Hans Bach, Jahrgang 1940, Diplompsychologe, seit 1981 freischaffender Schriftsteller, ist bekannt geworden durch den Rom...
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Hans Bach, Jahrgang 1940, Diplompsychologe, seit 1981 freischaffender Schriftsteller, ist bekannt geworden durch den Roman „Sternendroge Tyrsoleen" und den Erzählungsband „Sternenjäger". In seinem neuen Buch beschreibt er einen Mordfall in einer verwunschenen mittelalterlichen Stadt, die plötzlich zu phantastischem Leben erwacht. Erst als Kommissar Gerondet die schöne Tänzerin Esra kennenlernt, findet sich eine Spur in dem gefährlichen Malstrom der Jahrhunderte.
Mit Illustrationen von Werner Ruhner Scan, Layout, K-Lesen:
Al Phabet (fix 1.1 23.07.04)
© Verlag Neues Leben, Berlin 1985 Lizenz Nr. 303 (305/54/85) LSV 7004 Umschlag: Werner Ruhner Typografie: Walter Leipold Schrift: 10 p Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 805 9 00530
Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber. Aber nirgends im Dorfe entdeckte er mehr ein Licht. Die Hunde, die kurz vorher gebellt und geheult hatten, waren still, und dichter, feuchter Nebel quoll aus dem Grunde herauf. Friedrich Gerstäcker, »Germelshausen« Inhaltsverzeichnis 4.00 Uhr: Krehersthal 6.00 Uhr: Im Moorgebiet 8.00 Uhr: Ger... 10.00 Uhr: Ger... 12.00 Uhr: Ger... 14.00 Uhr: Ger... 16.00 Uhr: Ger... 18.00 Uhr: Ger... 20.00 Uhr: Ger... Germelshausen, 22.00 Uhr Germelshausen, 0.00 Uhr
4.00 Uhr: Krehersthal Philippe Gerondet Ach, du fanatischer Narr ... Dieser Satz verfolgte Philippe Gerondet beinahe ein Jahr. Seine einstige Verlobte hatte ihn gesagt, als sie, schon die Tür in der Hand, sich noch einmal umgewandt hatte. Er hatte sie nie wieder gesehen. Die Möbelträger waren mit einem Notar erschienen und hatten alles geholt, was ihr Vater für sie beide gekauft hatte. Und das war drei Tage nach Gerondets achtundzwanzigsten Geburtstag gewesen. Gerondet hatte damals, während er zusah, wie die Wohnung leerer und leerer wurde, sein Leben Revue passieren lassen: Das Gymnasium. Die Hochschule für Kriminalistik. Sein Aufstieg, um den ihn jeder beneidet hatte. Aber als er die Drogenabteilung übernahm, änderte sich alles. Er fühlte, wie er begann, sich im Kreis zu drehen, wie sich alles, was anfangs hoffnungsvoll erschien, in ein Nichts auflöste. Und dann kam der Fall Bergorius. Die Frau des Ministers schien in eine Drogensache verwickelt. Alle rieten ihm ab. Seine Verlobte, der Schwiegervater in spe, sein Vorgesetzter. Aber alle drängten sie ihn auch, einen einzigartigen Erfolg vorzuweisen. Statt der Bergorius stand er selbst vor den Schranken einer internen Untersuchungsbehörde. Man degradierte ihn. Machte ihn zum Streifenpolizisten. Versetzte ihn aus der Hauptstadt in ein Dorf, dessen Namen Gerondet noch nie gehört hafte. Seine Verlobte trennte sich von ihm. Gerondet wußte, daß nur die Entlobung ihn tatsächlich getroffen hatte. Alles andere wäre zu ertragen gewesen. Und nie vergaß er die zornesfunkelnden Augen der Frau, auf die er gebaut hatte, wie sie in der Wohnungstür stand und ihm zurief: »Ach, du fanatischer Narr. Immer sind es Leute wie du, die den ruhigen Lauf der Welt stören!«
Philippe Gerondet schrak auf. Starrte in die Finsternis seines Schlafzimmers. Spürte die nahe Gefahr, die den letzten Teil eines undeutlichen Traums, jene Phase des Erwachens, begleitet hatte und ihn emporfahren ließ. Seine Hände tasteten über das Bettzeug. Normal war, daß Gerondet jeden Morgen, wenn er erwachte, mit geschlossenen Augen »Guten Morgen!« sagte und in die Stille, die nur vom gleichmäßigen Ticken seiner Uhr unterbrochen wurde, hineinhorchte. Lächelnd. Antwort erwartend. Niemand gab den Gruß zurück. So verschwand sein Lächeln regelmäßig, wenn er die Augen öffnete und sein Schlafzimmer betrachtete. Das Wunder geschah nie. Immer sah er die Holzverschalung. In Vandis, der Hauptstadt, war sein Schlafzimmer mit einem tiefblauen Seidenimitat tapeziert gewesen. Aber das hatte er als einstiger Chefkommissar auch nicht bezahlt, sondern sein avionikproduzierender Schwiegervater. Und das, obwohl er mit Mariane nicht verheiratet, sondern erst verlobt war. Der Hochzeitstermin hatte allerdings festgestanden. Aber dann entlobte sich Mariane. Sein Schwiegervater in spe hatte Gerondet auf die Machenschaften des Ministers Bergorius eindringlich aufmerksam gemacht. Demnach war Bergorius nicht nur Minister und Konkurrent in Sachen Avionik, sondern einer der großen grauen Männer in Drogenangelegenheiten. Ja, und nun war Gerondet hier. Als simpler Streifenpolizist. In Krehersthal. Ohne Mariane. Ohne Seidenimitattapete. Ohne daß einer »Guten Morgen!« erwiderte. Er lebte in diesem gottverlassenen Dorf und mußte manch argwöhnischen Blick der Einwohner ertragen, weil er weder einen Bauch hatte noch eine schlampige Frau und freche Kinder. Gerondet saß noch immer da und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Vorsichtig tastete er am Nachttisch entlang, fand die gesuchten Druckknöpfe und betätigte den ersten. Lautlos glitten alle drei Rollos nach oben. Kaltes, gläsernes Licht drang von draußen herein. Der Himmel sah beinahe grünlich und eiskalt aus. Der volle Mond hing plastisch, an eine Eiskugel erinnernd, über dem Wald, während die rechte Himmelhälfte von einer flachen, niedrigen dämmerschwarzen Wolkenschicht bedeckt war. Gerondet erhob sich und trat ans Fenster. Glaubte die morgendliche Kühle, die atembehindernde Feuchtigkeit und die Nässe des Bodens durch das Glas zu spüren. Die Gartenpforte war ordentlich geschlossen. Die Tür zum Haus auch. Nein, dachte der Polizist, sie haben zu mir nicht das Vertrauen wie zu einem familievorweisenden Polizisten, aber da wird schon keiner mit einem Schrotgewehr kommen, um mir seine Ablehnung klarzumachen. Es muß etwas anderes sein. Etwas ganz anderes ...
Gerondet öffnete das Fenster. Die Kälte packte ihn wie eine Riesenfaust, quetschte alle Gedanken aus ihm. Ließ ihn zwei Atemzüge lang unregelmäßig die Luft ausstoßen. Er beugte sich nach vorn. Sah die Dorfstraße entlang. Betrachtete die im Morgenlicht grau und grobgerastert aussehenden zweistöckigen Häuser, die längs der Straße wie auf einer Perlenschnur aufgereiht waren. Nirgends war Licht. Und präzis in dem Moment, als er das Fenster schloß, erreichte das erste Geräusch sein Bewußtsein. Ein kaum vernehmbares schnarrendes Piepsen. Alarm! Gerondet fuhr herum. Blickte auf den großen Schlafzimmerschrank, in dem zwischen Bettzeug und Kissen die Alarmanlage lag. Achtlos von ihm selbst dort deponiert, wo er ihr nie zu begegnen gehofft hatte. Sein asthmatisch keuchender Vorgesetzter, jener Brigadier, dessen Fingernägel immer schwarz aussahen, hatte ihm bei Dienstantritt das Ding mit einem feierlichen Blick überreicht. Jedenfalls sollte der Blick feierlich sein, erinnerte aber den ehemaligen Chefkommissar Gerondet eher an den Augenaufschlag einer genüßlich wiederkäuenden Kuh. »Kurz bevor die Scheißwelt zur Sau geht«, hatte Brigadier Kuhblick gesagt, »piept uns dieses Gerät zu, daß es soweit ist.« Dabei hatte er das Wort »Gerät« betont, als handele es sich um ein elektronisches Spitzenerzeugnis und nicht um eine simple Rufanlage. Gerondet öffnete den Schrank, räumte Kissen und Laken zur Seite, nahm den kleinen blauen Kasten heraus. Die Piepser wurden zu unangenehm stechenden Tönen, die man nicht lange ertrug. Gerondet dachte noch: Wenn sich einer meldet und »Überprüfung« sagt, dann brülle ich den an, daß ihm das Trommelfell platzt. Er nahm den Hörer ab, zog ihn aus der schablonierten Einfassung, wog ihn einen Augenblick lang und hielt ihn sich ans Ohr. Die Stimme, die augenblicklich zu sprechen begann, war tonbandgespeichert. »Hallo«, rief Gerondet, um sein zunehmendes Unbehagen zu überwinden, »wenn das eine Übung ist, breche ich allen Verantwortlichen mindestens die Rippen.« Die Stimme fuhr gleichgültig fort. Wiederholte, als sie am Ende angekommen war, noch einmal den Text. Gerondet hatte sich angekleidet und war in die Küche gegangen, ohne den Hörer in die Paßform zurückzulegen. Ein dumpfer Druck hatte seinen Magen zusammengepreßt. Gastritis. Dorfgastritis. Gerondet öffnete den Kühlschrank,
griff sich eine Flasche Kefir, trank in tiefen Zügen. Der erste Schluck verstärkte den Schmerz, dann löste sich der Kampf. »Verdammt«, murmelte der Polizist, »die sind verrückt geworden ...« Gerondet warf, noch die Flasche in der Hand, einen prüfenden Blick in den großen Spiegel in der Küche. Betrachtete seinen braunen Kordanzug, das Khakihemd, die knöchelhohen Schnürstiefel. Fürs Moor taugt das schon, dachte er flüchtig, fürs Moor schon. Zugleich staunte er, wie gelassen er alles hinnahm. Wie selbstverständlich war er darauf vorbereitet, für diesen letzten Fall. Er rebellierte nicht. Schrie nicht. Weckte nicht die Krehersthaler, um mit ihnen in wilder Flucht diesen Ort zu verlassen. Nichts von all dem. Er hatte sich ordentlich angezogen, drei Päckchen Zigaretten und die Dienstwaffe samt einigen Ersatzmagazinen eingesteckt, und im Flur lagen auf der Garderobe Kompaß und Fernglas. Ein kühler, gleichmäßiger Morgenwind empfing Gerondet draußen. Der Himmel schien nunmehr gelblich überhaucht. Die Wolken glommen hellrot auf. Die Silhouette des Waldes hinter dem Feld begann sich mit Farbe zu füllen. Auf den Grasspitzen des Feldes hingen unzählige Tautropfen. Glitzerten. Fielen zu Boden. Die Erde atmete Feuchtigkeit und schwere Aromen. Gerondet hüstelte, schmeckte den kaum mehr wahrnehmbaren Morgennebel. Ein Schwarm morgenmüder Krähen zog über ihn hinweg. Ab und an heisere Schreie ausstoßend. Gerondet überschritt die sandige Straße, betrat das Feld. Noch einmal hielt er inne. Roch das frische Brot der Bäckerei. Blickte in Richtung Scheune, die die Backstube seinen Blicken vorenthielt. Ging dann weiter auf den Wald zu. »Na dann«, sagte er und hob verloren grüßend die Hand, »na dann: Gute Nacht auch! Hat mich gefreut, euch kennenzulernen. Immerhin habe ich hier meine gestreßten Nerven erholt.« Er zündete sich im Laufen eine Zigarette an. Horchte dabei auf das ferne Hubschrauberbrummen. Sah nach oben, ohne das Flugzeug zu sehen. Nur die golden schimmernde Wolke, die ihre Form geändert hatte, war sichtbar. Ihre Form erinnerte ihn an ein menschliches Wesen in Rückenlage. »Mariane«, murmelte er, »wie Mariane. Nur näher bei mir.« Die Feuchtigkeit drängte sich zwischen sein Schuhwerk und die Hose. Das war unangenehm. »Scheißbergorius«, schimpfte Gerondet. Bergorius war für ihn zum Synonym für Unantastbarkeit und für Ungerechtigkeit schlechthin geworden. Der Minister mit dem feisten Gesicht
hatte durch seine Frau, die er vorschob, sein Vermögen binnen vier Jahren verdreifacht. Er hatte zunächst einen Posten in einem Aufsichtsrat übernommen, und bald darauf besaß er, das heißt offiziell Frau Bergorius, Anteile an allen möglichen Unternehmungen. Schließlich ließ offiziell Patrizia Bergorius einen kleinen Flugplatz bauen. Der Verdacht, daß dort ein Umschlagplatz für heiße Ware war, schien begründet. »Laß die Finger davon«, hatte Gerondets Chef gewarnt, ein Mann, der kurz vor seiner Pensionierung stand, »sieh, Philippe, diese Frau hat die Aktion ,Zucker für die Salzwüstenkinder' ins Leben gerufen, ist Kunstmäzenin und betreibt eine Lotterie zugunsten umweltbewußter Aussteiger. Und Geschäfte, Herrgott noch mal, wer macht die nicht?« »Ich bin noch nicht dreißig«, hatte Gerondet geantwortet, »und also nicht blind, verkalkt oder rückratlos. Und ich schlag dem Bergoriusclan den Kopf ab. Ich weiß, wie sie aussehen, die Jungs und Mädchen, wenn sie nach dem goldenen Schuß wie aufgeschlitzte Mehlsäcke in den Toiletten der Bahnhöfe, hinter Müllcontainern oder einfach auf dem Pflaster liegen. Ich weiß es und nehme es nicht hin.« Und es schien alles gut zu gehen. Das Material häufte sich. Aber dann hatte die PPR, die Politische Polizei Riedlands, in seinem, Gerondets, Keller Spuren von Rauschgift gefunden. »Chefkommissar Gerondet - das Haupt der Hydra?« hatten die Zeitungen geschrien. Und: »Der Satan mit dem biederen Gesicht!« Das Gericht sprach von »arbeitsbedingten Spuren« und von »Spuren, die keine eindeutigen Schlüsse zulassen«. Das war schlimmer als eine Verurteilung. Natürlich war in der Zeit auf wahrhaft geheimnisvolle Weise alles Beweismaterial gegen Patrizia und Hernfried Bergorius abhanden gekommen. Der Innenminister beurlaubte Gerondet auf Zeit, und als die »Zeit« verstrichen war, wurde Gerondet »zur Bewährung« zum Streifenpolizisten degradiert und in einen Ort geschickt, dessen Namen er nicht einmal kannte: Krehersthal. Wütend stampfte Gerondet auf, brach in eine Furche ein, fühlte einen ganzen Schwall Wasser in seine Strümpfe eindringen. Man sollte die Gesetzesbrecher, dachte er, in Täter mit Schutz und solche ohne Schutz einteilen. Und ohne Schutz kann auch jeder Mensch sein, der zufällig einem Geschäftemacher in die Quere kommt. Ob ahnungslos oder bewußt, spielt dabei keine Rolle. Und doch muß es eine Kraft geben, die stärker ist als die Ungerechtigkeit, weil sonst, weil wir sonst am Ende wären... Das Feld blieb zurück. Der Polizist drehte sich um. Erblickte das rötliche Licht der aufgehenden Sonne auf den Ziegeldächern der Häuser. Nun sah alles
freundlich aus. Ein erwachendes Dorf am Morgen. Auch die Gräser waren nun grün. Lindgrün. Verschönt durch das Glitzern der Tautropfen. Kleine Sonnen. »Ich nehme den Waldweg«, gab sich Gerondet selbst Anweisung, »bis vor zum Hochstand. Und da mache ich es mir gemütlich und warte, bis alles zu Ende ist. So oder so zu Ende. Und wenn bis zum Abend noch nichts passiert ist, dann gehe ich zurück, und..., und das andere wird sich zeigen.« Im Wald war es dämmrig. Die Sonne kam noch nicht durch. Das Moos atmete Feuchtigkeit, und eine feine Bodennebelschicht ließ den Untergrund wie in einem kaum bewegten Wasser leicht verschwommen erscheinen. Besonders fürchtete er die Äste, die voller Wassertropfen hingen. Nur nicht rankommen! Gerondet hatte noch kein Verhältnis zu der Natur gefunden. Er war in Vandis geboren. War Großstadtkind. Er liebte die technischen Raffinessen und die zuckenden Lichter, die Rolltreppen und die überfüllten Hauptstraßen, die Metro und die Hochbahnen, die Autobrücken und -tunnel, die Museen, Theater und Großkinos, wie auch die kleinen Cafes, Märkte und Espressos. Und das alles lebte in ihm weiter. Ununterbrochen. Er vermißte die Aufzüge, die klimatisierten Räume und die eleganten Müllbeseitigungsanlagen ebenso wie die schreienden Diskotheken, die Konzertsäle und die Nachtcafes. Ihm fehlten die Passagen, Ladenstraßen und die architektonischen Schönheiten. Röhrende Hirsche, grunzende Wildschweine, summende Mücken und trostlose Regenstunden waren kein Ersatz. Würden es nie sein. Das wußte er. Fühlte sich als Fremdling, Eindringling. Außenseiter. Gerondet dachte: LMN. Die LMN-Station. Sie befand sich ungefähr zwanzig Kilometer von Krehersthal entfernt. Niemand wußte, ob dort geforscht, produziert oder nur gelagert wurde. Und was LMN eigentlich hieß, konnte ihm auch kein Mensch sagen. Der Brigadier hatte nur wissend gegrinst. Dummfrech. Und zu Boden gesehen, als hätte ihn Gerondet bei einer Lüge ertappt. Den Gerüchten wollte Gerondet nicht glauben. Tatsache war: Das Gelände war von drei Seiten von Wasser und Moor umgeben. Und die Mitarbeiter wurden mit Helikoptern zur Arbeit eingeflogen. Und: Trotz des sumpfigen Bodens war die gesamte Anlage unterirdisch. Das hatte er aus einem Segelflugzeug sehen können. Natürlich aus der Ferne. Man hatte, das entdeckte Gerondet im Feldstecher, das Gebiet rundum umgepflügt. Ein dreifacher Zaun. Warnschilder. Und ein rot und weiß geringelter Turm ungefähr im Zentrum. So hatte sich ihm die LMN-Station aus der Vogelperspektive dargeboten. Ohne Bewacher. Ohne Maschinengewehr und Posten. Aber war nicht jene Menschenlosigkeit doppelt bedrohlich? Ihm kam es so vor. Und dann die Instruktion, als er die Rufanlage bekam: Wenn dort etwas geschieht, wenn man euch alarmiert, weil Terroristen, Diversanten oder Agenten dort eingedrungen sind, dann geht es darum, ob es
zum Weltuntergang kommt oder nicht. Dann wird rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch gemacht. Auf alle gefeuert, die dort herumlaufen. Gerondet hatte noch nie auf einen Menschen geschossen. Er stand nie einer anonymen Masse gegenüber. Er kannte den, den er jagte, gründlich. Wußte um dessen Ängste oder Geltungssucht. Kannte alle schwachen Stellen des anderen und kam so ohne den gezielten Schuß aus. Es war stets gut gegangen. Und jetzt hieß es einfach: Stell keine Fragen! Greif zur Waffe und töte! Schieß! Feuere, damit der Weltuntergang nicht stattfindet! LMN-Station. Gerondets Gedanken rissen ab. Vor ihm lag dunkel und hinderlich ein bemooster Stamm. Einem ersten Impuls folgend, wollte Gerondet springen. Doch er erkannte, daß das Moos eisglatt war. Naß und glatt. So hielt er sich an zwei aufragenden Ästen fest und stieg vorsichtig nach oben. Gerondet fühlte das Rohr in seinem Rücken. Fachgerecht berührte es ihn zwischen linker Niere und Herz. »Nicht umdrehen«, sagte einer hinter ihm, sagte es scheinbar gelangweilt, »genau so stehenbleiben.« »Du verwechselst mich mit jemandem«, sagte Gerondet. Der andere antwortete nicht. Durchsuchte Gerondet schnell und geschickt. Er fand den Kompaß und die Zigaretten. Die Pistole und die Magazine. Den Dienstausweis und das Feuerzeug. Selbst das Taschentuch nahm der andere ihm ab und das Stück Geländekarte, das Gerondet eingesteckt hatte. »Du hast etwas um den Hals hängen«, sagte er dann, »das abmachen und mir zuwerfen! Ausführung!« Gerondet seufzte, nahm die Dienst-und-Kennmarke ab und reichte sie, ohne sich umzudrehen, nach hinten. »Eigentlich«, kommentierte er, »darf ich das Ding, solange ich lebe, nicht hergeben.« »Ich kann dich ja erschießen«, sagte der andere und nahm die Marke, »dann ist alles wieder in Ordnung.« »Stimmt«, Gerondet fühlte, daß der andere das nicht nur so gesagt hatte, »daran habe ich noch gar nicht gedacht.« »Jetzt vom Baum runter«, befahl der Bewaffnete, »in meine Richtung. Also rückwärts. Und keine Dummheiten. Leg dich auf die Erde und falte die Hände im Nacken.«
»Es ist verteufelt naß da unten«, Gerondet versuchte eine Verbesserung seiner Lage zu erwirken, »ich krieg eine Lungenentzündung.« Der andere antwortete nicht. Gerondet stieg langsam vom Baum, rutschte aber dann doch weg und stürzte zu Boden. Blieb liegen. Faltete die Hände im Genick. Augenblicklich war er bauchseitig völlig durchnäßt. Eine ganze Weile blieb es ungeheuer still. Nur ein paar Vögel sangen, und in den Baumwipfeln war der gleichmäßige Wind zu hören. »Du bist Polizist«, sagte der andere, »und wo ist deine Uniform? Hast du sie vertrunken, oder hat dir die Uniform des Polizisten nicht gepaßt?« »Du fährst ja scharfe Geschütze auf.« Gerondet schluckte, er begriff, in welcher Situation er war. In seinem Anzug war er einer von denen, »die dort herumlaufen«, auf die also das Feuer eröffnet werden sollte. »Sie ist im Schlafzimmer«, antwortete er dann, »liegt über einem Stuhl... Sie ist hellblau mit roten Ärmelansätzen. Zu auffällig für Wald und Moor.« »Richtig«, sagte der andere, und in seiner Stimme war etwas wie Neutralität Gerondet gegenüber, »sie ist auffällig.« Wieder wurde es still. »Philippe Gerondet«, fragte der andere, »verwandt mit dem Chefkommissar in Vandis?« »Hm«, machte Gerondet und wandte den Kopf seitlich, weil eine Ameise begann, seine Nase zu erklettern, »leider...« »Steh auf, sagte der Sprecher, »aber vergiß nicht: Eine falsche Bewegung - und ich schieße.« Gerondet sprang auf die Füße und versuchte die Nässe aus dem Anzug zu reiben. Er sah nicht sofort auf den anderen. Das war Taktik. Erst nachdem er sich mit seinen nassen Sachen beschäftigt hatte, hob er den Kopf. »Du gehörst ja zur Antiterrorbrigade«, Gerondet lächelte schief, »und ich dachte schon...« Er sagte nicht, was er dachte. »Und keine Tricks«, erklärte der Soldat noch einmal, »ein Polizist ohne Uniform ist ein Sicherheitsrisiko.« »Verdammt«, begehrte Gerondet auf, »ja, meine Uniform ist hellblau mit rot. Aber ich weiß auch, daß ein Überfall auf die LMN-Station ähnliche Auswirkungen haben kann wie ein Atomschlag. Und ich kann mir nicht denken,
daß die Hitzewelle um eine Uniform einen Bogen macht. Was soll das also noch?« »Wer ist dieser Chefkommissar Gerondet«, fragte der Soldat, der an einem Baum lehnte und die kurze Waffe an einen Riemen vor seinen Bauch hängte, »Bruder? Cousin? Was...?« »Ich selbst«, antwortete der Polizist, »ich bin strafversetzt. Aber das stand ja wohl in allen Zeitungen.« Der Soldat holte ein kleines Kästchen aus einer der Oberschenkeltaschen seiner Hose, stellte es auf die Erde. »Den Daumenabdruck, bitte«, sagte er und ging etwas zurück. Gerondet preßte seinen Daumen in die winzige Vertiefung. Auf einem grünen Glasfeld erschien ein »+«. »In Ordnung«, sagte der Soldat. »Du bist es tatsächlich.« Er warf Gerondet die Kennkarte und den Dienstausweis, die Geländekarte und den Kompaß, das Taschentuch, den Feldstecher, die Zigaretten und das Feuerzeug zu. Auch die Reservemagazine. Nur die Pistole behielt er. »Geh vor!« wies er an. »He«, sagte Gerondet, »wenn ich's bin, dann könnte ich ja wohl auch die Pistole haben. Oder?« Er begriff, daß sie nicht allein im Wald waren, wie er sich das gedacht hatte. Und wer weiß, wie die nächste Begegnung sein würde. »Seit man Computer aus der Ferne beeinflussen kann«, erklärte der Soldat, »ist die Geschichte mit dem eingespeicherten Daumenabdruck eine unsichere Kiste geworden.« »Aber du hast ein Funkgerät«, sagte Gerondet, »ruf doch deinen Generalstab und frage, wer ich bin.« »Es ist defekt«, entgegnete der Soldat, und Gerondet hörte, daß die Stimme seines Bewachers ein wenig zitterte, »und das, obwohl diese Geräte nie defekt sein können. Nie. Aber das ist LMN. Es unterbricht alle Kommunikationen. Schneidet die Diversanten von ihrer Basis ab.« »Was ist LMN?« Gerondet wurde aufmerksam. »Unwichtig«, sagte der Soldat abweisend. »Nehmen wir an«, Gerondet, der für die Art seiner Fragen als Kommissar berühmt gewesen war, wußte auch jetzt mit dem Wort umzugehen, »es kommt zu einem Schußabtausch mit einigen Terroristen. Wie denkst du dir das?«
»Laserzielgerät«, antworte der Soldat« einsilbig, schien nachzudenken, weil er entgegen dem Befehl ohne Gruppe agierte.
aber
doch
»Du weißt doch, was ich meine«, sagte Gerondet deutlicher, »muß ja nicht einer sein, der auftaucht. Und mich hast du am Hals. Oder erschießt du mich dann gleich mit?« »Kannst du dich irgendwie ausweisen?« Der Soldat wirkte zerstreut oder auch unsicher. »Ich hab meine Kleidung in der Hauptstadt gekauft«, sagte Gerondet, »und ich habe die Uniformstiefel an. Mein Fernglas ist ein Brochman, wie es die Polizei benutzt, und mein Kompaß auch. Aber das zählt ja wohl nicht, weil man Diversanten nicht anders ausstatten würde.« »Hm.« »Ich könnte dir Einzelheiten des Falles Bergorius nennen«, schlug Gerondet vor, »Sachen, die nicht an die Öffentlichkeit kamen. Nur: Auch dafür habe ich keine Beweise... Man kann sich so etwas ausdenken. Was zählt denn als Beweis?« »Hast du Ahnung von Funkgeräten?« Gerondet schüttelte verneinend den Kopf. »Vielleicht ist das heute so«, der Antiterrorspezialist bewegte die Schultern, »vielleicht gehört auch das zu unseren Abwehrmaßnahmen, daß kein Funkstrahl durchkommt...« »Sicher.« Gerondet ging weiter den Pfad entlang, gefolgt von dem Soldaten. Beide schwiegen eine Zeitlang, gaben sich ihren Gedanken hin. »Ich habe den Kontakt zu meiner Gruppe verloren und komme allein nicht durch«, erklärte unerwartet der Soldat, »ich habe alles noch einmal durchgespielt. Ich muß deiner Kennmarke und dem Dienstausweis glauben. Wenn wir Feindberührung haben, bekommst du deine Waffe zurück und übernimmst die Flankendeckung ... Kannst du das?« »Flankendeckung«, sagte Gerondet, »ich weiß noch nicht einmal, was genau los ist.« »Ein Überfall auf LMN«, erklärte der Soldat, »mindestens elf Berittene waren es. Und keiner von ihnen hatte die implantierte Computerkennzahl. Keiner. Der C-Laser hat gehandelt, wie er es tun muß, wenn Wildschweine eindringen. Er hat sie getötet. Weil sie die verdammten Nummern nicht unter der Haut hatten.
Zwei sind entkommen. Einer wahrscheinlich blind und der andere mit einer großen blutenden Wunde. Logisch, daß die Vorgeschickten nur Testpersonen waren. Wir müssen davon ausgehen, daß eine größere Diversantengruppe jetzt per Rechner den Einsatz der Depotwaffe auswertet und danach den Großüberfall plant Und das, obwohl sie wissen, daß wir im Einsatz sind ... Es werden massierte Kräfte unterwegs sein.« »Hat man euch wenigstens gesagt«, erkundigte sich Gerondet, »was das eigentlich bedeutet: LMN?« Der Soldat nickte zustimmend. »Tut mir leid«, sagte er dann, »aber frag nicht. Noch etwas.« Er zog die Dienstwaffe aus dem Gürtel, warf sie Gerondet zu. Der fing sie auf, steckte sie in die Innentasche seiner Jacke. »Ich schieße schnell«, erklärte der Soldat, »und treffe auch. Laß die Waffe dort, wo sie jetzt ist. Bei Feindberührung hörst du auf mein Kommando. Klar? Übrigens, eine Anzahl meiner Kameraden steht hinter dir, wenn du Gerondet bist. Wir finden, daß dieser Staat korrupt und morbide ist. Es fehlt an Disziplin, wie es auch an der Todesstrafe mangelt. Deshalb stehen wir hinter dir. Du hättest das Bergoriuspack damals aufknüpfen sollen. Verstehst du?« Die einen, dachte Gerondet, sehen den Dorftrottel in mir, der unter Schweine, Gänse und Schafe gehört, und die anderen erblicken in mir einen neuen »Führer«. Heil Gerondet ...! »Ich hoffe nicht«, sagte er spöttisch, »daß man extra deshalb Atomalarm ausgelöst hat, damit ich dies erfahre ... Höre mal, wie wäre es, wenn du mir einen Entschuldigungszettel schreibst und mich zurückschickst. Schließlich bin ich Polizist und nicht Antiterrorspezialist.« »In einem solchen Fall«, erwiderte der Soldat, »kann ich für die Alarmzeit nicht nur Polizisten, sondern auch unbegrenzt Zivilisten dienstverpflichten. Es gelten in diesem Augenblick Kriegsgesetze. Wer sich weigert ...« Er deutete mit seiner Maschinenpistole nach vom, wollte Gerondet veranlassen weiterzugehen. »Nein«, Gerondet hielt an, schüttelte den Kopf, »nicht so. Bitte, du kannst schießen. Keiner wird dir einen Vorwurf machen. Nur eins mache ich nicht mit: Ich bin nicht dein lebender Kugelfang. Entweder wir gehen nebeneinander, oder ich bleibe stehen. Hier.« Der Soldat betrachtete Gerondet unruhig. Das, was die Vorschrift für diesen Fall vorsah, war undurchführbar. Jeder Schuß konnte ihn verraten, die Aufmerksamkeit der Diversanten auf sich ziehen. »Fünf Schritt zwischen uns«, sagte der Soldat, »nicht weniger. Weißt du, was ich nicht verstehe; Du hattest doch der Presse die Beweise vorgelegt. Damals zur Drogensache.«
»Ich war dabei«, Gerondet lächelte bitter, »ich war dabei. Ich ging mit allen Unterlagen durch das Präsidium. Und da wurde ich von fünf Vermummten zusammengeschlagen. Mitten im Präsidium. So bin ich alles losgeworden. Und man fand an meinem, Auto und in meinem Keller Drogenspuren. Ganz zufällig ...« »Ich heiße Ruderf Immelgud«, sagte der Soldat, trat auf Gerondet zu und gab ihm die Hand, »und ich sage dir nur eins: Wenn einmal ein General aufstehen sollte, der mit diesem verkommenen Spuk ein Ende macht, nicht nur ich würde mich schützend vor ihn stellen. Es gibt viele, die so denken. Und solche Männer wie du, die würden ganz oben im Präsidium angesiedelt werden ...« Die Wärme nahm zu, machte die beiden Männer träger. Sie folgten dem Fußpfad, ein paar Schritt zwischen sich. Sie wichen größeren Ästen aus. Millionen Insekten stiegen aus dem Sumpfmoos auf, erfüllten die Luft mit durchdringendem Gesumm. Es roch warm und feucht. »Hier zu leben«, sagte Ruderf Immelgud unerwartet, »hat doch auch seine Vorzüge. Die Natur ist unverdorben. Die verlotterte Hauptstadt ist dagegen ein Gomorrha.« »Ja«, sagte Gerondet und schlug eine Mücke tot, die sich auf seine Stirn gesetzt hatte, »hier ist alles unverdorben, wenn nicht gar unverfroren. Wie die Mücken zum Beispiel.« Immelgud lachte kurz auf. Mitten in das Lachen hinein rief er »Deckung!« und lag im selben Moment hinter einem Baum auf der Erde. Gerondet, der sich für reaktionsschnell hielt, stand noch einen Atemzug lang verblüfft da, ehe auch er sich hinter einen Baum fallen ließ. »Da vorn«, Immelgud deutete auf ein Waldstück, »blitzte etwas auf. Das könnte die Vorhut der Diversanten sein.« »Ist das nun der Augenblick«, erkundigte sich Gerondet, »da ich meine Dienstwaffe zur Hand nehmen soll, oder nicht?« »Ja.« Sie spähten angestrengt durch das Strauchwerk. Zwischen den dichten Baumkronen blitzte es tatsächlich ab und an golden auf. »Das Ding ist verteufelt hoch.« Gerondet fühlte, wie Unbehagen in ihm aufstieg. »Vielleicht ein Projektil«, vermutete Immelgud, »vielleicht soll damit der vernichtende Schlag gegen LMN durchgeführt werden. Hör zu, Gerondet, wir
haben den Befehl, alle Technik möglichst unversehrt zu übernehmen. Ist das klar? Die Diversanten müssen ausgeschaltet, die Technik muß erhalten werden.« »Muß ich jetzt jawohl sagen?« Gerondet konnte nicht lächeln. »Das hier ist der Kriegsfall«, belehrte Immelgud den Polizisten, »kein Fall. Hier wird geschossen. Möglichst schneller als die anderen. Die zögern nicht, das Feuer zu eröffnen. He, die Knöpfe ...« »Welche Knöpfe?« Gerondet sah Immelgud fragend an. »Die an deiner Jacke«, der Soldat deutete auf Gerondets Jacke, »die sind doch aus Metall. Reiß sie ab. Man kann sie orten.« »Und deine Waffe?« Gerondet deutete in Richtung der Maschinenwaffe. »Halbsynthetische Siliziumverbindung«, antwortete Immelgud und lächelte verächtlich, »bei mir findest du kein Metall. Nicht mal meine Gewehrkugeln und Wurfgranaten sind aus Metall.« »Dann darf ich jetzt Lebewohl sagen«, Gerondet hob die Schultern, »denn meine Pistole ist metallen. Dazu habe ich drei Goldkronen, jede Menge Kleingeld, ein Feuerzeug, zwei Reservemagazine, einen Kompaß und das Fernglas. Den Reißverschluß meiner Hose und Ösen an meinen Schnürstiefeln wollen wir auch nicht unerwähnt lassen. Siehst du ein, daß ich zu diesem Krieg nichts tauge?« »Es ist ja gar nicht gesagt, daß sie uns über unser Metall orten. Sie können das ja auch über Lorealsensoren oder den von uns erzeugten Infraschall tun.« »Vielleicht noch mit der Brennesselmethode«, ergänzte Gerondet. »Was?« Immelgud sah den Polizisten groß an. »Man nimmt eine Brennessel«, erklärte der, »klopft damit in alle Büsche, Höhlen und Verstecke. Und wenn es au ruft, dann ist da einer drin, und man eröffnet das Feuer.« Immelgud grinste breit, winkte ab. »Halsschlagaderkehlkopfraum, Niere, Geschlechtsorgane«, sagte er, »das sind die Zielpunkte. Wer an einem dieser Punkte getroffen ist, kann nicht einmal mehr einen Zünder auslösen. Ist mir nur eingefallen. Bist du ein guter Schütze?« »Du bist der bessere«, antwortete Gerondet. »Drücken wir uns die Daumen, daß die anderen nicht Man-Radar und C-Laser da drüben haben«, Immelgud stellte den Daumen nach oben, »wir gehen jetzt von Bodenwelle zu Bodenwelle vor. Riecht es irgendwo angesengt oder rieseln verbrannte Blätter zu Boden, dann flach an die Erde drücken. Das ist dann C-Laser. Nicht den Kopf heben und ja nicht durch das Fernglas sehen. Klar?«
»Klar«, antwortete Gerondet und entsicherte die Pistole. »Dann los!« Sie begannen vorwärts zu kriechen. Immer wieder blieb Immelgud kurz liegen und blickte durch die Zieloptik seiner Maschinenwaffe. Jedesmal schüttelte er den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er gesehen hatte, und robbte weiter. »Stopp!« Gerondet hielt inne. Er drehte sich so, daß er Immelgud sehen konnte, der wie ein riesiger Marder angeschlichen kam. »Das ist eine russische SS-zwanzig«, sagte Immelgud, und sein bleiches Gesicht verriet die Angst, die ihn beherrschte. »Eine - was?« Gerondet saß mit offenem Mund vor dem Soldaten. »Russische SS-zwanzig«, erklärte Immelgud beinahe tonlos. »Mehrfachsprengkopfatomrakete ... Die eine reicht, um ganz Riedland in Schutt und Asche versinken zu lassen. Wir müssen den Start verhindern, und wenn nichts nützt, schießen wir auf den Gefechtskopf. Zünden sie so am Boden ... Dann verpufft ihre Wirkung in diesem Waldgebiet.« »Und wie ...«, Gerondet wollte nicht glauben, was er gehört hatte, »wie hat man sie hierhergebracht? Mit der Eisenbahn? Aber vielleicht ist der Krieg schon vorbei, und wir sind ein besetztes Land ... Das würde auch erklären, weshalb dein Funkgerät schweigt.« »Ach so«, Immelgud sah sich ratlos um, »das wäre ein Ding ... Wir, wir arbeiten uns weiter vor ... Lautlos.« »Und wenn das da«, Gerondet deutete über seine Schulter, »auch so eine computergesteuerte Vernichtungsanlage wie LMN besitzt? Ich habe niemandem einen Eid geschworen, mich wie ein Hase abknallen zu lassen ...« »Du mußt doch klare Anweisungen bekommen haben.« Immelguds Gesicht wurde wieder verschlossen und mißtrauisch. »Habe ich auch«, sagte Gerondet lauter als vorher, »ich soll mich hier irgendwo aufhalten. Verdächtige Personen beobachten, ihre Bewegungen kartographieren und meine Beobachtungen den Angehörigen der Antiterrorbrigade mitteilen. Nichts weiter. Man sprach von verdächtigen Personen, nicht von verdächtigen Raketen.« »Ich habe keinen Funkkontakt«, Immelgud wandte sich wieder nach vorn, sah Gerondet nicht an, »und mein Fallschirm ist gegen alle Regeln der Steuerkunst
abgedriftet. Das zwingt mich zu einer veränderten Taktik. Ist das verständlich? Komm, es muß sein.« Sie krochen weiter durch das Bruch, machten kurz halt hinter Erlen, Weiden, Haselnußsträuchern und erreichten schließlich eine Bodenwelle. Immelgud holte ein kleines Gerät aus der Tasche, das an eine winzige Lampe erinnerte. Er setzte es auf einen spielzeughaften Radsatz. Das Ding rollte los, erstieg den Hang und verschwand im Unterholz. »Es sendet Infralicht aus«, erklärte Immelgud, »wenn es beschossen wird, wissen wir, daß wir nicht näher ran dürfen.« Gerondet zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bodenwelle, starrte in den Himmel. »Und es soll tatsächlich im Sinne des Erfinders sein«, sagte er zornig, »daß wir beide über das Schicksal ganz Riedlands entscheiden? Da ist doch irgendwas schiefgelaufen. Oder?« Immelgud antwortete nicht. Er verfolgte auf einem kleinen Bildschirm den Weg des Infraspähers. »Nichts«, murmelte der Soldat, »keine Reaktion. Also doch... Na bitte!« »Was heißt, Na bitte!'?« Gerondet drückte die Zigarette aus. »Unsere Geheimdienste haben recht«, erklärte Immelgud, »die Russen haben eine völlig veraltete Computertechnik. Nicht mal Laserortung besitzen sie an ihren Raketen. Wir können vor!« »Aber eins verrätst du mir«, Gerondet richtete sich auf, »wie haben sie es denn fertiggebracht, ihre Rakete hier zu deponieren, wenn sie ihr Kriegsgerät immer noch auf Ochsenkarren transportieren?« »Das ist eben ihre Taktik«, antwortete Immelgud unsicher, »vielleicht haben sie einen Tunnel gegraben oder so. Was weiß ich denn?« »Ich wüßte auch gern, wer du bist«, erklärte Gerondet unerwartet und drückte dem Soldaten, der, halb von ihm abgewandt, noch immer die Steuereinheit des Infrafernlenkautos bediente, den Lauf seiner Waffe ins Genick. »Vertrauen gegen Vertrauen. Woher weiß ich denn, daß du nicht ein abgesetzter Diversant bist, der in mir eine Geisel sieht... Also: Knarre loslassen. Ausweis und Kennmarke rausfischen - und alles auf die Erde. Und dann die Hände hinterm Kopf falten. Fang an!«
Immelgud ließ die Waffe los, die, von einem Riemen gehalten, an seiner Hüfte baumelte. Vorsichtig griff er so, daß Gerondet ihn gut beobachten konnte, in die Außentasche, holte den schriftlichen Befehl vor, der ihm alle Rechte während seines Einsatzes einräumte, und reichte ihn Gerondet. Der las schnell und aufmerksam, prüfte die Siegel und Stempel, gab das Papier zurück und steckte die Pistole ein. »In Ordnung«, sagte er, »mir kommt es nur seltsam vor, daß du allein unterwegs bist. Meiner Ansicht nach ist eure Einsatzstärke zehn Mann je Gruppe...« »Das habe ich dir doch schon erzählt. Mein Fallschirm ist abgedriftet«, erwiderte Immelgud, »ich weiß nicht, was es war. Ich habe keine Ahnung gehabt. Ich bin als letzter gesprungen. Die anderen sind nach Norden gesegelt. Und mich zog es nach Süden. Ich konnte überhaupt nichts machen. Ich habe gegengesteuert wie ein Idiot. Nichts. Es war, als rutschte ich über eine Eisfläche. Immer weiter und weiter nach Süden. Das letztemal sah ich die anderen bestimmt schon zwei oder drei Kilometer von mir entfernt. Dann gab es einen Ruck, und ich ging in diesem Moorgebiet hier runter. Deshalb marschiere ich auch nach Norden. Um die anderen einzuholen... Und das merkwürdigste war: Es herrschte Windstille. Keine Bö oder so etwas. Nichts... Wie auf einer Eisfläche...« »Vielleicht ein russischer Lassowerfer auf einem Ochsenkarren«, spottete Gerondet, »der dich in eine andere Richtung gezogen hat.« »Laß deine Witze!« Immelgud blickte Gerondet böse an, wobei ihn die Schlappe noch nachträglich ärgerte. Sich so überlisten zu lassen! »Das Funkgerät hier ist bei jedem Einsatz mit dem ACAZ-System ebenso kurzgeschlossen wie mit einem Satelliten und dem Direktnetz. Und es sagt auch keinen Ton... Da hat jemand alle drei Kanäle blockiert...« Sie gingen weiter. Als Zwischenziel hatten sie einen mächtigen schwarzen Felsen ausgewählt, der unmittelbar neben einem Moorloch lag. Der Stein war auf seiner Oberfläche dunkel und pflanzenfrei. Nur auf der Spitze standen Gräser und Moose. Als sie ihn erreicht hatten und hinter ihm in Deckung waren, bemerkten sie die drei Buchstaben, die, tief eingemeißelt, den Anfang eines Wortes bildeten: GER... Immelgud zog die Karte aus der Tasche, entfaltete sie und suchte den Stein. Er suchte unruhig, schien ihn nicht zu finden. »So ein Brocken muß doch verzeichnet sein«, sagte er grimmig. »Was ist denn das für eine Karte?« »Ger...«, sagte Gerondet lächelnd, »sieht aus wie mein Namensschild, das einer von der Gartenpforte abgerissen, zerbrochen und hier hingeworfen hat.«
»Ist nicht auf meiner Karte«, Immelgud ging nicht auf Gerondets Worte ein, »wer hier kartographische Aufklärung betrieben hat, war entweder betrunken oder handelte in fremdem Auftrag. Kennst du den Stein?« »So weit bin ich noch nie ins Moor vorgedrungen«, gab Gerondet freimütig zu, »ich halte mich mehr an die Spazierwege, Landstraßen und Dorfgaststätten. Aber von diesem Stein hat auch noch keiner geredet. Nur immer von den Hochständen der Jäger. Da wollte ich hin.« »Möglich, daß es alles zum Sperrgebiet von LMN gehört«, sagte Immelgud. »Bloß - wie kann man uns hier einsetzen, wenn wir nicht einmal wissen, wo wir sind und was uns alles erwarten kann...« »Da drüben wird es hell', Gerondet deutete nach vom, »da scheint eine Wiese oder eine große Lichtung zu sein. Gehen wir dorthin und orientieren uns. Was denkst du?« »Hier gibt es eine Lichtung«, der Soldat tippte auf seine Karte, die aus dünner Seide war, »hier und hier auch. Dazu kommt die große Wasserfläche... des Moores. Und das da müßte es sein. Also, doppelte Vorsicht.« »Einen Moment«, Gerondet blickte Immelgud mitleidig an, »willst du sagen, daß eine tonnenschwere Rakete auf der Oberfläche eines Moores stehen kann? Das glaubst du doch selbst nicht.« Immelgud schluckte beunruhigt, drehte die Karte so lange, bis der oberere Rand dunkelblau leuchtete. »Jetzt ist sie eingenordet... Und wo sollen wir sein? Hier? Das ist Unsinn. Und hier liegt Krehersthal. Von dort kommst du... Da steht es: Gerondet. Nein, da sind wir nicht und dort auch nicht. Wir werden ja gleich sehen, wo wir tatsächlich sind.« Während Immelgud die Karte achtlos wie ein Taschentuch einsteckte, kam das kleine Fernsteuerfahrzeug um den Stein gekrochen und stieß einen feinen Ton aus. Immelgud hob es hoch, zerlegte es in seine transportablen Einzelteile, die er einsteckte. »Na los«, sagte er, »es gilt...«
6.00 Uhr: Im Moorgebiet Ruderf Immelgud Tötest du nicht, tut er es... Vielleicht war es dieser eine einzige Satz, mit dem Ruderf Immelgud am Morgen geweckt und am Abend in den Schlaf entlassen wurde, der ihm schließlich die AQualifikation einbrachte. Immelgud, der seinen ihn ausbildenden Feldwebel weitaus mehr wertschätzte als seinen Vater und seine Mutter, zitierte zu jeder Gelegenheit diesen Leitsatz. Er hatte ihn in der Turnhalle gelesen, als er sich, mit dem Abschluß eines Chemiearbeiters in der Tasche, bei der Antiterrorgruppe bewarb, er las ihn das zweitemal in der Kleiderkammer, als er seine speziell für ihn gefertigten Kleidungsstücke abholte, und er hörte den Satz von nun an morgens und abends. Seine Ausbildung war vielseitig und interessant. Er wurde Spezialkraftfahrer für Luft, Land und Wasser, erwarb die Qualifikation eines Scharfschützen und war Zweiter Sprengmeister seiner Gruppe. Für den Fall also, daß der Erste Sprengmeister ausgeschaltet werden würde, war es Immelguds Aufgabe, alle Hindernisse, die sich vor der Gruppe auftaten, aus dem Weg zu räumen. Und als er von dem Bergoriusskandal hörte, der Gerondet aus dem Amt warf, stand es für ihn fest: Dieses System ist morsch, morbide, mürbe. Etwas Neues wurde gebraucht. Etwas, was auf Stärke basierte und die Jämmerlichkeit der sogenannten Demokratie überwand. Und er stand nicht allein. Die meisten seiner Kameraden gaben ihm recht, und sie alle wechselten verstehende Blicke. Wir sind da, dachte Immelgud, wenn man uns braucht. Wir sind da, um mit der weichen Welle Schluß zu machen, für immer ...
I. Die beiden Männer standen nebeneinander hinter einer dicken Ulme und starrten auf die freie Fläche vor ihnen. »Das gibt es nicht«, sagte Gerondet, der als erster die Sprache wiedergefunden hatte. Nach links erstreckte sich die öde Moorfläche mit fast kreisrunden Tümpeln, deren Ränder wild umwachsen waren. Exotische Blüten heimischer Orchideen prangten neben dem leichenblassen Sonnentau und den kräftigen dunkelgrünen Stauden und Gräsern. Das war das von jung und alt gleichermaßen gefürchtete Teufelsmoor, in dem zur Nachtzeit die Irrlichter unterwegs waren, den Verirrten in den Tod zu locken. Dort gaukelten die Seelen der Ertrunkenen dem müden Jäger Rasthäuser und freundliche Gastgeber vor, um ihn zu verlassen, sobald sich der Boden unter den Füßen auftat. Vier Menschen in Zelten, ging die Legende um, waren im Schlaf hier eingesunken, und man hatte ihre verzweifelten Schreie fast eine Stunde lang gehört. Dann hatte sie das Moor gefressen. Das Teufelsmoor ... Mitten durch das Moor aber, und das war widersinnig und widersprach den Naturgesetzen, verlief ein fast schnurgerader, ziemlich festgetretener oder gefahrener Sandweg. Er führte an den fernen Wacholdergruppen vorbei, kam dann aus dem Bruch und zerschnitt die trügerische, nachgiebige Fläche des Moores in zwei ungleiche Teile. Dieser Weg zog dicht an dem Waldrand, also auch an Gerondet und Immelgud, vorbei und lief - eine weitere Ungereimtheit auf eine kleine Stadt oder ein sehr großes Dorf zu. »Potjomkin«, sagte Gerondet und nannte so den Namen des Vaters aller Attrappen. »Scheißfunkmeßaufklärung«, stimmte der Soldat zu. Eine ordentlich geschnittene, vielleicht vier Meter hohe Rosenhecke umgab das Dorf, und aus dieser Hecke hatte man an der Stelle, wo der Weg die Siedlung erreichte, einen halbrunden Torbogen wachsen lassen. Dahinter ragten die Obergeschosse zweistöckiger Fachwerkbauten auf, deren helle, freundliche Dächer im Morgensonnenlicht hellrot schimmerten. Gerondet sah durch den Feldstecher, daß dort, wo der Weg das Städtchen berührte, statt des Sandes hölzernes Pflaster gelegt worden war. Er konnte nicht erkennen, ob dies nur unter dem Bogen so war oder auch dahinter. Die Dächer wiesen den beiden Beobachtern die Richtung der Straße. Und irgendwo mitten in dieser Straße gab es ein großes Gebäude, dessen beide mit Blattgold belegten Türme alle anderen Häuser weit überragten. Vielleicht war es ein Rathaus.
»Äh«, sagte Gerondet zu Immelgud und deutete auf die beiden Dächer, »eine ungemein interessante Version der SS-zwanzig. Außerdem müßt ihr prächtige Spezialisten beim Typenerkennungsdienst haben, stimmt's?« Immelgud gab keine Antwort. Er beobachtete weiterhin die Ortschaft durch das Zielgerät seiner Waffe. Intensiv. »Ist das da eine Zweigstelle von LMN?« Gerondet hängte sich sein Fernglas wieder um, das er gegen den Rat des anderen benutzt hatte. »LMN«, Immelgud senkte die Waffe, richtete sich zu seiner vollen Größe auf, »LMN ist unterirdisch. Wer das da gebaut hat, der will Verwirrung stiften. Und das ist ihm auch gelungen.« »Und der Sandweg«, fragte Gerondet spöttisch, »der existiert wohl, um die Naturgesetze zu verwirren?« »Was weiß ich denn«, gab der Soldat grob zurück, »woher soll ich denn wissen, wie man Sandwege mit Huf- und Wagenspuren in einem Moor erschafft. Klebstoff vielleicht ...« »Klebstoff, Gerondet schlug sich begeistert auf die Schenkel, »du bist genial, mein Lieber. In Ordnung, glaube an die Geschichte, daß man Einzelmenschen mit den Satelliten beobachten kann. Und daran, daß wir den unzerstörbaren Panzer und gleichzeitig die alle Panzer zerstörende Kleinrakete besitzen. Glaub die ganze verlogene Sache, die sich selbst widerspricht. Aber um hier einen Sandweg anzulegen, brauchst du nicht einen imaginären Klebstoff, sondern so viel Sand, daß er bis in die Tiefe von einigen hundert Metern sinkt, alles ausfüllt und bis oben reicht. Ich weiß nicht, wie viele hunderttausend Tonnen dazu nötig wären. Was du da siehst, ist das zehnte Weltwunder. Die hängenden Wege von Krehersthal.« »Und die verdammte Stadt?« Immelgud trat hinter dem Baum vor, stand nun im vollen Licht der Morgensonne. »Steht die vielleicht auf Pontons?« »Aber dann muß sie aus Pappe oder Pergamentpapier sein. Was sagt denn dein Zielgerät dazu?« »Mauerwerk aus Stein«, zählte Immelgud auf, »Fenster aus Glas und Metall. Dächer aus Schieferplatten, Straßenuntergrund aus Holz.« Immelgud schlug eine Bremse, die sich auf seine Stirn gesetzt hatte, mit einem kurzen Schlag tot. »Du bist doch von hier«, sagte er und rieb sich die Stichstelle des Insekts, tat es mechanisch, »dann müßtest du doch etwas beobachtet haben. Lastensegler. Gigantische Transportflugzeuge. Autokolonnen. Nun rede doch schon!«
»Mir reicht es«, sagte Gerondet, »wenn im Herbst die .Nebellichter' und im Frühjahr die ,kalten Feuer' brennen. Nach diesen Großmanövern mit unseren Verbündeten sieht es hier wie nach der Sintflut aus. Und ich muß dann als Zeuge alle Schadensmeldungen zusammen mit dem Bürgermeister unterschreiben. Ich bin froh, wenn ich keinen Wagen sehe, der den berühmten riedländschen Tarnanstrich hat ... Und dann noch was, Junge: Du fuchtelst mir verteufelt viel mit den Händen rum. Wenn du durchdrehen willst, dann geh mit geschlossenen Augen nach links. Ist das klar? Vielleicht kannst du zur Abwechslung mal etwas vorschlagen. Weil du doch, wie du es nanntest, Kommandogewalt hast.« Der Soldat faßte unter seinen Kragen, zog eine nadeldünne Phiole hervor und roch intensiv daran. Einige Sekunden. Gerondet sah, wie die Aufregung zusehends von Immelgud abfiel und dieser ruhig wurde. Gelassen. »Ich habe Blutspuren mit meinem Zielgerät gesehen«, die Stimme des Soldaten war einige Stufen desinteressierter, »ja, Blutspuren. Die verwundeten Terroristen. Hier sind sie ... Hier.« Gerondet fühlte, wie sein Herz schwerer schlug. Eine unbekannte Kraft preßte ihm sekundenlang die Luftröhre zusammen und ließ für einen Moment seine empfindliche Magenschleimhaut schmerzen. »Und worauf darf ich mich einstellen?« Gerondet faßte in Richtung Dienstwaffe, ließ die Hand aber wieder sinken. »Auf das Erblühen der Rosen der Medusa.« Immelguds Worte klangen hohnvoll. »Auf was?« Gerondets Gesicht verzog sich schmerzhaft. »So hat es einer dieser intellektuellen Zeitungsschmierer einmal genannt«, erklärte Immelgud voller Ingrimm, »er war als Beobachter in der Nähe des Mororoa-Atolls. Hat da ein paar französische Atomwaffentests gesehen. Den Atompilz nannte er die Rose der Medusa. Du weißt ja, was solche Scheißer für Begriffe finden. Davon leben sie, ohne einen Handschlag zu tun. Die müßte man ins Moor schicken. Hier alles trockenlegen ...« »Im Klartext heißt das also«, faßte Gerondet zusammen, »im LMN sind Atomwaffen deponiert.« »Ich weiß es nicht«, antwortete Immelgud überstürzt, als habe er mehr gesagt, als er durfte. »Du hast mich gefragt, was Diversanten machen könnten. Und ich habe darauf geantwortet.«
»Kennst du den klassischen Schwachsinn eures Oberchefs?« fragte Gerondet. »Der ist sehr einfach: Sie wissen, was LMN ist. Die Russen wissen, was LMN ist. Die Amerikaner, Franzosen und Engländer wissen es auch. Nur wir, die Betroffenen, haben keine Ahnung. Und da erwartet ihr, daß wir euch unterstützen? Das erwartet ihr doch?« »Ich schwöre«, sagte Immelgud ernsthaft, »daß ich nichts weiß. Nur den Ausdruck haben sie uns verraten: die geheimste riedländische Waffenschmiede. Und jetzt werden wir unser taktisches Vorgehen beraten.« Sie bewegten sich vorsichtig vorwärts. Immer im Schutz einiger Bäume. So erreichten sie die Rosenhecke, die ihnen vorzügliche Deckung bot. »Kein Mensch weit und breit«, sagte Immelgud, der immer wieder seine Waffe gegen die Hecke richtete und durch die Zieloptik blickte. »Keiner in der letzten halben Stunde, kein Wärmeschatten. Nichts.« Neben dem rosenheckenumsäumten Eingang der Stadt hielten sie inne. »Ich nehme das erste Haus auf der rechten Seite«, erklärte der Soldat kurz. »Habe ich die Tür erreicht, läufst du zum ersten Haus links. Ich gebe dir dann Feuerschutz. Und so geht es weiter. Von Haus zu Haus. Einer steht und gibt Feuerschutz, der andere läuft. Wenn was auftaucht, sofort schießen.« Gerondet zog die Dienstwaffe aus dem Futteral, entsicherte sie. Stieß hörbar die Luft aus. Blickte vorsichtig um die Hecke. Alles war in dieser Stadt leuchtend und frisch. Die Hölzer waren frisch geölt und die Wände hatten einen hellen, freundlichen Anstrich. »Los!« kommandierte Immelgud und jagte in großen Sprüngen auf das erste Haus zu, sah sich trotz des heftigen Laufs nach allen Seiten um und landete mit einem gekonnten Hechtsprung in der Torbogennische des Hauses. Kam sofort wieder hoch und preßte sich in den Stein-Tür-Winkel. Er hob die Hand und winkte dem Polizisten zu. Der lief auch, wenn auch nicht so, als wollte er alle Rekorde brechen. Gebückt - sich umsehend. Mäßig schnell. Dabei versuchte er, nicht an die Gefahr zu denken. Er wußte, da er selbst einmal verwundet worden war, wie fremdartig danach die Welt ist. Wie dann alles zusammenbricht, was man eben noch dachte, und der eigene Körper zum Mittelpunkt des Universums wird. Die unerwartete Schwäche und der lähmende, schreckliche Schmerz. Gerondet sprang in die Toreinfahrt. Nahm die gleiche Haltung wie Immelgud ein. Der hob die Hand. Signalisierte so: Alles bestens.
Sie liefen weiter. Wechselseitig. Unerwartet überquerte Immelgud die Straße, stand neben Gerondet. »Das ist Idiotie«, sagte er, »in den Wohnungen sind Menschen. Ich sehe ihre Infraschatten. Hier...« Er ließ Gerondet durch die Zieleinrichtung sehen. Der erkannte erst überhaupt nichts. Nur farbige Felder. Dazwischen rötliche, braune oder rote Kleckse, die sich langsam bewegten. »Braun ist Spur«, flüsterte Immelgud, »Gelb frische Infraspur. Orange Mensch mit wärmeschluckender Kleidung und Rot das Gesicht, die Hände, nackte Haut oder laufende, wärmeerzeugende Maschinen. Verstehst du?« Gerondet sah die Menschen in ihren Wohnungen. Nachdem er sich ein wenig an die Farben gewöhnt hatte, begriff er, daß dort Alltagstätigkeiten abliefen. »Die klotzen hier«, flüsterte Immelgud dem beobachtenden Polizisten zu, »unter den Augen von LMN eine Kleinstadt hin. Eine mit allen Schikanen. Und keiner merkt das. Das ist eine Meisterleistung der Diversion.« »Und wenn das doch eine Satellitenstadt von LMN ist?« Gerondet gab dem Soldaten die Waffe zurück. Immelgud schüttelte den Kopf. »Die Kirche da vom«, sagte er unsicher, »ist doch orthodox - oder wie das heißt. Die ist russisch. Typisch, du...« »Ah ja«, Gerondet lächelte breit, »und da beichten dann die Parteisekretäre, was? Das ist überhaupt keine Kirche. Vielleicht ein Rathaus, Bürgermeisterei oder so.« »Weiß. ich nicht«, sagte Immelgud, »aber da vorn ist eine Kneipe. Da fangen wir an. Kneipen sind Sammelstellen. Also nicht blind reinrennen.« Sein Gesicht wurde hart. »Wenn ich eine Granate reinsetzen muß«, erklärte er, »kommst du auch nicht mehr heil raus. Die haben es in sich. In der Tür stehenbleiben. Bevor es knallt, rufe ich ,Deckung!'. Dann bist du gewarnt. Ich benutze jetzt die Straßenmitte, und du hältst dich am Rand. Dicht an der Wand. Beobachte die gegenüberliegende Seite.« Das klamme Gefühl im Brustraum ließ Gerondet nicht los. Ich sehe es doch, dachte er, ich sehe doch nichts als eine verträumte Stadt. Aber die Greuelpropaganda muß nur mächtig genug sein, und schon wird aus einem durchaus normalen Raum ein Brennpunkt des Bösen. »Und wenn diese Stadt«, sagte er, »wenn sie unter Denkmalsschutz steht? Ein Tummelplatz zivilisationsmüder Millionäre samt ihren Mätressen ist? Wenn hier die Diplomaten der Welt ihre geheimsten Konferenzen abhalten? Was meinst du, was sie dann mit uns machen? Sie werden uns kaum kolumbusschen Ruhm zubilligen. Wollen wir wirklich weiter?« Bei diesen Worten deutete er auf Efeu
und wilden Wein, die schmalgliedrig an den Balken der Gebäude emporwuchsen, zeigte auf die bleigerahmten Butzenscheiben in den Fenstern. Immelgud blieb nachdenklich stehen. Die Häuser zeigten einen gänzlich unbekannten Baustil. Das Obergeschoß überragte das Untergeschoß auf jeder Seite um mindestens einen Meter, so daß zwischen den Häusern dämmrige, schier endlose Gänge entstanden. »Ja«, sagte Immelgud und strich sich durch die Haare, »ja, sie haben uns nicht beschossen. Zeigen keinen Widerstand. Aber... wenn nun eine Falltür aufgeht, wenn nun irgendwo auf ganzer Straßenbreite eine Falltür existiert und wir lautlos ins Moorwasser schlittern... Vielleicht wollen die uns überhaupt erst weg vom Eingang haben...« Immelguds Unsicherheit zeigte sich besonders in seinen Augen. Gerondet sah jetzt erst, daß der andere helle, beinahe farblose Augen hatte. Vielleicht ein Anflug von Gelb oder Grün, aber eben nur ein Anflug. Es waren Augen, die nicht anders als suchend, mißtrauisch forschend oder abschätzend blicken konnten. So sah Immelgud immer interessiert und auch überlegen aus, aber es fehlten in seinem Blick ein paar kleine Funken, vielleicht ein winziges, kaum wahrnehmbares Flackern. »Das sind Tricks«, sagte der Soldat mehr zu sich selbst als zu seinem Begleiter, »die lassen sich eben LMN-Spionage etwas kosten. Was meinst du, was die alles in ihrem Sibirien rumliegen haben. Uralte Klamotten...« »Ist schon gut«, unterbrach Gerondet, in dem statt der Furcht nun Langeweile und eine Art Zorn über die ungebildete Art des Soldaten aufkeimten, »laß sein. Man soll nicht von dem reden, was man nicht begreift. Ich gehe jetzt zurück. Mir reicht es.« Er machte Anstalten zu gehen. Immelgud richtete seine Waffe unmißverständlich auf den Polizisten. »Ich weiß auch nicht«, stieß er durch die geschlossenen Zähne hervor, »ob wir zufällig zusammenstießen oder ob du mich auftragsgemäß hierhergeschleppt hast. Aber wenn du meinst, gehen zu müssen, dann wird das ein verdammt langer Weg für dich.« Gerondet blickte dem anderen in die Augen und stellte verblüfft fest, daß diese Augen nicht anders als vorher aussahen. Nicht eine Spur Erregung war darin. Auch kein Unbehagen, die Waffe benützen zu müssen. Es waren einfach die Augen eines Mannes, der seine Arbeit ordentlich abschließen will.
»Und du fühlst dich stark genug«, erkundigte sich Gerondet, »nicht nur einer ganzen Stadt, sondern auch mir den Krieg zu erklären? Ihr solltet euch Kamikazekämpfer nennen.« »Wer nicht mit mir kämpft«, stieß der Soldat unbewegt hervor, »tritt automatisch gegen mich an. Also mach keinen Unsinn! Natürlich brauche ich deinen Flankenschutz.« »Nun hör mir mal zu«, sagte Gerondet und hob die Hände, »ich will einfach nicht, daß wir uns in etwas einlassen, was ein paar Nummern zu groß für uns ist. Und ich will auch nicht ein paar harmlose Domestiken der Herren dieses Ortes niederschießen und dann vor einem Militärgericht stehen. Willst du das?« »Heute ist Freitag, stimmt's?« Immelgud lehnte sich gegen eine Hauswand und beobachtete ununterbrochen die leere Straße. »Freitag«, wiederholte er. »Ist einer unterwegs? Zur Arbeit? Zum Einkaufscenter? Markt? Ist einer unterwegs? Hörst du ein Radio? Fernseher? Kassettenrecorder? Siehst du eine elektrische Leitung, ein Kabel oder was auch immer? Steht hier irgendwo ein Auto? Fahrrad? Moped? Na...?« Auch Gerondet hatte etwas vermißt. Etwas, was zum Leben gehörte. Jetzt wußte er, was es war: Stadtgeräusche. Musik. Es war totenstill. Unheimlich. »Wenn die nun einen Faradayschen Käfig geschaffen haben«, mutmaßte Immelgud, »oder elektronisch alle Wellen zertrümmern, dann würde das das Schweigen meines Funkgeräts erklären. Und alles andere... Wir müssen zuerst in die Kneipe. Oder wir holen uns einen aus seiner Wohnung, wenn in dem Schuppen auch niemand ist. Und dann machen wir ein Feuerwerk, daß ihre elektronischen Abschirmanlagen zum Teufel gehen. Dann wird man schon auf uns aufmerksam. Komm, Philippe.« »Hier fehlt einiges«, sagte Gerondet, halb überzeugt, »es ist regelrecht vergessen worden.« Er nickte Immelgud verstehend zu. »Aber wenn das die Zentrale der anderen Seite ist«, fuhr er leiser fort, »dann haben wir jetzt schon keine Chance mehr, ungeschoren zu entkommen.« Sie gingen weiter. Immelgud in der Straßenmitte, Gerondet dicht an der Wand der linken Straßenseite. Ihre Schritte klängen dumpf auf dem hölzernen Pflaster. Die beiden Männer erreichten schon bald die Gaststätte. Immelgud war erster. Gerondet folgte dichtauf. Sie blieben bei der Tür stehen, und Immelgud hatte einen Fuß so gestellt, daß die Tür hinter ihnen nicht vollständig zuschlagen konnte. Es war ruhig und warm. Zierliche Holzschnitzereien umrankten die tragenden Säulen, die hölzernen Deckenbalken und die Lehnen der Stühle. Durch die Butzenscheiben hatte sich das Licht
verändert, war farbig und müde, erleuchtete den Raum ausreichend und doch matt. Hinter dem Schanktisch stand ein hemdsärmeliger Mann mit einer Lederschürze vor dem Bauch. »Hände hoch!« Immelgud durchquerte mit wenigen Sprüngen den Raum, sah dabei automatisch in alle Winkel und Ecken und erreichte so den überraschten Wirt. Er drückte ihm die Waffe gegen den Leib. »Umdrehen! Hände an die Wand! Keine Bewegung!« Der Schankwirt sah verblüfft und nichts begreifend von einem zum anderen. Langsam hob er die Hände, hielt immer noch ein Spültuch, das Immelgud nun mit einer scharfen Bewegung aus der Hand des Wirts riß und fallen ließ. Dann riß Immelgud den anderen herum, stieß ihn so, daß er gegen die Regale stolperte und so stehenblieb. Wortlos. Der Soldat suchte den Wirt nach Waffen ab, zog ihm ein großes Messer aus einer am Gürtel angebrachten Lederscheide und warf es so, daß es in einer Holzsäule steckenblieb. Er schnallte dem Wirt den Gürtel ab, band ihm die Handgelenke damit zusammen. »Na«, sagte er zu Gerondet, »zufrieden?« Und dann an den Wirt gewandt: »Umdrehen! Ich will dein Gesicht sehen.« Der Wirt gehorchte. In seinen Augen war Entsetzen. Verständnislose Angst. »Also«, Immelgud grinste mit halbem Mund, »wo ist euer Boß? Towaristsch Natschalnik? Gde?« »Ich kann Eurer Rede nicht folgen, Fremder«, stammelte der Wirt und sah Gerondet hilfesuchend an. »Wo ist Wojennyi Kommissar?« radebrechte Immelgud weiter, »wo ist der Boß? Der Commodore? Commander? Chief? Rede!« »Commodore«, wiederholte der Wirt ehrfürchtig das Wort, als flößte es ihm besondere Achtung ein, »hört mir zu, Fremde, wenn ihr den Magister zu sprechen wünscht, dann kann ich euch nur ungenügend Auskunft geben. Vielleicht in der Kirche oder im Rathaus..., möglicherweise ist er bei Freyja oder Esra... Ich kann euch nicht die Auskunft geben, die euch zufriedenstellt.« »Außenkontrolle!« Immelgud sah Gerondet an und deutete auf die Straße. Gerondet begriff. Er drehte sich um und schob vorsichtig die Tür auf. Trat hinaus. Ging leise um das Haus herum. Stieß auf den Eingang zur Küche. Da standen drei junge Frauen, die ihm den Rücken zuwandten und Geflügel rupften.
Eine ältere Frau, die immer wieder mißtrauische Blicke zu den jüngeren sandte, schuppte einen großen Fisch. Auf dem Boden lagen noch mehr Fische. Auch Geflügel, noch im Federkleid. Ein halbiertes Ferkel lag auf einem hölzernen Tisch, der von ungezählten Messerschnitten ein feines Rillenmuster erhalten hatte. Gerondet steckte die Waffe ein. »Guten Tag!« grüßte er höflich. »Was wollt Ihr hier«, fragte die Alte, während die Mädchen einen Knicks machten und dann weiterarbeiteten, »etwas bestellen oder betteln? Schickt Euch Schimmelpfennig oder Brodlant? Sagt denen, daß es bei mir nichts mehr gibt. Sollen sie die Bauern auf die Felder und die Fischer an die Flüsse lassen. Sagt ihnen, sie sollen die Kaufleute hinaus in die Welt entsenden, wie es bei den Vätern auch war. Sollen sie die Pulvermühlen und Säbelschmieden wieder unter Kraft setzen, dann wird es auch an nichts fehlen. Ich gebe nichts ab. Nicht für Geld und nicht für gute Worte. Und nun geht. Wir haben zu tun.« »Wer ist Brodlant?« Gerondet trat ein, sah kurz hinter die Tür. Natürlich stand da niemand, der ihm hätte etwas tun wollen. Die Alte kniff die Augen zusammen. Ihre Lippen waren zwei breite bräunliche Striche. »Ihr sprecht sehr eigenartig«, sagte sie unerwartet heftig, »gerade so, als mache es Euch Mühe, menschliche Laute zu erzeugen. Wie jene Puppe aus Bändern und Schrauben, die der Schmied Pfirchkern einst schuf... Ihr seid durch die Schleuse zu uns gestoßen?« »Durch das Teufelsmoor«, antwortete Gerondet, nahm eine Hühnerfeder vom Tisch und ließ sie zu Boden segeln, »über die Sandstraße...« »Moor«, die Alte lächelte unfreundlich, höhnisch, »wo ist hier ein Moor? Oder meint Ihr die Karauschen- und Karpfenteiche? Es gibt Felder, Triften und Wälder voller Pilze, Honigbienen und Beeren, aber ein Moor... Wo soll das sein?« Gerondet versank in Grübelei. Er sah die Küchengeräte, die allesamt von getriebenem Kupfer waren. Handarbeit. Er sah die hölzernen Tische, die Hocker. Die Säulen, die Wände und den Boden. Alles kunstvoll. Aus einer Epoche, aus der jedes Einzelstück heute horrende Auktionspreise brachte. Selbst die kleinsten Nebensächlichkeiten, wie Kissen, Tischtücher und Handtücher, waren reich verziert. »Den Magister, Schimmelpfennig und Brodlant«, Gerondet benutzte die einzigen Namen, die er kannte, »wo findet man sie?«
»Brennt Ihr darauf, den Mächtigen über den Weg zu laufen«, spottete die Alte, »zieht es Euch so gewaltig in das Schlachthaus? Ihr solltet Euch Zeit lassen. Sie werden Euch schon bald entdecken.« »Was ist im Schlachthaus?« Die geflügelrupfenden Mädchen zogen die Köpfe ein. Hatten sie vordem manch interessierten Blick zu Gerondet gesandt, so schienen sie mit einemmal klein und angstvoll. »Was ist im Schlachthaus?« Die Alte wiederholte Gerondets Frage so, daß es zugleich Antwort war. Ihre Frage klang nun böse, ätzend. »Geschlachtet wird dort nicht«, sagte sie nach einer geraumen Weile, »weil es nichts zum Schlachten gibt. Die Ställe sind verkommen. Das Vieh ist abgemagert. Hungert. Welche Kuh gibt noch Milch? Aber dafür sind wir sicher vor jedem Übergriff, bis dereinst jene herrlichen Zeiten kommen, in denen es nicht mehr Alter und Krankheit gibt. Wenn Ihr wollt, Mannsbild, dann haltet schon mal um meine Hand an. Was denkt Ihr, wie knusprig ich mit sechzehn war. Und ich werde es wieder sein.« Sie lachte ein schmerz- und haßerfülltes Lachen, während ihre Augen sehr ernst blieben. Die Mädchen kicherten schüchtern. Verstummten aber gleich wieder. »Geht, Fremder, geht«, ihre Stimme war von einer Sekunde zur anderen frostigabweisend geworden, »wir haben zu tun. Und ihr dummen Dinger, wenn das mit dem Rupfen nicht schneller geht, werde ich euch rupfen und zausen. Aber gehörig.« Gerondet wandte sich dem Ausgang zu. Blickte noch einmal in die Runde und verließ dann den heißen Raum. Neben der Küche war ein seitlicher Hauseingang. Eine steile Treppe führte außen in das Obergeschoß. In dem kleinen finsteren Gang befanden sich drei Türen. Gerondet stieß sie nacheinander auf. Nichts war verschlossen. Im letzten Raum begegnete ihm ein uralter Mann, der in einem Stuhl mit einer extrem hohen Lehne saß. »Bist du es, Söhnchen?« Die Worte des Alten klangen hilflos, schwach. »Nein«, antwortete Gerondet wahrheitsgemäß, »ich muß mich im Zimmer geirrt haben.« »Ihr kommt von weit her«, flüsterte der Alte, »das höre ich. Ihr kommt aus einem eisigen Land, denn Eure Sprache ist eisig. Früher, als ich jung war... Ich habe vier Handelszüge geleitet. Wunder habe ich gesehen. Prächtige Schlösser und Wunder. Glänzendes Gold und Gewürze. Seidenstoffe... Unsere Waffen waren in der ganzen Welt berühmt. Man konnte alles für sie eintauschen. Doch
faul und träge ist dieses Volk geworden. Die Leute sind es gewohnt, zu genießen, ohne dafür zu schaffen. Sie berauschen sich jeden Tag. Huren wie die Straßenhunde herum und beten die falschen Götter an... Ich sage Euch, Fremder, sie sind diesem Satansweib verfallen. Dieser falschen Priesterin. Mein Vater war Waffenschmied. Drei Schmieden hatte er unter seiner Fuchtel. Drei. Und? Schließen hat er sie lassen. Aber nicht mein Vater, sondern ER. ER. Hütet Euch vor IHM. ER ist nicht mit dem Bösen im Bunde, ER ist das Böse. Ein toller Mann, der nicht anders wie die tollen Hunde jeden in den Tod führt, an den ER herankommt. Deshalb haben sie mich auch geblendet. Weil ich die Waffenpläne meines Vaters alle kannte. Auch die ,Singende Johanna' vermag ich zu bauen, wenn es sein muß. Jetzt noch. Ohne meine Augen.« »Ich glaube Ihnen«, sagte Gerondet. »Sie können das. Aber ich weiß nicht, was das ist, die ,Singende Johanna'.« »Eine kleine Kanone«, wisperte der Alte, »eine, die vier Feuerpfeile auf einmal abschießen kann. Aber in ihrem Kopf war kein Zunder oder Stein, sondern Schwarzpulver, das sofort abbrannte, wenn es irgendwo gegenschlug... Und ich sitze hier und schlafe regelmäßig um Mittemacht ein, um zu erwachen, wenn gegen sechs Uhr in der Frühe die Zöpfler geritten kommen und meiner Schwiegertochter, dieser Hexe, für Branntwein und einige Goldstücke Beutegut dalassen, damit die Gäste auch saufen und fressen können. Verzeiht, aber ich höre sie jeden Abend. Sie grölen und rumoren. Sie rülpsen frech und scheißen gleich neben unsere Kompostgrube im Hof...« »Sie ist eine Hexe?« »Nicht so. Fremder, nicht eine, die auf einem Besenstiel durch die Lüfte fliegen kann«, der Alte schmunzelte vergnügt, »sie ist eine dumme und raffgierige Person, die, als unsere Schmieden geschlossen wurden, um meinen Sohn herumscharwenzelte und sich seiner schließlich bemächtigte. Und mein Sohn sagte mir: ,Vater, die Zeit, da ein ehrenwertes Geschäft die Seinen ernährt, ist vorbei...' Er hat sie genommen, und ich sitze hier, will da nicht hinunter und weiß nichts mit der Zeit zu beginnen. Und immer höre ich es, wenn der Satan unterwegs ist, um die Abtrünnigen zu holen. Sehen kann ich ihn nicht, doch sein Gesang ist schrecklich. Ich bin ein gottesfürchtiger Mann, Fremder. Ich habe keine Angst vor ihm. Ich schließe nicht einmal das Fenster. Und ich sage Euch noch eins, Fremder. Er kann überhaupt nicht fliegen. Auch wenn das dumme Volk es behauptet.« »Das denke ich auch«, sagte Gerondet, der angestrengt über die Worte des Alten nachdachte, »aber jetzt muß ich gehen.« Gerondet verließ den Raum, schloß leise die Tür und stieg über die steile Außentreppe nach unten. Er ging wieder um das Haus herum. Betrat die
Schankstube. Der Wirt lag mit blutender Unterlippe am Boden. Immelgud stand breitbeinig vor ihm. »Das reicht jetzt«, kommandierte Gerondet, hob den Mann auf und stellte ihn auf die Füße. »Was soll der wissen? Kauf dir die Herren. Nicht den.« »Stimmt schon«, gab Immelgud zu, goß etwas Branntwein auf ein Spültuch, löste die Fessel des Wirts und drückte ihm das Tuch in die Hand. »Wir müssen zum Magister. Und da gehen wir alle zusammen hin...« »Vergiß auch den fliegenden Satan nicht«, warf Gerondet ein und sah, wie der Wirt leichenblaß wurde und ihn ein Schüttelfrost überkam. »Den - was?« Immelgud kratzte sich das Kinn. »Satan nennt man ihn«, erklärte Gerondet, »und der soll tatsächlich fliegen können.« »Na bitte«, Immelgud lächelte breit, »das ist doch was. Ein Waffensystem namens Satan. Ich werde es mir schon holen. Wir wollen gehen!« »Nein«, der Schankwirt wimmerte und dehnte das Nein quälend lang, »nicht zu Satan... Ich flehe Euch an.« »Tatsache«, höhnte Immelgud. »Und wie heißt der Herr Satan noch? MiGvierundzwanzig? E-zweihundertsechsundsechzig? MiG-fünfundzwanzig oder Tzweiundneunzig? Ich knacke ihn. Mein Wort, Philippe, den knacke ich.« Immelgud drückte dem Wirt seine Maschinenwaffe in den Rücken und stieß ihn so zum Ausgang. Er folgte dichtauf. An der Tür hielt Immelgud noch einmal an. »Du gehst vor mir«, sagte er zu dem Wirt, »und wenn einer auf mich feuert, trifft er zuerst dich. Also sag mir besser vorher, wenn es eklig wird. Los, ab!« Und während sie hinausgingen, zog Immelgud eine schlanke Rakete aus dem rechten Hosenbeinfutteral und steckte sie mit zwei Handgriffen auf seine Waffe. »Hohlladung«, sagte er schmunzelnd, »für Towarisch Satan.« ,Man kann ihn nicht töten«, lamentierte der Wirt, als er die Straße betrat, »man darf es auch nicht, denn in ihm leben all unsere Kinder weiter. Wer seine Hand gegen ihn erhebt, verliert sein ewiges Leben, seine Seele und seinen Gott.« II. Die Straße, jetzt im Morgensonnenlicht, sah freundlich, anheimelnd aus. Die Butzenscheiben auf der Sonnenseite sprühten vielfarbiges Licht. Auch auf den Messingbeschlägen und -klinken der Häuser blinkten Lichtreflexe.
Irgendwo hinter einem offenen Fenster sang eine Frau leise, melodisch einen monotonen Singsang. Gerade dieser Gesang war es, der zusammen mit den dreifach auf dem Holzpflaster hallenden Schritten die ungeheure Stille dieses Ortes deutlich machte. Die Stille war überwältigend. Es gab weder die in dieser Jahreszeit überschwenglich singenden Vögel noch Insekten. Nicht eine summende Fliege, nicht eine brummende Hummel, die Stadt schien ausgestorben, verwehrte sich den bewaffneten Eindringlingen. »Still hier, was?« sagte Gerondet in der Hoffnung, der Wirt würde antworten. »Das sind die Regiefehler«, Immelgud war sich seiner Sache sicher, »die Herren haben nicht nur die Autos vergessen, sondern auch ein paar Radios, Kassetten mit Kinderstimmen und Vogelgezwitscher.« »Und an der Stadtgrenze«, sagte Gerondet, »haben sie gleich noch ein paar Insektennetze hochgezurrt, damit auch keine Mücke ihre Pläne durchkreuzt. Oder wie? Insekten kommen meiner Ansicht nach ungerufen. Aber nicht einmal in der Küche waren welche. Bei einem offenen Fenster...« »Der Magister hat den Lauf der Welt beschleunigt«, meldete sich der Wirt, »Freyja hat alles den Einwohnern offenbart. Ihr lebt nur Minuten. Eine Generation treibt die andere in die Grube. Ein sinnloser Reigen. Dann aber, wenn Alter, Krankheit und Tod besiegt sind, wenn das belialsche Jerusalem Wirklichkeit ist, dann gibt euch der Magister euer wirkliches Leben zurück. Und vereint werden wir, auch mein blinder Vater sieht dann das Paradies, in Harmonie einander achten.« Immelgud lachte schallend, klopfte dem Wirt auf den Rücken. »Wenn Juppy, unser Chefkomiker, mal keine Einfalle mehr hat«, sagte er ohne Bosheit, »ich werde dich empfehlen. Bist ein Naturtalent.« Dann wurde Immelgud wieder ernst. »Stehenbleiben«, sagte er knapp, »mit dem Gesicht zur Wand.« Er trat, nachdem der Wirt der Aufforderung gefolgt war, auf Gerondet zu. »Da vom ist das Rathaus«, sagte er leise, »wir sollten dir auch einen Kugelfang besorgen...« »Nicht mal hinter uns ist einer«, widersprach Gerondet, »meinst du nicht, daß längst etwas geschehen wäre? Nach unserem Auftritt in der Gaststätte?« »Passiert ist nichts«, antwortete Immelgud, »aber du hast doch gehört: System Satan.« »Und«, meinte Gerondet, »was das ist, wissen wir nicht. Aber daß in der Gaststätte Kienspäne und Fackeln waren, daß es dort nicht eine elektrische
Lampe gab, das weiß ich. Und keine Antenne. Kein Radar. Nichts. Und kein Industrieprodukt. Hast du die Schnitzereien in der Gaststätte gesehen?« »Nein«, gab Immelgud zu. »Waren da welche? Und was besagt das?« »Das weiß ich nicht«, Gerondet schüttelte den Kopf, »aber eins ist klar: Es bedeutet nicht das, was du annimmst.« »Eine Kalaschnikow habe ich schon erwartet«, stimmte der Soldat zu, »irgendwo unter dem Schanktisch oder in einem Regal. Aber ist nicht. Nur: Es kann die Tarnung auch so gefährlich machen. Und die Ortung unmöglich.« »Und die Berittenen im LMN«, Gerondet sah zu Boden, »bewegen sich so auffällig, daß man nicht anders kann, als sie auszuheben. Hinterlassen Spuren. Das ist dann aber schon der Gipfel der Tarnung, was? Nein, Immelgud, wir sind auf einer ganz anderen Fährte.« Das Rathaus war ein imposantes hölzernes Gebäude, das alle anderen Bauwerke um das Doppelte überragte. Rechts und links schlössen die weithin sichtbaren Türme das Gebäude ab, während in der Mitte, genau dort, wo die achtstufige breite Treppe zu dem Doppelportal hinaufführte, eine kunstvolle Uhr angebracht war, deren Zeiger nicht flach an der Wand entlangliefen, sondern einen horizontalen Kreis beschrieben und an merkwürdigen Symbolen statt an Ziffern vorüber mußten. Über der Uhr thronte ein Wesen, halb Dämon, halb Menschtier, dessen Hörner nicht aufwärts, sondern nach vorn gerichtet waren. Unter der Uhr knieten zwei Frauen, die ihre Hände segnend über den ausstreckten, der das Portal passierte. »Nichts«, sagte Gerondet, »kein gedruckter Anschlag. Keine Aufforderung. Keine Annonce. Keine Sprechzeiten. Nichts, was als tarnende Falschmeldung uns in die Irre führen könnte.« »Ist der Magister hier?« Immelgud stieß den Wirt leicht an. »Nie«, antwortete der Wirt trotzig. Gerondet begriff, daß in dem Mann der natürliche Widerstandswille erwacht war. »Wenn er flüchtet«, flüsterte er Immelgud zu, »wirst du nicht schießen. Er hat überhaupt keine Ahnung, was du willst.« »Ich werde schießen«, antwortete der Soldat ebenso leise, »und wie ich schießen werde.« Er nahm das Geschoß aus der Schiene, steckte es wieder ein. »Dann werde ich dich entwaffnen«, sagte Gerondet, »weil es Mord ist. Keine Verteidigungsaktion.«
»Versuch es doch«, spottete Immelgud, »immer zu, Sheriff, versuch es!« Trommelschlag erreichte ihr Ohr. Dunkles monotones Trommeln, das allmählich lauter wurde. Unerwartet tauchte eine Prozession auf. Es mochte zwei oder drei Querstraßen weiter sein. Voran ging ein Mann, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er schien noch sehr jung zu sein. Zwei andere, die genau wie jener gekleidet waren, stützten ihn. Dann kamen einige Halbwüchsige, Männer und Frauen. Am Ende des Zuges gingen zwei Trommler. Einer aus dem Zug schien zu reden. Was er sagte, war nicht zu verstehen. Doch es klang vorwurfsvoll, anklagend, Haß säend. Der Zug tauchte wieder in eine Querstraße ein, das Trommeln wurde leiser und leiser und verklang schließlich. »Was war das?« Gerondet stellte sich so, daß er dem Wirt ins Gesicht sehen konnte. »Er hat Satans Gesetz mißachtet«, stotterte der Wirt und war blaß, »vielleicht haben sie entdeckt, daß er ein Geschwisterchen versteckt hatte, vielleicht hat er Reden geführt, die besessen waren... Es ist vieles denkbar.« »Ich habe mit Ihrem blinden Vater gesprochen«, sagte Gerondet eindringlich zu dem Wirt, »und er läßt Ihnen sagen, daß Sie sich nicht gegen diesen Mann dort auflehnen und erst recht nicht fliehen sollen. Es wird dann alles gut...« Er sah dem Schankwirt einige Sekunden in die Augen. Der andere nickte erleichtert, denn ihm war nun eine Entscheidung, die er zu fällen hatte, abgenommen. »Und wo kommt der Kerl hin?« Immelgud starrte immer noch in die Richtung, aus welcher der leiser werdende Trommelschlag kam. »Ins Schlachthaus«, flüsterte der Wirt, »dort wird nicht mehr geschlachtet. Dort sind die Abtrünnigen Belials...« »Wer ist denn das?« Immelgud sah Gerondet an. »Der oberste Höllenfürst«, erklärte der Polizist, »der Herr der Hölle bei den Yeziden, den Teufelsanbetern...« »Na, das ist ja ein Spaß!« Immelgud betrachtete den Schankwirt voller Interesse. An das Rathaus schloß sich ein großer Platz an. Vielleicht der Marktplatz, der jetzt funktionslos und leer im Sonnenlicht lag. »Sieh mal!« Immelgud deutete nach vorn, wo sich eine fast haushohe Metallkonstruktion erhob. Gleichförmiges murmelndes Plätschern sagte ihnen, daß dort ein Wasserspeier war. Nur die
imposante Höhe unterschied ihn von anderen Brunnenkonstruktionen. Immelgud schaute durch die Zieloptik seiner Waffe. Gerondet nahm das Glas zu Hilfe. »Kein Mensch«, murmelte Immelgud halblaut, »auch nicht hinter dem Metall. Das ist der verrückteste Ort der Welt.« Er riß die Waffe förmlich nach unten, packte den erschrockenen Wirt am Kragen. »Hör zu, Clown«, sagte er keuchend »was ist hier los? Was ist das alles? Rede, du...« »Dort drüben«, sagte der Mann kläglich und blickte Gerondet an, »in dem imposanten Gebäude, seht ihr den weitgeschwungenen Balkon, dort wohnt die Hohepriesterin Freyja. Der Magister ist nicht bei ihr... Seine Kutsche steht nicht vor dem Tor.« »Kutsche«, Immelgud schüttelte sich vor Lachen, »er kommt in einer Kutsche.« Gerondet fühlte, daß dem Antiterroristen die Nerven durchzugehen drohten. Es war die unbekannte Welt einer kleinen Stadt, das Fehlen der erwarteten Autorität, die das Weltbild des Soldaten aus dem Gleichgewicht brachten. »Reiß dich zusammen!« Immelgud zuckte wie unter einem Peitschenhieb. Sein unmotiviertes Lachen brach glucksend ab. Sein Blick war eine Mischung aus Hochachtung und Haß dem Mann gegenüber, der seine Schwäche erkannt hatte. »Jemanden zusammenschlagen«, erklärte der Polizist, »das kann jeder Penner. Aber die Nerven bewahren, wenn es mal nicht nach Schablone abläuft, dazu muß man ein Mann sein.« Immelguds Gesicht wurde starr, maskenhaft. Nur noch seine Augen lebten. »Geht beide vor mir her«, befahl er, »zuerst zur Kirche und dann zu diesem Esra. Vorwärts.« Gerondet gesellte sich zu dem Schankwirt, blinzelte ihm zu. »Da brauche ich keine Zimmerflak«, sagte er und steckte die Waffe ordentlich ins Futteral. Zog eine Zigarette aus der Packung und nahm sich Feuer. Der Wirt führte die beiden quer über den Marktplatz. Und mit jedem Schritt an Gerondets Seite entkrampfte er sich mehr, lief leichtfüßiger. So näherten sie sich dem Brunnen. Der unentwirrbare metallene Knoten löste sich auf in eine Vielzahl von Fratzen, Dämonen und Kobolden. Die metallenen Leiber der Phantasiegeschöpfe türmten sich übereinander. Es waren die Produkte der Alpträume eines wahnsinnigen Künstlers. Hier hatte sich ein Überbosch dreidimensional verewigt. Gespenster und Werwölfe, Nachtmahre und Vampire, Hexen und Greuelgestalten, die halb Mensch, halb schaurige Insekten waren, bildeten einen serpentinenartig aufstrebenden Reigen, schienen sich zugleich zu
halten und zurückzustoßen. Eckzahn stand gegen Kralle, Panzerschuppen gegen Stachelkleid, und alles wollte hinauf. Immer nach oben. Höher und höher. Strebte der Spitze zu. Der schwankenden Spitze. Eine träge Sonne hing schräg über dem Platz, und ihr Licht brach sich auf dem Metall, ließ Muskelgruppen aufleuchten, bronzene Augen mordgierig schimmern... Auf der Spitze aber, auf diesem unsicheren Ort, stand ein junges schönes Weib. In ihrem Gesicht nistete die Angst. Ihre Augen, weit und starr, waren auf die Unholde unter ihr gerichtet. In ihren Händen hielt sie ein Kind, streckte es dem Himmel entgegen, bot den eigenen Körper dem Anprall der Dämonen, suchte das Neugeborene zu retten. Gerondet starrte nach oben, konnte seine Augen lange Zeit nicht von der Verzweifelten abwenden. »Das Kind...«, sagte Gerondet mechanisch. »Es gibt hier keine Kinder«, flüsterte der Schankwirt dem Polizisten zu. Senkte danach den Kopf. Gerondet trat näher an den Brunnen heran. Aus den grünlichen, glasklaren Fluten erhob sich ein metallener Kopf, das Kinn auf die schlanke, feinnervige Rechte gestützt. Satans gehörnter Schädel sah die Besucher gelangweilt an. Ein intelligentes Gesicht. Ein melancholischer Zug veränderte die Langeweile, sprach von reiner unstillbarer Sehnsucht. Ein sieghaftes Lächeln umspielte den Mund. »Ein in seiner Genialität Vereinsamter«, kommentierte Gerondet laut, »einer, der durch Klugheit und Macht geschlagen ist. Herr und Opfer dessen, was geschieht.« Gerondet sah die schmale goldene Inschrift am Brunnenrand: Nur wenn Gnade in euch ist, wird sie auch über euch ausgegossen. »Oh, ihr Mächte«, flüsterte der Schankwirt, und sein Gesicht wurde weißlichblaß, »er liegt hinter dem Brunnen.« »Wer liegt hinter dem Brunnen?« Immelgud kam mit einem Sprung nach vom, richtete die Waffe gegen die Metallfiguren. »Der Bürgermeister«, flüsterte der Schankwirt, »ich kann ihn sehen, ihr Herren. Seine bleiche ringgeschmückte Hand.«
III. »Jedermann«, zitierte Gerondet aus dem entsprechenden Gesetz, »kann bei der Aufklärung eines Mordfalls zu unentgeltlicher Hilfe herangezogen werden. Das hier, Immelgud, ist mein Metier.« »Äh«, machte der Soldat, der träge am Brunnen lehnte, »von mir aus sei wieder der Chefkommissar. Oder Minister. Terroraktionen gegen LMN gehen immer vor. Nicht mal ein General einer Infanteriedivision kann mir befehlen. Aber vielleicht bekommst du tatsächlich heraus, was hier passiert ist.« Der Tote lag auf dem Rücken. Die aufgerissenen, von panischem Entsetzen aus den Höhlen getriebenen Augen zum Himmel gewandt. Der dünnlippige Mund war erstickend verkrampft. Das übrige Gesicht eingefallen, winzig; eine welke Haut bedeckte faltig die deutlich sichtbaren Schädelknochen. In den Schläfenbereichen war je ein großes rundes Loch. »Ein solches Kaliber gibt es nicht«, stellte Gerondet fest, »da ist ein Flakgeschoß durchgeflogen, ohne zu detonieren. Keine Brandspuren an den Rändern. Eher ein hochtouriger Bohrer als ein Geschoß... Und hier: nicht eine Blutspur. Nicht ein Tropfen. Nichts. Ein Bohranschlag gegen eine blutleere Mumie.« Gerondet bückte sich. Betrachtete den winzigen Spritzer jener bereits eingetrockneten Substanz, die sich tief in das Holz eingefressen hatte. »Säure«, murmelte er und ging gebückt weiter um die Leiche herum, »habt ihr Säurekanonen? Kennt ihr Geschosse, die mit extrem starker Säure gefüllt sind?« Immelgud pfiff durch die Zähne und blickte zum Himmel. Schien von dort einen Angriff zu erwarten. »Donnerwetter«, sagte er. »Donnerwetter... Da ist ihnen was eingefallen...« Die Kleidung des Toten war ebenso historisch wie die Bauten ringsum. Sie unterschied sich zwar in ihrem Reichtum, in der ungewöhnlichen Anzahl der aufgenähten Halbedelsteine und der breiten goldenen Borten, nicht aber im Schnitt von der des Schankwirts oder der Trommler. »Die Kleidung ist ihm viel zu groß.« Gerondet wandte sich an den Wirt. Der schluckte einigemal, hob hilfesuchend die Hände. »Satan...«, murmelte er, »Satan...« »Als er das Pflaster mit dem Kopf berührte«, sagte Gerondet »war er schon tot. Seine rechte Seite, auf der er liegt, ist vollständig zertrümmert. Aber auch da:
nicht ein Blutstropfen. Die Säure in dem Geschoß muß alles Blut umgewandelt, aufgelöst oder sonstwie verändert haben.« »Nein, ihr Herren«, der Wirt verbeugte sich ehrfurchtsvoll gegen das Haus, in dem Freyja wohnte, »nein. Keine Armbrust. Nichts. Satan war es, Satan hat ihn gestraft. Hat ihn mit einem Arm hoch in die Luft gehoben, ihn über die Dächer der Häuser gereckt und ihn allen gezeigt. Und dann, als er ihn losließ, war die Seele aus seinem Leib entwichen, war in Satans Klauen geblieben. Verzeih mir. Allmächtiger, aber die Fremden sind unwissend.«
»Geheimcode: Satan«, sagte Immelgud spottend und sah sich sehr vorsichtig um, »hier erwartet uns was.«
Die Stadt lag in trägem Morgendämmer. Gerondet roch das klare Brunnenwasser und das Holz der Straße. Er sah eine einzelne blauschwarze Schmeißfliege, die irgendwoher gekommen sein mußte. Sie näherte sich dem Toten, wollte sich wohl auf dessen Gesicht setzen, aber kurz bevor sie ihn erreichte, wendete sie und flog eiligst davon. Gerade so, als wittere sie eine drohende Gefahr. Gerondet sah ihr nach. Ein Schornstein geriet in sein Blickfeld. Ein rauchender Schornstein. Der dünne Rauch stieg kerzengerade auf, bis er an einer ganz bestimmten Stelle in konzentrischen Kreisen gemächlich herumzog. Nicht stieg, nicht fiel, sich nur noch drehte. »Hast du die Fliege gesehen?« Immelgud nickte. »Ich weiß es nicht«, sagte Gerondet hart, »aber ich habe nirgends gelesen, daß die Fliegen die Toten von Hiroshima flohen. Die hier hat Reißaus genommen. Weißt du einen Grund?« »Phosphor und Dioxin«, sagte Immelgud, »vielleicht gekoppelt mit der Säure in dem Geschoß.« »Verblendete«, mischte sich der Wirt ein, »Verblendete. Satan braucht keine Waffe. Satan hat keine Waffe. Wen Satan ruft, der geht gegen den eigenen Willen in den Tod. Wen er anhaucht, der wird aussätzig, wahnsinnig und blind, und wen er berührt, erlebt, wie die eigene Seele den verfluchten Körper flieht... Ich will euch doch nur warnen, Fremde. Verhöhnt ihn nicht. Spottet nicht seiner. Sucht nie, ihn anzusehen, so er sich zeigt.« »Ach, du kleiner Satansbraten«, brüllte Immelgud, daß ein mehrfaches Echo zu ihnen zurückkam, »zeig dich, oder ich roll dich eigenhändig aus dem Hangar.« Der Wirt warf sich auf die Knie, hob die Hände über den Kopf und murmelte unverständliche Sprüche. »Da drüben«, Immelgud deutete in eine Nebenstraße, »da krabbelt noch so ein nettes Exemplar Mensch herum. Frag ihn, was er weiß. Macht er Schwierigkeiten, bring ihn hierher. Ich paß auf den Wirt und die Leiche auf.« Gerondet lief los. Der Alte, von der Last der Jahre gebeugt, spindeldürr und mit einer schulterlangen weißen Mähne und einem ebensolchen Bart, blickte dem Polizisten interessiert entgegen. Seine Augen waren ungewöhnlich wach, und um den Mund hatte sich ein spöttischer Zug eingegraben.
Merkwürdig, dachte Gerondet, wo habe ich diesen Mann schon einmal gesehen? Ich habe ihn gesehen. In Vandis? In einer Gang? Drogengeschäfte? Er kam nicht darauf. Der Alte machte zur Begrüßung eine weit ausholende Handbewegung. »Tag«, sagte Gerondet, »am Brunnen liegt ein Toter. Wissen Sie etwas?« »Ja, so müßt Ihr sein«, der Alte verzog das Gesicht, Bitternis zeichnete seine Züge, »genau so müßt Ihr sein. Verbohrt auf ein Ziel. Verbissen. Nicht fragend, wie es dem anderen, ja wie es Euch selbst geht. Suchend. Sucht Ihr den Lebenden? Den Blinden? Nein - den Toten. Deshalb auch seht Ihr nicht anders aus als jener am Brunnen. Zwillinge. Und der dort am Brunnen, merkt Euch das, er hat sein Leben an Satan verloren. Das steht fest.« »Noch einer.« Gerondet winkte ab, wünschte nur noch, daß der Alte gehen möge. Denn er konnte das Wort »Satan« nicht mehr hören. »Sie irren, weil der da am Brunnen nicht mein Zwillingsbruder, sondern der Urgroßneffe meines Schwiegervaters ist. Ich will nur eins wissen: Wo ist diese Ultrawaffe abgestellt? Wo ist Satan?« »In wahnsinnigem Lauf dreht sich die Welt«, der Alte sprach jetzt salbungsvoll, »immer schneller und schneller. Und immer mehr nähert sich der Mensch dem höllischen Abgrund und nennt es in seiner kleinlichen Verblendung noch das Paradies. Ihr fliegt dem höllischen Feuersee entgegen. Belial, der Herr der Unteren, erwartet Euch. Uns beschert er Wunder, aber die Strafe für die Lästerer ist seit Anbeginn bis in die Ewigkeit dieselbe noch. So werdet Ihr enden wie jener dort am Brunnen. Verloren, verworfen - könnt Ihr keine Gnade finden! Geht mir aus dem Weg, denn mich dürstet nicht, mit Euch weiterzureden.« Gerondet machte einen symbolischen Schritt zur Seite. Der Alte ging langsam, gravitätisch auf ein Haustor zu, das, wie von unsichtbarer Hand bewegt, aufschwang, ihn aufnahm und hinter ihm krachend ins Schloß fiel. Gerondet atmete hörbar aus und wollte zurück zum Brunnen. Er sah, wie der Gastwirt auf ihn zutaumelte, von Immelgud mit Stößen traktiert. Immelgud schrie etwas, was wie Mister klang. »Was ist?« Gerondet machte einen Schritt auf die Laufenden zu. Die kamen sehr schnell näher. »Magister!« Gerondet begriff augenblicklich. Er stürzte auf die Haustür zu, rüttelte daran, ohne daß sich etwas tat. Man hatte von innen verriegelt oder abgeschlossen.
»Zurück!« Immelgud schrie und blieb stehen. Er zog wieder eine der Stabraketen aus der Tasche, steckte sie in den Lauf der Waffe und zielte, während Gerondet zur Seite auswich. Immelgud drückte ab. Die Haustür barst, verschwand im Innern des Hauses. Die farbigen Butzenscheiben flogen aus den reißenden Rahmen, und große Putzbrocken stürzten auf das hölzerne Pflaster. Gerondet stand starr. Der Anblick der Trümmer inmitten der handwerklichen Kostbarkeiten schmerzte ihn.
8.00 Uhr: Ger... Freyja Schimmelpfennig Ein Ort, zur Liebe geschaffen... Diese Worte keuchte ein junger Scholar, als er volltrunken vor ihrer Lagerstatt zusammenbrach, wimmernd von Esra erzählte, die ihn verachte, zu Recht verachte, denn er sei verkommen und zu nichts anderem nütze, als ruhelos umherzustreifen. Sie aber, die Tochter eines durchziehenden Kaufherren und der einstigen Patronin des Ortes, die verborgen in einer Klosterschule aufwuchs und nacheinander die Äbtissin des Klosters und ihren Beichtvater liebte, sie zog den Unglücklichen in ihr Bett, trocknete seine Tränen und lachte seine Selbstanklagen fort. Und sie dachte daran, wie es sein könnte, wenn dieser Scholar ein Meister, ein Magister, ein Ratsherr sein würde, dachte an die Belohnung, die sie erhalten konnte, wenn er seinen Weg machte, und sie beschloß, ihn zu waschen und zu kämmen, seine Sachen in Ordnung zu bringen und ihm alles zu verraten, was sie wußte, um die armselige Mittelmäßigkeit der Stadt zu durchbrechen. »Du brauchst Brodlant«, sagte sie, »du wirst ihn kennenlernen. Verachte ihn nicht, auch wenn seine Art, sein Äußeres anders sind als bei deinen Freunden. Er ist ein wunderbares Werkzeug, wenn man sich seiner bedienen kann. Und wir werden uns seiner bedienen. Er kann vieles. Er kann sogar Überfälle auf die Stadt vortäuschen, um die Bürger aus ihrer Sattheit und Zufriedenheit aufzurütteln. Ja, Lieber«, fuhr sie fort, »es ist dies ein Ort, zur Liebe geschaffen. Und es wird ein Ort der Liebe werden. Und diese Esra wird eine von denen sein, die dich anbeten werden. Es wird uns gelingen, und wie es uns gelingen wird...!« Nach diesen Worten lehnte sich Freyja Schimmelpfennig, die damals noch Freyja Grabensprung hieß, lächelnd zurück, sich dem Scholar überlassend.
I. Gerondet stand allein. Der Schankwirt und Immelgud waren in dem Haus verschwunden. Gerondet wartete noch eine Minute, vielleicht auch zwei, dann hatte es ihn zum Brunnen gezogen. Zu der Leiche, mit der etwas geschehen mußte. Sie konnte schließlich nicht liegenbleiben. Irgendwer würde kommen, um sie zu holen. Beim Brunnen angekommen, spritzte sich der Polizist das eiskalte Wasser ins Gesicht. Trank dann, wenn auch widerwillig, ein wenig. Gerondet setzte sich auf den Brunnenrand, direkt auf das Wort Gnade. Absichtslos. Zündete sich eine Zigarette an. Alles wurde nun anders. Die sich überschlagenden Ereignisse waren vorüber. Und mit einemmal bestand die Welt aus einer Anzahl von Einzeleindrücken, die nichts miteinander zu tun hatten. Da waren Laute. Geräusche. Daneben Bilder. Begriffe. Wörter. Gerüche. Gefühle. Und sie waren nicht miteinander verbindbar. Sie paßten nicht zueinander. Es fing damit an, daß er nicht einfach gehen durfte. Er war dienstverpflichtet. Vielleicht war diese Hürde bösartiger als die gesamte Ortschaft. Achtung, dachte Gerondet, da steht einer hinter dir. Er faßte in die Jacke, bekam den Griff der Waffe zwischen die Finger und fuhr herum. Dann kippte er nach hinten und landete im Wasser. Sprang auf und starrte in das ovale Gesicht einer Frau, die ihm spöttisch entgegenlächelte. »Teufel auch«, prustend steckte Gerondet die Waffe weg, »so leise anzukommen.« Er stieg aus dem Brunnen. Hinter der Frau, die ihn mit unverhohlener Schadenfreude ansah, standen im Halbkreis sechs andere Frauen. Und hinter denen hatten sich vier herkulische Männergestalten mit Spießen aufgebaut. »Ein nettes Komitee«, Gerondet klopfte sich ein wenig das Wasser aus den Hosenbeinen, »oder hat einer ein Bügeleisen einstecken?« Die dunkelblauen Augen der Frau glänzten. Schalk, Temperament und Energie gingen von ihr aus. Ihre zu Stocklocken gedrehten Haare waren blond. Fast weißlichblond. Sie trug ein rotes Stirnband, in dessen Mitte ein fliegendes Untier aufgestickt war, dessen Augen und Zähne winzige Brillanten sein mußten. Die Frauen der zweiten Reihe trugen nicht Seide und besaßen auch keine Stirnbänder. Einfache linnene Kleider, Schürzen und blaue Kopftücher zeigten wohl, daß sie der ersten Frau Untertan waren. Das unterstrichen die demutvolle Haltung und die stets ein wenig geneigten Hälse. Gerondet setzte sich wieder auf die Gnade. Sein Gesicht belebte sich. Er sah an der Frau, die dicht vor ihm stand, hoch. »Wenn Sie mir jetzt sagen«, erklärte er
freundlich, »daß Sie Satan sind und man in Ihren Armen über die Dächer schweben kann, dann glaube ich das sogar.« »Dafür seid Ihr gekommen«, die Frau deutete auf das zerstörte Haus, ohne auf seine Worte einzugehen, »um unsere Ortschaft in Schutt und Asche zu legen.« »Nichts liegt uns ferner«, Gerondet wußte, daß er jetzt für Immelgud log, »wir kamen zufällig vorbei, weil es im LMN brennt, und wir wollen nicht lange bleiben... Dachte ich. Wenn Sie mich allerdings einladen... Das mit der Zentrale macht mein Freund schon ohne mich. Wenn der loslegt, ist er nicht mehr zu bremsen.« »Ihr meint«, die Frau schüttelte ungläubig den Kopf, »daß Euer Freund gegen die Hölle aufstehen will?« »Wenn das hier die Hölle ist...«, Gerondet dachte einen Moment nach, »der zerschneidet euer Rathaus in zwanzig gleich große Scheiben.« »Niemand«, die Frau trat einen Schritt zurück, und die Dienerinnen taten es ihr nach, woraufhin die Bewaffneten das gleiche vollführten, »kann sich gegen Satan auflehnen. Ich sage das nicht wie eine jener verschreckten Spinnerinnen, die nicht mehr hinter ihren Feuerstellen hervorzulocken sind. Ich sage das auch nicht wie einige dieser trinkenden und jammernden Hundesöhne dieser Stadt. Ich sage es, weil ich ihn kenne.« »Aber Sie kennen Immelgud nicht«, Gerondet blinzelte in die Sonne, lächelte leer, »Sie sehen ja, was der zustande bringt. Mit einem Finger, dem rechten Zeigefinger...« »Ich bin Freyja«, sagte die Frau und trat wieder näher, »ich bin die Hohepriesterin des Fruchtbarkeitskultes. Ich darf Satan anschauen. Der Magister und ich. Jeder andere stirbt. Und ich bestimme: Jener Immelgud wird seinen Frevel durch einen schrecklichen Tod büßen. Satan über ihn.« »Das wäre doch eine Möglichkeit«, Gerondet stand auf, »ich gehe zu einem Friseur und laß mir solche Locken machen und ziehe mir Frauenkleider an. Dann darf ich ihn vielleicht auch sehen... Würden Sie das erlauben?« Er sah, wie Freyja gewaltsam einen beginnenden Lachanfall unterbrach, sich räusperte und ihn dann durchdringend ansah. »Bei Bergorius«, fuhr Gerondet fort, »bin ich viel schlimmer ins Fettnäpfchen getreten. Gibt es eigentlich schon einen Plan, was mit mir zu geschehen hat?«
»Das hängt von Euch ab«, Freyja seufzte unerwartet, »wenn Ihr redlich seid und dem Magister helft, diesen anderen Menschen zur Strecke zu bringen, dann soll es Euch gut ergehen. Es wird Euch an nichts mangeln.« »Dann ist unser Gespräch beendet«, erklärte Gerondet und stand nun unmittelbar vor der Frau, deren weibliche Ausstrahlung ihn ein wenig irritierte, »ehe ich meine Waffe auch nur in halber Höhe hätte, wäre ich nur noch als Büchsengulasch zu verwenden. Der Junge ist verdammt schnell und bewaffnet wie eine mittlere Panzerdivision. Und außerdem: Wer gibt mir die Garantie, daß nicht mit seinem Tod das große Treiben gegen mich geblasen wird? Ganz zu schweigen von den gleichen Eiden, die wir, der Antiterrorist und ich, abgelegt haben. Daraus wird nichts. Wenn es auch verlockend klingt: an nichts mangeln. Das hört sich vielversprechend an.« »Was ist das für ein Eid?« wollte Freyja wissen. »Es gibt nur einen Eid: die Taufe in Belials Wasser. Unter der Stadt...« »Das kann ich mir denken.« Gerondet war beunruhigt. Die Falltüren, über die sie gesprochen hatten, fielen ihm ein. Denn unter der Stadt war immer noch das Moor. »Ihr lebt verstrickt«, sagte Freyja, »von einem Buch, das wir entmachtet haben. Es ist die Bibel, die Euch tyrannisiert. Es heißt dort: Unter Mühen werdet ihr den Acker bestellen. Unter Schmerzen sollen die Frauen gebären. Zu Staub sollt ihr werden. Das ist doch Unsinn. Unser Trachten ist Lust und Freude. Niemand bestellt den Acker im Schweiße seines Angesichts. Niemand gebärt unter Schmerzen. Wir versinken im Rausch der Lust, der Freude des Tanzes. Arm wie reich. Mächtige wie Ohnmächtige...« »Aber der da«, Gerondet deutete in Richtung des Toten, »hat dann wohl ein bißchen zuviel gefeiert, was? Und da ist ihm versehentlich ... Na, das wissen Sie besser.« »Belial schaut in unsere Herzen«, Freyja hob die Arme, als wollte sie Gerondet segnen, »er prüft uns. Verlockt uns. Er weiß, wo er Heimtücke, Bosheit und Verrat finden kann. Und jene sind verloren. Wie der da!« Ihre ausgestreckte Hand deutete strafend zu dem Toten. »Den anderen aber«, endete sie, »ist das ewige Reich der Glückseligkeit gewiß.« »An so einer Maschine basteln wir auch gerade«, erklärte der Polizist unberührt, »nur leider, wie das so ist: Manches wünschen sich die Mächtigen, ohne es je zu bekommen. Amen.«
Freyja blickte nachdenklich Gerondet an. Sie suchte ein Echo. Gerondet sah sich die Dienerinnen der Freyja an. Begriff nicht, daß sie nicht einmal die Köpfe hoben, wenn man sie ansah. Hob die Schultern, ließ sie wieder fallen. »Satan«, Freyja nahm erneut einen Anlauf, »ist ein dämmriger Schatten in der Nacht, wie ein Käuzchen lauert er und ist doch nichts als ein eisiger Hauch, der das Blut in den Adern gerinnen läßt. Schnell wie ein Pfeil stürzt er aus dem gläsernen Dach des Himmels zu uns herab. Und wen er auserkoren hat, den ruft er, und nichts Lebendiges kann dieser Stimme widerstehen. Es gibt kein Versteck für den Frevler. Er ruft ihn zu seinem Brunnen. Und immer hier packt er ihn. Immer. Er ist allmächtig und endlos. Und ewig in seiner Existenz ...« Vielleicht ein Kampfhubschrauber, dachte Gerondet, einer mit Laser, Infralicht, Echoortung, Ultraschallkanone und so. Soll es ja schon alles geben. Und mit einer mumifizierenden Geschoßart... Aber wer? Wenn das nun ein Prüffeld für unsere Waffen ist. Für unsere modernsten Waffen. Und die hier leben? Geistig Behinderte? Oder künstlich Entpersonalisierte? Gerondet fröstelte. Jetzt erst. Nicht Satan machte ihm angst, sondern die mögliche Realität. Waffenerprobung. An depersonalisierten Menschen. Dann gab es für ihn kein Entkommen. Keine Chance. Sie würden ihn so... vielleicht operieren, daß er... wie die da... »In Ordnung«, Gerondet lächelte, wenn auch nicht sehr gekonnt, »ich töte ihn. Garantiert. Ich töte den anderen. Mein Wort. Nur eine einzige Bedingung: Wir gehen vorher zum Erlenbruch. Sie können alle Ihre Domestiken mitnehmen, wenn Sie Angst vor mir haben. Sind Sie einverstanden?« »Es gibt keinen Weg hinaus oder herein«, sagte Freyja mit gesenktem Kopf, »die Schleuse war offen, weil Belial seine ausgerittenen Söhne erwartete. Da kamt Ihr.« »Wenn Worte verwirren und Licht verbrennt«, fuhr die Frau fort, »so steht es im Buch der Hölle, dann kommt der Tod in Gestalt eines Menschen zu den Menschen. Eure Worte verwirren mich, und Euer Licht hat Belials Söhne zerschnitten. Und der Tod in Menschengestalt hat an dem zerstörten Haus seine Visitenkarte hinterlassen. Ich habe Euch den einzigen Weg gewiesen, der Euch helfen kann. Euer Leben zu bewahren. Noch zweifelt Ihr. Aber dort drüben, jenes prächtige Haus ist meine Besitzung. Kommt, wenn Ihr meint, in meine Dienste treten zu wollen. Kommt aber nicht zu spät. Denn wenn Satan aufsteigt aus der Tiefe der Hölle, dann kann Euch niemand mehr Schutz gewähren.« Sie drehte sich um. Es sah wie ein Tanzschritt aus. Sie ging eilig davon, ihre Domestiken wichen erschrocken zur Seite. Gerondet sah ihr hinterher, bis das doppelte Haustor sich hinter ihr und den Ihren geschlossen hatte.
II. Gerondet ging in der Sonne auf und ab. Spürte die angenehme Wärme, die die Hose allmählich trocknete. Er blickte zu dem Toten hinüber. Dessen Augen waren trocken und geschrumpft. Erinnerten nicht an Augen. Eher an faulige, runzlige Pflanzen. Gerondet kannte Tote, doch dieser war schrecklicher als alle bisherigen. Als Gerondet den Kopf hob, sah er ein Mädchen, sie war noch nicht zwanzig, direkt auf den Brunnen zukommen. Sie trug zwei leere Wassereimer und summte eine Melodie. Sie würdigte ihn keines Blickes. Am Brunnen angekommen, stellte sie sich so halb über, halb neben den Toten, daß ihr langes Kleid die Leiche beinahe zudeckte. »Da unten liegt zufällig ein Toter«, sagte Gerondet, den der Anblick unangenehm berührte. »Ich weiß«, antwortete das Mädchen. »Pietät ist nicht Ihre starke Seite, was?« Sie sah kurz zu Gerondet herüber. Spöttisch, ohne ein Wort zu sagen. Tauchte den Eimer ein, schwenkte ihn hin und her und stellte ihn neben dem Gesicht des Toten knallend auf den Boden. »Ist der Brunnen nicht groß genug«, schimpfte Gerondet, »können Sie nicht überall schöpfen? Das kann man ja nicht mit ansehen.« »Nein«, sagte das Mädchen, »Ihr habt ganz recht. Aber nein. Ich kann nicht überall schöpfen. Das verbietet die Vorschrift.« »Und diese Vorschrift schreibt Ihnen vor, nur über Toten stehend Wasser zu holen. Richtig?« »Der Tote hat die Vorschrift erlassen«, sagte das Mädchen und mußte bei der Vorstellung leise kichern, wobei ihre langen schwarzen Haare ihren Kopf wie weiche Wasserpflanzen umflossen, »es war eine seiner ersten Amtshandlungen, die Benutzung des Brunnens zu regeln.« »Und wie ist es geregelt?« »Nun«, die Wasserholerin deutete auf die goldene Inschrift, »von Euch aus bis drei Schritt dahinter dürfen fahrendes Volk, Komödianten, Puppenspieler, Knechte und Mägde schöpfen. Drei Schritte weiter, bis zu dem Gesicht des im Wasser Liegenden, ist der Bereich der Zunftangehörigen. Von seinem Gesicht an bis zu dem Anfang der Schrift schöpfen die Kaufherren, Makler, Geldverleiher, die Herren der Pulvermühlen und die Waffenhändler, entlang der
Goldschrift aber holen sich Freyja, der Magister, Brodlant und der Bürgermeister ihr Wasser.« »Das ist lächerlich«, Gerondet schüttelte den Kopf, »ist es nicht dasselbe Wasser?« Er betrachtete die Wasserholerin genauer. Etwas an ihren Bewegungen faszinierte ihn. Sie bewegte sich weich, völlig lautlos, und ein sonderbares Lächeln schien in ihr Gesicht für alle Zeiten eingraviert. Sie hob geschickt den zweiten gefüllten Eimer aus der Flut, stellte ihn neben den ersten. Richtete sich auf und erwiderte Gerondets fragenden, suchenden Blick. »Wer bist du?« Gerondet lehnte sich an den Rand. Fühlte sich so sicherer. »Esra«, antwortete das Mädchen, »ich bin Tänzerin. Und ich will Euch sagen, daß ich niemanden so verachte wie diesen toten Bürgermeister zu meinen Füßen. Er hat als einziger verdient, was ihm zuteil wurde. Viele andere nicht. Doch er.« Mariane, dachte Gerondet unwillkürlich, wie gegensätzlich diese beiden sind. Esra und Mariane. Und doch - ähneln sie sich auch wieder. Diese Tänzerin ist ebenfalls nicht zu erfassen. Nicht zu begreifen, was an ihr Ernst, was Spott ist. Sie ist die andere, die nicht berechnende, die ganz ihren Gefühlen lebende Mariane. Die Schönere... Und als Gerondet das gedacht, als ihm auffiel, daß er nicht geantwortet hatte, sondern immer nur den feinen Bronzeton ihrer Haut anstarrte, ihren leichten Bewegungen folgte, da hatte sich in seinem Innern eine neue Wandlung angebahnt. »Vielleicht ist dieser Ort überhaupt nicht schrecklich«, sagte er mehr zu sich als zu dem Mädchen, »du lebst doch auch hier. Und du bist intelligent und - schön.« Esra hielt den Kopf schief. Schien darüber nachzudenken, ob es lohnte stehenzubleiben. Und für den Polizisten unerwartet und fremdartig zugleich, machte sie eine weite Bewegung mit den Armen, knickte in den Knien tief ein, kam sogleich wieder hoch und stand still; »Das ist es«, sagte sie, von der Wirkung ihrer Bewegung überzeugt, »was ich mache. Ich tanze. Ich gaukle den Männern die Liebe vor. Ich spiele, sie könnten mich nehmen. Und solange man mir glaubt, bin ich glücklich. Hütet Euch also!« Sie griff nach den Eimern, aber Gerondet war schneller. Er stieß sich ab, berührte den warmen Leib der Tänzerin nur den Bruchteil einer Sekunde und hob dann die Eimer auf, wobei er dem Toten Wasser über das eintrocknende Gesicht goß.
»Ihr erniedrigt Euch«, die Tänzerin sprach schnell, ging mit zierlichen Schritten vor Gerondet her, »kein Mensch wird Euch ernst nehmen, wenn Ihr einem Weib wie mir die Eimer tragt. Schon daß ich ein Weib bin, ist schlimm für Euch. Aber dazu kommt: Ich bin eine Komödiantin. Eine Tänzerin. Ansässig zwar und dennoch dem fahrenden Volk zugeordnet.« »Dafür werde ich vielleicht der Held in einer Geschichte der Frauenliteratur«, antwortete Gerondet und versuchte den von ihm verschütteten Wasserspritzern auszuweichen. Esra lachte. Bei jedem Spritzer wieder. Als sie in einer stillen Nebenstraße eingetaucht waren, erlöste sie Gerondet «von den Eimern, hängte sie über das Tragholz, das sie immer noch in der Hand hielt, und ging nun, leicht und beweglich wie vordem, neben dem Polizisten her. Die Eimer hingen unbeweglich. Der Wasserspiegel zitterte nicht einmal. »Das ist gekonnt«, sagte Gerondet. »Man muß das wohl lange trainieren?« Er wartete. Esra schwieg. »Du lebst doch auch hier«, fuhr Gerondet unsicherer fort, »oder bist du eine Besucherin? Du lebst hier. Gut. Mich interessiert dieser Satan. Das heißt, er interessiert mich überhaupt nicht. Aber... Schließlich ist das nichts Nettes. Ich meine: Er bedroht mein Leben wie deins. Weißt du etwas anderes als diese Gruselgeschichten? Dann erzähl es mir bitte. Aber nicht diese..., diese immer gleichen Argumente, die wie auswendig gelernt klingen.« »Jeder fragt mich das«, Esra verzog den Mund, »jeden Tag höre ich die gleichen Fragen. Und ich weiß nicht, was Ihr eigentlich wissen wollt.« »Was kann ich wissen wollen, wenn mich eine Alarmanlage weckt, wenn mich ein Immelgud fängt und dienstverpflichtet und ich in einem Ort lande, der präzis die Vereinigung einer Nervenheilanstalt und eines Waffenprüffeldes darstellt. Was will ich dann wohl wissen?« »Ich verstehe Eure Worte nicht«, antwortete die Tänzerin, »noch weniger als die Worte der anderen. Ihr beunruhigt mich.« »Das macht uns zu Verbündeten«, Gerondet hielt die Tänzerin an der Schulter fest, die der Bewegung folgte und herumkam, so daß sich die beiden ansahen, »oder denkst du, daß deine Worte und die von dieser Freyja klarer sind? Ich brauchte ein Bedeutungslexikon für eure Sprache.« »Freyja«, Esra lachte hell auf und bewegte den Kopf schalkhaft von einer Seite auf die andere, »Ihr kennt sie und seid Ihr nicht verfallen? Sie ist unsere Liebeszauberin. Sie kann alle Männer behexen. Und wer nicht so will wie sie, dem braut sie einen Trank, und er ist ihr hörig. Ihr wißt sicher, daß es bei uns keine Hochzeiten mehr gibt. Aber als es noch solche gab, war sie es, die die erste Nacht mit dem Hochzeiter verbrachte. Und weder Mann noch Weib
durften sich ihr widersetzen, wollten sie nicht als Teufelslästerer in die ewige Verdammnis.« »Und was macht ihr in der tausendzweiten Nacht«, wollte Gerondet wissen, »dann, wenn euch keine Geschichten mehr einfallen?« »Was?« Esra war aus dem Konzept gebracht, dachte über Gerondets Worte nach, ehe sie fortfuhr. Sie sprach jetzt langsamer, leiser, einen neuen Einwand erwartend. »Sie ist die Hohepriesterin und Herrin der weiblichen Dienerschaft Belials.« Esra blickte beim Sprechen immer wieder den Polizisten fragend an. »Sie kann ein Weib allein durch ihre Worte zur Metze, zur Dirne oder geachteten Dame machen. Sie ist die Oberste Jüngerin und Tempelherrin des ewigen Feuers der Tiefe. Sie ist auch die Schutzpatronin des Boten der Dunklen, des Schreibers Schimmelpfennig.« »Den Namen habe ich schon gehört«, erinnerte sich Gerondet. »Melchior Schimmelpfennig.« Esra machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Erste und Geheime Schreiber des Bürgermeisters, jetzt, nach dessen Tod...« Esra spie aus. »Jetzt ist er selbst der Bürgermeister«, beendete sie die Charakteristik, »und hatte der tote Bürgermeister wenigstens einen eigenen, wenn auch verqueren Kopf, so ist der Melchior nur mehr ein Schatten des Magisters.« III. Ein Traum, dachte Gerondet in das Schweigen hinein, das sich zwischen Esra und ihm aufgebaut hatte, es ist ein monströser Traum. Zuerst blaustichige Morgennebel. Gläsernes Licht zwischen den Wolken. Tautropfen auf den Gräsern und den Radnetzen. Ein sichernder Rehbock und der Morgengesang der Vögel. Dann der Wald. Noch unwirklicher. Noch schattiger. Da erscheint ein Traumwesen. Gewaltig und unbesiegbar. Zwingt mich, etwas gegen meinen Willen zu tun. Mach das, sagt es, oder Riedland, Vandis und Mariane werden zerglüht. Nicht ein »Tigerhai« oder ein »Hurrican« wirft seine tödliche Last über uns ab, nicht feindliche Raketen ziehen gleich fliegenden Messern durch das zerstörbare Blau, sondern Feinde sind da. Berittene. Und alles löst sich auf. Statt des Bösen sehen wir das Schöne. Kunstwerk reiht sich an Kunstwerk. Menschen ohne Laserpistole und Maschinenkanonen sind da. Der Traum wird freundlich. Bis..., bis man spürt, wie alles hier unter Mißtrauen, falscher Religiosität und einer nimmermüden Paranoia erstickt. So als wäre man tatsächlich im Moor. Oder ich ersticke im Moor, und mein gequältes Hirn erzeugt all das... Und das Mißtrauen ist es, das im Innern wächst und die natürlichsten Dinge draußen zu gespenstischem Leben erwachen läßt.
»Ich bin da«, hörte Gerondet die Stimme der Tänzerin. Fühlte sich aus seinen Gedanken gerissen. »Lebt wohl«, sagte Esra, »sehr unterhaltsam wart Ihr nicht. Auf ein andermal.« Sie trat in den Flur. Wieder schlug eine Tür zu, und Gerondet sprang erneut gegen eine Tür. Gegen eine, die sich öffnen ließ. Esra hatte die ersten vier Stufen hinter sich gebracht. Sie blickte erstaunt zurück. Gerondet sah sie an. Wortlos. »Nun?« Esra blieb ebenfalls stehen. An den Wänden des Hauses waren uralte Märchenmotive. Verzauberte Kinder an sonnenglasigen Teichen. Gnomen, die aus der Tiefe auftauchten und schadenfroh dem geldgierigen Wanderer hinterhersahen, der sich in einer Grotte verirrt hatte. Stolze Ritter, die, eine Frau vor sich auf dem Sattel, das Schwert in der Hand, gegen Drachen fochten. »Ich dachte nur«, sagte Gerondet und strich sich mit der Hand über die Stirn, als müßte er sich zwingen aufzuwachen. »Nein«, bestimmte Esra und setzte ruhig den Aufstieg fort, »nein, denkt nicht. Erwartet nicht, daß ich etwas empfinde, nur weil Ihr etwas denkt. Dann müßte ich mich wohl herumreichen lassen. Wenn ich auf Gedanken flöge...« Gerondet lief durch die Stadt. Er war schon einmal so gegangen: den Kopf etwas vorgereckt, die Hände in den Taschen und eigentlich nichts wahrnehmend. Das war, nachdem er das erstemal Mariane begegnet war. Aber die Straßen, durch die er damals geirrt war, gehörten zu Vandis. Der freundlichen Hauptstadt. Er ging mit festen Schritten und scheinbar zielgerichtet. »Sie weiß doch nicht, was ich denke«, murmelte er, »sie hält mich für einen von vielen. Na ja, ich bin es ja auch. Mehr noch: Da sie für mich eine Fremde ist, muß ich auch ihr fremd sein. Was würde Immelgud tun? Vielleicht das Haus zerschießen und sie in ein Hotel einladen. So einer hat keine Probleme...« Gerondet biß sich auf die Lippe. Wo ist er überhaupt, dachte er dann, er hätte doch lange wieder auftauchen müssen? Wenn sie ihn aber ausgeschaltet haben, dann besitzen sie auch seine Waffen. Ist doch egal: ob seine Waffen oder die eigenen. Wer Immelgud schafft, macht mich mit einer Hand fertig. »Ger...«, erinnerte sich der Polizist des Steinstücks, »Ger... Was das wohl heißt? Gericht vielleicht. Jüngstes Gericht a la LMN. Oder geronnene Angst. Oder Gerücht vielleicht. Und dann könnte es ja noch die Abkürzung für Geheime Erprobungsstelle Räumwaffen heißen. Gerechtigkeit wird es kaum bedeuten. Denke ich jedenfalls.«
Das Städtchen endete abrupt. Schweigsames, von vielen kleinen Wasseransammlungen durchsetztes Moorland begann und ging in eine freundliche schweigsame Heidelandschaft über. Gerondet sah durch sein Glas Heidekraut und Ginsterbüsche, Holunder und spitziges Gras. Er sah die Kiefernrechtecke und die trockenen schmalen Wege im Bewuchs. Er setzte das Glas ab. Im Moor standen Knabenkraut und Kuckucksblumen, Sonnentau, Sumpfmoos, Kalmus und tote verkrüppelte Bäume. Die ferne Heidelandschaft döste in der Sonne. Zittrig stieg die erwärmte Luft auf, machte alles flirrend. Das Hämmern eines Spechts wehte heran. Grillen zirpten. Eine sehnsuchtsvolle Stille, ein Frieden, der Esra mit einschloß, beherrschte Gerondet. »Und hier«, erklärte sich Gerondet, »ist also unsichtbar jene Sperre, die uns zusammenschweißt. Oder: Sie meinen das Moor. Es sieht so unansehnlich aus. Ich habe einen Grund zu gehen: Immelgud ist mindestens verschwunden. Das verpflichtet mich zu sofortiger Meldung. Und das geht nur in Krehersthal.« Er zog die Waffe aus dem Futteral. Entsicherte sie. Ging Schritt für Schritt auf das Moor zu. Er sah vor sich etwas, was er nicht beschreiben konnte. Vielleicht so eine Art erhitzte Luft. Ein sehr sauber geputztes Fenster, auf dem das Sonnenlicht in die Länge gezogen wird. Gerondet zielte auf einen verkrüppelten Baum im Moor. Der Knall der Waffe war heftig. Gerondet erhielt einen Schlag gegen den Oberschenkel. Taumelte rücklings. Er faßte an den Schmerzpunkt. Er fühlte den feinen Riß in dem Stoff und die Gewebeflüssigkeit. Eine Schürfwunde. Auf der Erde, wenige Meter weiter, fand Gerondet das völlig deformierte Geschoß. Er steckte es ein. Pfiff tonlos vor sich hin. Er wagte nicht, das flimmernde Hindernis mit der Hand zu berühren. Also kein Frieden, dachte er und sah sich um. Rechts begann eine Rosenhecke ungewöhnlichen Ausmaßes, die ein sie überragendes Gebäude einhüllte. Zwei schneeweiße Türme ragten nach oben in den Himmel. Gerondet ging auf die blühende Hecke zu. Er fand einen säuberlich beschnittenen Durchgang und sah sich einem ungewöhnlichen Gebäude gegenüber. Vielleicht ein Kirchenbau. Das wuchtige, sehr flache Dach wurde von Dutzenden von feinziselierten Säulen gestützt. So entstand zwischen der Wand und den Säulen ein schattiger Wandelgang. Dieser Teil erinnerte an ein Münster. Dort aber, wo der Kirchturm hätte sein müssen, hatte ein offensichtlich Florentiner Architekt ein mächtiges Kastell geschaffen und es nahtlos mit dem Münster verbunden. Die Türme erinnerten Gerondet lebhaft an die Minarette Bagdads, die er zusammen mit Mariane gesehen hatte. Die Münsterfenster waren zugemauert, die Mauerflächen farbig bemalt. Szenen aus der Hölle, dem Fegefeuer, Wesen, die an die
Brunnendämonen erinnerten, gaben sich ein Stelldichein. Im Kastell war eine Tür, vielleicht sogar eine Schiebetür. Sie maß bestimmt zwanzig Meter mal zehn Meter und war aus bestem, gutgeöltem Holz mit mächtigen Metallbeschlägen. Neben der Tür, im Schatten eines Turmes schwer auszumachen, stand die Göttin Kali. Jedenfalls glaubte Gerondet das so lange, bis er sah, daß diese blutgierige Göttin eine Kapuze über den Kopf gezogen haben mochte. Ein schmaler Kanal brachte Wasser zu dem Gebäude, verschwand und tauchte auf der anderen Seite wieder auf. Gerondet ging um das Münster herum. So erreichte er eine kleine Tür. Sie war verschlossen, und er setzte vorsichtig seinen Rundgang fort. Als er bei der Riesentür des Kastells ankam, klopfte er behutsam gegen das schwarzglänzende Holz. Er legte das Ohr gegen das Material und vernahm innen ein sanftes Kratzen. Es klang, als bäte so ein Gefangener um seine Freiheit. »Hallo«, rief Gerondet, »ist da wer?« Er dachte an den Magister. Und wieder fiel ihm ein, daß er den Mann schon irgendwo gesehen haben mußte. »Sie sind hier, Magister«, Gerondet kleidete seine Gedanken in Worte. »Sie sind doch hier... Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor. Ich vergesse, daß ich Sie gesehen habe. Und Sie lassen mich mal kurz raus... Stellen Sie sich vor, ich habe jetzt schon vergessen, daß es im Moor eine Stadt gibt. Mein Name ist Gerondet. Einstiger Chefkommissar. Ich meine, was ich sage...« Gerondet zuckte zusammen. Preßte die Hände gegen die Schläfen. Kippte nach vorn gegen das erwärmte Holz. Krümmte sich und schnappte nach Luft. Ein spitzer, kaum wahrnehmbarer Ton zuckte durch seinen Kopf. Fuhr wie ein elektrischer Stromstoß durch seinen Körper. Gerondets Haare sträubten sich, und sein Leib wurde von einem Schüttelfrost gegen das Holz gepreßt. In Schweiß gebadet, taumelte Gerondet zurück. Stand schweratmend neben dem trüben Wasser des Kanals. Blickte sein sich auflösendes und sich wiederfindendes Spiegelbild an. Alles war vorüber. Tiefer schien die Stille zu sein. »Kolonne, halt!« Gerondet drehte sich langsam um. Sah sich einer Zehnmanngruppe gegenüber. Sie trugen Knöchelstiefel, enge Hosen und ein weites Wams mit dem Zeichen jener vermummten Kali, die vor der Kirche stand. Ihre glatt nach hinten gekämmten Haare waren zu einem Zopf geflochten. In der Hand trugen sie derbe Gerten, und an ihrem Gürtel hingen Keulen, deren dickes Schlagende voller Stacheln war. Vor dem Gesicht hatten sie alle die gleichen Halbmasken, unter denen sehr helle, fast farblose Augen hervorschauten. Nur der Anführer hatte statt der Kali einen flammenden Blitz auf seinem Wams. Sie standen unbeweglich, maßen Gerondet mit abschätzigen Blicken. Einige lächelten böse. »Guten Tag«, sagte Gerondet und zog mit einer schnellen
Bewegung die Dienstwaffe. Aber die Männer vor ihm beachteten die Pistole überhaupt nicht. Sie maßen ihr wohl keinerlei Bedeutung bei. »Eure Hosen sind schön«, erklärte der Polizist, »damit kann man hervorragend Ställe ausmisten. Nehmt es mir nicht übel, aber das Lachen habt ihr nicht erfunden.« »Das Verbotene Land«, sagte der Anführer so, als läse er etwas von einem Blatt ab, »ist für Euch ebenso verboten wie für alle anderen.« Gerondet sah den Haß in den elf Gesichtern. Diesen unüberwindlichen, fast unbezähmbaren Haß. »Aha«, sagte Gerondet, »verstehe. Ihr denkt, ich bin der Direktor von LMN? Denkt ihr doch. Irrtum, Freunde, ich habe nicht mal eine Ahnung, was sich da befindet. Es ist die Wahrheit.« Sie standen schweigend und musterten ihn immer noch. Nichts zeigte an, ob sie ihn verstanden hatten. Seine Worte hatten ihren Haß nicht gemildert. »Wenn ihr zur Seite geht«, schlug der Polizist vor, »verschwinde ich augenblicklich. Wollen wir uns so einigen?« »Weeeg frei!« Die Kolonne rückte vom Kanal ab. Ein zwei Meter breiter Durchlaß entstand. Gerondet atmete tief durch, preßte die Waffe an seinen Körper und bereute inständig, daß er nicht nachgeladen hatte. Zweifacher Unsinn, dachte er, statt acht habe ich sieben Patronen im Magazin, und die neunte im Lauf fehlt auch. Und sie sind elf... Dann ging er los. Mit angehaltenem Atem. Ohne seine Widersacher aus den Augen zu lassen. Gerondet kam ungeschoren vorbei. Lief jetzt. Lief, bis die ersten Häuser ihn aufnahmen. Esra, dachte er, während er wieder durch Straßen und Gäßchen ging, wenn einer helfen kann, dann sie. Wenn einer mich aufklärt, dann ist sie das. Gerondet lief lange. Lief, bis er sich eingestand, daß er sich verirrt hatte. Regelrecht verlaufen. Er blieb stehen. Mitten auf einer Gasse. Horchte. Es fiel ihm erneut die Stille auf. »Jetzt werde ich der Sonne entgegengehen«, beschloß er. Nach einer weiteren Viertelstunde tauchte vor ihm das Rosengeviert auf. Die beiden Türme der Kirche. Er war im Kreis gegangen.
Nun versuchte Gerondet den Weg zu finden, den er gekommen war. Aber das schien unmöglich, hatte er doch unentwegt an Esra gedacht und auf nichts anderes geachtet. So irrte er umher. Bis er die vier Männer sah, die geflochtene Flaschenkörbe in den Händen hielten und ein wenig unsicher auf den Beinen waren. »Ich muß zum Marktplatz«, sprach Gerondet sie an, »ich brauche den kürzesten Weg.« »Ihr seid aus dem Schlachthaus ausgerissen, was?« Der das lauernd fragte, sah Gerondet voller Hohn an. »Nehmen wir an, es wäre so«, Gerondet stand nun so dicht vor dem anderen, daß sein Schatten auf dessen Gesicht fiel, »ist das ein Grund, mir keine Antwort zu geben?« Der Sprecher der vier zog den Kopf ein. Machte sich klein. Die anderen taten unbeteiligt. »Ich..., ich..., ääh...«, stotterte der Einwohner. Die Furcht gewann in seinem Gesicht die Oberhand. Er fühlte sich von seinen Kumpanen allein gelassen. »Hör mal, Jonas«, schaltete sich ein anderer ein, »du mußt ihm schon den Weg nennen und nicht so tun, als wäre er der, der dich nicht auf deine Felder läßt. Er hat ein redliches Gesicht...« »Eben«, stimmte ein sehr kleiner Mann zu, »der da hat doch nichts mit dem mageren Küster zu tun. Das sieht man doch.« Magerer Küster, dachte Gerondet, das ist Spott auf den Magister. Also sind sie nicht alle... »Also gut, Fremder«, sagte Jonas, »wenn Ihr mich nicht erdrückt, wenn Ihr mir Atemluft laßt, dann will ich Euch frei den Weg nennen. Wisset aber, daß dies ein furchtbarer Tag ist. Der magere Küster ist überzeugt, daß die Schnellebigen gerade an diesem Tag zu uns kommen. Mit Feuer und Schwefel. Sie haben neue Götzenbilder, auf denen steht LMN. Und: ,Achtung, Lebensgefahr, vollelektronische Sicherungen!' Das haben die Söhne Belials, die Zöpfler, die einige auch die Schröpfer im Verborgenen nennen, berichtet. Kein guter Tag. Aber wer weiß, vielleicht nicht für uns.« »Wäre es nicht einfacher«, Gerondet trat ein wenig zurück, »wenn ihr alle zusammen aufsteht und diesen Spuk beendet? Satan, Hohepriesterin. Opfer... Warum laßt ihr es euch gefallen?«
»Glaubt uns, Fremder«, Jonas sah seine Freunde an, und die, als wüßten sie, was jetzt kommen mußte, nickten lebhaft Zustimmung, »an Versuchen, sich nach dem Fest an einem geheimen Ort zu treffen, mangelt es nicht. Doch es wird nichts daraus. Zum Fest muß man erscheinen. Irgend jemand aus der Nachbarschaft würde schon merken, daß man nicht anwesend ist. Die Folgen werdet Ihr Euch vorstellen können. Also tanzen wir. Wissen, wie alles kommen muß. Jedesmal. Früher oder später erhalten wir die Warnung, daß jetzt der Abtrünnige dran ist. Also laufen wir in unsere Häuser. Riegeln unsere Kammern zu. Und dann kommt Satan. Und geht wieder. Nachdem das Opfer gewürgt ist. Aber, Fremdling, beachtet genau, was ich jetzt sage: Kaum ist Satan verschwunden, da sinken wir in Schlaf - trotz aller guten Vorsätze - und wachen erst in den Morgenstunden auf, wie gerädert. Stunden sind nötig, ehe wir zu uns finden. Manche stehen erst am Nachmittag auf. Wie soll man sich da sammeln? Und Waffen gibt es auch keine...« »Es ist etwas Geheimnisvolles um diesen Ort«, stimmte Gerondet zu, »ich werde es herausfinden. Und jetzt erklärt mir den Weg.« Gerondet, der der Beschreibung gefolgt war, stellte erstaunt fest, daß ihn der Weg durch die Straße führte, in der Esra wohnte. Das Haus erkannte er von weitem, und ein freudiges Lächeln umspielte seine Züge. Erwartungsfroh riß er die Haustür auf und stieß mit zwei ebenjener bezopften Halbmaskenträger zusammen. Selbst in dem farbigen Dämmer des Hausflurs glaubte er die hellen Augen der Männer auf sich gerichtet zu sehen. »Freunde«, rief Gerondet lautstark, »wie ich mich freue«. Seine Handkante kam überraschend und ohne daß er ausholte. Er traf den ersten quer über der Stirn. Der sackte gurgelnd zusammen. »Das hier«, Gerondet sprach im Takt seiner Bewegungen, »ist für euch das Verbotene Land, und wen ich hier treffe, den zersäge ich mit einer rostigen Schrotsäge.« Der zweite, der nach der Keule gegriffen hatte, brachte die Waffe nicht hoch, denn Gerondets beide Handkanten landeten mit zerstörerischer Wucht auf den Schultergürteln. Dann holte er zum dritten Schlag aus. »Amen«, sagte der Polizist, und die Handkante traf die Stirn des zweiten, der an ihm vorbei die vier Stufen hinunterkullerte, ehe er stumm liegenblieb. Mit größtmöglicher Eile entfernte Gerondet die Schnürsenkel der Bewußtlosen, fesselte ihre Hände auf dem Rücken. Vergaß auch nicht, die Zöpfler zu knebeln. Dann lauschte und schnupperte Gerondet an den beiden Hochparterretüren. Nach seiner Prüfung war er überzeugt, daß Esra hier nicht wohnte. Wenn
überhaupt hinter diesen Türen jemand lebte. Er stieg in das Obergeschoß hinauf. Da es nur eine Tür gab, mußte es die sein. Gerondet öffnete sie leise. Der Geruch fremden Holzes und unbekannten Mobiliars mischte sich mit einem Parfüm, das herb und streng zu ebendem Holz paßte. Dann hörte er sie singen. Es war eine schwermütige Melodie, ein orientalisches Lied, das Esra mit Worten begleitete, die Gerondet nicht verstand. Als Gerondet ins Zimmer trat, schrie Esra auf. »Was war das für eine Sprache?« »Die Heimatsprache meiner Mutter«, sagte Esra, »die kam von weit her und sollte gegen zwei Pferde eingetauscht werden. Aber sie erstach ihren Herrn und floh in der Nacht.« »Und warum hast du geschrien?« Gerondet setzte sich auf die Armlehne eines Sofas. »Weil Ihr sterben werdet«, antwortete die Tänzerin, »wer diese Räume betritt, stirbt.« »Und was muß man tun, um nicht zu sterben?« Gerondet winkte großmütig ab. »Spar dir die Antwort. Es gibt nichts. Also dann: Wo ist mein Mörder? Vielleicht dort hinter dem Vorhang? Oder in der Küche? Laß ihn kommen, Tänzerin. Ich konnte nicht anders...« »Viele konnten nicht anders«, antwortete Esra und sah durch Gerondet hindurch, »viele kamen zu mir. Und alle bereuten es noch am selben Tag.« »Die da unten«, Gerondet deutete in Richtung Fußboden, »die werden es nicht tun. Mit ein bißchen Glück verschlafen sie den heutigen Tag... Aber mir sind zehn von derselben üblen Sorte bei der Kirche vor der Stadt begegnet. Esra, ich weiß, daß du anders bist als die anderen. Hilf mir. Ich muß wissen, was hier gespielt wird.« Unerwartet lachte Gerondet auf. Wurde gleich wieder besorgt. »Warum habt Ihr eben gelacht?« »Immelgud, das ist der andere, der hat zu dem Wirt gesagt«, Gerondet lächelte erneut, »bring uns zu dem Esra. Der denkt, du bist ein Mann. Verrückt.« Und als Gerondet das gesagt hatte, fiel ihm seine Vergeßlichkeit ein. Er nahm seine Waffe, lud die achte Patrone ins Magazin und eine zusätzliche in den Lauf. Dann steckte er sie wieder in das Futteral. »Nun ist alles wieder in Ordnung«, erklärte er der staunend zusehenden Esra, »erzählst du mir etwas?«
»Dieser Ort«, Esras Augen wurden weit, blickten in eine nachtschwarze Ferne, »ist nicht das, wofür Ihr ihn haltet.« »Ich denke«, Gerondet holte das platte Projektil aus der Tasche und warf es achtlos auf den Tisch, »daß es an der Zeit ist, mit all dem elektronischen Unsinn aufzuhören. Sonst ist es nur noch ein Schritt bis zu dem Tag, da sich ein besonders geschickter Bastler einen Güterwaggon Chips holt und aus unserer ganzen Welt ein Videospiel macht. Dann werden wir alle zu kleinen, flachen Männchen, auf die der Spieler unablässig feuert. Und in deinem Fall wäre das nicht nur schade, sondern eine Sünde.«
Gerondet trommelte nervös auf die Sofalehne. »Wenn du dich fürchtest«, sagte er dann, »siehst du noch schöner aus.« Er lauschte seinen Worten hinterher.
Gerondet seufzte, fühlte etwas Dumpfes in seinem Brustkorb. Er sah an ihr hoch, betrachtete ihre Augen lange. »Die Sehnsucht meiner Augen«, Esra drehte sich so, daß sie jetzt Gerondet den Rücken zuwandte, die farbigen Fenstergläser vor sich, »gilt nicht einem Mann. Galt nie einem Mann. Sie ist für Jason, meinen Bruder, und für meine Mutter. Nur immer für sie.« »Wo ist dein Bruder«, fragte Gerondet in Erwartung eines bösen Berichts, »und wo ist deine Mutter?« Er stand auf, ging unruhig in dem Zimmer auf und ab. Betrachtete die Möbel, ohne sie zu sehen, wartend. »Er hatte mir versprochen«, Esra sprach brüchig, »ihn zu schonen. Freyja lachte ihn aus. Wäre er, der Vater des Jungen, zum Magister gelaufen, hätte er sich vor ihm niedergeworfen, Jason lebte noch. Aber seine eigene Karriere war ihm wichtiger. Man sagt, er hat den Jungen eigenhändig weggebracht. Und Mutter ist halbwahnsinnig, die mächtige Armbrust gespannt, aus dem Haus gestürzt... Sie wurde nie wieder gesehen oder gefunden. Wie Jason auch.« »Und...«, Gerondet machte eine Pause, »wie alt war Jason?« »Viereinhalb«, die Tänzerin schluchzte, sprach mit tränenerstickter Stimme, »freundlich, allen zugetan, sorglos...« Gerondet führte Esra bei den Schultern zu einem der beiden riesigen Sessel, zwang sie dorthinein. Er blieb stehen. »Wozu«, fragte er dann noch leiser, »wozu töten sie?« »Lebensstoffe«, antwortete Esra apathisch, »Satan braucht sie, damit er für unsere Augen sichtbar wird. Lebensstoffe von reinen Geschöpfen. Sie leben, so heißt es, in Satan weiter... Aber das ist Lüge. Eine schreckliche Lüge, die die unglücklichen Eltern trösten soll. In diesem Dämon kann man nicht weiterleben.« Esra preßte erschrocken die Hand vor den Mund. Sah Gerondet angstvoll an. »Was habe ich gesagt«, ihre Stimme zitterte, »was...?« »Nichts«, antwortete der Polizist, »das, was der Magister auch sagen würde, wenn er reden könnte. Ich habe heute schon weit ketzerischere Worte gehört.« »Ohne Mutter und Jason«, flüsterte Esra, »bin ich unterwegs. Ruhelos. Ich habe keine Heimat. Keinen Ort für mich. Sehnsucht ist in mir... Fernweh. Nicht nach einem Mann.« »Armes Kind«, sagte Gerondet, »armes Mädchen. Wir verlieren alle. Ich habe einen Titel und eine Stellung, eine schöne Wohnung und eine Verlobte, einen Ruf und alle Bequemlichkeit auf Erden verloren. Sehr lustig war es auch nicht.
Meine Mutter ist an Krebs gestorben, und mein Vater hat sich ein halbes Jahr später totgefahren. Sagt man. Ich dachte zwar immer so ein bißchen: Das waren Drogenhändler, aber selbst der Polizeipräsident versicherte mir, daß es ein sauberer Unfall war. Sauber. Bei uns stirbt es sich hygienisch... Da draußen im Wald liegt ein Stein. Das habe ich auch vergessen, siehst du. Was heißt Ger...?« Die Tänzerin bewegte nur stumm den Kopf. »Und Immelgud lebt sicher auch noch, was?« Gerondet trat an das Fenster, riß es einen Moment einen Spalt auf, um hinauszusehen, schloß es sofort wieder. »Hilf mir, und ich nehme dich mit«, sagte der Polizist heftig, »warte nicht, bis du auch noch dran bist... Wie funktioniert das hier?« Esra verharrte in ihrer Trauer, schweigend. Sie hatte die Füße angezogen und auf den Sessel gestellt. Ihr Kopf lag auf ihren Knien. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Blind sind wir«, sagte die Tänzerin, »blind geworden für Leben, Licht, Farben. Es gibt keine Rückkehr und keine Erinnerung. Alles, was einmal war, wird zu leeren Begriffen. Ein magischer Strudel hat uns an sich gerissen. Dreht uns im Kreis. Gibt uns nie mehr frei. Und was in seine Nähe kommt, muß mit. Alles folgt uns. Immer wieder. Wir tun nichts Besonders. Nichts Außergewöhnliches. Jeder tut, was er immer..., immer..., immer vollzieht.« »Und ihr gehorcht diesen kränklichen Gespenstern«, sagte Gerondet voller Ingrimm, »laßt euch die Kinder wegnehmen. Warum? Es gibt draußen Gerechtigkeit. Es gibt Gesetze, die eure Anführer zu Verbrechern machen. Sie für vogelfrei erklären.« »Wen liebst du mehr«, fragte Esra ohne Übergang, »mich oder Freyja?« Gerondet sah Esra verblüfft an. Ihre Augen waren auf die seinen gerichtet. Glänzten fiebrig. »Wenn das auch eine Lösung ist...« Gerondet war völlig überrascht. »Ich liebe dich. Ja, ich liebe dich.« »Solange sich jeder Neuankömmling in mich verliebt«, Esra senkte die Lider, verbarg so ihre Augen, »bin ich noch die beste Tänzerin. Es ist mein Beruf, die Männer zu zwingen, diesen meinen Körper zu lieben, ohne ihn zu berühren. Nur mich, die ich in meiner Brust wohne, mich liebt man nicht, denn ich bin kühl wie das Wasser unseres Brunnens.« »Und was muß derjenige tun, der dich liebt und der auch geliebt werden will«, erkundigte sich Gerondet hitzig, »ich meine, außer daß er den Ortsnamen errät?«
»Er muß Satan und den Magister töten«, stieß Esra zornig aus, »er muß die Mörder Jasons, die Schlächter meiner Mutter töten. Mein Bruder und meine Mutter sollen bei Gott ruhen. Nicht in der Hölle. Wie oft träume ich von Jason. Von seinen Qualen am Ufer des Feuersees, wo ihn garstige Unholde umgaukeln. Töte Satan und den Magister, und ich will dir folgen, wohin du gehst.« »Für Satan brauche ich schon Immelguds Waffen«, Gerondet richtete sich zu seiner vollen Größe auf, »aber den Magister, warum eigentlich nicht. Hätte ich seinerzeit die Bergorius erschossen, nachher würde ich ihre Schuld bewiesen haben. So, da ich mich an das Gesetz hielt, haben sie mich fertiggemacht.« IV. Gerondet war auf dem Weg zum Rathaus, wie Esra das große doppeltürmige Gebäude am Marktplatz nannte. Er war gegangen, weil er einen klaren Kopf brauchte, weil sie zuwenig wußte und weil er jetzt erst recht den Magister suchte. Den Magister töten... Ihn und Satan. Sie ist auch eine Mariane, dachte er, die verlangte auch eine Leistung, um Frau Gerondet zu werden. Sie wollte nicht mich, sondern die Leistung. Wer den Drachen tötet, bekommt die Prinzessin. Gerondet lachte auf. Und wenn Immelgud siegt? Dann nimmt Esra ihn. Und dabei mag sie keine Männer, die sich nur in den Leib verlieben. Und sie bietet den Leib als Lohn jedem an, der für sie tötet. Unsinn ist das. Unsinn. Ach, Mariane, Esra, ihr seid euch gleich. Geschwister. Er zog das kleine Bild aus der Tasche, das er heimlich eingesteckt hatte. So ist sie, dachte er und konnte das Bild nicht wegstecken, betrachtete es ununterbrochen, so ist sie. Das ist sie. Kindlich naiv und grausam kalt. Berechnend und von den eigenen Berechnungen überrollt. Wie eine Katze, die mit den Vordergliedmaßen das Opfer an sich krallt und es mit den Hinterbeinen wegstößt. »Das ist ein Tier«, sagte Gerondet und blieb verblüfft stehen, wiederholte: »Das ist ein Tier.« Einige Sekunden konnte er nichts mit dem Gedanken anfangen. Ein Tier... Gerondet steckte mechanisch das Bild weg. Natürlich, das ist es: Satan ist ein Tier! Maschine oder Tier... Ein Tier ist genügsam. Braucht weder Elektronik noch erzeugte Energie. Und braucht Futter: die Lebensstoffe. Sagen wir ein Scheusal, wie Giganthropus blacki, das einstige Vorbild für den netten Kinokingkong. Ein paar Hörner aus Holz oder Plast, und das Monstrum ist perfekt. Vielleicht noch rot angestrichen. Und es knackt mit einer Spezialzange menschliche Schädel wie Nüsse. Frage: Wie findet der »Killer« sein Opfer? Das ist kompliziert, denn es ist dunkel, und
viele sind unterwegs. Fotografie ist Unsinn. Ist Technik. Und die lassen wir mal beiseite. Man glaubt hier an die Libelle und ihre Flugkünste. Nicht an den holprigen Helikopter. Hypothese: Der Magister hat ein großes Tier, das er in der Finsternis ausschickt und das den Satan spielt. Gekonnt. Und wenn ich mich nicht täusche, werde ich die Wahrheit eher erfahren, als mir lieb ist. Ultraschall... Der Schrei. Das war er. Ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sieh dich vor, du magerer Küster. Gerondet kann analysieren. Deshalb haben sie ihn auch auf das Dorf versetzt. Langsam und innerlich sicherer setzte er seinen Weg fort. Daß ich das Kastell finde, dachte er, konnte der Herr dieses Ortes nicht wissen. Ein Zufall. Seine hektische Reaktion, die Ungeschicklichkeit der Zöpfler zeigten das. Eine nette, fehlgeschlagene Improvisation. Pluspunkt für mich. Es ist das Schema des gewöhnlichen Verbrechens. Der Täter macht immer Fehler. Logisch, denn er kann die unendlichen Möglichkeiten der Wirklichkeit nie erfassen und einplanen. Gemachte Fehler aber werden entweder ausgeblendet, oder sie werden durch neue Verbrechen wettzumachen versucht. Und jedes neue Verbrechen erzeugt neue Fehler. Die Unachtsamen potenzieren sich. Alle Versuche des Delinquenten werden zusehends hastiger, unüberlegter, offensichtlicher. Die Einsätze werden höher. Das Risiko unkalkulierbarer. Nur auf den Routinier im Schutz seiner großen Gruppe oder auf den seelisch Kranken muß das nicht immer zutreffen. Zweimal schon ging die Rechnung des Magisters nicht auf. Das Kastell und Esra. Esra... »Südöstlich von Krehersthal«, sagte Gerondet, »liegt ein See. Dunkle Weiden säumen ihn. Schilf raschelt an seinem Ufer. Dort ist kaum mal jemand. Der dumpfigen, nassen Wiesen wegen. Dorthin, Esra, werde ich dich führen. Sobald wir hier fort sind. Wir werden in die Fluten eintauchen, uns treiben lassen. Wir werden uns jagen und zuletzt ermattet niedersinken. Es wird das Paradies sein. Hinter der Hölle, gleich dahinter, beginnt das Paradies. Vielleicht... ist das immer so.«
10.00 Uhr: Ger... Esra, die Tänzerin Ich jage den Brudermörder... Es war ein Kaufmann, der aus dem Orient Esras Mutter mitbrachte. Die daran geknüpfte Geschichte war verworren, und keiner glaubte sie so recht. Es hieß, er habe die Frau gekauft. Dann aber, als es allgemein hieß, der Kaufmann werde die Sarazenin heiraten, besann der sich eines Besseren und heiratete die Tochter eines anderen Kaufherren und verdoppelte so sein Vermögen. Es war der Jäger des Ortes, ein finsterer Mann, der sich der Sarazenin annahm und sie. als sie schwanger war, ehelichte. Die Tochter Esra war ein schon früh selbständiges Kind, das sehr schnell merkte, wie gut es sich leben ließ, wenn man seine ungewöhnliche und fremdartige Schönheit einsetzte, wollte man etwas erringen oder sich verteidigen. Jason, ihr kleiner Bruder, folgte ihr auf Schritt und Tritt. Die beiden waren unzertrennlich. Als jener Scholar nach Ger... kam, als er sich unerwartet und heftig in Esra verliebte, hatte sie nur Hohn und Spott für ihn übrig. Doch allmählich änderte sich Esras Zustand. Jetzt war sie es, die die Liebe suchte, ohne sie irgendwo zu finden. Ungehört verhallten ihre Wünsche, es kam nicht einer, der sie mit Blicken besiegte, dem sie sich hingeben konnte. Und so legte sie, als aus dem Scholar der große Magister wurde, ihre Wünsche in ihre Bewegungen, in den Tanz. Sie entzündete in den Menschen Glut und Flammen, ohne daß dieses Feuer sie erwärmte. Nachdem das Verbrechen geschehen war, beschloß sie eins: Ihren toten Bruder wollte sie rächen. Einen Speer wollte sie sich schaffen, der auf ihren Befehl hin den Mördern ins Herz dringen sollte. Dies war das Ziel, dem sie entgegenlebte...
I. Die Sonne stand senkrecht über dem Brunnen, schien mit sengender Glut. Gerondet verhielt den Schritt. Blieb schließlich stehen. Er hob den Kopf. Wolken zogen eilig am Himmel entlang. Sie machten einen großen Bogen um den Markplatz. Schattenlos bot sich der Brunnen. Gleißend verharrten die Figuren. Schienen durch das Sonnenlicht gebannt. Wie anders dagegen sah die Frau auf der Spitze aus. Ihr Bronzeleib lebte, vibrierte im Licht. Ihr stummer Schrei hing Gerondet im Kopf. Dieser Künstler, dachte der Polizist, er ist genial. Aus Schrecken und Angst wird im Sonnenlicht Lächerlichkeit und Hohn. Es ist seine Sprache, den mageren Küster zu entlarven. Ist, bei Sonnenlicht betrachtet, nicht alles ein Spuk? Es ist überhaupt eigenartig: Jeder, den ich getroffen habe, der wollte in irgendeiner Richtung dieses Bestehende überwinden oder verlassen. Jeder. Und was sie eint, ist Satan; Nicht der Glaube an das gebotene Symbol, sondern die Angst, durch Satan sterben zu müssen... Der Polizist warf einen schnellen Blick in die Runde. Der Tote war, wie er es angenommen hatte, verschwunden. Gerondet suchte den Boden ab. Fand die tief eingeätzten Löcher im Holz. Schon wenige Schritt weiter entdeckte er weitere derartige Spuren der Zerstörung. Bohrer, dachte Gerondet mechanisch. Säuregeschoß. Tier. Die drei Dinge wollen erst unter einen Hut gebracht werden. Dazu kommt, so meint Immelgud, Phosphor oder ein Insektizid. Die Fliege floh den Toten... Gerondet, der sich aufgerichtet hatte und einige Schritte gegangen war, blieb erneut stehen. Kniete nieder: Er hatte feine, wenn auch deutlich sichtbare Schnitte auf dem Holz entdeckt. Reihenweise Schnitte. So als wäre ein schweres Kettenfahrzeug mit angeschweißten Skalpellen unter den Ketten in eiliger Fahrt vorbeigefahren. Nur daß ein solches Fahrzeug angeflogen sein mußte und nach wenigen Metern Fahrt sich erneut in die Luft erhoben hatte: Die Schnitte endeten ebenso abrupt, wie sie begannen. Er stand auf, schritt nun wieder auf das Rathaus zu. Die Riesenaffenhypothese schien ihm nicht mehr so sicher. Vielleicht eine große Katze, die die Krallen einmal einzieht und dann wieder ausfahrt. Und wenn sie riesengroß ist, so daß der Mensch zur Maus wird, dann spielt sie mit ihm. Packt ihn, schleudert ihn in
die Luft, hebt ihn also über die Dächer. Das Problem: Sie muß sehr groß sein und entsprechend viel fressen. Am Fuße der breiten geschwungenen Rathaustreppe blieb Gerondet noch einmal stehen. Das Portal war weit offen. Es sah beinahe so aus, als erwartete man seinen Besuch. Und genaugenommen hatte er keinen Plan. Wußte nicht, was er hier sollte. Es war schon eher eine Flucht vor den eigenen Gefühlen, als er Esra so überraschend verließ. Er hatte den beginnenden Sturz gefühlt, die andere, ihm unbekannte Lebensart Esras, die ihn irgendwann dazu geführt haben würde, sie zu umarmen oder vor ihr niederzuknien. Sie, die so sachlich, ja geradezu kalt ihre Fragen stellte, bot zugleich das Bild eines Vulkans der Gefühle. Und genau diese Eruption hatte Gerondet bei sich erwartet. Es wäre das dümmste, das lebensverschenkende gewesen, diesen Ausbruch abzuwarten. So war er losgegangen. Mit den kaum verständlichen Worten von der Tür her: »Warte auf mich. Es wird sein.« Er hatte nicht gesagt, was sein wird und wie lange sie warten sollte. Aber sie würde ihn auf ihre eigene Art verstanden haben. Und jetzt war er hier. Vor dem Rathaus mit dem offenen Portal. Gemächlich stieg Gerondet die acht Stufen nach oben. Hielt noch einmal vor dem hölzernen Maul an, trat dann in die schattige, fahnengeschmückte Vorhalle. Soweit das bei dem faltig herabhängenden Stoff überhaupt möglich war, sah er, daß auch hier jene Kali ebenso wie das fliegende Ungeheuer der Freyja auf dem Stoff, jeweils von goldenen Borten umrahmt, sichtbar war. An Farben registrierte er Weiß, Blau, Grün und Schwarz. Es war angenehm kühl hier und roch nach geöltem Holz. Ein vollbärtiger alter Mann mit kleinen flinken Augen, einer straffen und rosigen Haut und auffallend großen Ohren trat Gerondet aus einer Nische entgegen. Er musterte den Polizisten nicht unfreundlich, nickte ein paarmal, als stimmte etwas überein, was er sich schon vordem so gedacht hatte. »Ihr wünscht sicher«, sagte er, und seine Stimme verstärkte den Eindruck der Sympathie, »unseren Bürgermeister, den Herrn Melchior Schimmelpfennig, zu sehen.« Das Wort »Herrn« klang spöttisch. Machte die ehrenvolle Bezeichnung zunichte. »Er ist im Haus«, fuhr der Alte fort, wobei er mit einem Auge blinzelte, »aber natürlich muß der Fremdling, der das erstemal mit unserer Obrigkeit Bekanntschaft macht, die obligate Reihenfolge beachten: zuerst zum Rat. Dann zu Brodlant, und der letzte - ach ja, der letzte - ist dann Melchior. Ich kann Euch das nicht ersparen.« »Dann lerne ich sie alle auf einmal kennen.« Gerondet bewegte den Kopf von einer Seite auf die andere. »Nur der Magister ..., er ist nie hier?«
»Nie«, stimmte der Alte zu, »nie. Auch die Hohepriesterin nicht. Sie haben das nicht nötig. Ihre hölligen Exerzitien ...« Er machte eine kleine Pause, und Gerondet begriff, daß der Mann die Wörter heilig und höllisch zu einem neuen Begriff zusammengezogen hatte. »Also ihre Meditationen und Übungen sind es«, fuhr der Alte fort, »die sie über die Dinge erheben. Und ganz nebenbei: Wozu sollen sie kommen? Die hohen Herren dort oben umschwänzeln sie doch genug.« Gerondet lächelte breit. Der Alte gefiel ihm außerordentlich. Er trat näher, und als er sprach, senkte er die Stimme zu einem Wispern. »Sie wissen viel, Mann«, raunte er, »haben Sie eine Ahnung, wen man auf mich ansetzt? Man will mich töten.« »Ich weiß«, nahm der Alte laut den Faden auf, »viele sind von diesem Porträt dort begeistert. Es stellt den neuen Bürgermeister vor derselben alten Kulisse dar. Einst war dort das Brustbild des gewählten Bürgermeisters. Dann wurde es einfach übermalt. Statt dessen zierte es der, der bis vor kurzem am Brunnen lag. Doch in dieser Nacht wurde es im Schlachthaus übermalt, und nun seht Ihr den Herrn Melchior in seiner ganzen Stattlichkeit. Nun, die Prozedur ist stets die gleiche. Nicht Menschen werden ausgeschickt. Es kommt der Herr der Tiefe, dem Volk das Schauspiel zu bieten und alle erneut in Angst und Kleinlichkeit zu bannen.« Gerondet begriff. Der Alte hatte ihm gesagt, daß Satan auch ihn töten würde. »Die Herren dort oben«, der Alte machte eine tiefe Verbeugung, und Gerondet bewunderte dessen Gelenkigkeit, »die haben weder die Macht noch die Courage, auch nur einer Poularde etwas anzutun. Sie arbeiten schließlich weder mit dem Kopf noch mit den Muskeln, sondern ausschließlich mit dem Federkiel und der Eichengallentinte und dem Pergament. Am dankbarsten aber sind sie, wenn sie selbst die Feder ruhen lassen und sich, beim Rotwein plaudernd, die Zeit vertreiben oder am Abend einer Magd in die Bluse greifen können.« Der Alte beendete die Verbeugung, ging die wenigen Schritte bis zu seiner Kammer vor dem Polizisten her, bot ihm dort Platz auf einem hochlehnigen, reichverzierten Stuhl an. »Dies hier«, seine Hand deutete auf das wenige Mobiliar, »ist meine Ruhestatt. Setzt Euch, guter Mann.« Er wartete, bis Gerondet seiner Aufforderung gefolgt war. »Wißt Ihr«, er blickte starr zu dem schmalen, von außen kaum sichtbaren Fenster, »ich höre alles, denn ich bin sehr zeitig wach. Drei Wochen lang geht das schon. Jeden Morgen ziehen die bezopften und maskierten Dummköpfe mit ihren Pferden los. Und immer brachten sie reiche Beute. Auch Menschen. Manchmal kamen sie mit Pferdewagen voller Güter zurück. Aber nicht etwa, wie der Magister uns das einredet, um zu sehen, ob ringsum schon einer Alter,
Tod und Krankheit besiegt hat, sondern weil wir sonst des Hungers sterben würden. Ja, Hungers ... Dieser nebelhaarige Wegelagerer, der sich ein Halbgott nennt, er läßt keinen Mann und kein Weib auf die Felder. Unser Vieh ist sicher schon in alle Winde verstreut, und Handwerk und Handel liegen darnieder. Nennt mir einen Ort, der so leben kann: ohne Landwirtschaft. Ohne Handel und Handwerk. So rauben, morden, brandschatzen und plündern wir ... Aber heute, da sind nur zwei zurückgekehrt. Zwei von elf. Vor diesem Fenster ist einer der beiden zusammengebrochen. Blind. Ausgebrannt von Himmlischem Licht. Nein, guter Mann, Gott läßt nicht seiner spotten. Zweimal sieben Tage hat er zugesehen. Und jetzt hat er den Blitz geschleudert und gesagt: Kehret um! Hat die Marodeure versinken lassen im Boden wie einst die Rotte Korah. Der Herr hat nicht nur angewiesen, am siebenten Tag zu ruhen, sondern auch gesagt: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.' Und das dumme Volk bei uns betet Magog und Gog an.« Der Alte hielt inne. Seine Augen brannten vor Zorn. »Ein Blitz«, flüsterte er dann geheimnisvoll, »hat sie getroffen. Aus wolkenlosem blauem Himmel kam der Strahl. Vernichtet sind die Verworfenen. Am zweimal siebenten Tag. Und das Orakel hat verkündet, daß der, der heute zu uns kommt, den Untergang uns bringt. Ihr seid das, mein Herr. Ich habe den Blitz gesehen, der die Haustür zertrümmerte und die Fenster aus dem Gebälk riß. So zittern denn alle vor Euch, guter Mann. Jeder möchte Euch auf seiner schändlichen Seite wissen. Jeder der Verdorbenen hier hofft darauf, daß Ihr einen Pakt mit ihm eingeht und daß es bald Nacht wird, weil der Satan nur im Dunklen kommen kann. Nutzt das, mein Freund. Stimmt jedem zu und hüllt Satan in Licht, weil er dann blind ist. In der letzten Nacht haben sie den einzigen Mann töten lassen, der ihnen manchmal die Stirn bot: den Bürgermeister. Ich habe es schon viele Tage früher erwartet. Ohne ihn werden sie noch übermütiger in ihrer Maßlosigkeit, und dem Volk bleibt nichts als noch mehr Angst und Niedrigkeit und die Bereitschaft, alles stumm zu dulden. Rechnet mit mir, ich stehe auf Eurer Seite. Zwar kann ich nicht fort, aber was meine Ohren vernehmen, sollt Ihr getreu erfahren.« Gerondet drückte dem Mann die Hände, war wieder verblüfft über die Kraft in den Händen des Alten. »Wir schaffen es«, sagte er. »Frage eins: Wo ist das Hirn, die wirkliche Zentrale der Macht? Von wo aus wird alles in Bewegung gesetzt?« »Was ich jetzt sage«, der Alte blickte nachdenklich, »ging durch drei Münder. Aber etwas sollte doch noch Wahrheit sein. Unter der fernen Kirche, unter Satans Domizil, ist ein Raum, in dem eine seltsame Apparatur steht. Räder, die ineinandergreifen. In deren Mitte, von merkwürdigen, durchsichtigen Materialien umgeben, ist jener Schwarze Stein aus den Pyramiden. Es heißt, wer jenes Räderwerk zerstört, raubt Satans Lebenskraft und stoppt den rasenden
Lauf der Welt rundum. Gleiche sind wir dann unter Gleichen. Nur wisset: Satan lebt in völliger Finsternis, und ein einzelner kann kaum gegen ihn etwas ausrichten, es sei: Er hat den Himmelsblitz.« Gerondet konnte nicht mehr sitzen. Er hatte eine Spur. Er stand auf, postierte sich neben der Tür, sah hinaus. »Der Bürgermeister?« fragte er von der Tür her. Allein diese beiden Wörter schienen eine Unzahl von Gedanken in dem Alten zu wecken. »Ja«, sagte er, »der Bürgermeister. Er hat einen hohen Preis für das Amt bezahlen müssen. Die Schöne auf dem Brunnen, es ist seine Frau. Und das Kind, das wie ein Säugling aussieht, seht Ihr es von nahem, dann wißt Ihr, daß es ein Vierjähriger ist. Ein wenig verkleinert. Man hieß ihn Jason, als er lebte. Diese bronzene Wahrheit hat der Künstler mit dem Schlachthaus bezahlt. Zwar ließ ihn der Magister etwas anderes verkünden, aber dies ist es. Jenes dritte Haus neben dem der Freyja, in dem ein Ratsherr residiert, es war das rechtmäßige Erbe des Jos von seinen Ahnen. Man hat es ihm genommen und ihn im Schlachthaus untergebracht.« »Und wer bedrängt die Frau?« Gerondet dachte an Esra. Der Alte senkte den Kopf, ließ ihn einigemal von einer Seite zur anderen pendeln. »Wer bedrängt sie?« wiederholte der Polizist die Frage. »Ich bete zu Gott für Euch«, der Alte sprach nun leise, »ich bete, daß Ihr dem Magister den Kampf ansagt und siegen werdet. Aber es gibt schreckliche Geheimnisse, über die kann ich jetzt nicht sprechen. Selbst wenn ich von Eurem Sieg überzeugt wäre.« »Ich verstehe«, Gerondet lehnte sich an die Wand neben der Tür, »ich akzeptiere das. Nur noch eins, bevor ich zu den Ratsherren gehe: Was ist mit diesen zweimal sieben Tagen?« »Vorher war Krieg«, sagte der Alte hart, »wir waren eine reich gewordene Stadt. Wir handelten mit Waffen und Pulver. Besaßen Gold im Überfluß. Mit dem Krieg kam die Angst vor den Plünderern, den Marodeuren. Deshalb hat man ihm vertraut. Satan sicherte uns Frieden zu. Garantierte uns die Unverletzlichkeit der Stadtgrenze. Und nun ist alles so anders geworden. Tag für Tag vergeht. Apathie hat uns ergriffen. Man schläft ein. Macht irgend etwas und geht wieder schlafen. Vierzehn Tage schon. Aber es ist nicht rechtens, was mit uns geschieht. Und wenn man nur Minuten schläft, so sind das nicht die Minuten, die ich früher kannte. Ich kann das nicht in Worte kleiden...« »Das ist es«, Gerondet kaute auf seiner Unterlippe, »genau daran habe ich gedacht: Minuten, die keine sind. Schlaf, der so ganz anders ist... So könnte die geheimste der geheimen Waffenerprobungsstellen aussehen.«
Gerondet stieg über die breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock. Das erste, was er sah, war ein Gemälde, mindestens sechs Meter lang. Die Gesichter der Abgebildeten waren ebenso lebendig, in der gleichen Manier gemalt wie Esras kleines Porträt. Auf den ersten Blick war es das Abendmahl. Ausstattung und Kleidung, alles schien zu stimmen. Nur die Gesichter nicht. Dort, wo der Platz Jesu Christi war, blickte das blutleere Gesicht des Magisters den Betrachter an, und seine langen weißen Haare lagen ihm auf den togabedeckten Schultern. Zwei Besonderheiten, zwei Abweichungen, zierten das Abendmahl. Neben dem falschen Jesus saß Maria. Es war Freyja, die dem bleichen Magister einen Pokal reichte. Am linken Bildrand tanzte, einen blutleeren, unkenntlichen Kopf auf einem silbernen Tablett, Salome. Esra. Sie schien die Schönste. In der Ausführung, in ihrer Lebendigkeit. Obwohl nur eine Randfigur, drängte sie sich ins Blickfeld, überbot die anderen und schien sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Der Judas Ischariot trug - Gerondet zog die Mundwinkel abfällig nach unten unverkennbar die Züge des Toten vom Brunnen. Der Künstler wird nie brotlos, dachte er, wenn er täglich einen neuen Judas malen muß... Gerondet ging den Gang nach rechts, wie ihm der Alte das erklärt hatte. Bei der letzten Tür blieb er kurz stehen. Klopfte hart mit dem Knöchel an und öffnete. »Er möge warten«, sagte ein Lakai und wollte die Tür wieder schließen. Gerondet schob den Mann zur Seite, trat einfach ein. »Jetzt kannst du zumachen«, erklärte er. Dieser Lakai trug, völlig gegen die Mode, eine silberhaarige Perücke, eine blaudurchwirkte weiße Jacke, Kniehosen und peinlich saubere weiße Kniestrümpfe, die in goldenen Schnallenschuhen steckten. Gerondet mußte lachen, als er den Mann ansah. »Begegnung der Jahrhunderte, was?« Er deutete auf die Kleidung. »Ich habe mit diesen Tölpeln dort«, der Lakai machte eine Kopfbewegung, die sowohl die Tür am Ende des Vorraumes wie das ganze Städtchen einschloß, »nichts gemein. Ich wurde aus einer Kutsche entführt. Das mag Er glauben oder nicht. Ich sage das nicht, um mich hervorzuheben, sondern nur, damit Er sieht, daß ich ein aufgeklärter Mensch bin: Ich liebe Voltaire und stehe zu seinen Schriften.« »Ein aufgeklärter Mann«, Gerondets Worte waren spöttisch, während seine Augen verrieten, daß er immer intensiver an die geheimen Waffenerprobungsvarianten mit den tranquillierten Menschen dachte, »dann stehen Sie sicher über dem Volksaberglauben. Satan ist für Sie bestimmt ein naturwissenschaftlich erklärbares Phänomen. Oder?«
»Es mag eine Erklärung geben«, der Lakai blickte gequält auf das Parkett, »aber mich lahmt die Angst derart, daß ich nicht einen Gedanken fassen kann. Ja, ich ertappe mich, zu glauben, daß es wirklich nur der Böse in eigener Person ist. Er ahnt nicht, wie es einem durch Mark und Bein geht. Er kennt nicht die Donnerstimme des Dunklen. Er hätte sehen sollen, wie der Bürgermeister, fast wie ein Schlafwandler, auf den Brunnen zutaumelte. Die Hände an die Schläfen gepreßt. Ein Toter im Gewand des Lebens. Und als ich dann Satans gepanzerten Leib kommen sah, wie er aus Himmelshöhen herniederschwebte, da stürzte ich vor Entsetzen besinnungslos an meinem Kammerfenster nieder und erwachte erst in den Morgenstunden, noch am Fenster liegend.« »Gepanzert«, Gerondet schnappte das eine Wort auf, »Satan ist gepanzert?« »Ja, er steckt in einem lichten Panzer, der seine Finsternis umhüllt. Er ist unberührbar für jede naturwissenschaftliche Erkenntnis. Glaub Er es nur.« »Gepanzert...«, wiederholte Gerondet wie abwesend. Die beiden Männer dachten an Unterschiedliches. Der eine mochte Michael vor sich sehen, der vor dem Paradies steht oder der die große Schlange in den Feuersee wirft, während der andere an ein Kampfflugzeug dachte, das lautlos angreift. Es wurde mit einem Stock gegen die Tür geklopft, hinter der die Ratssitzung stattfand. Jedenfalls, wenn der Lakai nicht gelogen hatte. »Die Herren erwarten Ihn«, sagte er und eilte zu der Tür, um sie schwungvoll aufzureißen. II. Sie saßen an den zusammengestellten Tischen, wie auf dem Bild. In ungefähr der gleichen Reihenfolge. Nur daß jene kapuzentragende Kali, die auf dem Bild als Gott fungiert hatte, ebenso fehlte wie Freyja, Esra und der Magister. Dazu noch zwei »Jünger«. Es schien Gerondet, als wären die Abbilder der Männer lebendiger als die Vorbilder. Die hier saßen verkrümmt und blickten auf Pergamente oder auf die eigenen bleichen Finger. »Nennt Euren Namen!« Der das sagte, hob den dürren Kopf, der auf einem sehnigen, aber viel zu dünnen Hals ruhte, und sah den Polizisten aus wäßrigen, hilflosen Augen an. Gerondet trat auf den Tisch zu, stemmte die Hände auf die dunkelrote, hölzerne Platte und blickte dem anderen gerade ins Gesicht. Der senkte seinen Kopf, räusperte sich, verharrte so. »Ihr möchtet doch eingebürgert werden«, ließ sich ein anderer Ratsherr vernehmen, »da möchten wir schon wissen, wie Ihr heißt.«
»Sagen wir so«, Gerondet erhob sich, trat etwas zurück, um den Überblick nicht zu verlieren, »ich gebe euch allen hier genau vier Stunden Zeit. Nicht eine Stunde mehr. Und wenn dann nicht ein Tor für mich offen ist, eure Schleuse, wie man das hier nennt, dann kommt es zu etlichen überraschenden Todeslallen. Wen es dann trifft, der wird es schon fühlen. Und noch etwas: Wenn das Tor geöffnet wird, dann verlange ich freien Abzug für alle die, die mit mir wollen. Das ist meine Botschaft an den Magister.« Sie raschelten mit den Pergamenten, taten beschäftigt, schienen Gerondet nicht zu bemerken. »Ihr habt genau fünf Sekunden Zeit«, sagte der Polizist zornig, »dann hole ich mir die Antwort.« Acht Köpfe ruckten hoch. Die Ratsherren blickten Gerondet erschrocken an, einige blinzelten nervös, andere räusperten sich. »Das müßt Ihr so sehen«, ein Hagerer mit einem kantigen Schädel und einer gewaltigen roten Nase, dicken, feuchten Lippen und dünnen Augenbrauen redete hastig, »die Tänzerin, natürlich ...,die Jungfer Esra, wir verstehen. Sie hat es auch Euch angetan. Sie ist die einzig wahre Künstlerin. Wir sagen: Schauspiel - Sauspiel. Ihr versteht. Sauspiel. Das fahrende Volk geht ohne alle Delikatesse plumpe Themen an. Mehr grob und ungehobelt. Keine Noblesse. Einfach drauflos. Geschrei. Gebrüll. Licht. Was soll denn das? Man weiß so etwas, aber man tritt es nicht breit. Dagegen der Tanz. Esras Körper ist eine gött..., äh, ergötzliche Konstruktion Belials. Harmonie. Vorweggenommen die Zeit ohne Alter, Krankheit und Tod in dieser niederträchtigen Welt jenseits von SEINER schützenden Hand. Versteht Ihr das? Sie ist die Liebe. Nächsten-, Heimat-, Mutter- und Paarungsliebe. Und Belials Liebe zu seinen armen, verworfenen Geschöpfen. Diese Gefühle blinken im Tanz auf wie jener Stern Arabiens, wie jener wunderbare Rubin. Kein Dichter, Musikant, kein Bildhauer, Maler oder Schauspieler, der etwas an diesem Körper vervollkommnen könnte.« »Vergessen Sie nicht, Luft zu holen«, unterbrach Gerondet den fast atemlosen Vortrag des Ratsherrn, »das ist sonst gesundheitsschädlich. Mich interessiert euer Tanzgeschwafel einen feuchten Kehricht. Was ich wissen will: Was ist mit Esras Bruder tatsächlich passiert? Und: Wer hat den Mord an eurem Bürgermeister angeordnet?« »Das zu erfahren«, mischte sich ein kleiner, dickbäuchiger Mann ein, dessen Glatze schweißbedeckt war, »ist ein gar simpel Ding. Beides ist im Stadtbuch festgehalten. Lediglich eine kleine Schwierigkeit steht zwischen Euch und der gewünschten Auskunft: Nur Bürger können Einsicht in das Stadtbuch nehmen. Und Ihr seid, so steht es jedenfalls in meinem Pergament, nicht Bürger unseres Ortes. Hinzu kommt: Als Nichtbürger ist es Euch nicht gestattet, Bürger auszuhorchen, zu befragen oder zu bedrängen. Ihr versteht, mein Freund.«
Gerondet schüttelte den Kopf. »Ich habe begriffen«, sagte er beherrscht, »Ihr seid ahnungslos wie ein Rebhuhnschwarm. Und tanzt auf Eiern. Auf rohen. Paßt nur auf, daß ihr nicht aus dem Gleichgewicht kommt. Das gibt nämlich Flecke im Charakter. Macht die Tür auf und sagt mir, wer hier auskunftsberechtigt ist...« Der Lakai öffnete sofort die Tür, während die Ratsherren wieder über ihre Pergamente gebeugt saßen. Gerondet folgte dem schweigenden Lakaien, der zaghaft an eine andere Tür klopfte. Ein öliges »Herein!« erklang, und der Lakai riß, sich selbst bis zum Boden verneigend, die eine Türhälfte weit auf. Der Raum war vollgestopft mit wertvollen Dingen, die aber so geschmacklos aneinandergereiht waren, daß sie an die geordnete Rumpelkammer eines Museums erinnerten. An den Wänden hingen Hieb- und Stichwaffen unterschiedlichster Arten. Nahe dem Fenster stand ein überdimensionaler Schreibtisch mit einem verkleinerten Abendmahlsbild darüber. Hinter dem Schreibtisch saß ein feister Mann. Das graue Gesicht mit den stark gewölbten, fast graugrünen Augen bewegte sich träge. Die Mundwinkel waren herabgezogen und schienen so erstarrt. Ein schwammiges Kinn, weiche Wangen kontrastierten zu der massigen, schräg nach hinten laufenden Stirn. Fett konkurrierte mit der straffen Haltung, den schroffen Bewegungen. Als Gerondet eintrat, sah er, daß der Sitzende die Hände senkrecht auf die Sessellehnen stützte und mißtrauisch jede Bewegung seines Gastes beobachtete. Gerondet blieb mitten im Raum stehen, betrachtete den Zimmereigner und lächelte plötzlich. »Sie sind Brodlant«, sagte er zielsicher, »nicht der Bürgermeister.« Trotz seiner offensichtlichen Feindseligkeit schmunzelte Brodlant geschmeichelt. Blinzelte einigemal. Verzog den Mund zu einer undefinierbaren Grimasse. »Setzt Euch!« Seine Stimme, grollend und knarrend, war das Produkt fortwährender alkoholischer Exzesse. Gerondet hörte auch hündische Ergebenheit und Feigheit heraus. Der Polizist durchmaß das Zimmer ganz ruhig, stieß die beiden Fensterflügel weit auf und atmete tief durch. »Ein bißchen stickig hier«, sagte er, »Mief von vorgestern.« Er sah die junge Mutter auf dem Brunnen, sah sie nun, wie sie nicht mehr entsetzt war, sondern in einen abenteuerlichen Tanz verstrickt schien. Das Kind war von hier kaum als solches erkennbar. Es hätte auch ein wild flatterndes Tuch sein können. Die Kobolde der Tiefe aber erinnerten an verzückte Zuschauer. An begeistert applaudierende Zeugen des Tanzes. »Nette Aussicht«, fuhr Gerondet fort, »Dämonen werden zu friedlichen Mitbürgern. Das Entsetzen ist ein schöner Tanz, und geopferte Kinder sinken in
die Bedeutungslosigkeit flatternder Tücher zurück. So muß man das wohl sehen, wenn man hier sitzt und kommandiert. Oder?« Ein heftiger Lufthauch traf Gerondets Nacken. Die Tür war demnach schwungvoll geöffnet worden. »Dieser da am Fenster«, hörte Gerondet die vor Wut verzerrte Stimme Brodlants, »mißachtet meine Befehle.« Gerondet drehte sich um, die Waffe automatisch ziehend. Er sah sich zwei Zöpflern gegenüber, die ebenso groß wie breit waren. Die kantigen Gesichter der Eingetretenen zeigten jene stumpfe Betriebsamkeit, die auch den anderen Schergen eigen war. »Ich bin gekommen«, sagte Gerondet, »um mit dem Mörder Jasons zusammenzukommen. Ich bin gekommen, um Riedland vor dem Untergang bewahren zu helfen. Das hier hast du angezettelt, du fette Wanze! Was also geschieht, geht auf dein Konto.« Er steckte die Waffe ein, ging den Angreifern drei Schritte entgegen. »Und vergiß nicht«, fuhr er fort, »selbst der mieseste Ganove weiß, daß man einen Polizisten nicht anrührt, wenn man nicht den Kopf riskieren will. Du pokerst, Brodlant, und du spielst riskant.« Brodlants Antwort war ein meckerndes Lachen, in dem sich deutlich Untertöne der Furcht heraushören ließen. Die beiden professionellen Schläger kamen gleichmütig näher. Sie hoben die Rechte im selben Moment und ließen sie vorschnellen. Gegen Gerondets Kopf. Sie trafen ins Leere. Gerondet war seitlich ausgewichen. Seine Handkanten und Tritte kamen präzis. Es knirschte, als er das Schienbein des rechts Stehenden traf. Der Mann brüllte wie ein Stier auf und stürzte zu Boden, wo er, sich windend und das gebrochene Bein mit beiden Händen umklammernd, liegenblieb. Der andere, der nicht begriff, was mit seinem Kumpan geschehen war, sah mit offenem Mund zu Boden. Gerondets Schläge trafen seinen Schultergürtel und die Stirn. Lautlos sank er zu Boden. Blieb stumm liegen. Gerondet war mit zwei Schritten bei Brodlant. Er hob den fetten Mann so gekonnt hoch und stieß ihn so gegen die Wand, daß der Sessel krachend zu Boden stürzte und Brodlant noch grauer und an allen Gliedern zitternd unter einer Reihe Hellebarden stehenblieb. »Da bleibst du stehen und rührst dich nicht«, befahl der Polizist, wischte die Pergamente vom Tisch und setzte sich auf die frei gewordene Fläche. Er blickte nach unten, entdeckte das Ende einer kleiner Kordel, zog daran. Die Tür wurde aufgerissen. Der Lakai blickte fragend Brodlant an.
»Die beiden da«, Gerondet wies auf die Verletzten, »schaff sie raus, Junge!« Er sah zu, wie sich der bezopfte Lakai redlich mühte, erst einen, dann den anderen hinauszuzerren.
Brodlant lehnte noch immer an der Wand. Sein Kinn zitterte. »Brauchst Stoff, was?« Gerondet lachte hart. »Hör mal«, fügte er dann hinzu, während er sich eine Zigarette anzündete, »wenn mir noch einmal einer deiner Banditen über den Weg läuft, dann ist ihm der Tod gewiß. Ist das klar?« Gerondet blickte Brodlant kalt an. »Und jetzt wollen wir über mein eigentliches Anliegen reden«, er nahm sich einen Brieföffner, der die Form eines Krummsäbels hatte, und deutete auf Brodlants faltigen Hals. »Da sind zwei Morde geschehen, von denen ich weiß. Ich brauche den oder die Mörder. Es
existiert hier auch eine geheime Kommandozentrale, die ich sehen möchte. Und da ist ein Mädchen, für das ich freies Geleit fordere. Im anderen Fall halte ich mich an dich.« Brodlants Kopf pendelte nach vom wie der einer Marionette. Ein röchelnder Laut vervollständigte das Bild des Jammers. »Fangen wir mit Jason an«, bestimmte der Polizist. »Wo ist seine Leiche? Wer hat ihn umgebracht? Ihre Leute?« Brodlant schüttelte den Kopf. Versuchte ein anbiederndes Lächeln. Aber auch Schadenfreude mischte sich in seine Züge. »Ihr könnt das nicht wissen«, Brodlant sprach mit leiser, fast tonloser Stimme, »aber alles, was geschah, vollzog sich in der Euch bekannten Weise, weil ein anderer sie zu seiner Gemahlin machen möchte: Sie ist die Angelobte des Magisters! Sie ist ein unheilvolles Weib, denn oft macht sie alles, was ein ungebundenes Mädchen auch nicht anders tun könnte. Sie will nicht wahrhaben, daß sie einem versprochen ist. Der Brunnen und alle unsere Bilder. Der Maler hat auch sie viele Male porträtiert. Sie hat ihn umstrickt, umgarnt, eingesponnen. Bis er nicht anders konnte als vor ihr auf die Knie sinken und sie umfassen. Da mußten meine Leute den Ehebrecher hinwegführen. Seine Strafe war: Abreißen mußte er den Wasserspeier mit den Märchen- und Sagenfiguren, und errichtet hat er jene Szenen der Verworfenheit, die sich Euch so schaurig darbieten. Als die Arbeit vollendet war, zog der Maler zu den Schauspielern in das Schlachthaus. Dort lebt er still und bescheiden ein zaghaftes Leben. Und all die Porträts der Esra sind Belials Flammen zum Opfer gefallen. Er war begnadet und ist nun verworfen.« Gerondet verließ seinen Sitzplatz. Stellte sich auf. »Esra«, er lächelte böse, »die Verlobte eines Greises... Er hat sie gezwungen. Er hat sie erpreßt und..., und Jason töten lassen.« »Läßt sich ein Weib zwingen? Das ist nicht ordentlich. Der Vater und der Hochzeiter verhandeln miteinander. Sie machen den Vertrag aus. Sie legen die Mitgift fest und einigen sich über die Termine.« Brodlant blinzelte nervös. Seine Hände suchten einen Halt. Er wollte sich stützen. Gerondet seufzte. »Und ihr Vater hat das Spiel mitgemacht?« Brodlants Gesicht wurde wieder feist, lebendig und hohnvoll. »Natürlich«, er strich seine Sachen glatt, »er war es, der alles so gewollt hat.« Gerondet mochte die Veränderungen, die Brodlants Gesicht durchlebten, nicht mehr sehen. Er betrachtete die Waffen an den Wänden. »Bei uns heißt das Erpressung«, erklärte er, »einen anderen zu etwas zwingen, was er aus eigenem
Antrieb nie getan hätte.« Brodlant hob leise den Sessel auf, setzte sich vorsichtig. Rekelte sich probeweise und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. »Wir sind von der gleichen Zunft«, sagte er plötzlich, »wenn Ihr umgänglich seid, könnten wir gemeinsam...« »Was gemeinsam?« Gerondet fühlte Haß und Widerwillen in sich. »Seht«, Brodlant sammelte mit zierlichen Bewegungen die verstreuten Dinge ein, »nicht alles ist so geordnet, wie es sein sollte. Leider. Wäre alles rechtens, wie könnte ein Mann wie Ihr in Schwierigkeiten geraten, die ihm schier die Luft abdrücken? Mit meinen Leuten fängt es an. Wohl unterstehen sie mir, aber gleichzeitig gehorchen sie dem Magister, der Freyja und dem Bürgermeister. So zerrissen und zersplittert, geht manche Aktion in den Wind. Wer wollte mich, so ich der einzige Hauptmann wäre, daran hindern, Euch die gebundenen Mörder, das Mädchen und sonstwas auszuliefern? Wer? Aber so: Kann ich riskieren, daß Zöpfler gegen Zöpfler, Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund antritt? Ich habe heute neun meiner erfahrensten Männer verloren. In Eurer Welt. Todeslicht hat sie verdorben. Und die zurückkamen, sind für alle Zeiten unfähig, meinem Willen Arme zu verleihen. Und Freyja, dieses verruchte Weib, erzählt dem Magister, daß ich es war, der sie ins Verderben schickte. Und er, er glaubt es ihr... Volltönende Schlange, die sie ist. Fremder: Ich biete Euch Esra und Jasons Mörder, wenn Ihr mir...« Er stockte, wartete. »Freyja«, sagte Gerondet und blickte durch das offene Fenster zu dem prächtigsten Haus am Platz hinüber. Nachdenklich. »Sie und ihr Pergamentgatte, dieser Melchior«, flüsterte Brodlant verschwörerisch, während seine Wangen glühten, »beide. Mit einem Streich. Ein Schicksalsschlag des Belials. Ich biete Euch die Tänzerin und, so Ihr mögt, auch Gold aus unseren Reserven...« »Was für ein Angebot«, Gerondets Blick wurde spöttisch, »Esra und Eldorado... Ein Paradies für zwei kleine Morde. Aber was schützt mich davor, hinterher die Zielscheibe für einige gespannte Armbrüste zu sein? Was, Brodlant? Und was ist, wenn die anderen schneller sind und der Magister seine Waffe gegen uns einsetzt?« »Der Magister«, Brodlants Lächeln gerann, »ist ein Mystiker. Erdferner Wunderglaube lenkt ihn. Er will nichts als die Liebe dieser Schlampe. Verblendeter Bücherwurm, der er ist. Eingesponnen in seinen Traum vom Lebenselixier, begreift er nie die Forderung der Stunde. Barmherzige Frauen und edelmütige Männer spuken in seinem Hirn. Er will Esra erst berühren, so sie es mag. Das ist die karge Sicht eines gelehrten, eines geleerten Kopfes.«
Der Schwammige blickte verstohlen auf die fest geschlossene Tür. »Der aber, der diese Lamentiererei ausnutzen will, jener, der mich und alle redlichen Männer der Stadt ans Messer liefern würde, sitzt mir gegenüber, auf der anderen Seite des Flures: Melchior Schimmelpfennig. Sein Ziel ist widerwärtig. Er möchte das Gold aus dem unterirdischen Lager rauben und dann diesem redlichen Volk den Rücken kehren. Sein Plan ist es, mit einer Zöpflerstrafexpedition hinauszugelangen und sich dann schräg ins Feld zu schlagen.« »Die Waffe des Magisters«, Gerondet ließ sich nicht von seiner eigentlichen Frage abbringen, »wie kann man ihr begegnen?« Brodlants Gesicht wurde verschlagen. »Wenn Ihr das tötende Licht bei Euch habt«, sagte er und tat, als kennte er sich aus, »dann können wir uns wehren.« Gerondet verzog kaum sichtbar einen Mundwinkel. Brodlants Zungenspitze erschien zwischen den Lippen. Er schob den Kopf vorsichtig nach vorn und blickte Gerondet erwartungsvoll an, als wollte er sagen: Gebt schon zu, Ihr besitzt es. »Stellt Euch nun dem Schimmelpfennig vor«, flüsterte Brodlant, »er erwartet Euch. Und bedenkt mein Angebot und antwortet mir, sobald wir uns wiedersehen.« III. Melchior Schimmelpfennig saß aufrecht hinter seinem Tisch, bewegte seinen Kopf einmal auf die eine, dann wieder auf die andere Seite. Sein glattes Gesicht zeichnete ihn als phantasielosen, als nur sachlichen Menschen aus, dem die Pläne eines Brodlant versponnen und lächerlich erscheinen mußten. »Man teilte mir mit«, Melchiors Blick ruhte auf einem Tulpenstrauß, »Ihr wärt ein Mann, der ungestüm und besonnen zugleich sei. Ich kann mit solcherart Reden nichts beginnen. Wie verhält es sich also: Seid Ihr ein Racker oder ein bedächtiger Weiser?« Er hob den Blick von den Blumen, lächelte dem Polizisten aufmunternd zu. Gerondet schwieg. »Zugegebenermaßen«, Schimmelpfennigs glattes Gesicht schien sich noch mehr zu glätten, »natürlich sind es keine Staatsinteressen, die mich fragen lassen, und sicher, wie sollten solche Fragen zu beantworten sein, aber dies müßt Ihr wissen: Jeder Versuch, uns zu verlassen, muß mißlingen. Ich werde Euch schon morgen die Stadtchronik aushändigen, und Ihr werdet erfahren, welch ein Fluch auf diesem Städtchen liegt. Eine Blume, mein Freund, die Ihr hinauswerft, rieselt als Staub hinab.« »Und die Strafexpeditionen der Zöpfler?« Gerondet lächelte spöttisch. Er sah, wie es im Gesicht des Bürgermeisters zuckte.
»Das ist ein Märchen«, wehrte sich Melchior, »eins, das meine liebe und inniggeliebte Gattin in die Welt setzen ließ. Doch Ihr seid ein erfahrener Mann, der solchen Unsinn nicht für bare Münze nehmen sollte. Stellt Euch vor, es würden Landstreicher bei uns eindringen, Reisige oder Marodeure. Da wird dann jeder Arm gebraucht. Und wer sich besonders tapfer zeigt, der wird belohnt. Ein Jahr kann er sich um seine Ländereien kümmern. Kann säen und ernten... Deshalb die Rede von dem Schleusengang.« »Und das ist ein Trick, was?« Gerondet zog die Stirn kraus. Schimmelpfennig lächelte ein leeres Lächeln. »Trick«, gab er zu bedenken, »ist ein böses Wort. Es ist eine höhere Wahrheit. Wenn unser Ort bestehenbleibt, wenn wir den Eindringlingen wehren, dann sind wir einen Schritt näher der paradiesischen Zeit. Dem lichten Sein, da Alter und Krankheit gebannt sind und niemand mehr dem Gold nachjagt. So werden jene Tapferen die ersten sein, die ihre Brüder hinter allem dort umarmen können. Weil dann das Böse nicht mehr böse und der Schrecken nicht mehr schrecklich ist. Eine einfache Wahrheit, die heute noch dem Simpel abgeht.« »So ist das mit den Wahrheiten«, sagte Gerondet sehr ernst, »die Leute wollen nicht einmal begreifen, wie nützlich es für ihre Kinder ist, wenn sie in Satan weiterleben. Wo ist eigentlich Jason?« Der Bürgermeister wiegte erneut den Kopf. Betrachtete die Gänsekiele, die säuberlich angespitzt in einer Reihe lagen. »Sagen wir«, hob er etwas schwächer an, »vereint mit dem Allmächtigen. Doch was kümmert Euch diese Tänzerin? Sie wird bei ihrem Burschen sein. Es ist nicht Euer Süppchen, das da kocht.« »Ah«, Gerondet lächelte böse, »sie ist bei ihrem Burschen.« »Das versichere ich«. Schimmelpfennig wendete mechanisch einige Pergamente, »niemand mag mit einem reden, der noch nicht die Bürgerweihe genossen hat. Geht und sucht sie, wenn Ihr mir keinen Glauben schenkt.« »Soweit ich weiß«, Gerondet hob eine Gänsefeder auf, betrachtete sie verblüfft, »haßt sie nur einen: den Mörder ihres Bruders. Und der dürfte die Bürgerweihe schon erhalten haben.« »Ich habe nicht Mörder gesagt«. Schimmelpfennig war aus dem Konzept geraten, »ich..., ich habe so etwas nie gesagt.« Gerondets Augen ließen Schimmelpfennig nicht mehr los. Sein Mund wurde hart, die Lippen schmal. »Ich..., ich«, gurgelte der Bürgermeister, mühsam nach Luft ringend, »ich habe nie... Immer loyal, immer. Dem Magister voll ergeben.«
Gerondet fegte den Tulpenstrauß vom Tisch, wobei die Pergamente wie aufgescheuchte Vögel umherflatterten und langsam zu Boden schwebten. »Jetzt zeig mir mal dein mieses Gesicht«, sagte er, »und du wirst mir antworten: Wer hat die Kindermorde angezettelt?« »Wie..., w..., w...«, Panik zeichnete sich auf dem Gesicht Melchiors ab, »was denkt Ihr von mir? Denkt Ihr das? Das? Sie war es. Dieses Teufelsweib, diese verfluchte Metze. Sie hat es Euch eingeredet. Freyja, dieses niederträchtige Weibsstück. Aber ich habe nichts getan. Nur die Namen aus den Pergamenten geschrieben. Die Eltern und die Häuser zusammengestellt. Nichts anderes. Sie hat meine Arbeit den Zöpflern übergeben. Und jene haben gnadenlos und unermüdlich vollstreckt, wozu der Magister sie angestiftet. Ich bin ledig jeder Schuld. Nur auf dem Schreiberstühlchen habe ich gesessen. Und eines Tages wird sie, die es tat, dem Brodlant und auch mir den Nacken brechen und Herrin ganz allein in diesem Ort sein. Dann wird die Tänzerin noch sterben und letztlich selbst unser aller Herr. Sie wird es schaffen, diese Dirne. Allein gelassen, wird sie sich des Golds bemächtigen und fliehen diesen Ort des Untergangs. Und alle werden in der Hölle enden. Nur sie nicht, die das alles einst geplant.« »Das war ein Geständnis«, Gerondet nickte anerkennend, »und daran halte ich mich. An dich halte ich mich. Also, wo ist der Soldat, der mit mir kam?« Schimmelpfennig starrte Gerondet verständnislos an. »Wie«, fragte er, »zu zweit? Ich denke, Ihr seid der Todesengel... Von zweien ist keine Rede. Habt Ihr nicht das Schmiedsche Haus mit Eurer Hand zertrümmert? Man sagt es.« »Meinst du, ich hätte einen Fuß in dieses Drecknest gesetzt«, antwortete Gerondet, »wenn ich allein gewesen wäre?« Er wartete, ließ den Bürgermeister seine Gedanken ordnen, fuhr dann fort: »Wir sind zwei. Immelgud und Gerondet. Gut, du weißt von nichts. Dann sag mir das: Wo treffe ich den Magister? Ungeschützt.« »In der Garderobe«, flüsterte Schimmelpfennig, und der Schweiß rann ihm über das steingraue Antlitz, »kurz bevor sie tanzend das Volk beglückt, ist sie dort. Wie auch im Anschluß ihres Auftritts. Und jedesmal ist er bei ihr. Allein. Schutzlos... Werdet Ihr nunmehr vergessen, was ich versehentlich über Freyja...« »Warum nicht«, Gerondet fühlte Ekel in sich aufsteigen, weil diese plumpe und unverhohlene Art ihm nur mit gläserner Deutlichkeit zeigte, was er auch in seiner Welt erleben mußte, ahnend und fühlend. Und oft ohne schlüssige Beweise. »Ich könnte es schon«, fügte er hinzu, »aber ich brauche die Adresse. Den Ort. Den Weg dorthin.«
Der Bürgermeister kritzelte mit einer Gänsefeder etwas auf ein Pergament. »Wenn das jemand bei Euch findet«, flüsterte er, »dann sagt einfach, es sei von Brodlant. Es ist dies die Art Pergament, die er benutzt. Und auch die Schriftzüge entsprechen den seinen. Es würde diesem selbstsüchtigen Fettsack wohl anstehen, auf glühenden Kohlen geröstet zu werden.« Gerondet nahm das Pergament, wedelte es leicht hin und her und beobachtete den Trockenprozeß. Schließlich faltete er es zusammen und steckte es ein. Aber mitten in der Bewegung hielt er inne, lauschte und sprang gegen die Tür, die er schwungvoll aufriß. Eine junge Frau stolperte, stürzte und lag längs im Raum, den Kopf erhoben und die Augen angstvoll auf den Polizisten gerichtet. »Was für ein netter Besuch«, spottete Gerondet und schloß die Tür vorsichtig, »nur: In wessen Namen sie durchs Schlüsselloch späht, ahne ich tatsächlich nicht.« Er warf Melchior einen vielsagenden Blick zu, deutete eine Verbeugung an und verließ den Raum. »Sie ist ein dummes, ungebärdiges Ding«, erklärte der Pförtner, Gerondet und machte mit den Händen eine wegwerfende Bewegung, »sie ist wohl die einzige hier, die all den Schmus des Magisters und der Freyja glaubt und alles tun möchte, was jene uns in den Geboten abverlangen. Aber ihr Verstand ist kurz, und was sie beginnt, mündet in einem Fiasko. Priesterin will sie werden. Doch Freyja haßt die Dummheit und das Ungeschick und läßt sie einfach ausspionieren, was ihren Ohren verborgen ist. Und da das Mädchen begriffen hat, was zu tun ist, erledigt sie gleich die Arbeit für alle drei. Für Brodlant, Melchior und Freyja... Ein armes Ding, wenn man es aus der Nähe sieht.« Das Gesicht des Alten sah bekümmert aus, während er das sagte. Ihm tat das Mädchen offensichtlich leid. »Ihr könntet Euch«, fuhr er dann fort, »in den Blumengebinden des Schimmelpfennigschen Hauses verstecken und würdet so erfahren, was sie an Neuem ihrer Herrin bringt.« »Danke«, sagte Gerondet. »Ich möchte noch etwas wissen: Wir waren zu zweit. Da war noch einer mit mir. Wo ist er?« »Ich kann Euch keine gute Nachricht geben«, das Gesicht des Pförtners wurde noch bekümmerter, »ich weiß auch nicht viel, aber das, was ich erfahren haben, ist bedenklich: Der Ratsherr, der die Ruhe aller Bürger pflegt, sprach oben mit einem seiner Untergebenen. Er spricht in schwerverständlichen Wendungen... Ja, sie haben oben geredet über einen, der noch fürchterlicher ist als Ihr...« »Als ich?« Gerondet lächelte breit. »Jaja«, der Alte schmunzelte ebenfalls, »in solchen unverständlichen Worten sprechen hier nicht viel. Das Volk versteht das nicht. Ein Fremder nur ward jemals eingeweiht. Sie nannten ihn Professor Errenthaler...«
»Er... ren... tha... ler«, Gerondet dehnte das Wort, »Professor Ludewig Errenthaler? Wann ist er gekommen? Er ist doch gekommen?« »Gestern«, erinnerte sich der Alte, »gestern in den Morgenstunden.« Gerondets Gesicht wurde starr. Ludewig Errenthaler, dachte er, Professor Errenthaler. Einer der wenigen Menschen, die spurlos verschwanden und nie mehr aufgefunden wurden. Moment, ich muß mich an unsere Vorlesung erinnern. Fünfunddreißig. Genau, das war es. Er ist neunzehnhundertfünfunddreißig verschwunden. Damals hatte man vermutet, der deutsche SD habe die Entführung vorgenommen. Als man nach Kriegsende erfuhr, daß das nicht zutraf, war man schließlich auf russische Spione gekommen. Aber einen Beweis gab es nicht. Zwar tauchte immer wieder in den Boulevardblättern ein sibirischer Professor Jerrentaler auf, aber auf der Hochschule für Kriminalistik diente dieser Fall nur als Paradebeispiel für das spurlose Verschwinden einzelner Personen. Und nun, schloß Gerondet seine Überlegung ab, und nun habe ich, das Rätsel gelöst: Ludewig Errenthaler lebt hier... IV. Gerondet verließ das Rathaus. Er sah die Botin vor sich her gehen, sah sie, wie sie eilig und mit festen, fast polternden Schritten, angefüllt mit allergeheimsten Meldungen, auf das Schimmelpfennighaus zueilte. Der Platz war jetzt belebt. Wasserholer bewegten sich zielstrebig mit ihren Lasten vorwärts und kamen pfeifend, die leeren Behältnisse schwenkend, auf den Wasserspeier zu. Zimmerleute errichteten Stände, hölzerne Balustraden, darauf befestigten sie fahnengeschmückte Lanzen, Speere, Hellebarden. An einigen Stellen wurden Sand und Kies aufgeschüttet und Material für Feuerstellen herangeschleppt. Man brachte auf Pferdewagen Pfannen, Tiegel, Spieße und Krüge. Fässer wurden angerollt. In jener fernen Seitenstraße waren Handwerker damit beschäftigt, die Schäden, die Immelgud angerichtet hatte, auszubessern. Die Scheiben des Hauses waren schon erneuert, und die Löcher im Putz wurden fachmännisch behoben. Drei Männer trugen eine Tür, die den Hausflur abschließen würde. Gerondet sah das alles, ohne daß es ihn fröhlich gestimmt hätte. Diese gleichmäßige Betriebsamkeit, die nicht gebremst werden konnte, obwohl es Tote und Zerstörungen gegeben hatte, erzeugte Unbehagen in dem Polizisten. Noch immer lief die Botin, die von dem Treiben keinerlei Notiz nahm, vor ihm her. Gerondet wußte, daß man ihm aus dem Rathaus hinterhersah. Vielleicht gab es auch einen in Freyjas Haus, der alle seine Bewegungen verfolgte. Sicher war das nicht. Wieder schob sich Errenthaler in seine Überlegungen.
Gestern, dachte Gerondet, hatte der Alte gesagt. Aber dieses Gestern lag fünfzig Jahre zurück. War der Wissenschaftler damals dreißig oder vierzig Jahre, hatte er inzwischen die Neunzig erreicht... Und warum hatte der Pförtner dann von einem jungen, besessenen Mann geredet. Ein Neunzigjähriger ist nicht jung... Gerondet, der gerade den Brunnen passierte, blieb stehen. Er hieb auf den metallenen Rand. Preßte die schmerzende Hand. »Das geht nicht«, sagte er keuchend, »ein Neunzigjähriger ist nicht jung. Das ist Betrug. Wir sind betrogen worden.« Er sah sich gehetzt um. Jeder findet hier, dachte er plötzlich, was er sucht. Ich einen Toten. Immelgud eine Zentrale. Freyja kultisch verzückte Männer. Esra Zuschauer. Der Magister Gläubige... Nehmen wir also an, daß irgendwo in unserem schönen Riedland ein Container mit einem Chemokampfstoff ausgelaufen ist. Das wäre nichts Außergewöhnliches bei unseren pfuschenden Großproduzenten. Nehmen wir weiter an, daß man weiß, wieviel Menschen betroffen sind, wer alles in Wahn und Siechtum verfallen wird, was wäre logisch? Die Infizierten zu isolieren. Sie abzusondern... Demnach wäre Immelgud mein bewaffneter Pfleger gewesen, dessen einzige Aufgabe es war, mich hier abzuliefern. Und man ist natürlich kulant: Man läßt mir die Waffe, um genau zu sehen, was ich in der Endphase dieser Vergiftung anstellen werde. Und irgendwo gibt es auch Kameras. Mikrofone. Geheime Filme werden gedreht. Das heißt, Immelgud ist lange auf und davon. Und ich gehöre zu den Betroffenen... Ich gehöre dazu... Sogar das könnte Marianes Vater eingerührt haben... Gerondet löste sich von dem Brunnen, überquerte eilig den Platz, stieß das breite Halbrundportal von Freyjas Haus auf. Ein Türhüter, der sich ihm in den Weg stellen wollte, flog gegen eins der mächtigen Blumengebinde. Gerondet stürmte die breite Treppe hinauf, packte die Botin, die vor Freyja kniete, bei den Haaren und riß sie hoch. »Verschwinde«, herrschte er das verstörte Mädchen an, »laß dich heute nicht mehr sehen.« Er gab ihr einen Stoß in den Rücken, sah, wie sie halb fallend, halb laufend auf die Treppe zuhastete. Freyja richtete sich erschrocken auf, blickte den Eindringling mit furchtsamen Augen an. Gerondet sah die schwache Bewegung im Hintergrund des Raumes, die Beschützer, die sich formierten. »Schick sie weg«, befahl er der Hohenpriesterin, »denn sie könnten deinen Tod nicht verhindern.« Auf ein Handzeichen der Priesterin hin entfernten sich die Wachleute. »Man sagte mir«, Gerondet ließ sich auf einen flachen, lehnenlosen Sitz fallen, »daß du intelligent bist. An diese Fähigkeit appelliere ich jetzt. Beantworte mir die erste Frage: Was geschieht, wenn das Fest am Abend vorüber ist?«
»Wir schlafen bis zum frühen Morgen«, antwortete Freyja, lehnte sich zurück, fand ihre Ruhe wieder. »Und wenn ihr morgens aufwacht«, Gerondet schaute auf die sanften Konturen der Frau, »dann werden euch neue Leute in anderen Kostümen vorgestellt, und man sagt euch, daß sie jetzt zu euch gestoßen sind. So ist das doch.«
»Nein«, Freyja lächelte beruhigt, begann mit einigen Blumen zu spielen, riß die Blütenblätter ab und ließ sie auf den Boden regnen, »man bringt sie nicht. Sie kommen. Manchmal allein. Manchmal mit den Zöpflern.« »Mit den Zöpflern«, echote Gerondet, und ein neuerliches Erkennen veränderte sein Gesicht, »warum nicht auch Pfleger mit Zöpfen. Immun. Frau Doktor
Freyja - immun. Bist du immun gegen den rasenden Kampfstoff? Überprüfst du unsere vitalen Funktionen? Schläfst du als Leistungsprüfmaschine mit uns, die wir betroffen sind? Rede!« Die Augen der Frau verrieten Gerondet, daß sie zwar nicht begriffen hatte, was er da hinausschrie, aber ihn in diesem Moment fürchtete. »Vielleicht bist du keine Ärztin«, schwächte der Polizist seine Worte ab, »aber ich vermute etwas. Ich denke mir, das hier ist eine Quarantänestation, und man wird alles, was wir tun, registrieren. Um noch teuflischere Veränderungen an den Kampfstoffen vornehmen zu können. Man sieht zu, wie wir verrecken. Und ich sage: Wir dürfen uns nicht einfach abschlachten lassen. Wir müssen den Ausbruch wagen, solange wir es noch können.« »Ich verstehe dich nicht«, flüsterte Freyja und preßte die Hände an den Leib, »du vermutest Verrat - gegen wen?« »Gegen dich«, rief Gerondet unbeherrscht, »gegen mich. Gegen den Magister. Gegen alle. Das hier ist Lüge. Es gibt keine Stadt. Es gibt niemanden, der Macht besitzt. Wir alle sind wahnsinnig und glauben zu sehen, was wir uns einbilden. Und wenn alles registriert ist, läßt man die Luft aus den Pontons, und wir versaufen im Moor.« »Im Moor?« Freyja schluckte. Sie versuchte Gerondets Worte einzuordnen, ohne daß es ihr gelang. »Siehst du«, sagte Gerondet ruhig, »das ist es. Du weißt schon die einfachsten Dinge nicht mehr. Du kannst dich nicht mehr wehren. Und irgendwann geht es mir ebenso.« »Vielleicht«, Freyja strich Gerondet über die erhitzte Stirn, »kann mir Professor Errenthaler das erklären. Er weiß soviel.« »Wie alt ist Errenthaler?« Gerondet erhob sich, schien jetzt erst den reichmöblierten Raum zu bemerken, in dem er sich befand. »Er ist sechsunddreißig Jahre alt«, antwortete Freyja, »er arbeitet im Labor. Für den Magister. Ja, damals, in den letzten Tagen unseres normalen Lebens, da gab es ein Triumvirat. Drei Männer, Taugenichtse und Betrüger, hatten die Gunst des Magisters erworben und alle Macht unter sich aufgeteilt. Was kommen mußte, war mir schon bald klar. Zunächst rekrutierten sie aus den Bauern eine Maurerkolonne. Dann zogen sie mit den jungen Leuten in die Heide. Ich sah, wie sie mit Schwarzpulver übten. Bäume und Steine sprengten. Sie übten,
Brände zu legen. Die Mädchen und Frauen mußten Naturalien an bestimmte Orte schaffen und dort Vorräte anlegen. Einer von diesen Tunichtguten war in mich verliebt. Ich habe ihm, als er mich besuchte, etwas von dem Wahrheitskräutlein in den Wein getan. Sie hatten einen Plan: Während der Magister schlief, wollten sie die Kirchtüren zumauern lassen, die Goldvorräte auf kleine Wagen laden, überall Brände entzünden und sich aus dem Staube machen. Ein Bote von ihnen hätte derweil Landsknechte herbeigelockt und denen erzählt, daß es Gold in unermeßlichen Mengen gäbe. So hätten sie unangefochten entkommen können, um anderswo als reiche und geachtete Handelsherren zu leben. Nun, in seinem nächsten Glas Gebranntem war ausreichend Schierling, daß der Strolch röchelnd auf seiner Lagerstatt verschied. Ich lief, um unsere Stadt vor jenem Unheil zu bewahren, zum Magister. ,Es ist das Gold', sagte er, nachdem er mich angehört hatte, ,das diesen Plan geschmiedet hat. Nicht die Menschen waren es, sondern jenes unheilbringende gelbe Metall. Wo immer es ist, werden Freunde zu Feinden und Verbündete zu Verrätern.' Dann dankte er mir für die Nachricht und bat mich, bei ihm zu bleiben und mich auszuruhen. Als ich am nächsten Morgen auf das Rathaus ging, war es menschenleer. Leer und verlassen wirkten alle Straßen und der große Platz. Als ich zum Schlachthaus kam, sah ich dort die jungen Leute unter freiem Himmel auf den Pflastersteinen sitzen. Heribert Brodlant mußte sie bedienen. Ihnen Brot und Wasser bringen, die stündlichen Gebete an Belial einläuten und als Vorsprecher die Mittagsmesse lesen. Viele Tage saßen sie da, sie durften sich nicht waschen, und niemand konnte ihnen die Haare schneiden. Die Schneider nähten allen Einheitskleidung. Die Tage und Nächte, der Regen, Wind und Hagelschlag wie auch die Kräutlein in den kargen Suppen veränderten das junge Volk. Sie liebten plötzlich den Magister und waren bereit, sich selbst oder andere auszulöschen, die wider den Magister dachten. Einige, die nicht an der Verschwörung teilhatten, wurden zu Truppführern gemacht: Jeremie Backer. Tankred Torfstecher. Balthasar Brenner und Jos Imrechd... Was nützt das, dachte ich damals, wenn es das Gold nicht ist, dann wird es doch immer wieder zu Verrat und grimmigen Kämpfen kommen. ,Du glaubst, daß es die Taugenichtse waren', hat der Magister mir geantwortet. ,Bitte, Freyja, ich gebe dir freie Hand. Besetze du das Rathaus. Alle Posten. Vielleicht findest du den Menschenschlag, den des Goldes Schimmer nicht berührt. Nur einen habe ich selbst ernannt: den Bürgermeister.'
Ein wenig naiv ist er, der Magister. Er ist vernarrt in dieses störrische Kind. Er ist ihr hörig, diesem Esraweib, und nimmt selbst Demütigungen stumm in Kauf. Und nur damit sie für ihn auf dem Pergament die Versprochene werden kann, hat er ihren Vater zum Bürgermeister auserkoren. Die anderen hab ich gewählt. Meinen Mann, mit dem ich nicht einen Tag den Tisch, das Bett geteilt, habe ich als Schreiber eingesetzt. Wer schreibt, hört alles und weiß viel. Brodlant, den putzsüchtigen Trottel, habe ich für alle Zeiten zum Herrn des Schlachthauses gemacht. Es entspricht seiner rohen und derben Natur. Ich habe die Ratsherren aus den Katen am Rande der Stadt geholt, weil sie mir fern der Lüge schienen. Dann habe ich dem Magister meine Liste vorgelegt. ,Brav überlegt und klug gewählt', hat er gelobt. Und doch: Sie sind nicht mehr die gleichen wie vor dieser Zeit. Raffgierig und verbissen hängen sie an ihren Batzen. Sie lügen und betrügen, sie intrigieren und schaffen zur Seite, und ein jeder von ihnen träumt davon, allein dies Städtchen unter sich zu haben. Sie alle sehen sich in Gedanken im Besitz des Goldschatzes und auf dem Weg in jene andere, kalte Welt. Und jener tote Bürgermeister - er hat alles hingegeben für seinen Weg. Bis es ihn reute und er zurückdrehen wollte das winzige Rädchen der Zeit. Sprach von seinem Sohn und der Frau, die im Schlaf ihm erschienen. Aufwiegeln wollt er das Volk wider Satan und wider die Obrigkeit. Den Schwarzen Stein aus den Pyramiden von Uruk wollt er sich ertrotzen und dann mit dem Volk gemeinsam fort... Der Magister hat nicht einmal gelacht. Voll Trauer waren seine Züge und elegisch seine Worte, er hat ihn bedauert, den Wahnsinnigen., Die Menschen', hat der Magister gesagt, ,die in der Hoffnung leben, eines Tages ganz ohne Krankheit, ohne Tod zu sein, wie könnten sie das Nichts des Alltags stören? Wie sollten sie meine Spiele wohl erkennen? Der Tropf. Der Satan wird ihn holen. Und weiter nichts und gar nichts andres sei.' Doch unerwartet sprang der Herr der Zeiten auf, und seine Hände ballten sich zu Fäusten., Sie zittern vor mir', schrie er zornesbleich, ,sie wissen, daß ich Satan kommen lassen kann. Zu jeder Stunde und an jedem Tag. Sie wissen, daß er unverwundbar ist, und weil der Schrecken allzu übermächtig, so beten sie, daß ich noch lange lebe, da beten sie, daß mir nichts widerfährt. Denn ich in meiner jetzigen Gestalt bin ihnen Segen, Frieden und Gottvater. Der Satan lähmt sie, sie und ihre Wünsche. Und alle Hoffnung außer einer ist verloren: Satan möge sie in dieser Nacht verschonen...' Ich habe Euch das erzählt. Fremder, weil ich Euch sagen will Sie haben allesamt versagt. Ich will Euch sagen: Niemand wird hier sterben, so er des Magisters und mein Gebot befolgt. Ich will Euch sagen, daß sie Euch vielleicht mißbrauchen, um doch noch an das Gold heranzukommen, und ich will Euch sagen: Wenn Ihr in meinem Namen Brodlant, Melchior und dieses tanzwütige
Weib beseitigt, werde ich fortan meine Hand über Euch halten. Ich werde Euch ins Rathaus setzen. Einhundert Klafter über unserem Gold. Wir beide werden dann allein entscheiden, was diese Ortschaft zu erwarten hat. Der Magister wird uns gewähren lassen...« »Und Immelgud«, Gerondet hatte atemlos zugehört, »was ist mit dem anderen, der mit mir gekommen ist?« »Man hat ihn nicht im Schlachthaus einquartiert«, antwortete Freyja unsicher, »es ist etwas Verborgenes um ihn. Haltet gut Ausschau. Erfahrt Ihr etwas, dann gebt mir gleich Bescheid.« Vielleicht doch kein Kampfstoff, dachte Gerondet, wenn ich Errenthaler treffe, dann entfällt die Hypothese... »Ist Errenthaler nicht gefährlich?« Gerondet steckte sich eine Zigarette an. Er sah, wie ein neuer Zug in Freyjas Gesicht entstand Sie hatte Angst. »Unser aller Herr kann die alte Freundschaft nicht verletzen«, sagte sie ohne Überzeugung, »sonst hätte er mich schon dem Errenthaler übergeben.« »Drei Mann wollen mit mir zusammenarbeiten«, erklärte Gerondet bitter, »Brodlant, Melchior und du. Was soll ich tun?« »Brodlant wird diesen Tag nicht überleben«, erklärte Freyja mit eisigem Gesicht, »das garantiere ich. Und Melchior kommt dorthin, wo sein wirklicher Platz ist: in die Hundehütte.« »Gut«, Gerondet stand auf, »also einverstanden. Nur einen Beweis deiner Redlichkeit. Ich brauche einen Beweis.« Freyja dachte lange nach. »Ich brauche Zeit«, sagte sie, »es soll etwas sein, was Euch überzeugt und dessen Abwesenheit mich nicht in Schwierigkeiten bringt...« Sie drehte sich auf den Bauch, stützte den Kopf in die Hände, blickte zu dem vielfarbigen Fenster, schien Gerondet vergessen zu haben. Sie ist eine schöne Frau, dachte der Polizist, und sie weiß, wie sie auf einen Mann wirkt. Unerwartet drehte Freyja den Kopf, sah den Mann prüfend an. Sie lächelte kaum sichtbar, sprang auf, griff sich in den Ausschnitt ihres Kleides, holte einen Schlüssel, der an einer goldenen Kette hing, hervor und streifte ihn achtlos ab. Sie überreichte ihn Gerondet, der die Körperwärme Freyjas über das Metall spürte. »Jetzt habt Ihr mein Leben in der Hand«, sagte sie und sah dem Polizisten gerade in die Augen, »es ist der Schlüssel zu Satans Verlies. Wenn der Magister erfährt, daß ich ihn Euch gegeben habe, holt Satan mich in dieser Nacht. Es ist
die Garantie für meine Aufrichtigkeit. Heute abend, kurz bevor das Fest beginnt, begibt sich der Magister zu der Tänzerin. Arrangiert es, daß Melchior und Brodlant in der Nähe sind, dann ist ihnen der Tod gewiß. Und morgen, wenn Ihr in das Rathaus einzieht, übergebt Ihr mir den Schlüssel und ich Euch das Beglaubigungsschreiben. Dies ist mein Plan.« »Und was wird mit dem Todesengel?« »Ich werde das Orakel noch einmal befragen«, sagte sie geringschätzig, »welcher der beiden Männer jener Todesengel ist. Vielleicht hat man nicht richtig zugehört, vielleicht die Worte falsch gedeutet.« »Na gut«, stimmte Gerondet zu, »dann gehe ich jetzt und will sehen, daß ich zur Mittagsmesse wieder hier bin.« Gerondet stand im Schatten des letzten Gebäudes. Er blickte sich vorsichtig um. Als er Schritte hörte, helle, hastige Schritte, drückte er sich in die schmale Toreinfahrt, verschmolz mit dem Schatten auf dem Holz. Eine junge Frau eilte diensteifrig vorüber. Sie sah Gerondet nicht. Der Polizist blieb noch so lange stehen, bis die Schritte verklungen waren. Er streckte den Kopf vor, suchte seinen Weg nach Hindernissen und Unwägbarkeiten ab. Alles war verlassen und öde. Langsam, jeden Strauch, jedes Heckenstück als Deckung nutzend, bewegte er sich lautlos bis zu den Hecken der Kirche. Er wich trockenen Ästen und Blätteransammlungen aus, und als er die Hecke erreicht hatte, ließ er sich auf die Knie nieder und spähte durch das Laubwerk. Mehrere Minuten blieb er so, bis er sich einen Ruck gab und flach unter den niedrigsten Ästen hindurchkroch. Schweratmend blieb er in dem knöchelhohen Gras liegen, schätzte die noch vor ihm liegende Strecke auf zwanzig Meter. Gerondet zog den Schlüssel aus der Tasche. Er war vierkantig und besaß vier Bärte. Auf einer Seite fand er ein kleines gleichseitiges Dreieck, in dem ein Blitz aufzuckte. Gerondet blickte nach vorn. Musterte die einstige Kirche. Er bemerkte, daß neben jeder Tür ein kleines Zeichen eingraviert war. Doch das Dreieckssymbol fand er nicht. Gerondet umrundete noch vorsichtiger das düstere Gebäude. Dabei stellte er für sich fest, daß er schon viel Zeit verloren hatte. Das Symbol, jenes Dreieck mit dem Blitz, fand er an einer der Turmtüren. Noch einmal suchten die Augen des Polizisten den übersehbaren Raum nach Menschen ab. »Vorwärts«, kommandierte er sich selbst und lief gebückt auf die Tür zu. Er stand mit dem Rücken zur Tür und erwartete, daß ihm einer hinterherkam. Es blieb ruhig.
Natürlich kann es eine Falle sein, dachte Gerondet, ja, es kann die tödliche Falle sein, die zuschnappt, wenn ich tue, was man mir verbietet. Als der Kriminalist den Schlüssel in das Schloß gesteckt hatte, fühlte er am ganzen Körper kalten, klebrigen Angstschweiß. Seine Sinne waren bis zum äußersten angespannt. Die Stille war plötzlich unheildrohend. Damit fängt man uns noch immer, dachte Gerondet, mit dem Verbot und mit der Möglichkeit, das Verbotene doch zu erringen. Wir sind die Neugier-, die Probierwesen und setzen immer wieder unser Leben aufs Spiel, wenn die Wissenschaft, die Technik uns etwas Neues anbieten und sagen: Es ist verderbenbringend... Das ist der Mensch. So hat er eine Welt erobert, und so hat er sie und sich immer wieder in Frage gestellt. Und doch jedesmal gesiegt Man opfert Ruhe und Sicherheit für die Ungewißheit einer zu machenden Erfahrung... Es erstaunte Gerondet, daß sich der Schlüssel lautlos und leicht drehen ließ. Nur eine Viertelumdrehung. Er faßte die Klinke und wuchtete sie nach unten. Die Tür gab nach, kam ihm schattenhaft und stumm entgegen: Ein Spalt hatte sich für ihn aufgetan. Gerondet wartete noch einen Augenblick, ehe er sich der Öffnung anvertraute, verschwand und die Tür sanft hinter sich zuzog. Er stand in Schwärze getaucht, in eine fensterlose Schwärze, die ihn wie ein Abgrund einhüllte. Er tastete sich an der Tür entlang und verharrte erst, als er feuchtes, kühles Mauerwerk spürte. Man bleibt nicht vor einer Tür stehen, dachte er mechanisch, denn allzuleicht erkennt der andere die fremden Füße in der Ritze, durch die ein wenig Licht hereinkommt. Allmählich gewöhnten sich Gerondets Augen an die Finsternis. Ein winziger brennender Span hing weit oben im Mauerwerk. Gerondet bewegte sich nicht. Er hatte es gut getroffen, denn er stand hinter einem Mauervorsprung und wurde von den Lichtstrahlen des kleinen Feuers nicht erfaßt. Die nahe gelegenen Gegenstände traten langsam aus der tiefen Dunkelheit hervor. Gerondet sah die massive Klinke, die einen brüllenden Tierkopf darstellte. Er sah die festen Bohlen, aus denen die Tür gefertigt war, und konnte schließlich auch das Mauerwerk, den schützenden Vorsprung, gut wahrnehmen. Dann schälte sich ein massiges Gitter aus der Schwärze, ein eigenartiges, aber sehr stabiles Gitterwerk, das ihm den weiteren Weg in die Tiefe des Raumes verwehrte. Die runden Stähle waren nicht einfach von oben nach unten geführt, sondern bildeten verschnörkelte Muster, ergaben eine riesenhafte Figur, die in der Tiefe der künstlichen Nacht nur bruchstückhaft erkennbar war. Jenseits des Gitters herrschte tiefste Finsternis.
Gerondet vermutete einen hallenhohen Raum, dessen Einrichtung, so es eine gab, vom Fackelschein unberührt blieb. Es muß eine Treppe geben, dachte er, jeder Turm besitzt so etwas. Wie sollte man sonst nach oben kommen. Gerondet löste sich aus der Deckung, trat näher an das Gitter heran. Suchte. Fand schließlich auch hier eine Tür. Im Licht seiner Uhr entdeckte er das Symbol: Es war sein Dreieck mit dem Blitz. Der Schlüssel paßte also. Mit einer raschen Bewegung holte er den Schlüssel aus der Tasche. Hielt inne. Atmete nicht mehr. Jetzt drangen die anderen, die fremden Atemzüge deutlich an sein Ohr. Sie kamen aus der Tiefe des Raumes hinter den Stählen. Er war nicht allein. So leise es ging, zog er die Waffe und entsicherte sie. Er schob sich seitlich aus dem Licht des Spanes. Wagte jetzt keine Bewegung mehr. Immelgud, dachte Gerondet, hier ist Immelgud. Langsam schälte sich der steinerne Fußboden aus der Schwärze, zeigte Unregelmäßigkeiten und Furchen, die mal sehr tief, dann wieder flach zu sein schienen. Das flackernde Licht verfälschte, trog ihn.» Unbeweglich stand der Mann, blickte in die Dunkelheit, suchte die Umgebung zu erkennen. Farbige Ringe umspielten sein Gesichtsfeld, helle Punkte stoben in rasender Eile auseinander, ließen sich nicht fassen, gaukelten ihm allerlei Dinge vor, die keiner Prüfung standhielten. Nur die Atemzüge blieben. Beharrlich und stupide gleichförmig. Diese gleichmäßigen, gleichmütigen Atemzüge, die manchmal schläfrig, unaufmerksam, dann wieder lauernd und hellwach an sein Ohr drangen. Ein feines, kaum wahrnehmbares Rasseln und Zischen deutete auf Atembeschwerden hin. Gerondet ließ kurz das Licht seiner Uhr aufleuchten, sah, daß erst zehn Minuten vergangen waren, seit er den Schlüssel in das Schloß gesteckt hatte. Also stand er höchstens sechs Minuten im Dunkel. Seine Arme sanken herab. Es ist lächerlich, dachte er, was willst du noch hier? Entweder du machst den Schritt hinter das Gitter, oder du verschwindest und nimmst, deine Ahnungslosigkeit lächelnd beteuernd, an der Mittagsmesse teil.
Ich habe genug erfahren, beschwor sich Gerondet, ich sollte für jetzt genug erfahren haben. Satan, dachte er für sich selbst unerwartet, jener furchtbare, von allen gefürchtete Satan. Der Raum, in dem der Magister mit dem Bösen sprach. Gerondet wußte in diesem Augenblick, daß er jenen Raum betreten oder wenigstens fast betreten hatte. Eine beklemmende Enge in seiner Brust ließ ihn träger als zuvor atmen. Ein Schauer rann dem Polizisten über den Rücken. In der Dunkelheit des Kirchturms sah, nein, nicht sah, sondern fühlte, ahnte er eine noch tiefere Schwärze. Vielleicht eine Mauer mit bullaugenartigen Fensterdurchbrüchen. Ein unsteter Nebel wogte durch den Raum. Es war die tiefste Schwärze, die alle Dunkelheit überbot. Gerondets Augen schmerzten. Trotz allem sah er nicht eine einzige verwertbare Einzelheit. Nur die auf und ab tanzende Schwärze inmitten der Dunkelheit. Er stand und versuchte etwas zu unterscheiden. Die Finsternis bewegte sich, schwankte... Gerondets Hand fuhr nach oben. Streckte sich automatisch. Die Waffe deutete durch die Gitterstäbe. Dort waren keine Fenster, keine Bullaugen: Zwei mannskopfgroße, halbkugelige Augen starrten unverwandt in seine Richtung. Gerondet mußte schlucken. Das Geräusch dröhnte in seinen Ohren. Das formlose Schwarz schien sich zu bewegen - und doch: Die Augen blieben unverändert auf ihn gerichtet. Gerondet registrierte die frostige Kälte, die sich in ihm ausbreitete. Ich weiß jetzt, dachte etwas in ihm, was völlig unbeteiligt war, ich weiß nun auch, was Angst ist, Feigheit... Es mußte näher gekommen sein, denn das schwache Licht fand Widerstand, brach sich, deutete etwas an. Ein stumpfer Konus aus Schwärze, ein Turm aus Finsternis, Fell, Stacheln, Augenbrauen, die spitz aufragten, und mittendrin, das Licht deutlicher zurückwerfend, glänzende, grauenhaft gleichgültige Augen. Gerondet konnte ein Zittern nicht unterdrücken. Er preßte sich gegen den Stein, fühlte sich den Augen ausgeliefert, spürte den Schweiß in seinen Handflächen und erwartete, daß ihm die Waffe aus der Hand fallen und polternd aufschlagen würde. Er war wehrlos, ausgeliefert, verloren. Satans schwarzglühende Augen hatten ihn des Widerstands beraubt, ihn bei vollem Bewußtsein zur Ohnmacht verurteilt. Er ahnte, wie die letzten Sekunden des Bürgermeisters gewesen
waren, und mehr noch, wie unvorstellbar grausam der Tod für die Kinder der Stadt gewesen sein mußte.
Schauriger als alles andere war dabei: Jener Kopf dort besaß keinen sichtbaren Körper. Er schwebte frei im Raum. Hinter diesen eisernen Stangen befand sich auch keine Maschine, sondern ein lebendes, ein atmendes Ding. Ein meterhoher Kopf, der einem lichtlosen Turm ähnelte, und die schrecklichsten Augen, die es gab. Rechnende, abschätzende, lähmende Augen. Gerondet hob die Pistole, richtete sie gegen die Augen. Das Böse zog sich nicht zurück, suchte keine Deckung, schien sich seiner Unverwundbarkeit bewußt. Der Polizist schob sich rücklings an der Wand entlang, schrie fast auf, als er die Wärme der hölzernen Tür hinter sich fühlte, fürchtete nur noch, daß man sie
lautlos verschlossen haben könnte, und drückte heftig auf die Klinke. Die Tür schwang auf, grelles Sonnenlicht blendete den Mann. Mit einem tierhaften, alle Vorsicht vergessenden Satz sprang er hinaus, schlug die Tür zu, verschloß sie und hastete zu den Sträuchern, die seine Deckung gewesen waren. Er ließ sich auf die Erde fallen, legte den Kopf ins Gras und sog die Düfte der Erde und der Pflanzen gierig ein. Langsam richtete er sich wieder auf, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und atmete schwer. Die Häuser, die Straßen nahmen den Polizisten wie einen verlorenen Sohn auf. Sie schirmten ihn mit ihren Dächern und Wänden, mit den farbigen Bildern und den glänzenden Butzenscheiben ab, ließen allmählich Satans Bild verblassen. Es war nur noch ein kurzer Weg zum Marktplatz, zur Mittagsmesse, als Gerondet auf einen Mann traf, der ihn um Haupteslänge überragte. Ein grobes, aber gutmütiges Gesicht, in dem braune, ein wenig müde Augen, die weit auseinanderstanden und schräg geschnitten schienen, einen fremdartigen Eindruck erweckten. Gerondet wollte an dem anderen vorbei, denn er hatte es eilig. Man sollte ihn während der Mittagsmesse sehen. Das war wichtig, konnte sein Alibi sein. »Wartet einen Moment«, sagte der Hüne freundlich und unterstrich seine Worte mit einer Handbewegung. Gerondet blieb stehen, sah den anderen erwartungsvoll an. »Ihr seid der Fremde«, stellte der große Mann freundlich fest, »von dem man sagt, daß er furchtlos dem Magister und aufrecht dem Brodlant begegnete. Seid Ihr der?« »Ich suche einen Mörder«, entgegnete Gerondet wahrheitsgemäß, »und wer das auch immer gewesen ist« - er dachte an die zwei leidenschaftslosen halbkugeligen Augen im schwarzwabernden Nichts - »oder wer der Anstifter oder Befehlsgeber war, ich werde ihn zur Strecke bringen.« »Ja...«, der Riese seufzte zustimmend, »es muß getan werden. Das. Ich kann Euch versichern, daß Ihr Freunde habt. Auch wenn Ihr sie nicht seht, wenn sie immer verborgen sind. Es gibt viele, die Euch wohlgesinnt sind.« »Es wäre schon nicht schlecht«, Gerondet lächelte dem anderen zu, »wenn ich sie ab und an sehen könnte. Man ist hier verdammt allein.« »Ich wohne in der alten Schmiede«, der Mann betrachtete seine großen, aber glatten Hände, »als es noch notwendig war, habe ich alles gefertigt, was gebraucht wurde. Das ist lange her.«
»Und was?« Gerondet zeigte ehrliches Interesse. »Aus dem Reich der Mitte hat einer das Rezept gebracht«, erklärte der Schmied, »man füllte das Feuerpulver in eiserne Röhren, und diese Röhren mit den Feuerschwänzen waren gute Dukaten wert. Und wisset, daß ich mir nicht zu schade war, auch Deichseln zu reparieren, Pferde zu beschlagen und Pflugscharen zu fertigen. Die Egge stammte auch von meinem Amboß...« »Und was ist der Grund«, wollte Gerondet wissen, »daß Sie nicht zur Mittagsmesse gehen?« »Ich glaube nicht an Belial«, erwiderte der Schmied trotzig, »ich glaube nicht an all die neumodischen Dinge. Ich verzichte auf das Zeitalter ohne Krankheit und Tod, wenn der Weg dorthin mit Leichen und Verzagten gepflastert ist. Mein Tod wird nicht einmal Ruhe und Schlaf sein, nur eine endlose Leere, eine Fortsetzung meiner hiesigen Tage. Und dann das Weib, die sich die Hohepriesterin nennt. Sie hat ihren Körper jedem feilgeboten, der ihr dereinst ein Handgeld gab. Und erst als der Magister kam, der Mordgeselle, da wurde aus der Dirne eine Hohepriesterin. Aber Ihr wolltet dorthin. Ich habe Euch aufgehalten.« »Ich wollte«, antwortete der Polizist, »ich wollte es gesehen haben.« Einen Augenblick schwiegen die beiden Männer, und jeder hing seinen Gedanken nach. »Die Kindermorde«, sagte Gerondet unerwartet heftig, denn er war mit seinen Gedanken wieder bei der Kirche angekommen, »wer kennt Einzelheiten? Welches Motiv?« Der Schmied preßte die Lippen aufeinander. Blickte zu Boden. »Als sie kamen«, flüsterte er, »da hatten sie Listen. Pergamente, auf denen alles festgehalten war. Anzahl. Alter und Namen. Man redete davon, daß die Kinder erneut getauft werden müßten. Und daß ein Unterricht voranzugehen habe. Aber es sprach sich schnell herum, daß keins zurückkehren werde. So haben viele ihre Kinder versteckt. Aber Nachbarn hatten das beobachtet und schleppten die Kleinen eigenhändig zur Kirche, in der Hoffnung, die eigenen Kinder zu bewahren. Doch just, als sie unterwegs waren, wurden ihre Kinder gegriffen und abgeliefert. Und wer eins verloren hatte, wollte, daß andere zehn verlieren müßten. Der Gerechtigkeit wegen. Wir haben es geduldet. Nichts anderes zählt mehr.« Der hünenhafte Mann wandte sich ab, und sein Kopf fiel kraftlos nach vom. So stand er, vergaß alles um sich her und weinte lautlos.
»Fünf hatten wir«, stieß er schwerverständlich aus, »fünf. Die Frau hat sie weggebracht. Ich konnte es nicht, und die Kinder ahnten nicht einmal... Ich suche die Gelegenheit, den Magister und seine Metze einmal ohne ihren Satan vor mir zu haben. Mit diesen meinen Händen werd ich ihnen die Schädel spalten.« Er hielt Gerondet seine kräftigen Hände entgegen. »Vielleicht komme ich darauf zurück«, sagte Gerondet grimmig. »Und wissen Sie auch, warum es seinerzeit geschah?« »Viele Gerüchte gingen um«, erinnerte sich der Schmied, »die einen meinten, mit den Kinder wäre unser Ort zu groß, um weiterhin beschützt zu sein. Sie würden alles wegfressen. Andere benennen die Kinderlosigkeit des Magisters als Grund für seine Angst vor jungen Leuten. Und einige, sie sind die Ketzer unseres neuen Glaubens, wollen wissen, daß Satan nicht Satan ist, sondern ein Wesen, das erst durch die Lebensstoffe unserer Kinder zu dem geworden ist, was es jetzt ist... Aber niemand weiß es wirklich. Und die es wissen, würden es nie sagen.« »Und da ist noch etwas«, Gerondet dachte nach, »es gibt ein Schlachthaus, in dem Gefangene sind. Ich möchte es sehen.« »Es liegt am Nordende unserer Stadt«, erklärte der Schmied, »dort war ein kleiner Steinbruch. Eine verwilderte Holunderhecke schirmt alles vor neugierigen Blicken ab.« »Danke!« Gerondet verabschiedete sich und setzte seinen Weg fort. Er dachte über die neuen Konstellationen nach. Aber blaß und fern mischten sich in seine Gedanken die Augen der Finsternis. VI. Viele hundert Menschen drängten sich auf dem Marktplatz. Sie standen unbeweglich, versunken und blickten angespannt zu dem Balkon hinauf, auf dem die Hohepriesterin stand und predigte. Freyja trug ein leuchtendrotes, bodenlanges Gewand mit einem auf der Brust gestickten Konus, in dem zwei ovale Fenster blinkten. Gerondet sah es sofort, und er wußte, was es war: Satans Antlitz. Aber er wußte auch, daß er sich nicht verraten durfte. Langsam schob sich Gerondet durch die Masse. Er begriff, daß nur ein kleiner Teil verzückt der Vorstellung beiwohnte. Die große Mehrheit schien desinteressiert, ja, sie schien nicht zu hören, was Freyja sagte. Die Hohepriesterin stand, die Arme zum Himmel erhoben, stand wie jene Frau auf dem Brunnen, die Augen gesenkt. Gerondet drängte sich immer weiter nach vom. Fühlte die Blicke der Umstehenden. Näherte sich dem Balkon.
Noch vor einer Stunde, dachte er, hätte ich nicht einmal geahnt, was das Symbol der Freyja soll. Er empfand Ekel und Widerwillen, Haß und Unsicherheit. »Ihr habt gehört«, klang eindringlich Freyjas helle Stimme über den Platz, »daß geschrieben steht, ihr sollt nicht töten. Ich aber sage euch: Wer den Ketzer, den Abtrünnigen, den Ungläubigen verschont, wer ihn nicht tötet oder an uns übergibt, den wird Satan nicht verschonen.« Oh, dachte Gerondet und wußte nicht, ob er lachen oder fluchen sollte, das kenne ich doch irgendwoher. Nur ein wenig anders lautet da der Text. Aber das macht wohl nichts, denn es hört sowieso kaum einer zu. Ob sie das weiß und einfach übersieht? »Liebe« verkündete Freyja, »Liebe soll zwischen Weib und Mann sein, denn Liebe ist ein Floß im Ozean der Einsamkeit. Sie ist die Hoffnung auf das eine, von dem wir glauben, daß es sich aus dem Nebel des Alltags herauslösen muß, und das doch wieder verweht, ehe wir es greifen können. Und so gibt es nur dies: die wilde Liebe, die sich nimmt, wonach sie trachtet, und die fallenläßt, was zu halten sich nicht lohnt,« Gerondet fühlte, wie die Mattigkeit der Zuschauer auf ihn übergriff. Auch er war müde, und die Worte schienen Wellen eines Flusses zu sein. Nimmermüde rauschend, endlos, sich ständig wiederholend. Er sah nach rechts und links, suchte sich abzulenken, analysierte Blicke und Mundbewegungen. »Liebt«, Freyjas Stimme war gellend, »liebt, wenn ihr nicht dem Bösen verfallen wollt. Liebt alles und jeden. Liebt, ihr dort unten im Staub.« Sie stieß den Satz drohend aus. Ihr Blick ging über die Anwesenden hin, die nun wieder aufmerksam und wach hinaufblickten. Als Freyjas Blick Gerondet streifte, verneigte er sich leicht und deutete eine Kußhand an. Vielleicht war es der Konus auf dem Kleid: Gerondet fielen die grausamen Augen der Finsternis ein. Und die Kinder. Und auch, was geschehen wäre, wenn er die zweite Tür geöffnet hätte. Gerondets Augen waren wie leblose Glaskugeln. Haßerfüllt betrachtete er die Priesterin, und auch ihre Augen waren drohend zusammengezogen. Gerondet blickte zur Seite, und sein Blick traf mit Brodlants forschen Augen zusammen. Sie lächelten sich zu. Weit hinten, am Rande der Menge, erkannte er den Greis, dem er in den Morgenstunden begegnet war. Es war der Magister. Gerondet ging sofort los. Ohne Rücksicht bahnte er sich den Weg. Der Magister durfte ihm nicht entkommen. Je weiter sich Gerondet dem Rand der Versammlung näherte, desto größer wurden die Abstände zwischen den Zuhörern, und desto schneller kam er voran.
Noch im Laufen, zog er seine Waffe und entsicherte sie. So oder so, dachte er dabei, entkommen lasse ich ihn nicht. Als Gerondet den Rand des Feldes erreicht hatte, sah er, daß der Magister verschwunden war. Freyja, dachte Gerondet, sie hat ihn gewarnt... Gerondet blieb nicht stehen. Er wollte auch nicht mehr zurück. So bog er in die Straße ein, die ihm schon gut bekannt war und die den Weg zu der Tänzerin verhieß. Er ging schnell und sah sich immer wieder um. Es verfolgte ihn niemand. Als er das Haus erreicht hatte, stieß er unwillig die Tür auf und spähte in den Flur. Auch hier waren keine Posten aufgezogen. Mit der Waffe in der Hand erreichte er die Wohnungstür. Er legte das Ohr an die Tür. Glaubte Stimmen und feine Bewegungen zu unterscheiden. Er trat zurück, und sein Fuß traf die Stelle unmittelbar neben dem Schloß. Es krachte, aber die Tür hielt stand. Erst der fünfte Tritt führte zum Erfolg. Gerondet stand neben der eingetretenen Tür und blickte sich vorsichtig und suchend um. Der Korridor war übersichtlich, ohne jede Deckung. Niemand hielt sich hier auf. Nur ungezählte Staubteilchen tanzten im Sonnenlicht. Mit zwei Schritten war der Polizist bei der Zimmertür, klinkte und stieß sie heftig auf, selbst in Deckung gehend. »Hände hoch«, sagte Gerondet mechanisch, »ich schieße auf jeden, der Widerstand leistet. Ich bin bewaffnet.« Still lag der ausgedehnte Raum vor ihm. Gerondet schob den Kopf um die Ecke. Esras Zimmer war leer. Jedenfalls auf den ersten Blick. Ein Tisch war umgeworfen. Die Stühle ebenfalls. Gerondet betrat den Raum. Er lehnte sich an die Kommode, betrachtete die geschlossenen Fenster. Geraubt, dachte er, Kidnapping. Er hieb mit der Handkante auf die Truhe ein. Jetzt erst wurde ihm klar, wie sehr er Esra brauchte. Wie wichtig es für ihn war, ihre Zustimmung zu haben. Nein, er wollte nicht mehr an irgendwelche imaginären Gesetze glauben und zwischen den Mächtigen hin und her rutschen. Er wollte Esra. Und wie ihm das gelang, war einerlei. Gerondet hob mit der Fußspitze einen Stuhl hoch, setzte sich. Er suchte einen Anfang. Einen Weg zu der Tänzerin.
Der Magister, dachte er, das war der Magister. Er hat mich auf diese Fährte gebracht. Und Freyja hat mir den Schlüssel gegeben. Dort soll ich suchen... Dort. Esra werde ich finden und Errenthaler. Und Errenthaler kam gestern an. Bei uns ist er vor fünfzig Jahren verschwunden, und hier kam er gestern an. Ohne sichtlich zu altern, während der Magister ein Greis ist. Dann haben die beiden getauscht ... Aussehen oder Person. Funktion. Ich müßte Errenthaler treffen. Er ist die Lösung des Spuks. Jedenfalls, wenn er redet. Gerondet sah jetzt erst das Pergament, das jemand mit einem kleinen Messer an die Wand geheftet hatte. Er erhob sich, steckte die Pistole ein und nahm den Zettel von der Wand. Darauf stand in unruhiger und zugleich kindlicher Schrift: Gib auf, Kamerad! Er hat mir das Mädchen zugesichert. Arrangiere Dich mit uns, sonst bist Du fällig. Und vergiß diese Tänzerin. R. Immelgud Gerondet las die Nachricht gleich dreimal. Nur langsam begriff er, was ihm sein »Kommandeur« mitteilte. »Den hat's erwischt«, murmelte Gerondet, »der ist noch durchgedrehter, als ich das war ... oder bin.« Der Spott verebbte. Gerondet begriff, was man ihm sagte: Immelguds hochspezialisiertes Waffensystem würde gegen ihn eingesetzt werden, wenn er nicht auf Esra verzichtete. Und sicher sollte er auch alle Nachforschungen betreffs des Kindermords vergessen. Der ist schneller, dachte Gerondet, immer. Und er wird mich einfach in die Luft jagen. Na, das wird ein Spaß! Gerondet holte die Reservemagazine aus der Tasche und musterte sie skeptisch. Steckte sie wieder ein. Dann nahm er seine Waffe, rieb sie an der Jacke blank und ließ auch sie verschwinden. Er blickte sich suchend um, fand ein Stück Holzkohle. Gelesen und abgelehnt. - G., schrieb er unter die Nachricht, warf sie achtlos auf die Kommode und verließ den Raum Als er auf der Treppe angekommen war, drehte er sich um. Lief die Stufen hinauf, nahm das Pergament und zerknüllte es. Steckte es in das Herdfeuer in der Küche.
Wozu, dachte er, die Flammen beobachtend, wozu soll ich einen Besserbewaffneten vorwarnen? Er kann es ja erraten.
12.00 Uhr: Ger... Melchior Schimmelpfennig Der Klang von vergangenem Ruhm... Der Kaufherr Schimmelpfennig verarmte, als die Schiffe, denen er seinen gesamten Besitz anvertraut hatte, von Piraten geplündert wurden. Und als er eines Tages in Ger ... auftauchte, war seine einstige Frau die Gattin des Schuhmachers Rübesam. Da der Mann nun nichts mehr besaß außer dem, was er am Leibe trug, entbrannte der Streit um Melchior, seinen Sohn. Melchior wurde zugleich von seiner ewig klagsamen und jammernden Mutter, dem jähzornigen Schuhmacher Martius Rübesam und seinem leiblichen Vater, diesem dem Branntwein verfallenen ehemaligen Kaufherrn Johann Schimmelpfennig, erzogen. Melchior haßte von allen die Mutter am meisten, weil ihre Klagsamkeit auf ihn abfärbte, ihn klein und hilflos den beiden Männern auslieferte. Er begann die Kaufmannslehre, wurde aber wegen seiner Übervorsichtigkeit hinausgesetzt und kam alsbald zum Stadtschreiber in die Lehre. Seine gestochene Schrift, seine Absicherung nach allen Seiten hin und seine Art, schweigen zu können, machten ihn bald zu einem unentbehrlichen Mann bei allerhand Geheimverhandlungen und »stummen Konferenzen«. Er erlebte aus nächster Nähe den Aufstieg des Scholaren vom Scharlatan zum mächtigsten Mann des Ortes, und der selbsternannte Magister lernte das Schweigen Melchiors schätzen. Er war es auch, der die Ehe zwischen Melchior und Freyja zuwege brachte. Als Melchior die Gunst des Magisters errungen hatte, war er es, der zwei Mordbuben anstellte, die seinen Vater, Rübesam und seine Mutter in einen Hinterhalt lockten und ermordeten. Und er war es auch, der den angeblichen Aufruhr des Bürgermeisters angezettelt hatte.
I. Gerondet betrat die Schmiede. Bewundernd betrachtete er auch hier den handgefertigten Zierat, war von der peinlichen Sauberkeit verblüfft. »Hallo«, rief er, »hallo, ist hier jemand?« Gerondet überquerte den Hof, ging durch die Werkstatt und betrat das Wohngebäude. Im Küchenherd brannte ein kleines Feuer, und ein Topf, aus dem es herzhaft aromatisch roch, stand auf dem Feuer. »Ist hier jemand?« Gerondet wandte sich der niedrigen Stubentür zu. »Natürlich ist hier jemand«, erklang es grollend, und Brodlants massiger Schädel tauchte in der Tür auf. Er lächelte überheblich. Aus den drei in die Küche mündenden Türen schritten zugleich Zöpfler. Es konnten fünfzehn sein. Oder noch mehr. Gerondet konzentrierte sich auf Brodlant. »Nun, mein Freund«, Brodlant schien in Wiedersehensfreude zu schwelgen, »was sucht Ihr an diesem Ort, bei diesem Mann?« »Gibt es jemanden«, wollte Gerondet wissen, »den man fragen muß, wenn man eine Visite vorhat?« »Als Nichtbürger schon«, erklärte der Gewaltige schmunzelnd, »auch wenn es kaum ernste Hinderungsgründe gibt. Als Bürger entfällt auch dieser Unsinn.« »Wie nett das klingt«, Gerondet nickte zustimmend, »und eigentlich geht ja sowieso kaum noch jemand zu jemandem. Oder? Ich sehe immer nur einzelne, die kaum miteinander sprechen. Was meinst du, ist das auch an die Bürgerschaft gebunden?« Brodlant machte eine wegwerfende Handbewegung. Den Zöpflern gab er einen Wink, und sie marschierten geschlossen hinaus. »Redet nicht in ihrer Gegenwart so«, warnte er den Polizisten, »einige melden Freyja und dem Magister alles, was ich von mir gebe. Und dann: Warum soll das Echo eines fremden Gedankens in ihnen nachhallen und sie beunruhigen? Wenn wir allein sind, stellt mir Eure Fragen. Kommt!« Er ging voran, und Gerondet folgte dichtauf. Aber plötzlich blieb der massige Mann stehen. Gerondet wäre um ein Haar gegen ihn geprallt. »Setzt Euch«, sagte Brodlant schwach und deutete auf einen Schemel. Er selbst lehnte gegen den Türpfosten.
Gerondet sah, daß sein Gesprächspartner müde war. Daß Brodlant sich einigemal über die Augen strich, verstärkte den Eindruck noch. »Es sieht nicht gut aus«, sagte Brodlant dumpf, »überhaupt nicht. Wißt Ihr, wenn man einen Posten bekommt und merkt, daß man andere Vorstellungen als seine Vorgesetzten hat, dann möchte man nur eins: alle von der Richtigkeit des eigenen Konzepts überzeugen. Und unversehens beginnt etwas, was man nicht mehr aufhalten kann. Freyja hat bisher zwei Stützen gehabt: ihre weiblichen Tempelkämpferinnen und die Waffen des Magisters. Jetzt hat sie ein Drittel der Zöpfler abgezogen und bei sich stationiert. Rechtlich steht ihr das zu. Nur: Sie hat bisher darauf verzichtet. Natürlich folgte ihr Melchior auf dem Fuß. Er hat sein Drittel abgefordert und im Rathaus stationiert ... Fragt nur, Fremder, dann will ich es Euch sagen: Keiner der Leute ist tatsächlich im Rathaus. Anstatt daß Melchior also zu seinen Worten steht, unterwirft er sich widerstandslos diesem Weib. Ach ja, da war noch etwas. Kurz bevor Ihr auf dem Marktplatz erschient, redete sie von einem Gleichnis, in dem ein Schuldiger aus eigenem Antrieb in des Satans Grotte geht. Hochmütig und verloren. Aber dann sah sie Euch kommen und brach mitten im Wort ab. Und als Ihr dann den Magister entdecktet, ihm entgegenstrebtet, sagte das Weib auf dem Balkon: ,So kommt der Todesengel schon des Mittags.' Sobald das der Magister hörte, verschwand er in der bereitstehenden Kutsche und fuhr los! Ich denke, daß sie noch heute wider uns ihr Schwert ziehen wird. Gegen mich, den Melchior und Euch. Und wie die Kräfte jetzt verteilt sind, wird sie niemand daran hindern können.« Brodlant schwieg, sah hilflos den Polizisten an. »Sie hat noch keinem warnend nur gedroht«, erklärte der massige Mann dann sehr leise, »was sie beginnt, vollendet sie auch. Und da sie alle Trümpfe in der einen Hand vereint, fürchte ich Schlimmes. Melchior mißtraut mir ebenso, wie ich ihm mit Vorsicht stets begegne. Gemeinsam ist unsere Furcht Euch gegenüber ... Meine besten Männer hat sie abgezogen. Und ihre Altarweiber führen Schwert und Armbrust wie der abgefeimteste Landsknecht. Und über den Magister hat sie den Zugang zu Satan. Und es gibt nichts, was er ihr verweigern würde. Freyja ist ihm alles: Mutter, Schwester, Freund, Berater und Buhlerin. Ja, Fremder, niemand kann auf ihrer Seite ewig sein, weil sie in jedem erst einmal den Mann erblickt. Sie wird Euch zwingen, sie zu lieben, das ist ihr Beruf. Und dann werdet Ihr den Priesterinnen vorgeworfen, die ihre Triebe anders als das Weib der Straße befriedigen. Lebend hat niemand dieses Haus am Platz verlassen, dem diese Prozedur auferlegt ward. Hört also, denn ich habe einen Plan...«, Brodlant schnaufte und versank in Nachdenken. Dabei beobachtete der Herr der Zöpfler jede Regung des Polizisten. »Du hast erzählt«, Gerondet erhob sich und trat an das kleine Fenster, blickte hinaus, »man hätte dich bei einer Aufgabe behindert. Ich will das wissen. Was war los?«
»Ein Witz«, Brodlant lachte hart auf, »ein Ulk der bösen Sorte. Das war, als wir ein friedlicher Ort waren und voller Brot für jeden. Da fing es mit den Übergriffen an. Man plünderte uns immer wieder aus. Die jungen Männer rief man zu den Waffen, und ich, der ich ein Offizierspatent besaß, habe sie an den Waffen ausgebildet. Natürlich braucht so etwas Zeit. Und ein junger Fant ist noch kein kriegserfahrner Söldner, sag ich Euch. Es ist nicht leicht, einer verrohten und versprengten Truppe Widerstand zu leisten. Aber feige oder jammervoll war keiner. Wir lockten die anderen in Hinterhalte. In Säcken brachten wir Hornissen- und Wespenvölker in ihre Lager. Jede ihrer Verwirrungen nutzten wir für uns. Selbst kleine Waldstücke setzten wir in Brand, um die Feinde in Sumpf und Moor zu treiben. Man mußte mit uns rechnen. Doch dann begann der Magister die höllischen Gebete. Er rief die Unterwelt, rief Satan an. Uns hielt man in den Unterkünften fest, als wieder einmal Reisige gemeldet wurden. Und Satan jagte, so erfuhr ich es, die ganze Abteilung in die Flucht. Verstreute sie in alle Winde. Und also sprach es sich herum, daß nun ein Fluch auf unsrem Städtchen ruht, denn jetzt kam keiner mehr, vom Gold geblendet. Dafür ward die Mannschaft in dem Rathaus abgelöst. Wer redlich war, der mußte gehn. Die Dirne des Bösen feierte mit den von ihr Ernannten wahre Orgien. Und überlebte es einer nicht, dann lief die Kunde durch die Straßen: Er hat des Satans Allmacht angezweifelt. Er war ein Zweifler, war ein Ketzer gar. Das ging so hin. Bis schließlich eines Tages die wildesten Kumpane jenes Teufelsweibs in Furcht vor ihr entbrannten und die Flucht ergreifen wollten. Doch Freyja, der schon damals nichts entging, bekam es brühwarm aufgetischt. Sie lud den einen zu sich ein und bewirtete ihn mit dem Wein des Todes. Dann eilte sie zu dem Magister und lamentierte, klagte und erzählte dem tumben Mann von einer Verschwörung unter seinen besten Leuten. Für den Magister war es ein Grund, der immer noch aufsässigen Bürgerschaft Satan vorzuführen. Ein jeder konnte sehen oder besser hören, wie jammervoll es sich in Satans Klauen stirbt.« »Das muß stimmen«, Gerondet lehnte im Fenstergeviert, »denn ich habe das schon einmal erfahren. Warum gehst du nicht zum Magister und klärst ihn auf? Warum sagst du ihm nicht, was für ein falsches Spiel die Freyja treibt?« »Er selber ist ein Scharlatan«, Brodlant sprach so leise, daß der Polizist sich weit vorbeugen mußte, um ihn zu verstehen, »und spielt ein verlogenes Spiel. So gibt es immer Grenzen jeder Redlichkeit. An einem Punkt wird ihm die Wahrheit selbst zum Greuel, weil er sein eigenes leeres Sein erkennen muß ... Es ist unmöglich. Und Freyja, die als Zeuge geladen würde, stellte alles schließlich auf den Kopf. Ich würde sterben und nicht sie. Auch Euch erginge es nicht anders. Es gibt nur eine Möglichkeit, damit Gesetz und Recht und Ordnung wieder hier zu Hause sind: Es müßten Freyja und ihr Mann und auch die wilden Priesterinnen fort. Den Kult der Fruchtbarkeit sollte ein Sturm des Widerstands
hinwegwehen. Die Ratsherren müßten vertrieben werden und rechtens gewählte Bürger an ihre Stelle treten. Dann würde das Leben in unseren Straßen erneut erblühen.« »Du würdest mir das nicht sagen«, Gerondet begann unruhig in der vollgestopften Küche auf und ab zu gehen, »wenn du nicht schon einen Plan hättest, in dem ich eine entscheidende Rolle spielen soll. Und ich gebe dir zu bedenken: Alle, einschließlich des toten Bürgermeisters, die auch einen Plan hatten, haben sich verrechnet. Jeder hat eine Kleinigkeit vergessen und ist so gescheitert. Hast du alles kalkuliert?« »Ich habe etliche Verschwörungen zunichte gemacht«, grollte Brodlant und lächelte zum erstenmal in dieser Stunde, »ich habe alle Fehler säuberlich zusammengetragen und weiß, wie wenig nötig ist, um in die eigene Falle zu stürmen. Hört also gut zu...« Er räusperte sich, lehnte sich etwas zurück, stützte seine Hände auf, »Freyja wird Euch nicht töten, bevor sie Euch nicht, sagen wir, erprobt hat.« Er lachte verlegen. »Ihr könnt also bestimmen, wo das sein wird. Begreift Ihr den Vorteil? Es liegt in Eurer Hand, einen Ort der Liebe zu bestimmen. Melchior sucht in Euch einen Verbündeten, denn er ist ganz allein. So kommt auch er, wenn Ihr ihn ruft. Meine Leute würden alles präparieren. Hier. Sie würden alle Balken lösen, alles Tragende durchschneiden und könnten so die Schmiede auf ein geheimes Kommando hin in sich zusammenstürzen lassen. Es wird ein Unfall sein. Und das nur schwach unterstützte Herdfeuer macht alle, die hier sind, unkenntlich.« Gerondet blickte auf den Hof hinaus. »Und dann bin ich dran«, sagte er leise, voller Spott, »ein ebensolcher Unfall nur. Nein, Brodlant, da mache ich nicht mit. Ich verlange Lohn. Nachrechenbaren Lohn und Garantien.« »Die Tänzerin«, lockte Brodlant, »wäre sie der angemessene Lohn?« »Und was wird der Magister dazu sagen?« »Er wird auf sie verzichten können«, vermutete Brodlant, »wenn endlich jene von ihm stets beschworene einigende Ordnung in dem Städtchen heimisch wird. Ihr kennt diesen Ort nicht, wißt nicht, wie er einmal war. Die Menschen glücklich, frei und groß. Und Sonnenschein lag stets auf unseren Taten. Mächtig und ruhmreich klang der Name in der Welt, und unsre Waffen waren überall begehrt. Wir haben die größten Heerführer versorgt und ernteten Dukaten allenthalben. Ein jeder Mann war hier ein reicher Mann. Die einen stellten die Waffen her, die anderen transportierten sie nach sonstwohin. Die dritten bauten uns die Häuser und die Möbel. Und Schmuck und Täschnerwaren, Wagen, Zierat und was noch alles in den Häusern unterkam. Sogar die Dienstboten konnten sich ein bescheidenes Vermögen im Säckel unter ihren Dielen aufbewahren. Doch dann ward alles anders. Die Reisigen kamen, die Marodeure
und die Landsknechte zogen wir an. Die Kaufherren, flohen als erste. Waffenschmiede verließen ihr Feuer. Gesellen wanderten fort. Und wie so alles verkam, da wurde der Boden reif für Freyja und auch für ihn.« »Ich habe nach Garantien gefragt«, sagte Gerondet hart, »Wunschbilder und Märchen kenne ich jetzt genug.« »Folgt mir dann«, sagte Brodlant lauter, als er vorher gesprochen hatte. Gerondet sah die Zöpfler, die wohl auf den Ruf gewartet hatten, über den Hof gelaufen kommen. »Ich werde Euch etwas zeigen«, sagte Brodlant, »etwas, was mehr ist als nur eine Garantie.« Sie saßen zu fünft in einer Kutsche, deren Fenster verhangen waren. Gerondet saß so, daß er immer noch seine Waffe ziehen konnte. »Eine winzige, unwesentliche Loyalitätsprobe«, erklärte Brodlant sachlich, »die Ihr zu bestehen habt, denn es geht um unsere Stadt. Um ein ewiges Gesetz. Um die ganz natürlichen Rechte. Ihr wißt, daß unser Orakel von einem Todesengel sprach. Ihr seid zu zweit gekommen, und nur einer kann es sein. Der andere ist unser Freund. Ihr könnt sogleich beweisen, daß Ihr der Unsere seid.« Brodlant lachte drohend auf, lehnte sich zurück und zog einen Schnupftabaksbeutel aus der Tasche seines Wamses. Er hob die Lider, sah Gerondet prüfend ins Gesicht. »Wer Euch zum Verbündeten hat«, sagte er ungewohnt ernst, fast feierlich, »kann sich auf jeden Kampf einlassen. Ihr seht alles. Es entgeht Euch nichts. Ich wünschte, wir würden Verbündete sein.« II. Als sie anhielten, dauerte es noch einige Zeit, ehe die Verschläge aufgerissen wurden. Gerondet blinzelte in trübes Licht. Die Dächer der langgestreckten Gebäude waren so weit nach vorn gezogen, daß sie sich fast berührten und nur einen Himmelssaum erkennen ließen. Die fünf betraten ein einstöckiges Gebäude. Brodlant ging voraus. Er ging sicher und frei, und alles Gebückte war von ihm abgefallen. Er stieß eine reichverzierte Tür auf und gebot Gerondet einzutreten. Dann folgte er selbst. Zwei der maskierten Zöpfler nahmen rechts und links von der Tür Aufstellung. Der Raum war häßlich grün. Decke und Wände zeigten denselben stupiden Farbton. Unordentlich standen Tische und Stühle herum. An der Wand, die vom Fenster zur Tür lief, hingen einige Rötelzeichnungen. Natürlich war auch der Konus mit den ovalen Fenstern darunter. Satans Symbol. Dann kam eine Skizze,
die Freyja, den Magister und Brodlant zeigte. Schließlich der Magister allein. Er hatte die Hände etwas angehoben, blickte in eine unbekannte Ferne und lächelte verzeihend. Unter dem Ölbild eines sterbenden Zöpflers stand der Spruch: Nicht der ist der Feind, / der gegen uns ist, / sondern jener andere, / von dem alle glauben, / er könnte es sein. Gerondet las das zweimal. Brodlant, der dem Blick des Polizisten gefolgt war, schien plötzlich etwas an der metallenen Schrift auszusetzen zu haben. »Nehmt das ab«, befahl er einem Zöpfler, der den Befehl im Laufschritt ausführte, »das galt damals, als die Marodeure hier hausten. Man wußte nicht, wer zu wem hielt, wer gegen und wer für uns war. Ich mußte seinerzeit bestimmen, wer Freund und Feind war. Es gab viele, die sich mit Worten auflehnten, aber zugleich fleißig schafften und tadellos die Gebote befolgten. Sollte man ihnen gram sein, nur weil sie das Maul nicht in der anerkannten Weise auf- und zuklappten? Das ist vorbei.« »Und jetzt?« Gerondet sah den massigen Mann fragend an. »Ich weiß, was Euch bewegt«, Brodlant rieb sich das Kinn, »was wollt Ihr, ist es meine Erfindung? Natürlich braucht Satan jeden Tag ein Menschenopfer. Er braucht es halt. Und also finde ich jeden Tag einen, der abtrünnig geworden ist. Wir fingen bei den Katenbewohnern an. Bis dem Magister klar wurde, daß die Gefahr am Marktplatz wohnt. Die angesehensten und reichsten, die gebildetsten und freiesten Bürger sind auch die, die immer wieder einmal Leute um sich scharen, um einen Aufruhr zu entfesseln.« »Also das ist es«, Gerondet lächelte bitter, »das Gesetz, das du anbetest, ist einen Dreck wert. Die gute alte Harmonie endet in Satans Magen. Und da er immer Hunger haben wird, wirst du immer wieder einen finden, der ketzerisch und böse ist.« Brodlant machte eine gebieterische Bewegung, und die beiden Zöpfler verschwanden aus dem Raum. »Ich habe Euch gewarnt«, drohte er, »warum haltet Ihr Euch nicht daran? Sie sind meine persönlichen Begleiter, ja. Doch weiß ich, ob sie nicht auch etwas anderes sind? Hier weiß kein Mensch, auf welcher Seite er wirklich steht. Sie laufen zu den anderen, erhalten ihre Silberlinge und denken trotz allem, meine Freunde zu sein...« Brodlant nahm einen Degen, der auf dem Tisch lag, zog ihn aus der Scheide. Mit einer ungewöhnlich schnellen Bewegung stieß er die Waffe nach vorn, spießte das Bild des Magisters auf. »Mit ihm stirbt auch Satan«, sagte er dumpf, »versteht Ihr diese simple Wahrheit? Niemand von uns beherrscht ihn. Zumauern ließe ich die Kirche, so ich der Herr an diesem Ort wäre.«
»Dann..«, Gerondet sprach leise, schien von seinen eigenen Worten überrascht, »hat der Magister nicht einen einzigen Freund hier...« Brodlant schüttelte, Gerondets Aussage unterstützend, den Kopf. »Ich brauche Euch«, sagte er entschlossen, »aber Schimmelpfennigs Zuträger haben gesehen, wie Ihr mit dem Schmied gesprochen habt. Und jeder weiß, wie jener denkt. So werde ich Euch jetzt auf die Probe stellen. Da wird Euch selbst bewußt, auf wessen Seite Ihr steht.« »Das hier ist also das Schlachthaus?« Gerondet deutete um sich. »Ja«, bestätigte Brodlant und steckte die Waffe in die Scheide zurück, »mein Hauptquartier. Hier bin ich ziemlich sicher. Hier wurde der Plan zur letzten bürgerfreundlichen Umwälzung geboren. Wir wollten das Vermögen der Kaufleute gleichmäßig unter die Bürger aufteilen, wenn wieder Sicherheit in unseren Mauern wäre. Wir wollten, daß alle Kinder schreiben und lesen lernen sollten. Doch die Rats- und Kaufherren, die ihre Zuträger auch hier hatten, erfuhren von unserem Plan und haben den Magister dann gefördert. Sogar die Kinder haben sie ihm gegeben. Geopfert. Ich denke manchmal, daß sie das Neue mehr fürchten als die Hölle. Meinen Stellvertreter haben sie in Satans erster Nacht töten lassen. Mich brauchten sie, weil unsere Zöpfler auf mich eingeschworen waren. Ahnt Ihr, wie sich alles hier entwickelt hat?« Brodlant verließ den Raum. Gerondet folgte ihm. Sie stiegen eine schmale Treppe nach unten und kamen an Kerkern vorüber. In einem großen, von vielen Fackeln hell erleuchteten Raum endete ihr Weg. Gerondet sah den Schmied, ohne ihn sofort zu erkennen. Der Mann wirkte kleiner, älter, müde. Er hockte am Rand einer Pritsche und hob auch den Kopf nicht, als er die Schritte hörte. Neben ihm standen zwei Zöpfler. Einen erkannte Gerondet. Es war der, dem er im Rathaus die Handkante gegen die Stirn gesetzt hatte. Auch der Zöpfler erkannte ihn. Er versuchte ein anbiederndes Lächeln. Gerondet übersah es. Der Schmied hob nun den Kopf. Sein Gesicht war grau. Tiefe Ringe umgrenzten seine Augen. Seine Wangen wirkten eingefallen. Die leeren, weitgeöffneten Augen blickten durch Gerondet hindurch. Die Zöpfler standen still, als Brodlant aufgetaucht war, und hielten sich so, bis jener ihnen ein Handzeichen gab. Gerondet trat auf den Schmied zu. Der Mann schien zu erwachen. Er blinzelte heftig, als sähe er eine Erscheinung. Seine Blicke huschten unsicher von einem zum anderen. »Ihr seid Abel, der Schmied?« Brodlant sprach grollend. »Der bin ich«, antwortete der Mann leise.
»Was wird Euch vorgeworfen?« »Eine der vier Todsünden.« Fragend schaute Gerondet Brodlant an. Der bemerkte den Blick. »Beleidigung Belials«, rasselte Brodlant monoton herunter, »Befleckung der Hohenpriesterin. Gedankliche und körperliche Gewalt wider den Magister. Besitz und Benutzung der Bibel.« Der mächtige Mann wandte sich an den Schmied. »Welche der Todsünden legt man Euch zur Last?« »Man hat bei einer Hausdurchsuchung eine Bibel gefunden«, erklärte der Schmied und blinzelte erneut, »aber sie muß noch von meiner Großmutter sein. Denn ich habe ein solches Buch nicht. Ich habe es an jenem Tag der Hohenpriesterin zum Feuerort getragen.« »Bibelbesitz!« Brodlant hüstelte, wiederholte aber wie unter einem inneren Zwang: »Bibelbesitz, Bibelbesitz... Und das wollt Ihr nicht gewußt haben? Und warum seid ihr nicht zur Messe heute erschienen?« Der Schmied gab keine Antwort. »Dann sagt uns«, fuhr Brodlant geduldig fort, »was Ihr jenem Mann dort erklärt habt in der Mittagsstunde.« Sein Daumen wies auf Gerondet. Der Schmied hob die Augen, musterte den Polizisten, der ganz schwach den Kopf bewegte. Ein stummes Nein signalisierte. »Er ist ein Fremder«, erklärte der Schmied leise, »ich dachte, daß er einen Weg sucht. Man hilft schließlich.« »Helfen«, brüllte Brodlant und begann zu lachen, bis ihm die Tränen in den Augen standen, »helfen wollte er. Bei Kasriel und Ariel, hat man so etwas schon einmal gehört... Macht nun weiter, Gerondet. Zeigt mir Euer Geschick in diesen Dingen. Der Mann muß reden. Koste es, was es wolle.« Nach diesen Worten ließ er sich in einen bereitstehenden Stuhl fallen, der ächzte und stöhnte. Die Zöpfler schlössen die Tür, setzten sich auf kleine dreibeinige Schemel und warteten. Nur noch Gerondet und der Schmied standen im Raum. Ein Tisch stand zwischen ihnen. »Mit wem hast du gesprochen«, begann Gerondet das Verhör, »zeig mir den Mann, den du getroffen hast.« Der Schmied sah sich suchend um, hob schließlich die Schultern. »Er ist nicht hier«, erklärte er leise.
»Ich meine den Fremden«, half Gerondet nach, »den, dessentwegen du hier bist.« Der Schmied suchte, jetzt schon weniger verstört, mit den Augen. Erneut kam er zu einem negativen Ergebnis. »War ich das nicht?« Gerondet lächelte aufmunternd. »Fff...« Brodlant stieß hörbar die Luft aus. Zeigte so seinen Unwillen. Der Schmied horchte auf, dachte nach. »Fff...«, wiederholte er Brodlants Ton, »F...rieden haben wir. Seit damals. Und wir wollen ihn weiterhin. Mit Satans Hilfe. Aber Frieden habe ich nicht getroffen. Vielleicht F...reyja. Auch nicht. F... rieder ist mir begegnet. Nur ist er kein Fremder. F...remder. Das ist es. Ich habe einen Fremden getroffen.« Gerondet blickte traurig auf den Tisch. Er ahnte, mit welchen Mitteln man den Willen dieses bärenstarken Mannes gebrochen hatte. »Ende des Affentheaters«, sagte er hart und frostig, »schick die beiden Schemelhocker raus! Ich muß etwas loswerden.« Brodlant, der ganz auf den Schmied konzentriert war, zuckte heftig zusammen. Starrte Gerondet einige Sekunden fassungslos an. Dann faßte er sich, erhob sich mit überraschender Geschmeidigkeit und wiederholte jene herrische Geste, die Gerondet schon einmal bei ihm gesehen hatte. Die Zöpfler sprangen auf, legten eine Hand vor die Brust, wendeten auf der Stelle und verließen den Raum. Sie schlossen die Tür hinter sich. »Ich bin ein sündiger Mensch«, jammerte der Schmied, der die Situation nicht richtig deuten konnte, »ich habe falsch Zeugnis wider die heilige Freyja abgelegt. Ich habe sie in Gedanken geschändet. Ich habe die Mittagsmesse bewußt und in feindlicher Absicht nicht besucht. Ich habe Satan gelästert und in dem sündigen Buch meiner Großmutter gelesen. Ich habe das Gold angebetet und den Magister mißachtet. Ich habe das einstige Feuer meiner Esse dazu verwenden wollen, unsere Stadt in Flammen aufgehen zu lassen. Und doch bitte ich Euch, Ihr Herren, mir zu vergeben, denn ich gelobe Besserung allhier.« »Schweig still!« Gerondet ging um den Tisch herum und legte dem Schmied einen Augenblick seine Hand beruhigend auf die Schulter. Dann wandte er sich an Brodlant. »Bist wohl noch stolz auf diese Entwürdigung?« fragte er grimmig. »Vielleicht habe ich dir einen Augenblick geglaubt, als du von der sozialen Revolution gesprochen hast. Jetzt weiß ich, daß du eine Ungerechtigkeit durch eine andere ersetzt hättest. Statt Belials hättest du dich auf den Thron gesetzt. Statt des Konus wären möglicherweise zwei gekreuzte Degen das Symbol. Und
damit wären die Neuerungen schon erschöpft. Laß den Mann dort laufen. Sofort. Denn ich fühle mich für ihn verantwortlich. Laß ihn frei.« Brodlant blickte abwechselnd den Schmied und den Polizisten an. Seine Kaumuskeln arbeiteten. Seine Stirn wies eine Reihe von Falten auf, die auf intensives Nachdenken schließen ließen. »Aber doch nicht jetzt«, brauste er auf, »ich kann ihn doch nicht so einfach gehen lassen... Es muß doch wenigstens einen regulären Schuldspruch geben. Entlassungspergamente... Wie denkt Ihr Euch das?« »Hast du danach gefragt«, Gerondet zeigte keinerlei Kompromißbereitschaft, »als du ihn holen ließest? Nach Pergamenten. Gesetzen. Verfahrensweisen? Da ging es doch auch einfach so. Oder? Da sind deine Leute losgegangen, haben ihn gepackt und hergebracht. Es geht doch... Warum geht das in einer Richtung und in der anderen nicht? Laß ihn frei.« Brodlant verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Ging, leicht vornübergebeugt, an einen gemästeten Laufvogel erinnernd, kopfschüttelnd auf und ab. Blieb vor dem Schmied stehen. Suchte etwas in dessen Gesicht. Nahm dann die Wanderung wieder auf, um vor Gerondet zu verharren. »Also gut«, stimmte er endlich zu, »gut, der Mann kann gehen. Er kann auch seinen Gesellen und seine Frau abholen, die ebenfalls hier untergebracht sind. Er soll gehen.« Brodlant durchmaß den Raum, klopfte gegen die Tür. Ein Zöpfler riß sie auf und trat grüßend ein. »Nehmt diesen da«, befahl Brodlant und deutete auf den Schmied, »laßt ihn seine Frau und den Gesellen suchen, und hat er sie gefunden, dann setzt alle drei auf die Straße. Laßt sie frei!« »Komm«, sagte der Zöpfler, an den Schmied gewandt, der sich, sich immer wieder verneigend, dem Zöpfler anschloß und den Raum verließ. »Ihr habt ein eigenwilliges Maß für Gerechtigkeit«, eröffnete Brodlant das Gespräch, als sie allein waren, »vor dem Magister gab es bei uns den Schultheiß, und wir haben, wie unsere Ahnen auch, Gerichte unter freiem Himmel abgehalten. In unentscheidbaren Dingen wurde das Gottesurteil anerkannt. Belial aber sagt: ,Gott ist nicht gerecht.' So entscheidet heute Freyja, wer verurteilt und wer freigelassen werden soll. Doch Euren Standpunkt kann ich nicht begreifen.«
»Was ist da unverständlich?« Gerondet setzte sich. »Ich will Wahrheit, wie sie ist. Nicht etwas umgebogen und gelenkt. Ich will, daß nicht einer inhaftiert wird, nur weil ein anderer das einfach will.« »Und Ihr«, Brodlant preßte die Hände gegeneinander, »Ihr verlangt auf der einen Seite den fehlerfreien Menschen, der sich keiner Obrigkeit gebunden, sondern einem unsichtbaren Gesetz verantwortlich fühlt, aber zugleich schont ihr jenen, der gefehlt hat. So ist denn Eure Fehlerfreiheit ein käufliches Ding? Wir verlangen die Wahrheit. Wir verlangen das Geständnis, um ihm vergeben zu können. Doch Ihr verlangt die Lüge. Er soll nicht sagen, was er tat. Er soll nicht sagen, was er denkt. Er soll im trüben fischen und das Wahrheit nennen. Nein, so unfehlbar ist Euer Recht bei weitem nicht.« »Da ist etwas dran«, sagte Gerondet und dachte nach. Dachte an die Preise der guten Anwälte und die verzögerten Prozesse, dachte besonders an Bergorius und Marianes Vater. »Ihr habt dem armen Kerl«, sagte Brodlant, der Oberwasser bekam, »zu verstehen gegeben, daß man sich besser an nichts erinnert. Jedenfalls habe ich das so empfunden. Nehmen wir an, er wäre Euch gefolgt. Hätte sich an nichts erinnert, alles abgestritten. Und würde deshalb entlassen aus der Haft. Meint Ihr nicht, daß dies in Zukunft immer sein Verhalten prägen könnte? Es regte ihn an, immer neue Sünden zu begehen, immer unverfrorener zu lügen. Und immer dreister von sich zu sagen: Ich bin einer ohne Fehl und Tadel.« »Aber eure Strafen sind drakonisch«, wehrte sich Gerondet schwach. »Falsch«, Brodlant verließ seinen Platz, wanderte an den kühlen, feuchten und schimmligen Wänden auf und ab, »wer Belial geopfert wird, gehört zu den Domestiken des Magisters oder der Freyja. Das einfache Volk erfährt mehr Gnade, als ihm zusteht. Etwas anderes beunruhigt mich, seit ich Euer Bild des idealen Menschen kenne. Ist es Euch nicht ein Greuel, mit mir gemeinsame Sache zu machen, der ich doch Fehler und Fehlurteile schon gefällt habe? Fordert Ihr nicht ein diamantenes Herz in meiner Brust, ein goldenes Hirn unter meiner Schädelkapsel? Ich..., ich fürchte, daß der Magister Euch viel näher steht als ich und meinesgleichen. Ich bin der, der die Schmutzarbeit erledigt, damit die anderen um so reiner glänzen können.« »Jeder tut nun einmal das«, sagte Gerondet großzügig, »wozu es ihn am meisten drängt.« »Genau das ist es«, fuhr Brodlant auf, »Ihr habt so eine Art, mit Menschen schrecklich umzugehen. Ihr sprecht, als ob Ihr Komplimente macht, und dabei trefft Ihr tief das Herz des Nächsten. Es ist da eine Kälte in Euch, die uns zu gleichen Teilen anzieht und auch abstößt.«
»Ja«, Gerondet erhob sich und trat an die Tür, »irgendwie muß sich ja schließlich der Fortschritt zeigen, den es bei uns gibt. Möglicherweise stimmt das sogar. Bei uns klingt alles freundlicher, ohne daß es freundlich gemeint ist. Ich weiß es nicht.« »Hört meinen Plan«, brachte Brodlant das Gespräch auf den Kern, »und wisset, daß es mich den Kopf kostet, wenn Ihr im letzten Augenblick zurückzuckt. Und deshalb verlange ich jetzt eine Sicherheit.« »Was für eine Sicherheit?« Brodlant deutete ein Lachen an. »Melchior und Freyja stehen Schulter bei Schulter gegen mich. Wir alle drei wissen, daß Ihr uns allen miteinander die Mitarbeit zugesichert habt. Das macht nichts. Wie Ihr sterben sollt, könntet Ihr sogar schon wissen. Eine der Priesterinnen, eine Frau, die perfekt sämtliche Schriften imitiert, hat Euch eine Einladung geschrieben, die sie mit Esra unterzeichnete. Und Esra bittet Euch darin, zur Kirche zu kommen, da in ihr jene Liebesflamme brennt. Man sagte dem Magister, daß Ihr es wart, der der Freyja Gewalt angetan hat, daß Ihr ihr den Schlüssel raubtet aus dem Kleid. Begreift die Infamie. Mich und zwei meiner treuesten Gesellen wird man rufen, Euch festzunehmen... Ihr wißt es nicht, aber die Kirche hat noch kein Uneingeweihter lebendig wieder verlassen. Dort herrscht Satan, und der Schlüssel, den Euch das Teufelsweib zugespielt hat, führt direkt in seinen Raum. So haben sie Euch, mich und meine treuesten Anhänger. Der Rest ist ein Kinderspiel für sie. Melchior wird den Schierlingsbecher nehmen, ohne es zu ahnen. Was bleibt, ist wenig, ist eigentlich nur sie.« »Nicht dumm«, sagte Gerondet gereizt, »wirklich nicht dumm. Ich wäre auf Esras Hilferuf hereingefallen...« »Nichts, was Freyja in die Hände nimmt«, stimmte Brodlant zu, »geht schief. Sie ist perfekt.« »Aber was ist mit Errenthaler?« Gerondets Mund wurde schmal. »Ich weiß es nicht«, Brodlant hob unsicher die Schultern. »Und der zweite Mann«, fuhr Gerondet fort, »der mit mir kam? Siehst du, alter Junge, da planst du und planst und weißt nicht, wie es draußen aussieht. Errenthaler ist Physiker, und Immelgud trägt so viel Waffen an seinem Körper, daß er damit die ganze Schlachthauseinrichtung samt Mauern und Wehren in ein jämmerliches Ruinenfeld verwandeln könnte. Vergiß, was gestern war. Hier ziehen der Fortschritt und die Technik ein. Und zuallererst, wie immer, beim Töten. Also, was ist das für ein Plan? Oder, noch besser, zeig mir, wen du hier alles festhältst. Kann ich mich umsehen?«
»Warum nicht«, Brodlant erhob sich, ging zur Tür, »folgt mir, aber fragt dort nichts. Darum bitte ich Euch.« Die erste Halle, die sie betraten, war eine riesenhafte, von vielen Feuern erhellte Produktionsstätte. Blasebälge wurden getreten. Es wurde gehämmert, getrieben, geschmiedet. Angekettete Menschen arbeiteten im ewigen Dämmer lodernder Flammen. »Was sind das für Leute?« Gerondet blieb stehen. »Ehemalige Schauspieler«, antwortete Brodlant abfällig, »die nun zum erstenmal in ihrem Leben Dinge von bleibendem Wert schaffen: Helme, Rüstungen, Schwerter, Hellebarden. Hier wird auch Schuhwerk repariert und Kleidung für die Bürger hergestellt.« »Aha«, sagte Gerondet, »und natürlich kann man sie nicht sprechen.« »Natürlich«, antwortete Brodlant. »Und der da?« Gerondet deutete auf einen hageren Mann, dessen ausgezehrte Züge von langem Leiden kündeten. »Sprecht mit ihm!« Brodlant tippte Gerondet in den Rücken. Blieb selbst mit überkreuzten Armen stehen, sah dem Polizisten hinterher. »Guten Tag!« grüßte Gerondet und sah, wie der Hagere unter dem Gruß zusammenzuckte, die Zähne bleckte und ihn verständnislos ansah. »Ist sie da?« Der Hagere raunte es nur und sah sich angstvoll um. »Wer?« »Die unbefleckte Göttin, die überirdische Frau, nach deren Leib ich meine geilen, farbbesudelten Finger ausgestreckt habe. Sie möge mir verzeihen. Und Ihr auch, hoher Herr. Ich habe die Menschen mit meinem Hiersein allesamt besudelt. Verzeiht.« Sein ausgezehrter Schädel sank vornüber auf die Brust, und ein Schüttelfrost warf seinen Körper hin und her. »Bitte, verzeiht mir«, raunte er kaum vernehmbar, »ich werde es nie wieder tun... Aah!« Ein gurgelnder Schrei unterbrach sein Flehen. Seine Augen flammten in hellem Entsetzen auf, seine Hand deutete nach vorn, auf einen unbekannten, fernen Punkt. »Er kommt«, wimmerte er, nun noch unverständlicher, und Schaum stand ihm vor den Lippen. »Da! Da kommt er! Satan kommt! Bitte nicht! Bitte nicht das Gitter öffnen! Ich flehe Euch an. Ich..., ich...« Er brach sein Stammeln ab, röchelte, krallte sich an Gerondet fest. Der fuhr ihm vorsichtig über den Kopf. Viele Male.
Und auch der Polizist sah wieder den nachtschwarzen Konus, sah wieder die seelenlosen, gleichgültigen Augen, die tanzenden Nebel. Nebelfinsternis. »Ich werde Satan töten«, sagte Gerondet leise. Der Maler hob seine Augen, und sie wurden klar und rein. Er konnte noch nicht sprechen, aber seine Augen baten: Tu es! »Ich werde Satan töten«, wiederholte Gerondet noch leiser und löste die Hände des Leidenden von seiner Jacke, »du mußt nun keine Angst haben, denn wenn ich das sage, dann tue ich es auch.« »Ihr habt so gute Augen«, flüsterte der Maler, »ich weiß, daß es Euch gelingen wird. Dann setze ich Euch ein Denkmal aus lichtem Stein. Es wird Euch darstellen, wie Ihr die beiden Satane besiegt.« »Beide?« Gerondet sah den anderen fragend an. »Ja, beide«, flüsterte der Maler, »den schrecklichen und auch den anderen, der sich Magister nennt. Ihr werdet beide töten. Für uns hier. Gebt mir zum Abschied Eure Hand.« Gerondet gab dem anderen die Hand. Der faßte zu und drückte sie. Dabei schob er dem Polizisten ein kleines Pergament zu. Gerondet ging und steckte das Papier unauffällig ein. Brodlant erwartete ihn schon ungeduldig. »Nun, was hat er Weltbewegendes gesagt?« Brodlant versuchte ein Lächeln. »Er hat mir eine Lektion in Sachen Gerechtigkeit erteilt«, antwortete Gerondet eisig, »er hat etwas über unvollkommene Menschen und vom Verzeihen erzählt und von einem Satan, den man wie in einem Zoo besichtigen kann... Wie in einem Tiergarten, meine ich.« »Er hat immerhin Esra geküßt«, versuchte Brodlant einzulenken, »das ist eine Todsünde... Er ist nicht tot.« »Auch darüber ließe sich streiten«, entgegnete Gerondet, »auch darüber, ob er tot ist oder nicht. Sein Leib, der lebt. Wolltest du das sagen?« »Na gut.« Brodlant blinzelte nervös. »Und was habt Ihr ihm mitgeteilt?« »Ich habe ihm gesagt«, antwortete Gerondet leise, »daß ich Satan töten werde, bevor der Tag zu Ende ist.«
»Soll das ein Witz sein«, fragte Brodlant noch unruhiger, »wie könnt Ihr so etwas aussprechen?« »Jetzt möchte ich den Zöpfler sehen«, unterbrach Gerondet seinen Begleiter, »der von der Expedition zurückgekommen ist.« Das Lachen, das sich eben noch als feiner Zug auf dem Gesicht des Schwammigen angekündigt hatte, verließ ihn sofort. Er schluckte. »Absolut geheim«, sagte er unsicher, »ganz und gar verboten.« »Nun, Partner«, Gerondet ließ nicht nach, »wir sind doch Partner. Und als solche sollten wir uns nicht mit Geheimnissen umgeben. Das ist nicht gut. Sonst denkt nachher noch der eine, daß er vom anderen aufs Kreuz gelegt werden soll.« III. Der Raum war provisorisch als Krankenzimmer hergerichtet. Gefäße mit Wasser, Kräutern und Tees wechselten mit Messern, kleinen Scheren und Verbänden. An den Wänden hingen, von zittriger Hand dort angebracht, diverse Zaubersprüche, magische Symbole und Drudenfüße. Dazu kamen Amulette, Ketten, Orakelsprüche. In Gläsern und Flaschen hatte man eingelegte Kröten, Salamander und Molche bereitgestellt. Gerondet blieb einen Atemzug lang auf der Schwelle stehen. Der Mann auf der Lagerstatt sah furchtbar aus. Die Gesichtshaut hatte sich wie altes Pergament gelöst und hing in blutigen Streifen herab, färbte die Laken rostigrot. Seine blinden Augen waren milchig bläulich, sahen aus wie Augen toter Fische. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Pupille und Regenbogenhaut. Alles war geronnen und zerkocht. Die vom Feuer geschwärzte Linke strich wie ein fährtensuchendes Tier über den Stumpf des rechten Armes. Unter dem verrutschten Leintuch, in das man ihn gehüllt hatte, schaute ein Stück hautloses Brustfleisch hervor. Gerondet wußte, daß der Mann im Sterben lag. Der Verwundete atmete sehr flach, und seine Atemzüge waren unregelmäßig. Dazwischen hörte man immer wieder ein leises Wimmern. »Hallo«, stöhnte der Verletzte, der schrecklicherweise bei Bewußtsein war. »Ich bin hier«, Brodlants Antwort war nicht weniger mühevoll, nicht wesentlich verständlicher, »dein Kommandeur, Brodlant.« Aus den blinden Augen rannen zwei Tränen. »Ich habe es gewußt«, hauchte der Sterbende, »daß Ihr noch kommen würdet, Kommandeur. Ich habe es gewußt.
Auch wenn die Ratte von diesem Feldscher sagt... Ich habe zurückgefunden...« Er sprach nicht weiter, atmete schwer. »...ich dachte, ich schaffe es nicht mehr. Es war grausig. Ich habe nichts gesehen. Ich weiß nicht einmal, was geschah... Oder doch... Man sieht es, wenn..., wenn es...« Er stöhnte auf, lag still. Der zerfressene, verbrannte Mund schien höhnisch zu grinsen. »Ich werde dir sagen«, unterbrach Gerondet die sichtliche Rührung, die Brodlant ergriffen hatte, »was war und wie es war. Die Männer mögen ungefähr dreißig Kilometer nach Südwesten geritten sein. Da stießen sie auf eine Sperrtafel. Eine Verbotstafel. Möglich, daß sie nicht lesen konnten oder nichts damit anzufangen wußten. Sie sind also weitergeritten. Stießen auf neue Tafeln. Diesmal waren die Tafeln so dicht, daß man von einer immer zwei andere sehen konnte. Der Text war stets der gleiche: MILITÄRISCHE SPERRZONE HÖCHSTER GEFAHRENKLASSE AUTOMATISCH ÜBERWACHTER RAUM. BETRETEN LEBENSGEFÄHRLICH. Natürlich hat sich niemand daran gehalten. Die Männer drangen tiefer in den Wald ein. Am Ende des Waldes stießen sie auf drei dichtaufeinanderfolgende orangerote Linien mit kleinen Totenkopffähnchen und eine letzte Schilderreihe, die ihnen den Tod verhieß, wenn sie weitergehen würden. Selbstverständlich haben sie, darauf waren sie ja gedrillt, die Warnung mißachtet und die Linien überschritten. Sie sahen in der Ferne einen hochaufragenden Turm. Das war schon alles. Und dann war das Licht da. Die es nicht traf, sahen es als Punkte auf der Haut der anderen. Den es traf, der sah es nicht. Nur Feuer fühlte er, das ihn zerschnitt. Es füllte ihre Köpfe aus, betäubte und tötete sie. Es brannte, raste, tobte, schleuderte sie zu Boden. Der letzte hat sich sicher abgewandt und ist zurück. Hinter die Linien. Es nützte ihm nichts. Er war im Rechner als Aggressor eingespeichert, und das Licht verfolgte ihn und gab ihn nicht mehr frei, bis die Zentrale von seinem Tod überzeugt war. Dann schaltete sich alles automatisch wieder aus, und ich wurde aus dem Bett geholt...« Gerondet starrte auf den Toten. Die einfache Tatsache, daß er noch in dieser Nacht in seinem Bett gelegen haben sollte, verwirrte den Polizisten völlig. Mit einemmal sah er den Ort, Brodlant und selbst den Toten wie etwas Unwirkliches, wie Traumbilder an, die jeden Augenblick zerstieben konnten. »Gehen wir«, sagte Gerondet zu Brodlant, der mit fiebrig glänzenden Augen neben dem Bett gestanden hatte, »ich will hinaus.«
Sie gingen schweigend nebeneinanderher, verließen das Gebäude, den Komplex und hielten erst inne, als sie bei den Holunderbüschen angekommen waren. »Ich habe Euch zugehört«, sagte Brodlant und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »und habe mir gedacht: Der da spricht, liebt den Tod nicht. Er will sich erheben. Aber so viele Augen hat kein Mensch, um den Tod zu sehen, der sich ihm nähert. Und selbst wenn er alles das entdeckt, was nützt es ihm, den Tod zu sehen? Oder glaubt Ihr, es hätte meinen Männern etwas genutzt, wenn sie den Turm gefürchtet hätten?« »Nicht sehen«, erklärte Gerondet, »gehorchen muß man. Weil nicht Menschen, sondern Maschinen Menschen überwachen.« »Ach«, Brodlant lächelte wehmütig, »dann seid Ihr voller Tapferkeit und Entschlossenheit, nur weil hier Menschen alles regulieren? Ich fürchte Eure Welt. Ich fürchte sie.« »Nun ist ein menschenverwalteter Schlachthof«, widersprach Gerondet, »nicht gerade etwas, was man lieben kann. Oder?« Brodlant winkte ab. »Es ist müßig,«, sagte er, »darüber zu streiten. Wichtig ist, hier sind wir ungestört und unbelauscht. Jetzt zu dem Plan. Das mit der Schmiede hab ich einfach so gesagt, damit die Lauscher etwas aufschnappen. Wir wählen den Ort, an dem es uns erwischen soll: die Kirche. Dabei darf ich nicht einfach in Erscheinung treten, weil das mein Todesurteil wäre. Ihr geht voran. Ihr lockt sie in die Falle. Dann komme ich. Gemeinsam werden wir sie schlagen.« »Und wenn du nun alle Leute aus dem Schlachthaus freiläßt«, fragte Gerondet, »wenn du sie bewaffnest und in den Kampf gegen die drei anderen führst?« »Doch nicht mit denen«, sagte Brodlant gereizt, »das ist ein Unding. Glaubt es mir. Ich habe einen Plan, bei dem es auf die Kleinigkeiten ankommt. Auf die Details. Hört also nunmehr zu und prägt Euch alles bestens ein.«
14.00 Uhr: Ger... Professor Errenthaler Edle Forschung fordert große Opfer... »Seht die Natur«, schrieb Ludewig Errenthaler in dem Vorwort seiner Promotion, »seht die Geschöpfe und den Schöpfer. Millionen Versuchsobjekte sind in den Jahrmillionen geopfert worden, um dieses eine Wesen zu schaffen, diesen einen vernunftbegabten Herren über diesen Planeten hervorzubringen. Wie kann man es angesichts der Heerscharen der Geopferten auch nur in Zweifel ziehen, daß die Wissenschaft, die Forschung, die experimentelle Naturlehre auch Versuchstiere, Versuchspersonen und Versuchsobjekte brauchen? Nein, nicht der ist in unserem Jahrhundert der beste, der sich denkerisch einer Lösung nähert, sondern jener, der im Zweifel aller Zweifel selbst seine Studenten, ja Assistenten und zu guter Letzt sich selbst dem reißenden Raubtier Erkenntnis in den Rachen wirft. Und nicht dem gebührt Ruhm, der es zuwege bringt, roten Hafer, graue Gerste oder grünen Weizen zu züchten, sondern einzig jenem, der dem Antichrist unserer Tage mit dem neuen Flammenschwert des Michael entgegentritt. Und dieses Flammenschwert, daran sollte man nicht herumdeuteln, kann nur in den Schmieden der modernen Naturwissenschaften getrieben werden. Herr Einstein, Herr Hahn und die Curies haben uns Tore aufgestoßen, hinter denen Tausende von Schmiedefeuern brennen. Laßt uns diese Räume betreten, laßt uns dort den Hammer und den Amboß finden, und dann laßt uns das Metall, solange es noch glühend ist, zubereiten. In ebendiesem Sinne will ich meine Promotion ,Röntgen-, Teilchen-, Atom- und Neutronenstrahlen' verstanden wissen. Hier haben wir jene Räume, wo uns in einer denkbaren Zukunft der Schlüssel für eine vernünftige Regierung der Welt in die Hand gegeben wird. Sagen wir es so unumwunden, wie es unser Institutsdiener in seiner unverwechselbaren Art ausdrückte: Edle Forschung fordert große Opfer...«
I. Gerondet sah die grüne Hecke, sah sie in ihrer hellen, frühlingshaften Tönung und blieb stehen. Er stand still, erkannte an einigen Durchbrüchen das dunkle, ziegelrote Mauerwerk des einstigen Kirchenschiffs. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihm. Er fühlte sich erstmals müde. Nicht weil ihn die Wege erschöpft hatten, sondern weil er nicht mehr wußte, wie ernst Brodlants Vorschlag war. Er erkannte keine Falle. Alles schien logisch und machbar. »Es gibt eine Bodenklappe neben dem Kanal«, hatte Brodlant in seiner fast beschwörenden Art gesagt, »es geht zwei Meter hinunter, und Ihr stoßt auf knietiefes Wasser. Watet vorsichtig hindurch. In der Kirche stoßt Ihr auf eine eiserne Leiter. Ersteigt sie, und Ihr befindet Euch in ebendem Raum, in dem der Magister und Errenthaler ihre geheimsten Experimente vollziehen. Tötet sie sofort. Verhindert es auf alle Fälle, daß der Magister an den Schwarzen Stein kommt, denn in ihm steckt all seine Macht. Ich werde in der Zwischenzeit mit Freyja abrechnen.« Wieder kroch Gerondet durch die unbequeme Hecke, fühlte, wie einige Stacheln seinen Handrücken blutig kratzten, achtete darauf, daß das Blut nicht an seine Kleidung kam. Ununterbrochen beobachtete der Polizist das fensterlose Gebäude. Achtete auf alle Geräusche. Doch nur einige entfernte Tierlaute brachen die vollkommene Lautlosigkeit in diesem Teil der Ortschaft. Vorsichtig bewegte er sich auf das Mauerwerk zu. Sah schließlich die Klappe, die mit einem moosbewachsenen Eisendeckel nicht nur zugedeckt, sondern auch getarnt war. Es quietschte leise, als Gerondet den Deckel hochhob. Es war, wie Brodlant es gesagt hatte. Zwischen ihm und der Wasserfläche befanden sich ungefähr zwei Meter nasses, moosbewachsenes Mauerwerk. Glattes, lasiertes Mauerwerk. Dicht neben der Klappe lag ein kleiner Marmorquader. Gerondet hob ihn prüfend hoch und ließ ihn in die Tiefe fallen. »He«, murmelte er, »was soll denn das?« Das bewegte Wasser hatte ein Gitterwerk kurz aufschimmern lassen, das den Weg ins Innere verwehrte. Zugleich, Gerondet hätte nicht sagen können, wie er das wahrgenommen hatte, wußte er, daß das Wasser sehr tief war. Gerondet blieb liegen, wie er lag. Starrte auf das sich beruhigende und nun wieder schwarze Wasser, das ihn in seiner Unbeweglichkeit zu verhöhnen schien.
»Also doch«, murmelte er vor sich hin, »eine Falle. Brodlant will seinen eigenen häßlichen Kopf retten und opfert mich, der ich ihn tatsächlich raushauen könnte... Oh...«
Gerondet fühlte, daß er nicht mehr allein war. Ahnungsvoll drehte er sich um. Sah die beiden auf ihn gerichteten Degen und drei Gesichter dahinter. »Brodlant«, stieß Gerondet zornig aus, »du schwachsinniger Verräter...« Der so Geschmähte lächelte schief. »Es muß sein«, verteidigte er sich grimmig, »ich muß Euch zur Strecke bringen. Soll dieses Weib über mich triumphieren, über uns? Über alle Kameraden, die mit mir gemeinsam für Recht und Ordnung sorgen?«
Gerondet blickte wie hypnotisiert auf die beiden gegen ihn gerichteten stählernen Spitzen. »Springt allein hinein«, befahl Brodlant gepreßt »oder ich muß Euch durchbohren lassen.« Gerondet führte die Hand in die Tasche, in der seine Waffe steckte. Ich schaffe es nicht, dachte er, sie beobachten jede. Bewegung von mir. Sie werden zustechen, bevor ich die Pistole entsichert habe. »Und das ist endgültig?« Gerondet schauderte vor dem Schacht und dein glatten, algen- oder moosbewachsenen Wänden. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er wie eine Ratte herumpaddeln würde, während man oben die Klappe quietschend verschloß. »In Ordnung«, sagte er endlich, »ich gehe...« Brodlants gellender Schrei unterbrach Gerondet. Brodlant riß die Arme hoch, griff sich an den Kopf. Er schien nichts mehr zu sehen, stolperte schreiend vorwärts, strauchelte über Gerondets Beine und stürzte kopfüber in die dunkle Flut. Noch ehe die fassungslosen Zöpfler etwas begriffen, feuerte Gerondet. Einer der beiden folgte seinem Kommandeur, während der andere neben der Klappe liegenblieb. »Die Hand aus der Tasche!« Gerondet erkannte die Stimme, noch bevor er den Rufer sah. Immelgud trat in seinem Tarnanzug hinter den Sträuchern hervor. Der Polizist zog die gespreizte Hand aus der Tasche, zeigte, daß sie waffenlos war. Dann betupfte er vorsichtig das Loch in seiner Jacke. »Und jetzt?« Gerondet erhob sich, klopfte sich die Erde von der Hose. »Du hast meine Botschaft erhalten«, sagte Immelgud hart, »und was du nicht wissen kannst: In diesem Labor entstehen ungeheure Erfindungen. Dinge, die wir überführen müssen. Errenthaler ist bereit, sich unter riedländischen Schutz zu stellen, der Magister noch nicht ganz. Aber wir werden ihn überzeugen. Und wir können dich gebrauchen.« »Ich muß Errenthaler sprechen«, sagte Gerondet, »davon mache ich alles abhängig.« »Abhängig«, spottete Immelgud, »du hast keine Wahl. Lebendig kommst du hier nicht weg. Stell dich nicht gegen das Gesetz.«
»Dein Gesetz ist eine Hure«, sagte Gerondet eisig, »jeder gebraucht es, wie es ihm behagt. Zuletzt der, der jetzt im Wasser liegt. Womit hast du ihn beschossen?« »C-Laser«, Immelgud lächelte überlegen, »dafür solltest du mir dankbar sein.« »Ich werde dir später danken«, sagte Gerondet. »Also was ist, kann ich Errenthaler sprechen?« »Das hängt davon ab«, gab Immelgud zu bedenken, »ob er will. Ich kann ihn fragen.« Er drehte sich um, verschwand hinter den Sträuchern. Gerondet kippte den zweiten Zöpfler in das Wasser, schloß die Klappe, legte die Äste obenauf. Dann zog er die Pistole aus der Innentasche, lud die leergeschossenen Kammern nach und steckte die Waffe in die Hosentasche. Er ging langsam um die Sträucher herum. Immelgud kam neben einem antiquiert wirkenden Mann aus dem Dunkel der Kirche. Errenthaler betrachtete Gerondet fast feindselig. »Was wünschen Sie, mein Herr?« Errenthaler steckte die beiden Daumen in die kleinen Taschen seiner Weste, wippte leicht auf den Fußspitzen. »Wann sind Sie angekommen, Professor?« Errenthaler lachte hastig. »Und um mich das zu fragen«, stellte er belustigt, aber auch ein wenig verärgert fest, »reißen Sie mich von meinen Experimenten fort?« »Ihre Frau«, erklärte Gerondet sachlich, »hat sieben Monate nach Ihrem Verschwinden einem Sohn das Leben geschenkt. Dieser Sohn ist verheiratet und hat drei Kinder. Einen Jungen und zwei Mädchen. Ihre Enkel, Professor. Ich dachte, daß es Sie interessiert.« Errenthaler wurde zuerst rot, dann sehr blaß. Er atmete heftig. Die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu treten. »Woher wollen Sie das wissen?« »Man hat es uns auf der Polizeihochschule erzählt«, sagte Gerondet, »dort wurde Ihr Fall als der eines hundertprozentig spurenfreien Verschwindens einer Person dargelegt. In einem Seminar hatten wir Gelegenheit, mit einem alten Mütterchen zu sprechen, die nach dem Gesetz noch immer Ihre Frau ist. Und ein Enkel kam auch. Als Begleiter sozusagen.« Errenthaler schluckte. Seine Augen pendelten zwischen Immelgud und Gerondet hin und her. Hilflos wirkten diese Augen. Wie zwei Fische, die eine mächtige Woge auf das Trockene gespült hat.
»Und was..., was hatten Sie für einen Eindruck von meiner Frau?« Errenthaler setzte die Brille ab, putzte sie umständlich. »Woran arbeiten Sie, Professor?« »Das können Sie nicht begreifen«, Errenthaler blickte in das Wasser des kleinen Kanals, »ich arbeite an der Zeit. Das ist die vierte Dimension des Raumes oder auch die Umkehrung des Raumes. Stellen Sie sich nur eine Armee vor, unter deren Füßen die Zeit so lange davonläuft, bis sie in der Trias stoppt. Wo jetzt Festland ist, war damals Wasser. Geschütze, Panzer, Flugzeuge im Wasser. Man muß nicht so gigantische Vorhaben sehen. Eine Granate, auf Sie abgefeuert und präzis auf Sie gerichtet, verfehlt ihre Wirkung, wenn zwischen Ihnen und dem Geschoß nur eine Sekunde Zeit liegt. Dabei können Sie und das Projektil an einem Ort sein. Man kann es auch so sehen: Der Herr über die Zeit trifft immer, kein Gegner aber trifft ihn je. Und auch Satan ist nicht zu verachten. Großstädte, die in Panik verfallen, stellen kein ernsthaftes Widerstandspotential dar. Und das Ganze mal zehn- oder zwanzigtausend. Industriegüter und Produkte werden nicht angerührt. Versorgen kann er sich allein. Ist das nichts? Es wird Kriege geben, wie sie bisher undenkbar sind. Alles läuft lautlos und wirkungsvoller denn je ab. Und nur die Todesschreie der Feinde werden das gigantischste Schauspiel aller Zeiten untermalen. Hören Sie, Gerondet. Als Polizist ist man auch immer Realist. Geben Sie mir Ihre Waffe, und zeigen Sie so an, daß Sie zu uns gehören.« »Tja«, Gerondet wischte sich mit dem rechten Zeigefinger über den Nasenrücken, »eigentlich ist das meine Chance, was? Man möchte schließlich nicht immer nur der Querulant der Weltgeschichte sein. Na, also gut.« Er sah aus den Augenwinkeln, daß Immelgud ihn minutiös beobachtete, und steckte wie absichtslos seine Hände in die Hosentaschen. Machte einen ebenso absichtslosen Schritt auf Errenthaler zu. Mit unglaublicher Schnelligkeit riß er die Waffe aus der Tasche, wirbelte den Professor herum, daß dieser zwischen Immelgud und ihm war, und drehte Errenthalers linken Arm heftig nach innen oben. »Waffe fallen lassen«, rief Gerondet nun Immelgud zu, »sonst fällt dieses Genie hier meinen Kugeln zum Opfer.« Der Antiterrorist parierte, wie er es gelernt hatte. Seine Waffe polterte auf die Steine. »Das wird dir leid tun«, sagte er leise und zugleich drohend, »das wird dir sehr leid tun. Ich werde dich umlegen. Abknallen. Du kommst hier nie weg.« Gerondet ging, immer Errenthaler als Schild benutzend, rückwärts durch die Sträucher. »Als du noch mit deiner elektrischen Eisenbahn gespielt hast«, rief er dem zornigen Immelgud zu, »da habe ich schon Verbrecher gejagt, die alle nur eins wollten: auf mich schießen. Und wie du siehst, ist das noch niemandem
gelungen. Solltest du Esra treffen, dann grüße sie von mir und sage ihr, daß ich ihren Vorschlag akzeptiere. Sie bekommt die Köpfe der beiden, die sie haben möchte. Und einen dritten Kopf gratis dazu. Vergiß das nicht!« II. Gerondet sah, als er durch die Straßen schritt und sich heftige Vorwürfe machte, Immelgud nicht die Waffe abgenommen und an sich genommen zu haben, den fetten schwarzen Qualm, der träge aufstieg, und wie die dünnen Rauchfähnchen der Schornsteine in konzentrischen Kreisen davonzogen. Er wußte, was das bedeutete: Die Schmiede war zusammengestürzt, hatte Freyja unter sich begraben und brannte zur Ruine aus. Brodlant hielt also, was er versprach. Wenigstens sein Plan funktionierte, auch wenn er selbst jetzt keinen Nutzen mehr davon hatte. Als Gerondet bei den schwelenden Trümmern ankam, stieg nur noch zarter, durchsichtiger Rauch auf. Er trat an zwei alte Frauen heran, deutete auf das Ruinenfeld und fragte nur: »Wer?« »Die Frau Meisterin«, sagte eine der Alten, »eine redliche Frau, die sich nie schonte. Eine rechtschaffene Frau.« »Und der Schmied?« »Als er kam«, die Alte schaute angestrengt in die Feme, »als er erfuhr, daß sein Weib unter den Trümmern liegt, ging er mit dem Gesellen zusammen fort. Er sprach nicht ein Wort, und nur seine Augen waren glühender als die Dachsparren in den Flammen.« »Und«, Gerondet machte eine kleine Pause, »es hat der Frau niemand geholfen?« »Nein«, die Frau schüttelte angstvoll den Kopf, »man darf nicht helfen, wenn das Zeichen der Verfemten an der Wand erscheint. Das grausige Zeichen. Die Frau lebte noch, als die ersten Neugierigen ankamen. Sie schrie und rief etwas. Geholfen hat keiner. Sie mußten tatenlos zusehen, wie die Ärmste verbrannte.« »Ich kenne das Zeichen«, sagte Gerondet bitter, »eure Hohepriesterin trägt es bei ihren salbungsvollen Reden. Ein Turm mit zwei Fenstern.« Gerondet drehte sich weg, nahm den unterbrochenen Weg wieder auf. Gerondet stieg die Treppen nach oben. Hielt sich nirgends auf. Er staunte, als er die reparierte Wohnungstür sah. Man hatte alle Spuren seines gewaltsamen
Eindringens beseitigt. Die Tür stand weit offen. Auch die Wohnzimmertür. Gerondet hielt den Atem an. Lauschte so. Alles war stumm, leblos. Vorsichtig trat der Polizist in den Korridor, durchmaß ihn und trat in das große Zimmer. Die Möbel waren durch andere ersetzt. Da war ein hochbeiniger Tisch. Zierlich und geschwungen. Ein mit Samt bezogenes großes Lager, das ihn an ein Vogelnest erinnerte. Bärenfelle bedeckten den Fußboden. Zwei mindestens drei Meter hohe Spiegel standen hinter einem länglichen Tisch, auf dem wohlgeordnet Fläschchen, Flakons und metallene Schachteln sortiert waren. Gerondet öffnete flüchtig eine Flasche und roch daran. Er dachte, während er die Luft einsog, an eine geheimnisvolle violette Frucht, die tiefversteckt im Wald wuchs. »Puh«, machte Gerondet und steckte sich eine Zigarette in den rechten Mundwinkel, nachdem er die Flasche geschlossen hatte. Gerondet ging mit der kalten Zigarette im Mundwinkel auf und ab. Das hier, stellte er für sich fest, ist überhaupt keine Wohnung, das ist die vielgepriesene Garderobe. Die Fragen, die sich daraus ergeben, lauten: Wo wohnt das Mädchen wirklich? Wer weiß jetzt schon von meiner Anwesenheit? Welcher Hausmeister bringt hier alles in Ordnung? Dem Polizisten fiel das Pergament des Malers ein. Er holte es aus seiner Tasche. Vorsichtig faltete er das Blatt auseinander. DER VOGEL ANGST, hatte der Maler unter seine Rötelskizze geschrieben. Das kleine Bild zeigte eine vielarmige Fledermaus, deren ohrloser konischer Kopf gleich vier Augen besaß. Natürlich vier Augen, dachte Gerondet, diese Augen sind so kalt, so schrecklich maschinell, daß man auch hundert zeichnen könnte. »Also eine Fledermaus«, murmelte er, »eine ungeheure Fledermaus. Warum auch nicht. Schließlich stimmt alles an ihr.« »Dreht Euch um!« Gerondet dachte nicht nach. Er gehorchte einfach. Drehte sich um. Diesmal waren vier gespannte Armbrüste auf ihn gerichtet. »Das wird ja immer besser«, sagte Gerondet, »wer schickt euch?« »Streckt die Arme vor!« Auch dieser Aufforderung kam Gerondet nach. »Bedient euch, Männer.«
Der Wortführer zog einen Strick unter seinem Wams hervor und machte die drei Schritte nach vorn. Gerondet ergriff ihn und schleuderte ihn hart nach rechts und dann nach links. Das häßliche Sirren der abgeschossenen Pfeile vermischte sich mit dem Schmerzensschrei des tödlich getroffenen Zöpflers. Gerondet schleuderte den Sterbenden den anderen entgegen und sprang selbst mit einem Satz durch das nur angelehnte Fenster. Es krachte, splitterte und klirrte. Als Gerondet im Fall nach unten blickte, wußte er, daß er nun endgültig verloren war. Da standen zehn Zöpfler und hielten ein rundes schwarzes Tuch auf, das, kaum war er gelandet, über ihm zusammengeschlagen und zugeschnürt wurde. Man hob ihn hoch und warf ihn unsanft auf eine schmale hölzerne Bank, von der Gerondet abrutschte und zu Boden stürzte. Gleich darauf trappelten Schritte. Türen wurden zugeschlagen, und das Fahrzeug, in dem er lag, setzte sich leicht schaukelnd in Bewegung. »Und wohin geht die Reise, Freunde?« Gerondet erwartete keine Antwort. Es war einfach ein Versuch. »Wetten«, fuhr der Polizist fort, »daß meine Zigarette völlig zerdrückt ist? Habt ihr keinen Tabakladen hier?« Es war so still, daß Gerondet dachte, er wäre allein. »Schickt euch Immelgud?« Die Frage sollte leicht klingen, aber die Vorstellung, daß es zur Kirche ging, beunruhigte Gerondet tief. Die Welt unter dem schwarzen Tuch blieb antwortlos und dunkel. Gerondet gab es auf. Auch er schwieg jetzt. Achtete auf die Atemzüge seiner Bezwinger und vermochte doch nicht zu sagen, wie viele es waren. Sie hielten schließlich an. Erleichtert stellte Gerondet fest, daß die Fahrtzeit nicht ausgereicht hatte, um zur Kirche zu kommen. Das war erst einmal beruhigend. Jetzt wurden die Türen aufgestoßen, und viele Arme packten den Polizisten, hoben ihn heraus. Er landete auf den Schultern eines hünenhaften Mannes, der mit ihm losging. Ein wenig geradeaus. Dann eine Treppe hoch. Gleich darauf wieder einige Stufen hinab. Noch einmal ging es nach oben, ehe es lange Zeit nach unten führte. Die hallenden Schritte verrieten dem Polizisten, daß sie in einem grottenartigen Gewölbe sein mußten. Zwei Armpaare packten das schwarze Tuch, holten ausgiebig Schwung und schleuderten Gerondet durch die Luft. Der Aufprall war weich. Gerondet hörte, wie eine schwere Tür zugeschlagen Wurde, wie zwei quietschende Riegel bewegt wurden und sich die hallenden Schritte entfernten. Es war so still, daß Gerondet die Männer die lange Treppe nach oben gehen hörte. Das letzte, was an sein Ohr drang, war das Schlagen einer fernen Tür, die jemand nachlässig ins Schloß warf.
Gerondet verhielt sich still. Lag und lauschte. Aber außer Wassertropfen, die mit stupider Gleichförmigkeit auf eine Wasserfläche fielen, vernahm er nichts mehr. »Ich bin nicht in der Kirche«, sagte sich Gerondet und erschrak über den Klang seiner Stimme, »die Fahrt war nur kurz.« Gerondet probierte sein Gefängnis. Das Tuch war derb und ohne Messer nicht aufzuschlitzen. Gerondet rollte sich über den Boden. So lange, bis er an eine Wand stieß. Wie eine Raupe kroch er an der Wand entlang. Versuchte irgendein Hindernis zu entdecken. So kroch er zwei Wände ab. Umsonst. Erst an der dritten Wand fand er, was er suchte einen Haken. Vorsichtig legte er etwas Stoff über das kühle, feuchte Metall, stieß sich dann mit aller Kraft mit den Füßen von der Wand ab. Das Geräusch des aufreißenden Stoffes war so laut, daß Gerondet meinte, es müsse bis nach oben zu seinen Bewachern gedrungen sein. Er rollte wie ein Käfer aus der Puppenhülle. Immer noch war es finster, wie unter dem Tuch. Die Luft war frisch, aber auch feucht. Gerondet tastete sich zu dem Sack, hob ihn vorsichtig hoch und suchte den Punkt, vom dem seine Reise begonnen hatte. Er fand das Stroh. Es war modrig, stank nach Pilzen und Schimmel. Gerondet stopfte das glitschige Material in den Sack. Brachte soviel davon unter, bis er meinte, seine eigene Körperform nachbilden zu können. Als diese Arbeit beendet war, hob er das gestopfte Etwas auf, tastete sich bis in eine Ecke und legte es dort so ab, daß die aufgerissene Seite unten war. »Hoffentlich sieht das nicht wie ein aufgeblasener Tintenfisch aus«, raunte er sich selbst zu und ging daran, sein Gefängnis zu untersuchen. Zuerst aber zog er die Waffe aus der Tasche, entsicherte sie, und als ihm Brodlants Falle einfiel, blieb er entschlossen stehen. Fand nun im nachhinein, daß es leichtsinnig von ihm war, sich wie eine Raupe fortbewegt zu haben. Wie, wenn es auch hier einen Abgrund gab? Irgendwo tropfte Wasser. Natürlich dachte Gerondet auch an Satan. Und ihm schien, als schwebten sie überall, diese grauen Augen. Gerondet fröstelte. Tastete sich zur Wand zurück, blieb dort stehen. Fühlte den Drang in sich, einfach zu feuern. Irgendwohin. »Nein«, flüsterte der Polizist, »mach dich bloß nicht verrückt. Zuerst waren die Atemzüge da. Die kratzigen Atemgeräusche. Und hier ist alles still.«
Ich werde mir eine Zigarette anzünden, beschloß er, vielleicht sehe ich etwas im Schein meines Feuerzeugs. Er fischte mit der Linken eine Zigarette und dann das Feuerzeug aus der Tasche. Mit der waffentragenden Rechten schirmte er die Augen ab, um nicht selbst geblendet zu sein. Die kleine Flamme erhob sich über dem Feuerzeug. Gerondet sah den kleinen, modrigen Strohhaufen und wäre fast vor seinem Double in der Decke erschreckt. Das sah wie ein Mensch aus. Die Wände waren roh und aus großen, rechteckig behauenen Steinen. Eine schwere hölzerne Tür versperrte ihm den Weg zu dem Gang, der in die Freiheit führte. Neben der Tür hockten vier Ratten, die ihn aus großen, dunklen Augen musterten. Sie schienen nichts anderes zu tun, als alle seine Bewegungen zu verfolgen. Gerondet fand das erbaulich. Er eilte auf die Tür zu und prüfte sie in aller Eile. Eine Möglichkeit, diese Konstruktion zu überwinden, gab es für einen Mann ohne Werkzeug nicht. Sie war solide Handarbeit, und Schrauben, Scharniere und Riegel waren auf der Gangseite angebracht. Gerondet löschte das Feuerzeug, nachdem er seine Zigarette entzündet hatte. Er war erst einmal beruhigt. Sicherte seine Waffe, steckte sie wieder ein. Lehnte sich gegen die Tür und lauschte. Eine lange Weile blieb es still. Dann vernahm er das Trappen vieler kleiner Füße. Aufgeregt schnüffelte es. Im nächsten Augenblick fühlte Gerondet, wie ein leichter Tierkörper über seinen Schuh huschte. »Hallo«, flüsterte Gerondet, »ich gefalle euch wohl, was?« Der Klang seiner Stimme vertrieb die neugierigen Nager. Sie stoben auseinander, sammelten sich aber gleich wieder und näherten sich dem Polizisten von neuem. »Ich verspreche euch«, sagte Gerondet, »daß ich alle Krehersthaler Rattenfallen aufkaufe und im Dorfteich versenke, wenn ihr die Tür zernagt.« Ein feines, helles Fiepen war die Antwort auf sein Angebot. Erneut setzte das Getrappel ein, schoben sich die warmen Tierleiber an Gerondets Knöchel vorbei. Gerondet ekelte sich nicht vor Ratten . Er hatte es nie getan. Sagte er einmal Ratte, dann meinte er Erpresser, Zuhälter, Dealer, Kidnapper oder Flugzeugentführer. Und doch schauderte es Gerondet, als er das Schrapsen vieler feiner Zähne an der Tür vernahm.
Das ist doch unmöglich, dachte er, sie können doch nicht verstehen, was ich gesagt habe... Unbeirrt erklang das Nagen der Tiere. Gerondet nahm noch einmal das Feuerzeug. Ließ es aufflammen. Was er sah, mußte ein Traum sein. Ungezählte Nager standen übereinander, krallten sich mit den Vordergliedmaßen am Türholz fest und fraßen sich tiefer und tiefer ins Holz ein. Ein feiner gelblichweißer Spanregen ging rund um die Tiere nieder. Das Feuerzeug erlosch, und Gerondet steckte es wieder ein. »Versteht ihr meine Sprache?« Gerondet fragte hörbar, aber nichts und niemand antwortete ihm. Vielleicht, überlegte sich der Polizist, daß sie instinktiv erfassen, was mich daran hindert, mich frei zu bewegen. Und mit den Zöpflern werden selbst sie keine guten Erfahrungen gemacht haben. Das wird es sein. Wir haben einen gemeinsamen Gegner. Gerondet vernahm das Quietschen der fernen Tür. Dann die Schritte auf der Treppe. Ein schmaler Lichtschein durchzog den Gang. Tanzte auf und nieder. Die Ratten stoben nach allen Richtungen auseinander. »Jetzt bin ich dran, Freunde«, flüsterte Gerondet und nahm hinter der Tür Aufstellung. Die flackernden Lichtfetzen schlossen sich. Ein Mann, der eine Fackel trug, ging drei anderen voraus. Der schwere Riegel wurde umständlich zurückgeschoben Gleich darauf der zweite. Vier Schatten verdeckten das Licht der Fackel. Tanzten über die Wände. »Bei Kasriel«, stöhnte einer mit einer tiefen Stimme, »er rührt sich nicht mehr.« Gerondet sah sein Werk an. Da lag ein Toter. Offensichtlich »Dann gnade uns die Hölle«, ließ sich eine zweite Stimme vernehmen, »wenn er erstickt ist, geht es uns an den Kragen.« Die vier Männer traten nur zögernd ein und näherten sich sehr vorsichtig dem Bündel. Keiner wollte es als erster berühren. Gerondet schlich auf Zehenspitzen nach draußen, schob, so leise es ging, die Tür zu und bewegte einen Riegel. Natürlich quietschte der heftig auf. Die Zöpfler fuhren herum. Gerondet hieb den Riegel mit einem Fuß ganz zu, dann den zweiten.
Entschlossen sprangen die Eingekerkerten gegen die Tür. »Viel Spaß auch«, sagte Gerondet vom Gang her, »wenn ihr Brotkrumen in den Taschen habt, könnt ihr einem erstaunlichen Zirkus beiwohnen.« Gerondet lief los. Ziemlich schnell. Und das, obgleich es stockdunkel war. Er erwartete wütende Faustschläge gegen das Holz. Rufe. Gebrüll. Nichts dergleichen geschah. Nur die Ratten hörte der Polizist. Grelle, äußerst aggressiv klingende Pfiffe. Gerondet ging langsamer. Er erinnerte sich daran, daß er einmal nach links um eine Ecke getragen worden war. Dieser Weg mußte also jetzt nach rechts gehen. Gerondet nahm das Feuerzeug zu Hilfe. Nur wenige Schritt vor ihm gabelte sich der Weg. In der Mitte aber gab es eine Treppe, die tief hinunter in das Erdreich führte. Das war keine Sekunde zu früh, dachte er, wandte sich dem rechten Abschnitt zu und sah von fern ein erstes schmales Licht, das sehr weit weg und hoch über ihm war. Auf dieses Licht ging er zu. Gerondet stolperte über die unterste Stufe jener Treppe, die er heruntergetragen worden war. Sie führte direkt zu dem Lichtstreif hinauf. Stufe für Stufe überwand der Polizist. Näher und näher kam das Licht. Mit seinen vorgestreckten Händen ertastete er die angelehnte Tür. Dahinter war es ebenso still wie unten. Vorsichtig, alle Geräusche vermeidend, schob Gerondet die Tür auf. »Kommt, kommt schon!« Der das sagte, war ein Zöpfler. Gerondet blieb stehen, sah sich um. Lächelte jovial. Sie standen an den Wänden und am Fenster, saßen auf Stühlen, Tischen, Hockern. Sie trugen Degen, Armbrüste, Stahlkugeln an dünnen Ketten und eine Art Wurfharpune. Es waren mindestens zwanzig, die hier versammelt waren. »Eine gelungene Überraschung«, stellte Gerondet lakonisch fest, »ich habe draußen nicht einen Laut gehört. Hochachtung.« »Was habt Ihr erwartet?« »Einen Durchschlupf im Netz«, sagte er und erzeugte schallendes Gelächter im Raum. Sie schlugen sich auf die Schenkel vor Spaß, verstummten aber augenblicklich, als ihr Wortführer eine knappe Handbewegung machte.
»Euch steht noch der Weg nach unten offen«, der Sprecher deutete auf die finstere Treppe hinter Gerondet, »jenseits Eures Kerkers geht der Weg noch weit - wollt Ihr es nicht dort entlang versuchen?«. Gerondet sah die Blicke der Zöpfler, die nun anders auf ihn gerichtet waren. Spannung lag in ihnen. Einige glänzten in einer Art stummer Erwartung einer unerhörten Begebenheit. Gerondet machte einen Schritt in den Raum hinein. Instinktiv. Fühlte, daß der finstere und endlose Keller eine Gefahr barg, der sie ihn ausliefern wollten. Die Tür klappte hinter Gerondet zu. »Was ist mit den Knechten«, erkundigte sich jetzt der Wortführer, »die Euch holen sollten?« »Sie sind da«, gab Gerondet Antwort, »wo ich vorher war. In der Zelle.« Wieder flackerte Gelächter auf. Schadenfrohes Lachen, das den vier Männern galt, die sich überlisten ließen. Der Wortführer deutete auf zwei Männer. Die erhoben sich straff, nahmen aus Wandhalterungen je eine Fackel und verschwanden so im Kellergang. Stille trat ein, und Gerondet hörte, wie sie die Treppe hörbar hinabstiegen. Er vernahm auch Gesprächsfetzen, seltsam laute Reden, die ihn an Kinder erinnerten, an ängstliche Kinder, die absichtlich laut sprechen oder singen oder pfeifen, um ihre Furcht zu besiegen. Alles lauschte noch, als schon die letzten Wortfetzen verklungen waren. Schließlich erklang hastiges Getrappel. Jemand kam polternd die Treppe nach oben. Die Tür flog auf. Die beiden Männer erschienen im Raum, schlugen die Tür hinter sich zu, legten drei mächtige Riegel vor. Erst jetzt konnten sie sprechen. »Sie sind tot«, rief der eine der beiden verzweifelt aus, »schrecklich tot. Alles voller Blut. Die Zelle. Alles. Zerbissen. Tot.« »Dummheit und Arroganz«, sagte der Wortführer theatralisch, »sind noch immer die Geschwister des Todes. Es hätte mich gewundert, wenn sie noch lebten, da ihnen sogar dieser dort entkommen ist.« »Welch eine Kameradschaft«, kommentierte Gerondet zornig. »Wir haben ein Problem«, der Wortführer kniff die Augen zusammen, sah so Gerondet an, »das sind die Ratten. Heute weiß niemand, was einst geschah. Sie werden zunehmend klüger, gerissener. Und was immer wir zu ihrer Beseitigung unternehmen, wir werden ihrer nicht mehr Herr. Und jene vier, die Euch holen sollten, sie sind bestallte Knechte, keine Kameraden von uns, sind damit beauftragt, dieses Nagerzeug zu vernichten. Auszumerzen sozusagen. Es muß
den Kindern der Mutter Irrlicht ein Vergnügen gewesen sein, sich ihrer ärgsten Feinde zu entledigen.« »Ah ja«, Gerondet machte einen Schritt auf den Sprecher zu, »das ist ja hier die übliche Art, Frieden zu schaffen, was? Einer wird einem anderen geopfert. Der ist vorübergehend still, und man kann sich in aller Gelassenheit das nächste Opfer, den Sündenbock von morgen, aussuchen. Jedenfalls ist mir noch kein Schuldiger begegnet, der hier sterben mußte.« Eine peinliche Stille trat ein. Niemand lachte. Gerondet fiel besonders der fragende Blick eines hünenhaften Zöpflers auf, der ein wenig abseits saß und die gleichen Symbole wie der trug, welcher die ganze Zeit geredet hatte. »Was soll das heißen?« erkundigte sich der Wortführer. »Was schon«, Gerondet fixierte den Redner, »nur soviel: Der ehemalige Bürgermeister hätte unter menschlichen Bedingungen ebensowenig den Tod verdient wie die Frau des Schmieds und alle anderen, die nicht mehr leben. Und Eure Geschwister, all die ahnungslosen Kinder, die ihr hergegeben habt, die werden euch schon noch aufgerechnet werden, Leute ... Also tut nicht so, als wüßtet ihr nicht, was hier geschah.« »Genug«, rief der Wortführer heftig aus, »wir haben Euch lange genug unser Ohr geliehen. Schweigt und folgt mir!« Die Zöpfler sprangen auf und umringten Gerondet. Sie drängten ihn, ohne ihn zu berühren, in die gewünschte Richtung. Der Wortführer schritt voraus. Gemessenen Schrittes. Sie gingen durch eine Tür. Folgten einer kurzen Treppe nach oben und erreichten einen runden Platz, der mit vielfältigen Blumengebinden geschmückt war. Die Wände waren mit unheimlichen Bildern bedeckt, und eine doppelte Säulenreihe teilte den Raum in drei gleiche Teile. Freyjas Haus, dachte der Polizist, natürlich sind wir in Freyjas Haus. Und er fragte sich, wie es jetzt im Schlachthaus aussehen mochte, da es Brodlant nicht mehr gab. Man müßte dorthin, folgerte er, man müßte dorthin, weil da bestimmt bald alles durcheinandergeht.
16.00 Uhr: Ger... Heribert Brodlant Zwei Schritt daneben läßt es sich leben... Das hatte Heriberts Mutter, die Marketenderin, ihrem Sohn beigebracht. Es war der Krieg, der zwei Schritt daneben viel edle Beute brachte. Wer sein Vater war, erfuhrt Heribert nie, nur als man ihn zur Offiziersschule schickte, mochte er ahnen, daß es eine höhergestellte Persönlichkeit war, auch wenn die Mutter immer sagte: So ein Kerl unterm Rock ist wie ein Ziegenbock, ist wie eine unwillige Geiß, und nun sei leis! Heribert Brodlant war nicht glücklich an der Kadettenschule, denn es war wohl bekannt, wer und was seine Mutter war. Er war mehr Laufbursche, Stiefelknecht und Wachesteher als Offiziersschüler. Aber je mehr man ihn triezte, desto verbissener suchte er die Nähe der anderen, lernte fieberhaft und gab erst auf, wenn er zusammenbrach. Was also Wunder, wenn er als einer der Besten die Schule absolvierte und ein einzigartiges Empfehlungsschreiben hatte. Und doch handelte er nach dem Spruch der Mutter: Zwei Schritte ...Er trat nicht dem Heer bei, denn es drohte allenthalben eine Auseinandersetzung, und der große Religionskrieg warf schon jetzt seine Schatten voraus. Er kam nach Ger ..., stellte sich den Ratsherren für eine angemessene Entlohnung zur Verfügung und schuf eine Bürgerwehr, die in den ersten Jahren allenthalben Respekt einflößte. Doch Spielkarten, Affären und Branntwein ließen Brodlant nachlässiger und nachlässiger werden. Das änderte sich erst, als der Magister zum Herren der Stadt avancierte und völlig neuartige Aufgaben an die Bürgerwehr verteilte. Brodlant aber erfüllte die Aufgaben so gut, daß er, als die Bürgerwehr von den Zöpflern abgelöst wurde, in deren Stab übernommen wurde ...
I. Als sie die Säulenreihen durchschritten hatten - Gerondet fand die Darstellungen an den Wänden, jene von Begierde getriebenen kleinen Menschengruppen, geschmacklos und übertrieben -, sanken die Zöpfler in die Knie. Das sah so gekonnt, so alltäglich aus, daß dieser Bewegung jedes Element der Unterwerfung oder Demut fehlte. Gerondet spürte eine kräftige Hand in seinem Nacken; man wollte ihn zu Boden drücken. Aber mit einer Abwehrbewegung seines Ellenbogens entledigte er sich seines Peinigers und blieb stehen. »Versuch das nicht noch einmal«, sagte Gerondet und wandte leicht den Kopf. Sah den scharf an, der ihn hinunterdrücken wollte. »Wir begrüßen Euch«, sprach salbungsvoll der Wortführer, und alle berührten mit der Stirn den Fußboden, kamen dann wieder hoch, »die Ihr das ewige Licht jener anderen Welt seid. Wir bringen Euch, Erwählte, den einen, der Euch und Euren Gespielinnen zugeordnet ist von Belial in seiner höllischen Güte. Zürnt nicht unserer Saumseligkeit, aber die Knechte, die jenen dort holen sollten, ließen sich von ihrem Gefangenen in unserem Verlies einsperren und von Mutter Irrlicht die Gurgeln durchnagen.« Gerondet hörte Freyjas belustigtes Kichern. Zwei Zöpfler packten den Polizisten, schoben ihn nach vorn. Näher an einen kuppelförmigen Raum. Gerondet sah Freyja und ihre Priesterinnen. Der von vielen Fackeln erhellte Raum besaß keine Fenster. Eine breite, ausladende Marmortreppe führte zwei Meter nach oben, und dort stand ein metallener Stuhl, dessen Sitz und Rückenfläche mit purpurfarbenem dickem Samt ausgelegt war. Freyja Schimmelpfennig saß dort. Weiße und goldene Gewänder umflossen die Sesselbeine und die obersten Treppenstufen als weißer Gischt. Ihr Gesicht glänzte in fiebriger Erwartung, und ihre Atemzüge waren lang auseinandergezogen. Jeder einzelne ließ ihren gesamten Leib erbeben. Ihre unnatürlich großen Augen ruhten auf Gerondet. Jemand berührte den Polizisten im Rücken, und er ging langsam in den Raum hinein. Trat an den Fuß der Treppe. Es roch betäubend. Weihrauch und fernöstliche Räucherstäbchen erzeugten ein einschläferndes und gleichzeitig erregendes Gefühl. Gerondet stand still und blickte hinauf in das übernatürlich schöne Gesicht, und plötzlich waren für ihn Esra und Freyja ein und dieselbe Person. Hier saß sie, die vollkommene, die sehnsuchtsferne und unerreichbare Frau, saß die tanzende Hohepriesterin der erlösenden Liebe, saß jene, die mit einer Handbewegung das Grauen des Satans stoppen konnte, saß die Liebe.
»Ja«, sagte Gerondet, der in den himmelsfernen Augen der Frau die Frage gesehen zu haben glaubte, ob es ihn zu ihr zog, »ja, ich bin bereit, ich bin der Deine. Ich liebe dich, seit ich dich sah, und ich will vergehen, wenn mich einer von dir trennt. Ja.« Und Gerondet sah, wie die Augen größer und größer wurden, wie eine endlose Wasserfläche, über die er dahinglitt, dahinflog, in die er schon bald eintauchen würde, und er wußte, daß er sich dann in wohliger Glückhaftigkeit auflösen würde, daß er dann nicht mehr er war, sondern ein Zwitterwesen, aus dem zweifachen Sie und dem Ich bestehend, und es schien ihm, als hätte er sein ganzes Leben nur gelebt, um diesen einen letzten Punkt erreichen zu können. Eine ungebärdige Kraft in ihm hob ihn hoch, ließ ihn die Stufen hinaufschweben, ließ ihn näher und näher an die Fluten des Glücks taumeln, ließ ihn eins werden mit jener Flamme aus der anderen Welt. »Du bist erkoren«, vernahm er eine endlos ferne, eine sanfte und liebliche Stimme, »die Zeremonie des Fruchtbarkeitsopfers zu erleben. Du bist geheiligt und unantastbar für alle irdischen Kräfte und alle Dämonen der Lüge. Du lebst für Persephone, die Göttin des Frühlings und der aufbrechenden Blüten, für Pluton, ihren Gemahl, für Belial in seiner Endlosigkeit und bist dem weltlichen Kreuz entrissen, um jener einen, die es wert ist, eine Leibesfrucht einzupflanzen in ihren Leib.« Freyjas Mund schien Gerondet ein rubinroter Fisch, ein Feuerfisch, der, sich in blaßhellen Fluten tummelnd, verlockend und lebendig die Zauberkraft verleihen konnte, die sich aus den Lichtern der Fackeln und aus den Gebärden der am Fuße der Treppe sitzenden Priesterinnen ergoß. Er sah den Feuerfisch näher und näher kommen, sah, wie er anschwoll und die blasse Bläue des Meeres ausfüllte, die Fluten über die Ufer treten ließ, sah, wie viele kleine Perlenfische, eingeschlossen im Ring des Sonnenfeuers, sich aus ihrer Gefangenschaft befreiten, wie auch sie ihm entgegeneilten, und ein rubinroter Rochen, aufgestiegen aus dem Flammensee der Unterwelt, des Hades, berührte und umschloß den liebenden Mann so sanft und so unentrinnbar, daß er sich glücklich seufzend den Wogen und dem Meere überließ. Er flog, raste, jagte dahin. Tauchte ein in die Seen, erhaschte den Feuerfisch, hielt ihn, wollte ihn nicht mehr hergeben und empfing die lodernde Hitze einer auf die Erde gekommenen Göttin, wurde durchpulst von der Heftigkeit des Weibes Universum, verlor sich in den bleichen Fluten des menschgewordenen Styx, des fleischhaften Acheron, es trieb ihn auf der Fähre des Charon zwischen den glühenden Bergen der anderen Welt hin und her, ließ ihn an Proserpinas Thron landen, den zu erreichen die Zweit-, die Neu-, die Wiedergeburt bedeutete, bedeuten mußte. Nur manchmal zuckten andere Bilder auf, Bilder, die alles nur noch verstärkten, seine Sehnsucht anspornten: Dann starrten zwei wimpernlose Augen hinter dem Göttlichen hervor, ein Rachen voller spitzer und
blutiger Zähne gähnte ihm und ihr entgegen, und eine schmerzhafte Flamme zerriß den Boden unter ihren Füßen... »Fremder...«
Schwarze Krallen griffen nach Gerondet. Packten ihn und rissen ihn fort von dem Feuerfisch, preßten ihn in rasend rotierende Moorlöcher, trachteten, ihn zu ersäufen, zu ersticken. »Fremder, kommt zu Euch!« Kristallfeine Wolken aus Eis und Feuer fraßen sich in Gerondets Leib. Drohender Dämmer, von blauen Blitzen zerrissen, hüllte die Welt. »Schlagt die Augen auf, Fremder!«
Gerondet wollte die goldenen, die weißen Gewänder halten, wollte eintauchen in das Verlorene, wollte nicht dem eisigen Strom folgen, der ihn über lehmiges Land davonspülte, ihn gegen Steine schlug, ihn an Felsen preßte. Gerondet stürzte in ein grauenhaftes Universum der Leere, schlug gegen Lanzenspitzen, kollerte über scharfkantige Steine, fühlte Nässe, Frost und Schmerz. »Verzeiht, Fremder, verzeiht.« Diesmal fühlte der Polizist, wie sich eisiges Wasser über ihn ergoß. Wie es in seine Poren, in seinen Leib eindrang und nicht mehr abfließen konnte. Gerondet öffnete unter äußerster Willensanstrengung die, wie es ihm schien, kürbisdicken, verklebten Augen. Da war eine kahle Zelle. Ein hohes, schmales und vergittertes Fenster. An jeder Wand zwei Fackeln. Ein kleiner Tisch mit einigen metallenen Geräten, mit ähnlichen Flakons, Tuben und Flaschen, wie er sie bei Esra gesehen hatte. Und eine Schale stand da, aus der feiner Dampf aufstieg. Nicht weit von dem Tisch entfernt stand jener riesige Zöpfler, der Gerondet schon unten aufgefallen war. Er trug einen hölzernen Eimer in der Hand, und an seiner Nässe erkannte Gerondet, wozu der andere den Eimer benutzt hatte. »Was ist los?« krächzte Gerondet mit versagender Stimme. Er hob die Hände, preßte sie an den schmerzenden Kopf. »Ich mußte Euch mit zwei Eimern Wasser zu Leibe rücken«, erklärte der Zöpfler, »denn sonst wäre es mir nie geglückt, Euch zu wecken. Ich erfahre das an jedem Tag, den ich durchlebe. Sie mischt sich ihre teuflischen Mixturen. Schwarzes Bilsenkraut und die Spanische Fliege gehört dazu, Tollkirsche und eine Spur Schierling ist dabei. Auch Datura, der Stechapfel, und jener orientalische Mohn. Das andere kenne ich nicht. Sie bereitet es selbst zu, und es erzeugt die Liebe zu ihr in allen geopferten Männern. Die aber, die es nicht berühren soll, werden mit einer Salbe eingerieben, und sie bleiben bei Verstand. Sie selbst und ihre Priesterinnen nehmen einen Trank zuvor. So erleben sie wohl auch, wonach es sie dürstet, aber sie können genauso handeln, als wäre nichts in ihnen. Meine Aufgabe, Fremder, ist es, achtzugeben, daß der Delinquent in seinem Liebesrausch nicht eins der Weiber gar verletzt. Zu diesem Zweck bekomme ich ein Pülverchen in jedes Nasenloch. Zehnmal habe ich alles angesehen, und immer widerwärtiger ward mir das Spiel der tollen Frau. Beim sechstenmal ließ sie die Dose mit dem Pülverchen achtlos auf diesem Tisch stehen. Da nahm ich etwas ab, und als ich heute dann ein anderes Pülverchen bekam und wohl verstand, daß ich jetzt selbst in Raserei verfallen sollte, da nahm ich die Reserve schnellstens ein und habe noch so viel, daß es für Euch auch reicht. Nehmt dies...«
Der Zöpfler griff unter seinen blauvioletten Umhang, holte eine winzige Elfenbeindose hervor und klappte sie hörbar auf. Er gab Gerondet ein scharf riechendes Pulver, der es sich in die Nasenlöcher preßte. Dann reichte der Zöpfler dem Polizisten die Schale mit dem heißen Tee. »Trinkt dies noch.« Gerondet gehorchte, ohne eine Frage zu stellen. In seinen Kopf bohrten sich eisige Geschosse. Eine heiße, eine kochende Woge zuckte durch alle seine Glieder. Die Welt rückte sich zurecht. Gierig trank Gerondet den Tee, nachdem er sich aufgesetzt hatte. »Betäubt haben sie mich«, murmelte er und preßte die Lippen zusammen, »und man denkt, es ist...« Er sagte nicht, was er dachte. Er fühlte sich nur noch verraten, hintergangen, belogen. Und er reihte in diesem Augenblick auch die Tänzerin in den Reigen derjenigen ein, die mit unlauteren Mitteln redliche Absichten bei anderen erzeugen können. Der Zöpfler schüttelte den Kopf. »Nicht betäubt«, sagte er, »man hat Euch behext. Berauscht. Der Vergiftete tut alles, was sie wollen. Und er kann es allein tun. Er bewegt sich, als wäre er nicht behext. Er spricht mit klarer Stimme. Er legt gut hörbar das Gelübde ab, diesen Ort nicht mehr lebendig verlassen zu wollen. Und dies ist schrecklicher, als betäubt zu sein. Denn alles, was wir von Kindesbeinen an gelernt, verschwindet und macht Platz den nackten Trieben, die den Menschen treiben...« Gerondet störte es nicht, daß seine Sachen naß waren. Er sah den Zöpfler groß an. Dachte daran, was der gesehen haben mochte, und es schüttelte den Polizisten. »Ein grausiges Spiel«, klagte der Zöpfler, »bei dem es keine Zeugen gibt, denn wenn der so Vergiftete mit der jüngsten Priesterin in jene Raserei verfällt, greifen die anderen zu langen, scharfen Speeren und durchbohren das Paar. Den Namen Belials hinausschreiend. Das jetzt auf alle Zeiten zusammengeheftete Paar wird in die Wand des Säulengangs eingemauert, und ihre Bilder malt man oben auf den Putz.« Der Zöpfler ballte die Fäuste, und der Henkel des Eimers zersplitterte unter dem Druck seiner Hand. Gerondet erhob sich, schüttelte sich, versuchte ein mageres Lächeln, das ihm mißlang. »Und warum«, fragte er, »hilfst du mir?« »Ich habe mehr Gründe«, sagte der große Mann, »als Finger an einer Hand. Ich liebe jene jüngste Priesterin, die mit Euch gestorben wäre. Und ich weiß, daß ich selbst demnächst sterben soll. Das Pulver, Ihr werdet euch erinnern. Und ich hasse Freyja wie niemanden sonst hier. Dazu kommt: Ihr habt im
Aufenthaltsraum so klug gesprochen. Und mutig: Man wird uns die Kinder aufrechnen. Ich habe das nicht vergessen. Und wenn es einen gibt, der diesen hier Paroli bieten kann, seid Ihr das... Das Volk draußen weiß nicht einmal, was hier geschieht. Sie denken sich alles klar und licht, aber sie glauben auch, daß Belial selbst seine Krallenhände hier erscheinen läßt und dieses Haus so weiht... Märchen sind das.« »Du bist ein braver Bursche«, sagte Gerondet, »du gefällst mir. Wie heißt du?« »Tankred«, sagte der Zöpfler, »Tankred Torfstecher.« »Ich bin Gerondet«, Stellte sich der Polizist vor, »und du bist Tankred, und du wirst mir helfen... Und Brodlants Nachfolger schickt dich zufällig nicht? Oder mein Freund Immelgud?« »Glaubt«, sagte der Zöpfler ungewöhnlich ernst, »was Ihr glauben wollt. Ich tue es meiner toten Geschwister und meiner Eltern wegen. Und weil ich das Mädchen liebe und Euch achte.« »Entschuldige«, Gerondet hob die Rechte, »man wird hier paranoid. Das alles steckt an... Weißt du, was ich jetzt denke?« »Daß es nicht schlecht gewesen wäre«, der Zöpfler sprach leise, »wenn Ihr inmitten der wunderbaren Liebe gestorben wärt.« »Du bist ein kluger Kerl«, lobte Gerondet und betrachtete den Himmel hinter dem Fenster, »du bist sogar außergewöhnlich klug. Wir werden ein gutes Gespann, Partner.« »Überall verbreiten meine Kameraden«, erklärte Torfstecher, »daß Ihr mit bösem Zauber dafür gesorgt habt, daß die Meisterin in der Schmiede verbrannte, daß der alte Bürgermeister sich gegen uns alle erhob und daß der gutmütige Brodlant in dem Kanal ertrank.« »Also Lynchjustiz«, stellte Gerondet unberührt fest, »es ist gemein, aber auch ein Zeichen von Angst. Ich möchte gehen. Kommen wir hier ungeschoren raus?« Der Zöpfler holte zwei Degen hinter einem Wandteppich hervor. »Könnt Ihr damit umgehen, Herr?«
Gerondet erinnerte sich seiner Fechtstunden. Das war schon eine Weile her. Viel war nicht haftengeblieben. »Wenn ich irgendwo hineinstechen muß«, sagte er, »klappt es. Mit den glänzenden Paraden ist es eine andere Sache.« Tankred überreichte Gerondet eine Waffe. »Wenn wir Freyja als unsere Gefangene mit uns nehmen könnten«, schlug er vor, »dann hätten wir Bewegungsfreiheit.« »Eine Frage noch«, Gerondet hielt den anderen fest, »ich war in diesem Rausch. In Ordnung. Und jetzt bin ich hier. Wie geht das?« Tankred lächelte sanft. »Ihr seid mißtrauisch«, spottete er, »das geht ganz einfach: Als erstes liebt der Delinquent die Hohepriesterin. Nur er und sie. Danach ruht die Hohepriesterin fast eine Stunde. Sie kehrt als klares, kaltes Weib zurück. Der Delinquent wird denn dem jungen Priestervolk übergeben. Dazwischen ruht auch er, denn es ist anstrengend, was er tut. Ich bin sein Bewacher. Und ich war auch der Eure. Zufrieden?« »Hm«, brummte Gerondet und ließ Tankred los. »Wenn wir Freyja haben«, fuhr Tankred fort, »wird der Magister Satan nicht gegen uns aussenden.« »Du nennst ihn auch Satan?« Gerondet sah Tankred erstaunt an. »Wie sollte ich ihn nennen? Ich weiß nicht, ob er wirklich Satan ist«, erklärt der unsicher, »ich weiß nur, daß er weder Mensch noch Tier, noch Pflanze ist. Und auch mechanisch ist er nicht. Nicht wie das kleine runde Ei des Magisters, das ihm alle Stunden anzeigt. In seiner Unbesiegbarkeit ist er tatsächlich Satan.« Gerondet erinnerte sich der seelenlosen, hypnotisierenden Augen, die ihn aus der Finsternis der Kirche angesehen hatten. Und als er daran dachte, fand er den Namen tatsächlich passend. »Eine letzte Frage«, Gerondet überlegte kurz. »Wie ist das mit dem Ort hier, was ist geschehen?« »Viel gibt es nicht zu sagen«, erzählte Tankred, »vor langer Zeit gab es ein Dorf. Fleißige, gottesfürchtige Menschen lebten hier. Da war ein Schmied, der sich mit seinen Kindern überwarf. Und beinahe über Nacht gab es drei Schmieden bei uns. Die Kinder aber machten keine Wagenteile, denn die wurden bei ihrem Vater gekauft. Sie stellten Waffen her. Und wie die Blüten die Bienen anziehen, lockten die Waffenschmiede Wagenbauer, Böttcher, dann Schneider, Schuhmacher und natürlich auch Bäcker und Schlächter herbei. Das
war schon kein Dorf mehr. Ein Städtchen. Metallschmelzer kamen und Mechaniker, und Kaufherren und Geldverleiher, und diesen folgten Gastwirte, Barbiere, Zimmerleute. Und da das alles verwaltet werden mußte, wurde der Schulze zum Bürgermeister, und es gab Schreiber, Ratsherren, und ein Landvogt übernahm die Gerichtsbarkeit und ward dafür entlohnt. Musikanten, Puppenspieler und Spitzbuben kamen, auch Tänzer, Wahrsager und Kartenleger, denn natürlich wollte jeder Kaufherr wissen, ob seine Fahrt in fremde Länder glücklich würde. Es kamen Tuchweber, Färber und Pelzverarbeiter, Spielzeugmacher. Dazu die Zahnbrecher, die Alchimisten und Gelehrten. Auch Buchdruckereien und Schulen wurden aufgebaut. Postreiter gab es, Leute, die im Bergwerk waren, und dazu die Jäger. Und viele Bauern verkauften alles Land, weil sie dachten, daß es sich als Handwerker leichter leben lasse. Dazu das Gold, das sie für ihre Felder bekamen. Sie sahen erst danach, daß alles nicht so rosig war, wie sie es sich ausgemalt. Und dann, dann waren wunderliche Dinge in der Welt. Ein Pfaff warf einem anderen Pfaffen Gotteslästerlichkeit vor. Da kam der Krieg. Da kam das Unheil auf uns zu. Da wandte Gott sein Gesicht von uns. Und der Versucher übernahm das Regiment. Da waren wir verloren, und nun kann niemand fort, und keiner, der hier ist, kann seinem Gewerbe nachgehen. Alles liegt darnieder. Und fünfundzwanzig Jahre dauert hier ein Tag. So hörte ich es einmal sagen. Ein langer Tag, wenn man es recht bedenkt. Und in der ganzen Zeit, da ging nur einer. Er war gekommen und ging wieder fort. Es war die Liebe, heißt es auf der Straße. Die Liebe eines Mädchens, die ihn dann nach draußen trug.« »Ja«, Gerondet lächelte nachsichtig, »ja, auch daran stimmt etwas. Auch daran. Aber wieso kommt man herein? Und warum können die Zöpfler in den Morgenstunden hinaus? Und wie heißt das Nest?« »Den Namen gebe ich Euch nicht«, antwortete Tankred, »denn man sagt, daß der, der den Namen weiß, nicht mehr freikommt von uns. Und das andere weiß nur der Magister.« »Gehen wir«, drängte Gerondet nun, den die Antworten nicht befriedigten, »gehen wir schnell von hier fort.« Tankred reichte Gerondet einen Umhang, den der sich anlegte. Der Polizist blieb immer wieder, während sie den Raum verließer und durch geheime Gänge huschten, in den Falten des weiten Kleidungsstücks hängen. Dicht bei einer Treppe blieb Tankred stehen. Er nahm aus einer weißen Vase ein nasses Tuch. »Nicht einatmen«, warnte der Zopfler, »preßt es Freyja vor das Gesicht. Sie ist dann willenlos. So können wir sie führen, wohin es uns beliebt.« »Und wohin beliebt es uns?« Gerondet hielt das Tuch weit von sich weg.
»Pst«, machte Tankred und deutete nach unten. Auf Zehenspitzen gingen die beiden Männer die Treppe hinunter. Eine Tür quietschte. Tankred lief schneller. Gerondet folgte ihm. Er sah, als sie den Absatz erreicht hatten, wie Freyja aus einer Kammer trat. »En garde«, rief Gerondet leise und wollte der Frau den Weg abschneiden und ihr das Tuch auf das Gesicht drücken. Doch er blieb wieder in dem weiten Umhang hängen, stolperte und stürzte die Treppe nach unten. Freyjas erste Fluchtintention wurde von hellem Lachen unterbunden. Freyja lachte, als sie Gerondet auf dem Boden liegen sah. Sie schüttelte den Kopf und lachte. Gerondet sah den Statten über sich, fühlte, wie Tankred ihm das Tuch aus der Hand riß, und registrierte, daß der Zöpfler Freyja packte und ihr das Tuch über das Gesicht warf, es festhielt. Die Hohepriesterin zappelte und wand sich, wurde allmählich immer ruhiger und stand schließlich apathisch, mit hängenden Schultern vor Tankred. Gerondet war wieder auf die Füße gekommen. Verblüfft betrachtete er das jetzt leblose Gesicht der Frau. »Ich folge«, sagte Freyja, als sie Gerondets Blick bemerkte, »ich folge Euch, wohin Ihr geht. Ich will Euch Untertan und ein treues Weib sein.« »Ich habe Hunger«, sagte Gerondet halb ernst, halb spöttisch, »du solltest mir ein kräftiges Mittagessen bereiten, was?« Tankred führte Gerondet und Freyja durch das Haus bis nach unten. Eine kleine metallene Leiter ging es hinab, und sie waren in dem weitläufigen Kellergang, den Gerondet gut kannte. Gerondet bewunderte Tankreds körperliches Geschick. Er hatte in der einen Hand den Degen und das Tuch mit der betäubenden Flüssigkeit. In der anderen hielt er eine kleine Spanfackel, deren zuckendes Licht ihnen den Weg erhellte. Gerondet war schon zweimal über den eigenen Umhang, einmal über Freyjas weites Kleid und einmal über beide Kleidungsstücke gestolpert. Schließlich blieb er zornig stehen, schnitt das untere Drittel seines Umhangs mit der scharfen Klinge ab und fühlte sich besser. Natürlich war er nun nicht mehr getarnt. Denn aus seinem Zweidrittelumhang sahen Hosenbeine einer Kordhose und weiche wadenhohe Schnürstiefel heraus. Gerondet fielen, während sie über das katzenköpfige Pflaster liefen, die Ratten ein. Kaum aber daß er an sie dachte, antwortete schon ein feines Fiepen. »Mutter Irrlicht«, rief Tankred angstvoll aus, »sie wird uns töten lassen...« Das Fiepen verstärkte sich, und gellende Pfiffe mischten sich dazwischen. Gerondet drehte sich um. Der Boden hinter ihnen glänzte nicht mehr graniten, sondern war stumpfbraun. Feine Grannenhaare erschienen wie Millionen feinster Fäden im Licht des Spans.
»He«, sagte Gerondet, »was ist los? Unsere Abmachung gilt noch immer. Ich zerhacke in Krehersthal alle Fallen, und ihr mischt euch nicht ein... Bleibt es dabei?« Die vordersten Tiere waren schon so nahe, daß Gerondet die dunklen Augen und die kleinen feuchten Nasen aufglänzen sah. Die langen, gelblichen Nagezähne warfen das Licht besser als alles andere zurück. »Ich kauf mir eine Katze«, fluchte Gerondet, »wenn ihr uns nicht abziehen laßt.« Irgend etwas schnappte nach dem Stiefel des Polizisten, schlitzte ihn ein wenig, fiel dann zurück. Der breite Strom war nun schon rechts und links von ihnen. Gerondet sah Tankreds angstvolles, verzerrtes Gesicht. Freyja schien völlig unbeteiligt. Stimmungen, dachte Gerondet, sie erfassen Stimmungen. Und ich bin kein Gefangener der Zöpfler mehr, sondern ein Zöpfler ist mein Verbündeter. Gerondet dachte an Satan. Er dachte ganz intensiv an den schwebenden Konus mit den beiden seelenlosen Augen. Dachte an das Grauen, das ihn überfallen hatte. Er stellte sich alles so deutlich vor, daß ein Schauer über seinen Rücken glitt. Angstvoll kreischend stoben die Ratten auseinander. Flohen in wilder Panik, verschwanden in der Tiefe der Nacht. »Also fürchtet ihr auch Satan«, murmelte Gerondet und klopfte seinem leichenblassen Freund aufmunternd auf den Rücken. »Sie sind weg«, sagte er. »sie kommen auch nicht wieder. Aber wohin führen diese Gänge eigentlich?« Tankred Torfstecher konnte keine Antwort geben, da ihm der überstandene Schrecken noch immer die Luft abschnürte. »Er verbindet unser Heim«, gab Freyja Antwort und machte einen artigen Knicks, »mit der Kirche und dem Schlachthaus. Früher ritten Boten vom Magister zu uns und von uns zu Brodlant. Der Simpel auf der Straße war verblüfft, daß jeder wußte, was er nur einem anvertraut hatte. Es war angenehm, auf dem Balkon eine Predigt zu halten, im Galopp den Gang entlangzureiten und dem prozessionswilligen Volk vor der Kirche entgegenzutreten. Sie glaubten an Wunder. Aber das geht nun nicht mehr, mein Gemahl, denn eines Tages wehrte sich Mutter Irrlicht gegen unsere Nachstellungen ihrer Sippschaft. Und als erstes fraß sie unsere Boten samt den Pferden auf. Sie ist ungebärdig. Über alle Maßen. Außerdem nutzt der Magister diese Räume, um Satans schwarze Flügel rauschen zu lassen.«
Freyja verstummte, blickte Gerondet noch einmal liebevoll an und folgte dann wieder schweigend Tankred. »Alles wieder in Ordnung?« Gerondets Frage galt Tankred, der sich nur langsam von dem Schrecken erholte. »Ja, besser«, sagte der einstige Zöpfler dumpf. »Was werden wir tun«, wollte Gerondet jetzt wissen, »wenn wir hier heraus sind?« »Wir müssen uns den Magister vom Hals halten«, erklärte Tankred voller Überzeugung, »nur dann haben wir die Möglichkeit...« Er sah Gerondet eindringlich an. »Was meinst du«, Gerondet erwiderte den Blick, »zu überleben oder rauszukommen? Überleben ist mir zuwenig. Und es hält hier auch nicht lange. Raus müssen wir. Diese Schleuse öffnen. Alles andere ist Niederlage.« »Ich habe noch keinen Plan«, ließ sich Tankred nach einer Weile vernehmen, »ich habe ihn noch nicht ... Was soll man denn tun?« »Brodlant ist tot«, verkündete Gerondet, »diese Frau hier hat einen Teil der Zöpfler übernommen. Das mußt du gemerkt haben. Aber sie hat nicht alle. Da ist noch so ein mieser Kerl mit einer tödlichen Waffe. Der heißt Ruderf Immelgud. Es ist möglich, daß der Magister dem die restlichen Zöpfler zuerkannt hat.« »Wir brauchen auch noch Esra als Gefangene«, fiel Tankred ein. »Und genau das zu verhindern fällt in Herrn Immelguds Arbeitsbereich«, unterbrach Gerondet den Satz des Freundes. »Ich denke, du mußt noch viel lernen, damit du dich nicht mehr so sehr auf deinen Degen stützt.« II. Das Haus, in das sie eintraten, lag auch am Rande der Stadt. Nicht so weit wie die Kirche und nicht so fern wie das Schlachthaus. Rundum gab es ähnliche, auch verlassene kleine Häuser. Alle solide gebaut. In dem, in das sie einkehrten, war der Hausrat vollständig, auch wenn alles von einer dicken Staubschicht überzogen war. Tankred, der sich noch im Gang den Zopf abgeschnitten hatte, der die Maske und alle anderen sichtbaren Kennzeichen der Zöpflerschaft entfernt hatte, fand in einem Schrank Kleidung von sich. Alte, verstaubte Kleidung. Begeistert zog er sich an. Trat vor den blinden Spiegel und betrachtete sein kaum wahrnehmbares Konterfei.
»Es ist mein Elternhaus«, sagte er von dorther und schritt befangen durch die Küche und die beiden Zimmer. Stieß ein Fenster auf, ließ die frische Brise, die draußen wehte, herein. Er setzte sich zuletzt auf einen kleinen dreibeinigen Hocker. »Wenn ich hier gesessen habe«, sagte er träumerisch, »war es immer an der Zeit, daß meine Großmutter mir etwas erzählte. Von früher. Von der Ortschaft. Märchen. Sagen oder Schwänke. Das Feuer brannte dabei leise knisternd, und der Geruch von Bohnen, Linsen oder Kartoffelsuppe entströmte dem großen Topf dort... Komisch, du, ich war nicht einmal auf die anderen neidisch, denen es so gut ging.« Gerondet blieb im Zimmer stehen und hörte Tankreds Worte durch die offene Tür. Er sah Freyja zu, die sich an einen Webstuhl gesetzt hatte und probierte, wie das Gerät funktionierte. »Niemand hat etwas weggenommen«, warf Gerondet ein. »Wozu?« meldete sich Tankred. »Keiner braucht diese Dinge. Es ist der Hausrat armer Leute. Wer hat eine Verwendung dafür? Außerdem geht nichts kaputt. Man ißt mit allen zusammen. Feiert gemeinsam auf dem Marktplatz. Oder man sitzt am Fenster und wartet auf etwas, was keiner benennen kann. Und nur der Magister weiß, was das ist. Und am Abend trifft man sich bei der Vollmondfeier.« »Ich war vorhin in der Wohnung der Tänzerin«, Gerondet stellte sich so in die Verbindungstür, daß er beide sehen konnte, »sie war nicht dort. Ich vermute, sie befindet sich in der Kirche. Wir haben keine Möglichkeit, an sie heranzukommen.« »Das macht er immer so«. Tankred rümpfte verächtlich die Nase, »er holt sie einmal am Tag in sein Labor und zeigt ihr, was nun wieder Neuartiges geschaffen worden ist. Und immer lamentiert er dabei, wie sehr er sie liebt und daß das alles ihretwegen geschieht. Aber am Nachmittag schafft er sie zurück in die Garderobe. Dort sollten wir ihr auflauern.« »Vielleicht«, Gerondet stimmte ungern zu, »aber wir haben die da...« Er deutete in die Stube, wo Freyja lächelnd am Webstuhl saß und das eine Gestell sanft hin- und herwiegte, die verträumten Augen auf ihren vermeintlichen Mann gerichtet. »Und«, fuhr er fort, »da wird weder der Magister noch Immelgud lange zusehen. Und wenn die eingreifen, dann geht es hier rund. Glaub es mir nur.«
»Ja«, Tankred nahm sich eine alte zinnerne Schöpfkelle und strich andächtig über die glatte Oberfläche, »sie werden, wenn sie es wissen, ausschwärmen und alle Straßen sperren. Alle Plätze... Ich weiß das besser als jeder andere.« Gerondet ging zu ihm und nahm ihm die Schöpfkelle aus der Hand. Tankred sprang auf. »Hör zu, mein Freund«, Gerondet sah den anderen gerade an, »ich begreife, daß es dich anrührt. Deine Eltern waren hier. Deine Geschwister und deine Großeltern. In Ordnung. Aber unsere Feinde hoffen darauf, daß wir in Sentimentalität ersaufen. Und dann führen sie uns zur Schlachtbank. Das ist ein uraltes Rezept. Und immer wirkungsvoll. Laß das jetzt und komm! Zur Not gehen wir in ein anderes Haus ohne Erinnerungen.« Tankred nickte. Er begriff, was Gerondet sagte, ohne sich von der Küche losreißen zu können. »Ich gehe vor«, bestimmte Gerondet, »und wenn du nicht willst, daß man uns trennt, dann folge mir.« Er machte einen Schritt in Richtung der Stube. »Verflucht«, schrie er auf, »das Weib ist weg. Sie ist gar nicht mehr betäubt!« Sie liefen beide los. Auf die Straße. Sahen sich um. Freyja war nirgends zu sehen. »In die Nachbarhäuser!« Sie hetzten durch die Räume, stiegen kleine Leitern nach oben, blickten in enge Vorratskeller und konnten keine Spur von Freyja entdecken. Sie liefen in Nachbargäßchen. Sahen hinüber in Richtung der hohen Häuser und in die andere, wo die Straße von dichten Hecken eingefaßt war. Freyja war und blieb unauffindbar. »Weg ist unser Trumpf, Gerondet schnaufte, als sie am Rande der Katen zusammenkamen. »Jetzt dürfen wir uns auf allerhand gefaßt machen, fürchte ich. Also wohin?« »Wir brauchen Esra«, erklärte Tankred keuchend, »wir brauchen sie, sonst kommt Satan zu uns, und er findet uns immer.« Sie folgten den überdachten schmalen Gäßchen, betraten Häuser, überquerten deren heckenbestandene Höfe und traten aus anderen Häusern, die in neue, unbekannte Gassen mündeten. Tankred war ein sicherer Führer. Er kannte die dämmrigsten Wege, wußte, wo man etwas abkürzen konnte, überquerte sogar, wenn kein anderer Weg übrigblieb, einige aufeinanderfolgende Dachböden. So näherten sie sich mehr und mehr der Garderobe der Esra.
Auf einem Hof, unter einer Fliederhecke, blieb Gerondet stehen. »Wenn du so weiterläufst«, sagte er, »dann ist am Ende unseres Weges nicht der Magister tot, sondern ich bin es.« Tankred kehrte zurück, und Gerondet setzte sich auf die Erde. Gemächlich umrundete der einstige Zöpfler den Flieder. »Der Ort ist sogar schön«, erklärte Gerondet, der sich eine Zigarette anzündete, »er ist ausnehmend schön. Wenn hier alles friedlich wäre, muß es ein Vergnügen sein, hier seinen Streifendienst zu machen. Zwischendurch mal bei der Freundin reinschauen. Einen Kaffee trinken und weitergehen... Ein Traum. Hör mal, Tankred: Wir müssen erfahren, ob Immelgud eine Falle gebaut hat. In der Garderobe. Wenn ja, dann können wir einpacken. Da laufen wir ins offene Messer und würden es erst hinterher merken. Darauf ist er gedrillt. Also müssen wir zuerst dasein. Ich komme schon.« Gerondet drückte die angezündete Zigarette aus, sprang auf und nickte Tankred zu. »Und wenn es dämmrig wird«, Tankreds Gesicht wurde einen Schein fahler, »dann wird mich Satan rufen. Meine Taten sind todeswürdig in ihren Augen. Sie werden ihn gegen mich aussenden.« »Denke nicht daran«, versuchte Gerondet dem Freund Mut zu machen, und doch fielen auch ihm der grelle Schrei und die Nebelaugen ein, »er wird dich nicht allein wollen. Und zu zweit dürften wir uns schon wehren können.« »Auch hundert nicht«, sagte Tankred wehmütig, »es gibt keine Kraft, die ihm widersteht. Es gibt keinen Sterblichen, der auch nur seine Hand gegen jenen heben könnte. Ich habe welche gekannt, die wollten die Schreie nicht hören. Sie sind in die tiefsten Räume der Häuser gegangen. Sie haben sich Wachs in die Ohren gesteckt. Es half nichts. Sie gingen hinaus. Sie folgten Satans Ruf. Nein, mein Freund, wir müssen am Abend den Magister gerichtet haben, oder er wird uns vernichten. Ich werde mich dann selbst erstechen, damit Satan einmal vergeblich unterwegs ist.« »Tankred«, Gerondets Züge wurden hart, »wir werden nicht aufgeben. Ich brauche dich. Ich bin bewaffnet. Ich sage Satan den Kampf an. Immelgud macht mir mehr Sorgen als Satan. Und hast du selbst gesehen, wie einer gegen seinen Willen zu Satan ging?« »Wir waren in der Schankstube«, berichtete Tankred, »und dann war da nichts anderes als ein feiner Stich in unseren Köpfen. Schmerzen. Und wir alle wußten,
wer es war, denn die Boten hatten es gesagt. Der aber, der verurteilt war, krallte sich am Tisch fest. Er blickte hilfesuchend von einem zum anderen. Voller Abscheu und Haß sahen wir ihn an. Da lösten sich seine Hände ganz allein von der Tischfläche, und er faßte sich an den Kopf und weinte leise vor sich hin. Und seine Füße trugen ihn hinaus. Ja, seine Füße. Gegen seinen Willen. Eine erschreckende, fast schmerzhafte Stille kehrte ein, die mir in den Ohren dröhnte. Man kann sich nicht wehren.« »Und bist du vielleicht schon auf den Gedanken gekommen, daß ihr ihn«, sagte Gerondet, »hinausgetrieben habt? Nicht Satans Unfehlbarkeit, sondern eure Angst. Euer Haß? Oder hatte er irgendeinen Trank in seinem Wein?« »Das glaube ich nicht«, Tankred starrte auf die Erde, »nein, das glaube ich nicht...« Infraschall, dachte Gerondet in den Kategorien seines technischen Wissens, oder Ultraschall. Vielleicht gebündelt. Plus Richtantenne. Wie bei der Kirche. Es traf mich stärker als die Zöpfler. Also noch einmal: Tier oder Maschine? Der Maler hat den Vogel Angst als Fledermaus dargestellt. Fledermäuse jagen mit Ultraschall. Und bei der Größe dürfte es verdammt wirkungsvoll sein. Nur, wie findet und identifiziert sie das Opfer? Eine tückische Waffe, die auch Errenthaler überzeugte. Den Physiker. »Da oben«, Gerondet deutete mit dem Kopf in die anvisierte Richtung, »da ist einer, der zu uns heruntersieht.« Tankred winkte ab. »Ungefährlich«, sagte er und übernahm zum erstenmal Gerondets sparsame Sprechweise, »sie ahnen nichts. Keiner weiß etwas von dem, was hinter den Kulissen geschieht. Für den da sind wir Gäste oder Rathausangestellte. Für den da sind alle, selbst der tote Brodlant, nichts weiter als Brüder, die vereint sind im Kampf gegen den Fluch, der uns umfangen hält. Sie leben ihren Tag, so gut es eben geht. Nein, Gerondet, die Menschen um uns wissen überhaupt nicht, was eigentlich geschieht. Und wenn einer tot ist, wie der alte Bürgermeister oder Brodlant, dann sind sie verängstigt und entsetzt und fürchten einen möglichen Zerfall aller guten Sitten. Denken, daß ein Unheil hereingebrochen ist, und ahnen nicht einmal, daß der Mord das Ende einer langen Kette von Intrigen, Verleumdungen, Verrat und Mißgunst ist. Fürchte nicht die an den Fenstern, sondern jene in den Läden, die uns scheinbar überhaupt nicht beachten. Sie sind die Zuträger der Freyja oder des Magisters.« »Du wirst recht haben.« Gerondet schickte sich an zu gehen. »Wir wollen keine Zeit mehr verlieren. Ich mache auch nicht mehr schlapp.« »Was ist das?« Tankred deutete auf das obere Schlüsselende, das aus Gerondets Tasche gerutscht war.
Gerondets Hand ertastete das Metall. Er zog den Schlüssel hervor. »Freyja hat ihn mir gegeben«, sagte er, »er paßt zu Satans Stall. Ich habe dort seine Augen gesehen. Man fürchtet sich, wenn er einen anschaut. Er ist auf seine Art vielfach überlegen. Zum Glück trennte uns ein stabiles Gitter...« Unerwartet pfiff Gerondet durch die Zähne. »Natürlich«, konstatierte er, »ein Gitter! Rundum ein Gitter. Er hat einen Faradayschen Käfig gebaut und verhindert so allen Kontakt zu seinem Geschöpf.« Fragend sah Tankred den Polizisten an. »Später«, sagte der, »das ist Physik. Wellenlehre. Komm schon!« III. Die beiden so unterschiedlichen Männer traten, die Waffen gegen das feindliche Schweigen gerichtet, vorsichtig in das Zimmer der Tänzerin. »Such du da und ich hier«, sagte Gerondet knapp und bewegte sich auf den anschließenden Raum zu, während sich Tankred der Küche zuwandte, deren angelehnte Tür nichts Gutes ahnen ließ. Nach der lautlosen Inspektion trafen sie im Umkleideraum zusammen, setzten sich und legten die Waffen ab. »Wann wird sie kommen?« Gerondet betrachtete ein Bild, auf dem ein Seeufer skizziert war, das dem Polizisten gleichermaßen fremd und vertraut erschien. »Vielleicht in einer Stunde«, vermutete Tankred, »aber eine halbe Stunde vorher ist die Straße gesperrt. Dann sind alle Posten besetzt. Niemand kommt mehr ungesehen in das Haus. Hier werden alle Räume untersucht. Gründlich. Wir brauchen ein Versteck.« »Grandios«, meinte Gerondet, der sich eine Zigarette anzündete. »Wir versuchen es auf dem Dachboden.« Tankred trat an das schmale Seitenfenster, sah hinaus, kam zurück. »Was ist los?« Gerondet nahm die Waffe, sprang ebenfalls auf. »Es ist etwas hier«, Tankreds Augen wurden glänzend, fiebrig, »es ist einer hier... Ich..., wir werden doch beobachtet.« Gerondet schloß die Augen. Er sah Esras Gesicht. Dann ihren Leib. Perspektivisch verzogen. Riesig. Entsetzlich. Ihre Poren wurden dämmrige Trichter, aus denen insektoide Wesen mit dem Kopf der Freyja krochen. Blitze zuckten auf. Regengüsse ungeahnten Ausmaßes peitschten diesen Leib. Dann wieder wurde Esras Körper mondscheinfarben, schien ein Teil des Seeufers zu sein. Überzog sich, porzellanen, mit Rissen und Sprüngen.
Gerondet riß die Augen auf. Ließ die Waffe fallen, rieb sich die Schläfen. Er starrte auf Tankred, der seine Waffe wild in das Bettzeug der Tänzerin stieß. »Nicht allein hier«, schrie der einstige Zöpfler, »nicht allein hier, du Weibsstück... Alle sind da. Alle starren mich an. Kommt...« »Wir haben alles untersucht«, stammelte Gerondet müde, nicht begreifend, was er sah, denn hinter Tankred stand Freyja und bog sich vor Lachen. Lachte und prustete lautlos, während ihre Hände Esras Hals umklammert hielten. Gerondet zog die Pistole. Richtete sie auf Tankred, der genau im Schußwinkel stand. »Aus dem Weg! Aus dem Weg! Geh weg, oder ich muß schießen!« Gerondet stürmte vorwärts, willens, den anderen zu überrennen. Er sah, wie Tankred herumfuhr, den spitzen Degen in einem Halbkreis gegen ihn führend. Doch Gerondet war unverwundbar. Würde es immer sein. Was wollte ihm die Stahlspitze anhaben? Ihm, dem Liebenden? Er verfing sich in einer der langen Decken, die von dem Diwan herabhingen. Er stürzte, hörte ein scharfes Zischen über sich, kam hoch, stolperte wieder und stützte sich am Fenster ab. Wie er hierhergekommen war, wußte er nicht. Ohne daß er es wollte, riß seine Linke das Fenster weit auf. Er atmete gierig. Die Bilder verblaßten. Lösten sich auf, wurden abgelöst von dem anmutigen Anblick der verträumten Straße, auf die er blickte. Tankred lag auf der Erde. Wild atmend. Ohne die Waffe. Jetzt sah Gerondet den Flakon, der offen auf dem Schminktischchen stand. »Einfach und überzeugend«, sagte Gerondet, zu sich kommend, und ging zu dem Tisch, schloß das Fläschchen, wedelte im Zimmer herum, trieb die Giftschwaden vor sich her, »sie haben uns mit einem Halluzinogen empfangen. Und beinahe hätte es funktioniert. Das wäre ein Spaß für unsere Widersacher geworden.« Tankred setzte sich auf. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn, aber sein Blick war wieder klar und wach. »Eins muß man ihnen lassen«, Gerondet steckte die Waffe unauffällig wieder ein, trat an den Freund heran, »sie sind perfekt. Sie denken an alles und planen weit voraus... Und da unser letzter vernünftiger Gedanke war, den Dachboden zu inspizieren, sollten wir das jetzt tun.« Der Dachboden wirkte überladen. Da standen zusammengerollte Teppiche und verstaubtes Mobiliar, dunkel gewordene Gemälde und allerlei Hausrat. Unbrauchbare Musikinstrumente und sogar eine Staffelei samt Farbtöpfen, Pinseln und in bauchigen Flaschen allerlei Chemikalien.
»Hier kann man eine ganze Abteilung einsetzen«, erklärte Gerondet, spöttisch lächelnd, »ohne daß man jemanden entdeckt. Ich denke, ich werde irgendwie in den Uhrenkasten gelangen, und du findest sicher in einer der mächtigen Truhen Platz. Was meinst du?« »Dahinten der Schrank«, Tankred deutete zum Ende des Bodens, »der paßt besser zu meinen Maßen.« »Na schön«, Gerondet blickte in die angezeigte Richtung, »ganz wie du willst... Aber ein Stuhl wird nicht mitgenommen. Der knarrt sonst noch.« Sie gingen vorsichtig, den dicken Staubschichten ausweichend, bis an die Dachschräge. Blieben vor einem kleinen Fenster stehen. »Dieser Händler dort«, Gerondet wies auf einen, der mancherlei Tand anbot, »er ist einer der Beobachter. Sie beginnen sich zu postieren... Stell dir vor«, Gerondet schüttelte den Kopf, »wir hätten jetzt gelüftet. Dann wäre schon alles gelaufen...« »Die Flasche«, erinnerte sich Tankred, »ich muß hinunter, sie öffnen. Die geschlossene Flasche verrät uns.« Tankred wandte sich um, verließ die dämmrige Fläche. Gerondet hörte ihn die Treppe nach unten gehen. Die Wohnungstür Esras knarrte. Sekunden vergingen, während auf der Straße allerlei merkwürdige Existenzen aufkreuzten und scheinbar interessiert bei dem Händler oder einfach so, sich unterhaltend, stehenblieben. Endlich waren Tankreds Schritte zu hören. Als der Freund vor der Tür noch einmal innehielt, stieg ein schrecklicher Verdacht in Gerondet auf: Wie, wenn ein anderer kam? Aber es war kein anderer. Tankred trat lächelnd ein und zwinkerte Gerondet zu. »Ich weiß manchmal nicht«, Gerondet blickte wieder hinunter, »ob das alles wirklich oder..., oder ein Fiebertraum ist.« »Mir geht es nie anders«, Tankred blieb stehen, »nie, seit meine Eltern und Geschwister nicht mehr leben. Es war zuviel Leid. Ich bin abgeschnitten von allen und von allem. Ich denke manchmal: Warum soll der Tod so schrecklich sein? Könnte er es nicht sein, der mich aus einem bangen Traum in das Leben zurückholt? Ich denke: Wenn man schläft und träumt, hat man vielleicht keine Lust zu erwachen. Man fürchtet den Übergang. Aber doch nur ihn. Nachher, wenn man erwacht ist, müßte man doch froh sein, den Unsinn und die Angst hinter sich gelassen zu haben. Für dich, der
du nur Gast bist, mag unser Leben reizvoll sein. Unheimlich. Exotisch. Aber nicht für uns. Wir steuern dem Moor entgegen. Und in dem Augenblick, der zwischen den Zeiten liegt, versinken wir. Halte die Augen auf, und du wirst sehen, daß all unsere Tänze, unser Fröhlichsein eine ganz eigene Art der Trauer sind. Man sagt uns, daß Jugend, Gesundheit und Schönheit, daß Freundlichkeit und Liebe einst wie ein Regenguß über uns kommen werden. Aber ich glaube nicht daran. Wir leben viel zu verbissen, um noch lieben zu können. Viel zu hektisch, um noch gelassen sein zu können. Kann Satan uns zu Engeln machen? Und wenn wir es den Fremden erzählen, jenen, die zu uns kommen oder gebracht werden, sie lächeln immer nur. Oder lachen laut heraus. Trotz der eigenen, schrecklichen Lage. Du weißt, der Magister sucht ein Weib voller Gnade. Freyja ist sein Symbol. Die mächtige, liebende und auch tötende Dirne. Für mich ist mein Leben ein Alptraum. Ein erstickender, endloser Traum. Und ich sage dir: Ich zweifle an allem. An Belial und seiner Hölle, an dem katholischen und dem lutherischen Gott. Ich denke: Die Welt ist eine Erfindung des Magisters. Und Gott ist seine sentimentale Art und Belial sein Zorn. Was bleibt dann noch? Ich weiß nicht einmal, ob ich dann noch bin.« »Es gibt die Welt«, Gerondet drehte sich zu Tankred um, sah den Freund mit unerschütterlicher Gewißheit an, »es gibt sie. Ozeane und ewiges Eis, schwindelnde Höhen und dampfende Dschungel, endlose Steppen und liebliche Täler. Es gibt sie! Es gibt lichterstrotzende Städte, gigantische Schiffe und Flugzeuge, die ihre Schwingen der Sonne entgegenrecken. Und - es gibt den Menschen. Er lebt auf dieser Welt.« »Je mehr du erzählst«, Tankreds Augen wurden starr und erinnerten an den verlorenen Blick eines Tieres, das, in einer Falle gefangen, den Jäger kommen hört, »desto deutlicher weiß ich, daß ich träume. Unfähig, meine Glieder zu bewegen, liege ich in feinem Sand eingebettet und träume.« »Es ist kein Fluch«, sagte Gerondet hart, »sondern immer nur der Wunsch eines Gewaltigen, hinter dem Chemie, Physik, Pharmazie oder einfach die nackte Gewalt der Bewaffneten stehen. Und wir werden das alles aufspüren und entlarven. Zerstören. Die Vernichtung vernichten. Damit ich dir die Welt zeigen kann. Die Welt der lebenden Menschen.« »Denkst du das«, fragte zögernd Tankred, »oder tröstest du mich?« »Ich habe einer Rechtsstaatlichkeit vertraut«, Gerondet blickte grimmig, »die sich nicht zu gut war, bezahlte Mörder auf mich anzusetzen. Ich sollte es gelernt haben, was Schicksal, Fluch oder widrige Umstände in Wirklichkeit sind. Komischerweise habe ich selbst als Dorfpolizist immer noch meine Augen vor dieser Wahrheit verschlossen. Vorbei, Tankred. Dahin ein Kinderglaube von einem Erwachsenen geträumt.«
Gerondet hörte plötzlich auf zu sprechen. Sekundenlanges Schweigen spann sie ein. »Unten«, sagte Tankred leise, »fand ich einen kleinen Brief an dich, Gerondet. Von ihrer Hand verfaßt. Verzeih, aber ich las ihn, denn es schien mir allzu gefährlich, ihn heraufzubringen.« »Was stand drin?« fragte der Polizist, der noch immer verwundert seinen eigenen Worten hinterherlauschte. »Ich weiß«, zitierte Tankred monoton, »daß du gekommen bist. Erwarte mich nach dem Tanz beim Schwarzen Stein.« »Beim Schwarzen Stein«, murmelte Gerondet, »also draußen. Sie hat einen goldigen Humor... Jedenfalls, wenn sie die Verfasserin ist.« »Ich bin ihm verfallen«, Tankred sprach ohne Übergang, ohne auf irgend etwas Bezug zu nehmen, »und ich habe es immer gewußt, daß mein Traum nur so enden kann... Ihm verfallen. Dem Schrecken. Ihm ausgeliefert sein. Ich habe es gewußt. Schon lange. Nur: Ich träumte dann, ein junges Weib zu beschützen, mit ihr durchs Moor zu fliehen. Hörst du, mein Freund?« »Wer redet da vom Sterben«, Gerondet sah Tankred gerade an, »gestorben ist Brodlant. Tot. Und es werden noch mehr sterben. Ihre gegenseitigen Intrigen machen uns den Weg leicht. Wer ist denn Melchior? Was kann uns Esra? Na schön, Errenthaler lebt. Der Magister muß noch gerichtet werden, und Freyja ist auch noch auf der Höhe. Doch nur einer ist gefährlich. Der mit mir kam. Immelgud. Der Meisterschütze. Der ewige Söldner mit dem Verstand eines Dreijährigen. Aber wir sind zwei. Also laß das. Denk nicht an Tod und Verderben.« Tankred lächelte hilflos. Auf dem dünnen Grat zwischen gläubiger Hoffnung und furchtsamer Leere. »Esra kommt bald«, sagte er leise, »ich höre es.« »Hoffentlich kommt sie allein«, sagte Gerondet grob, »oder ich muß Immelgud auf der Treppe niederschießen. Ich habe nur einen Schuß. Dann spricht seine Waffe.« »Du liebst die Tänzerin?« »Wenn man das Liebe nennt«, erklärte Gerondet, »daß man die gröbsten Fehler für einen anderen macht, dann liebe ich sie wohl.«
»Es muß sie glücklich machen«, Tankreds Augen blickten aus dem Fenster, und sein Gesicht war übergossen von der gelben Nachmittagssonne, »daß du sie liebst.« »Das solltest du ihr sagen«, Gerondet krauste die Lippen, »bis jetzt denkt sie noch ein wenig anders.« Er überlegte sekundenlang. »Und bevor euch der Fluch traf, brachte er das Gespräch in andere Bahnen, »wie war sie da? Was war sie? Wie lebte sie?« »Ihr Vater war Wildheger und Jäger in den umliegenden Wäldern«, erzählte Tankred, froh, Gerondet behilflich sein zu können, »er haßte die Werkstätten, in denen sich die Gesellen drängten. Er haßte deren grobe Art und den Lärm und die Hitze des Feuers. Er war ein finsterer Gesell, und manch ein Frevler starb durch seine Waffen. Böse wurde es erst, als man einem Moslem das Rezept für das Pulver abkaufte, das der aus dem Reich der Mitte mitgebracht hatte. Dieses Pulver, in Rohre gefüllt und angezündet, riß ganze Waldstücken auseinander und verbrannte alles in weitem Umkreis. Es tötete viele Tiere und erstickte die Blumen. Das war damals aber auch eine reiche und schöne Zeit, denn die Abgesandten von Fürsten, Baronen und Majestäten kamen zu unseren Handwerkern und Kaufherren und waren begierig, dieses Pulver zu erwerben. Und auch die Rohre dazu. Unsere schönsten Straßen und Plätze entstanden. Wir konnten unsere Fenster verglasen und wurden, wenn man von uns sprach, Atlantis genannt. Esra war ein stolzes Mädchen. Immer trabten zwei Bluthunde an ihrer Seite. Sie lachte nur, wenn einer ihr seine Liebe gestand oder sie mit Geschenken gefügig machen wollte. Mehr weiß ich nicht.« »So ist das«, kommentierte Gerondet, »sogar das Lachen war früher schöner als heute. Aber mach dir nichts draus. Wichtiger ist: Wenn wir Esra haben, wie kommen wir eigentlich von hier weg?« »Der Tunnel sollte auch bis hierher reichen, aber Mutter Irrlicht hat den Bau unterbrochen.« »Machen wir es wie Satan«, schlug der Polizist vor, »wir schweben mit ihr davon.« Tankred lachte, seit er von der Trauer befallen war, das erstemal. »Weißt du nicht?« Gerondet ging leise auf und ab. »Der mit mir kam, der läßt uns hier nie mehr raus. Jedenfalls nicht lebendig. Wir müssen weg, ehe wir eingekreist werden.«
»Über die Dächer«, Tankred deutete nach oben, »wir sollten über die Dächer kriechen und am Ende der Straße runtersteigen. Da wohnt ein Schneider. Wir könnten uns dort verkleiden und so, unkenntlich gemacht, die Straßen benutzen.« »Na ja...«, Gerondet bewegte zweifelnd den Kopf, »so sehr sicher hört sich das zwar nicht an, aber vielleicht weiß Esra etwas.« Auf der Treppe wurden schwere Schritte hörbar. »Der Totentanz beginnt«, flüsterte Gerondet, und sie huschten an den Dingen vorbei zu jenem fernen Schrank. Vorsichtig öffnete der Polizist die Tür. Tankred verschwand im Innern. Gerondet schloß von außen zu, zog den Schlüssel ab und legte ihn, als wäre jener abgefallen, auf die Erde. Dann lief er zu der Uhr, öffnete das mächtige Gehäuse und schob sich halb hinter das Uhrwerk. Achtzehnhundertneunundachtzig, Herstellungsjahr.
entzifferte
Gerondet
mechanisch
das
Beutegut, dachte er, sie müssen es bei einem ihrer Raubzüge mitgebracht haben. Und wußten nichts damit anzufangen... Nur: Warum steht es hier? Warum nicht in der Kirche? Stille umgab Gerondet. Eine in den Ohren klingende Stille. Das Gesetz, dachte Gerondet, wo ist jetzt das Gesetz, auf das ich eingeschworen bin? Nur noch das Recht ist auf meiner Seite. Aber kein Gesetz... Und was immer wer denken mag, dieser verfluchte Ort ist auch Riedland. Ist Riedland ohne Schminke und ohne das Kleid des Narren. Es ist nur etwas nackter. Nicht maskiert; ein Land ohne den parlamentarischen Fasching. Ohne das volkstümelnde Puppentheater. Frau Bergorius könnte Freyja heißen und Mariane Esra. »Nein«, murmelt Gerondet, »nein - Esra ist nicht Mariane.« Knarrend öffnete sich die Bodentür. Das Geräusch schnitt alle Gedanken Gerondets ab. Er zog lautlos seine Waffe, entsicherte sie. Sechs Zöpfler tauchten in seinem Gesichtskreis auf. Gerondet sah sie wie moosbedeckte Fische in einem düsteren Aquarium. Die sechs verteilten sich. Ihre Bewegungen waren ohne alle Hast. Routiniert suchten sie in dem Chaos nach Verborgenen. Der Anführer setzte sich auf eine Truhe und sah mit herabgezogenen Mundwinkeln seinen Untergebenen zu. Manchmal schnalzte er mit der Zunge und gab einem, den Gerondet nicht sehen konnte, ein Zeichen. Unerwartet tauchte dicht vor dem Uhrglas ein Halbmaskierter auf. Reflexiv hob Gerondet die Waffe. Der andere hatte ihn nicht gesehen. Schien nicht einmal zu ahnen, daß man die Uhr öffnen konnte. Verschwand aus Gerondets
Gesichtskreis. Die Zöpfler hantierten fast völlig lautlos. Das verwirrte Gerondet, denn er sah immer nur den auf der Truhe oder einen, der kurz auftauchte und gleich wieder verschwand. So ein Unsinn, dachte Gerondet, ich hätte den Schlüssel steckenlassen sollen. Sie kennen hier alles... Wissen um jedes Detail. Und ich kann Tankred nicht einmal helfen. Der Anführer erhob sich. Trat an die Bodenluke, sah hinaus. Dann zog er ein rotes Tüchlein aus der Tasche, winkte damit in Richtung Straße. Wieder knarrte die Bodentür. Die Geräusche erstarben. Gerondet preßte die Lippen zusammen. Lauschte. Wie, wenn sie hinter der Uhr stehen? Sich gegenseitig zufeixen und auf mich deuten. Ganz sacht, so langsam und leise es ging, schob Gerondet die schmale Tür auf. Millimeter für Millimeter. Als er hindurchpaßte, ließ er sich nach vorn gleiten. Lag zwischen dem Gerümpel flach auf dem Boden. Gerondet wußte, daß sie nicht allein waren. Er hörte den fremden Atem, fühlte, wie der andere Raum beanspruchte und irgendwo hinter ihm war. Vorsichtig richtete sich der Polizist auf. Stand nun hinter der Uhr. Als Gerondet die Schritte hörte, trat er hinter der Uhr hervor. Der andere mochte ein feines Geräusch vernommen haben. Da sein Blick erdwärts gerichtet war, vermutete er möglicherweise eine Ratte oder Maus. Gerondet sah, wie der Zöpfler auf seine Schuhe starrte, dann seine Hosenbeine entlangblickte und schließlich sein Gesicht erfaßte. Da schlug Gerondet zu. Mit dem Kolben der Waffe. Ungewöhnlich hart. Den Stürzenden fing er auf, trug ihn zu einer Truhe und ließ den Körper hineinfallen. Gerondet atmete auf. Ging leise zu dem Schrank. Der Schlüssel steckte. Gerondet schloß auf. Verschwitzt trat Tankred ins Freie. Sah sich suchend um. »Bestens«, murmelte der Polizist und machte ein entsprechendes Zeichen mit den Händen. »Vor der Bodentür«, flüsterte Tankred, »steht noch einer.« Ein feines, fernes, aber glockenhelles Lachen ließ die Männer erstarren. »Esra«, flüsterte Gerondet kaum hörbar.
18.00 Uhr: Ger... Tankred Torfstecher Töte du mich, wenn Satan kommt... Aufgewachsen in einer Torfstecherfamilie am Rande der Stadt, fiel der junge Tankred zunächst durch seine Größe, seine Redlichkeit und sein gutes Aussehen auf. Dann aber, als plündernde Landsknechte Tankreds Mutter foltern wollten, schlug der Junge vier von ihnen nieder, hieb mit einem erbeuteten Schwert so heftig um sich und brüllte so schrecklich, daß die anderen Marodeure die kleine Kate unangetastet ließen. Brodlant erfuhr davon und über ihn auch der Magister. Es stand also fest, daß Tankred Torfstecher zu den Zöpflern kam, wo er einigemale versuchte, diese Truppe zu verlassen. Er machte kein Hehl daraus, daß ihm dieses »Handwerk« abscheulich sei. Daraufhin versetzte der Magister den Meuterer in das Schimmelpfennighaus. Freyja mochte den »großen Jungen mit den Rehaugen«, wie sie ihn nannte, und Tankred Torfstecher gefiel es in dem Haus der Freyja ausnehmend gut. Erst als er als geheimer Wächter bei Freyjas Exzessen zugegen war, änderte er seine Meinung von der verehrten Priesterin grundlegend und begann sie aus der tiefsten Tiefe seines Herzens zu hassen. Gleichzeitig spürte er, daß auch seine Stunden gezählt waren, denn nie hatte Freyja einen geheimen Wächter für längere Zeit. Und so plante Tankred, die verhaßte Frau zu töten. Lange trug er an dem Plan, dachte von morgens bis abends darüber nach und entschloß sich endlich zum Schwertstreich bei einer Mittagsandacht. Doch da kam Gerondet, der Mann, den alle zu fürchten begannen und den viele den » Todesengel« nannten. Für Tankred stand es fest, daß er Gerondet helfen würde, und koste es das eigene Leben...
I. Gerondet registrierte, wie Tankred heftig die Tür aufstieß und den zappelnden Zöpfler hereinzog. Er sah den Faustschlag und das Ersterben der Bewegungen des anderen. Tankred trug sein Opfer wie eine federleichte Puppe vor sich her, sperrte es in einen vielfarbig bemalten Schrank. Sie verließen den Boden, schlichen nach unten. Tankred öffnete Esras Tür. Ließ den Polizisten vorgehen. Schloß sie hinter sich und legte den massigen Riegel leise vor. Er deutete in Richtung des Zimmers. Gerondet verstand und trat den Weg zu ihr an, die hinter jener Tür sein mußte. Gerondet faßte die Klinke, drückte sie hinunter. Er trat ein, schloß die Tür hinter sich. Erst als er mit dem anderen zusammenstieß, begriff Gerondet, daß auch hier jemand wachte. Der Polizist hieb mit der Handkante zu. Sah die erstaunten Augen des Wächters, der rücklings zu Boden ging. Es polterte nur unbedeutend. Esra war nicht in dem Raum. Eine enttäuschende Leere breitete sich in dem Polizisten aus. Er ging langsam durch das Zimmer, öffnete schließlich die Tür, die in den Schlafraum führte, blickte hinein. Das Mädchen lag auf dem Bett, das Gesicht von ihm abgewandt, lag auf dem Bauch und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Wie eine schwarze Woge umflossen ihre Haare Kopf, Hals und Schultern. »Bist du es, Lieber?« Die Tänzerin sprach leise, drehte sich nicht um. Gerondet konnte nicht antworten. Er räusperte sich. Stand still. »Du hast meinen Brief erhalten?« Sie sprach wieder, und ihre Stimme klang wie bei der ersten Begegnung ein wenig traurig. »Ich bin es«, antwortete Gerondet bitter, »der Fremde, der einem Traumbild aufsaß und nicht an Flucht, sondern an dich dachte.« Sie wandte sich langsam um, sah Gerondet ohne Erstaunen an. Setzte sich auf und sah abwesend und abweisend zugleich aus. »Das bist du«, fuhr sie fort, »denn du bist der einzige, der es zustande bringt, mich gegen das Verbot des Magisters zu sehen. Du glaubst nicht an Satan. Das macht dich frei und furchtlos. Deshalb bist du hier.« »Nicht ganz so romantisch«, Gerondet deutete nach hinten, »ich habe einen Verbündeten. Ohne ihn wäre ich nie bis hierher gekommen.« »Torfstecher«, Esra schüttelte spöttisch den Kopf, sah Gerondet mit schiefgehaltenem Kopf von unten herauf an, »es amüsiert den Magister. Es
amüsiert alle köstlich... Tankred weiß nicht einmal, daß er unter einem Hexentrank den Auftrag bekommen hat, dich ständig unter Kontrolle zu haben. Torfstecher ist ein gutwilliger Kerl, aber dumm.« »Es amüsiert den Magister«, wiederholte Gerondet eisig, »und sicher auch sein Feinsliebchen?« »Wenn du damit mich beleidigen willst«, sagte Esra distanziert, »trifft das nicht. Nach dem Tanz kommt er, um Abschied zu nehmen. Ich bin dann Ruderfs Braut.« »Was?« Gerondet fühlte die Röte in seine Wangen schießen. Mit aufgerissenen Augen starrte er Esra an. »Du bist die Braut eines schießwütigen Mannes, der gefährlicher als euer Satan ist? Oh -weißt du, daß ich dir Format zugebilligt habe? Aber eins schwöre ich dir: Ich mache dich heute noch zur Witwe, Mädchen. Und Satans Fell und des Magisters Kopf lege ich dir auch noch zu Füßen. Und dann gehe ich, Mariane! Und dann heirate ich die Tochter unseres Bäckers und werde mein Leben lang Vanilletorten machen...« »Ruderf wollte mich hierherbegleiten«, Esra lächelte breit, lächelte von sehr weit oben herab auf den Tobenden, »er meinte, daß er dich hier sicher trifft und zur Strecke bringen kann. Es machte mir nicht geringe Mühe, ihn davon abzuhalten. Aber weißt du, es ist ein packendes Spiel, zu beobachten, wie lange du noch leben wirst.« Esras Augen waren groß und glänzend in der Dämmerung des Zimmers. Und es war Gerondet sogar, als hätte sie ganz helle Augen. »Meine Startnummer«, sagte Gerondet sehr leise, »ist neun. Für den Fall, daß du wetten willst. Tankred hat die Nummer zehn, aber du bist dreizehn. Ich wünsche dir noch viel Spaß, Lady. Und sei nicht allzu zornig, wenn wir um null Uhr immer noch leben sollten.« »Du bist ein intelligenter«, orakelte Esra, »aber in seinem Starrsinn wenig beweglicher Junge. So charakterisiert dich Ruderf. Er hat so ein kleines Gerät. Da hat er reingeschrieben, was du bisher getan hast, und das Gerät hat ihm geantwortet, was du weiter tun wirst. Er weiß viel mehr von dir als du von ihm. Du bist für ihn auch weder ein Simpel noch schießwütig. Er kennt dich. Er hat auch gesagt, daß all deine Menschlichkeit, wie bei jedem anderen Menschen auch, die Friedensmaske ist. Er wußte, was du mir sagen würdest. Fast wörtlich.« Gerondet wurde blaß. Er stand hochaufgerichtet in der Tür. Seine Gedanken rissen ab, wirbelten im Kreis herum. »Wenn jetzt einer käme«, sagte Gerondet durch seine geschlossenen Zähne, »und mir sagt, daß du Olympia heißt und ein
Werk des Magisters bist, wenn er mir weiter erzählte, daß dein Herz ein nie rostendes Uhrwerk ist, ich hätte keinen Grund, ihm nicht zu glauben.« Esra lachte und ließ sich rücklings auf die Lagerstatt fallen. Lag da und sah an Gerondet vorbei. Betrachtete die Zimmerdecke. »Warum nehmt ihr euch alle nur so wichtig?« sagte sie fröhlich. »Man darf keinem sagen, daß er ein Mensch ist. Ihr vertragt das nicht. Was wirst du jetzt tun, großer Gerondet?« »Warte es doch ab«, sagte Gerondet tonlos, spürte die Trockenheit seines Mundes, die Taubheit in seinem Hirn, »ich habe schließlich die Wahl zwischen Freyjas Gift, Immelguds Waffe, Errenthalers Teufelsküche und Satans Höllenfahrt. Das ist die Freiheit Riedlands. Laß sie mich genießen.« Heftig zog die Tänzerin die Beine an sich, kam unerwartet schnell nach oben, saß und blickte Gerondet verloren an. »Warum hast du nicht Immelguds Angebot angenommen«, fragte sie, und in ihren Augen schimmerten Tränen, »und wenn du es zum Schein getan hättest? Du in der Kirche - du hättest sie alle besiegt. Sie haben Angst vor dir. Schreckliche Angst. Selbst jetzt noch, da du genau das tust, was sie erwarten. Und jetzt ist dein Spiel zu Ende. Die Dämmerung wird dichter. Satan steigt aus der Tiefe der Unterwelt zu uns auf, und bald wird das große Tor aufschwingen, und er wird über der Stadt schweben und dich und deinen Freund holen... Ja, es tut mir weh. Es schmerzt mich, aber du hast dir nicht helfen lassen. Losgeprescht bist du wie ein Füllen. Dem Metzger direkt in die Arme. Und so werde ich warten bis zum nächsten Tag auf einen, der wie du ist, nur klüger.« »Dann bleibt mir nur der Weg nach draußen.« »Es gibt keinen Weg durch den Fluch.« »Gibt es also nicht«, sagte Gerondet hart. »Und warum nicht?« »Weil es der Fluch Belials ist«, sagte Esra und senkte die Augen. »Tatsächlich«, Gerondet sah sich mißtrauisch um, »Belials. Des Höllenfürsten. Aber die Zöpfler läßt er zu ihren Raubzügen hinaus. Und wieder herein. Er muß etwas für Tölpel übrig haben.« »Es ist der Fluch«, wiederholte sie matt. »Ein technischer Fluch«, in Gerondets Stimme schwang Verachtung, »eine von vielen Lügen. Eine nur.«
Esra wandte sich zur Seite. Starrte auf das farbige Glas, hinter dem die sinkende Sonne ein Feuerwerk der unterschiedlichen Lichttöne ausgeschüttet hatte. »Ich hätte dich gern einmal kennengelernt«, sagte sie verträumt, »ohne daß du richtest oder fliehst. Einfach dich...« »Dann«, sagte Gerondet, ohne die Tänzerin anzusehen, »dann denke ich an dich. Immer nur an dich. Und das wird sich kaum ändern.« »Und?« Esra atmete ruhig, lächelte und blickte in Gerondets Richtung. »Das ist der Lauf der Welt«, sagte Gerondet, »man merkt immer zu spät, mit wem man glücklich hätte sein können. Entweder man merkt es nicht, oder man muß in den Krieg. Aber da ist kein Unterschied.« »Ich hocke direkt vor dir«, sagte Esra, »wenn du willst, probiere, ob du mit mir glücklich werden könntest.« »Das bietet jede Dirne an«, entgegnete Gerondet, »bei der man eine Haussuchung machen muß. Außerdem, fürchte ich, würden wir nicht lange danach wie Schaschlik aussehen. Beide am Spieß.« Esras Augen wurden groß und dunkel. »Ihr habt grobe Scherze!« »Ich werde gejagt«, verteidigte sich Gerondet, »ein fein eingespieltes System ruft zur Hatz. Verstärkt durch die modernsten Waffen eines professionellen Mörders. Da bleibt wenig Zeit für Poesie und Romantik. Ich sehe überall Fallen. Vermute rundum tödliche Geschosse. Und ich liebe dich. Ich möchte es ausprobieren. Ich kann dich nicht einmal lange ansehen, ohne... daß mir heiß und kalt wird. Aber ich muß mich wehren. Und sei es mit geschmacklosen Scherzen.« Schweigen erfüllte das Zimmer. Esra seufzte leise. Öffnete den Mund, ohne ein Wort zu sagen. Gerondet stand auf, trat an das Fenster. »Die Nacht steht vor der Tür«, sagte er von dorther, »die Stunde Satans kommt näher. Ich glaube, es ist gut so, wie es gekommen ist. Was nützt dir eine Liebe, wenn sie in der ersten Nacht wieder stirbt. Immelgud scheitert nicht. Im Gegenteil. Entweder entreißt er dem Magister alle Macht, oder er wird ihn überzeugen, sich unter den Schutz der riedländischen Regierung zu stellen. So wirst du doch noch unsere Welt kennenlernen. Ich denke jetzt, daß auch Mariane auf ihre Art klug war. Ich denke dann auch: Ich selbst bin ein Relikt einer verlorenen Zeit oder ein zu früh Geborener. Das ist schwer festzustellen. Ich brauche eine Zeit, in der alle gegenwärtigen Werte
sinnlos geworden sind; Das Leben könnte schön sein, wenn es diese Wirklichkeit der Bergorius und Magister nicht gäbe. Du liebst schon den Richtigen.« »Ich liebe nichts und niemanden«, antwortete sie hilflos, »und wünsche doch nichts so sehr, wie einen zu lieben. Dich zu lieben. Und wäre es nur einen Tag. So wollte ich dankbar sein. Lehre es mich...« »Hast du einen sicheren Ort für uns?« Esra schüttelte den Kopf. »Etwas anderes«, begann sie zu erzählen, »die Geschichte unseres Ortes. Nimm sie statt meiner mit dir. Einst waren wir nur ein Dorf. Klein, verloren, jammervoll. Aber es ging uns allmählich besser, denn das Handwerk siedelte sich an, und wir machten gute Geschäfte mit allen. Und so kamen immer mehr Menschen, die ihres Bodens verlustig gegangen waren. Handwerk und Handel blähten sich auf. Nachbargemeinden verschuldeten bei uns, und wir kauften ihnen alles weg. Das Land, die Anwesen. Sogar die Menschen. Und unser Dorf wuchs und wuchs. Unsere Kaulleute galten als die geschicktesten im ganzen Land. Immer kauften sie etwas billig ein, um es teuer abzusetzen. Und dann bestimmten die Waffenschmiede unser Geschick. Wir rüsteten die Armee unseres Fürsten aus und wurden dafür unabhängig von ihm. Wurden eine selbständige Stadt. Die Menschen waren satt und zufrieden, die Armen wurden unentgeltlich gespeist und wohnten in pachtfreien Wohnräumen. So lange, bis sie Arbeit fanden. Sogar eine kleine Glashütte gab es, die nur für die Stadt arbeiten durfte. Wir wähnten uns als den Mittelpunkt der Welt. Es gab Dienstmägde und Knechte in solcher Zahl, daß keiner der Bürger noch etwas selbst tat. Ein angenehmes Leben. Aber auch ein kraftloses Leben. Die Menschen wurden feige. Haßten und scheuten den Tod wie das Pferd die Flammen. Versteckten ihre Kranken und verbannten die Alten an den Rand der Stadt. Wir lebten von Waffen. Besonders von denen, die das Pulver gebar. Und plötzlich kam der Krieg auch zu uns. Die Bürgerwehr war lächerlich. Die Bürger schrien: ,Ich muß mein Gold noch sicherer verstecken.' Oder: ,lch muß nachsehen, ob meine Magd mich nicht bestiehlt', und sie wurden zu Hunderten fahnenflüchtig. Die Waffenschmiede schrien: ,Diesen Krieg haben uns die Gelehrten und Alchimisten eingebrockt.' Sie waren nie gottesfürchtig. Wer von den Genannten nicht flüchten konnte, wurde gepfählt. Schließlich gab es weder einen Gelehrten noch einen Lehrer oder Alchimisten in unserer Stadt. Dann sollten die Wundärzte und Barbiere schuld am Niedergang sein, weil sie an Kranken verdienen. Wieder begann die wilde Hatz. Und als der Magister kam, als er mächtig wurde, hieß es: ,Die Pfarrherren mit ihrem Glauben sind einzig schuld am Zorne Belials.'
Der Handel ging ein. Reisen waren ein lebensgefährliches Risiko geworden. Viele der reichsten Bürger zogen mit Sack und Pack davon, nachdem sie sich in die Lumpen der Armen gehüllt hatten. Der Magister trat gewichtig auf. Garantierte uns Sicherheit, wenn wir ihm gehorchten. Was blieb den Menschen anderes übrig, als ihm zu Willen zu sein. Denn die Not und das Wehklagen waren groß, und nichts versprach einen Ausweg. ,Gott ist eine Lüge', verkündete der neue Herr dieser Stadt. Und: ,Die Bibel ist das auf den Kopf gestellte Buch der Unterwelt, weil nicht ein greisenhaftes Oberhaupt das Neue schafft, sondern es entsteht in den Flammen. Egal, ob in den Flammen der Schmieden, in den Feuern der Vulkane oder im Brennen der Sonne. Belial, der Feuergott, der Herr der Finsternis, nur hat die Macht, Änderungen herbeizuführen...' So redete er. So verführte und zwang er uns in die Knie. Und vieles von dem, was er sagte, schien uns sehr vernünftig. Ja, denk doch nur: Wenn man im Dunkel steht und sehen will, so muß man Flammen entfachen. Aber sie leuchten nicht nur, sie fressen auch das auf, woran sie nagen. Und sei es die Fackel, das Pech oder den Kienspan... Und so gab es seinerzeit nicht wenige, die sich ehrlichen Herzens fragten: Ja, nun - woran haben wir denn bisher nur geglaubt? An ein Ammenmärchen... Unsere Pfarrherren verschwanden. In das Schlachthaus. Und die Kirche wurde umgestaltet. Vollständig. Wie sie innen aussieht, weiß nun niemand mehr. Die Maurer und Zimmerleute, die damit beauftragt wurden, verschwanden ebenso in dem Schlachthaus. Aufrechte Bürger, die den Magister als Scharlatan bezeichneten, wurden von der Bürgerwehr gehetzt, vertrieben oder gemeuchelt. Freyja Schimmelpfennig, eine stadtbekannte Dirne, griff nach der Macht. Wurde die mächtigste Frau hier. Die Hohepriesterin des Fruchtbarkeitskultes. So blieb sie bei ihren Leisten. Unser einstiger Stadtschulze wurde von einem Bürgermeister und seinen Ratsherren abgelöst. Dummheit und Arroganz zogen in das Rathaus ein. Bei allen Machtwechseln blieb ein Mann: Melchior. Der Erste und Geheime Schreiber der Bürgermeister. Er blieb immer. Blaß und ohne Persönlichkeit, überlebte er alle Bürgermeister. Unterwarf sich einem jeden. Er war schon Schreiber, als die Kinder geholt wurden, und ist es immer noch. Das heißt, er ist inzwischen selbst Bürgermeister von Freyjas Gnaden. Und der Erfolg jenes Mannes, den wir den Magister nennen, sein Erfolg heißt Angst. Weit verstreut hatten wir berittene Posten stehen. Damals, als der Krieg um uns tobte und Plünderer die Stadt überfielen. Und sie meldeten eines Tages eine versprengte Einheit Landsknechte, die direkt auf unsere Stadt zukamen. Da mußten alle Bürger in ihre Häuser gehen. Die Stunde des Magisters war gekommen.
Als man die Landsknechte im Morgendämmer erkennen konnte, als sie wie lebendig gewordene Weiden, nebelhaft und metallklirrend näher kamen, da schwangen lautlos die mächtigen Flügeltüren der Kirche auf, es hing ein spitzer, schmerzhafter Ton in der Luft, und Satan, nebelhaft und undeutlich, kam heraus. Er schwebte, er glitt und er flog den Landsknechten entgegen. Und aus Hunderten Kehlen kam ein einziger Schrei des Entsetzens, und Hunderte Fußpaare versuchten die in Metall gehüllten Leiber der Angreifer fortzutragen, ohne daß es ihnen gelungen wäre, und Dutzende Pferde schrien wie verdammte Seelen schrill und untierisch. Wer in der Nähe wohnte, verkroch sich unter sein Deckzeug und verstopfte sich die Ohren. Und es verbreitete sich die Kunde in der Stadt wie im ganzen Land: Satan beherrscht diesen Ort. Man mied uns wie Aussätzige, aber auch der einstige Wohlstand kehrte nicht zurück. Man mied nicht nur uns, sondern auch unsere Waren, unser Geld, unser Gold. Es hieß: Sie haben Blendwerk, und ihr Gold bringt euch Pest und Cholera ins Haus, und die Waffen erdrosseln ihren Besitzer. Und schließlich der Vertrag mit der Hölle: Wir werden so lange im Moor versinken, bis daß eine glückliche Zeit anbricht, bis daß es nicht mehr Tod, Alter und Krankheit gibt, bis daß Neid, Egoismus und Starrsinn verschwunden sind von der Erde. So lange werden wir schlafend auf dem Grund des Moores liegen. Und es ist wahr. Nicht tot sind wir, wie wir auch nicht leben. Träumend huschen wie fahle Schatten die Jahreszeiten in Augenblicken an uns vorüber. Reihen sich aneinander, sind gleichermaßen wirklich wie auch nicht. Die Tage und die Nächte sind ein gleichmäßiges Grau, und wir liegen und träumen oder laufen wie jetzt herum und tun stets dasselbe. Da ist unsere Geschichte. Mehr gibt es nicht zu sagen.« »Ja«, Gerondet trat an das Bett heran, blickte von oben auf die Tänzerin nieder, streckte die Hand nach ihr aus, zog sie aber ebenso eilig wieder zurück, »eine Geschichte. Näher der Wahrheit, ohne daß es sie auch ist... Eine Geschichte nicht anders als die von Belial, denn wer würde nicht gern träumend jener fernen Menschheitszeit entgegengehen, in der all die Schrecken der Gegenwart überwunden sind. Weißt du, weshalb ich zu dir gekommen bin? Weißt du es?« »Du wolltest mich sehen«, sagte sie, ohne sich zu rühren. »Ich will dich mitnehmen«, antwortete der Mann, »und du mußt kommen. Was ist denn Gewalt, Folter, Tod? Nichts, sage ich. Es gibt nur einen Schrecken. Und das ist der, der für den einzelnen von euch nicht anders gilt als für eure ganze Stadt: Morgen. Ja, Esra, nur das. Morgen. Damit lähmen sie euch heute. Damit macht sich der einzelne lebensuntüchtig. Mit dem Wort .morgen' und der dazugehörenden Formel: Dann werde ich. Und ich sage dir, wer nicht heute lebt, wer nicht jetzt lebt, wird es nie mehr können. Weil es immer eine Ausrede gibt,
in der das verfluchte ,morgen' auftaucht. Immer. Komm mit mir. Auch wenn ich für nichts garantieren kann. Nur Möglichkeiten, nebelhafte Möglichkeiten kann ich anbieten. Aber ich bitte dich, mit mir zu kommen.« »Wohin«, fragte sie kategorisch, »wohin willst du denn? Du weißt es nicht. Immelgud aber weiß es schon. Seine kluge Maschine hat es ihm gesagt. Er weiß jetzt schon, was dir selbst verborgen ist... Nein, gegen Satan und solche Maschinen haben wir keine Waffen. Sinnlos ist alles.« »Du glaubst nicht mehr an den Menschen?« »An den Menschen«, sagte sie apathisch, »es ist alles Torfstechers Idee. Ein Tölpel ist er. Ein Ansässiger. Was würde es dem Magister ausmachen, Freyja statt meiner tanzen zu lassen? Ich habe den Bogen überspannt. Deshalb hat er mich Ruderf versprochen. Mich ihm verlobt... Ja. Ich kann dir keine Stütze mehr sein, denn nunmehr beginnt mein eigener Sturz.« »Esra«, Gerondet setzte sich auf die Bettkante, nahm ihre Hände, hielt sie zwischen den seinen, »du sollst nicht Schild sein und auch nicht die, die mir den freien Rücken verschafft. Du sollst mitkommen.« Sanft entzog ihm die Frau ihre Hände. »Ihr Narren«, sagte sie schwach und fast tonlos, »ihr Narren..., wenn ihr doch nur sehen könntet. Wenn ihr nur sehen würdet, was um euch ist. Nur das...« Gerondet schnellte hoch. Sah sich suchend um. Fast reflexiv fuhr seine Hand zur Dienstwaffe, ohne daß er sie herauszog. Esra lehnte an den Kissen, beobachtete Gerondet, und in ihrem Blick waren Apathie und Bedauern. »Unsere Einfälle«, erklärte sie in einer Tonlage, als wüßte sie, daß Gerondet sowieso nicht die richtigen Schlußfolgerungen ziehen konnte, »sind so klein wie unsere Stadt. Niemand denkt über unseren Horizont hinaus. Deshalb ist Brodlants Idee, dich zu töten, schiefgegangen. Er hat seinen Plan für einzigartig angesehen, wußte aber nicht, daß der Magister und Ruderf noch immer hofften, dich auf ihre Seite locken zu können... Und wenn du den Fluch durchbrechen willst, dann denke in deinen Dimensionen. Nicht in denen eines Torfstechers.« »Und was würdest du vorschlagen?« »Bin ich nicht eine von den Hiesigen? Gehöre ich nicht dazu? Auch mein Denken endet schließlich an der Tür der Kirche.« »Hat es noch niemand versucht?«
»Wir erleben den vierzehnten Tag«, erzählte Esra und fröstelte, »und als wir das zweitemal lebten, da kam einer. Er verliebte sich in die Tochter eines Ratsherrn. Ein schönes Mädchen. Ich weiß nicht, welchen Kuhhandel der Magister mit Vater und Tochter abgeschlossen hat, nur dieses weiß ich: Sie ließen ihn wieder gehen. Und man erzählte sich daraufhin: Wenn einer, der kommt, von einer, die hier lebt, geliebt wird, öffnet der Herr der Finsternis die Tür und läßt jenen Geliebten hinaus, um ihn so zu strafen für seine Untreue. Denn nie wird er mehr glücklich sein können. Immer nur wird er denken an die Verlorene, und eines Tages wird er kommen und sich ins Moor stürzen, weil das Leben für ihn ohne Reiz ist. Es ist natürlich nicht wahr. Aber die Menschen glauben es noch immer. Und du, Gerondet, willst du mich nicht auch deshalb neben dir haben? Kennst du nicht jene alte Sage? Viele sind noch gekommen. Sie mußten bleiben. Entweder im Schlachthaus, oder sie wurden Bürgersleute. Du kannst sie an ihrer Kleidung wohl erkennen. Und ich, Lieber, will leben. Nicht mehr nur zuschauen. Nicht die Jahre als Schatten beobachten müssen. Leben. Ich weiß, daß Ruderf mir das Leben zurückgibt. Ich weiß es...« »Verstehe«, murmelte Gerondet, »ist eine verrückte Geschichte: Man kennt die Adresse des Teufels und kann doch nur zusehen...« Esra streckte sich aus. Sie schloß die Augen, lag entspannt vor dem Polizisten. Der schluckte heftig. Konnte lange Zeit nicht die Augen von ihr abwenden. »Esra...« Die Frau bewegte schwach den Kopf. »Ich gehe jetzt zu Tankred«, sagte der Mann, »ich muß ihm etwas sagen... Ich...« »Geh nicht«, unterbrach sie ihn heftig, »bleib hier. Komm doch zu mir... Du kannst die Waffe sein, die Ruderf und den Magister sicherer trifft als ein Degen. Du...« »Er steht im Korridor«, Gerondet deutete mit dem Kopf zur Tür, »ich gehe nicht richtig fort.« »Geh nicht!« »Und was geschieht, wenn ich gehe?« Gerondet sah sich erneut um. »Was soll geschehen«, sie sprach wie in Trance, »nichts wird geschehen. Ich will es nicht, weil es ein solches Treffen nie wieder geben wird. Nie!« Sie hob
die Hände, ließ sie wieder fallen. Ihre Augen waren weiterhin geschlossen. Nur ihr Atem wurde flacher und langgezogen. »Es ist zu wahr«, der Polizist stöhnte, »hier denkt niemand über den Stadthorizont hinaus. Draußen, beim Schwarzen Stein. Oder im nassen Wald, da will ich dein Mann sein. Dort. Nicht hier...« »Geh schon«, sagte sie wie abwesend, sagte es undeutlich. »Und was denkst du?« »Ich denke nicht«, antwortete Esra, »ich weiß, daß ihr über die Dächer fliehen werdet. Zur Schneiderei. Ich weiß von der Maschine, daß ihr euch dort verkleiden wollt, um dann ungesehen, wie ihr denkt, die Straßen zu benutzen. Und ich weiß auch, wie viele Armbrüste ununterbrochen auf euch gerichtet sind.« »Wenn du deinen Mann sehen solltest«, erklärte Gerondet voller Haß, »oder auch den Magister, dann sage ihnen: Ich komme noch vor Mittemacht. Ich werde ihnen keine Möglichkeiten lassen, mir auszuweichen. Sage es ihnen, daß sie nicht unvorbereitet sind.« Gerondet verließ leise den Ruheraum, schloß hinter sich die Tür, wie man einen Lebensabschnitt abschließt, der unwiederbringlich in der Zeit versinkt. II. Tankred hatte den Samtvorhang des Flurfensters heruntergerissen, den Zöpfler mit der goldenen Kordel gefesselt und ihn in den Vorhang so eingerollt, daß der andere weder etwas sehen noch schreien konnte. »Wo ist Esra?« Der Hüne sah Gerondet unsicher an. »Da drin«, Gerondet deutete auf die Räume der Wohnung, »da ist sie, und da bleibt sie... Sie hat einen Bräutigam. Der andere, der mit mir kam...« Tankred Torfstecher blickte Gerondet fragend an. »Und ich habe gesagt, was ich nicht dachte«, berichtete Gerondet leise, »und was ich dachte, kam mir nicht über die Lippen. Doch sie wußten alles, sie wußten, wo wir Freyja hinbringen würden, und selbst wenn es uns gelungen wäre, was wir planten, hätten wir keine Ruhe gehabt. Sie wissen auch, daß wir zur Schneiderei wollen... Was nun?« Tankreds Gesicht wurde grau wie Marmor. »Nein«, er stöhnte, »nein..., sie..., sie können doch nicht unsere Gedanken lesen.«
»Wie bist du auf den Fluchtort gekommen?« »Ich«, Tankreds Blicke flogen wie gehetzte Vögel durch den Raum, »ich weiß nur, daß mir alles klar war... Ich glaube, ich habe geschlafen, und da waren zwei Augen, und eine Stimme sagte: ,Rette ihn, denn er ist dein Freund...' Und sie sagte mir, wohin ich gehen müßte. Sie sagte alles. Auch das mit der Schneiderei... Ein allmächtiger Höllenfürst sagte es.« Gerondet lächelte boshaft. Er umspannte mit der linken Hand die rechte, die er zur Faust geballt hatte. »Also versuchen sie mit mir das gleiche«, sagte er mit jener Klarheit in der Stimme, die ihn als Chefkommissar so berüchtigt gemacht hatte, weil sich diesem Klang niemand entziehen konnte, »sie treiben ihren Hokuspokus mit mir. Aber nicht auf der Ebene Teufel - Gott, sondern wissenschaftlich verbrämt. Die allwissende Maschine... Sie haben es ihm eingebleut und tun so... Oh!« »Was ist?« Tankred ließ keinen Blick von Gerondet, der mit gesenktem Kopf, die Rechte an sich gepreßt, unbeweglich in dem engen Raum stand. »Was soll schon sein«, Gerondet warf den Kopf in den Nacken, »frage lieber, was man von einer Landsknechtsbraut anderes als das erwarten kann... Stadthorizont. Irrsinn ist das. Sie ersticken jeden kreativen Gedanken in dieser verfluchten Stadt und wollen mir einreden, daß es euch an Ideen und Schöpferkraft fehlt. Laß dir nichts einreden. Sie haben dich nicht anders vergiftet als mich bei Freyja. Dann gaben sie dir den Plan, dem wir folgten. Bisher folgten! Und jetzt sagen sie: Seht doch, wie einfältig er ist. Und sie sagen: Seht doch, wir wissen alles schon immer vorher. Also: Bitte keine Weltuntergangsstimmung. Jetzt geht der Tanz erst richtig los... Komm, wir gehen noch einmal zu dem schönen Mädchen. Beide. Ich muß ihr etwas sagen. Ich muß!« Sie durchquerten den ersten Raum, stießen die Tür zu Esras Schlafraum auf und sahen sich einem Halbkreis, aus Zöpflern gebildet, gegenüber. Drohend waren Speere, Degen, Armbrüste auf sie gerichtet. »Ergebt euch!« »Mahlzeit«, sagte Gerondet kühl, während er verzweifelt nach einer Deckung Ausschau hielt, »da wären wir ja alle versammelt, Freunde.« Tankred stand schweigend neben Gerondet, die beiden nutzlosen Degen halberhoben in den Händen. »Torfstecher«, sagte einer der Halbmaskierten, »Degen fallen lassen!«
Polternd fielen die Waffen zu Boden. »Ich soll euch beide«, sagte der Wortführer jetzt, »herzlich von der Hohenpriesterin grüßen. Sie ist sehr gespannt auf die nächste Begegnung.« Gerondet sah zu Esra. Sie saß mit überkreuzten Beinen im Bett und betrachtete interessiert das Geschehen um sie her. »Es heißt«, hob der Wortführer noch einmal an, »daß Ihr, Fremder, eine tödliche Waffe bei Euch habt. Gebt sie heraus.« Gerondet zog sein Feuerzeug aus der Tasche und warf es nachlässig dem Sprecher zu, der es geschickt auffing. Der Mann betrachtete sich das merkwürdige Metallding von allen Seiten. »Da oben«, sagte Gerondet, »einfach einmal draufdrücken.« Der Zöpfler folgte. Die Flamme zuckte auf, und er ließ erschreckt das Feuerzeug fallen. Auch seine Nachbarn zur Rechten und Linken wichen zur Seite. Die Phalanx kam etwas in Unordnung. Gerondet sprang nach vom, stieß einen der Zöpfler so kräftig gegen die anderen, daß ein sekundenlanges Durcheinander entstand, landete neben Esra, packte sie und ließ sich mit ihr vom Bett rollen. Als er hochkam, hielt er die Frau vor sich. Hielt sie so fest, daß sie sich nicht rühren konnte. Die freie Rechte nutzte er, um die Dienstwaffe zu ziehen. »Nun hört mal gut zu«, Gerondet keuchte, beruhigte aber seinen Atem im Verlauf der Rede, »jetzt wollen wir uns wie wahre Freunde unterhalten. Wenn einer von euch seine Waffe gegen mich richtet, dann wird er als Schnitzel auf Satans Teller enden. Der Magister mag es nämlich nicht, wenn man seine Esra aufschlitzt oder auch nur ankratzt. So, Kameraden, und nun legen wir ganz vorsichtig unsere Waffen auf die Erde. Besonders die Armbrustgeschosse haben die unangenehme Eigenschaft loszugehen, wenn man nicht wirklich vorsichtig ist. Ich darf also bitten.« Gerondet beobachtete jede Bewegung der Zöpfler. Wie ein Schatten sprang Tankred gegen die Truppe, riß einem die Armbrust aus der Hand und richtete sie gegen den Anführer. »Kraudmann«, sagte er, und der Haß verzerrte seine Stimme, »haben wir nicht noch eine Rechnung offen?« »Tankred«, gemahnte Gerondet nicht ohne Spott, »laß den Krautfresser laufen. Er ist unser Postillion. Er wird Freyja sagen, daß sie uns schon noch treffen wird. Wenn auch unser Hochzeiter die rote Flamme ist, die gierig ihr Anwesen bis auf die Balken glattlecken wird. Laß ihn, mein Freund. Laß ihn.«
Tankred schloß den mächtigen Schrank der Tänzerin auf, warf wahllos all ihre Kleidung heraus. »Hier hinein!« Sein Kommando durchzuckte den Raum. »Und wagt nur nicht, euch zu rühren oder zu schreien. Da drin ist nicht viel Luft. Bleibt also still.« Gerondet sah zu, wie die Zöpfler in den Schrank stiegen. Tankred schloß die massive Tür, schloß zweimal herum und steckte sich den Schlüssel ein. Gerondet stieß Esra in Richtung Bett, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah nicht, daß ihn die Tänzerin mit entsetzten Augen anstarrte. »Der große, gnadenlose Gerondet«, sagte Esra, und Verachtung war in ihrer Stimme, »überwindet alle Hindernisse... Sie fürchten dich zu Recht.« »Und die kleine Soldatenbraut«, höhnte Gerondet, »die so unendlich brav alles sagt, was man ihr beibiegt. Nur eins wollte ich dir sagen: Möglich, daß du all deine Schöpferkraft eingebüßt hast in dem Spiel, das du spielst. Aber der Mann dort nicht! Man wußte, wo wir hingehen, weil sie ihm das unter Drogeneinwirkung suggeriert haben. Versteht du nicht? Ihr seid nicht dümmer als wir. Nur ohne Hoffnung.« »Dann gib dich doch nicht mit mir ab«, Esra starrte auf ihre Hände, »dann geh doch, wenn du mich der Freyja gleichsetzt. Ich war dein Schild. Du hast gehabt, was du wolltest. Geh doch und laß mich. Warum quälst du mich noch.« »Er liebt Euch, Esra«, sagte Tankred und lächelte, erinnerte an einen zu groß geratenen Jungen, »er liebt Euch über alle Maßen, und Ihr, Esra, ich sehe auch Eure Liebe zu ihm. Warum redet ihr so miteinander?« Gerondet schluckte. Esra verstummte. Sie sahen einander nicht an. »Flieh, Gerondet«, flüsterte Esra nach Sekunden des Schweigens. »Niemand setzt mir einfach einen Stuhl vor die Tür«, antwortete Gerondet finster, »und niemand sagt mir: Verschwinde. Auch ein laserbewaffneter Mordbube nicht. Sicher, es werden neue kommen... Vielleicht kriechen wir auch in den Schrank und warten, bis alles vorbei ist. Eine Welt ohne Alter, Krankheit, Tod. Ohne Gier, Geiz und Neid. Das ist doch etwas... Warum also nicht warten?« »Sie hetzen dich, Gerondet«, sagte Esra, »denn sie hätten euch beide töten können. Sie durften es aber nicht. Das ist das schreckliche. Sie hetzen immer. Sie jagen ihn rund um den Tag. Und sie geben keine Ruhe, bis der Verfolgte am Abend, in der Nacht beim Brunnen ist. Immer dort findet das Schauspiel statt. Immer dort taucht Satan mordend auf... Diese Männer im Schrank haben sich
überlisten lassen müssen. Es gehört zu dem Plan. Frage deinen Freund, ob es nicht immer so war?« »Das ist wahr«, stimmte Tankred zu, »sie treiben uns auf die Mitternacht zu. In Satans Arme.« »Also sollen wir zu Freyja gehen, was?« Gerondet schnaufte. »Es mag sich in ihren Armen schöner sterben. Ich habe etwas dagegen.« »Nicht Satan«, Tankred sah Gerondet groß an, »töte du mich, wenn es keinen Ausweg gibt. Du wirst es tun. Ich werde dich dann bitten.« »Schließ mal den Schrank auf!« Gerondet deutete auf das Möbel. Tankred gehorchte. »Der Wortführer rauskommen«, sagte Gerondet, während er sich nach seinem Feuerzeug bückte. Der Gerufene erschien. Ohne Maske. Mit zerrauftem Haar. Verschwitzt. »Freyja«, begann Gerondet seine Frage, Verstummte aber, als er seinen Gegner maskenlos vor sich sah, und fuhr fort: »Mann, Junge..., du bist ja noch ein halbes Kind. Bist du denn schon zwanzig?« Der Zöpfler schüttelte den Kopf. »Was machen sie nur mit euch?« Gerondet wurde nachdenklich. »Wenn sie euch wenigstens verschiedene Möglichkeiten böten. Aber so: Alles ist festgelegt. Kleidung, Haarschnitt, Lärm und Kommandos. Und das so lange, bis ihr keinen eigenen Gedanken mehr haben könnt. Los - geh zurück in den Schrank.« Gerondet ging im Zimmer auf und ab. »Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte er, »ja, sie werden mich hetzen. Immer weiter. Bis Mitternacht. Und dann werden sie kommen. Vielleicht auch Satan. Also, werden sie sagen, schwöre ab! Versteht ihr? Jeder ist einmal so leer, daß er jeden Eid ablegt. Darauf setzen sie. Sie werden mich nicht töten. Glaube ich nicht. Und das ist unsere Chance, Tankred. Wir haben bis Mitternacht Zeit, uns etwas auszudenken. Um nicht mit euch in den Schlaf zu versinken.« Die Tänzerin blickte zu dem angelehnten Fenster. Antwortete nicht. »Rede doch«, sagte Gerondet fordernd, »sagen wir: Ich nehme dich mit, und du erzählst etwas von diesem tödlichen Schlaf.«
»Das war unser achtzehnter Morgen«, schaltete sich Tankred ein. »Ja«, stimmte Esra bei, »vierzehnmal endete unser Tag um Mitternacht, und vierzehnmal sieht man träumend die Jahre vorüberhetzen.« »Und der Professor«, Gerondet sprach, während eine ängstliche Ahnung in ihm entstand, »wie viele Morgen hat er erlebt?« »Er ist gekommen«, sagte Esra, »und dies ist sein zweiter Morgen.« »Fünfunddreißig verschwunden«, murmelte Gerondet, »jetzt, fünfundachtzig, sein zweiter Morgen. Dazwischen liegen ...« Er nahm den Kugelschreiber, schrieb auf ein Pergament, das ihm in die Hände kam. »Also«, fuhr er in dem Monolog fort, »fünfzig Jahre dazwischen. Aber noch einmal ist er erwacht. Das sind fünfundzwanzig Jahre ...« Er starrte Esra ungläubig an. Lange. Dann kritzelte er wieder etwas auf das Pergament. »Achtzehn mal fünfundzwanzig«, flüsterte er tonlos, »sind ... vierhundertfünfzig ... Vierhundertfünfzig Jahre. Jahre! Also ..., also ... besteht der Fluch seit..., seit fünfzehnhundertfünfunddreißig ...« Gerondet ließ sich kraftlos auf einen Hocker fallen. Blickte abwechselnd Tankred und Esra an. Atmete schwer. »Da draußen«, Gerondet deutete mit dem Daumen hinter sich, »da ist überhaupt keine rasende Welt, wie es der Magister euch einredet. Die Welt ist ganz normal ... Bei euch ... ist Stillstand. Stillstand.« »Belials Kinder«, sagte Esra leise vom Bett her, »altem nicht. Wenn wir das nächstemal zusammentreffen, bist du ein Greis. Ich aber nur einen Tag älter.« »Beim zweitenmal«, korrigierte Gerondet sie, »werde ich der Greis sein. Aber ..., aber was hast du derweilen erlebt? Welche Gefahren, Freuden, welche Erfahrungen und Abenteuer sind dann in dir? Keine. Alles bleibt gleich: Sentimentalität und Dummheit, Arroganz, Neid, Haß und Intrigen. Und die Sondervorstellung für schreckhafte Gemüter, Satan genannt. Glühende Augen in der Finsternis. Er ruft die Verräter. Hüllt sie in seine ledernen Flügel, schlägt seine Fangzähne in sie. Ende der Veranstaltung ... Und das ist Leben. Lebensersatz. Und weil die Angst, die Verspannung, die Ekstase so schön orgastisch sind, schielt ihr schon um euch, das nächste Opfer zu denunzieren. Vielleicht ein Rheumageplagter, der nicht so recht auf die Knie kann. Oder einer, dessen Lachen nicht das eure ist. Und eines Tages wird der letzte Überlebende die Schleuse öffnen und die tötende Bestie hinauslassen. Belials Kinder bleiben ewig jung. Bleib mir vom Hals mit euren Sprüchen. Bleib jung und schön, Tänzerin. Wisse, während du träumst, daß ich wohl an dich denken werde. Mit einem Gemisch aus Sehnsucht und Mitleid. Aber ins Moor stürze ich
mich nicht deinetwegen. Euretwegen. Ich habe dir am Vormittag ein kleines Bild gestohlen. Ich werde es technisch vergrößern lassen, und es wird mein Heim zieren. So kann ich dich nicht vergessen. Aber ich werde dich als Frau denken. Nicht als ewig junges, eisigkaltes und präzis berechnendes Geschöpf dieses Ortes. Lebe wohl, Tänzerin.« Gerondet sah Tankred an. »Komm, Freund«, sagte er leise, »wir gehen.« Als Gerondet die Tür schloß, sah er, daß die Tänzerin sich herumdrehte, mit dem Kopf in die Kissen fiel und aufschluchzte. III. Sie gingen die Straße entlang. Aufrecht wie zwei, die gegen alles gefeit waren. Denn in Gerondet hatte sich der Gedanke ausgebreitet, daß er ein grandioses Schauspiel erlebte, in dem er gleichermaßen Zuschauer wie Akteur war. Das Schauspiel seiner eigenen Bekehrung vom Stadtfeind Nummer eins zum gehorsamen Werkzeug des Magisters oder Immelguds. »Und wenn sie doch auf uns schießen?« Tankred sah sich vorsichtig um. »Sie tun es nicht!« Die offensichtliche Ratlosigkeit der fliegenden Händler und »zufälligen Spaziergänger« belustigte Gerondet. »Sieh sie dir an«, spottete Gerondet, »sie stehen da, starren uns ungläubig an und wissen nicht einmal, was nun zu tun ist. Es ist das der Fall, auf den sie nicht vorbereitet sind. Wir brauchen mehr solcher Einfälle.« »Und du willst nie mehr zu ihr zurück?« Tankred wirkte unglücklich. »Sie gehört Immelgud«, stieß Gerondet zornig hervor, »und ihrer eigenen Unentschiedenheit. Ihrem Lavieren mit der Macht und der Freiheit. Sie taumelt wie ein Schmetterling umher ... Ist es da ein Wunder, wenn sie im Schnabel einer Krähe endet?« »Ich verstehe nicht«. Tankred hob die Schultern, »daß der Magister sie hergibt ...« »Es geschieht etwas mit ihm«, sagte Gerondet, »das ist der Einfluß von Errenthaler und nun auch von Immelgud. Wer weiß, was sie dem armen Kerl alles angeboten haben. Vielleicht einen Harem in unserer Welt. Wenn die Wissenschaft mit dem Mörder paktiert, ist sie schrecklicher als die Priester. Verlogen und fanatisch ...«
»Gerondet«, Tankred rückte an den Freund heran, sprach jetzt sehr leise, »du hast doch den Schlüssel zu Satans Stall?« »Ja«, antwortete der, »von Freyja. Ich habe ihn noch.« »Und wenn wir ihn einfach hinauslassen? Ihn auf die Straße schicken? Was, wenn er unkontrolliert zuschlägt? Ist das nicht eine Idee?« »Es ist eine«, sagte Gerondet sehr ernst, »aber wenn er auf uns eingestellt ist, dann legen wir nicht nur den Kopf freiwillig auf die Guillotine, sondern lösen sie obendrein auch aus. Und das ist der Dummheit zuviel, mein Freund.« »Sollen wir die restlichen Stunden immer nur gehen«. Tankred tippte seine Beine an, »wir werden müde, wenn wir nur laufen.« »Paß jetzt gut auf, Tankred«, Gerondet beobachtete die Straße, »wir betreten dort vorn die alte Bäckerei. Durch die Tür. Und verlassen sie durch das Haus. Laufen in einen dieser Durchgänge, passieren ihn. Und egal, wo wir auftauchen, die erste Tür auf der rechten Seite wird von uns geöffnet. So erreichen wir die Innenhofgärten. Was wir dann tun werden, wird sich zeigen. Hast du dir alles gemerkt?« Schweratmend blieben die Freunde stehen. Blumen und Sträucher breiteten sich vor ihnen aus. Gerondet setzte sich auf einen Stein, während Tankred stehen blieb. »Was treibt ihr denn hier?« Gerondet sprang auf, und Tankreds Gestalt straffte sich. Sie sahen einen alten Mann in dem rückwärtigen Hauseingang stehen, dessen dürre, ausgemergelte Gestalt in einem violetten Umhang steckte. Seine Augen blickten starr, glänzten boshaft. Das Gesicht zeigte jene Altmännerentschlossenheit, die so oft nur Armseligkeit des Denkens und innere Unfreiheit ist. »Nichts«, antwortete Tankred. »Oh«, Gerondet stöhnte, »was ist denn das nun wieder?« »Ein Bürger«, sagte Tankred gleichgültig, »er fühlt sich für die Vegetation verantwortlich.« »Wir sind weder Vegetarier«, rief Gerondet geduldig, »noch haben wir Rechen an unserem Schuhwerk. Es ist alles in Ordnung.« »Nichts ist in Ordnung«, der Alte keuchte asthmatisch, »ich kenne solche wie euch ... Die kenne ich. Nichts, sagen sie alle, und dann ... Gnadenlos treten sie
das Tausendschönchen nieder. Barbarisch knicken sie die Rose, und die geschundene Erde reißen sie mit ihren groben Sohlen auf.« Er machte einige Schritte auf die beiden zu, blieb aber trotzdem in achtungsvoller Entfernung stehen. »Marthe«, rief der Mann, und eine Frau tauchte hinter einem mit Pergament notdürftig abgedichteten Fensterloch auf, »Marthe, es sind Fremde. Ich habe es gleich gewußt. Fremde sind es. Hergelaufene. Sie stehen hier und behaupten, daß sie nichts machen. Nichts! Aber das kennt man ja.« Er drehte sich zu Gerondet um. »Das kennt man ja. Nichts zu tun vorgeben und dann alles kurz und klein treten. Und dann war es keiner. Es ist nämlich nie einer. Schert euch auf die Straße! Da gibt es genug zu sehen. Laßt uns unsere Gärten. Man sollte den Ordnungskräften Bescheid geben. Man sollte es tatsächlich ...« »Mach mal deine Ohren auf, sagte Gerondet, der dem Alten gegenüber körperliches Mißbehagen spürte, »ich bin ein Abgesandter Belials, der die verstocktesten und durch ihre Lautstärke auffälligsten Anwärter für eine baldige Bestattung heraussuchen soll. Man gab mir einen Tip, daß ich hier ein Musterexemplar finden würde. Und ich stelle fest: Man hatte so unrecht nicht.« Der Mann begann nervös zu blinzeln. Seine Mundwinkel fuhren auf- und wieder abwärts. Ein paarmal wollte er etwas sagen, aber ihm fehlten die Worte. »Nun«, Gerondet verneigte sich, »wie sieht es aus, Herr Tausendschönchen, hast du etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?« »Er ist kein schlechter Kerl«, die Frau schluchzte am Fenster, »nur so ordentlich und so genau. Bitte, Herr, verschont ihn. Ich bitte Euch. Wir folgen immer allen Anweisungen des Magisters. Er hat doch gesagt, wie wichtig es ist, die Vegetation zu erhalten... Bitte, Herr.« Der Mann stand immer noch auf seinem Fleck und wußte nicht weiter. Er wagte weder, einen Schritt nach vom zu tun, noch, sich einfach zurückzuziehen. Beides erschien ihm unschicklich, ungehörig. »Schon gut«, sagte Gerondet, »du hast ihn verteidigt, und wir haben es vernommen.« Der Alte legte die Hände auf seine Brust, verneigte sich leicht. »Man rackert sich ab«, das sollte entschuldigend klingen, hatte aber immer noch eine aggressive Note, »schuftet und schafft, und dann kommen sie daher, die Hergelaufenen. Und futsch ist alles. Man pflanzt und gießt und päppelt es auf, damit..., das ist es doch, was einem weh tut. Sie vergreifen sich nicht nur an Erdund Stachelbeeren, sondern auch an Ginster, Rose und Vergißmeinnicht. Versteht ihr, ihr Herren?«
»Geh nach oben«, Gerondet deutete auf das Fenster, in dem das gelbliche Gesicht der alten Frau noch immer zu sehen war, »geh!« Es folgte eine erneute Serie von Verbeugungen, und wieder öffnete sich der Mund des Alten mit den gelben Stummelzähnen. Und hätte Gerondet nicht gehüstelt, wäre sicher noch einmal alles über die Lippen des Alten gekommen, was ununterbrochen in seinem Kopf umging. »Du hast einmal gesagt«, erinnerte Gerondet Tankred an dessen Worte, »daß hier niemand weiß, was gespielt wird. Und ich sage dir: Das ist überhaupt nicht nötig. Sie sind auch so die idealen Zuträger für den Magister. Sie beschweren sich einfach über alles, was sie nicht verstehen oder was ihnen unbekannt ist. Das reicht. Was sie wissen, ist: Um siebzehn Uhr öffnet Ruprecht das Fenster und macht sich fein. Tut er es einmal nicht, ist jemand bei ihm. Besuch. Aber wer? Die anderen sind doch alle. zu Hause. Also ein Fremder. Und das melden sie. Tun besorgt. Der arme Ruprecht. Und der Magister weiß, was dort geschieht. Dieser hausbackene Tratsch ist es doch, der so gefährlich ist. Auch für uns. Sie können unseren Weg Schritt für Schritt verfolgen. So viele Einwohner, wie diese Häuser haben, so viele Augenpaare registrieren jeden unserer Schritte. Und die Leute wissen nicht einmal, was sie damit anrichten.« Gerondet ging, gefolgt von Tankred, los. Er wußte nicht, warum er quer über die Blumenbeete schritt, warum es ihm Freude bereitete, zu sehen, wie die Blüten unter seinen Schuhen niederfielen und unansehnlich wurden. Sie überstiegen einen kleinen Zaun und waren in einem anderen und doch gleichartigen Garten. Draußen rumpelte ein Pferdewagen vorüber. Eine Gruppe Männer sang ein Lied von einer Camilla, deren Augen glasklar wie ein Moorloch waren und die auf irgendeinen wartete, der es offensichtlich nicht verdiente, denn er hatte noch ein anderes Liebchen. Der Gesang war unmelodiös und grob. Die Worte mehr geschrien als gesungen. Sie mochten auf dem Wagen sitzen, denn immer wieder brach der Gesang an der gleichen Stelle ab und hob Sekunden darauf neu an. Gerondet und Torfstecher durchschritten den Hausflur, blieben hinter der angelehnten Haustür stehen. Lauschten weiter. Gerondet schob die Tür einen Spalt auf, sah hinaus. »Oh«, sagte er, »da ist allerhand los.« »Es ist Abend«, antwortete der Freund, »sie sind auf dem Weg zum Marktplatz... Das Fest, weißt du.« Sie sahen sittsam untergehakte Paare, sauber gekleidete Familien mit ganzen Gruppen von Verwandten, die kleine Kreise bildeten und sich angeregt
unterhaltend die Straße entlangdefilierten. Sie sahen Burschen, die sich gegenseitig die Witze erzählten, die sich alle jungen Burschen zu allen Zeiten erzählt hatten, und sie sahen Alte, die gemächlich, abgeklärt, stolz dahinschritten. Gerondet vermißte etwas. Er konnte nicht sagen, was es war. Es fehlte den Gesichtern ebenso wie den Leibern, es fehlte jeder Bewegung und auch den Worten. Etwas Nichtgesagtes, Nichtgedachtes, Nichtgefühltes. »Wir schließen uns an, das ist am unauffälligsten«, murmelte Gerondet, und sie verließen im unvollkommenen Schutz der Dämmerung den Flur, tauchten in einer Gruppe unter, versuchten sich wie die anderen zu bewegen. »Und wenn es regnet?« Gerondet blickte seinen Gefährten an; Der schüttelte nur den Kopf. »Es regnet nicht«, sagte Tankred so bestimmt, als müßte das so sein, »es regnet nur bei euch. Es ist Vollmond. Warm und ohne Regen. Manchmal haben wir den Regen undeutlich gesehen. In eurer Welt. Nie bei uns. Alte Bauersleute macht das verrückt. Sie sind begierig auf Regen. Sie nennen ihn heimlich: Gottesgeschenk.« Das letzte hatte Tankred nur geflüstert. Gerondet kannte bis zu dieser Stunde nur Freyja und die Tänzerin Esra. Jetzt hatte er Gelegenheit, die anderen Frauen zu betrachten. Und das, was ihm bei Freyja und noch mehr bei Esra als überquellende Eigenschaft aufgefallen war, die pralle Weiblichkeit, die ungezügelte Ausstrahlung, der Körper, der von sich aus aufforderte, ihn zu berühren, genau das vermißte Gerondet bei den Frauen, denen er auf der Straße begegnete, völlig. Sicher, ihre Kleidung sollte ihnen einen zugleich sauberen, aber auch verführerischen Anstrich geben. Doch die Gesichter, gezeichnet von den Vierteljahrhundertträumen im Moor, aber auch durchdrungen von dem Wissen, daß mit einem Kind alle Fröhlichkeit und all die herrlichen Angebote vergehen würden, erinnerten Gerondet an Plastgesichter von Kleiderständern in Frauengestalt, die in den Kaufhäusern zu sehen waren. Auch sie sahen verführerisch und auch ein wenig frivol aus und waren doch nur aus Plast oder Pappmache. Es stimmt die Form, doch sie verkörpert keinen Inhalt mehr. Das Auge blitzt. Aber es ist klar, daß nur ein Lichtreflex an der Oberfläche gespiegelt wird. Die Lippen prangen rot, und doch erzeugen sie nur Fragen nach dem Fabrikat. Sie erreichten den Marktplatz, blieben stehen. Gerondet deutete auf den Brunnen. »Wer ist die Frau dort oben?« »Esras Mutter«, antwortete Tankred und seufzte schwer.
»Ach«, Gerondet blickte dem Hünen in die Augen, »dann war also der getötete Bürgermeister ihr Vater? Der einstige Hegemeister?« »Deshalb haßte sie ihn doch so«, erzählte Tankred, »er war der einzige, den der Magister gefürchtet hat. Der Mann war wie ein Hagelschlag. Man tat, was er sagte, ohne daß er sich auf Erlasse stützen mußte. Und dann wollte er unvermittelt Bürgermeister werden. Wer weiß, warum. Die Kinderaktion war vorbei, und der kleine Jason, der Bruder Esras, hatte überlebt. Die Forderung des Magisters war: Esra tanzt, und Jason muß zur Kirche. Der neue Bürgermeister hat seinen Jungen eigenhändig zur Kirche gebracht, und man sagt, daß sich die Mutter auf der Kirchenschwelle das Leben genommen hat. Ich weiß es nicht. Tatsache ist nur: Niemand hat sie je wieder gesehen. Vielleicht ist sie auch fortgegangen. Später dann hat der Bürgermeister manchmal zu seiner Tochter gewollt. Sie hat ihn nie mehr empfangen. Auch der Magister mied den Mann. Brodlant, der früher immer die Karten mit ihm geschlagen hatte, Brodlant ging dem Bürgermeister ebenso aus dem Weg wie Freyja. Es war allen klar, daß der Mann am Ende war und daß er wohl bald in Satans Rachen landen mußte. Es gibt Gerüchte, nach denen Esra es angezettelt hatte, ihren Vater zum Verräter zu stempeln. Sie haben dann allerhand gesagt: Er soll versucht haben, die Kirche in Brand zu stecken. Er soll dem Magister aufgelauert haben, um ihn zu erstechen. Na, was man halt so sagt, wenn man sich jemandes entledigen will. Und als der Brunnen hier eingeweiht wurde, war auch der Künstler in Ungnade gefallen, weil jeder weiß, wer dieses Weib dort ist. Weil jeder sieht, wie anklagend sie auf das Rathaus blickt, und weil sie alle die Geschichte mit dem kleinen Jason und der Schwäche des Magisters erlebt haben. Nachher, wenn das Licht brennt, dann wirst du sehen, wie sie lebt. Paß nur gut auf.« »Natürlich«, stimmte Gerondet zu, der in Gedanken bei Esra war, »das ist es. Darum haßt sie ihn so. Weshalb sonst sollte sie ihn hassen? Weshalb um alles in der Welt?« IV. Tankred und Gerondet prallten heftig gegen die dunkle Mauer. Fühlten den groben Putz unter ihren Fingern. Sie waren in Deckung. Die Idee hatte Gerondet regelrecht überfallen, sich seiner bemächtigt und ihm nicht einmal Zeit gelassen, darüber nachzudenken, welches Risiko sie eingingen. Sie wollten zum Rathaus. Noch als sie am Rande der Straße, die auf den Marktplatz einmündete, standen. Und dann war der Schimmelpfennigbalkon in sein Gesichtsfeld geraten. Der Gedanke zuckte auf, Freyja..., noch einmal Freyja holen. »Pst«, machte Gerondet nur und sprang in die Dunkelheit eines Hausflurs. Tankred folgte augenblicklich. Sie liefen, stolperten durch die Finsternis,
erreichten den Dämmer eines Hofgartens, überwanden ihn. Noch einen durchquerten sie und einen dritten, und dann prallten sie gegen eine Mauer. »Schimmelpfennighaus«, flüsterte Tankred. »Dann klappt es noch mit der Orientierung«, antwortete Gerondet schweratmend, »genau hier wollen wir her. Schnell.« Sie überwanden die Mauer, landeten in einem Beet mit Küchenkräutern und schlichen an das hell erleuchtete Küchenfenster, das als einziges keinerlei Verglasung besaß. Schwere Gerüche nach Wild, Geflügel und allerlei Gemüsen erinnerten Gerondet daran, daß er Hunger hatte, unglaublichen Hunger. Die zuckenden Lichter der Herdfeuer ließen an den Küchenwänden gespenstische Schatten einen unheimlichen Tanz vollführen. »Ich könnte essen«, flüsterte Tankred, während sie sich lautlos dem Gebäude näherten. Sie hörten, wie Fleisch gehackt wurde. Eine junge Frau sang halblaut ein Lied. Es erklang eine keifende Stimme, der Gesang brach ab. Die Arbeitsgeräusche klangen nun stärker heraus. Gerondet und Tankred erreichten die Mauer. Ein Schwapp kochendes Wasser wurde aus dem Fenster gegossen, klatschte auf die Erde. Geruch nach gekochtem Geflügel breitete sich aus, stieg Gerondet in die Nase. Vorsichtig schob er den Kopf vor, spähte in den gewaltigen Raum, der es mit mancher Gaststätte hätte aufnehmen können. Die Küche bestand aus mehreren Abteilungen, die durch hölzerne Säulen und Wände nur unvollkommen voneinander getrennt waren. Am Ende der Küche war in vielleicht zweieinhalb Meter Höhe eine »Brücke« angebracht, von der aus irgendwer, aus dem übrigen Haus kommend, Anweisungen oder Kommandos erteilen konnte, ohne dabei die Küche selbst betreten zu müssen. In der Küche herrschte Hochbetrieb. Allenthalben wurde gekocht oder gebraten, garniert oder zerteilt, geputzt und geschuppt. Die Frauen waren in bodenlange tiefblaue Gewänder gehüllt, ihre Haare waren sorgfältig unter einem kunstvoll gebundenen Tuch verborgen. »Los«, murmelte Gerondet, »rein hier ...« Noch ehe Gerondet etwas tun konnte, fühlte er sich von Tankred hochgehoben und in die Küche gesetzt. Der Hüne folgte ihm mit einem flachen Sprung. Sie schlichen hinter Gemüsebergen und ausgeweidetem Wild entlang, und Tankred griff sich eine dampfende Geflügelkeule, während Gerondet Backwerk an sich brachte. Hinter einem metallenen Gestell, das mit Küchengeräten aller Art
behangen war, fanden sie Deckung. Spähten durch die schmalen freien Räume und stellten zufrieden fest, daß man ihr Eindringen nicht bemerkt hatte. Unerwartet erschien auf der Balustrade Freyja. Sie trug ein goldenes Gewand, das von Glastropfen oder auch Edelsteinen übersät war. Wie sie dort oben stand, sah sie unvergleichlich schön aus. »Dankwart, Erdmann!« Ihre Stimme klang grell, häßlich. Sie blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Zwei Zöpfler erschienen. Knieten vor ihr nieder, blieben so. »Nun?« Freyja sah sich erstaunt um, als bemerkte sie erst jetzt, wo sie war. Wo aber ihr Blick hinfiel, knicksten die Mägde und Köchinnen und verharrten so, bis der Blick ihrer Herrin weitergewandert war. »Die beiden Abtrünnigen«, berichtete einer der Zöpfler mit wohltönender Stimme, »sind auf dem Weg zum Brunnen. Man hat sie die Straße entlanggehen sehen. Sie müssen in den nächsten Minuten dort erscheinen.« »Ich will nicht wissen, wer wann was muß«, schrillte Freyjas Stimme spöttisch durch die Küche, »sondern wo sie jetzt sind. Jetzt, ihr Narren! Oder wißt ihr nicht, was das bedeutet: jetzt?« »Es heißt«, erklang da die wohltönende Stimme erneut, ohne daß Gerondet sehen konnte, wer sprach, denn beide Zöpfler verharrten in ihrer Demutshaltung, »daß die Tänzerin ihnen Geheimnisse überlassen hat. Aber was hilft es schließlich: Wer den Marktplatz erreicht, muß am Brunnen vorüber. Selbst wenn das Rathaus ihr Fluchtziel ist.« Die Frau auf der langen Brücke machte eine wegwerfende Handbewegung und eilte an den Knienden vorbei, zurück in das Haus. Nun erhoben sich Dankwart und Erdmann und sahen sich um. Grimmig, wie es Gerondet schien, grimmig wie geprügelte Hunde. Die Brücke war leer. Das Geklapper der Töpfe, das Schärfen der Messer schienen stärker als vordem einzusetzen. »Die meinten uns«, flüsterte Gerondet. Tankred stimmte kauend zu. »Und wo ist sie jetzt?« Gerondet sah sich suchend um. »Wir haben draußen unsere Degen vergessen«, murmelte Tankred, ohne die eilige Mahlzeit zu unterbrechen. »Ein Tranchiermesser tut es auch«, erklärte Gerondet. »Wichtiger ist, sie zu finden ... Wer weiß es, wo sie ist?«
»Vielleicht der Oberkoch«, vermutete Tankred, »er ist ihr Vertrauter, er mixt die Gifte zusammen. Sie kennt ihn schon, seit sie Kind war ...« »War das der fette kleine Grobian?« Gerondet deutete in die Richtung, wohin jener verschwunden war. Tankred nickte zustimmend. »Dann wollen wir ihm hinterher«, bestimmte Gerondet und steckte vorsichtshalber eine Brezel ein. Sie schlichen durch die Küche. Versuchten so unauffällig wie möglich zu sein. Erreichten schließlich einen schmalen Gang, der vom Fenster her wie eine Nische ausgesehen hatte. Am Ende des schmalen Korridors befand sich ein schwerer Vorhang, hinter dem das Licht einiger Fackeln und eines Feuers unruhige Zeichen an die Decke und die Wände warf. »Sie will ein Kind«, flüsterte Gerondet, »nur: Warum vergiftet sie all ihre Opfer oder läßt sie durchbohren?« »Sie haben damals versprochen«, antwortete Tankred, »Belial wird den Menschen neue Kinder schenken. Als die Kleinen zur Kirche gebracht wurden. Und sie haben eine Mixtur, die schon nach einer Stunde den Frauen sagt, ob sie ein Kind bekommen oder nicht. Doch seither geschieht nichts. Keine Frau erwartet ein Kind. Für die Hohepriesterin ist es fast ein Zwang, gravid zu werden. Sie fürchtet all ihre jungen Priesterinnen als Konkurrenz ... Sie hat Angst, daß das Volk eines Tages fragen könnte: Was hat es auf sich mit dem Kult, wenn du, Freyja, noch immer kinderlos bist? Belial verachtet dich wohl. Das ist ihre Angst.« »Na schön, dann wollen wir mal die streßgeplagte Frau ein wenig beruhigen«, murmelte Gerondet, »gehen wir und holen uns ein passendes Präparat...« Sie drangen leise in den anschließenden Raum. Der Oberkoch war allein und tröpfelte aus einer Flasche eine wasserhelle Flüssigkeit in eine Weinkaraffe. Erst als Gerondet ihm die Hand auf die Schulter legte, fuhr der Mann zusammen, sah sich um, und als er Gerondets Gesicht erkannte, fiel ihm die Flasche aus der Hand, die auf dem Boden zersprang. Auf ein Handzeichen des Polizisten packte Tankred den Verstörten, preßte ihn mit dem Rücken auf einen der Tische, hielt ihn so. Gerondet deutete an, daß Tankred dem Koch die Nase zuhalten sollte, und dann hob er die Karaffe hoch. Ein hündisches Winseln aus dem Mund des Kochs zeigte ihm an, wie entsetzt dieser war. »Du hast keine Lust zu sterben, was?« Gerondet lächelte böse. »Dann sage uns schnell, für wen der Wein bestimmt ist?« »Errenthaler und Immelgud.« Der Koch stöhnte, er zitterte am ganzen Körper.
»Donnerwetter«, staunte Gerondet, »da ist noch jemand, der etwas gegen moderne Waffen hat oder - sagen wir - der Esras Machtzuwachs fürchtet ... Jetzt höre mir einmal zu: Ich werde dich leben lassen. Obwohl du den vielfachen Tod verdient hast. Aber nur unter einer Bedingung: Ich brauche ein Mittel, das denjenigen, der es nimmt, friedlich stimmt. Er soll dann alles, was ich sage, ohne Murren ausführen. Gib es mir.«
Gerondet machte ein Handzeichen, und Tankred ließ den kleinen, fetten Mann los. Wie ein Tennisball kam der hoch, sprang auf die Füße, grinste dümmlich und angstvoll. Gerondet sah den Koch scharf an. Da ging der rückwärts, stolperte bis an ein wandhohes Regal, Mit zwei schnellen Griffen entriegelte der Koch irgend etwas und schob dann das ganze Regal in die Wand. Hinter dem
Möbel kam eine Mauer zum Vorschein, in die rechteckige Vertiefungen eingelassen waren. Hier wurden Kräuter, Blüten, Essenzen, Flakons, Flaschen, Dosen und Schächtelchen aufbewahrt Ohne hinzusehen, reichte der Koch dem Polizisten eine Flasche Schob mit der anderen Hand das Regal wieder zu. Ließ den Riegel einschnappen. Gerondet nahm einen hölzernen Löffel vom Tisch, ließ etwas Flüssigkeit aus der Flasche auf den Löffel tropfen. »Trink«, sagte er einfach. Der Koch gehorchte, ohne zu überlegen. Er schluckte die Tropfen hinunter. »Setz dich«, forderte ihn Gerondet auf, und der Koch folgte. Tankred und Gerondet beobachteten den Mann. Bemerkten schon bald die Veränderungen in seinem Gesicht. Das Leuchten und fiebrige Glänzen seiner Augen. Als ihn Gerondet etwas fragte, stieß die Zunge des Kochs an. Die Worte waren undeutlich. Aber er konnte stehen und gehen, sich sogar im Kreis drehen, wenn man es ihm auftrug. »Bleib hier sitzen«, bestimmte Gerondet, »und wenn einer kommt, dann sage: Es ist alles in Ordnung. Nichts anderes « Er steckte die Flasche ein und verließ, gefolgt von Tankred, den Raum. Der Weg durch das Schimmelpfennighaus war voller Gefahren und denkbar ungünstig. Sie wußten nicht, wo sie Freyja finden, wo sie sie suchen sollten. Dabei waren sie immer wieder gezwungen, irgendwo in Deckung zu gehen, wenn ihnen junge Priesterinnen oder Zöpfler entgegenkamen. Unerwartet blieb Tankred stehen. Hielt Gerondet fest. Lächelte »Sie wird ruhen«, sagte er, »sie ruht immer kurz vor dem Fest.« Er führte den Freund über geheime Treppen und verborgene Gange, bis sie vor einer schlichten, halbrunden Tür standen. Vorsichtig bewegte Gerondet die Klinke. Drückte sie nieder, öffnete die Tür. Freyja stand, das Gesicht einem mit farbigem Glas ausgelegten Fenster zugewandt, und starrte gedankenverloren vor sich hin. Leise traten die beiden Männer ein, schlossen die Tür hinter sich »Du hast uns gesucht«, sagte Gerondet, »wir sind hier.« Ohne zu erschrecken, aber auch ohne alle Verblüffung wandte Freyja ihnen ihr intelligentes, feingeschnittenes Gesicht zu.
»Ist es die Rache«, fragte sie, völlig beherrscht, »die euch antreibt? Werdet ihr töten, mich töten?« »Wir brauchen eine Geisel«, erklärte Gerondet, »einen Faustpfand gegen den Magister. Und zwischen all den unsicheren Gestalten rundum gibt es nur eine, die tatsächlich Bedeutung hat. Das bist du!« »Deine Wertschätzung ehrt mich«, antwortete ihm Freyja, »aber daß ich so wichtig bin, daß der Magister seinem Untergang zustimmen wird, das denke ich nun wieder nicht. Ihr sicher auch nicht. Was am Ende bleibt, ist dann also doch nur wieder Rache.« »In barbarischen Zeiten«, erwiderte der Polizist, »muß man auch einmal barbarische Methoden benutzen. Demokratie gegen tyrannische Bestrebungen das funktioniert nicht.« »Als wir uns in das Moor zurückzogen«, sagte Freyja und nahm auf einem zierlichen Hocker anmutig Platz, »da hatten wir von diesem Mann erfahren, diesem Luther, und seiner neuen Religion. Der Magister erklärte, wie wenig neu diese Religion sei, und stellte die seine dagegen. Der erste aber, der zu uns kam, sprach von den Jesuiten und der Macht der Spanier. Wir erfuhren von jenem Vorderlader, den wir schon viel früher gebaut hatten. Dann redeten die Ankömmlinge - und Entsetzen zeichnete ihre Gesichter - von dem Krieg der Religionen gegeneinander. Wir hörten von einem Ludwig dem Vierzehnten, von immer neuen, grausamen Kriegen, von Besetzungen fremder Länder. Die Waffen wurden häßlicher, die Opfer nahmen zu. Aber was war das alles gegen den Bericht des Professors. Er wußte von einem Krieg, in dem viele Millionen gefallen waren. Er wußte von neuen Waffen, die aus der Luft und aus dem Wasser kommen würden, und er vergaß auch nicht, jene zu erwähnen, die so ungeheuerlich ist, daß ihre bloße Existenz die Menschheit lähmen sollte. Und nun ist der Immelgudbericht an unsere Ohren gedrungen. Wir hörten, daß Errenthalers Angstvision Wirklichkeit wurde. Zweimal wurde jene Waffe gegen Menschen eingesetzt. Und was nicht hundert Kriege in unserer Zeit bewerkstelligt haben, ist bei euch in wenigen Sekunden - ja, Sekunden! geschehen. Und immer noch ist des Schreckens nicht genug. Neue Bomben, sogar die Luft zum Atmen und die furchterregendsten Seuchen habt ihr in eure Waffenarsenale aufgenommen... Das ist doch so. Und da sprichst du von unserer Zeit als einer barbarischen? Siehe, der Bürgermeister. Er war ein zornesfunkelnder, ein unbeherrschter Mensch. Doch es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, in den Händel, den er mit dem Magister hatte, eine Frau einzubeziehen. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, mich, Esra und noch andere in das Rathaus zu bestellen und uns unter Bewachung dort zurückzulassen. Er hätte sagen können: Bin ich bis zu einer bestimmten Zeit nicht zurück, tötet all diese. Seine Vertrauten hätten ihm blind Folge geleistet. Aber darauf kam er nicht
einmal. Sein Hirn hätte sich geweigert, sich hinter einem Mieder, einem Rock zu verstecken, um die eigene Haut zu retten. Ihr seid nicht mehr ritterlich. Ihr seid erschreckend einfallslos und feige. Nun gut, was habt ihr mit mir vor?« Es drängte Gerondet, ihr zu antworten. Er hätte auf jeden ihrer Sätze etwas sagen können, doch jeden Augenblick konnte Freyjas Wache kommen, und dann waren sie in einer Falle. Der Polizist goß einige Tropfen aus der Flasche in eine flache Schale. »Trink es«, wies er die Frau an. »Und wenn ich euch zusichere, ohne Widerstand mitzukommen?« »Trink es!« Gerondet wiederholte die Aufforderung schärfer. Tankred betrachtete den Kameraden unsicher, so als wüßte er nicht, ob die Härte nötig war. Widerstrebend nahm Freyja das Schälchen hoch. Leerte es. Nicht ohne Tankred einen verzweifelten, verlorenen Blick zuzuwerfen. »Sie hat doch versprochen«. Versuchte der einstige Zöpfler einzurenken. »Halt du dich raus«, sagte Gerondet scharf, »das ist meine Sache. Du ahnst ja nicht, wie klug sie ist.« Die Sekunden verstrichen, und Schweigen war in die kleine Kammer eingezogen. Tankred lehnte an der Tür. Gerondet stand mit dem Rücken zum Fenster, und zwischen ihnen saß die Hohepriesterin, deren Züge sich ganz allmählich glätteten. Sie hob unerwartet den Kopf. »Tankred«, murmelte sie, und die Worte waren unklar und verwaschen, »du bist der beste Junge, den ich hatte... Ich würde es nie zugelassen haben, daß sie dich töten. Früher war ich oft am Stadtrand. Einfach, um dich zu beobachten. Du warst sehr geschickt. Wenn ich dich spielen sah, war mir, als beobachtete ich ein kleines wildes Tier, und ich dachte immer: Wenn der Junge einmal groß ist, wirst du ihn die Liebe lehren. Er darf nicht in die Hände eines ungeschickten kleinen Mädchens fallen, das seine Geschmeidigkeit verdirbt und aus ihm einen Trottel macht, von denen es viel, zu viele bei uns gibt...« Sie lächelte weich, mütterlich und stand auf. Trat auf Tankred zu und umschlang ihn unerwartet mit ihren Armen und begann ihn zu küssen. Gierig, heftig, verlangend. Tankred stand erstarrt, ließ es mit sich geschehen und legte schließlich auch seine Arme, wenn auch kraftlos, um die Schulter der Frau. Gerondet kratzte sich das Kinn. Fühlte die scharfen Bartstoppeln. Erinnerte sich, daß er mitten in der Nacht geweckt worden war, und gähnte. Dann nahm er die
Brezel aus der Tasche und aß. Blickte dabei zur Seite. Aber nur so weit, daß er aus den Augenwinkeln das Geschehen verfolgen konnte. Freyja zog den Zöpfler rücklings zu ihrem Lager, ließ sich einfach nach hinten fallen, ohne zu stürzen, denn Tankred hielt sie jetzt fest. Das Gesicht des Mannes leuchtete in flammendem Rot. Gerondet hörte den keuchenden Atem und ging zur Tür. »Tut mir leid«, sagte er von dorther, »aber in einigen Minuten mache ich die Tür wieder auf, und dann ist die erste Lektion zu Ende.« Er ging hinaus, zog die Waffe und entsicherte sie. Schloß die Tür hinter sich und versuchte sich klarzuwerden, ob es Taktik oder die Drogenwirkung war. Plötzlich hörte er es klatschen und einen gedämpften Schrei. Gerondet riß die Tür auf. Freyja lag auf dem Bett. Tankred stand neben dem Lager. Schweratmend. Seine Augen verrieten Bestürzung, Verwirrung und Verzweiflung. »Ich sollte dich töten.« Der Mann stöhnte und starrte auf die weinende Frau im Bett, auf deren Wange seine Fingerabdrücke deutlich zu sehen waren. »Sie hat mir alles versprochen, wenn ich dich töte, mein Freund... Entschuldige.« Er wandte sich ab, stand jetzt vor dem Fenster. Er schien dem Polizisten klein und hilflos. Innerlich zusammengesunken. »Ich danke dir«, sagte Gerondet, an Tankred gerichtet, und dann, seine Stimme veränderte sich, klang leblos, gegen Freyja gerichtet: »Wie war das doch gleich, schöne Frau, mit den barbarischen Zeiten? Mit den unmenschlichen Mitteln? Sie sollten nicht versäumen, einen Nachtrag anzufügen. Stehen Sie auf, und kommen Sie. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. V. Zu dritt gingen sie über die enge, vollständig ummauerte Wendeltreppe, die von Freyjas Ruheraum aus in den unterirdischen Gang führte, der direkt zum Rathaus führte. »Niemand kann uns hier entdecken«, sagte Tankred, »und wir kommen direkt im Vorratskeller des Rathauses heraus. Wenn es dich interessiert, dort liegt auch der Stadtschatz, auf den sie so gierig sind. Gold. Edelsteine.«
Er hielt einen kleinen Kienspan in der Hand, der die drei Flüchtigen nur schwach beleuchtete, dazu einige wenige Steine der Wände und des Untergrunds aufschimmern ließ. Alles andere lag in tiefster Schwärze. Irgendwo in ihrer Nähe gurgelte Wasser, brodelte gegen nackten Stein, brach sich. »Was ist denn das?« Gerondet sah sich suchend um, ohne das Gewässer zu entdecken. Das Echo vervielfachte seine Frage. Verzerrte sie. »Die Germe«, antwortete Freyja leise, »es ist die Germe. Vor Urzeiten floß sie an der Oberfläche entlang. Dort entstanden die ersten Gebäude. Aber der Fluß fraß sich tiefer und tiefer in das Land hinein, verschwand schließlich ganz unter der Oberfläche. Durch geschickte Minierarbeiten gelenkt, versorgt sie nunmehr die Stadt mit Wasser. Auch den Brunnen. Das Volk aber behauptet, daß dieses Wasser direkt aus der Hölle kommt. Wenn die Leute in stillen Morgenstunden das Rauschen manchmal vernehmen, dann sagen die einen: ,Hört, der Pluton.' Und andere wollen darin das heisere Knurren des Höllenhundes hören...« »Dann ist das aber eine internationale Hölle«, erkundigte sich Gerondet, »denn ein Höllenhund und Pluto - das ist Griechenland. Oder?« Freyja lachte belustigt auf. Sie wiegte sich leicht hin und her. »Vielleicht könnt ihr euch noch einen Tempel der Ischtar und einen der Kali aufbauen«, fuhr er fort, »das würde Abwechslung bringen.« Freyja kicherte wieder. Blieb plötzlich stehen, so daß Gerondet gegen sie prallte. »Mein Herzallerliebster«, wisperte sie. Der Polizist konnte gerade noch ihre Arme fassen, um sie daran zu hindern, ihn zu umarmen. »Wir wollen weitergehen«, ordnete er an. Aber Freyja lachte nur erneut auf. Jedes gesprochene Wort schien sie zu erheitern, fröhlich zu machen. »Hier ist jemand!« Gerondets Stimme veränderte sich. Verflogen waren die heitere Grundstimmung, der Spott. Er fühlte, wie sich ihm die Haare sträubten, wie ihm ein Schauer den Rücken herabrann. Es war der Spürsinn des erfahrenen Kriminalisten, der ihm die nahe Gefahr signalisierte. »Er ist es«, stieß Gerondet aus, und das Echo gab das Wort schaurig zurück. »Er starrt uns an... Satan.« Tankred, der zu seiner Bewaffnung eine alte Hellebarde aus dem Zimmer der Freyja mitgenommen hatte, gab der Frau den Kienspan. »Haltet dies«, sagte er
mit bebenden Lippen. Er faßte die Waffe mit beiden Händen, blickte aus angstvollen Augen um sich und gewahrte nichts anderes als die undurchdringliche Finsternis. Gerondet hatte die Waffe gezogen und sie entsichert. Es war das gleiche Gefühl, wie er es in der Kirche erfahren hatte: Da war jemand in der Finsternis, der sie belauerte, der sie anstarrte, der seine mitleidlosen Augen auf sie richtete, jede ihrer Bewegungen maß, festhielt und der jeden Augenblick, wie von einer Sehne abgeschossen, auf sie zujagen konnte. Die Hohepriesterin seufzte wohlig. »Er ist wunderbar«, sagte sie und lächelte im Schein des Spans, leer und doch von einem inneren Feuer durchdrungen, »ich habe den Magister schon einmal gebeten, in seiner Nähe den Kult zu vollziehen. Er ist so erregend, so herrlich aufreizend... ,Aber nein', sagte Lucas, ,was soll das Volk denken?' Er meinte es ja nicht schlecht, nur...« »Schweig endlich«, rief Gerondet heftig aus, und das Echo wiederholte seinen Befehl, ließ ihn rollend ausklingen. »Wo ist er«, Tankreds Stimme entbehrte aller Kraft, »ist er über uns? Gehen wir ihm entgegen? Verfolgt er uns gar... Gerondet, ich..., ich steche dieses Weib nieder, wenn er uns angreift. Ich habe Angst. Ich...« Er blieb stehen. Und auch Gerondet hielt inne, stellte sich so, daß er die Wand in seinem Rücken spürte. Freyja betrachtete die beiden Männer erstaunt, befühlte hastig ihren Busen und lächelte dann erneut. »Nimm du«, sagte sie und reichte Gerondet den Span. Dann schritt sie in die Dunkelheit hinein, bis sie nicht mehr zu sehen war. Und gleich darauf, Gerondet überlegte noch, ob er ihr folgen sollte oder nicht, drang ein nadelfeiner Stich in die Ohren. Ein Ton, so hoch ausgestoßen, daß er nicht hörbar, wohl aber fühlbar wurde. »Geh fort«, vernahmen sie Freyjas Ruf, »geh!« Und noch während das Echo ihren Befehl wiederholte, fuhr sie fort: »Geh, hebe dich hinweg, Sohn des ewigen Belial, denn hier ist der Menschen Hohepriesterin, deren Fleisch dir nicht gehört. Verschone die Abtrünnigen so lange, wie sie in ihrer Nähe sind.« Die Beklemmung der beiden Männer löste sich. Jenes schauererzeugende Gefühl verschwand. Gerondet steckte die Waffe ein, und auch Tankred senkte die Hellebarde. Und in dem schwachen Lichtschein tauchte ein rosenfarbener Fleck auf, der zusehends größer wurde: das Gewand der Freyja, von dem Licht des Spans getroffen. Mit sicheren Schritten kam sie daher, sah Gerondet freundlich an und sagte, durchaus nicht benommen: »Ich bin wieder bei euch, meine Helden, ich stehe euch nunmehr wieder als Gefangene zur Verfügung.«
»Er war es?« Gerondet suchte die Augen der Hohenpriesterin, aber in dem unbestimmten Licht des tanzenden Flämmchens fand er keinen wirklichen Gefühlsausdruck. »Ja«, bestätigte sie, »er war es. Im Bannkreis des Zaubers. Er hätte nicht hierherkommen können. Nur angesehen hat er euch. Sich eingeprägt eure Angst. In sich aufbewahrt den Ausdruck eurer bleichen Gesichter. Und ihr wißt nun: Solange ihr bei mir seid, an meiner Seite verweilt, solange wird er euch nicht anrühren. Doch hütet euch, mich zu verlassen...«
20.00 Uhr: Ger... Der Magister Mein Leben, gebt es mir zurück... Ostwald von der Burg, genannt der »Schwarze Scholar«, war ausgezogen als hoffnungsvoller junger und wissensdurstiger Mann. der aus einem untergehenden Zweig des fränkisch-riedländischen Adels stammte. In Demut ordnete er sich seinen Lehrern unter, bis ein böses Kopffieber ihn veränderte, aufsässig und unmoralisch machte, ihn in Spelunken und zu Scharlatanen, Betrügern und Dirnen trieb. Geschickt schlug er die Karten und kannte viele Reden, die Weiber gefügig und die Bauern großzügig zu machen. Der Zufall wollte es, daß er Abdaroon, den berühmtesten Magier und Alchimisten seiner Zeit, kennenlernte und sich bei diesem verdingte. Er war gelehrig und scheinbar unterwürfig und rechtschaffen. Unter dieser Maske gelang es ihm bald, das zu erfahren, was man rundum munkelte: Abdaroon sei im Besitz des Schwarzen Steines aus dem Reich jenseits der Welt. Und Abdaroon experimentierte mit Tieren und Pflanzen. Er wollte sie verändern. Größer sollte alles werden, fruchtbarer und also nützlicher . Für Ostwald von der Burg, den späteren Magister in Ger..., war dies der Weg zum Ruhm, zu unerschöpflicher Macht; zum Gott auf Erden wollte er werden. Und eines Nachts erstach der Junge den Alten, packte dessen Hab und Gut auf eine gestohlene Kalesche und gab den Pferden die Peitsche. Man jagte ihm nach, suchte ihn zu ergreifen, um ihn auf das Rad zu flechten, doch verstand er es geschickt, seine Spuren zu verwischen, einigemal das Gefährt gegen ein anderes zu tauschen. Schließlich kam er nach Ger..., wo er sich dank seines Goldes das kaufen konnte, was ihm fehlte: Freiheit und ein Alibi. Doch da begegnete er Esra. Und er verfiel ihr, ertrug Spott und Hohn und alle Demütigungen. Selbst als er der Herr des Ortes war, wagte er noch immer nicht, ihr Gewalt anzutun. Gefangen in den eigenen Stricken...
I. Die Truhen mit dem Stadtschatz beeindruckten Gerondet wenig Die so glücklich ausgegangene Begegnung mit Satan, die locken den, aber auch drohenden Worte der Hohenpriesterin beschäftigten den Polizisten mehr als alles andere. Flüchtig nur betrachtete er die Truhen und ihren Inhalt, drängte zum Weitergehen. So er reichten sie eine neue Wendeltreppe, die direkt in den Turm des Rathauses führte. Sie stiegen, einige Pausen einlegend, bis fast hinauf in die Spitze des Turmes und entdeckten hinter einer massiven Tür ein kleines, verborgenes Zimmer, dessen Boden mit weicher Stoffen und Fellen ausgelegt war und in dem es einige Wandnischen gab, in denen Weinkrüge und Pokale standen. Währen Tankred mit dem Rest des Spans die Fackeln entfachte, die Hohepriesterin sich niederließ und schläfrig die Bewegungen der beiden Männer verfolgte, schloß Gerondet die Tür und legte den Riegel von innen vor. Dann besah er sich die an den Wänden hängenden Fahnentücher. Freyja, die ihn dabei beobachtete, erklärte: »Dies sind die Flaggen einer freien Stadt, die Handel mit der Welt betrieb. Heute sind sie gleichermaßen verachtet wie heimlich verehrt - verspottet öffentlich und auch heimlich besungen. Es berührt mich seltsam, wenn ich die Tücher so anschaue.« »Jetzt«, warf Tankred ein, »hängen des Magisters mit Todessymbolen und schrecklichen Bildern verzierte Stoffstreifen rund um den Markt. Fratzen blicken auf uns herab, und zerstückelte Menschen , schmorend in den Feuerseen der Tiefe, werden uns zur Erbauung geboten... Garstig ist alles, was er uns brachte.« »Hilf mir aufstehen«, bat Freyja und streckte Gerondet ihre schlanken weißen Hände entgegen. Der faßte sie und richtete die Frau auf, die würdevoll an ihm vorbeischritt und an das winzige Fenster trat, vor dem sich der Marktplatz erstreckte. Sie lächelte wie abwesend, während sie staunend hinuntersah auf die ameisengroßen Menschen, die ebenso zahllos den Platz bevölkerten. Überall brannten nun Feuer, und an den Wänden der Häuser steckten in besonderen Halterungen Fackeln, die alle zusammengenommen ein freundliches, wenn auch unruhiges Licht verbreiteten. »Du bist nicht sehr benommen«, sagte Gerondet, der der Frau über die Schulter blickte. »Ich war es nie«, antwortete sie, »ich wollte nicht. Wozu? Ich habe mich dagegen gewehrt. Seid froh, daß ich es nicht war.« »Also gibt dir«, sagte Gerondet leise, »die Zeremonie deines Kults überhaupt nichts. Du sitzt dabei. Wach und gelangweilt Oder vielleicht sogar angewidert. Ist das der Preis für deine Macht?«
Sie lächelte nur. Eine kaum wahrnehmbare Trauer überzog ihr Gesicht. »Was werdet ihr jetzt tun«, fragte sie, »wollt ihr nicht dem Magister berichten, daß ihr mich gefangen habt?« »Das ist womöglich mein letzter Rapport«, antwortete der Polizist, »ich denke, er wird auch so die Neuigkeit erfahren. Und dann muß er reagieren.« »Aber was«, fragte die Frau, »wenn er überhaupt nichts tut? Wenn alles so bleibt wie immer?« Gerondet wühlte in seinen Taschen, bis er die zweite Schachtel Zigaretten gefunden hatte. Er riß sie heftig auf, entnahm ihr eine Zigarette, zündete sie an. »Du meinst, er wartet bis morgen früh?« Er paffte hastig, gehetzt. »Ich empfinde dieses eine«, Freyja wandte sich um, sah dem Polizisten sehr gerade in die Augen, »du und auch er, der abtrünnige Zöpfler, ihr handelt wenig nach eurem Willen. Ihr denkt, wie der Magister das will.« Tankred starrte die Frau an. Er stand leicht nach vorn gebeugt, als würde er sich in den nächsten Sekunden auf sie stürzen wollen. »Was«, sagte er laut und heftig, »wir denken, wie er es will? Ihr wollt sagen: Er erpreßt, bedroht und tötet, und wir, wir tun das auch? Er versteckt sich hinter anderen, und wir ziehen gleich mit ihm? Er sät Zwietracht, und wir versuchen das auch?« »Warum nicht«, Freyja ging um Gerondet herum, stand vor Tankred, »nur daß ihr es Verteidigung nennt. Eure eisige Art mit Vernunft umschreibt und hinter eurem kleinmütigsten Winkelzug noch eine wie auch immer geartete Notwendigkeit entdecken wollt.« »Grandios«, Gerondet fühlte den Groll in sich, der nach Worten suchte, »aber ich habe keine Lust, darauf zu antworten. Ich wurde von der ersten Stunde an, damals fühlte ich noch ein Gesetz auf meiner Seite, in die Ecke gedrückt. Ihr wolltet mir die Luft abquetschen. Trotz meiner Versicherung, in Frieden gehen zu wollen, wird mir diese winzige, euch nicht schadende Bitte abgeschlagen. Ja, wir wehren uns jetzt. Und wir laufen nicht mit Papierfähnchen über den Marktplatz, weil wir damit nur Gelächter ernten würden. Und genau das, Hohepriesterin, ist jener Dreikilometerhorizont: Ihr dürft alles. Nehmt euch jede Freiheit heraus, wehe aber dem anderen, der mehr tut, als mit müden Worten aufzubegehren, mit einem schwachen ja, aber eure Eigenmächtigkeiten kommentiert. Wehe ihm. Ja, wir ziehen los. Zwei Stunden vor Ladenschluß. Dann suchen wir den Mechanismus dieses Tollhauses, und solange ich lebe, werde ich nichts anderes mehr tun, als zu versuchen, dieses Ding zu zertrümmern.«
Er faßte Freyja bei den Schultern und drehte sie zu sich um. Sie sah ihn gerade an, aber ohne zu verraten, was hinter ihrer glatten Stirn vorging. Ihr porzellanfarbenes Gesicht gab nicht ein Gefühl preis. »Häng ein paar Fahnen vor das Fenster«, wies Gerondet seinen Freund an, »und dann fessele Freyja. Wir können hier nicht ewig bleiben. Es gibt noch viel zu tun. « Tankred kam der Aufforderung augenblicklich nach. »Dort, in jener Nische«, sagte Freyja, während sie von Tankred gefesselt wurde, »ist der Schlüssel für dieses Turmzimmer. Ihr werdet mich sicher gut verwahrt zurücklassen wollen.« Gerondet warf einen letzten Blick hinaus. Es wimmelte von Menschen. Der Platz füllte sich mehr und mehr. Gerondet nahm sein Glas zu Hilfe. Er überflog die Köpfe und Umhänge. Aber dann, fast im Dämmer einer einmündenden Straße, erkannte er die Tarnkleidung. Dort stand Immelgud. Gerondet preßte die Lippen zusammen. Er sah, daß auch Immelgud ein Gerät in der Hand hatte, das einem kurzen, breiten Fernglas ähnelte. »Irgend etwas mit Infralicht«, murmelte Gerondet, »also schön, Freund, ich komme. Ich glaube, ich muß es hinter mich bringen.« Er drehte sich vom Fenster weg. Sah die gefesselte Freyja. Sah Tankred an. »Der mit mir heute gekommen ist«, sagte er, »ist unten. Vielleicht schickt ihn der Magister. Oder er will mich einfach töten. Ich weiß, wo er ist. Er hat noch keine Ahnung davon. Es ist an der Zeit, daß ich uns Rückenfreiheit verschaffe. Du bleibst hier. Rührst dich nicht aus dem Zimmer. Sie darf uns nicht entkommen. Bleibe ich dort unten und entdecken sie dich, dann töte sie... Leb wohl, Freund.« Gerondet verließ, ohne auf eine Antwort zu warten, den Raum. Das schwere Schlurfen des zugeschobenen Riegels war das letzte Geräusch, das Gerondet aus dem Turmzimmer hörte. Er lief die Wendeltreppe eilig nach unten. Stoppte bei einer zwei Etagen tiefer gelegenen Tür und öffnete sie. Die Tür mündete in den Gang, in dem das »Abendmahl« hing. Eine grüne Wand aus aufstrebenden und rankenden Pflanzen verbarg den Polizisten vortrefflich. Stimmen schallten ihm entgegen. Drei Ratsherren tauchten auf. Durch die Pflanzen waren sie nur undeutlich zu erkennen. »Das geht nicht«, sagte einer der drei zu den anderen, »das geht entschieden nicht. Sie kann nicht mehr auftreten.«
»Und wer wird an ihrer Stelle tanzen?« Ein zweiter mischte sich ein, schnaufte verächtlich und fuhr dann fort: »Nennt mir eine, die nur auf dem Seil stehen könnte! Oder deren ganzes Wesen von jener unerhörten Ausstrahlung durchdrungen ist! Ihr wißt keine. Ich auch nicht. Sie soll weiterhin tanzen. Nur diesen..., diesen Landsknecht, sie darf nie sein Weib werden. Es entweiht die Stadt. Es ist ein Hohn auf Belial. Es ist Lästerung.« »Dann laßt es mich sagen«, unterbrach der dritte seinen Vorredner, »unser aller Herr, der Magister, ist nicht senil, sondern weise. Und er ist nicht närrisch und blöde, sondern weitsichtig und auserwählt. Aber dieser Professor und jener Söldner, sie setzen ihn unter Druck. Sie belügen und betrügen ihn. So daß er nicht mehr weiß, was rundum tatsächlich gedacht und gefühlt wird. Ich schlage vor, Freyja an seine Stelle zu setzen. Sie wird noch immer mit jedem fertig, der es wagt, gegen uns aufzustehen. Und vielleicht..., vielleicht ist sie willens, uns alle in die Welt dort draußen zu entlassen.« »Mich zieht es nicht in die Welt der beiden, die zu uns gekommen sind«, mokierte sich der zweite mit der hohen, unruhigen Stimme, »wenn ich nur an das Schicksal der Zöpfler denke.« »Hört mir jetzt zu«, begann der dritte noch einmal, aber dann klappte eine Tür, und ihre Worte endeten abrupt. Gerondet verließ seine Deckung, trat auf den Gang hinaus, blickte in die Richtung, in der die Ratsherren verschwunden waren. Er ging nun die breite Treppe nach unten, kam an der Loge des alten Pförtners vorbei, dessen Augen erfreut aufleuchteten, als er Gerondet sah. Eilig faßte er die Hände des Polizisten, zog ihn in sein kleines Gemach. »Ach«, sagte er bewegt, »sie haben alles beschlossen. Eine Stunde vor Mittemacht soll Satan kommen. Eine ganze Stunde vorher. Es wird Satans großes Festmahl. Ich weiß es von meiner Nichte, die kocht für den Magister. Sie hat es vernommen. Es wird schrecklich sein. Zuerst sollt Ihr sterben. Ihr und Euer Freund. Dann die Ratsherren und auch Melchior. Immelgud wird der Herr aller Zöpfler sein. Er wird von nun an im Schlachthaus residieren. Zusammen mit seiner jungen Braut. Sie wird auch nie mehr tanzen. Immelgud will das nicht. Professor Errenthaler läßt das Rathaus umbauen. Zu einer Alchimistenwerkstatt. Zusammen mit einer Gruppe vertrauenswürdiger Helferinnen, die alle dem Priesterinnenstand entstammen, werden sie hier tätig sein. In der Kirche werden der Magister, Freyja und Satan leben. Rund um diese drei Gebäude wird es eine Bannzone geben. So werden fünfzig Schritt entfernt rundum Zäune in den Himmel sprießen und jeden davon abhalten, sich zu nahen... Sagt mir, was ich für Euch tun kann. Ich werde es unter Einsatz meines Lebens versuchen.« »Ich danke Ihnen«, antwortete Gerondet bewegt und fühlte eine unerwartete Müdigkeit in sich, eine lähmende Apathie, die mehr und mehr von ihm Besitz ergriff, »Sie sind ein wunderbarer Freund. Ich bin unterwegs, dem Schicksalsrad
in die Speichen zu greifen. Drücken Sie mir die Daumen! Das ist genug getan.« Er drehte sich um, trat durch die Tür, stand in der säulengestützten Vorhalle und schritt auf die mächtige Doppeltür zu. Als er sie erreicht hatte, seine Hand auf der Klinke lag, blieb er noch einen Augenblick stehen. Ein ahnungsloses Jahrhundert, dachte er, eine arglose Zeit. Glaubt der Magister tatsächlich, in diesem Triumvirat aus machthungriger Intelligenz und tödlicher Waffentechnik noch bestehen zu können? Er weiß nicht einmal, daß Immelgud ihn durch die Wände hindurch beobachten und alle seine Handlungen aufzeichnen kann. Er ahnt nicht, welche ungeahnten Möglichkeiten Errenthaler haben wird, wenn ihm gelingt, wovon er sprach. Sie bedienen sich seiner, und er steht da, dreht Däumchen, lächelt und..., und unterzeichnet ganz nebenbei sein Todesurteil... Gerondet fuhr herum. Auf dem untersten Treppenabsatz stand Melchior Schimmelpfennig und nickte Gerondet, als der sich umgedreht hatte, wie einem alten Freund zu. Eilig kam er nun ganz nach unten, trat auf den Polizisten zu, reichte ihm die Hand. »Ein wunderbarer Abend«, schwatzte Melchior, »da darf man nicht abseits stehen. Schade um jede Minute, die man versäumt. All die Köstlichkeiten dort draußen, wir sollten sie genießen.« Melchior öffnete die Doppeltür, machte eine einladende Bewegung und trat gemeinsam mit Gerondet hinaus. »Es gab Mißverständnisse«, erzählte der Bürgermeister weiter, »dumme, unnütze Meinungsverschiedenheiten, die wir einander vergeben und beilegen sollten. Esra tanzt. Es gibt nichts Erhebenderes als dies. Die Bewegungen der einzigen Frau in diesem Universum, deren Liebe die Nacht zum Tag und den Mond zur Sonne werden läßt. Wißt Ihr, daß unser Orakel Euch den Todesengel nannte? Ein schwatzhaftes Orakel, das dem Branntwein mehr zuspricht als dem Hexenkräutlein für weise Gesichte. Ihr und ein Todesengel. Lächerlich. Mit ebenjener Dreistigkeit könnte man behaupten, daß der Fruchtbarkeitskult die Bevölkerung dezimiere. Ach, es schickt sich alles in den rechten Weg. Mein unvergleichliches Weib ist also nicht nur Hohepriesterin, sondern nun auch Bürgermeister, und ich bin ihr Schreiber. Ein glücklicher Entschluß. Wie es auch Glück ist, daß sie die Flammenhaarigen kommandiert.« »Die - was?« Gerondet blieb verwundert stehen. »Keine Zöpfe mehr«, sagte Melchior, »keine Jäckchen, Rüschen, Schnallen. Kurzgeschoren, wie das Vieh das Fell trägt, so sind sie nun. Und flammendrot das Haar. Dazu ein nachtschwarzer, durchgängiger Anzug, ähnlich wie ihn Immelgud sein eigen nennt. Und auf diesem Kleid Satans Symbol in grellem
Karmesin. Stiefel tragen sie wie die Reiter. Handschuhe verbergen und schützen ihre Hände. Und ihre Masken bedecken nunmehr auch den Mund... Ihr würdet sie nicht mehr wiedererkennen, die guten alten Zöpfler. Sie nennen sich die Flammenhaarigen, aber der Pöbel hat seine eigene Bezeichnung. Man schimpft sie die Knüppel-aus-dem-Sack.« Gerondet ließ seinen Blick über das Treiben schweifen. Die Feuer, vom Turmzimmer aus wirkten sie klein und hell, loderten jetzt gewaltig. Ihre gelbroten Flammenzungen leckten hoch hinauf, schienen die Sterne zu verschlingen. An Spießen wurde Fleisch gebraten, und Suppen und Brote wurden ausgeteilt. Der Geruch der gutgewürzten Speisen stieg Gerondet verlockend in die Nase. Doch hütete er sich zuzugreifen, denn er fürchtete, daß man ihn mit einem geschickt beigebrachten Gift dann dort haben würde, wo man ihn hinhaben wollte. Weinfässer wurden angezapft und Becher, Gläser und Pokale gefüllt. Der Lärm nahm zu. Scherze und Liedfetzen schwirrten durch die Luft, Rufe und Begrüßungen mischten sich darunter. Man drängte sich an den Orten, wo Speise und Trank ausgegeben wurden, lachte, zankte und schrie auch einmal, schien aber alles nicht sehr ernst zu nehmen. Wer beköstigt war, ging nicht erst weit, sondern ließ sich, wo immer Platz war, zu Boden gleiten, stopfte Fleisch und Gebackenes in sich hinein und spülte kräftig mit Wein oder Branntwein nach. »Ihr habt gefehlt«, Melchior riß Gerondet aus dem Schauen, »Ihr habt den holdesten Traum der Hohenpriesterin jäh zerstört. Nun, es ist also an Euch, eine Entschuldigung bei ihr vorzubringen. Aber ich denke, sie wird Euch dann verzeihen. Sie ist sehr umgänglich, müßt Ihr wissen.« Gerondet begriff auf der Stelle. Melchior sollte ihn ausfragen. Er sollte ermitteln, was mit Freyja geschehen war. Sicher verdächtigte im Augenblick jeder jeden. Der Magister hatte Grund, Immelgud zu mißtrauen, haßte doch Esra die Hohepriesterin. Aber auch Immelgud mußte vorsichtig sein, denn Freyja und der Magister hatten immer noch Satan und - den Mechanismus. Errenthaler stand in der Mitte zwischen beiden. Ohne Waffe und ohne Satan. Auch er hätte sie als Geisel in seine Gewalt bringen können. Und natürlich Gerondet. Jeder ging von diesen Möglichkeiten aus. »Bringen Sie. mich auf der Stelle zu ihr«, sagte Gerondet schnell, »ich möchte mich noch vor Mitternacht bei ihr entschuldigen.« Überall wurden Kettentänze aufgeführt, bei denen sich immer der letzte einen neuen Partner griff. Riß die Kette irgendwo, dann suchten die zwei Ketten neue Anhänger. Und gerade tanzte eine solche Kette an Gerondet und Melchior vorüber. Da faßte der Bürgermeister zu, ließ sich mitziehen, war so den Polizisten los. »Er hat angebissen«, murmelte Gerondet, »er flüchtet.«
Der Klang der Trommeln, das Stampfen der Füße und die dazwischen klingenden Streichinstrumente erregten Gerondet auf eigenartige Weise. Er wähnte sich irgendwo im Orient, irgendwo im Reich der Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Gerondet zog es magisch zu dem Brunnen. Dort waren Männer damit beschäftigt, hölzerne Säulen aufzustellen, zu vertäuen und zwischen ihnen ein Netz zu spannen. Die furchtbaren Dämonen wurden mit Fackeln geschmückt, und die zuckenden Lichter ließen die Szenerie zum Leben erwachen. Die Bewegungen waren nicht mehr aufstrebend, sondern vorwärts gegen die Zuschauer gerichtet. Gesichter der Finsternis lebten auf im warmen Licht des Feuers. Die Gestalten rekelten sich, schienen seufzend ihre neugewonnene Kraft zu prüfen. Ihre Stunde war angebrochen. Metallene Augen starrten, blinzelten, blickten drohend. Krallen und Klauen, Arme und Beine schwankten, als müßten sie die lähmende Müdigkeit der Jahre vertreiben, um zu einem gewaltigen Sprung anzusetzen und sich auf die zu stürzen, die dort hinter der Wassergrenze tanzten, brüllten, sangen und lachten. Die Nachtmahre probten das Leben, und ein Zittern ging über die Frau auf der Spitze hin. Einige Streichinstrumente, für Gerondet unsichtbar, begannen einen einzigen Akkord zu spielen, ihn in immer neuen Variationen zu erzeugen, der dieses Bild in Musik umsetzte. Gerondet stand still. Er spürte, wie alle Bewegungen der Feiernden erstarben, wie sie innehielten, nicht mehr aßen und die Getränke fortschoben. Sie kamen näher, konnten dem Zauber nicht entrinnen. Der Ring der Menschen wurde dichter und dichter. Ihr Atem verschmolz zu einem einzigen gewaltigen Atemzug, der wie ein Seufzer klang. Die Musiker nahmen diesen Ton auf, und wieder erklang der Akkord, sehnsuchtsschwer und ahnungsvoll. Gerondet, der zu der metallenen Mutter der Esra hinaufsah, bemerkte erst jetzt, daß sie ein goldenes Kettchen und ein Kreuz trug. Kein satanisches Symbol zierte ihren Hals, ihren Busen, sondern das Kreuz. Gerondet begriff, warum der Künstler gefangen war, Esra hatte den Vorwand geliefert. Sie war nicht der Grund. Gerondet riß sich aus der Starre, blickte in das Wasser. Sah in Satans Gesicht.
Ja, ich kenne ihn, dachte er, ich habe ihn gesehen. Den lebenden Menschen, der hierfür Modell gestanden hat. Aber wo? Er langweilt sich ... Langweilt sich ... Ich werde dahinterkommen. Nachdenklich hob Gerondet den Kopf. Sah die blasse Scheibe des Vollmonds über den Dächern stehen. Schieferplatten blinkten metallisch auf, und die Schornsteine standen wie schwarze Säulen, die den Himmel stützten. Immelgud, dachte Gerondet, was stehe ich hier herum und gaffe wie alle. Ich muß ihn finden... Gerondet schob sich vorsichtig rückwärts. Nahm kommentarlos manch einen Fluch und manch eine Grobheit hin. Gelangte schließlich in den Bereich, in dem kaum noch Zuschauer standen. Atmete hörbar auf. Als sich Gerondet wachsam umblickte, sah er, daß hier die Weinschenke und Fleischhauer, die Köche und Fackelmeister standen. Ihre halblaut vorgetragenen Scherze galten dem Magister und der Tänzerin, der Priesterin und den Ratsherren. Völlig unbekümmert lachten sie über alles, was ihnen Anlaß dazu bot. Sie fürchteten offensichtlich weder Repressalien noch Verfolgungen. An ihren schweren Ringen, den massiven Goldketten und den überreichen Gewändern erkannte Gerondet Angehörige der einstigen Kaufmannsgilde in ihnen. Sie waren ungebildet und vollgefressen. Ihre Scherze waren dummfrech, ohne jeden Witz und ohne Pointen. Es ist das letzte Fest, dachte Gerondet in dem Moment, und es werden die letzten Scherze dieser Leute sein. Das Triumvirat Errenthaler - Magister Immelgud würde niemanden mehr feiern lassen. Hinter einem Halbkreis aus Fässern spürte Gerondet einen Mann und eine Frau auf, deren Augen ihm sagten, daß sie bereits zuviel Branntwein getrunken hatten. »'n Abend«, grüßte Gerondet. Der Mann hob trunken die Hand und rülpste. Sein Kopf sank nach vom. Die Frau betrachtete Gerondet feindselig. »Vorhin war mein Freund hier«, Gerondet machte einen Vorstoß, »Sie wissen wohl nicht, wo er hingegangen ist?« Die Frau spie vor Gerondet auf die Erde. Gerondet biß sich auf die Unterlippe. Zwang sich wortlos zur Ruhe und sah sich suchend um. »In Ordnung«, sagte er dann, »ich merke, daß ich störe. Viel Spaß dann noch bei diesem letzten aller Feste.« Die Frau fuhr hoch, stieß den Mann an. Schnarchlaute kündeten davon, daß er nichts gehört hatte. Die Frau musterte Gerondet intensiv. »Rede schon!«
Gerondet lächelte sanft. »Da müßten Sie schon das Pflaster aufwischen«, schlug er vor, »und freundlich bitten.« Er sah, daß sie ein Schimpfwort auf der Zunge hatte. Langsam drehte er sich um und ging. Langsam genug, um ihr Zeit zu geben, ihn einzuholen. »Hört«, flüsterte es rauh dicht hinter ihm, »sagt mir bitte, was Ihr wißt. So will auch ich Euch einen Dienst erweisen.« Sie zog sich einen kleinen Ring vom Finger, steckte ihn in Gerondets Tasche. Gerondet erzählte ihr alles. Das, was ihm der Pförtner übermittelt hatte, und auch das, was er sich dachte. »O Gott«, klagte die Frau, »wir müßten uns zusammentun. Alle hier. Aber seht sie Euch nur an! Sie sind trunken und werden immer trunkener. Sie würden nicht begreifen wollen, was auf sie zukommt, selbst wenn man es ihnen sagte.« »Wie ist es«, wiederholte Gerondet seine Frage, »war mein Freund hier? Der mit der gefleckten Kleidung?« »Er war nicht allein«, antwortete die Frau unsicher und sah sich angstvoll um, »vier Flammenhaarige begleiteten ihn. Sie sehen schrecklich aus. Sie sprachen von einem Vogel, den es aus dem Nest zu holen galt.« »Danke!« Gerondet nickte ihr noch einmal zu, wandte sich dann ab. Das heißt, dachte Gerondet, Immelgud sammelt seine Kräfte, um den »Staatsstreich« zu vollenden. Er gegen Satan und die anderen. Die heilige Allianz von Militär und Wissenschaft. Na, dann gute Nacht, kleine Stadt. Da werdet ihr euch noch zurücksehnen nach dem Magister, der Freyja. Was auch immer sie taten, es gab eine trügerische Hoffnung auf die ewige Jugend. Immelgud wird nur noch befehlen. Phantasielos kommandieren. Anweisen und erlassen. Und das alles ohne Belial, Gott, ohne eine Zukunft oder sonst etwas. Und für Errenthaler ist die ganze Welt ein einziges Rattenlaboratorium, mit dem er herumprobieren kann, wie es ihm paßt... Wenn Immelgud gegen Satan antritt, dann muß er mich erledigen. Also bin ich von diesem Augenblick an Satans Verbündeter gegen Immelgud. Ich habe noch den Schlüssel... Gerondet ließ sich von dem dünnen Menschenstrom der Peripherie treiben. Noch immer drängten Zuspätkommende nach vom, wollten in die Nähe der Metallkonstruktion.
Gerondet sah noch einmal nach oben. Ihm war es, als hätte er etwas übersehen. Etwas sehr Wesentliches. Er betrachtete nur kurz den Mond. Wandte den Blick zum Rathaus. Erstarrte... Man hatte die Fahnen vom Fenster entfernt. Die Wendeltreppe dröhnte unter Gerondets heftigen Schritten. Das war ihm egal. Ausgepumpt kam er bei der Tür an. Trat mit dem Fuß gegen sie. Sah sie auffliegen. Seine Waffe wies nach vom. Tankred lag auf dem Boden. Er blutete an der Stirn. Seine Linke war angeschwollen. Mühsam hob er den Kopf und sah Gerondet verzweifelt an. Gerondet drehte sich um. Das Schloß der Tür samt Riegel war wie mit einem Skalpell aus dem übrigen Holz herausgeschnitten. Gerondet begriff. »Du mußt mir nichts sagen«, Gerondet bettete Tankreds Kopf auf ein Kissen, »selbst ich bin immer von neuem überrascht, wenn ich die Wirkung unserer Waffen sehe. Es ist scheußlich, und ich bin nur froh, daß du noch lebst.« Er nahm ein Stück Fahnentuch, goß etwas Wein darüber und wischte damit dem Freund das Gesicht ab. Der stöhnte leise. Gerondet zündete sich eine Zigarette an. »Den Vogel«, sagte er, »sie wollten ihn aus dem Nest holen. Und ich denke tatsächlich, daß sie Satan meinen. Gerade so, als würden die Mächtigen gegeneinander antreten, solange noch ein gemeinsamer Feind ihrer harrt... Schmerzt es noch sehr?« Langsam richtete sich Tankred auf. Lehnte sich gegen die Wand. »Die Schande schmerzt mich mehr als alles andere. Aber was hätte ich tun sollen? Ich habe nichts gehört. Bis die Tür aufflog. So wie sie sich dir bietet... Und dieser Laubfrosch hat etwas gegen mich abgefeuert, was mich fast lähmte. Sie hatten leichtes Spiel mit mir. Wenn ich glimpflich weggekommen bin, dann nur, weil Freyja ihnen verbot, weiter auf mich einzuschlagen« »Laubfrosch«, Gerondet lächelte bitter, »er sieht nur so aus. Er hat mich reingelegt. Ich hätte von hier aus schießen sollen. Versuchsweise.« Tankred richtete sich weiter auf. Sich an der Wand stützend, stand er schließlich. »Ich glaube«, sagte er, »daß deine Welt die bessere ist. Ich freue mich darauf.« »Komm«, Gerondet trat hinaus, sah sich vorsichtig um, »wir müssen hier weg. Das ist eine Falle.«
II. Schweigen lastete auf dem Platz. Das zuckende Licht der Fackeln hob jetzt nur noch den Brunnen aus der Schwärze, die den Marktplatz eingehüllt hatte. Die Feuer waren fast niedergebrannt, sahen aus wie düsterrote Ovale, wie Zauberkreise, in denen einzelne schattenhafte Wesen behäbig auf und ab stolzierten. Es war jetzt lautlos rundum. Esra betrat das Seil. Das kann nicht sein, dachte Gerondet, das ist nicht Esra. Vor dem Brunnen, ein wenig hochgereckt den Kopf, das Gesicht der Mondscheibe zugewandt, stand ein Mädchen, eine fremdartige Knospe, noch nicht erblüht. Selbstvergessen, die anderen nicht wahrnehmend, bewegte sie die Hände, schien sie sich, ihre Gliedmaßen, ihren Körper zu entdecken. Leicht waren ihre Bewegungen, verspielt ihr ganzes Wesen. Sie konnte so, ledig aller Erdenschwere, nur ein Traumbild sein, das gleich zerrinnen würde. Und wie sie sich bewegte, so wogten ihre Haare um ihr helles Gesicht, bildeten einmal einen finsteren Heiligenschein, folgten ihr dann wieder wie eine dunkle Woge, umspülten ihre Stirn. Gerondet sah, wie sie der Sonne entgegenschritt, entgegenlief, sah, wie sie Hunderte von Metern voranstürmte, die imaginäre Falle, den Fluch hinter sich lassend und so leicht den Schwarzen Stein erreichend; er sah, wie sie sich aufschwang zu den Vögeln, die mit ihrem Gesang den Morgen durchdrangen, sah, wie sie als Wolke am Himmel entlangzog, wie ihre Regentränen herunterfielen und das Land netzten, wie sie sich einringelte in einen einsamen Blütenkelch, dort verharrte, bis die Nacht sie klamm und kalt werden ließ, wie sie am Morgen mit dem ersten Sonnenstrahl zu neuem Leben erwachte, diesmal mit den Schmetterlingen um die Wette flog, mit den samtflügeligen Nachtfaltern und den stillen Eintagsfliegen Laternen umgaukelte, angstvoll den Fledermäusen und Spinnennetzen auswich und immer suchte, suchte, suchte... Und Gerondet stand vor dem Brunnen, die Dienstwaffe geladen in der Tasche, und er vergaß den Mord, den es zu sühnen galt, vergaß den Magister, der ihn hetzte, und Immelgud, der ihn zur Strecke bringen wollte, erinnerte sich schon nicht mehr des Mannes, der Tankred hieß, und eines Satans, der aus dem Gefängnis gelassen würde, wenn der Magister ratlos war. Er lebte das Leben der Esra, des Sonnenkindes, des Sonnenmädchens Esra, die aus Belanglosigkeiten ein wesentliches Leben zusammenspann, zusammentanzte, die genau alles das tat, was er nicht einmal beachtet, geschweige denn selbst versucht hatte. Jeder Schritt, jede Bewegung des Sonnenmädchens bohrten sich tief in das Bewußtsein Gerondets ein, ließen ihn nicht mehr los, schlangen winzige Knoten in sein Gedächtnis, ließen ihn erbeben, erzittern, mit ihr bangen und hoffen, ließen auch ihn klamm und starr werden und mit ihr erwachen und sich rekeln. »Ich liebe dich«, flüsterte Gerondet, »ich liebe dich.«
Und gerade, als hätte sie die Worte verstanden, näherte sich ihm das tanzende Mädchen im Licht, kam bis an den Rand des Netzes, schien aus der Balance zu kommen, schien zu stürzen, ihm entgegenzufallen, so daß er nicht anders konnte, als ihr einen Schritt entgegenzugehen, den schützenden Kreis der Menschen zu verlassen, plötzlich allein zu sein, allein mit seinem Wunsch, sie zu besitzen, sich ihrer zu bemächtigen und als Preis mit sich und seinem Leben einzustehen. Wie eine Raupe zog sich die Tänzerin zusammen, fiel nicht, reckte sich, dem Mond ihre Arme entgegenstreckend, auf dem Netz empor, glitt schwerelos rückwärts, den lebenden Ungeheuern des Brunnens entgegen, hob sich noch zarter und zerbrechlicher gegen die wütigen Bestien ab. Noch einen Schritt machte Gerondet, diesmal von dem Wunsch getragen, sie zu beschützen. Das Grauen, das sich hinter ihr reckte und das sie nicht sehen konnte, zu bezwingen. Doch aus dem Schmetterling wurde ein Weib. Ein kraftvolles Weib, das der Hölle entgegenschritt, über die zuckenden Metalleiber aufwärts stieg, immer höher hinauf, bis sie, bei der verzweifelten Mutter angekommen, in die Knie sank, die metallene Figur umfaßte, das erhitzte Gesicht so kühlte und sich langsam aufrichtete, weiter und weiter, und endlich die Menge durchzuckte ein dumpfer Aufschrei, ein nicht enden wollendes Stöhnen - das Kruzifix küßte. Da aber ließ sie sich fallen, stürzte als Verdammte, landete als Verlorene auf dem Netz, umrundete als Büßerin den Brunnen und verschwand in der Finsternis der Nacht. Stumm stand das Volk und starrte unverwandt auf den Brunnen, so als sei Esra noch immer dort und tanze weiter und weiter. Gerondet wandte sich ab und blickte in zwei Augen, die ihn ununterbrochen beobachteten. Freyja, unter einem himmelblauen Baldachin sitzend, angetan mit einem weiten nachtschwarzen Umhang, das Symbol Satans auf der Brust, lächelte Gerondet zu, huldvoll, vergebend. Zehn Flammenhaarige bildeten einen Ring um sie, und so hatte der Polizist Zeit, die neuen Verkleidungen zu sehen. Unverwandt sahen sich Freyja und Gerondet an, Mann und Frau, während das Mädchen bereits wieder auftauchte, die Trauer überwunden hatte und als glückspendende Flora über Felder und Wiesen schritt, Leben, Blüten und Pflanzen brachte... Gerondet riß sich endgültig los, stieß Tankred an, der unter dieser Berührung zusammenzuckte. Die beiden Männer wanden sich so unauffällig, wie es nur ging, durch die Massen.
Als die Finsternis sie einhüllte, blieb der einstige Zöpfler stehen. »Was hast du vor?« »Ich muß in ihre Garderobe«, erläuterte Gerondet, »es ist das letztemal, daß sie dorthin geht. Sie wohnt ab morgen im Schlachthaus. In ihrer Garderobe werden sich zwei Männer von ihr verabschieden wollen: ich und der Magister. Vielleicht können wir dabei ein paar Freundlichkeiten austauschen, von Freund zu Freund.« »Gut«, entgegnete Tankred, »gehen wir also.« »Der Magister hat hundert Mann«, warnte Gerondet den Freund, »die ihm melden, was immer geschieht. Ich habe nur einen Mann. Aber der muß besser sein als die hundert anderen. Verstehst du?« »Er wird besser sein«, versprach Tankred. Sie hoben gleichzeitig die Köpfe, lauschten. Die Musik war anders geworden. Irgendein Ton schob sich zwischen das Lamentieren der Instrumente und den leisen Singsang des unsichtbaren Chores. Es war ein heller, alles durchdringender Ton. »Ist das schon Satan?« Gerondet ruckte herum, blickte in die finstere Künstlergasse, in deren Einmündung sie standen. »So ähnlich klingt es schon«, antwortete Tankred unruhig, »genau so. Aber bevor er erscheint, sind die Ausrufer unterwegs, die alle Bürger in die Häuser treiben. Sie können ihn nicht einfach loslassen. Es würde kaum noch einer überleben. Niemand kann ihn ansehen, ohne seinen Verstand zu verlieren.« »Das ist Immelgud«, schrie Gerondet wild, »Massenexekutionen sind Produkte unseres Jahrhunderts. Wem es «um Milliarden geht, den interessieren Millionen nicht...« Er hatte die Pistole in der Hand. »Verfluchte Finsternis«, tobte Gerondet, »wir brauchen eine Deckung.« Im selben Moment schwieg er, faßte Tankred, der gerade loslaufen wollte, am Arm. »Das ist nicht Satan«, erklärte er, während das Geräusch anschwoll, »das ist kein Satan. Es ist ein Flugzeug... Vielleicht mehrere.« Tankred sah Gerondet hilflos an. Der deutete zum Himmel. Das Geräusch kam rasch näher, übertönte die Musik und vertiefte die Starre der Zuschauer auf dem Platz. »Da«, schrie Gerondet, »dort kommen sie!« Es waren drei Maschinen, die sich aus der Himmelshöhe herabstürzten, auf die Ortschaft zurasten.
»Erdkampfflugzeuge«, schrie Gerondet gegen den Lärm, »die haben genug Raketen, um alles hier wegzublasen. Wirf dich wenigstens hin!« Tankred warf sich flach auf die Erde. Gerondet blieb stehen. Er wußte um die modernen Waffen, die präzis auf die schlagenden Herzen, die lebenswarmen Menschenleiber zuflogen und nicht mehr blind einschlugen. Er wußte, daß es kein Entrinnen gab. Die letzten Töne der Musik brachen ab. Die Menschen auf dem Platz standen mit nach oben gewandten Köpfen. Menschendenkmale, leblos und starr. Genau in dem Augenblick hatten die schräg von oben kommenden Kampfflugzeuge die Ortsgrenze erreicht. Statt ihrer hingen drei mächtige, nach der Ortsseite hin konkav gebogene Feuerkugeln in der Luft. Der Boden schwankte kurz, während die Luft unbeweglich blieb. Auch das Krachen der Explosion war nicht so stark, daß jemand zu Schaden kam. Die Volksmenge klatschte begeistert in die Hände. Die Leute brachten Hochrufe auf den Magister und Freyja aus, sie glaubten. daß diese, ihre obersten Regenten, das Schauspiel für sie inszeniert hatten. Die Hochrufe nahmen ununterbrochen zu. Esras Tanz war vergessen. Erneut setzte die Musik ein, fand aber keine Zuhörer mehr. »Komm«, sagte Gerondet, »jetzt haben wir nicht mehr viel Zeit. Diese Welt hier wird untergehen. Bald schon, denke ich.« Sie liefen davon, von immer neuem, immer unruhigerem Licht beschienen, und verschwanden schließlich in der Schwärze der Künstlergasse, die sie, einem Trichter gleich, aufsog und in das sternenüberdachte Nichts ausspie. III. Gerondet stand unbeweglich vor der Tür, hielt die Waffe in der Hand und lauschte. Ein leises Knarren der Dielen verriet ihm, daß jemand dort war, sein Körpergewicht verlagerte, aber nicht seinen Standort verließ. Gerondet stieß die Tür weit auf, machte einen langen Schritt, wobei er sich prüfend umsah. Der Mann, der auf dem bequemen Armstuhl saß, fuhr hoch; seine Augen weiteten sich vor stillem Entsetzen, und er starrte wortlos auf den Eindringling. »Sie haben jemand anderen erwartet?« Gerondet steckte die Waffe in die Außentasche der Jacke und fühlte sehr wohl, daß Haß ihn überschwemmte, ihm seine nachgesagte Gelassenheit nahm. Mit schnellen Schritten, dabei nie den Überrumpelten aus den Äugen lassend, kontrollierte der Polizist die Fenster und die angrenzenden Räume. Sie waren beide allein.
»Sie haben mich bei der Tänzerin erwartet«, Gerondet sprach schnell, abgehackt, »dachten, ich stehe da und warte schafsgeduldig das Ende ab und das, was danach kommt.«
Der Magister wollte wohl etwas sagen, aber seiner Kehle entrang sich nur eine Reihe heiserer Laute. Gerondet setzte sich auf eins der zusammengerückten Sofas, stützte seine Rechte auf den Oberschenkel und musterte seinen Gefangenen. »Ich...«, begann der Magister, und seine Stimme klang, als lamentiere er, klage sich selbst an, bitte zugleich um Verzeihung und kehre wohl auch den Greis hervor, »ich hätte es mir denken können. Denken müssen. Ich hätte es wissen
müssen, daß Ihr anders seid. Klug, kalt, intelligent. Schon weil sich Esra in Euch verliebt hat, müßt Ihr kühl sein. Ein eisiger Kopf und ein kaltes Herz. Ich hätte es begreifen können, daß sie für Euch tanzt, nur für Euch. Daß sie Euch aufwiegelt gegen mich. Euch antreibt zu diesem Zweikampf. Ja, man kann alles wissen, wenn man einen Kopf hat, der denkt und analysiert. Man weiß dann, und auch ich weiß es. So bin ich ein Opfer meiner Dummheit, meiner Unüberlegtheit und... meiner ewigen Hoffnung, Erbarmen und Liebe zu finden, wo nur Haß und Hohn wohnen.« Er schwieg dumpf, und die Stille senkte sich wie ein feuchtes Tuch auf die beiden Kontrahenten. »Sie sind festgenommen«, sagte Gerondet und räusperte sich, »was immer Sie sagen oder tun, ich werde es gegen Sie verwenden.« Der Magister hob müde den Kopf. Er lächelte verkrampft schief und unsicher. Winkte dann ab, als sei es ihm gleichgültig, was nun kommen werde. Sein Kopf fiel nach vorn. »Ihr wollt doch zurück in Eure Welt«, sprach der Magister, gegen den Teppich gerichtet, der den Boden des Zimmers völlig bedeckte, und seine Augen wanderten hin und her, »aber das ist so einfach nicht. Es ist sicher angenehm in Eurer Welt. Freundlich und bequem. Das könnt Ihr doch nicht aufgeben wollen. Einer Laune wegen, die man Rachsucht nennt... Ich kann Euch gehen lassen. Dann muß ich aber in der Kirche sein und Ihr am Ortseingang. Bei jenem Schwarzen Stein.« Langsam kam der Kopf des Magisters hoch. Seine leicht zusammengekniffenen Augen blieben auf Gerondet gerichtet. Etwas Geschäftsmäßiges belebte das schmale intelligente Gesicht. »Das wird viel komplizierter«, Gerondet wußte von der Unmöglichkeit seines Ansinnens, aber er mußte es sagen, »weil nicht nur ich am Ortseingang bin, sondern auch Sie selbst und Tankred und Esra und alle anderen. Und alle gehen hinaus. Und alles hält an und steht still und versinkt nie mehr.« »Dieses Jahrhundert ist ungeduldig«, der Magister bewegte den Kopf von einer Seite auf die andere, »Ihr lehnt Kompromisse und Teillösungen ab. Wollt immer sofort alles. Das geht in diesem Fall nicht. Ihr allein könnt gehen, oder Ihr bleibt. Anhalten kann man den Mechanismus nicht.« »Wie schön«, spottete Gerondet, »daß Sie nicht von dem Fluch sprechen, sondern von einem Mechanismus. Und genau das interessiert mich ungeheuer. Erzählen Sie! Aber bitte verständlich. Ich bin Laie.« Der Alte musterte Gerondet noch immer. Er wollte sich eine für ihn wichtige Klarheit verschaffen, ohne daß es ihm richtig gelang. »Ich will es versuchen«,
sagte er endlich, »ich will Euch die ganze Geschichte erzählen, auch wenn sie nicht immer Euer Wohlwollen finden wird. Zuerst dies: Ihr schaut mich prüfend an. Ich erinnere Euch ständig an etwas. Laßt es mich aufklären. Ich habe Modell gesessen. Satans Kopf in den Fluten des Brunnens ist mein Kopf. So sah ich aus, als ich hier ankam, und dies«, er betastete mit beiden Händen sein verlebtes, faltiges Gesicht, »bin ich geworden im Dienst der Stadt, im Auftrag der Bürger. Deshalb habe ich das Recht, bestimmte Dinge zu tun, die anderen verwehrt sind. Doch ich will nicht vorgreifen.« Ja, dachte Gerondet, das ist es. Hinter seinen verwässerten Augen, hinter den wachsbleichen, schlaffen Zügen verbirgt sich noch immer jenes gelangweilte, intelligente Gesicht, das nun aus den Wassern des Brunnens aufschaut. »Streicht nun in Eurer Erinnerung, was andere über diesen Ort sagten«, der Magister sank ein wenig in sich zusammen, schien sich an etwas zu erinnern, was er gern vergessen hätte, »vergeßt alles, was man Historie nennt.« Er unterbrach sich, wandte seinen Kopf den Fenstern hinter den blausamtenen Vorhängen zu, verharrte so. »Ich bin als junger Mann gekommen«, berichtete er nun leiser, ein wenig monoton, »und sah so aus wie der im Brunnen. Ich war sicher auch so. Man suchte mich eines Totschlags wegen. Einen Schurken habe ich umgebracht. Einen, der mit etwas Magnesiumpulver, Kaliumpermanganat und Kalzium den staunenden Fürsten und Höflingen ,Wunder' vorführte. Dieser Mann war reich geworden. Und er war ein Zuträger und Scharlatan. Er war aber auch ein jämmerlicher Speichellecker, dessen Name verweht worden wäre wie die Namen all der Flötenspieler und Hofdichter, die an Sonntagen, Fürstengeburtstagen und zu festlichen Anlässen mit ihrer Tinte jungfräuliches Pergament beschmutzten, wenn... Ja, wenn dieser Scharlatan nicht jenes Geheimnis der Geheimnisse gekannt hätte. Es war die Zauberformel GDG. In Wirklichkeit nichts als eine dieser höfischen Abkürzungen.« Der Magister sprang auf, verneigte sich nach allen Seiten, schien selbst ein Höfling zu sein und zeigte sein komödiantisches Talent. »Bitte schön. Liebwertester«, lispelte er, »oh, danke schön, mein Herrlichster. Was, Ihr habt noch nicht davon gehört? Von jenem göttlichen GDG? Ihr Ärmster.« Er fiel schwer auf den Armstuhl zurück, sah Gerondet Zustimmung heischend an und fuhr dann fort: »Es war in seinem Gepäck. Er besaß es. Aber was war es? Man sprach davon, und sein Ursprung sollte allen ein Geheimnis sein. Die einen sagten: Ein isländischer Vulkan hat es ausgespien, während andere wußten, daß es in einem lebentötenden Diamanten vom Himmel gefallen war. Die einen meinten, man habe es den Pyramiden entrissen, die anderen wollten es in Asia, im düsteren Tempel einer Gottheit, aufgespürt haben. Was feststeht, ist nur dies:
Eine Kette von Toten ziert seinen Weg. Hunderte mögen es sein. Tausend vielleicht. Der erste, der es fand, kam keine hundert Meter weit. Seine klammen, kalt gewordenen Finger schienen angewachsen an das Geheimnis. Und jeder, der es danach nahm, erlebte selbiges Schicksal. Eine Schlange, eine Spinne, ein Skorpion waren die Henker. Wasserlosigkeit oder Flutwellen sprangen ein, wenn es an räuberischen oder giftigen Tieren mangelte. Stellt Euch das vor: Eine Menschenkette rund um die Welt. Und alle paar hundert Meter ein Toter. Ahnt Ihr nun, wieviel Blut an diesem Ding klebt? Und ebenjener Magier der Schwarzen Kunst, wie sich der Scharlatan nannte, besaß dieses Kleinod. Er war so dumm, es mir, den er für einen Anfänger hielt, zu zeigen. Die Stafette des Unheils wurde um einen Schurken verlängert. Ich floh also mit dem erworbenen Unheilsstern. Man hetzte mich, suchte mich allenthalben, denn ich hatte der Fürsten Lieblingsspielzeug entwendet. Die Häscher, allesamt plumpe und rohe Gesellen, wurden von mir an der Nase herumgeführt. Entweder ich ging ihnen entgegen und bewirtete sie mit köstlichen Schlaftrunken, oder ich ließ sie an mir vorüberhasten, blickte ihnen lachend nach. Weil ich kein Hanswurst und kein Aufschneider, sondern Magier und Schwarzkünstler bin. Und schließlich langte ich hier an. Ich sage Euch, ich habe nie einen Ort gesehen, der korrupter war als dieser. Verglichen mit diesem Ort, waren die Fürstenhöfe wahre Bastionen der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit. Hier bekam man für Gold alles. Angefangen von der Absolution bei Mord bis hin zur Ehefrau eines jeden. Man konnte mitten in der Nacht irgendwo klopfen und zahlte, dann verließ der Ehemann seinen angestammten Platz und quartierte sich bis zum Morgen in einer Kammer ein, in der eine seiner Mägde hauste, während man selbst seinen Platz übernahm. Man konnte Titel und Sitze im Rathaus erwerben und Stimmen bei Wahlen. Eine vergeilte Gesellschaft, die in der Wärme des Wohlstands verkam und in die Höhe schoß, ohne Festigkeit zu gewinnen. Man fürchtete vier Dinge: Arbeit, Tageslicht, Wind und Regen. Gleich zu Beginn meines hiesigen Aufenthalts kaufte ich mir also Papiere, die mich als Stadtbürger auswiesen und mir zugleich bestätigten, daß ich seit zwei Jahren den Ort nicht mehr verlassen hatte. Das war meine Sicherheit, und niemand konnte mich an den Galgen bringen. Man bescheinigte mir, daß ich als Ratsdiener die letzten beiden Jahre meine Aufgaben zu voller Zufriedenheit der Herren ausgeführt hätte. Was wollte ich mehr? Ich hätte schon weiterziehen können, aber all mein Gold war bei dem Kauf draufgegangen. Ich habe nie versucht, selbst Gold herzustellen. Ich habe es mir redlich verdient. Als Magier stellt man sich immer den Kräften der Finsternis. Ich will sagen, daß ich mein Gold schwer verdient habe. Oft setzte ich mein Leben ein. Und nun mußte ich alles hergeben, der Papiere wegen.
Doch jetzt wollte ich mein Gold zurückgewinnen. Man nimmt hier großzügig, gibt aber kleinlich. Ein paar Vorstellungen und einige Konsultationen brachten mir nicht den hundertsten Teil dessen, was ich gegeben hatte. Ich sann sogar darüber nach, ob ich den fetten Herden nicht die Rinderpest anhexen sollte, damit man sich meiner bediente. Da es aber auch hätte passieren können, daß sie alle mit ihrem Gold auseinandergelaufen wären, um sich anderenorts anzusiedeln, unterließ ich mein Vorhaben. Nein, so ging das nicht. Und dann sagte ich mir: Was krallst du dich an diesen Ort, mein Lieber? Zieh hinaus in die Welt. Geh an die Höfe der Könige und Kaiser, und du wirst bekommen, wonach du dich sehnst. Da geschah das Unerwartete: Dieselben Landsknechte, die der Stadt den Reichtum gebracht hatten, indem sie den hiesigen Schmieden und Kaufherren Waffen und Pulver abgekauft hatten, kamen nun als raubende und plündernde Haufen vorbei. Unsere Kaufleute waren kluge Männer, die es bestens verstanden hatten, beiden kriegführenden Parteien ihre Waffen zu verkaufen. Und nun nützte ihnen ihre Klugheit gar nichts mehr, denn alles wandte sich gegen sie, und während die Kriegerscharen in Riedland einfielen, erinnerten sie sich sehr genau des Ortes, an dem es fette Beute gab. Und die Herren, die an jedem gefallenen Landsknecht blankes Gold verdient hatten, denen jeder Hieb und jeder Stich in einen Menschenleib ein paar Dukaten brachten, begannen um das eigene klägliche Leben zu bangen. Einige zogen fort, überstürzt, nur mit Pferden und dem Gold. Andere riefen nach der Einigung, die sie selbst vordem gefürchtet hatten, der Vereinigung aller Fürsten- und Königshäuser im Kampf um den rechten Glauben. Wer ihnen zuhörte, mußte denken, daß da redliche Mönche vor dem Bildnis der Gottesmutter knien und den Menschensohn um etwas bitten. Verlogenes Pack sind sie. In dieser Stadt verfiel alles. Haß, Mißtrauen und Angst zogen ein. Da niemand mehr fortziehen und kein Mensch seine Pulvermühlen stillegen durfte, beobachteten sich die biederen Bürger gegenseitig, belauerten sich und meldeten, was immer ihnen ungewöhnlich schien. Brodlant, der eifrige, aber unfähige Offizier, gründete die Bürgerwehr. Trunkenbolde, Mohnsaftsüchtige und Tagediebe vereinte er unter seinem Kommando. Als sie auf eine Vorhut der Landsknechte trafen, wurden sie wie Mastschweine abgestochen. Nur Brodlant kam mit seinen beiden Adjutanten zurück und erzählte etwas von heldenhaften Kämpfen. Na los, sagte ich mir, geh fort. Sie sind gestraft für alle Habsucht. Was suchst du noch? Da begegnete mir ein Mädchen. Esra. Sie kam mir barfuß von den Gänsewiesen entgegen. Ich stand wie verzaubert, starrte sie an und brachte kein Wort über die Lippen, Ich sah ihr nach, und sie drehte sich um. Ich versuchte wenigstens zu lächeln, aber selbst das mißriet mir. Ich ging immer nur hinter ihr her, und als sie endlich in ein Haus verschwand, lehnte ich am Zaun und rührte
mich nicht von der Stelle. Schließlich kam ihr Vater heraus und drohte, mich von den Doggen zerfleischen zu lassen, wenn ich Rotzjunge von einem Hungerkünstler nicht augenblicklich gehen würde. Vier seiner mächtigen Tiere begleiteten ihn, und ich machte, daß ich fortkam. Und so nannte er mich noch lange Zeit Rotzjunge und Hungerkünstler.« »Sie haben ein Bild geliebt«, sagte Gerondet sachlich, »nackte Füße, runde Waden. Ein schmuddliges Kleidchen und braungebrannte Arme, aber nie den Menschen Esra.« »Soll man den Menschen lieben?« Der Alte sah zu Boden. »Damals, als die großen Drachen die Erde bevölkerten, da gab es Würde. Errenthaler hat es mir erklärt. Ja, jene Echsen starben sogar würdevoll. Stumm schritten sie über ihre Plätze hin, suchten sich in der vereisenden Steppe das letzte Futter, legten sich in der letzten Nacht ruhig, so wie es ihnen ihr Blut diktierte, nieder und schliefen den endlosen Schlaf. Das ist ihr Geheimnis. Jenes äffische Wesen aber, das heute ergründen will, wie die Riesen der Vorzeit vergingen, geht von seinen eigenen Unzulänglichkeiten aus. Und wenn sein Auftritt vorüber ist auf der Bühne des Lebens, wird es kreischen und schreien, wird es hin und her rennen und nicht wissen, was Würde ist. Und dieses Wesen soll man lieben? Nein...« »Magister«, Gerondet sprach wie ein Arzt, der dem Patienten eine Diagnose stellt, »ich kenne Menschen wie Sie. Ich kenne sie aus meiner Arbeit. Armselige Psychopathen, die sich in Waden, Brüste, Schöße vergaffen können, für die das Weib etwas Funktionales ist. Ein Werkzeug, das, in eine bestimmte Lage gebracht, erotische Befriedigung geben kann, aber keinerlei menschliche Züge trägt. Menschenscheue, liebesunfähige Psychopathen sind das, Magister. Je nach Temperament Spinner oder Verbrecher...« »Wieso liebesunfähig? Warum beleidigt Ihr mich? Ja, ich habe dieses Mädchen geliebt. Auch wenn es Euch wieder Anlaß gibt, etwas über mich festzustellen, will ich Euch sagen, daß ich davon träumte, zu ihren Füßen zu liegen und sie, wenn sie frieren sollte, mit meinen Küssen zu erwärmen. Ich wollte ihr nichts antun, was schmerzlich oder grausam gewesen wäre, wollte sie nur berühren, vorsichtig und zärtlich. Aber sobald ich sie irgendwo entdeckte -ja, ich habe sie gesucht -, sobald ich mit ihr sprach, lachte sie über mich, verhöhnte mich. Ich habe mich ihr unterwürfig genähert und nicht gewußt, daß ich damit selbst das mögliche Pflänzchen Liebe zertrat. Allmählich empfand sie eine gewisse Freude daran, mich leiden zu sehen. Sie suchte sogar meine Nähe, um sich von ihrer Unwiderstehlichkeit zu überzeugen. Sie sah mich weinen, sah mich auf der Erde liegen, sah mich um Gnade, um Erbarmen bitten und -lachte darüber. Ich dachte damals - ihr Götter, wie dumm ich war -, ich dachte, daß eine werdende Frau, eine zukünftige Mutter doch ein wenig Wärme in sich haben muß, daß sie doch verstehen müßte, wie wichtig es
sein kann, einem Mann das Leid zu nehmen. Erst Errenthaler konnte mir die Antwort auf all meine Fragen geben. Erst er nahm mir den Irrglauben, das Herz mache die Frau, die treusorgende Mutter aus; es sind nichts als chemische Stoffe, Hormone genannt, die das bewirken, was wir bewundern und verehren. Ich wußte nicht, daß die Kälte, die tiefe weibliche Seelenkälte, es ist, die den Mann zwingt, Held zu werden, Herrscher zu sein und Tyrann. Nein, ich konnte es nicht wissen. Nur dies: Esra hat aus mir den Magister und aus Euch den Todesengel gemacht. Ohne ihre bezaubernde Kälte würdet Ihr nicht, Eure Waffe in der Hand, vor mir sitzen, und ich wäre nicht der Herr dieses verfluchten Ortes geworden. Aber ich schweife ab. Damals habe ich alles versucht, um sie von meiner Liebe, meinem Leid und meiner Rechtschaffenheit zu überzeugen. Ihre Grausamkeit aber war grenzenlos. Ich war sogar bereit, alles, was ich gelernt hatte, zu vergessen und Kaufherr, Schuhmacher oder Ratsmitglied zu werden, wenn sie mich erhört hätte. Sie lachte nur über meine Vorschläge. Mindestens ebenso arg trieb es ihre Mutter, die ihr ganz unvergleichlich ähnelte. Nur daß sie eine reife Frau und noch reizvoller war als das Mädchen. Sie kam manchmal in mein Haus, besuchte mich, um mich über meine Liebe auszufragen. Sie war immer ernst und gemessen, und doch: Alles, was sie sagte, war versteckter Hohn. Manchmal setzte sie sich, verlangte etwas zu trinken. Sie trug, wie sie es wohl aus ihrer Urheimat gewohnt war, lange Schleier, die sie geschickt verrutschen ließ, so daß die nackte Haut ihrer Schultern oder ihrer Brüste wie ein Irrlicht aufleuchtete. Nun, Gerondet, habt Ihr dafür auch einen Eurer grausigen Begriffe? Ich war regelmäßig so verwirrt, daß ich vor ihr stand, schluckte und nicht wegsehen konnte. Es machte ihr Spaß. Einmal sagte sie, daß sie müde sei, und sie ließ sich einfach auf meine Lagerstatt fallen und ruhte dort. Ich stand neben ihr und sah sie liegen, und in meinem Kopf drehte sich ein Malstrom phantastischer Gedanken. Traf ich einmal Esras Vater, er war ein berühmter Jäger und unfehlbarer Schütze, empfing ich aus seinem Blick die volle Verachtung und allen Hohn dieser Familie, die sich an meiner Tatenlosigkeit weidete. Damals meinte ich, die ganze Stadt lache über mich. Doch war das ein Trugschluß, denn sowohl Esra wie auch ihre Mutter behielten ihre Geheimnisse für sich. So war ich ahnungslos, als eines Morgens etliche Ratsherren bei mir auftauchten. Sie traten ein, grüßten artig und drehten ihre Kopfbedeckungen in den Händen, wie Bauern es am Gerichtstag zu tun pflegen. Und als ihr Wortführer sprach, wußte ich, daß nun alles anders kommen mußte. Sie baten mich um Hilfe. Sie fürchteten die Überfälle der Landsknechte und wollten Sprüche von mir hören, die solches Unglück bannen oder verhindern konnten. Nun, ich bin Magier und nicht Scharlatan. So antwortete ich, daß sie sich die
Sprüche aus dem Kopf schlagen sollten, aber wenn sie mir eine frische Kinderleiche brächten und bestimmte Kräuter, die ich ihnen nannte, dann wollte ich mein Glück versuchen. Sie wollten wissen, was ich noch benötigte. Ich wurde tollkühn und sage: Die Kirche. Sie sei das wichtigste. Sie müßte vorher nur nach meinen Plänen umgebaut werden. Sogar dem stimmten sie zu. Und das, obgleich seit dem ersten Überfall der Landsknechte wieder mehr Leute zur Messe gingen. Ich bekam also alles, was ich verlangte, und widmete mich ganz meiner Arbeit. Darüber vergaß ich eine Weile Esra. Ich wollte einfach etwas schaffen, was die Marodeure in die Flucht trieb. Ich dachte dabei an einen Wolf, der, groß wie ein Baum, viele Leute auf einmal verschlingen kann und so Panik und Entsetzen verbreitet. Natürlich war ich mir nicht sicher, wo die Grenzen des Wachstums lagen. Ich hielt mir so viele Tiere wie irgend möglich. Das heißt, füttern, tränken und ausmisten mußte der ehemalige Pfarrherr. Ich mixte die Extrakte und leitete die Versuche. Mein Wolf war aber kaum ochsengroß, als er starb. Seine Blutgefäße vermochten die größere Blutmenge nicht wohlgeordnet zu transportieren. Mit meinen anderen Geschöpfen hatte ich mehr Glück. Aber lassen wir das. Meine Arbeit kam ins Stocken, als meine Mixturen verbraucht waren. Natürlich sterben immer Kinder, doch lange nicht genug. Ich erklärte den Ratsherren, warum ich nicht vorankam. Zuerst waren die Ärmsten dran. Jeder ein Kind. Und da erlebte ich es: Mütter wurden zu schattenhaften Vampiren, die fremden Kindern auflauerten, sie töteten und zu mir brachten, um die eigene Nachzucht nicht zu gefährden. Gerade aber in der Zeit, da sie in mörderischer Absicht unterwegs waren, wurden ihnen die eigenen Kinder von anderen genommen. An den Grundsubstanzen mangelte es mir hinfort nicht mehr. Und es gelang mir, Satans Schoßhund zu schaffen, und er wurde gefügig, lernte mich als seinen irdischen Herrn kennen und gehorchte.« »Es ist eine Fledermaus«, warf Gerondet ein, »warum geben Sie das nicht zu: Eine stark vergrößerte Fledermaus ist der Henker.. « »Ihr habt zweimal in seine Augen gesehen«, antwortete der Magister ausweichend, »einmal, als Ihr in die Kirche eingedrungen seid, und das zweitemal, als ich Satan ausschickte, Euch in dem Gang zu erwarten. Da er Euch noch nicht kannte, befahl ich ihm, Euch anzusehen und sich Euer Bild einzuprägen. Er kennt also die Abtrünnigen: Tankred Torfstecher und Euch... Aber laßt mich fortfahren. Unerwartet, an einem kahlen, kalten Herbstmorgen, die Nebel hatten sich noch nicht restlos verflüchtigt, kam der Wächter atemlos zu mir und meldete, daß eine Schar Landsknechte auf die Stadt zumarschiere. Mindestens viermal soviel wie beim ersten Überfall. Die Kirche wurde zum
Rathaus. Die Herren waren vollzählig versammelt. Man jammerte und lamentierte, schrie durcheinander, suchte Schutz. Ich fragte sie, wieviel Gold die Landsknechte wohl fordern würden, und man dachte an fünf Zentner. Ich sagte ihnen, daß ich nur den fünften Teil davon verlange, um die Stadt vor ihnen zu bewahren. Eine halbe Stunde später schon war das Gold bei mir. Es sollte mir den Weg zu Esra ebnen. In aller gebotenen Eile quartierte ich die Ratsherren am Rande der Stadt in ein Haus ein, von dem aus sie die Felder sehen konnten, und erklärte ihnen, daß sie dort bleiben könnten. Ich sagte, daß ich ein Elixier geschaffen hätte, mit dem ich Satan rufen würde, und er könnte mit den Landsknechten noch immer fertig werden. Als ich den Verschlag, er war im Turm der Kirche, öffnete und Satan hinausließ, hing der Nebel wie ein feucht gewordenes Tuch dicht über den Feldern. Ich konnte schon die rauhen Trommeln der Soldaten hören, ahnte, in welcher Angst die Ratsherren waren, und wußte doch, daß bald alles anders sein würde. So stieg ich auf das Kirchendach und sah, wie Satan über die Felder hinschwebte, wie er hineinfuhr in den Zug der Landsknechte, die gellend schrien, auseinanderliefen und sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Es blieben nur wenige Tote zurück. Die Wirkung auf das Gemüt war weitaus stärker, als die tatsächliche Zahl der Toten es gerechtfertigt hätte. Hauptmann Brodlant, der sich mit seiner Bürgerwehr schon als Stadtoberhaupt gefühlt hatte, wurde nun mein ärgster Feind. Er fürchtete mich, aber er trachtete mir auch nach dem Leben. Zweimal entkam ich mit knapper Mühe einem Mordanschlag seiner Schergen. Esra und ihre Mutter schwiegen und sahen zu Boden, wenn wir einander begegneten. Furcht stand im Gesicht der Älteren, der ein neues Kind geboren war. Eigentlich wollte ich Esra meine Liebe erneut gestehen, aber ich konnte es nicht. Alle Menschen beugten den Nacken, so ich ihnen begegnete. Konnte ich mich da noch erniedrigen? Zugleich aber schwoll meine Sehnsucht nach ihr an, und nur intensive Beschäftigung brachte mir Linderung. Ich nahm mir den Stern des Unheils vor, dessen Material Errenthaler Einsteinium genannt hat. Alles, was in meiner Macht stand, habe ich getan, um zu erfahren, was er bewirkt. Ich wußte eins: Irgendwer mußte irgendwann einmal etwas Ungeheures erlebt haben. Und so wollte ich der zweite sein, der die Macht des Steines nutzt. Jener Scharlatan hatte den Stern des Unheils in ein Pergament gewickelt. Darauf stand: ,Die Welt fürchtet die Zeit, aber die Zeit fürchtet die Pyramiden...' Kam der Stein tatsächlich aus einer Pyramide, dann hatte er etwas mit der Zeit zu tun. Und die ist immer da. War vor uns und wird nach uns noch sein.
Ich nahm Laugen und Säuren, Kräuter, Extrakte, Elixiere. Ich erwärmte den Stein und ließ ihn auskühlen. Nichts geschah. Dann aber, als ich eines Morgens das Labor betrat, sah ich neben dem Stein eine Gurkenpflanze auf meinem Tisch ranken. Ich hatte am Abend eine Gurke gegessen, und einige Kerne mochten liegengeblieben sein. Aus dem Kern war ein Keimling geworden, und der war gewachsen, hatte Sproß auf Sproß, Blatt auf Blatt gebildet, wand sich um zwei Tischbeine. Sogar winzige Gurken konnte ich sehen. In der Nacht vorher war Vollmond gewesen, und der Stein lag unter einer gewaltigen gläsernen Linse. Was ich auch in der Folgezeit anstellte, nichts Ähnliches geschah. Aber der Stein hatte mir gezeigt, wozu er fähig war. Ich wartete den kommenden Vollmond ab, benutzte wieder das Glas und legte diesmal einen Kirschkern an dieselbe Stelle. Ich stand bereit. Das gesammelte Mondlicht traf den Stein an einem Punkt. Der Kirschkern platzte auf, und der Keimling schob sich hervor. Ich begoß ihn immer wieder mit Wasser, welches augenblicklich verschwand. Mannshoch wurde der Baum. Kräftig luden die Zweige aus. Blätter kamen, dann Blüten und zuletzt die Früchte. Ich lief mit dem Glas und dem Stein hinaus und richtete alles so ein, daß das ausfallende Licht die Kirche traf. Und das Gebäude verschwand vor meinen Augen. Als es wieder auftauchte, sah es alt und zerfallen aus. Der einstige Pfarrherr und Satan waren nur noch Staub. Ich selbst war anfangs, als das Gebäude verschwunden war, erstaunt nach vorn gelaufen und dann wieder umgekehrt. Das ist wichtig, deshalb erzähle ich es. Als ich mich in einem der Spiegel sah, deren Rahmen morsch geworden waren, traute ich meinen Augen nicht. Zwei Tage saß ich so, wartete auf ein Wunder und erlebte es nicht. Ich war ein alter Mann geworden. Ich hatte nichts davon gespürt. Nach zwei Tagen erhob ich mich, trank etwas, aß auch ein wenig und barg den noch immer im Garten liegenden Stern des Unheils. Er lag neben einem kleinen Ameisenhaufen, der zur Mannshöhe emporgewachsen war. Ich ging zum Ratshaus und meinte nicht anders, als daß man mich verhöhnen würde. Besonders Brodlant. Es sollte anders kommen. Sie empfingen mich voller Entsetzen. Alle hatten sie gesehen, wie die Kirche verschwunden und wieder aufgetaucht war. Alle hatten sie das Wunder der Wunder geschaut. Sie fragten verstört, wobei sie einen Bogen um mich machten, was ich befehlen würde. Simpel, wie sie nun einmal sind, dachten sie wohl, ich wäre inzwischen in der Hölle gewesen. Noch am selben Tag begannen sie mit dem Neubau der Kirche und mit dem Bau der unterirdischen Gänge.
Ich selbst war apathisch, hatte mich nicht mit meinem Körper anfreunden können, war sogar bereit zu sterben. Ein junges Weib half mir: Freyja. Sie kam zu mir, tröstete mich, hüllte mich in ihre Liebe ein. Das rettete mir das Leben. Und deshalb ist sie der einzige Mensch und erst recht die einzige Frau, die ich nie antasten würde und deren Entscheidungen ich unbedingt akzeptiere. Sie ist tabu und heilig, und was immer sie tut, ist recht getan. Satan entstand erneut. Und wieder kam mir ein Zufall zu Hilfe. Leise klagend, den Göttern mein Mißgeschick entgegenschleudernd, erging ich mich bei Vollmond im Garten. Ich wollte einen neuen Versuch machen, schauderte aber so, daß mir die Linse aus der Hand fiel und auf einen Stein prallte. Ein Sprung verunziert sie seither. Ich fürchtete das Ende der Versuche, und als ich das Mondlicht in dem gesprungenen Glas sammelte und es angstvoll auf den Stein richtete, entstand ein gewaltiger Lichtbogen, der sich hoch über alle Gebäude reckte, und alles, was ich sah, wurde gläsern-durchsichtig und verschwand vor meinem Angesicht. Ich stand in einem Moor, durfte mich nicht rühren, um nicht von meiner Grasinsel abzurutschen und zu ersaufen. Ich drehte und wendete den Stern des Unheils, und unerwartet tauchte alles wieder auf, und ich war in meinem Garten und nicht mehr auf schwankendem Grund. In der Stadt war nichts verändert, nichts gealtert, nichts verjüngt. Nur daß die Stadt minutenlang verschwunden gewesen war. Der Gedanke erfaßte mich sofort: Ich habe meine Jugend, meine Gestalt und mein Aussehen für diese hier geopfert. So sollen sie mir ihre Zeit geben, bis wir in eine ferne Zukunft kommen, in der ein mächtiger Magier mir mein verlorenes Aussehen zurückgibt. Ich baute eine Uhr. Überlegte immer wieder, wie das mit dem Versinken, mit diesem Schlaf ist, und fand endlich den Mechanismus, der jetzt alles in Gang hält. Wasser tropft in eine Röhre. Nach genau vierundzwanzig Stunden ist sie gefüllt. Dann kippt sie um, zieht ein kleines Fensterchen auf. Der Vollmond trifft das gesprungene Glas, sammelt das Licht auf seine Art und lenkt es auf den Stein. Wir versinken. Die Röhre kippt zurück, und das Fensterchen schließt sich. Wir sind für die Welt nicht mehr da und dämmern dahin, träumen. Und genau nach fünfundzwanzig Jahren, wieder bei Vollmond, für uns ist gerade ein Tag vergangen, so sagt es die Uhr, die alles steuert, öffnet sich erneut das Fensterchen, der gedrehte Stein empfängt das Mondlicht, und wir tauchen auf, bis die Röhre wieder vollgetropft ist. Und Satan schützt die Einrichtung. Er bewacht den Mechanismus, der uns aneinanderkettet. Dann aber, wenn ich rings um unsere Stadt nur noch junge Menschen sehe, wenn ich weiß, daß der Mensch nicht mehr der Sklave seines körperlichen Alterungsprozesses ist, dann werde ich den Mechanismus anhalten und mir meine Gestalt zurückholen. Solange bin ich auf mein metallenes Antlitz im Brunnen angewiesen.« Der Magister schwieg, starrte Gerondet an, schien aus einer anderen Welt zurückzukommen.
»Und warum erlauben Sie niemandem, die Stadt zu verlassen?« »Soll ich allein den einen Tag verbringen, dem ich nicht ausweichen kann?« Der Magister sah zornesrot aus. »Ich habe es für die dort getan. Für ein korruptes Volk, das sich sogar seine Gefühle bezahlen ließ. Sie rechneten sich bei Hochzeiten vor, wie viele Batzen Gold jeder einbrachte, und bestimmten so den Grad der Liebe. Wißt Ihr, wie ein Hochzeitsgebinde hier aussah? Aus Rosen flochten sie die Zahl der Rinder. Aus Levkojen die der Pferde. Aus Ringelblumen die der Schweine. Aus Nelken die Dutzendzahl des Geflügels. Und Rosmarin kündete von der Anzahl der Morgen Felder, Wiesen und Weiden. Eine Zahlenkolonne zog durch die Stadt, kein Hochzeitszug. Sie mieteten zu diesem Zweck alle Kutschen. Fuhren den kurzen Weg bis zur Kirche. Kein gutes Völkchen. Ihr würdet Euch bedanken, wenn ich sie zu Euch entließe und sie wie freßgierige Heuschreckenschwärme Eure Länder überschwemmten. Noch etwas: Man sagt, daß ich Esras Vater mit einer Droge dazu gebracht habe, Bürgermeister zu werden und seine Familie zu verkaufen. Nichts dieser Art. Ich habe es ihm einfach einmal angeboten. Auch seine Bluthunde hat er mit eigener Hand getötet. Hat die Herzen und die Hirne gegessen und mir dann vierfüßig vorgeführt, wie die Hunde bellten und wie sie ihrem Herrn ergeben waren. Eine widerwärtige Vorstellung. Ich habe ihn zum Bürgermeister ernannt und Esra zur Tänzerin. Ich habe mich mit ihr verlobt, aber nicht einmal da gestattete sie mir den Kuß. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der es gewagt hätte, wider Satan Seine Hand zu heben. Esras Mutter tat es. Mit einer Axt ging sie auf ihn los, als sie erfuhr, daß Jason nun in ihm lebt. Rasend das Weib. Sinnlos ihr Versuch, aber sie tat es. Esra ist meine Angelobte und mir zugleich das Allerfernste. Kein anderes Weib in dieser Stadt würde mir einen Wunsch abschlagen. Aber an keinem anderen Weib liegt mir etwas. Und dann kommt Ihr, und sie verliebt sich in Euch. Geht mit Euch spazieren. Führt Euch in die Wohnung. Hält sich an keine Vereinbarung, sonder will am Nachmittag, daß Ihr sie liebt! Tanzt nur für Euch. Unter meinen Augen. Unter meinem leidgeprüften Blick. Was kann ich für meinen gezeichneten Körper? Was kann ich denn dafür, daß mich die Zeit würgte, bevor Esra das gleiche geschah? Versteht Ihr, wie sehr ich Euch hasse, denn wir sind gleichaltrig. Noch nicht dreißig. Und ich sehe fünfzig Jahre älter aus. Vielleicht würde ich die Menschen aus Germelshausen entlassen, vielleicht würde ich die tödliche Umschlingung der Ortschaft aufheben, wenn Esra mir als gnadenreiches Weib entgegenträte, wenn sie durch diesen kalkigen Körper hindurchsähe und meine brennende Seele erblickte. Warum nicht?«
Der Magister fiel in sich zusammen. Es war, als habe er all seine Kraft für diesen Augenblick der Selbstentlarvung aufgespart und als verströme nun, da er gesagt hatte, was ihn drängte, seine Kraft gleich der Luft aus einem defekten Ballon. Er saß zusammengekrümmt,. hatte die Welt um sich und den Mann mit der Waffe vergessen. »Und das geht immer so weiter«, brach Gerondet das Schweigen, »Rohr und Uhr bestimmen den Lauf der Stadt?« »Nein«, der Magister hob nur ein wenig den Kopf, sah Gerondet nicht an, »nein. Überhaupt nicht. Ich muß kurz vor Mitternacht den Riegel in das Laufwerk einsetzen, sonst endet der Schlaf der Stadt nie mehr.« »Nicht sehr geschickt«, kommentierte Gerondet, »eine billige Finte. Ein schnell erfundener Riegel, damit ich Sie ungeschoren lasse.« Der Magister antwortete nicht. Er konnte die Erschütterung kaum beherrschen, die über ihn gekommen war, seit er seine Geschichte preisgegeben hatte. »Ich mache Ihnen zwei Vorschläge«, Gerondet musterte den Magister, wie man eine Bestie taxiert, »und Sie sagen mir, was Sie davon halten: Also, ich töte Ihren fledermausflügeligen Satan, und ich zerstöre die Apparatur restlos und warte einfach, was passiert.« Der Magister schüttelte den Kopf. »Satan ist nicht durch Menschenwaffen zu verwunden«, erwiderte er beinahe traurig, »auf keinen Fall durch eine Waffe, die ein Mann bei sich tragen kann. Einige Sack Schwarzpulver würden vielleicht genügen. Dazu noch einige gut brennbare Materialien. Aber nicht, was ein Mann allein trägt. Ihr mögt Satan verwunden und werdet doch nicht verhindern, daß er Euch tötet.« »Na schön«, sagte Gerondet, »dann eben so: Ich lasse ihn hinaus. Dann bewacht er keinen Mechanismus mehr. Ich komme also an die Maschine heran und zertrümmere sie...« »Wenn Ihr ihn freilaßt«, der Alte lächelte unmerklich, »werdet Ihr sein erstes Opfer sein, denn er muß an Euch vorbei, um aus der Kirche zu können. Und Professor Errenthaler wie auch Ruderf Immelgud sind fast begieriger auf den Stern des Unheils, als ich es war.« »Man sollte darüber nachdenken«, sagte Gerondet, »es könnte sogar eine Chance sein. Und Sie, der vielfache Mörder, gehen nicht ungestraft aus. Richten Sie sich darauf ein, daß jetzt und hier alles endet.«
Der Magister wurde unruhig, blickte gehetzt um sich. Immer wieder sah er zur Tür, als erwarte er von dort Hilfe. Dann wandte er sich dem Fenster zu, endlich schaute er den Kriminalisten an. »Ihr wollt mir nicht einmal einen ordentlichen Ratsbeschluß gewähren«, fragte er verzweifelt, »mir nicht zugestehen, mich vor einem ernannten Gericht zu verteidigen, darzulegen, wie alles gekommen ist und warum?« Gerondet schüttelte nur den Kopf. »Ihr würdet mich einfach töten?« Gerondet nickte. »Dann«, der Alte schluckte, seine Hände rutschten unruhig hin und her, »dann seid auch Ihr ein Mörder. Nicht anders als ich. Nur die Zahl, die Zahl trennt uns, nicht...« »Doch«, Gerondet schnitt dem Magister das Wort ab, »doch. Es trennt uns alles. Ich habe einen Mörder gejagt und gestellt. Wie es das Gesetz befiehlt. Und der Mörder ist in der Lage, wenn er fliehen kann, endloses Unheil anzurichten. Er kann, wenn er sich verloren wähnt, eine ganze Stadt verderben. Was bleibt mir da für eine Alternative? Fliehen Sie, schieße ich. Greifen Sie mich an, schieße ich. Kommen andere in Ihrem Auftrag, schieße ich zuerst auf Sie. Das sollen Sie wissen.« »Das seht Ihr so«, der Alte keuchte, »weil Ihr es so sehen wollt. Ich habe den Ort vor den Landsknechten bewahrt. Sie hätten immer wieder geplündert. Und wenn es nichts mehr zu holen gegeben hätte, wären die Menschen niedergemetzelt worden. Nicht nur die Kinder. Habe ich nicht Menschenleben bewahrt? Ein Gemeinwesen erhalten? Gebäude geschützt? Den Mord verhindert? Eure Zeit ist eine schreckliche Zeit, denn sie verbietet dem Menschen den Irrtum. Ihr bestraft den Irrtum, den man entsprechend Eurer Rechtsauffassung auch noch vorhersehen muß. Ihr verlangt, daß man in einer festgefügten Ordnung zu wissen hat, welche festgefügte Ordnung morgen sein wird. Und wer das nicht voraussehen kann und dieser Ordnung nicht entgegenkommt, ist verfemt. Und so kennt ihr auch nicht Gnade und Verzeihen. Neun meiner Zöpfler wurden verbrannt, ohne daß jemand wußte, was sie eigentlich wollten. Vielleicht verbrannt für ein paar Pilze oder Blaubeeren. Oder verbrannt für ein paar Brote, die sie holen wollten... Und wie ist es, sterben in Eurer Zeit nur Kinder, weil es ein Staatswesen zu schützen gilt oder..., oder vielleicht auch aus viel nichtigeren Gründen?« »Wir können keine Fehler zulassen«, sagte Gerondet dumpf, »denn wir haben technische Einrichtungen und Waffen, die mit einem Schlag alle Menschen töten. Einschließlich der Richter, die über die Untat zu Rate sitzen könnten.«
Der Magister öffnete krampfhaft den Mund und schloß ihn wieder. »Alle«, fragte er dann, und ein sinnloses Leuchten kam in seine Augen, »alle?« Der Kriminalist antwortete nicht. Er saß schweigend, leicht vornübergebeugt und dachte nach. »Und dahinaus sollen die Menschen gehen«, begehrte der Magister auf, »in eine Zeit, in der sie alle in einer Sekunde sterben können. Und Ihr schwingt Euch zum Richter über mich auf, weil ich einige wenige sterben ließ, die sterben mußten, damit alle leben konnten. Ihr seid die Verworfenen, nicht ich. Und es gebührt mir, über Euch und Eure Zeit zu Gericht zu sitzen.« »Sie nannten den Ort Germelshausen«, Gerondet richtete sich auf, »ist das der geheimnisvolle Name, den mir alle verschwiegen haben?« »Ihr weicht mir aus«, der Magister saß ein wenig aufrechter als vordem, und seine Augen belebten sich, »warum sprecht Ihr nicht über Eure Zeit? Ihr bietet Eure besten Leute auf, einen Mörder zu stellen und zu strafen. Aber Ihr vertuscht den wirklichen Mord, den, der mit jener Waffe möglich ist, die alle Menschen auf einmal umbringt. Belial, wohin bewegt sich diese Weltenscheibe? Was ist aus ihr geworden? Eine Illusion, zu glauben, daß da einmal ein Magister sitzen wird, der der Menschheit die Jugend schenkt. Ein Irrglaube. Wie sind Kindheit, Jugend und geistige Frische möglich, wenn niemand mehr etwas probieren darf wie ich? Dieser Immelgud, der bei mir ist, erweist sich als ein wunderbares Werkzeug. Aber ein totes Werkzeug. Er ist einer, der älter ist, als ich aussehe, der älter ist als die Welt. Denn die Verfehlung, das Zeichen der Jugend, ist ihm abhanden gekommen. Er trägt nur das Kostüm eines jungen Burschen.« »Sie haben ihm Esra gegeben«, Gerondet lächelte kalt, »er wird die Flammenhaarigen führen, Freyja entmachten und sich mit dem Professor verbünden. Und was ein Errenthaler beginnt, macht er so systematisch, daß er Sie bald nicht mehr braucht.« »Nichts versteht Ihr«, das Gesicht des Magisters wurde spitzbübisch, verschlagen, »überhaupt nichts. Ja , dieser Professor ist ein nützlicher Mann. Denn wir haben heute erlebt, daß wir unsere Vorräte nicht mehr auffüllen konnten. Wir brauchen neue Wege, um ans Ziel zu gelangen. Der Stern des Unheils wird sie uns bringen. Errenthaler berechnet alles sehr genau. Er ist wichtig und wird das Rathaus bekommen. Als sein eigenes Labor. Aber der Söldner taugt nur so lange, wie Ihr noch hier seid. Vielleicht erlebt Ihr noch seinen Niedergang.« »Oder Sie irren sich«, erwiderte Gerondet schadenfroh, »Sie unterschätzen ihn gewaltig. Immelgud wird mit Ihrem Satan fertig, woraus der auch immer
besteht. Er ist der Mann, der allein die Waffe tragen kann. Und ohne Satan sind Sie nur noch ein Popanz für ihn. Errenthaler und Immelgud stammen aus ein und derselben historischen Epoche. Die interessiert Ihr Geschwätz von Belial und der Gnade einen feuchten Kehricht. Die lachen nur über ein ,gnadenreiches Weib'. Denen geht es um Milliarden. Um unbegrenzte Macht. Um nicht mehr oder weniger als die Weltherrschaft.« Die Augen des Magisters weiteten sich. Zum erstenmal sah Gerondet Angst in diesem Blick. IV. Gerondet hatte nicht gehört, wie die Tür hinter seinem Rücken aufgegangen war. Er fühlte nur den kühlen Lufthauch, der von der Treppe hereindrang. Er sprang nach vom, ließ sich hinter die Liegestatt der Tänzerin fallen, riß die Waffe aus der Tasche und richtete sie nach vom. In der Tür stand Esra. Müde, klein und hilflos. Sie sah zuerst den Magister und dann den sich aufrichtenden Gerondet an. »Oh, Gerondet«, sagte sie leise, und der Name klang wie eine Liebeserklärung, »mein Liebster. Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr sehen. Ich habe für dich getanzt.« »Esra«, Gerondets Stimme klang bewegt, »bleib bei mir, Esra. Komm mit mir.« »Aber diesen da«, Esra deutete auf den wachsbleichen Magister, der zusammengesunken am Tisch saß und ein Pergament in den Händen hielt, »den mußt du töten, denn er ist derjenige, der dieser Stadt Unheil und Verderben brachte. Mit ihm kamen Freyja und ihre lasterhaften Frauen, die mohnsaftsüchtigen Musikanten, die Taschenspieler, falschen Komödianten und Zuhälterinnen. Mit ihm kamen der Abschaum von der Landstraße, die Kuppler und Taschendiebe, die Wegelagerer und Schmarotzer. Auch Brodlant kam mit ihm und hielt überall seine lästerlichen Volksreden, in denen er den Magister lobte und in denen er die Einfälle der Landsknechte vorhersagte, sie gräßlich ausmalte und uns in Angst und Schrecken versetzte. Er ließ alle, die eine andere Meinung hatten, in den Nächten meucheln und bezichtigte nie gesehene Marodeure dieser Taten. Die Ratsherren und der einstige Bürgermeister glaubten Brodlant nur zu gern, denn da jeder der Pulvermüller und Kaufherren sein Schwarzpulver billig abgeben wollte, sparten sie an den Geldern der Tagelöhner ein, was sie konnten. Die Unzufriedenheit nahm zu, strichen doch die Herren die Dukaten dutzendweise ein, während die Gesellen und Zuträger nur Kupferlinge bekamen. Unruhen kündigten sich an. Da sagte Brodlant: ,Es ist keine Disziplin in dieser Stadt. Die Ordnung ist bedroht. Wir brauchen eine Bürgerwehr.' Alles
war gelogen. Alles... Du wirst ihn töten, Gerondet? Für Jason und meine Mutter. Bitte!« »Er weiß es schon«, erklärte der Polizist, »ich habe es ihm gesagt. Er weiß, daß er diesen Tag nicht überleben wird. Für Jason und die anderen Kinder. Für deine Mutter und die anderen Opfer. Für seine privaten und seine politischen Morde. Es wird sein.« Esra ging auf Gerondet zu, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn innig. Gerondet fühlte Esra. Er atmete sie. Spürte ihre Wärme. Ein Gefühl seltsamer Taubheit für die Welt rundum breitete sich in ihm aus. Esra, dachte Gerondet nur immer wieder, Esra... Als Esra endlich ihre Umarmung lockerte, starrte Gerondet über sie hinweg in den Raum. Der Magister war verschwunden! Gerondet lief, noch trunken, zum Fenster, riß es auf. »Tankred«, rief er in die Dunkelheit, »hast du den Magister gesehen?« »Nein«, kam die bestürzte Antwort, »nur Esra. Ich habe sie eintreten lassen, weil sie keine Gefahr darstellt.« Als sich der Polizist dem Zimmer zuwandte, sah er Esra neben dem Tisch. Sie hatte das Pergament in der Hand, mit dem der Magister zuvor nervös gespielt hatte. Sie las, und ihr Gesicht war unnatürlich blaß. Gerondet trat zu der Tänzerin. Nahm ihr mit sanfter Bewegung das Pergament ab. Satan wird Euch drei holen, stand da geschrieben, jetzt. Er wird alle Schmach tilgen, die Esra mir antat. Er wird die Beleidigungen dieses Gerondet rächen und den Verrat des Tankred dazu. Und es wird einen Zweikampf der Henker geben, denn auch Immelgud kommt. Es wird die blutige Nacht der Reinigung eines verkommenen Volkes sein. Alles ist so eingetreten, wie ich es erwartete. Gerondet faßte die zitternde Tänzerin unter, hängte ihr noch einen wärmenden Poncho über und führte sie dann zur Tür. »Tankred wartet auf uns«, sagte er, »und noch jemand, dem ich beweisen muß, daß Technik nicht alles ist. Nicht alles sein kann. Komm, meine Liebe, komm.«
Germelshausen, 22.00 Uhr Der Krisenstab Um 21.48 Uhr meldeten die Computer in den militärischen Zentralen Riedlands den Verlust von drei Erdkampfflugzeugen. Die Piloten hatten sich nicht retten können. Die Computer druckten auch aus, daß somit die neuentdeckte Ortschaft von keiner Seite aus zu betreten war. Das unbekannte Schutzsystem, von dem angenommen wurde, daß es sowjetischen Ursprungs war und einer Terrororganisation zugespielt worden war, sollte binnen Stundenfrist zerstört werden. Der Verteidigungsminister, der Präsident Riedlands und der Kriegsrat bildeten den Krisenstab, der die Zerstörung anwies. Das verbündete Paktsystem und die Partner aus Übersee waren bereits alarmiert. Erste Kontakte zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml ergaben, daß anscheinend niemand etwas von einem Schutzsystem wußte. Das Problem, so beschloß man, sei als rein innerriedländisch anzusehen. Eine neue Kampfrakete, gefüllt mit sechs Tonnen des brisantesten Sprengstoffs, konstruiert als Hohlladung, wurde aus dem Bunker gehoben und startklar gemacht. Da man bei einer derartigen Explosion nicht ausschließen konnte, daß es im LMN Großalarm gab, war dieses benachrichtigt worden und würde im Moment des Raketenstarts seine Alarmanlage abschalten. Der Krisenstab gab die Anweisung, alle Soldaten und Kampfwagen aus der Explosionszone zurückzuziehen.
I. Tankred, Gerondet und Esra standen auf der dunklen Straße. Gerondet sah es als erster. Da waren paarweise Lichter, die sich ungleichmäßig bewegten. Gleichzeitig drangen feine Töne durch die Nacht. Es war ein gleichmäßiger Gesang, der noch unverständlich, aber feierlich bis zu ihnen drang. Gerondet hob die Hand. Wies in die Finsternis zu den Lichtern, die mehr und mehr wurden. »Was ist das?« Er suchte Esras Augen, die in der Finsternis kaum zu sehen waren. »Das sind die eilenden Boten«, antwortete die Tänzerin, »sie bringen eine Botschaft vom Magister an alle. Sie werden den Leuten erklären, daß das Fest beendet ist, weil Satan kommt.« »So«, sagte der Polizist, »Satan kommt also. Das ging ja ungeheuer schnell. Dann müssen wir weg. Raus aus der Schwärze. Zum Marktplatz. Kommt.« Sie liefen zu dritt los. Es war nicht leicht, im Finstern unbeschadet über das Kopfsteinpflaster der Künstlergasse zu rennen. Gerondet hatte die meisten Schwierigkeiten. Esra lief wie auf glattem Untergrund. Sie reichte im Laufen dem Mann ihre Hand, und obwohl sie ihn nicht stützen konnte, empfand Gerondet es als Wohltat. Ihre leichten, harmonischen Bewegungen versuchte er zu übernehmen. Hinter vielen Fenstern tanzten nun kleine Flämmchen. Die ersten Menschen waren nach Haus zurückgekehrt und warteten auf das, was nun kommen sollte. Als die drei Flüchtlinge das flammenhelle Viereck des Marktplatzes erreicht hatten, hörte Gerondet zum erstenmal das mahnende »Flieht!«. »Flieht, Leute, flieht«, gellten die atemmüden Stimmen der Boten, der Fackelträger, in den Straßen, »flieht in eure Unterkünfte, denn Satan erhebt sich aus der Tiefe seiner Flammensäle, steigt auf aus der rasenden Helle der Hölle, um die Abtrünnigen, drei an der Zahl, zu strafen. Flieht, daß er in seiner tollen Wut nicht versehentlich Unschuldige tötet. Flieht...« Es war ein drohender Gesang, ein durch die beginnende Atemlosigkeit der Boten heiserer Singsang, der sich in das Bewußtsein fraß, sich steigerte und selbst im Schweigen der Boten nachhallte. Die Boten schlössen den Ring um den Marktplatz, wiederholten mit stets den gleichen Pausen, den gleichen quälenden Steigerungen ihren Gesang. Noch verblüffender war für Gerondet, daß alle Botengruppen den Takt so ordentlich
hielten, daß man manchmal ihre Rufe wie einen einzigen, aus allen Richtungen zugleich herangewehten Gesang erfuhr. Als sie den Marktplatz erreicht hatten, preßte sich Esra an eine Hauswand und zog Gerondet zu sich. »Bleib hier«, sagte sie leise, »warte, bis es vorüber ist.« Tankred schloß sich den beiden an. Zu dritt drückten sie sich an die Hauswand. Warteten so. Die Boten näherten sich. Ihre Fackeln wurden größer, beleuchteten die nun schon ausgepumpten Gesichter der Feiernden. Gerondet beobachtete alles, was nun geschah. Die offenen Feuer wurden in aller Eile erstickt, glommen nur noch durch die dünne Sandschicht, die auf ihnen lag. Die Fackeln, die rundum aufgestellt waren, ließen das hemmungslose Treiben klar erkennen. Viele taumelten unsicher umher. Sie deuteten noch plumpe Tanzbewegungen an, bei denen es schon keine Rolle mehr spielte, ob sie einen Partner hatten oder nicht, oder sie saßen auf der Erde, nagten Knochen ab, zerrissen Fladen, Küchelchen und Pfannkuchen und stopften sie sich in die fetttriefenden Münder. Etliche lagen auf dem hölzernen Pflaster und stierten in den Sternenhimmel. Dazwischen sah Gerondet jene, die das taten, was sie für den sichersten Potenzbeweis hielten. Das war unangenehm, peinlich, entbehrte jeder Anmut, jedes echten Gefühls. Auch die Musik war spärlicher und so ganz anders geworden. Ihre Klänge, anfänglich aufpeitschend und disharmonisch, ordneten sich unerwartet den Rufen der Boten unter, untermalten diese, verstärkten bestimmte Laute. An einigen Stellen sah Gerondet Leute, die sich prügelten. Sie waren allesamt so betrunken, daß sie sich keine ernsthaften Verletzungen zuziehen konnten. Beinahe ungewollt legte er seinen Arm um die Schultern der Tänzerin, zog sie etwas zu sich. Wollte sie beschützen vor den wilden Horden auf dem Platz. Er dachte an den Beginn. An Esras Tanz, an die klagenden Melodien, die stille Andacht der ersten Stunden, die ihn auf ein Fest der Verlorenen eingestimmt hatten. Er hatte eine Offenbarung der Menschen erwartet. Etwas, was von ihrer verlorenen Zeit künden konnte. Und die Wirklichkeit zerstörte seinen Glauben, entzündete neuen Zorn in ihm, ließ ihn seine Zähne zusammenbeißen. Da saßen sie nun, die Verlorenen. Saßen volltrunken, überfressen oder sich widerwärtig betastend auf dem hölzernen Pflaster, das sie einst geschaffen hatten, saß in Lachen verschütteten Weins oder säuerlich riechenden Biers und hielten ihre Fleischbrocken liebevoll in den Händen. Inmitten des Treibens fiel Gerondets Blick auf ein seltsames Paar, auf eine junge Frau und einen taumelnden Mann, der seine widerstrebende Partnerin von seiner Liebesstärke überzeugen wollte. Die Frau wehrte sich, so gut es ging, aber allein gegen das Gewicht des Mannes, der an ihr hing, war sie wehrlos. So standen sie
noch ein paar Augenblicke, erinnerten an ein groteskes Tanzpaar, ehe sie dumpf zu Boden gingen. Und als suche die Frau einen Helfer, der ihr das Kommende ersparen half, sah sie um sich. Ihr Blick begegnete dem Gerondets. Sie gab jetzt allen Widerstand auf, und ihre Arme fielen schlaff herab. Sie ließ mit sich geschehen, wogegen sie sich vorher gewehrt hatte. Gerondet wollte noch einmal ihre Augen sehen. Er wollte ihr zu verstehen geben, daß sie seinetwegen nicht aufgeben sollte, aber die Frau hielt den Kopf gesenkt und ertrug schweigend, daß das Gewicht des Mannes nun auf ihr ruhte. In diesem Augenblick hatten die Boten den Marktplatz erreicht. Von allen Seiten gleichzeitig erklang das erste »Flieht!« über den weiten Platz. Die Musikinstrumente verstummten nunmehr. Das Plätschern des Brunnens, das leise Prasseln der Fackeln und die warnenden Stimmen waren die einzigen Geräusche. »Flieht, Leute, flieht!« Eine unaufhaltsame Bewegung erfaßte alle auf dem Platz. Köpfe kamen hoch, Hälse reckten sich, Zecher fuhren ernüchtert zusammen. Gerondet sah das alles nur aus den Augenwinkeln. Er blickte unverwandt auf den Mann und die Frau, von der er annahm, daß sie sich aus Angst vor ihm dem anderen hingegeben hatte. Das Wort »Satan« zerriß die Nacht. Man goß Wasser auf die offenen Feuer, die, zischend und dicke blaue Rauchschwaden speiend, erloschen. Ein Wehgeschrei, ein jammervoller Ton wie aus einer Kehle, hüllte den Platz ein. Die Menge erhob sich. Die Leute standen einen Moment beklommen, versuchten sich zu erinnern, versuchten sich klarzuwerden, was zu tun sei, ehe sie sich in Bewegung setzten. Jetzt erklangen Flüche, Schreie, Beschimpfungen. Man drängte und stieß sich, schob und schlug aufeinander ein. Dazwischen klang das Wort »Satan« wieder und wieder. Die Musiker mochten jetzt im Rathaus sein, denn aus den offenen Türen klang eine grausame Melodie, die die Schritte der sich Schiebenden bestimmte, deren Atemrhythmus vorgab und eine tiefe, unergründliche Angst weckte. Gerondet sah, daß der Mann plötzlich innehielt. Die Frau, die er unter sich begraben und umarmt hatte, war ihm jetzt nur noch eine Stütze. Er arbeitete sich an ihr hoch, und als er ihre Hände an seinem Wams fühlte, trat er einfach nach unten. Ihre auch im Dämmerlicht blonden Haare und ihre aufgerissenen, entsetzten Augen verschwanden unter der Menge, die in wilder Flucht den Platz räumte. Gerondet konnte die Frau nicht mehr sehen. Nur die dunklen Klumpen der Fliehenden drängten sich näher heran. Er fühlte Schweiß auf seiner Stirn. Sah nur immer neue Umhänge und Füße, die über die Stelle hinglitten, an der die
Frau gelegen hatte. Der Blick des Polizisten wurde starr. Er suchte jemanden, fand ihn auch. Da kam der Mann. Eingekeilt in den Strom der Fliehenden, näherte er sich der Straße, an deren Einmündung Gerondet, Esra und Tankred, an die Wand gedrückt, standen. Gerondet ließ keinen Blick von dem Gesuchten, und als sich der Fliehende gerettet glaubte, als er schon meinte, Luft zu bekommen und der Menge entronnen zu sein, da traf ihn die Wucht der Handkante an der Stirn. Er flog zurück, glitt an fremden Umhängen der schwarzen, strudelnden Erde entgegen, war ebenso unter dem Strom der Flüchtigen begraben wie vorher die Frau. »Lieber«, flüsterte Esra, schmiegte sich an Gerondet, schien ebenfalls beobachtet zu haben, was dort auf dem Platz geschehen war, »Liebster.« Der Polizist blickte stumpf auf das Treiben neben sich, wußte von dem Unrecht, dessen er sich schuldig gemacht hatte, war entsetzt, nein, nicht wirklich entsetzt, sondern eher verwirrt, weil er sich zu dieser Handlung hatte hinreißen lassen, die seine ursprünglichen Intentionen gelöscht und ihn zu einem Germelshausener gemacht hatte. Er gehörte dazu. Mit diesem Schlag, mit seiner Abkehr von allen einstigen Prinzipien. Er gehörte plötzlich und für sich selbst unerwartet dazu. Der Strom der Flüchtenden wurde dünner, schließlich kamen nur noch einzelne, hasteten oder taumelten in die nachtdunklen Straßenmündungen ein, verschwanden. Die Boten waren die letzten. Sie sammelten die Fackeln ein und tauchten sie in Wasserfässer. Einer der Boten blieb, als er die drei dunklen Gestalten auf den Marktplatz kommen sah, wollte die Gesichter derer sehen, die nicht flohen, und wandte sich entsetzt ab, als er Gerondet erkannte. Gerondet vermied es, die mondbleichen Körper jenes Paares anzusehen, die nicht einmal fünfzig Meter voneinander gestorben waren. An den Häusern waren nun keine Fackeln mehr. Auch die Schankplätze und Fleischröstereien lagen finster und verlassen da. Ein Ring von Fackeln, die direkt am Brunnen steckten, erzeugte einen düsteren Ring rötlichen Lichts auf dem Wasser und dem Holz. »Das war ein langer Tag, Freunde«, sagte Gerondet, den ein wehmütiges Gefühl beherrschte, ein Fernweh nach einem nie zu erreichenden Ort, »ein ungeheuer langer Tag. Wißt ihr, ich habe meine Tage absolviert, weil ich hoffte, immer darauf hoffte, eines Tages in die Hauptstadt zurückzukehren. Um wieder zu leben, wie ich immer lebte. Um meinen Weg noch einmal beginnen und gehen zu können. Alles sollte wie gewohnt sein. Und ich habe mir geschworen, daß ich nie wieder anecken würde. Und jetzt: Ich wäre glücklich, hierbleiben zu können. Dann, wenn dieser Ort zu unserer Welt gehören wird.« Gerondet sah von einem zum anderen. »In Ordnung«, fuhr er dann fort, »es darf auch gelacht werden. Diese Worte von mir. Das ist verrückt.«
Er nahm Esra in den Arm, und sie gingen weiter auf den Brunnen zu. Sahen, wie das Tor von Freyjas Anwesen geöffnet wurde. Ein Ring der Flammenhaarigen, in der Mitte Freyja, trat hervor. Sie kamen geradewegs auf den Brunnen zu. Hielten nur wenige Schritt vor den verteidigungswilligen Freunden an. »Wenn Ihr wollt, Gerondet«, Freyja sprach ernst, hielt ihr Gesicht so, daß ihre Züge nicht zu erkennen waren, »biete ich Euch meinen Wohnsitz als Schutz an... Spart Euch die Antwort, ich sehe die Ablehnung in Eurem Gesicht. Ich wußte, daß Ihr ablehnen würdet. Nur: Es drängte mich, Euch zu fragen. Ich will Euch zeigen, daß ich Euch vergeben habe.« Gerondet verneigte sich vor der Hohenpriesterin. »Ich danke Ihnen«, entgegnete er ernsthaft, »und ich freue mich, daß Sie alles vergessen haben, was war. Aber für mich gibt es nur einen Weg: hinaus. Oder ich bin verloren. In fünfundzwanzig Jahren weiß ich nicht einmal mehr, wie man einen Kugelschreiber benutzt. Ich muß weg. Leben Sie wohl, Freyja.« Die drei sahen dem Zug hinterher, der gegen alle Erwartungen nicht in das Freyjahaus zurückkehrte, sondern in der Finsternis der Künstlergasse verschwand. »Wo geht sie hin?« Gerondet schaute Esra fragend an. »Zur Kirche«, antwortete die Gefragte, »sie geht zu ihm.« »Und wenn Satan inzwischen unterwegs ist?« »Er tut ihr nichts«, wußte Esra, »sie ist gefeit gegen seine Angriffe. Sie hat etwas, darauf braucht sie nur zu flöten, und dann geht Satan ihr aus dem Weg. Wie dem Magister auch.« Gerondet kratzte sich den Kopf. »Eine Flöte?« Seine Frage klang erstaunt. »Eine seltsame Flöte«, erklärte Esra, »man hört überhaupt nichts. Nur manchmal sticht es im Kopf.« »Aha«, Gerondet blickte pfiffig, »das also ist es. Eine grandiose Sache. Ich weiß, was er tun wird. Er schickt Immelgud hierher. Als Zeugen. Immelgud wird meinen Tod registrieren. Damit diesem Zeugen aber nichts geschieht, hat er ihm die unhörbare Flöte mitgegeben. Keiner kann sie hören. Und dummerweise Satan ebenfalls nicht. Und der frißt dann auch noch den ahnungslosen Immelgud, nachdem er sich vorher an uns den Magen verdorben hat. Ich gebe zu, der Magister ist gerissener, als ich bisher angenommen habe. Schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Und nun wollen wir etwas zu unserer Verteidigung unternehmen.«
Er sah sich um. Gab knappe Anweisungen und faßte schließlich selbst mit zu, nachdem seine Freunde verstanden hatten, worauf es ankam. Sie schafften Öl und Branntwein heran. Dann fertigte Gerondet aus Dauben und Faßdeckeln, Balken und Brettern eine gut brennbare Barriere, die er mit Öl tränkte. Aus dem Netz, auf dem Esra getanzt hatte, bauten sie einen Schutz rund um den Brunnen, unter den sie sich zurückziehen konnten. Tankred sammelte Spieße ein, an denen Fleisch gebraten worden war. Er schärft sie am Brunnenrand, so gut es ging. Gerondet füllte unterdessen das Magazin seiner Waffe auf. »Neun Schuß mit dem im Lauf, sagte er zu sich selbst, »neun Schuß, um einen Satan zur Strecke zu bringen, der ein ganz ungewöhnliches Gebilde sein muß.« Die Lichter in den Häusern waren erloschen. Die letzten Geräusche verstummt. Nur das ruhige, einschläfernde Plätschern der Wasserstrahlen hing über dem Platz. Esra, die neben Gerondet am Brunnenrand lehnte, atmete hörbar. »Weil wir uns zu unserer Liebe bekannt haben«, sagte Gerondet zu Esra, »hat der Tod die Klinge gezogen und will uns vernichten. Ein alter Glaube...« »Meine Mutter sagte immer«, Esra sah hoch zu der bronzenen Frau, die im Mondenschein nicht mehr entsetzt aussah und ihren Gruß den Menschen hinabschickte, »die Pforte der Liebe kann der Tod nicht passieren.« Gerondet erinnerte sich, was der Magister von dieser Frau erzählt hatte, und er fragte sich, ob dieser verschlagene Herr des Ortes noch selbst wußte, wann er log und wann er die Wahrheit sagte. »Sie hat recht«, sagte er, »auch wenn ihr Mann wegen sehr vergänglichen Ruhmes seine Liebe preisgab.« Unerwartet sah Gerondet das Meer. Denn er liebte das Meer. Das Bild wechselte, und er sah einen augenfarbenen See voller Feuerfische. Eine wilde Landschaft verdrängte jene Erinnerung, eine windumtoste Seenkette. »Sie hat zu spät begriffen«, Esra flüsterte es, »daß er sie liebte, weil er sich von den anderen unterscheiden wollte. Das war seine Liebe. Es war sein ganzes Leben. Und weil er nicht mehr jagen durfte, wollte er wieder der andere sein. Der Bürgermeister. Er hätte ein großer Mann werden können, wenn er sich nicht für Äußerlichkeiten verbraucht hätte. Er hätte nicht für den Schein leben dürfen. Ich denke noch etwas...« Sie schwieg, warf Gerondet einen prüfenden Blick zu.
»Was«, fragte der, »was denkst du noch?« »Er war grenzenlos feige«, antwortete die Tänzerin, »er meinte, daß der Magister sich rächen könnte für die erlittene Schande. Sie hatten wohl beide voreinander Angst, mein Vater und der Magister. Es wäre meinem Vater ein leichtes Spiel gewesen, den Aufstieg dieses Mörders zu verhindern. Vier Doggen und eine Muskete hätten gereicht. Vater war ein ausgezeichneter Schütze. Aber kaum daß das Halten von Hunden und der Besitz von Schußwaffen verboten wurden, tötete Vater vor des Magisters Augen die Tiere und brachte all seine Jagdwaffen ins Schlachthaus.« »Und dann haben sie ihn in den Tod getrieben?« Gerondets Gesicht wurde hart. »Ja«, sagte Esra, »das Orakel hatte gesprochen. Es hat behauptet, daß er Freyjas und Brodlants Tod plane und den Magister verführen wolle. Zu Giftgenuß. Sie trieben ihn wie einen Hasen. Schließlich fand er irgendwo Unterschlupf. Er ersparte sich das jammervolle Geständnis vor aller Augen auf dem Markplatz... Wir auch, denn sie haben Angst vor uns... Er war listig, war Jäger. Stundenlang warteten die Leute auf den Reuigen, der sich selbst beschuldigen würde. Die alte Ziegelei ging in Flammen auf. Es war angeblich sein Werk. Die Leute wurden in die Häuser getrieben, und Satan kam. Es waren nicht alle in Sicherheit, als Satan auftauchte. Und es fanden mehr unter den Füßen der Fliehenden den Tod als durch das entfesselte Untier.« »Und alles, was sich dein Vater schaffte«, fügte Gerondet an, »verfällt nunmehr.« Esra lachte bitter. »Nichts verfällt«, sagte sie, »ich habe mit den Zunftmeistern gesprochen. Die Dinge altern nicht an diesem Ort. Alles bleibt auf wunderbare Weise erhalten. Keine Holzwürmer, keine Motten und nicht einmal Rost. Nichts. Nur wir, wir altern selbst im Schlaf. Wir werden innerlich ausgelaugt. Wir verändern unser Aussehen nicht, aber es gibt immer welche, die nicht mehr erwachen. Natürlich erfahren wir das nicht. Sie werden noch in der Nacht bestattet. Vielleicht werdet ihr da draußen eines Tages auch einen Stern des Unheils schaffen und damit unseren rasenden Schlaf stoppen und uns einen Weg zu euch ebnen wollen. Aber vielleicht werdet ihr uns dann nicht mehr finden, weil es uns nicht mehr gibt. Dann werdet ihr unsere Möbel und die Kleidung, unseren Schmuck und den Zierat entdecken und benutzen, als hätte diese Gegenstände nie ein anderer in Händen gehabt. Ist das nicht schrecklich, daß all die Dinge uns überleben?« »Sie überleben uns immer«, antwortete Gerondet und zog das Netz an einer Stelle nach.
»Ich weiß nicht«, Esras Blick blieb an dem leicht vibrierenden Abbild des Mondes auf der kaum bewegten Wasserfläche hängen, »warum ist das so?« Tankred stand einige Meter von den beiden entfernt. Seine Arme hingen schlaff am Körper herab. Obwohl er sich mühte, nicht zuzuhören, bewegten ihn Esras Worte. Trafen etwas in seinem Denken. Weckten vergessene Erinnerungen. »Wollen wir etwa freiwillig an der Richtstelle bleiben?« fragte er und deutete wild auf den Brunnen. »Die anderen werden hierhergetrieben, und wir...« »Mit unseren drei Augenpaaren«, erklärte Gerondet, »können wir von hier aus in alle Himmelsrichtungen sehen. Außerdem muß Satan den Marktplatz überwinden. Das schafft uns Bewegungsfreiheit. In einer der engen Gassen oder Straßen sind wir handlungsunfähig. Begreift ihr? Von wo das Scheusal auch angeflogen kommt, ich jage ihm garantiert meine Kugeln in den Leib.« »Aber dies ist auch die Hinrichtungsstätte«, beteuerte Tankred, »Satan kennt diesen Ort wie keinen zweiten. Er kennt hier jedes Pflasterstück. Wenn wir in den Gang gehen... Ich meine, wenn Mutter Irrlicht uns helfen würde und ihre Scharen gegen ihn aussandte... Gerondet, nicht an diesem Platz! Bitte.« Der Polizist packte den Freund am Aufschlag des Wamses, zog ihn dicht an sich heran. »Ich weiß nicht«, sagte er, »was mit dir gerade jetzt geschieht, woher deine Angst stammen mag, aber eins laß dir sagen: Sobald wir diesen Ort unserer Bewegungsfreiheit aufgeben und wenn wir uns auf Verbündete verlassen, die wir überhaupt nicht haben, verhalten wir uns präzis so wie all die anderen Opfer bisher. Esra, hole bitte eine der Fackeln vom Brunnen. Und hört beide jetzt zu.« Er ließ Tankred los, blickte Esra hinterher, die voller Anmut eine der Fackeln aus einem Dämonentrupp zog und, dem Polizisten zulächelnd, aufrecht zurückkam. Gerondet setzte sich auf eine Bohle, zündete sich mit der Fackel eine Zigarette an und steckte sie dann vorsichtig zwischen zwei Bretter, wo sie ruhig, von keinem Wind gebläht, weiterbrannte. »Esra«, sagte er dann, »geh sofort unter das Netz in Deckung. Am besten ins Wasser und ganz dicht an den Brunnen. Wie ein Krebs sich unter Wurzelwerk versteckt. Tankred, du wirfst die Fackel mitten in den ölgetränkten Zunder. Dann haben wir Licht, und Satan muß mit den Flammen erst einmal fertig werden. Der Halbkreis der Flammen gibt mir Zeit zum Zielen. Wir entleeren auch noch die Branntweinfässer auf das Holz. Wir brauchen Hitze! Bis zu den Sternen müssen die Flammen aufsteigen. Feuer verwirrt alle Tiere. Macht sie furchtsam. Mir bleibt dann auch Zeit, das Magazin zu wechseln. Und - im Licht bin ich ein passabler Schütze. Mehr gibt es nicht zu sagen. Alles andere wird sich ergeben.«
»Ich habe dir unterwegs gesagt«, Tankreds in diesem Licht traurige, glanzlose Augen waren unverwandt auf Gerondet gerichtet, »daß ich dich bitten werde, mich zu töten. Erinnerst du dich? Ich sagte: Bevor mich Satan anrührt, sollst du mich töten. Tu es, mein Freund. Ich bitte dich jetzt darum. Dieses höllische Geschöpf darf mir nicht die Seele aus dem Körper wringen. Tu du es.« Gerondet öffnete den Mund, ohne daß ihm ein Wort entschlüpfte. Erschüttert betrachtete er den Freund, der mit hängenden Armen vor ihm stand und schon nicht mehr zu den Lebenden zu gehören schien. II. Esra hockte dicht über der Wasserfläche zwischen den metallenen Kobolden, schien selbst ein fleischgewordenes Teufelchen zu sein, das mit glitzernden Augen aus der Finsternis ins Licht blinzelte. »Tankred«, Gerondet korrigierte ihre gegenwärtigen Positionen, »setz dich weiter nach rechts. Wir dürfen nicht ein Ziel bilden. Vielleicht zögert Satan einen Moment, wen er zuerst angreifen soll. Er ist bestimmt schnell. Meine ersten Schüsse und das Tempo, mit dem das Feuer aufflammt, entscheiden den Kampf.« Tankred nahm die Fackel und seine Spieße, deren Spitzen silbrig und scharf aufleuchteten, und setzte sich einige Schritt von Gerondet entfernt auf das hölzerne Pflaster. Dann hob er den Kopf, betrachtete den Mond, dessen fahler Schein das Geviert der Häuser zu einem unwirklichen, kulissenhaften Hintergrund machte. »Wenn man tot ist«, wollte der einstige Zöpfler wissen, »ist dann wirklich alles zu Ende?« »Bist du schon tot?« Gerondet lehnte sich nach rechts, suchte den Blick des anderen. »Nein«, antwortete Tankred. »Dann warte es ab«, sagte der Polizist, »du wirst es ebenso wissen wie alle anderen, die schon tot sind. Hab Geduld.« »Was denkt man in deiner Welt darüber?« Tankred blieb hartnäckig. »Nichts anderes als hier auch«, erwiderte Gerondet, »jeder glaubt etwas anderes, weil niemand etwas weiß. Nur daß alle darauf hoffen, im Fall einer Wiedergeburt Schneeflocke zu sein, weil man da den ganzen Sommer hindurch Urlaub hat.« Esra lachte laut und ungezwungen.
»Besitzt du viel in eurer Welt?« Tankred betrachtete versonnen Gerondets Kleidung. »Viel Nichts«, erklärte der Gefragte, »ungeheuer viel Nichts. Ein Auto. Möbel und Tonträger. Fernsehapparate und all den Unsinn, der Wohnungen füllt. Irgendeiner unserer Philosophen hat gesagt, daß die Vielzahl der Dinge die Armut des Armen nur deutlicher zeigt. Da ist etwas dran. Aber das wirst du alles sehen.« »Ich werde es sehen«, Tankred sprach die vier Wörter wie eine Formel aus, die ihm das Überleben ermöglichte, »ich werde es sehen.« Aber da war auch ein Zittern in seiner Stimme, Zwischentöne, die der Furcht vor einem baldigen Ende Stimme verliehen. Eine Zeitlang schwiegen sie. »Der Tod«, flüsterte Tankred, »ich fühle den Tod. Gerondet, Satan belauert uns!« »Satan belauert uns«, wiederholte Gerondet mechanisch, »ja, er ist da. Er ist in unserer Nähe. Ich fühle den Schauer auf meiner Haut. Das ist Infraschall oder Ultraschall... Na denn!« Er kniete sich auf die Erde. Faßte die Waffe mit beiden Händen, hob sie an. »Esra, beobachte das Rathaus und die westliche Häuserfront«, forderte er die Tänzerin auf. »Was du auch siehst, schrei, wenn es sich bewegt. Einerlei, was es ist. Tankred, alles was hinter dem Brunnen und den nördlichen Häusern geschieht, wirst du melden. Die Künstlergasse bis zum Haus der Freyja ist ebenfalls dein Bereich. Ich nehme den Rest.« Tankred kam etwas hoch, kniete nun auch und ließ kein Auge von dem Revier, das ihm zugeteilt worden war. Er faßte mit der Rechten einen Spieß, nahm die Fackel in die Linke. »Ich fühle es deutlich«, sagte er fest, »ich empfinde ihn mit meinem ganzen Körper. Er ist da und belauert uns, wie eine Katze die Mäuse beobachtet.« »Dann achte auf seine Schwanzspitze«, versuchte Gerondet einen Scherz, »und tritt kräftig drauf, wenn sie auftaucht.« Die Worte vergingen ihnen, und sie blickten mit brennenden Augen in die mondhelle Nacht, versuchten zu erfassen, was sich verändert hatte, suchten hinter die schweigenden Häuserreihen zu sehen. Gerondet stand auf. Ganz langsam drehte er sich so, daß er Stück für Stück des Platzes überblicken konnte. Er musterte die Dächer, starrte hinauf zu den Sternen, verharrte am Rathaus für längere Zeit, aber nirgends zeigte sich eine sichtbare Veränderung.
»Seine Augen haben keine Pupille«, Gerondet erinnerte sich an die Begegnung in der Kirche, »oder sie bestehen nur aus Pupille. Augen, die für die Finsternis geschaffen sind.« »Er ist da!« Esras Aufschrei schreckte die beiden Freunde auf, und selbst Tankred verlor jene Apathie, die ihn beherrscht hatte. »Alles in Ordnung«, Gerondet beruhigte das bebende Mädchen, »er ist da, und es wird sein letzter Angriff sein. Ich mache ihm den Garaus. Sei ganz ruhig. Fürchte nichts.« Tankred sprang auf, ging unruhig auf und ab. Auch Gerondet wanderte hin und her. Machte kurz Pause, um etwas genauer in Augenschein zu nehmen, und setzte seine Wanderung dann wieder fort. »Bei der Künstlergasse«, stieß Tankred gepreßt hervor. Gerondet fuhr herum, blickte in die genannte Richtung. Und er sah: In der Finsternis der Straße glommen einige Lichtfünkchen auf. Die Abbilder einiger Sterne auf einer glänzenden, metallischen Oberfläche. Er hob die Waffe, zielte in die Richtung und erstarrte in dieser Bewegung. »Fledermäuse beobachten eigentlich nicht«, sagte er, um sich selbst und den anderen Mut zu machen, ihnen zu zeigen, daß er nicht in Angst verstummt war, »sie flattern im Zickzack und stoßen dann zu.« Das ferne Glitzern war verschwunden. Satan hatte sie aus der Gasse heraus angesehen, sie vielleicht abgeschätzt und war ebenso lautlos, wie er erschienen war, untergetaucht. Er würde jetzt einen anderen Weg wählen. Wieder dachte Gerondet an Katzen. An eine riesenhafte Tigerkatze. Aber Katzen können nicht fliegen. Und sie haben andere Augen. Solche, in denen das Leben wohnt. Aber wie, dachte Gerondet, wenn die Leute weite Sprünge für kurze Flüge halten? Wäre das nicht eine andere Lösung? »Welches Haus ist uns am nächsten?« Gerondet sah keinen an. So antworteten Tankred und Esra gleichzeitig: »Freyjas Haus.« »Dann wird er von dort kommen«, vermutete Gerondet bestimmt, »er will uns auf kürzester. Distanz erreichen. Er weiß jetzt, wo wir uns aufhalten.« Gerondet dachte nach. »Ich glaube auch nicht mehr«, fuhr er fort, »daß wir eine Fledermaus vor uns haben. Ich denke sogar, daß er nicht einmal fliegen kann. Er mag Riesensprünge vollführen, federnd über ein Haus setzen, aber fliegen nicht. Den Flug und die Flügel dichtete ihm die Angst hinzu.«
»Und was ist es?« Tankreds Frage war kaum mehr als ein Flüstern. Gerondet antwortete nicht mehr. Ihm war, als sei auf dem Dach des Schimmelpfennighauses etwas aufgetaucht, was gleich darauf wieder verschwunden war. »Achtung, Tankred«, Gerondets Stimme trieb die Spannung der Todgeweihten auf die Spitze, »auf dem Hausdach dort. Freyjas Anwesen. Etwas war da!« »Er hat einen Menschenkopf«, flüsterte der ehemalige Zöpfler mit ersterbender Stimme, »wenn es nun doch Satan ist? Satan!« »Dann bin ich ein Preiselbeerkuchen«, antwortete Gerondet hart, »oder ein vollmechanisierter Melkschemel.« In rasender Folge entstanden in seinem Kopf halluzinatorische Bilder. Er dachte an Transplantate und Zwitterwesen, war aber zugleich überzeugt, daß ihn aus der Finsternis der Kirche nichts angeschaut hatte, was ein menschliches Antlitz besaß. »Da!« Es war Esras Schrei, der Gerondet aus den Gedanken riß. Ein Menschenkopf, schwärzer als der Nachthimmel und schnell wie ein Lichtstrahl eines bewegten Scheinwerfers, zuckte auf und verschwand im selben Augenblick. »Er hat einen Helm auf, Tankred stöhnte, »er ist bewaffnet.« »Achtung«, klang da eine hohle Lautsprecherstimme über den Platz, »Gerondet, ich habe dich im Zielfernrohr. Rühr dich nicht, sonst zerschneide ich dich in feine Streifen... Hörst du: Ich habe dich in meiner Optik. Laß die Waffe fallen. Fallen lassen! Und stehenbleiben. Bleib stehen, wie du stehst.« Immelgud, dachte Gerondet, und die Waffe fiel dumpf polternd auf das hölzerne Pflaster, Immelgud ist da... Er wollte dem Landsknecht oder - wie er ihn bei sich dachte - dem Killersöldner, eigentlich sagen, daß der Magister auch ihn in die Falle gelockt hatte, aber er konnte nicht. Wollte ihn nicht mehr warnen. Gleichgültigkeit, das Gefühl, verloren zu haben, breiteten sich in Gerondet aus. Satan wird kommen, dachte er, und es wird wie immer sein: Er wird auf einen Wehrlosen treffen, mit dem er leichtes Spiel hat. Etwas Warmes berührte Gerondet. Esra stand vor ihm, schlang ihre Arme um ihn, hielt ihn fest. »Lauf weg, Esra«, forderte der Lautsprecher, »lauf doch weg von diesem da. Satan kommt!«
»Ich liebe ihn.« Esras Ruf hallte über den Platz, und es folgte diesem Bekenntnis ein dumpfer Stöhnlaut aus dem Lautsprecher. Stärker als Satans Ultraschall erschütterte Esras Abfuhr für Immelgud den Polizisten. Die Wärme der Frau machte ihn ruhig und müde. Satan tauchte auf. Gerondet fiel als erstes die ungewöhnliche Wunde des Bürgermeisters ein. Damals - seltsam, er hatte das Gefühl, all das läge schon weit zurück, dabei geschah es doch in den Morgenstunden ebendieses Tages, der nun seinem Ende entgegeneilte - dachte er, ein Berserker habe mit übermenschlicher Kraft einen gebogenen Speer in den Schädel des Toten getrieben. Nun war er nicht mehr weit, der Berserker. Und seinen Speer hatte er auch mitgebracht. Ein Klirren lag in der Luft. Ein feines Rieseln auf der Haut, ein sich der Nackenhaare bemächtigendes und in den Zähnen spürbares Vibrieren hüllte den Platz ein, veränderte scheinbar jede Entfernung, zerriß die Zeit in ungleiche Abschnitte, unterbrach alle Gedanken. »Er ruft uns«, Gerondet versuchte mit seiner Stimme gegen diese unbekannte Kraft anzugehen, »das ist es: Er ruft uns.« Und Satan zeigte seine ganze stattliche Erscheinung. Das erste, was sich in Gerondets Bewußtsein eingrub, war die Farbe: Gegen den schwarzen Himmel hob sich etwas Fahlgelbes, mehr noch, etwas Weißlich-Gläsernes, vom Mondlicht Durchdrungenes ab, streckte für einen Moment viele Beinpaare in die Luft, schien die Sterne wie überreife Früchte pflücken zu wollen, kippte dann ab, hob den gläsernen, den wachsgelben Leib über das Dach des Schimmelpfennighauses, glitt nach vorn, floß förmlich, von seinen behaarten und bestachelten Lauffüßen getragen, die Vorderwand hinunter. Dabei hielten sich die hinteren Beinpaare noch auf dem Dach fest, während die vordersten Gliedmaßen in rasendem Tempo das Pflaster beklopften. Schon schwebte und schwankte dieses dämonische Wesen, es stand einen halben Atemzug lang beinahe unbeweglich, verdeckte mit seinem Hinterleib die mächtige Eingangstür zu Freyjas Haus und starrte aus acht glimmenden, auf einem Hügel inmitten des Kopfes angeordneten Augen die Männer an, die ihm lächerlich klein und hilflos erscheinen mußten. Den Platz erfüllte zugleich ein tonales Chaos, ein schriller, stechender Laut, ein schmerzendes Zischen. Gerondet sah in diesen Sekunden alles gleichzeitig: die vier schrecklichen Zangen, die, nach vorn gerichtet und weit auseinandergeklappt, von der wilden Gier der Bestie, zu töten, kündeten. Er sah die vier fast durchsichtigen Beinpaare, sah sie, als seien sie mitten in der Bewegung erstarrt, erkannte auch die dünnen Stachelstrahlen, die, mannshoch und nadeldünn, wohl verhinderten,
daß die Hand eines Verteidigers je diesen Leib dort berührte. Er sah den wachsähnlichen, segmentierten Hinterleib, der ihm straff gespannt, zum Zerreißen gebläht schien und der, wenn man eine Nadel hineinstäche, sicher mit einem unerträglichen Geräusch zerfetzen würde. Er sah auch die hoch über den Kopf erhobenen Fangbeine, erkannte rasierklingenscharfe Krallen daran und wußte jetzt, wie die Schnitte in dem Hartholzpflaster entstanden sein mochten. Und doch war nichts so gespenstisch, so schrecklich wie die scheinbare Durchsichtigkeit des Tieres, denn wenn man ihm gesagt hätte: das da ist nichts als flirrendes Mondlicht, er hätte es geglaubt. Hinzu kam, daß das Tier seinen mächtigen Leib so flach über dem Boden hielt, daß er keine Angriffsfläche bot. Dies alles registrierte Gerondet in einer Tausendstelsekunde. Das Wesen der Vernichtung schwebte, flog, trieb, glitt in höchster Geschwindigkeit herbei, riß die monströsen Klauen noch weiter auseinander, bewegte seine geknickten Beine in höllischem Tempo über- und durcheinander, mit- und gegeneinander. Von einer unheilvollen Kraft gezogen, geschoben oder getragen, näherte es sich ihnen nicht einmal direkt, sondern raste in einem magischen Halbkreis um sie herum und kam zugleich dichter und dichter heran. Und Gerondet blickte in die Augen, diese pupillenlosen, schrecklichen Augen, deren Blicke ihn nicht losließen, die maschinenhaft tot waren und in denen zugleich die Mordlust blinkte, während sie vielfach den starren Mond reflektierten. Undeutlich, aus der Höhe eines unbeteiligten Zuschauers, sah ein anderer, ein nur erkundender und hier rein zufällig anwesender Gerondet, wie neben ihm etwas Dunkles hochkam, im Tempo einer entschlossenen Schnecke, wie jemand eine flammende Keule in hohem Bogen schleuderte, wie dieses Feuergebilde auf Werg und Leinen fiel und neue Flammen entzündete und erzeugte. Zugleich sah dieser furchtlose Beobachter, wie Tankred, der nicht im Fadenkreuz des Wahnsinnigen stand, nacheinander zwei Speere schleuderte, von denen einer weich an dem Angreifer abprallte, sich in der Luft drehte und zitternd im Boden steckenblieb, ehe eins der wachsbleichen Laufbeine ihn abknickte. Die zweite Wurfwaffe blieb im Kopfbruststück des Tieres zurück, ohne daß sie von diesem beachtet worden wäre. Die Spinne war heran. Sie stand unmittelbar vor Gerondet und Esra, die sich noch immer umschlungen hielten, hob die Fangbeine hoch in den Himmel, deckte mit seiner wächsernen Körperlichkeit die Sterne und die Häuser zu, war der Anfang und das Ende der Welt, war der Tod, der Krieg, die Vernichtung. Gerondet konnte sich nicht rühren, preßte die Arme fester und fester um Esra, die Augen auf den Angreifer gerichtet, er stand, den Biß, der ihn durchdringen würde, als etwas Unabwendbares erkennend, stand vor seinem Henker und dachte wohl noch: Gleich, gleich..., ohne daß er das »gleich« hätte benennen können. Er dachte auch: Lebt wohl! und: Es kann nicht wirklich sein! und:
Liebste, Liebste, Liebste, und ein anderer in ihm, der dachte an etwas, was er einmal gelesen haben mochte: Wie gut, daß es eine Zeit gab, in der kein Mensch lebte, denn eine Schlacht der einstigen Giganten hätte jeden Menschen entmutigen müssen, nach der Herrschaft zu streben. Dieser andere Gerondet, dieser Beobachter, suchte zu ergründen, woher er diese Worte kannte, ohne daß er daraufgekommen wäre. Und wieder ein anderer lachte jene aus, die solche Sätze schrieben, solche Gedanken dachten. Verhöhnte sie, lästerte über ihre Naivität und wußte, daß nichts, nichts den Menschen daran hindern konnte, seinen Weg zu gehen. Schließlich war da ein letzter Gerondet, der einfach fasziniert auf das Untier blickte, dessen rasselnde und damit technisch anmutende Atemzüge ihm erst jetzt zu Bewußtsein kamen. Es ruft doch gar nicht, dachte er, es atmet einfach. Es atmet. Die Erkenntnis schien ihm unwirklich und unglaublich, denn wie sollte ein solch dämonisches Wesen eine so intime Sache wie die Atmung mit ihm, dem Menschen, dem Maß aller Dinge, gemein haben? Der Biß ließ auf sich warten. Das Spinnentier, seine Augen immer noch auf die stumm dastehenden Liebenden gerichtet, noch immer den Mond vielfach reflektierend, begann sich mit eckigen und lautlosen Bewegungen zu putzen, strich sich wieder und wieder mit den Fangbeinen über den Kopf und die Giftklauen. Das Tier schien auf das zu lauschen, was diese Nacht so veränderte, und zudem verwirrte die Unbeweglichkeit des Paares seinen Sinnesapparat. Gerondet traf der Stoß unvorbereitet. Er stürzte seitlich auf das Pflaster, Esra mit sich reißend. Ein grellgelbes Licht zuckte auf, füllte die Welt, veränderte alle Dimensionen. Einen Augenblick lang verstummte das Rasseln, die schmerzende Reizung der Haut, denn die Palisade hatte so heftig Feuer gefangen, daß die Flammen, bauchig gebläht und größer als die Walzenspinne, den Platz taghell erleuchteten. Rötlichorange, wie ein glühendes Metallstück erschien das Tier, schien betäubt von der Glut, während eine trockene Hitzefaust Gerondet und Esra packte und vorwärts stieß. Fallend, rollend gewahrte Gerondet, wie statt seiner nun Tankred Torfstecher vor Satan stand, brennend schon, stand er und schleuderte Speer auf Speer gegen ihren gemeinsamen Feind. Nie hatte Gerondet einen Menschen so hoch aufgerichtet, so stolz stehen sehen wie diesen, der, selbst Fackel, Fanal, sich selbst überwunden hatte und für zwei kämpfte. Gleichzeitig löste sich Gerondet von Esra, sah im Schein der Flammen seine Waffe, riß sie vom Boden hoch, war nun schon nicht mehr ungeschützt. Und Gerondet sah, wie der Freund, der ihn gerettet hatte, von dem grausamen Laserlicht getroffen, aufgeschnitten wurde, sah, wie Tankred, in rotes Blut gehüllt wie in einen festlichen Umhang, zu Boden stürzte, so daß der
schnappende Biß der Giftklauen sein Ziel verfehlte und das krachende Begleitgeräusch im Prasseln des Feuers unterging. Gerondet und Esra lagen unter dem Netz und sahen, wie die immer wilder werdende Spinne die vier vorderen Beinpaare hoch in die brennende Luft hob, sahen, daß der nun seitlich angeleuchtete Tierkörper dunkel erschien. Sie reckte nun auch das Kopfbruststück in die Höhe, gab Gerondet damit den wachsartigen Bauch preis. Gerondet schoß. Unbeeindruckt ließ sich das Tier auf sie zufallen. Es zog sich geschickt drei Speere aus dem Leib, kippte geräuschlos nach vorn, suchte seine Opfer. Gerondet warf mit einer verzweifelten Bewegung die Tänzerin in das Wasser des Brunnens, ließ sich hinterherfallen und brüllte wohl auch »Untertauchen!«. Der Polizist lag im Wasser und mußte ansehen, wie die Spinne ihren Leib voller Ingrimm gegen das Netz preßte, wie sie mit ihren Beinen den Brunnen umfaßte, als wolle sie ihn herausreißen, die langen Fangdolche durch das Netz steckte und mit rasenden, klirrenden und rasselnden Geräuschen zubiß. Knallend trafen die Mordinstrumente keinen Meter über Gerondet aufeinander. Gerondet zählte die Schüsse, sah die kleinen Flammenzungen, die an einen pulsierenden Stern erinnerten, der immer wieder aufflammte und sogleich erlosch. Er registrierte es, ohne die üblichen Knalle zu hören, sah es als lächerlich lautlosen Versuch, etwas gegen jenes Untier auszurichten. Zugleich sagte er sich, daß er in der Finsternis der Kirche tatsächlich nur die Augen hatte sehen können, da ein gläsernes Wesen in der tiefen Lichtlosigkeit des Gebäudes körperlos werden mußte. Er schoß und wartete schließlich auf ein Geräusch, ein unheimliches, ungeheuerliches Geräusch, das alle anderen Töne schlucken würde, und dann war es auch schon da, hob sich gegen die an der Grenze des Ultraschallbereichs liegenden Frequenzen ab. Es machte KLICK. Gerondet riß das Magazin heraus, führte das zweite ein und feuerte erneut. Erkannte entsetzt, daß das Netz langsam nachgab unter dem ungeheuren Druck der angreifenden Spinne, hörte, wie die Halterungen ächzten, wie sich das Material bis zur Zerreißgrenze dehnte, und feuerte, feuerte, schoß. Schneller als beim erstenmal, so schnell, daß Gerondet nicht einmal sagen konnte, ob er die Geschosse aus dem Lauf gejagt oder beim Einsetzen verloren hatte, machte es wieder KLICK. Und noch einmal, ein letztes Mal, wechselte der Polizist, im Wasser auf dem Rücken liegend, das Magazin und riß die erste Patrone förmlich in den Lauf der Waffe und...
Gerondet starrte in den samtschwarzen Sternenhimmel. Er sah das durchhängende Netz, sah die neben ihm kniende Tänzerin, sah die Waffe in seiner Hand, blickte direkt in Satans metallenes Antlitz, das gelangweilt zum Marktplatz hinschaute, und konnte nicht anders, als diesem metallischen Blick zu folgen.
Und vom Schein der brennenden Barriere erleuchtet, sah er eine gespenstische Szene. Da war der Antiterrormann, merkwürdig bunt in seinem Tarnanzug, an einen riesigen Schmetterling erinnernd. Er stand vor Satan, und seine Waffe hing nachlässig über seiner Schulter. In der Hand hielt er etwas, was an eine Hirtenflöte erinnerte, und wie ein Hirte seine Herde flötend auf den rechten Weg lockt, schien dieser Mann Satan beschwören zu wollen.
Gerondet hob erneut die Waffe. Der Lauf wies auf Immelgud. »Henker«, murmelte der Polizist, »Satan...« Doch ehe er abdrücken konnte, schrie der Antiterrormann gellend auf, wollte wohl seine Waffe greifen und sie gegen die Walzenspinne richten, kam aber nicht mehr dazu. Er wurde von vier mörderischen Klauen gepackt, hoch in die Luft gehoben - ja, Satan riß seine Opfer empor, zeigte sie den verstörten Bewohnern dieses Germelshausen, zeigte, wie es den Abtrünnigen ergehen wird - und sogleich fallen gelassen. Der Mann stürzte auf das Pflaster, lautlos, denn das Prasseln des Feuers verdeckte alle anderen Geräusche. Satan glitt wieder davon. Wie er gekommen war, verschwand er hinter dem Dach des Schimmelpfennighauses, tauchte ein in die Finsternis und schien nie dagewesen zu sein. Herausfordernd und feindselig knisterte das Feuer... III. Als Esra unter dem Netz vorkam, erblickte sie Gerondet, der neben dem toten Freund kniete. Sie warf nur einen kurzen Blick auf den Toten, dann mußte sie sich wegdrehen und preßte, von Entsetzen gepackt, beide Hände vor den Mund. Nein, dachte die Tänzerin wieder und wieder, nicht einmal Satan könnte sein Opfer so verstümmeln wie jene Waffe aus der Welt hinter dem Fluch... Und in ihr entstand eine Ahnung von jener anderen Welt, die ihr bisher nur heiter, freundlich und erstrebenswert erschienen war. Das Feuer beschien Gerondets tränennasses Gesicht, gab es preis und fraß auch jene glitzernden Tropfen, die als Zeugen der Erschütterung über die Wangen des Mannes liefen. »Ich habe etwas gefunden«, sagte Gerondet leise, als er Esras weiche Hände auf seiner Schulter spürte, »was ich in meiner Welt vergeblich gesucht hatte. Ich habe einen Freund gefunden, und noch ehe dieser erste Tag der Freundschaft zu Ende gegangen war, habe ich ihn wieder verloren... Ich war ein Blinder, Esra, der einen Tag sehen durfte.« Minuten kniete Gerondet neben der Leiche des toten Freundes. Dann wischte er sich über das Gesicht, kam hoch, faßte Esra um und ging mit ihr los. Schweigend umgingen sie die hitzespeiende Palisade, wichen dem an einigen Stellen brennenden Pflaster aus. Die Häuser, die den Marktplatz einfaßten, sahen im glasigen Licht der Flammen papieren und unwirklich aus, sahen aus, als müßte gleich die Farbe von ihnen abplatzen und darunter ein sich beulendes und betongraues Pappmache hervorlugen. Die Schatten aller Dinge hier lebten, tanzten zuckend, waren einmal gespenstisch lang und dann wieder zur Winzigkeit geschrumpft.
Gerondet sah den Soldaten. Der lag seitlich zusammengekrümmt auf dem Pflaster, und sein Tarnanzug war nun rotfleckig, war nun so beschaffen, daß er seinen Träger in den Flammen unsichtbar machen konnte. Gerondet ließ Esra los, beschleunigte seinen Schritt und ging auf den Liegenden zu. Seine Ohren, die noch von den Ultraschallkanonaden Satans und dem aufreizenden Prasseln des Feuers taub waren, brauchten Sekunden, ehe sie das Stöhnen des Antiterroristen wahrnahmen. Als Gerondets Schatten auf das verzerrte Gesicht des Soldaten fiel, öffnete der die Augen, sah mühselig nach oben und erkannte den Polizisten. »Ich... bin alle«, stöhnte er, und seine Lider sanken wieder herab, »er hat uns reingelegt... Das Schwein.« Bar jeden Mitleids bückte sich Gerondet, hob die Waffe Immelguds auf und nahm das schmale Granatmagazin an sich. Wieder blinzelte Immelgud. »Sicherung nach rechts«, sagte er keuchend, »ist Laser. Nach links Patronen. Maga... Magazin raus, we... wenn du eine Gra... Granate abfeuern willst.« Er versuchte zu lächeln. Eine schreckliche, leichenblasse Totenfratze grinste dem Polizisten entgegen. »Zeig es den Nean ... Neanderth ...«, die Worte waren kaum noch verständlich, »zeig es, daß man das... mit uns nicht machen kann. Und wenn du... zurück, dann... meine Mut... ti...« Sein Kopf knallte hörbar auf das Pflaster. Gerondet beugte sich nach vorn. »Willst du noch etwas sagen?« »Ja«, noch einmal gingen Immelguds Augen auf, weit auf, zeigten so an, daß hier ein junger Mann angstvoll dem Tod entgegenblickte, »ich will: Nicht meinen Vorgesetzten sagen, daß ich... hierbleiben wollte... Fahnenflüchtige... Meine Mutter... dann keine Rente und... Abfindung...« »Ja richtig«, Gerondet schien etwas einzufallen, »du hast ja auch eine Mutter. Seltsam, was? Es ist unglaublich. Du hast eine Mutter, und irgendwann einmal lag der Magister in einer Wiege, und eine Mutter sang ihm Schlaflieder. Und sogar Satan wurde von einer Mutter, als er noch im Ei war, behütet und bewacht... Aber verlaß dich darauf, ich vermaßle ihr nichts. Aber nicht deinetwegen, sondern weil ich denke, daß unsere Gelder für jeden Unsinn ausgegeben werden, nur kaum der Menschen wegen.« »Er hat mir die Hälfte der Millionen unter dem Rathaus geboten«, stöhnte Immelgud, »einen Generalsposten und das... das da.« Sein Blick, schon weit
weg, abwesend, blieb sekundenlang auf Esra haften, dann wanderten die Augen stirnwärts, die Sterne gerieten in sein Blickfeld. »Hör mal, Kame... Kamerad«, Immelgud preßte seine letzten Gedanken aus sich heraus, »ich weiß..., weiß es... LMN, hörst du? ...LMN, das heißt: Depot und Forschungsstätte für Laser-, Mesonen- und Neutronenwaffen...« Er tat einen letzten tiefen Atemzug, der Kopf kippte zur Seite weg, und er lag still. »Depot und Forschungsstätte für Laser-, Mesonen- und Neutronenwaffen«, echote der Polizist erschüttert, »noch ein Satan in derselben Landschaft. Der einzig tatsächliche Satan. Und da soll ich das Gesetz schützen, das seine knochige Würgehand über dieses Ding hält und niemanden lebendig heran- oder wegläßt? Was für ein Gesetz denn? Eins, das den Leuten sagt: Haltet still, wenn er kommt, weil er nur die Abtrünnigen frißt? Nein, er frißt uns alle. Jeden...« Die letzten Worte hallten schauerlich über den Platz, denn in Gerondets Protest mischten sich der Schmerz um den toten Freund und die wilde Kampfansage an alle Magister rundum. Gerondet hängte sich das Magazin entschlossen an den Gürtel, nahm die Waffe so über die Schulter, wie sie auch Immelgud getragen hatte, und drehte sich zu Esra um. »Komm«, bat er sie, »wir wollen diese Nachtstunden leben, miteinander leben. Frieden werden wir nie mehr finden.« »Du hattest kein tröstendes Wort für ihn«, warf Esra leise dem Polizisten vor, während sie das Gesicht des Toten fixierte. »Ich bin kein Gott«, antwortete Gerondet, »ich bin weder unbesiegbar noch allmächtig. Ich bin sogar verdammt besiegbar, bin lächerlich auslöschbar. Und der da hätte es fast getan. Und es war ihm einerlei, daß du neben mir standest. Für seine Million, für seine Generalskarriere hätte er die halbe Stadt massakriert. Und kaum schickt sich ein solcher an, jammervoll zu sterben, dann fallen uns solche Vokabeln ein wie ,Befehlsnotstand', ,redlicher Kameradschaftsgeist' und ,Sohn einer trauernden Mutter'. Und wir sind dann bereit zu vergessen, wie viele Mütter und Söhne von Müttern auf sein Konto kommen.« Sie verließen nebeneinander den Marktplatz, tauchten in die Finsternis der Künstlergasse ein. Und nur der schmale Sternenkorridor über ihnen tauchte die Dachränder und Straßenecken in fahles, milchiges Licht. »Ich wünschte«, sagte Gerondet so leise, daß seine Worte aus den funkelnden Sternen zu kommen schienen, »dieser Weg würde nie zu Ende sein. Tankred wollte wissen, wie es nach dem Tod ist.« Der letzte Gedanke wurde geboren in der unerwarteten Stille, in dem Silberlicht und der bodenlosen Schwärze unter ihnen.
»Du denkst«, Esra schmiegte sich an Gerondet, »daß er es jetzt schon weiß...« »Du setzt ein Wissenkönnen voraus«, widersprach der Mann, »nein, ich wollte sagen: Wenn man es jetzt bedenkt, dann hat er geahnt, was kommen würde.« »Dann werden wir auch sterben«, flüsterte Esra, »denn sosehr ich mich auch anstrenge, ich kann es mir nicht vorstellen, in jener anderen Welt der lautlosen Waffen zu sein. Ich habe Angst, Gerondet.« »Ich habe auch Angst«, antwortete der Polizist, »weil ich die Tücke des Magisters jetzt erst richtig deuten kann. Aber unsere Welt ist anders, als du denkst. Du siehst überhaupt keine Waffen. Dafür Farben. Alles groß und gläsern und farbig. Voller Licht. Grell. Hell. Aufzuckend. Versprechen, die niemals erfüllt werden. Ja, man verspricht uns alles: Glück, Zufriedenheit, Ausgefülltsein, Kommunikation... Ach, lassen wir das. Du wirst es sehen.« »Fürchtest du nicht«, erkundigte sich die Tänzerin, »daß Satan hier irgendwo auf uns lauert?« »Jetzt nicht mehr«, antwortete der Polizist, »aber Freyjas Leute und der Magister, vor denen sollten wir auf der Hut sein.« Als der Sternenkorridor unerwartet auseinanderfloß, zum Sternenozean wurde, wußten die beiden Liebenden, daß sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und am Rande des ausgedehnten Moores angekommen waren. Zuckender Lichtschein zeigte ihnen an, wo sich die Kirche befand. »Horch!« flüsterte Gerondet. Das leise Schnarren der Nachtschwalbe und das traurige Rufen der Unken wehten aus dem Moorland zu ihnen herüber. »Früher«, erinnerte sich Esra, »war unser Städtchen voll von diesen nächtlichen Geräuschen. Aber von jenseits der Barriere dringen kaum Töne zu uns. Da!« Aufgeregt tanzte Esras Zeigefinger vor Gerondets Gesicht auf und ab. Gerondet sah Positionslichter in der Ferne, hörte die kaum wahrnehmbaren harten Geräusche von mehreren Helikoptern, die über der fernen Heide dahinflogen. Manchmal stieg eine farbige Leuchtkugel in den Himmel, zog ihre Bahn, zitterte und erlosch. »Was ist das?« »Militär«, sagte Gerondet, »Soldaten. Sie kreisen wohl den Ort ein. Umfassen ihn, wie es heißt. Selbst ihre Sprache ist verlogen, verharmlosend.«
»Was wirst du jetzt tun?« »Wir gehen in die Kirche«, sagte Gerondet, »dort ist das Germelshausener LMN. Die Zentrale...« Er klopfte gegen den Lauf der Immelgudwaffe, und ein starrer Ausdruck kam in seine Augen. Sie gingen auf die dünnen Lichterstreifen zu, sahen, als sie näher kamen, daß von der Kirche nur noch wenig stand und daß viele Lichter von kleinen schwelenden Brandherden, nicht aber von Fackeln kamen. »Hier scheint es Meinungsverschiedenheiten gegeben zu haben«, stellte Gerondet fest, »die Frage ist nur: Wer ist Sieger geblieben?« »Sogar Satans Turm ist zertrümmert«, flüsterte Esra und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. »Ob er tot ist?« »Warum nicht?« Gerondet dachte nach. »Immerhin habe ich vierundzwanzig Schuß auf das Vieh abgefeuert. Und wenigstens einen wirkungsvollen Treffer kann man da schon erwarten.« Langsam, auf alles rundum achtend, gingen die Liebenden auf das langgezogene, teilweise vollständig zusammengebrochene Bauwerk zu. Die Hauptpforte war nur angelehnt, und Gerondet öffnete sie. Der von acht Fackeln erleuchtete Vorraum war menschenleer. Gerondet durchquerte ihn, die Waffe im Anschlag. Esra folgte dichtauf. Vor einer getäfelten Tür, durch die kein Laut zu ihnen drang, machten sie halt, lauschten. Gerondet nickte Esra zu, dann drückte er sanft die Klinke nach unten, stieß die Tür heftig auf, machte einen Schritt in den Raum hinein. Ein langer, ziemlich schmaler Saal lag vor ihnen, dessen Kühle die Haut wie ein feuchtes Tuch berührte. An den Wänden hingen wenige Fackeln, aber Linsengruppen und schwach gebogene Spiegel verstärkten das Licht. Auf Tischen und in Wandregalen lagen die. unglaublichsten Apparate und Gefäße. In dickbauchigen Flaschen blinkten verschiedenartige Flüssigkeiten wie schwerer Wein. Esra trat an ein Wandregal heran, betrachtete die Flaschen eingehend. »Was kann das sein?« Sie flüsterte nur. Gerondet hob die Schultern, trat näher, drehte die Flasche, schaute nach einem Etikett. Der Inhalt bewegte sich träge und erzeugte blinkende Lichtreflexe. Schweigend gingen sie die Reihen entlang. Auf den Regalen befanden sich angeklebte Zettel, auf denen Buchstaben und Zahlen aneinandergereiht waren.
»Seine Elixiere«, sagte Gerondet geringschätzig, »nur? Er hat auch nicht gefunden, was er suchte. Für sich.« »Ganz recht, mein Freund.« Gerondet fuhr herum, und Immelguds Waffe schnellte hoch, war auf den Mann im dunklen Anzug gerichtet, der aus einer Seitentür getreten war. »Bitte keine Nervosität«, sagte der andere und hob abwehrend die Hände, »nur keine unüberlegten Schritte.« »Professor Errenthaler«, stellte Gerondet erleichtert fest.
»Derselbe«, bestätigte der Wissenschaftler forsch, sagte es wie einen abschließenden Kommentar nach einer gelungenen Vorlesung, fuhr in demselben Stil fort, »wir hatten ja schon einmal die Ehre, und wenn ich einmal Zeit habe, wenn ich mir einmal Urlaub nehme, werde ich auch den tänzerischen Kapriolen dieses Mädchens dort zuschauen, aber ... es ist alles eine Frage der Zeit. Was habe ich denn? Sagen Sie doch selbst: Vierzig, fünfzig Nächte und wir sind im Jahr 3000. Und da möchte man schon zurückkehren zu den anderen, was?« Er kam tiefer in den Saal hinein. »Dies ist mein Reich, und ich stehe Ihnen mit meinem Wissen gern zur Verfügung. Aber dafür verlange ich eine Gegenleistung. Doch das dann. Es interessierte Sie, was in diesen Flaschen ist. Ich habe hier eine Liste. Nennen Sie mir die Flasche samt Zahl und Buchstaben, und ich lese ihnen entschlüsselt vor, worum es sich handelt.« Gerondet starrte Errenthaler ungläubig an. Der Wissenschaftler tat so, als sei nicht die halbe Kirche zerstört, als sei nicht die Macht des Magisters schwankend geworden. Er schien nicht einmal zu bemerken, in welcher Gefahr er schwebte. »ECB-zweihundertsiebenundzwanzig«, las Esra laut vor und sah den Professor fragend an. »Extrakt Camilla Brenner«, erklärte der Wissenschaftler, »neun Jahre, vier Monate. Lebensstoffe der Gruppen eins, drei, vier, sieben und neun. Intraneurale Injektion für Solifugen, Scolopender und Latrodectusarten.« Esra schrie gequält auf. »Camilla«, sie stammelte, »Camilla ist die kleine Tochter unseres Nachbarn zur Linken. Man hat sie auch hierhergebracht...« »Die Gruppen zwei, sechs, sieben und acht fehlen«, sagte Errenthaler und schüttelte empört den Kopf, »welch eine stümperhafte Extraktion. Laienarbeit. Mit seinem Mund war er immer vorn. Ein Scharlatan und kein Wissenschaftler. Keine Hochschulausbildung. Hormone, Vitamine, Mineralstoffe und etwas Plasma ... Billig. Wo sind die Seren, die Antikörper, die Agglutinide? Wo sind die Proteotide, die Serotonine? Auch die Constructivine fehlen im Gemisch. Ohne diese Flüssigkeiten wäre Satan schon wieder eine knapp streichholzschachtelgroße Solifuge... Ich weiß nicht einmal, wo er sie herhat. Es gibt Länder, da hält man dieses Tier für weise und klug. Ich habe nichts davon entdecken können. Ein aufgeblasener Kretin, der ohne diese täglichen Gaben unter den Augen dieses Alchimisten zur Lächerlichkeit zusammenschnurren würde. Das ist alles nicht stabil. An einen Kriegseinsatz nicht zu denken ... Wissen Sie, ich habe seinerzeit meinen Studenten immer gesagt: ,Meine Herren, sicher, unser großer Nachbar mit seiner Bewegung wird von der Welt angefeindet. Aber eins müssen Sie alle zugeben. Dort herrscht Disziplin. Auch an den Universitäten...' Und nun sagt mir dieser Immelgud, daß schon nach
zwölf Jahren...« Errenthaler räusperte sich, blickte Gerondet an, als würde ihm erst jetzt bewußt werden, daß er nicht allein war. »Auf Ihrer Liste«, Esras Gesicht war bläulichgrau, »da..., da stehen alle Namen? Und auch, wo die entsprechenden Stoffe aufbewahrt sind?« »Frag nicht!« Gerondet versuchte Esra zurückzuhalten. »Ja«, Errenthaler nickte, »ja natürlich. Wenn sie noch nicht injiziert sind.« »Dann sehen Sie nach«, sagte die Tänzerin mit zitternder Stimme. »Frag nicht!« Gerondet sprach so laut, daß seine Worte ein Echo erzeugten. »Jason«, erkundigte sich Esra tonlos, »Jason Waldmann...« »W«, Errenthaler blätterte in der Liste, »alles alphabetisch. Präzision und Systematik ist die Quelle ordentlicher Forschung. W. Wa. Wa. Ah, da haben wir es ja: Waldmann, Jason Waldmann. EJW-einundsiebzig. Das ist drüben, im anderen Regal. Ziemlich weit unten.« Gerondet führte die taumelnde Esra durch den Raum. Suchen konnte sie nicht. Sie folgte ihm schwankend. Er ging gebückt die Reihen entlang. EJW-71. Er nahm die Flasche aus dem Regal, brachte sie wortlos der Tänzerin, die, an einen Tisch gelehnt, stehengeblieben war. Sie nahm mit zitternden Händen die Flasche an sich, preßte sie gegen ihre kindliche Brust. »Jason«, flüsterte sie, während Tränen aus ihren Augen liefen, »Jason.« »Ach«, Errenthaler nahm seine Brille ab, putzte sie umständlich und setzte sie wieder auf, »ich nehme an, Sie kannten ihn. Das tut mir leid. Aber Sie sollten mir dennoch in den Nachbarsaal folgen, weil dort der wissenschaftliche Clou auf Sie wartet. Und dort ist auch mein Problem. Und wer mir bei der Lösung hilft, wird es kaum bereuen müssen.« Er deutete eine leichte Verbeugung an, drehte sich um und ging voran in der Gewißheit, daß man ihm folgen würde. Gerondet legte seinen Arm um Esra, die sich nur schwer auf den Beinen halten konnte und sich widerspruchslos führen ließ. Der Saal, in den Errenthaler seine Gäste führte, bot einen niederschmetternden Anblick. Eine der vier Wände war zusammengestürzt, und in einer Bodenecke gähnte ein schwarzes Loch. Der Einsturz hatte ganze Berge von Staub aufgewirbelt, der sich gleichmäßig auf allen Apparaturen, Anordnungen und Gläsern abgesetzt hatte. Errenthaler wedelte unbeholfen mit den Händen, als könne er so dem Staub den Befehl erteilen, wieder zu verschwinden. An der Decke hingen Schläuche,
Schnüre, Seilzüge und sogar Kabel. Gerondet entdeckte einige Lampen, die in den fünfziger Jahren hergestellt sein konnten. Dazu Akkumulatoren, Linsensysteme und Schutzscheiben. Jetzt sah alles verkommen, unbrauchbar und ruinenhaft aus. »Das ist mein Reich«, Errenthaler machte mit finsterer Miene eine weit ausholende Handbewegung, »und dort, wo die Wand stehen sollte, es aber nicht mehr tut, lag der Turm. Nicht häßlich der Bau. Dazu optimal. Einen halben Meter von den Wänden entfernt war ringsum ein mächtiges Gitterwerk. Man konnte durch einige Eingänge hinein. Schmale Brücken führten zur Mitte. Dort gab es eine Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Man konnte unter dem Käfig der Solifuge den Zeitmechanismus einstellen. Hinter einer schweren Metalltür begann der Gang, der alle wesentlichen Gebäude miteinander verbinden sollte. In dem nun die intelligenten Nager hausen. Ein Phänomen, diese Intelligenzsteigerung durch die Zeitsprünge. Ein Phänomen. Der Magister ließ die Solifuge manchmal durch den Gang. Dann tauchte sie direkt am Marktplatz auf. Der Magister hatte ein Faible für drollige Geschichten. Nun ja, er ist der Dörfler geblieben, als der er geboren wurde. Die Solifuge ist ein bißchen angekratzt. Deshalb seine Angst vor dem Zorn der Leute da draußen. Er ist mit Freyja losgezogen. Will sich das Gold holen und hinüber in die andere Zeit. Und der Ort seiner Untaten soll für alle Zeiten im Nichts vergehen. Damit es keine Schuldbeweise und keine Zeugen gibt. Ich habe ihm klarzumachen versucht, daß er mit Stein und Solifuge in unserer Welt nichts zu befürchten hat, sofern er meinen Ideen zustimmt. Aber stur und dickköpfig, wie er nun einmal ist, sprengte er Teile der Kirche in die Luft und verhinderte, daß einer an den Mechanismus kommt. Und überhaupt: Sperren mich in einen Raum und denken, ich gehe mit in die Luft. Aber da hat er sich geirrt. Ich habe mich befreit, die von ihm geöffnete Schleuse geschlossen und den Öffnungsmechanismus zerstört. Er muß also zurückkommen, der Gute. Und er muß mit mir etwas austüfteln, wie man rechtzeitig an den Stern des Unheils herankommt, ehe wir alle für immer schlafen. Nun meine Frage: Haben Sie eine Idee, wie man den Stein unter den Trümmern hervorbekommt?« »Vom Gang aus?« Gerondet deutete nach unten. Errenthaler lachte belustigt auf. »Er hat den Gang«, sagte er, »auf einer Länge von vierzig Metern zusammenstürzen lassen. Er ahnt nicht einmal, welchen Verlust er den Menschen zufügt. Dieser Stein durchbricht die materielle Grundstruktur unseres Universums. Ich weiß nicht, woher er kommt. Ob aus einem anderen Universum oder aus einer Zeit, in der sich die ersten Sonnen bildeten. Wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, was er nicht ist: Keins der uns bekannten Elemente des Periodensystems. Unangreifbar für alles, was wir besitzen...«
»Und welche Pläne haben Sie? Sie sprachen doch von Ideen.« Errenthaler setzte sich bequem auf einen der staubigen Tische. Auch das schien er nicht zu bemerken. »Überlegen Sie doch«, sagte er, ohne daß er tatsächlich wollte, daß Gerondet es tat, »Sie haben die Vernichtung der Flugzeuge gesehen. Gigantisch. Nicht einmal die Druckwelle kam heran. Man kann auf jedem Schlachtfeld der Welt eine undurchschießbare Barriere schaffen - mit Schießscharten, wie wir sie der Einfachheit halber nennen wollen. Ist das alles, werden Sie denken. Und da sage ich: Es ist das geringste. Man kann die gegnerischen Kräfte in Minuten altern und sterben lassen. Ganz normaler Tod. Und es kostet keinen Pfennig. Großschlachten, die den Preis eines Taschengelds haben. Stellen Sie sich doch eine Hunderttausendmannarmee vor, die, kaum daß sie ihre Stellung bezogen hat, auch schon tot und skelettiert ist. Großstädte, die zu Friedhöfen werden. Kasernen als Tummelplatz für Ratten und Aaskäfer. Und nun die Umkehrung der Strahlenwirkung: Sie können ganze Völker durch die Zeit in die Landschaft der Trias oder des Kambriums tragen und sie dort aussetzen. Sie können alles, was sie wollen, in die glutflüssige Kruste der Früherde kippen. Feindliche Generalstäbe finden sich plötzlich in einer saurierbevölkerten Jurasteppe wieder, und der Kommandant einer Panzerarmee bemerkt noch staunend, daß seine Fahrzeuge auf dem Grund eines Triasmeeres stehen. Gut, was? Sollen unsere Feinde sich einlassen auf einen Zweikampf mit Tyrannosaurus und Deinonychos. Und zuletzt werden einfach. Oppositionelle, Modernisten und all die aufsässigen und traditionszerstörenden Kräfte der Menschheit in die Permzeit verpflanzt. Dann wird ein Volk den Erdball füllen: das riedländische. Eine Idee wird diesen Planet beherrschen: die riedländische. Dann wird nur mehr die riedländische Kultur zählen. Die Pyramiden und Obelisken, Tadsch Mahal und die südamerikanischen Dschungelstädte, Asiens Tempel und Afrikas vorchristliche Kultur, alles ist dann riedländischen Ursprungs. Eine uralte und zugleich neue, eine saubere und züchtige Kultur wird auf dem blauen Planeten ansässig sein und ihre hellen Lichter in das Universum senden. Unser primatoides Erbe wird mit dem letzten Nichtriedländer vergehen. Wir sind nicht die Nachfahren geiler Affen. Wir sind den Göttern gleich und stammen aus der Retorte eines Übergottes. Wir, die transuniversalen Menschen. Buddha und Donar, Kali und Demeter, Isis und Jahwe und all die anderen sind gewissermaßen frühe Riedländer. Und die Solifuge wird unser Zerberus sein. In den nächtlichen Hallen der Tiefe werden die geläutert, die an unserer Sendung zweifeln. Der täppische Magister wollte diesen Ort eines Tages der Welt anschließen. Irrsinn das. Man muß aus der ganzen Welt ein Germelshausen machen! Und jenes Einsteinium, wie ich das Material nannte - oder sollte ich es besser Errenthalerium nennen? -, dieses einmalige Material ist der Schlüssel dazu. Und er liegt in der steinverschütteten Tiefe! Dort...!«
»Sie müssen sich noch einen Titel ausdenken«, sagte Gerondet kalt, »irgend etwas Großes. Weltgeneraldirektor oder so... Ich gehe jetzt. Den Magister suchen. Ich werde ihm sagen, wie die Sache steht und daß er einen Bagger mitbringen soll.« Das Wort »Bagger« ließ Errenthaler zusammenzucken. Er schien aus einer Art Trance zu erwachen, strich sich verstört über die Stirn und sah sich hilflos um. Dann starrte er Gerondet an, und als er sah, daß dieser zusammen mit der Tänzerin ging, machte er zwei Schritte in ihre Richtung, blieb dann aber, von der Sinnlosigkeit seines Versuchs überzeugt, stehen. »Warten Sie doch«, rief er verstört, »warten Sie doch. Sie können mich nicht allein lassen. Der Magister muß sowieso zurückkommen. Die Schleuse ist geschlossen... Hören Sie! So warten Sie doch! Warten Sie...« IV. Die Stadt war ein Ort des Schreckens geworden. Nicht sosehr weil hier und dort erste Brände aufloderten und sich an anderen Stellen feine Rinnsale aus dem Boden ergossen, zu Lachen zusammenfanden, sondern weil sich die Menschen aus den Augen verloren hatten, weil sie einander nicht mehr kannten, nicht mehr einer gemeinsamen Sprache mächtig schienen, weil ein jeder all das packte, an sich riß und zu verstauen suchte, was ihm wesentlich erschien, dabei das Gut anderer zertrat oder umstürzte, weil sich die Menschen anstießen, sich gegenseitig behinderten und alles kommentarlos über sich ergehen ließen. Sie waren Nichtsehende und Taube, eingesponnen in die eigenen Fluchtpläne. Bepackt mit der wertvollsten Habe, zogen sie einzeln und dabei gegen ihren Willen kolonnenweise unbekannten Zielen entgegen, die in den verschiedensten Richtungen liegen mochten. »Uns kommen welche entgegen«, stellte Gerondet fest, »was mögen die für ein Ziel haben?« »Sie gehen zur Kirche«, antwortete Esra wie betäubt, »sie werden alle ihre Habseligkeiten vor der Kirche ausbreiten, werden die Litanei singen und den Magister bitten, sie zu retten.« »Die Kirche ist ein Trümmerfeld.« »Das wird sie nicht davon abhalten«, fuhr die Tänzerin mit ihrer Beschreibung fort, »an ein Wunder zu glauben. Zum Beispiel daran, daß sich die Kirche wieder aufrichtet. Ganz von allein. Und daß der Magister ihnen aus der Kirche mit erhobenen Armen entgegenkommt und sie segnet. Andere werden zum Brunnen pilgern und Freyja anrufen. Denn keiner weiß, wo die Schleuse ist und ob es sie überhaupt gibt.«
»Und er ist inzwischen in dem Goldkeller, bepackt sich und will los«, sagte Gerondet grimmig, »ich denke manchmal: Der Magister hat alle Möglichkeiten bedacht. Alles vorbereitet. Und doch ist er reingefallen.« »Vielleicht hat er alles vorbereitet«, Esra lief mit gesenktem Kopf neben Gerondet her, preßte immer noch die Flasche an ihre Brust, »aber eins weiß ich: Er hat noch nicht einmal heute nachmittag daran gedacht, daß dies sein Ende sein könnte.« Sie machten einen Bogen um den Marktplatz, sahen aus einer Nebenstraße die Metallfiguren, die ihnen nun lächerlich und simpel erschienen. Leblos und dürftig waren die Fratzen der Unholde. Nichts bewegte sich mehr. Der Zug der Spukgestalten hatte angehalten, wollte nicht mehr hinauf zu der jungen Mutter, auch nicht hinab in die Fluten. Er war erstarrt zu kaltem Metall. Die Dämonen mochten spüren, daß da draußen eine Flamme zu rasen begonnen hatte, die sie zusammenschmelzen würde, die aus ihnen einen stumpfen Klumpen Bronze machen würde. Esra und Gerondet liefen hinter dem Rathaus vorbei. Das hohe Haus lag in seiner steinernen Schweigsamkeit, die Dächer waren in Mondlicht getaucht, schienen silbrig übergössen, friedvoll und majestätisch, unangreifbar für ein Feuer. Unberührt aber auch von Panik und Entsetzen der Menschen, die vor seinen Mauern knieten, monoton sangen und ihren Besitz darbrachten. Stumm starrten die finsteren Fenster mit den mondlichtsilbrigen Kreuzen auf die Bittenden herab. Jenseits des Rathauses begann die abgrundschwarze Finsternis. Da war ein schmales Gäßchen, und der Sternstreifen oben war so winzig, daß manchmal nur ein einzelner Stern herabschimmerte. Sie liefen durch einen schwarzen, wasserlosen Fluß, so schien es ihnen jedenfalls, und sie wußten von keinem rettenden Ufer. Gerondet beschleunigte seinen Lauf. Er hatte Esras Linke gefaßt, zog das beinahe willenlose Mädchen hinter sich her. Und sie fühlten beide, wie sich in dieser Stunde alles mischte: Haß mit Liebe, Flucht mit Jagd, Verlorenheit mit Geborgensein, das Gestern mit dem Morgen. Sie fühlten, wie sehr sie zusammengehörten und daß eine bösartige, unheimliche Kluft zwischen ihnen in der Finsternis wuchs. Sie bogen an der nächsten Querstraße ab, erreichten hier die Hauptstraße, sahen das Gasthaus, in dem Immelgud am Morgen den ersten »Verdächtigen« gefunden und mitgenommen hatte. Was ist aus dem Mann geworden, dachte Gerondet, was?
Die Straße endete an den Wiesen.
Germelshausen, 0.00 Uhr Die Sage Da war ein Dorf, dessen Einwohner es mit Fleiß zu Wohlstand und Reichtum gebracht hatten. Doch sie lästerten Gott, wurden hoffärtig. Ein Fluch traf sie, und sie versanken im Moor. Jeweils nach hundert Jahren tauchte dieses Dorf für einen Tag auf, um Mittemacht erneut zu versinken. Wer eintraf in Germelshausen und es bis Mittemacht nicht verlassen hatte, war verflucht wie die Bewohner. Es kam einmal ein Wanderbursche, der sich wunderte über die merkwürdige Kleidung der Menschen und die unbekannte Bauart der Häuser. Aber da er sich in ein Mädchen verliebte und seine Liebe erwidert wurde, nahm er alles hin. Am Abend gab es ein immer wilder werdendes Fest in der Schankstube. Der Bursche und das Mädchen wirbelten im Kreis herum, und der Junge fühlte sich immer erhitzter und glühender. Draußen tobte ein Gewitter. Blitze schlugen krachend ein. Bäume stürzten entwurzelt zu Boden. Kurz vor Mitternacht aber fragte das Mädchen den Jungen, ob er sie liebe, und er bezeugte es. Und sie fragte ihn, ob er seine Mutter liebe. Und er bezeugte es. Dreimal fragte sie noch, und dreimal stand der Junge zu seinem Wort. Da nahm sie ihn wenige Minuten vor Mittemacht bei den Händen, führte ihn hinaus aus dem Dorf, stellte ihn unter eine mächtige Eiche und bat ihn, dort wenige Augenblicke zu warten, bis sie wiederkäme. Ein greller Blitz schlug ein und raubte dem Wanderburschen das Bewußtsein. Als er erwachte, war sonnenheller, freundlicher Tag. Den Ort aber fand er nimmermehr. Nicht wird berichtet, ob jenes Mädchen frei wurde vom Fluch, denn ihr Verzicht, ihre Tat erst machte den glücklichen Ausgang für den Jungen möglich...
I. Esra stand still, blickte in die Nacht. »Ist es hier? Ist hier die Schleuse? Bist du hier zu uns gestoßen?« »Ja«, sagte Gerondet einfach, »hier. Hier muß es sein.« Sie hielten inne, drehten sich noch einmal um, gerade so, als würden sie in den nächsten Minuten fortgehen, als könne sie nichts aufhalten. Und so nahmen sie Abschied. Für Esra war es der Abschied von ihrem ganzen Leben. Verloren ein Ort, den sie kannte, verloren der Tanz, der sie ausgefüllt hatte. Abschied von der Hoffnung, jemanden zu finden, der den Tod ihrer Mutter und ihres Bruders rächte. Sie wußte nichts von der Welt, der sie entgegenfieberte, aber deren Schrecken sie bereits erlebt hatte. Sie begriff noch nicht, wie es sein würde, wenn alles, was sie von Vater und Mutter gelernt hatte, wenn das alles wertlos und falsch sein würde. Es war auch der Weg fort von einem Ort, in dem sie furchtlos jedem Trunkenbold entgegengehen konnte, wissend, daß man sie nicht berühren durfte. Gerondets Furcht nahm zu. Er hoffte immer noch, daß die Gewalt, die Errenthaler gegen den Schleusenmechanismus eingesetzt hatte, irgend etwas verklemmt hatte, so daß eine Passage existierte, die auch ihnen als Fluchtweg dienen konnte. Aber es deutete nichts darauf hin. Die Schwärze der Nacht wurde von keinem Fackelzug Fliehender erleuchtet. Überall war die gleiche Finsternis, und überall blinkten die Sterne gleich gläsern durch die Zeitbarriere. »Sieh nur«, flüsterte Esra, »Licht.« Gerondet schreckte aus seinen Gedanken auf. Durch die Hecke brach helles, elektrisches Licht. Scheinwerferlicht. Vorsichtig, die Tänzerin an der Hand haltend, schlich er an der Hecke entlang. Sechs Scheinwerfer waren auf die Barriere gerichtet. Das Licht sprühte vielfarbig auf, flimmerte regenbogenfarben. Am Rande des Lichtwalls standen zwei Fahrzeuge. Eins erinnerte an einen riesigen Panzer, der statt der Kanone einen rechteckigen Rüssel besaß, welcher im Erdreich steckte. Das andere Fahrzeug war ein LKW, dessen Ladewand hydraulisch abgesenkt war. Zwei Männer hantierten auf der Ladefläche und sechs auf dem Boden. Die oben reichten Kisten nach unten, die - wie Gerondet erkannte - Sprengstoff enthielten. Die Kisten wurden auf die Erde gestellt, mit den Zündleitungen versehen und dann direkt neben der Barriere in den Boden versenkt. Man wollte offensichtlich die Barriere von unten her aufreißen.
»Die wollen uns umkippen«, sagte Gerondet, nicht von einem Erfolg überzeugt, »dann müssen wir oben rauskriechen.« Die Soldaten in den Tarnanzügen hatten die letzte Kiste in den Boden versenkt. Das Ende der Zündleitung steckten sie in ein kleines Kästchen, das drei gläserne Augen auf seinem Oberteil besaß. Diese »Augen« waren nach oben gerichtet. Jetzt sprangen die Soldaten auf den LKW, dessen Motor wohl arbeitete, wobei aber das Geräusch die Zeitbarriere nicht durchbrach. Gerondet sah nur an dem Zittern, daß der Motor auf Touren kam. Die Scheinwerfer erloschen einer nach dem anderen, und der Panzer, auf den die Lichtquellen montiert waren, zog den Rüssel aus der Erde, wendete sehr eng und rollte, leicht schaukelnd, davon. Auch der LKW fuhr nun an, beschleunigte. Sie hatten es alle sehr eilig. »Sie nehmen Reißaus«, sagte Gerondet, »wer weiß, was sie sich für eine Teufelei ausgedacht haben.« Ruhe kehrte ein. Eine tiefe, nachhaltige Ruhe. »Gerondet!« Der spitze Aufschrei der Tänzerin ließ den Polizisten zusammenfahren. Seine Waffe suchte ein Ziel. Er sah in die Runde, ohne etwas zu entdecken. »Was ist?« »Da..., dort!« Esras ausgestreckte Hand wies Gerondet den Weg. Da lag, direkt an der Barriere, der Magister. Er mußte unter dem Zeithindernis gewesen sein, als Errenthaler den Mechanismus ausschaltete. Der Magister war niedergeworfen und durchtrennt worden, Kopf und Oberteil hatten den Ort seiner Macht nicht verlassen, lagen bleich, mit schmerzlich verzerrtem Gesichtsausdruck auf der dunklen Erde, die Hände reflexiv im Wurzelwerk verkrallt. Man sah dem Gesicht an, daß der Magister gewußt hatte, während er starb, was geschehen war. »Errenthaler«, sagte Gerondet und fühlte, wie sein Kopf dröhnte, »hat deinen Bruder gerächt. Das heißt: Er wartet von nun an umsonst auf den Magister. Und wir darauf, daß hier etwas geschieht. Außer dem Feuerzeug und dem Versinken im Nichts wird...« Er winkte ab. »Dann sind wir verloren?« Esras Gesicht hob sich zum Himmel, und der Mond zauberte bläuliche Schatten und milchige Helle auf ihr Antlitz, und Gerondet sah, daß sie ihm nicht glauben wollte, daß da Hoffnung und Erwartung war. »Setzen wir uns«, sagte Gerondet leise, »setzen wir uns und bleiben hier sitzen, bis eine ferne Wissenschaft alles begreifbar macht und uns aus dieser Klemme befreien wird. Wir wollen die Türhüter der Zukunft sein.«
Esra ließ die Flasche sinken, umarmte Gerondet. »Ja«, sagte sie, und ihre Lippen bebten, »wir wollen die Türhüter sein und darauf warten, daß man uns befreit.« Gerondet wollte wohl noch etwas sagen, aber die Finsternis um sie veränderte sich. Er spürte die Gefahr, die sich ihnen näherte. »Vorsicht«, flüsterte er tonlos, löste sich von Esra und starrte, ohne etwas erkennen zu können, zu den Bäumen, die auf der anderen Wegseite standen. Auch Esra ahnte wohl die Gefahr, denn sie preßte die Flasche heftiger an ihre Brust. »Ist da jemand?« Gerondet hob Immelguds Waffe, blickte durch die Optik und sah alles deutlich wie im grünlichen Licht eines Aquariums. Er sah die fünf Flammenhaarigen, die lautlos hinter den Bäumen vorgetreten waren, sah auch, wie einer sein Wurfmesser schleuderte. Gerondet hörte das helle Klirren. Dann feuerte er. Zwei der Angreifer brachen stöhnend zusammen, während die anderen hinter den Bäumen Schutz suchten. Gerondet schickte den Laserstrahl durch einen der dicken Stämme, und der Mann dahinter wimmerte hell auf, fiel seitlich, blieb bewegungslos liegen. »Haltet ein!« Aus einer Heckennische trat Freyja. Gerondet wandte sich ab, suchte Esra, die jetzt neben ihm stand und nur noch den Hals der dickwandigen Flasche in der Hand trug. »Ist dir etwas passiert?« »Nein, er hat die Flasche getroffen. Jason hat mir mein Leben geschenkt«, sprach sie schlicht. Gerondet seufzte, blickte erneut durch die Optik. »Alle Waffen weg«, befahl er, »oder ich mache Kleinholz aus euch. Hört ihr: Ich putze euch mitsamt den Bäumen weg.« Gerondet sah die fallenden Waffen. »Auch die Wurfmesser in den Stiefeln«, drohte er, »sonst ziehe ich euch auf die Immelgudart eure Stiefel aus.« An ihren Blicken konnte Gerondet ablesen, wie entsetzt sie darüber waren, daß er im Dunklen sehen konnte. Sie entledigten sich nicht nur der Wurfmesser, sondern auch kleiner, mit vielen Spitzen versehener Kugeln, die sie in den Kapuzen versteckt hielten. »So ist es schon besser«, sagte Gerondet, »und nun die Hände in Andacht falten. Die Arme gerade nach vorn, und dann stellt euch auf, die Rücken gegeneinander. Tempo! Die Dame ist von meinen Vorsichtsmaßnahmen ausgeschlossen.«
Sie stellten sich auf dem Weg auf. Sie standen hier im Mondlicht, so daß jede ihrer Bewegungen augenblicklich zu sehen war. »Da wären wir also«, sagte Gerondet, als Freyja ihn erreichte, »die ganze Familie friedlich vereint. Und was jetzt?« Freyja blieb dicht vor Gerondet stehen. Sie trug einen goldschimmernden, bodenlangen Überwurf, der bei jeder Bewegung, bei jedem Schritt aufleuchtete. Ihr Gesicht schimmerte rosig, so lebendig, wie es noch nie ausgesehen hatte. »Muß ich jetzt um mein Leben bitten?« »Wenn Sie das möchten«, sagte Gerondet, »tun Sie es. Nützen tut es gar nichts. Professor Errenthaler hat die Haustür zugeknallt, und keiner von uns besitzt einen Schlüssel. Also, was soll es? Sie hätten diesen hirnamputierten Rassisten niederstechen lassen sollen. Aber auch mein Lamentieren ist sinnlos. Wissen Sie, was Errenthalter sagt: Er öffnet erst, wenn der Magister kommt und ihm den Stein gibt. Errenthalerium heißt das Zeug. Seit heute. Er erpreßt, ganz nebenbei angemerkt, nicht nur den Magister, sondern sich selbst. Und das ist schon wieder komisch.« »Es hat nicht sein sollen«, Freyja hob beide Arme zum Mond, »und Belial fordert seinen Tribut.« »Bist du nun dumm oder einfach ahnungslos«, Gerondet duzte Freyja in seinem Zorn, »Belial trägt rosenholzfarbene Hemden, dunkle Flanellanzüge und ebensolche Westen. Er putzt leidenschaftlich gern seine goldgerahmte Brille und erfindet soeben das riedländische Universum mit sich selbst als Gott darin.« »Euer Spott findet kein Ziel«, Freyja sah Gerondet gerade an, »die Fürsten der Hölle haben es lange genug mit angesehen, wie wir die Menschen in ihrem Namen betrogen und belogen haben. Wie wir ihre Namen mißbrauchten, um die Bürger von ihren Hoffnungen, Wünschen und Träumen abzuschneiden. Wir haben allen Sicherheit vorgegaukelt, die keine ist. Wir haben allen die Liebe und damit die Welt genommen. Und jenes Tier, das wir ihnen als Satan vorstellten, hat aus einem lebendigen Ort einen Friedhof gemacht. Dafür straft uns die Hölle, sucht uns nun Belial heim.« »Mädchen«, Gerondet packte Freyja und schüttelte sie, »Mädchen, komm zu dir. Sieh dich um. Das ist Menschenwerk. Nur Menschenwerk. Alles. Nicht einmal der Stern des Unheils, diese steinerne Ausgeburt eines fernen Raumes, hat etwas getan. Ihr wart das. Wir sind das. Menschen. Nirgends ist Zauber, oder... siehst du welchen?« Freyja wehrte sich nicht gegen den harten Griff des Polizisten. Ihre kunstvolle Frisur löste sich auf, während der Mann sie schüttelte, und flog um ihr Gesicht.
Sie schloß die Augen, öffnete leicht den Mund, hörte offensichtlich nicht einmal zu. »Es ist schade«, sagte sie kaum vernehmlich, »daß das Wurfmesser sein Ziel nicht erreicht hat. Sagt mir, was ich tun soll. Wenn es Menschenwerk ist, dann muß es auch einen Weg geben.« »Ein Speer ist auch Menschenwerk«, sagte Gerondet, »aber wenn er dein Herz durchstößt, kannst du nichts mehr tun.« Er ließ sie los, und sie blieb stehen. Öffnete nur zögernd die Augen. »Herrin«, rief einer der Rammenhaarigen vom Weg, »dort bei den Teichen ist Mutter Irrlicht mit ihren Heerscharen. Sie nähern sich uns.« Eine unheimliche Prozession näherte sich der Gruppe. Bepelzte Leiber drängten aneinander, spitze Schnurrhaare von ungewöhnlicher Länge stachen in den nachtdunklen Himmel, die gekrümmten Nagerrücken erinnerten an Wogen trägen Wassers, die gemächlich, aber unaufhaltsam das Festland in Besitz nehmen. Gerondet sah Mutter Irrlicht selbst. Es war eine Ratte, die bestimmt groß wie ein Dackel oder Terrier sein mochte. Ihre halbkugeligen, dunklen Augen schimmerten feucht. Vielleicht, dachte Gerondet, hat der Magister mit ihnen auch Experimente gemacht. Aber sie wollten nicht so wie er. Die Flammenhaarigen wurden unruhig. Zeigten Angst. »Dann kommt mal näher«, rief Gerondet ihnen zu. Sie hasteten in langen Sprüngen heran, stellten sich im Halbkreis um Freyja auf. Immer dichter drängte sich die Flut der Tierleiber heran, doch wenige Meter vor der Menschengruppe schwenkte Mutter Irrlicht seitwärts ab, und der Zug bewegte sich geradewegs auf einen großen Teich zu, durch den die Barriere verlief. Das Leittier hielt an, als es das Wasserhindernis vor seinen Füßen hatte, schnupperte aufgeregt und warf sich plötzlich entschlossen in die Flut. Reihe auf Reihe folgten die Ratten, näherten sich der Barriere, tauchten unter. Gerondet sah automatisch auf den Sekundenteil der Uhr. Wartete. Fast vierzig Sekunden stand er so, dann tauchte der übergroße Rattenkopf auf der anderen Seite der Barriere wieder auf, gefolgt von den übrigen Köpfen. Es war eine einzige fließende Bewegung: Diesseits der Zeitbarriere tauchten die Köpfe unter, jenseits kamen sie hoch. Am anderen Ufer sammelten sich die
Ratten, formierten sich erneut und glitten, hoppelten oder liefen auf die Waldkante zu.
»Wie haben die das gemacht?« Gerondet betrachtete die schwarze Wasserfläche, auf der sich die Mondscheibe spiegelte. »Das Innere der Erde«, sagte Freyja nachdenklich, »ist ihr Reich. So wie sie alle Schätze behüten, kennen sie auch alle Geheimnisse...« Sie schien einen Einfall zu haben, denn sie betrachtete die Flammenhaarigen kritisch. »Raufuchs, Beffler«, nannte sie zwei beim Namen, »ich habt Mutter Irrlicht beobachtet. Legt eure Sachen ab und sucht einen Weg für uns durch das Wasser!«
Die Genannten gingen wortlos zu dem Teich, entledigten sich der Kleidung. Für Gerondet wiederholte sich die Szene aus dem Ruheraum der Tänzerin, vielleicht noch grotesker, denn unter der furchteinflößenden Kleidung kamen fast schmächtige Jungenkörper zum Vorschein. Blasse, nie der Sonne ausgesetzte, magere Leiber, die zu schnell gewachsen waren und kantig und ungelenk erschienen. Die Nachtkälte erzeugte Schauer auf ihrer Haut, und es sah einen Augenblick so aus, als würden sie sich weigern, als wollten sie nicht springen, dann aber, von einem inneren Befehl angetrieben, ließen sie sich der Länge nach ins Wasser klatschen, erreichten mit wenigen Stößen die kaum wahrnehmbare Barriere, tauchten unter. Gerondet sah auf die Uhr. Die Sekunden hasteten davon, schienen sich in immer größerer Eile aneinanderzureihen. Nach viereinhalb Minuten hob der Polizist den Kopf, wollte die verrinnende Zeit nicht mehr verfolgen. Er hüstelte. Esra zuckte zusammen, hatte wie alle gebannt auf das beruhigte Wasser geblickt, darauf gewartet, daß die Köpfe jenseits der Barriere auftauchten. Freyja atmete schwer. »Sie tauchen nicht mehr auf, sagte Gerondet düster. Freyja stieß hörbar die Luft aus. Ihr Blick pendelte zwischen dem Teich und Gerondet hin und her. »Also gibt es keinen Weg für uns«, sagte sie, ohne daß Angst in ihrer Stimme gewesen wäre, »dann sind dies unsere letzten Minuten. Ich gehe in die Stadt. Man wird mich erwarten.« Niemand antwortete ihr, und so blieb sie noch einen Augenblick unschlüssig stehen. »Als ich dich das erstemal sah«, sagte Gerondet und fühlte sich erleichtert, »da hast du mich ungeheuer beeindruckt. Tatsächlich. Das versteht keiner hier. Bei uns in Riedland sind Bestrebungen im Gange. Die Frauen streben ihre Selbständigkeit an. Aber so falsch und dumm, daß jeder denken muß, dieser Plan sei von einem Mann erdacht worden, der die Frauen hereinlegen will. Feministinnen nennen sich die, die alles tun, um Frausein als etwas Lächerliches auszuweisen. Und als ich dich sah, in deiner kühlen Ruhe, in der Art, über den Dingen zu stehen, da meinte ich: Nur so kann es sein. Dies ist die Frau, die sich ihrer selbst bewußt ist. Nur jetzt, in diesen Minuten, hast du alles in mir zerstört, was an Achtung da war, denn du wärst mit dem Magister geflohen, wenn Errenthaler nicht die Schleuse zugeschlagen hätte. Du wärst auch durch das Wasserloch gegangen und hättest die Einwohner kaltblütig zurückgelassen. Jetzt aber, da es diesen Weg ebenfalls nicht gibt, gehst du in die Stadt zurück, um mit Gebeten, Fürbitten und Spruchweisheiten den anderen den Untergang zu erleichtern. Du bist also nichts anderes als ein gutfunktionierendes Rädchen in dem Mächtespiel jenes Toten dort.« Und Gerondets Hand wies zu dem
durchtrennten Magister hin. »Du funktionierst einfach, Freyja«, fügte er noch an, »und das ist es auch, was dir die Würde nimmt.« »Ich habe nicht mehr viel Zeit«, antwortete die Frau, aufgerichtet und Gerondet traurig ansehend, »und ich werde in dieser Zeit noch viele Wahrheiten hören, die weitaus schrecklicher sein werden als jene von Euch. Ich gehe jetzt, Gerondet. Und auch ich will eine Wahrheit noch vor dem Tod wenigstens einmal ausgesprochen haben: Ich liebe Euch. Ich liebe in Euch den Vater meiner ungeborenen Kinder. Ich weiß, daß ich bei Euch nicht unfruchtbar geblieben wäre. Eine Frau fühlt das. Und ich liebe in Euch jenen traumhaften Glauben an eine Tote, die wir vor langer Zeit zu Grabe getragen haben. Man nannte diese Tote Wahrheit. Sucht sie wieder zu beleben, Gerondet! Auch wenn nur noch wenig Zeit bleibt.« Sie wandte sich heftig ab und schritt aufrecht und stolz, getaucht in das blausilbrige Mondlicht, davon, quer über die kleine sumpfige Wiese auf die Stadt zu, und sie schien schon keinen Kontakt zum Boden mehr zu haben, sondern durch die ersten Nebel dieser Nacht zu schweben, war nichts als ein getriebenes Blatt, ein golden schimmernder Schmetterling, während hinter ihr her, im Dunst verschwimmend und verloren, der letzte lebende Flammenhaarige ging. Esra legte ihren Arm um Gerondet. »Lieber«, sagte sie, »mein Liebster.« Gerondet hob die Tänzerin wie ein Kind hoch, hielt sie so auf seinen Armen, war eingehüllt in ihre Wärme, den Geruch ihres Körpers und ihrer Haare. »So«, sagte er, ein wenig berauscht von ihrer Nähe und einer unbestimmten Müdigkeit, die er bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, »so werde ich gehen. Wie der Golem. Quer durch die Barriere. Einfach durch die Zeit.« Weißt du, sagte er zugleich in Gedanken, als erzähle er eine Geschichte, weißt du, wie die Sage wirklich ist? Man muß es wissen: Jener Wanderbursche von dereinst, den das Mädchen gerettet hat, gab sich nie mit der abergläubischen Erklärung von dem Fluch zufrieden. Er suchte seine verlorene Liebe. Zuerst unter den Lebenden. In Dörfern, Städten, Einsiedeleien. In allen Ländern und Kontinenten. Er suchte auf Rummelplätzen, Inseln der Verbannten und in Gasthäusern. In Sänften, Pferdekutschen, Düsenjets. Immer nur sie. Als er sie nicht fand, überlegte er lange, wie man das anstellen könnte, sie im Totenreich aufzuspüren. Aber da er kein Götterabkömmling war und Pluto nicht duzte, gab es nur einen Weg: selbst tot zu sein. Doch darauf verzichtete er, wußte er doch, daß dann auch seine Suche ein Ende haben würde. Er ging zurück ins Moor. Er legte es trocken. Trieb Stollen in die Tiefe und erreichte, daß er ein reicher und berühmter Mann wurde. Das trockengelegte Land trug reiche Früchte. Aus der Tiefe holte er die unglaublichsten Mumien prähistorischer Tiere, die man ihm für teures Geld aus den Händen riß, und dazu
wurde er ein Händler mit allerlei Brennmaterialien. Schließlich heiratete er, und eine Schar munterer Kinder umgab ihn bald. Vielleicht war er da schon zu der Erkenntnis gekommen, daß man ein und dasselbe Ding nicht zweimal gewinnen kann. Was man wiederbekommt, hat sich verändert. Ist nicht mehr dasselbe. Es ist nicht mehr unbekannt und ändert sich mit der Bekanntheit. So hat er erfahren, daß die Liebe eigentlich nur etwas Erinnerbares sein kann. Ist sie da, verlangt sie alle Kraft und Aufmerksamkeit und gestattet keine Reflexionen. Ist sie aber vorüber, dann stellt sich das Glück als nachgereichte Erinnerung ein. Und während sie, die Schöne, hundert Jahre schläft, traumlos der nächsten Liebe entgegengetragen wird, ist alles, was der Mann tut, vergänglich. Unvollkommen und gezeichnet von der Sehnsucht, die um so lebendiger wird, je ruhiger sein Lebensweg wird. Etwas in ihm bleibt leer. Ein Fleck auf seiner Seele. Die Uhren um ihn laufen immer schneller. Und mit den Jahren vergrößert sich die Leere in seinem Fühlen. Nur dort, denn er ist tätig, rastlos tätig. Er malt ein Bild der Verschollenen nach seiner Erinnerung. Aber siehe, es ist das Bild der Ehefrau, nicht das der im Moor versunkenen Liebe. Und das, meine Esra, ist der Fluch von Germelshausen. »Ich liebe dich«, flüsterte die Tänzerin auf seinem Arm. »Ich habe gewartet«, sagte Gerondet, »ich habe all die Jahre im Moor gestanden und auf dich gewartet. Darauf gewartet, daß du wieder auftauchst aus der Tiefe und dich zu mir gesellst, und ich habe mir geschworen, dich nicht mehr allein zu lassen, was auch immer kommen mag. Ich bleibe bei dir... Oder wir finden einen Weg, gemeinsam die Zeitbarriere zu überwinden. Ich stand im Moor, und ich habe viele hundert Jahre gewartet, und ich bin viele tausend Kilometer gelaufen, um dich zu finden, deine Augen zu sehen, dein Versprechen zu hören, um zu wissen: Es kann nichts im Moor vergehen, was die Liebe geatmet hat. Für mich haben das Glück, die Freundschaft wie auch die Liebe einen Namen. Tankreds Namen und deinen Namen.« Er setzte Esra sanft ab, umarmte sie, und ihre Stirnen berührten sich. »Es ist so unglaublich«, fuhr er fort, »da findet man inmitten von Verrat und Intrigen, an einem Ort der Bosheit, des Neids, der Intoleranz und der Habgier, die wertvollsten menschlichen Beziehungen: Freundschaft, Vertrauen, Liebe. Aber vielleicht, vielleicht gehört das folgerichtig zusammen...« Vom Horizont her zogen feine, filigranartige Wolken auf. Gemächlich kamen sie näher, rissen schwarzgraue Gräben in den sternenübersäten Himmel, dämpften das Mondlicht, erinnerten an fernes Eis. Hinter der Barriere mußte Wind sein, denn die Baumkronen bewegten sich stumm in eine Richtung. Aus den drei Augen der Zündvorrichtung kamen zarte, dünne Lichtstrahlen hervor, die den Himmel suchend abtasteten.
Gerondet deutete auf das technische Licht. »Es geht los«, sagte er. II. Die Wolken, anfänglich nichts anderes als feiner Eisschnee, als zartes getriebenes Silber, sammelten sich und verloren alle Leichtigkeit. Sie kreisten die Ortschaft ein, streckten lange, dünne und spiralig gebogene Fühler aus, erreichten schließlich den Mond und verhüllten ihn. Gerondet beobachtete das Schauspiel. Der Himmel wurde dunkelviolett und schien in einem verzehrenden Feuer zu glimmen, erste zarte Funkenentladungen waren zu sehen. Immer wieder flammten kleine Abschnitte von innen her auf, ließen für einen Augenblick die Baumkronen und Büsche als grünlichdämmrige Gebilde erkennen, ehe sie erloschen. Die Erde, Urgrund allen Lebens, begann stoßweise zu schwanken. Nur ganz leicht, aber heftig genug, um die Herzen einen Schlag lang aussetzen zu lassen, um einen Atemzug zu verhindern. Die Augen der Tänzerin wurden groß und angstvoll. »Du sollst dich nicht fürchten«, sagte Gerondet leise. »Achtzehnmal bin ich gestorben«, erinnerte sich Esra, »achtzehnmal eingetaucht in den Traum vom Tod. Ich fürchte das nicht. Aber wir hatten so wenig Zeit. Warum haben wir nicht, wie jene Liebenden in der Sage, den ganzen Tag für uns gehabt?« »Weil«, sagte der Mann, »der Magister mich töten wollte. Weil er alles aufgeboten hat, daß wir nicht zusammenkommen. Wir haben nichts verschenkt, nichts vergeudet. Ich werde diese Augenblicke jetzt aufbewahren, und sie werden mich stark machen. Ich fühle, wie unsere Gedanken schon jetzt die Gedanken eines Lebens sind. Das habe ich immer gesucht und nie gefunden. Zwei zufällig geschaffene Dinge prallen zusammen, und sie passen, als wäre das eine nach den Maßen des anderen gemacht.« Ein sanfter orangeroter Schimmer erschien am Horizont. Er verhieß Hoffnung. »Es wird Morgen«, flüsterte Esra. Gerondet widersprach nicht. Er wußte, daß dort der Widerschein der in den Straßen tobenden Brände zu sehen war. Er ahnte die Panik der verstörten Einwohner, die rasende Flucht vor der hitzespeienden Woge. Und er dachte an Freyja, die, auf ihrem Balkon stehend, das Gesicht vom Feuer erhitzt und fremd ausgeleuchtet, die Arme spielerisch zum Himmel gereckt, die letzten Trostworte suchte, bis die Flammen, aus ihrem eigenen Haus schlagend, sie greifen und ihr die Worte nehmen würden.
Er sah das hölzerne Pflaster glühen, sah die Funkengarben, die daraus hervorschossen, ehe das schwarze, brodelnde Wasser des Moores lautlos kam, die Flammen zischend erstickte und den angesengten Füßen Kühlung bot. Gerondet sah das alles, als wenn er dabei wäre, überall zur selben Zeit. Er sah den Mann, der sich über das zertretene Blumenbeet aufgeregt hatte, sah ihn zusammen mit seiner Frau hustend und keuchend eine brennende Treppe hinunterhasten, wobei jener Unglückliche nicht einmal bemerkte, daß seine Kleidung und ihre Haare Feuer gefangen hatten. Gerondet verdrängte die Gedanken an das Schlachthaus. Er wollte nicht wissen, wie die ehemaligen Zöpfler, jetzt in Schwarz gehüllt und mit extrem kurzen Haaren, angetrieben von gellenden Kommandos, zu ihren Waffen griffen, um zu verhindern, daß jemand die in Flammen stehenden Produktionsstätten verließ. Und weiter eilte Gerondet auf seinem phantastischen Spaziergang durch den Ort. Er sah die Männer, die ihm so schlecht Auskunft gegeben hatten, wie sie zusammen mit ihren Frauen alles packen wollten, was Wert hatte, und doch immer wieder den sinnlosen Plunder, der ständig verrutschte, absetzen mußten, während sich das Feuer über die Treppe zu ihnen nach oben fraß. Gerondet sah das Rathaus, sah die wachsbleichen, übermüdeten, dem Wahn nahen Ratsherren und den ruhigen Türhüter, der vielleicht schon vor einer Stunde einen Sud getrunken hatte und nun mit starren Augen auf seiner Lagerstatt lag und mit der Gelassenheit der Toten dem Untergang beiwohnen konnte. Der Brunnen, geschaffen für eine Ewigkeit, mochte bereits aus seiner Verankerung gekippt sein, spendete bestimmt kein Wasser mehr und, wer weiß, war vielleicht schon in ein aufreißendes brodelndes Wasserloch gestürzt. Vielleicht auch trugen schon Mutter Irrlichts Gänge nicht mehr, und die Kirche, das Schimmelpfennighaus, das Rathaus und alle anderen Gebäude waren kurzerhand in der Tiefe versunken. Dann mußten drei furchtbare Canons die Stadt zerteilt und die Menschen voneinander getrennt haben. Ein grellweißer Blitz fuhr aus der Wolke, die sich über Germelshausen geschlossen hatte, und ließ die Häuser als transparente, flächenhafte Konstruktionen erscheinen. Dem ersten Blitz folgten weitere, die wahllos niederfuhren und das Chaos vervielfachten. An den Rändern mancher Wolkengebilde waberte hellrotes Licht, und unerwartet ergoß sich ein Glut- und Funkenregen über die Ortschaft. Gerondet lief los, riß die Tänzerin mit sich, flüchtete unter jene Bäume, hinter denen die Zöpfler Deckung gesucht hatten. Dabei stolperte er über einen der Toten. Ringsum sanken die Funken stumm zu Boden, entzündeten das trockene Laubwerk, versengten auch die Blätter und Kronen der Bäume.
Gerondet und Esra husteten, als der dicke blaue, nach Schwefel und Salpeter riechende Rauch aufstieg. »Sie werden es nie erfahren«, schrie Gerondet gegen alle Unbilden, »ich meine die Menschen. Wenn dieses Einsteinium in unsere Welt gelangt wäre unvorstellbar!« Ein schwerer Regen kam aus den Wolken, und auch aus den Poren der Erde quollen feine Rinnsale, die augenblicklich alle Flammen und Funken erstickten. Ein erster Windstoß traf die Liebenden. Äste raschelten, und die geschändeten Baumkronen ächzten. Sand, Staub und trockene Pflanzenteile wehten vorüber, trieben auf die immer noch brennende Stadt zu, die hinter einem Vorhang aus Asche und Staub versank. »Das Moor kommt«, flüsterte Esra leblos, »er hat damit gedroht. Wenn wir die Zeitbarriere durchbrechen, wird das Moor kommen und uns verschlingen.« Gerondet sah von der Stadt her einen fauligen Strom schwarzen Wassers kommen, der Planken, Türen und Möbel mit sich führte. Auf diesen Flößen hockten Haustiere und standen Habseligkeiten, schimmerten goldene Zierate und eiligst aufgehäufter Schmuck. Da standen Windlichter, waren Stallaternen provisorisch befestigt, die unruhig flackerten und aus den Wassern einen metallisch schimmernden Strom machten. Zwischen den grauen Treibsandvorhängen gewahrte Gerondet einzelne Menschen auf den Dächern ihrer Häuser und glaubte ihre entsetzten Schreie zu hören, fühlte ihre vor Verzweiflung stieren Blicke auf sich gerichtet. »Er hat euch auf das Morgen orientiert«, sagte Gerondet mit müder Stimme, »hat euch gesagt: Es wird sein. Und weil ihr das glaubtet, hat kein Mensch mehr etwas für das Heute getan. Die Wirklichkeit aber ist: Es ist nichts im Morgen, was nicht heute vorbereitet wird. Eure Tage waren die Wurzel des Baumes Zukunft. Und ihr habt ihn nicht gehindert...« »Du willst sagen«, flüsterte Esra, »wir haben das verdient?« »Nein«, fuhr der Mann fort, »kein Mensch verdient die Vernichtung, aber Lethargie macht sie möglich.« Das schwarze Wasser näherte sich ihnen stetig, wenn auch langsam, schnitt sie von den Straßen und Häusern ab, schloß sie so selbstverständlich ein, als könne das nicht anders sein. Die Bewegung des Wassers wurde träger, und als die Flöße gemächliche Kreise zu drehen begannen, wußte Gerondet, daß das Wasser zum Stillstand gekommen war. Esra machte einen Schritt auf die Flut zu. Dort stand sie, von ihm abgewandt, stand nachdenklich.
»Immelguds Waffe«, sagte sie entschlossen, »kann sie nicht einen Weg schaffen? Kann sie nicht alles?« »Nichts kann sie«, Gerondet schlug geringschätzig auf den Lauf, »nur töten. Sonst nichts. Nicht einmal zurücknehmen, was sie anrichtet.« »Aber du bist klug«, die Tänzerin ließ nicht locker, »du hast wunderbare Gedanken. Finde doch einen Weg für uns. Ich will nicht sterben. Jetzt nicht mehr. Für wen denn? Für den toten Magister? Für Freyja? Für das abscheuliche Tier? Kann es denn eine Katastrophe geben, die niemand überlebt? Du wirst für uns einen Weg finden.« Donnergrollen unterbrach sie. Das hohle Jaulen des böigen Sturms, das helle Krachen der splitternden Bäume und das monotone Gurgeln der sich sammelnden Wasser erfüllten ringsum die Welt. Einzelne Äste ragten wie Knochenhände aus den Fluten. Einige Flüchtende, die die Richtung der Schleuse eingeschlagen hatten, versanken spurlos in der Tiefe. Es sah aus, als würden alle Gebäude nur noch von einer spinnwebstarken Haut getragen, die jeden Moment reißen konnte. Reihenweise stürzten brennende Häuser in sich zusammen, erzeugten dampfenden Gischt, während sie in den bodenlosen Wassern verschwanden. Der gesamte Ort beulte sich blasig auf und bildete Hügel, als wollte er der Tiefe entfliehen. Die beiden Liebenden standen wortlos nebeneinander und verfolgten - unfähig, die Augen abzuwenden - das grausige Schauspiel des Untergangs. Esra suchte mit ihren Händen die von Gerondet, hielt sich bei ihm fest, während ein wildes Schluchzen über ihre Lippen kam. »Wir haben es geduldet«, jammerte sie weinend, »wir haben es alle gewußt und es doch geduldet. Es wird schon nicht sein, haben wir gedacht und schließlich daran geglaubt. ,Das macht er nie', meinten die einen, und die anderen sagten: ,Er will doch selbst leben. Er will uns nur erschrecken. Will doch nur, daß wir gehorchen, aber tun wird er es nie...' Und er hat uns gewarnt, du, er hat uns gewarnt. Er hat gesagt, daß es sein wird, wenn sich welche gegen ihn stellen. Und wir haben ihn machen lassen. Und das da..., das ist unser Werk, wie auch seins.« III. Der Wind legte sich. Das Prasseln des Feuers verstummte. Nur wenige Häuser standen noch. Sie waren schwarz, verkohlt, unansehnlich und vereinzelt. Das Rathaus war nicht mehr zu sehen. Auch der Brunnen und das Schimmelpfennighaus fehlten. Der Begriff Ortschaft beschrieb nicht mehr, was sich den Augen bot.
Die Wolken, vordem blutigviolett und blitzespeiend, rissen auseinander, und die vertrauten Sternbilder füllten mit ihrem Glanz die Nacht. Das silbrige Mondlicht veränderte die Welt, ließ nicht mehr ahnen, was sich Augenblicke vorher zugetragen hatte. Friedvoll und still schien die Welt. Von den schwarzen, nunmehr silbrigen Wassern stiegen feine Nebel auf, nahmen dem Schrecken seine Gestalt, wurden zum alles überspannenden Leichentuch. »Die Nebel steigen«, sagte Gerondet. Noch immer sah er Tränen über Esras Gesicht laufen. Er drückte auf den Lichtgeber seiner Armbanduhr, sah die Zeit, die sich in rasendem Lauf jenem winzigen Augenblick zwischen den Tagen näherte. Esra drehte sich weg von der Stadt, trat an die Zeitbarriere heran. »Was hast du vor?« Esra hielt inne, und Gerondet hörte sie leise seufzen. Er ging zu ihr, erblickte nun auch die Truhe, in der Goldstücke und Schmuck lagen. Das mochte der Magister hergebracht haben. »Errenthaler hat ihn beraten«, sagte Gerondet, »oder auch nicht. Vielleicht nicht. Dieses Metall hat nie seinen Wert verloren. Herrscher kamen und gingen, Staatsformen wechselten einander ab, aber das da übt seine Herrschaft nach wie vor aus. Unberührt von allem.« Sie standen direkt vor der Schleuse und sahen erst jetzt die lichtfeinen Markierungen in der Zeitbarriere. Und unmittelbar dahinter ragte der Zündkopf des Sprengstoffs aus der Erde und schickte seine drei Lichtfühler in den Himmel hinauf. »Küß mich«, bat sie leise. Gerondet küßte sie, und sie sanken zu Boden, hielten sich umfangen. Sie spürten beide die fiebrige Wärme des anderen, empfanden die weiche Körperlichkeit des Geliebten, und etwas wie ein betäubender Wattebausch, der jede Erinnerung an die Welt rundum erstickte, ließ sie alles vergessen, was war und was sein würde. Und sie klammerten sich aneinander, weil sie füreinander das Leben waren, weil sie den mitternächtlichen Tod lautlos herankommen fühlten. Sie wollten vergessen, daß ihnen nichts als ein Anfang gegeben war, dem um so brutaler das Ende folgte. Und sie fürchteten beide, was sie erwartete: das gemeinsame Eingehen in jenes formlose Nichts... So bestand Gerondets Welt aus zwei schwarzen Seen: Esras weiten Augen. Hitze war in dem Mann und bitterer Frost; alles floß zusammen, verschmolz, und er empfand die Liebe so überdeutlich, so körperlich wahrhaftig, so brennend, alles verbrennend, daß er die Wirklichkeit tatsächlich momentan verlor, nichts anderes denken konnte als: Sie ist deine Frau. Du bist ihr Mann.
Und noch immer wuchs die nicht zu stillende Sehnsucht nach ihr. Überwand die Zeiten, überwand alle Barrieren, zerriß alle Vorhänge der Welt - und wurde zum Schmerz, zur Angst, verlieren zu müssen, was erst Minuten alt war. Esras Augen wurden hell, mondlichthell. »Gerondet«, flüsterte sie tonlos, »Satan kommt. Er ist wieder da. Er will uns töten.« Gerondet hielt sich fest an Esra, wollte einen Augenblick noch in jener anderen Zeit der Liebe verweilen, nicht die Wirklichkeit sehen müssen, aber die Illusion zerrann, rundum waren Moos und Torf, und in der Luft hingen das klirrende Sirren, das nervenzermürbende Rasseln. Satan, die mächtige Solifuge, war ihnen nahe, betäubte sie mit seinen Atemgeräuschen. Gerondet riß sich los, griff die neben ihm liegende Waffe, kam torkelnd hoch und begriff nur allmählich die Wirklichkeit. Eilig entfernte der Polizist das Magazin, das er achtlos fallen ließ, zog eine der schlanken Granaten aus der Gürteltasche und steckte sie in den Lauf, während er darüber nachdachte, ob Laser nicht sicherer gewesen wäre. Er entsicherte und sah sich um. »Ich will ertrinken«, sagte er böse, »oder einfach in das Nichts eingehen. Aber fressen lasse ich mich nicht... Verdammt noch mal, wieso hat dieses Untier alles überlebt?« Er versuchte sich nach dem Gehör zu orientieren. Das war schwierig, denn die Zeitbarriere warf alle Geräusche vielfach und oft verzerrt zurück, erzeugte ein vielfaches Echo. Auch zauberte das Mondlicht aus den Sträuchern und Krüppelbäumen viele Riesenspinnen, die sich als Trugbilder erwiesen. Esra setzte sich auf. Saß da mit gesenktem Kopf. »Den Magister«, erklärte Gerondet, der einfach etwas sagen mußte, weil das Schweigen ihm unerträglich schien, »hat Errenthaler getötet, obwohl ich dir das versprochen hatte. Satan wird mir nicht entkommen.« Etwas Glashelles tauchte zwischen den Hecken auf, verschwand im selben Augenblick wieder. Nur wie ein mondhelles Glitzern war es gewesen, kaum mehr als ein phosphoreszierendes Flackern, eine zuckende Bewegung. Sie ist kleiner geworden, dachte Gerondet, sie hat ihre Medizin nicht bekommen und schnurrt zusammen. Sein zweiter Gedanke war: Sie ist auch als Ziel kleiner geworden. Gerondet blickte durch die Optik. Alles war grünlich, taghell.
Er sah hinter einer Hecke eine unbestimmte Bewegung. Die Ultraschalltöne wirkten sich aus. Gerondet empfand Kopfschmerzen. Das Gebüsch zerteilte sich, und abermals griff das Tier an. Die Spinne war jetzt noch knapp vier Meter lang und halb so hoch wie der Polizist. Gerondet war für sie nicht mehr nur Opfer, sondern auch Feind. Sie arbeitete sich unglaublich schnell durch die Dornenhecke, ihre glashellen Beine waren wieder überall zugleich, während die mächtigen Hauptaugen starr auf ihn gerichtet waren. Als das Fadenkreuz der Waffe diese Augen zeigte, wollte Gerondet abdrücken. Die Welt erbebte in grellem Licht, geriet aus den Fugen, zerbarst einfach, wurde heller, greller, weißer. Die Welt schob sich dem Mond entgegen. Die Solifuge auch. Gerondets Reflexe arbeiteten noch, er drückte ab, aber die Granate raste gegen eine unsichtbare Wand, ihr Licht mischte sich mit dem der gleichzeitig ausgelösten Sprengung und der explodierenden Großrakete. Alles brüllte, waberte, raste. Esra wurde hochgerissen, folgte Gerondet. Es gab kein Oben und kein Unten mehr, kein Rechts noch Links. Da saugte sie etwas auf, riß sie immer schneller im Kreis herum, und irgendwo weit weg oder nahe bei ihnen wurde auch Satan herumgewirbelt. Immer im selben Abstand zu Esra und Gerondet. Sie haben gesprengt, dachte Gerondet noch, sie haben soeben die Ladung gezündet. Und ich habe mein Ziel verfehlt. Dann war alles vorüber. Gerondet hob den Kopf, sah Esra neben sich und erkannte, weit vorn, die Solifuge, die, ebenfalls benommen, auf den Wald zulief. Gerondet sah auch einige Soldaten, die in panischer Angst ihre zugewiesenen Plätze verließen, als sie der Spinne ansichtig wurden, und zwischen den Stämmen verschwanden. »Esra...« »Gerondet«, Esra richtete sich auf, lehnte sich gegen den Mann, der jetzt bei ihr war, und betrachtete fassungslos die Barriere, die schwach glänzend vor ihnen lag, sich zwischen die sterbende Stadt und sie geschoben hatte. »Hab ich's nicht gesagt«, erklärte Gerondet ungläubig, »daß ich einen Weg aus dem Chaos finden werde? Doch, doch, ich bin ein pfiffiges Kerlchen...« In diesem Moment sah er Freyja. Die Priesterin stand hinter der Barriere, keine drei Schritt von ihm entfernt.
»Freyja?« Er ging auf die Barriere zu, blieb unmittelbar davor stehen. Die Priesterin war nicht weit weg von ihm und doch endlos fern. Sie sagte etwas, aber kein Ton drang zu Gerondet.
Sie stand, vom Mondlicht übergössen, und ihre Augen glänzten. Sie weinte lautlos. Und sie wurde heller und heller, hob sich immer deutlicher gegen die Welt rundum ab, und ihr Leib war blumenübersät, schien voller Moorpflanzen und Gras. Kuckucksblumen erkannte Gerondet, Knabenkraut - und immer dunkleres Wasser. Und die Blumen gewannen an Kraft, während der Menschenleib fahler und fahler wurde. Einen Augenblick lang war es dem Polizisten, als sei dort nichts anderes als zwei Augen, und dann brach die glänzende Barriere zusammen, existierte einfach nicht mehr, wie auch keine
Spur von Freyja mehr zu entdecken war. Nichts. Nichts als Moor. Und daß alles nicht ertrunken, versunken, sondern durchsichtig geworden war, als, habe es sich selbst aufgehoben, erkannte er daran, daß nicht ein einziges Stück Holz mehr auf den Wassern trieb. IV. Gerondet hörte die Stimmen der Liebe. Das suchende Zirpen der Grillen, das melodische Klagen der Unken und das feine Schnurren der Nachtschwalbe. Er hörte das helle Quarren der Laubfrösche und die traurigen Stimmen der Käuzchen. Töne der Sehnsucht. Leben verlangt nach anderem Leben. Und Gerondet sah auch die Schönheit des nächtlichen Moores, sah die zarten Blüten des Knabenkrauts, des Pfeilkrauts, der Kuckucksblumen und des Habichtskrauts. Sah Sonnentau und Froschbiß, Wasserpest und Mädesüß, Herzblatt und Schierling. Und der Vollmond und die Sterne spiegelten sich in den fast kreisrunden Wasserlöchern wider. All dies war so eindringlich, so wirklich und nah, schien Gerondet so vollkommen, so vertraut und gleichermaßen neu und unbekannt, daß er zum erstenmal dachte: Hierher gehörst du. Vergiß die Stadt, die dich geblendet und dein Herz stumm, blind und taub für alles andere gemacht hat! »Komm«, sagte er und faßte Esra sanft bei der Schulter, »wir wollen gehen. Unsere Schuhe sind schon naß genug.« Er sah mechanisch auf seine Armbanduhr. Es war null Uhr und zwei Minuten. Der Tag war vorüber. Der Augenblick zwischen den Zeiten verstrichen. Mit einer fast nachlässigen Bewegung schleuderte er Immelguds Waffe in ein Wasserloch, wo sie Blasen erzeugend versank. Das Magazin folgte. Esra sah Gerondet fragend an. »Ich habe meine Dienstwaffe«, sagte er, »und wenn es sein muß, weiß ich sie zu nutzen. Aber das da, das ist auch nicht anders als Satan...« »Satan«, nahm Esra das Wort wieder auf, »wie, wenn er im Wald auf uns wartet...« »Vielleicht ist er klein wie ein Dackel«, Gerondet lächelte zum erstenmal, »oder man kann ihn in ein Marmeladenglas stecken. Da ist ein ganz anderer Satan. Und der wartet auf alle. Sein Name besteht aus drei Buchstaben: LMN.« Sie durchquerten den silbrigen Mondwald. Ein Gefühl der Unwirklichkeit bemächtigte sich Gerondets. Jetzt schien alles nicht mehr wahr, Germelshausen und der Magister, Errenthaler und Freyja, Immelgud und Brodlant. Nichts von dem allen konnte es gegeben haben, und wäre Esra nicht gewesen, Gerondet
hätte sich in den Arm gekniffen, hätte brüllend angefangen zu lachen und sich an den Kopf geschlagen. Es schien ein Traumbild zu sein, eine Phantasterei. Und selbst Satan, die mächtige Solifuge, war schon nicht mehr wirklich. Gerondet folgte mit Esra dem Waldweg, verharrte kurz an der Stelle, wo Immelgud ihn gefangengenommen hatte, und schritt zögernder aus, nachdenklicher. Der Wald wurde dünner. Einige Fenster von Krehersthal blinkten durch die Stämme. »Da«, Gerondet wies zu den leuchtenden Fenstervierecken, »da wirst du nun zu Hause sein. Da sind wir zu Hause...« Als sie den Wald verließen, trat ein Soldat in der riedländischen Uniform auf sie zu. »Halt«, sagte er müde, »ich muß Ihren Ausweis sehen.« Wortlos reichte Gerondet dem Soldaten seinen Paß. »Gerondet«, murmelte der Streifensoldat, »Philippe Gerondet. Sind Sie der ermordete Polizist?« »Muß ich Ihnen die Frage beantworten?« Gerondet lächelte. Der Soldat lachte ebenfalls. Müde. Er tippte sich an die Stirn. »Pardon«, sagte er, »Ich wollte fragen, ob Sie mit ihm verwandt sind. Schließlich stammen Sie auch aus Krehersthal.« »Das halbe Dorf heißt so«, sagte der Polizist, und Esra kicherte leise, »Sie wissen doch, wie das ist. Die langen Winterabende.« Der Soldat grinste. Blinzelte Gerondet zu. Er verstand schon. »Bitte schön«, sagte er dann und reichte Gerondet den Paß, »und wer ist die Dame?« »Esra Gerondet«, gab Gerondet Auskunft, »auch nicht der ermordete Polizist.« »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten«, der Soldat grüßte nachlässig, »nur merken Sie sich: Halten Sie sich vom Teufelsmoor fern. Da ist allerhand los.« »Tatsächlich?« Gerondet schüttelte erstaunt den Kopf. »Ungeheuerlich. Übrigens: Wie ist es, wenn ich den ermordeten Polizisten treffe, soll ich ihm etwas ausrichten? Ich meine: Hat er sich vielleicht irgendwo nicht rechtzeitig abgemeldet?«
»Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen darf«, der Posten dachte intensiv nach, »es ist im Tagesbefehl durchgegeben worden: Er ist mit der riedländischen Tapferkeitsmedaille, dem Goldenen Schwerterkreuz, postum ausgezeichnet und zum Chefkommissar wiederernannt worden.« »Ich denke«, sagte Gerondet nachsichtig, »das alles kommt etwas zu spät.« Er hielt einen Moment inne, dachte an Satan, den neuen, den LMN-Satan. Einen Augenblick wehrte er sich gegen die Flut der neuen Gedanken, die sich mit aller Macht Bahn brachen. Er nickte dem Soldaten zu und setzte mit Esra den begonnenen Weg fort.