheidenden Verzweigungsstellen im Bildungssystem – zudem je nach ihrer sozialen Lage – unterschiedlich anspruchsvolle weiterführende Bildungswege auswählen und an unterschiedlichen Stellen aus dem Bildungssystem ausscheiden, dann sind Erklärungen dafür zu suchen, warum sich Bildungsentscheidungen in der Zeit geändert haben. Es ist dann auch zu klären, warum vor allem Mädchen beim Erwerb von Bildungsabschlüssen davon profitiert und hierbei mit den Knaben nicht nur gleichgezogen, sondern diese schließlich überholt haben und sich dadurch Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Bereich schulischer Bildung nunmehr zu Ungunsten von Jungen verschoben haben. Es gab in der Vergangenheit die paradoxe Situation, dass Mädchen mit niedrigeren Abschlüssen aus dem Bildungssystem ausgeschieden sind, obwohl sie in den schulischen Leistungen ebenso gut wie die Jungen oder sogar besser waren. Wenn der massive Wandel in den Geschlechterdisparitäten von einer Situation ausgeprägter Bildungsungleichheiten zum Nachteil der Frauen zu der Situation mit deutlich ungünstigerem Ausgang für die Männer weit überwiegend auf Veränderungen in den Bedingungen für das Entstehen sekundärer Disparitäten beruht, dann stellt sich die Frage, welche kultur prägen und deswegen in der Schule verstärkt solche Verhaltensweisen erwartet und prämiert werden, die Mädchen im Vergleich zu den Jungen während ihre Erziehung und Sozialisation eher erlernen, während Jungen aufgrund ihres störenden Verhaltens eher Nachteile bei der Beurteilung hinnehmen müssen und dadurch schlechtere Bildungschancen hätten (vgl. Budde 2006). 3 Es mag zwar sein, dass die Mädchen in neuerer Zeit die Jungen verstärkt in den Leistungen übertreffen, aber die wesentliche Komponente im massiv veränderten Bildungsverhalten der Geschlechter dürfte in geschlechtsspezifisch veränderten Investitionen in weitere Bildung bei gegebenen Leistungen liegen. Damit sehen wir uns im Gegensatz zu den spekulativen Überlegungen von Quenzel und Hurrelmann (2010), die eine sich seit etwa 20 Jahren herausbildende Krise in den schulischen Leistungen der Jungen postulieren, die sich aus veränderten gesellschaftlichen Bedingungen für die Erfüllung von zentralen Entwicklungsaufgaben im Sozialisationsprozess bei den Jungen im Unterschied zu den Mädchen ergäben.
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Veränderungen stattgefunden und welche Gruppen unter den Mädchen und Frauen davon letztendlich profitiert haben. Bei der Suche nach potentiellen Antworten lassen wir uns durch die Mechanismen der herkunftsspezifischen Bildungsentscheidungen leiten. Sie stützen sich vornehmlich auf die individuellen subjektiven Abwägungen von Kosten und Nutzen weiterführender und höherer Bildung. Bei gegebenem schulischem Leistungsvermögen werden sich zwischen Jungen und Mädchen im Wesentlichen nur Ertragserwartungen unterscheiden. Genau in dieser Hinsicht haben sich im Zeitverlauf die Bedingungen für die Frauen im Vergleich zu den Männern massiv gewandelt. Was die Kosten anbelangt, ist kaum zu erwarten, dass sinkende Bildungskosten ausschlaggebend für den Wandel der Bildungsdisparitäten zwischen Geschlechtern waren, zumal die Investitionsrisiken für Mädchen wegen tendenziell besseren schulischen Leistungen schon immer geringer waren als für Knaben und Veränderungen in den Bildungskosten beide Geschlechter in ähnlicher Weise treffen. Eine gewichtigere Rolle für die Erklärung des Wandels geschlechtsspezifischer Bildungsbeteiligung und der damit gekoppelten Ungleichheit von Bildungschancen kommt den subjektiv erwarteten Renditen von Bildungsinvestitionen auf dem Arbeitsmarkt zu. Mit der zunehmenden außerhäuslichen Erwerbstätigkeit der Frauen werden auch für Frauen Investitionen in Bildung ähnlich bedeutsam wie für Männer. Dies führt dazu, dass sich die Beteiligungsmuster der Geschlechter angleichen. Die Verringerung der Bildungskosten (Abschaffung von Schulgeldern, Ausbau der weiterführenden Schulen in der Nähe der Wohnorte der Schüler, verbesserte Transportbedingungen, bei gleichzeitiger Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen) und die erhöhte Nachfrage nach höher qualifizierten Arbeitskräften sind dagegen Triebkräfte der Bildungsexpansion, die für beide Geschlechter ähnlich wirkten. Ein historischer Rückblick zeigt, dass veränderte Erwerbsmöglichkeiten und eine veränderte Erwerbsorientierung der zunehmenden Bildungsbeteiligung von Frauen vorausgegangen sind. Nicht die erhöhte Bildungsbeteiligung hat die Zunahme der Erwerbstätigkeit ausgelöst, sondern die im Hinblick auf veränderte Lebensperspektiven und Planungen getroffenen Bildungsentscheidungen werden dann auch in einem veränderten Lebenslauf mit mehr Erwerbstätigkeit realisiert. Mit der gestiegenen Möglichkeit, langfristig und mit entsprechenden Einkommensaussichten außerhäuslich erwerbstätig zu sein, erscheinen dann wiederum den Frauen lange wie riskante Ausbildungen lohnenswert (Charles und Luoh 2003). Hierzu haben nicht zuletzt auch die Expansion des öffentlichen Dienstes als Arbeitgeber und die zunehmende Bedeutung von Dienstleistungsberufen im staatlichen und privatwirtschaftlichen Sektor beigetragen (vgl. Becker 1993; Blossfeld und Becker 1989; Müller et al. 1983). Der allgemeine
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Aufholprozess der Frauen lässt sich deshalb wohl am besten mit dem gestiegenen Nutzen erklären, den Frauen aus Bildung ziehen, wenn die eigene Erwerbstätigkeit zunehmend zur Selbstverständlichkeit auch für den Lebensentwurf von Frauen wird. Buchmann und DiPrete (2006) zeigen für die USA, dass in der Folge weiterer Entwicklungen für Frauen der Ertrag von Bildung zunehmend den für Männer übertrifft, weil sich Bildung für Frauen nicht nur auf dem Arbeitsmarkt auszahlt, sondern auch in höherer Stabilität von Ehe und Partnerschaft sowie geringerem Verarmungsrisiko infolge einer Scheidung. Ein weiteres Element sozialen Wandels, das vor allem Frauen die Bildungsplanung erleichtert und die Investitionen in Bildung weniger riskant gemacht haben sollte, ist mit der leichteren Verfügbarkeit von Kontrazeptiva gegeben (Charles und Luoh 2003: 573). Mit der Erfindung der „Pille“ und ihrer allmählichen Verbreitung konnten Mädchen und Frauen zentrale Bereiche ihres Lebensverlaufs – nämlich Bildung, Erwerbstätigkeit und Familienbildung – unabhängig von Risiken ungewollter Schwangerschaft (Goldin 2006) und der Heirat zwecks Sicherung des Lebensunterhalts planen und in rationaler Weise die Bildungsphase verlängern sowie Heirat und Familienbildung aufschieben (vgl. Blossfeld und Huinink 1991). Auch die zunehmende Gelegenheit, einen Lebenslauf ohne Partner und Kinder planen zu können, lassen Bildungsinvestitionen ertragssicherer erscheinen. Die Unsicherheiten hinsichtlich der Renditen aufwändiger Bildungsinvestitionen (Charles und Luoh 2003: 574) verringern sich. Der mit der besseren Planbarkeit von Ausbildung und Erwerbstätigkeit gewonnene Zeithorizont sowie die veränderten Zeitpräferenzen haben bei Mädchen und Frauen in der Kohortenabfolge zu steigenden Investitionen in höhere Bildung und Ausbildung und damit zu Verschiebungen in der Ungleichheit von Bildungschancen nach Geschlecht geführt. Höhere Bildung ist wahrscheinlich auch deshalb von größerer Bedeutung für die Frauen als für die Männer, weil der Arbeitsmarkt für Frauen auf nichtmanuelle Dienstleistungsberufe ausgerichtet ist – in neuerer Zeit vor allem auch in den Semiprofessionen (Lehrberuf, Sozialarbeit, Sozialpädagogik, medizinische Versorgung und Pflege). Es ist bekannt, dass in diesen Berufen, aber auch in den Professionen, die oft im öffentlichen Dienst ausgeübt werden, Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen geringer sind als in anderen Erwerbsbereichen (Becker 1991). Zudem lassen sie sich oft auch besser mit Familienarbeit verbinden. Da Bildung den Zugang zu diesen für Frauen besonders vorteilhaften Berufen eröffnet, sollten Frauen mehr Grund haben, auf höhere Bildung zu setzen als Männer, weil letztere im männlichen Arbeitsmarkt über eine Berufslehre (und evtl. Weiterbildung) Zugang zu qualifizierten Facharbeiter- und Technikerberufen haben, die mit guten Erwerbschancen verbunden sein können.
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Diese Option sollte vor allem auch für Söhne von Vätern in Arbeiterberufen attraktiv sein, weil sie damit den Familienstatus durch eine entsprechende berufliche Ausbildung reproduzieren können. Im Arbeitsmarkt für Frauen ist dies schwieriger, weil viele typische Berufslehren für Frauen oft in Arbeitsfelder mit wenig vorteilhaften Perspektiven führen (etwa Frisöre, Verkaufsberufe und andere niedrige Dienstleistungen). Mit diesen Überlegungen ist zu erwarten, dass (sekundäre) Anreize für höhere Bildung für Mädchen vor allem in Arbeiterfamilien diejenigen von Jungen übertreffen und Mädchen vor allem in diesen Familien die Jungen im Bildungsverhalten übertreffen. Das würde dann auch implizieren, dass Mädchen auch deshalb höhere Bildung als Jungen erreichen, weil bei ihnen die Ungleichheit nach sozialer Herkunft geringer ist als bei den Jungen.
3 Daten und Analysedesign Aus Gründen der Datenverfügbarkeit und der jeweiligen Besonderheiten in der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung beschränken wir die empirischen Analysen auf die Bundesrepublik Deutschland und nach dem Zusammenbruch der DDR auf Westdeutschland.4 Hierzu werden zwei Datensätze herangezogen, die aufgrund der kontinuierlichen Messung der wichtigsten Variablen in ein und demselben Erhebungsdesign besonders geeignet sind. So basieren die empirischen Analysen zum einen auf den retrospektiven Längsschnittdaten aus dem Teilprojekt „Lebensverläufe und gesellschaftliche Entwicklung“ der bis Mitte 2005 am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführten und von Karl Ulrich Mayer geleiteten Lebensverlaufsstudie (Mayer und Brückner 1989; Brückner 1990; Brückner und Mayer 1998). Seit 2005 wird diese Lebensverlaufsstudie im Center for Research on Inequalities and the Life Course (CIQLE) an der Yale University (New Haven, USA) fortgeführt (Mayer und Aisenbrey 2007). Ein herausragendes Charakteristikum der Lebensverlaufsstudie war die Befragung von Frauen und Männern in unterschiedlichen Geburtsjahrgängen. Die folgenden Analysen beschränken sich auf die Daten der westdeutschen Lebensverlaufsstudie, die Informationen über deutsche Personen aus den Geburtskohorten 1919-21, 1929-31, 1939-41, 194951, 1959-61 und 1971 enthält. Die zwischen 1986 und 1988 erhobene Kohorte 1919-21 umfasst 1.412 Männer und Frauen, und die Kohorten der um 1930, 1940 und 1950 Geborenen bestehen aus 2.171 Befragten. Die Erhebung ihrer 4
Für die Entwicklung in der DDR und in Ostdeutschland nach 1989 verweisen wir auf die vorzüglichen Analysen von Solga (1995, 1997), Mayer und Solga (1994) sowie Hadjar und Berger (2010).
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Lebensverläufe erfolgte im Zeitraum von 1981 bis 1983. Schließlich wurden im Jahre 1989 Lebensverlaufsdaten von 1.001 Frauen und Männern in der Kohorte 1959-61 erhoben. Die jüngste und aus 1435 Frauen und Männer bestehende Kohorte der 1971 Geborenen wurde zwischen 1998 und 1999 interviewt (Mayer 2008; Hillmert 2004). Die theoretisch fundierte Abgrenzung der einzelnen Kohorten in der westdeutschen Lebensverlaufsstudie ist geeignet, die Bildungsexpansion und den Wandel herkunfts- und geschlechtsspezifischer Disparitäten von Bildungschancen über die Kohortenabfolge nachzuzeichnen. Für Deutschland ist vor dem Hintergrund unserer Fragestellung der Kohortenvergleich deswegen besonders spannend, weil es eine Eigentümlichkeit der Bildungsentwicklung und -expansion in Deutschland ist, dass sie ohne einschneidende institutionelle Veränderung des Bildungssystems erfolgte. Zum anderen werden – um jüngste Entwicklungen in der Bildungsbeteiligung und beim Bildungserfolg abbilden zu können – kumulative Trenddaten des ALLBUS verwendet (Koch und Wassmer 2004). Die „Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) ist eine Querschnittserhebung der erwachsenen Wohnbevölkerung (ab dem Alter von 18 Jahren) in Privathaushalten. Die Erhebungen werden seit 1980 in zweijährigem Abstand durchgeführt. In persönlichen Interviews wird jeweils ein repräsentativer Querschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung befragt. Die Replikation von Fragekomplexen ermöglicht die Analyse von Entwicklungsprozessen und gesellschaftlichem Wandel wie etwa die Bildungsexpansion oder die Änderungen in der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen. Für die Fragestellung beschränken wir uns auf die Stichprobe der zwischen 1979 und 1987 geborenen Westdeutschen und auf die ALLBUS-Erhebungszeitpunkte von 1998 bis 2006. Für die Beschreibung des Wandels von herkunftsbedingten Bildungsungleichheiten folgen wir der Argumentation in der richtungweisenden Arbeit von Sørensen (1986): Demnach ist bei der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen zu berücksichtigen, dass die Klassenlage ein Haushaltsmerkmal ist, das alle Kinder von Eltern betrifft. Mobilitätsstudien hingegen, die so tun, als hätten alle Eltern nur ein einziges Kind, geben Struktur, Ausmaß und Richtung der intergenerationalen Mobilität sowie damit verbundene soziale Ungleichheiten in erheblich verzerrter Weise wieder (vgl. Becker 2009). So wird bei kleinen Stichproben das Ausmaß von Bildungsungleichheiten überschätzt, während es bei großen Stichproben unterschätzt wird, wenn die intergenerationale Transmission von Bildungschancen nur für einzelne Personen, aber nicht auch noch für deren Geschwister analysiert wird (vgl. Becker 2007b). Folgerichtig berücksichtigen wir bei der Lebensverlaufsstudie sowohl die Befragten als auch ihre Geschwister. Beim ALLBUS können allerdings ausschließlich die Befragten selbst – ohne ihre Geschwister – berücksichtigt werden.
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4 Empirische Befunde Die empirischen Analysen werden in zwei Schritten vorgenommen. Zuerst betrachten wir im ersten Schritt die Bildungschancen von Frauen und Männern im Zuge der Bildungsexpansion. In einem zweiten Schritt fokussiert die Analyse auf die herkunftsbedingten Bildungschancen für Frauen und Männer. Kommen wir zum ersten Schritt: In Tabelle 2 lässt sich die Entwicklung der Bildungschancen von Männer und Frauen über die Kohortenabfolge – gemessen am Erwerb allgemeinbildender Schulabschlüsse – bei Kontrolle ihrer sozialen Herkunft ablesen. Zum einen hatten um 1920, 1930, 1940 und 1950 geborene Männer deutlich bessere Chancen, das Abitur zu erwerben als Frauen in den gleichen Jahrgängen. Bei der Kohorte der um 1960 Geborenen haben die Frauen gegenüber den Männern gleichgezogen. Erst ab der Kohorte 1971 kehren sich die Geschlechterdisparitäten zu Gunsten der Frauen um. Schon für die Kohorte 1959-61 hatten Männer vergleichsweise geringere Chancen, ihre Schulbildung mit der Mittleren Reife abzuschließen als die Frauen. Tabelle 2: Entwicklung der Bildungschancen in der Kohortenabfolge in Westdeutschland5 Kohorten Schulabschluss Geschlecht Weiblich Männlich Soziale Herkunft Arbeiterklasse Mittelklasse Obere Dienstklasse Pseudo-R² N Schulabschlüsse in %
5
1919-21 MR ABI 1 0,58*
1 1,78*
1929-31 MR ABI
1939-41 MR ABI
1949-51 MR ABI
1 0,88
1 0,98
1 0,91
1 1,87*
1 1,46*
1 1,60*
1 1 2,24* 2,20* 12,7* 27,2* 0,119 2429
1 1 2,55* 7,84* 17,2* 132* 0,155 2352
1 1 3,05* 6,06* 23,5* 86,6* 0,143 2040
1 1 1,84* 2,04* 9,00* 16,5* 0,086 1944
19%
10%
13%
16%
10%
7%
8%
13%
Für die Kohorten der um 1920, 1930, 1940, 1950, 1960 und 1970 Geborenen wurden die Angaben der Befragten und ihrer Geschwister verwendet; bei der Kohorte 1979-87 handelt es sich ausschließlich um Befragte ohne ihre Geschwister.
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Kohorten 1959-61 1971 1979-87 Schulabschluss MR ABI MR ABI MR ABI Geschlecht Weiblich 1 1 1,16* 1,14* 2,00* 2,22* Männlich 0,60* 1,02 1 1 1 1 Soziale Herkunft Arbeiterklasse 1 1 1 1 1 1 Mittelklasse 1,94* 2,32* 1,69* 3,02* 2,06* 2,72* Obere Dienstklasse 3,69* 13,9* 3,07* 14,5* 3,32* 11,8* Pseudo-R² 0,076 0,055 0,055 N 3425 4524 706 Schulabschlüsse in 25% 26% 36% 30% 38% 43% % odds ratios, geschätzt mit multinomialer Logit-Regression mindestens p ≤ 0.05; MR = Mittlere Reife, ABI = Abitur (Referenzkategorie: Volks- bzw. Hauptschulabschluss) Datenbasis: Deutsche Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, und CIQLE, Yale University) und ALLBUS 1998-2006 (für die Kohorte 1979-87), eigene Berechnungen
Zum anderen variieren im Zeitverlauf auch die herkunftsbedingten Ungleichheiten. Sie sind besonders hoch zwischen Kindern aus Arbeiter- und oberer Dienstklasseherkunft sowie bei den Kohorten, in denen die Entscheidung für den Sekundarschultyp während des Zweiten Weltkrieges (Kohorte 1929-1931) oder in den frühen Nachkriegsjahren (Kohorte 1939-1941) zu treffen war. In den nachfolgenden Kohorten wurden die Herkunftsdisparitäten zwar geringer, fielen auch deutlich unter das Niveau der ältesten Kohorte, aber weisen insbesondere für den Erwerb der Hochschulreife auch in der jüngsten Kohorte noch ein hohes Niveau auf. Hiermit bestätigen wir die Ergebnisse anderer Studien mit anderen Datensätzen (vgl. Müller und Haun 1994; Schimpl-Neimanns 2000; Müller und Pollak 2004; Mayer et al. 2007). Der Befund abnehmender Disparitäten für die Bundesrepublik Deutschland entspricht ähnlichen Ergebnissen für mehrere andere europäische Länder (Breen et al. 2009, 2010). 6 Im zweiten Schritt betrachten wir die Entwicklung der herkunftsbedingten Disparitäten von Bildungschancen separat für Frauen und Männer (Tabelle 3). Die Abnahme dieser Disparitäten verlief nicht nur bis in die 1970er Jahre für Frauen ähnlich wie für Männer (vgl. Breen et al. 2009, 2010), sondern bis Anfang der 1990er Jahre und – mit Vorbehalt wegen geringer Fallzahlen – wahrscheinlich bis Ende des 20. Jahrhunderts. Auch wenn die Befunde für die jüngs6
Die teilweise im Vergleich hohen "odds ratios" erklären sich durch die extrem schiefe Verteilung bei den realisierten Schulabschlüssen zu Gunsten der Angehörigen der oberen Dienstklasse im Vergleich zu den sich besonders im Nachteil befindlichen Arbeiterkindern. Dafür und für die geringe Zellbesetzung bei einem Vergleich zwischen Gruppen, für die bestimmte Ereignisse oder Zustände jeweils selten oder sehr häufig vorkommen, ist diese Maßzahl extrem empfindlich.
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te Gegenwart wegen relativ kleiner Stichproben unsicher sind, finden sich Hinweise dafür, dass bei den Frauen herkunftsbedingte Disparitäten für den Erwerb eines mittleren Schulabschlusses sich so weit zurückgebildet haben, dass sie statistisch nicht mehr signifikant sind, während sie bei Männern auch in jüngster Gegenwart statistisch signifikant bleiben. Der Erwerb des Abiturs ist weiterhin für beide Geschlechter sozial ausgeprägt exklusiv, aber bei den Frauen möglicherweise ebenfalls etwas weniger als bei den Männern. Wie profitierten dann die Sozialschichten und Geschlechter in der Kohortenabfolge von der Bildungsexpansion? Sowohl für die Frauen als auch für die Männer vollzog sich – wie bereits mehrfach empirisch belegt (Blossfeld 1989) – die Bildungsexpansion erst in der Nachkriegszeit in der theoretisch erwarteten Kohortenabfolge (Tabelle 4, Insgesamt-Spalte). Tabelle 3: Entwicklung der Bildungschancen in der Kohortenabfolge in Westdeutschland – Frauen und Männer Kohorten Schulabschluss Frauen Arbeiterklasse Mittelklasse Obere Dienstklasse Pseudo-R² N Schulabschlüsse in % Männer Arbeiterklasse Mittelklasse Obere Dienstklasse Pseudo-R² N Schulabschlüsse in %
1919-21 MR ABI
1929-31 MR ABI
1939-41 MR ABI
1949-51 MR ABI
1 1 2,22 3,00 11,1 33,3 0,107 1284
1 1 2,67 4,00 16,7 100 0,154 1211
1 1 2,00 5,00 20,0 100 0,155 994
1 1 1,50 2,33 8,33 16,7 0,076 962
23%
11%
13%
17%
7%
5%
7%
11%
1 1 2,56 1,83 11,1 16,7 0,095 1145
1 1 2,33 8,00 16,7 100 0,151 1141
1 1 4,00 10,0 25,0 100 0,133 1046
1 1 2,40 1,83 10,0 16,7 0,089 1032
14%
9%
12%
14%
13%
9%
9%
16%
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Rolf Becker und Walter Müller
Kohorten 1959-61 1971 1979-87 Schulabschluss MR ABI MR ABI MR ABI Frauen Arbeiterklasse 1 1 1 1 1 1 Mittelklasse 1,81 2,67 1,79 3,67 2,30* 2,36 Obere Dienstklasse 3,85 16,7 3,03 16,7 2,50* 9,09 Pseudo-R² 0,066 0,058 0,053 N 1604 2169 337 Schulabschlüsse in 31% 24% 37% 30% 39% 47% % Männer Arbeiterklasse 1 1 1 1 1 1 Mittelklasse 2,11 2,13 1,69 2,86 1,84 3,29 Obere Dienstklasse 3,57 12,5 3,45 14,3 4,00 14,3 Pseudo-R² 0,074 0,053 0,043 N 1821 2346 369 Schulabschlüsse in 21% 28% 36% 29% 36% 39% % odds ratios, geschätzt mit multinomialer Logit-Regression * = n.s.; MR = Mittlere Reife, ABI = Abitur (Referenzkategorie: Volks- bzw. Hauptschulabschluss)
Die ab 1960 geborenen Frauen und Männer hatten sukzessive bessere Chancen, ihre Schulbildung mit der Mittleren Reife oder dem Abitur abzuschließen als zuvor geborene Geburtsjahrgänge. Hierbei ist bei den Frauen diese Kohortendifferenzierung von Bildungschancen weitaus ausgeprägter als bei den Männern. Bei beiden Geschlechtern waren vor allem Kinder mit Arbeiter- und Mittelklassenherkunft von Einschränkungen der Bildungschancen in den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren betroffen. Kinder aus der oberen Dienstklasse hingegen waren in ihren Bildungschancen wesentlich weniger beeinträchtigt von den Einschränkungen infolge des Krieges und den Krisen in der Nachkriegszeit. Bei der Berücksichtigung der sozialen Herkunft von Frauen und Männern werden die unterschiedlichen Entwicklungen für die Geschlechter offensichtlich (vgl. auch Becker 2007a). Während sich bei den Frauen die Bildungschancen vor allem für die Arbeitermädchen in den jüngeren Geburtsjahrgängen verbesserten und mit einigem Abstand auch die Frauen aus den Mittelschichten sich eher für die mittlere und höhere Schulbildung entschieden, sind die Kohortendifferenzen für die Frauen aus der oberen Dienstklasse deutlich geringer. Sicherlich ist das darauf zurückzuführen, dass diese Frauen mit der Zeit ein ‚ceiling’ erreicht haben und im Sinne einer Sättigung der Bildungsnachfrage zusätzliche Bildungsgewinne kaum noch realisieren konnten.
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Tabelle 4: Entwicklung der Bildungschancen in der Kohortenabfolge in Westdeutschland (odds ratios, geschätzt mit multinomialer Logit-Regression) Frauen Soziale Herkunft Schulabschluss Kohorten 1919-21 1929-31 1939-41 1949-51 1959-61 1971 1979-87 Pseudo-R² N
Insgesamt MR
ABI
Arbeiterklasse MR
ABI
Mittelklasse MR
ABI
Obere Dienstklasse MR ABI
1 1 0,37* 0,42* 0,49* 0,62* 0,67* 0,99 2,11* 3,66* 2,96* 5,32* 7,18* 19,9* 0,088 10891
1 1 1 1 1 1 0,34* 0,18* 0,33* 0,30* 0,53* 0,72 0,43* 0,32* 0,39* 0,52* 0,96 1,10 0,89 1,21 0,52* 1,01 0,72 0,74 3,16* 3,61* 2,13* 3,81* 0,93 1,95* 4,89* 4,79* 2,93* 5,38* 1,29 2,79* 9,96* 28,9* 8,65* 22,3* 2,33 8,92* 0,130 0,102 0,029 2521 5186 1709 Männer 1919-21 1 1 1 1 1 1 1 1 1929-31 0,44* 0,39* 0,48* 0,07* 0,39* 0,45* 0,93 0,77 1939-41 0,61* 0,43* 0,43* 0,17* 0,61* 0,54* 1,22 0,75 1949-51 0,87 0,89 1,06 0,93 0,84 0,87 1,08 1,03 1959-61 1,73* 1,99* 3,40* 1,37 1,72* 1,83* 0,97 1,58* 1971 3,79* 2,78* 6,61* 1,97* 3,77* 3,17* 2,42* 2,07* 1979-87 6,07* 5,81* 8,98* 3,77* 5,54* 6,57* 3,85* 3,82* Pseudo-R² 0,068 0,117 0,072 0,019 N 11146 2610 5417 1701 * mindestens p ≤ 0.05; MR = Mittlere Reife, ABI = Abitur (Referenzkategorie: Volks- bzw. Hauptschulabschluss)
Weitaus interessanter ist der Vergleich mit Männern aus unterschiedlichen Sozialschichten. So zeigt er zunächst, dass die Frauen in allen Sozialschichten größere Zuwächse bei den Bildungschancen realisieren konnten als die Männer in den jeweils gleichen Sozialschichten – mit Ausnahme bei der mittleren Reife in der oberen Dienstklasse, was darauf zurückzuführen ist, dass in dieser Herkunftsgruppe der Anteil der Frauen mit diesem Abschluss schon in der ältesten Kohorte relativ hoch war. Das entspricht dem Prozess des Aufholens von einem niedrigeren Ausgangspunkt und dann Überholens der Männer in allen sozialen Schichten. Bei der mittleren Reife wiederholt sich bei den Männern das bei den Frauen beobachtbare Muster einer von der oberen Dienstklasse über die Mittelklasse und dann zur Arbeiterklasse jeweils stärkeren – und insofern ausgleichenden – Zunahme in den relativen Chancen, diesen Abschluss zu erreichen. Beim Abitur gilt diese Abfolge bei den Männern nur im Verhältnis von oberer Dienstklasse und Mittelklasse, während die
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Rolf Becker und Walter Müller
Teilnahmeexpansion bei der Arbeiterklasse zurückbleibt und nicht über das Wachstum bei der Dienstklasse hinauskommt. Letztere Analysen lassen vermuten, dass vor allem das Aufholen von Mädchen aus den Arbeiterklassen und sicherlich zu einem Teil das kohortendifferenzierende Bildungsverhalten der Mädchen aus den Mittelschichten im Aggregat dazu geführt haben, dass sich die geschlechtsspezifischen Bildungsdisparitäten in der historischen Zeit zu Gunsten von Mädchen und Frauen gewandelt haben. Auf welchen Mechanismen (‚pull and push factors’ nach Gambetta 1987) der Wandel des Bildungsverhaltens und der Bildungschancen letztlich beruht, können wir zumindest für einen längeren historischen Zeitraum mit den verfügbaren Daten nicht (mehr) klären. Eine Teilerklärung mag sein, dass die Arbeitersöhne von dem Bildungsrückfall während der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre besonders stark betroffen waren: die entsprechenden Chancenverhältnisse sind – wie in Tabelle 4 dokumentiert – bei den Arbeitersöhnen deutlich stärker eingebrochen als bei den Arbeitertöchtern. Der Aufholprozess nach dem Krieg musste dann von einem niedrigeren Niveau ausgehend beginnen. Ein anderer Grund für das relative Zurückbleiben der Arbeitersöhne im Vergleich zu den Arbeitertöchtern mag in dem in Tabelle 1 beobachteten Aufbessern der Schulleistungen der Arbeitertöchter im Vergleich zu den Arbeitersöhnen liegen. Schließlich ist nach dem oben diskutierten Argument auch anzunehmen, dass Arbeitertöchter stärkere Nutzenanreize haben als Arbeitersöhne, auf höhere Bildung zu setzen, weil auf dem männlichen Arbeitsmarkt über vielfältige Berufslehren mehr statuserhaltende Optionen zur Verfügung stehen als bei den von Frauen präferierten Berufsfeldern (vgl. Müller und Pollak 2007). Dies wiederum kann Frauen motivieren, sowohl stärker in gute, höhere Bildung ermöglichende Schulleistungen zu investieren als auch bei gleichen Leistungen eine anspruchsvollere Bildungswahl zu treffen. Indirekten Aufschluss über diese weiterhin offenen Fragen dürften weiterführende Analysen mit informationsreichen Daten ans Tageslicht bringen (vgl. Müller et al. 2010).
5 Zusammenfassung und Schlussfolgerung Im vorliegenden Beitrag haben wir aus einer sozialhistorischen Lebensverlaufsperspektive den kohortendifferenzierenden Wandel für Disparitäten bei der Bildungsbeteiligung zwischen den Geschlechtern anhand des Beispiels der Chancen, einen höheren Schulabschluss zu erlangen, betrachtet. Hierbei wurde der Frage nachgegangen, ob bei den Mädchen und Frauen inzwischen die Dis-
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paritäten von Bildungschancen nach der sozialen Herkunft niedriger sind als bei den Männern und dadurch ihr höherer Bildungserfolg in der jüngsten Gegenwart möglicherweise auch darin begründet liegt. Ebenso sollte aus sozialstruktureller Sicht untersucht werden, welche Mädchen und Frauen im Zuge der Bildungsexpansion und im Vergleich zu den Jungen und Männern aufgeholt haben. Schließlich sollten – sofern möglich – Evidenzen herbeigeschafft werden, um zentrale Mechanismen des Wandels beim geschlechtsspezifischen Bildungsverhalten, auch nach sozialer Herkunft, aufzudecken. Unsere empirischen Analysen verweisen darauf, dass der Wandel von Bildungschancen zu Gunsten der Mädchen und Frauen nicht ausschließlich auf ihren Vorsprüngen in den Schulleistungen und den darauffolgenden Bildungserfolgen beruhen können. Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass die Mädchen heute wie damals schon die Jungen in den schulischen Leistungen übertreffen. Jedoch konnten wir in der Tat belegen, dass dieser Sachverhalt nicht neu, sondern schon früher der Fall gewesen ist, als die Mädchen in den Bildungsabschlüssen noch hinter den Jungen zurücklagen. Folglich dürften Anreize und Restriktionen sekundärer Disparitäten bei der Bildungsbeteiligung wichtige Mechanismen für die Erklärung des historischen Wandels der Bildungschancen von Frauen und Männer in sich bergen. Mit den uns zur Verfügung stehenden Daten der Deutschen Lebensverlaufsstudie und den Trenddaten des ALLBUS konnten wir keine direkten, sondern lediglich indirekte Hinweise hierfür herausarbeiten. Drei Entwicklungen sind hervorzuheben. Erstens haben sich bei Kontrolle der sozialen Herkunft im Vergleich zu den Männern die Bildungschancen von Mädchen und Frauen in der Nachkriegszeit von Kohorte zu Kohorte generell verbessert. Vor allem ab den 1960 Geborenen haben die Frauen mit den Männern gleichgezogen und ab der Kohorte 1971 haben die Frauen bessere Chancen, höhere Schulabschlüsse zu erwerben als Männer. Oder sie entscheiden sich eher für weiterführende Schulbildung. Zweitens sind in der Kohortenabfolge herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten für Frauen wie für Männer in der langfristigen Entwicklung geringer geworden. Die generell für beide Geschlechter zu beobachtende Abschwächung der Bildungsdisparitäten nach sozialer Herkunft kann deshalb den Wandel geschlechtsspezifischer Disparitäten des Bildungserwerbs nicht erschöpfend erklären. Wohl eher eine dritte, die jüngste Zeit betreffende Entwicklung: Demnach waren vor allem die Mädchen und Frauen aus den Arbeiter- und Mittelschichten im Vergleich zu den Knaben und Männern aus den gleichen Sozialschichten in der Lage, Bildungsrückstände mehr als wettzumachen. Vor allem die Arbeitertöchter haben hierbei deutlich die Arbeitersöhne übertroffen. Ähnliche
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Rolf Becker und Walter Müller
Verhältnisse gelten allerdings auch für die Mittelschichten. Diese Entwicklung ist kennzeichnend für den Wandel der Bildungsdisparitäten zwischen den Geschlechtern seit den 1980er Jahren. Allerdings wäre über plausibel erscheinende Ad-hoc- Annahmen zu klären, warum gerade die Arbeitertöchter die Träger dieser Entwicklung waren und wohl noch sind. Daher können wir abschließend Buchmann et al. (2008: 332) nur zustimmen: „In sum, we have much to learn about the nature, causes, and consequences of the changing gender gaps in education across the life course”.
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Geschlechterungleichheiten im intergenerationalen Bildungstransfer in der Schweiz Sandra Hupka-Brunner, Robin Samuel, Evéline Huber und Manfred Max Bergman
1 Einleitung Bildungsverläufe sind in den letzten Jahrzehnten heterogener und diskontinuierlicher geworden (Blossfeld und Shavit 1993). Trotz zunehmender Pluralisierung der Lebensverläufe bestehen soziale Ungleichheiten fort und verschärfen sich sogar stellenweise (Berger und Kahlert 2005; Buchholz et al. 2009; Lamprecht und Stamm 1996). Widmer und Ritschard (2009) gehen davon aus, dass die Pluralisierung von Lebensverläufen in der Schweiz geschlechtsspezifischen Mustern folgt. Das wirft die Frage auf, inwiefern sich damit – neben sozialen Ungleichheiten, die auf verschiedener sozio-ökonomischer oder kultureller Herkunft beruhen – auch geschlechtsspezifische soziale Ungleichheitsmuster verbinden. Gut belegt ist ein beträchtlicher Wandel im Bildungsverhalten von Männern und Frauen, der in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat: Junge Frauen gelten dabei als Gewinnerinnen der Bildungsexpansion, weil sie die jungen Männer bei den höheren Bildungsabschlüsse überholt haben (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008; SKBF 2010: 113, 122). Die erhöhte Bildungsbeteiligung von Frauen scheint sich aber bislang nicht in einer stärkeren Vertretung in höheren beruflichen Positionen oder ihren Ausbildungen entsprechenden Löhnen widerzuspiegeln (Bielby und Baron 1994; Cornelißen 2005; Leemann und Keck 2005; Magnusson 2009). Frauen und Männer orientieren sich bei der Ausbildungswahl immer noch an geschlechtsspezifischen Berufsbildern (Eccles 2005; Leemann und Keck 2004), gleiches gilt für Lehrstellenverantwortliche, wie Imdorf (2006) es für einige ausgewählte Berufsfelder zeigen konnte. Viele Berufsfelder werden nach wie vor von einem Geschlecht dominiert (Leemann und Keck 2005; Schafroth 2004). Zudem konnte für die Schweiz nachgewiesen werden, dass junge Frauen häufiger verzögert in eine zertifizierende Sek. II-Ausbildung1 einsteigen (Hupka 2003; Hupka et al. 2006). 1
Diese umfassen in der Schweiz vor allem Lehren, Maturitäts-Schulen, Diplommittelschulen und berufliche Vollzeitschulen.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Sandra Hupka, Robin Samuel, Evéline Huber und Manfred Max Bergman
Junge Männer und Frauen unterscheiden sich also einerseits hinsichtlich der Abschlüsse, die sie im Bildungssystem erlangen, andererseits aber auch hinsichtlich der Verläufe, die sie bis zum Abschluss vollziehen. In der Schweiz fehlen Informationen dafür, wie geschlechtsspezifische Verläufe determiniert werden, wie hoch das Ausmaß der Geschlechterdifferenzen ist und welche Folgen die verschiedenen Ausbildungsverläufe auf den weiteren Bildungs- und Berufsverlauf haben. In unserem Beitrag werden wir diese Thematik in drei Schritten untersuchen: Erstens werden wir darstellen, wie und in welchem Ausmaß sich die Bildungsverläufe von jungen Männern und Frauen in den ersten sieben Jahren nach Austritt aus der obligatorischen Schule, der nach neun Schuljahren stattfindet, in der Schweiz unterscheiden. Zweitens werden wir analysieren, inwiefern sich der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsverläufe auswirkt und drittens explorieren, ob junge Männer und Frauen in unterschiedlicher Art und Weise von den Ressourcen ihrer Eltern profitieren und soziale Ungleichheit sich in geschlechtsspezifischer Form reproduziert. Als theoretischer Rahmen dient die Kapital-Theorie von Bourdieu (1982, 1983), der zufolge Eltern bemüht sind, ihre eigene soziale Position an ihre Kinder zu vererben, indem sie ihr Kapital aktivieren und transferieren.
2 Theoretische Fundierung und Hypothesen: Die Kapital-Theorie von Bourdieu Bourdieu und Passeron (1971) haben die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen des Ausbildungssystems analysiert. Dabei kommt den erreichten Zertifikaten ein besonderer Stellenwert zu. Allerdings würde eine ausschließliche Betrachtung der Abschlüsse zu kurz greifen. Ebenso wichtig für die spätere gesellschaftliche Positionierung ist die Zeit, die für den Bildungsprozess aufgewendet werden kann (vgl. Bourdieu 1983: 197; Jurt 2008: 55). Angesichts der sich pluralisierenden und immer stärker durch Umwege und Verzögerungen gekennzeichneten Bildungsverläufe (Widmer und Ritschard 2009) gewinnt die zeitliche Dimension weiter an Bedeutung: Die Zeitpunkte, zu denen Entscheidungen institutionell erzwungen werden (Neuenschwander 2007), und die Abfolge verschiedener Bildungsphasen (Heinz 2000) werden für die weiteren Bildungs- und Erwerbsverläufe zu wichtigen Faktoren. Somit wird die Zeitlichkeit der Bildungsprozesse selbst zu einem Faktor der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Deswegen betrachten wir nicht nur erreichte Zertifikate, sondern auch die Zeitlichkeit der Bildungsverläufe, die wir in Anlehnung an Bourdieu
Geschlechterungleichheiten im intergenerationalen Bildungstransfer in der Schweizm
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als eine individuelle Ressource und als ein Produkt des intergenerationellen Kapitaltransfers betrachten. Gemäß Bourdieu (1983: 183) stellt Kapital akkumulierte Arbeit dar, die entweder in materieller oder inkorporierter Form vorliegen kann. Bourdieu unterscheidet dabei zwischen ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital, wobei diese Kapitalsorten ineinander transferierbar sind. Das ökonomische Kapital ist „[…] unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts.“ (Bourdieu 1983: 185). Kulturelles Kapital kann in inkorporierter, objektivierter oder institutionalisierter Form vorliegen: Inkorporiertes kulturelles Kapital wird verstanden als verinnerlichte, dauerhafte Dispositionen, objektiviertes kulturelles Kapital als kulturelle Güter und institutionalisiertes kulturelles Kapital als schulische Titel und Zertifikate. Soziales Kapital ist bestimmt durch die Quantität und Qualität der Beziehungsnetze einer Person. Es gilt als Multiplikator, weil so auf Ressourcen der Gruppenmitglieder zugegriffen werden kann und sich die eigenen Kapitalbestände dadurch mehren lassen. Als symbolisches Kapital wird gesellschaftliche Anerkennung oder Macht bezeichnet, die sich in Prestige oder Positionen niederschlagen kann. Dabei ist die spezifische Zusammensetzung und Struktur der verschiedenen Kapitalsorten 2 ebenso bedeutsam wie ihr Gesamtumfang (Krais 1983). So geht eine hohe Ausstattung mit einer Kapitalsorte nicht zwangsweise mit einer hohen Ausstattung anderer Kapitalsorten einher. Wir schlagen für den vorliegenden Beitrag vor, die Bildungsverläufe als einen Teil des kulturellen Kapitals der jungen Männer und Frauen zu betrachten. Dabei kann sowohl der klassische Indikator des Ausbildungszertifikates, als auch die zeitliche Dimension berücksichtigt werden. In diesem Sinne kann ein kontinuierlicher Ausbildungsverlauf, der mit einer Matur abschließt, als hohes kulturelles Kapital der jungen Erwachsenen angesehen werden, ein Ausbildungsverlauf mit Diskontinuitäten oder ohne Sek. II-Zertifizierung hingegen als eine Form des geringen kulturellen Kapitals. Der Transfer des Kapitals der Eltern an ihre Kinder lässt sich in demokratischen Gesellschaften über das Erreichen bestimmter Ausbildungszertifikate der Jugendlichen beobachten. Die bewerteten Fähigkeiten der Schülerinnen und 2
Die spezifische Zusammensetzung und Struktur der verschiedenen Kapitalsorten ist gemäß Bourdieu (1982) eines der Kennzeichen unterschiedlicher Milieus: Lehrer gelten als typisches Milieu mit hohem kulturellem, aber vergleichsweise geringem ökonomischen Kapital. Diese Struktur der Kapitalsorten resultiert dementsprechend auch in milieuspezifische Bildungsaspirationen: So benötigen die Kinder eines Arbeiters keine Matur zum Statuserhalt und präferieren darüber hinaus tendenziell „einfachere“ Ausbildungen, auch auf Basis milieuspezifischer Wertungen bestimmter Tätigkeiten.
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Sandra Hupka, Robin Samuel, Evéline Huber und Manfred Max Bergman
Schüler gelten hierbei als Vorbedingung für das Erreichen gesellschaftlicher Funktionen (Schelsky 1957). Der Zusammenhang zwischen der Bildung der Eltern und der Bildung der Nachkommen schwächt sich gemäß liberalen Theorien im Zuge der Bildungsexpansion und der Dominanz des Leistungsprinzips ab (vgl. Erikson 1992). Demnach erhöhe sich die soziale Mobilität, insbesondere nach oben. Bourdieu lehnt diese Vorstellung einer meritokratischen, d.h. leistungsgerechten, Gesellschaft ab. Stattdessen geht er davon aus, dass Eltern ihr Kapital an ihre Kinder transferieren (vgl. Abbildung 1) und sich so soziale Ungleichheit reproduziert. Abbildung 1: Modell des Kapitaltransfers Eltern ökonomisches, kulturelles, symbolisches Kapital Familie objektiviertes kulturelles Kapital Befragte Jugendliche Ende 9. Klasse (obligatorische Schule) inkorporiertes, objektiviertes, institutionalisiertes kulturelles Kapital
Ausbildungs- und Erwerbsverlauf als Bestandteil des kulturellen Kapitals der Befragten nach Austritt aus der obligatorischen Schule
Eltern mit einer hohen Kapitalausstattung, insbesondere mit hohem kulturellen Kapital, haben meistens eine sehr gute Kenntnis des Bildungssystems (Scherrer et al. 2007) und können daher für ihre Kinder informiertere Bildungsentscheidungen treffen. Zudem schaffen sie zumeist ein lernförderliches familiales Umfeld, so dass ihre Kinder bereits bei Schuleintritt einen Lernvorsprung vor anderen Kindern haben. In der neueren Bildungssoziologie wird oft auf das Konzept der primären und sekundären sozialen Ungleichheiten verwiesen. Primäre Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung von Kindern werden auf vorher gelagerte Leistungsunterschiede zurückgeführt, sekundäre soziale Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung auf zusätzliche unterschiedliche Bildungsentscheidungen (Baumert und Schümer 2002; Boudon 1974; Breen und Goldthorpe 1997). Darüber hinaus fördern Eltern unbewusst bei ihren Kindern von klein auf verinnerlichte Dispositionen, Einstellungen und Haltungen, durch die die Zugehörigkeit
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zu Milieus signalisiert wird (Habitus).3 An diesem Habitus orientiert sich die schulische Leistungsbewertung. Die schulische Leistungsbewertung der Lehrpersonen erfolgt selbst also nicht leistungsneutral, sondern auch anhand leistungsfremder Merkmale der Kinder, die durch ihre Herkunft sowie weitere Kontextmerkmale geprägt sind (Coradi Vellacott et al. 2003; Geissler 2006; Kronig 2007). Insbesondere der geschlechtsspezifische Habitus der Mädchen führt zu einer besseren Passung zwischen schulischen Erwartungen und Verhalten der Schülerinnen und somit zu besseren Noten junger Mädchen und Frauen (vgl. Conell 2008). Die vordergründig objektive Leistungsbewertung legt sich als legitimierender Schleier über die Prozesse des Kapitaltransfers (Bourdieu und Passeron 1971). Die elterlichen Ressourcen beeinflussen einerseits indirekt, vermittelt über die besseren schulischen Leistungsbewertungen, den Bildungsverlauf ihrer Kinder. Andererseits existieren zudem direkte Effekte der elterlichen Ressourcen auf den Bildungsverlauf ihrer Kinder: So können sich Eltern mit hohem ökonomischem Kapital eher Zusatzförderungen oder Privatschulen leisten und sind nicht auf eine schnelle finanzielle Eigenständigkeit ihrer Kinder angewiesen. Sie haben also mehr Zeit, um ihre Kinder zu unterstützen und können diesen etwa ein Studium ermöglichen (Bradley und Nguyen 2004). Scherrer et al. (2007) konnten zudem zeigen, dass viel ökonomisches Kapital das Risiko erhöht, dass Jugendliche einen Wunschberuf anstreben, der über ihren intellektuellen Fähigkeiten liegt. Die Autorinnen interpretieren diesen Befund dahingehend, dass das Streben nach Statuserhalt zu unrealistisch hohen Bildungsaspirationen führt und somit die Gefahr eines späteren Abbruchs in sich birgt. Hupka-Brunner et al. (2010) konnten zeigen, dass hoher Besitz an ökonomischen Kapital vor allem einen Einstieg in eine duale Lehre fördert. Dies wurde mit unterschiedlichen Selektionsprozessen von Lehrfirmen und schulischen Ausbildungsstätten (Seibert et al. 2009) und mit milieuspezifischen Präferenzen bestimmter Ausbildungsgänge erklärt (Buchmann et al. 2007).4 Soziales und symbolisches Kapital sind vor allem hilfreich, wenn es um spezifische Informationssuche geht oder um die Vermittlung von Lehrstellen (Haeberlin et al. 2004). Die bekannten Geschlechterdifferenzen im Bildungsstand motivieren uns zu der Frage, inwiefern die Bourdieuschen Kapitalsorten für junge Männer und 3 4
Dazu zählen Verhaltensweisen, Sprache, Vorlieben und Geschmack (Bourdieu 1997). Welchen Weg eine Person einschlägt, ist nicht nur eine Frage des Statuserhalts (vgl. z.B. Becker und Hecken 2009), sondern auch des erwarteten Nutzens, der zu erwartenden Kosten und der Erfolgswahrscheinlichkeit einer Zertifizierung. Hier bliebe zu fragen, ob es sich bei der beobachteten Platzierung wirklich um eine Entscheidung handelt. Je nach Situation der Jugendlichen (und des Ausbildungssystems) scheint es angemessener, lediglich von Platzierungen und weniger von Entscheidungen auszugehen.
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Frauen unterschiedlich auf die Bildungsverläufe wirken. Bourdieu hat seine Theorie geschlechtsblind formuliert. In seinem Spätwerk (Bourdieu 2005) geht er allerdings davon aus, dass Deutungen und Bewertungen der sozialen Welt durch eine dichotome Geschlechtlichkeit strukturiert sind. Dabei wird der anatomische Unterschied zwischen den Geschlechtern als natürliche Rechtfertigung für geschlechtsspezifische Differenzen in Bildung und Beruf genutzt (Bourdieu 2005: 23). Eine theoretische Verbindung der Bourdieuschen Geschlechtertheorie mit der Kapital-Theorie ist bislang nicht erfolgt und kann im Rahmen unseres Beitrages auch nicht geleistet werden. Dennoch existieren empirische Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Verwertbarkeit der unterschiedlichen Kapitalien: So konnte Dumais (2002) Hinweise dafür finden, dass Mädchen kulturelles Kapital besser verwerten als Jungen, etwa indem sie vergleichsweise höhere Schulnoten erzielen. Imdorf (2005: 211, 235) konnte zudem zeigen, dass beim Übergang von der Schule in eine Lehrstelle Mädchen im Gegensatz zu Jungen aus ihrem institutionalisierten kulturellen Kapital (Noten und Schultyp Sek. I) unterschiedlichen Nutzen ziehen können. Weitere Hinweise dieser Art finden sich auch bei Rothböck et al. (1999) oder Manderscheid und Bergman (2008), die ebenfalls Belege dafür fanden, dass Männer und Frauen ihre erworbenen Kapitalien auf dem Arbeitsmarkt unterschiedlich verwerten können. Zudem konnten Rothböck et al. (1999) zeigen, dass der Karriereverlauf je nach Geschlecht unterschiedlich mit väterlichem und mütterlichem Bildungsniveau korreliert. Wir schlagen daher vor, nicht nur den Einfluss der verschiedenen Kapitalsorten auf die Bildungsverläufe zu analysieren, sondern dieses für junge Männer und Frauen getrennt zu vollziehen, um so mögliche Unterschiede im Kapitaltransfer zu explorieren. Ausgehend von der Kapital-Theorie von Bourdieu erwarten wir folgende Zusammenhänge: H1: Je höher das kulturelle Kapital der Eltern, der Familie und der Jugendlichen ist, desto wahrscheinlicher ist ein allgemeinbildender Bildungsverlauf nach Austritt aus der obligatorischen Schule. H2: Je höher das elterliche ökonomische Kapital ist, desto wahrscheinlicher ist ein berufsbildender Bildungsverlauf (kontinuierliche Berufsbildungsverlauf und verzögerter Einstieg). H3: Je höher das kulturelle und symbolische Kapital der Eltern und das kulturelle Kapital der Jugendlichen sind, desto wahrscheinlicher ist ein kontinuierlicher Bildungsverlauf.
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3 Empirische Untersuchung Die Analyse der Verläufe und ihrer möglichen vergeschlechtlichten Ausprägungen gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werden die Bildungsverläufe von jungen Männern und Frauen in den ersten sieben Jahren nach Austritt aus der obligatorischen Schule in der Schweiz dargestellt. Im zweiten Teil werden die vorgestellten Hypothesen geprüft. Im dritten Teil wird exploriert, inwiefern Kapitaltransfer als vergeschlechtlichter Prozess verstanden werden kann. Alle drei Teile untersuchen wir anhand der Panel-Daten des Projekts „Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben“ (TREE).5 Der Schweizerische Jugendlängsschnitt TREE (TREE 2008) ist ein national und sprachregional repräsentatives PISA 2000-follow-up und bietet die Möglichkeit, die soziale Herkunft der Jugendlichen mit ihren PISA-Leistungen sowie den Bildungs- und Erwerbsverläufen der folgenden sieben Jahre in Beziehung zu setzen. Die Stichprobe besteht aus rund 6000 Jugendlichen, die im Jahr 2000 die obligatorische Schule verlassen haben und von 2001 (1. Welle) bis 2007 (7. Welle) jährlich befragt wurden.
3.1 Geschlechtsspezifische Bildungsverläufe Für die Darstellung der Bildungs- und Erwerbsverläufe von jungen Männern und Frauen werden für die einzelnen Wellen nach Geschlechtern getrennt Bildungs- und Erwerbsstatus aufgeführt. Dabei wird zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Ausbildungsgängen unterschieden. Zudem werden Phasen der Ausbildungs- und Erwerbslosigkeit (NEET) sowie ZwischenlösungsSituationen, Tertiärausbildung und Erwerb betrachtet. Parallel dazu wird der Zertifikationsstatus berücksichtigt. Die großen Bewegungen zwischen den Status aufeinander folgenden Wellen, basierend auf Transitionsmatrizen, lassen sich in derselben Graphik darstellen. Die berichteten Unterschiede sind statistisch signifikant (p < .05). Die unten stehenden Graphiken visualisieren die jährlichen Bildungs- und Erwerbsstationen der Schulabgangskohorte 2000 in den ersten sieben Jahren nach Ende der obligatorischen Schulzeit (Abbildungen 2 und 3). Junge Frauen sind bedeutend häufiger in der Allgemeinbildung anzutreffen als junge Männer 5
Die Schweizer Jugendlängsschnittstudie TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben, www.tree-ch.ch) läuft seit 2000 und wurde bisher durch den Schweizerischen Nationalfonds, die Universität Basel, die Bundesämter für Berufsbildung und Technologie bzw. Statistik sowie die Kantone Bern, Genf und Tessin finanziert. Die Arbeiten dieses Artikels wurden teilfinanziert durch das NFP 60 (Projektnummer: 406040_129220).
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(2001: 34 Prozent Frauen zu 20 Prozent Männer). Die stärkere Präferenz der allgemeinbildenden und schulischen Ausbildungsgänge von Frauen ist z.B. auch für Deutschland gut belegt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008). Zum anderen ist der Anteil der jungen Frauen, die verzögert in eine Sek. IIAusbildung einsteigen, bedeutend größer als der Anteil ihrer männlichen Kollegen (2001 in Zwischenlösung Frauen 27 Prozent zu 14 Prozent Männer).6 Interessanterweise befinden sich Frauen häufiger während zwei Jahren in Zwischenlösungen und Übertritte in die Berufsbildung erfolgen zum Teil erst zum Jahr 2003 im Alter von 19 Jahren. Dieser Verlaufstyp tritt bei jungen Männern nur in sehr seltenen Fällen auf. Die häufigeren Zwischenlösungen beim Übergang in die Sek. II lassen sich nur zum Teil mit den Berufsaspirationen junger Frauen erklären, die häufiger an Altersbedingungen geknüpft sind:7 Aber wie Hupka et al. (2006) zeigen konnten, erfolgt ein Einstieg für junge Frauen auch unter Kontrolle dieser Berufswünsche verzögert. Inwiefern es sich um Angebotsprobleme des Lehrstellenmarktes handelt8 oder um freiwillige Phasen, bleibt unklar. So sind Au-Pair- oder Sprachaufenthalte und Hauswirtschaftsjahre traditionell weibliche Formen von Zwischenlösungen, die gesellschaftlich akzeptiert sind und im Sinne von Moratoriumsphasen jungen Frauen zugestanden werden. Zudem ist der Anteil junger Frauen in der Berufsbildung ungefähr halb so groß (2001 Frauen 36 Prozent zu 62 Prozent Männer). Selbst durch den häufigeren verzögerten Einstieg der Frauen erreichen sie in den Folgejahren mit höchstens 56 Prozent nicht die maximale Berufsbildungsquote der jungen Männer von 75 Prozent. Die starke Dominanz der Berufsbildung durch Männer ist ebenfalls gut belegt (OPET 2008). Der Einstieg ins Erwerbsleben setzt bei beiden Geschlechtern ab 2004 ein: Allerdings erfolgt er nicht für alle Jugendlichen reibungslos. Von denjenigen Jugendlichen, die nicht in der Berufsbildung verbleiben, mündet ein Großteil in Zwischenlösungen oder verbleibt ohne Ausbildung oder Erwerb. Dabei befinden sich Frauen vermehrt in Zwischenlösungen und junge Männer häufiger in Ausbildungs- oder Erwerbslosigkeit, was zum Teil mit dem zu absolvierenden Militärdienst erklärt werden kann. Männer sind zu diesem Zeitpunkt häufiger erwerbstätig, Frauen eher im Tertiärbereich, was in Anbetracht der höheren All-
6
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die SKBF (2010: 117) für das Jahr 2006 (22% Zwischenlösungen für Frauen und 17% Zwischenlösungen für Männer). Die etwas geringeren Anteile an Zwischenlösungen verwundern nicht, da die SKBF im Gegensatz zu TREE keine selbstorganisierten Zwischenlösungen wie Au-Pair oder Praktika berücksichtigt. 7 Etliche Berufe (z.B. Krankenschwester) im Gesundheits- und Sozialbereich haben ein Mindestalter (18 Jahre) definiert, das erreicht sein muss, bevor diese Ausbildung begonnen werden kann. 8 Geringeres Angebot frauentypischer Berufe im niedrigen Anforderungsniveau.
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gemeinbildungsquote nicht verwundert. Die früher einsetzenden Tertiär-BAusbildungen gehen auf die Ausbildungen im Gesundheitsbereich zurück. Ab 2006 gleichen sich die Verläufe der jungen Männer und Frauen an, bereits im Jahr 2007 lassen sich keine bedeutenden Unterschiede mehr feststellen. Insbesondere die Angleichung der Tertiärquote zeigt, dass junge Männer in der Schweiz neben dem klassischen Königsweg des Gymnasiums auch andere Wege in den Tertiärbereich (Berufsmatur) gehen.9 Abbildung 2: Ausbildungs- und Erwerbsverläufe junger Frauen 1 bis 7 Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule
9
Dies verdeutlicht auch ein genauerer Blick auf den Tertiärbereich: Frauen sind 2007 zu gut 50% an der Universität, Männer lediglich zu knapp 40%. Dafür sind Männer häufiger an Fachhochschulen (ca. 40%) als Frauen (ca. 30%).
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Abbildung 3: Ausbildungs- und Erwerbsverläufe junger Männer 1 bis 7 Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule 2007
Erwerb k Abschluss 6%
erwerbstätig, Sek II-Abschluss 42%
31%
2006
4%
27%
5% Erwerb k. Abschl. 6%
erwerbstätig Sek II-Abschluss 36%
11%
2004
Erwerbk. Abschl. 6%
ZL4%
15%
2003
NEET + ZL 4%
2002
NIA 4%
2001
NIA 4%
6%
17%
Tertiär A 19%
19%
47%
Sek II Berufsausbildung 73%
70%
Sek II Berufsausbildung 75%
11 %
2000
61%
Zwischenl. 14%
13%
9%
Sek II Berufsausbildung 49%
6%
Tertiär A 24%
Sek II BB
Sek II BB 21%
NEET 11%
7%
NEET 8%
NEET 7%
7%
5%
ZL 8%
19 %
4%
erwerbstätig Sek II-Abs. 18%
4%
ZL 7%
Tertiär B 5%
Sek II AB + BB 8%
NEET 8%
5% Erwerb k. Abschl. 6%
erwerbstätig Sek II-Abschluss 44%
2005
ZL 7%
Sek II Berufsausbildung 62%
10% AB 4%
Tertiär A 13%
4%
5%
Sek II AB 10%
9%
Tertiär A 5%
4%
Sek II Allgemeinbildung 19%
19%
Sek II Allgemeinbildung 19%
18%
Sek II Allgemeinbildung 20%
Schulaustretende Männer Schuljahr 1999/2000 (40'000 Männer= 100%)
Stamm-/Astdicke: grössenproportional Minimale dargestellte Populationsgrösse 4% der Gesamtkohorte gemusterte Felder = Sek II-Abschluss erworben
Tertiär A: Universitäre und Fachhochschulen Tertiär B: Höhere Fachschulen, Fach- und Berufsprüfungen etc. NIA = Nicht in Ausbildung NEET (Not in Education nor Employment): Weder in Ausbildung noch erwerbstätig
Betrachtet man die Bildungs- und Erwerbsverläufe von jungen Männern und Frauen als einen wichtigen Bestandteil ihres kulturellen Kapitals, so zeigt sich, dass Frauen einerseits sehr viel kulturelles Kapital akkumulieren (kontinuierliche allgemeinbildende Ausbildungsverläufe), dass sie aber andererseits auch in jenen Verläufen repräsentiert sind, die für ein geringeres kulturelles Kapital stehen (verzögerter Einstieg). Junge Männer akkumulieren in den ersten sieben Jahren vermehrt berufliches kulturelles Kapital, was sich in ihrem zwischenzeitlichen Vorsprung beim Arbeitsmarkteinstieg widerspiegelt. Unklar bleibt jedoch, ob junge Männer schneller in den Arbeitsmarkt einsteigen, weil sie berufliches kulturelles Kapital akkumuliert haben, weil sie seltener verzögert einsteigen oder weil sie beim Einstieg in den Arbeitsmarkt das kulturelle Kapital bes-
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ser verwerten können. Umso interessanter ist, dass sich die Tertiär- und Erwerbsquoten innerhalb von 3 Jahren angleichen. Ebenso interessant ist, dass Frauen auch an der zweiten Schwelle häufiger in Zwischenlösungen anzutreffen sind als junge Männer, die sich vermehrt in Phasen der Ausbildungs- und Erwerbslosigkeit befinden. Diese Befunde müssen allerdings vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Widmer und Ritschard (2009) gelesen werden, die für die Schweiz nachzeichnen konnten, dass junge Männer an der zweiten Schwelle ähnlich wie junge Frauen mehr Diskontinuitäten als frühere Kohorten erleben. Zudem stellen sie aber auch fest, dass diese Diskontinuitäten für Männer eher eine Übergangsphase bis ca. 30 Jahren darstellen, wohingegen diese Diskontinuitäten für Frauen oft ein länger dauerndes Phänomen seien.
3.2 Kapitaltransfer: Hypothesenprüfung und Exploration geschlechtsspezifischer Aspekte Die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Bildungsverläufe lassen sich zu Verlaufstypen zusammenfassen.10 Ein kontinuierlicher Verlauf innerhalb der Allgemeinbildung wurde als Referenzkategorie gewählt, weil die Allgemeinbildung einerseits die stärkste Ausrichtung an kulturellen Bildungsinhalten aufweist, andererseits aber auch, weil sie als „Königsweg“ gilt, der einen Statuserhalt auch bei hoher gesellschaftlicher Positionierung verspricht.11 Dem gegenüber gestellt wird der kontinuierliche Verlauf in der Berufsbildung. Weitere Kategorien sind der verzögerte, zertifizierte Einstieg, der diskontinuierliche Verlauf während Sek. II (zertifiziert) sowie ein Verlauf, der auch sieben Jahre nach Ende der obligatorischen Schulzeit zu keinem Sek. II-Abschluss geführt hat. 10
Verläufe, bei denen innerhalb von vier Jahren eine Zertifikation erfolgt (max. Sek. II-RegelAusbildungsdauer; vgl. BFS 2005: 23), und die keine Wechselereignisse im Fach oder Lehrberuf aufweisen, wurden als linear codiert. Anschließend wurden all jene Fälle als „verzögert“ recodiert, die 2001 keine zertifizierende Sek. II-Ausbildung aufgenommen haben, später aber in eine Sek. IIAusbildung einsteigen und sich dann zertifizieren konnten. Zehn Personen (von 3979) haben bis 2007 an der Erhebung teilgenommen und nie von einer Ausbildung berichtet (konstante Ausbildungslosigkeit), diese Fälle sind hier subsumiert; Doppeldiskontinuitäten kamen selten vor und wurden als Einstiegsdiskontinuität recodiert. Die Definition der Wechsel erfolgte auf Basis der Angaben zu Lehrberuf/Fach. Fälle, die in einer Welle fehlende Angaben hatten, wurden per Hand (Doubleblind-Verf.) recodiert. Auch als diskontinuierlich während Sek. II wurde codiert, wer einen Unterbruch in der Ausbildung angegeben hat oder länger als fünf Jahre in einer Sek. II-Ausbildung verbleibt, was auf Repetitionen hinweist. Betriebs- oder Schulwechsel wurden nicht berücksichtigt. 11 Diese Sichtweise spiegelt sich auch in internationalen Bildungsklassifizierungen wieder, die Bildungsabschlüsse und -inhalte international vergleichend betrachten. So zählen in der ISCEDKlassifikation die Allgemeinbildung und der Tertiärbereich zu den „höchsten“ Ausbildungsformen.
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Die im theoretischen Rahmen vorgenommenen Konzeptualisierungen der Kapitalsorten lassen sich mit TREE wie folgt operationalisieren: Tabelle 1: Operationalisierung der Kapitalsorten Sphäre
Eltern
Kapitalsorte & Operationalisierung Ökonomisch
Kulturell
Symbolisch
HaushaltsAusstattung
Bildungsstand Vater & Mutter (institut.)
Sozialstatus Eltern
Familie
Besitz kultureller Güter (objek.)
Jugendliche 9. Klasse
Schultyp 9. Klasse & Mathematiknoten (institutionalisiert); Lesekompetenzen (inkorporiert)
Alle geprüften Einflussfaktoren wurden zum Ende der 9. Klasse erhoben (PISA), die Operationalisierung basiert auf international getesteten Skalen (Adams und Wu 2002), die wir zusätzlich zentriert haben. Die Haushaltsausstattung wurde ermittelt aus Angaben der Jugendlichen, ob sie zuhause über eine Geschirrspülmaschine, ein eigenes Zimmer, Lernsoftware sowie einen Internetzugang verfügen. Zudem fließen in diesen Indikator die Anzahl der Handys, Fernseher, Computer, Autos und Badezimmer ein. Auffällig ist bei dieser Operationalisierung des ökonomischen Kapitals der starke technische Fokus. Hier wird unseres Erachtens nicht nur ökonomisches Kapital gemessen, sondern auch eine technische Affinität und ein spezifisches Milieu. Der Bildungsstand des Vaters und der Mutter wurde basierend auf der ISCED-Qualifikation gruppiert, so dass Väter mit dem höchsten Bildungsstand den anderen Gruppen gegenüber gestellt werden können. Das symbolische Kapital der Eltern wird durch den Sozialstatus repräsentiert, der aus den offenen Angaben der Jugendlichen zu der Erwerbstätigkeit ihrer Eltern gewonnen wurde. Für die familiäre Sphäre liegen Angaben zum objektivierten kulturellen Kapital vor: Hierfür wurden Angaben zur Anzahl der Bücher sowie zum sonstigen hochkulturellen Besitz (klassische Literatur, Gedichtbände, Kunstwerke wie z.B. Bilder) kombiniert. Das kulturelle Kapital der Jugendlichen am Ende der 9. Klasse wird über verschiedene Faktoren erfasst. Der Schultyp fließt dichotom in die Analyse ein, wobei zwischen Schultypen mit Grundanforderungen (niedriges Schulniveau) und Schultypen mit erweiterten Anforderungen (höheres Schulniveau) unterschieden wird. Die Noten in Mathematik wurden für die Analyse gewählt, weil
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sie – als ein weiterer Indikator des institutionalisierten Kapitals – besonders für die Berufsbildung relevant sind. Das inkorporierte kulturelle Kapital, hier abgebildet über die Lesekompetenzen der Jugendlichen, verweist auf generalisierbare Lern- und Weiterbildungsfähigkeiten.12 Methodisch lassen sich Bildungs- und Erwerbsverläufe mittels multinomialen logistischen Regressionen untersuchen. Diese multivariate Modellierungstechnik erlaubt Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Eintreffen bestimmter Ereignisse, wie zum Beispiel eines Bildungs- und Erwerbsverlaufes, in Abhängigkeit einer Reihe von unabhängigen Variablen. Als Generalisierung und Erweiterung der logistischen Regression sind mehr als zwei diskrete Ausprägungen der abhängigen Variablen erlaubt. So können die Eintretenswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Ausprägungen einer abhängigen Variablen miteinander verglichen werden. Im vorliegenden Fall analysieren wir den Kapitaltransfer der Eltern auf ihre Kinder: Dabei wird analysiert, inwiefern die verschiedenen Kapitalsorten (entlang der drei Sphären) die Chancen der Jugendlichen erhöhen, einen bestimmten Bildungsverlauf zu vollziehen (Abbildung 3). Um geschlechtsspezifische Unterschiede analysieren zu können, wird je ein Modell für weibliche und männliche Jugendliche geschätzt.13
12
Somit sind im Modell sowohl generelle als auch berufsbildungsspezifische Aspekte abgebildet. Eine gleichzeitige Berücksichtigung von Mathematik- und Lesekompetenzen ist aufgrund der hohen Anzahl von fehlenden Werten bei den Mathematikkompetenzen nicht möglich und birgt die Gefahr einer erhöhten Multikollinearität in sich. 13 Die Modelle wurden in STATA unter Berücksichtigung der komplexen Samplestruktur berechnet. Die Analysen wurden gewichtet durchgeführt, um Attrition auszugleichen. Die Vergleichbarkeit von Effekten, die auf unabhängigen Samples beruhen, ist umstritten. Um dennoch zu belastbaren Aussagen zu kommen, haben wir zusätzlich ein gepooltes Modell berechnet, in dem Interaktionen der geprüften Faktoren mit dem Geschlecht einbezogen werden. Zudem sind wir dem Vorschlag von Mood (2010) gefolgt und haben zusätzlich Linear Probability Models (LPM) geschätzt, dies ist in unserem spezifischen Fall allerdings nicht mit zeitgleicher Berücksichtigung der Samplestruktur möglich.
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4 Ergebnisse 4.1 Ergebnisse der Hypothesenprüfung14 Wir sind davon ausgegangen, dass Eltern mit viel kulturellem Kapital Ausbildungen präferieren, die sich an hochkulturellen Inhalten orientieren und den intergenerationellen Statustransfer ermöglichen. Daher erwarteten wir eine starke Wirkung des kulturellen Kapitals der Eltern, der familiären Sphäre und der Jugendlichen auf das danach erworbene kulturelle Kapital der Jugendlichen (H1). Diese Hypothese wird durch unsere Analyse bestätigt, wobei das hohe inkorporierte kulturelle Kapital der Jugendlichen den deutlichsten Effekt zeigt: Hohe Lesekompetenzen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, einen kontinuierlichen allgemeinbildenden Verlauf einzuschlagen. Die Bildung der Eltern erweist sich vor allem im Vergleich zum nicht-zertifizierten Verlauf als hoch bedeutsam. Ebenso erhöht viel objektiviertes kulturelles Kapital in der Familie die Wahrscheinlichkeit eines allgemeinbildenden Ausbildungsverlaufs. Auch der Schultyp und die Mathematiknoten bestätigen in der Tendenz unsere Hypothese. Allerdings zeigen sich für die Noten je nach Verlaufstyp und Geschlecht unterschiedliche Muster. Weiter haben wir erwartet, dass Eltern mit ausgeprägtem ökonomischem (technikaffinem) Kapital eher berufsbildende Ausbildungsgänge präferieren (H2). Diese Hypothese bestätigt sich nur in der Tendenz und nur im Hinblick auf die Töchter: Hinsichtlich des Vergleichs zwischen Berufs- und allgemeinbildenden kontinuierlichen Verläufen zeigt sich hohes ökonomisches Kapital als förderlich für einen kontinuierlichen berufsbildenden Ausbildungsverlauf. Junge Frauen, die in technikaffinen Familien mit hohem ökonomischem Kapital aufwachsen, haben in der Tendenz eine höhere Wahrscheinlichkeit, einen kontinuierlichen Berufsbildungsverlauf zu vollziehen. Etwas schwierig ist hier die operationelle Verschränkung von ökonomischem Kapital und Technikaffinität, da so nicht bestimmt werden kann, ob eher das ökonomische Kapital an sich oder aber der spezifisch technikaffine Aspekt dieser Form der Operationalisierung dazu führt, dass junge Frauen verstärkt in berufsbildende Ausbildungsgänge eintreten. 14
Die Modelle wurden auf Multikollinearität hin geprüft: Die höchste Korrelation der unabhängigen Variablen besteht zwischen der Bildung von Vater und Mutter (.46), VIF-Werte bewegen sich im Bereich zwischen 1.0 – 1.6. Die Konditionsindexe erreichen einen maximalen Wert von 10, was für eine mäßige bis schwache Multikollinearität spricht. Es werden nur signifikante Ergebnisse (p < .05) kommentiert. Unterschiede in der Effektstärke werden dann berichtet, wenn sich die Interaktion im gepoolten Modell bzw. LPM als signifikant erwiesen hat. Hier werden auch Differenzen kommentiert, die in der Tendenz signifikant sind (.05 < p < .10).
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Hingegen sollten Familien, die über viel kulturelles und symbolisches Kapital verfügen und eine besonders gute Kenntnis des Bildungssystems aufweisen entsprechend eher in der Lage sein, ihren Kindern einen kontinuierlichen Bildungsverlauf zu ermöglichen. Je höher also das kulturelle und symbolische Kapital der Eltern und das kulturelle Kapital der Jugendlichen sind, desto wahrscheinlicher ist ein kontinuierlicher Bildungsverlauf (H3). Diese Hypothese bestätigt sich mehrheitlich: Eine große Menge an kulturellem Kapital erhöht die Wahrscheinlichkeit auf einen kontinuierlichen Verlauf in der Allgemeinbildung. Auch das symbolische Kapital erweist sich als Schutzfaktor vor Diskontinuitäten, zumindest für Männer. Auch der Vergleich mit jenen Jugendlichen, die keinen Abschluss erlangen konnten, zeigt die Schutzwirkung des kulturellen und symbolischen Kapitals.15 Tabelle 2: Kapitalienausstattung und Bildungsverläufe Referenzkategorie: kontinuierlicher Verlauf, Allgemeinbildung
Kontinuierlicher Verlauf, Berufsbildung
Verzögerter Einstieg
Männer OR sig.
Frauen OR sig.
Männer OR sig.
Frauen OR sig.
Bildung Vater [hoch] niedrig mittel
2.35 1.46
1.46 1.00
1.94 1.02
1.37 1.41
Bildung Mutter [hoch] niedrig mittel
0.71 1.34
1.92 1.46
+
1.69 2.03
1.94 0.97
Haushaltsausstattung
1.17
1.32
+
1.06
0.93
HISEI
0.97
***
0.98
0.99
0.98
*
kultureller Besitz
0.96
*
0.92
***
1.03
0.95
*
Lesekompetenzen
0.99
***
0.99
*
0.99
***
0.99
***
1.89 0.71
+
2.80 1.76
*
2.67 1.42
*
3.55
***
4.29
**
6.37
***
*
+
Mathematiknote [above] below at the mark
0.84 0.75
Schultyp Sek. I [extended] basic demands
6.32
15
***
Zusatzauswertungen (binär-logistische Regression, abhängige Variable: diskontinuierliche vs. kontinuierliche Verläufe) zeigen ähnliche Muster: Die meisten Indikatoren des kulturellen Kapitals wirken als Schutzfaktor vor Diskontinuitäten, das symbolische Kapital allerdings nicht signifikant.
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Referenzkategorie: kontinuierlicher Verlauf, Allgemeinbildung
Diskontinuierlicher Verlauf innerhalb Männer OR
Frauen
sig.
Nicht zertifiziert Männer
Frauen
OR
sig.
OR
sig.
OR
sig.
3.98 1.44
***
6.21 3.62
*** **
5.12 1.46
***
0.72 1.40
0.24 1.12
*
1.44
0.87
Bildung Vater [hoch] niedrig mittel
2.15 1.01
Bildung Mutter [hoch] niedrig mittel
1.01 2.68
*
0.69 0.93
Haushaltsausstattung
1.53
*
1.64
HISEI
0.97
*
1.01
kultureller Besitz
0.98
Lesekompetenzen
0.98
1.92 1.85
*
0.98
0.97
0.96
+
0.97
0.95
***
0.99
***
0.98
+
1.33 1.88
*
2.27 1.28
***
**
0.97
***
2.96 1.04
*
2.40
+
Mathematiknote [above] below at the mark
Schultyp Sek. I [extended] basic demands 3.42 * 7.23 *** 5.61 Odds Ratios (OR) für multinomiale logistische Regressionen. Modell für Männer: F(44, 324)=7.82, p < 0.000, n=1412; Modell für Frauen: F(44, 352)=11.27, p < 0.000, n=1839. Signifikanzniveaus: + p < 0.100; * p < 0.050; ** p < 0.010; *** p < 0.001.
**
4.2 Ergebnisse der Exploration geschlechtsspezifischer Aspekte Die explorative Überprüfung der geschlechtssensiblen Bourdieuschen Annahmen zeigt interessante, aber nicht immer einheitliche Effekte 16: Lediglich das inkorporierte kulturelle Kapital der Jugendlichen weist als einzige Variable für beide Geschlechter stets den gleichen Effekt auf. 17 Unterschiede finden sich z.B. beim objektivierten kulturellen Kapital der Familie, von dem Frauen anschei16
Als robust werden jene Effekte erachtet und berichtet, die sich auch in Zusatzauswertungen als signifikant erwiesen (gepoolte Modelle mit Interaktionen und LPM). 17 In den LPM zeigte sich zudem, dass die signifikanten Effekte nur sehr klein sind.
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nend stärker profitieren. Dies könnte so gelesen werden, dass das kulturelle Kapital (Bücher, Gedichte) geschlechtsspezifisch konnotiert ist und junge Frauen demnach eher Wege finden, diese Form des kulturellen Kapitals in Bildungszertifikate umzumünzen oder Ausbildungen suchen, in denen diese Form des kulturellen Kapitals geschätzt und gefördert wird. Auch hinsichtlich des symbolischen Kapitals zeigen sich in Abhängigkeit des Verlaufstyps unterschiedliche Wirkungsweisen, die allerdings schwach und aufgrund ihrer Komplexität schwer interpretierbar sind. Betrachtet man die Effekte für den Bildungsstand der Väter und Mütter, zeigt sich ebenfalls ein komplexes Muster: Während bei den kontinuierlichen Verläufen in der Tendenz mütterliche Effekte für Töchter und väterliche Effekte für Söhne relevant sind, erweist sich bei den anderen Verläufe zumeist der väterliche Status als ausschlaggebend. Die analytische Unterscheidung zwischen mütterlichem und väterlichem Status scheint dennoch insofern lohnenswert, als deutlich wird, dass der mütterliche Bildungsstatus für Frauen ein Schutzfaktor darzustellen scheint. Für junge Männer hingegen ist dies offenbar seltener der Fall. Warum junge Frauen aber stärker als junge Männer vom Bildungsstand ihrer Mütter profitieren, kann hier nicht beantwortet werden. Denkbar wäre, dass die Identifikations- oder Abgrenzungsprozesse der Töchter mit ihren Müttern ausschlaggebend für das Bildungsverhalten der jungen Frauen sind. Interessant ist zudem, dass sich unsere 2. Hypothese lediglich für die Frauen bestätigen ließ: Das technikaffine ökonomische Kapital erhöht für junge Frauen die Wahrscheinlichkeit eines berufsbildenden Verlaufs. Dies ist insofern plausibel, als dass die Berufsbildung in stärkerem Maße als die Allgemeinbildung technischgewerblich dominiert ist und es somit junge Frauen hier einfacher ist, einen Einstieg zu finden, wenn das familiäre Umfeld eine eher geschlechtsunübliche, technische Affinität unterstützt. Insgesamt zeigen unsere Analysen komplexe Effekte der verschiedenen Kapitalsorten für junge Männer und Frauen, aber keine eindeutigen und starken Geschlechter-Unterschiede in der Art und Weise, wie sich der Kapital-Transfer von Vätern und Müttern auf ihre Söhne und Töchter vollzieht.
5 Fazit Die Untersuchung der Bildungsverläufe bestätigte die bekannte Übervertretung der jungen Frauen in Allgemeinbildung. Junge Männer dominieren hingegen in der Berufsbildung. Ebenso zeigte sich, dass Bildungs- und Erwerbsunterbrüche geschlechtsspezifisch konnotiert sind: Junge Frauen sind eher in Zwischenlösungen, während junge Männer sich eher in Situationen von Ausbildungs- und
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Erwerbslosigkeit finden. Die Verteilung über die verschiedenen Bildungs- und Berufssegmente gleicht sich zwischen den Geschlechtern im letzten Beobachtungsjahr der Studie an. Hervorzuheben ist hier der alternative Weg in den Tertiärbereich über die Berufsmatur, der besonders häufig von jungen Männern eingeschlagen wird. Erstaunlich ist, dass trotz der starken Unterschiede der postobligatorischen Bildungs- und Erwerbsverläufe zu Beginn dieses Prozesses die Erwerbs- und Tertiärquoten beider Geschlechter nach sieben Jahren identisch sind. Dies sollte aber nicht über mögliche Differenzen zwischen den Erwerbstätigen und Studierenden hinweg täuschen: So sagen Studienbeteiligungsoder Erwerbsquoten nichts über horizontale Geschlechtersegregation aus, die im weiteren Verlauf zu Statusunterschieden, Lohndifferenzen oder unterschiedlichen Aufstiegschancen der jungen Männer und Frauen führen können (Bielby und Baron 1994; Cornelißen 2005; Leemann und Keck 2005; Magnusson 2009). Unsere Ergebnisse müssen auch vor dem Hintergrund des Alters der Kohorte gelesen werden, die im Jahr 2007 im Schnitt 23 Jahre alt war: Diese jungen Männer und Frauen befinden sich am Anfang ihrer Erwerbsbiographie und es wird zu fragen sein, ob und gegebenenfalls wie sich Unterschiede im weiteren Verlauf entwickeln. So steht zu erwarten, dass insbesondere die Familiengründungsphase zu einer Verstärkung der Differenzen führen könnte. Im Anschluss an Widmer und Ritschard (2009) kann vermutet werden, dass Schwierigkeiten im Bildungs- und Erwerbsverlauf für junge Männer bis ins 30. Lebensjahr zu erwarten sind, wohingegen Diskontinuitäten für Frauen oft ein länger dauerndes Phänomen darstellen. Die Analyse des Kapitaltransfers zeigte, dass der Einbezug der Zeitdimension (verzögerter, diskontinuierlicher Verlauf) einen deutlichen analytischen Mehrwert bringt. Die Struktur und der Umfang des familiären Kapitals wirken sich an der ersten Schwelle anders aus als innerhalb der Sekundarstufe II. Prinzipiell zeigte sich, dass ein hoher Bestand an kulturellem Kapital in der Familie die Wahrscheinlichkeit eines allgemeinbildenden Verlaufs erhöht. Besonders stark gilt dies für das inkorporierte kulturelle Kapital der Jugendlichen, das sie am Ende der obligatorischen Schulzeit akkumuliert haben, also kurz vor dem Übertritt in die Sekundarstufe II. Die Geschlechter unterscheiden sich nicht hinsichtlich der Wirkung des inkorporierten kulturellen Kapitals auf die zeitliche Strukturierung von Bildungsverläufen. Hingegen scheinen junge Frauen eher die Effekte des objektivierten kulturellen Kapitals der Familie für sich nützlich machen zu können. Zudem zeigt sich, dass meistens der väterliche Bildungsstatus ausschlaggebend für die Bildungsverläufe sowohl der Söhne als auch der Töchter ist. Dennoch scheint für junge Frauen eine Schutzwirkung des mütterlichen Bildungsstatus zu existieren.
Geschlechterungleichheiten im intergenerationalen Bildungstransfer in der Schweizm
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Insgesamt erweist sich die Bourdieusche Kapitaltheorie als erklärungskräftig, wenn Bildungs- und Erwerbsverläufe sowie die Reproduktion sozialer Ungleichheit analysiert werden. Die geschlechtsspezifische Reproduktion sozialer Ungleichheit zeigt keine starken, aber komplexe Effekte. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Kapital-Transfer zumindest z. T. geschlechtsspezifsch zu erfolgen scheint. Dies motiviert zu einer geschlechtersensiblen Ausformulierung der Bourdieuschen Theorie.
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Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Übergang ins Studium Markus Lörz und Steffen Schindler
1 Einleitung Mit dem Ausbau des allgemeinen Bildungssystems haben sich in den vergangenen 30 Jahren die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Zugang zu höherer Bildung zu Gunsten der Frauen umgekehrt. Mittlerweile erwerben mehr Frauen als Männer die allgemeine Hochschulreife (vgl. z.B. Helbig 2010). Nach weit verbreiteter Ansicht kann demnach nicht mehr von einer Benachteiligung der Mädchen gesprochen werden, sondern es sind vielmehr die Jungen, die im allgemeinen Bildungssystem zur Risikogruppe zählen (vgl. Diefenbach und Klein 2002). Mit Blick auf diese vergleichsweise vorteilhafte Ausgangssituation der Frauen in der gymnasialen Oberstufe ist es allerdings erstaunlich, dass sich Frauen in der weiteren Bildungs- und Erwerbskarriere eher schwer tun. Männer schlagen deutlich häufiger eine akademische Bildungskarriere ein und gelangen häufiger in gehobene Berufspositionen (vgl. Hecken 2006), während sich Frauen häufiger für eine Berufsausbildung und die damit verknüpften kürzeren Karriereleitern entscheiden (vgl. Heine et al. 2007). In der Arbeitsmarktforschung werden diese Unterschiede mit den erreichten Bildungsqualifikationen oder der fachlichen Schwerpunktsetzung begründet. Welche Ursachen den unterschiedlichen Entscheidungen beim Übergang ins Studium allerdings tatsächlich zugrunde liegen, ist bislang vergleichsweise wenig untersucht. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich daher zum einen mit der Frage, inwieweit sich im Zuge der Bildungsexpansion und den Veränderungen auf der Sekundarstufe II die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium entwickelt haben, und zum anderen damit, welche Mechanismen diesen Unterschieden zugrunde liegen. Hierbei liegt der Fokus auf zwei Entscheidungsprozessen: Erstens, den geschlechtsspezifischen Unterschieden bei der grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen ein Studium, und zweitens, in der speziellen Wahl des Fachbereichs. Um die Fragestellung in hinreichender Tiefe beantworten zu können werden zunächst der Forschungsstand und die zeitliche Entwicklung geschlechtsspezifischer Unterschiede an den verschiedenen Übergängen des deutschen Bildungssystems nachgezeichnet. Im Anschluss daran wird aus handlungstheoA. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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retischer Perspektive ein Erklärungsrahmen für die beobachtbaren Geschlechterunterschiede skizziert und in zwei separaten Analyseschritten getestet.
2 Zeitliche Entwicklung geschlechtsspezifischer Unterschiede Beim Erwerb eines Hochschulabschlusses bestehen bis heute geschlechtsspezifische Unterschiede zu Ungunsten von Frauen. Allerdings haben diese im Zuge der Bildungsexpansion deutlich abgenommen (vgl. Breen et al. 2010; Kerst und Schramm 2008). Mit Blick auf die verschiedenen Übergänge des deutschen Bildungssystems machen sich jedoch zwei unterschiedliche Entwicklungen bemerkbar, die die Schlussfolgerung nahe legen, dass sich mit der Bildungsexpansion die geschlechtsspezifischen Unterschiede vom Übergang in die Sekundarstufe auf den Übergang ins Hochschulsystem verschoben haben. Anfang der 1970er-Jahre waren Frauen an deutschen Gymnasien noch deutlich unterrepräsentiert. Die damalige bildungspolitische Diskussion konzentrierte sich entsprechend darauf, den Frauenanteil in den gymnasialen Bildungsgängen zu steigern. Abbildung 1: Studienberechtigte nach Geschlecht zwischen 1976-2007 250.000
200.000
150.000
100.000
50.000
0 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 männlich
weiblich
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserien 11, Reihen 1 und 2.
Geschlechtsspezifische Ungleichheiten beim Übergang ins Studiumr
101
Wie in Abbildung 1 zu erkennen ist, haben sich diese Unterschiede mittlerweile umgedreht und mehr Frauen als Männer schließen die Schule mit einer Studienberechtigung ab. Hierbei erwerben sie deutlich häufiger die allgemeine Hochschulreife an allgemeinbildenden Gymnasien, welche sowohl zu einem Studium an einer Universität als auch an einer Fachhochschule berechtigt (vgl. Heine et al. 2010). Abbildung 2: Studierquote nach Geschlecht zwischen 1976 und 2008 (in %) 100
90
80
70
60
50
40 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 männlich
w eiblich
Quelle: HIS-Studienberechtigtendaten 1976-2008. Anmerkung: Zwischen 1976 und 2002 wird die Studierquote auf Basis der Daten der zweiten Befragungswellen ermittelt, ab 2004 auf Basis der ersten Befragungswellen geschätzt.
Richtet man den Blick auf den Übergang ins Studium, so wird aus vorangegangenen Studien ersichtlich, dass sich Frauen in drei Punkten von den Männern unterscheiden: Sie haben seltener die Absicht ein Studium aufzunehmen, sie verwerfen ihre Studienabsichten im weiteren nachschulischen Verlauf häufiger und sie entscheiden sich im Unterschied zu den Männern seltener im Nachhinein doch noch für die Aufnahme eines Studiums (vgl. z.B. Lörz et al. 2010). Diese dreifache Benachteiligung der Frauen beim Übergang ins Studium hat sich im Zeitverlauf eher verstärkt (vgl. Abbildung 2). Während Ende der 1970er-Jahre die Differenz zwischen Männern und Frauen knapp 5 Prozentpunkte betrug, sind diese Unterschiede mit der BAföG-Reform Anfang der 1980er sprunghaft auf 10 Prozentpunkte angestiegen. Mit der Rücknahme
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Markus Lörz und Steffen Schindler
der BAföG-Reform in den Folgejahren haben sich diese Unterschiede zögerlich reduziert und erreichen im Jahr 2004 das Ausgangsniveau von 1976. Mit Blick auf die neusten Entwicklungen scheinen sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede allerdings erneut zu vergrößern, sodass diese im aktuellen Studienberechtigtenjahrgang 2008 auf 10 Prozentpunkte geschätzt werden. Demnach haben mit der Abnahme der geschlechtsspezifischen Unterschiede auf der Sekundarstufe II die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium zugenommen, wenngleich eine solche Ungleichheitszunahme vorwiegend in Phasen zu beobachten ist, in welchen den Studierenden besondere finanzielle Belastungen auferlegt werden (BAföG-Reform; Studiengebühren). Obwohl die Ungleichheitsentwicklungen in dieser aggregierten Darstellung nicht direkt auf bildungspolitische Reformen zurückgeführt werden können, scheinen Frauen deutlich sensibler auf Veränderungen im Arbeitsmarkt- und Hochschulsystem zu reagieren. Neben den generellen Unterschieden in der Studierbereitschaft entscheiden sich Männer häufiger für ingenieur- und naturwissenschaftliche Studiengänge, während Frauen eher zu den sozialwissenschaftlichen oder pädagogischen Studienrichtungen neigen (vgl. Heine et al. 2006). Der vorliegende Beitrag konzentriert sich daher auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Wahl eines Studiums der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Unterschiede in der Studienfachwahl wurden in der Vergangenheit oftmals auf Diskriminierungsängste der Frauen, traditionelle Geschlechtsrollenbilder, sowie einer geschlechtsspezifischen Sozialisation und die Ausbildung eines den Geschlechterrollen entsprechenden Interessenprofils zurückgeführt (Jonsson 1999; Mastekaasa und Smeby 2008). Es ist zwar gut dokumentiert, dass Frauen in der Schule andere Schwerpunkte setzen und in unterschiedlichen Bereichen ihre Interessen und Leistungsstärken sehen (vgl. Abel und Tarnai 2000; Köller et al. 2000). Inwieweit diese geschlechtsspezifischen Bildungsbiographien für die Unterschiede beim Übergang ins Studium allerdings ursächlich sind, ist bislang weitgehend unklar.
3 Theoretische Überlegungen Zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Bildungsbeteiligung wurden in der Vergangenheit verschiedene Erklärungsansätze diskutiert (vgl. Blossfeld 1987); allerdings blieb in vielen Fällen eine empirische Überprüfung der vermuteten Mechanismen aus. Im Folgenden werden wir diese Mechanismen in ein rationales Entscheidungsmodell einbetten und geschlechtspezifische
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Unterschiede beim Übergang ins Studium sowie bei der Studienfachwahl als Resultat eines individuellen Entscheidungsprozesses betrachten. Bildungsentscheidungen werden aus dieser Perspektive als individuelle Investitionen in Humankapital vor dem Hintergrund von Kosten und den zu erwartenden Erträgen verstanden (vgl. Becker 1993; Helberger und Palamidis 1989). Mit Erwerb der Hochschulreife stehen die Schülerinnen und Schüler vor der Wahl, ein Hochschulstudium oder eine Berufsausbildung aufzunehmen, oder aber zunächst eine andere Tätigkeit auszuüben. Während eine Berufsausbildung oftmals mit einem festen Berufsziel einhergeht und bereits während der Ausbildung ein Einkommen erworben wird, ist ein Hochschulstudium durchschnittlich länger angelegt, mit höheren finanziellen Einbußen verbunden und birgt aufgrund der höheren Anforderungen geringere Erfolgswahrscheinlichkeiten. Es ist demnach mit höheren direkten Kosten und lediglich mit (unsicheren) zukünftigen Erträgen verbunden. Hierbei beziehen sich die erwarteten Kosten und Erträge nicht nur auf materielle Aspekte, sondern haben auch eine immaterielle Seite. Die Trennung vom gewohnten Umfeld, ein Studienfach das nicht den eigentlichen Interessen entspricht oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im späteren Erwerbsleben sind Aspekte, die bei der Entscheidung über den nachschulischen Werdegang eine wichtige Rolle spielen. Die Studienberechtigten werden sich demnach nur dann für ein Studium entscheiden, wenn die zu erwartenden materiellen und immateriellen Erträge die Kosten überwiegen und absehbar ist, dass ein solches Studium auch erfolgreich abgeschlossen werden kann (vgl. Jonsson 1999). Die Erklärung der beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium müsste demnach in Unterschieden in der Einschätzung von Kosten (a), Erträgen (b) und Erfolgswahrscheinlichkeiten (c) liegen (Erikson und Jonsson 1996). In ähnlicher Weise sollten sich auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Wahl des Studienfachs erklären lassen (vgl. Becker 2000). a) Erwartete Erträge: Beschäftigt man sich mit den Erträgen der verschiedenen Ausbildungsalternativen, so stellt sich einerseits die Frage, warum die Aufnahme eines Studiums für Männer von größerem Wert sein sollte, und andererseits, warum bestimmte Studienfächer für Frauen interessanter erscheinen sollten als andere. Jonsson (1999) führt für die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Einschätzung von Bildungserträgen drei Erklärungsgrößen an: Einstellungen zum Beruf, Lebenspläne und Diskriminierungsängste. Mit der Einstellung zum Beruf sind die Präferenzen und Motivationslagen gemeint, die dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler bestimmte Ausbildungsrichtungen bevorzugen. Hierbei wird argumentiert, dass Männer und Frauen sozialisationsbedingt unterschiedliche Interessenprofile entwickeln und demzufolge zu unterschiedlichen Berufsinhalten neigen (vgl. Barone 2008;
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Charles und Bradley 2002, 2009). Während Frauen eher an Berufen interessiert sind, die eine soziale Komponente beinhalten, streben Männer eher Berufe an, die eine Karriere und ein möglichst hohes Einkommen versprechen (vgl. Bradley 2000; Charles 1992). Diese motivationalen Unterschiede sollten sich nicht erst beim Berufseintritt bemerkbar machen, sondern bereits auf vorgelagerter Stufe dazu geeignet sein, die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium zu erklären (vgl. Borghans und Groot 1999). Zum einen könnten die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Aufnahme eines Studiums darauf zurückzuführen sein, dass die Ausbildungsgänge der sozialen Berufe häufig außerhalb des tertiären Bildungssystems angesiedelt sind und Frauen daher häufiger vom Hochschulsystem abgelenkt werden. Zum anderen führen unterschiedliche Berufsaspirationen dazu, dass Männer und Frauen unterschiedliche Studienbereiche wählen. Auch der Einfluss geschlechtsspezifischer Lebenspläne kann sich sowohl auf die Entscheidung für oder gegen ein Studium als auch auf die Studienfachwahl auswirken. In der Humankapitaltheorie (Becker 1993) wird angenommen, dass sich die Lebenspläne von Frauen am klassischen Geschlechterrollenbild orientieren und bereits im Vorfeld der Bildungs- und Erwerbskarriere Phasen familiärer Verpflichtung eingeplant werden. Für Frauen wären demnach insbesondere Ausbildungswege interessant, die zu Berufsfeldern führen, die hinsichtlich der Vereinbarung von Familie und Beruf flexibel sind und familienbedingte Unterbrechungen erlauben. Berufe, die eine solche Flexibilität nicht aufweisen, sollten für Frauen eher unattraktiv erscheinen. Dies sollte insbesondere auf Beschäftigungen im MINT-Bereich zutreffen (vgl. Morgan 1992). Zuletzt können Diskriminierungsängste dazu führen, dass Frauen auf männerdominierten Berufsfeldern niedrigere Erträge erwarten und sich von diesen Ausbildungswegen nicht dieselben Aufstiegsmöglichkeiten versprechen (vgl. Morgan 1992). Hierbei können sich die Minoritätsbefürchtungen zwischen Frauen auf männerdominierten Berufsfeldern und Männern auf frauendominierten Berufsfeldern deutlich unterscheiden. Dennoch könnte ein Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studienfachwahl mit Diskriminierungsbefürchtungen zusammenhängen. b) Erwartete Kosten: Wie bereits aus der zeitlichen Entwicklung der Bildungsbeteiligung deutlich wurde, sinkt die Studierbereitschaft insbesondere in Phasen, in denen innerhalb des Hochschulsystems finanzielle Restriktionen durchgeführt werden (vgl. Abbildung 2). Da die direkten Kosten eines Studiums Männer und Frauen gleichermaßen betreffen, stellt sich die Frage, warum gerade Frauen in diesen Phasen noch seltener ein Studium aufnehmen. Es ist zu vermuten, dass dies weniger auf die Kosten als vielmehr auf das Verhältnis zwischen Kosten und Erträgen zurückzuführen ist. In Low-Cost-Situationen
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wird unabhängig von den erwarteten Arbeitsmarkterträgen ein Studium aufgenommen, während in High-Cost-Situationen erst dann ein Studium aufgenommen wird, wenn die erwarteten Erträge die Kosten merklich übersteigen. Da wir, wie bereits im vorangegangen Abschnitt beschrieben, davon ausgehen, dass sich Frauen von einem Studium deutlich geringere Arbeitsmarkterträge versprechen, sollten die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studierbereitschaft gerade in Phasen, in denen sich die Studienkosten erhöhen, ansteigen. Das bei den Frauen niedriger anzusetzende Ertragsniveau wird demnach durch steigende Kosten schneller überschritten als bei den Männern. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studierneigung sollten allerdings eher auf die unterschiedliche Einschätzung der Erträge als auf eine unterschiedliche Einschätzung der Kosten zurückzuführen sein. Auch hinsichtlich der Studienfachwahl sollten die materiellen Kosten Männer und Frauen gleichermaßen betreffen. Allerdings könnte an dieser Stelle erneut aus rollentheoretischer Perspektive argumentiert werden, dass Frauen aufgrund von Minoritätsbefürchtungen die immateriellen Kosten in den männerdominierten Studienrichtungen höher einschätzen (vgl. Jonsson 1999) und sich eher gegen ein solches Studium entscheiden. Umgekehrtes könnte für die Männer hinsichtlich der frauendominierten Studienrichtungen gelten. Es werden demnach Unterschiede in den immateriellen Kosten zwischen Männern und Frauen erwartet. Allerdings ist es mit den vorliegenden Daten schwierig, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Studienfachwahl auf Minoritätsbefürchtungen zurückzuführen. c) Erfolgswahrscheinlichkeiten: Neben den Kosten- und Ertragsüberlegungen werden Bildungsentscheidungen auch vor dem Hintergrund getroffen, wie wahrscheinlich es ist, die gewählte Ausbildung erfolgreich abzuschließen (Erikson und Jonsson 1996). Wird aufgrund der bisher erbrachten schulischen Leistungen die Wahrscheinlichkeit eines Hochschulabschlusses als eher gering eingeschätzt, so wird man weniger geneigt sein ein Studium aufzunehmen. Da sich das Leistungsniveau männlicher und weiblicher Abiturienten kaum unterscheidet, sollten die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium nicht auf Unterschiede in der Erfolgseinschätzung zurückzuführen sein – es sei denn eine der beiden Gruppen verhält sich bei der Bewertung des eigenen Leistungspotentials risikoaverser als die andere. Es gibt Hinweise, dass bei gleichem Notenniveau Frauen ihr Leistungsvermögen pessimistischer und Männer optimistischer einschätzen (vgl. Faulstich-Wieland 2008: 682ff; Rammstedt und Rammsayer 2001). Eindeutigere Effekte lassen sich hinsichtlich der Studienfachwahl erwarten. Jonsson (1999) weist zu Recht darauf hin, dass die subjektive Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit keine absolute Größe ist, sondern vielmehr über die
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Markus Lörz und Steffen Schindler
verschiedenen Ausbildungsalternativen variiert. Die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Studienfach wird demnach nicht nur anhand des absoluten Leistungsvermögens getroffen, sondern vielmehr vor dem Hintergrund des Fächerbereichs, in dem die relativen individuellen Stärken liegen (vgl. van de Werfhorst et al. 2003). Studienberechtigte, die beispielsweise im Fach Mathematik mittelmäßigen Noten erbringen, aber in allen anderen Fächern sehr schlechte Noten haben, werden tendenziell eher zu einem MINT-Studium neigen – und das obwohl objektiv betrachtet weniger gute Erfolgsaussichten zu erwarten sind als bei Studienberechtigten, die in allen Fächern sehr gute Noten aufweisen. Es ist anzunehmen, dass sich sozialisationsbedingt und aufgrund der Auswirkungen entsprechender Geschlechterstereotypen die Rangordnung der fachspezifischen Schulleistungen systematisch zwischen Schülerinnen und Schülern unterscheidet. Männer sollten ihre relativen Stärken im mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich sehen und daher die Erfolgswahrscheinlichkeiten in ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengängen höher einschätzen. Frauen werden dagegen ihre Vorteile eher in sprachlich-kreativen Fächern sehen und daher tendenziell stärker zu diesen Studienrichtungen neigen. Aufgrund dieser Überlegungen kann vermutet werden, dass sich ein Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studienfachwahl über (relative) schulische Leistungsvorteile der Männer im ingenieur- und naturwissenschaftlichen Bereich erklären lässt. Fasst man die theoretischen Überlegungen zusammen, so dürfte hinsichtlich der generellen Studienentscheidung ein hoher Erklärungsbeitrag insbesondere in der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Einschätzung der Erträge zu erwarten sein. Frauen verfolgen häufiger Berufs- und Lebensziele, die nicht unbedingt mit den typischen Karrierewegen von Hochschulabsolventen vereinbar sind. Hinsichtlich der Studienfachwahl sollte in allen drei Komponenten (Kosten, Erträge und Erfolgswahrscheinlichkeit) ein gewisser Erklärungsbeitrag liegen. Frauen entscheiden sich demnach nicht nur aufgrund der geringeren relativen Erfolgsaussichten seltener für ein MINT-Studium, sondern auch aufgrund von geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Kosten- und Ertragsüberlegungen.
4 Daten und Methoden Um die im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Zusammenhänge und Mechanismen prüfen zu können, ziehen wir im Folgenden die ersten beiden Wellen der HIS-Studienberechtigtenbefragung 2008 heran. Hierbei handelt es sich um eine in regelmäßigen Abständen stattfindende repräsentative Paneluntersuchung
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der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS). Bei dieser Untersuchung werden in ganz Deutschland studienberechtigte Schülerinnen und Schüler ein halbes Jahr vor und nach Schulabgang über ihre Pläne, Motive sowie Bildungsund Erwerbsverläufe befragt (vgl. Heine et al. 2008). Zwar hat ein halbes Jahr nach Schulabgang nur ein Teil der Studienberechtigten ein Studium aufgenommen, allerdings wird es erst auf Basis dieser Daten möglich, aufgrund der detaillierten Informationen über Kosten, Erträge und Erfolgsaussichten, die den geschlechtsspezifischen Unterschieden zugrunde liegenden Prozesse und Mechanismen differenziert zu analysieren. Die Analyse bezieht sich daher weniger auf Studienentscheidungen, sondern vielmehr auf die Studierneigungen der Studienberechtigten ein halbes Jahr nach Schulabgang. 1 Aufgrund der sehr hohen Panelmortalität zwischen erster und zweiter Welle reduziert sich die Fallzahl von 28.200 auf 5.900.2 In Tabelle 1 werden die in die Analyse einbezogenen Variablen differenziert nach Geschlecht dargestellt. Zentrale Variablen sind hierbei die Absicht ein Studium aufzunehmen, die Absicht ein MINT-Fach zu wählen und das Geschlecht. Anhand dieser Variablen wird das Ausmaß geschlechtsspezifischer Unterschiede beim Übergang ins Studium bestimmt. Die beobachtbaren Unterschiede versuchen wir anhand verschiedener intervenierender Variablen zu erklären. Hierzu zählen institutionelle Faktoren, wie die Art der Schule, Art der Hochschulreife und die Schwerpunktsetzung in der Schule. Um dem Problem der Multikollinearität zu entgehen, gehen diese Variablen lediglich als DummyKombinationen in die Analyse ein. Bei der Überprüfung der theoretischen Überlegungen werden sowohl objektive als auch subjektive Erfolgswahrscheinlichkeiten anhand von Schulnoten, Stärken-/ Schwächenprofilen und der Einschätzung ein Hochschulstudium erfolgreich zu bewältigen in der Analyse berücksichtigt. Hierbei steht bei der Analyse der generellen Studierneigung die durchschnittliche Erfolgswahrscheinlichkeit im Vordergrund, während bei der Analyse der Studienfachwahl die fachspezifischen Erfolgswahrscheinlichkeiten in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Kosten- und Ertragsüberlegungen werden über verschiedene Indikatoren abgebildet. Während wir die Rolle von Kosten über die Frage abbilden inwieweit Kostenüberlegungen die nachschuli1
Zwischen Studienabsicht und Studienentscheidung besteht zwar ein sehr enger Zusammenhang, allerdings werden die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studienaufnahme auf Basis von Studienabsichten unterschätzt (vgl. Lörz et al. 2010). 2 Dies liegt vorwiegend daran, dass die erste Befragung im Klassenverband durchgeführt wurde, und nur ein Teil der Schülerinnen und Schüler sich bereit erklärte an der zweiten Befragung teilzunehmen. Die Nonresponseanalyse hat hierbei ergeben, dass insbesondere leistungsschwächere Schüler aus der Befragung ausscheiden. Die durchschnittliche Schulabschlussnote wird daher neben den Strukturmerkmalen Geschlecht, Art der Schule, Art der Hochschulreife und Bundesland in der Gewichtung berücksichtigt.
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Markus Lörz und Steffen Schindler
schen Entscheidungen beeinflussen, wird die Einschätzung der künftigen Erträge aus der Differenz der Arbeitsmarktaussichten von Hochschulabsolventen gegenüber der Einschätzung der Arbeitsmarktaussichten von Absolventen mit einer Berufsausbildung gebildet (relative Berufsaussichten). Zusätzlich werden kurzfristige Motivationen der Ausbildungswahl sowie langfristige Berufs- und Lebensziele in die Analyse einbezogen um auch nichtmonetäre Erträge der Ausbildungsgänge abzubilden. Darüber hinaus wird in der Analyse für die Bildung der Eltern sowie den Migrationshintergrund kontrolliert. Im Folgenden werden die den geschlechtsspezifischen Unterschieden beim Übergang ins Studium zugrunde liegenden Prozesse in zwei separaten Analyseschritten untersucht. Zunächst wird überprüft, inwieweit bei der generellen Entscheidung für oder gegen ein Studium geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen, und über welche Variablen sich diese erklären lassen (Abschnitt 6). Anschließend wird die Entscheidung für ein MINT-Fach in den Blick genommen (Abschnitt 7). In beiden Analyseschritten wird schrittweise mit logistischen Regressionsmodellen untersucht, durch welche Variablen sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede erklären lassen. Zusätzlich wird anhand einer nichtlinearen Dekomposition (vgl. Fairlie 2005) gezeigt, zu welchen Anteilen die in die Analyse einbezogenen Variablen in der Lage sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede zu erklären. Auf diese Weise wird nicht nur das Ausmaß geschlechtsspezifischer Unterschiede deutlich, sondern es werden auch die Komponenten aufgezeigt, die für diese Unterschiede ursächlich sind.
5 Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern Bevor auf die zentralen Ergebnisse eingegangen wird, werden in Tabelle 1 die Mittelwerte der für die nachfolgenden Analysen zentralen Variablen getrennt nach Geschlecht dargestellt. Die bivariaten Zusammenhänge zwischen den Erklärungsvariablen und der Entscheidung ein Studium aufzunehmen (S) sowie ein MINT-Fach zu wählen (M) sind in der zweiten Spalte der Tabelle abgetragen. In den Spalten 3 und 4 werden die Verteilungen der Schülerinnen und Schüler bei Schulabgang ausgewiesen und in den Spalten 5 und 6 die Merkmalsverteilungen derer, die künftig ein Studium aufnehmen möchten. Sollten die in die Analyse einbezogenen Erklärungsvariablen wie vermutet in Zusammenhang mit der Entscheidung für oder gegen ein Studium, bzw. für oder gegen ein MINT-Fach stehen, dann werden insbesondere jene Variablen zur Erklärung der Geschlechterunterschiede geeignet sein, welche eine geschlechtsspezifische Verteilung aufweisen.
Geschlechtsspezifische Ungleichheiten beim Übergang ins Studiumr
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Tabelle 1: Deskriptive Unterschiede und bivariate Zusammenhänge Effekt (S/M) Abhängige Variablen Studium Studium im MINT-Bereich Schul. Rahmenbedingungen Art der Schule
Schüler m 0,74
Studierende w
Erläuterung
m
w
0,53
0,22
0 = nein; 1 = ja 0 = nein; 1 = ja
0,63
(+/–)
0,63
0,66
0,66
0,75
0 = beruflich; 1 = allgemein
Art der Hochschulreife Berufsausbildungsabschluss Prüfungsschwerpunkt Erfolgswahrscheinlichkeiten Objektiv: - Abschlussnote - Mathematiknote - Deutschnote - Relative Notenvorteile Subjektiv: - Allgemeine Begabung - Erfolgsaussichten - Technische Begabung - Sprachliche Begabung - Relative Begabungen Kosten und Erträge Einfluss Kostenüberlegungen Aussichten (Studium) Aussichten (Ausbildung) Relative Berufsaussichten Kurzfristige Motivationen Soziales Engagement Selbstverwirklichung Sicherer Beruf Praktische Tätigkeit Berufs- und Lebensziele Berufswunsch verwirklichen Selbständige Tätigkeit Beruflicher Aufstieg Hohes Einkommen Prestige erwerben Sichere berufliche Zukunft Familie und Freizeit Kontrollvariablen
(+/–) (+/+) (+/+)
0,74 0,25 0,59
0,78 0,16 0,34
0,77 0,24 0,60
0,86 0,14 0,37
0 = FHR; 1 = AHR 0 = nein; 1 = ja 0 = anderer; 1 = MINT
(–/+) (–/–) (–/+) ( /+)
2,33 2,44 2,55 +0,11
2,32 2,59 2,31 -0,28
2,24 2,32 2,47 +0,15
2,19 2,45 2,17 -0,28
1 bis 4 = ausreichend 1 bis 4 = ausreichend 1 bis 4 = ausreichend -4 = Deutsch; +4 = Mathe.
(+/+) (+/–) (+/+) (+/–) ( /+)
2,48 2,93 2,72 2,13 +0,59
2,18 2,81 1,98 2,48 -0,50
2,53 3,07 2,78 2,16 +0,62
2,26 3,01 2,04 2,60 -0,56
0 bis 4 = stark 0 bis 4 = sehr hoch 0 bis 4 = stark 0 bis 4 = stark -4 = Sprache; +4 = Technik
(–/ ) (+/+) (–/ ) (+/+)
1,48 3,04 2,08 0,96
1,71 2,78 2,18 0,60
1,36 3,11 2,03 1,07
1,48 2,91 2,05 0,86
0 bis 4 = großer Einfluss 0 bis 4 = sehr gut 0 bis 4 = sehr gut -4 = Ausbild.; +4 = Studium
(–/–) (+/ ) (–/+) (–/+)
2,64 3,57 4,18 3,41
3,25 3,52 4,09 3,47
2,62 3,61 4,13 3,24
3,21 3,55 3,99 3,25
0 bis 5 = sehr bedeutend 0 bis 5 = sehr bedeutend 0 bis 5 = sehr bedeutend 0 bis 5 = sehr bedeutend
(–/–) ( /–) (–/+) (–/+) ( / ) (–/+) ( / )
2,73 3,17 3,05 2,88 2,44 3,42 2,92
2,84 3,25 2,92 2,66 2,16 3,51 2,88
2,71 3,18 3,02 2,86 2,45 3,36 2,90
2,84 3,24 2,84 2,60 2,17 3,42 2,87
0 bis 4 = sehr stark 0 bis 4 = sehr stark 0 bis 4 = sehr stark 0 bis 4 = sehr stark 0 bis 4 = sehr stark 0 bis 4 = sehr stark 0 bis 4 = sehr stark
Akad. Bildungshintergrund Migrationshintergrund
(+/ ) ( / )
0,54 0,15
0,51 0,15
0,57 0,15
0,57 0,17
0 = nein; 1 = ja 0 = nein 1 = ja
Quelle: HIS-Studienberechtigtenbefragung 2008 Anmerkungen: m = männlich; w = weiblich; Die Spalte „Effekt“ bezeichnet die Richtung des Effekts der jeweiligen Variable auf die abhängige Variable Studienentscheidung (S) und MINT-Fachwahl (M): + = positiver Zusammenhang; – = negativer Zusammenhang.
Tabelle 1 verdeutlicht nochmals die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium: Zum einen streben Frauen im Vergleich zu Männern
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Markus Lörz und Steffen Schindler
seltener eine Studienaufnahme an (63 Prozent zu 74 Prozent), und zum anderen zeigt sich unter denjenigen, die sich für die Aufnahme eines Studiums entschlossen haben, dass es insbesondere Männer sind, die zu einem MINTStudium neigen (22 Prozent zu 53 Prozent). Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede können ihre Ursache in ganz verschiedenen Erklärungsgrößen haben: Die weitere Bildungs- und Erwerbskarriere wird insbesondere von den vorangegangenen schulischen Rahmenbedingungen beeinflusst. So entscheiden sich Absolventen berufsbildender Schulen häufiger gegen ein Studium als Absolventen allgemeinbildender Schulen (vgl. Heine et al. 2008). Eine vor dem Erwerb der Hochschulreife absolvierte Berufsausbildung signalisiert dagegen eine ausgeprägte Motivation die Bildungskarriere fortzusetzen (vgl. Müller et al. 2009), und ein mathematisch-technischer Prüfungsschwerpunkt führt meist zu einer stärkeren Präferenz für ingenieur- oder naturwissenschaftliche Studienrichtungen (vgl. Lörz et al. 2010). Während in der Schülerkohorte die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Art der Schule und Art der Hochschulreife vergleichsweise gering ausfallen, zeigen sich bei denjenigen, die im weiteren nachschulischen Verlauf ein Studium aufnehmen möchten, deutliche Unterschiede. Der Vergleich der Mittelwerte beider Samples zeigt, dass insbesondere Frauen an berufsbildenden Schulen bzw. mit Fachhochschulreife eine unterdurchschnittliche Studierbereitschaft aufweisen. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Erwerb einer vorschulischen Berufsausbildung und einer technisch-mathematischen schulischen Schwerpunktsetzung zeigen sich dagegen in beiden Samples: Männer verfügen eher über eine vor dem Abitur absolvierte Berufsausbildung und wählen häufiger einen technisch-mathematischen Prüfungsschwerpunkt. Auch die Einschätzung der eigenen Erfolgswahrscheinlichkeiten bedingt die weitere Bildungskarriere: Hierbei lassen sich zum einen objektive (Schulnoten) von subjektiven Maßen (Selbsteinschätzung des Leistungsvermögens) unterscheiden, und zum anderen absolute und relative (fachspezifische) Erfolgswahrscheinlichkeiten. Mit Blick auf die objektiven Erfolgsaussichten wird deutlich, dass sich Männer und Frauen zwar in den durchschnittlichen Schulleistungen kaum unterscheiden, aber deutliche Unterschiede in den fachspezifischen Zensuren bestehen: Schülerinnen schneiden etwas schlechter in Mathematik und etwas besser in Deutsch ab. Dies trifft in etwas ausgeprägterer Form auch auf das Sample der Studierenden zu, wobei insgesamt eine Positivselektion stattfindet; d.h. Studienberechtigte mit besseren Schulnoten neigen häufiger zu einer Studienaufnahme. Die relativen Notenvorteile liegen bei den Männern entsprechend im Fachbereich Mathematik (+0,15), während sie bei den Frauen eher im Fach Deutsch liegen (-0,28).
Geschlechtsspezifische Ungleichheiten beim Übergang ins Studiumr
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Bei der Entscheidung über die weitere Bildungs- und Erwerbskarriere sind die subjektiven Einschätzungen des eigenen Leistungspotentials jedoch entscheidender als die objektiven Schulnoten. Es fällt auf, dass obwohl sich die durchschnittlichen Schulabschlussnoten zwischen Männern und Frauen kaum unterscheiden, Frauen ihre allgemeinen Begabungen deutlich pessimistischer einschätzen als Männer (2,48 zu 2,18). In der Einschätzung ein Hochschulstudium erfolgreich abzuschließen zeigen sich jedoch nur minimale Unterschiede (2,93 für Männer und 2,81 für Frauen). Die fachspezifischen Unterschiede in den Schulnoten spiegeln sich auch in der subjektiven Bewertung technischer und sprachlicher Begabungen wider. Frauen sehen ihre Vorteile verstärkt im sprachlichen Bereich (-0,50) und Männer eher im technischen Bereich (+0,59). Es scheint in der subjektiven Wahrnehmung deutlichere geschlechtsspezifische Unterschiede zu geben als man objektiv annehmen würde. Die Unterschiede in der Studienfachwahl sollten sich demnach insbesondere über die unterschiedliche subjektive Einschätzung der relativen Erfolgsaussichten erklären lassen. Vorangegangene Untersuchungen haben bereits auf die hohe Bedeutung von Kostenüberlegungen bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium aufmerksam gemacht (vgl. Heine et al. 2010). Wenn die Kosten eines Studiums als gering eingeschätzt werden, so steigt die Wahrscheinlichkeit einer Studienaufnahme merklich an. Für Frauen spielen solche Überlegungen eine deutlich größere Rolle als für Männer (1,71 gegenüber 1,48). Die höhere Kostensensibilität der Frauen wird begleitet von einer pessimistischeren Einschätzung der Berufsaussichten von Hochschulabsolventen (Erträge): Schüler versprechen sich im Vergleich zu den Schülerinnen von einem Hochschulstudium bessere Arbeitsmarktaussichten als von einer Berufsausbildung. Die Einschätzung der relativen Berufsaussichten zwischen Studium und Berufsausbildung fällt zwar sowohl bei Männern als auch bei Frauen zu Gunsten eines Studiums aus, jedoch ist diese bei den Männern deutlicher ausgeprägt als bei den Frauen (0,96 zu 0,60). Hinsichtlich der (kurzfristigen) Motivationen für die Wahl des ersten nachschulischen Schrittes zeigt sich, dass insbesondere das Motiv „soziales Engagement“ von den Frauen (in beiden Samples) als bedeutender erachtet wird als von den Männern (3,2 gegenüber 2,6). Bei den (langfristigen) Berufs- und Lebenszielen machen sich lediglich in den Items „hohes Einkommen“ und „Prestige erwerben“ geschlechtsspezifische Unterschiede bemerkbar, die tendenziell auf eine stärkere Karriereorientierung der Männer hindeuten. Insgesamt machen die bivariaten Zusammenhänge deutlich, dass zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der grundsätzlichen Studienentscheidung insbesondere die Variablen zu den schulischen Rahmenbedingungen, der subjektiven Einschätzung von Erfolgsaussichten, der Kosten und Erträge sowie die Items zur sozialen Motivation und zur Karriereorientierung geeig-
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Markus Lörz und Steffen Schindler
net sein sollten. Hinsichtlich der Unterschiede in der Studienfachwahl sollte ebenfalls ein Teil der Erklärung in schulischen Rahmenbedingungen, objektiven und subjektiven relativen Erfolgswahrscheinlichkeiten, sowie in den kurzfristigen und langfristigen Motivlagen der Studienberechtigten liegen. Inwieweit diese Variablen jedoch auch unter Kontrolle von Drittvariablen einen eigenständigen Erklärungsgehalt besitzen, kann letztlich nur durch eine multivariate Analyse geklärt werden.
6 Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Studienentscheidung Die deskriptiv aufgezeigten Unterschiede sind zwar anschaulich und bestätigen teilweise die in Abschnitt 3 skizzierten Überlegungen. Um allerdings eine gesicherte Aussage über die den geschlechtsspezifischen Unterschieden zugrunde liegenden Prozesse und Mechanismen treffen zu können, ist es erforderlich, die verschiedenen Einflussgrößen simultan zu schätzen und deren Erklärungsbeitrag unter Berücksichtigung aller anderen Einflussgrößen zu bestimmen. In Tabelle 2 werden die Ergebnisse einer binären logistischen Regression in Form y-standardisierter Logit-Koeffizienten βstd ausgewiesen. Dabei ist von Interesse, wie stark sich der Geschlechterkoeffizient durch das stufenweise Einführen weiterer Erklärungsvariablen reduziert. Zudem wird der quantitative Erklärungsbeitrag der in den Modellen berücksichtigten Variablen an der Geschlechterdifferenz angegeben. Hierbei handelt es sich um die Ergebnisse einer nicht-linearen Dekomposition (vgl. hierzu Fairlie 2005), mit der der Erklärungsanteil einzelner Variablen an der Differenz der Beteiligungsraten von Männern und Frauen bestimmt werden kann.3 In den einzelnen Modellschritten wird in der untersten Zeile der Erklärungsbeitrag Dkum% der berücksichtigten Variablen an dem Geschlechterunterschied insgesamt ausgewiesen. Zum anderen wird in der letzten Spalte der Tabelle der Erklärungsbeitrag D% der einzelnen Komponenten des Gesamtmodells dargestellt. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Erklärung der geschlechtsspezifischen Unterschiede, wenngleich in Tabelle 2 auch die Koeffizienten der anderen Variablen und die Modellgütemaße (PseudoR2 und Wald-Test) ausgewiesen werden. Die Ergebnisse der logistischen Regression bestätigen die deskriptiv aufgezeigten geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studierbereitschaft. Männer planen deutlich häufiger als Frauen im nachschulischen Verlauf ein Hochschulstudium aufzunehmen (βstd = 0,22; Modell I). Diese Unterschiede sind hoch 3
Eine ausführliche Beschreibung der Methode ist an dieser Stelle nicht möglich. Wir verweisen hierzu auf das Papier von Fairlie (2005). Anwendungsbeispiele finden sich in Reimer und Steinmetz (2009) und Schindler und Reimer (2010).
Geschlechtsspezifische Ungleichheiten beim Übergang ins Studiumr
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signifikant und lassen sich zum Teil über die schulischen Rahmenbedingungen erklären (Dkum% = 0,34; Modell II). Interessanterweise neigen Studienberechtigte, die einen technischen Prüfungsschwerpunkt gewählt haben, besonders häufig zur Aufnahme eines Studiums (βstd = 0,12). Da dies insbesondere auf die männlichen Studienberechtigten zutrifft, liegt bereits in der Wahl des schulischen Schwerpunktfaches ein gewisser Erklärungsgehalt für die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium. Aus den Modellschritten III und IV wird allerdings ersichtlich, dass dieser Effekt eher auf objektive und subjektive Erfolgswahrscheinlichkeiten zurückzuführen ist als auf die schulische Schwerpunktsetzung. Studienberechtigte mit einem technischen Prüfungsschwerpunkt gehören meist zu den leistungsstärkeren Studienberechtigten, die sich subjektiv mehr Stärken als Schwächen in verschiedenen Leistungsbereichen zuschreiben und ihre Erfolgsaussichten hinsichtlich eines Hochschulstudiums als überdurchschnittlich hoch einschätzen. Studienberechtigte mit einem solchen Merkmalsprofil haben eine signifikant höhere Studierbereitschaft. In Anbetracht der bereits aufgezeigten geschlechtsspezifischen Unterschiede in der objektiven und subjektiven Leistungsbeurteilung ist es daher wenig erstaunlich, dass sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede zum Teil auch über diese Variablen erklären lassen. Allerdings sind es eher subjektive Wahrnehmungen als objektive Leistungsvorteile, die zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden führen. Während sich unter Kontrolle der objektiven Erfolgswahrscheinlichkeiten die Geschlechterunterschiede im Vergleich zum vorangegangenen Modell eher vergrößern, reduzieren sie sich deutlich, wenn in Modell IV die subjektiven Erfolgswahrscheinlichkeiten berücksichtigt werden. Insgesamt können in diesem Modellschritt 42 Prozent der Geschlechterunterschiede aufgeklärt werden (Dkum%). Die subjektiv pessimistischere Leistungseinschätzung der Frauen führt demnach trotz objektiv gleicher Schulnoten zu einer deutlich geringeren Studierbereitschaft.
Markus Lörz und Steffen Schindler
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Tabelle 2: Ergebnisse log. Regressionsanalysen und Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei der Entscheidung, ein Studium aufzunehmen MI Geschlecht Männlich (Ref.: weiblich) Bildungshintergrund Akademisch (Ref.: nicht-akad.) Migrationshintergrund Migration (Ref.: kein Mig.) Schulische Bedingungen Art der Schule - (Ref.: B. Schule mit Ausb.) - A. Schule (ohne Ausb.) - A. Schule (mit vors. Ausb.) - B. Schule (ohne Ausb.) - B. Schule (mit vors. Ausb.) Prüfungsschwerpunkt - MINT (Ref.: anderer Pr.) Erfolgswahrscheinlichkeiten Objektiv - durchschnittl. Schulnote Subjektiv - durchschnittl. Begabungen - Erfolgsaussichten (Stud.) Kosten Einfluss von Kosten Erträge Vort. Berufsaussichten (Stud.) Kurzfrist. Motive - soziales Engagement Langfrist. Berufs/Lebensziele - Prestige erwerben - Einkommen erwerben - Familie und Freizeit n Wald-Test (chi2) Pseudo-R2 D kum%
M II
M III
M IV
MV
M VI
M VII
0,22
***
0,17
***
0,20
***
0,16
***
0,14
**
0,06
0,33
***
0,27
***
0,22
***
0,22
***
0,17
***
0,13
**
0,12
**
0,17
*
0,24
**
0,23
**
0,22
**
0,21
**
0,21
**
***
0,66 0,42 -0,22 0,34
***
0,67 0,44 -0,18 0,34
***
0,65 0,41 -0,20 0,33
***
0,62 0,41 -0,19 0,32
***
0,14
0,80 0,50 -0,21 0,48
***
***
0,71 0,40 -0,23 0,40
0,12
**
0,09
***
-0,04
*** ***
*
***
*** ***
0,09
*** ***
0,09
D%
0,07
*** ***
0,06
-0,01
*** ***
0,07
0,20
-0,03
***
-0,03
***
-0,03
***
-0,02
***
0,03 0,21
***
0,02 0,19
***
-0,01 0,17
***
0,00 0,17
***
0,08
-0,12
***
-0,11
***
-0,11
***
0,09
0,27
***
0,28
***
0,58
0,01
5065 77 0,02 0,04
5065 191 0,06 0,34
5065 259 0,10 0,24
5065 304 0,12 0,42
5065 399 0,13 0,54
5065 481 0,18 0,94
0,02 -0,10 ** -0,01 5065 486 0,19 0,84
-0,10
0,84
Quelle: HIS-Studienberechtigtenbefragung 2008 Anmerkungen: D% = Erklärungsbeitrag der Komponente an der Geschlechterdifferenz (Modell VII). Dkum% = kumulierter Erklärungsbeitrag der in den Modellen berücksichtigten Variablen an der Geschlechterdifferenz. Signifikanzniveau: * p < 0.05; ** p < 0.01; *** p < 0.001 Die nichtlineare Dekomposition basiert auf 1000 Replikationen mit Randomisierung der Variablenreihenfolge und Effektschätzern aus einem gepoolten Modell.
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Die auch unter Kontrolle der Erfolgswahrscheinlichkeiten hoch signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede reduzieren sich allerdings erst dann merklich, wenn in den nachfolgenden Modellen die Kosten- und Ertragsüberlegungen berücksichtigt werden. Aus Modell V wird ersichtlich, dass Kostenüberlegungen die Studierbereitschaft der Schülerinnen und Schüler sehr stark beeinflussen. Studienberechtigte, die sich von solchen Überlegungen leiten lassen, streben signifikant seltener ein Hochschulstudium an (β std = -0,12). Da sich hauptsächlich die Schülerinnen über die Kosten eines Studiums Gedanken machen, erhöht sich der Erklärungsbeitrag des Modells an der Geschlechterdifferenz weiter (Dkum% = 0,54; Modell V). Werden in Modell VI die relativen Arbeitsmarktaussichten von Hochschulabsolventen kontrolliert, so lösen sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede vollständig auf (der Geschlechterkoeffizient ist nicht mehr signifikant). Die Geschlechterdifferenz kann demnach mit den in diesem Modellschritt einbezogenen Variablen nahezu vollständig erklärt werden (Dkum% = 0,94), wobei der Großteil der Erklärung in der Ertragskomponente liegt. Während Männer die relativen Arbeitsmarktaussichten von Hochschulabsolventen als sehr vorteilhaft beurteilen, fällt diese Einschätzung bei den Frauen etwas verhaltener aus. Die empirischen Befunde bestätigen demnach die theoretischen Überlegungen weitestgehend: Ein kleinerer Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede lässt sich über Kostenüberlegungen und Erfolgswahrscheinlichkeiten erklären. Zu der deutlich geringeren Studierbereitschaft der Frauen kommt es aber hauptsächlich aufgrund ihrer pessimistischeren Einschätzung der Arbeitsmarktaussichten. Kontrolliert man abschließend in Modell VII zusätzlich für die kurzfristigen und langfristigen Motivlagen, so zeigt sich ein unerwartetes Bild. Den theoretischen Überlegungen zufolge wurde erwartet, dass sich Männer und Frauen in ihren Berufs- und Lebenszielen deutlich unterscheiden und sich dies auf die Entscheidung ein Studium aufzunehmen negativ auswirkt. In der Empirie lässt sich für diese Vermutung keine Evidenz finden. Männer streben zwar verstärkt ein höheres Einkommen an, eine solche langfristige Überlegung führt allerdings nicht häufiger, sondern unerwarteterweise seltener zu einer Studienaufnahme. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede vergrößern sich daher unter Berücksichtigung dieser Berufs- und Lebensziele merklich (D% = -0,10) und der erklärte Anteil der Geschlechterdifferenz fällt geringer aus (D kum% = 0,84). Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede in dem Motiv „soziales Engagement“ wirken sich nicht maßgeblich auf die Studierbereitschaft aus, sodass die Vermutung, Frauen würden aufgrund ihrer sozialen Neigung häufiger vom Hochschulsystem abgelenkt werden, vorerst nicht bestätigt werden kann. Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studierbereitschaft hauptsächlich auf Unterschiede
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in den erwarteten materiellen Erträgen zurückzuführen sind. Weitere Erklärungspotentiale finden sich in der Schwerpunktsetzung in der Schule sowie in den unterschiedlichen subjektiven Erfolgsaussichten und Kostenüberlegungen.
7 Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Studienfachwahl Neben der grundsätzlichen Entscheidung ein Studium aufzunehmen bestehen bemerkenswerte geschlechtsspezifische Unterschiede in der Studienfachwahl. Während ein halbes Jahr nach Schulabgang jeder zweite studierwillige Schüler einen ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Studienabschluss anstrebt (53 %), fällt dieser Anteil bei den Schülerinnen um 31 Prozentpunkte niedriger aus (22 %). Im Vorfeld wurde argumentiert, dass die Ursachen für diese Unterschiede sowohl in Kosten- und Ertragsüberlegungen als auch in geschlechtsspezifisch unterschiedlichen relativen Erfolgsaussichten liegen könnten. Leider ist es mit den vorliegenden Daten nicht möglich, die Kosten- und Ertragsüberlegungen bei der jeweiligen Studienfachwahl hinreichend zu operationalisieren. Im Folgenden wird daher lediglich der Erklärungsbeitrag der unterschiedlichen Erfolgswahrscheinlichkeiten getestet und versucht, anhand der kurzfristigen Motivationen und der langfristigen Berufs- und Lebensziele Hinweise auf die theoretisch formulierten Erwartungen zu bekommen. In Tabelle 3 werden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Studienfachwahl erneut anhand y-standardisierter Logit-Koeffizienten dargestellt. Diese sind über alle Modellschritte hinweg hoch signifikant und lassen sich nur zum Teil durch die einbezogenen Variablen erklären. Die höhere Neigung der Männer zu ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Studiengängen lässt sich hierbei insbesondere auf die technisch-mathematische Schwerpunktsetzung in der Schule zurückführen (Dkum% = 0,16; Modell III). Da zwischen schulischer Schwerpunktsetzung und der späteren Studienfachwahl ein enger Zusammenhang besteht, steigt die Wahrscheinlichkeit einer ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Studienfachwahl signifikant an, wenn bereits während der Schulzeit ein technisch-mathematischer Prüfungsschwerpunkt gewählt wurde (βstd = 0,66). Da Männer weitaus häufiger einen solchen Schwerpunkt wählen, erklärt dies einen Großteil der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studienfachwahl. Die schulischen Rahmenbedingungen hängen hierbei eng mit den individuellen Erfolgswahrscheinlichkeiten zusammen. Der Zusammenhang zwischen schulischer Schwerpunktsetzung und Studienfachwahl fällt entsprechend geringer aus, wenn in den nachfolgenden Modellschritten die objektiven und subjektiven Erfolgswahrscheinlichkeiten berücksichtigt werden. Hierbei sind es besonders die relativen Leistungsvorteile, welche die Studienfachwahl bestimmen.
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Tabelle 3: Ergebnisse log. Regressionsanalysen und Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei der Entscheidung, ein MINT-Studium aufzunehmen MI Geschlecht Männlich (Ref.: weiblich) 0,71 Bildungshintergrund Akademisch (Ref.: nicht-akad.) -0,03 Migrationshintergrund Migration (Ref.: kein Mig.) 0,03 Schulische Bedingungen Art der Schule - (Ref.: B. Schule mit Ausb.) - A. Schule (ohne Ausb.) - A. Schule (mit vors. Ausb.) - B. Schule (ohne Ausb.) - B. Schule (mit vors. Ausb.) Prüfungsschwerpunkt - MINT (Ref.: anderer Pr.) Erfolgswahrscheinlichkeiten Objektiv - durchschnittl. Schulnote - rel. Mathematikvorteil Subjektiv - rel. Technikvorteil Kurzfrist. Motive - soziales Engagement - praktische Tätigkeit Langfrist. Berufs/Lebensziele - Selbständige Tätigkeit - Beruflicher Aufstieg - Prestige erwerben - Einkommen erwerben - Familie und Freizeit n Wald-Test (chi2) Pseudo-R2 D kum%
***
M II
0,68
***
M III
0,54
***
M IV
0,53
***
MV
0,47
***
M VI
0,33
0,25
0,02
0,03
0,03
0,02
0,05
0,04
0,05
0,04
0,01
0,08
0,12
*
-0,26 0,14 0,32 -0,12
-0,24 0,16 0,32 -0,10
-0,19 0,14 0,31 -0,11
-0,20 0,11 0,21 -0,10
-0,14 0,03 0,18 -0,14
*
-0,21 0,22 0,39 -0,10
* *
0,66
*
***
*
*
0,67
***
0,62
***
0,41
0,01
*
0,01 0,02
***
0,01 0,00
***
3730 319 0,09 0,00
3730 519 0,16 0,16
3730 524 0,16 0,17
3730 554 0,18 0,24
***
D%
***
0,02
0,24
3730 291 0,08 0,00
***
M VII
0,00
***
0,10
0,21
***
0,30
-0,19 0,11
***
0,37
0,00 0,00 ***
3730 656 0,24 0,43
***
-0,10 *** 0,06 -0,06 ** 0,07 * -0,01 0,17 3730 705 0,31 0,58 0,58
Quelle: HIS-Studienberechtigtenbefragung 2008 Anmerkungen: D% = Erklärungsbeitrag der Komponente an der Geschlechterdifferenz (Modell VII). Dkum% = kumulierter Erklärungsbeitrag der in den Modellen berücksichtigten Variablen an der Geschlechterdifferenz. Signifikanzniveau: * p < 0.05; ** p < 0.01; *** p < 0.001 Die nichtlineare Dekomposition basiert auf 1000 Replikationen mit Randomisierung der Variablenreihenfolge und Effektschätzern aus einem gepoolten Modell.
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Wird in Modell IV für die durchschnittliche Schulabschlussnote kontrolliert (absolute Erfolgswahrscheinlichkeit), so bleibt der Geschlechterkoeffizient weitestgehend unberührt – wenngleich sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Schulabschlussnote und Fachwahl zeigt. 4 Berücksichtigt man dagegen in den Modellen V und VI die objektiven und subjektiven relativen Leistungsvorteile, so verringert sich der Geschlechterkoeffizient merklich und der Erklärungsanteil der Dekompositionsmodelle erhöht sich entsprechend. Studienberechtigte, die sowohl ihre objektiven als auch ihre subjektiven Leistungsvorteile im mathematischen bzw. technischmathematischen Bereich haben, sind signifikant häufiger geneigt ein MINTStudium aufzunehmen. Die getrennten Analyseschritte verdeutlichen, dass die Fachwahl und die geschlechtsspezifischen Unterschiede eher das Ergebnis subjektiver Leistungseinschätzungen sind und weniger von den objektiven Leistungen abhängen.5 Das Pseudo-R2 steigt unter Kontrolle des subjektiven Technikvorteils auf 0,24 an und auch der erklärte Anteil der Geschlechterdifferenz Dkum% erhöht sich auf 43 Prozent (Modell VI). Um weitere Hinweise auf die den geschlechtsspezifischen Unterschieden zugrunde liegenden Faktoren zu bekommen, werden in Modell VII die verschiedenen Motive des nachschulischen Werdegangs und die langfristigen Berufsund Lebensziele einbezogen. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede reduzieren sich dadurch deutlich (βstd = 0,25) und der erklärte Anteil der Geschlechterdifferenz Dkum% steigt auf 58 Prozent. Den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Fachwahl liegen im Wesentlichen zwei Motivlagen zugrunde. Zum einen haben Frauen häufiger das Bedürfnis sich sozial zu engagieren – ein Motiv, welches sich eher in Studienrichtungen realisieren lässt, die außerhalb des MINT-Bereichs liegen (βstd = -0,19). Zum anderen führt die stärkere extrinsische Orientierung der Männer häufiger zu einem MINT-Studium. Der Wunsch ein hohes Einkommen zu erwerben oder beruflich aufzusteigen führt, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, zwar seltener zu einer Studienaufnahme. Allerdings lässt sich eine solche Orientierung, wenn ein Studium aufgenommen wird, eher im MINT-Bereich realisieren (βstd = 0,07). Zusammenfassend kann demnach ein beachtlicher Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studienfachwahl über relative Erfolgsaussichten im technisch-mathematischen Bereich, Unterschiede in der schulischen Schwerpunktsetzung, der sozialen Motivation der Frauen und der eher extrinsischen 4
Inwieweit dieser Zusammenhang auf die ingenieurwissenschaftlichen Fachhochschulstudiengänge oder die zulassungsbeschränkten universitären Studienrichtungen Medizin, Psychologie und Jura zurückzuführen ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. 5 Wenngleich objektive Leistungen und subjektive Leistungseinschätzungen eng miteinander korreliert sind.
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Orientierung der Männer erklärt werden. Dennoch verbleibt auch unter Kontrolle dieser Aspekte ein hoch signifikanter Unterschied in der Wahl des Studienfaches, welchen es in Zukunft über den Einbezug weiterer Prozessvariablen zu erklären gilt. Vermutlich werden sich diese Unterschiede durch eine bessere Operationalisierung der wahrgenommenen Kosten und Erträge eines MINTStudiums erklären lassen.
8 Zusammenfassung und Diskussion Der vorliegende Beitrag beschäftigte sich mit der zentralen Frage, wie sich im Zuge der Bildungsexpansion die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium entwickelt haben und welche Faktoren und Mechanismen den bestehenden geschlechtsspezifischen Unterschieden zugrunde liegen. Hierbei standen zwei Entscheidungen im Mittelpunkt: Zum einen die grundsätzliche Entscheidung ein Studium aufzunehmen und zum anderen die spezielle Wahl des Fachbereichs. Beide Entscheidungen wurden als das Ergebnis eines rationalen Entscheidungsprozesses betrachtet und vor dem Hintergrund von erwarteten Kosten, Erträgen und Erfolgsaussichten diskutiert. Die Ergebnisse machen deutlich, dass sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Zugang zu höherer Bildung zwar im Zuge der Bildungsexpansion reduzieren, allerdings an den verschiedenen Übergängen des deutschen Bildungssystems unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten sind. Während sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang in die Sekundarstufe II umgekehrt haben, ist beim Übergang ins Studium bisher keine analoge Entwicklung zu beobachten. Vielmehr verstärken sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede in Phasen, in denen finanzielle Restriktionen im Hochschulsystem vorgenommen werden (BAföG-Reform; Einführung von Studiengebühren). Finanzielle Aspekte des Studiums scheinen demnach nicht nur Kinder aus einkommensschwächeren Familien zu betreffen, sondern insbesondere auch die Studierneigung der Frauen. Die höhere Sensibilität der Frauen gegenüber Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und im Hochschulbereich zeigt sich auch mit Blick auf die den geschlechtsspezifischen Unterschieden zugrunde liegenden Einflussfaktoren. Frauen machen sich in der Entscheidungssituation mehr Gedanken über die Kosten eines Studiums und schätzen die relativen Berufsaussichten von Hochschulabsolventen deutlich geringer ein als Männer. Beides sind bei der Entscheidung, ob ein Studium aufgenommen wird oder nicht, entscheidende Größen, welche zu weiten Teilen die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium erklären können. Zudem schätzen Frauen ihre Begabun-
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Markus Lörz und Steffen Schindler
gen auf verschiedenen Leistungsbereichen deutlich geringer ein – und dies obwohl sich objektiv in den durchschnittlichen Schulleistungen keine nennenswerten Unterschiede zu den Männern ausmachen lassen. Bei der Wahl des Studienbereichs zeigen sich ähnliche Unterschiede, wenngleich die in die Modelle einbezogenen Variablen nur etwas mehr als die Hälfte der Geschlechterdifferenz erklären können. Frauen neigen demnach insbesondere aufgrund unterschiedlicher relativer Erfolgswahrscheinlichkeiten signifikant seltener zu einem ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Studium. Während Männer bereits in der Schule oftmals einen technisch-mathematischen Prüfungsschwerpunkt wählen, ihre Kompetenzen und Interessen in diesem Fachgebiet vertiefen und letztendlich häufiger ihre objektiven und subjektiven Leistungsvorteile in diesem Bereich haben, sehen Frauen deutlich häufiger ihre Leistungsvorteile im sprachlichen Bereich. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Studienfachwahl lassen sich demnach zum Großteil auf die Ausbildung eines unterschiedlichen Stärken-/Schwächenprofils zurückführen. Damit sind die Voraussetzungen für das geschlechterspezifische Fachwahlverhalten im Grunde schon lange vor der Entscheidung für ein Studienfach angelegt. Zudem führen die durch soziale Interessen motivierten Ausbildungspräferenzen der Frauen häufiger zu einem Studienfach außerhalb des MINT-Bereichs, während die extrinsische Orientierung der Männer eher in den MINT-Bereich führt. Auch hier beobachten wir beim Übergang ins Studium die Ergebnisse längerfristiger Prozesse, die zur Ausbildung geschlechtsspezifischer Präferenzen führen. Die in der Theorie oftmals diskutierten Diskriminierungsängste der Frauen in männerdominierten Fächern konnten in dieser Analyse nicht direkt getestet werden. Es ist aber denkbar, dass solche Überlegungen einen weiteren Teil des Geschlechterunterschieds zu erklären vermögen. Die empirischen Ergebnisse machen zwar deutlich, dass sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium über die subjektiv erwarteten Kosten, Erträge und Erfolgswahrscheinlichkeiten sehr gut erklären lassen. Die entscheidende Frage ist aber, wie es im Laufe einer Bildungskarriere zu diesen unterschiedlichen Einschätzungen kommt. Der Großteil der Erklärung hierfür dürfte bereits in der frühen Kindheit und Schulzeit zu suchen sein. Die Beantwortung dieser Frage konnten wir in diesem Beitrag allerdings nicht leisten, sie wird aber mit Sicherheit die wissenschaftliche und bildungspolitische Debatte auf absehbare Zeit beschäftigen.
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Auf der Suche nach Ursachen
Entwicklungsaufgaben und Schulerfolg Stehen geschlechtsspezifische Bewältigungsmuster hinter dem Bildungserfolg von Frauen? Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann
1 Einleitung Gesellschaftliche Stratifikationsmuster, die den Zugang zu Macht, Prestige und Wohlstand regeln, zeichnen sich durch eine hohe Stabilität aus. Auch in den demokratischen Gesellschaften, die politisch für Chancengleichheit, Mobilität und soziale Gerechtigkeit eintreten, verläuft die Verteilung von Macht, Prestige und Wohlstand nach wie vor entlang der tradierten Zugehörigkeiten zu Schicht, Ethnie und Geschlecht. Entsprechend überraschend sind kurzfristige Umkehrungen solcher Muster. Wenn nicht alles täuscht, erleben wir in den hochentwickelten Ländern seit etwa dreißig, möglicherweise auch schon sechzig Jahren, also der Dauer einer oder zwei Generationsspannen, einen solchen Wandel, und zwar bei den geschlechtsspezifischen Ungleichheitsmustern im Bildungsbereich. Noch sind die Ausmaße und die Tragweite dieses Wandels nicht erforscht, auch gibt es noch wenige Erklärungsansätze für sie, aber die Entwicklung als solche findet zunehmend Aufmerksamkeit in der internationalen Forschung. Die Datenlage, die den Zustrom der jungen Frauen zu den höheren Bildungseinrichtungen und den Erfolg, den sie dort erzielen, belegt, ist inzwischen relativ eindeutig, über die Ursachen und Mechanismen, wie es einer im Bildungsbereich stark unterprivilegierten Gruppe gelingen konnte, die privilegierte Gruppe in einer relativ kurzen Zeitperiode zu überholen, ist jedoch noch wenig bekannt. In der Forschung werden die folgenden Thesen diskutiert: Sind die Ursachen maßgeblich bei den jungen Frauen zu suchen, die mit überdurchschnittlichen Bildungsinvestitionen die nach wie vor vorhandene Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt ausgleichen wollen (Bobbitt-Zeher 2007)? Ist es die Umstrukturierung des Arbeitsmarkts hin zu mehr Dienstleistungsberufen, die bei den jungen Frauen zu einem erhöhten Interesse an Bildung und Karriere geführt hat (Dumais 2002: 53)? Liegt es an der Struktur des Arbeitsmarkts für Frauen, die dafür sorgt, dass sie mit niedrigen Schulabschlüssen kaum Chancen haben und damit von akademischen Abschlüssen überproportional profitieren (DiPrete und Buchmann 2006; Legewie und DiPrete 2009)? Liegen die Ursachen in einer weiblichen Lern- und Arbeitskultur an den Bildungseinrichtungen, die Mädchen A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zu Leistungen animiert und bei Jungen zur Entfremdung führen (Diefenbach 2010: 242ff)? Warum fallen die Jungen zurück – sind die im Vergleich mit den jungen Frauen nach wie vor besseren Karrierechancen für Männer der Grund, dass ihnen der berufliche Erfolg auch ohne schulische Höchstleistungen gelingt (Buchholz et al. 2009: 53ff)? Oder führt langfristig die Trägheit des Habitus dazu, dass sie den Anschluss an die Wissensgesellschaft und die erhöhten Arbeitsmarktanforderungen im Hinblick auf Bildung und Flexibilität verpasst haben? Wir nehmen diese Thesen auf und integrieren sie in einen sozialisationstheoretischen Ansatz. Kernthese ist, dass der Abfall der Jungen bei den Bildungserfolgen in einem engen Zusammenhang mit ihrer Schwierigkeit steht, auch andere gesellschaftliche Herausforderungen angemessen zu bewältigen. Wahrscheinlich haben sich die psychosozialen Anforderungen an die Entwicklung im Jugendalter in den letzten Jahrzehnten erhöht und sind komplexer geworden, und das führt dazu, dass junge Männer immer häufiger Probleme haben, mit diesen gestiegenen Anforderungen umzugehen. Demgegenüber scheint den jungen Frauen diese Herausforderung leichter zu fallen. Wir greifen im Folgenden auf das Konzept der psychosozialen Entwicklungsaufgaben von Havighurst (1953) zurück. Wir gehen der Frage nach, ob die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben im Jugend- und jungen Erwachsenenalter seit den 1940er und frühen 1950er Jahren, als Havighurst das Konzept etablierte, für die jungen Männer schwieriger und die jungen Frauen leichter geworden sind. Datengrundlage unserer spekulativen Analyse sind die Shell Jugendstudien von 1953 bis 2010. Diese bieten zwar keine Längsschnittdaten, aber verlässliche Zeitreihen, die auf eine seit den 1950er Jahren kontinuierlich stattfindende Sozialberichterstattung mit ein und demselben Erhebungsinstrument zurückgreifen kann, die die aktuellen Lebenslagen, Einstellungen, Werte, Ziele und Wünsche der Jugendlichen in der Bundesrepublik erfasst und deshalb als Grundlage für die Nachzeichnung eines Verhaltens- und Einstellungswandels von Jugendlichen genutzt werden kann.
2 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben Das von Havighurst 1946 erstmals veröffentlichte und in den 1970er Jahren überarbeitete Konzept der psychosozialen Entwicklungsaufgaben beschreibt für die verschiedenen Altersphasen konstitutive gesellschaftliche Erwartungen, die an Individuen der verschiedenen Altersgruppen herangetragen werden und/oder von diesen selbst – sei es durch die Übernahme von Normen in das Selbst, auf-
Entwicklungsaufgaben und Schulerfolgr
127
grund der biologischen Entwicklung oder aus individuellem Bestreben – als Ziele gesetzt werden. Das Konzept nimmt damit Bezug auf „gesellschaftliche Normen und Rollenvorschriften, im Sinne von konsensuellen Urteilen über Indikatoren angemessener Entwicklung und anzustrebender Veränderungen, die Verhalten und persönliche Zielsetzungen in verschiedenen Lebensbereichen regulieren“ (Wahl et al. 2008: 14). Durch die Vorgabe altersangemessener Zielbereiche strukturieren die Entwicklungsaufgaben als soziale Erwartungen den Lebenslauf und bestimmen die Richtung individueller Entwicklungsverläufe mit (Freund 2004). Wir gehen von der Annahme aus, dass es auch in den heutigen, stark individualisierten Gesellschaften solche normierten sozialen Erwartungen gibt, die an alle Individuen herangetragen werden, und die in der Regel von diesen als bedeutende Lebens(phasen)ziele übernommen werden. Das entscheidende Moment dieser an sie herangetragenen Aufgaben ist, dass sie kulturell so tief verankert sind, dass sich die Individuen zu diesen verhalten müssen. Die in der Gesellschaft lebenden Individuen entsprechen also entweder den an sie gestellten Erwartungen, oder sie finden für sich einen Weg, damit in abweichender Form umzugehen. Der zweite Weg ist in der Regel deutlich anspruchsvoller, er setzt eine Reformulierung und Zurückweisung der herrschenden gesellschaftlichen Erwartungen voraus. Dass die Erfüllung von gesellschaftlichen Erwartungen soziale Anerkennung mit sich bringt, liegt auf der Hand; ob sie tatsächlich zu mehr Lebensglück führt, bleibt eine offene Forschungsfrage. Entwicklungsaufgaben können damit als altersbezogene Erwartungen in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, die von einem Großteil der Mitglieder einer Gesellschaft geteilt werden, verstanden werden. Sie werden aber nicht von jedem Mitglied einer Gesellschaft geteilt und nicht notwendigerweise auf die eigene Person angewandt. Individuen können daher durchaus von der sozialen Erwartung abweichende Zielvorstellungen haben. Folgt die Mehrheit abweichenden Zielvorstellungen, verändert das umgekehrt die sozialen altersbezogenen Erwartungen (Freund 2003: 233ff). Die für die Lebensphase Jugend konstitutiven Entwicklungsaufgaben lassen sich in Erweiterung des Konzepts von Havighurst für heutige westliche Gesellschaften in vier Cluster unterteilen (Hurrelmann 2007: 27): 1. Entwicklungsaufgabe „Qualifikation“: Hier geht es um die Entfaltung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um selbstverantwortlich schulischen und anschließenden beruflichen Anforderungen nachzukommen, mit dem Ziel, eine berufliche Erwerbsarbeit aufzunehmen und dadurch die eigene ökonomische Basis für die selbständige Existenz als Erwachsener zu sichern. Soziologisch gesprochen handelt es sich hierbei um die Übernahme einer Mitgliedschaftsrolle in der Leis-
Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann
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2.
3.
4.
tungsgesellschaft und die Vorbereitung auf die Übernahme der Verantwortung für die „ökonomische Reproduktion“ der Gesellschaft. Entwicklungsaufgabe „Ablösung und Bindung“: Hier geht es um das Akzeptieren der veränderten körperlichen Erscheinung, die soziale und emotionale Ablösung von den Eltern, den Aufbau einer Geschlechtsidentität und von Bindungen zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechts sowie um den Aufbau einer heterosexuellen (oder homosexuellen) Partnerbeziehung, welche potentiell die Basis für eine Familienplanung und die Geburt und Erziehung eigener Kinder bilden kann. Aus soziologischer Perspektive handelt es sich bei dieser Aufgabe um die Übernahme von Verantwortung für die Sicherung sozialer Bindungen und der „biologischen Reproduktion“ der Gesellschaft. Entwicklungsaufgabe „Regeneration“: Hier geht es um selbständige Handlungsmuster für die Nutzung des Konsumwarenmarkts einschließlich der Medien, um die Fähigkeit zum Umgang mit Geld, mit dem Ziel, einen eigenen Lebensstil und einen kontrollierten und bedürfnisorientierten Umgang mit den „Freizeit“-Angeboten zu entwickeln. Soziologisch gesprochen geht es um die Partizipation an der Konsumwirtschaft und die Regeneration der Arbeitskraft. Entwicklungsaufgabe „Partizipation“: Hier geht es um den Aufbau einer autonomen Werte- und Normenorientierung und eines ethischen und politischen Bewusstseins, das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Übereinstimmung steht. Soziologisch gesprochen handelt es sich um die verantwortliche Übernahme von gesellschaftlichen Partizipationsrollen als Bürger im kulturellen und politischen Raum und damit um die Sicherstellung der Einbindung des Individuums in den kulturellen und politischen Reproduktionsprozess einer demokratischen Gesellschaft.
Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob und wie sich die strukturellen Bedingungen, unter denen junge Männer und Frauen die Entwicklungsaufgaben bewältigen, gewandelt und wie sich die Formen der Bewältigung der verschiedenen Entwicklungsaufgaben von jungen Männern und Frauen geändert haben. Es geht also um die Veränderung der gesellschaftlichen Werte und Strukturen in den vier Clustern von Entwicklungsaufgaben, denen sich Jugendliche zu stellen haben, und um das Ergebnis ihrer Bewältigungsbemühungen. Die zentrale These ist: In allen vier Bereichen stellen sich bei den jungen Männern zunehmend Probleme bei der Bewältigung ein, während bei den jungen Frauen vergleichsweise erfolgreiche Muster zu beobachten sind.
Entwicklungsaufgaben und Schulerfolgr
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3 Schulische und berufliche Qualifikation Bei diesem Cluster von Entwicklungsaufgaben geht es darum, intellektuelle Fähigkeiten herauszubilden und Fertigkeiten zu erlernen, die als Erwachsener die ökonomische Selbständigkeit und evtl. auch die Versorgung einer eigenen Familie ermöglichen. Welche Voraussetzungen Jugendliche für die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben erbringen müssen, ist stark kulturspezifisch und hängt eng mit dem Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der beruflichen Spezialisierung sowie mit der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zusammen. In den modernen Industriegesellschaften haben sich seit den 1950er Jahren sowohl die schulischen und beruflichen Qualifikationsanforderungen als auch die geschlechtliche Arbeitsteilung stark gewandelt.
Erhöhte berufliche Anforderungen Was man landläufig als „Globalisierung“ bezeichnet, umfasst eine Reihe von Prozessen, die nicht unbedingt neu sind, jedoch in den letzten Jahrzehnten für viele Menschen an Brisanz gewonnen haben: Die Internationalisierung der Märkte und die Verlagerung von Produktionsorten in Niedriglohnländer, die technische Entwicklung und die mit dieser einhergehende Automatisierung von Arbeitsprozessen und nicht zuletzt die Transnationalisierung von politischen Institutionen und Entscheidungsprozessen. Die Folgen dieser Prozesse betreffen Individuen, Ökonomien und politische Organisationsformen gleichermaßen. Eine Folge ist die gestiegene Bedeutung von Bildung auf ökonomischer, individueller und gesellschaftspolitischer Ebene. Internationalisierung, Automatisierung und Umstrukturierung betrieblicher Arbeitsteilung bedingen einen Rückgang von Routinetätigkeiten und eine zunehmende Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften (Autor et al. 2003). Das Ausmaß der durch die Internationalisierung, Computerisierung und Automatisierung ausgelösten Verschiebung der Beschäftigungsanforderungen lässt sich gut an den Veränderungen in der Arbeitsmarktstruktur ablesen. In einer Langzeitstudie über die Veränderungen im US Arbeitsmarkt stellten Levy und Murnane (2005) fest, dass vor allem die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den niedriger bezahlten Berufen abnimmt, mit Ausnahme von einfachen und in der Regel besonders gering bezahlten Dienstleistungstätigkeiten. Überproportional gesunken ist die Zahl der „Blue Collar Worker“ und der einfachen Verwaltungsangestellten, also im Wesentlichen die durch einen hohen Grad an Wiederholungen gekennzeichneten und daher gegenüber qualifizierten Arbeiten von Automatisierungsprozessen bedrohten Tätigkeiten (für Großbri-
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tannien Goos und Manning 2003). Neben den Verschiebungen in der Beschäftigungsstruktur ist eine alle Berufsgruppen umfassende Steigerung des Qualifikationsniveaus zu verzeichnen (Spitz-Oener 2003: 13ff). Vor allem ist der Bedarf an analytischen und kreativen intellektuellen Kompetenzen gestiegen (Murnane und Levy 2004), also der Bedarf, Probleme zu lösen, ohne auf bereits vorgegebene, standardisierte Lösungen zurückzugreifen.
Von der Arbeit in die Bildungsinstitutionen Ein Vergleich mit der Situation von Jugendlichen in den 1950er und 1960er Jahren zeigt, wie dramatisch sich – bedingt durch die Umstrukturierungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt – die Bildungsanforderungen verändert haben. Während die Jugendphase seit den 1980er Jahren zunehmend durch Bildung und Ausbildung geprägt ist, war sie in den 1950er Jahren von Arbeit gekennzeichnet (Zinnecker 1987: 313). Jugend begann in den 1950er Jahren dort, wo für die überwiegende Mehrheit (ca. 80 Prozent) im Alter von etwa 14 Jahren die (Pflicht-)Schulzeit endete und sie in die Arbeitswelt eintraten, sei es als Mithelfender in der Familienwirtschaft, als Un- und Angelernter oder als Lehrling. Dieses Bild einer vom Eintritt in den Arbeitsprozess geprägten Jugendphase blieb bis in die 1960er Jahre relativ konstant. 1966 besuchten noch etwa zwei Drittel der Jugendlichen die Volksschule, das andere Drittel setzte sich zur Hälfte aus Mittel- bzw. Realschülern zusammen und zur Hälfte aus Oberschülern bzw. Gymnasiasten, 2 Prozent studierten. Junge Frauen besuchten etwas häufiger die Volksschule, in der Mittel- oder Realschule war das Verhältnis in etwa ausgeglichen, auf dem Gymnasium dominierten die jungen Männer. Obwohl in den 1960er Jahren auf gesellschaftlicher Ebene die Notwendigkeit von Bildung insgesamt und Weiterbildung im Besonderen zunehmend diskutiert wurden und der Umschwung zur Bildungsgesellschaft sich nach und nach zumindest diskursiv vollzog, erschienen die Jugendlichen davon bemerkenswert unbeeindruckt. Etwa die Hälfte der Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren, die 1965 im Rahmen der Shell Jugendstudie (Jugendwerk d. dt. Shell 1966: 24) befragt wurden, glaubten, dass eine einfache Bildung ausreiche. Die andere Hälfte fand zwar die „moderne Forderung“ nach gehobener Bildung richtig – von diesen setzte jedoch nur eine Minderheit diese Einstellung auch in höhere Bildung um. Die meisten Volksschüler/-innen und Volksschulabgänger/innen bekundeten kein Interesse an einer weiterführenden Schule (Jugendwerk d. dt. Shell 1966: 70ff). Zwar führte ein Viertel davon hierfür Sachzwänge an, wie etwa kein Geld zu haben oder nicht von den Eltern unterstützt worden
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zu sein. Die überwiegende Mehrheit gab als Grund jedoch die Zufriedenheit im Beruf sowie die Scheu vor den Anforderungen einer weiterführenden Schule an. Die Zufriedenheit mit dem Beruf ist vor allem für die älteren männlichen Befragten bedeutsam. Von den Frauen führen immerhin auch 9 Prozent eine traditionelle Einstellung zum Heiraten als Grund für ihr mangelndes Interesse an höherer Bildung an. Die Autoren kamen deswegen zu dem Schluss: „Gehobene Schulbildung gilt weithin nicht als wünschenswert. Traditionalistische Gründe, ein gewisses Berufsethos vor allem mittelständischer Berufe und bei einer Minderheit objektive Hinderungsgründe stehen dem Wunsch nach gehobener Bildung entgegen. Soweit dieser Wunsch besteht, hält er sich in bescheideneren Grenzen. Höhere Handelsschule und Realschule genügen den meisten, die überhaupt Anforderungen dieser Art stellen“ (Jugendwerk d. dt. Shell 1966: 74). Das bedeutet nicht, dass es unter den Jugendlichen in den 1960er Jahren keinen Ehrgeiz gab oder der Wille zum beruflichen Aufstieg fehlte. Das war keineswegs der Fall: Die Hälfte der Jugendlichen bekundete beruflichen Ehrgeiz – die jungen Männer deutlich häufiger als die jungen Frauen. Nur der Weg zum beruflichen Aufstieg wurde weniger in der Bildung, sondern vor allem im „Bewähren“ im Beruf selbst gesucht, mit einer starken Tendenz zum „Lebensberuf“ (Jugendwerk d. dt. Shell 1966: 77). Auch in den 1970er Jahren waren noch hohe Ressentiments gegenüber Bildung und starke Sympathien gegenüber der praktischen Ausbildung und Erfahrung spürbar. Die Autoren der Shell Jugendstudie 1975 (Jugendwerk d. dt. Shell 1975b: 22) fragten danach, ob eine theoretische Ausbildung und der Einstieg in einer höheren Position oder das systematische „Hocharbeiten von unten“, die systematische Ausbildung in der Praxis und ein gleichmäßiger Aufstieg besser sei. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen votierte für „Praxis und gleichmäßiger Aufstieg“, nur ein Fünftel (21 Prozent) für „Theorie und gehobene Position“. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern waren marginal und auch die schichtspezifischen Ausprägungen waren relativ moderat. Der Vorzug der Berufspraxis vor der theoretischen Bildung traf bei Jugendlichen aus allen sozialen Schichten auf breite Zustimmung.
Bildungsexpansion und Inflation der Bildungstitel In den 1980er Jahren ist in den Einstellungen der Jugendlichen ein Bruch zu beobachten. Der gesellschaftliche Wandel von der arbeitsintensiven Industriegesellschaft in eine konsumintensive Dienstleistungsgesellschaft schien zunehmend auf die Lebenslagen der Jugendlichen in Deutschland zu wirken. Was die Jugendlichen der 1980er Jahre erlebten, war eine kollektive Entwertung ihrer
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Arbeitskraft: die Jugendarbeitslosigkeit nahm zu, die Anforderungen der Arbeitgeber an jugendliche Lehrstellenbewerber stiegen und parallel dazu nahm die Verweildauer der Jugendlichen in den Bildungsinstitutionen zu. In einem Vergleich von Jugendlichen der 1950er und 1980er Jahre kam Zinnecker zu dem Schluss: „Die als dramatisch zu bezeichnende – und historisch bis auf weiteres irreversible – Freisetzung jugendlicher Arbeit aus dem Arbeitsprozeß ist der historisch vorangegangenen Entwertung kindlicher Arbeitskraft vergleichbar – ein Vorgang, der vor fast einem Jahrhundert seinen vorläufigen Abschluß fand. Wie im Fall der Kinder geht die ökonomische Entwertung dieser Altersphase mit deren psychosozialer und soziokultureller Aufwertung einher. ‚Jugend’ als Wert folgt ‚Kindheit’ als kulturell geschätztem Gut historisch nach“ (Zinnecker 1987: 309f). Abbildung 1: Anzahl arbeitsloser Jugendlicher im Alter von 15 bis 24 Jahren von 1980 bis 2010 in Deutschland (bis 1989 früheres Bundesgebiet) nach Geschlecht 700000 600000 500000 insgesamt
400000
weiblich 300000
männlich
200000 100000 0 1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
Jahr Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2010), eigene Berechnung .
Die 1990er und 2000er Jahre waren weiter von der Bildungsexpansion, aber auch von zunehmenden Schwierigkeiten, die berufliche Einmündung erfolgreich zu planen, geprägt (siehe Abbildung 1). Diese Schwierigkeiten haben bei den
Entwicklungsaufgaben und Schulerfolgr
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Jugendlichen zu einer großen Unsicherheit und zu einem sinkenden Optimismus im Hinblick auf die persönliche Zukunft geführt. Denn selbst eine gute Bildung und eine hervorragende Ausbildung garantieren die von der überwiegenden Mehrheit angestrebte Sicherheit in der Erwerbsbiographie nicht mehr. Was den Jugendlichen seit den 1990er Jahren vor allem Angst macht, sind eine schlechte Wirtschaftslage, steigende Armut und Arbeitslosigkeit (Jugendwerk d. dt. Shell 1992, 1997; Langness et al. 2006: 74; Leven et al. 2010: 119). Abbildung 2: Zeitreihenvergleich zum angestrebten Schulabschluss, Jugendliche im Alter von 12 bis 21 Jahren, die noch zur Schule gehen 2002 %-Angaben
Gesamt
Männl. Weibl.
2006 Gesamt
Hauptschul14 16 13 12 abschluss Realschul31 32 31 32 abschluss Fachhochschul4 4 3 5 reife Abitur/fachgeb. 49 46 53 51 Hochschulreife Keine Angaben 2 3 1 1 Quelle: Shell Jugendstudien 2002, 2006 und 2010
2010
Männl. Weibl.
Gesamt
Männl. Weibl.
13
11
12
13
10
33
30
26
29
24
6
4
6
7
5
47
55
55
51
60
1
0
0
0
0
Der Trend, auf die erhöhte Unsicherheit hinsichtlich der Berufseinmündung mit zunehmenden Investitionen in die Bildung zu reagieren, setzt sich – verbunden mit einer steigenden Inflation der Bildungstitel – fort (siehe Abbildung 2). Im Jahr 2010 etwa wollten 55 Prozent der Jugendlichen die Hochschulreife und weitere 6 Prozent die Fachhochschulreife erwerben. 26 Prozent wollten den Realschulabschluss erreichen und nurmehr 12 Prozent waren mit einem Hauptschulabschluss zufrieden (Leven et al. 2010: 75). Das geringe Interesse an einem Hauptschulabschluss entspricht seinem schwindendem Nutzen auf dem Arbeitsmarkt: Fast die Hälfte der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss musste die Erfahrung machen, dass sie wegen ihrem Schulabschluss nicht den Beruf ergreifen konnten, den sie ausüben wollten (Leven et al. 2010: 112).
Chancensuche und Chancenlosigkeit – geschlechtsspezifische Wahrnehmungen Obwohl viele Jugendliche einen höheren Schulabschluss als ihre Eltern erwerben, sind ihre beruflichen Aussichten häufig unsicherer als zu den Zeiten, als
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ihre Eltern zur Schule gingen. Eine klare und aussichtsreiche berufliche Perspektive stellt jedoch einen nicht zu unterschätzenden Faktor in der Bildungsmotivation dar. Unsicherheiten über den Wert von schulischen Investitionen für die berufliche Zukunft führen vor allem bei den bildungsferneren Gruppen dazu, auf Investitionen im Bildungsbereich zu verzichten (Becker 2000: 463; MüllerBenedict 2007: 635). Entsprechend sind die schulformspezifischen Zukunftsperspektiven ein wichtiger Erklärungsfaktor für die schulische Motivation. Gerade bei männlichen Hauptschülern in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit kann die Tendenz beobachtet werden, die beruflichen Ziele an die antizipierte Chancenlosigkeit anzupassen und entsprechend wenig Motivation zu haben, in den eigenen Schulerfolg zu investieren (Diefenbach und Klein 2002: 938). Dass sich die antizipierte berufliche Chancenlosigkeit insbesondere bei den jungen Männern negativ auf die schulische Motivation niederschlägt, hat vor allem zwei Ursachen. Zum einen sind die traditionellen, produzierenden „Männerberufe“ besonders von der Arbeitsmarktumstrukturierung betroffen (BMWA 2005: 23; Buchholz et al. 2009; Spitz-Oener 2003: 13ff). Dadurch entsteht bei vielen jungen Männern auf den niedrigeren Schulformen der Eindruck, dass für sie kaum noch eine Berufsperspektive besteht. Zum anderen sind junge Männer stärker auf ihre zukünftige Berufslaufbahn fokussiert, während die jungen Frauen eine breitere Palette von Zielen verfolgen, darunter auch Ehe und Familie. Eine nicht erfolgreiche Berufseinmündung oder bereits die Antizipation des Misserfolgs hat deswegen für junge Männer stärkere psychologische Konsequenzen (Greene und DeBacker 2004: 115). Aber auch in den Einstellungen der Geschlechter zur Arbeit sind Entwicklungen zu beobachten. In den 1950er Jahren lag die Priorität der jungen Frauen auf der Familiengründung. Dies ändert sich im Laufe der letzten Jahrzehnte (Zinnecker 1987: 317). Zwar wünschen sich junge Frauen immer noch mehrheitlich eine Familie, diese sollte jedoch mit einem interessanten Beruf vereinbar sein. Nicht zuletzt wegen dieser Prioritätenverschiebung, schieben junge Frauen die Verwirklichung ihres Kinderwunsches zeitlich auf einen Zeitpunkt, zudem sie ihre Ausbildung abgeschlossen und den Berufseinstieg bewältigt haben (Allmendinger 2008). Auch für junge Männer ist das Bezugssystem Arbeit als sinnstiftende biografische Instanz in mancher Hinsicht fragwürdig geworden (Zinnecker 1987: 317). Vor allem die Unsicherheit, ob die gewünschte sichere Erwerbsbiographie auch erreicht wird, hat bei vielen männlichen Jugendlichen zu einer sinkenden Identifikation mit dem Arbeitsleben geführt. Zunehmend können sich junge Männer auch mehr Verantwortung bei der Kindererziehung vorstellen und der Kinderwunsch der jungen Männer nähert sich dem der jungen Frauen an (Leven et al. 2010: 60). Von einem flexiblen Umgang mit Arbeit und Kindern als sinn-
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stiftende Lebensaufgabe, kann jedoch noch keine Rede sein. Diese Option, sich bei Schwierigkeiten in der Karriere auf die Familie zurückzuziehen und bei guten Karrieremöglichkeiten, das Berufsleben wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen, scheint jungen Männern noch weitgehend verschlossen zu bleiben. Dies führt dazu, dass für junge Männer der berufliche Erfolg oder doch zumindest ein geregeltes Einkommen weitaus wichtiger sind als für junge Frauen. Bei hoher Unsicherheit, ob die – in der Regel ohnehin recht moderaten – beruflichen Ziele erreicht werden können, neigen deswegen junge Männer häufiger dazu, ihre schulischen Leistungen zu reduzieren und damit die schulischen Anstrengung an den antizipierten beruflichen Erfolg anzupassen. Bei jungen Frauen scheinen schulischer Ehrgeiz und antizipierter beruflicher Erfolg weniger stark zu korrelieren.
4 Beziehungen zu Eltern und Freunden Neben der Entwicklungsaufgabe, sich zu qualifizieren und selbstverantwortlich den Bildungs- und Berufsanforderungen nachzukommen, spielt die Entwicklungsaufgabe „Ablösung und Bindung“ eine zentrale Rolle im Jugendalter. Die soziale und emotionale Ablösung von den Eltern, der Aufbau einer Geschlechtsidentität und die Orientierung an einer Partnerschaft, die zu einer eigenen Familiengründung führen könnte, sind heute komplexe Prozesse. So haben Jugendliche heute eine deutlich höhere Optionsvielfalt für ihr Bindungsverhalten und die damit verbundene Definition ihrer Geschlechterrolle, benötigen jedoch zugleich vielfältige Kompetenzen und Selbstvertrauen, um diese Optionen auch produktiv nutzen zu können.
Wandel in den Familienstrukturen Die Geschichte der Familie in Deutschland war seit 1945 vor allem von zwei Umbrüchen geprägt (Kaelble 2007: 28). Zum einen entstanden infolge des Zweiten Weltkriegs tiefe Veränderungen in der Familienstruktur. Durch die schwierige Versorgung mit Nahrung, Kleidung, Brennstoffen und Wohnungen entstanden neue Rollenverteilungen zwischen den Ehepartnern, auch unvollständige Familien waren in der Folge des Krieges ungewöhnlich häufig. Die vergleichsweise niedrige Zahl gleichaltriger junger Männer legitimierte größere berufliche Freiheiten für die jungen Frauen, da die Chancen der ökonomischen Absicherung durch den Eintritt in die Ehe relativ unsicher waren.
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Nicht zuletzt war die Selbständigkeit und Verantwortung der Jugendlichen und auch schon der Kinder innerhalb und außerhalb der Familie während der unmittelbaren Nachkriegszeit besonders groß und konnte zu Konflikten insbesondere mit den Vätern führen (Kaelble 2007: 30). Diese Veränderungen waren allerdings nicht von Dauer. Die 1950er und frühen 1960er Jahre waren von der Rückkehr zur „klassischen“ Familie geprägt: Die Hausfrauenehe gewann wieder an Gewicht, Gegensätze in den Geschlechterrollen und eine klare Arbeitsteilung wurde wieder verstärkt etabliert und es kam zu einer Rückkehr der elterlichen Autorität gegenüber Kindern und Jugendlichen. Der zweite Umbruch setzte in den späten 1960er Jahren ein und führte zu einer bis dahin unbekannten Vielfalt von Familienformen (Kaelble 2007: 35ff). Die Scheidungsrate, die in den 1950er Jahren deutlich zurück gegangen war, nahm wieder zu, die außerehelichen Geburten stiegen, die Geburtenraten stürzten regelrecht ab und auch die Heiratsraten sanken. Dies war der Anfang einer längeren Entwicklung, die sich in den 1970er Jahren und 1980er Jahren fortsetzte.
Ablösung der Eltern durch die Freunde? Vor diesem Hintergrund haben sich die Einstellungen der Jugendlichen zur Herkunftsfamilie und zu einer (zukünftigen) eigenen Familie geändert. Aber auch die geschlechtlichen Rollenverteilungen und das Verhältnis zu den Gleichaltrigen haben sich gewandelt. Die Entwicklung des sozialen Beziehungsgefüges von Jugendlichen in Deutschland seit den 1950er Jahren bis heute ist von der Entwicklung zu einem partnerschaftlicheren Verhältnis zu den eigenen Eltern sowie von der zunehmenden Bedeutung von Freunden und Peers im Leben der Jugendlichen geprägt. In den 1950er Jahren gaben vergleichsweise viele Jugendliche an, niemanden zu haben, mit dem sie über Probleme und Nöte sprechen könnten. 1953 hatten nur 67 Prozent einen Gesprächspartner für ihre Probleme. Dieser Anteil nimmt im Laufe der 1950er Jahre und den frühen 1960er Jahren kontinuierlich zu und erreichte in der Shell Jugendstudie von 1964 den Wert von etwa 90 Prozent, der sich bis in die 1980er Jahre hält (Zinnecker 1987: 275) und dann in den 1990er Jahren weiter steigt. Im Jahr 2000 gaben nur noch 4 Prozent der Jugendlichen an, niemanden zu haben, mit dem sie sprechen können. Der Trend, dass junge Männer häufiger angeben, niemanden zu haben, mit dem sie sprechen können, bleibt jedoch ungebrochen. Auch die Wahl der Vertrauensperson hat sich gewandelt. Während in den 1950er Jahren in der Regel die Eltern, insbesondere die Mütter, die Hauptansprechpartner für Probleme waren, nahm im Laufe der 1960er Jahre die Bedeu-
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tung von Freundschaften immer weiter zu (Zinnecker 1987: 279), die Eltern blieben jedoch die wichtigsten Ratgeber bei Problemen. Dieses Bild änderte sich in den 1980er Jahren: Probleme wurden in erster Linie mit Gleichaltrigen besprochen. Das bedeutete nicht, dass Eltern nicht mehr als Vertrauenspersonen und Ratgeber benötigt wurden, es bedeutete eher, dass die Monopolstellung der Eltern als Bezugspersonen gebrochen wurde (Zinnecker 1987). In den darauf folgenden Jahren nimmt die Bedeutung von Freunden als Ratgeber weiter zu.
Produktive und unproduktive Strategien der Problemlösung In der letzten Shell Jugendstudie 2010 haben wir gezielt nach Formen von Problemlösungen gefragt (Gensicke 2010: 226ff). Die Mehrheit der Jugendlichen versucht Probleme in erster Linie dadurch zu bewältigen, in dem sie sich einem Freund anvertrauen und mit diesem gemeinsam versuchen, die Probleme zu lösen. Gefolgt wird diese Strategie von der gemeinsamen Suche nach Lösungen mit den Eltern oder anderen Erwachsenen. Erst danach werden verschiedene Vermeidungs- und Ablenkungsstrategien genannt (siehe Abbildung 3). Auffällig ist jedoch, dass junge Männer sich deutlich seltener einem Freund oder ihren Eltern anvertrauen als junge Frauen. Dagegen neigen sie deutlich häufiger dazu, sich nichts anmerken zu lassen und so zu tun, als ob alles in Ordnung sei, die Probleme in sich „reinzufressen“, sich mit aggressiven Verhaltensweisen Luft zu verschaffen oder sich mit Fernsehen und Computerspielen, manchmal auch mit Alkohol, abzulenken. Junge Frauen neigen demzufolge zu den produktiveren Problembewältigungsstrategien, junge Männer eher dazu, Probleme nicht anzugehen, sondern Ablenkungsstrategien zu suchen. Das erschwert ihnen allgemein den Umgang mit Problemen. Es ist aber auch ein Hinweis darauf, dass Probleme in der Schule, die bei jungen Männern häufiger als bei jungen Frauen zu Klassenwiederholungen, Schulverweigerung und Schulabbruch führen, aufgrund der geringeren Problemlösungskompetenz häufiger negative Folgen und schließlich einen geringeren Schulerfolg nach sich ziehen.
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Abbildung 3: Was Jugendliche tun, wenn Sie in Schwierigkeiten sind oder größere Probleme haben nach Geschlecht, 12- bis 25-jährige Jugendliche Ich vertraue mich einem Freund/einer Freundin an, um mit ihm/ihr gemeinsam meine Probleme zu lösen
39 23
Ich diskutiere das Problem mit meinen Eltern oder einem anderen Erwachsenen
25 14
Ich mache mir einen Plan, wie ich das Problem lösen kann, und arbeite diesen Schritt für Schritt ab
9 12
Ich mache etwas, das mir richtig Spaß macht, dann sieht alles schon viel besser aus
8 11
Ich versuche das Ganze mit Humor zu nehmen, es ist schließlich nicht das Ende der Welt
5 8
Ich glaube fest daran, dass alles irgendwie von selbst wieder gut wird
4 7
Ich lenke mich mit Fernsehen oder Computerspielen ab
2
Ich lasse mir nichts anmerken und tue so, als ob alles in Ordnung wäre
2
Ich lenke mich mit Partys, Clubs oder Feiern ab
2 3
Ich mache meinem Ärger und meiner Ratlosigkeit Luft durch Schreien, Heulen, Türenknallen
7
4
4 1
Ich lasse alles andere liegen, bis ich das Problem gelöst habe
2 2
Ich ziehe mich zurück, da ich doch nichts ändern kann
2 2
Ich rauche oder trinke mehr Alkohol
1 2
Ich werde aggressiv und würde am liebsten anderen weh tun Quelle: Shell Jugendstudie 2010
1 1
weiblich männlich
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5 Freizeitverhalten und Medienkonsum Die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und des Konsums haben sich seit den 1950er Jahren dramatisch verändert. Zum einen haben die Jugendlichen aufgrund ihrer längeren Verweildauer in den Bildungsinstitutionen mehr Freizeit zur Verfügung. Daneben verfügen Jugendliche heute über deutlich mehr Geld, das sie zur freien Verfügung haben, als dies in den 1950er Jahren der Fall war. Sie stehen aber auch einer Freizeitindustrie gegenüber, mit der sie als Zielgruppe kompetent umgehen müssen, was nicht allen Jugendlichen gleichermaßen gut gelingt.
Unterschiedliche Bedeutung des Freizeitbereichs Insgesamt scheint der Freizeitbereich für junge Männer eine weitaus größere Rolle zu spielen als für junge Frauen. Zum einen scheinen junge Männer über mehr freie Zeit zu verfügen als junge Frauen. Dies kann daran liegen, dass Frauen immer noch vermehrt zur Hilfe bei der Hausarbeit oder bei den jüngeren Geschwistern herangezogen werden, es kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass sie mehr Zeit mit ihren Schularbeiten verbringen. Obwohl jedoch männliche Jugendliche über mehr freie Zeit verfügen können als junge Frauen, haben sie – anders als die meisten weiblichen Jugendlichen – mehrheitlich das Gefühl, zu wenig Zeit zur Verfügung zu haben (Erbeldinger 2003: 252, 256). Offensichtlich ist das Bedürfnis männlicher Jugendlicher nach freier Zeit deutlich größer als das von weiblichen Jugendlichen. Dieser Befund deutet darauf hin, dass dem Freizeitbereich bei der Persönlichkeitsentwicklung der jungen Männer eine große Bedeutung zukommt, auch und vermutlich insbesondere für diejenigen, die wenig spezifische Ziele in ihrer Freizeit anstreben und zudem wenig leistungsorientiert sind. Auch die psychosozialen Motive und Ziele, die hinter den Freizeitorientierungen liegen, scheinen stark geschlechtsspezifisch zu sein (Erbeldinger 2003: 207). Junge Frauen sind weitaus stärker als junge Männer dazu bereit, in diesem Lebensbereich Leistung zu zeigen und Herausforderungen zu bewältigen sowie sich für andere einzusetzen. Männliche Jugendliche sind dagegen überwiegend daran interessiert, in ihrer Freizeit Abenteuer und Erlebnisse zu verspüren. Häufiger als bei den jungen Frauen bedeutet Freizeit für sie einen Ausgleich zu anderen Verpflichtungen (Österreichisches Institut für Jugendforschung 2005: 21).
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Medienkonsum und Schulerfolg Typische Freizeitbeschäftigungen der Jugendlichen in den 1950er Jahren waren Lesen, Sport oder Wandern, Gartenarbeit und andere häusliche Beschäftigungen sowie kreative Beschäftigungen wie Malen, Zeichnen, Basteln oder Musizieren. Fernsehen, Rundfunk und Musikkonsum wurde nur von einer Minderheit von 7 Prozent als bevorzugte Freizeitbeschäftigung genannt (Zinnecker 1987: 176). Heute ist das Freizeitverhalten stark von den elektronischen Unterhaltungsmedien geprägt. Internet, Fernsehen und Musikhören gehören, neben sich mit Leuten treffen, zu den häufigsten Freizeitbeschäftigungen (Leven et al. 2010: 96). Vor allem bei jungen Männer gehören Fernsehen, im Internet surfen, Playstation oder Nintendo spielen und Videos und DVDs anschauen wesentlich häufiger zu den häufigsten Freizeitbeschäftigungen als bei den jungen Frauen. Dagegen gehen junge Frauen deutlich häufiger kreativen Tätigkeiten nach, ebenso lesen sie häufiger (siehe Abbildung 4). Insbesondere für junge Männer aus bildungsfernen Schichten bergen die elektronischen Unterhaltungsmedien jedoch das Risiko, sich negativ auf die schulische Motivation und den schulischen Erfolg auszuwirken. Die vom Kriminologischen Institut Niedersachsen erhobene repräsentative Schülerbefragung 2005 belegt einen gravierenden Zusammenhang zwischen erbrachter Schulleistung, der Mediennutzungszeit sowie dem Konsum von Filmen und Computerspielen ohne Jugendfreigabe (Pfeiffer et al. 2007: 4; vgl. auch den Beitrag von Baier und Pfeiffer in diesem Band). Die Dauer der Mediennutzung differiert ebenso wie die Präferenz von Gewaltinhalten nach Geschlecht, Bildungsniveau der Eltern und dem Migrationshintergrund. Ein 10-jähriger Junge aus einer bildungsfernen Familie mit Migrationshintergrund verbringt an einem Schultag durchschnittlich fast vier Stunden mit Medienkonsum. Den Gegenpol bildet das deutsche Mädchen aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt, das an einem Schultag durchschnittlich 43 Minuten vor dem Fernseher oder dem Computer verbringt. Der negative Einfluss der Mediennutzungsdauer und der Art des Medienkonsums bleibt auch dann noch signifikant, wenn der Einfluss des elterlichen Bildungshintergrunds kontrolliert wird, indem der Zusammenhang innerhalb homogener Herkunftsgruppen gemessen wird.
Entwicklungsaufgaben und Schulerfolgr
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Abbildung 4: Häufigste Freizeitbeschäftigung im Laufe einer Woche nach Geschlecht (Angaben in Prozent), Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren 53
Im Internet surfen Musik hören
57 56
Sich mit Leuten treffen
56
Fernsehen
52 55 22
Training/Aktiv Sporttreiben…
33 24
Sport in der Freizeit, wie Rad fahren, …
32 30 31
In die Disco, zu Parties oder Feten gehen 14
Videos/DVDs anschauen Bücher lesen
25
13 15
Etwas mit der Familie unternehmen
14
sich in einem Projekt/einer…
35
18
Nichts tun, Rumhängen
In die Kneipe gehen
5 6
Etwas Kreatives, Künstlerisches machen 5 6
Zeitschriften oder Magazine lesen
6
Shoppen, sich tolle Sachen kaufen
5
weiblich männlich 27
9 8 17
8
Jugendfreizeittreff, Jugendzentren…
63
35
9
Playstation spielen, Nintendo spielen, …
65
11 28
Quelle: Shell Jugendstudie 2010 Anmerkung: Bis zu 5 Nennungen möglich.
Der geschlechtsspezifische Medienkonsum bietet damit eine weitere Erklärung für die schlechtere Leistungsbilanz der Jungen. Zum einen steht die Zeit, die mit Computerspielen oder vor dem Fernseher verbracht wird, nicht mehr als potentielle Zeit für Schulaufgaben zur Verfügung. Zum anderen konnte bei Experimenten nachgewiesen werden, dass Filme und Computerspiele – vor allem dann, wenn sie gewalthaltig sind – negative Auswirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit haben (Pfeiffer et al. 2007: 16). Männliche Jugendliche scheinen es demnach ungleich schwerer zu haben als weibliche, die Entwicklungsaufgabe „Regeneration“ mit dem Aufbau selb-
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ständiger Handlungsmuster für die Nutzung des Freizeit- und Konsumwarenmarkts zu erfüllen. Für sie ist dieser Bereich häufig besonders wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung, und zwar insbesondere dann, wenn sie im Bereich der schulischen Anforderungen eher geringe Erfolge haben. Jedoch neigen gerade junge Männer dazu, sich Freizeitaktivitäten als Kompensation auszusuchen, die ihnen die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe, einen guten und berufssichernden schulischen Abschluss zu erreichen, zusätzlich erschweren.
6 Werteorientierungen und gesellschaftspolitische Partizipation Auch für die Bewältigung des letzten Clusters an Entwicklungsaufgaben, der Herausbildung einer autonomen Werte- und Normenorientierung, eines ethischen und politischen Bewusstseins und der Herausbildung eines (gesellschafts-)politischen Interesses sowie der aktiven Partizipation im sozialen und politischen Bereich, haben sich die Anforderungen erhöht. Der Pluralismus von akzeptierten Lebensformen hat zwar nicht zu einem Werteverfall geführt, aber zu neuen Wahlmöglichkeiten und damit zu einer Erweiterung der „Korridore“ zur persönlichen und biographischen Entfaltung (Fritzsche 2000: 94). Für die Jugendlichen bedeutet dies, dass sie sich zwar an den Werten ihrer Eltern und ihrer Umwelt orientieren können, sie jedoch letztlich ihre persönliche Werteorientierung selbst konstruieren müssen. Eine schlichte Übernahme oder gar Kopie von Werteorientierung ist zwar nach wie vor möglich und wird auch praktiziert, auch dies ist jedoch heute eine Entscheidung, die Jugendliche treffen müssen. Zudem haben sich die Möglichkeiten der sozialen und poltischen Partizipation durch die erhöhte Mobilität in Arbeit und Ausbildung erschwert. Die Zeit, die für die Eingewöhnung in der neuen Umgebung und dem Arbeitsplatz sowie mit dem Aufbau eines neuen Freundes- und Bekanntenkreises verwendet wird, steht erst einmal nicht für soziales Engagement und gesellschaftspolitische Partizipation zur Verfügung. Die Mobilitätsanforderungen nehmen sowohl bei den betrieblichen Ausbildungen, als auch bei den Hochschulstudiengängen und beim Einstieg in den Arbeitsmarkt zu (Buchholz et al. 2009). Durch die Aufsplittung der Diplom- und Magister- in Bachelor- und Masterstudiengänge hat sich auch die Mobilität während des Studiums weiter erhöht. Der Berufseinstieg ist von kurzfristigen Arbeitsverträgen in verschiedenen Institutionen an verschiedenen Orten gekennzeichnet.
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Wertepluralismus und Wertewandel Werteorientierungen, verstanden als grundlegende Elemente der menschlichen Psyche, an denen das eigene Handeln ausgerichtet wird, verdeutlichen, was Menschen im Leben wichtig ist und was sie im Leben anstreben. Für Jugendliche ist es eine zentrale Entwicklungsaufgabe, Werteorientierungen auszubilden und sich (Lebens-)Ziele zu setzen, die mit diesen Werteorientierungen in Einklang stehen. In der Entwicklung der Werteorientierungen der Jugendlichen in Deutschland seit den 1950er Jahren sind zwei große Veränderungen zu beobachten. Zum einen begann sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Lebensauffassung der Jugendlichen deutlich zu wandeln. Vor allem die Zustimmung zu den sogenannten Sekundärtugenden, wie Höflichkeit, gutes Benehmen, die Arbeit gewissenhaft zu erledigen und sich in die bestehende Ordnung einzupassen, sank dramatisch (Gensicke 2002: 139). Stattdessen nahmen Wünsche nach Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Genuss am Leben zu. Statt sich an „äußerlichen“ Normen und Autoritäten zu orientieren, strebten viele Jugendliche zunehmend danach, ihr Leben eigenverantwortlich zu führen. Dieses neue Streben nach Selbstverwirklichung stieß in der Gesellschaft mehrheitlich auf Unverständnis und ging mit der Angst vor sozialer Anomie und sinkender Arbeitsbereitschaft einher. In den 1980er Jahren und 1990er Jahren setzte sich das Leitbild der individuellen Entfaltung und Entscheidungsfreiheit dann zunehmend durch (Gensicke 2002: 140). Die Möglichkeit, das Leben selbstständig zu gestalten, ist jedoch auch mit dem Risiko verbunden, Fehlentscheidungen zu treffen und mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen alleine gelassen zu werden (Beck 1986). Das Gefühl des sinkenden sozialen Zusammenhalts wurde durch die sich durch den zunehmenden Globalisierungseinfluss verschärfende Konkurrenz um knappe und attraktive, vor allem aber um sichere Arbeitsplätze noch verstärkt. Während die Jugendlichen der 1960er und 1970er Jahre, die in einem prosperierenden wirtschaftlichen Umfeld aufwuchsen, Spielräume und Wahlmöglichkeiten vermissten, hatten die Jugendlichen der 1980er und 1990er Jahre deutlich höhere Freiräume, mussten jedoch mit zunehmend unsicherer werdenden Berufsaussichten, weitreichenden Arbeitsmarktumstrukturierungen und sinkender Wirtschaftsleistung umgehen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Werteorientierungen von Jugendlichen in den 2000er Jahren wieder von einem hohen Sicherheitsstreben und einer Rückkehr zu den sogenannten Sekundärtugenden geprägt ist.
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Abbildung 5: Wertorientierungen von Jugendlichen nach Geschlecht, 12- bis 25-jährige Jugendliche Gute Freunde haben, die einen anerkennen und akzeptieren Einen Partner haben, dem man vertrauen kann Ein gutes Familienleben führen Eigenverantwortlich leben und handeln Gesetz und Ordnung respektieren
5.4
Fleißig und ehrgeizig sein Viele Kontakte zu anderen Menschen haben Seine eigene Phantasie und Kreativität entwickeln Gesundheitsbewusst leben Von anderen Menschen unabhängig sein Nach Sicherheit streben Sich bei seinen Entscheidungen auch von seinen Gefühlen leiten lassen
5
6 6 5.9 5.8
6.7 6.5 6.6 6.4 6.3
5.8 5.5 5.8 5.7 5.7 5.4 5.7 5.2 5.7 5.6 5.6 5.3 5.5 5.5 5.6
Das Leben in vollen Zügen genießen Einen hohen Lebensstandard haben
5
Sich unter allen Umständen umweltbewusst verhalten
5
4.5
Sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen helfen Auch solche Meinungen tolerieren, denen man eigentlich nicht zustimmen kann
5.2
5 4.5 4.7 4.4 4.6 4.6
Sich und seine Bedürfnisse gegen andere durchsetzen
3.9 3.6 3.8 4.2 3.4 3.4 3.4 3.8 3.3 3.4
An Gott glauben Macht und Einfluss haben Sich politisch engagieren Stolz sein auf die deutsche Geschichte Am Althergebrachten festhalten
weiblich männlich
2.7 2.9
Das tun, was die anderen auch tun 1
2
3
Quelle: Shell Jugendstudie 2010 Anmerkung: Mittelwerte von 1 unwichtig bis 7 außerordentlich wichtig
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Die Jugendlichen in den 2000er Jahren zeichnen sich durch eine hohe und stabile Werteorientierung aus, die sich durchaus stark an den Werten der Mehrheitsgesellschaft orientiert. Zwischen den Geschlechtern gibt es hinsichtlich der Werteorientierungen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Es gibt jedoch auch signifikante geschlechtsspezifische Abweichungen (Gensicke 2002: 148; Gensicke 2006: 181; Gensicke 2010: 194). Weibliche Jugendliche haben insgesamt eine höhere Werteorientierung. Auffällig ist eine stärkere Akzentsentsetzung der jungen Frauen auf Partnerschaft, Familienleben und Eigenverantwortung sowie auf Kreativität, Gesetz und Ordnung einzuhalten und auf Sicherheit. Im Hinblick auf die Werte Fleiß und Ehrgeiz sowie den Lebensgenuss gibt es zwischen 2002 und 2010 eine interessante Entwicklung. 2002 sind beide Werte für die jungen Männer und Frauen gleich wichtig. In den darauffolgenden Jahren steigt bei den jungen Frauen die Wichtigkeit von Fleiß und Ehrgeiz deutlich und bei den jungen Männern dagegen die Bedeutung des Lebensgenuss (siehe Abbildung 5). Auch im Hinblick auf die Werteorientierung scheinen junge Frauen heute zum einen das insgesamt stabilere Wertesystem zu haben, zum anderen orientieren sie sich stärker an leistungsbezogenen Werten als junge Männer, was ihnen bei der Verwirklichung ihrer schulischen und beruflichen Ambitionen entgegenkommen könnte. Gerade junge Männer auf den Hauptschulen neigen dagegen zu eher materialistischen Werten und deutlich seltener zu leistungsbezogenen Werten.
7 Fazit Die hier vorgelegte kurze Analyse erhebt nicht den Anspruch, eine evidenzbasierte Aussage machen zu können. Aber die von uns herangezogenen Daten aus den Shell Jugendstudien der letzten 50 Jahre geben doch vielfältige Hinweise auf einen Trend, den wir in der zentralen These postuliert haben. Die Shell Jugendstudien liefern immerhin Zeitreihenanalysen mit ein und demselben Erhebungsinstrument, und deshalb sind sie für die Gewinnung von Hypothesen für die empirische Arbeit und für erste empirische Trendsuchen hoch interessant. Die Auswertung der Shell Jugendstudien hat jedenfalls deutliche Indikatoren ergeben, dass sich in diesem Zeitraum die Erfolgschancen der beiden Geschlechter, die vier oben beschriebenen Cluster von Entwicklungsaufgaben der Lebensphase Jugend zu bewältigen, zu Gunsten der jungen Frauen und zu Ungunsten der jungen Männer verschoben haben. Junge Frauen erwerben die höheren und besseren Schulabschlüsse, verlassen die Schule seltener ohne Abschluss
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und verbleiben seltener ohne abgeschlossene Ausbildung. Sie haben häufiger ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, ziehen trotzdem früher von zu Hause aus, bekommen von ihren Peers mehr Anerkennung für ihre schulischen und außerschulischen Erfolge, weisen ein kreativeres und flexibleres Freizeitverhalten auf und verbringen deutlich weniger Zeit vor dem Fernseher und dem Computer. Sie sind toleranter, engagieren sich in ihrer Freizeit öfter für ihre Mitmenschen und neigen zu Werteorientierungen, die sich förderlich auf ihre schulische Leistungsbereitschaft auswirken (Quenzel und Hurrelmann 2010; Langness et al. 2006; Gensicke 2006). Das bedeutet, der wachsende Bildungserfolg der jungen Frauen ist ein Teilphänomen der Tatsache, dass sie in allen Entwicklungsbereichen besser mit gestiegenen und komplexer gewordenen Anforderungen an ihre Entwicklungsaufgaben zurecht kommen als junge Männer. Sollte sich diese These in empirisch abgesicherten Studien bestätigen, müsste genau geklärt werden, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben zu Gunsten von Frauen und zu Ungunsten von Männern wirken und welche langfristigen Auswirkungen damit verbunden sind. Nehmen wir die These vom Beginn unserer Ausführungen auf, könnten die Folgen in einer nicht nur den Bildungsbereich, sondern auch andere Sektoren der Gesellschaft umfassenden Umschichtung von Macht- und Einflusspotentialen der beiden Geschlechter liegen.
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Ursachen der geschlechtsspezifischen Benachteiligung von Jungen im österreichischen Schulsystem1 Heinz Leitgöb, Johann Bacher und Norbert Lachmayr
1 Problemskizze und Übersicht Im Zuge der pädagogischen Praxis wird der „Benachteiligung“ von Jungen in Österreich zunehmend mehr Beachtung geschenkt. Dieser Umstand offenbart sich beispielsweise in äußerst gut besuchten Veranstaltungen zu diesem Thema.2 Zudem wird in der Medienberichterstattung wiederholt auf die Thematik Bezug genommen3, allerdings mit einer deutlich geringeren Intensität als auf andere bildungspolitische Themen, wie z.B. die Gesamtschule, die Gleichheit von Bildungschancen oder Bildung und Migration. Auch in den Bildungswissenschaften wird dem Thema in Österreich lediglich am Rande Bedeutung beigemessen. Dies ist erstaunlich, da in Österreich – analog zu anderen europäischen Ländern – bereits seit Mitte der 1980er Jahre mehr Mädchen als Jungen eine allgemein bildende höhere Schule (AHS bzw. auch als Gymnasium bezeichnet) besuchen. In den berufsbildenden höheren Schulen (BHS) lässt sich die Umkehrung des Geschlechterverhältnisses seit 2000 beobachten. Diese Entwicklungen hin zu einer Überrepräsentanz der Mädchen in weiterführenden Schulen (Paseka und Wroblewski 2009) führten letztlich dazu, dass es seit dem Ende der 1980er Jahre mehr Maturantinnen als Maturanten4 gibt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, von zentraler Relevanz erscheinen jedoch die – maßgeblich durch die Bildungsreform der 1960er Jahre entfachte – allgemeine Bildungsexpansion und die ab den 1970er Jahren verstärkten Bemühungen der österreichischen Bildungspolitik zur Entgegnung bestehender geschlechtsspezifischer Diskriminie1
Wir möchten uns herzlich beim Herausgeber für die wertvollen Hinweise und Anmerkungen bedanken. 2 Diesbezüglich kann exemplarisch die Tagung „Sind Jungen Bildungsverlierer? Wege zu einer geschlechtergerechten Schule“ (Pädagogische Hochschule Oberösterreich, November 2008) angeführt werden. 3 Siehe etwa: „Nicht mehr Bildungsverlierer unter Buben als früher“ (Der Standard Online, 29. Juni 2010); „Bildungspsychologe: Mädchen sind erfolgreicher“ (Die Oberösterreichischen Nachrichten Online, 23. Juli 2010); „Schule fördert Buben und Mädchen unterschiedlich“ (Der Standard Online, 26. Mai 2009); „Buben nehmen Schulleistungen nicht so ernst“ (Der Standard Online, 26. April 2008) 4 Die Matura repräsentiert das österreichische Äquivalent zum Abitur.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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rungen, welche zunächst beinahe ausschließlich den Abbau von weiblichen Bildungsbenachteiligungen zum Ziel hatten. Der vorliegende Beitrag ist wie folgt gegliedert: Nach einem Überblick über das Ausmaß an geschlechtsspezifischen Ungleichheiten im österreichischen Bildungssystem (Abschnitt 2) widmet sich Abschnitt 3 den Ursachen. Im Zuge dessen erfolgt zunächst eine Zusammenfassung des bisherigen Erkenntnisstandes (Abschnitt 3.1.). Im Anschluss wird ein auf dem Rational-ChoiceAnsatz basierendes Erklärungsmodell zu den Übergangsentscheidungen im Schulsystem vorgeschlagen (Abschnitt 3.2.1.) und anhand von aktuellen Daten des österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung (öibf) (Abschnitt 3.2.2.) empirisch geprüft (Abschnitte 3.2.3. und 3.2.4.), das sich in zahlreichen Analysen im Laufe der letzten Jahre bewährt hat. Der abschließende Abschnitt 4 dient der Konklusion.
2 Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten in Österreich Das österreichische Schulsystem gliedert sich in drei Abschnitte: Eine vierjährige Primarstufe, eine ebenfalls vierjährige Sekundarstufe I und eine ein- bis fünfjährige Sekundarstufe II. Nach dem Besuch der Volksschule (VS) kann in die Hauptschule (HS) oder in die Unterstufe einer allgemein bildenden höheren Schule (AHS) gewechselt werden, wobei trotz Äquivalenz der Lehrpläne die AHS-Unterstufe als formal höher zu betrachten ist, da sie bei positivem Abschluss zu einem Besuch der AHS-Oberstufe oder einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) mit Maturaabschluss berechtigt, während in der HS dafür eine bestimmte Leistungsgruppeneinstufung erforderlich ist. Seit dem Schuljahr 2008/09 wird in der Sekundarstufe I zusätzlich die Neue Mittelschule (NMS) angeboten, ein Schulversuch zur Verwirklichung einer gemeinsamen Schule für alle zehn- bis 14-Jährigen.5 Im Sekundarbereich II bestehen neben den bereits angeführten maturaführenden Schulformen der AHS-Oberstufe und der BHS noch die einjährige Polytechnische Schule (PS), in deren Anschluss mehrheitlich eine Lehre mit dem Besuch einer Berufsschule (BS) angestrebt wird, sowie die berufsbildende mittlere Schule (BMS). Die Dauer der BMS variiert zwischen ein und vier Jahren und führt – bei einer Ausbildungsdauer ab drei Jahren und einer oftmals extern zu absolvierenden Lehrabschlussprüfung – zum Abschluss einer Fachberufsausbildung. Außerdem existiert im Primar- und Sekundarbereich I die allgemeine Sonderschule (AS) für mehrfach benachteilig5
Nähere Informationen zur Neuen Mittelschule können der folgenden Homepage entnommen werden: http://www.neuemittelschule.at (Stand: 22. Juli 2010)
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te Schülerinnen und Schüler. Die Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die unterschiedlichen Schulformen ist in Tabelle 1 dargelegt. Tabelle 1: Geschlechterverteilung im österreichischen Bildungssystem (im Schuljahr bzw. Wintersemester 2008/09) Schulstufen
Gesamt
davon männl.
Jungenbzw. Männeranteil
Primarbereich Volksschule (VS) 332.210 171.381 51,6% Allgemeine Sonderschule (AS) 3.877 2.536 65,4% Sekundarbereich I Hauptschule (HS) 237.989 124.915 52,5% Neue Mittelschule (NMS) 3.441 1.777 51,6% Allgemein bildende höhere Schule (AHS) – Unterstufe 116.384 56.162 48,3% Allgemeine Sonderschule (AS) 7.138 4.606 64,5% Sekundarbereich II Polytechnische Schule (PS) 20.648 12.947 62,7% Berufsschule (BS) 140.373 91.873 65,4% Berufsbildende mittlere Schule (BMS) (a) 50.767 25.601 50,4% Berufsbildende höhere Schule (BHS) (b) 135.750 66.732 49,2% Allgemein bildende höhere Schule (AHS) – Oberstufe 88.403 38.057 43,0% Best. Reifeprüfungen (Jahrgang 2008) 40.817 17.243 42,2% Tertiärbereich Studienanfängerinnen und -anfänger (c) 57.158 25.136 44,0% Studierende (c) 292.145 135.345 46,3% Studienabschüsse (c) (Studienjahr 2007/08) 38.637 18.016 46,6% Doktorratsabschlüsse (Studienjahr 2007/08) 2.196 1.264 57,6% (a) Technisch gewerbliche Schulen, kaufmännische Schulen, wirtschaftsberufliche Schulen, sozialberufliche Schulen, land- und forstwirtschaftliche Schulen (b) Technisch gewerbliche Schulen, kaufmännische Schulen, wirtschaftsberufliche Schulen, landund forstwirtschaftliche Schulen (c) Öffentliche Universitäten, Privatuniversitäten, Fachhochschul-Studiengänge, Pädagogische Hochschulen, Theologische Lehranstalten, sonstige Bildungseinrichtungen (Lehrgänge universitären Charakters) Quelle: Statistik Austria 2010: 93-95; 197; 225 (eigene Berechnungen)
Während die Anteile der Mädchen (48,4 Prozent) und Jungen (51,6 Prozent) in der VS noch annähernd ausgeglichen sind bzw. weitgehend dem Geschlechterverhältnis aller Sechs- bis Neunjährigen in der österreichischen Bevölkerung im Jahr 2009 (Mädchen: 48,6 Prozent; Jungen: 51,4 Prozent) entsprechen, entfalten sich die geschlechtsspezifischen Verteilungsunterschiede im Schulbesuch ab der Sekundarstufe I, wo der Jungenanteil in der HS (52,5 Prozent) merklich über jenem in der AHS-Unterstufe (48,3 Prozent) liegt. Nachdrücklich offenbart sich
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diese Entwicklung, wenn eine Feingliederung nach Alters- und Schulstufen vorgenommen wird. So beginnt sich insbesondere ab dem 13. Lebensjahr die Schere zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf den Besuch einer maturaführenden Schule zu Ungunsten der Jungen zu öffnen, obwohl ihr Anteil über alle Schulen hinweg – vorwiegend nach dem Ende der allgemeinen Unterrichtspflicht6 – mäßig ansteigt (Bacher et al. 2008: 27). Dies lässt sich in erster Linie durch ein häufigeres Versagen der Jungen in der AHS-Unterstufe begründen: So waren im Schuljahr 2007/08 bundesweit insgesamt 55,6 Prozent aller nicht aufstiegsberechtigten Schülerinnen und Schüler in der AHS-Unterstufe Jungen (Statistik Austria 2010: 191; eigene Berechnungen). Lediglich in der NMS stimmt das Geschlechterverhältnis mit jenem aus der VS überein. Im Bereich der – quantitativ allerdings wenig bedeutsamen – allgemeinen Sonderschule (AS) besteht bereits im Primarschulbereich eine erhebliche Überrepräsentanz der Jungen (65,4 Prozent), deren Hauptursache in der häufigeren Diagnostizierung von Verhaltens- und Leistungsproblemen bei Jungen zu finden ist (Geißler 2008; Hölling et al. 2007; Wahl 2005), die eine Zuweisung an die AS nach sich ziehen.7 In besonderem Maße betroffen sind Jungen mit Migrationshintergrund (Herzog-Punzenberger und Unterwurzacher 2009). Dieser Trend setzt sich in der Sekundarstufe II auf nahezu gleichem Niveau fort (64,5 Prozent). Die Entwicklungen im Sekundarbereich II lassen sich wie folgt charakterisieren: Während in der PS sowie in der BS die männlichen Schüler mit 62,7 Prozent bzw. 65,4 Prozent jeweils die klare Mehrheit der Schülerschaft bilden, sind sie in der AHS-Oberstufe eindeutig unterrepräsentiert (43,0 Prozent), d.h. es kann eine Verstärkung des in der Sekundarstufe I in Erscheinung tretenden Scheren-Effekts beobachtet werden. Für die BMS sowie die BHS liegen allerdings nur moderate Unterschiede in den Besuchszahlen zwischen den Geschlechtern vor. Insgesamt führt die geringere Partizipation der Jungen in maturaführenden Schulen jedoch zu einer unausgewogenen geschlechtsbezogenen Quote der bestandenen Reife- bzw. Maturaprüfungen (Jungen: 42,2 Prozent) und schließlich zu unterproportionalen Anteilen an männlichen Studienan6
Im Gegensatz zu Deutschland besteht in Österreich – ähnlich zur Schweiz – keine Schulpflicht sondern eine Unterrichtspflicht. Diese ist im Bundesgesetz über die Schulpflicht (Schulpflichtgesetz 1985, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 20/2006) geregelt, beginnt mit dem auf die Vollendung des sechsten Lebensjahres folgenden September und dauert neun Schuljahre an. Neben dem Besuch einer öffentlichen oder mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schule kann die Unterrichtspflicht (unter bestimmten Voraussetzungen) ferner durch (1) den Besuch einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht, (2) der Teilnahme an häuslichem Unterricht und (3) den Besuch einer im Ausland gelegenen Schule erfüllt werden. 7 Allerdings verweist Popp (2007: 69) darauf, dass auch in der VS männliche Schüler verstärkt als „Problemschüler“ konstruiert und entsprechend eingeordnet werden.
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fängern (44,0 Prozent), Studierenden (46,3 Prozent) und Absolventen von tertiären Bildungseinrichtungen (46,6 Prozent). Eine Umkehr des Geschlechterverhältnisses zu Gunsten der Männer vollzieht sich letztlich derzeit noch am oberen Ende der formalen „Bildungspyramide“ bei den Doktorratsabschlüssen, wo der Männeranteil im Studienjahr 2007/08 bei 57,6 Prozent liegt. Neben den bislang dargelegten geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten zwischen den verschiedenen Schulformen lässt sich weiterhin eine horizontale Segregation innerhalb dieser einzelnen Schultypen im Hinblick auf die Wahl der Fachrichtungen feststellen. So konzentrieren sich die Mädchen – im Gegensatz zu den Jungen – nach wie vor auf wenige, in der Hauptsache traditionell weiblich dominierte Lehrberufe (Bergmann et al. 2004: 16f; Prenner und Scheibelhofer 2001; Schlögl und Wieser 2002: 491), an deren Spitze die Ausbildungen zur Einzelhandelskauffrau, zur Bürokauffrau sowie zur Friseurin und Perückenmacherin stehen und im Vorderfeld kein technischer Lehrberuf zu finden ist. Bei den Jungen überwiegen demgegenüber eindeutig die technisch orientierten Lehrberufe (Kraftfahrzeugtechnik, gefolgt von Installations- und Gebäudetechnik, Elektroinstallationstechnik sowie Maschinenbautechnik). Die zuvor angeführte Verdichtung der weiblichen Lehrlinge auf eine geringe Anzahl an beruflichen Lehrausbildungen kann zudem wie folgt belegt werden: In den zehn von Mädchen gegenwärtig am häufigsten gewählten Lehrberufen sind insgesamt 69,9 Prozent aller weiblichen Lehrlinge zu finden, während dies hingegen für lediglich 48,4 Prozent der Jungen der Fall ist (WKO 2010, eigene Berechnungen). Relativierend muss allerdings festgehalten werden, dass die einseitige Fokussierung der Mädchen bei der Wahl des Lehrberufes einen rückläufigen Trend aufweist, während für die männlichen Lehrlinge der Anteil seit 1990 relativ konstant bei etwa 50 Prozent liegt (Bergmann et al. 2004: 17). Im Bereich der BMS und BHS manifestiert sich die geschlechtsspezifische horizontale Segregation vornehmlich in der Bevorzugung von sozialberuflichen und kaufmännischen Fachrichtungen durch die Mädchen, während die Jungen technisch sowie gewerblich ausgerichtete Schulen präferieren (Schlögl und Wieser 2002; Schmid 2003). Insgesamt betrachtet hat die horizontale Segregation nach dem Geschlecht im Sekundarbereich II des österreichischen Bildungssystems in den letzten Jahren überraschenderweise sogar moderat zugenommen (Bacher et al. 2008: 19f). Für das tertiäre Bildungssegment ist sie im internationalen Vergleich noch gering ausgeprägt (Bacher et al. 2008: 194f), obwohl auch einzelne Studiengänge mit einem erheblichen Frauen- (z.B. Psychologie und Veterinärmedizin) bzw. Männerüberhang (Montanistik und technische Studienrichtungen) existieren (Unger et al. 2010: 27). Eine Verstärkung der geschlechtsspezifischen Segregation ist allerdings zu erwarten, wenn bislang nicht akademisierte frauendo-
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minierte Ausbildungen im pädagogischen und gesundheitlichen Bereich auf Bachelor- und Masterniveau angehoben werden. Im Hinblick auf die schulische Performanz von Jungen und Mädchen konnte durch die in den letzten Jahren intensivierte Realisierung von breit angelegten internationalen Kompetenzerhebungen wie PIRLS und TIMSS 8 für die Primarstufe sowie PISA für den sekundären Bildungsbereich verfestigte geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede wiederholt identifiziert und ausführlich dokumentiert werden (Bacher und Paseka 2006; Mullis et al. 2007, 2008; OECD 2007; Stanat und Kunter 2002; Wallner-Paschon 2010). Die österreichischen Befunde für die Kompetenzdomänen „Lesen“ und „Mathematik“ sollen nun in aller Kürze skizziert und ausgewählten internationalen Ergebnissen gegenübergestellt werden: Während der Leistungsunterschied zwischen Jungen (J) und Mädchen (M) in Bezug auf die Lesekompetenzen im Grundschulbereich (PIRLS 2006) etwa im Vergleich zu den skandinavischen (Dänemark: Δ 9=-14; Schweden: Δ=-18; Norwegen: Δ=-19) und den baltischen (Litauen: Δ=-19; Lettland: Δ=-23) Ländern in Österreich (J=53310; M=543; Δ=-10) noch verhältnismäßig moderat ausfällt (Mullis et al. 2007: 48) und erheblich unter der internationalen Differenz von 17 Punkten liegt (Suchán 2007: 19), vergrößert sich diese bis zum Ende der allgemeinen Unterrichtspflicht (Alter: 15/16 Jahre) erheblich. So kann auf Basis der österreichischen PISA 2006-Daten eine geschlechtsspezifische Differenz der Lesekompetenzen von 45 Punkten (J=468; M=513) zu Gunsten der Mädchen ausgemacht werden (OECD 2007: 225f). Im internationalen Vergleich schließt Österreich damit zu den skandinavischen (Dänemark: Δ=-30; Schweden: Δ=-40; Norwegen: Δ=-46) und beinahe auch zu den baltischen (Estland: Δ=-46; Lettland: Δ=-50; Litauen: Δ=-51) Ländern auf und positioniert sich deutlich über der mittleren Geschlechterdifferenz der OECD-Länder mit 38 Punkten (Breit 2007: 46f). Diese Ergebnisse entsprechen den bereits an früherer Stelle genannten Befunden, dass die Jungen insbesondere im Laufe der Sekundarstufe I den schulischen Anschluss an die Mädchen verlieren. Während die Leistungsunterschiede im Bereich der Lesekompetenzen international eindeutig zu Gunsten der Mädchen ausfallen, liegt in Bezug auf die Mathematikkompetenzen ein differenzierteres Bild vor. So kann im Grund-
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In Österreich wurden in Zuge von TIMSS 2007 lediglich die Schülerinnen und Schüler der vierten Schulstufe getestet. 9 Ein Δ kennzeichnet die Differenz der geschlechtsspezifischen Stichprobenmittelmittelwerte (MWJMWM) der jeweiligen Kompetenzskala in Punkten. 10 Die Metrik der Kompetenzskalen von PIRLS, TIMSS und PISA wurde jeweils so festgelegt, dass der Skalenmittelwert 500 Punkte und die Standardabweichung 100 Punkte betragen (Foy et al. 2007: 159; Foy et al. 2008: 235; OECD 2009: 157). Nähere Ausführungen sind diesbezüglich bei Bonsen et al. (2008: 39f) zu finden.
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schulbereich für knapp die Hälfte der an TIMSS 2007 partizipierenden Länder (16 von 36) keine statistisch signifikante Geschlechterdifferenz nachgewiesen werden. Österreich positioniert sich allerdings neben Italien (Δ=15) im europäischen Spitzenfeld und übertrifft mit einer Differenz von 14 Punkten (J=512; M=498) zu Gunsten der Jungen die mittlere Differenz der teilnehmenden EULänder (Δ=6) klar (Meließnig und Wallner-Paschon 2008: 20; Mullis et al. 2008: 58). Im Sekundarbereich weist Österreich bei PISA 2006 mit 23 Punkten (J=517; M=494) den größten Geschlechterunterschied aller OECD-Länder auf und liegt in der Konsequenz erheblich über deren durchschnittlicher Differenz von 11 Punkten (OECD 2007: 230f). Allerdings muss angemerkt werden, dass die österreichischen Befunde keiner zeitlichen Stabilität unterliegen. So beträgt die im Zuge von PISA 2003 ermittelte geschlechtsspezifische Differenz in den Mathematikkompetenzen nämlich lediglich acht Punkte zu Gunsten der Jungen.11 Da Deutschland aufgrund der Sprachgleichheit und des ähnlich strukturierten Schulsystems gewissermaßen als Referenzland für Österreich dient, muss darauf hingewiesen werden, dass im Vergleich die Geschlechterunterschiede der deutschen Schülerinnen und Schüler im Lesen sowohl bei PIRLS 2006 (Δ=-7) als auch bei PISA 2006 (Δ=-42) geringfügig niedriger ausgeprägt sind. Analoge Resultate können auch hinsichtlich der Mathematikkompetenzen berichtet werden. So unterscheiden sich die deutschen Schülerinnen und Schüler bei TIMSS 2007 um zwölf Punkte und bei PISA 2006 um 20 Punkte zu Gunsten der Jungen.
3 Ursachen der Geschlechterunterschiede im Bildungserfolg 3.1 Bisherige Erkenntnisse Mit den Ursachen der Unterrepräsentation von Jungen in Schulen mit formal höheren Abschlüssen haben wir uns ausführlich in Bacher et al. (2008) beschäftigt. In Anlehnung an bestehende Rational-Choice-Theorien (Becker 2000; Boudon 1974; Erikson und Jonsson 1996; Esser 1999; Stubbe 2009) wurde ein Modell zur Schulwahl entwickelt, in dem direkte sowie indirekte Wirkungszusammenhänge für das Geschlecht der Schülerinnen und Schüler spezifiziert 11 Ähnliche Entwicklungen zwischen den Mathematikkompetenzmessungen von PISA 2003 und PISA 2006 konnten auch für Deutschland und Japan beobachtet werden. Ungeklärt bleibt, ob hier tatsächlich geschlechtsspezifische Kohorten- bzw. Periodeneffekte auftreten oder ob die Effekte auf messtheoretische, stichprobentheoretische oder statistische Ursachen zurückgeführt werden können (Schreiner 2007: 55).
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Johann Bacher, Heinz Leitgöb und Norbert Lachmayr
wurden. Als Datenbasis diente eine durch das österreichische Institut für Berufsbildungsforschung (öibf) im Zuge der Studie „Soziale Situation beim Bildungszugang“ (Schlögl und Lachmayr 2004) realisierte bundesweite Erhebung aus dem Jahr 2003, die bei den Schnittstellen im österreichischen Schulsystem (vor und nach den jeweiligen Bildungswegentscheidungen) ansetzt. Im Auftrag der Arbeiterkammer Wien und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes wurden sowohl die Eltern von Schülerinnen und Schülern in der vierten, fünften, achten, neunten, zwölften sowie der 13. Schulstufe als auch die Jugendlichen in der achten, neunten, zwölften und 13. Schulstufe befragt. Da die Subsamples für die anderen Schulstufen zu niedrige Fallzahlen aufwiesen, konzentrierten sich die Analysen auf die fünfte, achte und neunte Schulstufe. Eine zentrale Annahme der Studie war, dass Eltern für ihre Söhne vermehrt alternative Karrieremöglichkeiten sehen bzw. Jungen ab einem bestimmten Alter für sich selbst mehr alternative Karriereoptionen wahrnehmen. Aus diesem Grund fällt für Jungen häufiger die Wahl auf Schulen mit formal niedrigeren Abschlüssen, da dieser Nachteil von temporärer Natur ist und in weiterer Folge durch ein breites Spektrum an (Aus-)Bildungsoptionen kompensiert werden kann. Die Wirksamkeit dieses Faktors wurde insbesondere beim ersten Bildungsübergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe I vermutet mit der Folge, dass Jungen öfter eine HS besuchen. Bestätigt werden konnte, dass für Jungen mehr alternative Karrieremöglichkeiten erwogen werden, allerdings stellte sich dieser Umstand weder beim Übergang in die Sekundarstufe I noch bei jenem in die Sekundarstufe II als entscheidungsrelevant heraus. Als empirisch nicht haltbar erwies sich auch die Hypothese, dass an Jungen aufgrund von traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen, denen zufolge Eltern ein „wildes“, raumgreifendes, in geringerem Ausmaß konformes Verhalten als typisch für Jungen erachten, geringere Leistungsanforderungen gestellt werden. Für alle untersuchten Schulstufen konnte durchgehend eine schlechtere schulische Performanz der Jungen (operationalisiert über die Noten in den Hauptfächern im letzten Jahreszeugnis) im Vergleich zu den Mädchen festgestellt werden. Am Ende der Sekundarstufe I konnte überdies eine differenzierte Wirkung der Geschlechtszugehörigkeit der Klassenlehrkraft auf die Schulleistung ermittelt werden, da Jungen schlechtere Noten erzielten, wenn sie einen männlichen Klassenvorstand hatten. Dieser Befund widerlegt die (auch im populärwissenschaftlichen sowie im bildungspolitischen Kontext kontrovers diskutierte) These von einer „Feminisierung der Schule“ als Quelle des geringeren Schulerfolgs von Jungen, der zufolge Jungen männliche Lehrkräfte als Rollenvorbilder für eine entsprechende schulische Leistungsentwicklung benötigen und/oder eine bewusste bzw. unbewusste Benachteiligung von Jungen durch
Ursachen der geschlechtsspezifischen Benachteiligung von Jungenr
157
weibliche Lehrkräfte stattfindet (siehe etwa Bettinger und Long 2005; Dee 2007; Diefenbach und Klein 2002; Driessen 2007; Helbig 2010; Holmlund und Sund 2008). Im Gegensatz zu Diefenbach und Klein (2002) für Deutschland konnte von Bacher et al. (2008: 144-148) auch mittels ökologischer Regression für Österreich kein Zusammenhang zwischen dem Anteil an weiblichen Lehrkräften in der Volksschule und dem Anteil an Jungen in der ersten Klasse AHS auf der Ebene der Schulbezirke aufgedeckt werden. Weitere nach dem Geschlecht differentielle Wirkungszusammenhänge konnten für familien- und sozialstrukturelle Variablen identifiziert werden. So erbringen etwa Jungen in weiblichen Alleinerzieherhaushalten schlechtere Schulleistungen. Im Gegensatz dazu verbessert sich die schulische Performanz von Jungen, wenn deren Väter Verantwortung für die schulischen Agenden ihrer Söhne übernehmen. Ferner konnte in der Tendenz ein geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Einfluss der sozialen Herkunft auf den Besuch einer weiterführenden Schule (AHS) nach der Volksschule beobachtet werden. Die angeführten Beziehungen waren – mit Ausnahme des Schichteffektes auf den derzeitigen AHS-Besuch in der achten Schulstufe – allerdings schwach ausgeprägt und zeigten sich häufig nur bei einer der untersuchten Schulstufen. Die bisherigen Ergebnisse legen nahe, dass Jungen überwiegend aufgrund von schlechteren Schulleistungen in der Sekundarstufe I den schulischen Anschluss zu den Mädchen verlieren und in der Folge seltener Schulen mit formal höheren Abschlüssen besuchen. Die Ursachen für die geringere schulische Performanz von Jungen vermuten wir vornehmlich in einem zu Mädchen divergierenden Freizeitverhalten. Während diese in der unterrichtsfreien Zeit vermehrt dem Schulerfolg förderlichen Aktivitäten (z.B. Lesen, Kommunikation mit Freundinnen, musikalische sowie künstlerisch-gestalterische Tätigkeiten) nachgehen und somit ein kreativeres und vielseitigeres Freizeitverhalten an den Tag legen (Quenzel und Hurrelmann 2010: 79), üben Jungen hingegen häufiger Freizeitbeschäftigungen aus, die in negativer Weise auf ihre Lern- und Bildungsmotivation wirken und somit ihren Schulerfolg beeinträchtigen (Thole 2010). Von besonderer Relevanz dürfte in diesem Zusammenhang die intensive Nutzung von elektronischen Unterhaltungsmedien mit Gewaltinhalten sein, die Jungen in einem erheblich höheren Ausmaß betreiben als Mädchen (Mößle et al. 2006).
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Johann Bacher, Heinz Leitgöb und Norbert Lachmayr
3.2 Befunde der aktuellen Erhebung des österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung (öibf) 2008 3.2.1 Spezifikation des theoretischen Modells In die von Bacher et al. (2008) realisierten Analysen konnte auf Basis der vorliegenden Daten nur das Geschlecht der Klassenlehrkraft als schulisches Kontextmerkmal einbezogen werden. Folglich wurde die im Zuge einer neuerlichen Studie (beauftragt von der Arbeiterkammer Wien) vom öibf im Jahr 2008 realisierte Datenerhebung (Beschreibung siehe 3.2.2.) um die Abfrage der Geschlechterzusammensetzung der Lehrkräfte in den Hauptfächern erweitert. Zudem wurde für die achte und neunte Schulstufe erhoben, ob im Zuge des Unterrichts ein Geschlecht bevorzugt wurde oder ob eine geschlechtsspezifische Gleichbehandlung stattgefunden hat. Diese nun zusätzlich vorliegenden Informationen ermöglichen eine umfassendere Analyse der potentiellen Einflüsse von schulischen Kontextmerkmalen sowie die Ergründung von differenziellen Wirkungszusammenhängen in Bezug auf die Bildungsaspirationen, die Schulnoten und die Schultypenentscheidung. Infolgedessen kann das von Bacher et al. (2008) entwickelte Erklärungsmodell zur (geschlechtsspezifischen) Schulwahlentscheidung als Fundament herangezogen und um diese schulkontextbezogenen Indikatoren erweitert werden (siehe Abbildung 1). Die endabhängige Variable MATWAHL erfasst für die achte Schulstufe den geplanten Besuch einer maturaführenden Schule im nächsten Schuljahr. Es wird vermutet, dass der geplante Besuch in direkter Weise von den Noten (NOTEN), den Bildungsaspirationen (ASPIR) sowie der sozialen Herkunft (SCHICHT) determiniert wird. Zudem wird geprüft, ob ein direkter Geschlechtereffekt vorliegt. Für die Noten wird angenommen, dass sie vom Geschlecht der Schülerinnen bzw. der Schüler (in weiterer Folge zum Zwecke der Lesbarkeit einfach als „Geschlecht“ bezeichnet) (JUNGE), der sozialen Herkunft (primärer Schichteffekt), den Bildungsaspirationen sowie von den Interaktionen des Geschlechts mit dem Geschlecht der Lehrkräfte (JUNGE*WLEHRK) und mit der geschlechterbezogenen Bevorzugung durch die Lehrkräfte (JUNGE* BEVORZ) abhängt.
Ursachen der geschlechtsspezifischen Benachteiligung von Jungenr
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Abbildung 1: Erweitertes theoretisches Kausalmodell zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Bildungswahl
WOHNORT
SCHICHT
AHS
JUNGE* NACHMITT
NACHMITT
ASPIR
MATWAHL
JUNGE* WLEHRK
WLEHRK
BEVORZ
NOTEN JUNGE* BEVORZ JUNGE
J_ALLEIN
SCHICHT … soziale Schicht der Eltern; WOHNORT … Größe des Wohnorts; J_ALLEIN … Junge in einem Alleinerzieherhaushalt; AHS … derzeitiger Schulbesuch; NACHMITT … Aktivitäten nach der Schule; JUNGE … Geschlecht des Kindes; WLEHRK … Anzahl der weiblichen Lehrkräfte in den Hauptfächern; BEVORZ … geschlechtsspezifische Bevorzugungen durch die Lehrkräfte; JUNGE*NACHMITT, JUNGE*WLEHRK, JUNGE*BEVORZ ... Interaktionseffekte; ASPIR … Bildungsaspirationen; NOTEN … leistungsgruppengewichtete Durchschnittsnote der Hauptfächer im letzten Ganzjahreszeugnis; MATWAHL … geplanter Besuch einer maturaführenden Schule im nächsten Schuljahr
Weiterhin wird auf der Grundlage der Befunde in Bacher et al. (2008) eine differentielle Wirkung der Familienform vermutet, da – wie an anderer Stelle bereits erläutert – die Analysen für Jungen von weiblichen Alleinerzieherinnen durchschnittlich schlechtere Noten in den Hauptfächern ergeben haben. Aus diesem Grund prüfen wir einen Effekt von Jungen in Alleinerzieherhaushalten
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Johann Bacher, Heinz Leitgöb und Norbert Lachmayr
(J_ALLEIN)12 auf die Noten. Ferner wird ein Einfluss des Freizeitverhaltens auf die Schulnoten angenommen. Als Proxi-Variable dienen in diesem Zusammenhang die nachmittäglichen Aktivitäten oder vielmehr mit wem die Gestaltung der unterrichtsfreien Zeit am Nachmittag weitgehend erfolgt (NACHMITT). Zudem wird ein Interaktionseffekt mit dem Geschlecht spezifiziert (JUNGE*NACHMITT). Für die Bildungsaspirationen werden Einflüsse des Geschlechts, der sozialen Herkunft (sekundärer Schichteffekt) sowie der aktuellen Schulform (AHS) geprüft. Schlussendlich wird angenommen, dass der derzeitige Schulbesuch (AHS) vom Geschlecht, der sozialen Herkunft sowie von der Größe des Wohnortes (WOHNORT) als Proxi-Variable für das vorhandene Angebot an naheliegenden AHS-Unterstufen abhängt. 3.2.2 Datenbasis Als Datengrundlage für die folgenden Analysen dient – wie zuvor bereits erwähnt – eine im Herbst 2008 vom österreichischen Institut für Berufsbildungsforschung (öibf) im Zuge der Studie von Lachmayr und Rothmüller (2009) 13 zur sozialen Durchlässigkeit im österreichischen Bildungssystem organisierten Erhebung, die unmittelbar vor und nach den Nahtstellen im differenzierten österreichischen Schulsystem ansetzt und deren Fokus auf den Bildungsaspirationen, den Schulwahlmotiven, den Schulleistungen der Kinder und Jugendlichen sowie auf den soziodemographischen Merkmalen der Herkunftsfamilie liegt. Unter Anwendung eines mehrstufigen Stichprobenverfahrens wurde zunächst bundesweit eine geschichtete Klumpenauswahl von 274 Schulen durchgeführt, von denen sich schlussendlich 225 (Rücklaufquote: 82,1 Prozent) an der Studie beteiligten. Innerhalb dieser Schulen wurden in einem nächsten Schritt maximal zwei Klassen zufällig gezogen, um dem Auftreten von (beträchtlichen) Klumpeneffekten entgegenzuwirken. Auf Klassenebene fand eine Totalerhebung statt, das heißt in den ausgewählten Klassen wurden alle Schülerinnen und Schüler (achte und neunte Schulstufe) bzw. deren Eltern (alle Schulstufen) befragt. Als Stratifikationsvariablen wurden die Schulstufe (0./1./4./5./8./9.), die Schulform (Kindergarten/VS/HS/NMS/AHS/PS/BS/BMS/ BHS) sowie eine Einteilung des österreichischen Bundesgebietes in fünf Regionen herangezogen. Die realisierte Nettostichprobe beinhaltet Angaben von insgesamt 5.163 Eltern (Rücklaufquote: 66,8 Prozent) sowie 2.532 Schülerinnen
12 Auf Basis der vorliegenden Daten konnten lediglich die Jungen von Alleinerzieherinnen und -erziehern und nicht explizit von weiblichen Alleinerzieherinnen in die Analysen integriert werden. 13 Diese Studie ist eine Replikation von Schlögl und Lachmayr (2004).
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161
und Schülern (Rücklaufquote: 80,0 Prozent) und setzt sich nach Schulstufen wie folgt zusammen: 0/1. Schulstufe (Kindergarten/1. Klasse VS): n=810 Eltern 4. Schulstufe (4. Klasse VS): n=449 Eltern 5. Schulstufe (1. Klasse HS/AHS/ NMS): n=1.995 Eltern 8. Schulstufe (4. Klasse HS/AHS): n=532 Eltern, n=649 Schülerinnen und Schüler 9. Schulstufe (5. Klasse AHS/1. Klasse PS/BS/BMS/BHS): n=1.377 Eltern, n=1.883 Schülerinnen und Schüler Als Erhebungsmethode wurde eine standardisierte und selbstadministrierte Befragung gewählt. Die Verteilung der Fragebögen wurde über die Klassenvorstände abgewickelt. Während die Beantwortung durch die Schülerinnen und Schüler (8. und 9. Schulstufe) direkt in der Schule stattfand, erfolgte die Retournierung der Elternfragebögen an das öibf mittels verschlossenen Kuverts über die Kinder sowie die Klassenvorstände. Alle folgenden Analysen konzentrieren sich – falls nicht etwas Gegenteiliges explizit angeführt ist – auf die achte Schulstufe. Gerechnet wird mit dem Jugendlichendatensatz (Schülerinnen und Schüler), da dieser alle für die Spezifikation des Erklärungsmodells zur Schulwahlentscheidung notwendigen Informationen enthält.
3.2.3 Messinstrumente und bivariate Ergebnisse Aus Gründen der Platzökonomie erfolgt in diesem Abschnitt die Vorstellung der Messinstrumente sowie die Aufbereitung der bivariaten Ergebnisse simultan. Da die Anzahl der weiblichen Lehrkräfte in den Hauptfächern (WLEHRK) sowie die subjektiven Erfahrungen geschlechtsspezifischer Bevorzugung durch die Lehrkräfte (BEVORZ) die schulischen Kontextvariablen repräsentieren und neu in das Modell integriert werden, sollen sie vor der Wiedergabe der bivariaten Ergebnisse näher erläutert und univariat dargestellt werden. Für die achte Schulstufe (die 4. Klasse HS und AHS-Unterstufe) ergibt sich diesbezüglich das folgende Bild: Erwartungsgemäß liegt der Anteil der weiblichen Lehrkräfte in den sprachlichen Hauptfächern Deutsch (79,1 Prozent) und Englisch (81,7 Prozent) deutlich über jenem in Mathematik (48,8 Prozent) und während Schülerinnen und Schüler mit ausschließlich männlichen Lehrkräften die absolute Ausnahme darstellen (1,9 Prozent), werden insgesamt 80,1 Prozent von zumindest zwei Lehrerinnen unterrichtet.
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Tabelle 2: Darstellung der Messinstrumente Variable Geschlecht des Kindes Soziale Schicht der Eltern
Größe des Wohnortes
Kinder aus einem Alleinerzieherhaushalt Jungen aus einem Alleinerzieherhaushalt Derzeit besuchte Schulform Nachschulische Aktivitäten (Betreuung)
Label JUNGE SCHICHT
WOHNORT
ALLEIN J_ALLEIN AHS NACHMITT
Anzahl der weiblichen Lehrkräfte in den Hauptfächern (Deutsch, Englisch, Mathematik)
WLEHRK
Geschlechtsspezifische Bevorzugung durch d. Lehrkräfte (Allgemein, Mathematik, Sprachen) Geschlechtsspezifische Bevorzugung durch d. Lehrkräfte (Allgemein, Mathematik, Sprachen, Technik) Bildungsaspirationen
BEVORZ3
Noten in den Hauptfächern des letzten Ganzjahreszeugnisses Geplanter Besuch einer maturaführenden Schule im nächsten Schuljahr
BEVORZ4
ASPIR NOTEN MATWAHL
Operationalisierung 0=Mädchen; 1=Junge Schichtindex bestehend aus dem formalen Bildungsabschluss sowie der beruflichen Position der Eltern (gültiger Wertebereich: 1 bis 14) 1=bis 3.000 Einw.; 2=3.001-15.000 Einw.; 3= 15.001-100.000 Einw.; 4=100.001-1.000.000 Einw.; 5= über 1.000.000 Einw. 0=nein; 1=ja 0=nein; 1=ja 0=nein, 1=ja 0=Familie oder institutionelle Betreuung (Hort, Schule); 1=alleine oder mit Freunden unterwegs Gültiger Wertebereich: 0 bis 3; 0=keine weibliche Lehrkraft, ... , 3=ausschließlich weibliche Lehrkräfte -3 bis -1=Bevorzugung der Jungen; 0=Gleichbehandlung; 1 bis 3=Bevorzugung der Mädchen -4 bis -1=Bevorzugung der Jungen; 0=Gleichbehandlung; 1 bis 4=Bevorzugung der Mädchen 0=sonstiges; 1=Maturaabschluss oder höher Leistungsgruppengewichtete Durchschnittsnote14 0=nein; 1=ja
14 Eine Berücksichtigung der Notenvergabe in den verschiedenen Leistungsgruppen (LG) in der Hauptschule wurde in Anlehnung an Bacher et al. (2008: 112) wie folgt realisiert: • Die Noten der LG1 in der Hauptschule entsprechen den Noten im Gymnasium [„1“ (Sehr gut) bis „5“ (Nicht genügend)]. • Die Noten der LG2 in der Hauptschule wurden um zwei Notenpunkte erhöht: Eine „1“ in der LG2 entspricht einer „3“ in der LG1 bzw. dem Gymnasium usw. • Die Noten der LG3 in der Hauptschule wurden um vier Notenpunkte erhöht: Eine „1“ in der LG3 entspricht einer „5“ in der LG1 bzw. dem Gymnasium usw. • Existierten in einer Hauptschule keine Leistungsgruppen, wurde die LG2 angenommen. Die auf Basis der angeführten Manipulationen erzeugte leistungsgruppengewichtete Notenskala weist nun einen ganzzahligen Wertebereich von „1“ bis „9“ auf.
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Im Hinblick auf die allgemeine Förderung von Jungen und Mädchen durch die Lehrkräfte gibt die große Mehrheit der befragten Schülerinnen und Schüler (86,8 Prozent) an, dass keine geschlechtsspezifische Bevorzugung im schulischen Kontext auftritt und somit beide Geschlechter im gleichen Ausmaß gefördert werden. Demgegenüber berichten 11,2 Prozent (darunter vornehmlich Jungen) von einer systematischen Förderung der Mädchen, während bloß 2,0 Prozent eine generelle Begünstigung der Jungen durch ihre Lehrkräfte wahrnehmen. Schulfach- bzw. kompetenzbereichsspezifisch liegen differenziertere Befunde vor: So schreibt mehr als ein Viertel der Jugendlichen (26,6 Prozent) ihren Lehrkräften eine kategorische Bevorzugung der Mädchen in den sprachlichen Fächern zu, während der entsprechende Anteil für die Jungen bei 3,2 Prozent liegt. Im Gegensatz dazu scheint eine Fokussierung der Lehrkräfte auf die Jungen im mathematischen (14,6 Prozent) sowie – in einem noch stärkeren Ausmaß – im technischen Bereich (58,9 Prozent) vorzuliegen. Eine Bevorzugung der Mädchen erkennen in diesem Zusammenhang lediglich 8,7 Prozent (Mathematik) bzw. 3,6 Prozent (Technik). Für die weiterführenden bi- und multivariaten Analysen wurde aus den vier angeführten Items (Bevorzugung: Allgemein/Mathematik/Sprachen/Technik) ein summativer Bevorzugungsindex gebildet, dessen Wertebereich sich von -4 bis +4 erstreckt (negative Werte = Bevorzugung der Jungen; positive Werte = Bevorzugung der Mädchen; 0 = geschlechtsspezifische Gleichbehandlung). Eine ausschließlich zu Darstellungszwecken vorgenommene Trichotomisierung des Index führt zur folgenden relativen Häufigkeitsverteilung (in Prozent): Die relative Mehrheit der befragten Jugendlichen (47,6 Prozent) nimmt keine nach dem Geschlecht divergierende Behandlung der Schülerinnen und Schüler durch ihre Lehrkräfte wahr, während 34,7 Prozent eine Bevorzugung der Jungen sowie 17,7 Prozent eine Begünstigung der Mädchen attestieren. Der Mittelwert des Index (in der ursprünglichen Codierung von -4 bis +4) beträgt -0,276 und ist signifikant von Null – der geschlechtsspezifischen Gleichbehandlung – verschieden (T = -6,751; df = 589; p < 0,001). Das heißt, es liegt insgesamt eine moderate mittlere Bevorzugung der Jungen vor. Diese ist allerdings auf das Technikitem zurückzuführen, da eine Nichtberücksichtigung dieses Items im Zuge der Indexbildung zu konträren Ergebnissen führt. So kann auf Basis des um das Technikitem reduzierten trichotomisierten Bevorzugungsindex ein Anteil von 6,7 Prozent aller befragten Schülerinnen und Schüler der achten Schulstufe ermittelt werden, die eine verstärkte Konzentration der Aufmerksamkeit der Lehrkräfte auf die Jungen beobachten. Demgegenüber beträgt der für die Mädchen entsprechende Anteil 24,0 Prozent und die restlichen 76,0 Prozent können keine geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung erkennen. Weiterhin liegt der Mittelwert des Index (in der ursprünglichen Codierung von -3 bis +3)
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bei 0,263 und weicht ebenfalls signifikant von Null ab (T = 7,906; df = 596; p < 0,001), was im vorliegenden Fall nun einer mäßigen mittleren Begünstigung der Mädchen durch die Lehrpersonen entspricht. Alle folgenden Analysen werden in der Konsequenz mit beiden Indizes gerechnet, wobei BEVORZ3 für den 3-Item-Index (ohne Technikitem) und BEVORZ4 für den 4-Item-Index (mit Technikitem) steht. In Tabelle 3 werden nun die bivariaten Korrelationen der Modellvariablen ausgewiesen. Alle signifikanten Koeffizienten wurden fett markiert. Tabelle 3: Untere Dreiecksmatrix der Produkt-Moment-Korrelationen der Modellvariablen (Jugendlichendatensatz der achten Schulstufe) JUNGE
SCHICHT
JUNGE SCHICHT WOHNORT ALLEIN J_ALLEIN
1 -0,022 -0,099* 0,059 0,430***
1 0,116** 0,024 0,042
1 0,048 -0,014
1 0,628***
1
AHS
-0,229***
0,389***
0,046
-0,001
-0,093*
1
0,082*
-0,054
-0,041
0,158***
0,104**
-0,073
1
WLEHRK BEVORZ3 BEVORZ4
0,023 0,143*** 0,160***
-0,013 0,033 0,014
0,063 -0,021 -0,005
0,011 0,061 0,063
0,004 0,126*** 0,139**
0,010 0,025 -0,005
0,038 -0,021 -0,015
ASPIR
-0,205***
0,282***
-0,025
0,009
-0,050
0,468***
-0,089*
NOTEN
0,241***
-0,312***
0,008
0,077
0,105**
-0,522***
0,068
0,228*** BEVORZ3
-0,001 BEVORZ4
-0,021 ASPIR
0,023 NOTEN
0,354*** MATWAHL
0,033
1 -0,012 0,022 0,003 0,111**
1 0,820*** -0,014 -0,003
1 -0,019 -0,001
1 -0,578***
1
-0,017
0,028
0,004
0,564***
-0,454***
NACHMITT
MATWAHL WLEHRK BEVORZ3 BEVORZ4 ASPIR NOTEN MATWAHL
-0,031 WLEHRK
WOHNORT
ALLEIN
J_ALLEIN
* p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001 (Annahme einer einfachen Zufallsauswahl)
AHS
1
NACHMITT
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165
Das Geschlecht der Jugendlichen (JUNGE) als zentrale exogene Modellvariable korreliert in negativer Weise mit dem derzeitigen Besuch einer AHS-Unterstufe (AHS). Dieser Befund stimmt mit den Angaben aus Tabelle 1 überein, dass Mädchen in der AHS-Unterstufe mäßig überrepräsentiert sind. Ferner liegt ein verhältnismäßig schwach ausgeprägter Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und den nachmittäglichen Aktivitäten (NACHMITT) vor. Demnach sind Jungen in einem höheren Ausmaß als die Mädchen nach der Schule auf sich allein gestellt bzw. verbringen die unterrichtsfreie Zeit am Nachmittag mit ihren Freunden. Die signifikanten Korrelationen mit den beiden Bevorzugungsindizes (BEVORZ3, BEVORZ4) besagen, dass von den befragten männlichen Schülern tendenziell eine Bevorzugung der Mädchen durch die Lehrkräfte wahrgenommen werden konnte. In Hinblick auf die Bildungsaspirationen (ASPIR) unmittelbar vor dem Übergang in die Sekundarstufe II zeigt sich, dass Jungen in einem geringeren Ausmaß den Anspruch an sich stellen, zumindest einen Maturaabschluss zu erreichen. Dies trifft ebenso – allerdings in abgeschwächter Form – auf die Bildungsaspirationen der Eltern zu, was eine Berechnung der Korrelation mit dem Elterndatensatz der achten Schulstufe belegt (r = -0,169; p < 0,001). Der positive Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der leistungsgruppengewichteten Durchschnittsnote der Hauptfächer im letzten Ganzjahreszeugnis (NOTEN) indiziert eine im Mittel schlechtere Benotung der Jungen und entspricht den Ausführungen von Bacher et al. (2008: 112ff) und Helbig (2010: 95). In dieser Stelle bleibt ungeklärt, ob die geschlechtsspezifischen Diskrepanzen der schulischen Beurteilung durch Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern in den Hauptfächern oder durch eine (un-)bewusste Benachteiligung der Jungen bzw. das Heranziehen alternativer Kriterien im Zuge der Notenvergabe (z.B. Umgangsformen, Sozialverhalten, Verhalten während des Unterrichts) hervorgerufen werden.15 Die Korrelationen des sozialen Schichtindex (SCHICHT) – operationalisiert über die klassischen vertikalen bzw. „alten“ Ungleichheitsdimensionen des formalen Bildungsabschlusses und der beruflichen Position der Eltern – offenbaren die im Ansatz von Boudon (1974) theoretisch konzipierten und für Österreich bereits mehrfach belegten (Bacher 2005, 2009; Bacher et al. 2008; Breit
15 In diesem Zusammenhang identifiziert der Aktionsrat Bildung (2009: 89) auf Basis der deutschen IGLU 2006-Daten eine Benachteiligung der Jungen bei der Vergabe der Deutschnoten im Primarschulbereich. Ähnliche Befunde konnte Wallner-Paschon (2009: 50) im Zuge von Analysen der PIRLS 2006-Daten für Österreich aufdecken. Für den Sekundarbereich II ortet der Aktionsrat Bildung (2009: 103) demgegenüber einen „Ausgleich“ der geschlechtsspezifischen Kompetenzunterschiede durch die Notengebung, da die Jungen in Deutsch und die Mädchen in Mathematik sowie in den naturwissenschaftlichen Fächern gemessen an ihrer Kompetenz jeweils „milder“ benotet werden. Für Österreich liegen gegenwärtig keine vergleichbaren Forschungsresultate vor.
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Johann Bacher, Heinz Leitgöb und Norbert Lachmayr
und Schreiner 2006) primären und sekundären Schichteffekte. Der primäre Effekt wirkt in indirekter Weise über die Ausstattung der Herkunftsfamilie mit ökonomischem, kulturellem sowie sozialem Kapitel (Bourdieu 1983) auf die bildungsbezogenen Chancenstrukturen und bildet sich im negativen Zusammenhang mit der schulischen Performanz ab. Das heißt, Schülerinnen und Schüler aus niedrigeren sozialen Schichten, weisen – aufgrund ihres soziokulturellen Hintergrundes und den damit einhergehenden schulischen Startnachteilen (die durch das bestehende Schulsystem nicht hinreichend ausgeglichen bzw. mitunter sogar noch verstärkt werden können) – tendenziell schlechtere Noten in den Hauptfächern auf. Demgegenüber wird die direkte Wirkung der sozialen Schicht auf die elterlichen Bildungsentscheidungen als sekundärer Schichteffekt bezeichnet. Dieser subsumiert die Bestrebung der Eltern aus höheren sozialen Schichten, den erreichten Sozialstatus in der Generationenfolge zu erhalten bzw. zu verbessern (Becker und Lauterbach 2006: 15), was in entsprechend hohen Bildungsaspirationen resultiert. Der sekundäre Schichteffekt manifestiert sich zunächst in der positiven Korrelation mit dem derzeitigen Schulbesuch, dem eine bereits vollzogene Bildungsentscheidung (der Eltern) zugrunde liegt. Weiterhin indizieren die positiven Zusammenhänge mit den allgemeinen Bildungsaspirationen sowie mit dem geplanten Besuch einer maturaführenden Schule im Zuge des Wechsels in die Sekundarstufe II die Existenz des sekundären Schichteffektes. Eine Inspektion der Beträge der bivariaten Korrelationskoeffzienten widerspricht allerdings in Teilen der These von Becker (2000), dass der sekundäre Herkunftseffekt bedeutsamer sein dürfte als der primäre, da die Noten (r = -0,312; p < 0,001) marginal stärker mit der sozialen Schicht korrelieren als die Bildungsaspirationen (r = 0,282; p < 0,001) und der geplante Schulbesuch (r = 0,228; p < 0,001). Relativierend muss allerdings festgehalten werden, dass einerseits der derzeitige Schulbesuch als härtester – da direkt beobachtbarer – Indikator einen stärkeren Zusammenhang mit dem Schichtindex aufweist (r = 0,389; p < 0,001) und die errechneten Korrelationen andererseits auf den Daten der Schülerinnen und Schüler beruhen, während die theoretischen Annahmen von Becker auf den Bildungsaspirationen der Eltern basieren. Analoge Berechnungen unter Verwendung des entsprechenden Elterndatensatzes (achte Schulstufe) führen zu mit der These von Becker übereinstimmenden Ergebnissen: Die Korrelationen des sozialen Schichtindex mit dem geplanten Besuch einer maturaführenden Schule (r = 0,391; p < 0,001), dem derzeitigen Schulbesuch (r=0,379; p<0,001) sowie den Bildungsaspirationen (r = 0,374; p < 0,001) liegen im Betrag moderat über dem Zusammenhang mit den Schulnoten (r = -0,334; p < 0,001) und deuten somit – zumindest bivariat – auf eine höhere empirische Relevanz des sekundären Schichteffektes hin. Insgesamt
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muss jedoch die Existenz von differenzierteren Effekten angenommen werden, die sich allerdings erst im Zuge von multivariaten Analysen aufdecken lässt. Werden in weiterer Folge explizit die Jungen in Alleinerziehendenhaushalten (J_ALLEIN) in den Blick genommen, so offenbart sich auf Basis der bivariaten Korrelationen eine Kumulation von bildungsrelevanten Benachteiligungen, da sie in einem geringeren Ausmaß eine AHS-Unterstufe besuchen, tendenziell schlechtere Noten erhalten und den unterrichtsfreien Nachmittag vermehrt ohne die Unterstützung von elterlichen bzw. familiären Betreuungspersonen oder einer institutionellen Versorgung (Ganztagesschule, Hort) verbringen müssen. Im Gegensatz dazu kann für alle Schülerinnen und Schüler aus Alleinerziehendenhaushalten (ALLEIN) – also inklusive der Mädchen – lediglich eine niedriger ausgeprägte Nachmittagbetreuung nachgewiesen werden, während die Partizipation in der AHS-Unterstufe sowie die Noten sich nicht von den Kindern aus Zweielternhaushalten unterscheiden. Keine signifikanten Zusammenhänge konnten für die Bildungsaspirationen und die bevorstehende Wahl einer maturaführenden Schule ermittelt werden. Diese Befunde decken sich mit den multivariaten Ergebnissen von Bohrhardt (2000), der für Deutschland (im Gegensatz zu den USA) keinen Effekt der Familienform (diskontinuierliche Anwesenheit beider Elternteile) auf die Erzielung eines Schulabschlusses identifizieren konnte. Zugegebenermaßen entspricht jedoch die Realisierung irgendeines Bildungsabschlusses nicht dem Anspruch der Bildungsaspirationen, nämlich ein ganz bestimmtes formales Bildungszertifikat zu erreichen. Der derzeitige Schulbesuch korreliert in (für sozialwissenschaftliche Verhältnisse) beträchtlichem Maße mit den Bildungsaspirationen und dem geplanten Besuch einer weiterführenden Schule in der Sekundarstufe II. Diese Befunde vermögen nicht zu überraschen, da die hohen Bildungsaspirationen der Eltern bzw. der Kinder selbst in der Regel dazu führen, dass möglichst bald und auf sicherem Wege versucht wird, die tatsächliche Erreichung dieser Bildungserwartungen abzusichern und aus diesem Grund mit dem Besuch einer AHSUnterstufe eine entsprechende Schullaufbahn eingeschlagen wird. Der Umstand, dass sich nach der Absolvierung der Hauptschule ein weiterführender Schulbesuch mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit realisieren lässt, kann anhand der Übertrittsquoten aufgezeigt werden: Während nämlich im Schuljahr 2008/09 91,3 Prozent aller Schülerinnen und Schüler nach dem Besuch einer AHSUnterstufe einen maturaführenden Schultyp wählten, war dies lediglich für 34,4 Prozent aller Hauptschülerinnen und -schüler der Fall ist (Statistik Austria 2010: 162ff, eigene Berechnungen; vgl. auch Paseka und Wroblewski 2009: 206). Der Zusammenhang zwischen den Schulleistungen und dem derzeitigen Schulbesuch kann zu einem erheblichen Teil auf die Leistungsgruppengewichtung der Noten (siehe Fußnote 14) zurückgeführt werden.
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Weiterhin liegt eine schwache negative Korrelation zwischen den Nachmittagsaktivitäten und den Bildungsaspirationen der Jugendlichen vor: Jugendliche, die nach der Schule weitgehend auf sich allein gestellt sind oder die Zeit mit Freunden verbringen, weisen tendenziell geringere Bildungsaspirationen auf. Kein signifikanter Zusammenhang konnte für die elterlichen Bildungsaspirationen (auf Basis des Elterndatensatzes) nachgewiesen werden. Denkbar ist somit eine zu gering ausgeprägte Einbindung der Jugendlichen in ein familiäres Umfeld, das eine entsprechend positive Konnotion des Bildungsbegriffs auf die Jugendlichen überträgt und somit deren Bildungsaspirationen fördert (Diefenbach 2000), oder die Existenz von Peer-Group-Effekten, die dämpfend auf die individuellen Bildungserwartungen der Jugendlichen wirken. Hadjar und Lupatsch (2010) konnten in diesem Zusammenhang feststellen, dass der geringere Schulerfolg von Jungen unter anderem auf ein verhältnismäßig schulentfremdetes Peerumfeld zurückzuführen ist, in dem gute Noten und die Beschäftigung mit schulischen Angelegenheiten keine soziale Anerkennung bringen. Ein positiver Zusammenhang zwischen der Anzahl an weiblichen Lehrkräften in den Hauptfächern (WLEHRK) und der Durchschnittsnote dieser Unterrichtsfächer aus dem letzten Ganzjahreszeugnis lässt sich gegenwärtig nicht theoretisch begründen. Eine Kontrolle durch den derzeit besuchten Schultyp der Jugendlichen offenbart, dass der Effekt nicht aufgrund der Leistungsgruppengewichtung der Noten in der HS zustande kommt.16 Werden für die jeweiligen Unterrichtsfächer Einzelkorrelationen berechnet (z.B. Mathematiknote mit dem Geschlecht der Lehrkraft in Mathematik), so ergibt sich lediglich für Mathematik ein signifikanter Zusammenhang (r = 0,135; p = 0,001), d.h. die weiblichen Mathematiklehrkräfte benoten durchschnittlich strenger als ihre männlichen Kollegen, während für Deutsch und Englisch keine differenzielle Notenvergabe nach dem Geschlecht der Lehrpersonen beobachtet werden kann. Beachtenswerte Korrelationen lassen sich ferner zwischen den Bildungsaspirationen, den Noten sowie der Wahl für eine weiterführende Schule mit Maturaniveau finden. Inwieweit hier – sowie auch bei allen anderen zuvor erläuterten Variablen – zudem differentielle Effekte nach dem Geschlecht der Schülerinnen und Schüler vorliegen, gilt es nun anhand des folgenden multivariaten Ansatzes zu untersuchen.
16 Die Vermutung hinter dieser Prüfung war, dass die Geschlechterverteilungen der Lehrkörper in der HS und der AHS sich in relevanter Weise voneinander unterscheiden und ein potentiell (wesentlich) höherer Anteil an weiblichen Lehrkräften in der HS mit einer höheren Anzahl an leistungsgruppengewichteten Durchschnittsnoten der Schülerinnen und Schüler verbunden gewesen wäre und die zugrunde liegende Korrelation hervorgerufen hat.
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3.2.4 Multivariate Ergebnisse Die empirische Prüfung des in 3.2.1. entwickelten Modells wird mittels eines Strukturgleichungsmodells realisiert. Aufgrund der Absenz von latenten Variablen besteht das Gesamtmodell lediglich aus dem Strukturmodell und beinhaltet keine Messmodelle im herkömmlichen Sinn. Der Fit des Gesamtmodells wird somit nicht von der Güte einzelner Messmodelle codeterminiert, vielmehr bildet sich in den an unterer Stelle ausgeführten Fit-Indizes ausschließlich die Passung des Strukturmodells ab. Zunächst erfolgt jedoch eine graphische Darstellung des empirischen Modells (Abbildung 2). Abbildung 2: Empirisches Modell zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Bildungswahl -0,112
0,119
SCHICHT
ASPIR 0,386
0,436 0,396 -0,415
AHS -0,208
-0,280
MATWAHL
JUNGE WLEHRK
0,115
NOTEN
-0,165
SCHICHT … soziale Schicht der Eltern; AHS … derzeitiger Schulbesuch; JUNGE … Geschlecht des Kindes; WLEHRK … Anzahl der weiblichen Lehrkräfte in den Hauptfächern; ASPIR … Bildungsaspirationen; NOTEN … leistungsgruppengewichtete Durchschnittsnote der Hauptfächer im letzten Ganzjahreszeugnis; MATWAHL … geplanter Besuch einer maturaführenden Schule im nächsten Schuljahr Model Fit: n = 649; χ² = 100,920; df = 57; p < 0,001; χ²/df = 1,771; RMSEA = 0,034; CFI = 0,965; NFI = 0,92717 (ausschließlich signifikante Effekte mit α<0,05)
17 Aufgrund von fehlenden Werten konnte Amos 17 die absoluten Fit-Indizes RMR sowie SRMR nicht berechnen. Auf die Darstellung der Goodness-of-Fit-Maße GFI und AGFI wurde verzichtet, da Simulationsstudien die Leistungsfähigkeit aller auf GFI aufbauenden Maße stark in Frage stellen (Sharma et al. 2005). Die Schwellenwerte der angeführten Fit-Indizes werden in der Folge ausgewiesen: χ²/df≤2; RMSEA≤0,05-0,08; CFI≥0,90; NFI≥0,90 (siehe Weiber und Mühlhaus 2009: 176).
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Die Anpassungsgüte des Gesamtmodells ist als gut zu bezeichnen, da keiner der Schwellenwerte der angeführten Fit-Indizes unter- (CFI; NFI) bzw. überschritten (χ²/df; RMSEA) wird (siehe Fußnote 17). Allerdings darf auf Basis der χ²Teststatistik (χ² = 100,920; df = 57; p < 0,001) als inferenzstatistischem Gütekriterium nicht von einer Gleichheit der empirischen und der modelltheoretischen Varianz-Kovarianz-Matrix ausgegangen werden, was an sich gegen eine hohe Modellgüte spricht. Dieses Resultat gilt es jedoch zu relativieren, da die vorliegenden Daten nicht alle Bedingungen erfüllen, die mit der Durchführung des χ²Tests verbunden sind (Reinecke 2005: 116f) und bei Verletzungen der Anwendungsvoraussetzungen empfohlen wird, den χ²-Wert nur als deskriptives Gütekriterium zu interpretieren und zu diesem Zweck durch die Anzahl der Freiheitsgrade zu dividieren (Weiber und Mühlhaus 2009: 162). Gemäß Bryne (1989: 55) sollte dieser Quotient den Schwellenwert von 2 nicht überschreiten. Der gegebene Wert liegt mit 1,771 deutlich unter diesem geforderten Schwellenwert von 2 und weist somit auf einen guten Modell-Fit hin. Insgesamt kann festgehalten werden, dass auf Basis der angeführten Prüfgrößen die Passung des Gesamtmodells als zufriedenstellend erachtet werden kann. Die im vorliegenden Kausalmodell zur Bildungswahl identifizierten Wirkungsmechanismen sollen nun im Detail ausgeführt werden. In Kongruenz mit den bivariaten Befunden bildet sich auch multivariat ein erheblicher sekundärer Schichteffekt ab, der in erwarteter Richtung sowohl auf den derzeit besuchten Schultyp (AHS) als auch – in abgemilderter Form – auf die Bildungsaspirationen (ASPIR) wirkt und somit die geringere Wahrscheinlichkeit der Partizipation von Kindern aus niedrigeren sozialen Schichten in maturaführenden Schulen offenlegt. Ein direkter primärer Schichteffekt kann jedoch nicht konstatiert werden, vielmehr wirkt die soziale Schicht (SCHICHT) lediglich indirekt über den gegenwärtigen Schultyp auf die Noten (NOTEN). Der beobachtbare Einfluss des besuchten Schultyps auf die Noten kann – wie bereits bei der bivariaten Ergebnisdarstellung erläutert – allerdings nahezu ausschließlich auf die spezifische Konzeption des Schulleistungsindikators NOTEN (siehe Fußnote 14) zurückgeführt werden, der aufgrund der vorgenommenen Leistungsgruppengewichtung implizit auch die strukturelle Leistungsdifferenzierung der Hauptschule abbildet und dessen Zuweisungsvorschrift somit zu differenzierten Wertebereichen der Schülerinnen und Schüler in der AHS-Unterstufe und der Hauptschule (2. und 3. Leistungsgruppe) führt. Im Hinblick auf die in diesem Modell fokussierten Geschlechtereffekte (JUNGE) kann zunächst eine Benachteiligung der Jungen im Zuge der ersten Bildungswegentscheidung bzw. ein häufigeres Versagen der Jungen in der AHS-Unterstufe konstatiert werden, da diese gegenwärtig in einem geringeren Ausmaß die 4. Klasse AHS besuchen als die Mädchen. Ferner weisen männliche
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Schüler moderat geringere Bildungsaspirationen (ASPIR) auf als ihre weiblichen Kolleginnen. Eine profunde Erklärung dieses Phänomens kann auf Basis der verfügbaren Daten allerdings nicht geleistet werden. Ganz im Gegensatz zu den bivariaten Ergebnissen liegt multivariat kein direkter Einfluss des Geschlechts auf die erzielten Noten vor. Vielmehr können lediglich mediierende Effekte über den derzeit besuchten Schultyp sowie die Bildungsaspirationen diagnostiziert werden. Zudem erweisen sich sämtliche in das Modell integrierte Interaktionseffekte (JUNGE*WLEHRK, JUNGE*BEVORZ, JUNGE* NACHMITT) als statistisch nicht signifikant. Konkret formuliert bedeutet dies, dass weder das Geschlecht der Lehrkräfte in den Hauptfächern (WLEHRK) noch die subjektiv wahrgenommenen geschlechtsspezifischen Bevorzugungstendenzen der Lehrkräfte (BEVORZ) eine nach dem Geschlecht der Schülerinnen und Schüler differentielle Wirkung auf die Bildungsaspirationen sowie die Schulnoten ausübt. Weiterhin können im Modell keine (differentiellen) Effekte der nachschulischen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler am Nachmittag (NACHMITT) nachgewiesen werden. In Bezug auf die endabhängige Variable des geplanten Besuchs eines maturaführenden Schultyps im Zuge der zweiten Bildungsentscheidung (MATWAHL) zeigt sich, dass die Bildungsaspirationen in bemerkenswertem Ausmaß positiv, sowohl direkt als auch indirekt über die sich in den Noten manifestierenden Schulleistungen, wirken. Dies impliziert, dass die Noten ebenfalls einen Einfluss auf die bevorstehende Schultypwahl an der Schnittstelle zwischen Sekundarstufe I und II ausüben. Dieser ist im Betrag wesentlich niedriger ausgeprägt als jener Effekt der Bildungsaspirationen und weist die erwartete Richtung auf. Das heißt, bessere Noten in den Hauptfächern führen vermehrt zu einer Entscheidung für eine maturaführende Schule. Subsumierend kann nun Folgendes festgehalten werden: (I) Die Persistenz der sozialschichtspezifischen Bildungsungleichheiten – insbesondere im Hinblick auf die erste Schulwahlentscheidung und der damit verbundenen Folgen – konnte auch anhand der vorliegenden Daten belegt werden. Das kulturelle sowie soziale Kapital (in geringerem Ausmaß auch das ökonomische Kapital) der Herkunftsfamilie repräsentiert somit nach wie vor eine zentrale Determinante der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Österreich. (II) Im Zuge der ersten Bildungsentscheidung erfolgt eine tendenzielle Kanalisierung der Jungen in die Hauptschule bzw. die Jungen steigen häufiger von der AHSUnterstufe in eine Hauptschule um als die Mädchen. Dieser Effekt wirkt sich mittelbar zudem in negativer Weise auf die Wahl des zukünftigen Schultyps an der Schnittstelle zwischen Sekundarstufe I und II aus. (III) Die Jungen weisen durchschnittlich niedrigere Bildungsaspirationen als die Mädchen auf. Diese Tatsache ist insofern problematisch, als die Bildungsaspirationen eine hochrele-
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vante Einflussgröße auf die geplante Wahl eines maturaführenden Schultyps darstellen. (IV) Es konnte kein direkter Einfluss des Geschlechts auf die Schulleistungen festgestellt werden. Vielmehr wirkt das Geschlecht in indirekter Weise über die Bildungsaspirationen auf die Schulnoten. (V) Die vermuteten Interaktionseffekte konnten nicht nachgewiesen werden. So scheint weder das Geschlechterverhältnis der Lehrkräfte in den Hauptfächern noch die wahrgenommene geschlechtsspezifische Bevorzugung durch die Lehrkräfte einen merklichen Einfluss auf die Bildungsaspirationen sowie die Schulleistungen zu besitzen. Zudem lassen sich multivariat keinerlei Effekte der nachschulischen Aktivitäten identifizieren. (VI) Die moderate bivariate Korrelation zwischen dem Anteil an weiblichen Lehrkräften in den Hauptfächern und den Schulnoten konnte multivariat bestätigt werden. Anhand des Modells lässt sich allerdings nicht erklären, warum sich mit zunehmendem Frauenanteil die Durchschnittsnote aus den Hauptfächern im Mittel verschlechtert. Diesbezüglich wird ein Alterseffekt vermutet, der aufgrund der Datenlage (fehlende Informationen zum Alter der Lehrkräfte) nicht spezifiziert werden kann.
4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Innerhalb der letzten Jahrzehnte hat sich im österreichischen Schul- bzw. Bildungssystem die „Umkehrung eines sozialen Stratifikationsmusters“ (Quenzel und Hurrelmann 2010) vollzogen. Die Verteilung von höheren Bildungsabschlüssen hat sich eindeutig zu Gunsten der Mädchen bzw. Frauen verschoben, wie sich durch geschlechtsspezifische Matura- bzw. Studienabschlussquoten belegen lässt. Aus dem Blickwinkel der gesamten Bildungskarriere bildet bereits die erste Bildungsentscheidung am Ende der Volksschule den Ursprung dieser Entwicklungen. So konnte deskriptiv auf Basis der bildungsstatistischen Offizialdaten sowie multivariat nachgewiesen werden, dass ein tendenziell höherer Zustrom von Jungen in die Hauptschule erfolgt, während die Mädchen eher in die AHS-Unterstufe wechseln. In verstärktem Ausmaß beginnt sich allerdings ab dem 13. Lebensjahr die Kluft zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf den Besuch einer maturaführenden Schule zu öffnen, was sich vor allem auf ein vermehrtes Versagen der Jungen in der AHS-Unterstufe zurückführen lässt. Im Zuge der empirischen Prüfung eines implementierten Modells zur Erklärung der zweiten Schulwahlentscheidung im österreichischen Schulsystem (zwischen Sekundarstufe I und II) wurde ersichtlich, dass die Bildungsaspirationen eine zentrale Rolle für die Wahl einer maturaführenden Schule spielen. So wirken sowohl das Geschlecht als auch die soziale Schicht der Herkunftsfamilie
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lediglich indirekt über die Bildungsaspirationen auf die Schulwahl. Die Bildungsaspirationen wiederum üben einen starken direkten sowie auch einen indirekten Einfluss über die Noten auf die Entscheidung für eine maturaführende Schule aus. Keine nach dem Geschlecht differentiellen Effekte konnten für die schulischen Kontextmerkmale der Anzahl der weiblichen Lehrkräfte in den Hauptfächern sowie der wahrgenommenen geschlechtsspezifischen Bevorzugung durch die Lehrkräfte identifiziert werden. Dies widerspricht der These der „Feminisierung der Schule“, wonach der geringere Schulerfolg von Jungen dem Überhang an weiblichen Lehrkräften zugeschrieben wird. Zudem konnte kein Einfluss der familiären bzw. institutionellen Betreuung am Nachmittag nachgewiesen werden. Dennoch sollte der Fokus zukünftiger Forschung verstärkt auch auf den außerschulischen Freizeitbereich gerichtet sein. Insbesondere die konkreten Freizeitaktivitäten der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihr Potential zur Entwicklung und Förderung von dem Schulerfolg dienlichen Kompetenzen sowie der Einfluss des sozialen Umfeldes (insbesondere die in diesem Umfeld herrschende Affinität zur Schule bzw. zur Bildung allgemein, welche einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung von entsprechenden Bildungsaspirationen bei den Jugendlichen leisten könnte), in dem sie sich in der Freizeit bewegen, sollten verstärkt in die Analysen zur Erklärung von geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten integriert werden. Darüber hinaus können im schulischen Kontext weitere Ansatzpunkte in den Auswirkungen der (Re-)Produktion von geschlechtsspezifischen Stereotypen im Zuge des Unterrichts und in der konkreten Ausgestaltung des Unterrichts hinsichtlich der Berücksichtigung der speziellen Bedürfnisse von Mädchen und Jungen (Stichwort: doing gender in class) ausgemacht werden.
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Determinanten des Geschlechterunterschieds im Schulerfolg: Ergebnisse einer quantitativen Studie aus Bern Judith Lupatsch und Andreas Hadjar
1 Einleitung Oft kann man in den letzten Jahren in den Zeitungen vom Bildungsmisserfolg der Jungen lesen. Dabei werden sie z.B. als „angeknackste Helden“ (Der Spiegel) oder „schwächelnder männlicher Nachwuchs“ (Facts) bezeichnet. Unklar bleibt jedoch häufig, wie genau sich dieser geringere Schulerfolg äußert und welche Ursachen sich dahinter verbergen. Ursachenanalysen beschränken sich dabei eher auf Vermutungen; auch bleibt die Verknüpfung der herangezogenen Erklärungsfaktoren mit dem geringeren Schulerfolg der Jungen oft ungenau. Im wissenschaftlichen Diskurs hingegen werden viele Aspekte des Schulerfolgs thematisiert – etwa Bildungszertifikate, Schulnoten oder international vergleichende Leistungstests. Es gibt dabei eine Reihe von Untersuchungen auf deskriptiver Ebene, aber nur wenige Studien versuchen, das komplexe Ursachengeflecht abzubilden. In diesem Beitrag möchten wir die Konstellation der Ursachen hinter den Geschlechterunterschieden im Schulerfolg näher beleuchten. Datengrundlage ist dabei eine neue Schülerinnen- und Schülerstichprobe aus dem schweizerischen Kanton Bern. Im Jahr 2008 wurden 872 Schülerinnen und Schüler der auf Klassenstufe 8 per standardisiertem Fragebogen befragt (für Ergebnisse aus dem qualitativen Teil des Projektes siehe Grünewald, Gysin und Braun in diesem Band). Im Rahmen der im Folgenden präsentierten Analysen wird insbesondere auf die Rolle von Schulentfremdung, Geschlechterrollen, deviantem Verhalten sowie die Bedeutung der Peers und der Lehrperson eingegangen. Ziel ist aufzuzeigen, welchen Effekt diese Faktoren auf den Schulerfolg, gemessen anhand der Schulnoten, haben. Die Gliederung ist wie folgt: Zuerst soll das Ausmaß an Geschlechterunterschieden im Schulerfolg in Deutschland und in der Schweiz dargestellt werden. Anschließend wird auf theoretische Konzepte und Studien zur Ursachenanalyse der Geschlechterunterschiede im Schulerfolg eingegangen. Schließlich wird die Fragebogenstudie, die als Grundlage für die folgenden Analysen dient, vorgestellt. Anhand von Daten aus dieser Studie werden zunächst Geschlechterunterschiede in ausgewählten Bestimmungsfaktoren des Schulerfolgs aufgezeigt. A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dann wird der Frage nachgegangen, ob es Unterschiede im Schulerfolg nach der Geschlechtszugehörigkeit der Schüler/-innen als auch der Lehrperson gibt. Im Rahmen weiterer Analysen wird ein Strukturgleichungsmodell zu direkten und indirekten Effekten der betrachteten Erklärungsfaktoren auf den Schulerfolg geschätzt, um schließlich diese Befunde in Mehrebenenmodellen (Klassenebene, Personenebene) zu vertiefen. Ziel dieser verschiedenen Analyseformen ist die Suche nach Hinweisen, wie die verschiedenen Faktoren und Erklärungsmuster zusammenhängen und welche Rolle ihnen bei der Erklärung des Schulerfolgs von Mädchen und Jungen zukommt.
2 Theoretischer Rahmen Im Folgenden wird die Ausgangslage - empirische Befunde zu Unterschieden im Schulerfolg - zwischen Jungen und Mädchen für Deutschland und für die Schweiz zusammengefasst. Im Anschluss werden die für unsere Studie relevanten Erklärungsfaktoren für die Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen einzeln vorgestellt.
2.1 Die Ausgangslage Im Abgangsjahr 2008 hatten in Deutschland Mädchen eine höhere Chance eine Hochschulzugangsberechtigung zu erlangen als Jungen. Während 32,6 Prozent der Mädchen die Hochschulreife erreichten, waren es bei den Jungen nur 26,3 Prozent. Während das Geschlechterverhältnis bei der Mittleren Reife ausgeglichen war – 40,7 Prozent der Mädchen und 39,6 Prozent der Jungen erhielten 2008 einen Realschulabschluss – hatten Schüler (25,6 Prozent) ein größeres Risiko als Schülerinnen (19,6 Prozent), ihre Schullaufbahn nur mit einem Hauptschulabschluss zu beenden. Ohne Abschluss blieben 5,5 Prozent der Mädchen und 8,5 Prozent der Jungen (Statistisches Bundesamt Deutschland 2009, z.T. eigene Berechnungen; siehe zu geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten im Wandel auch den Artikel von Becker und Müller in diesem Band). Jungen wiederholen auch häufiger eine Klasse und haben insgesamt eine weniger geradlinige Schullaufbahn (vgl. u.a. Budde 2008). In der Schweiz erhielten im Jahr 2008 16,3 Prozent der Schüler und 23,3 Prozent der Schülerinnen einen Maturitätsabschluss d.h. eine Hochschulzugangsberechtigung. In der 9. Klasse, dem letzten Pflichtschuljahr der Sekundarschule, befanden sich 58,7 Prozent der Jungen und 67,5 Prozent der Mädchen auf dem höheren Niveau (erweiterte Ansprüche). Das niedrigere Niveau mit Grundansprüchen besuchten 30,2 Pro-
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zent der Jungen und 25,6 Prozent der Mädchen (Bundesamt für Statistik Schweiz 2009). Generell zeigen Leistungstests und IGLU-Studien, dass geschlechtsspezifische Unterschiede bereits früh auftreten und sich besonders in der Sekundarschulzeit vergrößern (Blossfeld et al. 2009). Die Unterschiede bestehen beim Lesen zu Gunsten der Mädchen, in Mathematik zu Gunsten der Jungen. In der PISA-Studie beträgt der Abstand im Lesen in der Sekundarstufe im OECD-Durchschnitt 38, in Deutschland 42 und in der Schweiz 31 Kompetenzpunkte zu Gunsten der Mädchen. Der Abstand in Mathematik beträgt im OECD-Durchschnitt 11, in Deutschland 20 und in der Schweiz 13 Punkte zu Gunsten der Jungen (OECD 2007; siehe auch Blossfeld 2009). Zusätzlich zu den durchschnittlichen Kompetenzen ist eine Betrachtung der Jugendlichen hilfreich, welche sich auf den höchsten (V und VI) und auf den niedrigsten (I und weniger) Kompetenzstufen befinden. Hierbei zeigt sich, dass in Deutschland bei der Leseskala 25,5 Prozent der Jungen auf Kompetenzstufe I oder tiefer einzuordnen sind, bei den Mädchen sind das 14,2 Prozent. Auf der höchsten erreichten Kompetenzstufe V befinden sich 7 Prozent der Jungen und 12,9 Prozent der Mädchen. In der Schweiz zeigt sich ein ähnliches Bild. Hier befinden sich 20,4 Prozent der Jungen und 12,2 Prozent der Mädchen auf Kompetenzstufe I und darunter. Die höchste Kompetenzstufe erreichen nur 5,1 Prozent der Jungen, aber 10,4 Prozent der Mädchen. Bei der Mathematikskala zeigt sich allerdings ein anderes Bild. In Deutschland befinden sich 17,8 Prozent der Jungen und 22 Prozent der Mädchen auf Kompetenzstufe I und darunter. Den höchsten zu erreichenden Kompetenzstufen V und VI sind 18,7 Prozent der Jungen und 12 Prozent der Mädchen zuzuordnen. In der Schweiz findet man 12,4 Prozent der Jungen und 14,7 Prozent der Mädchen auf den niedrigsten Kompetenzstufen, und 24,7 Prozent der Jungen und 20,3 Prozent der Mädchen auf den Kompetenzstufen V und VI. Das geschlechtsspezifische Muster ist in der Schweiz bei der Mathematikskala also ähnlich ausgeprägt wie in Deutschland, insgesamt werden aber höhere Kompetenzniveaus erreicht (zu den Daten vgl. OECD 2007).
2.2 Ursachenfaktoren des Geschlechterunterschieds im Schulerfolg Leistungsmotivation und Schulentfremdung. Ansätze, in denen das Phänomen des geschlechtsspezifischen Schulerfolgs aus einer psychologischen Perspektive heraus thematisiert wird, stellen Unterschiede in der Lern- und Leistungsmotivation zwischen Jungen und Mädchen ins Zentrum der Analyse. Ein Ansatz geht davon aus, dass Jungen ihre Leistung überschätzen und sich generell als
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intelligent definieren und Mädchen ihre Leistung tendenziell unterschätzen (Baumert et al. 1997; Baumert et al. 2003). Bei Jungen könnte diese Leistungsüberschätzung beeinträchtigend auf die Schulleistungen wirken. Leistungsüberschätzung kann deshalb schulerfolgsmindernd sein, da erhöhte Anstrengung vermieden wird (Cornelißen 2004). Leistung ist sehr stark vom Selbstbild beeinflusst (Köller u.a. 2000). Das Selbstbild wiederum entwickelt sich auch im „doing gender“ (Faulstich-Wieland et al. 2004) und spiegelt häufig wider, was in der Gesellschaft bzw. in den jeweiligen Bezugsgruppen als geschlechtsadäquat gilt. So haben Jungen ein höheres Selbstvertrauen in Mathematik und schätzen ihre Leistungen deutlich besser ein als Mädchen (Keller 1997). In einer Studie zur Grund- und Mittelstufe stellen Weinert und Helmke (1997: 199) unterschiedliche Verhaltensweisen von Mädchen und Jungen im Zusammenhang mit dem so genannten „Faulpelz-Syndrom“ fest. Jungen zeigen im Vergleich zu Schülerinnen stärkere Tendenzen zur Anstrengungsvermeidung und geringeren „Pflichteifer“. Der Zusammenhang zwischen Lernmotivation, Anstrengungsinvestition, Disziplin und schulischem Wohlbefinden steht auch im Mittelpunkt einer Studie von Fend (1997) mit Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe. Auch hier erwiesen sich Mädchen als leistungsbereiter, während „die ausgeprägte Distanzierung im Sinne von ‚frechem’ und ‚faulem’ Schülerverhalten bei Jungen klarer ausgeprägt ist als bei Mädchen“ (Fend 1997: 178). Ein ebenso mit der Lernmotivation verknüpfter Bestimmungsfaktor des geringeren Schulerfolgs von Jungen wird in einer erhöhten Mediennutzung (Fernsehen, Computerspiele) gesehen, was eine Ablenkung von schulerfolgsfördernden Verhaltensweisen wie Lesen oder der Bearbeitung von Hausaufgaben bedeutet. So kommt es durch extensive Mediennutzung u.a. „zu einer zeitlichen Verdrängung von außerschulischen Lernaktivitäten und […] zu einem eingeschränkten Freizeitverhalten mit einer Einschränkung alltäglicher Lernprozesse und sozialer Kommunikationserfahrungen“ (Mößle et al. 2007: 129). Insbesondere bei Jungen aus bildungsfernen Sozialschichten, denen alternative Freizeitangebote fehlen, trägt dies zum geringen Schulerfolg bei (Mößle et al. 2006; Budde 2008). Einen weiteren Faktor, der eng mit der Motivation zusammenhängt, stellt die geschlechtsdifferentielle Schulentfremdung dar. Im Anschluss an klassische Konzepte von Marx oder Durkheim wird Entfremdung auf der individuellen Ebene als ein Defizit an sozialer Bindung, Identifikation und Beteiligung im Hinblick auf Schule und Lernen definiert (Hascher und Hagenauer 2009; vgl. auch Dean 1961), das zu einer schrittweisen emotionalen Abkopplung von akademischen Zielen und Werten führt (Finn 1989: 123).
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Hinsichtlich der Ursachen von Schulentfremdung kommt Geschlecht und sozialer Herkunft eine besondere Rolle zu. Kinder aus bildungsfernen Herkunftsschichten erweisen sich in empirischen Untersuchungen als stark schulentfremdet (z.B. Murdock 1999). So weist bereits Willis (1979) in seinen qualitativen Studien auf eine tief in der Arbeiterklasse verwurzelte Schulentfremdung hin. Kulturelle Praxen der Arbeiterkultur werden von Jugendlichen in ihrem Widerstand gegen die Schule reproduziert. Für Deutschland findet Fend (1989), dass sich Hauptschüler als besonders schulentfremdet erweisen. Der Geschlechterunterschied in der Schulentfremdung zeigt sich in empirischen Studien dahingehend, dass Jungen stärker schulentfremdet sind als Mädchen (Hendrix et al. 1990). Diese Ergebnisse finden auch Hascher und Hagenauer (2009) – die Schulentfremdung der Jungen geht dabei mit einer stärkeren Freizeitorientierung einher. Als Erklärung wird die „Stage-Environment-FitTheory“ von Eccles and Midgley (1989) herangezogen: Aus Perspektive dieser Theorie werden die Bedürfnisse von Mädchen in der Schule offenbar besser erfüllt und sie können sich besser an die Schulerfordernisse anpassen. Außerdem weisen Mädchen eine stärker intrinsische Motivation auf als Jungen, während Jungen, insbesondere wenn sie traditionellen Geschlechterrollen anhängen, eine eher extrinsische Motivationsstruktur zeigen (vgl. Kampshoff 2007). Folgen der Schulentfremdung auf der Verhaltensebene sind mangelnde Mitarbeit und Disziplinprobleme (Murdock 1999). Wesentlicher Mechanismus ist dabei ein emotionaler und physischer Rückzug aus der Schule. Jugendliche, die sich nicht mit der Schule identifizieren, beteiligen sich weniger an schulbezogenen Aktivitäten; bei Rückschlägen fehlt ihnen eine positive Identifikation mit der Schule, um diese zu kompensieren (Finn 1989: 133; vgl. auch Hascher und Hagenauer 2009). Geschlechterrollen. Einen weiteren Ursachenkomplex für den Geschlechterunterschied im Schulerfolg bilden die Vorstellungen zu Weiblichkeit und Männlichkeit von Schülerinnen und Schülern. Es kann angenommen werden, dass insbesondere Jungen, die traditionellen Geschlechterrollenvorstellungen anhängen, einen geringern Schulerfolg haben. Traditionelle Männlichkeitsbilder, die das Vorbild des männlichen dominanten „Draufgängers“ und „Abenteurers“ sowie eine damit einhergehende Abwertung von Weiblichkeit beinhalten, motivieren nicht zu schulerfolgsbezogenen Handlungen und fördern für die Schule ungünstigere Verhaltensweisen, die auch dementsprechend sanktioniert werden (Cornelißen et al. 2002: 229). Nach britischen Befunden von Phoenix und Frosh (2005) sehen gerade Jungen mit stereotypen Vorstellungen von Männlichkeit gute Leistungen in der Schule als weiblich an und bewerten Schulerfolg entsprechend negativ. Solche traditionellen Männlichkeitsnormen werden sowohl durch die Herkunftsfamilie sozialisiert, als auch durch ge-
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schlechterhomogene Peerumwelten gestützt (Budde 2008). Die traditionellen Geschlechterrollen werden als Auslöser für die geringere intrinsische Motivation, das geringere Fachinteresse und andere dem Schulerfolg entgegenwirkende Verhaltensweisen (Devianz, weniger kooperative Lernformen, Anstrengungsvermeidung) gesehen. Da Schule innerhalb der männlichen Peer-Bezugsgruppen als tendenziell „weiblich“ und „uncool“ angesehen wird, versuchen Jungen durch spezifische Verhaltensweisen Schuldistanz zu propagieren, was, teilweise auch bewusst, den Schulerfolg entsprechend mindert. Bezüglich des Zusammenhangs von Geschlechterrollen und Interessen kann vermutet werden, dass Jungen mit traditionellen Geschlechterrollen, sich intrinsisch stärker für Mathematik und Sport interessieren, während Jungen mit egalitären Geschlechterrollen ein breiteres Interessenspektrum, das auch sprachliche Fächer umfasst, haben und daher letztlich in der Summe weniger schulentfremdet sein sollten. Die Rolle der Peers. Die Freundesgruppe hat einen starken Einfluss auf den Schulerfolg ihrer einzelnen Mitglieder. Eine Peergruppe kann der Schule und dem Lernen positiv oder negativ gegenüberstehen und die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Schule entsprechend prägen. Die Schulnähe oder Schulentfremdung einer Peergruppe ist als schultyp-, herkunftsund geschlechtsspezifisch anzunehmen. Die Idee dahinter ist, dass ein soziales Umfeld, welches Schulbildung unterstützt, wesentlich zum Erfolg in der Schule beiträgt und dass ein Freundeskreis, welcher eine positive Einstellung gegenüber Schule hat, ein soziales Kapital darstellt, welches sich positiv auf das Engagement für die Schule auswirkt (vgl. Hadjar und Lupatsch 2010). So arbeitet Fend (1989) im Rahmen einer groß angelegten Untersuchung in Hessen und Nordrhein-Westfalen heraus, dass verschiedene Schultypen durch unterschiedliche informelle Peerklimata hinsichtlich Einstellungen gegenüber Schule und Lernen gekennzeichnet sind. Hauptschüler erweisen sich dabei eher als entfremdet gegenüber der Schule als andere. Die Bedeutung der Männlichkeitsvorstellungen der Peergruppe hebt Budde (2008: 39) besonders hervor: Jungen nutzen die Schule als sozialen Raum zur Aufführung von Männlichkeit, wobei die geschlechtshomogene Peergruppe eine wichtige Zielgruppe dieser Inszenierungen darstellt. Die Problematik dieser Männlichkeitsentwürfe liegt eben in dem Widerspruch zwischen Männlichkeit und Schule. Pelkner et al. 2002 (siehe auch Boehnke et al. 2004), konnten dazu zeigen, dass die Sorge um negative Peer-Sanktionen – die Angst, von Peers als Streber und „uncool“ stigmatisiert zu werden – dazu führen kann, dass leistungsbezogenes Verhalten unterdrückt wird (auch bei Mädchen). Auch frühere Befunde von Juvonen und Murdock (1995) zeigen, dass Schülerinnen und Schüler der 8.
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Klasse im Unterschied zu Jüngeren eher weniger über ihr schulisches Leistungsverhalten und gute Schulleistungen sprechen, um nicht in der Popularität bei Gleichaltrigen zu sinken. Auf ein negatives Verhältnis zwischen Schulleistung und Peer-Akzeptanz weisen zudem Ergebnisse von Coleman und Cross (1988) zur sozialen Stigmatisierung von Hochbegabten hin. Schuldevianz. Die Begriffe „Devianz“ oder auch „abweichendes Verhalten“ sind zentral, wenn es um die Analyse von problematischem Schülerverhalten geht. Mit abweichendem Verhalten ist ganz allgemein ein Normenverstoß auf der Verhaltensebene gemeint (vgl. Tillman et al. 1999). Schon früh wurde gezeigt, dass die Schule eine Institution ist, die das Verhalten der Schüler und Schülerinnen in hohem Maße normiert (Holtappels 1987, 1995). Schülerinnen und Schüler bewegen sich in der Schule ständig zwischen Normalität und Abweichung (Tillmann 1997). Sie entwickeln situationsspezifische Strategien, wie z.B. Hausaufgaben abschreiben, um sich das Leben in der Schule zu erleichtern. Ein Teil dieses schuldevianten Verhaltens lässt sich als „Gewalt“ kennzeichnen (z.B. Schuleinrichtung beschädigen), andere abweichende Verhaltensformen nicht (z.B. Mogeln, Schwänzen). Schuldevianz kann eine Entsprechung schulentfremdeter Einstellungen auf der Verhaltensebene sein: So ist anzunehmen, dass vor allem schulentfremdete Jungen häufiger deviante Verhaltensweisen zeigen, die den schulischen Alltag stören und bei den Lehrpersonen zu einer stärkeren Sanktionierung führen. Nach Hannover (2004: 88) hängt der geringere Schulerfolg von Jungen damit zusammen, „dass sie relativ zu Mädchen […] geringere soziale Kompetenzen mitbringen, sich sozial weniger angepasst verhalten und eher dazu neigen, auf Konflikte und Frustrationen im Schulalltag mit Aggressivität zu reagieren.“ Als Erklärungsansatz für den Geschlechterunterschied in der Schuldevianz kann die Macht-Kontroll-Theorie (Hagan et al. 1979) herangezogen werden, nach der differentielle Erziehungspraxen (Kontrollverhalten) und ein daraus resultierendes geschlechtsspezifisches Risikoverhalten den Geschlechterunterschied in der Devianz bestimmen. Jungen werden offenbar zu Dominanz erzogen, Mädchen zur Unterordnung. Das Ausmaß an Geschlechtsspezifizität der Erziehungsstile hängt wiederum von der sozialstrukturellen Verortung der Herkunftsfamilie und der ideologischen und strukturellen Patriarchalität der Familie ab (vgl. Hadjar et al. 2003, 2007). In ihrer Untersuchung finden Tillmann et al. (1997), dass Unterschiede im devianten Verhalten zwischen Jungen und Mädchen zwar vorhanden sind, jedoch viel weniger ausgeprägt, als bei physischen Gewalthandlungen. 40 Prozent der Mädchen und 43 Prozent der Jungen haben im vergangenen Schuljahr erheblich in Klassenarbeiten gemogelt, 20 Prozent der Mädchen und 24 Prozent der Jungen haben im gleichen Zeitraum die Schule geschwänzt. Bei offensive-
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ren Handlungen wie absichtlichem Unterrichtsstören findet sich jedoch ein ausgeprägteres Gender-Gap: Während 63 Prozent der Jungen angaben, schon einmal den Unterricht gestört zu haben, sind dies bei den Mädchen nur 44 Prozent. Insgesamt finden die Autoren zusätzlich zu den Geschlechtsunterschieden, dass deviantes Verhalten mit dem Alter der Schülerinnen und Schüler zunimmt. Die Rolle der Lehrperson. Ein oft mit dem geringeren Schulerfolg von Jungen in Zusammenhang gebrachter Faktor sind die Anteile von Lehrerinnen und Lehrern an Schulen. Laut Statistischem Bundesamt Deutschland (2009) waren im Schuljahr 2008/2009 69,6 Prozent der Lehrkräfte weiblich. Der höchste Frauenanteil findet sich bei den Grundschullehrkräften (87,7 Prozent). An deutschen Hauptschulen unterrichteten 59,7 Prozent Frauen, an Realschulen 64 Prozent und an Gymnasien 54,3 Prozent. Für die Schweiz zeigen amtliche Daten, dass im Schuljahr 2006/2007 insgesamt 62,2 Prozent der Lehrpersonen weiblich waren (Bundesamt für Statistik Schweiz 2008, eigene Berechnungen). Auf der Primarstufe unterrichteten 79,1 Prozent Frauen, auf der Sekundarstufe I 50,4 Prozent und auf der Sekundarstufe II 41,4 Prozent. Erste Hinweise auf einen möglichen Einfluss der Lehrpersonen auf den geschlechterdifferentiellen Schulerfolg in Deutschland lieferten Diefenbach und Klein (2002). Auf Basis makrosoziologischer Auswertungen zeigten sie, dass die Überrepräsentation von Jungen in der Hauptschule in Deutschland – und damit ihr geringerer Schulerfolg – auf der Aggregatebene mit einem geringen Anteil männlicher Grundschullehrpersonen einhergeht. Ihre Thesen sind, dass weibliche Lehrpersonen einen Nachteil für Schüler darstellen könnten, „der sich z.B. in der Leistungsmotivation, der Leistungsfähigkeit oder der Bildungsempfehlung für eine weiterführende Schulart niederschlägt“ (Diefenbach und Klein 2002: 949), da sie unbewusst Jungen anders als Mädchen behandeln und das Jungen-Verhalten im Hinblick auf ihre eigenen weiblichen Sozialisationserfahrungen „anders, d.h. strenger“, interpretieren und bewerten. 1 Andere empirische Befunde sprechen jedoch gegen die Verbindung zwischen weiblichen Lehrpersonen und dem Bildungsmisserfolg der Jungen. In ihrer empirischen Studie zur geschlechtsspezifischen Bildungswahl in Österreich zeigen Bacher et al. (2008: 147), dass der Anteil männlicher Lehrkräfte keinen Effekt für den höheren Anteil der Jungen in niedrigeren Schullaufbahnen 1
Diefenbach und Klein (2002) weisen zudem auf einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Bildungsungleichheiten zu Ungunsten der Jungen hin. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und einer höheren Wahrscheinlichkeit der Jungen, die Schule nur mit einem niedrigen Abschluss (Hauptschulabschluss) zu verlassen, wird dabei so interpretiert, dass bei einer problematischen wirtschaftlichen Lage, die sich auch ausdrückt in einer Knappheit an Arbeitsplätzen, Jungen von den Herkunftsfamilien gedrängt werden, schneller in den Arbeitsmarkt einzusteigen und zum Familieneinkommen beizutragen.
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hat und führen die Befunde von Diefenbach und Klein (2002) vor allem auf OstWest-Unterschiede in Deutschland zurück – insbesondere auf das spezifische ostdeutsche Bildungssystem mit Prägungen aus der DDR-Zeit, die hohe Lehrerinnen-Quote sowie den hohen Frauenanteil in weiterführenden Bildungsgängen. Neugebauer et al. (2010) finden in ihren Berechnungen mit Daten der IGLU-E/PIRLS Studien keinen signifikanten Effekt der Geschlechtszugehörigkeit der Lehrperson auf die Testleistungen als auch auf die Noten der Schülerinnen und Schüler. Ebenso fanden sich im Rahmen einer Breitenuntersuchung von Driessen (2007) in holländischen Primarschulen keine signifikanten Effekte des Geschlechts der Lehrperson auf Leistung, Einstellung und Verhalten der Schülerinnen und Schüler. Hinsichtlich der Schulnoten weist Krieg (2005) zwar einen Effekt für das Geschlecht der Lehrperson nach: Sowohl Schülerinnen als auch Schüler erhielten bei Lehrern schlechtere Bewertungen als bei Lehrerinnen. Schließlich werden auch Vergleiche zwischen Kompetenzen und Noten zum Beleg einer möglichen Benachteiligung der Jungen von Seiten der Lehrpersonen herangezogen. Blossfeld et al. (2009) berechneten anhand von PISADaten die Unterschiede zwischen Kompetenz und Zensur. Es zeigt sich dabei, dass bei gleicher Schulnote in Deutsch Jungen weniger Kompetenzpunkte aufweisen als Mädchen. Die Differenz beträgt rund 20 Punkte. In Mathematik wiederum findet sich ein umgekehrtes Bild. Hier erreichen Mädchen bei gleicher Schulnote geringere Kompetenzpunkte (zwischen 33 und 20 Punkte). Blossfeld et al. interpretieren dies so, dass Jungen in Deutsch und Mädchen in Mathematik gemessen an ihren Kompetenzen jeweils „milder“ benotet werden. Insgesamt scheinen die Noten im Mittel ausgeglichen, daher sehen sie keine benachteiligende Zensurengebung für Jungen oder für Mädchen. Des Weiteren erscheint plausibel, dass der Schulerfolg von Jungen und Mädchen von der Unterstützung durch die Lehrperson abhängig ist. Die Unterstützung durch Lehrpersonen ist als soziales Kapital (Bourdieu 1983) zu verstehen, welches den Schülerinnen und Schülern in der Schule angeboten wird. In einem schulisches Umfeld, in dem sich niemand für die Belange der Schülerinnen und Schüler interessiert, ist kein soziales Kapital vorhanden, welches für die Schulerfolge der Kinder und deren Entwicklung unabdingbar ist. Den höchsten Grad an Unterstützung bedeutet demnach ein autoritativer Erziehungs- bzw. Unterrichtsstil (Baumrind 1991), der sich durch einen hohen Grad an Kontrolle sowie einen ebenso hohen Grad an Akzeptanz durch die Erziehenden auszeichnet. Dieser Stil soll sich besonders positiv auf die Entwicklung von Kompetenzen auswirken.
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3 Untersuchung 3.1 Fragestellungen und Analysestrategie In der folgenden Analyse sollen die spezifischen Effekte der im Theorieteil dargestellten Einflussfaktoren auf den Schulerfolg von Jungen und Mädchen untersucht werden. Dabei werden zunächst die Geschlechterunterschiede in diesen einzelnen Faktoren aufgezeigt. Das Kernstück der Untersuchung bilden Strukturgleichungsmodelle, in denen auch die Interdependenzen zwischen den verschiedenen Erklärungsfaktoren analysiert werden. Im Anschluss werden Mehrebenenmodelle mit den spezifischen Einflussfaktoren geschätzt, um der hierarchischen Qualität der Daten gerecht zu werden. Für die Geschlechterunterschiede in den Erklärungsfaktoren des Schulerfolgs erwarten wir folgende Effekte: Entsprechend den in der Literatur beschriebenen Differenzen wird erwartet, dass Jungen schlechtere Schulnoten haben, stärker schulentfremdet sind und in größerem Ausmaß traditionellen Geschlechterrollen anhängen als Mädchen. Die Einstellungen der Peers sollten bei den Jungen stärker schulentfremdet sein als bei den Mädchen. Jungen sollten ein höheres Ausmaß an deviantem Verhalten aufweisen. Die Noten von Schülerinnen und Schülern sollten sich nicht nach dem Geschlecht der Lehrperson unterscheiden. Der Zusammenhang zwischen den besprochenen Einzelfaktoren wird zwar in der Literatur plausibel beschrieben, jedoch selten empirisch getestet. So bleibt oft unklar, welche Faktoren einen direkten oder einen indirekten Einfluss auf den Schulerfolg haben und zwischen welchen Faktoren starke oder schwache Korrelationen bestehen. Im Rahmen eines hypothetischen Szenarios sollen deshalb für die Strukturgleichungsmodelle Orientierungsthesen formuliert werden. Es wird angenommen, dass der Schulerfolg durch eine höhere Schulentfremdung, traditionelle Geschlechterrollenvorstellungen, eine negative Einstellung der Peergruppe sowie ein höheres Ausmaß an Schuldevianz reduziert wird. Zudem wird von der Schichtspezifizität des Schulerfolgs ausgegangen – für Kinder aus bildungsfernen Schichten wird ein entsprechend geringerer Schulerfolg erwartet. Auch sollte sich ein Mangel an autoritativer Unterstützung von Seiten der Lehrpersonen negativ auf den Schulerfolg auswirken. Schulentfremdung als einer der im Zentrum der Analysen stehenden Faktoren sollte begünstigt sein von einer negativen Peereinstellung zur Schule sowie einem Mangel an autoritativer Unterstützung durch Lehrpersonen. Gleichermaßen erscheint ein Zusammenhang zwischen traditionellen Geschlechterrollenvorstellungen und höherer Schulentfremdung als plausibel. Schulentfremdung und traditionelle Geschlechterrollen sind bei Schülerinnen und Schülern aus
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bildungsfernen Elternhäusern (Schichtzugehörigkeit) vermutlich stärker ausgeprägt. Schulentfremdete Lernende und Schülerinnen und Schüler mit eher traditionellen Geschlechterrollenvorstellungen verhalten sich zudem vermutlich devianter in der Schule als andere. Nicht immer sind alle diese Effekte für Mädchen und Jungen gleichermaßen anzunehmen. So ist zu fragen, ob Mädchen, die traditionellen Geschlechterrollen anhängen, ebenfalls schlechtere Leistungen aufweisen oder ob sich keine Leistungsunterschiede zwischen traditionell und egalitär orientierten Mädchen finden. Aus theoretischer Sicht sind beide Thesen vertretbar, da einerseits angenommen werden kann, dass für traditionell orientierte Mädchen Schulerfolg nicht wichtig ist, weil sie in ihrer zukünftigen Rolle als Hausfrau und Mutter nicht auf eine gute Schulbildung angewiesen sind, andererseits kann argumentiert werden, dass traditionelle Mädchen besonders fleißig und pflichtbewusst sind und daher viel für die Schule lernen.
3.2 Datenbasis und Stichprobe Die Analysen zum geschlechtsspezifischen Schulerfolg erfolgen im Rahmen eines Kooperationsprojekts der Pädagogischen Hochschule Bern und der Abteilung Bildungssoziologie der Universität Bern (Schweiz) zum Thema „Zusammenhänge zwischen Geschlechterbildern und Leistungsunterschieden von Schülern im Vergleich zu Schülerinnen“, (2008-2010). Dieses Projekt zeichnet sich durch einen Methoden-Mix aus (Fragebogenstudie mit Schülerinnen und Schülern, Gruppendiskussionen mit Mädchen- und Jungengruppen, Videographie von Unterrichtseinheiten). Grundlage der folgenden Analysen ist der quantitative Projektteil – eine Befragung von 872 Berner Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse. Für die Schülerinnen- und Schülerstichprobe wurden 19 Schulen zufällig auf Basis einer Schulliste aller öffentlichen und teil-privaten Schulen im Kanton Bern, an denen 8. Klassen unterrichtet werden, gezogen. Da die Anzahl der Schülerinnen und Schüler je Schule und insbesondere nach Regionen (ländlich versus urban) stark variierte und die Heterogenität der kantonalen Schulen berücksichtigt werden sollte, wurde ein geschichtetes Zufallsverfahren zur Auswahl der Schulen herangezogen.2 Dabei wurden in den selektierten Schulen alle Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse schriftlich befragt (Klumpenstichprobe). Insgesamt konnten so Daten von 49 Klassen (872 Schülerinnen und Schüler)
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Die Schulen der Liste wurden dazu vor der Ziehung der Größe nach geordnet.
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erhoben werden. Teilnahmeverweigerungen lagen unter 0,5 Prozent, krankheitsbedingte Ausfälle unter 10 Prozent. Das Schulsystem im Kanton Bern teilt die Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse in drei verschiedene Schulzüge auf: Das niedrigste Niveau (RealNiveau) enthält nur Grundansprüche. Das mittlere Niveau, welches die meisten Schülerinnen und Schüler besuchen, ist das Sekundarniveau mit erweiterten Ansprüchen. Schließlich gibt es noch einen dritten Zug, der sich SpezialSekundar nennt, welcher das höchste Niveau aufweist. Da das Gymnasium im Kanton Bern erst mit der 9. Klassenstufe beginnt, dient das Spezial-SekundarNiveau der gymnasialen Vorbereitung. Prinzipiell ist aber auch ein Wechsel vom Sekundar-Niveau auf das Gymnasium möglich. In unserer Stichprobe sind 34,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler auf dem Real-Niveau, 49,9 Prozent auf dem Sekundar-Niveau und 15,6 Prozent besuchen Spezial-Sekundar-Klassen. Es nahmen 51,1 Prozent Mädchen und entsprechend 48,9 Prozent Jungen an der Umfrage teil (Durchschnittsalter: 14,9 Jahre).
3.3 Messinstrumente Schulerfolg als abhängige Variable wird durch einen Mittelwertindex aller erfassten Schulnoten gemessen. 3 Als Selektionsinstrument sind Schulnoten relevant für den weiteren Bildungsweg, Schulstufenwechsel und schließlich auch für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.4 Aus subjektiver Sicht der Schülerinnen und Schüler bilden Schulnoten wesentliche motivations- und verhaltensrelevante Orientierungspunkte. Wenngleich Schulnoten auch mit vergleichender Leistungstests (z.B. PISA) und kognitiven Fähigkeiten konfundiert sind, indizieren sie in erster Linie Erfolg im Sinne von Mannheim (1964 >1930@). In Anlehnung an seine Unterscheidung zwischen Leistung und Erfolg, stellt Erfolg eine – durch die Lehrperson – anerkannte Leistung dar: Erfolg kann durch Leistung legitimiert werden, bedarf aber nicht unbedingt einer Leistung (Neckel 2001). Diese Unterscheidung berücksichtigend, wird die Terminologie „Schulerfolg“ im Rahmen der Analysen auf die abhängige Variable der Schulnoten angewendet, da weder objektive Leistungen, noch ein erfolgreicher Bildungsabschluss erfasst werden. 3
Folgende Noten wurden erfasst: Die drei Hauptfächer im Kanton Bern Deutsch, Französisch, Mathematik und die Nebenfächer Englisch, Natur (Biologie), Kultur (Geschichte), Musik. 4 Im Kanton Bern sind die Schulnoten der 8. Klasse von besonderer Bedeutung, da an Hand dieser entschieden wird, ob die betreffende Schülerin/der betreffende Schüler auf eine weiterführende Schule (Gymnasium) gehen darf.
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Die Schulnoten entstammen den Notenlisten der Lehrpersonen. Dazu wurde das Geschlecht der notengebenden Lehrperson erfragt, die das jeweilige Fach in der Klasse zum Untersuchungszeitpunkt unterrichtete. Es wurde ein Codierungssystem verwendet, um die Noten anonym dem jeweiligen Fragebogen zuordnen zu können. Im Rahmen unserer Analysen wird das Konzept der Schulentfremdung stark motivations- und interessentheoretisch gedeutet. Um die Schulentfremdung zu erfassen, wurde ein Konstrukt entwickelt, das aus drei Dimensionen besteht (Cronbachs α = .66). Zu diesen Dimensionen gehören „negative Einstellung zur Schule“ (Faktorladung: .704), mangelnde „Aufgabenorientierung“ (Faktorladung: .796), d.h. inwieweit sich der Schüler/die Schülerin mit Lerninhalten auseinandersetzen möchte, sowie mangelnde „intrinsische Lernmotivation“ (.830). Beispielitems sind etwa „Die Schule ist reine Zeitverschwendung“ (negative Einstellung zur Schule), „Ich fühle mich in der Schule wirklich zufrieden, wenn mich das Gelernte dazu bringt, mehr über das Thema zu erfahren zu wollen“ (mangelnde Aufgabenorientierung, umkodiert) und „Ich lerne, weil mir das Lernen Spaß macht“ (intrinsische Lernmotivation, umkodiert). Die Geschlechterrollenorientierung, d.h. inwieweit die Schülerinnen und Schüler traditionellen Geschlechterbildern anhängen, wurde mit sieben Items (Cronbachs α = .85) gemessen; z.B. „Es ist für eine Frau wichtiger, ihrem Mann bei der Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen“ oder „In einer Gruppe mit weiblichen und männlichen Mitgliedern sollte ein Mann die Führungsposition innehaben.“ Die verwendeten Items entstammen Skalen zu Geschlechterrollen von Athenstaedt (2000), Krampen (1979) und Brogan und Kunter (1976) und beinhalten sowohl Überzeugungen als auch Bewertungen. Die Einstellung der Peergruppe zur Schule wurde mit einer Skala erfasst, die sich auf eine positive Schuleinstellung der Peers bezieht. Diese Skala besteht aus vier Items, z.B. „Meine Freunde finden es gut, wenn man für die Schule lernt“ und „Meine Freude finden es gut, wenn man mit den Lehrerinnen und Lehrern gut auskommt“ (Cronbachs α = .77) (vgl. Hadjar und Baier 2004). Zur Messung der Schuldevianz wurde eine Skala herangezogen, welche aus sechs Items besteht, bei der die Schülerinnen und Schüler angeben sollten, wie oft sie die aufgelisteten Verhaltenweisen ausüben; z.B. „Lehrpersonen absichtlich ärgern oder „Mich mit anderen prügeln“ (α= .82). Zur bereits erwähnten Erfassung des Geschlechts der einzelnen FachLehrpersonen und ihrer Notengebung wurde auch erhoben, wie die Schülerinnen und Schüler das Verhältnis zu den Lehrpersonen an ihrer Schule empfinden. Die entsprechende Skala bezieht sich auf eine autoritative Unterstützung der Lehrpersonen und wurde über einen Index aus fünf Items gebildet (α = .80). Ein
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Beispielitem lautet „Wenn ich zusätzlich Hilfe brauche bekomme ich sie von meinen Lehrern/Lehrerinnen.“ (vgl. Kunter et al. 2002). Zusätzlich wurde noch die soziale Herkunft als Kontrollvariable einerseits über das höchste Bildungsniveau der Eltern, andererseits über „bildungsnahe Aktivitäten“ im Elternhaus erfasst. Es ist anzunehmen, dass der Schulerfolg der Jungen und Mädchen gleichermaßen von der sozialen Herkunft der Eltern abhängig ist, und dass unsere Erklärungsfaktoren mit der sozialen Herkunftsschicht assoziiert sind. Als soziale Mechanismen hinter den Herkunftseffekten sind primäre Herkunftseffekte und sekundäre Herkunftseffekte (Boudon 1974) zu nennen. Als primäre Effekte werden schichtspezifische Ressourcen und Defizite bezeichnet, welche für die unterschiedlichen Schulleistungen verantwortlich sind. Als sekundäre Effekte bezeichnet Boudon die Effekte, welche sich aus schichtspezifischen Bildungsentscheidungen (in diesem Fall der Eltern) ergeben. Eltern aus höheren Schichten sind demnach mehr an höheren Bildungszertifikaten ihrer Kinder interessiert als Eltern aus niederen Schichten, welche den Nutzen hoher Bildungszertifikate – insbesondere bezüglich des Statuserhalts – nicht so hoch einschätzen. Im Hinblick auf die Erfolgserwartung im Schulsystem, trauen Eltern aus niederen Schichten ihren Kindern weniger zu, was ebenfalls die Entscheidung bezüglich der Schullaufbahn beeinflusst (vgl. auch Becker 2003). Das höchste Bildungsniveau der Eltern, was der institutionalisierten Form der kulturellen Ressourcen (Bourdieu 1983) entspricht, soll wegen der starken Assoziation mit Schichtzugehörigkeit und Lebenschancen hier als sozioökonomische Variable gedeutet werden. Die Schülerinnen und Schüler hatten im Rahmen der Befragung das Bildungsniveau für Mutter und Vater anzugeben, da eine genauere Spezifizierung des Sozialstatus, etwa der Klassenlage, auf Basis der Schülerinnen- und Schülerinformationen als wenig valide anzusehen ist. Für die Variable „Bildungsniveau der Eltern“ wurde diese Variable in Bildungsjahre umgerechnet (siehe dazu Jann 2003) und nur der höchste Bildungsabschluss, den einer der beiden Elternteile erworben hat, verwendet. Die sogenannten „bildungsnahen Aktivitäten“ des Elternhauses können als inkorporiertes kulturelles Kapital (Bourdieu 1983) d.h., als kulturelle Orientierungen (Grundmann 2001) aufgefasst werden. Der hier verwendete Summenindex enthält drei Items, welche die Häufigkeit der Diskussionen über politische und soziale Fragen, die Häufigkeit der Diskussionen über Bücher, Filme und Fernsehsendungen als auch die Häufigkeit der Rezeption klassischer Musik erfasst (vgl. dazu auch Kunter et al. 2002).
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4 Ergebnisse 4.1 Deskriptive Ergebnisse Tabelle 1 zeigt die Unterschiede in den verwendeten schulerfolgsrelevanten Variablen zwischen Jungen und Mädchen. Die größten Unterschiede bestehen dabei bei der Schulentfremdung, der positiven Schuleinstellung der Peers und bei den traditionellen Geschlechterrollen. Mädchen berichten im Mittel von einer positiveren Schuleinstellung ihrer Peers als Jungen und sind insgesamt weniger schulentfremdet. Auch haben Jungen durchschnittlich eine stärkere Ausprägung bei traditionellen Geschlechterrollen als Mädchen. Tabelle 1: Geschlechterunterschiede in schulerfolgsrelevanten Variablen Variable
Mittelwert Jungen (Standardabweichung) 3,85 (0,70)
Mittelwert Mädchen (Standardabweichung) 3,86 (0,65)
Unterschied Mittelwerte (Signifikanz)
Autoritative Unterstützung durch die Lehrperson Positive Schuleinstellung der 3,04 (0,72) 3,33 (0,68) *** Peergruppe Schulentfremdung 2,59 (0,56) 2,45 (0,61) *** Devianz 2,00 (0,73) 1,58 (0,52) *** Traditionelle 2,92 (0,83) 2,18 (0,78) *** Geschlechterrollenvorstellungen Signifikanz: * p <.05; ** p <.01; *** p <.001 Anmerkung: Alle Skalen von 1 (stimmt gar nicht) bis 5 (stimmt völlig) Datenquelle: Schülerinnen- und Schülerstichprobe 2009, PH Bern/Universität Bern (N = 872)
In Tabelle 2 sind die durchschnittlichen Schulnoten der Mädchen und Jungen aufgeschlüsselt nach dem Schulniveau dargestellt. Mädchen haben dabei im Durchschnitt in allen drei Schulniveaus signifikant bessere Noten als Jungen. Tabelle 2: Schulnoten nach Geschlecht und Schulniveau Mittelwert Mittelwert Unterschied Mittelwerte Jungen Mädchen (Standardabweichung) (Standardabweichung) (Signifikanz) Real 4,50 (0,40) 4,64 (0,41) ** Sekundar 4,65 (0,40) 4,78 (0,37) *** Spezial-Sekundar 4,71 (0,39) 4,87 (0,41) * Signifikanz: * p <.05; ** p <.01; *** p <.001 Anmerkung: In der Schweiz stellt die 6 die beste, die 1 die schlechteste Note dar. Datenquelle: Schülerinnen- und Schülerstichprobe 2009, PH Bern/Universität Bern (N = 872)
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In Tabelle 3 sind die Schulnoten der Mädchen und Jungen nach den jeweiligen Schulfächern und dem Geschlecht der unterrichtenden Lehrperson aufgezeigt. Dabei ergeben sich für unsere Stichprobe folgende signifikante Unterschiede nach dem Geschlecht der unterrichtenden Lehrperson: In Französisch haben sowohl Jungen als auch Mädchen schlechtere Noten bei Lehrerinnen als bei Lehrern. In Englisch haben Jungen bessere Noten bei Lehrerinnen als bei Lehrern. Weitere Unterschiede finden sich beim Musikunterricht. Hier haben sowohl Jungen als auch Mädchen bei Lehrern bessere Noten als bei Lehrerinnen. In Mathematik haben Jungen bessere Noten bei Lehrern als bei Lehrerinnen, zumindest noch auf dem 10-Prozent Niveau. Alle weiteren Unterschiede sind auf den gängigen Signifikanzniveaus nicht statistisch bedeutsam. Tabelle 3: Notenunterschiede nach Geschlecht des Schülers/der Schülerin und dem Geschlecht der Fach-Lehrperson
Deutsch
Mathematik
Französisch
Englisch
Natur
Kultur
Musik
Lehrer
Lehrerin
Jungen
4.59
4.60
Unterschied
Mädchen
4.79
4.80
Jungen
4.59
4.46
Mädchen
4.56
4.57
Jungen
4.53
4.39
*
Mädchen
4.74
4.61
*
Jungen
4.50
4.65
*
Mädchen
4.76
4.83
Jungen
4.65
4.52
Mädchen
4.67
4.58
Jungen
4.66
4.62
Mädchen
4.63
4.70
Jungen
4.84
4.67
+
*
5.24 5.08 * Mädchen Signifikanz: + p < .10; * p <.05; ** p <.01; *** p <.001 Anmerkung: In der Schweiz stellt die 6 die beste, die 1 die schlechteste Note dar. Datenquelle: Schülerinnen- und Schülerstichprobe 2009, PH Bern/Universität Bern (N = 872)
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4.2 Stukturgleichungsmodelle Das Geflecht aus direkten und indirekten Effekten der betrachteten Erklärungsfaktoren auf den Schulerfolg wird nun anhand von Strukturgleichungsmodellen – für Mädchen und Jungen getrennt – untersucht. Diese wurden mittels AMOS auf Basis einer Korrelationsmatrix (Maximum-Likelihood-Methode) geschätzt, die Koeffizienten sind mit den standardisierten Koeffizienten einer OLSRegression vergleichbar und auch so zu deuten. Die Anpassungsgüte des hypothetischen Modells an die Daten ist als gut einzuschätzen, denn keiner der 'Cutoff'-Werte der so genannten Goodness of Fit-Indices wird unter- bzw. überschritten und auch der F2-Anpassungstest weist darauf hin, dass sich hypothetisches und empirisches Modell nicht signifikant voneinander unterscheiden (vgl. hierzu Hu und Bentler 1999). Durch die verschiedenen Erklärungsvariablen werden 15 Prozent der Variation des Schulerfolgs der Jungen und 12 Prozent der Variation des Schulerfolgs der Mädchen erklärt. Somit beinhaltet das Modell nur einen – im Hinblick auf den Fokus der Analysen – selektiven Teil der Bestimmungsfaktoren des Schulerfolgs. Zu beachten ist, dass die Modelle auf Querschnittsdaten basieren und daher nur in Anlehnung an die theoretischen Vorüberlegungen kausal interpretierbar sind. Die nach dem Strukturgleichungsansatz gewonnenen Ergebnisse sind in Abbildung 1 dargestellt: Den höchsten Erklärwert für den Schulerfolg bei Schülern und Schülerinnen hat die motivationale Variable der Schulentfremdung: Je größer die Schulentfremdung ist, desto geringer ist der Schulerfolg. Geschlechterrollenvorstellungen haben ebenso bei Jungen und bei Mädchen einen signifikanten Einfluss auf den Schulerfolg: Traditionelle Geschlechterrollen gehen mit schlechteren Schulnoten einher. Während traditionelle Geschlechterrollen bei Mädchen nach sozialer Herkunft variieren – sie sind bei Schülerinnen aus bildungsfernen Familien stärker ausgeprägt – sind diese bei Jungen nicht signifikant herkunftsspezifisch. Die Schuldevianz, d.h. störende Aktivitäten, hat nur bei Jungen eine signifikante Wirkung auf den Schulerfolg, während bei Mädchen abweichendes Verhalten nicht statistisch bedeutsam mit geringeren Schulnoten assoziiert ist. Ein weiterer interessanter Befund ist, dass nur bei Jungen eine positive Verbindung zwischen bildungsnahen Aktivitäten im Elternhaus (soziale Herkunft) und dem Schulerfolg besteht. Auch die positive Schuleinstellung der Peers ist nur bei Jungen direkt mit dem Schulerfolg assoziiert, allerdings unerwartet negativ. Der schulerfolgsreduzierende Effekt der positiven Schuleinstellung der Peers ist unter Berücksichtigung des indirekten Effekts über die Schulentfremdung zu interpretieren: Jungen scheinen einen noch geringeren Schuler-
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folg aufzuweisen als dies unter Berücksichtigung der ausgeprägten Schulentfremdung zu erwarten wäre (vgl. auch Hadjar und Lupatsch 2010). Abbildung 1: Strukturgleichungsmodell zur Erklärung von Schulerfolg
Soziale Herkunft: Bildungsniveau Eltern
Soziale Herkunft: Bildungsnahe Aktivitäten
.21*/.17*
.10*/.23* -.10*/-.09*
-.07/-.18*
-.14*/-.25*
-.06/-.20* Unterstützung durch Lehrpersonen
Positive Schuleinstellung Peergruppe
.30*/.32*
-.32*/-.27* -.28*/-.39* Traditionelle Geschlechterrollenvorstellungen
Schulentfremdung -.03/-.10* .09*/-.03
.16*/.17*
-.36*/-.24* -.29*/-.25*
-.15*/-.04
Schuldevianz
-.11*/-.16* -.13*/-.08 .13*/.05 Schulerfolg (Schulnoten) R2=15 %/12 %
Model Fit: N= Jungen 423/Mädchen 444, F2 = 19.013, df = 20, p = .521, GFI = .995, AGFI = .980, RMR = .016, RMSEA = .000; SRMR = .020 standardisierte Pfadkoeffizienten: Jungen/Mädchen * signifikant p ≤ .05 Anmerkung: In der Schweiz stellt die 6 die beste, die 1 die schlechteste Note dar. Datenquelle: Schülerinnen- und Schülerstichprobe 2009, PH Bern/Universität Bern
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Der Schulentfremdung kommt bei der Erklärung des Schulerfolgs bei Schülerinnen und Schülern eine wichtige Mediatorfunktion zu. Entsprechend sind das Bildungsniveau der Eltern (soziale Herkunft) und die Unterstützung durch die Lehrpersonen nicht per se mit Schulerfolg verknüpft, sondern ein höheres elterliches Bildungsniveau und eine stärkere Unterstützung durch die Lehrpersonen führen zu einer geringeren Schulentfremdung bei Schülerinnen und Schülern, die mit einem höheren Schulerfolg verbunden ist. Der hauptsächliche Einfluss der Peergruppe auf den Schulerfolg verläuft ebenso über den Mediator Schulentfremdung: Eine als negativ wahrgenommene Einstellung der Peergruppe zur Schule – Peergruppen der Jungen stehen der Schule negativer gegenüber – geht mit einer höheren Schulentfremdung und schließlich einem geringeren Schulerfolg einher. Schulentfremdung führt auch zu einer höheren Devianz, die aber – wie bereits erwähnt – nur bei Jungen schulerfolgsreduzierend ist. Einzig der Effekt der Geschlechterrollen auf den Schulerfolg wird nicht über die Schulentfremdung vermittelt. Allerdings zeigt sich bei Jungen die Schuldevianz als Vermittlerin für den Zusammenhang zwischen Geschlechterrollen und Schulerfolg: Jungen mit traditionellen Geschlechterrollen verhalten sich häufiger abweichend bzw. störend in der Schule, was sich in geringeren Schulnoten widerspiegelt. Insgesamt lässt sich auch erkennen, dass Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern gegenüber der Schule positiver eingestellte Freundeskreise (Peergruppen) haben. Schülerinnen und Schülern, die ihre Peergruppe als bildungsnah wahrnehmen, geben auch eine stärkere Unterstützung durch die Lehrperson an.
4.3 Mehrebenenmodelle In einem letzten Schritt sollen nun, um der hierarchischen Qualität der Daten gerecht zu werden, verschiedene Einflüsse auf Klassenebene untersucht werden, die den Geschlechterunterschied im Schulerfolg erklären können. Auf der Klassenebene wird dabei für das Schulniveau, den Lehrerinnenanteil bei den Unterrichtenden in der Klasse als auch für den Jungenanteil in der Klasse kontrolliert. Dazu werden schrittweise Mehrebenenmodelle (Intercept only) geschätzt. Die folgenden Ergebnisse der Mehrebenenmodelle stellen insofern auch eine zusätzliche Validierung der vorher präsentierten Befunde dar. Ein Blick auf die Intraklassenkorrelationen des Nullmodells weist zunächst darauf hin, dass der Hauptanteil der Erklärung für den Schulerfolg – und damit auch für die Geschlechterunterschiede – auf der individuellen Ebene zu suchen ist. Auf der Personenebene wird ca. 92 Prozent der Varianz erklärt, auf der Klassenebene nur rund 8 Prozent.
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Tabelle 4 zeigt die Ergebnisse. Dabei enthält Modell 1 auf der Individualebene nur den bekannten Geschlechtereffekt, dass Jungen schlechtere Schulnoten als Mädchen vorzuweisen haben. Dieser Befund unter Berücksichtigung der Klassenstruktur innerhalb der Schulen zeigt, dass der Geschlechterunterschied sehr robust ist. Auf der Klassenebene haben weder der Anteil der Lehrerinnen, noch die Geschlechterzusammensetzung der Schulklasse einen Einfluss. Der einzige Befund hinsichtlich der Schulklassenmerkmale ist, dass Schülerinnen und Schüler offenbar auf dem Spezialsekundarniveau tendenziell bessere Schulnoten erhalten. Tabelle 4: Mehrebenenmodelle zur Erklärung des Schulerfolgs E
Modell 1 s.e.
p
E
Modell 2 s.e.
p
E
Modell 3 s.e.
p
Klassenebene Schulniveau (Ref. Sekundarniveau) Realniveau -0.06 0.04 -0.05 0.04 -0.05 0.10 0.05 + 0.05 0.06 0.05 Spez.Sek.-Niveau Lehrerinnen-Anteil 0.10 0.07 0.06 0.07 0.06 Jungen-Anteil 0.18 0.16 0.29 0.17 0.31 Ebene der Schülerinnen und Schüler Geschlecht (Schülerin) 0.15 0.03 *** 0.10 0.03 ** 0.07 Positive -0.05 0.02 * -0.05 Schuleinstellung Peers 0.05 0.02 * 0.03 Unterstützung Lehrperson -0.06 0.01 *** -0.06 Traditionelle Geschlechterrollen -0.19 0.03 *** -0.18 Schulentfremdung -0.07 Schuldevianz Intercept 4.62 0.04 *** 4.66 0.03 *** 4.67 Nullmodell Klassenebene: 8.1 % Intraklassenkorrelation Ebene der Schülerinnen und Schüler: 91.9 % (Varianzkomponenten) Signifikanz: + p < .10; * p <.05; ** p <.01; *** p <.001 Anmerkung: In der Schweiz stellt die 6 die beste, die 1 die schlechteste Note dar. Datenquelle: Schülerinnen- und Schülerstichprobe 2009, PH Bern/Universität Bern, Klassenebene n = 49, Ebene der Schülerinnen und Schüler n = 758
0.04 0.06 0.07 0.17
+
0.03 0.02
* *
0.02 0.01
***
0.03 0.02 0.03
*** ** ***
In Modell 2 wird nun unter Heranziehung weiterer Variablen auf der Individualebene versucht, den Geschlechtereffekt zu erklären. Der Geschlechtereffekt verliert an Substanz, d.h. ca. ein Drittel seines Erklärwerts geht auf die in die
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Modelle zusätzlich eingefügten Variablen zurück. Herausragende Rollen kommen dabei den traditionellen Geschlechterrollen sowie der Schulentfremdung zu, die sich beide reduzierend auf den Schulerfolg auswirken. Während die Unterstützung der Lehrperson positiv mit dem Schulerfolg assoziiert ist, haben Schülerinnen und Schüler, deren Peers in ihrer Wahrnehmung positiv gegenüber der Schule eingestellt sind, tendenziell schlechtere Noten. Dieser Befund verwundert, geht aber darauf zurück, dass die positive Schuleinstellung der Peers auch (stark negativ) mit der Schulentfremdung verbunden ist, wie das Strukturgleichungsmodell in Abbildung 1 bereits gezeigt hat. Die Verhaltensebene wird schließlich in Modell 3 eingeführt. Der Geschlechtereffekt verliert weiter an Stärke. Die Schuldevianz, die wie erwartet zu einer Abnahme des Schulerfolgs führt, erklärt auch einen kleinen Teil der schulerfolgsreduzierenden Wirkung der Schulentfremdung.
5 Schluss Die deskriptiven Analysen haben gezeigt, dass es insbesondere Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen bei der Ausprägung von traditionellen Geschlechterrollen gibt. Jungen hängen nicht-egalitären bzw. traditionellen Geschlechterrollen im Mittel stärker an als Mädchen. Weiter konnte gezeigt werden, dass Jungen insgesamt stärker schulentfremdet sind als Mädchen. Auch bei der Schuleinstellung im Freundeskreis gibt es Unterschiede. So berichten Mädchen über positivere Schuleinstellungen der Peers als Jungen. Bei den Schulnoten zeigt sich, dass Mädchen im Durchschnitt auf allen drei Schulstufen signifikant bessere Noten im Durchschnitt aufweisen als Jungen. Vergleicht man die Schulnoten von Jungen bzw. Mädchen, die von einem Lehrer oder einen Lehrerin unterrichtet wurden, so finden sich nur wenige signifikante Unterschiede zwischen der Benotung von Lehrern und Lehrerinnen. In Englisch und Mathematik haben Jungen im Durchschnitt sogar bessere Noten bei Lehrerinnen als bei Lehrern. In Französisch und Musik haben Jungen zwar schlechtere Noten bei Lehrerinnen – der gleiche Effekt findet sich jedoch auch für Mädchen. Insofern kann auf Basis unserer Studie die These, dass Lehrerinnen Jungen benachteiligen würden, nicht gehalten werden. Im Strukturgleichungsmodell wird die tragende Rolle der Schulentfremdung als auch der traditionellen Geschlechterrollen auf die Schulnoten sichtbar, sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen. Bei beiden Geschlechtern gehen traditionelle Geschlechterrollen mit schlechteren Schulnoten einher. Es zeigen sich auch starke Verflechtungen der einzelnen Variablen. Deutlich wird, dass Schuldevianz und Schulentfremdung stark von einer insgesamt mangelnden Unter-
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stützung vom Lehrkörper abhängt, und dass die Ausprägung von traditionellen Geschlechterrollen bei den Mädchen stark von der sozialen Herkunft abhängig ist. Schuldevianz hat nur bei den Jungen eine signifikante Wirkung auf den Schulerfolg Mit Hilfe eines Mehrebenenmodells, welches die hierarchische Struktur der Daten berücksichtigen soll, wurden die Ergebnisse aus dem Strukturgleichungsmodell weiter untermauert. Dies deutet darauf hin, dass – obwohl die Daten hierarchisch sind – die Erklärungsmechanismen auf der individuellen Ebene die größere Rolle spielen, und dass die Variablen auf Klassenebene einen weniger starken Einfluss auf den Schulerfolg haben. Dafür spricht zudem, dass auf der Klassenebene ja nur ein sehr geringer Anteil an Varianz erklärt wurde. Angemerkt werden muss, dass die Mehrebenenmodellierung unserer Daten nach Klassen dahingehend problematisch ist, dass es vorkommen kann, dass Schülerinnen und Schüler im Kanton Bern nicht immer in ihrem Klassenverband unterrichtet werden, sondern besonders in den Hauptfächer entsprechend ihres Leistungsniveaus in Kurse eingeteilt werden. Als wesentliche Limitation der präsentierten Analysen ist zu bemerken, dass die empirischen Zusammenhänge in dieser Studie nur mit Querschnittsdaten getestet wurden. Daher konnten die kausalen Beziehungen nur aus theoretischen Überlegungen geschlossen werden; Panel-Daten wären hier notwendig um genauen Aufschluss über die kausalen Zusammenhänge zu geben. Zudem sind die Anteile an erklärter Varianz recht klein. In weiteren Studien sollte daher auch für kognitive Fähigkeiten kontrolliert werden, um die Zusammenhänge der psychologischen und sozialen Variablen genauer bestimmen zu können. Schließlich muss hinsichtlich der allgemeinen Diskussion zum unterschiedlichen Schulerfolg von Mädchen und Jungen betont werden, dass – wenn Geschlechterunterschiede im Schulerfolg festgestellt werden –, diese oft klein sind. Studien, z.B. aus den USA oder aus Großbritannien, in denen schulbezogene Daten und Schulleistungen seit Jahren gesammelt werden, zeigen, dass Mädchen schon früher bessere Noten hatten als Jungen und, dass Jungen über den Lauf der Jahre nicht schlechter wurden, sondern die Mädchen besser. Im Zeitverlauf gesehen sind amerikanische Jungen aber besser als je zuvor (vgl. Mead 2006; siehe auch Downey und Yuan 2005, siehe dazu auch den Beitrag von Francis und Skelton in diesem Band). Dazu kommt, dass Frauen, trotz ihrer besseren Leistungen im Bildungssystem, diese oft nicht in höhere Positionen auf dem Arbeitsmarkt umsetzen können oder wollen. Entsprechend dem Phänomen der „leaky pipeline“ sinkt der Frauenanteil schrittweise mit jeder Ausbildungsstufe, so dass sie auf den obersten Stufen des Bildungssystems und in hohen beruflichen Positionen stark unterrepräsentiert sind.
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Auch muss beachtet werden, dass die Unterschiede innerhalb der Gruppen von Mädchen und Jungen viel größer sind als die Unterschiede zwischen den Gruppen wie PISA- und IGLU Ergebnisse zeigen. Weiter darf über die Geschlechterdebatte auch nicht vergessen werden, dass soziale Herkunft den bei weitem stärksten Effekt auf den Schulerfolg hat. Besonders Kinder aus Migrantenfamilien zeigen die schlechtesten Schulleistungen. Die Schließung des Herkuftsgaps würde sowohl Jungen als auch Mädchen helfen ihre Potenziale voll auszuschöpfen.
Literatur Athenstaed, Ursula. 2000. Normative Geschlechtsrollenorientierung. Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie 21: 61-74. Bacher, J., Lachmayr, N., und Hasengruber, K. 2008. Empirischer Teil. In Geschlechterunterschiede in der Bildungswahl, Hrsg. Bacher, J., Beham, M. und Lachmayr, N., 85-148. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Baumert, Jürgen, Cordula Artelt, Eckhard Klieme, Michael Neubrand, Manfred Prenzel, Ulrich Schiefele, Wolfgang Schneider, Gundel Schümer, Klaus-Jürgen Tillmann, und Manfred Weiß (Hrsg.). 2003. Pisa 2000 – Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich. Baumert, Jürgen, Rainer Lehmann, Manfred Lehrke Bernd Schmitz, Marten Clausen, Ingmar Hosenfeld, Olaf Köller, und Johanna Neubrand. 1997. TIMSS - Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich. Deskriptive Befunde. Opladen: Leske + Budrich. Baumrind, Diana. 1991. Effective parenting during early adolescence transition. In Family transitions, Hrsg. Philipp A. Cowan, E. Mavus Hetherington, 111-163. Hillsdale NJ: Erlbaum. Becker, Rolf. 2003. Educational Expansion and Persistent Inequalities of Education: Utilizing the Subjective Expected Utility Theory to Explain the Increasing Participation Rates in Upper Secondary School in the Federal Republic Of Germany. European Sociological Review 19(1): 1-24. Blossfeld, H.P., Bos W., Hannover B., Lenzen D., Müller-Böling, D., Prenzel, M. und Wößmann, L. (Hrsg.). 2009. Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem. Jahresgutachten 2009. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Boehnke, Klaus, Anna-Katharina Pelkner, und Jenny Kurman. 2004. On the interrelation of peer climate and school performance in mathematics: A German-Canadian-Israeli comparison of 14y-old school students. In Ongoing themes in psychology and culture, Hrsg. Bernadette N. Setiadi, A. Supratiknya, Walter J. Lonner und Ype P. Poortinga, 415-432. Yogyakarta: IACCP. Boudon, Raymond. 1974. Education, opportunity, and social inequality. New York: Wiley. Bourdieu, Pierre. 1983. Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2, Hrsg. Reinhard Kreckel, 183-198. Göttingen: Schwartz. Brogan, Donna, und Nancy G. Kunter. 1976. Measuring sex-role orientations. Journal of Marriage and the Family 38: 31-40. Budde, Jürgen. 2008. Bildungs(miss)erfolge von Jungen und Berufswahlverhalten bei Jungen/männlichen Jugendlichen. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Bundesamt für Statistik Schweiz. 2009. Bildungsstatistik. Download am 01.07.2010: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/22/lexi.html Coleman, Laurance. J., und Tracy L. Cross. 1988. Is being gifted a social handicap? Journal of Education of the Gifted 11: 41-56.
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Wie inszenieren sich Schülerinnen und Schüler im Unterricht? Ergebnisse aus den qualitativen Daten einer Berner Studie Elisabeth Grünewald-Huber, Stefanie Gysin und Dominique Braun
1 Einleitung Auch in der Schweiz ist der geringere Schulerfolg der Jungen zum viel beachteten Thema geworden, das mediale und bildungspolitische Kontroversen auslöst. Dem Interesse über Zusammenhänge zwischen Schulerfolg und Geschlecht (sex) stehen aber bisher mehr Vermutungen als gesicherte Daten gegenüber. Und auch hinsichtlich möglicher Zusammenhänge zwischen Schulerfolg und Geschlechterkonzepten der an Bildungsprozessen Beteiligten (gender) sind noch viele Forschungsfragen offen. Mit dem Projekt „Faule Jungen, strebsame Mädchen? Zusammenhänge zwischen Geschlechterbildern und Leistungsunterschieden von Schülern im Vergleich zu Schülerinnen“ wurden Gründe für das schlechtere schulische Abschneiden von Schülern untersucht unter Berücksichtigung der Geschlechterbilder der beteiligten Schülerinnen und Schüler. Das Projekt fragte nach möglichen Zusammenhängen zwischen Männlichkeits-, Weiblichkeits- und Geschlechterverhältnisvorstellungen der Schülerinnen und Schülern einerseits und ihrem Schulerfolg (gemessen an ihren Noten) andererseits. Dabei wurde ein Zusammenhang zwischen traditionellen stereotypen Geschlechtervorstellungen und tieferem Schulerfolg angenommen. Einerseits weil stereotype Fremd- und Selbsteinschätzungen eigene Denk-, Handlungsund Lernmöglichkeiten einschränken (vgl. z.B. Ludwig und Ludwig 2007), andererseits weil mit ihnen ein geringeres Interesse und tiefere Fähigkeitsselbstkonzepte der Schülerinnen und Schüler hinsichtlich gegengeschlechtlich zugeschriebenen Fächern (Mathematik für Mädchen, Sprachen für Jungen) verbunden sein dürften.1 Die Ergebnisse der PISA-Studien, nach denen Schülerinnen in Mathematik und Schüler im Lesen schlechter abschneiden als das andere Geschlecht – und somit nicht die ihnen potenziell möglichen Leistungen erbringen
1
Geschlechtskonnotierte Images von Schulfächern färben die unterstellte eigene Geeignetheit für Schulfächer ein: Eine Schülerin, die Physik für ein Jungenfach hält, wird sich im Allgemeinen dafür weniger geeignet halten als für ein ‚weiblich eingefärbtes’ Sprachfach (vgl. z.B. Hannover 2002).
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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– wären demnach auch eine Folge traditioneller Geschlechterbilder.2 Auf geschlechterdifferente Intelligenzwerte sind die geschlechtstypischen Ergebnisse in den PISA-Tests bekanntlich nicht zurück zu führen. Im Folgenden wird zunächst auf den ‚Jungen-Benachteiligungsdiskurs’ sowie Literatur eingegangen, die sich mit möglichen Gründen für den Rückstand der Schülerleistungen insbesondere im Zusammenhang mit männlichen Geschlechterkonzepten befasst. Im Anschluss werden Befunde aus qualitativen Untersuchungen – Gruppendiskussionen und Videoanalysen – im Rahmen eines Projekts im Schweizer Kanton Bern vorgestellt.
2 Geschlechterunterschiede im Bildungserfolg in der wissenschaftlichen Diskussion 2.1 Der‚Arme-Jungen-Diskurs’ Die meisten Forschenden sind sich einig, dass die Erforschung des größeren Erfolgs von Mädchen im Bildungssystem und des Wandels des geschlechtstypischen Bildungserfolgs noch in den Kinderschuhen steckt (vgl. z.B. Helbig 2010). Dabei handelt es sich keineswegs um eine neue Thematik, da Schülerinnen schon immer stärker intrinsisch motiviert waren und bereits seit Längerem bessere Noten vorweisen können. Sie konnten diese schulischen Vorteile aufgrund verschiedener Hürden jedoch lange nicht in höhere Bildungsabschlüsse ummünzen, so dass sich viele Schüler ‚auf der sicheren Seite’ wähnen konnten. Seit kurzem befinden wir uns historisch gesehen aber erstmals in der Situation, dass das schulische Potential von Mädchen und Frauen auch zu höheren Bildungsabschlüssen führt. Die „’aufgeregte’ Postulierung der Benachteiligung von Jungen“ (Budde 2005: 9) und „das ‚Gerede’ von der Krise“3 (Budde 2005: 50) dürften deshalb vor allem in der neuen Tatsache begründet sein, dass die guten Schulleistungen der Schülerinnen nun zunehmend Früchte tragen, womit Schülern und Männern zumindest auf der Ebene der Bildungsabschlüsse eine größere
2
Dieser Bezug erscheint auch plausibel angesichts des Befunds, dass sich in Ländern, in denen die Gleichstellung voranschreitet, die Mathematikleistungen der Schülerinnen denen der Schüler zunehmend angleichen. 3 Epstein bezeichnet den Diskurs über die angeblich benachteiligten Jungen als „a kind of globalized panic“ (Epstein 1998: 3).
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Konkurrenz erwächst.4 Da diese guten Bildungsabschlüsse jedoch (noch) nicht zu entsprechenden Berufspositionen und -laufbahnen führen, verschieben sich die Hürden für Frauen lediglich zeitlich ohne jedoch grundsätzlich ausgeräumt zu sein.5 So kann nicht von einer breiten gesellschaftlichen Benachteiligung von Jungen und Männern gesprochen werden, da mit der Verteilung der Erziehungsund Reproduktionsarbeit sowohl der private, als auch der öffentliche Sektor mit der materiellen Verteilung von Arbeitsplätzen, Besitz etc. klar zu Gunsten der Männer strukturiert sind (vgl. auch Budde 2005: 50). Ein weiterer Grund für die „Aufregung aufgrund der hypostasierten Benachteiligung von Männern“ (Budde 2005: 50) kann neben der Zunahme guter weiblicher Bildungsabschlüsse auch in der schwindenden Gewissheit über die traditionelle Geschlechterordnung gesehen werden: „Der eindeutige männliche Zugriff auf die Hegemonie inklusive der herkömmlichen Rechtfertigungen“ (Budde 2005: 50) wird zunehmend in Frage gestellt, was Männer unter Legitimationsdruck bringt. Dabei scheint „nicht die Handlungsfähigkeit, sondern die Selbstverständlichkeit männlicher Hegemonie“ in Frage gestellt zu sein (Budde 2005: 51). Die Unruhe bezüglich der schlechteren Schulabschlüsse von Schülern dürfte demnach auch von der aktuellen Passage erhöhter Legitimationsanforderungen an die Männer ausgelöst werden (Budde 2005: 52).
2.2 Wie kommt es zu den festgestellten schlechteren Schulabschlüssen der Jungen? Eine von manchen Autoren und Autorinnen vermutete Benachteiligung der Schüler bei der Notengebung insbesondere durch Lehrerinnen (Diefenbach und Klein 2002) konnte inzwischen klar widerlegt werden. So wurden in einer Mannheimer Studie von Landmann und Neugebauer und einer Berliner Studie 4
Die Schweiz ist bei dieser Entwicklung in Verzug: Frauen haben die Männer bezüglich Hochschulabschlüssen aufgrund eines ‚leaky-pipeline-Mechanismus’ nicht eingeholt. Als ‚leaky pipeline’ bezeichnet das Bundesamt für Statistik die Tatsache, dass zwar mehr Frauen in Hochschulen eintreten (53% gegenüber 47% Männern), dass sich jedoch das Geschlechterverhältnis bereits bei den Bachelorabschlüssen zu Gunsten der Männer umdreht, wobei der Männeranteil mit der Verweildauer an Hochschulen stetig höher wird bzw. der Frauenanteil tiefer. Bei den Doktoraten liegt der Frauenanteil nur noch bei 39%, bei den Professuren bei 23% (Bundesamt für Statistik 2007). 5 Den Benachteiligungsdiskurs im Rahmen der bestehenden Geschlechterasymmetrie bringt Connell (1996: 222) wie folgt auf den Punkt: „Nach nahezu allen Maßstäben der Ressourcenverteilung – Reichtum und Einkommen, kulturelle Vorherrschaft, Bildungsstand, politischer Einfluss, Kontrolle von Organisationen – und in allen Teilen der Welt sind Männer innerhalb der Geschlechterverhältnisse die Gruppe mit den größeren Vorteilen. [...] Diese Vorteile sind mit bestimmten Kosten verbunden, und wenn ausschließlich auf diese Kosten geschaut wird, kann dadurch der Eindruck von Benachteiligung geschaffen werden.“
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von Helbig keine Zusammenhänge zwischen dem Geschlecht von Lehrpersonen und den Schülernoten festgestellt (Neugebauer et al. 2010; Helbig 2010). Eine andere Argumentationslinie verfolgen Cornelißen et al. (2003: 228), wenn sie darauf hinweisen, dass es denjenigen Jungen schwer fallen dürfte, „die überwiegend von Lehrerinnen vertretenen Bildungsziele auch als ihre eigenen zu begreifen“, die Weiblichkeit abwerten und sich gegen Männlichkeit scharf abgrenzen, wie dies in manchen Subkulturen junger Männer der Fall ist. Nach Cornelißen et al. wirken insbesondere Männlichkeitsbilder in den Medien ungünstig auf die Konzentrationsfähigkeit und –bereitschaft von Jungen, besonders im Hinblick auf komplexe schulische Denk- und Sprachleistungen. Die medial vorherrschenden Leitbilder des Draufgängers, Abenteurers, Kämpfers, Anführers und Kriminellen dürften auch der in der Schule notwendigen Disziplin nicht zuträglich sein. Deshalb müsse sich die Schulforschung nicht nur die Frage stellen, wie die Schule zu den tieferen Schülerleistungen beitrage, sondern dabei auch außerschulische Rahmenbedingungen in Betracht ziehen, die es Jungen erschweren, sich in der Schule zu bewähren. Der für manche Jungen geltende Widerspruch zwischen dem traditionellen männlichen Überlegenheitsanspruch und ihrer eigenen eher prekären Leistungsbilanz in der Schule müsse erforscht und diskutiert werden. Zu fragen sei aber auch, auf welche Weisen allenfalls Lehrerinnen und Lehrer in Schule und Unterricht zu den tieferen Erfolgen und Noten der Schüler beitragen. Die Dramatik für die Jungen sei jedoch zu relativieren, einerseits weil es eine große Varianz innerhalb jeder Geschlechtergruppe gebe – es gibt neben leistungsschwachen Schülern auch sehr leistungswillige und -starke und neben erfolgreichen Mädchen auch wenig erfolgreiche – und andererseits weil Mädchen trotz besserer Schulleistungen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter gestellt seien. Cornelißen et al. (2003: 239) ziehen das Fazit: „In der Schule (bleibt) die Möglichkeit noch weitgehend ungenutzt, (sub)kulturell verankerte Männlichkeitsbilder vielleicht auch mit den Eltern zu reflektieren und bei gefährdeten Jungen Selbstkonzepte anzuregen, die mit den schulischen Anforderungen eher kompatibel sind“. Und auch eine kritische Reflexion der kulturell verankerten Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Praxis finde in Schulen noch kaum statt. In Übereinstimmung mit Cornelißen et al. (2003) weisen King und Flaake (2005) in ihrer Arbeit über männliche Sozialisation auf die Verschränkung von vermindertem Bildungserfolg und Männlichkeitsvorstellungen hin, sowie auf die kontextspezifischen Entstehungs- und Reproduktionsbedingungen von Männlichkeiten, zu denen unter anderen schulische Kontexte gehören.
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2.3 Zum Einfluss unterschiedlicher Verhaltensweisen von Mädchen und Jungen auf den Schulerfolg In einer großen Studie zur Grund- und Mittelstufe stellen Weinert und Helmke (1997: 199) unterschiedliche Verhaltensweisen von Mädchen und Jungen fest im Zusammenhang mit dem sog. „Faulpelz-Syndrom“: „höhere Anstrengungsvermeidung und geringerer Pflichteifer bei Schülern und das gegenteilige Profil bei Schülerinnen“. Seitens der Mädchen wirke sich aber eine stärkere Leistungsängstlichkeit negativ aus. In einer ebenso groß angelegten Studie untersucht Fend (1997) für die Sekundarstufe Zusammenhänge zwischen Lernmotivation, Anstrengungsinvestition, Disziplin und schulischem Wohlbefinden. Auch nach dieser Studie sind Mädchen leistungsbereiter, während „die ausgeprägte Distanzierung im Sinne von ‚frechem’ und ‚faulem’ Schülerverhalten bei Jungen klarer ausgeprägt ist als bei Mädchen“ (Fend 1997: 178). Er stellt zudem fest, „dass sich Jungen […] eher aus der Schule hinaus entwickeln, in größere Relevanzzuschreibung zu außerschulischen Erfahrungsbereichen, während Mädchen stärker in die Schule hineinwachsen, in der sie die größten Erfolgs- und Emanzipationserfahrungen machen“ (Fend 1997: 145).6 Mögliche Zusammenhänge zwischen Interesse und Leistung untersuchen Baumert et al. (1997) im Anschluss an TIMSS. Sie stellen fest, dass das Interesse die Leistung nicht nennenswert beeinflusst, während sich umgekehrt die Leistung bzw. das Leistungsfeedback sehr wohl auf das künftige Interesse auswirkt. Dieser Zusammenhang müsse, zusammen mit den Selbstkonzepten der Schüler und Schülerinnen vermehrt beachtet werden. Anlass zur Besorgnis gibt nach Baumert et al. (1997: 173) der Befund, dass Mädchen ihre schulischen Fähigkeiten unterschätzten und ihre Schulleistungen misserfolgsorientiert attribuierten, während die Jungen ihre Fähigkeiten überschätzten.
2.4 Geschlechterkonstruktionen in Schule und Unterricht (doing gender) In „Erwartungen in himmelblau und rosarot“ (Ludwig und Ludwig 2007) zeigen mehrere Autor/-innen unter verschiedenen Perspektiven und in Bezug auf ver6
Das Bild der tüchtigen Mädchen und schulisch uninteressierten Jungen wird medial vielfach verstärkt, wie z.B. die populäre 20jährige Comics- und Filmserie „Die Simpsons“ aufzeigt: Ganz im Fahrwasser seines durch und durch hedonistischen Vaters Homer, ist der erstgeborene Bart ein Klassenclown, der ständig neue Probleme verursacht und allen auf die Nerven geht. Seine jüngere Schwester Lisa ist sehr klug und als Öko-Aktivistin das Gewissen der Familie, jedoch in der Schule – im Gegensatz zu ihrem Bruder – höchst unpopulär.
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schiedene Fächer, wie Gender-Stereotype von Eltern und Lehrpersonen über die Internalisierung durch die Schülerinnen und Schülern zu geschlechterdifferenten Schul- und Fachleistungen führen. Dabei entsprechen die elterlichen Erwartungen – und in etwas weniger ausgeprägter Form auch diejenigen der Lehrpersonen – den traditionellen Annahmen, wonach Mädchen in Sprachen, Jungen in Mathematik und Naturwissenschaften höhere Leistungen erbringen werden. Den dabei wirkenden Mechanismus stellt Ludwig (2007) in einem 3-stufigen SelfFulfilling-Prophecy-Prozessmodell (SFP) dar: Ein Schüler, von dem die Eltern oder Lehrpersonen erwarten, dass er mit einem bestimmten Unterrichtsstoff oder -fach Schwierigkeiten hat, traut sich selbst in diesem Bereich weniger zu (interpersonale Erwartung wird zu intrapersonaler Erwartung) (Stufe 1), erleidet durch seine eigene geringere Leistungserwartung einen Konzentrationsmangel (Stufe 2), so dass die Lernleistung tatsächlich tiefer als eigentlich möglich ausfällt (Stufe 3) (vgl. dazu Ludwig 2007: 19). Dabei fließen in die SFP oft ausgeprägte Genderstereotype ein. Eine Reihe von Studien befasst sich mit Geschlechterkonstruktion(en) im Unterricht, wobei auch Bezüge zum geschlechtsdifferenten Schulerfolg hergestellt werden. Einen Überblick ethnografischer Studien gibt Kelle (1999) in ihrem Aufsatz „Mädchen und Jungen in Aktion. Ethnografische Ansätze in der schulischen peer culture Forschung“. Sie kritisiert die „Unterschiedsperspektive“ und plädiert für eine Sicht auf „Praktiken der Unterscheidung“, d.h. für eine Perspektive nach Thorne (1990) unter Fokussierung auf die „Choreographie der Geschlechtertrennung und –integration“, also eine Erforschung des ‚doing gender’. Erst diese enthüllt die „enorme Varianz an Geschlechtsbedeutungen in Interaktionen“, „dass Geschlecht situativ relevant wird oder auch nicht“ sowie die „Vielfalt und Widersprüche sozialer Praktiken“ (Kelle 1999: 164). In „Jungen zwischen Männlichkeit und Schule“ gehen Budde und Faulstich-Wieland (2005: 37) der Frage nach, „welche Möglichkeiten zur Konstruktion von Männlichkeit das Feld Schule den Schülern bietet“. In einer Längsschnittstudie werden drei gymnasiale Klassen während drei Jahren beobachtet im Hinblick auf „Statushandlungen als Konstruktion von Männlichkeit“, „Konkurrenz und Kumpanei“, „symbolische Verweiblichung und Entwertungen“, „Sexualisierungen“ und „Transformationen“ (Budde und Faulstich-Wieland 2005: 41-47). Gefragt wird nach Inszenierungsformen und –gewinnen des doing gender. Schlussfolgerungen sind: „Männlichkeit entsteht nicht permanent, sondern wird nur unter bestimmten Bedingungen relevant. Sie kann also in solchen Situationen an Bedeutung verlieren, in denen andere Anforderungen bedeutsamer werden und andere Inszenierungsformen kapitalträchtiger scheinen“ (Budde und Faulstich-Wieland 2005: 51). „Die Bandbreite der Legitimierungsstrategien nimmt zu, nicht aber die Akzeptanz des Feminismus“ (Budde und Faulstich-
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Wieland 2005: 49). Sie sprechen von der „immensen Bedeutung der Schule als Sozialisationsinstanz“ (Budde und Faulstich-Wieland 2005: 39) und ergänzen: „Die Schule als eine zentrale Sozialisationsinstanz stellt einen bedeutenden Schauplatz für die Konstruktion von Männlichkeiten dar. Neben den Interaktionen mit Mitschülern, aber auch Mitschülerinnen innerhalb der Gleichaltrigengruppe und den Aushandlungen mit Lehrkräften wirken auch institutionelle Vorgaben, die zwar qua Postulat der Chancengleichheit von Jungen und Mädchen gleichermaßen gelten sollten, nichtsdestotrotz häufig ‚gegendert’ sind.“ (Budde und Faulstich-Wieland 2005: 39). Als Fazit zur eigenen Studie äußern sie: „Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass die Konstruktion von Männlichkeit im schulischen Alltag eine vielschichtige und zum Teil widersprüchliche Angelegenheit ist.“ (Budde und Faulstich-Wieland 2005: 51) Die Studie veranschaulicht, wie Schülerinnen und Schüler im Kontext Unterricht zwischen den Verhaltensmodi des doing pupil (z.B. Aufmerksamkeit auf schulische Inhalte), doing gender (z.B. sexualisierende Bemerkungen) und doing adult (z.B. flirtende Kontaktnahme) wechseln. In einem weiteren Aufsatz, mit dem Titel „Männlichkeitskonstruktionen in der Institution Schule“, prüft Budde (2003: 93) seine These, „dass sich der Verhaltensvorteil der Jungen zu einem Bildungsnachteil entwickelt hat“, fragt nach dem „Zusammenspiel des Feldes Schule und des Feldes Geschlecht“ und nach „der Möglichkeit von undoing-gender Prozessen“. Jungen sichern sich mit ihrem Verhaltensvorteil – wonach sie sich unangepasster und unabhängiger als Mädchen benehmen dürfen – zwar ein hohes Prestige bei den Mitschülern und Mitschülerinnen und teilweise den Lehrpersonen, die „Schattenseiten“ sind jedoch ein bedeutendes Konflikt- und Risikopotenzial, tiefe Schulnoten und ein „eklatanter Mangel an Handlungsalternativen“ (Budde 2003: 96). Er fasst zusammen: „Um das Verhältnis von Bildungsnach- und Verhaltensvorteilen zu bestimmen, ist es nötig, nicht nur die Schulnoten, sondern die gesamte symbolische Ordnung zu berücksichtigen. Solange Mädchen zwar bessere Noten erzielen, diese aber nicht mit der gleichen symbolischen Bedeutung versehen sind wie die ihrer Mitschüler, kann von einem eindeutigen Bildungsnachteil zuungunsten der Jungen nicht die Rede sein“ (Budde 2003: 96). Budde sieht Männlichkeit im Kontext der Schule „als eine Art ‚ruhende Ressource’ [...], die omnipräsent ist, aber nicht in jeder Situation auch als handlungsdominierendes Muster funktioniert“ (Budde 2003: 99). Er empfiehlt „Geschlecht zu entdramatisieren und damit die Omnipräsenz der männlichen Hegemonie weiter abzubauen“, was „nur in umfassender Kenntnis von den Bedingungen, mit denen Jungen in der Schule zu tun haben“, möglich sei (Budde 2003: 100). Zur gleichen Studie äußern sich Weber und Faulstich-Wieland (2003) in „Handlungsräume von Mädchen im Gymnasium“, wobei neben geschlechtsspe-
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zifischen auch soziale und ethnische Aspekte innerhalb der Mädchengruppen beleuchtet werden. Die Autorinnen stellen weiterhin Geschlechterungleichheiten zu Ungunsten von Frauen und diskrete Diskriminierungen mittels Verhaltenserwartungen und heimlichem Lehrplan fest. Auch zeige eine Analyse von herkunfts- und geschlechtsbezogenen Selbst- und Fremdzuschreibungen, dass dasselbe selbstbewusste Auftreten bei deutschen Mädchen erwünscht, bei türkischen Mädchen sanktioniert werde. In ihrer Studie in Kindergarten und dritten Klassen untersuchen Fuhr und Michalek (2006) mittels Beobachtungen und Gruppendiskussionen Formen von Männlichkeit. Die Schüler inszenieren in der Rolle des Akteurs oder Adressaten soziale Ein- und Ausschlüsse, Spielarten des Übertrumpfens, Drohungen, (verbale) Gewalt und damit verbunden verschiedene Männlichkeitsformen. Es werden Bezüge zwischen Zukunftsvorstellungen, Männlichkeitsbildern und dem Verhältnis der Schüler zur Schule hergestellt. In einem weiteren Text zu dieser Studie geht Michalek (2006) auf eine 3. Klasse ein, in der sich parallel zwei ausgeprägt differente Männlichkeitskulturen entwickelt haben, die sich mit Bezug auf Zulehner / Volz als „traditionell“ und „modern“ bezeichnen lassen. Für die Gruppe mit traditionellem Männlichkeitskonzept mit der Selbstbezeichnung „Rock n’ Roll AG“ nennt Michalek in einem neueren Aufsatz folgende zentrale Ingredienzien: dichotomes Geschlechterverhältnis bzw. Mädchen als duale Andere; Lächerlichmachen und Abwertung von Mädchen / Frauen; hohe Relevanz von Sport und ‚Haben’ möglichst vieler Sportarten; Anstreben von Überlegenheit durch stoisches Ertragen von Schmerzen; Selbstdarstellung als „überlegen, stark und heldenhaft“; starke Orientierung auf beruflichen Erfolg, Ansehen und Reichtum (Michalek 2009: 52ff). Die Gruppe mit dem „modernen“ Männlichkeitskonzept, die sich „Tigerkralle“ nennt, wird wie folgt charakterisiert: flexibles, offenes Jungen- und Männerbild; sehr individualisierte, facettenreiche Vorstellung von Jungensein; nicht abwertende Schilderung von Erlebnissen mit Mädchen, auch Verliebtheit und Necken; Familie und Kinder als Zukunftsoption; guter Bezug zum eigenen Körper und zu eigenen Gefühlen. (Michalek 2009: 59ff). Auf Alternativen zu traditionellen Männlichkeitsmustern verweist auch Nielsen (2009) in ihrem Aufsatz „New Boys? A Nordic Perspective“, in welchem sie den Einfluss veränderter familialer Strukturen auf die Männlichkeitskonzepte heranwachsender Kinder, insbesondere Jungen in einer Längsschnittstudie nachzeichnet. Sie beschreibt die Jungen, deren Väter gemäß „Nordic gender equality regime“ einen Teil der Erziehungsarbeit wahrnehmen, wie folgt: „(T)he boys may express feelings and show compassion for each other – and even extend it across the gender divide to include girls. This is a new trait, compared to older studies. Furthermore the line of gender segregation is to a very
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limited degree constructed through repudiation and aggression from the boys’ side – it evolves more as a result of the different ways of doing things each group establishes based on what they feel comfortable with. The boys willingly accept – as a matter of fact – that girls are better than them in all school subjects, except sports.“ „The heterogame must [...] be negotiated in relation to the girls’ higher degree of feminist awareness and the boys’ own inclination towards egalitarian ideals“ (Nielsen 2009: 215). Und zum Zusammenhang des Jungenverhaltens mit der neuen elterlichen Aufgabenteilung: „This diminishing need to dominate girls or women or show aggression – while still wanting to live in a boys’ world – [...] could be due to a more emotionally present generation of Norwegian fathers.“ (Nielsen 2009: 215) In ihrem Aufsatz „Die Schule ist männlich?!“ verweist Schneider (2002: 464) zusätzlich auf institutionelle Aspekte von Geschlecht und Schule, die nach ihr dazu führen, dass „beide Geschlechter in der Institution Schule nicht die Verhältnisse vor(finden), unter denen sie gut und erfolgreich lernen können“. So wird „die Begabung und Wissbegierde von Mädchen als ‚weiblicher Fleiß’ fehlinterpretiert“, und „im Verlauf ihrer Schulzeit ‚verlieren Mädchen ihre Stimme’ (Brown/Gilligan 1994)“ (Schneider 2002: 465). Dagegen „(bleiben) Buben in einem Netz aus Selbstüberschätzung, Körperfeindlichkeit, Zwang nach Kontrolle und dem Druck (gefangen), immer ‚cool’ sein zu müssen“ (Schneider 2002: 465). Schneider zitiert hier Faulstich-Wieland (2002), nach der Jungen von den Lehrkräften einen „Geniebonus“ erhalten, der es „Jungen durchaus nahe legt, sich schulisch distanziert zu inszenieren. Zwar schadet es objektiv mittlerweile vielen Jungen – betrachtet man die Bildungsbeteiligung. Subjektiv aber durchbricht dies nicht die Geschlechterhierarchie, erlaubt es den Jungen in weit höherem Maße, ein ungebrochenes Bild von sich selbst aufrecht zu erhalten“ (Faulstich-Wieland 2002: 10). Demnach müssen sich Jungen im Kontext der Schule gleichsam entscheiden, was ihnen wichtiger ist: gute schulische Leistungen oder die Aufrechterhaltung einer weiterhin Vorteile versprechenden Männlichkeit. Denn nach Budde „ist die Ordnung der Geschlechter, trotz der momentanen Veränderungen und den zunehmenden Delegitimierungen, nicht neutral, sondern eingelassen in ein Machttableau (vgl. Connell 1987; Foucault 1992), welches noch immer die männliche Suprematie und damit den Gewinn absichert, der Jungen allein aufgrund eindeutiger geschlechtlicher Inszenierung zugesprochen wird. Die Hierarchie der Geschlechterordnung beschneidet allerdings nicht nur Schülerinnen in ihren Chancen, sondern durch die männlichen Sozialisationsanforderungen stehen sich Schüler zunehmend selber im Weg“ (Budde 2005: 10). Für die Schülerinnen lässt sich zusammenfassen, dass sie zwar primär unter dieser Geschlechterordnung zu leiden haben (Beschneidung von Chancen), dass sie aber in der momentanen
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historischen Passage zwei Vorteile haben: Es stehen ihnen dank des emanzipatorischen Wandels der letzten Jahrzehnte seitens der Frauen nun verschiedene akzeptierte Formen von Weiblichkeit und weiblichen Lebensformen zur Verfügung. Und diese stehen allesamt nicht im Widerspruch zu schulischem Erfolg bzw. guten schulischen Leistungen. In zwei Punkten besteht in allen Studien Einigkeit: Geschlechter- bzw. Genderaspekte sind immer in Verschränkung mit weiteren sozialen Faktoren zu betrachten, die insgesamt oder situativ oft wirksamer sind, insbesondere mit milieuspezifischen, ethnischen und jugendkulturellen Einflussfaktoren. Weiter ist zu bedenken, dass Jungen und Mädchen je nach sozialem Kontext unterschiedliche Muster des doing gender ins Spiel bringen und damit hinsichtlich ihrer Genderpraxen variabler sind als es erscheinen mag.
3 Die Berner Schulstudie 2008-2011 3.1 Datenbasis, Stichprobe und Untersuchungsansatz Das Projekt, dessen qualitative Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden, wurde im Kanton Bern mit Schülerinnen und Schülern der 8. Klasse durchgeführt und bestand aus drei Phasen: Zunächst beantworteten 872 männliche und weibliche, durchschnittlich 15jährige Jugendliche einen schriftlichen Fragebogen u. a. zu den Themen Wohlbefinden in der Schule, Verhältnis zu den Lehrpersonen und Peers, Fachinteressen, Lernstil und Lernmotivation, persönliche Geschlechterkonzepte, Leistungsselbstkonzepte. Die (quantitativen) Ergebnisse der Fragebogenuntersuchung wurden im vorausgehenden Beitrag in diesem Sammelband vorgestellt. Hier sollen die Ergebnisse der zweiten Projektphase mit zwei Erhebungen qualitativer Daten referiert werden. Daran beteiligt waren sechs der in Phase 1 teilnehmenden 49 Klassen, welche nach einem theoretischen Sampling unter dem Gesichtspunkt der traditionellsten bzw. egalitärsten Geschlechtervorstellungen ausgewählt wurden. Es nahmen somit auf jedem der drei Leistungsniveaus7 – Realstufe, Sekundarstufe und gymnasiale Vorbereitungsstufe, auch 7
Im Kanton Bern werden die Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse in drei unterschiedliche Schulzüge – Realstufe, Sekundarstufe sowie gymnasiale Vorbereitungsstufe (Spezial-Sekundar „Spez. Sek.“) – eingeteilt. Auf dem niedrigsten Niveau, dem Realschulniveau, werden den Schülerinnen und Schülern die Grundansprüche vermittelt. Das Sekundarschulniveau, das mittlere Niveau, enthält die erweiterten Ansprüche und wird von der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler besucht. Der Spez. Sek.-Zug weist das höchste Niveau auf und dient als gymnasiale Vorbereitung, da im Kanton Bern ein Besuch des Gymnasiums erst ab der 9. Klassenstufe möglich ist.
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„Spez.Sek.“ genannt – je die hinsichtlich Geschlechterbilder am traditionellsten sowie egalitärsten eingestellten Klassen teil. In diesen Klassen wurden zunächst eine Deutsch- und Mathematiklektion videographiert, danach in geschlechtergetrennten Halbklassen akustisch aufgezeichneten Gruppendiskussionen durchgeführt. Im Folgenden sollen nun einige Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen näher betrachtet und gleichzeitig mit unterstützenden wie auch kontrastierenden Beispielen aus den videogestützten Unterrichtsbeobachtungen diskutiert werden. Bei der Auswertung wurde in beiden Fällen induktiv vorgegangen, indem die Auswertungskategorien aus den Daten selbst generiert wurden.
3.2 Qualitative Ergebnisse - Gruppendiskussionen Im Folgenden werden Daten aus zehn von insgesamt zwölf geschlechtergetrennten Gruppendiskussionen in Klassen der 8. Jahrgangsstufe auf dem Real-, Sekundar- sowie Spez. Sek.-Niveau diskutiert. Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt dabei auf dem möglicherweise diskriminierenden Verhalten von Lehrpersonen gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie auf den leistungsrelevanten bzw. schulerfolgsrelevanten Verhaltensweisen und Einstellungen der Jugendlichen und damit auf der Frage nach möglichen Gründen für die vergleichsweise schlechteren Schulleistungen der Schüler. So sollen zum einen übereinstimmende Aussagen in allen Gruppen, zum anderen auch geschlechtsund schulniveautypische Äußerungen hinsichtlich der Themen (diskriminierendes) Verhalten der Lehrperson gegenüber Schülerinnen und Schülern, schulisches Arbeits- und Lernverhalten, Lernstrategien sowie schulische Leistungsorientierung und Leistungsaspirationen im Zusammenhang mit Schulerfolg beleuchtet werden. Bei der offen gestellten Einstiegsfrage nach Faktoren, welche für das schulische Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler ausschlaggebend sind, zeigt sich gerade bei den Jungengruppen, und dies unabhängig vom Schulniveau, eine besonders intensive und detaillierte Wortmeldung in Bezug auf die Bedeutung des Lehrpersonverhaltens sowie die damit einhergehende Klassenführung und Unterrichtsqualität für das schulische Wohlbefinden. Demnach sollten Lehrpersonen einen offenen, lockeren und humorvollen Umgang mit der Schülerschaft pflegen. Ein von der Lehrkraft ausgehendes schülerorientiertes Verhalten, ihr Interesse für die Anliegen und (schulischen) Probleme der Schülerinnen und Schüler und ihre Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, wird dabei ebenso geschätzt und gewünscht wie ein kompromiss- und lösungsorientiertes Verhalten der Lehrperson, die sich durch Kommunikations- und Hilfsbereitschaft den Schülerinnen und Schülern gegenüber auszeichnet. Dies auch gerade im Hin-
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blick auf die künftige Berufswahl und Lehrstellensuche der Jugendlichen, was folgender Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion von Jungen auf dem Sekundarschulniveau verdeutlicht: Cm:
Unsere Klassenlehrerin ist da sehr, sehr interessiert, dass wir möglichst schnell, und dass möglichst alle etwas finden für die Zukunft. Da hilft sie einem auch. Ja, da ist sie einfach sehr ehrgeizig. Y: Sie, oder was? Cm: Ja. Aber sie ist eigentlich sehr, sehr an uns interessiert, wie es uns geht und so, da ist sie sehr gut. Am: Mhm. Y: Das findet ihr schon gut? Cm: Ja. Am: Also ich finde es auch gut. Also mein Vater ist manchmal ein bisschen geizig. Sie hat ihm jetzt zum Beispiel auch gesagt, ich kann ihr meine Bewerbungen schicken und sie druckt sie nachher für mich aus, weil wir keinen Drucker haben. Jetzt habe ich ihr so fünf Bewerbungen geschickt und jetzt hat mir mein Vater endlich einen Drucker gekauft. Jetzt kann ich sie selber ausdrucken, aber bis dahin sind wir eigentlich jeden Tag schnell zusammengesessen und haben zusammen geredet, das ist gut gewesen. Cm: Ja, sie unterstützt uns schon sehr. (aus: G12_J_Sek; Position: 191–201)8
Weiter wird anhand der Aussagen der Jungengruppen besonders deutlich, dass ein autoritäres Verhalten der Lehrperson das schulische Wohlbefinden beeinträchtigt. So haben autoritäre bzw. „strenge“ Lehrpersonen ein schlechteres Verhältnis zur Klasse, pflegen keinen offenen Austausch mit den Schülerinnen und Schülern, teilen schneller Strafaufgaben aus als weniger strenge Lehrkräfte und zielen aus Sicht der Schülerinnen und Schüler mit den von ihnen aufgestellten autoritären Regelungen und Disziplinierungsmaßnahmen auf eine Unterordnung der Klasse oder einzelner Schülerinnen und Schüler. Zudem wird von Seiten der Jungen auf die ungünstigen Auswirkungen eines solchen Lehrpersonverhaltens auf die eigene Lern- und Arbeitsmotivation bzw. auf das eigene (Arbeits-)Verhalten hingewiesen. Im Vergleich dazu gehen die Aussagen der Mädchen, auch unabhängig vom Schulniveau, weniger detailliert auf die Bedeutung des Lehrpersonverhaltens für 8
Legende zur Gruppendiskussion: Y steht für den Leiter bzw. die Leiterin der Diskussion, welche(r) stets ein(e) Mitarbeiter/-in aus dem Forschungsprojekt war. Die Buchstaben m bzw. w kennzeichnen das Geschlecht der Diskussionsteilnehmer/-innen (es wurden geschlechtergetrennte Gruppendiskussionen durchgeführt), wobei mittels einem vorangestellten Buchstaben, z.B. in Form von Am oder Bw, die Äußerungen den entsprechenden Schülerinnen und Schülern zugeordnet wurden. Konnte bei der schriftlichen Transkription der Gruppendiskussionen eine genaue Zuordnung der Aussagen zum jeweiligen Schüler bzw. zur jeweiligen Schülerin nicht erfolgen, wurden die Äußerungen mit ?m bzw. ?w gekennzeichnet.
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ihr schulisches Wohlbefinden ein. Bei beiden Geschlechtern herrscht Konsens darüber, dass Lehrpersonen auf die schulischen Bedürfnisse, Anliegen und Fragen der Lernenden eingehen sollten.
3.2.1 Diskriminierung durch Lehrpersonen? Was diskriminierendes Verhalten einzelner Lehrkräfte gegenüber bestimmten Schülerinnen und Schülern angeht, wird von den Mädchen wie auch den Jungen Kritik angebracht. Aber es zeigt sich auch hier die interessante Tendenz, dass das Thema Diskriminierung durch Lehrpersonen bei den Jungen (unabhängig vom Schulniveau) häufiger und intensiver diskutiert wird als in den Mädchengruppen. Grundsätzlich kann nach Aussagen der Mädchen wie auch der Jungen von einer überwiegend fairen Behandlung und Unterstützung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrpersonen ausgegangen werden. Die Jungen äußern sich jedoch konkreter, was mögliche, von einzelnen Lehrkräften ausgehende Diskriminierungsformen, betrifft. Dazu gehören das – aus Schülersicht nicht gerechtfertigte – Austeilen von Verwarnungen oder Sanktionen, ständiges Aufrufen leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler im Unterricht wie auch eine unfaire Handhabung geltender Bewertungsstandards durch Lehrpersonen. Exemplarisch kann dies an folgendem Ausschnitt einer Gruppendiskussion von Jungen auf Sekundarschulniveau aufgezeigt werden: Y: Cm: Y: Am: Cm: Y: Am:
Y: Am: Cm: Am: Y: Cm:
Ja. Oder gibt es auch Lehrer oder Lehrerinnen, bei denen ihr wirklich schon mal den Eindruck gehabt habt, dass sie nicht so ganz fair sind? Hm, ja (gedehnt). …,dass einzelne einfach viel schneller eine Strafe bekommen, zum Beispiel. Ja, ja! Ja, das stimmt. Gibt es das? Bei unserem Mathelehrer, […]. Der ist wirklich manchmal sehr gemein. Wenn jetzt zum Beispiel die Mädchen vergessen ihre Aufgaben zu machen, also nicht machen, dann, dann sagt er einfach: Also, dann machst du es auf morgen oder so, und wir Jungen müssen immer gerade in das Zimmer rüber und bekommen Strafaufgaben, wenn wir etwas vergessen. Wir müssen die nachher noch zusätzlich machen. Mhm. Also, das ist schon gerade ein bisschen unfair. Das ist jetzt in letzter Zeit nicht mehr so viel vorgekommen, aber im ersten Jahr ist das (…) Ja. Mhm, habt ihr stark den Eindruck gehabt. Nur die eine, die wird, finde ich, einfach auch ein bisschen schlecht gemacht. Er nimmt eigentlich immer sie dran.
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Ja. Und, das ist schon nicht so…, weil sie nicht gerade die hellste in Mathe ist. Da ist es schon nicht so unterstützend, würde ich sagen. Mhm. Das ist für sie quasi eher unangenehm, oder? Ja. Ja. Ja, sie sagt das nachher auch.
Mhm. Oder zum Beispiel auch bei Tests. Also ich habe jetzt gar nichts gegen jemanden, der von der Real immer in die Sek. hoch kommt 9, also in Mathe. Bei den Tests schreibt er (der Lehrer) immer hin, Darstellung wird mitbewertet, wenn man die Darstellung gut macht. Man hat immer gleich 0 Punkte und der andere (Schüler), bei dem das einfach grausam aussieht, einfach ein Geschmier und so, der aber (in Mathematik) sehr gut ist, der hat sofort eine 610, wenn er nur alles richtig hat. Cm: Mhm. Er bezieht die Darstellung nachher trotzdem nicht mit ein. Y: Mhm. (aus: G12_J_Sek; Position 208–259)
Wo Mädchen eher von einer vereinzelten Diskriminierung der Schülerinnen und Schüler, unabhängig vom Geschlecht, sprechen, nehmen Jungen durchaus ein geschlechtsbezogenes, diskriminierendes Verhalten einzelner Lehrkräfte wahr. Ist von einem solchen diskriminierenden Verhalten die Rede, betonen Jungen hauptsächlich ihre im Vergleich zu Mädchen stärkere Benachteiligung, zum Beispiel in der Vergabe angeblich besserer Noten an Mädchen bei gleicher Leistung, im häufigeren Austeilen von Strafen an Jungen, in einem weniger freundlichen Umgangston der Lehrpersonen bei Verwarnungen an Jungen wie auch in einer als stärker empfundenen Rücksichtnahme von Lehrpersonen gegenüber Mädchen bei Verständnisschwierigkeiten. Dies veranschaulichen u.a. die folgenden Äußerungen von Jungen auf der Real- und Sekundarschulstufe: Bm:
In der Klasse gibt es zwei Mädchen, die reden viel. Wenn ich oder jemand anders mit einem Nachbarn redet und der Mathe-Lehrer merkt es, dann ist das etwas anderes als bei den beiden. Em: Er sagt ihnen die ganze Zeit: Noch einmal, dann setzen wir euch auseinander. Aber die sitzen jetzt glaube ich schon ein Jahr nebeneinander und es hat sich nichts geändert. Bm: Bei uns ein paar Mal, dann können wir den Platz wechseln. Em: Bei uns wird nach einer Woche, wenn wir ganz leise reden, gewechselt. Am: Wenn ein Mädchen und ein Junge reden, werden sie auch auseinander gesetzt. Einfach wenn Mädchen und Mädchen zusammen sind nicht. (aus: G02_J_Real; Position: 162–171)
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Die verschiedenen Leistungsniveaus sind insofern durchlässig als einzelne Fächer im jeweils höheren oder tieferen Niveau besucht werden können. In der Schweiz stellt die 6 die beste, die 1 die schlechteste Note (Zensur) dar.
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Am: Cm: Bm: Cm: Y: Cm: Y: Cm: Y: Am: Cm: Am:
Die Mädchen reden die ganze Zeit. D. mit N. Ja. Sie tun einfach (…) Ich meine, die Mädchen sind ja auch nicht immer so schweigsam. Nein, aber da sagen die Lehrer meistens nichts. Ja. Einfach bei den Jungen. Ja. Ja. Ist fast immer so. Und man hört es auch, beim ersten Mal, also, wenn er (der Lehrer) uns warnt, dann sozusagen in einem bösen Ton, und wenn er bei ihnen (den Mädchen) etwas sagt, dann schaut er sie einfach zuerst blöd an, schaut sie an, bis sie aufpassen und das macht er bei uns nicht, bei uns sagt er es einfach gerade laut heraus und bei ihnen sagt er es eigentlich viel weniger zornig. Und das ist auch schon benachteiligt. (aus: G12_J_Sek; Position: 208–259)
Diese seitens der Jungen angesprochene Benachteiligung im Vergleich zu Mädchen lässt sich anhand des zur Verfügung stehenden Videomaterials teilweise bestätigen, aber auch widerlegen. Insgesamt ist in den gefilmten Unterrichtslektionen nur eine geringe Diskriminierung von Mädchen und Jungen durch die Lehrpersonen festzustellen. In der Regel lassen sich Verwarnungen an die Schülerinnen und Schüler durch deren vorausgegangenes Verhalten und entsprechende Ermahnungen erklären und rechtfertigen. Aus den bisher ausgewerteten Videosequenzen geht hervor, dass sich Jungen im Vergleich zu Mädchen öfter den gestellten Aufgaben und Anforderungen im Unterricht widersetzen und so von Lehrpersonen auch häufiger verwarnt werden. Da in einem solchen Fall die Verwarnung gerechtfertigt und als Reaktion auf das vorhergehende Verhalten zu verstehen ist, kann nicht von einer Diskriminierung der Jungen gegenüber den Mädchen gesprochen werden. Aus den Videosequenzen geht zwar durchaus hervor, dass einzelne Lehrpersonen gelegentlich auf gleiche Verhaltensweisen der Schülerinnen und Schülern unterschiedlich reagieren und das zu Ungunsten der Schüler. Dies ist in einer Sekundarklasse zu beobachten: Während der Unterrichtslektion gibt der Lehrer der Klasse zu verstehen, dass der zu bearbeitende Auftrag nicht in Teamarbeit gelöst werden darf. Zwei der Schülerinnen schwatzen dennoch miteinander. Der Lehrer reagiert darauf, indem er die beiden fragt: „Ist noch etwas unklar?“ Eine der beiden Schülerinnen stellt daraufhin eine Frage und der Lehrer beantwortet diese. Auch nach dieser Episode unterhalten sich die beiden Schülerinnen leise weiter, ohne dass der Lehrer in der Folge nochmals darauf reagiert. Im Anschluss daran schwatzen zwei der Schüler miteinander. Der Lehrer wendet sich zu einem der beiden Schüler und sagt: „Einzelarbeit, U.! Jetzt darfst du
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nicht Hilfe holen.“ Der Schüler arbeitet nach dieser Verwarnung still für sich weiter, ohne nochmals den Versuch zu wagen, sich mit einem seiner Mitschüler auszutauschen. Trotz desselben Vergehens zeigt sich in dieser Sequenz eine Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen durch die Lehrperson. Während diese bei den Mädchen davon ausgeht, dass eine Unklarheit im Lösen des Auftrags besteht und die Mädchen deshalb miteinander schwatzen, wird der mündliche Austausch zwischen den Jungen als Auflehnung gegen die von der Lehrperson erteilte Anweisung zur Einzelarbeit verstanden. Wo die Lehrperson auf das gegen die Anweisung verstoßende Verhalten der Mädchen mit zusätzlichen Erklärungen für den erteilten Auftrag reagiert, werden die Jungen für dieselbe Verhaltensweise mit einer Ermahnung durch die Lehrkraft konfrontiert. Auffällig ist des Weiteren, dass sich diese Ermahnung nur an einen der beiden schwatzenden Schüler richtet. In diesem Fall ließe sich aus der Sicht des verwarnten Schülers, das Verhalten der Lehrperson durchaus als benachteiligend und diskriminierend deuten. Neben vereinzelten Jungen diskrimierenden Situationen lassen sich in den videographierten Unterrichtssequenzen auch Diskriminierungen zu Lasten der Mädchen beobachten. Bemerkenswert ist dabei, dass die Mädchen nicht wie die Jungen aufgrund ihres Verhaltens diskriminiert werden, sondern aufgrund tieferer Leistungserwartungen seitens der Lehrpersonen – insbesondere im Fach Mathematik. Dazu ein Beispiel aus einer Unterrichtsszene einer Realklasse: Während der Mathematiklektion sammelt der Lehrer im Anschluss an eine Phase der selbständigen Gruppenarbeit die von den Lernenden erarbeiteten Ergebnisse. Dabei fragt er im Plenum jede Gruppe nach ihrer Lösung, bis auf eine Mädchengruppe, die er wortlos übergeht. Kurze Zeit später äußert sich ein Schüler zu einer Frage des Lehrers. Der Lehrer antwortet ihm sogleich mit den Worten: „Du meinst das ganz sicher richtig!“ Es stellt sich allerdings heraus, dass es sich um ein Missverständnis handelt und der Schüler gar nicht dasselbe meint wie sein Lehrer. Während der Lehrer auf der einen Seite einer Mädchengruppe, die im Video durch ihre langsame Arbeitsweise auffällt, von vornherein nicht zutraut, ein mathematisches Ergebnis in der Klassenrunde präsentieren zu können, spricht er auf der anderen Seite einem Schüler vorschnell und zu Unrecht die richtige Lösung einer Mathematikaufgabe zu.
3.2.2 Geschlechtstypisches Verhalten in der Schule Untersucht man die Aussagen der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf leistungsrelevante bzw. schulerfolgsrelevante Verhaltensweisen und Einstellungen, demonstrieren die Aussagen der Jungen zu ihrem schulischen Arbeits- und
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Lernverhalten eine je nach Schulniveau stärker oder schwächer an Minimalismus orientierte Lern- und Arbeitsweise. So sind sich viele Jungen auf der Realstufe zwar bewusst, dass sie zu wenig oder nicht gut lernen, geben sich aber mit ihrem Lerneinsatz zufrieden und werten oftmals knapp genügende Noten bereits als Leistungserfolg. Schulerfolg wird mit dem Erreichen tiefer Leistungsziele, wie (knapp) genügende Noten, gleichgesetzt, was mit einem minimalen Lernaufwand einhergeht. Dieser minimalistische Ansatz spiegelt sich auf dem Realschulniveau ebenso im Bereich der Lernmotivation wider. Eine erhöhte Lernmotivation bzw. ein erhöhter Lerneinsatz findet sich da nur bei leichteren Lernthemen und Fächern, die keine hohe Lernanstrengung von Seiten der Jungen erfordern. So herrscht nach Aussage von Jungen eine ablehnende Haltung vor allem gegenüber Fleißaufgaben wie dem Lernen von Grammatik oder Vokabeln, die in ihren Augen zeitaufwendig sind und Ausdauer erfordern. 11 Auch viele Jungen auf Spez.Sek.-Niveau betreiben bei ihren Prüfungsvorbereitungen eher einen minimalen Lernaufwand und bezeichnen solche Fächer als Lieblingsfächer, die ohne großen Lerneinsatz bewältigt werden können: Cm: Das sind vor allem die (Fächer), wo man nicht viel arbeiten muss. (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 180–184)
Dabei ist ihr Lern- und Arbeitsverhalten durchaus auf das Erzielen guter Noten bzw. auf eine allgemeine Wissenserweiterung ausgerichtet. Im Gegensatz zu den Jungen auf der Realstufe wird Schulerfolg bei Jungen auf dem höchsten Schulniveau mit dem Erreichen guter Noten bzw. hoher Leistungsziele in Verbindung gebracht. Zudem artikulieren sie mögliche Konsequenzen bei anhaltendem Leistungsmisserfolg wie auch die Bedeutung guter Noten für die berufliche Zukunft: ?m:
Wenn man ungenügend im Zeugnis ist, fliegt man von der Schule. Im zweiten Semester zählt es nicht mehr so. Aber später. Sind natürlich auch die Vorschlagsnoten, nachher für die Jobsuche wichtig. Dass man dann auch im zweiten (Semester) gute Noten hat. >Durcheinander@ ?m: Um eine gute Lehrstelle (zu bekommen). (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 288–304)
Ähnlich wie auf dem Realschulniveau stehen die Jungen auf der Spez. Sek.Stufe einem Arbeitsverhalten, das hauptsächlich auf Auswendiglernen setzt (so auch im Sinne von Fleißaufgaben), ablehnend gegenüber. Dabei gehen Fächer, 11 Ebenso betonen die Jungen auf Sekundarschulniveau den höheren Lernaufwand für Sprachtests gegenüber Mathetests.
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welche ein hohes Maß an Auswendiglernen erfordern, mit einem geringeren Fachinteresse sowie einem eingeschränkten Lerneinsatz einher. Diese Schüler berichten, dass sie nicht aus Interesse am Fach oder für einen nutzbringenden Wissenserwerb lernen, sondern einzig die Note bzw. das Halten des Notenschnitts im Vordergrund steht. Unabhängig vom Schulniveau zeigt sich weiter, dass der Lerneinsatz der Jungen von ihrem Interesse für ein Schulfach abhängt. Lernbereitschaft wie auch Lernmotivation hängen dabei stark vom eingeschätzten Nutzen eines Fachs für die eigene berufliche Zukunft ab. Schulfächern mit Praxis- und Alltagsnähe wird gemäß den Aussagen vieler Jungen mit einer höheren Lernmotivation und einem erhöhten Lern- und Arbeitseinsatz begegnet. Dies verdeutlichen die folgenden Ausschnitte aus einer Gruppendiskussion von Jungen auf Realschul- und Spez. Sek.-Niveau: Cm: Am: Y: Cm: Am: Dm: Am: Cm:
Außer Französisch habe ich nicht gern. Ich auch nicht. Einfach vom Fach her. Ja. Dort ist es auch egal, welcher Lehrer unterrichtet. Schon seit der 5. Klasse habe ich das (Fach) nicht gern gehabt. Dann ist man auch nicht motiviert. Dann nützt gar nichts. Seit der 5. Klasse habe ich angefangen und wir können noch nicht mal einen Text (auf Französisch) schreiben. >Gelächter@ Dm: Ich sehe keine Fortschritte. Cm: Wir sind jetzt in der neunten, da sollte man schon langsam einen Brief schreiben können. Dm: Hätten wir vier Jahre Englisch, könnten wir es perfekt. Am: Ja. Y: Weshalb ginge es dort? Dm: Dort sind die Wörter viel einfacher zu lernen, das merke ich mir viel schneller. Cm: Ich auch. Am: Das Grammatikalische ist leichter, und es motiviert einen. Dm: Wenn man weiß, dass man es (Englisch) an allen Orten brauchen kann. Am: Das findet man auch cool. Dann motiviert es einen und man arbeitet. In Französisch will man, dass die Stunde schnell vorbei geht. Cm: Das ist wirklich so. Dm: Wie will man in die Ferien ohne Englisch? (aus: G08_J_Real; Position: 274–301) ?m: ?m: ?m: ?m: […] ?m:
Es kommt darauf an, was du für einen Beruf machst. Für den Beruf interessierst du dich auch, dafür lernst du auch. Journalist wäre ein geiler Beruf. Dafür könntest du lernen. Brauchst auch Sprachen. Ein paar Fächer lernt man für das Wissen.
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?m: Y: ?m: […] ?m:
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Ich würde gerne einen Job im Bereich Wirtschaft und Recht machen. Weiß nicht, ob ich Mathematik dort brauche. Du überlegst dir, was das Fach für den Job bringt? Ja.
Wenn einer weiß, dass er die Matura macht, muss er das nicht. Aber ich überlege mir, eine Lehre zu machen. Da kommt es auf das Zeugnis an. Dann ist es nicht gut, wenn ich überall eine 4 habe. ?m: Mit überall 4ern strengst du dich ungeheuer wenig an. ?m: Es kommt darauf an, in welchem Bereich du arbeiten willst. ?m: Z.B. im wirtschaftlichen Bereich. (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 350–382)
Des Weiteren machen die Jungen auf der Realstufe deutlich, dass eine Erledigung der Hausaufgaben nur dann als notwendig erachtet wird, wenn (fachliche) Vorlieben und Interessen für das entsprechende Schulfach bestehen. Ebenso stellen Jungen unabhängig vom Schulniveau, einen positiven Zusammenhang her zwischen den eigenen Lernfortschritten in einem Fach und ihrer Lernmotivation. Umgekehrt berichten Jungen auf dem Spez.Sek.-Niveau, dass infolge eines Leistungsmisserfolgs trotz großem Lerneinsatz die eigene Lernwirksamkeit geringer eingestuft wird, was zu einer verminderten Lern- und Leistungsbereitschaft führt: Fm:
Wir machen meistens das Minimum von dem, was man muss. Aber das reicht. (Gelächter) ?m: Langt es dir meistens. Gm: Das hat mich in der letzten Zeit angeschissen in Französisch, in den Tests. Immer so um eine 4. Habe gedacht: Es ist genügend, aber ich wäre gerne besser. Dann habe ich angefangen zu lernen, ziemlich viel zu lernen auf den Test. Aber dann habe ich immer noch nur eine 4 gehabt. Y: Dann hast du gefunden, es lohnt sich nicht? Gm: Gedacht: Es lohnt sich effektiv nicht. Am: Es ist manchmal so: Wenn du richtig lernst, kannst du mit höllisch wenig Aufwand sehr gut sein, und manchmal... Cm: Wenn du die richtige Lerntaktik hast... (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 268–287)
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Mädchen auf Spez.Sek.-Niveau. Auf Leistungsmisserfolge trotz hohem Lerneinsatz folgen zunächst Demotivation, danach die Herabsetzung oder Einstellung der Lernbemühungen für ein Schulfach: Bw: Y: Ew:
Dumm ist, wenn man sich fest anstrengt und dann eine schlechte Note hat, ist man enttäuscht. Dann lernt man beim nächsten Mal weniger. Das ist spannend. Könnt ihr mehr dazu sagen? Wenn man ungenügend in einem Fach ist und dreimal eine 6 braucht, um genügend zu werden. Wenn man dann nur eine 5.5 macht, denkt man,
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jetzt reicht es sowieso nicht mehr, und lernt dann nicht mehr so viel, nur ein wenig die Wörtchen. Man schaut ein bisschen, wie viel man braucht. Y: So ein wenig strategisch die Noten abschätzen? Hw: Ja. >Zustimmendes Gemurmel@ […] Kw: Ich hatte Mühe in Mathematik. Dann habe ich mich sehr angestrengt und auch Nachhilfe gehabt. Aber es ist nicht gut geworden. Dann bin ich enttäuscht gewesen, habe nicht gewusst, woran es liegt. Lw: Dann ist man demotiviert. Wenn man viel lernt und es geht in die Hosen. Dann fragt man sich, wie viel muss ich denn machen, damit es gut kommt? ?w: Man (denkt), das ist ein doofes Fach, wo ich nicht gut bin. Dann lässt man es einfach. (aus: G05_M_Spez_Sek; Position: 78–115)
Die Mehrheit der Jungengruppen besonders auf dem Real- und Spez.Sek.Niveau räumen ein, dass die Freizeit sie stark vom Lernen für die Schule ablenkt. Die Schüler der Spez. Sek. lassen sich vor allem durch den Computer, diejenigen des Realniveaus durch schönes Wetter ablenken. Offenbar ziehen diese Jungen insgesamt ihre Freizeitaktivitäten dem Erledigen von Hausaufgaben vor, was ihren minimalistischen Lerneinsatz noch verstärkt: Dm:
Es gibt Aufgaben, die mache ich gerne daheim, und es gibt Aufgaben, die scheißen mich an, und dann lasse ich sie sein. Am: Ich bin auch so. Cm: Manchmal ist es zu heiß bei dem Wetter. Dann mag ich keine Hausaufgaben machen, dann gehe ich lieber raus ins Freibad. (aus: G08_J_Real; Position: 245–248)
Es gibt in den Spez.Sek.-Klassen aber durchaus Jungen, die einsehen, dass die hohe Ablenkungsgefahr durch Freizeitaktivitäten eine Selbstdisziplinierung für Lernen in der Freizeit erfordert: Y:
Woran liegt das, wenn man weiß, man sollte lernen, und macht es doch nicht? ?m: Bei mir ist es meistens die Ablenkung. Ich denke, jetzt könnte ich lernen, für eine bessere Note, aber nachher, die Ablenkung. ?m: Ich gehe in mein Zimmer. Da der Lernhaufen, da mein Computer. Entscheide mich für den Computer und bleibe dann dort für den Rest des Tages. Ein wenig gamen. Comics lesen und nachher ein schönes Mädchen. >Gelächter@ Y: Es gibt Freizeitsachen, die verlockender sind (als lernen)? ?m: Ja. Und das raus gehen. >Durcheinander@ ?m: Verlockend, aber manchmal muss man einfach. Y: Geht das allen so? ?m: Man muss sich ein bisschen zusammen nehmen.
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?m: Dann geht es schnell, eine halbe Stunde. Nachher kannst du wieder. >Durcheinander@ ?m: Wir haben schon ausreichend Freizeit. Genug hat man eigentlich nie. Aber wir haben schon recht viel. (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 305–320)
Gemäß den Äußerungen der Jungen auf Spez.Sek.-Niveau hängt die zur Verfügung stehende Freizeit von den persönlichen Leistungsaspirationen wie auch dem individuellen Lernverhalten ab: Hohe Leistungsaspirationen erfordern im Allgemeinen ein hohes Lernpensum, was auf Kosten der Freizeit geht, so die Aussagen der Jungen auf Spez.Sek.-Niveau. Im Vergleich zu den Jungen zeigen die Mädchen, insbesondere auf Sekundarschul- und Spez.Sek.-Niveau, eine höhere Anstrengungs- und Lernbereitschaft, gerade was die Hausaufgabenerledigung und Prüfungsvorbereitung angeht. Dabei wird Leistungserfolg im Sinne guter Noten als eine Bestätigung für den erbrachten Lerneinsatz angesehen und Leistungsmisserfolge (z.B. in Form schlechter Noten) werden nicht einfach abgetan, sondern es wird nach möglichen Ursachen – etwa Wissenslücken oder mangelhaften Lerntechniken – für den Misserfolg gesucht.
3.2.3 Sind Schülerinnen und Schüler unterschiedlich motiviert? Was die Leistungsorientierung sowie Leistungsaspirationen der Schülerinnen und Schüler betrifft, betonen Mädchen wie Jungen über alle Schulniveaus hinweg die Eigenverantwortung gegenüber dem eigenen Lern- und Leistungsverhalten. So sind sich Mädchen und Jungen darüber einig, dass man nur für sich selbst, aus eigenem Antrieb heraus, lernen sollte und gute Noten nicht für Eltern oder Lehrpersonen, sondern hauptsächlich für einen selbst erzielt werden. Wer nicht lernt, seine Hausaufgaben nicht erledigt oder vom Unterricht fern bleibt, darf sich über schlechte Leistungen nicht wundern und muss die Konsequenzen tragen, so der gängige Ton: ?m:
Man sieht meistens, wer sie (die Hausaufgaben) nicht gemacht hat. Die sind schlecht oder müssen auf einen Test hin viel lernen. ?m: Wer nichts macht, ist selber Schuld. Em: Mein Bruder kommt jetzt in die Prima. Bei dem hat die Lehrerin gesagt, dass sie nicht auf die Absenzen schaut. Jeder ist selber Schuld, wenn er fehlt. Ihm fehlt der Stoff. Ich finde, das ist richtig so. Wenn man fehlt, schadet man sich selber. (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 258–266)
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224 ?w:
Die Eltern sagen bei einer ungenügenden(?) Note: Siehst du, du hättest mehr lernen sollen. Aber es ist kein Druck da, dass ich eine Sechs schreiben muss. Ich muss einfach lernen, wenn ich es nicht tue, bin ich selber Schuld, wenn ich ungenügend bin. Es ist an mir, ob ich lernen will oder nicht. (aus: G07_M_Real; Position: 98–101)
Zudem verweisen die Jungen des Öfteren auf die Notwendigkeit individueller fachlicher Begabung für den Lernerfolg. Demnach lässt sich eine mangelnde fachliche Begabung etwa in Mathematik oder einem Sprachfach nur schwer durch einen höheren Lerneinsatz kompensieren. Die starke Betonung der Begabung für schulischen Erfolg durch Schüler dürfte ein weiterer Faktor für ihre vergleichsweise geringere schulische Anstrengung sein. Wo bei den Jungen, über alle Schulniveaus betrachtet, Fachinteresse, Lernund Leistungsmotivation sowie fachliche Begabung als notwendige Faktoren für den Lern- und Leistungserfolg diskutiert werden, gehen die Äußerungen seitens der Mädchen weniger auf die Bedingungen des schulischen Lern- und Leistungserfolgs ein als vielmehr auf die allgemein wichtige Bedeutung guter Noten für ihr Selbstwertgefühl sowie den späteren Bildungsweg und die beruflichen Perspektiven. Die Meinung, dass gute Noten wichtig sind für den späteren Bildungsweg, und damit für die beruflichen Perspektiven und die Berufschancen, wie auch, dass sie gute Optionen für die anstehende Lehrstellensuche eröffnen, wird von einem überwiegenden Teil der Mädchen unabhängig vom Schulniveau vertreten. Weiter räumen die Mädchen auf Sekundarschulniveau ein, dass nicht nur die Schulnoten für die Realisierung beruflicher Ziele ausschlaggebend sind, sondern auch Fleiß und Ausdauer diesbezüglich wichtige Faktoren darstellen. Die Meinung geht so weit, dass sich beruflicher Erfolg auch ohne gute Schulnoten erarbeiten lässt, wenn jemand nach der Schule nur fleißig und beharrlich genug für seine bzw. ihre beruflichen Ziele arbeitet. Eine hohe Schulbildung am Gymnasium bedeutet in den Augen dieser Mädchen nicht automatisch beruflichen Erfolg und Zufriedenheit: Y: Cw: Bw:
Y:
Ja, o.k. Und dann spielt natürlich die Schule eine große Rolle, dass ihr eure Zukunftspläne realisieren könnt. Habt ihr den Eindruck, die Schule hilft euch, die Zukunftspläne zu realisieren? Ja, die Schule spielt sicher eine Rolle, vor allem wenn man nachher eine Lehrstelle sucht. Ja, also ich kenne jetzt recht viele Erwachsene und Verwandte von mir, die sind früher in der Schule eine Null gewesen und jetzt sind sie (…) also, es hat später teilweise auch mit Fleiß zu tun, dass man später dafür arbeitet. Mhm.
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?w:
Es kommt eigentlich nicht nur auf die Noten an. Also, wenn jemand gut ist, aber Fleiß spielt auch eine Rolle. Es kommt auch darauf an, was man später werden will. Y: Ja. Führt das noch ein wenig aus. Das ist spannend. ?w: Die Stars oder so. Die sind früher meistens auch nicht gut in der Schule gewesen, dafür besser in Musik oder so oder in Schauspiel. Sie haben sich den Erfolg auch erarbeitet, sie sind nachher fleißig gewesen. Hingegen jemand, der vielleicht das Gymnasium gemacht hat und schlau gewesen ist, hat am Ende dann doch nicht, was er zukunftsmäßig gewollt hat. (aus: G11_M_Sek; Position: 252–259)
Im Vergleich zu den Aussagen der Jungengruppen zeigt sich auf Seiten der Mädchen ein Zusammenhang zwischen dem Fachinteresse und dem Leistungsstand (der Note) in einem Schulfach. Gleichzeitig verstärken gute Noten die Leistungs- und Lernbereitschaft der Mädchen für das jeweilige Fach, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie einen (guten) Notenschnitt halten wollen. Auch geben die Mädchen eine emotionale Vereinnahmung durch gute bzw. schlechte Noten zu erkennen, wobei diese wiederum Auswirkungen auf das Selbstkonzept bzw. Selbstwertgefühl der Schülerinnen hat. So berichten die Mädchengruppen auf dem Real- und Sekundarschulniveau ausführlich darüber, dass das Erzielen guter Noten stets mit Freude über den Leistungserfolg verbunden ist und als Bestätigung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten – also eines positiven Selbstkonzepts – empfunden wird. Hingegen werden schlechte Noten mehrheitlich mit eigener Unfähigkeit in Verbindung gebracht, was auf eine misserfolgsorientierte Attribuierung deutet. Leistungsmisserfolg geht mit empfundenem Ärger der Schülerinnen einher und hat teilweise zur Konsequenz, dass sich der Lerneinsatz bei der folgenden Prüfungsvorbereitung erhöht. In einigen Fällen gibt es Äußerungen zu einem selbst auferlegten, jedoch kontrollierbaren Leistungsdruck bei eintretenden Leistungsmisserfolgen wie schlechten Prüfungsnoten. Dies geht aus einer Diskussion der Mädchen auf Sekundarschulniveau hervor: ?w:
[…] Y: […] Cw: Y: Ew: […]
Also, mir sind die Noten schon wichtig. Wenn sie gut sind, freue ich mich auch, und wenn sie schlecht sind, ja, rege ich mich schon ein wenig darüber auf. Dann sage ich mir einfach, dass ich das nächste Mal mehr lernen muss, dann sollte es eigentlich klappen. Ja, weitere Meldungen zu den Noten? Also, mir sind sie auch wichtig, und wenn ich mal eine schlechte Note habe, mache ich mir manchmal selber ein bisschen Druck. Wie ist das bei den anderen? Bei mir auch. Jetzt, wo ich auf Lehrstellensuche bin, setze ich mich eben auch ein bisschen zu fest unter Druck und so…
Elisabeth Grünewald, Stefanie Gysin und Dominique Braun
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Hast du es dann immer im Griff? Ja. Die Noten sind mir auch wichtig, aber noch wichtiger ist die Lehre. Also, wenn die Note gut ist, weiß ich nachher, ja, ich habe genug gelernt und, wenn ich eine schlechte Note habe, versuche ich heraus zu finden, was genau ich nicht gekonnt habe. (aus: G11_M_Sek; Position: 190–222)
Die starke Identifikation mit guten Noten kommt vor allem bei den Schülerinnen auf Realschulniveau zum Ausdruck. Gute Noten bedeuten hier Erfolg, (Selbst-)Bestätigung und soziale Anerkennung, darüber hinaus auch eine Selbstbehauptung gegenüber skeptischen Leistungseinschätzungen. Nach Aussagen dieser Mädchen liegt gerade in letzteren eine starke Motivation gute Leistungen zu erzielen: Y:
Zurück in die jetzige Zeit. Sind euch gute Noten wichtig? Wie ist es für euch selber? Aw: Für mich ist es sehr wichtig. Ein gutes Zeugnis ist wichtig, wenn man eine Lehrstelle sucht. Dann auch für mich selber. Um zu zeigen, ich kann es. Bei einer schlechten Note habe ich das Gefühl, wie wenn ich es nicht gechecked habe. Das ist nicht das beste Gefühl. Es ist besser, wenn man eine Sechs in der Hand hat, als wenn man mit einer Dreieinhalb herum laufen muss. Ich mach es nicht für Eltern oder Lehrpersonen, ich mache es hauptsächlich für mich. Y: Wie ist es bei den anderen? ?w: Gleich. Ich will Köchin werden. Wenn man eine Lehrstelle will, darf man keine ungenügenden Noten haben, weil man sonst keine bekommt. Ich mache es auch für mich. ?w: Mit einer guten Note fühlt man sich auch besser als mit einer schlechten. ?w: Dann kann man den Leuten, die nicht daran geglaubt haben, zweigen, dass man etwas erreicht hat. Y: Gibt es solche Leute? ?w: Es gibt immer Leute, die denken, du erreichst nichts im Leben. (aus: G07_M_Real; Position: 150–169)
Vielleicht hat die Tatsache, dass sich diese Schülerinnen auf dem niedrigsten Schulniveau befinden, eine zentrale motivationale Bedeutung für deren (angestrebten) Schulerfolg, so auch in Bezug auf die Selbstbehauptung und Selbstbestätigung der Mädchen. Zudem spricht einiges dafür, dass Mädchen gerade des tiefsten schulischen Niveaus Noten dafür ‚benutzen’ ihr fragiles Selbstwertgefühl intakt zu halten. Sie haben dieses nicht nur gegenüber zu tiefen Erwartungen an sie zu verteidigen, sondern auch in einer Kultur, in welcher Weiblichkeit und die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht – wenn auch zunehmend subtil – als zweitrangig gilt. Dazu kommt, dass junge Frauen heute hochgradig sexualisiert, medial entsprechend repräsentiert und damit praktisch auf ihre physische Attraktivität reduziert werden – ein Phänomen, das nicht gleicherma-
Wie inszenieren sich Schülerinnen und Schüler im Unterricht?
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ßen auf junge Männer zutrifft. Vor diesem Hintergrund kann das Erreichen guter Noten als Strategie der Schülerinnen verstanden werden, der Welt, aber auch sich selbst zu zeigen, dass mehr hinter der Fassade ihrer Körperlichkeit steckt.
3.2.4 Leistungsorientierung und Leistungsaspirationen Fragt man Mädchen und Jungen danach, wie sie das andere Geschlecht bezüglich Leistungs- und Lernverhalten einschätzen, zeigen sich deutliche Übereinstimmungen mit den oben aufgeführten Aussagen und Selbsteinschätzungen. Die große Bedeutung guter oder schlechter Noten für das eigene Empfinden wird dabei von Seiten der Mädchen wie auch der Jungen als ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen den Geschlechtern genannt. So betonen die Mädchen, dass für Jungen Noten eine geringere Rolle spielen als für sie selbst: Aw:
Ich denke, Schule ist bei denen (den Jungen) auch wichtig, aber gute oder schlechte Noten spielen nicht eine so große Rolle wie bei Mädchen. Aw: Ihnen ist das Rausgehen mit Kollegen wichtiger. Ich bleibe lieber zuhause und lerne. Sie gehen lieber raus Fußball spielen. Anders ist bei ihnen das Thema Lernen und Noten. ?w: Und natürlich Zukunftspläne. Dw: Autos. Y: Möglichst schnell ein Auto kaufen. ?w: Ist bei den meisten jetzt ein Thema. ?w: Mit 18 ein Auto. Aber mit welchem Geld? ?w: Wo wollen sie das Geld hernehmen? (aus: G07_M_Real; Position: 185–198)
Jungen heben die gefühlsmäßige Bedeutung von Noten für Mädchen im Gegensatz zu ihnen selbst hervor. Sie beobachten bei Leistungsmisserfolg geschlechtertypische Reaktionen: Wo Mädchen anfälliger auf schlechte Leistungen reagieren und sich gegenseitig Trost spenden, zeigen Jungen keine emotionalen Reaktionen, sondern Sportsgeist – sie stecken schlechte Noten besser weg: Gm:
[…] ?m: Y:
Bei den Mädchen ist es so, wenn es nicht so ein Aufgabenproblem ist, sondern Streit oder schlechte Noten, dass sie einander eher so wie trösten. Wenn die Jungen schlechte Noten haben, sagen sie: „Ach, Scheiße – das nächste Mal gibst du dir mehr Mühe“, und es ist o. k. Mädchen sind anders empfindlich auf so Zeug. Teilweise sind sie wie Jungen und sagen sich, das nächste Mal mache ich es besser. Andere zieht es voll runter. Wieso?
Elisabeth Grünewald, Stefanie Gysin und Dominique Braun
228 Cm:
Mädchen sind auf so etwas ein bisschen anfälliger. […]. Sie zeigen es anders. (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 160–173)
Die angeblich unterschiedliche Wirkung schlechter Noten auf die Jungen ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zum einen gilt in der Jungengruppe das Coolness-Gebot auch und gerade gegenüber dem Thema Noten: Zuzugeben, dass man(n) eine Note nicht mit Fassung, ja, geradezu Gleichgültigkeit, trägt, würde äußerst uncool wirken. Auch hätte eine sichtbare emotionale Reaktion wie Trauer, Wut oder Ärger über eine schlechte Note eine ‚unmännliche’ Wirkung, denn (traditionelle) Männlichkeit zeichnet sich auch durch fehlende Emotionalität aus. Hier wäre ernsthaft zu fragen, ob nicht das scheinbar coole ‚Wegstecken’ schlechter Noten den Schülern letztlich schadet, da ihnen so die Möglichkeit entgeht, sich mit einem Misserfolg ehrlich auseinander zu setzen, indem sie z.B. nach Gründen und Verbesserungsmöglichkeiten fragen, wie es Mädchen, gemäß Aussagen aus den Gruppendiskussionen, sehr wohl tun: Lw: Y: Lw:
Die Noten sind mir auch wichtig, aber noch wichtiger ist die Lehre. Mhm. Also wenn die Note gut ist, weiß ich nachher, ja, ich habe genug gelernt und, wenn ich eine schlechte Note habe, versuche ich heraus zu finden, was genau ich nicht gekonnt habe. (aus: G11_M_Sek; Position: 220–222)
Beide Geschlechter nennen einen minimalistischen Lerneinsatz als vor allem für Jungen typisch. Nach Einschätzung der Mädchen ist den Jungen ihre Freizeit wichtiger als die Schule und gute Noten, wogegen sie selbst eher zu Hause bleiben und lernen. Sie verweisen auf den unterschiedlichen Stellenwert von Lernen, Noten und Zukunftsplänen für Jungen und Mädchen. Die Jungen sehen dies ganz ähnlich. Sie nennen einerseits Freizeitablenkungen wie Videospiele, andererseits mangelnde Konzentration und Ausdauer sowie geringeren Ehrgeiz als mögliche Gründe für das eigene eingeschränkte Lernverhalten: Cm: Gm: […] Cm: Y: Cm: Hm: Gm:
Frauen fällt es leichter zu lernen. […]. Sie haben weniger Widerstand, um zu lernen. Jungen haben z.B. auch noch das Gamen. Es gibt viele hier, die gamen. Alle. Also, die Jungen haben Ablenkungen. Ist das typisch für Jungen, dass sie stärker angefressen sind? Oder Autos, Videospiele. Technik allgemein. Ist eher für den Mann. Die Frau ist mehr fürs Shoppen. Geld ausgeben.
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Cm:
Die Frau kann sagen: Ich lerne jetzt hurtig. Und nachher gehe ich noch bis 9 Uhr shoppen. Hingegen sagt der Junge: Ich mag jetzt nicht lernen. Wie lange darf ich gamen? Eine Stunde. Dann macht er das. Danach mag er immer noch nicht lernen. Dann folgt noch 1 Stunde gamen. Und so geht das dann weiter. (aus: G04_J_Spez_Sek; Position: 236–259) Y: Bm: Y: Bm: Em: Em:
Oder könnte es sein, dass Mädchen tendenziell mehr lernen als Jungen? Vielleicht haben sie einfach mehr Kondition. Mehr Ausdauer beim Lernen? Ja, mehr Ausdauer. Vielleicht auch Konzentration. Dass sie sich länger konzentrieren können. Vielleicht weil sie weiter entwickelt sind. Dass der Ehrgeiz etwas größer ist. Das ist eventuell auch ein Punkt. (aus: G02_J_Real; Position: 51–58)
Auch geben die Jungen zu erkennen, dass sie sich, im Gegensatz zu Mädchen, eher am Leistungsminimum orientieren und sich als maximales Leistungsziel meist nur das Erreichen einer genügenden Note setzen, was den erforderlichen Lernaufwand gering hält. Sie bestätigen ihre gegenüber Mädchen meist tieferen Leistungsaspirationen und verweisen auf deren stärkeren schulischen Ehrgeiz betreffend guten Noten. In den Augen der Jungen findet unter Mädchen teilweise ein Notenwettbewerb wie auch ein Konkurrenz- und Leistungskampf statt, dem sie sich selbst angeblich gänzlich entziehen: Y:
Man sagt ja in letzter Zeit häufig, dass Mädchen in der Schule besser sind als Jungen, von den Noten her. Findet ihr das auch? ?m: Dass Mädchen besser sind? Y: Speziell in Französisch. ?m: Frauen haben mehr Spaß an Sprachen. ?m: Normalerweise haben Frauen mehr Ehrgeiz für gute Noten. ?m: Natürlich gibt es auch solche (Jungen), die eine 6 haben wollen. Jungen, die etwas erreichen wollen. Mädchen sind aber mehr so. Y: Der Ehrgeiz? ?m: Zeigen Ehrgeiz für Proben. Y: Ihr habt das Gefühl, ihnen sind gute Noten wichtiger? >Bejahendes Gemurmel> Y: Ihr habt ja auch Freude an guten Noten. ?m: Wir haben schon auch Freude. ?m: Jungen sind aber mehr, dass sie ein wenig durchkommen. ?m: Wenn sie eine 4 schaffen, dann reicht es. Mädchen sagen, sie wollen eine 5.5. Jungen schauen einfach, dass es möglichst so reicht, um nicht abzusteigen. […]
Elisabeth Grünewald, Stefanie Gysin und Dominique Braun
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Die Mädchen in unserer Klasse machen manchmal einen Notenwettbewerb. Zum Spaß, weil sie gut sind. Sie können es sich leisten. Tut niemandem weh. Dort sind sie ziemlich ehrgeizig. Wollen besser als die anderen sein. Wollen über einer 5. Wir Jungen sind zu ernsthaft. Wir lernen nicht, um besser als ein anderer zu sein. Y: Ihr dürft nicht am Wettbewerb teilnehmen? >Kichern@ ?m: Wir wollen nicht. (aus: G06_J_Spez_Sek; Position: 327–349)
Die aus den Gruppendiskussionen hervorgegangen und oben diskutierten Unterschiede bezüglich Leistungsorientierung und Leistungsaspirationen zwischen den Schülerinnen und Schülern finden sich exemplarisch auch in den videographierten Unterrichtssequenzen wieder. Auch hier zeigen Schülerinnen im Vergleich zu Schülern öfter hohe Leistungsaspirationen und legen mehr Wert auf gute Noten. Jungen hingegen orientieren sich im Unterricht eher an den Minimalanforderungen und halten ihren Arbeits- und Lerneinsatz möglichst gering, wie dies folgende Videosequenz aus einer Realklasse verdeutlicht: Zu Beginn der Unterrichtslektion stellt eine Realschülerin laut die Frage: „Wann haben wir schon wieder die Prüfung? Am Montag?“ Darauf widersprechen einige Schülerinnen und Schüler und meinen, die Prüfung wäre bereits morgen. Dies wird vom Lehrer bestätigt, wobei er anfügt, dass es sich nur um eine kurze Lernkontrolle handle. Dazu meint dann eine Schülerin: „Es ist trotzdem eine Prüfung – man muss lernen und sich anstrengen!“ Ein Schüler ruft dazwischen: „Für das musst du doch nicht lernen!“ Auf diese Äußerung entgegnet der Lehrer dem Schüler, dass es doch besser wäre, sich auf die Lernkontrolle vorzubereiten, bei den Fehlern, die er immer noch mache. Es gibt jedoch, wenngleich seltener, auch Unterrichtssituationen, in denen Mädchen tiefe Leistungsaspirationen zum Ausdruck bringen. Dabei gehen die unterschiedlichen Leistungsaspirationen der Geschlechter durchaus mit beobachtbaren schulleistungsrelevanten Verhaltensweisen einher. So weisen Jungen nach den bisherigen Videoauswertungen im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen zwar nicht seltener schulleistungsförderliches Verhalten in der Klasse auf (z.B. um Hilfe bitten oder anderen Hilfestellung bieten), sie legen jedoch deutlich häufiger Verhaltensweisen an den Tag, die ihre Schulleistung mindern können (wie sich den gestellten Anforderungen widersetzen, das für den Unterricht notwendige Schulmaterial nicht dabei haben oder Faxen machen, statt sich auf den Unterricht zu konzentrieren).
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4 Zusammenfassung, Diskussion und Schlussfolgerungen Zusammenfassend können folgende Erkenntnisse aus dem qualitativen Datenmaterial gezogen werden: Hinsichtlich eines möglichen diskriminierenden Verhaltens der Lehrpersonen gegenüber den Schülerinnen und Schülern, überwiegt nach Aussagen der Mädchen und Jungen die faire Behandlung. Dies bestätigt sich in den aufgezeichneten und analysierten Unterrichtssequenzen. Das Thema Diskriminierung durch die Lehrperson wird von den Jungen (unabhängig vom Schulniveau) jedoch häufiger und intensiver diskutiert als in den Mädchengruppen. Zudem äußern sich die Jungen konkreter hinsichtlich möglicher, von einzelnen Lehrkräften ausgehender, Diskriminierungsformen gegenüber ihrem Geschlecht. Diese sind in unseren Daten interessanterweise immer auf das Verhalten von Jungen bezogen. Dagegen betrifft die in den Videos ersichtliche Diskriminierung gegenüber Mädchen ihre Leistung. Das zeigt sich im Mathematikunterricht, wo z.B. eine in Mathematik (angeblich) schwache Schülerin mehrmals im Klassenverband aufgerufen – und damit ihre Unkenntnis demonstriert – wird oder in einem anderen Fall, wenn eine Gruppe von Mädchen bei der Ergebnispräsentation als einzige übergangen wird. Umgekehrt deutet ein Mathematiklehrer die falsche mathematische Lösung eines Schülers kurzerhand als richtig um, was als positive Diskriminierung eines Schülers durch Zuschreiben von Leistungs(fähigkeit) zu interpretieren ist. Im Bereich leistungsrelevanter bzw. schulerfolgsrelevanter Verhaltensweisen und Einstellungen der Schüler/-innen verdeutlichen die Aussagen der Jungen gegenüber denjenigen der Mädchen eine allgemein stark an Minimalismus orientierte Lern- und Arbeitsweise, die wiederum in Abhängigkeit zum Schulniveau steht. So wird insbesondere auf dem niedrigsten Schulniveau (Realstufe) Schulerfolg bereits mit dem Erreichen tiefer Leistungsziele, wie (knapp) genügende Noten, gleichgesetzt. Im Vergleich zu den Jungen deuten die Aussagen der Mädchen auf eine stärkere emotionale Vereinnahmung durch gute bzw. schlechte Noten, was wiederum deren Selbstkonzept bzw. Selbstwertgefühl beeinflusst. Anhand der Aussagen aus den Gruppendiskussionen scheinen sich Mädchen somit stärker mit Noten zu identifizieren und weisen gegenüber den Jungen einen stärkeren schulischen Ehrgeiz sowie allgemein höhere Leistungsaspirationen auf. Auch in den videographierten Unterrichtssequenzen offenbart sich diese Tendenz, dass Schülerinnen im Vergleich zu Schülern öfter hohe Leistungsaspirationen zeigen und mehr Wert auf gute Noten legen. Jungen hingegen orientieren sich im Unterricht eher an den Minimalanforderungen und halten ihren Arbeits- und Lerneinsatz möglichst gering. Damit werden die Hauptbefunde in der bisherigen Literatur für die Berner Studie bestätigt, wonach die höheren Leistungen der Schülerinnen auf deren
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höhere (instrinsische) Motivation, einen größeren Lerneinsatz und stärkere Fokussierung auf Schulisches gegenüber außerschulischen Aktivitäten, sowie auf ein mehrheitlich regelkonformeres Verhalten im Unterricht zurückzuführen sind. Was die Berner Studie auch sehr deutlich aufzeigt ist, dass Schüler die Ursache für Leistungen vor allen in einer vorhandenen oder nicht vorhandenen Begabung für bestimmte Fächer sehen und dem Lerneinsatz wenig Wirkung zuschreiben, während Schülerinnen – genau umgekehrt – die Relevanz des Arbeitseinsatzes betonen und annehmen, dass sich Erfolg vor allem mit einem starken Engagement erreichen lässt. Angesichts dieser Faktorenkombination erscheint es sogar eher erstaunlich, dass die Schülerzensuren nur wenig unter denen der Schülerinnen liegen (nämlich ca. 0,2 Zensurpunkte). Wie lässt sich die Aussage mancher Schüler verstehen, sie würden von den Lehrpersonen stärker diskriminiert als ihre Mitschülerinnen, obgleich sich dies in den Unterrichtsaufnahmen (Video) nicht bestätigt? Es lassen sich folgende Vermutungen formulieren: Jungen sind sich aus ihren Familien und der medialen Umwelt oft gewohnt, dass ihnen mehr Rechte zustehen als Mädchen. Mit dieser Haltung ecken sie jedoch in der Schule an, da die meisten Lehrpersonen dem Gleichheitsanspruch verpflichtet sind. Diese Deutung würde auch den ‚Kampf’ zwischen Lehrpersonen und Schülern um die im Unterricht geltenden Regeln erklären. Vielleicht laufen Lehrpersonen dabei jedoch Gefahr, die Schüler – reaktiv oder präventiv – eher zu streng anzufassen. Jedenfalls dürfte mit der Annahme, dass etwa mit dem Schwatzen zweier Schüler eine Unterrichtsstörung beabsichtigt sei (vgl. Beispiel weiter oben), und mit einer entsprechenden Reaktion, nichtkonstruktives Verhalten eher gefördert als vermindert werden. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass Schüler aufgrund der nun bereits über Jahre geführten Diskussion einer angeblichen männlichen Benachteiligung in der Schule ihre Wahrnehmung entsprechend einstellen und besonders hellhörig sind gegenüber dieser Frage. Bemerkenswert ist ja, dass weder unsere Videoaufnahmen noch die Mitschülerinnen eine (systematische) Schülerdiskriminierung bestätigen können. Eine solche erhöhte Sensibilität könnte erklären, warum Schüler das Thema Diskriminierung intensiver und ausführlicher ansprechen als Schülerinnen, welche auch gelegentlichen Ungerechtigkeiten seitens der Lehrpersonen unterliegen, dies jedoch nicht gleichermaßen für erwähnenswert halten. Aus den beschriebenen Ergebnissen lassen sich abschließend einige Empfehlungen zuhanden der Lernenden und Lehrpersonen formulieren. Schülern sollte verdeutlicht werden, dass Erfolg immer ein Zusammenspiel von Begabung und Einsatz voraussetzt – „1 percent inspiration, 99 percent transpiration“. Auch sollen sie in der Schule gleiche Verhaltensmaßstäbe akzeptieren lernen wie sie für Schülerinnen gelten. Und schließlich wäre eine ehrliche und kritische
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Auseinandersetzung mit schlechten Leistungsrückmeldungen (Noten) eine wichtige Voraussetzung für bessere Leistungen. Schülerinnen sollten darin unterstützt werden, ihre Fähigkeitsselbstkonzepte zu erhöhen und ihren Selbstwert nicht so stark von guten Noten abhängig zu machen. Dafür sind sie auf angemessene Begabungszuschreibungen insbesondere für gegengeschlechtlich konnotierte Fächer (Mathematik) sowie auf positive Leistungserwartungen aus ihrem Umfeld angewiesen. Dies könnte sie vom Druck, sich dem Umfeld und sich selbst beweisen zu müssen, entlasten. Lehrpersonen sollten sich der besonderen Empfindlichkeit der Schüler hinsichtlich Diskriminierungen bewusst sein und entsprechende Schülererwartungen widerlegen können, indem sie Schülern und Schülerinnen gleichermaßen freundlich und positiv begegnen. Wenn sich Schüler nicht regelkonform verhalten, sollten sie primär einen harmlosen Grund darin sehen (etwa bei Schwatzen einen Austausch über das Unterrichtsthema), um nicht weitere Regelverletzungen zu provozieren. Bei Schülerinnen sollten sie unbedingt höhere Leistungsselbstkonzepte unterstützen, auch weil diese im späteren Berufsleben von größtem Wert sind. Dies gilt insbesondere für männlich konnotierte Fächer wie Mathematik. Dabei gilt es, eigene möglicherweise stereotype Erwartungen an Schülerinnen und Schüler kritisch zu reflektieren. Das Gleiche gilt umgekehrt für weiblich konnotierte Sprachfächer und Schüler. Wenn Geschlecht für Bildungserfolge und -laufbahnen zu einem irrelevanten Faktor werden soll, sind Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung so zu sensibilisieren und qualifizieren, dass sie die gegebenen Verbesserungsoptionen sowohl für Schüler wie Schülerinnen umsetzen können.
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Elisabeth Grünewald, Stefanie Gysin und Dominique Braun
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Werden Jungen von Lehrerinnen bei den Übergangsempfehlungen für das Gymnasium benachteiligt? Eine Analyse auf Basis der IGLU-Daten Martin Neugebauer
1 Einleitung In vielen schulischen Aspekten sind Mädchen heute erfolgreicher als ihre männlichen Altersgenossen. Sie bleiben seltener sitzen und seltener ohne Ausbildungsabschluss, erzielen dafür höhere Lesekompetenzen und bessere Schulnoten. Auch beim Übergang auf das Gymnasium sind Mädchen erfolgreicher als Jungen und erlangen in der Folge die höheren Bildungszertifikate (Blossfeld et al. 2009). Das war nicht immer so: Trendstatistiken zeigen, dass es in den Schulsystemen fast aller Länder der Welt in den letzten Dekaden zu einem geschlechtsspezifischen Wandel von Bildungserfolg gekommen ist (UNESCO 2009). Dieser Trend ist auch für Deutschland erkennbar. Für die Zeit ab 1953 ist in Abbildung 1 anhand der Abiturabschlüsse illustriert, wie die Mädchen die Jungen überholt haben. Im Jahr 1953 waren nur etwa 30 Prozent der Abiturienten weiblich. Dieser Anteil stieg relativ kontinuierlich und erreichte Anfang der 1980er Jahre die 50 Prozent Marke. Bis etwa 1990 erlangten ebenso viele Mädchen wie Jungen das Abitur. Seit den Neunziger Jahren schließen mehr Mädchen als Jungen das Gymnasium erfolgreich ab; im Jahr 2007 betrug der Anteil der Abiturientinnen 56 Prozent. Angesichts dieser Zahlen wurden in den letzten Jahren kritische Stimmen laut, die eine „Krise der Jungen“ (Dammasch 2007) oder sogar einen „war against boys“ (Sommers 2000) beklagen. Die verbesserte Situation der Frauen im Bildungssystem wird als Bildungsmisserfolg des männlichen Geschlechts interpretiert. In den wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatten über die Ursachen dieser „Jungenkrise“ wird immer wieder auf die Feminisierung des Lehrerberufs verwiesen (Arnot et al. 1999; Dee 2007; Diefenbach und Klein 2002; Driessen 2007; Hannan 2001; Horstkemper 1999; Preuss-Lausitz 2005; Rose und Schmauch 2005; Sexton 1969). Die Benachteiligung der Jungen, so die These, sei kaum verwunderlich, wenn im Lehrberuf fast ausschließlich Frauen anzutreffen sind. „Das schlechtere Abschneiden von Jungen liegt unter anderem daran, dass Kindergärten und Schulen weiblich dominiert sind“ (Bundesfamilienministerin Kristina Schröder in einem Interview in „Die Zeit“ vom 22.04.2010). Die Feminisierung, so die Argumentation, bringe A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Martin Neugebauer
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den Jungen vor allem bei der Bewertung von Schulleistungen Nachteile. Weil Lehrerinnen den Jungen weniger Verständnis entgegenbrächten und geringere Erwartungen an sie hätten, würden sie Jungen auch seltener für das Gymnasium empfehlen (vgl. Stamm 2008). Auf der Aggregatebene scheint die Feminisierungsthese plausibel zu sein. Gleichzeitig zu dem gestiegenen Schulerfolg der Mädchen gegenüber den Jungen ist in fast allen Ländern der westlichen Welt auch der Frauenanteil in der Lehrerschaft angestiegen (Eurostat 2009). Zur Illustration ist für Deutschland in Abbildung 1 neben den Abiturientinnenanteilen der nahezu parallel verlaufende Anstieg der Lehrerinnenanteile abgetragen, der von 1953 bis 2007 von 36 Prozent auf 69 Prozent gewachsen ist. Anfang der 1980er Jahre verflachen beide Kurven, ab etwa 1990 steigen sie wieder steiler an. Abbildung 1: Anteile der Abiturientinnen und Lehrerinnen an allgemeinbildenden Schulen (1953-2007) 70% 65% 60% 55% 50% 45% 40% 35% 30%
Abiturientinnen
20 07
20 04
20 01
19 98
19 95
19 92
19 89
19 86
19 83
19 80
19 77
19 74
19 71
19 68
19 65
19 62
19 59
19 56
19 53
25%
Lehrerinnen
Anmerkung: Der Lehrerinnenanteil bezieht sich auf den Frauenanteil unter allen hauptberuflichen Lehrkräften (Voll- und Teilzeitbeschäftigt) in allgemeinbildenden Schulen. Dies umfasst Grundund Hauptschulen (bis 1973 als Volksschulen bezeichnet, Hauptschulen bis 2006 inkl. schulartunabhängiger Orientierungsstufen), Real-/Mittelschulen, Gymnasien, Gesamtschulen und Schularten mit mehreren Bildungsgängen (SMBG) und Abendschulen. Bis 1990 früheres Bundesgebiet; 1991 Deutschland ohne Brandenburg und Sachsen-Anhalt; ab 1992 Gesamtdeutschland. Quelle: Statistische Jahrbücher, verschiedene Jahrgänge, eigene Berechnungen.
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Ob nun aber in der „Feminisierung der Schule“ die (kausale) Ursache des niedrigen Schulerfolgs der Jungen und des hohen Schulerfolgs der Mädchen liegt, ist bislang kaum untersucht. Dennoch versucht man vor allem in den angelsächsischen Ländern, den Anteil männlicher Lehrkräfte zu erhöhen (Driessen 2007). In Großbritannien (TDA 2010) als auch in Australien (ABC 2004) wurden von staatlicher Seite Initiativen gestartet mit dem Ziel, mehr Männer für den Lehrerberuf zu gewinnen. Auch in Deutschland gibt es in jüngster Zeit Bestrebungen, den Lehrerberuf für Männer attraktiver zu machen (BMFSFJ 2010). In diesem Beitrag soll die weit verbreitete Meinung, dass das Geschlecht des Lehrers einen Einfluss auf die Beurteilung von geschlechtsspezifischem Schulleistungen hat, empirisch überprüft werden. Der Fokus liegt dabei auf der Grundschulempfehlung (GSE), in der die Lehrpersonen empfehlen oder – je nach Bundesland – festlegen, welche Art der weiterführenden Schule ein Kind nach der Grundschule besuchen soll. 1 Die GSE ist im Zusammenhang mit der Fragestellung von besonderer Bedeutung. Zum einen sind die Vorgaben zur Vergabe der GSE in den meisten Bundesländern so formuliert, dass sich für die (überwiegend weiblichen) Lehrkräfte der nötige Interpretationsspielraum für geschlechtsspezifische Benachteiligungen bietet. Zum anderen spielt die GSE beim Übergang auf die weiterführende Schule und damit für die weitere Bildungs- und Erwerbskarriere eine überragende Rolle (Ditton und Krüsken 2006; Stubbe und Bos 2008; Wiese 1982), da sich die Eltern zu großen Teilen nach der GSE richten (Bos et al. 2004a; Bos et al. 2003; Ditton 1992; Lehmann und Peek 1997). Die Darstellung des Lehrerinnenanteils an allen allgemeinbildenden Schulen (Abbildung 1) verschleiert die Tatsache, dass der Lehrerinnenanteil an Grundschulen besonders hoch ist (2007: 88 Prozent). 2 Wenn nun die These stimmt, dass Jungen durch die Feminisierung der Lehrerschaft benachteiligt sind, dann sollten entsprechende Effekte in denjenigen Klassen besonders sichtbar werden, in denen die Grundschulempfehlung von überwiegend weiblichen Lehrkräften getroffen wird. Der empirischen Überprüfung geschlechtsspezifischer Benachteiligung bei der GSE ist zunächst die Frage vorgelagert, inwiefern man überhaupt von einer Krise der Jungen sprechen kann (Abschnitt 2.1). Anschließend werden die theo-
1
Die Empfehlung der Grundschule wird je nach Bundesland anders bezeichnet. Um Wortverwirrungen zu vermeiden, werden im Folgenden einheitlich die Begriffe „GSE“ oder „Empfehlung“ verwendet. Zum – je nach Bundesland – variierenden Einfluss der Grundschulempfehlung auf die Bildungsentscheidung vgl. Neugebauer (2010). 2 Besonders niedrig ist der Lehrerinnenanteil hingegen an Gymnasien (2007: 54 Prozent) und Hauptschulen (2007: 58 Prozent). Da die amtliche Statistik Grund- und Hauptschullehrer erst ab 1989 getrennt ausweist, wird für die lange Zeitreihe (Abbildung 1) der Frauenanteil an allen allgemeinbildenden Schulen dargestellt.
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retischen Grundlagen der Feminisierungsthese dargelegt – es wird also erörtert, warum weibliche Lehrkräfte Schüler gegenüber Schülerinnen benachteiligen sollten (Abschnitt 2.2) und warum diese Mechanismen besonders beim Übergang auf das Gymnasium relevant sein sollten (Abschnitt 2.3). Aus dem im Anschluss dargestellten Forschungsstand zur geschlechtsspezifischen Benachteiligung in den Berurteilungen der Lehrpersonen (Abschnitt 3) ergeben sich unmittelbare Anknüpfungspunkte für die eigene empirische Studie. In Abschnitt 4 werden die zu Grunde liegenden IGLU Daten und die Operationalisierungen der Variablen beschrieben, bevor in Abschnitt 5 untersucht wird, ob sich eine Benachteiligung in den Empfehlungen nachweisen lässt. Dabei zeigt sich, dass männliche Klassenkonferenzen verglichen mit weiblichen Klassenkonferenzen seltener Gymnasialempfehlungen aussprechen – und zwar für Mädchen und Jungen gleichermaßen. Eine Benachteiligung der Jungen durch weiblich besetzte Klassenkonferenzen findet nicht statt. Lehrer, so scheint es, urteilen insgesamt strenger als Lehrerinnen. Darüber hinaus finden sich Hinweise, dass Jungen bei den Gymnasialempfehlungen gar nicht benachteiligt werden, wenn man die Faktoren berücksichtigt, die laut den Vorgaben der Kultusministerkonferenz in die Empfehlung einfließen sollen. Jungen, die die gleiche Lernbereitschaft an den Tag legen wie Mädchen, werden sogar signifikant häufiger für das Gymnasium empfohlen. Abschließend werden die zentralen Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert (Abschnitt 6).
2 Die „Krise“ der Jungen, die Feminisierung des Lehrerberufs und die Bedeutung der Grundschulempfehlung Die Feminisierungsthese besteht aus zwei Teilen. Erstens wird konstatiert, dass die Jungen in ihrem Schulerfolg gegenüber den Mädchen zurückfallen. Zweitens wird dann die Feminisierung des Lehrerberufs, insbesondere in der Primarstufe, als Ursache für dieses Zurückfallen angesehen.
2.1 Gibt es eine „Krise der Jungen“? Ob man tatsächlich davon sprechen kann, dass Jungen hinter den Mädchen zurückfallen, hängt davon ab, wie Schulerfolg definiert und welche Altersgruppe betrachtet wird. Betrachtet man Bildungsabschlüsse als Indikator für Schulerfolg, zeigt sich dieser relative Nachteil der Jungen im Zeitverlauf sehr deutlich (vgl. Abbildung 1). Zieht man als Indikator jedoch Kompetenzen heran, relativiert sich dieses Bild. Auf Basis einer Meta-Analyse von Leistungstests in
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Schreiben, Mathematik und Naturwissenschaften stellen Nowell und Hedges (1998) fest, dass Geschlechtsunterschiede in Leistungstests über die letzten 30 Jahre relativ stabil geblieben sind. Auch mit Blick auf die Schulnoten zeigt sich, dass Mädchen bereits in den 1950er und 1960er Jahren bessere Noten erzielten als ihre männlichen Klassenkameraden (Rodax und Hurrelmann 1986). Eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Unterrichtsbereiche zeigt, dass Mädchen besser lesen, während Jungen besser rechnen können (Baker und Jones 1993; Bos et al. 2007; Bos et al. 2003; Buchmann et al. 2008; Marks 2007; Nowell und Hedges 1998; PISA-Konsortium 2000,2005). Bei den Schulnoten zeigt sich tendenziell, dass Mädchen bei gleichen Leistungen besser benotet werden: Auswertungen der IGLU Daten von 2001 zeigen, dass Jungen in der vierten Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Sachunterricht bei vergleichbaren Kompetenzen schlechter benotet werden als Mädchen. In Mathematik sind nach Kontrolle der Kompetenzen die Noten der Jungen besser als die der Mädchen, dieser Unterschied ist jedoch nicht signifikant (Valtin et al. 2005). Jungen scheinen ihre Kompetenzen nicht in gleichem Maße in Noten umsetzen zu können wie Mädchen. Ob dies auf die Feminisierung der Schule zurückgeführt werden kann, ist jedoch fraglich. Ebenso könnten geringere Selbstdisziplin (Duckworth und Seligman 2006), geringere Motivation oder höhere Arbeitsvermeidung (Steinmayr und Spinath 2008) der Jungen für die Differenzen verantwortlich sein. Zudem zeigt sich sowohl bei den Kompetenzen als auch bei den Noten, dass die Geschlechterdifferenzen auf höheren Schulstufen ansteigen (Buchmann et al. 2008; Willingham und Cole 1997). Das spricht insofern gegen die Feminisierungsthese, als das auf höheren Schulstufen die Geschlechterkomposition der Lehrerschaft ausgewogener ist. Es gibt sie also, die Geschlechterdifferenzen. Sie gehen jedoch keineswegs durchgängig zu Lasten der Jungen und sind tendenziell größer, je älter die Schüler sind – und je ausgeglichener die Geschlechterzusammensetzung des Kollegiums ist. Darüber hinaus haben die Mädchen die Jungen im Zeitverlauf nicht überholt, wenn man die Kompetenzen oder Noten heranzieht. Ein differenzierterer Blick auf die „Krise der Jungen“ lässt die populäre These von der Feminisierung unplausibler erscheinen, als dies in Abbildung 1 suggeriert wird. Vielmehr scheint es, dass Mädchen anders als früher ihre besseren Noten in entsprechende Bildungszertifikate umsetzen. Dieser Aspekt wird allerdings weitgehend vernachlässigt (Buchmann et al. 2008; Mickelson 1989). Die in der Öffentlichkeit geführte Debatte von der „Krise der Jungen“ läuft Gefahr, die Wirklichkeit zu vereinfachen (Budde 2009; Stamm 2008).
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2.2 Die Feminisierung der Lehrerschaft als Ursache? Nichtsdestoweniger wird die Feminisierung der Schule häufig herangezogen, um das schlechtere Abschneiden der Jungen zu erklären. Die Diskussion um eine nachteilige Wirkung von Lehrerinnen auf Jungen ist allerdings kein neues Phänomen. In den USA, in denen der Lehrberuf bereits Ende des 19. Jahrhunderts zum Frauenberuf wurde (Martino 2008; Rury 1989), gab es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kampagnen um mehr Männer für den Lehrberuf zu gewinnen. Auch zwischen den beiden Weltkriegen wurden Anstrengungen unternommen, um den Männeranteil im Lehrberuf zu erhöhen (Blount 2000; Martino 2008). Das Hauptargument hierfür war die Sorge, dass Jungen ohne gleichgeschlechtliche Rollenmodelle „verweichlichen“ würden und in ihrer männlichen Entwicklung behindert wären (Sexton 1969). Heute dagegen wird der Ruf nach mehr männnlichen Lehrkräften eher mit dem relativ niedrigen Schulerfolg der Jungen begründet. Im Hinblick auf die Forderung nach mehr männlichen Lehrkräften hat also eine gewisse Verschiebung in der Begründung stattgefunden. Unverändert in der zyklisch wiederkehrenden Debatte um mehr männliche Lehrkräfte ist aber die Fokussierung auf die Jungen. Vor allem Jungen würden durch das Fehlen von Männern im Lehrerberuf negativ in ihrer Entwicklung beeinflusst und erbrächten schlechtere Schulleistungen. Dabei wird jedoch vergessen, dass die Entwicklung des geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs ebenso durch den steigenden Bildungserfolg der Mädchen zu erklären ist. Die Argumentationslinien, die einen negativen Einfluss der Feminisierung des Lehrberufs auf den Schulerfolg der Jungen postulieren, lassen sich in zwei Gruppen einteilen.3 Die erste Gruppe von Argumenten nimmt an, dass weibliche Lehrkräfte einen negativen Einfluss auf die schulischen Leistungen von Jungen haben. Der Mangel an männlichen Rollenvorbildern, so die Argumentation, wirke sich negativ auf die Lernbereitschaft und in der Folge auf die Kompetenzentwicklung von Jungen aus . Eine zweite Gruppe von Argumenten geht davon aus, dass Jungen bei gleicher schulischer Leistung von weiblichen Lehrkräften schlechter bewertet werden (Arnot et al. 1999; Diefenbach und Klein 2002; Hannan 2001; Neugebauer et al. 2010 für eine detaillierte Darstellung). Verhaltensweisen, die den schulischen Alltag stören und vermutlich auch die schulischen Leistungen beeinträchtigen, sind bei Jungen häufiger als bei Mädchen 3 Darüber hinaus gibt es eine weitere Argumentationslinie, die die „Feminisierung der Schulkultur“ als Ursache für das Schulversagen von Jungen ansieht. Jungen haben schlechtere Schulleistungen, weil die Schule, unabhängig von dem Geschlecht der Lehrkräfte, in ihrer Wissensvermittlung „weiblich“ ausgerichtet sei (Bacher et al. 2008). Diese Argumente sind weitgehend unabhängig vom Geschlecht des Lehrkörpers und werden daher in diesem Beitrag nicht näher ausgeführt oder geprüft.
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anzutreffen (Eagly und Chrvala 1986). Möglicherweise werden Lehrerinnen durch solches Verhalten stärker „irritiert“ als männliche Lehrer, wenn sie als Maßstab die eigene geschlechtspezifische Sozialisation heranziehen. „Lehrerinnen prägen die Schulkultur, möglicherweise erwarten und prämieren sie solche Verhaltensweisen, die Mädchen im Rahmen ihrer Sozialisation einüben, Jungen aber nicht (in demselben Maß).“ (Diefenbach und Klein 2002: 950). Weil Lehrerinnen dem Verhalten von Jungen weniger Verständnis entgegenbringen und geringere Erwartungen an sie haben, würden sie Jungen auch seltener für Schulen mit höherem Anspruchsniveau empfehlen. Aber auch das tatsächliche Verhalten der Kinder kann bei Lehrerinnen anders sein als bei Lehrern und damit eine mögliche Benachteiligung der Jungen erklären (Helbig 2010; Neugebauer et al. 2010). So ist vorstellbar, dass Schülerinnen und Schüler sich bei gleichgeschlechtlichen Lehrkräften leistungsbereiter zeigen als bei gegengeschlechtlichen Lehrkräften, so dass eine bessere Benotung bei gleichgeschlechtlichen Lehrkräften die Folge höherer Leistungsbereitschaft wäre und nicht Folge bewusster oder unbewusster Bewertung.
2.3 Die Rolle der Grundschulempfehlung Die dargestellten Mechanismen wären besonders in der Grundschule bedeutsam, denn hier werden die Grundlagen für jedes zukünftige Lernen gelegt. Die Entscheidung am Ende der Grundschule über die weiterführende Schulform hat eine nachhaltigen Einfluss auf die weitere Bildungs- und Berufskarriere (z.B. Müller und Haun 1994). In der Grundschule ist der Anteil der Lehrerinnen verglichen mit anderen Schulformen am größten (2007: 88 Prozent). Die überwiegend weiblichen Lehrkräfte prägen durch die Vergabe der GSE die weiterführende Schulwahl maßgeblich mit (Bos et al. 2004b; Ditton und Krüsken 2006; Wiese 1982), indem sie in Form der GSE eine „Bildungsentscheidung“ für das jeweilige Kind treffen müssen (Neugebauer 2010). In den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz sind die Selektionskriterien bei der Vergabe der GSE sehr weit interpretierbar. Demnach sind neben „Kenntnissen und Fertigkeiten“ auch „Eignung, Neigung und Wille des Kindes zu geistiger Arbeit“ bei der Empfehlung zu berücksichtigen. Weiter heißt es, dass die Empfehlung „nicht nur die Leistungen in Bezug auf die fachlichen Ziele der Lehrpläne, sondern auch die für den Schulerfolg wichtigen allgemeinen Fähigkeiten“ berücksichtigen soll (KMK 2010: 4-7). Insgesamt soll also erkennbar sein, dass ein Kind die Anforderungen der jeweiligen Schulform erfüllen kann. Diese Vorgaben eröffnen den Lehrkräften einen „pädagogisch sinnvollen Entscheidungsspielraum“ (Maier 2007: 272) bei der Feststellung, welches Anforderungsniveau die weitere Lern-
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entwicklung des Kindes vermutlich am besten fördern wird (Bellenberg et al. 2004: 48; Cortina und Trommer 2003). Wenn nun die Feminisierungsthese zutrifft, sollten Jungen bei ansonsten gleichen Voraussetzungen seltener auf das Gymnasium überwiesen werden, wenn die für die GSE verantwortliche Klassenkonferenz weiblich dominiert ist. Mädchen wiederum sollten bei gleichen Kompetenzen häufiger auf das Gymnasium überwiesen werden, wenn die verantwortliche Klassenkonferenz weiblich dominiert ist.
3 Forschungsstand zur Feminisierungsthese Die empirische Evidenz zum Einfluss des Geschlechts der Lehrperson auf den geschlechtsspezifischen Schulerfolg von Kindern ist gemischt, wobei die Mehrzahl der Studien keine signifikanten Effekte findet. Dee (2007) berichtet für die USA, dass Jungen und Mädchen in der 8. Klasse sowohl höhere Testleistungen erzielen als auch vorteilhafter bewertet werden, wenn sie von einer gleichgeschlechtlichen Lehrkraft unterrichtet werden. Die Ergebnisse von Ammermüller und Dolton (2006) deuten darauf hin, dass in England Jungen im Alter von 13 Jahren bei Lehrern etwas höhere Matheleistungen erzielen als bei Lehrerinnen. Für Mädchen finden sie signifikante Vorteile in Englischtests, wenn diese von Lehrerinnen unterrichtet werden. Für die USA finden sie im Gegensatz zu Dee (2007) keine signifikanten Effekte des Geschlechts der Lehrperson. Für Kinder im Alter von 9 Jahren ergeben sich sowohl in England als auch den USA keine Effekte. Auch andere Autoren können den Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Lehrkraft und den Kompetenzen oder Schulnoten von Jungen und Mädchen nicht oder nur sehr schwach nachweisen (für die Niederlande: Driessen 2007; für die USA: Ehrenberg et al. 1995; für die Schweiz: Hadjar und Lupatsch 2011; für Schweden: Holmlund und Sund 2008; für Kanada: Sokal et al. 2007). Für Deutschland gibt es bisher erst zwei entsprechende Studien: Helbig (2010) untersuchte mit der Berliner ELEMENT-Studie, ob der Anteil männlicher Lehrkräfte an einer Grundschule Einfluss auf die Kompetenzen, Noten und Grundschulempfehlungen für Jungen und Mädchen am Ende der Grundschulzeit hat. Da in ELEMEMT selbst keine Informationen über das Geschlecht der Lehrkräfte enthalten sind, wurde den untersuchten Grundschulen mittels Onlinerecherchen der Anteil männlicher Lehrkräfte zugespielt. Die Studie liefert Hinweise, dass Jungen weder in ihrem Leseverständnis noch in ihren Mathematikkompetenzen von mehr männlichen Lehrkräften profitieren. Mädchen dagegen weisen bessere Leseleistungen auf, wenn sie Schulen mit einem höheren Lehrer-
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innenanteil besuchen. Auf die Mathematikkompetenzen hatte der Lehrerinnenanteil keinen Einfluss. Bei der Notenvergabe zeigt sich, dass Jungen in Schulen mit einem höheren Anteil männlicher Lehrpersonen bessere Mathematiknoten bekommen, in Deutsch jedoch nicht. Der gefundene Zusammenhang ist jedoch schwach. Bei den Mädchen war kein Einfluss des Anteils männlicher Lehrer auf die Notengebung erkennbar. Die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen hängen bei beiden Geschlechtern von den Noten ab, nicht jedoch vom Anteil männlicher Lehrer an einer Schule. Die Studie untersucht allerdings nicht den direkten Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Lehrkraft und dem Bildungserfolg der Schüler, sondern konzentriert sich auf den Einfluss des Anteils männlicher Lehrpersonen an Berliner Grundschulen. Unklar bleibt damit also, ob Jungen tatsächlich auch von einem Mann unterrichtet wurden und wie sich dies auf die Leistungen auswirkt. In diese Lücke stößt eine zweite Studie (Neugebauer et al. 2010), die erstmals in Deutschland das Geschlecht der unterrichtenden Lehrkraft direkt in Beziehung zur Kompetenzentwicklung und den Noten von Mädchen und Jungen setzt. Diese Untersuchung zeigt für Gesamtdeutschland unter Verwendung der IGLU Daten von 2001, dass weder Jungen noch Mädchen bei Kompetenzentwicklung oder Noten in Mathematik, Deutsch oder Sachkunde von einer Lehrperson des gleichen Geschlechts profitieren. Nominell erreichen alle Kinder bessere Noten bei weiblichen Lehrkräften, keine dieser Differenzen ist aber signifikant. Darüber hinaus stellen die Autoren fest, dass die Leseleistungen von Mädchen und Jungen signifikant schlechter sind, wenn sie in Deutsch vier Jahre lang von einem Mann unterrichtet wurden. Zwar lassen sich die Ursachen hinter diesem Befund nicht präzise benennen. Es wird jedoch deutlich, dass der pauschale Ruf nach mehr männlichen Lehrkräften unbeabsichtigte Folgen nach sich ziehen kann, die für die Kompetenzentwicklung bei Mädchen und Jungen sogar nachteilig sein können. Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob ein direkter Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der an der Grundschulempfehlung beteiligten Lehrkräfte und der Wahrscheinlichkeit einer Gymnasialempfehlung für Mädchen und Jungen besteht. Auf höheren Aggregatebenen gibt es dazu 3 Studien. Wie Helbig (2010) in seiner bereits erwähnten Untersuchung zeigen konnte, findet sich auf Schulebene für Jungen (nicht jedoch für Mädchen) nur ein indirekter, über die Schulnoten vermittelter Einfluss des Anteils männlicher Lehrer auf die Empfehlung. Ein solcher Zusammenhang konnte auf Kreisebene für den Übergang auf die Allgemeine höhere Schule (AHS) in Österreich ebenfalls nicht festgestellt werden (Bacher et al. 2008). Zu einem gegenläufigen Befund kommt eine Studie von Diefenbach und Klein (2002). Die Autoren stellen fest, dass der Anteil weiblicher Grundschullehrkräfte in einem Bundesland mit den geschlechtsspezifischen Hauptschulabschluss- und Abiturquoten zusammenhängt
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und schließen daraus, dass Jungen von weiblichen Lehrkräften benachteiligt werden. Allerdings überzeugen diese Studien hinsichtlich ihres methodischen Vorgehens nur bedingt, da sie durch die Analyse von Aggregatdaten auf Prozesse auf der Individualebene schließen. Die nachfolgenden Analysen schließen unmittelbar an die bisherigen Studien an und testen, ob und inwiefern Jungen bei der Gymnasialempfehlung durch weibliche Lehrkräfte benachteiligt werden.
4 Daten und Operationalisierungen Die empirischen Analysen dieses Beitrags wurden mit dem deutschen Datensatz aus der internationalen Progress in Reading Literacy Study von 2001 (PIRLS) durchgeführt (Mullis et al. 2003), die in Deutschland unter dem Akronym IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) bekannt ist. In IGLU wurden die Lesekompetenzen von Schülern am Ende der vierten Jahrgangstufe getestet. In 12 von 16 Bundesländern wurde die Untersuchung um Kompetenzmessungen in den Kernfächern Mathematik und Sachkunde erweitert. 4 Neben den Schulleistungstests wurden in IGLU umfangreiche Hintergrundinformationen durch Befragung der Schüler/-innen, sowie deren Eltern, Lehrpersonen und der Schulleitung erhoben. Die Stichprobenziehung verlief in einem zweistufigen Verfahren: Zunächst wurden proportional zur Einwohnerzahl zufällig Schulen gezogen, aus denen dann zufällig Klassen in Stufe 4 gezogen wurden. Innerhalb der gezogenen Klassen wurden im Prinzip alle Kinder sowie deren Eltern befragt. Die Teilnahmerate war mit rund 84 Prozent zufrieden stellend (Details: Bos et al. 2004a; Bos et al. 2003).5 5.943 Schülerinnen und Schüler an 168 Schulen umfasste die den Zufallskriterien genügende Stichprobe für die nationale Erweiterung IGLU-E. Die abhängige Variable ist die von der Klassenkonferenz ausgesprochene Grundschulempfehlung (GSE) am Ende der vierten Klassenstufe. 6 Einige Bundesländer mussten von den Analysen ausgeschossen werden, weil für sie keine GSE vorlag: In Berlin und Brandenburg findet der Übergang auf eine weiterführende Schule erst nach einer 6-jährigen Grundschulzeit statt. In Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Bremen besuchten im Jahr 2001 alle Schüler in der fünften und sechsten Klasse eine gemeinsame (schulartunabhängige) Orientierungsstufe
4
Die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt haben an der Erweiterung um Mathematik und Sachkunde (IGLU-E) nicht teilgenommen. 5 Grund für den im internationalen Vergleich etwas niedrigeren Wert ist vermutlich die in Deutschland notwendige schriftliche Einverständniserklärung der Eltern. 6 Die Angaben stammen direkt von den verantwortlichen Lehrkräften.
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(gemeinsame Förderstufe). Nach Ausschluss der genannten Bundesländer verbleiben 5022 Schüler aus 255 Klassen an 137 Schulen im Datensatz. Die Vielfalt der Schulsysteme hat zur Folge, dass systematische Vergleiche über die Bundesländer nur für das Gymnasium möglich sind, welches als einzige Schulart überall existiert.7 Aus diesem Grund wird die abhängige Variable für die späteren Analysen dichotomisiert in eine Empfehlung für oder gegen das Gymnasium. 35,2 Prozent der Kinder erhielten eine Gymnasialempfehlung und 64,8 Prozent eine Real- oder Hauptschulempfehlung. Um abzuschätzen, ob Jungen und Mädchen von gleichgeschlechtlichen Lehrkräften bei der Vergabe der GSE bevorzugt oder benachteiligt werden, muss das Geschlecht der an der GSE beteiligten Lehrkräfte ermittelt werden. Die GSE wird in aller Regel von einer Klassen- oder Versetzungskonferenz entschieden. Die Zusammensetzung der Konferenz ist in den Bundesländern im Detail unterschiedlich geregelt. Länderübergreifend gilt jedoch, dass diejenigen Lehrpersonen, die eine Klasse unterrichten, gemeinsam eine Entscheidung fällen. Zudem ist der Schulleiter oder die Schulleiterin stimmberechtigtes Mitglied der Konferenz.8 Für die vorliegende Fragestellung muss nun identifiziert werden, ob die Entscheidungsträger überwiegend weiblich oder männlich sind. In IGLU-E stehen Informationen zum Geschlecht der Deutsch-, Mathematik- und Sachkundelehrkräfte sowie der Schulleiter zur Verfügung. Diese können mit den einzelnen Schülern verknüpft werden. In einem ersten Schritt wurde eine Variable konstruiert, die anzeigt, ob die Lehrkräfte aller drei Hauptfächer ausschließlich weiblich, ausschließlich männlich, oder gemischtgeschlechtlich sind. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um dieselbe Lehrkraft, die alle drei Fächer unterrichtet (49,8 Prozent der Schüler/in-Lehrpersonen-Dyaden). In einem zweiten Schritt wurde das Geschlecht der Schulleitenden zugespielt. Insgesamt waren bei 33,8 Prozent der Schüler alle Hauptfachlehrpersonen sowie die Schulleiterin weiblich (= weibliche Klassenkonferenz). Bei 59,4 Prozent der Schüler war die Klassenkonferenz gemischtgeschlechtlich besetzt (= gemischte Klas-
7
So gibt es die Hauptschule als eigenständige Schulart nur in 10 von 16 Ländern, die Realschule sogar nur in 8, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass einige Länder diese Schularten (und damit auch die Empfehlungen) zusammengefasst haben. Durch die Dichotomisierung können wie im Falle Hamburg auch Länder in der Stichprobe verbleiben, in denen nicht zwischen Hauptschul- und Realschulempfehlung, aber zwischen Gymnasialempfehlung und weniger als Gymnasialempfehlung unterschieden werden kann. 8 vgl. etwa für BW: §10 Abs.1, §12 Abs. 2, §13 Abs. 1 Konferenzordnung des Kultusministeriums; NRW: §50 Abs. 2 SchulG; RP: §16 Abs. 2, §46 Abs. 2 Schulordnung für öff. Grundschulen, Verordnungspunkt 3.2 der Konferenzordnung; TH: §37 Abs. 3 ThürSchulG; HE: §135 Abs.2 HSchG; SN: §21 Abs.1 SOGS, §5 Abs.2 und §9 Abs.1 LKonf; HH: §62 Abs.1 und 2 HmbgSG; SH: §65 Abs.4 SchulG; SL: §12 Abs.1 und 2 SchumG.
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senkonferenz) und bei 6,8 Prozent gehörten ausschließlich Männer der Klassenkonferenz an.9 Für ein adäquates Überprüfungsmodell geschlechtsspezifischer Benachteiligung müssen alle für die GSE relevanten Einflussfaktoren kontrolliert werden. Die Regelungen zur Grundschulempfehlung sind Ländersache. Allerdings hat die Kultusministerkonferenz einige allgemeine Vorgaben definiert, nach denen sich die Bundesländer richten (KMK 2010: 4-7).10 Nach diesen Vorgaben sollen zum einen “Kenntnisse und Fertigkeiten“ der Kinder ausschlaggebend für die Empfehlung sein. Diese wurden mit Hilfe von standardisierten Leistungstests in den Bereichen Lesen, Mathematik und Sachkunde operationalisiert. Die Tests weisen laut Expertenmeinung eine hohe curriculare Lehrplanvalidität auf (vgl. Lankes et al. 2003). Zum anderen wurden auch die Noten in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachkunde berücksichtigt, in denen sich die Leistungseinschätzung der Kinder durch die Lehrkräfte widerspiegelt. Darüber hinaus sollen nach den Vorgaben der KMK aber auch „Eignung, Neigung und Wille des Kindes zu geistiger Arbeit insgesamt“ in der GSE berücksichtigt werden. Die allgemeine Eignung zu geistiger Arbeit wird über die Punktzahl erfasst, die ein Kind in einem allgemeinen kognitiven Fähigkeitstest (Intelligenztest) erreicht hat. Neigung und Wille zu geistiger Arbeit wird über die Lern- und Leistungsbereitschaft der Kinder erfasst. Die Eltern beurteilten dazu (auf einer 4er-Skala) sieben Aussagen zum Lern- und Leistungsverhalten ihres Kindes, bspw. "Mein Kind erledigt Hausaufgaben ordentlich und genau" oder "Mein Kind ist konzentriert und ausdauernd", aus denen eine Skala gebildet wurde (Eigenwert des ersten Faktors 3,43, Cronbachs Alpha .82). Als weitere Kontrollvariablen wurden die soziale Herkunft 11 und der Migrationshintergrund des Kindes berücksichtigt, die üblicherweise mit dem Schulerfolg zusammenhängen. In der Literatur werden häufiger Stadt/Land Disparitäten sowie Effekte der durchschnittlichen Klassenleistung („big fish little pond“ – Effekt) oder der Klassengröße auf die Wahrscheinlichkeit, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, berichtet. Mit den IGLU Daten ist es möglich, diese Einflussfaktoren zu kontrollieren. Alle im Folgenden berichteten multivariaten Analysen wurden zur Kontrolle unter Berücksichtigung dieser Faktoren gerechnet. Die Ergebnisse waren im Bezug auf die Fragestellung die gleichen.
9
Dass der Anteil der weiblichen Konferenzen nicht höher liegt, ist der Tatsache geschuldet, dass die meisten Schulen (56 Prozent der Schulen im Analysesample) einen männlichen Schulleiter haben. Traditionelle Geschlechterhierarchien herrschen also selbst im „feminisierten“ Lehrerberuf vor. 10 Die Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK) finden sich entsprechend in den Landesschulgesetzen zur Übergangsempfehlung wieder. 11 abgebildet über den sozioökonomischen Status der Eltern (HISEI) (vgl. Ganzeboom et al. 1992)
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Mit Blick auf die Item-Nonresponse hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Schätzung fehlender Werte durch multiple Imputationen gegenüber dem paar- oder fallweisen Ausschluss vorzuziehen ist (Rubin 1987; Allison 2001). Um die Unsicherheit aufgrund fehlender Werte zu berücksichtigen, wurden mit Hilfe des Stata Programms ICE (Royston 2007) für jeden fehlenden Wert 5 plausible Werte erzeugt. Die Analysen wurden nach dem von Rubin (1987) vorgeschlagenen Verfahren kombiniert.
5 Ergebnisse Zunächst werden in Tabelle 1 die Verteilungen der zentralen Variablen getrennt für Jungen und Mädchen dargestellt. Knapp 38 Prozent der Mädchen erhalten eine Gymnasialempfehlung, bei den Jungen sind es mit rund 33 Prozent signifikant weniger. Mädchen haben zudem bessere Kompetenzen und Noten in Deutsch. In Mathematik hingegen sind die Jungen kompetenter und erlangen in der Folge auch bessere Noten. In Sachkunde ist das Bild gemischt: hier weisen die Jungen höhere Kompetenzen auf, allerdings erhalten die Mädchen die etwas besseren Noten. Dies deckt sich mit früheren Befunden (vgl. Abschnitt 2.1). Bei dem allgemeinen kognitiven Fähigkeitstest schneiden Mädchen etwas besser ab als Jungen. Darüber hinaus legen sie eine höhere Lern- und Leistungsbereitschaft an den Tag, d.h. sie sind im Mittel konzentrierter, erledigen regelmäßiger und ordentlicher ihre Hausaufgaben, zeigen mehr Fleiß – kurzum: sie „tun mehr“ für die Schule. Im Hinblick auf askriptive Merkmale wie Migrationshintergrund oder soziale Herkunft unterscheiden sich Mädchen und Jungen erwartungsgemäß nicht. Auch die Zuteilung zu männlichen oder weiblich dominierten Lehrerkollegien variiert nicht systematisch mit dem Geschlecht der Kinder. Die Wahrscheinlichkeit beispielsweise eine weibliche Klassenkonferenz zu haben ist für Mädchen und Jungen gleich. Am häufigsten haben alle Kinder eine gemischtgeschlechtlich besetzte Konferenz.
Werden Jungen bei der Gymnasialempfehlung von weiblichen Lehrkräften benachteiligt? Nach der Feminisierungsthese sollte die Erhöhung der Männerquote an Grundschulen zu einer geringeren Benachteiligung der Jungen bei den Gymnasialempfehlungen führen. Demnach sollten männlichen Klassenkonferenzen Jungen häufiger auf das Gymnasium überweisen als weibliche Klassenkonferenzen. Umgekehrt sollten Mädchen häufiger auf das Gymnasium überwiesen werden,
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wenn die Klassenkonferenz weiblich dominiert ist. In Abbildung 2 ist der Anteil der Gymnasialempfehlungen von Mädchen und Jungen in Abhängigkeit von der geschlechtlichen Zusammensetzung der Klassenkonferenz dargestellt. Tabelle 1: Mittelwerte zentraler Variablen nach Geschlecht der Schüler
Gymnasialempfehlung
Mädchen 37,63 %***
Jungen 32,92 %***
Lesekompetenz Deutschnote Mathematikkompetenz Mathematiknote Sachkundekompetenz Sachkundenote kognitiver Fähigkeitstest Lern- und Leistungsbereitschaft
514,66*** 2,60*** 496,91*** 2,80*** 495,67*** 2,49** 49,02*** 3,04***
499,24*** 2,97*** 512,58*** 2,70*** 510,99*** 2,57** 47,91*** 2,79***
Klassenkonferenz
-männlich 6,78 % 6,85 % -gemischt 60,42 % 58,38 % -weiblich 32,79 % 34,77 % Migrationshintergrund 23,59 % 24,44 % Höchster ISEI der Familie 49,81 49,92 N 2456 2566 Anmerkung: Signifikante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen *** p < 0.01, ** p < 0.05, *p < 0.1 (zweiseitiger T-Test) Quelle: IGLU-E 2001, eigene Berechnungen
Es zeigt sich, dass alle Kinder, Jungen wie Mädchen, eine geringere Wahrscheinlichkeit haben eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, wenn die zuständige Klassenkonferenz ausschließlich männlich zusammengesetzt ist. Zwar scheinen insbesondere Mädchen von weiblichen Konferenzen zu profitieren. Ein differenzieller Effekt des Geschlechts der Lehrperson wie ihn die Feminisierungsthese annimmt, also eine positive Wirkung von männlichen Konferenzen bei Jungen und eine negative Wirkung bei Mädchen, lässt sich aber nicht erkennen. Eher liegt der Schluss nahe, dass eine Erhöhung des Männeranteils für Jungen wie für Mädchen die Wahrscheinlichkeit reduzieren würde, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Diese Schlussfolgerung wäre jedoch voreilig, denn der berichtete bivariate Zusammenhang könnte durch unbeobachtete Drittvariablen entstehen. So erhalten beispielsweise Kinder auf dem Land seltener eine Gymnasialempfehlung. Ebenso werden an Schulen mit geringerem Leistungsniveau seltener Schüler für das Gymnasium empfohlen. Wenn nun männliche Lehrkräfte eine höhere Wahr-
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scheinlichkeit haben, an ebensolchen Schulen zu unterrichten, wären vielmehr die Schulcharakteristika als die männlichen Lehrer verantwortlich für den beobachteten Effekt. Abbildung 2: Anteil der Gymnasialempfehlungen für Mädchen und Jungen in Abhängigkeit von der geschlechtlichen Zusammensetzung der Klassenkonferenz 0.5
0.4
0.3
0.2
0.1 39.5% 33.7% 26.9%
44.1% 35.1% 28.7%
35.4% 32.4% 25.1%
Insgesamt
Mädchen
Jungen
0
weibliche Konferenz
gemischte Konferenz
männliche Konferenz
Anmerkung: Insgesamt sind alle Differenzen auf dem 5% Niveau signifikant. Betrachtet man nur die Mädchen, ist die Differenz zwischen männlicher und weiblicher Konferenz auf dem 1% Niveau signifikant (t=4.08), die Differenz zwischen männlicher und gemischter Konferenz auf dem 6% Niveau (t= 1.92) und die Differenz zwischen weiblicher und gemischter Konferenz auf dem 5% Niveau (t= 2.83). Bei den Jungen ist nur die Differenz zwischen männlicher und weiblicher Konferenz auf dem 10% Niveau signifikant (t=1.88). Quelle: IGLU-E 2001, eigene Berechnungen
Um diesen Einwand zu prüfen, wurde in multinomialen logistischen Regressionen geprüft, ob die geschlechtliche Zusammensetzung der Klassenkonferenz systematisch mit der Urbanität des Schulstandortes, mit dem Anteil von Kindern aus armen Verhältnissen an der Schule, mit der Ausstattung der Schule, oder mit dem Bundesland variiert (tabellarisch nicht ausgewiesen). Dabei erwiesen sich einzig die bekannten Bundeslandunterschiede als signifikante Prädiktoren: Im Osten gibt es weniger männliche Lehrkräfte (vgl. Diefenbach und Klein 2002). Da aber nach den IGLU Daten die Wahrscheinlichkeit einer Gymnasialempfehlung weder für Jungen noch für Mädchen im Osten größer ist als im Westen,
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kann der Ost-Effekt den berichteten bivariaten Zusammenhang nicht wegerklären. Zur weiteren Überprüfung der Befunde wurden logistische Regressionen zur Vorhersage der Gymnasialempfehlung jeweils für Mädchen und Jungen berechnet (vgl. Tabelle 2). Dabei wurde versucht, möglichst genau diejenigen Aspekte empirisch abzubilden, aus denen sich die Empfehlung laut den Vorgaben der Kultusministerkonferenz ergeben soll. Zusätzlich flossen die soziale Herkunft sowie der Migrationshintergrund der Kinder in das Modell ein, die sich in vielen empirischen Studien als relevante Einflussfaktoren erwiesen haben. Es wurden für beide Geschlechter zunächst Modelle ohne die Schulnoten berechnet und anschließend Modelle, in denen die Schulnoten als zusätzliche Prädiktoren berücksichtigt wurden. Dargestellt sind vollstandardisierte Regressionskoeffizienten, die einerseits einen Vergleich der Effektstärken innerhalb eines Modells zulassen und andererseits einen Vergleich der Koeffizienten über genestete Modelle erlauben (Mood 2010; Winship und Mare 1984).12 Die Angaben zur Modellpassung (McFadden R², BIC, Wald) zeigen, dass sich die Gymnasialempfehlung mit diesen Variablen recht gut vorhersagen lässt. Die multivariaten Analysen, in denen die von der Kultusministerkonferenz vorgegebenen „Kenntnisse und Fertigkeiten“ (= Kompetenzen), „Eignung“ (= allgemeine kognitive Fähigkeiten) sowie „Neigung und Wille des Kindes zu geistiger Arbeit“ (= Lernbereitschaft und –verhalten) berücksichtigt werden, bestätigen insgesamt die bisherigen Erkenntnisse: Gemischte Konferenzen – der häufigste Fall (~60%) – vergeben an Mädchen nur tendenziell seltener Gymnasialempfehlungen als weibliche Konferenzen; bei Jungen ist diese Differenz nicht statistisch bedeutsam. Erneut zeigt sich aber auch, dass männliche Klassenkonferenzen alle Kinder signifikant seltener auf das Gymnasium überweisen als weibliche Klassenkonferenzen. Jungen werden von weiblichen Lehrkräften also nicht benachteiligt – im Gegenteil: weibliche Konferenzen erhöhen für Mädchen und Jungen die Chancen das Gymnasium zu besuchen.
Bewerten Lehrer strenger als Lehrerinnen? Es stellt sich die Frage, ob die Schülerinnen und Schüler von männlichen Lehrern seltener auf das Gymnasium überwiesen werden, weil diese strenger bewerten, oder weil die Kinder bei ihnen weniger lernen und daher gewissermaßen „folgerichtig“ seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten. Wie Tabelle 2 zeigt, 12 Bei der vollen Standardisierung werden alle X und die (latente) Y* Variable auf einen Mittelwert von 0 und eine Standardabweichung von 1 standardisiert. Die Standardisierungen wurden mit dem Stata ado listcoeff (Long und Freese 2006) berechnet.
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bleiben die negativen Effekte männlicher Konferenzen unter Kontrolle der Kompetenzen bestehen, was auf eine strengere Bewertung durch männliche Lehrkräfte hindeutet. Tabelle 2 Modellschätzungen zur Vorhersage der Gymnasialempfehlung am Ende der 4. Jahrgangsstufe (binäre logistische Regressionen) Mädchen M1 -0.0226** -0.0300*
M2 -0.0099 -0.0227*
Jungen J1 -0.0317*** -0.0125
J2 männliche Konferenz -0.0206** gemischte Konferenz -0.0063 weibliche Konferenz (= Referenz) Lesekompetenz 0.1527*** 0.0491*** 0.1449*** 0.0494*** Mathematikkompetenz 0.0860*** 0.0196* 0.0474*** 0.0047 Sachkundekompetenz 0.0184 0.0027 0.0173 0.0128 allg. kognitive Fähigkeiten 0.0593*** 0.0333*** 0.0557*** 0.0116 Lernbereitschaft 0.1704*** 0.0431*** 0.2134*** 0.0522*** Deutschnote -0.1338*** -0.1486*** Mathematiknote -0.1314*** -0.1464*** Sachkundenote -0.0832*** -0.0689*** HISEI 0.0878*** 0.0489*** 0.1064*** 0.0571*** Migrationshintergrund -0.0122 0.0262*** -0.0224 0.0175* N 2456 2456 2566 2566 Wald Test aller Koeff. (Chi2) 359.37*** 456.04*** 425.17*** 467.80*** Wald Test 5.42* 3.46 8.90** 8.57** Em. Kof = Eg. Kof. = E w. Konf =0 (Chi2) Pseudo R² 0.4469 0.6420 0.4353 0.6475 BIC 232417.697 143724.675 235837.681 139696.186 Anmerkung: Voll-standardisierte E-Koeffizienten, *** p < 0.01, ** p < 0.05, *p < 0.1, robuste Schätzung der Standardfehler mit Berücksichtigung der Cluster (Schulen), gewichtete Daten Quelle: IGLU-E 2001, eigene Berechnungen
Diese Einschätzung bestätigt sich durch die Neugruppierung der Daten in Tabelle 3. Dargestellt sind die verschiedenen, für die GSE relevanten Leistungsindikatoren nach der Geschlechterzusammensetzung der Klassenkonferenz. Dabei zeigt sich, dass sowohl die Kompetenzen als auch die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten in allen Fächern unabhängig vom Geschlecht der Lehrperson sind. Schlechtere Leistungen der Kinder können also nicht die selteneren Gymnasialempfehlungen bei männlichen Klassenkonferenzen erklären. Im zweiten Teil der Tabelle sind Bewertungsdimensionen abgetragen. Neben den bereits bekannten Unterschieden auf den Gymnasialempfehlungen ist erkennbar, dass es auch schon bei den Schulnoten signifikante Differenzen zwischen männlichen und weiblichen Klassenkonferenzen gibt: so werden Kinder in allen drei Fä-
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chern unabhängig von ihren Kompetenzen bei Lehrern schlechter bewertet als bei Lehrerinnen.13 Tabelle 3: Leistungsindikatoren getrennt nach der geschlechtlichen Zusammensetzung der Klassenkonferenz
Lesekompetenz Mathematikkompetenz Sachkundekompetenz allg. kognitive Fähigkeiten
weibliche Konferenz 511.70 a 510.70 a 507.27 a 48.80 a
gemischte Konferenz 504.02 a 501.77 a 501.36 a 48.18 a
männliche Konferenz 506.92 a 503.82 a 503.47 a 49,09 a
Gymnasialempfehlung 39,5 % a 33,7 % b 26,9 % c Deutschnote 2.72 a 2.81 a 2.94 b Mathematiknote 2.67 a 2.78 b 2.87 b Sachkundenote 2.45 a 2.55 b 2.72 c Lernverhalten und –bereitschaft 2.93 a 2.92 a 2.82 b Anmerkung: Mittelwerte mit unterschiedlichen Subskripten unterscheiden sich signifikant auf dem 5%-Niveau (2-seitiger T-Test), robuste Schätzung der Standardfehler mit Berücksichtigung der Cluster (Schulen), gewichtete Daten Quelle: IGLU-E 2001, eigene Berechnungen
Die GSE ist nicht die einzige Bewertung durch die Lehrpersonen. In erster Linie beurteilen Lehrkräfte die Leistung der Kinder in Form von Schulnoten, die dann wiederum in hohem Maße in die GSE einfließen. Ein Blick auf die Modellschätzungen M2 und J2 in Tabelle 2 zeigt, dass es hierbei scheinbar einen Geschlechtsunterschied gibt: Während Jungen auch unter Kontrolle der Schulnoten bei männlichen Konferenzen seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als bei weiblichen Konferenzen, verschwindet der Effekt bei den Mädchen. Bei ihnen ist die strengere Bewertung durch männliche Konferenzen also bereits komplett über die Noten vermittelt.
Wie wichtig ist die Zusammensetzung der Klassenkonferenz? Insgesamt betrachtet hat die geschlechtliche Zusammensetzung der Konferenz verglichen mit anderen Einflussfaktoren keinen starken Effekt auf die Empfehlung. Ein Vergleich der vollstandardisierten Koeffizienten (Tabelle 2) unterei13 Interessanterweise zeigt sich darüber hinaus, dass die (von den Eltern wahrgenommene) Lernbereitschaft von Kindern in Klassen mit männlichen Konferenzen etwas schlechter ist als bei den übrigen Kindern.
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nander ermöglicht Aussagen zur relativen Stärke der Prädiktoren. Dabei erweisen sich im Einklang mit früheren Studien bei simultaner Schätzung die Schulnoten – insbesondere in Deutsch – als die stärksten Prädiktoren (vgl. Bos et al. 2004b; Stubbe und Bos 2008).14 Die Lese- und Mathematikkompetenzen haben zwar einen starken Einfluss auf die Empfehlung, da sie aber zu einem großen Teil in die Noten einfließen und dadurch „absorbiert“ werden, haben sie bei einer simultanen Schätzung (unter Kontrolle der Noten) keinen großen eigenen Erklärungsanteil mehr. Die Sachkundekompetenz liefert in einer simultanen Schätzung keinen eigenständigen Erklärungsbeitrag zur Vorhersage der Empfehlung, anders als die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten, deren relative Vorhersagestärke aber nicht besonders gewichtig ist. Einen erheblichen Einfluss auf die Empfehlung hat das Lernverhalten. Ähnlich wie die Lesekompetenz fließt das Lernverhalten in erster Linie indirekt, vermittelt über die Schulnoten, in die Empfehlung ein. Darüber hinaus bleibt aber auch unter Berücksichtigung der Noten ein nachweisbarer Effekt. Von den sozialen Merkmalen erweist sich die soziale Herkunft auch unter Berücksichtigung leistungsbezogener (primärer) Effekte (Boudon 1974) als wichtiger Prädiktor, während der Migrationshintergrund bei simultaner Berücksichtigung der übrigen Faktoren einen leichten positiven Effekt hat.
Warum werden Jungen seltener für das Gymnasium empfohlen? Die Feminisierung der Schule ist also nicht dafür verantwortlich, dass Jungen seltener für das Gymnasium empfohlen werden – eher im Gegenteil. Woran liegt es dann, dass nur 33 Prozent der Jungen aber knapp 38 Prozent der Mädchen eine Gymnasialempfehlung bekommen? In Tabelle 4 sind (gepoolte) Schätzungen zur Vorhersage der Gymnasialempfehlung dargestellt, in denen das Geschlecht der Lernenden als Prädiktor berücksichtigt wird. In Modell 1 zeigt sich zunächst das bekannte Muster (vgl. z.B. Lehmann und Peek 1997): Jungen werden seltener für das Gymnasium empfohlen als Mädchen. Verglichen mit der Benachteilung der bildungsfernen Schichten (HISEI) sind die Geschlechterunterschiede aber klein. Das gilt auch, wenn zusätzlich die Kompetenzen und kognitiven Fähigkeiten berücksichtigt werden (Modell 2). Wird nun zusätzlich die Lernbereitschaft berücksichtigt, dreht sich der Effekt um. Anders ausgedrückt: Ein Junge der bei vergleichbaren Kompetenzen und Fähigkeiten eine 14 Technisch bedeutet der Effekt der Deutschnote: Eine um eine Standardabweichung bessere Deutschnote erhöht die logarithmierte Chance auf eine Gymnasialempfehlung durchschnittlich um 0.13 Standardabweichungen.
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gleichgroße Lernbereitschaft an den Tag legt wie ein Mädchen, wird häufiger – und nicht seltener – für das Gymnasium empfohlen. Die zentrale Bedeutung der Lernbereitschaft wird deutlich, wenn man die Koeffizienten vergleicht. In einem Modell ohne Noten (Modell 3) ist sie der stärkste Prädiktor, gefolgt von der Lesekompetenz und der sozialen Herkunft. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der Noten (Modell 4) zeigt sich erneut, dass die Lernbereitschaft wie auch die Kompetenzen einen starken Zusammenhang mit den Noten aufweisen, die bei einer simultanen Schätzung alle anderen Einflussfaktoren überragen. Auf diesen Befund wird zusammen mit den übrigen Erkenntnissen dieses Beitrags in der abschließenden Diskussion eingegangen. Tabelle 4: Modellschätzungen zur Vorhersage der Gymnasialempfehlung am Ende der 4. Jahrgangsstufe (Binäre logistische Regressionen) M1 Junge männliche Konf.
-0.0506*** -0.0604***
M2
M3
M4
-0.0219** -0.0377***
0.0200** -0.0277***
0.0148** -0.0145**
gemischte Konf. -0.0512*** -0.0201 -0.0210 -0.0145 weibliche Konf. (= Referenz) HISEI 0.3362*** 0.1124*** 0.0974*** 0.0533*** Migrationshintergrund -0.1042*** -0.0040 -0.0173* 0.0220*** Lesekompetenz 0.2141*** 0.1498*** 0.0487*** Mathematikkompetenz 0.1168*** 0.0661*** 0.0112 Sachkundekompetenz 0.0182 0.0186 0.0086 allg. kognitive Fähigkeiten 0.0792*** 0.0568*** 0.0219*** Lernverhalten und -bereitschaft 0.1959*** 0.0482*** Deutschnote -0.1450*** Mathematiknote -0.1387*** Sachkundenote -0.0763*** N 5022 5022 5022 5022 Wald Test aller Koeff. (Chi2) 522.87 764.74 687.19 903.43 Pseudo R² 0.1044 0.3434 0.4398 0.6428 BIC 771801.826 554494.252 466791.573 282188.572 Anmerkung: Voll-standardisierte E-Koeffizienten, *** p<0.01, ** p<0.05, *p<0.1, robuste Schätzung der Standardfehler mit Berücksichtigung der Cluster (Schulen), gewichtete Daten Quelle: IGLU-E 2001, eigene Berechnungen
6 Zusammenfassung und Diskussion Sowohl in der fachwissenschaftlichen als auch in der bildungspolitischen Diskussion um die „Krise der Jungen“ erfährt die Feminisierung der Lehrerschaft
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zunehmende Aufmerksamkeit. Der Feminisierungsthese zufolge ist es dem gestiegenen Lehrerinnenanteil – vor allem in der Primarstufe – geschuldet, dass die Jungen strenger bewertet werden und in der Folge seltener auf das Gymnasium wechseln. Die vorliegende Studie findet keine Bestätigung für eine solche These. Jungen werden nicht von weiblichen Lehrkräften benachteiligt, wenn es um eine Gymnasialempfehlung geht. Dieses Ergebnis fügt sich in die Befundlage anderer aktueller Untersuchungen ein, nach denen Jungen auch im Hinblick auf die Kompetenzen und Noten nicht unter der Feminisierung leiden (Helbig 2010; Neugebauer et al. 2010). Die vorliegende Studie zeigt weiter, dass männliche Klassenkonferenzen verglichen mit weiblichen Klassenkonferenzen seltener Gymnasialempfehlungen aussprechen – und zwar für Mädchen und Jungen gleichermaßen. Lehrer bewerten bei gleicher Kompetenzlage der Kinder offensichtlich etwas strenger als Lehrerinnen, oder umgekehrt ausgedrückt: Lehrerinnen bewerten permissiver. Woran liegt es dann, dass Jungen seltener für das Gymnasium empfohlen werden? In einem Modell, welches die Vorgaben der Kultusministerkonferenz möglichst passgenau abbildet, erweisen sich „Neigung und Wille des Kindes zu geistiger Arbeit“ – erfasst über die Lernbereitschaft – als entscheidende Faktoren zur Erklärung der Geschlechterdifferenz. Jungen haben eine geringere Lernbereitschaft als Mädchen. 15 Ein Junge der bei vergleichbaren Kompetenzen und Fähigkeiten eine gleichgroße Lernbereitschaft an den Tag legt wie ein Mädchen, wird sogar etwas häufiger – und nicht seltener – für das Gymnasium empfohlen. Die Lehrkräfte benachteiligen die Jungen also nicht. Vielmehr folgen sie der Kultusministerkonferenz und berücksichtigen entsprechend den Vorgaben Faktoren, die von Mädchen im Schnitt besser erfüllt werden. Wenn überhaupt von einer Benachteiligung der Jungen gesprochen werden kann, dann werden diese durch die Vorgaben benachteiligt, die dem Verhalten der Mädchen entgegenkommen. Das hat aber nichts mit dem Geschlecht der Lehrkräfte zu tun. Ein Vergleich der Einflussfaktoren auf die Gymnasialempfehlung zeigt, dass das Geschlecht der Lehrkräfte insgesamt vernachlässigbar ist. Deutlich wichtiger ist neben der Lernbereitschaft vor allem die Lesekompetenz; beides beeinflusst die Noten und in einem weiteren Schritt die Empfehlungen in starkem Maße. Von den askriptiven Merkmalen erweist sich bei simultaner Schätzung lediglich die soziale Herkunft als bedeutsamer Einflussfaktor auf die Empfehlungsvergabe. Verglichen damit spielt das Geschlecht der Kinder nur eine kleine Rolle. Ein Aspekt dieses Artikels scheint weiterhin erklärungsbedürftig. Warum ist der in Abbildung 1 gezeigte Zusammenhang zwischen dem Lehrerinnenanteil 15 Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren wie etwa das (mediale) Freizeitverhalten (Mößle et al. 2006), aber schon dieser einzelne Faktor reicht aus um die Benachteiligung „wegzuerklären“.
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und dem geschlechtsspezifischen Bildungserfolg auf Individualebene nicht nachweisbar? Es kann angenommen werden, dass es sich dabei um einen klassischen ökologischen Fehlschluss handelt. Sowohl der gestiegene Anteil der Abiturientinnen als auch der gestiegene Anteil der Lehrerinnen ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass das weibliche Geschlecht seine vorhandenen Bildungspotenziale über die Jahrzehnte in zunehmendem Maße in entsprechende Bildungs- und Berufsabschlüsse umsetzt. Die Fokussierung auf die Jungen hat dazu geführt, dass die relativen Bildungserfolge des weiblichen Geschlechts fälschlicherweise als Bildungsmisserfolge des männlichen Geschlechts interpretiert werden. Ein stärkerer Fokus auf die Mädchen zeigt, dass diese schon immer lernwilliger waren und dadurch bessere Noten bekamen. Allerdings haben sie diese schulischen Vorteile lange nicht in höhere Bildungsabschlüsse umgesetzt. Schließlich war Frauen früher eine andere gesellschaftliche Rolle zugedacht. Während der Mann für die bezahlte Erwerbsarbeit außer Haus verantwortlich war, sollte sich die Frau um die unbezahlte Erziehungs- und Haushaltsarbeit kümmern. Höhere Bildungs- oder gar Berufsabschlüsse gehörten nicht zur klassischen Rolle der Frau. Diese gesellschaftlichen Hürden sind heute jedoch zu großen Teilen ausgeräumt, so dass es sich für Mädchen zunehmend lohnt, ihr schulisches Potenzial in höhere Bildungsabschlüsse umzusetzen (Buchmann und DiPrete 2006). Damit zusammen hängt auch der gestiegene Lehrerinnenanteil. Ein genauerer Blick auf Abbildung 1 zeigt, dass auch schon Anfang der 1950er Jahre der Lehrerberuf für Frauen in besonderem Maße attraktiv war. Der Anteil der Lehrerinnen lag zwar bis 1968 zwar unter 50 Prozent. Das lag aber daran, dass es insgesamt weniger Abiturientinnen gab – eine Grundvoraussetzung für ein Lehramtsstudium. In allen Jahren liegt jedoch der Anteil der Lehrerinnen über dem Anteil der Abiturientinnen. Mit anderen Worten: Schon immer haben sich überproportional viele Frauen die die Zugangsberechtigung zum Studium hatten, für den Lehrberuf entschieden (vgl. auch Flyer und Rosen 1997). Dass in den letzten Jahrzehnten der Lehrerinnenanteil gestiegen ist, ist demnach ebenfalls der Tatsache geschuldet, dass Frauen in zunehmendem Maße entsprechende Abschlüsse erreichen. Mit dieser Erklärung werden auch der größere weibliche Bildungserfolg von Frauen und der höhere Lehrerinnenanteil in Ostdeutschland (vgl. Diefenbach und Klein 2002) nachvollziehbar. In der DDR gehörte die Gleichstellung der Frau zu den offiziellen Zielen der sozialistischen Gesellschaftspolitik (Geißler 2002: 365ff). Frauen sollten höhere Bildungsabschlüsse erzielen und gleichberechtigt auf dem Arbeitsmarkt partizipieren. Entsprechend gab es mehr Frauen mit der Möglichkeit zu studieren und in der Folge mehr Lehrerinnen. Genauso waren auch die von den Lehrerinnen unterrichteten Mädchen ambitionierter, ihre Bildungsreserven auszuschöpfen. Folglich findet sich auf Aggregatebene ein Zusammenhang zwischen dem Lehrerinnenanteil und
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dem Bildungserfolg – gemessen in Abschlüssen – von Mädchen. Dieser hat aber nichts mit einer Benachteiligung der Jungen durch mehr Lehrerinnen zu tun. Es ist also nicht zielführend, zur Verbesserung männlicher Bildungserfolge den Anteil der Männer unter den Lehrkräften zu erhöhen.
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Mediennutzung als Ursache der schlechteren Schulleistungen von Jungen Dirk Baier und Christian Pfeiffer
1 Einleitung An der Diagnose scheint kein Zweifel mehr zu bestehen: Mädchen erzielen, in Deutschland wie in anderen Ländern, mittlerweile bessere Schulleistungen und legen häufiger höherrangige Schulabschlüsse ab als Jungen. Quenzel und Hurrelmann (2010) belegen dies eindrucksvoll für drei Bereiche: Erstens betrug der Anteil der Jungen, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, im Jahr 2006 9,7 Prozent, der Anteil der Mädchen hingegen nur 5,9 Prozent (Fachhochschul-/Hochschulreife: 22,9 zu 30,5 Prozent). Zweitens erreichen Mädchen in Kompetenztests mit der Ausnahme der mathematischen Kompetenz deutlich bessere Werte als Jungen. Drittens nimmt die Anzahl weiblicher Studierender an Universitäten kontinuierlich zu. In Numerus-Clausus-Fächern wie der Psychologie oder der Medizin wird die Mehrheit der Studierenden bereits von Frauen gestellt. Die Diskussion um die Ursachen dieser Entwicklung ist noch recht jung. Zwar wurde sich in der Vergangenheit intensiv mit der Frage beschäftigt, warum es schicht- und herkunftsspezifische Ungleichheiten beim Schulerfolg gibt, die geschlechtsspezischen Ungleichheiten blieben dabei aber meist unberücksichtigt. Spätestens mit dem Beitrag von Diefenbach und Klein (2002) hat sich dies in Deutschland geändert. Allerdings wurde ein Aspekt aus der Diskussion weitestgehend ausgeblendet: Die positive Entwicklung der Schullabschlüsse der Mädchen und die negative Entwicklung bei den Jungen hat sich in den letzten 15 Jahren vollzogen. Dieser Zeitraum ist geprägt von einer „Freizeitrevolution“ (Ribeaud und Eisner 2009: 166), die sich durch einen enormen Anstieg des Konsums von Bildschirmmedien auszeichnet. Wie die Befunde von Baier (2008) zeigen, sind Jungen und Mädchen in teilweise unterschiedlichem Ausmaß von dieser Revolution betroffen: So sind die TV-Ausstattungsquoten im Vergleich von zwei Erhebungszeitpunkten für Jungen stärker angestiegen als für Mädchen. Gleichwohl wurde in dieser Studie ein Bereich des Medienkonsums anfänglich nicht untersucht: das Computerspielen. Es gibt es aber Befunde, die belegen, dass Jungen mit dem Spielen von Computer- und Videospielen weit mehr Zeit verbringen und damit stärker in ihren Einstellungen und VerhaltensA. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dirk Baier und Christian Pfeiffer
weisen geprägt werden als Mädchen (vgl. Baier et al. 2006: 71ff, 93ff). Verschiedene theoretische Ansätze gehen zudem davon aus, dass Dauer und Inhalte des Medienkonsums einen Einfluss auf den Schulerfolg haben (siehe unten). Anliegen des Beitrages ist es deshalb, aufzuzeigen, in welchem Zusammenhang der Medienkonsum und der Schulerfolg bzw. die Schulleistungen im Allgemeinen stehen und inwieweit die geschlechtsspezifischen Medienumgangsweisen im Besonderen die Geschlechterunterschiede zu erklären helfen. Im nachfolgenden Abschnitt werden dabei ausgewählte theoretische Ansätze und empirische Befunde zu dieser Thematik vorgestellt. Im empirischen Teil des Beitrags werden Daten von Befragungen von Kindern der vierten Jahrgangsstufe herangezogen, um die Zusammenhänge zu prüfen. Dabei werden u.a. Ergebnisse einer Längsschnittstudie vorgestellt, die es erlaubt, die Frage nach der Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen dem Medienkonsum und den Schulleistungen zu beantworten.
2 Bisherige Erklärungen und Befunde Es lassen sich mindestens vier Ansätze in der Literatur identifizieren, die Hinweise auf die Ursachen des geschlechtsspezifischen Schulerfolg geben können. Diese sollen hier kurz vorgestellt werden, weil sie z.T. in der empirischen Analyse berücksichtigt werden, um den Einfluss medienbezogener Variablen vor dem Hintergrund des Einflusses anderer Variablen beurteilen zu können. Der erste Ansatz konzentriert sich auf den Einfluss des Schulkontexts. Einerseits wird dabei angenommen, dass es aufgrund des hohen Anteils an Lehrerinnen für Jungen schwieriger ist, sich mit der Schule und den hier geltenden Anforderungen zu identifizieren. Männliche Lehrkräfte fördern hingegen, dass Schüler die Schule als Teil ihres männlichen Rollenbildes akzeptieren. Helbig (2010) bestätigt damit übereinstimmend, dass Jungen an Schulen mit hohem Lehrerinnenanteil etwas schlechter im Fach Mathematik bewertet werden, Mädchen hingegen in ihren Lesekompetenzen von einem hohen Lehrerinnenanteil profitieren. Anderseits werden innerhalb der Schule die Prozesse zwischen den Schülerinnen und Schülern für den geschlechtsspezifischen Schulerfolg verantwortlich gemacht. Gute Schüler/innen laufen Gefahr, dass sie von den Gleichaltrigen als Streber etikettiert und ausgrenzt werden (vgl. Pelkner et al. 2002). Um die Anerkennung der Peers nicht zu verlieren, wird nicht die volle Leistungsfähigkeit abgerufen. Für Jungen könnten diese Prozesse stärker wirken als für Mädchen. Neben der Schule wird zweitens der Einfluss der Familie untersucht. Zwar erhoffen sich Eltern für männliche wie für weibliche Kinder gleichermaßen
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einen erfolgreichen Bildungsweg (Eickhoff et al. 1999: 306f; Stecher 1999: 342), die Unterstützungsleistungen, die hierfür aufgebracht werden, variieren aber geschlechtsspezifisch. So zeigen Stevenson und Baker (1987), dass das elterliche Interesse an den Schulaktivitäten von Jungen mit deren Älterwerden zurückgeht. Hadjar et al. (2007) belegen, dass Jungen mehr Freiheiten von den Eltern zugestanden werden als Mädchen, was dazu führt, dass sie eine höhere Risikobereitschaft ausbilden und deshalb häufiger delinquentes Verhalten zeigen. Eine solche Risikobereitschaft dürfte auch dem schulischen Erfolg abträglich sein. Ein weiterer Erklärungsansatz fokussiert die differenziellen Persönlichkeitseigenschaften von Mädchen und Jungen, die sich u.a. als Resultat der geschlechtsspezifischen Erziehungsstile in der Familie ergeben. Die unterschiedliche Risikobereitschaft ist nur ein Beispiel; auch andere Persönlichkeitseigenschaften geraten hier in den Blick (vgl. Duckworth und Seligman 2006; Steinmayr und Spinath 2008). Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Faktor Selbstkontrolle. Eine hohe Selbstkontrolle bzw. Selbstdisziplin steht dafür, dass sich nicht an der kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet wird; stattdessen werden sich langfristige Ziele gesetzt und diese werden mit dem notwendigen Engagement zu erreichen versucht. Jungen weisen, wie verschiedene Studien belegen, eine deutlih niedrigere Selbstkontrolle auf als Mädchen (vgl. Baier und Branig 2009; Duckworth und Seligman 2006). Zweifellos liefern diese Ansätze jeweils wichtige Hinweise darauf, warum Jungen schulisch schlechter abschneiden als Mädchen. Problematisch ist allerdings, dass ihnen eine historische Dimension fehlt. Die wesentlichen Veränderungen im Schulerfolg von Mädchen und Jungen haben sich innerhalb der letzten zehn bis zwanzig Jahre vollzogen. Erst „seit 1990 öffnet sich dieser‚gender gap’ beim Abitur zugunsten der Mädchen sukzessive, so dass Mädchen heute eine 1,42-fache Chance gegenüber Jungen haben, das Abitur zu erwerben“ (Helbig 2010: 95). Warum dieser Prozess erst seit Anfang der 1990er Jahre einsetzt, können die genannten Ansätze nicht beantworten. So hat sich der Frauenanteil in der Lehrerschaft in diesem Zeitraum nicht vergleichbar stark erhöht. Die familiären Investitionen in die Kinder wurden nicht plötzlich geschlechtsspezifisch ausgerichtet; auch Persönlichkeitseigenschaften sind eher stabil. Vor diesem Hintergrund kommt einem vierten Erklärungsansatz besondere Aufmerksamkeit zu. Dieser bezieht sich auf das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen, das erstens stark mit dem Geschlecht variiert und das sich zweitens zumindest teilweise in den letzten Jahren verändert hat. Die Erste World Vision Kinderstudie in Deutschland (Leven und Schneekloth 2007: 194) zeigt exemplarisch auf, wie weibliche und männliche Kinder ihre Freizeit verbringen. Mädchen lesen demnach deutlich häufiger als Jungen, sie beschäftigen
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Dirk Baier und Christian Pfeiffer
sich intensiver mit kreativen Tätigkeiten (Basteln, Zeichnen) und sie machen häufiger Musik. Diese Tätigkeiten werden mit besseren Leistungen und Kompetenzen in Zusammenhang gebracht (vgl. Schümer et al. 2001). Jungen treiben etwas häufiger Sport und sehen etwas häufiger fern; sie spielen zugleich sehr viel häufiger Playstation oder Computer. Eine deutschlandweite Jugendstudie bestätigt diese Differenzen auch für ältere Altersgruppen (Baier et al. 2010: 24). Zudem gilt, dass sich Mädchen in ihrer Freizeit intensiver mit Hausaufgaben beschäftigen als Jungen (vgl. Baier et al. 2006: 169). Eine Befragung von Kindern der vierten Jahrgangsstufe, die vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachen durchgeführt wurde und die Teil der empirischen Auswertungen dieses Beitrags ist, kann die Unterschiede in den Medienkonsumstilen von Jungen und Mädchen besonders gut verdeutlichen. Hier wurden neben dem häufig untersuchten Merkmal der Konsumzeit auch die Ausstattungsquote und die konsumierten Inhalte untersucht (vgl. Pfeiffer et al. 2008). Folgende Befunde lassen sich dabei hervorheben: - 38,1 Prozent der durchschnittlich zehnjährigen Jungen, aber nur 15,6 Prozent der zehnjährigen Mädchen haben eine Spielkonsole im eigenen Zimmer. In einer zwei Jahre später durchgeführten Befragung liegen die Quoten bei 40,3 bzw. 20,5 Prozent (Baier et al. 2010: 280). - Mädchen sehen an Schultagen 78 Minuten fern und spielen 15 Minuten Computerspiele, bei Jungen liegt die Konsumzeit bei 101 Minuten (Fernsehen) bzw. 43 Minuten (Computerspiele). - Jungen haben in der Woche vor der Befragung zu 30,1 Prozent mindestens einen Film geschaut, der erst ab 16 oder 18 Jahren freigegeben war, Mädchen nur zu 13,6 Prozent. Computer- oder Videospiele mit einer Freigabe ab 16 Jahren spielen Jungen zu 13,4 Prozent häufiger, Mädchen hingegen nur zu 1,4 Prozent. Dass der Medienkonsum in den letzten Jahren zugenommen hat, belegt u.a. die eingangs erwähnte Studie von Baier (2008). Auch Ribeaud und Eisner (2009: 157) beobachten eine massive Zunahme des Konsums über einen Acht-JahresZeitraum hinweg: „Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dieser Anstieg fast ausschließlich auf den Computerspielkonsum zurückzuführen ist“. Da vor allem männliche Jugendliche viel Zeit mit dem Computerspielen verbringen, ist die These naheliegend, dass die Veränderung im Freizeitverhalten weitestgehend die männlichen Jugendlichen betrifft. Dies würde mit der Entwicklung im Bereich des Schulerfolgs korrespondieren. Gleichwohl ist damit nur ein Teil der Erklärung gegeben: Jungen gehen häufiger medialen Freizeitaktivtäten nach, insbesondere dem Spielen von Computer- und Videospielen. Dass der Medienkonsum zugleich die Schulleistungen
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bzw. den Schulerfolg negativ beeinflussen kann, belegen allerdings mittlerweile ebenfalls verschiedene Studien. Aus theoretischer Perspektive können mindestens drei Ansätze zur Erklärung des Zusammenhangs von Medienkonsum und Schulleistungen herangezogen werden (vgl. Mößle et al. 2007: 21ff): Die Zeitverdrängungshypothese geht davon aus, dass exzessiver Medienkonsum dazu führt, dass weniger Zeit für Lernaktivitäten bzw. lernförderliche Aktivitäten (z.B. Sport treiben) zur Verfügung steht. Die Inhaltshypothese konzentriert sich nicht auf die Dauer, sondern auf die genutzten Inhalte. Sie nimmt an, dass vor allem der häufige Konsum gewalthaltiger Inhalte negativ auf das Sozialverhalten und damit letztlich auch negativ auf die Schulleistungen wirkt. Gewaltmedienkonsum kann „zu einem negativen Kreislauf von Schulversagen, einer Entfremdung von der Kultur des Erfolgs und den Zielen, die durch die Schule repräsentiert werden, führen“ (Mößle et al. 2007: 41). Diese Spiele festigen traditionelle Geschlechsrollenorientierungen und machohaftes Verhalten, die wiederum mit einem geringeren Schulerfolg in Zusammenhang stehen (vgl. Hadjar und Lupatsch in diesem Band). Die Löschungshypothese beschäftigt sich ebenfalls mit der Wirkung der konsumierten Inhalte. Sie geht davon aus, dass die hohe emotionale Involviertheit beim Spielen von Gewaltspielen dazu führt, dass der Transfer von schulisch gelerntem Wissen ins Langzeitgedächtnis erschwert wird. Dies mindert wiederum die schulische Leistungsfähigkeit. Verschiedene empirische Studien belegen einen Zusammenhang zwischen dem Medienkonsum und dem schulischen Leistungsniveau, unabhängig davon, ob das Fernsehen oder das Computerspielen betrachtet wird (vgl. Mößle et al. 2007). Die eben genannten Hypothesen wurden dabei jedoch nicht vergleichend geprüft, weshalb noch nicht abschließend beantwortet werden kann, welche Hypothese die erklärungsstärkste ist. Zudem ist, zumindest in Deutschland, derzeit noch ein Mangel an Längsschnittstudien festzustellen, mit der die Frage der Kausalität beantwortet werden kann. Nur Ennemoser (2003) belegt in einer Längsschnittstudie, dass die Fernsehdauer die Lesekompetenz von Kindern signifikant kausal beeinflusst, der umgekehrte Effekt ist nicht signifikant. Zuletzt gilt, dass es derzeit keine Studie in Deutschland gibt, die systematisch unter Einbeziehung anderer Faktoren geprüft hat, ob der differenzielle Medienkonsum die Geschlechterunterschiede in den Schulleistungen tatsächlich erklären kann. An diesen Desideraten setzt dieser Beitrag an. Zwei Forschungsfragen werden für die nachfolgenden empirischen Auswertungen formuliert: 1. Können geschlechtsspezifische Mediennutzungsweisen die schulischen Leistungsunterschiede von Jungen und Mädchen erklären?
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2. Beeinflusst die Mediennutzung die Schulleistungen ursächlich negativ? Oder sind es die schlechten Schulleistungen, die zu einem problematischen Medienumgang motivieren? Diese Forschungsfragen werden mittels zweier Befragungsstudien untersucht, wobei es sich um eine Quer- und eine Längsschnittstudie handelt. Beide Befragungen beziehen sich auf Kinder der vierten Jahrgangsstufe. Diese Altersgruppe erscheint für die Untersuchung der Forschungsfragen besonders geeignet, da nach der vierten Jahrgangsstufe in den meisten Bundesländern eine Zuweisung zu verschiedenen Schulniveaus erfolgt. Diese führt zu einer künstlichen Homogenisierung, da Schüler/innen mit ähnlichen Schulleistungen (und ähnlichen Medienkonsummustern) in einer Schulform zusammengefasst werden. Schulformeffekte und Effekte von Medienkonsumvariablen lassen sich dann statistisch nicht mehr eindeutig trennen. Zudem ist die Zuweisung zu bestimmten Schulformen eine individuell höchst folgenreiche Entscheidung, die das weitere Leben von Kindern stark beeinflusst. Insofern die Laufbahn-Empfehlung (d.h. der Schulerfolg) von den Schulleistungen unmittelbar abhängt, ist die Frage nach der Rolle des Medienkonsums beim Zustandekommen von Schulleistungen gerade in dieser Altersgruppe höchst relevant.
3 Stichprobe, Messinstrumente und Ergebnisse einer Querschnittstudie Im Februar und März 2005 führte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in zehn Gebieten Deutschlands Befragungen von Kindern der vierten Jahrgangsstufe durch (Baier et al. 2006; Baier et al. 2006a). Bei den Gebieten handelte es sich um Großstädte (z.B. München), ländliche Gebiete (z.B. Landkreis Soltau-Fallingbostel) sowie um ein Bundesland (Thüringen). Die Stichproben beanspruchen jeweils Repräsentativität für das einzelne Gebiet, da die zu befragenden Klassen per Zufall ausgewählt worden sind (z.T. wurden auch Vollerhebungen durchgeführt); ein Anspruch auf Repräsentativität für Gesamtdeutschland wird allerdings nicht erhoben. Dies ist, insofern an dieser Stelle Zusammenhänge geprüft werden, auch nicht erforderlich. Insgesamt wurden 8.568 Schüler/innen in die Stichprobe aufgenommen. Aufgrund von Absagen einzelner Schulen bzw. Klassen, nichterteilten Elternerlaubnissen und Abwesenheiten am Befragungstag konnten nur 6.142 Schüler/innen tatsächlich befragt werden. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 71,7 Prozent. Befragungen fanden dabei in 338 Klassen statt, die Anzahl an pro Klasse erreichten Kindern liegt zwischen 5 und 34.
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Für die Auswertungen reduziert sich die Stichprobengröße allerdings um jene Befragte, die bei mindestens einer Untersuchungsvariable einen fehlenden Wert aufweisen. Zudem wurden nur jene Schulklassen einbezogen, zu denen das Geschlecht der Klassenlehrkraft bekannt ist. Als Operationalisierung der Schulleistungen bzw. des Schulerfolgs dienen einerseits die Schulnoten in den Fächern Deutsch und Mathematik, anderseits die Laufbahnempfehlungen. Für die Untersuchung der Schulleistungen stehen Angaben von 5.528 Kindern aus 316 Klassen, für die Analyse der Laufbahnempfehlungen Angaben von 5.215 Kindern aus 302 Klassen zur Verfügung. Bei der Vorstellung der Messinstrumente und der deskriptiven Statistiken soll sich aus Übersichtsgründen auf die erste Teilstichprobe beschränkt werden. In Tabelle 1 sind die Variablen der Untersuchung abgebildet. Die Stichprobe setzt sich zur Hälfte aus Jungen (49,8 Prozent) und zur Hälfte aus Mädchen zusammen. Fast ein Drittel der Kinder hat eine nichtdeutsche Herkunft, wobei bereits dann von einer nichtdeutschen Herkunft gesprochen wird, wenn nur ein Elternteil nicht aus Deutschland stammt. Mädchen sind gleichhäufig nichtdeutscher Herkunft wie Jungen. Der Bildungsstatus des Elternhauses stellt, ebenso wie die Herkunft, eine zentrale Kontrollvariable dar, da verschiedene Studien schicht- und herkunftsspezifische Ungleichheiten bei den Schulleistungen bzw. beim Zugang zu höherer Bildung konstatieren (vgl. u.a. Becker 2009; Diefenbach 2009). Die Untersuchung des geschlechtsspezifischen Schulerfolgs sollte daher unter Berücksichtigung dieser Variablen erfolgen. Beim Bildungsstatus des Elternhauses finden sich keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der Bildungsstatus wurde dabei durch die anwesende Klassenlehrkraft eingeschätzt. In etwa einem Viertel aller Fälle (26,3 Prozent) stufte diese den Status als hoch ein, in einem Sechstel der Fälle (17,2 Prozent) als gering. Zu beachten ist, dass die Lehrkräfte bei fast jedem fünften Kind keine Angaben zum Bildungsstatus des Elternhauses machten. Um hier nicht zu viele Fälle für die Auswertungen zu verlieren, wird für diese Gruppe eine zusätzliche DummyVariable gebildet. Mit den Daten lassen sich zwei der erwähnten nicht medienbezogenen Erklärungsansätze prüfen. Zum Einen kann der Einfluss der kreativen Freizeitbeschäftigungen Musizieren und Lesen, andererseits der Einfluss der elterlichen Unterstützung getestet werden. Die elterliche Unterstüzung wurde allerdings nur mit einem Item erfasst; Jungen berichten dabei signifikant seltener davon, dass sie Hilfe bei den Hausaufgaben erhalten. Zu beachten ist freilich, dass damit nur die tatsächliche Unterstützung, nicht die potenziell vorhandenen Ressourcen erfragt werden; bei diesen würden sich möglicherweise keine Geschlechterunterschiede ergeben. Das Musizieren bzw. Lesen wurde über eine sog. ZeitplanMethode erfasst (vgl. Baier et al. 2006: 73ff): Die Kinder sollten bezogen auf
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den Tag vor der Befragung mit einem Strich in einen Stundenplan eintragen, von wann bis wann sie bestimmten Tätigkeiten nachgegangen sind. 1 Der Tag vor der Befragung dürfte eine gute Schätzung für die relativ häufig vorkommenden Tätigkeiten von Kindern sein; zudem ist eine solche konkrete Erfassung der Zeitdauer sicherlich adäquat für diese Altersgruppe.2 Bestimmte Ausreißerwerte dürften sich zufällig verteilen und keinen Einfluss auf die Analysen haben.3 Mädchen gehen pro Tag etwa 1 1/4 Stunden kreativen Tätigkeiten nach, Jungen nur etwas mehr als eine Stunde; dieser Unterschied wird als signifikant ausgewiesen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die elterliche Unterstützung als auch die Zeitdauer für kreative Tätigkeiten einen Beitrag zur Erklärung der Geschlechterunterschiede in den Schulleistungen leisten könnten. Die Dauer des Fern- und Videosehens ebenso wie die des Computerspielens wurden ebenfalls über die Zeitplan-Methode erfasst. Für beide Variablen ergeben sich signifikante Geschlechterunterschiede: Jungen verbringen mehr als doppelt so viel Zeit mit dem Computerspielen und etwa 1,3mal soviel Zeit mit Fern- und Videosehen. Die beiden Tätigkeiten werden getrennt in die Analyse aufgenommen, um die Frage nach dem spezifischen Einfluss dieser Tätigkeiten zu untersuchen. Gleiches gilt für die konsumierten Formate, wobei sich auf den Konsum jugendgefährdender Filme und Spiele konzentriert wurde. Der Konsum der Filme mit einer Altersfreigabe ab 16 bzw. 18 Jahren wurde mit einer JaNein-Frage in Bezug auf die letzten sieben Tage abgefragt. Dies impliziert ein Kausalitätsproblem insofern ein Verhalten der letzten Woche in Beziehung gesetzt wird zu Schulleistungen, die vor etwas längerer Zeit erbracht worden sind. Es wird davon ausgegangen, dass die Angabe zu den letzten sieben Tagen eine gute Schätzung des Medienkonsums eines Kindes darstellt, eine Abfrage ein halbes Jahr vorher also weitestgehend zu identischen Antworten geführt 1
Wenn Kinder keinen Strich in den Fragebogen eingezeichnet haben, wurde die Zeitdauer auf null gesetzt. Die Zeitdauer zum Musizieren und zum Lesen (ebenso wie die zum Fernsehen und Videosehen) wurde aufsummiert. Besonders hohe Werte (oberstes Prozent der Verteilung) wurden auf den höchsten Wert der restlichen 99 Prozent der Befragten herabgesetzt. 2 Die Kinder wurden zumindest für zwei Tätigkeiten (Fernsehen und Computerspielen) auch danach gefragt, wieviel Zeit sie durchschnittlich damit verbringen. Dabei sollten sie die Stunden und Minuten in den Fragebogen eintragen. Die Korrelationen mit den über die Zeitplan-Methode gewonnen Angaben zur Fernseh- und Spieledauer liegen bei über r = .40, so dass tatsächlich von einer guten Schätzung der Angaben der Zeitplan-Methode ausgegangen werden kann. Auf die darüber gewonnen Zeitangaben wird deshalb zurückgegriffen, weil nur dort auch nach kreativen Tätigkeiten gefragt wurde. 3 Solche Ausreißerwerte könnten bspw. dadurch entstehen, dass ein Kind am Tag vor der Befragung Geburtstag hatte und ein Buch geschenkt bekommen hat, dass es noch am selben Tag gelesen hat. Ausreißerwerte finden sich auch für Montags befragte Kinder, die am Tag vorher ein etwas anderes Freizeitverhalten gezeigt haben könnten als an einem gewöhnlichen Schultag.
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hätte.4 Der Konsum von Spielen mit einer Altersfreigabe ab 16 oder 18 Jahren wurde hingegen in allgemeiner Weise vierstufig (von „1 = habe ich noch nie gespielt“ bis „4 – spiele ich oft“) abgefragt. Für die Auswertungen wird nur zwischen Kindern, die dies noch nie getan haben und jenen, die dies bereits mindestens einmal getan haben, unterschieden. 5 Bei der Variable des Spielens jugendgefährdender Spiele liegt der Anteil fehlender Werte im Vergleich mit den anderen Variablen sehr hoch, weshalb auch hier eine zusätzliche DummyVariable gebildet wurde. Insgesamt gaben 22,1 Prozent der Kinder an, in den letzten sieben Tagen Filme mit einer Altersfreigabe ab 16/18 Jahren gesehen zu haben, 35,3 Prozent spielen Computerspiele mit einer Altersfreigabe ab 16/18 Jahren. Mit beiden Formaten kommen Jungen deutlich häufiger in Kontakt als Mädchen. Die abhängigen Variablen stellen die Schulleistungen und die gymnasiale Laufbahnempfehlung dar. Die Schulleistungen wurden für die Fächer Deutsch und Mathematik erhoben. Die Kinder sollten diese selbst berichten; in dem Fall, in dem ein Kind keine Angabe gemacht hat, wurden die Angaben der Lehrkraft berücksichtigt. Hier nicht dargestellte Auswertungen belegen, dass die Angaben der Kinder zu ihren Schulleistungen sehr zuverlässig sind (Baier et al. 2006, S. 89ff). Die Deutsch- und Mathematiknote korrelieren zu r = .62 miteinander (Jungen: r = .61, Mädchen: r = .67), weshalb sie zusammengefasst werden können. Die gymnasiale Laufbahnempfehlung wurde durch die anwesende Lehrkraft mitgeteilt. Bei beiden Indikatoren des Schulerfolgs ergeben sich signifikante Geschlechterunterschiede. So erhalten Jungen nur zu 34,7 Prozent eine gymnasiale Laufbahnempfehlung, Mädchen hingegen zu 41,1 Prozent. Die durchschnittliche Note in den Fächern Deutsch und Mathematik fällt bei den Jungen mit 2,72 schlechter aus als bei den Mädchen (2,63).
4
Die Kausalitätsfrage betrifft prinzipiell alle Variablen des Modells, da diese zu einem Messzeitpunkt erhoben wurden. Mittels der zweiten Studie kann dieses Problem behoben werden. 5 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Kinder die Alterseinstufungen kennen und auf Fragen nach Filmen ab 16/18 bzw. Spielen ab 16/18 Jahren valide Antworten abgeben. Dies belegen Auswertungen zu den offenen Angaben darüber, welche drei Spiele die Kinder derzeit am meisten spielen. Von den Kindern, die behaupten, schon einmal ein Spiel ab 16/18 Jahren gespielt zu haben, führen 33 Prozent auch mindestens ein nicht freigegebenes Spiel auf, das sie derzeit zu den drei Lieblingsspielen zählen. Bei den Kindern, die sagen, noch nie ein Spiel ab 16/18 Jahren gespielt zu haben, beträgt dieser Anteil nur 3 Prozent.
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270
Tabelle 1: Messinstrumente und deskriptive Statistiken (Prozentangaben bzw. Mittelwerte) Variable Geschlecht männlich Herkunft nichtdeutsch
Gesamt
Mädchen
Jungen
Cramers V bzw. t-Wert
-
49,8
-
-
-
Aus welchem Land stammen Vater und Mutter.
31,7
31,7
31,6
V = .000
gering (< 10. Kl.)
17,2
16,8
17,6
mittel (10. Kl.) hoch (Abitur/Studium) Keine Angabe
36,7
36,0
37,5
26,3
27,7
24,9
19,8
19,6
20,1
1.14
1.22
1.07
t = 4.494***
3.68
3.74
3.63
t = 6.391***
1.64
1.44
1.83
t = -8.087***
0.56
0.32
0.79
t = -17.051***
22,1
14,2
30,1
V = .192***
57,3
74,0
40,4
Ja
35,3
17,4
53,4
Keine Angabe
7,4
8,6
6,2
2.68
2.63
2.72
t = -3.863***
41,1
34,7
V = .066***
Erfassung
Lehrpersonenangabe: Höchstes Bildungsstatus Bildungsniveau im Elternhaus? Kreative Freizeitbeschäftigung (in Stunden)
Zeit am Tag vor Befragung für Musik machen/in Musikstunde gehen bzw. zu Hause lesen
„Meine Eltern helfen mir bei den elterliche Hausaufgaben, wenn ich Hilfe brauUnterstützung che.“ („1 = stimmt gar nicht“ bis „4 = stimmt voll und ganz“) Fern-/VideoZeit am Tag vor Befragung für Fernsehen (in /Videosehen Stunden) ComputerZeit am Tag vor Befragung für Comspielen (in puter und Videospielen Stunden) JugendIn den letzten 7 Tagen Filme angegefährdende schaut, die erst ab 16/18 Jahren waren. Filme Jugendgefährdende Spiele
Computer- und Videospiele gespielt, die erst ab 16/18 Jahren waren.
Durchschnittsnote
Mittelwert Deutsch- und Mathematiknote, z.T. durch Lehrerkraftangaben ergänzt (1 bis 6)
Nein
gymnasiale LaufbahnLehrpersonenangabe 37,9 empfehlunga Anmerkung: a hier liegen nur Angaben von 5.215 Kindern vor * p < .05, ** p < .01, *** p < .001
V = .033
V = .378***
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Die Daten erlauben es darüber hinaus, den Erklärungsansatz zu prüfen, dass Lehrerinnen eine Mit-Verantwortung für die schlechteren Leistungen der Jungen tragen. Hierzu wurde in einem zusätzlichen Lehrkräftefragebogen das Geschlecht der Klassenlehrkraft erfasst. Von den 316 befragten Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern waren 35 männlichen und 281 weiblichen Geschlechts; neun von zehn Klassenlehrkräften an Grundschulen sind also Frauen. Zusätzlich soll geprüft werden, ob der Mädchenanteil in einer Klasse mit dem Schulerfolg der Jungen in Zusammenhang steht. Möglicherweise profitieren Jungen davon, zusammen mit vielen, durchschnittlich besseren Mädchen unterrichtet zu werden. Der durchschnittliche Mädchenanteil in den 316 Klassen beträgt 49,8 Prozent, wobei es Klassen mit keinem befragten Mädchen und Klassen mit bis zu 89,5 Prozent befragten Mädchen gibt. Um zu prüfen, welchen Einfluss die beiden Klassenfaktoren neben den Individualfaktoren haben, werden nachfolgend die Ergebnisse von Mehrebenenanalysen präsentiert, wobei das Programm HLM 6 (Raudenbush et al. 2004) genutzt wurde. Diese erlauben es, gleichzeitig Individual- und Kontextfaktoren zu prüfen (vgl. z.B. Ditton 1998), wobei sie berücksichtigen, dass die Angaben von Kindern einer Klasse statistisch nicht unabhängig voneinander sind, was OLS-Regressionsanalysen voraussetzen. Mehrebenanalysen erlauben damit die korrekte Berechnung von Signifikanztests. Die Ergebnisse der Mehrebenenanalysen sind in Tabelle 2 dargestellt. Die ersten Modelle beziehen sich auf die Durchschnittsnote. Das Nullmodell belegt dabei, dass es sinnvoll ist, die Bedingungsfaktoren der Schulleistungen mit einem mehrebenenanalytischen Ansatz zu untersuchen: Ein signifikanter Anteil der Gesamtvarianz der Durchschnittsnote ist auf Klassenfaktoren zurückzuführen, maximal sind dies 7,0 Prozent. In Modell I wird nur das Geschlecht als Prädiktor der Schulleistungen eingeführt. Der Koeffizient belegt, dass Jungen signifikant schlechtere Schulleistungen haben als Mädchen. Zusätzlich findet sich, dass der Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und den Schulleistungen signifikant über die Klassen hinweg variiert. Dies bedeutet, dass nicht für alle Klassen gleichermaßen gilt, dass Jungen in dem ermittelten Maße schlechter sind als Mädchen. In manchen Klassen unterscheiden sich Jungen und Mädchen weniger voneinander, in anderen Klassen stärker. Der Frage, wie sich diese Varianz erklären lässt, kann sich an dieser Stelle aber nur am Rande gewidmet werden, da in der Literatur hierzu kaum Erklärungsansätze vorliegen. In Modell II werden sowohl die Variablen zu den nicht medienbezogenen Erklärungen der Geschlechterdifferenz als auch die Kontrollvariablen eingeführt. Dadurch schwächt sich der Geschlechtereffekt etwas ab, bleibt aber signifikant. Für diese Abschwächung ist in erster Linie die elterliche Unterstützung verantwortlich, da sich nur für diese eine signifikante Beziehung mit der Durch-
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Dirk Baier und Christian Pfeiffer
schnittsnote zeigt: Je mehr Unterstützung ein Kind erhält, umso besser fallen die Schulleistungen aus. Der Koeffizient zur kreativen Freizeitbeschäftigung zeigt in dieselbe Richtung, erweist sich aber nicht als signifikant. Eine weiblicher Klassenlehrkraft geht mit etwas schlechteren Durchschnittsnoten einher, wobei auch hier kein signifikantes Ergebnis erzielt wird. Ein hoher Anteil weiblicher Schüler steht mit etwas besseren Noten in Zusammenhang (ebenfalls nicht signifikant). Zu den Kontrollvariablen zeigen sich die erwarteten Ergebnisse: Nichtdeutsche Schülerinnen und Schüler erzielen deutlich schlechtere Noten als deutsche Kinder. Und je höher das Bildungsniveau im Elternhaus ist, umso besser sind die Schulnoten. Dabei ergibt sich auch für die Gruppe der Schüler/innen ohne Angabe über die Bildung im Elternhaus eine signifikant bessere Durchschnittsnote als für die Referenzgruppe der Schüler/innen mit niedrig gebildeteten Eltern. Insofern scheint es sich bei diesen Schülerinnen und Schülern eher um Kinder besser gebildeter Eltern zu handeln. Warum die Lehrkräfte sich nicht imstande gesehen haben, deren Bildungsniveau einzuschätzen, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Als nicht signifikant werden die Interaktionseffekte in Modell II ausgewiesen.6 Der Anteil an Mädchen in einer Klasse wie das Geschlecht der Klassenlehrkraft beeinflussen also nicht, wie stark (oder schwach) der Zusammenhang zwischen der Geschlechtszugehörigkeit einer Schülerin/eines Schülers und den Schulleistungen ausfällt. Interessant ist dennoch, welche Richtung diese Effekte annehmen: Beide Effekte sind negativ. Dies bedeutet, dass sie den Zusammhang abschwächen. In Klassen mit hohem Mädchenanteil sind die Geschlechterunterschiede also tendeziell geringer. Und weibliche Klassenlehrkräfte schwächen die Geschlechterunterschiede ab, was im Umkehrschluss bedeutet, dass in Klassen mit einer männlichen Klassenlehrkraft die Geschlechterunterschiede verstärkt werden. Männliche Schüler scheinen demnach nicht von einer männlichen Klassenlehrkraft zu profitieren; es ist eher das Gegenteil der Fall. Von einer Benachteiligung männlicher Schüler durch weibliche Klassenlehrkräfte kann damit keine Rede sein. Modell III enthält schließlich die Variablen zur Mediennutzung. Durch deren Aufnahme zeigt sich erstens, dass der Geschlechterunterschied vollkommen verschwindet. Unter Berücksichtigung der differenziellen Mediennutzungsmuster bestehen also keine Unterschiede in den Schulleistungen der Jungen und
6
In Mehrebenenmodellen werden die Interaktionen nicht im herkömmlichen Sinne durch Multiplikation zweier unabhängiger Variablen gebildet, sondern der Regressionskoeffizient (Slope) als Ausdruck des Zusammenhangs zwischen unabhängiger und abhängiger Variable wird zum Gegenstand der Erklärung durch eine Kollektivvariable gemacht. An dieser Stelle wird dennoch am Begriff der Interaktionsvariable festgehalten.
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Mädchen mehr. Zweitens werden die Effekte der in Modell II eingeführten Variablen abgeschwächt, was u.a. dazu führt, dass die elterliche Unterstützung kein signifikanter Einflussfaktor mehr ist. Drittens stehen alle Medienvariablen in der erwarteten Richtung mit der Schulleistung in Beziehung. Je länger Kinder Fern-/Videosehen oder Computerspielen und wenn sie jugendgefährdende Formate konsumieren, dann verschlechtern sich ihre Schulleistungen. Der Einfluss des Fernsehens bzw. der Filme fällt dabei etwas höher aus als der Einfluss des Spielens bzw. der Spiele. Bezugnehmend auf die erste Forschungsfrage lässt sich damit folgern, dass die geschlechtsspezifischen Mediennutzungsweisen die schulischen Leistungsunterschiede von Jungen und Mädchen vollständig erklären können. Für andere Erklärungsansätze finden sich keine vergleichbaren Ergebnisse. Das Modell IV, das die gymnasiale Laufbahnempfehlung erklärt, bestätigt zum Großteil die Befunde zu den Schulleistungen. Auch hier hat sich in einem Ausgangsmodell gezeigt, dass maximal 9,2 Prozent der Varianz der Empfehlungen auf die Klassenebene zurückzuführen ist (signifikant) und dass der Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der Laufbahnempfehlung signifikant über die Klassen variiert. Im Gesamtmodell mit allen unabhängigen Variablen wird der Effekt des Geschlechts nicht mehr als signifikant ausgewiesen (Koeffizient im Ausgangsmodell: -0.287, p < .001), wobei der entscheidende Beitrag hierzu erneut von den Medienvariablen geleistet wird. Allerdings stehen in diesem Modell nur die Fern-/Videosehdauer und der Konsum jugendgefährdender Filme, nicht die Computerspielvariablen in einer direkten Beziehung mit der Laufbahnempfehlung: Wer viel fern- bzw. Video sieht und wer Filme mit einer Altersfreigabe ab 16/18 schaut, erhält signifikant seltener eine gymnasiale Laufbahnempfehlung. Die kreativen Freizeitbeschäftigungen, die elterliche Unterstützung und das Geschlecht der Klassenlehrkraft stehen in keiner Beziehung mit der Laufbahnempfehlung, wohl aber die Kontrollvariablen: Nichtdeutsche Kinder und Kinder von höher gebildetet Eltern werden häufiger für eine gymnasiale Laufbahn empfohlen. Auch hier deuten die Interaktionsvariablen darauf hin, dass männliche Schüler von einem höheren Mädchenanteil und weiblichen Klassenlehrkräften profitieren: Der negative Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der Laufbahnempfehlung schwächt sich unter diesen Bedingungen ab (nicht signifikant).
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Tabelle 2: Einflussfaktoren der Durchschnittsnote bzw. gymnasialen Laufbahnempfehlung gymnasiale Laufbahnempfehlung Nullmodell Modell I Modell II Modell III Modell IV Durchschnittsnote
Konstante
2.677 ***
2.633 *** 3.327 *** 3.262 ***
-2.725
***
0.087 ** 0.056 * -0.000 0.151 *** 0.122 *** Referenz Referenz -0.706 *** -0.669 *** -1.258 *** -1.173 *** -0.703 *** -0.665 ***
-0.137 -0.306 ** Referenz 2.091 *** 3.910 *** 2.590 ***
Fixe Effekte: Invidualebene Geschlecht männlich Herkunft nichtdeutsch Bildungsstatus niedrig Bildungsstatus mittel Bildungsstatus hoch Bildungsstatus unbekannt Kreative Freizeitbeschäftigung (in h) (z) elterliche Unterstützung (z) Fern-/Videosehen (in h) (z) Computerspielen (in h) (z) Jugendgefährdende Filme Jugendgefährdend Spiele: nein Jugendgefährdend Spiele: ja Jugendgefährdend Spiele: unb.
-0.006
-0.014
-0.040 * -0.024 0.050 *** 0.021 * 0.086 ** Referenz 0.060 * 0.250 ***
0.044 -0.009 -0.203 *** -0.023 -0.470 *** Referenz -0.072 -0.619 ***
Fixe Effekte: Kontextebene Anteil weiblicher Schüler (z) -0.086 -0.106 -0.095 Klassenlehrer weiblich (z) 0.066 0.068 -0.085 Anteil w. * Geschlecht m. (z) -0.092 -0.080 0.950 Klassenlehrer weiblich. * -0.089 -0.095 0.219 Geschlecht männlich. (z) Zufällige Effekte VU1j (Geschlecht) 0.037 ** 0.038 *** 0.036 *** 0.174 VU0j (Konstante) 0.050 *** 0.058 *** 0.045 *** 0.046 *** 0.417 *** R 0.666 0.655 0.491 0.477 0.905 Erklärte Varianz in Prozent 0,5 25,1 27,1 42,9 Anmerkungen: Durchschnittsnote: lineare Mehrebenenanalyse, 5.528 Befragte in 316 Klassen; gymnasialen Laufbahnempfehlung: binär logistische Mehrebenenanalyse, 5.215 Befragte in 302 Klassen; abgebildet: unstandardisierte Effektkoeffizienten z – Variablen am Gesamtmittelwert (grand mean) zentriert * p < .05, ** p < .01, *** p < .001
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4 Stichprobe, Messinstrumente und Ergebnisse einer Längsschnittstudie Die Querschnittbefragung belegt eine enge Beziehung zwischen medienbezogenen Variablen, insbesondere dem Fernsehkonsum, und den Schulleistungen. Medienbezogene Variablen können zugleich den geschlechtsspezifischen Schulerfolg erklären. Unklar bleibt allerdings, in welchem kausalen Verhältnis die Variablen stehen. Schlechte Schulleistungen könnten auch dazu motivieren, sich dem Leistungsdruck in der Schule zu entziehen und sich dem passiven Medienkonsum zuzuwenden. Um die Frage der Ursache und Wirkung zu beantworten, bedarf es einer Längsschnittstudie. Im Schuljahr 2005/2006 wurde in zwei Gebieten, einem ländlichen und einem großstädtischen Gebiet, eine drei Messzeitpunkte umfassende Befragung in Klassen der vierten Jahrgangsstufe durchgeführt. 7 Die erste Befragung erfolgte im September/Oktober 2005, die zweite Befragung im Februar 2006, die dritte Befragung im Mai 2006. Da zum ersten Messzeitpunkt noch keine Laufbahnempfehlungen erteilt wurden, können an dieser Stelle nur die Durchschnittsnoten untersucht werden. Diese wurden zum ersten Messzeitpunkt in Bezug auf die Abschlussnoten der dritten Klasse, zum dritten Messzeitpunkt in Bezug auf das Zwischenzeugnis der vierten Klasse erhoben. An dieser Stelle soll sich auf die Analyse des ersten und des dritten Messzeitpunktes konzentriert werden. Die Befragungen der ersten und dritten Welle wurden in insgesamt 79 Klassen durchgeführt. In der ersten Welle wurden 1.697 Kinder in den Klassen unterrichtet, in der dritten Welle 1.636. Die Diskrepanz zwischen den beiden Wellen ergibt sich dadurch, dass sich zwei Klassen zwischen der ersten und der dritten Welle aus dem Projekt zurückgezogen haben. Der Rücklauf der ersten Welle betrug 85,4 Prozent, der dritten Welle 84,8 Prozent. Zwischen den beiden Erhebungsgebieten gab es dabei keine bedeutsamen Unterschiede. Sowohl an der ersten als auch an der dritten Befragungswelle haben 1.309 Kinder teilgenommen. Diese Befragtenanzahl reduziert sich allerdings noch einmal, wenn nur jene Schülerinnen und Schüler einbezogen werden, für die für beide Messzeitpunkte Angaben zu den Schulleistungen und zum Medienkonsum vorliegen.
7
Das Projekt war als Interventions- und Evaluationsstudie angelegt. Zwischen der ersten und der zweiten Befragung erfolgte in einem Teil der Klassen ein Medienunterricht, der das Ziel hatte, die Kinder für ihren Medienumgang zu sensibilisieren. Der Unterricht wurde von den Klassenlehrkräften durchgeführt, die im Rahmen einer Schulung in die vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen erarbeiteten und zur Verfügung gestellten Materialien eingewiesen wurden. Die Kinder der Interventionsgruppe unterscheiden sich zu keinem Zeiptunkt hinsichtlich der im Folgenden analysierten Variablen von den Kindern der Kontrollgruppe, weshalb in den weiteren Auswertungen keine Differenzierung zwischen Interventions-und Kontrollgruppe vorgenommen wird.
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Hier stehen insgesamt 1.012 Kinder aus 65 Klassen zur Verfügung. Deskriptive Statistiken zu den Untersuchungsvariablen dieser Kinder können Tabelle 3 entnommen werden. Die Hälfte der Befragten (50,9 Prozent) hat ein männliches Geschlecht. Aus dem ländlichen Gebiet kommen 48,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler, Mädchen etwas seltener als Jungen. Um den Zusammenhang zwischen dem Medienkonsum und den Schulleistungen zu untersuchen, wird auf drei Variablen zurückgegriffen, zusätzliche Kontrollvariablen werden nicht einbezogen. Die Medienkonsumdauer wurde allgemein und nicht in Bezug auf den gestrigen Tag erfragt. Die Kinder sollten getrennt für das Computerspielen und das Fern/Videosehen angeben, wie lange sie diesen Tätigkeiten an Schultagen und an Samstagen ungefähr nachgehen (in Stunden und Minuten). Die Angaben zum Schultag wurden mit fünf, die zum Samstag mit zwei multipliziert und anschließend durch sieben geteilt, um zu einer Schätzung eines durchschnittlichen Tages zu gelangen. Die Angaben zum Computerspielen und zum Fern-/Videosehen wurden danach aufsummiert8; d.h. eine getrennte Betrachtung erfolgt aus Gründen einer übersichtlicheren Darstellung an dieser Stelle nicht. Die obigen Auswertungen konnten belegen, dass dieses Vorgehen bei der Analyse der Schulleistungen sinnvoll ist, insofern die Effekte ähnlich ausfielen. Zu Welle 1 gehen die befragten ca. 2 1/4 Stunden verschiedenen Medienkonsumbeschäftigungen nach, zum Messzeitpunkt drei waren es schon 2 1/3 Stunden. Diese Zunahme über die Zeit ist signifikant. Zu beiden Messzeitpunkten bestehen auch deutliche Unterschiede in der Mediennutzungsdauer zwischen den Geschlechtern: Jungen nutzen die Medien fast eine Stunde länger als Mädchen. Der Wert der Mädchen steigt über die Zeit etwas stärker an als der Wert der Jungen; dieser Geschlechtereffekt wird aber nicht als signifikant ausgewiesen. Der Inhalt des Medienkonsums wurde erneut darüber erfasst, dass die Schüler angeben sollten, ob sie bereits einmal Filme mit einer Altersfreigabe ab 16 bzw. 18 Jahren gesehen oder Spiele mit einer Altersfreigabe ab 16 bzw. 18 Jahren gespielt hätten. Beide Male erfolgte keine zeitliche Einschränkung, d.h. die Schüler/innen sollten die Lebenszeitprävalenz berichten. Kodiert wurde der Maximalwert; d.h. sobald ein Kind angegeben hat, mindestens eines dieser Formate konsumiert zu haben, wird er als Konsument jugendgefährdender Formate eingestuft. Zu beiden Messzeitpunkten gilt dies für etwas mehr als die Hälfte der Kinder (54,0 bzw. 53,6 Prozent). Mädchen gehören deutlich seltener zur Gruppe der Konsumenten; über die Zeit hinweg verändert sich daran nichts.
8
Auch hier wurden besonders hohe Werte (oberstes Prozent der Verteilung) auf den höchsten Wert der restlichen 99 Prozent der Befragten herabgesetzt.
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Die Durchschnittsnoten wurden ausschließlich durch die Lehrkräfte mitgeteilt. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um Zeit für zusätzliche Fragen an die Kinder zu gewinnen. Zu beiden Messzeitpunkten wird erneut der Mittelwert aus der Mathematik- und der Deutschnote gebildet, da die Korrelationen jeweils sehr hoch ausfallen (r = .64 zu Welle 1 bzw. r = .68 zu Welle 3). Über die Zeit hinweg veschlechtern sich die Schüler/innen signifikant; der Mittelwert zu Welle 3 liegt über dem Mittelwert zu Welle 1. Für Jungen gilt dies in vergleichbarer Weise wie für Mädchen. Zu beiden Messzeitpunkten findet sich, dass die Jungen etwas schlechtere Schulnoten aufweisen als die Mädchen; die Unterschiede werden hier aber als nicht signifikant ausgewiesen. Dies ist für die nachfolgenden Analysen auch nicht notwendig, weil der Fokus auf die längsschnittlichen Beziehungen zwischen dem Medienkonsum und den Schulleistungen gerichtet ist.9 Die Beziehungen zwischen den Variablen werden mittels eines Pfadmodells analysiert. Hierfür wurde das Programm Mplus 5.2 (Muthén und Muthén 2007) genutzt. Dieses erlaubt es einerseits, dichotome Variablen (Konsum jugendgefährdender Formate) als abhängige Variablen zu untersuchen. Andererseits kann auch hier die Mehrebenenstruktur (Schülerinnen und Schüler in Klassen) berücksicht werden. Da an dieser Stelle aber einzig Beziehungen zwischen Individualvariablen geprüft werden, wird nur bei der Berechnung der Signifikanzwerte die Mehrebenenstruktur kontrolliert.10 In Abbildung 1 sind die Ergebnisse der Analyse dargestellt. Dabei zeigt sich zunächst für alle Variablen eine hohe Stabilität über die Zeit. Die standardisierten Pfade11, die Werte zwischen 0 und 1 bzw. –1 annehmen können (hohe Werte stehen für stärkere Zusammenhänge), betragen bei der Durchschnittsnote E = .82, bei der Konsumzeit E = .49 und bei den Formaten E = .47. Der enge Zusammenhang bei den Schulleistungen ist erwartbar; dass sich für den Medienkonsum ebenfalls hohe Zusammenhänge ergeben, wobei zwischen beiden Messzeitpunkten immerhin mehr als ein halbes Jahr Zeit liegt, spricht dafür, dass die Art und Weise der Mediennutzung bereits im Kindesalter ein stabiles Verhaltensmuster darstellt.
9
Zu berücksichtigen ist, dass die Befragung nur in zwei norddeutschen Gebieten erfolgt ist. Möglicherweise ist die „Leistungskrise“ der Jungen nicht überall in Deutschland in der gleichen Weise zu beobachten; die Schulsysteme der Länder oder die Schulorganisation in einem bestimmten Gebiet wirken sich eventuell auf die Stärke des Leistungsunterschieds aus. 10 Dies geschieht in Mplus mittels des STRATIFICATION-Befehls und dem Analysetyp COMPLEX. 11 Dargestellt sind die StdYX-standardisierten Koeffizienten.
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Tabelle 3: Messinstrumente und deskriptive Statistiken der Untersuchungsvariablen (Prozentangaben bzw. Mittelwerte) Variable
Erfassung
Geschlecht männlich ländliches Gebiet Wie viele Stunden und Minuten wird Medienan Schulkonsum (in tag/Samstag Stunden) Computer gespielt/Fern gesehen. Schon mal Filme ab 16/18 Konsum Jahren gejugendgeschaut bzw. fährdender Spiele ab Formate 16/18 Jahren gespielt. Lehrpersonenangabe: MitDurchtelwert schnittsnote Deutsch- und Mathematiknote (1 bis 6)
Welle 1
Welle 3
Cramers Jungen V bzw. Gesamt t-Wert
Mädchen
Cramers Jungen V bzw. t-Wert
Gesamt
Mädchen
50,9
-
-
-
-
-
-
-
48,7
45,5
51,8
V= .064*
-
-
-
-
2.19
1.74
2.62
t= 8.371 ***
2.37
1.96
2.77
t= 6.214 ***
54,0
39,0
68,3
V= .294 ***
53,6
37,2
69,3
V= .322 ***
2.66
2.65
2.68
t= 0.473
2.76
2.74
2.78
t= 0.700
F-Werte Veränderungen über Zeit Medienkonsum (in Stunden) Konsum jugendgefährdender Formate Durchschnittsnote
FZeit = 8.945**, FZeit * Geschlecht = 0.435 FZeit = 0.073, FZeit * Geschlecht = 0.804 FZeit = 42.839***, FZeit * Geschlecht = 0.190
Anmerkungen: * p < .05, ** p < .01, *** p < .001
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Zum ersten Messzeitpunkt ergeben sich zudem die bereits aus den vorangegangenen Analysen bekannten Zusammenhänge: Schlechtere Noten hängen mit einer höheren Medienkonsumdauer und dem Konsum jugendgefährdender Formate zusammen. Schülerinnen und Schüler, die längere Medienzeiten aufweisen, kommen auch häufiger mit jugendgefährdenden Formaten in Kontakt. Stadt-Land-Unterschieden ergeben sich nur für zwei Variablen: Die Durchschnittsnoten fallen zum Messzeitpunkt 1 im ländlichen Gebiet schlechter aus als im städtischen Gebiet. Und im ländlichen Raum steigt die Medienkonsumdauer stärker an als in der Stadt (Pfad auf Medienkonsum zum Messzeitpunkt 3). Entscheidend für die Frage der Kausalität sind die Kreuzpfade, d.h. die Beziehungen, die zwischen den Variablen zum Messzeitpunkt 1 und den anderen Variablen zum Messzeitpunkt 3 bestehen. Da gleichzeitig der Messzeitpunkt 1 kontrolliert wird, erklären diese Pfade die Veränderung, d.h. die Verschlechterung der Noten, die Erhöhung des Medienkonsums und die Zuwendung zu jugendgefährdenden Formaten. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass der Medienkonsum eine Ursache schlechterer Schulleistungen ist und nicht umgekehrt. Die Noten zum Messzeitpunkt 1 stehen mit der Dauer des Konsums zum Messzeitpunkt 3 in keiner Beziehung (E = .00); den Konsum jugendgefährdender Formate erhöhen sie leicht, aber nicht signifikant (E = .06). Umgekehrt werden die Noten aber dann signifikant schlechter, wenn bereits zum Messzeitpunkt 1 eine höhere Konsumdauer (E = .06) und ein Konsum jugendgefährdender Formate (E = .06) vorliegt. Eine zusätzliche Erkenntnis betrifft das Verhältnis der Medienvariablen untereinander: Ein zeitlich ausgedehnter Konsum zum ersten Messzeitpunkt sagt die Zuwendung zu jugendgefährdenden Formaten zum dritten Messzeitpunkt voraus (E = .26), nicht umgekehrt (E = .05). Ein zeitlich ausgedehnter Medienkonsum zu Beginn der vierten Klasse ist damit ein Risikofaktor sowohl für schlechtere Schulleistungen als auch für die Zuwendung zu problematischen Formaten. Nach den Geschlechtern differenzierende Modelle ergeben vergleichbare Befunde (Tabelle 4). Die Stabilitäten für die Variablen sind bei Jungen wie bei Mädchen sehr hoch. Auffällig ist hier nur, dass die Stabilität des Konsums jugendgefährdender Formate bei den Mädchen noch höher ausfällt als bei den Jungen. Weder bei Mädchen noch bei Jungen ergeben sich signifikante Auswirkungen des Notendurchschnitts zum Messzeitpunkt 1 auf den Medienkonsum zu Messzeitpunkt 3.
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Abbildung 1: Längsschnittmodell zur Erklärung von Schulleistungen und Medienkonsumzeiten sowie zur Erklärung des Konsums jugendgefährdender Formate
.15***
Note MZP 1
.82***
Note MZP 3
n.s.
.00
.06 n.s.
Ländliches Gebiet
.14***
.20***
.08**
Medienkonsum MZP 1
.00 n.s.
.06**
Medienkonsum MZP 3
.49*** .26***
.33***
.30***
.07*
.06**
jugendgef. F. MZP 1
.05 n.s. .47***
jugendgef. F. MZP 3
Anmerkungen: standarisierte Koeffizienten; MZP = Messzeitpunkt; * p < .05, ** p < .01, *** p < .001
Die umgekehrten Pfade werden hingegen in drei von vier Fällen als signifikant ausgewiesen. Für Mädchen zeigt sich dabei, dass sowohl die Dauer als auch der Konsum jugendgefährdender Formate die Schulleistungen kausal verschlechtert, für Jungen findet sich ein solcher Einfluss nur für die Formate. Tabelle 4: Ausgewählte Pfade des Längsschnittmodells für Jungen und Mädchen Note MZP 1 => Note MZP 3 Medienkonsum MZP 1 => Medienkonsum MZP 3 Jugendgef. Formate MZP 1 => Jugendgef. Formate MZP 3 Note MZP 1 => Medienkonsum MZP 3 Note MZP 1 => Jugendgef. Formate MZP 3 Medienkonsum MZP 1=> Note MZP 3 Jugendgef. Formate MZP 1 => Note MZP 3 Anmerkungen: standarisierte Koeffizienten; MZP = Messzeitpunkt * p < .05, ** p < .01, *** p < .001
Jungen .80*** .46*** .57*** -.06 .02 .03 .09*
Mädchen .83*** .44*** .69*** .04 .00 .07* .07*
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Die zweite Forschungsfrage des Beitrags kann auf Basis dieser Befunde damit ebenfalls beantwortet werden: Die Mediennutzung ist ein die Schulleistungen kausal negativ beeinflussender Faktor. Für den umgekehrten Zusammenhang ergeben sich hingegen keine empirischen Belege.
5 Schlussfolgerungen In den Analysen wurden insgesamt vier Erklärungsansätze für den geschlechtsspezifischen Schulerfolg geprüft. Dabei kann die Erklärung, dass ein höheres Maß an kreativer Freizeitbeschäftigung bei Mädchen für deren bessere Schulleistungen verantwortlich ist, ebenso verworfen werden wie die Erklärung, dass Jungen systematisch von weiblichen Klassenlehrkräften benachteiligt werden. Im Gegenteil deutet sich diesbezüglich sogar an, dass Jungen von weiblichen Klassenlehrkräften profitieren, d.h. weniger stark hinter den Mädchen zurückbleiben. Die Erklärung, dass die elterliche Investition in den Schulerfolg ihrer Kinder geschlechtsspezifisch variiert, bestätigt sich. Gleichwohl ergibt sich auch nach der Berücksichtigung der elterlichen Unterstützung ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und den Schulleistungen. Dieser Zusammenhang verschwindet erst dann, wenn der Medienkonsum berücksichtigt wird. Die schlechteren Schulnoten der Jungen sind also hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass sie längere Konsumzeiten und höhere Konsumquoten jugendgefährdender Formate aufweisen und dass diese Variablen in einer engen Beziehung mit den Schulleistungen stehen. Dabei konnte auch belegt werden, dass der Medienkonsum kausal den Schulleistungen vorgelagert ist und nicht umgekehrt. Die Auswertungen geben neben diesen Befunden Anlass zu weiteren Schlussfolgerungen. Erstens konnte gezeigt werden, dass der Einfluss des Fernsehens höher ausfällt als der Einfluss des Computerspielens, unabhängig davon, ob die Dauer der Beschäftigung oder die konsumierten Inhalte betrachtet werden. Dieses Ergebnis spricht eher für die Zeitverdrängungs- und die Inhaltshypothese und gegen die Löschungshypothese. Die Löschungshypothese geht davon aus, dass der Konsum emotional involvierender Inhalte verhindert, dass Wissen im Langzeitgedächtnis gespeichert wird. Eine solch emotionale Involviertheit dürfte insbesondere bei Computerspielen, weniger bei Filmen auftreten, da sich bei Spielen aktiv am Geschehen beteiligt werden kann. Das Betrachten von Filmen ist hingegen eine eher passive Tätigkeit. Dass dennoch Beziehungen zwischen dem Fernsehen (und dem Konsum jugendgefährdender Filme) und den Schulleistungen bestehen, kann daher besser mit der Zeitverdrängungs- und der Inhaltshypothese begründet werden. Allerdings zeigen die
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Befunde auch, dass die Zeitverdrängungshypothese noch spezifizieren muss, welche Aktivitäten tatsächlich verdrängt werden, die den Schulerfolg positiv beeinflussen. Das Lesen und das Musizieren sind es nicht, da diese Tätigkeiten nicht mit den Schulleistungen in Zusammenhang stehen. Möglicherweise könnten sportliche Aktivitäten, Aktivitäten, die zusammen mit Erwachsenen durchgeführt werden (und die eine positive Lernumwelt darstellen können) oder bestimmte Lernaktivitäten (z.B. Hausaufgaben machen) solche verdrängten Tätigkeiten darstellen. Zweitens belegen die Auswertungen, dass der Einfluss der Klassen auf den Schulerfolg im Allgemeinen, auf den Geschlechterunterschied im Schulerfolg im Speziellen verstärkt untersucht werden sollte. Sowohl die Erteilung von Noten als auch die Erteilung gymnasialer Laufbahnempfehlungen variiert signifikant zwischen den Klassen. Wichtig ist zudem, dass der Zusammenhang zwischen der Geschlechtszugehörigkeit und dem Schulerfolg signifikant variiert. Der Mädchenanteil in einer Klasse und das Geschlecht der Klassenlehrkraft können dabei keinen Beitrag zur Erklärung dieses Befundes leisten. Wie in anderen Forschungsbereichen auch, mögen deshalb weniger die strukturellen Voraussetzungen eines Kontextes entscheidend sein, sondern vielmehr die kulturellen Aspekte. Zu diesen gehört bspw. das Lehrkräfteverhalten, das Schuloder Unterrichtsklima oder der soziale Zusammenhalt innerhalb der Klasse. Die Geschlechterunterschiede stellen sich aber nicht nur zwischen verschiedenen Schulklassen unterschiedlich dar, sondern auch zwischen verschiedenen Gebieten. In der Längsschnittstudie konnten weder zum Messzeitpunkt 1 noch zum Messzeitpunkt 3 signifikante Geschlechterunterschiede in den Schulleistungen gemessen werden, wobei die Mädchen dennoch durchschnittlich etwas bessere Leistungen erzielten als die Jungen. Beide Gebiete lagen in Niedersachsen, wiesen also vergleichbare schulorganisatorische Rahmenbedingungen auf. Eine zukünftig zu untersuchende Frage könnte daher sein, inwieweit die Geschlechterunterschiede in den Schulleistungen neben den individuellen und Klassen-Faktoren auch abhängig sind von den institutionellen Rahmenbedingungen eines Ortes, eines Landkreises oder eines Bundeslandes. Systematische Vergleichsstudien von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Gebiete erscheinen hier notwendig.
Mediennutzung als Ursache der schlechteren Schulleistungen von Jungenr
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Wohlbefinden und Emotionen in der Schule als zentrale Elemente des Schulerfolgs unter der Perspektive geschlechtsspezifischer Ungleichheiten Tina Hascher und Gerda Hagenauer
Schule und Unterricht stehen zu wesentlichen Anteilen im Dienst des Aufbaus von Fach- und Sachkompetenzen bei Kindern und Jugendlichen. Damit erschöpft sich jedoch der Bildungsauftrag der Schule bei Weitem noch nicht. Neben kognitiven Aspekten gilt es auch, emotionale und motivationale Faktoren zu fördern. Schulerfolg – darüber besteht inzwischen Konsens – ist als ein Bündel aus Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verstehen. Gemäß pädagogischer Theorie und Empirie meint Schulerfolg nicht nur gute Schulleistungen. Vielmehr sind beispielsweise auch Interesse, Lernfreude und das Selbstkonzept (z.B. Cortina 2006; Gruehn 2000; Lipowski 2006) zu berücksichtigen, da diese die weitere Lernbiografie ebenfalls nachhaltig beeinflussen (für die Naturwissenschaft siehe z.B. Prenzel und Schütte 2008). Dennoch beschränken sich viele Studien zur Vorhersage des Schulerfolgs auf kognitive Faktoren bzw. reduzieren diese auf Schul- und Testleistungen. Dementsprechend werden mit hoher Priorität beispielsweise die Effekte der Klarheit des Unterrichts, der (meta-) kognitiven Aktivierung und der Anknüpfung an Vorwissen diskutiert (siehe z.B. Lipowski 2006; Kunter et al. 2005). Analoges gilt für die Diskussion der Bildungserfolge vor dem Hintergrund geschlechtsspezifischer Ungleichheiten. Ob von der „Jungenkatastrophe“, der „Feminisierung der Bildung“ oder von „Bildungsdisparitäten“ gesprochen wird – mit starker Dominanz stehen Testleistungsergebnisse und Schulnoten im Mittelpunkt der Betrachtungen. Dies wird auch in den Befunden der Internationalen Vergleichsstudien wie z.B. PISA und entsprechender Zusatzstudien deutlich (z.B. Schöps et al. 2006; Schreiner und Schwantner 2009). Nicht zuletzt wird das Selbstkonzept auf die Leistung (Fähigkeitsselbstkonzept) fokussiert (z.B. Lehmann 2006). Ohne dem kognitiven Bereich seine Wichtigkeit absprechen zu wollen, geht es im vorliegenden Beitrag um die Betonung nicht-kognitiver Aspekte: Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich geschlechtsspezifische Ungleichheiten im schulischen Wohlbefinden und in Lernemotionen nachweisen lassen und wie sich diese auf den Bildungserfolg von Mädchen und Jungen auswirken.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Tina Hascher und Gerda Hagenauer
1 Wohlbefinden in der Schule Im Zuge der Verbesserung von Schulqualität (für Lehrende und Lernende beiderlei Geschlechts) gilt es, emotionale Faktoren gezielt zu berücksichtigen. Das Wohlbefinden in der Schule erweist sich dafür als ein viabler Zugang. Der Begriff des Wohlbefindens in der Schule bedarf jedoch zunächst der Klärung, da er mitunter falsch verstanden wird. Danach werden geschlechtsspezifische Unterschiede im schulischen Wohlbefinden vorgestellt.
1.1 Definition des schulischen Wohlbefindens und seine Bedeutung für den Schulerfolg In der allgemeinen Wohlbefindensforschung – darunter wird ein Forschungsbereich verstanden, der sich in der Regel mit dem Wohlbefinden Erwachsener befasst – wurde seit den 1960er Jahren das Konzept des Wohlbefindens kontinuierlich präzisiert und ausdifferenziert. Während zunächst einzelne Emotionen als exemplarisch für das Wohlbefinden eines Menschen untersucht wurden, setzte sich allmählich ein Mehrkomponentenansatz des Wohlbefindens durch (im Überblick siehe Hascher 2004). Dabei wurde herausgearbeitet, dass Wohlbefinden sowohl aus emotionalen als auch aus kognitiven Anteilen besteht. Es ist also weitaus mehr als ein gefühlsmäßiges Erleben; es repräsentiert ebenfalls individuelle Bewertungen einer Situation. Seine ganzheitliche Erfassung bedarf überdies der Berücksichtung positiver (angenehmer) und negativer (unangenehmer) Facetten des Lebens. Von Wohlbefinden kann dann gesprochen werden, wenn die positiven Aspekte überwiegen und die negativen möglichst gering ausgeprägt sind. Für das schulischen Wohlbefinden konnten die folgenden sechs Komponenten (siehe Abbildung 1) empirisch bestätigt werden: Wie in Abbildung 1 ersichtlich, konstituiert sich das Wohlbefinden in der Schule aus Faktoren, die verschiedene Bereiche schulischer Anforderungen tangieren. Die Komponenten beinhalten Emotionen (z.B. Freude) und Kognitionen (z.B. Einstellungen). Damit sich schulisches Wohlbefinden entfalten kann, ist es einerseits wichtig, dass Kinder und Jugendliche möglichst selten unter körperlichen Beschwerden (z.B. Bauchschmerzen) und Sorgen wegen der Schule (z.B. ob sie die Leistungsanforderungen erfüllen können) leiden. Ebenso ist das Ausmaß sozialer Probleme entscheidend, da Schule neben der Familie über viele Jahre hinweg den zentralen Ort für Sozialkontakte darstellt. Andererseits reicht die Abwesenheit negativer Aspekte nicht für die Entwicklung des Wohlbefindens. Vielmehr müssen positive Aspekte explizit erfahren werden. Dazu gehören Freudeerlebnisse in der Schule (z.B. aufgrund der Anerkennung durch
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
287
die Lehrpersonen), positive Einstellungen zur Institution (z.B. als eine bedeutungsvolle Lernumgebung) und ein schulischer Selbstwert, in dem sich die Überzeugung, schulische Anforderungen bewältigen zu können, widerspiegelt. Abbildung 1: Mehrkomponentenmodell des Wohlbefindens in der Schule Positive Komponenten
Negative Komponenten
Freude in der Schule Positive Einstellungen zur Schule Schulischer Selbstwert
Sorgen wegen der Schule Wohlbefinden in der Schule
Körperliche Beschwerden wegen der Schule Soziale Probleme in der Schule
Quelle: Hascher 2004, 2010
Wie Fend und Sandmeier (2004) betonen, handelt es sich beim Wohlbefinden in der Schule folglich nicht um ein Votum für eine „Kuschelpädagogik“. Es repräsentiert auch keine hedonistische Orientierung der Schule im Sinne einer „neuen Spaßkultur“ (Hascher 2004). Vielmehr wird aus seiner Definition und Operationalisierung deutlich, dass hinter diesem Konzept bildungstheoretische Überlegungen stehen, welche die Bedeutung emotionaler Faktoren für die erfolgreiche Bewältigung schulischer Anforderungen wie Lernen und Leisten akzentuieren. Wie an anderer Stelle systematisiert (Hascher 2010; Hascher und Edlinger 2009; Hascher und Hagenauer 2011), lassen sich deshalb drei Funktionen des Wohlbefindens für den Schulerfolg bestimmen: (1) Der Besuch einer Schule ist für Kinder und Jugendliche ein Pflichtprogramm, das unterschiedlich bewertet wird. Ihr Wohlbefinden ist ein Ausdruck dafür, wie sie ihren schulischen Alltag beurteilen, und hat somit eine Indikationsfunktion inne. Ein hohes Wohlbefinden repräsentiert eine positive Bewertung, sowohl des Schulumfelds als auch der eigenen Rolle als Schülerin / Schüler, die für den Bildungserfolg wichtig ist. (2) Obschon das Wohlbefinden in der Schule nicht unmittelbar zu guten Leistungen führt, sind Wohlbefinden und Schulerfolg positiv korreliert und Wohlbefinden erweist sich als ein Prädiktor für die Lern- und Leis-
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Tina Hascher und Gerda Hagenauer
tungsbereitschaft. Als solches kann dem Wohlbefinden auch eine Bildungsfunktion zugesprochen werden. Schulerfolg – wie oben dargestellt verstanden als eine erfolgreiche und nachhaltige schulische Entwicklung – setzt positive Emotionen und Einstellungen voraus und beinhaltet sie gleichermaßen. (3) Schule und Unterricht führen nicht nur zu angenehmen Erfahrungen. Sie erweisen sich ebenso als eine Quelle des Erlebens von Problemen, Misserfolgen und Zurückweisung. Fühlen sich Kinder und Jugendliche in der Schule prinzipiell wohl, so kann dies eine Ressource für die Bewältigung negativer Erfahrungen darstellen. Damit kommt dem Wohlbefinden eine Präventions- und Interventionsfunktion zu, welche den Schulerfolg zu unterstützen vermag. Schulisches Wohlbefinden lässt sich folglich als Indiz für eine gelungene (Schul-)Pädagogik heranziehen (Fend und Sandmeier 2004; Wild et al. 2006), und es kann als ein wesentliches Bestimmungsmerkmal des generellen Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen verstanden werden. Für einen solchen Zugang sprechen verschiedene Theorien des Wohlbefindens (siehe im Überblick Hascher 2004), so beispielsweise die Definition des allgemeinen Wohlbefindens als ein Indikator für Lebensqualität (Diener, Oishi und Lucas 2003), die Akzentuierung der Bedeutung der subjektiven Bewertung eines Individuums für die Genese des Wohlbefindens (Diener, Diener und Diener 1995) und die Einteilung des Wohlbefindens in Teilbereiche (z.B. Becker 1994). Nachfolgend soll deshalb der Frage nachgegangen werden, ob schulische Pädagogik für Mädchen und Jungen gleichermaßen gut gelingt.
1.2 Geschlechtsspezifische Unterschiede im schulischen Wohlbefinden In der allgemeinen Wohlbefindensforschung wurden geschlechtsspezifische Unterschiede bisher eher nur partiell thematisiert. So fehlt beispielsweise im Kapitel über das subjektive emotionale Wohlbefinden (Diener und Lucas 2000) im „Handbook of Emotions“ von Lewis und Haviland (2000) jeglicher Hinweis auf entsprechende Unterschiede. Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass diesbezügliche Befunde eher wenig ergiebig bzw. wenig aussagekräftig sind (Myers und Diener 1995). In manchen Bereichen weisen die Frauen bessere Werte auf (z.B. bei Ryff und Keyes 1995, hinsichtlich der positiven Beziehungen zu anderen Menschen), in anderen wiederum schlechtere Werte (siehe z.B. Campbell 1981; für einen Kurzüberblick siehe Tesch-Römer et al. 2008). Erst allmählich wurde ein interessanter Hinweis von Diener (1984) aufgegriffen:
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
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Frauen berichten sowohl stärkere positive als auch negative Emotionen (z.B. Brebner 2003). Da diese Angaben aber oftmals miteinander verrechnet werden, entsteht der Eindruck als bestünden keine Unterschiede (siehe dazu Fujita et al. 1991). Ein genauerer Blick auf den Umgang mit Emotionen legt überdies den Schluss nahe, dass Frauen weniger adaptive Strategien zur Bewältigung negativer Emotionen anzuwenden scheinen als Männer (Garnefski et al. 2004). Des Weiteren beeinflusst die Art der Messmethode das Ergebnis: Während bei Selbstberichten häufiger Frauen intensiveres emotionales Erleben angeben, weisen Männer bei physiologischen Messungen höhere Werte auf (Abele 2009). Systematische Analysen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden hinsichtlich des schulischen Wohlbefindens sind spärlich gesät. Zwar wird die Variable Geschlecht in Untersuchungen zum Wohlbefinden in der Schule häufig kontrolliert, eine gezielte Prüfung und Erklärung möglicher Differenzen wird jedoch selten theoretisch und empirisch vorgenommen. Die bisherige Befundlage hinterlässt Leserinnen und Leser etwas ratlos, da sie sich sehr heterogen gestaltet – was nicht zuletzt im divergenten Methodeneinsatz begründet liegt. In einigen Studien wurden Abweichungen zu Ungunsten der Mädchen festgestellt (Bergman und Scott 2001; Dzuka und Dalbert 1996; Fend 1997; Konu et al. 2002) – auch dann, wenn sie in Bezug auf ihre schulischen Leistungen erfolgreicher sind (Undheim und Sund 2005). Andere Studien berichten von höheren Ausprägungen der positiven Merkmale bei gleichzeitiger höherer Ausprägung negativer Dimensionen (Eder 2007). In weiteren Studien konnten keine Differenzen zwischen Mädchen und Jungen nachgewiesen werden (Hascher 2004, für Teilstichproben). Ein unsystematisches Ergebnismuster sollte jedoch nicht als Grund verstanden werden, sich nicht mit der Thematik zu beschäftigen. Vielmehr gilt es, geschlechtsspezifische Unterschiede kritisch zu betrachten. Dies sei an drei Befunden aus unseren Studien verdeutlicht, in denen jeweils mit dem gleichen Erhebungsinstrument, dem Fragebogen zum Wohlbefinden in der Schule (Hascher 2004), gearbeitet wurde.
(1) Die mögliche Bedeutung schulkultureller Faktoren Im Kontext einer international angelegten Studie zum Wohlbefinden in der Schule (N = 2014, 7. bis 9. Klassenstufe, 53 % Mädchen, 47 % Jungen) wurde deutlich, dass Disparitäten zwischen Mädchen und Jungen mit kulturellen Faktoren zusammenzuhängen scheinen (Hascher 2004, siehe Tabelle 1), da sich keine einheitlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede ergaben. Mittels TTests für unabhängige Stichproben wurde überprüft, inwiefern sich die Ge-
Tina Hascher und Gerda Hagenauer
290
schlechter hinsichtlich der oben erklärten sechs Komponenten des schulischen Wohlbefindens unterscheiden: Schülerinnen aus dem Kanton Bern (Schweiz) leiden häufiger unter körperlichen Beschwerden, Schülerinnen aus Magdeburg (Deutschland) zeichnen sich im Vergleich zu Schülern durch ihre positiveren Einstellungen aus. Während sich bei SchülerInnen aus Amsterdam (Niederlande) keine Geschlechterdifferenzen festmachen ließen, berichteten Mädchen aus Hradec Králové (Tschechien) sowohl von häufigeren Sorgen, körperlichen Beschwerden und sozialen Problemen, zugleich aber auch von mehr Freude in der Schule als Jungen. Tabelle 1: Signifikante Unterschiede im Wohlbefinden zwischen Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I Positive Einstellungen zur Schule
Freude in der Schule
Schulischer Selbstwert
Keine Sorgen wg. der Schule*
Keine körperlichen Probleme* M < J 5.20 5.48
Keine sozialen Probleme*
Stichprobe Bern (.86) (.74) N = 394 Stichprobe M < J Spiez 5.25 5.51 (.86) (.67) N = 391 Stichprobe M > J Madgeburg 5.25 5.51 (.86) (.67) N = 364 Stichprobe Amsterdam N = 445 Stichprobe M > J M < J M < J M < J Hradec 4.03 3.73 3.35 3.66 4.40 4.91 4.63 4.99 (.90) (.97) (1.04) (1.07) (.90) (1.15) (.89) Králové (1.03) N = 420 Anmerkungen: Skalen min = 1; max = 6; signifikante Ergebnisse der T-Tests für unabhängige Stichproben. * Die Skalen wurden so umkodiert, dass ein hoher Wert hohes Wohlbefinden repräsentiert. M = Mädchen; J = Jungen; Werte = Mittelwerte (Standardabweichungen) Datenquelle: Hascher 2004
Aufgrund der Datenlage ist es nicht möglich, diese heterogenen Befundmuster genauer zu erklären. Die identischen Ergebnisse der beiden Schweizer Stichproben, die hinsichtlich ihrer Zusammensetzung nur wenige Gemeinsamkeiten aufwiesen (Stadt versus Land; Schüler/innen aus verschiedenen Schulen versus Schüler/innen aus einem Schulhaus; nach Anforderungsniveau separierte Schul-
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
291
formen (z.B. Gymnasium, Hauptschule) versus integrierte Schulformen), lässt jedoch bildungskulturelle Einflussfaktoren vermuten.
(2) Die mögliche Rolle von Altersunterschieden für das Wohlbefinden In der oben dargestellten Studie wurden Schüler/innen von der 7. bis 9. Klassenstufe aus verschiedenen Schulsettings befragt. Eine Prüfung geschlechtsspezifischer Unterschiede nach Altergruppen bzw. Klassenstufen ergibt ebenfalls ein uneinheitliches Bild, wobei sich in den meisten Stichproben in der 9. Klassenstufe mehr Differenzen zeigen als in den niedrigeren Stufen. In der tschechischen Stichprobe nehmen die Ungleichheiten ab der 8. Klassenstufe markant zu: Hier weisen die Mädchen signifikant mehr Sorgen, mehr soziale Probleme und mehr körperliche Beschwerden auf als die Jungen. In den 9. Klassen kommen Unterschiede in Bezug auf die Freude in der Schule (Mädchen erleben trotz stärkerer Sorgen, Probleme und Beschwerden mehr Freude) und dem schulischen Selbstwert (dieser ist bei den Jungen höher) dazu. Die Stichproben setzen sich jedoch aus Jugendlichen mehrerer Schulen zusammen. Interessant wäre nun zu überprüfen, ob und inwiefern in Altergruppen aus einer gleichen Schüler/innenpopulation geschlechtsspezifische Muster im Wohlbefinden bestehen. Auch sollte untersucht werden, ob sich eventuelle Muster bereits zu Beginn der Sekundarstufe nachzeichnen lassen. Auch hierzu liegen Daten aus einer Befragung von N = 431 Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 5 bis 8 (44 % Mädchen, 56 % Jungen) einer österreichischen Landhauptschule vor (siehe auch Hascher und Hagenauer 2011). Gemäß T-Tests für unabhängige Stichproben zeigen sich über die verschiedenen Klassenstufen hinweg inkongruente Ausprägungen. In der 5. Klassenstufe weisen Mädchen und Jungen vergleichbare Werte auf, lediglich verfügen Mädchen über positivere Einstellungen zur Schule. Die Schüler/innen der 6. Klassenstufe unterscheiden sich nicht. In der 7. Klassenstufe kann nur festgestellt werden, dass sich Mädchen mehr Sorgen wegen der Schule machen. In der 8. Klassenstufe jedoch treten deutlichere Differenzen zum Vorschein (siehe Abbildung 2). Es bestätigen sich somit das oben dargestellte Muster der tschechischen Stichprobe (Hascher 2004) sowie die Ergebnisse der Studie von Eder (2007): Die Mädchen der 8. Jahrgangsstufe erleben mehr Freude und besitzen positivere Einstellungen zur Schule, gleichzeitig machen sie sich mehr Sorgen wegen der Schule und sie leiden auch stärker unter körperlichen Beschwerden. Diese Befunde können als Hinweis dafür gedeutet werden, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede, mit der Ausnahme des Freudeerlebens, zu Ungunsten der Mädchen, im Verlauf der Schuljahre ausbilden. Aus diesen Querschnitts-
Tina Hascher und Gerda Hagenauer
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befunden folgt jedoch nicht zwingend, dass ältere Schülerinnen durch die Schule mehr belastet sind als jüngere und sich weniger wohl fühlen. Unterschiede zu den Jungen, deren Haltung gegenüber der Schule als eher negativ zu bezeichnen ist, treten aber stärker zutage. Trotz des gleichen Schulkontexts lässt sich nicht ausschließen, dass die dargestellten Ergebnisse von der jeweiligen Stichprobe abhängig sind. Möglicherweise bestehen in der untersuchten 8. Klassenstufe besondere Charakteristika, die weniger spezifisch für eine Altersstufe als eine bestimmte Schüler/innengruppe sind. Die Ergebnisse verschiedener Studien machen jedoch darauf aufmerksam, dass die Adoleszenz nicht nur hinsichtlich der phasenspezifischen Entwicklungsaufgaben, sondern auch hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber der Schule besonders belastet ist. Dies kann sich für Mädchen und Jungen unterschiedlich gestalten. Es sollte deshalb untersucht werden, wie sich solche Unterschiede entwickeln. Abbildung 2: Geschlechtsspezifische Unterschiede in Klassenstufe 8 6
* *
5
*
4,62
4,55
4,27
Mittelwerte
5,15
5,10 5,02 4,43 4,11
*
4
3,62 3,31
3,27
Mädchen Jungen
2,84
3
2
1 Freude in der Schule
Positive Einstellungen zur Schule
Schulischer Selbstwert
Abwesenheit von Abwesenheit Sorgen sozialer Probleme
Abwesenheit körperlicher Beschwerden
Anmerkung: Skalen min = 1; max = 6; Mittelwerte; * = signifikante Unterschiede Datenquelle: Hascher und Hagenauer 2011
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
293
(3) Der mögliche Verlauf geschlechtsspezifischer Entwicklungen im Wohlbefinden Inwiefern können anhand der Analyse intra-individueller Veränderungen des Wohlbefindens Hinweise für geschlechtsspezifische Entwicklungen abgeleitet werden? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Hinter dieser Überlegung steht die Motivation, verlässlichere Informationen über die Entstehung von Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen zu erhalten, da die bisherigen Befunde aus Querschnittstudien keine klaren Schlussfolgerungen zulassen. Untersuchungen müssen dazu bereits vor Bestehen der Unterschiede ansetzen. Als Datengrundlage dient eine Befragung von 356 Schülern und Schülerinnen (49 % Mädchen, 51 % Jungen) aus neun Hauptschulen der Stadt Salzburg bzw. aus dem städtischen Umfeld (Hagenauer 2009). Die Längsschnittstudie mit vier Messzeitpunkten (siehe dazu auch Hascher und Hagenauer 2011) begann kurz nach der Mitte des 6. Schuljahres im Frühjahr (t1), die letzte Messung zum selben Zeitpunkt ein Jahr später in der 7. Schulstufe (t4). Zwischenmessungen erfolgten am Ende der 6. Klasse (t2) und zwei Monate nach Beginn der 7. Schulstufe (t3). Multivariate Varianzanalysen mit Messwiederholung ergeben signifikante Veränderungen zwischen der 6. und 7. Schulstufe hinsichtlich vier von sechs Teilkomponenten schulischen Wohlbefindens (Positive Einstellungen zur Schule: F(3, 822) = 10.35, p < 0.001, partielles η2 = 0.04; Freude in der Schule: F(3, 822) = 12.86, p < 0.001, partielles η2 = 0.05; Schulischer Selbstwert: F(3, 822) = 5.74, p = 0.001, partielles η2 = 0.02; Abwesenheit sozialer Probleme: F(3, 822) = 6.36, p < 0.001, partielles η2 = 0.02 ). Ein detaillierter Blick auf die Ergebnisse verdeutlicht, dass die Freude in der Schule kontinuierlich abnimmt. Die positiven Einstellungen zur Schule erhöhen sich zwar zum Ende der 6. Klasse (Ende des Schuljahres) kurzfristig, sinken in der 7. Schulstufe allerdings wieder ab. Dasselbe gilt für den schulischen Selbstwert, der zunächst stabil ist, in der zweiten Hälfte des 7. Schuljahres dann aber ebenso signifikant abnimmt. Von Interesse ist, dass neben dem Messzeitpunkt auch der Faktor „Geschlecht“ einen signifikanten Einfluss auf zwei Dimensionen des schulischen Wohlbefindens auszuüben scheint (siehe Abbildung 3): Mädchen berichten über positivere Einstellungen zur Schule als Jungen (F(1, 274) = 13.81, p < 0.001, partielles η2 = 0.05) und über ein höheres Freudeerleben in der Schule (F(1, 274) = 9.06, p = 0.003, partielles η2 = 0.03).
Tina Hascher und Gerda Hagenauer
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Abbildung 3: Verläufe der Wohlbefindenskomponenten „Positive Einstellungen zur Schule“ (PES) und „Freude in der Schule“ (FIS) PES M ädchen FIS M ädchen
5
PES Jungen FIS Jungen
4,41
4,37
Mittelwerte
4,29 4,26
4,18
4
4,13
3,98
4,15
4,01 3,93
3,97
3,77 3,72
3,80 3,68 3,38
3 1
2
3
4
Messzeitpunkte
Anmerkung: Skalen min = 1; max = 6; Mittelwerte zu vier Messzeitpunkten, getrennt dargestellt für Jungen und Mädchen Datenquelle: Hascher und Hagenauer 2011
Aus diesen Ergebnissen wird deutlich, dass sich Mädchen und Jungen zwar in der Ausprägung ihrer positiven Einstellungen und des Freudeerlebens unterscheiden. Die Verläufe können jedoch als identisch bezeichnet werden. Dies führt zu der Annahme, dass es der Schule weder bei den Mädchen noch den Jungen gelingt, deren positiven Einstellungen und Emotionen aufrecht zu erhalten. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die negativen Dimensionen des Wohlbefindens (Beschwerden, Sorgen und Probleme) zu Beginn der Sekundarstufe bei den Mädchen nicht höher ausgeprägt sind. Entwickeln sich diese, wie sich aus den oben dargestellten Querschnittstudien annehmen lässt, in den höheren Schulstufen jedoch negativ, kann Schule zu einem besonders kritischen Lebensbereich für Mädchen werden.
2 Lern- und Leistungsemotionen Während im Konzept des schulischen Wohlbefindens zeit- und situationsübergreifende Emotionen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler ange-
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sprochen werden, darf nicht übersehen werden, dass der Schulalltag ebenso stark von unmittelbar erlebten, situativ ausgelösten Emotionen durchzogen ist (Hascher 2004). Diese situativ auftretenden Emotionen (= state) sind von den überdauernden, habituellen Emotionen (= trait) zu differenzieren. Im Folgenden werden verschiedene Formen und Typen der Emotionen unterschieden und unter einer geschlechtsspezifischen Perspektive zu analysieren versucht.
2.1 Definition von Lern- und Leistungsemotionen und deren Bedeutung für den Schulerfolg Lernemotionen sind als Emotionen zu verstehen, die durch das Lernen selbst ausgelöst werden (z.B. Freude am Lernprozess). Sie sind von den Ergebnisemotionen zu differenzieren, die sich auf das Resultat eines Lernergebnisses beziehen (z.B. Freude über eine gute Note in der Schule). In der deutschsprachigen Forschung werden diese beiden Emotionsformen häufig unter dem Begriff der „Leistungsemotionen“ subsumiert (z.B. Pekrun 2006). Mit diesem Begriff sollte jedoch vorsichtig umgegangen werden, da Emotionen sowohl in Lern- als auch in Leistungssituationen ausgelöst werden können. Schüler und Schülerinnen können beispielsweise Ärger erleben, weil sie die zu bearbeitende Aufgabe als wenig relevant einstufen und sie diese am liebsten gar nicht lösen würden (= Ärger als Lernemotion). Ärger kann jedoch auch während einer mündlichen Prüfung ausgelöst werden, wenn der Schüler bzw. die Schülerin nicht in der Lage ist, die richtige Antwort zu geben (= Ärger als Leistungsemotion). In diesem Text wird daher von Lernemotionen gesprochen, wenn die emotionsauslösende Situation eine Lernsituation darstellt und von Leistungsemotionen, wenn Emotionen durch Leistungssituationen hervorgerufen werden. Sowohl Lern- als auch Leistungsemotionen können als prospektiv (z.B. Hoffnung), prozessbezogen (z.B. Langeweile) und retrospektiv (z.B. Scham) charakterisiert werden. Retrospektive Emotionen beziehen sich auf das Lernergebnis (= outcome emotions). Des Weiteren wird zwischen aktivierenden und deaktivierenden Lernund Leistungsemotionen unterschieden (Pekrun 1993). Positive aktivierende Emotionen (z.B. Freude) führen zu einer Annäherung an das Lernen (z.B. eine aktive Mitarbeit, eine hohe Ausdauer etc.); negative deaktivierende Emotionen (z.B. Langeweile) sind Lernhandlungen eher hinderlich und bewirken nicht selten – wenn möglich – einen Abbruch der Lernhandlung. Ambivalent wird die Wirkung von positiven deaktivierenden (z.B. Erleichterung) und negativen aktivierenden (z.B. Angst, Ärger) Emotionen auf das Lernen eingeschätzt (Pekrun et al. 2002).
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Tina Hascher und Gerda Hagenauer
Bisherige Untersuchungen aus der empirischen Unterrichtsforschung weisen darauf hin, dass positive (aktivierende) Emotionen positiv mit der schulischen Leistung korrelieren, während negative (deaktivierende) Emotionen negative Beziehungen zur Leistung aufweisen (z.B. Pekrun und Hofmann 1999; Helmke 1993; Fend 1997). Dabei wird von einer indirekten Wirkung von Emotionen auf die Leistung ausgegangen: Emotionen steuern das Lernverhalten (z.B. die Ausdauer, die Mitarbeit) und auch kognitive Prozesse (z.B. die Art des Denkens und die Informationsverarbeitung; siehe hierzu im Überblick Edlinger und Hascher 2008), die wiederum einen Einfluss auf die Leistung zeigen. Lernfreude beispielsweise korreliert positiv mit der Selbstwirksamkeit, mit dem Interesse am Fach, mit einem positiven Zeitmanagement, mit der Bereitschaft, sich anzustrengen und mit geringen aufgabenirrelevanten Gedanken. Genau umgekehrt verhält sich die Beziehung zwischen den genannten Faktoren und der Langeweile (Pekrun und Hofmann 1999). Für den Schulerfolg ist es demnach wesentlich, das positive emotionale Erleben der Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, und das negative emotionale Erleben auf möglichst geringem Level zu halten.
2.2 Geschlechtsspezifische Unterschiede im Erleben von Lernemotionen in der Schule Lern- und Leistungsemotionen im schulischen Kontext erfahren erst seit ungefähr eineinhalb Jahrzehnten zunehmend Beachtung. Ausnahmen stellen Untersuchungen zur Prüfungsangst und Forschungsarbeiten, die einen attributionstheoretischen Blick auf spezifische Emotionen, wie z.B. Stolz und Scham, werfen, dar. Dementsprechend wenige Informationen liegen auch über geschlechtsspezifische Unterschiede im emotionalen Erleben in der Schule vor. In Bezug auf konkrete Lernemotionen wurden bisher vor allem Untersuchungen zur schulischen Lernfreude und Langeweile durchgeführt. Im Folgenden soll auf die Befunde zur Lernfreude und Langeweile näher eingegangen werden, die in einem weiteren Schritt anhand aktuellen empirischen Materials illustriert und erweitert werden. (1) Lernfreude / Schulfreude. Die schulische Lernfreude lässt sich sowohl fächerunabhängig als auch fächerabhängig erfassen. Insbesondere neuere Forschungsarbeiten fordern eine kontextspezifische Analyse der schulischen Lernfreude, da diese zwischen den Fächern stark variieren kann (Goetz et al. 2006b, 2008). Nichtsdestotrotz scheint es neben der fachspezifischen Erforschung ebenfalls lohnenswert zu sein, die generelle Lernfreude in der Schule zu untersuchen, wie dies in anderen Forschungstraditionen, z.B. zur Lernmotivation (= Motiva-
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
297
tion in Mathematik; Motivation in der Schule) oder zum Leistungselbstkonzept (= fachspezifisches Selbstkonzept; schulisches Fähigkeitsselbstkonzept) praktiziert wird. Bereits in der Grundschule lassen sich geschlechtstypische Präferenzen von Mädchen und Jungen feststellen: Während Mädchen lieber für das Fach Deutsch lernen, bevorzugen Jungen Mathematik (Helmke 1993; Schmude oJ.). Die Verläufe zeigen, dass die Lernfreude in beiden Fächern sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungen abnimmt, wobei der Rückgang bei den Mädchen in Mathematik und bei den Jungen in Deutsch stärker ist. Einschränkend ist jedoch zu erwähnen, dass die Lernfreude in diesen Studien mittels eines sog. Affektbarometers erhoben wurde, an Hand dessen die Kinder beurteilen sollten, wie gern oder ungern sie Mathematik / Rechnen oder Deutsch / Rechtschreiben haben. Es ist zu hinterfragen, ob durch diese Methode tatsächlich Emotionen der Kinder erfasst werden oder eher positive oder negative Einstellungen gegenüber den Fächern. In der Sekundarstufe vollzieht sich ein Negativtrend im Verlauf der Lernfreude, wobei der stärkste Einbruch in Klassenstufe 7 erfolgt (Eder 2007; Fend 1997). Die Daten spiegeln dabei – wie in unseren Ergebnissen zum schulischen Wohlbefinden – eine durchgehend höhere allgemeine Lernfreude (Czerwenka et al. 1990; Stufen 4-13) und auch Schulfreude (van Ophuysen 2008, Stufen 4-7; Eder 1995, Stufen 4-12) der Mädchen wider. Die problematische Entwicklung ist allerdings sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen feststellbar, wobei Fend (1997) insbesondere die Jungen als gefährdet im Hinblick auf den Rückgang der Schulfreude – aber auch des Wohlbefindens – einschätzt. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern manifestiert sich am deutlichsten zwischen Schulstufe 7 und 9. Aus einer fachspezifischen Perspektive ist der Unterschied in der Lernfreude in Mathematik zwischen Mädchen und Jungen auch in der Sekundarstufe nach wie vor existent. Mädchen berichten von weniger Freude aber auch Stolz in Mathematik, während Angst, Hoffnungslosigkeit und Scham höher liegen. Das stärker negative emotionale Erleben der Mädchen wird durch deren niedrigere Kontrollüberzeugungen sowie durch deren negativere Valenzüberzeugungen (= Mädchen schätzen den Wert des Faches Mathematik geringer ein) erklärt (Frenzel et al. 2007). (2) Langeweile. Trotz des Wissens, dass Langeweile in der Schule häufig auftritt und durch ihren deaktivierenden Charakter bei den Schüler/innen negative Wirkungen auf das Lernen und Leisten auslöst, wurde diese bisher nur in vereinzelten Studien erforscht (z.B. Goetz et al. 2006a; Goetz und Frenzel 2006; Goetz et al. 2007; Holler-Nowitzki und Meier 1997). Lohrmann (2008) weist in einer Zusammenschau verschiedener Studien nach, dass Langeweile mit negati-
298
Tina Hascher und Gerda Hagenauer
ven Lern- und Leistungsvariablen einhergeht (z.B. hohes aufgabenirrelevantes Denken, Aufmerksamkeitsstörungen, Schulunlust, geringe Ausdauer, Unterrichtsstörungen, Schulabsentismus). Langeweile ist dabei ein Phänomen, das sich über die gesamte Schulzeit zu erstrecken scheint, mit Beginn bereits in der Grundschule (Valtin et al. 2005) und einer Fortsetzung des Trends in der Sekundarstufe 1 und 2 (Holler-Nowitzki und Meier 1997). Geschlechtsspezifische Analysen in Bezug auf das Langeweileerleben sind bisher eher selten zu finden, und die Ergebnisse sind als widersprüchlich zu bezeichnen. In den Studien zum Langeweileerleben in der Grundschule von Valtin et al. (2005) und Schneider (2005) berichten Jungen stärker von Langeweile. In anderen Studien wiederum ergibt sich das Gegenteil (im Überblick siehe Lohrmann 2008: 57). Sparfeldt et al. (2009) stellten in Bezug auf das Langeweileerleben in Mathematik in der Grundschule fest, dass die Leistung der Jungen deutlich höher mit deren Langeweile korreliert als die der Mädchen. Dieser Befund wird mit der höheren Konformitätsneigung der Mädchen begründet: Trotz vorliegender Langeweile besitzen die Mädchen ein positiveres Arbeitsverhalten, welches wiederum für die höheren Leistungen verantwortlich ist. In einer Längsschnittstudie, die im Zuge von PISA 2003 in Deutschland durchgeführt wurde, wurden Schüler und Schülerinnen von der 9. bis zur 10. Schulstufe unter anderem im Hinblick auf ihr Langeweileerleben im Mathematikunterricht befragt (Frenzel et al. 2006). Es zeigt sich, dass die Langeweile in der 9. Schulstufe einen signifikanten Prädiktor für einen fehlenden Leistungszuwachs in der 10. Schulstufe sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen darstellt: Je höher die Langeweile in der 9. Schulstufe ausgeprägt ist, desto geringer erweist sich der Kompetenzzuwachs in der 10. Schulstufe. Die Prädiktorfunktion der Langeweile für die schulische Leistung ist dabei bei den Jungen geringfügig stärker. In Bezug auf die Entwicklung der Langeweile im beobachteten Zeitraum werden leichte Unterschiede bei Mädchen und Jungen deutlich: Die Langeweile steigt bei den Jungen etwas an, bei den Mädchen bleibt sie auf interindividueller Ebene konstant. Auf intra-individueller Ebene treten jedoch sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen Entwicklungsdynamiken auf, d.h. circa bei der Hälfte der Schüler und Schülerinnen erfolgen sowohl Anstiege als auch Rückgänge der Langeweile, bei der anderen Hälfte der Lerner/innen bleibt die Langeweile in etwa konstant.
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
299
2.3 Aktuelle empirische Befunde zum Freude- und Langeweileerleben von Mädchen und Jungen in der Schule In der bereits bei der Beschreibung des Wohlbefindens vorgestellten Längsschnittstudie (siehe Hagenauer 2009) wurden Schüler und Schülerinnen zum einen zu ihrer habituellen Lernfreude und Langeweile (6. und 7. Schulstufe) befragt. Zum anderen führte eine Substichprobe (n = 110) Tagebuch über emotionsauslösende konkrete Unterrichtssituationen mit dem Fokus auf der aktuellen schulischen Lernfreude. Zu beiden Bereichen werden im Folgenden ausgewählte Ergebnisse präsentiert.
(1) Habituelle Lernemotionen Freude und Langeweile Aus den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass Mädchen positivere (habituelle) Emotionen in der Schule erleben als Jungen und dass sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen die positiven Emotionen mit fortschreitenden Schuljahren abnehmen, während die negativen Emotionen ansteigen. Diese beiden Aspekte sollen mit dem vorliegenden Datenmaterial im Hinblick auf die habituelle Lernfreude und Langeweile überprüft werden In Bezug auf den habituellen Aspekt der Lernemotionen ergeben sich sowohl in der 6. als auch in der 7. Schulstufe Unterschiede in der durchschnittlichen Langeweile und im mittleren Lernfreudeerleben zu Gunsten der Mädchen. Der Entwicklungstrend ist allerdings bei Mädchen und Jungen derselbe (siehe Tabelle 2): Zwischen der 6. und 7. Schulstufe nimmt die Lernfreude ab, während die Langeweile ansteigt. Die Veränderung der Lernfreude ist jedoch stärker als die der Langeweile. Tabelle 2: Die Veränderung der schulischen Lernfreude und Langeweile zwischen Klassenstufe 6 und 7 bei Mädchen und Jungen 6. Schulstufe Lernfreude
7. Schulstufe
Langeweile
Lernfreude
Langeweile
M
SD
M
SD
M
SD
M
SD
Mädchen
2.65
0.76
2.42
0.90
2.45
0.72
2.50
0.90
Jungen
2.40
0.69
2.70
0.92
2.22
0.67
2.73
0.85
Anmerkung: Skalen min = 1; max = 4 Datenquelle: Hagenauer 2009
300
Tina Hascher und Gerda Hagenauer
(2) Aktuelle Lernemotionen Mit Hilfe der Tagebuchdaten sollte untersucht werden, welche Unterrichtsfächer und welche Unterrichtssituationen (z.B. Frontalunterricht, gemeinsames Üben etc.) bei den Mädchen und welche bei den Jungen Freude auslösen bzw. verhindern. Beide Fragen werden nun im Hinblick auf mögliche geschlechtsspezifische Differenzen überprüft. Die Schüler und Schülerinnen gaben zu Beginn des Tagebuches an, ob sie eine Lernfreude auslösende oder verhindernde Situation des vergangenen Schultages beschreiben werden. Danach wurden sie aufgefordert, diese Lernsituation möglichst genau darzustellen und auch ihre subjektiven Gründe für die (positive oder negative) Situationseinschätzung anzugeben. Die offenen Antworten der Jugendlichen (66 % Mädchen) wurden kodiert und in ihrer Auftretenshäufigkeit gezählt. Von den Mädchen liegen 1.619 (= 70 %) und von den Jungen 704 (= 30 %) Situationsbeschreibungen vor. Die Tagebucheinträge verdeutlichen, dass bei Mädchen und Jungen gleichermaßen die Hauptfächer Mathematik, Deutsch und Englisch hauptverantwortlich für das Auslösen als auch das Verhindern von Freude sind. Dies deckt sich mit Befunden der Emotionsforschung, die belegen, dass insbesondere Situationen, die eine hohe Bedeutung für die Person besitzen, emotionalen Charakter aufweisen (z.B. Izard 1999): Im österreichischen Schulsystem werden in den genannten drei Fächern Klassenarbeiten geschrieben, während die Nebenfächer „nur“ durch Tests und mündliche Wiederholungen abgeprüft werden. Des Weiteren ist deren Stundenanzahl pro Woche höher angesetzt, und die Noten in diesen Fächern sind unter anderem für den Schulübergang relevant. Um zu überprüfen, ob ein Fach anteilig im Vergleich zu den anderen Unterrichtsfächern eher positive oder negative Lernsituationsbeschreibungen auslöst, werden die Antworten der Jugendlichen anhand von Positiv- bzw. Negativbilanzen dargestellt. Dies sei am Beispiel Mathematik illustriert: Bei den Jungen fallen 16.9 % der Lernfreude auslösenden Situationen, dagegen 22.5 % der als negativ erlebten Situationen auf den Mathematikunterricht. Daraus ergibt sich eine „Negativbilanz“, da der Anteil, den Mathematik innerhalb der negativ beschriebenen Lernsituationen einnimmt, höher ist als jener innerhalb der positiven Situationen. Bei den Ergebnissen fällt insbesondere die starke Negativbilanz des Faches Physik und Chemie bei den Mädchen auf. Aber auch Situationen in Geschichte und Mathematik werden von den Mädchen häufig als für die Lernfreude hinderlich beschrieben. Bei den Jungen zeigt sich ebenso eine emotionale Negativbilanz im Fach Mathematik, jedoch auch in Religion, in den Fremdsprachen (mit Ausnahme des Englischunterrichts), und besonders stark fällt diese im Musikunterricht aus. Dagegen löst das Fach Bewegung und Sport bei Mädchen und bei
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
301
Jungen überwiegend Freude aus; bei Jungen zusätzlich noch Geografie, bei den Mädchen Englisch und vor allem Musik (siehe Abbildungen 4 und 5). Die starke Verbindung des Freudeerlebens von Mädchen in Musik kann durch die Tagebuch-Teilnahme einer Klasse mit Musikschwerpunkt, in der sich überwiegend Mädchen befanden, erklärt werden. In den übrigen Fächern sind die Anteile positiver und negativer Beschreibungen relativ ausgeglichen. Abbildung 4: Negativ- und Positivbilanzen der Unterrichtsfächer bei Mädchen
Prozentanteil
30
Positivbilanz
Negativbilanz
22.50
25
17.40
20
12.60
15 10
13.6012.20
9.50
8.80 4.70
4.50
4.30
5
10.30
3.70
0 Mathematik
Physik/Chemie
Geschichte Englisch Unterrichtsfächer
Lernfreude auslösende Situationen
Sport
Musik
Lernfreude verhindernde Situationen
Datenquelle: Hagenauer 2009
Abbildung 5: Negativ- und Positivbilanzen der Unterrichtsfächer bei Jungen 30
Prozentanteil
25 20
Negativbilanz
22.90 16.90
Positivbilanz
11.70
15 10
11.60
5.90
5.20 2.10
5
1.90
3.50
5.60
5.90
3.90
0 Mathematik
Musik
Religion
Fremdsprachen
Sport
Geographie
Unterrichtsfächer Lernfreude auslösende Situationen
Lernfreude verhindernde Situationen
Datenquelle: Hagenauer 2009
In einem weiteren Schritt wird analysiert, in welchen Unterrichtssituationen – unabhängig von den Fächern – bei Mädchen und Jungen anteilig positive und in welchen Unterrichtssituationen negative Tagebucheinträge dominieren. Dazu
Tina Hascher und Gerda Hagenauer
302
wurden die Situationsbeschreibungen 18 unterschiedlichen Unterrichtskategorien zugeordnet, wie z.B. Üben alleine, Üben gemeinsam, Arbeit am Computer, spielerisches/experimentelles Lernen etc. Wiederum werden die Ergebnisse (siehe Abbildungen 6 und 7) anhand positiver bzw. negativer Bilanzen dargestellt.
Prozentanteil
Abbildung 6: Negativ- und Positivbilanzen der Unterrichtssituationen bei Mädchen 30 25 20 15 10 5 0
27.10
Negativbilanz
Positivbilanz 20.10 17.20
12.50 8.30
12.90 9.60
2.60
FRO
ABS
6.70 2.50
ÜGE FEU Unterrichtssituationen
Lernfreude auslösende Situationen
4.60
2.10
ACO
ÜAL
Lernfreude verhindernde Situationen
Anmerkungen: FRO = Frontalunterricht; ABS = Abschreibsituation (z.B. von der Tafel); ÜGE = Üben gemeinsam; FEU = fragend-entwickelnder Unterricht; ACO = Arbeit am Computer; ÜAL = alleine Üben Datenquelle: Hagenauer 2009
Am häufigsten beschreiben sowohl Mädchen als auch Jungen in ihren Tagebüchern Situationen, in denen Frontalunterricht (= Lehrperson erklärt und Schüler/innen hören zu) vorherrscht und in denen entweder gemeinsam oder alleine geübt wird. Dabei ist der Anteil an negativ erlebten Situationen im Frontalunterricht bei Mädchen und bei Jungen deutlich höher als Lernfreude auslösende Situationen. Auch Abschreibsituationen (= die Schüler/innen werden aufgefordert, Lerninhalte von der Tafel oder vom Buch zu kopieren) werden von Mädchen und Jungen primär als Lernfreude hinderlich erachtet. Mädchen und Jungen berichten dagegen, dass fragend-entwickelnder Unterricht für sie eher Lernfreude auslöst. Von Jungen wird des Weiteren das Üben bzw. Lernen am Computer als Lernfreude förderlich bewertet, ebenso von den Mädchen, allerdings in einer weniger hohen Deutlichkeit. Das spielerische und experimentelle Lernen sowie Spiele im Sportunterricht, insbesondere Fußball, werden vor allem von den Jungen als der Lernfreude förderlich angegeben. Vergleicht man die Übungssituationen – gemeinsam oder alleine üben –, so ergibt sich bei Jungen
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
303
und Mädchen beim alleinigen Üben eine leichte Positivbilanz, während das gemeinsame Üben bei den Mädchen eine Negativbilanz aufweist. Vor allem das Vorrechnen an der Tafel, als eine besondere Form des gemeinsamen Übens, wird von Mädchen in einigen Situationen als wenig Lernfreude förderlich erlebt. Diese Befunde sprechen gegen die These, Mädchen und Jungen bedürften unterschiedlicher Unterrichtsarrangements, und auch dagegen, dass Jungen in einer eher feminisierten Bildungslandschaft per se benachteiligt würden (Guggenbühl 2006). Es finden sich bisher wenige Argumente dafür, die Qualität von Unterricht geschlechtsspezifisch unterschiedlich zu interpretieren.
Prozentanteil
Abbildung 7: Negativ- und Positivbilanzen der Unterrichtssituationen bei Jungen 30 25 20 15 10 5 0
23.20
9.80
Negativbilanz
Positivbilanz
21.40
11.60
5.00
9.40 5.70
5.30 1.30
FRO
23.20
ABS
ÜGE
0.00
3.10
4.40
FEU ACO ÜAL Unterrichtssituationen
Lernfreude auslösende Situationen
7.00 6.20
1.80
ESL
SSP
Lernfreude verhindernde Situationen
Anmerkung: FRO = Frontalunterricht; ABS = Abschreibsituation (z.B. von der Tafel); ÜGE = Üben gemeinsam; FEU = fragend-entwickelnder Unterricht; ACO = Arbeit am Computer; ÜAL = alleine Üben; ESL = experimentelles / spielerisches Lernen; SSP = Spiele im Sport Datenquelle: Hagenauer 2009
3 Die Bedeutung geschlechtsspezifischer Unterschiede hinsichtlich emotionaler Faktoren für den Schulerfolg Auf der Basis der dargestellten Studien zu geschlechtsspezifischen Unterschieden hinsichtlich des Wohlbefindens in der Schule und hinsichtlich des Erlebens von Lernemotionen soll nun eine Interpretation der Befunde und eine Bewertung offen gelegter Disparitäten versucht werden: Weisen die Ergebnisse auf eine Benachteiligung bzw. Gefährdung von Mädchen oder Jungen hin? Die Analysen zum Wohlbefinden und den Lernemotionen offenbaren insgesamt eher geringe Differenzen im Erleben und Bewerten des Schulalltags und
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Tina Hascher und Gerda Hagenauer
unterschiedliche Befindenslagen bei Mädchen und Jungen. Zudem muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt eingestanden werden, dass Unterschiede zwar auftreten, sich aber nur bedingt systematisieren lassen. Zu uneinheitlich ist das Befundmuster. Die hier präsentierten Ergebnisse machen darauf aufmerksam, dass dies nicht zuletzt mit Einflussfaktoren, die bisher kaum gezielt kontrolliert wurden, zusammenzuhängen scheint: Schul- und Lernkulturen, Entwicklungsphasen und Unterrichtsgestaltung. Für künftige Forschungsarbeiten ergibt sich daraus der Anspruch, von einer Suche bloßer Abweichungen abzusehen und die komplexe Vernetzung schulrelevanter Faktoren zu berücksichtigen, sollen geschlechtsspezifische Disparitäten identifiziert werden. Einzelne geschlechtsspezifische Differenzen können wiederholt bestätigt werden: Mädchen erleben mehr Freude in der Schule als Jungen und sie verfügen über positivere Einstellungen – zugleich ist aber festzuhalten: Sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen verschlechtern sich Emotionen und Einstellungen gegenüber der Schule im Laufe der Sekundarstufe I. Dies schwächt auch ihren schulischen Bildungsprozess. Mädchen in den höheren Klassen der Sekundarstufe 1 scheinen des Weiteren stärker von Sorgen, Problemen und Beschwerden belastet zu sein als Jungen. Insofern erweist sich die Entwicklung für Mädchen als besonders problematisch – auch dann, wenn man bedenkt, dass es ihnen aufgrund geschlechtsspezifischer Sozialisation eher zugestanden wird, Emotionen zum Ausdruck zu bringen, und auch dann, wenn die Erhebungsinstrumente ihre Sensibilität gegenüber Emotionen begünstigen: Ihre positiven Emotionen und Einstellungen stehen ihnen nicht länger als Ressource im Umgang mit der Schule zur Verfügung, und negative Aspekte können sich vermehrt entfalten. Unterstützt wird diese Interpretation durch einen Hinweis von Bergman und Scott (2002): Sie konnten zeigen, dass Mädchen nicht nur ein geringeres Wohlbefinden aufweisen, sondern dass die Faktoren des Wohlbefindens auch enger miteinander verknüpft sind. Deshalb sprechen sie von einer Negativspirale, in die Mädchen geraten können, da sie in mehreren Bereichen (also hinsichtlich verschiedener Komponenten des Wohlbefindens) vulnerabler sind als Jungen. Die aufgezeigten Differenzen hinsichtlich der Intensität der Emotionen können mit unterschiedlichen Erlebnissen zu tun haben (Diener et al. 1985), wenn beispielsweise Mädchen – implizit oder explizit – für Verhaltensweisen sanktioniert werden, die bei Jungen toleriert werden. So trivial es klingen mag: Mädchen machen in vermeintlich gleichen Situationen in Schule und Unterricht andere Erfahrungen als Jungen, was beispielsweise in eine Abneigung gegenüber den Naturwissenschaften resultieren kann. Aber auch die Entwicklung bei Jungen ist bedenklich: Obschon sie mit tieferen Werten hinsichtlich positiver Einstellungen und Emotionen in die Sekundarstufe eintreten, verschlechtern sich diese noch. Die Jungen stellen also be-
Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
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reits zu Beginn der Sekundarstufe eine Risikogruppe dar. Ihr schulischer Selbstwert scheint davon zwar nicht negativ tangiert zu sein, ihr Lernverhalten vermutlich schon. Präventionsbemühungen sollten deshalb bereits im Grundschulalter ansetzen. In Bezug auf das Bildungsziel, die Kinder und Jugendlichen in der Schule zu lebensbegleitendem Lernen zu befähigen, scheint folglich einiges im Argen zu liegen. Dass die Schule die wesentlichen Einflussfaktoren diesbezüglich selbst in der Hand hat, belegen die Untersuchungen zum aktuellen Emotionserleben: Die Unterrichtsfächer – mit Ausnahme von Mathematik – werden unterschiedlich beurteilt und die Rolle der Gestaltung des Unterrichts ist zentral. Unterrichtsformen, die den Schülerinnen und Schülern wenig Eigenaktivität beim Lernen zugestehen, führen eher zu negativen Emotionen bzw. hemmen die Entwicklung positiver Emotionen. Hervorgehoben sei an dieser Stelle, dass sich eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens und der Lernfreude bei Jungen nicht darauf zurückführen lässt, dass diese in feminisierten Bildungswelten leben und lernen müssen. Jungen – ebenso wie Mädchen – verlieren ihr schulisches Wohlbefinden und ihre Lernfreude, wenn die Qualität des Unterrichts zu wünschen übrig lässt. Geht man von den oben dargestellten Überlegungen zu den Funktionen des Wohlbefindens in der Schule aus, so indizieren niedrige Werte des Wohlbefindens und ein häufigeres bzw. intensiveres Auftreten negativer Emotionen eine wenig gelungene Pädagogik. Steht Wohlbefinden als Indikator für die Bewertung der schulischen Situation (Diener und Lucas 2000), so zeichnen die befragten Kinder und Jugendlichen zwar kein ausgesprochen negatives Bild der Schule. Die anhand unserer Studien aufgezeigten Missstände und Verschlechterungen für Mädchen und Jungen sollten die Schule dennoch dringend zu einer Veränderung ihrer Praxis motivieren. Die Ergebnisse sind insgesamt auch als ein Appell zu lesen, sich weniger auf geschlechtsspezifische Unterschiede zu fixieren und der These der Bildungsbenachteiligung von Jungen kritisch gegenüber zu treten. Vielmehr unterstützen sie Bemühungen, welche den Blick auf die Bedürfnisse von Lernerinnen und Lernen gleichermaßen richten und pädagogische Reformen in den Dienst der Verbesserung der Unterrichtsqualität stellen.
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Tina Hascher und Gerda Hagenauer
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Wohlbefinden und Emotionen in der Schuler
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Soziale und individuelle Bedeutungsfaktoren für mathematisches Fachinteresse und geschlechtsspezifische Varianzen Rebecca Lazarides und Angela Ittel
1 Einleitung: Fachinteressen – entscheidende Aspekte von Lernprozessen und immanente geschlechtsspezifische Varianzen Die Analyse der Bedingungen, die zu geschlechtsspezifischen Differenzen in schulischen Fachinteressen führen, ist gegenwärtig von hoher Relevanz in der Bildungspolitik und -forschung. Zahlreiche Studien bestätigen einen bislang ungebrochenen Trend: während Mädchen ein geringes Interesse an mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereichen zeigen, sind Jungen im Vergleich nur wenig am sprachlich-humanwissenschaftlichen Bereich interessiert (Stanat und Bergann 2009). Das Aufbrechen dieser geschlechtsspezifischen Muster ist nicht nur hinsichtlich ökonomischer Mängellagen, wie beispielsweise dem häufig zitierten Fachkräftemangel im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, von Bedeutung. Gelingende Lernprozesse sind eng mit der Entwicklung von fachspezifischen Interessen verbunden. Geschlechtsbezogene Ungleichheiten im schulischen Kontext, die eine geschlechterspezifische Entwicklung von Fachinteressen begünstigen, führen bei Schülerinnen und Schülern zu schulbezogenen Benachteiligungen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf einseitig entwickelte Fachinteressen, die als eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung von Lernbereitschaft, die Herausbildung der Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen sowie für die Ausprägung individueller Leistungsfähigkeit gelten (Krapp 1999; Ainley et al. 2002; Köller et al. 2001). Geschlechtervariante Fachinteressen beeinflussen zudem den persönlichen Bildungs- und Berufserfolg. So zeigten beispielsweise Roeder und Gruehn (1996) Zusammenhänge zwischen geschlechtshomogenen Interessen und geschlechtsspezifischer Leistungskurs-, Studien- und Berufswahl auf. Lewalter und Krapp (2004) stellten einen direkten Einfluss des Interesses auf die Wahl des Ausbildungsberufes und das Verbleiben in diesem Ausbildungsberuf fest. Letztlich begünstigen Entwicklungen, wie das geringe schulische Engagement von Schülerinnen in naturwissenschaftlichen Fächern, damit nicht nur den drohenden Fachkräftemangel im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, sondern führen auch zu einem eingeengten Berufswahlspektrum junger Frauen A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Rebecca Lazarides und Angela Ittel
und weniger Chancen auf dem primären Arbeitsmarkt (BMFSFJ 2007). Eine geschlechtersensible Interessenförderung in Schule und Familie ist folglich essentiell für den persönlichen Lernerfolg sowie für eine an den eigenen Ressourcen orientierte individuelle Entwicklung. Die in diesem Kontext geführte gegenwärtige, rege erziehungswissenschaftlich-psychologische Debatte zur angemessenen Förderung von Mädchen und Jungen im Bildungssystem verweist dabei besonders auf die hohe Relevanz der Analyse von Geschlechterunterschieden in schulbezogenen Aneignungs- und Sozialisationsprozessen. Darauf bezugnehmend befasst sich der vorliegende Beitrag mit sozialen und individuellen Faktoren, die die Ausbildung von Fachinteressen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich prägen. Sowohl die Selbstbestimmungstheorie der Motivation (Deci und Ryan 1993) als auch Ansätze, die sich mit dem Konzept der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft befassen (Textor 2009), betonen jeweils die Bedeutung sozialer Instanzen wie Familie und Schule und deren Zusammenwirken für den Schulerfolg. Im vorliegenden Artikel wird diesbezüglich speziell die Wirkung sozialer Faktoren auf das Mathematikinteresse untersucht. Damit wird an das empirisch intensiv erforschte Gebiet des Interesses am mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich angeknüpft (Hoffmann et al. 1998; Krapp 1998; Daniels 2008). In diesem Bereich existieren zwar bereits zahlreiche empirische Studien, die sich mit sozialen und individuellen Wirkfaktoren auf Interesse befassen (Tiedemann 1995; Dickhäuser und Stiensmeier-Pelster 2003). Jedoch mangelt es an Untersuchungen, die sich den Interdependenzen zwischen beiden Ebenen widmen und dabei auch Fragen zu geschlechtsspezifischen Varianzen innerhalb dieser Zusammenhänge thematisieren. Die vorliegende Studie will dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Mittels Mediatoranalysen sollen Relationen zwischen sozialen und individuellen Faktoren sowie dem Mathematikinteressen untersucht werden. Konkret werden drei Faktoren auf ihre erklärende Funktion hinsichtlich des Mathematikinteresses untersucht: 1. familiärer Förderung in der Schule 2. wahrgenommene Unterstützung durch die Fachlehrkraft in Mathematik 3. schulische Selbstwirksamkeitserwartungen. Dabei gehen wir davon aus, dass die Bedeutung der Lehrkräfte (Mediator 1) und die der schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen (Mediator 2), den Effekt der Familie auf das mathematische Fachinteresse vermitteln. Besonderer Schwerpunkt liegt auf den geschlechtsbezogenen Varianzen innerhalb dieser komplexen Zusammenhänge. Neben der empirischen Untersuchung der beschriebenen Zusammenhänge ist ein weiteres zentrales Ziel der Studie, mit den Ergebnissen der Studie ver-
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bundene unterrichtsbezogene Interventionsmöglichkeiten zur Interessenförderung aufzuzeigen. Im Folgenden wird nun zunächst der gegenwärtige Forschungsstand zu diesen Wirkfaktoren in der Erklärung des Mathematikinteresses dargestellt. Bei der Operationalisierung des Konstrukts „Interesse“ beziehen wir uns auf die Münchener Interessentheorie (Krapp 1998; Hidi, Renninger und Krapp 2004). Diese konzeptualisiert Interesse als mehrdimensionales Konstrukt, bestehend aus situationalen und individuellen Interessen. In der vorliegenden Studie wird das individuelle Interesse fokussiert, das als relativ stabiler PersonGegenstands-Bezug gilt, der sowohl durch affektive als auch kognitive Aspekte charakterisiert ist.
2 Forschungsstand 2.1 Familiäre Unterstützung und fachspezifische Interessen bei Schülerinnen und Schülern Obwohl häufig argumentiert wird, dass in der Adoleszenz der Einfluss der Eltern generell abnimmt (Baumert et al. 2000), stehen familiäre Aspekte auch bei Jugendlichen noch in maßgeblichem Zusammenhang mit ihrer schulischen Anpassung. Ein wichtiger Faktor für das Gelingen erfolgreicher Lernprozesse ist die schulische Förderung im Elternhaus. Lernende, die ein positives, förderndes Familienklima und einen autonomiefördernden, liberalen Erziehungsstil erleben, erbringen bessere schulische Leistungen und neigen stärker dazu, sich schulisch zu engagieren (Helmke und Weinert 1997; Baumert et al. 2000). Fachbezogen zeigte Daniels (2008) dementsprechend anhand der Daten der BIJULängsschittstudie (BJIU-„Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter“), dass zwischen einem engen Vertrauensverhältnis zu den Eltern und dem Fachinteresse in Mathematik ein signifikanter Zusammenhang besteht. Theoretisch und empirisch befasste sich Eccles (1992) mit dem Zusammenspiel elterlicher Einstellungen und Verhaltensweisen und den fachspezifischen Interessen und Motivationen Lernender und zeigte auf, dass spezifische Überzeugungen der Eltern einen Effekt auf spezifische, fachbezogene Charakteristika wie Fachinteressen haben. In der vorliegenden Studie wird davon ausgegangen, dass unterstützende familiäre Faktoren in einem positiven Zusammenhang zum Fachinteresse stehen. Weiterhin wird angenommen, dass der beschriebene Zusammenhang zwischen schulbezogener Förderung durch die Eltern und Mathematikinteresse
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durch die von Schülerinnen und Schülern wahrgenommene Unterstützung ihrer Mathematiklehrkraft vermittelt und damit teilweise aufgeklärt wird. Diese Hypothese basiert auf theoretischen Konzeptionen zum bildungspartnerschaftlichen Zusammenwirken von Lehrkräften und Elternhaus bei der Gestaltung individueller Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern. Schulischer Lernerfolg und damit verbundene Faktoren wie fachspezifische Interessen werden demnach maßgeblich durch die schulbezogene Förderung innerhalb der Familie geprägt. Gleichzeitig wird immer wieder die immense Bedeutung der Lehrkräfte für schulisches Lernen und die Wichtigkeit dynamischer Kooperationsprozesse zwischen Lehrkräften und Familie und die damit geforderte „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ hervorgehoben (Textor 2009). Konkret wird daher im hier entworfenen Modell davon ausgegangen, dass die schulische Förderung durch die Eltern eine positive Beurteilung schulbezogener Merkmale wie beispielsweise des Fachlehrerverhaltens begünstigt und damit die Entwicklung von Fachinteressen unterstützt. Ein wichtiger Aspekt sind dabei eventuelle Geschlechterunterschiede in den beschriebenen Zusammenhängen. In der Fachliteratur wird beschrieben, dass im Kontext mathematisch-naturwissenschaftlicher Fächer soziale Faktoren für Schülerinnen eine größere Bedeutung haben als für Schüler. Empirisch zeigten Fehrmann, Keith und Reimers (1987) beispielsweise, dass weibliche Lernende ihre Eltern als weitaus mehr involviert in ihren schulischen Alltag erleben, als männliche Schüler dies tun. Theoretisch kann dies bezugnehmend auf Hannover und Kessel (2004) mit der größeren Bedeutung signifikanter Anderer für die schulische Entwicklung von Schülerinnen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich begründet werden. Die Autorinnen beschreiben Fachinteressen als Mittel der Identitätsregulation, die im schulischen Kontext als Medium der Selbstpräsentation und -definition dienen, da sie anderen und sich selbst ein sozial akzeptiertes Selbstbild, z.B. das vom kunstinteressierten Mädchen oder vom sportbegeisterten Jungen, transportieren. Solche sozialen Normen, die geschlechtskonformes Verhalten vorgeben, spielen dabei besonders in der Adoleszenz für die Identitäts- und Interessenentwicklung eine große Rolle. Die Entwicklung von Beziehungen zum anderen Geschlecht ist in dieser Entwicklungsphase eine wichtige Entwicklungsaufgabe, die durch rollenkonformes Verhalten zunächst erfolgreicher bewältigbar scheint. Auf diese Betrachtungen bezugnehmend wird in den folgenden Ausführungen angenommen, dass die Urteile signifikanter Anderer bzw. ihr Unterstützungsverhalten für das Fachinteresse von Mädchen im oftmals als „maskulin“ stereotypisierten Schulfach Mathematik (Keller 1998) umso bedeutender sind. Diese Annahme wird auch übertragen auf die Interdependenzen zwischen Lehrkräften und Mathematikinteresse. Im Folgenden wird daher in aller Kürze
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der empirische Forschungsstand zu den Effekten von Lehrkräften auf schulische Interessenmuster und geschlechtsspezifischen Varianzen dargestellt.
2.2 Die Rolle der Lehrkräfte für fachbezogene Interessen – allgemeine und geschlechtsspezifische Aspekte Eine positive Lernatmosphäre, stabile und wertschätzende Lehrer-SchülerInteraktionen, wahrgenommene Unterstützung und Wertschätzung durch die Lehrkraft – positive emotionale Befindlichkeiten sind wesentlich dafür, dass Schülerinnen und Schüler selbstbewusst, interessengeleitet und motiviert am Fachunterricht teilnehmen. Dem gemäß beschreibt die Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan (1993), dass Schülerinnen und Schüler dann interessenbestimmt handeln, wenn drei psychologische Grundbedürfnisse erfüllt werden. Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit - positives Feedback, dass die Erfahrung eigener Kompetenz steigert, ein nicht-kontrollierendes autonomieförderndes Unterrichtssetting und unterstützendes Lehrverhalten, das durch soziale Akzeptanz charakterisiert ist, fördern demnach die Entwicklung interessengeleiteten Handelns. Soziale Faktoren hingegen, die die Erfüllung der drei Grundbedürfnisse behindern, hemmen diese Entwicklung. Eine zentrale Aussage der theoretischen Konzeption ist, dass Menschen eine angeborene motivationale Tendenz haben, sich mit anderen Personen in einem sozialen Milieu verbunden zu fühlen, in diesem Milieu effektiv zu agieren und sich dabei selbst als wirksam und selbstbestimmt zu erfahren (Deci und Ryan 1993). Diese theoretischen Grundannahmen werden in der vorliegenden Studie aufgegriffen, um die Effekte des Verhaltens von Lehrkräften auf interessengeleitetes Handeln zu skizzieren. Es wird angenommen, dass Lehrkräfte Fachinteressen hemmen oder fördern, je nachdem, inwieweit sie in ihrem Unterricht die von Deci und Ryan (1993) beschriebenen psychologischen Grundbedürfnisse berücksichtigen. Empirisch zeigten beispielsweise Ryan und Patrick (2001) auf, dass bei Schülerinnen und Schülern, die von ihren Lehrkräften unterstützendes und respektvolles Verhalten erwarteten, die Motivation für den Fachunterricht in Mathematik nach dem Übergang in eine höhere Klassenstufe stieg. Wetzel (1998) verdeutlichte in einer Fragebogenuntersuchung mit Sechstklässlern, dass Unterstützung seitens der Gleichaltrigen zwar prosoziale Ziele förderte, Interessen am Unterricht und an der Schule jedoch hauptsächlich durch das Unterstützungsverhalten der Lehrkräfte begünstigt wurden. In der vorliegenden Studie wird Bezug nehmend auf den aktuellen Forschungsstand angenommen, dass günstige familiäre Ausgangsbedingungen erst
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ihre interessenfördernde Wirkung entfalten können, wenn Lernende auch ihre Lehrkräfte als unterstützend wahrnehmen. Basierend auf der theoretischen Konzeption der Selbstbestimmungstheorie und empirischen Untersuchungen zur Bedeutung der Lehrkraft für individuelle Lernprozesse wird in der vorliegenden Studie die Unterstützung der Lehrkraft als vermittelnde Instanz zwischen familiären Faktoren und Fachinteressen betrachtet. Dabei steht die Annahme im Mittelpunkt, dass die Fachlehrkraft für das Mathematikinteresse von Schülerinnen bedeutsamer ist als für das Interesse der Schüler. Fellenberg und Hannover (2006) stützten diese Annahme in einer Studie mit MINT-Studierenden (MINT Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik, Technikwissenschaften), deren Ergebnisse nahe legten, dass die Bereitschaft bei Studienschwierigkeiten soziale Unterstützung in Anspruch zu nehmen lediglich bei den weiblichen Studierenden die Abbruchneigung signifikant negativ beeinflusste. Neben diesen sozialen Prädiktoren des Bildungserfolgs zeigten die Autorinnen auch die Bedeutung individueller Faktoren wie der Selbstwirksamkeitserwartung für konsistente Bildungswege auf. Auch in der vorliegenden Studie werden solche individuellen Faktoren und ihre geschlechtsspezifischen Varianzen einbezogen, wie der folgende Abschnitt verdeutlicht.
2.3 Die Bedeutung der Einschätzung eigener Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern für die Ausbildung von Fachinteressen Neben sozialen Größen wie Eltern oder Lehrern spielt die Einschätzung der eigenen Kompetenzen eine essentielle Rolle für das generelle Wohlbefinden von Jugendlichen und ihren schulischen Erfolg. Die von Bandura (1994) auf Basis seiner sozial-kognitiven Theorie entwickelte Konzeption der Selbstwirksamkeitserwartungen wird im Bereich der Motivationsforschung besonders im deutschsprachigen Raum angeregt diskutiert (Krapp und Ryan 2002). Unter bereichsbezogenen Selbstwirksamkeitserwartungen (self-efficacy expectations) werden Überzeugungen darüber verstanden, bestimmte Handlungen erfolgreich in diesem Bereich vollziehen zu können. Die Konzeption beschreibt, dass ein stark ausgeprägtes Selbstwirksamkeitsempfinden ein hohes Level an Motivation, Bewältigungskapazität im Kontext Schule und die Entwicklung intrinsischer fachbezogener Interessen fördert (Bandura 1994). Formuliert wird weiterhin, dass die Überzeugung, sich selbstbestimmt gemäß den eigenen Präferenzen für spezifische Inhalte begeistern zu können, eine wichtige Voraussetzung für die Interessenentwicklung ist. Die These, dass Jugendliche, die sich selbst als kompetent einschätzen, auch stärker an fachlichen Inhalten interessiert sind und diese kontinuierlich weiterverfolgen, wird gestützt durch verschiedene empiri-
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sche Untersuchungen, die sich mit den Voraussetzungen für gelingende Lernprozesse befassen. Fellenberg und Hannover (2006) verdeutlichten neben den bereits genannten Ergebnissen, dass mangelnde Selbstwirksamkeitserwartungen für männliche Studierende ein wesentlicher Prädiktor für den Studienabbruch bei MINT-Studierenden sind. Lopez und Kollegen (1997) zeigten eine hohe prognostische Valenz schulischer Selbstwirksamkeitserwartungen für schulische Fachinteressen, bei der sich jedoch keine Geschlechtervarianzen feststellen ließen. In der vorliegenden Studie wird auf Grund der großen Bedeutung schulischer Selbstwirksamkeitserwartungen für das Fachinteresse angenommen, dass sie den Zusammenhang zwischen familiärer Förderung in der Schule und Fachinteressen teilweise vermitteln. Zahlreiche Autoren verwiesen in diesem Zusammenhang auf dynamische Zusammenhänge zwischen einem unterstützenden familiären Umfeldes und positiven schulischen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (Gecas 1989, Mayer et al. 2002, Jacobs 1991). Geschlechtsspezifische Varianzen in den hier beschriebenen Zusammenhängen werden hinsichtlich der Bedeutung der sozialen Faktoren – hier der Familie – für die Selbstwirksamkeitserwartungen vermutet. Angenommen wird, dass für Schülerinnen die soziale Förderung der Eltern einen weitaus geringeren Effekt auf die schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen hat als bei Schülern. Dies wird darauf zurückgeführt, dass die stärker ausgeprägten schulischen Selbstwirksamkeitserwartung der Schüler durch soziale Förderung wesentlich leichter zu bestärken ist als die eher geringer ausgeprägten Selbstwirksamkeitserwartungen von Schülerinnen. Diesbezüglich verdeutlichten beispielsweise die Ergebnisse von Tiedemann und Faber (1995) die Tendenz von Schülerinnen, ihre Misserfolge stärker auf mangelnde eigene Fähigkeiten zu attribuieren. Andere Studien verweisen auf niedrige Erwartung weiblicher Lernender an die eigenen Kompetenzen und Leistungsfähigkeit (Weiner 1986).
3 Methoden 3.1 Stichprobe Die hier analysierten Daten stammen aus einer Querschnittstudie mit Fragebogendesign zur Erfassung sozialisatorischer Bedingungen auf das fachspezifische Interesse von Schülerinnen und Schülern. Die im Oktober 2009 an Berliner Schulen durchgeführte Erhebung umfasst die Daten von 366 Acht- bis Zehntklässlern (weiblich: 45,6 Prozent, männlich: 54,4 Prozent; Altersdurchschnitt: 15.87, SD=.911). Die Befragung fand in zehn Schulen verschiedener
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Schultypen der Sekundarstufe I (Gymnasium: 34.8 Prozent; Gesamtschule: 6.0 Prozent, Realschule: 15.8 Prozent, Hauptschule: 43.2 Prozent) statt. Zwei geschulte Mitarbeiterinnen führten die Fragebogenerhebungen von der Dauer einer Unterrichtsstunde (0.75 Stunden) in 21 Klassen durch.
3.2 Messinstrumente 3.2.1 Instrumente zur Messung des Mathematikinteresses Angelehnt an die Skala Fachinteresse nach Sparfeld et al. (2003) und an die Skala Sachinteresseaus der Längsschnittstudie Bildungsprozesse und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter (BJIU-Studie) (Daniels 2008) wurde die hier genutzte Skala durch Hauptkomponentenanalyse (Varimaxrotation, Varianzaufklärung 63 Prozent) entwickelt. Dabei wurde die Eindimensionalität der Skala deutlich – die Analyse ergab eine Komponente „Mathematikinteresse“, 5 Items, Faktorenladungen zwischen .45 und .75, α= .85. Die Skala ist vierstufig (1„trifft voll und ganz zu“ bis 4-„trifft überhaupt nicht zu“) und umfasst Items wie zum Beispiel „Die Beschäftigung für Mathematik ist für mich sehr wichtig, unabhängig von der Schule und anderen Personen.“ Hohe Werte zeigen jeweils hohe Merkmalsausprägungen an.
3.2.2 Instrument zur Erfassung der Familienkonstrukte Schulische Förderung der Eltern. Die Skala Schulische Förderung durch die Eltern ist eine modifizierte Version der Skala „Lernunterstützung“ nach Ehmke und Siegle (2005). Ein Beispielitem lautet „Mein Vater hilft mir, wenn ich in der Schule mal nicht klarkomme.“. Die interne Konsistenz der Skala war zufriedenstellend mit α = .79. Die Skala ist vierstufig (1-„stimmt überhaupt nicht“ bis 4-„stimmt ganz genau“). Auch bei dieser Skala zeigen hohe Werte hohe Merkmalsausprägungen an.
3.2.3 Instrumente zur Erfassung des Lehrpersonenmerkmale Unterstützung durch den Mathelehrer. Die Strukturiertheit des Unterrichts wurde mit der Skala „Lernunterstützung“ nach Steinert et al. (2003) gemessen. Die Originalskala wurde von sechs auf fünf Items gekürzt und in Ich-Aussagen umformuliert. Die faktorenanalytische Überprüfung bestätigte die Eindimensio-
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nalität der Skala (Hauptkomponentenanalyse, Varimaxrotation, 70% Varianzaufklärung, Ladungen .782 bis .889). Ein Beispielitem lautet „Unser/e Mathelehrer/in interessiert sich für meinen Lernfortschritt.“ Die interne Konsistenz ist mit α= .89 zufriedenstellend bis gut. Hohe Werte stehen für eine als stark empfundene Unterstützung durch die Mathematiklehrkraft.
3.2.4 Instrumente zur Erfassung individueller Konstrukte Selbstwirksamkeit. Anhand von sechs Items wurden die schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen der Schülerinnen und Schüler erfasst. Die Items wurden angelehnt an die Skalen „allgemeine Selbstwirksamkeit“ von Jerusalem und Schwarzer (1986) und „schulbezogene Selbstwirksamkeitserwartung“ nach Jerusalem und Satow (1999) konstruiert. Die Hauptkomponentenanalyse ergab Ladungen der Items auf einer Dimension (Varimaxrotation, 53 Prozent Varianzaufklärung, Faktorenladungen .633 bis .834). Die interne Konsistenz der Skala ist mit α = .80 zufriedenstellend. Ein Beispielitem lautet „Wenn ich mich in der Schule anstrenge, erziele ich gute Leistungen.“ Die Skala ist vierstufig (1„stimmt überhaupt nicht“ bis 4-„stimmt ganz genau“). Hohe Werte zeigen hohe schulische Selbstwirksamkeitserwartungen an.
4 Ergebnisse Zunächst wurden bivariate Zusammenhänge zwischen den vorgestellten Variablen geschlechtergetrennt berechnet. Anschließend wurden die angenommenen Mediatormodelle mittels einfacher und multipler Regressionsanalysen überprüft. Zur detaillierten Untersuchung der geschlechtsspezifischen Aspekte wurden die Pfade der berechneten Mediatormodelle (Baron und Kenny 1986) auf eine Moderation durch die Kontrollvariable Geschlecht hin analysiert.
4.1 Korrelationen zwischen wahrgenommenem Lehrerverhalten, familiären Merkmalen und Mathematikinteresse Die Ergebnisse der Pearsonkorrelationen in Tabelle 1 zeigen, dass das Alter bei beiden Geschlechtern in keinem signifikanten Zusammenhang mit den übrigen Variablen stand. Die schulische Förderung durch die Eltern korrelierte nur bei den Mädchen höchstsignifikant mit dem Mathematikinteresse (r weiblich= .219**, p<.001; r männlich= .120, p> .05). Dahingegen korrelierten schulische
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Förderung durch die Eltern und schulische Selbstwirksamkeitserwartungen ausschließlich in der Teilstichprobe der männlichen Befragten signifikant miteinander (r weiblich= .044, p>.05; r männlich= .256, p<.001). Weitere Korrelationen bestanden für beide Geschlechter zwischen den schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen und der Unterstützung durch den Mathematiklehrer (r weiblich=.225, p<.05; r männlich= .327, p<.001; z= .82, p>.05). Die Variable Schulische Selbstwirksamkeitserwartungen stand ebenfalls für beide Geschlechter in signifikantem Zusammenhang mit der Variable Mathematikinteresse (r männlich= .251, p<.001; r weiblich=.186, p<.05; z= -.64, p>.05). Auch zwischen der Familienvariable schulische Förderung durch die Eltern und der Lehrervariable Unterstützung durch den Mathematiklehrer bestanden für beide Geschlechter höchstsignifikante positive Zusammenhänge (r männlich= .317, p<.001; r weiblich=.354, p<.001; z = .27, p>.05). Tabelle 1: Interkorrelationen zwischen Familienvariable, Charakteristika der Fachlehrkraft, schulische Selbstwirksamkeitserwartungen und Mathematikinteresse für Mädchen (links) und für Jungen (rechts) 1
2
3
1 Alter 1 2 Familiäre 1 Förderung in -.130/-.071 Schule 1 3 Mathematik.076/.120 .219**/.120 interesse 4 Unterstützung -.163/-.015 .354**/.317** .580**/.364** Mathematiklehrer 5 Selbst.066/.022 .044/.256** .186*/.251** wirksamkeit Anmerkung. N männlich=Range 95-197, N weiblich=Range 80-164. *p<.05 (zweiseitig). **p<.001 (zweiseitig).
4
5
1 .225*/.327**
1
Im nächsten Schritt wurden die angenommenen Mediatormodelle durch einfache und hierarchische Regressionsanalysen überprüft. Die Multikolliniarität der Prädiktoren wurde dabei anhand des VarianzInflations-Faktors untersucht. Dieser sollte nach Bowerman und O´Conell (1990) nicht substantiell größer als 1 sein. In den berechneten Analysen liegt demnach keine Multikolliniarität vor.
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4.2 Mediatormodell 1:Wahrgenommenes Lehrerverhalten als vermittelnde Variable zwischen Familiärer Unterstützung und Mathematikinteresse Erste Analysen zeigten, dass die Familienvariable schulische Förderung durch die Eltern signifikant das Mathematikinteresse vorhersagte (ßYX=.200, SE=.70). Die im nächsten Schritt durchgeführte einfache Regressionsanalyse, bestätigte den angenommenen Zusammenhang zwischen Unterstützung durch die Mathematiklehrkraft und der schulischen Förderung durch die Eltern, ßM1X=.396**, SE=.085 (Pfad a1). Die Signifikanz dieses Pfades ist Voraussetzung der Existenz des Mediatormodells (Baron und Kenny 1986). Auch der Pfad b2 vom Mediator Unterstützung durch die Mathematiklehrkraft zum Kriterium Mathematikinteresse war signifikant, ßYM1=.421, SE=.054). Die weiteren Berechnungen zeigten einen signifikanten Mediator-Effekt, t (366)=4.00,p<.05, der 43% des totalen Effekts erklärte (Abbildung 1). Da trotz der Intervention durch die Mediatorvariable Unterstützung durch die Mathematiklehrkraft noch ein direkter Effekt zwischen schulischer Förderung durch die Eltern und Mathematikinteresse besteht, liegt eine partielle Mediation vor (Urban und Mayerl 2007). Abbildung 1: Mediatormodell zur Darstellung der Interdependenzen zwischen wahrgenommener schulischer Förderung der Eltern, wahrgenommener Unterstützung des Mathematiklehrers (M1) und dem Mathematikinteresse Unterstützung Mathematiklehrer ßMX=.396** (Pfad a1)
ßYM=.421**,(Pfad b2)
Schulische Förderung durch die Eltern
Mathematikinteresse ßYX=.319* (Pfad c3) ßYX´=.159* (Pfad c´3)
Zusammenfassend kann also formuliert werden, dass das Mathematikinteresse von Schülerinnen und Schülern mit der schulischen Förderung ihrer Eltern in Zusammenhang stand. Dieser Zusammenhang beruhte jedoch teilweise darauf, dass Schülerinnen und Schüler, die durch ihre Eltern in der Schule gefördert
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wurden, sich auch durch ihre Mathematiklehrkraft unterstützt fühlten und darauf basierend ein erhöhtes Mathematikinteresse entwickelten.
4.3 Mediatormodell 2: Individuelle Faktoren als vermittelnde Variable zwischen Familiärer Unterstützung und Mathematikinteresse Da die Lehrervariable allein weniger als die Hälfte des totalen Effektes zwischen schulischer Förderung durch die Eltern und Mathematikinteressen aufklärte, sollte untersucht werden, ob auch individuelle Faktoren eine Mediatorfunktion ausüben. Eine einfache Regressionsanalyse zeigte, dass die schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen als Mediatorvariable in Frage kam, da sie signifikant durch die schulische Förderung durch die Eltern vorhergesagt wurde (ßM2X=.115, SE=.041,p<.01). Die Berechnung des Mediatormodelles mit schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen als vermittelnder Variable zwischen der schulischen Förderung durch die Eltern und dem Mathematikinteresse zeigte, dass der Mediator-Effekt auch für dieses Modell mit t(366)=2,37 p<.05 signifikant war und 17 % des totalen Effektes von schulischer Förderung durch die Eltern auf Mathematikinteresse der Lernenden aufklärte (siehe Abbildung 2). Abbildung 2: Mediatormodell zur Darstellung der Interdependenzen zwischen schulischer Förderung der Eltern, schulischer Selbstwirksamkeit (M2) und Mathematikinteresse
Schulische Förderung durch die Eltern
Mathematikinteresse ßYX= .206*, SE= .070 ßYX`= .161*, SE= .069
ßMX=.115*, SE=.041
ßYM=.389**, SE=.087 Schulische Selbstwirksamkeitserwartungen
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Auch bei diesem Mediatormodell handelte es sich um eine partielle Mediation. Im folgenden Schritt wurden die einzelnen Pfade in den beiden Mediatormodellen auf eine Interaktion mit der Variable Geschlecht hin untersucht.
4.4 Geschlechterunterschiede im Mediatormodell 1 4.4.1 Moderation einzelner Pfade im Modell 1 durch Geschlecht Um geschlechtsspezifische Unterschiede im Mediatormodell M1 zu untersuchen, wurde untersucht, ob die Pfade ßM1X (Zusammenhang zwischen Schulischer Förderung der Eltern und Unterstützung durch die Mathematiklehrkraft) und ßYM1 (Zusammenhang zwischen Unterstützung durch die Mathematiklehrkraft und Mathematikinteresse) durch die Variable Geschlecht moderiert wurden. Die Berechnungen wurden mit einem SPSS-Makro (Preacher, Rucker und Hayes 2007) durchgeführt. Die Berechnungen zeigten, dass keine signifikanten Interaktionseffekte für Schulische Förderung durch die Eltern*Geschlecht (ß=.011, SE=.173,p>.05) und für Unterstützung durch den Mathelehrer*Geschlecht (ß=.151, SE=.123, p>.05) vorlagen. Zusätzliche geschlechtergetrennte Regressionsanalysen zeigten, dass der Zusammenhang zwischen der schulischen Förderung durch die Eltern und dem Mathematikinteresse für die Jungen nicht signifikant war, ßYX=.153, SE=.102, p>.05. Für die Mädchen sagte das Ausmaß schulischer Förderung durch die Eltern hingegen statistisch bedeutsam das Mathematikinteresse vorher, ßYX=.250**, SE=.094, p<.001.
4.4.2 Modell 1 für weibliche und männliche Lernende Beide Mediatormodelle wurden für Mädchen und Jungen getrennt berechnet, um geschlechtsspezifische Varianzen der einzelnen Pfade aufzuzeigen. Die Analysen der weiblichen Substichprobe (N=167) zeigten, dass im Modell der Mädchen die Förderung der Eltern in der Schule die Unterstützung der Mathematiklehrkraft signifikant vorhersagte, ßM1X=.431**, SEM1X=.129. Der Pfad vom Mediator Unterstützung der Mathematiklehrkraft zum Kriterium Mathematikinteresse war ebenfalls signifikant, ßYM1=.516, SE YM1= .073. Des Weiteren zeigten die Analysen, dass ein vollständiger Mediator-Effekt vorlag. Unter Einbezug der Mediatorvariable Unterstützung des Mathematiklehrkraft wurde der im ersten Schritt signifikante direkte Effekt des Prädiktors Schulische Förderung der Eltern auf das Mathematikinteresse (ßYX´=.337**,
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SEYX´=.118) nicht mehr signifikant (ßYM1X=.180, SEYM1X=.109). Der Effekt der Mediatorvariable Unterstützung der Mathematiklehrkraft auf Mathematikinteresse betrug unter Einbezug der Prädiktorvariable schulische Förderung der Eltern ßYM1´=.496**, SEYM1´=.088. Der indirekte Effekt (ßM1Y*XM1=.222, SE M1Y*XM1=.07) war damit in der Substichprobe der weiblichen Lernenden signifikant, t(167)=3.17, p<.05 und erklärte ca. 47% des totalen Effektes. Auch in der männlichen Substichprobe (N=199) sank sagte die schulische Förderung der Eltern die potentielle Mediatorvariable Unterstützung der Mathematiklehrkraft signifikant voraus (ßM1X=.370**, SEM1X=.115). Der Pfad vom Mediator Unterstützung der Mathematiklehrkraft zum Kriterium Mathematikinteresse war auch hier signifikant (ßYM1=.332, SEYM1=.075) – jedoch geringer als bei den Mädchen. Der direkte Pfad zwischen Schulischer Förderung der Eltern auf das Mathematikinteresse (ßyx= .153; SEYX= .102) war im Mediatormodell der Jungen nicht signifikant. Unter Einbezug der Mediatorvariable Lehrerunterstützung im zweiten Schritt (ßM1X´= .370**, SEM1X´=.129) sank der Effekt des Prädiktors schulische Förderung der Eltern (ßYM1X´= .123, SEYM1X´= .107) und wurde nicht mehr signifikant. Demnach lag auch im Mediatormodell der Jungen eine vollständige Mediation vor. Das heißt, Unterstützung der Mathematiklehrkraft klärte im Modell der Jungen vollständig die Wirkung von schulischer Förderung der Eltern auf das Mathematikinteresse Lernender auf. Erwartungsgemäß war auch im Mediatormodell der Jungen der indirekte Effekt (ßM1X*ßYM1=.113, SEßM1X*ßYM1=.04) signifikant mit t(199)=2.8, p<.05. Der indirekte Effekt klärte in der Stichprobe männlicher Lernender ca. 44 % des totalen Effekts zwischen schulischer Förderung durch die Eltern und Mathematikinteresse auf. Zusammenfassend kann formuliert werden, dass das Mediatormodell 1 für beide Geschlechter Gültigkeit besaß. Bei Schülerinnen hatte die Fachlehrkraft als auch die Familie einen stärkeren Effekt auf das Mathematikinteresse als bei Schülern. Für beide Geschlechter war die Variable Unterstützung der Fachlehrkraft wichtiger für das Mathematikinteresse als die Variable schulische Förderung der Eltern. Für die weiblichen Lernenden hatte die Unterstützung der Mathematiklehrkraft für die Aufklärung des Zusammenhanges zwischen schulischer Förderung der Eltern und Mathematikinteresse eine größere Bedeutung als für die männlichen Lernenden.
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4.5 Geschlechterunterschiede im Mediatormodell 2 4.5.1 Moderation einzelner Pfade im Modell 2 durch Geschlecht Modell 2 zeigte auf, dass die individuelle Variable schulische Selbstwirksamkeitserwartung den Zusammenhang zwischen schulischer Förderung durch die Eltern und Mathematikinteresse teilweise aufklärte. Auf Grund der theoretischen Vorannahmen ergab sich die Frage, ob das Geschlecht einzelne Pfade des Modells moderierte (Preacher, Rucker und Hayes, 2007). Die Analysen zeigten, dass der Pfad ßM2X zwischen der Prädiktorvariable Schulische Förderung durch die Eltern und der Mediatorvariable Schulische Selbstwirksamkeit durch das Geschlecht moderiert wurde. Abbildung 3 verdeutlicht das durch das Geschlecht moderierte Mediatormodel grafisch. Die weitere Analyse in der der Effekt des Moderators Geschlecht auf den Pfad zwischen Mediatorvariable Schulische Selbstwirksamkeit) zur Kriteriumsvariablen Mathematikinteresse untersucht wurde, verdeutlichte, dass dieser Pfad nicht durch das Geschlecht moderiert wurde. Abbildung 3: Moderiertes Mediatormodell zur Darstellung der Moderation des Pfades zwischen wahrgenommener schulischer Förderung der Eltern und schulischer Selbstwirksamkeitserwartung durch das Geschlecht Schulische Förderung Eltern* Geschlecht
ßYX*W= .187 *W=.137 ßYW=-.706
Geschlecht
Schulische Förderung Eltern
Mathematikinteresse ßYX=.064 =.059 ßM2X*W=-.109* ßM2W=.428
ßXM2=.389**
ßYM2=.412** Selbstwirksamkeitserwartung
Anmerkungen: n=298; *p<.05; **p<.001
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4.5.2 Modell 2 bei weiblichen und männlichen Lernenden In der Substichprobe weiblicher Lernender wurde der Pfad ßM2X zwischen der Prädiktorvariable Schulische Förderung durch die Eltern und der Mediatorvariable schulische Selbstwirksamkeitserwartung im Gegensatz zur Stichprobe männlicher Lernender nicht signifikant (ßMXweibl.=.071, SEMXweibl.=.134; ßMXmännl.=.316, SEMXmännl.=.096, p=.001). Da dieser Pfad jedoch zwingende Voraussetzung für das Vorliegen einer Mediationsbeziehung ist (Baron und Kenny 1986), wurde das Modell im Folgenden nur noch für die Jungen weiter überprüft. Zwischen der Mediatorvariable Schulische Selbstwirksamkeitserwartung und dem Mathematikinteresse bestand bei den Jungen ein signifikanter Zusammenhang (ßYM2m= .389**, SEYM2m=.189). Unter Einbeziehung der Mediatorvariable sank der Effekt der Schulischen Förderung durch die Eltern auf das Mathematikinteresse in der Stichprobe männlicher Teilnehmender (ßYX= .152, SEYX= .102; ßYX´= .066, SEYX´ = .103). Der indirekte Effekt für die Jungen war signifikant, t(366)=5.6, p<.05. Konkret bedeutet dies, dass der direkte Effekt zwischen schulischer Förderung durch die Eltern auf Mathematikinteresse teilweise durch die schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen der männlichen Lernenden vermittelt wurde.
5 Diskussion 5.1 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen, dass – wie erwartet – ein signifikanter Zusammenhang zwischen elterlicher Förderung und dem Mathematikinteresse von Schülerinnen und Schülern im mittleren Jugendalter besteht. Dieser Zusammenhang wird durch die von den Schülern wahrgenommene Fachlehrerunterstützung in Mathematik und durch ihre schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen vermittelt. Ein wesentliches Ziel der Studie war es, geschlechtsspezifische Varianzen in den untersuchten Zusammenhängen aufzuzeigen. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen entsprechend bisherigen empirischen Erkenntnissen (Keller 1998; Faulstich-Wieland et al. 2001), dass das Verhalten der Lehrpersonen für beide Geschlechter eine zentrale Bedeutung für die Ausprägung des Mathematikinteresses hat. Für beide Geschlechter ist die Unterstützung durch die Mathematiklehrkraft bedeutsamer als familiäre Faktoren. Für die Jungen spielt jedoch die familiäre Förderung als auch die Unterstützung der Fachlehrkraft in Mathematik eine geringere Rolle für das Interesse am Fach Mathematik als für die Mädchen. Diese Ergebnisse spiegeln auch unsere theoretischen Vorannahmen wider, die
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basierend auf der aktuellen Forschungslage (Corell 2001; Kessels und Hannover 2004; Fellenberg und Hannover 2006) sozialen Faktoren besonders bei der Unterstützung von Mädchen in geschlechtsuntypischen Fächern eine wesentliche Rolle zusprechen. Da das Interesse von Jungen in mathematischnaturwissenschaftlichen Fächer generell akzeptierter und erwarteter ist, scheint für Jungen die soziale Bewertung bedeutsamer Anderer wie die von Eltern und Lehrkräften eine geringere Bedeutung für ihr fachliches Interesse an diesen Fächern zu haben als für Mädchen. Des Weiteren existieren Geschlechtervarianzen hinsichtlich der Bedeutung der beiden Mediatorvariablen für Schülerinnen und Schüler. Ein schulförderndes Elternhaus bewirkt nur bei Jungen auch eine Erhöhung der Einschätzung eigener Fähigkeiten und dient damit auf diesem Weg auch allein den Jungen zur Interessenförderung. Diese Tatsache birgt die wichtige Implikation für Programme der Interessenförderung, Mädchen und Jungen auf unterschiedlichem Wege zu berücksichtigen. In Interventionsprogrammen zur Interessenförderung sollten vor allem im Hinblick auf weibliche Teilnehmende Lehrkräfte als bedeutsame soziale Akteure stark eingebunden werden. Das Zusammenspiel von Elternhaus und Fachlehrkräften ist hier zentral (Textor 2009). Bei der Jungenförderung sollte der Fokus stärker auf der Familie als Möglichkeit einer Stärkung schulischer Selbstwirksamkeit liegen, wenn Fachinteressen gefördert werden sollen. Die hier zusammengefassten Ergebnisse zu Geschlechtervarianzen berücksichtigen nicht zentrale Kategorien wie Schultyp, sozioökonomischer Status und kulturelle Herkunftskontexte. Nicht berichtete Analysen unserer Daten zeigten jedoch keine nennenswerte Bedeutung des Schultyps und des kulturellen Hintergrundes als Moderatorvariablen in den berechneten Modellen. Zu untersuchen wäre hier, welche Bedeutung sozioökonomische Faktoren innehaben.
5.2 Konsequenzen für zukünftige Forschungsvorhaben Zwar existieren Studien zu den Zusammenhängen von Interesse, Leistung und wahrgenommenem Eltern- bzw. Lehrerverhalten (z.B. Wendland und Rheinberg 2004) sowie der Bewertung eigener schulischer Fähigkeiten (Keller 1998), seltener wurden bisher jedoch das idiosynkratische Zusammenhangsgeflechtes dieser Variablen und darin auftretende geschlechtsspezifische Differenzen fokussiert. Zukünftige Forschungsmöglichkeiten, die sich aus den hier präsentierten Ergebnissen ableiten lassen, betreffen zunächst eine weitere Differenzierung des untersuchten Modells.
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Abgesehen von der begrenzten Aussagekraft des Modells bedingt durch das Querschnittsdesign der Studie wäre ein wichtiges Thema zukünftiger Analysen die Untersuchung, ob die Eltern generell eine eher geringere Bedeutung für die schulische Selbstwirksamkeit von Mädchen haben. Zudem muss die Frage geklärt werden, ob andere soziale Instanzen wie zum Beispiel Freunde oder Lehrkräfte wichtiger sind. In diesem Zusammenhang sollten auch andere familiäre Faktoren berücksichtigt werden. So können Eltern Mädchen (unabhängig von der schulischen Förderung) durchaus auch alltagsbezogen im Hinblick auf das Interesse am mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich unterstützen (vgl. Mayer et al. 2002). Diesbezüglich wäre auch eine differenziertere Erfassung der Familienvariablen ratsam, so könnten beispielsweise familiäre Dyaden näher untersucht werden, indem die Förderung seitens der Mutter und die seitens des Vaters getrennt erfragt werden und Geschwister ebenfalls berücksichtigt werden. Es gilt ferner zu überprüfen, ob die hier präsentierten Zusammenhänge eventuell auch für andere Fächer Gültigkeit besitzen. Wenngleich eine große Anzahl von Studien zum Schülerinteresse im mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich (Hoffmann et al. 1998; Engeln 2004; Kessels et al. 2002) existiert, finden stereotypisch weiblich konnotierte Fächer und die Interessenbildung von Jungen weitaus seltener in empirischen Analysen Berücksichtigung.
5.3 Bedeutung für die Unterrichtspraxis Die Ergebnisse der vorliegenden Studie eröffnen neue mögliche Aspekte der Förderung von Mathematikinteresse im Unterricht. Zunächst wird deutlich, dass in der Entwicklungsphase adoleszenter Ablösungsprozesse und sinkender schulischer Interessen Lehrkräfte verstärkt für ihre prägende Rolle schulischer Kompetenzentwicklung Jugendlicher sensibilisiert werden müssen. Dabei sollten Kompetenzen vermittelt werden, die es Lehrkräften ermöglicht, diese bedeutende Rolle auszuschöpfen. Wichtig ist hierbei, den Lehrkräften Wissen zu vermitteln und didaktische Instrumente zur Verfügung zu stellen, um Lernende in der direkten Schüler-Lehrer-Interaktion kompetent und bestmöglich zu unterstützen (Ittel und Raufelder 2008). So sind die gezielte Vermittlung von positivem Feedback, zum Beispiel durch adäquate Reattribuierungen (Ziegler und Schober 2001), und die fachlicher Förderung auf Grundlage differenzierender Unterrichtsgestaltung (Lazarides und Bünger 2010) wichtige Bildungsbausteine. Zentrale Aspekte für die Gestaltung von Programmen zur Interessenförderung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, die sich aus den Resultaten der vorliegenden Studie ergeben, betreffen weiterhin geschlechtsspezifische
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Differenzen. Eine Einbindung der Familie in schulbezogene Programme zur Interessenförderung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich ist bei Jungen vor allem dann sinnvoll, wenn Programme explizit zur Steigerung der schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen durch Familiäre Förderung konzipiert werden. Für Mädchen hingegen wären - unseren Ergebnissen folgend demgegenüber interessenfördernde Programme eher dann effektiv, wenn die schulische Förderung innerhalb der Familie gleichzeitig mit einer stärker gelingenden Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften einhergeht. Wie gezeigt wurde besteht für Mädchen zwischen familiärer Förderung und schulischen Selbstwirksamkeitserwartungen in der Schule kein signifikanter Zusammenhang. Wohl aber ist für Mädchen empfundene Unterstützung seitens der Lehrkräfte und der Familie für Mathematikinteresse von besonderer Bedeutung.
6 Fazit Im Hinblick auf die Diskussion um Geschlechterdifferenzen im schulischen Bildungsbereich bieten die vorliegenden Analysen wichtige Ansatzpunkte für die Handlungsebene, insbesondere für die Planung von Programmen zur Interessenförderung. Bezüglich des gegenwärtig geführten Diskurses um geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Schule kann resümiert werden, dass differenzierte, geschlechtersensible empirische Analysen der alltäglichen Bildungspraxis der Frage nach den tatsächlichen Verlierern im Bildungssystem voranzustellen sind. Stereotypen wie dem „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ (Dahrendorf 1965), das als Symbol für die Schwachstellen des Bildungssystems gegenwärtig scheinbar durch männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund abgelöst wird, kann begegnet werden, indem eine intensive Analyse der Stärken und Schwächen einzelner Lernender unter Berücksichtigung des Zusammenspiels von Geschlecht, Herkunft, sozioökonomischer Situation und außerfamilialen Ressourcen stattfindet. Für effektive Interessens- und Leistungsförderung sind die Ergebnisse einer solchen differenzierten, schulfachbezogenen und geschlechtersensiblen Forschung von elementarer Bedeutung. Daher werden theoretische und empirische Analysen geschlechterdifferenter domainspezifischer Interessens- und Leistungsmuster und ihrer soziopsychologischen Ursachen als Grundlage schulbezogener Interventionen hier als Aufgabe und Ziel empirischer Bildungsforschung betrachtet.
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Rückblicke auf die Debatte um geschlechtsspezifische Ungleichheiten und den Bildungsmisserfolg der Jungen
„Bringing Boys Back in“ revisited: Ein Rückblick auf die bisherige Debatte über die Nachteile von Jungen im deutschen Bildungssystem1 Heike Diefenbach
1 Einleitung Es ist eine sehr schöne, aber auch sehr seltene Erfahrung, dass es gelingt, mit Hilfe einer wissenschaftlichen Publikation etwas, was bis dahin als Binsenweisheit galt, als Irrtum zu identifizieren und damit in einem bestimmten Forschungsfeld neue inhaltliche Fragestellungen zu formulieren. Noch seltener ist es, dass man als Autor einer solchen Publikation Gelegenheit dazu bekommt, in einer weiteren Publikation auf die Rezeptionsgeschichte der ersten Publikation zurückzuschauen. Dafür, dass der Herausgeber dieses Bandes, Andreas Hadjar, mir Gelegenheit gegeben hat, die Rezeptionsgeschichte meines zusammen mit Michael Klein verfassten und im Jahr 2002 in der Zeitschrift für Pädagogik publizierten Aufsatz „‘Bringing Boys Back in’: Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Bildungssystem zuungunsten von Jungen am Beispiel der Sekundarschulabschlüsse“ (Diefenbach und Klein 2002), systematisch zu reflektieren, bin ich sehr dankbar. Dies gibt mir nicht nur Gelegenheit zu einer persönlichen Aufarbeitung des anlässlich dieses Aufsatzes Erlebten, sondern auch dazu, Fragen aufzugreifen, die im Bereich der Wissenssoziologie und der Philosophie und Methodologie der Sozialwissenschaften liegen. Die Beschäftigung mit diesen Fragen wird derzeit (besonders, aber nicht nur) in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften stark vernachlässigt. Sie sind aber deshalb nicht weniger konstitutiv für die professionelle Ideologie von Sozialwissenschaftlern und damit für ihre fachbezogene Praxis als sie es zu Zeiten von Karl Mannheim oder Max Weber gewesen sind, die sich solchen Fragen explizit gewidmet haben (vor allem in Mannheim 1995; Weber
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Ich danke dem Herausgeber dieses Bandes, Andreas Hadjar, und den Kollegen Michael Klein und Rudolf Richter sowie einer Person, die es vorzieht, ungenannt zu bleiben, sehr herzlich für ihre Vorab-Lektüre dieses Beitrages und ihre konstruktiven Anmerkungen, die ich soweit wie mir dies möglich war aufgenommen und umgesetzt habe.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1985).2 Was als Fragestellung gilt, die von fachlichem Interesse ist, und was als fachlich angemessene Beschreibung eines in Frage stehenden Sachverhaltes und als fachlich angemessener oder situativ erforderlicher Umgang mit ihm gilt, variiert mit den professionellen Ideologien verschiedener Sozialwissenschaftler, die wiederum ein Ergebnis biographischer Erfahrungen, persönlicher Werte und Überzeugungen sowie (und vielleicht vor allem) der beruflichen Position und damit des fachlichen Umfeldes sind, in denen ein Sozialwissenschaftler agiert. Eine Debatte über einen Sachverhalt ist daher auch immer eine implizite Debatte über professionelle Ideologien und mit ihnen verbundene Zielsetzungen, Qualitäts- und Normalitätsstandards. Meines Erachtens ist es wichtig, sich über die eigene professionelle Ideologie und diejenige der Kollegen klar zu werden und sie (wieder) als einen in eigenem Recht zu diskutierenden Aspekt der Sozialwissenschaften zu behandeln, denn nur dies ermöglicht entweder die Entwicklung einer geteilten Perspektive auf einen Sachverhalt, was wiederum die systematische Bearbeitung des in Frage stehenden Sachverhaltes befördert, oder eine bewusste Grenzziehung zwischen verschiedenen Perspektiven, die insofern fruchtbar sein kann als sie die Prämissen erkenn- und damit im Prinzip diskutierbar macht, unter denen Kollegen mit verschiedenen professionellen Ideologien einen Sachverhalt betrachten (oder nicht betrachten). Dazu, dies zu illustrieren, dient die folgende Beschreibung und Reflexion der Rezeption von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ und der seitdem betriebenen Forschung, die sich im Kontext der in dieser Publikation aufgeworfenen Frage verortet. Im Rahmen dieser Reflexion stelle ich Vermutungen darüber an, wie einige der von Kollegen gezeigten Reaktionen mit Bezug auf das Konzept der professionellen Ideologie beziehungsweise durch Faktoren, von denen vermutet wird, dass sie sie beeinflussen, erklärbar sein könnten. Es wird auch deutlich werden, welche professionelle Ideologie Michael Klein und ich als Verfasser von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ aufweisen 2 In diesem Beitrag benutze ich den Begriff „Ideologie“ zur Bezeichnung eines bedeutungsstiftenden Sets von Überzeugungen und Vorstellungen, anhand derer eine Person ihre Umwelt wahrnimmt, interpretiert und auf sie Bezug nimmt. „Ideologie“ steht hier also nicht per definitionem im Gegensatz zu "Wissenschaft", wie man dies beispielsweise bei Autoren findet, die sich dem Marxismus verbunden fühlen (wie Gramsci oder Althusser), für die Ideologie prinzipiell mit falschen Überzeugungen verbunden ist. Hieraus sollte nicht (fälschlich) geschlossen werden, dass ich der Überzeugung sei, alle Ideologien seien gleichwertig im Sinne von gleichermaßen wünsch- oder legitimierbar oder stimmten in gleichem Maß mit der Realität überein. Als professionelle Ideologie bezeichne ich das Verständnis einer Person von sich selbst als Repräsentant einer bestimmten Profession wie es sich in ihren berufsbezogenen Überzeugungen und Praktiken ausdrückt. Einige interessante Überlegungen zu und Erfahrungen mit der Rolle von Ideologie in den Sozialwissenschaften werden in den verschiedenen Beitrӓgen eines von Kinloch und Mohan (2000) herausgegebenen Bandes mit dem Titel „Ideology and the Social Sciences“ berichtet.
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und was uns entsprechend zu dieser Publikation und der spezifischen Form, in der in ihr argumentiert wird, motiviert hat. Vor diesem Hintergrund wird dann hoffentlich verständlich, warum ich die bislang vorliegende Forschung mit Bezug auf unsere Arbeit als unzureichend einschätze und was ich mir von ihr zukünftig erhoffe.
2 Der Entstehungszusammenhang einer Idee Im Jahr 2002 erschien in der Zeitschrift für Pädagogik die von Michael Klein und mir gemeinsam verfasste Publikation „‘Bringing Boys Back in’: Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Bildungssystem zuungunsten von Jungen am Beispiel der Sekundarschulabschlüsse“ (Diefenbach und Klein 2002), in der wir anhand der amtlichen Bildungsstatistik für die Schuljahre 1994/95 bis einschließlich 1999/2000 nachweisen, dass Jungen sehr viel häufiger als Mädchen ohne Hauptschulabschluss von der Schule abgehen oder die Schule nur mit einem Hauptschulabschluss verlassen, und dies in allen Bundesländern ohne Ausnahme, aber in von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichem Ausmaß. Diese Publikation löste starke Reaktionen aus, weil sie eindeutig als falsch identifizierte, was bis dahin als Binsenweisheit galt, dass nämlich Mädchen hinsichtlich für den schulischen Bereich entscheidender Größen nach wie vor Nachteile gegenüber Jungen hätten. Vielleicht ist es wegen des angesichts der dominanten Ideologie „revolutionären“ Gehaltes dieser Publikation nicht überraschend zu erfahren, dass diese Publikation weder als Ergebnis noch im Anschluss an die übliche institutionalisierte Sozialforschung entstand.3 Vielmehr war sie ein Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer Faktoren, nämlich (1) unseres Interesses an Fragen der Verteilungs-
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Als dominante Ideologie bezeichne ich nicht ein bedeutungsstiftendes Set von Überzeugungen und Vorstellungen, das deswegen dominant wäre, weil es von der Mehrheit der Personen in einer Gesellschaft geteilt würde. Vielmehr bezeichne ich als die dominante Ideologie die Ideologie derjenigen gesellschaftlichen Gruppe/n, der/denen es aufgrund ihrer Ressourcen und ihrer Kontrolle über Institutionen möglich ist, ihre Ideologie für die soziale Realität relevant zu machen. Insbesondere ist hier an die Ideologie der politischen Klasse zu denken. Ein für unseren Zusammenhang wichtiger Bestandteil der dominanten Ideologie ist der Staatsfeminismus vieler, insbesondere westlicher Staaten (vergleiche hierzu Haussman und Sauer 2007 sowie Stetson und Mazur 2010). Er wird deswegen als Staatsfeminismus bezeichnet wird, weil der Feminismus bzw. das, was die politische Klasse unter ihm versteht, mit einigem Erfolg, nämlich rechtsverbindlich, in den gesellschaftlichen Institutionen verankert wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass zum Konzept der dominanten Ideologie, so wie ich es im Anschluss an Abercrombie und Turner (1978) verstehe, nicht notwendigerweise die Annahme gehört, dass die dominante Ideologie von den nichtdominanten sozialen Gruppen übernommen im Sinne von verinnerlicht würde.
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gerechtigkeit, insbesondere im Bildungsbereich, der für sich (nach wie vor) in Anspruch nimmt, nach dem meritokratischen Prinzip zu funktionieren, was sich zu diesem Zeitpunkt bereits in meiner mehrjährigen Forschung über die Bildungsnachteile von Schülern aus Migrantenfamilien niedergeschlagen hatte, (2) der bereits seit längerer Zeit bei den Autoren bestehenden Überzeugung, nach der mit der Beschreibung der deutschen oder irgendeiner anderen westlichen modernen Gesellschaft als „Patriarchat“, in dem Frauen kulturelle und umfassende strukturelle, weil institutionalisierte, Nachteile gegenüber Männern hätten, etwas konzeptionell und empirisch grundlegend nicht stimme, und (3) einer spezifischen Form der Freizeitgestaltung. Die Gründe für die Überzeugung, dass die Ideologie von der Benachteiligung von Frauen in westlichen Gesellschaften nicht zutrifft, sondern Frauen in vielen Bereichen deutliche Vorteile gegenüber Männern haben, die systematisch ignoriert werden, und dass Nachteile für Frauen, wo sie bestehen, zum Teil auf entsprechende Präferenzen zurückzuführen sind, können hier nicht im einzelnen angegeben werden. Jedenfalls hat sich diese Überzeugung mit der Zeit sowohl aufgrund von Alltagsbeobachtungen als auch in Konfrontation mit Forschungsergebnissen entwickelt, die der üblichen Beschreibung und Interpretation der Dinge als Benachteiligungen von Frauen widersprachen (genannt seien in diesem Zusammenhang beispielsweise die Argumentationen und Forschungsarbeiten von Catherine Hakim; vgl. Hakim 2003; 2002; 2000). In jedem Fall hatten wir erhebliche Zweifel (zumindest) an demjenigen Teil der dominanten Ideologie, der die westlichen Gesellschaften als „Patriarchate“ beschreibt, was schon deswegen falsch ist, weil der Begriff eine Herrschaft der Väter, nicht der Männer, bezeichnet und in der Anthropologie, aus der er entliehen ist, entsprechend benutzt wird. Gleichzeitig war und ist unsere professionelle Ideologie stark geprägt von der Vorstellung, Wissenschaft sei der Suche nach Wahrheit im Sinne von Tarski (1977), Popper (1973: 60-78, 361-376, 377-400) oder in neuerer Zeit William (2002) verpflichtet, so dass wir gemäß unseres Selbstverständnisses als Sozialforscher eine latente Motivation verspürten, die von uns als unwahr vermutete dominante Ideologie durch empirische Tests als solche, eben als unwahr, zu identifizieren und uns damit an dem zu beteiligen, was Hesse-Biber und Leavy „counter-dominant knowledge production“ (HesseBiber und Leavy 2011: 21) nennen. Vermutlich wäre diese Motivation für unsere Forschungs- und Publikationstätigkeit ohne Folgen geblieben, wenn Herr Klein und ich nicht eine spezifische Form der Gestaltung von Freizeit entwickelt hätten, genau: eine spezifische Form, dem Übermaß an Familienfeiern an aufeinanderfolgenden Feiertagen zu entgehen, nämlich durch wissenschaftliches Arbeiten, dessen Priorität (für uns) in unserem persönlichen Umfeld glücklicherweise ohne Weiteres
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akzeptiert wird. Herr Klein und ich überlegten also kurz vor Weihnachten 2001, mit welchem kleinen Forschungsprojekt wir uns über die Feiertage vergnügen könnten. Als Form der Freizeitgestaltung sollte es – natürlich – unseren eigenen Interessen entsprechen und ein Projekt sein, das wir im institutionellen Rahmen unserer jeweiligen Arbeitsplätze nicht durchführen konnten oder wollten, weil es dort möglicherweise auf Widerstände, zumindest aber auf wenig Unterstützung gestoßen wäre. Gleichzeitig sollte es ein Projekt sein, in das wir theoretisches und praktisches Vorwissen würden einbringen können und das wir als ein empirisches Projekt würden bewältigen können, ohne spezielle Daten dafür zu erheben, was wiederum nur durch die institutionelle Anbindung möglich gewesen wäre, von der wir unsere „Freizeitwissenschaft“ gerade freihalten wollten. Damit war klar, dass es ein Projekt sein musste, das auf öffentlich zugänglichen Daten beruhen musste. Angesichts dieser Bedingungen fiel unsere Wahl auf ein kleines Projekt zur Untersuchung der Frage, ob sich nicht – anders als die dominante Ideologie und in Übereinstimmung mit ihr die stark von Frauenforscherinnen getragene pädagogische Literatur behauptete – im Bereich der schulischen Bildung Ungleichheiten zwischen Jungen und Mädchen beobachten lassen, die zu Ungunsten von Jungen ausfallen, und zwar anhand der amtlichen Bildungsstatistik, die nicht nur öffentlich zugänglich ist, sondern auch als Vollerhebung konzipiert ist, was Einwände gegen die Daten als selektiv von vornherein verhindern würde.4 Es ist wichtig festzuhalten, dass mit der Wahl der amtlichen Bildungsstatistik als Datenbasis nicht nur eine bewusste Wahl in methodischer Hinsicht getroffen wurde, sondern mit dieser Wahl auch eine spezifische theoretische Perspektive verbunden war: Die in den Sozialwissenschaften übliche Konzentration auf Individualdaten bringt es mit sich, dass verursachende Faktoren auf der Individualebene gesucht werden beziehungsweise nur dort gefunden werden können. Strukturelle Zusammenhänge bleiben bei einer Forschung anhand von Individualdaten gewöhnlich unbeachtet. Unsere auf Aggregatdaten basierende Analyse würde keine auf der Individualebene möglicherweise bestehenden Zusammenhänge identifizieren können, aber sie würde wenigstens ansatzweise die Identifizierung struktureller Zusammenhänge ermöglichen. Zum Beispiel konnten wir den Zusammenhang zwischen den Schulabschlüssen von Jungen und Mädchen und den Anteilen von männlichen Grundschullehrern sowie den Arbeitslosen-
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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass genau dieser Einwand später dennoch vorgebracht wurde, entweder in Unkenntnis des Zustandekommens der amtlichen Statistik oder unter Ignorierung der Datenbasis, sozusagen als Ergebnis einer – in diesem Fall verfehlten – bewährten Strategie, immer erst einmal die Datenbasis zu kritisieren, wenn man bestimmte Untersuchungsergebnisse nicht mag (hierzu mehr im Abschnitt 3).
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quoten auf der Ebene der Bundesländer beschreiben, und zwar im Zeitverlauf, was wiederum erlaubte, Aussagen über die zeitliche und räumliche Konsistenz bestimmter Zusammenhänge zu machen. Unsere Aggregatdatenanalyse war also gut dazu geeignet, die Reichweite und Konsistenz der ggf. bestehenden Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Schulsystem Deutschlands zu beschreiben und einige mögliche strukturelle Zusammenhänge zu identifizieren. Die aufgefundenen Zusammenhänge soweit wie möglich auf der Individualebene zu rekonstruieren, wäre dann, so dachten wir, Aufgabe folgender und an unsere Arbeit anschließender Forschung. Nach einigen e-Mails und Telefonaten erhielten wir die gewünschten Zeitreihen vom Statistischen Bundesamt und verbrachten die freien Tage über Weihnachten damit, die Daten für unsere Zwecke aufzubereiten und auszuwerten, was sich als eine ziemlich zeitintensive Angelegenheit erwies, deren Aufwändigkeit wir einigermaßen stark unterschätzt hatten. Vermutlich ist die Aufwändigkeit des Unterfangens ein Grund dafür, dass unsere Analyse unseres Wissens bislang nur ein einziges Mal repliziert wurde, und zwar auf Kreisebene (vgl. Kröhnert und Klingholz 2007: 57), was noch einen deutlich höheren Analyseaufwand bedeutet als wir ihn betrieben haben. 5 Am Ende unserer Analysen standen Befunde, die uns einerseits freuten, weil sie unsere Vermutung bestätigten und Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse über einen mehrjährigen Zeitraum in allen Bundesländern auswiesen, uns andererseits aber angesichts des Ausmaßes und der Konsistenz dieser Nachteile überraschten und ein wenig betroffen machten. Wir fanden die erzielten Ergebnisse bildungssoziologisch und -politisch hinreichend wichtig, um publiziert zu werden und machten uns daher daran, eine wissenschaftliche Publikation vorzubereiten. Wir boten unseren Text der Zeitschrift für Pädagogik an, weil wir uns hiervon erhofften, einen großen Leserkreis zu erreichen, für den unsere Befunde interessant und (handlungs?)relevant sein würden. Dankenswerterweise akzeptierten die Herausgeber der Zeitschrift für Pädagogik den Text zur Publikation, wohl wissend, dass er brisant sein würde, was daraus ersichtlich wird, dass sie uns um eine rechnerische Überprüfung des Zusammenhangs der Sekundarschulabschlüsse und des Anteils männlicher Grundschullehrer auf einem anderen als dem von uns gewählten Rechenweg baten. Diese Ergänzung haben wir gemacht und ihre Ergebnisse werden in Fußnote 4 von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ berichtet.
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Es sei nebenbei bemerkt, dass diese Replikationsstudie die Befunde, die unsere eigene Analyse auf der Ebene der Bundesländer erbracht hat, auf der Kreisebene bestätigt hat.
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3 Reaktionen auf die Publikation und mögliche Erklärungen für die verschiedenen Reaktionen In mancher Hinsicht machten uns die Reaktionen auf diese Publikation noch betroffener als die erzielten Ergebnisse. Auf keine unserer vorherigen oder folgenden Publikationen haben wir bislang auch nur annähernd in Bezug auf Anzahl, Variation oder Emotionalität vergleichbare Reaktionen bekommen wie auf „‘Bringing Boys Back in’: ...“ Auf der positiven Seite sind spontane Reaktionen aus dem Leserkreis der Zeitschrift für Pädagogik beziehungsweise aus der interessierten Öffentlichkeit zu nennen, zu der unsere Befunde – durch das große Medieninteresse, auf das unsere Befunde stießen – vorgedrungen waren. Den meisten dieser Reaktionen gemeinsam war eine Erleichterung darüber, dass etwas, was bereits beobachtet oder vermutet worden war, eben, dass Jungen im Schulsystem Nachteile gegenüber Mädchen haben, nunmehr in einer wissenschaftlichen Publikation formuliert und empirisch belegt worden war und damit – entgegen der dominanten und damit politisch korrekten Perspektive – den Status einer sozialen Tatsache beanspruchen konnte und als solche auch ausgesprochen werden durfte. Für uns überraschend war, wie viele an der Thematik Interessierte eine erhebliche Dissonanz zwischen ihren eigenen Wahrnehmungen und dem, was die dominante Ideologie zu behaupten erforderte, gespürt haben müssen; wir wissen nicht, wie die zahlreichen Äußerungen des Dankes und der Erleichterung in Reaktion auf eine sozialwissenschaftliche Publikation anders erklärbar sein können. Wenn diese Erklӓrung zutrifft, verweisen die beschriebenen Reaktionen auf einen erheblichen Konformitätsdruck in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie er für die moderne westliche Welt insgesamt oder andere westliche Staaten (zum Beispiel von Strayer 1970 oder Young 1997) bereits beschrieben und zu erklären versucht worden ist (zum Beispiel bei Hogan 2001; vgl. hierzu auch die diesbezüglich kritische Perspektive von Migdal 1997). Interessanterweise waren die Reaktionen von Fachkollegen insgesamt gesehen weit verhaltener. Positive Reaktionen gab es auch aus ihren Reihen, aber sie wurden in relativ zurückhaltender Weise und oft „inoffiziell“, d.h. in privaten Kontexten geäußert oder mit einem Hinweis darauf versehen, dass man dieselben Vermutungen gehabt habe wie wir, sich aber nicht äußern wollte oder sie schon geäußert habe, aber ungehört geblieben sei oder ähnliches. Der größte Teil der Fachkollegen, insbesondere die soziologischen Bildungsforscher, zeigten bis auf sehr wenige Ausnahmen für eine recht lange Zeit, nämlich mehrere Jahre, gar keine offiziellen Reaktionen, wie sie sich u.a. in Zitationen, Vorträgen oder Publikationen niederschlagen würden. Wir erklären uns dies nicht vorrangig durch fachliches Desinteresse, sondern sozialpsycholo-
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gisch durch das Streben nach Konsistenz mit sich selbst (Festinger 1957: 1), das unter anderem dazu führt, dass man Informationen, die der eigenen oder der unreflektiert akzeptierten dominanten Ideologie widersprechen, möglichst wenig zur Kenntnis nimmt, als „Anomalie“ abtut oder sie bewusst ignoriert (Festinger 1957: 3), oder die Quelle, der die unliebsamen Informationen entnommen wurden, für unzuverlässig erklärt – so dass sie keiner Zitation würdig erscheint (Osgood und Tannenbaum 1955), während man Informationen, die die eigene oder dominante Sicht bestätigen und daher keine kognitive Dissonanz verursachen, bereitwillig akzeptiert (und zitiert) und ihnen insgesamt deutlich weniger skeptisch gegenübersteht, wie die sozialpsychologische Forschung gezeigt hat (Shadish et al. 1994: 27). Darüber hinaus herrscht sicherlich auch bei diesen Kollegen ein Konformitätsdruck, der aber vermutlich nicht als solcher empfunden wird, sondern eher als rationales (Anpassungs-)Verhalten.6 Ein weiterer Grund für das Schweigen gerade der prominenten Fachkollegen mag sein, dass unsere Befunde von den Nachteilen von Jungen im deutschen Schulsystem nicht nur als solche neu waren und den Erwartungen derer, die gewohnt sind, Frauen prinzipiell als benachteiligt zu betrachten, widersprochen haben, sondern auch die Frage aufwarfen, was die Ursachen hierfür sein mögen, also sozusagen geradezu dazu aufforderten, die „black box“ zu öffnen,
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Jordan beschreibt den Mechanismus, der hier vielleicht wirksam ist, mit Bezug auf Konsumverhalten wie folgt: “Above all, we have come to recognise that most people who behave in the conformist way ... do so not because they have been threatened or compelled, either by the state or by moralisers, but because society has been ordered as to reward them for conformism. ... The essence of this system is that the rewards are cumulative; at first they are rather small, and it is only after a fairly long participation in the process of acquiring the benefits of the affluent society that we can expect to amass all the comforts and status symbols it can offer. The smallness of the initial pay-offs serve to obscure the thoroughgoing nature of the dominion which this process gains over us; because at first we have to work quite hard to achieve any benefits, we are able to convince ourselves that we are really participating only for the sake of survival, in the absence of practicable alternatives. As the rewards grow larger, these in turn are rationalised in terms of earlier sacrifices, and so on, until we are thoroughly willing and active members of the propertyowning consumer democracy, convinced that we are only getting what we deserve, and that all we want to do is precisely what our employers and the advertising men require of us, and of everybody else” (Jordan 1976: 97/98; Hervorhebung d.d.A.). Auch im Wissenschaftsbetrieb wird kumulativ belohnt, und man möchte glauben, dass man die Position, die man inne hat, verdient hat und diejenigen, die sie einem verschafft haben, kompetent in entsprechenden Verteilungsfragen gewesen sind. Warum sollte man sich also mit einer neuen "Außenseiter"-Position beschäftigen, die keine Belohnungen im Wissenschaftsbetrieb über das hinaus, was man an Belohnungen bereits erhalten hat, bereitstellt, aber möglicherweise dazu geeignet ist, die alten und bewährten Kooperationsbeziehungen zu stören? Für Personen, die über praktikable Alternativen verfügen, entfällt dieses durchaus rationale Kalkül, und daher ist von ihnen am ehesten zu erwarten, dass sie sich an der Produktion von Wissen beteiligen, das der dominanten Ideologie widerspricht.
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an deren Ausgang die beobachteten Nachteile für Jungen entstanden waren 7: „... scientists are often inclined just to go along rather than to question deeply – in Latour's ... terms, they are somewhat reluctant to open the many black boxes claimed by the original author“ (Shadish et al. 1994: 48). Jedenfalls erfolgte weder im Bildungsbericht für Deutschland aus dem Jahr 2006 (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006) noch in demjenigen aus dem Jahr 2008 (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008), die beide im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dementsprechend hauptsächlich von Mitarbeitern regierungsnaher und zumindest teilweise von ihr finanzierter Institutionen wie dem Deutschen Institut für Pädagogische Forschung (DIPF) und dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) erstellt wurden, eine systematisch nach Geschlechtern getrennte Situationsbeschreibung, geschweige denn, dass die Ungleichheit zwischen Jungen und Mädchen im Bildungssystem zu Ungunsten von Jungen als eine zentrale Problemlage benannt und entsprechend behandelt worden wäre. 8 Im Bildungsbericht aus dem Jahr 2008 wurden die Nachteile von Jungen teilweise genannt, zum Beispiel bei der Darstellung der Befunde zur Einschulung, zum Wiederholen von Klassen, zur Leseleistung und zum Übergang in die Berufsausbildung. Aber nirgendwo wurden diese Befunde zusammengeführt und systematisch aufeinander bezogen oder als ein Problem der gerechten Verteilung von Bildung in Deutschland dargestellt. Immerhin findet sich in diesem Bericht im Kapitel „Wichtige Ergebnisse“ ein Abschnitt über „geschlechtsspezifische Disparitäten“, in dem die Situation wie folgt zusammengefasst wird: „Geschlechtsspezifische Disparitäten: Mädchen und junge Frauen werden im Bildungssystem immer erfolgreicher, neue Problemlage bei den Jungen“. Zwar war die „Problemlage bei Jungen“ zu dem Zeitpunkt, zu dem der Bericht verfasst wurde, keineswegs neu, aber es mag durchaus zutreffen, dass sie den Verfassern des Berichtes neu war.
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Wir selbst forderten in unserer Publikation implizit zu einer Suche nach den Ursachen für die beobachteten Nachteile der Jungen im Schulsystem auf, indem wir diesbezüglich spekulierten und einige Analysen durchführten, die anhand der verfügbaren Aggregatdaten möglich waren und sinnvoll erschienen. 8 In anderen Ländern wird dieselbe Ungleichheit klar benannt und ebenso klar als problematisch eingeordnet, auch von staatlichen Stellen, die ihre Verantwortung für die gerechte Verteilung von Bildung in der der nächsten Generation offensichtlich ernster nehmen (siehe hierzu zum Beispiel für Großbritannien: Demack et al. 2000; Equal Opportunities Commission 1998; OFSTED 2003; Powney 1996, für die USA: Dee 2005; Freeman 2005; Rennie Center for Education Research & Policy 2006, für Australien: Standing Committee on Education and Training 2002, für Hong Kong: Wong et al. 2002).
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In anderen regierungsnahen Publikationen wurde (und wird) die „Problemlage bei Jungen“ jedoch gänzlich unterschlagen beziehungsweise in eine Problemlage bei Mädchen umgedeutet. Ein typisches Beispiel hierfür stellt der mit „Förderung von Chancengleichheit“ betitelte Bericht der so genannten Expertengruppe des Forums Bildung in der Geschäftsstelle der Bund-LänderKommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung dar. Hier findet der Leser im Anschluss an eine oberflächliche und durch viele Auslassungen gekennzeichnete Darstellung des status quo in Sachen Gleichstellung der Geschlechter im Bildungsbereich die folgende zusammenfassende Einschätzung: „Wir haben die beste allgemeinbildend ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten und eine besser ausgebildete als die der gleichaltrigen Männer. Dennoch können die jungen Frauen noch immer nicht diesen Vorteil in entsprechende berufliche Qualifizierung umsetzen“ (Expertengruppe des Forum Bildung 2002: 71)9 Das einzige Problem mit Bezug auf Chancengleichheit, das die Autoren dieses Berichtes wahrnehmen, ist also, dass Frauen ihre deutlichen Vorteile hinsichtlich schulischer Bildung nicht in ebenso große Vorteile hinsichtlich beruflicher Bildung übertragen. Bildungsnachteile von Jungen scheinen dagegen keinerlei Problem darzustellen, auch wenn sie – ebenso wie die Bildungsnachteile von Mädchen vor einigen Jahrzehnten – auf eine systematische Verletzung des meritokratischen Prinzips im deutschen Schulsystem
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Wie andere Autoren auch, die Auftragsarbeiten für die Bundesregierung erledigen oder auf längerfristige Weise von ihr abhängig und sich daher mehr oder weniger gezwungen fühlen, den Staatsfeminismus der Bundesregierung zu repräsentieren, verwenden die Autoren hier einen simplen rhetorischen Trick, indem sie ihrer Beschreibung der Tatsache, dass Frauen ihre Bildung nicht in entsprechende Berufskarrieren umsetzen, auch gleich die politisch korrekte Interpretation beigeben, was sie dadurch erreichen, dass sie das unschuldig klingende Wort „können“ an das Verb „umsetzen“, das die Tatsache des Tuns (bzw. Nicht-Tuns) bezeichnet, anhängen. Damit suggerieren sie, es sei eine Tatsache, dass Frauen an der Umsetzung gehindert würden, was in einigen Kontexten der Fall sein mag, in anderen nicht, aber in jedem Fall empirisch zu belegen wäre. Dies ist ein in der frauenpolitisch orientierten Literatur weit verbreitetes manipulatives Mittel. Als ein weiteres Beispiel hierfür sei eine Formulierung von Nyssen genannt: „Eine wesentliche Ursache dafür, dass Mädchen hinsichtlich der formalen Abschlüsse in der Schule zwar äußerst erfolgreich sind, diesen Erfolg aber nicht in anschließende zukunftsorientierte Berufsausbildungen, Studien und Karrieren in privilegierten Positionen umsetzen können, wurde in subtilen schulischen Benachteiligungen gesehen“ (Nyssen 2000: 72; Hervorhebungen d.d.A). Auch so angesehene und forschungs- und publikationserfahrene Autoren wie Heinz Günter Holtappels bedienen sich dieses manipulativen Mittels oder fallen ihm zum Opfer, sofern sie es unbewusst reproduzieren (siehe Holtappels 2005: 309).
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hinweisen. Man kommt schwerlich umhin, diese Haltung anders zu bezeichnen als zynisch.10 Wir betrachteten diese Weigerung, in den beobachteten erheblichen Bildungsnachteilen von Jungen gegenüber Mädchen ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit im deutschen Schulsystem zu erkennen, wie gesagt zum einen als Ergebnis sozialpsychologischer Prozesse, zum anderen als Ergebnis von tatsächlich ausgeübten oder antizipierten Zwängen, die sich aus der Abhängigkeitsposition der Verfasser von den jeweiligen Auftraggebern der genannten Berichte ergeben. Angesichts der Tatsache, dass die jeweiligen Auftraggeber – die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung – gleichermaßen den Staatsfeminismus als Element der dominanten Ideologie repräsentieren, und dass eine hierarchische Beziehung zwischen Auftraggebern und denjenigen Autoren, die sie zu ihren Experten ernennen, besteht, ist es nicht verwunderlich, dass in den genannten Berichten die bestehenden Nachteile für Jungen gegenüber Mädchen im Schulsystem nur indirekt oder nur am Rande behandelt oder in Nachteile für Mädchen umgedeutet werden. Ein Bewusstsein dafür, dass es mit Bezug auf die Bildung von Mädchen und Jungen nicht um einen Kampf um die Verteilung von Ressourcen auf Geschlechtsgruppen geht (oder gehen sollte), sondern darum, Verletzungen des meritokratischen Prinzips zu identifizieren – zu wessen Ungunsten in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten Zeit auch immer –, weil es letztlich allen zum Nachteil gereicht, wenn Individualrechte geschwächt werden und Zuteilungen aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten erfolgen, besteht offensichtlich nicht. 11 Wie fremd der Gedanke, dass wir als Autoren von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ etwas anderes im Sinn gehabt haben könnten als Lobbyismus für Jungen als solche, eben als Jungen, zu betreiben, einigen Kollegen ist, illustriert auch das folgende Erlebnis, das ich im Jahr 2006 im Zusammenhang mit der Publikation hatte: Für den Herausgeberkreis des Friedrich Schülerheftes wand10 Man stelle sich probeweise die Reaktionen frauenpolitisch Bewegter vor, wenn man darauf hinwiese, dass es eine Benachteiligung von Männern bedeute, dass sie ihre Berufskarrieren und ihre im Zuge dieser Karrieren geleisteten Sozialbeiträge nicht in eine bessere Gesundheitsversorgung und eine höhere Lebenserwartung ummünzen können, sondern statt dessen bezüglich beider Größen deutliche Nachteile gegenüber Frauen haben, die sich deutlich seltener für Berufskarrieren entscheiden und entsprechend deutlich weniger Sozialbeiträge leisten als Männer. 11 Zu den den Mechanismen, durch die Verteilungen an Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit die individuellen Rechte eben dieser Personen, aber auch diejenigen anderer verletzt, vergleiche zum Beispiel Edwards 1999: 153-155; Ramet 1997: 4-12; Triggs 2001: 148-150).
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te sich Klaus-Jürgen Tillmann, Professor für Pädagogik an der Universität Bielefeld und ehemaliger Hauptschullehrer, an mich und bat mich darum, einen Beitrag zur Frage „Schadet die ‚Frauenschule‘ den Jungen?“ für das an Lehrkrӓfte gerichtete Friedrich-Schülerheft zu verfassen, in dem ich die "Pro"Position vertreten sollte, während einer Kollegin die "Contra"-Position zur Präsentation überlassen bleiben sollte, so, als könne man als Wissenschaftler guten Gewissens und in Überzeugung die ein oder andere Position hierzu vertreten, obwohl so gut wie keine relevanten Forschungsbefunde vorliegen. Entsprechend lehnte ich diese Bitte ab, stimmte aber einer Kooperation zu, als Herr Tillmann wieder mit der Bitte auf mich zutrat, einen Text zu verfassen, und zwar im Rahmen einer veränderten Konzeption, bei der die starre und der Sache – zumindest derzeit – unangemessene „Pro-Contra“-Dichotomie aufgegeben wurde. Diesen Text stellte ich Herrn Tillmann innerhalb der vereinbarten Frist zur Verfügung, aber leider hörte ich nie wieder von ihm. Statt dessen erhielt ich ein Schreiben von einer Verlagssekretärin, die mir mitteilte, dass der Text, den ich „eingereicht“ habe, nicht angenommen worden sei, weil im Herausgeberkreis befunden worden sei, dass mein Text die „Pro“-Position nicht hinreichend abbilde und dort "Verständnisprobleme" geherrscht hätten, insbesondere mit Bezug auf meine Kritik einiger Äußerungen von Waltraud Cornelißen, die damalige und derzeitige Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik (!) des Deutschen Jugendinstitutes in München, die der Herausgeberkreis ursprünglich mit der "Contra"-Position betraut hatte. Letztlich seien die Texte, die Frau Cornelißen und ich geliefert hätten einander "zu ähnlich"12, und aufgrund unbekannter, weil nicht mitgeteilter, Kriterien, sollte nur der Text von Frau Cornelißen, aber nicht meiner, abgedruckt werden. Offensichtlich waren die Herausgeber trotz meines Widerspruchs gegen die Pro-Contra-Konzeption der Überzeugung, dass ich als Autorin von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ gar nicht anders könne als hinreichend „Pro“ und damit voreilig zu argumentieren nach dem Motto: Wer Nachteile von Jungen im Bildungssystem beschreibt, kann nicht anders als sich pauschal als Lobbyist des männlichen Geschlechtes zu verstehen und daher auch der Überzeugung zu sein, dass „die Frauenschule“ an diesen Nachteilen schuld sei. Als
12 Man muss sich in diesem Fall fragen, wie es möglich ist, dass die Herausgeber diese Ähnlichkeit identifizieren konnten, obwohl sie Schwierigkeiten mit der kognitiven Verarbeitung meines Textes, also die besagten „Verständnisprobleme“, hatten.
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diese Überzeugung der Herausgeber enttäuscht wurde, beendeten sie die Zusammenarbeit auf die oben beschriebene sozial wenig kompetente Weise. 13 Dies ist eines von vielen Beispielen dafür, dass auch Personen auf Berufspositionen, die man normalerweise mit wissenschaftlicher Forschung und Lehre in Verbindung bringt, sich hinsichtlich ihrer professionellen Ideologie vorrangig als Multiplikatoren der dominanten Ideologie verstehen oder einen so starken Druck verspüren, sich politisch korrekt zu äußern und den Nachweis der „richtigen“ Gesinnung zu erbringen, dass sie sowohl die Regeln der wissenschaftlichen (Zusammen-/)Arbeit als auch des Sozialverhaltens ignorieren. Dieselbe Gleichsetzung der Beschreibung von Nachteilen für Jungen und dem Test bestimmter Hypothesen mit persönlichen Überzeugungen und Lobbyismus ist erkennbar, wenn Uli Boldt, wie Tillmann ein ehemaliger Lehrer, an der Universität Bielefeld beschäftigt und Mitglied des Herausgeberkreises des Friedrich-Schülerheftes, Herrn Klein und mir attestiert, dass wir „... vermuten, dass das schlechte Abschneiden von Jungen in der Schule damit zu erklären ist, dass den Jungen in der Schule die männlichen Bezugspersonen fehlen (Männerarmut), dass Lehrerinnen Jungen schlechter verstehen und ungerechter behandeln und beurteilen“ (Boldt 2008: 141). Tatsächlich schreiben wir in „‘Bringing Boys Back in’: ...“: „Vielmehr liegt es [mit Bezug auf eine Erklärung der beobachteten Nachteile] nahe, nach strukturellen Merkmalen zu suchen, die die oben dargestellten Befunde erklären können. Solche Merkmale müssen >…@ zwei Bedingungen erfüllen, um als Erklärungen für die Befunde in Frage zu kommen: Sie müssen einerseits in allen Bundesländern gleichermaßen die Nachteile für Jungen gegenüber Mädchen produzieren, andererseits in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich stark ausgeprägt sein, denn nur so ist der (doppelte) Befund zu erklären, nach dem Jungen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse gegenüber Mädchen in allen Bundesländern Nachteile haben, diese Nachteile aber nicht in allen Bundesländern gleich stark ausgeprägt sind. Ein Merkmal, das diese Bedingungen erfüllt, ist der Anteil der männlichen Grundschullehrer an allen vollbeschäftigten Grundschullehrern in den verschiedenen Bundesländern: Wenn es stimmt, dass in allen Bundesländern die Mehrzahl der Grundschullehrer weiblich ist und dass dies für Schülerinnen einen Vorteil beziehungsweise für Schüler einen Nachteil darstellt, der sich zum Beispiel in der Leistungsmotivation, der Leistungs13 Eine Erklärung der Vorfälle oder eine Entschuldigung erhielt ich von keinem Mitglied des Herausgeberkreises. Erst, nachdem ich beim Verlag darauf hingewiesen hatte, dass Herr Tillmann mit mir einen konkludenten Vertrag geschlossen habe, der einklagbar sei und ich daher nicht bereit sei, die Angelegenheit ohne Weiteres auf sich beruhen zu lassen, wurde ich für die Arbeit, die ich mit dem Verfassen des Textes hatte, finanziell geringfügig entschädigt. Die entsprechende Kommunikation und Transaktion verlief zwischen mir und besagter Verlagssekretärin.
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fähigkeit oder der Bildungsempfehlung für eine weiterführende Schulart niederschlägt, dann kann erklärt werden, warum in allen Bundesländern Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich der Abschlüsse bestehen, .... Wenn außerdem das Verhältnis zwischen Grundschullehrern und Grundschullehrerinnen in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich ist ..., so kann erklärt werden, warum die Nachteile für Jungen gegenüber Mädchen in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich stark ausgeprägt sind“ (Diefenbach und Klein 2002: 948/949). Eigentlich sollte hieraus deutlich werden, dass die Befunde in der spezifischen Form, in der sie sich darstellen, bestimmte formale Anforderungen an die in Frage kommenden Erklärungen stellen. Solche Erklärungen müssen gesucht und getestet werden, unabhängig davon, ob man sie sympathisch findet oder nicht. 14 Anschließend nehmen wir in „‘Bringing Boys Back in’ ...“ Bezug auf Arbeiten, die eine theoretische Begründung oder empirische Belege für den Zusammenhang zwischen unterschiedlich großem Schulerfolg von Jungen und Mädchen einerseits und dem Geschlecht von Lehrkräften andererseits liefern (Diefenbach und Klein 2002: 949). Von männlichen Bezugspersonen ist bei uns nicht die Rede und auch nicht von „Männerarmut“15 in der Schule. Dennoch mutieren wir in Boldts Beschreibung zu Befürwortern einer „Erhöhung des Männeranteils“ (Boldt 2008: 142).16 Diesbezüglich besonders peinlich ist Boldts Rezeption insofern als ich mich bereits ein Jahr früher in einer Publikation kritisch zu einer Erhöhung des Grundschullehreranteils zum Zweck, den Schulerfolg von Jungen zu erhöhen, geäußert hatte (Diefenbach 2007: 111). Boldt hat diese Publikation, die in einem Band über „Sozial Arbeit mit Jungen und Männern“ erschienen ist und daher angesichts seiner Berufsposition für Boldt einschlägig sein sollte, offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Auch dann, wenn man berücksichtigt, dass wir unterschiedlichen Disziplinen und wissenschaftlichen Paradigmen angehören, sollte wir uns soweit über die Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens einig sein, dass die Texte derer, zu deren Forschungsergebnis14 Darüber hinaus halten wir in „‘Bringing Boys Back in’: ...“ explizit fest: „Zum einen besteht die Möglichkeit aktiver Benachteiligung von Jungen gegenüber Mädchen durch Lehrerinnen. ...Wir halten es jedoch für wahrscheinlicher, dass die Nachteile, die Jungen gegenüber Mädchen durch die Betreuung durch Lehrerinnen haben, eine unbeabsichtigte Folge des Handelns der Lehrerinnen sind, die das Verhalten von Jungen und Mädchen unterschiedlich interpretieren und bewerten“ (Diefenbach und Klein 2002: 949). 15 Den Begriff benutzt Boldt nicht nur fälschlich mit Bezug auf unsere Aussagen, sondern auch falsch mit Bezug auf die deutsche Sprache, in der Männerarmut die Genitivkonstruktion „Armut der Männer“ ersetzt, aber nicht die Konstruktion „Armut an Männern“. 16 Genau formuliert Boldt: „Kreienbaum, die durchaus auch [!] eine Erhöhung des Männeranteils befürwortet, ...“ (Boldt 2008: 142), womit er unterstellt, wir (und Kreienbaum) würden eben dies tun.
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sen man Stellung nehmen möchte, zunächst genau zu lesen sind. In diesem wie in anderen Fällen wird neben der Wirkung von Konformitätsdruck und professionellen Ideologien, aufgrund derer sich die jeweiligen Personen eher als Multiplikatoren politisch korrekter Inhalte betrachten denn als Wissenschaftler, ein erheblicher Mangel an dem erkennbar, was im englischsprachigen Raum als „scientific literacy“ bezeichnet wird, was man nicht ganz treffend mit "wissenschaftlicher Grundbildung" übersetzen kann. Aufgrund dieses Mangels werden Arbeiten, die man wegen ihrer Inhalte emotional ablehnt, in unangemessener Weise beurteilt: Unfähig zur argumentativen oder methodischen Kritik, aber gleichzeitig den Druck verspürend, man müsse eine irgendwie wissenschaftlich klingende Kritik äußern, um ernst genommen zu werden, benutzt man probeweise Floskeln wie beispielsweise „mangelnde Datenqualität“ in der Hoffnung, die in Frage stehenden Arbeiten damit diskreditieren zu können. So behauptet der Sozialpädagoge Jürgen Budde in einer Auftragsarbeit für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), unsere Ergebnisse seien „empirisch keineswegs abgesichert“ (Budde 2008: 49) und die „Kausalität des postulierten Zusammenhangs [gelte] ebenso wie die Datenauswahl der Studie als höchst umstritten“ (Budde 2008: 49). Diesen Formulierungen merkt man die Fremdheit an, die Budde gegenüber der Hypothesen testenden Sozialwissenschaft und quantitativen Daten beziehungsweise Analysen empfinden muss: Erstens wird der Grad der Bewährung von Forschungsergebnissen anhand der Anzahl der überstandenen Falsifizierungsversuche gemessen, die bei einem neu beschriebenen Phänomen nicht gegeben sein kann, so dass logischerweise auch keine entsprechende Kritik an einer Studie, die ein Phänomen erstmals beschreibt, formuliert werden kann. Zweitens gehört es zu den Grundkenntnissen, die in einer Methodenausbildung vermittelt werden, dass statistische Korrelationen Zusammenhänge, eben Korrelationen, ausweisen, aber keine Kausalitäten. Kausalitäten werden durch inhaltliche Hypothesen formuliert, mit denen eine Korrelation vereinbar ist oder nicht. Insofern es für Korrelationen konkurrierende Erklärungen unter Rückgriff auf unterschiedliche kausale Zusammenhänge gibt, also verschiedene mögliche Kausalitäten mit der Korrelation vereinbar sind, ist es ein normaler Zustand, dass „die Kausalität des postulierten Zusammenhangs >...@ umstrit-
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ten“ ist – was sonst?17 Inwiefern dies gegen unsere Vorgehensweise in „‘Bringing Boys Back in’: ...“ sprechen soll, bleibt Buddes Geheimnis. Eben weil die beobachteten Nachteile von Jungen zumindest auf den ersten Blick durch verschiedene Argumentationsketten erklärt werden können, erhofften wir uns von unserer Publikation, dass sie eine Forschung zu den möglichen Erklärungen für die beschriebenen Nachteile auslösen würde. Drittens ist es mehr oder weniger albern, eine „Datenauswahl“ zu kritisieren, wenn einer Analyse eine Vollerhebung zugrunde liegt, die sämtliche Jungen und sämtliche Mädchen ebenso wie sämtliche Lehrkräfte an Grundschulen in sämtlichen Bundesländern für einen Zeitraum von sechs Jahren umfasst. Das „Auswahl“Problem kann sich in diesem Fall nur auf den ausgewählten Zeitraum beziehen, und dass Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen vielleicht nicht feststellbar gewesen wären, wenn man Daten aus den 1940er- oder 1950er-Jahren herangezogen hätte, ist nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich, war aber nicht die Frage, die wir stellten. Wir stellen die Frage nach den Verhältnissen in der jüngeren Vergangenheit. Festgehalten werden kann auf jeden Fall, dass die wenigsten empirischen Studien in den Sozialwissenschaften von sich behaupten können, auf einer auch nur annähernd vergleichbar umfassenden Datenbasis zu beruhen. Wie für Boldt gilt auch für Budde, dass er die Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens verletzt, wenn er für eine starke Behauptung wie die, eine Studie sei methodisch stark umstritten, nicht durch entsprechende Literaturhinweise belegt. Weil Herr Klein und ich bis dahin nichts davon wussten, dass u.a. „die Datenauswahl“ unserer Studie „stark umstritten“ sei, hat sich Herr Klein bei Herrn Budde danach erkundigt. Herr Budde war jedoch nicht im Stande, ihm entsprechende Zitationen zu nennen. Statt dessen zog er sich auf die Position zurück, dass Frau Faulstich-Wieland, Professorin für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten „Koedukation, Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem, Mädchen/Frauen und Technik/Naturwissenschaften“ (wie man ihrem Internet-Auftritt entnehmen kann) und bei mehreren Gelegenheiten Koautorin von Herrn Budde, dies behauptet habe. Auch dann, wenn dies den 17 Es ist interessant zu beobachten, wie stark sich die Sicht einiger Kollegen wie Budde mit Bezug auf das, was in „‘Bringing Boys Back in’…“ zu lesen ist, auf den Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen mit Bezug auf ihre Sekundarschulabschlüsse einerseits und den Anteilen von Männern an den Grundschullehrern in den verschiedenen Bundesländern andererseits verengt. Wenn Budde von der Kausalität „des“ postulierten Zusammenhangs spricht, unterschlägt er, dass noch ein anderer Zusammenhang geprüft (nicht nur postuliert) wurde, nämlich derjenige zwischen dem Ausmaß der beobachteten Nachteile von Jungen mit den Arbeitslosenquoten in den verschiedenen Bundesländern. Zu diesem Zusammenhang Stellung zu nehmen, verspürte Budde offensichtlich keinen Drang oder Zwang, vermutlich, weil er im Kontext seiner professionellen Ideologie symbolisch unbesetzt, also neutral, ist.
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Tatsachen entsprechen sollte, erstaunt es uns, dass Herr Budde einer Äußerung einer von quantitativen Methoden vergleichsweise unbedarften Kollegin so viel Gewicht beimisst, dass sie für ihn ein „starkes Umstritten-Sein“ begründet. (Wie Budde im e-Mail-Verkehr mit Herrn Klein selbst eingeräumt hat, hat unsere angeblich „empirisch keineswegs abgesicherte“ Studie, deren Datenauswahl angeblich „stark umstritten“ sei, eine „große positive Resonanz“ erhalten, was ihm aber anscheinend keine kognitiven Dissonanzen bereitete und ihn nicht davon abhielt zu versuchen, die in der Studie berichteten Befunde weiterhin zu (dis-)qualifizieren, indem er eine Strategie verwendet, die man im Anschluss an Moscovici (1976: Kapitel 8) als Normalisierung bezeichnen könnte. Es handelt sich um den Versuch, die von uns berichteten Forschungsergebnisse, wenn sie schon nicht erfolgreich bestritten werden können, dann doch als weniger bedeutungsvoll erscheinen zu lassen als sie es sind. Bei Budde nimmt dieser Normalisierungsversuch die Form an, unsere Forschungsergebnisse mit Behauptungen zu verbinden, die niemand aufgestellt hat, und diesen Behauptungen dann zu widersprechen. So schreibt Budde: „Zusammenfassend zeigt sich, dass sich keineswegs für alle Jungen Probleme zeigen, sondern dass sie zum großen Teil sehr erfolgreich agieren. Wir müssen also differenzieren, wo wir welche Probleme sehen. Probleme zeigen sich bei Jungen aus benachteiligten Schichten und mit Migrationshintergrund. Hier können sich riskante Lebenslagen verfestigen“ (Budde 2007: 18). Festzuhalten ist aber, dass der Nachweis deutlicher Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen bezüglich ihrer Sekundarschulabschlüsse keineswegs gleichbedeutend ist mit der Behauptung, dass sich“für alle Jungen [gemeint ist: im Bildungsbereich] Probleme zeigen“. Wenn gezeigt werden kann, dass sich nicht „für alle Jungen Probleme zeigen“, ändert dies also nichts an der Existenz der beobachteten Nachteile für Jungen, weswegen sein Kommentar mit Bezug auf sie logisch irrelevant ist. Erkennbar wird hier auch wieder der bereits angesprochene Mangel an wissenschaftlicher Grundkompetenz, denn im Rahmen einer Aggregatdatenanalyse, wie Herr Klein und ich sie vorgenommen haben, könnten so deutliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bezüglich ihrer Sekundarschulabschlüsse, wie wir sie beobachtet haben, nicht beobachtbar sein, wenn es zuträfe, dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil von Jungen Nachteile gegenüber Mädchen hätte, denen ein großer Teil gegenübersteht, bei dem sich keine „Probleme zeigen“ (was immer das auch genau heißen mag). Gerade diese Mengenverhältnisse bildet eine Aggregatdatenanalyse aber zuverlässig ab, besonders dann, wenn sie gleichzeitig eine Vollerhebung ist, worauf oben schon hingewiesen wurde, und die in Frage stehende Aggregatdatenanalyse hat nun einmal deutliche Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse ergeben.
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Es sind vor allem diejenigen Kollegen und Kolleginnen in Positionen an Institutionen, denen die Frauenforschung oder Frauenpolitik direkt aufgetragen ist, die sich dem Normalisierungsversuch mit Bezug auf unsere Forschungsergebnisse widmen. So äußerte sich die bereits erwähnte Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik des Deutschen Jugendinstitutes, Waltraud Cornelißen, gegenüber der Frankfurter Rundschau unmissverständlich dahingehend, dass die aktuell statistisch beobachtbaren Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Schulsystem der Bundesrepublik „dringend erforderlich“ seien, damit Mädchen, die heute zur Schule gehen, ihre spätere Situation auf dem Arbeitsmarkt verbessern könnten (Cornelißen 2003). Sie betrachtet unsere Befunde also nicht als Hinweise auf eine im Sinne des meritokratischen Prinzips ungerechte Verteilung von Qualifikationen zu Ungunsten von Jungen, sondern als eine Verteilung, die unabhängig davon, wie sie zustande kommen mag, nicht kritisierbar, weil begrüßenswert ist, und zwar weil sie dem „höheren“ Ziel dient, historisches Unrecht an einem über Raum und Zeit transzendiertem Geschlechtskollektiv auszugleichen. Hierfür ist sie bereit, die Verletzung von Individualrechten und des meritokratischen Prinzips18, also die Einschränkung, wenn nicht Abwesenheit, von Chancen- und Leistungsgerechtigkeit für jeden individuellen Schüler an deutschen Schulen in 18 Es sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass ich nicht der Auffassung bin, dass das meritokratische Prinzip hauptsächlich die Funktion habe, bestehende soziale Ungleichheiten zu legitimieren, wie beispielsweise der Titel des Buches von Andreas Hadjar „Meritokratie als Legitimationsprinzip“ (2008) nahelegen könnte, und ihm daher insgesamt skeptisch zu begegnen sei. Erstens ist dies so pauschal empirisch nicht zutreffend (so hat die Einführung des meritokratischen Prinzips in die Schulsysteme Bayerns und Preußens eine weitreichende Umstrukturierung der Sozialstruktur bewirkt; vergleiche. Herdegen 2009: 163-170; Jeismann 1998: 150/151), und zweitens ist mir keine Alternative zu diesem Prinzip bekannt, die nicht in Konflikt mit Individualrechten und anderen Aspekten einer freiheitlichen Zivilgesellschaft gerät. Solange keine entsprechende Alternative verfügbar ist und solange sich die Institutionen des Bildungssystems selbst auf das meritokratische Prinzip berufen, ist es m.E. von grundlegender Wichtigkeit, dass sich Bildungsforscher damit beschäftigen, zu betrachten, wo und wie das Prinzip in bzw. durch die Institutionen des Bildungssystems verletzt wird und wie man ihm zu einer konsequenten Anwendung verhelfen kann, statt den Missbrauch des Prinzips oder seine in Teilen zu beobachtende Wirkungslosigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Drittens wird in vielen Bereichen (beispielsweise im Hinblick auf Migrantenfamilien; vergleiche Diefenbach 2006) die Bedeutung der Ressourcenausstattung der Herkunftsfamilie für den Bildungserfolg überschätzt, so dass das Argument, nach dem die Chancengleichheit, die das meritokratische Prinzip voraussetzt, nicht existiere und das Prinzip deshalb als unrealistisch abzulehnen sei ebenfalls nicht pauschal zutrifft. Darüber hinaus haben verschiedene Autoren in ihren Untersuchungen gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsniveau, vermittelt durch Institutionen des Bildungssystems, häufig nicht auf tatsächlichen Schüler-Leistungen basiert, sondern auf leistungsfremden Faktoren, die in die Beurteilung von Leistungen und Leistungschancen von Schülern einfließen und zur Grundlage für weitere Entscheidungen hinsichtlich des Bildungsweges der Schüler gemacht werden (Becker 2000; Berg et al. 2006; Geißler 2005; Gomolla und Radtke 2000; Kottmann 2006).
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Kauf zu nehmen. Der Normalisierungs- und Legitimierungsversuch besteht hier darin, dass unser Befund in einen Kontext gestellt wird, innerhalb dessen die Nachteile von Jungen als notwendiges Opfer für die einfach aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit vorausgesetzten Kollektivinteressen von Mädchen und Frauen erscheinen. Andere Autoren würden am liebsten die gesamte Forschung über differentiellen Bildungserfolg mit einem Bann belegen, jedenfalls dann, wenn sie den Vergleich zwischen Jungen und Mädchen involviert, weil darin eine Dramatisierung von Unterschieden zwischen Männern und Frauen beziehungsweise Jungen und Mädchen gesehen wird und jede „Dramatisierung zugleich eine Form der Festschreibung von Geschlecht beinhaltet – theoretisch gesprochen die Gefahr der Reifizierung von Weiblichkeit [aber anscheinend nicht von Männlichkeit] als Natürlichem und nicht als sozial Konstruiertem besteht. Entdramatisierungen erlauben die Bezugnahme auf weitere soziale Differenzierungen wie Klasse, Ethnie, Region usw.“ (Expertengruppe des Forum Bildung 2002: 73). Eine Reifizierung soll also dadurch relativiert werden, dass man ihr weitere Reifizierungen beigesellt oder sie durch andere Reifizierungen ersetzt: Wenn man den Bezug auf bestimmte Kategorien wie zum Beispiel die Kategorie „Geschlecht“ unterlässt und sich statt dessen auf andere Kategorien bezieht, dann kann man logischerweise keine auffällig schiefen Verteilungen mit Bezug auf die tabuisierte Kategorie feststellen, und somit die Welt vor einer unangenehmen Nachricht bewahren der Vogel-Strauß-Politik folgend, nach der das, was man nicht sehen möchte, auch nicht existiert, weshalb man es vorzieht, woanders hinzuschauen. Abgesehen vom zweifelhaften logischen Status der Argumentation der „Expertengruppe“ stellt sich die Frage, wer mit welcher Kompetenz oder Legitimation entscheidet, wann ein Sachverhalt dramatisiert wird und wann nicht (ganz zu schweigen von dem Problem, die ontologischen Frage danach zu beantworten, welche Kategorien menschlichen Denkens und menschlicher Sprache als Reifikationen betrachtet werden müssen und welche nicht beziehungsweise ob es überhaupt welche gibt, die nicht als Reifikationen gelten müssen). Es ist daher wichtig, dass man ein Kriterium nennt, vor dessen Hintergrund ein Befund einzuschätzen ist. Für uns lieferte das Bekenntnis der Institutionen des Bildungssystems zum meritokratischen
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Prinzip dieses Kriterium.19 Und weiter fragt man sich, warum man soziale Missstände ggf. entdramatisieren wollen sollte, noch dazu auf zynische Weise, indem man darauf hinweist, dass es schließlich auch noch andere soziale Missstände wie die ungleiche Verteilung von Bildungszertifikaten auf verschiedene soziale Schichten gebe. Wer, wenn nicht die Bildungsforschung, übernimmt die Aufgabe zu prüfen, inwieweit das meritokratische Prinzip, das sich das Bildungssystem selbst als Maßstab gesetzt hat und das in jedem Schulgesetz formuliert ist, tatsächlich verwirklicht ist? Kommt in einer Zivilgesellschaft den Sozialwissenschaften nicht auch eine Art Kontrollfunktion im Rahmen des derzeit bei Bildungspolitikern so beliebten Monitoring und im Sinne der Identifizierung einer „best practice“ zu? Und auch denjenigen Bildungsforschern, die sich dieser „watch dog“-Funktion entziehen und „reine Wissenschaft“ betreiben möchten, muss es möglich sein, all diejenigen Zusammenhänge zu untersuchen, deren Untersuchung ihnen Aufschlüsse verspricht, seien sie nun politisch korrekt oder unkorrekt, weil sonst keine (neuen) Erkenntnisse möglich sind. In Anlehnung an Dahrendorf kann man festhalten, dass Wissenschaft jegliche Daseinsberechtigung verliert, wenn sie als reine Magd der Wirtschaft oder der Politik oder einer umfassenden bürokratischen Ideologie, wie sie derzeit der Staatsfeminismus darstellt, dient und damit gegen die Interessen des Steuerzahlers agiert, der die institutionalisierte Wissenschaft finanziert. In einer weiteren Variante der Reaktionen auf „‘Bringing Boys Back in’ ...“ wurde die Publikation zwar zustimmend rezipiert und bereitwillig zitiert, aber aus Gründen und in einer Art und Weise, die sich nicht mit den Hoffnungen decken, die Michael Klein und ich mit der Publikation verbanden. Die entsprechenden Reaktionen zeigten solche Sozialpädagogen, die ein Interesse daran haben, die Jungenarbeit zu etablieren und ihr ein ähnliches Gewicht zu verschaffen wie der Mädchenarbeit. Dieser Personenkreis kann nach unserer Wahrnehmung in zwei Gruppen unterteilt werden: Für die eine Gruppe geht es in der Jungenarbeit darum, Jungen von den Zwängen und Beschränkungen zu befreien, die ihnen die „patriarchalische“ Gesellschaft auferlegt. Schon Jungen im Kindergarten- und Grundschulalter sollen – so kann man beispielsweise 19 Nach unserer Kenntnis hat unter denjenigen Kollegen, die versucht haben, unsere Befunde zu diskreditieren, allein Frau Cornelißen das für sie relevante Kriterium für ihre von der unsrigen abweichende Bewertung unseres Befundes angegeben, nämlich dasjenige der historischen Nachteile von Mädchen, für die die aktuellen Nachteile von Jungen so etwas wie eine „Wiedergutmachung“ darstellen. Man mag dieses Kriterium – wie wir – für der Sache völlig unangemessen halten bzw. es geradezu als Bestӓtigung der Vermutung betrachten, dass das meritokratische Prinzip an Schulen in Deutschland nicht nur verletzt wird, sondern seine Verletzung auch aus ideologischen Gründen gebilligt wird, aber immerhin ist es eines, vor dem die Einschätzung von Frau Cornelißen nachvollziehbar wird.
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einer Broschüre des Kompetenzzentrum geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe Sachsen-Anhalt e.V. über Jungenarbeit in Sachsen-Anhalt entnehmen – durch eine antisexistische Jungenarbeit für die „kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Macht- und Gewaltverhältnissen, auch im Sinne der Patriarchatskritik, ...“ sensibilisiert werden (KgKJH 2006: 18). Die andere Gruppe möchte für Jungen als Jungen Partei ergreifen, und stützt sich dabei mehr oder weniger explizit auf längst überwunden geglaubte biologistische Thesen, die die „naturgegebene“ Unterschiedlichkeit von Jungen und Mädchen zur Erklärungsgrundlage für soziale Phänomene machen möchte.20 Auch diese Gruppe ist in der Sozialpädagogik und ihren Einrichtungen repräsentiert, teilweise sogar in denselben Einrichtungen, die eine antisexistische Jungenarbeit anbieten. So bietet das bereits erwähnte Kompetenzzentrum geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe Sachsen-Anhalt e.V. neben antisexistischer Jungenarbeit eine parteiliche Jungenarbeit an, bei der „im Gegensatz zur antisexistischen Jungenarbeit ... für die Jungen Partei ergriffen [wird]“ (KgKJH 2006: 19), woraus man folgern muss, dass die antisexistische Jungenarbeit anscheinend Partei gegen Jungen – und für Mädchen? – ergreift, was nicht unbedingt das ist, was man mit dem Begriff „Jungenarbeit“ verbindet, aber auch nicht das, was man unter „antisexistisch“ verstehen würde. Für solche, die sich weder mit antisexistischer noch mit parteilicher Jungenarbeit anfreunden können, bietet das Kompetenzzentrum eine bewusste Jungenarbeit an, die „als Antwort auf die beginnende emanzipatorische Mädchenarbeit zu verstehen“ (KgKJH 2006: 18) sein soll.21 Grundsätzlich wird in der Broschüre des Kompetenzzentrums betont: „Jungenarbeit versteht sich nicht als ‚Konkurrenz’, sondern sie sucht das solidarische Neben- und Miteinander zu Mädchenarbeit und will eine Sicherung und Erweiterung der Ressourcen in der geschlechtsbezogenen Arbeit herbeiführen“ (KgKJH 2006: 14; Hervorhebung d.d.A.). Davon abgesehen, dass es logisch nicht möglich ist, ein „Neben- und Miteinander“ zu praktizieren, sondern nur ein Nebeneinander oder ein Miteinander, ist diese Textstelle bemerkenswert, weil selten in dieser Klarheit formuliert wird, dass es in der Geschlechterpädagogik darum geht, weitere Stellen für pädagogisches Personal und eine entsprechende weitere finanzielle Aus20 Vergleiche hierzu zum Beispiel den Beitrag von Bischof-Köhler (2008) über „[g]eschlechtstypisches Verhalten von Jungen aus evolutionstheoretischer und entwicklungspsychologischer Perspektive“ im von Matzner und Tischner herausgegebenen „Handbuch JungenPädagogik“. Man beachte bei der Lektüre, wie erschreckend selten es die Autorin für notwendig hält, die vorgebrachten Thesen durch Hinweise auf Forschungsergebnisse zu stützen. 21 Dabei bleibt offen, ob die beiden vorher genannten Varianten der Jungenarbeit dann als unbewusste Jungenarbeit zu gelten haben oder beide im beschrieben Sinn als Unterkategorien von bewusster Jungenarbeit aufzufassen sind.
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stattung zu akquirieren, denn die „Sicherung und Erweiterung der Ressourcen in der geschlechtsbezogenen Arbeit ... darf nicht auf Kosten bestehender Mädchenarbeit passieren oder gar [!] finanziert werden“ (KgKJH 2006: 14). Es geht hier also offensichtlich nicht um Jungenarbeit als Reaktion auf bestimmte beobachtete Mißstände, sondern um die Sicherung der Interessen einer bestimmten Berufsgruppe in Form von Arbeitsplätzen und Fördergeldern. 22 Zumindest ein Teil der positiven Reaktionen aus den Reihen der Sozial- und besonders der Geschlechterpädagogen auf „‘Bringing Boys Back in’: ...“ ist meines Erachtens vor diesem Hintergrund zu sehen: Die Publikation ist ihnen willkommen, weil sie meinen, dass sie ihnen – wie indirekt auch immer – Argumente für die Notwendigkeit von Jungenarbeit liefere. Wir bedauern diese Entwicklungen in Sachen Jungenpädagogik beziehungsweise Jungenarbeit, weil es ihr offensichtlich nicht darum geht, Chancengleichheit für Jungen und Mädchen herzustellen, sondern darum, Jungenarbeit lediglich als (weiteres) Instrument zur Beförderung dessen zu benutzen, was von einer bestimmten Gruppe von Erwachsenen mit einer spezifischen Ideologie als Interessen von Mädchen betrachtet wird, oder eine Lobby für Jungen (als solche) zu schaffen. In beiden Fällen basiert Jungenarbeit auf unzutreffenden Beschreibungen der Welt, in der wir leben, indem entweder auf ein nicht existierendes „Patriarchat“ verwiesen wird oder eine den wissenschaftlichen Befunden unangemessen große Relevanz des biologischen (oder genetischen?) Geschlechts für das Handeln in einer sozialen Welt zugeschrieben wird (vgl. hierzu u.a. Costa et al. 2001; Fausto-Sterling 1992, Hyde et al. 1990; Hyde und Linn 1988 sowie Williams und Best 1990). Um es noch einmal klar zu stellen: Wenn in „‘Bringing Boys Back in’: ...“ eine Verteilung von Sekundarschulabschlüsse auf Jungen und Mädchen betrachtet wird, dann nicht deshalb, weil wir mit der Variable eine „Essenz“ verbinden, der die insti-
22 Mit Bezug auf das während der 1970er- und 1980er-Jahre in der Sozialpädagogik beliebte Konstrukt der „fremden Frau“, besonders der „imaginären Türkin“, haben Diehm und Radtke ähnliche Bestrebungen, „... die Bedeutung der eigenen Arbeit zu unterstreichen und einen immer unzureichenden Ressourcenbedarf zu plausibilisieren“ (Diehm und Radtke 1999: 90/91), beobachtet. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass bereits Helene Lange, eine zentrale Figur der bürgerlichen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, die später die Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins (ADLV) in Preußen wurde, mit ihrem Einsatz für die Mädchenbildung das handfeste Interesse an größeren Beschäftigungsmöglichkeiten für Lehrerinnen verband und zu diesem Zweck mit zwischen Jungen und Mӓdchen unterschiedlichen Geschlechtscharakteren argumentierte, die von einer Entwicklung durch eine gleichgeschlechtliche Lehrkraft profitieren sollten (Lange 1928, zitiert nach Jacobi 1990: 213; Kraul 1991: 282f). Die uns von Boldt unterstellte Forderung nach mehr männlichen Lehrkräften zur Förderung von Jungen wäre also nichts anderes als eine Anwendung des Argumentes der Speerspitze der bürgerlichen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert in Deutschland unter veränderten Vorzeichen.
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tutionelle Bildung gerecht werden müsste, sondern weil wir – im Gegenteil – darauf hinweisen wollen, dass im Bildungsbereich (wie in anderen Bereichen auch) der Variable „Geschlecht“ eine reale Bedeutung zukommt, und zwar – wie wir vermuten – deshalb, weil Fähigkeiten und Verhaltensweisen von Schülern (von ihnen selbst, ihren Eltern, ihren Lehrern, Schulpsychologen oder Bildungspolitikern) als geschlechtsspezifisch konstruiert und wahrgenommen werden. Diese Konstruktion steht dem meritokratischen Prinzip im Bildungsbereich entgegen beziehungsweise transformiert es in einer Weise, in der dem Prinzip seine eigentliche Grundlage, nämlich das individuelle Recht auf Behandlung und Bewertung nach einem einheitlichen Maßstab, entzogen wird. Gegen beide Varianten der Entwicklungen in Sachen Jungenpädagogik beziehungsweise Jungenarbeit ist einzuwenden, dass sie einen Aktivismus darstellen, bei dem man tätig werden will, ohne das in Frage stehende Phänomen überhaupt hinreichend durchdrungen zu haben. So ist es schwerlich möglich, Einfluss auf bestimmte Ergebnisvariablen zu nehmen, wenn man nicht weiß, welche Größen auf welche Weise auf diese Ergebnisvariable wirken, oder anders gesagt:. Im Bildungsbereich wie in anderen Bereichen auch werden Zielvorstellungen aus ideologischen Überzeugungen heraus formuliert, aber die Mittel, durch die diese Zielvorstellungen erreicht werden sollen, können nicht auf ideologische Überzeugungen gegründet werden, wenn sie in der Realität wirksam sein sollen. Vielmehr müssen Interventionen müssen auf zuverlässiger, replizierbarer und systematischer Forschung statt auf Ideologien und persönlichen Überzeugungen beruhen, wenn sie eine Chance haben sollen, tatsächlich in die gewünschte Richtung zu wirken. Das Bewusstsein hierfür scheint jedoch im Rahmen der professionellen Ideologie vieler Sozialpädagogen nur sehr mangelhaft entwickelt worden zu sein.
4 Der derzeitige Stand der Diskussion und der Forschung zum Thema Die Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im deutschen Schulsystem, die in „‘Bringing Boys Back in’: ...“ identifiziert wurden, aber auch solche, die im Anschluss an unsere Studie in anderen Bereichen der schulischen Bildung als den Sekundarschulabschlüsse beobachtet wurden, sind inzwischen als empirische Tatsache akzeptiert. Insbesondere diejenigen Kollegen, die institutionell vom Staatsfeminismus vergleichsweise unabhängig sind, also viele Kollegen aus der universitären soziologischen Ungleichheits- oder Bildungsforschung, widmen sich ihnen zunehmend, wie der vorliegende Band illustriert. Institutionell eher abhängige oder ideologisch stärker an den Staatsfeminismus gebundene Kollegen haben es weitgehend aufgegeben, die Existenz der Nachteile
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von Jungen gegenüber Mädchen im deutschen Schulsystem zu ignorieren oder zu bestreiten, und widmen sich nunmehr – zwar immer noch zurückhaltend, manchmal auch noch in relativierender Absicht, aber doch in Einsicht der Unumgänglichkeit empirischer Fakten – ihrer Beschreibung und in Ansätzen sogar ihrer Erklärung (siehe beispielsweise Hannover 2004 oder Stanat und Bergann 2009 mit Bezug auf die PISA-Studie). Was die Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Schulsystem betrifft, so ist die Situation aber nach wie vor sehr unbefriedigend, weil die Forschung sich nicht systematisch auf die Prüfung bestimmter Erklärungen für spezifische Nachteile bezieht beziehungsweise häufig das zu erklärende Phänomen in der Form, in der es sich darstellt, aus den Augen verliert. Häufig bezieht sich die Forschung nur lose auf das weite Thema „Geschlecht und Bildung“, ohne zu spezifizieren, welche Zusammenhangshypothesen genau geprüft werden und wie diese Hypothesen bestimmte beobachtete Nachteile erklären könnten. Zum Beispiel bleibt eine Forschung darüber, wie „doing gender“ in der Schule stattfindet (wie sie unter anderen Budde betreibt; vgl. Budde 2005), irrelevant für die Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen, wenn nicht gezeigt werden kann, wie genau dieses „doing gender“ bestimmte schulische Nachteile für Jungen produziert. So ist es möglich, dass das „doing gender“ bei Jungen eine ablehnende Haltung zur Schule und zum Lernen produziert, aber dies müsste anhand empirischer Daten, die sich möglichst nicht in einzelnen Fallgeschichten erschöpfen, gezeigt werden. Auch dann, wenn dies gezeigt werden könnte, könnte dieser Befunde nicht umstandslos als „Erklärung“ für die schulischen Nachteile von Jungen interpretiert werden, solange nicht auch – möglichst anhand desselben Samples – gezeigt werden kann, dass diese ablehnende Haltung tatsächlich in schlechteren Schulleistungen resultiert. Wenn auch dies geleistet würde, könnte man sagen, dass Jungen aufgrund der spezifischen Inhalte ihres „doing gender“ schlechtere Schulleistungen erbringen. Aber dies ließe immer noch offen, ob sich dieser Zusammenhang aufgrund eines lernrelevanten Verhaltens auf Seiten der Jungen ergibt oder aufgrund einer bestimmten Interpretation des „doing gender“ auf Seiten der Lehrkräfte, die zu einer schlechteren Bewertung der Leistungen von Jungen führt. Der Mechanismus beziehungsweise die Mechanismen, durch den beziehungsweise durch die ein Zusammenhang zwischen „doing gender“ und schlechteren Schulleistungen ggf. zustande käme, müsste/n also im Detail und unter Verwendung eines zur Prüfung der einzelnen, aufeinander aufbauenden Zusammenhangshypothesen geeigneten Untersuchungsdesigns getestet werden. Nehmen wir weiter an, dies sei ebenfalls geleistet worden und es ließe sich zeigen, dass das „doing gender“ bei Jungen zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der Schule führt, die wiederum zu einem Verhalten auf Seiten der Jungen führt, das ihr Lernverhalten
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beeinträchtigt, das sich wiederum negativ auf die Schulleistungen der Jungen auswirkt. Dann könnte man sagen, dass Jungen aufgrund des „doing gender“ Nachteile gegenüber Mädchen mit Bezug auf ihre Schulleistungen haben. Hieraus ließe sich aber nicht schließen, dass das „doing gender“ vermittelt über die schlechteren Schulleistungen auch (vollständig oder überhaupt) die Nachteile erklärt, die Jungen gegenüber Mädchen bezüglich ihrer Sekundarschulabschlüsse haben, denn die erworbenen Sekundarabschlüsse sind ein Ergebnis eines Filterprozesses, durch den Kinder im Verlauf ihrer Schulkarriere gehen und an dessen verschiedenen Selektionsstufen, zum Beispiel bei der Grundschulempfehlung, „Leistung“ unterschiedlich interpretiert und mit anderen Faktoren gewichtet wird (Becker 2000; Berg et al. 2005; Lehmann und Peek 1997; Terhart 2001). Verletzungen des meritokratischen Prinzips im Bereich schulischer Bildung sind daher an verschiedenen Stufen im Selektionsprozess und durch verschiedene Wirkmechanismen möglich. Wenn man die Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im schulischen Bereich unter Gesichtspunkten der Verteilungsgerechtigkeit gemäß des meritokratischen Prinzips betrachten möchte und nicht deshalb, um Argumente im ideologischen Kampf um Ressourcen zu gewinnen, genügt es also nicht, die Forschung auf einen einzigen Zusammenhang, zum Beispiel zwischen „doing gender“ und Schulleistungen zu beschränken und aus den jeweiligen Befunden auf die Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im schulischen Bereich (fehl) zu schließen. Grundlegend wichtig ist auch, dass man sich klar macht, dass die Erklärung von differentiellem Schulerfolg, also eines Befundes, bei dem eine Personengruppe größeren oder geringeren Schulerfolg hat als eine andere, unabdingbar den Einschluss beider Gruppen in alle empirischen Analysen erfordert, denn differentieller Schulerfolg ist per definitionem eine relationale Größe. Die Erklärung einer Relation mit Bezug auf Schulerfolg kann nicht daraus gewonnen werden, dass man die Determinanten des Schulerfolges von einer der beiden Gruppen feststellt, aber unbeachtet lässt, wie der Schulerfolg der anderen Gruppe zustande kommt. Aus diesem Grund kann eine Untersuchung zum Beispiel des „doing gender“, die sich nur auf das „doing gender“ von Jungen bezieht, schulische Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen nicht erklären: aus einer solchen Studie erfährt man nicht, welche Effekte das „doing gender“ von Mädchen auf ihr Lernverhalten oder ihre Schulleistungen hat. Wenn „doing gender“ als erklärende Größe für den differentiellen Schulerfolg von Mädchen und Jungen in Frage kommen soll, setzt dies aber voraus, dass das "doing gender" von Jungen und Mädchen differentielle Effekte auf Lernverhalten und Schulleistungen hat. Diese lassen sich, sofern vorhanden, nur
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auffinden, wenn man Jungen und Mädchen gleichermaßen in eine entsprechende Untersuchung mit einbezieht. Die Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse erfordert also eine systematische Erforschung des Zusammenhangs einer Reihe verschiedener, einander ergänzender oder miteinander konkurrierender Wirkmechanismen. Eine angemessene Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse in Deutschland muss aber auch die spezifische Verteilung der beobachteten Nachteile auf die verschiedenen Bundesländer Deutschlands in Rechnung stellen, und daher muss jeder Erklärungsvorschlag darauf hin geprüft werden, ob er theoretisch dazu geeignet ist, diese Verteilung zu erklären, bevor er einer empirischen Prüfung unterzogen wird, denn wenn er dies nicht ist, dann ist der sich ergebende Befund einer empirischen Prüfung möglicherweise ein interessantes Ergebnis in eigenem Recht, aber für die Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse so, wie sie sich in der Bundesrepublik Deutschland derzeit beziehungsweise in der jüngeren Vergangenheit darstellen beziehungsweise dargestellt haben, irrelevant. Erklärungsvorschläge, die allein auf Wirkmechanismen auf der individuellen Ebene rekurrieren, haben schlechte Chancen, diese theoretische Vorab-Prüfung zu bestehen, denn es ist sehr schwierig, die Variation der schulischen Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen über die verschiedenen Bundesländer durch eine Erklärung zum Beispiel aufgrund biologischer Unterschiede oder aufgrund eines in der westlichen Welt kulturell tradierten Bildes von Männlichkeit zu plausibilisieren. Es scheint daher besonders wichtig, bei der Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse Wirkmechanismen auf der institutionellen Ebene mit einzubeziehen, und dies ist der Hintergrund, vor dem unsere Vorgehensweise in „‘Bringing Boys Back in’: ...“ zu sehen ist. Bislang ist aber hierüber hinausgehend nichts geleistet worden, so dass festgehalten werden muss, dass auch acht Jahre nach Erscheinen von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ keine nennenswerten Fortschritte im Hinblick auf die Erklärung der dort beschriebenen Nachteile gemacht worden sind. 23 23 Die Ausnahme hiervon stellt der Erklärungsvorschlag dar, den Hannover mit Bezug auf die in „‘Bringing Boys Back in’...“ festgestellte ungleiche Verteilung der Nachteile von Jungen zwischen west- und ostdeutschen Bundesländern gemacht hat. Sie argumentiert wie folgt: „Möglicherweise wird der pädagogische Alltag in den Schulen der neuen Bundesländer noch durch während der DDR-Zeit propagierte Erziehungsziele beeinflusst, so dass positive Arbeitstugenden (die Mädchen häufiger mitbringen) besonders gewertschätzt bzw. normabweichende Verhaltensweisen (die Jungen häufiger zeigen) besonders stark sanktioniert werden“ (Hannover 2004: 88). Hannover ist meines Wissens die einzige, die bei ihren Überlegungen zu den Nachteilen von Jungen gegenüber
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Inwieweit die Beiträge im vorliegenden Band dazu geeignet sind, dieser Situation Abhilfe zu schaffen, bleibt der Beurteilung durch die Leser des vorliegenden Bandes vorbehalten.
5 Zusammenfassung und Schlussbemerkung Die Zusammenstellung der oben berichteten Reaktionen auf die Publikation von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ sollte gezeigt haben, wie stark die Rezeption und Diskussion der dort berichteten Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse zumindest anfänglich von Personen besetzt war, denen es nicht um das Phänomen als solches (soziale Ungleichheit im Bildungsbereich) oder um das Phänomen als Ausdruck gesellschaftlicher Missstände (Verletzung des meritokratischen Prinzips) ging und geht, sondern um die Legitimierung einer spezifischen politischen oder professionellen Ideologie. In den acht Jahren, die seit der Veröffentlichung von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ vergangen sind, wurden die Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen (auch) im deutschen Bildungssystem – gegen den nunmehr eher passiven Widerstand einiger Kollegen – als Faktum anerkannt, und die Erkenntnis, dass diese Nachteile als gesellschaftliche Tatsache der Aufmerksamkeit und Erforschung bedürfen, hat sich weitgehend durchgesetzt. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass nunmehr auch andere Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im deutschen Schulsystem als diejenigen, die sich auf die Sekundarschulabschlüsse beziehen, betrachtet und berichtet werden. Eine Bestandsaufnahme der im Schulsystem existierenden Nachteile von Jungen erfolgt also inzwischen, wenn auch unsystematisch. Was die Erklärungen für die verschiedenen beobachteten Nachteile betrifft, so wurden bislang so gut wie keine Fortschritte gemacht, und zwar vor allem deshalb, weil persönlich interessierende Forschungsfragen im Bereich von „Geschlecht und Bildung“ assoziativ mit den beobachteten Nachteilen von Jungen gegenüber Mädchen im Schulsystem verbunden werden, aber ohne expliziten und ausformulierten Erklärungsanspruch spezifischer Nachteile bleiben. Es liegen daher derzeit nur solche Befunde vor, die möglicherweise Bestandteile einer Erklärung für die schulischen Nachteile von Jungen sind und sich in Zukunft vielleicht als solche erweisen, sofern eine entsprechende zielgerichtete Forschung erfolgen sollte. Solange knappe Ressourcen an Einrichtungen oder Lehrstühle gebunden bleiben, die aufgrund ihrer Position im Mädchen im Schulsystem explizit auf die spezifische Verteilung der in „‘Bringing Boys Back in’...“ berichteten Nachteile eingeht.
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Institutionengefüge oder aufgrund ihres offiziellen Auftrages der dominanten Ideologie verpflichtet sind und von denen daher nur wenig oder gar keine für die Realität relevante Forschung zu erwarten ist, sind die Chancen, dass eine solche zielgerichtete Forschung stattfindet, bedauerlicherweise eher gering, denn die dort gebundenen Ressourcen fehlen eben an anderen Stellen, an denen sie sinnvoll verwendet werden könnten. Sowohl die anfängliche Rezeption von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ als auch die Entwicklung der Diskussion und Forschung zu den Nachteilen von Jungen im deutschen Schulsystem in neuerer Zeit verweist auf die Relevanz grundlegender Fragen nach den Funktionen der Sozialwissenschaften im Kanon der Wissenschaften, aber auch in anderen gesellschaftspolitisch relevanten Institutionen der Gesellschaft. Mit diesen Fragen verbunden ist die Frage nach der eigenen professionellen Identität und derjenigen von Kollegen aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen oder in unterschiedlichen Berufsfeldern, die jeweils ihre eigenen Zwänge und Gelegenheiten mit sich bringen. Wie die Rezeptionsgeschichte von „‘Bringing Boys Back in’: ...“ zeigt, wird die Verständigung unter Kollegen aus verschiedenen Disziplinen und verschiedenen Berufsfeldern dadurch erschwert, dass man sich der Relevanz der damit verbundenen Unterschiede hinsichtlich der professionellen Ideologien sowie hinsichtlich der Inhalte und Methodologien, mit denen die eigene Tätigkeit und die der Kollegen verbunden sind, nicht hinreichend bewusst ist beziehungsweise sie nicht hinreichend akzeptiert (und aus dieser Kritik nehme ich mich selbst keineswegs aus). 24 Der Pluralismus der professionellen Ideologien und der – zumindest im akademischen Alltag – meist unproblematische Pluralismus der Methodologien in den Sozialwissenschaften werden zu umso größeren Problemen, je stärker interdisziplinär ein Forschungsgegenstand ausgerichtet ist, und je mehr Kooperation zwischen Kollegen in verschiedenen beruflichen Positionen beziehungsweise mit verschiedener institutioneller Anbindung notwendig ist. Da sich abzeichnet, dass For24 In „‘Bringing Boys Back in’: ...“ haben Michael Klein und ich eine Methodologie verwendet, die in der Soziologie weit verbreitet ist und in vieler Hinsicht keiner detaillierten Erläuterung bedarf, wenn die Adressaten der Arbeit Sozialwissenschaftler sind, die im Rahmen der Methodologie der Hypothesen testenden quantitativen Sozialforschung arbeiten. Zwar hatten wir uns bemüht, beim Verfassen des Aufsatzes in Rechnung zu stellen, dass viele, wenn nicht die meisten der Leser der Zeitschrift für Pädagogik keine Soziologen sein und wahrscheinlich auch nicht in der verwendeten Methodologie bewandert sein würden, aber offensichtlich haben wir die Verbindlichkeit oder die Eingängigkeit der Methodologie, nach der wir arbeiten, dennoch überschätzt. Überschätzt haben wir auch die Urteilsfähigkeit einiger unserer Leser mit Bezug auf ihre eigenen Kenntnisse der verwendeten Methodologie; anders können wir uns so unangemessene Kommentare zu unserem Text wie diejenigen von Boldt oder Budde nicht erklären.
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schung in Zukunft immer häufiger unter diesen Bedingungen stattfinden wird, ist es wichtig, die Diskussion darüber aufzunehmen, wie wir mit diesem Pluralismus umgehen können und wollen, wenn er nicht destruktiv, sondern konstruktiv wirken soll. Ich würde mir daher wünschen, dass Michael Klein und ich mit „‘Bringing Boys Back in’: ...“ und den dort beschriebenen Nachteilen von Jungen gegenüber Mädchen bezüglich ihrer Sekundarschulabschlüsse nicht nur einen neuen Aspekt in die Debatte über die (Gerechtigkeit der) Verteilung von Bildungschancen im deutschen Schulsystem eingeführt haben und dass die Forschung hierüber in absehbarer Zeit systematisch erfolgen und vergleichbare beziehungsweise aufeinander aufbauende Ergebnisse produzieren möge, sondern auch, dass diese Debatte möglichst vielen Kollegen Anlass sein wird, die eigene professionelle Ideologie wie diejenige ihrer Kollegen kritisch zu reflektieren, beide in Rechnung zu stellen, bevor sie sich ӓußern, und mӧglichst auch diese professionellen Ideologien selbst zur Debatte zu stellen.
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Geschlecht und Bildungserfolg – Eine Analyse aus der Perspektive der Feminist Theory1 Becky Francis und Christine Skelton
1 Einleitung Die Beziehung zwischen Geschlecht und Bildungserfolg bildet eine kontroverse Thematik. Während die second wave feminists (frühe 1960er Jahre bis späte 1970er Jahre) den Bildungsmisserfolg von Mädchen fokussierten, hat sich in den letzten Jahren eine internationale Sorge hinsichtlich des scheinbaren Bildungsmisserfolgs von Jungen herausgebildet. Diese Entwicklung geht soweit, dass viele Kommentatoren das Engagement in Medien und Politik zu diesem Thema inzwischen als moral panic bezeichnen. Die Debatte um den Bildungsmisserfolg der Jungen hat sich in Großbritannien und Australien fest etablieren können und entwickelt sich auch in vielen anderen OECD-Nationen (Hayes und Lingard 2003; Francis und Skelton 2005; Jha und Kelleher 2006). Die Thematik ist auch zu einer Angelegenheit der Bildungspolitik geworden, was sich in einem beispiellosen Verbrauch an Energie, Ressourcen sowie Zielen und Empfehlungen an Schulen, das gender gap zu schließen, manifestiert. Aus feministischer Perspektive werden derweil Bedenken laut, dass solche Maßnahmen a) fehlgeleitet sind und b) die andauernden Bedürfnisse der Mädchen marginalisieren. Dieser Beitrag zielt auf eine Analyse von Befunden zu Geschlecht und Bildungserfolg. Wir wollen einige Annahmen und Erklärungen zum Bildungsmisserfolg der Jungen herausgreifen, um zu einer ausgewogeneren Darstellung des Forschungsfeldes zu gelangen. In Großbritannien hat sich eine Sorge um ein offensichtliches Leistungsdefizit der Jungen im Bildungssystem im Zuge der Einführung von so genannten school league tables (Schulranking entsprechend der Leistungen der Schülerinnen und Schüler) im Jahr 1992 herausgebildet. Archiviert wurden dabei die Leistungen der ca. 16jährigen Schülerinnen und Schüler in den GCSE exams (General Certificate of Secondary Education) am Ende der obligatorischen
1
Eine Version des Beitrags in englischer Sprache ist 2010 in dem Sammelband von Kris Van den Branden, Piet Van Avermaet und Mieke Van Houtte „Equity and Excellence in Education. Towards Maximal Learning Opportunities for All Students” bei Routledge (London) erschienen. Übersetzung: Andreas Hadjar.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Schulzeit in Großbritannien, wobei eine Unterscheidung von Jungen und Mädchen möglich ist. In den Statistiken wurde ersichtlich, dass Mädchen daran waren, die Jungen in Mathematik und Naturwissenschaften einzuholen, dann Mitte der 1990er Jahre auch das gleiche Niveau erreichten und zudem in vielen anderen Fächern sogar eine bessere Performanz zeigten als die Jungen. Diese Befunde verursachten ein Aufsehen in den nationalen britischen Medien. Journalisten spekulierten im großen Rahmen über das Ausmaß des gender gaps und Erklärungen für diese plötzliche Umkehrung der Geschlechterunterschiede (Epstein et al. 1998; Delamont 1999). Tatsächlich hatten die Mädchen die Jungen in einer Mehrzahl der Schulfächer bereits vor der Einführung des nationalen Lehrplans in Großbritannien 1988 überholt, aber solange dies nur wenig prestigeträchtige Schulfächer betraf blieb diese Entwicklung unbemerkt (Arnot et al. 1999). Die Einführung des obligatorischen Lehrplans zwang Mädchen dazu, erstmals naturwissenschaftliche Fächer bis zum GCSE level zu verfolgen, was mit einer schnellen Verbesserung ihrer naturwissenschaftlichen Schulleistungen einherging. Die Jungen verbesserten sich hingegen nicht gleichermaßen in den Sprachfächern. Die Größe des Geschlechterunterschieds wurde im wissenschaftlichen Diskurs breit debattiert, ebenso die Validität der unterschiedlichen Interpretationen der verschiedenen Statistiken (Gorard et al. 1999; Connolly 2006; 2008). Des Weiteren wurde der Fokus auf das Geschlecht als diskrete, eigenständige Variable kritisiert. Entsprechend richtete sich das Augenmerk einiger Forscherinnen und Forscher auf den (stärkeren) Einfluss anderer sozialer Variablen auf den Bildungserfolg (vgl. z.B. Epstein et al. 1998; Arnot et al. 1999; Gillborn und Mirza 2000; Francis und Skelton 2005; Archer und Francis 2007). Wie die OECD PISA Studien zeigen, gibt es signifikante Unterschiede in bestimmten Gebieten des Lehrplans. In England und Australien – und zunehmend auch in anderen Ländern – haben Entscheidungsträger und Personen der Praxis Ziele, Ressourcen und Strategien für das Klassenzimmer ausgearbeitet, um den Bildungserfolg der Jungen zu steigern. Diese Maßnahmen haben zwar eine direkte Wirkung auf die Schulen, aber nicht in der beabsichtigten Weise (vgl. Skelton et al. 2009). In Rahmen dieses Beitrags betrachten wir einige geschlechtsspezifische – aber auch von anderen sozialen Faktoren abhängende – Muster in ihrer Beziehung zum Bildungserfolg. Wir fokussieren das englische Bildungssystem auf Basis englischer Befunde und breiterer PISA-Ergebnisse der OECD. Im Anschluss an einen Blick auf quantitative Befunde, werden wir unterschiedliche Erklärungen des offensichtlichen gender gaps im Bildungserfolg untersuchen, die unterschiedliche Herangehensweisen in Politik und Praxis untermauern. Wir werden zeigen, wie viele der common sense Erklärungen, aus denen Maßnah-
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men abgeleitet wurden, auf empirisch nicht bewiesenen stereotypen und oft frauenfeindlichen Annahmen beruhen.
2 Bildungserfolg in der obligatorischen Schule in England Im Folgenden werden wir Daten aus dem obligatorischen Schulsektor betrachten und einige Muster im Hinblick auf Geschlecht und Bildungserfolg identifizieren.2 Die diskutierten Daten entstammen dem kürzlich in Department for Children, Schools and Families (DCSF) umbenannten Department for Education and Skills (DfES), dem Universities & Colleges Admissions Service (UCAS), der Higher Education Statistics Agency (HESA) und der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD). Informationen auf der Webseite des Department for Children, Schools and Families (DCSF) unterstützen tendenziell die Sichtweise, dass Jungen über die verschiedenen Bereiche des Lehrplans hinweg, einen geringeren Bildungserfolg erzielen als Mädchen (vgl. Analysen von Skelton et al. 2007). Tatsächlich gibt es jedoch keinen signifikanten Geschlechterunterschied im Hinblick auf zwei der drei im nationalen englischen Lehrplan verankerten Schlüsselfächer (Mathematik, Naturwissenschaften, Lesen/Englisch). In den Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler nicht statistisch bedeutsam. Über die verschiedenen Stadien der obligatorischen Bildung hinweg zeigen Mädchen und Jungen in England recht vergleichbare Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften. Im Leistungskurs Mathematik (higher level maths) ist sogar weiterhin eine Tendenz dahingehend auszumachen, dass sich die Jungengruppe durch eine bessere Performanz von den Mädchen abhebt. In Tabelle 1 sind Resulte des Keys Stage 2 exams (KS2) am Ende der Grundschule (ca. 10./11. Lebensjahr) dargestellt. Es zeigt sich in Tabelle 1, dass Jungen und Mädchen annähernd gleiche Leistungen auf Niveau 4 (Key Stage 2) sowohl in Mathematik als auch in Naturwissenschaften aufweisen. Auf dem Niveau 5 besteht sogar eine Tendenz, dass Jungen bessere Leistungen in Mathematik haben als Mädchen. Der größte Geschlechterunterschied besteht jedoch in Englisch, insbesondere auf dem Niveau 5: Hier haben Mädchen die Jungen im Bildungserfolg überholt. 2
In diesem Beitrag werden Daten des Department for Children, Schools and Families verwendet, die auf der Standard Webseite veröffentlicht wurden. Wir sind uns bewusst, dass die hier verwendeten Statistiken, ihre Nutzung und Rezeption, auf Kritik gestoßen sind (vgl. die Debatte zwischen Gorard et al. 1999, 2006 und Connolly 2006, 2008), dennoch ist es unsere Absicht, die Informationen in der Form zu untersuchen, die durch die entsprechenden Regierungsorganisationen Lehrenden und Eltern zur Verfügung gestellt wird.
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Tabelle 1: Key Stage 2 Ergebnisse für England, 2007 KS2 National Curriculum test Fach
Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler auf Niveau 4 und höher Englisch
Jungen 76 Mädchen 85 Datenquelle: DCSF
Mathematik 78 76
Naturwissenschaften 87 88
Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler auf Niveau 5 und höher Englisch
Mathematik
28 39
35 30
Naturwissenschaften 46 46
Dieser Trend setzt sich im späteren Bildungsverlauf fort, wie GCSE Prüfungsergebnisse am Ende der obligatorischen Schulzeit in England (um das 16. Lebensjahr) zeigen. In Tabelle 2 sind die Anteile der Schülerinnen und Schüler dargestellt, welche die wichtigen Noten zwischen C und A* in den betrachteten Schlüsselfächern erhalten haben. Tabelle 2: Anteile der Schülerinnen und Schüler mit den Noten A*-C in den Schlüsselfächern, 2006/7 GCSE Prüfungen Fach Jungen Mädchen Datenquelle: DCSF
Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler mit den Noten A* bis C Englisch Mathematik Naturwissenschaften 53 53 50 68 56 52
Tabelle 2 bestätigt den Trend weitgehend. Analysen, in denen die Zahlen weiter aufgeschlüsselt wurden, legen wiederum nahe, dass Jungen häufiger in spezialisierten naturwissenschaftlichen Fächern Aufnahme finden und bessere Noten in Mathematik erwerben (S & E Indicators 2006). Andererseits ist wiederum der starke Geschlechterunterschied in Englisch sichtbar. Diese Muster sind auch im weiteren OECD-Zusammenhang zu beobachten. OECD-Daten liefern Informationen über die Performanz von Schülerinnen und Schülern in verschiedensten Ländern. PISA bietet einen international standardisierten Leistungstest für Kompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften, der bei 15jährigen in Schulen der beteiligten Länder angewendet wird. Die Studie findet alle drei Jahre statt. Die PISA-Studie 2003 zum Bildungserfolg in Mathematik, Naturwissenschaften und der jeweils nationalen Sprache in OECD- und Partnerländern verweist auf einen Trend hin zu mehr Geschlechtergleichheit in der
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Performanz in Mathematik und Naturwissenschaften, allerdings zeigten sich auch signifikante Geschlechterunterschiede zu Gunsten der Jungen in Naturwissenschaften (OECD 2004). In den Ergebnissen der PISA-Studie 2006 deutet sich ein ähnlicher Trend zur Angleichung zwischen den Leistungen von Schülerinnen und Schülern in Mathematik und Naturwissenschaften an. Andererseits zeigte sich ein größeres gender gap in Mathematik zu Gunsten der Jungen (OECD 2007). Hinsichtlich der durchschnittlichen Kompetenzen in Naturwissenschaften zeigten sich bei den 15 Jährigen in der Mehrzahl der Länder, in 22 von 30 OECD Ländern, keine Geschlechterunterschiede. Und selbst in den Ländern, wo statistisch bedeutsame Unterschiede zu Gunsten oder Ungunsten von Jungen zu finden waren, erwiesen sich diese als sehr klein. Allerdings erscheinen geschlechtsspezifische Tendenzen in der Wahrnehmung von Naturwissenschaften und der Fähigkeiten in den naturwissenschaftlichen Fächern als relativ stabil, was einen Teil der geschlechtsspezifischen Fächerwahl erklären dürfte: Jungen zeigten substantiell bessere Leistungen, wenn sie mit Fragen zu physischen Systemen konfrontiert wurden; und die britischen Jungen hatten eine signifikant positivere Einstellung gegenüber Naturwissenschaften als Mädchen. Das größte gender gap im Selbstbild betrifft die Naturwissenschaften – die Jungen schätzten ihre Fähigkeiten in den Naturwissenschaften weit höher ein als die Mädchen. Diese Befunde gehen mit einigen grundlegenden Befunden aus der Perspektive der feministischen Perspektive konform, dass Jungen ein größeres Vertrauen in ihre akademischen Fähigkeiten artikulieren als Mädchen. Gleichermaßen sind Jungen in Mathematik besser als Mädchen: in 35 von 57 Ländern zeigten Jungen die signifikant besseren Werte in den PISA-Tests, u.a. in Großbritannien. Nur in einem Land hatten Mädchen bessere Mathematik-Leistungen, in Quatar. Beide PISA-Studien konnten ein signifikantes gender gap in den Leistungen im jeweils nationalen Sprachfach in allen europäischen Ländern identifizieren. Auch wenn der Geschlechterunterschied im Falle Englands gleichermaßen substantiell ist, ist er doch relativ klein im Vergleich zu vielen anderen Nationen. Wir haben an anderer Stelle bereits argumentiert, dass die Größe des Geschlechterunterschieds im jeweiligen nationalen Sprachfach vor allem dazu angeregt hat, dass Entscheidungstragende und Kommentierende nun für alle Bereiche annehmen, dass Mädchen besser als Jungen abschneiden (Francis und Skelton 2005). Und wir haben auch angenommen, dass der disproportionale Misserfolg der Jungen in der nationalen Sprache einen Einfluss auf ihre Leistungen in anderen Gebieten des Lehrplans haben könnte: wenn die sprachlichen Fähigkeiten begrenzt sind, treten auch Probleme in den Prüfungen in anderen Fächern auf. Cassen (2008) stellt diese These ebenso auf und zeigt,
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wie viele der Jungen mit Schulproblemen in seiner Studie auch ein Problem mit der nationalen Sprache haben (vgl. Cassen und Kingdon 2007). Wenn der Geschlechterunterschied in den Sprachkompetenzen/nationale Sprache betrachtet wird, darf nicht vergessen werden, dass – im Unterschied zu den Vorannahmen vieler Kommentatoren und Kommentatorinnen zu diesem Thema – diese Problematik nicht neu ist. In Tabelle 3 werden die Anteile der CA Noten in England im früheren GCE ‚O’ level exam und im heutigen GCSE (als Ersatz für das O level exam) verglichen. Tabelle 3: Anteil erfolgreicher Abschlussprüfungen im Fach Englisch (GCE/GCSE grades A-C) Jungen Mädchen Datenquelle: DCSF
1976 GCE 56 65
2006 GCSE 55 69
Tabelle 3 illustriert eindrücklich, dass der Geschlechterunterschied bereits in den 1970er Jahren ein substantielles Ausmaß hatte, auch wenn er in der Zwischenzeit leicht angewachsen ist und so den verbesserten Bildungserfolg der Mädchen als Gruppe widerspiegelt. Feministische Forschende in Großbritannien haben rasch aufgezeigt, dass andere Faktoren stärkere Prädiktoren des Bildungserfolgs sind als das Geschlecht (gender). Ethnische Herkunft und soziale Schicht bzw. Klassenzugehörigkeit, für sich genommen, haben einen stärkerern Effekt auf die Schulleistungen – auch wenn es in jeder sozialen Gruppe einen Geschlechterunterschied in den Sprachkompetenzen zu Gunsten von Mädchen gibt. Die Pionierarbeit auf diesem Gebiet aus feministischer Perspektive (vgl. z.B. Epstein et al. 1998; Arnot et al. 1999) wurde von vielen unterschiedlichen Forschenden aus mannigfaltigen Disziplinen elaboriert.3 Der Einfluss der Klassenzugehörigkeit auf die Leistungen ist insbesondere in Großbritannien besonders evident, wie die OECD PISA Studien zeigen. Tabelle 4 illustriert dies für England auf Basis des Indikators der kostenlosen Schulessen (Free School Meals, FSM) als Proxyvariable für relative Armut.4
3
Vgl. z.B. Gilborn und Gipps (2000); Gillborn und Mirza (2000); Francis und Skelton (2005); Archer und Francis (2007); Cassen und Kingdon (2007); Skelton et al. (2007). 4 Es ist anzumerken, dass die Variable der kostenlosen Schulessen die Klassenlage und selbst die Armut nur suboptimal abbilden kann. Allerdings stellen Schulessen den einzigen Aspekt der sozialen Lage dar, der für englische Schulen erhoben wird.
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Tabelle 4: Schulleistungen am Key Stage 4, GCSE Qualifikationen 2006, nach kostenlosem Schulessen und Geschlecht GCSE
5 oder mehr A* - C Berechtigte Schülerinnen und Anteil der Erfolgreichen (in %) Schüler Jungen Mädchen Gesamt Jungen Mädchen Gesamt 39,498 38,589 78,087 28.7 37.4 33.0 261,971 252,545 514,516 56.2 66.0 61.0
Kostenloses Schulessen Ohne kostenloses Schulessen Unklassifiziert 814 717 1,531 42.3 47.7 Alle Schülerinnen und 302,283 291,851 594,134 52.6 62.2 Schüler Datenquelle: standards.dfes.gov.uk/genderandachievement/understanding/analysis/
44.8 57.3
Tabelle 4 zeigt Geschlechterunterschiede in den Anteilen derer, die ein kostenloses Schulessen erhalten bzw. die kein kostenloses Schulessen erhalten (einen 9-Prozent-Unterschied bei denen mit kostenlosem Schulessen, einen 10Prozent-Unterschied bei denen ohne kostenloses Schulessen). Der Geschlechterunterschied in den Schulleistungen hinsichtlich der Personen mit kostenlosem Schulessen ist besonders stark ausgeprägt. Die Tabelle zeigt, dass fast doppelt so viele Mädchen und Jungen, die kein kostenloses Schulessen erhalten (zumeist Schülerinnen und Schüler aus der Mittelklasse), fünf oder mehr GCSE A*-C Noten erreichen, als diejenigen, die ein kostenloses Schulessen erhalten (meist Kinder aus der Arbeiterklasse). Und dies beinhaltet einen Unterschied von 19 Prozentpunkten zwischen Jungen mit kostenlosem Schulessen (56 Prozent) und Mädchen mit kostenlosem Schulessen (37 Prozent). Dieser Unterschied illustriert wie Mittelklassen-Schüler Schülerinnen aus der Arbeiterklasse in den Leistungen überholen. Tabelle 4 illustriert somit zwei Aspekte: Erstens, wie die Klassenlage in England den Geschlechterunterschied in den Schulleistungen zusammenschrumpfen lässt. Und zweitens, daraus folgend, wie problematisch es ist, das Geschlecht als isolierten Faktor mit Leistung in Beziehung zu setzen. Geschlecht und ethnische Herkunft (‚race’) stehen mit sozialer Schicht (class) in manchmal unvorhersagbaren Wechselwirkungen: Stärke und Bedeutsamkeit der Effekte der sozialen Schicht und des Geschlechts auf die Schulleistung variieren nach ethnischer Herkunft. Die Komplexität der Beziehungen, wenn Ethnizität und soziale Schicht (Indikator: kostenloses Schulessen/FSM) zusammen mit dem Geschlecht in ihrer Wirkung auf die Leistung berücksichtigt werden, ist in den Tabellen 5a und 5b ersichtlich.
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Tabelle 5: Schulleistungen Key Stage 2 (Fach Englisch), 2006 nach Ethnizität, kostenlosem Schulessen und Geschlecht Key Stage 2 Englisch
Weiß davon britische Herkunft Gemischt Asiatisch Schwarz Chinesisch andere ethnische Gruppe Alle Schülerinnen und Schüler
Key Stage 2 Englisch
kein kostenloses Schulessen Berechtigte Schülerinnen und Schüler Anteil der Erfolgreichen (in %) Jungen Mädchen Gesamt Jungen Mädchen Ges. 208,080 201,597 6,817 15,798 7,788 890 1,853
198,748 192,597 6,670 14,779 7,646 917 1,655
406,828 394,194 13,487 30,577 15,434 1,807 3,508
79 79 81 75 72 83 69
88 88 90 84 85 90 78
83 83 85 79 78 86 73
245,446
234,421
479,867
78
88
83
kostenloses Schulessen Berechtigte Schülerinnen und Schüler Anteil der Erfolgreichen (in %) Jungen Mädchen Gesamt Jungen Mädchen Ges.
Weiß 34,258 32,742 67,000 52 davon britische Herkunft 32,280 30,936 63,216 52 Gemischt 2,313 2,250 4,563 61 Asiatisch 5,571 5,405 10,976 62 Schwarz 4,529 4,480 9,009 56 Chinesisch 119 89 208 76 andere ethnische 1,070 1,010 2,080 57 Gruppe Alle Schülerinnen und 48,701 46,755 95,456 54 Schüler Datenquelle: standards.dfes.gov.uk/genderandachievement/understanding/analysis/
66 66 77 74 70 90 66
59 59 69 68 63 82 62
68
61
Auch wenn die Aufmerksamkeit nur auf große substantielle ethnische Gruppen gerichtet wird, da die Anzahl der Mitglieder einzelner ethnischer Gruppen sehr klein ist, offenbart sich in Tabelle 5 doch eine große Diversität der Leistungsmuster nach ethnischer Herkunft, sozialer Schicht und Geschlecht. Es zeigt sich eine Tendenz zu kleinen Unterschieden nach sozialer Schicht in den ethnischen Minderheitengruppen (vgl. Archer und Francis 2007), während für die weiße britische Mehrheit große Schichtunterschiede (gemessen durch den Proxy kos-
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tenloses Schulessen) in den Schulleistungen zu konstatieren sind. Während bei den weißen britischen Jungen aus privilegierten Herkunftsschichten (ohne kostenloses Schulessen) 79 Prozent erfolgreich abgeschlossen haben, sind es bei den Jungen aus benachteiligten Schichten (kostenloses Schulessen) nur 52 Prozent. Bei den Mädchen ist der Schichtunterschied etwas geringer, aber ebenfalls vorhanden. Bei den Chinesen etwa sind diese Unterschiede nach sozialer Schicht viel geringer ausgeprägt. In allen Gruppen sind Mädchen erfolgreicher als Jungen. Einen kritischen Standpunkt gegenüber solchen Analysen nimmt Mirza (2008) ein und warnt, dass solche Analysen zu erfolgreichen und unerfolgreichen ethnischen Gruppen implizieren, ethnische Gruppen seien in einem Wettbewerb befindliche homogene Einheiten. Des Weiteren würden auf diese Weise pathologische Gruppen (z.B. schwarze Jungen) und ModellMinderheiten (z.B. chinesische oder indische Gruppen) konstruiert. Tatsächlich gibt es aber wenige Evidenzen, dass die relativ erfolgreichen ethnischen Gruppen in Großbritannien „gefeiert” würden, stattdessen wird auch ihr Bildungserfolg von Lehrpersonen als „auf die falsche Weise erworben“ thematisiert. Mit anderen Worten: Trotz ihres höheren Schulerfolgs werden Zweifel geäußert an ihren Methoden, zum Erfolg zu kommen, mit der Implikation, ihre Leistungen wären durch unauthentische und problematische Mittel, Übereifer und großen Druck seitens der Eltern erzeugt worden (Brah1994; Archer und Francis 2005, 2007). Die Nutzung der Terminologie der “ModellMinderheiten“ – selbst bei kritischem Gebrauch – ignoriert die Pathologisierungen und den Rassismus, welchen diese erfolgreichen Minoritäten alltäglich ausgesetzt sind (vgl. u.a. Archer und Francis 2006). Die Kritik von Mirza (2008) weist auf die Gefahren solcher Analysen hin, die potenziell Unterschiede reifizieren bzw. vergegenständlichen können und bestimmte Gruppen als erfolgreich oder unerfolgreich klassifizieren. Es tut sich ein Spannungsfeld auf zwischen der Notwendigkeit, Leistungsmuster zu analysieren, um Ungleichheiten zu identifizieren, und der Gefahr, diese Ungleichheiten im Zuge der Erforschung zu verschlimmern. Dennoch bieten solche Darstellungen die Möglichkeit, Mythen vom Misserfolg der Jungen (oder vom Misserfolg der Schwarzen) zu entzaubern, wie dies Mirza (1992) selbst in den frühen 1990er Jahren getan hat.5 Zudem sind solche Analysen im britischen Fall deshalb sinnvoll, weil so der Einfluss von Reichtum bzw. Armut auf den Bildungserfolg aufge-
5
Die bedeutsame Studie von Mirza (1992) zeigte, wie Mädchen und Jungen in der Diskussion um den Misserfolg der Schwarzen in den 1980er Jahren einfach zusammen betrachtet wurden, obwohl farbige Mädchen im Vergleich zu weißen Mädchen zu dieser Zeit relativ erfolgreich waren. Dieses Muster blieb im Diskurs jedoch infolge des Fokus auf den Bildungsmisserfolg farbiger Jungen verborgen.
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zeigt werden kann. Letztlich ist es wichtig, dass man sich bewusst ist, dass solche Analysen abhängig sind von den Beziehungen und Überschneidungen der vielfältigen sozialen Indikatoren. Es ist zudem immer zu wiederholen, dass im Rahmen dieser Analysen nur Muster identifiziert werden. Viele Schülerinnen und Schüler lassen sich in diese Tendenzen nicht einordnen, deshalb dürfen die Muster nicht für Stereotypisierungen herangezogen werden. Alles in allem, zeigt sich in Tabelle 5 die immense Bedeutung der sozialen Schichtzugehörigkeit für den Bildungserfolg und, dass es nicht nur bei den Jungen Problemgruppen gibt, sondern auch eine Problemgruppe weißer britischer Mädchen, die nicht erfolgreich sind. Diese Mädchengruppe hat eine Schulperformanz, die unter jener der Jungen aus den privilegierten Herkunftsschichten liegt. Dies macht deutlich, dass der Diskurs der letzten 15 Jahre in den Medien und in der Bildungspolitik um den Misserfolg der Jungen die Bedürfnisse vieler Mädchen vernachlässigt. Und die Tabellen legen auch die Marginalisierung der weißen britischen Arbeiterjungen offen. Nachdem die Komplexität der Leistungsmuster sowie die Bedeutsamkeit, multiple Faktoren der Identität zu betrachten, illustriert wurde, sollen nun die vielfältigen Annahmen und Erklärungen betrachtet werden, auf denen die Auffassung vom Misserfolg der Jungen sowie entsprechende Gegenmaßnahmen beruhen.
3 Erklärungsversuche der panischen Sorge um den schulischen Misserfolg der Jungen Es existieren drei hauptsächliche Erklärungsmuster, auf denen die Debatten um den Bildungsmisserfolg der Jungen gründen und die häufig auf Sprachfähigkeiten bezogen, manchmal auch breiter abgestützt sind: die Feminisierung der Schulbildung, essentielle bzw. essentialistische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen sowie die soziale Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit. Im Folgenden werden die Argumentationen betrachtet.
3.1 Gibt es eine Feminisierung der Schulbildung? Der Begriff „Feminisierung“ ist irreführend und frauenfeindlich, was insbesondere auch dessen Anwendung im Bereich des Kontexts von Bildung betrifft (vgl. Francis und Skelton 2005). Da dieses Konzept in viele Strategien eingeflossen ist, die Leistungen von Jungen zu steigern, erscheint es wichtig, diesen Erkläransatz hier näher zu untersuchen.
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Sehr häufig wird der Ausdruck “Feminisierung der Schulbildung” genutzt, wenn thematisiert wird, dass in Großbritannien (und zunehmend auch in vielen anderen EU-Ländern) mehr weibliche als männliche Lehrpersonen lehren, insbesondere auf der Primarstufe. Es gibt fünf Mal mehr Primarlehrerinnen als Primarlehrer, allerdings sind Männer weiterhin überrepräsentiert auf der Schulleitungsebene (Francis und Skelton 2005). Männliche Lehrpersonen haben in Primar- und Sekundarschulen statistisch höhere Chancen, Schulleiter zu werden, als ihre Kolleginnen (Hutchings 2002). Des Weiteren ist auszuführen, dass seit der Einführung des staatlichen Schulsystems in Großbritannien im Jahr 1870 immer schon mehr Lehrerinnen als Lehrer in den Schulen lehrten (Thornton und Bricheno 2006). Kommentatoren der Überzahl weiblicher Lehrpersonen in Primarschulen scheinen sich dieser Tatsache nur selten bewusst zu sein und sehen sie als ein neues Phänomen an. Das relative Defizit an männlichen Lehrpersonen wird häufig als schädlich für die Bildungserfahrungen und (Bildungs-)Chancen der Jungen angesehen (Biddulph 1997; Sewell 1997) sowie als Faktor des wahrgenommenen Bildungsmisserfolgs der Jungen mit der Implikation, Jungen hätten bessere Schulleistungen, wenn sie von Männern unterrichtet würden. Was allerdings niemals erklärt wird ist, warum die große Anzahl weiblicher Lehrpersonen offenbar in vergangenen Jahrzehnten nie als Problem für die Jungen thematisiert wurde, als Jungen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit noch als die leistungsmäßig besseren Schüler galten. In der Zwischenzeit hat sich eine Menge empirischer Forschungsarbeiten mit der unterstellten Verbindung zwischen dem Geschlecht der Lehrperson, dem Geschlecht der Auszubildenden und ihrer Schulleistungen entwickelt, wobei nur wenige Evidenzen für diese Annahmen sprechen. Einige Arbeiten haben sogar Korrelationen zwischen einem Geschlechter-Match (Lehrperson/Auszubildende) und Bildungsmisserfolg zu Tage gebracht (siehe Carrington et al. 2007a oder Carrington et al. 2007b zur Diskussion). In unserer eigenen Forschung finden sich ebenfalls Hinweise für einen solchen Zusammenhang. Befunde unserer groß angelegten qualitativen Studie zum „gender match” (vgl. z.B. Francis et al. 2008; Carrington et al. 2007a; Skelton et al. 2009) weisen darauf hin, dass Primarschülerinnen und –schüler sowie Lehrpersonen in Interviews das Geschlecht als bedeutsamen Faktor der Beziehung zwischen Primarschüler/in und Primarlehrperson sowie als Faktor, Jungen mehr für die Schule zu engagieren, eher zurückweisen (Francis et al, 2008). Entsprechend stützen diese Ergebnisse die Befunde von Lahelma (2000) und Ashley (2003), dass Kinder das Geschlecht ihrer Lehrpersonen nicht als bedeutsam wahrnehmen und dass sich Kinder mehr mit der Qualität und den Fähigkeiten ihrer Lehrpersonen beschäftigen als mit der Frage, ob diese männlich oder weiblich sind (vgl.
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Lahelma 2000). Die Konsistenz der Angaben auf verschiedene Fragen zum Geschlechtermatch Schüler/in-Lehrperson in unserer Studie untermauert das Fehlen einer Korrelation zwischen Lehrperson-Schüler/in-Geschlechter-Match und Schulerfolg in quantitativen Arbeiten (vgl. Carrington et al. 2007a, 2007b). Des Weiteren zeigt sich, dass in der Minderheit der Fälle, in der Kinder das Geschlecht der Lehrperson als bedeutsam empfinden, keine einfache Erklärung daraus konstruiert, keine klare Verbindung zu einer verbesserten Schüler/inLehrpersonen-Beziehung aufgebaut und schließlich die Idee, die Übereinstimmung von Geschlecht der Lehrperson und dem Geschlecht der Auszubildenden hätte eine positive Wirkung, nicht gestützt wird. Stattdessen erscheint unser Befund, dass Kinder das Geschlecht der Lehrperson nicht als bedeutsamen Faktor für die Schüler/in-Lehrpersonen-Beziehung ansehen, besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, wie oft sich Kinder auf Geschlechterdiskurse beziehen und Differenzen in vielen Aspekten der Interaktion konstruieren. Der Ausdruck „Feminisierung der Schulbildung“ wird auch in einem anderen Zusammenhang thematisiert, nämlich in Verbindung mit der Idee, dass die Dominanz weiblicher Lehrpersonen zu einer Verweiblichung des Managements und der Organisation des Klassenzimmers sowie zu einer feminineren Umsetzung des Lehrplans und von Prüfungspraktiken geführt habe. Aber was bedeutet es für Schulen, verstärkt „feminine“ Praxen anzuwenden? Forschungen zeigen, dass Primarschulen weit weg davon sind, im fortschrittlichen Sinne „feminisiert“ zu sein, sondern stattdessen hinsichtlich ihres Managementregimes eher zunehmend „männlicher“ werden (Mahony und Hextall 2000). Das Gesetz zur Bildungsreform 1988 (Education Reform Act) hat die englische Schulbildung zu einem Quasi-Markt werden lassen, in der die Rolle der Lehrperson immer mehr darauf fokussiert wird, den Erfolg der Schülerinnen und Schüler in öffentlichen Leistungstests abzusichern, die in staatlich regulierten Lehrplänen verankert wurden. Haywood und Mac an Ghaill (2001) haben argumentiert, dass eine remaskulinisierte Schulbildung – neben einer intensivierten Aufsicht und stratifizierten Lehrplan- und Test-Technologien – eine Konsequenz des restrukturierten Autoritätssystems darstellt.
3.1.1 Ein feminisierter Lehrplan? Im Rahmen der „Feminisierungsdebatte” ist auch der Lehrplan selbst in die Kritik geraten: Teilweise wird argumentiert, dass der implementierte Fokus auf Sprachkompetenzen bzw. auf Sprachfächer Jungen benachteiligen würde. Viele Forschende halten an der Argumentation fest, dass innerhalb der dominanten Geschlechterkonstruktion das Schreiben und der Englisch-Lehrplan an briti-
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schen Schulen als feminin einzuordnen und daher ungeeignet für Jungen seien (vgl. z.B. Millard 1997; Marsh 2003). Es ist interessant, wie Debatten um politische Maßnahmen in diesem Bereich dazu tendieren, Lehrpersonen, Lehrpraktiken oder den Lehrplan im Hinblick auf den geringeren Bildungserfolg der Jungen zu problematisieren, statt auch nach Ursachen bei den Jungen selbst zu suchen. So werden Lehrpersonen häufig kritisiert, zu langweilig zu sein und nicht zum Lernen anregen zu können sowie für ihren Fokus auf präsentierende Aspekte des Schreibens und ihren Subjektbezug, weil Jungen dies verwirrend finden könnten und diese Dinge außerhalb ihrer Konstruktionen von Männlichkeit liegen (wie z.B. Gedichte oder viele Romane). Diese Ansätze ziehen in Betracht, dass die Männlichkeitskonstruktionen der Jungen ihre Sprachkompetenzen behindern können. Aber statt diese Konstruktionen in Frage zu stellen, wird versucht, diesen Konstruktionen besser gerecht zu werden (z.B. wenn der Lehrplan korrigiert wird hinsichtlich der angenommenen Interessen der Jungen). Diese Argumente werden von vielen feministischen Forschenden in Frage gestellt, die sich mit Geschlecht und Sprachkompetenzen auseinandergesetzt haben. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Präferenzen und Geschlechterkonstruktionen von Jungen und Mädchen von den Lehrpersonen in Frage gestellt und diversifiziert werden sollten, statt stereotypisiert und verengt. Brownyn Davies und Mitarbeitende äußern eine noch radikalere Kritik: Forschende würden ignorieren, wie die Vermittlung von Sprachkompetenzen implizit traditionelle Geschlechterkonstruktionen unterstützt und produziert. Innerhalb bestimmter Ansätze erschienen Sprachkompetenzen als „a desirable but innocent generic skill.“ Tatsächlich stünden aber Fähigkeiten und geschlechtsspezifische Sozialisation in Zusammenhang: „being gendered shapes individual interest and engagement in literate practices. Literate practices in turn shape the ways in which one becomes gendered“ (Davies und Saltmarsh 2006). Davies und Saltmarsh zeigen in ihrer Studie wie Jungen und Mädchen sich selbst in geschlechterspezifischen Weisen beim Schreiben konstruieren – sowohl in ihrer Schreibpraxis, als auch im Hinblick auf die Themen, über die sie schreiben. Jungen konstruieren sich dabei als eher aktiv, Mädchen als tendenziell passiv und unterwürfig. Zum Beispiel beschreiben Davis und Saltmarsh, wie sich Mädchen im Schreiben selbst regulieren und disziplinieren – in ihrem improvisierten Schreiben (neat production), aber auch in den internalisierten physischen Schreibpraxen. Hinsichtlich ihrer Analysen kindlicher Schreibpraxen argumentieren Davies und Saltmarsh (2006), dass viele Jungen Widerstand leisten gegen Gewissenhaftigkeit, Passivität und Unterwürfigkeit, die notwendig sind, um eine ästhetisch-schöne Handschrift zu erlangen und eine Arbeit abzuliefern, die den schulischen Anforderungen gerecht wird. Eine solche Arbeit und der gewissenhafte Fleiß, der benötigt wird, um eine entsprechende Arbeit abzuliefern, wür-
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den weibliche Arbeitsweisen bedingen, die von Jungen tendenziell umgangen werden (vgl. auch Millard 1997; Kanaris 1999). Davies und Saltmarsh (2006) vermerken jedoch auch, dass Jungen andererseits sehr viel Anstrengung darin investieren, dominante Positionen in der sozialen Ordnung des Klassenzimmers und des Spielplatzes zu erlangen und beizubehalten, was wiederum auf die männliche Dominanz in der weiteren sozialen und ökonomischen Ordnung bezogen ist.
3.1.2 Feminisierte Bewertung? Das finale Argument innerhalb des Diskurses um die „Feminisierung der Bildung” ist, dass die Bewertungspraktiken Mädchen systematisch bevorteilen würden. In England wurde der steigende Anteil der bewerteten Unterrichtsarbeit für den geringeren Erfolg von Jungen in den GCSE und ‚A’ level-Prüfungen (äquivalent zum Abitur) verantwortlich gemacht, da die bewerteten Aufgaben im Unterricht nicht den von Jungen präferierten Lernstilen entsprächen. Sequentielle Bewertungsmethoden, die konsistente Anwendungen beinhalten, werden als vorteilhaft für Mädchen wahrgenommen, die hier bessere Erfolge erzielen (Smithers and Robinson 1995). Bleach (1998: 14) fasst diese Annahme kontrovers als „diligent and plodding approach that is a characteristic of girls”. Mädchen seien weniger gut in „sudden death”-Prüfungen – das sind zeitlich fixierte Prüfungen, deren Inhalte vorher unbekannt sind und deren Bestehen eine kurzfristige erneute Wiederholung des Lernstoffs sowie Selbstsicherheit voraussetzen. Diese Art von Prüfung wird als vorteilhaft für Jungen angesehen (Bleach 1998) und bildete die Grundlage der O level-Prüfungen, die den GCSEPrüfungen in Großbritannien vorausgingen. Tatsächlich haben sich die Resultate der Mädchen in Abschlussprüfungen allerdings bereits vor Einführung des GCSE-Prüfungsmodells verbessert (Bleach 1998). Arnot et al. (1999) diskutieren zudem, dass die Reduktion der Komponente der Unterrichtsarbeit in den allgemeinen Prüfungen in den 1990er Jahren nur wenig am Muster des geschlechtsspezifischen Schulerfolgs verändert hat. Diese Befundlage spricht gegen die Annahme, die Geschlechterunterschiede in den Schulleistungen könnten über einen Wandel der Prüfungsformen in der Schule erklärt werden. Auf der anderen Seite sind im Hinblick auf geschlechtsspezifische Unterschiede in den Interaktionsformen durchaus auch Geschlechtereinflüsse auf bestimmte Aspekte des Prüfens an Schulen anzunehmen. So haben sich zum Beispiel verschiedene Forschungen mit den geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen der Lehrpersonen beschäftigt und wie über diese das Prüfungsniveau für die Schülerinnen und Schüler bestimmt wird (z.B. Elwood und Murphy
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2002; Harlen 2004). Diese Tendenzen sozialer und kultureller Erwartungen, die den Prüfungsprozess beeinflussen, sind von anderen Aspekten der sozialen Identität beeinflusst – von sozialer Klasse, Ethnizität und Geschlecht. Viele Arbeiten haben gezeigt, wie stark Lehrpersonen die Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern je nach deren Klassenzugehörigkeit und ethnischer Herkunft unterschiedlich einschätzen (z.B. Wright 1987; Sewell 1997; Reay 2001; Majors 2001; Crozier und Reay 2005; Archer und Francis 2005). Diese komplexen Befunde müssen berücksichtigt werden, wenn der Einfluss des Geschlechts auf die Prüfungsresultate betrachtet wird. Allerdings demonstrieren die dargelegten Resultate auch, dass eine einfache Attribution des höheren Bildungserfolgs von Mädchen in einigen Schulfächern auf feminisierte Bewertungsinstrumente nicht gerechtfertigt ist.
3.2 Essentielle Geschlechterunterschiede Einige Autoren und Autorinnen beziehen sich bei der Erklärung von Geschlechterunterschieden auf Theorien über einen inherenten Unterschied in der Beschaffenheit des Gehirns und unterstellen, Jungen seien biologisch im Schreiben und in der Kommunikation benachteiligt. Zu einer solchen Argumentation gehört auch die Annahme, dass Babys mit einer biologischen bzw. genetischen Vorliebe geboren werden, die sie im Hinblick auf ihr späteres Interesse an bestimmten Schulfächern prägt und sie wiederum andere Schulfächer ablehnen lässt. Solche Positionen basieren auf so genannten brain sex-Theorien, die das männliche und weibliche Gehirn als unterschiedlich beschaffen ansehen, was nach dieser Argumentation schließlich mit unterschiedlichen Lernfähigkeiten verbunden ist. Das praktische Problem solcher Perspektiven auf als „natürlich” wahrgenommene Unterschiede in den Schulleistungen ist, dass sie die Möglichkeit von Wandel negieren. Andererseits argumentieren die Befürworter biologischer Sichtweisen aber auch, dass Jungen mehr Unterstützung als Mädchen benötigen würden. Es ist generell zu fragen, ob das gender gap auf die „Natur“ zurückgeführt werden kann. Der Überblick von Diane Halpern (1992) lässt den Schluss zu, dass sowohl nature als auch nurture einen Anteil an den Geschlechterunterschieden haben. Wir haben diese Frage bereits an anderer Stelle besprochen (Francis und Skelton 2005), wobei wir differenzierte Positionen eingenommen haben. Selbst Neurowissenschaftler/-innen geben zu, dass sich die Wissenschaft in dieser Frage noch in den Kinderschuhen befindet und dass es mehr Unterschiede innerhalb der Gruppen der Mädchen und der Jungen gibt als zwischen den Gruppen (vgl. Slavin 1994). Für Lehrpersonen insbesondere von Bedeutung
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ist die Annahme, dass das Gehirn nicht bereits vor der Geburt fixiert ist, sondern ein Organ mit hoher Plastizität darstellt, das auf äußere Reize reagiert. Die Neurowissenschaftlerin Lesley Rogers (2000) erklärt, dass auch Hormone durch Umweltfaktoren beeinflusst werden. Das bedeutet, dass selbst wenn sich eine Beziehung zwischen Geschlechterunterschieden in der Beschaffenheit des Gehirns und dem geschlechtsspezifischen Bildungserfolg andeuten würde, diese Geschlechterunterschiede im Gehirn immer noch ein Resultat sozialer Erfahrungen und Einflüsse statt unveränderlicher innerlicher Dispositionen darstellen könnten. Dass das Ausüben bestimmter Fähigkeiten oder auch das Lernen einer bestimmten Fähigkeit bestimmte Bereiche des Gehirns entwickelt, haben bereits Blakemore und Frith (2005) demonstriert. Unterrichtspraktiken, die auf die wahrgenommenen Stärken und Schwächen von Mädchen und Jungen in den einzelnen Bereichen des Lehrplans und präferierte Lernstile gerichtet sind, würden die Geschlechterunterschiede im Bildungserfolg somit vergrößern. Zusammenfassend weist die Mehrheit der Evidenzen auf die Bedeutsamkeit sozialer Faktoren für die Fähigkeiten der Kinder hin und nicht auf biologische Faktoren. Bedenkt man, dass die sozialen Faktoren durch Lehrpersonen kontrolliert werden können, würde man einen Fokus der Betrachtungen auf diesem Punkt erwarten. In den letzten Jahren hat sich dennoch als Antwort auf die Panik um den Bildungsmisserfolg der Jungen ein Schwerpunkt um das Konzept der geschlechtsspezifischen Lernstile herausgebildet, auf dem viele Strategien, den Bildungserfolg der Jungen zu verbessern, gründen (Skelton et al. 2009).
3.2.1 Geschlechterspezifische Lernstile Das Interesse an Lernstilen hat sich in den letzten Jahren rapide entwickelt (Coffield et al. 2004). Wahrgenommene Differenzen in den Lernstilen von Jungen und Mädchen bilden eine der häufigsten Erklärungen für den Geschlechterunterschied in den Schulleistungen (Duffy 2003; Maby 2004). Diese Argumentation basiert u.a. auf der Annahme, dass wenn sich die „Natur“ von Jungen und Mädchen unterscheidet, dieses geschlechtsspezifische biologische Muster auch mit unterschiedlichen Herangehensweisen an Lernprozesse einhergehen müsste (Noble and Bradford 2000; Gurian 2002). Mit den präferierten Lernstilen wird häufig erklärt, warum sich Jungen stärker zu naturwissenschaftlichen Fächern hingezogen fühlen mit ihrem Schwerpunkt auf abfragbaren Gesetzmässigkeiten, Fakten und kurzen, abstrakten Antworten, und warum Mädchen stärker zu geisteswissenschaftlichen Fächern neigen, die mehr auf reale Situationen im Alltagsleben bezogen sind und elaborierte und detaillierte Antworten erfordern
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(Gipps und Murphy 1994; Arnot et al. 1998). Natürlich gibt es Befunde, die zeigen, dass Jungen und Mädchen als Gruppen tendenziell unterschiedliche Herangehensweisen an das Lernen bevorzugen. Aber es ist auch wichtig, daran zu erinnern, dass diese nur auf Trends hinweisen, die eben nicht auf alle Mädchen und auch nicht auf alle Jungen zutreffen. Diese Tendenzen können unter Bezugnahme auf soziale Faktoren erklärt werden – und sicherlich weist die Verbesserung der Schulleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften der letzten Jahre darauf hin, wie sich solche sozialen Phänomene wandeln können, während aus der biologistischen Sichtweise solche Entwicklungen gar nicht möglich erscheinen. Aber wenn es geschlechterspezifische Präferenzen beim Lernen gibt, wäre dann eine geschlechterhomogene Klassenzusammensetzung die Lösung und/oder sollten Lehrpersonen diese geschlechterspezifischen Präferenzen bedienen? Die Befunde im Hinblick auf single-sex classes als Methode die Leistungen von Jungen und Mädchen zu verbessern sind am ehesten als ambivalent zu bezeichnen. Es zeigt sich, dass Lehrpersonen in gemischten als auch in geschlechterhomogenen Klassen die gleichen Lehrpraktiken anwenden und gleichermaßen den Lehrplan als Normalfall durcharbeiten (Warrington und Younger 2001; Jackson 2002). Dort, wo Lehrpersonen das Geschlecht der Lernenden berücksichtigen, werden Geschlechterstereotype eher verstärkt als eingeebnet (Jackson 2003; Ivinson und Murphy 2007). Auch wenn sich die Befunde teilweise widersprechen, zeigt sich doch, dass selbst in koedukativen Schulen, in denen in den letzten Jahren geschlechterhomogene Klassen eingeführt wurden, um dem geringeren Bildungserfolg der Jungen zu begegnen, sich eher die Leistungen der Mädchen als die der Jungen verbessern (Warrington und Younger 2002, 2003). Es scheint somit eher unwahrscheinlich zu sein, dass Jungen solche geschlechterhomogenen Klassen als unterstützend und angenehm empfinden (Jackson 2002). Wie gegenüber der Thematik der geschlechtsspezifischen Lernstile besteht auch große Skepsis gegenüber der Bestimmung von gegeneinander abgrenzbaren Lernstilen (vgl. Coffield et al, 2004). Das Ausmaß an geschlechterspezifischen Lernpräferenzen bleibt stark umstritten (Elwood 2005; Younger et al. 2005), da viele Schülerinnen und Schüler den angenommenen Tendenzen in ihren Lernstilen widersprechen. Aus den Evidenzen in der Literatur kann abgeleitet werden, dass Lehrpersonen sich zwar durchaus der präferierten Lernweisen ihrer Schülerinnen und Schüler bewusst sein sollten, diese aber nicht als Lernstile von den Jungen oder den Mädchen bezeichnen sollten, um nicht traditionelle Geschlechterstereotype zu verfestigen.
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3.3 Die soziale Konstruktion des Geschlechts Die einzige Erklärung für den Geschlechterunterschied, die stark und konsistent in vielen groß angelegten Studien (aus unterschiedlichen Perspektiven) zum Ausdruck kommt ist, dass die Konstruktionen des Geschlechts durch Schüler und Schülerinnen mit unterschiedlichen Verhaltensweisen einhergehen, die wiederum einen Einfluss auf den Bildungserfolg haben. Kinder konstruieren ihre eigenen Geschlechteridentitäten aktiv in Relation zum jeweils anderen Geschlecht – Männlichkeit ist das, was nicht weiblich ist und vice versa – und nehmen bestimmte Verhaltensmuster an, um ihrer Geschlechterzugehörigkeit (Davies 1989) Ausdruck zu verleihen. Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen sind habituell und oft unbewusst. Multiple Faktoren haben einen Einfluss auf die Geschlechterkonstruktionen der Lernenden – etwa das Alter, der Schultyp, sozialräumliche Merkmale, soziale Schicht und Ethnizität (z.B. Reay 2001, 2006; Ali 2003; Connolly 1998, 2004; Archer und Francis 2006). Feministische Forscherinnen und Forscher haben demonstriert, wie die Produktion der Geschlechterunterschiede und der Geschlechterungleichheit das gesamte Schulsystem durchzieht – etwa den Lehrplan, Managment- und Disziplinierungspraktiken, die Rekrutierung der Lehrpersonen (Personalmanagement), Unterricht und Prüfungen, Lehrpersonenerwartungen, Interaktionen zwischen Lehrpersonen und Lernenden sowie Interaktionen unter Lernenden. Im Hinblick auf die soziale Konstruktion der Geschlechter durch Schülerinnen und Schüler kommt den Freundesgruppen (peer groups) eine besondere Bedeutung zu. Lehrpersonen beobachten im Schulalltag häufig, dass sich Schülerinnen und Schüler meist in gleichgeschlechtlichen Gruppen zusammensetzen. Freundesgruppen bestehen ebenfalls meist aus Freunden des gleichen Geschlechts (Thorne 1993). Davies (1989) und Lees (1993) zeigen detailliert, wie Lernende in Primar- und Sekundarschulen die geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen ihrer Peers quasi „überwachen” und von traditionellen Geschlechterrollen abweichende Verhaltensweisen sanktionieren. Viele Forschungen zeigen, dass eine spezifische Konstruktion von Maskulinität mit einem hohen Status in der Peergruppe in Sekundarschulen verbunden ist. Dies gilt sogar bereits für die letzten Jahre der Primarschulbildung. Dieses konstruierte Männlichkeitsmuster wird allgemein als „laddish“ bezeichnet, d.h. als machohafte bzw. draufgängerische Maskulinitätskonstruktion. Das Ziel, ein „draufgängerischer“ Kumpel zu sein, zieht bei vielen Jungen hedonistische Verhaltensweisen nach sich. Dazu gehören sich lustig machen, störende Verhaltensweisen, Alkoholkonsum, Frauen zu Objekten machen und sich vor allem für verschiedene Zeitvertreibe und männlich konnotierte Themen interessieren. Solche hedonistischen Praktiken und Konstruktio-
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nen, um „cool“ für die Schule zu sein, wurden auch bei einigen jungen Frauen beobachtet (Jackson 2006). Eine Schlüsselannahme im Hinblick auf die Beziehung zwischen Geschlecht und Bildungserfolg ist, dass die „laddish construction“, d.h. das traditionelle Bild von Männlichkeit, als anti-akademisch gilt – es ist einfach nicht „cool“, hart zu arbeiten oder in der Schule gute Leistungen zu erbringen – und daher mit einem geringeren Bildungserfolg einhergeht. Einige Forschende sehen als Ursache für diese Beziehung einen Konflikt zwischen machohaften Werten und der Schulkultur: Mit dem tradtionellen Männlichkeitsbild einhergehende Verhaltensweisen („laddish behaviours“) haben einen negativen Effekt auf die Leistungen bzw. den Bildungserfolg von Jungen und ihre Schulkameraden, weil sie stören und ablenken sowie andere Interessen gegenüber der Arbeit in der Schule Priorität haben (Salisbury und Jackson 1996; Francis 2000; Skelton 2001). Andere Forschende sehen Jungen mit traditionellen Männlichkeitsbildern als besonders anti-swot (gegen so genannte Streber gerichtet) und negativ gegenüber Arbeit eingestellt an (Willis 1977; Mac an Ghaill 1994; Martino 1999): Schularbeit, Gewissenhaftigkeit und Fleiß werden als feminin angesehen; einige Jungen versuchen sich von solchen Merkmalen zu distanzieren, um ihre eigene Konstruktion von Männlichkeit aufrecht zu erhalten. Während früher insbesondere Jungen aus der Arbeiterklasse akademischen Fleiß als weiblich einstuften und gegenüber dem Lernen eine entsprechend distanzierte Position einnahmen, werden diese Einstellungen inzwischen auch immer mehr von Jungen aus der Mittelklasse angenommen (Martino 1999). Solche Männlichkeitskonstruktionen variieren nach ethnischer Herkunft, sozialer Herkunft (Schichtzugehörigkeit) und Geschlecht (Wright et al. 2000; Haynes et al. 2006). Hinsichtlich der Lage von schwarzen Jungen im britischen Bildungssystem zeigt Warren (2005) auf, dass es ein Fehler ist, die gegen die Autorität gerichteten Positionen dieser Schüler als Ablehnung von Schule und Bildung zu interpretieren. Stattdessen könnte diese Ablehnung auch Ausdruck einer wahrgenommenen Ungleichheit sein, weil diese black boys von den Lehrpersonen als problematisch stereotypisiert werden (Connolly 1998). Tatsächlich weisen bestimmte Befunde darauf hin, dass einige Jungen (black und working class) traditionell männliche Verhaltensweisen als Reaktion auf ihre negativen Schulerfahrungen und die daraus erwachsende Enttäuschung produzieren (Jackson 2002, 2003; Bleach 1998). Aus dieser Perspektive heraus erscheinen diese „laddish expressions of masculinity“ als alternative Methode, um ihren Selbstwert wiederherzustellen, der durch negative Schulerfahrungen beeinträchtigt wurde. Andererseits unterstellt diese Deutung, die sich in vielen Dokumenten der Bildungspolitik wiederfindet, dass solche Jungen ein negatives Selbstbild
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hätten – was im Widerspruch zu Befunden über ein stärkeres Selbstbewusstsein und ein stärkeres Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten bei Jungen steht. Aus einer etwas anderen Perspektive erscheinen die störenden Verhaltensweisen der Jungen als Resultat schlechter Schulleistungen, die ihrerseits auf kompetitive Verhaltensweisen zurückgeführt werden – und nicht auf ihr geringes Selbstbild (z.B. Salisbury und Jackson 1996; Epstein 1998; Jackson 2006). Solche Jungen sind an verschiedenen Wettbewerbssituationen beteiligt – z.B. der größte Rebell zu sein oder der Beste im Sport etc. – oder sie haben die Einstellung, wenn sie nicht gewinnen können, soll auch niemand anderes gewinnen, stören entsprechend den Unterricht und verspotten Leistungsanstrengungen und Schulerfolg. Diese Sichtweise fokussiert ein angenommenes Bedürfnis von Jungen, Macht und Erfolg als Aspekte ihrer Männlichkeit zu praktizieren. Ungeachtet der Debatten um die Ursachen von solchen extrem maskulinen Verhaltensweisen bei Jungen hat ein gewichtiger Teil an Forschungsarbeiten gezeigt, dass diese Männlichkeitskonstruktionen mit hoher Wahrscheinlichkeit einen negativen Einfluss auf den Bildungserfolg von Jungen – manchmal auch von ihren Schulkameraden – haben.6 Diese vielfältigen Studien haben gezeigt, dass die Konstruktionen geschlechtsspezifischen Verhaltens eine Schlüsselerklärung für den Geschlechterunterschied in den Schulleistungen liefern. Wie auch hinsichtlich anderer Erklärungen für die geschlechtsspezifischen Leistungsmuster, ist es extrem schwierig, das Ausmaß nachzuvollziehen, mit dem die traditionellen Männlichkeitskonstruktionen der Jungen ihre Leistungen beeinträchtigen. Offensichtlich scheinen einige Jungen in der Lage zu sein, trotz solcher machohaften Verhaltensweisen Leistung zu erbringen. Einige der angesprochenen Studien haben das Verhalten einzelner Jungen in Beziehung gesetzt zu ihrem Bildungserfolg. Alles in allem weisen die Evidenzen aber durchaus überzeugend auf die Erklärung hin, dass der Bildungsmisserfolg einiger Jungen auf solche Männlichkeitskonstruktionen zurückzuführen ist. Dies ist eines der wenigen Erklärungsmuster, zu dem es im Moment keine ambivalenten bzw. dagegen sprechenden Befunde gibt. Einen bedeutsamen Aspekt, dessen Berücksichtigung in der Diskussion um den geschlechtsspezifischen Bildungserfolg unabdingbar ist, stellt die Komplexität der Geschlechterkonstruktionen durch Schülerinnen und Schüler dar und wie die Bildungsinstitutionen solche Konstruktionen unterstützen oder hemmen sowie der Einfluss dieser Konstruktionen auf die Leistungen. Unsere eigene aktuelle Studie – finanziert durch das britische Economic and Social Research 6
Vgl. z.B. Studien von Salisbury und Jackson (1996); Epstein (1998); Francis (2000); Younger et al. (1999); Warrington et al. (2000); Skelton (2001); Martino (1999; 2000); Martino und PallottaChiarolli (2003); Mills (2001); Francis und Skelton (2005); Younger et al. (2006).
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Council7 illustriert diese Aspekte. In dieser Studie lag der Fokus auf Schülerinnen und Schülern mit sehr guten Leistungen. In der Stichprobe finden sich auch Schülerinnen und Schüler, die sowohl hohe Leistungen zeigten als auch populär waren. Offenbar können einige Schülerinnen und Schüler – im Unterschied zu den vorher diskutierten Implikationen aus den Forschungen zu den problematischen machohaften Verhaltensweisen – ihre Popularität in ihrer Peergruppe trotz ihrer hohen akademischen Leistungen beibehalten. Dieser simultane soziale und akademische Erfolg konnte sowohl von einigen Mädchen als auch von einigen Jungen erzielt werden – aus unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen (Schichten). Diese Befunde weisen darauf hin, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler mit guten Leistungen lächerlich gemacht oder als Streber (swots) marginalisiert werden und auch nicht alle Jungen ein geringeres akademisches Leistungsniveau anstreben, um ihren sozialen Status in der Gruppe zu erhalten. Auf der anderen Seite haben wir auch festgestellt, dass die physische Erscheinung der Schülerinnen und Schüler – bei Jungen insbesondere auch die physischen Fähigkeiten und die Sportlichkeit – einen wichtigen Faktor für die Balance zwischen hohen Leistungen und Popularität darstellt. Auffassungen von Attraktivität sind ebenso sozial konstruiert (vgl. Francis et al. 2009). Dies gilt im gewissen Ausmaß auch für sportliche Fähigkeiten von Jungen. Unsere Befunde deuten somit auf die zentrale Rolle des Körpers für die geschlechtsspezifische subjektive Wahrnehmung und die Aufrechterhaltung einer Balance zwischen Popularität und akademischem Erfolg hin. Aber das Erscheinungsbild ist nicht der einzige bedeutsame Faktor. Wir haben auch herausgefunden, dass populäre Schülerinnen und Schüler mit hohen Leistungen kontinuierlich an ihrer Identität arbeiten. Ihre Verhaltensweisen sind dabei aber kaum exzessiv: Ihre akademischen Leistungen werden so dargestellt als seien sie ohne viel Aufwand erzielt worden. Diese Schülerinnen und Schüler sind zudem sowohl permanent in Interaktionen mit ihren Peergruppen als auch in ihre akademischen Aufgaben involviert (vgl. Francis et al. forthcoming). Ihre Verhaltensweisen sind auch weniger störend: Sie tendieren mehr zu harmlosen Späßen als zu offener Konfrontation. Damit erreichen populäre Schülerinnen und Schüler die Balance zwischen Leistung und Freundschaftlichkeit („sociability“), die für Schülerinnen und Schüler nach Jackson (2006) so bedeutsam ist. Die Darstellung solcher anstrengungsloser Leistungen ist selbst ganz und gar nicht anstrengungslos, denn dafür ist kontinuierliche Arbeit an der eigenen Identität notwendig. Diese Identitätsarbeit ist stark geschlechtsspezifisch und ist nach unseren Ergebnissen auch bei populären Schülerinnen und
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Studie “The gender subjectivities of high achieving pupils”, ESRC Projekt-Nr. RES062230462.
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Schülern mit hohen Leistungen auf normative Konstruktionen des „doing boy“ und des „doing girl“, d.h. auf Geschlechterbilder, bezogen (Francis et al. 2009).
4 Schlussfolgerungen Wir hoffen, anhand der berichteten quantitativen und qualitativen Befunde zum Zusammenhang zwischen Geschlecht und Schulleistungen die Komplexität des Feldes deutlich gemacht und auf die Fehlschlüsse der generalisierenden Diskussionen um „die Mädchen“ und „die Jungen“ sowie der Annahmen zum Bildungsmisserfolg der Jungen hingewiesen zu haben. Wir haben Leistungsverteilungen betrachtet und gezeigt, dass Geschlechterunterschiede ganz und gar nicht eindeutig in eine Richtung gehen und zudem mit Unterschieden nach sozialer und ethnischer Herkunft (sowie auch nach Schultyp und weiteren Variablen) verknüpft sind. Wir haben einige Diskurse und Annahmen hinter den Schlüsselargumentationen um den Bildungsmisserfolg analysiert – einschließlich der Vorstellungen von einer „Feminisierung der Schule“, „essentiellen Geschlechterunterschieden“ und der „sozialen Konstruktion der Geschlechter“. Wir haben auf den Mangel an empirischen Befunden bezüglich einiger dieser vereinfachenden Vorstellungen sowie auf deren gefährliche Wirkungen hingewiesen. Aufbauend auf Literatur zum Einfluss sozialer Geschlechterkonstruktionen auf subjektive Präferenzen und Bildungserfolg haben wir eigene Befunde in die Debatte eingebracht, welche die Komplexität und die nuance at stake unterstreichen und auf das komplexe Netz der verschiedenen Einflussfaktoren – einschließlich der physischen Erscheinung – auf Geschlechterkonstruktionen und geschlechtsspezifische Schulleistungen verweisen. In England ist das Einbringen bildungspolitischer Maßnahmen hinsichtlich des geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs gerade sehr populär. Das Department for Children, Schools and Families (DCSF) hat eine Schlüsselposition inne, wenn es um das Verbreiten von Mythen zum Bildungsmisserfolg der Jungen und die Empfehlung von Strategien gegen diese Geschlechterunterschiede geht, die solche Stereotype eher unterstützen als auflösen. Andererseits scheint sich inzwischen auch die Einsicht herauszukristallisieren, dass ein Strategiewechsel notwendig ist. In den Jahren 2008 und 2009 hat das DCSF eine „Gender Agenda“ lanciert, um dieses Thema verstärkt aufzugreifen. Dabei wurden auch einige akademische Forschende, uns selbst eingeschlossen, konsultiert. Wir vermuten, dass diese Wende auf verschiedene Faktoren zurückgeht: Erstens ist die geschlechtsspezifische Leistungsverteilung trotz der 15jährigen Anwendung der Strategien zur Steigerung der Leistungen der Jungen im Unterricht relativ stabil geblieben. Zweitens gilt ein neuer bildungspolitischer Fokus dem
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Aspekt der sozialen Schicht. Dieser Fokus hat es auch ermöglicht, einige Forschungsbefunde zu sozialer Identität und Bildungserfolg in die politischen Dokumente einzubringen – einschließlich kritischer Anmerkungen zum früheren Augenmerk der Bildungspolitik auf dem Bildungsmisserfolg der Jungen und gegenüber entsprechender Strategien (vgl. DCSF 2009a, 2009b). Die Hauptaussage dieser wissenschaftlichen Inputs in die bildungspolitischen Debatten ist, dass Lehrpersonen sich mehr bewusst werden müssen, dass es geschlechterspezifische, aber auch klassen- und ethnienspezifische Lern- und Leistungsmuster gibt und diese Tendenzen als sozial konstruiert und nicht allgemeingültig zu interpretieren sind. Lehrpersonen sollten ermutigt werden, Horizonte und (Verhaltens-)Repertoires ihrer Schülerinnen und Schüler zu erweitern, statt bestehende Stereotype im Rahmen ihrer Lehraktivitäten zu festigen. Wie wir im Rahmen unserer Forschungsarbeit herausgefunden haben, wird diese neue Sichtweise noch lange brauchen, um die Schulen zu erreichen. Viele Schulen versuchen noch immer, „jungenfreundliche“ Strategien und Lehrmethoden auszuprobieren (Skelton et al. 2009). Es wird interessant sein, mitzuverfolgen, wie sich die bildungspolitische Meinung hier weiter entwickeln wird und ob Geschlechterunterschiede aus dem Blickfeld verschwinden werden. Aber wie die Entwicklung auch immer weiter gehen wird, es erscheint unerlässlich, dass feministische Forschende ihre Forschungen zu geschlechtsspezifischen Ungleichheiten weiter voranbringen und immer wieder darauf hinweisen, in welcher Weise geschlechtsspezifische Leistungsmuster den weiteren sozialen Diskurs reflektieren, der auch hinter der Stabilität der Geschlechterordnung liegt.
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Werden tatsächlich Männer gebraucht, um Bildungsungleichheiten (von Jungen) abzubauen? Hannelore Faulstich-Wieland
Die Forderung nach mehr männlichen Lehrkräften hält schon seit etlichen Jahren an. Sie wird vor allem in den Medien von Journalisten artikuliert, allerdings auch von Politikern und Wissenschaftlern vertreten. Im Folgenden sollen zunächst kurz die Argumente skizziert werden, die für die Notwendigkeit von mehr Männern angeführt werden. Sie betreffen zum einen eine erwartete Leistungssteigerung bei Jungen, zum anderen die vermeintliche Notwendigkeit von männlichen Vorbildern. Anhand von empirischen Studien – überwiegend qualitativen, aber auch einigen quantitativen – sollen diese Argumente geprüft werden. Dazu wird im Abschnitt 2 das erste Argument auf seine Stichhaltigkeit hin getestet. Lassen sich Belege für einen Zusammenhang zwischen der Schülerleistung und dem Geschlecht der Lehrkräfte finden? Die Vorbildwirkung von Pädagogen wird im Abschnitt 3 aus Sicht der Kinder und Jugendlichen hinterfragt. Im Abschnitt 4 wird die Perspektive gewechselt: Welche Erwartungen haben Lehrerinnen an männliche Kollegen, welche Widersprüche zeigen sich? Im Abschnitt 5 geht es um die Erfahrungen, die die männlichen Lehrer selbst machen: Lassen sich hier Spannungsfelder entdecken? Im abschließenden Teil wird die Frage danach, ob tatsächlich Männer als Vorbilder benötigt werden, noch einmal neu gestellt und auf der Basis von sozialisations- und gendertheoretischen Überlegungen beantwortet.
1 Argumente für die Notwendigkeit von männlichen Lehrkräften Spätestens seit den PISA 2000-Ergebnissen, die einen signifikant schlechteren Mittelwert der Leseleistungen von Jungen in fast allen Ländern ans Tageslicht brachten, ist eine Debatte um die Ursachen dieses als „Bildungsbenachteiligung der Jungen“ wahrgenommenen Zustands entbrannt. Das ungleiche Geschlechterverhältnis unter den Lehrenden kommt dabei sehr schnell in den Blick. So werden in England z.B. explizit die Leistungsdifferenzen zwischen Mädchen und Jungen den fehlenden Männern in der Erziehung angelastet (Jones 2003: 566) – zwar nicht als einzige Ursache, aber doch als wichtige.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Hannelore Faulstich-Wieland
In Deutschland argumentierte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, in einer „Stellungnahme zur fortschreitenden Feminisierung im Lehrerberuf“ in der Kölnischen Rundschau vom 8.1.07: Das Fehlen von Männern in der familiären Erziehung sowie in der Grundschule sei „für Jungen und Mädchen gleichermaßen ungünstig, denn sie lernen damit keine männlichen Verhaltensmuster kennen. Letzteres wäre nötig – sei es als Vorbild, sei es, um sich daran reiben zu können (auch im Sinne des Erlernens eines konstruktiven Umgangs mit Gewaltimpulsen)“.1 Auch die neue Familienministerin Kristina Schröder argumentiert in diese Richtung, wenn sie meint, es sei Tatsache, „dass viele Jungen ohne Männer aufwachsen. Ihnen fehlen damit realistische Vorbilder“. Zugleich lastet sie die geringeren Bildungserfolge von Jungen der „Feminisierung“ an: „Das schlechtere Abschneiden von Jungen liegt unter anderem daran, dass Kindergärten und Schulen weiblich dominiert sind“ (Interview in Die ZEIT vom 22.4.10).2 Zwar finden sich ausgelöst durch eine Pressemeldung des Wissenschaftszentrums Berlin3 über Reanalysen von empirischen Studien mittlerweile auch Gegenstimmen wie z.B. die folgende von Birgit Menke in Spiegel Online vom 6.3.2010: „Lehrerinnen schaden Schülern nicht.“4 Dennoch schürt gerade Spiegel Online durch seine Verlinkungs-Praxis zugleich die Meinung, die „Feminisierung“ der Schule sei schuld an den Problemen von Jungen. Dies soll exemplarisch an Interviews mit dem Bildungssoziologen Klaus Hurrelmann und dem Diplompädagogen Wolfgang Bergmann gezeigt. Hurrelmann äußert in einem Interview am 23.4.2010 u.a.: „Ziel muss es sein, den Jungen in der Schule erst einmal die Sicherheit zu geben, dass sie männlich sein dürfen und sollen. Alle Lehrkräfte, ob Männer oder Frauen, sollten darin geschult werden, dass sich Jungen selbstbewusst entfalten können. Jungen setzen nun mal gerne klare soziale und körperliche Duftnoten, verhalten sich schon mal laut und auffällig, haben mehr Aggressionen. Sie dürfen nicht immer nur die Ansage bekommen, ihr Verhalten sei falsch. Im Rahmen ganz klarer Regeln und Sanktionen sollte das in der Schule zugelassen werden. Ich denke, das können auch weibliche Lehrkräfte bewerkstelligen, aber wenn wir einer dauerhaften Feminisierung der Umgangsformen entgehen wollen, gehören gleich viele männliche Lehrkräfte in jede Schule und in jeden Kindergarten. Nur so kann es gelingen, junge Männer aus ihrer engen traditionellen Geschlechtsrolle herauszulocken.“ 5
1
http://www.lehrerverband.de/ (unter Kommentare und Denkschriften - letzter Zugriff 1.5.2010); vgl. auch Preuss-Lausitz 2006 mit einer ähnlichen Argumentation. 2 http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/aktuelles,did=134950.html – Zugriff 4.5.10 3 http://www.wzb.eu/presse/mitteilungen_2010/die_frauen_sind_schuld.de.htm - Zugriff 4.5.10 4 http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,682019,00.html – Zugriff 4.5.10 5 http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,688659-2,00.html – (Zugriff 1.5.2010)
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Hurrelmann stellt hier ab auf ein vermeintlich natürliches Jungenverhalten, dem in der Schule Rechnung zu tragen sei. Zwar gesteht er Lehrerinnen durchaus zu, dieses zu können, allerdings warnt er dann doch vor einer „dauerhaften Feminisierung der Umgangsformen“. Diese Textstelle ist zugleich als Link markiert und führt zu dem Interview mit Wolfgang Bergmann vom 5.4.2010 unter der Überschrift „Wohlfühl-Kuschel-Pädagogik geht Jungs gewaltig auf die Nerven“ 6 , in dem Bergmann meint, „in Kindergärten wie Schulen dominiere ein verhuscht-weibliches Klima“. In seiner Logik allerdings geht es dann nicht um mehr männliche Erzieher oder Lehrkräfte, sondern um offenbar so etwas wie „gestandene Männlichkeit“: „Man müsste die Schulen und Kindergärten öffnen und Männer reinholen. Gar keine gelernten Pädagogen, die tun den Kindern meist ohnehin nicht so gut. Stattdessen Handwerker, Bildhauer, Männer mit Lebenserfahrung und einer starken Biografie, auch mit autoritären Zügen, an denen man sich orientieren kann. Jungs brauchen das. Sie lernen gegenständlicher, materialhafter. Schauen Sie doch nur, wie die am Hausmeister hängen, wenn das ein kinderlieber Mann ist. Die fahren voll auf diesen praktischen Typen ab“ (Interview mit Wolfgang Bergmann 2010).
Unterstellt wird in den Stellungnahmen, dass Jungen über die Identifikation mit gleichgeschlechtlichen Vorbildern bessere Leistungen und mehr Interesse entwickeln könnten; Mädchen wie Jungen männliche Rollenvorbilder kennen lernen sollten, solche werden entweder pauschal als positiv bezeichnet oder spezifiziert. Genannt wird männliche Gewalt, expressives, ungebärdiges, vorlautes, raues und aggressives Verhalten als moderne Männlichkeit. Mit solchem nicht konfrontiert zu werden, so wird befürchtet, gefährde Mädchen wie Jungen seelisch und körperlich. Vor allem Jungen bräuchten solche „Vorbilder“ als Orientierung. In diesen Annahmen stecken eine Reihe von problematischen Aussagen, die in ihrer Konsequenz zu einer sexistisch motivierten Abwertung der Erziehungsund Bildungsleistungen von Frauen zum Zwecke der Aufwertung von Männern führen (die plötzlich, nach langer Abstinenz von allem, was mit Kindern zu tun hat, pädagogische Naturtalente zu sein scheinen). Die Annahme „natürlicher“ Eigenschaften bei Mädchen/Frauen und Jungen/Männern, sowie die Unterstellung, sie seien in Bezug darauf jeweils eine homogene Gruppe und die Differenzen zwischen ihnen seien das Entscheidende, ist theoretisch wie empirisch nicht haltbar. Dennoch ist es sinnvoll, genauer zu prüfen, welche Belege es für die Bedeutung des Geschlechts der Lehrkräfte im Unterricht gibt.
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http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,545037,00.html – (Zugriff 1.5.2010)
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Als erstes soll dazu geprüft werden, ob es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Leistung von Schülerinnen und Schülern und dem Geschlecht ihrer Lehrkräfte gibt.
2 Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Leistung und dem Geschlecht der Lehrkräfte? Bisherige Studien, die versucht haben, einen Zusammenhang zwischen der Leistung und dem Geschlecht der Lehrenden herauszufinden, waren überwiegend im Bereich von „post-secondary education“ angesiedelt und erbrachten keine einheitlichen Ergebnisse (Dee 2007: 529). Für die Grundschule sind mir auch nur wenige Studien bekannt. Die umfangreichste veröffentlichte Studie stammt aus England von der Forschungsgruppe Bruce Carrington, Peter Tymms und Christine Merrell vom Centre for Evaluation and Monitoring der Durham University. Geprüft wurde bei fast 9000 Elfjährigen, die am PIPS-Projekt (Performance Indicators in Primary Schools) teilgenommen haben, ob Leistungsunterschiede bei Kindern in Abhängigkeit vom Geschlecht der Lehrkraft nachweisbar sind. Getestet wurden Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften, Englisch, sowie nonverbale Fähigkeiten (räumliches Erkennen), außerdem wurden Einstellungen zu Schulfächern sowie zur Schule allgemein erhoben. Das Ergebnis ist eindeutig: Es gibt keine Zusammenhänge zwischen den Leistungen und dem Geschlecht der Lehrkräfte. Die Autor/innengruppe resümiert: „… the results gave little support for those who advocate recruitment drive with role models in mind” (Carrington et al. 2008: 315). Im Gutachten des Aktionsrats Bildung wird auf die IGLU-Auswertungen verwiesen, die ebenfalls keinen Zusammenhang feststellen können: „So zeigen in Deutschland wie auch in den Niederlanden sowohl Mädchen als auch Jungen nominell höhere Lesekompetenzen, wenn sie von einer weiblichen Lehrkraft unterrichtet werden; andererseits dokumentieren in Luxemburg sowohl Mädchen als auch Jungen nominell höhere Lesekompetenzen, wenn sie von einer männlichen Lehrkraft unterrichtet werden (…). Keine dieser Differenzen ist aber signifikant“ (vbw-Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2009: 92). Christian Pfeiffer und Dirk Baier vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen haben eine „repräsentativen Schülerbefragung“ zum Thema „Lehrer im Urteil ihrer Schüler“ vorgelegt (Pfeiffer und Baier 2008) – allerdings erfährt man im Bericht, der nur Grafiken und kurze Zusammenfassungen ent-
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hält, nichts über die Methode, eine angekündigte Veröffentlichung liegt bisher nicht vor.7 Zum Aspekt Schulleistungen und Geschlecht der Lehrkräfte fanden die Autoren, dass Lehrer im 4. Jahrgang schlechtere Noten in Deutsch, Mathematik, Sport und Sachkunde vergeben als Lehrerinnen, während sich im 9. Jahrgang keine Zusammenhänge zeigten. Für das österreichische Bildungssystem haben Johann Bacher, Martina Beham und Norbert Lachmayr Geschlechterunterschiede in der Bildungswahl überprüft. Als Datenbasis verwendeten sie die Studie des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung „Soziale Situation beim Bildungszugang“, in der die Übergänge in die Sekundarstufe I, die Sekundarstufe II sowie in den Tertiärbereich untersucht wurden. Für alle drei Schulstufen konnten außer in Mathematik signifikante Unterschiede in den Noten festgestellt werden, d.h. Jungen erbrachten schlechtere Schulleistungen als Mädchen. Auf der Primarstufe sind die Unterschiede gering, nehmen im Laufe der Sekundarstufe I zu. Für die Frage nach dem Geschlecht der Lehrkräfte lassen sich zwei zentrale Erkenntnisse festhalten: Erstens ist das Ergebnis bedeutsam, „dass der Sekundarstufe I und der Jugendphase ein größeres Gewicht zukommt als der Primarstufe und damit der Kindheitsphase. Damit einher geht der Befund, dass der Anteil weiblicher Lehrkräfte in der Volksschule keinen statistisch nachweisbaren Einfluss auf den Bubenanteil in der AHS hat, wie dies die These der Feminisierung der Grundschule annimmt.“ (Bacher et al. 2008: 14).8 Zweitens aber zeigt sich beim Übergang in die Sekundarstufe II ein Einfluss des Geschlechts der Klassenlehrkraft: „Buben erzielen schlechtere Noten, wenn sie einen männlichen Klassenvorstand haben.“ (ebd.: 152). Die Autoren interpretieren dies als Widerlegung der Annahme, „dass Burschen männliche Lehrkräfte als Vorbilder benötigen, um gute schulische Leistungen erzielen zu können“ (ebd.). Eine Studie aus den USA ermittelte dagegen Zusammenhänge zwischen der Leistung der Jugendlichen und dem Geschlecht ihrer Lehrkräfte: Thomas S. Dee wertete die Daten der National Education Longitudinal Study von 1988 aus, in der sowohl Daten von Schülerinnen und Schülern wie auch von Lehrkräften
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Es gibt zwar einen Abschlussbericht zu der repräsentativen Befragung (allerdings nur des 9. Jahrgangs), der auch eine detaillierte Beschreibung der Stichprobenziehung und der Durchführung der Untersuchung enthält, jedoch nicht den 36 bis 43 Seiten langen Fragebogen und auch keine Hinweise auf die Fragestellung des Zusammenhangs von Leistung und Geschlecht (Baier et al. 2009: 29). 8 Die österreichische Volksschule entspricht der deutschen Grundschule; AHS steht für Allgemeinbildende Höhere Schule und entspricht den Hauptschulen in Deutschland.
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enthalten sind.9 Zudem wurden die Lehrkräfte veranlasst, die Schülerinnen und Schüler hinsichtlich verschiedener Merkmale zu beschreiben. Es ist so möglich, Daten einer großen Gruppe von ca. 25.000 Jugendlichen der 8. Klassen in Mittelschulen zu analysieren. Dee geht davon aus, dass Lehrkräfte mit Mädchen und Jungen je anders umgingen. Auf der Basis von verschiedenen Regressionsanalysen bestätigt er, dass es einen Unterschied mache, ob die Jugendlichen von einer gleich- oder gegengeschlechtlichen Lehrkraft unterrichtet werden: „This effect size implies that just one year with a male English teacher would eliminate nearly a third of the gender gap in reading and would do so by improving the performance of boys and simultaneously harming the performance of girls” (Dee 2007: 550).
Genaue Erklärungen, woran dies liegen könne, ließen sich jedoch nicht anbieten, Dee spricht sich deshalb auch klar gegen segregierende Maßnahmen als Konsequenz aus. Vielmehr müsse es darum gehen, die Zusammenhänge in den Interaktionen zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen genauer zu erforschen: „this study‘s results do not identify the likely consequences of segregating students and teachers by gender, which would change the composition of student peers and raise a variety of other moral and practical concerns. Instead, what the reduces-form results presented here do suggest is that the gender interactions between students and teachers are consequential and that it would be worthwhile to know more about why such student-teacher interactions matter” (Dee 2007: 551f.).
Betrachten wir deshalb in einem nächsten Schritt Aussagen von Kindern und Jugendlichen selbst zur Interaktion mit ihren Lehrkräften.
3 Wie sehen Jugendliche ihre Lehrkräfte? Eine Möglichkeit, die Relevanz des Geschlechts der Lehrkräfte im Blick auf die Vorbildwirkung zu erfassen, besteht darin, die Kinder und Jugendlichen selbst zu befragen. Debra Myhill und Susan Jones haben in 36 englischen Klassen der 1., 4., 5., 8., 9. und 10. Jahrgänge die Schülerinnen und Schüler gefragt: „Do you think boys and girls are treated the same?“ (Myhill und Jones 2006). 62 Prozent der Kinder und Jugendlichen waren der Meinung, Jungen würden von den Lehrkräften unfairer behandelt als Mädchen. Die Befragten sprachen dabei das Geschlecht der Lehrkräfte von sich aus an, d.h. ohne danach gefragt worden zu sein. Sie waren – die Autorinnen bezeichnen das als Überraschung – der 9
Wobei man natürlich auch fragen kann, ob für solche Fragestellungen Daten, die mehr als 20 Jahre alt sind, tatsächlich eine geeignete Basis darstellen, da sich Auffassungen von „Geschlechtsadäquatheit“ mittlerweile auch in den USA gewandelt haben.
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Meinung, dass Lehrerinnen sich weniger vom Geschlecht der Schülerinnen und Schüler beeinflussen lassen als Lehrer. Insofern schlussfolgern sie, dass vor allem der Blick der Lehrkräfte auf Geschlechterstereotype und deren Abbau nötig ist. Allerdings kritisieren Becky Francis und ihre Forschungsgruppe an der Fragestellung die Dramatisierung von Geschlecht. Sie selbst haben ein Projekt zum Thema ‘Investigating gender as a factor in primary pupil–teacher relations and perceptions’ durchgeführt, in dessen Rahmen 51 Klassen des 3. Jahrgangs in Grundschulen in London sowie in Nordengland untersucht wurden (vgl. Francis et al. 2006; Hutchings et al. 2007; Skelton et al. 2009). Je die Hälfte wurden von einer Lehrerin bzw. einem Lehrer unterrichtet. Neben Interviews mit diesen Lehrkräften und Unterrichtsbeobachtungen wurden je drei Schülerinnen und drei Schüler pro Klasse (153 Jungen, 154 Mädchen) teilstandardisiert zu ihren Vorbildern im Alltag, ihrer Einschätzung der Lehrkräfte sowie zu ihrer Einschätzung des Zusammenhangs von Geschlecht und Lehrkraft interviewt. Die Mehrheit verneinte Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Lehrkräften, ging von einer „sameness“ aus, die vor allem der gleichen professionellen Tätigkeit („teachers first“) geschuldet war. Unter denen, die Unterschiede annehmen, gab es keine Einigkeit über deren Art. Wie bei Myhill und Jones haben auch sie die Kinder gefragt, ob die Lehrkräfte Unterschiede machen würden – allerdings ohne Dramatisierung des Geschlechts, sondern mit der Frage „Do you think your teacher treats everyone the same?“ Nur von einer Minderheit wurde gemutmaßt, dass sie jeweils das eigene Geschlecht bevorzugen würden (Francis et al. 2006: 21). Elina Lahemla hat in Finnland mit 90 13-14jährigen Jugendlichen und mit 60 davon vier Jahre später Interviews über ihre Lehrkräfte geführt. Geschlecht spielte dabei so gut wie keine Rolle. Im ersten Interview, das während des ersten Schuljahres in der Sekundarstufe durchgeführt wurde, zielten die Fragen nicht explizit auf das Geschlecht der Lehrkräfte, sondern darauf, welche bzw. welche Art von Lehrkräften sie mochten oder nicht. Im zweiten Interview ging es um einen Rückblick auf die eigenen Lehrkräfte, einige wurden auch explizit auf die Debatte um die fehlenden Lehrer angesprochen und um ihre Meinung dazu gebeten. Die Lehrkräfte, über die gesprochen wurde, waren dem Forschungsteam aus ethnografischen Beobachtungen bekannt. Die Schülerinnen und Schüler nannten eine Reihe von Charakteristika, die sie gut bei Lehrkräften finden, die jedoch nicht gegendert sind: „Characteristics like fairness, sense of humour, considerateness and gentleness were mentioned by several girls and boys, and were attributed to their male as well as female teachers. Teachers’ qualities as teachers seemed to be central, not their personal traits. Both girls and boys respected teachers who can teach, who use varying methods and are helpful. They are attracted to
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teachers who do not shout, do not give too much home work and are not too strict, but who nevertheless make sure that the students work” (Lahelma 2000: 176).
Einige Jungen erinnerten sich besonders gern an Lehrer – dies hing jedoch mehr damit zusammen, dass zu ihren Lieblingsfächern Sport und Werken gehörte – beides Fächer, in denen sie im finnischen Bildungssystem nur männliche Lehrkräfte haben konnten. Als deutsche Studien lassen sich zwei Arbeiten anführen. Zum einen ist die qualitative Studie von Andreas Krebs zu nennen, der ausführliche Interviews mit zwanzig Jungen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren geführt hat. Die Hälfte von ihnen berichtet von Episoden, in denen sie auf das Geschlecht der Lehrkräfte explizit Bezug nehmen. Krebs spricht von „Schülererlebensweisen“ und sortiert sie in fünf Aspekte (Krebs 2002: 259): Drei Schüler berichten über Erlebnisse, bei denen sie sich zurückgesetzt fühlten von einer Lehrerin, weil diese Mädchen „fördern“ wollte; ein weiterer Schüler sah bei mädchen-/frauenbezogenen Unterrichtsthemen keinen Weg, sich mit seiner Jungensicht richtig einzubringen; einer ging von grundlegenden Geschlechterunterschieden aus und fühlte sich entsprechend im Umgang mit Lehrern besser als mit Lehrerinnen; zwei Schüler berichteten positiv von jungenspezifischen Angeboten und drei Schüler schließlich betonten explizit, dass sie keine Unterschiede wahrgenommen hätten. Andreas Krebs resümiert diesen Teil seiner Auswertungen als „uneindeutig“: „Blickt man auf die Schilderungen der Jungen zu der Frage, welche Bedeutung das Geschlecht von Lehrkräften für sie haben mag, dann komme ich zu keiner eindeutigen Antwort. Vielmehr scheint es auch hierin deutliche individuelle Unterschiede zu geben“ (Krebs 2002: 269). Im Rahmen einer quantitativen Studie in Nordrhein-Westfalen wurden 1.635 Jungen aller Schulformen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren in Dortmund standardisiert zu den Themen Freizeitgestaltung, Freundschaften, Beziehung zum Vater, Rollenbilder, Schulleben und Einstellungen zum Thema Gewalt befragt (Koch-Priewe et al. 2009: 108ff): 59 Prozent der Jungen geben an, dass es ihnen egal sei, ob sie von einem Mann oder einer Frau unterrichtet werden, 18 Prozent würden das vom Unterrichtsfach abhängig machen. Von den übrigen Schülern möchte die Mehrheit lieber von einer Frau unterrichtet werden (17 Prozent); ausschließlich von einem Mann möchten nur 6 Prozent unterrichtet werden. Kann man als Zwischenergebnis bis hierhin bereits sagen, dass weder „objektive“ Daten noch „subjektive“ Einschätzungen die in den Medienaussagen postulierte Bedeutung des Geschlechts der Lehrkräfte bestätigen, so soll im Folgenden die Perspektive gewechselt werden: Wir fragen nun, welche Bedeu-
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tung die Lehrkräfte selbst dem Geschlechterthema beimessen. Zunächst soll es dazu um die Meinung der Lehrerinnen gehen, deren Arbeit durch die Forderung nach Männern ja in der Kritik steht.
4 Wie sehen Lehrerinnen die Notwendigkeit von Kollegen? Die wenigen Studien, in denen Lehrerinnen dazu befragt wurden, ob sie einen Unterschied zwischen ihrer Arbeit und der von Lehrern sehen würden, kommen überwiegend zu dem Ergebnis, dass die Lehrkräfte die Bedeutung des Geschlechts ebenso wenig betonen wie die Schülerinnen und Schüler dies tun. Zugleich zeigen sich aber Widersprüche, wenn im Interview das Geschlecht für die Tätigkeit dramatisiert wird. Ingolfur Asgeir Johannesson hat 14 Lehrerinnen isländischer Grundschulen zu ihren Erfahrungen und Einstellungen zum Unterricht von Mädchen und Jungen ebenso wie zur „boys‘ debate“ interviewt. Die Befragten betonen sowohl bezogen auf die Schüler/innen wie auf die Lehrkräfte, dass individuelle Aspekte wesentlich relevanter seien als Genderdifferenzen. Sie beschreiben zwar Geschlechterdifferenzen im Verhalten der Kinder, verweisen aber zugleich auf die große Bandbreite individueller Unterschiede. Sie wenden sich gegen die Vorstellung von männlichen „Rollenmodellen“ und fordern stattdessen, dass Lehrkräfte bereit und in der Lage sein sollten, Mädchen wie Jungen zu unterrichten (Johannesson 2004). Becky Francis und ihre Kolleg/innen haben die 51 Lehrkräfte der von ihnen befragten Grundschulkinder – in der oben bereits beschriebenen Studie – ebenfalls interviewt. Ähnlich wie schon die Kinder wiesen auch die Lehrkräfte zum überwiegenden Anteil die Bedeutung des Geschlechts für ihre Praxis zurück. Nur etwa ein Viertel der Lehrkräfte – mehrheitlich Männer – sahen einen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der Förderung von Jungen. „Like their pupils, the majority of teachers rejected the notion of matched pupil-teacher gender as salient in teacher-pupil relationships, and the rationale upon which the policy drive to recruit male teachers is based; maintaining instead that individual teacher abilities have the greatest bearing on engaging pupils. Only a quarter of teachers in our sample supported the arguments on which the policy rests, and in some cases these respondents related the benefits of ‘gender matching’ only to boys from single-parent (mother-led) families. However, these (mainly male) teachers did reiterate arguments utilised by policy makers concerning male role modelling and bonding to support their perceptions” (Francis et al. 2006: 23f.).
Die mit der Forderung nach männlichen Vorbildern verbundenen Widersprüche sollen im Folgenden exemplarisch an einer Studie deutlich gemacht werden, die sich mit der Sicht der Lehrerinnen zur Forderung nach mehr Männern befasst
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hat (Jones 2003): Deborah Jones hat in England dreizehn Grundschullehrerinnen interviewt zu ihrer Meinung und ihren Erfahrungen mit der Einstellung von männlichen Kollegen. Während zu Beginn des Interviews überwiegend Zustimmung zu den Kampagnen für mehr Grundschullehrer geäußert wurde, gab es im Verlauf immer mehr Zweifel und Widerstände. Die Lehrerinnen rekurrierten in ihren Vorstellungen auf konkrete Erfahrungen, die sie mit Kollegen gemacht hatten, so dass Jones hieraus das Bild des gewünschten Lehrertyps herausarbeitet. Zwar äußerten auch die Lehrerinnen übereinstimmend die Meinung, in der Kindheit seien männliche Rollenmodelle von Nöten, die Präzisierung, was das meinen könnte, ließ jedoch mindestens fünf unterschiedliche Aspekte erkennbar werden: „Balance“ – hierunter wurde verstanden, dass es „gesünder sei“, wenn nicht nur ein Geschlecht vorhanden wäre. Unklar blieb jedoch, wie Männer dazu beitragen könnten. „Family“ – als Beispiele werden die abwesenden oder die sich falsch verhaltenden Väter genannt. Lehrer sollten dagegen ein „besseres“ Modell bieten. Unterlegt ist dabei die Normalität der heterosexuellen Familie und unterstellt wird eine weite Verbreitung von männlichem Fehlverhalten. „Literacy“ – Männer sollen vor allem für Jungen ein Modell abgeben, sich auch mit Sprache und Literatur zu beschäftigen. „Better for boys“ – während die Lehrerinnen das allgemein verbreitete Argument wiedergaben, wonach vor allem Jungen durch Männer motiviert oder auf sie hören würden, stellten sie auf der Basis ihrer Erfahrung dies zugleich in Frage. „Sport“ – Männern wird in gewisser Weise zugesprochen, sportlicher zu sein und damit ein besseres Vorbild für Jungen abzugeben. Die Interviews machen deutlich, dass die Lehrerinnen nicht „Männer an sich“ als Kollegen wollen, sondern „the right kind of men“ benötigt würde. Dieser soll folgende Eigenschaften haben: “enthusiastic about young children and hold an ‘early years philosophy’, a listener – not arrogant, a team worker with a sense of humour, macho – not a ‘wimp’!“ (Jones 2003: 570f.) Im ersten Punkt widerspiegeln sich in den Ausführungen die unterschiedlichen Auffassungen über die Rolle von Lehrkräften kleiner Kinder. Die Lehrerinnen stellen die Stereotype von Beziehung/Betreuung (caring) und fachlicher Unterrichtung (teaching) gegeneinander. Für die Kinder finden sie das erste wichtiger, von den Lehrern erwarten sie eine Präferenz für das zweite, sich selbst schreiben sie aber die Betonung des caring zu. Im Effekt heißt das, sie sind eigentlich der Meinung, dass Frauen die besseren Grundschullehrkräfte seien.
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Die Widersprüche, die sich in diesem Punkt zeigen, finden sich ebenfalls in der letzten Anforderung. Männer sollten sowohl maskulin und nicht „weiblich“, „effeminate“ sein, dennoch sollen sie einfühlsam, sensibel sein. „At this point how can the ‘right kind of man’ be represented? He is constructed at one and the same time by partial discourses of traditional masculinity, fused with more progressive discourses constructing men as sensitive and caring. He is strongly heterosexual, a macho man who can display sensitivity and gentleness. This man is at one and the same time an action man and in tune with his emotions. This, it seems, is what women want.” (Jones 2003: 572).
Deborah Jones identifiziert dieses Bild mit postmodernen Vorstellungen von Männlichkeit, die eine Chance bekommen sollten, sich durchzusetzen. Eigentlich bedeuten die Anforderungen der Lehrerinnen an Kollegen jedoch einen double bind, d.h. dass die Männer es nie richtig machen können. Sie bleiben in dem Widerspruch, hegemoniale Männlichkeit verkörpern zu sollen, die zugleich gefordert wie als untauglich für Grundschularbeit angesehen wird. Betrachten wir deshalb im nächsten Schritt, welche Erfahrungen Lehrer machen, die sich in das Feld der Grundschule begeben haben. Es lassen sich zwei Formen von Problemen unterscheiden: Zum einen jene, die sich aus der Tatsache ergeben, dass Männer in ein „weibliches“ Arbeitsfeld eintreten, zum anderen jene, die durch den Anspruch bedingt werden, sie sollen hier als „männliche Vorbilder“ auftreten.
5 Wie sehen Lehrer selbst ihre Position in der Schule? Zu den Erfahrungen von (Grundschul)Lehrkräften gibt es bisher vor allem Untersuchungen aus Australien, Neuseeland, England und den USA. Ein wichtiger Aspekt betrifft die Frage, wieso Männer überhaupt Grundschullehrer werden wollen. Dazu liegen vor allem qualitative Studien vor. Penni Cushman hat mit insgesamt 17 Grundschullehrern in Neuseeland Gruppendiskussionen durchgeführt, um ihre Berufsmotivation, ihren Weg in den Beruf und ihre Erfahrungen dort zu erforschen. Hauptmotiv für die Berufswahl war der Wunsch, mit Kindern zu arbeiten – wobei „the positivity about teaching“ (Cushman 2005: 330) im Vordergrund steht, d.h. weniger der „care“Aspekt, sondern die Verbindung von Spielerischem und Fachlichem. Zwölf der 17 Befragten hatten erst andere Berufe ausgeübt, bevor sie Grundschullehrer wurden. Die Reaktionen auf die „untypische“ Berufswahl waren sehr gemischt, von Seiten der Eltern erfuhren diese Lehrkräfte allerdings überwiegend Unterstützung.
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Ben Lupton (Lupton 2006) hat in England Interviews mit 27 Männern in untypischen Berufen geführt, um herauszufinden, warum sie dort tätig sind. Er berichtet zum einen darüber, dass diese Männer sich mit der Infragestellung ihrer Männlichkeit konfrontiert sehen – ein Grundschullehrer erzählt von entsprechenden Reaktionen der Eltern. Als ein Motiv für die Berufswahl gilt ihnen jedoch durchaus die größere Chance für einen Aufstieg, z.B. vom Lehrer zum Schulleiter. Entscheidender als Fragen des Geschlechts sind nach Lupton solche der sozialen Herkunft. Es waren zu größeren Anteilen Söhne aus Arbeiterfamilien und für diese gab es zum einen keine große Unterstützung bei der Berufswahl durch das Elternhaus, zum anderen bedeuteten die Berufe, in die sie einmündeten, eine gesicherte Jobposition und einen gewissen Aufstieg. Paul Sargent hat in seinen ethnografischen Studien in den USA insbesondere die Probleme herausgearbeitet, mit denen Grundschullehrer konfrontiert sind. Zunächst hat er mit 23 Grundschullehrern gearbeitet (Sargent 2000), später hat er weitere 54 Grundschullehrer, zehn Schulleiterinnen von Grundschulen, sechs Leiterinnen von Kindertagesstätten und acht Hochschullehrer interviewt (Sargent 2005). Alle arbeiten in Kalifornien, Oregon oder Washington. Die Lehrer fühlen sich unter einer ständigen Beobachtung/ Kontrolle (scrutiny): Dies gilt vor allem für körperliche Berührungen von Kindern – die zugleich als essentiell für Grundschularbeit angesehen werden. Körperliche Berührungen bergen immer die Gefahr, für pädophil oder schwul gehalten zu werden. Die Kontrollbehörden haben Vorschriften erlassen für das Verhalten gegenüber Kindern – diese werden aber nach Geschlecht unterschiedlich exekutiert. In der Folge müssen die Männer ein anderes Verhalten entwickeln, das wiederum den Eindruck erweckt, Männer könnten keine „source of love and nurturing“ sein (Sargent 2000: 415). Sargent bestätigt damit, was Judith Allen bereits 1994 beklagte: „Allen says it is ironic that the very aspects of masculinity that ought to be modeled – responsibility and care for children – are the very things that are the most suspect“ (Sargent 2005: 417).
Die Lehrer sprechen von sich aus an, „role models” zu sein oder sein zu sollen. Dabei bleibt allerdings sehr unklar, was sie darunter verstehen bzw. wer welche Anforderungen an sie stellt. Wenn sie überhaupt präziser werden, dann im Blick auf ihre Rolle gegenüber Mädchen – für sie wollen sie eine Männerrolle zeigen, die jenseits von trinkenden und schlagenden Vätern liegt; ihre Rolle gegenüber Jungen bleibt dagegen vollkommen vage – für sie genügt das biologische Geschlecht. Seitens der Eltern nehmen sie Erwartungen wahr, die den Geschlechterstereotypen entsprechen. Sich selbst sehen sie jedoch keineswegs stereotyp.
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Ein zweiter Aspekt der konkreten Erfahrungen betrifft die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: Den Lehrern kommt sehr häufig zu, Arbeiten zu erledigen, die traditionellerweise an Männer delegiert werden: Schwere Dinge zu tragen, Möbel umzustellen, Technik zu bedienen. Außerdem werden ihren Klassen in der Regel die „schwierigen Schüler“ zugewiesen, weil von ihnen mehr Disziplinierung erwartet wird. Die befragten Lehrer trauten sich nicht, gegen diese Anforderungen zu protestieren, damit aber wird zur normalen Praxis, was letztlich als Geschlechterdifferenz verstanden und perpetuiert wird. Bei der Suche nach Bewältigungsmöglichkeiten für die widersprüchliche Situation, nicht gleichzeitig ein guter Grundschullehrer und ein Mann sein zu können, finden sich drei Muster: Rejection stance: Die Wichtigkeit des Beziehungsmomentes in der Grundschule wird zurückgewiesen zu Gunsten der Betonung des Fachlich-Sachlichen. Defiance stance: Diese Lehrer ignorieren die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie sich auf die Kontakte zu Kindern einlassen. Compensatory stance: Diese Lehrer betonen, dass die Kinder von ihnen etwas anderes bekämen – wenig konkret festgemacht am „männlichen Lehrer“. Durch Formen von Begrüßungen (high five) oder andere vorsichtige Belohnungen von Kindern, versuchen die Lehrer eigene Formen zu finden. Zugleich spüren sie die Ausgrenzung von den „eigentlichen“ Anforderungen an ihre Tätigkeit qua Geschlecht. Sargent schließt aus seinen Ergebnissen, dass es nicht primär eine Frage der Motivierung von Männern für das Grundschullehramt sei, sondern dass strukturelle Faktoren deren Arbeit erschwerten und diese – ähnlich wie beim Versuch Frauen in „Männerberufe“ zu integrieren – angegangen werden sollten. Die Interviews, die Sargent im weiteren Verlauf seiner Forschungen durchgeführt hat, bestätigen die hochgradige Vergeschlechtlichung des Arbeitsfeldes, die vor allem hergestellt wird durch die Assoziation der Tätigkeiten mit den Aufgaben von Müttern: „The image of teaching and childcare as women’s work is powerfully supported by the use of ‘mother’ and ‘mothering’ as metaphors for, respectively, the job positions and job functions within ECE (early childhood education)” (Sargent 2005: 253).
Da zugleich die Anforderung an die Lehrer ergeht, ein männliches „Rollenmodell“ zu repräsentieren, bringt dies Widersprüche mit sich, da mit Vaterschaft eher das Ernährermodell und/oder der „disciplinarian“ verbunden sind: „Because early childhood education is framed through the metaphor of motherhood, men cannot fit this metaphor while simultaneously living up to expectations of hegemonic masculinity and fatherhood.” (Sargent 2005: 255).
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Sargent interpretiert seine Ergebnisse im Licht des Connellschen Systems von Männlichkeiten (Connell 1995; Connell 1999). Er geht davon aus, dass hier untergeordnete Männlichkeit vorliegt: “I will argue that men in ECE10 are attempting to present a ‘subordinate’, or alternative, form of masculinity, but are constrained by powerful negative sanctions embedded in the culture of ECE. The behaviors presented by the men are artifacts of the gendered organization, not tools of the men as they attempt to organize their work life“ (Sargent 2004: 258).
Damit verweist Sargent auf den Widerspruch, der sich aus den Möglichkeiten für Männer in einem „weiblichen“ Arbeitsfeld und den Anforderungen an sie ergibt: Als Vertreter von hegemonialer Männlichkeit – um „Vorbild“ zu sein – geraten sie in eine marginalisierte Position. Dies muss allerdings keineswegs so sein. Andere Studien zeigen, dass Männer in der Grundschule durchaus auf Hegemonie setzen und sich damit gegen ihre Kolleginnen abgrenzen. Die Notwendigkeit, sich abzugrenzen, entsteht aus der oppositionellen Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit. Becky Francis und Christine Skelton zeigen in einer Zusammenstellung entsprechender Literatur und eigener Forschungsbeispiele, wie maskuline und feminine Eigenschaften konstruiert sind (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: “Masculine/feminine attributes in Western society” Masculine Rationality Strength Aggression Competition Mind Science Activity Independence Quelle: (Francis und Skelton 2001): 11
Feminine Emotion Frailty Care Cooperation Body Nature/Arts Passivity Dependence
Am Beispiel der Beschreibungen, die Francis und Skelton zusammentragen, soll im Folgenden exemplarisch verdeutlicht werden, wie „heterosexuelle Maskulinität im Klassenraum“ – so der Titel des Beitrags – hergestellt wird. Eine Möglichkeit dazu bietet die Infragestellung von Männlichkeit bei Jungen als Disziplinierungsform. Die beiden Autorinnen beschreiben ein Beispiel aus der eigenen Forschung: 10
Early Childhood Education
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“Rick (an Afro-Caribbean boy who presents himself as ‘hard’) asks Mr Q a question, suggesting an interpretation and asking if he is on the right track. Mr Q responds: Mr Q: Duuuuuuuhhh … it’s not about sound, [it’s about] Rick: I won’t have any confidence if you go ‘duuhh’ all the time. Mr Q: [laugh] It’d take a lot to destroy your confidence, pal. Rick: [affronted] Thass, thass what you think … I’m not a confident person you know. Mr Q: [dry] You’re a tender flower are you?” (Francis und Skelton 2001: 13).
Durch den Tonfall stellt der Lehrer Ricks Intelligenz in Frage. Als Rick dem Lehrer zu verstehen gibt, dass dies sein Selbstvertrauen unterminiere und ihn daran hindere, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen, reagiert der Lehrer mit einer klaren Zurückweisung. Diese beinhaltet interessanterweise eine Bestätigung von Ricks Männlichkeit: Als Mann könne er doch nicht an Mangel an Selbstvertrauen leiden! Da Rick jedoch weiterhin darauf besteht, Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, „verweiblicht“ der Lehrer ihn. Damit bringt er ihn vermutlich zum Schweigen. Weitere Formen beinhalten den Einsatz von Homophobie und Misogynie, wie folgendes aus einer Studie von Mahony zeigt, bei der ein Lehrer ankündigte, „‘Quick boys there’s a naked woman running across the playground’. When all the boys bar one rushed to the window, the teacher told them: ‘All right you can sit down now, I was just checking you were normal’. The boy who had not left his seat said, ‘I think that’s sexist sir’. Mahony recounts how the teacher replied, ‘Thank you S … now we know who isn’t normal’“ (Francis und Skelton 2001: 14).
Eine dritte Form bilden Ansätze, die zwischen Belästigung und Verführung liegen, in denen also mit Flirt und Anmache gespielt wird. Folgendes Beispiel zeigt dies: “As I go in to Nathan’s woodwork class to get him, a youngish male teacher is working with a big group of boys including Nathan. I say, ‘Can Nathan come with me for an interview, if he’s willing?’ Teacher eyes me roguishly and then the boys and says loudly, ‘Now there’s an offer you can’t refuse, Nathan’. The boys in the group laugh and tut and one says, ‘Oh sir’ reprovingly. (Francis, field notes)” (ebd.; 16; vgl. auch Haase 2008; für weitere Beispiele und Literaturangaben s. z.B. Lingard et al. 2009).11
Die bisher referierten Forschungen zeigen, dass es nicht allein vom guten oder bösen Willen der Männer, die als Grundschullehrer tätig sein wollen, abhängt, welche Rolle das Geschlecht in der täglichen Arbeit spielt. Während Sargent 11 Lehrerinnen sind – entgegen den Argumenten der „Vorbild“-Befürworter – durchaus beteiligt an der Herstellung von hegemonialer Männlichkeit in der Sozialisation der Jungen – für eine qualitative Forschung aus Südafrika dazu vgl. Bhana 2009.
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stärker auf die strukturellen Widersprüche aufmerksam gemacht hat, zeigen die Beispiele von Francis und Skelton den aktiven Part der Lehrer. Die Debatte um die Notwendigkeit von Männern im Schuldienst dramatisiert Geschlecht und erzwingt so eine Positionierung. Auch Schulleitungen erwarten dann „männliches“ Verhalten – wie eine neuseeländische Studie von Penni Cushmann (Cushman 2008) verdeutlicht. Lingard et al. können am Fallbeispiel des australischen Grundschullehrers Brian deutlich machen, wie eine solche Positionierung eine gute Lehrtätigkeit gefährden kann. Während in der Schule, an der Brian unterrichtet, die Lehrer in der Regel in den oberen Jahrgängen (im deutschen Schulsystem wäre das bereits in der Sekundarstufe I) eingesetzt sind, unterrichtet Brian eine 2. Klasse. Es ist seine zweite Lehrerstelle, er ist Mitte 20 und neu an dieser Schule. Er liebt lesen, Jungen wie Mädchen sind begeistert von ihm. Er wird nicht laut gegenüber Kindern, sein Klassenraum ist wunderschön mit den Arbeiten der Kinder dekoriert, seine Klassentür ist stets offen für Besuch. In den Pausen bewegt Brian sich sowohl im „Männer-“ wie im „Frauenbereich“ des Lehrerzimmers, er führt in beiden Bereichen Gespräche über Angelegenheiten der Kinder oder der Schule. D.h. weder erzählt er bei den Kolleginnen über sein Leben, noch beteiligt er sich bei den Kollegen an Diskussionen über Fußball. Wenn er diskutiert, dann über die Fächer, die er an der Universität studiert oder über Bildungspolitik. Brian gerät allerdings zunehmend unter Druck, mehr „Sonderaufgaben“ zu übernehmen: So sollte er das Fußballteam der 4. Klasse trainieren, was er ablehnte. Der Schulleiter – der sehr froh darüber ist, Brian an seiner Schule zu haben – drängte ihn, Koordinator des „Responsible Thinking Classroom“ zu werden, einem Bereich, zu dem viele störende Jungen für eine „Auszeit“ geschickt werden. Auch das hat er abgelehnt. Stattdessen überlegt er, den Lehrerberuf am Ende des Schuljahres aufzugeben (Lingard et al. 2009: 127ff). Lingard et al. zeigen an Brians Fall Gründe auf, warum Lehrer aussteigen. Oberflächlich sieht es so aus, als sei alles bestens, alle lieben Brian und lassen ihn das auch spüren. Aber: Er soll ein „männlicher“ Lehrer sein, nicht einfach ein Lehrer. „This expectation involves him being a disciplinarian and a sports coach“ (Lingard et al. 2009.: 128). Zwar respektieren ihn Eltern, Kolleginnen und Kollegen sowie die Schulleitung. Dennoch gehen sie davon aus, das er „mehr“ wollen müsste, nämlich Funktionen und Leitungen übernehmen. „It is interesting to note that many of the early childhood female teachers are not under the same pressure. The misogyny within this system works to suggest that they are happy with their lot, at the same time as working to suggest that Brian should not be. Brian’s lack of ambition and his dislike of sport position him as not a ‘real’ man. Whilst he appears to be valued within the school community, and appears to have a sense of that value, underpinning this valuing are discourses that police the boundaries of normalized masculinities. His stocks as a
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male teacher are likely to be dependent upon his conformity to such a construction of masculinity” (Lingard et al. 2009: 128).
Lingard et al. sehen gerade in der Debatte um männliche Lehrer mit dem damit einher gehenden Diskurs um Männlichkeit die Gefahr, Lehrer, die einfach nur gut sein wollen, aus dem System zu verdrängen: „It is also ironic that the very attempts to ‚masculinize‘ some men within the system are what can drive them away“ (Lingard et al. 2009: 129). Weitere Fallbeispiele, die auf Konflikte verweisen, mit denen Lehrer konfrontiert sind, wenn sie nicht dem hegemonialen Bild entsprechen (wollen), finden sich sowohl im Band von Lingard et al. wie z.B. in Mills et al. (2008) oder in Martino (Martino 2008). Haben die Aussagen sowohl von Lehrerinnen wie von Lehrern deutlich gemacht, dass die Forderung nach mehr männlichen Lehrkräften keineswegs zu einer einfachen Lösung von Geschlechterungleichheiten führt, so stellt sich abschließend die Frage, ob es dann nicht besser wäre, die Debatte zu beenden. Ist es nötig, den „Frauenberuf Grundschullehrerin“ zu einem neutralen zu machen?
6 Werden Männer tatsächlich als Vorbilder gebraucht? Anna Borkowsky, die für die Schweiz statistische Daten zum „Thema Gender und Bildung von Lehrpersonen“ zusammengetragen hat, merkt an, dass die Bezeichnung „Frauenberuf“ in mindestens drei Bedeutungen gebraucht werden kann: „im kulturell-normativen Sinne – gemeint ist ein Beruf, der den Eignungen und Neigungen von Frauen besonders entsprechen soll, im soziologischen Sinne – gemeint ist ein Beruf, der sich mit den anderen sozialen Rollen der Frauen, insbesondere ihren Verpflichtungen in der Haus- und Familienarbeit, besonders gut verbinden lässt, und im statistischen Sinn – gemeint ist ein Beruf, den Frauen besonders häufig ausüben“ (Borkowsky 2001: 366).
Die ausgewerteten Studien machen deutlich, dass in vielen Fällen den Vorstellungen über das Grundschullehramt die erste Bedeutung zugrunde liegt. Damit aber entstehen unüberbrückbare Widersprüche bei der Forderung nach mehr Männern in diesem Beruf – und vor allem die konkreten Erfahrungen von Grundschullehrern verweisen auf diese Widersprüche. Versteht man jedoch unter „Feminisierung“ die dritte Bedeutung der Bezeichnung „Frauenberuf“ und setzt als politische Vorstellung eine Geschlechterparität in allen gesellschaftlichen Bereichen, dann erhalten Versuche zur Veränderung der Teilhabe von Männern am Grundschullehramt einen anderen
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Sinn. Dann werden damit keine inhaltlichen Vorstellungen über geschlechtsspezifische Ausfüllungen des Amtes verbunden, sondern im Sinne eines diversity managements geht es darum, der Vielfalt der Kinder eine Vielfalt der Lehrkräfte gegenüber zu stellen. Das verweist jedoch zugleich auf die Notwendigkeit, nicht allein Geschlecht in den Blick zu nehmen, sondern weitere soziale Kategorien zu beachten. Migrationsstatus und soziale Herkunft sind zwei zentrale Differenzierungen, die bisher keineswegs in gleicher Weise im Blick sind wie das Geschlecht. Deshalb soll im Folgenden versucht werden, die Notwendigkeit von unterschiedlichen Erwachsenen in der Sozialisation von Mädchen und Jungen theoretisch zu begründen. Sozialisation bezeichnet den Prozess, in dem ein Mensch zum integrierten Angehörigen seiner kulturellen und gesellschaftlichen Bezugsgruppe wird. Dieser Prozess stellt eine aktive Auseinandersetzung des einzelnen mit seiner materiellen wie sozialen Umwelt dar. Für die Person selbst bedeutet der Sozialisationsprozess die Entwicklung einer eigenen Identität, welche sie zu etwas Einzigartigem macht, das dennoch nicht isoliert und unverbunden dasteht. Man kann den Sozialisationsprozess als ein „Mitgliedwerden“ bezeichnen. Die Mitgliedschaft bezieht sich dabei auch auf die Geschlechtszugehörigkeit, denn die wird keineswegs „natürlich“ gesteuert, sondern bedarf vielfältiger Lern- und Aushandlungsprozesse. Geschlecht ist ein Merkmal, dessen Erwerb, Erhalt und Ausfüllung eingebettet ist in die Sozialisationsprozesse des Mitgliedwerdens allgemein. Entscheidend ist dabei, dass Menschen in konkrete regionale, soziale und historische Situationen hinein geboren werden (vgl. Faulstich-Wieland 2000). Spätestens mit der Geburt und der Zuordnung zum weiblichen oder männlichen Geschlecht beginnt der Sozialisationsprozess, in dessen Verlauf das Mädchen bzw. der Junge sich aneignen muss, was diese Zuordnung bedeutet. Die dabei entstehende Verhaltenssicherheit befähigt sie, der Geschlechtszugehörigkeit Kontinuität zu verleihen, indem Mädchen bzw. Jungen sich in den Interaktionen jeweils wieder als Mädchen bzw. Jungen inszenieren und ihren Interaktionspartnerinnen und -partnern jeweils Gleich- oder Gegengeschlechtlichkeit zuschreiben. Dies ist mit dem Begriff „doing gender“ (West und Zimmerman 1991; Faulstich-Wieland 2004) gemeint, der darauf abhebt, dass Geschlecht „getan“ werden muss, weil man es nicht einfach ein für alle Mal „hat“. Candace West und Don Zimmerman, die als erste vom doing gender als der Herstellung und ständigen interaktiven Reproduktion von geschlechtsangemessenem Verhalten gesprochen haben, sehen in der Bewertung – also in der Frage nach der Geschlechtsangemessenheit – das entscheidende Moment. Allerdings geht es durchaus nicht darum, sich normativ korrekt zu verhalten – so wie es sich für
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eine Frau oder einen Mann idealerweise „gehört“, sondern das Verhalten eines Menschen kann immer vor der Folie der Geschlechtszugehörigkeit beurteilt werden. Doing gender „is to engage in behavior at the risk of gender assessment“ (West und Zimmerman 1991: 23). Inhaltlich existieren Geschlechterstereotype als „Wissen“ darum, wie Frauen bzw. Männer „sind“. Dabei handelt es sich nur bedingt um ein klar definiertes Wissen und zugleich um eines, das auf konkrete Personen keineswegs zutreffen muss, schon gar nicht „100-prozentig“. Adäquates Geschlechterverhalten (Goffman spricht von „Genderism“, Goffman 1994) wird zum einen durch explizite Ge- und Verbote über das, was sich für ein Mädchen oder einen Jungen „schickt“, gelernt, aber mindestens genauso entscheidend, wenn nicht noch wichtiger, sind die Geschlechterbilder, die durch Medien und durch reale Personen gelebt werden. Sie vermitteln die Normalität und Angemessenheit des Handelns von Frauen und Männern. Das heißt, in unserem alltäglichen Verhalten präsentieren und aktualisieren wir immer die Geschlechterdifferenz. Trotzdem verändern sich die kulturellen Formen von gender – gibt es je nach historischer und gesellschaftlicher Situation höchst unterschiedliche Bestimmungen dessen, was „accountable“ – geschlechtsangemessen – ist. Diese Veränderungen haben viel damit zu tun, dass einzelne Personen gegen die vorherrschenden Regeln verstoßen und so dokumentiert haben, dass anderes möglich ist. Vom Prozess her betrachtet gehen diese Einzelnen immer ein hohes Risiko ein, nämlich zumindest das Risiko der Ausgrenzung und Diskriminierung als „unweiblich“ oder „unmännlich“. Umgekehrt dienen sie leicht auch der Bestätigung der Geschlechterstereotype, weil sie als Ausnahmen zugleich auf die Gültigkeit der Regel verweisen. Eine „kritische Masse“ allerdings lässt die Bedeutsamkeit einer Eigenschaft oder Verhaltensweise als „typisch“ verschwinden. Das Hochschulstudium ist ein gutes Beispiel, um diese Entwicklung zu zeigen: Während es noch im 19. Jahrhundert heftige Auseinandersetzungen darum gegeben hat, ob Frauen überhaupt studierfähig seien, die Pionierinnen dann die berühmten Ausnahmen darstellten, sind Studentinnen heute nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern stellen schon fast eine Mehrheit. Im Blick auf „studieren“ allgemein oder auf „Studierfähigkeit“ hat also eine Entkoppelung mit dem Geschlecht stattgefunden. Geht man zurück auf die Aussage, dass Sozialisationsprozesse viel mit doxischen Selbstverständlichkeiten zu tun haben, so vermittelt die Existenz von Studentinnen im Studienalltag zugleich ihre Normalität. Wir wissen, dass dies nicht für alle Studienfächer gilt und insofern spezifische Zuschreibungen nach wie vor greifen. Diese gelten eben auch für das Grundschullehramt und – als Konsequenz für die Grundschule als weiblichem Arbeitsfeld. Die Koppelung des Feldes mit Geschlechterstereotypen – Beziehungsarbeit wird als wichtiger angesehen als Fachlichkeit und
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diese wird den Frauen zugesprochen – ist sozialisationsrelevant für Kinder. Eine Entkoppelung durch die Selbstverständlichkeit von Männern in diesem Feld darf man folglich theoretisch annehmen. Solange allerdings die Argumente an eine Dramatisierung von Geschlecht gebunden sind – also an die oben genannte erste Position des Verständnisses von Feminisierung des Berufs im kulturell-normativen Sinne –, müssen die Widersprüche von den einzelnen ausgehalten werden. Männer sollen dann „das Andere“ verkörpern, nämlich „Männlichkeit“ – und damit kann nur hegemoniale Männlichkeit gemeint sein, denn nur diese ist im allgemeinen Verständnis positiv konnotiert, während komplizenhafte, untergeordnete oder marginalisierte Männlichkeiten selbst mit Anerkennungsproblemen zu tun haben. Hegemoniale Männlichkeit ist zugleich gekennzeichnet durch eine Abgrenzung gegenüber Weiblichkeit. In der Konsequenz führt das zu sexistischen und misogynen Abwertungen der Arbeit von Lehrerinnen und zugleich zu Homophobie bei Lehrern (vgl. Francis und Skelton 2001; Haase 2008; Lingard et al. 2009). 12 Eine Entdramatisierung wäre vermittelt über das Diversity-Konzept möglich: Die Forderung nach Lehrkräften ganz unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit – das betrifft dann tatsächlich nicht nur das Geschlecht, sondern auch die soziale Herkunft, den Migrationsstatus und nicht zuletzt die Individualität der einzelnen – müsste einher gehen mit der Entkoppelung der Aufgabenbeschreibung an stereotypisierende Anforderungen (Skelton 2009). Das ist nicht ganz leicht, weil z.B. der Aufbau einer Beziehung zu den Lernenden genauso wichtig ist wie die Vertretung einer fachlichen Expertise. Dies gilt allerdings keineswegs nur für die Grundschule, sondern auch für die Sekundarstufen. Die Entkoppelung würde hier bedeuten, einerseits Beziehungsfähigkeit nicht für eine weibliche Eigenschaft zu halten – was sie ja auch keineswegs „natürlich“ ist, andererseits Fachlichkeit als zentrales Element gerade auch für qualitativ hochwertige Arbeit in der Grundschule herauszustellen – und diese nicht an Männlichkeit zu binden. Mehr Männer im Grundschullehramt ist sozialisationstheoretisch eine sinnvolle Forderung. Allerdings werden sie nicht als Vorbild für hegemoniale Männlichkeit benötigt, sondern gerade als Teil von vielfältigen Persönlichkeiten und Lebensgestaltungen – insofern genauso wie die Lehrerinnen als Teil von diversity. In einer pluralen Welt zu leben, erfordert auch für Sozialisationsprozesse die Mitgliedschaften weit zu fassen, aus ihren orientierenden Funktionen heraus Neugier und Anerkennung für andere entwickeln zu können. Dazu könnte die Schule einen weit größeren Beitrag leisten als sie es derzeit tut. 12
Frauen sind durchaus beteiligt an der Herstellung hegemonialer Männlichkeit – wie beispielsweise Deevia Bhana an vier Fallbeispielen aus Südafrika verdeutlicht (Bhana 2009).
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Die aufgezeigten Probleme mit Sexismus und Misogynie, die im Gefolge der Dramatisierung von Geschlecht im Diskurs um mehr Männer als Lehrer nahezu zwangsläufig sind, bedürfen zu ihrer Beseitigung jedoch mehr als einfach nur einer Erhöhung des Anteils von Männern im Lehrberuf. Becky Francis und Christine Skelton haben bereits 2001 auf die Notwendigkeit verwiesen, explizit gegen Sexismus vorzugehen. Dazu gehört als erstes, entsprechendes Verhalten von Schülern (und Schülerinnen) nicht zu akzeptieren: „it is imperative that teachers challenge their pupils‘ homophobic and misogynist remarks, as to ignore such behaviour condones and supports it as ‚normal‘ and acceptable“ (Francis und Skelton 2001: 18).
Darüber hinaus allerdings müssen die Lehrkräfte ihr eigenes Verhalten überprüfen: “teachers must go further and interrogate their own behavior, addressing any language or behaviour which is homophobic or sexist. However, if the use of such discourses is simply a strategy in the construction of masculinity, the implication is that the root problem must be tackled: in other words, the construction of the genders as different” (Francis und Skelton 2001: 18).
Die Dramatisierung des Geschlechts der Lehrkräfte, die Forderung nach Männern, die Männlichkeit verkörpern sollen, kommt aus dieser Falle nicht heraus. Insofern ergeht auch und gerade an Männer in diesem Beruf die Aufgabe, sich selbst über derartige Geschlechterbilder klar zu werden und sie mit ihren Schülern und Schülerinnen zu bearbeiten. Martin Mills, Wayne Martino und Bob Lingard bringen diese Argumentation für mehr Lehrer auf den Punkt: „While we are heavily critical of attempts to attract more male teachers that are based upon fallacious assumptions about the supposed benefits for boys of having men in their lives, we do believe that men need to take greater responsibility for the welfare of children – both boys and girls. Such a responsibility would involve ensuring that both girls and boys receive a quality education and also working to resist the limitations imposed upon students by dominant constructions of gender. This responsibility is unlikely to be carried out unless some attention is given to creating a school environment where misogyny and homophobia are not tolerated” (Mills et al. 2004: 366).
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Zum Zusammenhang von Geschlechterungleichheiten in Bildung, Beruf und Karriere: Ein Ausblick Regula Julia Leemann und Christian Imdorf
1 Einleitung Ziel der folgenden Ausführungen im abschließenden Teil dieses Sammelbands zur Entwicklung und Genese von geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten ist es, den Blick zu öffnen in Richtung Berufsleben. Wie sind die verbesserten Bildungsmöglichkeiten von Frauen zu interpretieren? Ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, eines der grundlegendsten gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse zu beseitigen? Oder beginnt sich dieses sogar zu verkehren in eine gesellschaftliche Benachteiligung der Männer? Wir gehen bei unseren Überlegungen von der These aus, dass ein Abbau von Benachteiligungen der Frauen im Bildungssystem für sich genommen noch wenig aussagekräftig ist, wenn wir uns mit der klassischen soziologischen Frage der Persistenz bzw. des Wandels von gesellschaftlichen Ungleichheiten befassen wollen. Erst wenn die ganze Verknüpfung von Bildung und gesellschaftlicher Ungleichheit in den Blick genommen wird und sich dabei zeigt, dass Frauen ihre Bildungsgewinne auch in entsprechende Chancen im Beschäftigungssystem umsetzen können, sind ihre verbesserten Bildungschancen ein Gewinn für die Individuen und ein Fortschritt für die Gesellschaft – und erst dann könnten mögliche Bildungsvorteile von Frauen, wie sie in den vorliegenden Aufsätzen z.T. diagnostiziert werden, gar als neue gesellschaftliche Benachteiligungen von Männern skandalisiert werden. Was meinen wir damit? Die Bedeutung von Bildung hat sich im Laufe der letzten 150 Jahre von einem persönlichen Gut, einem Mittel der individuellen Konsumption, hin zu einem gesellschaftlichen Gut gewandelt, das als Element des gesellschaftlichen Reichtums, als Triebkraft individueller und kollektiver Entwicklung, und als Moment des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses begriffen wird (Krais 1983: 217). Zu dieser gemeinhin geteilten Überzeugung bezüglich des Wertes und der Wichtigkeit von Bildung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess gehört auch die Vorstellung, dass mittels Bildung und der im Bildungssystem institutionalisierten Meritokratie gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse legitimiert sind (Becker und Hadjar 2009; Solga 2005).
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Konzeptionell können dabei zwei Aspekte unterschieden werden, welche zusammengenommen das Verhältnis von gesellschaftlicher Ungleichheitsstruktur und Bildung verständlich machen (Graf und Lamprecht 1991). Einerseits werden im pyramidal angelegten Bildungssystem über die Zertifizierung von (legitimen) Wissensbeständen, über die Ausdifferenzierung, Hierarchisierung und Kanalisierung von Bildungswegen sowie die damit einhergehende Konstruktion von höherer Bildung als knappes Gut Bildungsungleichheiten hergestellt. Es stellt sich hinsichtlich der Legitimation von sozialer Ungleichheit die empirisch zu beantwortende Frage, in welcher Beziehung die Ungleichheiten in den Bildungswegen und Bildungsergebnissen (Bildungsstatus) mit den institutionell verfestigten Positionen in der Sozialstruktur (Herkunftsstatus, Geschlechtsstatus, Migrationsstatus) der sich im Bildungssystem befindlichen nachwachsenden Generation stehen, inwiefern also gesellschaftliche Ungleichheiten in ungleiche Bildungslaufbahnen überführt werden. In den in diesem Band versammelten Aufsätzen wird dieser erste Aspekt hinsichtlich Geschlechterungleichheiten in den Blick genommen, indem die Entwicklungen in den Bildungsergebnissen nach Geschlecht in ihrem historischen Wandel dargestellt und mögliche Erklärungen dafür ausgebreitet werden. Andererseits sind in modernen Gesellschaften Fragen der Verteilung von sozialen Gütern und Lebenschancen, d.h. die Regelungen des Zugangs zu gesellschaftlichem Ansehen, Einkommen und Einfluss sowie zu den damit verknüpften Privilegien weitgehend an das Bildungssystem und die institutionalisierte Form von Tauschbeziehungen, den Markt, übertragen worden (Bornschier und Aebi 1992: 544). Bildungsabschlüsse (Zertifikate, Titel) sind eine Art "Geldmittel" oder "Kapital", welche zu bestimmten "Wechselkursen" in andere Formen von sozialen Gütern – insbesondere im Berufs- und Beschäftigungssystem – umgewandelt werden können. Voraussetzung dafür ist eine relativ enge Entsprechung der Hierarchien im Bildungs- und im Beschäftigungssystem. Bildungszertifikate berechtigen ihre Besitzer, bestimmte soziale Positionen innerhalb der gesellschaftlichen Sozialstruktur einzunehmen. Es stellt sich hier die ebenfalls empirisch zu beantwortende Frage, welchen gesellschaftlichen Wert bestimmten Bildungswegen und -titeln zugesprochen wird, und in welcher Beziehung diese mit weiteren Bildungsmöglichkeiten sowie beruflichen Wegen stehen, inwiefern also die Umwandlung von Bildungsstatus in gesellschaftlichen Status, Laufbahn- und Lebenschancen legitim verläuft oder durch soziale Ungleichheitsverhältnisse in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen moderiert wird. Die im Anschluss an die Bildungszugewinne von Frauen zu verfolgende Frage ist deshalb, ob Frauen diese im weiteren Lebensverlauf auch in entsprechende berufliche Positionen und Karrierechancen umsetzen können. Führen die
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von Frauen eingeschlagenen Bildungswege im Vergleich zu den von Männern beschrittenen zu gleichen Beschäftigungschancen? Haben sich parallel zu den vergrößerten Bildungschancen auch ihre beruflichen Möglichkeiten verbessert und sind sie im Erwerbsleben womöglich daran, die Männer zu überholen? Um diese Zusammenhänge untersuchen zu können, sind selbstredend umfassende und komplexe Forschungsdesigns notwendig, welche mittels Kohorten- und Panelanalysen den Wandel von Bildungschancen, Berufswegen und beruflichen Statusindikatoren sowie deren Beziehungen einfangen können, sowie internationale Vergleichsstudien, um den Dimensionen der nationalspezifisch unterschiedlichen Institutionalisierungen von Bildung und Beschäftigung gerecht zu werden. In den folgenden Ausführungen, welche sich einer institutionentheoretischen Herangehensweise verpflichten, beschränken wir uns im Sinne eines Ausblickes auf einige ausgewählte Aspekte des geschlechtsspezifischen Verhältnisses von Bildungswegen, Beruf und Karriere. Sie verweisen darauf, dass die proklamierten Bildungserfolge von Frauen bei genauerer Betrachtung relativiert werden müssen, da die in den gesellschaftlichen Institutionen Bildung, Arbeitsmarkt und Familie eingelassenen Geschlechterordnungen die Bildungs- und Berufswege von Frauen und Männern nach wie vor ungleich strukturieren. Um die Komplexität der Thematik etwas zu reduzieren, greifen wir in erster Linie auf empirische Resultate aus der Schweiz zurück, d.h. beschränken uns auf die spezifischen kulturellen und strukturellen Ausprägungen eines ausgewählten nationalstaatlich verfassten Gesellschaftssystems, das jedoch in vielen Bereichen Ähnlichkeiten mit Deutschland aufweist. Im Kapitel 2 und 3 befassen wir uns mit dem Zustandekommen von horizontaler Geschlechtersegregation in Bildung und Beruf und den Folgen für die Beschäftigungschancen von Frauen und Männern. Kapitel 4 fragt danach, ob Frauen ihre gestiegene Bildungspartizipation in eine entsprechende verbesserte berufliche Integration umwandeln können. In Kapitel 5 wird anhand einer eigenen Studie zu wissenschaftlichen Laufbahnen von Doktorierten des Schweizer Hochschulsystems für eine lebenslauftheoretische Sicht plädiert, welche die geschlechtsspezifisch ungleiche institutionelle Einbindung in die Familie sowie die Konstellation von Paaren miteinbezieht. Abschließend wird in Kapitel 6 eine Einschätzung vorgenommen zur Frage, ob die Bildungserfolge von Frauen in den letzten Jahren Anlass zur Befürchtung geben, dass sich das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis in nächster Zeit zu Ungunsten der Männer umkehren wird.
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2 Vergeschlechtlichte Bildungswege Um die Frage der geschlechtsspezifischen Verhältnisse von Bildung, Beruf und Karriere zu analysieren, werden im Folgenden die Bildungswege von Frauen und Männern und hierbei insbesondere das Zustandekommen horizontaler beruflicher Segregation durch vergeschlechtlichte Bildungswege analysiert. In den OECD-Ländern – mit Ausnahme der Schweiz und der Türkei – schließen Frauen heute häufiger eine Ausbildung auf Sekundarstufe II (ISCED 3) ab als Männer (OECD 2009: 45). Beim Zugang zur tertiären Ausbildung (ISCED 5) haben Frauen Männer ebenfalls überholt – auch in der Schweiz. Der Frauenanteil auf Tertiärstufe beträgt in allen Ländern mehr als die Hälfte, im Durchschnitt aller Länder 54 Prozent (OECD 2008: 53). Die damit verbundenen Bildungslaufbahnen sind je nach Modellierung der nationalen Bildungssysteme sehr unterschiedlich (OECD 2009: 295ff).1 Auf Sekundarstufe II sind allgemeinbildende, berufsbildungsvorbereitende und berufsbildende Bildungsgänge zu unterscheiden. Die berufsbildenden Wege sind nochmals zu differenzieren in solche mit rein schulischer Ausrichtung und solche des dualen Systems, in solche mit direkten Anschlussmöglichkeiten an das tertiäre Bildungssystem dank Hochschulzugangsberechtigung bzw. Maturität (ISCED 3a) und solche, welche dies nicht erlauben (ISCED 3b). Auf Tertiärstufe sind neben den klassisch universitären (ISCED 5a) auch stärker auf Berufsfelder ausgerichtete Fachhochschulen inkl. Pädagogische Hochschulen (ISCED 5a) oder höhere Fachschulen (ISCED 5b) vorhanden, wobei die Fachhochschulen und höheren Fachschulen bislang keine direkten Anschlussmöglichkeiten zu einem Doktoratsstudium eröffnen.
2.1 Geschlechterunterschiede in den Bildungswegen auf Sekundarstufe II Diese Wege im berufsbildenden und allgemeinbildenden Bildungssystem – in ihrer Gestalt historisch gewachsen – sind keineswegs geschlechterneutral (für eine Übersicht zur Schweiz für die Sekundarstufe II vgl. Imdorf 2005: 69ff). Die Geschlechter wurden – schon von Anbeginn der Institutionalisierung des öffentlichen Bildungssystems – spätestens nach der obligatorischen Volksschulzeit auf unterschiedliche Bildungswege gelenkt, welche die weiteren Bildungsmöglichkeiten sowie daran anschließende beruflichen Wege kanalisierten (Eidgenössische Frauenkommission 2010; Imdorf 2005: 144ff; für Deutschland Krüger
1
Für die Schweiz siehe SKBF 2010 und http://www.edudoc.ch/static/web/bildungssystem/grafik bildung_d.pdf, für Deutschland Cortina et al. 2008.
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1995: 209ff). Dies wird im Folgenden zuerst für den berufsbildenden, anschließend für den allgemeinbildenden Weg dargestellt.
2.1 1 Berufsbildender Weg In der Schweiz beginnen innerhalb von zwei Jahren nach der obligatorischen Schulzeit rund zwei Drittel der Schulabgängerinnen und Schulabgänger eine Berufsausbildung (Hupka 2003: 35), wobei insbesondere in der Deutschschweiz dies in Form einer Lehre im dualen System erfolgt. Gemäß BBT (2010: 11f.) absolvieren nur 17 Prozent aller Berufslernender eine berufliche Vollzeitschule (Deutschschweiz 13 Prozent, Westschweiz 28 Prozent, Tessin 24 Prozent).2 In der Deutschschweiz absolvieren Mädchen dabei häufiger eine berufliche Vollzeitschule als Jungen (Meyer 2009: 31). Diese geschlechtsspezifische Segregationslinie zwischen dualem und vollzeitschulischem System scheint sich jedoch in den letzten Jahrzehnten verkleinert zu haben. 1980 besuchten noch 21 Prozent der Frauen im Vergleich zu 9 Prozent der Männer eine Vollzeitschule. 1998 waren es noch 17 Prozent der Frauen und 11 Prozent der Männer (Borkowsky 2000), was auf die Gründung von Informatikerschulen sowie die wachsende Beliebtheit der Handelsschulen zurückzuführen ist. Wie Hupka et al. (in diesem Band) zeigen, wählen Knaben generell häufiger den Weg über die Berufsbildung als Mädchen. Zwei Jahre nach Schulabschluss befinden sich rund 55 Prozent der Mädchen, jedoch 75 Prozent der Knaben in einer Berufsausbildung. Hirschi (2009) weist nach, dass dies zum einen mit dem kleineren Ausbildungsplatzangebot frauentypischer Berufe im Verhältnis zu männertypischen Ausbildungsberufen zusammenhängt, zum anderen mit dem tendenziell höheren schulischen Anspruchsniveau der frauentypischen Ausbildungsberufe, was Mädchen auf dem anforderungstieferen Niveau der Sekundarstufe I bei der Ausbildungsplatzsuche benachteiligt (Imdorf 2005: 144). Die Einrichtung der Berufslehre – aus historischen Gründen stark im gewerblich-industriellen Wirtschaftssektor verankert (Jenzer 1998; Gonon 1998) – ist demnach immer noch stärker auf die Knaben ausgerichtet, auch wenn – im Zusammenhang mit dem Übergang der Berufsbildung in den Bereichen Gesund-
2
Seibert et al. (2009: 599) berücksichtigen in ihren Berechnungen nur die Ausbildungsplätze des ersten Ausbildungsjahres und berechnen auf dieser Grundlage für das Jahr 2004 mit 19,6% Vollzeitberufsschulen gegenüber 80,4% dualen Ausbildungen einen etwas höheren Anteil an Vollzeitschulen an sämtlichen voll qualifizierenden Berufsausbildungen. Dieser variiert dabei beträchtlich nach Kanton und schwankt zwischen 58% (Kt. Genf) und 0% (Kt. Nidwalden) (ebd., 601).
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heit, Soziales und Kunst in die Verantwortung des Bundes – in den letzten Jahren für die von den Mädchen präferierten Berufe im sozialen und pflegerischen Bereich Berufslehren mit einem eidgenössisch anerkannten Fähigkeitszeugnis (EFZ) geschaffen wurden (Fachangestellte Betreuung, Fachangestellte Gesundheit), welche nach der Lehre Anschlussmöglichkeiten an die entsprechenden Berufsausbildungen an den Fachhochschule erlauben (SKBF 2010: 164). Über die letzten Jahrzehnte sind die geschlechtsspezifischen Berufswahlmuster auf der Sekundarstufe II von großer Kontinuität gekennzeichnet. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, kommt es auf der Hitliste der zehn am häufigsten gewählten Berufe zwischen 1980 und 2000 kaum zu Veränderungen. Neben den von beiden Geschlechtern bevorzugten Berufsgruppen kaufmännische Angestellte und Büroberufe sowie Verkäufer und Detailhandelsangestellte figurieren Elektromonteure und -installateure, Mechaniker, Automechaniker, Maurer und Schreiner, Hoch- und Tiefbauzeichner, Landwirte und Küchenpersonal bei den Knaben an wichtiger Stelle. Primarlehrerin, medizinische Praxisassistentin und Arztgehilfin, Apothekenhelferin, Krankenschwester und Coiffeuse, Kindergärtnerinnen und Zahnarztgehilfinnen sind durchwegs prioritär für die Mädchen.
Tabelle 1: Die zehn häufigsten Ausbildungsberufe, 22-24jährige Frauen und Männer mit Ausbildungsabschluss Sekundarstufe II, 1980-2000 Rang
3
Männer Sekundarstufe II 1980 (22-24 Jährige) Kaufmännische Angestellte, Büroberufe Elektromonteure und installateure Mechaniker
4 5 6
Automechaniker Maurer Landwirte
Elektromonteure und installateure Automechaniker Landwirte Schreiner
7 8 9
Hoch- und Tiefbauzeichner Schreiner Verkäufer, Detailhandelsangestellte Primarlehrer Anteil der 10 häufigsten Ausbildungsberufe an allen Ausbildungsberufen: 52%
Maurer Küchenpersonal Verkäufer, Detailhandelsangestellte Maler, Tapezierer Anteil der 10 häufigsten Ausbildungsberufe an allen Ausbildungsberufen: 48%
1 2
10
Männer Sekundarstufe II 1990 (22-24 Jährige) Kaufmännische Angestellte, Büroberufe Mechaniker
Männer Sekundarstufe II 2000 (22-24 Jährige) Kaufmännische Angestellte, Büroberufe Elektromonteure und installateure Automechaniker Mechaniker Hoch- und Tiefbauzeichner Verkäufer, Detailhandelsangestellte Küchenpersonal Schreiner Elektronikerberufe Maurer Anteil der 10 häufigsten Ausbildungsberufe an allen Ausbildungsberufen: 46%
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Rang
5
Frauen Sekundarstufe II 1980 (22-24 Jährige) Kaufmännische Angestellte, Büroberufe Verkäuferinnen, Detailhandelsangestellte Primarlehrerinnen Medizinische Praxisassistent., Arztgehilfinnen Krankenschwestern
6
Coiffeusen
7
Spitalgehilfinnen, Hilfsschwestern Kindergärtnerinnen uvB
1 2 3 4
8 9
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Frauen Sekundarstufe II 1990 (22-24 Jährige) Kaufmännische Angestellte, Büroberufe Verkäuferinnen, Detailhandelsangestellte Coiffeusen Krankenschwestern
Frauen Sekundarstufe II 2000 (22-24 Jährige) Kaufmännische Angestellte, Büroberufe Verkäuferinnen, Detailhandelsangestellte Primarlehrerinnen Coiffeusen
Medizinische Praxisassistent., Arztgehilfinnen Primarlehrerinnen
Krankenschwestern
Zahnarztgehilfinnen Andere Berufe des Gastgewerbes Apothekenhelferinnen
Medizinische Praxisassistent., Arztgehilfinnen Apothekenhelferinnen Zahnarztgehilfinnen
Teleoperatricen und TeleKindergärtnerinnen uvB fonistinnen 10 Schneiderinnen Servicepersonal Floristinnen Anteil der 10 häufigsten Anteil der 10 häufigsten Anteil der 10 häufigsten Ausbildungsberufe an allen Ausbildungsberufe an allen Ausbildungsberufe an allen Ausbildungsberufen: 77% Ausbildungsberufen: 66% Ausbildungsberufen: 60% Datenquelle: Eidgenössische Volkszählungen, BFS Darstellung aus Leemann und Keck 2005: 75 Kursiv: In allen drei Kohorten gehört dieser Beruf zu den zehn häufigsten erlernten Ausbildungsberufen. Kursiv und fett: In allen drei Kohorten und sowohl für Frauen wie für Männer gehört dieser Beruf zu den zehn häufigsten erlernten Ausbildungsberufen. "uvB" (und verwandte Berufe)
Die Wahl von gegengeschlechtlichen Berufen ist nach wie vor mit großen Hürden verbunden. Im Kanton Zürich beispielsweise mündete im Jahr 2004 nur eine kleine Minderheit von 5 Prozent (9,1 Prozent der Frauen vs. 1,7 Prozent der Männer) in einen gegengeschlechtlichen Beruf. 61 Prozent der Frauen gegenüber 33 Prozent der Männer befanden sich in einem der gemischtgeschlechtlichten Berufe, welche tendenziell höhere schulische Anforderungen verlangen (Abraham und Arpagaus 2008: 213ff). Die Berufswahl ist – so können wir festhalten – nach wie vor von ausgeprägten horizontalen geschlechtsspezifischen Segregationen gekennzeichnet, welche trotz bemerkenswerten kulturellen Wandlungsprozessen ein außerordentliches Beharrungsvermögen erkennen lassen (SKBF 2010: 158). Auszubildende im dualen System der Schweiz haben seit 1970 die Möglichkeit, statt der die Lehre begleitenden Berufsfachschule die anspruchsvollere Berufsmittelschule zu besuchen (Criblez 2001). 1994 wurde sie in die sog. Be-
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rufsmaturitätsschule BMS überführt, welche erlaubt, eine Berufsmaturität zu erlangen und daran anschließend an eine Fachhochschule überzutreten. 3 Im Jahr 2009 wurden 56 Prozent der Berufsmaturitätszeugnisse an Männer ausgestellt, 44 Prozent an Frauen (BFS 2010: 45, eigene Berechnungen). Damit ist der Anteil der Frauen, der diesen Schultyp besucht, von 30 Prozent im Jahre 1988 (Gonon 2001: 63) auf heute 44 Prozent zwar beträchtlich gewachsen. Die Verteilung der Berufsmaturitätstitel, die nach beruflichen Richtungen ausgestellt werden, sind aufgrund der geschlechtsspezifischen Berufwahlmuster jedoch ebenfalls hochgradig geschlechtersegregiert – gesundheitliche, soziale sowie gestalterische Titel gehen mehrheitlich an Frauen, naturwissenschaftliche und technische Titel an Männer. Ausgeglichen ist das Geschlechterverhältnis bei den kaufmännischen und gewerblichen Titeln (vgl. BFS 2010). Diese Geschlechtertypik hat in der Folge Auswirkungen auf die Geschlechterverteilung an den verschiedenen Fachhochschulen, da die Berufsmaturitätstypen auf den Fachhochschulstudiengang abgestimmt sind und damit den weiteren Bildungs- und Berufsweg vorspuren (SKBF 2010: 147). Frauen treten des Weiteren nach einer Berufsmaturität mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit in ein Fachhochschulstudium über als Männer, wobei sich die Geschlechterunterschiede in den letzten Jahren stetig abgebaut haben (SKBF 2010: 156f).
2.1 2 Allgemeinbildender Weg Insgesamt befinden sich heute rund 20 Prozent der Knaben und 33 Prozent der Mädchen zwei Jahre nach der obligatorischen Schule in allgemeinbildenden Schulen (Gymnasien, Fachmittelschulen) der Sekundarstufe II (Hupka et al. in diesem Buch), Mädchen sind demnach klar übervertreten. Im Kanton Zürich hatten die weiblichen Jugendlichen schon um 1960 mit einer Mittelschülerquote von 10.5 Prozent mit den männlichen Jugendlichen (10.7 Prozent) gleichgezogen. Wenn jedoch die Schultypen betrachtet werden, wird erkennbar, dass die Mädchen damals in den sog. Diplommittelschulen DMS übervertreten waren, die Gymnasien dagegen noch von den Knaben dominiert wurden. Erst 1980 näherte sich die Gymnasialquote der Mädchen jener der Knaben an (Rieger 2001: 46).
3
Die Berufsmaturitätsschule wird während der Lehrzeit besucht und umfasst rund 1 Tag mehr Unterricht pro Woche als die Berufsfachschule (D: Berufsschule). Sie kann aber auch nach Abschluss der Berufslehre absolviert werden, dauert ein Jahr (Vollzeitschule) oder bis zu zwei Jahren (Teilzeitschule) und wird ebenfalls mit der Berufsmaturität abgeschlossen.
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Die Wurzeln dieser geschlechtsspezifischen Wege gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Als die Mädchen um die Jahrhundertwende immer stärker in die höheren Bildungsgänge strömten, wurden sie in die auf die bürgerliche Frauenrolle und auf Frauenberufe vorbereitenden höheren Töchterschulen und Handelsdiplomschulen – die Vorläufer der DMS – gelenkt (Rieger 2001), was dazu führte, dass diese Bildungsgänge bis heute mehrheitlich von Mädchen besucht werden (Imdorf 2005: 146). Im Jahre 2007/08 waren rund drei Viertel der Schülerschaft Mädchen (SKBF 2010: 164). In den letzten Jahren sind die DMS in sog. Fachmittelschulen FMS überführt worden, welche mit einer Fachmaturität abgeschlossen werden können. Diese bieten jedoch nach vier Jahren keinen berufsqualifizierenden Abschluss auf Sekundarstufe II, sondern bereiten auf einen Studiengang im nichtuniversitären Bereich vor (SKBF 2010: 166). Die FMS ist ein institutionalisierter Weg zu Ausbildungen in den klassischen Frauenberufen im pflegerischen, sozialen sowie pädagogischen Bereich4, welche seit rund zehn Jahren an Fachhochschulen5 angesiedelt sind. Bis heute gilt deshalb das Fazit von Krüger (1995: 211), dass dieser frauenspezifische Weg im Vergleich zum Weg über die duale Lehre eher höhere Ausbildungsvoraussetzungen erfordert6 (und damit die schulischen Vorsprünge von Mädchen sozusagen absorbiert werden), erheblich längere Ausbildungszeiten benötigt sowie finanziell größere Aufwendungen mit sich bringt, da die Lernenden in einer Berufslehre ein Lehrgeld erhalten und nach drei bis vier Jahren in den Arbeitsmarkt übertreten können. Für unsere Thematik ist des Weiteren die Tatsache interessant, dass die Fachmaturität nach vier Jahren nachobligatorischer Ausbildungszeit keinen Zugang zu den universitären Hochschulen ermöglicht7, im Gegensatz zum Weg über die Berufsbildung mit Berufsmaturität, bei dem neben dem direkten Übergang auf eine Fachhochschule eine sogenannte Passerelle (Übergang) zu den Universitäten eingerichtet
4
Für die Ausbildung zur Lehrerin/zum Lehrer auf Volksschulstufe (nur gewisse Kantone) und die Ausbildung für den Unterricht auf Sekundarstufe I wird jedoch eine gymnasiale Maturität verlangt. Mit der Erweiterung der Profile im Zusammenhang mit der Umwandlung von DMS in die FMS werden weitere Berufsfelder wie Bibliothekswesen, Tourismus oder Musik und Theater anvisiert. 5 Im Gegensatz zur französischsprachigen Schweiz verbleiben in der deutschsprachigen Schweiz jedoch einige Ausbildungen auf der Stufe der höheren Fachschulen (SKBF 2010: 164). 6 Die meisten Schüler/innen kommen aus der Sekundarstufe I mit erweiterten Ansprüchen, oder wechseln aus anderen allgemeinbildenden Schulen der Sekundarschule II. Nur 3% haben die Sekundarstufe mit Grundansprüchen besucht (SKBF 2010: 164). 7 Die Abgänger einer Fachmaturität können nur über den Weg eines erworbenen Bachelorabschlusses an einer Fachhochschule anschließend in ausgewählte Studiengänge (z.T. auch auf Masterniveau) an der Universität übertreten. In diesem Bereich ist zurzeit im Schweizer Bildungssystem sehr viel in Bewegung, so dass es nicht möglich ist, generalisierende Aussagen über Zugangswege zu machen.
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ist. Mit einer Ergänzungsprüfung kann ein universitäres Hochschulstudium begonnen werden. Ab den 1990er Jahren begannen die Mädchen die Knaben bezüglich Gymnasialbesuchs zu überholen, was u.a. auch auf die Auflösung der seminaristischen Ausbildung zur Lehrerin/zum Lehrer der Volksschule zurückgeführt werden kann (SKBF 2010: 122). Der aktuelle Anteil der Mädchen im Gymnasium von 57 Prozent wird gemäß Prognosen bis Ende dieser Dekade konstant bleiben (Babel und Strubi 2010). Zurzeit liegt die Maturitätsquote bei den Frauen bei 22.8 Prozent (Vergleichsgruppe sind alle 19-Jährigen), bei den Männern bei 15.8 Prozent (SKBF 2010: 136). Mädchen und Knaben wählen im Gymnasium unterschiedliche Schwerpunktfächer (fachliche Profile). Die Mädchen sind im neusprachlichen, musischen sowie im Profil PPP (Philosophie, Pädagogik, Psychologie) übervertreten. Von diesen Profilen aus wird seltener ein universitäres Studium und öfters ein Studium an einer pädagogischen Hochschule oder Fachhochschule angestrebt (Ramseier et al. 2005: 151-155). Größere geschlechtsspezifische Ungleichverteilungen zu Gunsten der Knaben finden sich im Profil PAM (Physik & angewandte Mathematik) und im Profil Wirtschaft & Recht. Von diesen Profilen aus wird sehr oft ein Universitätsstudium angestrebt. Im Ergebnis planen Mädchen am Ende des Gymnasiums signifikant seltener, an eine universitäre Hochschule überzutreten als Knaben, beabsichtigen dagegen häufiger, eine berufliche Ausbildung an einer Pädagogischen Hochschule oder Fachhochschule zu beginnen (Denzler und Wolter 2008). Das gewählte Profil hat nicht nur Auswirkungen auf den Hochschultyp, der nach der Maturität angepeilt wird, sondern auch auf die Studienwahl an der Universität (Bieri Buschor et al. 2008), vor allem in den Bereichen Sprachen und Mathematik. Als Fazit können wir festhalten: Die mit den erreichten Bildungstiteln sich eröffnenden weiteren Bildungswege auf der Sekundarstufe II sind nicht gleichwertig. Zu erwähnen ist insbesondere, dass bei dem von Frauen bevorzugten Weg über die Fachmittelschulen keine Passerelle an die Universitäten eingerichtet ist, im Gegensatz zum Weg über die Berufsmaturität. Für die von Mädchen und Knaben eingeschlagenen Bildungswege gelten zudem unterschiedliche schulische Anforderungen. Die von Mädchen präferierten Berufslehren sowie die rein schulischen, von Mädchen häufiger besuchten Wege über die Gymnasien und Fachmittelschulen sind intellektuell und kognitiv anspruchsvoller. Mädchen müssen also mehr leisten, um zum gleichen Bildungstitel zu kommen. Sie bringen aber dadurch bessere Voraussetzungen für die Aneignung der zukünftig immer wichtiger werdenden allgemeinen, überfachlichen „Schlüsselkompetenzen“ mit (Kupfer 2010).
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Berufsqualifizierende Abschlüsse, bei denen die jungen Männer überrepräsentiert sind, erlauben einen sofortigen, relativ gut abgesicherten Übergang ins Beschäftigungssystem und damit einen frühen Aufbau einer beruflichen Laufbahn mit entsprechenden Einkommensmöglichkeiten. Allgemeinbildende Abschlüsse dagegen – von Mädchen präferiert – erfordern weitere zeitliche und finanzielle Investitionen in Bildung, um im zertifikationsorientierten Beschäftigungssystem längerfristig gute berufliche Chancen zu erhalten. Der Strukturwandel Richtung Dienstleistungsgesellschaft wird innerhalb des Ausbildungssystems in erster Linie von den Frauen vollzogen. Das Beharrungsvermögen der männlichen Berufswahl insbesondere auf Sekundarstufe II kann inzwischen für die jungen Männer auch ein Beschäftigungsrisiko darstellen und muss von ihnen beim Übergang ins Berufsleben individuell durch einen Berufswechsel, verbunden mit einem sektoralen Wechsel, bewältigt werden (Leemann und Keck 2005).
2.2 Geschlechterunterschiede in den Bildungswegen auf Tertiärstufe Die im vorhergehenden Kapitel geschilderten geschlechtsspezifischen Differenzen in den eingeschlagenen Bildungswegen auf Sekundarstufe II ziehen eine unterschiedliche Verteilung der Geschlechter auf die einzelnen Studienfächer auf der Tertiärstufe (Fachhochschulen und Universitäten) nach sich. Im internationalen Vergleich fällt vor allem der tiefe Anteil der Frauen in den Natur- und Technischen Wissenschaften auf (OECD 2008: 53). Diese Unterrepräsentanz der Frauen in den sog. MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) auf Tertiärniveau ist sehr ausgeprägt: Im Vergleich mit 44 verschiedenen Ländern nimmt die Schweiz einen Spitzenplatz ein (Charles und Bradley 2009: 942). Dieses "sex segregation regime" wird von Charles und Bradley (2009) mit den in (post-)modernen Gesellschaften ausgeprägten Geschlechterideologien bezüglich Fähigkeiten von Frauen und Männern in Zusammenhang gebracht. Es ist jedoch nicht nur kulturell institutionalisiert, sondern auch durch die bildungsbiografisch frühe Berufs- und Profilwahl bedingt. Der Frauenanteil in den Fachhochschulen hat in den letzten Jahren zugenommen, und seit 2006 bilden Frauen erstmals die Mehrheit der Eintretenden. 8 Dies ist vor allem auf strukturelle Veränderungen in der Fachhochschullandschaft zurückzuführen. Im Zuge der Tertiarisierung der Lehrpersonenausbildung in den letzten Jahren wurden die Pädagogischen Hochschulen, und damit viele 8
Siehe http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/06/key/ind6.indicator.60202.602. html (Zugriff: 7.9.2010).
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Frauen, in die Fachhochschullandschaft integriert. Die Geschlechter verteilen sich – bedingt durch die geschilderten kanalisierenden und geschlechtlich geprägten Bildungswege – z.T. sehr ungleich auf die einzelnen Fachhochschulen. So sind im Jahre 2010 im Bereich Gesundheit nur knapp 14 Prozent, im Bereich angewandte Linguistik (Übersetzung und Dolmetschen) 18 Prozent männliche Studierende zu finden. Im Bereich Technik und IT gibt es hingegen nur 8 Prozent weibliche Studierende, im Bereich Architektur, Bau- und Planungswesen 26 Prozent. Zu den geschlechterausgeglichenen Studiengängen können Musik, Theater und andere Künste (Frauenanteil 55 Prozent) oder Wirtschaft und Dienstleistungen (Frauenanteil 45 Prozent) gezählt werden. Auch an den Universitäten treten mit 52 Prozent mehr Frauen als Männer ein. Die Frauen haben im Studienjahr 2001/02 die Männer anzahlmäßig das erste Mal überholt (Kunz 2010: 28ff). Die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Fächerwahl ist sehr ausgeprägt (Franzen et al. 2004), mit über die letzten Jahrzehnte stabilen Präferenzen der Frauen für Geistes-, Sozial- und Sprachwissenschaften, und denjenigen der Männer für Ingenieurwissenschaften (Leemann und Keck 2005: 77). Medizin, die Rechts- und die Wirtschaftwissenschaften dagegen werden von beiden Geschlechtern in ähnlichen Ausmaßen gewählt. Im Ergebnis sind die Studienfächer durch unterschiedliche Geschlechteranteile gekennzeichnet (SKBF 2010: 202). Dennoch sind auf Tertiärstufe eher Wandlungsprozesse erkennbar und die Geschlechterordnungen scheinen hier im Vergleich zur Sekundarstufe II weniger rigide zu sein (Leemann und Keck 2005: 122; Buchmann und Kriesi 2009). Die geschlechtsspezifische Struktur in der Studienwahl hat Implikationen für die letzte Bildungsstufe, das Doktorat. In den Sozial- und Geisteswissenschaften, welche sich durch eine hohe Konzentration von Frauen auszeichnen, sind die Geschlechterunterschiede in den Promotionschancen zu Ungunsten der Frauen am größten, und auch bei den jüngsten Jahrgängen mit Hochschulabschluss 1999-2001 haben innerhalb von fünf Jahren doppelt so viele Männer wie Frauen einen Doktortitel erworben (Dubach 2010: 48f). Mit Blick auf die für wissenschaftliche Laufbahnen in einigen Disziplinen relevante Habilitation kann ergänzt werden, dass auch hier in den Sozial- und Geisteswissenschaften innerhalb von 12 Jahren nach Erhalt des Doktorats Frauen signifikant seltener habilitieren (Dubach 2010: 54). Wie wir gezeigt haben, ist die geschlechtsspezifische Segregation im Bereich der Berufs- und Hochschulbildung nach wie vor markant und zeigt starke Beharrungstendenzen. In den letzten Jahrzehnten veränderten sich durch den Zustrom der Frauen die Geschlechterordnungen nur in einigen Fächern im Hochschulbereich. In der Schweiz gibt es demnach wenig Evidenz für ein säkulares „degendering“ in Bildungsinstitutionen (Charles und Bradley 2009: 959).
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3 Vergeschlechtlichte Wege vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem Das stark ausdifferenzierte Schweizer Ausbildungssystem strukturiert durch seine berufliche Ausrichtung sowohl der traditionellen Berufsbildung als auch der tertiären Studiengänge die horizontale Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundenen beruflichen und sozialen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen maßgeblich vor (Charles 2005; Charles und Buchmann 1994, Buchmann und Kriesi 2009; Smith und Steinmetz 2008).9 Auf der Ebene der konkreten Berufswahlen und des ersten ausgeübten Berufes zeigen Analysen der Volkszählungen zwischen 1970 und 2000, dass eine frappant hohe Kongruenz zwischen der Struktur der Berufsausbildungen und derjenigen der ausgeübten Tätigkeiten vorhanden ist. Ein Grossteil der Erwerbstätigen findet sich im selben Beruf oder zumindest in einem berufsnahen Tätigkeitsfeld wieder (Leemann und Keck 2005). Verantwortlich dafür sind zum einen die ausgeprägte berufsfachliche Segmentierung des Schweizer Arbeitsmarkts und die damit einhergehenden beruflichen Mobilitätsbarrieren (Sacchi, in Vorbereitung). Der über die Berufswahl eingeschlagene berufliche Weg ist nur schwer zu revidieren (Charles und Buchmann 1994). Zum anderen zwingt das Schweizer wie auch das Deutsche Bildungssystem Jugendliche bereits in jenem Alter, in welchem die geschlechtstypischen Identitätsbildungsprozesse ausgeprägt sind, sich beruflich zu orientieren. Geschlechtertypische berufliche Orientierungen sind unter dieser Voraussetzung besonders verbreitet, ohne dass sich die weiblichen Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt bereits der praktischen Nachteile von Frauenberufen bewusst sind (Buchmann und Charles 1995: 73; Abraham und Arpagaus 2008: 223). Geht man von der begründeten Annahme aus, dass Jugendliche die Entscheidungen zu ihrer beruflichen Zukunft schrittweise fällen, dann erklärt die Ungleichheit bei der Wahl der Ausbildung rund 92 Prozent der geschlechtsspezifischen Gesamtsegregation auf dem Arbeitsmarkt (Flückiger und Falter 2004: 41). Das Berufsprinzip ist in Westdeutschland (im Gegensatz zur ehemaligen DDR) kein geschlechtsneutraler Mechanismus der Arbeitsmarktallokation (Solga und Konietzka 2000). Die verminderte gesellschaftliche Wertschätzung von frauentypischen Tätigkeiten (gemessen an Entlöhnung, Prestige, Aufstiegschancen) resultiert in einer geschlechtsspezifisch differenten Wirksamkeit der Verwertbarkeit von Berufsabschlüssen. Dies gilt auch für die Schweiz, wo die vertikale Geschlechtersegregation des Arbeitsmarktes im internationalen Vergleich besonders stark mit der horizontalen Segregation zusammenhängt (Brid9
Für Deutschland siehe die wegweisende Studie Ende der 1980er Jahre von Blossfeld (1989).
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ges 2003). So zeigt Jann (2008) anhand der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung in der Schweiz für den Zeitraum 1991-2006, dass die horizontale berufliche Segregation nach Geschlecht (Frauenanteil in Beruf und Branche) ein wichtiger Faktor für Erklärung von Einkommensungleichheiten zwischen den Geschlechtern ist. Zum selben Ergebnis kommen Holst und Busch (2009), welche den "gender pay gap" für Führungspositionen in der Privatwirtschaft (Deutschland) untersuchen. Für Deutschland konnte Trappe (2006: 66ff) zeigen, dass Frauen in Westdeutschland einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt sind, unterhalb ihrer Qualifikation zu arbeiten, wenn sie einen frauentypischen Beruf (im Unterschied zu einem Misch- oder Männerberuf) erlernt haben. Dieses Risiko ist für Männer dann gegeben, wenn sie nicht einen männertypischen Beruf erlernt haben. Mütter mit einem typischen „Frauenberuf“ sind im Weiteren seltener erwerbstätig als Mütter in einem Männerberuf oder in einem geschlechtergemischten Beruf (vgl. Buchmann et al. 2002). Männerberufe oder integrierte Berufe bieten dank größerer Flexibilität in der Arbeitsgestaltung die besseren Möglichkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren. Diese Berufe fördern zudem eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit, weil ein längerer Unterbruch zu erhöhten Opportunitätskosten führt. Die typischen Frauenberufe in der Kategorie wie beispielsweise Detailhandelsangestellte, Friseurin oder Betagtenbetreuerin sind dagegen infolge ungünstiger Arbeitsbedingungen wie Schichtarbeit, Wochenendarbeit und langen Arbeitszeiten nur schwer mit den Zeiten der öffentlichen Kinderbetreuungsstätten und Schulen zu vereinbaren (Jurczyk 1993).
4 Geschlechterungleichheiten bei der Umwandlung von Bildungstiteln in berufliche Positionen und Laufbahnchancen Wie gezeigt wurde, haben Frauen in der Schweiz bezüglich formaler Bildung aufgeholt, die damit verbundenen schulischen und beruflichen Bildungswege unterscheiden sich jedoch zwischen den Geschlechtern nach wie vor in ihrer fach- und berufsspezifischen Ausrichtung. Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob Frauen ihre gestiegene Bildungspartizipation in eine entsprechende verbesserte berufliche Integration umwandeln können. Wie Buchmann et al. (2002) sowie Hecken (2006) in der Aufarbeitung des Forschungsstandes für die Schweiz und Deutschland zeigen, führt das gestiegene Bildungsniveau zu einer stärkeren Berufsorientierung von Frauen, d.h. zu weniger und kürzeren Erwerbsunterbrechungen im Zusammenhang mit der Gründung einer Familie. Seit 1970 hat die Erwerbsbeteiligung von Frauen als auch der Anteil an Erwerbstätigen markant zugenommen. Gleichzeitig arbeiten immer mehr Frauen Teilzeit
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(Buchmann und Kriesi 2008). Frauen und Männer unterscheiden sich heute kaum in ihrem durchschnittlichen Umfang der Erwerbstätigkeit, solange sie kinderlos sind. Sind aber Kinder vorhanden, reduziert sich bei den Frauen die durchschnittliche Anzahl Arbeitsstunden um die Hälfte (Bühler und Heye 2005). Inwiefern angeglichene Bildungschancen und erhöhte und konstantere Arbeitsmarktintegration auch in verbesserte Einkommens- und Karrierechancen umgemünzt werden, ist dagegen nicht vollständig geklärt. Mehrere Studien belegen, dass sich die geschlechtsspezifischen Barrieren in der Bildung zwar aufgelöst haben, im Berufsleben aber fortbestehen (vgl. den Forschungsstand in Buchmann et al. 2002 sowie Hecken 2006). Engelage und Hadjar (2008) untersuchen in diesem Zusammenhang für die Schweiz die Frage, ob sich eine Promotion beim Berufseinstieg für Frauen gleichermaßen auszahlt wie für Männer. Sie können erstens nachweisen, dass promovierte Frauen in allen Fächern weniger verdienen als Männer, insbesondere in den Ingenieurs- und Sozialwissenschaften. Zweitens zeigen sich deutliche Geschlechtereffekte zu Ungunsten der Frauen, wenn der Lohnvorteil einer Promotion im Vergleich zu einem Masterabschluss betrachtet wird. Frauen haben durch eine Promotion, Ausnahme sind die Ingenieurwissenschaften, geringere Lohnvorteile als Männer. Die Promotion lohnt sich offenbar mehr für die Männer. Ebenfalls promovierte Frauen und Männer in der Schweiz haben Engelage und Schubert (2009) hinsichtlich der Frage der Ausbildungsadäquatheit der Beschäftigung fünf bis zehn Jahre nach dem Doktorat untersucht. Dabei zeigt sich, dass der Zugang zu Führungspositionen für Frauen wesentlich schwieriger ist als für Männer, was bedeutet, dass sie hinsichtlich vertikaler ausbildungsadäquater Beschäftigung benachteiligt sind. Diese inadäquate Beschäftigung kann vor allem auf die überwiegend von Frauen ausgeübte Teilzeitarbeit zurückgeführt werden. Hecken (2006) untersucht in einer Kohortenstudie in der Schweiz den Zusammenhang von gestiegener Bildungsbeteiligung und höheren Bildungsniveaus mit dem erreichten Berufsstatus. Auch sie kommt zum Schluss, dass Frauen ihre (verbesserten) Ausbildungsabschlüsse – auch unter Kontrolle der Kohorten – nicht gleich gut in beruflichen Status umwandeln können wie Männer. Für jedes weitere Schuljahr ist die Bildungsrendite der Frauen geringer als jene der Männer. Heirat und insbesondere Teilzeitarbeit verringern diese Renditen nochmals. Hecken begründet dies einerseits mit der in der Schweiz nach wie vor ausgeprägten geschlechtsspezifischen Segregation der Ausbildungen und ausgeübten Berufe, andererseits mit der Tatsache, dass der zunehmenden Integration von Frauen ins Erwerbsleben nicht im gleichen Maße Veränderungen in den Mustern der familiären Arbeitsteilung gefolgt sind. Den Geschlechterordnungen in Bildung, Beruf und Familie kommen, so können wir festhalten, eine
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entscheidende Rolle zu für die Frage der Umsetzung verbesserter Bildungschancen von Frauen in berufliche Integrations- und Laufbahnchancen.
5 Geschlechterverhältnisse im Lebensverlauf Mayer und Blossfeld (1990) haben schon vor zwanzig Jahren in dem für die Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion von Ungleichheit im Lebensverlauf richtungsweisenden Aufsatz anhand empirischer Befunde aufgezeigt, dass die Berücksichtigung von lebenszeitlichen Aspekten der Ungleichheit und die Verknüpfung individueller Lebensläufe mit der Ebene gesellschaftlicher Institutionen für eine Beurteilung der Unterschiede von Frauen und Männern unverzichtbar ist, und dass die vergangene Lebensgeschichte die zukünftigen Lebenschancen endogen mitbestimmt. Krüger und Levy (2000, 2001) haben diese lebenslauftheoretische Perspektive ergänzt und erweitert und mit Blick auf die „verlinkten Leben“ von Paaren und Familien dafür plädiert, nicht nur die Laufbahnen von Individuen in den Blick zu nehmen, um die komplexen Konstruktionsprozesse von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten über den Lebenslauf hinweg zu verstehen. Ihr institutionenorientierter Lebenslaufansatz fokussiert neben normativ-kulturellen im Weiteren strukturelle, in und durch Organisationen geformte Handlungsspielräume oder -imperative, welche die Lebensläufe von Männern und Frauen strukturieren. Insbesondere verweisen sie auf die folgenden Dimensionen: Neben der Konzeption des Lebenslaufes als Sequenz von drei relevanten Lebenslauf-Institutionen (Bildung, Arbeitsmarkt, Pension), welche in einer diachronen Abfolge durchlebt werden, wird in einer synchronen Perspektive die gleichzeitige Einbindung in verschiedene soziale Institutionen, insbesondere auch in die Paarbeziehung und Familie als bedeutsam bewertet. Die Institution Familie führt verschiedene Lebensläufe und Lebenspläne zusammen: Partner mit ihren unterschiedlichen beruflichen Aspirationen und Einbindungen, Kinder mit ihren Beziehungen und (Bildungs-)Aktivitäten, weitere Familienmitglieder (z.B. Großeltern) mit ihren Bedürfnissen (Pflege) oder Unterstützungen (Kinderbetreuung). Dies erfordert, Lebensverläufe nicht als eine Angelegenheit von Einzelpersonen, sondern als Paar- oder Familienkonstruktionen zu verstehen. Neben der Institution Familie ist die Strukturierungskraft von Anliegerinstitutionen mitzubedenken. Moderne Gesellschaften sind funktional stark ausdifferenziert in verschiedene Subsysteme und Organisationen, welche das Alltagsleben und die Lebensläufe von Individuen und Familien prägen. Zu denken ist u.a. an Anforderungen und kulturelle Normen im Beschäftigungssystem (z.B. Flexibilität) oder Angebote, Öffnungs- und Betreuungszeiten wichtiger privater wie
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staatlicher Versorgungsinstitutionen (Schule, familienergänzende Betreuungsinstitutionen) (vgl. auch Buchmann und Charles 1995). Diese Institutionen erleichtern oder erschweren die Vereinbarung von Kindern und Erwerbsarbeit und damit die innerfamiliären Muster von Arbeitsteilung. Geschlecht als Masterstatus strukturiert die Lebensläufe ungleich für Männer und Frauen. Auf der Mikroebene wirkt Geschlecht durch ein „doing gender“ in den alltäglichen Interaktionen der Akteure in einer durch Zweigeschlechtlichkeit strukturierten Welt. Auf der Meso-Ebene ist Geschlecht als Strukturkategorie in mannigfaltiger Form in die Institutionen insbesondere des Bildungs-, Beschäftigungs- und Familiensystems und die Verknüpfungen und Interdependenzen der drei Systeme eingelassen.10 Die Bedeutung von geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten für Berufsleben und Karriere, so unsere These, kann nur unter Bezugnahme auf diese komplexe und umfassende Perspektive theoretisch wie empirisch angemessen bearbeitet und beantwortet werden. Dies soll zum Abschluss anhand einiger ausgewählter Resultate einer Längsschnittuntersuchung zu geschlechtsspezifischen Laufbahnchancen in der Wissenschaft illustriert werden. In der vom Bundesamt für Statistik betreuten Panel-Studie wurden alle im Jahre 2002 in der Schweiz Doktorierten ein Jahr (2003) und fünf Jahre (2007) nach Abschluss der Dissertation zu ihrer weiteren beruflichen Entwicklung befragt. Zusätzlich wurden mit einer ausgewählten Stichprobe vertiefende Interviews geführt (vgl. Leemann und Stutz 2008). Dank Zusatzmodulen in den beiden Panels zu Bedingungen und Entwicklungen von wissenschaftlichen Laufbahnen konnte die Karriereentwicklung von Nachwuchsforschenden analysiert werden, wobei die Ursachen und Ausprägungen der „Leaky Pipeline“, des überproportionalen Verlusts weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses, im Zentrum stand. Bei gleichem Bildungsniveau der Befragten (Promotion) zeigen sich innerhalb des Beobachtungszeitraums von fünf Jahren für eine erfolgreiche wissenschaftliche Laufbahn ungleiche Entwicklungen nach Geschlecht, welche auch im weiteren Berufsverlauf geringere Karrierechancen von Frauen erwarten lassen. Geschlecht als Masterstatus macht sich bei der Förderung und Integration der Nachwuchsforschenden bemerkbar. So haben Nachwuchswissenschaftlerinnen eine signifikant geringere Chance – weniger als halb so groß wie männliche Nachwuchskräfte – in der Postdocphase einen Professor oder eine Professorin
10 In Studien zu Erwerbsverläufen von Frauen werden die (trotz erfolgreicher Bildungsabschlüsse) eingeschlagenen statusgeringeren Wege nicht selten damit erklärt, dass Frauen – ihre zukünftige Rolle als Mutter und Ehefrau antizipierend – entsprechende Laufbahnentscheidungen treffen, als würden die sozialen Verhältnisse in der Institution Familie nicht mit der Arbeitssphäre zusammenhängen.
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zu finden, der/die sie im Sinne eines Mentorings entscheidend unterstützt und fördert (Leemann et al. 2010a). Auch die Einbindung von Frauen in internationale Netzwerke ist zum Befragungszeitpunkt 2007 signifikant schlechter als jene ihrer männlichen Kollegen (Leemann et al. 2010b). Dies kann mitunter die Tatsache erklären, dass die weiblichen Nachwuchswissenschaftler seit dem Doktorat im Durchschnitt nur knapp zwei Drittel so viel publiziert haben wie die männlichen (Leemann und Stutz 2008). Auch die Familiensituation der Nachwuchskräfte ist durch geschlechtsspezifische Strukturen gekennzeichnet (vgl. im Folgenden auch Leemann et al. 2010a). Zum Befragungszeitpunkt 2007 leben die Akademikerinnen und Akademiker zwar gleich häufig in einer Partnerschaft. Die Gründung einer Familie ist für Frauen im Vergleich zu den Männern jedoch schwieriger mit einer weiteren Karriere zu verbinden. Dies zeigt sich anhand dreier Phänomene. Erstens haben die Frauen fünf Jahre nach dem Doktorat weniger häufig Kinder. Im Hochschulbereich tätige Frauen haben zu 32 Prozent mindestens ein Kind, wenn sie außerhalb der Hochschule arbeiten, ist dieser Anteil mit 38 Prozent etwas höher. Männer im Hochschulbereich haben in 43 Prozent der Fälle mindestens ein Kind, wenn sie in andere Tätigkeitsbereiche gewechselt haben, sind sie in 57 Prozent der Fälle Vater geworden. Wie weitere Auswertungen zeigen, planen Frauen, falls sie (noch) keine Kinder haben, auch weniger Kinder für die Zukunft als Männer. Die Geschlechterunterschiede bezüglich Elternschaft werden sich demnach noch vergrößern. Diese Ergebnisse verweisen darauf, dass in der Schweiz die Vereinbarung einer wissenschaftlichen Laufbahn mit der Gründung einer Familie nicht nur durch die Geschlechtszugehörigkeit, sondern auch durch institutionelle Faktoren des wissenschaftlichen Feldes erschwert wird, bei beiden Geschlechtern. Zweitens verändert sich das zuvor noch relativ gleichartige erwerbsbezogene Muster der Arbeitsteilung der Paare, wenn die Paartypen befragte Akademikerin & Partner(in) mit befragten Akademiker & Partner(in)11 betrachtet werden, eklatant, wenn Kinder dazu stoßen. Weibliche Doktorierte mit Kindern sind zwar größtenteils (85 Prozent) erwerbstätig, jedoch häufig nur in Teilzeit (66 Prozent der Befragten). In ca. 30 Prozent der Fälle sind auch ihre Partner Teilzeit erwerbstätig, die restlichen 70 Prozent arbeiten Vollzeit. Haben dagegen männliche Doktorierte Kinder, ändern sie ihr Erwerbsverhalten nicht und sind mit wenigen Ausnahmen weiterhin berufstätig, zum größten Teil Vollzeit (80
11 Da es sich in den meisten Fällen um heterosexuelle Paarkonstellationen handeln wird, ist im Folgenden das Geschlecht der Partner jeweils entsprechend als männlich oder weiblich angenommen.
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Prozent). Ihre Partnerinnen aber reduzieren häufig auf Teilzeit (50 Prozent) oder unterbrechen die Erwerbstätigkeit ganz (40 Prozent). Drittens zeigt die Aufteilung der Verantwortung für die Kinderbetreuung in Paarhaushalten auch in dieser Gruppe von Hochqualifizierten die bekannten Muster innerfamiliärer Arbeitsteilung. Die Hälfte der Väter kann sich auf eine Partnerin abstützen, welche die Kinderbetreuung an Werktagen vollumfänglich übernimmt oder organisiert. Dies ist bei den befragten Müttern kaum der Fall. Sie sind immer in die Betreuung involviert, indem sie selbst Betreuungsaufgaben übernehmen und die Betreuung mit Hilfe von Drittpersonen und Betreuungsinstitutionen organisieren.12 Die Relevanz der „linked lives“ – oder in diesem Kontext der „dual career couples“ – macht sich ganz konkret bemerkbar bei der für eine wissenschaftliche Laufbahn bedeutsamen geografischen akademischen Mobilität. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche zum Zeitpunkt des Doktorats in einer Paarbeziehung lebten, sich in der Postdocphase signifikant seltener für eine wissenschaftliche Phase ins Ausland begeben. Der im wissenschaftlichen Feld geforderte Idealtypus eines Wissenschaftlerunternehmers, „nomadic and monadic, de-territorialised, disembodied and dis-embedded“ (Leemann 2010) ist männlich, jung, stammt aus akademischer Herkunftsfamilie, hat (noch) keine Kinder, lebt nicht in fester Partnerschaft und wird wissenschaftlich durch einen Mentor und Institutionen der Forschungsförderung unterstützt. Wie in Kapitel 4 und 5 gezeigt, haben hochqualifizierte Frauen (mit Promotion) bei der Verfolgung einer Karriere in- und außerhalb der Wissenschaft größere Hindernisse zu überwinden als hochqualifizierte Männer. Sie verdienen weniger, werden weniger gefördert und sind schon wenige Jahre nach der Promotion in Führungspositionen untervertreten.
6 Zum Zusammenhang von Bildung, Beruf und Karriere aus Geschlechterperspektive: Ein Fazit Wie ist nun das Aufholen der Frauen – oder gar Überholen der Männer – im Bildungsbereich im Hinblick auf die Frage von Persistenz und Wandel von
12 In der Schweiz ist in der Gesamtbevölkerung die traditionelle Versorgerehe (der Mann arbeitet Vollzeit, die Frau Teilzeit oder ist nicht erwerbstätig und übernimmt den größten Teil der Familienarbeit) nach wie vor vorherrschend (Strub et al. 2005; Baumgartner 2006). Frauen und Männer sind in der Folge sehr ungleich in die Sphären von Familien- und Erwerbsleben eingebunden, sobald Kinder vorhanden sind.
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gesellschaftlichen Geschlechterungleichheiten abschließend einzuordnen? Ziel des Aufsatzes war es, eine Interpretationsfolie zu dieser Frage zu skizzieren und eine Einschätzung vorzunehmen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass Untersuchungen von Geschlechterungleichheiten im Bildungssystem, welche auf der Ebene der ISCEDKlassifikationen operieren, zu kurz greifen. Sie können die in den Kategorien zusammengefassten unterschiedlichen Bildungswege und Bildungstitel und die darin angelegten ungleichen Beschäftigungschancen nicht erfassen. Zwei Charakteristiken des schweizerischen wie auch des deutschen Bildungssystems erfordern differenziertere Analysen. Zum einen ist dies die ausgeprägte Binarität des Systems, mit den biografisch früh eingeleiteten und voneinander getrennten beruflichen und allgemeinbildenden Pfaden, welche in sich nach Fachrichtungen weiter stark ausdifferenziert sind. Zum anderen ist dies der sich nach wie vor stark auf die Institution der Beruflichkeit und der Zertifizierung stützende Arbeitsmarkt, der eine enge Verbindung zum Bildungssystem schafft (Buchmann und Sacchi 1998). Wir haben den Blick auf den Zusammenhang zwischen Bildung, Beruf und Karriere gerichtet und herausgearbeitet, dass Analysen von Transformationen oder Beharrungstendenzen des Geschlechterverhältnisses Phänomene und Wandlungsprozesse in den Institutionen Bildung, Beschäftigung, Familie und Lebenslauf untersuchen und aufeinander beziehen müssen (vgl. Kraus 2006). Empirische Ergebnisse für die gegenwärtige Situation in der Schweiz verweisen auf anhaltende sozial relevante Geschlechterordnungen im Dreieck Bildung, Beruf und Familie, welche im Ergebnis dafür verantwortlich sind, dass Frauen ihre Bildungsgewinne der letzten dreißig Jahre nicht angemessen in berufliche Chancen umwandeln konnten. Es sind dies erstens die in den Ausbildungswegen angelegten Geschlechtersegregationen, welche Frauen und Männer in unterschiedliche berufliche Felder und zu ungleichen beruflichen Beschäftigungschancen führen, zweitens Benachteiligungen von Frauen bei der Umwandlung von gleichen oder vergleichbaren Bildungstiteln in berufliche Positionen und Laufbahnchancen, sowie drittens der Umstand, dass Frauen ihr Bildungskapital durch die ihnen gesellschaftlich zugewiesene Reproduktionsarbeit nicht zu den gleichen Bedingungen in Einkommen, Berufsstatus und formale Autorität ummünzen können und deshalb im Bereich der Familie (mit dem Verzicht auf Kinder) oder im Beruf (mit Teilzeitarbeit und Karriereverzicht) zurückstecken müssen. Befürchtungen, dass sich das Geschlechterverhältnis in den nächsten Jahren nun zu Ungunsten der Männer umkehren wird, scheinen angesichts der großen Persistenz der Frauen benachteiligenden Geschlechterungleichheiten in Beschäftigung und Familie zurzeit unbegründet.
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Was können wir aus den Befunden lernen? Empfehlungen für Lehrpersonen, Lehrpersonenausbildende und die Bildungspolitik Elisabeth Grünewald-Huber
Wie können wir angesichts der Vielfalt der Herausforderungen in der Welt mit nur einem Geschlecht auskommen? Virginia Woolf Die Beiträge in diesem Band zeigen, dass die Gründe für geschlechtertypische Bildungsungleichheiten sehr vielschichtig und komplex sind, sich je nach Ausbildungsdauer oder Lebensphase unterschiedlich manifestieren und in alle zentralen Lebensbereiche hineinreichen bzw. von diesen mitbedingt sind. Vermittelt werden sie auf vielfältige Weisen über normativ-kulturelle wie auch strukturelle Faktoren. Der Abbau bestehender Geschlechterungleichheiten im Schulerfolg sowie in Ausbildungs- und Berufsentscheiden würde Maßnahmen erfordern, die entsprechend vielfältig und auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind sowie den in den Befunden ersichtlichen unterschiedlichen Wechselwirkungen Rechnung tragen. Im Folgenden werden einige Möglichkeiten skizziert, wie auf verschiedenen Interventionsebenen in Richtung eines Abbaus der heute bestehenden Ungleichheiten hingewirkt werden könnte.
Ebene Schulen/Ausbildung von Schülerinnen und Schülern Unterrichtsebene. In den vielfältigen Analysen haben sich folgende Faktoren herauskristallisiert, die für den im Vergleich zu Schülerinnen geringeren Schulerfolg der Schüler bedeutsam sind: • ein tieferes Commitment für Schulisches/eine tiefere Lernbereitschaft (vgl. Quenzel und Hurrelmann; Bacher et al.; Lupatsch und Hadjar; Grünewald-Huber et al.; Neugebauer in diesem Band), • eine tiefere Lesekompetenz, was sich in praktisch allen Fächern auswirkt (Quenzel und Hurrelmann),
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ein schulischem Erfolg entgegen wirkendes oder deviantes Verhalten (z.B. Lupatsch und Hadjar), stärker auf kurzfristige und materielle Gewinne ausgerichtete und so mit Schule wenig kompatible Wertorientierungen (Quenzel und Hurrelmann), unrealistische Leistungsselbstbilder und schön-färbende Misserfolgsverarbeitung (Grünewald-Huber et al.), stärkere Schulentfremdung (Lupatsch und Hadjar), eine Betonung von Begabung gegenüber Anstrengung als relevant für Schulerfolg (z.B. Grünewald-Huber et al.), fehlende Problembewältigungsstrategien und Problemlösekompetenzen im Zusammenhang mit anstehenden Entwicklungsaufgaben (Quenzel und Hurrelmann), ein schlechterer Transfer von elterlichem kulturellem Kapital (Bourdieu) auf die Söhne (Hupka et al.), tiefere Selbstkontrolle als wichtige Voraussetzung für langfristige Ziele (Baier und Pfeiffer), traditionelle Geschlechterbilder mit negativen Auswirkungen auf Interesse, Motivation und Leistungen (Francis und Skelton; Lupatsch und Hadjar, Grünewald-Huber et al.) und eine schulischem Lernen abträgliche Freizeitgestaltung (Baier und Pfeiffer).
Ein Unterricht, der die Erfolgschancen von Jungen erhöht, könnte demnach folgende Elemente berücksichtigen: Ein autoritativer Unterrichtsstil1 baut Schulentfremdung – und damit auch deviantes Verhalten – ab und erhöht das schulische Commitment. Eine realistisch-kritische Rückmeldepraxis an die Schüler betont die Bedeutung von Anstrengung für den Schulerfolg, da nur eine solche die vorhandenen Begabungen zur Anwendung bringt. Jungen erhalten Möglichkeiten, sich die nötigen Kompetenzen für die Bewältigung biographisch anstehender Entwicklungsaufgaben aufzubauen (z.B. Reflexionskompetenz). Die Lehrpersonen, der Unterricht und die Schule als Institution wirken in Richtung eines Abbaus traditioneller Geschlechterbilder. Dies dürfte sich vor allem für Jungen positiv auswirken, da bei ihnen einerseits traditionelle Geschlechterbilder verbreiteter sind und diese andererseits im Widerspruch mit schulischem Erfolg stehen. In diesem Zusammenhang sind auch das Coolness-Diktat und die Angst der schulisch interessierten Jungen als Streber zu gelten, kritisch zu the1
Ein autoritativer Unterrichtsstil zeichnet sich durch eine Kombination aus klarer Führung und empathischer Unterstützung der Schülerinnen und Schüler aus.
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matisieren. Die Lesekompetenz der Jungen sollte mit geeigneten pädagogischen und didaktischen Mitteln verbessert werden. Hier erscheinen u.a. Maßnahmen sinnvoll, welche die Lesemotivation fördern. Jungen brauchen insbesondere Klartext-Rückmeldungen zu ihren Leistungsständen und ihrem (Lern)Verhalten, damit sie sich nicht in falscher Sicherheit wiegen oder die Illusion eigener Genialität pflegen können. Daran anschließend sollten Jungen klare Arbeitsaufträge erhalten, die ihnen jedoch ausreichend selbstgesteuertes Lernen erlauben; dieses wird von Jungen deutlich öfter angemahnt als von Schülerinnen (Grünewald-Huber et al.). Um sich nicht zu überfordern, sollte es Lehrpersonen bewusst sein, dass sich ihnen im Unterricht Spielräume für die Motivations-, Verhaltens- und Leistungsverbesserung ihrer Lernenden bieten, dass es jedoch im Familien- und Peerkontext besonders in den Bereichen Wertorientierung, (traditionelle) Geschlechterrollen und Freizeitgestaltung mehr oder weniger starke Gegenkräfte geben kann. Für Mädchen/Frauen wurden ebenfalls in den verschiedenen Beiträgen dieses Buches Risikofaktoren benannt: • eine erhöhte Vulnerabilität und stark emotionale Reaktionsmuster (Hascher und Hagenauer), • fehlende Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (Lazarides et al.), • tiefere Erwartungen an die eigenen Bildungserträge und eine – im Vergleich zu den Jungen – tatsächlich niedrigere Bildungsrendite (Lörz et al.; Leemann und Imdorf), • eine frühe Festlegung auf traditionell weibliche Ausbildungs- und Berufsbereiche mit der Aussicht auf unsicherere und tiefer entlöhnte Anstellungen (Leemann und Imdorf). Ein Unterricht, der den für Mädchen bestehenden Nachteilen Rechnung trägt, könnte sich durch folgende Merkmale auszeichnen: Die besondere Vulnerabilität und Emotionalität von Mädchen in der Pubertätsphase wird berücksichtigt. Tiefe Selbstwerte und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen – insbesondere hinsichtlich männlich konnotierten Fächern wie Mathematik – werden mittels Ermutigung und Reattribuierungen schulischer (Miss)Erfolge verbessert. Mädchen erhalten Gelegenheiten, in unterschiedlichste Fachbereiche einzutauchen und so ihre ganze Begabungspalette zu entwickeln. Männlich dominierte Fächer und Berufsfelder werden ihnen nahe gebraucht und das ihnen anhaftende traditionelle Gendering thematisiert und abgebaut. Geringer Selbstwert und tiefe Fähigkeitsselbstkonzepte führen bei Mädchen tendenziell zu einem überengagierten, wenig gelassenen Arbeitsstil und beeinträchtigen ihr schulisches Wohlbefinden (Hascher und Hagenauer). Es ist des-
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halb bei Mädchen auf einen intakten Selbstwert und mehr Gelassenheit hinzuwirken; damit könnten sie oft dieselben Leistungen mit einem geringeren Aufwand erreichen. Andererseits führt der tiefe Selbstwert der Mädchen mit dazu, dass sie trotz glänzender Bildungsabschlüsse in der Arbeitswelt nicht zu angemessenen Positionen kommen. Auch dies spricht dafür, Mädchen in ihrem Selbstwert zu stärken und eine Korrektur ungünstiger Fähigkeitsselbstkonzepte insbesondere in gegengeschlechtlich zugeschriebenen Fächern anzuregen und zu unterstützen. Die Tatsache der tieferen Bildungserträge durch weibliche Bildungsanstrengungen bleibt ein außerschulisch zu lösendes Problem.
Institutionelle Ebene von Ausbildungsinstitutionen Die institutionelle Ebene wird in den Beiträgen dieses Bandes über allgemeine Hinweise auf ihre Bedeutung für das Thema ungleicher Schulerfolge eher wenig angesprochen. Genannt wird, dass höhere weibliche Anteile bei den Lehrpersonen und in den Klassen zu kleineren Bildungsunterschieden zwischen den Geschlechtern führen (Baier und Pfeiffer) und dass es neben Feminisierungs- auch Remaskulini-sierungstendenzen in Bildungsinstitutionen gibt (Francis und Skelton). Dennoch bestehen auf der Gesamtebene von Bildungsinstitutionen hinsichtlich der von ihnen mit produzierten Bildungs(un)gleichheiten äußerst relevante Parameter, die es gendersensibel einzustellen gilt: Öffentliche Auftritte und Öffentlichkeitsarbeit sollten stärker gendersensibel gestaltet werden (u.a. sprachliche Repräsentation der Geschlechter). Es sollte eine gleiche vertikale und horizontale Geschlechterverteilung angestrebt werden, d.h. – vertikal gesehen – möglichst gleiche Lehrerinnen- und Lehreranteile auf verschiedenen Ausbildungsstufen und Hierarchiestufen (z.B. Schulleitungen) und – horizontal gesehen – gleiche Anteile in verschiedenen Fachbereichen und bei Zusatzaufgaben (z.B. Wartung technischer Geräte). Auch Zeitstrukturen sind zu überdenken; Tagesstrukturen könnten z.B. das Freizeitverhalten der Jungen verbessern. Fächer sollten von ihren Geschlechterkonnotationen – Mathematik als ‚männlich’, Sprachen als ‚weiblich’ – befreit werden, u.a. dadurch, dass sie vorzugsweise vom ‚untypischen’ Geschlecht unterrichtet werden – Lehrer für Sprachund musische Fächer, Lehrerinnen für MINT-Fächer. Die Debatte über schulische Benachteiligungen ist zu versachlichen und an empirischen Befunden zu orientieren. So dürfte den Jungen entschieden besser geholfen sein, wenn sie als handlungs- und lernfähig und nicht als (arme, passive) Opfer betrachtet werden. Und es wäre sachlich nicht haltbar, die höheren Bildungserfolge der Mädchen als Bildungsmisserfolge der Jungen zu verstehen (Neugebauer). In Kampagnen für „Mehr Männer auf die Unterstufe“ (vgl. in der
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Schweiz laufendes Projekt) sollte eine fakten-gestützte Argumentation ohne Abwertung der von Lehrerinnen geleisteten Arbeit und ohne stereotype Erwartungen an männliche Lehrpersonen gewählt werden (Faulstich-Wieland). Eine intensive, professionelle Eltern(zusammen)arbeit kann zusätzliche Verbesserungen für Schülerinnen und Schüler bringen. Zu empfehlen ist, dass Schulen und ihre Kollegien bezüglich der Geschlechter- bzw. Genderthematik einen gemeinsamen, auf empirischen Befunden und professionellen Kriterien abgestützten Kurs fahren und so – unabhängig von einzelnen Lehrpersonen und über die ganze Ausbildungszeit – zu einer förderlichen Entwicklung der Auszubildenden beizutragen. Eine Versachlichung des Arme-Jungen-Diskurses erlaubt Jungen einen Ausweg aus ihrem derzeitigen Opferstatus und ermöglicht ihnen Selbstverantwortung zu übernehmen. Die Unterstützung soll sich an den Forschungsbefunden und der historischen Situation orientieren. Heutige junge Männer befinden sich in einer neuen Situation: Anders als frühere Männergenerationen profitieren Jungen und Männer nicht mehr automatisch von einem „Männerbonus“ oder einer „männlichen Dividende“ aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit, sondern müssen sich in der Folge einer zunehmenden Geschlechtergleichstellung ihre schulischen und beruflichen Erfolge ohne diese Erleichterungen selbst erarbeiten und verdienen. Stellen sich Jungen dieser Realität und verabschieden sich damit von traditionellen, Dominanz beanspruchenden Männlichkeitsvorstellungen, verbessern sie ihre Voraussetzungen für schulischen und beruflichen Erfolg. Mit Unterstützung genderkompetenter Lehrpersonen und informierter Eltern ist eine Verbesserung der schulbezogenen Einstellungen, der Motivation und damit auch der Leistungen von Jungen zu erwarten. Dabei sind Maßnahmen im Genderbereich, wie mehrere Autoren und Autorinnen monieren, nicht isoliert zu konzipieren und realisieren, sondern auch mit Blick auf andere Benachteiligungsfaktoren, namentlich bildungsferne Herkunftsfamilien (soziale Lage und/oder Migrationshintergrund).
Ebene Lehrpersonaus- und -weiterbildungen An die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen im Genderbereich sind entsprechend hohe Ansprüche zu stellen. Diese umfassen zunächst eine Befähigung zu qualitativ gutem Unterricht, da ein solcher zu einer Reduktion von geschlechtstypischen Ungleichheiten führt (Hascher und Hagenauer; GrünewaldHuber et al.). Guter Unterricht zeichnet sich durch einen autoritativen Unterrichtsstil, eine hohe Eigenaktivität der Lernenden (Hascher und Hagenauer; Grünewald-Huber et al.) und Wohlbefinden im Unterricht (Hascher und Hage-
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nauer) aus. Bezogen auf die Genderthematik kommen empirisches Wissen – wie etwa über die Gründe für fachspezifische Leistungsunterschiede – sowie Kenntnisse über die geltende symbolische Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit dazu. Themen letzterer sind Geschlechtersozialisation und alltägliches doing gender. Es gilt, ein Verständnis für „pupils’ constructions of gender“ und „laddish behaviours“ (Francis und Skelton) und für beide Geschlechter förderliche Umgangsweisen damit zu entwickeln. Verschiedene Autoren und Autorinnen empfehlen gleichzeitig mit doinggender-Praktiken auch doing class und doing race und damit die Heterogenitätsproblematik umfassender zu berücksichtigen (Francis und Skelton; Faulstich-Wieland etc.).
Gesellschaftliche und politische Ebene Auf der bildungspolitischen Ebene sind Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die angesprochenen Optimierungen erleichtern. In Betracht zu ziehen sind z.B. Tagesstrukturen mit qualitativ guten Freizeitangeboten. Wie auf der Ebene der Institutionen ist der Diskurs über Ungleichheiten und die Gründe dafür in der Bildungspolitik sachlich, an soliden Forschungsergebnissen orientiert und unbeeinflusst von politischen Instrumentalisierungsversuchen zu führen. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, in Öffentlichkeit, Politik und Gesetzgebung, sind vielfältige Maßnahmen für eine Verbesserung der geschlechttypischen schulischen und beruflichen Disparitäten möglich. Vorrangig erscheinen eine Versachlichung des Arme-Jungen-Diskurses und eine Aufklärung über Forschungsergebnisse in den allgemeinen Medien. Großer Handlungsbedarf besteht nach Leemann und Imdorf bezüglich des Zusammenspiels von Berufs- und Familienarbeit dahingehend, dass Eltern – und aufgrund ihres diesbezüglichen Rückstandes vor allem Väter – mehr Entscheidungs- und Handlungsspielraum erhalten, um die beiden Bereiche unter einen Hut zu bringen, ohne dass sie gravierende Nachteile bei ihrer Berufslaufbahn in Kauf nehmen müssen. Familienfreundliche Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt, Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern und eine Steuergesetzgebung, die doppelverdienende Paare nicht diskriminiert2, könnten einen Abbau von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern begünstigen. 2
In vielen Ländern liegt der Steuergesetzgebung immer noch das Ein-Ernährer-Familienmodell zugrunde und sind doppel verdienende Paare entsprechend steuerlich benachteiligt. So werden z.B. in der Schweiz die Paar-Einkommen addiert und unterliegen damit einem höheren Steuersatz, womit das zweite Einkommen – bei heterosexuellen Paaren meistens das der Frau – unattraktiv wird.
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Eine Knacknuss stellt in der Tat – wie Leemann und Imdorf in diesem Band aufzeigen – die horizontale und vertikale Geschlechtersegregation in verschiedene Berufsfelder und berufliche Positionen dar. Dabei scheint sich vertikale Geschlechtersegregation noch eher verändern zu lassen. Das zeigt sich in den skandinavischen Ländern, wo der Frauenanteil in Kaderpositionen deutlich höher ist als im übrigen Europa, wobei auch Quoten (z.B. für Verwaltungsräte) zur verbesserten Situation beigetragen haben. Als besonders hartnäckig erweist sich das Gendering bezüglich Fachausbildungen und Berufsfeldern, also die horizontale Segregation. In ihr manifestiert sich die herkömmliche Geschlechtersozialisation, in der Mädchen und Jungen mittels vorherrschender Geschlechterbilder von früh auf lernen, welche Tätigkeiten und Lebensbereiche für Frauen und Männer als angemessen gelten. Geht es dann für die Jugendlichen um die entscheidenden Weichenstellungen hinsichtlich Ausbildungswegen und Berufsentscheiden, sind die Wahlmöglichkeiten für beide Geschlechter bereits so stark ausgedünnt, dass subjektiv gar keine echte Wahl mehr besteht. Damit junge Menschen künftig in den Bereichen Bildung und Beruf aus dem gesamten Spektrum auswählen und so ihren genuinen Neigungen entsprechen können, sind die traditionellen, historisch eingeübten, konventionalisierten und weitestgehend unbewussten Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen in Richtung individueller, offener Geschlechterkonzepte zu verändern. Eine zeitgemäße und zukunftsfähige Gender-Sozialisation der heranwachsenden Menschen, die ihnen grössere Bildungserfolge, eine höhere Selbstbestimmung jenseits starrer Geschlechterstereotype und damit vielfältigere Lebenslaufchancen eröffnet, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu deren Lösung die Bildungspolitik und Bildungsinstitutionen ganz wesentlich beitragen können.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bacher, Johann, Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Johannes Kepler Universität Linz. Arbeitsschwerpunkte: Methoden der empirischen Sozialforschung, Bildungsforschung, Soziologie der Kindheit und des Abweichenden Verhaltens. Neuere Veröffentlichungen: Clusteranalyse (mit A. Pöge, K. Wenzig), München 2010; Umfrageforschung (mit M. Weichbold, C. Wolf), Wiesbaden 2009; Soziale und politische Folgen von Bildungsarmut (mit H. Hirtenlehner, A. Kupfer), In: G. Quenzel, K. Hurrelmann: Bildungsverlierer, Wiesbaden 2010. Baier, Dirk, Dipl.-Soz., wiss. Mitarbeiter am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Deviantes Verhalten, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus, Jugendsoziologie; neuere Veröffentlichungen: Computerspielabhängigkeit bei Jugendlichen (mit F. Rehbein), In: U. Dittler, M. Hoyer: Zwischen Kompetenzerwerb und Mediensucht. München 2010; Kinder und Jugendliche in Deutschland. Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum (mit C. Pfeiffer, S. Rabold, J. Simonson, C. Kappes), Hannover 2010. Becker, Rolf, Professor für Bildungssoziologie an der Universität Bern. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie, Sozialstrukturanalyse, Lebensverlaufsforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung und Statistik, Arbeitsmarkt- und Mobilitätsforschung, empirische Wahlforschung. Neuere Veröffentlichungen: Lehrbuch der Bildungssoziologie (Hg.), Wiesbaden 2010 (2. u. erw. Auflage); Bildung als Privileg (mit W. Lauterbach), Wiesbaden 2010 (4. u. erw. Auflage); Social Inequality of Reading Literacy (mit F. Schubert), Research in Social Stratification and Mobility 28. Berger, Joël, Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Bern. Arbeitsschwerpunkte: Experimentelle Spieltheorie und Sozialtheorie, Methoden der empirischen Sozialforschung und Statistik, Bildungssoziologie. Neuere Veröffentlichungen: Dauerhafte Bildungsungleichheiten in Westdeutschland, Ostdeutschland und der Schweiz (mit A. Hadjar), Zeitschrift für Soziologie 39; Lebenszufriedenheit im Zeitverlauf in Ost- und Westdeutschland (mit A. Hadjar), In: I. Ostner, P. Krause: Leben in Ost- und Westdeutschland, Frankfurt am Main 2010. Bergman, Manfred Max, Professor für Methoden und politische Soziologie der Universität Basel, Visiting Professor University of Johannesburg & Witwatersrand. Arbeitsschwerpunkte: inter- und intra-generationale Ungleichheitstransfers, Bildung und Arbeit, Mixed Methods Designs. Neuere Veröffentlichungen: Mixed Method Research, Newbury Park/London/New Dehli 2008; The Importance of Specificity in Occupation-Based Social Classification (mit P. Lambert, K.L.L. Tan, K. Prandy, V. Gayle), International Journal of Sociology and Social Policy 28. Braun, Dominique, dipl. Lehrerin für die Vorschulstufe und die Primarstufe, studentische Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Bern und an der Universität Bern. Schwerpunkte: Allgemeine und historische Pädagogik, Geschlechterforschung, Unterrichtsforschung. Diefenbach, Heike, Dr. phil. habil., Soziologin und Ethnologin, selbständige wissenschaftliche Beraterin und Autorin. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Ungleichheitsforschung, Migrationsforschung, Methodologie der Sozialwissenschaften und soziologische Theorie. Neuere Veröffentlichungen: Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem, Wiesbaden 2010 (3. Auflage); Jungen – die "neuen" Bildungsverlierer, In: G. Quenzel, K. Hurrelmann: Bildungsverlierer, Wiesbaden 2010.
A. Hadjar (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten, DOI 10.1007/978-3-531-92779-4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Faulstich-Wieland, Hannelore, Prof. Dr. habil., Professorin an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschlecht und Bildung, Koedukation in Schule und Hochschule, Sozialisation. Neuere Veröffentlichungen: Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur (mit J. Budde, B. Scholand), Weinheim 2008; Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Geschlechterforschung (Hg.), Weinheim seit 2009, http://www.erzwiss.online.de. Francis, Becky, Professorin und Direktorin für Bildung an der RSA (Royal Society for the encouragement of Arts, Manufactures and Commerce, London). Gastprofessorin am King’s College London. Arbeitsschwerpunkte: soziale Identitäten (Geschlecht, Ethnie, soziale Schicht) und Bildungserwerb, Feministische Theorie. Neuere Veröffentlichungen: Understanding minority ethnic achievement (mit L. Archer), London 2007; Sage handbook of gender and education (hg. mit C. Skelton, L. Smulyan), London 2006; Reassessing gender and achievement (mit C. Skelton), London 2005. Grünewald-Huber, Elisabeth, Prof. Dr. phil., Dozentin und Forschungsbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Bern, Institut Vorschulstufe und Primarstufe. Arbeitsschwerpunkte: Gender- und Heterogenitätsthematik, geschlechterbezogene Pädagogik und Didaktik. Neuere Publikationen: Werkmappe Genderkompetenz. Materialien zur Förderung von Genderkompetenz in Diskussion, Rollenspiel und Selbsttest (mit A. von Gunten), Zürich 2009; Bildungsverlierer/-innen, Schulentfremdung und Schulerfolg (mit Andreas Hadjar, J. Lupatsch), In: G. Quenzel, K. Hurrelmann: Bildungsverlierer, Wiesbaden 2010. Gysin, Stefanie, lic. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Bern (PH Bern). Arbeitsschwerpunkte: Familiale und außerfamiliale Bildung und Betreuung, Genderthematik im Zusammenhang mit Schulentfremdung/Schulerfolg sowie schulischer und sozialer Integration von Schülerinnen und Schülern. Hadjar, Andreas, Prof. Dr. habil., Professor an der Universität Luxemburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie, Sozialstrukturanalyse, Politische Soziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung und Datenanalyseverfahren. Neuere Veröffentlichungen: Expected and Unexpected Consequences of the Educational Expansion in Europe and the US (hg. mit R. Becker), Bern 2009; Bildungsverlierer/-innen, Schulentfremdung und Schulerfolg (mit E. Grünewald-Huber, J. Lupatsch), In: G. Quenzel, K. Hurrelmann: Bildungsverlierer, Wiesbaden 2010. Hagenauer, Gerda, Mag. Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Paris Lodron Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Emotionen/Motivation und Lernen, Lehrer-Schüler-Interaktion, quantitative Methoden. Neuere Veröffentlichungen: Kurzzeitinterventionen versus Langzeitinterventionen, In: T. Hascher, B. Schmitz, Handbuch Interventionsforschung, Weinheim 2010; Schulische Lernfreude in der Sekundarstufe 1 und deren Beziehung zu Kontroll- und Valenzkognitionen (mit T. Hascher), Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 25. Hascher, Tina, Prof. Dr., ist Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Empirische Schul- und Unterrichtsforschung, Emotionen und Lernen sowie LehrerInnenbildung. Neuere Veröffentlichungen: Learning and emotion – perspectives for theory and research, European Educational Research Journal 9; Forschung zur Wirksamkeit der Lehrerbildung. In: E. Terhart, H. Bennewitz, M. Rothland, Handbuch der Forschung zum Lehrberuf, Münster: 2011.
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Huber, Evéline, Doktorandin NFP60, Institut für Soziologie, Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterungleichheit, Berufsverläufe, Vereinbarkeit Familie und Beruf. Neuere Veröffentlichungen: Work-Life-Balance: Individualisierungsprozesse und Reproduktion von Geschlechterdifferenzen, Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 36. Hupka-Brunner, Sandra, Ko-Leitung Projekt TREE, Institut für Soziologie, Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Bildungsforschung, soziale Ungleichheit, Migration. Neuere Veröffentlichungen: Wie Ausbildungssysteme Chancen verteilen. Berufsbildungschancen und ethnische Herkunft in Deutschland und der Schweiz (mit H. Seibert, C. Imdorf), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61; Social origin and access to upper secondary education in Switzerland (mit S. Sacchi, B.E. Stalder), Swiss Journal of Sociology 36. Hurrelmann, Klaus, Prof. Dr., Professor für “Public Health and Education” an der Hertie School of Governance in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Sozialisations- und Bildungsforschung sowie die Gesundheits- und Präventionsforschung. Neuere Veröffentlichungen: World Vision Deutschland (hg. mit S. Andresen), Kinder 2010, Frankfurt 2010; Jugend-Vorsorge-Finanzen (hg. mit H. Karch), Frankfurt a. Main 2010. Imdorf, Christian, Assistierender am Institut für Soziologie der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie, Berufsausbildung, Arbeitsmarktdiskriminierung, Soziologie der Konventionen. Neuere Veröffentlichungen: Die betriebliche Verwertung von Schulzeugnissen bei der Ausbildungsstellenvergabe, Empirische Pädagogik 23; Die Diskriminierung ‚ausländischer’ Jugendlicher bei der Lehrlingsauswahl, In: U. Hormel, A. Scherr: Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse. Wiesbaden 2010. Ittel, Angela, Professorin für Pädagogische Psychologie an der Technischen Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Sozio-emotionale Bedingungen des Lernens, migration- und genderspezifische Sozialisationsprozesse, Professionalität von Lehrpersonen. Neuere Veröffentlichungen: Lehrerrolle – Schülerrolle (mit D. Raufelder), Göttingen 2009; Social Development (mit W. Bukowski), European Journal of Developmental Science 3; Gangbare Wege. Einige medienpädagogische Implikationen (mit D. Hoffmann), In: F. Robertz, R. Wickenhäuser: Orte der Wirklichkeit. Berlin 2010. Lazarides, Rebecca, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Pädagogische Psychologie der Technischen Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechtsspezifische Sozialisation, schulische Interessenentwicklung, Fortbildungskonzeptionen für Lehrpersonen. Neuere Veröffentlichungen: Die Bedeutung von Freunden und Fachnote für das schulfachspezifische Interesse bei Mädchen und Jungen, In: A. Ittel et al., Jahrbuch Jugendforschung, Wiesbaden 2011. Lachmayr, Norbert, Studienleiter am Österreichischen Institut für Berufsbildungsforschung (öibf). Arbeitsschwerpunkte: Weiterbildung, Höherqualifizierung, Benachteiligte am Arbeitsmarkt und im Schulsystem, Evaluierungen, NQR/ECVET. Neuere Veröffentlichungen: Bildungszugang und soziale Stratifikation, In: P. Schlögl, K. Dèr: Berufsbildungsforschung. Alte und neue Fragen eines Forschungsfeldes, Wien 2010, 223-231; Nur mehr „Wunderwuzzis“ gesucht? Zur Situation formal gering Qualifizierter am österreichischen Arbeitsmarkt, WISO 4/08, Linz, 2009. Leemann, Regula Julia, Professorin für Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz Basel. Arbeitsschwerpunkte: Bildung und soziale Ungleichheiten, Übergänge von der Ausbildung in der Beruf, wissenschaftliche Laufbahnen, Berufsbildung. Neuere Veröffentlichungen: Gender Inequalities in Transnational Academic Mobility and the Ideal Type of an Academic Entrepreneur. Discourse, Studies in the Cultural Politics of Education 31; Ermöglicht die Flexibilisierung in der Berufsausbildung mehr Chancengerechtigkeit bei der Ausbil-
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dungsplatzvergabe? (mit Ch. Imdorf), In: D. Voss-Dahm, G. Mühge, K. Schmierl, O. Struck: Qualifizierte Facharbeit im Spannungsfeld von Flexibilität und Stabilität, Wiesbaden 2010. Leitgöb, Heinz, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Kepler Universität Linz und an der Fachhochschule Oberösterreich. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie, quantitative Lebensverlaufsforschung und Methoden der empirischen Sozialforschung. Neuere Veröffentlichungen: Testleistungen und Chancengleichheit im internationalen Vergleich (mit J. Bacher), In: C. Schreiner, U. Schwantner: PISA 2006. Österreichischer Expertenbereicht zum Naturwissenschaftsschwerpunkt, Graz 2009; Klassifikation von Verläufen mittels Optimal Matching, In: J. Bacher, A. Pöge, K. Wenzig: Clusteranalyse. Anwendungsorientierte Einführung in Klassifikationsverfahren, München 2010. Lörz, Markus, Projektleiter am HIS-Institut für Hochschulforschung. Arbeitsschwerpunkte: Hochschulforschung, Ungleichheitsforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung und Längsschnittsdatenanalyse. Neuere Veröffentlichungen: Educational Expansion and Effects on the Transition to Higher Education (mit S. Schindler), In: A. Hadjar, R. Becker: Expected and Unexpected Consequences of the Educational Expansion in Europe and the US, Bern 2009; Studienabsichten, Studienentscheidungen und Studienverläufe (hg. mit J. Egeln, C. Heine, B. Peters), Hannover 2010. Lupatsch, Judith, Dipl.-Sozialwissenschaftlerin. Arbeitsschwerpunkte: Determinanten von Leistungsunterschieden. Neuere Veröffentlichungen: Der Schul(miss)erfolg der Jungen. Die Bedeutung von sozialen Ressourcen, Schulentfremdung und Geschlechterrollen (mit A. Hadjar), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 62; Bildungsverlierer/-innen, Schulentfremdung und Schulerfolg (mit A. Hadjar, E. Grünewald-Huber), In: G. Quenzel, K. Hurrelmann: Bildungsverlierer, Wiesbaden 2010. Müller, Walter, Professor a.D. der Universität Mannheim, Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES). Arbeitsschwerpunkte: Sozialstrukturanalyse, Bildungssoziologie, soziale Ungleichheit und Mobilität. Neuere Veröffentlichungen: Long term-trends in educational inequality in Europe (mit R. Breen, R. Luijkx, R. Pollak), European Sociological Review 26; Nonpersistent inequality in educational attainment: Evidence from eight European countries (mit R. Breen, R. Luijkx, R. Pollak), American Journal of Sociology 114. Neugebauer, Martin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Universität Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie, Lehr-LernForschung, Lehrerbildung, Ungleichheitsforschung. Neuere Veröffentlichungen: Bildungsungleichheit und Grundschulempfehlung beim Übergang auf das Gymnasium: Eine Dekomposition primärer und sekundärer Herkunftseffekte, Zeitschrift für Soziologie 39; Unmasking the myth of the samesex teacher advantage (mit M. Helbig, A. Landmann), European Sociological Review [in Druck]. Pfeiffer, Christian, Prof. Dr., Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover; Arbeitsschwerpunkte: Gewaltkriminalität, Strafzumessung, Prävention. Neuere Veröffentlichungen: Mediennutzung, Schulerfolg, Jugendgewalt und die Krise der Jungen (mit T. Mößle, M. Kleimann, F. Rehbein), In: A. Dessecker, R. Egg: Gewalt im privaten Raum: aktuelle Formen und Handlungsmöglichkeiten. Wiesbaden 2008; Media Use and School Achievement - Boys at Risk? (mit T. Mößle, M. Kleimann, F. Rehbein), British Journal of Developmental Psychology 2010.
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Quenzel, Gudrun, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Jugendsoziologie sowie soziale Ungleichheit und Geschlecht. Neuere Veröffentlichungen: Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten (hg. mit K. Hurrelmann), Wiesbaden 2010; 16. Shell Jugendstudie: Jugend 2010 – Eine pragmatische Generation bewährt sich (mit M. Albert, K. Hurrelmann, TNS Infratest), Frankfurt a. Main 2010. Samuel, Robin, Assistent, Institut für Soziologie, Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Mobilität, soziale Ungleichheit, Wohlbefinden, Methoden der empirischen Sozialforschung und Analyse longitudinaler Daten. Neuere Veröffentlichungen: Successful and Unsuccessful Intergenerational Transfer of Educational Attainment on Wellbeing in the Swiss Youth Cohort TREE (mit S. Hupka-Brunner, B.E. Stalder, M.M. Bergman), Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 37. Schindler, Steffen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie, Sozialstrukturanalyse, Methoden der empirischen Sozialforschung. Neuere Veröffentlichungen: Soziale Ungleichheit und differenzierte Ausbildungsentscheidungen beim Übergang zur Hochschule (mit D. Reimer), In: B. Becker, D. Reimer: Vom Kindergarten bis zur Hochschule. Die Generierung von ethnischen und sozialen Disparitäten in der Bildungsbiographie. Wiesbaden: 2010. Skelton, Christine, Professorin für Geschlechterungleichheiten und Bildung, Universität Birmingham, UK. Arbeitsschwerpunkte: Männlichkeit und Primarschule. Neuere Veröffentlichungen: Feminism and the schooling scandal (mit B. Francis), London 2009; Gender policies in Australia and the UK (mit M. Mills, B. Francis), In: W. Martino, M. Kehler, M. Weaver-Hightower: The problem with boys education, London 2009; Gender and achievement: are girls the ‘success stories’ of restructured education systems?, Educational Review 62.