Geheime Gewalten
Wiener Kriminal-Roman von
Friedric Axmann
J Verlag von H. G. Müncmeyer in Dre+den 1875/ÏÎ
Geheime ...
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Geheime Gewalten
Wiener Kriminal-Roman von
Friedric Axmann
J Verlag von H. G. Müncmeyer in Dre+den 1875/ÏÎ
Geheime Gewalten
Wiener Kriminal-Roman von
Friedric Axmann
Lieferung 1 - 37 ÉÐÏÍ-ÉÐÏÎ
Verlag von H. G. Müncmeyer in Dre+den
Der Kolporteur
Inhalt É. Auge um Auge, Zahn um Zahn Ï Ê. Ohne Urtheil gerictet ÊÏ Ë. Der Gaunerkönig 35 Ì. Ein Trauerspiel 73 Í. Häßlice Pläne 91 Î. Eine Menscenhetze 113 Ï. Folgenscwere Begebenheiten 178 Ð. Ueberrascungen 208 Ñ. Böse Triebe 240
ÉÈ. In höcster Noth 298 ÉÉ. Ein Scauderdrama 330 ÉÊ. Bange Tage 353 ÉË. Eine wictige Enthüllung 387 ÉÌ. Vereint – getrennt 408 ÉÍ. Letzte Zu$kungen 460 ÉÎ. Scac dem Könige! 526
J
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Geheime Gewalten.
Nr. É
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n .
Er#e+ Kapitel Auge um Auge, Zahn um Zahn
Z
um alten Baron Szapary, der in die Lecture einer Zeitung sich vertieft hatte, trat sein gleichfalls hochbetagter Kammerdiener Ferencz. Wenn man diese beiden Greise nebeneinander sah, mußte eine frappirende Ähnlichkeit zwischen ihnen alsbald auffallen. Nicht etwa, daß die Gesichtszüge sich geglichen hätten, nein, es konnte sogar keinen grelleren Kontrast geben, als den zwischen dem feingeschnittenen Antlitz des Aristokraten und dem plumpen Bauerngesicht des Dieners; was aber beiden ein gemeinsames charakteristisches Merkmal verlieh, war ein Zug boshafter Tücke, der sich selbst dann 7
in ihren Mienen aussprach, wenn dieselben sich nicht in Bewegung befanden. Der Baron gewahrte den Diener nicht eher, bis dieser durch leises Husten seine Aufmerksamkeit erregte. »Ach Du bist’s, Ferencz,« murrte er, flüchtig aufsehend. »Was giebts?« »Es ist Jemand da, welcher den gnädigen Herrn zu sprechen wünscht.« »Sein Name?« »Er will ihn nicht angeben.« »So soll er sich scheeren.« Ferencz trat einen Schritt näher. Sein Gesicht hatte einen Anblick pfiffiger Vertraulichkeit angenommen. »Es wäre doch vielleicht besser, wenn der gnädige Herr den Menschen vorließen,« flüsterte er. »Möglicherweise hat er Ihnen etwas Wichtiges mitzutheilen.« »Woraus schließest Du das?« »Ich weiß es gewiß.« »Ach, Du kennst ihn?« »Ich sehe ihn heute zum ersten Male.« Des Barons Brauen zogen sich aufwärts. »Nun? – Sprich nicht in Räthseln!« Der Kammerdiener trat noch einen Schritt näher und seine Stimme klang noch um einen Ton tiefer, als er sagte »Der junge Mann schaut Dero seligem Herrn Sohne so ähnlich, wie ein Ei dem anderen.« Das Blatt entsank der Hand des Barons, dessen eben noch so starre Züge durch eine plötzliche Erregung belebt wurden. 8
»Du meinst – es sei Botho ?« Ferencz nickte. »Sollte er Istwan entsprungen sein?« Über des Kammerdieners Gesicht glitt blitzschnell ein kaum merkliches Lächeln. »Sie vergessen, gnädiger Herr, daß sechszehn Jahr seit jenem Tage verflossen sind, wo Sie die Kinder dem Zigeuner übergaben. Botho ist nicht mehr ein Knabe, sondern ein kraftvoller, schöner Mann, so wie der junge Herr Baron mit dreißig Jahren war. Der hatte nicht nöthig, seinem Wächter heimlich in der Nacht zu entlaufen; er konnte am lichten Tage fortgehen, ohne daß Jemand gewagt haben würde, ihn zurückzuhalten.« »Er sieht also fest entschlossen aus?« »Der setzt Alles durch, sei’s im Guten, sei’s im Bösen.« Es trat eine kleine Pause ein; dann sprach der Baron: »Laß ihn herein! – Doch halt, reiche mir zuvor den Revolver und die Hundspeitsche. Es ist nur für den Fall daß er sich Frechheiten erlauben sollte.« »O gnädiger Herr –« »Kein Wort weiter! Was ich anordne, geschieht.« Kopfschüttelnd reichte der Diener dem Baron die Peitsche, der sie neben dem Revolver auf dem Arbeitstische legte. Dann befahl er: »Während meiner Unterredung mit dem – Menschen bleibst Du hinter der Portiere. Mauris und Bela halten sich im Vorzimmer auf, bis er fort ist. Und nun laß ihn herein!« Eine Minute später trat ein hochgewachsener Mann von etwa 28 Jahren in das Gemach. Es war eine gewinnende Er9
scheinung, ein Adonis an Schönheit, ein Herkules an Kraft, für den Moment verdüsterte ein Zug unsäglicher Bitterkeit das bildhübsche Gesicht des Mannes. Finster ruhten seine Blicke auf dem greisen Baron, der ihn nicht minder unfreundlich vom Scheitel bis zur Sohle maß. Nach längerer Pause unterbrach die scharfe Stimme des Barons die Stille. »Sie verlangten mich zu sprechen? Was führt Sie zu mir, und wer sind Sie?« Der junge Mann zuckte zusammen. Es kostete ihm augenscheinlich große Mühe, sich zu fassen. »Verzeihen Sie mein sonderbares Benehmen,« bat er dann. »Wenn Sie den Beweggrund meines Besuches erfahren haben werden, dürften Sie dasselbe begreifen und hoffentlich entschuldigen.« »Ich bitte, sich kurz zu fassen,« unterbrach der Baron ihn rauh. »Ich liebe die langen Einleitungen nicht.« Seine Hand spielte wie absichtslos mit der Peitsche. Über das Gesicht des jungen Mannes zuckte es wie Wetterleuchten, doch bezwang er sich schnell und antwortete: »Ich werde mich so kurz fassen, als es möglich ist. Da es sich jedoch um eine Angelegenheit von unendlicher Wichtigkeit für mich handelt, so bin ich gezwungen, zur Begründung des Zweckes, welcher mich zu Ihnen geführt hat, ein Bild meines bisherigen Lebenslaufes vor Ihnen aufzurollen.« Der Baron machte eine ungeduldige Bewegung. »Kommen Sie zur Sache,« gebot er herrisch. »Der Anfang des kleinen Romans, welchen ich zu erzählen gedenke, spielte sich vor beinahe dreißig Jahren in Bonn ab. 10
Unter den Studirenden der schönen rheinischen Universität befand sich auch Koloman, der einzige Sohn des Barons Szapary in Siebenbürgen. Er wohnte bei einem ehrbaren, wohlhabenden Bürger, dem Tischlermeister Krause. Diesem hatte der Himmel auch nur ein Kind bescheert und zwar ein Mädchen, welches, zur Jungfrau herangereift, durch Schönheit des Leibes, wie durch vorzügliche Eigenschaften des Geistes und Herzens sich auszeichnete. Koloman erglühte bald in inniger Liebe zu dem holden Bürgersmädchen, und auch Johanna schenkte dem vornehmen Herrn ihre Sympathien. Da war es denn nicht sonderlich wunderbar, daß die beiden jungen Menschenkinder von dem heißen Wunsche beseelt wurden, einander für das ganze Leben anzugehören. Der Verwirklichung dieses Verlangens standen jedoch scheinbar unüberwindliche Hemmnisse im Wege. Der reiche, begüterte, adelsstolze Vater Kolomans wollte von einer Vereinigung seines Sohnes mit einer Bürgerlichen nichts wissen; er beantwortete die rührenden Briefe des jungen Mannes mit harten Zurechtweisungen und Drohungen und forderte schließlich Koloman zur sofortigen Rückkehr nach Siebenbürgen auf, widrigenfalls er ihn verstoßen würde. – Nun wurde auch Johanna’s Vater aufgebracht durch den Hochmuth des alten Freiherrn, dem Verhältniß der Liebenden mißgünstig gestimmt. Er verbot dem jungen Baron sein Haus und hütete die Tochter mit Argusaugen. Der Gram, die Verzweiflung der jungen Leute spottet jeder Beschreibung; Johanna’s Zustand verschlimmerte sich binnen kurzer Zeit derartig, daß ihr Dahinscheiden 11
unausbleiblich schien, als Krause sich bewegen ließ, einem Vorschlage Kolomans, dem er bis dahin stets abgeneigt gewesen war, zuzustimmen. Koloman wollte nämlich sich von seinem Vater, seiner Heimath lossagen. Er hatte von seiner frühverstorbenen Mutter ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt und konnte mit demselben sich ein bescheidenes Heim in Deutschland gründen. Krause war damit einverstanden, und der junge Freiherr führte nun wirklich die Geliebte zum Altar. Das Eheleben des jungen Paares war ein sehr glückliches; der Baron hatte in der Nähe Bonns eine kleine Besitzung erworden und verbrachte auf derselben ein den Wissenschaften und seiner Familie gewidmetes Leben. Mit seinem Vater stand er nicht mehr im Verkehr, und es schien auch keine Hoffnung vorhanden, daß der alte Baron sich je wieder mit ihm aussöhnen würde. Der Ungehorsam des Sohnes hatte den Vater deßhalb so grenzenlos erbittert, weil zwischen diesem und seinem besten Freunde, dem Grafen Martonvasar, die Vereinbarung getroffen war, daß Koloman die einzige Tochter des Grafen, Katinka, ehelichen solle. Fast elf Jahre hindurch genossen Baron Koloman und seine holde Gemahlin die Wonnen eines glücklichen Familienlebens. Der Himmel hatte ihnen zwei Kinder bescheert, von denen Botho, der Sohn, damals beinahe zehn Jahre alt war, während das Töchterchen Lucie soeben ihr erstes Lebensjahr überschritten hatte. Um diese Zeit trat ein Ereigniß ein, welches dem Glücke des jungen Paares 12
ein jähes Ende bereitete. Das Unerwartete, unmöglich Scheinende geschah, – der alte Baron Szapary bat brieflich seinen Sohn, sammt seiner Familie in das Vaterhaus zurückzukehren. Alles sei vergeben und vergessen, so schrieb der Freiherr, er werde alt und sehne sich, seinen Erben und Stammhalter bei sich zu haben. Selbstverständlich erregte dieser Brief großen Jubel im Hause des jungen Barons, da dieser sowohl wie seine Gattin sich dem süßen Wahn hingaben, daß die Verzeihung des alten Freiherrn aufrichtig gemeint sei. Überdies hing Koloman mit allen Fasern seines Herzens an der Heimath, von deren wildromantischer Schönheit er oft in schwärmerischer Begeisterung erzählte. Da der alte Krause schon vor Jahren dahingeschieden war, so wurde Johanna durch Nichts an das Vaterland gefesselt, und sie folgte deßhalb mit um so freudigerem Muthe und rosiger Hoffnungen voll dem geliebten Gatten nach Siebenbürgen, welches ihr und ihren Kindern eine neue Heimath werden sollte. Koloman betrieb die Ordnung seiner Angelegenheiten mit so viel Eifer, daß schon eine Woche nach dem Eintreffen des väterlichen Schreibens die Abreise erfolgen konnte. Die Eisenbahn brachte die Familie binnen wenigen Tagen nach Pest; von dort trug ein Dampfschiff sie bis nach Bastasch, wo ihrer ein alter, finsterer Mann, der Kammerdiener des Barons, wartete. Es ging nun mehrere Tagereisen weit in das Land hinein, bis die Reisenden am späten Abend des vierten Tages das Stammschloß der Szapary’s erreichten. 13
Kaum dort angelangt, wurde Koloman zu seinem Vater beschieden, der angeblich krank darnieder liegen sollte. Johanna und die Kinder wurden in einen abgelegenen Theil des weitläufigen Schlosses geführt. In einem großen fast ganz dunklen Saale fielen plötzlich einige Männer über die arme Frau her, banden ihr Hände und Füße, verstopften ihr den Mund und schleppten sie in einen verdeckten Wagen, der in rasender Eile davonfuhr. Die weinenden Kinder wurden durch Schläge und Drohungen zur Ruhe gebracht und einem braunen Hallunken, einem Zigeuner, namens Istwan, übergeben. Noch in derselben Stunde schleppte derselbe sie fort in die Mitte seiner Bande und seitdem blieben sie verschollen. Wahrscheinlich sollten sie nie wieder auftauchen; ja mancherlei Anzeichen sprechen dafür, daß man es am liebsten gesehen hätte, daß sie ganz und gar aus der Reihe der Lebenden geschieden wären. Zu ermorden wagte man sie freilich nicht; aber man that alles Mögliche, ihren Lebenskeim zu vernichten. Man peinigte sie mit tausend Martern, ließ sie Hunger und Frost ausstehen und mißhandelte sie in der schrecklichsten Weise. Aber die Kinder starben nicht; trotz aller Entbehrungen und Quälereien wuchsen sie empor und gediehen. Daß der Knabe den Mißhandlungen nicht erlag, ist fast ein Wunder zu nennen, denn gegen ihn insbesondere kehrte sich der Haß der brutalen Menschen. Sein Schwesterchen hatte ja noch nicht die geringste Ahnung von seinem Namen, seiner Abkunft; es vergaß die freundliche Mutter gar bald, gewöhnte sich an die wilden, braunen Menschen und betrachtete sich als zu ihnen gehö14
rig, Blut von ihrem Blute. Ganz anders verhielt es sich mit dem Knaben. Er kannte seine Herkunft und den stolzen Namen seines Vaters und vergaß sie nicht, so unendliche Mühe man sich auch gab, die Erinnerungen seiner Kindheit als absurde Märchen zu erklären. Bei ihm hatte auch das Andenken an die Gräuelszene auf dem Stammschloß so feste Wurzeln geschlagen und sein jugendliches Herz mit tödtlichem, unauslöschlichem Hasse gegen den Mann erfüllt, der in unmenschlicher Grausamkeit die Gattin von dem Hatten, die Kinder von der Mutter riß und drei arme unschuldige Menschen dem namenlosesten Elend überlieferte, einzig und allein aus dem kleinlichen Grunde, weil sein starrer Adelsstolz sich durch die Verehelichung seines Sohnes mit einer Bürgerlichen verletzt fühlte. Und diese Empfindung hat sich im Laufe der Jahre nicht gemildert, im Gegentheil, sie wuchs mit dem Körper und Verstande des Knaben, denn je fähiger Botho wurde, die entsetzliche Handlungsweise seines Großvaters zu beurtheilen, desto heftiger mußte sein Abscheu werden. Ja, Baron Szapary, ich stehe nicht an, Ihnen mitzuteilen, daß der Jüngling hundert Mal gewünscht hat, Sie möchten ihm im einsamen Walde begegnen; – er würde ein schreckliches Gericht über Sie gehalten haben.« Es entstand eine kurze Pause; die glühenden Blicke, welche die beiden Männer einander zuwarfen, sprachen beredter als Worte. Endlich unterbrach der jüngere die Stille: »Jetzt hegt Botho diesen Wunsch nicht mehr. Die Befriedigung seines wilden Rachegelüstes könnte die trauri15
gen Thatsachen nicht ungeschehen machen und sie würde derjenigen Person, die ihm jetzt das Liebste ist auf der Welt, seiner Schwester Lucie, nur empfindlichen Nachtheil bringen. Lucie ist zur herrlichen Jungfrau herangereift; sie ist schön und hold, wie die Waldrose, rein und unschuldig wie ein Kind und begabt mit reichem Geiste und einem goldenen Herzen. Aber sie lebt inmitten eines rohen Gesindels, ist allen cynischen Ausschreitungen desselben preisgegeben und muß schließlich geistig und sittlich verkommen, wenn sie nicht in die edlere Sphäre, aus welcher sie gewaltsam herausgerissen wurde, zurückversetzt wird. Botho wurde von tiefem Jammer ergriffen, so oft er des elenden Looses gedachte, dem seine Schwester entgegenging. Unzähligemale hatte er sich vorgenommen, seinen und Luciens Großvater aufzusuchen, um ihn zu bewegen, sich des lieblichen Mädchens anzunehmen; stets aber war sein wilder Grimm stärker als die Liebe zur Schwester. Ala aber Lucie vor einigen Tagen ihr siebenzehntes Geburtsfest feierte, als er wahrnahm, wie in die reine, jedes Args entbehrende Kinderseele sich allmählig sinnliche Triebe stehlen würden, wie die Männer mit begehrlichen Blikken die reizende Mädchenknospe betrachteten und feile Weiber sich erfrechten, unlautere Worte in das Ohr der Keuschen zu flüstern, da erkannte er, daß er nicht einen Tag, keine Minute länger zögern dürfe. Und nachdem diese Überzeugung sich Bahn gebrochen, machte er sich unverzüglich auf, den alten Baron aufzusuchen. 16
Er erfuhr, daß derselbe in Wien sich aufhalte, eilte zu ihm, warf sich ihm zu Füßen und flehte: »Großvater, erbarmt Euch Euerer Enkelin! Für mich begehre ich Nichts, denn ich bin stark und fähig genug, mir eine Bahn zu brechen, wenn ich das Leben dieser Anstrengung werth erachtete. Aber sie, die zarte, unerfahrene Jungfrau bedarf eines mächtigen Schutzes! Laßt ihr denselben angedeihen. Bedenkt, daß sie ja Eurem Blute entsprossen ist –« Weiter kam er nicht. Der Baron, in dessen starrem Gesicht nicht eine Fiber zuckte, trotzdem er durch die unvermuthete Wendung des Auftritts sicherlich nicht wenig überrascht war, erhob sich mit würdevollem Stolze, maß den Knieenden mit verächtlichen Blicken und rief mit scharfer Stimme: »Spart Eure Worte. Nie wird der Baron Szapary sich so tief erniedrigen, der Protektor einer Straßendirne zu werden.« Botho’s Antlitz wurde kreideweiß. Er war kaum im Stande, sich zu erheben. Die fest auseinander gepreßten Lippen und die krampfhaft geschlossenen Hände bewiesen, welche gewaltigen Anstrengungen es ihm kostete, sich zu beherrschen. Eine geraume Zeit verging, ehe er im Stande war, wieder zu sprechen und auch dann zitterte seine Stimme merklich. »Baron Szapary,« rief er, »Sie scheinen zu vergessen, daß ich nicht als demütig Flehender vor Ihnen zu erscheinen brauche, sondern daß mir ein Recht zusteht, zu fordern, was ich erbettle.« 17
»Ein Recht?« höhnte Szapary. »Welches denn?« »Dasjenige, welches dem legitimen Enkel durch die Erbfolgegesetze verliehen wird.« »Ich habe nur einen Enkel, – das Kind meines Sohnes aus seiner Ehe mit der Komtesse Katinka von Martonvasar.« »O, ich wußte wohl, daß Sie mich und Lucie nicht anerkennen würden, aber die Welt wird es thun. Hüten Sie sich, Baron, vor den Folgen, welche ich durch die Erzählung Ihrer Frevelthaten über Sie heraufbeschwören könnte.« Szapary’s Gesicht nahm einen maßlos hochmüthigen Charakter an. »Sie reden im Wahnwitz, und ich bewundere meine Geduld, welche mich abgehalten hat, Sie schon längst hinauswerfen gelassen zu haben. Mich dauert jedoch Ihre Jugend, und die Rücksicht auf diese veranlaßt mich sogar, Ihnen einen wohlmeinenden Rath zu ertheilen. Sollten Sie nämlich jemals so kühn sein, der Welt das Ammenmärchen, welches Sie mir erzählt haben, auftischen zu wollen, so rathe ich Ihnen, versehen Sie sich mit unanfechtbaren Beweisen. Sie könnten sonst leicht dem Zuchthause oder der Irrenanstalt verfallen. Und nun entfernen Sie sich augenblicklich!« Botho‘s Mienen verdüsterte der Schatten unsäglicher Bitterkeit. Was ihm der Mann mit dem eisernen Sinne und dem Herzen von Stein soeben höhnisch zugerufen hatte, war nur zu wohl begründet. Wie hätte er, der Arme, Namenlose, der Gefährte von Landstreichern, wagen dürfen, mit 18
einer so schweren Anklage gegen den mächtigen und reichen Magnaten aufzutreten, wenn ihm nicht die vollgiltigen Beweise für seine Anschuldigungen zur Verfügung standen. Hatten doch selbst die berühmten Wiener Advokaten, denen er seine Lebensgeschichte erzählt hatte, ihm keinen Glauben beigemessen. Und diese Leute waren doch gewohnt, Verbrechen der unnatürlichsten Art in den Annalen der Justizpflege zu begegnen. Es wäre demnach Wahnwitz gewesen, zu hoffen, daß irgend Jemand für ihn gegen den vornehmen Herrn Partei ergreifen werde. Die Erkundigungen, welche er eingezogen, hatten seine Hoffnungen vollständig vernichtet. Bald nach der Ankunft des jungen Barons auf dem Stammschlosse, so erzählte man ihm, seien die beiden Kinder desselben verschwunden. Man wisse noch bis heutigen Tages nicht, ob sie verunglückt oder vielleicht von Zigeunern geraubt wären. Die deutsche Frau des jungen Barons wäre aus Schmerz über den Verlust ihrer Kinder einem Nervenfieber verfallen und nach kurzer Krankheit erlegen. Ihr Grab befand sich in der Kapelle des Schlosses. Der junge Baron wurde durch die furchtbaren Schicksalsschläge tiefsinnig, beinahe unzurechnungsfähig. Er ließ sich viele Monate hindurch gar nicht erblicken, sondern hielt sich in seinen Zimmern eingesperrt und nur Ferencz, der Kammerdiener des alten Freiherrn, durfte zu ihm. Nach Jahr und Tag endlich ließ er sich wieder unter Menschen blicken. Er war nur noch ein Schatten von früher, und auch seine geistige Kraft war gebrochen. Während 19
er vordem in hundert Fällen seinen Willen gegen die Anordnungen des alten Barons durchsetzte, war er jetzt ein vollkommen willenloser Spielball seines Vaters. Es wunderte sich deshalb auch Niemand, als er nach mehreren Jahren trotz seines unheilbaren Schmerzes um den Verlust der ersten Frau und der Kinder sich mit der Komtesse Martonvasar vermählte. Diese Ehe, deren Einsegnung mit unerhörter Pracht gefeiert wurde, sollte nicht von langer Dauer sein. Wenige Wochen, nachdem die Baronin einem Sohne das Leben gegeben hatte, starb Koloman von Szapary. Kurz vor seinem Tode soll er einen furchtbaren Auftritt mit seinem Vater gehabt haben. Der alte Baron hatte nämlich bei der Regierung beantragt, daß die verschwundenen Kinder für todt erklärt werden sollten. Dieser Forderung soll Koloman heftigen Widerstand entgegengestellt haben, was man wenigstens aus dem Umstande schließen kann, daß der alte Baron sich veranlaßt fühlte, seinem Gesuche eine Klausel beizufügen. Diese lautete dahin, daß der Sohn aus zweiter Ehe erst dann als alleiniger Erbe der Szapary‘schen Güter gelten sollte, wenn nach Ablauf von fünf Jahren noch keine Spur der verschollenen Kinder aufgefunden sein sollte. Bald darauf starb Koloman. Ein allgemein verbreitetes Gerücht will wissen, daß er bei einer Vertrauensperson Dokumente hinterlegt haben soll, deren Veröffentlichung dem alten Baron verderblich werden müßte. Doch ist es fraglich, ob dieses Gerücht nicht eben müßigem Gerede entstammt ist; Baron Szapary soll sich unendliche Mühe gegeben haben, jene Vertrau20
ensperson zu entdecken, ohne daß ihm dies geglückt wäre. So lauteten die Auskünfte, welche Botho erhalten hatte. – Sie beraubten ihn jeder Hoffnung auf Anerkennung seiner Geburt und Rechte; die Frist, innerhalb deren er seine Ansprüche hätte geltend machen können, war verstrichen; er sowohl wie seine Geschwister waren als todt erklärt worden, und es hing nun ganz von der Großmuth des alten Barons ab, ob ihnen ein Almosen von dem reichen, ihnen rechtmäßig gehörenden Erbe zu Theil werden sollte. Als er sich entschloß, seinen Großvater aufzusuchen, hatte er sich der thörichten Illusion hingegeben, daß die Länge der Zeit dessen starre Antipathie gegen die Kinder seiner bürgerlichen Schwiegertochter gemildert haben würde, daß er vielleicht sogar Reue über das entsetzliche Loos, welches er den armen Enkeln bereitet hätte, empfände. Als er nun gewahrte, wie kalt und hochmüthig der harte Mann blieb, als ihm eines seiner Opfer plötzlich gegenüber trat und statt sich in Vorwürfen und Drohungen zu ergehen, kniefällig um ein klein wenig Wohlwollen flehte, als er erkannte, daß der alte Baron nur zu bereitwillig wäre, ihn und Lucie auch fernerhin dem Verderben zu weihen, daß sie keinen schlimmeren Feind hätten als den eigenen Großvater, da überwältigte ihn die maßloseste Erbitterung. »Baron Szapary,« sagte er mit einem Anflug von Trauer, der indeß schnell wich und einer kühnen, stolzen Sprache Raum gab, »diese Stunde scheidet uns für ewige Zeiten. Wenn ich aber auch nie mehr den Versuch machen werde, Sie selbst zur Sühnung Ihres Unrechtes zu bewegen, so können Sie versichert sein, daß ich nun und nimmer 21
freiwillig auf die mir und meiner Schwester zustehenden Rechte Verzicht leisten werde. Fortan wird es nur einen erbitterten, rücksichtslosen Kampf zwischen uns geben, und dieser wird nur dann ein Ende nehmen, wenn es mir entweder geglückt ist, Ihnen Rechenschaft für Ihre verruchte Handlung abzunöthigen, oder –« »Schweigt,« donnerte der Baron und seine Augen sprühten Blitze. »Schreckt Sie schon die bloße Erwähnung Ihrer Verbrechen?* höhnte Botho. »Ja, – Ihrer Verbrechen?« fuhr er, das häßliche Wort nachdrücklich betonend fort, »Welche andere Bezeichnung sollte man für ihre fluchwürdige und schmachvolle Handlungsweise wählen? Sie haben Recht zu zittern; denn das Maß ihrer Sünden ist übervoll und die Strafe wird und kann nicht ausbleiben. Fortset~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
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I
ch kann und mag nicht glauben, daß so ungeheurer Frevel ungerächt bleiben sollte, daß Sie straflos den eigenen Sohn zur Verzweiflung und einem frühzeitigen Tode in die. Arme getrieben haben, daß Sie zwei arme unschuldige Kinder dem Elend, dem Laster und Verbrechen überlieferten, daß Sie, wie ich leider gezwungen bin zu glauben, die Gattin Ihres Sohnes, die Mutter Ihrer Enkel – ermorden ließen.« Bis dahin hatte der Baron seinen kochenden Ingrimm nur mühsam bezwungen; nun brach derselbe mit um so größerer Heftigkeit los. » Nichtswürdiger Bube, « kreischte er, » das wagst Du mir zu sagen? Da nimm das für Deine Frechheit! « Er riß die Peitsche vom Tisch und traf mit wuchtigem Hiebe das Antlitz seines Enkels, so daß ein blutiger Streif über die linke Wange desselben sich hinzog. 23
Botho taumelte einige Schritte zurück; dann aber schien es, als wenn er sich auf den alten Mann stürzen wollte. Als er jedoch Ferencz und die beiden anderen Diener, welche herbeigeeilt waren, um, wenn nöthig, ihren Herrn zu schützen, erblickte, zwang er sich noch einmal zur Ruhe. Wie unnatürlich dieselbe war, bewies das unheimliche Feuer, welches in seinen Augen brannte und der Klang seiner Stimme, der selbst den harten Baron beben machte. »Baron Szapary,« sagte er halblaut, »ich kam zu Ihnen mit der Absicht, Alles zu vergeben; ein einziges gütiges Wort von Ihnen, und ich hätte vergessen, daß Sie mir meine Eltern, meinen Namen, meine Ehre geraubt, daß Sie mich zum Dieb und Räuber gemacht haben. Sie sprachen dieses Wort nicht, und ich schwor Ihnen Krieg. Trotzdem würde ich in Ihnen stets meinen Großvater respectirt, ich würde, wenn das Glück mich begünstigt hätte, keine unedle Rache an Ihnen genommen haben; nun jedoch ist Alles vorbei! Sie haben mich beschimpft, geschlagen wie einen Hund, – Sie wollen keine Schonung; gut, ich werde mich Ihrem Willen fügen. Ihr Grundsatz soll fortan auch der meinige sein: Auge um Auge, Zahn um Zahn – keine Gnade, kein Erbarmen!« Er stürmte fort, ein Tuch vor die getroffene Wange haltend. Der Baron war in den Sessel zurückgesunken und starrte düster vor sich hin. Ferencz, der die beiden anderen Diener hinausgeschickt hatte, betrachtete ihn mit halb schadenfrohen, halb besorgten Blicken. Plötzlich winkte der Freiherr ihm, näherzutreten. 24
»Ferencz,« flüsterte er kaum vernehmbar, »Du warst ja vor einigen Wochen in Szapessywar? Hast Du sie – die Frau gesehen?« »Wie ich dem gnädigen Herrn bereits die Ehre hatte zu melden.« »Sag’ mir einmal – wie sieht sie aus?« Der Kammerdiener zuckte bedeutsam die Achseln. »Wie immer,« erwiderte er dann; so oft man sie erblickt, meint man, sie könne keine vierundzwanzig Stunden mehr überleben. Das war jedoch vor fünfzehn Jahren auch schon so.« »Du glaubst also –« »Sie wird noch lange hinvegetiren, Herr; sie glaubt‘s selbst und zwar erhält nach ihrer Ansicht sie die Zuversicht am Leben, daß sie ihre Kinder noch einmal wiedersehen und zwar glücklich wiedersehen werde.« Szapary versank wieder in dumpfes Brüten. Plötzlich hob er den Kopf; sein Gesicht hatte einen sehr bösen, teuflischen Ausdruck angenommen. »Ferencz,« flüsterte er so leise, daß dieser kaum ihn hörte, »beug’ Dich zu mir nieder – ganz nahe. –« Ferencz that, wie er befahl. Der Baron blickte sich scheu um; dann schien es, als ob er dem Diener sein Vorhaben in das Ohr flüstern wollte; aber er brachte das Schreckliche nicht über die Lippen. »Nein, nein,« rief er ungestüm, »es geht nicht, – ich kann nicht. Geh’, geh’ – laß mich allein!« Ferencz entfernte sich. Er sah sehr nachdenklich aus. »Die Frau bereitet ihm schwere Sorgen,« murmelte er vor sich hin, »und mit Recht. Denn wenn sie einmal auf25
tauchte und erzählte, was ihr geschehen, es würde einen großartigen Skandal abgeben. Wenn sich Jemand fände, welcher die Frau beseitigte, der Baron würde ihn sicher überreich belohnen. Aber es geht nicht; das Unternehmen ist gar zu gefährlich. Wer kann gewiß sein, daß es nicht an das Tageslicht kommt und dann – entginge der Thäter dem Galgen nicht. Ja, wenn der Baron es befehlen – – –. Doch nein, auch seine Macht würde nicht ausreichenden Schutz gewähren. Man erkennt das ja deutlich an dem Umstande, daß er sich fürchtet, die That anzuordnen. Und er wird wohl wissen, warum? Wenn alles das, was er bis jetzt verbrochen, ruchbar würde, so käme er doch mit einem blauen Auge davon, aber ein Mord! – Hm! Hm!« Hier unterbrach Ferencz sein Selbstgespräch und machte eine ehrfurchtsvolle Verbeugung; denn soeben rauschte eine majestätische, in die kostbarsten Stoffe gekleidete Dame, die einen siebenjährigen Knaben an der Hand führte, an ihm vorüber. Es war die stolze Baronin Katinka mit ihrem Sohne Koloman. Sie hielt es nicht für angemessen, den alten Diener eines Blickes zu würdigen, geschweige denn seinen Gruß zu erwidern. Ferencz warf ihr einen giftigen Blick nach. – »Das ist der böse Geist, welcher den Baron ganz beherrscht und zu allen schlechten Handlungen angetrieben hat. Wenn sie wüßte, daß die Frau noch am Leben ist, sie würde sie mit eigenen Händen erdrosseln.« Er lachte still in sich hinein. 26
»Ich möchte wohl sehen, wie sie sich benehmen würde, wenn sie erführe, daß der Alte eine heillose Komödie mit ihr sich erlaubt hat, daß das Begräbniß von Koloman’s erster Gemahlin nur ein Hokuspokus war, daß die Deutsche noch lebt und daß die hochmüthige Katinka deßhalb nichts Anderes ist, als die H… des jungen Herrn und ihr Söhnchen ein – Bastard! Welchen Preis diese Neuigkeit wohl werth sein würde! Jedenfalls nicht einen so hohen, als dem jungen Botho. Nun ich werde mir die Sache überlegen. Wenn ich nur erst wüßte, wie ich es anstellen soll, daß ich ohne Gefährdung meiner eigenen Person das düstere Geheimniß verrathen kann.«
Zweite+ Kapitel. Ohne Urtheil gerictet.
V
ierzehn Tage später um zwei Uhr Nachts schlich ein schwarzgekleideter Mann an den Häusern der Straße, in welchen das Szapary’sche Palais lag, entlang. Gleichzeitig kam ein anderer Mann, der gleichfalls schwarze Kleidung trug, am entgegengesetzten Ende der Straße herauf. Vor dem Hausthore des Szapary’schen Palais trafen die Beiden zusammen. »Alles sicher,« flüsterte Jener dem Anderen zu. »Wird der Portier fest schlafen?« sagte der Eine. »Wir werden es sofort erfahren,« entgegnete der Andere. – 27
Darauf zog er einen gut geölten Schlüssel aus der Tasche, öffnete das Schloß und das Thor und schlüpfte an die Thür des Portierzimmers, welches wenige Schritte seitwärts vom Hausthor sich befand. Nach einigen Sekunden kehrte er zu dem Genossen zurück und lispelte ihm zu: »Er schnarcht laut« Darauf zog dieser den Schlüssel aus dem Schloß, warf noch einen prüfenden Blick die Straße auf und ab und auf die Fensterreihen der gegenüberliegenden Häuser und trat dann gleichfalls in den Flur. Das Thor wurde nun von innen zugeschlossen, und dann zogen Beide Filzschuhe über die Stiefel. Diese Vorsichtsmaßregel war eigentlich überpfiffig, da Korridore, Treppen und Gemächer des ganzen Hauses mit Decken oder Teppichen belegt waren. Es war stockdunkel in dem Vestibule und auf der Treppe. Die Beiden wußten jedoch offenbar gut Bescheid; denn sie stiegen schnell und sicher die Treppe hinan. Vor der Flügelthür, welche den Korridor vom Vorzimmer schied, blieben sie stehen. Der Eine zog eine kleine Laterne aus der Tasche und hielt sie so, daß nur ein winziger Lichtkreis auf das Schloß fiel. Der Andere drückte das Ohr an die Thür und lauschte aufmerksam. Dann versuchte er, die Klinke niederzudrücken und machte die Entdeckung, daß die Thür verschlossen sei Auch sie wurde vermittelst eines Dietrichs geräuschlos geöffnet. Das Vorzimmer, welches die beiden Eindringlinge betraten, empfing durch eine mattbrennende Ampel ein schwaches Licht, welches indeß doch stark genug war, die Beiden erkennen zu lassen, daß Niemand weder in diesem noch in 28
dem angrenzenden Gemache sich befinde. Die unheimlichen Nachtfalter vermochten jetzt ohne alle Schwierigkeiten vorzudringen, da die Thüren insgesammt nur durch Portieren verhüllt wurden. Behutsam durchschritten sie mehrere Zimmer; dann hielten sie plötzlich vor einer halbzurückgeschlagenen Sammetportiere still. In diesem Kabinet, welches unmittelbar an das Schlafzimmer des Barons grenzte, schlief Ferencz. Geraume Zeit hindurch standen die Eindringlinge bewegungslos und lauschten den tiefen, ruhigen Athemzügen des Kammerdieners. Dann wagten sie sich endlich weiter vor, Schritt vor Schritt, die Blicke unverwandt auf das Gesicht des Schlafenden geheftet. Der Vorhang vor dem Schlafzimmer des Barons war herabgelassen. Einer lüpfte ihn ein Wenig und schaute flüchtig hinein. Dann huschten Beide in das Gemach. Es war ein geräumiges, einfach möblirtes Zimmer, dessen einzigen Schmuck das Bett bildete. Dieses gehörte zur Kategorie der sogenannten »Himmelbetten« und vereinigte in sich alle Eigenschaften, welche der verwöhnteste Geschmack von der nächtlichen Ruhestätte des Menschen verlangen kann. Die himmelblauen, mit silbernen Sternen durchwirkten Vorgänge waren dicht zusammengezogen; die Eindringlinge brauchten deßhalb nicht zu fürchten, daß der Herr des Hauses sie erspähen würde, während sie ihre Vorbereitungen zu dem Werke, das sie hier vollführen wollten, trafen. Licht hatten sie genug; denn die silberne Ampel in der Mitte des Zimmers strömte dasselbe in reicher Fülle aus. 29
Zunächst überzeugten die Eindringlinge sich davon, daß die Rouleaux vor den Fenstern herabgelassen waren. Dann zog einer von ihnen eine winzige Flasche und einen kleinen Schwamm heraus, worauf Beide sich zum Bette hinschlichen. Ehe sie die Vorhänge desselben fortzogen, lauschten sie aufmerksam. Der Schlaf des Barons mußte ein unruhiger sein; denn der alte Mann warf sich hin und her und murmelte unverständliche Worte. Endlich zog der Eine den Stöpsel aus der Flasche und träufelte einige Tropfen auf den Schwamm. Ein höchst angenehmer Duft verbreitete sich im Zimmer, verlor sich jedoch schnell und ließ nicht die geringste Spur zurück. Nachdem der Schwamm befeuchtet war, schob der Zweite den Vorhang zur Seite, und sein Genosse hielt dem Baron den Schwamm unter die Nase. Sofort wurden dessen Athemzüge regelmäßig, und ein Ausdruck von Wohlbehagen machte sich auf seinem Gesichte bemerkbar. Nachdem er so viel von dem berauschenden Aroma eingeathmet hatte, daß er vollständig betäubt war, steckte der Schwarze Schwamm und Flasche wieder ein und nahm dagegen eine winzige, flache Messingschaale, eine kleine Pincette und ein seltsames Instrument hervor. Dieses bestand aus einem kleinen Lederschlauche, von welchem auf- und abwärts feine Röhren mit Spitzen aus Kautschuk ausliefen. Die Öffnungen der Spitzen waren durch aufgesetzte Gummiklappen verschlossen. Sein Helfershelfer ergriff nun den linken Arm des Schlafenden und zog ihn abwärts, so daß die Fingerspitzen nur wenig vom Boden entfernt waren, worauf er die Schaale 30
so stellte, daß sie genau unter einem Punkte des Oberarmes, den der Andere ihm bezeichnete, zu liegen kam. Jetzt machte der Zweite mit der Pincette einen kleinen Schnitt in die große Arterie des Armes; sein Genosse drückte sofort mit aller Macht den Finger auf die kaum wahrnehmbare Wunde. Der Andere nahm schnell die Kappe von der unteren Spitze ab und drückte die Röhre in die winzige Wunde, welche sein Helfershelfer jetzt freigab; dann riß er mit den Zähnen die Hülle von der oberen Spitze fort und blies Luft durch das Instrument in die Ader. Die Wirkung dieser Prozedur war eine ebenso wunderbare wie entsetzenerregende. Das Blut, welches aus der Wunde gesickert war, stockte alsbald; der Baron stieß einen schweren Seufzer aus; sein Körper zuckte einige Male krampfhaft; der Athem wurde immer schwächer und hörte bald ganz auf; die Augenlieder rissen sich gewaltsam auf und ließen die verglasten Augen sehen; kurzes, dumpfes Röcheln ertönte; dann dehnten sich die Gliedmaßen mächtig, – der Tod hatte eine Beute mehr. Die wenigen Blutstropfen, welche während der Operation aus der Wunde geflossen und am Arme kleben geblieben waren, wurden mittelst eines feuchten Schwammes abgewaschen. Dann nahm der Mörder ein Krystallgefäß hervor. in welchem sich eine bläuliche dicke Flüssigkeit befand. Eine Wenigkeit davon trug er mit einem kleinen Pinsel auf die durchschnittene Stelle der Ader, worauf er dieselbe seinem Gefährten wies. »Sie ist unkenntlich,« flüsterte dieser. 31
»Und wird auch nie aufgefunden werden, da die Tinktur sich durch Wasser nicht abwaschen läßt.« Er untersuchte genau den Fußboden und das Bett, um sich zu überzeugen, daß kein Blutstropfen an ihnen hafte; dann schloß er die Messingschaale, steckte sie in die Tasche, und Beide begaben sich in das Nebengemach. Es war das Arbeitszimmer des Barons. Dieses Gemach, das geräumigste der ganzen Wohnung, war angefüllt mit Antiquitäten, Büchern und Landkarten. Die Eindringlinge achteten aller dieser Sachen nicht, ebenso wenig die eiserne Kasse, die in einer Mauernische stand; sie wandten sich vielmehr sofort zum Schreibtische. Dieses Möbel mochte schon manches Menschenalter überdauert haben; es war nach guter alter Sitte aus Eichenholz gefertigt, plump in der Form und von ungeheuerlichen Dimensionen, keineswegs jedoch kunstlos. Das sollten die Beiden erfahren, als sie sich nun daran machten, mit den Dietrichen die Schubladen des Tisches aufzusperren. Es gab da viele geheime Fächer, zu denen die Federn sich nur mit schwerer Mühe auffinden ließen und andere Überraschungen. Die Männer besaßen jedoch große Übung in dem Aufsperren solcher alter Möbel; denn sie operirten mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und Geschicklichkeit. Gierig durchwühlten sie die zahlreichen Dokumente und Briefe, fanden jedoch nicht dasjenige, welches sie hier vermuthet haben mochten; denn ihre Mienen wurden um so düsterer, je länger sie suchten. Endlich hatten sie alle Papiere ohne Erfolg durchstöbert. 32
»Nicht eine Silbe von der Geschichte ist da,« murrte der Eine. »Sollte der alte Sünder wirklich alle Dokumente vernichtet haben?« »Höchst wahrscheinlich. Was wird ›Er‹ dazu sagen?» Der Andere zuckte die Achseln. »Das kannst Du Dir wohl denken,« meinte er dann. »Da ›Er‹ so große Hoffnung auf diese Unternehmung gelegt hat, muß ihn die Unergiebigkeit derselben bitter verdrießen. Doch was läßt sich da thun? Du hast doch das Testament?« »Welche Frage?« »Nun, so nimm es vor und lege es hier in das große Mittelfach, wo der Baron die noch nicht ganz erledigten Schriftstücke aufzubewahren pflegte.« Der Andere zog einen zusammengefalteten Bogen aus der Brusttasche, warf noch einen Blick in denselben und legte ihn dann an den bezeichneten Ort. »Nun wollen wir zusperren und machen, das wir fortkommen.« »Warte noch ein wenig. Mich ärgert es gewaltig, daß wir mit ganz leeren Händen abziehen sollen. Vielleicht haben wir ein geheimes Fach übersehen.« »Glaub’s nicht. Indeß, wir können ja nochmals nachschauen.« Das thaten sie auch sofort mit großer Aufmerksamkeit. Ihre Anstrengungen wurden belohnt; denn sie entdeckten wirklich noch ein Fach, welches außerordentlich gut versteckt und ihnen deßhalb entgangen war. Auch die Feder war vortrefflich verborgen und für Personen, welche 33
mit den Mysterien solcher Möbel nicht Bescheid wissen, unauffindbar. Sie befand sich nämlich an der Außenwand des Tisches unter einer Rosette, die gleich zahlreichen anderen Rosetten einzig und allein zur Verzierung des Möbels dazusein schien. Man mußte sie mehrere Male drehen, worauf unter einem ihrer Blätter der Knopf der Feder sichtbar wurde. Die besonders sorgfältige Verbergung des Faches und der Feder hatte die Erwartung der Beiden im höchsten Grade angespannt. Um so unangenehmer war ihre Enttäuschung, als sie nach der Öffnung des Faches in demselben nichts weiter vorfanden, als einen schmalen Streifen vergilbten, unbeschriebenen Papieres. Einen halbunterdrückten Fluch ausstoßend, wollte der Eine diese nichtige Beute eben fortschleudern und das Fach zusperren, als sein bedächtigerer Kollege ihn zurückhielt. »Mit dem Streifen muß es eine absonderliche Bewandtniß haben,« flüsterte er. »Du wirst mir zugeben, daß man einen werthlosen Papierstreifen nicht so ängstlich im geheimsten Fach des Schreibtisches aufbewahren wird.« »Es wird zufällig hineingekommen sein.« »Das glaube ich nicht. Nach meiner Ansicht enthält er eine wichtige Notiz.« »Du siehst doch aber, daß er unbeschrieben ist.« »Hast Du noch nie von chemischer Tinte gehört –« »Die unsichtbar wird –« »Und nach beliebiger Zeit wieder zum Vorschein gebracht werden kann?« »Blitz, Du könntest Recht haben.« 34
»Ich bin überzeugt davon, daß wir an dem Streifen einen guten Fang gemacht haben. Der Baron wird, vielleicht vor vielen Jahren, eine Aufzeichnung darauf gemacht haben, die ihm und vielleicht auch dem »Herrn« von großer Wichtigkeit ist.« Er steckte den Streifen in die Tasche. Die Fächer und Schubladen wurden nun zugeschlossen und fünf Minuten später hatten die Geheimnißvollen das Haus verlassen, ohne daß ein menschliches Auge ihre Anwesenheit und heimliche Thätigkeit in demselben wahrgenommen hätte.
Dritte+ Kapitel. Der Gaunerkönig.
W
enige Schritte vom Donau-Kanal, nur durch eine schmale Straße von demselben getrennt, steht ein altes, verwittertes weitläufiges Gebäude. Es hatte vor Decennien als Kloster, dann als Magazin gedient und war endlich einem Manne, Namens Schwendfeger, vermiethet worden, Schwendfeger nahm einige Einwohner, deren Ruf nicht der beste war, in das Haus und errichtete im Erdgeschoß desselben eine Wirthschaft, welche von Schiffern, Holzschiebern, namentlich jedoch von verdächtigem Gesindel stark frequentirt wurde. Einen gleichen Charakter hatten jene Personen, die in den »Fremdenzimmern« des Gasthauses zu logieren pflegten. Obgleich mithin weder die Bewohner noch die zeitwei35
ligen Gäste des »schwarzen Hahn« – diese Bezeichnung führte das Gasthaus – eines guten Leumund sich erfreuten, unterhielt »Vater« Schwendfeger trotzdem die freundschaftlichsten Beziehungen mit der Polizei. Man munkelte sogar davon, daß er in deren Solde stehe, und Thatsache ist, daß die Polizei nur mit seiner Vermittelung mehrerer der gefährlichsten Gauner hatte habhaft werden können. Dessenungeachtet behielt sie das Gasthaus und dessen Wirth unausgesetzt scharf im Auge; ja es ereignete sich häufig genug der Fall, daß sie den »schwarzen Hahn« vom Keller bis zum Giebel durchsuchte, ohne indeß jemals etwas Verdächtiges aufzuspüren. Und doch war das alte Gebäude notorisch der Schlupfwinkel gar schlimmen Gesindels, und es sollten Dinge darin geschehen, die nie an das Licht kommen durften. Auch hatte man den Vater Schwendfeger im Verdachte, schwungvoll das einträgliche Geschäfte der Hehlerei zu betreiben; aber es ließen sich, wie erwähnt, keine ihn blosstellenden Indicien auftreiben. Es muß hier gleich erwähnt werden, daß nicht etwa die Nachlässigkeit oder Ungeschicklichkeit der Polizei ihre Mißerfolge bei den vielfachen Haussuchungen verschuldete, vielmehr war es die complicirte Beschaffenheit der inneren Räumlichkeiten, welche diese ungünstigen Erfolge herbeiführte. Es befanden sich da zahlreiche Treppen, Gänge und Corridore, kreuz und quer, auf und ab, die in zahlreichen Schlangenwindungen durcheinander liefen und häufig mit scheinbarer Zwecklosigkeit an einer kahlen Mauerfläche endigten. Die Polizei kroch nun allerdings diese Treppen und Corridore gewissenhaft auf und ab, guckte in die 36
Zimmer, Keller und Bodenkammern hinein, indeß konnte und durfte sie doch nicht die Wände durchbrechen, um sich zu vergewissern, daß nicht geheime Lokalitäten hinter denselben verborgen seien. Und das sollte, wie es allgemein hieß, der Fall sein. Nur ein Mittel gab es, das mysteriöse Innere des Gebäudes gründlich kennen zu lernen; man mußte es den Eigenthümern, einem auswärtigen Kloster, abkaufen und gänzlich demoliren. In einer unfreundlichen, finsteren Nacht schlich eine vermummte, weibliche Gestalt an dem Gebäude auf und nieder. Hundert Mal blieb sie vor der Thür, welche in die Gastzimmer führte, stehen; da jedoch innen dichte Finsterniß und tiefe Stille obwaltete, so wagte sie nicht anzuklopfen sondern ging zögernd wieder fort, um in der nächsten Minute abermals vor der Thüre still zu stehen. Endlich schien sie einen Entschluß gefaßt zu haben; denn sie trat schnurstracks auf die Thür zu und pochte, erst schüchtern und dann immer lauter. In dem weiten Hause rührte sich nichts. »Man wird mir nicht öffnen,« rief sie halblaut im angstvollen Tone. »O mein Gott, wenn er nicht rechtzeitig gewarnt wird, ist er vielleicht schon morgen verloren.« Und kräftiger denn zuvor pochte sie, daß es laut im Hause wiederhallte. Dann legte sie das Ohr gegen die Thür und lauschte angestrengt, plötzlich jedoch fuhr sie tödtlich erschrocken empor; denn durch ein oberhalb der Thür befindliches Guckloch fragte eine rauhe, tiefe Stimme: »Was wollt Ihr?« 37
Das Mädchen war so erschrocken, daß es einiger Zeit bedurfte, ehe es sich so weit erholt hatte, um mit bebender Stimme zu fragen: »Ist der Herr hier?« »Welcher Herr?» brummte die Stimme oben. Fortse~ung folgt.
38
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. Ë
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n .
E
he das Mädchen zu antworten vermochte, flog die Thür, wie von unsichtbarer Gewalt aufgerissen, auf, und in der Öffnung erschien ein Mann von wahrhaft riesigen Körperverhältnissen. Die Züge seines Gesichts konnte man nicht ersehen, da die wenigen Gaslaternen, welche in diesem abgelegenen Stadttheile brennen, nur ein schwaches Zwielicht verbreiten. Dieser Riese, welcher in eine Tuchjacke und schmierige Wollenhosen gekleidet war und nach Art der Wiener Gastwirthe niederer Kategorie eine blaue Schürze trug, war Schwendfeger in eigener Person. »Welchen Herrn sucht Ihr? « fragte er mit gedämpfter Stimme. , Ich kenne seinen Namen nicht, « erwiderte das Mädchen schüchtern. Alle, die mit ihm zu thun hatten, nannten ihn nur den › Herrn ‹.« 39
»Hm, hm, das ist eine sehr unbestimmte Bezeichnung,« brummte Schwendfeger und setzte dann ganz leise hinzu, »Wenn nun jedoch derjenige, nach dem Ihr begehrt, sich hier befände, müßtet Ihr ihn selbst sprechen?« »Nein, nein, es handelt sich nur darum, daß ihm ein Brief sicher zugestellt wird.« »Nun, das ließe sich ja wohl bewerkstelligen Kennt Ihr mich?« »Ja, Sie sind der Herr Schwendfeger.« »So ist es. Würdet Ihr mir den Brief anvertrauen?« »Ihnen? O gewiß.« Sie holte hastig ein zusammengefaltetes und versiegeltes Schreiben hervor und gab es ihm. »Geben Sie es ihm so bald wie möglich,« bat. sie, »es enthält eine sehr wichtige Nachricht.« Ehe Schwendfeger, der nicht übel Lust zu haben schien, die Botin gründlich auszuforschen, noch eine weitere Frage an sie richten konnte, war sie im Dunkel der Nacht verschwunden. So schnell ihre Füße sie tragen wollten, eilte sie dahin, um nur so bald als thunlich aus der unheimlichen Gegend zu kommen. Plötzlich blieb sie lauschend stehen und huschte dann nach einem Mauervorsprunge, in dessen dichten Schatten sie sich barg. Bald darauf ließ sich der kräftige Gang eines Mannes vernehmen, und eine Minute später schritt eine hochgewachsene, ganz in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt an dem Verstecke des Mädchens vorbei. »Das ist er,« flüsterte sie unwillkürlich vor sich hin. »Ob ich es wage, ihn anzureden? Vielleicht unterschlägt der 40
Wirth den Brief oder er traut der schriftlichen Warnung nicht. Wenn ich ihm dagegen erkläre –« Sie brach das Selbstgespräch ab und eilte dem Manne nach. Dieser, der sehr schnell ging, hatte indeß einen bedeutenden Vorsprung gewonnen. Um ihn einzuholen, begann sie zu laufen, und schon war sie ihm bis auf etwa hundert Schritt nahe gekommen, als er unfern des »schwarzen Hahnes« in ein Nebengäßchen einbog. Dieses war auf einer Seite von einer Front des Gasthauses begrenzt, welche weder ein Fenster, noch eine Thür, noch eine sonstige sichtbare Öffnung hatte. Als das Mädchen bis an die Ecke gekommen und gerade im Begriff war, den Vorangehenden durch Rufen auf sich aufmerksam zu machen, zwang ein wunderbares Schauspiel sie zum Stehenbleiben und Schweigen. Kaum dreißig Schritte von sich entfernt, sah sie die dunklen Umrisse des Mannes; sie sah, wie er noch eine kurze Strecke, vorwärts eilte und dann – in die Mauer hineinging. Sie traute ihren Augen nicht; was sich so eben vor Ihren Blicken zugetragen hatte, mußte allerdings im ersten Augenblicke so frappirend wirken, daß man sich geneigt fand, an Hexerei und geheimnißvolles Walten überirdischer Kräfte zu glauben. So ging es dem Mädchen auch; sehr bald hatte sie sich indeß so weit gefaßt, um eine plausible Erklärung des vermeintlichen Wunders zu finden, nämlich diejenige, daß in der Mauer ein geheimer Eingang vorhanden sein müsse. So eilig sie es vorher gehabt hatte, aus dem verrufenen Bezirk zu gelangen, so wenig schien ihr jetzt daran zu lie41
gen. Die mächtig erregte Neugierde mußte erst befriedigt werden. Sie schritt deßhalb langsam an der Mauer des Hauses hin bis zu jener Stelle, in deren Nähe der Mann verschwunden war. So fest sie ihre Augen aber auch anstrengte, erspähte sie doch nicht den kleinsten Riß. Hier wie überall starrten mächtige Granitblöcke, das Fundament des Gebäudes, ihr entgegen. Vater Schwendfeger hatte inzwischen sich in das Innere seines Hauses zurückzogen. Er schritt trotz der undurchdringlichen Dunkelheit rasch einen schmalen Gang entlang, stieg eine Treppe abwärts, eine andere wieder empor, bog in einen Quergang ein und erreichte am Ende desselben eine Thür, die in ein spärlich erhelltes, großes Zimmer führte. Es war des Gastwirths Komptoir, wie man wenigstens aus dem ungeheuren, massiven Stehpulte, welches fast die Hälfte der einen Wand einnahm, schließen konnte. Über demselben, von einer Glaskugel beschirmt, brannte eine winzige Gasflamme, neben dem Pulte befand sich der Gasmesser und der Haupthahn, durch dessen Schließung sämmtliche Gasflammen im »Schwarzen Hahn« ausgelöscht wurden. Vater Schwendfeger begab sich dicht an das Pult, nahm dort den Brief vor und betrachtete dessen Aufschrift. Sie lautete: »Für den Herrn.« »Möchte wohl den Inhalt des Briefes kennen,« murmelte Schwendfeger. »Eine gute Nachricht enthält er sicher nicht; die Dirne währe dann nicht so ängstlich gewesen.« Er schob das Schreiben wieder unter die Schürze und ging in das Gastzimmer. – Das gewöhnliche Gastzimmer 42
des »Schwarzen Hahn«, welches während der Tageszeit bis zur Polizeistunde benutzt wurde, lag unmittelbar an der Straße; ein kleineres Gastzimmer, welches stets die ganze Nacht hindurch geöffnet blieb, befand sich weitab von der Gasse an einem kleinen Hofe des weitläufigen Gebäudes. Drang die Polizei Nachts in das Haus,, dann bedurfte sie so lange Zeit, um bis zu dem rückwärtigen Gastzimmer zu gelangen, daß die nächtlichen Gäste des »schwarzen Hahn« Zeit genug hatten, sich nach den Schlafstätten zurückzuziehen oder spurlos zu verschwinden, wenn sie ein Zusammentreffen mit der Polizei zu fürchten hatten. In dieser Nacht befanden sich nur zwei Gäste im Schankzimmer, listig und verwegen aussehende junge Männer in schäbiger Kleidung. Jeder von ihnen hatte ein großes, zur Hälfte mit Punsch angefülltes, Glas vor sich stehen. Sie sprachen dem beliebten Getränk indeß nicht eifrig zu und schienen überhaupt übler Laune zu sein. »Die Geschichte wird mir jetzt bereits langweilig,« murrte der Größere der Beiden, »Glaubst Du wirklich, daß er noch kommen wird, Randolf?« »Darauf kannst Du Dich sicher verlassen, Brunge.« »Nun, dann wünsche ich lebhaft, daß es bald geschähe. Es ist unausstehlich einsam hier. Ist das stets der Fall?« »Bewahre, es geht oft recht lustig her. Gar zu laut darf freilich Niemand werden.« »Wegen der Polizei?« »Freilich.« »Kann diese denn zu jeder beliebigen Zeit eindringen?« 43
»Ja, das Kommissariat hat Schlüssel zu sämmtlichen Thüren des ›schwarzen Hahn‹, das heißt,« fügte er flüsternd hinzu »zu den sichtbaren Thüren.« »Nun,« lachte Brunge, »unsichtbare kann es doch nicht geben.« »Das wohl nicht, aber unauffindbare.« »Ah bah.« »Ungläubiger Thomas. Was wirst Du nun sagen, wenn ich Dir versichere, daß ich selbst während einer Hausdurchsuchung mit fünf anderen in einem geheimen Verstecke war, bis zu welchem auch nicht das mindeste Geräusch drang.« »Das wäre; erzähle doch.« Randolf sah sich scheu um. Brunge lachte. »Bist Du so ängstlich?« »In diesem Hause haben die Wände Ohren.« »Du übertreibst.« Randolf zuckte die Achseln. »Nun erzähle aber,« drängte Brunge. »Es sind einige Wochen her, als ich mich mit der Bewilligung des Directors an einem Diebstahle nebst noch fünf Anderen betheiligte. Ich wußte, daß der Director in der darauf folgenden Nacht eine Visitation des »schwarzen Hahnes« würde vornehmen lassen, damit ich Gelegenheit gewönne, wenigstens einen Schlupfwinkel dieses Nestes kennen zu lernen. Ich hatte nämlich bereits wiederholt die Wahrnehmung gemacht, daß bei der Ankunft der Polizei Schwendfeger alle Jene, die sich compromittirt hatten, an einen verborgenen Ort führte.« 44
»Es werden jedoch aber zuweilen berüchtigte Gauner hier verhaftet,« fiel Brunge dem Andern in die Rede. »Ja, ja, Du hast Recht; ich vergaß zu bemerken, daß der Wirth nur diejenigen verbarg, welche zu den »schwarzen Brüdern« gehören; die übrigen überläßt er der Polizei. Wie Du Dir denken kannst, befand ich mich an jenem Abende in großer Aufregung. Ich bildete mir ein, Jeder müsse mir ansehen, daß ich ein Detektive sei, und dann war mein letztes Stündlein nicht ferne.« »O, o,« staunte Brunge. »Die Statuten, welche Jeden, der unter die »Schwarzen Brüder« aufgenommen wird, bekannt gemacht werden, bedrohen den Verrath mit dem Tode.« »Wenn man so dumm ist, sich zu verrathen, verdient man kaum etwas besseres.« »O man kann sehr schlau zu Werke gehen und ist doch nie vor Entdeckung sicher. Er weiß alles; er ist ein wahrer Satan.« »Er? – Wer?« »Nun, der ›Herr‹.« »Ja so; ich dachte nicht an ihn. Übrigens traust Du ihm zu viel zu. Du gehörst nun doch schon seit Wochen zu seiner Bande und bist noch nicht entdeckte.« »Wer steht mir gut dafür? Kann ich wissen, ob ihm mein Beruf und meine Absichten nicht längst bekannt sind und ob er mich nur deßhalb noch duldet, um mich zu irgend einem ihm dienlichen Zwecke zu gebrauchen nnd dann der Vernichtung preiszugeben. Oft genug verwünsche ich den Augenblick, wo ich mich durch das Versprechen des 45
Directors, mich zum Kommissar zu befördern, wenn ich die »schwarzen Brüder« der Polizei in die Hände liefere, zum Eintritt in die Bande habe verleiten lassen.« »Nein, Du kannst ja jeden Augenblick Dich lösen.« »Wenn Er mich des Eides nicht entbindet, bleibe ich an die Bande gekettet und deren Gesetzen unterworfen.« »Laß Dich nicht auslachen. Es ist zu absurd, daß die ,»Gesetze« einer Gaunerbande irgend einem Menschen sollen Respekt einflößen können. Ich dächte, die Polizei wäre mächtig genug, Dich vor der Rache des Gesindels zu schützen.« »Ich fürchte das Gegentheil. Er besitzt eine an das Wunderbare grenzende Macht und hat mehr denn einmal Beweise davon geliefert. – Doch wir sind von unserem ursprünglichen Thema ganz abgekommen, laß mich zunächst meine Erzählung beendigen. – Schwendfeger, welcher selbstverständlich von allen Unternehmungen der Bande genau unterrichtet ist und die daran theilnehmenden Personen kennt, hatte an jenem Abend uns Sechsen den Wink gegeben, daß, wenn die Polizei sich etwa einfinden sollte, wir in das Nebenzimmer, das Sogenannte Comptoir gehen möchten. Es waren viele Leute damals hier anwesend, und es herrschte geräuschvolle Fröhlichkeit. Plötzlich kam Schwendfeger hereingerannt und schrie: »Die Polizei!« Daraufhin wurde Alles todtenstill. Die alte Magd des Wirthes kam mit einer Laterne und führte die Gäste fort in die Schlafstuben, während wir Sechs in das Comptoir eilten. Schwendfeger kam sehr bald zu uns. 46
»Gebt einander die Hände,« gebot er; dann drehte er den Haupthahn ab, so daß es stockdunkel um uns wurde. »Hatte er keine Laterne?« fragte Brunge. »Nein. Diese Maßregel beweist mir, daß die geheimen Lokalitäten Allen verborgen bleiben sollen. Ich glaube, daß außer dem »Herrn«, seinem Vertrauten, dem Walther und dem Wirthe kein einziger von den »schwarzen Brüdern« die Schlupfwinkel auffinden kann. – Nachdem der Haupthahn gesperrt war, reichte Schwendfeger Einem von uns die Hand, und dann tappten wir durch lange Gänge, Trepp auf, Trepp ab, endlich ging’s mächtig tief hinunter, jedoch in die Keller, und nachdem wir auch dort noch kreuz und quer gegangen waren, blieb Schwendfeger endlich stehen. »Jetzt müßt Ihr allein weiter,‘ sagte er. »Ihr habt nur noch einen kurzen Gang zurückzulegen, dann kommt Ihr in ein Zimmer, wo Ihr bleiben müßt, bis ich Euch abhole. Ich muß zurück, um die Spürnasen zu empfangen.« Wir tappten uns den Gang entlang und fanden endlich in ein hellerleuchtetes, großes Zimmer, in welchem sich ein plumper Tisch, zwölf Stühle um demselben, zwölf Strohsäcke und wollene Decken befanden. Mehrere Weinkrüge voll Wasser standen auf Mauervorsprüngen, und auf dem Tisch lagen einige Brote, Butter, Käse und ein Faß mit Bier. Als wir uns das Gemach näher betrachteten, bemerkten wir, daß dessen Wände aus großen, unbehauenen Felsblöcken bestanden und daß die Öffnung, durch welche wir eingetreten, gleichfalls geschlossen war. Du kannst Dir leicht unser Erstaunen vorstellen. Der Verschluß war so vorzüglich, daß wir ihn nicht aufzufinden 47
vermochten und schließlich selbst nicht mehr wußten, wo die Stelle des Eingangs sich eigentlich befand.« »Und wie kamt Ihr wieder heraus?« »Schwendfeger holte uns.« In diesem Momente ertönte der scharfe, helle Klang einer Glocke durch die Stille. Randolf fuhr unwillkürlich zusammen. »Das ist Er,« flüsterte er seinem Kollegen zu. »Der Herr?« Randolf nickte; dann wisperte er kaum verständlich: »Sollte er Dich vor sich lassen, dann nimm Dich zusammen, Brunge. Glaube mir, er hat einen wunderbar scharfen Blick, und wenn er hinter unsere Schliche kommt, würde es uns schlimm genug ergehen. Es ist schon Mancher spurlos verschwunden, den man zuletzt in dieses Haus hat gehen sehen.« Im ersten Stockwerk des »schwarzen Hahns«, jedenfalls nach einem Hofe hinaus, lagen fünf hohe, freundliche, hübsch möblirte Zimmer, die Prunkgemächer des »schwarzen Hahnes«. Obgleich Vater Schwendfeger oft erklärte, daß diese Stuben für vornehme Gäste reservirt blieben, hatte doch noch keines Sterblichen Auge jemals einen Gast in ihnen erblickt. Die Thüren der Zimmer blieben Jahr aus, Jahr ein verschlossen, die Fenster verhängt; nur während einiger Nachtstunden regte sich hier einiges Leben. So auch in dieser Nacht. Im ersten Zimmer saß gemächlich in einem hohen gepolsterten Lehnstuhle ein grauköpfiger, mittelgroßer Mann, welcher eine elegante schwarze Kleidung trug. Sein 48
feistes Gesicht, welches augenblicklich den Ausdruck der Langeweile aufwies, war in der Regel in salbungsvolle Falten gezogen, wie das ganze Wesen des Mannes von scheinbarer Gottesfürchtigkeit, christlicher Nächstenliebe und Demuth triefte. Hinter dieser Maske war, wie der unendlich tückische Ausdruck der Augen verrieth, ein Charakter verborgen, der im schroffsten Gegensatze zu dem fingirten heiligen Wesen stand. In der That war dieser Mann Einer der herzlosesten Schurken und gefährlichsten Gauner Wiens. Er hieß Scharnbock und war Inhaber einer jener concessionirten Marteranstalten und privilegirten Mörderhöhlen, welche den schönklingenden Titel »Kinderbewahr- oder Kindererziehungsanstalt« führen. Selbstverständlich ist indeß nur von jenen »privaten« Anstalten die Rede, in welchen uneheliche Kinder wohlhabender »Verirrter« Aufnahme finden. Scharnbocks Anstalt befand sich in Zwischenbrücken und genoß den Ruf, daß in ihr jene Kinder, welche den Eltern ungelegen sind, am schnellsten und zweckmäßigsten in das bessere Jenseits spedirt werden. Wir werden später, wenn wir der Scharnbock’schen Anstalt einen Besuch abstatten, uns überzeugen, ob dieser Ruf wohl begründet ist. Im zweiten Zimmer treffen wir zwei liebe Bekannte, die Mörder des Barons Szapary. Sie sahen vergnügt darein; augenscheinlich erwarteten sie eine angemessene Belohnung für ihr Heldenstück. Kurz bevor die Glocke die Ankunft des »Herrn« signalisirte, gesellte sich ein junger Mann, dessen geistvolles Antlitz bleich und traurig war, zu ihnen. Er trug eine kleine 49
schwarze Mappe in der Hand und schien von tödtlicher Ungeduld gepeinigt zu werden. Im dritten Zimmer saßen fünf Männer in eifriger, mit leisen Stimmen geführter Unterhaltung beisammen. Sie bildeten gewissermaßen den »hohen Rath« der Gaunerrepublik. Jeder von ihnen stand an der Spitze einer Abteilung, die auf einem Gebiete der Gaunersphäre operirte. Er hatte nach eingeholten Instruktionen vom »Herrn« die Unternehmungen seiner Abtheilung zu leiten und über den Erfolg Bericht abzustatten. Eine Anzahl von Genies – auch in diesem Berufe giebt es solche – gehörten zu keiner Abtheilung, sondern empfingen ihre Aufträge unmittelbar vom Gebieter. Im vierten Zimmer hielt sich der Vertraute des »Herrn« auf. Es war das ein Mann mit riesigem Körper und höchst intelligentem Gesicht. Ungewöhnlicher Verstand, äußerst genaue Ortskenntniß, aufopferungsfreudige Hingabe an seinen Gebieter befähigten ihn vorzüglich zu diesem Vertrauensposten. Er ging nachdenklich mit auf dem Rücken gekreuzten Händen im Zimmer umher; der dicke Teppich, welcher den ganzen Fußboden bedeckte, machte seine Schritte unhörbar. Dann blieb er stehen und blickte scharf nach der Thür, welche behutsam geöffnet wurde und durch welche Vater Schwendfeger hineinschlüpfte. »Ist der »Herr« schon zu sprechen, Herr Walther?‘ fragte im Flüsterton der Wirth. »Er hat sich noch nicht blicken lassen. Wahrscheinlich wird er mit der Durchsicht der Berichte von auswärts beschäftigt sein. Dabei läßt er sich, wie Sie ja wissen, nicht 50
gern stören. Indeß für Sie wird er sicherlich einige Mimten Zeit haben. Erfordert Ihre Angelegenheit längere Zeit?« »Keineswegs. Ich habe nur einen Brief abzugeben, der wahrscheinlich eine wichtige Nachricht enthält. Eine Frauensperson brachte ihn.« Walther ging in das letzte Zimmer und kehrte nach kaum einer Minute zurück. »Er erwartet Sie,« flüsterte er dem Wirthe zu. Schwendfeger ging alsbald in das letzte Gemach. Dieses war ebenso ausgestattet, wie alle anderen, nur hatte es einen großen, modernen Schreibtisch, welcher in dem Mobiliar der übrigen Zimmer fehlte. In der Nähe eines großen Ofens aus glasirtem Thon befand sich ein Vorhang, der jetzt zur Hälfte zurückgeschlagen war und den Blicken Zutritt zu einer dunklen Kammer gestaltete. Vor dem Schreibtische, auf welchem eine prächtige Moderateurlampe brannte, saß ein Mann, welcher eine schwarze Blouse und schwarze Tuchhosen trug. Er war mit der emsigen Lecture einer ziemlichen Anzahl von Schriftstücken beschäftigt, erhob sich indeß sofort, als der Wirth eintrat und blickte ihm, die linke Hand leicht auf den Tisch gestützt, entgegen. Das Äußere dieses Mannes zu schildern, ist ein schwieriges Unternehmen. Er schien Apollo’s Schönheit und die Kraft des Herkules von der Natur bescheert erhalten zu haben. Der schlanke Körper, dessen einzelne Theile zu einander in wunderbar passenden Proportionen standen, das blühende, von einem prächtigen tiefschwarzen Vollbarte und lockigem schwarzen Haupthaar eingerahmte Antlitz, dem große, hellblaue Augen noch einen 51
besonderen Zauber verliehen, – das Alles zusammen bildete ein Abbild der vollendetsten männlichen Schönheit, wie man sie in solcher Vollkommenheit nur bei äußerst wenigen von der Gottheit bevorzugten Sterblichen antrifft. Vater Schwendfeger verbeugte sich mit einer Art von scheuer Ehrfurcht, welche auffallend war, wenn man gewahrte, daß der »Herr« ihm freundlich zunickte. »Nun, Herr Wirth, was führt Sie zu mir?« Schwendfeger erzählte seine Begegnung mit der Überbringerin des Briefes, den er gleichzeitig überreichte. Da er nicht zum Verweilen aufgefordert wurde, zog er sich zurück, obwohl er gar zu gern gewußt hätte, was in dem Briefe stand. – Erst nachdem er das Zinnner verlassen hatte, erbrach der »Herr« das Siegel. Der Brief enthielt nur wenige Zeilen, von der ungeübten Hand einer Frau hingekritzelt: »Gnädiger Herr! Nehmen Sie sich in Acht. Der Randolf ist ein Spion, ein Detektive und will Sie und Ihre Leute der Polizei in die Hände liefern. Heute Abend hat er noch einen Detektive, namens Brunge, mitgenommen. Diese Beiden sind sehr schlau, und sie werden Ihnen nachspüren, bis es ihnen gelingt, Sie in’s Verderben zu stürzen. Ich bitte Sie inständigst, mir Glauben zu schenken. Wenn ich noch irgend etwas erfahre, was Ihnen gefährlich werden könnte, werde ich es Ihnen schreiben. Jemand, der Ihnen Alles verdankt.« Sinnend blickte der »Herr« vor sich nieder und allmählig verdüsterten sich seine Mienen. 52
»Also auch er wird zum Verräther,« seufzte er dann, »er, den ich aus Noth und Verzweiflung errettete, der ohne meine Hilfe längst im Zuchthause schmachtete oder einen entehrenden Tod gefunden hätte.« Mißmuthig warf er den Brief au[ den Tisch und ging hastig im Gemach umher. Nach geraumer Zeit erst mäßigte sich seine Aufregung. Er ergriff eine auf dem Schreibtische befindliche silberne Klingel und schellte. Sofort eilte Walther herbei und erhielt den Auftrag, den Wirth herbeizurufen. Schwendfeger kam in höchster Eile und von fieberhafter Spannung getrieben. »Ich habe nur eine Auskunft von Ihnen erbitten wollen, Herr Schwendfeger,« redete der »Herr« ihn an. »Nicht wahr, Randolf ist unten?« »Zu dienen.« »Und in seiner Begleitung befindet sich ein Mann, der nicht zu den Unseren gehört?« »Allerdings,« versetzte der Wirth, dessen Verwunderung stetig zunahm. »Soll ich Randolf hinaufschicken?« »Noch nicht, ich werde Ihnen den geeigneten Moment angeben lassen. Ich bitte, ihm nicht zu sagen, daß ich um seine Anwesenheit weiß.« »Unbegreiflich,« murmelte Vater Schwendfeger, als er in die unteren Regionen hinabstieg, »Wie kann er Randolf ’s und des Fremden Anwesenheit wissen? Gesehen hat weder er noch ein Anderer die Beiden. Der Mann flößt mir mehr und mehr Grauen ein; er weiß Alles, ist überall gegenwärtig, besitzt unglaubliche Macht, – es kann wahrhaftig nicht mit rechten Dingen zugehen.« 53
Oben hatte der »Herr« inzwischen eine ernste Unterredung mit seinem Vertrauten. »Walther,« sagte er und ein tiefer Schmerz klang aus seiner Stimme, »Wir haben abermals einen Verräther in unserer Mitte. Deiner bewährten Umsicht überlasse ich seine Überwachung. Du wirst diesmal mit besonderer Vorsicht und List zu Werke gehen müssen, denn der Spion ist klug und kühn.« Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. Ì
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n .
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rotzdem soll er uns nicht schaden, « betheuerte Walther mit zuversichtlicher Ruhe. » Sie können sich auf mich verlassen, Herr.« » Das thue ich auch; ich weiß, daß Deiner Geschicklichkeit, Klugheit und Deiner Freundschaft für mich Alles möglich ist « »Welches ist der Verräther? « » Es ist Randolf.« » Ein gefährlicher Gegner; aber ich werde ihn bändigen, wenn er wirklich böse Absichten hegt.« » Noch Eins, Walther. Du weißt, daß ich mich bis jetzt bemüht habe, die bösartigen Naturen in unserer Bande möglichst im Zaume zu halten. Mord, vorsätzliche Grausamkeit bei der Ausführung einer Unternehmung, Beraubung armer Leute, kurz alle Handlungen, welche nur ein bestialischer Sinn erdenken, ein bestialisches Gemüth ohne 55
Skrupel ausführen kann, habe ich strenger bestraft, als die Justiz es thun würde. Von heute ab soll es anders sein. Man raube, senge, plündere, morde –« »O Herr.« »Kein Wort. Ich will es so. Dies Geschlecht ist nicht werth, daß man es schont. Man tritt das offenbarste Recht mit Füßen, man achtet geheiligte Ansprüche als Nichts; man nennt diejenigen Räuber und behandelt sie als solche, die es wagen, gegen Macht und Reichthum zu Felde zu ziehen, wenn ihnen außer ihrem guten Rechte nicht auch Einfluß und vor Allem der Mammon zur Verfügung steht. Reichthum und Macht dürfen sich Alles erlauben, Alles; vor dem elendesten, ekelhaftesten Schurken zieht man in knechtischer Demuth den Hut, sobald seine Kasse gefüllt ist. Mich widert diese entartete Generation an. Sie verdient keine Schonung, darum Krieg, rücksichtslosen, unerbittlichen Krieg gegen sie. Und damit der Polizei kein Zweifel darüber bleibe, wie verächtlich ihre läppische Spürmethode uns erscheint, soll in Zukunft, so oft von den »schwarzen Brüdern« eine Unternehmung vollführt worden ist, am Thatort ein schwarzer, weißgesteppter Handschuh in übernatürlicher Größe zurückgelassen werden. Lasse derartige Handschuhe in genügender Menge anfertigen, Walther. Und nun schick mir den Scharnbock!« Walther entfernte sich stillschweigend, obgleich er augenscheinlich etwas auf dem Herzen hatte. Er wagte indeß nicht, eine Einwendung zu erheben. »Seine Stimmung ist zu gereizt,« brummte er draußen gleichsam zu seiner Entschuldigung in den Bart; »So böse 56
habe ich ihn noch nicht gesehen. Man erkennt ihn nicht wieder, meinen armen, guten Herrn. Sonst die Güte und Großmuth selbst, will er sich auf einmal zum Hetzer herabwürdigen. Das soll, das darf nicht geschehen. Er hat freilich triftigen Grund, der Gesellschaft zu zürnen; hat sie ihn doch von sich ausgestoßen und hetzt und verfolgt ihn wie ein wildes Thier. Warum aber sollen Viele büßen, was einzelne verschuldet haben ? Wenn wir unserer Rotte den Zügel schießen lassen, dann sei der Himmel den Wienern gnädig. Darum mag es bleiben, wie bisher. Ich will es einmal wagen, seiner Anordnung keine Folge zu leisten. Ich bin überzeugt, daß sie ihn später, wenn seine Aufregung sich gelegt hat, reuen wird; dann scheut er sich vielleicht, dem Gesindel wieder die eiserne Faust kosten zu lassen, oder – es ist dann vielleicht schon zu spät zum Einlenken; die Handschuhe, nun, die werde ich anfertigen lassen; bin doch neugierig, ob die Polizei uns dann nicht – auf die Spur kommt, wenn sie überall unsere Glacehandschuhe findet, – Doch, Blitz und Donner, gehe ich da wie im Traume umher und vergesse ganz und gar den Scharnbock. Verdammte Geschichte!« Er eilte in das erste Zimmer und bugsirte den würdigen Kinderbewahranstaltsinhaber mit Hast in das Zimmer des »Herrn.« »Scharnbock,« redete dieser ihn an, »ich wünsche einen Knaben verschwinden zu lassen.« »Nichts leichter als das.« »Verstehen Sie mich recht, – dem Knaben selbst soll Nichts geschehen, im Gegentheil liegt mir viel daran, daß 57
er am Leben bleibt; er soll jedoch längere Zeit hindurch als todt gelten.« »Das heißt, es soll ein todter Knabe untergeschoben werden.« »Ganz richtig; wird sich das machen lassen?« »Gewiß, wenn wir den Zeitpunkt abwarten, wo wir einen todten Knaben, dessen Gestalt eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen des lebenden aufweist, bekommen können. Wie sieht der Knabe ungefähr aus.« »Er ist zwischen sechs und sieben Jahren, gut gewachsen, hat schwarze Haare und Augen, ein regelmäßiges Gesicht.« »Das genügt mir; ich hoffe, einen solchen Jungen in sehr kurzer Zeit auftreiben zu können.« »Gut; benachrichtigen Sie mich dann sofort, wenn möglich schon einige Tage vorher. Ich werde Ihnen dann die nöthigen Anweisungen geben.« Ein Wink mit der Hand verabschiedete Herrn Scharnbock, der, draußen angekommen, sich vergnügt die Hände rieb und in den Bart murmelte: »Da schaut etwas heraus. Wenn »Er« einen solchen Auftrag ertheilt, bezahlt er königlich.« Der »Herr« ging, wie vorher, hastig auf und nieder. Seine Erregung schien ungewöhnlich heftig. »Ich thue es nur ungern,« murmelte er, »Aber es muß sein. So lange er im Wege steht, so lange wir nicht ein Mittel zur Verfügung haben, durch welches dieses dämonische Weib gebändigt werden kann, ist Alles zu fürchten.« Endlich setzte er sich wieder an den Schreibtisch und nahm 58
eines der Schriftstücke auf, als Walther eintrat: »Der »Doktor« wünscht vorgelassen zu werden,« meldete er. »Der Doktor?« wiederholte der »Herr« mit Lebhaftigkeit. »Er ist mir willkommen. Wie konnte ich ihn nur vergessen?« Der »Doktor,« jener Mann, der dem Baron Szapary in so geschulter Weise das Lebenslicht ausgeblasen hatte, war ein wirklicher Doktor, ein gelehrter und geschickter Arzt, aber ein liederliches Subjekt, welches schon frühzeitig mit dem Strafgesetzbuch in Collision gerathen war. Kurze Zeit nach seiner Etablirung als praktischer Arzt hatte er bei einem todtkranken, wohlhabenden Patienten eine bedeutende Geldsumme wegescamotirt. Leider kam dieser Geniestreich an das Licht und Dr. Stengel, so hieß der Wackere, spazierte in das Zuchthaus. Selbstverständlich war es nun mit der ärztlichen Praxis für ewige Zeiten vorbei, und Dr. Stengel verfiel nun ganz und gar dem Verbrechen. Der »Herr« hatte ihn, wie so manchen Andern, den jugendlicher Leichtsinn auf die schlüpfrige Bahn des Verbrechens geführt hatte, angeworben, und Dr. Stengel war seitdem ein höchst gefährliches, aber auch unter den Gaunern hochangesehenes Mitglied der großen Verbrechergilde geworden. Der »Herr« ging ihm, als er sich in der Thür zeigte, rasch entgegen, schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und rief: »Sie haben Ihre Sache, wie immer, prächtig gemacht, lieber Doktor. Man hat einen Herzschlag als die Todesursache des Baron Szapary angenommen.« 59
»Ich habe es ja vorhergesagt,« frohlockte Stengel. »Und Ihre Prophezeihung ist ausgezeichnet in Erfüllung gegangen.« »Das mußte sie, es war gar nicht anders möglich. Die Symptome der beiden Todesarten sind genau dieselben. Die edlen Theile erhalten durch den Herzschlag ganz dieselbe Gestaltung, wie dadurch, daß man Einem das Lebenslicht ausbläst.« Er lachte cynisch, fand jedoch mit dieser Heiterkeit keinen Anklang bei dem »Herrn«. Dieser begnügte sich, in gleichgiltigem Tone zu fragen: »Wie ist denn die Untersuchung des Schreibtisches ausgefallen?« Stengel zuckte geringschätzig die Achseln.» Wir haben Nichts, was Werth für Sie gehabt hätte, aufgefunden. Dies ist unsere ganze Ausbeute.« Mit diesen Worten warf er den vergilbten Streifen Papier, welcher im geheimsten Fache des Schreibtisches verborgen gewesen war, auf den Tisch. Der Herr nahm ihn auf.– »Ein unbeschriebenes Stück Papier,« rief er befremdet. »Es befand sich im geheimsten Fach des Tisches.« »Das ist freilich ein auffälliger Umstand. – Sollte es mit chemischer Tinte beschrieben sein?« »So glaube ich und deßhalb habe ich es auch mitgenommen.« »Da Sie diese Meinung hegen, so haben Sie gewiß die Ingredienzien, welche die Schrift sichtbar machen, mitgebracht?« Stengel nickte. Der »Herr« gab ihm den Streifen. »Versuchen Sie also Ihre Zauberkunst.« 60
Der Doktor nahm ein Fläschchen, welches mit einer hellgelben Flüssigkeit gefüllt war und einen kleinen Pinsel aus der Tasche. Darauf befeuchtete er zunächst die eine Seite des Streifens und trocknete sie an der heißen Glokke der Lampe, dann die andere. Wenige Minuten später kamen wirklich einige Worte, welche von der Hand des Barons geschrieben waren, zum Vorschein. Sie lauteten: »Hinter dem neunten Pfeiler.« Dr. Stengels Gesicht zog sich bedeutend in die Länge. Er hatte jedoch eine andere Enthüllung erwartet. Unzweifelhaft enthielten auch diese wenigen mysteriösen Worte ein wichtiges Geheimniß; aber wie sollte er dasselbe lösen? In dieser Fassung hatte das Geheimniß nicht den mindesten praktischen Werth für ihn, und er war deßhalb auch entschlossen, keine voraussichtlich fruchtlosen Bemühungen zur Entschleierung desselben auf sich zu laden. Sein Verdruß wurde schnell verscheucht, als er vom »Herrn« eine Belohnung empfing, die selbst seine hoch gespannten Erwartungen übertraf. Das konnte man wenigstens aus seinem Benehmen schließen. Er warf sich fast in den Staub und empfahl sich in der devotesten Weise dem ferneren Wohlwollen seines mächtigen Gebieters. Dann entfernte er sich mit dem unerschütterlichen Vorsatze, noch in dieser Nacht einen erklecklichen Theil der großen Summe zu »Verjubeln.« Weit nachhaltigeren Eindruck als auf Stengel hatte die kurze Notiz auf den »Herrn« gemacht. Er muthmaßte mit Recht, daß der in der Notiz erwähnte Pfeiler sich in einem der Schlösser, welche dem Baron Szapary gehör61
ten, befinden mußte. Diese Schlösser, deren acht auf den ausgedehnten Szapary’schen Besitzungen zerstreut waren, gehörten meistentheils in die Klasse der halbverfallenen Burgen. Verfallen war noch keins und Pfeiler hatte jedes von ihnen in beträchtlicher Anzahl. Es war mithin keine leichte Aufgabe, das richtige herauszufinden. Übrigens blieb es noch zweifelhaft, ob die Entdeckung, welche man nach Aufspürung des richtigen neunten Pfeilers machen würde, die aufgewendete Mühe belohnen würde. Für den alten Baron freilich hatte der Gegenstand, welcher hinter dem neunten Pfeiler verborgen war, zweifellos eine große Wichtigkeit gehabt; das bewies die Anwendung der chemischen Tinte und die sorgfältige Aufbewahrung des Zettels, welcher zweifellos schon lange Jahre in dem geheimen Fach versteckt gewesen war. Nach längerer Überlegung gelangte der »Herr« zu dem Entschlusse, dem Geheimniß jedenfalls nachzuspüren. Vielleicht machte er doch eine Entdeckung, die auch ihm wichtig war. Wann er Muße genug finden würde, das Geheimniß zu ergründen, ließ sich augenblicklich noch gar nicht absehen. Um sich zu gelegener Zeit daran zu erinnern, verwahrte er den Streifen in seiner Brieftasche. Nachdem dies geschehen war, schellte er Walther herbei. »Ist noch Jemand abzufertigen, Walther?« »Die Balmassematten.« * * »Balmassematten« heißen die Vorsteher einer Diebsgenossenschaft, oder, wenn eine Gaunerbande mehrere Abtheilungen umfaßt, die Vorsteher der einzelnen Abtheilungen.
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»O, ich dächte, die könntest Du abfertigen; sie werden ja keine wesentliche Mittheilung zu machen haben.« »Ich bin sehr gern dazu bereit,« versicherte Walther. »Es harrt aber noch eine Person, die Sie wohl selbst empfangen werden, Ferner nämlich.« »Ja, er mag kommen. Ich bin doch neugierig zu erfahren, was ihn schon jetzt zu mir führt. Sollte er das große Werk bereits vollendet haben? Kaum möglich.« Zwei Minuten später betrat der junge Mann mit der Mappe, dem wir bereits im zweiten Zimmer begegnet waren, mit einer tiefen Verbeugung das Gemach. »Nun, lieber Ferner, was haben Sie auf dem Herzen?« rief der »Herr« ihm in sehr freundlichem Tone entgegen. Ferner trat an den Tisch, schloß die Mappe auf und legte sie auf die Skripturen. Dann zog er aus einer ihrer Taschen zwei Tausendpfundnoten, legte sie nebeneinander und antwortete nun endlich: »Ich wollte Sie bitten, mir zu sagen, welche der beiden Banknoten die falsche sei.« »Sie haben das Riesenwerk also wirklich in dieser unglaublich kurzen Zeit zu Stande gebracht?« rief der »Herr« mit aufrichtiger Bewunderung. »Ich hätte das nicht für möglich gehalten.« Darauf verglich er mit genauester Aufmerksamkeit die Banknoten und prüfte später jede einzelne lange Zeit hindurch vermittelst einer Loupe. Endlich erhob er sich wieder. – »Ich vermag keinen Unterschied aufzufinden,« gestand er. »Sie haben ein meisterhaftes Kunstwerk geliefert, Freund.« 63
Ferner lächelte trübe. »Ich wollte Ihnen meine Dankbarkeit beweisen, und dann eiferte mich ja auch die frohe Zuversicht an, durch eine Meisterleistung meine Freiheit wiedererlangen zu können.« »Sie wollen also wirklich wieder ein ehrlicher Mensch werden? Offen gestanden, ich werde Sie nur ungern in unserem Verbande missen. Sind Sie denn so fest entschlossen zur Umkehr? Haben Sie es auch reiflich erwogen, daß Sie, wenn Sie uns verlassen, wieder dem selben Elend anheimfallen, während Sie bei uns binnen wenigen Jahren ein wohlhabender Mann werden können.« »O gnädiger Herr,« rief flehend Ferner, »lassen Sie mich ziehen. Ich bin gesund, ich werde mit übermenschlicher Anstrengung arbeiten, um mich redlich durch die Welt zu bringen. Ich bitte Sie inständigst, halten Sie mich nicht länger; ich kann dieses Leben nicht länger ertragen und würde ihm freiwillig ein Ende machen, wenn Sie mich nicht der ehrlichen Arbeit zurückgeben. Nach Reichthum, durch Unrechtlichkeit erworden, gelüstet mich nicht. Lieber ein ehrlicher Hungerleider als ein reicher –« Er brach plötzlich ab, seine Wangen überzog flammendes Roth. »Als ein reicher Schurke,« beendigte der »Herr« den Satz. »Sie brauchen sich dieser Ansicht nicht zu schämen, denn auch ich theile sie. Ja, lieber, junger Freund, es giebt Stunden in meinem Dasein, und sie stellen sich häufig ein, wo ich keinen heißeren Wunsch empfinde, als denjenigen, mein Leben durch ehrliche Arbeit, sei es auch noch so spärlich, zu fristen. Warum ich trotzdem ein Gauner blei64
be, werden Sie fragen. Lieber Freund, ich könnte Ihnen zur Antwort eine rührende Geschichte erzählen, die Geschichte eines Kindes, welches durch seine nächsten Anverwandten erbarmungslos dem Verbrechen in die Arme getrieben wurde und welches seitdem ein fluchbeladenes Leben führen muß, trotzdem aus dem Kinde längst ein Mann geworden ist, ein Mann, der fähig wäre, den höchsten Idealen der Menschheit nachzustreben und trotzdem im Sumpfe der gemeinsten Nichtswürdigkeiten sich umherwälzen, ein Mann, der für Ehre, Ruhm und Familienglück begeistert ist und dennoch ein namenloser, verruchter, wie ein wildes Thier verfehmter und gehetzter Schurke bleiben muß.« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und einen Moment hindurch herrschte feierliche Stille. Dann brach der räthselhafte Gebieter der Gauner das Schweigen; seine Erregung hatte er so meisterlich niedergekämpft, daß seine Stimme sicher und befehlend wie immer klang. »Sie haben mich einen Augenblick schwach gesehen,« sagte er, »und Sie werden nun vielleicht wähnen, daß ich meine jetzige Situation unerträglich finde, mich vielleicht für einen bejammernswerthen Unglücklichen halte. Dem ist jedoch nicht so. Es gewährt im Gegentheil eine berauschende Empfindung, eine Empfindung des Glücks, wenn auch nicht das Glück selbst, sich im Besitze einer furchtbaren, schrankenlosen Macht zu wissen, Leben und Tod, Glück und Unglück einer ganzen, großen Bevölkerung in seiner Gewalt zu haben und vernichtende Rache an seinen Feinden nehmen zu können. Doch lassen wir das; sprechen wir lieber von Ihrer Angelegenheit. Sie hatten nicht 65
nöthig, nochmals Ihre Entlassung zu erbitten. Sie hatten mein Wort und das ist mir unter allen Umständen heilig. Gehen Sie denn zurück in die Welt der ehrlichen Arbeit und glauben Sie mir, daß ich mit aufrichtiger Theilnahme Ihnen zugethan bleiben werde, so wie es bisher war. Sie werden mich höchst wahrscheinlich für einen Tyrannen gehalten haben, als ich dem schuftigen Wucherer Ihre Wechselfalsificate abkaufte und Ihnen die Wahl frei ließ, entweder in das Zuchthaus zu spazieren oder sich den »schwarzen Brüdern« anzuschließen. Meine scheinbare Grausamkeit entsprang einem wohl durchdachten Plan. Sie waren ein leichtsinniger Jüngling. Sie hatten in der harten Schule des Lebens noch nicht jene Widerstandskraft erworben, welche uns ermöglicht, dem sittlichen Verderben uns zu entziehen. Wären Sie damals so leichten Kaufes davongekommen, dann würden sie unzweifelhaft binnen kurzer Zeit einem ähnlichen leichtfertigen Streiche zum Opfer gefallen sein. Das wollte ich verhindern, indem ich Sie einer strengen Heilmethode unterwarf. Ich zwang Sie, Gauner zu werden. Die Kur war freilich gewagt genug. Waren Sie bereits eine Beute moralischer Verkommenheit gewesen, dann waren Sie nicht mehr zu retten, gleichviel, ob Sie nun meiner Bande angehörten oder Ihren eigenen Weg gingen, Glücklicherweise waren Sie noch unverdorben und meine Heilmethode brachte Ihnen deshalb Segen. Sie empfanden den Fluch, ein Verbrecher, also ein Paria, ein ausgestoßenes Mitglied der menschlichen Gesellschaft, in seiner ganzen Schwere, zu sein, und ich bin überzeugt, daß dieser unüberwindbare Schauder vor dem Verbrechen 66
Sie in Zukunft vor jedem Rückfall schützen wird. – Gehen Sie deßhalb mit Vertrauen und Muth in die Gemeinschaft der ehrlichen Leute zurück; hier sind Ihre Wechsel, – Sie sind frei!« Ferners Bewegung war eine mächtige. Er konnte den Thränen nicht gebieten und fand keine Worte, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Nach einer kurzen Pause ergriff der »Herr« wieder das Wort. »Ich würde mich einer nicht zu entschuldigenden Grausamkeit schuldig machen, wollte ich Sie mittellos den Drangsalen des Daseins preisgeben. Überdies wäre es höchst bedauerlich, wenn Sie im entnervenden Kampfe um die Existenz Ihre Kräfte aufreiben müßten. Sie besitzen ein wunderbares Zeichnertalent und sind von hehrer Begeisterung für die Malerei beseelt. Bisher hat die Armuth Sie verhindert, dem Zuge Ihres Herzens zu folgen. Es ist jedoch hohe Zeit, daß Sie Ihre Studien beginnen, wenn Sie nicht ein Stümper in der edlen Zunft bleiben wollen. Sie müssen zu einem berühmten Meister in die Lehre, müssen dann die Kunstschätze Italiens studiren und mindestens ein Jahr in Rom bleiben. Dazu gehört Geld, viel Geld, soviel, daß Sie es vielleicht im ganzen Leben nicht erschwingen würden oder doch wenigstens erst dann, wenn es zu spät zum Lernen ist. Lassen Sie mich deßhalb die Rolle der Vorsehung spielen. Nehmen Sie die echte Tausendpfundnote. – Doch; nein, deren Besitz könnte Sie compromittiren. Hier,« er zog ein Portefeuille hervor und entnahm eine Anzahl von Banknoten demselben, »sind 10 000 Gulden; sie werden hinreichen, Ihre Studienjahre frei von dem störenden Ein67
flusse der Sorge um die Existenz zu erhalten. Und nun leben Sie wohl! Vielleicht begegnen wir einander später einmal unter glücklicheren Verhältnissen.« Der Jüngling stand einige Sekunden wie erstarrt; dann warf er sich, einer plötzlichen Aufwallung eines edlen Gefühls folgend, dem »Herrn« zu Füßen und rief: »Mein Retter, mein edler Wohlthäter! Ich vermag Ihnen nicht zu danken, wie mein Gefühl mir gebietet; sollte mir aber jemals das Glück beschieden werden, Etwas zu Ihrem GIücke beitragen zu dürfen, dann würde ich mit tausend Freuden Alles, selbst mein Leben für Sie opfern.« Lange noch, nachdem Ferner ihn verlassen hatte, verklärte ein sonniges Lächeln die edlen Züge des »Herrn«. »In diesem wenigstens habe ich mich nicht getäuscht,« flüsterte er; »er wird ein braver Mensch und wenn das Geschick ihm wohl will, ein tüchtiger Künstler werden. Das Zeug dazu hat er. Glücklicher Junge! Ihm bringt die Freiheit die reichsten Wonnen; wenn ich dermaleinst die Ketten abschüttle, gewährt sie mir wohl schwerlich eine andere Gunst als einen freiwilligen Tod. – Nun, Walther, was bringst Du?« »Kolbe läßt fragen, wie viel Tausendpfundnoten er anfertigen soll.« »Ich denke, 200 Stück werden genug sein. Die Platte wird doch so viele Abzüge liefern?« »Ohne Zweifel.« »Wenn es uns gelingt, die sämmtlichen Falsificate unterzubringen, und ich hoffe es, da dieselben täuschend ähnlich sind, dann besitzen wir 2 Millionen in Silber, eine 68
Summe mithin, die uns zu kleinen Nabobs macht; dann, guter Walther, wollen wir uns vom Geschäft zurückziehen und auf unseren Lorbeeren ein behagliches Stillleben führen.« »Der Himmel gebe es, daß uns ein solches Glück zu Theil wird.« »Es kann nicht ausbleiben. Dem Muthigen gehört die Welt. – Doch lassen wir die Träumereien bis zu gelegeneren Zeiten. – Sind die Lithographen unten bei der Arbeit?« »Sie sind fest thätig. Von den Zehnguldennoten sind bereits 5000 Stück fertig und mehr als 2000 anstandslos untergebracht.« »Auch die Rubelscheine finden guten Absatz. Die Berichte unserer Agenten in Berlin, Warschau und Moskau lauten recht günstig. Du kannst die Skripturen gleich mitnehmen.« Walther raffte die Schriftstücke vom Schreibtisch auf. »Und nun schicke den Randolf herauf. Sorge dafür, daß sämmtliche Zimmer leer sind. Vielleicht läßt er sich dann zum Spioniren verleiten. – Ich komme später in die Werkstätten.« Wenige Minuten später erschien Randolf. Er sah frech umher, schlug indeß vor dem scharfen Blick des »Herrn« trotzdem die Augen nieder. »Sie wollten mich sprechen, Randolf?« redete der »Herr« ihn an. »Was wünschen Sie mir mitzutheilen?« »Ich wollte bitten, einen Bekannten von mir unter die Genossenschaft aufzunehmen.« »Hm. Sie wissen, das geht nicht so leicht. Wir müssen, ehe die Aufnahme erfolgen kann, überzeugt sein, daß wir 69
keinen Spion oder Verräther in unsere Geheimnisse einweihen.« »Ich leiste Bürgschaft für ihn,« rief Randolf schnell. Fortse~ung folgt.
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un gut. Ich werde den Balmassematten Ihr Anliegen vortragen, und wenn sie keinen Einspruch erheben, soll mir’ s ebenfalls Recht sein. Holen Sie sich nach fünf Tagen Bescheid von Walther.« Randolf verbeugte sich tief und entfernte sich. Kaum war er aus dem Zimmer, als der » Herr « hinter den Ofen trat. Gleich darauf ließ sich ein kaum hörbares Knistern vernehmen, verstummte indeß bald. Der Detektive verließ die Zimmerreihe nicht. Er ging nur bis zur äußersten Thür und nachdem er sich überzeugt hatte, daß nirgends ein menschliches Wesen vorhanden sei, schlich er sich zurück bis zu dem Vorhang vor dem Zimmer des » Herrn «. Er lüpfte diesen ein wenig und gewahrte, daß auch dieses Zimmer leer war. Vorsichtig trat er in dasselbe und guckte in das Kabinet, hinter den Ofen, sogar unter die Möbel. 71
»Er ist wirklich fort,« murmelte er. »Ich habe stets vermuthet, daß in diesem Zimmer ein geheimer Ausgang sein müßte. Wenn es mir gelänge, diesen zu entdecken, dann würde höchst wahrscheinlich das Innere des ganzen Hauses mit allen seinen Mysterien erforscht werden könnten; denn zweifellos steht dasselbe mit diesem Zimmer in Verbindung. Dann wäre es auch nicht schwer, die ganze Bande zu überraschen und aufzuheben, und mir würden Auszeichnungen aller Art zu Theil.« Er hatte während dieses Selbstgespräches die Lampe vom Tisch genommen und war zunächst in das Kabinet getreten, wo er die Wände beklopfte und aufmerksam betrachtete. Aber nirgends war ein Riß bemerkbar, nirgends erklang ein hohler Ton. Diese eifrigen Untersuchungen erhielten ein jähes Ende. Es klopfte nämlich Jemand dem Spion auf die Schulter. Als Randolf sich umwandte, stand vor ihm – der »Herr«. »Nun, Randolf,« sprach er mit sarkastischem Tone, »gefällt Ihnen die Tünche dieser Wand oder haben Sie der Einrichtung des Kabinets Ihre Bewunderung gezollt.« Randolfs Anblick bot ein wahres Jammerbild. Der unglückliche Spion glaubte wahrscheinlich, sein letztes Stündlein habe geschlagen, denn es schien fast, als ob jeder Blutstropfen aus seinem Körper gewichen sei. Der »Herr« betrachtete den armen Sünder mit durchdringenden Blikken; dann sagte er langsam und mit großem Nachdruck: »Ich will Ihnen einen guten Rath geben, Randolf, bei dessen Beachtung Sie sich wohl befinden werden. Untersuchen Sie nie wieder, ob die Mauern dieses Hauses hohle 72
Stellen bergen. Diese Wände sind sehr empfindlich und es könnte sich ereignen, daß sich plötzlich eine aufthäte und Sie in einen Abgrund stürzten, aus welchem Sie nie wieder an das Tageslicht kämen. Merken Sie sich das genau und nun gehen Sie.« Randolf war kaum im Stande, sich fortzuschleppen. Die Knie drohten ihm den Dienst zu versagen, und sein Herz schlug so schwach, als ob es im nächsten Augenblicke stille stehen wolle. Der Vorwitzige wähnte immer noch, daß in den dunklen Gängen urplötzlich eine Eisenfaust ihn ergreifen und fortschleppen würde – zum Tode. Erst als er den Ausgang erreicht hatte und auf die Straße getreten war, athmete er auf, fühlte sich aber selbst hier so wenig sicher, daß er im schnellsten Laufe davonrannte und nicht eher rastete, als bis er in den belebten Rayon der inneren Stadt angelangt war. Seinen Genossen Brunge hatte er ganz und gar vergessen.
Vierte+ Kapitel Ein Trauerspiel.
M
itten im ewig grünen Kiefernwalde, der sich meilenweit über die schönen, Wien benachbarten Ausläufer der steyrischen Alpen hinzieht, liegt, weitab von jeder menschlichen Wohnstätte, das Forsthaus Seeburg. 73
Es ist ein gar einsames Plätzchen, und Jeder, der die Welt kennt mit ihren Riesenbergen und mächtigen Strömen, mit allen ihren wunderbaren Natur- und Kunstschöpfungen, würde zweifellos hinzusetzen: auch ein recht trübseliges Plätzchen; denn das Haus ist unscheinbar und beschränkt und eng der Kreis, den es umgiebt. Ein kleiner, schilfbewachsener See oder besser Teich, eine hübsche, frische Wiese, deren saftiggrünes Kleid mit gelben, rothen und blauen Blümlein gestickt ist, einige Kartoffel- und Gemüsebeete, ein bescheidenes Gärtchen und rings herum, gleich einer undurchdringlichen Mauer, der hohe, düstere Wald, das sind alle die Örtlichkeiten, die Seebnrg aufweist. Und dabei liegt der Ort so abgeschieden von jeder menschlichen Ansiedlung, daß kaum einige Mal im Jahre eine Menschenseele außer den Holzfällern in der Gegend sich blicken läßt. Trotzdem fühlten die drei an diese Waldeinsamkeit gebannten Menschenkinder sich nicht unglücklich. Bedarf das Glück Zeugen? – Gewiß nicht. Es wird stets dort am Herrlichsten aufblühen und gedeihen, wo nichts vorhanden ist, was einen störenden Einfluß auf seine Entfaltung ausüben kann. Und glücklich, recht von Herzen glücklich waren der Förster Kauer, sein Töchterlein Katharine und sein Gehilfe Bruno. Der alte Waidmann lebte nun seit zwanzig Jahren in seiner stillen Klause. Ihm gelüstete auch gar nicht danach, sie jemals zu verlassen. Seit er sein treues Weib draußen in den Kirchhof des Kirchdorfes gebettet hatte, war ihm die Welt 74
verleidet worden. Er hing mit ihr nur noch durch seinen Sohn zusammen, einen prächtigen, blühenden Jüngling, der ein außergewöhnliches Talent für Malerei und Lithographie bekundete und auf der Akademie der bildenden Künste in Wien seinen Studien oblag. Ihm war aller Stolz, alle Hoffnungszuversicht des Vaters zugewandt, aber nicht auch alle Liebe. War doch Kauers holdseliges Töchterlein, sein sanftes, träumerisches Käthchen, seiner Zärtlichkeit nicht minder werth als der reichbegabte Sohn. Ja sie verdiente die ungeschmälerte, hingebendste Innigkeit, welche Vater und Bruder ihr zeigten; denn durch ihre Aufopferung war der Letztere vor einem grausen Geschick bewahrt worden, während sie selbst schwerem Unheil anheimgefallen war. Vor Jahren nämlich hatte die Förstersfamilie Sonntags zuweilen einen Ausflug nach dem Kirchdorfe gemacht, um dem Gottesdienste anzuwohnen und den Rest des Tages bei Bekannten zuzubringen. Bei einem solchen Anlasse geschah es, daß die beiden Kinder, welche sich auf einer Wiese umhertummelten, von einem Stiere angefallen wurden. Der Knabe wurde zunächst von dem wüthenden Thiere verfolgt und war nahe daran, aufgespießt zu werden, als die ein Jahr jüngere Schwerer sich laut schreiend zwischen ihn und den Stier warf. Das wüthende Thier war blindlings vorwärts gestürzt, hatte die muthige Kleine auf die Hörner genommen, in die Luft geschleudert und würde sie jedenfalls zertreten haben, wenn nicht noch zur rechten Zeit einige Männer ihm sein Opfer abgejagt hätten. 75
Das arme Kind rang wochenlang mit dem Tode; endlich jedoch siegte die Jugendkraft; es erholte sich langsam, und nach Jahresfrist war kaum noch eine Spur der schweren Verletzungen, die es davongetragen, zu bemerken. Aber die Genesung war dessenungeachtet unvollständig; denn Käthchen – blieb stumm. Der furchtbare Schreck hatte es der Sprache beraubt, und alle Kunst der Ärzte vermochte dieselbe nicht wieder hervorzuzaubern. Die unglücklichen Eltern mußten sich mit der Hoffnung begnügen, daß vielleicht später ein abermaliger Schreckensvorfall das verlorene Gut zurückbringen werde. So hart dieser Unfall war, hatte er Käthchen doch nicht unduldsam, verbissen gemacht; nein, sie war zufrieden, heiter und deßhalb glücklich geblieben. Und der entzükkenden Schönheit der Seele entsprachen die herrlichen Reize des Körpers. Die holde Jungfrau glich einer zarten Moosrose, die, von Himmelsthau und Sonnenschein geküßt, wunderbar aufblüht und köstlich prangt in unvergleichlichem Schmelz und Glanz. »Grüß Dich Gott, Katharina!« Sie schaut auf von der Arbeit und nickt lächelnd dem jungen Jäger zu, der ihr den Gruß entgegengerufen. Ein stattlicher Bursche, der Forstgehilfe Bruno, grad gewachsen wie eine Tanne, mit Augen, so klar und lieb, wie der blaue, unbewölkte Himmel. Der schönste Mann auf Gottes Erdboden, – meint Katharina, während Bruno von der Überzeugung durchdrungen ist, daß kein Engel im Himmel auch nur halb so herzig sein könne, wie sein trautes Käthchen. 76
Er versicherte ihr’s auch bisweilen, freilich nicht so häufig, wie ein anderer Liebhaber wohl gethan haben würde, Forstleute sind im Allgemeinen wenig gesprächig. Der schweigsame Wald, in dem sie fortwährend auf sich allein angewiesen sind, macht sie verschlossen, in sich gekehrt, und so war auch Bruno nicht besonders redselig. Katharina wäre wahrscheinlich nicht viel anders gewesen, wenn sie hätte sprechen können. Daß sie das nicht vermochte, trübte mitunter die Augenblicke der seligsten Liebeswonne. Vermag doch gerade in solchen Momenten Nichts das trauliche, kosende Geflüster, die innig gehauchten Worte: ›Ich liebe Dich!‹ zu ersetzen. Diese Anwandlungen des Kummers gingen indeß stets sehr schnell vorüber; da Bruno seine ganze Zärtlichkeit aufbot, der Geliebten die Heiterkeit der Seele ungeschmälert zu bewahren. So flossen den Beiden die Tage dahin, gleichmäßig, einfach, beseligend. Und in wenigen Monden sollte die Hochzeit sein. Hei, was sollte das für ein lustiges Leben werden in dem stillen Forsthause, wenn es erst durch eine Schaar kleiner, lärmender Wesen bevölkert sein würde. Glückliche Menschen! Doch das Unheil schreitet schnell. Wie ein aus der lachenden Himmelsbläue plötzlich herabzuckender Blitz den Ahnungslosen vernichtet, welchen er trifft, so zerstört oft inmitten eines scheinbar unveränderlichen Glückes ein herber Schicksalsschlag den Seelenfrieden der Armen, deren Gemüth er heimsucht. Johannes Kauer war seit Jahren nicht in das Vaterhaus zum Besuch gekommen. Die Einsamkeit widerte ihn an; er 77
hatte sich in den vollen Strudel des rauschenden Weltstadtlebens geworfen und mit gierigen Zügen die betäubende Atmosphäre, welche Gott Bacchus im Verein mit der Venus vulgivaga innerhalb der geselligen Kreise Wiens erzeugt, eingeschlürft. Die Folgen des entnervenden Wüstlingslebens blieben nicht aus. Hans fand bald keinen Geschmack mehr am strengen Studium, verlor auch bald die Kraft zur ernsten Arbeit und überließ sich willig der Leitung einiger dunklen Existenzen, die in dieser Sphäre Meister sind. Zuweilen kamen kurze Briefe des irregeleiteten Sohnes in das Forsthaus; sie enthielten alle nur die Forderung von Geld. Eines Tages war wieder ein Schreiben eingetroffen, und als der alte Kauer es gelesen, brach er zusammen und ächzte wie ein Schwerverletzter. Dann hatte er den Uuglücksbrief zu Asche verbrannt und sich aufgemacht nach Wien. Eine ganze Woche war er in der Riesenstadt geblieben; dann kam er ohne den Sohn zurück, finsterer und menschenscheuer denn je zuvor. Bruno’s und Käthchens besorgte Fragen hatte er nicht beantwortet; er suchte den gewaltigen Gram niederzukämpfen; doch war es offenbar, daß sein Wille nicht stark genug für diese gewaltige Aufgabe war. In der Umgegend aber verbreitete sich das Gerücht, daß Johannes Kauer, verführt von schlechten Subjekten, Wucherern in die Hände gefallen sei und, um drückenden Zahlungsverbindlichkeiten gerecht werden zu können, Wechsel gefälscht habe und dann plötzlich verschwunden, wahrscheinlich nach Amerika geflüchtet wäre. Seitdem blieb er verschollen. 78
»Ho, ho, Vater, was ist Dir denn heute in den Weg gekommen, daß Du gar so unwirsch darein schaust, als hättest Du eine zentnerschwere Last auf dem Herzen?« »Hab’s auch, Junge, hab’s auch. Ich hab’ dir eine Nase bekommen, so lang und derb, daß ich vor Verdruß und Scham in die Erde sinken möchte.« »Du – einen Verweis, trotzdem Du die Pflichttreue selbst bist? Wofür denn?« »Wofür sonst, als für die Wilddieberei in unserem Revier. Der Alte ließ mich des Morgens zu sich bescheiden, und so böse habe ich ihn noch nicht gesehen. Er kochte nur so. Freilich hatte er auch allen Grund dazu. Irgend Jemand hat es der fürstlichen Rentkammer gesteckt, daß seit einiger Zeit in unserem Revier stündlich gegen das Wild gehaust wird. Da haben sie denn einen Brief an den Alten geschrieben, einen Brief, – Junge, ich könnte mich zerreißen vor Ingrimm, wenn ich an dieses Scriptum denke. Welche Schlenderei jetzt in den Forsten obwalte? Ob es nicht ganz unerhört sei, daß eine Wildererbande seit Monaten ihr Unwesen treibe und die ärgsten Verwüstungen unter dem Wildstande anrichte, ohne atrappirt zu werden. Entweder liegen die Förster auf der faulen Seite oder es gehe nicht mit rechten Dingen zu.« Bruno wurde dunkelroth. »Wenn dem Unfuge nicht innerhalb 14 Tagen gesteuert sei, müßte man Se. Durchlaucht davon verständigen, damit Maßregeln getroffen würden, die dem Frevel endlich ein Ziel zu setzen vermöchten. Man würde dann notgedrungen dem devastirten Reviere andere Wächter geben 79
müssen.« Er schlug fuchswild mit der Faust auf den Tisch und wetterte: »Himmel-Kreuz-Millionen, uns mit solcher Schmach zu bedrohen! Wenn man uns wirklich diesen Schimpf anthäte, dann jagte ich mir eine Kugel durch den Kopf. Zum Schluß seines Schreibens setzt dann der Rath eine Prämie von 500 Gulden aus, wenn es gelingt, die Wildererbande oder wenigstens Einen derselben dingfest zu machen und verspricht demjenigen der Hallunken Generalpardon, welcher seine Genossen verräth.« »Damit wird’s gute Wege haben« murrte Bruno, welcher finster auf- und abschritt. »Glaub’s selbst,« pflichtete der Förster ihm bei. »Die vermaledeiten Burschen scheinen gleich Kletten aneinander zu hängen. Unbegreiflich bleibt mir’s nur, daß wir den Strolchen nicht auf die Sprünge zu kommen vermögen, trotzdem wir Tag und Nacht auf den Beinen sind.« »Mir erscheint das nicht so räthselhaft. Sachs kennt unseren Wald mit seinen fast zahllosen Schluchten und Schlupfwinkeln wie kaum wir beide, und da er schlau, vorsichtig, flink und gewandt ist, so wundert es mich durchaus nicht, daß er sich unseren Nachstellungen stets glücklich entzogen hat.« »Und er wird uns auch fernerhin entschlüpfen, vorausgesetzt, daß wirklich Sachs das Wildererhandwerk betreibt.« »Daran zweifelst Du noch immer?« »Weil ich nicht umhin kann, zu glauben, daß Deine Eifersucht Dich verleitet, ihm allerhand böswillige Eigenschaften anzudichten, die er vielleicht gar nicht besitzt.« 80
»Du beurtheilst mich unrichtig. Ich lasse mich bei der Würdigung von Sachses Charakter durch kein leidenschaftliches Gefühl beeinflussen. Auch ist mir ja jede vernünftige Ursache zur Eifersucht entzogen, seitdem Käthchen Sachses Bewerbung ein für allemal zurückgewiesen hat.« »Wohl wahr. Nun, sollte ich mich täuschen, dann werde ich mich gegen Sachs um Nichts milder zeigen als gegen jeden Anderen. Es will mir zwar noch immer nicht recht in den Kopf, daß ein kreuzbraver Bursche, wie Sachs es stets war, ein Mann, der sich auf dem Schlachtfelde Auszeichnungen errungen hat, ein Taugenichts geworden sein sollte; aber anderntheils begreife ich auch nicht recht, wovon er eigentlich lebt. Sein verschuldetes Gütchen vermag ihn schwerlich zu nähren. Da ist es leicht möglich, daß er sich auf ’s Wildern geworfen hat. Ertappe ich ihn dabei, dann sei der Himmel ihm gnädig! Keine Rücksicht soll mich abhalten, ihn, wenn es sein muß, selbst über den Haufen zu schießen.« – Seit diesem Tage schwebte Unheil drohendes Gewölk über dem friedlichen Forsthause. Tag um Tag verstrich, ohne daß der Stand der Dinge eine Änderung erlitten hätte. Die Wildfrevel hörten nicht auf, ja es schien fast, als ob die Wilderer ein höhnisches Pasquill auf die ausgesetzte Prämie liefern wollten, so erschreckende Dimensionen nahm die Ausrottung des Wildes an. Der alte Förster opferte sich auf. Er gönnte sich kaum noch die nothwendigste Ruhe und genoß fast gar nichts mehr, sodaß wenige Tage hinreichten, dem kräftigen Manne ein greisenhaftes Aussehen zu verleihen. Aber alle seine 81
Anstrengungen hatten keinen günstigen Erfolg, Es schien fast, als wenn die Wilderer jeden seiner Schritte überwachen ließen, so regelmäßig betrieben sie stets in den Theilen des Revieres, welche seinen Visitationstouren entgegengesetzt lagen, ihr gesetzwidriges Metier. Der Zufall mußte sie in ganz außerordentlicher Weise begünstigen, oder –. Dem Förster kamen ganz eigenartige Gedanken an, so oft er das Benehmen seines Gehilfen beobachtete. Diesen schien die Sorge seines Vorgesetzten wenig zu kümmern; er zeigte sich immerfort heiter, und selbst die Wolken auf dem sonst so sonnigen Antlitz der Geliebten beachtete er nicht. Katharina litt unbeschreiblich. Sie errieth den schwarzen Argwohn des Vaters, und sie mußte sich gestehen, daß derselbe nicht ganz unbegründet war. Ihr Herz zitterte vor: banger Sorge, wenn sie sah, wie der Vater Tag um Tag finsterer, Bruno dagegen immer aufgeräumter wurde. Der junge Gehilfe schien nicht die leiseste Ahnung von den Bekümmernissen, die er seinem künftigen Schwiegervater und seiner Braut verursachte, zu haben. Der Förster weihte ihn nicht in seine Gedanken ein, und die düsteren Mienen, die traurigen Blicke desselben boten dem jungen Manne keine Veranlassung zu ernsterem Nachdenken, weil sie ja durch die obwaltenden Verhältnisse genugsam begründet schienen. Lustig pfeifend ging er in den Wald, lustig pfeifend kehrte er wieder heim. Die Aussicht auf die bevorstehende Außerdienststellung schien ihn demnach nicht zu bedrücken. 82
Zu dieser traurigen Zeit empfand Katharina erst die ganze Schwere des Unfalles, von dem sie betroffen worden. Hätte sie reden, liebreich zwischen den Männern vermitteln können, es würde Manches anders, besser geworden sein. Nun konnte sie nur dem Vater im Himmel ihre Herzensangst anvertrauen, aber das Gebet brachte ihr oft genug keinen Trost, keine Ruhe. O, es ist entsetzlich, eine unheimliche Katastrophe gegen geliebte Personen heraufziehen zu sehen und Nichts, gar Nichts zu ihrer Abwendung unternehmen zu können. Der Oberförster kam während der vierzehntägigen Frist öfter nach dem Forsthause, als früher in Jahren geschehen war. Seine häufigen Besuche trugen natürlich nicht dazu bei, die Stimmung des Försters freundlicher zu gestalten. Er wurde immer verbissener, und als der Oberförster davon sprach, daß er ihm einige Burschen zur Hilfeleistung schicken wolle, da ging dem Alten auch der letzte Rest der Geduld aus. Rauh, fast barsch wies er das freundliche Anerbieten ab, indem er feierlich gelobte, entweder seine Reputation selbst wieder herstellen oder zu Grunde gehen zu wollen. Die Kluft, welche sich zwischen dem Förster und Bruno aufgethan, wurde durch ein seltsames Vorkommniß fast unüberbrückbar erweitert. Es geschah nämlich mehrmals, daß gerade in jener Abtheilung des Reviers, welche Bruno zu visitiren hatte, gewildert wurde. Es schien ganz unmöglich, daß Bruno die Übelthäter nicht ertappen sollte, wenn er nicht entweder selbst an der Wilddieberei sich betheiligte, oder die Nächte anderswo als im Reviere zubrachte. 83
Auch jetzt noch schwieg der Förster, aber der immer unheimlicher werdende Ausdruck seiner Augen bekundete, daß sein Grimm die äußerste Grenze erreicht hätte und daß er zu Allem entschlossen wäre. Eines Abends kehrte Käthchen von einem nothwendigen Ausgange nach dem Kirchdorfe heim. Ihr Weg führte zwischen Schonungen, und sie war eben im Begriff, um eine Ecke herumzubiegen, als eilige Tritte ihr entgegenkamen. Vorsichtig huschte sie hinter das Gebüsch und gleich darauf schritten zwei Männer vorüber. Es waren Bruno und, ihr Herz blieb fast stehen, einer der berüchtigtsten Wilddiebe. »Also an der Wildbachschlucht?« hörte sie Bruno sagen. »Nun, da wollen wir ihm einen Puffer auf das Fell brennen, daß –« Mehr verstand sie nicht. Ihr schwindelte. Sie hatte noch immer gehofft, daß ihr und des Vaters Argwohn unbegründet wäre, nun aber blieb kein Zweifel mehr. Bruno stand im Einvernehmen mit den Wilddieben. Nun erst drängten sich ihr alle jene Thatsachen, die für seine Schuld zeugten, mit niederschmetternder Wucht und Deutlichkeit auf. Sein seltsames Benehmen, die Verwegenheit der Wilderer, die Erfolglosigkeit der Nachstellungen und hundert andere unwesentlichere Zeichen gaben ihr die furchtbare Gewißheit, daß Bruno ein Verbrecher wäre, mit dem es über kurz oder lang ein schmähliches Ende nehmen müßte. – 84
Es war schon ganz dunkel, als sie im Forsthause anlangte. Dort harrte ihrer ein neues Schreckniß. Sie fand den Vater in so bitterböser Laune, wie er sie noch nie gezeigt hatte. Eine zufällige Entdeckung hatte ihn so sehr ergrimmt. Der Fürst hatte nämlich, um den dezimirten Wildstand wieder empor zu bringen, mit beträchtlichen Kosten eine Anzahl von Hitschen aus weiter Ferne herbeitransportiren lassen und dem Forstpersonal die sorgsamste Schonung des kostbaren Wildes anbefohlen. Vor wenigen Stunden nun hatte der Förster eines dieser Thiere, einen prächtigen Zwölfender, erschossen vorgefunden. Die Frechheit der Wilderer ging bereits so weit, daß sie den Hirsch, den sie offenbar in der Nacht hatten holen wollen, nicht einmal gehörig verbargen. Sie mußten dem Forstpersonale mithin erstaunlich große Nachlässigkeit zumuthen. Diese Erfahrung wurmte den alten Kauer mehr als alle bisherigen Fatalitäten, und seine Stimmung war deshalb eine unbeschreiblich gereizte. Während er, mehr zu sich selbst als zur Tochter sprechend, in abgerissenen Sätzen den Vorfall erzählte, brachte ein junger Bursche einen Brief, dessen Absender er nicht nennen wollte. Kaum hatte der Förster denselben gelesen, als er hastig die Flinte über die Schulter warf und davoneilte. Katharina sank auf einen Stuhl. Eine bange Ahnung ängstigte sie, und der Schmerz, die Verzweiflung über ihre eigene Hilflosigkeit zerrissen ihr das Herz. Nach einigen Minuten wurde ihr Blick durch ein auf dem Boden liegendes Papier gefesselt. Sie hob es auf. Es 85
war das dem Förster zugeschickte Schriftstück. Mechanisch entfaltete sie es und las es durch. Da wich ihre Apathie urplötzlich einer furchtbaren Erregung. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie Mühe hatte, den Brief festzuhalten und noch einmal zu überfliegen. Es schien, als wenn sie den Sinn des Inhaltes nicht zu fassen vermöchte, denn gierig verschlang sie die wenigen Zeilen zum dritten Male. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. 6
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n .
D
ann streckte sie flehend die Arme gen Himmel und stürzte hinaus in den nachtschwarzen Wald, keuchend, ächzend, so schnell die wankenden Kniee sie vorwärts zu bringen vermochten. Der Brief lautete: » Herr Förster! Ich habe gehört, daß eine Prämie von 500 Gulden Demjenigen zugesagt ist, der den Wilddieb den Behörden überliefert. Ich kenne denselben und ich werde Ihnen helfen, ihn zu fassen; gehen Sie heute Abend nach der Wildbachschlucht und stellen Sie sich an der großen Eiche auf. Der Wildschütz will dort jagen und muß, wenn er heimgehen will, an der Eiche vorüber. Meinen Namen werde ich erst dann angeben, wenn es Ihnen geglückt, den Wilderer unschädlich zu machen. Ich werde mir dann auch die Prämie abholen und mich durch die Handschrift bei 87
Ihnen legitimiren, weshalb ich bitte, den Brief aufzubewahren.« Die Wildbachschlucht erstreckte sich weit in den Forst hinein. Sie war ziemlich breit und tief und ihrer ganzen Länge nach von einem Bache durchflossen. Zu diesem führten im Zickzack einige Pfade hinunter, die vom Wilde benutzt wurden, wenn es zur Tränke wollte, fast in ihrer Mitte war die Schlucht durch einen nur wenige Fuß breiten Grat überbrückt, den Jeder überschreiten mußte, der aus dem Walde hinaus oder zur Försterei wollte, wenn er nicht etwa vorzog, einen stundenweiten Umweg zu machen. Vom Grate aus lief an überhängendem Felsgestein vorüber ein schmaler Pfad, der nach etwa zwanzig Schritten um einen Felsvorsprung bog und dann im Walde sich verlief. Eine kurze Strecke unterhalb des Grates stand die große Eiche, hinter deren Riesenstamme Derjenige, welcher den Grat überwachen wollte, ein vortreffliches Versteck fand. Dort hatte der Förster Position gefaßt. Auf dem Wege aus dem Forsthause hierher hatte er in der Gegend der Schlucht Schüsse vernommen, welche ihm bewiesen, daß der anonyme Briefschreiber gut unterrichtet war. Des alten Mannes Blut wogte so stürmisch, daß er, in dem Verstecke eingetroffen, gewaltige Anstrengungen machen mußte, um sich so weit zu beruhigen, daß ihm im entscheidenden Momente die bebende Hand nicht etwa einen Fehlschuß thun ließ. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte und spähte er nun in den Wald hinein, – lange Zeit umsonst. Plötzlich 88
aber zuckte er zusammen, – er hatte das Geräusch von Tritten gehört. Jemand kam rasch näher, aber nicht aus dem Walde sondern von der Försterei her. Ehe er noch Zeit gewann, zu erwägen, was dieser seltsame Umstand zu bedeuten habe, schien es ihm, als ob auf der anderen Seite des Grates, die er nicht überblicken konnte, Jemand die Schlucht hinaufklettere. Das konnte nur ein Wilddieb sein. Er ließ sich sofort auf den Boden gleiten und schob sich auf den Knieen aufwärts. Inzwischen war das Geräusch auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht verstummt; der nächtliche Wanderer stand jedoch still. Der Förster achtete nicht darauf. Gleich einem Wiesel wand er sich durch das niedere Gesträuch, behutsam, unhörbar. Drüben, nicht mehr fern vom Rande des Abgrundes stand Käthchen. Ein entsetzlicher Anblick, der ihr das Blut erstarren machte, hatte ihre Schritte gehemmt. Eine männliche Gestalt in grauer Joppe und spitzem Filzhut – Bruno’s Tracht, die Flinte auf dem Rücken geschnallt, arbeitete sich eilfertig, aber sehr vorsichtig, den steilen Abhang in die Höhe. Unwillkürlich schweifte des Mädchens Blick nach der Eiche hinüber. Dort sah es den Vater durch das Gebüsch kriechen. Der Kletterer war mittlerweile glücklich nach oben gelangt. Schon setzte er den Fuß auf den vom Grate südwärts führenden Felsweg, da brach unter dem schweren Drucke ein Stein los und rollte polternd in die Tiefe. In demselben Augenblick schwang der Kletternde sich auf den Pfad und sprang, der drohenden Gefahr des Hinunterstürzens 89
nicht achtend, in gewaltigen Sätzen vorwärts. Gleichzeitig mit ihm hatte auch der Förster sich erhoben. Eine Sekunde später steht er auf dem Grate. Dort sieht er, daß der Flüchtling nur noch zwei Schritte bis zum schützenden Vorsprunge hat. »Halt!« donnert er und reißt blitzschnell die Büchse an die Wange. Katharina ist mit Windesschnelle dem Grate zugelaufen; aber sie ist noch zu entfernt, um dem Vater in die Arme fallen zu können. Der Angerufene hält nicht inne im Lauf und im nächsten Augenblick muß er verloren sein, wenn sie nicht schreien kann. Unsagbares Grausen schüttelt des Mädchens Körper. Es krampft die Hände zusammen und stöhnt, wie wenn eine ungeheure Anstrengung alle seine Kräfte bis zum Übermaß angespannt hätte. Und – ein Wunder geschieht, – die Stimme ist wieder da. »Vater!« schreit sie gellend, »schieß nicht, es ist Bruno!« Es ist zu spät. Der Schuß dröhnt und der Getroffene stürzt, ohne einen Laut von sich zu geben, kopfüber in die Tiefe. – Käthchen stieß einen herzzerreißenden Schrei aus, dann verlor sie das Bewußtsein und schlug hart auf dem Boden hin.
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Fünfte+ Kapitel. Häßlice Pläne.
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ie aristokratischen und juristischen Kreise der österreichischen Metropole waren durch ein sensationelles Ereigniß in lebhafte Aufregung versetzt worden. Den greisen, steinreichen und mächtigen Grafen Szapary hatte ein plötzlicher Tod dahingerafft. Sein alter Kammerdiener, Ferencz, hatte ihn eines Morgens, als er, wie gewöhnlich, dem Gebieter die Frühstückschocolade in das Schlafzimmer trug, todt im Bette aufgefunden. Die sofort herbeigeholten Ärzte ermittelten als Todesursache einen Herzschlag, und dieses Gutachten fand allgemeinen Glauben, weil Graf Szapary ein ungemein reizbares und jähzorniges, mithin für den Schlagfluß empfängliches Naturell besessen hatte. – Nicht das plötzliche Hinscheiden des Magnaten wirkte deshalb effecterregend, sondern das Testament, welches dieser hinterlassen hatte. Die gerichtliche Kommission, welche selbstverständlich unverzüglich zur Aufnahme der Nachlassenschaft abgesendet worden war, hatte im Schreibtische die vom Verblichenen selbst geschriebene letzte Verfügung vorgefunden, deren Inhalt ein ungeheueres Aufsehen erregte, weil er ein furchtbares Geheimniß, von dessen Existenz, außer sehr wenigen Vertrauten Szapary’s, kein Mensch eine Ahnung hatte, aufdeckte. Der alte Graf bekannte offen die Unthat, zu der sein übermäßiger Adelsstolz und die Besorgniß, sein, dem Gra91
fen Martonwasar gegebenes Versprechen nicht einlösen zu können, ihn verleitet hatten und klagte dann in den reumüthigsten Ausdrücken über seine Verblendung und Hartherzigkeit. Da ihm, so fuhr er fort, aller menschlichen Voraussicht nach, nur noch wenige Tage beschieden seien und er vor dem göttlichen Richter nicht, mit einer so schweren Schuld belastet, eintreten möge, so habe er sich entschlossen, sein Unrecht durch ein offenes Eingeständniß desselben einigermaßen wieder gut zu machen. Sein Gewissen habe ihn schon längst gedrängt, seine Schuld zu bekennen, doch habe die Furcht vor der gesetzlichen Strafe, der er dann unfehlbar verfallen sein und vor den verderblichen Folgen, die sie für ihn nach sich gezogen haben würde, ihn von diesem Schritte abgehalten. Ohne die beruhigende Gewißheit, daß sein Vergehen nach seinem Tode gesühnt werden würde, habe er jedoch nicht aus dem Leben scheiden wollen, weshalb er dieses reuige Bekenntniß aufgesetzt habe. Nach dieser Einleitung beschwor er den Monarchen, die Kinder aus seines Sohnes erster Ehe in die ihnen zustehenden Rechte einzusetzen, wenn sie noch am Leben seien und aufgefunden werden sollten. Botho hätte in dem Falle, wenn der Kaiser sich geneigt zeigte, dem letzten Wunsche des Grafen zu willfahren, das Szapary’sche Majorat zu bekommen, während Lucie und Koloman sich in den Rest der Güter und einen Theil des kolossalen Baarvermögens theilen sollten. Gräfin Katinka war außer sich vor Bestürzung und Grimm über dieses Testament. Die Echtheit desselben konnte sie nicht gut in Frage stellen. Berühmte Schriftken92
ner, die sie mit der Untersuchung der Handschrift betraute, erklärten einstimmig, daß die Schriftzüge des Testamentes denen anderer Dokumente, die Graf Szapary geschrieben, vollkommen gleich seien. Übrigens ließ sich auch nicht gut absehen, wie ein gefälschtes Testament in den Schreibtisch des Grafen hineingekommen sein könnte, da Ferencz, welcher dem Verblichenen treu ergeben gewesen war, unmittelbar neben dem gräflichen Schlafzimmer die Nächte zugebracht hatte. Auch sprach das Benehmen des alten Dieners nicht für die Annahme, daß er im Einverständnisse mit Fälschern gestanden sein könnte, denn sein Erstaunen über das Testament war so lebhaft und ungekünstelt, daß jeder Argwohn schwinden mußte. Wenn Gräfin Katinka aus den angeführten Gründen auch darauf verzichtete, die Echtheit des Testamentes anzufechten, so war sie doch keineswegs gesonnen, sich den Bestimmungen desselben zu fügen. Im Gegentheil verweigerte sie vielmehr mit aller Entschiedenheit die Anerkennung desselben und erklärte feierlich, daß sie, wenn es erforderlich werden sollte, ihr Hab und Gut bis auf den letzten Kreuzer opfern wolle, um die Umstoßung des letzten Willens zu erwirken. Sie that auch unverzüglich alle jene Schritte, die zur Förderung ihrer Absichten nöthig waren. Aber ihre Intriguen scheiterten an dem Gerechtigkeitssinne des Monarchen. Der Justizminister hatte den Kaiser über die unerquickliche Angelegenheit informirt und den Befehl erhalten, eine genaue Untersuchung des peinlichen Falles anzustellen. 93
Ehe er diesem Auftrage des Fürsten willfahren konnte, trat die Affaire in ein anderes Stadium ein, indem die verschollen geglaubten und als todt erklärten Kinder des jungen Grafen Szapary und seiner ersten Gattin, Botho und Lucie, in Wien erschienen, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Doch auch für sie waren die Chancen zur Gewinnung des reichen Erbes um nichts günstiger, als für Gräfin Katinka und deren Sohn, weil sie keine Beweismittel dafür beizubringen vermochten, daß sie wirklich die Kinder des jungen Grafen seien. Nach einiger Zeit stellte sich jedoch in Folge der sorgfältig erhobenen Nachforschung mit kaum noch zu bezweifelnder Gewißheit heraus, daß Lucie in der That der Ehe des jungen Szapary mit Johanna Krause entsprossen sei, wohingegen die Auskünfte, welche man über Botho und von diesem selbst empfing, sich als ganz ungenügend zur Feststellung der Identität erwiesen. Botho Szapary war wenige Monate später, nachdem man ihn und Lucie dem Zigeuner Istwan übergeben hatte, seinem Peiniger, der sich damals bei einer großen Horde seiner Stammesgenossen in Südrußland befand, entlaufen und seitdem verschollen geblieben, bis er nach beinahe fünfzehn Jahren wieder bei Istwan’s Bande erschienen war und Lucie mit sich genommen hatte. In der langen Zwischenzeit hatte er sich, wie er erzählte, in aller möglichen Herren Länder umhergetrieben und ein wildes, abenteuerliches Leben geführt, endlich jedoch hatte er dasselbe satt bekommen, und da er sich gleich lebhaft nach seiner Schwester, wie nach einem rechtlichen Leben gesehnt, so hatte er sich an das schwierige Unternehmen gewagt, Ist94
wan und Lucie aufzusuchen. Das war ihm nach vielen Irrfahrten und Drangsalen auch geglückt. Die Auffindung seiner Schwester war ihm durch den Umstand noch bedeutend erschwert worden, daß Istwan sie bereits vor vielen Jahren einer armen, aber anständigen Bauernfamilie zur Erziehung übergeben hatte, weil er fürchtete, daß das zarte Kind den vielfachen Strapazen des Nomadenlebens unterliegen könnte. Erst nach langem Sträuben hatte der Zigeuner sich herbeigelassen, Luciens Aufenthaltsort zu nennen, dagegen war er weder durch Bitten, noch durch glänzende Versprechungen, noch durch Drohungen zu bewegen gewesen, sich Botho’s Unternehmungen gegen den Grafen Szapary anzuschließen. Auch vor dem Richter erwies er sich sehr vorsichtig, trotzdem man ihn von dem Hinscheiden des Grafen verständigt hatte. Er behauptete, nicht gewußt zu haben, daß die beiden Kinder, welche der alte Graf ihm überlieferte, einer gesetzlich anerkannten Ehe entsprossen seien, vielmehr habe er sie für die Frucht eines Concubinats gehalten. Ebenso wenig habe er gewußt, daß Koloman Szapary seine Gattin mit nach Siebenbürgen gebracht und nicht im Einverständnisse mit seinem Vater die Verstoßung der Kinder angeordnet habe. Er habe sich vielmehr der Meinung hingegeben, daß auch der junge Graf sich der Kinder gern habe entledigen wollen, weil er ja so lange, als dieselben sich bei ihm befanden, nicht wagen durfte, um die Komtesse Martonwasar zu freien. Diese Angaben erhielt der Zigeuner ungeachtet aller Einwürfe und auch dann aufrecht, als man ihn einem 95
scharfen Kreuzverhör unterwarf. Es blieb deshalb zweifelhaft, ob seine Aussagen durch die Furcht vor Strafe oder, was ja auch möglich war, durch Nichtkenntniß der wirklichen Thatsachen bestimmt worden wäre. Als man ihm die Frage vorlegte, ob er in Botho den ihm entlaufenen Knaben wiedererkenne, gab er gleichfalls eine so ausweichende Antwort, daß dem Erbprätendenten nicht der mindeste Vortheil daraus erwuchs. Die Justizkommission, welche mit der Prüfung und Ordnung dieser merkwürdigen Erbschaftssache beauftragt worden war, gab schließlich die Erklärung ab, daß sie Botho nur dann der Gnade des Monarchen empfehlen könnte, wenn es ihm gelänge, unanfechtbare Beweise für seine Abstammung aus der Ehe Koloman Szapary’s mit Johanna Krause beizubringen. Eine mehrjährige Frist wurde festgesetzt, bis zu deren Ablaufe diese unerläßliche Bedingung erfüllt sein sollte, und bis dahin wurde die Verwaltung der Szapary’schen Güter einem Regierungskommissar übertragen. Vielleicht würde die Kommission, da für Botho’s Legitimität mancherlei nicht unwesentliche Umstände zeugten, weniger rigoros gewesen sein, wenn nicht Gräfin Katinka mit allen nur erdenklichen Mitteln gegen Botho und Lucie gewirkt hätte. Die Kommission trug sich einige Zeit hindurch mit der Absicht, eine gleichmäßige Theilung des Szapary’schen Gütercomplexes zwischen den beiden erbberechtigten Söhnen des jungen Grafen zu befürworten, ließ diesen Plan jedoch fallen, als weder Botho noch Gräfin Katinka sich mit ihm einverstanden erklärten. Botho gab die Hoffnung, daß 96
ihm schließlich doch, den Bestimmungen des Testamentes gemäß, der Haupttheil des reichen Erbes zufallen würde, nicht auf, doch konnte er sich nicht verhehlen, daß ein solcher Glücksfall nur dann möglich wäre, wenn der junge Koloman stürbe. Es waren dann außer ihm und Lucie keine Persönlichkeiten vorhanden, die berechtigt gewesen wären, Ansprüche auf das Erbe zu erheben. Einem von ihnen mußte dasselbe demnach zufallen. So lange jedoch Koloman am Leben war, hatte selbst Lucie nur geringe Aussicht, den Theil des beweglichen Vermögens, welcher ihr im letzten Willen des Erblassers zugesprochen worden war, zu erhalten, da Gräfin Katinka sich mit aller Macht einer Schmälerung des Gesammtbesitzes widersetzte. Lucie, in dürftigen Verhältnissen aufgewachsen und dadurch an Bescheidenheit gewöhnt, wurde durch den Umstand, daß das erträumte, von Botho ihr mit überschwänglichem Feuer geschilderte Glück ihr nicht sofort zu Theil wurde, nicht niedergedrückt, ja sie würde sich trotz der kümmerlichen Lage, in der sie seit ihrer Übersiedelung nach Wien lebte, mit ihrem Loose vollkommen zufrieden gefühlt haben, wenn nicht die Sorge um ihren Bruder düstere Schatten in ihr sonniges Dasein geworfen hätte. Botho verdiente auch das rege Mitgefühl und die Bekümmerniß der Schwester, die er zärtlich liebte, in reichem Maße. Das Fehlschlagen seiner eignen Hoffnungen, der Grimm über die Herzlosigkeit der Gräfin, seiner Stiefmutter, die Erbitterung über die spintisirenden Richter und über die Welt, welche in ehrfurchtsvoller Demuth vor der reichen Gräfin erstarb, ihm dagegen mit empörendem Hochmuthe 97
begegnete und mit einer Zurückhaltung, die nur zu deutlich merken ließ, daß sie ihn für einen Abenteurer halte, alle diese Momente rüttelten und schüttelten ihn derartig, daß sein scheinbar riesenhafter Organismus einem bedrohlichen Zustande nervöser Schwäche zum Opfer fiel. Seine geistige Willenskraft dagegen blieb ungeschmälert und ungebeugt. Er war fest entschlossen, seine Ansprüche bis zum letzten Athemzuge geltend zu machen, seiner bösen, ränkesüchtigen Stiefmutter auch nicht um eines Haares Breite zu weichen. Er wußte, daß ihm ein Kampf auf Leben und Tod bevorstände, doch wollte er ihn aufnehmen, Gewalt der Gewalt, List der List entgegensetzen. Diesem Vorsatze gemäß entwarf er Pläne über Pläne; – Lucie gewahrte mit Schrecken, daß der maßlos heftige Drang, seine hochfliegenden Wünsche in nicht zu weit gedehnter Frist zur Verwirklichung zu bringen, seine körperliche wie geistige Kraft aufzureiben drohe. Kaum minder aufregend war der Zustand der Gräfin Katinka. Auch bei ihr stand der Entschluß, ihrem Sohne um jeden Preis den ungeschmälerten Besitz des reichen Erbes zu erkämpfen, unerschütterlich fest; nur ließ sie sich durch andere Motive leiten, als Botho. Während den jungen Mann glühender Ehrgeiz und die Liebe zu seiner Schwester, der innige Wunsch, dieser eine Existenz voller Glanz und Herrlichkeit zu erringen, antrieben, wurde die Gräfin durch die gemeinste und schmutzigste Habsucht, den verknöchertsten Geiz und Egoismus beeinflußt. – In der Befähigung zum Kampfe waren die beiden Gegner einander ebenbürtig; Beide hegten den Vorsatz, jedes Mittel, 98
mochte es noch so verwerflich sein, als es wollte, welches sie dem gemeinsam erstrebten Ziele näher zu bringen vermöchte, anzuwenden. »Nun, Baron, wie weit sind Sie gediehen?« Der Angeredete zuckte bedeutsam die Achseln. »Noch nicht viel weiter, als vor einer Woche,« antwortete er dann. »Botho hat mir seine rückhaltslose Freundschaft zugewandt –« »Das weiß ich ja längst, aber sie?« »Komtesse Lucie ist noch eben so kühl gegen mich, wie früher.« – Gräfin Katinka war unwillig aufgefahren, als der Baron sich des Titels »Komtesse« bediente, doch beherrschte sie sich und bemerkte in kaltem Tone: »Sie wird es auch wohl stets bleiben. Ich fürchte, Baron, daß alle unsere Anstrengungen nicht vermögend sein werden, Sie bis zu dem Ziele, dessen Erreichung Ihnen sowohl wie mir in gleichem Maße erwünscht ist, hinzubringen. Wenn Lucie, wie Alle fürchten, liebt, dann wird sie sich durch die Aussicht auf Glanz und Reichthum kaum abhalten lassen, das Weib des Erkorenen zu werden.« Das Gesicht des Barons, der sich erhoben hatte und nun unruhig auf und abschritt, war noch um eine Schattirung finsterer geworden. »Sie darf es nicht,« preßte er endlich hervor. »Jede Fiber zittert in mir, wenn ich nur an diese Möglichkeit denke. – Doch seien Sie unbesorgt, Gräfin; so lange als noch ein Athemzug in mir ist, soll und wird diese Verehelichung nicht stattfinden.« 99
»Nein, sie darf es nicht,« rief die Gräfin in leidenschaftlicher Erregung. »Auch meine Pläne und Wünsche würden in diesem Falle, gleich den Ihrigen, Schiffbruch leiden. Ich baue fest auf Sie.« »Das können Sie. Ich liebe Lucie mit einer an Raserei grenzenden Gluth, aber ich fühle es, sollte sie mich verschmähen, dann wird an die Stelle dieser hingebenden Zuneigung ein unbändiger Haß treten. Mein Blut kocht siedendheiß bei der Vorstellung, daß Lucie das Weib eines Anderen werden solle; ich kann und werde eine solche Verbindung nicht dulden und bin, um sie zu verhindern, zu Allem fähig und zu Allem entschlossen.« Er blickte so finster vor sich hin, daß man seiner Versicherung wohl Glauben beimessen konnte. Die Gräfin beobachtete ihn einige Zeit hindurch lauernd, dann sagte sie nachdrucksvoll: »Versuchen Sie also ihr Heil! Sie wissen, daß ich mich entschlossen habe, Opfer zu bringen, um der leidigen Prozeßangelegenheit ein Ende zu machen. Es ist zwar eine Thorheit meinerseits, mich einer nicht unbeträchtlichen Summe zu berauben, da es doch keinem Zweifel unterliegt, daß die Erbschaftssache zu Gunsten meines Sohnes entschieden werden muß. Doch berührt es mich peinlich, den erlauchten Namen der Szapary’s noch länger den Medisancen der öffentlichen Meinung preiszugeben. Und dann bin ich auch nicht im Stande, den Regungen meines Herzens zu widerstehen. Ich erfreue mich des Besitzes eines sehr weichen Gemüthes und vermag deßhalb selbst dann nicht mit Härte vorzugehen, wenn es nothwendig wäre, wie in 100
diesem Falle. Die erste Ehe meines verewigten Gemahls wurde gelöst, die Frau starb, die Kinder wurden als todt und aller Ansprüche auf das Szapary’sche Erbe verlustig erklärt, das kaiserliche Wort kann und darf doch nicht ohne die allergewichtigsten Gründe zurückgenommen werden, wenn die Heiligkeit der Majestät nicht leiden soll, kurz, es ist ganz unmöglich, daß man zwei Landstreicher, die plötzlich auftauchen und sich für die Kinder des jungen Grafen ausgeben, ohne auch nur einen Beweis für ihre unverschämte Behauptung liefern zu können, zum Nachtheile meines Sohnes, des einzigen vollberechtigten Erben der Szapary’schen Hinterlassenschaft, begünstigen könnte. Ich kann deshalb mit zuversichtlichen Ruhe dem Ausgange des Projektes entgegenblicken; es wird und darf auch nicht ein einiger Kreuzer aus der Erbschaft meinem Sohne entzogen werden. Wenn ich mich nun trotzdem herbeilasse, gewissermaßen einen Kompromiß mit der – der Dir… dem Mädchen einzugehen, so geschieht dies einzig und allein aus dem Grunde, weil mein Herz mich dazu drängt. Es ist ja möglich, daß diese Lucie wirklich die Tochter meines verewigten Gemahls ist, ich will deshalb ein Übriges thun und ihr eine Summe ausfolgen, deren Zinsen hinreichen, die Erfordernisse eines bescheidenen Haushaltes zu decken, natürlich nur unter der Bedingung, daß sie sich durch einen Revers verpflichtet, nie wieder ihre vermeintlichen Ansprüche geltend zu machen. Stellen Sie, lieber Baron, dem unerfahrenen und irregeleiteten jungen Mädchen doch recht eindringlich vor, welche segensreichen Folgen die Annahme meines großmüthigen 101
Anerbietens für sie haben muß. Sie wird auf einmal und für ewige Zeiten aller Noth und Plagen enthoben, erhält die Mittel zu einer behaglichen, sorgenlosen Existenz und beschwichtigt auch ihr Gewissen, welches ihr doch sicherlich Vorwürfe darüber machen wird, daß sie sich in eine Sache eingelassen hat, die man nicht als rechtlich bezeichnen kann. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. 7
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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och ist Eins zu bedenken, mein lieber Baron. So lange das junge Mädchen unter dem Einflusse ihres angeblichen Bruders, der nach meiner Ansicht nur ein geschickt spielender Abenteurer ist, steht, wird sie sich nicht so leicht bestimmen lassen, meinen Vorschlägen sich zu unterwerfen. Man muß sie deshalb demselben entziehen und das geschieht am besten und sichersten dadurch, daß man ihr einen Gatten giebt. – Sie wissen bereits, was ich von Ihnen erwarte. Überdies lieben Sie die Kleine; versuchen Sie also, sie sich zu erringen. Ich brauche wohl nicht ausdrücklich zu betonen, daß meine Theilnahme für Ihr und Ihrer Gattin Wohlergehen stets rege bleiben und sich auch thatkräftig bekunden wird.« 103
Sie tauschte einen Blick des Einverständnisses mit ihm aus. Dann rief sie ermunternd: »Gehen Sie also an das Werk und trachten Sie, es Ihren und – meinen Wünschen gemäß auszuführen.« Der Baron erhob sich. »An meinem Eifer soll es nicht liegen, wenn die Angelegenheit sich vielleicht nicht so leicht abwickeln dürfte, wie es zu wünschen ist,« bemerkte er. »Fürchten Sie noch andere Schwierigkeiten, als die, welche Ihnen aus der geringen Zuneigung des Mädchens für Sie erwachsen könnten?« Der Baron zuckte vielsagend die Achseln und ging dann nachdenklich geraume Zeit auf und nieder. Um die Lippen der Gräfin zuckte ein Lächeln des Hohnes und der Geringschätzung. Endlich brach der Baron das peinliche Schweigen. »Sie haben die Individualität von Luciens Bruder, oder, wie Sie meinen, Luciens angeblichen Bruder aus den Schritten, die er gegen Sie unternommen hat, ja einigermaßen kennen gelernt und werden deshalb wohl mir zustimmen, wenn ich hervorhebe, daß der junge Erbprätendent nicht nur eine eiserne Willenskraft und unbeugsame Energie, sondern auch einen durchbringenden Scharfblick besitzt.« »Ich verstehe,« höhnte die Gräfin. »Sie fürchten, daß der Schlaukopf Ihre Verhältnisse durchschauen und dann Ihren Antrag nicht acceptabel finden könnte?« Der Baron biß sich auf die Lippen, dann erwiderte er in spitzem Tone: »Sie geben sich einem Irrthume hin, Gnädigste. Ich bin zwar nicht so reich, als Graf Botho und Komtesse Lucie – er 104
betonte mit boshafter Schadenfreude die Titulaturen – sein werden, wenn der Erbschaftsprozeß zu ihren Gunsten entschieden werden sollte, immerhin aber ist mein Vermögen ansehnlich genug, um meiner Bewerbung einen gewichtigen Nachdruck zu verleihen. Meine Bedenklichkeit entspringt der Besorgniß, daß Luciens Bruder unser Spiel durchschauen könnte.« – »Das ist unmöglich, wenn wir uns einiger Vorsicht befleißigen.« »Als eine nicht gering anzuschlagende Schwierigkeit betrachte ich auch den unglücklich großen Einfluß, welchen Botho auf Luciens Entschlüsse ausübt. Sein Sinn ist so hochfliegend –« »Daß ihm ein einfacher Baron als Schwager nicht zusagt. – Diesen Übelstand könnte man, wie ich glaube, leicht beseitigen, indem, – nun, indem man das junge Mädchen der Einwirkung des ehrgeizigen Abenteurers entrückt.« In den Augen des Barons blitzte ein undefinirbares Etwas auf. »Sie haben meiner innersten Überzeugung präzisen Ausdruck verliehen, Frau Gräfin. Nur dann, wenn man Lucie von den beiden Personen trennt, deren Willen sie sich freudig fügt, wird es möglich sein, sie zu einer ehelichen Verbindung mit mir zu bewegen.« »Und wenn sie auch dann noch Sie zurückweist?« fragte lauernd die Gräfin. »Dann … unter den Geistlichen auf Ihren Gütern befindet sich hoffentlich Einer, der seiner gnädigen Patronesse 105
so zu Dank verpflichtet ist daß er ihr einen kleinen Gefallen nicht abschlagen würde?« Die Gräfin nickte; ihre Augen blitzten. Der Baron ergriff seinen Hut und nahm mit einer tiefen Verbeugung Abschied. »Wann bringen Sie mir Nachricht Baron?« »Ich gehe jetzt gleich zu Lucie.« »Und Sie haben dann wohl die Güte, mich noch heute Abend von dem Erfolge Ihres Schrittes zu verständigen? – Adieu Baron. Kommen Sie so bald als möglich; ich erwarte Sie mit Ungeduld.« Im zweiten Stockwerke eines riesigen Zinshauses bewohnte Lucie Szapary zwei freundliche, bescheiden aber nett ausgestattete Zimmer. Botho hatte dieselben, sowie auch ein kleines Mansardenstübchen, welches er selbst bezog, gemiethet und ließ es sich eifrig angelegen sein, die liebliche Schwester mit zahllosen Beweisen der zärtlichsten brüderlichen Zuneigung zu überhäufen. Das hübsche Kind lebte in einer Zurückgezogenheit, die nur zuweilen dadurch eine Unterbrechung erlitt, daß Botho es in ein Theater oder auf eine der zahlreichen eleganten Promenaden Wiens führte. Schon bei ihren Pflegeeltern hatte Lucie sich mit der Anfertigung von Stickereien beschäftigt und in Wien, wo ihr die lehrreichsten, mannichfachsten Muster zur Verfügung standen, vervollkommnete sie sich in diesem Zweige derartig, daß ihre Arbeiten als kleine Kunstwerke galten und gut honorirt wurden. Von dem Ertrage derselben bestritt Lucie ihren einfachen Lebensunterhalt. 106
Als es ruchbar wurde, daß sie die Tochter des jungen Grafen Szapary wäre und unbezweifelbare Ansprüche auf einen nicht geringen Theil der großartigen Hinterlassenschaft habe, boten zwar zahlreiche Personen Gelddarlehen in beträchtlicher Höhe an, doch wies sie dieselben zurück. Sie konnte sich nicht entschließen, die ihr liebgewordene bescheidene Lebensweise mit einer glänzenden zu vertauschen, auch sträubte ihr Stolz, wie ihr Gerechtigkeitssinn sich dagegen, Vorschüsse, auf das Erbtheil anzunehmen, so lange ihre Legitimität nicht auch von der Gräfin Katinka anerkannt war. Trotz ihrer Einsamkeit erregte sie die Aufmerksamkeit zahlreicher Männer selbst schon zu jener Zeit, wo man sie noch für eine arme Handarbeiterin hielt. So mancher, der eine ganz angesehene Stellung inne hatte, wandte der holden Mädchenblume huldigende Beachtung zu und suchte ihre Neigung zu erringen. Das gelang indeß Keinem. Luciens Herz blieb von den Schmeicheleien der sie umschwärmenden Anbeter unberührt, sodaß es ihr leicht wurde, sämmtliche Galans abzuweisen. Nur Einer hatte sich durch ihre Sprödigkeit nicht zurückschrecken lassen – Baron Girsa nämlich, dessen Bekanntschaft sie gemacht hatte, als sie mit Botho gemeinsam eines jener genußreichen Concerte besuchte, deren die Gesellschaft der Musikfreunde in jedem Winter einige giebt. Girsa war vom ersten Tage an in heißer Leidenschaft für das reizende Mädchen entbrannt, aber gerade diese ungestüme, glühende Bewerbung mochte ihm Lucie entfrem107
det haben. Der lieblichen Jungfrau weiches Gemüth und schwärmerischer Geist mußten sich von dem trockenen, aufdringlichen Wesen Girsas, den das Leben allezeit rauh behandelt hatte, abgestoßen fühlen. Alle seine Bestrebungen, ihre Neigung zu erringen, blieben erfolglos; ja, sie erklärte ihm endlich ganz unumwunden, daß ihr Herz niemals für ihn fühlen würde. Trotzdem gab Girsa seine Bewerbung nicht auf. Mit der hartnäckigen Illusion eines Verzweifelnden klammerte er sich an vage Voraussetzungen, bis eine niederschmetternde Entdeckung ihn auch des letzten Hoffnungsschimmers beraubte. Er nahm wahr, daß Lucie liebte. Die Seele des holden Wesens hatte sich einem jungen Manne ergeben, dessen edler Sinn, treffliches Herz und reiche geistige wie körperliche Begabung sie in gern gelittene Gefangenschaft hineinzauberten. Hugo Krohn, so nannte sich der Glückliche, war eines Abends in den Straßen der Residenz umhergeschlendert, als er eine Gruppe von Betrunkenen, welche ein junges Mädchen verfolgten, bemerkte. Es war Lucie, die in einem Tapisseriegeschäfte bei der Ablieferung einiger Arbeiten so lange aufgehalten worden war, daß bereits die Dunkelheit sich verbreitet hatte, ehe sie den Heimweg antreten konnte. Nicht mehr weit von ihrer Wohnung entfernt, war sie von den Wüstlingen angefallen worden, Es gelang ihr, sich loszureißen und zu flüchten, aber die rohen Gesellen eilten ihr nach und in dem Momente, wo Hugo diese Hetze gewahr wurde, war die Arme bereits 108
so erschöpft, daß sie sich an einen Laternenpfahl lehnen mußte. Im nächsten Augenblicke war sie von der tobenden Rotte umringt. Lucie bat weinend, sie in Ruhe zu lassen, doch die Trunkenbolde lachten sie höhnisch aus, und schon begann der Roheste von ihnen sich Gewaltthätigkeiten gegen das wehrlose Opfer zu erlauben, als Hugo sich auf ihn stürzte und ihn mit einem kräftigen Hiebe zu Boden streckte. Sofort warfen sich die Übrigen auf ihn und ein heftiger Kampf entbrannte, der indeß, Dank der Kraft und Gewandtheit Hugos und den etwas wankenden Beinen seiner Widersacher zu seinen Gunsten ausfiel. Die Angreifer entflohen und nun erst fühlte Hugo, daß er einen Messerstich in die Wange erhalten habe. Lucie war angstvoll, keines Lautes mächtig, dem Verlaufe des Kampfes gefolgt. »Mein Gott, Sie sind verwundet,« rief sie nun heftig erschrocken, als sie bemerkte, daß ihr Retter das Blut mit dem Taschentuche abwischte. »Nur ganz unbedeutend, holdes Kind,« versetzte der junge Mann. »Wollen Sie mir erlauben, Sie bis zu Ihrer Wohnung zu begleiten?« Lucie nickte und eilte dann an Hugo’s Seite ihrem Heim zu. Dort wollte Hugo sich entfernen. »Nein, mein Herr,» flüsterte Lucie mit bebender Stimme »Sie sollen und dürfen nicht fortgehen, ehe ich Ihre Wunde verbunden habe, denn sonst könnte dieselbe sich vielleicht verschlimmern. Es würde mich sehr beunruhigen, wenn ich fürchten müßte, daß sie um meinethalben Schaden nehmen könnten. Bitte, betreten Sie meine be109
scheidene Wohnung; ich werde mich bemühen, die Blutung zu stillen.« Hugo folgte willig der Bitte des reizenden Wesens, dessen Anmuth sein Herz alsbald entflammt hatte. Lucie erhielt von einem Bewohner des Hauses ein Heftpflaster und bald war die leichte Wunde geschlossen. Erst jetzt fand das holde Mädchen Worte des Dankes, die Hugo, entzückt der melodischen Stimme lauschend, mit galanter Artigkeit erwiderte. Nichts ist so sehr geeignet, der Vertraulichkeit Vorschub zu leisten und zwei Herzen einander näher zu führen, als die Beschützung eines weiblichen Wesens vor rohen Anfällen und die Pflege des bei dieser Gelegenheit verletzten Helfers. Indem diese Pflege die Rücksichten steifer Form beseitigt, gestattet sie beiden Parteien das Beisammensein selbst unter Verhältnissen, welche vor dem Richterstuhle gesellschaftlicher Convenienz keine Gnade finden würden. Oft genug vertritt auch ein solches Zusammensein des Liebesgottes Stelle, indem es die Herzen fester zusammenkittet, als langjährige Bekanntschaft dies vermöchte. So geschah es auch hier. Hugo brachte seinem Schützlinge eine rasch entflammte Leidenschaft entgegen und Luciens Herz war nicht so sehr des tieferen Gefühles bar, daß es nicht hätte warm werden sollen, wenn des jungen Mannes blitzende Augen mit zärtlichem Ausdrucke an denen seiner Herrin hingen. Als die beiden jugendlichen Menschenkinder sich nach wenigen Minuten trennten und Hugo um die Erlaubniß bat, wiederkehren zu dürfen, da wurde ihm dieselbe gern bewilligt. Und als er nach nur wenigen Tagen 110
wagte, ihr zu gestehen, daß sein Herz, sein Sinnen und Empfinden, sein ganzes Sein ihr gehöre, da sank sie hold erröthend an seine Brust und lispelte ihm zu, daß sie ihn unaussprechlich liebe und sich unsagbar glücklich fühlen würde, wenn sie ihm eine treue, zärtliche Gattin werden könnte. Der Baron, welchem der glücklichere Erfolg seines neuen Nebenbuhlers nicht lange verborgen blieb, verzehrte sich in Eifersucht. Mit brennendem Eifer überwachte er alle Handlungen der Liebenden und sein dumpfer Ingrimm artete fast in Wahnwitz aus, als Lucie ihm freimüthig gestand, daß sie seine Huldigungen nicht mehr dulden könne, weil sie sich versprochen habe. Er hielt sich darauf einige Zeit fern von ihr, so daß Luciens erstes Liebesglück durch Nichts gestört wurde. Bisweilen zog allerdings ein leichtes Wölkchen am lachenden Himmel ihrer Seligkeit auf, verschwand jedoch stets mit Gedankenschnelle. Lucie nahm nämlich wahr, daß der Geliebte zuweilen einer tiefen Traurigkeit anheimfiel. Diese Schwermuth war um so seltsamer, als sie einige Male sich sogar dann einstellte, während er mit ihr koste oder mit verklärten Mienen den idealistischen Schilderungen, die sie von ihrer sonnigen Zukunft entwarf, lauschte. Er war sich dieser Umwandlung seiner Stimmung durchaus nicht bewußt, wollte sie sogar nicht eingestehen, obgleich er, wie aus einem Traume aufgestört, jäh emporfuhr, wenn sie in solchen Momenten ihm um den Hals fiel und ihn liebreich nach der Ursache seines geheimen Kummers fragte. Daß ihn eine schwere 111
Sorge, die er nicht offenbaren konnte oder mochte, drücke, errieth sie mit dem subtilen Erkenntuißvermögen, welches fast allen Frauen eigen ist, sofort. Selbstverständlich ließ sie es sich eifrig angelegen sein, die Quelle, aus welcher seine Sorgen entsprangen, zu entdecken und glaubte auch endlich, sie aufgefunden zu haben. Hugo Krohn war Maler und Kupferstecher, doch hatte er in beiden Künsten noch Nichts geleistet, was geeignet gewesen wäre, die Aufmerksamkeit der Welt auf ihn zu lenken. Lucie meinte deßhalb, daß die Nichtbefriedigung seines glühenden Ehrgeizes ihn kränke, zumal seitdem er ihre Liebe errungen hatte und den heißen Wunsch hegen mußte, sie recht bald in eine Lage voll Glanz und Behagen einführen zu können. Durch diese Annahme motivirte sie auch seine Scheu, bei ihrem Bruder um ihre Hand zu werben. Er fürchtete, so redete sie sich ein, wahrscheinlich, daß Botho die Werbung eines unbekannten und unbemittelten Künstlers nicht gerade freudig aufnehmen, ja vielleicht sich bemühen würde, ihn von der Schwester fern zu halten. Auch sie selbst hegte eine gleiche Besorgniß und ließ sich deshalb durch Krohn bewegen, für’s Erste ihr Herzensbündnis noch geheim zu halten. Er hoffe, so fügte der Jüngling zu seiner Bitte hinzu, daß sein Schicksal binnen Kurzen eine günstige Wendung nehmen würde. Sie vermochte seinem Verlangen um so leichter nachzugeben, als Botho durch einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in Siebenbürgen, wo er Materialien zur Förderung des Erbschaftsprozesses sammeln wollte, von Wien ferngehalten wurde. – 112
Eines Tages kam Krohn mit freudestrahlendem Gesichte zu der Geliebten und verkündete ihr, daß seine Hoffnung sich endlich verwirklicht habe. Ein großmüthiger Gönner, dem seine Begabung Achtung abgewonnen, habe ihm die Mittel zu ernstem Kunststudium an der Wiege der Malerei im göttlichen Rom, gewährt. Dorthin wollte er nach kurzer Zeit abreisen, um nach einem Jahre als Meister in seinem Berufe zurückzukehren und sie heimzuführen. Zuvor beabsichtigte er jedoch, die Einwilligung seines Vaters zu seiner Wahl einzuholen und mit ihr vereint auch Botho’s Zustimmung zu erbitten.
Secste+ Kapitel. Eine Menscenhetze.
O
ber-Inspektor Stehling, der Chef des ausgezeichneten Detektiv-Corps, schritt mißmuthig in seinem Bureau auf und nieder. Seine unerquickliche Stimmung war durch triftige Ursachen hervorgerufen worden. Seit vielen Monaten trieb eine Verbrecherbande ihr Unwesen in der Hauptstadt und zwar mit unerhörter Verwegenheit und beispiellosem Glücke. Denn obwohl fast das halbe Detektiv-Corps zu ihrer Aufspürung aufgeboten worden war, hatte man bisher noch nicht ein einziges Mitglied der Bande festnehmen können und auch keinen von den Hehlern, mit denen sie in Verbindung stand, ermittelt. Ja, es war sogar nicht gelungen, irgend etwas von dem ge113
stohlenen Gute aufzufinden, ein Mißgeschick, durch welches die Nachforschungen der Polizei nicht wenig erschwert wurden, weil man dadurch der Möglichkeit beraubt wurde, das Signalement auch nur eines Individuums, welches mit der Bande in Verbindung stand, zu erfahren. Die Erfolglosigkeit der Recherchen nach dieser Richtung hatte der Polizei die Vermuthung aufgedrängt, daß das gestohlene Gut nach auswärts geschleppt würde. Trotzdem blieb auch in dem Falle, wenn diese Annahme keine irrige war, die Unauffindbarkeit irgend einer Spur kaum begreiflich. Das gestohlene Gut mußte doch bis zu dem Zeitpunkte, wo es aus Wien transportirt werden sollte, irgendwo verborgen gehalten werden, es konnte ferner nur auf der Eisenbahn, auf Schiffen oder Frachtfuhrwagen weiter befördert werden und diesen Voraussetzungen gemäß hatte die Polizei ihre Nachforschungen eingerichtet; aber auch hier errang sie sich keine Triumphe. Das geheime Magazin der Bande blieb unentdeckt und unter den aus Wien verfrachteten Gütern befand sich nichts, was darauf schließen ließ, daß es gestohlen sein könnte. Es war ganz unbegreiflich. Gaunerbanden, ja sogar trefflich organisirte Gaunerbanden gab es seit jeher in Wien, wie in allen Weltstädten, in großer Menge; hatte man doch erst vor Kurzem zwei aufgehoben, von denen die eine 32, die andere nicht weniger als 56 Mitglieder zählte; aber eben deshalb, weil man ungleich leichter die Spur einer ganzen Bande als die eines einzelnen raffinirten Gauners aufzufinden vermochte, wirkte der langandauernde Bestand der neuen Bande um so beunruhigender. Wie jeder Verbrecher am Anfange 114
seiner gefährlichen Laufbahn zaghaft zu Werke geht, um nach und nach zu immer verwegeneren Unternehmungen vorzuschreiten, so verfuhr auch die »Chawrusse« *; sie wurde immer kühner, je resultatloser die Anstrengungen der Polizei zu ihrer Aufspürung blieben. Nicht nur in Privatwohnungen brach sie ein, sondern auch in Kirchen und kaiserliche Ämter, und in der verflossenen Nacht hatte sie sogar die Keckheit gehabt, den Appartements des Fürsten Lamberg, eines der Halbgötter der Erde, der in der Armee eine hohe Stellung inne hatte und am Hofe eine bedeutende Rolle spielte, einen Besuch abzustatten und außer einer Menge von Schmucksachen sogar sämmtliche Orden des vornehmen Herrn mitzunehmen. Daß alle diese Frevelthaten von einer und derselben Bande vollführt wurden, bewies der Umstand, daß an jedem Schauplatze ihrer Wirksamkeit ein schwarzer, weißgesteppter Handschuh in übernatürlicher Größe aufgefunden wurde. Die Bande war mithin kühn und verwegen genug, der Polizei gewissermaßen einen Fehdehandschuh hinzuwerfen, eine Herausforderung, deren kecker Hohn um so tiefer verletzen mußte, als er bekundete, daß die Herren Gauner wenig Respekt vor dem Spürtalente der Polizei besaßen. – Außer der erschreckend großen Zahl von Einbruchsdiebstählen hielt noch eine andere Kalamität die Polizeibehörde in Athem. So kamen nämlich in England zahlreiche gefälschte Banknoten zum Vorschein, die so vorzüglich nachgeahmt waren, daß nur ganz findige Augen die Fäl* »Chawrusse« heißt in der jenischen oder Gaunersprache eine Bande.
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schung zu entdecken vermochten. Die Geschäftswelt hingegen nahm die Falsificate in Zahlung an und die Bank von England war genöthigt, dieselben gegen echte Noten einzuwechseln, wenn sie nicht eine heillose Deroute auf dem Geldmarkte hervorrufen wollte. Selbstverständlich hatte die Londoner Geheimpolizei sich bemüht, den Sitz der Fälscherbande aufzuspüren und aus zuverlässigen Anzeichen die Gewißheit erlangt, daß die Falsificate in Wien selbst oder in dessen Umgebung angefertigt würden. Diese Annahme hatte sich auch als vollkommen richtig erwiesen. Der Detektive Randolf hatte den Schlupfwinkel der Fälscherbande entdeckt; es war der »schwarze Hahn«. Ehe es ihm indeß geglückt war, die Festnahme der Fälscher möglich zu machen, war er auf unerklärliche Weise verrathen worden. Er hatte dann allerdings das Polizeipräsidium von seiner Entdeckung verständigt und dieses hatte den »Vater« Schwendfeger in Haft genommen, den »schwarzen Hahn« gesperrt und mit Bewilligung des Klosters, welchem das alte Haus am Donauwalde gehörte, eine gründliche Durchsuchung des Gebäudes vorgenommen. An jenen Stellen, wo man geheime Eingänge vermutete, hatte man die Mauern durchbrochen und in der That nach langwieriger Anstrengung jene Kellerräume entdeckt, welche der Bande zum Schlupfwinkel gedient hatten. Doch von den Gaunern selbst oder ihren Arbeiten fand sich nicht die geringste Spur vor. Aus Schwendfeger war Nichts herauszubringen; er blieb bei der Behauptung, daß der »schwarze Hahn« niemals einer Verbrecherbande zum Verstecke gedient habe und be116
zeichnete die Angaben Randolfs als Phantastereien, zu dem Zwecke ersonnen, um dem Detektive Ansehen bei seinen Vorgesetzten zu verschaffen. Natürlich schenkte man ihm keinen Glauben, wurde jedoch an der Fortsetzung der Vernehmungen des Gastwirths durch das Faktum verhindert, daß Schwendfeger eines schönen Tages aus dem Gefängnisse verschwand und seitdem verschollen geblieben war. Es fragte sich nun, ob die Fälscherbande noch in Wien hause. Daß sie noch existirte, bewies die Thatsache, daß noch immer frische Falsificate nicht blos englischer, sondern auch deutscher und österreichischer Banknoten in Umlauf gebracht wurden. Wo hatte sich die Bande eingenistet? Wohin hatte sie das große Material, dessen sie zur Herstellung der Falsificate bedurfte, geschafft? Auch die Erwägung verdiente ernstliche Beachtung, ob nicht etwa die Fälscherbande und die kühne »Schränkerchawrusse« * einer und derselben Leitung unterstanden. Die Geschicklichkeit, mit welcher beide Banden den polizeilichen Anstrengungen trotzten, ließ diese Kombination fast als unbezweifelbar erscheinen. Der »Bohnherr« ** mußte seltenen Scharfsinn, ausgebreitete Lokalkenntniß, vielleicht auch Verbindungen unter den Polizeibeamten haben. So viel konnte man schon jetzt als sicher annehmen, daß die Polizei ungleich größere Schwierigkeiten bei der Aufspürung und Unschädlichmachung dieser Bande zu überwinden haben würde. Die Verstimmung des Ober-Inspektors war deshalb nur zu erklärlich. Auf ihn, den Chef der Geheimpolizei, entlud * Einbrecherbande. ** Leiter einer Bande.
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sich zunächst jenes Unwetter, welches »höheren Regionen« entstammte, und wenn dasselbe eine auch noch so milde Gestalt hatte, unangenehm war es doch trotzdem. Daß der Einbruch bei dem Fürsten Lamberg nicht nur im Publicum, sondern auch in exklusiven Kreisen unliebsames Aufsehen erregen, daß die Zeitungspresse nicht verfehlen würde, wieder einmal, wie es läppischer Weise stets geschieht, wenn ein Verbrecher unentdeckt bleibt, (als ob die Polizei sich göttlicher Allwissenheit und Allmacht erfreute!) mit den althergebrachten absurden Redensarten und Witzen über die Polizei herzufallen, ließ sich voraussehen. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
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Nr. 8
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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enn der wackere Beamte sich nun auch längst daran gewöhnt hatte, über die ihm applicirten Nadelstiche geringschätzig die Achseln zu zucken, ganz gleichgiltig konnten sie ihn doch nicht lassen. Er liebte seinen Beruf und war mit schönem Eifer bemüht, die gefährlichen Klassen so viel als möglich in Schranken zu halten; wenn dessenungeachtet zahlreiche Übelstände unbehoben blieben, fast unzählbare Verbrechen sich nicht verhindern ließen, so lag die Ursache davon in faulen Zuständen, die bei einem Gemeinwesen von mehr als einer Million Menschen sich nothwendiger Weise ausbilden müssen. Nachdem der Ober-Inspektor den ausführlichen Bericht, welchen das Kommissariat jenes Bezirks, zu dessen Rayon 119
die Wohnung des Fürsten Lamberg gehörte, abgestattet hatte, mit minutiösester Aufmerksamkeit durchgelesen, überdachte er sorgfältig die Maßregeln, welche er nun etwa noch treffen könnte. Seine Reflexionen wurden durch den alten Diener unterbrochen, der in das Gemach trat und in strammer Haltung an der Thür stehen blieb. »Nun, Wellner, was giebts?« erkundigte sich Stehling. »Herr Randolf läßt anfragen, ob der Herr Ober-Inspektor ihn sogleich empfangen könnten; er hätte wichtige Mittheilungen zu machen.« »Gewiß, gewiß; lassen Sie ihn unverzüglich ein,« rief der Ober-Inspektor lebhaft. Der Detektive Randolf gehörte zu jenen Geheimpolizisten, welche ausschließlich mit der Ermittelung der Einbrecherbande betraut waren. Auch seine Bemühungen hatten bisher keinen Erfolg gehabt; wenn er nun jedoch melden ließ, daß er wichtige Mittheilungen zu machen habe, so konnten sich dieselben doch wohl nur auf die Einbrecherbande beziehen, und Stehling’s Aufregung war deshalb keine geringe. Wenige Sekunden nach des Dieners Abgang trat Detektive Randolf in das Bureau. Es war ein noch junger Mann, mit hübschem, intelligentem Gesichte, auf welchem nicht nur Klugheit, sondern auch eine starke Willenskraft sich wiederspiegelte. In diesem Augenblicke strahlte aus seinen Mienen noch überdies ein unverkennbarer Ausdruck von Freude, bei deren Anblick der Ober-Inspektor eine unwillkürliche Erleichterung fühlte. 120
»Nun, Randolf,« rief er dem Detektive entgegen, »haben Sie endlich eine Spur?« »Nicht nur eine Spur, sondern die ganze Bande,« entgegnete vergnügt der Detektive. »Wie soll ich das verstehen?« fragte Stehling mit ungläubigem Erstaunen. »Ich meinte, daß ich jetzt den Schlupfwinkel der Bande zu kennen glaube, daß wir denselben heute Abend um jene Stunde, wo die ganze »Chawrusse« dort versammelt sein wird, umzingeln und die Sippe bis auf den letzten Mann in Haft nehmen werden.« »Blitz,« rief der Ober-Inspektor überrascht, »Versprechen Sie auch nicht zu viel?« »Wenn nicht ein ganz unvorhergesehener, tückischer Zufall meine Pläne durchkreuzt, dann stehe ich gut dafür, daß meine Verheißung vollständig in Erfüllung geht,« versicherte Randolf mit solcher Zuversicht, daß der OberInspektor nicht länger an der Richtigkeit seiner Angaben zweifeln konnte. – Hoch erfreut rief er: »Wenn uns dieser Fang wirklich gelingt, Randolf, dann werde ich dafür sorgen, daß Ihr Eifer und Ihre unübertroffene, umsichtige Thätigkeit nicht unbelohnt bleiben.« Der Detektive verbeugte sich dankend. Stehling fuhr fort: »Nicht sobald hat mir Etwas einen so lebhaften Verdruß bereitet, wie die scheinbare Unauffindbarkeit dieser Einbrecherbande. Um so dankbarer werde ich Ihnen mich erweisen, wenn diese Sorge von mir genommen wird. Sie 121
können darauf rechnen, daß ich Ihnen eine ansehnliche »Taglia« * auswerfen und Sie bei dem nächsten Avancement zur besonderen Berücksichtigung vorschlagen werde.« »Sie beglücken mich hoch,« betheuerte Randolf entzückt, »und ich will es offen eingestehen, daß hauptsächlich die Hoffnung auf die Belohnungen, welche Sie so gütig sind, mir in Aussicht zu stellen, mich unablässig angespornt hat.« »Sehr natürlich. Jedem Streben wird man erst dann mit voller, freudiger Hingebung sich widmen, wenn Aussicht auf Belohnung desselben vorhanden ist. Sie hatten, wenn ich mich recht entsinne, noch eine besonders gewichtige Ursache, baldige Beförderung zu ersehnen?« »Allerdings. Ich darf nicht früher heirathen, als bis ich in die höhere Gehaltsklasse vorgerückt bin.« »Sie sind also der schönen Buffetmamsell des »Café Schomberger« treu geblieben? Haben Sie von ihr den Schlupfwinkel der Bande erfahren?« »Nein. Trotz allen Eifers gelang es meiner Marie nicht, sich über dieses Geheimniß Aufklärung zu verschaffen.« »Sie gab Ihnen ja aber mancherlei Andeutungen, die sich zwar nicht als ganz irrige erwiesen, aber doch auch nicht die Aufspürung der Bande ermöglichten.« »Leider. – Herr Ober-Inspektor wissen ja, daß das Café Schomberger der Sammelplatz einer großen Zahl anrüchiger Personen ist und daß Schomberger selbst sich keines guten Rufes erfreut.« * Taglia heißt die Prämie, welche dem Detektive für besonders wichtige Dienste gezahlt wird.
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»Der Mann betreibt unzweifelhaft schwungvoll das Geschäft eines Hehlers. Nicht umsonst ist er Jahre hindurch der Kellner des »Vater« Schwendfeger gewesen. Man hat ihm freilich nicht nachzuweisen vermocht, daß er an dem ungesetzlichen Treiben seines Prinzipals sich betheiligt, oder auch nur Kenntniß von demselben gehabt hat, doch läßt sich das als selbstverständlich annehmen. Dieser Schomberger ist nach meinem Erachten ein ausgefeimter Gauner. Woher hat er sonst das viele Geld, das er besitzt? Seine Angabe, daß er Gewinnste im Börsen- und Lottospiele gemacht habe, mag glauben, wer Lust hat, – ich nicht.« »Ich ebenfalls nicht, Herr Ober-Inspektor. Deshalb entschloß ich mich auch, Schomberger, sein Café und die in demselben verkehrenden Gäste scharf zu überwachen. Ursprünglich schloß ich mich auch nur deshalb enger an die schöne Marie an, um sie über ihren Herrn auszuforschen. Als wir dann vertrauter mit einander wurden und uns liebgewannen, weihte ich sie in meine Pläne ein.« »Thaten Sie auch gut daran? Waren Sie der Neigung des Mädchens so sicher? Schenkmamsellen pflegen sehr veränderlich zu sein?« »Meine Marie bildet eine Ausnahme; sie liebt mich so zärtlich, wie ich sie und hat gleich mir keinen heißeren Wunsch als den, daß ich mich recht auszeichnen und dadurch meine Beförderung und unsere Verehelichung ermöglichen könnte. Sie unterstützte deshalb auch meine Bemühungen so gut sie vermochte und hat mir ja auch wirklich manche Winke gegeben –« 123
»Die aber doch nie zur Entdeckung der Bande beitrugen. Sie verständigte Sie allerdings mehrere Male von Einbrüchen, die ausgeführt werden sollten –« »Diese Angaben bewahrheiteten sich ja auch regelmäßig.« »Das bestreite ich auch nicht. Wir wurden wirklich einiger Einbrecher habhaft, doch standen dieselben in keiner Verbindung mit der Bande. Auffallend erscheint mir der Umstand, daß ausnahmslos in jeder Nacht, wo Sie einer Mittheilung der Mamsell zufolge in weit entfernten Stadttheilen einem »Schränker« * auflauerten, die Bande einen großartigen Einbruch ausführte. Sollte dieses merkwürdige Zusammentreffen nur durch den Zufall herbeigeführt worden sein?« – »Davon bin ich fest überzeugt, Herr Ober-Inspektor. Welchen Zweck hätte das Mädchen damit, daß sie mich täuschte, erreichen wollen?« »Sie wollte Ihre Aufmerksamkeit für die betreffende Nacht vom Café Schomberger ablenken. Sie wußte ja, daß Sie das Kaffeehaus scharf bewachten. Wenn die Bande einen neuen Einbruch wagen wollte, was immer nur dann geschah, wenn sie erfuhr, daß ein nicht zu ihr gehöriges Individuum auf eigene Faust einen Einbruch unternehmen wolle, dann mußte man sicher sein, daß Sie nicht in der Nähe des Kaffeehauses weilten, in welchem aller Wahrscheinlichkeit nach das geraubte Gut so lange versteckt gehalten wurde, bis es ohne Gefahr weitertransportirt werden konnte. Man entfernte Sie deshalb, indem man Sie hinter * Schränker gleich Einbrecher.
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die anderen armen Teufel, die ihre Projekte wohl arglos der listigen Mamsell offenbart hatten, hetzte. – Nachdem Sie mir mitgetheilt haben, daß Sie die Mamsell in ihre Pläne einzuweihen pflegten, erscheint es mir nicht mehr räthselhaft, daß Sie die Fälscherbande nicht in unsere Gewalt spielen konnten, trotzdem Sie diesem Ziele bereits ganz nahe waren. Ich fürchte, ich fürchte, Randolf, daß Ihre Marie es gewesen ist die Sie den Fälschern denuncirte.« Der Detektive starrte sehr betroffen zu Boden. Die Kombinationen des Chefs stimmten mit Wahrnehmungen überein, die er selbst in der jüngsten Zeit gemacht hatte. So innig er die Buffetmamsell liebte, regten sich nun doch böse Zweifel an deren Hingebung und Treue in seinem Herzen und bereiteten ihm arge Seelenpein. Der Oberinspektor betrachtete ihn scharf, dann sagte er: .Sie müssen sich meine Bemerkungen nicht gar zu sehr zu Herzen nehmen. Ich prüfe die Handlungsweise Ihrer Geliebten mit den kalt kritischen Augen eines alten, erfahrenen Polizisten und habe mich vielleicht zu ganz falschen Folgerungen hinreißen lassen. Vorenthalten mochte ich Ihnen meine Meinung nicht; ich habe heute schon Stunden lang über alle Maßregeln, die wir zur Habhaftwerdung der Bande anwandten, nachgedacht, und dabei ist natürlich auch Ihr Verhältniß zur Buffetmamsell unter meine kritische Loupe gerathen. Ich nahm mir vor, Ihnen meine Anschauungen rückhaltslos mitzutheilen, damit Sie die Augen aufmachen möchten. Doch können Sie mir glauben, daß ich lebhaft wünsche, mich getäuscht zu haben 125
und daß ich mich aufrichtig freuen würde, wenn Ihnen in der ehelichen Verbindung mit der Mamsell jenes Glück zu Theil würde, daß Sie erhoffen. – Und nun wollen Sie mir mittheilen, wie es Ihnen geglückt ist, endlich doch eine sichere Spur der Bande aufzufinden.« Dieser Aufforderung kam der Agent selbstverständlich alsbald nach. Seine Mittheilungen bestanden ihrem wesentlichen Inhalte nach in Folgendem: Er hatte vor einigen Wochen Abends spät sich längere Zeit in der Stube der Buffetmamsell, die so stark beschäftigt war, daß sie ihn allein lassen mußte, befunden. Zwischen diesem Zimmer und den Lokalitäten, die für das Gros der Gäste bestimmt waren, lag ein Kabinet, in welches sich diejenigen Personen zurückzogen, welche aus irgend einem Grunde allein zu sein wünschten. Damals befanden sich zwei junge Burschen in demselben, die der Detektive als berüchtigte »Torfdrucker« * kannte. Er war im Stande, sie genau zu beobachten, weil die Thür zu Maria’s Zimmer kaum merklich offen stand. Die Gauner bemerkten das vielleicht nicht, oder sie achteten nicht darauf, weil sie wußten, daß die Mamsell im Saale beschäftigt war und sich mithin unbelauscht wähnten. Sie legten sich denn auch keinen Zwang an, während sie eine lebhafte Unterhaltung führten. Der Eine, welcher ganz behäbig ausschaute und elegant gekleidet war, hielt seinen Genossen, dem die Noth aus den blassen Backen und der schäbigen Kleidung schaute, frei. »Habt Ihr wieder gearbeitet?« fragte der Letztere. * Taschendiebe.
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Der Elegante nickte. »’N graußen Klumpen,« * antwortete er darauf. »Wo?« »In Mödling, in der Villa des Banquier Hirschfeld.« »Ist Eure Chavrusse stark?« »Zwanzig Chochems ** außer dem Bohnherrn.« »Kommt viel auf den Schab (Antheil) eines Jeden?« O, wir haben immer viel Kies (Geld). Schau’ her, eine ganze Hand Voll Bleameln (Dukaten) habe ich da, echtes Fuchs (Gold), keine Spielmarken. Auch Söfl (Banknoten) und anderes Gips (Geld) haben wir genug. Wir sind immer liechtenstein (bei Kasse).« Der Schäbige warf einen neidischen Blick auf den Reichthum des Genossen und seufzte: »Wie glücklich Du bist! Ich bin fast immer naß (ohne Geld) und verdiene oft tagelang keinen Redsch (Kreuzer). Könnte ich nicht in eure Chawrusse aufgenommen werden?« »Hm, ich werde mal nachfragen, will morgen mit dem rothen Jud darüber sprechen, damit er’s dem Bohnherrn sagt. Der rothe Jud ist nämlich Einer von den Balmassematten.« Randolf war hoch erfreut. Er konnte nicht in Zweifel darüber sein, daß der elegante Bursche der Einbrecherbande angehöre, welcher man so lange erfolglos nachge* ’N graußen Klumpen arbeiten (oder handeln) gleich reiche Beute machen. ** Chochems = Kluge, vulgo: Mitglied einer Bande.
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stellt hatte, weil in der Villa des bestohlenen Banquiers gleichfalls ein schwarzer Handschuh aufgefunden worden war. Er beschloß den Gauner scharf im Auge zu behalten, um dadurch der Sippe vielleicht auf die Spur zu kommen. Doch in dieser Hoffnung betrog er sich. Es ging aus der Vorsicht, deren sich der Bursche befleißigte, unzweifelhaft hervor, daß den Mitgliedern der Chawrusse die äußerste Behutsamkeit anempfohlen worden war, denn der jugendliche Gauner bediente sich solcher Maßnahmen, daß es dem Detektive unmöglich wurde, ihm Abends ohne Gefahr vor Entdeckung zu folgen. Er hätte ihn freilich verhaften können, damit jedoch hätte er sich vielleicht nur Schaden zugefügt. Die Bande wäre vorzeitig alarmirt und noch vorsichtiger geworden oder hätte sich wohl ganz aufgelöst. Der Polizei lag aber sehr viel daran, die Hauptmatadore der Bande dingfest zu machen, und vor allem den Bohnherrn, der allem Anscheine nach ein wahrer Ausbund von Schlauheit und Verwegenheit sein mußte. – Fast verzweifelte der Detektive an einem glücklichen Erfolge seiner Anstrengungen, als der Zufall ihm zu Hilfe kam. – Er hatte den Überwachten eines Abends, wie gewöhnlich, aus dem Café Schomberger auf die Straße verfolgt und war ihm dann bis zum Opernhause nachgeschlichen. Dort fand heute, einem hohen Gaste zu Ehren, eine Galavorstellung statt, und Hunderte von geputzten Menschen, angelockt durch die seltene Festlichkeit, drängten sich durch das glänzende Foyer nach den Eingängen. Der Gauner mischte sich unter sie und mochte wohl die Gelegenheit 128
zur Erprobung seiner ursprünglich betriebenen Kunst als günstig erachten, denn er zog einer Dame das wohlgefüllte Portemonnaie aus der Tasche. Im nächsten Augenblicke hatte Randolf ihn gefaßt. Der Spitzbube mußte das Portemonnaie zurückgeben und dem Agenten folgen. zu seinem maßlosen Erstaunen führte Randolf ihn nicht zur Polizei, sondern in seine Wohnung. Dort angekommen, eröffnete der Detektive dem überraschten Gauner, daß er ihn nicht dem Gefängnisse überliefern würde, wenn er die Einbrecherbande verriethe. Der Bursche wollte davon, wie von der Bande überhaupt, anfänglich nichts wissen; als indeß Randolf ihm gehörig zusetzte sowie ihm völlige Straflosigkeit und überdies eine nicht unbedeutende Belohnung auszuwirken versprach, da zeigte er sich gefügiger, indem er gelobte, die Polizei zu dem Schlupfwinkel der Bande führen zu wollen, wenn sämmtliche Mitglieder derselben dort versammelt sein würden, Das kam nämlich nur an jenem Tage vor, an welchem der Erlös den der Verkauf des gestohlen Gutes ergeben hatte, zur Vertheilung kommen sollte. »Wann trifft dieser Termin ein?« fragte der Ober-Inspektor, der dem Berichte des Detektive bis dahin schweigend und mit immer höher steigender Spannung zugehört hatte. »Am zwanzigsten jeden Monats,« antwortete Randolf. »Das wäre ja heute,« rief Stehling erregt »Allerdings. Heute Abend um 9 Uhr wird Sacken, so heißt der Verräther, mich im Café Schomberger erwarten.« 129
»Wozu denn das, ist Ihnen der Schlupfwinkel der Bande noch nicht bekannt?« »Nein. Sacken weigerte sich, ihn mir namhaft zu machen, bevor er nicht einen vom Herrn Polizeipräsidenten unterzeichneten Revers, durch welchen ihm völlige Straflosigkeit und eine Belohnung von 500 Gulden zugesichert würde, in Händen hätte. Sie haben wohl die Güte, Herr Ober-Inspektor, einen derartigen Revers von Sr. Excellenz zu erwirken?« »Soll geschehen. Der Patron darf aber nicht in Wien bleiben.« »Das liegt auch nicht in seiner Absicht. Er wird, sobald die Bande in unserer Gewalt und die Prämie in seinem Besitze sich befindet, Wien unverzüglich verlassen und auch Österreich, weil er sich vor der Rache seiner Complicen fürchtet.« »Er soll nur gehen, hoffentlich auf Nimmerwiederkehr. – Wie wird es nun aber mit der Umzingelung des Schlupfwinkels?« »Ich habe mit Sacken folgende Verabredung getroffen. Um 9 Uhr treffen wir uns im Café Schomberger, ich selbstverständlich in einer Verkleidung, die mich unkenntlich macht. Sacken nimmt den Revers in Empfang und die Anweisung, auf welche er morgen die Prämie erheben kann. Dann fahren wir nach dem Kreuzungspunkte der Nordwestbahn mit der Wallersteinstraße –« »Also in der Brigittenau liegt das Nest?« »Wahrscheinlich. Es kann aber auch sein, daß wir über die Donau setzen müssen. Sacken läßt nämlich bitten, ein 130
Boot, welches eine größere Zahl von Menschen fassen kann, unter der Eisenbahnbrücke warten zu lassen.« »Gut.« »Ferner möchten so viele Sicherheitswachtleute, als nöthig sind, ein Haus zu umzingeln, sich unfern des vorhin erwähnten Kreuzungspunktes versammeln.« »Werde dem Leopoldstädter Kommissariate die Ordre ertheilen, zwanzig Mann dorthin abzusenden.« »Ich erlaube mir darauf aufmerksam zu machen, daß die Leute einzeln und auf verschiedenen Wegen nach dem Sammelorte sich begeben möchten, damit nicht vielleicht zufälligerweise ein Individuum, welches mit der Bande in Verbindung steht, die Ansammlung der Polizei gewahr wird –« »Sie haben Recht. Vorsicht ist unter allen Umständen zweckmäßig.« »Wann werde ich den Revers des Herrn Präsidenten bekommen können?« »Ich werde mich sofort zu Sr. Excellenz begeben, um Bericht zu erstatten. Der Herr Präsident wird nicht weniger erfreut sein, als ich, daß endlich diese nichtsnutzige Bande unschädlich gemacht werden kann. Apropos, haben Sie vielleicht daran gedacht, sich bei dem Verräther zu erkundigen, ob von der Bande auch die Banknotenfälschung betrieben wird ?« »Allerdings. Er stellte das in Abrede, doch lassen einige gewichtige Gründe mich vermuthen, daß ein Theil der Bande, welche wir aus dem »schwarzen Hahn« vertrieben haben, den Kern dieser neuen Chawrusse bildet, während 131
die Übrigen in einem anderen Schlupfwinkel noch immer sich mit der Herstellung von Falsificaten beschäftigen.« »Woraus schließen Sie das?« sagte Stehling begierig. »Zunächst aus der Angabe Sackens, daß die hervorragendsten Mitglieder der Einbrecherbande schon bei einer anderen Chawrusse thätig gewesen seien.« »Bah, dieser Umstand ist nicht bedeutend. Es wird wenige Gauner in Wien geben, die nicht bereits einer Bande angehört haben. Das Associationswesen ist auch bei dieser Menschenklasse beliebt.« «Der Umstand dürfte um so mehr beweisen, daß auch der Bohnherr der Einbrecherbande den Mitgliedern nur unter der Bezeichnung »der Herr« bekannt ist.« Der Ober-Inspektor fuhr vor heftiger Erregung vom Stuhle empor. »Das ist freilich ein bedeutsamer Anhaltspunkt. Also wieder kommt uns der Geheimnißvolle in den Weg. Hm, hm.« Er ging, die Hände auf den Rücken kreuzend, im Zimmer auf und nieder, ernstem Nachdenken hingegeben. Allmählig verlor sich der Wiederschein der Zufriedenheit, den der Bericht des Detektive auf seinem Antlitze hervorgezaubert hatte, um unverkennbarem Mißmuthe Raum zu geben. Endlich blieb der alte Herr vor Randolf stehen. »Sie werden sich wundern, daß meine Stimmung so urplötzlich umgeschlagen ist,« sagte er. »Die Muthmaßung, daß der Bohnherr der Fälscherbande an der Spitze dieser Chawrusse stehen könnte, beunruhigt mich. Ich halte im Allgemeinen von den geistigen Anlagen der Gauner nied132
riger Kategorie nicht viel; die Erfahrung hat mich gelehrt, daß diese Menschen keine sonderliche Verstandeskraft besitzen; dieser »Herr« dagegen hat mir, möchte ich fast sagen, Hochachtung vor seinen Fähigkeiten abgewonnen, denn er hat in vielen Fällen zur Genüge dargethan, daß ihm erstaunliche Klugheit und Willenskraft eigen sind. Offen gestanden, würde ich mich wundern, wenn unsere Voraussetzungen sich bestätigen, wenn wir also den »Herrn« an der Spitze einer Bande finden sollten, die mit Meißel und Brechstange arbeitet. Leute von seiner Qualification suchen doch fast immer auf dem Gebiet des Hochstaplerthums glänzende Erfolge zu erringen.« »Und können wir wissen, ob dieser »Herr« nicht ebenfalls eine große Rolle in der vornehmen Welt spielt? Vielleicht leitet er die beiden Banden nur aus Lust am Abenteuerlichen –« »Oder, was wahrscheinlicher ist, um recht viel Geld zu erwerben. Ihre Andeutung bringt mich übrigens auf eine Idee, deren Ausführung vielleicht ersprießliche Folgen haben könnte. Sie haben den »Herrn« ja schon wiederholt gesehen. Würden Sie ihn wieder erkennen?« »Auf der Stelle, unter Tausenden. Diese Physiognomie vergißt man nie wieder.« »Vortrefflich. Mein Plan läuft nämlich darauf hinaus, daß Sie unter der Maske eines vornehmen Herrn in unserer Haute-Volée sich bewegen möchten. Vielleicht stoßen Sie da auf den »Herrn.« Randolfs Augen leuchteten. »Die Idee ist prächtig,« rief er, sich vergnügt die Hände reibend. 133
»Ich werde sie dem Herrn Präsidenten vortragen. Zweifellos wird Se. Excellenz seine Zustimmung geben.« Der Detektive lächelte plötzlich. »Verzeihen Sie mir, Herr Ober-Inspektor, die Bemerkung, daß wir unnütze Pläne entwerfen.« »Weshalb unnütz?« »Weil der »Herr« uns aller Wahrscheinlichkeit nach heute Abend sammt seiner ganzen Bande in die Hände fallen wird.« »Ich fürchte das Gegentheil. Die Bande werden wir hoffentlich erwischen, aber den Bohnherrn schwerlich.« »Wenn das Haus gut umzingelt wird –« Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. 9
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
N
ennen Sie mich abergläubig, einen Thoren, aber ich kann mich von der Vorstellung nicht losreißen, daß das Glück einem [einen] Menschen, den es bisher in geradezu erstaunlicher Weise begünstigt hat, nicht so leicht untreu wird.« Randolf zuckte die Achseln. »Wir werden ja sehen, « meinte er. »Attrapiren wir den » Herrn «, um so besser, entwischt er uns dagegen, dann bleibt es bei unserem Plane. – Und nun zum Präsidenten.« Es war Abends einige Minuten vor neun Uhr, als eine höchst verdächtig aussehende Gestalt in das Café Schomberger trat, sich aufmerksam umschaute, auch in das Kabinet einen Blick warf und sich endlich in einer halbdunklen 135
Ecke niederließ. Der riesige schwarze Bart dieses Mannes, sowie sein dichtes, fast negerartiges Haupthaar waren struppig, Hände und Gesicht mit Schmutz bedeckt, der auch die schäbige Kleidung noch unansehnlicher machte. Am bemerkenswerthesten waren an dieser katilinarischen Erscheinung die großen hellen Augen, deren Blicke Jedem bis in das Innerste der Seele dringen zu wollen schienen. Der Mann schien Einen zu erwarten, denn er sah jedesmal rasch auf, sobald die Entreethür geöffnet wurde, plötzlich erhob er sich und starrte mit auffallender Neugierde einen hochgewachsenen, kräftig gebauten Herrn an, der gerade in den Saal getreten war, der schönen Marie, welche hinter dem Büffet in graciöser Attitüde lehnte, einen Blick zuwarf und dann langsam in das Kabinet ging. Der Schäbige hatte den Blick des Einverständnisses, den die Schankmamsell mit dem Elegant wechselte, aufgefangen und behielt das Mädchen fortan unverwandt im Auge. Nach Verlauf einiger Minuten erhob die Mamsell sich und ging rasch in das Kabinet. Kaum war sie in demselben verschwunden, als der Aufpasser schleunigst auf den Hof eilte, wohinaus die beiden Fenster des Zimmers gingen, welches Marie bewohnte. Das Gemach war finster, als der Schäbige sich so an eines der unverhängten Fenster stellte, daß er hineinschielen konnte, ohne von innen bemerkt zu werden, eben erst hatte er den Beobachtungsposten eingenommen, als im Zimmer Licht aufblitzte. Zwei Personen wurden nun sichtbar, der Elegant und die Mamsell. 136
Jener zog unter dem leichten, weiten Überzieher ein kleines Packet hervor und übergab es der Schönen mit der Bitte, es dem Cafétier einzuhändigen, sobald dieser heimkehren werde. »Und hier,« so hörte der Schäbige ihn sagen, »sind einige Hundert geringerer Sorte, die Sie wohl, wie bisher, mit so großem Erfolge werden absetzen können. Sie sind so vorzüglich gearbeitet, daß eine Entdeckung kaum möglich ist. Die Hälfte der Einnahme fließt natürlich, wie immer, Ihnen zu.« Darauf grüßte er artig und entfernte sich. »Wo habe ich den Mann nur schon gesehen?« murmelte der Aufpasser in den Bart. »Sein Gesicht kommt mir außerordentlich bekannt vor.« Er warf einen Blick durch das Fenster. Die Mamsell hatte das kleinere Packet geöffnet, doch vermochte der Späher nicht zu sehen, was in demselben befindlich war, weil Marie sich an einen Tisch gestellt hatte, den er nicht überblicken konnte.– Mit einem Male fuhr der Zerlumpte wie rasend empor, schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und rief: »Das war ja der Walther, das Faktotum des Herrn. Beim Himmel, er war es. Wo habe ich nur mein Gedächtniß?« Mit Windesschnelle stürmte er in den Saal – ein Blick reichte hin, ihm zu sehen, daß Walther nicht mehr anwesend war. Der sonderbare Mensch rannte nun der Entreethür zu, hielt indeß mitten im Saale still und sprach halblaut vor sich hin: 137
»Ihn suchen zu wollen, wäre Thorheit. Auch muß ich mich überzeugen, welche Beziehungen Marie zu diesem Menschen unterhalten hat. Wenn der Ober-Inspektor Recht behielte, wenn sie mich betrogen, an der Verausgabung der falschen Banknoten Theil genommen hätte. O!« Er stöhnte laut auf, uneingedenk des Ortes, an welchem er sich befand und nicht achtend des Aufsehens, welches sein sonderbares Gebahren unter den Gästen erregte. Eiligst schritt er in das Kabinet, riß die Thür zu Maria’s Zimmer auf und sprang rasch an den Tisch, vor welchem die Mamsell noch immer saß. Sie stieß einen lauten Schreckensruf aus und wollte mit einer hastigen Bewegung das auf dem Tische Befindliche entfernen. Randolf zog den Arm in die Höhe und sah nun, daß zahlreiche falsche Banknoten auf dem Tische lagen. »Betrogen,« seufzte er dumpf, denn er hatte die listige Person innig geliebt. Der Schmerz übermannte ihn; er bedeckte auf eine Minute die Augen mit der Hand. Als er wieder emporblickte, war Maria verschwunden. Seine ganze Spannkraft kehrte zurück. Hastig eilte er in das Kabinet. Dort saß Sacken. Der Schäbige stürzte auf ihn zu. »Gut, daß Sie da sind. Hier der Revers und die Anweisung!« .Sackerlot,« rief verwundert der Gauner. »Sie sind’s, Herr Randolf? Ich hätte, meiner Treu, Sie nicht erkannt.« Durch eine Spalte in der Thür ihres Zimmers guckte Maria. Sie war durch die zweite Thür, welche auf den Hausflur führte, eingetreten, sobald Randolf das Zimmer verlassen 138
hatte. Gedankenschnell schloß sie einen Koffer auf, entnahm demselben eine lederne, gutgefüllte Geldtasche, warf ein warmes Shawltuch um und wollte hinaus. In diesem Augenblicke vernahm sie Stimmen im Kabinet, die ihr bekannt vorkamen. Neugierig blickte sie durch die Spalte und ihr Herz stand fast still, als sie den Detektive in eifrigem Gespräche mit einem Mitgliede der Einbrecherbande erblickte. Randolfs Vermummung ließ sie vermuthen, daß ein Coup gegen die Bande ausgeführt werden solle. Angestrengt lauschte sie. »Kommen Sie,« gebot der Detektive dem Verräther. »Trinken wir erst ein Glas Grog,« meinte dieser. »Frühestens um zehn Uhr sind alle Chaweirim * versammelt. Dringen wir früher in das Haus, dann finden wir vielleicht Manchen noch gar nicht. Stärken wir uns also zunächst durch einen Trunk! Auch Ihnen wird der Grog gut thun. Sie sehen ja ganz erbärmlich aus, was ist Ihnen nur widerfahren?« Maria hatte die Hand fest auf das fieberhaft klopfende Herz gepreßt. »Fort,« murmelte sie. »Sie müssen sogleich gewarnt werden oder alle sind verloren und Er – Er vielleicht mit Ihnen. Es wäre entsetzlich.« Sie schlich auf den Zehen nach der anderen Thür, öffnete dieselbe geräuschlos und schlüpfte auf den Flur. Da riß der starke Luftzug ihr die Thür aus der Hand. Krachend fiel dieselbe in das Schloß. * »Chaweirim«(sing. Chaver) heißen die Mitglieder einer Diebsbande (Chawrusse).
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Randolf war wie geistesabwesend dagestanden. Die Aufforderung des Gauners hatte er sicher nicht gehört, denn er machte keine Miene, der Einladung zu folgen, schlug sie aber auch nicht ab. Erst das Geräusch der zufallenden Thür riß ihn empor aus der Erstarrung. Hurtig sprang er zur Thür und blickte in das Zimmer; es war leer. Nun rannte er in den Saal, – Maria war nicht auf ihrem Platze. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf: »Sie hat uns belauscht und ist fortgeeilt, die Bande zu warnen.« Er stürzte zurück in das Kabinet. »Auf, auf,« schrie er dem Gauner zu. »Wir haben keine Minute zu verlieren, wenn die Chaweirim uns nicht entschlüpfen sollen.« »Warum nicht gar?« lächelte der Verräther. »Es ist so, wie ich sage,« drängte Randolf. »Schnell, kommen Sie. Unterwegs gebe ich Ihnen eine Erklärung. Vorwärts, vorwärts!« Voll fieberhafter Ungeduld riß er den Gauner vom Stuhle auf und zog ihn eilfertig auf die Gasse. »In der nächsten Straße ist ein Fiakerstandplatz. Eilen wir dorthin!« Marie war die Straße hinabgeflogen. Auf dem Standplatze der Lohnfuhrwerke befand sich um diese späte Stunde nur noch ein einziger Fiaker. Das Mädchen lief auf ihn zu. »Nach der Brigittenau, Ende der Wallersteinstraße.« schrie sie so laut und ängstlich, daß der dicke, gemächlich auf dem Bocke sitzende Kutscher ganz erschrocken zusam140
menfuhr. »Zehn, nein zwanzig Gulden, wenn Sie recht schnell fahren.« Zwanzig Gulden für eine Fahrt nach der Brigittenau! Es war eine Freude zu sehen, wie blitzschnell der Dicke aus seiner bequemen Lage auffuhr und die Decken von den Pferden riß. Maria öffnete den Schlag. In diesem Momente kamen Randolf und Sacken um die Ecke. Kaum noch fünfzig Schritt waren sie vom F‘iaker entfernt. Das Falkenauge des Detektive, durch den unaufhörlichen Nachtdienst gewöhnt, in der Dunkelheit weite Strecken zu überblicken, erkannte augenblicklich die Mamsell. »Halt!« schrie Randolf mit Stentorstimme dem Fiaker zu, »halt, halt!« Maria schrak heftig zusammen. »Noch zwanzig Gulden,« kreischte sie in höchster Angst, »Aber fort, um Gotteswillen fort!« Der Kutscher würde doch stutzig. Daß das junge Mädchen verfolgt würde, war ihm natürlich sofort klar. Auch drängte sich ihm alsbald der Argwohn auf, daß es eine Diebin und die herbeieilenden Männer Detektives sein könnten. Andererseits freilich war es auch möglich, daß es eine unschuldig Verfolgte, vielleicht einem vornehmen Wüstling Entkommene sein könnte, er mithin ein gutes Werk thun würde, wenn er mit ihr davonführe. »Mag sie übrigens sein, was sie will,« dachte sich schließlich der Fiaker. »Ich kann wohl ahnen, aber nicht wissen, daß sie eine Spitzbübin ist und daß jene Leute Polizisten 141
sein können. Jedem aber, der »Halt!« schreit, brauche ich ja nicht zu gehorchen. Ich werde deshalb fahren. 40 Gulden sind ein schönes Stück Geld. Einen solchen Verdienst habe ich vielleicht Jahrelang nicht wieder. – Also – hü!« Der Zuruf galt den Rößlein, die allsogleich die Ohren spitzten.– Der Kutscher schnalzte mit der Zunge. Nun wußten die Pferde Bescheid, – sie sollten tüchtig ausgreifen; er nahm die Peitsche und knallte, das war die Weisung zu laufen, was sie vermochten. »Halt!« schrie Randolf, der inzwischen bis auf zwanzig Schritte herangekommen war, »im Namen des Kaisers halt!« Dieses Gebot hörte der Kutscher wohl nicht mehr, denn der Wagen rasselte über das Pflaster mit einer Geschwindigkeit, die der eines Eisenbahnzuges um Nichts nachstand. Der Detektive stieß einen wilden Fluch aus. »Jetzt gilt’s, so bald als möglich einen anderen Fiaker zu finden,« schrie er dem Gauner zu und rannte, so schnell er vermochte, davon, gefolgt von Sacken, der nun wohl schon errathen haben mochte, welche Besorgniß den Detektive zu dieser übergroßen Eile antrieb. Das Glück begünstigte sie insofern, als sie auf dem Wagenstandplatze wirklich noch einen Fiaker vorfanden, der durch die Zusicherung einer guten Entlohnung zu recht schneller Fahrt bewogen wurde. Nach verhältnißmäßig kurzer Zeit waren sie am Sammelplatze der Sicherheitswachtleute angelangt. Der Detektive hatte während der Fahrt von dem Gauner in Erfahrung gebracht, daß der 142
Schlupfwinkel der Einbrecherbande sich in einem wenig geräumigen Hause eines Gärtners, der bis dahin in den Augen der Polizei als unbescholten gegolten hatte, befände. Die gestohlenen Gegenstände würden, wie der OberInspektor Stehling ganz richtig vermuthet hatte, znnächst im Hause Schomberger’s aufbewahrt, von dort nach dem Gehöfte des Gärtners Bruchsal geschafft und vermittelst eines der Bande gehörigen kleinen Steinschiffes nach Pest verfrachtet. In Pest nahmen verschiedene »Schasser« (Hehler) sie in Empfang und verkauften sie meistentheils nach den Donauländern, Rumänien, Bulgarien, der Wallachei oder nach der Türkei. Am Kreuzungspunkte der Nordwestbahn und der Wallersteinstraße warteten zwanzig Sicherheitswachtleute und ein Kommissar, insgesammt hinter Baumaterialien, Plankenzäunen oder Bäumen verborgen, der Dinge, die da kommen sollten. – Als der Wagen hielt, sprangen dessen Insassen schleunigst hinaus; Randolf lohnte den Kutscher ab und pfiff ein Signal. Der Kommissar kam sofort zu ihnen. »Ist ein Fiaker hier vorbeigefahren?« forschte der Detektive hastig. »Ja, vor wenigen Minuten.« »Dann werden uns die Gauner hoffentlich noch nicht entschlüpft sein – rufen Sie Ihre Leute, Herr Kommissar. Höchste Eile ist Noth.« Zwei Sekunden später waren alle Sicherheitswachtleute zur Stelle. 143
»Trab!« kommandirte der Kommissar und fort ging’s. Das Gehöft des Gärtners Bruchsal lag abseits von der Wallersteinstraße unmittelbar am Donaustrome. Es bestand aus einem gewöhnlichen Bauernhause und einigen kleinen Schuppen. Rings um das Gehöft zog sich ein hoher Balkenzaun hin, der auf seinem Gipfel sogenannte »spanische Reiter« – große spitze Eisennägel – trug. Zwei Pforten gestatteten den Eintritt in das Gehöft; die eine derselben führte zur Landstraße, die andere zur Donau. Der majestätische Strom floß, wenn sein Wasserstand normal war, etwa sieben Meter unterhalb des Gehöfts dahin, jetzt jedoch, wo die Hochfluth ihn angeschwellt hatte, war sein Spiegel kaum drei Meter vom Rande des Plateau’s, auf welchem das Gehöft lag, entfernt. Zu ihm gelangte man, wenn man eine kleine Pforte an der Wasserseite des Gehöftes durchschritt und mehrere holprige und schlüpfrige Stufen aus rohen Steinen hinabstolperte. Der Zaun lief so dicht am Abhange hin, daß man nicht längs desselben gehen konnte, weshalb eine Umzingelung des Hauses unmöglich war. Dieser Umstand, sowie die einsame Lage des Gehöftes mochte die Einbrecherbande wohl dazu bewogen haben, hier ihr Hauptquartier aufzuschlagen. Als die Dunkelheit hereinzubrechen begann, hatte eine mit Steinen beladene Zille an der Steintreppe angelegt. Die Schiffer, vier robuste, wild aussehende Männer, waren in das Gehöft gegangen und vom Gärtner mit einem kräftigen Abendimbiß regalirt worden. Kurz nach acht Uhr bekamen sie Gesellschaft, denn nun fanden sich nach und 144
nach die Mitglieder der Bande ein. Alle nahmen um einen großen, plumpen Holztisch, der sich von einer Wand des Wohnzimmers bis zur andern erstreckte, Platz und bekamen von Bruchsal Speisen und Getränke vorgesetzt. Kurz vor neun Uhr knarrte wieder das Thor, und ein kleiner, mit einem Leinwandplane überspannter Korbwagen fuhr auf den Hof. Die beiden zottigen Polaken, welche ihn zogen, lenkte ein zwerghaftes, abschreckend häßliches Männlein, der Kaffeehausbesitzer Schomberger in eigener Person. Er brachte einige Ballen mit geraubtem Gut, welches heute nach Pest verladen werden sollte. Da die Polizei Argwohn hätte schöpfen können, wenn Schomberger häufig und scheinbar zwecklos mit seinem Wägelchen nach der Brigittenau fuhr, so hatte der schlaue Patron auf dem Grundstücke Bruchsal’s eine Branntweindestillation errichtet. Guckte ein Polizist in den Wagen hinein, dann sah er nur kleinere Fässer, die einen Duft ausströmten, der den Inhalt unzweideutig kennzeichnete. Sobald Schomberger im Gehöfte war, entwickelte sich ein reges Leben. Die vier Schiffer luden die Fässer ab und nun kam ein leichter aber tragfähiger Bretterboden zum Vorschein. Ein Theil desselben schob sich auf den Druck einer unsichtbaren Feder unter den andern. In der Höhlung, welche darauf sichtbar wurde, lagen die gestohlenem Gegenstände, in kleine Ballen verpackt. Die Schiffer trugen dieselben auf den Kahne, der ähnlich eingerichtet war, wie Schombergers Wagen. Bruchsal, unterstützt von einigen Burschen, holte aus unterirdischen 145
Verstecken ebenfalls mehrere Packete mit geraubtem Gut herauf und übergab sie den Schiffern. Noch war nicht alles Gut geborgen, als ein frischer Gast Einlaß in das Gehöft begehrte. Bruchsal guckte, bevor er öffnete, durch ein Astloch, dann schloß er eiligst auf und verbeugte sich respektvoll vor dem Eintretenden. Es war der »Herr«, wie immer in einen schwarzen Mantel gehüllt. »Ist Alles bereit, Bruchsal?« fragte er, nachdem er den Gruß des Partners erwiedert hatte. »Alles.« »Und die Chaweirim?« »Sind sämmtlich zugegen mit einziger Ausnahme des Herrn Walther.« »Walther wird nicht kommen. Es muß diesmal ohne ihn gehen. Die Schiffer, scheint mir, sind mit dem Verladen noch nicht fertig?« »Noch nicht ganz, doch brauchen sie nur noch wenige Minuten, um den Rest der Ladung einzunehmen.« »So lange wollen wir warten. Fertigen Sie diese Leute erst ab; sie haben größere Eile als die Anderen. Ich werde Sie in Ihrer Arbeitsstube erwarten.« In diese, die bereits hell erleuchtet war, begab er sich sofort, legte den Mantel ab und vertiefte sich in die Durchsicht einiger Buchauszüge, die auf dem Tische lagen. Es war eine Art Bilanz des Geschäftsganges im verflossenen Monat. – Seltsam und staunenerregend war die Gewalt, welche der merkwürdige Mann auf die meist sehr rohen Chawei146
rim ausübte. Diese hatten noch vor wenigen Minuten einen wüsten Lärm vollführt; kaum jedoch überbrachte Einer die Kunde, daß der »Herr« anwesend sei, als fast lautlose Stille eintrat. – Plötzlich wurde sie unterbrochen. Bruchsal war gerade im Begriff, den Schiffern ein Verzeichniß der verfrachteten Sachen einzuhändigen, als heftig an das Thor gepocht wurde. Er eilte dorthin und blickte durch das Loch. »Wer sind, was wollen Sie?« fragte er barsch. »Öffnen Sie unverzüglich,« rief halblaut eine Weiberstimme. »Fällt mir gar nicht ein,« versicherte Bruchsal, dessen Mißtrauen rege geworden war. Da eilte Schomberger herbei. »Der Stimme nach müßte es meine Buffetmamsell sein,« rief er angstvoll. »Sind Sie es, Marie?« »Ja, Herr Schomberger; lassen Sie mich ein, – schnell, schnell!« Nun flog die Thür auf. Maria stürzte hinein. »Was ist denn vorgefallen?« forschte Schomberger, der vor Bangigkeit zitterte. Das Mädchen achtete nicht auf ihn. »Ist der Herr hier?« fragte sie hastig. »Ja.« »Wo ist er?« »Dort, in dem hellen Zimmer.« Mit Windesschnelle flog Maria nach dem Hause, gefolgt von Schomberger und Bruchsal. 147
Das Mädchen riß ungestüm die Thür zum Arbeitszimmer auf und schrie: »Retten Sie sich, gnädiger Herr! Sacken hat Sie an Randolf verrathen. Die Polizei ist vielleicht schon auf dem Wege hierher.« Der »Herr« war ruhig aufgestanden. Die Kunde schien ihn weder zu überraschen noch aufzuregen, denn seine Züge blieben unverändert und nur die Stirn furchte sich ein wenig. – »Ich täusche mich wohl nicht,« sagte er in gütigem Tone, »daß Sie mich schon einmal vor Randolf warnten, damals, als meine Residenz noch im »schwarzen Hahn« sich befand. Nicht wahr, liebes Kind?« »Ja,« lispelte Maria erröthend. »Sie scheinen mit Randolf näher bekannt zu sein?« »Er liebt mich und ich habe ihm vorgeredet, daß ich seine Neigung erwiedere, weil ich merkte, daß er Ihnen nach stelle und seine Anschläge kennen lernen wollte, um sie womöglich zu durchkreuzen.« »Das haben Sie um meinetwillen gethan?« rief hoch überrascht der »Herr«, »Sie sind mir also gewogen?« Maria’s Augen erglänzten hell. »Gewogen?« wiederholte sie voll Feuer. »Ich, meine alten Eltern, meine Geschwister, wir alle würden für Sie mit Freuden das Leben hingeben, denn Sie haben meinen theuren Vater, als er durch Noth und böse Menschen auf Abwege geleitet, nur die schreckliche Wahl zwischen dem Zuchthause und dem Selbstmorde hatte, gerettet und ihm dazu geholfen, daß er wieder ein rechtlicher Mann wer148
den konnte. O, Sie sind der großmüthigste und edelste der Menschen.« Einem schönen Impulse folgend, ergriff sie seine Hand und faßte sie. Schwere Schritte polterten durch den Flur. Einer von den Schiffern steckte den Kopf herein und meldete: »Ein starker Trupp kommt gerade auf das Haus zugelaufen; es scheint Polizei zu sein.« Unter den Chaweirim, welche diesen Rapport vernommen hatten, drohte eine heillose Verwirrung auszubrechen. Der »Herr« eilte zu ihnen. »Verliert nicht die Besonnenheit!« mahnte er. »Bruchsal, nehmen Sie das Geld, Solter, Sie die Papiere! Und nun fort auf das Schiff!« Die Sicherheitswachtleute waren am Zaune angekommen. Die Gauner hörten, wie sie Anstalten trafen, die Barriere zu überklettern. »Kommen Sie, Fräulein!« bat der »Herr« die Mamsell. »Sie dürfen der Polizei nicht in die Hände gerathen. Das wäre eine schlechte Belohnung für Ihre hochherzige Handlungsweise.« Er ergriff sie bei der Hand und zog sie schnell nach dem Kahne; den die Übrigen bereits erklommen hatten. Gerade, als er durch die Pforte wollte, warf sich ihm einer von den Verfolgern in den Weg. Es war Randolf. »Halt,« schrie derselbe ihm zu, »Sie sind verhaftet!« »Randolf,« rief grollend der Räthselhafte. »So vergelten Sie meine Wohlthaten? Sie verdienen eine exemplarische 149
Bestrafung.« Er hatte blitzschnell einen Dolch gezogen und versuchte, ihn dem Detektive in die Brust zu stoßen. Randolf indeß sprang zurück, taumelte und fiel, ehe er sich wieder aufgerafft hatte, waren der »Herr« und Maria auf dem Kahne. Er und der Kommissar, der inzwischen den Zaun überklettert hatte, kamen gleichzeitig am Ufer an, als die Schiffe soeben abstießen. »Im Namen des Kaisers,« donnerte der Letztere, »haltet an!« Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÉÈ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
D
ie Schiffer antworteten mit Hohn- und Schmähworten. Im nächsten Augenblicke hatte die reißende Strömung das Fahrzeug erfaßt und führte es mit Windesschnelle abwärts. – Der Kommissar zog einen Revolver aus der Tasche und schoß. Unmittelbar darauf tauchte unter der Nordwestbahnbrücke, die einige hundert Fuß oberhalb des Gehöftes sich über den mächtigen Strom spannt, ein Licht auf, welches schnell näher kam. Es war ein Polizeiboot, bemannt mit sechs Ruderern. Der Kommissar, Randolf und fünf Sicherheitswachtleute sprangen in dasselbe, die Ruder wurden kräftig eingesetzt, und nun flog das Boot mit der Geschwindigkeit 151
eines Pfeiles, wenn er vom Bogen abgeschnellt wird, der Zille nach. Auf dem Verdecke des Kahnes standen sämmtliche Gauner dicht gedrängt. Als die Zille am Ufer entlang schoß, riefen sie den Sicherheitswachtleuten, die auf demselben standen, höhnische Abschiedsworte zu. Ihre Schadenfreude verwandelte sich jedoch in gewaltige Bestürzung, als sie gewahrten, daß ihnen ein Polizeiboot nachkam und zwar so rasch, daß die Zille ihm unmöglich entgehen konnte. Die Situation war schlimm. Nach wenigen Minuten mußte das Boot sie eingeholt haben und dann war ihnen lange, schwere Kerkerhaft gewiß. Widerstand zu leisten durften sie nicht wagen. Sie waren allerdings den Polizisten um das Doppelte überlegen, dagegen hatten sie nur Messer zur Verfügung, während Jeder von den Sicherheitswachtleuten außer dem Degen und dem life-preserver * noch zwei Revolver mit sich trug. Der »Herr« erkannte sofort die gefahrdrohende Situation. »Wir müssen,« wandte er sich an die Chaweirim, »einen Coup anwenden, um das Polizeiboot von der Zille abzulenken. Der Polizei ist alles daran gelegen, mich in ihre Gewalt zu bekommen. Wenn ich nun unser Boot besteige und mich nach Zwischenbrücken hinüber rudern lasse, dann ist als unzweifelhaft anzunehmen, daß die Zensarer (Polizisten) die Zille in Stich lassen werden, um mich * Wörtlich übersetzt heißt es: Lebenserhalter; der Berliner nennt dieses gefährliche und wohl allgemein bekannte Instrument weit bezeichnender und richtiger: »Todtschläger«.
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einzufangen. Ihr gewinnt dann Zeit, am diesseitigen Ufer anzulegen und Euch in Sicherheit zu bringen. Entschlüpfen wir Alle glücklich, dann sehen wir uns bei Scharnbock wieder. Bruchsal, bringen Sie den Sack mit den Banknoten in Walthers Wohnung. Sie wissen doch, wo dieselbe sich befindet.« »Jawohl.« »Ihnen, Solter, binde ich auf die Seele, die Documente nicht in die Hände der Polizei gerathen zu lassen. Es würden viele Personen compromittirt, welche so hoch stehen, daß …« Er unterbrach sich plötzlich. Jedes Atom von Farbe verschwand aus seinem Gesicht und seine prächtigen Augen nahmen einen fast irren Ausdruck an. Die Gauner erschraken heftig. Bruchsal und einige Andere traten zu dem Geheimnißvollen. »Um des Himmels willen, gnädiger Herr, was ist Ihnen?« fragte Bruchsal ängstlich. Der »Herr« fuhr, wie aus einem bösen Traume, auf. »Mein Mantel,« keuchte er, »Wo ist mein Mantel? – zehn – hunderttausend Gulden dem, der ihn mir zurück bringt.« – Die Gauner warfen sich bestürzte Blicke zu. Es mußten Documente im Mantel stecken, die ein schwerwiegendes Geheimniß enthielten. Diese Muthmaßung drängte sich Jedem sofort auf. Eine unheimliche Pause trat ein. Bruchsal faßte sich zuerst. »Sie sind ohne den Mantel auf die Zille gekommen, gnädiger Herr,« sagte er. »Ohne Mantel?« schrie der »Herr« auf und aus dem Tone seiner Stimme klang maßlose Bestürzung heraus. 153
»Ohne Mantel? – Es wäre entsetzlich. – Aber Sie täuschen sich vielleicht, Bruchsal. – Fräulein, Sie waren ja zuletzt bei mir …« »Ich muß leider Herrn Bruchsal’s Angabe bestätigen,« flüsterte das Mädchen, dem die hellen Thränen in den Augen standen. »Dann bin ich verloren,« murmelte der »Herr« dumpf vor sich hin. »Der Herzog – o, es ist zu furchtbar.« Der sonst so eiserne und stolze Mann schien ganz gebrochen zu sein, seine blutlosen Lippen und Gcsichtszüge zuckten nervös. Auch schien er ganz und gar die Geistesgegenwart verloren und die bedrohliche Lage, in welcher sie Alle schwebten, sowie seinen kundgegebenen Entschluß vergessen zu haben, denn seinen in die Leere stierenden Augen war ein Ausdruck eigen, wie man ihn in der Regel nur bei geistig todten Personen antrifft. Einer von den Schiffern, die bereits das kleine Boot neben die eine Längsseite der Zille gezogen hatten, trat auf den »Herrn« zu und machte ihn darauf aufmerksam, daß der Nachen der Polizei kaum noch hundert Schritte vom Kahne entfernt sei. Der »Herr« raffte sich gewaltig auf und gewann nun sehr schnell seine ganze Entschlossenheit wieder. »Es bleibt bei meiner Anordnung,« rief er den Chaweirim zu. Morgen Abend bei Scharnbock! Und nun fort!« – Er sprang in das Boot, gefolgt von zwei Schiffern, die unverzüglich abstießen und mit dem Aufgebote aller ihnen innewohnenden Kraft in den Strom hinausruderten. Die Zille war zwar nur wenige Schritte vom Brigittenauer Ufer 154
entfernt, so daß einige Ruderschläge hingereicht haben würden, den Nachen an das Land zu bringen, doch durften sie aus gewichtigen Gründen nicht auf dieser Stromseite anlegen. Die Polizisten waren ihnen schon so nahe, daß es dem »Herrn« kaum möglich geworden wäre, ihnen zu entkommen. Denn, wenn die Sicherheitswachtleute gewahrten, daß er sich am Brigittenauer Ufer aussetzen lassen wolle, legten sie gleichzeitig mit dem Nachen an, drei oder vier sprangen heraus, um die Hetze auf den »Herrn« fortzusetzen, während die Übrigen der Zille nachsetzten. Wenn die Schiffer hingegen nach dem jenseitigen Ufer ruderten, dann mußte wenigstens die Zille entkommen. Als der Kommissar wahrnahm, daß der Anführer der Bande sich nach dem linken Ufer flüchten wolle, stieß er einen derben Fluch aus, denn er stand nun vor der Alternative, entweder den »Herrn« oder die Chaweirim entwischen zu lassen. Er entschloß sich sofort, die Zille aufzugeben; ergriff er den »Herrn,« dann löste sich die Bande wahrscheinlich von selbst auf. Überdies war auf die Ergreifung des Oberhauptes der »schwarzen Brüder« ein namhafter Preis ausgesetzt, den er sich gern verdient hätte. Er gebot deshalb seinen Ruderern, den Nachen zu verfolgen, und diese setzten nun ihre ganze Kraft ein, um das Boot einzuholen. Das gelang ihnen jedoch nicht, denn auch die beiden Schiffer, robuste, muskulöse Männer, ruderten mit aller Macht, wobei der Umstand ihnen zu Statten kam, daß ihr Nachen an und für sich leichter und auch weniger schwer beladen war, als das Polizeiboot. Dagegen vermochten sie 155
den Nachen nicht aus dem Gesichtskreis der Verfolger zu bringen. Beide Boote flogen mit Schwindel erregender Schnelligkeit über die unruhige Wasserfläche dahin und erreichten zu gleicher Zeit an zwei Stellen, die kaum hundert Schritte auseinander lagen, das Ufer. Der »Herr« sprang aus dem Nachen und lief landeinwärts, während die Schiffer unverzüglich wieder abstießen. Aus dem Polizeiboote stiegen der Kommissar, der Detektive und sämmtliche Sicherheitswachtleute. »Setzt den Schiffern nach,« gebot der Kommissar den Ruderern. »Sie dürfen uns nicht entgehen.« Alle Sieben rannten hinter dem Flüchtlinge her. Dieser kam nicht so schnell vorwärts, wie nothwendig gewesen wäre, wenn er den Verfolgern hätte aus dem Gesicht gelangen wollen. Das Terrain gestattete einen schnellen Lauf nicht; es war mit Gräben, Löchern und kleinen Erdwällen übersät, sodaß der »Herr« ihm vollste Aufmerksamkeit zuwenden mußte, um einen harten Sturz zu vermeiden. Mit denselben Schwierigkeiten hatten selbstverständlich auch die Polizisten zu kämpfen, und da sie mit alleiniger Ausnahme Randolfs nicht mehr jener jugendlichen Altersperiode angehörten, wo dem Körper Schwungkraft und Elastizität innewohnt, so blieben sie bald merklich hinter dem Flüchtlinge zurück. Der »Herr«, welcher zeitweilig einen Blick rückwärts warf, bemerkte mit freudiger Genugthuung die Ermattung seiner Verfolger. Randolf ’s allein konnte er sich wohl erwehren. Vielleicht gelang es ihm, auch diesen zu ermüden. 156
Eiliger noch rannte er dahin, da, o Entsetzen, hemmte seinen Lauf ein zwar schmaler, aber tiefer und reißender Stromarm. Der Nachen war an eine von den kleinen Inseln, welche die Donau in der Nähe Wien’s bildet, gerathen, ohne daß die Schiffer eine Ahnung davon hatten. Umgehen ließ sich dieses Hinderniß nicht, er hatte nur die Wahl, entweder sich gefangen zu geben, oder in die Fluth zu stürzen, was in Anbetracht der reißenden Schnelligkeit des Armes ein bedenkliches Wagniß war. Doch hier half kein Besinnen, kein Zögern, denn der Detektive war ihm ganz nahe und schickte sich schon an, den Revolver schußbereit zu machen. Der »Herr« warf sich deshalb in den Strom, der ihn sofort davonführte. Nach hartem Ringen mit der unbändigen Fluth gelang es ihm, das jenseitige Ufer zu erreichen. Bis zum Tode matt sank er unfern desselben nieder. Aber noch war er nicht gerettet. Eine neue Gefahr war im Anzuge. Das Polizeiboot hatte die Verfolgung der Schiffer mit gutem Erfolge fortgesetzt. Von dem größten Theile der Last befreit und durch sechs kraftvolle Ruderer getrieben, überholte es das kleinere Boot binnen wenigen Minuten. Die Schiffer sahen ein, daß die Flucht unmöglich, Widerstand eine Thorheit wäre und fügten sich deshalb mit stoischer Ruhe in ihr Schicksal. Sie mußten im Polizeiboote Platz nehmen und wurden gefesselt. Dann fuhr das Boot, mit dem Nachen im Schlepptau, am Ufer aufwärts. Als es eine kurze Strecke zurückgelegt hatte, zeigte sich der Ausfluß eines kleinen Stromarmes. Die Polizisten erkannten 157
sofort, daß derselbe jene Insel umfloß, auf welche ihre Kollegen ausgestiegen waren. Sie beeilten sich nun, vorwärts zu kommen und gelangten nach wenigen Minuten an die Stelle, wo der »Herr« sich in die Fluth geworfen hatte. Dort standen sämmtliche Polizisten rathlos beisammen. Gegenüber der Insel dehnte sich ein weites, ödes Feld aus, durch welches sein Weg führte. Es war deshalb nicht wahrscheinlich, daß die Rufe der Sicherheitswachtleute von irgend einem Menschen vernommen werden würden, denn auch das jenseitige Ufer des Stromes war unbebaut.* Es schien unvermeidlich, daß sie die ganze Nacht auf der Insel würden campiren müssen, eine Aussicht, die nichts weniger als angenehm war. Aus der unerquicklichen Lage befreite die Ankunft des Bootes die Isolirten. So wurde nun eifrig Rath gehalten, wohin man sich zunächst wenden sollte. Randolf, dem bekannt war, daß Scharnbock Verbindungen mit den »schwarzen Brüdern« unterhalten habe, schlug vor, die Kinderbewahranstalt des Ehrenmannes zu durchsuchen. Der Umstand, daß der »Herr« sich nach Zwischenbrücken habe übersetzen lassen, ließ vermuthen, daß er sich zu Scharnbock geflüchtet habe. Der Kommissar stimmte der Meinung des Detektive bei und die ganze Truppe machte sich ungesäumt auf den Weg nach Scharnbocks Gehöft. Dorthin hatte der »Herr« sich in der That begeben, nachdem er die Umkehr des Polizeibootes wahrgenommen. Er * In neuester Zeit hat man bekanntlich der Donau bei Wien ein neues Bett gegeben. Vor der Beendigung dieses großartigen Werkes lag die Residenz eine Viertelmeile vom Hauptstrom entfernt.
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mußte trachten, so bald als möglich die durchnäßte Kleidung abzulegen; der eisige Wind bewirkte, daß sein Körper fast erstarrte. Mühsam nur bewegte er sich vorwärts und erreichte die Kinderbewahranstalt erst nach unverhältnißmäßig langer Zeit. Scharnbock und Walther saßen in angelegentlichem Gespräch begriffen in der ganz behaglich eingerichteten Wohnstube, als der »Herr« hereintrat. Beide fuhren bestürzt auf, als sie das verstörte Gesicht und die triefenden Kleider des Gehetzten bemerkten. Ehe sie noch dazu kamen, eine Frage zu thun, gab der »Herr« ihnen Aufklärung. »Randolf hatte unseren Schlupfwinkel entdeckt,« sagte er. »Die Polizei drang in Bruchsal’s Gehöft. Wir hatten gerade noch Zeit, auf die Zille zu entkommen. Aber die Polizei verfolgte uns mit einem Boote. Um die Anderen zu sichern, ließ ich mich nach dem linken Ufer fahren. Wir landeten, ohne es zu wissen, an einer Insel. Die Polizisten hetzten mich. Ich schwamm durch den Stromarm und entkam. Doch fürchte ich, daß meine Verfolger hierher sich wenden werden.« Während er diese Erklärung gab, wechselte er die Kleidung. Scharnbock hatte seiner Frau sofort den Auftrag ertheilt, einen Grog zu brauen und seinem Knecht, einem durchtriebenen Burschen, Wache zu stehen. Das feurige Getränk war binnen wenigen Minuten fertig. Der Herr genoß schnell zwei GIäser desselben. Kaum war das geschehen, als der Knecht hereinkam. »Es nähern sich vom Felde her sieben Männer,« meldete er. 159
»Das sind die Polizisten,« rief der Flüchtling. »Scharnbock, Sie haben wohl ein Versteck für uns?« »Gewiß. Ich bitte Sie, mir zu folgen. In dem Verstecke, wohin ich Sie führen werde, haben Sie keine Entdeckung zu fürchten.« Alle Drei schritten eiligst über den Hof, während der Knecht auf Scharnbock’s Geheiß eine Laterne aus der Küche holte und dann nachgelaufen kam. Hinter einem Holzschuppen befand sich ein Ziehbrunnen, wie sie auf dem Lande häufig vorkommen. Scharnbock stellte eine Leiter in ihn hinein und gab Walther die Laterne. »Wenn Sie,« unterwies er ihn, »zehn Sprossen hinabgestiegen sind, werden Sie seitwärts der Leiter in der Mauer eine Öffnung erblicken, die gerade groß genug ist, daß man die Hand hineinstecken kann. In derselben befindet sich ein eiserner Knopf. Wenn Sie diesen niederdrücken, dann wird ein Theil der Mauer sich einwärts schieben und Ihnen ermöglichen, in das Innere zu kriechen.« Walther stand schon im Brunnen und stieg, gefolgt vom »Herrn« langsam in die Tiefe. »Sepp’l,« gebot Scharnbock dem Knechte, »Du wartest, bis die Herren verborgen sind, dann legst Du die Leiter neben den Schuppen und gehst in das Haus. Ich werde den Spürnasen das Thor öffnen, wenn sie Einlaß begehren sollten.« Er eilte nach dem Wohnhause hinüber, hatte es jedoch noch nicht erreicht, als kräftig an das Thor gepocht wurde. Scharnbock öffnete es; die Polizisten traten in das Ge160
höft und der Kommissar eröffnete dem würdigen Besitzer der Kinderbewahranstalt, daß sie das Gehöft durchsuchen müßten, weil die Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, daß ein von der Polizei verfolgter Verbrecher sich hierher geflüchtet habe. Scharnbock spielte mit bewunderungswürdiger Naturwahrheit den sittlich Entrüsteten, an seiner Ehre schwer Geschädigten, und erklärte pathetisch, daß er sich zwar fügen müsse, aber am nächsten Tage beim Polizeipräsidium Beschwerde über den Gewaltakt, den man ihm zufüge, erheben werde. Die Durchsuchung des Gehöftes fand nun statt, ohne ein für die Polizei günstiges Ergebniß zu liefern. Nach Verlauf einer Stunde zogen die Beamten verdrossen davon nach dem Leopoldstädter Kommissariat. Dort erwartete sie eine Überraschung, die sie für die vergeblichen Anstrengungen reichlich entschädigen sollte. Diejenigen Polizisten, welche in Bruchsal’s Gehöft zurückgeblieben waren, hatten den Mantel des »Herrn« aufgefunden und nach dem Kommissariate geschafft. Es ist eine Brieftasche in dem Mantel,« meldeten sie dem Kommissar. Begierig nahm derselbe sie heraus und riß sie auf. Mehrere Briefe fielen heraus. Der Kommissar öffnete einen derselben und verschlang den Inhalt. Plötzlich wurde er bleich. Namenlose Bestürzung und Verwunderung spiegelte sich auf seinem Antlitze wieder. »Randolf,« rief er mit vor hoher Erregung bebender Stimme dem Detektive zu, »lesen Sie – lesen Sie! – es ist unglaublich, ganz unerhört!« 161
Nachdem Randolf den Brief durchflogen hatte, zeigten sich auch bei ihm alle Merkmale einer gewaltigen Alteration. Bedächtig schüttelte er den Kopf. »Eine sehr, sehr böse Geschichte, wenn es wahr ist, was in dem Briefe steht.« »Was thun wir?« »Hm.« »Es ist ein Fall, der die sorgfältigste Überlegung erheischt.« »Die erfordert er allerdings, doch bin ich der Meinung, daß wir keine Erwägungen irgend welcher Art anzustellen haben. Wir übergeben, wie es unsere Schuldigkeit ist, diese verhängnißvollen Schriftstücke dem Präsidenten; möge die Excellenz dann zusehen, wie er die verfängliche Angelegenheit arrangirt.« »Er wird dem Monarchen Bericht erstatten müssen.« »Aller Wahrscheinlichkeit nach; das hat uns ja nicht zu kümmern.« »Doch Freund, doch. Ist es nicht schon unendlich oft vorgekommen, daß untergeordnete Leute in dem Falle, wenn sie eine Schandthat einer hochstehenden Persönlichkeit an das Licht zogen, verfolgt und chicanirt wurden, als hätten sie selbst sich der Frevelthat schuldig gemacht, wahrend der vornehme Verbrecher mit einem mehr oder minder zarten Verweise davonkam?« Der Detektive versank in tiefes Sinnen. Nach einigen Minuten war er zu einem festen Entschlusse gekommen. »Die Schriftstücke müssen dem Präsidenten zugestellt werden,« entschied er in bestimmtem Tone, »mag daraus entstehen, was wolle. Wir haben keine Rücksichten 162
zu nehmen, sondern erfüllen einfach unsere Pflicht.« Der Kommissar schien einen Einwand erheben zu wollen, doch wagte er, der entschlossenen Sprache des Detektive gegenüber, nicht, ihn laut werden zu lassen. Zögernd reichte er die Papiere Randolf hin. »Nehmen Sie die Schriftstücke zu sich,« bat er. »Mir brennen sie in den Händen.« Randolf verwahrte sie in der Brieftasche des »Herrn«. »Was werden Sie nun beginnen?« fragte der Kommissar. »Unverzüglich zum Herrn Ober-Inspektor Stehling mich begeben, um ihm Bericht zu erstatten.« »Jetzt; mitten in der Nacht?« »Der Fall ist zu wichtig, um einen auch nur kurzen Aufschub zu dulden.«‚ Er eilte fort. Während die Durchsuchung des Scharnbock’schen Gehöftes stattgefunden hatte, war zwischen dem »Herrn« und seinem getreuen Famulus eine wichtige Berathung gepflogen worden. – »Es geht abwärts mit mir,« hatte der »Herr« seinem Freunde zugeflüstert. »Die Erbschaftsangelegenheit will sich nicht zu meinem Gunsten wenden. Meine Nachforschungen in Siebenbürgen sind ganz erfolglos geblieben und die vorzüglichsten Advokaten sind der Ansicht, daß der Monarch nicht zu bewegen sein würde, den kleinen Koloman, den letzten und unzweifelhaft legitimen Sprossen zweier altberühmter Magnatengeschlechter einem Menschen nachzusetzen, der seine Ansprüche auf das reiche Erbe und den berühmten Namen einzig und allein durch unbeweisbare Angaben begründen kann. Wenn freilich 163
Koloman mir nicht im Wege stände, dann würde man sich wahrscheinlich dazu bequemen, mich anzuerkennen.« »Man müßte den Knaben beseitigen.« »Es wird schließlich kein anderer Ausweg übrig bleiben, obwohl es mir widerstrebt, ihn einzuschlagen. – Hat Sachs schon von sich hören lassen?« – »Noch nicht.« »Dieses langdauernde Schweigen flößt mir lebhafte Besorgnisse ein. Wenn nur sein Anschlag nicht mißglückt! Es würde ungeheueres und höchst unliebsames Aufsehen erregen, wenn der wirkliche älteste Sohn des Grafen Koloman plötzlich auftauchte.« »Mau würde ihn für einen Abenteurer halten.« »Vielleicht. Möglich ist es aber auch, daß man ihm Glauben schenkte und mich verdammte.« »Sie sehen zu schwarz.« »Das mag sein. Ich befinde mich seit einigen Tagen in pessimistischer Laune. Das Glück hat sich von mir abgewandt.« »Randolf ist ein gefährlicher Feind.« »Das ist er, doch fürchte ich ihn nicht.« »Unsere Operationen sind glücklicher Weise bald abgewickelt. Dann können wir die Bande auflösen.« »Wenn wir diesen Termin erleben.« »Wie?« »Walther, – mir ist etwas Furchtbares widerfahren.« »Sie erschrecken mich.« »Ich habe, als die Polizei Bruchsal’s Gehöft überfiel, in der Eile, mit welcher unsere Flucht bewerkstelligt werden mußte, meinen Mantel liegen gelassen –« Er stockte. 164
»Ihren Mantel ?« wiederholte Walther in höchst ängstlicher Spannung. »Und in dem Mantel meine Brieftasche mit einigen Briefen, aus denen hervorgeht, daß der Herzog mit uns gemeinsame Sache macht.« Walther stieß einen Ausruf des Schreckens aus. Dann trat eine lange, beengende Pause ein. Endlich brach Walther die unheimliche Stille. »Eine böse Kunde,« seufzte er. »Schlimmeres hätte uns nicht widerfahren können.« »Der Schlag ist hart, aber gerade deshalb müssen wir trachten, ihn zu paralysiren. Die Schriftstücke müssen wieder in meinen Besitz gelangen, Walther.« »Ein kühnes Verlangen, dessen Ausfühung kaum möglich sein dürfte.« »Einem festen Willen, einer Thatkraft, die vor keinem Hinderniß zurückbebt, ist Nichts unmöglich, mein Freund.« Eine Fortsetzung des Gespräches konnte nicht stattfinden, weil die Polizei, nachdem sie vergeblich das Wohnhaus und die Nebengebäude durchsucht hatten, den Hof und den Garten zu durchstöbern begannen. Auch zum Brunnen kamen sie und leuchteten in ihn hinein, verließen ihn jedoch sofort wieder, als sie auf dem Grunde Wasser blinken sahen. Nachdem sie das Gehöft verlassen hatten, erstiegen die Freunde den trefflichen Schlupfwinkel und schlichen behutsam dem Trupp der Sicherheitswachtleute nach. Fortse~ung folgt. 165
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Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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obald sie die große Donaubrücke überschritten hatten, eilten sie nach dem Volkert, einem übelbeleumundeten Stadttheile und verschwanden in dem Innern eines Trödlerladens, dessen Eigenthümer, ein alter, verschmitzter Hebräer, bei der Polizei nicht im besten Rufe stand. Kaum fünf Minuten später traten aus dem Gewölbe zwei Männer, welche das Kostum von Arbeitern trugen und schritten eilfertig die Taborstraße hinab nach dem » Sperl « zu. Ganz nahe diesem weltbekannten Vergnügungsetablissement befand sich das Leopoldstädter Polizeikommissariat. Der kleinere der beiden Männer faßte unter einem dunklen Thorweg Posto, der schrägüber dem Kommissariate lag, während der größere nach dem Sperl eilte. Dort 166
ersuchte er einen Kellner, den »Wilden Sepperl« und den ,,Todtschläger«, zwei bekannte Größen der Wiener Gaunerwelt, die sich an jedem Abend bis nach Mitternacht im Sperl aufhielten, sofort herauszurufen. Einige Minuten darauf traten die Genannten aus dem Saale. Kaum erblickten sie den Arbeiter, als sie, wie aus einem Munde, ausriefen: »Sie sind’s, Herr Walther?« »Wie Ihr seht. Es wird zu thun geben.« »Vortrefflich. Wir sind sogleich bereit.« Beide eilten in die Garderobe, um ihre Überröcke zu holen, dann begaben alle Drei sich zu dem Aufpasser. »Noch ist Niemand aus dem Kommissariate gekommen,« flüsterte dieser. »Vielleicht stattet Randolf erst morgen Vormittag den Bericht ab,« meinte Walther besorgt. »Möglich. Ich habe auch diesen Fall bereits in Erwägung gezogen. Die Papiere müßte ich, selbst wenn sie schon dem Präsidenten übergeben sein würden, zurück haben, sollte ich auch mein Leben auf das Spiel dabei setzen.« »Vielleicht will das Glück uns wohl. Wenn er die Schriftstücke noch in der Nacht in das Präsidium trägt, dann …« »Fort, da kommt er.« Aus der Thür des Kommissariats trat soeben Randolf auf die Straße. Die vier Späher wandten sich alsbald dem »Sperl« zu, und schritten die Gasse hinab, sich zuweilen verstohlen umblickend. – 167
»Pest,« murmelte Walther, »er läßt sich begleiten.« So war es auch. Randolf hatte schon gar zu viele Proben der Kühnheit und Energie des »Herrn« gesehen, als daß er nicht hätte fürchten sollen, dieser würde alle ihm zur Verfügung stehende Macht und List aufbieten, um wieder in den Besitz der wichtigen Schriftstücke zu gelangen. Er hatte deshalb vier Sicherheitswachtleute aufgefordert, ihn bis zum Hause des Ober-Inspektors zu geleiten. Der »Herr« und seine Gefährten durften nicht wagen, die Polizisten anzufallen. Selbst wenn sie denselben zehnfach überlegen gewesen wären, hätte ein Überfall ihnen keinen Vortheil gebracht, denn die trefflich bewaffneten Sicherheitswachtleute konnten sich so lange vertheidigen, bis ihre Alarmsignale Dutzende von Nachtwächtern und Konstablern herbeigerufen haben würden. Sie mußten sich damit begnügen, ihnen zu folgen, was sie auch in so geschickter Weise thaten, daß die Polizisten keine Ahnung davon hatten. – Der Weg der Sicherheitswächter ging, wie der »Herr« vorausgesehen hatte, nach der Wohnung des Ober-Inspektors Stehling. Diese befand sich in dem ersten Stockwerke eines freundlichen Hauses, welches in einer wenig belebten Straße| eines Vorstadtbezirkes lag. Der gewaltige Chef der Geheimpolizei liebte die Ruhe. Wenn er aus seinem Bureau, welches den ganzen Tag hindurch von Beamten der Polizei, Gaunern, die zum Verhöre gebracht wurden, und Privatpersonen, die eine Klage anbringen oder den Rath des erfahrenen Beamten einholen wollten, nicht leer wurde, nach seinem freundlichen Buen 168
Retiro, in den Kreis seiner Familie heimkehrte, dann sehnte er sich nach häuslicher Ruhe und Behaglichkeit. Beides fand er auch vollauf, wenn man nicht etwa den Krieg, welchen er in der Regel mit seinen munteren Kindern ausfechten mußte, als eine Schmälerung der Ruhe betrachten will. Doch darf man nicht glauben, daß Stehling nach Beendigung der Amtsstunden sich jeder Sorge um die Verpflichtungen, welche sein schwieriges Amt ihm auferlegte, entschlagen hätte; im Gegentheile widmete er gerade den bedeutsamsten Angelegenheiten in der Stille seiner Wohnung ernste und angestrengte Erwägungen. Auch hatten die Mitglieder des Detektiv-Corps zu jeder beliebigen Zeit Zutritt zu ihm.. Als die Polizisten an Stehlings Hause angelangt waren, zog Randolf die Glocke. Kurze Zeit darauf öffnete der Hausmeister die Thür. »Sollen wir Ihre Rückkunft erwarten, Herr Randolf,« fragte Einer der Sicherheitswachtleute. »Nein,« entgegnete der Detektive. »Nicht zur Sicherung meiner Person bedurfte ich Ihrer Begleitung, sondern der wichtigen Papiere, die ich bei mir trage. Diese bleiben bei dem Herrn Ober-Inspektor und ich brauche Sie deshalb nicht länger in Anspruch zu nehmen, Gute Nacht, meine Herren!« Er verschwand im dunklen Hausflur. Der Hausmeister verschloß die Thür wieder und die Polizisten gingen plaudernd davon. Der »Herr«, welcher nebst seinen Begleitern an einer dem Hause Stehlings nahen Straßenecke Posto gefaßt hatte, athmete erleichtert auf, als er Randolfs Bemerkung 169
vernahm. – » Ich fürchtete, man würde die Briefe noch in der Nacht zum Polizeipräsidenten bringen,« flüsterte er Walther zu, »und in diesem Falle wäre es uns sehr schwer, vielleicht gar nicht möglich gewesen, wieder in ihren Besitz zu gelangen. Nun jedoch hoffe ich, daß wir uns ihrer werden bemächtigen können. Die Wohnung Stehlings hat einen Balkon; man kann demnach leicht in sie hineinkommen.« »Das wohl; aber Stehling wird die Papiere in einen Eisenschrank legen.« »Ohne Zweifel wird er das wollen. Wir müssen ihn deshalb daran verhindern.« »Wie ließe sich das bewerkstelligen?« »Er muß überfallen werden, ehe er sie verwahrt.« »Ein verzweifeltes Wagestück.« »Das ist es; doch bleibt uns keine andere Wahl. Die Briefe muß ich wiederhaben und sollte es auch mein Leben kosten.« – »Das soll es nicht. Wir werden sie holen.« Er wandte sich zu den Gaunern. »Einige Straßen von hier wohnt ja wohl der Großkopf? »So ist es.« »Eilt zu ihm und holt einen Strick mit einem Haken sowie alle »Klamoniß (Werkzeuge), die man zum Schränkmassematten (Einbruchsdiebstahl) gebraucht.« »Soll’s bei’m Stehling geschehen?« »Ja!« Die Gauner kicherten. Ein Einbruch bei dem gefürchteten Chef der Geheimpolizei bereitete ihnen offenbar kö170
nigliches Vergnügen. »Wird sich wundern, der Balchochem *, wenn er morgen früh aufwacht und sieht verschiedene Dinge, die nicht da sind,« meinte Einer. »Ihr seid im Irrthum,« berichtigte Walther. »Es soll Nichts geraubt werden, als zwei Briefe.« Die Gauner sahen sich verdutzt an. »Trotzdem soll die Arbeit Euch reichen Lohn einbringen.« »Tausend Gulden Jedem von Euch, wenn ich die richtigen Schriftstücke wieder bekomme,« fiel der »Herr« rasch ein. Walther schüttelte mißbilligend den Kopf, als er wahrnahm, welchen Eindruck dieses Versprechen auf die Gauner machte. – »Geht jetzt nur und besorgt alles Nöthige,« drängte er. »Und noch Eins, – glaubt Ihr, bei Großkopf einige Linker (Gauner) vorfinden zu können?« »Sicherlich. Es hält sich Mischpoche (allerhand Volk) in seiner Kabora (geheimer Schlupfwinkel) auf.« »Dann bringt zwei oder drei Chessen ** mit.« ,,Gut.« »Und vergeßt die Larven nicht,« mahnte der »Herr«. Die Gauner schlichen davon, eine Strecke weit auf den Fußspitzen, um von den Polizisten nicht gehört zu wer*So heißt ein Polizeibeamter, der in alle Gaunergeheimnisse eingeweiht ist. **So werden diejenigen Gauner genannt, welche im Rufe besonderer Geschicklichkeit stehen.
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den, dann rannten sie eiligst dahin. Der »Herr,« welcher Stehlings Haus nicht aus den Augen gelassen hatte, rief nun halblaut: »Stehling ist bereits wach.« »So scheint es,« pflichtete Walther bei. »Die Stube neben dem Balkonzimmer, in welche man soeben Licht hineingebracht hat, scheint des Ober-Inspektors Arbeitszimmer zu sein.« »So ist es. Ich wußte das längst, weil ich schon zu wiederholten Malen Stehlings Gast gewesen war.« »Das konnte ich mir wohl denken,« murmelte Walther in sich hinein. »Ich glaube, es giebt in Wien keine einzige Person von Distinction, welche er nicht kennt. Er ist der merkwürdigste, bewunderungswertheste Mensch, der mir auf meinen Irrfahrten durch’s Leben nur vorgekommen ist.« »Zwei Schatten bewegen sich an den Vorhängen hin und her,« rief wieder der ,,Herr», dessen Spannung mehr und mehr zunahm. »Stehling und Randolf sind also bereits im Zimmer; – sie bleiben stehen – sie setzen sich; – Randolf stattet Bericht ab.« Seine Aufregung wuchs derartig, daß er Nichts um sich her beachtete. Er bemerkte deshalb auch nicht, daß die ausgesandten Gauner in Begleitung zweier, die unter der Wiener Verbrecherwelt wegen ihrer Verwegenheit und Schlauheit hoch angesehen waren, zurückkamen. Jeder von ihnen trug ein kleines Päckchen, welches die zum Einbruch erforderlichen Utensilien enthielt. 172
Eine halbe Stunde etwa dauerte die Berichterstattung des Detektive, dann erhob derselbe sich, wie die Späher draußen deutlich erkannten, und verließ das Zimmer. Zwei Minuten später trat Randolf auf die Straße und eilte fort, während der Hausmeister hastig die Thür schloß. » «Nun ist es Zeit,« rief halblaut der »Herr«. »Stehling wird jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach die Briefe durchlesen und ihren Inhalt überdenken. Voraussichtlich wird er sie vor sich auf dem Tische liegen haben. An das Werk also! – Habt ihr die Larven?« »Ja.« »Gebt mir eine!« »Sie wollen doch nicht selbst an dem Wagstück theilnehmen?« fragte Walther erschrocken. »Ja doch; ich sterbe vor Ungeduld.« Walther neigte sich dicht zu ihm und flüsterte ihm in das Ohr: »Sie dürfen das nicht, gnädiger Herr. Das Unternehmen ist zu gefährlich. Gesetzt, der Ober-Inspektor hört uns und schießt auf uns?« »Das Leben ist mir zuwider.« »Nicht doch. Es birgt noch reiche Wonnen für Sie, denken Sie an Lucie.« Der »Herr« ließ die Larve sinken. »Du hast Recht,« sagte er tonlos. »Ich darf mich nicht opfern, bevor ich sie glücklich gemacht habe.« »Auch Sie werden noch glücklich werden, nur Muth,« flüsterte Walther. Dann fragte er: 173
»Tragen die Briefe die Unterschrift des Herzogs?« »Ja.« »Nach zehn Minuten sind sie wieder in Ihrem Besitze oder …« Er stockte plötzlich. »Walther,« rief der »Herr« bewegt und ergriff eine Hand des Treuen. »Erhalte Dich mir!« »Wenn es möglich ist – Hoffentlich nimmt der Coup ein gutes Ende.« Er riß sich los und befahl den beiden Mitgliedern der Chawrusse, an den beiden nächsten Straßenecken Schmiere * zu stehen. Er und die Chessen eilten unter den Balkon, wohin der »Herr« ihnen langsam, und angestrengt spähend und lauschend, folgte. Walther warf mit großem Geschick die Leine so, daß der Haken sich in einen Ring der eisernen Balustrade einhängte, dann warteten alle athemlos, ob der Ober-Inspektor etwa auf das kaum vernehmbare Geräusch aufmerksam geworden wäre. Als oben Nichts sich regte, kletterte Walther in die Höhe und ihm folgten schnell und gewandt die Chessen. Eine Katze hätte nicht leiser und geschickter über das eiserne * Bei jedem Einbruch werden an geeigneten Verstecken in der Nähe des Thatortes Wächter (Butter oder Schmiere genannt) aufgestellt. Nähert sich eine Person, von welcher diese keine Verfolgung (Nachjagd) befürchten (ein »stiller Lampen«), dann lassen sie dieselbe ruhig vorübergehen, kommt hingegen Jemand, den sie zu fürchten haben /ein »lauter oder heller Lampen«), dann warnen sie die arbeitenden Genossen durch ein schon vorher verabredetes Signal und nun sucht jeder zu entschlüpfen, wie er kann.
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Geländer klettern können, als Jeder dieser Männer. Nachdem sie auf dem Balkon angelangt waren, zogen sie den Strick hinauf, ohne indeß den Haken loszumachen; dann untersuchte Einer der Chessen das Schloß der Glasthür. Der Schlüssel steckte von innen im Schlosse; dieses ließ sich mithin nicht durch einen Dietrich öffnen. Darauf waren die Chessen vorbereitet gewesen. Einer entrollte ein Terpentinpflaster, welches auf der Rückseite einen Henkel hatte und klebte es auf die dem Schlosse zunächst befindliche Scheibe. Darauf schnitt der andere vermittelst eines vorzüglichen Glaserdiamanten rings um das Pflaster die Scheibe durch. Nachdem er fertig geworden war, zog sein Genosse mit einem raschen Rucke die Scheibe an sich, wodurch ein kleines, knackendes Geräusch entstand. Ein Moment der höchsten Spannung folgte. Athemlos lauschten Alle und Walther hielt krampfhaft einen Dolch umklammert. Doch der Ober-Inspektor mochte wohl in tiefes Sinnen versunken sein, denn er regte sich nicht. Nun hatten die drei Verwegenen halb gewonnenes Spiel. Sie nahmen zunächst schwarze Larven vor das Gesicht, dann drehte Einer der Chessen mit geübter Hand den Schlüssel um und öffnete die Balkonthür. Alle drei entledigten sich der Stiefel und huschten geräuschlos in den .Balkon. Derselbe hatte drei Ausgänge, einen gegenüber der Balkonthür und je einen zur rechten und linken Seite. Der letztere führte unmittelbar in Stehlings Arbeitszimmer. Zu ihm schlichen sich die Drei hin und Einer drückte sachte, sachte ; auf die Klinke. – Die Thür war unverschlossen. 175
Stehling pflegte nämlich bei besonders geistanstrengender Arbeit zuweilen auf den Balkon zu treten, um den glühenden Kopf in der kühlen Nachtluft zu baden. Nachdem die Klinke heruntergedrückt war, sprang die Thür soweit auf, daß die Einbrecher durch die Spalte einen Theil des Arbeitszimmers zu überblicken vermochten. Sie sahen nun, daß der Ober-Inspektor vor dem Schreibtische saß, den rechten Arm aufgestützt und in die Hand den Kopf gelegt hatte und unverwandt auf ein vor ihm liegendes Schriftstück starrte. Doch las er nicht in demselben, ging vielmehr ernsten Erwägungen nach. »Jetzt!« wisperte Walther und stieß gleichzeitig die Thür weit auf. Blitzschnell sprangen die Chessen durch das Gemach und auf den Beamten zu. Stehling hatte sich bei dem Geräusch, welches die auffliegende Thür verursachte, umgewandt, doch kam er nicht dazu, aufzuspringen oder einen Hilferuf auszustoßen. An diesem hinderte ihn die Überraschung und an Jenem die Chessen, von denen Einer ihm ein Tuch in den Mund steckte, während der andere die Hände fesselte und zwar mit einer Schnelligkeit und Gewandheit, die nur durch vielfache Übung erworben sein konnte. Walther hatte inzwischen einen Blick auf die Papiere geworfen und mit lebhafter Freude wahrgenommen, daß es die gesuchten seien. Seitwärts lag, halbgeöffnet, die Brieftasche des »Herrn«. Walther legte die Briefe in sie hinein, dann wandte er sich zum Gehen. Da gewahrte er, daß Einer der Chessen die Hand nach dem kostbaren Chronometer Stehlings ausstreckte, und 176
sich vergessend rief er drohend; ,,Ihr rührt Nichts an! Fort!« Diese Unvorsichtigkeit sollte später verhängnißvolle Folgen nach sich ziehen. Die Chessen gehorchten widerwillig, doch wagten sie nicht, ungehorsam zu sein. Alle eilten hinaus und glitten vom Balkon nieder, während der Ober-Inspektor mit den Füßen ein derartiges Gepolter verursachte, daß die ganze Einwohnerschaft des Hauses in Aufruhr gerieth. Nach fünf Minuten war der Ober-Inspektor befreit und sämmtliche im Hause befindlichen Männer auf der Jagd nach den verwegenen Einbrechern. Doch von denselben war keine Spur aufzufinden. Die vier Gauner, denen Walther als Abschlagszahlung eine volle Börse gegeben hatte, waren nach Großkopfs Kabora znrückgekehrt, während der »Herr« und sein getreuer Ekkehard erst rasch, dann in mäßigen Schritten durch die öden Gassen wanderten. Die Bewegung des »Herrn,« als er aus Walthers Hand die wichtigen Schriftstücke zurückempfangen hatte, war eine mächtige gewesen. Wortlos drückte er dem Freunde die Hand. Erst als sie an dessen Wohnung angekommen waren, fand er Ausdrücke, wie die Dankbarkeit sie eingiebt. »Niemals,« fügte er dann hinzu, »Trat die Versuchung, meinem Dasein freiwillig ein Ende zu bereiten, so nahe an mich heran, wie in dieser Nacht. Nun athme ich wieder auf, Dank Deinem Aufopferungsmuthe.« »Sie werden noch einen gewaltigen Sturm zu bestehen haben.« 177
»Das wohl. Der Kommissar und Randolf sind freilich nicht zu fürchten; sie werden aus Furcht vor der Macht des Herzogs ein unverbrüchliches Stillschweigen beobachten, Stehling hingegen wird zweifellos dem Präsidenten einen Bericht abstatten –« »Und dieser dem Monarchen.« »Vielleicht. – Ich werde sofort in das Palais der Durchlaucht eilen. Eis ist nicht unmöglich, daß der Präsident sich zum Schweigen bestimmen läßt. – Für Dich habe ich noch einen wichtigen Auftrag. Es ist hohe Zeit, daß Koloman Szapary verschwindet. Gieb deshalb Scharnbock die nöthigen Weisungen. Gute Nacht!«
Siebente+ Kapitel. Folgenscwere Begebenheiten.
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ie?« rief Gräfin Katinka, welcher die Kammerfrau soeben eine Meldung gemacht hatte, unangenehm überrascht aus, »Ferencz, der langjährige Kammerdiener meines Schwiegervaters, will mich sprechen.« »So ist es, gnädigste Frau Gräfin. Es scheint ihm viel an einer Unterredung mit Ihnen zu liegen, denn er bat mich dringend, Sie sofort von seinem Wunsche in Kenntniß zu setzen.« »Was mag er wollen?« murmelte die Gräfin vor sich hin. »Sollte ihn die Noth zu mir treiben? Wahrscheinlich. Er 178
bezog zwar ein ansehnliches Salair und hätte in den vielen Jahren seiner Dienstzeit ein ganz artiges Sümmchen zurücklegen können, doch wird er sich darauf verlassen haben, daß der Graf ihm ein beträchtliches Legat aussetzen würde. Das ist indeß nicht geschehen, was mir, wie das ganze Testament, höchst seltsam erscheint Der alte Herr hatte diesen Ferencz unzweifelhaft gern und doch –« Sie versank in Nachdenken. »Ich will ihn doch vorlassen,« rief sie nach einigen Minuten entschlossen, »Vielleicht will er mir eine wichtige Mittheilung machen. Der Verstorbene hatte keine Geheimnisse vor diesem Menschen. Und darum mag er nur hereinkommen, so unsympathisch er mir auch ist.« »Laß ihn eintreten,« gebot sie der Kammerfrau. Gleich darauf erschien Ferencz und verneigte sich ehrfurchtsvoll. Die Gräfin musterte ihn mit einem scharfen, schnellen Blicke ihrer stahlgrauen Augen. Der alte Diener sah nicht so aus, als wenn er beabsichtige, ein Almosen zu erbetteln, seine Kleidung war eine anständige, und sein Benehmen war keineswegs demüthig, wie man es von einem Bittsteller gewöhnt ist. Sein Gesicht hatte im Gegentheile einen Ausdruck, welcher einen gewiegten Menschenkenner alsbald auf die Vermuthung geführt haben würde, daß der Greis sich selbst als eine wichtige Persönlichkeit, die man nicht über die Achsel ansehen dürfe, betrachte. Die Gräfin, eine sehr erfahrene Menschenkennerin, sah sogleich ein, daß ihre Mildthätigkeit nicht in Anspruch 179
genommen werden würde und diese Voraussetzung wirkte so günstig auf die geizige Frau, daß ihre starren Züge freundlicher wurden und selbst ein leutseliges Lächeln erheuchelten. »Besuchen Sie mich auch einmal, Ferencz?« sagte sie in wohlwollendem Tone, indem sie ihm durch eine gnädige Handbewegung andeutete, Platz zu nehmen. »Das freut mich aufrichtig. Ich habe den alten, treuen Dienern meines seligen Herrn Schwiegervaters, und Ihnen vorzugsweise, eine freundliche Erinnerung bewahrt und bin deshalb angenehm überrascht, daß Sie mir Gelegenheit bieten, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.« Das verwitterte Gesicht des alten Dieners überflog ein kaum merkliches Lächeln. Die Dame fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Wie geht es Ihnen denn, mein Lieber? Ich hoffe doch, Ihre Verhältnisse sind derartige, daß Sie eine behagliche Existenz haben?« ,Sie könnten besser sein, Frau Gräfin. Indeß ich bin mit meinem augenblicklichen Loose zufrieden und beklage mich nicht.« »Nun, das läßt sich hören.« »Überdies,« fuhr Ferencz fort, »sind meine Tage auch gezählt –« »O, Sie sind ja noch recht rüstig.« »Die Wehen des Alters machen sich dennoch geltend. Einige Jahre allerdings kann ich wohl noch Überdauern und während dieses kurzen Zeitraumes werde ich wohl keinen Mangel zu leiden brauchen. Wenn die Noth,« füg180
te er langsamer und einen lauernden Blick auf die Gräfin werfend, hinzu, »je an mich herantreten sollte, dann wird die Frau Schwiegertochter meines geliebten, gottseligen Herrn sicherlich den alten Diener der Szapary nicht im Elend verschmachten lassen.« Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÉÊ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
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as herablassende Lächeln verschwand vom Gesicht der Gräfin. »Wenn es je erforderlich sein sollte, Ihnen eine Unterstützung zukommen zu lassen, dann werde ich sie Ihnen nicht verweigern, « sagte sie mit merklich kühlerem Tone. » Diese Nothwendigkeit wird ja aber wohl nie eintreffen? « »Vielleicht doch früher, als Sie voraussetzen.« » So—o—o! « Die Stirn der Gnädigen begann sich zu umschatten. » Ich bin sogar mit der Absicht hergekommen, Ihre bekannte menschenfreundliche Gesinnung zu meinen Gunsten in Anspruch zu nehmen.« » So eben sagten Sie doch, daß Ihre Lage eine erträgliche sei.« 182
»Und daß Sie besser sein könne.« »Man muß sich mit dem bescheiden, was man hat.« »Wer möchte nicht gern eines möglichst sonnigen Lebensabends sich erfreuen?« »Wenn die Mittel dazu nicht vorhanden sind, dann –« »Werden gnädigste Frau Gräfin hoffentlich so großmüthig handeln, sie mir zu bewilligen.« »Wie soll ich das verstehen?« rief die Gräfin, nicht wenig erstaunt über die Wendung, welche das Gespräch genommen hatte. »Darf ich mir erlauben, frank und frei mein Anliegen vorzubringen ?« »Sprechen Sie!« »Ich habe zwei Töchter, hübsche, gut erzogene und gut geartete Mädchen, die sich glücklich verehelichen könnten, wenn sie eine ansehnliche Mitgift erhielten. Die Verlobten Bräutigams meiner Tochter sind beide Ökonomen, die sich nach der Verheirathung selbstständig machen wollen; es sind zufällig in unserm schönen Siebenbürgen zwei nahe beisammen liegende, einträgliche Bauerngüter zu je 10 000 Gulden verkäuflich –« »Sie wollen doch nicht sagen, daß ich Ihren Schwiegersöhnen 20 000 Gulden vorstrecken soll ?« »Nein doch. Ich meinte, daß Sie die Güte haben würden, mir jene Summe zu schenken.« Gräfin Katinka sah sich den Alten mit einem Ausdrucke an, der deutlich bekundete, daß sie an dem Vorhandensein seines Verstandes Zweifel hege. »Ein Geschenk von 20 000 Gulden?« rief sie dann mit einem Tone, in dem sich 183
Hochmuth, Verwunderung und Verachtung ausdrückten. »Nicht eigentlich ein Geschenk,« ergriff Ferencz ruhig das Wort. Es handelt sich gewissermaßen um ein Geschäft, welches mir 20 000 Gulden und Ihnen ein sehr wichtiges Geheimniß einbringen würde.« »Ah! – Ein Geheimniß, welches mir Nutzen bringen würde?« »Fast unschätzbaren Vortheil.« Der Gräfin Augen funkelten. Aber ihre Mienen drückten Gleichgültigkeit aus, ihre Stimme blieb kalt. »Unschätzbaren Vortheil?« wiederholte sie achselzukkend. »Ich kann mir das nicht als möglich denken.« »Gnädigste Frau Gräfin erstreben die Nichtigerklärung jenes Testaments an, welches der alte Herr Graf hinterlassen hat?« »Weil ich die unumstößliche Überzeugung hege, daß es gefälscht ist.« Ferencz wiegte den Kopf. »Es mag sein,« meinte er. »Es muß so sein,« unterbrach die Gräfin ihn mit einiger Heftigkeit. »Es ist mir ganz undenkbar, daß der alte Graf Traditionen seiner Familie und seinem eigenen unbeugsamen Willen entgegen die Kinder der Mesalliance vor dem legitimen Sprossen bevorzugen konnte.« »Vielleicht geschah es in einer schwachen Stunde –, selbst ein eisenfester Charakter ist gegen die Pein der Reue nicht gefeit.« Die Gräfin warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Lassen wir das,« gebot sie streng. »Wenn Sie mir wirk184
lich eine wichtige Mittheilung machen wollen dann thun Sie es!« »Unter der angegebenen Bedingung.« »Sie werden doch nicht so thöricht sein, zu verlangen, daß ich auf Ihre Versicherung hin Ihnen 20 000 Gulden auszahlen werde. Ich müßte doch erst die Gewißheit haben, daß das Geheimniß wirklich diesen enormen Werth für mich hat.« »Urtheilen Sie selbst. Wenn meine Erkundigungen richtig sind, so würde die Erbschaftsangelegenheit zu Gunsten Ihres Sohnes entschieden werden.« »So ist es. Der oberste Gerichtshof kann nicht die Überzeugung gewinnen, daß der Erbprätendent wirklich der Sohn meines Gatten aus dessen erster Ehe ist. Es läßt sich wohl erwarten, daß auch der Monarch, dem die Entscheidung über diese Angelegenheit zusteht, der Ansicht seiner Räthe sein wird.« »Wenn ich jedoch mein Geheimniß enthülle, dann muß der oberste Gerichtshof eine ganz andere Entscheidung treffen und auch der Kaiser würde zweifellos bestimmen, daß die Erbschaft dem Prätendenten zuzufallen hat.« Gräfin Katinka war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, diese Eröffnung aber alterirte sie doch nicht wenig. Sie stand sogar auf und schritt einige Male auf und nieder, beobachtet von den stechenden Augen des alten Dieners, über dessen Gesicht es zuweilen wie Hohn und Verachtung zuckte. – Endlich nahm die Gräfin wieder Platz. Sie hatte sich zur Ruhe gezwungen. 185
,Ich bin eine Närrin, mich so aufregen zu lassen,« dachte sie. »Alle Möglichkeiten, die mir Schaden bringen könnten habe ich schon vorausbedacht und meine Anordnungen, sie zu paralysiren, getroffen. Möglich, ja wahrscheinlich ist es, daß dieser alte Mann ein Geheimniß weiß, denn was der alte Graf ihm nicht vertraute, hat er ausspionirt, aber eben so gewiß ist, daß er die Wichtigkeit desselben weit überschätzt.« Und laut fügte sie hinzu: »Ihre Andeutungen sind zu unbestimmter Art, um aus denselben die Gewißheit zu schöpfen, daß Ihr Geheimniß in der That jene Macht besitzt, die Sie ihm beilegen wollen. Können Sie sich deutlicher erklären?« »Glücklicherweise ist dies der Fall. Ich kann Ihnen ganz offen sagen, daß die erste Frau des jungen Grafen, die Deutsche, noch am Leben ist.« Diese Eröffnung übte eine furchtbare Wirkung auf die Gräfin aus. Sie wurde fahl im Gesichte, ihre Mienen verzerrten, ihre Hände krampften sich. Sie bedurfte einiger Minuten, ehe sie wieder der Sprache mächtig war. »Sie wollen mir ein Märchen aufbinden,« rief sie mit harter, aber vor Erregung dennoch vibrirender Stimme. Ferencz zuckte die Achseln. »Ich kann Ihnen zu jeder beliebigen Zeit den Beweis für die Richtigkeit meiner Angabe liefern, vorausgesetzt natürlich, daß Sie vorher die von mir gestellte Bedingung erfüllt haben.« Die Gräfin war wieder aufgesprungen. Trotz der Mühe, welche sie sich gab, gelang es ihr nicht, ihre Erregung zu be186
meistern. Ihr Stolz, nebst dem Geize die entwickeltste ihrer Eigenschaften, hatte eine gar zu grausame Demüthigung erlitten. Man hatte sich ein sonderlich frivoles Spiel mit ihr erlaubt. Sie, die Tochter eines der ältesten, berühmtesten stolzesten, reinsten und reichsten Adelsgeschlechter – eine Maitresse! Sie hatte freilich von dem schmähligen Betruge nicht die leiseste Atmung gehabt, aber würde die Welt es glauben? Und wenn auch, würde sie nicht trotzdem zum Gespötte aller Leute? Welcher willkommene Klatschstoff für die alle Zeit bereiten, spitzigen Zungen der skandalsüchtigen, suffisanten, vornehmen Gesellschaft! Und wie furchtbar mußte das Bekanntwerden des Geheimnisses auf ihre gesellschaftliche Stellung einwirken! Durfte sie dann noch wagen, sich in den vornehmen Kreisen, ja nur vor der Welt überhaupt zu zeigen? Mußte, würde nicht Jedermann schadenfroh über den tiefen Fall der hochmüthigen Frau lachen? Sie sah im Geiste schon die grinsenden Gesichter und jene mitleidig sein sollenden Blicke, die dem armen Opfer des Hohns tödtliche Kälte bis in den innersten Gluthheerd des Lebens tragen; sie hörte schon das empörende Gezischel, das kurze, verächtliche Lachen, welche einen Menschen, der noch nicht jedes Atom von Scham- und Ehrgefühl verloren hat, zur Raserei treiben können. – Plötzlich schlug ihr Gedankengang eine andere Richtung ein. Sie blieb vor Ferencz, der gleichmüthig zu ihr aufblickte, stehen, schaute ihm durchdringend in die grauen, listigen Augen und fragte: »Das angebliche Geheimniß, welches Sie mir enthüllt haben, ist für den Prätendenten 187
noch unendlich wichtiger als für mich. Wie kommt es nun, daß Sie es nicht Jenem anvertraut haben.« »Zwei Bedenken haben mich davon abgehalten. Zu nächst würde der junge Mann mir die geforderte Summe nicht sobald, wie ich es wünschte, haben auszahlen können, ja, wenn er, was ich ja nicht weiß, eine niedrige Gesinnung besitzt, hätte er es mir gar nicht auszuzahlen brauchen.« »Aus welchem Grunde?« »Er hätte mich, nachdem ich den Aufenthalt der Frau verrathen, nur dem Gericht zu denunciren brauchen.« »Ah, und fürchten Sie nicht, daß ich das ebenfalls thun kann?« »Nein; von Ihnen habe ich das nicht zu besorgen, denn Sie haben ein sehr gewichtiges Interesse daran, daß die Frau nicht wieder zum Vorschein kommt.« »Wenn ich aber nun, nachdem ich das Geheimniß weiß, die Zahlung der großen Summe verweigere?« »Sie kennen wohl das Geheimniß, würden aber nie im Stande sein, den Aufenthaltsort der Frau aufzuspüren.« Die Gräfin konnte sich nicht verhehlen, daß es allerdings schwierig, vielleicht unmöglich für sie sein würde, den zweifellos sehr gut verborgenen Kerker der unglücklichen Deutschen aufzufinden. Andererseits konnte sie niemals sicher davor sein, daß das furchtbare Geheimniß über kurz oder lang an den Tag käme, wenn sie nicht die Forderung des Dieners erfüllte. Dazu jedoch konnte sie sich nicht entschließen. Ihr Geiz sträubte sich mit aller Gewalt gegen die Aufopferung einer so großen Summe. Es unter188
lag gar keinem Zweifel, daß der Erbschaftsproceß zu ihren Gunsten entschieden werden würde; allenfalls würde ihr die Verpflichtung auferlegt werden, daß sie den Kindern aus erster Ehe eine geringe Rente bewillige. Ganz anders freilich mußte sich die Sachlage gestalten, wenn das Geheimniß ruchbar wurde. Ließ sich das aber nicht verhüten, ohne daß der begehrte hohe Preis ausgezahlt zu werden brauchte? Wie, wenn man den alten Diener in guter Manier unschädlich machte, nachdem man ihm den Aufenthaltsort der Gefangenen abgefragt hatte? In welcher Weise sich das bewerkstelligen ließe, vermochte sie augenblicklich allerdings noch nicht zu erkennen, aber nach einiger Überlegung fand sich unzweifelhaft ein Mittel. Zunächst mußte sie trachten, Ferencz noch einige Zeit hinzuhalten und ihn in ihre Nähe zu ziehen, damit sie ihn stets überwachen könnte. Sie eröffnete ihm demgemäß, daß sie bereit sei, sein Angebot anzunehmen, doch seien ihre Kapitalien so angelegt, daß sie nicht sofort eine so bedeutende Summe flüssig machen könne. Er solle sich deßhalb noch kurze Zeit gedulden und während dieser Frist in ihre Dienste treten, damit er nicht seine Ersparnisse aufzuzehren brauche. Nach kurzer Überlegung willigte Ferencz ein. Er hatte sich seit einem halben Jahrhundert daran gewöhnt, das Brod eines herrschaftlichen Dieners zu essen und mit nicht geringem Stolze erfüllte ihn jederzeit die Thatsache, daß er der älteste und angesehenste Diener der Familie Szapary war. Die meisten alten Diener fühlen sich gewissermaßen als Mitglieder jener Familie, welcher sie 189
lange Jahre ihres Lebens gewidmet haben und sind in dem Wahne befangen, daß sie nicht entbehrt werden könnten. Auch Ferencz hatte von dieser Regel keine Ausnahme gebildet und um so schmerzlicher hatte er es deßhalb empfunden, daß Gräfin Katinka ihn nach dem Hinscheiden des alten Grafen nicht unter ihr Dienstpersonal aufnahm. Als ältester Beamter der gräflichen Familie hatte er eine »Rolle« spielen können, was ja für die Eitelkeit der meisten Menschen zum unentbehrlichen Bedürfniß geworden ist, während er in der »Welt« ganz unbeachtet unter der großen Menge verschwand. Der Antrag der Gräfin war ihm deßhalb ganz willkommen; er nahm ihn an, mit dem stillschweigenden Vorbehalt jedoch, daß er auf die baldige Auszahlung der bedungenen Summe dringen wolle. Die Pflichten, welche ihm auferlegt wurden, ließen sich leicht erfüllen. Seine dienstliche Thätigkeit bestand im Wesentlichen darin, den jungen Koloman spazieren zu führen. Gräfin Katinka war so geizig, daß sie trotz des glänzenden Namens, den sie führte und trotz ihres großen Vermögens keine Equipage hielt. Da Koloman nun nach ärztlicher Anordnung täglich einen weiteren Spaziergang in gesunder Luft machen sollte, so mußte Ferencz mit ihm auf der Pferdebahn bis zum Praterstern fahren und von dort eine Wanderung in dem herrlichen Park unternehmen. Wenn die Beiden bis zu der großen Wiese, die gegenüber dem Weltausstellungsplatze liegt, gekommen waren, dann ließ Ferencz den kleinen Koloman sich tüchtig umhertummeln; er selbst nahm auf einer Bank Platz und beschäftigte sich mit der Lecture sei190
nes Leibjournals, ließ jedoch das Kind trotzdem nie aus den Augen. Eines Morgens gesellte sich ein einsamer Spaziergänger zu ihm, redete ihn an und erkundigte sich nach den Merkwürdigkeiten und dem geselligen Leben Wiens. Es entspann sich eine Unterhaltung, im Verlaufe deren sich herausstellte, daß der Fremde ein Landsmann des alten Dieners wäre. Er wäre, so erzählte er, in geschäftlichen Angelegenheiten aus Siebenbürgen nach Wien gekommen, habe diese nun vollständig abgewickelt und wolle sich noch einige Zeit in der Weltstadt aufhalten, um das Leben und die Vergnügungen derselben gründlich kennen zu lernen und zu genießen. Ferencz, der die Heimath schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, ihr indeß trotzdem ein reges Interesse bewahrt hatte, erkundigte sich nach tausenderlei Dingen, über die der Fremde ihm auch bereitwillig ausführliche Auskunft ertheilte. Er wußte so angenehm zu erzählen, daß die Zeit wie im Fluge verschwand, bis endlich Koloman ermüdet hinzukam und nach Hause verlangte. »Wem gehört der reizende Junge?« fragte der Fremde. »Ihr Söhnchen?« »Nein; es ist der Sohn des verstorbenen Grafen Szapary.« »Szapary,« rief der Kaufmann überrascht. »Diese edle Familie ist mir sehr wohl bekannt und auch ich bin ihr nicht unbekannt; mit dem jungen Herrn Grafen war ich sogar befreundet. Ich studirte nämlich in Bonn –« 191
»Ganz recht; dort studirte der junge Herr auch, warf Ferencz ein. »Wir waren,« fuhr der Kaufmann fort, »die beiden einzigen Studenten aus Siebenbürgen und schlossen und deshalb eng an einander an, bis die Verehelichung des jungen Grafen mit einer gewissen Johanna Krause erfolgte. Szapary siedelte bald nach derselben nach einer von ihm gekauften Besitzung über und ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen.« Während alle Drei langsam nach der Stadt gingen, erzählte der Fremde noch mancherlei Dinge über die gräfliche Familie, die Ferencz, obgleich sie ihm fast alle bekannt waren, dennoch mit Vergnügen hörte. Auch sprach er über die Szapary’s, die edelste Familie Siebenbürgens, wie er sie nannte, in so enthusiastischen Ausdrücken, daß Ferencz ihn fast lieb gewann. Andererseits hatte der alte Diener auf den Fremden den günstigsten Eindruck gemacht. Dieser betheuerte wenigstens, daß seine Freude über die neue Bekanntschaft außerordentlich lebhaft wäre und erkundigte sich angelegentlich, ob er nicht noch vor seiner Abreise aus Wien zuweilen ein Stündchen mit Ferencz verplaudern könne. Als er nun erfuhr, daß der Diener sich an jedem Vormittage einige Stunden im Prater aufhalte, erbat er sich die Erlaubniß, ihm Gesellschaft leisten zu dürfen, was ihm natürlich bereitwilligst zugestanden wurde. Dann herzte und küßte er noch den kleinen Koloman, schüttelte seinem neuen Freunde die Hand und ging in sein Hotel, während Ferencz und der Knabe heimfuhren. 192
Am nächsten Morgen fand der Fremde sich pünktlich im Prater ein, wurde von Ferencz in der freundlichsten Weise willkommen geheißen und von Koloman, dem er eine große Düte voll prächtiger Confituren mitgebracht hatte, sofort liebgewonnen. Auf sein Zureden kehrte Ferencz mit ihm im dritten Kaffeehause ein. Die neuen Freunde nahmen in der schattigen Colonnade Platz, während Koloman, der strengen Befehl erhielt, sich nicht weit zu entfernen, im Hause und in der nächsten Umgebung desselben sich umhertummelte. Der Kaufmann ließ es sich nicht nehmen, einige Flaschen ausgezeichneten Ungarweins und ein feines Frühstück zum Besten zu geben. Selbstverständlich ist es, daß der Vormittag Beiden in der angenehmsten Weise verfloß. Die drei nächsten Vormittage wurden in ganz ähnlicher Art verbracht. Koloman, der in den ersten Tagen sich schüchtern in der unmittelbarsten Nähe des Kaffeehauses aufgehalten hatte, wagte sich immer weiter, während hinwiederum des Dieners Wachsamkeit merklich nachließ. Am ersten und zweiten Tage war Ferencz allerdings, so bald er den Knaben aus den Augen verloren hatte, ängstlich aufgesprungen, um ihn zurückzuholen, als er ihn jedoch stets ganz in der Nähe fand, wurde er lässiger, um so mehr, als der Kaufmann sich die erdenklichste Mühe gab, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Am vierten Tage erklärte der Fremde, daß er am Abend nach der Heimath zurückkehren müsse, weil dringende Geschäfte seiner harrten. Der heutige Vormittag müsse deshalb in besonders glänzender Weise gefeiert werden. 193
Auch Koloman erhielt eine prächtigere Bonbonniere als je zuvor und verlor sich damit in die Weite, während die beiden Freunde ein solennes Abschiedsfest begingen. Koloman hatte sich nach der Ostseite des Kaffeehauses gewandt. Dort führt ein Fahrweg vorüber, der die Hauptallee mit dem »Wurstelprater« verbindet. Dieser Weg erfreut sich stets einer öden Einsamkeit; selbst Abends, wo Tausende von Wagen und Zehntausende von Spaziergängern die große Allee beleben, wird er nur wenig frequentirt. Vormittags vollends durchwandert ihn nur in langen Zwischenpausen ein Mensch. Das Kind war etwa hundert Schritte vom Kaffeehause entfernt, als ein sorgfältig geschlossener Wagen langsam heranrollte. Zur selben Zeit erschien der Fremde, welcher sich unter einem plausiblen Vorwande von Ferencz entfernt hatte, draußen und eilte zu dem Knaben hin. »Willst Du ’mal ein Bischen in der schönen Kutsche spazieren fahren, Koloman?« fragte er. Das Kind war freudig dazu bereit, lief an den Schlag und wurde durch den Fremden in die Kutsche gehoben. Dann schwang derselbe sich gleichfalls hinein, die Thür flog zu, die Vorhänge wurden mit ängstlicher Sorgfalt vor die Scheiben gezogen und der Wagen fuhr rasch davon, hielt indeß schon bei der nächsten Biegung des Weges. Dort trat schleunigst ein hochgewachsener Herr an ihn heran. Es war Walther. Der Schlag wurde hastig geöffnet und der Entführer sprang hinaus. »Schläft er?« fragte Walther eifrig. 194
»Ganz fest.« »Das Narcoticum in den Bonbons hat also gut gewirkt. Schnell fort!« Dieser Zuruf galt dem Kutscher, der die Pferde antrieb, nachdem Walther in den Wagen gestiegen war. Der angebliche Kaufmann eilte in das Kaffeehaus zurück. Nach einer halben Stunde nahm er von Ferencz Abschied und nun erst fiel es dem alten Diener ein, sich nach dem Knaben umzusehen. Er suchte ihn im Hause, im Garten, lief auf die Allee, rief laut seinen Namen – umsonst, Koloman ließ sich nicht blicken, nicht hören. Schreckensbleich kam der arme Mensch in das Kaffeehaus zurückgestürzt; alle Kellner, Hausknechte und Mägde dieses Etablissements wurden aufgeboten, die Polizei benachrichtigt und wohl an zwanzig Sicherheitswachtleute nach allen Himmelsrichtungen zur Nachforschung entsendet, – Koloman war und blieb spurlos verschwunden. Als Gräfin Katinka den schrecklichen Unglücksfall erfuhr, gerieth sie in einen Zustand, der an Raserei grenzte, denn für ihr Söhnchen hatte sie die zärtlichste, ja eine ganz überschwängliche Liebe empfunden. Auch sie, wie alle Welt, wähnte, daß der Knabe sich verlaufen und wahrscheinlich in eine Lache oder in die Donau gerathen sei. Diese Vermuthung erhielt durch den Umstand volle Bestätigung, daß mau einige Tage später in einem Gebüsche am Ufer des Stromes eine Kindesleiche auffand, die verschiedenen Merkmalen nach nur die Kolomans sein konnte. Sie war freilich schon so stark in Verwesung übergegangen, 195
daß man die Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen im Stande war, dagegen hatte sie die Größe, die schwarzen Haare und die Kleidungsstücke des verschwundenen Knaben, wurde auch von den Szapary’schen Dienern und selbst von Gräfin Katinka als die entseelte Hülle Kolomans anerkannt. Die Gräfin hatte seit dem Unglückstage auf Ferencz den glühendsten Haß geworfen, doch ließ sie sich von dieser Leidenschaft und dem wilden Schmerze nicht so ganz überwältigen, daß ein unheilbarer Bruch mit dem alten Diener hatte erfolgen müssen. Das Geheimniß mußte um ihretwillen auch jetzt und selbst in dem Falle verborgen bleiben, wenn der Tod Kolomans den Gang des Erbschaftsprocesses hätte beeinflussen können. Das, so meinte sie, würde jedoch so lange nicht geschehen, als sie für die legitime Frau des jungen Grafen galt. Als solche hatte sie jetzt die nächsten Ansprüche auf das Erbe, weil keine anderen Verwandten der Szapary’s vorhanden waren. Ferencz, der sich jetzt in seiner neuen Stellung höchst unbehaglich fühlte und sie dennoch nicht zu verlassen wagte, weil die Welt dann geglaubt haben würde, daß er schimpflich fortgejagt wäre, drängte immer ungestümer auf eine Entscheidung und setzte schließlich einen Termin fest, nach dessen Ablauf er sich an den Erbprätendenten wenden wollte. – Bevor diese Frist verstrichen war, gerieth der alte Mann in einen Zustand hinein, der sich von der Raserei wenig unterschied. Er schrie und tobte derartig, daß ihm der Schaum auf die Lippen trat, schlug um sich, rollte in ent196
setzenerregender Weise die Augäpfel umher, kurz, geberdete sich so unbändig, daß man ihn an das Bett fesseln mußte. Da die Szapary’sche Dienerschaft wußte, daß Ferencz gern ein Gläschen über den Durst zu trinken pflegte, so war das allgemeine Urtheil bald gefaßt. Es lautete: »Endlich hat die Trunksucht den alten Burschen um den Verstand gebracht. Es geschieht ihm Recht; nur fort mit ihm in das Irrenhaus! Die Welt verliert Nichts an ihm.« Auffällig erschien den Domestiken die warme Theilnahme der Gräfin für Ferencz. Sie kam an jedem Tage ein oder drei Mal in das Zimmer, wo er lag, erkundigte sich angelegentlich nach dem hirnverbrannten Zeuge, das er in seinen Delirien schwatzte und brachte ihm sogar »stillende« Getränke, die sie selbst bereitet hatte. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÉË
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
U
nsere Gräfin hat doch ein gutes Herz, « meinten erfreut die wackeren Domestiken. » Nun sieht man’ s recht. Kein anderer Mensch kümmert sich so sehr um den alten Trunkenbold, dessen Nachlässigkeit überdies an dem Tode des armen Koloman schuld ist, wie die Gnädige.« Die beruhigenden Mittel der Gräfin übten nicht die gewünschte Wirkung aus, im Gegentheile wurde der Kranke immer unruhiger. Sein Zustand war so schlimm, daß er nicht für einen einzigen Augenblick bei klarem Bewußtsein war. Wenn er durch die Tobsucht seine schwachen Kräfte bis zur äußersten Erschöpfung angestrengt hatte, dann versank er wohl in eine todtenähnliche Erstarrung, aber die Besinnung blieb aus. 198
Nach drei Tagen stellte sich in der Wohnung der Gräfin Dr. Joszay, der Eigentümer einer renommirten Privatirrenanstalt Ungarns ein. Gräfin Katinka hatte ihn kommen lassen, weil sie zu seinem Talente ein besonderes Vertrauen hatte und deshalb seiner Anstalt am liebsten den alten Diener zur Behandlung übergeben wollte, falls sich das als nothwendig herausstellen würde. Dr. Joszay untersuchte den Kranken genau; er fand, daß die geistigen Kräfte des alten Mannes durch den Trunk schwer gelitten hätten und durch die furchtbare Alteration über das Verschwinden Kolomans vollends zerstört worden seien. Eine Heilung werde wohl kaum möglich sein, jedenfalls müsse der Kranke einer Irrenanstalt übergeben werden. Nach diesem Ausspruche eines so renommirten Irrenarztes blieb der Gräfin selbstverständlich keine andere Wahl übrig, als Ferencz der Kunst des Dr. Joszay anzuvertrauen. Der Arzt mußte wohl dieses Resultat seiner Untersuchung vorausgesehen haben, denn er hatte einen seiner Wärter, einen robusten, finsteren Gesellen, mitgebracht. Als Ferencz mit seinen Bändigern nach zwanzig Stunden auf der Bahnstation, welche der Anstalt des Dr. Joszay am nächsten lag, anlangte, verursachte er einen höchst aufregenden Auftritt. Er wehrte sich mit aller Kraft gegen den Wärter, der ihn in den starken, zum Transporte Geisteskranker eingerichteten Wagen tragen wollte, schrie mit markerschütternden Tönen um Hilfe und versicherte, daß er nicht wahnsinnig, sondern das Opfer eines schändlichen Bubenstücks wäre. Erst, nachdem Dr. Joszay einige Män199
ner durch ein splendides Trinkgeld bewogen hatte, dem Wärter beizustehen, gelang es, den Rasenden in den Wagen zu sperren. »Der arme Narr,« sagte Dr. Joszay zu dem Stationsvorsteher, der ein aufmerksamer Beobachter dieser erschütternden Scene war, »er hält, wie alle Wahnsinnigen, an der fixen Idee fest, daß man ihm Gewalt anthue. Oft ist ein unglaublicher Aufwand von List nöthig, um einen Irrsinnigen in die Heilanstalt zu schaffen und der arme Mann geberdet sich schlimmer, als irgend Einer, mit dem ich zu thun hatte. Schauen Sie nur, ob er nicht im höchsten Grade tobsüchtig ist.« Dies mußte in der That Jeder glauben, der wahrnahm, mit welcher Wuth Ferencz sich gegen die Übermacht wehrte, wie er um sich schlug, biß, kratzte, schrie. »Der ist complet verrückt,« meinten alle Umstehenden und Jeder empfand ein Gefühl der Erleichterung, als endlich der hermetisch verschlossene Wagen davonrollte. Einige Tage später erschienen die beiden Töchter des alten Dieners in der Irrenanstalt des Dr. Joszay, um ihrem armen Vater einen Besuch abzustatten. Mit ihnen kamen ihre Bräutigams. Die vier jungen Leute waren vorher bei der Gräfin Katinka, von welcher sie über den Zustand des Greises Kunde erhalten halten, gewesen. Die vornehme Dame hatte sie in der liebenswürdigsten Weise aufgenommen und ihre Freundlichkeit noch vergrößert, nachdem sie in geschickter Weise herausbekommen, daß den jungen Leuten das Geheimniß des alten Dieners ganz unbekannt war. Sie hatte sie gut bewirthen lassen, ihnen ein Empfehlungsschreiben 200
an Dr. Joszay mitgegeben, und sich dann mit einer Fülle von Beileidsbezeugungen von ihnen verabschiedet. »Sie wollen also den armen, alten Mann sehen?« fragte der würdige Director der Irrenanstalt die weinenden Töchter. »Ich finde das begreiflich, obgleich ich meine, daß der Anblick Sie gar zu sehr erschüttere, Ihnen vielleicht einen unverwischbaren, häßlichen Eindruck für das ganze Leben hinterlassen dürfte. Wenn Sie jedoch trotz meiner wohlmeinenden Warnung auf den Besuch bestehen –« »Ja, ja,« rief die ältere Tochter hastig, »Wiedersehen wollen wir den armen Vater unter allen Umständen. Vielleicht erkennt er uns.« »Ich fürchte das Gegentheil,« bemerkte der Director. »Seit er sich in der Anstalt befindet, hat er noch nicht einen einzigen lichten Augenblick gehabt, so daß ich leider annehmen muß, er sei nicht mehr zu heilen.« Diese feierliche Erklärung rief heftigeres Weinen bei den hübschen Mädchen hervor, trotzdem beharrten sie bei ihrem Wunsche. »Ich will Ihnen den Willen thun,« sagte Dr. Joszay. »ehe ich Sie jedoch zu dem Kranken führe, werde ich mich überzeugen, ob Sie sich, ohne Gefahr zu laufen, in seine Nähe wagen dürfen. Manches Mal,« fügte er erläuternd hinzu, »ist er so böse, daß Niemand ihm nahe kommen darf.« – Nach Verlauf einer halben Stunde erhielten die jungen Leute endlich Zutritt zu dem Greise. Sie fanden ihn in einem Zimmer, das zwar freundlich war, jedoch auf einen Menschen mit gesundem Hirn einen deprimirenden Eindruck hervorbringen mußte. Es hatte 201
ein niedriges, aber sehr breites Fenster, welches mit starken Eisenstäben vergittert und unmittelbar unter der Dekke in solcher Höhe angebracht war, daß man es nur dann zu erreichen vermochte, wenn man auf einen Tisch einen Stuhl stellte und auf dieses Gebau hinaufkletterte. Derartige Möbel fehlten jedoch ganz und gar, denn es war nur ein einziges Ausstattungsstück vorhanden, ein Divan nämlich, der im Fußboden festgeschraubt war und dessen Lehnen, Kanten und Füße mit dickem gefüttertem Plüsch überzogen waren. Auch der Boden und die Wände bis zu einer Höhe von drei Metern waren mit Wollenstoffen bekleidet. Es gab in der Anstalt mehrere solcher Zimmer. In sie wurden die Tobsüchtigen während der Stunden, in denen sie Anfälle von Raserei hatten, gesperrt. Man konnte sie dann unbewacht sich selbst überlassen, ohne fürchten zu müssen, daß sie sich den Schädel an den Wänden einrennen oder einen verderblichen Fall thun konnten. Als die vier jungen Leute in das Gemach traten, saß Ferencz auf dem Divan. Doch in welchem erbarmungswürdigen Zustande. Es schien, als ob ihm irgend Etwas in der Kehle oder im hinteren Theile der Mundhöhle sitze, und er rang fürchterlich nach Athem. Seine Brust, alle Muskeln seines Gesichts arbeiteten mit ungestümster Heftigkeit und ein schauerliches, halb pfeifendes, halb röchelndes Geräusch drang aus dem Schlunde hervor. Aus dem halbgeöffneten Munde sickerte, mit Speichel untermischt, eine röthliche Flüssigkeit, vielleicht Blut, und am Entsetzenerregendsten war der stiere todte Blick der glanzlosen Augen. 202
Die jüngere Tochter ertrug diesen schrecklichen Anblick nur wenige Sekunden, dann machte sich eine Anwandlung von Ohnmacht mit solcher Heftigkeit geltend, daß sie niedergesunken wäre, wenn der mürrische Diener sie nicht in seinen Armen aufgefangen und mehr hinausgetragen als geleitet hätte. Das ältere und herzhaftere Mädchen ließ sich indeß durch den widerlichen Anblick nicht einschüchtern. »Vater, lieber Vater,« rief sie weich und zärtlich, indem sie dem Unglücklichen einige Schritte nähertrat, »Erkennst Du mich nicht, Deine Nina?« Doch der Greis schnellte convulsivisch in die Höhe, schlug wild um sich und schrie röchelnd: »Fort! Laßt mich! Wollt Ihr mich umbringen? Hilfe, ich halt’ es nicht mehr aus! Und ich bin ja nicht wahnsinnig. Laßt mich nur frei, ich werde Nichts ausplaudern. – Die Gräfin braucht mich nicht zu fürchten. – Aber quält mich nicht so sehr. – Jesus Maria, ich ersticke, – nehmt mir das Ding aus dem Munde! – Hilfe! Luft!« Er stürzte der Länge nach auf den Boden und wand sich in Zuckungen. »Ich bitte, das Zimmer jetzt zu verlassen,« drängte der Director. »Mauris, hilf ihm auf. – Bitte, meine Herren, Ihr längeres Verweilen ist störend und auch zwecklos. Sie werden die Überzeugung gewonnen haben, daß der arme Mann der dunkelsten Geistesnacht zum Opfer gefallen ist.« Die Töchter und Einer von den Herren hatten der Aufforderung unverzügliche Folge geleistet, der andere hin203
gegen zögerte. »Der Unglückliche führt seltsame Reden,« meinte er. Der Director zuckte die Achseln. »Jeder Irrsinnige hat, wie Sie wissen werden, eine fixe Idee.« »Er sprach von einem Geheimnisse, welches der Gräfin, wahrscheinlich der Gräfin Szapary Schaden bringen könnte.« »Darin besteht eben sein Wahn,« bemerkte, nur mühsam seinen Ärger unterdrückend, Dr. Joszay. »Und er behauptet, daß ihm Etwas im Halse stecke,« ergriff der junge Hartnäckige wieder das Wort. »Möglich; er leidet an Hustenanfällen und Verschleimung.« »Aber so lassen Sie ihn doch untersuchen. Um des Himmels Willen schauen Sie nur, er erstickt wirklich – ist schon grün und blau im Gesicht angelaufen.« »Mein Herr,« rief der Director nun in aufflammendem Ärger, »ich ersuche Sie nochmals mit aller Entschiedenheit, sofort das Zimmer zu verlassen. In diesem Hause hat Jeder mir ohne Widerrede zu gehorchen.« Eine gebieterische Handbewegung unterstützte diese schroffe Aufforderung; der junge Mann gab nun wirklich, wenn auch mit Widerwillen seine so zähe behauptete Position auf und alle Vier kehrten in den luxuriös ausgestatteten Empfangssalon zurück, wohin ihnen Dr. Joszay unmittelbar darauf nachfolgte. »Ich hoffe, Sie werden mein rauhes Benehmen entschuldigen,« wandte er sich mit zuckersüßem Lächeln 204
an den jungen Mann, dessen Antlitz finster war wie die Nacht. »Wo es sich um eine heilsame Maßregel für meine Schutzbefohlenen handelt, da kenne ich seine Rücksicht.« Der Angeredete hatte nur eine steife Verbeugung für den freundlichen Director und auch die Übrigen verabschiedeten sich in kühler Weise, da das gräßliche Schauspiel, dessen Zeugen sie gewesen waren, sie bis auf daß Mark erkältet hatte. Als sie in dem Wagen saßen, der sie zur Bahnstation bringen sollte, brach der Finstere das beengende Schweigen. »Was sagt Ihr zu dem Zustande unsers Vaters?« fragte er. Die Jüngere schauerte zusammen und hatte nur ein krampfhaftes Schluchzen als Antwort auf diese Frage, während die Ältere in leidenschaftliche Wehklagen ausbrach. »Und was meinst Du, Timbus?« wandte sich der fragende an den Gefährten. Dieser blickte rasch auf, stutzend über den seltsamen Ton, in welchem die Frage gestellt wurde. »Ich? – Wie seltsam Du aussiehst, Bela! Du machst mich ganz betroffen. – Erschien Dir etwas nicht in der Ordnung?« – »In der Ordnung?« brach nun Bela heftig los. »Ich behaupte, daß unser Vater so wenig wahnsinnig ist, wie wir, sondern das Opfer eines unerhörten Schurkenstreichs.« Beide Mädchen schrieen laut auf. Alle waren leichenblaß geworden. Nach einer geraumen Pause erst ergriff der kühlere Jüngling wieder das Wort. 205
»Ich meine, Du giebst Dich einem Trugschlusse hin, Bela.« »Möglich; aber ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, als wenn man uns eine gut vorbereitete Farce vorgespielt hätte. Ich empfing den Eindruck, als wenn der Vater erst unmittelbar vor unserem Eintritt präparirt worden sei.« »Wie wäre das aber möglich?« »Das weiß ich freilich nicht. Wenn es aber Mittel giebt, die augenblicklichen Tod bringen, andere, die den Körper lähmen oder ihn mit langjährigem Siechthum inficiren, dann werden, meine ich, wohl auch Mittel vorhanden sein, welche einen Zustand erzeugen, der dem Wahnsinn ähnlich ist.« – »Wahrscheinlich. Doch aus welchem Grunde sollte man dieselben bei unserm Vater in Anwendung gebracht haben.« »Habt Ihr denn die Andeutungen des Vaters über ein Geheimniß, welches die Gräfin betrifft, vernommen?« »Freilich,« riefen alle Drei in athemloser Spannung. »Und Du meinst nun –« »Gar Nichts meine ich. Aber ich bin fest entschlossen, mir Gewißheit zu verschaffen, und Du wirst mir hoffentlich kräftigen Beistand leisten, Timbus?« »Kannst Du den leisesten Zweifel an meiner Bereitwilligkeit hegen?« fragte dieser vorwurfsvoll. »Ich will Alles, was ich besitze, aufopfern, wenn es sein muß, um uns Beruhigung zu verschaffen. Hier meine Hand darauf.« Wahrend der langdauernden Fahrt nach der weit ent206
fernten Heimath gelang es den vereinten Bemühungen der vier jungen Leute, einen Operationsplan festzustellen. Man mußte zunächst suchen, sich mit Ferencz in geheime Verbindung zu setzen. War Belas Argwohn begründet, dann mußte Ferencz zu jeder Zeit, wo man ihm nicht Gewalt anthat, seines Bewußtseins mächtig, mithin im Stande sein, eine ausführliche Auskunft zu ertheilen. Dann wollte man entweder auf gerichtlichem Wege seine Freilassung erwirken, oder ihn, was noch ungleich zweckmäßiger war, aus der Anstalt entführen. Aber zur Durchführung dieser Projekte gehörte voraussichtlich viel Geld, und die jungen Leute verfügten nur über bescheidene Mittel. Andere zur Mithilfe zu veranlassen, war nicht räthlich; ihr Verdacht durfte keinem Menschen bekannt werden, wenn der Plan nicht scheitern sollte. – Nach langer, angestrengter Überlegung hatte Bela, der sich eines bedeutenden Scharfsinns erfreute, einen Ausweg gefunden. Er calculirte nämlich folgendermaßen: »Wenn Ferencz wirklich ein der Gräfin Szapary furchtbares Geheimniß weiß, dann dürfte sich dasselbe auf die Erbschaftsangelegenheit beziehen, denn sonst hätte sie nicht nöthig gehabt, den alten Mann schon jetzt zu beseitigen. Du wirst Dich deshalb dem Erbprätendenten anvertrauen. Vielleicht ist derselbe im Stande, Licht in das Dunkel dieser mysteriösen Affaire zu bringen oder doch wenigstens die Kosten zur Ausführung unserer Idee zu bestreiten. Jedenfalls wirst Du mit ihm darüber verhandeln.« Als die jungen Leute die Irrenanstalt verließen, blickte Dr. Joszay, dessen freundliches Gesicht auf einmal sich 207
verdüsterte, ihnen, bedenklich den Kopf schüttelnd, nach. »Der Eine hat Verdacht,« murmelte er vor sich hin. »Ob er freilich wagen wird, ihn laut werden zu lassen, ist eine Frage, die ich nicht ohne Weiteres bejahen möchte. Und wenn er es thut, wird man ihm in das Gesicht lachen; ich stehe wohl über jedem Argwohn erhaben da.« Er ging sinnend auf und ab. »Die Gräfin muß ich benachrichtigen. Dieser Vorfall bietet mir auch einen geeigneten Anlaß, höheres »Kostgeld« für den alten Burschen zu verlangen. Viertausend Gulden, – das ist ja lächerlich wenig; zehntausend dürften nicht zu viel sein. Wenn ich nur das Geheimniß herausbekommen könnte, welches die pfiffige Dame so sehr fürchtet, aber der alte Bursche schwatzt darüber Nichts aus, selbst wenn man ihn in einen delirenden Zustand versetzt.« Nach diesem Monologe nahm der würdige Irrenanstaltdirektor vor seinem Schreibtische Platz.
Acte+ Kapitel. Ueberrascungen.
K
äthchen, mein trautes, theuerstes Töchterchen, schlägst Du endlich wieder die Augen auf? – Dank, Dank Dir Allmächtiger, daß Du mir mein einziges Kind am Leben erhalten hast!« Der alte Förster saß neben dem Lager, auf welchem Katharina ruhte. 208
Er hatte die zitternden Hände gefaltet und große Thränen rollten ihm in den weißen Bart. Sie blickte ihn verwundert an. »Bin ich denn lange krank gewesen?‘ »Ja mein Kind. Volle vier Wochen liegst Du nun schon schwer darnieder. Ein fürchterliches Nervenfieber hatte Dich auf das Schmerzenslager geworfen und während der ganzen langen Zeit warst Du nicht bei klarem Bewußtsein. Doch jetzt bist Du, o der Wonne, außer jeder Gefahr. Nun wird hoffentlich noch Alles gut werden.« Mit einem Male kam ihr die volle Erinnerung zurück. ,O Bruno, Bruno,« schluchzte sie und ein Strom von Thränen ergoß sich aus ihren Augen. Der Alte ließ sie ausweinen, dann streichelte er ihr zärtlich die blassen Wangen. »Fasse Dich, mein Herz,« bat er. »Ich hoffe, Deinen Schmerz lindern zu können.« Katharina schüttelte betrübt den Kopf. »Wie wäre das möglich? Ich werde Bruno betrauern und beweinen mein Leben lang.« ,Fühlst Du Dich kräftig genug, meine Eröffnungen anzuhören?« »Ja, ja,« flüsterte sie hastig, »Theile mir Alles mit. Jedes Wort, das von ihm berichtet, ist mir theuer.« »Du besinnst Dich wohl,« begann der Alte, »daß Bruno stets seinen Rivalen, Sachs, für den Anführer der Wildererbande hielt? – Seine Vermuthung hat sich in der That als richtig erwiesen. Sachs wollte uns zu Grunde richten, und weil ihm, wie Jedem, bekannt war, welchen hohen Werth 209
der Fürst auf das hierher übersiedelte Hochwild legte, so beschloß er, mich und Bruno dadurch in Ungnade zu stürzen daß er die Hirsche wegschoß. Diese Methode mochte ihm aber wohl noch nicht schnell genug zum Ziele führen, vielleicht auch mochte unsere Kränkung seinem rachgierigen Sinne nicht empfindlich genug erscheinen, genug, er nahm sich vor, uns – und Bruno zunächst – völlig zu vernichten. Da er indeß vor einem Morde doch zurückbeben mochte, so heckte er einen abscheulichen Plan aus, der nichts anderes bezweckte, als daß ich selbst Bruno erschießen solle. Einer seiner Spießgesellen, der rothe Mathes, mußte sich an Bruno herandrängen unter dem Vorwande, daß er Sachs verraten wolle. Sobald es ihm gelungen sein würde, Brunos Vertrauen zu gewinnen, sollte er ihn nach der Wildbachschlucht locken. In deren Nähe wollte Sachs einen erlegten Rehbock verwahren, der dann durch Mathes wie zufällig aufgestöbert werden sollte. Es ließ sich leicht voraussehen, daß Bruno den Bock auf die Schultern nehmen würde, um ihn vor den Wilderern in Sicherheit zu bringen. Mathes sollte darauf unter irgend einem Vorwande zurückbleiben. Sachs spekulirte nun darauf, daß ich, wenn Bruno mit dem Bocke auf dem Rücken den Grat überschreiten würde, mich von der Wuth übermannen lassen und ihn niederschießen könnte, und diese Berechnung des pfiffigen Burschen war nicht übel, denn ich befand mich damals in einer an Raserei grenzenden Stimmung, war mithin meiner Sinne nicht mehr ganz mächtig. Um mich in den extremsten Grimm zu versetzen, erschoß Sachs den Zwölfender und legte ihn so, daß ich ihn auf210
finden mußte; er war es auch, der mir den Brief schickte. Der Plan war gut angelegt, aber er lief nicht ganz so ab, wie Sachs vorherbedacht hatte, weil Mathes die Rolle, welche er spielen sollte, ernst nahm. Er war nämlich durch die ausgesetzten Belohnungen verleitet worden, seinen Kumpan zu verrathen, setzte sich zu diesem Zwecke mit Bruno ins Einvernehmen, verlangte jedoch, daß dieser mir Nichts mittheilen solle, weil er fürchtete, daß ich Mißtrauen gegen seine Aufrichtigkeit hegen oder daß mein Ungestüm Unheil anstiften könne. – Endlich glaubte Sachs, Alles genügend zum Gelingen seines schändlichen Planes vorbereitet zu haben. An jenem schreckensreichen Abende begab er sich in die Wildbachschlucht, wo er einen für Uneingeweihte unauffindbaren und nur vom Boden aus zugänglichen Schlupfwinkel in der Nähe des Grates hatte. Von dort wollte er die Katastrophe mit anschauen. Er mochte wohl schon geraume Zeit in dem Verstecke zugebracht haben, als ein auffälliger Vorfall ihn aus der Ruhe aufscheuchte. Ein Hirsch kam nämlich in mächtigen Sprüngen den Bach entlang durch das von diesem unter dem Grate durchgewühlte Thor herabgehetzt. Natürlich mußte das Thier durch irgend Jemand aufgestöbert sein. Sachs, der stets von Mißtrauen erfüllt war, schlüpfte sofort aus seinem Versteck auf den Boden der Schlucht und erblickte in einiger Entfernung Bruno mit Mathes zusammen die Schlucht herabkommen. Diese Beiden hatten vorgehabt, unter dem Grate so lange zu lauern, bis der Wilderer, des langen, zwecklosen Harrens müde, herabkommen würde, um dann über ihn herzufallen. Sachs errieth sofort, daß er 211
von Mathes verraten worden wäre. In sein Versteck durfte er jetzt selbstverständlich nicht mehr zurück und ebenso wenig durfte er wagen, die Schlucht entlang zu flüchten. Er mußte deshalb und zwar ganz in der Nähe des Grates, weil auf weite Entfernung kein anderer Aufstieg aus der Schlucht möglich war, emporklimmen. Da er wußte, daß ich ihn von meinem Standpunkte aus nicht sehen könnte, so wollte er versuchen, ob er unbemerkt an mir vorbeizukommen vermöchte. Du selbst hast gesehen, ob ihm das gelungen ist.« Bis dahin war die Genesende still geblieben, obgleich ihre Aufregung sich unaufhörlich gesteigert hatte. Nun jedoch unterbrach sie hastig den Vater: »Der Erschossene war also –« »Sachs.« Käthchen stieß einen Schrei des seligsten Entzückens aus. dann rief sie, so laut sie vermochte: »Bruno! Bruno!« Die Thür flog auf und Bruno eilte freudestrahlend hinein. – »Käthchen! Mein herzallerliebstes Käthchen!« Einen langen, innigen Kuß tauschten die beiden Liebenden mit einander aus, dann wurde Käthchen todtenbleich. »Sie stirbt,« jammerte Bruno verzweiflungsvoll. »Nicht doch,« rief freudig der Alte, »die große Aufregung hat sie angegriffen, aber sie wird sicher am Leben bleiben und nun erst vollständig genesen.« Plötzlich wurde sein Gesicht finster. Die Thür hatte sich geöffnet, ein blasser, geistvoll aussehender Jüngling war in 212
dieselbe getreten, hatte einen Blick, in dem sich Zaghaftigkeit, Wehmuth und Hoffnungsfreudigkeit wiederspiegelten, auf die anheimelnde Gruppe der Glücklichen geworfen und dann in unsagbarem Schmerze eine Hand über die Augen gelegt, um die Thränen zu verbergen, welche gewaltsam sich Bahn brachen. In diesem Momente traf ihn des alten Försters Blick und gleich darauf rief Käthchen, die, aufmerksam gemacht durch des Vaters urplötzliche Wandlung, emporgeschaut hatte, hell und jauchzend: »Johannes, lieber, lieber Bruder!« Der Jüngling fuhr heftig auf; fast schien es, als wenn die Knie unter ihm zusammenbrechen wollten, so gewaltig zitterten und wankten sie. Fortse~ung folgt.
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ann aber leuchteten seine Augen auf und aus seinen feinen Zügen erstrahlte seliges Entzücken. Und dann flog er nach dem Lager und umarmte die Genesende, die sich halb erhoben und ihm die Arme entgegengestreckt hatte und jubelte in unbeschreiblich rührendem Tone: » Schwester, mein theuerstes Schwesterchen, Du bist wieder der Sprache mächtig. Hat der gütige Gott ein Wunder vollbracht? « »Ja, Hans, « schluchzte, fromm die Hände faltend und die blauen, keuschen Kinderaugen gen Himmel richtend, Käthchen, » so darf man die unermeßliche Gnade, die der Allmächtige mir erwiesen hat, wohl nennen. Der gute Gott hat es wunderbar gefügt. Ein Irrwahn mußte mich in die furchtbarste, verzweiflungsvollste Aufregung versetzen, ich mußte wähnen, daß der Vater meinen geliebten Bruno er214
schießen wolle, damit ich mich übermächtig anstrengen sollte, den Gebrauch der Stimme wieder zu erlangen. Ihm sei Lob und Ehr in Ewigkeit. »Ja, er sei gepriesen! O wie jauchzt meine schwer bedrückte Seele auf, da bei meiner Rückkehr in das Vaterhaus sie alsbald durch eine so unendlich beglückende Kunde erfrischt wird.« »Du armer Bruder! Du hast wohl viel gelitten?« »Ja, Käthchen, ich habe gefehlt, aber auch hart gebüßt. Am Schrecklichsten folterte mich der Gedanke, daß Ihr mich verdammtet.« »Johannes!« »Du also grollst mir nicht, Käthchen?« »Das ist nie geschehen. Das Herz hat wohl oft im herben Weh aufgeschrieen, weil die Leute Dir so Böses nachsagten und als der Vater so tief traurig heimkam aus Wien und nie wieder Deiner erwähnte, aber ich habe nie den Glauben an Dich verloren. Du magst leichtsinnig gehandelt haben, sicher aber bist Du nie schlecht gewesen.« »Schwester,« rief Johannes in freudigster Bewegung. »Wie danke ich Dir für dieses schöne Vertrauen! Du täuschest Dich nicht; ich habe mich allerdings eines Vergehens schuldig gemacht, welches durch das Gesetz mit strenger Strafe geahndet wird, aber nicht Egoismus, Verschwendungssucht oder sonst ein böser Trieb hat mich dazu veranlaßt.« Er wandte sich mit einer schnellen Bewegung zum alten Förster. »Ja, Vater, ich bekenne mich schuldig, Wechsel gefälscht zu haben, aber, so wahr Gott mir helfe, ich konnte nicht anders.« 215
Der Greis wandte sich verächtlich ab. »Du hättest Dir den Frevel, Gottes Namen zur Beschönigung einer Schandthat anzurufen, ersparen können,« sagte er in eisigem Tone. Der Jüngling wurde todtenbleich. Katharina schrie laut auf. »Vater,« flehte sie, »Du wirst ihm vergeben, wenn Du seine Vertheidigung gehört haben wirst; eine innere Stimme giebt mir diese Gewißheit. Hans, erkläre ihm doch –« »Es bedarf keiner Erklärung,« unterbrach der Greis sie rauh. »Ein ehrenhafter Mensch macht sich nie und unter keinen Umständen einer unredlichen Handlung schuldig.« »Auch dann nicht, wenn er durch dieselbe einer heiligen Verpflichtung nachkommen, Menschen, die ihm nächst seinen Eltern und Geschwistern am theuersten sind auf der Welt, von der Verzweiflung, vom Untergang oder Selbstmorde retten kann?« fragte Johannes mit schmerzlich zitternder Stimme. Der Greis blickte finster und schweigend zu Boden. »Vater,« bat Käthchen nochmals, »höre ihn, o laß Dich erweichen! Um meinetwillen sei so barmherzig! – Du mußt ihn anhören,« fuhr sie dringender fort. »Willst Du grausamer handeln, als die Vorsehung an Dir gehandelt hat? In dem Augenblicke, wo die Gnade des Himmels Dir das eine Deiner Kinder wieder geschenkt hat, darfst Du nicht mit kaltem Blute das andere in den Tod treiben. Sieh nur, wie blaß und elend er ist! Wenn Du ihn heute von Dir stößest, dann würde ihm der Gram das Herz brechen.« 216
Sie schluchzte bitterlich. Ihre Vorwürfe hatten den Alten sichtlich erschüttert. Unwillkürlich warf er einen forschenden Blick auf den Sohn, und nun war sein Widerstand gebrochen. Wenige Väter nur wird es geben, die so entmenscht sind, ein Kind selbst dann von sich zu treiben, wenn sie erkennen, daß sie es damit dem Untergange weihen. »Ich will nachgeben,« sagte er kurz und hart. »Reinige Dich, wenn Du dazu im Stande bist« Über Johannes abgehärmten Wangen rollten zwei schwere Thränen. »Ich danke Dir, Vater,« flüsterte er. Bruno, der sofort nach Johannes Eintritt sich in den Hintergrund des Zimmers verfügt hatte, wollte sich nun entfernen, doch der Jüngling bat ihn dringend, zu bleiben. »Sie Sollen demnächst mir so nahe treten, wie Vater und Schwester selbst,« rief er. »Auch vor Ihnen muß ich deshalb gerechtfertigt dastehen, denn unmöglich wäre es, daß Sie einem gemeinen Verbrecher Ihre volle Zuneigung widmen könnten.« »Ihr werbet Alle,« fuhr er nach kurzer Pause fort, »die üble Nachrede kennen, die der Vater über mich vernahm, als er sich in Wien nach mir erkundigte. Ich sollte eine lüderliche, meine Mittel weit übersteigende Lebensweise geführt haben, Wucherern in die Hände gerathen sein und schließlich Wechsel gefälscht haben. Leichtsinnig handelte ich in der That. Ich hatte von Kindesbeinen an nur in äußerst beschränken Verhältnissen gelebt, als ich nun, ein haltloser, unerfahrener Jüngling, urplötzlich in das großar217
tige Leben der Weltstadt hineingerieth, mitten in den tollen Wirbel der Genußsucht, durch den so Viele in die Tiefe gezogen werden, da berauschten mich der Glanz dieses Lebens und die beseligenden Reize der unumschränkten goldenen Freiheit derartig, daß ich die Kaltblütigkeit und Überlegungskraft vollständig verlor. Ich warf mich in den tosenden Strudel des Vergnügens und ließ mich durch ihn herumwirbeln, bis ich Alles vergaß, Euch, meine Verhältnisse, meine Studien –« »Und die Ehre,« ergänzte der alte Förster rauh. »Nein,« rief aufflammend Johannes, »ihr ward ich nicht untreu. – Doch weiter! Ich gerieth, wie das nicht anders möglich, in Schulden, doch hätten dieselben mich nun und nimmermehr zu einem Vergehen gegen das Gesetz treiben können. Ich war ja noch in dem Alter, wo die Welt uns gehört, wo keine Scholle uns hält, kein Zwang uns fesselt, den wir nicht selbst gern dulden. Ich hätte deshalb den Manichäern zu jeder beliebigen Zeit mich leicht entziehen, meine Studien an irgend einem Orte, wo der Kunst ein Asyl eingeräumt ist, beendigen und dann mein Talent, denn das habe ich, zur Begleichung meiner Verbindlichkeiten ausnutzen können. Ich würde auch wahrscheinlich aus Wien mich entfernt und nach dem göttlichen Rom gewandt haben, wenn nicht ein eisernes Verhängniß mich zum Bleiben gezwungen, dem Verbrechen in die Arme getrieben hätte. Ich hatte, als ich mein Freiwilligenjahr abdiente, einen Kameraden, den ich liebte, wie einen Bruder. Ernst Günther verdiente meine Zuneigung, denn es konnte keinen treueren, willigeren und liebevolleren Freund 218
geben, als ihn. Unser Regiment wurde der Südarmee zugetheilt und in den staubigen Ebenen unter dem glühendheißen Junihimmel Ober-Italiens hatten auch wir Beide manche Drangsal zu überwinden, wie alle Kameraden. In dieser Zeit bewährte sich Ernst als ein echter Freund. Alles Leid, alle Strapazen des Krieges ertrug ich leichter, weil er die bösesten Stunden durch seine unverwüstlich heitere Laune hinwegscherzte. Stets war er so sorgsam um mein Wohlergehen bemüht, daß er sich fast aufopferte. Glücklich überstanden wir einige kleinere Gefechte. Da kam der heiße Tag von Custozza. Die Italiener waren uns an Zahl weit überlegen, sodaß wir alle unsere Kraft und Zähigkeit aufbieten mußten, um nicht zu unterliegen. Wüthend wogt der Kampf hin und her. Da. erhält unser Bataillon Ordre, einen Hügel wegzunehmen, von welchem eine feindliche Batterie Tod und Verderben in unsere Reihen speit. Mit donnerndem »Hurrah!« dringen wir vor, den Hügel hinan. Furchtbare Salven schmettern wohl die Hälfte von uns nieder, aber Nichts vermag uns aufzuhalten. Unaufhörlich schießend, ladend und wieder schießend, klettern, kriechen, springen wir hinauf und endlich, endlich sind wir oben. Ich und Ernst, der stets an meiner Seite geblieben war, wir kommen zuerst hinauf. Mit einigen Sätzen sind wir bei den Kanonen und schlagen voll unbändiger Wuth auf die Italiener los. Da schreit Ernst plötzlich auf, stürzt vor mich und erhält im selben Augenblicke den Degenstoß eines feindlichen Offiziers. Den Todesstoß, welcher mich treffen sollte, hatte er in seine treue Brust aufgenommen.« 219
Er hielt eine Sekunde inne; die tiefe Bewegung erstickte seine Stimme. »Wenige Minuten später war der Hügel in unserem Besitz und blieb es. Ich eilte zu Günther zurück. Er lebte noch. Die heißen Thränen flossen mir über die Backen, als ich mich zu ihm hinabbeugte und einen Abschiedskuß auf seine schon erbleichende Stirn drückte. Er schlug noch einmal die Augen auf. ›Hans‹ flüsterte er mit Anstrengung, ›Wenn Du glücklich heimkehrst, dann nimm Dich meiner armen, alten Mutter an.‹ Vater, ich habe ihm mit einem heiligen Eide zugesichert, daß ich seine Mutter und seine Geschwister achten und für sie sorgen wolle, als wären es die meinen. Er hauchte gleich darauf die Seele aus; sein glücklicher letzter Blick, seine freudig verklärten Mienen bezeugten, daß er meinen Worten vertraue. Er durfte es. Ich habe redlich für die einst wohlhabende, durch den Tod des Gatten und ältesten Sohnes und andere Schicksalsfügungen jedoch an den Bettelstab gebrachte greise Frau und ihre fünf noch kleinen Kinder gesorgt, aber die Noth der Ärmsten war so groß, daß meine geringen Mittel nicht hinreichten, sie zu heben. Die geringe Unterstützung, welche die Wittwe von der Commune erhielt, waren nur gleich einem Tropfen Wasser auf dem heißen Steine des Elends. Ich mußte Schulden contrahiren, um die herbste Noth von den Armen fernzuhalten und das glückte mir auch, bis ein Vorfall sich ereignete, der mich in eine schiefe Lage drängte. Frau Günther hatte gemeinsam mit ihrem Manne einige Wechsel acceptirt, die 220
sie nach dem plötzlich erfolgten Hinscheiden des Gatten nicht einzulösen vermochte. Der Besitzer dieser Schuldverschreibungen, eine hartherzige Wucherseele, gewahrte kaum, daß die alte Frau einen Freund gefunden, der für sie sorgte, als er die Einlösung der Wechsel forderte. Natürlich konnte die schwergeprüfte Frau nicht zahlen und ich hatte nicht soviel Kredit, um eine so bedeutende Summe geliehen zu erhalten, konnte es deshalb auch nicht verhindern, daß der grausame Gläubiger die Wittwe auspfänden ließ. Mit großer Mühe verschaffte ich der Familie wieder die unentbehrlichsten Geräthschaften, da ließ der Unbarmherzige ihr zum zweiten Male Alles fortnehmen. Es kostete mich unsägliche Anstrengung, das Nothwendigste nochmals anzuschaffen und wochenlang, bis in den Dezember hinein dauerte es, ehe die Familie mit dem Unentbehrlichsten versehen war. Eines Morgens kurz vor Weihnachten kam ich in die elende Wohnung und finde dieselbe zum dritten Male vollständig ausgeräumt. Die kahlen Wände, flimmernd von Eis, starren mir entgegen, die Fenster sind mit einer dicken Eis- und Schneekruste überzogen, auf dem Boden hocken, zitternd vor Frost und weinend vor Hunger, denn sie hatten seit zwölf Stunden nichts genossen, die Kinder und die unglückliche Wittwe, welche die Verzweiflung krank gemacht hatte, liegt, mit einigen Lumpen nothdürftig verhüllt auf einer dünnen Strohschütte und fleht laut und thränenlos zu Gott, daß er sie durch einen baldigen Tod aus dem unerträglichen Leid erlösen möchte. Vater, mir brach das Herz. Ich konnte es nicht ertragen, die Mutter und Geschwister desjenigen, der 221
in den Tod ging, um mir das Leben zu retten, vor Hunger und Kälte umkommen zu sehen. Und doch konnte ich sie nur dann retten, wenn ich den Vampyr befriedigte. Da ging ich denn hin und ward – ein Wechselfälscher.« Der Alte hatte sich längst zum Fenster gekehrt und starrte unverwandt in den dunklen Abend hinaus. Bruno dagegen stand mit über der Brust gekreuzten Armen stramm aufrecht da, wie eine knorrige Eiche. Mehr als einmal zuckte es wie Wetterleuchten über sein Gesicht, aber er bezwang sich und blieb stumm. Eine Minute war es kirchenstill im Zimmer. Dann wandte der Förster sich um, ging rasch auf den jungen Mann los und reichte ihm die Hand. »Du hast gehandelt, wie ein braver Mann. Die Welt mag Dich verdammen, meinem Herzen dagegen wirst Du fortan so theuer sein, wie es einst der Fall war.« »Vater,« jauchzte Johannes und sank in seligster, wortloser Freude dem Alten um den Hals, »o mein Vater, wie machst Du mich glücklich und zu einem neuen besseren Leben fähig!« »Potz Wetter, Junge,« polterte der Greis, »mache mich nicht weich! Bomben und Granaten! Bin ich darum Siebenzig alt geworden, daß ich noch in meinen alten Tagen flennen soll, wie ein Schulknabe?« Dabei rannen ihm die hellen Freudenthränen über die wetterharten, gefurchten Backen in den weißen Bart. »Teufelsjunge, Herzensjunge,« polterte er weiter, »Warum bist Du nicht schon längst zu mir gekommen und hast mir das erzählt? Lässest mich hier sitzen nnd mich 222
ärgern und kränken, daß mir der Gram schier das Herz zerriß. Junge, das war nicht Recht. Den Kopf könnte ich Dir deshalb abreißen vor Wuth.« Und wirklich nahm er ihn beim Schopf und küßte ihn auf beide Wangen. »Konntest wohl nicht eher kommen?« fragte er. »Warst in dem – in dem Hause, he? »Nein, Vater, dem Himmel sei Dank, nein! Ein hochherziger Mann bewahrte mich vor diesem grausigen Loose, indem er dem Wucherer die Falsificate abkaufte und ihn bewog, seine Klage als Irrthum zu erklären. Weshalb ich nicht früher kam, mich zu reinigen, werde ich Dir später einmal auseinandersetzen. Denk, daß der Kummer und die Scham mich auf das Krankenlager geworfen hatten und lange Zeit auf ihm festhielten.« »Armer Junge. Ich kann mir leicht vorstellen, wie sehr Du gelitten haben mußt. Hattest ja seit jeher ein weiches Gemüth. Darum wollte mir’s auch nie recht in den Sinn, daß Du ein schlechter Kerl geworden sein solltest. Glauben mußte ich ’s aber doch nach dem, was ich über Dich erfuhr.« – Johannes wandte sich zu Bruno. »Und Sie, mein Freund, verdammen Sie mich nicht? – Bruno eilte auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. »Ich Dich verdammen? Nein, nein, wie wäre das nur möglich, denkbar? Dein schönes, edles Herz flößt mir Bewunderung und Sympathie für Dich ein. Ich werde Dich stets lieb haben, wie einen Bruder!« »Und ich werde stolz auf Deine Zuneigung sein und sie von ganzem Herzen erwiedern.« 223
Beide Jünglinge besiegelten dieses Gelöbniß mit einem Kusse. Plötzlich wurde Johannes sichtlich betroffen, sah den Gehilfen immer und immer wieder scharf an und schüttelte den Kopf, wie man wohl thut, wenn man irgend etwas nicht recht glaubbar findet. »Was hast Du denn?« fragte der alte Förster, dem dieses wunderliche Gebahren auffiel. »Ich bin in hohem Grade erstaunt, verblüfft über die Ähnlichkeit Brunos mit meinem edlen Gönner. Dieselbe ist so außerordentlich, daß man, wenn man sie in gleicher Kleidung nebeneinander sähe, Einen vom Andern nicht unterscheiden könnte. Dieselbe Größe, das nämliche Profil, die gleiche Farbe der Augen, Haupt- und Barthaare, – es ist wunderbar, ganz wunderbar. Hast Du vielleicht einen Zwillingsbruder, Bruno?« Dieser schüttelte ernst den Kopf. »Nein, nur eine Schwester, von welcher ich jedoch nicht weiß, ob sie noch am Leben ist, da ich sie seit 16 Jahren nicht gesehen und trotz aller Nachforschungen nicht aufgefunden habe.« »Das Geschick hat sie wohl in fremde Länder verschlagen?« »Wenn es nur das wäre, dann wollte ich sie schon finden; mich und meine arme Schwester hat jedoch ein unendlich grausameres Loos betroffen. Wir wurden unserer Eltern, unseres Vermögens und selbst unseres Namens beraubt!« »Wie?« riefen die drei Zuhörer gleichzeitig erstaunt. »Beraubt? Wie ist das möglich?« 224
»Fragt mich nicht jetzt nach meinem herben Geschick, ihr Lieben,« bat Bruno bewegt. »Ihr sollt nach kurzer Zeit schon, wie ich mir vorgenommen, das Geheimniß meines Lebens erfahren. Diesen frohen Tag wollen wir uns nicht durch trübe Erinnerungen verkümmern. Das Leben bietet ja so wenige sonnige Tage, daß man thöricht wäre, sie nicht bis zur Neige zu genießen. Nur soviel will ich, um keinen Argwohn in Euch aufkommen zu lassen, gleich erwähnen, daß ich nicht ein Abenteurer bin und daß auch nicht der geringste Makel an meiner Ehre haftet.« »O Bruno,« rief Käthchen vorwurfsvoll, »Wie kannst Du nur wähnen, daß wir an Deiner Ehrenhaftigkeit zu zweifeln vermochten?« Diese anzuzweifeln kam wohl auch dem alten Förster nicht in den Sinn. Trotzdem verstimmte ihn die überraschende Eröffnung des Gehilfen. Er hatte, als er vor drei Jahren die Anstellung Brunos in den erzherzoglichen Dienst beantragte, sich nicht genauer nach dem Vorleben des jungen Mannes erkundigt, sondern sich mit der Auskunft begnügt, welche ihm die überaus günstigen Zeugnisse ertheilten. Aus ihnen hatte er ersehen, daß sein neuer Gehilfe Bruno Waldmann heiße, die Forstwirthschaft erlernt habe und ein hirsch-, holz- und feldgerechter Waidmann sei. Erst heute fiel ihm ein, daß auf keinem Zeugnisse der Geburtsort oder das Geburtsjahr Brunos angegeben wäre. Er beschloß schon in allernächster Zeit, wenn Bruno nicht freiwillig seine Zusage einzulösen trachten sollte, darauf zu dringen, daß jenes Geheimniß, von dem der junge Mann gesprochen, enthüllt würde. 225
Eine Periode des reichsten, reinsten Glückes begann nun für alle Bewohner des stillen Forsthauses. Die Verbissenheit des Alten war ganz gewichen, ja hellster Sonnenschein lachte wieder, wie vor langen Jahren, als er auf Freiersfüßen ging, auf seinem Gesichte, als eines Tages aus der Kabinetskanzlei ein kleines Packet und ein großes Schreiben eintrafen. Der Erzherzog, welchem man die rührende Geschichte von den Ereignissen an der Wildbachschlucht mitgetheilt, hatte die Huld gehabt, in einem eigenhändigen Schreiben den alten Förster seiner vollsten Zufriedenheit zu versichern. In dem Packet befanden sich das Bestellungsdekret Brunos als Förster und einstiger Nachfolger des Alten, sowie eine prachtvolle Schmuckgarnitur und ein duftendes, an Käthchen adressirtes Billet. Dieses stammte von der gütigen Tochter des hohen Herrn und enthielt einige warm empfundene Beglückwünschungszeilen sowie die Bitte, daß die Försterstochter den Schmuck zur Erinnerung an das Wunder, mit welchem sie begnadet worden und an die Spenderin tragen möchte. Johannes und Käthchen erholten sich überraschend schnell. Jener strich mit dem Alten im Forste umher, so lange Bruno bei der Genesenden weilte und las der lieblichen Schwester treffliche Bücher vor, wenn Bruno durch den Dienst in Anspruch genommen wurde. Käthchen hinwiederum, die so schnell erstarkte, daß sie schon wenige Tage nach der Krisis eine kurze Zeit im weichen Polsterstuhl am Fenster zubringen konnte, bemühte sich, aus dem unerschöpflichen Liebesborn ihres Herzens 226
eine Fülle von Zärtlichkeit über die drei ihr so unendlich theuren Menschen zu verbreiten. Eines Tages hatte Johannes aus einem geistvollen Romane eine Schilderung der Wonnen, welche die echte, reine Liebe dem menschlichen Herzen gewährt, vorgelesen, wodurch Käthchen so hingerissen wurde, daß auch sie in begeisterten Worten dieses edelste aller Gefühle pries. »O Du lieber Bruder,« rief sie dann, »Würde Dir doch auch recht bald diese überirdische Glückseligkeit beschieden. Dir mit Deinem weichen Gemüthe würde durch die Liebe die Erde zum Paradiese umgeschaffen werden.« Johannes blickte ihr schalkhaft lächelnd in die Augen. »Deine Annahme enthalt eine so unumstößliche Wahrheit, daß ich schon längst zu dieser Erkenntniß gelangt bin.« »Du willst doch nicht sagen –« »Daß ich ein Schätzchen gefunden habe, wie Du einen Schatz? Gerade diese Meldung wollte ich mit pflichtschuldigstem Gehorsam abstatten.« »Ist es möglich? O Du böser, lieber Bruder, eine Kunde von solcher Wichtigkeit enthältst Du uns so lange vor? Schäme Dich! Für diese unverzeihliche Säumniß gebührte Dir eine recht empfindliche Strafe.« »Die ich mir sofort aufzuerlegen bitte, um mein mahnendes Gewissen zu beschwichtigen,« bat Johannes mit der Miene eines reuigen Sünders. »Ich will Dir den Willen thun,« rief Käthchen mit feierlichem Tone. »Vernimm denn meine Sentenz: Du bist verurtheilt, Deiner Schwester Katharina ein halbes Dutzend von Schmätzen zu verabfolgen.« 227
»Wehe mir! Giebt es keine Appellation gegen dieses strenge Diktum?« »Keine.« »Und im Gnadenwege –« »Wird auch nichts nachgelassen.« »Na, dann muß man sich fügen,« lachte Hans, indem er die Schwester zärtlich umarmte. »Also: ein – zwei – drei – vier –« »Halt, halt!« rief Bruno, der soeben in die Thür getreten war, mit komisch-ernstem Pathos. »Gegen sothanen Gewaltakt muß ich feierlichst Verwahrung einlegen.« »Euer Protest, gestrenger Herr Zukunftsschwager, kann keine Beachtung finden, weil ich zur Strafe des Küsseraubens verurtheilt worden bin.« »Aus welchem Grunde, Herr Raubritter?« »Weil er,« fiel Käthchen ein, »bisher kein Sterbenswörtchen davon erwähnte, daß er ein hübsches, liebenswürdiges Bräutchen hat.« »Ein hübsches, liebenswürdiges? – Ei habe ich ihr diese Eigenschaften beigelegt? Wenn das geschehen sein sollte, dann muß ich Wiederruf leisten, denn meine Braut ist eine ehrwürdige Matrone, in deren Zügen verschiedene Jahrzehnte ihre unverwischbaren Spuren hinterlassen haben.« »Sei hübsch artig, Hans! Du hast stets die Wahrheit geliebt, mußt also auch recht aufrichtig sein, wenn Dein neugieriges Schwesterchen einige wichtige Fragen an Dich richten wird.« »Also ein Examen. 228
Fragen Sie nur, Herr Prüfungscommissärin, ich werde mich bemühen, nach bestem Wissen und Gewissen zu antworten.« »Hast Du wirklich ein Bräutchen?« »Ja.« »Wie alt ist sie?« »Siebenzehn Jahr.« »Ist sie hübsch?« »Sieh in den Spiegel; die Antwort, welche er Dir giebt ist die meinige.« Fortse~ung folgt.
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Du Loser! Man merkt’ s, daß Du Studien im galanten Wien gemacht hast. Aber weiter: Wie heißt Dein Bräutchen ? « » Lucie.« » Ein hübscher Name.« » Käthchen klingt schöner, « warf Bruno ein. » Es mag sein; darüber steht mir keine Entscheidung zu. Doch nun eine Cardinalfrage: Wie lautet der Familiennamen Luciens? « » Szapary.« »Also Lucie Szapary? « » Nicht ganz, sondern Lucie Gräfin von Szapary.« Bruno stieß plötzlich einen lauten Schrei aus. Er wurde kreidebleich und wankte, als ob er von einem wuchtigen Schlage getroffen worden wäre. Johannes sprang auf, um ihn zu stützen. 230
»Was fehlt Dir, Bruno?« riefen die Geschwister bestürzt. « Bruno rang nach Worten. »Wie, sagtest Du, heißt Deine Braut?« keuchte er endlich. »Lucie Szapary.« »Also doch. Ich traute meinen Ohren kaum. Gott, Gott, wie danke ich Dir! Endlich gefunden, endlich! Und nun hin zu ihr! Wo hält sie sich auf, Freund? Ich beschwöre Dich, sprich; schnell, schnell!« Mit immer wachsendem Erstaunen gewahrten die Geschwister die maßlose Aufregung des jungen Försters und wie aus einem Munde erschallte die Frage: ,,Warum bist Du so erregt, Bruno?« »Warum ? Das werdet Ihr begreifen, wenn Ihr erfahrt, daß mein wirklicher Name und Stand Botho Graf von Szapary lautet.« Nun entschlüpfte Käthchens Munde ein Ausruf der Überraschung, während Johannes starr vor Erstaunen war. »Bruno,« rief er endlich, »bist Du auch nicht in einem Irrwahn befangen ?« »Aus welchem Grunde hegst Du Zweifel?« »Weil in Wien ebenfalls eine Persönlichkeit existirt, die sich für den Sohn des Grafen Koloman ausgiebt.« »Das kann nur ein Schwindler, ein Abenteurer sein.« »Aber Lucie hält ihn für ihren Bruder.« »Dann mag auch sie eine –« »Nein,« rief Johannes hastig, »für Lucie stehe ich ein. Sie ist unschuldig und unerfahren wie ein Kind.« 231
»Es ist ja möglich, daß auch sie von dem verwegenen Glücksritter betrogen wurde.« Johannes schüttelte bedächtig den Kopf. »O Himmel, Ihr glaubt mir nicht?« rief in halber Verzweiflung der junge Förster. »Ich schwöre es Euch, daß ich die lautere Wahrheit spreche. Möge Gottes Zorn mich verderben, wenn ich Euch belüge.« Der alte Förster, welcher eben erst vom Mittagsschläfchen aufgewacht und Ohrenzeuge des Gespräches geworden war, ergriff nun das Wort: »Ich schenke Deiner Versicherung unbedingten Glauben, lieber Bruno, Du hast bis jetzt einen schlichten bürgerlichen Namen geführt, Dich auch in den beschränken Verhältnissen Deiner untergeordneten Stellung ganz wohl gefühlt, es ist deshalb weder der Ehrgeiz, noch die Sucht nach Rang und Reichthum, welche Dich zur Anmaßung eines falschen, hocharistokratischen Namens veranlassen könnten. Deine Behauptung muß sich deshalb auf wirkliche Thatsachen basiren. Es wäre nun zweckmäßig, wenn Du uns Deine Lebensschicksale mittheilen wolltest, – doch nein, noch nicht. Zunächst, Hans, erzähle Du uns, wie Du mit der jungen Gräfin bekannt wurdest und was Du von ihr und ihrem angeblichen oder wirklichen Bruder weißt.« Dieser Aufforderung kam Hans sofort nach; er erzählte zunächst, wie er mit Lucie bekannt geworden. Der Alte unterbrach ihn. »Du kanntest also nicht den hohen Rang der jungen Dame?« 232
»Nein; ich hielt sie für eine Nätherin. Als sie mir nach einigen Tagen ihren Namen und Stand mittheilte, hatte die Liebe zu ihr bereits unausrottbare Wurzeln gefaßt. Da auch Lucie mich innig liebte, so hielt ich es für kein Unrecht, um ihre Hand zu werben, trotzdem sie in socialer Beziehung so hoch über mir steht. Überdies war und bin ich noch entschlossen, Lucie erst dann wirklich als Gattin heimzuführen, wenn ich den Unterschied einigermaßen ausgeglichen haben werde, daß ich mir einen berühmten Namen errungen. Auch fragt es sich, ob Lucie jemals in eine Lage versetzt werden wird, welche ihrem Stande und Namen angemessen ist. Vorläufig ist sie sehr arm und meine Bewerbung deshalb nicht allzukühn.« Der Alte lächelte. »Wozu diese Entschuldigungen? Dem Herzen lassen sich keine Gesetze vorschreiben. Es hat gewählt, Du mußtest Dich fügen. Übrigens wäre Deine Liebe zu einer Dame mit einem berühmten aristokratischen Namen auch in dem Falle kein Verbrechen, wenn die Komtesse reich mit irdischen Gütern gesegnet wäre. Es giebt zahlreiche adlige Damen, die mit Bürgerlichen vermählt sind. Selbstverständlich hast Du gehandelt, wie ein Ehrenmann handeln muß; ich meine, Du wirst ihr offen gesagt haben, wie es mit Deinen materiellen Verhältnissen steht?« »Gewiß, mein Vater. Lucie weiß, daß ich ein armer, einzig auf mein Talent angewiesener Künstler bin. Nur meinen Namen glaubte ich ihr verschweigen zu müssen. Ich fürchtete, daß ein tückischer Zufall sie ebenso, wie Dich, irre führen könnte, wenn ich ihr meinen wirk233
lichen Namen angäbe. Sie kennt mich unter dem Namen Hugo Krohn.« Der Alte schüttelte mißbilligend den Kopf. Dann fragte er: »Hat der angebliche Bruder Luciens eurem Herzensbunde kein Hinderniß in den Weg gelegt? Wenn er, wie ich bestimmt glaube, ein Abenteurer, also ein von brennendem Ehrgeize getriebener Mann ist, dann hat er sicherlich hochfliegende Pläne mit seiner Schwester vor, weshalb es mich nicht wenig wundern würde, wenn er sich geneigt erwiesen haben sollte, einen unbekannten armen Künstler als Schwager zu acceptiren. Wie hat er sich zu euch gestellt?« »Bis jetzt weiß er noch Nichts von unserer Liebe, ja ich bin ihm gänzlich unbekannt. Als ich nämlich vor einigen Wochen zufällig mit Lucie bekannt wurde, war er nach Siebenbürgen gereist, um dort Material zu sammeln, das seine Ansprüche auf das Szapary’sche Erbe zu unterstützen vermöchte.« »Wie?« rief Bruno erstaunt. »Er erhebt Ansprüche auf das Majorat? Ist denn der alte Graf todt?« »Er starb plötzlich an einem Herzschlage.« Diese Nachricht machte einen mächtigen Eindruck auf Bruno. »Todt,« seufzte er schmerzlich. »Welches harte Herz hatte dieser alte Mann! Er fühlte sich nicht gedrungen, sein Gewissen zu erleichtern, indem er sein schweres Unrecht auch nur einigermaßen gut machte.« »Doch, doch. Er hinterließ ein Testament; in welchem er seine schmähliche That reuig eingestand und den Mon234
archen bat, das reiche Erbe zwischen den Kindern aus der ersten und zweiten Ehe seines Sohnes zu theilen.« Brunos Aufregung wurde unbeschreiblich groß. »Nun erst wird mir klar, wie jener Abenteurer unternehmen konnte, den Szapary’schen Besitz zu erstreiten, trotzdem die Kinder aus erster Ehe für todt erklärt worden sind.« Johannes mußte nun ausführlich berichten, was er über das Testament, den Gang des Erbschaftsprozesses und den falschen Prätendenten wußte. Seine Mittheilungen über den letzteren machten den jungen Förster betroffen. »Er weiß genau Bescheid,« bemerkte er, »doch das ist nicht schwer erklärlich. Istwan, der mich und Lucie vom alten Szapary übernahm, hat höchst wahrscheinlich dem geheimnißvollen Oberhaupte der Zigeuner Bericht abstatten müssen.« Als er die fragenden Blicke der Anderen wahrnahm, setzte er aufklärend hinzu: »Die Zigeuner in Ungarn, Siebenbürgen, Rumänien und Bessarabien haben nämlich ein Oberhaupt, welchem sie den Titel eines Herzogs beilegen und fast göttliche Ehren erweisen. Die Anwartschaft auf die Würde eines Zigeunerfürsten haben nur die männlichen Mitglieder einer einzigen Familie, die in direkter Linie von den Pharaonen abstammen soll.« Diese Eröffnung frappirte Johannes. Auch er hatte von einem Studiengenossen, der einer Zigeunerfamilie entsprossen war, ähnliches gehört, ja dieser hatte sogar behauptet, daß der »Herzog« in Wien lebe, ein Jahresgehalt von der österreichischen Regierung bezöge und selbst in hohen Kreisen angesehen sei. 235
»Diesem ihren Fürsten,« fuhr Bruno fort, »berichten die Zigeuner alles von einiger Wichtigkeit, was sie in Erfahrung bringen, sodaß derselbe nicht selten in der Lage sein soll, den Regierungen Österreichs, Rußlands und Rumäniens bedeutsame Mittheilungen zu machen. Ich meine nun, daß der falsche Prätendent nur eine Kreatur des »Herzogs« ist. Diese Angelegenheit bietet dem Stamme der braunen Ägypter eine willkommene Gelegenheit, im Trüben einen reichen Fischzug zu machen.« Deine Hypothese wäre nicht ganz übel,« warf Johannes ein, »Wenn ihr nicht die Thatsache widerspräche, daß Istwan bei seiner Vernehmung erklärt hat, nicht mit Bestimmtheit in dem Prätendenten den echten Botho Szapary zu erkennen vermögen.« Bruno sann eine kurze Zeit nach. »Auch dieses Faktum kann meine Annahme nicht erschüttern,« rief er dann, »es beweist nur, daß der »Herzog« so vorsichtig gewesen ist, sich einen Rückzug für den Fall offen zu halten, als seine Kreatur entlarvt wird. Er fürchtete vielleicht, daß ich eines Tages wieder auftauchen und meine Ansprüche auf den Namen und das Erbe der Szaparys in irgend einer Weise begründen könnte.« »Die Zigeuner wissen also, daß Du noch am Leben bist?« »Wenigstens haben sie keine Gewißheit von meinem Tode.« Alle drangen nun in Bruno, seine Lebensschicksale zu erzählen und der junge Förster willfahrte ihnen gern. Er war von Istwans Bande zwei volle Jahre hindurch in Ungarn, Siebenbürgen und Rumänien umhergeschleppt 236
worden. Um ihn einem Zigeuner ähnlich zu machen, hatte man ihn am ganzen Körper mit einer nur diesem Volksstamme bekannten Substanz, die der Haut eine nur schwer zu vertilgende braune Farbe verleiht, eingerieben. Diese Vorsichtsmaßregel war übrigens überflüssig, weil in jenen Ländern sich die Behörden nur in sehr dringlichen Fällen um die Zigeunerhorden bekümmern; die Drangsale, welche der unglückliche Knabe auszustehen hatte, waren von der furchtbarsten Art. Offenbar wollte man ihn todtpeinigen, so raffinirt waren die Quälereien, denen er unterworfen wurde, eingerichtet. In der That glich der vor kurzer Zeit noch blühend schöne Knabe nach Ablauf der zwei Jahre nur noch einem Schattenbilde und unzweifelhaft würden die nie endenden Torturen ihn schließlich vernichtet haben, wenn es ihm nicht geglückt wäre, sich von der Horde heimlich zu entfernen. Unter unsäglichen Entbehrungen floh er, sich durch Bettelei nothdürftig erhaltend, wochenlang, bis ein alter, ganz alleinstehender Förster des Fürsten Ghika in Rumänien sich seiner erbarmte, ihn aufnahm, zum Forstdienste heranzog und schließlich adoptirte. Natürlich verschwieg er seinem zweiten Vater nicht das harte Loos, von welchem er betroffen worden war. Der alte Waldmann zog in Folge dessen Erkundigungen ein, die allerdings eine fast unendlich lange Zeit beanspruchten. Nach Jahren erst erfuhren die beiden von der Welt fast Abgeschnittenen, daß die Szaparyschen Kinder für verschollen erachtet und für todt erklärt waren und daß der junge Graf kurz nach Abschließung der zweiten Ehe und mit Hinterlassung eines 237
Sohnes gestorben wäre. Dem greisen Waldmann erschien es rathsam, daß sein Adoptivsohn seine Abstammung womöglich ganz vergesse. Nachdem er für todt erklärt worden war, konnte er doch keine Ansprüche mehr auf den Namen und Besitz der Szaparys erheben und überdieß war zu besorgen, daß man trachten würde, ihn zu beseitigen, wenn er plötzlich wieder zum Vorschein kam. Botho war mit den Anschauungen seines Pflegevaters ganz einverstanden. Das frische, fröhliche Waidmannsleben behagte ihm derartig, daß er sich gar kein schöneres wünschte und mit jedem neuen Jahre verblaßte die Erinnerung an seine Vergangenheit mehr und mehr, so daß er sich nicht weiter um seine vornehmen Verwandten bekümmerte. Acht Jahre verweilte er in dem einsamen rumänischen Forsthause, dann starb der Alte. Man wollte ihm die Stellung übergeben, doch ihn zog es nun mächtig hinaus in die weite, schöne Welt. Er begab sich nach Ungarn und diente verschiedenen Herren, bis er in den erzherzoglichen Dienst trat und Gehilfe des alten Kauer wurde. Bald war sein Herz vom holden Käthchen umstrickt worden und nun vergaß er vollends seine Abstammung. Er war so überaus glücklich, daß ihm nicht im Mindesten danach gelüstete, in das wilde Leben sich hinauszuwagen und einen Kampf um Besitzthümer zu beginnen, die für ihn fast jeden Werth verloren hatten. »Wahrscheinlich,« so schloß er seinen Bericht, »hätte ich nie von der bösen Angelegenheit ein Wort erfahren, wenn Du, lieber Hans, nicht in sie verwickelt worden wärest. Das Schicksal scheint es zu wollen, daß ich aus der Zurückge238
zogenheit heraustrete, denn sein Walten in diesem Falle ist wirklich wunderbar. Gerade Du mußtest meine Schwester liebgewinnen, damit ich von deren Existenz und dem kühnen Schwindelcoup Kenntniß erhalten sollte.« »Du willst ihm nun offen entgegentreten?« »Ja, das will ich, schon um meiner Schwester willen.« »Thue es nicht, Bruno,« rief Käthchen angstvoll. »O verlaß mich nicht und dieses friedliche Haus, wo wir so selige Tage verlebt haben. Mir wird so bange; eine düstere Ahnung, daß Unheil Dich treffen könnte, befällt mich. O bleibe bei mir!« Sie hatte sich, durch die leidenschaftliche Erregung gestärkt, erhoben und umschlang ihn zärtlich. Bruno wurde unschlüssig. Da rief der alte Förster: »,Er muß gehen; er ist’s seiner Ehre schuldig, nicht zu dulden, daß ein frecher Abenteurer frevles Spiel mit seinem edlen Namen treibe –« »Und wer wird ihm Glauben schenken, wenn er nun gleichfalls als Erbprätendent auftritt?« fragte mit erstickter Stimme das Mädchen. »Wir wollen nicht versuchen, einen Blick in die Zukunft werfen zu wollen,« mahnte ernst der Alte. »Haben wir nicht so eben erst einen deutlichen Beleg dafür erhalten, daß die Vorsehung oft wunderbare Fügungen trifft? Brunos Sache ist eine gerechte und darum wird sie endlich den Sieg über die Falschheit und Hinterlist davontragen. Bruno muß auch schon darum nach Wien gehen, um seine Schwester aus der Gewalt des Schwindlers zu befreien.« 239
»Wenn sie sich befreien lassen will.« »Den Versuch muß er wenigstens machen. Lucie möge selbst entscheiden, wem sie in Zukunft angehören will. Die Stimme des Herzens wird sie zu Bruno hindrängen.« Käthchen widersprach nicht länger. Trauer zog ein in ihr Herz, denn die bange Ahnung wollte nicht nur nicht weichen, sondern wurde stärker mit jedem Tag. Die drei Männer besprachen wiederholt den Plan, nach welchem Bruno und Johannes, der nicht von seiner Seite weichen wollte, handeln sollten; am vierten Tage brachen die jungen Männer nach Wien auf. Mit ihnen zog das Glück aus dem stillen Forsthause.
Neunte+ Kapitel. Böse Triebe.
S
ie, Herr Baron?‘ rief Lucie, hoch erstaunt und nicht eben angenehm überrascht über den unwillkommenen Besuch des Freiherrn von Girsa. »Ich muß Ihre gütige Nachsicht in Anspruch nehmen, Comtesse. Sie haben wohl nicht erwartet, daß ich meine Schritte noch einmal zu Ihnen lenken würde?« »Ich muß offen gestehen, nein. Nach der Erklärung, die ich Ihnen gegeben –« »O diese Erklärung, diese entsetzliche Erklärung! Wenn Sie hätten wissen, empfinden, ahnen können, welche qualvolle Pein mir dieselbe bereiten würde, dann hätten Sie 240
sich vielleicht weniger grausam gezeigt.« Lucie wollte ihn unterbrechen, doch Girsa rief in leidenschaftlicher Erregung: »Gewähren Sie mir die Erlaubniß, Ihnen sagen zu dürfen, wozu mein Herz mich drängt. Daß ich Sie liebe, wissen Sie, aber es ist unmöglich, daß Sie einen Begriff von der Innigkeit und Gluth meiner Neigung haben können. Stände ich noch im Jünglingsalter, dann hätte eine so leidenschaftliche Erregung des Gemüths keine Gefahr für den seelischen Organismus, denn in dieser Periode verlischt meistentheils ein Herzensbrand so schnell wie er aufgeflackert ist; aber ich habe die Schwelle des Mannesalters bereits überschritten, befinde mich also innerhalb jenes Zeitabschnittes, in welchem man gern festhält, was man sich selbst errungen oder durch die Gunst des Geschicks bescheert erhalten hat. Mein Dasein gleicht nicht einer behaglichen Wanderung über blumige Gefilde, sondern vielmehr einem unaufhörlichen harten Ringkampfe mit rauhen, verderbendräuenden Stürmen. Zartere Gefühle konnten in dieser sonnenleeren Atmosphäre nicht gedeihen, am wenigsten die zarteste aller Empfindungen, die Liebe selbst, als ich mich endlich zu einer angenehmen, vor allen Gefährdungen geschützten Lage durchgekämpft hatte, da lächelte mir wohl manche Freude, aber die Liebe blieb mir fern. Schon gab ich mich dem Wahne hin, daß mein Herz durch die vorhergegangene böse Zeit zu ausgedorrt worden sei, als daß die Liebe noch Wurzeln in ihm fassen könnte, da – sah ich Sie.« Er hielt bewegt einen Augenblick inne, dann fuhr er in noch exaltirterem Tone fort: 241
»Ich will Sie nicht langweilen, indem ich zu schildern versuche, wie ganz anders, unendlich wonnevoller mein Leben sich fortan gestaltete, wie mein Herz durch das himmlische Manna, nach dem es so lange vergeblich geschmachtet, erquickt, beseligt wurde, nur flüchtig erwähnen muß ich das, damit Sie zu begreifen vermögen, warum Ihre Weigerung, die Meine werden zu wollen, mir ganz unerträgliche Martern bereitet. Zwar suchte ich meinen Schmerz zu betäuben, indem ich mich mitten in den tollsten Strudel des Vergnügens warf und, als das nicht half, mit eiserner Energie ernsten [ernste] Studien, anstrengender Arbeit widmete, ich wollte mir Vergessenheit erzwingen, – thörichtes Bemühen! War es mir wirklich zuweilen gelungen, mich so zu ermatten, daß ich während einer winzigen Spanne Zeit den nagenden Gram nicht empfand, dann erfolgte sicherlich sehr bald ein um so heftigerer Ausbruch des Schmerzes und schließlich drängte sich mir die Erkenntniß auf, daß mein ganzes ferneres Dasein in Trauer und Leid verlaufen müßte, ja, daß es mir gar nicht möglich sein würde, es zu ertragen, wenn das übermächtige Sehnen meines Herzens nicht gestillt würde. Diese Überzeugung trieb mich zu einem Versuche, der Ihnen vielleicht wie eine Ausgeburt des Wahnwitzes erscheinen wird, zu dem Versuche nämlich, Sie mit dem verzweifelten Zustande meines Gemüths bekannt zu machen. Das Vertrauen auf die Ihrem Herzen eigene Güte flößte mir die Hoffnung ein, daß –« Baron Girsa hatte diese ganze Erklärung in dem pathetisch-tragischen Tone und mit der Miene eines Bühnenhelden abgegeben. Wenn er sich vielleicht in der Illusion ge242
wiegt hatte, das weiche Herz des unerfahrenen Mädchens durch sein schauspielerisches Talent zu blenden, so sollte ihm dieser Wahn sofort geraubt werden. Das feine Unterscheidungsvermögen, welches zartbesaiteten Frauenseelen mitgegeben ist, hatte ihr ermöglicht zu erkennen, daß die Leidenschaftlichkeit des Freiherrn eine erheuchelte, durch geheime Motive bedingte wäre. Je länger Girsa sprach und je exaltirter er sich zeigte, um so lebhafter wurde Luciens Widerwillen gegen den hohlen Menschen, der sich nicht scheute, durch ein frivoles Spiel die Ruhe einer reinen Seele zu trüben. Mehr denn einmal hatte sie versucht, den schwulstigen Tiraden ein Ende zu bereiten, aber Girsa hatte sie nicht zum Worte kommen lassen. Nun jedoch war sie nicht länger im Stande, ihrem Unwillen zu gebieten. Mit vor Erregung bebender Stimme fiel sie ihm in die Rede. »Wenn Sie, mein Herr, wirklich die Hoffnung gehegt haben sollten mich zu einer Abänderung des Entschlusses, den ich Ihnen schon vor längerer Zeit rückhaltslos kund gethan habe, bewegen zu können, dann betrübt es mich aufrichtig, Ihnen wiederholen zu müssen, daß ich Ihre Erwartungen nicht zu erfüllen vermag. Mein Entschluß ist unabänderlich, weil er nicht einer augenblicklichen Laune, sondern einer innersten unerschütterlichen Überzeugung entsprang, der Gewißheit nämlich, daß ich als Ihre Gattin nie jenes beseligenden Glückes theilhaftig werden könnte, nach welchem mein Herz verlangt. Meine Liebe ist einem Anderen geweiht und ich könnte deßhalb bei Ihnen nun und nimmer glücklich werden.« 243
»Glück?« wiederholte er mit leisem Hohne. »Ist der Taumel, den ein glattes, hübsches Gesicht erweckt, als Glück zu bezeichnen? Dann freilich wäre ich nicht im Stande, Sie glücklich zu machen, denn so jugendlich bin ich nicht mehr, daß die Zeit noch nicht vermocht hätte, meinem Gesichte Spuren ihrer zerstörenden Wirkung einzugraben. Dagegen bin ich in der Lage, Ihnen alles das zu bieten, was einem Dasein Reiz und Annehmlichkeiten zu leihen vermag. Und sind diese Gaben schließlich nicht mehr werth, als ein kurzer Rausch, dem, wenn er verflogen, vielleicht eine um so schalere Ernüchterung folgt?« »Sei es darum,« rief Lucie erglühend. »Ist die Wonne auch nur kurz, man weiß doch, wie es thut, sich recht vom Herzen glücklich zu fühlen. Eine einzige wahrhaft glückliche Stunde wiegt wohl Jahre von Enttäuschungen und Entbehrungen auf.« Eine kurze Pause entstand. Girsa konnte, wenn er in das vor Begeisterung strahlende Antlitz Luciens blickte, nicht einen Moment länger in Zweifel darüber sein, daß seine Verstellungskunst keinen ihm günstigen Erfolg erzielen würde. Diese Gewißheit erregte seinen Ingrimm in solchem Grade, daß er nicht mehr an sich zu halten vermochte. »Sie weisen mich also schnöde zurück?« knirschte Girsa. »Zwingen Sie mich nicht dazu? Wäre es nicht ritterlicher gewesen, wenn Sie mir die Nothwendigkeit, Ihnen eine neue Kränkung zufügen zu müssen, erspart haben würden? Mußten Sie es sich nicht selbst sagen, daß in einem Zeitraume von wenigen Wochen eine Neigung sich nicht 244
vermindern, geschweige denn verflüchtigen könne, die bestimmt ist, ein ganzes Leben auszufüllen?« Der Baron lächelte malitiös. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÉÎ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
»E
s war mir nicht möglich, an die Dauerhaftigkeit und, verzeihen Sie meine Zweifelsucht, selbst nur an die Echtheit Ihrer Neigung für einen – einen obskuren, kaum dem Knabenalter entwachsenen Menschen, der überdies ein Habenichts ist, zu glauben. Es erschien mir ganz undenkbar, daß eine Gräfin, die Tochter eines uralten hochberühmten Geschlechtes, sich so weit herablassen könnte, die Gattin eines – Vagabunden zu werden.« Lucie erhob sich mit der majestätischen Würde einer Königin. Auf ihrem lieblichen Antlitze, welches in der Regel durch eine unbeschreiblich bezaubernde kindliche Naivetät verschönt wurde, thronte jetzt so hehre Hoheit, daß der Baron betroffen wurde. Die rohe Beleidigung hatte urplötzlich das Kind zur Jungfrau gereift, die Nätherin war zur Dame geworden, die entschlossen und fähig war, den 246
einer Frau schuldigen Zoll der Artigkeit und Wohlanständigkeit zu erzwingen und eine Unbill, die man ihr zugefügt, gebührend zu bestrafen. Mit bewunderungswürdiger Selbstbeherrschung verhütete sie, daß die zornige Aufwallung ihres Herzens sich in Wort und Blick dokumentirte; eisige Kälte sprach aus ihren Mienen, klang aus ihrer Stimme, als sie fragte: »Die Angelegenheit, welche Sie zu mir geführt hat, ist nun wohl erledigt?« Girsa erhob sich; er fühlte, daß er zu weit gegangen sei, doch fiel es ihm nicht ein, sich seiner Rohheit zu schämen. Er war eine gemeine Natur und das Fehlschlagen seiner Erwartungen raubte ihm den letzten Rest der Kaltblütigkeit. »Ich gehe, Comtesse, wie Sie befehlen,« sagte er, indem er ihr einen bösen Blick zuschleuderte, »doch kann ich nicht scheiden, ohne meinem tiefen Schmerze über Ihre unselige Verblendung Ausdruck verliehen zu haben. Ich hätte mich bestrebt, Sie glücklich zu machen; ob Sie nicht Unrecht gethan haben, mir dies nicht zu gestatten, das wird die Zukunft lehren. Ich fürchte es; doch ist meine Liebe für Sie zu wahr, als daß ich nicht lebhaft wünschen sollte, derjenige welchen Sie erkoren, möchte Ihnen das bieten, was mir nicht vergönnt wurde Ihnen zu gewähren.« Als Lucie allein war, bemächtigte sich ihrer eine seltsame bange Stimmung. Obwohl sie nicht daran zweifeln konnte daß die Äußerungen des Barons nur durch seine Gehässigkeit gegen den Nebenbuhler bedingt worden waren, klangen sie doch in ihr nach. Sie liebte den jungen Maler unsäglich, über Alles in der Welt, empfand aber auch 247
Krohn eine so innige Neigung für sie, daß er im Stande sein würde, ihr für alle Zeiten Glück und Zufriedenheit zu bieten ? Seine merkwürdige Unruhe, die er selbst nicht einmal erklären konnte oder mochte, die Bangigkeit und Verzagtheit die ihn zuweilen so ganz beherrscht hatten, daß er selbst ihrer Zärtlichkeit nicht achtete, das waren Symptome, die ihr schwere Bekümmerniß brachten. Und dazu gesellte sich die Besorgniß, wie der Bruder das Geständniß ihrer Liebe aufnehmen würde. Sie war freilich entschlossen, der Stimme des Herzens unter allen Umständen zu folgen, wenn nun jedoch Botho ihre Wahl nicht billigte, mußte da nicht ein Zerwürfniß zwischen ihm und ihr die unausbleibliche Folge sein? Als Baron Girsa die Straße erreicht hatte, fiel sein erster Blick auf Botho Szapary, der, von der Reise nach Siebenbürgen heimgekehrt, zu seiner Schwester sich begeben wollte. Dem Baron fiel es alsbald auf, daß der junge Graf düster, fast verzweifelt ausschaute und so in ernstes Sinnen versunken war, daß er den Gruß des Barons gar nicht vernahm. Girsa blieb stehen und blickte ihm verwundert nach. Die Behauptung der Gräfin Katinka, daß der Erbprätendent ein Abenteurer sei, kam ihm in das Gedächtniß und lebhaft regte sich der Wunsch, erforschen zu können, ob Botho und seine spröde, stolze Schwester wirklich ein Schwindlerpaar seien, aber wie ließ sich eine Verwirklichung dieses Verlangens bewerkstelligen? Langsam schritt er die Straße hinab, nach einem Plane haschend. Da kam ihm plötzlich eine vielversprechende Idee 248
in den Sinn. Wie, wenn er hinginge und die Unterhaltung der Geschwister belauschte? Botho kam aus Siebenbürgen; war es nicht möglich, daß er dort Enttäuschungen erfahren und nun der Schwester sein Herz ausschütten würde? Wie erbärmlich, eines ehrenhaften Menschen gänzlich unwürdig ein solches Gebahren sei, das beachtete er nicht. Baron Girsa war nicht so skrupulös, sich durch die Verächtlichkeit eines Mittels von dessen Anwendung zurückschrecken zu lassen, sofern ihm dasselbe Vortheil bringen konnte. Seine Moral gipfelte in dem Satze, daß man Alles thun könne, wodurch man mit dem Strafgesetzbuche nicht in Conflict geriethe und daß man sich sogar dies erlauben dürfe, wenn man so geschickt verführe, daß Polizei und Staatsanwalt keine Veranlassung zum Einschreiten fänden. Da das Lauschen durch den Strafcodex nicht verpönt war, so gehörte es zu den Dingen, die Baron Girsa sich gestatten zu dürfen glaubte und demzufolge säumte er nicht, die sublime Idee zur sofortigen Verwirklichung zu bringen, das heißt also, dem jungen Grafen nachzueilen, die Treppen hinaufzuschleichen und das Ohr an die Thür zu Luciens Wohnzimmer zu legen. Luciens Gedanken waren so ernster Natur, daß sie in einen Zustand von Selbstvergessenheit versank und nicht gewahrte, wie die Thür geöffnet wurde. Botho selbst war so vollständig von den Sorgen, die ihn bedrückten, den Plänen, die in seinem Kopfe umherwirbelten, in Anspruch genommen, daß er vergaß, anzuklopfen, eine Unart, deren er sich noch nie schuldig gemacht hatte, weil er seiner Schwester stets die einer Dame gebüh249
renden respektvollen Aufmerksamkeiten erwies. Betroffen blieb er an der Thür stehen, als er den unverkennbaren Ausdruck bangen Kummers auf dem holden Gesichte Luciens gewahrte. Noch nie hatte er sie anders gesehen, als mit dem Lächeln glücklicher Zufriedenheit und kindischer Sorglosigkeit und Naivetät; heute dagegen glich sie der Mater dolorosa, einem Weibe, dem tödtlicher Gram der Seele Frieden, des Sinnes Harmlosigkeit für immerdar geraubt. Rasch ging er auf sie zu und rief, Trauer im Antlitz und in der Stimme: »Lucie, mein innig geliebtes Schwesterlein, welches Leid ist Dir während meiner Abwesenheit widerfahren, daß Dein sonniges Gesichtchen durch die Wolken düsterer Wehmuth beschattet werden konnte?« Er hatte sich neben sie gesetzt, ihre Hand ergriffen und schaute ihr nun unruhig in die herrlichen Augen, die sie freudig erschreckt, zu ihm aufgeschlagen hatte. »Du lieber, guter Bruder,« jauchzte sie dann, indem sie ihn zärtlich umschlang und küßte, »Wie hast Du mich erschreckt. Ach, wie froh bin ich, daß Du wieder bei mir bist.« »Hat Jemand Dir eine Unbill zugefügt?« »Nein, nein.« »Und doch sahst Du seltsam trübe aus?« Lucie schlug erröthend die Augen nieder. Botho blickte sie durchdringend an. »Willst Du mir nicht anvertrauen, was Dich bedrückt?« Sein Ton klang fast rauh, sodaß sie betroffen aufsah. 250
»Gern, gern, Du herziger Bruder. Aber Du darfst mich nicht so strenge anschauen, sonst wage ich nicht, mein Geheimniß Dir zu enthüllen.« »Ein Geheimniß? Du hättest eins?« »Ein wichtiges.« »Wie neugierig ich bin!« scherzte er, nun wieder lächelnd und seinen Arm um ihren Leib legend. »Betrifft es eine Schneiderrechnung?« »Lache nicht, Botho! Das, was ich Dir sagen will, betrifft einen hehren, ja heiligen Gegenstand.« »Mein Gott, wie feierlich Du redest! Du bist ja ganz umgewandelt.« »Diese Wandlung mußte erfolgen. Ich war bis vor Kurzem ein glückliches Kind –« »Und nun bist Du unglücklich?« unterbrach er sie hastig. »Nein, Botho; ich bin unendlich glücklicher, als zuvor, denn mir ist die wonnigste Seligkeit zu Theil geworden, die uns hienieden bescheert werden kann, – ich liebe.« »Du liebst?« schrie Botho auf und Todtenblässe überzog urplötzlich sein eben noch vor blühender Gesundheit strahlendes Gesicht. »Du liebst?« wiederholte er dumpf, und seine Mienen nahmen einen finsteren, drohenden, fast feindseligen Ausdruck an. Die Zähne hatte er heftig in die Unterlippe gebissen, ein Zeichen, daß er sich bemühte, einer furchtbaren Erregung Herr zu werden. Lucie schlug vor seinem flammenden Blick die Augen nieder. 251
»O Bruder,« rief sie ängstlich , »Weshalb macht dies Geständniß Dich so böse? Konnte ich denn meinem Herzen gebieten?« Er sprach, wie im Traume, des Sinnes seiner Worte sich nicht bewußt. »Deinem Herzen? Es empfand also Nichts für mich, und ich bildete mir ein, daß die Liebe zu mir es ganz ausfülle.« Lucie umschlang ihn. »Ich liebe Dich ja auch, Botho, so innig, wie eine Schwester den Bruder nur lieben kann.« »Den Bruder!« schrie er auf und riß sich heftig los, daß Lucie betroffen und bestürzt zurücksank. Es zuckte, wie ein Krampf, durch Botho’s Körper. Dann fuhr er mit der Hand über das Gesicht, auf dem der kalte Schweiß stand, und nun hatte er die Besonnenheit wieder erlangt. »Ich habe Dich wohl durch meine Heftigkeit erschreck?« fragte er, sich bemühend, seine rauhe Stimme zu mildern, als er ihre furchtsamen Mienen sah. ,,Deine Enthüllung hat mich furchtbar ergriffen – sehr, sehr unangenehm berührt. Ich hatte mich der Hoffnung hingegeben, daß Du mich nie verlassen würdest.« »O wenn es nur das ist. Mit tausend Freuden will ich bei Dir bleiben und Hugo wird sich gern darein fügen. Er ist so gut; ihr werdet einander bald lieb gewinnen.« »Wie,« rief er mit solcher flammenden Wildheit, daß ihr das Blut erstarrte, »ihm sollte ich Sympathie widmen, der mir Deine Liebe geraubt? Fluch und Verdammniß über ihn!« 252
Die eben erst mühsam errungene Ruhe war wieder ganz dahingeschwunden. Auf Luciens Antlitze spiegelte sich maßlose Verwunderung ab und auch aus dem Tone ihrer Stimme klang hohes Befremden heraus. »Ich verstehe Dich nicht, Botho,« sagte sie. »Meine Zuneigung zu Dir ist nicht geschmälert worden und wird nie vermindert werden können.« Er kam wieder zur Besinnung. »Wer ist es denn, dem Du Dein Herz geschenkt hast?« Sie antwortete nur mit stockender Stimme. »Es ist ein junger Maler und Kupferstecher.« »Ein junger Maler? Und sein Name?« »Hugo Krohn.« »Ist er aus guter Familie?« »Sein Vater ist Förster.« »Also ein armer, namenloser, tief unten stehender Mensch. Und Du glaubst, daß ich Deine Verbindung mit einem solchen –« Er unterbrach sich plötzlich und dämpfte mit eiserner Willenskraft die verzehrende Gluth. »Erzähle mir doch, wie Du mit ihm bekannt geworden bist; aber vergiß Nichts, nicht die unscheinbarste Kleinigkeit.« Lucie that, wie er wünschte. Während sie sprach, bewahrte Botho eine geradezu unheimliche Ruhe. Er hatte die Hände auf die Knie gepreßt und starrte unverwandt zu Boden; man konnte, wenn man ihn betrachtete, zweifelhaft darüber sein, ob er ihr wirklich zuhöre. Auch Lucie 253
hielt die Augen gesenkt. Als sie endlich mit dem Berichte fertig war, blickte sie bang zu ihm auf. Botho rührte und regte sich nicht; er schien zu Stein geworden. »Botho,« rief Lucie angstvoll und mühsam unterdrücktes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Er fuhr auf und blickte wild, verstört um sich. Seine Züge waren verzerrt, doch bezwang er auch diesmal den Sturm der Leidenschaften rasch. »O lieber, lieber Bruder,« flehte Lucie, »bist Du mir denn böse?« ,,Gieb mir noch eine Auskunft, ehe ich Dir Antwort ertheile. Wo hält der – dieser Krohn sich auf?« »Ich weiß es nicht.« »Nun, jedenfalls in Wien; ich werde ihn suchen, finden and mit ihm sprechen. Er besucht Dich wohl an jedem Tage?« »Er ist vor einiger Zeit verreist.« »Wohin?« »Zu seinem Vater.« »Nach welchem Orte?« »Ich weiß es nicht.« »Wie? Das weißt Du nicht?« »Nein, gewiß nicht, Botho. Ich habe nicht daran gedacht, ihn nach dem Namen seiner Heimath zu fragen.« »Aber wann er zurück kommt, wird Dir bekannt sein?« »Genau weiß ich auch das nicht. Hugo wollte nur die Einwilligung seines Vaters einholen und dann wiederkehren. Ich erwarte ihn täglich, stündlich.« 254
Botho stand auf und ging mit starken Schritten, die Hände auf dem Rücken kreuzend, auf und nieder. Nach einigen Minuten blieb er vor der Schwester stehen. »Lucie,« sagte er rauh, ,,merke gut auf das, was ich Dir nun sagen will. Du bist die Tochter eines Grafen, entstammst einer Familie, deren Namen die Geschichte schon vor einem halben Jahrtausend mit Ehren nannte. Du bist aber nicht nur die Erbin eines berühmten Namens, sondern auch eines Vermögens, welches sich auf Millionen beziffert. Fürsten und Herzöge würden sich glücklich schätzen, wenn Du unter ihnen einen Gatten wählen wolltest und Du sollst einen der Mächtigsten des Reiches erküren. Du bist den höchsten aristokratischen Kreisen entsprossen und gehörst in diese hinein. Es ist darum unmöglich, ganz unmöglich, daß Du die Gattin eines Plebejers werden könntest. Selbst wenn ein König aus dem Gebiete der Wissenschaften, Künste oder des Mammons um Dich würbe, dürftest Du nur dann die Seine werden, wenn er einen alten, berühmten Namen zu bieten hätte. Dir, dem unerfahrenen Kinde, wird diese Nothwendigkeit freilich nicht sofort einleuchten. Du stehst, denkst und handelst unter dem Einflusse eines noch ganz frischen Sinnen- und Gefühlsrausches und wirst deshalb wähnen, daß unsägliches Glück dir zu Theil werden müßte, wenn Du der Stimme des Herzens folgtest. Aber dieser Wahn würde sehr schnell verfliegen und dann würde die Enttäuschung Dich namenlos elend machen; dann auch würdest Du mir mit vollem Recht zürnen, daß ich Dich nicht gewarnt, von dem verhängnißvollen Schritte zurückgehalten habe. Dazu bin ich 255
fest entschlossen. Du sollst nicht in das Verderben rennen, so lange ich es zu verhindern vermag. Merke Dir, daß ich nun und nimmer Deiner thörichten Liebe zu dem obskuren Menschen meine Sanction erteilen werde. Ich bin das Haupt der Szaparyschen Familie und habe als solches die Pflicht, darüber zu wachen, daß der edle Name durch keinen Makel verunziert wird; mir steht aber auch das Recht zu, jedes Mitglied der Familie selbst mit Anwendung von Gewalt vor einer Blosstellung und Herabwürdigung unsers Ansehens zurückzuhalten. Und von diesem Rechte werde ich auch Dir gegenüber Gebrauch machen, wenn auch mein Herz darob zerspringen sollte vor Weh. Ich erkläre Dir nochmals feierlich, daß ich Dich lieber in einem Nonnenkloster begraben, denn als die Gattin jenes Indviduums sehen will.« Er schien zu erwarten, daß sie gegen seine Härte sich auflehnen würde, als dies jedoch nicht geschah, verließ er langsam das Zimmer, um sich in das von ihm bewohnte Mansardenstübchen zu begeben. Lucie blieb, starrem, trostlosen Schmerze anheimgegeben, allein. Lange währte es, ehe der Kampf, welcher ihre Lebenskraft zu vernichten drohte, sich in heiße, mildernde Thränen auflöste. So heftig ihr Weh auch war, konnte es doch keinen Vergleich aushalten mit der furchtbaren Verzweiflung, die in Botho’s Seele wüthete. Hätte Jemand den jungen Grafen beobachten können, dann hätte er sich dem Glauben hingeben müssen, daß derselbe dem Irrsinne zum Opfer gefallen sei. Wohl eine Stunde lang saß Botho unbeweglich, 256
die stieren Blicke auf den Boden geheftet und zuweilen ein tiefes Ächzen ausstoßend. Dann brach die glühendste Leidenschaft sich mit erschreckender Vehemenz Bahn. Alle Fibern und Fasern seines Körpers geriethen in die heftigste Bewegung; er glich in diesen Augenblicken einem Dämonen, der sich anschickt, Unheil und Verderben unter die Menschheit zu schleudern. Dann blieb er wieder stehen und krampfte, wie von unsagbarem Körperschmerze gefoltert, die Hände. »Alles verloren! Alles umsonst!« murmelte er vor sich hin. »Wenn ich nun auch den Proceß gewönne, wenn ich alle Schätze der Welt und selbst Kronen mir erränge, das Alles hätte keinen Werth mehr für mich, da sie mich verschmäht. Ihretwegen habe ich dieses schaurige Gewebe von Lug und Trug gesponnen, ihretwegen bin ich zum Schurken, zum – Mörder geworden. O, ich liebte sie ja mit übermenschlicher Innigkeit und diese wahnwitzige Leidenschaft beraubt mich der kühlen Reflexion, daß ich nicht im Stande war, vorauszusehen, was geschehen mußte und nun wirklich geschehen ist. Ich bildete mir ein, daß es mir gelingen würde, ihr eine ebenso glühende Leidenschaft für mich einzuflößen und dann hätte sie mir verziehen, wenn ich sie an meine Brust gepreßt und ihr gestanden hätte: »Ich bin nicht der, für den Du mich bisher gehalten; ich habe mich für Deinen Bruder ausgegeben, um für Dich Macht, Ansehen, einen glänzenden Namen, ein riesiges Vermögen zu erringen. Ich habe mich zum Betrüger erniedrigt, weil ich Dich unsagbar liebe. Kannst Du mir verzeihen, die Meine werden?« – Und sie hätte vergeben 257
und vergessen; dem Geliebten verzeiht eine Frau ja Alles, Alles! Aber nun? Wenn sie nun erfährt, welches frevle Spiel ich mit ihr getrieben, muß sie da nicht Abscheu, Grausen vor mir empfinden? Und vollends, wenn ein tückischer Zufall ihr verräth, daß ich ihren wirklichen Bruder habe aus dem Wege räumen lassen? – Wie unendlich tief bin ich gesunken! – Giebt es wirklich eine Nemesis? – Fast muß ich es glauben. Ich habe lange Zeit ihrer gespottet, aber endlich hat sie mich doch ereilt und mich furchtbar gestraft.– Einen Mord veranlassen – und umsonst – entsetzlich – entsetzlich!« Er schlug die Hände vor das Antlitz, aber nur wenige Minuten hindurch. Ein grausiges Truggebild mochte vor seinem geistigen Auge vorüber gegaukelt sein, denn er sprang plötzlich jäh empor, starrte mit dem Ausdrucke furchtbaren Entsetzens in die Leere und rief wild mit hohler Stimme: »Laß mich! Fort! Du brauchst mich nicht zu martern; meine Qualen sind ohnehin unerträglich. Du bist schrecklich – schrecklich gerächt!« »Entschuldigen Sie, Herr Graf, wenn ich unliebsam störe,« sagte mit feinem Lächeln der Mann in schlichter Kleidung, welcher soeben die Thür geöffnet hatte, »Sie haben wohl nicht mein Anpochen gehört und scheinen mich zu verkennen. Ich bin der Zeitungsträger. Ihre Wirthin sagte mir, daß Sie wieder hier seien, und da wollte ich, wie früher ja immer, die Zeitungen wieder zu Ihnen selbst bringen. Nehmen Sie’s nicht übel, daß ich gestört habe. Küß die Hand, Euer Gnaden.« 258
»Der junge Kavalier hat ein bischen zu tief in das Glas geguckt,« murmelte der Austräger vor sich hin, indem er bedächtig die Treppe hinunterging, »Wird wohl seine Heimkehr im Champagner gefeiert haben. Hu, was er für gräuliche Augen machte! Und sein Gesicht! Na, morgen hat er sich ausgeschlafen und ist wieder so freundlich, wie er stets gegen mich war.« »Ich werde schwach,« rief, unwillig über sich selbst, Botho, .aber freilich, es ist in den letzten zwei Tagen soviel Ungemach über mich hereingebrochen, daß selbst die härteste Statur erschüttert werden muß. Ein schwerer Schlag folgt dem anderen.« Langsam ging er auf und ab, dann griff er mechanisch nach einem Zeitungsblatte, hatte jedoch nicht die Absicht, es zu lesen, denn er schritt, es in der Hand behaltend, noch eine geraume Zeit sinnend umher. Das Blatt fiel schließlich auf den Boden und breitete sich aus. Botho hob es auf; dabei fiel sein Blick zufällig auf eine fett gedruckte Stelle. Er stutzte und sah schärfer hin. Nun begann er unruhig zu werden. Hastig setzte er sich und verschlang gierig die Stelle. Sie lautete: Eine geheimnißvolle Affaire. Wenn man eine fesselnde Erzählung liest, dann ist man fast immer der Meinung, daß die in derselben geschilderten Begebenheiten nichts sind, als Phantasiegebilde des Autors und daß ähnliche Situationen in der schalen Wirklichkeit der Gegenwart nicht vorkommen, ja gar nicht vorkommen können. Dieser Annahme gegenüber können wir unsern Lesern eine Geschichte aus dem alltäglichen Leben berichten, die selbst 259
einer ziemlich kühnen Phantasie Ehre machen würde und welche wir Anstand nehmen würden zu erzählen, wenn nicht eine höchst achtbare Persönlichkeit sie uns mitgeteilt hätte. In Wien treibt seit geraumer Zeit eine starke und gut organisirte Bande ihr Unwesen, deren Mitglieder sich die »schwarzen Brüder« nennen. Der »Chef« derselben ist ein höchst merkwürdiger Mann. Er soll die Schönheit des Adonis (sein tief schwarzes prächtiges Haupt- und Barthaar contrastirt wundervoll mit hellblauen Augen!) mit der Kraft des Herkules und der Klugheit des Odysseus vereinen. Über seinen eigentlichen Stand, sein Herkommen, seine Nationalität ist ein wie es scheint undurchdringliches Dunkel gebreitet; in polizeilichen Kreisen munkelt man, daß er in sehr vornehmen Cirkeln Zutritt haben soll, natürlich unter einer anderen Maske, als derjenigen, die ihm während seiner gesetzfeindlichen Thätigkeit zu zeigen beliebt. Sollte dieses Gerücht auch einer thatsächlichen Unterlage entbehren, so bleibt das Oberhaupt der »schwarzen Brüder« trotzdem eine höchst merkwürdige Persönlichkeit, schon wegen des mysteriösen Nimbus, der ihn umgiebt. Er ist den Mitgliedern seiner Bande nur unter der Bezeichnung »der Herr« bekannt, besitzt eine unglaubliche Allwissenheit und Macht, wovon die Polizei verschiedene unliebsame Beweise erhalten hat und weiß nicht nur sich, sondern seine ganze Bande mit fabelhafter List und Geschicklichkeit den Nachstellungen der heiligen Hermandad, deren schlaueste Beamten unablässig nach ihm fahnden, zu entziehen. Noch interessanter weiß der kühne Hochstapler sich dadurch zu machen, daß alle seine Un260
ternehmungen ebenso verwegener wie großartiger Natur sind. So betreibt er insbesondere die Banknotenfälschung im ausgedehntesten Maße und zwar mit Vorliebe die Fälschung englischer Wertpapiere. Die Tausendpfundnoten, welche, wie man genau ermittelt hat, durch einen seiner Complicen (auf dessen Erforschung die englische Bank eine Prämie von 2000 Pfund Sterling ausgesetzt hat) hergestellt wurden, sind wahre Meisterwerke der Lithographie. Sie würden durchaus nicht von den echten zu unterscheiden sein, wenn nicht das zu ihnen verwandte Papier glatter wäre, als das der echten. »Leider,« seufzte der Graf. »Dieser fatale Umstand bringt mich fast um den ganzen Vortheil, den ich erhofft hatte, da ich dem Makler achtzig Procent geben muß, während ich, wenn das Papier dem der echten gleich wäre, kaum zehn zu zahlen brauchte. Welche unendliche Mühe habe ich mir bereits gegeben, das Geheimmittel, welches die englische Bank bei der Herstellung der Banknoten anwendet, zu erforschen; Alles umsonst! – Doch, lesen wir weiter!« Fortse~ng folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr.ÉÏ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
I
n neuester Zeit ist von dem seltsamen Manne, dem » Herrn «, ein Stücklein an den Tag gekommen, welches unsere Justizbehörden in einige Aufregung versetzt hat. – In der Nähe unserer Nachbarstadt B. lebt ein Förster K. mit einer Tochter und einem Gehilfen. Diesen letzteren wollte der » Herr « ermorden lassen. »Was ist das? « fuhr der Graf entsetzt auf. »Wie kann die Polizei und gar die Redaction das wissen? Sollte Sachs mich verrathen haben? « Mit fieberhafter Spannung und Hast las er weiter: Welche Motive ihn zu einem so grausen Entschlusse veranlaßt haben können, ist bis heute unaufgeklärt, und dieses Räthsel dürfte auch für ewige Zeiten ungelöst bleiben, wenn es nicht gelingt, des » Herrn « habhaft zu werden und ihn zu einem offenen Geständnisse seiner Frevel zu 262
bewegen. Mit der Ausführung des bösen Anschlags wurde ein Individuum, namens Sachs, beauftragt; dieser Mensch galt für einen zwar wilden, aber rechtschaffenen Burschen. Nun jedoch hat sich herausgestellt, daß er den »schwarzen Brüdern« angehörte und außerdem mit einigen Genossen den Wildfrevel betrieb.. Den Forstgehilfen haßte er glühend, weil die Försterstochter seine Bewerbung abgewiesen, jenem dagegen Herz und Hand geschenkt hatte. Trotzdem bebte er vor der entsetzlichen That zurück und ersann einen teuflischen Plan, dessen Gelingen die Erschießung des jungen Mannes durch den Förster zur Folge gehabt haben würde. Der häßliche Anschlag mißlang jedoch glücklicherweise so vollständig, daß die Kugel des Försters nicht den Gehilfen, sondern den Wildschützen traf. Das Blatt entsank der Hand des Abenteurers. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, der es zweifelhaft erscheinen ließ, ob diese Kunde ihm Freude oder Pein bereitete. Für ganz kurze Zeit mochte er wohl ein Gefühl der Erleichterung empfinden, da nun seine Seele ja nicht mit einem Morde belastet, mithin jener Grund nicht vorhanden war, der ihm Luciens Haß und Verachtung hätte zuziehen müssen. Aber sehr bald verdrängte die Erwägung, daß er nun niemals vor der Entdeckung sicher sei, daß der wirkliche Erbe durch irgend einen Grund veranlaßt werden könnte, aus der Verborgenheit hervorzutreten und daß eine Laune des Zufalls demselben ein Beweismittel für seine Legitimität liefern könnte, jede bessere Regung. Der Kampf mußte nun von Neuem beginnen; der Forstgehilfe mußte fort, schon um Luciens willen. Der kühne 263
Abenteurer rang ja hauptsächlich aus dem Grunde um das Erbe, weil er, nachdem er es entweder sich oder Lucien gesichert hatte, seine Rolle aufgeben und die Comtesse zur Gattin erküren wollte. Wie sich das bewerkstelligen ließe, ohne daß er mit der Polizei in Conflict gerieth, darüber hatte er noch nicht reiflich nachgedacht, aber unmöglich war es nicht. Er wollte, nachdem er das Erbe angetreten, mit dem jungen Mädchen in das Ausland reisen. Von fern her kam dann eines Tages nach Wien die Kunde, daß der junge Szapary eines plötzlichen Todes verstorben – verunglückt und nicht aufzufinden – sei. Lucie war in diesem Falle die Erbin des gesammten Szapary’schen Besitzes, denn dafür, daß Koloman nie wieder zum Vorschein käme, sollte vorgesorgt werden. Die junge reiche Gräfin konnte natürlich ihre Revenuen außerhalb Österreichs verzehren, und wenn es ihr beliebte, während ihres ganzen Lebens nicht nach der Heimath zurückzukehren, sondern irgendwo, z. B. in Amerika, ihre Einkünfte zu verzehren, so konnte das um so weniger auffallend erscheinen, als trübe Erinnerungen ihr das Vaterland entfremden mußten. Vielleicht kam der Gemahl der Gräfin Szapary niemals mit einem jener Leute zusammen, die ihn als den Erbprätendenten gekannt hatten, und überdies gab es ja Mittel genug, durch welche sich das Aussehen eines Menschen bis zur Unkenntlichkeit verändern läßt. Das ernstlichste Hinderniß, welches der Realisirung des seltsamen Projektes entgegenstand, bildete Luciens Weigerung; doch auch dieses ließ sich überwinden. Dem kühnen Hochstapler mochte das Göthe’sche »Und folgst Du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt« in die 264
Erinnerung kommen, denn Gewalt anzuwenden, war er entschlossen, wenn Lucie sich seinem Willen nicht fügen mochte. Er konnte ohne sie nicht leben; wollte sie nicht freiwillig ihm vor den Altar folgen, dann mußte sie dazu gezwungen werden. Gewissenlose Geistliche, die sich gegen eine erkleckliche Summe bereit finden ließen, die Trauung zu vollziehen, gab es genug. So war der Gedankengang des Abenteurers und er nahm ihn so ganz und gar in Anspruch, daß darüber sogar die Zeitung vergessen wurde. Endlich jedoch erinnerte der »Herr« sich derselben und nahm sie wieder zur Hand. In dem Journale wurde nun kurz erzählt, welche List der gedungene Mörder ausgesonnen habe und wie dieselbe zu seinem Nachtheile ausgefallen sei. Dann lautete der Bericht weiter: »Sachs, welcher nicht schwer verwundet worden war, erlitt trotzdem einen starken Blutverlust, weil geraume Zeit verging, ehe es gelang, ihn von der Tanne, deren Zweige ihn aufgefangen hatten, herunter zu holen. Im Neustädter Inquisitenspital, wohin der Wilderer zunächst gebracht wurde, schien es, als wenn seine Heilung möglich werden könnte. Doch hatte Sachs schon zu viel der Lebenskraft eingebüßt, um den Angriffen des Todes erfolgreichen Widerstand leisten zu können. Als nach einiger Zeit ihm selbst kein Zweifel daran bleiben konnte, daß sein letztes Stündlein bald schlagen würde, erklärte er sich bereit, ein offenes Geständniß seiner Schuld abzulegen. »Der Schwächling,« murrte ingrimmig der »Herr«. »Selbst der niederträchtigste und am härtesten gesottene 265
Schurke wird zur Memme, wenn des Knochenmannes Krallen ihm die Gurgel zuschnüren.« Nach kurzer Pause fuhr er in der Durchlesung des Journals fort. Dieses berichtete nur noch, daß Sachs in seiner Generalbeichte Enthüllungen über die »schwarzen Brüder« und deren Oberhaupt gemacht habe, doch waren dieselben nicht näher bezeichnet. Als man ihn fragte, ob ihm der Beweggrund, welcher den »Herrn« veranlaßt habe, einen Mörder gegen den Forstgehilfen zu dingen, bekannt sei, habe er das verneint und gleichzeitig versichert, daß der Verfolgte nicht mit der Bande in Verbindung gestanden hatte. »Wir befinden uns in diesem Falle also,« so schloß das Blatt seinen interessanten Bericht, »Vor einem höchst geheimnißvollen Falle. Gewaltsam drängt sich uns die Frage auf: Was kann den »Herrn« veranlaßt haben, den gänzlich unbekannten, einfachen, niedrig stehenden Forstgehilfen durch Mord aus dem Wege räumen zu wollen? Wäre der junge Mann ein Mitglied der Bande gewesen, dann könnte man sich verschiedene Motive denken, z. B. Furcht vor Verrath, aber die Polizei hat als unzweifelhaft festgestellt, daß er nicht einmal eine Ahnung von der Existenz der »schwarzen Brüder« hatte, sowie, daß er des besten Leumunds genoß. Er ist der Sohn eines längst verstorbenen rumänischen Försters, der sich schlicht und recht durch die Welt geschlagen und empfängt von allen Herrschaften, in deren Dienst er gestanden, das unbedingteste Lob. Auch hat er, Sachs ausgenommen, keine Feinde, da Alle, mit denen er 266
Umgang pflog, den freundlichen, munteren und gemüthlichen Mann gern hatten. Wie gesagt, man steht hier vor einem Räthsel, dessen Auflösung man mit großer Spannung entgegen blicken kann, weil sie aller menschlichen Voraussicht nach den Abschluß eines Dramas bilden würde, das an ergreifenden Seelenkämpfen und wilden Leidenschaften reich sein dürfte.« Der »Herr« zerknitterte das Blatt in der Hand und zwar mit solcher Vehemenz, daß ein Kenner des Menschenherzens den unfehlbaren Schluß gezogen haben würde, in dem Gemüthe dieses Mannes wütheten unbändige Stürme. Und so war es auch. Zu viel des Mißgeschicks drang mit einem Male auf ihn ein, als daß nicht selbst seine eiserne Festigkeit hätte wankend werden sollen. Wie hatte er gestrebt, gerungen, hatte sich dem Wahne hingegeben, daß es ihm gelungen sei, ein stolzes, mächtiges Gebäude zu errichten, das nur noch des Schlußsteins ermangelte, um in herrlicher Vollendung zu prangen! Und nun zeigte es sich, daß es nur ein Steinkoloß auf thönernen Füßen gewesen. Schlag auf Schlag brach er zusammen und begrub wohl schließlich ihn selbst unter den Trümmern. Er stöhnte laut auf, die Enttäuschung war zu herb, der Schmerz zu gewaltig, um ihn still in der Tiefe der Brust bergen zu können. Der Schweiß bahnte sich aus allen Poren einen Weg, sein Kopf glühte, die Gedanken wirbelten im tollen Hexentanz durcheinander. Und gerade jetzt brauchte er Ruhe, Kälte; er mußte ja überlegen, wie er den heranziehenden Sturm bändigen oder zur Seite lenken könnte. Luft, Luft! Er riß die Fenster auf; die kalte Nachtluft, welche hereinströmte, 267
that ihm wohl, gab ihm die volle Besonnenheit zurück. Er war wieder im Stande, zu denken. Das Fehlschlagen des Anschlags gegen das Leben des echten Szapary konnte für ihn die verderblichsten Folgen haben. Wenn der Forstgehilfe aus dem Dunkel hervortrat, um seine Ansprüche auf das Erbe geltend zu machen, dann mußte gerade der Mordversuch für ihn zeugen. Denn das Räthsel, daß man einen so unbedeutenden Menschen. habe aus dem Wege räumen wollen, fand dann eine sehr befriedigende Erklärung, indem jeder sich sagen mußte, daß Derjenige, welcher sich für den Erbprätendenten ausgegeben habe, ein Schwindler sein müsse, der den wirklichen Erben habe beseitigen lassen wollen, um sich vor Entdeckung zu schützen. Es unterlag keinem Zweifel, daß dann auch die Polizei, welche sich noch nicht um den angeblichen Szapary gekümmert hatte, sich denselben genau ansehen würde. War es da nicht leicht möglich, daß die Ähnlichkeit des vermeintlichen Erben mit dem »Herrn« herausgefunden werden könnte? Geschah das, dann mußte die Entdeckung, daß der »Herr« und der angebliche Graf Szapary ein und dieselbe Person seien, binnen kurzer Frist erfolgen. Diese Erwägung peinigte den kühnen Abenteurer derartig, daß er beschloß, sich alsbald davon zu überzeugen, ob die Ähnlichkeit zwischen seinem jetzigen Aussehen und dem, welches er sich als Anführer der »schwarzen Brüder« gab, wirklich so bedeutend wäre, um eine Entdeckung zu ermöglichen. Er trat vor den Trumeau und betrachtete sein Spiegelbild mit großer Aufmerksamkeit; dann entledigte er sich 268
des blonden Bartes und der ebenso gefärbten Haartour. Nach dem dies geschehen, nahm er aus der Brusttasche ein kleines, in Seidenpapier geschlagenes Päckchen heraus. Als er den Bogen auseinandergeschlagen hatte, kam ein sorgfältig zusammengedrücktes Toupet und ein schwarzer Bart zum Vorschein. Beides trug der Abenteurer stets bei sich, um zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Orte die Metamorphose bewerkstelligen zu können. – Den Bart kämmte er auseinander und befestigte ihn, mit der Perrükke hingegen nahm er eine seltsame Procedur vor. Er theilte nämlich auf dem Scheitel derselben die scheinbar fest zusammengeklebten Haare auseinander und zog eine winzige Kautschuckröhre unter ihnen heraus, worauf er in dieselbe blies. Die Wirkung dieses Verfahrens war eine erstaunliche. Die Haare stoben auseinander, bauschten sich auf und bildeten schließlich einen prächtigen Lockenkopf. Nachdem der Abenteurer das Toupet aufgelegt hatte, betrachtete er sein Spiegelbild abermals mit minutiöser Genauigkeit. Die Ähnlichkeit war unverkennbar; er erschrak selbst darüber. Wie er sich nicht verhehlen konnte, hatte er es nur dem Umstande, daß Niemand von denjenigen, welche den »Herrn« kannten, in den Kreisen Zutritt hatte, in denen der Erbprätendent sich ausschließlich bewegte, zu verdanken, daß seine Entlarvung nicht längst erfolgt war. Diesem Übelstande mußte abgeholfen werden; doch in welcher Art das geschehen konnte, das war eine Frage, die sich nicht sofort beantworten ließ. Nachdenklich schritt der Hochstapler auf und nieder und versank bald in so angestrengtes Sinnen, daß er ein schüchternes Pochen an 269
der Thür nicht vernahm. Auch als schließlich etwas lauter angeklopft wurde, hörte er es nicht. Endlich würde die Thür geöffnet und Johannes Kauer trat in das Zimmer. Nun erst wurde der »Herr« auf ihn aufmerksam. »Wer wagt es?« fuhr er zornig auf, doch das Wort erstarb ihm im Munde, als er den Jüngling erkannte. Er faßte sich indeß sofort und da er die Wandlung, welche er an seinem Antlitz vollzogen, ganz vergessen hatte, so beschloß er, sich zu stellen, als ob Johannes ihm unbekannt wäre. »Wer sind und was wollen Sie hier?« fragte er barsch, indem er sich bemühte, seine Stimme möglichst zu verändern. Johannes antwortete nicht. Vor Entsetzen keines Lautes mächtig, starrte er den »Herrn« an. Der Abenteurer stampfte zornig auf den Boden. »Werden Sie mir wohl eine Antwort geben?« rief er. »Wie können Sie sich unterstehen, in meine Wohnung zu dringen?« »So hat sich also meine schlimmste Befürchtung verwirklicht,« klagte Johannes mit tonloser Stimme. »Meinem hochherzigen Wohlthäter, dem Manne, den ich nächst meinen Angehörigen am höchsten verehre, soll ich feindlich entgegen treten?« »Welchen Unsinn reden Sie da? Mir scheint, Sie irren sich in meiner Person.« Stumm wies Johannes auf den blonden Haarschmuck. Der Abenteurer, noch um eine Nuance bleicher geworden, schlug sich wild vor die Stirn. Er bedurfte einiger Minuten, um sich zu beruhigen. Während er dann zunächst 270
den schwarz gefärbten Kopfschmuck abnahm und den blonden anlegte, sagte er mit vibrirender Stimme: »Ein unglückseliger Zufall hat Sie zum Mitwisser eines bedeutungsvollen Geheimnisses gemacht, Ferner. Doch habe ich von Ihnen ja keine Preisgebung desselben zu besorgen.« Johannes seufzte schmerzlich auf. Der »Herr« sah ihn durchbringend an. »Welches Anliegen führt Sie zu mir?« fragte er darauf. »Ich wollte nicht zu Ihnen, sondern zu dem vermeintlichen Bruder der Gräfin Lucie Szapary.« Der Abenteurer, obwohl in nicht geringem Maße betroffen, erheuchelte Verwunderung. »Vermeintlichen Bruder? Wie soll ich das verstehen? Doch zunächst, was wollten Sie von meiner Schwester?« »Die junge Gräfin – ich glaube nämlich ihr diesen Titel beilegen zu dürfen, den ich Ihnen verweigern muß –« »Was soll das heißen?« brauste der »Herr« auf. »Das soll soviel heißen, daß gewichtige Gründe mich veranlassen, anzunehmen, daß Sie sich einen Rang und Charakter angemaßt haben, der Ihnen nicht zusteht.« Der Abenteurer schien ihm bis in die Seele hineinsehen zu wollen, so durchdringend war sein Blick. »Sie sind ein Thor,« sagte er; die Achseln zuckend, »doch will ich mich trotzdem bequemen, mich zu erkundigen, auf welche Vermuthungen Ihre Himgespinnste sich basiren. Zunächst aber möchte ich wissen, was Sie über meine Schwester von mir zu erfahren wünschten.« »Comtesse Lucie hat mich mit der Zuneigung ihrer Liebe beglückt –« 271
Weiter kam er nicht, denn der Abenteurer stieß einen Schrei aus, der dem Jünglinge durch Mark und Bein drang. Unbändige Wuth spiegelte sich auf seinem Antlitze wieder und die Augen glühten dämonisch. Einige Augenblicke war er unfähig, ein Wort hervorzubringen, doch endlich keuchte er mit heiserem Tone: ,,Sie – Sie wären der Schurke, der es gewagt hat, den Sinn eines unerfahrenen, fast kindlichen Mädchens zu bethören, um die Millionen, welche demselben aller Wahrscheinlichkeit nach zufallen werden, zu ergaunern? Sie sind jener Hugo Krohn, von dem meine Schwester schwärmte? Sie? Antworten Sie, – sofort, oder bei Gott, ich vernichte Sie noch in diesem Augenblicke wie einen elenden Wurm, den man achtlos zertritt.« Bis zu diesem Momente hatte Johannes’ Herz eine warme Empfindung der Sympathie für den Mann gehegt, der ihn vor dem Untersinken im Schlamme der Verworfenheit bewahrt, nun jedoch erstarb jeder Funke derselben und zu gleicher Zeit drängte sich seinem nun durch keine Gemüthsregung mehr beeinflußten Verstande ein Gedankengang ganz eigener Art auf. Es fiel wie Schuppen von seinen Augen und die Erkenntniß brach sich Bahn, daß er diesem Manne, den er bis jetzt so hoch verehrt, keinen Dank schulde. Er hatte immer gewähnt, daß der »Herr« ihn aus Edelmuth gerettet habe, nun jedoch konnte er sich nicht länger verhehlen, daß der kühne Abenteurer zu allen seinen Handlungen nur durch die krasseste Selbstsucht sich bestimmen ließ. Den Jüngling, welchen Leichtsinn auf die abschüssige Bahn des Verbrechens geführt, hatte er 272
ja auch nur aus dem Grunde gerettet, um dessen eminentes Talent für seine unlauteren Zwecke zu mißbrauchen. Selbst die Spendung der zehntausend Gulden gewann nun in Johannes’ Augen eine ganz andere Beleuchtung. Auch sie war nicht durch die Hochherzigkeit dictirt worden, sondern durch ein wohlerwogenes egoistisches Motiv. Der »Herr« wollte sich der Dankbarkeit des warm fühlenden Jünglings versichern, vielleicht, um ihn später wieder auszunutzen. Da konnte es ihm auf eine verhältnißmäßig armselige Belohnung der unschätzbaren Dienste, die Johannes ihm geleistet hatte, – denn die Platten, welche der begabte junge Künstler angefertigt hatte, gestatteten ja die Herstellung von Millionen falscher Banknoten – natürlich nicht ankommen. Kaum jedoch stellte sich heraus, daß der so warm beschützte Jüngling der Realisirung seiner selbstsüchtigen Pläne hinderlich werden könnte, da warf er die Maske ab und Johannes sah mit Schaudern das eigentliche Gepräge dieses aus Genialität und schrankenloser Habsucht vorzugsweise zusammengefügten Charakters, er erkannte, daß die fürchterliche Drohung des »Herrn« keine leere sei, daß der verwegene Hochstapler im Gegentheile nicht einen einzigen Moment zögern würde, sie auszuführen, wenn er sich dadurch eines lästigen Widersachers entledigen könnte. Die Aussagen, welche Sachs gemacht und welche man natürlich auch dem Forstgehilfen mitgetheilt hatte, bekundeten ja deutlich genug, wessen der verwegene Mann fähig wäre. Sein Widersacher mußte Johannes werden und er wollte es werden. Er hegte jetzt nicht den leisesten Zweifel mehr an Bruno’s Angaben, seitdem ein glück273
licher Zufall ihm dargethan hatte, daß der Erbprätendent und der Mann, welcher Bruno durch Meuchelmord hatte beseitigen lassen wollen, ein und dieselbe Person seien. Er mußte schon aus dem Grunde die Bekämpfung des Abenteurers mit aller Macht und Energie betreiben, weil er nicht daran denken durfte, die Geliebte heimzuführen, bevor deren vermeintlicher Bruder entlarvt war. Je früher das geschah, desto besser war es für ihn, für Bruno, für Käthchen und für Lucie, freilich bangte ihm doch vor dem furchtbaren Eindrucke, den die Entdeckung, daß der Mann, dem sie eine schwesterliche Neigung gewidmet, ein Schwindler wäre, auf das junge Mädchen hervorbringen mußte, indeß beruhigte ihn die Gewißheit, daß Lucie nicht zu den sensitiven Naturen gehöre, die einer ernsteren Heimsuchung keinen Widerstand zu leisten vermögen, daß sie vielmehr ungeachtet echt weiblicher Zartheit in schwierigen Tagen eine ungewöhnliche Energie zu entwickeln im Stande war. Überdies mußte der Umstand, daß der wirkliche Bruder ihr einen überreichen Ersatz für den Verlust des vermeintlichen Verwandten bieten würde, nicht wenig dazu beitragen, ihr die bittere Erfahrung vermeiden zu helfen. Diese Gedanken schossen dem Jünglinge mit Blitzesschnelligkeit durch den Kopf und nahmen ihn derartig in Anspruch, daß er die kategorische Aufforderung des »Herrn« nicht beachtete. Der Abenteurer hinwiederum stand unter dem Eindrucke einer so erschütternden Aufregung, daß er nach wenigen Augenblicken bereits vergessen hatte, was er so gebieterisch gefordert. Die fiebernde Unruhe trieb ihn auf 274
und ab; der Schweiß drang ihm aus den Poren und aus seinen Augen blitzte ein Ausdruck, der einem Psychologen die Besorgniß eingeflößt haben würde, daß der eisenfeste Charakter nicht nur erschüttert, sondern vollständig gebrochen sei und dem Andringen der Tobsucht kaum noch Widerstand zu leisten vermöchte. Nach einigen Minuten erst gewann der »Herr« die geistige Klarheit wieder. Er blieb vor Johannes, der seinem scharfen Blicke ohne Bangen begegnete, stehen und rief mit vibrirender Stimme: »Ich sage Ihnen, Ferner oder Krohn, oder wie Sie sonst heißen mögen, Sie haben gehandelt, wie ein Bube, aber Ihr Schurkenstreich soll Ihnen die erhofften goldenen Früchte nicht einbringen.« Johannes wurde kreidebleich. Seine Hände ballten sich und es schien, als wenn er auf den Abenteurer sich werfen und ihn für die maßlose Brutalität in Stücken reißen wolle. Ehe er sich indeß soweit gefaßt hatte, um zu einer Handlung oder auch nur zu einer Entgegnung fähig zu sein, rief der Abenteurer wieder in wildester Leidenschaftlichkeit: »Mensch wie konnten nur Sie, der Habenichts, so unglaublich thöricht handeln, der Neigung zu der Gräfin Szapary, der Erbin von Millionen, um deren Hand sich Fürsten und Prinzen bewerben werden, Raum zu geben? Waren Sie denn wirklich so hirnverbrannt, um wähnen zu können, daß Lucien’s Bruder, das jetzige Oberhaupt der Szapary’s, in eine so himmelschreiende Mesalliance willigen würde?« 275
»Luciens Bruder willigt darein.« »Wer sagt das?« brauste der Abenteurer auf. »Nie, nie werde ich diese Mißheirath zugeben.« »Ihre Einwilligung ist gar nicht nöthig und wird auch nicht eingeholt werden,« bemerkte Johannes mit eisigem Tone. »Nächst Lucien hat nur deren Bruder ein entscheidendes Wort bei der Vermählung der Gräfin Szapary zu sprechen.« »Schon wieder tiefer Aberwitz. Mir scheint, Sie reden im Wahnsinn oder vielleicht – im Delirium.« Johannes zuckte wiederum heftig zusammen. Doch zwang er sich zur Ruhe und bemerkte: »Sie können sich die Mühe ersparen, mir gegenüber die Farce, welche Sie mit so großem Erfolge vor der Welt gespielt haben, darzustellen. Ich weiß es genau, daß Sie nicht der Erbprätendent sind.« »Wirklich? – Und woher stammt diese Gewißheit? Kann man das nicht erfahren?« »Das können Sie. Es würde ohnehin nichts nutzen, das Geheimniß noch länger zu bewahren. So mögen Sie denn wissen, daß der wirkliche Graf Szapary schon in allernächster Zeit auf den Schauplatz treten wird.« »Der wirkliche Graf Szapary? Wo steckte er nur so lange? Haben Sie ihn vielleicht entdeckt?« »Dieser Ruhm gebührt Ihnen. Sie mußten wohl genau darüber unterrichtet sein, daß der Forstgehilfe Bruno Waldmann der echte Erbprätendent sei, da Sie es sich angelegen sein ließen, ihn durch Meuchelmord beseitigen lassen zu wollen.« 276
»Ah! – Sie haben Ihre Weisheit wohl einer albernen Geschichte zu verdanken, welche die heutigen Zeitungen ihren Lesern auftischen?« »Nein; ich habe diese Geschichte, die nicht absurd, sondern wahr ist, aus dem Munde des jungen Grafen selbst vernommen, denn Bruno Waldmann ist der verlobte Bräutigam meiner Schwester.« Der Abenteurer schien doch betroffen, aber schnell überwand er die Anwandlung von Befangenheit und äußerte in sarkastischem Tone: »Ich bewundere Ihr Talent, Ferner. Sie machen erstaunliche Fortschritte in der Kunst, wider die Gesetze zu handeln. Und Sie haben sich gleich ein hohes Ziel gesteckt, ebenso wie der Bräutigam Ihrer Schwester vom brennenden Ehrgeize getrieben werden muß, daß er wagen kann, an einem allerdings fein abgekarteten, aber doch sehr gefährlichen Spiele sich zu betheiligen.« Fortset~ung folgt.
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Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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ohannes zuckte geringschätzig die Achseln. »Jede fernere Auseinandersetzung über diese Angelegenheit ist Zeitverschwendung, « sagte er. » Sie sind bereits zu weit vorgeschritten, um freiwillig zurücktreten zu wollen. So möge denn der Kampf, zu dem wir fest entschlossen sind, seinen Verlauf nehmen. Wir wissen, daß wir an Ihnen einen furchtbaren Gegner haben, aber mit uns ist Gott, denn unsere Sache ist gerecht. Zunächst möge Lucie sich entscheiden, ob sie auch ferner zu Ihnen halten, oder mir und ihrem wirklichen Bruder sich anschließen will – « Laut auf schrie der Abenteurer. »Wage es, den Frieden dieses Kindes zu stören, indem Du ihre reine Seele mit Deinem giftigen Geifer besudelst, Wahnwitziger! Nie wieder soll Dein verruchter Fuß die Schwelle zu ihrem Asyl überschreiten. Selbst, wenn das Alles wahr wäre, was Du 278
mit Deinem Spießgesellen ausgeheckt, so soll es Dir doch nicht gelingen, auch den Seelenfrieden meiner Schwester zu trüben. Glaubst Du, daß die Gräfin Szapary so ehrvergessen sein könnte, einem Wechsel- und Banknotenfälscher vor den Altar zu folgen?« Johannes wankte; dieser Schlag war zu furchtbar, als daß er ihm hätte Widerstand leisten können. Gebrochen lehnte er sich an die Wand und bedeckte die Augen mit der Hand. So blieb er eine ganze Weile, wie erstarrt. Wilde, ertödtende Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Er konnte sich nicht verhehlen, daß dieser Mann mit dem unbeugsamen Sinne und dem kalten Herzen ein Mittel gegen ihn zur Verfügung habe, dessen Anwendung ihn tödtlich verwunden müßte, daß er sich dagegen nicht wehren könne und deshalb auf Liebe und Leben Verzicht leisten müsse. Daß der Abenteurer Denjenigen, der ihm einen Kampf auf Leben und Tod androhte, nicht schonen, sondern erbarmungslos vernichten würde, war zweifellos. – In dieser schweren Stunde brach das Herz des armen Johannes. Er hatte allerdings sich fest entschlossen, als ein Ehrenmann zu handeln ; er wollte der Geliebten Alles entdecken, sich dann zu ihren Füßen niederwerfen und bitten: »Nun entscheide über mich! Ich habe mich gegen die gesetzlichen Vorschriften vergangen, aber Gott sei mein Zeuge, daß es nicht aus Böswilligkeit geschehen ist. Ja, ich konnte nicht anders handeln; ich durfte die Mutter und Geschwister meines Lebensretters nicht verhungern lassen und es erschien mir als eine unabweisliche Pflicht der Dankbarkeit, dem Manne, den ich für meinen Retter und 279
Wohlthäter hielt, den ich nächst Vater und Schwester am höchsten verehrte von allen Menschen, zu Willen zu sein, trotzdem er etwas Unrechtes von mir begehrte. Kannst Du mir trotz dieser Vergehen Deine Liebe bewahren?« Ach, wenn er in der tiefsten Einsamkeit des Waldes diesen traurigen Gedanken nachhing, wenn sie ihn stundenlang umhertrieben und der Verzweiflung zu überliefern drohten, dann hatte er sich stets an der süßen Hoffnung aufgerichtet, daß Lucie ihm vergeben haben würde. Mit der Behörde war er ja nie in Conflict gerathen. Nur einen einzigen Menschen gab es, außer seinen Verwandten und Bruno, dem seine Vergehen bekannt waren, und von diesem glaubte er keine Preisgabe des Geheimnisses befürchten zu brauchen; er hielt ihn ja für den edelsten, hochherzigsten aller Menschen. Wenn Lucie sich nicht von ihm losgesagt haben würde, dann hätte er unermüdlich, mit glühendem Eifer streben und ringen wollen, um Ruhm und Ehren zu erwerben und dadurch die gähnende Kluft zwischen ihnen beiden auszufüllen; aber auch nur dann wäre er heroischer Anstrengungen fähig gewesen. Nun war Alles vorbei, – vorbei auf ewig! Wenn seine Vergehen ruchbar wurden, dann blieb ihm Nichts übrig, als freiwillig aus dem Leben, das ihm ja in der Zukunft nur Fluch hätte bringen können, zu scheiden. Ja, wenn Lucie ein einfaches, bürgerliches Mädchen gewesen wäre, dann hätte er hoffen können, daß ihre große, liebende Seele sich über die Vorurtheile der Alltagsmenschen emporschwingen, daß sie die Seine werden könnte, auch wenn er in dem Hause des Verderbens Buße gethan. Er würde dann weit, weit mit 280
ihr in die Welt hinausgezogen sein und hätte sich aufgeopfert, um ihr ihre Liebe und Treue zu vergelten. Daß aber die Gräfin Szapary einen Zuchthäusler … Er dachte den Gedanken nicht aus. Der Kopf wirbelte ihm, es wurde dunkel vor seinen Augen, seine Zähne preßten sich tief in die Lippe, die Nägel seiner Finger gruben sich in das Fleisch und ein hohles Ächzen entrang sich der gequälten Brust. Alles, Alles um sich her vergaß er; hätte er eine Waffe bei sich gehabt, dann würde die nächste Minute ihn nicht mehr unter den Lebenden gefunden haben. Der »Herr« verlor seine eigene Aufregung, indem er Zeuge der Verzweiflung des Jünglings war. Er betrachtete aus der Ferne das Antlitz Johannes mit solcher Aufmerksamkeit, daß einem Beobachter sich der Argwohn hätte aufdrängen müssen, er studire jedes Symptom der Gemüthsbewegung seines Opfers nur deshalb so genau, um einen Plan zur Unterdrückung desselben zu ersinnen. Und dieser Schluß wäre nicht illusorisch gewesen. Als die verzweifelte Stimmung des Jünglings den Gipfelpunkt erreicht zu haben schien, schritt der Abenteurer zu Johannes hin und berührte dessen Schulter leicht. Der Jüngling ließ die Hand von den Augen niedergleiten, blickte indeß nicht auf. »Ferner,« begann der »Herr« mit tiefem Tone, aus welchem wirkliche oder erheuchelte Theilnahme herausklang, »Sie empfanden einst, es ist noch nicht lange Zeit her, warme Zuneigung zu mir und ich hegte dasselbe Gefühl für Sie. Ich hätte es nie für denkbar gehalten, daß wir einander feindlich gegenübertreten könnten, daß die scheinbare 281
Unmöglichkeit nun doch zur Thatsache geworden ist, verursacht mir einen empfindlichen Seelenschmerz. Wahrlich, es erscheint mir noch immer wie ein Traum, daß wir einander mit kaltem Blute befehden, zerfleischen, vernichten sollen und Nichts könnte mir lebhaftere Freude, innigere Befriedigung bereiten, als wenn diese grause Perspective unserem in die Zukunft gerichteten Blicke entrückt werden könnte. Ich will deshalb die Wogen der Empörung, welche mein Gemüth durchbrausen, seitdem Sie mir den Fehdehandschuh hingeworfen haben, zu stillen suchen und Ihnen die Friedenshand reichen. Lassen Sie sich durch meine Milde nicht zu Trugschlüssen verleiten – nicht ein Gefühl der Schwäche oder Bangigkeit veranlaßt mich zu derselben; ich bin nicht nur willens, sondern auch fähig, Sie und Ihren Genossen energisch anzugreifen und ohne irgend welche Rücksicht zu verderben, sobald Sie meine Friedensanerbietungen zurückweisen.« Man konnte dieser Versicherung unbedingten Glauben beimessen, sobald man ihm einen Blick widmete. Er stand hoch aufgerichtet, das Haupt stolz zurückgeworfen da, aus seinen Augen blitzte wieder der Feuer der Thatkraft, welches den »Brüdern der Nacht« so gewaltig imponirt hatte. Doch auf Johannes brachte es nicht den geringsten Eindruck hervor, weil er noch immer nicht aufblickte; vielleicht sogar hatte er die Worte des Abenteurers gar nicht gehört. Man fühlte sich zu dieser Muthmaßung versucht, wenn man in sein marmorkaltes, düsteres Gesicht blickte. Nach kurzer Pause fuhr der »Herr« mit lauterer Stimme fort: 282
»Wie wenig ich Sie und Ihren Genossen fürchte, mag Ihnen die Thatsache beweisen, daß ich offen und unumwunden eingestehe, nicht Botho Szapary zu sein.« »Und Lucie?« fragte, nun rasch den Kopf erhebend Johannes in athemloser Spannung. »Luciens Ansprüche auf das Szapary’sche Erbe sind vollberechtigte; sie ist wirklich die Tochter Koloman’s und der Deutschen.« Einen flüchtigen Moment hindurch verklärte Freudenschimmer die Mienen des Jünglings. »Ich wußte es,« flüsterte er; »Aus den Zügen einer Betrügerin könnte unmöglich eine so engelgleiche Unschuld strahlen.« »Wollen Sie mir nun Ihre volle Aufmerksamkeit schenken?« fragte der Abenteurer. »Ich werde es.« »Ehe ich Ihnen meine Friedensbedingungen nenne, will ich Ihnen den Nachweis liefern, daß ich Sie in jedem beliebigen Augenblicke dem Verderben überliefern kann. Lesen Sie diese Stelle!« Er deutete auf jene Zeilen hin, welche die Zusicherung einer Prämie von 2000 Pfund Sterling für die Auffindung Desjenigen enthielten, der die Platte zu den Falsificaten der englischen Noten hergestellt hatte. Als Johannes sie gelesen, fragte der Abenteurer: »Erkennen Sie, daß es ganz in meiner Macht steht, Sie zu vernichten?« Der Jüngling neigte stumm das Haupt. Der Abenteurer fuhr fort: »Geben Sie ferner zu, daß die junge Gräfin auf ewige Zeiten für Sie verloren ist, sobald Sie der Polizei in 283
die Hände gefallen sind?« Auch diese Frage bejahte Johannes nur durch Kopfnicken. »Dann wird es Ihnen nicht gar zu schwer fallen, meine erste und hauptsächlichste Bedingung anzunehmen. Dieselbe lautet: Sie leisten für jetzt und immerdar Verzicht auf Luciens Hand!« Johannes gab weder ein Zeichen der Zustimmung, noch der Weigerung zu erkennen, denn er rang jenen furchtbaren Kampf durch, den die Nothwendigkeit, einem heiß ersehnten Glücke entsagen zu müssen, wohl in jeder Menschenbrust entfesselt. Der Abenteurer, welcher glaubte, daß sein Opfer völlig in seine Gewalt gegeben sei und deshalb keinen Widerspruch versuchen wolle, fuhr fort: »Als nächste Bedingung stelle ich die Forderung an Sie, daß Sie Ihren dereinstigen Schwager veranlassen, von einer Geltendmachung seiner Ansprüche auf das Szapary’sche Erbe abzusehen. Er hat sich bis jetzt in der Abgeschiedenheit von der großen Welt und in seiner untergeordneten Stellung so wohl befunden, daß er die Wonnen, welche der Besitz von Glanz und Macht gewährt, nicht entbehren wird, weil er sie gar nicht kennt. Ja, aller menschlichen Voraussicht nach würde er sich in der Rolle eines großen Herrn höchst unbehaglich fühlen. Auch möge er wohl bedenken, daß ihm ein Gegner gegenübersteht, der ihm an Erfahrung, Welt- und Menschenkenntniß unendlich überlegen ist, ein Gegner, der colossale Mittel zur Unterstützung seiner Pläne zur Verfügung hat und entschlossen ist, den Nebenbuhler zu vernichten, gleichviel in welcher Wei284
se das geschieht. – Geht er auf meinen Vorschlag ein, dann werde ich ihn durch die Zuwendung einer halben Million aus dem mir zufallenden Baarvermögen zu entschädigen suchen. – Haben Sie sich entschieden?« »Ich habe es. Mein Entschluß steht unerschütterlich fest, – niemals verzichte ich freiwillig auf Luciens Hand und Herz.« Die unvermuthete Enttäuschung versetzte den Abenteurer wieder in die zornigste Erregung; doch zwang er sich, kalt zu erscheinen. »Sie sind ein Thor, – ein wahnwitziger, verblendeter Mensch! Sie können doch unmöglich verlangen, daß Lucie –« »Verlangen? Nein; das wäre Vermessenheit, Aberwitz. Wenn sie mir jedoch auch nach dem offenen Bekenntniß, welches ich ihr ablegen werde –« Der Abenteurer gebot ihm durch eine hastige Bewegung Schweigen. »Sie werden ihr kein Bekenntniß ablegen, weil Sie zehn bis fünfzehn Jahre lang, – so hoch beläuft sich ja wohl das Strafmaaß für Banknotenfälschung – keine Gelegenheit dazu finden werden. Nach Ablauf dieses Zeitraumes dürfte Ihre Leidenschaft sich höchst wahrscheinlich verflüchtigt haben.« Eine kurze Weile hindurch maßen die beiden Gegner sich mit glühenden Blicken, dann sagte Johannes: »Ich bin der Meinung, daß Sie sich wohlweislich hüten werden, mich der Vernichtung zuzutreiben –« »Was sollte mich davon abhalten?« 285
»Die Erwägung, daß mein Verderben das Ihrige nach sich ziehen würde.« Der Abenteurer lachte höhnisch auf; dann zuckte er geringschätzig die Achseln. »Sie hegen kindische Ansichten. Doch mir scheint, daß wir nun fertig sind. Lucie aufzusuchen, verbiete ich Ihnen.« Johannes schlug sich plötzlich vor die Stirn, wie Jemand, der eine wichtige Angelegenheit zeitweilig vergessen hatte, und rief hastig: »Heiliger Gott, – wie konnte ich nur; – schrecklich, schrecklich – eine volle Stunde verloren und während der Zeit ist sie vielleicht dem Verderben anheimgefallen.« »Wer?« schrie der Abenteurer auf. »Sie meinen doch nicht –« »Ehe ich zu Ihnen kam,« berichtete Johannes in fieberhafter Hast, »War ich in der Wohnung Luciens. Als auf mein Anpochen Niemand antwortete, drückte ich auf die Klinke, – die Thür ging auf. Ich trat in das Zimmer, – Lucie war nicht anwesend.« »Nicht anwesend?« wiederholte der Abenteurer ganz verstört, denn eine furchtbare Ahnung drängte sich ihm auf. »Ich wollte mich eben wieder zurückziehen, um Luciens Zurückkunft – ich vermuthete sie bei Ihnen – auf dem Corridore abzuwarten, als mein Blick auf einen beschriebenen Zettel fiel, der dicht neben der hellbrennenden Lampe auf dem Tische lag –« Der Abenteurer wurde leichenfahl. 286
»Sie hat sich ermordet,« schrie er auf mit wilder Verzweiflung und schlug sich mit der Faust, wie wahnsinnig, vor die Stirn. »Der Inhalt des Zettels erregte meine höchste Überraschung und Bestürzung; ich eilte zu Ihnen, um vielleicht Aufklärung erhalten zu können, vergaß jedoch über der niederschmetternden Entdeckung, daß Sie und der »Herr« identisch seien, meinen Vorsatz.« »Den Zettel,« unterbrach ihn der Abenteurer mit wilder Geberde. »Wo ist er? So geben Sie ihn mir doch!« Johannes reichte ihm das Blatt mit zitternder Hand. Auch des Abenteurers Hand bebte heftig. gierig verschlang er die wenigen Zeilen und maßloses Erstaunen prägte sich auf seinem Antlitze aus. Er schien seinen Augen nicht zu trauen, denn er las den Zettel nochmals bedächtig und mit lauter Stimme durch. Der Inhalt desselben lautete: »Geliebter Bruder! Die Erklärung, welche Du mir heute gabst, nun und nimmer zulassen zu wollen, daß ich die Gattin Desjenigen würde, dem mein Herz in grenzenloser Liebe anhängt und von welchem es nicht lassen kann, ohne in Jammer und Leid zu vergehen, hat mich zu einem Entschlusse getrieben, der mir unsagbare Pein bereitet, weil er Dich betrüben wird, zu dem Entschlusse, Dich zu verlassen. Zürne mir nicht, theurer Bruder! Es ist mir unmöglich, dem Drängen des Herzens zu widerstehen. Der Verlust meiner Liebe würde mir unendlich heftigeren Schmerz bereiten, als der Verzicht auf Reichthum und Pracht, denn die Liebe beseligt mich, während der Besitz des Geldes mir kein Glück zuführen, vielleicht mir die Ruhe und Zufrie287
denheit der Seele rauben würde. Mit tausend Freuden will ich ein bescheidenes Dasein ertragen, selbst die Armuth, wenn sie das Sehnen meines Herzens stillt, dünkt mich ungleich begehrenswerther, als der Reichthum, der meinem Herzen den Tod bringen würde. Laß mich deshalb ungehindert und unbedauert ziehen. Ich scheide nicht auf ewig von Dir! Nein, ich kehre wieder, sobald unlösliche Bande mich mit meinem Hugo vereinigt haben. Der Ärmste hat auf der Rückreise aus seinem Heimathorte nach Wien sich den Fuß verletzt und kann deshalb mich nicht aufsuchen. So erzählt mir seine Quartierfrau. Ich eile zu ihm und werde ihn beschwören, noch am heutigen Tage die große Stadt, in welcher ich mich nie wohl gefühlt habe, mit mir zu verlassen. In dem stillen Hause seines Vaters, – ich glaube, Dir noch nicht mitgetheilt zu haben, daß sein Vater Förster ist und daß Hugo eine Schwester hat – inmitten des ernsten, schönen Waldes, den ich so gern habe, umgeben von Menschen, denen ich liebevolle Zuneigung widmen kann und deren Herzen mir warme Theilnahme schenken, werde ich den Frieden, die Gesundheit der Seele wiederfinden, welche mir verloren gegangen sind. Nochmals, geliebter Bruder, und unter heißen Thränen bitte ich Dich um Verzeihung wegen der Kränkung, die ich Dir zufügen mußte, um unter der Wucht des Leides nicht zu erliegen. Möge das Geschick Dir die reichste Fülle seiner Gunst zuwenden, damit Du im Vollgenuß des Reichthums und der Macht, die Du so heiß ersehnst, meinen Verlust weniger herb empfindest. Ist mein Hugo damit einverstanden, dann siehst Du in nicht ferner Zukunft mich als Gattin 288
Krohns wieder, Hoffentlich – ich bete zum Allgütigen daß er mir diese Gnade ertheile – hast Du dann längst meinen Ungehorsam vergeben und empfängst mit brüderlicher Zärtlichkeit Dein Dich innigst liebendes Schwesterchen Lucie.« Nachdem bereits soviel des Mißgeschicks über den Abenteurer hereingebrochen war, daß schwächliche Naturen darunter zusammengesunken wären, hätte man glauben sollen, daß dieser letzte und härteste Schlag ihn hätte niederwerfen müssen. Doch geschah gerade das Gegentheil. Die übermäßige Anhäufung des Unheils forderte den ihm eigenen wilden Trotz heraus. Er wollte nun eine Wendung zum Besseren erzwingen und gerade die Gewißheit, daß der Kampf gegen die Mißgunst des Schicksals fast übermenschliche Anstrengung beanspruchen werde, gab ihm die verlorene Besonnenheit und Energie vollständig wieder. Wie allen eisernen Charakteren die Kräfte gerade im Angesichte einer drohenden Gefahr wachsen, so stählte sich auch die Entschlossenheit des Abenteurers gegenüber dem Walten der höheren Macht. Ihm war jener rasende Übermuth der Titanen eigen, die den Himmel stürmen wollten, um die Gottheiten zu unterjochen. Einige Minuten sann er nach, dann murmelte er, Johannes, dessen Anwesenheit er wahrscheinlich ganz vergessen hatte, nicht beachtend, vor sich hin: »Es ist klar, daß irgend ein Halunke, der das Verhältniß Luciens zu Krohn kannte, die Unerfahrenheit des armen Kindes benutzt hat, um einen nichtswürdigen Coup auszuführen. Ein zwiefaches Motiv kann die Entführung 289
veranlaßt haben; entweder will die Gräfin Katinka Lucie verschwinden lassen, wie ich ihren Sohn, oder der Entführer will sich Luciens Hand und damit die Anwartschaft auf das reiche Erbe erzwingen. Diese Annahme erscheint mir als die richtigere, denn die Gräfin würde schon aus dem Grunde vor der Entführung Luciens sich gescheut haben, weil sie sich leicht vorstellen kann, daß diese abscheuliche Handlung ihr nur Nachtheil bringen müßte. Ein böses, heimtückisches Weib ist sie freilich und wohl selbst zu einer ruchlosen That fähig, wenn sie dadurch ihrer eitlen Selbstsucht und Habgier zu fröhnen vermag. Trotzdem glaube ich, daß ein kühner Abenteurer, vielleicht gar ein vornehmer Wollüstling den Bubenstreich ausgeführt hat, Einer, dem Lucie persönlich bekannt ist. Sie muß ihm doch erzählt haben, daß sie diesen Krohn liebe, denn Krohn selbst hatte Wien ja verlassen. Doch wie sollte Lucie in die Lage kommen, zu einem Manne von ihrer Liebe zu sprechen? Das würde sie doch nur gegenüber Einem thun, der ihr genauer bekannt ist, den sie als einen Freund betrachtet –« Johannes hatte diesem halblaut gesprochenen Ideengange lautlos, aber mit immer höhersteigender Spannung gelauscht. Unwillkürlich empfand er ein Gefühl der Bewunderung für den seltenen Mann, der fähig war, die wildesten Leidenschaften mit beinahe unglaublicher Willenskraft in einem einzigen Augenblicke zu bannen, um allerlei subtile Combinationen der kühlen Reflexion zu unterwerfen. Mochten sie sich auch als unversöhnliche Widersacher gegenüber stehen, in der Angst um Luciens Schicksal und 290
in der Begierde, das junge Mädchen zu finden, zu retten, trafen ihre Ideen und Wünsche zusammen. Auch Johannes Gehirn arbeitete mit unendlich gesteigerter Spannkraft; in solchen kritischen Momenten drängen sich dem Verstande während weniger Minuten Erwägungen auf, zu deren Ersinnung und Beurtheilung man unter normalen Verhältnissen Wochen, Monde, und selbst Jahre brauchen würde. Lucie hatte dem Geliebten nicht verborgen, daß Baron Girsa sich um ihre Neigung beworben und schließlich sogar in wenig chevalereskerer Weise sie belästigt habe, und nun mußte bei Johannes sich unwillkürlich der Argwohn geltend machen, daß der Baron, welcher einem on dit zufolge zu den »problematischen Existenzen« gehörte und einen bösartigen Charakter besaß, der Entführer Luciens sein könnte. »Ich stimme Ihrer Muthmaßung bei,« unterbrach er hastig den Monolog des Abenteurers, »es giebt einen Menschen, den gewichtige Motive zu der Ausführung dieser nichtswürdigen That veranlaßt haben dürften. –« Der »Herr« war wie aus einem beängstigenden Traume aufgefahren und starrte den Störenfried einen Augenblick hindurch an, als ob er eine geisterhafte Erscheinung sähe, doch gaben die Worte des Jünglings ihm sofort die vollste Klarheit des Geistes zurück. »Wen meinen Sie?« fragte er in athemloser Spannung. »Den Baron Girsa. Er hat sich um Comtesse Lucie beworben, wurde jedoch in einer Form zurückgewiesen, die ihn jeder Hoffnung berauben mußte. Rachsucht und Spe291
culation auf das reiche Erbe mögen ihn nun gemeinsam zu der Vollführung des Bubenstreiches veranlaßt haben.« »Bei Gott, Sie können Recht haben! Dieser Girsa ist ein niederträchtiges Subject, ein Hallunke, der zu allem Bösen fähig ist. Und die Motive, deren Sie erwähnten, sind gewichtig genug, um –« Er unterbrach sich und rief unwillig: »Doch da stehe ich und schwatze, statt zu handeln. Die Spur, welche Sie mir verrathen haben, dünkt mich der Verfolgung werth, und ich bin Ihnen für Ihr Vertrauen dankbar, Ferner, wenn ich Ihnen auch späterhin werde feindselig gegenübertreten müssen. Doch vielleicht besinnen Sie sich noch eines Besseren. – Nun muß ich fort, der Fährte Girsa’s folgen. Wehe ihm, wenn sich herausstellt, daß er den Schurkenstreich wirklich vollbracht hat. Ich werde ihn hetzen, bis er keinen Odem mehr hat, und flöge er bis zum äußersten Ende der Erde, so würde ich ihn doch finden. Und dann sei der Himmel ihm gnädig!« Sein Antlitz hatte einen so dämonischen, jeder Menschlichkeit baren Ausdruck angenommen, daß Johannes ein Frösteln nicht zu unterdrücken vermochte. Der Abenteurer hatte inzwischen die andere Haartour, sowie zwei Revolver eingesteckt und den Radmantel, dessen er sich zu bedienen pflegte, umgenommen. Darauf rief er Johannes zu: »Leben Sie wohl, Ferner! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Sie bei meiner Zurückkunft als Freund begrüßen zu können.« »Diese Hoffnung wird sich als eine trügerische erweisen,« murmelte der Jüngling düster. »Kann ich Ihnen bei 292
der Aufsuchung der Comtesse behülflich sein, dann verfügen Sie über mich.« »Nein, nein. Ich habe geschickte Leute genug zur Disposition. Doch halt! Während ich zunächst nach Girsa’s Wohnung eile, mögen Sie Luciens Zimmer genau durchsuchen. Vielleicht findet sich Etwas vor, was uns Nutzen bringen kann. Ich werde mich später entweder selbst nach dem Ergebniß Ihrer Visitation erkundigen oder Walther schicken.« Er eilte fort. Johannes folgte sogleich der erhaltenen Weisung; doch fand sich Nichts vor, das Beachtung verdient hätte. Erschöpft sank er endlich auf das Sopha und überließ sich trüben Betrachtungen. Fortset~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
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Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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ie Unthätigkeit, zu welcher er verdammt war, peinigte ihn furchtbar, aber er mußte sich gestehen, daß seine Nachforschungen ohne jeden Erfolg bleiben würden. Der » Herr « dagegen, der eine große Zahl der routinirtesten Spione in Bewegung setzen konnte, vermochte vielleicht die Entführte aufzuspüren. Trotz dieser Hoffnung erlag der Jüngling fast dem Andrange der auf ihn einstürmenden Wiederwärtigkeiten; wäre der Sensenmann zu ihm getreten und hätte ihn aufgefordert, in den Hades hinabzusteigen, dann würde er freudig gehorcht haben. Ein bescheidenes Pochen an der Thür entriß ihn endlich dem düsteren Grimme. Zwei junge Männer traten in das Zimmer und blickten sich neugierig um; es waren die Schwiegersöhne des alten Ferencz. »Verzeihen Sie, wenn wir stören sollten, « bat Bela. »Wir 294
wollten zum Herrn Grafen Szapary; man wies uns hier hinein. Haben wir vielleicht die Ehre, mit dem Herrn Grafen selbst zu reden?« Der eigenthümliche harte Accent, den die Sprache des jungen Öconomen, wie die aller Siebenbürger Sachsen aufwies, veranlaßte, daß Johannes die beiden Männer scharf fixirte. Er gewahrte nun alsbald, daß sie nicht in Wien ansässig sein könnten, denn weder ihr Benehmen, noch der Schnitt ihrer Kleidung war so, wie die Bewohner der Weltstadt sie zu lieben pflegen. »Nein,« entgegnete er nach kurzer Pause, »Sie treffen den Grafen nicht mehr an.« »Wir dachten es uns wohl,« meinte Bela wieder, »daß unser Gang ein vergeblicher sein würde. Zu so später Stunde erwartet und empfängt Jeder ja nur in außerordentlichen Fällen Besuche, aber wir sind trotzdem sofort nach unserer Ankunft in Wien hierher geeilt, weil eben ein ungewöhnlicher Anlaß uns dazu bewog.« »Sie sind fremd in Wien?« fragte Johannes, dem es schien, als ob die Leute ein Anliegen auf dem Herzen hätten, was sie sich nicht recht getrauten vorzubringen. In dieser Muthmaßung täuschte er sich auch wirklich nicht. Den jungen Männern lag unendlich viel daran, noch an diesem Abend dem Grafen das Motiv ihres Besuchs kundzuthun, damit sie am nächsten Morgen in seiner Begleitung mit dem ersten Zuge nach der Heimath zurückfahren könnten. Sie hätten deshalb gar zu gern erfahren, wo sie mit dem Grafen zusammenzutreffen vermöchten und ob sie wagen dürften, ihn aufzusuchen. Nach Art der 295
Landleute befleißigten sie sich jedoch einer übertriebenen Vorsicht, indem sie fürchteten, Fragen vorgelegt zu erhalten, bei deren Beantwortung sie sich verplaudern könnten. Bela zögerte deshalb mit der Erwiderung auf die Erkundigung des Jünglings, bis ihm einfiel, daß derselbe in irgend welcher engeren Beziehung zum Grafen stehen müßte, weil er ja in der Wohnung desselben sich befand. »Vielleicht,« so erwog der biedere Sachse in seinem Sinn, »ist es ein Verwandter, oder auch der Kammerdiener des Grafen. Jedenfalls mußt du ihm Rede stehen, wenn du den Aufenthalt des Grafen erfahren willst.« Und dieser Annahme gemäß entgegnete er endlich: »Wir befinden uns heute zum ersten Male in Wien; unsere Heimath ist Siebenbürgen.« »Siebenbürgen?« wiederholte Johannes überrascht, denn ihm drängte sich sofort der Gedanke auf, daß nur eine wichtige Angelegenheit die Leute veranlaßt haben könnte, eine so weite Reise zu unternehmen. »Sie haben mit dem Herrn Grafen wohl eine bedeutsame Angelegenheit zu besprechen?‘« »Ganz recht Die Angelegenheit, welche uns nach Wien führt, ist jedoch nicht nur außerordentlich wichtig, sondern auch sehr dringlicher Natur. Sie erfordert eine schnelle Erledigung, weshalb wir Ihnen von Herzen dankbar sein würden, wenn Sie uns angeben wollten, wo wir den Herrn Grafen antreffen könnten.« »Sie wollen ihn noch heute sprechen?« »Das wäre nicht nur in unserem, sondern auch, wie ich meine, im Interesse des Herrn Grafen gelegen. Wir haben 296
ihm eine Mittheilung zu machen, die vielleicht auf den Gang des Erbschaftsprocesses –« Ganz erschrocken über seine Unvorsichtigkeit, auf die auch Timbus ihn durch einen warnenden Rippenstoß aufmerksam machte, brach er plötzlich ab. Johannes überlegte, was er thun solle. Die Leute wollten offenbar zu dem »Herrn«, hatte er da ein Recht, sie zu Bruno zu führen? »Wie kannst du daran auch nur einen einzigen Augenblick zweifeln?« rief vorwurfsvoll sein Verstand. »Die jungen Männer können ja nur zu Demjenigen gehen, der aller Welt als der Erbprätendent gilt. Er ist ja aber nur ein Abenteurer, hat mithin nicht das mindeste Anrecht auf die Mittheilung, welche den langwierigen Proceß vielleicht mit einem Schlage zu seinen Gunsten wendet, sondern der wirkliche Graf, also Bruno, allein darf Ansprüche auf sie erheben. Du hast deshalb nicht nur ein Recht, sondern sogar die Verpflichtung, sie dem Schwindler vorzuenthalten und deinem Schwager vielleicht eine Waffe zuzuwenden, die er zur wirksamen Vertheidigung, wohl gar zum siegreichen Angriffe gebrauchen kann.« Entschlossen rief er: »Wenn Sie dem jungen Grafen etwas auf die Erbschaftsangelegenheit Bezügliches mitzutheilen haben, sind Sie ihm zu jeder beliebigen Zeit willkommen. Ich selbst werde Sie zu ihm führen. Er geleitete sie auf die Straße und zu einem Fiaker, den er nach dem Hotel fahren hieß, in welchem er und Bruno eingekehrt waren. Dort angekommen, bat er die jungen 297
Siebenbürger, im Restaurationssalon eine kurze Weile zu warten, weil er Bruno auf den unvermutheten Besuch vorbereiten wollte. Nachdem das geschehen war, führte er die Öconomen zu ihm hinauf und nun fand eine angelegentliche Berathung der vier Männer statt, die mehrere Stunden währte. Mit großer Freude vernahmen die Siebenbürger, daß dem Grafen reichliche Geldmittel zur Verfügung standen, – jene zehntausend Gulden, die der »Herr« vor einigen Wochen dem jungen Künstler geschenkt hatte – und daß er dieselben mit Freuden zur Befreiung des unglücklichen Ferencz aus der Irrenanstalt verwenden wolle. Mit welcher Erregung Bruno und Johannes die Enthüllung der jungen Landwirthe aufnahmen, das zu schildern ist ein Ding der Unmöglichkeit. Bela und Timbus blieben in dem Hotel zur Nacht. Alle gönnten sich nur wenige Stunden der Ruhe; der erste am Morgen nach Ungarn abgehende Eilzug nahm auch sie als Passagiere mit.
Zehnte+ Kapitel. In höcster Noth.
A
ls Baron Girsa sich geräuschlos bis zu der Thür von Luciens Wohnung hinaufgeschlichen hatte, begann das junge Mädchen soeben das Geständniß seiner Liebe abzulegen. Der edle Freiherr preßte den Kopf an die Thür und ward Ohrenzeuge der merkwür298
digen Unterredung zwischen den vermeintlichen Geschwistern. Der maßlose Grimm des Abenteurers erquickte den Baron nicht wenig; seiner gemeinen Denkungsart bereitete der Umstand ein wonniges Behagen, daß die stolze Jungfer, welche ihn so schnöde zurückgewiesen hatte, nicht den von ihr Beglückten zum Lebensgefährten erhalten habe. Mit einem Male prallte Girsa von der Thür zurück, wie wenn ein Keulenhieb ihn getroffen hätte. Eine Idee war ihm urplötzlich durch den Sinn gefahren, eine zwar abscheuliche, aber vielverheißende Idee. Wie wäre es,. wenn er Lucie entführte? Eine so prächtige Gelegenheit zur Ausführung dieses Bubenstückes bot sich schwerlich jemals wieder. Der Graf hatte seinen Widerwillen gegen Luciens Wahl in so scharfer und unzweideutiger Weise kundgetan, daß seine Schwester die Hoffnung, ihn später umstimmen zu können, aufgeben mußte. Da Lucie nun jedoch, wie Girsa ja zur Genüge wußte, nicht zu den weichgeschaffenen Seelen gehörte, die einem stärkeren Willen sich bedingungslos unterordnen, so war ein heilloser Bruch zwischen den Geschwistern unvermeidlich. Mußte sich unter solchen Umständen in der Seele des jungen Mädchens nicht das Verlangen regen, seinen eigenen Weg, ganz unabhängig von dem hartherzigen Bruder, zu gehen? Und wenn es diesen Wunsch noch nicht hegte, dann mußte derselbe in ihm wachgerufen werden. Lucie erwartete in jeder Stunde die Zurückkunft Krohns. Wenn nun also … Der Plan, nach welchem er handeln mußte, zeichnete sich mit einer Klarheit, die Nichts zu wünschen übrig ließ, in Girsa’s Sinne ab. Spornstreichs rannte der edle Freiherr hinab, warf 299
sich in einen Fiaker und bewog den Kutscher durch die Zusicherung eines splendiden Trinkgeldes, die Rosinanten zur höchsten Eile anzutreiben. Während der Fahrt erwog er, in welcher Weise sich die Entführung am bequemsten bewerkstelligen lassen werde. Als nach wenigen Minuten der Wagen vor dem Hause der Gräfin Katinka – dorthin hatte Girsa ihn fahren lassen – hielt, hatte der Baron auch diese Frage zu seiner eigenen Zufriedenheit entschieden. Die Kammerfrau der Gräfin war nicht wenig erstaunt, als die Glocke in der heftigsten Weise gerissen wurde. Noch höher stieg ihre Verwunderung, als der Baron ihr befahl, ihn sofort bei der Gräfin zu melden. »Um diese Zeit,« wandte sie ein, »ist die Frau Gräfin für Niemanden zu sprechen.« »Für mich gewiß. Melden Sie mich nur, und ich bin sicher, daß sie mich unverzüglich empfängt« Die Kammerfrau zögerte. »So gehen Sie doch,« rief er im aufflammenden Zorne und stampfte so wild auf den Boden, daß die Frau erschrocken gehorchte, Girsa hatte sich nicht getäuscht; Gräfin Katinka ließ ihn alsbald vor. »Ihr Besuch zu so später Stunde giebt mir die Gewißheit, daß Sie eine wichtige Nachricht bringen,« rief sie ihm entgegen. »Was ist es denn ?« Girsa theilte ihr in fliegender Hast seinen Anschlag mit. »Vortrefflich,« rief die Gräfin erfreut. »Ja wohl, so wird es gehen. Wohin gedenken Sie das Mädchen zu bringen?« »Zunächst zu einem Manne von höchst zweideutigem Rufe, einem gewissen Scharnbock, der in Zwischenbrük300
ken eine Kindererziehungsanstalt leitet. Dieser Mensch ist sehr pfiffig und für Geld zu Allem fähig. Er hat mir schon früher ganz treffliche Dienste geleistet.« «In Zwischenbrücken kann sie aber doch unmöglich lange bleiben.« »Das soll sie auch nicht. So lange Lucie innerhalb des cisleithanischen Staatsgebietes sich befindet, würden wir vor Entdeckung nie sicher sein –« »Folglich?« »Folglich muß sie nach dem Ländergebiet der Stephanskrone gebracht werden.« »Glauben Sie dort gegen jede Verfolgung geschützt zu sein?« »So lange eine einflußreiche Persönlichkeit zwischen mir und der Obrigkeit steht.« »Verstehe ich Sie recht? Sie meinen, daß ich die Rolle eines Schutzpatrons übernehmen soll?« »Sie haben mir früher Ihre thatkräftige Unterstützung ja zugesichert.« »Seitdem sind die Verhältnisse doch andere geworden. Würde man, wenn Lucie verschwindet, nicht mich beschuldigen, sie durch meine Complicen beseitigt gelassen zu haben?« Girsa wurde ungeduldig. »Frau Gräfin,« rief er brüsk, »Wir haben keine Zeit zum Ausspinnen von allerlei Bedenklichkeiten, sondern müssen unverzüglich handeln, wenn uns der günstige Moment nicht unwiederbringlich verloren gegen soll. Verständigen wir uns deshalb ohne Umschweife. Sie werden auf Ihren 301
ausgedehnten Gütercomplexen zweifellos manches abgelegene Haus besitzen!« »Allerdings.« »Nach einem derselben bringe ich die Entführte und vereheliche mich nach einiger Zeit mit ihr –« »Sie hat Ihnen ja wiederholt einen Korb ertheilt.« »Wird es aber nicht nochmals thun; dafür lassen Sie mich sorgen. Die Einsamkeit wird den trotzigen Sinn der Stolzen schnell genug brechen.« »Hoffen wir es.« »Ich bin dessen gewiß.« »Wenn Ihre Voraussetzung sich verwirklichen sollte –« »Dann wird sich mit Ihrem Beistande ein »Diener des Herrn« wohl bereit finden lassen, die Ehe einzusegnen.« Die Gräfin sann einen Augenblick nach, dann nickte sie zustimmend. »Der Seelsorger in der Irrenanstalt des Doctor Joszay dürfte zu gewinnen sein,« meinte sie. Der Baron fuhr fort, seinen Plan zu entwickeln. »Nachdem Lucie meine Gattin geworden, kehren wir nach Wien zurück und ich gebe die Erklärung ab, daß die Entführung stattgefunden habe, weil Luciens Bruder uns Hindernisse entgegenzustellen beabsichtigte.« »Ein ganz plausibles Motto.« »Ich bewege ferner meine Frau, ihre Ansprüche auf das Erbe gegen eine noch näher zu vereinbarende Abfindungssumme aufzugeben.« »Einverstanden.« »Nun käme es vor Allem darauf an, ein verschmitztes 302
Frauenzimmer zu finden, welches die Comtesse verlocken könnte, ihren angeblich kranken Liebhaber aufzusuchen.« »Zu dieser Rolle kann sich kaum Jemand besser eignen, als meine Kammerfrau.« »Ist dieselbe verschwiegen?« »Sie ist mir treu ergeben.« »Dann wollen wir sie sofort instruiren. Die Zeit drängt.« Die Kammerfrau erwies sich in der That der ihr überwiesenen Aufgabe vollständig gewachsen. Schon nach einer Viertelstunde befand sie sich auf dem Wege zu Lucie. Die Gräfin stellte eine Ordre an den Verwalter eines ihrer Güter, welches unfern der Irrenanstalt des ehrenwerthen Doctor Joszay lag, aus, welche den Mann bedeutete, das leerstehende, halbverfallene »Schloß« dem Überbringer des Briefes zur unumschränkten Verfügung zu stellen und allen Anordnungen desselben sich ohne Widerstreben zu fügen. Mit diesem Schreiben in der Tasche fuhr der Baron nach Zwischenbrücken zur Scharnbock’schen Kinderbewahranstalt, wohin die Kammerfrau Lucie bringen sollte. Diese Person, eine Canaille comme il faut, wie man sie nur in den Weltstädten und in den fashionablesten Bädern antrifft, hatte inzwischen den Erwartungen, die ihre gewissenlosen Auftraggeber von ihr gehegt hatten, meisterlich entsprochen. Sie führte sich unter der Maske einer einfühlenden Seele ein und spielte diese Rolle mit wahrhaftiger Virtuosität, die durch das dem Weibe eigene ehrwürdige Aussehen noch wesentlich unterstützt wurde. 303
Das unerfahrene, vertrauensselige Mädchen ging um so leichter in die ihr gestellte Falle, als die Versucherin eine genaue Personsbeschreibung Krohns lieferte und mit rührenden Worten schilderte, wie verzweiflungsvoll die Stimmung desselben sei, weil die plötzlich eingetretene Kalamität ihn verhindere, die brennende Sehnsucht seines Herzens nach dem Wiedersehen der Geliebten zu stillen. Welchen Erfolg die schlangenglatte Person mit den schamlosen Vorspiegelungen erzielte, wissen wir bereits. Lucie warf in höchster Eile einige Zeilen an Den, welchen sie für ihren Bruder hielt, auf das Papier, hüllte sich in ihren [seinen] Mantel, steckte eine Brieftasche, welche das von ihr erworbene Geld enthielt, ein und folgte der Kammerfrau auf die Straße, wo ein Fiaker harrte. Kaum waren die Frauen eingestiegen, als der Kutscher wie rasend auf die Pferde einhieb, sodaß das leichte Gefährte mit vehementer Schnelligkeit dahinrollte. Hatte Lucie nun auch Argwohn gefaßt, so wäre ihr es doch unmöglich gewesen, aus dem Wagen zu springen, Und ein Hülferuf wäre durch das Gerassel der Räder übertäubt worden. Doch das junge Mädchen war von jeder mißtrauischen Regung weit entfernt. Als der Fiaker trotz seiner schwindelerregenden Schnelligkeit eine lange Straße nach der anderen durchsauste, schließlich aus der Stadt hinaus und sogar über die große Donaubrücke fuhr, konnte sich Lucie allerdings einer bangen Empfindung, sowie einer ängstlichen Äußerung nicht enthalten, doch beruhigte sie sich mit der Erklärung, welche die Kammerfrau abgab, daß nämlich der Jüngling auf der Herreise nach Wien sich ver304
letzt habe und in Floridsdorf in ihrem Hause zur Pflege zurückgelassen worden sei. – Es war kurz vor neun Uhr Abends. Die Dunkelheit hatte bereits ihre Schwingen über die Erde gebreitet, als ein Fiaker durch Zwischenbrücken brauste. Unweit des Wirthshauses, welches fast am Ausgange des Dorfes gelegen ist, hielt er an und ein Herr sprang eilig heraus. »Erwarten Sie mich hier,« befahl er dem Kutscher, »sollte ich auch einige Stunden ausbleiben.« Darauf ging er schnell aus dem Dorfe hinaus und schlug dann einen Nebenweg ein, der quer über das Feld zum Scharnbock’schen Gehöfte hinführte. Die »Bewahr- und Erziehungsanstalt« bestand aus einem Wohnhause, welches nicht besser, aber auch nicht schlechter war, als ein gewöhnliches Bauernhaus, einem Holzschuppen und einem Nebengebäude, welches vordem zum Pferdestalle gedient haben mochte, jetzt indeß die ärmeren »Pfleglinge« der Anstalt beherbergte. Ein hoher Balkenzaun mit großen, scharfgespitzten Nägeln umgab das Grundstück und gestattete den Eingang durch zwei Pforten, deren eine, ein breiter Thorweg, nach der Fahrstraße, deren andere, ein enges Pförtchen, nach der nicht weit entfernten Donau zu mündete. Als der späte Besucher an der Pforte des Gehöftes angelangt war, pochte er laut an, worauf Scharnbock selbst erschien, um sich nach seinem Begehren zu erkundigen. Der Herr verlangte eingelassen zu werden; ehe Scharnbock indeß diesem Wunsche willfahrte, betrachtete er den draußen Harrenden sehr aufmerksam. 305
»Sie sind’s, Herr Baron?« rief er plötzlich, nicht wenig überrascht, aus und öffnete nun eiligst die Pforte. »Was verschafft mir die ganz unerwartete Ehre Ihres Besuchs?« »Sie sollen es erfahren, sobald wir in Ihrer Arbeitsstube angelangt sind.« »Wollen Sie nicht die Güte haben, voranzugehen? Ich will nur erst das Thor gehörig verwahren.« »Sind denn die Hunde gut angekettet?« fragte der Baron ängstlich, als eine Meute von Hunden wie rasend aus ihren Hütten, die unfern des Thores standen, hervorstürzte und ein ohrenzerreißendes Gekläff anstimmte. Scharnbock, der inzwischen das Thor geschlossen hatte, beruhigte ihn und geleitete ihn nach dem Wohnhause, welches der Baron jedoch nicht eher betrat, als bis er sich vor einer Erkennung durch neugierige Späheraugen möglichst geschützt hatte. In dem Arbeitskabinete Scharnbocks fand darauf zwischen den Beiden eine ziemlich langwährende Unterredung statt. Endlich rief der Baron: »Sie wissen nun, welcher Zweck mich zu Ihnen geführt hat. Sind Sie bereit, mich bei der Durchführung meines Anschlags au unterstützen?« ,,Gern; wenn Sie meine Mitwirkung in entsprechender Weise belohnen.« »Ich gebe Ihnen fünfhundert Gulden in dem Augenblikke, wo Sie das Mädchen in Empfang nehmen, und weitere fünfhundert, sobald es unentdeckt bis Pancsova gebracht ist.« »Auf diese Bedingungen kann ich mich nicht einlassen. 306
niemand vermag alle Zufälligkeiten, die eine Entdeckung herbeiführen können, vorauszusehen und zu vermeiden.« »Wenn meine Anerbietungen Ihnen nicht conveniren, dann nennen Sie mir Ihre Bedingungen.« Scharnbock schwieg nachdenklich einige Minuten, dann sagte er: »Da« Unternehmen ist sehr gefährlich. Wird es entdeckt, dann ist allen daran Betheiligten eine harte Strafe gewiß. In Berücksichtigung dieses Umstandes halte ich es für angemessen, für meine Mithülfe eine Summe zu erhalten, die mir ermöglichen würde, bei drohender Gefahr mir im Auslande eine Existenz zu begründen. Ich will Ihnen deshalb nur dann beistehen, wenn Sie mir im Vorhinein zweitausend Gulden und nach glücklich vollbrachter Entführung der jungen Dame einen ebenso großen Betrag auszahlen.« »Viertausend Gulden! Das ist viel Geld.« »Durchaus nicht. Diese Summe dürfte doch nur einen geringen Bruchtheil jenes Vermögens bilden, welches der Coup Ihnen einbringen wird, denn aus Liebe allein werden Sie die Dame wohl nicht entführen!« Er lächelte pfiffig; Girsa wurde ungeduldig. »Übrigens,« fuhr Scharnbock fort, »sind Sie ja durch Nichts gebunden, gerade mich mit der Durchführung Ihres Anschlags zu beauftragen. Zweifellos werden Sie billigere Helfershelfer finden.« »Billigere wohl, aber nicht zuverlässigere,« rief Girsa. Er hatte sich entschieden, den unverschämten Preis zu zahlen; die Gräfin Katinka sollte ihm diesen Betrag ersetzen. »Sie sind in derartigen Angelegenheiten erfahren, so daß man 307
mit ziemlicher Bestimmtheit auf gute Ausführung eines Auftrags rechnen kann. Ich will deshalb Ihre Forderung bewilligen. Lassen Sie uns nun noch einige Einzelheiten des Projektes besprechen. Zunächst möchte ich erfahren, wie Sie die Dame bis nach Siebenbürgen schaffen wollen, ohne daß sie entdeckt werden oder entwischen kann. Mit der Eisenbahn, dem Dampfschiffe, einem Wagen darf sie natürlich nicht befördert werden.« »Das versteht sich ja von selbst. Für den Transport von Menschenfleisch haben wir besondere Vorkehrungen getroffen.« »Für den Transport von Menschenfleisch?« wiederholte hoch erstaunt der Baron. »Wie soll ich diese seltsame Äußerung deuten?« »Ich werde sie Ihnen erklären. Es werden sowohl Kinder, wie Erwachsene aus der österreichischen Monarchie nach dem Orient verkauft, von den letzteren allerdings nur junge Mädchen, die in die Harems reicher Türken gebracht werden. Von den Kindern werden die Mädchen nach der Walachei, vornehmlich jedoch nach Bulgarien gebracht und dort für den Harem großgezogen, während die Knaben zum Betteln, Stehlen abgerichtet, oder auch zu Künstlern, nämlich Kunstreitern, Seiltänzern, Gauklern ausgebildet werden.« Es findet demnach ein wohlorganisirter Sklavenhandel zwischen Ihnen und Ihren Kunden statt?« »Es wird wohl so sein.« »Welche merkwürdigen Dinge doch geschehen! Solche gewaltige Stadt birgt wahrhaftig Geheimnisse in sich, von 308
denen kaum der Zehntausendste eine Ahnung hat. Und Ihr »Geschäft« ist um so verwegener, als es unter den Augen einer trefflichen, zahlreichen Polizei betrieben wird. Sieht denn die Behörde diesem Treiben ruhig zu?« »Gewiß nicht. Sie fahndet nach meinen Agenten und Agentinnen unablässig, hat ja auch schon mehrere derselben erwischt, doch sind diese Leute verschwiegen, sodaß die Polizei noch nicht die eigentliche Seele dieses Sklavenhandels, meine Person also, hat ermitteln können.« Fortse~ng fogt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÊÈ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
D
er gewissenlose Hallunke war über die Mißerfolge der polizeilichen Nachforschungen offenbar nicht wenig ergötzt, denn er kicherte und rieb sich die Hände. Baron Girsa, den die Organisation dieses schändlichen Gewerbes lebhaft interessierte, fragte: »Wo nehmen Sie denn aber die Kinder her? « » O, an denen ist nie Mangel. Solche Kinder, die mir zur Erziehung oder Unterbringung übergeben werden, verkaufe ich selbstverständlich am liebsten.« » Sind denn die Eltern dieser kleinen Geschöpfe damit einverstanden? « Scharnbock’ s Gesicht nahm einen undefinirbaren Ausdruck an. » Einverstanden? « wiederholte er dann mit eigenthümlicher Betonung. » Mir werden fast ausnahmslos nur solche Kinder übergeben, von denen die Eltern am 310
liebsten nie wieder hören wollen. Reiche Wüstlinge, Töchter angesehener Familien, die sich verirren, und Personen dieser Kategorie bilden das Hauptcontingent meiner Kunden. Sie werden zugeben, daß weder einer angesehenen Familie, die den Fehltritt einer Tochter verheimlichen will, noch der verführten jungen Dame, geschweige denn dem Verführer daran gelegen sein kann, sich um die Zukunft der Frucht einer Verirrung zu bekümmern!« »Gewiß, gewiß. – Das Loos dieser armen Geschöpfe ist wohl stets ein recht trauriges?« »Kann es anders sein?« meinte, die Achseln zuckend, Scharnbock. »Zuweilen gestaltet es sich indeß auch ganz erträglich. Es kommt hin und wieder vor, daß magyarische oder walachische Familien eines dieser Kinder adoptiren. Mancher von den Knaben, die wir verhandeln, ist auch ein hochberühmter Künstler geworden und hat ein fürstliches Einkommen, während er aller menschlichen Voraussicht nach ein Jammerdasein durchlebt haben würde, wenn er in den elenden Spelunken seiner rechtmäßigen oder Zieh-Eltern aufgewachsen wäre; doch sind das allerdings nur seltene Ausnahmen, die große Mehrzahl dieser ausgestoßenen Kinder fällt schließlich – dem Zuchthause anheim.« So herzlos Baron Girsa auch war, vermochte er sich doch eines Schauders nicht zu erwehren. Niemals erschien der Ausspruch des großen britischen Dichters: »Es giebt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, Als eure Schulweisheit sich träumen läßt« ihm so vollberechtigt und weise. Nach einer kleinen Pause fragte er: 311
»Wie fangen Sie es an, den Transport der Kinder den Argusaugen der Polizei zu entrücken?« »Wir bedienen uns dazu einiger Zillen, die zum Theil mit Steinen beladen sind, innerhalb der Ladung aber eine kleine Kajüte haben –« »Innerhalb der Ladung? Da ist ja der Zutritt von Licht und Luft vollständig unmöglich.« »Luft kann hineindringen, wenn auch nicht in genügender Menge. Das schadet indeß Nichts. Einige Tage halten die Rangen es schon aus, und länger dauert eine Reise nie, weil die Fahrt Tag und Nacht hindurch fortgesetzt wird. Licht hingegen vermag nicht hineinzudringen, doch gereicht dieser Umstand uns nur zum Vortheil, weil die Kinder vor Bangigkeit sich still verhalten und meist schlafen.« »Die junge Dame wollen Sie auch vermittelst einer solchen Zille weiterschaffen lassen?« »Allerdings; selbstverständlich jedoch nicht in der verborgenen Kajüte, sondern in der des Steuermanns.« »Sie wird sich gewaltig sträuben,« meinte Girsa besorgt, »denn trotzdem sie noch sehr jugendlich ist, vermag sie doch eine erstaunliche That- und Willenskraft zu entfalten. Ich sehe im Voraus, daß sie ein erschreckliches Zetergeschrei erheben wird.« Scharnbock zuckte geringschätzig die Achseln. »Bah! Glauben Sie denn, daß wir auf derartige Eventualitäten nicht vorbereitet sind? So manches von den erwachsenen Mädchen würde Himmel und Erde durch sein Geschrei in Bewegung zu setzen suchen, wenn wir es nicht daran hinderten.« 312
»Nur keine Anwendung von Gewalt,« rief der Baron eifrig. »Eine brutale Behandlung würde mir die junge Dame so vollständig entfremden, daß die Verwirklichung meiner Absichten ganz unmöglich gemacht würde.« »Von Gewaltanwendung ist ja auch keine Rede,« lächelte Scharnbock. »Ein Mann wird doch nicht so ungalant sein, einer Dame und noch dazu einer jungen Dame irgend welche Artigkeit und Rücksicht zu verweigern. Nein, nein, wir bringen die Dame mit aller Sanftmuth dazu, daß sie sich ruhig, ganz ruhig verhält.« »Ah, Sie wollen ihr einen Schlaftrunk geben?« »Je nachdem. Manche fürchtet sich, das Getränk, welches meine Frau ihr anbietet, zu genießen. Dann betäuben wir sie mit Chloroform.« »Und wenn sie unterwegs aufwacht? –« »Bekommt sie Etwas zu essen und dann noch eine Dosis, sodaß sie schläft, bis sie am Ziele angelangt ist.« ,,Gut. Dort werde ich sie in Empfang nehmen lassen. Ich selbst fahre mit der Bahn voraus, um die nöthigen Vorbereitungen zu treffen.« Scharnbock erlaubte sich darauf hinzuweisen, daß die Hälfte der ausbedungenen Summe an diesem Abend ausbezahlt werden müßte. Der Baron zog sein Portefeuille und entnahm demselben einen Check auf ein berühmtes Bankhaus, den er dem widerlich freundlichen Complicen einhändigte. Auf einen zarten Wink Scharnbock’s stellte der edle Freiherr über die zweite Hälfte des Sündengeldes ein Accept »zahlbar nach sechs Monaten« aus. 313
»Nun könnten sie schon da sein,« meinte er dann, ängstlich nach der Uhr blickend. »Wenn der Coup nur nicht mißlingt!« In diesem Augenblicke ließ sich das Knarren eines heranrollenden leichten Fuhrwerks hören und gleich darauf pochte man an die Vorderthür. »Das sind sie,« rief freudig aufathmend der Baron. »Die Dame darf mich nicht sehen. Dagegen möchte ich einen Blick auf sie werfen. Wie machen wir das, Scharnbock?« »Nichts leichter als das. Die Dame hält sich, so lange sie im Hause verweilt, in der Nebenstube auf. Sie brauchen nur die Gardine der Glasthür ein wenig zu lüften, um einen Überblick über das ganze Zimmer zu haben.« Inzwischen hatte der Knecht das Thor geöffnet. Scharnbock war an das Fenster getreten und hatte den Vorhang zur Seite geschoben. Auch der Baron warf einen Blick hinaus und gewahrte, daß ein kleiner, mir einem Plane überspannter Korbwagen in den Hof einfuhr. »O das sind sie nicht!« rief er, unangenehm enttäuscht, aus. »Das Fuhrwerk gehört wohl Ihnen?« »Einem meiner Agenten,« versetzte Scharnbock, den es sichtlich unangenehm berührte, daß der Baron dieses Fuhrwerk zu Gesicht bekommen hatte. »Bitte, Herr Baron, wollen Sie mir nicht die Ehre erweisen, noch ein Glas Wein zu genießen?« Doch Girsa achtete nicht auf die Einladung; ein eigenthümlicher Anblick fesselte ihn. Aus dem Wagen kletterte ein robuster, in einen schmierigen Flauschrock gekleideter Mann und ihm folgten einige Kinder, sowohl Knaben, 314
wie Mädchen, die sich mit scheuer Ängstlichkeit zusammendrängten, bis die Frau Scharnbock’s sie in das Haus rief. Darauf stieg der Fuhrmann wieder in den Wagen und reichte dem Knechte Scharnbock’s mehrere Bündel und kleine, schwergefüllte Koffer heraus, welche derselbe eiligst in das Haus trug. Der Baron vermuthete alsbald, daß diese Gegenstände gestohlen sein müßten. Neugierig beobachtete er das Treiben des Fuhrmanns, der ihn nicht bemerken konnte und deshalb ruhig in der Entladung des Wagens fortfuhr, als ein heftiges Pochen an der Hinterpforte seine Aufmerksamkeit erregte. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er Scharnbock. »Es sind die Schiffer,« entgegnete dieser mißmuthig. »Also noch an diesem Abend geht eine Zille stromabwärts?« »So ist es.« »Das trifft sich ja herrlich. Wenn sie nur erst da wäre!« Aus dem ehemaligen, nun zur »Bewahranstalt« avancirten Stalle schallte jammervolles Kindergeschrei herüber. »Welches unerträgliche Gewinsel,« rief der Baron unmuthig aus. »Die Rangen werden durch den Lärm aus dem Schlafe geweckt worden sein,« bemerkte Scharnbock, öffnete die Thür zum Wohnzimmer und rief seiner Frau zu: »Kathi, nimm doch die Hundspeitsche und haue die nichtsnutzigen Canaillen, daß die Fetzen rumfliegen.« Durch die Spalte warf Girsa einen Blick in die große Stube. In derselben saßen um einen umfangreichen Tisch 315
mehrere vierschrötige Männer und ließen sich einen Imbiß, aus einer gewaltigen Quantität Brodes, Schinkens und mehreren gefüllten Branntweinflaschen zusammengestellt, wohlschmecken. Es waren die Schiffer und zwei Agenten Scharnbock’s, welche die Kinder und das Diebsgut unterbringen sollten. Die armen Kleinen hatten jedes eine Schale Kaffee und ein Butterbrod zum Souper. Girsa hatte eben diesen Anblick genossen, als sich aus dem Stalle die keifende Stimme des Weibes und der Schall der wuchtigen Hiebe, die es austheilte, vernehmen ließ. Dann wurde es auf jener Seite ruhig; die Frau kehrte zurück, steckte den Kopf durch die Thür und meldete: »Ich hab’ den Schwarzen gleich mit herübergebracht.« »Das hast Du recht gemacht, Kathi. Gieb ihm auch zu essen, damit er nicht, wie es seine Art ist, ein mörderisches Geschrei erhebt.« »Der Schwarze?« meinte Girsa. »So nennen Sie wohl einen Knaben?« »Ja,« bestätigte Scharnbock kurz, »es ist ein unbändiger Junge, den Nichts zu zähmen vermag. Da, hören Sie nur!« Der Knabe erhob ein gellendes Geschrei; einer von den Schiffern hatte die Frau gefragt, ob derselbe auch noch fort solle, und nun jammerte das Kind, daß es nicht fort, sondern zu seiner Mutter zurück wolle. Sein Weinen wurde schließlich so durchdringend, daß selbst die rohen Schiffer es nicht mehr anhören konnten. Scharnbock stürzte in das Wohnzimmer und schrie den Knaben an, daß er ihn todtschlagen würde, wenn er nicht sofort sich still verhielte, 316
doch dieser ließ sich nicht einschüchtern. »Schlagt mich nur todt!« rief er trotzig. »Lieber will ich gar nicht mehr leben, als in dem abscheulichen Hanse, bei solchen bösen Leuten.« Unwillkürlich empfand der Baron ein lebhaftes Interesse für den kleinen muthigen Trotzkopf; er trat zur Thür und warf einen Blick durch die Spalte. Ganz betroffen wandte er sich wieder ab. .Dieses Gesicht habe ich schon häufig gesehen,« murmelte er, »und wenn mein Gedächtniß mich nicht trügt, bei vornehmen Leuten. Aber bei wem?« Er betrachtete den Knaben nochmals sehr aufmerksam. »Alle Wetter,« rief er plötzlich halblaut in höchster Überraschung, »das ist ja, – doch nein, wie wäre das möglich? – Und doch – beim Himmel, eine solche Ähnlichkeit wäre nur bei Zwillingen möglich, – es ist der kleine Koloman, der Sohn der Gräfin Szapary.« Und wieder prüfte er das Gesicht des Kindes Zug um Zug. »Er ist es – unzweifelhaft,« sagte er sich endlich mit Entschiedenheit. »Ich habe den Knaben ja hundert Mal gesehen; ein Irrthum ist gar nicht möglich. – Und warum sollte er es auch nicht sein? Der Erbprätendent ist, wie ich schon längst argwöhnte, ein Abenteurer, der den unbequemen rechtmäßigen Erben aus dem Wege schaffen ließ. Die Leiche, welche als die Koloman’s recognoscirt wurde, ist untergeschoben, – das läßt sich ja arrangiren. Dieser Hallunke, der Scharnbock, ist, wenn man ihn gut bezahlt, zu Allem fähig. – Welcher glückliche Zufall, daß ich gerade 317
am heutigen Tage in dieses Haus kommen mußte! Die Entdeckung ist unendlich wichtig; gegen den Erbprätendenten namentlich laßt sie sich trefflich verwerthen. Wenn der Knabe wieder zum Vorschein kommt, zerfallen die Ansprüche des Gauners in Nichts und er muß froh sein, wenn es ihm gelingt, sich durch die schleunigste Flucht vor der Polizei und dem Zuchthause zu retten. Er wird deshalb mein Stillschweigen gern mit Hunderttausenden erkaufen. Prächtig, prächtig. Das Glück will mir wohl.« Vergnügt rieb er sich die Hände, fing sogar an, ein lustiges Liedchen zu summen, doch hielt er sofort wieder ein, denn die Hunde schlugen an und gleich darauf wurde wiederum an das Thor gepocht. Der Baron eilte zum Fenster und sah, daß Scharnbock selbst das Thor öffnete und einen Fiaker hineinließ. Girsa athmete erleichtert auf; der schwierigste Theil seines infamen Anschlags war gelungen, vor der glücklichen Durchführung des ganzen Projektes bangte ihm nun nicht mehr. Das launische Glück begünstigte ihn ja auffallend. Er sah sich schon als Gatte Luciens, von der Gräfin Katinka eine halbe Million einstreichend und in nicht ferner Zukunft der ersten eine zweite halbe Million zufügend. Denn unter diesem Preise wollte er das Geheimniß, dessen Mitwisser er heute geworden, nicht preisgeben. Weigerte der Erbprätendent sich, diese Summe auszuzahlen, oder war derselbe dazu nicht im Stande, dann zahlte die Gräfin sie sicherlich, denn für ihr Kind empfand sie, wie Girsa wußte, eine wahrhaft überschwängliche Liebe. Der edle Freiherr zog in Erwägung, ob es nicht gerathen sei, den Knaben 318
sofort unter seine Obhut zu nehmen. Doch erschien ihm das aus zwiefachem Grunde nicht zweckmäßig. Zunächst wußte er nicht, wo er den Knaben unterbringen solle, sodaß eine Auffindung desselben nicht erfolgen könne. Wenn Koloman bereits seinen Familiennamen kannte, dann plauderte er denselben auf Befragen auch aus. Jeder, selbst der einfältigste Mensch, mußte sich dann sagen, daß eine glänzende Belohnung seiner gewiß sei, wenn er das geraubte Kind der Mutter zurückbrachte. Gesetzt aber auch, dem Knaben wäre sein Name unbekannt gewesen, so blieb eine Entdeckung doch nicht ausgeschlossen. Der Zufall hat oft wunderbare Launen, wie Girsa ja an diesem Tage selbst genugsam erfahren hatte. Das andere Bedenken des Barons bestand in der Furcht vor der Rache des Erbprätendenten. Es ließ sich als sicher annehmen, daß derselbe den Knaben nie wieder aus den Augen lassen würde. Hätte Girsa den Knaben schon heute zu sich nehmen wollen, dann hätte er sich der Verschwiegenheit Scharnbock’s, der Agenten und der Schiffer versichern müssen und wäre dessenungeachtet vor Verrath nicht sicher gewesen. Wenn er dagegen so lange wartete, bis das Kind seinem zukünftigen Gebieter übergeben worden war, dann konnte er es demselben entweder abkaufen oder rauben lassen. Diese Erwägungen schossen ihm durch den Kopf, während er in athemloser Spannung auf den Hof blickte. Es war ja doch möglich, daß der Coup nicht geglückt war und daß die Kammerfrau der Gräfin allein kam, um ihm das Fehlschlagen der List zu melden. Doch nein, Lucie mußte im Wagen sitzen, denn Scharnbock zog respektvoll die Mütze, 319
während er den Wagenschlag öffnete. Unmittelbar darauf sprang Lucie leicht hinaus und wurde von Scharnbock mit ehrerbietiger Achtung, die aber doch einen Anstrich von väterlicher Zutraulichkeit hatte, bewillkommnet. Die Kammerfrau, welche sich als seine Gattin und die Herrin des Hauses gerirte, bat Lucie, sich in das für sie bereitete Zimmer zu begeben; Scharnbock bot der Comtesse den Arm und führte sie in die Prachtstube. Lucie verlangte, sofort zu dem Geliebten geleitet zu werden, doch bat die angebliche Hausfrau sie, zunächst eine Erfrischung zu genießen. »Da wir,« fügte sie hinzu, »natürlich nicht wissen konnten, ob Sie geneigt oder in der Lage sein würden, unser Haus noch zu so ungewöhnlicher Stunde mit Ihrer Gegenwart zu beehren, so hat Herr Krohn sich auf Ihren Besuch nicht vorbereitet. Sie müssen deshalb die Güte haben, sich so lange zu gedulden, bis seine Toilette soweit vervollständigt ist, daß er sich vor Ihnen blicken lassen darf.« »Er ist ja doch verletzt,« rief Lucie erstaunt. »Allerdings. Sein Fuß ist derartig beschädigt, daß Herr Krohn nicht im Stande ist, zu gehen, dagegen nicht so stark, daß er das Lager hüten müßte. Sobald er sich angekleidet hat, wird mein Mann ihn auf einem Rollstuhle hereinfahren. Und nun, bitte, bitte, erweisen Sie mir die Ehre, eine Tasse dieser Chocolade zu genießen. Die Fahrt in der rauhen Nachtluft wird Sie angestrengt haben und ich kann mich der Besorgniß nicht erwehren, daß Sie Schaden erleiden könnten, wenn Sie nicht durch ein warmes Getränk die Einwirkung der kalten Luft paralysiren. Sie sind gar 320
so zart, liebes Kind. Sie verzeihen mir wohl diese Vertraulichkeit, doch habe ich Sie in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft so lieb gewonnen, als wenn Sie meine Tochter wären.« Einer so herzlichen Einladung folgte Lucie willig. Frau Scharnbock, die als dienstbarer Geist figurirte und ein Präsentirbrett mit zwei großen Tassen des duftenden Getränks hineingebracht hatte, setzte vor jeder eine Tasse hin. Dem arglosen Mädchen fiel der Umstand nicht auf, daß die Chocolade nicht in einer Kanne servirt wurde, sie trank langsam und mit wirklichem Behagen, denn ihr fröstelte in der That, und hörte mit Vergnügen der gewandten Kammerfrau zu, welche sich bemühte, sie zu unterhalten. Die Wirkung des starken Narcoticums machte sich schon nach einer Viertelstunde geltend. Lucie fing an über Hugo’s langes Ausbleiben sich zu beunruhigen, doch ließ sie sich durch die Vorspiegelung der Kammerfrau, daß der leidende Zustand des Geliebten eine rasche Vervollständigung der Toilette unmöglich mache, beschwichtigen. Plötzlich fuhren beide Frauen erschrocken zusammen, denn Koloman, der während kurzer Zeit sich ruhig verhalten hatte, begann mit verstärkter Gewalt zu zetern! Die Kammerfrau faßte sich schnell. »O dieser ungezogene Junge,« seufzte sie. »Es ist mein Jüngster und ein Ausbund von Wildheit und Launenhaftigkeit. O diese Kinder, – Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr eine zärtliche Mutter unter den Ungezogenheiten eines ihrer Kinder zu leiden hat.« 321
»Sie sollten ihn in diese Stube kommen lassen. Er verlangte unaufhörlich nach Ihnen. Hören Sie nur! Er schreit immer wieder: Ich will zu meiner Mama.« »Ich mag ihn heute nicht mehr sehen. Man darf den Kindern nicht jeden Wunsch erfüllen, wenn man sie nicht ganz verziehen will. Die Magd wird ihn sofort zu Bett bringen.« In diesem Augenblicke schrie einer von den Schiffern mit einer Donnerstimme und gräßliche Flüche ausstoßend auf den Knaben ein. Lucie zitterte vor Schrecken. Die Kammerfrau verlor fast die Besonnenheit. »Beunruhigen Sie sich nicht,« bat sie. »Es ist unser Hausknecht, ein zwar roher, aber arbeitsamer und zuverlässiger Mensch. Der Herr – mein Mann liest ihm bereits die Leviten.« In der That hörte man Scharnbock leise und eindringlich sprechen. Des jungen Mädchens hatte sich auf einmal ein unheimliches Gefühl bemächtigt. Das Schlafmittel fing an zu wirken. »Ich weiß nicht, wie es zugehen mag,« meinte Lucie ängstlich; »mich wandelt plötzlich eine unbezwingbare Schläfrigkeit an. Vielleicht ist die Atmosphäre des Zimmers zu drückend. Gestatten Sie mir, das Fenster zu öffnen. Die frische Luft dürfte mir gut thun.« Ohne die Einwilligung abzuwarten, erhob sie sich, öffnete einen Flügel und sog mit langen Zügen die kalte Nachtluft ein. Doch die Schläfrigkeit wich nicht, sondern 322
wurde immer stärker. Lucie ging im Zimmer auf und nieder. Dabei kam sie jener der beiden Glasthüren nahe, die in die Wohnstube führte. Die Gardine hatte sich ein wenig verschoben, sodaß Lucie einen Blick in das Zimmer werfen konnte. Bestürzt fuhr sie zurück, als sie die fünf wilden Männer und die elenden Kinder gewahr wurde. Urplötzlich drängte sich ihr die Besorgniß auf, daß sie zum Opfer einer Ruchlosigkeit auserkoren sein könne. »Wo bleibt Herr Krohn?« wandte sie sich mit solcher Heftigkeit an die Kammerfrau, daß diese jäh auffuhr: »Führen Sie mich zu ihm oder lassen Sie mich hinaus.« »Aber liebes Fräulein, haben Sie doch nur ein klein wenig Geduld!« »Ich kann nicht; Krohn zögert zu lange. Wo ist er? Ich will ihn sehen. – Er soll nur seinen Kopf durch die Thür stecken, damit ich bestimmt weiß, daß er zugegen ist, – oder mir wenigstens zurufen, damit ich seine Stimme höre. Dann werde ich ruhig sein.« »Sind Sie durch irgend Etwas ängstlich gemacht worden?« »Freilich. Soll es mich nicht beunruhigen, daß ich kaum noch die Augen aufhalten kann, trotzdem meine Aufregung so heftig ist?« Sie kämpfte sichtlich gegen die überhandnehmende Ermattung an. Die Kammerfrau betrachtete sie prüfend. »Die lange Fahrt hat Sie angegriffen,« meinte sie. »Nein, nein, das ist es nicht!« »Was vermuthen oder befürchten Sie denn eigentlich?« 323
»Ich bin mir dessen selbst nicht klar bewußt. Aber so gehen Sie doch und rufen Sie Krohn herbei. Ich will, ich muß ihn sehen. Gehen Sie, sage ich, oder … mein Gott, mein Gott, welche unsägliche Angst ergreift mich!« Ihr Antlitz nahm einen Ausdruck an, der die Kammerfrau erschreckte. Hastig erhob sie sich. »Ich werde Herrn Krohn herbeirufen,« versicherte sie, »nach zwei Minuten ist er hier.« Sie eilte hinaus. Lucie klammerte sich an das Fensterkreuz, weil sie fühlte, daß sie sofort von der Mattigkeit überwältigt werden würde, sobald sie sich niedersetzte. Doch schon nach kurzer Zeit wurde ihr auch das Stehen unmöglich. Sie versuchte umherzugehen und nahm wahr, daß auch das sich kaum noch ermöglichen ließ, denn ihre Kniee begannen zu wanken. Eine furchtbare Bangigkeit ergriff sie. Mit dem Aufgebote ihrer ganzen Willenskraft schwankte sie nach der Thür, durch welche sie hereingeführt worden war. – Diese war verschlossen. Das unglückliche Mädchen stieß einen gellenden, herzergreifenden Schrei aus, dann sank es bewußtlos zusammen. Sofort traten Scharnbock, seine würdige Ehehälfte und die Kammerfrau durch eine, Baron Girsa durch die andere Thür. Auf den Gesichtern des Barons und der beiden Frauen spiegelte sich ein cynisches Lächeln wieder, Scharnbock hingegen sah ganz consternirt aus, denn er hatte soeben erst einen furchtbaren Schrecken ausgestanden. Als Lucie und die Kammerfrau durch das heftige Geschrei Kolomans erschreckt worden waren, fiel dem Baron 324
plötzlich zu seiner Bestürzung ein, wie leicht es geschehen könne, daß die Kammerfrau das Kind sehen und wieder erkennen könnte. Gleichzeitig kam ihm die Erwägung in den Sinn, daß er sich unanzweifelbare Gewißheit darüber verschaffen könnte, ob seine Vermuthung keine irrige sei. Er pochte an die Thür des Wohnzimmers, worauf Scharnbock zu ihm eintrat. Fortse~ng folgt
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÊÉ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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lauben Sie, daß das Narcoticum bald wirken wird? « fragte Girsa ihn. » Sie können sich darauf verlassen. Nach wenigen Minuten bereits wird die junge Dame in einen todtenähnlichen Schlaf versinken.« » Es wäre mir recht lieb, wenn das bald geschähe, meinte der Baron und faßte den Bösewicht scharf in das Auge. » Die Begleiterin der Dame, welche aus Gefälligkeit für mich bis hierher mitgekommen ist, wird vermißt werden, wenn sie noch länger fortbleibt. Sie ist nämlich die Kammerfrau der Gräfin Szapary – « Scharnbock wurde aschfahl im Gesicht; es kostete ihm augenscheinlich eine gewaltige Anstrengung, seinen Schrekken nicht gar zur deutlich sichtbar werden zu lassen. 326
»Was ist Ihnen?« fragte Girsa. »Nichts, nichts, – eine kleine Anwandlung von Unwohlsein,« stammelte Scharnbock. »Sie wird vorübergehen, sobald ich einen Schluck Wein genossen habe.« Er eilte hinaus und Girsa sah, wie er allsogleich den Knaben ergriff und hinaustrug. Unmittelbar darauf rief er einen von den Schiffern heraus und wenige Sekunden später hörte der Baron, wie dieser Mann sich eiligst aus dem Gehöfte nach dem Strome zu entfernte. Die beiden Frauen hoben das ohnmächtige Mädchen auf und trugen es nach dem Sopha, dann wandte sich die Kammerfrau zu dem Baron. »Wie sind Sie mit mir zufrieden, Herr Baron?« fragte sie. »Ganz vorzüglich. Sie haben Ihre Sache prächtig gemacht. Ich erlaube mir, Ihnen einen kleinen Beweis meiner Erkenntlichkeit zu geben.« Er reichte ihr zwei Hundertguldennoten, welche das Weib mit tiefem Knixe entgegennahm, und fuhr leise fort: »Empfehlen Sie mich der Frau Gräfin. Nach einigen Tagen werde ich ihr meine Aufwartung machen, um ihr den ferneren Verlauf des Abenteuers zu erzählen. Sie aber, meine Liebe, bitte ich, recht verschwiegen zu sein. Ich werde nicht ermangeln, Ihnen später meine Anerkennung noch deutlicher auszudrücken.« Die Kammerfrau legte beide Hände auf das Herz. »Sie können felsenfest auf meine Verschwiegenheit bauen, Herr Baron. Ich gehöre nicht zu den klatschhaften Personen, die Alles, was sie auf dem Herzen haben, ausplaudern müssen.« 327
Girsa reichte ihr leutselig die Hand. »Leben Sie denn wohl. Auf Wiedersehen!« Die Kammerfrau empfahl sich und wurde von Scharnbock’s Frau hinausbegleitet. Auch Girsa schickte sich an, die »Bewahranstalt« zu verlassen. Doch ersuchte er Scharnbock nochmals, den Schiffern einzuschärfen, daß sie Lucie mit möglichstem Respecte behandelten. Da eine weibliche Begleitung des jungen Mädchens unumgänglich nothwendig war, so erbot Frau Scharnbock sich, natürlich gegen eine entsprechend hohe Vergütung, an der Fahrt theilzunehmen. Nach einigem Zögern, verursacht durch das Bedenken, daß Koloman’s Entführung sich dann vielleicht schwieriger würde ausführen lassen, nahm Girsa das Anerbieten an, ertheilte dem Weibe noch einige Instructionen und verließ dann das Gehöft, von Scharnbock mit kriechender Unterthänigkeit bis zur Pforte begleitet. Der ehrenwerthe Kinderbewahranstaltsbesitzer blickte dem Baron so lange nach, bis derselbe in der Dunkelheit verschwand und monologisirte: »Ein vornehmer Mann, trotzdem jedoch ein größerer Hallunke, als Mancher von denen, welche die kurzsichtige Menge als Verbrecher brandmarkt! Ich hätte ihn noch tüchtiger schröpfen sollen. Nun, ich habe ihn ja in meiner Gewalt. Zunächst werde ich mich nach den Verhältnissen des saubern Freiherrn erkundigen, dann zu erfahren suchen, was ihn zu der Entführung der jungen Dame veranlaßt hat. Jedenfalls doch wohl die Hoffnung, eine große Summe zu erpressen, oder auch sie zur Heirath mit sich 328
zu zwingen, um ein bedeutendes Vermögen zu ergaunern. Bringt der Coup ihm Viel ein, dann werde ich meine Forderung verdoppeln, verdreifachen. Wir werden ja sehen. Mir däucht, dieses Geschäft könnte das brillanteste werden, was ich in meinem Leben je gemacht habe, aber freilich vielleicht auch das gefährlichste. Die Eltern des Mädchens dürften vornehme, mindestens recht wohlhabende Leute sein und sie werden zweifellos Alles aufbieten, eine Spur aufzufinden. Indeß, was kann mir eigentlich widerfahren? Einem Liebespärchen durchzuhelfen, ist ja schließlich kein Verbrechen, und wer kann mir beweisen, daß ich gewußt habe, es sei kein Liebespärchen gewesen? Sollte ich übrigens merken, daß es möglich ist, mich der Theilnahme an der Entführung zu überführen, dann werde ich den guten Baron bereits genügend geschröpft haben, um für die wenigen Monate, welche ich dann im Gefängniß werde zubringen müssen, später durch ein um so flotteres Leben mich entschädigen zu können.« Der ehrenwerthe Herr Scharnbock, Eigenthümer einer Kinderbewahr- und Erziehungsanstalt, machte ein höchst vergnügtes Gesicht und sah in Folge dessen einer Kreuzspinne, die eben erst ihr Diner in Gestalt einer dicken, saftigen Hummel zu sich genommen hat und nun behaglich dem angenehmen Prozeß der Verdauung obliegt, überraschend ähnlich. Er hatte auch wahrlich genügende Veranlassung zur Zufriedenheit. Vor wenigen Jahren noch war er recht eigentlich ein Lump und Habenichts gewesen, – ein Lump war er freilich jetzt auch noch, dagegen hatten die unlauteren Geschäfte und Handlungen, die er in Gemein329
schaft mit seiner ihm völlig ebenbürtigen Ehehälfte vollführt, ihm bereits so viel eingebracht, daß er sich allenfalls »zur Ruhe setzen« konnte, wenn nicht etwa die zärtliche Fürsorge der Polizei ihm die Disposition über seine Zukunft entzog. Diese unbequeme Behörde hatte wenigstens zu wiederholten Malen die unzweideutige Absicht kundgegeben, Herrn Scharnbock sowohl, wie seiner respektablen Gemahlin eine vor allen Stürmen des Lebens geschützte Freistatt zu gewähren, denn der Leumund dieser beiden Persönlichkeiten ließ sie einer derartigen Auszeichnung würdig erscheinen; leider jedoch mußte die Polizei es auch hier, wie in tausend anderen Fällen, bei dem guten Willen bewenden lassen. Herr Scharnbock verstand es vortrefflich, die Gesetzesparagraphen, welche gewisse Handlungen mit Zuchthaus bestrafen, zu umgehen und er blieb deshalb unbehelligt in seiner »Burg« und betrieb nach wie vor die Hehlerei, sowie den empörenden Menschenhandel schwunghaft.
Elfte+ Kapitel. Ein Scauderdrama.
S
ie weigern sich also mit Entschiedenheit, mich in Ihr Geheimniß einzuweihen?« fragte Doctor Joszay, roth vor Zorn, den alten Ferencz, der halb zusammengesunken vor ihm saß. 330
»Ja, das thue ich,« gab Ferencz trotzig, aber doch mit unverkennbarer Angst zur Antwort. »Nie und nimmer werden Sie von mir dieses Geheimniß erfahren.« Des Doctors Gesicht verhieß nichts Gutes. »Ich werde es herausbekommen,« knirschte er. »Da Sie so verblendet sind, es mir vorenthalten zu wollen, so werde ich Sie zwingen, es zu offenbaren.« »Thun Sie, was Sie wollen. Es giebt noch eine Gerechtigkeit, die auch Sie dereinst ereilen wird.« »Gerechtigkeit?« höhnte Doctor Joszay. »Sie vergessen wohl, daß wir tief in Ungarn sind, das will sagen, in dem Lande, wo die Gerechtigkeit nur als Popanz für unartige Kinder und Bauernlümmel gebraucht wird, wo hingegen Leute, die Macht und vornehmlich Geld haben, diesem Popanz ungenirt in das Gesicht schlagen dürfen. Sie vergessen ferner, daß Sie in einer Irrenanstalt sich befinden, die unter meiner Leitung steht, in welcher ich souveräner Herr bin; denn es sollen zwar jährlich mehrere Inspectionen der Anstalt stattfinden, in Wirklichkeit jedoch kommt alle fünf Jahre kaum eine Controle vor, und wenn ich es wünsche, fällt auch diese fort. Ich schenke Ihnen reinen Wein ein, damit Sie Ihre thörichten Voraussetzungen fahren lassen und sich meinem Willen fügen. Erwägen Sie nochmals genau meinen Vorschlag. Sie enthüllen mir das Geheimniß, wir reisen dann gemeinsam unverzüglich nach Wien, erpressen von der Gräfin eine große Summe und theilen es redlich. – Nun, wollen Sie?« »Nein,« rief Ferencz entschlossen. »Sie würden das Geheimniß verwerthen und ich hätte das Nachsehen.« 331
Der Doctor gerieth in eine ganz unbändige Wuth hinein. Er sprang auf, schlug den alten Mann in das Gesicht und schrie mit rauher Stimme: »Alter, eigensinniger, hirnverbrannter Schwachkopf! Du wagst es, mir zu trotzen? Ich werde Dir beweisen, daß es Mittel genug giebt, um selbst den starrsten Eigensinn zu brechen.« Er rannte hinaus. Ferencz blickte, wie nach Hülfe suchend, im Zimmer umher. Der trotzige Ausdruck in seinem Gesichte wich trostloser Verzweiflung. Er faltete die Hände, wie zum Gebet, aber er wandte sich nicht an den Rächer über den Wolken. Gab es denn einen? Fast bezweifelte er es. Wie unsagbare Qualen hatte er in der fluchwürdigen Anstalt des unmenschlichen Arztes schon erlebt, wie unendlich oft hatte er Gott um Hülfe, Errettung angefleht! Sein Gebet hatte keine Erhörung gefunden. Er war von Gott und Menschen verlassen, dem Tiger in Menschengestalt erbarmungs- und schutzlos preisgegeben. Ein furchtbar bitteres Gefühl übermannte ihn; eine Thräne stahl sich aus seinem Auge. Doch bald faßte er sich wieder und nahm sich nochmals vor, das kostbare Geheimniß unter keinen Umständen preiszugeben. Der Arme! Er sollte bald gewahr werden, daß die teuflische Bosheit entmenschter Scheusale Mittel zu ersinnen und anzuwenden im Stande war, die selbst einen eisernen Willen hätten wankend machen müssen. Nach wenigen Minuten kehrte Doctor Joszay in Begleitung seines Wärters, der seinen Gebieter an Grausamkeit und Tücke noch übertraf, zurück. Der Letztere hatte eine 332
Stearinkerze in der Hand. Der Director fragte mit drohendem Tone: »Haben Sie sich noch nicht eines Besseren besonnen?« »Nein,« gab der Greis, trotzdem das Entsetzen ihm alles Blut aus dem Antlitze getrieben hatte, entschlossen zur Antwort. »Dann nimm ihn, Rosza,« rief Joszay dem Schergen zu. Einem Bluthunde gleich, der, wenn er von der Koppel losgelassen wird, sich zähnefletschend auf sein Opfer stürzt, um es in Stücke zu reißen, so warf sich der Cerberus auf den unglücklichen Greis, welcher keinen Versuch machte, sich zur Wehre zu setzen, weil er schon wiederholt erfahren hatte, daß seine Kraft der Riesenstärke des Wärters nicht im Entferntesten gewachsen wäre. Der Unhold riß dem alten Manne die Kleider vom dem Körper, schnürte ihm die Handgelenke zusammen, warf das lose Ende der Leine durch einen an der Decke befindlichen Haken und zog den Unglücklichen so hoch empor, daß nur noch dessen Zehe den Boden berührten. Dann zündete er die Kerze an und hielt die Flamme dem Greise unter die Achselhöhlung des linken Armes. Nach wenigen Sekunden verbreitete sich ein durchdringender Geruch von dem verkohlenden Fleische im Zimmer, der bald so heftig wurde, daß die Unmenschen Hustenreiz empfanden. Ferencz biß die Zähne in die Lippe, daß das Blut heraussprang; sein Körper wand sich in convulsivischen Zukkungen, doch gab er keinen Laut von sich. Was hätte ihm es auch genutzt, wenn er aufgeschrieen haben würde? In diesem Hause des Schreckens erschallte fast an jedem Tage 333
das Geheul der Tobsüchtigen oder Derer, welche der verruchte und vollständig zur Bestie gewordene Wärter peinigte. Ferencz wollte nicht schreien; er wollte stark sein, den Unholden den Triumph, ihm das Geheimniß abgezwungen zu haben, nicht gönnen, aber die Flamme brannte tiefer und tiefer; der Schmerz, durch die Anspannung der Muskulatur noch erhöht, wurde immer rasender und schließlich unerträglich groß. Mit dem Aufgebote der letzten Kraft schrie der Unglückliche: »Laßt mich los! Ich will Alles sagen,« dann umnachteten sich seine Sinne. »Nimm ihn herab,« gebot Doctor Joszay. Es geschah. Der zuckende Körper wurde auf das Sopha gelegt und der Arzt bestrich die verkohlte Stelle mit einer bereitgehaltenen Salbe, während der Wärter sich bemühte, den Bewußtlosen durch Einflößen starker Reizmittel zum Bewußtsein zurückzubringen. Das gelang. Nach einigen Minuten schlug der Greis die Augen auf; ein Schauer des Entsetzens schüttelte seinen Körper, als sein erster Blick die beiden Scheusale traf. » «Nun, mein Guter, Sie haben sich also anders besonnen?‘« fragte hämisch Doctor Joszay. »Ich sagte es Ihnen ja im Vorhinein. Sie hätten sich die Qualen, welche Ihnen der verbrannte Arm nun wochenlang bereiten wird, ersparen können, aber Sie waren thöricht genug, Ihren eigensinnigen Willen durchsetzen zu wollen. Immerhin haben Sie klug gethan, sich noch rechtzeitig zu besinnen, denn Ihr Arm ist jetzt noch nicht so arg lädirt, daß er nicht geheilt werden könnte; wäre jedoch der Knochen vom Feuer angefressen worden, dann hätten Sie in die Grube fahren 334
müssen, aber erst, nachdem Sie Monate hindurch die gräßlichsten Qualen erduldet haben würden. Und nun, Schätzchen, trinken Sie einen Schluck Wein und dann schütten Sie Ihr Herz aus.« Ferencz schien dazu indeß keine Lust zu haben, so wenigstens ließ der Ausdruck seines Gesichts vermuthen. Der Doctor, welcher den Zug der neu erwachenden Widerspänstigkeit auf dem Antlitze seines Opfers sofort bemerkte, schrie wild: »Hüten Sie sich, mich noch länger hinzuhalten. Ich lasse Sie auf einen glühenden Rost legen und lebendig braten, wenn Sie mich durch abermalige Hartnäckigkeit reizen. – Treffen Sie unverzüglich Ihre Wahl; entweder Sie theilen mir das Geheimniß mit –« »Ich will es thun,« sagte Ferencz tonlos. »Geh hinaus, Rosza,« gebot Joszay nun dem Wärter, der auch willig gehorchte. »Erst trinken Sie,« sagte der Doctor, »damit Sie Kraft gewinnen, und dann die Beichte.« Nach Verlauf einer halben Stunde verließ Doctor Joszay das Zimmer, zufrieden schmunzelnd. »Das Geheimniß ist ein Vermögen werth,« murmelte er. »Kann’s dem Alten nicht verargen, daß er damit nicht herausrücken wollte. Nun, ich kann das Geld auch brauchen, – es fängt mir an, unheimlich in Ungarn zu werden. Das Ministerium in Pest muß Allerlei erfahren haben und mir ahnt, daß Unheil gegen mich heraufzieht. Da kommt mir diese Enthüllung prächtig zu Statten. Morgen früh reise ich nach Wien; will die Gräfin nicht einen an335
gemessenen Preis zahlen, dann wird’s der Erbprätendent sicher thun. Das ist über jeden Zweifel erhaben. Wie sollte er nicht; mit dieser Waffe muß er sich den Sieg in allerkürzester Frist erkämpfen. Doch meine ich, wird die Gräfin ebenfalls eine hübsche Summe daran wenden, um das Geheimniß nicht ruchbar werden zu lassen … halt, da fällt mir eine köstliche Idee ein! Wie wäre es, wenn ich Beiden das Geheimniß verkaufte? Wahrhaftig, das ist ein vorzüglicher Einfall. Ich gehe in’s Ausland und lache mir in’s Fäustchen. Hi, hi, hi.« Er lachte schon jetzt und war so ganz in die Ausspinnung seines schuftigen Projektes vertieft, daß er nicht gewahrte, wie Rosza ihm mit seltsam verschmitztem Gesichte nachblickte und ebenfalls lächelte. In seiner Wohnung, die in einem hübschen, im Hintergrunde des zur Anstalt gehörigen Gartens gelegenen Pavillon sich befand, packte der würdige Director sein Baarvermögen, welches er in einem eisernen Kasten aufbewahrte, in einen Handkoffer, dann trank er hastig mehrere Gläser des schweren Tokayer und streckte sich angekleidet auf das Kanapee nieder. Ferencz wand sich ächzend auf dem Sopha, fluchte und betete in einem Athem und wünschte sich augenblicklichen Tod, um seiner Qual ledig zu werden, plötzlich wurde er still, beugte den Oberkörper weit vor, seine Augen funkelten unheimlich. Sein Blick war auf ein großes Taschenmesser getroffen, welches mitten im Zimmer lag und dessen dolchartige Klinge im Scheine der Lampe blitzte. Als Rosza ihn vom 336
Haken herabnahm, hatte er sich dieses Messers bedient, um die Leine zu durchschneiden. Da er den Ohnmächtigen zum Sopha tragen mußte, so hatte er das Messer fallen gelassen und später vergessen, es einzustecken. Der Greis wurde auf einmal ein ganz anderer. Seine Hinfälligkeit verschwand, wie durch Zauberei gebannt. Mit einem Satze sprang er auf die Beine, eilte elastischen Schrittes zur Thür und lugte durch das in derselben befindliche Guckloch hinaus, um sich zu überzeugen, daß der Wärter nicht in der Nähe. Dann raffte er das Messer auf und versteckte es in einer Fuge des Sophaüberzuges. Darauf legte er sich wieder hin und stöhnte laut. Zuweilen jedoch hielt er inne und dann verzerrte ein infernalisches Lächeln seine abgelebten Züge. Wäre in solchen Momenten ein Menschenkenner und Psychologe im Zimmer gewesen, dann hätte er wohl das Urtheil gefällt, daß der alte Mann unmittelbar vor jener Grenze stehe, nach deren Überschreitung das Licht des Verstandes in der ewigen Nacht des Wahnsinns untergeht. Er würde ferner nicht haben zweifeln können, daß Ferencz über einem entsetzlichen Plane brüten müsse, denn der alte Mann grinste und kicherte zeitweilig, um gleich darauf sich, heulend vor Schmerz, in convulsivischen Zuckungen zu krümmen. Ein schauriger Gegensatz! Der Wärter bekümmerte sich nicht um den Gefolterten; er beschäftigte sich mit Dingen, die ihm ungleich wichtiger waren, als die Sorge um den Leidenden, nach welchem ja ohnehin kein Hahn krähte. Merkwürdiger Weise packte auch er einige Gegenstände in eine Reisetasche, ebenso 337
seine Ersparnisse, dann nahm er gleichfalls einen tüchtigen Trunk zu sich, doch nicht Wein, sondern Schnaps und legte sich vollständig angekleidet auf das Sopha, nachdem er noch den Wecker der Schwarzwälder Uhr so gerichtet hatte, daß derselbe um vier Uhr Morgens seine Schuldigkeit thun mußte. Verglich man sein Gebahren mit dem des Directors, dann fand man eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Treiben einer Katze, die einer Maus auflauert, heraus. Die im Giebel des Hauses angebrachte Uhr kündete mit heller Stimme den Ablauf der Stunden an. Je weiter die Nacht vorrückte, um so seltsamer wurde das Gebahren des alten Ferencz. Er fuhr zuweilen auf, sprang und tanzte im Zimmer umher, schüttelte drohend die Faust nach der Richtung hin, in welcher das Wohnhaus des Directors lag, fletschte wie ein wüthender Hund die Zähne, lachte heiser und verdrehte in erschreckender Weise die Augen. Als die Mitternachtsstunde vergangen war, stieß er ein leises Geheul aus, das nichts Menschliches an sich hatte, schlich zur Thür und blickte durch das Guckloch. Dann öffnete er die Thür und lauschte hinaus; kein Laut ließ sich hören. Nun eilte der Alte an bas Sopha zurück und zog das Messer vor, drehte es unterhalb der Ampel nach allen Seiten und liebäugelte mit der funkelnden Klinge. Nachdem er dieses Spiel einige Minuten getrieben, huschte er hinaus. Die gräßlichen Vorsätze, denen er nachhing, nahmen ihn so ganz in Anspruch, daß er nicht einmal daran dachte, seinen halbnackten Körper zu bekleiden; wahrscheinlich fühlte er die Kälte gar nicht. 338
Die Corridore und Treppen der Anstalt waren mit Dekken belegt. Trotzdem mithin kein Schritt zu hören war, schlich der Greis, als er in die Nähe des Wärterzimmers kam, doch nur auf den Zehen weiter. An der Thür hielt er horchend still. Die tiefen Athemzüge Roszas waren deutlich vernehmbar. Ferencz Rechte umklammerte fester den Griff des Messers, seine Linke streckte er nach der Thür aus, doch mit einem plötzlichen Entschlusse zog er sie wieder zurück, wiewohl der Ausdruck seines Gesichtes bekundete, daß es ihm nicht leicht wurde, der Versuchung Widerstand zu leisten. »Zunächst kommt der Erzbösewicht an die Reihe,« murmelte er, indem er weiter schlich. »Der da d’rin hat zwar auch den Tod verdient, aber er kennt das Geheimniß nicht. Der Doctor muß deshalb früher fort, als dieser Bluthund. Entgehen wird mit Keiner von Beiden. Ich werde Abrechnung mit ihnen halten und ich meine, daß sie dabei schlechter wegkommen werden, als ich. Hi, hi, hi.« Bald war er in der geräumigen Hausflur angelangt; hier stellte sich seinem weiteren Vordringen ein Hinderniß entgegen. Sowohl die Hausthür, wie die Hofthür waren versperrt, und in keiner steckte der Schlüssel. Den zur Hofthür nahm der Doctor mit in seine Wohnung, wenn er Abends die Anstalt verließ, aber der zur Hausthür mußte sich aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Zimmet des Wärters befinden. Ferencz schlich zurück und drückte behutsam die Klinke abwärts. Die Thür öffnete sich geräuschlos, wie Jede andere im Hause. Schritt vor Schritt ging der Greis vorwärts, 339
immer bereit, sich auf den Wärter zu stürzen, wenn derselbe etwa erwachen würde. Doch Rosza schlief ruhig fort. Gegenüber von seinem Lager hingen an einem Brette mehrere Schlüssel; sie gehörten zu den Zimmern der Irren. Die Thüren dieser Stuben wurden fast immer verschlossen gehalten, außerdem noch durch vorliegende Eisenstangen sicherer verwahrt. Ferencz’ Zimmer zu sperren hatte Rosza vergessen, vielleicht auch hatte er gewähnt, daß der Greis viel zu krank und schwach sei, um das Lager verlassen zu können. Den größten unter den Schlüsseln nahm Ferencz an sich und huschte wieder hinaus, die Treppe hinab. Er hatte es gut getroffen; der Schlüssel paßte zu dem Schlosse der Hausthür. Als der alte Mann in’s Freie trat und der scharfe Wind seinen entblößten Oberkörper traf, schauerte er doch zusammen und schien einen Augenblick zu schwanken, ob er weiter gehen, oder in das Haus zurückkehren solle, um sich zu besinnen. Doch er entschied sich schnell für das Erstere; der Durst nach Rache war so heftig, daß er unverzüglich gestillt werden mußte. Hurtig, doch stets bemüht, ein lautes Geräusch zu vermeiden, durchschritt Ferencz den Garten. Als er dem Wohnhause des Directors nahe gekommen war, ging er äußerst behutsam, den Blick unverwandt auf die Fenster eines hell erleuchteten Zimmers gerichtet. In demselben vermuthete er den Director und fürchtete, daß derselbe noch wach sei, zufällig an das Fenster treten und ihn entdecken könne. Er kroch deshalb die letzte Strecke auf Händen und 340
Füßen, das Messer im Munde tragend. Endlich war er an der Hausthür angekommen. Vorsichtig drückte er auf die Klinke und machte die Entdeckung, daß die Thür verschlossen war. Dieses unerwartete Hinderniß machte ihn so wild, daß er sich vergaß und einen heftigen Fluch ausstieß. Erschrocken drückte er sich in die Thürnische und lauschte, ob der Director ein Fenster öffnen und hinausspähen würde. Als das nicht geschah, trat Ferencz weniger behutsam auf den runden Rosenplatz vor dem Hause. Fortse~ung folgt.
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enn er mich nicht gehört hat, « wisperte er, » dann muß er schlafen. Mög‘ er nun aber wachen oder nicht, so werde ich ihn niederstechen, wie einen tollen Hund. Wenn ich nur eine Leiter fände. – O! « Er stieß einen Ausruf freudiger Überraschung aus, denn als er sich dem Hause zuwandte, bemerkte er, worauf er früher gar nicht geachtet, daß er ziemlich bequem bis zur Schlafstube des Doctors hinaufkönne. An der ganzen Fronte des Hauses entlang zog sich nämlich ein Weinspalier, welches bis zum ersten Stockwerke hinaufreichte. » Nun ist er in meiner Gewalt, « jubelte Ferencz. » Hölle, freue Dich! Nach wenigen Minuten erhältst Du eine schwarze Seele mehr.« 342
Der Drang nach Rache wirkte jetzt so mächtig, daß der alte Mann jede Vorsichtsmaßregel außer Acht ließ. Er nahm das Messer wieder in den Mund und kletterte, die fühlbaren Schmerzen, welche der linke Arm ihm bereitete, verbeißend, am Spalier empor. Bald war er so hoch oben, daß er in das Zimmer zu blicken vermochte. Er gewahrte nun, daß der Director angekleidet auf dem Sopha lag und eine tüchtige Libation vor dem Niederlegen vollzogen haben müsse, weil mehrere geleerte Weinflaschen auf dem Tische standen. »Er schläft fest,« murmelte Ferencz, dessen Erregung immer wilder wurde, »doch ich werde ihn schon aufwecken. Er soll doch wenigstens erfahren, wer ihn in das Jenseits befördert, und einige Minuten hindurch muß er auch Todesangst ausstehen, denn sonst ist die Strafe viel zu mild.‘« Nach dieser Erwägung faßte er das Messer an der Klinge, schlug schnell nacheinander an zwei Stellen die dem Fensterriegel nächste Scheibe ein, griff mit der anderen Hand durch das Loch, wirbelte den Riegel auf und öffnete einen Flügel. So schnell das Alles aber auch vor sich ging, die Zeit einer Minute nahm es doch in Anspruch und während dieser einen Minute gelang es dem Doctor, sich den Banden des Schlafes zu entreißen. Entsetzt, mit weit aufgerissenen Augen starrte er nach dem Fenster, durch welches eben Ferencz hineinkletterte, dann riß er einen der beiden Revolver, die auf dem Tische lagen, an sich und schoß. Die Kugel traf den Greis unterhalb des Herzens in die Brust. 343
Ein Strahl von Blut schoß mit Macht aus der Wunde. Als Ferencz das Blut sah, stieß er einen Schrei aus, bei dessen Klange den Doctor ein Schauer des Entsetzens schüttelte. Sein Grausen erreichte den Gipfelpunkt, als er die furchtbare Veränderung, welche das Gesicht des alten Mannes erlitt, gewahrte. Aus den Mienen und Augen leuchtete ein unheimliches Etwas, welches dem Arzte keinen Zweifel ließ, daß das unglückliche Opfer seiner Unmenschlichkeit dem Wahnsinne zur Beute gefallen sei und daß ein Ausbruch der Tobsucht sogleich erfolgen müsse. Abermals feuerte er einen Schuß ab, doch die Kugel verfehlte das Ziel, denn Ferencz, dem die ausbrechende Raserei eine Riesenkraft verlieh, war, als Doctor Joszay den Revolver erhob, zur Seite gesprungen und stürzte sich nun mit Blitzesschnelle auf den Unhold. Ehe derselbe Zeit gewann, sich ganz aufzurichten und nach dem Wahnsinnigen zu kehren, war Ferencz am Sopha und stach dem heulenden Arzte das Messer zunächst in den rechten Arm, sodaß Joszay den Revolver fallen lassen mußte. Im nächsten Augenblicke hatte der Rasende ihn auf das Sopha niedergedrückt und war auf ihn geklettert Der Arzt, ein kräftiger Mann, dessen Kräfte die Todesangst verdoppelte, machte gewaltige Anstrengungen, den Tobsüchtigen von sich zu schütteln, – umsonst. »Hu, hu, hu,« lachte gräßlich der Greis, »nun bist Du in meiner Macht, Schätzchen. Fürchte Dich nicht; Dir soll Nichts weiter geschehen, als das, was Du verdient hast. Ich will Dich nur verhindern, die armen Irren zu peinigen und vernünftige Menschen durch Foltern verrückt zu machen. 344
Und weißt Du, wie ich das anstelle? Ich werde Dir es sogleich zeigen. Wenn Du blind bist, kannst Du schon viel weniger schaden, und darum will ich Dir die Augen ausstechen. zuerst das rechte –« Er führte seine schreckliche Androhung sofort aus. Der Arzt schrie so grausig, daß einem vernünftigen Menschen das Blut erstarrt wäre, aber dem Irren entlockte das Geheul ein lautes Gelächter. »Thut’s weh, Schätzchen?« jauchzte er. »O wie mich das freut; nun wirst Du doch empfinden, wie’s schmeckt, wenn man Einen martert. Warte, warte. Jetzt kommt das andere Auge an die Reihe. Streck’ doch nicht die Hände aus; die schneide ich Dir erst später ab, wenn ich Dir das Auge und die Ohren und die Nase und die Zunge geraubt haben werde. Hu, hu, hu, wie das Schwein sich windet; gefällt ihm nicht, abgeschlachtet zu werden …« Während der Rasende den Arzt in der gräßlichsten Weise verstümmelte, ereigneten sich wichtige Dinge am anderen Ende der Irrenanstalt. Der Wärter war durch den Schuß aus dem Schlafe geweckt worden; er richtete sich halb auf und lauschte ungewiß, ob er auch nicht etwa nur geträumt habe. Da schallte ein zweiter Schuß durch die Nacht und unmittelbar darauf das grausenerregende Geschrei des Directors. Nun sprang Rosza mit Gedankenschnelle empor und stürzte auf den Corridor, wo er alsbald gewahrte, daß die Thür zu Ferencz’ Zimmer offen stehe. Er sprang wieder in seine Stube zurück und nahm auf den ersten Blick wahr, daß der Hausschlüssel fehle. Es wurde ihm sogleich klar, was sich zuge345
tragen haben müßte. Rasch steckte er die beiden Revolver, welche ihm zur Disposition standen, zu sich und rannte in die Hausflur hinunter. Im Begriffe, durch die weit offenstehende Thür zu stürzen, blieb er plötzlich wie gebannt stehen, denn an das Thor, das nur eine kurze Strecke von der Anstalt entfernt sich befand, wurde mit Macht angepocht und eine gewaltige Stimme rief: »Aufgemacht! Im Namen des Königs!« Der Wärter erschrak. Ihm war sehr wohl bekannt, daß die Anstalt eines schlechten Rufes genoß, trotzdem jedoch war in den Jahren, während deren er als Wärter fungirte, Doctor Joszay noch nie mit einer Behörde in Conflict gerathen. In sehr langen Zwischenpausen stellte sich allerdings eine Commission ein, welche den Zustand der Anstalt prüfen sollte, doch waren diese Inspectionen stets sehr harmlos verlaufen. Die Herren gingen durch die Zimmer, in welche der Director sie führte, beguckten sich den Garten, waren erfreut über den schönen Blumenflor und folgten dann mit Vergnügen einer Einladung Joszays zu einem splendiden Frühstück. Nachdem dasselbe eingenommen war, nahmen die Herren der Commission, die sich dann regelmäßig in recht angenehmer Stimmung befanden, in der freundschaftlichsten Weise Abschied vom Director und schieden mit der Überzeugung von dannen, daß die Irrenanstalt Doctor Joszays ein vorzüglich geleitetes Institut sei, wie das bei der Liebenswürdigkeit des Dirigenten ja auch gar nicht anders möglich wäre. Wenn nun jedoch die Polizei Veranlassung nahm, der Anstalt einen Besuch abzustatten, dann mußten Gründe 346
sie dazu bewogen haben, die eine genaue Inspection dringend nothwendig erscheinen ließen, und eine polizeiliche Rundschau mußte, wie Rosza sogleich einsah, nicht nur dem Director, sondern auch ihm sicheres Verderben bringen. Ihm erschien es daher am gerathensten, sich heimlich zu entfernen. Aber wie ließ sich das bewerkstelligen? Nur zwei Thore gestatteten den Austritt aus der Anstalt, das Gartenthor und das Einfahrtsthor im Hause Joszays. Doch ließ sich als gewiß annehmen, daß das Wohnhaus von Wächtern beobachtet wurde. Rosza konnte deshalb nur den Weg über die Mauer nehmen, vorausgesetzt, daß nicht etwa auch diese bewacht würde. Hurtig verfügte er sich nach seinem Zimmer, raffte die Reisetasche auf und eilte in den Garten zurück. Unfern der Anstalt befand sich ein Schuppen, in welchem der Transportwagen, die Kutsche des Directors und Feuerlöschgeräthschaften, sowie mehrere Leitern untergebracht waren. Eine der letzteren hob Rosza von den Haken herab und schleppte sie keuchend bis zu einer Stelle der Mauer, welche sich zum Fluchtversuche am besten eignete. Sie lag von der Anstalt wie vom Wohnhause ziemlich weit entfernt und befand sich einem Walde gegenüber, dessen äußerste Ausläufer ihr bis auf hundert Schritte nahe standen. Behutsam lehnte der Wärter die Leiter an die Mauer, doch in der Weise, daß sie nicht darüber hinausragte, und lauschte. Mit Entsetzen vernahm er, daß auf der anderen Seite ein Mann mit langsam gemessenem Schritte hinging; das konnte nur ein Pandur sein. Als derselbe an Roszas Standpunkte vorübergeschritten war, erklomm Rosza die Leiter 347
mit Anwendung der äußersten Vorsicht. Der Pandur war noch nicht zurückgekehrt, trotzdem wagte Rosza nicht, hinabzuspringen, weil der Wächter des Gesetzes ja unfern von ihm auf der Lauer stehen konnte. Er wollte ihn deshalb erst wieder vorbeigehen lassen, ihm nachspähen und wenn er die Überzeugung gewonnen, daß derselbe sich weit genug entfernt habe, um ihn nicht einholen zu können, den Sprung wagen. Minuten vergingen, für Rosza eine Ewigkeit, ehe der Pandur zurückkam. Als er vorbeipassirt war, hob der Wärter sich empor und lugte über die Mauer. Der Pandur ging langsam weiter. Nun maß Rosza die Höhe der Mauer und eine Empfindung der Bangigkeit bemächtigte sich seiner, denn die Tiefe war ziemlich beträchtlich, sodaß ein Sprung selbst einem so beherzten Manne, wie der Wärter war, bedenklich vorkommen mußte. Aber er mußte gewagt werden. Rosza hatte nur die Wahl zwischen langjährigem Zuchthausdasein oder dem Wagstücke des Sprunges, der ja auch gelingen und ihm zur Sicherung der Freiheit behülflich sein konnte. Noch einen Blick warf der Flüchtling auf den Panduren. der bis nahe zur Mauerecke angelangt war und jeden Augenblick:umkehren konnte. Rasch entschlossen trat Rosza auf die Mauerkrone, schloß die Augen und lag im nächsten Augenblicke auf dem Acker; zu seiner Freude fühlte er, daß er sich keinen Schaden gethan. Behend erhob er sich; er durfte keinen Moment verlieren, denn der Pandur hatte ihn bereits wahrgenommen, und kam eiligst herbeigerannt. »Halt!« schrie er dem davoneilenden Wärter nach. »Steh still, oder ich schieße Dir eine Kugel in den Leib!« 348
Doch Rosza achtete dieser Drohung nicht; schnell, wie ein gehetztes Reh, schoß er vorwärts und kam binnen wenigen Minuten dem Walde ganz nahe; noch einige Schritte und er war im Dunkel desselben geborgen. Da knallte der Schuß und Rosza stieß einen Ausruf der Wuth und des Schmerzes aus; die Kugel hatte seinen linken Arm getroffen. Trotz des heftigen Schmerzes hielt er nicht im Laufe inne und erreichte das Dickicht, ehe der Pandur einen zweiten Schuß abfeuern konnte. Im Gebüsche warf er sich nieder und kroch eine Strecke auf dem Boden hin. Darauf erhob er sich und ging behutsam in dem Hochwald weiter. Nachdem er eine gehörige Distanz zwischen sich und den Panduren gebracht hatte, setzte er sich auf das Moos und sah nach der Wunde. Die Kugel war in den Oberarm gedrungen, hatte aber nicht den Knochen verletzt, wie Rosza, der dem Doctor Joszay Mancherlei abgelernt hatte, erkannte. Die Verletzung war also nicht gefährlich, wenn auch schmerzhaft. Doch war der robuste Wärter im Stande, die Wanderung weiter fortzusetzen, nachdem er ein Tuch um die Wunde gelegt hatte. Während Rosza seine Flucht mit glücklichem Erfolge bewerkstelligte, hatte das Schauerdrama in der Anstalt seinen Abschluß gefunden. Zunächst freilich erhob sich ein Lärm, als wenn die Hölle ihre Geister losgelassen hätte. Die Irren, aufgeschreckt durch die Schüsse, das Geheul des Directors und das gewaltige Pochen der polizeilichen Commission, stimmten ein fürchterliches und anhaltendes Geschrei an und bearbeiteten die Thüren ihrer Zellen aus Leibeskräften mit Händen und Füßen. Dagegen erstarb das Jammerge349
schrei des Directors mehr und mehr. Der einzige Mann, welcher außer ihm und Rosza in der Anstalt wohnte, der Kutscher, hatte nicht gewagt, ihm zur Hülfe zu eilen, sodaß der Arzt dem schauervollsten Loose anheimfiel. Die Commission hingegen eilte um den Garten herum und fand sofort Einlaß in das Wohnhaus, da die Dienstmägde bereits die Thür aufgeschlossen hatten und voller Todesangst hinausstürzen wollten. Die Commission bestand aus mehreren Polizeibeamten der Hauptstadt, den Schwiegersöhnen des alten Ferencz, sowie aus Bruno und Johannes. Die vier jungen Männer hatten in Pest mit dem Beistande eines der vorzüglichsten Advocaten die Absendung einer Commission zur Inspection der Joszay’schen Anstalt und zur Verhaftung des Directors, wenn dieselbe sich als geboten erweisen sollte, durchgesetzt. Die fünf Männer, denen sich der Kutscher anschloß, fanden die Thür zu dem Schlafzimmer des Arztes versperrt. Doctor Joszay hatte sie, wie es seine Gewohnheit, zugeschlossen, sie mußte mithin gesprengt werden. Eine von den Mägden brachte schleunigst ein Küchenbeil herein und bald lag die Thür in Trümmern auf dem Boden. Ein grauenhafter Anblick bot sich den Eindringenden dar. Doctor Joszay, der in wahrhaft eutsetzlicher Weise zugerichtet war, lag in den letzten Zügen, aber auch Ferencz, durch den starken Blutverlust ganz entkräftet, rang mit dem Tode. Man brachte ihn alsbald in eine Lagerstatt und suchte ihn mit Anwendung aller nur erdenklichen Sorgfalt zu 350
retten, doch diese Bemühungen waren von keinem günstigen Erfolge gekrönt. Die Schwäche machte reißende Fortschritte und keinem der Männer konnte ein Zweifel daran bleiben, daß die Augenblicke des unglücklichen Greises gezählt seien. Mit unsagbarem Entsetzen gewahrten die Mitglieder der Commission die verkohlte Stelle des linken Armes, die, wie ihnen nicht zweifelhaft blieb, nur von einer Tortur herrühren konnte, und Jedes von ihnen bemächtigte sich eine Regung des tiefsten Abscheus vor dem unmenschlichen Director, der jedes sanfteren Gefühls bar gewesen zu sein schien. Wie furchtbare Qualen mußte der Greis gelitten haben, daß ihm dieselben den Verstand zu rauben vermocht hatten, denn daß dies geschehen, konnten die Männer als sicher annehmen, weil nur die Tobsucht dem alten schwachen Manne eine solche Riesenstärke, wie er sie zur Ausführung seines Rachewerks gebraucht hatte, verliehen haben konnte. Aus dem Gebahren des Greises hätten sie es freilich nicht zu erkennen vermocht, denn Ferencz lag mit geschlossenen Augen, ganz regungslos, einem Todten ähnlich, da, nur das schwache Zucken des Herzens gab den Commissionsmitgliedern die Gewißheit, daß der Lebensodem noch nicht völlig aus ihm entwichen sei. Wie es nicht selten vorkommt, daß kurz vor dem Hinscheiden die fast erloschene Lebensflamme nochmals aufflackert, so geschah es auch bei Ferencz. Er riß plötzlich die Augen weit auf, krallte die Nägel in die Bettdecke und schrie wild: »Nimm das zum Lohne, Du Bluthund! – Hu, was glotzest Du mich so an? – Kann ich denn diese Tigeraugen 351
nicht ausrotten? – Ha, getroffen! Eins ist weg und –« Er versank wieder in Lethargie, doch nur für kurze Zeit, dann rief er halblaut: »Er hat die Strafe verdient; es ist noch viel zu milde; doch, was ich gesäumt, wird die Hölle schon nachholen. – O, wie er mich gefoltert hat! – Und ich habe ihm doch nicht Alles gesagt. – Daß die Deutsche noch lebt und wo sie verborgen gehalten wird, hat er freilich erfahren, aber das andere, noch wichtigere Geheimniß … wenn der junge Graf doch da wäre, der Sohn der Deutschen! Ich würde ihm verrathen, wie er beweisen kann, daß er der echte Graf ist – Hinter dem neunten Pfeiler müßte er suchen, – da würde er die Documente finden – –.« Alle hatten in athemloser Spannung gelauscht; als der Sterbende nun erschöpft innehielt, beugte Bela sich zu ihm nieder und fragte: »Wo befindet sich der neunte Pfeiler, lieber Vater?« Ferencz fuhr mit einem Entsetzensrufe jäh empor, starrte mit den verglasten Augen auf den Schwiegersohn und keuchte: »Fort! – Laß mich! – Willst Du mir auch dies Geheimniß entreißen, Du Unhold ? – Gnade, martere mich nicht! – Ich halte es nicht aus. – O wie das schmerzt. – Nimm das Licht weg! – Ich will Alles gestehen!« Er schluchzte leise, dann sagte er mit kaum vernehmbarer, gebrochener Stimme: »Hinter dem neunten Pfeiler – Feder am Stein, – Höhlung – Kasten – Kolomans Aufzeichnungen im – Schloß.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus und streckte die Glieder. Das Leben war erloschen. 352
Zwölfte+ Kapitel. Bange Tage.
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ucie schlug die Augen auf und blickte verwundert um sich. Sie sah einen sehr engen, niedrigen Raum mit zwei Fenstern, einem an jeder Seite, die nur aus einer einzigen, noch dazu zwerghaften Scheibe bestanden, einer schmalen Thür und mit einem Meublement, das nur aus zwei Lagerstätten, einem kleinen Tische, zwei Schemeln und einer Holzkiste zusammengesetzt war. Auf einem der Schemel saß eine ältliche Frau, in die Lectüre einer Zeitung vertieft. Wo hatte sie dieses Gesicht mit den verschmitzten Mienen und dem unverkennbaren Ausdrucke von Härte und Grausamkeit nur schon gesehen? Und wo befand sie sich eigentlich? Was war das für ein Raum, wie sie einen ähnlichen in ihrem Leben noch nicht geschaut? War sie denn aus ihrer Wohnung geholt worden? Was hatte sich mit ihr zugetragen? War sie krank? Woher rührte der heftige Kopfschmerz und der häßliche Geschmack in der Kehle, den sie lebhaft verspürte ? Diese und noch viele andere Fragen drängten sich ihr binnen wenigen Augenblicken auf, bis sie sich ein wenig sammelte und nur die hauptsächlichste in Betrachtung zog: »Was hatte sich mit ihr zugetragen?« Angestrengt sann sie nach und allmälig fiel ihr eine Einzelnheit der Ergebnisse, die sie durchgemacht, nach der anderen ein. Auch dessen entsann sie sich schließlich mit Schaudern, daß dieses Weib mit den gemeinen Zügen jene Person war, welche ihr in dem Hause, wohin man 353
sie gelockt, die mit einem Einschläferungsmittel versehene Chocolade gereicht hatte. Nur über den seltsam genug sich präsentirenden Ort, in welchem sie sich jetzt befand, vermochte sie sich nicht sofort klar zu werden. Was hatte nur das unaufhörliche leise Rauschen rings umher zu bedeuten? Und dann erschien es ihr, als ob der Raum sich fortbewege, obwohl sie auch wieder daran zweifelte, weil sie nicht die mindeste Erschütterung spürte. Doch wie thöricht sie war, sich das Gehirn abzumartern, während sie ja von dem Weibe Auskunft erhalten konnte. Eben schickte sie sich an, die Lesende anzureden, als gar nicht weit von ihr, aber doch merkwürdig dumpf klingend, sich das Geschrei eines Kindes erhob. Lucie hätte darauf geschworen, daß das Kind sich ganz in der Nähe befinden müsse und doch verstand sie seine Worte nicht deutlich, dagegen kam es ihr so vor, als ob sie dieselbe Stimme schon einmal, wenn auch heller klingend, gehört haben müßte. Sie erinnerte sich auch alsbald des Kindes in dem Hause des Schreckens; aber, wie kam das hierher, da es doch das jüngste Kind des Hauseigenthümers sein sollte? Oder befand sie sich etwa noch in diesem Hause, lag vielleicht krank darnieder? Doch nein, sie empfand keine Schmerzen, fühlte sich auch ganz wohl bis auf den unbehaglichen Geschmack, den sonder Zweifel das Schlafmittel erzeugt hatte. Plötzlich erschallten gräßliche Flüche und Verwünschungen, von einer rauhen Männerstimme ausgestoßen, dann wurden schwere dröhnende Schritte laut und Lucie hörte, wie Jemand Anderen zurief: 354
»Kommt ’mal her und helft mir die Steine wegräumen. Wir müssen dem nichtsnutzigen Rangen eine derbe Tracht Prügel verabfolgen, sonst schreit er Stunden lang und lenkt, wenn wir an der nächsten Stadt vorbeikommen, vielleicht die Aufmerksamkeit der Polizei auf uns.« Die Steine wurden zur Seite gelegt; heller und durchdringender schrie das Kind, dem der Mann zurief: Wirst bald ruhig sein, Du Nichtsnutz! – Hans, zieh’ ihm ’mal die Lumpen vom Leib und Du, Jörg, holst mir die Peitsche.« Nach Verlauf einer Minute befahl der Kerl wieder: »Hans, Du hältst ihn bei den Beinen und Du, Jörg, bei den Armen. So, und nun kann der Tanz losgehen.« Der Unmensch schlug nun so lange auf das unglückliche Kind los, bis dasselbe kaum noch im Stande war, zu winseln. Dann gebot er: »Nun legt ihn auf den Boden und laßt ihn liegen. Wir werden fortan wohl Ruhe haben.« »Er blutet aber tüchtig.« »Laßt das bischen Blut nur laufen; es wird schon von selbst aufhören. Wenn der Nichtsnutz auch d’rauf geht, na, dann kräht ja doch kein Hahn nach ihm.« Während dieser furchtbaren Execution hatte das Weib am Fenster aus der Zeitung aufgeblickt, doch machte es keine Miene, dem mißhandelten Kinde Schutz zu bringen, im Gegentheile verzerrte ein bestialisches Grinsen ihr ohnehin unschönes Gesicht derartig, daß Lucie ein Frösteln des Grausens nicht zu unterdrücken vermochte. Sie unterließ, wozu ihr weiches Gemüth sie antrieb, eine 355
Aufforderung an die Megäre, den Knaben aus den Händen seiner entmenschten Peiniger zu befreien, da sie sich sagen mußte, daß eine solche Bitte ihr nur Hohn eingetragen haben würde. Allerdings litt sie schwer; das Geschrei des Kindes zerriß ihr das Herz und als es schwächer und schwächer wurde, ohne daß die wuchtigen Hiebe aufgehört hätten, da hatte Lucie Mühe, sich einer Ohnmacht zu erwehren. Doch war es nicht nur deshalb, weil ihre Bitten voraussichtlich erfolglos geblieben wären, am Besten, wenn sie sich schweigend verhielt, sondern noch aus einem ungleich wichtigeren Grunde. Aus dem Gepolter, welches die Tritte der Männer hervorbrachten, aus dem Umstande, daß Steine in dem ihr so seltsam erscheinenden Hause sich aufgeschichtet befanden, sowie aus manchem anderen Kennzeichen hatte sie die Natur ihres Aufenthaltsortes errathen; sie mußte sich auf einem Schiffe befinden. Wenn ihr noch ein Zweifel an der Richtigkeit dieser Annahme geblieben wäre, so hätte derselbe verschwinden müssen, als nach einigen Minuten ein frischer Wind sich erhob und die Wellen gegen die Wände des Kahnes trieb. So unerfahren Lucie auch war, die Gewißheit drängte sich ihr sofort auf, daß sie einem schlimmen Loose überliefert werden solle. Welcher Art dasselbe sein würde; darüber machte sie sich allerdings eine ganz irrige Vorstellung. Sie hatte vielfach in den Wiener Zeitungen gelesen, daß die Polizei Kupplerinnen, welche junge Mädchen unter glänzenden Vorspiegelungen für die Türkei engagirt hatten, damit indeß nur den Zweck verfolgten, die hübschen Jüngferchcn aus Österreich zu locken, um sie an Ha356
rems oder ägyptische Freudenhäuser zu verkaufen, in Haft genommen habe und wähnte nun, daß ihr ein ähnliches Schicksal wie jenen Mädchen bereitet werden solle. Da sie nun fest entschlossen war, lieber sich dem Tode zu weihen, als einem so schmählichen Leben sich überliefern zu lassen, so faßte sie folgenden Plan: sie wollte sich schlafend stellen. Wahrscheinlich schloß man die Thür der Kajüte nicht. Mitten in der Nacht wollte sie aufstehen, aus der Kajüte huschen und, wenn keine Möglichkeit zur Flucht vorhanden war, sich in die Fluth stürzen. Der Tod im Wellengrabe erschien ihr ungleich begehrenswerther, als das entsetzliche Sclavendasein, dem man, nach ihrer Voraussetzung, sie anheimgeben wollte. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÊË
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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iesem Vorsatze gemäß handelte sie. Die Wärterin hatte noch nicht wahrgenommen, daß ihr Opfer aufgewacht war, sie hatte sich vielmehr, nachdem die Mißhandlung des Kindes vorüber war, wieder in die Zeitungslectüre vertieft. Erst als das Licht in der Kajüte spärlich zu werden begann, legte sie das Journal aus der Hand und warf einen flüchtigen Blick auf Lucie, welche sich regungslos und die Augen geschlossen hielt. Dann stellte sie einen Schnellkocher auf den Tisch, machte Wasser heiß und bereitete sich einen steifen Grog. Kaum verbreitete sich der Duft desselben, als der Eigenthümer der Zille in die Kajüte kam. » Da stelle ich mich ja gerade zur rechten Zeit ein, « meinte er grinsend. » Oder bekomme ich keinen Tropfen? « 358
»Bleiben Sie nur da und trinken Sie mit! Mir wird ohnehin die Zeit unerträglich lang. Wann kommen wir nach Hatvan?« »Morgen Vormittag. Wir legen jedoch nicht in dem Dorfe selbst an.« »Natürlich; an der verabredeten Stelle.« »Schläft sie noch immer?« fragte der Schiffer, einen Blick auf Lucie werfend. »Ja; eigentlich wundert mich das. Die Anderen waren nach so langer Zeit schon wach und die da hat auch keine größere Dosis einbekommen.« »Nun, wohl bekomm’ ihr der Schlaf! Bei’m Erwachen wird sie keine Freude haben. Möchte sie in des Himmels Namen schlafen, bis wir an Ort und Stelle sind, dann hätten wir keine Plackereien mit ihr. – Was soll denn eigentlich mit dem Jungen geschehen?« »Wie wollen ihn dem nächsten Besten schenken.« »Hm, so, wie er aussieht, wird ihn kaum Jemand nehmen.« »Hat er viele Risse?« »Er steht aus wie tätowirt. Der ganze Körper ist mit geronnenem Blut bedeckt.« »Das muß natürlich abgewaschen werden; Wasser genug ist ja da.« »Die zerfetzte Haut wird aber dadurch nicht ganz.« »Das ist freilich fatal. Wenn Niemand ihn umsonst will, müssen wir vorläufig ein geringes Kostgeld geben.« »Er darf nur zu Leuten, die nicht Deutsch verstehen.« »Freilich; am besten zu einer Zigeunerbande.« 359
»Eine solche wird sich zweifellos auffinden lassen.« Das würdige Paar unterhielt sich noch längere Zeit. Das Weib bereitete noch eine Kanne voll Grog, sodaß Beide, als sie sich endlich trennten, einen kleinen Rausch hatten. Das Weib entkleidete sich nun alsbald und kroch in die Federn. Nach wenigen Minuten wurde es auch im hinteren Theile der Zille ruhig, und lautlose Stille würde geherrscht haben, wenn nicht das Wimmern des Kindes jetzt deutlich erklungen wäre. Luciens Erregung war unbeschreiblich heftig. Ihr Herz pochte mit gewaltigem Ungestüm, ihr Blut siedete, ihre Pulse fieberten. Doch allmälig wurde sie ruhiger, als ihre Hoffnung, daß die Zille an einer einsamen Uferstelle anlegen würde, nicht in Erfüllung ging. Sie betrachtete sich nun als dem Tode verfallen und bereitete sich auf denselben vor, indem sie sich im inbrünstigen Gebet an den Allerbarmer wandte und ihn anflehte, ihr den sündigen Schritt, den sie thun werde, zu vergeben und ihre Seele zu sich zu nehmen. Während des Gebets zog eine wunderbare Ruhe und Freudigkeit in ihr Gemüth; ihr war, als wenn eine milde Stimme ihr liebreich zurief: »Sei getrost, meine Tochter! Der, ohne dessen Willen kein Sandkorn von seiner Stelle gerückt werden darf, hat auch Dich unter seinen mächtigen Schutz genommen. Was Dir auch widerfahren möge, stets befindest Du Dich unter der Obhut des Allmächtigen, und sollte Deine Bedrängniß so hart werden, daß Du dem Leben Dich entziehen müßtest, so wird er Dich in Gnaden zu sich aufnehmen.« 360
Als nach ihrer ungefähren Schätzung die Mitternachtsstunde vorbeigegangen sein mußte, erhob Lucie sich mit äußerster Behutsamkeit und tappte sich zur Thür hin. Ein leichter Druck auf die Klinke genügte, sie zu öffnen. Rasch trat Lucie hinaus, und ihr erster Blick traf – auf den Mann am Steuerruder. Heftiger Schreck lähmte für einen Moment ihre Glieder, denn, vollkommen unbekannt mit der Einrichtung eines Schiffes, hatte sie die Anwesenheit des Mannes wenige Fuß von der Kajüte um so weniger vermuthet, als Jörg, dem in dieser Nacht die Führung des Steuers oblag, sich ganz lautlos verhalten hatte. Da der Strom hier auf eine meilenweite Strecke keine Krümmung machte, so erforderte die Leitung des Steuers fast gar keine Aufmerksamkeit. Jörg hatte sich deshalb eine gewaltige Pfeife gestopft, sich auf den Bord der Zille gesetzt und, behaglich schmauchend, sich allerlei Gedanken überlassen. Das Steuerruder hatte er in die Richtung, welche es einnehmen mußte, wenn die Zille ihren Cours unverändert beibehalten sollte, gebracht und zwischen der Spitze desselben und dem Bord des Kahnes einen Bootshaken gestemmt. Er hatte nun Nichts weiter zu thun, als hin und wieder zu sehen, ob kein Hinderniß dem Laufe des Kahnes sich entgegenstelle. Als Lucie im weißen Nachtgewande plötzlich aus der Kajüte trat, erschrak der Mann fast ebenso heftig, wie das Mädchen, doch gewannen Beide im nächsten Augenblicke die Geistesgegenwart wieder. Lucie warf einen Blick um sich; beide Ufer waren so weit entfernt, daß ihre Umrisse nur ganz undeutlich zu sehen waren. Die Zille schwamm in der Mitte des majestätischen 361
Stromes, der das winzige Fahrzeug mit reißender Geschwindigkeit dahintrug. Lucie schauerte zwar zusammen, als sie die gewaltige Wassermasse erblickte, doch kehrte ihr Muth alsbald zurück. Als Jörg jäh emporfuhr, um sich auf sie zu stürzen, sprang sie blitzschnell an den Rand und warf sich in die wirbelnden Wogen. Sie hörte noch den Schrei des Entsetzens, welchen der Schiffer ausstieß, – dann schloß die Fluth sich über ihr. – Als der »Herr« sich aufmachte, die Spur der Entführten zu suchen, ließ er sich zunächst nach Walthers Wohnung fahren, – er fand den treuen Freund nicht daheim. Sein nächstes Ziel hätte wohl Girsa’s Wohnung sein sollen, doch war ihm die Adresse derselben nicht bekannt. Erfragen konnte er diese nur auf dem Central-Melde-Amt der Polizei-Direction, aber die Bureaus dieser Behörde waren nur bis um sechs Uhr geöffnet und jetzt war die zehnte Stunde nahe. Trotzdem wollte der Abenteurer versuchen, ob er nicht Einen von den wachhabenden Beamten durch das Anerbieten eines ansehnlichen Betrages bewegen könnte, in den Registern nachzuschlagen. Das Glück war ihm ja schon in vielen schwierigeren Lagen hold gewesen, vielleicht blieb es ihm auch heute getreu. Rasch fuhr er nach dem Polizeipalaste. In den Wachstuben fand er eine ziemlich bedeutende Anzahl von Sicherheitswachleuten, in einem kleineren und comfortabler ausgestatteteren Nebenzimmer mehrere Commissäre und Geheimpolizisten in gemüthlicher Unterhaltung vor. Diesen Herren trug er sein Anliegen vor, fand jedoch kein Entgegenkommen. Die Beamten erklärten, daß die Schlüssel 362
während der nichtamtlichen Zeit im Zimmer des Portiers aufbewahrt würden; ob derselbe sie herausgeben würde, sei fraglich, und wenn es auch geschähe, so könnte ihnen diese eigenmächtige Handlungsweise sehr leicht einen derben Verweis und in Folge desselben eine Zurücksetzung im Avancement eintragen. Das Anerbieten des Abenteurers, Demjenigen, der ihm den Liebesdienst erweisen wolle, auf der Stelle mehrere hundert Gulden auszahlen zu wollen, beantworteten sie nur mit Achselzucken. Doch ertheilten sie ihm den Rath, sich an den Bezirksinspector, der in dieser Nacht die Oberleitung hatte, zu wenden; wenn er dessen Ermächtigung auswirkte, wollten sie sich ihm gern zur Disposition stellen. Der Inspector, welcher sich allein in einem fein eingerichteten Bureau befand, empfing den Abenteurer, nach Art der Wiener Polizei, in der zuvorkommendsten Weise, zeigte sich auch bereit, die Register nachschlagen zu lassen. Zwei von den Commissären führten den Abenteurer nun nach dem Bureau des Central-Melde-Amtes, die dickleibigen Folianten, welche die mit dem Buchstaben »G« beginnenden Namen enthielten, wurden aufgeschlagen und emsig durchforscht, – der Name »Girsa« fand sich nicht vor. Die Beamten blätterten die Nachtragsregister durch – mit gleich ungünstigem Erfolge; ein Baron Girsa war weder an- noch abgemeldet. Die Commissäre tauschten bedeutungsvolle Blicke miteinander aus, doch mochten sie ihrer Ansicht keinen anderen Ausdruck verleihen, weil sie ja nicht wußten, in 363
welchen Beziehungen der Abenteurer zu dem Baron stand. Es erlaubte sich zuvor der Eine die Frage, ob der Herr den Baron Girsa genau kenne. »Nein,« antwortete der Abenteurer, der sofort errieth, welchen Zweck diese Frage habe, »ich bin zufällig mit ihm bekannt geworden, doch habe ich mich nach seinen Verhältnissen nicht erkundigt, weil keine Veranlassung dazu vorhanden war.« »Sie müssen aber doch eine höchst wichtige Angelegenheit mit ihm zu regeln haben,« bemerkte, nun sichtlich argwöhnisch geworden, der Beamte, »da es Sie so sehr drängt, seine Wohnung zu erfahren.« Dem Abenteurer wurde die Wendung, welche die Affaire zu nehmen drohte, peinlich. Wenn die Polizei sich in die Sache hineinmischte, konnte vielleicht Manches entdeckt werden, was ihm schädlich geworden sein würde. Er versetzte deshalb in einem Tone, aus dem herausklang, daß er fernere Fragen nicht gestellt sehen möchte: »Die Angelegenheit, welche ich mit dem Baron Girsa auszutragen habe, ist allerdings dringlich genug, um keinen Aufschub zu vertragen, doch ist sie ganz privater Natur.« Der Beamte zuckte die Achseln und meinte: »Sie brauchen mich natürlich nicht in’s Vertrauen zu ziehen. Vielleicht indeß würden Sie weise handeln, wenn Sie den Beistand der Polizei in Anspruch nehmen wollten. Es ist ohne Zweifel ein ebenso auffallender, wie verdächtiger Umstand, daß der angebliche Baron gar nicht angemeldet ist. Ich fühle mich gedrungen, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es in Wien so manchen Freiherrn und Grafen giebt, der 364
sich bei geeigneten Anlässen als Schwindler und Abenteurer entpuppt.« Der »Herr« dankte dem humanen Beamten für seine Fürsorge und bot den Herren die versprochene Summe an; doch wurde dieselbe so höflich wie entschieden von ihnen abgelehnt. Dem Abenteurer, der eine eminente Menschenkenntniß besaß, entging es nicht, daß sie ihn selbst mit argwöhnischen Blicken betrachteten. Er verwünschte innerlich seinen Unstern, der ihn nach der Polizei geführt hatte. Es war der Behörde, deren hauptsächlichste Pflicht darin bestand, die Verbrecher aufzuspüren und unschädlich zu machen, wahrlich nicht zu verargen, daß sie Verdacht faßte, wenn Jemand in der Nacht hoch erregt zur Polizei geeilt kam, einen großen Betrag für die Aufsuchung der Adresse eines vornehmen Mannes bot, der – gar nicht angemeldet war, trotzdem er schon lange Zeit in Wien wohnen sollte, und doch nicht die Hülfe der Behörde gegen den angeblichen Baron in Anspruch nehmen wollte. Es war ihr ebensowenig zu verargen, wenn sie sich näher nach dem unauffindbaren Baron erkundigte und auch nach dem Manne, den eigenartige Interessen mit dem Freiherrn verbinden mußten. Diese Gedanken beschäftigten den Abenteurer, als er verstimmt nach dem Vestibule zurückkehrte. Dort harrte seiner ein Detective, der ihn fragte, ob die Adresse aufgefunden worden sei. »Nein,« antwortete kurz der Abenteurer. Der Detective lächelte pfiffig. »Ich dachte mir es wohl,« meinte er. »Mir ist, als wenn ein Mensch, der sich Baron 365
Girsa nannte, in irgend eine unangenehme Affaire verwikkelt gewesen wäre, doch sind mir die näheren Umstände nicht sofort erinnerlich. Übrigens erlaube ich mir, Ihnen den Rath zu ertheilen, daß Sie ’mal im adligen Casino nachfragen möchten. Ob dieser Girsa nun ein Baron oder ein Schwindler ist, jedenfalls wird er im adligen Casino verkehren und es ist leicht möglich, daß Sie dort seine Wohnung oder die – seiner Concubine erfahren können.« Der Rath war gut; der Abenteurer wunderte sich, daß er nicht Iängst daran gedacht, im Casino nachzufragen. Dort hatte er den Baron wiederholt getroffen. Er gebot dem Kutscher, ihn nach dem Clublocale zu fahren; daß der Mann ihm eigenthümliche Blicke zuwarf, konnte er nicht gewahren. Auch hätte er dieselben wahrscheinlich nicht richtig gedeutet, weil er nicht wissen konnte, daß man den Fiaker eingehend examinirt, ihn auch aufgefordert hatte, am nächsten Tage Bericht über die Orte, nach denen der Fahrgast sich noch bringen lassen werde, abzustatten. Hätte der Abenteurer das gewußt, er würde seine Unklugheit und Übereilung bitter beklagt haben. Er hatte sich allerdings durch die Angst um die Geliebte von kühler Reflexion abhalten lassen, aber eben der Umstand, daß er seiner Gefühle so wenig Herr war, um sich zu unbedachten, folgenschweren Handlungen hinreißen lassen zu können, würde ihm schweren Kummer bereitet haben. Hätte er seine leidenschaftlichen Regungen ganz unterdrücken können, dann würde der Verstand ihm gesagt haben, daß ein Mann, der mehrere Hundert Gulden für 366
die Aufsuchung einer Wohnungsadresse bot, der Polizei lebhaftes Interesse einflößen mußte. Im adligen Casino auf dem Kolowrat-Ring waltete an diesem Abend öde Stille ob. Die Lakaien saßen schlaftrunken in den Fauteuils, welche sonst um diese Zeit Fürsten, Grafen und anderen Blaublütigen minderer Kategorie zu Ruhestätten dienten. Unaufgefordert berichteten sie dem Abenteurer, der ihnen wohlbekannt war, daß am heutigen Abende eine musikalisch-dramatische Soiree in dem Palaste der Fürstinnen Auersperg stattfinde, zu welcher die gesammte »Creme«, und nur diese, geladen war. Die Wohnung des Baron Girsa kannte Keiner von den Lakaien; der Abenteurer blieb deshalb in den öden Salons bei einer Flasche Wein sitzen, weil er hoffte, daß dieses und jenes Mitglied der »goldenen Jugend« sich nach Beendigung der Soirée im Casino einfinden würde, um hier für den Zwang, den es sich in den fürstlichen Sälen hatte auferlegen müssen, sich durch um so ungebundenere Freiheit zu entschädigen. Diese Hoffnung erfüllte sich auch; es kamen einige Dutzend der adligen Lebemänner herbei, aber Keiner von ihnen konnte dem Abenteurer die gewünschte Auskunft ertheilen, sodaß derselbe endlich in hohem Grade mißgestimmt sich heimbegeben mußte. Nun erst fiel ihm ein, daß Johannes seiner geharrt haben werde; er begab sich eiligst in Luciens Wohnung, – sie war leer. »Das ließ sich voraussehen,« murmelte der Abenteurer. »Mitternacht ist vorüber, und der junge Bursche hat jetzt 367
wichtigere Dinge zu thun. als hier zu sitzen und meiner zu warten. Er muß Pläne zu meinem Verderben schmieden.« Er lachte bitter, doch bald gewann der Schmerz wieder die Oberhand. »O Lucie!« seufzte er auf. – »fast scheint es, als wenn das Geschick sie mir entreißen will. Freilich ist sie, die Reine, Engelgleiche, zu gut für den Verlorenen, Verdammten, aber gerade deshalb hätte die Vorsehung sie mir zum Weibe geben sollen. Dann hätte ich ein neues, schöneres, besseres Leben beginnen können, ich würde mich bestrebt haben, so ehren- und tugendhaft und fromm zu leben, daß die Englein im Himmel ihre Freude über den bekehrten Sünder hätten haben sollen. Ha, ha, ha.« Wild schritt er auf und nieder, dann rief er wieder: »Bah, Vorsehung, Schicksal; ein Thor, der an solche Farcen glaubt. Jeder trägt sein Schicksal im Kopfe oder – in den Fingern mit sich umher. Deshalb will ich mich auch nur auf mich allein verlassen. Ich werde Lucie auffinden und sie mir erringen, wenn ich sie auch dem Himmel selbst abtrotzen sollte.« Er horchte erstaunt auf. Ein schüchternes Pochen an der Thür hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Was hatte das zu bedeuten? Jetzt, um ein Uhr Nachts wollte Jemand eine Unterredung ? – Er ging zur Thür und öffnete sie. Draußen stand sein Wirth. »Sie, Herr Börner?« fragte verwundert der Abenteurer. »Welches Anliegen führt Sie noch um diese Zeit zu mir?« 368
»Der Wunsch, Ihnen eine, wie ich glaube nicht unwichtige Mittheilung zu machen. Doch möchte ich mir zunächst eine Frage gestatten. Darf ich, Herr Graf?« »Fragen Sie nur.« »Sind Sie im Laufe des Abends mit zwei Herren aus Siebenbürgen zusammengetroffen ?« »Nein.« »Dann wird meine Mittheilung Sie interessieren. Etwa eine halbe Stunde, nachdem Sie sich von hier entfernt hatten, hörte ich in meiner Wohnung, daß schwere Tritte die Treppe heraufkamen. Da ich jedoch durchaus nicht neugierig bin, durchaus nicht, so bekümmerte ich mich nicht weiter um das Gepolter, obwohl es mich einigermaßen in Erstaunen setzte; erst der Umstand, daß man vor der Wohnung Ihres gnädigen Fräulein Schwester stillstand, veranlaßte mich, an das Guckloch zu gehen. Da erblickte ich denn den Herrn Meyer, der im Parterre wohnt, nebst zwei Herren an der Thür stehen und hörte, wie der Nachbar eben sagte: «In dieser Wohnung dürften Sie den Herrn Grafen finden.« Die Herren pochten an und traten gleich darauf in das Zimmer, bevor ich noch hinausgehen und ihnen mittheilen konnte, daß Sie nicht daheim seien. Nachbar Meyer erzählte mir, daß die Herren aus Siebenbürgen hergereist seien, um mit dem Herrn Grafen zu conferiren. Man hatte sie auch richtig in dieses Haus gewiesen; leider waren der Herr Graf gerade an diesem Abend fortgegangen.« Der Abenteurer hatte diesem Berichte mit nicht geringem Interesse zugehört. Ihm war alsbald klar, daß Leute, 369
die eine so weite Reise nur zu dem Zwecke machten, um eine Unterredung mit ihm zu halten, durch eine sehr wichtige Angelegenheit geleitet worden sein müßten. Für die Wichtigkeit ihres Anliegens zeugte auch der Umstand zur Genüge, daß sie noch zu so später Stunde ihn aufgesucht hatten. Statt ihn, hatten sie seinen Gegner vorgefunden; es erschien ihm unzweifelhaft, daß der Jüngling sie dem echten Grafen zugeführt hatte und daß derselbe vielleicht in den Besitz eines Mittels gelangen würde, welches dem Abenteurer Verderben bringen konnte. In höchster Spannung fragte der »Herr« den Wirth, ob er seiner Mitteilung noch Etwas hinzuzufügen habe. »Nur noch das,« versetzte der Mann, »daß die beiden Fremden schon nach wenigen Minuten die Wohnung wieder verließen. Der junge Herr, welcher sich in derselben befunden, begleitete sie und ich hörte, wie er den Anderen sagte: »Ich werde Sie zu dem Herrn Grafen hinführen.« Der gute Mann verschwieg, daß er das Gespräch zwischen Johannes und den Schwiegersöhnen des alten Ferencz belauscht, sowie, daß er von der glühendsten Neugierde gepeinigt wurde. Die ungewöhnlich heftige Aufregung seines Miethsherrn war ihm nicht entgangen; sie allein rief schon die Neugierde bei ihm wach, und als der Abenteurer mit Johannes in Luciens Wohnung ging, als der an der Thür horchende Wirth aus den Äußerungen der beiden jungen Männer schließen konnte, daß Lucie sich entfernt haben müsse, da nahm seine Neugierde gewaltig zu. Leider zeigte der Abenteurer keine Lust, ihn über die geheimnißvollen Vorgänge am heutigen Abend aufzuklä370
ren, vielmehr gab er ihm in unzweideutiger Weise zu verstehen, daß er allein gelassen sein wolle; dem neugierigen Wirthe blieb nun keine andere Wahl, als sich in seine Klause zurückzuziehen. Der Abenteurer beschäftigte sich den Rest der Nacht hindurch mit dem Entwurfe von Plänen. Alles Mißgeschick, das ihn während der letzten Zeit betroffen, hatte nicht vermocht, ihn verzagt, zur Fortsetzung des Kampfes unfähig zu machen. Luciens Verlust würde das vielleicht bewirkt haben, aber der kühne Mann hegte die unerschütterliche Zuversicht, daß es ihm gelingen müßte, die Geliebte aufzufinden. Es gab noch ein Mittel, durch welches er in Erfahrung bringen konnte, wer und wohin man das Mädchen entführt hatte, – er mußte den Wagen auffinden, dessen sich der Entführer wohl zweifellos zur Fortschaffung seines Opfers bedient hatte, und voraussichtlich war derselbe unter den öffentlichen Lohnfuhrwerken zu finden. Sobald der Tag angebrochen war, begab der Hochstapler sich zu Walther und Beide schritten im Vereine mit mehreren geschickten Agenten an die Lösung der doppelten Aufgabe, die Wohnung Girsas und den Wagen, in welchem Lucie entführt worden war, aufzufinden. Es war das ein schwieriges Unternehmen, da es in Wien mehrere Tausend öffentliche Lohnfuhrwerke giebt, von denen ein sehr großer Theil unaufhörlich in Bewegung ist. Die Agenten mußten nach manchen Halteplätzen wohl ein halbes Dutzend Mal zurückkehren, ehe es ihnen gelang, sämmtliche Wagen, welche auf denselben stationirt waren, anzutreffen. Vielleicht wären Wochen vergangen, ehe sie den richtigen 371
Wagen aufgefunden haben würden, wenn nicht Walther das Glück gehabt hätte, die Wohnung Girsas zu ermitteln. Aus dem Factum, daß der edle Freiherr auf dem MeldeAmte nicht eingetragen war, zog Walther den Schluß, daß derselbe weder Girsa heißen noch ein Freiherr, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach ein Hochstapler sein dürfte. Es erschien deshalb die Vermutung nicht unbegründet, daß der angebliche Baron sich auch in einer Schichte bewegen dürfte, die von ehrenwerthen Personen ängstlich gemieden wird, nämlich unter den Damen zweifelhaften Rufes und deren »Rittern«, den »Strizzis«, »Kappelbuam«, »Grammelschorscheln«, »Kosacken« und wie diese berüchtigten Elemente noch sonst heißen mögen. Walther begab sich deshalb in jene Etablissements, welche vorzugsweise zu Sammelplätzen dieser problematischen Existenzen dienen, in den Sperl, die Walhalla, Alhambra und bediente sich folgender Taktik: Er beschrieb zahlreichen Damen der Halbwelt und deren Galans die Persönlichkeit Girsas, sowie dessen hervorstehendste Charakterzüge, Eigenthümlichkeiten und Manieren, und wiederholte dieses Experiment unverdrossen, sobald es ohne Erfolg geblieben war. Und siehe da! Seine Ausdauer wurde endlich belohnt, denn nachdem er vielleicht schon hundert Personen vergeblich befragt, erhielt er endlich die Auskunft, daß der angebliche Baron ein gefährlicher »Granate« (Falschspieler), der Liebhaber der »Judenres’l« und unter dem Spitznamen »der G’schwuf« (Stutzer) bekannt sei. Walther eilte sofort nach jenem Hause, welchem die Ehre zu Theil geworden, die Judenres’l zu seinen Bewohnern zu erhalten, und emp372
fing vom Hausmeister die Auskunft, daß der »G‘schwuf« sich »Schmiedbauer« nenne und mit seiner Concubine zusammenwohne. Walther erkundigte sich bei dem Manne, ob er sich auf die Vorfälle jener Nacht, in denen die Entführung stattgefunden, besinnen könne, weil er hoffte, irgend einen Anhaltspunkt zu erhalten. Als der Hausmeister eine vielsagende Miene machte; trotzdem jedoch achselzuckend meinte, er wisse Nichts, bewog Walther ihn durch die Spende eine Zehnguldennote, sein Gedächtniß recht emsig zu durchforschen, und bekam nun alsbald eine Mittheilung, die keinen Zweifel darüber ließ, daß Girsa wirklich der Entführer Luciens sein müsse. Der Hausmeister erzählte nämlich, daß Schmiedbauer in jener Nacht sehr spät in einem Fiaker heimgekehrt sei. Als der Hausmeister, durch die Glocke herbeigerufen, die Thür aufgeschlossen, sei er Ohrenzeuge eines Wortwechsels zwischen Schmiedbauer und dem Kutscher geworden. Der Letztere habe sich darüber beschwert, daß Schmiedbauer ihm für eine Fahrt nach Zwischenbrücken und zurück, sowie für mehrstündigen Aufenthalt in dem Dorfe nur zwanzig Gulden gegeben, wohingegen Schmiedbauer schon diese Entlohnung für höchst anständig gefunden und deshalb die Anforderungen des Kutschers brüsk zurückgewiesen habe. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÊÌ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
S
owohl Walther, wie der » Herr « hegten die feste Überzeugung, daß Girsa sich nur der Mithülfe Scharnbocks bedient haben könne. Es war ihnen ja gut genug bekannt, daß der ehrenwerthe Eigentümer der » Kinderbewahranstalt « für eine angemessene Belohnung zu den schuftigsten Streichen sich bereit finden ließ. Sie fuhren unverzüglich nach Zwischenbrücken, und da sie mit Recht besorgten, daß der schlaue Fuchs aus Furcht vor der Rache des » Herrn «, vor dem er einen gewaltigen Respect hatte, vielleicht Ausflüchte machen würde, wenn man ihm zeigte, daß man nur Vermuthungen hege, so beschlossen sie, sich den Anschein zu geben, als wenn sie über seine Mitwirkung bei der Entführung genau unterrichtet wären. 374
Scharnbock hatte einige höchst unangenehme Tage verlebt Mehr als eine halbe Woche war seit der Abfahrt der Zille verstrichen und noch hatte er nicht die geringste Nachricht darüber, ob sie glücklich in Hatvan eingetroffen und ihre menschliche Ladung wohlbehalten dort ausgeschifft habe.. Seine Ehehälfte hätte schon vor vierundzwanzig Stunden zurück sein können, und ihr langes Ausbleiben beunruhigte den sauberen Zeisig nicht wenig. Nicht etwa aus dem Grunde, weil er fürchtete, daß seiner Frau ein Unfall widerfahren sein könne, darüber würde er nicht untröstlich gewesen sein, sondern weil er besorgte, daß die Polizei die Ladung der Zille einer Besichtigung unterzogen haben könne. War das geschehen, dann mußte er des Besuches der Polizei in der nächsten Zeit gewärtig sein. Doch empfand er nicht die mindeste Lust, mit dieser neugierigen Behörde in nähere Berührung zu kommen; vielmehr wollte er ihr möglichst weit aus dem Wege gehen. Nur noch diese Nacht wollte er in seinem Hause zubringen und dann so lange in einer Spelunke der Weltstadt sich verborgen halten, bis er sichere Kunde über den Verlauf der Fahrt erhalten hatte. Diesen Gedanken hingegeben, saß Scharnbock im weichen Sopha und rauchte behaglich eine feine Cigarre. Die Dämmerung begann bereits der Nacht zu weichen, Scharnbock hielt es jedoch nicht für nöthig, Licht anzuzünden. Plötzlich fuhr er jäh empor. – Tappte sich nicht Jemand im Gange, der von der Hofpforte nach der Hausthür hinführte, nach der Wohnstube hin? Der Knecht konnte das 375
nicht sein, denn derselbe wußte genau Bescheid, brauchte mithin nicht so unsicher aufzutreten. Wenn es aber ein Fremder war, wie war derselbe dann in den Gang gelangt? Beide Thüren waren ja durch Riegel gesperrt. Mit angehaltenem Athem lauschte Scharnbock. Kein Zweifel, – leise, schleichende Tritte nahten sich der Thür. Scharnbock wollte nach dem Schranke springen, weil in demselben seine Revolver aufbewahrt waren, da wurde die Thür aufgerissen und im nächsten Augenblicke standen zwei dunkle Gestalten im Zimmer. »Licht!« gebot eine sonore Stimme, bei deren Klange Scharnbock erzitterte. Zwei Blendlaternen wurden geöffnet; bei deren Scheine gewahrte Scharnbock, daß drei oder vier Männer vor der Thür standen, während Walther und der »Herr« sich im Zimmer befanden. »Scharnbock,« ergriff der Letztere das Wort, »ich werde eine Frage an Sie richten, die Sie mir der Wahrheit gemäß beantworten werden. Merken Sie sich, wenn Sie mich belügen, dann können Sie Ihr Testament sofort machen.« ,Ich werde mich hüten, Sie zu hintergehen, gnädiger Herr. Mit welcher Auskunft kann ich Ihnen dienen?« »Wohin wurde die junge Dame geschafft, welche Baron Girsa vor drei Tagen am späten Abend zu Ihnen brachte?« Schambock wurde kreidebleich. Dieser Ausdruck des Schuldbewußtseins redete eine deutliche Sprache. »Antwort,« befahl der »Herr« im furchtbar drohenden Tone, »oder im nächsten Augenblicke gehören Sie nicht mehr zu den Lebenden.« 376
»Ich will Alles bekennen. – Die junge Dame wurde nach Hatvan geschafft.« »Wo liegt dieser Ort?« »In Ungarn an der Donau: ich glaube, eine Haltestelle der Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft befindet sich dort.« »Die Dame wurde also mit einer Zille entführt? »Ja.« »Berichtet in Kürze die näheren Umstände!« Das that Scharnbock bereitwillig. Der »Herr« hörte in höchster Erregung der Mittheilung zu. »Wieviel Zeit nimmt die Fahrt nach Hatvan in Anspruch?« fragte er, als Scharnbock seinen Bericht beendigt hatte. »Sie hätte schon vorgestern Abend vollendet sein können.« »Sie hätte vollendet sein können?« wiederholte der »Herr«, nur mühsam sich bezwingend. »Woraus folgern Sie, daß sie noch nicht beendet ist?« »Meine Frau hat die junge Dame begleitet und ist noch nicht zurückgekehrt, obwohl sie spätestens am heutigen Morgen hätte eintreffen können.« Der Abenteurer stieß einen Wuthschrei aus. Sein Grimm war so übermächtig, daß Walther heftig erschrak. »Die Zille ist vielleicht verunglückt, mit den auf ihr befindlichen Menschen untergegangen,« keuchte der »Herr«. »Es ist Wahnwitz zu nennen, daß ein so gebrechliches, kleines Fahrzeug eine weite Strecke zurücklegen soll, während 377
der Strom hoch angeschwollen und zehnfach so reißend ist, wie bei normalem Wasserstande, noch dazu in den dunklen Nächten! Wenn der Dame ein Unglück widerfahren ist, dann sei der Himmel Ihnen gnädig, Scharnbock! Ich lasse Sie ohne Gnade und Barmherzigkeit in der Donau ertränken.« Scharnbocks Gesicht überzog eine leichenfahle Färbung, doch behielt der Trotz die Oberhand über die Angst. »Sie würden sich einer zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit schuldig machen, gnädiger Herr, wenn Sie Ihre Drohung zur Ausführung bringen ließen. Wie konnte ich denn ahnen, daß Sie für die junge Dame ein lebhaftes Interesse empfänden?« Der »Herr« winkte den Männern im Gange. »Nehmt ihn mit Euch,« gebot er finster. »Sollte er schreien, oder einen Fluchtversuch machen, dann schießt ihn nieder.« »Gnädiger Herr,« rief Scharnbock, dem nun doch unheimlich wurde, flehend, »habe ich diese Behandlung verdient? Bin ich Ihnen nicht stets treu gewesen? Und was habe ich denn verbrochen, um nun so mißhandelt zu werden?« »Fort!« rief mit ausbrechender Heftigkeit der Abenteurer. Die Männer umringten Scharnbock, der in der Erkenntniß, daß ihm keine andere Wahl bliebe, als sich in das Unabwendbare zu fügen, mit ihnen ging. Man führte ihn nach der Donau zu, dort harrte ein Boot, welches nach wenigen Minuten mit fabelhafter Geschwindigkeit den Strom hinab flog. – 378
Der »Herr« und Walther erwogen, was sie nun thun sollten. Es erschien ihnen schließlich am zweckmäßigsten, unverzüglich nach dem Staatsbahnhofe zu fahren, auf dem dortigen Telegraphenamte in Pest einen Extradampfer zu bestellen und mit einem Extrazuge nach der ungarischen Hauptstadt zu reisen. Der Entführer hatte einen Vorsprung von zwei Tagen, die höchste Eile war mithin dringend geboten, wenn man ihn einholen wollte. Die Freunde glaubten nämlich, daß er von Hatvan aus mit seinem Opfer weiter gereist sei. Sie wollten deshalb bis zu diesem Orte eilen und sich erkundigen, ob dort oder in der Nähe die Zille angelegt habe. War das geschehen, dann erfuhren sie sicherlich, welche Richtung der Entführer eingeschlagen habe. War die Zille jedoch nicht in oder bei Hatvan gesehen worden, dann sollte Walther mit dem Beistande einiger Leute die ganze Gegend durchsuchen, der Abenteurer hingegen wollte den Strom aufwärts fahren, um zu versuchen, ob er irgendwo Nachricht über das Schicksal der Zille erhalten könnte. Vor der »Sonne« in Zwischenbrücken erwartete die Freunde ein Fiaker, den sie vorhin bestellt hatten. Der Kutscher trieb die Pferde zur Aufbietung aller ihrer Kräfte an, sodaß die weite Strecke bis nach dem Staatsbahnhofe in einer halben Stunde zurückgelegt wurde. Auf dem Bahnhofe eilten die Freunde zunächst in das Telegraphenbureau und sandten folgende Depesche ab: »An die Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft in Pest. Bitte, um 1 Uhr Nachts einen kleinen Dampfer zur Fahrt nach Hatvan bereit zu halten. 379
Anbei 500 Gulden. Etwaigen Rest zahle dort.« Darauf suchten sie den Stationschef auf. Er sollte sich auf dem Güterbahnhofe befinden. Die Freunde verfügten sich dorthin. Auf dem weit sich ausdehnenden Güterbahnhofe herrschte überaus reges Leben. Trotz der späten Stunde gab es da noch Arbeit in Hülle und Fülle. Da hieß es: kartiren, expediren, rangiren! Drei bis vier Locomotiven hatten genug zu thun, um die im Laufe des Tages beladenen Waggons zu Güterzügen, die noch vor Tagesanbruch abgehen sollten, zusammenzuschieben oder die entladenen Wagen auf besondere Geleise zu befördern. Der Stationsvorsteher lief eifrig hin und her, pfeifend und kommandirend. Auf ihn eilte der »Herr« zu. »Herr Stationsvorsteher, ich brauche einen Extrazug nach Pest. Kann ich einen bekommen?« »Gewiß; vorausgesetzt natürlich, daß Sie den dafür entfallenden Betrag sogleich baar erlegen.« »Wie viel macht es aus?« »Ein Extrazug kostet pro Meile 20 Gulden. Da Pest von Wien 37 Meilen entfernt ist, so würde also ein Betrag von 740 Gulden entfallen.« »Hier ist das Geld! Es sind doch geheizte Maschinen zur Disposition?« »Einige Maschinen bleiben stets die ganze Nacht hindurch in Activität.« »Dann kann ich also sofort abfahren? – Ich habe dringende Eile.« 380
»Auf der Stelle können Sie nicht abreisen, denn es müssen erst einige unerläßliche Vorkehrungen getroffen werden, doch beanspruchen dieselben höchstens eine Viertelstunde Zeit.« Er rief einen Weichensteller herbei. »Kraus, laufen Sie zum Locomotivführer Seyfert. Er soll seine Maschine vor einen Personenwagen legen und Kohlen und Wasser einnehmen, denn er muß sofort mit einem Extrazuge nach Pest.« Der Weichensteller lief, so schnell er vermochte; die drei Herren hingegen begaben sich schleunigst in das Telegraphenbureau. Der elektrische Blitz zuckte hinaus und zehn Minuten später war von allen Stationen die inhaltschwere Meldung eingetroffen: »Bahn frei.« »So,« sagte der Stationsvorsteher, »nun können Sie fort; ein Zusammenstoß ist nicht zu befürchten. Glückliche Reise, meine Herren!« Neben dem Perron stand die schnaubende Locomotive und blickte mit ihren beiden großen leuchtenden Augen so hell in die Weite, als freute sie sich des tollen Fluges, der ihr nun bevorstand. Der Locomotivführer befand sich am Wagenschlage. »Wie viel Meilen können Sie innerhalb einer Stunde zurücklegen, wenn Sie die Maschine aufs Äußerste anspannen?« fragte ihn der Hochstapler. »Zehn bis zwölf.« »Wann würden wir also in Pest ankommen?« »Um drei Uhr etwa.« »Das dauert mir zu lange. Können wir nicht früher dort sein?« 381
Der Locomotivführer zuckte die Achseln. Der Abenteurer zog die Uhr hervor. »Jetzt ist es halb zehn Uhr. Wenn Sie es möglich machen, bis halb eins in Pest zu sein, gebe ich Ihnen fünfhundert Gulden und dem Heizer hundert.« Die Augen des Locomotivführers blitzten; er wurde ganz Leben. »Steigen Sie ein, meine Herren,« drängte er. »Ich stehe Ihnen gut dafür, daß wir um halb eins entweder in Pest sind, oder – im Himmel.« Fort ging’s, zunächst mit gewöhnlicher Eilzugsgeschwindigkeit. Als jedoch der große, bis zur Donau reichende Damm und die Strombrücken zurückgelegt waren, da begann ein anderes Tempo. Die Freunde konnten später nie ohne eine Empfindung des Grausens an diese Fahrt zurückdenken. Es war eine schaurige Fahrt. Die Locomotive schoß mit rasender Schnelligkeit die glatte Bahn dahin. Sie stöhnte, puffte, knirschte, ächzte, als wolle sie ihrem Grimme über die ungewöhnlich intensiven Gluthen, die man in ihrem Inneren entfacht, recht deutlich Ausdruck verleihen, und als drohte sie, sich selbst und ihre Peiniger in Atome zu zerschmettern. Und so unheimlich, wie die Maschine, geberdete sich auch der Wagen. Er krachte und schrie, als wenn er jeden Augenblick aus den Fugen platzen wolle. Die Fenster dröhnten, die Wände bebten, der Boden hob und senkte sich; Alles, was nicht niet- und nagelfest war, zitterte, schwankte, bog sich; in jeder Secunde fast machte der Waggon einen jähen Satz nach oben oder nach vorn, sodaß 382
die beiden schreckensbleichen Passagiere ihre ganze Kraft aufbieten mußten, um nicht aus einer Ecke in die andere geschleudert zu werden. Minutenlang schien es, als wenn der ganze Waggon in der Luft schwebte, und zweifellos berührten wenigstens die vorderen Räder ganze Strecken weit nicht die Schienen. Hatten die Reisenden schon, wenn sie die Augen schlossen, die Empfindung, daß sie mit Entsetzen erregender Geschwindigkeit vorwärts flogen, so genügte ein Blick aus den Fenstern, ihnen darüber Gewißheit zu geben. »Wie flogen rechts, wie flogen links die Dörfer, Städt‘ und Felder«, – kaum hatten sie ein Wächterhaus, ein Dorf, eine Station im Gesichtskreis und schon waren sie auch vorüber. Die Telegraphenstangen schienen eine zusammenhängende Reihe zu bilden und die Stationen nur wenige hundert Schritt von einander entfernt zu sein, wenn man nach den kurzen Zwischenpausen, in denen die Signalpfeife ihre gellende Stimme erschallen ließ, hätte urtheilen wollen. Kurz, die Fahrt war ganz dazu geeignet, selbst einen eisernen Organismus in hochgradige Erregung zu bringen, und die Freunde würden vielleicht eine gefährliche Nervenzerrüttung aus der tollen Fahrt davongetragen haben, wenn nicht die Alteration, in welcher sie sich bereits befanden, sie widerstandsfähiger gemacht haben würde. Endlich, nach wahrhaft qualvollen Stunden, mäßigte das feurige Roß seine Eile, ein langer Pfiff erschallte, ausgedehnte Gebäude und unendlich lange Reihen von Waggons tauchten rechts und links auf, immer langsamer rollt der kleine Zug, nun erscheint ein weithin sich erstrecken383
der Perron unter gläsernem Dache, und der Wagen steht still. Im nächsten Augenblicke reißt der Locomotivführer die Coupéthür auf und weist hinauf nach der hell erleuchteten Bahnhofsuhr. »Zehn Minuten vor halb Eins,« sagte er mit vibrirender Stimme. Der Abenteurer zog sein Portefeuille hervor. »Hier sind 500 Gulden und hier 100 Gulden für Sie, bester Freund!«‚ Die letzten Worte galten dem Heizer, der ganz glückselig darein schaute. »Und nun schnell einen Wagen!« rief der »Herr«. »Ich gebe Demjenigen, der mir einen recht schnell zur Stelle schafft, gern 10 Gulden.« »Ich besorge Ihnen einen,« versicherte der Heizer eifrig. »Ich bin hier bekannt. Wollen Sie sich nur wenige Minuten gedulden.« Er eilte fort und kam bald darauf mit einem Fiaker zurück. Nach kurzer Zeit befanden die Reisenden sich am Landungsplatze der Dampfer und fanden dort zu ihrer Freude ein kleines Dampfschiff, die »Schwalbe«, zur sofortigen Abfahrt bereit. Der Abenteurer beglich seine Rechnung bei dem anwesenden Beamten der DampfschifffahrtsGesellschaft und ertheilte dann Ordre zur Abfahrt. Die kleine, wackere »Schwalbe« machte ihrem Namen alle Ehre; sie flog über die gelblichen Wogen des majestätischen Stromes mit Windesschnelle abwärts, und da sie sich nirgends auch nur eine Minute aufzuhalten brauchte, so legte sie die Strecke bis Hatvan in halb so langer Zeit 384
zurück, als ein Paffagierschiff es vermag. Es war noch nicht neun Uhr, als die »Schwalbe« in Hatvan anlegte. Der ganze Ort gerieth in Aufruhr, als ein Extradampfer mit nur zwei Passagieren eintraf und ein wahrer Rausch ergriff die gesammte Bevölkerung des Nestes, als der Abenteurer bekannt machen ließ, daß er Demjenigen, welcher ihm darüber Kunde brächte, wo in der Umgegend eine Zille zwei Frauen an das Land gesetzt habe, fünfhundert Gulden, und Dem, welcher ausspürte, wohin die jüngere der Frauen geschafft worden sei, tausend Gulden baar auszahlen wolle. Jung und Alt, Mann und Weib zog zu Fuß, auf Rossen und in Booten aus, um sich die glänzende Belohnung zu verdienen. Der Abenteurer selbst fuhr, wie er mit Walther verabredet, langsam den Strom hinauf, legte bei jedem Orte, mochte derselbe noch so unbedeutend sein, an und erkundigte sich bei jedem Schiffe, – Alles umsonst. Zillen fuhren häufig genug den Strom abwärts und auch in den letztverflossenen Tagen waren mehrere vorbeipassirt, aber darüber, ob eine derselben zwei Frauen an Bord gehabt, vermochte kein Mensch Auskunft zu ertheilen. Nach einigen Tagen fruchtlosen Suchens kehrte der Hochstapler halb entmuthigt nach Hatvan zurück, und die Kunde, welche dort seiner harrte, war nicht geeignet, den gesunkenen Muth frisch zu beleben. Auch die Bewohner des Nestes hatten kein Glück gehabt. Sie hatten kein Haus, keinen Wald, seine Schlucht, kurz keinen Ort, der zum Versteck dienen konnte, auf Meilen in der Runde 385
undurchstöbert gelassen, aber nicht die geringste Spur aufgefunden. Völlige Muthlosigkeit, ja Verzweiflung gewannen auf kurze Zeit bei dem Abenteurer die Oberhand, doch sehr bald verlieh eine neue und nicht üble Muthmaßung ihm frische Spannkraft. »Ursprünglich,« so erwog er bei sich, »hat Girsa wohl die Absicht gehabt, sein Opfer in Hatvan an das Land setzen zu lassen, aber er mag sich später anders entschlossen haben und zwar aus triftigen Gründen. Er mußte sich selbstverständlich sagen, daß ich Alles, was in meiner Macht steht, aufbieten werde, um die Entführte aufzufinden, und er kennt mich genugsam, um zu wissen, daß dann für ihn kein Heil mehr auf der Erde erblühen würde. Es mußte ihm deshalb unendlich Viel daran gelegen sein, mich auf eine falsche Fährte zu führen. Um das zu ermöglichen, hat er die Zille wahrscheinlich unterwegs bestiegen und ist mit ihr über Hatvan hinausgefahren. Daß er das gethan, ist aus dem Grunde wahrscheinlich, weil er um so sicherer vor polizeilichen Belästigungen ist, je weiter von der Hauptstadt er sich entfernt. Vielleicht sogar ist er bis nach Rumänien gefahren. Walther mag nun in einem Boote die Donau hinunterfahren und Recherchen anstellen, während ich nach Wien zurückeile, um zu sehen, ob Frau Scharnbock dort wieder eingetroffen ist. Endlich einmal wird sie doch heimkehren und dann würde ich bald über die Richtung, welche der Entführer eingeschlagen hat, unterrichtet sein. Meine Anwesenheit in Wien ist auch deshalb dringend nothwendig, um Erkundigungen über die Anschläge mei386
ner Gegner einzuziehen, sowie um sie unschädlich zu machen; je früher das geschieht, desto besser ist es. Zaudern müßte mir sicheres Verderben bringen.« Seiner Combination gemäß verfuhr er. Walther wählte zwei größere Boote und zehn der intelligentesten Bewohner des Fleckens aus. Jedes der Boote sollte an einer Stromseite entlang fahren, sodaß die Mühe der Nachforschungen wesentlich leichter war, als wenn das eine Boot tausendmal den Strom hätte überschiffen müssen. Der Abenteurer hingegen fuhr auf der »Schwalbe« bis zu einer Ortschaft, die nicht gar zu entfernt von einer Bahnstation lag; von dieser aus begab er sich zu Pferde nach der Bahn und befand sich nach kurzer Zeit auf dem Wege nach Wien, welches er in der düstersten Stimmung erreichte. Doch noch hielt die Hoffnung ihn aufrecht, daß ihm nach so vielen trüben Tagen endlich wieder die Sonne des Glückes scheinen würde.
Dreizehnte+ Kapitel. Eine wictige Enthüllung.
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osza, dem jeder Weg und Steg in der Umgebung der Irrenanstalt genau bekannt war, erreichte unverfolgt ein Städtchen, in welchem ein Arzt domicilirte. Von diesem ließ er seine Wunde untersuchen. Der Jünger Äsculaps erkundigte sich nicht, wie es in civilisirten Staaten wohl immer geschieht, nach der Entste387
hungsursache der Wunde, ihm genügte, daß der Mann, welcher seine Hülfe in Anspruch nahm, eine bedeutende Geldsumme bei sich führte, mithin ein gutes Honorar zahlen konnte. Nach einiger Mühe gelang es, die Kugel aufzufinden und herauszuziehen. Der Arzt empfahl dem Wärter, so lange das Lager zu hüten oder doch wenigstens jeder anstrengenderen Thätigkeit sich zu enthalten, bis das Wundfieber vorübergegangen sein würde, doch Rosza schenkte dieser Mahnung keine Beachtung. Äußerst wichtige Beweggründe trieben ihn an, unverzüglich nach Wien zu reisen; die Befürchtung des Arztes, daß dann der Zustand der Wunde sich verschlimmern könnte, erschien ihm übertrieben. Er wollte in der zweiten Wagenclasse fahren. Dort saß er auf weichen Polstern und hatte von der Erschütterung des Waggons fast gar Nichts zu leiden. Mehr Bequemlichkeit und Ruhe konnte ihm, nach seiner Meinung, das Bett auch nicht bieten, und überdies war seine körperliche Constitution so robust, daß sie einen gehörigen Puff auszuhalten vermochte. Er verlachte deshalb die Warnungen des Arztes, ließ sich auf einem Bauernfuhrwerke nach der nächsten Bahnstation schaffen und fuhr von dort nach Wien weiter. In der Hauptstadt angekommen, verbrachte er nur wenige Stunden in einem Hotel, dann begab er sich zur Wohnung der Gräfin Katinka. Die Kammerfrau, welcher er sein Anliegen, eine Unterredung mit der Gräfin führen zu dürfen, vortrug, erkannte ihn sofort wieder und meldete sein Gesuch der Gräfin, die 388
nicht wenig darüber erstaunte, daß der Diener des Doctor Joszay sie aufsuche. Der ehrenwerthe Director hatte ihr vor einiger Zeit den Besuch der Söhne und Schwiegersöhne des alten Ferencz in der Irrenanstalt mitgetheilt und ihr gleichzeitig deutlich zu verstehen gegeben, daß er eine Zulage zum ursprünglich vereinbarten »Kostgelde« wünsche. Sie hatte ihm wirklich noch tausend Gulden zugesandt, aber auch mit Entschiedenheit erklärt, daß sie eine noch höhere Anspannung der Forderung nicht berücksichtigen würde. Was wollte nun der Wärter? Einen Auftrag von Doctor Joszay hatte er doch wohl kaum auszurichten; voraussichtlich führte ihn die Absicht her, einen Erpressungsversuch zu wagen. Gräfin Katinka war fest entschlossen, ihn in diesem Falle der Polizei zu überliefern; wenn er dann auch ihr Verbrechen der Behörde denuncirte, so konnte ihr daraus schwerlich irgend ein Nachtheil erwachsen. Die Macht der Wiener Polizei reichte ja nicht bis nach Ungarn hinüber und im Gebiete der Stephanskrone wagte man sicher nicht, sie zur Verantwortung zu ziehen. Gräfin Katinka schwankte eine kurze Weile hindurch, ob sie den Mann nicht fortweisen lassen solle, doch bewog die Neugierde sie, ihn zu empfangen. Fortse~ung folgt
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Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÊÍ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . (Fo rts e~ung. ) Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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as führt Sie zu mir? « fragte sie kurz und stolz, als Rosza in das Zimmer trat. » Sendet Doctor Joszay Sie? « » Nein. Doctor Joszay konnte mich nicht gut herschikken, da er entweder todt oder doch gefangen ist.« » Entweder todt oder gefangen? « wiederholte verwundert die Gräfin. »Wie soll ich das verstehen? « » Er ist entweder durch den alten Mann, den Sie unserer Anstalt übergaben, ermordet worden, oder, wenn dies nicht geschehen, der Polizei in die Hände gefallen.« Auf dem Gesichte der Gräfin spiegelte sich Bestürzung wider. »Was ist denn vorgefallen? « fragte sie hastig. «Welche Ursache bot der Polizei Anlaß, der Anstalt einen Besuch abzustatten? « 390
»Darüber bin ich nicht im Stande, Ihnen einen Aufschluß zu ertheilen. Ich vermuthe nur, daß die Verwandten des alten Mannes die Absendung einer polizeilichen Commission durchgesetzt haben werden.« Gräfin Katinka unterdrückte die Bestürzung, welche sich ihrer bemächtigen wollte, mit der ihr eigenen Willenskraft und meinte kopfschüttelnd: »Das kommt mir höchst unwahrscheinlich vor. Die Verwandten meines unglücklichen ehemaligen Dieners sind ja ganz arme und unbedeutende Leute, auf deren hirnlose Anschuldigungen zweifellos Niemand einen Werth legt.« Rosza zuckte die Achseln. »Dem mag sein, wie ihm wolle, die Commission hat vorgestern Nacht Einlaß in die Anstalt begehrt –« »Nun, was geschah da?« unterbrach die Gräfin ihn eifrig. Rosza lächelte vielsagend. »Da ich hier anwesend bin, so ist es mir selbstverständlich nicht möglich, Ihnen darüber Auskunft zu ertheilen.« Die Gräfin verstand ihn. »Sie haben sich demnach heimlich aus der Anstalt entfernt, bevor die Commission in dieselbe gedrungen ist?« forschte sie. »Allerdings.« Katinka zeigte eine unverkennbare Unruhe. »Was mag geschehen sein?« flüsterte sie. »Hoffentlich wird Doctor Joszay standhaft bleiben.« So leise diese Worte gesprochen waren, hatte der Wärter sie doch verstanden. Ein Zug der Ironie erschimmerte auf seinen Mienen, als er sagte: 391
»Doctor Joszay dürfte schwerlich im Stande sein, der Commission Rede zu stehen.« »Sie erschrecken mich. Schon vorhin machten Sie eine dunkle Äußerung. Ferencz sollte den Director ermordet haben. Sagten Sie nicht so?« »Genau weiß ich auch das nicht, doch kann ich es als ziemlich sicher annehmen. Ich wurde in der Mitte der Nacht durch Schüsse aus dem Schlafe geweckt und gewahrte, daß der alte Mann aus seinem Zimmer entflohen sei, sich in meine Stube geschlichen und des Hausschlüssels bemächtigt habe. Er muß in das Zimmer des Directors eingebrochen sein, denn aus diesem erschallte furchtbares Geschrei, ein Beweis dafür, daß er sich auf den Doctor geworfen hat um Ihn zu ermorden. Diese Absicht muß er auch verwirklicht haben, denn Doctor Joszay’s Geschrei wurde immer schwächer. Ich glaube, der alte Mann hat ihn nach und nach abgeschlachtet.« »Gräßlich,« murmelte schaudernd die Gräfin, und sich vergessend fragte sie: »War denn Ferencz wahnsinnig geworden, daß er so Entsetzliches zu Vollführen vermochte?« »Ich glaube es,« antwortete Rosza. »Leute mit gesunder Vernunft, die unserer Anstalt übergeben wurden, fielen nach einiger Zeit regelmäßig der Tobsucht anheim. Doctor Joszay und – ich, wir haben es gut verstanden, sie verrückt zu machen.« Ein furchtbar cynisches Lächeln verzerrte das Gesicht des entmenschten Wärters, sodaß selbst die Gräfin sich einer Empfindung des Abscheus nicht zu erwehren ver392
mochte. Doch bald wurde dieses Gefühl durch ein anderes verdrängt. »Der Doctor todt,« rief sie halblaut. »nun ist Niemand in der Anstalt vorhanden, der die Behauptungen des alten Ferencz zu widerlegen und entkräften vermag. Da muß die Commission dem Menschen ja Glauben beimessen.« »Beruhigen Sie sich, gnädigste Frau Gräfin. Auch von dem alten Manne dürfte die Commission kaum Auskunft über die Dinge erhalten, welche in der Anstalt geschehen sind. Der Doctor hat, bevor Ferencz ihn überfiel, zweimal geschossen; daß er beide Male gefehlt haben sollte, däucht mir unwahrscheinlich, weil er ein guter Schütze war. Es ist jetzt also nur noch eine Person übrig, die Auskunft über die Geheimnisse der Anstalt zu geben vermöchte, nämlich die meine, und ich verspüre keine Lust, mit der Polizei in Berührung zu kommen.« Gräfin Katinka sah nun doch ein, daß sie am besten thun würde, dem Wärter einen Betrag auszuzahlen, der ihm ermöglichte, das Land zu verlassen. Mit erzwungener Freundlichkeit fragte sie: »Sie gedenken nun wohl außer Landes zu gehen? Vielleicht wünschen Sie nach Amerika auszuwandern?« Rosza schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er dann, »diese Absicht habe ich nicht, es gefällt mir in Ungarn am besten und deshalb will ich auch dort bleiben. Ich habe ja gar Nichts zu befürchten. Wenn ich mich in irgend einem Comitate unter falschem Namen niederlasse, bleibe ich vollständig unbehelligt.« Die Gräfin wiegte den Kopf. 393
»Es wäre doch gut, wenn Sie sich wenigstens kurze Zeit verborgen hielten, so lange, bis die Entrüstung, welche das Bekanntwerden der Vorgänge in der Irrenanstalt erwecken dürfte, sich gelegt hat.« »Dazu bin ich auch in der That entschlossen. Ich habe mir auch schon einen Schlupfwinkel ausgewählt, nämlich das halb verfallene Schloß Szigeth Szarko, wenn Frau Gräfin das vielleicht kennen.« Er blickte sie forschend an. »Nein,« bemerkte Gräfin Katinka, »ein Schloß dieses Namens ist mir vollkommen unbekannt.« »Es ist auch kein Schloß mehr, sondern nur noch eine Ruine.« »Wenn sie nur einen sicheren Versteck bietet.« »Ich habe guten Grund, das als zweifellos anzunehmen.« »Sie befanden sich noch nicht in jener Ruine?« »Nein; sie ist mir empfohlen worden. Ich würde auch direct von der Irrenanstalt dorthin gereist sein, wenn nicht eine sehr wichtige Angelegenheit mich veranlaßt haben würde, zunächst Sie aufzusuchen.« Die Gräfin runzelte die Stirn. Der Augenblick schien nahe zu sein, wo sie genöthigt sein würde, eines Theiles ihrer Schätze sich zu Gunsten des Wärters zu berauben, und wenn derselbe auch nur winzig klein war, so that es ihr doch weh, ihn hinzugeben. Nachdem Rosza eine kurze Pause gemacht, fuhr er fort: »Ich bin nämlich im Stande, Ihnen eine Enthüllung zu machen, die, wie ich glaube, sehr großen Werth für Sie haben dürfte.« 394
»Sie?« fragte die Gräfin überrascht. »Ist es Ihnen vielleicht gelungen, den alten Mann zur Preisgabe seines Geheimnisses zu bewegen?« »Mir in Gemeinschaft mit dem Director ist es in der That gelungen, den Eigensinn des trotzigen Burschen zu brechen.« »Und der Doctor hat zugelassen, daß Sie Mitwisser des Geheimnisses wurden?« fragte mit ungläubiger Miene die Gräfin. »Ich bin es gegen seinen Willen geworden.« Der Gräfin erschien diese Versicherung wenig glaubwürdig. Sie konnte es sich allerdings nicht verhehlen, daß Doctor Joszay alle nur erdenklichen Anstrengungen machen würde, das Geheimniß zu erfahren, aber ebenso sicher war, daß er keinen Andern in dasselbe einweihen lassen würde. Wenn er wirklich Mittel gefunden hatte, Ferencz zur Preisgabe des Geheimnisses zu bewegen, dann hatte er zweifellos auch Maßregeln getroffen, die verhüteten, daß noch ein Mensch außer ihm es kennen lerne. Rosza, der aus den Mienen der Gräfin herauslas, welchen Gedanken sie sich hingab, ergriff nach kurzer Pause wieder das Wort. »Sie scheinen anzunehmen, gnädigste Frau Gräfin, daß ich eine unwahre Behauptung aufstelle, doch werden Sie eine andere Überzeugung gewinnen, wenn Sie mir gestatten wollen, zu erzählen, auf welche Weise mir es glückte, ebenfalls das Geheimniß des alten Dieners kennen zu lernen.« »Ich will Ihre Mittheilung gern anhören.« 395
Rosza berichtete nun, welche Folter Doctor Joszay angewandt habe, um von Ferencz die Preisgabe des Geheimnisses zu erzwingen, und fuhr dann fort: »Als der alte Mann seine Bereitwilligkeit, dem Director die erwünschte Enthüllung zu machen, kundgab, hieß Doctor Joszay mich, das Zimmer zu verlassen. Ich begab mich schleunigst in mein Zimmer –« »Und von dort aus belauschten Sie die Enthüllung?« unterbrach ihn die Gräfin lächelnd. »Allerdings. Von meinem Zimmer aus geht nach jeder Stube, in welcher ein Irrer sich befindet, ein Schallrohr, welches mir ermöglicht, das geringfügigste Geräusch, selbst leise gesprochene Worte, deutlich zu verstehen.« Der Ausdruck der Zweifelsucht verschwand vom Gesichte der Dame und mit immer höher steigender Spannung hörte sie von nun ab auf die Mittheilung des Wärters, der mit unverkennbarer Befriedigung über die Wendung in dem Sinne der Gräfin seine Erzählung fortsetzte. »Da Doctor Joszay sich im Zustande hoher Erregung befand, so dachte er nicht daran, die Öeffnung der Röhre, welche in dem Zimmer des alten Mannes ausmündete, zu verstopfen. Ich war deshalb im Stande, die Enthüllung Ihres Dieners Wort für Wort zu verstehen.« Der Gräfin Augen funkelten. Hastig fragte sie: »Sie wissen also, wo die –« Plötzlich unterbrach sie sich; der Argwohn, ob der Mann sie nicht zu hintergehen beabsichtigte, drängte sich ihr auf. Sie wollte sich zuvor überzeugen, ob er wirklich von der Existenz der ersten Gattin Kolomans Kenntniß habe. 396
Demzufolge stellte sie die Frage in veränderter Form. »Was also haben Sie erlauscht?« »Daß die erste Frau Ihres verstorbenen Herrn Gemahls noch lebt und wo dieselbe verborgen gehalten wird.« Gräfin Katinka konnte nicht länger an der Aufrichtigkeit des Wärters zweifeln. Sie erwog, wie viel die Enthüllung ihr noch werth sei und gelangte zu dem Resultate, daß sie einen hohen Preis für dieselbe zahlen könne. Außer den schon früher erwähnten Gründen war es noch einer, der eben erst entstanden, welcher das Geheimniß so werthvoll für sie machte. Ferencz war vielleicht, trotz der gegenteiligen Ansicht Roszas, im Stande gewesen, der polizeilichen Commission Aufschluß darüber zu ertheilen, weshalb er in die Irrenanstalt gebracht worden sei. Die nächste Folge dieser Aussagen mußte natürlich die sein, daß die Polizei nachforschte, ob die Angaben des alten Mannes nicht Erzeugnisse eines verwirrten Geistes wären. Fand sie die erste Frau Kolomans wirklich vor, dann war sie schon um des ungeheuren Aufsehens willen, den diese sensationelle Affaire erregen mußte, gezwungen, mit unnachsichtlicher Strenge gegen Gräfin Katinka vorzugehen. Es kam mithin Alles darauf an, die Deutsche aus ihrem jetzigen Aufenthaltsorte zu entfernen, bevor die Polizei nach demselben kam. Katinka zweifelte nicht daran, daß dies noch möglich sein würde. Die Sicherheitsbehörde befleißigte sich, gleich allen anderen Behörden Österreichs, einer schwerfälligen Verwaltung. Die Commission, welche nach der Irrenanstalt gesandt war, mußte, wie Katinka wußte, zunächst das Er397
gebniß ihrer Inspection nach Pest an das Ministerium des Innern berichten; von diesem würde dann das Justizministerium instruirt, und nun erst empfing die Polizei Befehl zur Anstellung von Nachforschungen. Wenn alle Behörden sich einer möglichsten Geschwindigkeit befleißigten, mußten doch vier bis fünf Tage verstreichen, ehe die Polizei den Kerker der Deutschen aufzusuchen vermochte. Trotzdem durfte die Gräfin keinen Augenblick ungenutzt vorübergehen lassen; fast zwei Tage waren seit der Ankunft der Commission in der Irrenanstalt verflossen und ehe die Reise bis zu dem voraussichtlich weit von Wien entfernten Aufenthaltsorte der Gefangenen zurückgelegt werden konnte, verstrichen vielleicht noch zwei Tage. Eile war deshalb dringend geboten, zumal da sich ja nicht voraussehen ließ, ob die Gefangene zu jeder beliebigen Zeit aus dem Kerker fortgeschafft werden konnte. Und das mußte geschehen; denn wenn die Polizei die Deutsche nicht vorfand, mußte sie wohl die Ansicht hegen, daß Ferencz einer fixen Idee fröhne und von Gräfin Katinka mit Fug und Recht der Irrenanstalt übergeben worden wäre. Zum Mindesten ließ sich kein gravirender Schuldbeweis gegen Katinka aufstellen. Während sie diesen Erwägungen sich hingab, betrachtete der Wärter, aufmerksam prüfend, jede ihrer Mienen. Er wollte offenbar aus dem Ausdrucke ihres Gesichtes sich vergewissern, ob seine Enthüllung bedeutenden Eindruck auf die Gräfin hervorgebracht hätte und ob er wagen dürfe, einen hohen Preis zu fordern. Gräfin Katinka hinwiederum beobachtete ihn verstohlen und da sie keinen Augenblick in Zweifel darüber sein 398
konnte, mit welchen Gedanken der Mann sich beschäftige, so bemühte sie sich, recht gleichgültig auszuschauen. Es gelang auch vortrefflich, Rosza zu täuschen, sodaß derselbe sich vornahm, seine ursprünglich hochgespannte Forderung bedeutend zu ermäßigen. Er war, gleich zahllosen ungebildeten Leuten, der Meinung, daß die Vergehen hochstehender Personen von der Justizbehörde mit ganz anderem Maaße gemessen werden, als die der geringen Leute, und auf die in Ungarn obwaltenden Verhältnisse paßte diese Voraussetzung auch gar nicht übel. Ein Magnat darf sich gegen niedrigstehende Personen Alles erlauben, das ist eine dem ganzen ungarischen Volke wie ein Glaubensatz geltende Maxime. Treibt er es gar zu arg, nun, dann ersucht man ihn allenfalls, auf einige Zeit das Land zu verlassen. Diese Annahme wurde durch die Kaltblütigkeit der Gräfin noch wesentlich bestärkt. »Hätte meine Mittheilung großen Werth für die Gräfin, dann würde sich dieselbe ganz anders geberden,« so calculirte Rosza. »Sie thut aber ganz so, als wenn sie gar kein Interesse dafür empfände und es soll mich gar nicht wundern, wenn sie mir erklärt, sie brenne durchaus nicht vor Begierde, den Aufenthaltsort der anderen Gräfin kennen zu lernen, und gebe mir keinen Pfifferling für die Enthüllung.« Rosza erfreute sich keines absonderlich scharfen Verstandes, mithin auch keiner reichen Combinationsgabe. Er konnte sich demzufolge die Gründe, welche die Gräfin veranlassen könnten, großen Werth auf die Enthüllung zu legen, nicht erklügeln, um so weniger, als ihm die Ante399
cedentien der Gräfin, sowie deren Erbschaftsproceß unbekannt waren. Nur die Begierde, mit welcher Doctor Joszay danach getrachtet hatte, das Geheimniß kennen zu lernen, hatte den Wärter zu dem Glauben verleitet, daß dasselbe einen unschätzbaren Werth für die Gräfin Katinka haben müsse. Das reservirte Wesen, welches die Dame zeigte, stimmte seine übertriebenen Erwartungen beträchtlich herab und er befleißigte sich eines ungleich demüthigeren Benehmens, denn vorhin, als die Gräfin in kühlem Tone fragte: »Sie kennen also den Ort, an welchem jene Frau im Gewahrsam gehalten wird, genau?« »Zu dienen, gnädigste Frau Gräfin.« »Und Sie sind natürlich nur zu dem Zwecke hergekommen, mir ihn namhaft zu machen?« »Allerdings,« stotterte Rosza. »Aber – das heißt –« »Das heißt, nur unter der Bedingung, daß ich Ihnen einen Preis für die Mittheilung auszahle, wie?« »Das ist in der That die Bedingung, welche ich mir erlaubt hätte zu stellen.« »Und wenn ich Ihnen dieses angebliche Geheimniß nicht abkaufen will?« »Dann behalte ich es natürlich für mich.« Diese Antwort bewies der Gräfin, daß der Wärter von der Existenz des Erbprätendenten und von der unermeßlichen Bedeutung, welche die Enthüllung für denselben haben würde, keine Ahnung besitze. Sie beschloß, diesen Umstand insofern gehörig auszunützen, daß sie die Forderung Roszas auf ein möglichst geringes Maaß herabdrückte. Da sie es mit keinem in Kniffen und Ränken gewandten, 400
jede Äußerung subtil abwägenden Weltmanne, sondern mit einem unerfahrenen, vielleicht sogar einfältigen Individuum zu thun hatte, so konnte sie ohne alle Umschweife die Unterhandlung sofort beginnen. »Um welchen Betrag wäre Ihnen die Enthüllung feil?« forschte sie, noch immer sorglich bemüht, in Mienen und Stimme Gleichgültigkeit zu heucheln. »Ich würde sie für 2000 Gulden Ihnen kundthun.« Die Gräfin gerieth über diese unerwartet mäßige Forderung in nicht geringes Erstaunen. Doch hütete sie sich, dasselbe blicken zu lassen, vielmehr nahm sie, da sie nun wußte, daß der Wärter ein beschränkter Mensch sein müsse, sich vor, selbst den niedrigen Preis noch herabzudrükken. »2000 Gulden?« wiederholte sie mit gut gespielter, unangenehmer Überraschung. »Wo denken Sie hin, mein Lieber? Das Geheimniß ist sehr viel weniger werth für mich. Sie müssen doch selbst einsehen, daß jene Person, welche angeblich die erste Gattin meines verewigten Gemahls sein soll, mir nur ein sehr geringes Interesse einzuflößen vermag. Der Umstand, daß man sie gefangen gehalten hat, läßt mich vermuthen, daß sie eine freche Betrügerin sein muß. Wahrscheinlich ist es eine feile Dirne, welche der Graf während seiner Studien in Deutschland kennen gelernt hat; junge, lebenslustige Kavaliere knüpfen ja in der Regel solche Liaisons an. Ich will auch nicht in Abrede stellen, daß der Graf, um die Person zu bethören, ihr allerlei Vorspiegelungen gemacht haben mag, möglich ist es sogar, daß er ihr die Ehe versprochen hat. Die Person mochte 401
sich demzufolge berechtigt glauben, Ansprüche auf den Rang einer Gräfin Szapary zu erheben, so daß der alte Graf sich genöthigt sah, sie in ewiger Gefangenschaft zu halten, um das unliebsame Aufsehen, welches eine derartige Scandal-Affaire immerhin hervorruft, zu vermeiden. Daß ich für eine derartige Person lebhaftere Theilnahme empfinden sollte, ist mir selbstverständlich nicht zuzumuthen. Ich will den Aufenthaltsort derselben nur deshalb kennen lernen, um sie aus der Gefangenschaft zu erlösen, wenn sie, wie sich wohl annehmen läßt, ihre thörichten Illusionen aufgegeben haben sollte. Doch ist dieser Zweck mir nicht so wichtig, daß ich zweitausend Gulden für ihn aufwenden sollte. Ich habe der Gefangenen kein Unrecht zugefügt, brauche deshalb dasjenige, welches sie durch meinen Schwiegervater erlitten hat, nicht zu sühnen.« Die Erklärung, welche Gräfin Katinka abgab, erschien dem Wärter schon aus dem Grunde ganz plausibel, weil der junge Graf, nach seiner Meinung, doch nicht eine zweite Ehe hätte eingehen können, so lange die erste noch nicht gelöst war. Er erachtete es deshalb als selbstverständlich, daß der Gräfin an der Landstreicherin unmöglich viel gelegen sein könne, und beschloß, sich mit einem geringeren Betrage zufrieden zu geben, damit die Gräfin nicht vielleicht ganz und gar die Lust verliere, ihm das Geheimniß abzukaufen. Rasch warf er deshalb die Bemerkung hin, daß er sich mit 1500 Gulden begnügen wolle, und war lebhaft erfreut, als die Gräfin diesen Betrag bewilligte. Rosza sollte ihn erhalten, sobald die Zusammenkunft der beiden Gattinnen stattgefunden habe. 402
»Waren Sie bereits früher einmal in der Nähe jenes Ortes, an welchem die Gefangene sich befindet?« erkundigte sich Gräfin Katinka. »Nein, noch nie.« »Dann wird Ihnen natürlich auch nicht bekannt sein, welcher Communicationsmittel man sich bedienen muß, um am schnellsten dorthin zu gelangen?« »O doch. Doctor Joszay erkundigte sich danach bei Ihrem Diener. Wir werden bis Bazias die Eisenbahn benutzen.« »Und zwar wollen wir recht bald abreisen. Je früher diese unerquickliche Angelegenheit erledigt ist, um so angenehmer ist mir’s. »Gestatten Sie mir, nur ein Stündchen der Ruhe zu pflegen. Mein linker Arm ist verwundet und schmerzt heftig, weil ich seit 20 Stunden im Eisenbahncoupé gesessen habe. Bevor ich mich nicht ein wenig erholt habe, kann ich die weite Fahrt nicht antreten.« Erst jetzt bemerkte die Gräfin, daß Rosza die linke Hand unaufhörlich in einem Schlitz des Rockes ruhen gehabt und daß er bleich und angegriffen aussah. Um jede unnöthige Verzögerung hintanzuhalten, schlug sie dem Wärter vor, daß er in einem Domestikenzimmer ihres Hauses sich bis zur Abreise aufhalten solle, worauf Rosza gern einging. Einen Arzt, den die Gräfin herbeiholen lassen wollte, glaubte er entbehren zu können, da ihm nach seiner Ansicht nur einige Ruhe zur vollständigen Erholung und Kräftigung nöthig wäre. – Nach Verlauf von zwei Stunden fuhren Gräfin Katinka mit ihrer Kammerfrau und dem Wärter, welchen man in 403
eine Livree gesteckt hatte, dem Staatsbahnhofe zu und von dort mit dem Eilzuge nach Bazias, wo sie in einem Gasthofe zweiten Ranges einkehrten. Die Gräfin wollte unerkannt bleiben, damit man späterhin nicht nachzuweisen vermöchte, daß sie den Ort, an welchem Kolomans erste Gemahlin gefangen gehalten sein sollte, besucht habe. Rosza hatte sich noch während der Eisenbahnfahrt der Livree entledigt und galt in dem Gasthofe als Verwandter der Frauen. Doch forderte man weder von ihm noch von den Frauen Auskunft über ihre Persönlichkeiten. Während der Reise hatte die Wunde Roszas sich bedenklich verschlimmert; sie verursachte jetzt heftige Schmerzen. Trotzdem nahm der Wärter ärztliche Hülfe nicht in Anspruch. Die Blessur war, wie ja auch der Arzt bestätigt hatte, keine schwere, und nach Roszas Meinung würde sie sehr bald heilen, wenn er nur erst mehrere Tage nach einander der Ruhe pflegen könnte. Daß selbst eine scheinbar nichtsbedeutende Verwundung lebensgefährlich werden kann, wenn sie vernachlässigt wird, daran dachte Rosza nicht, vielleicht hoffte er auf seine kräftige Constitution. Selbst als die Schmerzen nach Verlauf der Nacht, welche die Reisenden in Bazias zubringen mußten, nicht nachließen, gab er sich noch keiner Besorgniß hin. Auch hatte er jetzt kaum Zeit, für sich zu sorgen, denn Gräfin Katinka drängte zur Weiterreise. Sie kannte das Ziel derselben noch immer nicht, mußte deshalb dem Wärter die Besorgung des zweckmäßigsten Communicationsmittels überlassen. Rosza, der auch nur wußte, daß das Domicil der Gefangenen nicht fern von Bazias gelegen sei, wandte sich um 404
nähere Auskunft an den »Commissionär« des Gasthauses. Jeder im Osten Europas gelegen Gasthof hat ein solches Factotum, welches fast überall den Kindern Israels angehört und den Reisenden alle nur erdenklichen Dienste gegen angemessene klingende Vergütung leistet. »Nach Szigeth Szarko wollen Sie?« fragte mit dem Ausdrucke höchster Verwunderung der Commissionär, nachdem Rosza ihm sein Anliegen vorgetragen hatte. »Sollen auch die Damen dorthin?« »Ja.« Der Commissionär schüttelte lebhaft den Kopf; sein Erstaunen hatte sichtlich zugenommen. »Warum setzt Sie das so in Verwunderung?« forschte ungeduldig der Wärter. Fortse~ung folgt.
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as will ich Ew. Gnaden allsogleich erklären. Szigeth Szarko ist eine Schloßruine, die früher zu den Besitzungen der gräflich Szapary’ schen Familie gehörte, oder eigentlich noch gehört. Doch bekümmert sich seit Jahren kein Mensch um sie. Ein steinalter Diener haust in ihr, wenn er noch am Leben sein sollte, was mir nicht bekannt ist. Die Gegend rings um die Ruine steht in üblem Rufe. Szigeth Szarko liegt auf einem Felsen, der senkrecht aus der Donau aufsteigt und auf zwei anderen Seiten von einem meilenweiten Moore eingeschlossen wird. Dieses dient Räubern und Schmugglern zum Schlupfwinkel und auch in der Ruine sollen sich unauffindbare Verstecke der Banditen befinden. Auf Stunden in der Runde ist kein Haus, in welchem Sie einkehren könnten – « 406
»Das soll auch nicht geschehen,« warf Rosza ein. »Wenn die Angelegenheit, welche uns nach Szigeth Szarko führt, erledigt ist, verlassen wir das Nest unverzüglich.« »Sie kommen erst gegen Abend hin.« »So weit ist es entfernt?« »Sieben bis acht Meilen. Der Weg ist so schlecht, daß vierzehn Stunden mindestens zur Zurücklegung der Strekke erforderlich sind.« »Können wir denn nicht auf dem Strome die Ruine erreichen?« »Wenn Sie bei dem hohen Wasserstande sich durch ein Boot befördern lassen wollten, würde eine halbe Woche verstreichen, ehe die Ruine erreicht werden könnte. Sie könnten allerdings mit einem Dampfer zurück nach Pancsova fahren; von dort hätten Sie einige Meilen weniger zu Wagen zurückzulegen –« »Wir würden aber noch mehr Zeit brauchen, als wenn wir von hier direct ein Fuhrwerk benutzen. Können Sie uns einen leichten Wagen mit tüchtigen Pferden besorgen?« »Es wird schwer halten, einen aufzutreiben. Nach der verrufenen Gegend fährt kein Kutscher gem. Jedenfalls werden Sie einen hohen Fuhrlohn bezahlen müssen.« Dazu erklärte Rosza sich gern bereit. Doch mochte er den Wagen nicht früher miethen lassen, als bis er sich vergewissert hatte, daß die Gräfin sich durch die Schilderung, welche der Commissionär von der Umgebung der Ruine entworfen hatte, nicht von einem Besuche des Felsennestes abhalten lassen würde. Diese Gewißheit wurde ihm schon nach wenigen Minuten zu Theil. Gräfin Katinka besaß 407
großen Muth, der so leicht vor keiner Gefahr zurückbebte. Wenn das aber auch nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie die Ruine doch besucht. Sie fieberte vor Ungeduld, dorthin zu kommen, die Gefangene kennen zu lernen und aus dem Kerker fortbringen zu lassen, bevor etwa die Polizei denselben aufsuchte. Dem Commissionär gelang es mit einiger Mühe, ein Fuhrwerk zu miethen, und bald flog dasselbe mit der Gesellschaft beladen, in dem tollen Tempo, welches die ungarischen Pferdeknechte lieben, über die unabsehbare Pußte der Ruine zu.
Vierzehnte+ Kapitel. Vereint – getrennt. Als Lucie sich in die Fluth stürzte, stieß Jörg einen markerschütternden Schrei aus, dann sprang er über das Verdeck hin nach der Spitze der Zille, riß einen der langen Haken, die dort standen, an sich und eilte zurück, indem er sich der Hoffnung hingab, daß die Unglückliche zum Vorschein kommen und daß er sie dann an Bord ziehen könnte. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als trügerisch. Das schwere Fahrzeug wurde vom Strome mit vielfach größerer Geschwindigkeit davongetragen, als der leichte Körper des Mädchens. So kam es, daß die Zille in dem Augenblicke, wo Lucie von der rasenden Fluth wieder ausgestoßen wurde, bereits weit von dem Mädchen entfernt war. Zehn an408
einandergebundene Stangen hätten nicht mehr bis zu jener Stelle gereicht, und da die Zille kein Boot mit sich führte, so mußte Jörg jeden Rettungsversuch aufgeben. Bald auch verlor er in der Dunkelheit das mit den Wellen ringende Mädchen aus den Augen, zumal da er seine Aufmerksamkeit dem Steuer zuwenden mußte. Die übrigen Insassen der Zille waren durch Jörg’s Schrei und das Gepolter seiner Tritte nicht aufgeweckt worden. Die Schiffer erfreuten sich eines festen Schlafes und Frau Scharnbock war durch den übermäßig genossenen Grog viel zu sehr betäubt, um sich der bleiernen Lethargie, mit welcher ein Rausch die Glieder bannt, entreißen zu können. Lucie hatte nicht einen Augenblick die Besinnung und Geistesgegenwart verloren. Als sie von der strudelnden Fluth gewaltsam auf die Oberfläche geworfen wurde, die Zille in der Ferne verschwinden sah und die Überzeugung gewann, daß es ihren Entführern unmöglich wäre, sich ihrer wieder zu bemächtigen, da erwachte in ihr die Lebenslust mit solcher Stärke, daß sie sich vornahm, mit dem Aufgebote ihrer ganzen Kraft gegen den Tod zu ringen. Die Vorstellung, welche Folterqualen der Geliebte erdulden müßte, wenn sie spurlos verschwunden blieb, und welche Überfülle von Seligkeit ihm und ihr beschieden werden müßte, wenn es ihr gelänge, sich zu retten, stählte ihre Kraft. Hätte sie die Kunst des Schwimmens verstanden, dann würde sie trotz der reißenden Schnelligkeit des Stromes sich bis zu dem fernen Ufer hingearbeitet haben, da dies jedoch nicht der Fall war, so vermochte sie sich nur 409
wenige Minuten auf der Oberfläche zu erhalten. Die Ermattung stellte sich um so zeitiger ein, als die eisige Kälte des Wassers Luciens Glieder schnell erstarrte. »Du sollst nicht länger am Leben bleiben,« dachte die schwer Geprüfte, indem sie einen thränenfeuchten Blick zum Himmel sandte. »Du guter Vater im Himmel, nimm mich denn zu Dir und tröste meinen armen Hugo.« Ergebungsvoll wollte sie sich in die Tiefe gleiten lassen, da – war es denn Wirklichkeit oder Täuschung? – kam dort, kaum zwanzig Schritte seitwärts von ihr, nicht ein Boot den Strom herabgeflogen? Noch einmal machte Lucie verzweifelte Anstrengungen, sich ein wenig zu erheben; es gelang ihr. Sie sah nun deutlich, daß sie sich nicht getäuscht hatte, und mit dem Aufgebote ihrer letzten Kraft schrie sie gellend: »Hilfe! Rettung!« Unsagbare Wonne ergriff sie, als sie wahrnahm, daß man sie vernommen. Das Boot wandte augenblicklich und kam auf sie zu geschossen. Mehrere Stimmen schrieen durcheinander, – dann flog ein Bootshaken zu dem Mädchen herüber und faßte sein Gewand, – starke Arme zogen ihn an und hoben Lucie in das Boot, – sie sah noch, daß sechs Männer und zwei Frauen in dem Boote sich befanden, dann verlor sie die Besinnung. Als sie wieder zu sich kam, gewahrte sie, daß man sie mit mehreren Mänteln bedeckt hatte. Sic lag auf einigen weichen Ballen in dem Raume zwischen den Ruderbänken und dem Steuer. Sowohl ihr zu Häupten wie zu Füßen hatte sich eine der Frauen niedergekauert, sodaß Lucie 410
den Blicken der Männer ganz entzogen war. Diese zarte Maßnahme lieferte der holden Jungfrau den Beweis, daß die Menschen, welche sie umgaben, oder doch wenigstens die Frauen nicht aller zarteren Regungen bar sein konnten, und diese Gewißheit that nicht wenig wohl. Die Frau, welche ihr zu Häupten saß, hatte sich theilnahmsvoll über sie gebeugt, und Lucie erkannte, daß sie noch in der ersten Blüthe der Jugend stand und einen eigenartigen Gesichtsschnitt, sowie überaus feurige Augen besaß. Als Lucie die Augen aufschlug, rief das Mädchen erfreut in seltsam klingender Mundart: »Sie lebt!« Lucie kannte und verstand diesen Dialekt; es war die Sprache der Zigeuner, unter denen sie ja einen Theil ihrer Jugend zugebracht hatte. »Frage sie, ob sie ein wenig Branntwein trinken will,« gebot die andere Frau. Das Mädchen schickte sich an, diese Frage an Lucie zu richten, besann sich aber und rief der anderen Frau zu: »Sie versteht unsere Sprache sicher nicht, Mutter –« »Ich verstehe sie,« fiel Lucie ein. »Ist es möglich,« staunte das Mädchen. »Du gehörst doch nicht zu unserem Volke, bist nicht einmal eine Ungarin, sondern eine Deutsche, wie Deine zarte Farbe und Dein blondes Haar bekunden, und dennoch bist Du unserer Sprache mächtig? Doch, wie thöricht ich bin,« unterbrach sie sich plötzlich, »so ganz zur Unzeit zu schwatzen, statt für Dich zu sorgen. Willst Du etwas Branntwein? 411
Wir haben kein anderes Getränk. Nimm getrost einige Schluck; er wird Dir gut thun. Willst Du?« »Ja, Du Gute,« lispelte Lucie. Das Mädchen reichte ihr eifrig eine kleine, mit dem feurigen Getränke angefüllte Flasche. Lucie genoß einen kleinen Theil des Branntweins, der ihr in der That vortrefflich bekam. Er verbreitete behagliche Wärme im Innern des Körpers und da auch die Mäntel ihre Schuldigkeit thaten, so wich die Steifheit von Luciens Gliedmaßen. Mit der Wärme stellte sich aber auch die Erschlaffung ein und bewirkte, daß eine Empfindung der Schläfrigkeit sich geltend machte. Ehe Lucie sich derselben überließ, flüsterte sie dem Zigeunermädchen zu: »Ich bin matt; die Schläfrigkeit überwältigt mich.« »Schlummere nur,« fiel das Mädchen ein, »Dir wird kein Leid widerfahren.« »Von Euch, Ihr lieben Leute, nicht, aber die Bösewichte, welche mich entführt haben und in die Sclaverei schleppen wollten, sodaß ich, um diesem Loose zu entgehen, in den Strom sprang, könnten mich hier finden. Wenn das geschieht, o dann schützt mich vor ihnen; lieber will ich todt sein, als ihnen wieder in die Hände fallen.« »O Vater,« rief das Mädchen dem alten Manne, welcher am Steuerruder saß, zu, »denke Dir, man hat die Ärmste mit Gewalt entführt und wollte sie als Sclavin verkaufen.« »Ja, ja, ich kenne das,« brummte der Alte. »Hübsche deutsche Mädchen werden in der Türkei gut bezahlt.« Das Mädchen fuhr fort: »Um sich diesem Schicksal zu entziehen, hat sie sich in die Donau geworfen.« 412
»Armes Ding; gut, daß wir gerade zur rechten Zeit kamen.« »Und sie bittet, daß wir sie den Räubern nicht ausliefern möchten –« »Sie kann ruhig sein. Wir nehmen sie in unser Haus und von dort mag sie hingehen, wohin sie will, sobald sie kräftig genug sein wird.« »Da hörst Du’s, daß Du ganz sicher bist,« flüsterte die Zigeunerin Lucien zu. »Dank, tausend Dank,« rief Lucie gerührt, »der Himmel lohne Euch Euren Edelmuth!« Dann versank sie in einen sanften Schlummer. – Als sie wieder erwachte, fand sie sich in einem groben, doch reinlichen Bette, welches in einer dürftig ausgestatteten, nur durch ein kleines Fenster spärlich erhellten Kammer stand. Es war Niemand anwesend, doch standen Erfrischungen auf einem Tisch dicht am oberen Ende des Lagers, sodaß Lucie sie bequem erreichen konnte. Sie genoß auch sofort einen Theil derselben, denn sie fühlte sich entkräftet und wie gelähmt. Ein bleierner Druck lastete auf ihrem ganzen Körper; die Nachwehen der übermächtigen Aufregungen und Anstrengungen machten sich nun geltend. Der edle Ungarwein erquickte Lucie nicht wenig, trotzdem war sie nicht im Stande, sich ganz zu erheben, obgleich sie durch die Bangigkeit um den Geliebten und die Sehnsucht nach ihm so sehr gedrängt wurde, daß sie gern sofort nach Wien zurückgefahren sein möchte. Sie fühlte jedoch, daß sie wohl einige Tage der Ruhe würde pflegen müssen, ehe sie sich soweit erholt hätte, auf413
stehen und gar die Strapazen der weiten Reise ertragen zu können. Neugierig blickte sie sich in dem engen Raume um. Es gab da nicht viel zu sehen. Ein großer, massiver Schrank, einige nicht minder feste Truhen und Holzstühle, wie man sie in den Bauernwirthschaften findet, bildeten das Ameublement. Die Decke bestand aus Balken und war rauchgeschwärzt, doch die Wände glänzten im Schmucke schneeweißer Tünche und der Boden war sauber gescheuert. Wenn, wie eben jetzt, die Sonne mit goldigem Schimmer das Gemach durchfluthete, sah es ganz wohnlich und anheimelnd in demselben aus. Ein Blick durch das Fenster belehrte Lucie, daß das Haus hoch gelegen sein müsse, denn sie sah eine Ebene sich meilenweit hin erstrecken und in der Ferne die Häuser und Mauern einer Stadt. Kaum hatte sie diese Wahrnehmungen gemacht, als das Zigeunermädchen den Kopf durch die Thür steckte und rasch in die Stube trat, sobald sie gewahrte, daß Lucie wach sei. Lucie konnte nun deutlich sehen, daß es ein allerliebstes Kind war, dessen schönes Gesicht durch den Typus ihrer Race noch einen besonderen Reiz erhielt. Auch die Tracht, in welcher sie erschien, trug nicht wenig zur Vermehrung ihrer Schönheit bei. Sie trug ein brennend rothes, kaum bis an die Kniee reichendes Röckchen, welches mit Silberfäden besetzt war, ein weit ausgeschnittenes Mieder von derselben Farbe, doch mit Goldflittern verziert, um den Hals eine doppelte Schnur goldener Schaumünzen und 414
in dem krausen, rabenschwarzen Haare bunte Glasperlen. Elastischen Schrittes, das Gesicht durch ein freundliches Lächeln verklärt, eilte sie zu dem Lager und fragte: »Bist Du wieder ganz wohl. Wir fürchteten Alle, daß Du eine schwere Krankheit davontragen würdest.« »Der Himmel hat mich davor bewahrt; ich fühle mich nicht krank, nur recht matt, sodaß ich wohl noch einige Tage Euch zur Last fallen werde.« »Wie Du nur redest!« rief eifrig, fast zürnend die Kleine. »Du bereitest uns keine Beschwerde und ich freue mich von ganzem Herzen, daß Du noch einige Zeit hier bleiben wirst. Du siehst so gut aus, und ich habe Dich schon so lieb gewonnen, wie eine Schwester.« »Auch ich habe Dich in mein Herz geschlossen, Du liebes Mädchen,« rief Lucie erfreut. Die Zigeunerin klatschte vor Freude in die Hände. »Wie mich das freut!« rief sie lebhaft. »Die Tage, welche Du hier zubringst, werden Feiertage für mich sein. Und Langeweile sollst Du nicht haben. Ich werde Dir Viel erzählen, und Du mußt mir dafür mittheilen, wie Du dazu gekommen bist die Zigeunersprache zu lernen und in welcher Weise man Dich entführt hat. Willst Du?« »Gern.« »Herrlich, herrlich. Ich wäre vor Neugierde krank geworden, wenn Du Dich geweigert hättest. Aber Du bist eine liebe, liebe Seele, welche die kleine neugierige Etelka nicht schmachten lassen will.« Das feurige Kind umarmte und küßte ungestüm die Gerettete, welche die Liebkosung aufrichtig erwiederte, denn 415
das wilde Naturkind flößte ihr warme Sympathieen ein. Etelka hielt redlich Wort; sie bemühte sich nach Kräften, Lucie zu unterhalten und aufzuheitern, denn die Sorge um die Verzweiflung des Geliebten, der nun vielleicht schon in Wien war und sie vergeblich suchte, verdüsterte oft die reine Stirn des holden Mädchens. Doch bestrebte Lucie sich, ihren Kummer möglichst zu verbergen, weil sie der Zigeunerin keine Bangigkeit einflößen mochte, dagegen überließ sie sich die ganze Nacht hindurch den trüben Gedanken und vergoß bittere Thränen. Nur während einiger Minuten verscheuchte ein seltsamer Vorgang ihre Traurigkeit. Nach Luciens Schätzung mochte die Mitternachtsstunde vorübergegangen sein, als schwere Tritte den Berg hinankamen. Leise wurde die Thür geöffnet, dann schlichen mehrere Personen in das Haus, ein Geflüster erhob sich und nach kurzer Pause begaben die Leute sich in ein Zimmer. Sie mußten die Stiefel ausgezogen haben, denn ihre Schritte verursachten nur ein ganz geringes Geräusch. Ein leises Knarren und Knacken wurde vernehmbar, dann stiegen die Leute eine Treppe hinab; Lucie hörte deutlich, wie die hölzernen Stufen knirschten. Nach einiger Zeit stiegen Alle wieder aufwärts und zwar schwer beladen. Das konnte Lucie aus dem Umstande folgern, daß sie langsam und fest auftraten. Vor dem Hause hielten sie still und nun wurde Lucie gewahr, daß sie sich nicht getäuscht hatte, denn sie vernahm das dumpfe Aufschlagen von Lasten auf den Felsboden; wahrscheinlich warfen die Männer ihre Bürden nieder, um wieder die Stiefel anzulegen. In der That erschallten gleich darauf die 416
Tritte wieder mit lautem Geräusch. Jeder nahm sein Pack auf den Buckel und Alle zusammen stiegen den Berg hinab und warfen die Lasten in ein Boot, welches, wie Lucie an den Ruderschlägen erkannte, quer über den Strom fuhr. Aus der Heimlichkeit, mit welcher die Beladung des Bootes inmitten der Nacht bewerkstelligt wurde, zog Lucie den Schluß, daß die Leute triftige Ursache haben mußten, das Licht des Tages bei der Ausführung ihres Werkes zu scheuen. Diese Muthmaßung fand Bestätigung, als sie am nächsten Tage ihrer Pflegerin offen erzählte, was sie erlauscht hatte. Etelka machte kein Hehl daraus, daß das Haus ihrer Eltern ein Waarendepot von Schmugglern enthielt. Die Donau bildete hier die Grenze zwischen Österreich und Serbien, und der Schmuggelhandel stand in dieser Gegend in hoher Blüthe. Als Lucie sich aus der Zille in den Strom warf, kamen die Schmuggler eben aus Pancsova, wo sie Waaren in Empfang genommen hatten. Erst gegen Abend des nächsten Tages konnte Lucie das Lager verlassen. Da es ein sonniger Tag war, so folgte sie der Einladung Etelkas, deren Lieblingsplatz zu besuchen. Sie gingen von dem Häuschen, das, einem Schwalbenneste vergleichbar, am Felsen klebte, einen Pfad entlang, der wohl hundert Fuß oberhalb des Stromes längs einer steil aufragenden Granitwand hinlief. Nach einer kurzen Strekke bogen sie um eine scharfe Ecke, und vor ihnen breitete sich ein herrliches Panorama aus, bei dessen Anblick Lucie in einen Ausruf des Entzückens ausbrach. Tief unter ihnen floß der majestätische Strom dahin, auf seinem gegenüberliegenden Ufer erhoben sich schön geformte, mit prächti417
gen Laubwäldern bestandene Berge, doch ließen dieselben weite Spalten zwischen den einzelnen Kuppen und durch diese schweifte der Blick in eine unabsehbare, gut bebaute Ebene hinaus und blieb an den Thürmen zweier Städtchen, die nur wenige Stunden von einander entfernt lagen, haften. Wandte man das Angesicht gegen den Strom, dann erblickte man in der Ferne die schlanken Kirchtürme einer größeren Stadt, deren vergoldete Kreuze im Abendsonnenschein blitzten. Am diesseitigen Ufer sah man eine ungeheure Moorfläche sich nach allen Seiten hin ausdehnen und in nächster Nähe auf dem ziemlich umfangreichen Gipfel des wohl noch zweihundert Fuß höher aufragenden Berges eine Ruine. »Nicht wahr, hier ist es schön?« jubelte Etelka, als sie die angenehme Überraschung Luciens gewahrte. »Wundervoll. Wahrlich, diese Aussicht wirkt bezaubernd. Wie heißen denn die drei Städte?« »Jene große dort in der Ferne ist Belgrad, die beiden kleineren auf dem jenseitigen Ufer heißen Smederevo und Poscharevatz –« »Und diese Ruine?« »Ist das ehemalige Ritterschloß Szigeth Szarko. Doch ich denke, der Weg wird Dich ermüdet haben –« »Nicht doch; im Gegentheile hat der Spaziergang und die warme, reine Luft mir wohl gethan, sodaß ich mich wunderbar gekräftigt fühle.« »Trotzdem wollen wir nicht stehen bleiben, sondern auf meinem Felsenthrone Platz nehmen. Sieh nur hierher!« Sie führte Lucie wenige Schritte weiter bis zu einer Stelle, wo über einer natürlichen Steinbank sich ein Steingebilde 418
erhob, welches eine rege Phantasie mit einem Thronhimmel vergleichen konnte. »Meinst Du nicht auch, daß dies ein lauschiges Plätzchen ist?« fragte sie erwartungsvoll. Lucie mußte ihr zustimmen, worüber Etelka lebhafte Freude äußerte. Dann breitete sie eine Decke, die sie mitgebracht hatte, über die Bank und lud Lucie ein, sich niederzulassen. »So,« rief sie dann, »nun wollen wir unsere Augen, aber auch unsere Ohren erfreuen, denn Du mußt endlich Dein Versprechen, mir Deine Lebensschicksale mitzutheilen, einlösen. Es plaudert sich hier vortrefflich.« Doch Lucie hörte kaum auf sie; ihr Blick kehrte immer wieder nach der finsteren Ruine zurück und blieb, wie gebannt, an einem noch ziemlich gut erhaltenen, niedrigen Thurme, der am äußersten Rande des Felsens stand, haften. »Ich will meine Zusage gern erfüllen,« versicherte sie auf Etelka’s Mahnung, »doch mußt Du zunächst meine brennende Neugier wegen jenes Thurmes befriedigen. Ich vermag mir keine Rechenschaft darüber abzulegen, warum der Anblick desselben mich ganz unaussprechlich bewegt. Vielleicht regt die Vermuthung, daß jene Ruine dereinst der Schauplatz mancher hehren That, aber auch so manches furchtbaren Geheimnisses gewesen ist, meinen Sinn so sehr auf.« »Deine Vermuthung ist keine leere,« sagte Etelka, die plötzlich ernst, fast düster geworden war. »In Szigeth Szarko wurden viele Heldenthaten, aber auch nicht wenige 419
grauenvolle Frevel zum Vollzug gebracht. Ich selbst bin zufällig Mitwisserin eines Geheimnisses geworden, das, wie ich glaube, im engsten Zusammenhange mit einer entsetzlichen Ruchlosigkeit steht.« »Du?« rief Lucie, staunend über diese Eröffnung, sowie über die plötzliche Veränderung in der Stimmung der Zigeunerin. »Ist denn die Ruine noch bewohnt?« »Ja, mein Großvater hält sich seit mehreren Jahrzehnten in ihr auf.« »Wohl in jenem Thurme?« »Nein; siehst Du mitten in dem verfallenen Gemäuer das kleine, weißgetünchte Häuschen?« »Gewiß.« »In diesem Hause wohnt mein Großvater.« »Und der Thurm ist unbewohnt?« Etelka zögerte mit der Antwort, dann sagte sie, bemüht, möglichst unbefangen zu erscheinen: »Auch im Thurme verweilt Jemand.« »Herrscht denn nicht dichte Finsterniß in demselben? Man sieht ja weder eine Thür noch ein Fenster.« »Ein kleines Fenster, das einer Luke ähnlich ist, befindet sich auf der dem Abgrund zugekehrten Seite. Die niedrige Thür vermagst Du deshalb nicht zu erkennen, weil sie genau so verwittert aussieht, wie die Mauer.« »Nur ein winziges Fenster?« wiederholte Lucie betroffen. »Durch dasselbe kann das Licht doch sicherlich nur in spärlicher Menge dringen?« »In so geringer, daß selbst bei dem hellsten Sonnenscheine nur matte Dämmerung im Thurme herrscht.« 420
»Und trotzdem bewohnt Jemand ihn?« »Seit vielen Jahren; schon vor meiner Geburt war die Frau dort.« Luciens Erstaunen wuchs mehr und mehr. »Eine Frau?« rief sie. »Wie ist es nur möglich, daß dieselbe sich in einem Raume wohl fühlen kann, der mehr einer Höhle, als einer menschlichen Wohnstätte gleichen muß?« »Sie befindet sich auch durchaus nicht wohl. Im Gegentheile ist sie seit Jahren kränklich und in der letztverflossenen Zeit hat ihr Zustand sich sogar derartig verschlimmert, daß wir täglich ihre Auflösung befürchten. Ach, möchte sie nur erst in das bessere Jenseits hinübergeschlummert sein!« Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÊÏ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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ie grausam Du redest! Niemand, welcher athmet im rosigen Lichte, mag gern dem Tode anheimfallen.« »Jene arme Frau wird gern sterben. Der Tod bringt ihr Erlösung von unsagbarem Kummer.« » Kann ihr denn Niemand Trost bringen? « Etelka schüttelte traurig den Kopf. » Niemand darf zu ihr, « sagte sie. » Sie schließt sich demnach von aller Welt streng ab? Arme Frau! Welches unnennbare Unrecht muß sie erlitten haben, daß sie die Menschen so haßt.« Etelka hatte befangen, fast verlegen zu« Boden geblickt, nach einer kleinen Pause erst ergriff sie das Wort. » Du giebst Dich einer irrigen Annahme hin. Die unglückliche Frau haßt die Menschen nicht, ja sie würde 422
wohl mit Freuden den düsteren Thurm verlassen, wenn der Großvater es nur zugäbe.« »Warum duldet er es denn nicht?« »Es ist ihm streng verboten worden.« Nun erst begriff Lucie, in welcher Lage die Frau im Thurme sich befände, und ihre Theilnahme wuchs mächtig, als Etelka bestätigte, daß die Bewohnerin des Thurmes gefangen gehalten würde. Lucie forschte eifrig nach dem Vorleben der Unglücklichen, doch darüber vermochte Etelka keine Auskunft zu geben, ebensowenig, wie über die Ursache der langen Gefangenschaft. »Eines Verbrechens hat sie sich wohl nicht schuldig gemacht,« setzte sie dann ihren Bericht fort. »Sie sieht so gut wie ein Engel aus.« »Du hast sie gesehen?« fragte Lucie überrascht, »eben sagtest Du doch, daß keinem Menschen der Zutritt zu ihr gestattet werde.« »Mir gelang es auch nur ein einziges Mal, sie für den Zeitraum weniger Minuten zu sehen.« »O erzähle mir das!« »Gern, gern. – Ich bin in dem kleinen Häuschen, welches wir noch jetzt bewohnen, geboren. Als ich fähig war, zu überlegen, fiel es mir auf, daß an jedem Tage mein Vater oder meine Mutter mit einem Korbe voll Lebensmitteln den Berg hinanstiegen. Auf meine Frage nach dem Zwecke dieser Ausgänge belehrten sie mich, daß auf dem Gipfel des Berges mein Großvater wohne. Ich verlangte nun ungestüm, daß man mich in die Ruine mitnehmen möchte, doch erfüllten die Eltern diesen Wunsch nicht. Die Nicht423
befriedigung desselben regte meine Neugierde gewaltig auf, ich bestand nach Kinderart trotzig auf die Gewährung desselben und wurde schließlich so ungezogen, daß die Mutter mir endlich erlaubte, sie nach oben zu begleiten. Der Großvater zeigte nicht die geringste Freude darüber, seine Enkelin kennen zu lernen, er war schon damals ein alter Mann, stets finster, verschlossen und reizbar; niemals erhellte ein Lächeln die Züge seines starren Gesichtes, kurz, er schien ein Menschenfeind zu sein, und zweifellos liebte er die Kinder nicht, das bewies sein Gebahren mir gegenüber. Du kannst Dir denken, daß ich seitdem nicht die geringste Lust, ihn zu besuchen, verspürte, und Jahre vergingen, ehe ich ihn wiedersah. Bei einem Besuche regte der alte Thurm meine Neugierde an, weshalb ich versuchte, in ihn hineinzudringen. Kaum jedoch bemerkte der Großvater meine Absicht, als er mir mit barschen Worten verbot, dem Thurme nahe zu gehen. Ich wähnte damals, daß er vielleicht befürchtete, ich könnte dem Rande des Berges zu nahe kommen und in die Tiefe hinab stürzen, doch machte ich bald eine Entdeckung, die mir das lebhafteste Interesse für den Thurm einflößte. Ich bemerkte nämlich eines Winters, wie der Großvater an jedem Abend mit einer Laterne in der Hand dem Thurme Besuche abstattete, kurze Zeit in ihm verweilte und sich dann wieder entfernte; anfänglich meinte ich, daß in dem unheimlichen Bauwerke, ebenso wie in den Kellern unseres Häuschens, Schmuggelwaren aufbewahrt würden, doch kam ich von dieser Annahme bald zurück, weil ja nur Lebensmittel hinauf und keine Gegenstände heruntergeschafft wurden. Um so heftiger 424
wurde meine Begierde, zu erfahren, welche Beweggründe den Großvater zu den nächtlichen Besuchen des Thurmes veranlaßten; ich bildete mir in meinem kindischen Sinne allerlei seltsame und schaurige Vorstellungen aus und entschloß mich endlich, dem Großvater bei günstiger Gelegenheit nachzuschleichen. Eine solche bot sich mir eines Abends, als die Eltern nach Pancsova gefahren waren. Kurz vor der Zeit, um welche der Großvater den gewohnten Gang zu machen pflegte, erklomm ich den Berg auf einem nur selten betretenen, steilen Pfade und schlich mich um die Mauer bis zu einer Spalte, welche mir das Durchschlüpfen gestattete. Dort lauerte ich, bis der Großvater seine Wohnung verließ, endlich kam er aus dem Hause, und nun gewahrte ich mit Verwunderung, daß er einen kleinen Korb trug. Nachdem er in den Thurm getreten war, lief ich, so schnell ich vermochte, bis zu demselben und nahm zu meiner Freude wahr, daß die Thür nur angelehnt war. Mit dem Aufgebote meiner ganzen Kraft schob ich die schwere Pforte auf und befand mich dicht vor einer engen, steilen Treppe. Nachdem ich diese hinaufgekrochen war, schimmerte mir aus einer Thürspalte ein schwacher Lichtschein entgegen. Ich tappte mich vorsichtig zu der Öffnung hin und überblickte ein großes, dürftig ausgestattetes Gemach, welches nach der Wasserseite zu ein winziges, stark vergittertes Fenster hatte, in der Mitte desselben hing von der Decke eine Ampel herab und verbreitete einen spärlichen Lichtschimmer, der indeß hinreichte, mir einen Anblick zu gewähren, welcher alle Fibern meines Herzens aufregte. Unter der Ampel stand ein großer Tisch, auf welchen der 425
Großvater soeben die mitgebrachten Lebensmittel legte. Er sprach während dieser Beschäftigung im rauhen Tone nach einer Ecke hin, welches seltsam erscheinende Verhalten ich mir nicht sofort erklären konnte. Plötzlich wankte aus dem dunklen Winkel ein weibliches Wesen hervor –« »Die Bedauernswerthe war also schon damals kränklich?« unterbrach Lucie theilnahmsvoll die Erzählerin. »Leider. Ich vermochte das recht deutlich zu erkennen, als die Gefangene in den Lichtkreis trat, denn sie sah bleich, abgehärmt und so leidend aus, wie ein Mensch, der nicht nur am Körper, sondern auch an der Seele krank ist. Jetzt, wo die arme Frau der Thür nahe stand, war ich auch im Stande, ihre Worte zu verstehen.« »Was sprach sie?« fragte Lucie in fieberhafter Spannung. »Sie sah den Großvater mit rührendem Blicke an und flehte mit einer Stimme, deren weicher, trauriger Ton mir in das Herz drang: ›Laßt mich frei. Mann! Seht Ihr nicht, daß ich in diesem Kerker verschmachten muß? Die Sehnsucht nach meinen Kindern verzehrt mich. Wenn nur noch ein Atom menschlichen Gefühls in Eurer Brust ruht, o, dann laßt mich hinausziehen, damit ich meine Kinder aufsuchen kann. Nur ein einziges Mal möchte ich sie noch sehen und dann gern wiederkehren. Ich schwöre Euch das bei Allem, was mir heilig ist.‹ Der Großvater zuckte ungeduldig die Achseln und rief mißmuthig: ›Immer dieselben thörichten Wünsche! Wie oft habe ich Ihnen nicht schon erklärt, daß die Erfüllung derselben 426
ganz unmöglich ist und Ihnen gar keinen Nutzen bringen würde. Wenn die Geschichte, welche Sie mir erzählt haben auch wirklich wahr sein sollte –‹ ›So wahr ein Gott im Himmel thront, sie ist wahr,‹ rief feierlich die Gefangene. ›Gut,‹ meinte der Großvater, ›ich will es gern glauben. Müssen Sie sich dann nicht eingestehen, daß es Ihnen niemals gelingen würde, Ihre Kinder aufzufinden?‹« ›Der Allmächtige wird mir beistehen.‹ Der Großvater, der, gleich allen Zigeunern, wenig gottesfürchtig ist, zeigte eine cynische Miene und lachte rauh auf. Dann rief er: ›Ich halte es für undenkbar, daß Sie die Kinder wieder finden können. Wenn der Graf sie verschwinden lassen wollte, wird er auch solche Maßregeln getroffen haben, daß keine Spur von ihnen zu entdecken ist.‹« Lucie war in jähem Schrecken aufgefahren: »Ein Graf raubte ihr die Kinder?« wiederholte sie mit bebender Stimme«, doch kam ihr alsbald eine andere Idee in den Sinn. »Also bin ich nicht die Einzige, welche ein so grausames Geschick betroffen hat,« dachte sie bewegt. »O, wieviel Opfer ähnlicher Tyrannei mögen noch in solchen öden Kerkern schmachten, – wieviel Kinder mögen um die ihnen geraubte Mutter, wieviel Mütter um ihre Kinder trauern?« Etelka hatte während einiger Augenblicke inne gehalten, als jedoch Lucie in trübes Nachdenken versank, hielt sie deren unwillkürlichen Aufschrei für eine Äußerung, die 427
das Erbarmen mit der unglücklichen Gefangenen ihr entlockt hatte, und fuhr in ihrer Erzählung fort: »Mein Großvater wollte sich nun entfernen, doch die Frau erfaßte seinen Arm und flehte mit herzergreifender Stimme: ›Habt Erbarmen und laßt mich nicht wieder in namenloser Verzweiflung zurück. Ist denn jede menschliche Empfindung in Euch erstorben, daß Ihr mich im Jammer umkommen sehen könnt, während Ihr mich zu retten vermöget?‹ Des Großvaters starre Mienen wurden milder und seine Stimme klang weniger rauh, als er antwortete: »Sie thun mit Unrecht, Frau. Ich bin nicht grausam gegen Sie, denn dazu hätte ich ja gar keine Ursache, ja, Ihr Schicksal geht mir zu Herzen, aber ich muß die Befehle des Grafen und des Herzogs vollführen.‹ ›Der Graf bekümmert sich ja seit Jahren nicht mehr um mich; ihm würde wahrscheinlich gar nicht bekannt werden, daß ich einige Zeit hindurch abwesend von hier war.‹ ›Dem Grafen würde es vielleicht unbekannt bleiben, aber sicherlich nicht dem Herzoge, dem Nichts entgeht, was unter seinem Volke vorfällt.‹« »Dem Herzog?« unterbrach Lucie die Zigeunerin; »Wer ist das?« »Unser Fürst, der König der Zigeuner,« antwortete Etelka mit einet Mischung von Stolz und Befangenheit. »Wir nennen ihn Zindalo, aber die Busne, die Nicht-Zigeuner heißen ihn Herzog und legen ihm einen fremdklingenden Namen bei, den ich nicht auszusprechen vermag. Jetzt lebt 428
er in Wien, doch weiß er Alles, was unter den »Romanny« in Ungarn und dem Berglande geschieht und seine Herrschaft ist strenge. Wehe Demjenigen, der sich gegen die Gebote des Herzogs vergeht! Alle unsere Leute haben Angst vor ihm und selbst der Stärkste zittert, wenn man droht, ihn bei’m Herzog verklagen zu wollen. Darum konnte auch mein Großvater der armen Frau nicht zu Willen sein, denn er hatte dem Herzoge den großen Schwur geleistet, die Gefangene nicht einen Schritt aus dem Thurme thun zu lassen und keinem Menschen, keinem Thiere, keiner Sache, nicht dem Winde und nicht den Sternen ihre Anwesenheit in Szigeth Szarko zu verrathen. Der Großvater hatte deshalb nicht einmal meinen Eltern das Geheimniß enthüllt, doch konnten dieselben aus mancherlei Merkmalen erkennen, daß eine Frau im Thurme gefangen gehalten würde. Weil es ihm durchaus unmöglich war, das Verlangen der Gefangenen zu befriedigen, wurde er schließlich wieder unwirsch, als sie mit Bitten nicht nachließ. Mein Kindesherz wurde durch das Flehen der Unglücklichen in unbeschreiblichem Grade aufgeregt; ich kannte natürlich die Gründe, welche den Großvater taub gegen die Bitten machten, nicht, hätte sie damals auch gar nicht begreifen können, und deshalb empörte des alten Mannes Weigerung mein Gemüth so sehr, daß ich laut aufschluchzte und zornig schrie: »Böser Großvater, warum quälst Du die arme Frau so sehr?« Wenn ein Blitzstrahl auf die Beiden niedergezuckt wäre, hätte er keine größere Wirkung erzielen können, als mein 429
zorniger Aufschrei. Beide waren kurze Zeit starr, dann schrie die Gefangene mit herzergreifenden Tönen: »Es ist mein Kind, meine Lucie! Laßt sie mich sehen!« Mit einem gellenden Schrei fuhr Lucie jäh empor. Wie geistesabwesend starrte sie auf Etelka, die zum Tode erschrocken war, dann fragte sie stammelnd: »Lucie nannte sie ihre Tochter? Habe ich recht gehört? Sagtest Du Lucie?« »Ja doch,« flüsterte, sich mühsam bezwingend, Etelka. Lucie ergriff ihren Arm, drückte ihn krampfhaft, schaute mit dem Ausdrucke unsagbar banger Erwartung in Etelka’s Antlitz und hauchte: »Wie heißt die Gefangene?« »Ich weiß es nicht,« betheuerte Etelka. »Du hast schon vergessen, daß der Großvater Nichts verrathen darf.« »Kennst Du auch nicht den Namen des Grafen, der die Kinder rauben ließ?« »Ein Zufall hat ihn mir verrathen, doch darf ich ihn Dir nicht nennen.« »Nur die eine Frage beantworte mir der Wahrheit gemäß,« rief Lucie ungestüm. »Ist es der Graf Szapary?« »Kennst Du denn das Geheimniß ?« fragte Etelka, im hohen Grade betroffen und erstaunt. Lucie war zu einer Antwort unfähig. Ihr liebliches Antlitz war kreidebleich geworden, ihr Busen wogte so heftig, daß sie beide Hände fest auf ihn drücken mußte und die Lippen, die Wimpern zuckten nervös. Mächtig rang sie nach Athem und endlich gewann sie die Stimme wieder und schrie laut auf mit herzergreifendem Tone: 430
»Meine Mutter! Die Gefangene ist meine unglückliche Mutter!« Wie sie so dastand mit dem madonnenhaften Gesichte, den thränenden Augen und den zitternden Lippen, umstrahlt vom Abendsonnenscheine, bot sie einen Anblick dar, der selbst ein steinernes Herz hätte rühren müssen. Zwei Menschen schauten mit Staunen, Bestürzung und Rührung zu ihr auf, Etelka und – Walther. Der treue Freund und Diener des »Herrn« kam eben, auf der Fahrt nach Bazias begriffen, an dem Felsen vorbei., Er hatte den Ruderern gerade den Befehl ertheilt, zu landen, weil er auch in dem Hause der Schmuggler Erkundigungen einziehen wollte, als Luciens Aufschrei seine Aufmerksamkeit erregte. Auf den ersten Blick erkannte er die Vermißte und innerlich jubelnd sprang er hastig an das Ufer und wollte den Berg hinaneilen, als ein unerwarteter Anblick ihn zurückhielt. Er sah nämlich, wie auf dem schmalen Fahrwege, der durch das Moor bis zum Fuße des Felsens sich hinwand, ein leichter Wagen langsam herankam und seine Insassen, zwei Frauen und einen Mann, an jener Stelle absetzte, von der aus ein Fußpfad steil in die Höhe stieg. In der größeren der Frauen erkannte Walther die Gräfin Katinka. Er traute allerdings kaum seinen Augen, doch mußte er sich bei genauerer Betrachtung sagen, daß eine Täuschung nicht möglich sei; er kannte die Gräfin zu genau, als daß er sie mit irgend einem anderen Menschen hätte verwechseln können. Katinka vermochte ihn nicht wahrzunehmen, weil ein Felsblock ihn vor ihr verbarg. Walther wollte sich ihr auch 431
nicht sofort zeigen. Ihn beschäftigte die Erwägung, welches Motiv die Gräfin veranlaßt haben könnte, dieses abgelegene und verrufene Fleckchen Erde aufzusuchen. Er fand nur eine Antwort auf diese Frage: Die Gräfin hatte Lucie entführen lassen und war nun gekommen, um Anordnungen über das fernere Schicksal des Mädchens zu treffen. Walther war selbstverständlich fest entschlossen, Lucie nach Wien zurück zu bringen. Doch mußte er sich auf den Fall vorbereiten, daß man die Ausführung dieser Absicht gewaltsam zu verhindern suchen würde. Er gebot deshalb den Schiffern, ihn mit den Rudern, die im Nothfalle nicht zu verachtende Waffen bildeten, den Berg hinauf zu begleiten. Mit unbeschreiblichem Erstaunen hatte Etelka den Ausruf Luciens vernommen. »Wie?« fragte sie zweifelnd. »Die Gefangene ist Deine Mutter?« »Ohne Zweifel,« erwiderte Lucie in athemloser Hast. »Ich bin eines jener beiden Kinder des verstorbenen jungen Grafen Szapary, die der alte Graf dem Verderben weihte. Unsere Mutter verschwand und sollte, wie es hieß, gestorben sein. Nach Deiner Erzählung bleibt mir jedoch kein Zweifel mehr übrig, daß sie es ist, die im Thurme schmachtet.« »Aber erzähle mir doch –« »O, wie kannst Du so grausam sein, mich nur noch einen einzigen Augenblick von meiner Mutter fernhalten zu wollen. Bedenke, daß ich länger als fünfzehn Jahre sie entbehrt, daß ich sie nie gekannt habe. Ach, wie lechze ich 432
danach, zum ersten Mal im Leben den süßen Mutternamen zu rufen, nach fünfzehn Jahren wieder einen Kuß von ihr zu empfangen, an ihrer Liebe mich zu beseligen. Wenn Du mich nur ein klein wenig lieb hast, dann eile mit mir hinauf –« Etelka sprang empor und zog Lucie mit sich. Ohne einen Laut von sich zu geben, eilten die beiden Mädchen den steilen Pfad hinan. Plötzlich jedoch blieb Etelka stehen und rief betrübt: »Unsere Eile ist unnöthig. Der Großvater wird nicht erlauben, daß Du den Thurm betrittst.« »Doch, doch. Er müßte ja ganz zu Stein verhärtet sein, wenn er mir es verwehrte. Ich will ihn kniefällig bitten, mich zu meiner Mutter zu lassen, und mein Flehen wird sicherlich sein Herz rühren. Komm’ nur, komm’!« Bald war der Gipfel erreicht. Von der einstmals gewaltig hohen und dicken Ringmauer waren nur noch spärliche, zerbröckelnde Überreste vorhanden. Der einst tiefe und breite Graben war durch Schutt fast ganz ausgefüllt und an jener Stelle, wo vor Jahren die Zugbrücke sich befand, hatte man durch Sand die Lücken zwischen dem Schutte ausgefüllt, sodaß ein holpriger Steg die beiden Ränder des Grabens verband. Das ehemalige Thorwarthäuschen war nothdürftig ausgeflickt worden; in seinen unschönen Räumen führte Etelka’s Großvater, ein steinalter, aber noch erstaunlich rüstiger und kräftiger Zigeuner, seit langen Jahren ein Einsiedlerleben. 433
Lucie wollte in das Haus eilen, doch Etelka hielt sie zurück. Ihr Falkenauge hatte erspäht, daß die Thür zum Thurme nur angelehnt war. Wirklich hatte der Wärter sie nicht verschlossen, weil die Gefangene ganz unfähig war, einen Fluchtversuch zu unternehmen, ja nur das Lager zu verlassen, denn sie war seit Wochen krank und ihre Lebenskraft schwand so schnell dahin, daß ein völliges Erlöschen derselben in nicht mehr ferner Zeit erfolgen mußte. Es schien, als wenn die Hoffnung, durch welche die unglückliche Frau allein noch aufrecht erhalten worden war, die Hoffnung, daß sie ihre Kinder wiedersehen würde, sie verlassen und die Lebenskraft mit sich genommen habe. Die hartgeprüfte Dulderin hatte sich auch schon mit dem Gedanken befreundet, daß sie ihre Lieben erst im Jenseits wiedersehen würde; sie sehnte nun den Augenblick herbei, in welchem der Tod sie von einem Leben, das ihr nur wenige Tropfen von Wonne, dagegen ein Meer von Jammer bescheert hatte, erlösen würde. Dieser schien nicht mehr fern zu sein, wie Jeder sofort erkennen mußte, der einen Blick auf die unglückliche Gräfin warf. Sie sah nur noch einem Schatten gleich; der feine Körper und das einst so liebliche Antlitz waren entsetzlich abgemagert; die blauen Augen, aus denen vor Jahren ein Himmel voll Glückseligkeit strahlte, waren durch die lange Finsterniß des Glanzes beraubt; der kleine Mund, einst so bezaubernd schön durch das kindlich reizende Lächeln, welches ihn umspielte, war längst welk und schlaff geworden; die feinen Lippen und zarten Wangen hatten die Röthe der Gesundheit verloren und statt ihrer jene 434
durchschimmernde bleiche Farbe angenommen, die in der Regel das Nahen des Todes anzukündigen pflegt. Die arme Dulderin lag ergebungsvoll mit über der Brust gefalteten Händen auf dem einfachen Bette, das für sie Jahre hindurch eine Marterstätte gebildet hatte. Ihr Blick haftete an dem winzigen Stückchen des Himmels, das die kleine Öffnung ihr zu sehen erlaubte, und ihre bebenden Lippen flüsterten: »Bald, bald erlöst.« Da knarrte die Pforte, doch die Gefangene achtete dessen nicht; wer konnte zu ihr kommen, als der Wärter? Erst als leichte Tritte auf der Treppe ertönten, wurde ihre Aufmerksamkeit erregt und mit fieberhafter Spannung blickte sie nach der Thür. Seit fünfzehn Jahren hatte sie keinen anderen Menschen zu sehen bekommen, als den mürrischen alten Zigeuner, nun jedoch kam unzweifelhaft ein Anderer die Treppe herauf. Wer mochte es sein? Was führte ihn zu ihr? Brachte er ihr gute Kunde? Wenn er aber auch nur zufällig oder durch müßige Neugierde geleitet, sich in den alten Thurm gewagt gaben sollte, für die Gefangene bildete sein Erscheinen ein überaus wichtiges Ereigniß, weshalb sie mit hochgespannter Erwartung ihm entgegenblickte. Als nun die Thür aufging und zwei weibliche Wesen in das Gemach traten, da erbebte die Gräfin vor Aufregung; da ihre Augen durch den langjährigen Aufenthalt in der Finsterniß befähigt worden waren, auch in tiefer Dunkelheit alle Gegenstände scharf zu unterscheiden, so erkannte sie augenblicklich, daß die Besucherinnen noch in den 435
Mädchenjahren standen. Selbst den eigenartigen Gesichtsschnitt Etelka’s vermochte sie zu erkennen. Mühsam richtete sie sich auf dem Lager empor und fragte mit schwacher Stimme: »Der Himmel hat mich noch nicht ganz vergessen, da er mir die Gunst zuwendet, an dem lang und, ach, nur zu schmerzlich entbehrten Anblicke jugendlicher Menschenkinder mich erquicken zu können. Was Euch auch hergeführt haben mag, so bleibe ich Euch von ganzem Herzen dankbar für die unverhoffte Freude, die Ihr mir bereitet habt. Denn wenn ich mich auch an die Vorstellung, daß ich in tiefster Einsamkeit würde sterben müssen, bereits gewöhnt hatte –« Sie konnte den Satz nicht beenden, weil Lucie bitter weinte. »Thränen um mich?« fragte die Gefangene gerührt »Du liebes Kind, – wie thust Du mir wohl! Wenn Du mich recht beglücken willst, o dann komm’ nahe zu mir, daß ich einen Kuß auf Deine reine Stirn drücken kann. Scheue Dich nicht. Der Kuß eines Sterbenden bringt Segen.« Vor tiefer Bewegung keines Wortes mächtig, trat Lucie an das Lager und sank vor demselben auf die Kniee. »Darf ich wagen, die Beantwortung einer Frage, von deren Entscheidung unbeschreiblich wonniges Glück für mich abhängt, von Ihnen zu erbitten?« flüsterte sie, kaum noch im Stande zu athmen. Die Gefangene streichelte ihr liebreich über das lockige Haar. »Frage nur, Du herziges Wesen,« sagte sie lächelnd. »Mit tausend Freuden will ich Deine Fragen beantwor436
ten, obwohl mir nicht recht begreiflich ist, welche wichtige Auskunft eine alte Frau, die fünfzehn Jahre hindurch, streng von der Welt abgesperrt, im Kerker geschmachtet hat, Dir ertheilen könnte. Was wünschest Du denn von mir zu erfahren?« »Ein dunkles Gerücht will wissen, daß Sie das Opfer der entsetzlichen Ruchlosigkeit eines vornehmen Mannes, des Grafen Szapary sein sollen. Beruht dieses Gerücht auf einer thatsächlichen Grundlage?« Die Gefangene wurde von unbeschreiblich heftiger Aufregung ergriffen. Einen Augenblick war sie starr wie Einer, der eine, eben vernommene Kunde nicht zu glauben, zu fassen vermag. Dann fragte sie mit stockender Stimme: »Du – Du kennst das düstere Geheimniß meines Lebens? Wer hat es Dir enthüllt?« Lucie streckte die Arme empor. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ÊÐ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
S
agt es Dir Dein Herz nicht, wer ich bin; Mutter, meine Mutter, erkennst Du Deine Tochter nicht wieder? « Wie ein Blitz durchzuckte es den Körper der Gräfin. Plötzlich beugte sie sich zu Lucien nieder und streifte den linken Ärmel in die Höh. Auf der inneren Seite des Armes kam ein kunstvoll eingeätztes Wort in koptischer Schrift, deren sich einige Zigeunerstämme noch heute bedienen, zum Vorschein. Einen Schrei, aus dem eine Überfülle von Seligkeit herausklang, stieß die Gräfin aus, dann zog sie die Tochter an ihr Herz. » Meine Tochter, –meine Tochter, – meine Tochter, « stammelte sie. Auf dem Hofe erhob sich wüster Lärm, die zornige Stimme des Kerkermeisters und der Gräfin ließ sich verneh438
men, viele Personen kamen eilig über den Hof, zahlreiche schwere Schritte polterten die Treppe hinauf, die Thür wurde heftig aufgerissen, –Mutter und Tochter hörten es nicht; sie hielten sich umschlungen, wie wenn sie in aller Ewigkeit sich nicht mehr trennen wollten. Drei Personen waren in das Zimmer getreten, Gräfin Katinka, der Kerkermeister und Walther. Vor der Thür standen die Schiffer. So lärmend sie herbeigeeilt waren, so regungs- und lautlos wurden sie, als sie die ergreifende Scene gewahrten. Keiner wagte die Heiligkeit des Momentes durch einen Laut zu unterbrechen und längere Zeit herrschte Kirchenstille im Zimmer. Weder der Kerkermeister, noch Walther wußten, in welchem Verhältnisse die beiden Frauen, welche sich so innig umschlungen hielten, standen, wohl aber ahnten sie es. Endlich winkte Walther die Zigeunerin zu sich und flüsterte ihr einige Worte zu. Etelka huschte darauf zum Lager und zupfte Lucie zaghaft am Kleide. Nun erst blickte Lucie auf. »Der Herr will Dich sprechen,« flüsterte Etelka ihr zu. Lucie warf einen flüchtigen Blick auf Walther, doch sofort wandte sie sich wieder der Mutter zu. Der Gefangenen bemächtigte sich nun, wo die fieberhafte Erregung vorüber war, ein Zustand der Abspannung. Sie sank auf das Lager zurück und glich vollkommen einem Menschen, auf dessen Stirn der Tod seinen vernichtenden Kuß gehaucht hat. »Mutter,« schrie Lucie in namenloser Angst auf. »Barmherziger Gott, – sie stirbt.« »Beruhigen Sie sich,« tröstete Walther, der nun an das Lager trat, »Ihre Frau Mutter ist nur erschöpft. Die Freude 439
bringt nicht den Tod, sondern frische Lebenskraft und Gesundheit. Auch die Frau Gräfin wird genesen, doch müßte sie recht bald, womöglich sofort, diese abscheuliche Höhle verlassen. In reiner Atmosphäre, unter sorgsamer Pflege wird die Frau sich bald erholen und hoffentlich noch viele Jahre eines schönen Daseins sich erfreuen.« Lucie warf ihm einen dankbaren Blick zu. »O, daß Ihre Prophezeiung einträfe,« seufzte sie. »Ich glaube bestimmt, sie wird sich erfüllen. Nur, wie ich schon bemerkte, ist eine Veränderung des Aufenthaltsortes dringend nothwendig. Wenn die Gräfin sich stark genug fühlte, würden wir sie sofort mit uns nehmen.« »Ja, ja,«. flüsterte die Gefangene. »nur fort von hier. O, wie ich mich freue, den Himmel und die Gestirne, die grüne, lachende Erde wiederzusehen und reine Luft zu trinken. Nur fort, fort von diesem Orte des Schreckens.« »Haben Sie also die Güte, die Frau Gräfin sorgfältig einzuhüllen,« bat Walther Lucie und Etelka. Dann kehrte er nach der Thür zurück. Der Kerkermeister trat ihm heftig entgegen. »Ich darf nicht zulassen, daß die Gräfin von hier fortgeschafft wird,« rief er. »Ich habe den Auftrag erhalten, sie nie wieder aus diesem Thurme hinaus zu lassen.« »Guter Freund,« sagte Walther fest. »Derjenige, welcher Euch diesen Auftrag ertheilt hat, ist längst gestorben –« »Das weiß ich wohl, doch des Grafen Tod ändert nichts an meiner Pflicht, denn der Herzog hat mir den nämlichen Befehl ertheilt.« Walther erschrak. 440
»Der Herzog?« wiederholte er betroffen, und einen Moment schien es, als wenn er die Gefangene nicht erlösen wolle, doch die Erwägung, daß Lucie sich nicht von der eben erst gefundenen Mutter freiwillig trennen und daß sie, wenn man sie gewaltsam entfernte, vielleicht dem Tode oder dem Wahnsinne zur Beute fallen würde, veranlaßte ihn, auf seinem Vorsatze zu beharren. »Wenn der Herr es nicht für angemessen erachtet, daß die Gräfin zum Vorschein kommt, dann kann man sie ja verborgen halten, wenn auch in einer menschenwürdigeren Wohnung, als diese Höhle ist. Vor Allem muß ich dafür sorgen, daß Lucie keinen Schaden erleidet, denn sonst fallt »Er« der Verzweiflung oder der Raserei anheim.« So erwog Walther bei sich, und die Rücksicht auf den »Herrn« blieb maßgebend für seinen Entschluß. »Ich werde meine Handlungsweise bei dem Herzoge vertreten,« sagte er zu dem Kerkermeister, doch dieser unterbrach ihn abermals barsch: »Mit dieser Zusage kann ich mich nicht zufrieden geben. Ich wiederhole es, daß die Gräfin hier bleiben muß; ich werde nicht dulden, daß sie fortgetragen wird.« »Freund, Ihr redet thöricht,« rief Walther böse. »Wollt Ihr allein es mit den zehn Männern, die ich bei mir habe, aufnehmen?« »Das kann ich freilich nicht, und wenn Sie Gewalt anwenden wollen –« – »Ja doch.« »Dann muß ich mich nothgedrungen derselben fügen.« »Auch ich muß mich der Befreiung der Gefangenen entschieden widersetzen,« rief Gräfin Katinka heftig. 441
»Sie, Fräulein von Martonvasar?« fragte Walther mit eisigem Hohne. »Welche Berechtigung hätten Sie zum Widerstande? Doch ja, ich vergaß einen Augenblick, daß die scandalsüchtige vornehme Welt der Enthüllung, die ihr nach dem Wiedererscheinen der einzigen legitimen Gattin des jungen Grafen Szapary bevorsteht, einen höchst piquanten Reiz abgewinnen wird.« Wenn Blicke tödten könnten, dann hätte Walther auf der Stelle leblos hinsinken müssen, so giftig, tückisch leuchteten die Augen der Gräfin. Ihrer maßlosen Wuth auch durch die Sprache Ausdruck zu verleihen, daran hinderte sie die übermächtige Erregung. Nur ein heftiges Zischen drang zwischen den krampfhaft sich auf einander pressenden und wieder jäh aufzuckenden Lippen hervor und das Gesicht verzerrte sich in einer Weise, daß es selbst auf den rohen Kerkermeister einen widerlichen Eindruck hervorbrachte, wie seine Mienen deutlich genug bekundeten. Walther hingegen lächelte nur sarkastisch und verbeugte sich sehr tief, als Katinka sich kurz abwandte. »Der Himmel nehme Sie in seinen gnädigen Schutz, Fräulein von Martonvasar,« rief er, und dieser neue Hohn bewog die Gräfin, sich möglichst schnell zu entfernen. Walther lachte leise. »Diese Minute hat dem unmenschlichen Weibe eine Strafe gebracht, wie sie kein spitzfindiger Inquisitor härter hätte ersinnen können,« murmelte er vergnügt. »Die Megäre ist unzweifelhaft mit der Absicht hergekommen, die unglückliche Gefangene zu beseitigen; die Galgenphysiognomie des Subjektes, das sie mitgebracht hat, läßt da442
rüber keinen Zweifel zu. Hätte sie nun Lucie hier getroffen, dann würde sie auch diese nicht geschont haben. Ich kam zur rechten Zeit. Der Zufall macht so manchen dummen Streich, aber auch manchen trefflichen. Glück auf den Weg, Fräulein von Martonvasar! Hoffentlich hat der Zufall noch einige angenehme Überraschungen für Sie vorräthig, denn Sie verdienen eine noch ungleich empfindlichere Strafe.« Sein Wunsch, der allerdings nicht christlicher Nächstenliebe entsprang, sollte bald genug in Erfüllung gehen, Gräfin Katinka empfing eine Züchtigung so grausamer Art, daß selbst Walther zufrieden gestellt worden wäre, wenn er sie erfahren hätte. Wie von den Göttinnen der Rache und des Hasses gepeitscht, eilte Katinka den Berg hinab. Als sie dem Wohnhause der Schmugglerfamilie nahe kam, schallte ihr aus demselben lautes Schmerzgestöhn, welches mit gräßlichen Verwünschungen und Flüchen abwechselte, entgegen. Es würde von Rosza ausgestoßen, der im Hause zurückgeblieben war, weil seine Wunde sich schrecklich entzündet hatte und ihm die qualvollsten Martern bereitete. Die Waschungen und Quacksalbereien, welche Etelka’s Mutter vornahm, verschafften dem ehemaligen Wärter nicht die mindeste Linderung; im Gegentheile nahmen die Schmerzen noch im Laufe der Nacht so gewaltig zu, daß Rosza sich wie ein getretener Wurm wand und krümmte und in grauenerregender Weise heulte. Endlich trat der Brand hinzu und nach wenigen Stunden voll unsäglicher Folter fiel Rosza dem Delirium zur Beute. Er sah alle jene Unglücklichen, die er in der Irrenanstalt gemartert hatte, auf 443
sich zukommen. Grinsend und zähneknirschend führten sie einen wilden Tanz um ihn auf; immer toller wurde der Reigen; immer drohender gestalteten sich die Mienen, immer wüthender die Geberden und plötzlich stürzten sich Alle zusammen mit furchtbarem Geheul auf ihn, schlugen die langen Nägel und spitzen Zähne in seine Brust, seine Eingeweide, zerfleischten ihn und erhoben ein um so jauchzenderes Gelächter, je lauter er winselte und um Gnade und Erbarmen flehte. Die Nemesis hatte ihn ereilt und fürwahr, ihre Strafe war schaurig. Die Schmuggler und Räuber, welche in der Nacht gekommen waren und den Rasenden festhielten, wurden trotz ihrer Verwilderung von Abscheu und Entsetzen geschüttelt und Alle athmeten auf, als der Paroxysmus endlich vorüberging, um dem Tode Raum zu geben. Die Leiche warf man einfach vom Felsen in den Strom. Gräfin Katinka trat nicht in das Haus. Sie konnte den Wärter ja nicht mehr für ihre dunklen Absichten verwenden und ersparte überdies, wenn sie nicht mehr mit ihm zusammentraf, die Belohnung, welche sie ihm zugesichert hatte. Schleunigst huschte sie an dem Hause vorüber und erreichte ungesehen und unaufgehalten den Wagen, bei welchem ihre Kammerfrau, die sie in das Geheimniß nicht hatte einweihen wollen, ihrer Zurückkunft harrte. Katinka befahl dem Kutscher, sofort die Rückfahrt zu unternehmen, stieß jedoch auf lebhaften Widerstand, weil der Mann sich und seinen müden Gäulen noch einige Ruhe gönnen wollte. Durch eine ansehnliche Geldspende bewog die Gräfin ihn jedoch zur Folgsamkeit, und nach wenigen 444
Minuten rasselte der Wagen den kaum sichtbaren Weg über die Pußta dahin. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen und schon nach kurzer Zeit ging sie, wie es im südlichen Ungarn die Ordnung der Natur erheischt, in völlige Dunkelheit über. Die Nacht war so finster, daß die ohnehin kaum sichtbaren Wagenspuren sich gar nicht mehr erkennen ließen. Eigentliche Wege giebt es auf den Pußten nicht; Jeder, welcher über diese ungeheueren Steppen fährt oder reitet, hält nur eine gewisse Richtung ein, sodaß die neben einander hinlaufenden Wagenspuren fast überall sich auf eine Fläche von mehreren tausend Schritten in der Breite vertheilen. Dem Kutscher blieb endlich nur die Wahl zwischen zwei Entschließungen; er mußte entweder still halten und die Nacht auf der Pußta zubringen oder, den Pferden freien Lauf lassen. Da Gräfin Katinka nicht die geringste Lust verspürte, zwölf Stunden hindurch schutzlos dem eisigen Winde sich preiszugeben, so überließ der Kutscher den Rossen die Auffindung einer menschlichen Wohnstätte. Die müden Gäule trotteten langsam über die Haide, Stunde um Stunde entrann, ohne daß ein Haus sichtbar geworden wäre, die Gräfin schimpfte, die Kammerfrau weinte, der Kutscher fluchte und die Pferde schlichen langsamer und langsamer, plötzlich jedoch spitzten sie die Ohren, zogen den Wind durch die Nüstern, wieherten hell und begannen schließlich einen raschen Trab. »Ho,« rief erfreut der Kutscher, »Wir sind einem Hause nahe; die Pferde wittern den Stall.« 445
Wirklich leuchtete in weiter Entfernung ein feuriger Punkt auf, der immer größer wurde, je näher das Fuhrwerk ihm kam. endlich ließen sich die schattenhaften Umrisse eines elenden Häuschens erkennen und im nächsten Augenblicke kam eine Schaar der furchtbaren Wolfshunde, die in Ungarn auf jedem Gehöfte in größerer Anzahl gehalten werden, mit weiten Sprüngen und wüthendem Gekläff auf den Wagen zugestürzt. Gleich darauf erschallte ein langgezogener, gellender Pfiff, dem die Hunde sofort folgten, und wenige Minuten später hielt das Gefährt vor dem Gehöfte. Ein hochgewachsener Mann in einem Schafspelze trat an den Wagen heran und erkundigte sich nach dem Begehren der späten Ankömmlinge. Die Gräfin hatte inzwischen mit scharfem Blicke das Haus und dessen Umgebung gemustert und einen sehr ungünstigen Eindruck davon empfangen. Die Hütte sah einer von jenen Spelunken, in denen die »Armen Bursche« (wie die Räuber in Ungarn genannt werden), die Zigeuner, Landstreicher und sonstiges Gesindel mit Vorliebe ihre Herberge aufschlagen, auffallend ähnlich; auch waltete trotz der späten Stunde noch reges Leben in ihr. Durch die kleinen Fenster, welche nur zum Theil mit erblindeten Scheiben, zum Theil mit schmutzigem, halb zerfetztem Papier versehen oder auch durch Lumpen verstopft waren, leuchtete die Gluth eines mächtigen Feuers, welches auf einem gewaltigen, aus Lehm hergestellten Herde brannte, und rings um dasselbe standen, hockten und lagen Gestalten. die wild genug ausschauten, um selbst 446
beherzten Männern lebhafte Besorgniß einzuflößen. Die Kammerfrau, welche vor Angst zitterte, schlug ein Kreuz um’s andere und murmelte Stoßgebete, und auch Gräfin Katinka, die den Muth eines Mannes besaß, konnte sich einer Empfindung der Bangigkeit nicht erwehren. Sie hatte ja eine bedeutende Summe bei sich und fürchtete, daß man sie untersuchen, berauben und ermorden könnte. Sie wäre deshalb am liebsten sofort weitergefahren, aber der Kutscher erklärte mit Entschiedenheit, daß er sich und die Pferde nicht zu Grunde richten wolle, und der Gräfin blieb demzufolge keine andere Wahl, als die Gastfreundschaft des Hauswirthes, die ihr angeboten wurde, anzunehmen. Da sie in dem großen Zimmer inmitten der zahlreichen, verdächtigen Gesellschaft nicht weilen mochte, so wies ihr der Wirth eine enge Kammer an und brachte in dieselbe eine elende Unschlittkerze und einen großen Topf warmer Milch, den Katinka verlangt hatte, hinein. Die Leute im großen Zimmer verhielten sich fortan möglichst ruhig, dagegen erhob sich plötzlich in einer Stube, die von Katinka’s Kammer nur durch eine Bretterwand geschieden war, klägliches Kindergeschrei, welches bald in ein so anhaltendes und durchdringendes Wimmern überging, daß die Nerven der Gräfin in heftige Aufregung gerieten. Als sie den Wirth fragte, ob eines seiner Kinder krank wäre, erzählte der Mann, daß das wimmernde Kind nicht das seinige sei. Vor einigen Tagen sei eine fremde Frauensperson, wahrscheinlich eine Deutsche, nach seinem Gehöfte gekommen und hätte ihn gefragt, ob er geneigt 447
sein würde, einen kleinen kranken Knaben in Pflege zu nehmen. Da sie eine gute Belohnung bot und versicherte, daß das Kind aller Wahrscheinlichkeit nach in kurzer Zeit »d’raufgehen« würde, so habe er es behalten und die Frau hätte sich dann nach Bazias bringen lassen. Als er einige Stunden später den Knaben entkleidet habe, sei er gewahr geworden, daß derselbe am ganzen Körper mit fingerdikken Schwielen und blutrünstigen Rissen bedeckt wäre, und er denke sich, daß man das Kind absichtlich so furchtbar mißhandelt habe, damit es recht bald sterben möchte. »Und ich glaube auch,« so schloß der Mann seinen Bericht, »daß es noch in dieser Nacht d’raufgehen wird, denn es verschmäht jede Nahrung und ist schon so schwach, daß es sich kaum noch regen kann. Nun, mir soll es recht sein; das Geschrei und Gewinsel ist uns Allen von ganzem Herzen zuwider.« So hartherzig Katinka auch war, vermochte sie sich doch eines Schauders nicht zu erwehren. Wie schrecklich entmenscht mußten jene Unholde sein, die ein unschuldiges Kind absichtlich durch Prügel umzubringen suchten! War ihr der Aufenthalt in der elenden Spelunke schon vorher unheimlich, so wurde er ihr jetzt ganz unleidlich, und mit Sehnsucht wünschte sie den Tag herbei. Eine unerklärliche Unruhe drängte sie, zu dem Kind zu gehen, doch was konnte sie demselben nützen? Menschliche Hilfe war nach des Wirthes Angabe ja nicht im Stande, die Leiden desselben zu lindern; einen Arzt herbeizuschaffen, hätte den Zeitraum eines vollen Tages erfordert und ohne Zweifel gab es in der abgelegenen Hütte Nichts, was 448
dem unglücklichen Knaben hätte Linderung verschaffen können. Das Kind wimmerte noch eine kleine Weile, dann schwieg es eine kurze Zeit hindurch, sodaß die Gräfin glaubte, es sei durch den Tod von seinen Qualen erlöst worden. Doch plötzlich schrie es wieder auf und rief dann laut: »Mama, o meine liebe Mama, warum hast Du mich so schlagen lassen? Du warst doch immer so gut zu mir; bist Du denn auf einmal so böse geworden, daß Du gar nicht mehr zu mir kommst? Ach, ich kann ja nicht dafür, daß der häßliche Mann mich nicht zu Dir zurück lassen wollte.« Bei’m Klange dieser Stimme fuhr Katinka jäh empor. Sie war kreidebleich geworden, zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub und starrte mit weit aufgerissenen Augen nach der Kammerthür. »Maria,« rief sie mit bebender Stimme, »hast Du gehört? – Diese Stimme?« Auch die Kammerfrau war in heftige Aufregung gerathen. Sie nickte lebhaft: »Eine solche Ähnlichkeit ist wirklich ganz wunderbar. Wenn der junge Herr nicht todt wäre und wir uns nicht tief in Ungarn befänden, dann möchte ich auf den Klang dieser Stimme hin beschwören, daß es Koloman sein müßte.« Und mit angehaltenem Athem lauschten sie wieder. Das Kind wimmerte von Neuem. »Bitte, bitte, liebe Mama, werde doch wieder gut. Wenn Du mich mit Ferencz spazieren gehen lässest, werde ich 449
nie wieder so weit fort laufen, daß der böse Mann mich in der Kutsche mit sich nehmen kann, ohne daß Ferencz es sieht. Ach, dann ist es mir schlecht gegangen. Sie haben mir meine schönen Kleider genommen und mir häßliche anziehen lassen, und auch zu essen haben sie mir nicht genug gegeben. Und endlich trugen sie mich auf ’s Schiff und weil ich immer geweint habe und zu Dir wollte, haben sie mich so sehr geschlagen, daß das Blut herauslief. – O liebe Mama, hilf mir, – es thut so weh; o – o!« Die Gräfin hatte kein Glied rühren können; sie war zu Stein erstarrt. Urplötzlich wich die Lethargie der furchtbarsten Leidenschaftlichkeit. Einen unarticulirten Laut ausstoßend, stürzte Katinka, von der Kammerfrau, welche die Kerze ergriffen hatte, eiligst gefolgt, in die andere Kammer. Auf einer Strohschütte, mit Lumpen bedeckt, lag das Kind, vor entsetzlichen Schmerzen zuckend und sich windend; aus seinem Gesichte war jeder Blutstropfen entwichen, die weit geöffneten Augen hatten jenen schrecklichen, gläsernen Glanz angenommen, der die Nähe des Todes ankündigt. Einen raschen Blick warf Gräfin Katinka auf das bleiche Gesichtchen, dann stieß sie einen Schrei aus, so gellend, herzergreifend, daß alle Bewohner des Hauses erschrocken herbeieilten. Die Gräfin hatte sich neben dem elenden Lager auf die Kniee geworfen; sie beugte sich über das Kind, bedeckte es mit heißen Küssen und schluchzte aus unsagbar gequälter Brust: 450
»Koloman, – mein Sohn, – mein herziges Kind!« Der Ton ihrer Stimme brachte das Kind zum Bewußtsein zurück. Seine schon halb starren Augen gewannen noch einmal Lebenskraft. Es blickte die Mutter mit rührendem Ausdrucke an, streckte die Ärmchen nach ihm aus und jauchzte: »Mama, – liebe Mama, bist Du endlich gekommen? O, nun laß mich nie wieder von Dir.« Die Gräfin lachte und weinte in einem Athem. »Nein, mein trautes, goldenes Bübchen, ich will Dich nicht mehr von meiner Seite lassen; ich will Dich hegen und pflegen, daß Du recht bald gesund wirst und Nichts soll im Stande sein, mich auch nur einen Augenblick von Dir zu trennen.« Das Kind sank zurück; es fühlte die Schmerzen nicht mehr; ein glückliches Lächeln verklärte sein zartes Gesicht. Katinka wandte sich zu den Männern: »Einen Arzt,« bat sie, »holt einen Arzt! Tausend, zehntausend Gulden gebe ich Dem, der einen recht bald zur Stelle schafft.« Ernst schüttelte der Wirth den Kopf. »Arme Frau! Kein Arzt kann dem Kinde mehr helfen. Seht Ihr nicht, daß es schon in den letzten Zügen liegt?« »Nein, nein,« schrie die Gräfin auf, »Ihr täuscht Euch, – er sollte schon sterben, – es wäre zu entsetzlich.« Und seit vielen Jahren zum ersten Mal hob sie die gerungenen Hände gen Himmel und flehte mit halb erstickter Stimme: 451
»Barmherziger Gott, nimm ihn mir nicht! Ich könnte es nicht ertragen, ihn zum zweiten Male zu verlieren, nachdem ich ihn eben erst wiedergefunden habe. Du bist ja der Ausfluß aller Gnade; habe auch mit mir Erbarmen, wenn ich derselben auch nicht würdig bin.« »Mama,« lispelte das Kind, »Wo bist Du; – es ist so dunkel hier, – ich kann Dich nicht sehen. – gieb mir Deine Hand!« Im sprachlosen Schmerze ergriff Katinka das von Fieberhitze glühende Händchen des armen Kindes, welches noch einmal leicht aufseufzte und dann die kleinen Glieder streckte. Es hatte ausgelitten. Die Verzweiflung der Gräfin entzieht sich jeder Schilderung. Wie wahnsinnig wüthete Katinka gegen sich selbst, raufte sich die Haare, rang die Hände blutig und erging sich in den wildesten Selbstanklagen und grausigen Gotteslästerungen. Nachdem dieser schreckliche Paroxysmus einige Stunden gewährt hatte, wich er dumpfer Niedergeschlagenheit, die endlich in Tiefsinn ausartete. Die reiche und doch so unendlich arme Frau hielt die Leiche des Kindes, welches sie binnen kurzer Zeit zwei Mal verloren hatte, fest umklammert und wollte sich nicht von derselben trennen. Versuchte man es, sie ihr zu nehmen, dann wehrte sie sich mit der Kraft einer Rasenden; die fixe Idee, daß sie den Sohn gegen geheime Feinde, die ihn beseitigen wollten, um das unermeßlich reiche Erbe an sich zu reißen, vertheidigen müsse, hatte sich in ihrem Gehirne eingenistet. Trug man derselben Rechnung und machte keine Miene, die Leiche fortzunehmen, dann zeigte die so 452
hart gestrafte Gräfin sich fügsam, wie ein Kind. Um sie nur endlich aus dem unwirtlichen Hause heraus zu bekommen, ließ die Kammerfrau ihr vorläufig den entseelten kleinen Körper und stellte ihr vor, daß Koloman in dieser abgelegenen Gegend unter verdächtigen Leuten ungleich größerer Gefahr ausgesetzt sei, als in dem gräflich Szaparyschen Palaste in Wien, wo eine zahlreiche Dienerschaft zu seiner Bewachung und Beschützung vorhanden sei. Diese List hatte den gewünschten Erfolg, Gräfin Katinka drängte nun selbst mit fieberhafter Hast zum Aufbruche. Ihr Schicksal gestaltete sich traurig. Als man endlich in Wien angelangt war, wurde Kolomans Leichnam, während Katinka schlief, zur Erde bestattet. Fortse~ung folgt.
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ie Gräfin verfiel, als sie ihn bei’ m Erwachen nicht mehr vorfand, in ein hitziges Nervenfieber, das ungeachtet aller Sorgfalt, welche die hervorragendsten Wiener Ärzte ihr widmeten, einen tödtlichen Ausgang nahm. Eilen wir zurück nach Szigeth Szarko. Während Lucie und Etelka sich bemühten, die Kranke sorgsam einzuhüllen, hatte Walther eine Durchstöberung der Ruine unternommen. Ihm war urplötzlich der Einfall gekommen, daß in dieser Ruine jene Documente sich vorfinden könnten, auf welche die Notiz » hinter dem neunten Pfeiler « Bezug hatte. Der Erbprätendent hatte, wie wir wissen, längere Zeit damit zugebracht, die Szapary’ schen Schlösser zu durchforschen, ohne indeß einen günstigen Erfolg zu erzielen. Die Trümmer Szigeth Szarkos konnte er keiner glei454
chen Beachtung würdigen, weil Keiner der Szapary’schen Beamten von deren Vorhandensein Kenntniß hatte. Gerade dieser Umstand drängte dem vertrauten Freunde des Abenteurers die Überzeugung auf, daß hier oder nirgends der bedeutungsvolle neunte Pfeiler zu finden sein müßte. Denn wenn der alte Graf Szapary gewußt hatte, daß das unglückliche Opfer seiner Willkür in Szigeth Szarko vor jeder Aufspürung sicher sei, so mußte er dasselbe in Hinsicht auf die Documente angenommen haben. Walther ertheilte den Schiffern den Befehl, seiner Ankunft zu harren, mochte dieselbe sich auch noch so lange verzögern, und untersuchte nun zunächst, ob im Thurme selbst ein unterirdisches Gewölbe vorhanden sei. Doch fand sich nicht die geringste Spur einer Thür, und es war auch nicht wahrscheinlich, daß man den Felsen so nahe am Rande ausgehöhlt haben sollte. Walther eilte nach dem Thorhäuschen hin; unter demselben befand sich allerdings ein Keller, doch war derselbe klein, und nirgends verrieth eine hohlklingende Stelle, daß eine geheime Thür in seinen Mauern sich befände. Walther durchsuchte nun mit peinlichster Genauigkeit die noch aufrecht stehenden Mauerreste, sowie den geräumigen, mit Schutt bedeckten Hof, – nirgends zeigte sich eine Kelleröffnung. Und doch mußten unterirdische Gewölbe existiren; ohne dieselben konnte ein so großes Schloß, welches ehemals wohl eine zahlreiche Besatzung gehabt haben mochte, schwerlich bestehen. Den alten Wächter zu fragen, hielt Walther nicht für rathsam; der Greis würde zweifellos jede Auskunft ver455
weigert haben. Obwohl verdrießlich über die unverhoffte Enttäuschung, ließ Walther in seinen emsigen Nachforschungen nicht nach. Er bemerkte nicht, daß die Schiffer die Gräfin aus dem Thurme trugen und daß Etelka stehen blieb, um ihm verwundert zuzuschauen. Endlich vermochte das Mädchen seiner Neugierde nicht mehr zu gebieten. »Was suchen Sie nur?« fragte sie. Walther blickte auf. »Die Kleine wird Dir Auskunft geben können,« dachte er. »Sicherlich hat sie sich in den Kinderjahren oft in dem alten Gemäuer umhergetummelt, und wenn irgendwo eine Kelleröffnung sich befindet, wird sie dieselbe zweifellos aufgefunden haben. Einem Kinde entgeht so leicht Nichts.« Er fragte sie ohne Umschweife, ob es keinen Keller in Szigeth Szarko gäbe. Etelka zögerte mit der Antwort, doch verrieth der Ausdruck ihres Gesichts ihm, daß ihr ein Eingang zu den unterirdischen Räumen bekannt sein müsse. Ihr Zaudern ließ sich leicht deuten; sie wollte ebenfalls zunächst erfahren, welches Motiv den fremden Mann veranlasse, sich nach den Kellern der Ruine zu erkundigen. Walther beeilte sich deshalb, eine plausible Erklärung für seine auffallende Neugierde zu geben, er sei ein Liebhaber von Ruinen, sagte er, und studire, wenn er ein altes Bauwerk auffände, gern die Form und Einrichtung desselben. Die wenigen Überreste Szigeth Szarkos oberhalb der Erde böten ihm kein Interesse, dagegen glaube er, daß die 456
unterirdischen Räume recht interessant sein müßten. »Es muß unendlich viel Mühe gekostet haben, sie in dem harten Gestein herzustellen und ich denke mir, daß man, um die gewaltige Last zu stützen, kolossale Pfeiler erbaut hat.« »Die sind wirklich vorhanden,« rief Etelka eifrig. »Nicht wahr?« lächelte Walther. »Ich wußte es wohl. Wie ist es, liebes Kind, wollen Sie mir nicht den Eingang zu den Kellern zeigen? Es soll mir auf einige Gulden nicht ankommen.« »O, ich zeige Ihnen den Keller auch umsonst,« lachte das Mädchen. »Es sind keine Geheimnisse in ihm verborgen.« »Hoffentlich doch,« dachte Walther, dessen Erwartung sich ungewöhnlich hoch anspannte. »Also bitte, holdes Fräulein; wenn’s gefällig ist.« Etelka erglühte und gerieth sichtlich in Verlegenheit, plötzlich sagte sie rasch und entschlossen: »Zeigen will ich Ihnen, wie Sie in die Keller hinein gelangen können, aber mitgehen werde ich nicht.« »Ganz nach Ihrem Belieben, mein schönes Fräulein. Doch sagen Sie, ist es unten nicht nachtdunkel?« »Freilich; ein Licht müssen Sie haben. Im Thurme ist eins; ich werde es holen.« Flink, wie ein Reh, sprang sie über den Hof und kehrte unmittelbar darauf mit einer Talgkerze zurück. Darauf schritt sie hurtig voran bis zu einer Stelle, die durch einen prächtigen Hollunderbusch verdeckt wurde. »Zwischen dem Busch und der Mauer müssen Sie sich durchdrängen,« belehrte sie, »dann werden Sie bald eine 457
Öffnung finden, die groß genug ist, daß Sie durchschlüpfen können.« Nach wenigen Sekunden hatte Walther die Öffnung erreicht. Es war eine Spalte, durch welche er sich nur mit Mühe drängen konnte. Eine Treppe oder Leiter war natürlich nicht vorhanden, doch lag auf dem Grunde des Kellers ein fußhoher Schutthaufen, sodaß Walther ziemlich bequem hinabsteigen konnte. Er zündete die Kerze an und genoß nun einen imposanten Anblick. Der Raum, in welchem er sich befand, bildete gewissermaßen einen Vorhof, aus dem man über mehrere terrassenartige Absätze hinab in eine ganz beträchtliche Tiefe steigen konnte. Aus derselben erhoben sich gewaltige Säulen, die aus sorgfältig behauenen Felsblöcken aufgebaut waren. Der Boden und die Wände wurden durch den natürlichen und nur wenig bearbeiteten Felsen gebildet. Walther klomm in die große Halle hinab und zählte zunächst die Pfeiler. Es waren zwölf in einer schnurgeraden Reihe. Er ging von der dem Thore zugewandten Seite bis zum neunten Pfeiler und untersuchte sowohl diesen, wie den hinter ihm befindlichen Theil der Mauer. Seinem scharfen Auge entging eine winzige hervorragende Stelle, die einem Knopfe ziemlich ähnlich sah, nicht. Als er sie kräftig nach der Seite zog, schob sich eine kleine Schieferplatte, die vom übrigen Felsen sich durch die Färbung nicht unterschied, langsam zur Seite. Walther griff hastig in das tiefe Loch, welches nun frei lag, und zog im nächsten Augenblicke ein kleines Packet, das sorgfältig in graue Leinwand gehüllt und durch große, 458
mit dem Szapary’schen Familienwappen versehene Siegel verschlossen war, hervor. Freudig erregt kletterte Walther wieder zur Oberwelt empor. Etelka war nicht mehr zur Stelle; sie war an den Strom hinab geeilt, um von Lucie Abschied zu nehmen. Bald war auch Walther am Boote angekommen. Er fand dort die ganze Zigeunerfamilie beisammen, hoch erstaunt über die wunderbare Begebenheit, deren Schauplatz der alte Thurm gewesen war. Auf Luciens Wunsch belohnte Walther die guten Leute reichlich für ihre humane Handlungsweise. Nachdem dies geschehen und über der Kranken ein Zeltdach hergerichtet worden war, flogen beide Boote den Strom hinab. In der Mitte der Nacht wurde Bazias erreicht. Kaum hatte Walther für die Unterbringung seiner Schutzbefohlenen Sorge getroffen, als er auf das Telegraphenamt eilte und folgende Depesche an den falschen Erbprätendenten abschickte: »Ich habe Lucie und deren Mutter, die gefangen gehaltene Gräfin, aufgefunden; auch die Documente, welche hinter dem neunten Pfeiler verborgen waren. Morgen reisen wir nach Wien, doch kann ich nicht bestimmen, wann wir dort eintreffen, weil die Gräfin krank ist, mithin weite Fahrten nicht verträgt. Hinterlassen Sie stets bei Ihrem Wirthe, wo ich Sie treffen kann.«
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Fünfzehnte+ Kapitel. Letzte Zu$kungen.
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er edle Freiherr von Girsa brachte in dem Eulenneste, welches ihm Gräfin Katinka für seine unlauteren Zwecke überlassen hatte, einige höchst unerquickliche Tage zu. Die Zeit, in welcher Frau Scharnbock nebst Lucien in Hatvan hätten eintreffen müssen, war längst verstrichen und doch ließen sich die Ersehnten immer und immer noch nicht blicken. Selbst nach Hatvan zu fahren und Erkundigungen einzuziehen, hielt Girsa nicht für rathsam. Zu den hervorragendsten Eigenschaften des edlen Freiherrn gehörten Vorsicht und – Feigheit. Ursprünglich war er allerdings entschlossen gewesen, Lucie in Hatvan selbst in Empfang zu nehmen, während der langen Fahrt und in der Einsamkeit des alten Schlosses hatte er jedoch Muße genug zur Auffindung von Gründen gehabt, die ihm die Ausfüllung dieser Absicht als unzweckmäßig erscheinen ließen. Girsa hatte mehr denn einmal Gelegenheit gehabt, die erstaunliche Entschlossenheit, Umsicht und unbeugsame Strenge des falschen Erbprätendenten kennen zu lernen; die Besorgniß, daß Luciens Bruder erforschen könnte, wer der Entführer des Mädchens gewesen, daß er diesem folgen und, wenn er ihn erwischte, sehr über mitspielen würde, war deshalb nur zu wohl begründet. Girsa hatte demzufolge vorgezogen, in dem alten Kastell versteckt zu bleiben und nur einen Zigeuner, einen verschmitzten Patron, nach der Dampfschiffstation zu schicken. 460
Tage vergingen, ohne daß der Bote die Frauen brachte, oder auch allein wiederkehrte, um dem vor Ungeduld fiebernden Baron zu berichten, was vorgefallen. Der Zigeuner hatte triftige Gründe, Hatvan nicht zu verlassen. Die erwartete Zille hatte bei dem Neste nicht angelegt. Frau Scharnbock sowohl, wie der Eigenthümer des Kahnes waren durch den tragischen Abschluß, den nach ihrer Meinung die Entführung gefunden, in hohem Grade erschreckt worden. Beiden wohnte noch ein Rest des Gewissens inne, und aus diesem Umstande erklärt es sich leicht, daß sie trotz ihrer Rohheit ganz niedergeschmettert waren. Jeder von ihnen empfand auch gleich arge Scheu, sich vor dem Baron blicken zu lassen; sie konnten ja nicht wissen, ob derselbe nicht die Polizei auf sie hetzen würde. Ihn, den vornehmen Mann, konnte schwerlich eine harte Strafe, ja überhaupt eine Strafe treffen, die blinde Göttin Themis, deren erster Grundsatz lautet: »Gleiches Recht für Alle,« betrachtet und beurtheilt eine Entführung, die ein vornehmer Mann unternimmt, nur als ein lustiges »Kavalierstückchen« und ist einsichtsvoll genug, den eigentlichen »Urheber« des Coups mit einem gelinden Verweise »laufen« zu lassen, dafür aber »faßt« sie die geringen Leute, welche dabei mitgeholfen, um so härter, und da diese Entführung einen so entsetzlichen Ausgang gefunden hatte, so würden sowohl der Kupplerin, wie dem Eigenthümer der Zille einige Jahre beschaulicher Ruhe in jenem Hause, das alle in ihm Aufgenommenen mit gleicher Zärtlichkeit umfaßt und trotzdem wenig beliebt ist, bescheert worden sein. Der Schiffer beschloß deshalb, an Hatvan vorbei nach 461
Rumänien zu fahren, weil dorthin ein Theil seiner heimlichen Ladung, die, wie wir wissen, aus gestohlenem Gute bestand, bestimmt war. Frau Scharnbock hingegen wollte sich einige Meilen vor Bazias an das Land setzen lassen, den halbtodten Knaben irgendwo unterbringen, dann nach Bazias eilen und von dort ungesäumt mit der Bahn nach Wien zurückkehren. Diesem Vorsatze gemäß handelte sie auch. Etwa eine halbe Stunde oberhalb Szigeth Szarkos, an einer Stelle, wo der Weg von Pancsova nach Bazias dem Stromufer nahe kommt, um später im weiten Bogen um das große Moor herum sich zu ziehen, verließ sie die Zille und führte ihren Plan aus. Nach langem Hangen und Bangen in schwebender Pein wurde der edle Freiherr von seiner Qual erlöst. Sein Bote brachte ihm die wichtige Kunde von der Ankunft des Grafen Szapary und Walthers nach Hatvan und von den Maßregeln, die zur Auffindung Luciens in umfassender Weise getroffen worden waren. Girsa erachtete ein längeres Verweilen in dem alten Schlosse für unnütz und selbst gefährlich, da ja ein Zufall den Grafen mit ihm zusammenführen konnte. Er kehrte ebenfalls nach Wien zurück; Frau Scharnbock mußte ihm ja Auskunft über den ihm räthselhaften Verlauf der Fahrt ertheilen können. Sich selbst nach der Kinderbewahranstalt zu begeben, hielt der vorsichtige Baron nicht für räthlich, weil der Graf vielleicht Vorsorge zu seinem Empfange getroffen haben konnte, er schickte vielmehr, nachdem er auf dem Wiener Staatsbahnhofe eingetroffen war, einen 462
geschickten Commissionär nach Zwischenbrücken, dann eilte er in die Wohnung seiner Concubine. Dort erwartete ihn eine ebenso eigenthümliche, wie unangenehme Überraschung. Die Polizei war, wie wir wissen, durch die unbedachte Handlungsweise des unechten Grafen Szapary sowohl auf diesen, wie auf den angeblichen Baron Girsa aufmerksam gemacht worden. Selbstverständlich ließ die Behörde es sich angelegen sein, das Dunkel, welches über den sehr edlen, trotzdem jedoch nicht angemeldeten Freiherrn ausgebreitet war, zu erhellen. Zwei der geschicktesten Detectives nahmen die Aufgabe auf sich, die Wohnung des Barons aufzuspüren und sein Vorleben, wie seine letzten Verhältnisse darzulegen. Die gewandten Beamten gingen von derselben Voraussetzung aus, welcher Walther sich hingegeben hatte, wählten auch das von diesem angewandte Mittel zur Erkundschaftung der Wohnung Girsa’s. Nach wenigen Tagen wußten sie, daß der angebliche Freiherr ein Schwindler wäre, der unter dem Namen Schmiedbauer sich bei einer berüchtigten Hetäre aufhalte. Sie begaben sich nun unter plausiblem Vorwande in die Wohnung dieser Dame und während der Eine dieselbe angelegentlich unterhielt, revidirte der Andere das Wohnzimmer gründlich und fand dabei ein Photographie-Album auf, das er geschickt aus der Wohnung escamotirte. Die Herrenportraits, welche sich in reicher Zahl in dem Album vorfanden, wurden in Stehlings Bureau, wo die Photographieen sämmtlicher steckbrieflich verfolgten, namhafteren Verbrecher der civilisirten Welt aufbewahrt 463
werden, einer genauen Musterung unterzogen; eines von ihnen erwies sich als das Conterfei eines berüchtigten französischen Hochstaplers, nach welchem die Polizeibehörden aller europäischen Hauptstädte seit Jahren vergeblich gefahndet hatten. Festzustellen, ob dieses Individuum mit Schmiedbauer alias Baron Girsa identisch sei, war leicht genug. Einer von den adeligen »Vertrauten« * begab sich in die geheiligten Räume des adeligen Casino und bekam dort ohne Schwierigkeit heraus, daß das Abbild des Verbrechers auch das des edlen Freiherrn von Girsa wäre. Diese Entdeckung hatte zur Folge, daß auf allen Bahnhöfen geheime Agenten postirt wurden, welche die Zurückkunft Girsa’s abwarten und den edlen Baron dann verhaften sollten. Girsa vermuthete von polizeilicher Seite nichts Arges für sich. Er hatte nur gewaltige Scheu vor der Rache des Grafen Szapary, die Polizei dagegen, der er ja seit Jahren mit dem glücklichsten Erfolge ein Schnippchen geschlagen, hielt er keiner Beachtung werth. Diese Unvorsichtigkeit sollte er schwer büßen. Kaum hatte er die Wohnung seiner Concubine betreten, als zwei elegante Herren ihn höflich und mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit einluden, sein Domicil in dem größten und besuchtesten Wiener * Die »Vertrauten«, zu denen selbst Persönlichkeiten aus fürstlichem Stamme gehören sollen, haben vornehmlich die Aufgabe, die »Stimmung« (das politische Bewußtsein) des Volkes sowohl, wie der sogenannten »höheren Classen« zu erforschen und wenn möglich zu »reguliren«. Nach ihren Wahrnehmungen wird hauptsächlich jener Bericht zusammengestellt, den der Polizeipräsident allwöchentlich über die Stimmung der hauptstädtischen Bevölkerung an den Kaiser abzustatten hat.
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Hotel, dem »Landesgerichtsgefängniß« aufzuschlagen. Die galante Wiener Justiz erwies ihm nach einiger Zeit die Gunst, ihm eine vieljährige Pension in einem der vielen romantisch gelegenen Zuchthäuser Österreichs zu bewilligen. Hat der seiner freiherrlichen Würden ganz entkleidete Pensionär diesen unfreiwilligen Aufenthalt abgesessen, so steht ihm der wenig beneidenswerthe Genuß bevor, eine Rundtour durch Gerichtssäle und Zuchthäuser in allen europäischen Staaten anzutreten und von dieser Wanderung dürfte wohl nur der Mann mit der Hippe ihn erlösen. Der »Herr« war in düsterer, menschenfeindlicher Stimmung in Wien angekommen, und diese üble Laune wurde noch verschärft, als er erfuhr, daß Frau Scharnbock noch nicht zurückgekehrt sei. Zwei ihm treu ergebene Leute hielten sich in der Bewahranstalt verborgen, vergebens indeß harrte der Abenteurer, daß sie ihm die heiß ersehnte Kunde von der Rückkehr der Frau zugehen ließen. Als Tag um Tag verstrich, ohne daß dieselbe eintraf, fiel der sonst so willensstarke Mann einem dumpfen Schwermuthe zur Beute. Das Leben ohne Lucie hatte keinen Reiz mehr für ihn; die hochfliegenden Pläne, an deren Realisirung er seit so langer Zeit mit erstaunlichem, einer besseren Sache werthen Feuereifer gearbeitet hatte, flößten ihm nun kein Interesse mehr ein, entnervende Gleichgültigkeit gegen Alles, was ihm vordem werthvoll gewesen, hielt ihn gefangen. Dieser Gemüthszustand übte auch auf das eminente Beobachtungsvermögen des Abenteurers einen schädlichen Einfluß aus, was zur Folge hatte, daß der falsche Erbprätendent das veränderte Benehmen seines Wirthes nicht be465
merkte. Herr Börner erwies seinem hochgeborenen Miether nicht mehr die fast unterthänige Ehrerbietung, deren er sich bisher befleißigt hatte; vielmehr betrachtete er ihn mit einer Mischung von Scheu und Mitleid, und zuweilen zeigte sein Benehmen sogar einen Anflug von Arroganz. Der Wirth wurde zu dieser Wandlung durch einen bösen Argwohn veranlaßt, der sich ihm mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängte. Es hatten sich in den letztverflossenen Tagen verschiedene feine Herren bei ihm nach dem Grafen Szapary und dessen Schwester erkundigt. Dieser Umstand an und für sich bot allerdings nichts Auffälliges dar, doch machte den Wirth die außergewöhnliche Neugierde dieser Herren stutzig. Scheinbar nebensächlich, aber doch höchst angelegentlich fragten sie nach tausend Dingen, die selbst einem ganz vertrauten Freunde gleichgültig bleiben müssen. Und Börner kannte die Menschen genugsam, um nicht zu errathen, daß diese Personen, die sich als theilnehmende Freunde des jungen Grafen einführten, der geheimen Polizei angehören müßten; ein unbeschreibliches Etwas, welches diese Elegants umgab, ihren Augen, ihren Geberden, ihrem ganzen Wesen entströmte, ließ dem Manne keinen Zweifel daran, daß seine Muthmaßung begründet sein müßte. Er hätte kein Weltstadtkind und nicht ein so eifriger Zeitungsleser sein müssen, wie er wirklich war, um nicht zu wissen, daß gar mancher hochadelige Herr ein Schwindler und Abenteurer sei, und da die Polizei seinem Miether eine unverkennbar sorgfältige Aufmerksamkeit zuwandte, so zweifelte er keinen Augenblick daran, daß auch der angebliche Graf Szapary sich recht bald als ein 466
Betrüger entpuppen würde. Selbstverständlich übte diese Meinung bestimmenden Einfluß auf das Benehmen des Wirthes gegenüber seinem Miether aus, doch bemerkte der Abenteurer nicht, wie tief er in der Achtung Börners gesunken war, trotzdem manche markante Kennzeichen ihm jeden Zweifel darüber hätten benehmen müssen, wenn er eben fähig gewesen wäre, sie wahrzunehmen. Aus der Lethargie, die einige Tage hindurch träumend ihn umfangen hielt, riß ihn plötzlich die Nachricht, daß Frau Scharnbock in der Bewahranstalt eingetroffen sei. Der Abenteurer eilte ungesäumt nach Zwischenbrücken und fand die Frau in einem Zustande größter Aufregung. Hatten schon die schlimmen Begebenheiten auf der Fahrt sie nicht wenig angegriffen, so artete ihre Erregung in Exaltation aus, als sie in ihrem Hause nicht den Gatten antraf, sondern zwei ihr wohlbekannte Agenten des »Herrn,« die sie in ein dazu geeignetes Zimmer einsperrten und streng bewachten, ohne ihr Auskunft über die Beweggründe zu dieser Handlungsweise zu ertheilen. Nach einigen qualvollen Stunden sollte sie aus der Ungewißheit erlöst werden. Der Abenteurer trat mit feurigem Ungestüm in das Zimmer. Seine Erregung war so mächtig, daß er sie nicht zu zügeln vermochte. Aus seinen Augen leuchtete eine unheimliche, verzehrende Gluth und seine Stimme bebte, als er zu sprechen begann: »Wo befindet sie sich ?« rief er. »Sagen Sie mir es ohne Zögern und hüten Sie sich, mich zu belügen. Wohin haben Sie sie gebracht?« 467
Die Frau schlug vor seinem flammenden Blicke die Augen nieder. »Wen meinen Sie?« fragte sie stammelnd. Der Abenteurer stampfte wild auf den Boden. »Welche thörichte Frage! Wen kann ich meinen, als das unglückliche Mädchen, welches Sie einem Wüstlinge zugeschleppt haben? Und nun geben Sie mir auf der Stelle Bescheid, oder ich vergesse, daß ich ein Weib vor mir habe und zerschmettere Sie. Wo ist sie? Antwort!« »Sie ist todt.« Der Abenteurer wankte weit nach rückwärts. »Todt!« schrie er auf mit einem Tone, welcher der Frau unsagbares Entsetzen einflößte. Einen Moment stand er, wie erstarrt, zu Stein geworden, dann schnellte er jäh empor, stürzte zu der Frau hin und preßte deren Arm mit solcher Gewalt, daß sie vor Schmerz laut aufschrie. »Du lügst, Weib,« schrie er wie rasend. »es ist nicht wahr, nicht möglich, was Du sagst. Der Wüstling hat Dich zur Lüge erkauft. Du sollst mich täuschen, damit ich ihn nicht zu verfolgen und zu finden vermag. Aber ich werde die Wahrheit herausbekommen. Fünf Minuten Bedenkzeit gebe ich Dir; wenn Du Dich dann noch nicht entschlossen hast, mir die lautere Wahrheit zu sagen, dann schieße ich Dich nieder.« Er riß einen Revolver hervor und richtete ihn auf das zitternde Weib. Frau Scharnbock sank in die Kniee, streckte betheuernd die Arme empor und rief feierlich: »So wahr ein Gott im Himmel waltet, ich habe nicht gelogen! Die junge Dame weilt nicht mehr unter den Le468
benden; sie hat sich selbst den Tod gegeben. In der Nacht, während ich schlief, schlich sie sich aus der Kajüte und stürzte sich in die Donau, ehe der Schiffer sie daran zu hindern vermochte. – Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann machen Sie mit mir, was Ihnen beliebt; eine andere Auskunft kann ich Ihnen nicht geben.« Der Abenteurer sah sie so durchdringend an, als wenn er bis auf den Grund ihrer Seele blicken wollte. Sie schaute nicht zur Erde. Er konnte nicht länger zweifeln, daß sie die Wahrheit berichtet. Der Revolver entglitt seiner Hand. Einem Trunkenen ähnlich, schwankte der Hochstapler nach einem Sessel, sank in ihm nieder, schlug die Hände vor das Antlitz und ächzte leise: »Todt; – verloren; – auf ewig verloren!« Es war ein erschütternder Anblick, den stolzen, athletischen Mann weinen zu sehen wie ein Kind. Wie lange er so dagesessen, wie er in den Fiaker und nach seiner Wohnung gekommen, darüber hatte er später nie Auskunft geben können; er that Alles ganz mechanisch, unbewußt, wie keiner Überlegung, keiner Empfindung mehr fähig. Er sah nicht die halb verwunderten, halb mißtrauischen Blicke, mit denen sein Wirth ihn betrachtete, hörte nicht die halblauten hämischen Bemerkungen, welche die Hausbewohner, die ihm begegneten, als er die Treppe empor wankte, mit einander austauschten, – in seiner stillen Klause saß er wohl eine Stunde lang starr und stumm, einem Steingebilde ähnlich. 469
Dann ging die Thür auf und ein Mann in Uniform trat ein. Es war ein Austräger des Telegraphenamtes. »Eine Depesche aus Bazias,« sagte er, das Couvert hinhaltend. »Bitte zu quittiren.« Es kostete´dem Abenteurer eine physische Anstrengung, die Hand auszustrecken, die Feder festzuhalten und seinen Namen unter den Empfangschein zu setzen. Das Telegramm ließ er ungeöffnet auf dem Tische liegen. »Es kann nur von Walther kommen und giebt mir dieselbe Auskunft, welche ich schon von Frau Scharnbock erhalten habe,« dachte er. »Wahrscheinlich haben die Uferanwohner Luciens Leichnam gefunden und Walther hat ihn bei seinen Nachforschungen entdeckt.« Der Zwischenfall hatte doch die Wirkung, daß wieder das Leben, wenn auch noch schwach, sich zu regen begann. Eine halbe Stunde noch blieb der Abenteurer regungslos, dumpfem Brüten anheimgegeben, dann wurde ihm das Sitzen unleidlich. Er sprang auf; sein Blick streifte wieder das Telegramm. »Kannst es doch durchlesen,« ermuthigte er sich selbst und streckte die Hand aus. Aber die Kraft verließ ihn sofort. »Die Bestätigung von Luciens Tode,« murmelte er schaudernd. »Einem so gräßlichen Schicksal mußte die Unglückliche zur Beute fallen, und durch wessen Verschulden?« Er schlug sich wild vor die Stirn. 470
»Durch das meinige, – das meinige. O, dieser Gedanke ist gräßlich und doch läßt er sich nicht anfechten. Wäre ich nicht so rauh aufgetreten, daß Verzweiflung sich Luciens bemächtigen mußte, dann hätte sie niemals der Versuchung, ohne mein Wissen das Haus zu verlassen, nachgegeben. Doch es sollte nach dem Willen des Schicksals so kommen; sie sollte mir nicht angehören, – sie war zu gut für den – Schwindler und Spitzbubenchef.« Und wieder schritt er finster auf und nieder; zuweilen ballte er die Hände und schüttelte sie mit wilder Geberde, wie wenn er einen Gegner niederschmettern wolle, zuweilen lachte er bitter. Endlich nahm sein Gedankengang eine andere Richtung. »Ich will die Depesche doch lesen,« rief er entschlossen, »damit ich erfahre, wo die entseelte Hülle zur Erde bestattet werden soll«. Noch einmal will ich die theuren Züge, wenn auch todesstarr, schauen, noch einmal den zarten Mund küssen, der nicht mehr sagen kann, daß sie mir verziehen hat.« Er ächzte auf; dann trat er schnell zum Tische und riß das Couvert auf. Einen flüchtigen Blick warf er auf das Telegramm und wankte dann so heftig, daß er sich» krampfhaft an den Tisch klammern mußte, um nicht umzusinken. Sein Gesicht hatte leichenfahle Blässe überzogen, vor seinen Augen flimmerte es. Erst nach einigen Minuten war er im Stande, die Hand wieder zu heben und die Depesche zu durchlesen. Doch 471
schien es ihm unmöglich, deren Sinn zu begreifen; er verschlang die wenigen Zeilen vielleicht zehn Mal, bevor er wußte, welche Meldung sie enthielten. »Lucie lebt!« schrie er dann auf, und unbeschreibliches Entzücken klang aus seiner Stimme, leuchtete aus seinen Augen. – Einige Minuten hindurch überließ er sich ganz der Wonne, dann gewann die kühle Reflexion wieder die Oberhand. »Sollte mein Verdacht doch nicht unbegründet sein, sollte Frau Scharnbock mich doch belogen haben, damit ich nicht zur Verfolgung Girsa’s mich aufmache?! – Es ist nicht unwahrscheinlich; möglich allerdings ist es auch, daß sie in der That glaubt, Lucie sei in den Wellen umgekommen – Ich muß klar sehen – ohne Strafe soll und darf Girsa nicht davonkommen. Frau Scharnbock muß wissen, wo er sich verborgen hält. Treffe ich ihn dort auch nicht mehr, so wird es mir doch möglich sein, seiner Spur zu folgen. – Doch, ich überlasse mich irrigen Voraussetzungen. Nirgends anders dürfte Girsa sicherer anzutreffen sein, als in Wien, wo ihm zahllose Schlupfwinkel zur Benutzung offen stehen. Vielleicht befindet er sich bereits hier; er wird zweifellos schon längst erfahren haben, daß sein abscheulicher Anschlag mißglückt ist, und nach Wien zurückgekehrt sein. Vielleicht ist er bereits bei seiner Concubine; darüber kann ich binnen wenigen Stunden Gewißheit erlangen. Möglich auch, daß er mit Frau Scharnbock in Ungarn nicht zusammengetroffen ist und nichts Genaueres über Luciens Schicksal weiß. Dann wird er natürlich vor Begierde brennen, Auskunft zu erhalten und sich mit dem 472
Weibe in Verbindung zu setzen suchen. Ich will sofort nach Zwischenbrücken zurück um mich genauer zu informiren und den Agenten Anweisungen zu ertheilen, damit sie den saubern Patron nicht etwa entwischen lassen.« Er eilte hinaus, mit elastischem Schritte die Treppen hinab. Herr Börner, der augenblicklich zum Guckloch geeilt war, als die Thür zu der Wohnung seines Miethers knarrte, gewahrte mit großem Erstaunen die vollständige Wandlung in dem Wesen des Abenteurers, und sein Respekt erhöhte sich sofort bedeutend. Da er den Telegraphenboten hatte hineingehen sehen, so schloß er ganz richtig, daß die von demselben gebrachte Depesche eine so günstige Einwirkung auf die Stimmung seines Mieters ausgeübt haben müßte, und fast erlag er der Begierde, den Inhalt derselben kennen zu lernen, da er sie leider nicht befriedigen konnte. Der Abenteurer suchte zunächst einen der zahlreichen Agenten auf, die mit ihm in Verbindung standen und schickte ihn, mit den nötigen Instructionen versehen, nach der Wohnung Schmiedbauers. Dann fuhr er nach der Bewahranstalt. Seine Ankunft befreite die Agenten von peinlicher Verlegenheit, da sie nicht wußten, wie sie sich der Frau gegenüber zu verhalten hätten. Ohne dem Weibe Mittheilung von der Kunde zu machen, die ihm das Telegramm gebracht, ließ er sich erzählen, wie jener Moment, in welchem Lucie sich in die Donau gestürzt hatte, verlaufen sei. Frau Scharnbock konnte natürlich nur den Bericht, welchen Jörg abgestattet, wiederholen, doch genügte derselbe, um dem Abenteurer 473
die Überzeugung zu verschaffen, daß die Frau kein falsches Spiel mit ihm treibe. Auf seine fernere Erkundigung, ob sie mit Girsa in Ungarn zusammengetroffen sei, betheuerte die Frau das Gegentheil und erzählte unaufgefordert, was sie nach der Katastrophe unternommen habe. Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ËÈ
Geheime Gewalten.
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Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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ätte der Abenteurer einen Zweifel an der Aufrichtigkeit des Weibes gehegt, dann wäre derselbe nach der Rückkunft in seine Wohnung beseitigt worden, denn dort wartete bereits der Agent mit der Nachricht, daß Girsa verhaftet worden sei. Der falsche Graf erwog nun, ob es zweckmäßig wäre, Walther und den Frauen entgegenzufahren. Sein Herz, das nach dem Wiedersehen Luciens lechzte, drängte ihn ungestüm zur Reise. Er wußte allerdings nicht, wohin er sich begeben solle, doch konnte es nicht schwer sein, Walther aufzufinden, da derselbe zweifellos nur in größeren Stationen, welche geeignet waren, der kranken Gräfin bequeme Unterkunft und ärztliche Pflege zu bieten, Aufenthalt nehmen würde. Aber nach kurzer Überlegung fand er es rathsamer, in Wien zu bleiben. Nun, wo Lucie wiedergefunden, mußte er trachten, die Mission, der er sich gewidmet hatte, 475
zu einem gedeihlichen Ende zu führen. Zur Lösung dieser Aufgabe mußte ihm die Auffindung der einzigen und wirklichen Gräfin Szapary und der von Koloman hinterlassenen Documente vorzüglich behülflich sein. Es unterlag keinem Zweifel, daß die Sympathieen aller Kreise der Gesellschaft sich der unglücklichen, so grausam gepeinigten Gräfin und deren Kindern zuwandten, daß auch der Monarch zu deren Gunsten sich entscheiden würde. Vielleicht stand der falsche Prätendent schon nach wenigen Tagen als hochangesehener, weil von der Majestät anerkannter Majoratsherr der Szapary’s da, und dann hatte er Mittel und Muße genug, seinen Plan zur Ausführung zu bringen. Vorher jedoch mußte ein Hinderniß aus dem Wege geräumt werden, ohne dessen Beseitigung eine Verwirklichung des kühnen Projektes unmöglich war, – Bruno sowohl, wie Johannes mußten unschädlich gemacht werden, gleichviel durch welche Mittel. Mit Schrecken dachte der Abenteurer daran, daß er seinen Gegnern kurze Zeit hindurch freien Spielraum gelassen; es waren freilich nur wenige Tage gewesen, aber eine Angelegenheit von so immenser Bedeutung konnte durch die geringfügigste Vernachlässigung auf der einen, durch eine energische Handlung auf der andern Seite, oder auch durch einen unscheinbaren Zufall eine ganz andere Gestalt gewinnen. Der Glücksritter verwünschte seine Unthätigkeit und beschloß, durch verdoppelte Energie und Raschheit den von ihm begangenen Fehler wieder wett zu machen. Zunächst mußte er zu erfahren suchen, in welchem Gasthause die beiden jungen Männer abgestiegen waren. Diese Auskunft hätte er ohne alle Schwierigkeit 476
auf dem Melde-Amte erhalten können, doch war dasselbe bereits geschlossen, und die Anspruchnahme der Polizei zur Aufsuchung einer Adresse nach Schluß der Amtsstunden erschien ihm nach der unangenehmen Erfahrung, die er gemacht, nicht rathsam. Von Hotel zu Hotel zu wandern, war ebenso zeitraubend wie unzweckmäßig, da die Portiers die Namen jener Gäste, welche seit mehreren Tagen im Hause logirten, sicher nicht mehr im Gedächtniß hatten. Die Fremdenbücher standen diesen Leuten nicht zur Verfügung, sondern wurden im Comptoir des Wirths oder des Buchhalters aufbewahrt, und höchst wahrscheinlich war eine Einsichtnahme derselben während der Nacht unmöglich. Bis zum nächsten Morgen zu warten, dazu fehlte dem Abenteurer die Geduld; er wollte noch in der Nacht einen Plan zur Vernichtung seiner Gegner ersinnen und konnte seine Dispositionen zweckmäßiger treffen, wenn er wußte, wo dieselben sich aufhielten. Plötzlich fiel ihm ein, daß ihm ja ein treffliches Mittel, die erwünschte Auskunft zu erhalten, zur jederzeitigen Verfügung stände; er brauchte nur die Verzeichnisse durchzusehen, welche die beiden Fremdenblätter jeden Tag über die in Wien eingetroffenen Fremden brachten. Sofort eilte er nach dem adligen Casino, wo diese Zeitungen auflagen und, in Bänden zusammengeheftet, während des ganzen Jahres aufbewahrt wurden. Emsig durchforschte er die Nummern der vorangegangenen Tage und fand nach einiger Zeit Bruno Waldmann und Johannes Kauer unter den Namen der im »Hotel National« eingekehrten Fremden. Der Zusatz «aus Ungarn« machte ihn nicht we477
nig stutzig. – Was hatten die Beiden in Ungarn zu thun? Sollten sie beabsichtigt haben, Lucie aufzusuchen? – Doch, wie war ihm denn; hatte ihn nicht schon früher einmal Jemand darauf aufmerksam gemacht, daß die beiden jungen Männer nach Ungarn gereist seien? – Er sann angestrengt nach und erinnerte sich bald genug der Mittheilung Börners, daß Johannes zwei Herren, die aus Siebenbürgen gekommen waren, um den Grafen Szapary aufzusuchen, in Luciens Wohnung empfangen und nach kurzer Unterredung von dort fortgeführt habe. Dem Abenteurer wallte das Blut siedend heiß durch die Adern, als er daran dachte, welcher unverzeihlichen Nachlässigkeit er sich dadurch schuldig gemacht habe, daß er damals nicht ungesäumt zur Aufsuchung der Fremden, die vielleicht eine hochwichtige Mittheilung zu machen hatten, geschritten sei. Während der ganzen Nacht schritt der falsche Prätendent ruhelos in seiner Klause umher, mit dem Entwurfe eines Planes zur Bekämpfung seiner Gegner und zur Förderung seiner Interessen beschäftigt. Er war entschlossen gewesen, Johannes der Polizei als den Verfertiger der Platten zu den Tausendpfundnoten zu bezeichnen, doch machten sich so viele Bedenken gegen diesen Vorsatz geltend, daß er ihn fahren ließ. Es erschien ihm ungleich bequemer und seinen Zwecken, wie seiner eigenen Sicherheit mehr entsprechend, wenn er den Jüngling verschwinden ließ. An Mord dachte et bei diesem Entschlusse nicht; Johannes hatte sich seine Sympathieen in so reichem Maaße gewonnen, daß es dem nicht unedlen Sinne des Abenteurers widerstrebte, 478
den ehemaligen Günstling einem so grausamen Schicksale zu überliefern, Er wollte ihn nur so lange unschädlich machen, bis er an dem Ziele, welches er sich gestellt hatte, angelangt war, und dieser Zweck ließ sich dadurch erreichen, daß er den Jüngling in sicherem Gewahrsam hielt. Wie trefflich bei der Anwendung dieses Zwangsmittels ein Geheimniß sich bewahren ließ, das hatte das Beispiel der Gräfin Szapary zur Genüge dargethan. Der Abenteurer war halb und halb entschlossen, jenes öde Nest, in welchem die unglückliche Frau so lange geschmachtet hatte, zum Gefängnisse für den Jüngling zu benutzen; bis zur Ankunft Walthers sollte Johannes in demselben Verstecke untergebracht werden, in welchem auch Scharnbock eingekerkert war. – Gegen den echten Erben des Namens Szapary wollte der Glücksritter rücksichtslos vorgehen, doch durfte er gegen ihn nicht dasselbe Verfahren einschlagen, wie gegen Johannes. Dieser war sicherlich ohne Mühe in eine Falle zu locken, wenn man ihm die Kunde zugehen ließ, daß Lucie wiedergekehrt sei; Bruno dagegen hatte vollberechtigte Ursache, jeder ihm nahetretenden Versuchung entschiedenes Mißtrauen entgegenzusetzen, und zweifellos war er auch jederzeit darauf vorbereitet, einem gewaltsamen Angriffe zu begegnen. So lange er sich in dem einsamen Walde aufgehalten hatte, konnte man von einem Anschlage auf sein Leben Erfolg erhoffen, aber inmitten der Riesenstadt mit ihrer ausgezeichneten Polizei und der trefflichen Presse, welcher eine ganze Armee von Reportern jedes Ereigniß, das zur öffentlichen Besprechung sich eignete, in der erschöpfendsten Ausführlichkeit berichtete, mußte ein der479
artiges Wagniß unterbleiben. Die unmittelbare Folge eines solchen Attentats hätte die sein müssen, daß man dem zweimal von Mörderhänden Bedrohten unbedingten Glauben beigemessen haben würde, wenn er mit seinen Ansprüchen auf das Szapary‘sche Erbe hervorgetreten wäre. »Unzweifelhaft am besten, wenn auch freilich etwas kühn, ist es, der Polizei die Überzeugung beizubringen, daß Bruno Waldmann der Anführer der ›schwarzen Brüder‹ sei,« so erwog der Abenteurer. »Er hat eine frappante Ähnlichkeit mit mir, das heißt also mit dem ›Herrn‹, nur in dem einen, ganz unwesentlichen Punkte weicht er von dem Conterfei, welches die Spürhunde von mir im Gedächtnisse haben ab, daß sein Haar eine blonde Farbe hat. Versichern Einige von der Bande, daß er wirklich der ›Herr‹ sei, dann dürfte es ihm unmöglich sein, das Gegentheil nachzuweisen. Er hat bisher abgeschieden von aller Welt gelebt und kann sich nur auf das Zeugniß des alten Försters berufen. Dieses aber hat kaum einen Werth für ihn. Kauer kann ja keine Auskunft über die Lebensweise seines Gehülfen geben. Bruno blieb viele Nächte, oft Tage und Nächte vom Forsthause entfernt und kann während dieser Zeit sich in Wien, das er mit der Bahn in zwei Stunden zu erreichen vermochte, aufgehalten haben, während der Förster in dem Wahne lebte, daß sein Gehülfe im Walde umherstreiche. Auch dürfte es nicht gar zu schwierig sein, die Polizei glauben zu machen, daß der Hauptsitz der ›Schwarzen Brüder‹ sich in dem fürstlichen Walde bei Baden befunden habe.« Dieser Angabe mußte die Behörde um so eher Glauben beimessen, als es ihr trotz aller An480
strengungen nicht geglückt war, den Versammlungsort und das Magazin der Bande in Wien aufzuspüren. In dem mehrere Quadratmeilen umfassenden Forste gab es zahllose Schlupfwinkel, die allerdings recht gut dazu geeignet waren, selbst einer zahlreichen Bande sichere, sogar unauffindbare Verstecke zu bieten. Auch durch den Umstand gewann die Angabe an Wahrscheinlichkeit, daß in jenem Walde Wild- und Holzdiebe ihr Unwesen getrieben hatten. Die Aussage, welche der Wilddieb Sachs auf dem Todtenbette gemacht, ließ sich gleichfalls so deuten, daß sie die Polizei in der ihr aufgedrängten Meinung bestärken mußte. Bekanntlich lautete dieselbe so, daß der Forstgehülfe mit den »schwarzen Brüdern« in gar keiner Verbindung gestanden habe. Diese Angabe ließ sich aus dem Grunde als vollständig werthlos hinstellen, weil es sehr häufig vorkam, daß ein Verbrecher, der in der ersten leidenschaftlichen Aufwallung compromittirende Aussagen gegen einen Genossen gemacht, dieselben später zurücknahm. Zu einem derartigen Widerrufe wirkten verschiedene Ursachen zusammen: Angst vor der Rache des Verrathenen oder besten Komplicen, oder Reue, oder die Scham und der Ärger, der Polizei Nutzen gebracht zu haben oder endlich als triftigstes und am häufigsten vorkommendes Motiv die Zusicherung materiellen Vortheils, welche der Compromittirte oder dessen Freunde abgaben. Dieser Beweggrund, so sollte der Polizei eingeflüstert werden, habe auch den Wilddieb hauptsächlich veranlaßt, die Polizei irre zu führen. Er hätte vom »Herrn« die Zusicherung erhalten, daß für seine kleinen Geschwister an denen der rohe Mensch mit 481
seltsamer Zärtlichkeit hing, gesorgt werden sollte, falls er jeden Verdacht vom Oberhaupte der »schwarzen Brüder« ablenke. Unter den Mitgliedern der Bande fanden sich Einige, welche die Wahrheit dieser Angabe ohne Weiteres beschworen; die Polizei hatte auch gar keine Ursache, sie zu bezweifeln, weil ein solches Vorkommniß in der Gaunersphäre zu den alltäglichen gehörte. – Es blieb endlich nur noch ein Hinderniß zu überwinden. Die Neustädter Polizei hatte Erkundigungen über den Forstgehülfen Waldmann eingezogen und erfahren, daß dessen Vorleben unbescholten sei, sowie daß er nicht einmal Kenntniß von der Existenz der »Schwarzen Brüder« gehabt habe. Zur Beseitigung dieses Hemmnisses genügte die Andeutung, daß die Polizeibehörde des Landstädtchens wenig Routine, mindestens unendlich geringere als die Wiener besaß und deshalb nicht im Stande war, einen so listigen und erfahrenen Mann, wie der »Herr« unzweifelhaft war, erfolgreich zu bekämpfen. So ungefähr war der Ideengang des Abenteurers und es ließ sich nicht läugnen, daß derselbe nicht falschen Voraussetzungen entsprang, sondern daß der Anschlag, dem er als Unterlage diente, guten Erfolg versprach. ES war zehn Uhr Vormittags, jene Stunde, in welcher der Polizeipräsident Audienzen zu ertheilen pflegt. Der alte Diener des hohen Herrn trat mit militärischem Anstande in den prachtvoll ausgestatteten Salon des Präsidenten und meldete, daß ein Mann in einer hochwichtigen Angelegenheit Se. Excellenz zu sprechen wünsche. »Wie heißt er?« fragte der Präsident. 482
»Er will seinen Namen nur Eurer Excellenz angeben, doch hat er mir aufgetragen, zu melden, daß er Mitglied einer großen Gaunerbande sei. »Lassen Sie ihn ein!« Unmittelbar darauf, nachdem der Diener den Salon verlassen hatte, trat ein anständig, selbst mit einer gewissen Eleganz gekleideter Mann, der weit mehr einem behäbigen Rentier, als einem Verbrecher glich, in das Zimmer und begrüßte den mächtigen Beamten durch eine ehrerbietige Verbeugung. Der Präsident musterte mit scharfem Blicke das Gesicht des Besuchers, dann fragte er: »Sie wünschen mir wohl eine Mittheilung zu machen? Wie es scheint, ist dieselbe von Wichtigkeit?« »Sie ist sehr wichtig. Ich bin mit der Absicht hergekommen, Ew. Excellenz Aufschlüsse über eine der gefährlichsten Gaunerbanden, die jemals in Wien existirten, zu geben.« »Ist es eine der gewöhnlichen Diebsgenossenschaften?« »Nein; es ist eine Vereinigung von Männern, die zum Theile den gebildeten Ständen angehören und selbst einiges Ansehen in der Gesellschaft genießen. Der Chef dieser Bande sucht sogar sich Zutritt zu exclusiven Cirkeln zu erwirken, die in der Regel nur Angehörigen adliger Familien offen stehen.« »Er ist also ein gewandter Hochstapler. Jedenfalls führt er einen vollklingenden, aristokratischen Namen?« »Darüber werde ich mir erlauben, erst dann Aufschluß zu ertheilen, wenn ich erfahren haben werde, ob Excellenz geneigt seien, die Bedingungen, unter denen ich den Verrath der Bande ausführen will, zu acceptiren.« 483
»Worin bestehen dieselben?« Ich verlange zunächst, daß man mir volle Straflosigkeit zusichere.« Der Präsident antwortete nicht sofort. Erst, nachdem er reiflich die Bedingung in Erwägung gezogen, sagte er: »Ihr Wunsch würde sich wahrscheinlich erfüllen lassen, wenn Sie erstens keinen Antheil an besonders schweren Verbrechen, wie z. B. Mord, Raub –« Der Denunciant machte eine hastig abwehrende Geste. Der Präsident fuhr fort: »Zweitens wäre es unerläßlich, daß Sie Ihr Domicil an einem anderen Orte aufschlügen.« »Ich würde keinen Augenblick länger, als unumgänglich nothwendig, in Wien bleiben, weil ich hier meines Lebens nicht sicher wäre.« »Warum nicht gar?« »Die Gesellschaft hat Statuten, deren erster Paragraph besagt, daß der Verrath mit dem Tode bestraft wird.« Der Präsident lächelte. »Das ist natürlich eine lächerliche Farce.« »Glauben Sie das nicht. Ich kenne die Hauptmitglieder der Bande zu gut, um auch nur einen Augenblick in Zweifel darüber zu sein, daß sie Denjenigen beseitigen würden, welcher versucht hat, sie der Polizei zu überliefern.« Stoß dieser bestimmten Versicherung mußte dem Präsidenten die drakonische Verfügung der Beachtung nicht werth erscheinen, denn er forschte nicht weiter nach, sondern fragte: »Welche Forderungen machen Sie noch geltend?« 484
»Ich würde noch eine Prämie von 6000 Gulden beanspruchen.« »Das ist ein ungewöhnlich hoher Preis. Wenn Ihre Mittheilungen desselben werth sein sollen, dann müssen sie von ganz außerordentlicher Wichtigkeit und Bedeutung sein.« »Das sind sie auch.« »Ist denn die Wirkungssphäre der Bande eine so ausgedehnte und für die allgemeine Sicherheit gefährliche?« »Darf ich mir erlauben, Ihnen einige Fälle anzuführen, welche einen Überblick über die Unternehmungen der Bande gewähren?« »Gewiß. Ich erwarte Ihre Enthüllungen mit großer Spannung.« »Excellenz werden sich erinnern, daß vor einem Jahre etwa der Hauptgewinn der Braunschweiger Lotterie, ungefähr 200 000 Gulden, auf ein gefälschtes Loos erhoben wurde?« »Allerdings.« »Der Fälscher handelte im Auftrage des Oberhauptes der Bande. In ähnlicher Weise, durch gefälschte Wechsel, lockte ein Individuum, welches sich für den Sohn des Londoner Banquiers Baring ausgab, einigen hiesigen Finanziers beträchtliche Summen, mehrere Tausend Pfund Sterling, ab.« »Das ist richtig. Wir verfolgten die Spur dieses Hochstaplers, verloren sie jedoch in England.« Der Denunciant lächelte spöttisch. »Die besten Detectives der Wiener Polizei wurden in listiger Weise irre geführt. Während sie in die weite Welt 485
fuhren, saß der Fälscher ganz gemüthlich in Wien und lachte über seinen Geniestreich.« Eine Wolke des Unmuths zog über des Präsidenten Stirn. Erst nach einer kleinen Pause ergriff der hohe Herr wieder das Wort. »Sie dürften sich doch über die Leichtgläubigkeit der geheimen Polizei einem Irrwahne hingeben.« »Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, Excellenz, denn Derjenige, welcher die Detectives aus Wien auf eine falsche Fährte lockte, war ich selbst« »Hm. Und der Fälscher?« »War natürlich ein Mitglied der Bande und führte den Coup im Auftrage des Oberhauptes aus. – Ein drittes Unternehmen, welches vor noch nicht langer Zeit großes ärgerliches Aufsehen erregte, war der bei dem Fürsten Lamberg ausgeführte Diebstahl.« Der Präsident fuhr in unverkennbarer Erregung halb vom Stuhle empor. »Der Einbruch bei dem Fürsten Lamberg?!« wiederholte er. »Es hieß, daß er von den sogenannten »schwarzen Brüdern« ausgeführt worden sein sollte. Gilt Ihre Denunciation dieser Bande?« »Ich werde Ew. Excellenz sehr bald Aufschluß über diesen Punkt ertheilen. Gestatten Sie mir nur noch, des Hauptcoups der Bande Erwähnung zu thun.« Der Präsident gab seine Einwilligung durch eine Geste zu erkennen. Offenbar war seine ungeduldige Erwartung auf den Gipfelpunkt gestiegen. Der Denunciant fuhr in seinen Enthüllungen fort: 486
»Die Bande war so organisiert, daß die intelligenteren Mitglieder sich fast ausschließlich mit Fälschungen aller Art, vornehmlich indeß mit Banknotenfälschung beschäftigten. Außer österreichischen Noten wurden hauptsächlich englische fabricirt und von diesen brachten die Agenten der Bande Tausendpfundnoten in ziemlicher Anzahl in den Verkehr.« »Wie,« rief der Präsident, »die Tausendpfundnoten, welche so trefflich gefälscht waren, daß sie als wahre Kunstwerke galten, stellte diese Bande her?« »Ich werde Ew. Excellenz die unumstößlichsten Beweise dafür liefern.« »In welcher Weise.« »Indem ich Ihre Beamten in den Schlupfwinkel führe, welchen die Bande als Werkstätte benutzt hat. Man wird dort sämmtliche Platten, eine Presse, alle sonstigen Hülfsmittel, welche bei der Herstellung von Banknoten erforderlich sind und eine große Anzahl noch nicht verausgabter Falsificate, österreichische sowohl wie englische, vorfinden.« »Dadurch erhielte Ihre Denunciation eine nicht geringe Bedeutung; den größten Werth aber empfinge sie erst dadurch, daß Sie die Verhaftung der hervorragendsten Mitglieder der Bande ermöglichten.« »Ob es mir glücken wird, Ihre Agenten gerade in einem Momente nach dem Schlupfwinkel zu leiten, in welchem die Mitglieder, welche sich mit der Herstellung der Falsificate beschäftigen, bei der Arbeit sich befinden, ist zweifelhaft. Der Versteck ist nämlich so gelegen, daß man ihn 487
nur von einer Seite erreichen kann. Und dort steht zu den Zeiten, in welchen die Bande sich bei der Arbeit befindet, regelmäßig eine Wache, die einen sich nahenden Trupp schon in weiter Entfernung erspähen würde. Die Bande wird dann natürlich so rechtzeitig gewarnt, daß sie sich flüchten kann.« »Der Schlupfwinkel liegt also nicht in Wien selbst?« »Seit einiger Zeit nicht mehr, seitdem nämlich der frühere aufgespürt und vernichtet worden ist.« »Sie meinen mithin doch die Bande der »schwarzen Brüder?« »Ich kann es jetzt wohl eingestehen.« »Dieselbe Bande, deren Anführer der »Herr« genannt wird?« – »Dieselbe.« »Für die Vernichtung dieser Bande wäre der von Ihnen geforderte Preis allerdings nicht übertrieben hoch, aber sie müßte unschädlich gemacht werden können. Die Wegnahme der Pressen und Werkzeuge würde ihre Thätigkeit ja nur auf kurze Zeit lahm legen.« »Nicht auf so kurze, als Excellenz meinen. Es dürfte den »schwarzen Brüdern« nicht leicht werden, abermals einen Schlupfwinkel, in welchem sie vor Aufspürung sicher sind, zu finden. Doch bin ich auch keineswegs gesonnen, nur den Schlupfwinkel zu verrathen, vielmehr will ich die Möglichkeit bieten, die Bande zu sprengen.« »Das wäre freilich das Wünschenswertheste. Wie wollen Sie aber diesen Vorsatz verwirklichen?« »Die Seele, die bewegende Triebkraft der »schwarzen Brüder« ist deren Oberhaupt, der »Herr.« Wenn er un488
schädlich gemacht wird, ist eine Fortexistenz der Bande unmöglich.« »Das glaube ich selbst; wenigstens lassen die Nachrichten, welche uns über diesen merkwürdigen Mann zugekommen sind, das vermuthen.« »Die Gerüchte haben keine Unwahrheit verbreitet. Der »Herr«« ist zweifellos ein genialer Mann, und kein anderes Mitglied der Bande wäre im Stande, ihn zu ersetzen.« »Wenn er wirklich so routinirt ist, wird es doch kaum möglich werden, ihn festzunehmen.« »Im Gegentheile hege ich die Ansicht, daß sich dies leichter bewerkstelligen lassen dürfte, als Excellenz annehmen. Der »Herr« ist nämlich durch sein erstaunliches Glück unvorsichtig, fast möchte ich sagen, übermüthig geworden.« »Er bildet demnach in dieser Hinsicht keine Ausnahme von den anderen Hochstaplern,« schaltete der Präsident mit vielsagendem Lächeln ein. »Diese Leute empfinden schließlich einen unüberwindlichen Kitzel, die Gefahr herauszufordern.« »Genau so scheint es dem »Herrn« zu gehen. Er verachtet die Polizei und ist, glaube ich, fest davon überzeugt, daß sie ihn niemals wird erwischen können. In Folge dieser vorgefaßten Meinung vernachlässigt er jede Vorsichtsmaßregel, wenn er glaubt, daß nur er allein und nicht auch die Bande in Gefahr gerathen könne. Es wird deshalb möglich sein, ihm einen Hinterhalt zu legen.« – »Wo?« »In der Nähe der Werkstätte.« »Sie sagten doch vor wenigen Minuten, daß Schildwachen ausgestellt würden?« 489
»Nur, wenn die Bande arbeitet, dagegen nicht dann, wenn der »Herr« den Schlupfwinkel besucht.« »Begleitet ihn Niemand?« »Nein. Er begiebt sich zu gewissen Stunden, die einen Tag vorher der Bande bekannt gemacht werden, allein in die Werkstatt.« »Zu welchem Zwecke?« »Jedenfalls nur, um die Arbeiten zu inspiciren.« »Er verkehrt also nicht direct mit den Mitgliedern der Bande?« »Nur sehr selten und dann erscheint er nur mascirt.« »Seltsam.« »Er will jedenfalls unerkannt bleiben. Nur wenige Vertraute wissen, welche Stellung der »Herr« in der Gesellschaft einnimmt und wie er heißt.« »Ein Mann, Namens Walther, wenn ich nicht irre —« »Walther ist sein treuester Freund. Außer ihm sind nur noch die Balmassenmatten der Bande mit den persönlichen Verhältnissen des »Herrn« bekannt, und zu diesen gehöre auch ich« »Sie kennen also seinen Namen?« fragte in gespanntester Erwartung der Präsident. »Wie heißt er denn?« »Ich stehe nicht an, es Ihnen zu sagen. Er heißt Waldmann und ist der Gehülfe des Försters Kauer in den fürstlich Liechtenstein’schen Waldungen bei Baden.« Das Gesicht des Präsidenten zeigte einen unverkennbaren Ausdruck der Enttäuschung. Wahrscheinlich hatte der hohe Herr erwartet, einen aristokratischen Namen und Titel zu hören. 490
Der Denunciant lächelte fein. »Excellenz finden sich enttäuscht. Doch, meine ich, beweist gerade der Umstand, daß der »Herr« vor der Welt eine so bescheidene Rolle spielt, auf ’s Neue, wie eminent klug er ist. Kein Mensch vermuthet in dem niedrig stehenden, von aller Welt abgeschieden lebenden Waidmanne den Chef einer großen Gaunerbande, die in Wien ihr Unwesen treibt.« »Da muß ich Ihnen allerdings Recht geben. Ich muß gestehen, daß ich selbst den »Herrn«, diesen raffnirten Hochstapler, nicht in dem einfachen Gehülfen gesucht hätte.« »O, Excellenz würden erstaunen, wenn Sie Gelegenheit fänden, zu erfahren, welcher meisterhaften Verstellungskunst dieser scheinbar einfache Forstgehülfe fähig ist. Übrigens läßt sich wohl mit Bestimmtheit annehmen, daß der »Herr« auch in Wien eine Rolle, nur eine unendlich glänzendere, als im Forste, spielen wird. Er ist ja Tage und Nächte lang nicht im Forsthause anwesend. Kann er während dieser Zeit nicht in Wien verweilen?« »Allerdings; nichts leichter als das.« »Ein gewichtiger Umstand legt sogar ein fast ganz unzweideutiges Zeugniß davon ab, daß Waldmann nicht im Forste vigilirte, der Umstand nämlich, daß lange Zeit hindurch gerade in dem ihm zugewiesenen Reviere der Wildfrevel in erschrecklicher Weise überhandnahm. Schöpfte doch selbst der alte Förster Argwohn gegen seinen Gehülfen.« »Ja, ja; ich entsinne mich. Man stattete mir Bericht ab über eine merkwürdige Geschichte, die dort vorgefallen sein soll. Wenn mein Gedächtniß mich nicht trügt, so gab 491
ein Wilderer die Aussage ab, daß er einen Anschlag habe zur Ausführung bringen wollen, der dem Gehülfen hätte verderblich werden müssen.« »Ganz recht, der Wilddieb Sachs.« »Sachs – ja wohl, so hieß der Mann. Er wollte aus Eifersucht gehandelt haben.« »Diese Angabe war nur ein leerer Vorwand, um den »Herrn« nicht zu compromittiren. Das Motiv, welches Sachs zu seiner That veranlaßte, war Rachsucht. Sachs gehörte den »schwarzen Brüdern« längere Zeit hindurch an und bewies so großen Eifer, daß der »Herr« ihn zum »Balmassenmatten« machte. Nun wurde Sachs so lässig, daß durch seine Unvorsichtigkeit die Bande mehrmals in Gefahr kam. Der »Herr« enthob ihn demzufolge des Vertrauenspostens, wodurch Sachs sich so sehr gekränkt fühlte, daß er aus der Bande schied und seitdem nur noch den einen Wunsch hegte, sich an dem »Herrn« zu rächen.« »Warum verrieth er ihn nicht der Polizei?« Der Denunciant schlug mit trefflich gespielter Verlegenheit die Augen nieder und erwiderte zögernd: »Ich hätte gewünscht, daß Excellenz diese Frage nicht an mich gerichtet hätten, denn die Antwort, welche ich darauf ertheilen muß, beschämt mich.« »Und Wie lautet dieselbe?« »Unter den Mitgliedern einer Bande gilt der für einen ganz ehrlosen Schurken, welcher seine Kameraden verräth.« Der Präsident lächelte ironisch. Eifrig rief der Denunciant: 492
»Auch die Gauner haben ihren point d’honneur. Sachs selbst liefert ein eclatantes Beispiel für die Richtigkeit dieser Behauptung.« »In wiefern?« »Er gab sich alle nur erdenkliche Mühe, jeden Verdacht, als wenn der Forstgehülfe mit den »schwarzen Brüdern« in Verbindung gestanden wäre, zu entkräften.« »Das that er wirklich,« bestätigte der Präsident betroffen. »Zum Danke für diese wackere Handlungsweise ließ der »Herr« ihm die Versicherung zugehen, daß für seine kleinen Geschwister gesorgt werden solle, und nun war Sachs vollends eifrig bemüht, jeden Argwohn von dem angeblichen Forstgehülfen abzulenken.« Der Präsident hatte sich erhoben und an einen riesigen Schrank begeben, welcher in seinem Innern eine große Anzahl kleiner Fächer enthielt. In jedem derselben lag ein wenig umfangreiches Aktenstück. Ein solches Fascikel enthielt ein möglichst kurzgefaßtes Resumé einer wichtigen criminellen Angelegenheit, mit welcher die Wiener Polizei seit dem Beginne dieses Jahres sich beschäftigt hatte. Über jedem Fache klebte ein Zettel, welcher den Namen des Hauptangeklagten trug. Der hohe Herr überflog mit raschem Blicke die Aufschriften, dann zog er ein Fascikel heraus, ging an den Schreibtisch zurück und durchlas die letzten Seiten des Schriftstücks. Endlich wandte er sich wieder zu dem Denuncianten, der mit einem nicht zu beschreibenden Ausdruck von List, Hohn und Geringschätzung den Chef 493
der Sicherheitsbehörde betrachtet hatte. Augenblicklich legte sich das Gesicht des verschmitzten Gauners wieder in die tiefen, ein ehrbares Ansehen gebenden Falten, welche es vorhin aufgewiesen hatte. »Ich finde Ihre Angaben über die veränderte Aussage, welche jener Sachs kurz vor seinem Tode abgab, bestätigt,« begann der Präsident die Unterredung wieder, »gleichzeitig aber auch die Erwähnung, daß die Recherchen der Polizei nicht die mindesten gravirenden Indicien gegen den Forstgehülfen ergaben; im Gegentheile wurde das Vorleben desselben höchlich belobt.« Die Lippen des Denuncianten umkräuselte ein eigenthümliches Lächeln. »Das Vorleben mag ja auch ganz fleckenlos gewesen sein. Die Erscheinung ist ja nicht eben selten, daß junge Leute so lange, als sie in kleinen Ortschaften leben, wahre Muster von Solidität und Ehrenhaftigkeit sind, sobald sie jedoch den Verlockungen einer Großstadt ausgesetzt werden, sich dem zügellosesten Taumel überlassen und dann gar bald dem Verbrechen in die Arme gerathen, um die Mittel zu ihrer ausschweifenden Lebensweise sich zu verschaffen. Bruno Waldmann war, bevor er nach Baden kam, fast gezwungen, eine ehrbare Lebensweise zu führen; er lebte ja in tiefster Einsamkeit, noch dazu in Rumänien und Siebenbürgen, also in Ländern, die ohnehin der unbemittelten Volksklasse keine Lebensgenüsse bieten. Als er jedoch nach Baden versetzt wurde und in wenigen Stunden die Weltstadt Wien mit ihren zügellosen sinnberauschenden Vergnügungen erreichen konnte. –« 494
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. ËÉ
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
A
uch dann soll er sich eines vorzüglichen Lebenswandels befleißigt haben, « warf der Präsident ein. » Die Erkundigungen der Neustädter Polizei lassen darüber keinen Zweifel bestehen.« Der Denunciant zuckte vielsagend die Achseln. » Die Erkundigungen der Neustädter Polizei?! « wiederholte er in geringschätzigem Tone. »Allen Respect vor jener Behörde, doch Excellenz wissen besser, als ich, daß die Polizei in den meisten kleinen Orten etwas schwerfällig ist, oder doch nicht entfernt die Routine besitzt, durch welche die Polizeibehörden der Großstädte, namentlich auch die unter Eurer Excellenz Leitung stehende sich auszeichnen. Ich hege die unerschütterliche Überzeugung, daß ein Mitglied der hiesigen Polizei, insbesondere Einer der geheimen Agenten, einen ganz anderen Aufschluß über den angebli495
chen Forstgehülfen an das Tageslicht gefördert haben würde.« Der Präsident, wie fast jeder Mensch, für Komplimente nicht unzugänglich, widersprach dieser Ansicht nicht, sondern überließ sich angelegentlichem Nachdenken, welches der Denunciant durch Stillschweigen respectirte. Nach einigen Minuten war der hohe Herr zu einem festen Entschlusse gekommen, verlieh demselben jedoch keinen Ausdruck, sondern warf die Frage auf: »Welches Motiv veranlaßte Sie zu der Denunciation?« »Ich habe gewichtige Beweggründe, mich von der Bande zurückzuziehen. Zunächst macht die auffallende Nachlässigkeit des »Herrn« mich nicht wenig besorgt. Sie kann uns vielleicht Alle in das Verderben ziehen. Einige der Herren Detektives, namentlich Herr Randolf, geben sich die erdenklichste Mühe, den Schlupfwinkel der »schwarzen Brüder« und die Mitglieder der Bande aufzuspüren. Diese Anstrengungen würden höchst wahrscheinlich keinen günstigen Erfolg gaben, wenn der »Herr« sich so großer Vorsicht befleißigte, wie ehedem. Aber er ist seit einiger Zeit im höchsten Grade lau und nachlässig, wo es sich um die Interessen der Bande handelt.« »Haben Sie keine Muthmaßung über die Ursache, welche dieser Wandlung zu Grunde liegen mag?« »Excellenz können denken, daß mich, wie jeden »Balmassematten« der Bande, die Lässigkeit unseres Oberhauptes nicht wenig beunruhigte. Keiner von uns wäre, wie ich bekennen muß, im Stande, die Stelle des »Herrn« auszufüllen und wir sehen deshalb mit Bangen den Augen496
blick herannahen, wo wir der Polizei in die Hände fallen müssen. Ich nahm mir vor, auszukundschaften, wodurch die seltsame Veränderung unseres Chefs herbeigeführt sein könnte und glaube nach wochenlangem Beobachten und Nachforschen den wirklichen Beweggrund aufgespürt zu haben.« »Nun, was entdeckten Sie?« forschte der Präsident eifrig. »Ich machte die Entdeckung, daß der »Herr« mit der Absicht umgehe, sich von uns zu trennen, um in Wien die Rolle eines vornehmen Herrn zu spielen.« »Hm, – Wissen Sie darüber vielleicht Näheres?« »Leider nein. So lässig der »Herr« in allen jenen Fällen verfährt, wo es sich um die Interessen der Bande handelt, so vorsichtig erweist er sich, wenn es seine eigenen gilt. Einzelne Merkmale und Andeutungen, die ich erfuhr, drängen mir die Vermuthung, welche ich eben ausgesprochen habe, auf; Bestimmteres ist mir nicht bekannt. – Nur noch einen nicht ganz unwichtigen Umstand möchte ich mir erlauben, zu erwähnen; der »Herr« pflegte sich nämlich, so oft er mit der Bande verkehrte, sein blondes Haupt- und Barthaar schwarz zu färben.« »Ein ganz banaler Kunstgriff, der ihn vor einer Erkennung nicht schützen würde.« »Herr Randolf würde ihn zweifellos auf der Stelle wiedererkennen.« Der Präsident erhob sich und schritt nachdenklich auf und ab. Nach einer Weile fragte er: »Haben Sie mir noch eine Mittheilung zu machen?« 497
»Nein. – Excellenz werden nun wohl genügend über die Gefährlichkeit der Bande unterrichtet sein und die Überzeugung gewonnen haben, daß mein Anerbieten den geforderten Preis werth ist.« »Sie sollen ihn erhalten. Der Polizeibehörde steht zwar nicht die Befugniß zu, eine so beträchtliche Prämie auszuzahlen, doch, glaube ich, wird die Direction der Londoner Bank gern bereit sein, die Hälfte derselben zu übernehmen, wenn sie die noch vorräthigen Falsificate und die Platten bekommt. Ich werde noch heute mit dem englischen General-Consul Rücksprache pflegen und ihn ersuchen, telegraphisch die Meinung der Londoner Bankdirection einzuholen. Morgen Vormittag können Sie sich in meinem Bureau einstellen.« Der Denunciant erhob und verbeugte sich. »Wann gedenken Sie, den »Herrn« in die Hände der Polizei zu spielen?« »Darüber kann ich Ihnen augenblicklich. noch keine Auskunft ertheilen. Bis jetzt ist den »schwarzen Brüdern«, welche sich mit der Herstellung der Falsificate beschäftigen, noch nicht die Nachricht zugekommen, daß der »Herr« sich in der Werkstatt einfinden wird. Doch vermag ich aus dem Grunde mit einiger Bestimmtheit anzugeben, daß dieser Zeitpunkt nahe ist, weil unser Chef stets nach Zwischenräumen die Inspection vornimmt. Sobald wir erfahren, daß er der Werkstatt einen Besuch abstatten will, werde ich mich beeilen, Ihnen davon Mittheilung zu machen. Ich bitte nur noch, einigen Beamten des DetektivesCorps die Weisung zu ertheilen, daß sie sich in den folgen498
den Tagen stets bereit halten möchten, die Expedition zu unternehmen.« Es wurden noch einige Maßregeln zwischen dem Präsidenten und dem Denuncianten verabredet und dann entfernte der Letztere sich. Unter dem dienstbaren Personale des Hotel National herrschte gewaltige Aufregung. Im Hotel logirten seit einigen Tagen zwei junge Männer, Bruno Waldmann und Johannes Kauer, freundliche, ruhige Leute, die dem Personale nicht, wie die Mehrzahl der übrigen Fremden, Stoff zu Klatschereien boten. Man hielt sie für Touristen, welche die Sehenswürdigkeiten und Vergnügungen der Metropole kennen lernen wollten, und wurde in dieser Annahme durch den Umstand bestärkt, daß sie mit Geldmitteln reichlich versehen zu sein schienen, an jedem Morgen das Hotel verließen und erst am Abend zurückkehrten. Nur Zimmermann, der Commissionär und Fremdenführer des Hotels, der durch langjährigen Verkehr mit Leuten aus aller Herren Länder sich einen ungewöhnlichen Scharfblick bei der Beurtheilung von Charakteren angeeignet hatte, theilte die Ansicht des Personals nicht und die Gründe, die er seinem Widerspruche unterlegte, verdienten allerdings Berücksichtigung. Die beiden jungen Leute blieben nie bis in die Nacht hinein fort, konnten also diejenigen Freuden, welche Wien vorzugsweise seinen Besuchern bietet, gar nicht genießen; sie bewegten sich zwar, wie Zimmermann, der ihnen häufig begegnete, erfuhr, viel in den Straßen der inneren Stadt, schenkten dagegen den 499
Sehenswürdigkeiten gar keine Beachtung, sondern nur den Passanten, ja es kam dem gewiegten Menschenkenner fast so vor, als ob sie die Spur eines Menschen aufsuchten. Seltsam namentlich war Kauers Gebahren. Zuweilen heftete sich sein Blick an eine Dame, die in der Ferne die Straße entlang ging; dann kam plötzlich ein merkwürdiges Feuer in ihn; er rannte, so schnell er vermochte, hinter der Dame her, sah ihr, wenn er sie erreicht hatte, scharf in das Gesicht und blieb dann wie angewurzelt, mit unverkennbarer Trauer im Antlitz stehen. Auch die Stimmung der jungen Männer widersprach der Annahme, daß sie Vergnügungsreisende seien. Sie waren stets ernst, zuweilen sogar nur mühsam im Stande, eine tiefe Niedergeschlagenheit vor den forschenden Blikken des Personals zu verbergen. In ihrem Zimmer überließen sie sich nicht selten rückhaltslos der trübseligen Laune. Zimmermann, der alle Vorzüge und Schwächen seiner Standesgenossen besaß, mithin auch eine ungewöhnlich rege Neugierde und die Sucht, dieselbe durch Spähen und Lauschen zu befriedigen, hörte mitunter, wie Kauer gleich einem Verzweifelnden aufstöhnte und wie Waldmann sich bestrebte, den Freund aufzurichten. Eines Tages reisten die Beiden ab, ließen jedoch ihr Gepäck zurück, indem sie angaben, daß sie voraussichtlich nach kurzer Zeit wiederkehren würden. Das geschah auch in der That. Freudiges konnte ihnen auf der Reise nicht widerfahren sein, denn ihre düstere Schwermuth hatte noch zugenommen, sodaß selbst die würdevollen Respectpersonen des Hotels, der Oberkellner und die Wirthschafterin, bedächtig die 500
Köpfe schüttelten und Zimmermann’s Meinung bei dem gesammten Personale die Oberhand gewann. Kauer wiederum war ungleich verzagter, als sein etwas älterer Freund, und Zimmermann vernahm, wie der bildhübsche, leichenblasse Jüngling bitterlich weinte und den eindringlichen Vorstellungen und Bitten des Freundes kein geneigtes Gehör lieh. »Bruderherz,« rief er, »schelte mich nur wegen meines Kleinmuths, aber ich kann mich desselben nicht erwehren. Wir werden sie nicht wiederfinden; vielleicht nur als Leiche oder als – o Gott, ich mag das Entsetzliche nicht denken. Wenn ich nur noch wenige Tage in dem Zustande der gräßlichen Ungewißheit verharren soll, dann muß ich vor Weh vergehen oder – dem Wahnsinne zur Beute fallen.« Zimmermann beeilte sich natürlich, das Ergebniß seines Lauschens zur Kenntniß der Kollegen und Kolleginnen zu bringen und seitdem widmete das Personal den jungen Männern eine fast zärtliche Theilnahme, namentlich wandte der weibliche Theil desselben dem unglücklichen, interessanten Jünglinge, dessen Braut wahrscheinlich das Opfer eines Schurken geworden war, die wärmste Sympathie zu. Kauer schien ganz gebrochen; er nahm nicht mehr an den Ausgängen Bruno’s theil, sondern blieb auf seinem Zimmer, und das niedliche Stubenkätzchen, welches ihn durch das Schlüsselloch des Nebengemachs wohl zwanzig Mal am Tage beobachtete, wußte den gespannt lauschenden Kolleginnen nicht lebhaft genug zu schildern, wie verzweifelt der unglückliche Jüngling dareinschaue, wie er 501
mit erschreckend starrem Ausdrucke in die Leere blicke, plötzlich aus dem dumpfen Brüten auffahre, ein Medaillon öffne, das darin befindliche Bild mit thränenden Augen betrachte, in wilder Leidenschaftlichkeit unzählige Male an die Lippen drücke und dann wieder der vollkommensten Apathie anheimfalle. Genau so trieb Johannes es am nächsten Tage bis zum Anbruche der Dämmerung. Um die fünfte Stunde etwa fand sich eine sorgfältig verschleierte Frau im Hotel ein und erkundigte sich angelegentlich nach Herrn Johannes Kauer. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich unter dem Personale das Gerücht, daß die Geliebte des unglücklichen Jünglings angekommen sei, und versetzte Alle, die zarten Wesen natürlich vorzugsweise, in gewaltige Aufregung. Wohl zehn Köpfe neigten sich gegen die Thür zu Kauer’s Zimmer, als die Verhüllte in demselben verschwunden war, fuhren aber im nächsten Augenblicke jäh zurück, als ein lauter Aufschrei im Gemache ertönte. Unmittelbar darauf wurde die Thür aufgerissen und Johannes erschien in derselben. Er befand sich augenscheinlich in einem Zustande hochgradiger Exaltation, die aber freudiger Natur zu sein schien. In der einen Hand hielt er einen Brief. »So kommen Sie doch,« rief er ungeduldig der Verschleierten zu, »fort zu ihr! O Himmel, wie langsam Sie sind! Eilen Sie, eilen Sie, mich verzehrt die Ungeduld.« Er faßte die Verschleierte am Arme und geleitete sie hastig die Treppen hinab zu dem nahen Fiakerstandplatz. Dort bestiegen Beide einen Wagen und die Verschleierte nannte dem Kutscher den Ort, wohin er fahren sollte. 502
»Fahrt, so schnell Ihr könnt,« rief Johannes, »Ihr sollt ein gutes Trinkgeld bekommen.« Im nächsten Augenblicke flog der Fiaker mit rasender Eile davon. Eine nicht minder große Überraschung wurde dem Personale zu Theil, als Bruno in das Hotel zurück kam. Unverkennbarer Schrecken spiegelte sich auf seinem Antlitze wider, als er Johannes nicht anwesend fand. Hastig schellte er, und alsbald eilte der Zimmerkellner, welcher dieses Signals schon geharrt hatte, zu ihm und berichtete, was vorgefallen. Bruno wurde todtenblaß und gerieth in so furchtbare Erregung, daß er des Kellners nicht weiter achtete, sondern leidenschaftlich auf- und niederging und abgerissene Sätze vor sich hinmurmelte. Plötzlich blieb er stehen; seine Hände krampften sich. »Ich fürchte, ich fürchte, man hat ihn in eine Falle gelockt,« murmelte er. »Lucie sollte zurückgekehrt sein?! Unmöglich wäre es freilich nicht; – seinen Aufenthaltsort konnte sie ohne Mühe auf dem Melde-Amte erfahren; – doch glaube ich nicht, daß sie ihn rufen ließ; – sie wäre selbst gekommen. – Eine trübe Ahnung sagt mir, daß dieser Abenteurer – drohte er ihm nicht einen Kampf auf Leben und Tod an? O, der Hallunke wußte wohl, daß er den Armen am leichtesten in seine Gewalt bekommen würde, wenn er sich dieser Lockung bediente. – Wenn sie ihn nun morden ?! – Wenn aber doch Lucie – O Himmel, was soll ich thun? Gewißheit, – Gewißheit!« Sein Blick streifte den begierig horchenden Kellner. 503
Eine Idee kam ihm in den Sinn. »Mit einem Fiaker fuhr er davon?« fragte er. »So ist es,« erwiderte eifrig der Kellner. »Der junge Herr bestieg einen von den Wagen, die auf dem nahen Halteplatze stehen.« »Vielleicht ist der Fiaker schon zurückgekommen.« »Befehlen Sie; daß ich mich erkundigen soll?« »Ich werde selbst nachforschen, doch können Sie mir helfen, den Wagen aufzusuchen.« Dieser war bald gefunden. Er war schon vor mehreren Stunden zurückgekommen, denn er hatte nicht weit zu fahren brauchen. Auf dem »Hohen Markt« waren seine Passagiere ausgestiegen. Johannes hatte den Kutscher glänzend belohnt und war dann nebst seiner Begleiterin in der Richtung nach der Judengasse fortgeeilt. Diese Auskunft war überaus kümmerlich und, wie es schien, ganz und gar nicht geeignet, die Ermittelung Kauer’s möglich zu machen. Trotzdem beschloß Bruno, am nächsten Tage den Versuch zu machen, ob er des Freundes Spur auffinden könnte. Der heutige Tag war schon zu weit vorgerückt, um dieses kühne Unternehmen noch beginnen zu können. Vielleicht kehrte Johannes auch zurück oder schickte einen Boten. Selbst wenn der Abenteurer einen bösen Coup gegen ihn beabsichtigte, war es ja möglich, daß Johannes die ihm gelegte Falle noch rechtzeitig genug merkte, um entschlüpfen zu können. Allerdings mußte Bruno, indem er sich dieser Hoffnung hingab, sich eingestehen, daß die Aussichten auf deren Verwirklichung äußerst vager Natur waren. Kauer’s Liebe war zu leiden504
schaftlich, seine Sehnsucht nach Lucie zu heiß, als daß er zu kühler Reflexion fähig gewesen wäre. Die Nacht, welche diesem verhängnißvollen Tage folgte, war die schlimmste in Bruno’s Leben. Des jungen Mannes Erregung steigerte sich unaufhörlich. So oft der Ton der Hausglocke verkündete, daß Jemand Einlaß begehrte, spannte sich Bruno’s Erwartung im höchsten Grade an, um sehr bald einer um so mehr entnervenden Mattigkeit zu weichen. Dieser Wechsel der Regungen wiederholte sich hundert Mal, sodaß Bruno beim Anbruch des Morgens todtmüde war. Heißer, schwarzer Kaffee, in Menge genossen, mußte den Nerven einige Spannkraft wiederverschaffen, dann stürmte Bruno fort nach dem »Hohen Markt«. Dort angekommen, erkannte er erst, wie außerordentlich schwierig es sein müßte, eine Spur des Vermißten aufzufinden. Vom Hohen Markte selbst liefen zahlreiche Gassen nach allen vier Himmelsrichtungen hin und jede derselben sandte mehrere Gäßchen rechts und links aus; in allen diesen schmalen, winkeligen Straßen wogte eine ungeheure Menschenmenge, die sich in jeder Minute des Tages auf Tausende bezifferte. Daß in einer so gewaltigen Menschenfluth ein Einzelner gar keine Aufmerksamkeit erregen konnte, sah Bruno sofort ein und demzufolge mußte er sich sagen, daß es Thorheit sei, die Spur des Freundes aufsuchen zu wollen. Dennoch wollte er nicht sofort den Muth sinken lassen; es war ja möglich, daß der Zufall ihm zu Hilfe kam. Er erkundigte sich zunächst bei denjenigen Leuten, die während des ganzen Tages auf dem Platze anwesend sind, 505
den Dienstmännern, Fiakern, Marktleuten, fragte dann in der Judengasse und den von derselben ausstrahlenden Gäßchen die Ladenbesitzer, welche unaufhörlich vor ihren Gewölben stehen, lief in jedes Haus, um die Hausmeister auszuforschen, – seine Bemühungen blieben erfolglos. Ganz entmuthigt kehrte er in das Hotel zurück; auch dort erwartete ihn nicht die frohe Kunde, daß Johannes zurückgekehrt sei. Bruno zermarterte sein Gehirn, um eine Idee, die Erfolg versprach, aufzufinden; dasjenige Mittel, welches ihm vielleicht Nutzen hätte bringen können, die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen, durfte er nicht anwenden, weil er fürchtete, daß der falsche Prätendent dann den Jüngling der Behörde überliefern würde. Am nächsten Tage setzte er die Nachforschungen fort, doch nicht allein, sondern gemeinsam mit Zimmermann und mehreren anderen Commissionärs, denen die Wiener Gaunerhöhlen bekannt waren. Bruno, dessen Kraft die übermächtige Erregung und Anstrengung völlig erschöpft hatte, mußte schon nach einigen Stunden in das Hotel zurückkehren. Dort trat der Portier lebhaft auf ihn zu. »Es erwartet Sie Jemand in meinem Zimmer, Herr Waldmann,« rief er; »schon seit einer Stunde. – Es ist ein alter Mann,« fügte er hinzu, als er Bruno’s fragende Blicke gewahrte, »er sieht aus, wie ein Waldhüter.« »Sollte es Vater Kauer sein ?« dachte erschrocken Bruno. »Hoffentlich wird in dem Forsthause nicht das Unglück eingekehrt sein.« Rasch ging er in die Loge des Portiers; ein rüstiger, verwittert ausschauender Mann, der die Kleidung der Forst506
leute, eine graue Lodenjoppe mit grünem Besatze, spitzen, federgeschmückten Hut und Kniestiefeln, in denen Lederhosen steckten, trug. Kaum erblickte er den jungen Herrn, als er vom Stuhle empor fuhr und soldatisch grüßte. Bruno eilte auf ihn zu und reichte ihm die Hand: »Bringst Du traurige Botschaft, Klaus?« Der alte Waldgüter zuckte die Achseln. »Kann es nicht genau sagen, Herr Waldmann,« meinte er bedächtig, »glaube; aber, daß die Kunde, die Ihnen durch meine Vermittlung zugehen soll, keine sonderlich frohe sein kann.« »Schickt der Förster Dich oder das Fräulein? –« Der Alte warf einen Blick auf den begierig lauschenden Portier, dann sagte er: »Lassen Sie uns auf Ihr Zimmer gehen, junger Herr! Meine Nachricht ist nur für Ihre Ohren bestimmt.« Hastig führte ihn Bruno in sein Gemach, dann rief er in fieberhafter Erregung: »Nun entledige Dich Deines Auftrages recht schnell, Klaus. Du siehst, daß ich vor Ungeduld vergehe.« Doch der Alte blieb bedächtig. Er schob den Riegel vor die Thür, ging dann in das Schlafcabinet, um zu sehen, ob Niemand in demselben verborgen sei, und kehrte nun erst zu dem jungen Manne zurück. »Was Sie auch erfahren, junger Herr, so hüten Sie Ihre Zunge,« mahnte er eindringlich. »In einem Gasthause sind jederzeit hundert Ohren und hundert Augen bereit, zu horchen und zu spähen. Seien Sie also vorsichtig.« »Himmel, ja doch,« rief Bruno heftig, »sage mit nur endlich, was Du ausrichten sollst.« 507
»Zu berichten habe ich wenig, dagegen etwas zu übergeben.« »Einen Brief?« Der Alte nickte. »Von wem?« »Sie werden’s ja lesen.« »So gieb ihn doch her!« schrie Bruno, den das langsame Wesen des Alten der Verzweiflung nahe brachte. Wäre sein Blut ruhig, sein Blick ungetrübt gewesen, dann hätte ihm ein unbeschreibliches Etwas in dem Gebahren des Waldhüters auffallen müssen. Als Klaus zögernd das Wamms aufknöpfte, zuckten seine Züge, wie durch schmerzhafte Seelenregung bewegt. Endlich brachte er einen Brief zum Vorschein, doch schien es fast, als ob er ihn dem jungen Manne nicht geben wolle, denn er behielt ihn unentschlossen in der Hand. Bruno riß den Brief hastig an sich. So hoch erregt er auch war, fiel ihm doch das Äußere desselben auf. Es war nur ein zusammengefaltetes und mit naßgemachtem Mehl verklebtes Quartblatt ohne Aufschrift. Daß dieses primitive Schriftstück weder vom alten Förster, noch von seiner Braut herrühren könne, leuchtete dem jungen Manne sofort ein, und diese Gewißheit kühlte seine leidenschaftliche Hitze ein wenig ab. Doch flammte dieselbe um so höher auf, als er das Blatt entfaltet und auf den ersten Blick die Schriftzüge des vermißten Freundes erkannt hatte. »Von Hans?« rief er in unbeschreiblicher Verwunderung. »Ist es möglich? – Hans schickt Dich?« 508
Wieder zuckte es über das Gesicht des Waldhüters; erst nach einigem Zögern antwortete er, schwer aufathmend: »Ja, der junge Herr Kauer. – Er kam gestern Abend urplötzlich in meine Hütte und erzählte mir – nun, Sie werden’s ja lesen. Es ist eine vertrackte Geschichte.« Bruno las: »Mein Freund! Mein Bruder! Nun erst, nachdem die heftigste Aufregung, welche das Entsetzen in mir wachrief, vorüber ist, denke ich mit Schrecken an die Bestürzung, in welche mein plötzliches Verschwinden Dich versetzt haben wird. Verzeihe mir, – ich konnte, Gott weiß es, nicht anders handeln. Eine Zögerung von wenigen Minuten hätte mir Verderben bringen können. Ich kann und mag dem Papiere nicht anvertrauen, was mich bewog, aus Wien in solcher Eile mich zu entfernen, daß ich mir nicht einmal Zeit ließ, Dir eine Nachricht zurückzulassen. Du kannst und wirst mir glauben, daß nur die dringendste Gefahr mir eine solche Rücksichtslosigkeit aufzunöthigen vermochte. Auch muß ich bekennen, daß ich an jenem verhängnißvollen Abende keiner kühlen Überlegung fähig war. Verzeihe mir, Du Theurer! Wenn Du Aufklärung erhalten haben wirst, dann dürftest Du mein Betragen entschuldbar finden; diese aber kann ich Dir nur mündlich geben. Komme recht bald! Ich bitte Dich herzlich darum; vielleicht kannst Du mir rathen, mich retten! Klaus wird Dir sagen, wo Du mich findest. Komme bald, es erwartet Dich mit heißer Sehnsucht Dein Johannes.« Bruno ließ den Brief auf den Tisch fallen. Zahllose Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Was mochte ge509
schehen sein? Doch auf diese Frage ließ sich ja leicht eine Antwort ertheilen. Zweifellos hatte der falsche Erbprätendent seine Drohung ausgeführt und den ehemaligen Mitarbeiter an dem Werke der Banknotenfälschung der Polizei angezeigt. Johannes war vielleicht durch ein Mitglied der Bande gewarnt worden. Dieser Annahme widersprach allerdings die Thatsache, daß die Polizei sich im Hotel nicht nach Johannes erkundigt hatte, doch fiel es Bruno alsbald ein, daß dies ja geschehen sein könne, ohne daß er eine Mittheilung darüber erhalten hatte. Die geheimen Agenten der Polizei besaßen ja eine außergewöhnlich große Routine, sodaß es ihnen leicht sein mußte, Erkundigungen über einen Menschen einzuziehen, ohne daß dies auffallend geworden wäre. Vielleicht auch war dem Personale verboten worden, sich über die polizeilichen Recherchen auszusprechen. Nach kurzer Überlegung beschloß Bruno, noch an diesem Tage Johannes aufzusuchen. Nachdem er diesen Vorsatz gefaßt, wandte er sich wieder dem Waldhüter zu. Hätte er denselben unmerklich beobachtet, dann würde ihm dessen eigenthümliches Gebahren aufgefallen sein. Das Gesicht des Alten bekundete deutlich, daß Klaus einen harten Kampf mit sich selbst durchrang; doch mußte sein besseres Theil in demselben unterlegen sein, denn er schaute aus, wie Jemand, der einer gebieterischen Nothwendigkeit seine Überzeugung und – Ehre aufopfert. Als Bruno ihn anredete, zuckte er heftig zusammen. »Du kennst also den Ort, wo er sich verborgen hält, Klaus?« fragte Bruno. 510
»Wer?« »Nun, Johannes. Er schreibt mir, daß Du mich zu ihm führen würdest.« »Ganz recht, ganz recht,« nickte der Alte eifrig. »Ich war in Gedanken versunken. Ja, ja, wo der junge Herr steckt, weiß ich freilich.« »Wo denn?« »In der Geisterhöhle.« »Ah, in der Geisterhöhle; ein trefflicher Schlupfwinkel; dort finden sie ihn nicht so bald. Hast Du ihn dorthin gebracht?« »Nein – Herr Hans weiß in dem Walde so gut Bescheid, wie irgend Einer. Er ist ja als Knabe mit dem Vater und uns Allen wacker umhergestreift.« »Wie hast Du denn erfahren, daß er dort weilt?« »Gestern Nacht gegen zwei Uhr rüttelte mich meine Frau so heftig, daß ich aus dem Schlafe auffuhr. – ›Hör’ doch nur, Klaus,‹ sagte sie ängstlich, ›Wie wüthend der Tiras sich geberdet; es muß Jemand auf das Haus zukommen.‹ ›Na, bei uns wird er doch nicht einkehren oder gar einbrechen wollen,‹ meinte ich, ›das sieht ja jeder noch so einfältige Mensch sofort, daß es bei uns nichts zu holen giebt.‹ ›Es wird ein Verirrter sein,‹ sagte meine Peppi. – Während wir noch so discouriren, wird der Tiras auf einmal still, fängt dann aber sogleich an zu winseln, wie ein Hund thut, der sich närrisch freut. – ›Blitz,‹ denk’ ich, ›’s wird doch nicht der Förster sein?‹ – Indem klopft es schon an 511
das Fenster. ›Wer klopft?‹ frag’ ich. ›Mach’ auf, Klaus,‹ antwortet eine Stimme, die mir zwar bekannt vorkam, die ich aber schon lange nicht gehört haben mußte, denn ich errieth nicht, wem sie angehörte. Mein Weib schrie indeß im selben Augenblicke. ›Das ist ja der junge Herr Hans.‹ Und nun wußte ich Bescheid. Wir kleideten uns schnell an und tauschten Vermuthungen aus, was den jungen Herrn mitten in der Nacht aus Wien und herab zu uns geführt haben könnte. Dann öffnete ich die Thür und die Peppi zündete die Lampe an. Als der junge Herr in die Stube trat, erschraken wir Beide heftig, denn er sah kreidebleich aus und flog am ganzen Leibe, sodaß er nur mit Mühe bis zu einem Stuhle sich schleppen konnte. ›Um Gott, junger Herr, was ist Ihnen zugestoßen?‹ riefen wir Beide wie aus einem Munde. ›Ein großes Unglück,‹ antwortete er traurig. »Ich kann es Euch nicht mittheilen, Ihr lieben Leute, wenigstens jetzt nicht. Ich komme nur deshalb zu Euch, weil ich eine Bitte an Dich habe, Klaus.‹ ›Eine Bitte?‹ fragte ich ziemlich verwundert. ›Nennen Sie mir Ihr Anliegen nur, junger Herr; wenn ich’s erfüllen kann, soll es mit tausend Freuden geschehen.‹ ›Ich möchte, daß Du noch heute, womöglich sofort, nach Wien fährst. Ich hab’ die Stadt so schnell verlassen müssen, daß ich Herrn Waldmann, der ausgegangen war, keine Nachricht hinterlassen konnte. Ich möchte nun einen Brief schreiben und den sollst Du ihm nach Wien bringen. Willst Du mir diesen Gefallen erweisen, Klaus?‹ 512
›Gern, gern, aber heute wird sich’s beim besten Willen nicht machen lassen, junger Herr. Der Fürst hält eine Jagd ab und da darf Keiner von uns fehlen. Wenn Ihnen sehr viel daran gelegen ist, daß der Brief recht bald nach Wien kommt, dann könnte ich Ihnen wohl einen Boten besorgen.‹ ›Nein, nein,‹ rief Herr Hans schnell, ›ich habe zu keinem Andern so großes Zutrauen, wie zu Dir. Bruno wird freilich große Angst ausstehen um meinetwillen, aber ich kann und mag keinen anderen Boten finden. Vielleicht ist es möglich, daß Du Abends nach Wien kommst.‹ Das ließ sich leider nicht thun, Herr Waldmann, denn die Jagd dauerte bis zum Abend und als der Fürst mit seinem Gefolge endlich heimkehrte, hatten wir Forstleute bis in die Nacht vollauf zu thun. Urlaub konnte ich mir nicht nehmen, denn, wie Sie ja wissen, ist der Herr Förster bei solchen Anlässen sehr streng; er hätte den Grund meines Gesuchs zu wissen verlangt, und den durfte ich ihm nicht sagen, denn der junge Herr hatte mich und meine Peppi beschworen, keinem Menschen, am wenigsten aber seinem Vater und dem Fräulein Kathi ein Sterbenswörtchen von seiner Anwesenheit in der Geisterhöhle zu verrathen. Als ich endlich heim durfte, war der Abend schon so weit vorgeschritten, daß ich nicht mehr vor dem Abgange des letzten Zuges Baden erreichen konnte; ich mußte deshalb, wenn auch höchst ungern, bis zum heutigen Morgen warten und Sie so lange in banger Ungewißheit lassen. Wenn es Ihnen irgend möglich, dann fahren Sie doch heute hinaus, Herr Waldmann. Der junge Herr erwartet Sie mit fie513
berhafter Ungeduld. Er scheint Ihnen höchst Wichtiges zu sagen zu haben. Jedenfalls wird es ihm ein großer Trost sein, sich mit Ihnen berathen zu können.« »Ich fahre auf der Stelle,« rief Bruno. »Die Angelegenheit, welche mich nach Wien führte, ist zwar dringend, doch nicht so sehr, daß ich dem armen Hans nicht einen Tag und eine Nacht sollte opfern können. Hier, Klaus, steht Wein. Schänk Dir einige Gläser voll, während ich mich fertig mache.« Er eilte in das Kabinet. Kaum war er fort, als Klaus den Brief an sich riß und mit unbeschreiblichem Ausdrucke von Wuth, Abscheu, Kummer in die Brusttasche steckte. Dann trank er mit fieberhafter Hast die Flasche leer, einem Menschen gleich, der durch reichlichen Genuß geistiger Getränke sich Muth machen will. Bruno war in wenigen Minuten zum Aufbruche fertig. Seine Effecten ließ er im Hotel, auch kündigte er das Zimmer nicht, weil er schon am nächsten Tage zurückkehren wollte, um mit verdoppelter Energie den Kampf gegen den falschen Grafen zu beginnen. Trotz seiner Eilfertigkeit fiel ihm doch das Gebahren des Waldhüters auf. Klaus zögerte ersichtlich, und als Bruno ihn aufforderte, mit ihm zu gehen, drehte er verlegen seine Mütze zwischen den Fingern. »Nehmen Sie nicht übel auf, Herr Waldmann, was ich Ihnen jetzt sagen muß,« meinte er endlich. »Ich spreche nur im Sinne des jungen Herrn.« Fortsetzung folgt. 514
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. 32
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
S
age nur frei heraus, was Du auf dem Herzen hast.« » Schauen Sie, Herr Waldmann, der junge Herr meinte, daß es zweckmäßig sein dürfte, wenn wir nicht zusammen gesehen würden. Ich könnte vielleicht in Sachen verwickelt werden, die – na, die mich um mein Amt bringen könnten, und wenn dasselbe auch nur ein kärgliches Brod abwirft, ist’ s doch besser, als gar keines.. Ich meine deshalb, wenn Sie allein hinausführen, – die Geisterhöhle finden Sie ja ohne mich.« Bruno ehrte die Gründe des Alten. Sie schieden noch vor dem Austritte aus dem Hotel, welches Klaus zur Hauptthür, Bruno durch ein Nebenpförtchen verließ. Nach Baden fuhren sie nicht zu gleicher Zeit ab, denn während Bruno sich durch einen Fiaker zum Bahnhofe bringen ließ und mit dem nächsten Zuge abfuhr, wanderte Klaus die 515
weite Strecke bis zur Bahn und verließ anderthalb Stunden später Wien. Bruno’s Erwartung nahm immer mehr zu, je näher er Baden kam. Als er endlich dort angelangt war, suchte er in höchster Eile den Ausgang und einen Einspänner zu erreichen. Seine Erregung hinderte ihn, wahrzunehmen, was den übrigen in Baden ausgestiegenen Passagieren nicht entging, daß nämlich der Stationschef und die anderen Bahnbeamten ungewöhnlich aufgeregt waren. Die Passagiere bildeten alsbald einen Kreis um den ihnen allen bekannten Stationsvorsteher und interpellirten ihn wegen der Ursache, die seiner Erregung zu Grunde lag. Der Beamte säumte auch nicht, zu erzählen, daß vor einigen Stunden mehrere Herren in der Station ausgestiegen seien, welche sämmtlich der geheimen Polizei in Wien angehörten. »Ich selbst,« schloß er seinen allseitig mit lebhaftem Interesse aufgenommenen Bericht, »habe Einen der Herren sofort erkannt. Es war der Commissär des DetektivesCorps, Randolf, einer der geschicktesten Polizeibeamten, die es in ganz Europa giebt. Wenn der sich selbst auf die Menschenhetze begiebt, dann muß es schon einem sehr hervorragenden Gauner gelten. Ich bin wirklich außerordentlich gespannt darauf, wen die Herren dingfest machen werden. Seit dem Schluß der Badesaison lebt meines Wissens kein Herzog, Graf, Freiherr oder simpler Adliger in Baden, von dem man annehmen könnte, daß er der großen Gaunerrepublik angehöre.« Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die seltsame Kunde in ganz Baden und lockte einen großen Theil der Bevöl516
kerung nach dem Bahnhofe, da Alle vor Begierde brannten, den »großen« Gauner und den nicht minder »großen« Menschenjäger Randolf von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Doch Stunde um Stunde entrann und die geheimen Polizisten kehrten nicht zurück. Als die Mitternacht herannahte, ohne daß sie erschienen wären, da verloren sich die meisten Neugierigen und nur einige besonders Hartnäckige blieben um eine Bowle noch länger beisammen. Bruno hatte sich durch den Einspänner bis nach der Wölbung bringen lassen und eilte von dort quer durch den Wald in möglichst gerader Linie nach der Geisterhöhle. Diese war nur wenigen Forstleuten und Wilddieben bekannt, wurde aber von Keinem derselben betreten, weil seit uralten Zeiten in der Gegend der Aberglaube verbreitet war, daß es in der Geisterhöhle »spuke« und daß Jeder, der sich in den Bereich der Kobolde wage, von denselben umgebracht werde. Bruno hatte sich durch diese Fabel nicht abschrecken lassen, die Geisterhöhle wiederholt zu besuchen, weil er sich des Argwohns nicht zu erwehren vermochte, daß die Wilddiebe die Höhle derartig in Verruf gebracht hätten, um sie als sicheren Schlupfwinkel benutzen zu können. Doch überzeugte er sich schließlich, daß sein Verdacht grundlos wäre. Die Höhle hatte er in Folge der mehrfachen Visitationen genau kennen gelernt. Sie war einfach, aus mehreren kleinen, fast ganz dunklen Abtheilungen bestehend. Der Zugang zu ihr war schwierig, da Gestrüpp, Geröll, Felsblöcke, umgestürzte Baumstämme zu überwinden waren. Genau über der Höhle erhob sich ein kegelförmiger Berg, 517
der einen Überblick über das ganze vorliegende Terrain ermöglichte. Nach einigen Stunden anstrengenden Marsches war Bruno am Fuße der Felspartie, welche die Geisterhöhle enthielt, angelangt. Da der Aufstieg, wie gesagt, sehr mühsam war, so ließ der junge Mann sich auf einem moosbewachsenen Felsen nieder und ruhte ein Viertelstündchen aus. Neu gekräftigt klomm er darauf den Berg empor und erreichte glücklich den Eingang der Höhle. Es wunderte ihn ein wenig, daß Johannes ihm nicht entgegen kam; das Geräusch, welches durch das Klettern hervorgebracht worden war, mußte ihn doch auf des Freundes Nahen aufmerksam gemacht haben. »Vielleicht ist er, durch die Mattigkeit überwältigt, in Schlaf gesunken,« dachte Bruno, und in dieser Annahme bestärkte ihn der Umstand, daß in der hintersten Höhlenkammer Lichtschimmer zu sehen war. Ohne Besinnen ging er in die Höhle hinein und nach wenigen Minuten stand er in der letzten Abtheilung derselben. Im hohen Grade erstaunt blickte er um sich. Johannes war nicht zu sehen, dagegen eine Anzahl von Gegenständen, deren Zweck sich Bruno nicht sofort erklären konnte; nur soviel war ihm alsbald klar, daß sie der Förderung eines ungesetzlichen Unternehmens dienen müßten. Sein Erstaunen über das Vorhandensein dieser Utensilien in der Höhle war um so lebhafter, als sich keine menschliche Seele blicken ließ. Doch dieser Umstand ließ sich ja leicht erklären; ohne Zweifel hatte sein Herannahen die Verbrecher verscheucht. Im nächsten Augenblicke kehrten sie vielleicht zurück, nachdem sie die Überzeugung gewonnen 518
hatten, daß er allein war. Hastig zog er den Revolver hervor, welchen er stets bei sich trug. Da fiel ihm ein, ob etwa Johannes mit den Verbrechern in Verbindung stände. Diese Frage drängte sich ihm mit solchem Ungestüm auf, daß er sich ihrer nicht zu erwehren vermochte. War sie nicht auch ganz naturgemäß? Johannes hatte früher bereits einer Gaunerbande angehört; vielleicht hatte die schreckliche Wahrheit des alten Glaubens, daß Jemand, der die Bahn des Verbrechens betreten, nie wieder den geraden Weg der Rechtlichkeit zu wandeln im Stande sei, sich auch in ihm auf ’s Neue bewährt. Die dunklen Andeutungen in seinem Briefe ließen das Schlimmste vermuthen. Wie, wenn jener furchtbare Mann, der »Herr«, ihn gezwungen hatte, der Bande wieder beizutreten? Rasch trat Bruno auf die Utensilien zu und im nächsten Augenblicke stieß er einen Ausruf des Schreckens und Schmerzes aus, – er hatte auf einem Steinblocke Falsificate englischer Banknoten wahrgenommen. Tief betrübt starrte er auf dieselben nieder; er hegte nun keinen Zweifel mehr, daß Johannes die Bahn des Verbrechens abermals betreten habe. Doch unzweifelhaft nicht freiwillig. Hatte er nicht geschrieben: »Vielleicht kannst Du mir rathen, mich retten?« Bruno nahm sich vor, mit allen ihm irgend zur Verfügung stehenden Mitteln die Loslösung des unglücklichen Freundes von der Bande zu erwirken. Wie aber, wenn der verwegene Chef der Bande nur unter der Bedingung in die Freigebung Hansens willigte, daß Bruno niemals Ansprüche auf das Erbe der Szapary’s erhe519
be? Konnte, durfte er auf diese Bedingung eingehen? Eine Entscheidung vermochte er selbstverständlich nicht schon jetzt zu treffen, zunächst kam es darauf an, mit Johannes sich zu verständigen. Wo blieb der Freund nur? Ungeduldig wollte Bruno eben wieder die Höhle verlassen, als Geräusch am Eingang derselben entstand. Heller Lichtschein erstrahlte, schwere Schritte nahten, – fester umklammerte Bruno den Revolver. In der vorletzten Höhlenkammer hielten die Herankommenden an und ein kurzes Geflüster erhob sich. Dann trat ein Einzelner in die Öffnung. Bruno musterte ihn mit scharfem Blicke und gewann alsbald die Überzeugung, daß er nicht dem »Herrn« gegenüberstände, denn dieser sollte ja eine erstaunliche Ähnlichkeit mit ihm gemein haben, während der eben Eingetretene ihm ganz unähnlich war. »Seid Ihr der ehemalige Forstgehilfe Bruno Waldmann? «fragte derselbe. »Ja.« »Dann erkläre ich Euch im Namen des Gesetzes für meinen Gefangenen.« Bruno glaubte, daß der »Herr« diese Finte ersonnen habe, um ihn ohne Kampf und Blutvergießen in seine Gewalt zu bekommen und dieser Voraussetzung gemäß rief er: »,Gebt Euch nicht die undankbare Mühe, mich in eine Falle locken zu wollen. Ich werde Euch die Freude nicht machen, freiwillig in dieselbe zu gehen, und wenn Ihr versuchen solltet, mich durch Anwendung von Gewalt zu überwältigen, dann werde ich mich bis zum letzten Blutstropfen wehren.« 520
»Das wäre eine Thorheit, guter Freund, ja wirkliche Raserei. Zehn Revolver sind auf Euch gerichtet; ehe Ihr nur Eure Waffe erheben könntet, würdet Ihr von Kugeln durchbohrt sein.« »Immerhin; ein solches Loos ist jedenfalls besser, als daß ich mich einem schuftigen Hallunken auf Gnade und Ungnade preisgeben sollte.« »Ich kann mich nicht mit Euch in einen weitläufigen Discurs einlassen,« rief ärgerlich der Beamte, »sondern fordere Euch nochmals auf, Euch ohne Widersetzlichkeit zu ergeben. Ich dächte, Euch müßte von früher her bekannt sein, daß ich keinen Spaß verstehe, wo es gilt, das Interesse meines Amtes wahrzunehmen.« »Ihr sprecht in Räthseln, Mann. Doch ja, ich vergaß, daß Ihr Euch für einen Polizeibeamten ausgebt.« »Ihr scheint mich nicht mehr kennen zu wollen. Um Euren unnützen, uns nur die Zeit raubenden Einwänden ein Ende zu bereiten, will ich mich Euch in das Gedächtniß zurückrufen. Ich bin der Commissär des DetektivesCorps, Randolf. Hier meine Legitimation!« Er holte einen zweiköpfigen Adler, wie ihn jeder geheime Agent mit sich führt, hervor. Bruno’s Argwohn wurde dadurch nicht vermindert. Konnte nicht jeder beliebige Mensch sich einen solchen Adler anfertigen lassen ? Noch stand er unschlüssig, als der Commissär der Badener Polizei in die Höhle trat. »Hier scheint ein arges Mißverständniß obzuwalten,« meinte er, bedächtig den Kopf wiegend, zu Randolf. »Sind Sie auch sicher, daß Sie den Rechten gefunden haben?« 521
»Ganz sicher. Ich habe ihn hundert Mal gesehen und würde ihn unter Tausenden sofort herausfinden. Ein Irrthum ist mithin gar nicht möglich.« »Einer so bestimmten Versicherung gegenüber muß der leise Zweifel, den ich hegte, schwinden,« erklärte der Commissär und wandte sich zu Bruno: »Sie würden gut thun, sich nicht länger zu sträuben –« Bruno fiel ihm in’s Wort. »Nun Ihre Gegenwart mich belehrt, daß ich wirklich Polizeibeamten gegenüberstehe, fällt es mir nicht ein, meiner Verhaftung mich zu widersetzen. Im Gegentheile bedaure ich meine Opposition lebhaft.« »Sie wird Ihnen theuer genug zu stehen kommen,« bemerkte Randolf. »Ich hoffe, daß Ihre Voraussage nicht in Erfüllung gehen wird. Wäre sofort der Herr Commissär aus Baden, den ich das Vergnügen habe, zu kennen, auf mich zugetreten, dann hätte ich nicht den mindesten Einwand erhoben. Ich gab mich jedoch dem Wahne hin, daß –« »Ihre vagen Ausreden interessiren uns nicht,« unterbrach Randolf ihn kurz. »Ihre Waffe!« Bruno übergab seinen Revolver dem Detektive, der sie mit freudig blitzenden Augen entgegennahm und vergnügt vor sich hinmurmelte: »Endlich – endlich erwischt!« Bruno wandte sich zu dem Badener Beamten. »Herr Commissär,« bat er, »Würden Sie nicht so menschenfreundlich sein, mich über die Ursache meiner Verhaftung aufzuklären?« 522
Der Beamte antwortete nur durch ein verdrießliches Achselzucken; er mochte noch immer Zweifel an Bruno’s Schuld hegen, doch durfte er demselben nach Randolfs bestimmter Erklärung keinen Ausdruck verleihen. Bruno mußte, obwohl sein Stolz sich mächtig empörte, sich Handschellen anlegen lassen und, von vier Detektives nebst Randolf bewacht, den Rückweg antreten. In einiger Entfernung von der Höhle hielten im Walde versteckt zwei Wagen. Einen derselben bestiegen die Detektives mit ihrem Gefangenen, der andere blieb zurück, um die in der Höhle befindlichen Utensilien und Falsificate aufzunehmen. Unbeschreiblich groß war das Erstaunen der Zecher in der Badener Bahnhofsrestauration, als sie den Forstgehülfen Waldmann, der ihnen Allen gut bekannt war, gefesselt, unter starker Escorte eintreffen sahen. Bruno wurde bis zum Abgange des ersten Zuges in einem gut versicherten Raume untergebracht; der Commissär nahm unter der lustigen Gesellschaft Platz und wurde natürlich um Auskunft bestürmt, ohne jedoch den neugierigen Fragern anders als durch ganz unbestimmte Äußerungen zu antworten. Die Kunde von der Verhaftung des Forstgehülfen erregte unter der Bevölkerung Badens und der Umgebung, um so größeres Aufsehen, als man sich des Attentats erinnerte, das gegen ihn ausgeführt worden war. Furchtbaren Schrecken rief sie im Forsthause hervor. Einer von den Holzhauern des alten Försters beeilte sich, sie dorthin zu bringen, und da der rauhe, im Reden unbewanderte Mann ohne Anwendung jeder Vorsichtsmaßregel Bericht über Bruno’s Verhaftung und die abenteuerlichen Gerüchte, welche durch 523
dieselbe erzeugt waren, abstattete, so war das Entsetzen des alten Försters und vornehmlich Käthchens um so heftiger. Hauer begab sich noch an demselben Tage nach Wien zum Polizeipräsidium, erhielt indeß selbstverständlich keine Auskunft über die Ursachen der Verhaftung seines zukünftigen Eidams, ebensowenig gestattete man ihm eine Zusammenkunft mit Bruno. Seine Bestürzung vermehrte sich noch, als man ihm im Hotel National, wohin er sich begab, um Johannes zu sprechen, berichtete, was sich zugetragen. Von bangen Zweifeln gequält, von der Sorge um das Schicksal seiner Lieben niedergedrückt, kam er nach dem Forsthause zurück. Käthchen hatte seiner mit heißer Sehnsucht geharrt; sie erwartete Trost vom Vater und gerieth nun in einen bedenklichen Zustand unsagbarer Entmuthigung. Tausend bange Zweifel zerrissen ihr das Herz, und die heftigste Folter bereitete ihr der Umstand, daß sie dieselben nicht zu verfluchen im Stande war. Immer und immer wieder dachte sie daran, daß sie an jenem schaurigen Abende, dessen Schrecken ihr die Sprache wieder verschafft hatten, Bruno zusammen mit einem berüchtigten Wilddiebe gesehen. War es denn nicht möglich, daß er, ebenso wie der Bruder, vom Wege der Rechtlichkeit abgewichen war, vielleicht durch eine ihr unbekannte »eiserne Nothwendigkeit« gezwungen? Nicht geringere Betrübniß, als im Forsthause, herrschte in der Hütte des Waldhüters Klaus. Der Alte hatte sich, ehe er den Heimweg von Baden antrat, tüchtig betrunken und erst auf den Weg nach seiner ärmlichen Klause gemacht, als die Nacht bereits weit vorgeschritten war. Trotz der späten Stunde fand er sein Weib 524
noch wach, in der dickbauchigen Bibel lesend. Betroffen starrte Klaus ihr einige Minuten in das blasse Gesicht, dessen bleiche Farbe grell gegen die durch reichlichen Thränenerguß erzeugte Röthe der Augen abstach. Dann suchte er seine Befangenheit hinter erheucheltem Ärger zu verstecken, indem er sie auszankte, daß sie noch nicht das Lager aufgesucht habe. Die Frau antwortete nicht; als er ihr befahl, ihm zu Essen zu bringen, holte sie schweigend das Verlangte herbei, während Klaus die Läden schloß. Es waren gute Sachen, welche die Frau aus dem riesigen Schranke zum Vorschein brachte, allerlei Delicatessen, die man in der Hütte eines armen Mannes kaum jemals erblickt. Als der Tisch fast bedeckt war, nahm Klaus Platz und schnitt sich von einem saftigen Schinken ein ansehnliches Stück ab. »Was ist das?« rief er im nämlichen Augenblicke verdutzt aus, »Du hast ja von allen den schönen Sachen Nichts genossen?!« Die Frau schlug ein Kreuz. »Gott soll mich bewahren,« murmelte sie, »daß ich von dem Sündengelde mir das Leben verschönen sollte.« Der Bissen blieb dem Alten im Munde stecken; gleich darauf fuhr Klaus wüthend auf und schlug auf den Tisch, daß er in allen Fugen krachte. »Was sind das für schnackische Reden, Weib! Willst mich schulmeistern, wohl gar bei der Polizei angeben, he?« »Nein, Klaus, das werde ich nicht thun. Dreißig Jahre habe ich Freud und Leid mit Dir getheilt, Du warst stets ein braver und liebevoller Mann und meine Liebe für Dich 525
ist um Nichts geringer, als vor vielen Jahren. Du kannst also ganz sicher sein, daß ich Dich nicht in das Zuchthaus bringen werde; nur an den Genüssen, die Du Dir durch das Sündengeld verschaffst, mag ich nicht theilnehmen. Wir sind Beide betagt und können jederzeit abberufen werden, ich will deshalb meine Seele nicht jetzt noch mit einer schweren Schuld beladen. Du hast Dich, Gott sei’s geklagt, vom Satan blenden lassen. Sieh’ nun, wie Du mit Deinem Gewissen fertig wirst.« Messer und Gabel entglitten des Waldhüters Hand, düster blickte er auf die appetitlichen Sachen hin, ohne sie zu berühren. Seine Eßlust war vergangen, sein Rausch verflogen.
Seczehnte+ Kapitel. Scac dem Könige!
D
ie vornehme Welt Wiens befand sich in einer gewissen Aufregung. Die Reihe glänzender Festlichkeiten, durch welche die Saison in der Stadt des raffinirtesten Lebensgenusses sich auszeichnet, sollte um einen prachtvollen Maskenball vermehrt werden. Doch nicht dieser Umstand rief die erwähnte Alteration hervor, sondern die Thatsache, daß der Herzog von Taschlydschja der Gastgeber war. Nun ist allerdings nichts Verwunderliches daran, daß ein durchlauchtiger Herr, der überdies über ein glänzendes Einkommen zu disponiren haben 526
sollte, seinen Standesgenossen ein solennes Fest giebt, mit dem Herzog von Taschlydschja aber hatte es eine eigene Bewandtniß. Schon die Persönlichkeit desselben war geeignet, Interesse einzuflößen. Er sollte geheimnißvolle Beziehungen zu den österreichischen, ungarischen und russischen Ministerien und andererseits Verbindungen eigenthümlicher Art mit dem verachteten Volke der Zigeuner unterhalten, ja man erzählte sich, daß er demselben entstammt sei und von den ewigen Nomaden fast göttliche Ehren genoß, weil er der einzige Nachkomme ihres uralten Herrschergeschlechtes wäre. Über die Quellen, aus denen seine zweifellos reichlichen Einnahmen flossen, munkelte man in der guten Gesellschaft allerlei, doch ging man am liebsten über diesen heiklen Gegenstand mit bedeutsamem Achselzukken hinweg, zumal da man nur ganz vage Vermuthungen darüber vernahm. Überdies kümmerte sich, den modernen Anschauungen gemäß, die Mehrheit der Creme nicht um die Reinheit der Einnahmequellen des Herzogs. Seit dem »Aufschwunge« des Börsenthums haben sich Gauner der gemeinsten Kategorie selbst in früher sehr exclusiven Kreisen Zutritt verschafft und gar mancher Herzog und Fürst, dessen Stammbaum bis über die Kreuzzüge hinausreicht, liegt vor einem der Hefe des Volkes entstammten, durch Schwindel und Betrug reich gewordenen Schurken anbetend im Staube, weil – er ein Schuldner desselben ist. Man hat sich deshalb in der modernen Gesellschaft längst von der albernen Gewohnheit unserer biederen Vorvordern, nur ehrenhaften Persönlichkeiten Zutritt in ihre Kreise zu gestatten, losgemacht; der Herzog von Taschlydschja war 527
ein charmanter Gesellschafter und liebenswürdiger Wirth, seine Feste zeichneten sich durch Prunk aus, seine Weine und Delicatessen schmeckten vortrefflich, folglich ging man gern in seine luxuriös eingerichtete Wohnung, wenn er eine Fete arrangirte, und ließ sich den Genuß nicht durch absurde Scrupel schmälern. — In der letztverflossenen Nacht hatte man sich aber doch einiger Zurückhaltung befleißigt. Der Zigeunerkönig sollte, wie es hieß, in eine verdrießliche Geschichte verwickelt gewesen sein, ja es hieß sogar, daß er einen Conflict mit der Polizei gehabt habe. Indeß dieses Gerücht verstummte bald; der Herzog von Taschlydschja lebte nach wie vor in Saus und Braus, und da ihm kein »Accident« widerfuhr, so fand sich die Gesellschaft nicht bemüßigt, ihm gegenüber längere Zeit in vorsichtiger Reserve sich zu halten. Als der Herzog Einladungen zu einem Bal Masqué ergehen ließ, war die ganze vornehme Welt entschlossen, dem verlokkenden Rufe Folge zu leisten. Und diesem Vorsatze gemäß handelte sie. Hunderte von Zuschauern standen an dem Festabende vor dem hohen Säulenportale und blickten sehnsuchtsvoll oder neidisch in das prachtvoll geschmückte und tagesgell erleuchtete Vestibule, oder nach den im blendenden Glanze erstrahlenden Fenstern der herzoglichen Wohnung; so manches holde Kind seufzte wohl auch: »Wenn du dort oben dich umschauen könntest! Es muß ein feenhafter Anblick sein.« Und in der That konnte Jemand, der nie solchen Prunk geschaut, sich in einen Zauberpalast versetzt wähnen, wenn 528
er das hohe, mit hochstämmigen, im reichsten Blüthenschmuck prangenden exotischen Gewächsen gezierte Vorhaus durchschritt, auf wundervollen Smyrna-Teppichen die herrliche Marmortreppe hinaufstieg und durch ein Spalier von Dienern in blauer, mit Silberstickerei übersäter Livree in den großen Saal eintrat. Ein Lichtmeer umfluthete ihn, köstlicher Duft, der überall, wohin er sich wandte, ihn umfing, verlieh ihm eine höchst angenehme, wollüstige Empfindung. Hunderte von stark vergoldeten Girandolen und zwei gewaltige krystallene Kronleuchter trugen wohlriechende Wachskerzen, deren Lichtglanz sich in den Wänden aus polirtem Marmor wiederspiegelte. Rauschende Musik, von dem künstlerisch geschulten Orchester des Hofballmusikdirectors Strauß executirt, elektrisirte die jüngeren Mitglieder der zahlreichen Gesellschaft, die sich in allen nur erdenklichen Kostümen und Farben auf dem spiegelglatten Parquet bewegte. Doch alle diese prächtigen Masken hatten längere Zeit hindurch offenbar keine Lust, sich den sonst so gern genossenen Freuden des Tanzes hinzugeben. Es lag wie die schwüle Atmosphäre unruhiger Erwartung über der glänzenden Gesellschaft; man schien der Verwirklichung eines bedeutungsvollen Ereignisses entgegenzusehen; unendlich häufig wandten Aller Blicke sich nach den Flügelthüren, durch welche der Wirth treten mußte. Noch war er nicht erschienen; ein befreundeter Cavalier und dessen Gemahlin hatten die erlauchten Gäste empfangen. In einem der Nebenzimmer, die sämmtlich in kleine Gärten umgewandelt worden waren, hatte sich eine Anzahl äl529
terer Damen zusammengefunden und im Halbkreise um die Fürstin Schwarzenberg gruppirt. In diesem Cercle wurde das Thema, welches allen Theilnehmern des Maskenballes lebhafte Spannung einflößte, mit besonderem Eifer discutirt. Auch diese vornehmen Frauen richteten ihre Blicke häufig auf die Eingangsthür, und ihre Erwartung erreichte den Gipfelpunkt, als im Nebenzimmer rasch sich nähernde Schritte zweier Männer vernehmbar wurden. »Sie kommen,« ging’s von Mund zu Munde. »Bringt er den Präsidenten?« fragte die Fürstin jene Dame, die der Thür am nächsten saß. »Eurer Durchlaucht zu dienen. Der Herr Graf von Zucco und der Herr Polizeipräsident kommen rasch herbei.« Unmittelbar darauf traten die beiden Herren in das Gemach. Der Präsident verbeugte sich ehrfurchtsvoll. »Sind Sie endlich da, Präsident?« rief ihm die Fürstin lebhaft entgegen. »Wir vergehen vor Neugierde; Sie müssen so menschenfreundlich sein, uns von der Qual, die uns peinigt, zu erlösen. Kommen Sie, nehmen Sie in der Mitte Platz und dann berichten Sie uns, was Ihnen von dem Grafen Szapary bekannt ist. Man erzählt sich eine wunderbare Mähr von einem Betrüger, der die Absicht hatte, sich für den Erbprätendenten auszugeben und, um sich den Weg zu bahnen, allerlei schreckliche Dinge verbrochen haben soll. Ist denn ein wahres Wörtchen an dieser Geschichte?« Der Graf hatte inzwischen einen Fauteuil in den Kreis gerollt. Der Präsident nahm Platz und erwiderte mit vielsagendem Lächeln: »Das Gerücht hat in diesem Falle nicht gelogen. Ein höchst gefährlicher Hochstapler, dem unsere 530
geschicktesten Detektives seit Jahren erfolglos nachstellten, ging mit dem kühnen Plane um, demnächst als Szaparyscher Erbprätendent aufzutreten, obwohl er nicht die geringfügigsten Beweise für die Wahrheit seiner Behauptung hat. Selbst jetzt, wo er doch schon seit einigen Tagen im Gefängnisse weilt und Muße hat, zu überlegen, daß ein offenes Bekenntniß seiner Vergehen das einzige Mittel zur Milderung seiner voraussichtlich sehr harten Strafe ist, spielt er nicht nur die gekränkte Unschuld, sondern bleibt auch bei seiner unsinnigen Behauptung, ja er hat sogar die Verwegenheit, zu verlangen, daß man ihm eine Audienz bei Sr. Majestät erwirken möchte.« »Ein kecker Bursche! Einer von den modernen frechen Tröpfen, denen Nichts mehr ehrwürdig und heilig ist. Es ist ein Glück, daß die Mauern des Gefängnisses ihn umschließen. Wie bekam ihn denn die Polizei in ihre Gewalt?« »Durch den Verrath eines Mitgliedes seiner Bande.« »Seiner Bande?« wiederholten eifrig im Chore die Damen. »Er war also ein Rinaldo Rinaldini in modernisirter Gestalt?« Und die noch jugendliche Comteß Wolfenstein recitirte: »In des Waldes düstern Gründen –« Der Präsident unterbrach sie. »Er ist kein Rinaldo Rinaldini, meine Damen, wenngleich auch er in des Waldes düsteren Gründen gehaust hat, nämlich in dem umfangreichen Waldcomplexe bei Baden. Doch trat er dort nicht als kühner Räuberhauptmann auf, sondern als ein Forstgehülfe.« »O, o,« rief enttäuscht das romantische Fräulein von Wolfenstein. »Aber seine Bande –« 531
»Seine Bande, der Polizei unter dem Namen der »schwarzen Brüder» bekannt, trieb hauptsächlich in Wien ihr gemeingefährliches Gewerbe. Sie beschäftigte sich vorzugsweise mit Fälschungen aller Art und mit der Fabrication von Banknoten.« »Wie konnte denn aber jener Forstgehülfe von Baden aus die Bande befehligen?« »Nichts leichter als das. Er kam allwöchentlich nur in einer Nacht in den Schlupfwinkel der Bande, um Anordnungen zu treffen. Die Ausführung derselben leiteten seine Generäle, die »Balmassematten,« wie die jenische Sprache sie nennt, namentlich ein gewisser Walther, nach welchem unsere Agenten eifrig fahnden. Ob der kühne Abenteurer in Wien oder anderswo bereits Gastrollen als vornehmer Herr gegeben, wissen wir noch nicht, weil die Erhebungen noch nicht weit vorgeschritten sind. Man kann jedoch mit einiger Gewißheit annehmen, daß er bisher aus seiner Verborgenheit nicht herausgetreten sei. Unzweifelhaft trug er sich bereits seit Jahren mit dem Vorsatze, als Szaparyscher Erbprätendent aufzutreten, denn er zeigt sich über die geheimnißvollen Vorgänge in dieser Familie gut unterrichtet, muß demnach sehr genaue und langwährende Erkundigungen eingezogen haben. Da er voraussah, daß er seinen kühnen Plan nur in dem Falle würde fördern können, wenn er über bedeutende Geldmittel zu verfügen vermöchte, ließ er sich auf verbrecherische Unternehmungen ein. Diese haben ihm denn auch goldene Früchte eingetragen, denn man fand bei ihm eine Summe von fast Neuntausend Gulden vor. Dieser Umstand allein würde hinreichen, 532
ihn zu verderben, denn da er behauptet, seit zehn Jahren als Forstgehülfe fungirt zu haben, das Einkommen dieser Beamtenkategorie aber ein überaus kärgliches ist, so muß er selbstverständlich auf unrechtlichem Wege in den Besitz dieses bedeutenden Betrages gelangt sein. Höchst verdächtig ist noch der Umstand, daß er vorschützt, sich über den Erwerb der Summe aus dem Grunde nicht ausweisen zu können, weil er durch seine Angaben eine andere Person blosstellen würde.« Diese Weigerung Bruno’s ward durch die Rücksicht bedingt, welche der edelmüthige Jüngling auf Johannes glaubte nehmen zu müssen. Er hegte die feste Überzeugung, daß Hans wirklich den durch Klaus überbrachten Brief geschrieben und in der Geisterhöhle sich verborgen gehalten habe, bis die Annäherung der Polizei ihn aus derselben getrieben. Wohl drängte sich ihm die Erwägung auf, daß nicht der Zufall allein die Polizei gerade in jenem Momente nach der Höhle geführt habe, wo er sich in ihr befunden, aber dieser Umstand bewies ja nicht, daß Johannes den Brief nicht geschrieben habe. Für die plötzliche Ankunft der Polizei ersann Bruno sich eine Erklärung, die ganz glaubhaft war. Hans, so dachte er, ist durch den »Herrn« gezwungen worden, der Bande wieder beizutreten; er hat mich nach der Geisterhöhle bestellt, um mit mir die Mittel zu seiner Befreiung aus der schrecklichen Umklammerung des Verbrechens zu berathen. Wahrscheinlich hatte der Abenteurer die Bedingung gestellt, daß ich darauf verzichten solle, ihn zu entlarven, jedenfalls auch hat er dem armen Hans zugesichert, daß ich ungefährdet nach 533
der Höhle kommen und sie wieder verlassen könne. Daß ich auf Hansens Hülferuf nach der Geisterhöhle eilen würde, konnte er als gewiß annehmen und auf diese Voraussetzung baute er seinen schurkischen Plan auf, der bezweckt, mich aus dem Wege zu räumen, ohne daß er Hans, dessen Kunst er zu verbrecherischen Unternehmungen auszunutzen gedenkt, freizugeben braucht. Er denuncirte mich der Polizei als den Anführer der »schwarzen Brüder« und ich muß gestehen, daß er das Spiel vortrefflich arrangirt hat, so vortrefflich, daß ich mich aus dem Truggewebe, mit welchem ich umsponnen bin, schwerlich werde herauswikkeln können. Meiner Betheuerung, daß ich der echte Szapary sei, schenkt Niemand Glauben; der Abenteurer stellt ja dieselbe Behauptung auf und begründet sie dadurch, daß er über die ruchlose That des alten Grafen und die daraus hervorgegangenen Folgen eben so gut Bescheid zu geben weiß, wie ich. Ihn begünstigt noch der Umstand, daß er früher als ich Ansprüche auf das Erbe erhoben hat, weshalb Jeder wähnen muß, daß ich mich durch unsere wunderbare Ähnlichkeit habe verleiten lassen, in derselben Rolle aufzutreten, vielleicht nur zu dem Zwecket, um von ihm eine bedeutende Summe zu erpressen. Wenn ich mich nur auf Hansens Zeugniß berufen dürfte, dann würde vielleicht mancher Umstand herausgefunden werden können, der den Beweis lieferte, daß ich nicht der »Herr« bin. Das einfache Abläugnen überzeugt selbstverständlich Keinen, schadet mir vielmehr noch, weil man mich für verstockt hält. Es ist eine verzweifelte Lage. Fortse~ung folgt. 534
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. 33
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
S
ie war in der That bedrohlich genug. Commissär Randolf erklärte mit einer Entschiedenheit, die jeden Zweifel ausschloß, daß Bruno der » Herr « sei, und seine Versicherung gewann durch das Factum, daß er ja zu wiederholten Malen mit dem Abenteurer verkehrt hatte, mithin dessen Persönlichkeit genau kennen mußte, das Gepräge unabänderlicher Wahrheit. Überaus qualvoll empfand dieser Behauptung gegenüber Bruno den Umstand, daß er nicht wagen durfte, die Mittheilungen, welche Johannes ihm über den » Herrn « gemacht, dem Untersuchungsrichter zu nennen. Man hätte selbstverständlich danach geforscht, wer die Enthüllungen ihm anvertraut habe; würde er darauf Angaben gemacht haben, die sich als unwahr herausgestellt hätten, dann wäre seine Lage noch ungleich schlimmer geworden, als sie es bereits war. Jo535
hannes aber dem Verderben zu überliefern, dazu konnte er sich unter keiner Bedingung verstehen. So blieb ihm denn nichts Anderes übrig, als seine Schuldlosigkeit zu betheuern und darauf zu bauen, daß der Lenker alles Irdischen sie schließlich an das Licht bringen würde. Aber noch hatte er den bittern Kelch nicht bis zur Neige geleert; ehe er sich’s vermuthete, trat die harte Nothwendigkeit, vor welcher er so sehr zurückbebte, an ihn heran, die Nothwendigkeit, Johannes in sein Ungemach hineinzuziehen. Die Polizei ließ es sich selbstverständlich angelegen sein, sich über die Antecedentien des vermeintlichen Hochstaplers Aufklärung zu verschaffen und zwar, was für sie am wichtigsten war, zunächst zu erforschen, welche Rolle er seit dem Antritte seines Urlaubs gespielt. Mit Leichtigkeit gelang es ihr, festzustellen, daß er in Begleitung des jungen Kauer sich von Baden direct nach Wien begeben, im Hotel National ein Quartier bezogen und mit namhaften Advocaten über die Mittel, seine angeblichen Ansprüche auf das Szapary‘sche Erbe erfolgreich geltend machen zu können, conferirt habe. Nach einigen Tagen, erfuhr die Polizei ferner, habe der junge Kauer spät Abends zwei Herren, die sich im Dialect der Siebenbürger Sachsen unterhalten hatten, heimgebracht, alle Vier hätten eine stundenlange und zeitweilig sehr erregte Unterredung geführt und seien am nächsten Morgen nach Ungarn abgereist. Von dort wäre Waldmann und Kauer nach kurzer Zeit zurückgekehrt und zwar in einem Zustande äußerster Niedergeschlagenheit. Die Kellner und Stubenmädchen berichteten 536
natürlich auch ausführlich über das Gebahren der jungen Männer, über die plötzliche Entfernung Kauers und die am nächsten Abend erfolgte Abreise Bruno’s. Die Personalbeschreibung, welche sie von dem alten Waldhüter lieferten, ermöglichte der Polizei, zu constatiren, daß Klaus im Hotel National gewesen sei. Er und seine Frau wurden ungesäumt auf die Badener Polizei beschieden und dort vernommen. Klaus versicherte, daß Johannes Kauer ihm einen Brief zur Überbringung an Bruno eingehändigt habe und seine Frau bestätigte diese Angabe. Auffallend war das Gebahren der alten Frau; sie schien die Aussage eingelernt zu haben, so mechanisch gab sie dieselbe ab. Und doch war sie keineswegs, wie dieses Benehmen hätte vermuthen lassen, stumpfsinnig oder in Folge des Alters geistesschwach; das unruhige Feuer, welches in ihren Augen flackerte, bezeugte das Gegentheil. Doch legte der inquirirende Commissär dem seltsamen Wesen der Frau keine besondere Bedeutung bei. Leute, die zum ersten Male in ihrem Leben zur Polizei citirt werden, sind namentlich, wenn sie auf dem Lande aufgewachsen, stets in hohem Grad befangen; sie hegen die Ansicht, daß jede Berührung mit der Polizei ihren Ruf schädigen müsse. Die Aussagen des Waldhüters bestärkten die Behörde in der Annahme, daß Johannes ein eifriger Theilnehmer der gesetzwidrigen Unternehmungen des vermeintlichen Hochstaplers gewesen. Wahrscheinlich, so combinirten sich die Polizeigewaltigen, hatte Johannes von der drohenden Gefahr, die gegen die Oberhäupter der »schwarzen Brüder« heraufzog, Kenntniß erhalten und zunächst 537
sich selbst in Sicherheit gebracht. Der Brief, den er an Bruno sandte, habe wahrscheinlich eine Warnung enthalten. Mannigfache Gründe konnten den vermeintlichen Hochstapler bewogen haben, zunächst nach der Geisterhöhle sich zu begeben. Vielleicht wollte er die Mitglieder seiner Bande warnen, oder die in der Höhle vorhandenen zahlreichen Falsificate an sich nehmen, oder die kostspieligen Werkzeuge und Maschinen, welche zur Herstellung der Falsificate gedient hatten, mit Hilfe seiner Complicen entfernen, kurz, es gab eine Menge von Motiven, durch welche sich seine Wanderung nach der Geisterhöhle erklären ließ. Übrigens konnte es ja auch möglich sein, daß nicht die Angst vor herannahender Gefahr, sondern eine andere Rücksicht die eilige Entfernung des jungen Kauer veranlaßt und daß der Brief nur eine wichtige, auf die Unternehmungen der Bande bezügliche Nachricht enthalten hatte. Nachdem der Polizeipräsident seinen schönen Zuhörerinnen diese Mittheilungen gemacht hatte, wurde er noch mit mancherlei Fragen bestürmt. Vor Allem wollte man wissen, ob der schreckliche Räuberhauptmann den Raub des jungen Koloman Szapary habe ausführen lassen, worauf der hohe Beamte erwiderte, daß er das für gewiß annähme, da dem Abenteurer natürlich viel daran gelegen sein mußte, alle Hindernisse, die seinem kühnen Projekte entgegenstanden, aus dem Wege zu räumen. Dem jungen Koloman wären zweifellos die Geschwister Szapary nachgefolgt; die junge Gräfin Lucie wenigstens sei vor einiger Zeit entführt worden und zwar, wie Graf Szapary glaube, nach Ungarn. 538
Diese Kunde erregte ungeheure Sensation und schauriges Gruseln bei den Damen. Die Theilnahme für den bedauernswerthen jungen Grafen wuchs mächtig an und erreichte den Gipfelpunkt, als der Präsident die Mittheilung machte, daß der Herzog von Taschlydschja während des Soupers den jungen Grafen der Aristokratie als neues Mitglied vorstellen werde. Ungesäumt eilten die Damen in den Festsaal zurück, um diese wichtige Kunde unter den Festgästen zu verbreiten und dadurch die allgemeine Erwartung in hohem Grade anzuspannen. Während man im großen Saale ungeduldig auf das Erscheinen der Hauptpersonen des Festes wartete, hatten diese im Arbeitszimmer des Herzogs eine ebenso ernste, wie erregte Unterredung. Der »Herr« saß, düster vor sich hinstarrend, auf dem Kanapee, während der Herzog mit über der Brust gekreuzten Armen hoch aufgerichtet am Schreibtische stand und halblaut, doch mit scharfem Tone zu dem Abenteurer sprach: »Ich wiederhole es, daß ich in der letztverflossenen Zeit mehr als einmal Ursache hatte, mit Ihnen unzufrieden zu sein. Insbesondere war ich damals, als Sie die Unvorsichtigkeit begingen, Ihre Brieftasche mit einigen Schriftstücken, die geeignet waren, mich zu compromittiren, in die Hände der Polizei fallen zu lassen, in hohem Grade gegen Sie aufgebracht; ja, ich ging selbst mit der Absicht um, Sie in das Nichts zurückfallen zu lassen. Glücklicher Weise verloren Sie nicht die Geistesgegenwart; es gelang Ihnen, die Brieftasche wieder an sich zu bringen, ehe sie bis zum Präsidenten gelangte, und da die Beamten, in deren 539
Händen sie kurze Zeit sich befunden, nur einen flüchtigen Einblick in die Schriftstücke genommen hatten, so vermochte ich die gegen mich heraufziehende Wetterwolke zu beschwören. – Ein sehr thörichter Streich war es, daß Sie den jungen Koloman in Zwischenbrücken ließen, ohne ihn scharf zu überwachen. Wäre das geschehen oder hätten Sie den Knaben sofort nach einer entlegenen Gegend geschafft, dann wäre uns viel Sorge und Angst erspart geblieben. Nun, es ist Ihnen auch diesmal geglückt, durch einen geschickten Schachzug uns aus einer argen Klemme herauszuhelfen. Der Anschlag gegen den Forstgehülfen ist ein Meisterwerk. Aller Verdacht wird sich auf ihn senken und sich gleich einer Klette an ihn hängen, sodaß er schwerlich im Stande sein dürfte, ihn abzuschütteln.« »Er wird das nicht können,« warf der Abenteurer ein. »Gar zu viele gravirende Indicien zeugen gegen ihn und er vermag keine derselben zu entkräften. Die einfache Betheuerung seiner Schuldlosigkeit gilt ihm natürlich Nichts.« »Freilich nicht; wenn sie den Richter überzeugen sollte, müßte jeder Gauner noch mit einer Bürgerkrone belohnt werden. Irgend einen entlastenden Beweis wird der Graf nicht liefern können?« »Gewiß nicht. Ich habe alle nur möglichen Fälle vorherbedacht, und meine Maßregeln so getroffen, daß der Graf im Zuchthause untergehen muß, wenn nicht ein Wunder ihn errettet.« »Damit hat es gute Wege; in unserer Zeit geschehen keine Wunder mehr. Wir brauchen mithin auf eine solche 540
Möglichkeit keine Rücksicht zu nehmen, sondern können als über jeden Zweifel erhaben annehmen, daß keine Widrigkeit uns von dem Ziele, das wir glücklich erreicht haben, wird zurückschleudern können. Es ist demnach Zeit, daß wir die Bedingungen vereinbaren, nach denen unser Verhältniß in der Zukunft sich zu regeln hat.« »Durchlaucht haben mich ja schon Iängst mit denselben bekannt gemacht.« Ein sarkastisches Lächeln glitt flüchtig über des Herzogs Züge. »Ich habe noch einige Modifcationen zu treffen. Da ich es bin, der Sie auf die Höhe gehoben, auf welcher Sie fortan siegen werden, da ich redlich Mühen und Gefahren mit Ihnen getheilt habe, so ist es nur billig, daß ich auch den schwer errungenen Besitz zur Hälfte mein Eigenthum nennen darf. Ich verlange deshalb, daß Sie mir nicht nur die Hälfte des Baarvermögens übergeben, sondern auch die Hälfte des Einkommens sämmtlicher Güter contractlich zusichern. Sollte sich später herausstellen, daß noch eine Modification zweckmäßig sei, so werden wir die nöthigen Vereinbarungen darüber gemeinsam treffen.« Der Abenteurer ballte die Hände. Diese maßlosen Forderungen kamen ihm ganz unerwartet. Für sich und hauptsächlich für Lucie hatte er, allerdings auf Anregung und mit der Unterstützung des Herzogs, das kühne Wagniß unternommen, Lucie sollte in den Besitz eines Reichthums gelangen, um welchen Königinnen sie hätten beneiden können. Um dieses Zweckes willen hatte er die Kraft seines Körpers und Geistes im Kampfe gegen die Polizei aufgerie541
ben, ihm hatte er Ehre, Gewissen und selbst die besseren Regungen des Gemüths aufgeopfert, nur die Hoffnung, ihn fördern zu können, hatte ihn zu frevlen Thaten angestachelt, und nun erfuhr er, daß er nicht für sich oder Lucie gerungen, – gelitten, sondern für einen kalt berechnenden Menschen, der ein frivoles Spiel mit ihm getrieben. Und er, der stolz auf seinen Scharfblick war, der gewähnt hatte, im Innersten der Menschen lesen zu können, er hatte sich in wahrhaft kindlicher Glaubensseligkeit übertölpeln lassen, er hatte bis zum heutigen Abende dem Herzoge eine fast abgöttische Verehrung und so warme Sympathieen gewidmet, wie nur ein Sohn sie für einen zärtlich geliebten Vater empfinden kann, denn bis zu diesem Momente hatte er glauben müssen, daß des Herzogs Handlungsweise nur durch die innigste Theilnahme für ihn dictirt worden sei. Er hatte seit jeher auf der Bahn des Verbrechens gewandelt, doch war er nicht aus eigenem Antriebe auf sie übergetreten. So lange, bis er selbstständig zu handeln vermochte, hatte er im Dienste einer Frau zugebracht, die einen aristokratischen, ausländischen Namen führte, in der Wirklichkeit aber eine »ausgediente« Courtisane war. Den Rest ihres einst beträchtlichen Vermögens hatte diese Person dazu verwandt, in Bukarest eine geheime Spielhölle einzurichten. Dort hatte der »Herr« seine Jugendzeit verlebt. Wann er zu der Schwindlerin gebracht worden sei, darüber vermochte er keine Auskunft zu ertheilen; er hatte sie für seine Mutter gehalten, doch versicherte sie ihm zu wiederholten Malen, daß er durch kein verwandtschaftliches Verhältniß mit ihr verbunden sei. Bat er sie darauf, 542
ihm zu sagen, wer seine Eltern seien, dann hatte sie stets erwiedert: Du wirst es schon erfahren, wenn die richtige Zeit herangekommen ist. Vorläufig will ich für Dich sorgen und Dir eine so feine Erziehung geben lassen, daß Du Dich wie ein Cavalier wirst benehmen können. Sie hatte Wort gehalten. Er wurde in allen jenen Dingen unterrichtet, die als die Grundelemente chevaleresker Bildung gelten, dagegen genoß er nur ganz ungenügenden wissenschaftlichen Unterricht. Damals hatte er über den Zweck dieser Erziehungsmethode nicht nachgedacht; ihm behagte das ungebundene Leben zu sehr, als daß er nicht Erwägungen über das Endziel desselben für ganz überflüssig hätte halten sollen. Später freilich wurde ihm der Zweck, dem seine »Erziehung« hatte dienen müssen, offenbar. Man hatte ihm aus dem Grunde eine feine gesellschaftliche Bildung geben lassen, damit er die Rolle eines vornehmen Bauernfängers spielen könne. Er mußte seiner Beschützerin junge Cavaliere zuführen, diese zum Hasardspiel animiren und ihnen gemeinsam mit einem angeblichen französischen Marquis ihre Baarschaft abgewinnen. Der Herzog von Taschlydschja gehörte zu den Stammgästen der Spielhölle, doch spielte er stets nur mäßig, ja es kam dem Jünglinge zuweilen so vor, als wenn auch die Durchlaucht gewissermaßen nur als Köder diene und den ansehnlichen Gewinn mit der Besitzerin der Spielhölle theile. Viele Jahre hindurch hatte die ehemalige Hetäre ihr Unwesen in der walachischen Hauptstadt getrieben, bis endlich ein skandalöser Vorfall die Polizei nöthigte, die Spielhölle aufzuheben und die Courtisane 543
des Landes zu verweisen. Auch dem Jünglinge, der ja nicht nachweisen konnte, daß er in Rumänien heimathsberechtigt wäre, wurde der Befehl ertheilt, binnen wenigen Tagen das Land zu verlassen. Urplötzlich hatte sein Schicksal eine gar schlimme Wandlung erfahren. Die Courtisane hatte ihn ganz mittellos gelassen; Kenntnisse, die ihm gestattet haben würden, seinen Lebensunterhalt durch geistige Arbeit zu erwerben, besaß er nicht; seine körperliche Kraft war allerdings bedeutend, doch war er zu hochmüthig und unlustig, sie zum Broderwerb auszunutzen. Was sollte er nun beginnen? Er marterte sein Gehirn nicht damit ab, eine zweckentsprechende Antwort auf diese Frage zu finden, – vielmehr überließ er mit jugendlicher Sorglosigkeit dem Zufalle, ihm eine angemessene Beschäftigung zuzuführen. Nur der Entschluß stand unerschütterlich fest bei ihm, jeder Thätigkeit, die ihm ermöglichen würde, ohne sonderliche Anstrengung sich eine bequeme Lebensweise zu verschaffen, ohne Zaudern und Bedenken sich zu widmen; selbst davor, die Laufbahn des Verbrechens zu betreten, bebte er nicht zurück. Das Treiben der Sippe, welcher er bisher angehört hatte, war ja auch ein gesetzwidriges gewesen und doch hatte es ihm trefflich behagt. Von diesem edlen Vorsatze beseelt, fuhr er, durch den Verkauf seiner überflüssigen Garberobe dazu in den Stand gesetzt, nach Pest, dem mächtig aufblühenden Emporium Ungarns, dem Eldorado aller Gauner des Ostens. Nach wenigen Tagen bereits hatte er sich in den Kreisen der gefährlichen Classen orientirt; ein alter Hebräer, einer 544
der ausgefeimtesten Hehler der ungarischen Hauptstadt, nahm sich des vielversprechenden Jünglings an, weihte ihn in die zahlreichen Geheimnisse und Kunstgriffe der Fälscher, Diebe und Einbrecher ein und verschaffte ihm dann »Arbeit« bei einer gut organisirten Gaunerbande. Der zwanzigjährige Jüngling entfaltete auf diesem Gebiete eine so große Geschicklichkeit und machte so erstaunliche Fortschritte in der Kunst, die Polizei zu dupiren, immer neue, gewinnreiche Unternehmungen zu arrangiren und zu einem glücklichen Abschlusse zu bringen, daß er in der ganzen Gaunerzunft nach kurzer Zeit eines hohen Ansehens genoß. Sein alter Freund, der den Löwenantheil von dem reichen Gewinne einheimste, organisirte eine neue Bande, an deren Spitze er seinen Schützling stellte, und seitdem wurde diese Bande durch mehrere Jahre ein Object des Schreckens für die wohlhabenden Bewohner und des ingrimmigen, aber ohnmächtigen Zornes für die Polizei Pests. Trotz seiner glücklichen Erfolge fühlte der junge »Bohnherr« sich indeß nicht zufrieden; er wuchs mit seinen Zielen und sehnte sich aus der niedrigen Sphäre heraus zu einer glanzvollen Rolle. Das Beispiel raffinirter Hochstapler, die unter erschwindeltem aristokratischen Namen zu Reichthum, Macht und Ehren gelangt waren, reizte ihn gewaltig zur Nacheiferung an. Warum sollte ihm nicht glücken, was Anderen gelungen war. Er besaß ein schönes Äußere und alle jene Erfordernisse, die zur Repräsentation eines echten Cavaliers unentbehrlich sind, mithin glaubte er den Coup getrost wagen zu können. Und er wagte ihn. Er begab sich nach Petersburg, trat dort unter einem glän545
zenden Namen auf und verschaffte sich bald Zutritt zu den vornehmsten Zirkeln, bis ein Ereigniß eintrat, das geeignet schien, seiner abenteuerlichen Laufbahn ein jähes Ende zu bereiten. Im adeligen Clublocale traf der junge Hochstapler nämlich mit einem alten Bekannten zusammen, – dem Herzog von Taschlydschja. Der kühne Abenteurer erzählte gerade einem Kreise vornehmer Damen ein piquantes Histörchen, als der Blick des Herzogs ihn traf und mit durchdringender Schärfe auf ihn gewandt blieb. Starr vor Entsetzen bemerke er, daß der Herzog langsam auf die Damengruppe zugeschritten kam. Wie im Traume nur hörte er, daß Taschlydschja um Entschuldigung bat, weil er sich erkühne, in den erlauchten Kreis sich zu drängen. »Ich hörte,« fuhr der Herzog fort, »lustiges Gelächter aus diesem Cercle dringen und da ich ein Freund der Fröhlichkeit bin, so entschloß ich mich, unter der Voraussetzung, daß mir die Erlaubniß dazu gütigst ertheilt werden würde, an der Lustigkeit der sehr edlen Gesellschaft theilzunehmen.« Die Genehmigung wurde gern bewilligt. »Bereiten Sie sich vor, sich halb krank lachen zu müssen,« rief die Fürstin Dawidoff, »unser liebenswürdiger Erzähler, der Herr Marquis von Tricanin, hat uns noch zahlreiche Schnurren zugesichert.« Des Herzogs Blick, bis dahin den vornehmsten Damen zugewandt, richtete sich auf den Abenteurer. Diesem vergingen fast die Sinne; sein Gesicht nahm eine fahle Färbung an. »Ein neues Gesicht,« rief der Herzog, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich habe noch nicht das Vergnügen 546
gehabt, dem Herrn Marquis in den Petersburger Salons zu begegnen, doch weile ich auch erst seit wenigen Tagen an der Newa.« Die Fürstin stellte den Abenteurer vor. Der Herzog erwies ihm alle Artigkeiten, die bei diesem Anlasse üblich sind. »Aber was ist nur unserm Historienerzähler zugestoßen?« rief besorgt die Fürstin. »Sie sehen ja auf einmal erschrecklich angegriffen aus, Marquis. Die unerträgliche Hitze wird Sie afficirt haben. Reichen Sie mir Ihr Taschentuch. Einige Tropfen von dieser Essenz darauf, – so, nun bedienen Sie sich! Das Aroma wird Ihre ermatteten Lebensgeister auffrischen.« Doch diese Erwartung verwirklichte sich nicht. Die heitere Stimmung des Marquis kam nicht wieder, dafür zeigte der Herzog eine von Humor übersprudelnde Laune. Der Abenteurer litt Folterqualen. »Was beabsichtigt er?« dachte er. »Jedenfalls stellte er sich nur deshalb so, als wenn er mich nicht kenne, weil er die vornehme Gesellschaft nicht erschrecken und den Festgeber nicht compromittiren will. Wenn ich den Saal verlasse, wird er mich sicherlich der Polizei überliefern.« Er nahm wahr, daß des Herzogs Blick ihn zuweilen mit einem nur ihm allein bemerkbaren Ausdrucke streifte, und seine Besorgniß vermehrte sich. Endlich ertrug er die martervolle Ungewißheit nicht länger; mit dem Muthe der Verzweiflung wollte er die Entscheidung über sein Schicksal beschleunigen und empfahl sich deshalb. 547
»Ich gehe mit Ihnen, Marquis,« rief da der Herzog. »Sie müssen mir von dem lustigen Leben und meinen Bekannten in Paris erzählen.« Schweigend durchschritten Beide den Saal und nach ceremonieller Verabschiedung vom Wirthe die Marmortreppe hinab durch das Vestibule. Vor dem Portale hielt eine berittene Polizeipatrouille. »Im nächsten Augenblicke bist Du verloren,« dachte der Abenteurer, »und vielleicht schon in dieser Nacht auf dem Wege nach Sibirien oder gar nach den kaiserlichen Bergwerken im Ural.« Verzweiflung ergriff ihn. Die entsetzlichen Schilderungen, welche man ihm von dem grausigen Leben der zu den Bergwerken verdammten Verbrecher gemacht hatte, kamen ihm in den Sinn. Lieber todt, als diesem Loose anheimfallen! Rasch griff er nach einer Kapsel, die ein Giftpräparat enthielt. Im selben Momente flüsterte der Herzog ihm zu: »Keinen thörichten Streich! Sie geben sich irrigen Voraussetzungen hin. Ich habe nicht die Absicht, Sie der Polizei zu überliefern. Hier ist meine Equipage. Steigen Sie ein!« Nach einer halben Stunde saß der junge Abenteurer im Arbeitszimmer des Herzogs. Taschlydschja schenkte die krystallenen Gläser voll schäumenden Sektes. »Ich habe Sie am heutigen Abend genau beobachtet,« begann er nach einer Weile, »und die Überzeugung gewonnen, daß Sie im Stande sind, in der vornehmen Welt sich zu bewegen, ein Aristocrat unter Aristocraten zu sein. Ich wünsche in Ihrem, wie in meinem Interesse, daß Sie diese Rolle in der Zukunft stets spielen sollen.« 548
Mit nicht geringer Verwunderung vernahm der Abenteurer diese Einleitung. In höchster Spannung erwartete er die Enthüllung, die ihm nun jedenfalls zu Theil werden mußte. Der Herzog fuhr ernst fort: »Ich habe Sie zu großen Dingen auserkoren. Sie haben bereits in Bukarest sich meine Sympathieen erworben, doch verlor ich Sie aus den Augen und dem Gedächtniß, als Sie Bukarest verlassen halten. Erst vor Kurzem kamen Sie mir wieder in Erinnerung. Ich bedarf nämlich eines jungen Mannes zur Ausführung eines großen und kühnen, aber nicht gefährlichen Unternehmens, und Sie scheinen mir dazu am besten befähigt Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich annehme, daß Sie gern erbötig sein werden, die Rolle, welche ich Ihnen zugedacht habe, zu übernehmen, wenn Sie durch dieselbe in den Stand gesetzt werden, Ihr ganzes Leben hindurch den oberen Zehntausend anzugehören.« Der falsche Marquis betheuerte mit glühendem Eifer seine Bereitwilligkeit und lauschte in fieberhafter Erwartung den weiteren Eröffnungen seines Gönners. Dieser erzählte ihm nun die uns schon bekannte Geschichte von dem traurigen Schicksale der Familie des jungen Grafen Szapary und setzte dann seinen Plan auseinander. »Als ich Sie in Bukarest zum ersten Male sah, frappirte mich die wunderbare Ähnlichkeit, welche Sie mit dem jungen Grafen Szapary und dessen verschwundenem Sohn haben. Schon damals entwarf ich das Projekt, mit welchem ich Sie sofort bekannt machen werde, doch waren Sie noch 549
nicht gereift genug, daß ich Ihnen die Ausführung desselben ruhig hätte überlassen können. Nun jedoch, wo die glühendste Jugendhitze verflogen, wo ich hoffen darf, daß Sie in bedenklichen Fällen die Leidenschaftlichkeit durch den Verstand bändigen werden, erscheint mir die Zeit zur Verwirklichung meiner Idee gekommen. Sie sollen nämlich als der verschollene Sohn des jungen Grafen auftreten. Zwar können Sie keine Beweise für die Wahrheit Ihrer Behauptungen beibringen, aber Ihre erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Grafen wird Ihnen Glaubwürdigkeit verschaffen.« »Ich müßte aber doch gewisse Aufschlüsse geben können.« »Gewiß, gewiß. Ich werde Sie genau instruiren. Ich beschäftige mich seit Jahren mit den Vorbereitungen zu dem Coup und habe ganz genaue Kunde über das Schicksal der verschollenen Kinder des jungen Grafen erlangt.« »Sie leben noch?« »Beide befinden sich noch unter den Lebenden. Während jedoch die Tochter keine Ahnung von ihrer Abstammung hat, sind dem Sohne alle Begebenheiten aus seinen Knabenjahren treu im Gedächtnisse haften geblieben. Er muß deshalb unablässig bewacht werden. Zwar hat er kein Verlangen, seine Ansprüche geltend zu machen, aber irgend eine Laune des Zufalls kann ihn anreizen, aus der Verborgenheit herauszutreten, und dann würde er, wenn gewisse, nur mir bekannte Vorbedingungen in Erfüllung gingen, gefährlich werden können. Das Mädchen hingegen wird sich nie gegen uns auflehnen.« 550
»Wollen Sie es denn aus der Verborgenheit ziehen? Die Erbschaft würde dann getheilt –« »Trotzdem muß das Mädchen zum Vorschein kommen; gewichtige Motive zwingen dazu. Die Behörde würde Schwierigkeiten erheben, wenn nur eins der verschollenen Kinder auftauchte und nach dem Schicksale des anderen Nachforschungen anstellen. Dann müßte sie Lucie Szapary auffinden –« »Sie wird aber auch nach dem Sohne forschen –« »,Ganz recht; sie wird auch diesen aufzusuchen trachten, ihn aber nicht finden.« – Ein feines Lächeln umspielte des Herzogs Lippen. »Botho wanderte, wenn ich mich so ausdrücken darf, von einer Hand in die andere, und der Polizei stehen nicht die Mittel zur Verfügung, welche mir ermöglichten, Auskunft über Botho’s Schicksal zu erlangen. – Lucie muß auch aus dem Grunde aus der Verborgenheit hervortreten, weil die Behörde Ihren Angaben weit eher Glauben beimessen wird, nachdem sie sich Gewißheit darüber verschafft hat, daß Lucie wirklich die verschollen gewesene Tochter des jungen Grafen sei. Endlich veranlaßt noch ein sehr gewichtiges Motiv mich zur Berücksichtigung der jungen Gräfin, doch ist es unnöthig, Ihnen dasselbe mitzutheilen.« – Der Herzog schritt nicht sofort an die Durchführung seines Planes, vielmehr blieb er sowohl wie sein Schützling, Letzterer unter dem angenommenen Namen, während des Winters in Petersburg. Beide ließen es sich eifrig angelegen sein, den jungen Abenteurer auf die Rolle, welche er in der Zukunft übernehmen sollte, gehörig vorzuberei551
ten. Der falsche Marquis mußte seinem Gönner dieselbe zu wiederholten Malen und unter Berücksichtigung aller nur erdenklichen Situationen, die sich vielleicht ereignen könnten, vorspielen. Dadurch gewann er schließlich eine so große Sicherheit, daß ein Irrthum ganz unmöglich würde. Im Sommer bereisten die Beiden sämmtliche Szapary‘schen Besitzungen und der Herzog unterwies seinen Schützling in den Familientraditionen und sonstigen auf die Szapary‘s Bezug habenden Geheimnissen, von denen man annehmen konnte, daß Graf Koloman seinen Sohn in sie eingeweiht habe. Den nächsten Winter verlebten sie in Wien; noch jedoch durfte der junge Abenteurer nicht als Erbprätendent auftreten. Wir brauchen Geld, viel Geld, erklärte der Herzog, theils um unsern Plan zu fördern, theils um in der Gesellschaft standesgemäß auftreten zu können. Meine Einkünfte reichen zur Bestreitung dieser Ausgaben nicht hin, nicht einmal zur Befriedigung derjenigen Verpflichtungen, die meine Stellung in der Gesellschaft mir auferlegt. Wir müssen deshalb darauf bedacht sein, uns reichlich fließende Einnahmequellen zu eröffnen; welcher Natur dieselben sind, kann uns gleichgültig bleiben. Ich habe auch diese Nothwendigkeit längst in Erwägung gezogen und ein Mittel aufgefunden, durch dessen Benutzung wir uns einen unerschöpflich fließenden Born eröffnen können, ich meine die Herstellung falscher Banknoten. Sie haben bereits in Pest mit gutem Erfolge eine Bande geleitet, übernehmen Sie diese Rolle nochmals in Wien. Dort finden Sie ein unendlich ausgedehnteres und unendlich erträglicheres Gebiet zur Bearbeitung und Aus552
beutung vor. Trotzdem ist die Gefahr, entdeckt zu werden, eine weit geringere, denn ich bin mit dem Polizeipräsidenten und dem Chef des Detectives-Corps, Oberinspector Stehling, befreundet, werde deshalb im Stande sein, Sie vor jedem polizeilichen Anschlage so rechtzeitig zu warnen, daß Sie niemals mit der hochlöblichen Obrigkeit in Collision kommen können. Schließen wir nun folgenden Pact: Sie werden »Bohnherr« einer Bande, die sich vorzugsweise mit der Fälschung von Banknoten und Documenten befaßt und theilen mit mir den Reingewinn, ich dagegen mache mich anheischig, Sie in Ihren Ansprüchen auf den Namen und das Erbe der Szapary‘s nach Kräften zu unterstützen, die hohen und höchsten Kreise wohlwollend für Sie zu stimmen und Sie in die Gesellschaft einzuführen, sobald ich den Zeitpunkt dazu für günstig erachte. Sind Sie erst als rechtmäßiger Erbe anerkannt und in den Besitz der beinahe unermeßlichen Reichthümer gelangt, dann zahlen Sie mir den Betrag von einer halben Million aus, eine Summe, die nur einen geringen Bruchtheil der gesammten Erbschaft ausmacht. – Der junge Abenteurer war gern auf diese Vorschläge eingegangen. Die glanzvollsten Hoffnungen, die ausschweifendsten Träume von zukünftiger Macht und Pracht beseelten ihn und trieben ihn blindlings in das Netz, in welches der Herzog ihn hineinlocken wollte. Als er bald nach dieser Unterredung Lucie nach Wien holen mußte, als die glühendste Liebe zu der holden Jungfrau in seinem Herzen entbrannte, da wurde er ein ganz willenloses Werkzeug des Herzogs, zumal derselbe ihm gegenüber stets in 553
der Rolle eines uneigennützigen Gönners verharrte. Erst seit der Zeit, wo der «Herr«, durch Luciens Entführung in seiner Thatkraft gelähmt, sich schwerwiegender Fehler schuldig machte, die verhängnißvolle Folgen für ihn, wie für seinen Gönner hätten nach sich ziehen müssen, wenn er nicht noch im letzten Augenblicke sich zu energischem Handeln aufgerafft hätte, wurde das zwischen den beiden dunklen Existenzen obwaltende Verhältniß ein gespanntes. Der Herzog zeigte sich mit jedem Tage anspruchsvoller und rücksichtsloser und enthüllte nun, wo der Moment der Entscheidung nahe gekommen war, die wirklichen Motive, welche ihn geleitet. Es unterlag nicht dem geringsten Zweifel, daß er im Sinne habe, nach und nach den ganzen colossalen Besitz an sich zu bringen, und mußte wohl glauben, daß er diese Absicht würde verwirklichen können, weil er sie sonst nicht schon jetzt enthüllt haben würde. Ihm mußte es so vorkommen, als wenn sein Protégé machtlos in seiner Gewalt wäre, aber in dieser Annahme sollte er sich doch getäuscht haben. Der »Herr« nahm sich vor, scheinbar in alle Bedingungen des Herzogs sich zu fügen, bis er als Graf Szapary anerkannt sein würde. Dann wollte er den längst gehegten Plan ausführen, nämlich mit Lucie nach einem anderen Erdtheile reisen und dort – aus der Reihe der Lebenden scheiden. War der Majoratsherr der Szapary‘s, der einzige noch lebende männliche Nachkomme dieses Geschlechts gestorben, dann mußte der gesammte Besitz an Lucie übergehen. Über Lucie aber hatte der Herzog keine Macht; ihre Ansprüche waren unbezwei554
felbar. Auf diese Weise ließ sich dem unläugbar geschickten Schachzuge des Herzogs ein erfolgreicher Gegenzug bieten. Während der »Herr« diesen Gedanken nachhing, stand der Herzog, ihn scharf betrachtend, unbeweglich am Marmorkamine. Er schien die Entschlüsse seines Opfers zu errathen, denn seine Lippen umkräuselte ein halb ironisches, halb verächtliches Lächeln. Fortse~ung folgt.
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ach einigen Minuten tiefen Schweigens ergriff der Herzog wieder das Wort. »Zu den unklugen Handlungen, die Sie oder Ihre Freunde in der letztverflossenen Zeit begingen und welche hätten vermieden werden können, wenn Sie, wie sich’s gehörte, meinen Rath eingeholt haben würden, gehört auch die Befreiung der Gräfin Szapary aus Szigeth Szarko, von welcher ich erst gestern Kenntniß erhielt. Wohin will Walther die Frau bringen?« »Nach Wien.« »Sie muß unverzüglich wieder fortgeschafft werden –« »Sie ist sehr krank.« »Und wenn sie in den letzten Zügen läge, müßte sie fort. Sie würde selbstverständlich verlangen, Sie zu sehen, und wenn Sie mit ihr zusammenkämen, sofort entdecken, daß Sie nicht ihr Sohn sind.« 556
»Wie wäre das möglich?« fragte mit ungläubiger Verwunderung der Abenteurer. »Nach fünfzehnjähriger Trennung sollte sie im Stande sein, zu erkennen, ob ein Mann, der dem jungen Grafen in jeder Beziehung ähnlich sieht, ihr Sohn ist oder nicht?« »Sie vermag es deshalb, weil Botho Szapary ebenso wie Lucie an einem untrüglichen Merkmale zu erkennen sind. Beiden hat Graf Koloman wenige Monate nach der Geburt einen Namen in koptischer Schrift in den Oberarm ätzen lassen.« »Sie wußten das und trafen nicht Ihre Vorkehrungen danach?« rief vorwurfsvoll der Abenteurer. »Ich hätte mir denselben Namen einätzen lassen können.« »Sie würden keinen Nutzen davon gehabt haben, weil die Farbe der Tätowirung viele Jahre hindurch frisch geblieben wäre. Außer diesem Grunde hielt noch ein besonderer triftiger mich ab, Sie in dies Geheimniß einzuweihen. Ich will Ihnen denselben gern nennen. Ich wollte stets ein Mittel besitzen, Sie in Abhängigkeit von mir zu erhalten und Sie verderben zu können, wenn Sie sich gegen mich auflehnen sollten.« Flammende Röthe ergoß sich in das Gesicht des Abenteurers. Diese brutale Offenheit benahm ihm den letzten Zweifel darüber, daß der Herzog von Anbeginn an nur die Befriedigung maßlosen Egoismus erstrebt, daß er nur deshalb Theilnahme und Freundschaft für den jungen Complicen geheuchelt hatte, um diesen zu immer neuen Anstrengungen anzuspornen. Jetzt, wo das Ziel erreicht war, wo der »Herr« nicht mehr zurück konnte, wenn er nicht 557
einer vieljährigen, vielleicht lebenslänglichen Zuchthausstrafe anheimfallen wollte, warf er die Maske ab. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit gethan, und wenn er auch nicht gehen sollte, so sollte er doch die Stellung eines Sklaven, der jedem noch so despotischen Befehle des Gebieters mit Demuth voller Unterwürfigkeit gehorsamen muß, einnehmen. Eine wahrhaft infernalische Wuth bemächtigte sich des Abenteurers. Er, der Stolze, vor welchem Alle, mit denen er zusammen getroffen, sich ehrerbietig gebeugt hatten, er, welcher sich so klug und mächtig gedünkt hatte, mußte die furchtbar demüthigende Einsicht gewinnen, daß er nur ein willenloses Werkzeug, ein Popanz, den man nach Belieben hin- und herbewegen kann, in der Hand seines vermeintlichen Gönners gewesen. Und mehr noch als diese bittere Erkenntniß, peinigte ihn die Gewißheit, daß er vorläufig dem Herzoge gegenüber vollkommen ohnmächtig wäre und nicht wagen durfte, gegen dessen Willen sich aufzulehnen. Dem Herzoge schien die Pein, der Ingrimm seines Opfers Vergnügen zu bereiten, so wenigstens hätte jeder urtheilen müssen, der das höhnisch lächelnde Gesicht desselben aufmerksam betrachtet haben würde. Der Zug spöttischer Freude verschwand jedoch blitzschnell und finsterer Ernst nahm seinen Platz ein, als der »Herr« aus dem dumpfen Brüten plötzlich emporblickte. »Sie werden nun wohl mein Verlangen in Erwägung gezogen und die Einsicht gewonnen haben, daß die Erfüllung desselben eine unumgängliche Nothwendigkeit ist,« rief der Herzog in rauhem, keinen Widerspruch ertragen558
dem Tone. »Die Gräfin muß, sobald sie in Wien eingetroffen ist wieder fortgeschafft werden. In Wien selbst sie von aller Welt abgeschieden zu halten, wird schon aus dem Grunde nicht angänglich sein, weil die Comtesse das nicht dulden würde. Sie werden demgemäß Sorge tragen, daß sie unverzüglich aus Wien gebracht wird. Lucie muß selbstverständlich hier zurückbleiben, da wir ihrer in nächster Zeit bedürfen.« »Sie wird die Mutter nicht schon wieder verlassen wollen.« »Sie wird nicht? Was heißt das? Sie muß sich fügen.« Der »Herr« fuhr auf. »Lucie zwingen? Nimmermehr!« Der Herzog blickte ihn durchdringend an, dann sagte er scharf und gemessen: »Wenn die Comtesse nicht freiwillig von der Mutter sich trennen will, dann werden Sie Gewalt anwenden. – Keine Einrede! Ich will es so, ich befehle es und Sie werden gehorchen, oder –« Er brach plötzlich ab, als er gewahrte, welchen erschreckenden Eindruck dieses schroffe Benehmen auf den »Herrn« hervorgebracht hatte. Die Mienen desselben hatten sich verzerrt; dunkle Röthe wechselte mit leichenfahler Blässe; die Hände hatten sich geballt, die Zähne fest in die Lippe gebissen. Rasch ging der Herzog auf den Abenteurer zu und legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm. »Sie fühlen sich verletzt,« sagte er in milderem Tonte, »doch lag mir die Absicht, Sie zu kränken, fern. Würde ich 559
Ihnen schon jetzt sagen dürfen, welches Motiv mich leitet, dann würden Sie mich anders beurtheilen. Ich kann Ihnen heute nur soviel sagen, daß die Sorge um Ihr Interesse mich nicht minder lebhaft kümmert, wie um mein eigenes. Ich glaube bemerkt zu haben, daß eine Neigung ernsterer Art Sie zu Lucie hinzieht. Sollte ich mich in dieser Annahme nicht täuschen, dann trachten Sie mit aller Macht darnach, die aufkeimende Liebe zu ersticken. Sie dürfen Lucie nicht lieben, niemals, niemals. – Forschen Sie nicht; noch ist der Zeitpunkt nicht gekommen, wo ich Ihnen enthüllen kann, welche unüberbrückbare Kluft Sie von der Comtesse trennt, wenn Sie es erfahren haben werden, dann wird sich Ihnen offenbaren, daß Sie einer frevlen Handlung sich schuldig machen, wenn Sie Lucien jene Liebe weihen, deren Endziel die Ehe ist – Und nun lassen Sie uns zur Gesellschaft gehen. Suchen Sie die geringfügige Zwistigkeit, die heute zwischen uns trat, zu vergessen. Noch sind wir nicht am Ziele angelangt, und wenn das auch der Fall wäre, würden wir doch gegen unser eigenstes Interesse handeln, wenn wir nicht, wie bisher, Freunde sein wollten.« Er ging hinaus. Der »Her«» überließ sich noch eine kleine Weile hindurch dem Eindrucke, welchen die geheimnißvollen Andeutungen des Herzogs auf ihn ausgeübt hatten. Welche Bedeutung lag denselben unter? Doch darüber nachgrübeln zu wollen, wäre Thorheit gewesen; vielleicht hatte der Herzog bezweckt, seine Gedanken auf ungewisse, fernliegende Gegenstände zu lenken, damit er in der Grübelei über vage Andeutungen den Unmuth vergäße und sich zur Unterordnung unter den Willen des Herzogs 560
gefügig zeige. Indeß diese Voraussetzung sollte sich als fälschlich erweisen. Der Abenteurer war vielmehr fest entschlossen, sich dem Joche, welches er bisher unwissentlich getragen hatte, zu entziehen, sobald er an dem erstrebten Ziele angelangt sein würde. Doch nun fort mit diesen Gedanken, die Furchen in seine Stirn zogen, fort mit den finsteren Wolken des Unmuths aus seinen Mienen, am heutigen Abend bedurfte er des Gleichmuths dringender, denn je zuvor, sollte er doch heute zum ersten Male der vornehmen Welt als Graf Szapary vorgestellt werden. Rasch ordnete er das in Unordnung geratene Costüm, die Tracht eines Minnesängers darstellend, nahm die Halbmaske vor das Gesicht und begab sich in den Festsaal. Während dieser ganzen Zeit hatte ein glühendes Augenpaar an ihm gehangen und jede seiner Bewegungen und Mienen scharf überwacht. Dieser verborgene Beobachter war der Herzog, welcher sich durch mehrere Zimmer in sein Schlafgemach verfügt hatte. Dieses stieß mit dem Arbeitszimmer zusammen und hatte statt der Zwischenthür eine Sammetportiere, die man nur ein wenig zu lüpfen brauchte, wenn man das Arbeitscabinet überblicken wollte. Hier lauschte und spähte der Herzog angestrengt, vielleicht der Hoffnung hingegeben, daß der »Herr« durch die stürmisch erregte Leidenschaft sich zu lautem Selbstgespräche hinreißen lassen würde, wie es heißblütige, in Exaltation gerathene Naturen gewöhnlich thun. Doch wurde er in dieser Erwartung betrogen. 561
Längere Zeit noch, nachdem der »Herr« das Arbeitszimmer verlassen hatte, schritt der Herzog, finster und nachdenklich, in demselben auf und nieder. »Er geht mit hinterlistigen Absichten um,« murmelte er; »der Knabe will seinen Meister überlisten, mich um die Früchte meiner Anstrengungen bringen. Der Thor! Ich könnte ihn in jedem mir beliebigen Augenblicke verderben, und ich werde es thun, aber nicht früher, als bis ich das vorgesteckte Ziel erreicht habe. Mein muß der ganze colossale Besitz der Szapary’s werden, mein bis zum letzten Heller. Fast dreißig Jahre lang habe ich darauf hingearbeitet, alle Hindernisse aus dem Wege geräumt und auch ihn werde ich vernichten, nachdem er seine Schuldigkeit gethan. Er ist ganz in meiner Gewalt, wenigstens so lange, als nicht ein tückischer Zufall ihn mit dem Geheimniß seines Lebens bekannt macht. Hoffentlich geschieht das nie, – nie. Sicher freilich fühle ich mich zu keiner Zeit; der Zufall hat oft seltsame Launen und er könnte die Documente – O diese Documente! Daß ich sie, trotz der unendlichen Mühe, die ich mir gegeben, nicht zu finden vermochte, vergällt mir das Dasein. Wo sie nur hingekommen sein mögen! Graf Koloman soll sie einem Freunde übergeben haben. Doch wer stand ihm so nahe, wie ich? Vor mir hatte er kein Geheimniß, meiner Freundschaft vertraute er in der kritischsten Lage seines Lebens sein Wohl und das seines Kindes an. Später freilich standen wir einander nicht mehr so nahe. Vielleicht faßte er doch Argwohn gegen mich, als der Knabe verschwand?!« 562
Er blieb nachdenklich stehen; nach einigen Minuten entriß er sich gewaltsam der Grübelei. »Fort mit den Gedanken an längstvergangene Zeiten,« rief er fast heftig. »Was sollen sie mir jetzt, wo ich am Ziele angelangt bin! Ich bin ein Thor, zu fürchten, daß die Documente jemals zum Vorschein kommen könnten. Habe ich sie nicht aufgefunden, trotzdem ich mir unendliche Mühe gegeben, so wird das einem Anderen gar nicht möglich sein. Überdies fragt es sich, ob irgend ein Mensch Kenntniß von der Existenz derselben hat. Ich möchte das Gegentheil glauben. Wenn Koloman sie einem Freunde übergeben haben würde, hätte dieser sicherlich sie schon dem obersten Gerichtshofe oder doch der Kabinetskanzlei vorgelegt. Sie werden irgendwo verwahrt sein und Derjenige, welcher den Versteck kannte, ist entweder gestorben oder er hat ihn dem alten Grafen verrathen. Und dieser ist todt! Die Documente werden also nie zum Vorschein kommen, wenigstens nicht früher, als bis ich durch die Verehelichung mit Lucie Szapary in unanfechtbarer legaler Weise Herr der Besitzthümer geworden bin. Lange werde ich nicht mehr zögern. Wenige Monate später, nachdem die Beiden als die rechtmäßigen Erben anerkannt worden sind, muß der Bursche verschwinden. Ich will ihm eine halbe, selbst eine ganze Million geben – Und wenn er trotzdem nicht will? – O, warum sollte er sich sträuben? Muß er, der Habenichts, sich nicht überglücklich schätzen, wenn ihm die Möglichkeit geboten wird, in Reichthum und Üppigkeit sein Leben hinzubringen? 563
Wenn er aber doch nicht weichen will? – Der Polizei ihn zu überliefern, ist unmöglich. – Fast könnte ich mit dem deutschen Dichter sagen: Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los. Doch was sollte ich thun? Die bittere Nothwendigkeit zwang mich ja, ihn zu rufen. Die Szapary’schen Traditionen bestimmen, daß wenn der Letzte der Szapary’s ohne männliche Erben stirbt, die Hinterlassenschaft nur dann an eine etwa vorhandene Tochter fallen darf, wenn dieselbe mit einem Gemahl aus altem Adel verehelicht und durch den letzten männlichen Sproß zur Erbin erklärt worden ist. Graf Koloman konnte ein solches Testament nicht hinterlassen, weil er ja nicht genau wußte, ob sein Sohn aus erster Ehe noch am Leben sich befände. Wenn Luciens Bruder stirbt und testamentarisch seine Schwester zur Erbin einsetzt, dann ist der Tradition Genüge geschehen und der Kaiser wird seine Sanction um so weniger verweigern, als keine Nebenlinie existirt. Und Luciens Bruder wird sterben! Wenn ich ihm offenbare, daß seine Liebe zu Lucien ein Frevel – Darf ich ihn denn aber auch einweihen? Es ist ein abscheuliches Dilemma, aus welchem ich mich nur mit riesiger Anstrengung werde herauswinden können. Doch ich werde schon einen Ausweg finden. Der Preis, welcher meiner wartet, ist jeder Mühe werth.« Er unterbrach sich plötzlich. An die Außenthür wurde leise gepocht. Der Herzog öffnete sie. Ein Mann, der sich derartig in einen Mantel gehüllt hatte, daß weder seine Kleidung noch sein Gesicht zu erkennen waren, trat rasch in das Zimmer. Als er mit hastiger Bewegung den Kragen 564
zurückschlug, kam ein Gesicht zum Vorschein, welches den unverkennbaren Typus der Zigeunerrace aufwies. »Nun, Pista, bringst Du gute Kunde?« fragte der Herzog. »Gute, gnädigster Herr. Vor anderthalb Stunden traf Walther auf dem Staatsbahnhofe ein.« »Doch mit den Frauen?« »Zwei Damen waren bei ihm, die Comtesse Szapary und eine alte, leidende Dame, die so schwach war, daß Walther sie fast zum Wagen tragen mußte.« »Wo kehrten sie ein?« »Im Victoria-Hotel. – Walther blieb nur kurze Zeit dort. Dann fuhr er nach der Wohnung des »Herrn« und von dort wenige Minuten später nach einer Masken-Leihanstalt.« »Ah, man wird ihm gesagt haben, wo er seinen Freund antreffen kann.« Pista nickte eifrig. »,So ist es. Walther befindet sich bereits im Festsaale.« »Blitz! Welches Costüm trägt er?« »Das eines Magiers.« Der Herzog eilte in den Festsaal. Unfern des Eingangs blieb er stehen. Sein Blick schweifte durch den Saal. Es waren mehrere Minnesänger anwesend, doch der, welchen er suchte, trug eine himmelblaue Schärpe und auf ihr in goldenen Buchstaben die Devise: Meinem Lieb’ mein Lied. Fast genau in der Mitte des großen Saales leuchtete die blaue Schärpe hervor. Zwei reizende italienische Blumenmädchen hatten sich dem Minnesänger zugesellt und 565
führten, wie es schien, ein hitziges Wortgeplänkel mit ihm. Von der entgegengesetzten Seite des Saales schritt soeben mit gravitätischem Gruße ein Magier, leicht kenntlich an der viereckigen hohen Mütze, dem langen, faltigen Talare und dem riesigen silberweißen Barte, auf den Minnesänger zu. Daß Walther es sein müsse, erkannte der Herzog an der hohen Gestalt. Schnell und gewandt glitt er durch das Gewimmel; noch bevor der Magier den Minnesänger erreicht hatte, stand der Herzog unfern desselben. Neben ihm befand sich eine behäbige Gestalt in der reichen faltigen Tracht eines Janitscharen-Agas, einem prächtigen, pelzbesetzten Kaftan und einer kegelförmigen Mütze mit Reiherbusch; er hatte keine Maske vorgebunden, sondern nur eine große Nase vorgesteckt und einen dichten schwarzen Bart umgeheftet, der sein dunkles, blitzendes Auge und den kühnen Schnitt seines Gesichts noch mehr hervorhob. Dem Herzog wollte es bedünken, daß dieses Gesicht einem seiner vertrauten Bekannten angehören müsse; verstohlen, doch scharf musterte er es und war im nächsten Augenblicke nicht mehr im Zweifel darüber, daß der Oberinspector Stehling in dem Aga-Costüme stecke. Dieser achtete nicht auf den Herzog, sondern lauschte mit offenbarem Vergnügen den witzsprühenden Neckereien, die zwischen den Blumenmädchen und dem Minnesänger hin- und herflogen. Endlich war der Magier dem Minnesänger nahe gekommen und redete ihn also an: »Sänger der Liebe! Eine Königstochter sendet mich, um Dich zu ihr zu geleiten, damit durch Deine süßen Weisen 566
Du ihr Herz entzücken möchtest. Folge mir; reicher Minnelohn erwartet Dich.« Der Minnesänger war heftig aufgefahren, als er die Stimme des Magiers vernahm, doch alsbald bezwang er seine Aufregung und seine Stimme erklang fest, als er sagte: »Ich bin bereit, mit Dir zu gehen, weiser Magier. Führe mich zu Deiner Gebieterin; meine zartesten Lieder sollen sich in ihr Herz schmeicheln, um es mir geneigt zu stimmen.« Doch die Blumenmädchen ließen ihn nicht sofort ziehen, komische Klagen und Vorwürfe wurden ihm in reicher Fülle bescheert, bis die holden Kinder sich endlich mit dem feierlichen Versprechen, daß der flatternde Schmetterling, nachdem er mit der stolzen Königsblume gekost, zu ihnen, den bescheidenen Gänseblümchen, zurückkehren würde, zufrieden gaben. Der Herzog hatte auf die scherzhaften Impromptus nicht geachtet, denn seine ganze Aufmerksamkeit wurde durch Stehlings Gebahren in Anspruch genommen. Der Chef des Detektives-Corps zuckte, als er Walthers Stimme vernahm, unverkennbar zusammen und versank dann in angestrengtes Nachsinnen. Der Herzog stellte sich dicht hinter ihn und lauschte, scheinbar das Gewühl betrachtend, denn er kannte die Eigenthümlichkeit des gewaltigen Polizeibeamten, in wichtigen Fällen Selbstgespräche zu halten. Seine Hoffnung, daß Stehling dieser Gewohnheit auch heute treu bleiben würde, erwies sich nicht als illusorisch. »Diese Stimme,« hörte er den Beamten murmeln, »habe ich schon einmal gehört und zwar muß ich sie in 567
einer außergewöhnlichen Situation gehört haben, denn sonst würde ihr Klang sich nicht so fest mir eingeprägt haben, daß er mir sofort wieder auffallen konnte. Aber wann, wo habe ich sie vernommen?« Er blieb eine kurze Weile hindurch still, die Blicke starr auf den Boden geheftet und der Sticheleien nicht achtend, mit denen einige der vorüberwandelnden Masken ihn regalirten. Der Herzog lauschte in fieberhafter Spannung. Plötzlich fuhr Stehling jäh empor. »Ich hab’s,« rief er so laut, daß mehr denn Einer verwundert stehen blieb; »Einer von den drei verwegenen Burschen, die mir die Brieftasche des »Herrn« wieder abnahmen, hatte eine Stimme, die genau so klang, wie – . Aber sollte ein Gauner in diese Gesellschaft Eingang gefunden haben? – Nun, warum denn nicht? Ein Schwindler mit aristokratischem Namen und Wesen schmuggelt sich ja ohne Schwierigkeit selbst in die vornehmsten Kreise hinein. Jedenfalls muß ich das Gesicht des Magiers sehen. Die Züge des Gauners mit jener markanten Stimme würde ich auf der Stelle wiedererkennen.« Er eilte, Walther und den »Herrn« unaufhörlich im Auge behaltend, nach dem Haupteingange. Der Herzog dagegen begab sich schleunigst in das Büffet. Dort wollte ihn seine derzeitige Dulcinea, eine Dame aus guter Familie, aber mit nicht so gutem Rufe, erwarten. Er fand sie auch, schmollend über sein langes Ausbleiben. Der Herzog flüsterte ihr einige Worte zu, die eine urplötzliche und vollständige Wandlung in dem Gebahren der Dame hervorriefen. 568
Hastig stand sie auf und eilte zur Saalthür. »Wo sind sie?« fragte sie eifrig. »Dort, Camilla, genau unter dem kleineren Kronleuchter.« »Der Minnesänger mit der blauen Schärpe?« »Ja ganz recht.« »Und wo ist der Ober-Inspector?« Der Herzog ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Dann ergriff er Camilla’s Arm mit krampfhaftem Drucke. »Siehst Du einige Schritte seitwärts von der Hauptthür den Janitscharen-Aga?« »Gewiß; ist das –« »Es ist der Ober-Inspector, und die beiden neben ihm stehenden Tiroler Schützen sind unzweifelhaft Polizeibeamte, Detectives. Schau’ nur, wie eifrig alle drei spähen. Noch haben sie den Magier nicht wiedergefunden. – Eile, Camilla, eile! – Sage ihnen, daß sie über die Hintertreppe in den Garten –« Schon hatte Camilla ihn verlassen. So schnell wie ein flüchtiges Reh, aber auch glatt wie eine Schlange wand sie sich durch das Gedränge, während der Herzog, ihr halb mit Besorgniß, halb mit Befriedigung nachblickend, unbeweglich auf seinem Platze, der ihm einen trefflichen Überblick über den Saal gewährte, stehen blieb und sich wenig erquicklichen Gedanken überließ. Wie kam es, daß in dieser illustren Gesellschaft Polizeibeamte anwesend sein konnten? Der Festgeber hatte nur wenige der hochgestelltesten Beamten dieser Behörde eingeladen und er wußte, daß keiner derselben in Tiroler Tracht erschienen sei. Wel569
che Motive mochten den Ober-Inspector bestimmt haben, einige seiner Untergebenen, wahrscheinlich unter falschen Namen, in die Gesellschaft einzuschmuggeln? Hatte er Argwohn gegen den Herzog gefaßt? Unmöglich war es nicht. Stehling kannte ja den Inhalt der Schriftstücke, welche in der Brieftasche des »Herrn« enthalten gewesen waren. Der Herzog hatte allerdings eine Erklärung geliefert, die nicht unglaubwürdig war, aber ein so schlauer Fuchs, wie der Chef des Detectives-Corps, ließ sich zweifellos nicht so leicht von einer Fährte, die er entdeckt zu haben glaubte, abbringen. Ein Rest des Argwohns mußte in Stehling’s Seele zurückgeblieben sein. Zu welchem Zwecke er seine Untergebenen mitgebracht haben konnte, ließ sich allerdings dessenungeachtet nicht recht erklären. Einen bestimmten hatte er wohl auch nicht im Auge gehabt; wahrscheinlich sollten die Detectives nur sorgfältige Beobachtungen machen. Der böse Zufall fügte es nun so, daß Stehling eine wichtige Entdeckung machen mußte. Wenn er Walther erwischte, dann würde nicht nur der »Herr«, sondern auch der Herzog selbst arg blosgestellt, denn selbstverständlich mußte die Polizei Verdacht gegen alle Personen fassen, die mit einem notorischen Gauner, dem Hauptmitgliede einer gefährlichen Bande, verkehrten. Es war deshalb begreiflich, daß der Herzog mit höchster Spannung nach den Freunden und deren Verfolgern ausblickte. Die Ersteren waren endlich durch das dichteste Gewühl hindurchgekommen und schritten nun rasch auf eine Thür zu, die in einen Corridor führte. Am Ende desselben befand sich ein Gemach, aus welchem eine geheime Thür den Ausgang auf 570
eine nach dem Garten führende Treppe gestattete. Der »Herr« kannte diese Einrichtung und wählte diesen Weg, weil ihm daran gelegen war, unbeobachtet aus dem Palaste zu gelangen, wenn die in den Documenten enthaltenen Nachrichten von solcher Natur waren, daß sie ihn zu sehr aufregten. In dieser Stimmung konnte er sich der Gesellschaft nicht vorstellen lassen. Die Durchlesung bis nach der Beendung des Festes aufzuschieben, ging über seine Kraft. Eine unwiderstehliche Macht drängte ihn zu der Lectüre; ihm war, als wenn die Enthüllungen, die ihm zu‘ Theil werden sollten, eine vollständige Umgestaltung seines ganzen Lebens herbeiführen müßten. Schon Walthers Mittheilung, daß er die Documente bei sich habe, hatte den »Herrn« in unbeschreibliche Erregung versetzt; er achtete seitdem auf Nichts mehr und auch Walther war viel zu sehr mit den Gedanken über die zweifellos hochwichtigen Aufschlüsse, welche die Documente geben würden, beschäftigt, um nicht seine Kaltblütigkeit zum Theil einzubüßen. Beide bemerkten deshalb nicht, wie eine dunkle Gestalt sich, als sie in den Corridor eintreten wollten, hinter der Thür zusammendrückte, dann aber mit auffallender Eile in ein Nebenzimmer ging. Es war Pista, der getreue Famulus des Herzogs, einer der trefflichsten Spürhunde Wiens. Er hatte sich unmittelbar nach dem Herzoge, nur auf einem anderen Wege als sein Herr, nach dem Festsaale begeben und den Magier unausgesetzt im Auge behalten. Da er mit Recht vermuthete, daß Walther seinem Freunde manches Wichtige mitzutheilen haben würde, so beschloß er die Beiden zu belauschen. Nachdem er die Gewißheit 571
erlangt hatte, daß die Freunde sich in das Gartenzimmer begeben würden, eilte er so schleunig als möglich nach der Hintertreppe, um an der geheimen Thür zu horchen. Das Gemach, in welches die Freunde eintraten, war geräumig; seine drei hohen Fenster gewährten einen Überblick über einen großen, wohlgepflegten, jetzt freilich verödeten Garten. Es hatte nur einen Tisch, dagegen rings an den Wänden breite, üppige Divans und empfing nur durch eine einzige Ampel ein schwaches Licht. Zahlreiche galante Abenteuer hatten in ihm sich abgewickelt; heute war es noch leer. Erst nach dem Souper, wenn der Champagner die Köpfe erhitzt hatte, wurde es von manchem Pärchen aufgesucht. Daß es einen geheimen Ausgang habe, war nur Wenigen bekannt. Walther hatte bereits auf dem Wege nach dem Gartenzimmer dem »Herrn« in gedrängter Kürze mitgetheilt, wie es ihm möglich geworden, Lucie und deren Mutter aufzufinden. Der Abenteurer hatte nur gefragt, ob Lucien’s Wohlbefinden nicht gelitten habe, und als Walther ihm darüber befriedigende Auskunft ertheilte, die Documente gefordert. Walther zog hurtig das Päckchen aus dem Talare. »Hier sind sie!« sagte er bewegt. »Ich meine, daß sie eine Nachricht von unschätzbarer Wichtigkeit enthalten werden. Daß das Geschick sie gerade in meine Hände fallen ließ, drängt mir die Muthmaßung auf, daß der Inhalt derselben irgend welchen Bezug auf Sie haben muß.« Der »Herr« lächelte. »Wie wäre das möglich, lieber Freund?« 572
»Hm, eine Möglichkeit ließe sich schon denken. Ihre wunderbare Ähnlichkeit mit dem Grafen Koloman —« »Eine Laune der Natur, wie sie ja mehrfach von der Schöpferin alles Lebens geliebt wird. Ich ziehe aus dem Umstande, daß die Documente in unsern Besitz gekommen sind, einen ganz anderen Schluß, nämlich, daß die Auskunft, welche sie ertheilen werden, mir entweder Segen bringen, die schließliche Erfüllung meiner kühnen Pläne und meiner Herzenswünsche ermöglichen oder mich dem Verderben zutreiben werde.« Walther machte eine abwehrende Geste, der Abenteurer ließ ihn nicht zum Worte kommen, sondern rief hastig: »Wozu die kostbare Zeit mit vagen Vermuthungen vergeuden? Wir werden ja nach wenigen Minuten Gewißheit haben. Ich will die Documente sofort durchsehen; die Ungewißheit beengt mich und dann sehne ich mich auch, Lucie wiederzusehen.« Er betrachtete aufmerksam die auf der Umhüllung angebrachten Siegel, dann schickte er sich an, sie zu durchschneiden, aber er ließ das Päckchen auf den Tisch fallen, wie wenn ihm die Kraft zu dieser leichten Verrichtung fehle. »Seltsam,« murmelte er, »War es mir doch, als wenn eine Donnerstimme mir zugerufen hätte: Dringe nicht in das Geheimniß; es schleudert Dich der Vernichtung zu. Bleibe lieber im Dunklen; nur dann kannst Du das vorgesteckte hohe Ziel erreichen.« Dann richtete er sich straff auf und griff energisch nach dem Packet. 573
»Ich will wissen, was darin enthalten ist,« rief er entschlossen. »Wenn auch aus diesen Papieren der Tod mich anhauchen sollte, will ich sie trotzdem lesen.« Er schnitt schnell die Umhüllung auf und nahm ein Document heraus. »Was ist das?« rief er hoch erstaunt, nachdem er einen flüchtigen Blick auf die Aufschrift geworfen hatte. »Welcher wunderbare Umstand! Denke Dir Walther, mein erster Blick fällt auf den Namen – meines Gönners! Höre nur; die Aufschrift lautet: Aussage des Herzogs von Taschlydschja vor dem Oberlandesgerichte in Kronstadt.« Walther nickte bedeutungsvoll. »Ich bleibe bei meiner Muthmaßung stehen,« sagte er dann nachdrücklich. »Die Aufschlüsse dieser Documente –« Er brach plötzlich ab. Flüchtige, leise Schritte kamen durch den Corridor herbei. »Ich habe vergessen, die Thür zu schließen,« rief Walther und schickte sich an, das Versäumte nachzuholen. Doch schon war es zu spät. Die Thür wurde heftig aufgerissen und Camilla stürzte herein. »Flieht,« rief sie. »Die Polizei fahndet nach Euch; sie ist mir auf der Ferse.« »Die Polizei?« wiederholte betroffen der Abenteurer. Camilla wandte sich zu Walther. »Der Ober-Inspector Stehling hat Sie an der Stimme erkannt.« Walther schlug sich vor die Stirn. »O über meine Unvorsichtigkeit! Diese Möglichkeit hätte ich vorausbedenken sollen.« 574
»Fort!« rief Camilla in höchster Angst. »Sie kommen!« In der That erschallten auf dem Corridor die Tritte mehrerer Männer. Der Abenteurer raffte die Documente auf, barg sie in der Brieftasche, eilte zur Thür und öffnete sie durch einen Druck auf die Feder. »Folge mir, Walther!« rief er und eilte hinaus. Pista, welchem kein Wort von dem, was im Gemache gesprochen, entgangen war, sprang blitzschnell zur Seite, warf jedoch, als der Abenteurer kaum hinausgetreten war, die Thür wieder zu, ob unabsichtlich durch eine unwillkürliche rasche Bewegung oder absichtlich, vielleicht aus dem Grunde, um die Polizei von der Verfolgung des Abenteurers abzuhalten, vielleicht auch in der Hoffnung, dem »Herrn« im nachtschwarzen Garten die Documente wegnehmen zu können, das muß unentschieden bleiben. Der Glücksritter eilte, ohne sich umzublicken, die Treppe hinab, in der Meinung, daß der ihm Folgende Walther wäre. Erst als er durch die Außenpforte getreten war, drehte er sich um und erkannte Pista. »Wo ist Walther?« rief er erschrocken. Pista zuckte die Achseln. »Zurückgeblieben,« antwortete er lakonisch. »Dann fällt der Unglückliche ja der Polizei in die Hände,« rief der »Herr« erregt. »Ich muß ihn befreien. Lieber will ich mich von den Spürhunden niederschießen, als meinen treuesten Freund in ihrer Gewalt lassen.« Fortse~ung folgt. 575
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr.35
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
E
s schien, als wenn Pista den » Herrn « zurückhalten wolle, doch dieser sprang windschnell die Treppe empor. Walther war nicht sofort dem Freunde gefolgt, sondern zunächst nach der Corridorthür geeilt, um sie zu verriegeln. Dann wollte er durch die geheime Thür, fand sie jedoch versperrt. Hätte er nicht eben erst den Freund hinaustreten gesehen, dann würde er an der Existenz dieser Thür sicherlich gezweifelt haben, denn sie war so künstlich in die Mauer gefügt, daß auch nicht der winzigste Spalt bemerkbar war. Walther hatte sich in diesem Gemache noch nie aufgehalten, wußte mithin auch nicht, an welcher Stelle die Feder sich befand. Eifrig suchte er nach ihr, natürlich ohne sie zu finden; er wußte nicht einmal, ob er an der Stelle, wo die Thür eingefügt war, umhertaste. 576
»Können Sie die Thür öffnen?» fragte er leise die Dame, welche angstvoll nach dem Corridore hin gelauscht und Walthers Gebahren nicht beachtet hatte. Als er sie anredete, erschrak sie heftig. »Sie noch hier?« rief sie mit bebenden Lippen. »Ich glaubte Sie längst fort.« »Die Thür ist zugefallen und ich finde die Feder nicht. Ist Ihnen der Mechanismus bekannt?« Camilla nickte und trat zur Thür. In demselben Augenblicke pochte Stehling an die Corridorthür und rief mit Stentorstimme: »Aufgemacht, im Namen des Gesetzes!« Camilla’s Bestürzung wurde so groß, daß der ohnehin nicht sonderlich energischen Dame die Besonnenheit vollständig verloren ging. Ihre Augen umflorten sich, sodaß sie die Stelle, an welcher die Feder angebracht war, nicht zu erkennen vermochte. Mit zitternder Hand tastete sie umher, – umsonst. Stehling, dessen Verdacht durch die Erfolglosigkeit seines Gebots bestärkt wurde, schlug heftig gegen die Thür und befahl drohend: »Öffnet, oder wir sprengen die Thür!« Camilla ließ die Hand sinken. Der Schreck hatte ihre Glieder gelähmt und fast wäre sie einer Anwandlung von Ohnmacht erlegen, als Stehling mit dem Fuße gegen die Thür trat, sodaß dieselbe bedenklich krachte. Walther erkannte sofort, daß die Thür, welche nur aus dünnen, mit Tapeten überkleideten Brettern bestand, nach einigen kräftigen Stößen zerbrechen müßte, und ebenso577
wenig konnte ihm entgehen, daß Camilla sich nicht schnell genug erholen würde, um die Feder aufsuchen zu können. Sollte er sich der Polizei ergeben? Die Folgen mußten verhängnißvoll werden. Nicht nur wurde der Herzog arg compromittirt, sondern auch der angebliche Erbprätendent als Schwindler und Gauner entlarvt. Denn es unterlag nicht dem mindesten Zweifel, daß die Polizei eifrig danach forschen würde, mit wem Walther im Saale zusammengetroffen und nach dem Gartenzimmer gegangen sei. Das herauszubekommen, konnte ihr nicht schwer fallen, weil mehr als Einer wußte, daß der angebliche Graf Szapary das Costüm des Minnesängers mit der Devise: »Meinem Lieb’ mein Lied« trug. Die nächste Folge der Nachforschungen mußte dann die sein, daß die Polizei Verdacht gegen den Abenteurer faßte, und war dieser einmal vorhanden, dann konnte er auch die schlimmsten Früchte tragen. Walther, der den »Herrn« liebte, wie man nur seinen treuesten Freund lieben kann, schauderte bei der Vorstellung, welche verderblichen Folgen für den »Herrn« seine Verhaftung nach sich ziehen müßte. Lieber wollte er todt sein, als an dem Freunde, wenn auch unfreiwillig, zum Verräther werden. Rasch ging er zum Fenster, öffnete es und blickte hinaus. Ein Sprung in den Garten war unmöglich. Die Tiefe war so beträchtlich, daß die Wipfel einiger Spitzpappeln gerade bis zum Fenstersims reichten. Eine kühne Idee entstand in Walthers Gehirn, die Idee, zu versuchen, ob er an einem Baume hinuntergleiten könnte. Es war das ein tollkühnes Wagniß, denn die Wipfel der Pappeln hatten nur eine ge578
ringe Stärke, die kaum im Stande schien, einen so schweren Mann, wie Walther es war, zu tragen. Trotzdem mußte es unternommen werden; die Polizisten stemmten sich mit aller Macht gegen die Thür und in der nächsten Minute mußten sie im Zimmer sein. Entschlossen eilte Walther zu Camilla zurück, zog sie an das Fenster und flüsterte ihr zu: »Schließen Sie das Fenster, sobald ich hinaus bin.« Camilla wurde leichenblaß. »Dort hinunter wollen Sie,« stammelte sie entsetzt; »o Himmel, das ist Ihr Tod!« Walther achtete nicht auf sie, sondern schwang sich auf die Brüstung und trat auf den breiten Sims hinaus. »Verschließen Sie das Fenster,« rief er nochmals gebieterisch, und mechanisch gehorchte Camilla. Dann wankte sie zum Divan, sank auf denselben und harrte angstvoll der tragischen Entwicklung, die nach ihrer Meinung nicht ausbleiben konnte. Kaum hatte sie sich niedergelassen, als der »Herr« behutsam die geheime Thür öffnete. Ein rascher Blick belehrte ihn, daß Walther nicht mehr im Zimmer anwesend sei. Da keine anderen Ausgänge vorhanden waren, so konnte der Abenteurer sich nicht sofort denken, auf welchem Wege Walther das Gemach verlassen habe. Schon war er im Begriffe, Camilla, die seine Ahnung davon hatte, daß die geheime Thür offen stände, um Auskunft zu fragen, als die Corridorthür mit mäßigem Krachen zusammenbrach. Geräuschlos schloß der Abenteurer die Thür und ging die Treppe hinab, voll quälender Unruhe über Walt579
hers auffälliges Verschwinden. »Wo kann er nur geblieben sein?«murmelte er. »Es ist mir unbegreiflich, wie er aus dem Zimmer gelangen konnte.« Plötzlich blieb er wie gelähmt stehen; es war, als wenn ein Stich ihn mitten in das Herz getroffen hätte, so heftig drückte er beide Hände auf dasselbe, – die richtige Vermuthung war ihm in den Sinn gekommen. »Heiliger Gott,« stammelte er, »dieses furchtbare Wagstück wird er doch nicht unternommen haben? Es müßte ihm Verderben bringen.« In rasender Eile sprang er die Treppe vollends hinab. Walther hatte inzwischen das schaurige Wagniß begonnen. Er ließ sich behutsam auf den Sims nieder und suchte die Füße auf die obersten Zweige einer Pappel zu stellen. Das gelang ihm auch, da der Wipfel des Baumes kaum einen halben Meter vom Fenster entfernt war, aber die Spitze bog sich in bedenklicher Weise. So lange jedoch der kühne Mann sich an der vorspringenden Kante des Fensterkopfes anklammern konnte, hielt er sich aufrecht und es gelang Walther sogar, soweit herabzurutschen, daß nur noch sein Kopf über den Sims hinausragte. In dieser gefährlichen Stellung wurde er Zeuge dessen, was im Zimmer vorging. Die drei Polizeibeamten kamen, nachdem die Thür aus den Fugen gegangen, hineingestürmt, sahen sich aber in ihren Erwartungen arg getäuscht, als sie nur Camilla im Gemache anwesend fanden. Der Ober-Inspector ließ seinem Unmuthe freien Lauf. Er hatte in der auf dem Divan Sitzenden sofort die Courtisane des Herzogs erkannt und hielt sich ihr gegenüber wohl nicht zu jenen Rücksichten 580
verpflichtet, die er unter ähnlichen Umständen ehrbaren Frauen kaum versagt hätte. »Wo sind die beiden Masken?« fragte er barsch. Camilla, deren Gesicht von heller Röthe übergossen wurde, gewann durch den aufkeimenden Zorn die verlorene Fassung wieder. »Ihre Frage kann ich nicht beantworten, weil sie mir unverständlich ist,« entgegnete sie piquirt. »Welche Masken meinen Sie?« »Den Minnesänger und den Magier.« »Diese beiden Masken habe ich nicht bemerkt.« »Sie sind doch kurz nach ihnen in dieses Zimmer gegangen.« »Habe sie hier jedoch nicht angetroffen.« Der Ober-Inspector sah sie durchdringend an; sie schlug die Augen nicht nieder. Vielleicht, dachte Stehling, redet sie die Wahrheit. – Es ist ja möglich,, daß die Beiden nur in dieses Zimmer gegangen sind, um es sofort wieder durch einen geheimen Ausgang, der unzweifelhaft existirt, zu verlassen. Auffallend freilich bleibt der Umstand, daß das Mädchen die Thür nicht öffnete. – Er wandte sich wieder zu Camilla. »Warum öffneten Sie nicht, als ich anpochte?« fragte er. »Ich war vor Bestürzung dazu nicht fähig.« »Aus welchem Grunde haben Sie den Riegel vorgeschoben?« »Darüber Ihnen Auskunft zu ertheilen, fühle ich mich nicht verpflichtet,« rief mit gut gespielter Entrüstung die Dame. Doch Stehling war nicht so leicht abzuschrecken. 581
»Trotzdem muß ich darauf bestehen, daß Sie meine Frage beantworten. Sie sind bald nach den Masken, die ich für Gauner halten muß, in dieses Zimmer gegangen; trotzdem ist dasselbe leer. Wenn Sie allein hier gewesen wären, hätten Sie nicht den Riegel vorzuschieben brauchen. Ich frage deshalb: wer war mit Ihnen in diesem Gemache, ehe wir hineingedrungen sind?« Camilla erhob sich und rief empört: »Mein Herr, Sie gehen zu weit. Ich bin Ihnen über mein Thun und Lassen keine Rechenschaft schuldig und werde deshalb Ihre seltsamen Fragen keiner Antwort mehr würdigen, sondern mich zum Herrn Herzog von Taschlydschja begeben und ihm mittheilen, in welcher schnöden Weise man seine Gastfreundschaft mißbraucht und seine Gäste beschimpft.« Sie wollte hinaus; der Ober-Inspector vertrat ihr den Weg. »Ich handle nur gemäß den Pflichten, die mein Amt mir auferlegt, und werde mein Verfahren vor Jedem verantworten. Ich glaube einem gefährlichen Gauner auf der Spur zu sein, die bis in dieses Zimmer führt. Von hier muß derselbe sich durch eine geheime Thür fortbegeben haben. Zeigen Sie mir dieselbe.« »Mir ist keine bekannt.« »Ich bin vom Gegentheile überzeugt. Sie, die vertraute Freundin des Herzogs, werden zweifellos die Einrichtung seiner Wohnung genau kennen.« Camilla wurde bald blaß, bald roth. Ihre Augen sprühten Flammenblitze. Einen derben Schimpfnamen durch die Zähne zischend, eilte sie hinaus. Das kurze Gespräch hatte nur den Zeitraum weniger Minuten ausgefüllt. Dem 582
Ober-Inspector erschien es über jeden Zweifel erhaben, daß der Magier Walther gewesen und durch eine geheime Thür geflüchtet sei, als Stehling die Aufforderung zum Öffnen der Corridorthür erließ. Der Beamte verwünschte seine Unvorsichtigkeit; in der Hitze der Verfolgung hatte er nicht daran gedacht, daß aus dem Gartenzimmer noch ein zweiter Ausgang möglich sein könne. Da er natürlich nicht ahnen konnte, daß die Verfolgten gewarnt worden seien, so meinte er, daß er sie erwischt haben würde, wenn er sich ganz ruhig verhalten hätte, bis sie das Gemach wieder verließen. Doch was half jetzt der Unmuth über die begangene Unklugheit; es galt zu handeln und zwar schnell zu handeln. Durch das Fenster zu blicken, fiel dem Beamten nicht ein; er wußte ja, daß ein Sprung aus demselben unmöglich wäre. Er befahl seinen Leuten, sich durch Pochen an den Wänden zu überführen, ob irgendwo eine Thür vorhanden. Wenn sie dieselbe gefunden hätten, sollten sie sie ohne Umstände einbrechen; er selbst wollte in den Garten hinabeilen, um, wenn möglich, von dort her bis nach dem Gemache vorzudringen. Dieser Absicht gemäß handelte er auch. Walther hatte mit banger Erwartung des Abschlusses geharrt, welchen die im Zimmer sich abspielende Scene nehmen würde. Er gab sich der Hoffnung hin, daß alle drei Polizisten hinauseilen würden. Dann hätte er sich hinaufziehen, eine Scheibe zerschmettern, das Fenster öffnen und durch eine Reihe von Nebengemächern flüchten können. Mit Schmerz und Entsetzen gewahrte er, daß seine Hoffnung nicht in Erfüllung ging. Er sah, wie die Beamten 583
an den Wänden pochten, – jede Secunde dünkte ihm eine Ewigkeit. Krampfhaft klammerte er sich mit den Händen an die Kante, doch bald erstarrten dieselben und auch der Körper, durch das leichte Maskencostüm nur dürftig gegen die eisige Kälte geschützt, erschauerte im Frost. Endlich vermochte der Unglückliche sich nicht mehr festzuhalten. Er wollte sich vorsichtig loslassen und die Baumkrone zu umklammern suchen, aber diese bog sich, sobald Walther den Oberkörper nicht mehr emporzog, tief nieder, der Unglückliche verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in die Tiefe. Als der »Herr« wieder in den Garten getreten war, schloß Pista die Thür, um den Polizisten, wenn sie die geheime Thür auffinden und an dieser Stelle in den Park dringen sollten, ein Hinderniß entgegen zu stellen. Der Abenteurer starrte nach den Fenstern des Zimmers hinauf und sein Blut stockte. Trotz der schwarzen Finsterniß erkannte er die dunkle Gestalt des Freundes in der Baumspitze. Verzweifelt preßte er die Hände zusammen. Ihm war es nicht zweifelhaft, daß Walther das entsetzliche Wagniß nicht mit glücklichem Erfolge würde vollbringen können. Sollte er seinen liebsten Freund dem sicheren Verderben anheimfallen lassen? Das Herz krampfte sich ihm zusammen, wenn er bedachte, daß ja keine Möglichkeit vorhanden wäre, Walther zu retten. – Doch ja, eine gab es, – er mußte hinauf, sich und den Freund der Polizei überliefern. Ohne Überlegung eilte er an die Thür, – sie war verschlossen. »Wo ist der Schlüssel?» keuchte er. 584
»Ich habe ihn zu mir gesteckt,« entgegnete Pista, der nicht von der Seite des Abenteurers wich. »Geben Sie ihn her, schnell, schnell!« »Wozu?« »Ich muß hinauf, um Walther zu retten. Er steht im Baumgipfel, – ein einziges leises Schwanken und Walther stürzt in die Tiefe.« »Es wird nicht so schlimm werden. Herr Walther ist kräftig und gewandt und wird sicherlich am Baume hinuntergleiten können.« »Er wird es nicht, weil die Spitze des Baumes zu schwach ist, um seine Last zu tragen. – Her mit dem Schlüssel!« Der Zigeuner zuckte die Achseln. »Ich kann Ihnen denselben nicht geben. Sie würden hinauf und der Polizei in die Hände fallen, was ich schon im Interesse des Herrn Herzogs verhüten muß.« Der Abenteurer, durch diesen Widerstand auf das Höchste gereizt, stürzte sich gegen Pista und nun würde ein erbitterter Ringkampf sich entsponnen haben, wenn nicht die schreckliche Katastrophe erfolgt wäre. Walther stürzte auf den Rasen und zwar mit so furchtbarer Gewalt, daß sein Schädel zerschmettert wurde und er sofort den Geist aushauchte. Aus tiefster Brust ächzend, sank der »Herr«‘ neben dem Entseelten hin und ergriff dessen Hand. Er fand keine Worte, keine Thräne – sein Schmerz war zu heftig. Wie zu Stein geworden kniete er an der Leiche. Diesen Augenblick hielt Pista für günstig, um sich der Documente zu bemächtigen. Mit der Gewandtheit und 585
Schnelligkeit eines erfahrenen Taschendiebes machte er sich an das Werk, doch es mißlang. Der Abenteurer spürte den Druck der Hand Pista’s in seiner Brusttasche und urplötzlich wich die Lethargie der wildesten Leidenschaftlichkeit. »Darauf also war es abgesehen, Du Hallunke,« schrie er ingrimmig auf, sprang empor und versetzte dem Zigeuner einen so wuchtigen Schlag, daß Pista mehrere Schritte zurücktaumelte. »Du hast uns belauscht und –« Wie ein Blitzstrahl durchzuckte ihn der Gedanke, daß Pista die geheime Thür geschlossen haben müsse; er war ja unmittelbar hinter ihm die Treppe hinabgeeilt, hatte mithin zweifellos an der Thür gelauscht. Vielleicht hatte er die Tapetenthür nur zu dem Zwecke verschlossen, um zu verhindern, daß Walther den Freund begleite, weil dann die Bestehlung des »Herrn« unmöglich gewesen wäre. Das heiße Blut des Abenteurers wallte bei dieser Vorstellung auf, seine Rechte griff nach dem Dolche, den er bei sich trug; schon war er im Begriffe, sich auf den Zigeuner zu werfen, als eilige Schritte sich nahten. Bald tauchte eine Gestalt auf und eine scharfe Stimme fragte: »Was geht hier vor?« Es war der Herzog. Er hatte in banger Erwartung der Rückkunft Camilla’s geharrt, als dieselbe sich jedoch unverhältnismäßig lange hinauszog, hatte er seine Unruhe nicht mehr zügeln können, sondern war in den Garten hinabgeeilt, um von dort bis zur geheimen Thür zu dringen. Der »Herr» trat zurück und hielt kurz mit sich Rath. 586
Seine fernere Anwesenheit auf der Stätte des Unheils war unnöthig, vielleicht ihm selbst gefahrbringend. Dem Freunde war nicht mehr zu helfen, so wollte er denn in seine Klause eilen und die Documente lesen. Ehe er nicht den Inhalt derselben kannte, mochte er weder Lucie wiedersehen, noch irgend einen Entschluß fassen. Er eilte deshalb durch den Garten, schwang sich an einem Spaliere bis auf die Mauer und sprang von derselben in die einsame Gasse hinab. Der Zigeuner hatte inzwischen seinem Gebieter mit fliegender Hast mitgetheilt, was vorgefallen war. Schaudernd trat der Herzog zu der Leiche, doch schnell gewann er die Fassung wieder. »Wir müssen den Körper wegschaffen, Pista,« rief er dem Diener zu. »Es wäre möglich, daß die Polizisten hierher kommen. Fasse ihn an den Armen.« Pista gehorchte. Der Herzog ergriff die Füße und rasch trugen sie die Leiche bis zu einer einsamen Stelle des Gartens, wo Pista sie noch im Laufe der Nacht vergraben sollte. Kaum waren sie mit ihrer schaurigen Bürde im Dunkel des Gartens verschwunden, als der Ober-Inspector Stehling an der Unglücksstätte sich einfand. Doch vermochte er trotz eifrigen Suchens und Spähens Nichts zu entdecken, was ihm von irgend welchem Werthe gewesen wäre. Die geringen Blutspuren im Grase sah er wegen der dichten Finsterniß nicht, die Thür war verschlossen. »Ob die Gauner noch im Innern des Hauses sind?« fragte sich Stehling. »Unmöglich ist es nicht. Vielleicht war die 587
Thür von außen geschlossen und sie sind auf der Treppe. Dann haben wir sie, sobald die geheime Thür geöffnet ist. Ich will doch sehen, ob die Leute sie schon aufgefunden haben.« Er eilte zurück. – »Es kam mir so vor, als wenn Du einen Streit mit dem jungen Manne gehabt hast, Pista?« sagte der Herzog während des Transportes der Leiche. »,Ganz recht, Durchlaucht. Walther hat ihm Documente gebracht, die, wie es scheint, von großer Wichtigkeit sind, und diese wollte ich ihm aus der Tasche ziehen.« »Documente?« wiederholte gespannt der Herzog. »Hat Walther nicht angedeutet, welcher Art dieselben sind?« »Das dürfte er selbst nicht gewußt haben. Sie schienen in Leinwand eingenäht gewesen zu sein, denn ich hörte ein Geräusch, als wenn eine Naht aufgetrennt würde.« »Wie bedauerlich, daß wir nicht wissen, welchen Inhalts diese Schriftstücke sind.« »Ich glaube, daß es gerichtliche Angelegenheiten betrifft.« »Wie meinst Du das? Gerichtlich –« »Der »Herr« rief hoch erstaunt: ›Höre nur Walther, welche Aufschrift hier steht!‹ Und dann las er laut: ›Aussage des Herzogs von Taschlydschja vor dem Oberlandesgerichte in Kronstadt‹.« Der Herzog zuckte heftig zusammen. Wäre es nicht so finster gewesen, dann hätte Pista sehen können, wie sein Gebieter leichenfahl wurde. Mit großer Anstrengung errang der Herzog seine Fassung wieder; als er nach der Niederlegung des Todten dem 588
Hause zuschritt, that sich seine Erregung in abgerissenen Ausrufen kund. »Teufel, was ist das ?« murmelte er. – »Diese Documente dürften diejenigen sein, die ich so lange umsonst gesucht habe. – Woher hat Walther sie? – Sollte er den Freund des Grafen Koloman aufgefunden. – Doch nein, das ist ja gar nicht denkbar. – Ein Zufall hat sie ihm in die Hände gespielt. – Wenn es die richtigen sind, wie ich fürchte, dann erfährt mein junger Freund, wie sehr ich ihn betrogen habe. – Denn zweifellos sind Auskünfte in den Papieren enthalten, die ihm ermöglichen, zu errathen, wer er ist. – Und in diesem Falle kann er sich leicht combiniren, welchen Mißbrauch ich mit ihm getrieben. – Selbstverständlich wird er vor Begierde brennen, sich zu rächen. – Ob ich den Sturm abwarte? – Hm, ich muß mir’s überlegen. Wenn nur das Fest erst vorüber wäre; ich brauche vollkommene Ruhe. – Ich werde mich krank sagen lassen. – Ein längeres Verweilen unter der Gesellschaft hätte nun keinen Zweck mehr für mich. – Alle Wetter, was ist das?« Er war unter den Fenstern des Gartenzimmers angelangt und vernahm dumpfe Schläge, deren Bedeutung er sich alsbald richtig erklärte. »Die verwünschten Polizisten wollen die geheime Thür sprengen,« rief er zornig. »Sie vermuthen vielleicht, daß die Verfolgten –« Er war zur Thür gesprungen und fand sie verschlossen. Doch wunderte dieser Umstand ihn nicht. Mit großer Hast eilte er nach dem offen stehenden Gartenportale und von dort in den Saal, da er auf keinem anderen Wege in 589
das Gartenzimmer gelangen konnte. Im Saale kam Camilla ihm entgegen. Sie war noch immer heftig erregt und berichtete ihm hastig, wodurch sie in diesen Zustand hinein gekommen. »Die Spürhunde sind unglaublich rücksichtslos,« murrte grimmig der Herzog, »Sie versuchen auch die geheime Thür zu erbrechen.« »Eilen Sie, es zu hindern,« bat Camilla angstvoll. »Wenn Jemand in das Zimmer wollte, – es gäbe hier ein furchtbares Aufsehen. Sie wären für immer compromittirt.« Der Herzog folgte diesem Rathe auf der Stelle. Er schritt rasch in das Gartenzimmer, wo er den Ober-Inspector und seine beiden Untergebenen eifrig bemüht fand, die glücklich entdeckte Thür zu sprengen. Der Herzog erging sich in den heftigsten Vorwürfen, erzielte damit indeß nicht den geringsten Erfolg. Stehling bewahrte seine Kaltblütigkeit, berief sich auf die Pflichten seines Amtes und forderte kategorisch, daß die geheime Thür geöffnet würde. Diesem Begehren mußte Taschlydschja willfahren. Stehling überführte sich nun, daß seine Muthmaßung eine leere gewesen, gewann aber dadurch vollends die Gewißheit, daß die Verfolgten Gauner gewesen sein müßten. Wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätten sie, als die Polizisten Einlaß in das Gartenzimmer forderten, nicht zu entfliehen brauchen. Der Ober-Inspector zog sofort Nachforschungen ein, wer das Costüm des Minnesängers getragen habe und erhielt darüber sehr bald Aufschluß. Taschlydschja’s Wunsch nach Ruhe ging schneller in Erfüllung, als sich voraussehen ließ. Es kommt häufig 590
vor, daß unter einer versammelten Menge plötzlich ein Gerücht entsteht, von welchem Niemand sagen könnte, wodurch es hervorgerufen worden sein mag. So erging es auch der vornehmen Gesellschaft, welche in den herzoglichen Appartements sich eingefunden hatte. Urplötzlich erhob sich scheues Geflüster, bedeutungsvolle Blicke flogen hin und her, Aller Mienen zeigten einen bedenklichen Ausdruck; – Niemand wußte eigentlich, was vorgefallen sein könnte, aber trotzdem fühlte alle Welt sich auf einmal unbehaglich. Schnell leerten sich die Salons und ehe eine halbe Stunde verflossen war, standen die glänzenden Räume fast leer. Nur einige »dunkle Existenzen« waren zurückgeblieben, um des opulenten Soupers nicht verlustig zu gehen. Der »Herr« war in seine Wohnung geeilt. Dort überließ er sich kurze Zeit hindurch dem Schmerze um den Verlust des Freundes. Doch der Gedanke, daß er Lucie wiedergewonnen habe, richtete ihn wieder auf. Um der Geliebten willen durfte er jetzt nicht kleinmüthig und schwach werden, er mußte den Kampf fortsetzen und es erschien ihm kaum zweifelhaft, daß er als Sieger aus demselben hervorgehen müßte. Vielleicht gewährte die Auskunft, welche die Documente ertheilen würden, ihm ein neues erfolgreiches Mittel. Hastig zog er die Schriftstücke heraus und gewahrte nun erst, daß sie numerirt waren. Das mit der Ziffer »1« bezeichnete nahm er zunächst vor. Es enthielt die Aufschrift: 591
Aussage der Zigeunerin Erszebeth Gojan, Ehefrau des Fischers Lajos Gojan, vor dem Oberlandesgerichte in Kronstadt. Der Inhalt lautete: »Es war am Abend des 24. November 1847 –« »Seltsam,« unterbrach sich der »Herr» frappirt. »Am 24. November 1847 bin ich ja zur Welt gekommen! Wie eigenthümlich, daß die Enthüllungen gerade mit diesem Tage beginnen.« Mit noch mehr gespannter Erwartung fuhr er in der Lectüre fort: »Ich befand mich allein in unserm Häuschen, da mein Mann ein Geschäft zu besorgen hatte, welches ihn einige Tage fernhielt. Wir wohnten damals in einer Hütte, die unfern der Donau hinter einem Felsen lag. Es war ein sehr einsamer Platz. Monate vergingen oft, ehe ein Mensch sich bis zu uns verirrte, und dann waren es stets nur »Arme Bursche«, Zigeuner und Schmuggler, um so lebhafter war ich erstaunt, als ich an jenem Abend einen Wagen über die Pußta herbeirollen hörte, Es war ein schauriger Abend, fast undurchdringliche Finsterniß lag über der Erde ausgebreitet, ein heftiger Sturm brauste über Sand und Wasser und peitschte die Wellen der Donau hoch auf, sodaß sie mit donnerndem Getöse an die Felsen schlugen. Dazu regnete es in Strömen schon Tage lang und die Pußta war bereits so aufgeweicht, daß weder Thier noch Mensch hindurch konnten. Nur längs des Stromes führte ein schmaler Weg auf dem steinigen Ufer dahin. Derjenige aber, welcher ihn benutzen wollte, mußte genaue Ortskenntniß besit592
zen, denn wenn er auch nur eine Elle vom Wege nach der Sandseite zu abwich, dann versanken Wagen und Pferde so tief in den Morast, daß sie nicht wieder herausgeschafft werden konnten. – Aufmerksam lauschte ich und war gespannt, ob das Fuhrwerk wohl bei unserer Hütte anhalten würde. Doch es stand schon eine Strecke vor derselben still. In der dichten Finsterniß konnten die Reisenden das Haus noch nicht bemerkt haben; Licht brannte ich nicht und die glimmenden Kohlen auf dem Herde verbreiteten nicht einen so hellen Schimmer, um außerhalb des Zimmers gesehen werden zu können. »Weshalb halten sie nur?« dachte ich. »Vom Wege scheinen sie nicht abgekommen zu sein, denn in diesem Falle würden Menschen wie Thiere einen tüchtigen Lärm machen.« Plötzlich, ich fuhr ganz erschrocken zusammen, erschallt ein so gellender Schrei, daß er das Tosen der Elemente übertönte. Diesen durchdringenden Ruf konnte nur eine Frau, die sich in höchster Noth befand, ausgestoßen haben. Was ging dort vor? Sollten ruchlose Menschen den einsamen Ort, wo sie sich ganz unbelauscht wähnen mußten, aufgesucht haben, um ein furchtbares Verbrechen zu vollführen? Ich schauderte vor Entsetzen und hielt den Athem an, um womöglich noch Etwas zu erlauschen. Mit einem Male flammte ein Licht auf, das einen ziemlich hellen Schein verbreitete und nun gewahrte ich einen starken Leiterwagen, der mit einer Plane überspannt war, und bei demselben zwei Männer, die lebhaft mit einander sprachen. Plötzlich bemerke der Eine die Hütte und wies sie dem Andern. Dieser trieb sofort die Pferde an, sein Genosse ging mit der Laterne voran und 593
bald war der Wagen vor dem Hause angelangt. Nun vernahm ich, wie aus dem Innern des Wagens leises Jammern ertönte, und der Klang der Stimme ließ keinen Zweifel zu, daß eine Frau unter dem Leinendache liege. Der Mann mit der Laterne pochte an die Thür; ich rührte mich nicht, gab auch keinen Laut von mir. Heftiger klopfte der Mann; auch jetzt meldete ich mich nicht, weil ich Furcht hatte. »Sollte die Hütte verlassen sein?« fragte der Laternenträger. »Ich weiß bestimmt, daß Gojan mit seinem Weibe sie noch bewohnt,« antwortete der Fuhrmann, »Aber es könnte sein, daß die Leute fort sind, um ihre Geschäfte zu besorgen.« »Das wäre wahrhaft peinlich,« meinte der Erste. »Eine Frau brauchen wir nöthig. Ich will noch einmal anklopfen, wenn sie dann nicht sich regen, wollen wir die Thür einschlagen, um wenigstens unter Dach und Fach zu kommen. Du kannst inzwischen das Beil hervorsuchen.« Er pochte wieder mit aller Macht an und nun mußte ich mich wohl melden. »Wer ist da? Was wollt Ihr?« fragte ich. »Ha,« rief der Laternenträger erfreut, »die Frau ist anwesend.« Dann rief er mir zu: »Öffnet, gute Frau, öffnet schnell! Es steht viel auf dem Spiele.« »Ich bin allein im Hause,« entgegnete ich, »und kann Euch deshalb nicht einlassen.« »Thut es immerhin, gute Frau. Wir fügen Euch kein Leid zu, im Gegentheile werden wir uns für die erwiesene Gastfreundschaft nicht unerkenntlich zeigen.« 594
Ich überlegte. Auf Mord und Raub hatten die es wohl nicht abgesehen. Wahrscheinlich waren es verirrte Reisende und die Frau mochte durch die schaurige Fahrt und den Schrecken krank geworden sein. Der Fuhrmann kannte mich und meinen Mann sogar, vielleicht war er auch mir bekannt. – Indem ich diesen Gedanken nachhing, schrie die Frau wieder, wie in höchster Seelenpein, und nun donnerte der Laternenträger: »Warum öffnet Ihr nicht ? Zum Henker, macht schnell! Ein Menschenleben ist in Gefahr. Wenn Ihr nicht sofort aufmacht, zertrümmern wir die Thür.« Ich öffnete nun und der Mann befahl mir, die Laterne zu halten. Dann eilte er zum Wagen und schlug die Plane ein wenig hinauf. »Sind wir zur Stelle?« fragte die Frau mit matter Stimme. »Leider noch nicht,« erwiderte der Mann. »Das Haus, wohin ich Sie bringen wollte, ist noch fast eine Stunde entfernt. So lange können Sie wohl nicht mehr aushalten?« »Unmöglich. – Ist in diesem Hause eine Frau?« »Ja.« »Dann lassen Sie mich hier. – Vielleicht kann ich gehen.« Fortse~ung folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. 36
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
G
leich darauf stöhnte sie: » Es ist unmöglich. Ich bin nicht im Stande, mich zu erheben.« » Dann werden Sie uns erlauben müssen, Sie in das Haus zu tragen.« » Es bleibt ja nichts Anderes übrig.« Der Mann kam zu mir zurück und flüsterte mir zu, ein Bett zurecht zu machen. Ich that, wie er mir geheißen. Kaum war ich fertig geworden, als die Männer eine Frau in die Stube trugen, die ganz in Decken gehüllt war. Vorsichtig legten sie dieselbe auf das Bett, worauf sie wieder hinausgingen und nach kurzer Zeit allerlei Gegenstände, auch Stärkungsmittel darunter, hineinbrachten. Dann flüsterte mir der, welcher offenbar der Herr war, in das Ohr: » Nehmt Euch der jungen Dame an und thut Alles, was in Euren Kräften steht, damit es glücklich vorübergeht. Eine reiche Belohnung wird Euch zu Theil werden.« 596
Die Männer hingen hinaus und blieben in der Hausflur. Ich dagegen ging zum Lager, nachdem ich die Lampe angezündet und einige Scheite in den Ofen geworfen hatte. Als ich an das Bett trat, erstaunte und erschrak ich nicht wenig. Ein ganz junges Mädchen, kaum älter als siebzehn Jahre, lag regungslos, mit todtenblassem Gesichte, da; man hätte sie für entseelt halten können, wenn nicht die großen schwarzen Augen unheimlich geleuchtet hätten und zuweilen ein leises Schmerzgestöhn vernehmbar geworden wäre. »Steht mir bei, gute Frau,« bat das arme Ding; »Wenn diese schwere Stunde mit Eurer Hülfe glücklich vorüber geht, dann werde ich Euch mein ganzes Leben lang dankbar bleiben.« »Was fehlt Ihnen denn?« fragte ich. Sie wurde glühend roth und so verlegen, daß sie mir nicht antworten konnte. Mir ahnte die Ursache ihres Zustandes. – Nach kurzer Weile bat sie mich, die Decken, welche sie sehr einengten, vorsichtig fortzuziehen. Ich that es und erkannte nun, daß ich richtig vermuthet, – die junge Dame lag in den Wehen. Jetzt sah ich auch, daß sie von vornehmem Herkommen sein müsse, denn ihre Kleider waren sehr fein, an den Fingern blitzten werthvolle Steine und um den Hals trug sie eine kostbare Kette aus prächtigen Perlen. – Ich errieth nun auch, was in den Packeten, welche die Männer hineingebracht hatten, enthalten wäre und fand meine Vermuthung bestätigt, als ich dieselben ausbreitete; es waren Kleidungs- und Wäschestücke für ein Kind im ersten Jahre seines Lebens. Hurtig traf ich 597
meine Vorbereitungen und that Alles, was ich vermochte, um der jungen Dame möglichst viele Erleichterungen zu verschaffen. Nach einer schweren Stunde schrie ein kleiner Erdenbürger mit hellem Stimmchen in meiner ärmlichen Hütte. – Bis dahin hatte mich zwar Manches in Verwunderung gesetzt, nun jedoch ereignete sich ein Vorfall, der mich mit Bestürzung. erfüllte. Nachdem ich den Neugeborenen, einen hübschen, kräftigen Knaben, gebadet hatte, brachte ich ihn der Mutter. »Sehen Sie nur, wie hübsch er aussieht,« sagte ich, ihn ihr hinhaltend. Sie warf einen Blick auf ihn, dann riß sie das Kind hastig an sich und drückte einen Kuß auf seine Lippen. Im nächsten Augenblicke aber warf sie es mit einer Geberde des Abscheus auf das Bett und kreischte: »Fort mit ihm! Es ist sein getreues Ebenbild. Ich kann diesen Anblick nicht ertragen. Fluch über ihn, den schändlichen Verführer, der mich erbarmungslos der Schande preisgiebt, in die er mich gestürzt. O Gott im Himmel, suche ihn heim mit Deinen schwersten Strafen! Möge mein Fluch sich an ihn heften und ihm Unheil bringen in aller Ewigkeit!« Dieser Ausbruch der Wildheit hatte mich so heftig erschreckt, daß ich kurze Zeit unfähig war, zu sprechen. »Um des Himmels Willen,« rief ich endlich, »mäßigen Sie sich, sonst thun Sie sich den größten Schaden an und verfallen vielleicht in eine lebensgefährliche Krankheit. Der junge Herr hat Sie ja auch nicht verlassen, sondern ist draußen in der Hausflur. Wenn Sie wünschen, werde ich 598
ihn hereinrufen.« Ich meinte nämlich, daß der Herr, welcher mit der Dame gekommen war, der Vater sei. Die Wöchnerin antwortete mir nicht, sondern sah mich nur mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an, dann schloß sie die Augen. »Wollen Sie dem Kinde nicht die Brust reichen?« fragte ich. »Nein, nein,« schrie sie wieder mit erschreckender Heftigkeit, »dazu bin ich nicht im Stande. Immer die Züge des Falschen, Eidbrüchigen vor meinen Augen haben zu sollen, das geht über meine Kraft. – Freilich,« setzte sie nach einer kleinen Pause sanfter hinzu, »das arme Kind kann nichts für die elende Handlungsweise seines Vaters, aber trotzdem ist es mir unleidlich. Geben Sie ihm Milch; eine Saugflasche werden Sie in dem kleinen Kasten finden.« Ich nahm das arme Kind, das schon eine Stunde nach der Geburt von seiner Mutter verstoßen wurde, auf die Arme und hing hinaus, immer noch in der Meinung, daß der Begleiter der Wöchnerin der Vater sei. »Da, Herr,« sagte ich, «bringe ich Ihnen Ihr Söhnchen. Sehen Sie sich es einmal an, es soll Ihr getreues Ebenbild sein, wie die junge Dame meint.« Der Herr blickte mich erstaunt an, dann brach er in ein Gelächter aus. »Sie geben sich einer irrthümlichen Annahme hin, gute Frau,« sagte er. «Das Kind ist nicht das meinige, wie Sie erkennen werden, wenn Sie mich aufmerksam betrachten. Sie werden dann finden, daß es nicht mein Ebenbild ist.« Das war allerdings richtig; das Kind hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm. 599
»Wenn ich auch nicht der Vater des Knaben bin,« sagte der Herr wieder, »so interessire ich mich doch sehr für denselben. Lassen Sie ihn mich einmal anschauen.« Ich hielt das Kind so, daß der Lichtschimmer auf sein Gesicht fiel Der Herr betrachtete es mit scharfem Blicke, dann rief er: »In der That, die Ähnlichkeit ist wunderbar. Es ist der leibhaftige Koloman, nur in sehr verjüngter Gestalt.« Der Abenteurer hielt im Lesen inne und trocknete den Schweiß, der ihm gewaltsam aus allen Poren drang, vom Gesichte. Erst nach einigen Minuten war er fähig, die Lectüre fortzusetzen. Die fernere Aussage der Zigeunerfrau lautete: »Am nächsten Tage harte der Herr eine lange Unterredung mit der Wöchnerin, von welcher ich nichts verstehen konnte, weil Beide im Flüstertone sprachen. Darauf gab der Herr mir mehrere Hundert Gulden und ersuchte mich, den Knaben einige Zeit in Pflege zu behalten. »Es hängt von Umständen ab, die sich jetzt noch nicht vorhersehen lassen, ob der Knabe bald von Euch fortgeholt wird, oder nicht. Betrachtet Euch genau diesen Ring! Er ist von Eisen und hat eine symbolische Figur, in deren Mitte ein kaum sichtbarer Knopf angebracht ist Drückt man auf denselben, dann theilt sich der Ring in zwei gleiche Hälften. Die eine davon gebe ich Euch in Verwahrung. Kommt irgend einmal Jemand und weist Euch die andere Hälfte vor, dann thut, was er von Euch begehrt.« Nach diesen Worten wandte er sich wieder zur Wöchnerin und sagte leise, doch mir verständlich: 600
»Also nach drei Tagen hoffen Sie, kräftig genug zu sein, um die Fahrt ertragen zu können?« »Ja, ja,« entgegnete das Mädchen hastig. Vergessen Sie nicht, den Wagen zu schicken; länger hielte ich es hier sicherlich nicht aus.« Der Herr verbeugte sich sehr respectvoll und verabschiedete sich. Dann ließ er sich nochmals das Kind zeigen und betrachtete es lange und aufmerksam. Inzwischen hatte der Fuhrmann die Pferde angespannt und meldete nun, daß der Wagen bereit stände. Der Herr reichte mir die Hand und ging schnell hinaus. Ich folgte ihm, um die Abfahrt mit anzusehen. Kaum war ich hinausgetreten, als mir ein seltsamer Anblick zu Theil wurde. Ein Zigeuner, Namens Pista Brtkovic, ein junger Mann, der auf Meilen in der Runde gefürchtet war, weil er verwegene Raubanfälle und Einbrüche vollführte, kam vom Strome her nach meiner Hütte. Als er das Fuhrwerk erblickte, stutzte er, sobald er jedoch des fremden Herrn ansichtig wurde, warf er sich auf den Boden, ergriff einen Saum des Gewandes und küßte ihn, Dieses Gebahren versetzte mich in unbeschreibliches Staunen; wer mochte der Mann sein, dem der furchtbare Räuber, welcher sonst keinen Menschen, selbst den Kaiser nicht respectirte, eine so ehrerbietige Unterwürfigkeit erwies? – Der Herr winkte dem Räuber, aufzustehen, trat dann mit ihm abseits und flüsterte ihm einige Worte zu. Pista legte beide Hände auf das Herz und betheuerte eifrig: »Ich werde pünktlich dort sein, gnädigster Herr!« Darauf setzte der Herr sich in den Wagen und dieser fuhr fort. – Der Räuber und ich, wir sahen ihm nach, so lange, 601
bis er in der Ferne verschwand. Dann trat Pista in das Haus und bat mich, ihm einen recht stark gewürzten Glühwein zu bereiten. Als er in die Stube wollte, hielt ich ihn zurück und forderte ihn auf, in der Küche zu bleiben. Nachdem ich das Kind in sein Bettchen gelegt hatte, bereitete ich den Glühwein. Der Räuber erkundigte sich eifrig, was in meiner Hütte vorgegangen sei und ich versprach, ihm es zu erzählen, wenn er mir vorher sagen würde, wer der Herr gewesen, dem er so sklavische Ehrerbietigkeit bezeugt. »Den kennst Du nicht?« rief er erstaunt. »Bist Du eine Zigeunerin und kennst den nicht, welchen jedes Kind von uns kennen muß? Es ist ja unser König und Du kannst Dich glücklich preisen, daß er unter Deinem niedrigen Dache geweilt hat.« »Und was wollte er von Dir?« fragte ich, nachdem mein Erstaunen sich gelegt hatte. »Das geht Dich nichts an. Es ist auch sehr gefährlich, das zu wissen, was »Er« geheim halten will. Merke Dir das und handle danach, wenn Du nicht willst, daß Dir ein unvermuthetes Unheil zustößt. Und nun erzähle mir, was sich hier zugetragen hat.« Das that ich denn auch. Pista hörte mich aufmerksam an, sagte aber kein Wort und entfernte sich, nachdem er den Glühwein getrunken, doch nicht in seinem Kahne, vielmehr ging er eilig in der Richtung, die der Wagen eingeschlagen hatte. Ich blieb noch mehrere Tage allein mit der Wöchnerin und dem Kinde. Die junge Mutter mochte ihren Knaben nicht nochmals sehen. Ich versuchte im Anfang, diesen 602
unnatürlichen Widerwillen zu brechen, indem ich das Kind in ihre Nähe brachte, sie wohl auch aufforderte, es in die Arme zu nehmen, doch sie wies dieses Ansinnen mit solchem heftigen Abscheu von sich, daß ich es nicht zu wiederholen wagte. – Die junge Dame erholte sich überraschend schnell. Schon am folgenden Tage verließ sie das Lager. Am dritten Tage hatte der Wagen kommen sollen, doch blieb er aus. Die Dame schien darauf gefaßt gewesen zu sein, denn sie äußerte weder Zorn noch Ungeduld. Wir gingen, wie immer, frühzeitig zur Ruhe. Es mochte Mitternacht sein, als ich durch ein Geräusch aufgeweckt wurde. Schlaftrunken blickte ich auf; da seit der Anwesenheit der Fremden stets eine Lampe die Nacht hindurch brannte, so vermochte ich deutlich zu erkennen, was in der Stube vorging. Die junge Mutter stand, vollständig angekleidet, am Lager des Kindes. Vorsichtig hob sie die Decke von dem Knaben und betrachtete ihn sehr genau und wie mir schien mit zärtlichen Blicken. Dann nahm sie die Perlenschnur von ihrem Halse und hing sie dem Kinde behutsam um. Noch einmal drückte sie einen Kuß auf die Stirn des Knaben; Thränen schimmerten in ihren Augen, dann aber wandte sie sich hastig ab und eilte zur Stube und unmittelbar darauf zum Hause hinaus. Ich wollte aufspringen, ihr nachlaufen, sie zurückhalten, aber der Schlaf lähmte meine Glieder und schloß mir die Augen gewaltsam zu. Es kam mir noch so vor, als wenn in der Ferne ein Wagen dahinrasselte, dann schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, glaubte ich anfangs, daß ich lebhaft geträumt hätte, doch nein, das Lager der jungen Dame war leer und 603
um den Hals des Knaben hing die Perlenschnur. Jetzt gewahrte ich erst, daß an derselben ein goldenes Medaillon befestigt war. Neugierig öffnete ich dasselbe und fand das Portrait eines bildhübschen, jungen Mannes mit schwarzen Augen aber blondem Haar.« Zum zweiten Male ließ der »Her« das Document sinken. – Wo hatte er nur eine kostbare Perlenschnur mit dem Portrait eines Jünglings mit schwarzen Augen, doch blondem Haar gesehen? – O, wie träge sein Geist heute war! Mußte er sich nicht anstrengen, um sich dieses Factum, das ihm doch ganz unvergeßlich war, in das Gedächtniß zurückzurufen? Die Schnur und das Medaillon mit dem Portrait hatte er oft, sehr oft bei seiner Pflegerin in Bukarest besichtigt. Schau’ Dir das Bild nur recht genau an, hatte die Courtisane häufig gesagt, es ist das Conterfei Deines Vaters. – Wenn er sie gebeten hatte, ihm die Schnur, das einzige Erinnerungszeichen an seine Eltern, zu schenken, hatte sie ihm das stets abgeschlagen. – Dein Vater mag nichts von Dir wissen, hatte sie gemeint, was soll Dir also sein Bildniß? – Dieses Portrait hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit seinem Gesichte. In den Knabenjahren hatte er diesen Umstand nicht beachtet, nun jedoch kam er ihm in den Sinn und betäubte ihn fast. Hatte er nicht eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem verstorbenen jungen Grafen Szapary gemeinsam ? Hieß derselbe nicht Koloman? Und rief der Mann, welcher die Wöchnerin in die Hütte der Zigeunerin geleitete, nicht bei’m Anblicke des Neugeborenen aus, daß dessen Ähnlichkeit mit Koloman ganz wunderbar wäre? – Ideen sinnverwirrender Art 604
drängten sich dem Abenteurer auf. Sein Blut gerieth mehr und mehr in Wallung, ihm war so heiß, so schwül und bange. »Licht, Licht!« rief er mit lauter Stimme, und hastiger denn zuvor fuhr er in der Lectüre fort: »Einige Tage ereignete sich in der Hütte nichts,« lautete die weitere Aussage der Zigeunerin. »Ich pflegte das Kind, so gut ich es vermochte und freute mich, daß es gesund blieb und gedieh. Nach etwa fünf Tagen schallte vom Strome ein gellender Pfiff herüber; das war das Signal, welches andeutete, daß mein Mann zurückgekehrt sei. Da er dann regelmäßig einige schwere Packete, die ein Mensch nur mühsam zu tragen vermochte, mitbrachte, so ging ich stets nach dem Strome, um ihm zu helfen. So auch an diesem Tage, nachdem ich das Kind in das Bett gelegt hatte. Ich hielt mich diesmal länger als sonst bei’m Kahne auf, weil ich meinem Manne die seltsame Geschichte erzählte. Er äußerte sich gar nicht darüber, war aber auch nicht ungehalten. Wir trugen ein Pack nach der Hütte und nun sagte mein Mann: Zeig’ mir doch einmal das Kind mit der Perlenschnur. Ich bin wahrlich neugierig, beides zu schauen. – Wir gingen in die Stube; mein Blick fiel auf das Bett und heftige Bestürzung ergriff mich; das Kind war verschwunden. Ich suchte überall, lief den Weg eine ganze Strecke weit; weder das Kind noch dessen Räuber war zu sehen. Ich hegte die Ansicht, daß man den Knaben wegen der kostbaren Perlenschnur geraubt habe, mein Mann dagegen war anderer Meinung. Er glaubte, daß die Mutter oder der Herzog das Kind hätten entführen lassen. 605
Ein Räuber, sagte er, hätte einfach die Kette mitgenommen und das Kind, welches ihm ja nur zur Last fallen konnte, zurückgelassen. Auch der Umstand sprach für die Wahrscheinlichkeit der Annahme meines Mannes, daß das Kind gerade in der kurzen Zeit geraubt worden war, in welcher ich mich vom Hause entfernt hatte. So mußte also doch wohl Jemand auf der Lauer gelegen haben. Indeß erwies sich unsere Voraussetzung schließlich doch als falsch, denn nach vierzehn Tagen etwa fand sich ein Mann ein, der mir die Hälfte des eisernen Ringes vorwies und den Knaben verlangte. Als ich ihm mittheilte, welchem Schicksale derselbe verfallen sei, wurde er furchtbar böse und drohte mir mit dem Zorne des Herzogs, der das Kind vornehm habe erziehen lassen wollen. Einige Tage später kam auch der Mann, den sie Herzog und den Zigeunerkönig nannten. Mein Mann hatte solche Angst vor ihm, daß er, als er den Wagen heranrollen hörte, nach dem Strome rannte und schleunigst davonfuhr. Ich glaubte nicht anders, als daß mein letztes Stündlein gekommen sei und war auf das Schlimmste gefaßt. Doch kam es nicht so arg, wie ich fürchtete. Der Herzog war wohl sehr erzürnt, doch sah er ein, daß mich keine Verschuldung träfe. Nachdem ich ihm ausführlich erzählt hatte, unter welchen Verhältnissen der Raub des Kindes stattgefunden habe, fuhr er wieder davon. Ich habe weder ihn, noch das Kind, noch die junge Dame jemals wiedergesehen, auch nicht erfahren, aus welchem Stande die letztere gewesen ist oder wie sie geheißen hat, daß es eine vornehme Dame 606
gewesen, dafür sprechen viele Umstände, die zu erwähnen keinen Zweck hätte.« Mit diesen Worten schloß das erste Protokoll ab. Begierig griff der »Herr« nach dem zweiten, welches die Aufschrift trug: »Aussage des Herzogs von Taschlydschja vor dem Oberlandesgerichte in Kronstadt.« Der Herzog hatte folgende Angaben gemacht: »Es thut mir wahrhaft leid, daß ich über eine Angelegenheit, die ich am liebsten ewiger Vergessenheit hätte anheimfallen sehen, vor dem Forum eines Gerichtshofes sprechen soll. Da jedoch der Herr Graf von Szapary angegeben hat, daß ich der Begleiter jener jungen Dame gewesen, die in der Hütte des Zigeuners Gojan niedergekommen ist, so muß ich nothgedrungen aus der Reserve heraustreten. Ich will deshalb soviel über die delicate Affaire aussagen, als ich mit meiner Ehre vereinbaren kann, doch muß ich es ablehnen, den Namen der jungen Dame anzuführen. Diese gehört einer guten Familie an, einer Familie, deren Ruf seit vielen Jahrhunderten auch nicht durch den mindesten Makel befleckt worden ist. Um so furchtbarer wurde der jetzige Stammherr erschreckt, als er die Wahrnehmung machte, daß sein einziges Kind, seine Tochter, einen Fehltritt gethan. Seit den Tagen ihrer Kindheit hatte die Erbin des stolzen Stamms in einem vertrauten Verhältnisse zu dem letzten Nachkommen eines nicht weniger angesehenen G«schlechtes gestanden. Die Kinder waren Spielgefährten gewesen und hatten einander lieb gewonnen, sodaß die Väter der frohen Hoffnung sich hingeben konnten, es würde ihr langgehegter Lieblingswunsch, die Kinder dereinst 607
in glücklicher Ehe vereint zu sehen, in Erfüllung gehen. Eine mehrjährige Trennung der kleinen Spielgefährten, die dadurch herbeigeführt wurde, daß der Knabe einer Erziehungsanstalt, das Mädchen einer Pension zur Ausbildung anvertraut wurde, schien in den Neigungen der jungen Leute keine Veränderung bewerkstelligt zu haben. Bevor der Jüngling, der einige ausländische Hochschulen besuchen und große Touren machen sollte, auf die Universität abging, hielt er sich ein halbes Jahr lang auf den väterlichen Besitzungen auf und besuchte täglich das nur wenige Stunden entfernte Schloß seines zukünftigen Schwiegervaters. Die jungen Leute schienen von Zärtlichkeit für einander beseelt zu sein, weshalb die beiden Väter glaubten, nunmehr ernstlich an die Verwirklichung ihres Planes schreiten zu dürfen. Man machte die jungen Leute mit demselben bekannt, und da keines von ihnen Einspruch erhob, fand die Verlobung in althergebrachter feierlicher Weise in Gegenwart der Vertreter sämmtlicher hervorragenden Familien des Landes statt. – Wenige Wochen nach dieser Feierlichkeit begab der Bräutigam sich auf eine deutsche Universität; nach Vollendung seiner Studien sollte die Hochzeit stattfinden, doch stellte es sich heraus, daß dieselbe schon weit früher vollzogen werden müßte. Am Verlobungstage hatten die jungen Leute, deren Blut durch den reichlichen Genuß feuriger Weine und durch leidenschaftliche Liebkosungen in ungestüme Wallung gerathen war, sich zu einer beklagenswerthen, wenn freilich auch entschuldbaren Verirrung hinreißen lassen. Die junge Dame, schon seit der frühesten Jugend der Mutter beraubt, entdeckte sich ihrer 608
alten Duenna und diese säumte nicht, den Vater aufzuklären. Es war ein furchtbarer Schlag für den alten Herrn, und zu verwundern ist, daß er ihm nicht erlag. Selbstverständlich machte er seinen Freund mit dem Vorgefallenen bekannt und beide setzten fest, daß die Hochzeit sofort stattfinden solle. Der Bräutigam wurde unverzüglich aufgefordert, heim zu eilen, aber er gehorchte nicht. Statt seiner kam ein Brief, in welchem er seinem Vater mittheilte, daß et keine Lust mehr habe, die ihm Angelobte als Gattin heimzuführen. Seine Neigung für dieselbe sei vollständig erloschen, seitdem er in glühender Liebe zu einem Mädchen, welches er in der Universitätsstadt kennen gelernt habe, entbrannt sei; nur diese und keine andere solle seine Gattin werden. Der Vater möge dafür sorgen, daß die Verlobung für null und nichtig erklärt werde. Bei diesem Bescheide blieb er selbst dann, als sein Vater ihm mit der Enterbung drohte. Auch ist er, wie ich wohl erwähnen kann, obgleich es nicht hierher gehört, seinem Entschlusse treu geblieben und hat die Deutsche geheirathet, trotzdem er wirklich verstoßen wurde. Ich wurde in die Details von den beiden alten Herren eingeweiht, da ich mit denselben seit vielen Jahren die freundschaftlichsten Beziehungen unterhalten habe. Beide hatten ein unbegrenztes Vertrauen zu mir, wodurch es erklärt wird, daß sie gerade mich dazu auserkoren, ein Asyl ausfindig zu machen, wo die unglückliche Braut die Folgen ihrer Verirrung abwarten könnte. Leider gelang es mir nicht früher, einen geeigneten Ort aufzuspüren, als bis der verhängnißvolle Moment nahe herangekommen war. 609
Die junge Dame, welche bis dahin in strengster Abgeschiedenheit auf einem einsam gelegenen Schlosse ihres Vaters verweilt hatte, wurde meiner Obhut anvertraut, doch erreichten wir das von mir erwähnte Asyl nicht. Kaum die Hälfte des Weges war zurückgelegt, als die Wehen sich einstellten. Wir mußten schleunigst ein Obdach suchen und schätzten uns glücklich, daß eine Hütte an unserm Wege lag. Es war die Wohnstätte des Zigeuners Gojan. Sie wissen bereits, was dort sich ereignete. Auf die Fragen, welche Sie mir vorgelegt gaben, gebe ich bereitwillig Antwort. Die heimliche Entfernung der Wöchnerin aus der Hütte geschah auf meinen Rath. Da ich nicht hätte verhindern können, daß uns Jemand nachgeschlichen wäre, so erachtete ich es als zweckmäßig, wenn die Dame in der Nacht die Hütte verließ. Sie wurde dort ja auch durch nichts mehr zurückgehalten, da die Sorge um die Zukunft des Kindes mir übertragen worden war. – Was nun die Erkundigung wegen der Entführung des Kindes anbelangt, so muß ich darauf antworten, daß ich dem Raube selbstverständlich ganz fern stehe. Die Annahme, daß ich denselben durch den Räuber Pista hätte ausführen lassen, ist irrig. Dagegen möchte ich mich nicht dafür verbürgen, daß der Räuber das Kind aus eigener Machtvollkommenheit mit sich genommen habe. Wohlgebildete Kinder, die in dem Alter stehen, in welchem die Erinnerung noch nicht haften bleibt, werden in Rumänien und der Türkei gern gekauft, auch von den Zigeunern willig aufgenommen. Daß Pista ein Räuber gewesen, habe ich bis heute nicht gewußt. Ich habe ihn mehrere Male in privaten und politischen Ange610
legenheiten nach der Türkei gesandt und er hat sich seiner Aufgabe mit großem Geschick entledigt.« Damit schloß das Protokoll über die Aussage des Herzogs von Taschlydschja. Der »Herr« stützte den Kopf in die Hand; seine Schläfen glühten. »Er hat das Kind durch den Räuber entführen lassen,« murmelte er. »Der Umstand legt einen unanfechtbaren Beweis dafür ab, daß Pista Brtkovic heute und seit vielen Jahren – der Diener, nein, der Vertraute des Herzogs ist. Diese beiden Hallunken fesselt das Band des Verbrechens aneinander. Sie haben den Knaben geraubt, damit eine etwaige spätere Auffindung desselben zur Unmöglichkeit wird. Daß der Herzog den Knaben später von der Zigeunerin abfordern ließ, ist eine Finte, auf Täuschung Anderer berechnet. Für mich waltet nicht der leiseste Zweifel ob, daß Taschlydschja den Knaben rauben ließ, um – um ihn später – nach vielen Jahren für seine unlauteren Zwecke verwenden zu können. – Und dieser geraubte Knabe, das unglückliche Opfer ekler Lust, herzloser Frivolität und schurkischer Speculation, sollte dieser Bejammemswerthe in der That ich –« Seine Unruhe wurde so fieberhaft, daß er aufsprang und an das Fenster eilte. Er riß es auf, bog sich weit hinaus und sog gierig die eisige Luft ein. Mehrere Minuten blieb er regungslos stehen, dann wandte er sich hastig ab. »Gewißheit, – Gewißheit,« rief er und eilte zum Schreibtische zurück. Das dritte Schriftstück war die Copie eines Briefes, welcher an den Advocaten Medgyaszay in Kron611
stadt gerichtet war. Der »Herr« sah zunächst nach der Unterschrift; diese lautete: Koloman Graf Szapary. Der Inhalt des Briefes war folgender: »Mein lieber Freund! Die Zusendung der Angaben, welche die Zigeunerin Erszebeth Gojan und der Herzog von Taschlydschja gemacht haben, hat meine Hoffnungen fast vernichtet. Kaum kann ich nun noch glauben, daß die Auffindung meines armen Sohnes möglich sein wird. Ich habe bereits alle mir nur zur Verfügung stehenden Mittel zu diesem Zwecke aufgeboten, doch nicht das geringste Resultat erzielt. Nachlassen werde ich in meinen Bemühungen trotzdem nicht, aber ich verzweifle an einem günstigen Erfolge. Könnte ich selbst die Nachforschungen betreiben, dann würde ich vielleicht im Stande sein, eine Spur zu entdecken. Das Auge eines Vaters, der einen verlorenen Sohn sucht, sieht schärfer, als das von Miethlingen, die ihren Eifer nach der ihnen zu Theil werdenden Bezahlung bemessen, und was seinem forschenden Blicke verborgen bleibt, das offenbart ihm der geheimnißvolle Rapport, der zwischen seinem Herzen und jedem Nerv des Lieblings besteht. Aber ach, ich bin krank, recht krank, kaum noch im Stande, eine kurze Strecke, auf den Stock mich stützend, zu schleichen. Das furchtbare Schicksal meiner ersten Gattin und meiner Kinder, die ich wohl als todt betrauern kann, hat mich vollständig gebrochen, sodaß Mark und Kraft aus meinem Körper entwichen und todtbringendes Siechthum und Herzeleid eingekehrt sind. Ja, Freund, es geht zu Ende mit mir, ich kann mich darüber nicht täuschen; noch wenige Tage und ich werde mit meiner theuren Anna, 612
meinem Botho, meiner Lucie wiedervereint sein, Glaube nicht, daß mein frühzeitiges Hinscheiden mich schmerzt, im Gegentheile sehne ich den Augenblick herbei, der mich einer kaum noch erträglichen Seelenpein entführen wird. Doch will ich nicht aus dem Leben scheiden, bevor ich nicht mein Haus bestellt habe. Dich habe ich zum Vollstrecker meines letzten Willens auserkoren. Zu dem Rechtsbeistande meines Vaters, Doctor Brigay, habe ich kein sonderliches Zutrauen; er mag wohl ein Ehrenmann sein, indeß halte ich ihn für energielos, vielleicht ließe er sich auch von meinem Vater in irgend welcher Weise beeinflussen. Von Dir dagegen weiß ich, daß Du mit unbeugsamer Entschlossenheit, ohne Rücksicht auf die Wünsche Anderer vorgehen wirst, wenn es sich um das Interesse meiner Erben handelt. Im eingeschlossenen Couvert findest Du mein Testament. Ich mochte es nicht von Dir aufsetzen lassen, weil mein Vater nicht zu wissen braucht, bei wem ich es in Verwahrung gegeben habe. Um ihm eine rechtskräftige Form zu verleihen, habe ich es durch Doctor Brigay schreiben und durch einige meiner Schloßbeamten unterfertigen lassen. Daß ich Brigay dazu gewählt, laß Dich nicht wundern. Er kann immerhin meinem Vater den Inhalt des Testaments mittheilen, an demselben darf ja nichts geändert werden, da ich der Majoratsherr bin, mithin zu verfügen habe. Mein alter Daniel, der einzige Mensch, der mir wirklich treu ergeben ist und auf den ich mich deshalb verlassen kann, wird Dir das wichtige Document gleichzeitig mit diesem Briefe überbringen. Du wirst aus ihm ersehen, daß ich an alle meine Lieben gedacht habe. Zwar muß 613
ich beinahe als gewiß annehmen, daß die Kinder aus meiner ersten Ehe todt sind, wie meine erste Gattin, dennoch mochte ich sie im Testament nicht unerwähnt lassen, da es ja doch möglich sein kann, daß sie sich noch am Leben befinden. Ich bitte Dich hiermit nochmals, in Deinen Nachforschungen nicht zu ermüden, vielleicht krönt der Zufall Deine Bemühungen, sei es nun, indem er Dir ermöglicht, eines der Kinder aus meiner ersten Ehe oder den geraubten Sohn aufzufinden. – Das Majorat kann natürlich nur entweder an Botho oder an Koloman übergehen; befindet der Erstere sich noch am Leben, dann muß der Letztere mit den Gütern seiner Mutter und dem vierten Theile meines Baarvermögens sich begnügen. Sollte mein unehelicher Sohn aufgefunden werden, dann hat er außer dem vierten Theile des Baarvermögens drei im Testament benannte und nicht zum Majorat gehörige Gütercomplexe in Ungarn zu erhalten, außerdem – den Namen, der ihm mit vollem Recht gebührt. Unser gnädiger Monarch wird, so hoffe ich zuversichtlich, seinen hohen, gerechtigkeitsliebenden Sinn auch dadurch bethätigen, daß er dem unehelichen Sohne die Rechte eines legitimen verleihen wird, zumal da dessen Vater einer Familie angehört, die seit Jahrhunderten dem Kaiserhause in unwandelbarer Treue ergeben gewesen ist. Meine Petition wirst Du ebenfalls im großen Couvert vorfinden. – Es bleibt mir nun noch übrig, Deine Frage, ob ich Dir nicht ein Merkmal, an welchem der geraubte Sohn mit Sicherheit zu erkennen wäre, angeben könnte, zu beantworten. Es giebt wirklich ein solches; Katinka hat es mir ausdrücklich versichert, aber sie weigert sich mit aller 614
Entschiedenheit, die Beschaffenheit desselben zu nennen. Sie hat einen merkwürdigen unnatürlichen Haß auf den Sproß ihrer Verirrung geworfen, während sie Koloman abgöttisch liebt. Sie fürchtet nun, daß ihr Liebling benachtheiligt werden könnte, wenn einer meiner früheren Söhne auftauchte. Doch hoffe ich ihren starren Sinn erweichen zu können und dann werde ich mich beeilen, Dir die erwünschte Auskunft zu geben.« Der Schluß des Briefes enthielt Bitten des jungen Grafen an den Freund, in denen derselbe beschworen wurde, alle nur erdenklichen Mittel zur Aufspürung der verlorenen Kinder anzuwenden, doch las der »Herr« sie nicht, vielmehr griff er gierig nach dem vierten Documente und warf auch hier zunächst einen Blick auf die Unterschrift. Der alte Graf Szapary hatte es geschrieben. Sein Inhalt lautete: »Wenn diese Papiere jemals zum Vorschein kommen sollten, dann möge Derjenige, in dessen Hände sie gefallen sind, der Welt erzählen, welche Bewandtniß es eigentlich mit dem düsteren Drama, als dessen Urheber ich gelte, hat. Die Welt, voraussichtlich wohl erst die Nachwelt, da die Documente zu gut verwahrt sind, um früher, als nach Generationen und auch dann sicher nur in Folge eines Zufalls aufgefunden werden zu können, wird dann hoffentlich ihr Urtheil über mich modificiren, wie sie es schon längst gethan haben würde, wenn ich nicht zu gering von ihr dächte, um mich vor ihr gewissermaßen zu rechtfertigen. Scluß folgt.
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Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für
Berg-, Hüμen- und Ma
Nr. 37
Geheime Gewalten.
É. Jahrg.
Wiener Kriminal-Roman von Friedric Axma n n . Ueberse~ung und Dramati@rung wird vorbehalten, Nacdru% gerictlic verfolgt.
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ch weiß nur zu gut, daß man mit Entsetzen von meiner angeblich furchtbaren Grausamkeit gegen die Frau und die Kinder meines Sohnes spricht und will auch nicht in Abrede stellen, daß ich der großen Menge als eine Art von Beelzebub erscheinen muß. Die Wenigen dagegen, welchen in dieser Epoche des Schwindels und der ekelsten Sittenverwilderung Ehre und sittlicher Ernst noch nicht als leere Schemen gelten, werden meine Handlungsweise begreifen und billigen, wenn sie erfahren haben werden, welche Beweggründe mich zu derselben veranlaßten. Seit Jahrhunderten waren die gräflichen Familien der Szapary’ s und der Martonwasars, deren Besitzungen aneinander grenzen, durch Bande der Freundschaft und Verwandtschaft vereint. Beide Familien hatten dem Lande eine stattliche Anzahl bedeutender Männer geschenkt 616
und beide hatten ihren Ruf von jedem Makel zu erhalten gewußt. Die edle Rivalität, die seit je zwischen den Martonwasars und den Szaparys bestanden, sollte in neuester Zeit ein Ende finden, denn die erstere Familie war dem Erlöschen nahe. Mein lieber Freund, Graf Bela Martonwasar, hinterließ, wenn er die Augen für immer schloß, nur eine Tochter. Die Szapary’s hingegen konnten noch Jahrhunderte überdauern, zwar war meiner Ehe nur ein einziger Sohn entsprossen, aber dieser erfreute sich der vollkommensten Gesundheit, einer seltenen Schönheit und bedeutender Körper- wie Geisteskraft. Auch Martonwasars Tochter ragte durch Schönheit und blühende Gesundheit über die meisten vornehmen Damen des Landes hervor, was also war natürlicher, als daß in mir sowohl wie in meinem Freunde der Wunsch rege wurde, unsere Kinder zu verehelichen. Schon frühzeitig entstand dieses Verlangen in unserer Seele und eifrig ließen wir es uns angelegen sein, die Erziehung unserer Kinder so einzurichten, daß aller menschlicher Voraussicht nach eine Neigung in den jungen Herzen aufkeimen müßte. Diese Erwartung erfüllte sich; Katinka und Koloman gewannen einander schon in der Kindheit lieb und bewahrten sich die gegenseitige Zuneigung über die Jahre der Trennung hinaus, die sie in höheren Bildungsanstalten verlebten. Als sie zu Jungfrau und Jüngling aufgeblüht waren, theilten wir ihnen unsern Lieblingswunsch mit und Beide zeigten sich gern bereit, auf denselben einzugehen. Die Verlobung wurde mit allem Glanze, den man bei solchen Anlässen in unserm Lande zu entfalten pflegt, gefeiert und der Ehecontract in Ge617
genwart der angesehensten Magnaten abgeschlossen. Ein Exemplar wurde Sr. Majestät übermittelt, damit derselbe die Gnade habe, zu gestatten, daß die Majorate und die Namen der Szapary’s und der Martonwasar vereint werden dürften. Wenige Monate später traf die kaiserliche Sanction ein. Erfreut ritt ich nach Schloß Martonwasar, um meinem Freunde die frohe Nachricht zu überbringen. Er war nicht minder froh, als ich. Behaglich saßen wir bei einem Glase Wein und schwelgten in Zukunftsträumen, die sich mit dem Glück unserer Kinder beschäftigten. Da stürzt Hanna, die Amme Katinkas, in das Zimmer. Sie sieht bleich und verstört aus. Wir erkundigen uns natürlich danach, was vorgefallen sei. Sie will nicht mit der Sprache heraus, endlich stottert sie eine Nachricht hervor, die unser Blut erstarren macht. Soeben hat Katinka ihr entdeckt, daß sie am Verlobungstage meinem Sohne eine Gunst gewährt habe, die eine Jungfrau entehrt und daß die Folgen dieser Verirrung sich fühlbar machten. Ich sehe den greisen Martonwasar noch, wie er bei dieser Schreckenskunde jäh auffuhr und gleich darauf wieder steif, wie ein Stock, auf den Divan zurückfiel, sodaß ich, zum Tode bestürzt, ihm beisprang in der Meinung, ein Schlagfluß habe ihn getroffen. So schlimm war es glücklicherweise nicht, doch schlimm genug war der Zustand meines Freundes immerhin. Es war auch wahrlich nicht zu verwundern, daß er fast in Raserei ausartete. Achthundert Jahre hindurch hatten die Martonwasars bestanden, ohne daß auch nur der Schatten eines Makels auf ihren erlauchten Namen gefallen wäre, – und nun diese Schmach! 618
Ich erwähne die fürchterlichen Scenen, die nun zwischen Vater und Tochter sich abspielten, nicht, ebensowenig die unedle Handlungsweise meines Sohnes, der am Tage nach der Verlobung nach Bonn abgereist war. Die Aussagen des Herzogs von Taschlydschja, meines und Martonwasars gemeinschaftlichen Freundes, geben Auskunft über das, was in der nun folgenden trübseligen Periode geschah. Als Koloman trotz meines Fluches die Tochter des deutschen Handwerkers ehelichte, da wurde Martonwasar vom Schlagflusse getroffen und blieb seitdem ein elender Krüppel, Katinka fiel einem giftigen Nervenfieber anheim, aus dem sie erst nach Jahren zur völligen Genesung erstand, und ich wurde in wenigen Wochen um Jahre älter. Die Schmach war zu groß! Der letzte Sproß aus dem tausend Jahre alten Geschlechte derer von Szapary ehelichte eine Magd, nachdem er sein Wort, welches er in Gegenwart der Obersten des Landes seiner Braut verpfändet, gebrochen und die von ihm Verführte ehrlos der Schande preisgegeben hatte! So sehr ich meinen Sohn vordem geliebt hatte, so sehr verachtete, ja haßte ich ihn! Aber unendlich mehr noch sein Weib, denn die Tochter des elenden Knechtes hatte ihn ja bethört! Mochte sie ein Engel an Schönheit des Körpers und der Seele sein, holder als irgend ein sterbliches Wesen, für mich blieb sie nur die ekle Sirene, welche mit satanischen Künsten meinen Sohn bezaubert und ihn vom Wege der Ehre und Pflicht abgezogen hatte. Und nicht minder glühend haßte ich die von der Magd geborenen Kinder! Ich schwor dem alten Martonwasar, als er auf dem Sterbebette lag, mit den heiligsten Eiden, das deutsche 619
Weib sammt ihrer Brut zu vernichten und seine Tochter zur Gräfin Szapary zu machen, – und ich habe diesen Schwur redlich erfüllt! Da der Papst meines Sohnes Ehe nicht lösen wollte, so lockte ich Koloman und das deutsche Gezücht nach Siebenbürgen und trennte sie gewaltsam. Meinem Sohne wußte ich die Überzeugung beizubringen, daß seine erste Frau gestorben und ihn zur endlichen Einlösung seines Ehegelöbnisses an Katinka zu zwingen. Ich habe gethan, was Ehre und Pflicht mir geboten, möge die Welt mich verurtheilen; es ist mir gleichgültig. Weder die deutsche Magd, die sich erkühnte, eine Grafenkrone auf ihr Haupt setzen zu wollen, noch ihre Brut wird je wieder zum Vorschein kommen, dafür bürgen die Leute mir, denen ich sie auf den Rath des Herzogs von Taschlydschja übergeben habe. Dieser edle Freund hat mir geschworen, eher dieses Gezücht tödten, als aus der Verborgenheit auftauchen zu lassen. Und er wird Wort halten, dessen bin ich gewiß. Ich habe seine Freundschaft oft erprobt und sie stets bewährt gefunden. Einen Beweis derselben hat er mir noch in der neuesten Zeit geliefert, indem er den alten Daniel, meines Sohnes Vertrauten, zu bewegen wußte, mir jene Schriftstücke zu übergeben, die er dem Advokaten Medgyaszay bringen sollte. Ich habe deshalb ihm die Sorge, Kolomans unehelichen Sohn aufzuspüren, überlassen; auch dieser Aufgabe hat er sich mit Eifer unterzogen und bereits entdeckt, daß der Knabe durch eine Zigeunerin Namens Kalligarna geraubt worden ist.« Der »Herr« zuckte zusammen Er hatte bei seiner Pflegerin in Bukarest vergilbte Briefe gesehen, welche die Adresse 620
einer Frau Kalligarna trugen; das Weib mußte demnach diesen Namen geführt haben. – Es flimmerte ihm vor den Augen, als er weiterlesen wollte; erst nach einiger Zeit war er dazu im Stande. Graf Szapary schrieb ferner: »Diese Person hat sich nach der Türkei begeben und noch vermochte Taschlydschja sie nicht aufzufinden, doch wird es ihm zweifellos gelingen. Hat er den Knaben gefunden, dann soll derselbe, wie mein Sohn bestimmte, gleich einem legitimen Sohne behandelt werden; ist er doch dem reinen Blute zweier edlen Familien entsprossen und nur durch eine Tücke des Schicksals um seine angestammten Rechte betrogen worden. Gleich meinem Sohne, habe ich eine Petition an den Kaiser aufgesetzt, um Se. Majestät zu bitten, daß dem unehelichen Sohne alle Rechte eines ehelichen eingeräumt und gestattet werden möchte, den Namen eines Baron Szapary zu führen. Meine und meines Sohnes Eingabe hat Taschlydschja, um sie zur geeigneten Zeit dem Monarchen zu unterbreiten. Den testamentarischen Bestimmungen meines Sohnes stimme ich deshalb nicht bei, weil Botho und Lucie nicht mehr in Betracht kommen. Ich habe deshalb sein Testament vernichtet und ein anderes aufgesetzt, zu dessen Vollstrecker ich den Herzog von Taschlydschja ernannt habe. Da die vereinigten Majorate nur an Koloman fallen dürfen, so soll der uneheliche Sohn außer den drei Gütercomplexen in Ungarn zwei Drittheile meines Baarvermögens im Betrage von 4 Millionen Gulden erhalten. Sollte Koloman, ohne Erben zu hinterlassen, sterben, dann geht das gesammte Besitzthum an den unehelichen Sohn über.« 621
Auf die letzte Seite dieses Schrifstückes war ein Blatt Papier geklebt, welches nur wenige Zeilen, von zitternder Hand geschrieben, enthielt. Sie lauteten: »Freund! Nach wenigen Stunden bin ich ein todter Mann. – Endlich hat Katinka mir Auskunft gegeben. – Als die Nachricht von meiner Verehelichung mit Johanna eintraf, nahm sie einen Revolver, um sich zu erschießen. – Ehe sie jedoch losdrücken konnte, umfing eine schwere Ohnmacht ihre Sinne. – Als sie wenige Tage später einem Knaben das Leben schenkte, – sah sie auf dem linken Arme desselben das getreue Abbild eines Revolvers. – Der »Herr« sank in den Sessel zurück – sein Herz stand für Augenblicke still, sein Körper blieb lange gelähmt. Er, – er war der geraubte, uneheliche Knabe, Kolomans von Szapary und Katinka’s von Martonwasar Sohn, – das Abbild eines Revolvers, welches in blutigrother Farbe auf seinem linken Arme sich befand, legte einen ganz unanfechtbaren Beweis dafür ab! Er war der rechtmäßige Erbe eines unermeßlichen Reichthums, den er seit Jahren durch verbrecherische Mittel erstrebt hatte! Er hätte längst auf sonniger Höhe stehen, unter den Edlen des Landes einer der Obersten sein, er hätte in überreicher Pracht und Macht schwelgen und sich eines wahrhaft beneidenswerthen Glückes zu derselben Zeit erfreuen können, wo er die dunkle Bahn des Verbrechens wandelte, verabscheut von allen rechtlichen Menschen, gehetzt von den Schergen der Justiz, gefoltert von seinem Gewissen, wenn er nicht der Spielball der furchtbaren Frivolität eines herzlosen Mannes hätte sein müssen. Warum 622
Taschlydschja ihn mißbraucht hatte, ließ sich leicht genug erklären, – er wollte den gesammten Szaparyschen Besitz an sich reißen. Das aber konnte er nur dann, wenn der rechtmäßige Erbe desselben ganz in seiner Gewalt war, ein Verbrecher, der nicht wagen durfte, sich irgend einer Forderung seines vermeintlichen Gönners nicht zu fügen. Es unterlag keinem Zweifel, daß Taschlydschja den schändIichen Plan schon vor der Geburt des unehelichen Sohnes gefaßt hatte. Er hatte den Knaben rauben lassen, um ihm eine Erziehung zu geben, die ihn schon in der Kindheit das Verbrechen liebgewinnen lehrte. Und diese Methode hatte nur zu gute Früchte gezeitigt. Derjenige, welcher der Stammherr eines hochangesehenen Geschlechtes hätte werden können, war so tief in Schande und Verbrechen hineingerathen, daß eine Errettung aus diesem Pfuhle der Sünde nicht mehr möglich war. Selbst wenn der Monarch, nach dem er das entsetzliche Loos des Irregeführten erfahren, durch einen Gnadenact den Abenteurer straflos erklärt hätte, wäre dieser doch für die Welt verloren geblieben. Der Chef einer Räuberbande, der intellectuelle Urheber eines Mordversuchs war für die gute Gesellschaft unmöglich, für jeden Rechtlichen ehrlos geworden. Er durfte weder den stolzen Namen der Szaparys tragen, noch je hoffen, daß eine gute Familie ihm eine Tochter zur Gattin geben würde. Ihm blieb durchaus nichts Anderes übrig, als – ein freiwilliger Tod! Was lag ihm nun auch noch am Leben, da Lucie, seine Schwester, unrettbar für ihn verloren war! – Ja, er wollte aus dem Dasein scheiden, doch nicht früher, als bis er dafür gesorgt, daß seine, 623
nein, des Herzogs unglückliche Opfer das ihnen zustehende Glück, Taschlydschja hingegen die ihm gebührende Strafe erhalten würden. Welcher Art dieselbe sein müßte, darüber war er nicht in Zweifel. Er wollte nicht hingehen und seinen elenden Verführer niederschießen; ein schneller Tod wäre ja keine Sühne für die Frevelthaten dieses Mannes gewesen, nein Taschlydschja, der nach Reichthum und Macht lechzte, mußte noch lange Jahre in Armuth und Elend hinschmachten, um endlich, von Allen verachtet, an Gott und sich selbst verzweifelnd, umzukommen. Der «Herr« setzte sich, nachdem er diesen Entschluß gefaßt, hin und schrieb einen langen Brief an den Polizeipräsidenten. Er legte demselben ein offenes Bekenntniß seiner Vergehen ab und erzählte, welchen Antheil der Herzog von Taschlydschja an demselben genommen. Selbstverständlich gestand er auch ein, daß er Bruno, den rechtmäßigen Grafen Szapary, aus dem Wege habe räumen wollen, um eines unbequemen Nebenbuhlers ledig zu werden. Johannes Kauer habe er aus dem Grunde nach einem verborgenen Orte, den er namhaft machte, bringen lassen, um ihn von Lucie, die er selbst liebte, fernhalten zu können. Dieses Bekenntniß siegelte er sammt den Documenten in ein Packet, welches er selbst in die Wohnung des Polizeipräsidenten trug. Nachdem er dieser Pflicht sich entledigt hatte, ging er langsam nach seiner Wohnung zurück. Mit Macht zog es ihn zu Lucie, doch er unterdrückte die Regung, sie wiederzusehen. Sie liebte ihn ja nicht, und was hätte er thun sollen, wenn sie ihn aufgefordert haben würde, die Mutter zu bewillkommnen ? 624
Als er seine Wohnung betrat, erfüllte eben die Morgensonne das Zimmer mit goldigem Glanze. Der Abenteurer nahm ein Flacon, das mit starkem Gifte gefüllt war, aus der Tasche und trat an das Fenster. Sinnend schaute er zum blauen Äther empor und seine Züge erschimmerten in freudiger Hoffnung. »Zwei Seelen gab es, die von Liebe für mich erfüllt waren,« murmelte er, »und sie weilen beide dort oben. So will denn auch ich dahin eilen. Bald, bald werde ich mit Euch vereint sein, Ihr Theuren, mit Dir, Walther, Du goldenes Herz, und mit Dir, mein Vater, der Du Dich stets nach meinem Anblicke gesehnt. O, wie auch ich mich sehne, Dich zu schauen, zu umfangen! Fort, – fort zu Euch!« Er trank das Flacon leer, – breitete die Arme aus, dann sank er zum Boden nieder, – seine Seele schwebte empor zum ewigen Lichte. – Bruno Waldmann wurde unverzüglich in Freiheit gesetzt und nach einiger Zeit als rechtmäßiger Erbe des Szaparyschen Besitzes anerkannt. – Auch Johannes erhielt die Freiheit wieder. Er beeilte sich, Lucie seinen Fehltritt zu offenbaren und stellte ihr, wenn auch mit bebendem Herzen, anheim, ob sie nun noch die Seine werden wolle. Sie sprach kein Wort, aber sie umschlang ihn innig und ihre Blicke, ihre Küsse ertheilten ihm eine Antwort, die nicht mißzuverstehen war. An demselben Tage, an welchem Botho das holde, vor seligstem Glück erstrahlende Käthchen zum Altare führte, vereinte des Priesters Hand auch zwei nicht minder glückliche Menschenkinder, – Hans und Lucie. 625
Die Gräfin Szapary erlangte ihre Gesundheit vollständig wieder, und ihr, wie dem alten Förster wurde noch eine Jahre lang währende Fülle von Freude und Glück im Kreise ihrer Kinder und Enkel zu Theil. Der kleinen munteren Schaar getreue Wärterin wurde die alte Brigitta, des Waldwärters Klaus Wittib. Diesen fand man an dem Tage, an welchem ein Gensdarm in seiner Hütte gewesen war, um ihn zu verhaften, mit zerschmettertem Schädel am Fuße des Felsens, in welchem die »Geisterhöhle« sich befindet. Die Welt meinte, daß er einen Fehltritt gethan, vielleicht als er, eifrig einen Wilddieb verfolgend, auf den Weg nicht achtete. Daß sein Weib in Wien auf dem Polizeipräsidium gewesen, erfuhr Niemand. In einer engen und finstern Kasematte des Felsennestes Munkacs führt der einst so stolze und glänzende Herzog Taschlydschja ein jammervolles Dasein. Er wurde zu lebenslänglichem einsamen Kerker dorthin verbannt. Wenn er dereinst die Augen für immer schließt, dann verliert das Volk der Zigeuner seinen letzten König.
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