Geister-Sturm
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 175 von Jason Dark, erschienen am 31.10.1995, Titelbild: Luis Royo
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Geister-Sturm
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 175 von Jason Dark, erschienen am 31.10.1995, Titelbild: Luis Royo
Im Jahre 1746 standen sich auf dem Schlachtfeld von Culloden 1200 Highlander und 5000 Engländer gegenüber. Es war der letzte Versuch der schottischen Clans, die Herrschaft der Krone zu brechen. Die Schotten verloren - Culloden wurde für sie zu einer blutigen Niederlage. Einige Nachkommen vergaßen die Schmach nicht. Legenden rankten sich um das Schlachtfeld. Geisterstürme, aus den Seelen der Gefallenen bestehend, rasten über das Land, denn der Kampf war für sie noch nicht beendet. Neue Clanführer verbündeten sich mit den Geisterheeren, um die Schlacht noch einmal schlagen zu können. Suko und ich sollten den Sturm stoppen. Zusammen mit einer Kämpferin aus der Vergangenheit, die Geraldine Sinclair hieß...
Es war schon ein verbotenes Wetter. Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet und schien sich an den Menschen für die zahlreichen Eingriffe in die Natur rächen zu wollen. Hinzu kam der Wind, der sich allmählich zu einem Orkan steigerte und die vom Himmel fallenden Fluten beinahe waagerecht durch die Landschaft peitschte. Wir zuckelten in meinem Rover durch dieses mörderische Unwetter, auf der Suche nach einer Gestalt, die es nicht geben durfte, die aber trotzdem existierte, was zumindest glaubwürdige Zeugen berichtet hatten. Am Armaturenbrett des Rover leuchtete die blaue Lampe. Ein Zeichen, daß das Fernlicht eingeschaltet war, doch bei diesen Regenmassen verbesserte das die Sicht kaum, und mehr als einmal schon war mir ein Fluch über unsere bescheidene Lage entfahren. Ein Teil des großen Flughafengeländes war abgesperrt worden, denn ausgerechnet dort hatte sich die Gestalt gezeigt. Suko, der ebenso nach vorn gebeugt saß wie auch ich, schüttelte den Kopf. »Die kriegen wir nicht, John.« »Warte es ab!« »Glaube mir. Ich bin inzwischen soweit, daß ich an irgendwelche Hirngespinste denke, denn was andere gesehen haben wollen, ist doch der reine Wahnsinn.« Ich schwieg, gab ihm aber innerlich teilweise recht. Diese Gestalt mußte ausgesehen haben, als wäre sie einem Film oder einer Märchenwelt entsprungen. Eine Kriegerin, bewaffnet und halbnackt, so hatte sie sich auf dem Rollfeld gezeigt, und mehrere Zeugen hatten sie zu Gesicht bekommen, wobei ihre Beschreibungen kaum voneinander abwichen. Deshalb rechnete ich damit, daß doch etwas dran war und man uns nicht grundlos alarmiert hatte, denn beide waren wir bei den Sicherheitskräften am Airport bekannt. Zu oft schon hatten wir hier eingreifen müssen. Allerdings waren wir noch nicht bei einem derartigen Sauwetter über die Rollbahn gefahren. Es war nichts zu erkennen. Ein böser Dämon schien Besitz von der Natur ergriffen zu haben, um mit seiner Gewalt anzuzeigen, wozu er fähig war. Immer wieder erwischten den Rover die harten Windstöße. Sie hämmerten gegen die Karosserie, als wollten sie den Wagen im nächsten Augenblick umkippen. Das Rauschen des Regens und das Prasseln der Tropfen gegen Blech und Glas machte eine Verständigung zwischen Suko und mir fast unmöglich. Wir beschränkten uns auf das Wesentliche und auf Flüche. Unsere Aufmerksamkeit hatte nicht nachgelassen, und zwischen all dem Negativen suchten wir auch nach einem positiven Punkt.
Wegen der verdammten Regenschleier war kaum etwas zu sehen, und der Wagen schien nicht zu fahren, sondern zu schwimmen. Aquaplaning ließ grüßen. Aufgeben wollten wir nicht. Was die anderen gesehen hatten, mußten wir doch auch irgendwann mal entdecken, aber bisher suchten wir vergeblich. Wir fuhren weiter. Mit Gegenverkehr brauchten wir nicht zu rechnen, wie ich voller Galgenhumor dachte. Ab und zu erschienen schattenhaft und aussehend wie tote oder erfrorene Riesenvögel die Umrisse der Maschinen, die auf dieser Seite des Geländes abgestellt waren. Ansonsten sahen wir nur den Regen. Die Reifen fegten durch die Pfützen und wirbelten wahre Gischtfontänen auf, die rasch hinter uns zusammenfielen. Das Autotelefon meldete sich. Suko hob ab. Er sprach mit dem Chef der Sicherheitsabteilung und meldete, daß wir noch nichts entdeckt hatten. Das konnte der Mann kaum fassen. »Verdammt noch mal, aber wir haben die Gestalt gesehen.« »Wir nicht!« erwiderte Suko trocken. »Sie wird noch erscheinen.« Suko lachte. »Hoffen wir es, Mister.« »Drehen Sie noch ein paar Runden. Der Flughafen bleibt gesperrt.« »Das hoffen wir stark.« »Dann viel Glück.« »Ebenfalls.« Suko schüttelte den Kopf. Er wandte sich an mich. »Ich weiß auch nicht, weshalb der Knabe angerufen hat. Wahrscheinlich wollte er nur irgend etwas tun.« »Ist möglich.« Wir fuhren wieder durch eine Pfütze. Wasser umgischtete uns fontänengleich. Auch für die Flughafengesellschaft war es eine unangenehme Sache. Der Airport war tatsächlich geschlossen worden, denn die Sicherheit der Reisenden und dort Beschäftigten war nicht mehr gewährleistet. Einige Kräfte hatten die Gestalt gejagt, sie aber nicht fassen können. Immer dann, wenn die Männer nahe genug an sie herangekommen waren, dann war sie plötzlich verschwunden, als hätte sie der Regen weggewischt. Aber welche Gestalt war da erschienen? Suko und ich hatten sie noch nicht gesehen. Wir mußten uns da auf die Zeugen verlassen. Wir fragten uns, wie es überhaupt möglich war, daß eine derartige Frau erschien. Daß es sich um eine weibliche Person handelte, stand einwandfrei fest. Natürlich hatten Suko und ich überlegt, wo wir den Hebel ansetzen konnten. Aus Erfahrung wußten wir, daß es derartige Wesen gab, die zumeist nicht in unserer Welt lebten, sondern in anderen Reichen. Roya, zum
Beispiel, Karas grausame Schwester, mit der wir sehr üble Erfahrungen gemacht hatten. Deshalb war es durchaus möglich, daß diese andere Frauengestalt Atlantis oder eine ähnliche Welt durch ein magisches Tor verlassen hat, um in unsere Welt zu gelangen. Unsere Abteilung beim Yard war eben für derartige Phänomene zuständig. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Sonne schien oder es wie aus Kübeln goß. »Hast du den Film >Stirb langsam< gesehen?« fragte ich Suko. »Nur den zweiten Teil.« »Der war richtig. Da ging es auch auf einem Flughafen rund.« »Aber im Schnee.« »Der fehlt uns noch.« Der Rover schlingerte leicht, weil ich zu schnell gefahren war. Ich ging mit dem Tempo deutlich runter, als wir uns einem Hangar näherten. »Der Regen muß doch mal aufhören«, sagte Suko. Ich nickte verbissen und erschrak im selben Augenblick. Auch Suko hatte es mitbekommen. »Da ist sie!« schrie er mir ins Ohr und zeigte nach vorn, während ich sofort bremste, weil ich sie auf keinen Fall überfahren wollte. Wir standen, und das Fernlicht ließ nach wie vor den Regen glitzern. Als wäre es zwischen uns abgesprochen, lösten Suko und ich zugleich die Gurtverschlüsse. Wir hatten jetzt mehr Bewegungsfreiheit, stiegen aber noch nicht aus, weil wir das Bild, das sich unseren Augen bot, sehr detailliert aufnehmen wollten. Ich erinnerte mich an die Aussagen der Zeugen. Die Leute hatten davon gesprochen, daß die Gestalt der Frau stets von einem leichten bläulichen Schimmern umflort war. Genau das war auch hier der Fall, wobei dieser Schimmer nichts mit dem Licht aus unseren Scheinwerfern zu tun hatte. »Sie sieht tatsächlich aus, als käme sie aus einer anderen Dimension«, flüsterte Suko. Ich nickte nur und konzentrierte mich weiterhin auf das fremde, menschliche Wesen. Bei einigen Typen ist es modern, sich den Kopf kahl scheren zu lassen, und das war bei dieser Frau auch der Fall. Nur am Hinterkopf hatte sie eine Haarinsel stehenlassen. Der Kopf wirkte rund. Klein waren die Nase und der schmale Mund sowie die Augen. Das Gebläse lief, die Scheiben beschlugen nicht, und ich stellte mir die Frage, ob diese Person, die praktisch nur mit einem schmalen Tuch vorn bekleidet war, nicht fror. Allerdings reichte es vom Hals bis zu den kniehohen Schaftstiefeln. Drei Schwerter trug die Gestalt an der Hüfte, zwei weitere schauten aus einem am Rücken befestigten Köcher hervor, und die letzte Waffe hielt die fremde Kämpferin in der Hand.
»Ja, das ist sie!« murmelte Suko. Er konnte seinen Spott nicht unterdrücken. »Kommt sie dir irgendwie bekannt vor?« »Ja.« »Und?« »Sie erinnert mich an meine Großmutter, als diese noch jung war.« »Nein, mehr an meine.« »Wegen der nicht vorhandenen Haare?« »So ähnlich.« Das lockere Gespräch hatte die klamme Spannung zwischen uns abgebaut. Wir wußten beide, daß es nichts brachte, wenn wir im Rover blieben. Diese Person hatte auf uns gewartet, sie wünschte sich praktisch, daß wir etwas unternahmen. Ich warf meinem Freund einen entsprechenden Blick zu. »Ja, steigen wir mal aus.« Er öffnete die Tür. Der Regen rann auch weiterhin vom Himmel. Als ich die Tür an meiner Seite aufstieß und das Licht der Innenbeleuchtung aus dem Wagen floß, da hatte ich den Eindruck, in einen tiefen See zu steigen, dessen Oberfläche goldrot schimmerte. Und auf seinem Grund schien der See ein Geheimnis zu bewahren. Die Tür schlug an Sukos Seite zu, dann an meiner. Zugleich gingen wir los! *** Die Person bewegte sich nicht. Ihr schien auch der Regen nichts auszumachen, im Gegensatz zu uns oder zu mir, denn die kalten Tropfenbahnen peitschten in mein Gesicht. Im Nu waren auch die Haare durchnäßt. So ähnlich kletterte ich unter der Dusche hervor. Bei jedem Tritt peitschten meine Füße in die Pfützen hinein, und das Wasser spritzte hoch. Jetzt merkten wir auch den Wind, der auf dieser doch ziemlich freien Fläche ständig wechselte, mal von vorn kam, dann wieder von der Seite oder uns den Regen massenweise in den Rücken schleuderte. Die fremde Kämpferin sah aus wie eine Puppe. Nichts an ihr bewegte sich, selbst die Kleidung nicht, denn die klebte als nasser Lappen an ihrem Körper. Sie stand sogar noch so günstig im Fernlicht, daß wir erkennen konnten, welch tolle Rundungen sich unter dem nassen Stoff abmalten. Die Brustwarzen schimmerten wie geheimnisvolle dunkle Flecken. Was da vor uns stand, war ein Vollblutweib. Trotz des ungewöhnlichen Haarschnitts strahlte die Kriegerin sogar bei diesem Wetter eine exotische Erotik aus, gepaart mit der Wildheit einer Person, die genau wußte, wo es langging. Sie traf keinerlei Anstalten, eines ihrer Schwerter gegen uns einzusetzen. Ruhig blieb sie stehen und wartete einfach nur ab. Auch wir
beide ließen unsere Waffen stecken. Auf keinen Fall wollten wir die geheimnisvolle Person provozieren. Zumindest stand fest, daß sich die Zeugen nicht geirrt hatten. Nur war sie bei ihnen schon nach wenigen Sekunden wieder verschwunden, hier blieb sie jedoch länger, als hätte sie auf uns gewartet. »Begreifst du das?« fragte Suko. »Nein, noch nicht.« »Dann sind wir uns ja einig.« »Soweit schon…« »Was folgt jetzt?« Ich hob die Schultern. »Wir wollen im Prinzip nichts von ihr. Sie will etwas von uns. Oder warum ist sie denn wie aus dem Nichts so plötzlich erschienen?« »Vielleicht hat sie einen Auftrag oder eine Aufgabe für uns. Man kann ja nie wissen.« »Dann sollte sie sich artikulieren.« »Du sagst es.« Die Fremde aber tat nach wie vor nichts. Sie starrte uns nur an, denn wir waren interessant für sie. Nur wir – oder? Nein, etwas stimmte nicht. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie einzig und allein mich anschaute und meinen Freund außer acht ließ. Ich wollte es genau wissen, deshalb konzentrierte ich mich noch deutlicher auf ihr Gesicht und dort vor allen Dingen auf die Augen. Sie würden mir eine erste Antwort geben können. Es blieb dabei. Die Unbekannte starrte einzig und allein mich an. Suko war für sie nicht existent. Da ich es nun herausgefunden hatte, wurde mir unter dem Blick schon etwas komisch. Ich räusperte mich, bevor ich irgendwelche Worte fand und sie an meinen Freund richtete. »Hast du auch den Eindruck, daß sich die Kriegerin nur für mich interessiert?« »Ich wollte dich gerade darauf aufmerksam machen. Du scheinst ihr zu gefallen.« »Quatsch!« »Doch.« Ich wischte Wasser aus meinem Gesicht, was aber nichts brachte, denn der Regen klatschte mir weiterhin ins Gesicht. »Wenn es tatsächlich so ist, sollte ich sie locken.« »Wie willst du das tun?« »Indem ich zu ihr gehe.« »Ich halte dich nicht zurück, John.« »Okay, aber decke mir den Rücken.« »Geh schon.« Es fiel mir nicht leicht. Wir kamen uns vor, als hätte man uns aus der normalen Welt herausgerissen und in eine geschafft, in der es nur
Wasser und Regen gab. Daß hinter uns ein Auto mit eingeschaltetem Fernlicht stand, war irgendwie schon lächerlich, obwohl uns das Licht guttat, auch wenn der herabprasselnde Regen uns viel von einer klaren und normalen Sicht nahm. Ich stapfte durch die Pfützen und war längst bis auf die Haut naß. So hätte ich auch ausgesehen, wenn man mich in voller Montur aus einem Pool gezogen hätte. Die Kriegerin schaute zu, wie ich mich ihr näherte. Sie unternahm nichts, um mich zu stoppen. Nach wie vor wurde sie von der schwachen Aura umgeben, und das Schwert, das sie mit beiden Händen festhielt, wies mit seiner Spitze weiterhin nach oben. Kampfbereit sah sie nicht aus. Mein Optimismus stieg, denn Furcht spürte ich vor dieser Gestalt nicht. Höchstens eine gesunde Neugierde und ein gewisses Prickeln, das auf eine starke Spannung in meinem Innern hinwies. Ansonsten benahm ich mich ziemlich normal. Die Frau nicht. Plötzlich bewegte sie sich. Ob es ein kurzes Kopfschütteln gewesen war oder vielleicht mehr, das bekam ich nicht genau mit. Dafür lenkte mich etwas anderes ab. Das sie umgebende Licht nahm für einen Moment an Intensität zu. Es wurde hellblau und strahlend. Ich sah die Fremde innerhalb dieser Lichtinsel stehen, aber sie blieb dort nicht länger, denn urplötzlich war sie weg. Ausradiert, abgewaschen, zerplatzt, in den Erdboden getaucht, wie auch immer. Ich sah sie nicht mehr. Mit wenigen Schritten hatte ich den Ort erreicht, wo sie vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Aber da war nichts mehr, kein Rückstand, nichts, der vom Himmel fallende Regen hatte alles abgewaschen. Ich drehte mich langsam zu meinem Freund Suko um, der seinen Platz nicht verlassen hatte. Er sah für mich aus wie ein im Regen stehendes Denkmal. »Du hast es gesehen?« rief ich ihm zu. Er gab noch keine Antwort und kam langsam näher. Dabei nickte er. »Ja, ich habe es gesehen.« »Und?« »Wenn du eine Erklärung willst, die habe ich ebensowenig wie du, tut mir leid.« »Natürlich, Suko.« Ich wollte es trotzdem noch nicht wahrhaben und schaute mich um. Aber die Frau war nicht mehr da. Sie hatte auch keine Spuren hinterlassen. Sie war gekommen wie ein Geist, und sie war verschwunden wie ein Geist.
Die Welt um uns herum war nicht völlig dunkel. Ich nahm sie erst jetzt wieder auf. In der Tiefe des leeren Raumes gewissermaßen schimmerten Scheinwerfer wie kalte Sonnen, vor deren Gesichtern der Regen in dichten Schleiern fiel. Ich hörte wieder das Prasseln, ich spürte die Nässe und auch die Kälte des Wassers. Die Frau aber zeigte sich nicht mehr. Sie hatte mit uns ebenso gespielt wie mit den anderen Zeugen. Trotzdem glaubte ich daran, daß sie bei uns einen Unterschied gemacht hatte. Beweise dafür konnte ich nicht liefern, ich verließ mich einfach auf das Feeling. »Was hat das zu bedeuten, Suko?« »Darüber können wir gern reden. Nur bitte nicht hier. Laß uns in den Wagen steigen.« »Okay. Willst du fahren?« »Was sollen wir hier?« Ich hob die Schultern. »Wäre es möglich, daß diese Person noch einmal zurückkehrt?« »Das könnte sein.« »Zumindest haben die anderen Zeugen sie nicht nur einmal gesehen, das möchte ich festhalten.« »In der Tat.« Ich kam mit meinen eigenen Überlegungen noch nicht zurecht. Etwas sauer ging ich zurück zum Rover. Suko hielt sich an meiner Seite, schaute sich dabei ebenso wie ich immer wieder um. Wir stiegen ein und schlossen die Türen. Es geschah nichts, die Kriegerin ließ sich nicht mehr blicken. Die Normalität hatte uns wieder, aber dieses Hocken im Wagen war doch irgendwie anders, als würden wir auf einem Parkplatz in der Heide stehen. Suko strich sein Haar zurück und fragte: »Über was denkst du denn gerade nach?« »Ich warte darauf, daß sie erscheint. Es will mir einfach nicht in den Kopf, daß sie für immer verschwunden sein soll. Wir werden noch mit ihr Kontakt aufnehmen.« »Das denke ich auch, John. Nur muß das nicht gerade heute sein.« »Das sehe ich anders.« Die Geräusche des plätschernden Regens umgaben uns wie ein leises Trommelfeuer. In meinen nassen Sachen fing ich an zu frieren. Mit dem Starten des Motors drehte ich auch die Heizung hoch. Zudem wollte ich keine beschlagenen Scheiben haben. Das Telefon meldete sich wieder. Abermals war es der Einsatzleiter, der mit uns sprechen wollte. »Wir haben die Person gesehen!« erklärte Suko. »Was?« »Ja, aber nur einmal.« »Dann wird sie bestimmt wieder erscheinen. Versuchen Sie doch, die Person festzuhalten!«
»Können vor Lachen. Sie verschwand blitzartig.« »Mist!« »Wir melden uns wieder«, sagte Suko, der nicht wollte, daß der Einsatzleiter seinen Frust bei ihm ablud. »Fahr mal los, John. Am besten zum Hauptgebäude. Dort sehen wir dann weiter.« »Falls wir es erreichen.« »Was macht dich unsicher?« »Ich könnte mir vorstellen, daß sie plötzlich hier auftaucht und angreift.« »Glaube ich nicht. Ich schätze sie zwar als kriegerisch ein, aber nicht als blutrünstig. Keine Sorge, in Lebensgefahr sind wir in ihrer Nähe bestimmt nicht.« »Wie du meinst.« Uns ging die Person nicht aus dem Kopf, aber wir sprachen nicht darüber. Zumindest ich dachte daran, mich umziehen zu können. Vielleicht fand ich im Bereitschaftsraum der Sicherheitskräfte trockene Kleidung, die ich anziehen konnte. Ein Jogginganzug reichte mir schon. Der Regen hatte nachgelassen. Er prasselte nicht mehr so laut auf unseren Wagen. Im Fernlicht wirbelten unzählige Tropfen glitzernden Diamanten gleich. Aus den Regen- und Dunstschleiern erschienen die Umrisse der Gebäude. »Ihren Namen hätte ich gern gewußt«, murmelte ich vor mich hin. »Da kannst du sie gleich fragen.« Suko hatte die Frau einen Moment früher gesehen als ich. Sie stand plötzlich da, sie geriet deutlicher in das Licht, und ich konnte soeben noch abbremsen, sonst hätte ich sie überrollt. Wie ein Denkmal stand sie vor der Kühlerhaube. Das eine Schwert noch immer erhoben, aber sie hielt den Griff jetzt nicht mehr mit beiden Händen fest. Jetzt nahm sie nur die linke Hand, die rechte hatte sie frei, und damit winkte sie mir zu. Ich blieb sitzen. »He«, sagte Suko, »das galt dir.« »Ich weiß.« »Träum nicht und steig aus!« Er hatte recht. Ich öffnete die Tür und verließ mit langsamen Bewegungen den Rover. *** Der Regen klatschte mir wieder ins Gesicht. Meine Kleidung dampfte. Die Kriegerin wartete auf mich. Obwohl sie nicht anders aussah als bei ihrem ersten Erscheinen, glaubte ich nicht daran, daß sie so schnell und ohne Botschaft verschwinden würde. Sie hatte sich zum zweiten Mal
gezeigt und mir zugewinkt. Ich hatte dieses Zeichen verstanden und war aus dem Wagen geklettert. Die Tür schwang zurück. Die Frau wartete auf mich. Sie schaute mich an. Der Regen erwischte sie. Er rann in langen Bahnen an ihrem halbnackten Körper entlang und hinterließ auf der Haut ein blasses Muster. Auch das Gesicht und der fast kahle Kopf waren davon betroffen. Hin und wieder zwinkerte sie, weil sie nicht wollte, daß zuviel Wasser in ihre Augen sickerte. Ich bewegte mich am rechten Kotflügel entlang nach vorn. Ein kleiner Schritt trennte uns noch, als ich schließlich stehenblieb und wir beide uns aus dieser kurzen Distanz anschauten. Ich sagte nichts, auch die Frau schwieg, aber sie bewegte plötzlich ihr Schwert. Es senkte sich mir entgegen. Für einen Moment zogen sich meine Muskeln zusammen, weil ich damit rechnete, daß mich die Klinge zumindest verletzen würde. Meine Waffe zog ich trotzdem nicht. Die Überlegung sagte mir, daß sie mich nicht töten würde, dann hätte sie ihre Waffe anders bewegt, nicht so langsam. Es sah aus, als wollte sie mich zum Ritter schlagen. Das Schwert blieb mit seiner flachen Seite auf meiner Schulter liegen, und ich spürte den leichten Druck des Metalls. Es war mir nicht unangenehm, im Gegenteil, ich fühlte mich sogar wohl, denn dabei vergaß ich die nasse Umgebung und konzentrierte mich auf die Person. Sie lebte, sie war keine Puppe. Nichts, was aus einer anderen Welt kam und nur einfach hingestellt worden war. In den Augen glaubte ich eine Botschaft zu lesen. Ich hatte mich an den leichten Druck der Klinge auf meiner Schulter gewöhnt und mich ein wenig entspannt. Das merkte auch die Fremde, denn zum erstenmal flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Für mich war es die Aufforderung, sie anzusprechen, was ich auch gern tat, wobei meine Stimme allerdings leise blieb und soeben den Regen übertönte. »Du hast mich gesucht, nicht wahr?« Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Als sie schließlich bejahte, war ich wegen der Knappheit doch ein wenig enttäuscht und setzte sofort eine Frage hinterher. »Warum?« Wasser drang in ihren Mund, während sie sprach. »Du bist Sinclair.« »Ich kann es nicht leugnen.« »Es wird Zeit zu kommen.« »Kommen?« Ich runzelte die Stirn. »Eigentlich bin ich schon da. Wir beide stehen uns gegenüber.« »Nein, du bist nicht da, und ich bin auch nicht da, aber ich war da, John Sinclair.« Sie hatte zwar in Rätseln gesprochen, doch ich war neugierig geworden. »Wo bist du gewesen? Wo kommst du her?«
»Ich habe das Blut dampfen sehen, das den Boden tränkte. Die Gerechten haben es verloren. Ihr Leben versickerte auf dem großen, weiten Schlachtfeld. Aber die Geister der Toten erleiden schreckliche Qualen. Sie rufen und schreien nach Rache. Der Geistersturm braut sich zusammen, John Sinclair, und du wirst als einer der wichtigen Männer dabeisein müssen. Du bist wichtig.« »Für was bin ich wichtig!« »Das wirst du noch erleben.« Ich fühlte mich inzwischen viel sicherer. »Vielleicht hast du recht, aber dazu brauche ich Informationen.« »Die wirst du auch kriegen, aber nicht hier und nicht jetzt. Du mußt an den Ort des Blutes und des Leids kommen. Dort wirst du erwartet, John Sinclair.« »Kann sein. Aber mir fällt etwas anderes ein. Warum hast du dich hier mit mir getroffen? Es ist spektakulär. Hättest du es nicht auf eine andere Art und Weise einrichten können?« »Hätte ich, aber ich wollte so auf mich aufmerksam machen, daß du mir auch glaubst. Du wirst kommen müssen. Du wirst die Zeichen der Zeit schon erkennen.« Ich nickte. »Schön, vielleicht komme ich. Aber nur auf den Rat einer Unbekannten hin?« »Sie meint es gut mit dir.« »Wie heißt du?« Die Kriegerin schüttelte den Kopf. »Mein Name ist jetzt unwichtig. Ich habe dir nur beweisen wollen, wozu ich fähig war. Ich mußte so auftreten, um dich zu locken. Mein erstes Erscheinen war wie das Vorspiel zu einem Drama, das mit Sicherheit folgen wird.« »An dem Ort, den du schon erwähnt hast?« »Das ist richtig.« »Dann nenn mir den Namen. Ich bin leider völlig uninformiert. Ich kenne nichts.« »Culloden«, sagte sie, »merk ihn dir gut. Präge dir diesen Namen ein. Er allein wird in der nächsten Zukunft für dich zählen, und dort werden wir uns wiedersehen. Culloden, John Sinclair, behalte ihn…« »Gut, das werde ich!« »Sagt er dir nichts?« Ich gab noch keine Antwort, weil ich zuschaute, wie sie die Schwertklinge anhob. »Nein, im Augenblick nicht, aber ich werde sicherlich herausfinden, was das zu bedeuten hat.« »Ja, das wirst du, John Sinclair!« Sie betonte meinen Namen besonders, dann erschien das Flackerlicht und Zeichnete eine Spur um ihren Körper. Für einen Moment sah es so aus, als würde sich diese Spur verdichten und in der regennassen Luft bleiben.
Das stimmte auch, aber der Körper der Frau zog sich plötzlich zusammen, zugleich fiel der Lichtschein ineinander, und dann war die Stelle, wo die Unbekannte gestanden hatte, leer. Es gab die Frau nicht mehr. Sie hatte ihren Auftrag erledigt und gesagt, was zu sagen gewesen war. Ich atmete tief durch. Das leichte Bohren hinter meiner Stirn hörte auf. Dennoch fühlte ich mich leer und ausgebrannt. Ich dachte natürlich über die Erscheinung nach, aber ich kam mit ihr nicht zurecht. Sie hatte mir einige Informationen hinterlassen, die in der nahen Zukunft wichtig für mich werden würden. Das akzeptierte ich. Zuvor jedoch mußte ich den Weg dorthin finden. »Willst du hier festwachsen?« fragte Suko. Er war ausgestiegen und stand neben mir. »Nein.« »Dann komm in den Wagen.« Diesmal fuhr er. Suko hatte gesehen, daß ich mich mit anderen Dingen beschäftigte, und er stellte seine Frage erst, als er sich angeschnallt hatte. »Was ist denn passiert, John?« »Wir können Entwarnung geben.« »Hier auf dem Airport?« »Ja.« »Das wird die Verantwortlichen bestimmt freuen. Aber was ist mit dir, Alter? Du siehst aus, als wüßtest du zwar mehr, aber immer noch zuwenig, denke ich.« »So ist es!« »Wer war die Frau? Aber ich kenne ihren Namen nicht. Sie hat ihn mir einfach nicht gesagt. Sie wollte es wohl nicht.« »Obwohl du sie danach gefragt hast, denke ich.« »Ja.« »Hat sie dir nicht getraut?« »Ich weiß es nicht. Mir hat sie nur klargemacht, daß ich sie brauche und sie mich braucht.« Ich schüttelte den Kopf. Tropfen verließen dabei meine Haare und umwirbelten mich. »Es ist verrückt, aber es ist nicht zu ändern und eine Tatsache. Sie hat mich auf etwas hingewiesen, das für mich in der nächsten Zukunft wichtig sein wird. Auf Culloden…« Suko war überfragt. »Bitte?« Ich wiederholte den Namen. »Sagt mir nichts, John, wirklich nicht.« »Mir im Moment auch nicht.« »Hört sich allerdings sehr britisch an.« »Ja, das ist nicht falsch«, sagte ich gedehnt. »Und es hat auch irgendwie mit unserem Land zu tun. Mit Blut, mit Geistern, mit vielen Toten, mit einem Schlachtfeld. All das ist von dieser Kriegerin nur angerissen
worden. Ich werde versuchen, die Fäden zu verknüpfen. Dann haben wir die Lösung.« Ich schaute auf meine nassen Hände, als könnte ich dort den Weg ablesen. »Mich hat auch stutzig gemacht, daß diese Fremde meinen Namen überbetonte. Sie legte das Gewicht eben auf Sinclair. Als wäre dieser Name etwas Besonderes.« »Hat er denn etwas mit Culloden zu tun?« »Muß wohl.« »Das werden wir herausfinden«, sagte Suko. »Es sollte kein Problem für uns sein.« »Wir versuchen es.« Bevor wir anfuhren, schaute ich noch nach draußen. Dort verschwand die Welt in einem düsteren Regengrau. Sie war versackt in einer trostlosen. »Du kannst mich jetzt auslachen oder beschimpfen, Monotonie, und so ähnlich sah es auch in meinem Innern aus, wenn ich ehrlich war.« Das würde sich ändern. Zumindest hatte ich es mir stark vorgenommen… *** Beide hatten wir Glück gehabt und andere Kleidung gefunden. Sogar unter die Dusche hatte man uns steigen lassen. Mit den kratzigen Handtüchern hatten wir uns trocken gerieben und waren dann in die Jogginganzüge der Wachdienstleute gestiegen. Mir spukte der Begriff Culloden durch den Kopf, und ich wollte so schnell wie möglich weiterkommen. Natürlich waren wir von dem Einsatzleiter, einem gewissen Gregg Sorcy erwartet worden, um den aber kümmerte sich Suko. Ich hatte nur um ein Handy gebeten, was man mir auch gebracht hatte. Und mit dem Apparat in der Hand saß ich auf einer Bank im Bereitschaftsraum und tippte die Nummer meines Büros ein, wobei die Zahlen im Sichtfenster erschienen. Glenda Perkins hob ab, mit der ich mich jetzt nicht länger unterhalten wollte. Ich bat sie, mich zu Sir James durchzustellen. »Er ist da, du hast Glück. – Bist du okay?« »Kein Grund zur Besorgnis. Zwar etwas naß, aber das läßt sich aushalten.« Ich hatte die Antwort kaum gegeben, als ich niesen mußte, was Glenda nicht mehr hörte, denn für eine kurze Übergangszeit War die Leitung tot, bis ich die Stimme meines Chefs hörte, der über unseren Einsatz auf dem Airport informiert war. »Sie haben es geschafft, John, denke ich.« »Nur zur Hälfte.« »Oh, wie kommt es?« »Es gab doch einige Probleme. Im Prinzip geht es um eine ungewöhnliche Frau.«
Sir James hatte heute seinen humorvollen Tag. »Das ist ja nichts Neues bei Ihnen.« »Nur war diese Frau schon ungewöhnlich und für eine Liebschaft sicherlich nicht geeignet. Es geht um verdammt ernste Dinge, die mich persönlich zu betreffen scheinen.« »Dann erzählen Sie mal von Anfang an.« »Das wollte ich.« Mit dem Rücken drückte ich mich gegen die Wand und berichtete meinem Chef haarklein, was sich auf dem Rollfeld zugetragen hatte. Wie immer war er ein sehr guter Zuhörer. Er unterbrach mich nicht. Nur hörte ich ihn scharf atmen, als ich meinen Bericht beendet hatte. »Ja, Sir, das ist es gewesen. Wenn ich ehrlich sein soll, stehe ich etwas auf dem Schlauch.« »Warum?« »Diese Kriegerin hat mir da einen Ort oder einen Begriff genannt, mit dem ich nicht zurechtgekommen bin.« »Culloden?« »Genau!« »Himmel, John, wo bleiben Ihre Geschichtskenntnisse? Sie sollten wissen, was dort geschehen ist. Noch immer keine Ahnung?« »Nein.« »Dann werde ich Ihnen helfen.« »Das hatte ich gehofft, Sir.« Er brummte etwas, was ich nicht verstand, und servierte mir dann die Informationen portionsweise. »Culloden liegt in Schottland, John, gewissermaßen in Ihrer zweiten Heimat.« »Stimmt, Sir. Jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein. Culloden in Schottland.« »Eben.« »Aber bringt uns das weiter?« »Moment, John, Moment. Culloden ist ein Schlachtfeld. Dort wurde der letzte Widerstand der schottischen Clans von den Engländern blutig niedergeschlagen. Wenn man Ihnen berichtet hat, daß der Boden von Culloden mit dem Blut der Menschen getränkt ist, dann stimmt das schon. Dort starben Schotten und Engländer. Culloden ist eines der dunkelsten Kapitel britischer Geschichte.« »Danke, Sir, ich habe verstanden. Allmählich kehrt bei mir auch die Erinnerung zurück. In der Schule habe ich darüber mal etwas gehört, aber ich stelle mir die Frage, was Culloden mit mir zu tun hat. Können Sie das beantworten?« »Nein.« »Haben Sie einen Hinweis?« Der Superintendent lachte. »Sie geben nicht auf, wie?«
»Das macht der Job.« »Gut, dann denken wir mal einen Schritt weiter. Die schottischen Clans kämpften dort gegen die Engländer. Lassen Sie sich Ihren Namen auf der. Zunge zergehen, Sinclair. Das ist dem Ursprung nach französisch, was ich Ihnen nicht erst zu sagen brauche, aber auch in Schottland ist Ihr Name weit verbreitet. Oder muß ich Sie noch an den Sinclair-Clan erinnern, den es dort gibt?« »Nein, Sir, aber es ist gut, daß Sie mich darauf hingewiesen haben. Es könnte eine Spur sein.« »Sie haben sich um den Clan der Sinclairs nie gekümmert?« »Eigentlich nicht.« »Auch nicht, wenn Sie bei Ihren Eltern waren?« »Da war ich immer mit anderen Dingen beschäftigt. Seltsamerweise hat sich mein Vater sehr zurückgehalten. Vielleicht deshalb, weil wir lange Zeit in London gelebt haben, da ist die Vergangenheit der Sinclairs oder des Clans doch in Vergessenheit geraten. Ich werde versuchen, dieses Grab wieder zu öffnen.« »Nicht nur das, John. Sie können zudem davon ausgehen, daß während der Zeit auch Mitglieder des Sinclair-Clans gestorben sind. Das genaue Datum der Schlacht kenne ich nicht. Es muß um 1750 gewesen sein, aber das läßt sich alles nachlesen. Jedenfalls ist Culloden eine unwirtliche Gegend, ein mooriges Hochland, eine Heimat für den Teufel.« »Oder für eine namenlose Kriegerin, wie ich sie kennengelernt habe.« »Wobei Sie diese Frau hoffentlich noch wiedersehen, wenn Sie nach Culloden gereist sind.« »Das denke ich auch.« Sir James kam wieder auf die aktuellen Probleme zu sprechen. »Auf dem Flughafen läuft wieder alles normal, denke ich.« »Trotz des schlechten Wetters. Die Kriegerin wird sich dort nicht mehr blicken lassen. Ihren Auftrag hat sie spektakulär erledigt und mich auf die Spur gebracht.« »Wann werden Sie reisen?« »Morgen, denke ich. Und dann auch ohne eine Erklärung. Ich möchte die Nacht noch etwas Ruhe haben.« »Einverstanden.« »Wir reden dann später miteinander, Sir. Ich muß mich bei mir in der Wohnung noch umziehen.« »Tun Sie das.« Es war ein langes Gespräch gewesen, und mir schwirrten einige Gedanken und Begriffe durch den Kopf, wobei sich der Name Culloden immer mehr in den Vordergrund schob. Dort waren die schottischen Clans bis auf geringe Reste vernichtet worden. Sie waren es gewesen, die sich immer gegen die Herrschaft der Engländer gesträubt hatten. Der
Dichter Friedrich von Schiller hatte diese Auseinandersetzung in ein Drama gefaßt. Maria Stewart wurde heute noch an fast jeder Schule gelesen. Auch in diesem Drama hatten die Schotten verloren, denn Maria war letztendlich geköpft worden, und ihre Widersacherin Queen Elizabeth hatte triumphieren können. Die Geschichte zwischen Schotten und Engländern war nie unproblematisch gewesen. Es war immer Blut geflossen, und auch heute noch war ein Schotte beleidigt, wenn er als Engländer bezeichnet wurde, denn Culloden war nicht vergessen worden. Ich sah noch keine Verbindung zu meiner Person, die Jahrhunderte später existierten. Natürlich dachte ich auch an die fremde Kriegerin und stellte mir die Frage, ob sie damals schon dabeigewesen war. Ja oder nein? Wenn ja, dann hatte sie auf irgendeine magische Art und Weise überlebt und war nun zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückgekehrt, um mich in die Auseinandersetzung, die anscheinend noch weiterging, einzubinden. Gefallen konnte mir das nicht, aber ich würde mich auch nicht dagegen wehren können. Nie hatte man Ruhe. Immer wieder kam etwas Neues hinzu, aber so war mein Leben eben. Ich erhob mich von der Holzbank, die alles andere als bequem war. Der Raum hatte keine Fenster. Er war so gemütlich wie eine Leichenhalle. Die grün gestrichenen Wände zeigten einige Sprüche und Schmierereien. Da hatten die Jungs einfach ihren Frust abladen müssen. Ich packte meine feuchten Klamotten zusammen, legte sie über meine Schulter und verließ den Raum. Durch einen Gang gelangte ich in das richtige Büro, wo Suko mit dem Einsatzleiter hockte. Gregg Sorcy grinste sogar wieder. Ich ließ mich auf einem Stuhl nieder und schaute durch die breite Scheibe. Es regnete nicht mehr. Die dunklen Wolken waren zur Seite getrieben worden, und ein blauer Himmel spannte sich über dem Flughafengelände. »Läuft der Betrieb wieder normal?« »Ja, Mr. Sinclair, und es wurde auch Zeit.« »Das kann ich verstehen.« Sorcy beugte sich vor. »Sagen Sie mal, sind Sie ein Stück weitergekommen?« »Bin ich.« »Und?« Ich schaute in seine blassen Augen, die sich von der Haarfarbe kaum abhoben. »Leider kann ich mit Ihnen darüber nicht sprechen, Mr. Sorcy. Aber Sie brauchen keine Befürchtungen zu haben, daß diese Person wieder bei Ihnen erscheint. Das ist vorbei.«
»Vorbei.« Er lachte bitter. »Warum ist sie überhaupt erschienen und hat den Flughafen lahmgelegt? Wir sind doch hier nicht im Kino, verdammt!« »Stimmt.« »Dann geben Sie mir wenigstens auf diese Frage eine normale Antwort.« »Ich kann auch nur vermuten, daß sie auf sich aufmerksam machen wollte, und das ist ihr gelungen. Ob Sie es glauben oder nicht, sie brauchte uns, sie hat dafür gesorgt, daß Sie, Mr. Sorcy, korrekt reagiert haben. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Was daraus folgt, ist nicht mehr Ihr Problem. Darum werden wir uns kümmern.« »Hoffentlich. Haben Sie denn eine Erklärung, wieso und weshalb sie erscheinen konnte?« »Habe ich leider nicht.« »Das ist nicht viel, verdammt!« »Weiß ich, aber wir bleiben an dem Fall.« »Dann sollten wir auch jetzt verschwinden«, schlug Suko vor. »Schon mal herzlichen Dank für die trockene Kleidung, Mr. Sorcy.« »Schon gut.« Der Einsatzleiter war ziemlich sauer, was ich sogar verstehen konnte. Er hatte sicherlich mit weiteren Informationen gerechnet. Die konnten wir ihm beim besten Willen nicht geben. Er machte seinen Job, wir den unserigen. Er brachte uns noch bis zum Wagen. Im Freien hörten wir den Lärm der startenden und landenden Maschinen. Auf der einen Seite erlebten wir eine hochtechnisierte Welt, auf der anderen aber schlug immer wieder die Vergangenheit zu und steckte uns auch oft genug die Grenzen ab, was ich als gar nicht mal so schlimm fand. Die nasse Kleidung fand Platz auf dem Rücksitz. Diesmal saß ich wieder am Lenkrad, und als ich startete, sagte mein Freund Suko mit einem leicht fragenden Unterton in der Stimme. »Das war wohl erst der Anfang.« »Worauf du Gift nehmen kannst.« »Lieber nicht, ich möchte noch etwas leben…« *** Ich war froh, als ich meine kleine Wohnung erreichte und Suko bei Shao abgeliefert hatte. Zu lange hatte ich die nassen Klamotten getragen und fror noch immer. Dagegen half ein Schluck. Der gute Scotch erinnerte mich wieder an Schottland, und abermals kam mir der Begriff Culloden in den Sinn. Das Schlachtfeld der Geschichte. Blutgetränkt, wo Tausende von Menschen beider Parteien ihr Leben hatten lassen müssen, weil Engländer und Schotten es nicht geschafft hatten, sich zu einigen. Verrückte hatte es leider zu allen Zeiten gegeben, und das hatte sich bis zum heutigen Tag
nicht geändert, denn noch immer tobten zu viele Kriege auf unserer Welt, als hätten die Menschen Bretter vor den Köpfen. Ich stand neben dem Schrank, sann über die Probleme nach, die allmählich persönlich wurden, denn mir fiel wieder diese Frau mit dem fast kahlen Kopf ein. Verdammt noch mal, wer war sie? Ich hätte sie doch intensiver nach ihrem Namen fragen sollen. Auf der anderen Seite schien sie mir stark genug zu sein, nur das sagen zu wollen, was sie auch wollte, und so blieben meine Vorwürfe ziemlich schwach. Zweimal mußte ich wieder niesen. Ich fror zudem und wollte noch einmal unter die heiße Dusche. Dann würde ich mit Suko reden und einen Plan ausarbeiten. Vielleicht konnte mir auch Bill Conolly helfen, der geschichtlich immer sehr interessiert war. Es lag im Bereich des möglichen, daß er mehr über Culloden wußte, und ich war für jeden Tip dankbar. Die nasse Kleidung hängte ich über den Rand der Badewanne und zog den fremden Jogginganzug aus. In ihm hatte ich mich nicht wohl gefühlt, auch nicht unter der fremden Dusche. In meiner vertrauten Umgebung genoß ich dagegen das heiße Wasser, das über meinen Körper floß, als wollte es mich auf eine besondere Art und Weise streicheln. Das Prasseln der Wasserstrahlen auf meinem Körper erinnerte mich wieder an den auf dem Rollfeld erlebten Regen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn plötzlich die Kriegerin hinter den Strahlen wie ein böser Geist erschienen wäre, um mich zu vernichten. Das geschah nicht. Ich duschte ungehindert, stieg dann auf die außen liegende Matte und konnte mich wieder abtrocknen. Die frische Kleidung hing im Schlafzimmer, das ich wenig später betrat. Unterwäsche, ein dunkelblaues Cordhemd, eine ebenfalls blaue Jeans. So fühlte ich mich wesentlich wohler. Auch die Erinnerung an die Kriegerin verblaßte allmählich. Ich spürte, wie die Spannung in mir stieg, sie sich sogar in eine gewisse Vorfreude auf das verwandelte, was mich in Schottland erwartete. Im Wohnzimmer hatte sich nichts verändert. Ich schlüpfte in meine flachen Ledertreter und wollte schon zum Hörer greifen, um Suko anzurufen, als mir etwas auffiel. Doch es gab eine Veränderung. Direkt neben dem Telefon, wo tatsächlich noch Platz genug war, lag dieses Zeichen. Es sah aus wie ein überdimensionales Lesezeichen, und ich wußte genau, daß es vor dem Duschen dort nicht gelegen hatte. Wer hatte es dort vergessen? Ich hob es an. Das Schild bestand aus Kunststoff, und ich betrachtete die Vorderseite sehr genau.
In einem Wappen zeigte es den Griff eines schwarzen Kreuzes oder eines Schwerts. Auf der oberen Kante des Wappens war ein Helm abgebildet, und auf dem Helm stand ein Hahn. Er krallte sich dort fest, wo auch ein rotes Tuch wie ein Schleier an der Rückseite des Helms entlanglief, und das Tier schaute stolz in den Himmel. Ein schwarzer Körper, grünes Gefieder, ein roter Kamm und ein gelber Schnabel. Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen Blick nach unten schweifen. Unter dem Wappen war der ansonsten weiße Hintergrund und ein grün, rot und blau gefärbtes Karomuster. Zwei helle Stoffbänder, deren Enden eingeschnitten waren, umspielten es. Das alles nahm ich nur am Rande wahr, denn mich interessierte mehr das, was sich direkt unter dem Wappen abzeichnete. Es war ein in einem Signet geschriebener Name, und den wiederum kannte ich sehr gut. SINCLAIR *** Ich ließ das Zeichen fallen, als wäre es plötzlich heiß geworden. Es landete wieder neben dem Telefon, und mein eigener Name verschwamm für einen Moment vor den Augen. Ich flüsterte ihn und schüttelte den Kopf. Natürlich wußte ich, was dieses Bild bedeutete. Es war das Zeichen des Sinclair-Clans, und ich wußte auch, daß jeder schottische Clan sein eigenes Wappen hatte. Es schössen mir andere Namen durch den Kopf, die ich allerdings rasch wieder vergaß. Mich interessierte einzig und allein der Name Sinclair! Außerdem wollte ich wissen, wer mich besucht hatte, als ich unter der Dusche stand. Er hatte mir dieses Andenken hinterlassen, sicherlich nicht grundlos. Es kam praktisch nur eine Person in Frage: die unheimliche Kriegerin vom Flughafen. Sie war in meiner Wohnung gewesen und hatte mir den Beweis hinterlassen. Er war wieder ein Hinweis auf Schottland, indirekt also auf das Schlachtfeld von Culloden, und allmählich wurde mir das Geschehen doch unheimlicher. Ich hätte mich schon früher mit der Vergangenheit meiner Familie beschäftigen sollen. Wenn ich ab heute dazu gezwungen wurde, hoffte ich, daß es nicht zu spät war, und der Fall wurde immer drängender. Wer konnte mir helfen? Sicherlich die Unbekannte, die aber ließ sich nicht blicken. Ich dachte an meinen Vater, der sich in Schottland seinen Ruhesitz gesucht hatte. Möglicherweise wußte er mehr, nur hatte ich bei meinen Besuchen in Lauder nie über die Herkunft des Namens Sinclair und unserer Ahnherren gesprochen. Jetzt mußte es sein.
Nachdenklich ließ ich mich in den Sessel fallen. Das Telefon hatte ich auf meinen Schoß gestellt. Die Nummer meiner Eltern wußte ich auswendig. Es war auch jemand im Haus. Meine Mutter meldete sich. Wie immer beschwerte sie sich, weil ich mich ihrer Meinung nach viel zu selten meldete und sie noch seltener besuchte. Den letzten Jahreswechsel hatte ich bei ihnen verbracht und war auf der Rückfahrt in einen mörderischen Fall hineingeraten, in dem die Satanisten eine Rolle spielten. »Willst du deinen Besuch anmelden, Junge?« »Nicht direkt, Mutter.« »Aha.« »Ich werde wohl nach Schottland fahren. Wenn ich es einrichten kann, komme ich in Lauder vorbei, ansonsten hätte ich gern mit Vater gesprochen.« »Da hast du Pech gehabt, er ist nicht da.« Ich war enttäuscht. »Für länger?« »Nein, nein, er ist mit Bekannten in den Wald gegangen. Dort müssen wohl einige Bäume gefällt werden. Am Abend ist er wohl wieder da, falls die Männer nicht wieder in einem Pub landen.« Ich mußte grinsen, als ich das hörte, aber ich gönnte meinem alten Herrn den Schluck. »Kann ich dir denn helfen, Junge?« »Danke, Mutter, aber ich glaube nicht.« »Willst du es nicht versuchen?« Ich seufzte, denn ich kannte meine Mutter. Wenn die einmal etwas gespürt hatte, ließ sie nicht locker. »Nun, Junge?« »Weißt du, Mutter, das ist ein wenig kompliziert. Es geht eigentlich nur um unseren Namen.« »Bitte? Wieso das denn?« »Das fragte ich mich auch. Dabei kam mir in den Sinn, daß Vater möglicherweise etwas mehr über die Sinclairs und deren Vergangenheit weiß. Ich werde ihn aber noch darauf ansprechen.« »Denkst du an den Sinclair-Clan, den es auch heute noch in dieser Gegend gibt? Seine Heimat ist eigentlich weiter nordwestlich von unserem Wohnort.« »An den habe ich gedacht.« »Da muß ich dich enttäuschen, John. Dein Vater und ich haben nie großen Kontakt zum Clan der Sinclairs gehabt. In dieser Hinsicht sind wir wenig traditionell. Uns gefällt auch nicht, daß soviel Wirbel darum gemacht wird, denn die Vergangenheit sollte man ruhen lassen.« »Welche meinst du, Mutter?« Die Antwort verriet, daß sich meine Mutter schon ein wenig in der Geschichte auskannte.
»Ich erinnere mich an eine blutige Schlacht, von der in den schottischen Schulen zu meiner Zeit oft gesprochen wurde.« »Culloden.« »Genau, John.« »Weißt du mehr darüber?« »Interessiert es dich?« »Ja.« Meine Mutter ließ nicht locker. »Dann scheint es mit deinem neuen Fall zusammenzuhängen.« »Das könnte sein.« »Schade, John«, sagte sie, »daß du bei mir an der falschen Adresse bist. Ich kann dir darüber kaum etwas sagen. Aber ich könnte darüber in Büchern nachlesen.« »Das kann ich auch, Mutter.« »Was ist denn nun genau los? Warum interessiert dich die historische Schlacht so?« »Ich bin noch nicht dahintergestiegen, Mutter, aber ich arbeite daran.« »Du willst mir nichts sagen.« »Ich kann es nicht.« »Hör auf, Junge. Ich kenne dich genau. Du willst deine alte Mutter dumm lassen.« »Nein, aber ich darf dich küssen.« »Durchs Telefon?« »Wie sonst?« »Ich wollte, du wärst hier.« »Wird sich schon irgendwie machen lassen, Mutter. Vielleicht rufe ich heute abend noch mal an.« »Oder soll Vater zurückrufen?« »Ich weiß nicht, ob ich im Haus bin. Gib auf dich acht, Mutter.« »Gleichfalls, John.« Lächelnd legte ich auf. Es war immer wieder ein Erlebnis, mit meiner Mutter zu sprechen. Ich wünschte ihr und auch meinem Vater noch ein langes Leben. Fernab großer Aufregungen, die sich leider nicht immer vermeiden ließen. Die Spur war da. Sie hatte sich mir zum zweiten Mal präsentiert. Ich brauchte nur die Augen zu verdrehen, um das Wappen der Sinclairs zu sehen. Es gab also eine Verbindung zwischen der Unbekannten und dem Clan der Sinclairs. Ich hatte plötzlich den Wunsch, sie zu sehen und auch ihren Namen zu erfahren. Für eine Person wie sie stellte es kein Problem dar, in andere Wohnungen zu gelangen. Sie brauchte sie nicht mal aufzubrechen, denn sie schaffte es, sich aus der Vergangenheit heraus zu materialisieren. So etwas war für die meisten Menschen zwar unglaublich und unwahrscheinlich, nicht aber für mich, denn ich hatte des öfteren mit
dem Phänomen zu tun. Jedenfalls mußte Suko eingeweiht werden. Ich wollte schon aufstehen, um ihn nebenan zu besuchen, als ich aus dem Flur bestimmte Geräusche hörte. Es waren Tritte, und sie stammten von einem Menschen, der sich dem Wohnraum näherte. Sekunden später tauchte sie auf. Ich war nicht überrascht, als mein Blick auf sie fiel, die mit gemächlichen Schritten das Wohnzimmer betrat und dicht hinter der Flurtür stehenblieb. »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte«, sagte ich mit einem Lächeln. Sie nickte nur. Ich hatte mich nicht erhoben, schaute sie an und stellte fest, daß sie diesmal keine Waffe gezogen hatte. Aber sie trug die Schwerter noch. Drei steckten in ihrer rechten Seite, die anderen Griffe schauten aus einem Köcher hervor. Sie trug zwar dieselbe Kleidung wie auf dem Flugfeld, aber sie wirkte nicht mehr so nackt. »Sie können sich setzen«, sagte ich. »Nein, ich bleibe stehen.« »Wie Sie wollen.« Ich gab mich locker. »Wollen Sie einen Schluck zu trinken? Einen guten Whisky aus Schottland?« »Nein.« »Gut, dann nicht.« Ich legte die Hände zusammen und nickte meiner Besucherin zu. »Mich würde es natürlich interessieren, weshalb Sie hier erschienen sind, und auch Ihr ungewöhnlicher Aufzug stimmt mich irgendwie nachdenklich. Es kommt mir vor, als stammten Sie aus einer anderen Zeit. Liege ich da richtig?« »Du hast recht.« »Das ist gut. Was ist mit dem Haarschmuck passiert? Weshalb hat man dich geschoren?« »Ich wollte es so.« »Gab es dafür einen Grund?« »Bestimmt, aber er ist jetzt nicht wichtig. Ich will, daß du in Schottland erscheinst. Ich habe dir von Culloden berichtet. Dieses Schlachtfeld ist für einen Sinclair sehr wichtig, denn das Blut deiner Ahnen hat dort die Erde getränkt.« Ich wehrte ab. »Moment mal, da bin ich mir nicht so sicher. Meine Ahnen? Stamme ich denn von einer direkten Sinclair-Linie ab, oder habe ich den Namen eher durch Zufall erhalten? Mit den schottischen Clans habe ich bisher nicht viel im Sinn gehabt.« »Ich weiß es nicht genau, John, aber du bist in diesem Fall schon sehr wichtig.« »Warum?« »Weil die Toten keine Ruhe geben.« »Welche?«
»Beider Parteien.« »Und was ist mit dir?« »Ich werde erst mal als Beobachterin bleiben. Aber nimm es hin, John, die Toten geben keine Ruhe. Sie wollen das Jenseits verlassen, um als gewaltige Geisterheere über den Himmel zu jagen. Es wird zu einem Geistersturm kommen, zu einem Sturm der Rache, denn die Niederlage von Culloden ist nicht vergessen.« »Das sollte sie aber. Die Zeiten haben sich geändert.« »Schaffst du es denn, die Toten im Zaum zu halten?« »Nein, keine Geister.« »Ich weiß, wie mächtig du bist. Du bist ein Sinclair, du bist ein besonderer Sinclair, und du bist erwählt worden, um den Geistersturm zu stoppen.« »Deshalb hat man dich geschickt.« Die Kriegerin schüttelte den Kopf. »Du hast ein falsches Bild von mir. Ich bin nicht geschickt worden, ich habe mich von allein dazu entschlossen, weil ich sehe, daß es so nicht weitergehen kann. Aber ich bin leider zu schwach, ich werde den Geistersturm nicht aufhalten können. Es muß mir jemand zur Seite stehen, der stärker ist als ich. Jemand, der zu einem Held werden kann.« Ich winkte ab. »Das Kompliment ehrt mich ja, aber da hast du dir wohl den Falschen ausgesucht. Ein richtiger Held bin ich nie gewesen, und ich werde wohl auch keiner werden.« »Ich sehe es anders, John.« »Dann tut es mir leid.« »Du wirst in Culloden erscheinen müssen.« »Das hatte ich auch vor. Ich habe da nur ein Problem. Ich hätte gern gewußt, mit wem ich es zu tun habe. Du bist mir als Person zwar lieb und teuer, sage ich mal locker, aber mit namenlosen Frauen oder auch Männern arbeite ich nicht gern zusammen.« »Ich habe einen Namen.« »Willst du ihn mir nicht nennen?« »Doch.« »Dann bitte.« Sie machte es sehr spannend. »Du hättest selbst darauf kommen können, denn wir müssen zusammenhalten…« »Moment mal…« Sie redete weiter, nichts konnte sie mehr stoppen. »Mein Name ist Geraldine Sinclair!« *** Klatsch, das hatte gesessen!
Ich versteinerte, zumindest kam es mir so vor. Wie eine Figur blieb ich in meinem Sessel hocken und starrte die Person an, die sich mir als Geraldine Sinclair vorgestellt hatte. Es gibt viele Sinclairs. In diesem Zusammenhang jedoch hatte mich ihr Erscheinen schon überrascht, und es würde sicherlich dauern, bis ich mich damit abgefunden hatte. Eine Sinclair also. Eine Vorfahrin. Eine Frau, die mit ihren Waffen umgehen konnte, sonst würde Sie die Schwerter sicherlich nicht am Körper tragen. Geraldine Sinclair. Jeder Buchstabe löste sich auf und schwirrte dabei durch meinen Kopf. Es war wirklich nicht einfach für mich, damit zurechtzukommen, aber als eine entfernte Verwandte konnte ich sie nicht ansehen. Der Clan der Sinclairs hatte sich im Laufe der Jahre auch zu sehr verzweigt. Er war nicht zusammen geblieben. Die Sinclairs waren ausgewandert, da brauchte ich nur an Henry St. Clair zu denken. Sie waren in alle Himmelsrichtungen verstreut. Nicht jedem Sinclair konnte ich freundschaftliche oder verwandtschaftliche Gefühle entgegenbringen. »Warum sagst du nichts, John?« »Ich bin überrascht.« »Das sehe ich dir an.« »Nun ja«, sagte ich und stand auf. »Jetzt weiß ich auch, weshalb das Wappen der Sinclairs dort liegt.« »Ich habe es dir gebracht.« Mein Blick wechselte vom Wappen zu Geraldine hin. »Und was ist der Grund gewesen?« »Ich wollte dich an deine Pflichten als Sinclair erinnern. Dieses Wappen ist Herausforderung und Verpflichtung zugleich.« »Für was soll es eine Herausforderung sein?« »Für Culloden.« »Das ist vorbei, die Schlacht gehört der Vergangenheit an. Sie ist in die Geschichte eingegangen. Es tut mir leid, aber ich fühle mich nicht berufen, dort einzugreifen oder zu versuchen, an einem Rad zu drehen.« »Das brauchst du auch nicht. Das Rad, von dem du gesprochen hast, dreht sich bereits.« »Wie äußert sich das?« Ihre glatte Stirn zeigte leichte Falten, als Geraldine die Haut bewegte. »Die Geisterheere haben sich bereits versammelt. Sie warten auf den Sturm, den großen Angriff, und es muß einen geben, der sich ihnen entgegenstellt.« Ich wies mit dem Zeigefinger gegen meine Brust. »Das soll ausgerechnet ich sein?« »Das Schicksal hat dich ausgesucht.« »Nein, nein, Geraldine. Ich denke mir, daß du es eher gewesen bist als das Schicksal.«
»Ich habe nur seinen Befehlen gehorcht. Auch ich fand keine Ruhe, John. Wenn es dich beruhigt, ich werde auch in unserer Heimat an deiner Seite sein. Nicht immer, aber oft. Und so werden wir zwei Sinclairs Rücken an Rücken kämpfen und versuchen, die Feinde aufzuhalten.« »Nicht wir beide«, stellte ich richtig. »Wir werden zu dritt sein. Mein Freund und Kollege Suko wird uns begleiten.« Geraldine hatte nichts dagegen. Sie sagte: »Um so besser für uns.« »Dann stemmen wir uns zu dritt gegen den Geistersturm?« »Wir werden es versuchen.« »Prima, ich freue mich schon.« Sie lächelte mich an, dann kam sie auf mich zu, und plötzlich sah ich sie nur eine Handbreit von mir entfernt. Die Kleidung war hell und sollte wohl auch nicht alles verbergen. Hinter dem Stoff schimmerte der Körper, die nackten Brüste, die geschwungenen Hüften, die langen Beine, das war die glatte Versuchung, und in meiner Kehle fing es an, trocken zu werden. »Ich bin eine Frau«, sagte sie, »und du bist ein Mann. Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo wir uns näher kennenlernen.« Sie streichelte mein Gesicht mit ihren zarten Fingern. Bevor ich auf die Berührung reagieren konnte, trat sie zurück, und plötzlich tanzte wieder das blaue Licht um ihren Körper, das sie von der Stelle und aus der Welt wegriß, in der sie sich befand. Meine Besucherin verschwand. Zurück blieb ich und das Wappen der Sinclairs. Für mich der Beweis, daß ich nicht geträumt hatte. Ich brauchte einen weiteren Whisky auf diesen Schreck! *** Suko lag auf dem Bett, als ich die Wohnung nebenan betrat. Er hatte sich auf den Bauch gewälzt, er war nackt und ließ sich von Shao massieren, deren geschickte Hände seine Muskeln durchkneteten, was nach der kalten Feuchtigkeit sicherlich guttat. »Ach ja, so toll möchte ich es auch mal haben«, dachte ich laut nach. »Kannst du, John«, sagte Shao. »Leg dich daneben.« »Nein, jetzt nicht. Später vielleicht.« Ich wedelte mit dem Wappen. »Eine Besucherin hat mir etwas hinterlassen, Freunde. Es ist das Wappen der Sinclairs.« Ich ließ es neben Sukos Gesicht fallen, der noch gar nicht richtig mitbekommen hatte, was da gesagt worden war. »Noch mal, bitte. Ich schwebe noch immer im siebten Massierhimmel. Wie war das?« Ich gab meine zweite Erklärung ab, und Suko schoß förmlich in die Höhe. Er schlang sich ein Handtuch um die Hüften, blieb auf der Bettkante hocken und fragte:
»Sag nicht, daß du von unserer kriegerischen Freundin Besuch bekommen hast.« »Habe ich aber.« »Und sie hat dir etwas hinterlassen?« »Das Wappen. Sie wollte mich darauf hinweisen, wie dringend der Fall doch ist.« »Und? Läßt du dich darauf ein?« »Ich habe mich schon entschlossen. Wir sollten nicht morgen, sondern schon heute so weit fahren, wie wir kommen. Unterwegs können wir irgendwo übernachten.« Suko nickte. »Mein lieber Mann, dann muß es wirklich drängen. Oder sehe ich das überspitzt?« »Auf keinen Fall. Wenn ich den Aussagen dieser Person trauen darf, dann hat sich schon einiges zusammengefunden, was uns nicht gefallen darf. Ein Geistersturm.« »Du sagst immer diese Person«, sprach Shao unwillig. »Hat sie denn keinen Namen?« »Doch, den hat sie.« »Und?« »Sie heißt…«, ich legte eine kleine Pause ein, »Geraldine Sinclair.« Suko sagte nichts, auch Shao schwieg. Beide schauten mich an, als hätte ich sie angelogen. Shao wiederholte den Namen leise und fügte hinzu: »Eine Verwandte gewissermaßen, die schon seit einigen Jahren nicht mehr lebt – oder?« »Du kannst es so sehen. Eine Ahnherrin, auch wenn ich nicht davon überzeugt bin, daß es die direkte Linie ist, von der ich abstamme. Dazu haben sich die Sinclairs zu sehr verzweigt. Der Clan ist praktisch zerstreut worden. Andererseits dürfte es keine so große Überraschung für mich sein, denn auf dem Schlachtfeld von Culloden haben sich die Clans dem englischen Heer gestellt.« »Auch die Sinclairs«, sagte Suko. »Die waren sicherlich mit dabei.« Suko schüttelte den Kopf, weil er noch nicht zufrieden war. »Und was sollen wir jetzt dort? Mehr als zweihundert Jahre später?« »Da gibt es das Geisterheer oder den Geistersturm, der sich zusammengebraut hat. Er muß gestoppt werden, wie mir Geraldine Sinclair erklärte. Sie hat mich oder uns ausersehen und will an unserer Seite kämpfen.« Mein Freund sah aus wie jemand, der auf einer Zitronenscheibe kaut. »Sag mal, was ist das überhaupt? Wie stellt sich deine entfernte Cousine das eigentlich vor?« Über die Cousine mußte ich grinsen. »Ich weiß es nicht. Gehen wir davon aus, was wir über Geister wissen. Feinstoffliche Wesen, die in den Gräbern keine Ruhe gefunden haben…«
»Was Geraldine aber nicht ist«, unterbrach mich Suko. »Ich meine feinstofflich.« »Nein, sie ist echt.« »Sie hat trotzdem überlebt«, sagte Shao. Ich hob die Schultern. »Ist sie ein Zombie?« wollte Suko wissen. »Ich meine, du hast sie ja aus der Nähe erlebt. Ich kenne sie nur aus der Distanz.« »Zombies sehen anders aus, vorausgesetzt, sie sind aus irgendwelchen Gräbern gekrochen. Ich weiß nicht genau, wer Geraldine ist. Ich würde sie, wenn du mich so fragst, als ein Phänomen bezeichnen.« »Viel können wir damit auch nicht anfangen.« »Das gebe ich zu.« »Aber wir sind auf sie angewiesen.« »In Schottland schon.« Suko schob sich in die Höhe und zog Shao an sich. »Was meinst du dazu? Sollen wir jetzt schon fahren?« »Wenn es sein muß.« »Okay.« Ich lächelte vor mich hin. Diese Antwort paßte zu Shao. Sie sah gewisse Dinge ein, und sie wußte zudem, welchem Job Suko nachging. Außerdem lag auch auf ihrer Herkunft ein geheimnisvoller, magischer Schleier. Ich brauchte da nur an die Sonnengöttin Amaterasu zu denken, die tatsächlich Shaos Ahnfrau gewesen war. »Ich gehe dann mal rüber und packe«, sagte ich zu den beiden. »Soll ich anklingeln?« »Tu das.« Von Shao verabschiedete ich mich durch zwei Wangenküsse. Ich befand mich noch nicht in meiner Wohnung, als ich bereits das Telefon hörte. Rasch schloß ich die Tür auf, legte das Abbild des Wappens wieder neben den Apparat und meldete mich mit keuchend klingender Stimme. »Habe ich dich bei irgendwas gestört, John?« fragte mein Vater und wünschte mir dann einen guten Tag. Von seinem Haus aus rief er nicht an, im Hintergrund hörte ich Stimmenwirrwarr. »Deine Mutter hat mich hier telefonisch erreicht und sprach davon, daß du Probleme hast.« »Sie übertreibt.« »Weiß ich doch, John. Um was geht es?« »Um Culloden.« »Die Schlacht?« »Ja, und ich habe das Gefühl, daß sie sich als mächtiger Toten- oder Geistersturm wiederholen wird. Da braut sich was zusammen, Vater, und das sage ich nicht nur so daher.« »Kannst du mir Einzelheiten nennen?« »Es wird aber länger dauern.« »Macht nichts.«
Ich nahm meinem Vater noch das Versprechen ab, über das Gehörte zu schweigen, dann berichtete ich haarklein, was mir widerfahren war, und ich überraschte ihn wirklich damit, als er den Namen Geraldine Sinclair hörte. Den hatte ich gewissermaßen als Sahnehäubchen zum Schluß des Berichts draufgesetzt und schloß eine Frage an. »Sagt dir der Name Geraldine Sinclair etwas?« »Im Moment nicht.« »Kennst du dich in der Clan-Geschichte aus? Kann sie durch irgend etwas hervorgetreten sein?« »John, ich bin darüber nicht informiert. Du weißt selbst, daß wir uns da zurückgehalten haben, aber ich werde mich so bald wie möglich kundig machen. Das verspreche ich.« »Es wäre gut.« Mein Vater räusperte sich. Er erklärte einem anderen Gast, daß er in Ruhe telefonieren wollte, dann meldete er sich wieder. »Aber diese Geraldine ist doch tot«, sagte er vorsichtig. »Sicher.« »Trotzdem taucht sie bei dir in der Wohnung auf und besucht dich? Das ist mir unverständlich. Zumindest habe ich meine leichten Probleme damit.« Ich lachte leise in den Hörer. »Muß ich dich noch darauf hinweisen, Vater, was alles möglich ist?« »Das nicht gerade, dazu hast du schon zuviel erlebt. Aber du mußt mich verstehen, es trifft mich in diesem Fall besonders, weil der Name Sinclair eine Rolle spielt.« »Das kann ich mir vorstellen. Nur hätten wir beide uns früher mit der Clan-Geschichte auseinandersetzen sollen. Was nicht ist, kann noch werden.« Es war eine verklausulierte Aufforderung an meinen alten Herren, etwas für die Aufklärung zu tun. Er versprach mir, alles in die Wege zu leiten. »Wo kann ich dich denn erreichen?« »Ich werde dich anrufen. Irgendwo auf der Reise werden Suko und ich übernachten.« »Gut, John. Eine Frage habe ich trotzdem noch. Sie betrifft ein bestimmtes Gebiet. Kennst du das Schlachtfeld von Culloden?« »Nein, ich war nie dort.« Ich sah meinen Vater förmlich, wie er nickte. »Es ist eine Gegend, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Unwirtlich, windig, in einer Hochlage und sumpfig. Zudem ein verfluchter Ort, das weiß ich schon, denn der Boden ist mit dem Blut der Schotten und Engländer getränkt. Hin und wieder versammeln sich dort die Abordnungen der Clans, um der Schlacht zu gedenken.« »Weißt du, wann sie sich dort wieder einfinden?« »Nein. Ich müßte nachforschen, wenn es dir wichtig erscheint.« »Alles ist wichtig, Vater, was sich um Culloden dreht.«
»Ich werde mein Bestes tun. Gute Fahrt.« »Danke und grüße Mutter noch mal.« »Werde ich machen.« Mir stand schon der Schweiß auf der Stirn, als ich den Hörer wieder aufgelegt hatte. Mit einem derartigen Fall war ich noch nicht konfrontiert worden, dabei wußte ich schon, daß Geisterheere durchaus verbreitete Spukerscheinungen sind. In der Geschichte unseres Landes wurde viel gemetzelt, an Teilnehmern war kein Mangel. Einiges stimmte, das meiste nicht. Wir würden herausfinden, welche Rolle Geraldine Sinclair und dieses Geisterheer spielten. Der nächste Anruf galt meinem Chef, Sir James. Ihm erklärte ich, daß wir schon früher starten wollten. »Da wollte ich Sie schon darauf hinweisen. So haben Sie mehr vom nächsten Tag.« »Gibt es etwas Neues, Sir?« »Nein. – Bei Ihnen?« »Auch nicht.« Ich wollte Sir James nicht unbedingt mit meinen Familienproblemen belästigen. Nach dem Telefonat packte ich meinen kleinen Koffer, löschte das Licht im Zimmer und verließ die Wohnung. Suko war ebenfalls bereit. Auf dem Weg in die Tiefgarage fragte er: »Welchen Wagen nehmen wir denn?« »Deinen.« »Warum das denn?« »Der muß doch mal wieder gescheucht werden, denke ich. Oder willst du ihn verrotten lassen?« »Steig schon ein«, sagte ich und ging mit langen Schritten auf seinen BMW zu. *** Es klarte auf, und der Himmel bekam eine prächtige Weite, die von mächtigen Wolkenklumpen, die wie weiße Welten aussahen, geschmückt wurde. Da wir am frühen Nachmittag gestartet waren, konnten wir schon einige Meilen schaffen, und irgendwann, als das Industrierevier Mittelenglands hinter uns lag, rückte Suko mit dem Vorschlag heraus, doch bei meinen Eltern in Lauder zu übernachten, auch wenn wir erst ziemlich spät und bei Dunkelheit dort eintreffen würden. »Ist mir recht, wenn du so lange durchhältst.« An einer Tankstelle kaufte ich etwas zu essen. Pfannkuchenähnliche Gebilde, die in einer Mikrowelle rasch erhitzt worden waren. Das junge Mädchen, das mich bediente, fragte ich: »Was ist denn mit der Füllung?« »Soll mexikanisch sein.«
»Ist es das auch?« »Ich habe sie noch nicht probiert.« Zwei Büchsen Wasser kaufte ich auch noch, ging wieder zurück zu Suko, der auf einen Parkplatz gefahren war, um sich zu entspannen. Er riß die Laschen der Dosen auf, während ich die Pfannkuchen aus dem Papier wickelte und Suko mich mit einem skeptischen Blick bedachte. »Schau nicht so kuhartig. Es gab nichts anderes.« »Und was ist das?« »Mexikanische Pfannkuchen.« »Wie lecker.« Ich reichte ihm einen, natürlich mit Papier. »Probier erst mal, bevor du dich beschwerst.« Er biß hinein, ich tat das gleiche, wir schauten uns an und nickten zugleich. »Schmeckt besser, als es aussieht«, gab mein Freund zu. »Ich werde dich demnächst immer zum Einkaufen schicken.« »Darauf freue ich mich schon.« Wir stiegen aus und vertraten uns die Beine. Es wehte ein frischer Wind hier oben, der sich nach Norden hin sicherlich noch verstärken würde. Der Tag war schon relativ lang, und da meine Eltern nicht weit von der Grenze entfernt wohnten, hatte ich durchaus die Hoffnung, es zu schaffen. Suko war als erster mit seinem >Mahl< fertig. Er warf den Papierrest in einen Papierkorb, nachdem er sich die Hände abgewischt hatte, und stellte mir eine Frage. »Sag mal, wir haben soviel von Culloden geredet, jetzt möchte ich endlich mal von dir wissen, wo wir es genau finden. Oder kennst du dich auch nicht aus?« »Nicht direkt.« »Aber?« »Denk an Inverness, das berühmte Loch Ness. Es liegt südöstlich von Inverness und etwas nordöstlich des Sees mit dem großen Ungeheuer.« Mein Freund bekam große Augen. »Auch das noch!« »Was stört dich?« »Das ist doch die Gegend der Rucksackwanderer und der Wohnwagenfahrer.« »Das stimmt, aber nicht um diese Zeit. Warte ein paar Monate, dann erlebst du den Ansturm.« Suko schaute auf die Uhr. »Fahren wir, sonst werfen wir deine Eltern noch aus den Betten.« Er hatte recht. Wir hatten noch ein Stück vor uns. Da wir nicht über einen Motorway fuhren, kamen wir nur langsam voran. Anrufen wollte ich nicht, ich freute mich auf das überraschte Gesicht meiner Eltern. Hoffentlich war es meinem Vater gelungen, etwas mehr über die Sinclairs herauszufinden. Das hätten wir alles schon vorher haben können, aber man kann nicht an alles denken.
Natürlich drehten sich meine Gedanken auch um die geheimnisvolle Geraldine. Wenn ich sie mir so vorstellte, dann konnte ich kaum daran glauben, daß sie den großen Kampf Vor mehr als zweihundert Jahren mitgemacht hatte. So wie sie sich zeigte, hatten die Krieger damals einfach nicht ausgesehen. Sie mußte meiner Ansicht nach eine besondere Funktion gehabt haben. Welche das war, das würde sie mir hoffentlich irgendwann sagen. Eigentlich hätte ich ja schlafen können, aber ich war innerlich einfach zu aufgewühlt. Die Begegnung mit dieser Geraldine ließ mir einfach keine Ruhe, zudem ließ ich mich von der grandiosen Landschaft gefangennehmen, die im Norden immer mehr anstieg, wo sich die Kette der Grampian Mountains abzeichnete. Und nicht weit davon entfernt lag Lauder, eingebettet in eine wald- und wiesenreiche Hügellandschaft. Ein ruhiger Ort, für meine Eltern der ideale Ruhesitz, und beide genossen auch ihr Leben, das stand fest. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, als wir in Lauder einfuhren. Eine kleine Stadt, gemütlich, fest in die Gegend integriert. Die wenigen Lampen gaben nur einen schwachen Schein ab. Das meiste Licht drang aus den Fenstern der Häuser. Es warf Bahnen auf Gehsteige und Straßen. Wir fuhren auch an der Polizeistation vorbei. Ich dachte dabei an Sergeant McGrath, der hier noch immer seinen Dienst versah, und ich stellte mir vor, welche Augen meine Eltern machen würden, wenn ich plötzlich vor ihnen stand. Ihr Haus stand etwas abseits, auf einer kleinen Anhöhe. Auch diesen Weg kannte ich im Schlaf. Der BMW schob sich langsam hoch, das Licht der Scheinwerfer begleitete uns wie ein Gespenst. Ich sah die alte Linde, die im Sommer Schatten spendete, und ich freute mich darüber, daß noch Licht im Haus war. »Sie sind noch auf!« Suko ließ den Wagen vor der Tür ausrollen und gähnte. »Ja, und ich werde mich jetzt hinlegen. Die Fahrt war happig.« »Du wolltest ja unbedingt durchfahren.« »Weiß ich. Komm raus.« Als die Wagentüren zuschlugen, hielt uns die Dunkelheit umschlungen. Über dem Eingang leuchtete eine Lampe. Wahrscheinlich war unsere Ankunft gehört worden. In der Tat, denn jemand öffnete die Tür. Mein Vater stand im Licht. Er sah zwei Gestalten, ein Auto, konnte uns noch nicht erkennen, dann rief ich: »Hunger habe ich auch!« »Nein«, sagte Horace F. Sinclair. »Nein, das gibt es nicht!« »Doch!« Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Wer ist denn gekommen?« rief eine weibliche Stimme aus dem Innern des Hauses. »Es ist John!« »Was?«
Mein Vater lachte auch, als ich vor ihm stand und wir uns in die Arme fielen. Ich schaute über seine Schulter hinweg in die große, viereckige Diele mit den Holzbohlen, sah meine Mutter kommen, deren Gesicht Staunen und Unglauben widerspiegelte. Hinter uns schloß Suko die Tür, und dann schob Mutter ihren Mann weg, um den Sohn in die Arme schließen zu können. Sie sprach von einer Überraschung, mit der sie ja nie gerechnet hätte. Sie lachte und beschwerte sich darüber, daß wir nicht angerufen und Bescheid gesagt hatten, begrüßte auch Suko und erklärte, daß sie augenblicklich etwas zubereiten würde. »Ein paar Sandwiches reichen.« »Gut, gut.« Die gute Mary Sinclair war aufgeregt, während mein Vater seine Freude nach außen hin nicht so stark zeigte. Er bat uns in sein Arbeitszimmer, da er mit uns reden wollte. »Ich bringe euch alles rüber, wenn es fertig ist!« versprach meine Mutter und wirbelte in der Küche, als wäre sie vierzig Jahre jünger. Das Arbeitszimmer meines Vaters war gemütlich eingerichtet. Den Schreibtisch brauchten wir nicht, sondern nahmen in der Sitzgruppe aus Leder Platz. Er schaute mich an, als ich etwas zu trinken holte. Für meinen alten Herrn einen Whisky, für mich ebenfalls, nur Suko wollte nichts. Er sah sehr müde aus. »Willst du dich schon hinlegen?« fragte ich. »Wäre mir am liebsten.« »Okay, dann komm.« Suko entschuldigte sich bei meinem Vater, der aber winkte ab. »Lieber Himmel, wer so lange gefahren ist, der hat auch das Recht, sich aufs Ohr zu legen.« »Danke, bis morgen dann.« Als meine Mutter dann erfuhr, daß sich Suko hinlegen wollte, kam sie durcheinander. Sie sprach davon, das Bett frisch beziehen zu müssen, was gar nicht nötig war, denn es war alles sauber genug. Ich schob sie schließlich aus dem Zimmer, und Suko, der schon auf der Bettkante saß, sagte: »Du kannst mir später erzählen, was es gegeben hat.« »Mache ich. Gute Nacht.« »Dir auch.« Meine Eltern waren schon dabei, den kleinen Tisch zu decken, der zwischen den Sesseln stand. Auch der Kaffee war schon fertig, die Sandwiches ebenfalls, die meine Mutter mit Pastete beschmiert oder mit Roastbeef und Putenfleisch belegt hatte. Wir aßen, und ich erfreute mich an den Blicken meiner Eltern. Sie waren wirklich froh über den Besuch. Mein Vater sprach davon, daß wir geflogen sein mußten. Kauend nickte ich und grinste.
»Iß, John. Ich habe noch mehr.« »Ich kann das ja nicht mal schaffen.« »Soll ich Suko auch noch etwas…?« Ich winkte ab. »Um Himmels willen, Mutter, nur das nicht! Er liegt schon im Bett. Suko war platt, wie man so schön sagt, und ich werde auch nicht lange aufbleiben.« »Kann ich verstehen«, sagte mein Vater. »Du willst aber sicherlich mehr wissen.« »Das wäre gut.« »Viel habe ich nicht erfahren können. Zumindest keine Einzelheiten. Ich habe in meinen Büchern nachgeschaut. Es war 1746 eine hoffnungslose Schlacht. Eintausendzweihundert Highlandern stand eine vierfache Übermacht gegenüber. Sie hatten keine Chance. Die Engländer waren zu stark, sie brachen den Widerstand brutal. Der Moorboden von Culloden ist mit dem Blut der Männer getränkt.« »Und unser Clan war auch dabei?« »Das nehme ich an. Ich werde mich aber in der Zukunft mehr um die Ahnenforschung kümmern, John.« »Eine gute Idee. Wie redet man über das Gebiet? Ich bin ja nicht grundlos auf Culloden hingewiesen worden. Gibt es dort irgendwelche Vorkommnisse, über die ich mehr wissen sollte?« »Du meinst übersinnliche?« »Sicher.« Horace F. Sinclair hob die Schultern. »Das kann ich dir nicht mit Bestimmtheit sagen. Es gibt gewisse Gerüchte, daß es auf dem Schlachtfeld von Culloden spuken soll. Hin und wieder hat man Geistererscheinungen gesehen.« »Auch am Himmel?« »Das kann ich dir nicht sagen, John. Wieso am Himmel?« »Es wurde von einem Geisterheer und einem Geistersturm gesprochen. Was sich so interpretieren läßt, daß plötzlich ein Heer von Toten über den Himmel braust.« »Mein Gott, das hört sich ja schrecklich an!« flüsterte meine Mutter. »Es ist nur eine Vermutung«, schwächte ich ab. Mein Vater schüttelte den Kopf. »Darüber habe ich nichts gehört. Daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, das weiß ich von dir. Du hast ja den Besuch einer gewissen Geraldine Sinclair bekommen.« »Und ob.« »Hat sie denn keine Einzelheiten genannt?« »Kaum. Sie sprach nur von Culloden und erwähnte das Geisterheer und den Geistersturm.« »Was könnte das bedeuten?« Ich hob die Schultern. »Willst du es nicht sagen?«
Ich aß ein Sandwich auf. »Wenn man den Faden weiterspinnt, kann man davon ausgehen, daß sich die Geister der toten Kämpfer nicht damit abgefunden haben, die Verlierer zu sein. Sie werden ihre Welt verlassen und versuchen, Rache zu nehmen.« »Rache? An wem?« »An den Siegern.« »Die gibt es auch nicht mehr. Zu viele Jahre sind inzwischen vergangen. Ich sehe da kein Motiv.« »Ich auch nicht. Aber welchen Grund sollte eine Geraldine Sinclair gehabt haben, mich zu besuchen?« »Sie wird es dir bestimmt noch sagen. Ich kann mir vorstellen, daß sie dich in Culloden erwartet. Allerdings in einer leeren, menschenfeindlichen Umgebung. Am liebsten würde ich ja mitfahren und mir das alles anschauen.« »Kommt nicht in Frage, Horace, du bleibst hier!« Mein Vater schaute mich bedauernd an. »Da hast du es, John, wieder die Frauen.« »Weiß ich.« »Sei froh, daß ich mir noch Sorgen um dich mache.« »Sicher, Mary.« Der alte Herr zwinkerte mir zu. »Was hältst du von einem kleinen Verdauungsspaziergang?« »Viel.« »Wollt ihr in die Kneipe?« »Das hat keiner von uns gesagt, Mutter. Nur etwas frische Luft schnappen. Wir bleiben auch in der Nähe des Hauses, darauf kannst du dich verlassen.« »Hoffentlich.« Ich zog mir die Jacke über, denn die Nächte waren ziemlich kühl, und mein alter Vater streifte sogar die Winterjacke über. Vor dem Haus atmete er tief durch. »Es geht doch nichts über einen kleinen Spaziergang am Abend, findest du nicht auch?« »Klar.« Ich schlenderte neben meinem Vater her, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Aber bist du einfach nur wegen der kühlen Luft mit mir nach draußen gegangen, oder gibt es andere Gründe?« »Es gibt andere.« »Und welche?« »Laß uns noch ein Stück gehen, Junge.« Wir bewegten uns auf die Linde zu und blieben unter ihren Zweigen stehen. Dort rückte mein Vater mit der Wahrheit heraus. »Ich habe seit deinem Anruf heute den Eindruck, beobachtet zu werden, John, und deshalb bin ich auch froh, daß ihr den Weg zu uns gefunden habt.« »Beobachtet?« dehnte ich. »Von wem?« »Das weiß ich nicht.« »Du hast also nichts gesehen?«
»So ist es. Es basiert mehr auf einem Gefühl.« »Aber was hat dir dieses Gefühl eingegeben? Da muß doch ein Grund vorhanden gewesen sein.« Der alte Herr hob die Hand und schlug nach einem Ast. »Wenn ich dir das sage, hältst du mich für übergeschnappt. Ich hatte das Gefühl, einen Schatten zu sehen, der plötzlich in meiner Nähe auftauchte.« Er nickte sich selbst zu. »Ja, John, es war ein Schatten, der auf einmal da war und mich irritierte. Zu Recht bin ich damit nicht gekommen, aber ich war beunruhigt.« »Kann ich mir denken. Und weiter?« »Nichts weiter.« »Du kannst dir auch keinen Grund vorstellen?« Er schaute mich an. Im Dunkeln sah sein Gesicht schattig und zugleich bleich aus. »Doch, John, es könnte mit unserer Familie zusammenhängen. Lach mich nicht aus, aber es ist die einzige Möglichkeit, die mir einfiel.« Ich hatte ihn schon verstanden, fragte aber doch weiter. »Oder mit einem Familienmitglied?« »Das ist auch möglich.« »Geraldine Sinclair.« Er nickte. Ich holte tief Luft. Unglaublich, unbegreiflich, unmöglich, das waren Begriffe, die ich mir abgeschminkt hatte oder es noch immer versuchte. Manchmal jedoch wurden wir mit Tatsachen konfrontiert, auf die diese Begriffe paßten, wie jetzt, als mein Vater von seiner Beobachtung sprach, die ihn doch besorgt gemacht hatte. »Du sagst nichts, John?« »Ich denke nach.« »Das habe ich auch getan, Junge.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Aber ich bin leider zu keinem Resultat gekommen. Wenn es tatsächlich dieses Wesen Geraldine war, das auch mich beobachtete, warum hat es das getan? Warum hat es sich nicht gezeigt?« »Keine Ahnung, Dad.« »Es ist schwierig.« »Nicht nur das. Es muß mit unserer Familie zusammenhängen. Aber nicht mit der jetzigen, sondern mit der, die einmal auf dem Schlachtfeld von Culloden gekämpft hat. Was immer dort passiert ist, wir wissen es leider nicht. Ich denke auch, daß ich nicht die Zeit bekomme, mich näher und besser zu informieren, Dad. Wir müssen morgen weiter. Culloden wartet auf uns. Dort wird sich dann einiges klären, nehme ich an.« »Du tappst auch im dunkeln.« »Ja.« Ich trat gegen einen Stein und lauschte, wie er wegrollte. »Ich tappe im dunkeln, weil man mich mit nur wenigen Informationen versorgt hat. Das war ziemlich gerissen von meiner Namensvetterin. Aufklären und entscheiden wird sich alles in Culloden.«
Mein Vater nickte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Eigentlich geht es ja auch mich etwas an. Ich bin ebenfalls ein Sinclair, auch wenn mich die Clan-Geschichte nicht so interessiert hat.« »Weshalb eigentlich nicht?« Er hob die Schultern. »Gute Frage, auf die ich dir eine ehrliche Antwort geben möchte. Ich bin weder Reaktionär noch Traditionalist, John. Ich lebe jetzt, ich will mit dem ganzen Kram nichts mehr zu tun haben. Was vergangen ist, das ist vergangen, John. Es interessiert mich einfach nicht. Ich mag keine Treffen von Kriegsveteranen, ich mag auch die Zusammenkünfte der Clans nicht, die es nach wie vor gibt. Ich will dir die einzelnen Namen nicht aufzählen, du kennst sie ja. Sie haben Verbindungen, sie kontrollieren die Spirituosen-Industrie hier oben, aber was da in den inneren Kreisen und Zirkeln läuft, kann ich dir nicht sagen.« »Gut, Dad, gut. Trotzdem stehen wir plötzlich im Brennpunkt. Da suche ich nach dem Grund.« »Ich auch.« »Zwei Dinge sind wichtig.« Ich ging einige Schritte zur Seite. »Culloden und der Name Sinclair. Irgendwo muß es eine Brücke geben, die beide verbindet.« »Ich kenne sie nicht.« Er hatte gegen meinen Rücken gesprochen, und ich drehte mich wieder um. »Hast du Mutter von den Dingen erzählt?« »Nein.« »Auch nicht von dem Gefühl, beobachtet zu werden, nehme ich an.« »So ist es.« »Wie war es? Hier draußen? War es im Haus?« »Sowohl als auch.« »Das ist nicht gut. Wir stehen also unter Kontrolle. Wer kann es sein? Was haben wir getan?« Unwillig schüttelte mein Vater den Kopf. »Gar nichts, John, wirklich nichts.« »Mal sehen.« Ich blickte auf Lauder hinunter, wo die Lichter sehr schwammig und blaß aussahen, denn wegen der Feuchtigkeit hatte sich auch wieder Dunst bilden können, der in dünnen Schleiern über das Land zog und alles einzupacken schien. Ich horchte zudem in mich hinein. Wenn mein Vater das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden, dann konnte sich das auch auf mich übertragen, doch ich merkte nichts. Eine völlig normale Stille umgab uns. Nur hin und wieder trug der Schall das Geräusch eines fahrenden Wagens zu uns hoch. »Ich glaube, ich werde ins Haus gehen, John.« »Ja, tu das.« »Du bleibst noch?«
»Ich drehe eine Runde.« Er kam zu mir. »Meine Worte haben dich schon beunruhigt, kann ich mir vorstellen.« »Wenn du so willst, ja.« »Sorry, aber ich habe es nicht gewollt.« »Schon gut, Dad. Es ist immer gut, wenn man mit wachen Augen durch die Welt läuft.« Mein Vater wollte etwas sagen, aber er traute sich nicht. Plötzlich schien er einzufrieren. »Was hast du?« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir nicht genau sagen, John. Aber sie sind da.« Ich hatte rasch geschaltet. »Die Beobachter?« »Sicher!« flüsterte er. Warum spürte ich sie nicht, sondern nur mein Vater? Ich schaute in die Höhe, da war aber nichts zu sehen. Mein Blick glitt weiter und erfaßte das Geäst der Linde. Ein Stück entfernt standen weitere Bäume, eine alte Eiche und eine Platane. Ich zwinkerte. Hatte sich dort etwas bewegt? Die Zweige zumindest standen still. Aber zwischen ihnen schob sich etwas vor, das aussah wie eine Wolke. Nebel, Dunst… Ich lief auf den Baum zu. Es wurde kälter, ohne daß es einen erklärbaren Grund dafür gegeben hätte. Dann war es vorbei! Urplötzlich hatte mich die Kälte verlassen, und in meiner unmittelbaren Nähe schien etwas durch die Finsternis gesaust zu sein. Ich ging wieder zu meinem Vater zurück, der mich sehr ernst anschaute. »Du hast es ebenfalls gespürt?« »Stimmt.« »Es war kalt, nicht?« »Wie ein Hauch.« »Richtig. Hast du etwas gesehen?« »Nein oder ja. Einen Schatten vielleicht. Etwas, das sich durch die Luft bewegte.« Horace F. Sinclair nickte und stöhnte leise auf. »Ja, da hast du recht, John. So ähnlich ist es auch bei mir gewesen. Ein Schatten, aber keine Gestalt mit Augen.« »Laß uns hineingehen.« »Und dann?« »Lege ich mich hin, Dad. Ich war zwar nur Beifahrer, müde bin ich trotzdem.« »Was ich verstehen kann.« Meine Mutter hatte schon gewartet, und sie schaute uns prüfend an.
Ich kannte den Blick von früher her. So hatte sie mich immer angesehen, wenn ich zu spät aus der Schule gekommen war und ich dann merkte, daß Ausreden keinen Sinn hatten. Sie hatte immer gespürt, daß einiges nicht in Ordnung war, wie auch jetzt. »Was ist denn los gewesen?« »Nichts.« »Das glaube ich nicht.« »Warum nicht, Mutter?« Auch sie dachte an frühere Zeiten. »Du siehst so aus wie damals als Schüler, wenn du mal wieder was angestellt hattest. Irgendwas muß doch draußen gewesen sein.« Mein Vater hielt sich klugerweise zurück. »Da war auch was, Mutter. Nebel, Dunst, Geister, die durch die Luft tanzten und uns verschlingen wollten.« »Hör auf, John, hör bitte auf!« Sie drohte mit dem Zeigefinger. »Ich kriege es noch heraus. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß etwas Schlimmes geschieht, wenn du zu Besuch bist. Es wäre für uns alle wirklich besser gewesen, wenn du den Beruf deines Vaters ergriffen hättest, wie es eigentlich mal vorgesehen war.« »Ich eigne mich nicht zum Anwalt.« »Unsinn, Junge, das kann man lernen.« »Gelernt habe ich noch nie gern.« »Daß du auch immer das letzte Wort haben mußt!« Sie schüttelte den Kopf, lächelte aber dabei. »Wie geht es jetzt weiter? Habt ihr noch etwas vor an diesem Abend?« »Ich lege mich lang.« »Habe ich mir gedacht, John. Es liegt alles bereit. Das Bett ist frisch bezogen und…« »Nein, laß es doch.« »Ist aber passiert.« Ich bedankte mich bei meiner Mutter durch Küsse auf die Wangen, was sie dahinschmelzen ließ. Bei ihrem Mann war sie weniger herzlich. »Ich denke, daß wir auch in die Betten gehen. Oder hast du noch zu arbeiten?« »Nein, ich bin auch froh, wenn ich liegen kann.« »Das meine ich doch…« *** Im Haus meiner Eltern hatte ich ein eigenes Zimmer. Es gab auch ein Gästebad, wo ich mich kurz gewaschen und mir die Zähne geputzt hatte. Ziemlich müde schlich ich zurück in den Schlafraum, wo nicht nur das Oberbett dick war, sondern auch das Kopfkissen. Es war wirklich ein
Genuß, in einem derartigen Bett zu liegen. Ich löschte das Licht der Nachttischlampe, nachdem ich mich hingelegt hatte. Eigentlich hätte ich auf der Stelle einschlafen müssen, das passierte jedoch nicht. Die Müdigkeit wurde von einem anderen Gefühl überdeckt. Ich lag kaum lang, als ich die Unruhe merkte, die sich in mir aufgestaut hatte. Eine Nervosität, die wohl auf die Bemerkungen meines Vaters und letztendlich auch auf meine eigenen Erlebnisse draußen vor dem Haus zurückzuführen war. Da mußte sich etwas verändert haben. Da war etwas gewesen. Eine geheimnisvolle Sache, mit der ich nicht zurechtkam. Ein verstecktes Beobachten, wie mein alter Herr es schon richtig gesagt hatte. Aber wer und was? Aus dem Reich der Toten, aus irgendeiner anderen Dimension? So etwas konnte immer eintreffen, es war auch möglich, und ich gehörte ja nun zu denjenigen, die nicht eben Freunde irgendwelcher Dämonen waren. Dieser Fall war nicht wie jeder andere. Er fiel insofern aus dem Rahmen, weil er nur mich etwas anging. Es war eine persönliche Sache, die ich mit irgendwelchen Gegnern auszufechten hatte. Der Grund dafür lag weit in der Vergangenheit, ungefähr zweihundert Jahre zurück. Culloden! Das alte Schlachtfeld. Die Erde, die vom Blut vieler Menschen getränkt war. Wo auch meine Vorfahren oder zumindest Menschen mit meinem Namen tatkräftig gekämpft hatten. Was war dort passiert? Es mußte einfach etwas geschehen sein, dessen Auswirkungen nach so langer Zeit noch ans Tageslicht krochen. Die Unruhe in mir wuchs. Am liebsten wäre ich aufgestanden und durch das Haus getigert. Das wiederum konnte ich meinen Eltern nicht zumuten, denn meine Mutter hätte sich mit ihren Fragen sicherlich nicht zurückhalten können. Statt dessen setzte ich mich aufrecht hin. Hinter meinem Rücken bildete das hohe Kissen eine Stütze. Wenn ich nach links schaute, sah ich den Schatten des Fensters. Die Stores waren nicht vorgezogen, den Umriß konnte ich deshalb deutlich erkennen. Ich schaute gegen das matte Blau der Scheibe, von dem sich der Rahmen heller abhob. Dahinter drückte die Dunkelheit der Nacht gegen Mauern und Fenster. In der Umgebung und auch innerhalb des Hauses war es still. Suko schlief tief und fest im Nebenzimmer. Ich gönnte es ihm, denn er war persönlich nicht so engagiert wie ich. Meine Blicke blieben am Viereck des Fensters hängen. Ich dachte an die unnatürliche Kälte und an die Bewegung innerhalb der Bäume. Täuschung oder nicht?
Die Antwort gab mir tatsächlich der Blick zum Fenster, denn dahinter tat sich etwas. Eine Bewegung! Wolkig, lautlos, unheimlich! Ich blieb wie erstarrt hocken, denn ich wußte, daß etwas auf mich zukommen würde. Mir war auch klar, daß mich keine Mauer vor den Tatsachen schützen konnte. Die Gedanken hingen noch in meinem Gehirn nach, als ich bereits die Kälte spürte, die durch das Zimmer strich und auch mich nicht ausließ. Sie glitt über meinen Körper, über das Gesicht hinweg, auch über das Oberbett, und ich hatte den Eindruck, als wäre meine Haut von einem Reif bedeckt worden, der dafür sorgen sollte, daß ich mich nicht mehr bewegte. Und dann waren sie da! Vor Staunen riß ich die Augen weit auf, denn die Geister in diesem Zimmer hatten Gestalt angenommen. Es waren nicht nur neblige Gebilde, ich sah jetzt Unterschiede. Sie füllten den Raum mit ihren schrecklichen Fratzen und den langen Knochenklauen aus, die immer wieder gegen mich stießen, mich auch berührten oder erwischten, es aber trotzdem anders war, als wären sie noch dreidimensional. Ich merkte, wie sie über meine Haut glitten und dort Eisstreifen hinterließen. Sie umtanzten mich, sie glitten an der Decke dahin, sie krochen über die Wände. Die Eindringlinge sahen unförmig aus. Wie aufgeblasen wirkten sie, und deshalb sahen die Totenkopfmäuler auch so aufgequollen aus. Schreckliche Fratzen, mit bösen und trotzdem leeren Augen, die mich, den im Bett Sitzenden, umtanzten wie ein böser Alptraum. Immer wieder griffen sie zu, aber sie fügten mir keine Verletzungen bei. Ihre knöchernen Klauen fuhren durch mich hindurch, als wollten sie die Eingeweide zerstören und sie zuerst vereisen. Es war einfach schlimm und schaurig, was ich da mitmachte. Ich kam mir wie ein Gefangener vor, und sie strichen auch über mein Kreuz hinweg, ohne zerstört zu werden. Der gesamte Raum war von ihnen eingenommen worden. Der kalte Nebel irgendwelcher Totengeister umwehte mich. Noch immer saß ich im Bett. Das Kissen hinter mir schien zu Eis geworden zu sein. Endlich passierte etwas. Ich hatte schon lange mit einer Kontaktaufnahme gerechnet, die nun geschah, denn aus dem Hintergrund oder aus irgendeiner anderen Dimension hervor hörte ich die Stimmen der Totengeister oder die der gefallenen Clankämpfer. >Er ist es!< >Er ist ein Sinclair!< >Tod allen Sinclairs!< >Vernichten wir sie auf dem Schlachtfeld! < >Sterben sollen die Verrätern.<
>Wir kehren zurück und nehmen endlich Rache…< Die flüsternden, geisterhaften Stimmen schwirrten durcheinander, sie erfüllten meinen gesamten Kopf. Sie drückten gegen mein Gehirn, ich konnte an nichts anderes mehr denken, denn sie waren einfach in der Überzahl. Sie hatten gewonnen, es war ihnen gelungen, den Menschen Sinclair auszuschalten. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Überall ergriffen sie mich. Unzählige Finger strichen über meinen Körper, obwohl sie als solche nicht vorhanden waren. Es war eben dieses geisterhafte Totenplasma, das mich übernommen hatte. Dicht vor meinem Gesicht erschienen die drei wohl schrecklichsten Fratzen. Gebilde, die wie aufgeblasene Fischköpfe aussahen. Nach vorn gedrückte und ovale Mäuler, glasige Augen, halb knöcherne Schädel, die in der Dunkelheit des Zimmers ein bläulichgraues Schimmern abgaben. Böse Glotzaugen, übergroße Krallenhände, die vor meinem Gesicht fächerten, als wollten sie mir im nächsten Augenblick die Haut abreißen. Das Zeitgefühl war mir verlorengegangen. Ob Sekunden oder Minuten, ich kam nicht mehr zurecht. Sie waren einfach da, sie hielten mich gefangen, und der erste Schock war glücklicherweise von mir überwunden worden. Ich konnte etwas freier atmen und versuchte auch, die rechte Hand zu bewegen, da ich mein Kreuz hervorholen wollte. Es klappte nicht. Tonnenschwere Steine lagen auf meinem Arm. Trotz aller Mühe schaffte ich es nicht, ihn zu bewegen. Die anderen hatten gewonnen. Sie wußten es, und sie drängten sich noch näher an mich heran. Ich hielt den Mund offen, um Luft zu schöpfen. Sie drang auch in meine Lungen, aber sie war nicht mehr die Luft, die ich kannte. Sie hatte sich verändert und war sehr kalt geworden. Wie ein eisiger Strom drang sie durch meine Kehle, als wären einige der vorhandenen Geister dabei, von mir Besitz zu ergreifen. Plötzlich waren die Stimmen wieder da. Sie beschäftigten sich einzig und allein mit meinem Namen. >Sinclair, der Hundesohn!< >Der Verrätern.< >Das Ende wartet…< >Alle sollen sterben…< War das schon das Ende? Innerlich fror ich ein. Ich stand inmitten einer Säule aus Eis und konnte nichts dagegen tun. Nicht mal ein müdes Krächzen drang über meine Lippen. Wollten sie mich vereisen? Sollte ich auf diese schreckliche Art und Weise im Haus meiner Eltern zu Tode kommen? Für etwas, mit dem ich nichts zu tun gehabt hatte?
Das Schicksal hatte etwas dagegen. Die Rettung erschien. Sie war wie ein kleines Wunder für mich, denn plötzlich hörte ich ein völlig anderes Geräusch. Das Pfeifen bildete ich mir nicht ein, auch nicht das Zucken der Totengeister, die plötzlich in Panik geraten waren und ihre Plätze verließen. Sie huschten zur Seite, sie tanzten wie irre durch den Raum. Mein Blick klärte sich. Ich konnte auch wieder Luft holen, tat es und hielt kurz danach trotzdem den Atem an. Es lag an der Überraschung, die mich erwischt hatte, denn ich hatte Besuch bekommen. Geraldine Sinclair war da! Und sie nahm den Kampf gegen die Geister auf! *** Mit sechs Schwertern war sie bewaffnet. Vier davon hatte sie im Gurt und im Köcher stecken lassen, doch zwei ihrer Waffen hielt sie mit beiden Händen fest. Geraldine räumte auf. Ich erlebte zum erstenmal, welch eine Wucht und Kraft in diesem Körper steckte. Sie war eine Kämpferin, die ihre Waffen mit einer schon sagenhaften Präzision beherrschte. Sie kämpfte in verschiedene Richtungen. Die Schwerter pfiffen durch die Luft. Sie schlug nach links und gleichzeitig nach rechts. Geraldine schaffte es tatsächlich, ihre Arme zu lenken, das war schon phänomenal. Ich konnte nur staunen, wie die Klingen die Geister zerhämmerten, obwohl kein einziger Laut zu hören war. Geraldine Sinclair trieb die Nebelwesen zurück. Sie durchbohrte die Geister dabei, als bestünden diese aus dreidimensionalen Körpern. Die Fratzen und die aufgeblasenen Schädel waren sehr schnell in Stücke geschlagen und verwehten wie Rauch im Wind. Im Nu hatte sich das Zimmer geleert, und die durch den Raum huschende Kämpferin drehte sich dabei tanzend, um Ausschau nach irgendwelchen Resten zu halten. Es gab keine mehr. Geraldine hatte sie vertrieben. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Namensvetterin anzustaunen, die noch einmal zum Fenster ging und in die Dunkelheit schaute. Sie entdeckte dort nichts und drehte sich wieder um. Ihr Gesicht zeigte ein Lächeln, als sie auf mein Bett zukam. Die beiden Schwerter steckte sie wieder weg. »Danke«, sagte ich. Geraldine hob die Schultern. »Ich wußte, daß sie es versuchen würden, John.«
»Ja, das habe ich gesehen«, erwiderte ich leise und froh darüber, mich wieder normal bewegen zu können, denn von der Vereisung war nichts zurückgeblieben. »Du weißt jetzt, was auf uns zukommt?« »Nicht genug.« Sie lächelte, und ich sah mich angespornt, weiterzureden. »Ich habe ihre Stimmen gehört, falls man davon überhaupt sprechen kann. Sie drangen in meinen Kopf, und ich muß ehrlich gestehen, daß ich die Botschaft nicht ganz begriffen habe. Sie sprechen von den Sinclairs und nannten sie Verräter.« »Das weiß ich.« Ich schaute in Geraldines Gesicht. »Haben sie denn recht?« »Sie denken es.« »Waren die Sinclairs Verräter?« »Ich glaube es nicht.« »Aber die anderen glauben es.« »Ja.« »Und sie wollen Rache für damals.« »Sie haben sich zum Geistersturm versammelt. Sie wollen vieles, auch Rache. Wie gefährlich sie sind, hast du selbst erlebt. Ich glaube nicht, daß sie dich am Leben gelassen hätten, denn sie brachten die Kälte aus dem Totenreich mit.« »Das weiß ich inzwischen. Nur weiß ich nicht, wie ich mich gegen sie schützen soll. Es sei denn, du bist so freundlich und überläßt mir deine Schwerter.« »Nein, das nicht. Noch nicht. Du wirst dir etwas einfallen lassen müssen, aber nicht mehr hier, sondern später, wenn du das Schlachtfeld erreicht hast. Es ist wichtig, daß du schon hier bist, denn die folgende Nacht wird die entscheidende sein. Sei auf der Hut, und sei vor allen Dingen so rasch wie möglich am Ziel.« »Darauf kannst du dich verlassen.« »Das wollte ich nur.« Sie trat zurück und schaute sich um. »Ich werde gehen, und wir werden uns wiedersehen. Morgen nacht, wenn der Geistersturm über das Schlachtfeld braust, denn die Geister der Gefallenen haben keine Ruhe. Sie wollen es nicht wahrhaben, daß sie geschlagen worden sind. Immer und immer wieder erscheinen sie und versuchen, die Niederlage in einen Sieg umzuwandeln.« »Aber du machst dabei nicht mit.« »Das ist richtig.« »Warum?« »Ich bin eine Sinclair.« »Und nicht tot.« Sie lächelte, winkte mir zu, öffnete das Fenster und verließ das Zimmer auf normale Weise, nicht so, wie sie hereingekommen war.
Ziemlich geschockt und auch nachdenklich blieb ich im Bett liegen, schaute weiterhin auf das Fenster und spürte die kühle Luft, die mir die Nacht schickte. Durch sie schwebten keine Nebelgeister. Die Rätsel waren nicht geringer geworden, obwohl ich mittlerweile etwas mehr wußte. Die Sinclairs oder der damalige Sinclair-Clan waren als Verräter bezeichnet worden. Wen oder was hatten die Sinclairs verraten? Oder war alles nur ein Bluff? Es hatte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Ich stand auf und schloß das Fenster wieder. Zuvor hatte ich noch nach draußen geschaut, aber nichts Verdächtiges oder Unnormales entdecken können. Nicht nur ich lebte in diesem Haus als ein Sinclair, auch meine Eltern trugen diesen Namen. Wenn ich daran dachte, wuchs meine Besorgnis. Auf leisen Sohlen verließ ich den Raum und schlich auf die Tür des elterlichen Schlafzimmers zu. Eine kleine Lampe, die auf einer kantigen Truhe stand, breitete ihr milchiges Licht aus. Ich lauschte außen an der Tür. Es war alles ruhig. Zu ruhig? Das Herzklopfen blieb stark. Ich öffnete die Tür so leise wie möglich und schaute in das Zimmer. Licht wollte ich nicht machen, brauchte ich auch nicht. Beide lagen in ihren Betten. Aber erst ihre normalen Atemzüge gaben mir die nötige Ruhe zurück und sorgten auch für eine Normalisierung des Herzschlags. Behutsam drückte ich die Tür wieder zu und ging zurück in mein Zimmer, wo sich nichts verändert hatte. Dann legte ich mich in mein Bett und hoffte, endlich Schlaf finden zu können. Es klappte erst nach mehr als einer Stunde. In Morpheus’ Armen verschwanden die Erinnerungen an das Erlebte… *** Wer stellte Stunden später fest, daß ich schlecht aussah? »Als hättest du in der Nacht kein Auge zugetan, Junge. Wirklich.« »Das täuscht, Mutter.« »Glaube ich nicht. Was sagst du, Suko?« Der hielt sich heraus und meinte: »Also ich habe prima geschlafen.« »Ja, ich weiß, aber ihr lenkt ab.« Ich trank einen Schluck Kaffee und aß etwas von dem frischen Rührei. »Mir ist eben viel durch den Kopf gegangen, Mutter. In der Tat habe ich etwas dünn geschlafen.«
»Dachte ich es mir doch. Dafür hat man als Mutter einen Blick. Davon einmal abgesehen, John, in deinem Alter sollte man keine Schlafprobleme haben.« »Normalerweise habe ich die auch nicht. Nur müssen wir gleich weiter, und es wird kein Urlaub werden.« »Aber erst wird gefrühstückt.« Das kannte ich. Was an diesem Morgen wieder auf dem Tisch stand, hätte eine halbe Kompanie von Soldaten satt werden lassen. Meine Mutter hatte auch noch versprochen, uns etwas mitzugeben. Eier und ihre herrlichen Fleischklopse, die auch kalt schmeckten. Sie sah mich wohl noch immer als ihren kleinen Sohn an. Wir vermieden bewußt dienstliche Themen und sprachen statt dessen über die vor uns liegende Jahreszeit, wobei der Frühling hier im Norden noch nicht so weit fortgeschritten war. Mein Vater hatte sich neuerdings noch in einem Verein für Umweltschutz engagiert und stand diesem auch als Anwalt mit Rat und Tat honorarfrei zur Verfügung. Er hatte also genug zu tun und würde immer mit offenen Augen durch die Gegend laufen. Natürlich wollten beide Eltern, daß wir auf dem Rückweg wieder bei ihnen vorbeikamen. Versprechen wollte ich nichts, so hielt ich es in der Schwebe. Meinem Vater hatte ich das Wappen der Sinclairs gezeigt, das mir in London überlassen worden war. Er hielt es jetzt in der Hand und betrachtete es mit strengem Blick. »Ja, das ist es. Das ist das Wappen, wobei ich nicht sage, es ist unser Wappen, denn du weißt, John, wie ich zu diesen Traditionen stehe.« »Klar«, sagte ich grinsend, »du warst schon immer ein Linker.« »Weder links noch rechts. Ich war immer schon dafür, etwas zu tun, was den Menschen wirklich dient, und da braucht man in keine Partei zu gehen, um sich in Fallstricken fesseln zu lassen oder sich mit innerparteilichen Querelen zu beschäftigen. Was wir hier machen, ist überparteilich, das finde ich gut.« Wir sprachen noch eine Weile über das Thema, dann wurde es Zeit zum Aufbruch. Meine Mutter verließ die Küche, um eine Tasche zu holen, in der sie den Proviant verstauen konnte. Mir kam es sehr gelegen, so konnte ich von meinen Erlebnissen der vergangenen Nacht in aller Kürze berichten. Nicht nur mein alter Herr erschrak, auch Suko, und beide stolperten über den Begriff Verräter. »Die Sinclairs Verräter?« fragte mein alter Herr. »So wurde es mir gesagt.« »Das kann ich nicht glauben.«
»Es wurde von diesen Geistwesen immer darauf hingewiesen. Sie haben mich ja töten wollen. Wenn Geraldine nicht erschienen wäre, säße ich nicht hier.« »Da hast du recht, Junge. Ich frage mich nur, ob sich dieser Begriff Verräter nur auf dich bezieht oder ob auch deine Mutter und ich in Gefahr sind.« »Daran glaube ich nicht, Dad.« Ich erntete einen skeptischen Blick. »Kannst du mir auch den Grund nennen?« »Ja, kann ich. Es wird sich jetzt alles auf Culloden konzentrieren. Vielleicht hatte mich der Angriff auch davon abhalten sollen, dieses historische Schlachtfeld zu besuchen. Möglich ist alles.« Mein Vater schaute aus dem Küchenfenster, als läge das Schlachtfeld dort draußen. »Möglich ist alles, John. Ich war leider noch nicht dort, und jetzt ärgere ich mich darüber.« »Freiwillig wäre ich auch nicht hingefahren.« »Jedenfalls hast du erlebt, John«, sagte Suko, »wozu diese Geistwesen fähig sind. Da hat auch dein Kreuz versagt, daran solltest du immer denken.« »Das tue ich.« Meine Mutter kehrte zurück. »So, die Tasche habe ich. Jetzt packe ich euch noch etwas ein.« Wir konnten und wollten es auch nicht verhindern. Ich hatte meinen und Sukos Koffer schon zum Wagen getragen. Wir waren startbereit, nachdem auch die Tasche mit dem Proviant auf dem Rücksitz lag, und ich hoffte nur, daß sich das Wetter halten würde. Es war zwar windig, aber es regnete nicht, und der Himmel zeigte große, blaue Flecken. Meine Eltern waren mit nach draußen gekommen. Vater und ich reichten uns die Hände. Er zwinkerte mir zu. »Alles Gute, Junge, und versuche, das Rätsel zu lösen, das den Namen Sinclair umgibt.« »Werde ich machen, Dad.« Natürlich gab uns meine Mutter wieder Ratschläge mit auf den Weg und verließ sich darauf, daß wir auf dem Rückweg wieder vorbeikamen und eine Nacht im Haus verbrachten. »Ist das immer so anstrengend?« fragte Suko, als er gestartet war. Er sah erholt aus, der Schlaf hatte ihm gutgetan. »Immer, mein Freund.« Er hob die Schultern. »Ich kann da nicht mitreden, aber du wärst unzufrieden, wenn es anders wäre.« »Genau.« »Jetzt machst du dir Sorgen!« »Stimmt, Suko. Man hat mich einen Verräter genannt, weil ich ein Sinclair bin. Und meine Eltern tragen denselben Namen. Aber ich hoffe trotzdem, daß sich die Geister oder wer immer sie sein mögen, sich auf uns konzentrieren.«
»Das werden sie auch.« »Was macht dich so sicher, Suko?« »Sonst würden sie jetzt nicht mehr leben.« Wenn man es so sah, hatte Suko recht. *** Nach Norden, immer weiter nach Norden! Durch die Highlands, durch die Berge, vorbei an den zahlreichen Seen und kleinen Flüssen. An gewaltigen Weiden, in die Einsamkeit hinein, die bald ihre Stille verlieren würde, wenn Touristen aus halb Europa über die schmalen Straßen fuhren. Noch war es nicht soweit. Wir erlebten Schottland natürlich und ursprünglich sowie kühl und wolkenreich, denn der Himmel war von diesen mächtigen Gebilden bedeckt. Es gab keinen Ort mit dem Namen Culloden. Wir waren immer auf der Straße mit der Nummer 9 geblieben, die sich wie eine gewaltige Riesenschlange nach Norden hin wand und östlich an den berühmten Lochs vorbeiführte. Wir passierten nur wenige kleine Orte, deren Namen ich nie zuvor gehört hatte, und die Einsamkeit blieb weiterhin. Es gab einen Fixpunkt, den wir uns ausgesucht hatten. Der Ort hieß Tomatin und lag nur wenige Meilen südlich des ehemaligen Schlachtfeldes. Von dort aus wollten wir dann direkt bis an unser Ziel fahren. Tomatin erreichten wir am frühen Nachmittag und atmeten zunächst einmal auf. Zweimal hatten wir Pausen eingelegt und von dem Proviant gegessen, den meine Mutter eingepackt hatte. Es hatte uns geschmeckt, wir waren zufrieden und rollten nach Tomatin ein. Wir hatten die Straße verlassen, waren auf einem schmalen Weg weitergefahren und mußten auch einen Wasserlauf überqueren. Dazu diente eine alte Steinbrücke. Ein verschlafenes Nest nahm uns auf. Kleine Häuser mit Gärten, die von Steinmauern umgeben waren, um vor dem scharfen Wind zu schützen. Straßen, die zwar gepflastert, aber nicht asphaltiert waren. Aus den Schornsteinen der Häuser quollen noch Rauchfahnen. Trotzdem war der Tourismus nicht an Tomatin vorbeigelaufen. Es gab genügend Gasthöfe, wie wir an den Schildern ablesen konnten. Das alles nahmen wir als normal hin, nicht aber die zahlreichen Autos, die in den Straßen abgestellt waren. »Was ist denn hier los?« fragte Suko und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« »Sieht nach einem Treffen aus.« »Das denke ich auch.« »Und?« »Was heißt und?«
»Klickt es bei dir nicht?« »Noch nicht.« Mein Freund lachte leise vor sich hin. »Könnte doch auch ein Clantreffen sein, nicht?« Ich sagte nichts, war aber innerlich zusammengezuckt, denn so unrecht hatte Suko meiner Ansicht nach nicht. Der Clan oder die Clans spielten in diesem Fall eine Hauptrolle, und auf dem Schlachtfeld von Culloden hatten sie damals ihr Blut gelassen. »Jedenfalls braut sich da etwas zusammen, das uns nicht unbedingt zu gefallen braucht, John.« »So sehe ich das auch.« Der Ort blieb nicht so eng. In seiner Mitte öffnete er sich, und wir erreichten einen Flecken, der als Marktplatz durchgehen konnte. Hier standen die Häuser dichter zusammen. Sie wirkten auch nicht mehr so monoton, denn einige von ihnen schienen erst vor kurzem einen helleren Anstrich bekommen zu haben. Sukos Gesicht zeigte ein freundloses Grinsen, als er sagte: »Jetzt brauchen wir nur noch einen Parkplatz zu finden, dann ist alles okay. Wenn ich das hier sehe, dann komme ich mir vor wie in London.« »Wenn nicht, fahren wir direkt nach Culloden.« »Warte erst mal.« Wir mußten aus der >Innenstadt< heraus und hatten das Glück, noch eine freie Fläche zu finden. Ein Feldweg führte wie eine Brücke über einen Graben hinweg. Dahinter breitete sich eine Wiese aus, auf der schon einige Fahrzeuge ihre Parkplätze gefunden hatten. Für den BMW gab es noch genügend Platz. Es standen nicht nur Autos auf der Wiese. Im Hintergrund rupften etwa ein Dutzend Kühe Gras. Um uns kümmerten sie sich nicht. Nur hin und wieder bewegten sie ihre Schwänze, um nach irgendwelchen Insekten zu schlagen. Zu Fuß gingen wir wieder ins >Zentrum< zurück. Was uns beim Eintreffen schon aufgefallen war, hatte sich auch jetzt nicht verändert. Es standen zwar zahlreiche Fahrzeuge auf den Straßen und Gassen, aber Menschen waren kaum zu sehen. Sie hielten sich in den Häusern auf, wahrscheinlich in einem Gasthof. Er war uns auf der Hinfahrt nicht aufgefallen, weil die Fassade von hohen Bäumen verdeckt wurde. Nun sahen wir ihn und auch die Fahnen, die im Wind flatterten. Wir blieben stehen. Ich hob langsam die rechte Hand und streckte den Zeigefinger vor. »Sieh dir die Motive der Fahnen an, Suko, dann weißt du endgültig Bescheid.« »Wie meinst du das?« »Es sind die Wappen der Clans.« »Meinst du?«
»Bestimmt.« Wir mußten näher heran. Da der Wind die Fahnen bewegte, war die Schrift darauf nur mühsam zu entziffern. Aber es gelang uns doch, und wir entdeckten Namen wie McNeill, McNamara, McClusky und andere mehr. Mein Vater hatte von Traditionalisten gesprochen, hier hätte er sie hautnah erleben können. »Sollen wir uns im Gasthof mal umsehen?« Ich stimmte Suko zu. »Sie werden uns wohl kaum als Mitglieder eines Clans einstufen. Mich schon gar nicht.« »Da hast du recht. Chinesen gehören nicht dazu.« Der Gasthof war nicht hoch, aber ziemlich breit. Eine Reihe kleiner Fenster durchbrach das Mauerwerk. Es roch in seiner Nähe nach Essen, aber wir hörten keinen Stimmenwirrwarr, als wir die Tür aufstießen und den ziemlich düsteren Raum mit der niedrigen Decke betraten. Dennoch hatten der Wirt und zwei Helfer, die gemeinsam die Zapfanlage umstanden, alle Hände voll zu tun, um das braune Guiness-Bier in die Gläser laufen zu lassen. Da sich kein Gast in dem Raum aufhielt, mußten wir davon ausgehen, daß es noch ein Hinterzimmer gab. So war es auch, denn die beiden Helfer schleppten die schweren Tabletts auf eine Tür zu. Als sie aufgestoßen wurde, konnte ich in einen Gang schauen und hörte auch Stimmen. Die Tür schwappte wieder zu, der Wirt schaute hoch und wischte mit dem Stoff des hochgekrempelten Ärmels den Schweiß von der Stirn. Dann schaute er uns an. »Bitte?« »Zweimal Wasser!« bestellte ich. Das schien dem Mann nicht zu gefallen. Sein eigentlich blasses Gesicht nahm die Farbe der rötlichen Haare an, und er schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie? Wasser?« »Ja, ist das schlimm?« »Das Zeug, in dem schon die Gänse gepinkelt und die Fische gebumst haben, würde ich nicht trinken.« »Brauchen Sie auch nicht«, sagte ich. »Es sei denn, Sie verkaufen Wasser aus einem Teich.« Er sagte nichts mehr und schaute zu, wie wir zu einem Tisch gingen und uns dort niederließen. Gläser bekamen wir auch, nur einschenken mußten wir selbst. Bevor der Wirt verschwinden konnte, hielt ich ihn fest. Kneipen waren immer eine gute Informationsquelle, ich hoffte, daß es auch hier so sein würde. »Findet hier das Treffen der großen Clans statt?« »Ja« »Wie oft kommen die Leute zusammen?«
»Keine Ahnung. Hier treffen sie sich zum erstenmal. -Sie gehören wohl nicht dazu, wie?« »Nein.« »Zimmer sind keine mehr zu kriegen. Ich sage Ihnen das nur, falls Sie länger bleiben wollen.« »Auf keinen Fall, wir müssen weiter. Mich hat das Treffen auch nur gewundert oder eigentlich nicht, denn dieser Ort liegt ja nicht weit von einem Schlachtfeld entfernt.« »Sie meinen Culloden.« »Richtig.« »Ja, da werden die Mitglieder wohl hinpilgern. Sie wollen den Ort der Schmach besuchen, um die erlittene Niederlage zu tilgen. Die Männer können eben mit der Schmach nicht leben. Sie sind Schotten, und Schottland ist frei.« »Das weiß ich.« »Sind denn alle Clans versammelt?« Der Mann mit den roten Haaren schaute Suko unwirsch an. »Ich weiß es nicht, ich bin auch kein Fachmann. Wenn es Sie interessiert, fragen Sie die Leute doch und nicht mich.« »Werden wir auch«, entgegnete ich. »Eine Frage hätte ich trotzdem noch.« Der Mann verzog das Gesicht. »Und welche?« »Wann finden sich die Mitglieder denn auf dem Schlachtfeld ein?« »Am Abend.« »Danke.« Der Wirt hatte wieder vorn zu tun, denn seine beiden Kellner gaben neue Bestellungen auf. Suko und ich steckten die Köpfe zusammen. Wir sprachen leise, weil wir nicht wollten, daß Fremde etwas von unserer Unterhaltung mitbekamen. »Am Abend also«, wiederholte mein Freund. »Wenn die Dunkelheit hereingebrochen ist.« »Gefällt dir das nicht?« Er lächelte hintergründig. »Dir denn?« »Nein.« Ich trank Wasser und stellte das Glas ab. »Es kann mir nicht gefallen, wenn ich daran denke, was mir in der vergangenen Nacht widerfahren ist. Es ist durchaus möglich, daß es sich in der folgenden wiederholt. Dann werden die Geister ihre eigene Welt verlassen und über die Menschen kommen, um sie zu strafen.« »Das weißt du genau?« »Ich gehe mal davon aus.« »Oder auch nicht«, sagte Suko. »Es kann ja durchaus sein, daß sich die Mitglieder mit denen verbünden wollen, die aus einer anderen Welt erscheinen.« »Wozu?« fragte ich erstaunt.
»Um Rache zu nehmen. Rache für die Niederlage von vor gut zweihundertundfünfzig Jahren.« »Meinst du das im Ernst?« »Es ist zumindest eine Möglichkeit, John. Die genauen Zusammenhänge werden wir erfahren, wenn wir selbst auf dem Schlachtfeld stehen, meine ich.« Die Worte meines Freundes hatten mich nachdenklich werden lassen. An eine derartige Möglichkeit hatte ich gar nicht gedacht. Meine Gedanken bewegten sich auch auf einer anderen Schiene weiter. »Ich frage mich nur, welche Rolle Geraldine Sinclair dabei spielt. Gehört sie auch zu diesem Clan?« Ich berichtigte mich selbst. »Nein, das kann nicht sein. Sie ist ja eine Sinclair.« Suko nickte. »Eine Verräterin.« Ich lächelte. »Unser Wappen habe ich jedenfalls nicht auf einer der Fahnen gesehen.« »Was auch gut ist. So bist du wenigstens nicht befangen.« Ich schaute auf die Uhr. »Wir sollten zahlen und fahren.« »Nichts dagegen.« Der Wirt kam sofort, als ich ihn herbeiwinkte. »Geht es jetzt weiter?« fragte er. »Ja.« »Culloden?« Mir gefiel der Unterton in seiner Stimme nicht, und ich schaute zu ihm hoch. »Ja, möglich – warum?« »Ich will mich ja nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, aber ich möchte Ihnen doch einen Rat geben.« »Gern.« Er stützte sich mit den Händen auf zwei Rückenlehnen ab und beugte den Oberkörper vor. »Ich bin zwar auch Schotte und liebe mein Vaterland, aber ich bin längst nicht so der Tradition verhaftet wie meine Gäste im Hinterzimmer. Ich glaube nicht, daß sie bei ihrem Treffen auf dem Schlachtfeld Fremde dabeihaben wollen. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Und sollten sie irgendwelche Fremden sehen, werden sie sicherlich alles daransetzen, um sie zu verjagen. Die Männer sind eine militante Gruppe. Ich glaube nicht, daß sie direkt mit den alten Idealen des Clans etwas zu tun haben.« »Sie meinen, daß die nichts vergessen haben.« »Ja. Das sind pure Nationalisten. Solche Typen schrecken auch vor Waffengewalt nicht zurück. Wissen Sie, ich liebe mein Land, um es noch einmal zu unterstreichen, aber ich habe auch nichts gegen Engländer und andere Europäer, die im Sommer zu uns kommen und auch ihr Geld hier bei uns lassen. Man soll sie nicht vertreiben. Europa wächst zusammen, aber das sehen Typen wie die da hinten nicht ein.« »Interessant«, sagte ich. »Was denken Sie denn, Mister, was die vorhaben?«
Er stemmte sich wieder hoch und hob auch die Schultern. »Das weiß ich leider nicht.« »Haben Sie keine Vermutung?« »Nein.« »Was wird denn geredet?« »Ich bin nur hier, und meine Kellner möchte ich nicht fragen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Ein paar Gedanken, Fahnenschwinger mit Musik, was weiß ich? Aber gefallen tun mir die Typen nicht, und sie wollen auch unter sich bleiben. Das wollte ich Ihnen noch sagen. Wenn Sie trotzdem das Schlachtfeld besuchen wollen, ich kann Sie nicht daran hindern, Gentlemen.« »Und wir bedanken uns!« sagte ich, als wir aufstanden. »Sicherlich machen wir einen Bogen.« Der Wirt zog die Nase kraus. »Wäre besser.« Wir verließen das Lokal und blieben draußen unter den Bäumen stehen. Alles war hier noch klein und eng. Wir schauten uns an, ließen zwei Frauen vorbei, dann erst sprach Suko mich an. »Denkst du, was ich denke?« »Es kommt darauf an.« »Wir sollten die kleine Chance wahrnehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses Hinterzimmer keine Fenster hat.« »Wunderbar, Alter, gehen wir.« Es war für uns leicht, den Weg zu finden. An der rechten Seite der Gastwirtschaft fanden wir einen schmalen Pfad. Er trennte ein schmales Stück Garten vom Haus ab. An der Rückseite jedoch verlor sich die Enge. Da standen einige Müllbehälter dicht an der schmutzig wirkenden Mauer. In einem nicht weit entfernten und umzäunten Freigehege liefen einige Hühner herum und suchten den Boden nach Eßbarem ab. Einen kleinen Holzstall gab es auch. Leider schienen die Tiere unzufrieden zu sein, jedenfalls gackerten sie ziemlich laut, und es würde nicht einfach sein, die Worte der Versammelten zu verstehen. Beobachtet wurden wir nicht. Trotzdem gingen wir dicht an der Wand entlang, schlichen an den Müllbehältern vorbei, wo es nach fauligem Obst roch, und hörten sehr bald die ziemlich erregt klingenden Männerstimmen, denn zwei Fenster hatten sie geöffnet. Die Scheiben standen gekippt. Glück muß man eben haben. Suko tauchte unter dem Fenster weg, richtete sich wieder auf und blieb dicht an der Seite stehen. In seinem Rücken befand sich die grau gestrichene Hintertür. Ich stand Suko gegenüber. Beide sperrten wir die Ohren weit auf, nur war es schwer, etwas zu verstehen, denn die Mitglieder der Clans konnten sich nicht auf einen Sprecher einigen. Zu viele redeten
durcheinander, zudem gackerten im Hintergrund noch die Hühner, was ebenfalls als störender Faktor hinzukam. Dann schrie jemand mit lauter Stimme, die beinahe überkippte. »Wir müssen diese Schmach vergessen machen! Wir können es nicht länger hinnehmen und in Schande leben. Für keinen von uns haben die Engländer gewonnen. Wir sind die eigentlichen Sieger, denn wir haben nur durch einen Verrat in den eigenen Reihen verloren. Dieser Name steht wie ein Brandmal in unseren Annalen. Sinclair, nur Sinclair. Aber wir werden ihn zunächst einmal vergessen und werden uns später um ihn kümmern. Wichtig ist, daß uns die Toten nicht vergessen haben. Unsere Ahnen, die die Niederlage haben hinnehmen müssen, deren Geister keine Ruhe finden. Sie werden uns zur Seite stehen, Brüder, denn sie haben sich bereits gezeigt. Der Geistersturm wird über das Schlachtfeld kommen und die Schmach vergessen machen, das schwöre ich euch. Bald wird nichts mehr so sein, wie es heute noch ist. Alles gerät in Bewegung, und wir werden unsere Fahnen später auf ein Feld der Ehre stellen und nicht auf eines der Schmach!« Der Sprecher hatte sich heiser geredet. Seine Stimme war zum Schluß regelrecht weggesackt, und das Ende der Rede wurde mit einem wahren Beifallssturm bedacht. Wir hatten eigentlich genug gehört und wußten jetzt, worum es den Traditionalisten ging. Sie wollten das Rad der Zeit zurückdrehen, und das Treffen auf dem Schlachtfeld war sicherlich erst ein Beginn. Diese Rede war schlimm genug, denn sie tendierte in die rechte Ecke, und die sollte eigentlich überwunden und vergessen sein, wenn ich daran dachte, daß selbst in Irland Frieden eingekehrt war. Aber Unbelehrbare gab es immer, und sie wurden nicht weniger gefährlich, wenn sie sich mit übersinnlichen Mächten zusammentaten. Im Gegenteil, das war eine höchst brisante Mischung. Ich schaute Suko mit einem bestimmten Blick an, den er auch verstand. Er drehte sich von der Hauswand weg, wollte sich wieder ducken, um auf mich zuzukommen, als hinter ihm die Hintertür aufgestoßen wurde. Wir hörten beide das Knarren, dann ging alles blitzschnell, denn ein rotgesichtiger Mann, der einen Kilt trug, stand plötzlich vor der Tür, glotzte uns an und begriff ebenfalls. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, aber Suko war schneller. Noch aus der geduckten Haltung schnellte er hervor, und sein rechter Arm mit der Handkante war noch schneller. Bevor der Kerl seine Warnung loswerden konnte, hatte Suko schon zugeschlagen und seinen Hals getroffen. Der Typ verdrehte die Augen und legte sich schlafen. Suko fing ihn ab. Zwischen den Abfalltonnen fand der Kerl sein Bett auf alten Kartoffelschalen. »Viel kann er nicht gesehen haben, John.«
»Wichtig ist, daß er sich nicht erinnert.« Uns hielt nichts mehr an diesem Ort. Mit langen Schritten eilten wir davon. Das Ziel war die Kuhwiese, auf der der BMW stand. Allerdings wurde er von einem Vierbeiner mißtrauisch beäugt, und Suko befürchtete schon, daß die Kuh auf die Motorhaube geschi… en haben könnte. Sie war zum Glück blank. Erst als wir abfuhren, ging auch die Kuh. Sie schlug mit ihrem Schwanz aus, als wollte sie uns einen verächtlichen Gruß zusenden. Das nächste Ziel hieß Culloden! *** Einsam, unwirtlich und möglicherweise auch unheimlich bei Dunkelheit, so präsentierte sich das gewaltige Schlachtfeld, bei dem die Spuren der frühen Auseinandersetzung längst gelöscht waren. Die Zeit hatte alles verdeckt, und nur in den Köpfen einiger Verbohrter lebte die emotionale Erinnerung an die Schlacht fort. Straßen durchkreuzten das hügelige Gebiet nicht. Höchstens schmale Wege, auch nur Pfade, die im Sommer und im Herbst von RucksackTouristen frequentiert wurden. Ein steifer Wind wehte über das Schlachtfeld hinweg, als wollte er alte Erinnerungen vertreiben oder sie herbeiwehen. Die Umgebung war nicht so menschenleer, wie wir es uns gedacht hatten. Es gab schon einige Gehöfte zu sehen, die sich auf dem Gelände selbst oder an dessen Rand verteilten. Diese Bauten waren auch bewohnt, denn zumindest aus einem der Schornsteine war Rauch gequollen. Wir hatten auch Tiere gesehen – Schafe –, und uns war zudem das Bellen eines Hundes an unsere Ohren geklungen. Vor einem Gehöft hatte auch ein Geländewagen gestanden. Nun aber waren wir allein. Wir fühlten uns wie ein Teil dieser gewaltigen Natur, und der hohe Himmel über uns kam mir vor wie ein Gemälde, mit all seiner Weite, mit den mächtigen Wolken, die in zahlreichen Farbschattierungen schimmerten, mal grau und schmutzig, dann wieder in einem schon strahlenden Weiß. Die Sonne hatte sich zurückgezogen. Obwohl schon April, sah sie aus wie eine blasse Wintersonne. Ein Areal, auf dem blutige Geschichte geschrieben worden war. Suko und ich kamen uns nicht geschichtsträchtig vor, wir stammten aus der Gegenwart. Beide aber gingen wir davon aus, daß wir hier ein Stück Vergangenheit erleben würden. Auch der Boden präsentierte sich uns in verschiedenen Farbeinteilungen. Grün und Braun herrschten vor. Frische Gräser und Bodendecker wuchsen knöchelhoch und bildeten Matten. Sanfte Hänge
wellten sich zu Buckeln hoch, und in den kleinen Mulden schimmerten hin und wieder Pfützen, die vom letzten Regen zurückgeblieben waren. Hier zeigte die Natur ein rauhes Gesicht. Hier stemmte sie sich gegen die ewigen Jahreszeiten, zollten ihnen durch Sterben und Wachsen Tribut, waren aber nie umzubringen. Steine schauten neugierig aus der Erde hervor. Gegen manche war Sand angeweht worden. Woher der kam, wußte ich auch nicht. Krüppelkiefern hatten ihr Wurzelwerk an verschiedenen Stellen in den Boden geschlagen und klammerten sich fest wie gierige Hände. Vögel segelten durch die Luft. Mächtige Beutetiere, Raubvögel, aber auch andere, kleinere, die den Boden mit scharfen Augen nach Nahrung absuchten. Ein paar erste Blumen hinterließen Farbtupfer und die Hoffnung auf den Sommer. Schnee sahen wir nicht mehr, aber die Gewächse waren mit einem feuchten Film überzogen worden, als hätte der morgendliche Tau vergessen, sich zu verabschieden. Suko stieß mich sanft an. Ich schreckte aus meiner Gedankenwelt hervor und schüttelte den Kopf. »Sagenhaft«, murmelte ich. »Was denn?« »Diese Landschaft hier.« Ich atmete die Luft tief ein. »Ich habe den Eindruck, daß hier einiges passiert ist.« »Die Schlacht?« Ich nickte. »Aber die Toten hat es gegeben, John. Es ist vorbei, das mußt du dir vor Augen halten.« Ich hatte während Sukos Worten zu Boden geschaut und dachte darüber nach, wer dort alles sein Blut verloren hatte. Tapfere, aber auch hirnverbrannte Männer, die ihr Leben hingegeben hatten, um irgend etwas zu retten oder für etwas zu kämpfen, das sich nicht lohnte. Auch die Sinclairs? Über ihre Rolle war ich leider zu wenig informiert, doch zu den sogenannten Helden hatten sie bestimmt nicht gehört. Ihre Rolle war eher zwielichtig gewesen, und eine gewisse Geraldine Sinclair hatte eine entscheidende Rolle gespielt. Ich holte mir ihr Aussehen in die Erinnerung zurück. So wie sie mir erschienen war, paßte sie nicht in die Zeit, als das alles hier auf dem Schlachtfeld passiert war. Sie hatte eher ausgesehen wie jemand, der aus einer anderen Welt stammte, mehr aus einer Fantasy-Welt, wozu auch ihre Kleidung und natürlich die Bewaffnung beitrugen. Dann stellte ich mir vor, wie hier auf Culloden die Schlacht getobt hatte. Gewaltig, brutal, keiner hatte dem anderen etwas gegönnt und Gnade gekannt. Die Menschen waren wie irre gewesen. Sie hatten aufeinander eingeschlagen, und ihr Blut war in den Boden gesickert, auf dem wir standen. »Willst du hier noch bleiben?« erkundigte sich Suko.
»Im Prinzip schon, oder hast du eine bessere Idee?« »Soll ich ehrlich sein?« »Bitte.« »Mir bringt es nicht viel. Ich würde mich lieber mit den Bewohnern des Gehöfts unterhalten. Möglicherweise wissen die mehr. Ich könnte mir vorstellen, daß sie Kontakt zu den Typen hatten, die sich im Hinterraum des Gasthauses aufgegeilt haben. Oder siehst du das anders?« »Nein.« »Aber dich interessiert Culloden?« »In der Tat. Ich weiß selbst nicht, was mich an diesem Gelände reizt. Irgendwo fühle ich mich ihm verwachsen oder verbunden, ob du es glaubst oder nicht.« »Liegt das an Geraldine Sinclair?« »Bestimmt.« »Du willst sie sehen und hoffst natürlich, sie hier auf Culloden zu finden?« »Das ist nur zum Teil richtig. Ich hoffe auch, etwas von der alten Atmosphäre mitzukriegen, die hier mal geherrscht hat. Die Männer haben sich nicht grundlos getroffen. Es besteht ein Plan. Sie werden herkommen, und ich will den Grund herausfinden. Noch einmal können sie ja nicht gegen die Truppen des englischen Königs antreten. Erstens haben wir eine Königin, und zweitens ist für Separatisten in unserer Welt kein Platz mehr, denke ich.« »Trotzdem wollen sie es versuchen, John. Da stimmt doch etwas nicht in deinen Überlegungen.« »Das will ich herausfinden. Ich hüte mich, über die Pläne der Leute zu lachen. Da steckt mehr dahinter. Sie haben etwas vor, es gibt einen Plan, der uns nicht gefallen dürfte.« »Wie der aussehen könnte, weißt du auch nicht?« »Nein.« »Vielleicht sind die Bewohner des Gehöftes informierter.« »Das kann sein.« Suko nickte. »Deshalb werde ich hinfahren oder hingehen. Wenn du willst, überlasse ich dir den Wagen und…« »Nein, nein, fahr du mal los. Ich komme hier gut zu Fuß weiter. Bis zum Gehöft schaffe ich es immer.« »Gut, wir sehen uns dann.« Er schlag mir auf die Schulter. »Aber gib acht, John, dieses Schlachtfeld hat etwas Besonderes an sich. Ich kann es dir nicht erklären, na ja, du weißt schon.« »Bis später.« Mein Freund machte sich auf den Weg. Ich schaute ihm so lange nach, bis er in den BMW gestiegen und gestartet war. Er mußte auf einen kleinen Hügel zufahren, ihn überqueren, um das dahinterliegende Gehöft zu erreichen.
Allein blieb ich zurück. Seltsamerweise überkam mich der Eindruck, doch nicht so allein zu sein. Nicht, daß mich jemand beobachtet hätte, es waren andere Dinge, die mich störten. Ein heimliches Starren und Beobachten. Augen, die aus dem Nichts schauten. Gefährlich und auch brennend. Ich sah gegen die Wolken, ich schaute über das rauhe und unruhig wirkende Gelände hinweg, spürte den Wind besonders deutlich, der an meinen Ohren vorbeistrich, als wäre er dabei, mir aus der Vergangenheit etwas zuflüstern zu wollen. Das alles war nur teilweise real. Ich kam damit nicht zurecht. Bei mir vermischten sich Einbildung und Realität. Die normale Welt war gespickt mit anderen Botschaften, die allein auf mich fixiert waren. Ohne daß ich es großartig bemerkt hätte, war ich weitergegangen, tiefer in das Schlachtfeld hinein. Ich bewegte mich auf einem historischen und blutgetränkten Boden. Meine Füße spürten keinen harten Widerstand, sie sackten auch nie tief ein, denn immer wieder breiteten sich Pflanzen aus und bildeten so etwas wie einen weichen Teppich. War der Wind noch kälter geworden, oder war es nur die innere Kälte, die mich frösteln ließ? Mir wollten die Erinnerungen einfach nicht aus dem Kopf, obwohl ich nicht zugegen gewesen war, als die Schlacht getobt hatte. Ich tat es nicht mal bewußt, aber ich suchte immer wieder den Himmel ab nach irgendwelchen Erscheinungen. Dort bewegten sich nur die mächtigen Wolken wie unförmige Schiffe auf dem dunkler werdenden Blau, ansonsten war dort nichts zu sehen. Hier hatte der Tod reiche Ernte gehalten und für meinen Geschmack eine Erinnerung hinterlassen, nicht sichtbar in Form eines Denkmals, sondern mehr intuitiv zu spüren. Nicht daß ich eine Verwandtschaft zu diesem Ort spürte, aber direkt fremd war er mir auch nicht, obwohl ich mich in dieser Gegend keinesfalls wohl fühlte. Aber etwas war hier, das ich noch nicht fassen konnte. Ich blieb stehen und holte mein Kreuz hervor. Matt schimmernd lag es in meiner Hand. Keine Reaktion auf eine Gefahr. Ich steckte es wieder weg, da es sowieso nur ein Versuch gewesen war. Möglicherweise auch ein Zeichen meiner eigenen Hilflosigkeit, denn ich wußte, daß das Geschehene sein eigentliches Ende noch nicht gefunden hatte. Da schwebte etwas in der Luft. Erinnerungen? Ich mußte selbst lächeln, doch das erstarrte mir auf den Lippen. Nein, es war nicht so von der Hand zu weisen. Die Erinnerungen waren da, sie umgaben mich wie eine andere Welt, und sie waren eingepackt in das Unsichtbare. Ich ging einige Schritte vor. Es war nicht mal bewußt, welche Richtung ich genau einschlug, ich
wollte nur auf dem Schlachtfeld von Culloden bleiben, als gäbe es zwischen ihm und mir ein bestimmtes Verhältnis. Es war still um mich herum. Ich hörte nur die eigenen Trittgeräusche. Die auch nicht sehr laut. Dann roch ich etwas! Es war ein Geruch, der mich störte. In der ansonsten klaren Luft war er besonders gut wahrzunehmen. Er stieg in meine Nase, ohne daß ich jetzt noch darüber nachdachte, woher er kam. Er war da! Ich drehte mich auf der Stelle. Nichts war zu sehen. Es war keine Quelle, die diesen Geruch absonderte. Er schwebte über dem Schlachtfeld wie eine gewaltige Haube, wie ein Deckel, unter dem ich mich bewegte. Der Geruch konnte mir nicht gefallen. Er ließ auf etwas schließen, über das ich noch nachdachte. Von irgendwoher wehte er, vielleicht war da ein Tor geöffnet worden. Möglicherweise hatte sich die andere Welt ja auf ihre Art und Weise gezeigt. Ich versuchte, mit aller Macht herauszufinden, woher dieser Geruch stammte. Wieder blieb ich stehen und runzelte die Stirn. Der Geruch umschwebte mich, er war bedrückend. Einiges stimmte hier nicht. Und dann wußte ich es. Zugleich mit diesem Gedankensprung reagierte ich auch und sprach den Namen aus. »Blut, das ist Blutgeruch!« Ich hatte die Worte geflüstert, um mich selbst zu bestätigen. Es war tatsächlich der Geruch von Blut! Ich hielt den Atem an. Altes Blut möglicherweise, denn frisches Blut roch anders. Meine Augen suchten auch weiterhin die Quelle. So ohne weiteres hatte mich dieser Gestank sicherlich nicht erreicht, da mußte es schon einen Grund dafür gegeben haben. Meine Gedanken drehten sich wieder zurück in die Vergangenheit, und ich dachte an die zahlreichen Menschen, die hier auf dem Schlachtfeld ihr Leben verloren hatten. Ihr Blut war tatsächlich in den Boden gesickert, und ich stellte mir automatisch die Frage, ob es jetzt dabei war, wieder als böse Erinnerung aus der Vergangenheit her zurückzukehren. Verrückt – oder? Nein, nicht ganz. Dafür hatte ich einfach zu viel mitgemacht. Zudem nahm dieser Geruch an Stärke zu. Ich stellte mir vor, daß es in rötlich gefärbten Wolken über das Schlachtfeld streifte, um es zu vernebeln. Es waren nur Vorstellungen, aber es blieb nicht dabei, denn auf eine andere Art und Weise zeigte sich diese Annahme doch. Es begann mit einem leisen Blubbern. Nicht nur an einer Stelle, sondern um mich herum verteilt.
Auf dem Boden, versteckt zwischen den braungrünen Pflanzen. Es klang so ähnlich, als würden Ölblasen, die aus dem Boden gestiegen waren, zerplatzen. Öl? Nein, das war kein Öl! Das war eine andere dunkle Flüssigkeit, die mich nicht einmal mehr überraschte. Das war Blut! *** Altes Blut! Das Blut derjenigen Kämpfer, die es hier auf dem Schlachtfeld von Culloden vergossen hatten. Es war tief in den Boden eingedrungen, niemand hatte es entfernt, es war die böse Erinnerung an einen sinnlosen Kampf, der viele Tote gefordert hatte. Man hatte die Toten nicht weggeschafft und beerdigt. Ausgeblutet waren sie in den Zustand der Verwesung übergegangen und während der Jahrhunderte völlig verschwunden. Bis auf das Blut in der Erde. Es mußte sich in der Tiefe gesammelt haben und war jetzt wieder an die Oberfläche gestiegen, wo es aus zahlreichen Lücken und Spalten hervorquoll, Blasen bildete, die dann mit blubbernden Geräuschen zerplatzten. Unter der Erdoberfläche mußte eine gewaltige Blutquelle liegen, die es in ihrem Versteck nicht mehr ausgehalten hatte und sich immer weiter in die Höhe geschoben hatte. Ich sah das Blut jetzt deutlicher. Überall, wo ich hinschaute, wirkte der Boden so, als würde er sich bewegen. Er war mit zahlreichen Pfützen übersät, und das alte Blut bekam immer mehr Nachschub. Der Druck blieb. Noch strömten keine Fontänen in die Höhe, aber der Untergrund riß auf, und selbst das Wurzelwerk der Pflanzen schaffte es nicht, das Blut zurückzuhalten. Es quoll, es breitete sich aus, es bekam mehr Druck, die Oberfläche wölbte sich und platzte weg. Kleine Tropfen spritzten umher, fielen wieder nieder und benetzten die Umgebung mit ihrem roten Regen. Bisher hatte ich mich nicht getraut, weiterzugehen. Dicht vor meinen Fußspitzen bewegte sich plötzlich der Boden. Ich spürte es nur, als die Erde etwas nachgiebiger wurde, dann sah ich den schmalen Riß, und wenig später drückte sich die alte, stockige Flüssigkeit in die Höhe, sprudelte vor mir auf, bildete eine Blase, die zerplatzte, wobei mich die Tropfen erwischten und auf meinen Schuhen und an den Hosenbeinen kleben blieben. Der Geruch war kaum zu ertragen. Ich wußte im Moment nicht, wie ich reagieren sollte.
Etwas Ähnliches hatte ich in diesem Land schon vor einiger Zeit erlebt, als ich auf das Erdmonster traf, dessen gewaltige Kraft den Boden zerstört hatte. Da war die Umgebung regelrecht umgepflügt worden, da hatte ich plötzlich vor irgendwelchen Kratern gestanden, in denen ich beinahe versunken wäre.* Ich atmete tief durch. Das hatte ich einfach tun müssen, obwohl mich der Blutgeruch arg störte. Die Frische der Luft war längst verschwunden, auch der Wind konnte den Gestank nicht vertreiben. Dieses uralte Blut hatte sich mit dem Geruch des Erdbodens vermischt. Deshalb stank es so faulig und auch irgendwie anders, als hätte man es auf eine bestimmte Art und Weise zusätzlich gewürzt. Das Platzen der Blasen hatte nachgelassen. Statt dessen strömte die rote Flüssigkeit jetzt stärker aus ihren Löchern hervor. Ich bekam sogar kleine Blutquellen zu sehen, die rasch große Pfützen bildeten. Sogar in meiner unmittelbaren Nähe, und als ich in die Tiefe schaute, stellte ich fest, daß ich selbst in einer roten Lache stand. Daß ich selbst diesen Vorgang nicht stoppen konnte, stand für mich fest. Hier war etwas in Bewegung gesetzt worden, das sich letztendlich selbständig gemacht und eine Eigendynamik entwickelt hatte. Es gehörte einfach dazu. Das war ein Teil des großen Plans, und die Männer in Tomatin hatten dies auch gewußt. Das Blut der Toten, der gefallenen Clan-Mitglieder, das lange genug auf einen bestimmten Zeitpunkt in der Erde gelauert hatte, und auch Geraldine Sinclair war davon indirekt betroffen, davon ging ich einfach aus. Sie wußte mehr. Wenn ich dem Geruch entgehen wollte, mußte ich das Schlachtfeld verlassen und mich dorthin wenden, wo auch Suko verschwunden war. Nur hatte ich das wiederum nicht vor, denn ein Mensch wie ich war immer daran interessiert, ein magisches und unerklärliches Rätsel zu lösen. Besonders dann, wenn ich persönlich und durch ein bestimmtes Schicksal daran beteiligt war, denn ich durfte keinesfalls vergessen, daß ich selbst ein Sinclair war. Und der Sinclair-Clan hatte damals bei der Schlacht von Culloden eine besondere Rolle gespielt. Wie auch Geraldine! Ich hatte kaum an sie gedacht, als etwas geschah. Eine graue Wolke sah so aus, als wollte sie sich gegen den Boden drücken. Als ich sie genauer beobachtete, entstanden innerhalb der Wolke ungewöhnliche Gebilde, als wäre sie mit geisterhaften Monstren gefüllt worden. So etwas hatte ich bereits bei dem alles zerstörenden Todesnebel erlebt, nur als ich ein zweitesmal hinschaute, waren die Gestalten verschwunden.
* Siehe John Sinclair Heft 979: »Das Erdmonster«
Eine normale Wolke lag vor und über mir. Aber der Himmel hatte sich verfärbt, was nicht an dem aus der Erde strömenden Blut lag. Die natürliche Zeiteinteilung hatte eingesetzt, und das Tageslicht war dabei, sich allmählich zurückzuziehen. Die Dämmerung kroch vor. Lang, grau, schattenhaft, und sie veränderte auch die Farbe des Himmels. Noch blieb das Blau, nur war es dunkler geworden. Ich hörte hinter mir das leise Geräusch. Da schlich jemand durch das Gras. Ich war nicht mehr allein! Hastig fuhr ich herum. Vor mir stand Geraldine Sinclair! *** Suko war es nicht recht, seinen Freund allein zurückzulassen. Auf der anderen Seite dachte er praktisch. Sie brauchten einfach mehr Informationen, und er konnte sich vorstellen, daß die Bewohner des einsamen Gehöftes mehr wußten. Sie waren im Haus. Nicht nur der abgestellte Geländewagen zeugte davon, auch der dünne Raucharm, der zittrig aus der Kaminöffnung in den Himmel stieg und sich verteilte, war ein Beweis dafür, daß sich jemand hinter den Mauern aufhielt. Der BMW schaukelte über den unebenen Boden. Immer dann, wenn Suko das Kratzen hörte, das an der Bodenwanne entlangstrich, verzog er das Gesicht. Hier konnte man mit dem Flitzer nichts anfangen, da war ein Geländewagen wirklich besser. Jenseits des Hauses standen Kühe und Schafe friedlich vereint auf einer Wiese. Keine Herde, von der man leben konnte; wer immer sich hier in diese Welt zurückgezogen hatte, mußte andere Gründe gehabt haben. Vor dem Haus döste ein Hund. Ein irischer Setter, der sich erst dann bewegte, als Suko den Wagen ausrollen ließ und den Motor abstellte. Träge kam das Tier auf den BMW zu. Es tat sehr gelangweilt. Daran wollte Suko nicht glauben. Er bekam den Beweis, als er den Wagenschlag öffnete. Plötzlich lief der Hund schneller, und aus seiner Kehle drang ein tiefes Knurren. »Du wirst mir doch nichts tun«, sagte Suko so freundlich wie möglich, blieb aber zunächst noch im Auto. Der Setter stand wenige Schritte neben ihm, sprungbereit. Suko blickte über das Tier hinweg auf die Haustür. Wenn sich jemand in dem Haus befand, hatte er die Ankunft des Fremden mitbekommen müssen, zudem hätte ihn das Verhalten des Hundes aufmerksam gemacht. Suko irrte sich nicht, denn die Tür wurde geöffnet, und kurz darauf zeigte sich ein Mann in mittleren Jahren auf der Schwelle. Er stand einfach nur
da und schaute Suko an, der dem Blick nicht auswich, weil er wußte, daß er begutachtet werden sollte. Der Farmer oder wer immer er sein mochte, trug eine weit geschnittene und schlabberige Jacke, darunter einen Pullover und eine Arbeitshose aus blauem Drillichstoff. Sein Haar war braun, der Mann hatte es länger wachsen lassen, so daß es auch die Ohren bedeckte. Sein Gesicht zeigte eine wetterbraune Haut, in dem die hellen Augen besonders auffielen. Seit dem Verlassen des Hauses hatte er sich nicht bewegt und auch keinen Ton gesagt, nun aber lächelte er und nickte Suko entgegen. »Guten Tag«, sagte der Inspektor. »Sie können aussteigen, Mister.« »Danke.« »Mein Hund wird Ihnen nichts tun. Hätte ich Sie nicht bei mir gewollt, wären Sie schneller vertrieben worden, als Sie es sich hätten vorstellen können.« »Das glaube ich Ihnen.« »Kommen Sie.« Suko stieg aus. Er schaute nicht mal zu dem Setter hin, der sehr ruhig geworden war und nicht mal zusammenzuckte, als Suko die Tür zuschlug. Er kam aber auf ihn zu, beschnüffelte ihn und ließ sich sogar streicheln. »Kompliment«, sagte der Mann. »Sie haben bei ihm einen Stein im Brett. Das tut er nicht bei jedem. Sie können sich darauf verlassen, daß er Sie akzeptiert hat und Sie auch beschützen wird.« Suko streichelte weiter. »Danke.« »Und auch ich habe mich nicht geirrt«, sagte der Mann. Er kam auf Suko mit ausgestreckter Hand zu. »Wer sich hier in die Einsamkeit zurückgezogen hat, muß schon einen Blick für Menschen haben und wissen, ob sie willkommen sind oder nicht. Ich habe es in Ihren Augen abgelesen, daß Sie es ehrlich meinen.« »Das können Sie.« »Ja!« Die Aussage war schlicht, nicht übertrieben. Sie zeugte von einem großen Selbstbewußtsein, und Suko legte seine Hand in die des fremden Mannes. »Ich heiße Suko und habe einen weiten Weg hinter mir.« »Das dachte ich mir. Übrigens, ich bin Melvin Hunt. Ich sah Sie schon mal in der Nähe vorbeifahren. Kann es sein, daß Sie da zu zweit gewesen sind?« »Kompliment, Sie haben gute Augen.« »Kann sein, aber mein Glas ist besser.« »Ach, so ist das. Sie beobachten Ihre Umgebung.« Auf der sonnenbraunen Stirn des Mannes erschien eine steile Falte. »Ja, das stimmt.« Vieldeutig fügte er hinzu. »Wer sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat, darf nicht meinen, daß er nun einsam ist. Auch hier
können ihn die Auswucherungen der Welt erreichen. Kommen Sie bitte ins Haus, Suko, ich denke, daß Sie mich nicht grundlos besucht haben.« »Das stimmt. Und was den zweiten Mann betrifft, da haben Sie richtig gesehen. Es gibt ihn, er ist nur zurückgeblieben. Es ist mein Freund John Sinclair…« Hunt stutzte für einen winzigen Augenblick, dann sagte er leise. »Sinclair – ach ja?« »Stört Sie das?« »Im Prinzip nicht, aber vielleicht reden wir später darüber. Ich habe Tee gekocht. Wenn Sie eine Tasse mittrinken wollen, sind Sie herzlich eingeladen.« »Gern, danke.« Das Haus war in seinem Innern ziemlich dunkel, und die Einrichtungsgegenstände sahen aus, als hätte sie der Hausherr selbst angefertigt. Im Kamin knisterte ein Feuer. Der Rauch zog in die Höhe, um sich über dem Dach zu verteilen. Mehrere kleine Fenster ließen nur wenig Licht herein. Elektrisches Licht gab es auch. Ein Generator spendete die Energie, wie Hunt erklärte. Der Setter war als Wächter draußen geblieben, und Suko nahm auf einem Stuhl neben dem Fenster Platz. Hunt trat mit zwei gefüllten Tassen an den Tisch. Er setzte sich ebenfalls. Das Aroma des Tees stieg in Sukos Nase und gab ihm ein wohliges Gefühl. Er lächelte vor sich hin, als er trank. »Das ist eine sehr gute Qualität.« »Danke, Suko, das sagt meine Frau auch immer.« »Ist sie auch hier?« »Momentan nicht. Sie hält sich in Glasgow auf, wird aber zurückkehren, sobald es wärmer ist. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn sie mal für einige Wochen in die Stadt zu ihren Verwandten fährt. Außerdem ist sie so etwas wie meine Agentin, denn sie verhandelt mit den Verlagen über Verträge, Lizenzen und so weiter.« »Dann sind Sie Schriftsteller?« »Sie haben es erfaßt.« »Und schreiben worüber?« Melvin Hunt strich sein Haar zurück. »So einfach ist das nicht zu beantworten. Würde ich sagen, daß ich historische Romane schreibe, hätte ich ebenso recht, als gäbe ich eine andere Erklärung.« »Welche?« »Unterhaltung«, erwiderte der Mann achselzuckend. »Unterhaltung mit historischem Background.« Suko lächelte vor sich hin. »Dann sind Sie hier ja richtig, stelle ich mir vor.« »Sie meinen Culloden?« »Was sonst?«
»Da muß ich Ihnen recht geben. Dieses Gebiet ist tatsächlich interessant, und ich habe mich hineingekniet, denn ich möchte da einige Dinge recherchieren.« »Dreht es sich dabei um die Schlacht?« Diesmal lächelte Melvin Hunt. »Natürlich, daran kommt man einfach nicht vorbei. Aber die Schlacht steht bei mir nicht im Vordergrund, es gibt andere Dinge, die mich mehr interessieren.« »Welche?« Hunt hob nachdenklich die Augenbrauen. »Menschliche Schicksale.« Suko setzte seine Frage sofort hinterher. »Derjenigen Personen, die damals an der Schlacht von Culloden beteiligt gewesen waren?« »Ja, das ist richtig.« »Auf beiden Seiten?« »Nein, mehr auf der schottischen. Meine Heimatseite, wenn ich das so sagen will.« »Es interessieren Sie die Clans.« »Das stimmt.« »Stammen Sie selbst von einem Clan ab, oder gehören Sie etwa dazu? Das wäre ja möglich.« »Stimmt, aber so ist es nicht. Ich habe mich in diese Einsamkeit zurückgezogen, um genügend Zeit für meine Recherchen zu haben. Ich schreibe ja nicht nur, ich bin auch dabei, Bücher zu studieren. Historische Bücher, wenn Sie verstehen. Das wird den ganzen Sommer noch andauern. Erst im Herbst komme ich dazu, mich an die Geschichte selbst zu setzen. Es wird ein sehr umfangreiches Buch werden, das weiß ich schon jetzt, denn die Clans sind doch sehr vielfältig und auch unterschiedlich.« »Außerdem gibt es welche, die nichts vergessen haben. Ich denke da an die neue Generation.« Hunt verengte die Augen. »Darf ich fragen, wie Sie das genau meinen, Suko?« »Gern. Mein Partner und ich haben durch Zufall eine Versammlung irgendwelcher Traditionalisten belauschen können. Wir sehen diese Männer als gefährlich an, denn ihre Reden klangen sehr rechts. Die Männer haben nichts vergessen.« »Stimmt, Suko.« »Das hörte sich an, als würden Sie diese Leute besser kennen?« »Nun ja, das stimmt, sie sind jedoch nicht meine Freunde.« »Das dachte ich mir.« Suko schaute Hunt direkt in die Augen. »Was haben sie vor?« »Sie können nichts vergessen. Oder sie haben nichts vergessen. Sie sind auch nicht bereit, die alten Zeiten und das, was in denen geschehen ist, ruhen zu lassen.« »Das hörte sich nicht gut an.«
»Es ist auch nicht gut, Suko. Diese Menschen haben die Geschichte nicht begriffen. Nur ist das kein schottisches Vorrecht. Das erleben wir überall in Europa. Verbohrte gibt es immer wieder, als wollten sie sich bewußt gegen den Strom stemmen. Diese Gruppe kann es nicht fassen, daß vor mehr als zweihundert Jahren die Clans eine Niederlage erlitten haben.« Suko mußte einfach lachen. »Himmel, das ist vorbei! Die Zeit kann man nicht zurückdrehen.« Melvin Hunt schaute auf seine Finger, die gespreizt auf der Tischplatte lagen. »Das können Sie auch normalerweise nicht, Suko, das ist unmöglich. Aber Sie werden es nicht schaffen, ihnen das einzutrichtern. Das geht ihnen einfach gegen den Strich und gegen die normale Entwicklung. Es ist leider so, und das sehen wir beide ein, nur diese verfluchten Typen nicht, die, wenn sie einmal soweit sind, auch vor Gewalt nicht zurückschrecken werden, um es den Nachfahren des englischen Königs heimzuzahlen, die es ja noch immer gibt. Damals hat der Duke of Cumberland seine Highland-Fighter versammelt, um gegen die Übermacht anzutreten. Es ist ihm nicht gelungen, Schottland zu retten, und die neuen Kämpfer werden es auch nicht schaffen, denn die Verhältnisse sind heute viel ungünstiger für sie als damals.« »Das weiß ich, das wissen Sie, Melvin. Trotzdem schwingen die Typen derartige Reden?« »Ja, weil sie davon überzeugt sind.« »Aber wie wollen sie es schaffen?« Hunt lehnte sich zurück und strich über seine Stirn. »Diese Frage habe ich mir vor einigen Wochen auch gestellt, als ich von diesem Spuk erfuhr, aber sie scheinen eine Möglichkeit entdeckt zu haben.« »Welche?« »Daß normale Waffen ausscheiden, können Sie sich vorstellen, Suko.« »Natürlich.« Melvin Hunt räusperte sich und trank von seinem Tee. »Tja«, sagte er leise und lächelte vor sich hin, während er noch den Kopf schüttelte, »ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen dies alles erzähle, aber wie ich schon sagte: Wenn es normale Waffen nicht schaffen, dann müssen eben andere her.« Suko ahnte, was folgte, tat aber trotzdem so, als verstünde er nichts. »Welche Waffen meinen Sie?« Hunt streckte die Beine aus. Er stöhnte dabei. »Das ist schwer zu erklären, und es wird für Sie noch schwerer sein, dies alles zu glauben, sage ich mal.« »Sie können es versuchen.« »Nichts gegen Sie, Suko, aber Sie sind sicherlich ein Mensch der Großstadt und leben mit dem, was Sie sehen. Hier oben aber läuft die
Zeit anders. Hier ist nicht alles tot und vernichtet oder vergessen, was auch so aussieht.« »Denken Sie an Magie?« Hunt schrak bei dieser Frage zusammen. »Hoppla, das ist ja etwas ganz Besonderes. Niemand hat mich danach gefragt. Ich selbst habe mich damit beschäftigt.« »Es ist mein Job.« Melvin Hunt stellte keine weiteren Fragen, er schaute Suko nur für eine Weile an. Sein Nicken bewies, daß er sein Gegenüber akzeptierte. »Das haben Sie sehr gut gesagt und damit genau den Punkt getroffen. Sie wollen mit den Mitteln der Magie zurückschlagen, grob gesagt.« »Das dachte ich mir. Sie können auch die Details erklären. Ich habe auf so etwas gewartet.« »Das hörte sich an, als wären Sie dessentwegen hier erschienen.« »Schon möglich.« Hunt schaute seinen Gast für einen Moment starr an, ohne etwas hinzuzufügen. »Akzeptiert«, sagte er dann. »Ich will es mal zusammenfassend erklären. Diese Traditionalisten werden sich Helfer holen, die an ihrer Seite kämpfen. Es sind diejenigen, die auf dem Schlachtfeld gestorben sind. Sie wollen über Culloden den Geistersturm entfachen, der die alte Niederlage ausgleicht.« »Geister also?« »Ja.« »Ich dachte es mir.« »Sie akzeptieren es, Suko?« fragte Hunt. »Warum nicht?« erwiderte Suko lächelnd. »Nur würde ich gern wissen, von welchen Geistern Sie reden. Vielleicht denken Sie das gleiche wie ich, aber Sie haben hier das Hausrecht. Sie sind zudem der Fachmann, und ich bin gespannt.« »Die Geister derjenigen Toten, die im Jenseits keine Ruhe mehr finden. Die Geister der gefallenen Kämpfer.« »Sehr gut.« Melvin Hunt stöhnte leise. »Es sind hier auf dem Schlachtfeld mehr als tausend Menschen gefallen. Dann können Sie sich ja vorstellen, was da auf uns zukommen kann.« »Das ist nicht gerade ein Kinderspiel.« »Eben, meine ich auch.« »Und die Menschen, die große Reden geschwungen haben, wissen tatsächlich, wie sie es schaffen können, mit irgendwelchen Geistern in Kontakt zu treten?« »Sonst wären sie nicht in der Nähe.« »Da bin ich gespannt und hoffe, daß Sie die Lösung auch kennen, Melvin.«
»Bitte«, er hob beide Arme, »verlangen Sie nicht zuviel von mir, Suko. Ich bin so etwas wie ein Sucher, der die einzelnen Teile zwar vor sich liegen hat, aber es bisher noch nicht schaffte, das gesamte Puzzle zusammenzusetzen.« »Wieviel haben Sie denn fertig?« »Die Hälfte etwa.« »Das ist auch schon was.« »Stimmt.« »Also.« Melvin Hunt räusperte sich und kam endlich zum Thema. »Jedenfalls haben sie es geschafft, Kontakt zu der anderen Welt aufzunehmen. Erinnern Sie sich, daß ich stutzte, wie Sie den Namen Sinclair erwähnten?« »Natürlich.« Melvin Hunt streckte Suko den Zeigefinger entgegen. »Genau das ist der springende Punkt – Sinclair.« »Sie meinen Geraldine Sinclair!« Hunt sprach nicht mehr weiter, obwohl es so aussah, als wollte er sprechen, denn sein Mund stand offen. »Verdammt noch mal, Sie wissen eine Menge, Suko. Kompliment.« »Sonst wären wir nicht hier. Bestimmt haben wir das gleiche vor wie Sie, Melvin, aber wir wissen noch nicht, welche Rolle diese Geraldine Sinclair tatsächlich gespielt hat.« »Sie war eine Verräterin in den Augen der anderen Clans.« »Inwiefern?« »Sie hat die Sache angeblich verraten«, erklärte Melvin Hunt. »Sie soll den englischen Truppen Informationen über die Clans verkauft haben. Angeblich hat sie auch den Treffpunkt verraten.« »Und?« »Man hat es ihr übelgenommen.« »Das kann ich mir denken. Nur – was ist mit ihr geschehen? Wie haben die eigenen Landsleute darauf reagiert?« Der Schriftsteller hob die Schultern. »Nun ja, viele sind ja gefallen. Aber es ist natürlich nicht verborgen geblieben, wer die Clans verraten hat. Man fing Geraldine Sinclair ein. Man schor ihr die Haare. Man folterte sie, man wollte sie vor Gericht stellen und aburteilen. Vor ein Gericht, das natürlich keines war, denn die Engländer hatten daran kein Interesse, aber es gab noch Femegerichte der Schotten, und Geraldine war auch in einem schottischen Verlies eingekerkert worden. Bevor man sie aburteilen und köpfen konnte wie Maria Stuart, wurde sie von den Engländern befreit, und Geraldine veränderte sich von diesem Zeitpunkt an. Sie wurde zu einer Kämpferin und zu einer Frau, die auch durch andere Dinge von sich reden machte. Sie lernte den Umgang mit den Schwertern, und sie war interessiert an magischen Ritualen. Der
Legende nach hat es sie immer wieder nach Culloden zurückgetrieben, wo sie kämpfen mußte. Weiter und immer weiter.« »Gegen wen kämpfte sie denn?« Melvin Hunt wies gegen die Decke. Suko hatte begriffen und sagte: »Gegen die Geister oder gegen den Geistersturm?« »Das stimmt.« Suko lächelte und nickte zugleich. »Gut, daß wir endlich soweit gekommen sind. Sie kämpfte also gegen die Geister, stemmte sich dem Sturm entgegen, der immer wieder über sie kam.« »So ist es gewesen.« »Wann?« Melvin hob die Schultern. »Man sagt, daß die Geister der Gefallenen keine Ruhe finden können und sich immer dann zeigen, wenn Geraldine auf dem Schlachtfeld steht. Sie ist in gewisser Hinsicht der Lockvogel für die anderen aus der fremden Welt.« »Soll das heißen, daß der Geistersturm nur dann losbricht, wenn sich Geraldine auf dem Schlachtfeld befindet?« »Das ist es.« »Warum, zum Henker?« Melvin zeigte ein bedenkliches Gesicht. »Das weiß ich leider auch nicht«, sagte er. »Ich habe keine Ahnung. Alles ist praktisch an mir vorbeigelaufen. Außerdem habe ich zur damaligen Zeit nicht gelebt und…« »Aber Geraldine hat gelebt und auch überlebt. Auch sie hätte längst verwest sein müssen.« »Das stimmt, Suko.« »Warum ist sie es nicht?« Hunt stöhnte. »Wenn ich das wüßte, wäre mir wohler. Sie lebt, die Erklärungen müssen Sie woanders suchen und nicht mit den Gesetzen der Physik. Es ging ja immer wieder gut, bis eben zum heutigen Tag oder in der Zeit davor. Da hat sich die Gruppe der Traditionalisten zusammengefunden, und die Männer haben davon erfahren, daß diese Geraldine Sinclair noch existierte. Sie werden sie vor ihren Karren gespannt haben. In dieser Nacht werden sie den Geistersturm erleben. Ich habe keinen Beweis, denke aber, daß Sie eine Person wie Geraldine Sinclair ebenfalls auf dem Schlachtfeld finden werden.« »Das glaube ich auch«, sagte Suko. »Frage: Was machen wir?« »Was hatten Sie vor, Melvin?« »Ich wäre hingegangen.« »Sie hätten sich in Gefahr begeben«, gab Suko zu bedenken. Der Autor hob die Schultern. »Hatten Sie schon Kontakt mit der Gruppe aus Tomatin?«
»Des öfteren.« »Dann wissen die, daß Sie nicht eben auf ihrer Seite stehen.« »So ist es. Ich bin einmal heftig mit ihnen zusammengerasselt. Ich habe ihnen erklärt, was ich von ihnen halte, und sie hätten mich am liebsten unangespitzt in den Boden gerammt. Aber darüber sehe ich hinweg. Für mich ist wichtig, daß die Gruppe es durch die Hilfe dieser Totengeister nicht schafft, Unruhe in das Land zu bringen und noch einmal gegen die Nachkommen derjenigen ins Feld zieht, die damals als Sieger gewesen sind. Die Lebenden fühlen sich mit den Geistern verbunden, und daß beide in der folgenden Nacht auf dem Schlachtfeld erscheinen werden, ist leider nicht zu vermeiden.« »Es werden noch zwei dort sein. Geraldine Sinclair und mein Freund John Sinclair.« »Auch Sie, Suko?« »Denken Sie, ich lasse meinen Freund im Stich?« »Dann bin ich auch dabei.« Suko wollte schon widersprechen, sah allerdings ein, daß dieser Mann die älteren Rechte hatte, und er stimmte zu. »Dann müssen wir uns nur darauf einigen, wann wir uns in Marsch setzen.« »So rasch wie möglich.« »Okay.« Suko stand auf und bewegte sich zur Tür. »Moment, ich hole nur noch meinen Wagenschlüssel und mein Gewehr. Man kann nie wissen.« Dazu gab der Inspektor keinen Kommentar. Er verließ das Steinhaus und blieb vor der Tür stehen. Die Landschaft zeigte inzwischen ein dunkleres Gesicht. Der Wind hatte aufgefrischt, und es war kälter geworden. Suko, der in den Himmel schaute, entdeckte nichts Besonderes. Zwischen und auch in den Wolken war keine Veränderung zu erkennen. Der Himmel lag über ihm wie ein gewaltiges Gemälde, das sich bis zum Horizont erstreckte. Der Setter kam zu ihm und rieb seinen Körper an Sukos Beinen. Er streichelte den Hund automatisch, bis er plötzlich dessen leises Knurren hörte, was so gar nicht zu dieser friedlichen Stimmung passen wollte, die beide umgab. Suko war mißtrauisch geworden. Er schaute nach vorn und sah dort auch die Veränderungen der Landschaft. Die Hügel zeichneten sich als dunkle Buckel ab, wie in einem zu Eis erstarrten Meer. In der Nähe brannte kein Licht, und auch die Helligkeit hinter ihm im Haus verschwand, als Melvin durch die Tür trat. Er hatte das Knurren des Setters ebenfalls gehört. »Was ist denn los, Corky?« Der Hund knurrte weiter. »Wissen Sie was, Suko?«
»Nein, ich habe keine Veränderung gesehen und denke nicht, daß es schon soweit ist.« »Man kann nie wissen. Kommen Sie, wir steigen ein. Ich habe den Eindruck, daß es brennt.« Nicht nur Melvin Hunt lief auf den Geländewagen zu, auch Corky folgte ihm, und sein Knurren hatte er nicht eingestellt. Er sprang hinein und blieb auf dem Rücksitz hocken. Suko wartete, bis der Schriftsteller hinter dem Steuer seinen Platz eingenommen hatte, öffnete die Tür, hielt sie noch fest und stieg nicht ein, denn er hatte etwas gesehen. Licht bewegte sich durch die düstere Landschaft. Eine tanzende Kette heller Lichter. Melvin Hunt beugte sich nach links hinüber zur Beifahrerseite. »Suko, das sind sie! – Die Gruppe ist auf dem Weg zum Ziel. Die wird Culloden früher erreichen als wir.« Der Inspektor stieg ein. Er schloß die Tür. Hinter ihm knurrte Corky noch immer. Hunt hatte seine Waffe, ein Militärgewehr, quer über seine Oberschenkel gelegt. Die Mündung wies zur Tür hin. »Es wird nicht friedlich abgehen, habe ich das Gefühl«, sagte er, während er startete. Suko schwieg, aber er dachte genauso. *** Der Blutgeruch war nicht verschwunden. Wie ein Nebel hüllte er mich ein, jetzt aber auch Geraldine Sinclair, die noch immer so aussah, wie ich sie kannte. Wir schauten uns an. Auf ihrem runden Gesicht zeigte sich kein Lächeln, und ich wollte auch nicht in Schweigen erstarren, deshalb sagte ich: »Ich kann mir denken, weshalb du gekommen bist, aber ich möchte gern von dir die Wahrheit hören.« »Das kannst du, John.« »Bitte.« »Ich will nicht, daß die Menschen es schaffen, sich mit den Geistern zu verbünden. Ich will, daß es endlich Frieden gibt und all die Toten vergessen werden.« »Frieden? Hört sich sehr gut an. Dann sind wir hier erschienen, um Frieden zu stiften?« »Wir beide – ja. Ich muß es wieder versuchen. Ich habe es vor der Schlacht versucht und bin deshalb als Verräterin gebrandmarkt worden. Man hat mich nicht verstanden. Ich wollte den schottischen Clans zeigen, daß sie gegen die englische Übermacht nicht ankommen können, aber sie waren stur und haben sich nicht ergeben. Sie fingen an zu kämpfen, sie verloren ihr Blut und ihr Leben, und ihre Seelen irren im Jenseits umher, wo sie keine Ruhe finden und immer als Geistersturm über das Land und Culloden hinwegfegen.«
»Das habe ich begriffen, Geraldine. Aber was ist mit den Menschen, die in meiner Zeit hier erscheinen werden?« »Sie wollen sich mit ihnen verbünden. Ich bin so etwas wie eine Brücke, denn durch mein Erscheinen auf dem Schlachtfeld löse ich den Geistersturm aus. Dann verlassen sie ihre Totenwelt. Für sie bin ich eine Verräterin. Es ist immer wieder im Laufe der langen Jahre geschehen. Es haben sich Legenden um Culloden gebildet, aber niemand hat diese Sagen mit mir in einen Zusammenhang gebracht. Außerdem bin ich in Vergessenheit geraten. Aber ich existiere noch und ziehe den Haß der Geister auf mich.« Den Geruch des alten Blutes hatte ich vergessen. Mich interessierte einzig und allein die Geschichte der Geraldine. »Warum existierst du noch?« fragte ich sie. »Du hättest längst tot und zu Staub zerfallen sein müssen.« »Ja, das stimmt«, gab sie leise zu. »Deshalb frage ich mich und auch dich, aus welchem Grund du noch lebst, Geraldine.« Sie lächelte dezent. »Kannst du dir das nicht denken, John?« »Nein.« »Ich bin eine Sinclair.« »Ich ebenfalls.« »Das ist ja unser Fluch oder unser Auftrag. Die Sinclairs waren immer etwas Besonderes, das brauche ich dir nicht zu sagen. Denk an Henry St. Clair, den Seefahrer, denke an mich, denke an – ach, es gibt so viele mit diesem Namen, die sich hervorgetan haben, und du bist einer in der langen Kette, der sogar der Sohn des Lichts genannt wird, wie ich hörte.« »Da widerspreche ich dir nicht, Geraldine. Nur habe ich nie etwas mit dem Clan der Sinclairs zu tun gehabt. Wenn du soviel über mich kennst, wirst du auch wissen, daß ich in früheren Zeiten schon als eine andere Person gelebt habe. Als Hector de Valois oder als Richard Löwenherz und…« »Es ist mir bekannt, mein Freund.« »Gut. Ich bin also zufällig in die Sinclairs hineingeboren worden, kann man sagen.« »Bestimmung.« »Tatsächlich? Für wen?« »Für mich, unter anderem. Dafür, daß du mir im Kampf gegen den Geistersturm zur Seite stehst. Er wird heute über uns kommen, und wir werden es sehr schwer haben, ihn zu stoppen, denn die Lebenden wollen sich mit den Geistern der Toten verbünden. Die Nacht des Unheils wird bald anbrechen. Die Geister sind unruhig geworden. Das Blut der Toten brodelt, wie du es selbst erlebt hast. Es kocht unter deinen Füßen. Es spürte bereits die Veränderungen, und es will nicht
mehr tief im Schoß der Erde zurückbleiben. Das Blut muß sich freie Bahn verschaffen, denn die Geister der Gefallenen werden in diese Wolke hineinschweben, und es wird zu einer mächtigen Verbindung kommen.« »Wenn wir sie zulassen…« »Ja.« Ich schwieg, und auch Geraldine ließ mich in Ruhe. Mein Blick durchstreifte die Umgebung. Es hatte sich nichts verändert. Zumindest konnte ich bei diesen Sichtverhältnissen nichts erkennen. Alles war ruhig, wirkte wie erstarrt. Auch der Himmel lag über uns wie immer. Dort zeigte sich keine Gefahr. Wenn die Geister kommen wollten, so hielten sie sich noch in ihren Reichen versteckt. Eine Frage brannte mir trotzdem auf der Zunge, und ich hielt sie auch nicht länger zurück. »Was ist mit dir persönlich, Geraldine? Warum hast du überlebt? Warum kannst du vor mir stehen?« Auf ihrem Gesicht, das ebenfalls von Schatten bedeckt war, erschien ein Lächeln. »Ich wußte, daß du so fragen würdest, John, und ich kann dir auch eine Antwort geben. Ich lebe noch, ich habe es geschafft, den Tod zu überwinden. Ich werde dir jetzt sagen, daß ich eine Sinclair bin, und wie du weißt, hat es bei uns besondere Menschen gegeben. Bevor man mich köpfen konnte, wurde ich von den Engländern befreit, die durch das Land ritten, um auch die letzten Aufständischen zu vernichten. Man wußte, daß ich versucht habe, damals Frieden zu stiften, und so ließen sie mich laufen. Ich versteckte mich, ich lernte viel über gewisse Kräfte, die auch schon damals vorhanden waren. Heute und auch früher hätte man mich als eine Hexe angesehen, und sicherlich war ich das auch. Aber darauf bin ich stolz, denn durch die Verbindung zu den anderen Kräften, die nicht sichtbar sind, habe ich zu überleben gelernt.« »Warst du ein Günstling der Hölle?« »Nein, John, nein!« Ihre Antwort hatte ehrlich geklungen, und ich glaubte ihr. »Muß jede Person, die über ungewöhnliche Kräfte verfügt, mit dem Teufel in Verbindung stehen?« »Ich weiß es nicht genau. Es wäre aber möglich. Auch ich habe meine Erfahrungen sammeln können.« »Auf mich treffen sie nicht zu. Ich habe durch eine sehr weise Frau, die sich in einem zerstörten Kloster versteckt hielt, einen Weg zu anderen Reichen gefunden. Sie war der Schlüssel zu einem Tor, hinter dem eine andere Welt lag.« »Welche?« »Sie ist wunderschön. Sie ist die Welt für alle aufrechten Kämpfer. In ihnen leben die Geister weiter.« Ich hatte eine Idee und sprach sie auch aus. »Ich kenne ein Reich, in dem das alles so geschieht. Ist es Avalon?«
»Ja«, hauchte sie. »Avalon. Die Insel der Glückseligkeit, das Eiland der Äpfel. Dort, wo der mächtige König Arthurs und seine Ritter der Tafelrunde auf das Ende der Welt warten und eine geheime Wacht über England halten. Dort komme ich her. Immer wieder einmal verlasse ich die Insel, um mich auf dieses Schlachtfeld zu begeben, denn irgendwo bin auch ich dazu verflucht, lange zu leben, um endlich Frieden zwischen den Parteien stiften zu können. Es ist mir bisher nicht gelungen, aber ich hörte von dir, denn dein Name ist in Avalon ebenfalls bekannt.« »Durch eine Frau?« »Ja.« »Nadine Berger?« »Ja.« »Dann ist mir einiges klar.« »Sie wartet auf deinen Besuch, aber andere wollen nicht, daß du kommst, obwohl du es schaffen könntest, denn der Knochensessel befindet sich in deinem Besitz.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber ich wollte es auch nicht richtigstellen, nicht jetzt. Mir selbst gegenüber war ich ehrlich. Ich hatte Geraldine bei einer Lüge ertappt. Was sie über Avalon gesagt hatte, stimmte, das kannte ich aus eigenen Erlebnissen, aber das war jetzt nicht wichtig. Der Geistersturm zählte, und ich wollte von der Kämpferin wissen, wann er losbrechen würde. Geraldine hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht genau sagen. Er wird sich nicht zurückhalten lassen.« »Um Mitternacht?« »In der Nacht.« »Gut, akzeptiert. Bleiben wir bei diesem Sturm. Du kennst dich besser aus, Geraldine. Was werden wir tun müssen, um ihn zu stoppen? Können wir ihn überhaupt stoppen?« »Es wird schwer werden.« »Das denke ich auch. Nur ist damit meine Frage nicht beantwortet worden.« »Wir haben zwei Reihen von Gegnern, die lebenden und die toten. Die Toten oder die Geister werden versuchen, mit den Lebenden Kontakt aufzunehmen. Sie wollen sich in dieser Nacht zusammentun, um die Schmach zu retten. Und wieder bin ich hier, um Frieden zu stiften. Diesmal stehe ich nicht allein. Du bist bei mir, John, und wirst mir helfen müssen.« »Was hattest du denn für mich vorgesehen?« »Du wirst dich um die Männer kümmern, um die Vertreter der einzelnen Clans.« »Gibt es einen Anführer?« »Ja.« »Sein Name?«
»Gerald McLean. Er ist Sproß einer uralten Dynastie. Sein Ahnherr fiel im Kampf gegen die Engländer als einer der ersten, denn er gehörte zu den Anführern. Dieser Gerald McLean hat auch heute den Befehl. Du wirst dich um ihn kümmern müssen.« »Soll ich ihn ausschalten?« »Nein, kein Blut. Nur zurückhalten.« »Meinst du, daß ich es schaffe?« Sie lächelte. »Versuche es. Und denke daran, daß ich auch noch da bin. Du wirst mich zwar nicht sehen, aber ich warte, und ich beobachte, John Sinclair. Und denk daran; was immer auch geschieht, der Geistersturm ist nicht zu stoppen. Er wird noch in dieser Nacht losbrechen. So wird sich die Schlacht von Culloden auf eine andere Art und Weise wiederholen. Ich kann es dir versprechen.« Informationen hatte ich erhalten, darüber war ich auch froh. Leider nicht genug, denn Geraldine wollte nicht mehr reden. Sie zog sich zurück, und dabei berührten ihre Füße ganz normal den Boden. Oder schwebte sie? Ich wußte es selbst nicht, weil die Dunkelheit schon zu dicht geworden war. Ich sah einen Schatten, eine wirbelnde feinstoffliche Erscheinung, die gegen die Wolken stieg, als wäre es die Seele eines Toten, die zum Himmel eilte, wie man in der Legende berichtete. Geraldine war plötzlich weg. Ich hörte ein Lachen, dann ihre allmählich verwehende Stimme. »Du schaffst es, John, du mußt es schaffen. Glaube es mir, wir schaffen es, sonst ist es zu spät!« Stille! Geraldine war weg. Aber der Blutgeruch umgab mich noch immer wie eine dichte Wand. *** Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich mich wieder gefangen hatte und sich die kalte Gänsehaut wieder von meinem Körper zurückzog. Geraldine Sinclair hatte mir zahlreiche Informationen zukommen lassen, am meisten aber hatte mich die Tatsache geschockt, daß ich eine Verwandte in Avalon hatte, denn es gab keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. Sie war den Weg einer tapferen Kriegerin gegangen, wie auch die Ritter der Tafelrunde, deren verweste Gestalten ich bereits mit eigenen Augen auf dieser Insel gesehen hatte, auf der jetzt Nadine Berger lebte und den Dunklen Gral besaß. Irgendwo holt einen Menschen immer alles ein, was mit seinem eigenen Schicksal zusammenhängt. Auch mir erging es nicht anders. Daß aber
ein Fluch auf dem Sinclair-Clan gelegen hatte, war mir bisher nicht bekannt gewesen. Ich mußte innerlich lächeln, auch wenn es nicht ehrlich und ernst gemeint war. Wir waren schon eine seltsame Familie, die Vorfahren darin eingeschlossen. Trotzdem fühlte ich mich zum eigentlichen Sinclair-Clan nicht so sehr hingezogen, da ich bereits als andere Person gelebt hatte. Irgendwo lag dieser Fall meiner Vergangenheit noch tiefer im Dunkel als meine Wiedergeburten. Ich fragte mich, ob sich an diesem Tag etwas ändern würde und ich mehr über die Sinclairs erfuhr. Ich wußte es nicht und wollte mir auch keine weiteren Gedanken darüber machen. Es wäre zu belastend gewesen. Wichtig für mich war es, die verbohrten Traditionalisten zu stoppen, die tatsächlich mit den Geistern ihrer Ahnen eine Allianz eingehen wollten. Klappte so etwas? Ich selbst wußte es nicht, aber ich wußte auch nicht, wie ich es verhindern sollte. Geraldine Sinclair kehrte nicht zurück. Sie hatte sich mir offenbart, mir alles erklärt und mich auch auf diese Art und Weise auf meine Aufgabe vorbereitet. Das Schlachtfeld von Culloden lag vor mir wie ein unendlicher dunkler See. Selbst die Vögel hatten sich zurückgezogen. Schwer lasteten die Wolken hoch über meinem Kopf, und der Wind spielte mit dem Blutgeruch. Der Boden hatte sich offenbart und das Blut der Gefallenen ausgespuckt, aber er hatte auch jetzt genug. Nichts strömte mehr an die Oberfläche. Die Blutquellen waren versiegt. Für mich ein Zeichen, daß ein Teil der Vorbereitungen abgeschlossen waren. Es fehlten nur noch die Verbohrten. Ich glaubte nicht daran, daß sie sich zu dieser Zeit noch im Gasthaus aufhielten und sich dort weiterhin Mut antranken. Sie würden sich auf den Weg gemacht haben und bald hier eintreffen. Auch Suko hatte sich auf den Weg zu diesem Gehöft gemacht. Ich fragte mich, wie es ihm ergangen war. Er konnte auch Pech gehabt haben und war auf einen Vorposten der Traditionalisten gestoßen. Alles lag im Bereich der Möglichkeiten. Die Dunkelheit war klar und dennoch dicht. Sie kam mir vor wie eine feine graue Wand, von keinem Lichtschein durchbrochen. Sie herrschte auf dem Schlachtfeld, als wollte sie das Grauen, das hier einmal stattgefunden hatte, für immer und ewig bedecken. Doch der Schein trog. Im Innern und auch in der Umgebung brodelte es. Nur war das nicht zu hören, sondern nur zu riechen. Ich wollte dem Blutgeruch eigentlich entweichen, dazu kam ich nicht mehr, denn ich entdeckte die Veränderung. Urplötzlich sah ich das Licht!
Zu hell und weiß, um echt zu sein. Da tanzte keine Flamme über irgendeinen mit Pech beschmierten Ast, es war eine große, unnatürliche Quelle, auch aus größter Distanz zu sehen, obwohl ich die Entfernung in der Dunkelheit schlecht abschätzen konnte. Aber das Licht bewegte sich, ich hörte daß gedämpft klingende Motorengeräusch, und ich sah, wie die Helligkeit schwenkte, ein Zeichen, daß mehrere Fahrzeuge hintereinander fuhren. Die Mitglieder des Clans erschienen, um ihr Versprechen in die Tat umzusetzen. Es war genau der Zeitpunkt, zu dem mein Herz schneller schlug. Von nun an gab es kein Zurück mehr. Ich erinnerte mich an Geraldines Worte, die mich darum gebeten hatte, den Mitgliedern des Clans Auge in Auge gegenüberzutreten. Sie waren noch ziemlich weit entfernt, doch die Scheinwerfer der Fahrzeuge schwenkten herum, und ich bekam mit, daß sie genau in meine Richtung leuchteten. Ich hatte die Männer grölen hören und trinken sehen. Ob alle nüchtern waren, wagte ich zu bezweifeln. Betrunkene verloren rasch die Übersicht und taten oft Dinge, die sie später bereuten. Ich wartete. Ein Blick auf die Uhr. Noch etwas mehr als eine Stunde bis Mitternacht! So lange würden die Mitglieder der Clans nicht warten. Es konnte sich nur um Minuten handeln, bis sie mich erreicht hatten und ich mich rechtfertigen mußte. Wenn mich nicht alles täuschte, fuhren drei Autos auf mich zu. An der höheren Stellung der Scheinwerfer war zu erkennen, daß es sich um Geländewagen handelte, für diese Gegend ideal, und das Licht vereinte sich vor den Kühlerhauben zu hellen Inseln. Man konnte schon Furcht bekommen, so allein in der Dunkelheit stehend und die drei Fahrzeuge beobachtend, die heranrollten. Sie wirkten wie gefährliche Tiere, mit hellen, harten Augen und aufgerissenen Mäulern, als wollten sie ihre Beute verschlingen. Das Dröhnen der Motoren hörte sich überlaut an. Gierig und brutal, als sollte ich einfach von dieser Masse aus Stahl und Reifen überrollt werden. Das Licht erwischte mich. Auf einmal war ich von seinem Schein umgeben. Der Blutgeruch war geblieben, aber es stieg kein rötlicher Nebel in das weiße Licht hinein. Was würden die Fahrer tun? Bremsen oder einfach über mich hinwegfahren. Vielleicht auch ausweichen? Ich jedenfalls traute ihnen alles zu. Ich hatte mich entschieden und blieb stehen. Der Fahrer eines Wagens drückte aufs Gaspedal, das Tempo
steigerte sich, und er setzte sich mit seinem Fahrzeug vor die beiden anderen. Ein kurzer, aber greller Hupton durchschnitt die Stille. Er brandete in meinen Ohren nach, dann bremste der erste Wagen, und die Männer im zweiten und dritten taten es ihm nach. Sie standen. Motoren heulten im Leerlauf. Hinter dem grellen, mich blendenden Licht sah ich nur bedingt die Umrisse der Fahrzeuge. Ich wollte auch nicht mehr wie auf dem Präsentierteller stehen, ging einige Schritte zur Seite, was einem Fahrer nicht gefiel, denn ich hörte den Klang einer scharfen Stimme. »Stehenbleiben! Es wird sofort geschossen!« Ich ging trotzdem einen großen Ausfallschritt weiter und hob beide Hände an. Das Licht blieb, aber es wurde weniger. Nur gelbblaß glotzten die Augen der Scheinwerfer im Standlicht. Türen öffneten sich, wurden zugeschlagen. Aus drei Wagen quollen die Männer hervor, und ich sah sogar das Schimmern einiger Waffen. »Holt ihn her!« Ich wollte mich nicht wie einen Gefangenen behandeln lassen und rief: »Keine Sorge, McLean, ich habe auf euch gewartet und werde selbst kommen.« »Also gut!« Ich atmete auf. Zumindest würde man mich noch nicht durchsuchen und meine Beretta finden. Noch immer mit angehobenen Armen setzte ich mich in Bewegung und konnte die Männer sehr bald besser erkennen, da sie sich jetzt vor dem Licht aufhielten. Es waren die aus dem Hinterraum des Lokals. Die meisten erkannte ich wieder. Mir wehte ein schwerer Bierdunst entgegen, und einer aus der Reihe trat einen halben Schritt vor. So handelte nur ein Anführer, und ich blieb auf meinem Weg nach vorn. »McLean?« fragte ich. »Ja!« Ich bewegte mich noch einen Schritt auf ihn zu, wogegen er erstaunlicherweise nichts hatte. Wahrscheinlich dachte er auch an seine Rückendeckung, denn als einzelne Person kam ich sowieso nicht gegen ihn an. Jetzt konnte ich ihn besser sehen und hatte Mühe, mir ein Grinsen zu verkneifen, weil dieser McLean nicht eben so aussah, wie man sich einen Clanführer landläufig vorstellte. Er war klein, dazu noch gedrungen und erinnerte mich an den Schauspieler Mickey Rooney. Ein ebenfalls dunkles Gesicht, fast die gleiche Nase, die hohe Stirn, der Mund. Nur war McLean eben um runde zwanzig Jahre jünger.
Er trug einen Kilt mit dem Abzeichen seines Clans. Überhaupt waren alle Kämpfer mit ihren Kilts bekleidet, auch den entsprechenden Mützen auf den Köpfen, wo als kleine Fahnen die Zeichen der einzelnen Clans angenäht waren. Im Hintergrund standen Männer, die die großen Clanfahnen hochhielten. Der Wind spielte mit den Tüchern und ließ sie leise knattern. Das Grinsen unterdrückte ich auch weiterhin und hörte mir die barsche Frage des Mannes an. »Woher kennen Sie mich?« »Das ist eine etwas längere Geschichte, Mr. McLean.« »Die ich nicht hören will, verdammt!« »Das kann ich mir denken. Sie haben sicherlich andere Dinge zu tun.« »Sie sagen es.« »Das sollten Sie lassen, Mr. McLean. Die Vergangenheit sollte wirklich tot und begraben sein!« Diese Worte paßten den Männern nicht; einige wurden unruhig. Ich hörte Flüche und nicht eben schmeichelhafte Worte, die mir allein galten. McLean sorgte durch eine barsche Handbewegung für Schweigen, und seine Leute gehorchten. »Sie kommen her und wagen es, sich schottischen Edelleuten entgegenzustellen? Sie – ein Engländer?« Er spie aus. »Sie wissen, was wir von Engländern halten. Seien Sie froh, daß wir Sie nicht…« Ich fiel ihm ins Wort. »Keine Drohungen, McLean, so kommen wir nicht weiter. Zudem haben Sie sich geirrt. Ich bin kein Engländer, sondern schottischer Abstammung.« »Noch schlimmer.« »Wieso?« »Daß Sie es wagen, sich den eigenen Landsleuten entgegenzustellen. Ein Freund unserer Sache sind Sie wohl nicht.« »Nein.« »Dann weg mit dir, du Verräter!« »Wie heißt er denn?« rief jemand aus dem Hintergrund. Ich hob die Arme und spielte Theater, was ich bewußt tat, denn niemand hielt mich davon ab, noch näher an McLean heranzutreten. »Mein Name ist Sinclair, John Sinclair!« Da war der Hammer. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet, und ich war froh, diese Überraschung bei ihnen hinterlassen zu haben. Sie wußten im Augenblick nicht, was sie noch sagen wollten. Einige Male holten sie tief Luft, dann brüllte jemand laut seinen Frust hinaus, und er knirschte dabei den Namen Sinclair, als wollte er ihn zwischen seinem Gebiß zermalmen. Auch McLean war außer sich. Er stand dicht vor dem Punkt, wo er sein rationales Denken verlor. Weiter durfte ich ihn nicht kommen lassen. Wenn er und die anderen sich wieder auf mich konzentrierten, war es vorbei.
Und deshalb handelte ich sofort. Ich zog meine Waffe, ein Schritt reichte aus, und ich hatte McLean erreicht, der zu Stein wurde, als er die Mündung unter seinem Kinn spürte, herumgerissen wurde, seine Leute plötzlich anschaute, während er vor mir stand. Da das Licht uns noch immer bestrahlte, konnte jeder sehen, in welch eine Lage ihr Anführer geraten war. »Ich glaube, das ist es für euch gewesen! Steigt in die Wagen und fahrt wieder los! Die Vergangenheit ist tot, und sie wird auch tot bleiben, denke ich…« *** Sollten einige der Männer angetrunken gewesen sein, so wurden sie jetzt sehr bald nüchtern. Keiner von ihnen hatte meine laut gesprochenen Worte überhören können, und es war auch niemand dabei, der meinen Befehlen widersprochen hätte. Sie bewegten sich nicht. Die Worte hatten sie hart getroffen. Ihre zum Teil benebelten Hirne mußten sich zunächst einmal mit der neuen Lage abfinden. Okay, sie befanden sich in der Überzahl, aber die Mündung meiner Beretta >klebte< an McLeans Kinn, und er selbst stand als Deckung oder Kugelfang vor mir. Ich hörte ihn atmen. Die dünne Haut an seinem Hals zuckte. Die Mündung der Waffe drückte seinen Kopf etwas nach links, zudem schielte er auch noch, um mir ins Gesicht starren zu können, als wollte er darin lesen, was ich weiterhin mit ihm vorhatte. »Haben auch Sie verstanden, McLean?« Er gab ein heiseres Lachen von sich. Dann redete er, obwohl er Mühe damit hatte. »Das stehst du nicht durch, Sinclair. Vor allen Dingen ein Sinclair nicht.« »Meinen Sie?« »Ja, denn alle Sinclairs sind verfluchte Verräter. Es hat sich nichts daran geändert. Schon die Schlacht ist für unsere Clans damals verlorengegangen, weil so eine verdammte Sinclair uns verraten hat. Ein Weib hat es getan, und nur deshalb ist es den Engländern gelungen, unsere tapferen Highlander zu schlagen.« »Das wäre auch so passiert, McLean.« »Wie kannst du das behaupten, wo du selbst aus der Verräter-Sippe stammst?« »Geraldine Sinclair hat es mir verraten!« »Sie ist tot und verrottet!« spottete er. Nun lachte ich. »Glauben Sie das wirklich, McLean? Sind Sie tatsächlich davon überzeugt?« »Das bin ich!«
»Das ist ein Irrtum. Geraldine Sinclair lebt, und sie ist sehr mächtig geworden. Nur wenn sie hier auf dem Schlachtfeld von Culloden erscheint, sind die Geister in der Lage, ihre Welt zu verlassen. Und sie ist auch keine Verräterin, Geraldine will den Frieden. Endlich soll Frieden geschaffen werden, damit Wirrköpfe wie ihr nicht mehr in der Lage seid, die Ordnung des normalen Zusammenlebens zu stören.« »Ordnung?« kreischte McLean, wobei er mich wieder an einen Giftzwerg erinnerte. »Was heißt Ordnung? Die Ordnung ist nie wieder hergestellt worden. Schottland wurde geschluckt. Aus zwei Reichen wurde eines gemacht. Ich hasse es, wir hassen es. Man hat uns betrogen und belogen, und eine Geraldine Sinclair trägt daran die Schuld. Auch mit deiner Waffe kannst du uns nicht aufhalten. In dieser Nacht wird das Heer der Geister erscheinen, und es wird uns die Kraft geben, die tapferen Gefallenen zu rächen. Das verspreche ich dir, Hundesohn!« Ich mußte McLean ernst nehmen. Dieser Mann war so verbohrt, daß er sich auch durch eine geladene Waffe nicht von seinem Vorhaben abhalten ließ. Typen wie er starben lieber, auch wenn das überhaupt nichts brachte. Er lachte plötzlich. Ich mußte schon alle Kraft aufwenden, um ihn gegen mich zu pressen. »Du kannst uns nicht aufhalten, Verräter! Nicht du, nicht ein Sinclair!« Er öffnete den Mund und sprach noch lauter. »Ich sage euch, Freunde, und ich sage es laut und deutlich! Kümmert euch nicht um diesen Hund. Erschießt ihn! Dann macht in meinem und in unser aller Namen weiter, auch wenn ich nicht mehr bin. Rettet die Ehre der Highlander! Dreht das Rad der Geschichte zurück!« Aufhetzen konnte dieser Giftzwerg. McLean war wirklich gefährlich, und er hatte seine Mannschaft fest im Griff, denn die Männer bewegten sich. Die Waffen hatte ich schon vorher bei ihnen gesehen. Einige der Männer trugen Gewehre, und dann peitschte die Stimme des Giftzwergs wieder los: »Exekutiert ihn! Schießt ihn nieder, diesen Verräter Sinclair!« *** Suko und Melvin Hunt waren nicht so weit gefahren, denn keiner von der anderen Seite sollte sie zu schnell entdecken. Und sie waren schneller gewesen als die Gruppe der Verbohrten. Beide hatten die anderen Wagen sehr gut beobachten können, weil ihnen das helle Scheinwerferlicht den Weg gewiesen hatte. Zudem dachten sie auch nicht daran, das verräterische Licht zu löschen. Auf diesem Schlachtfeld waren sie die Herren, Culloden gehörte ihnen. Die beiden Verfolger wollten keinesfalls auffallen und suchten nach einem Ort, wo sie ihr Fahrzeug abstellen konnten, ohne so schnell entdeckt zu werden. Sie parkten es in eine Senke und stiegen aus. »Bleibt uns nur der Fußweg!« flüsterte Melvin.
»Das bin ich gewohnt.« »Darf ich vorgehen?« »Immer, wenn Sie sich hier auskennen.« »Darauf«, erklärte der Schriftsteller nickend, »können Sie sich verlassen.« Er ging noch nicht, sondern schaute sich erst um. »Wir haben Glück, daß dieser Teil des Schlachtfeldes nicht eben ist.« Er deutete nach Norden. »Dort ist es dagegen flach wie ein Brett.« Suko war zwei Schritte nach vorn gegangen. Dort hatte er eine bessere Sicht. Vor ihm lag das Gelände wie eine gewaltige Bühne ohne Anfang und Ende. Sie zog sich hin, sie verschmolz mit dem Erdboden, der Dunkelheit und dem Himmel, und nur an einer Stelle dieser Bühne bewegten sich Lichter. Die Männer waren mit drei Geländewagen unterwegs, die durch die Landschaft schaukelten. Sie hatten ihre ursprüngliche Richtung geändert und fuhren auf ein anderes Ziel zu. Suko und Melvin brauchten nicht zu fürchten, von ihnen entdeckt zu werden, da der bleiche Teppich in eine andere Richtung wies. Sie beeilten sich. Stimmen waren nicht zu hören, nur das Geräusch der Motoren dröhnte überlaut durch die stille Nacht, und die hellen Lichter strahlten weit nach vorn, als wollten sie jeden Flecken des Untergrunds absuchen. »Wo kann denn Ihr Freund sein?« fragte Melvin. »Keine Sorge, den werden wir sicherlich gleich zu Gesicht bekommen.« »Sie glauben, daß er sich den Männern entgegenstellen wird?« »Sicher.« »Aber die Übermacht…« »Es wird ihm wohl nichts anderes übrigbleiben. Das aber ist nur eine Überraschung. Ich rechne fest mit anderen, und Sie sollten sich darauf gefaßt machen, daß bald Dinge geschehen werden, über die ein normal denkender Mensch nur den Kopf schütteln kann.« »Sind Sie das nicht?« Suko hob die Schultern. »Ehrlich gesagt, manchmal weiß ich es selbst nicht. Wo fängt die Normalität an, wo hört sie auf? Die Grenzen sind fließend geworden.« »Das stimmt wohl.« Zwar fuhren die drei Geländewagen noch weiter, aber ihr Licht strahlte nicht mehr so hell, und auch das Tempo hatten sie verringert. Sie schaukelten durch die Landschaft und glichen dabei Schiffen, die über eine schwere See fuhren. »Da ist er!« Suko hatte seinen Freund John im Licht der Scheinwerfer entdeckt. Er ging sogar das Risiko ein, angefahren oder überfahren zu werden. Die Wagen stoppten.
Auch die beiden Verfolger waren stehengeblieben. Sie beobachteten aus sicherer Entfernung, was passierte. Die Männer stiegen aus, und plötzlich stand John Sinclair im Mittelpunkt. Suko gefiel es überhaupt nicht, daß sie sich zu weit entfernt vom Schauplatz des Geschehens befanden. Er hatte den Wunsch, im Dunkeln als Rückendeckung zu lauern. Noch war die Entfernung zu groß. Er mußte näher heran und überließ das Melvin, ob er mitgehen wollte oder nicht. Der war natürlich dabei. »Und meine Braut nehme ich auch mit«, sagte er, wobei er auf das Gewehr schlug. »Aber Vorsicht.« »Keine Panik, Suko, ich bin schon auf Draht und zudem nicht schießwütig.« Die Männer brauchten gar nicht leise zu sprechen. Vor ihnen plusterten sich die Traditionalisten auf. Sie wollten ihre Macht demonstrieren, sie standen gegen einen Mann, und in den folgenden drei Minuten erlebten Suko und Melvin die Auseinandersetzung hautnah mit. Sie hörten zu, wie sich die Lage zuspitzte, und sie bekamen präsentiert, wie verbohrt die Schotten waren. Natürlich mußte ein Mann wie John Sinclair dagegen sprechen. Er traf auf taube Ohren, und mit jedem Wort, das das andere ergab, spitzte sich die Lage zu. John war gut zu erkennen, weil er im Licht stand. Obwohl es kein Fernlicht war, reichte es aus, um seine Gestalt zu bestrahlen, und die Worte, die gewechselt wurden, durchdrangen hart und klar die Stille. Sie erreichten die Ohren der beiden Lauscher. So hörten diese, daß alles darauf hinauslief, daß sich die Männer ihres Gegners entledigen wollten. Suko und Melvin hatten sich nicht abgesprochen, aber beide mußten näher heran. Vor allen Dingen mußten sie die Menschen umgehen, die sich als lebende Mauer neben den Fahrzeugen aufgebaut hatten. Der direkte Weg war zu gefährlich. Deshalb bewegten sie sich geduckt weiter, die Rücken krumm, und sie liefen dabei im Entengang voran. Wichtig war, daß sie außerhalb des Scheinwerferlichts blieben. An einer günstigen Stelle duckten sie sich. Das eigentliche Geschehen spielte sich jetzt schräg vor ihnen ab. John bewegte sich. Er mußte etwas tun, wollte er nicht als Verlierer dastehen. Melvin Hunt stöhnte auf, als er mitbekam, wie Sinclair den Anführer packte und ihn als Geisel nahm. Die Mündung seiner Waffe berührte dabei den Hals des kleineren Mannes dicht unter dem Kinn. Plötzlich hatte das Bild ein anderes Gesicht bekommen, entspannter zeigte sich die Lage nicht, denn der Anführer dachte nicht daran, seine Männer zurückzuschicken. Nicht wenige von ihnen waren bewaffnet, was Suko und Melvin nun gar nicht gefallen konnte. Es wurde über Geraldine Sinclair gesprochen,
über Frieden und Ordnung, aber der Anführer war nicht bereit, darauf einzugehen. Er war zu verbohrt. »Kennen Sie den Kerl?« flüsterte Suko. Melvin nickte. »Ich habe ihn mal in Tomatin erlebt. Er heißt McLean und ist eine Ratte.« »Nun ja.« »Er ist auch gefährlich. Der geht über Leichen. Ich denke nicht, daß Ihr Freund durch seine Aktion etwas gewonnen hat, Suko.« »Warum nicht?« »Weil McLean von seiner Sache überzeugt ist. Wenn er stirbt, fühlt er sich noch als Held, und von Helden halten wir beide wohl nicht viel. Zumindest nicht von derartigen.« »Da haben Sie recht.« Die Situation spitzte sich dramatisch zu. McLean wollte auf keinen Fall aufgeben. Er konnte sich nicht blamieren, er war sogar bereit, deshalb in den Tod zu gehen, und seine Worte peitschten seine Leute immer mehr an. Ein Mann löste sich aus dem Pulk, was Suko und Melvin genau beobachteten. Sie sahen auch, wie der Kerl sein Gewehr hob und anlegte. Die Mündung wies gegen John Sinclair. »Der schießt ihm den Kopf weg, wenn wir nicht eingreifen!« hauchte Melvin Hunt. Suko zog seine Waffe. »Nein«, sagte Melvin, »das kann ich besser.« Er kniete sich bereits hin und hob sein Gewehr an. »Sie wollen…« »Verlassen Sie sich darauf, Suko. Ich war mal Scharfschütze, einer der besten!« »Dann ist es okay.« Hunt blieb in seiner knienden Haltung. Er war ruhig. So konnte tatsächlich nur jemand handeln, der seine Nerven unter Kontrolle hatte und sich seiner Sache sicher war. Auch die andere Seite hatte einen Scharfschützen, der bereits auf Sinclair zielte. John konnte ihn nicht sehen, da sich der Mann gut versteckt im Dunkeln aufhielt. McLean war wie von Sinnen. Er kreischte, obwohl er sich in der Geiselklammer befand. »Exekutiert ihn! Schießt ihn nieder, diesen Verräter Sinclair!« Melvin Hunt drückte ab! *** McLean hatte die Worte kaum gesprochen, da fiel der Schuß! Gewehrschuß, dachte ich noch und rechnete mit dem Einschlag der Kugel. Mit dem plötzlichen Nichts, der absoluten Dunkelheit, in die ich hineingezerrt wurde.
Wieso rechnete ich damit? Wieso war ich noch in der Lage, diesen Laut als Gewehrschuß zu identifizieren? Ich hätte doch eigentlich längst tot sein müssen! Statt dessen hatte es einen anderen erwischt. Ich sah eine Gestalt, die sich in das Dunkel zurückgezogen hatte, jetzt aber vorkam und sich auf unsicheren Beinen bewegte. Der Mann hielt ein Gewehr in der Hand, das ihm plötzlich zu schwer wurde. Genau in dem Augenblick, als er in das Licht hineintrat, brach er auf der Stelle zusammen und fiel ebenso zu Boden wie seine Waffe. Ich atmete durch und hörte in meiner direkten Nähe ein jaulendes Geräusch. Es war McLean gewesen, der seiner Enttäuschung durch diesen Laut freie Bahn ließ. Mir fiel erst jetzt auf, daß ich ihn noch immer umklammert hielt und auch die Beretta nicht unter seinem Kinn weggezogen hatte. »Sei ruhig, McLean, sei nur ruhig…« Der Schock saß tief. Auch die anderen waren plötzlich keine Menschen mehr, sondern einzig und allein Statuen, die auf dem Fleck standen und sich nicht rührten. Aus dem Hinterhalt war der Schütze beschossen worden. Somit hatte man mir das Leben gerettet. Mit einem Gewehrschuß. Ich dachte darüber nach, daß mein Freund Suko kein Gewehr trug. Es mußte also ein anderer gewesen sein. Hatte er einen Helfer bekommen? Ich hörte, daß McLean Schwierigkeiten mit seiner Atmung bekam und lockerte den Griff ein wenig. Er rang keuchend nach Luft. Dann erst schaffte er es, eine Frage zu stellen. »Wer, Sinclair? Wer, zum Teufel, hat das getan?« »Keine Ahnung.« »Du hast uns reingelegt. Du bist wie diese Sinclair. Ein hinterlistiger Hundesohn und Verräter. Aber so seid ihr alle, ihr, ihr verfluchten Sinclairs.« »Reden Sie kein Blech, McLean! Kommen Sie doch endlich zur Vernunft! Wer wollte mich exekutieren lassen? Sie waren es. Sie haben Ihre Männer doch aufgehetzt. Sie sind ein verbohrter alter Idiot, McLean. Etwas anderes kann ich Ihnen leider nicht sagen.« »Sie haben eine Schlacht gewonnen, aber keinen Krieg. Wir werden die Ehre dieses Landes wiederherstellen. Ich weiß nicht, ob mein Kamerad tot ist, aber wenn er fiel, dann für sein Vaterland, für Schottland, das die alte Schmach nicht auf sich sitzen lassen wird. Wir haben lange genug gelitten, Sinclair. Das ist jetzt vorbei. Wenn ich Sie mir anschaue, dann sind Sie…« »Halten Sie den Mund, McLean!« Er schwieg tatsächlich, was mich wunderte. Aber im Augenblick konnte er auch keine Unterstützung erwarten, denn seine Leute, die Befehle gewohnt waren, standen da, ohne sich zu regen. Sie fürchteten sich auch vor der Gefahr aus dem Dunkeln. Keiner von ihnen wußte, wer den
Schuß abgefeuert hatte, denn niemand ließ sich blicken. Ich rechnete damit, daß zumindest Suko daran beteiligt gewesen war. McLean hatte sich wieder gefangen. Er konnte einfach nicht den Mund halten. »Hören Sie mir gut zu, Sinclair, denn ich sage Ihnen jetzt etwas. Sie können nichts mehr ändern. Diese Nacht ist entscheidend. Der Geistersturm braut sich bereits zusammen. Oder haben Sie den Geruch des alten Blutes noch nicht wahrgenommen? Es ist das Blut unserer tapferen Männer, die damals in der letzten Schlacht gegen die Engländer fielen. Es sickerte in den Boden ein, Culloden ist vom Blut unserer tapferen Vorfahren getränkt. Es ist uns eine Pflicht, sie zu rächen, denn ihre Seelen bereiten sich auf den Sturm vor.« »Nichts, aber auch gar nichts werden Sie verändern können, McLean. Der Spuk hat ein Ende.« »Was wollen Sie tun?« »Sie werden fahren. Sie werden verschwinden. Sie haben das Pech gehabt, an einen Polizisten geraten zu sein. Ich werde Sie anklagen und vor Gericht stellen, denn einem derartigen Treiben muß ein Dämpfer aufgesetzt werden. Der Geistersturm wird zum Sturm im Wasserglas.« »Große Worte eines Verräters. Wer glaubt schon daran, Sinclair? Ich nicht.« »Sie können die Zeit nicht aufhalten, McLean. Sie und Ihre Männer werden verschwinden, wobei Sie mit mir fahren werden. Ist Ihnen das endlich klar?« Er lachte. Zuerst leise und kichernd, dann immer lauter, und schließlich brüllte er. Das Lachen gefiel mir deshalb nicht, weil ich keinen Grund sah, aber mir fielen McLeans verdrehte Augen auf, die zum Himmel gerichtet waren. Obwohl ich ihn auch weiterhin mit der Beretta bedrohte, schielte ich ebenfalls in die Höhe. Die Veränderung war nicht zu übersehen. Ich wollte auch nicht behaupten, daß sie mir gefiel. Der Himmel war düster, er mußte dunkel sein, denn es war Nacht. Aber er hatte sich trotzdem auf eine gewisse Art und Weise verändert, denn zwischen den Wolken, wo er aussah wie ein flacher Stausee, hatte er eine andere Farbe angenommen, denn da war er heller geworden. Er zeigte eine Helligkeit, die mir nicht gefiel, weil sie einfach unnatürlich war. Ein düsteres Gelb, unheimlich anzusehen. Diese Farbe nahm der Himmel des öfteren bei Gewittern an. Dieses Schwefelgelb kam den Menschen dann vor wie eine Drohung. Hier ebenfalls. McLean hatte von einem Sturm gesprochen. Das war wohl ein Irrtum, weil genau das Gegenteil eingetreten war. Es herrschte eine absolute und beklemmende Wind-Stille. Kein Lüftchen regte sich. Es war die berühmte Ruhe vor dem Sturm.
Irgendwann würde er losfetzen, das stand fest. Es konnte sich noch Minuten hinziehen, aber auch in Sekunden vorbei sein, und ein jeder von uns schaute zum Himmel. »Jetzt kommen wir nicht mehr davon!« flüsterte McLean keuchend. »Jetzt ist es vorbei.« »Was ist vorbei?« »Du wirst es sehen, Sinclair. Du wirst es genau sehen. Und du wirst es erleben, wenn dich die Gewalten aus einer anderen Welt brutal überfallen.« Ich hatte ihn losgelassen, denn es brachte nichts, wenn ich ihn noch weiterhin festhielt. Er und ich, wir beide mußten uns der nahen Zukunft stellen, und da saßen wir in einem Boot. Der Himmel war wolkig. Große, düstere Flecken lagen dort wie finstere Inseln, allerdings in einer gewissen Ruhe. Nur die Farbe zwischen ihnen veränderte sich. Das Gelb verschwand zwar nicht, aber er nahm eine andere Farbe an, es wurde fahler und gleichzeitig auch unheimlicher. »Bald!« flüsterte McLean, wobei er in mein Gesicht schaute. »Bald passiert es. Der Sturm kann nicht mehr aufgehalten werden. Er ist unterwegs.« McLean lachte mich an, dann drehte er sich zu seinen Männern um. »Macht euch bereit, der große Kampf kommt. Ihr werdet ihn erleben, ihr seid die Auserwählten. Tod unseren Feinden!« »Tod den Feinden!« brüllten einige zurück. Plötzlich hörten wir alle eine andere Stimme, die nur für mich nicht fremd klang. Sie drang aus dem Dunkel, und es war Suko, der mich ansprach. »Wir decken dir den Rücken, John!« »Okay.« Er hatte in der Mehrzahl gesprochen, doch ich fragte nicht, wen er bei sich hatte, weil Gerald McLean den Kopf ruckartig drehte und in mein Gesicht starrte. »Jetzt habe ich den Beweis, Sinclair. Bei dir hat sich nichts geändert. Du bist noch immer dieser verfluchte und hinterlistige Verräterhund.« Ich kümmerte mich nicht um seine Beleidigungen, denn andere Dinge waren wichtiger. Wir alle hörten das leise Jaulen… Hoch über uns und fern im Westen tönte dieses Geräusch auf. Es hörte sich an, als wären dort zahlreiche Tiere gequält worden, die ihrem Schmerz auf diese Art und Weise freie Bahn lassen wollten. Sie schreien und jaulten weiter. Der Himmel wirkte wie ein akustischer Leiter und brachte die unheimlichen Töne sehr deutlich rüber. Aber sie veränderten sich auch. Sie klangen plötzlich dumpfer, hohler, unheimlicher, als hätte jemand auf einer Knochenflöte geblasen. Es gab keinen mehr von uns, der nicht zum Himmel geschaut hätte, wo die Masse der Wolken nicht mehr so still lag. Sie gerieten in zitternde
Bewegungen, blieben aber noch auf der Stelle und wurden nicht weitergetrieben. Huuu… huuuuuhhh… So ähnlich fegten die Laute über den Himmel, und sie trieben uns die Gänsehaut über den Körper. Auch ich war dagegen nicht gefeit. Der Himmel schien unzählige Gespenster entlassen zu haben, die mit ihren Klagelauten über uns herfielen. Dann brauste der erste Sturmstoß heran. Eigentlich hätten wir gewarnt werden müssen, aber die anderen Laute hatten unsere Aufmerksamkeit zu sehr auf sich gezogen, so daß wir das Brausen überhörten. Plötzlich standen die Wolken nicht mehr still. Ein Wirbel packte sie und fegte sie mit einer rasenden Geschwindigkeit über den Himmel. Der Sturm wischte das Firmament blank, und nur die gelblichgraue Farbe blieb zurück. Das war ein gewaltiges Leichentuch, das jemand aus tiefer Erde gezogen hatte, um damit den Himmel zu überspannen. McLean gebärdete sich wie von Sinnen. Er war verrückt und euphorisch zugleich, denn er sprang in die Höhe und hatte dabei noch die Arme hochgerissen. »Der Geistersturm ist da! Endlich haben wir es geschafft! Die Toten melden sich wieder. Die Gefallenen wollen, daß wir sie rächen. Sie lieben uns. Sie stehen auf unserer Seite! Sind für uns da, Kameraden! Die Geister der Highlander haben nichts vergessen!« Meinetwegen konnten alle anderen auf seine Worte hören, mich interessierten sie nicht, denn ich starrte zum Himmel, an dem sich einiges verändert hatte. Die Wolken waren zu einem rasenden Wirbel geworden, sie tanzten. Der Sturm riß sie mit. Die Geister waren da, aber sie zeigten sich noch nicht. Oder? Die Veränderung sah ich weit im Westen. Da bekam der Himmel eine andere Form, als wäre er mit dünnen Strichen bemalt worden. Der Sturm blieb noch immer über uns, keiner von uns war von ihm erfaßt und zu Boden geschleudert worden, aber die ersten Anzeichen, daß sich etwas ändern würde, waren nicht zu übersehen. Der Westen brachte das Grauen. Er schleuderte die unheimlichen Wesen nach vorn. Obwohl sie weit von mir entfernt waren, kamen sie mir zum Greifen nahe vor. Sahen so Geister aus? Jeder stellt sie sich anders vor, und ich sah die Geister der Toten diesmal als aufgeblähte, monströse Wesen ohne Körper, aber trotzdem mit einer gewissen Form. Köpfe mit glatten Gesichtern oder Schnauzen. Neblige Gebilde dahinter, die so etwas wie Körper darstellen sollten. Mäuler und Knochenklauen sahen aus, als wollten sie fressen und zugreifen.
Wie gehetzte Tiere jagten sie von Westen heran, und es gab kein Hindernis, das sie aufhalten konnte. Ihnen gehörte der Himmel, und die unheimliche Melodie begleitete sie. Musik aus dem Jenseits. Klänge, die hohl klangen, die schrien wie gepeinigte Kreaturen, die auch mal dumpf und dröhnend unsere Ohren malträtierten und sich schließlich mit einem brausenden Wirbel mit unterschiedlichen Zwischentönen vereinigten. Dann war der Geistersturm über uns. Lange hatten wir auf ihn warten müssen, nun erlebten wir ihn mit der vollen Wucht. Er stürzte sich wie ein unendlich erscheinendes Tier vom Himmel herab auf seine Beute. Das waren wir! Der Sturm nahm keine Rücksicht auf Freund noch Feind. Er machte keine Unterschiede, und es erwischte McLean einen Moment früher als mich. Plötzlich hob der kleine Mensch ab. Er schrie noch erschreckt auf, dann wurde er regelrecht davongewirbelt, und ich wollte mich noch ducken, um dem Angriff so wenig Widerstand wie möglich entgegenzusetzen, dazu kam es nicht mehr. Auch über mich fiel er her wie ein wildes Tier, denn urplötzlich riß mir eine gewaltige Kraft die Beine weg… *** Ich war zu einem Kegel in der Hand eines Riesen geworden, der mich nicht mehr wollte. Er schleuderte mich davon wie ein altes Spielzeug. Ich wirbelte durch die Luft, ruderte zuerst noch mit den Armen, um sie dann schützend um meinen Kopf zu legen. So konnte ich auch nicht erkennen, wie hoch ich mich vom Boden entfernt hatte. Ich erwartete nur irgendwann die Landung, und die konnte gefährlich werden. Die gewaltige Macht drückte mich plötzlich nach unten. Unterdrücken konnte ich den Schrei nicht, der abrupt verstummte, als ich auf den Boden prallte. Ich landete relativ weich. Die Gewächse milderten meinen Aufprall. Ich spürte die Feuchtigkeit an meinen Fingern und im Gesicht. Sicherlich war ich in einer Blutlache gelandet. Ich drehte den Kopf weg und verspürte Schmerzen beim Luftholen. Auf diese Kleinigkeiten konnte ich nicht mehr achten. Ich wälzte mich auf die rechte Seite, weil ich einfach sehen wollte, was noch weiter geschah. Auch die anderen Männer hatte es erwischt. Ich hörte ihre wütenden oder schmerzhaften Schreie. Einige von ihnen rutschten über den Boden, der Sturm war wie ein Riesentier, das nach langer Gefangenschaft endlich in die Freiheit entlassen worden war.
Er tobte mit elementarer Gewalt über den Himmel und auch über den Erdboden hinweg. Er riß und zerrte an allem, was nicht niet- und nagelfest war. Er bog das Gras, er fegte kleine Gegenstände in die Höhe, aber es entstanden keine Staubwolken, denn dazu war der Untergrund einfach zu feucht. Ich wollte nicht behaupten, daß ich mich an den Geistersturm gewöhnt hatte, aber ich kam schon mit ihm zurecht und schaffte es, mich wieder auf den Rücken zu wälzen. Ich sah sie sofort: Die Geister der Toten hatten das gesamte Firmament unter ihre Kontrolle bekommen. Sie waren jetzt die Herrscher. Ein ohrenbetäubender Lärm fegte vom Himmel her auf uns nieder, als wollte er uns schon allein durch sein Schreien verunsichern. Da mischten sich zahlreiche Laute unterschiedlicher Stärken und Tonarten zusammen und vereinigten sich zu einer schrillen Symphonie. Ungeheuer hielten den Himmel unter Kontrolle. Sie waren einfach nicht zu bremsen, denn sie gehorchten anderen Gesetzen, mit denen ich nicht zurechtkam. Das Jenseits hatte seine Pforten geöffnet, es hatte die Geister entlassen, die nie Ruhe bekamen, bis die Schmach endlich gestillt worden war, was McLean und seine Leute schließlich vorhatten. Noch griffen sie nicht an. Sie wirbelten und schwebten über uns. Sie waren in ständiger Bewegung. Manchmal sahen sie aus, als wollten sie ihre Plätze verlassen und auf uns niederstürzen, um uns mit ihren gewaltigen Mäulern zu verschlingen. Sie warfen Wellen, sie drückten sich nach unten. Sie schwangen wieder in die Höhe, sie heulten und tobten dabei. Bei mir hinterließen sie den Eindruck, nicht mehr in einer normalen Welt zu liegen, sondern in einem anderen, einem fernen Reich. Was hatten sie vor? Noch hielten sie sich in der Höhe, und es sah ganz so aus, als wollten sie dort auch bleiben. Nur veränderte sich ihre Lage. Bisher waren sie von Westen nach Osten gewirbelt, plötzlich aber drehten sich die Geister im Kreis. Er besaß gewaltige Ausmaße, er drehte sich, er drehte sich schneller, er wurde zu einem Wirbel mit spitzem Trichter, der sich dem Erdboden entgegensenkte, als wollte er dort hineinrammen. Eine Windhose, etwas unheimlich Gefährliches kam auf uns zu. Ich hatte von derartigen Dingen gehört, denn ich wußte auch, daß sie für Menschen tödlich werden konnten. Ich konnte nichts gegen sie tun, sah sie atemlos näherkommen. Verdammt, ich mußte weg! Bevor ich diesen Vorsatz in die Tat umsetzen konnte, sah ich, was geschah, wenn die Windhose jemanden erwischte. In diesem Fall waren es zwei Männer, die, ebenso wie ich, am Boden lagen und dabei in ihre
unmittelbare Gewalt hineingerieten. Die Männer versuchten zwar, sich festzuhalten, aber sie schafften es nicht. Der Sturm zerrte sie in die Höhe wie zwei Spielbälle. Plötzlich stiegen sie nach oben, wie von einem riesigen Staubsauger geholt. Sie waren wie Puppen in dem Wirbel. Ihre Arme und Beine schlugen um sich. Sie waren hilflos der Urgewalt ausgeliefert. Die Windhose machte mit ihnen, was sie wollte. Hörte ich ihr Schreien? Wahrscheinlich bildete ich es mir auch nur ein, denn die anderen, heulenden Geräusche waren einfach zu laut, als wollten sie meinen Schädel sprengen. Im nächsten Augenblick wollte die Windhose die Körper nicht mehr. Sie fegte sie kurzerhand weg. Sie spie sie aus. Zwei Menschen wirbelten abermals wie Puppen durch die Luft und landeten irgendwo weit in der Finsternis des Schlachtfeldes. Aber die Windhose fegte weiter, und sie hatte ihre Richtung nicht geändert. Ich mußte weg. Laufen konnte ich nicht. Die Gewalt des übrigen Sturms hätte mich sonst von den Beinen gerissen. Ich konnte mich nicht mal geduckt bewegen. Da waren unzählige Hände wie Schaufeln, die an mir zerrten und mich umstoßen wollten. Verbissen kämpfte ich mich auf alle viere. Der Sturm zerrte an mir. Er wollte mich ausziehen und mir dabei mit brutaler Wucht die Kleider vom Leib reißen. Nur mühsam gelang es mir, den Kopf nach rechts zu drehen, wo die Gefahr herkam. Sie wirbelte weiter. Da tanzten die Geister über den Boden, und das stimmte wirklich, denn innerhalb der Windhose sah ich die unheimlichen Gestalten, deren Körper und Gesichter nie ruhig waren, als wollten sie von Sekunde zu Sekunde neue Figuren bilden. Ich kam nicht weg. Zumindest nicht so schnell. Pfeifend wirbelte die Windhose heran. Es war ein Geräusch, das ich nie und nimmer vergessen würde. Als hätten die Geisterreiche ihre Tore geöffnet, um dem Unheimlichen freie Bahn zu lassen. Endlich waren sie frei, endlich konnten sie sich auf dieser Welt austoben. Sie packten jeden, sie verschlangen ihn, sie wollten Rache, sie nahmen auf mich keine Rücksicht. Ich versuchte es trotzdem. Ich kam nur halb hoch. Der scharfe Wind stach durch meine Kleidung. Etwas schob sich unter meinen Körper. Für einen Moment wurde ich angehoben, flog aber nicht weg, sondern prallte wieder zu Boden. Ich blieb liegen. Keine Chance mehr.
Wieder drehte ich mein Gesicht der Windhose entgegen, wie jemand, der dem eigenen Tod unbedingt ins Auge schauen wollte. So wahnsinnig war ich nicht, denn mir war etwas anderes aufgefallen. Zwischen mir und der Windhose schimmerte plötzlich ein bläuliches Licht. Es war da, es zuckte, und es sah so aus, als wäre jemand dabei, ein Licht ein- und auszuschalten. Mehrmals hintereinander. Und plötzlich erschien sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie stand da, sie trug ihre Schwerter, und sie stemmte sich der Windhose entgegen. Geraldine Sinclair! *** Es hätte eigentlich eine Überraschung sein müssen. Sie war für mich trotzdem nicht so groß, denn sie war schließlich der Joker in diesem Spiel und wohl die einzige Person, die den Geistersturm im Zaum halten oder stoppen konnte. Im ersten Augenblick sah sie aus wie eine böse Märchenfee. Oder wie eine Kämpferin aus einem der Fantasy-Filme. Aber ich hatte mich inzwischen an ihren Anblick gewöhnt. Ich wußte, daß wir keine Feinde waren, aber es war dennoch fraglich, ob sie der ungeheuren Kraft der Windhose Paroli bieten konnte. Innerhalb des langgestreckten Wirbels bewegten sich die Geister mit den fürchterlichen Fratzen. Sie waren durch die nach innen gerichtete Kraft zusammengezogen worden, und deshalb sahen ihre Gestalten auch länglich aus und erinnerten mich an deformierte Flaschen mit langen Hälsen und Köpfen. Entsprechend verzerrt waren ihre Gesichter. Offene Mäuler, weit aufgerissen und in die Länge gezogene Augen, zumindest kamen sie mir so vor. Stumme Schreie? Wenn es so etwas überhaupt gab, dann sahen die Fratzen der Totengeister so aus, als wären sie in stummem Schreien erstarrt. Eigentlich hätte die Windhose mich oder zumindest Geraldine schon längst erreichen müssen, das war nicht geschehen. Sie hatte urplötzlich und aus der vollen Drehung heraus gestoppt. Zwei unversöhnliche Feinde standen sich gegenüber. Für mich war es so, als würden sie sich anstarren, und es dauerte eine Weile, bis ich feststellte, daß sich der Sturm gelegt hatte. Okay, er war noch vorhanden, aber im Vergleich zu seinem Beginn wehte nur mehr ein schwacher Wind über das Land, verbunden mit einem singenden Säuseln, das über meinem Kopf hinwegtanzte. Die Frau wandte mir den Rücken zu. Der Wind hatte ihr helles Kleid in die Höhe und gleichzeitig zur Seite geweht, so daß es aussah wie ein flatteriges Leichentuch.
Dann zog sie die Waffen. Zwei blitzschnelle Bewegungen, und sie hielt auch zwei Schwerter in ihren Händen. Ich begriff nichts. Wollte sie etwa mit diesen Waffen gegen die Totengeister ankämpfen? Es wirkte lächerlich, aber sie tat es trotzdem. Mit ungebändigter Kraft wirbelte sie die Stichwaffen um ihre Hände, ging vor, und ich hörte ihre Worte. »Ich will, daß endlich Frieden wird. Ich will meine Ruhe haben! Ich will auch, daß ihr, die Totengeister, eure Ruhe habt. Ich will weiterhin auf meiner Insel leben können, und ich will es in Ruhe tun. Die Vergangenheit ist vorbei, sie ist tot, sie ist endgültig begraben. Es bringt nichts, wenn man sie wieder hervorholt. Man muß sie ruhen lassen. Man kann das Geschehene nicht mehr rückgängig machen. Die Zeiten haben sich geändert. Dieses Land ist ein Teil eines anderen und auch stärkeren Landes geworden. Das sollen alle begreifen, wenn ihr versteht!« Die Geister reagierten nicht. Wahrscheinlich galten die Worte auch mehr uns, und ich hatte die Chance genutzt und war wieder auf die Beine gekommen. Ich wußte nicht, ob die Geister die Worte der Frau mitbekommen hatten, aber ein anderer hatte sie ebenfalls sehr genau gehört. Es war Gerald McLean, und er hatte es geschafft, sich ebenfalls aufzurichten. Als Anführer mußte er seinen Leuten mit gutem Beispiel vorangehen, und er wollte auch nicht einsehen, daß er sich auf der Verliererstraße befand. Sein Ziel hieß Kampf. Davon wich er nicht ab. Ich hörte ihn schreien und drehte mich um. McLean hatte es erwischt. Beim Aufprall mußte er sich sein rechtes Bein verletzt haben. Jedenfalls zog er es bei jedem Schritt hinter sich her, und er schaffte es auch nicht, normal aufzutreten. Es hing an ihm wie ein steifer Stock. Trotzdem war McLean ein Mann, der nicht aufgab. Ein typischer Fanatiker, der an seine unrechte Sache glaubte und sogar bereit war, für sie in den Tod zu gehen. Er humpelte auf sein Ziel zu. Ich hörte ihn jammern und leise schreien. Er streckte die Arme aus, als könnte er die nahe Zukunft aufhalten. Auf seinem verzerrten Gesicht mischten sich Verzweiflung und Hoffnung miteinander. Die Haut war feucht. Er schüttelte immer wieder den Kopf und hatte weder Augen für mich noch für Geraldine, die sein Schreien ebenfalls gehört hatte. Sie drehte sich um. Mein Blick fiel in ihr Gesicht. Es zeigte für einen kurzen Moment Unglauben, denn sie konnte nicht begreifen, daß jemand so wahnsinnig war und sich einmischen wollte. »Bleiben Sie weg, McLean!«
Er hatte meinen Befehl gehört. Nur kümmerte er sich nicht darum. Er lief weiter. Er schleppte sich vorwärts. Er wollte einfach nicht aufgeben. »Schottland darf nicht untergehen. Die Geister der Toten, die Geister der Highlander werden mir dabei helfen.« In einer schon bittenden Geste streckte er die Hände nach dem Himmel aus, wo sich die gewaltigen Fratzen schwach abzeichneten. »Bleiben Sie zurück, McLean!« »Nein, ich will nicht!« Er stolperte an Geraldine vorbei, die ihn nicht stoppte. Auch nicht durch Waffengewalt. Sie ließ ihn laufen, und McLean würde in die Windhose und damit in sein Verderben rennen. Das konnte ich nicht verantworten. Irgendwie war ich darauf trainiert, mich um andere Menschen zu kümmern, denn es hielt mich einfach nicht auf der Stelle. Ich eilte der Windhose entgegen, und ich mußte sie erreichen, bevor sie den Mann schluckte. Zwangsläufig geriet ich dabei in Geraldines Nähe, die ich auch auf eine bestimmte Art und Weise spürte, denn das bläuliche Licht umtanzte ihren Körper nach wie vor und streifte mich als elektrischer Strom. Ich war schnell gewesen und würde es auch schaffen, doch Geraldine wollte einen Sinclair nicht in sein Verderben laufen lassen. Sie griff ein, bevor ich McLean packen konnte. Sie bewegte ihre linke Hand, denn an dieser Seite wollte ich an ihr vorbei. Das Pfeifen hätte mich warnen sollen, es war zu spät. Die Klinge befand sich bereits unterwegs. Bevor ich noch den Kopf einziehen konnte, erwischte sie mich. Ein kurzer, trockener Treffer. Das kalte Schwertteil prallte gegen meine Stirn. Plötzlich funkte es in meinem Schädel, dann platzten die Sterne auseinander, und mir wurden die Knie weich. Ich fiel nicht zu Boden, aber die Welt verschwamm vor meinen Augen, und ich kam nicht mehr weiter. »Es ist nicht gut, was du vorhattest«, hörte ich Geraldine sprechen. Ihre Stimme klang so, als hätte sie sich Watte in den Mund gestopft. Ich achtete nicht darauf. Für mich war McLean wichtiger, der von seinen Geistern nicht lassen konnte. Noch immer leicht benebelt, sah ich ihn etwas unscharf, als er so dicht vor der Windhose stand, daß er sie umfassen konnte. Nein, er wollte hinein. Und er kam hinein. Etwas hob ihn vom Boden ab. Ich erlebte es alles hautnah mit. Er schwebte in einer schrägen Lage, und die sich auf der Stelle drehende Windhose wirkte wie ein Magnet. Er griff zu!
McLean hatte keine Chance. Die Windhose holte ihn sich mit korkenzieherhaften Bewegungen in ihr Inneres. Er war freiwillig zu den Geistern gegangen. Er wollte es so. Er wollte bei den Kämpfern sein, aber er war ein Lebender, und Geister wollten keine lebenden Menschen. Daß er schrie, bildete ich mir nur ein. Er drehte sich, die Windhose blieb auch nicht mehr stehen, sie zog sich zurück und fegte dem Himmel entgegen. Ihre Startkraft riß mich beinahe von den Beinen. Ich fand nur mühsam das Gleichgewicht wieder, da aber war die Windhose bereits hoch und unerreichbar gestiegen. Wie auch McLean. Die Schmerzen in meinem Kopf ignorierte ich. Statt dessen kümmerte ich mich um Geraldine Sinclair, die mir zunickte, als ich den Kopf herumdrehte. »Du hast ja gesehen, was mit ihm passierte. Du bist diesem Schicksal entgangen, John.« »Ja, ich weiß.« »Sie sind stark. Sie holen sich jeden, den sie wollen. Sie finden keine Ruhe. Immer wieder müssen sie ihre Reiche verlassen, um über das Schlachtfeld hinwegzutoben.« »Das habe ich gesehen. Und jetzt ist es vorbei?« Geraldine Sinclair schaute mich aus großen Augen an, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, John, es ist nicht vorbei. Denk immer daran, die Nacht ist lang. Es war ein erster Angriff, weitere werden folgen, denn aufgeben können sie nicht.« »Danke, das wollte ich nur hören.« *** Auch mein Freund Suko hatte den ersten Angriff überstanden. Ich fand ihn neben dem Mann kniend, der von der Kugel des Autors getroffen und zu Boden gestreckt worden war. »Ist er tot?« fragte ich. Suko schüttelte den Kopf. »Nur angeschossen. Melvin Hunt ist wirklich ein Könner. Die Kugel steckt in seiner rechten Schulter. Er ist bewußtlos. Die anderen sollen ihn zu einem Arzt schaffen, der sich um die Wunde kümmert.« Das war für mich so etwas wie ein Stichwort. Da die Männer ihren Anführer verloren hatten und es nicht gewohnt waren, auf sich allein gestellt zu sein, brauchten sie jemanden, der ihnen sagt, wo es langging. Ich hoffte auch, daß sie zur Vernunft gekommen waren. Die zwei, die von dem Wirbel wie Blätter durch die Luft gewirbelt worden waren, bevor sie wieder zu Boden prallten, waren zum Glück nicht schwer verletzt. Sie
hatten einige Prellungen abbekommen und waren nur in der Lage, sich mit der Hilfe Fremder zu bewegen. Ich erklärte den Männern, daß sie hier nicht mehr gebraucht wurden. Sie sollten in ihre Wagen steigen und verschwinden. Widerstand flammte mir nicht entgegen. Suko und sein Begleiter trugen den Verletzten in einen der Wagen. Sie legten ihn auf die Rückbank. Da mußten die anderen eben zusammenrücken, die hoffentlich jetzt endlich begriffen hatten, daß es nichts brachte, wenn sie versuchen wollten, die Vergangenheit zu revidieren. Es protestierte keiner. Nicht ein einziges Wort des Widerspruchs tönte mir entgegen. Die Truppe war geschlagen. Sie verfügten zwar über Waffen, aber sie dachten nicht daran, sie einzusetzen. So schauten wir zu, wie sie in ihre Autos stiegen, starteten und wegfuhren. Suko, der sich dicht neben mir aufhielt, nickte ihnen hinterher. »Das hat ja besser geklappt, als ich dachte.« »Das schon.« Er runzelte die Stirn. »Warum hast du das mit einem so seltsamen Unterton gesagt?« »Weil es weitergehen wird.« »Ist Geraldine dieser Meinung?« »Genau, und ihr glaube ich.« »Es ist wirklich nicht zu fassen, John, und auch für mich nicht, wo ich doch schon einiges erlebt habe. Die tauchen auf, drehen sich zu einer Windhose zusammen, um so an ihre Opfer heranzukommen. Was hat es zu bedeuten?« »Sie tun im Prinzip das, was auch unsere verbohrten Freunde vorgehabt hatten. Sie leben unter einem Fluch, und sie können sich nicht davon befreien. Ihre Niederlage hier in Culloden sitzt einfach zu tief, und auch die angebliche Verräterin kann keine Ruhe finden.« Nach diesen Worten suchte Suko Geraldine. Vergeblich. Daß sie sich zurückgezogen hatte, war unwahrscheinlich. Sicherlich hatte sie sich irgendwo in der Dunkelheit versteckt und hielt Wache. Melvin Hunt näherte sich mit vorsichtigen Schritten. Erst als ich mich bei ihm für die Rettung bedankte, entspannte sich sein Gesicht ein wenig. »Das ist keine große Leistung gewesen, wenn man so ausgebildet ist wie ich. Nur nutzt mir ein Gewehr gegen geisterhafte Wesen überhaupt nichts. Außerdem bekam ich meinen linken Arm nur mit Schmerzen hoch. Ich werde kaum noch gezielt schießen können.« Er schüttelte den Kopf. »Daß es einmal so kommen würde, wußte ich nicht. Damit habe ich auch nie im Leben gerechnet. Das ist schon ein Hammer, wenn man erleben muß, daß eine Legende plötzlich zur Wahrheit wird.« »Stimmt«, sagte ich. »Für einen Nichtfachmann ist es immer ein wenig überraschend.«
Er verzog das Gesicht. »Ein wenig ist gut. Nein, Mr. Sinclair, an so etwas hätte ich nie gedacht.« »Kann schon sein.« »Und was ist mit der Frau?« »Sie wartet.« »Wer ist sie überhaupt?« Ich lächelte schmal. »Sagen wir, sie ist eine weit entfernte Verwandte von mir.« »Aber eine Sinclair?« »Ja. McLean hat sie als die Verräterin von damals angesehen. Ob er recht hat, glaube ich nicht, denn wie ich weiß, wollte sie Frieden und keine Blutschlacht.« Melvin Hunt zwinkerte. »Habe ich Sie richtig verstanden, Mr. Sinclair? Eine Verräterin? Damals?« »So ist es.« »Dann müßte sie doch längst tot und vermodert sein. Zu Staub zerfallen.« »Im Prinzip schon.« »Aber sie ist es nicht, wie ich sehe.« »Genau.« Hunt winkte ab. »Entschuldigen Sie, aber ich möchte nicht nach den Gründen fragen. Ich nehme es so hin, wie es ist. Aber eine Frage habe ich trotzdem noch. Kann ich eventuell davon ausgehen, daß dieser Geistersturm jetzt vorbei ist?« »Das können Sie nicht.« Hunt schluckte. »Verdammt, dann wird er uns wieder überfallen?« »Da haben Sie recht.« Hunt ballte seine Hände zu Fäusten. Scharf saugte er dabei die Luft ein. »Meine Güte, was soll ich…?« »Laß uns hier allein«, sprach Suko ihn an. »Du mußt mir glauben, daß es besser ist.« »Wieso? Ich…« »Doch, Melvin. Du bist in deinen vier Wänden besser aufgehoben. Es ist wirklich so, daß du uns hier nicht helfen kannst, wenn der Geistersturm noch einmal zurückkehrt. Wir werden uns ihm stellen, wir ganz allein, und wir lassen dich aus dem Spiel.« »Und ihr schafft es, ihn zu stoppen?« »Das hoffen wir.« Hunt überlegte. »Okay, ich werde mich zurückziehen. Ist sicherlich besser für mich. Culloden muß endlich seine Ruhe finden. Ich möchte auch nicht mehr, daß die Geisterheere über den Himmel jagen. Ich will in Ruhe leben und an meinen Büchern schreiben können.« Suko nickte.
Hunt wünschte uns viel Glück und sprach noch davon, daß er aus der Ferne zuschauen wollte. Das sollte ihm unbenommen bleiben. Uns standen jetzt andere Aufgaben bevor. Melvin Hunt verschwand in der flachen Mulde, wo auch sein Geländewagen parkte. Erst als das Geräusch des Motors verstummt war, setzten auch wir uns in Bewegung. »Ich gehe mal davon aus, daß du versuchen willst, deine Namensvetterin zu finden«, sagte Suko. »Wunderbar, stimmt genau.« »Wo könnte sie sein?« »Culloden ist groß. Ich schätze, daß sie zur richtigen Zeit wieder erscheinen wird.« »Zum zweiten Geistersturm.« Ich hob die Schultern. Der Weg vor uns war frei. Wir sahen, mit welch einer Macht der Sturm gewütet hatte, denn es war ihm sogar gelungen, einige nicht zu fest in der Erde sitzende Pflanzen mitsamt ihrem Wurzelwerk hervorzureißen und sie woanders hinzuschleudern. Die Blutlachen waren geblieben. Sie schimmerten wie dunkle Augen, die an uns in die Höhe schauten, als wollten sie jede unserer Bewegungen genau unter ihrer Kontrolle halten. Manchmal klatschte es, wenn wir durch die Lachen gingen, und wir konnten nicht vermeiden, daß auch Blut in die Höhe spritzte und die Tropfen dann wie Ölflecken an unserer Kleidung festhingen. Alles hatte sich verändert, auch wenn die Umgebung kein anderes Gesicht bekommen hatte. Bis auf den Himmel. Als ich stoppte, blieb auch Suko stehen, um den Kopf ebenfalls in den Nacken zu legen. Die fahle, schwefelgelbe Farbe war verschwunden. Ein düsteres Blaugrau bedeckte die Räume zwischen den Wolken, doch es war nicht so glatt, wie wir es uns eigentlich vorgestellt hatten. Sehr schwach und wirklich kaum erkennbar zeichneten sich die unheimlichen Gestalten ab, als wären sie mit blasser Farbe und dünnen Pinselstrichen gemalt. »Sie sind noch da«, murmelte ich. »Wie schön«, erwiderte Suko sarkastisch. »Und wo, zum Teufel, steckt deine Geraldine?« »Meine Geraldine?« »Ja, zumindest trägt sie deinen Namen.« »Vielleicht in Avalon?« »Wie kommst du darauf?« Ich winkte ab. »Das werde ich dir später erklären, wenn wir Zeit genug haben.« »Später?« sinnierte Suko. »Es wird ein Später geben.«
»Schon gut, John, schon gut. Ich möchte nur nicht mehr zum Spielball irgendwelcher Kräfte werden und hoffe, daß wir es zusammen mit deiner Verwandten packen.« »Laß mich doch damit in Ruhe.« Er ließ es nicht. »Du traust ihr nicht?« Ich blieb stehen und suchte wieder den Himmel ab. Er hatte sich nur wenig verändert, denn zwischen den Wolken bewegten sich die geisterhaften Gestalten in Schlangenlinien, als wollten sie sich drehen und verändern und dafür sorgen, daß aus ihnen wieder neue Kraftgebilde wuchsen. Culloden kam uns noch leerer vor als bei unserem Erscheinen. Ich wußte selbst nicht, woran es lag. Vielleicht war der Wind kälter geworden, möglicherweise vermißte ich auch die anderen Menschen und sogar Geraldine. Aber es blieb nicht so. Der Himmel über uns blähte sich plötzlich auf. Zumindest konnte man diesen Eindruck bekommen. Er lag nicht mehr so flach und glatt vor uns, sondern hatte eine Wölbung bekommen, als wäre dünnes Glas nach außen gedrückt worden. Der neue Beginn? Ich hielt den Atem an. Über meinem Rücken rann ein Eisschauer. Jeden Augenblick rechnete ich mit einem weiteren Angriff. Ich suchte auch die Umgebung nach Geraldine Sinclair ab, aber sie war nicht zu sehen. Dafür vernahm ich wieder das unheimliche Heulen und Pfeifen. Dazwischen ein hartes Knattern, als wären irgendwelche Finger dabei, auf Knochen zu trommeln. Der Sturm braute sich zusammen. Am Himmel erschien Bewegung. Wolken, die sich in der Zwischenzeit wieder gebildet hatten, bekamen den nötigen Drall und wischten wie kompakte Tücher hoch über unsere Köpfe hinweg. Es roch nach Gewalt, nach Sturm, und eine erste Bö peitschte heran. Sie hätte uns beinahe umgerissen. Suko und ich klammerten uns gegenseitig fest, um auf den Beinen zu bleiben. Wir behielten aber die Blicke in die Höhe gerichtet, um die Gestalten erkennen zu können. Und sie kamen. Riesige Geister, die fast wie Leiber aussahen. Mächtige, feinstoffliche Wesen, ähnlich wie monströse Fische, deren Mäuler offenstanden. *** Das war der Horror! Das war der Sturm, der auf uns niederfegte. Ein Orkan aus der Geisterwelt, von dem sich allerdings eine Person nicht hatte stoppen lassen. Es war Geraldine Sinclair, und sie hockte wie eine Reiterin auf oder zwischen den Geistwesen, um sich von ihnen treiben zu lassen.
Nein, sie ließ sich nicht treiben. Sie war angetreten, um zu kämpfen, denn sie hielt tatsächlich mehrere ihrer Schwerter hoch, und ihre wilden Schreie peitschten in unsere Ohren. Im nächsten Augenblick riß es auch uns von den Beinen! Etwas prallte gegen meinen Hals. Es war Sukos rechter Schuh, denn er lag ebenso schräg in der Luft wie ich und bekam seine Glieder nicht mehr unter Kontrolle. Die andere Kraft machte mit uns, was sie wollte. Sie zerrte und schob, sie drückte uns nieder, riß uns einen Moment später wieder in die Höhe, und wir waren innerhalb des Geistersturms nicht mehr als nur lose Papierfetzen im Wind. Wie tief der Boden unter uns lag, daran wagte ich nicht zu denken. Der Sturm zerrte an meinen Haaren. Er peitschte und hämmerte sie immer wieder gegen meinen Kopf. Ich hatte den Eindruck, als wollten mir die Gewalten die Knochen im Körper zerreißen. Dicht vor mir sah ich sie. Unheimliche Wesen, mörderische Gestalten, kalt wie Eis, die nach mir griffen, als wollten sie mich erstarren lassen. Sie faßten nicht richtig zu. Sie waren da und doch nicht da. Ich spürte sie als Hauch, und selbst das Kreuz auf meiner Brust schien allmählich zu Eis werden zu wollen. An meiner rechten Seite trudelte Suko vorbei. Auch er schlug um sich, aber seine Bewegungen waren ebenso langsam wie die meinen. Wir konnten nicht viel tun. Es gab keine Waffen, die wir gegen unsere Feinde hätten einsetzen können. Diese Welt war nicht mehr die unsrige, wir waren in einem Geisterreich gefangen und dem Totengräber dort wahrscheinlich auf die Schaufel gehüpft. Bis ich das Schimmern, das Blitzen und die Reflexe wahrnahm. Und plötzlich war sie da. Sie ritt auf dem Sturm, sie war eine, die in etwa zu den anderen gehörte. Als Verräterin war sie bezeichnet worden, nun aber wurde Geraldine zu einer Zerstörerin. Suko und ich bekamen mit, wie perfekt sie mit ihren Waffen umgehen konnte. Sie schlug zugleich in verschiedene Richtungen. Die Schwerter bohrten sich in die Geistwesen hinein. Sie waren mit einer Kraft erfüllt, die auch gegen feinstoffliche Gestalten ankamen. Geraldine trieb nicht mehr, sie lag auch nicht. Sie hatte es erreicht, sich auf die Füße zu stemmen, und sie schlug immer wieder auf die herabsausenden Angreifer ein. Suko und ich trudelten durch den Sturm, ohne uns irgendwo halten zu können. In diesem Fall waren wir nichts anderes als Statisten und würden es auch wohl bleiben. Da irrten wir uns. Plötzlich tauchte Geraldine dicht vor mir auf. Ich schaute direkt in ihr Gesicht, dessen Ausdruck beinahe eine animalische Wildheit zeigte. Ihr
Zopf flog nach hinten, er stand waagerecht vom Kopf ab, und ich wußte auch, daß sie etwas von mir wollte. »Dein Kreuz, John!« Ich konnte nicht reden, nur nicken. Geraldine nahm es als Antwort hin. Plötzlich schob sie eines ihrer Schwerter unter meine Kleidung. Ich spürte den kalten Stahl auf meiner Haut und wunderte mich darüber, wie perfekt diese Person mit derartigen Waffen umgehen konnte. Sie wollte sich das Kreuz holen, als uns plötzlich ein Schlag erwischte. Ein Körper prallte aus der Höhe gegen mich. Es war McLean, ein Toter, eine steife Leiche, deren grauenvoller Gesichtsausdruck starr und kalkig wirkte. Er rammte mich, ich fiel, der Sturm packte mich wieder, er schleuderte mich hoch, ich hörte einen wütenden Schrei, schloß die Augen, und plötzlich hatte ich wieder Boden unter den Füßen. Ich war so schnell gefallen, daß ich es kaum mitbekommen hatte. Boden unter den Füßen? Blut, das aus der Erde quoll, seinen Geruch verteilte und zudem aussah wie Dampf? Das alles hätte ich spüren müssen, aber ich spürte es nicht. Ich roch etwas anderes, etwas Frisches, wie in voller Blüte Stehendes, und ich hörte in weiter Ferne die Stimme einer gewissen Geraldine Sinclair. »Das Tor ist offen. Die Insel hat mich wieder. Für immer. Die Geister werden vergehen. Es gibt keinen Sturm mehr. Sie haben ihren Frieden gefunden.« Avalon? Hatte ich richtig gehört? Stand ich nicht mehr auf der Erde von Culloden, sondern auf der Insel der Äpfel, also Avalon? Es mußte so sein, denn dieser herrliche Geruch erwischte mich nicht zum erstenmal. Zudem hatte Geraldine Sinclair den Namen der Insel erwähnt. Avalon war zu ihrer Heimat geworden, und dorthin war sie auch zurückgekehrt. Erst als ich mir das bewußt gemacht hatte, konnte ich einigermaßen klar denken und mich auch umschauen. Die Geister der Toten waren noch vorhanden. Aber sie hatten sich zu einer einzigen Wolke zusammengeballt, und Geraldine Sinclair stand vor ihr. Sie zerstörte die Wolke durch ihre Schwerthiebe. Sie zerriß in Fetzen, die Frau war die Siegerin, und sie fuhr herum, als auch die letzten Reste zusammengesunken waren. Dann war sie plötzlich bei mir. Diesmal lächelte sie. »Ich habe meine Ruhe gefunden. Ich werde hierbleiben, ich brauche nicht mehr zurück. Culloden wird so in der Erinnerung bleiben, wie es sein soll. Ich habe den Frieden endlich stiften können, was mir vor langer Zeit mißlungen ist. Aber manchmal lohnt sich das Warten. Farewell, Geisterjäger, farewell, Sohn des Lichts…«
Es klang nicht nur wie ein Abschied, es war auch einer. Nur wollte ich ihn nicht hinnehmen. Ich streckte beide Arme aus, um Geraldine zurückzuhalten, aber ich griff ins Leere. Sie hatte sich bereits von mir entfernt, und auch die geheimnisvolle Welt Avalon entfernte sich von mir. Es war schon ein seltsames Gefühl, das ich da erlebte. Die Umgebung wandte sich von mir ab, als wäre alles aus meiner Umgebung weggezogen worden. Es ist schwer zu erklären. Nur ich blieb stehen. Alles andere verschwand, zugleich auch die Gestalt, die kleiner und kleiner wurde und letztendlich nur mehr die Größe einer Kinderpuppe hatte. Ein letztes Winken, dann war es vorbei. Geraldine Sinclair hatte die Ehre des Namens wiederhergestellt. Mich ließ sie zurück mit all ihren guten Wünschen. »Ja, Geraldine, farewell«, flüsterte ich. Dabei stieg mir die Gänsehaut von den Füßen hoch bis zum Kopf, und erst als mir jemand auf die Schulter tippte, erwachte ich aus diesem Traum. Es war Suko, der mich anlächelte. »He, wieder da?« »Ja, wieso? War ich weg?« »Ich weiß es auch nicht.« »Avalon«, murmelte ich, schaute zu Boden und sah die öligen Blutpfützen kaum noch. Sie waren dabei, wieder in den Untergrund von Culloden einzusickern. Auch der Himmel zeigte sich in einer wunderbaren Klarheit. Selbst die Wolken hatten sich zurückgezogen, und die Sterne funkelten wie kostbare Diamanten. »Du erwähntest Avalon«, sagte Suko leise. »Stimmt.« »Noch mal, warum?« »Ich bin dort gewesen. Für einen winzigen Moment nur. Eine Sekunde, eine Minute, ich weiß es nicht. Aber Geraldine schaffte es, das Tor zu öffnen, und dort ist sie die Siegerin gewesen. Es gibt die Geister nicht mehr, und es wird auch keinen Geistersturm geben. Culloden ist und bleibt Geschichte, Suko.« Er nickte. »Deshalb also hast du ausgesehen, als wärst du sternenweit weg und doch so nah. Dein Körper war im Begriff, sich aufzulösen. Dich umtanzte das blaue Licht, wie es auch Geraldine umtanzt hatte.« Ich hob die Schultern. »Ja, Geraldine. Ich hätte gern mehr über sie erfahren.« »Wirklich?« »Bestimmt.« »Auch sie ist Geschichte. Du solltest es dabei belassen, John.« »Hier schon«, murmelte ich. »Aber es kann durchaus sein, daß ich die Insel der Äpfel wieder betrete. Denk an Nadine Berger und denk an den Dunklen Gral. Sie wird es bestimmt noch geben.«
»Wie auch einen Toten«, sagte Suko. Er hatte mich mit dieser Antwort aus meiner Stimmung gerissen und in die nüchterne Realität zurückgeholt. Der Tote lag nicht weit entfernt. Er war starr, er war vereist, und selbst in den offenen Augen lag noch der blanke Schimmer, als wären seine Tränen gefroren. *** Wir nahmen Gerald McLean mit zu Melvin Hunt. Er hatte bereits auf uns gewartet, frischen Tee gekocht, wofür wir ihm beide dankbar waren, denn den brauchten wir jetzt. Nur wollten wir uns nicht lange aufhalten. Wir mußten zurück nach Tomatin, wo es sicherlich eine Leichenhalle gab, in der wir den toten McLean aufbahren konnten. »Jedenfalls werde ich dieses Ereignis nie in meinem Leben vergessen«, sagte Mel. »So etwas prägt, das kann ich euch versichern.« Ich nickte ihm zu. »Aber tun Sie uns einen Gefallen, Mel.« »Gern. Welchen denn?« »Schreiben Sie bitte darüber kein Buch.« »Ich werde mich hüten. Das glaubt mir sowieso keiner. Nein, ich bin Historiker und halte mich lieber an die Tatsachen. Oder wissen Sie beide etwas von einem Geistersturm?« Wie auf Kommando schüttelten Suko und ich die Köpfe. Und mein Freund fragte: »Geistersturm? Habe ich nie gehört. Du, John?« »Nein. Was ist das?« Wir lachten zu dritt, und dieses Lachen bewies, daß wir uns alle drei einig waren…
ENDE