Geheimauftrag Phantom
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 104 von Jason Dark, erschienen am 14.11.1989, Titelbild: Vice...
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Geheimauftrag Phantom
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 104 von Jason Dark, erschienen am 14.11.1989, Titelbild: Vicente Ballestar »Sie mögen doch die Schweiz«, begann mein Chef, Sir James, das Gespräch. »Natürlich.« »Dann holen sie dieses Mädchen hier aus einem Internat am Genfer See.« Ich bekam ein Bild von ihr, schaute es mir an und war entzückt. Die Kleine war knapp zwanzig und sah wunderschön aus. »Was hat sie getan?« fragte ich. Sir James druckste herum. »Eigentlich nichts. Ihr Vater ist ein hohes Tier. Er hat Angst vor einem Attentat und will den besten Schutz für seine Tochter.« Ich fragte nicht weiter. Hätte ich es mal getan, denn das Internat in der Schweiz entpuppte sich als eine magische Hölle, in der ein Mord-Phantom seine blutige Spur zog...
Leicht und trotzdem sicher führte der Zeichner den Bleistift über das weiße Papier. Auf der hellen Fläche entstand in einem dünnen Grau eine Skizze. Bald waren die ersten Bäume zu erkennen: ein Wald entstand. Der Betrachter des Bildes hatte den Eindruck, in den Wald hineinblicken zu können. Ein Weg, den der Künstler geschaffen hatte, bot sich dazu förmlich an. Fertig war das Werk noch nicht. Vor dem Finale spitzte der Künstler noch einmal den Bleistift. Es war wie ein Atemholen. Wieder näherte sich die Spitze dem Papier. Sie huschte noch einmal über die Fläche hinweg, ohne sie jedoch zu berühren. Etwas unkonzentriert, als könnte sich die Hand nicht entscheiden, wo sie nun weitermalen sollte. Ob über den Bäumen, davor oder zwischen ihnen. Da war noch die Lücke, der Weg, der tief in den Wald hineinführte. Genau in der Mitte setzte die Spitze leicht auf. Eine samtene Berührung, nicht einmal ein Schatten war zu erkennen, dann entstand der erste Strich. Bald waren die Umrisse eines langhaarigen Mädchens zu erkennen, das vor irgendwas wegrannte. Sie hatte Angst, und das nicht ohne Grund. Hinter ihr war jemand her. Eine Gestalt, die Ähnlichkeit mit einem Gespenst besaß. Ein unheimlicher Verfolger, ein Phantom, ein Schatten, der darauf lauerte, daß ihm jemand über den Weg lief. Bewaffnet war er mit einem langen Messer. Die schwarze Klinge fiel besonders auf. *** Claudine spürte die Finger des jungen Mannes auf ihren nackten Brüsten. Dafür war sie jedoch nicht in der Stimmung, deshalb protestierte sie: »Nein, bitte, nicht mehr, ich muß weg, wirklich. Ich bekomme sonst Ärger.« »Den muß man in Kauf nehmen.« »Nein, die Sitten sind streng. Sie sind ...« Die Finger wanderten weiter. Claudine kannte sich aus. Wenn sie sich jetzt nicht losriß, kam sie überhaupt nicht weg. Und sie überwand sich. So heftig stemmte sie sich hoch, daß sie mit der Schulter beinahe gegen das Kinn des jungen Mannes knallte, der hastig zurückzuckte. »He, was hast du denn?« beschwerte sich dieser. Claudine schwang ihre Beine herum. »Tut mir leid, aber es geht nicht anders. Ich muß weg.« Die nackten Füße schlüpften in die weichen Stoffschuhe. Mit der rechten Hand griff sie zu ihrem ärmellosen T-Shirt und streifte es über.
Claudines Freund hatte seinen Platz ebenfalls verlassen und auf einer umgestülpten Bierkiste Platz genommen. Fr hatte sie bemalt und beklebt. In seiner Wohnung fand sich viel >Selbsthergestelltes<, und er schaffte es immer wieder, den Kram an die Touristen zu verkaufen, die über die Märkte von Ascona und Locarno schlenderten. Fr schaute zu, wie Claudine ihr Stirnband umlegte. Damit bändigte sie die braune Haarflut. »Wann sehen wir uns wieder?« »Ich rufe dich an.« Der junge Mann lachte. »Das hast du schon oft gesagt.« »Und immer gehalten.« »Klar, nur konnte ich mich darauf nicht verlassen. Weißt du, ich habe zu lange gewartet, dabei hätte ich die Abende auch anders verbringen können.« Fr grinste sie mit schneeweißen Zähnen an. »Du verstehst, was ich meine, Claudine?« Ihr Gesicht verschloß sich. »Ja, ich weiß Bescheid. Du denkst an andere Mädchen?« »Möglich.« Sie ging zur Tür, öffnete sie, hielt die Klinke fest und drehte sich noch einmal um. Wütend und mit Tränen in den Augen trat sie mit dem rechten Fuß auf. »Dann . . . dann . . . geh doch zu den anderen Mädchen! Verschwinde doch, du . . . du . ..« »That's life . . .« »Mit mir nicht, nicht mit mir.« Claudine ließ die Türklinke los und rannte weg. Sie hatte es geahnt, daß die Verbindung nicht mehr lange halten würde, so etwas spürte man, aber auf diese kalte Art und Weise abgeschoben zu werden, paßte ihr überhaupt nicht. Das Mädchen stolperte die schmale Treppe hinab. Die Haustür war nicht abgeschlossen. Danach mußte sie achtgeben, denn zwischen der Tür und der in den Hang hineingebauten Steintreppe befand sich nur mehr ein schmaler Zwischenraum. Claudine kannte den Weg. Sie war ihn oft genug gegangen, viel zu oft, wie sie sich jetzt eingestehen mußte. Sie hätte schon eher Schluß machen sollen. Blind war sie gewesen, so verdammt blind. Ihr Vater hatte sie immer vor Typen wie diesen Marktverkäufern gewarnt. Die Stufen der Treppe waren hart, ziemlich uneben und an einigen Stellen sogar glatt. Nach fünfzehn Schritten hatte sie die Treppe hinter sich gelassen und fand sich auf dem schmalen Gehsteig der Küstenstraße wieder. Der See lag ruhig da. Nicht einmal der übliche Wind war aufgekommen. Die Luft drückte. Schwerer Blütenduft schwängerte sie. Rosen und buschiger Oleander bildeten rotweiße Hecken, über die wie breite Flügel die langen, schmalen Finger der Windmühlenpalmen zitterten. Dieses Ascona war ein herrlicher Flecken Erde. Ein Ort, den der liebe Gott in einer guten Laune erschaffen hatte. Hinzu kamen die Berge und
natürlich der Lago Maggiore, der lange See, der wie eine ausgestreckte Zunge zwischen den hohen bewaldeten Bergen lag. Lichter bildeten an gewissen Uferstrecken kompakte, funkelnde Inseln, die wie Sternenhaufen schimmerten. Weiter oben, an den Flanken der Berge verloren sich die hellen Punkte. Dort blinkte nur hin und wieder ein Licht, als wollte es darauf hinweisen, daß auch dort noch Menschen wohnten. Claudine war zu Fuß zu ihrem Freund gegangen. Sie hatte nicht sehr weit zu laufen. Etwas außerhalb des Ortes, in Richtung Italien, lag das Internat, von allen nur >Castello< genannt, weil es aus einer Zeit stammte, wo man noch so gebaut hatte. Ein altes Gebäude, durch private Gelder restauriert, ein Schmuckstück etwas oberhalb des Sees, umgeben von Tennisplätzen und anderen Sportanlagen. Man hatte den benötigten Platz dafür dem Berg geraubt. . . Die Innenstadt lag links von diesen Anlagen. Bei diesem Wetter schlief noch niemand. Da spielte sich das Leben auf den Piazzas, den /ahlreichen kleinen Plätzen ab, da wehten Musik und Gesang durch die Gassen, vermischt mit dem Wirrwarr der Stimmen und der Gerüche, die aus den offenen Küchenfenstern der kleinen Grottos und Osterias wehten. Ein Leben, das auch Claudine liebte. Sie wäre gern hingegangen, doch es gab im Internat gewisse Regeln, die sie einhalten mußte. Pünktlichkeit war angesagt. Wer unpünktlich war, mußte mit einer Strafe rechnen, da kannte die Rektorin kein Pardon. Wie sie wirklich hieß, wußte kaum jemand, alle nannten sie nur Madame Sousa. Die Mutter mußte Französin gewesen sein, der Vater Tessiner. Und Madame Sousa verschaffte sich Respekt, nicht durch schwere Züchtigungen, wie man es aus den alten Internaten kannte, nein, sie liebte das Wort, den reinen Spott, den Hohn, mit denen sie die Mädchen drangsalierte und fertigmachen konnte, wenn es nötig war. Um den normalen Weg parallel zum Ufer zu nehmen, reichte ihr die Zeit nicht mehr. Wer sich länger im Internat aufhielt, der kannte schon sehr bald die Schleichwege, die den Hang hinaufführten und kaum zu entdecken waren. Schmale Pfade, die sich durch die Vegetation schlängelten, die mit Blütenduft erfüllte Tunnels waren, einsam in der Nacht und auch tagsüber kaum frequentiert. Die Luft war schwer. Wenn Claudine einatmete, glaubte sie, den Blütenstaub zu schmecken. Ein schwerer Duft, der den Mund und die Atemwege ausfüllte. Zunächst war der Weg noch steinig. Rechts und links wuchsen die Büsche sehr dicht an den Weg heran. Nicht nur einmal streiften Blätter ihr Gesicht, es waren auch Zweige da, die nach ihren Schultern griffen und über ihre Arme fuhren. Insekten hatten sich zusammengeballt.
Manchmal stürzten sie sich auf das Opfer, wenn Claudine durch die summenden und zuckenden Haufen lief. Schwach schimmerte die dunkelblaue Fläche des Himmels durch die Lücken. Wenn Claudine den Kopf nach hinten legte, sah sie die Sterne in ihrem funkelnden Glanz. Sie hatten ja ungemein viel Platz, um sich auf der weiten Fläche des Himmels auszubreiten. Ein herrliches Bild, das sie vom Fenster ihres Zimmers oft genug genossen hatte. In dieser Nacht konnte sich Claudine daran nicht erfreuen, und schuld war einzig und allein ihr Freund. Abgeschoben hatte er sie, einfach zur Seite gedrückt, als wäre sie kein Mensch, sondern nur ein Stück Holz. Mein Gott, was war sie dumm gewesen. Claudine war stark erregt. Sie dachte ausschließlich an ihren Freund und kümmerte sich nicht um die Umgebung, die einen waldartigen Charakter hatte. Den Weg kannte sie. Er führte zuerst steil bergauf, dann flachte er etwas ab. Schwere Luft umgab sie wie ein Vorhang. Claudine schwitzte, die Haut glänzte wie eingerieben. Hin und wieder schreckte sie schlafende Vögel hoch, die wegflatterten. Das Mädchen war nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, an eine Gefahr dachte es nicht. Die war jedoch vorhanden! Hinter ihr war plötzlich, aus der Kurve heraus, der Schatten mit dem Messer aufgetaucht. Ein unheimlicher Todesbote, der nicht zu hören war, auch keine Hindernisse kannte, denn er huschte einfach um die Dinge, die sich ihm in den Weg stellten, herum -- oder etwa hindurch? Der Schatten war vorhanden, das Messer ebenfalls. Eine Verbindung, bestehend aus Geist und Materie, gefährlich für die Person, die nichts ahnte. Claudine dachte an das Internat, an die verfluchte Strenge der Madame Sousa, die auf die Gefühle der Schülerinnen keine Rücksicht nahm und strikt nach ihrem aufgestellten Plan vorging. Was interessierte diese Frau schon Liebe oder Verliebtsein? Diese Vokabeln hatte sie gestrichen oder erst gar nicht in sich aufgenommen. Der Weg wurde enger und kurvenreich, mit einem Untergrund, der Claudine vorkam wie klebriger Teer. Doch es war die Feuchtigkeit, die wie ein Film aus Moos und Flechten auf dem Weg lag. Der Schatten holte auf. Geschmeidig, lautlos. Fr war ein Phantom, eingepackt in seine schwarzblaue Grausamkeit und mit dem Messer, dessen Klinge hin und wieder auf Claudines Rücken zielte.
Links von ihr wuchs eine Mauer bis dicht an den Weg. Dahinter lag ein kleiner tropischer Garten, sehr dicht bewachsen. Die Zypressen, die Palmen und auch die schräg über die Mauer hinweg und krumm wachsenden Kakteen fingen den Schein der Gartenlaternen auf. Claudine konnte nichts sehen, sie wurde nicht gesehen. Das Phantom sah sie. Und es war da! Claudine spürte es. Nicht den Körper, nein, es war der Hauch, der unangenehm kalt gegen sie fuhr und ihren Hals wie ein Tuch umspannte, als wollte er würgen. Sie blieb stehen. Auf einmal klopfte ihr Herz wie rasend. Es lag nicht am langen Ansteigen, das Klopfen war einfach da, es meldete die Gefahr. Sie wollte herumfahren. Der Boden war jedoch zu glatt. Mit dem rechten Fuß rutschte sie nach rechts weg. Leider so heftig, daß sie es nicht mehr schaffte, sich festzuklammern. Claudine kippte, sie fiel gegen die Mauer. Plötzlich waren die Schmerzen da. Am Hals und auf der rechten Gesichtshälfte. Mehrere Stacheln gleichzeitig bohrten sich in ihre Haut. Es waren Stacheln, die von dem gekrümmten Arm einer Kaktee stammten, der über die Mauer hinwegragte. Sie war mit dem Gesicht dagegengefallen. Aus kleinen Wunden strömte das Blut. Sie wollte es wegwischen. Auf halbem Weg kam ihre Hand zur Ruhe. Da hatte sie die Gestalt gesehen. Ein dumpfes Etwas, ein grausamer Schatten, bewaffnet mit der mörderisch schwarzen Klinge. Die war schlimmer als die Stacheln der Pflanze, viel schlimmer, grausam, tödlich . . . Sie spürte den Schmerz, der ihr alle Sinne raubte, und auch das Leben. Claudine taumelte noch nach vorn, hinein in den kalten Todeshauch. Hinter sich, wo der Garten jenseits der Mauer lag, hörte sie ein Lachen. Hell, so verdammt lebendig. Das Mädchen fiel nach vorn, schlug auf die Knie auf und fiel dann ganz um. Sie glitt hinein in den weichen Untergrund, in diese Schmiere. Dann war es vorbei. Für immer vorbei. Und das Phantom verschwand ebenso lautlos, wie es herangehuscht war. Eine Spur blieb zurück. Blutstropfen, die von der Spitze der Mordwaffe in bestimmten Intervallen nach unten fielen... ***
Vor mir lag der Tunnel! Eine Röhre, siebzehn Kilometerlang. Gefährlich und unheimlich, wie mir gesagt worden war. Es gab Menschen, die lieber mit dem Auto über den Paß fuhren, als durch Tunnels. Nicht ich, denn ich hatte es eilig. Im Rückspiegel sah ich ein letztes Mal die grandiose Bergwelt der Zentralschweiz, dann verengten sich die Fahrbahnen, und schon hatte mich die dumpfe Helligkeit des Tunnels geschluckt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der St.-Gotthard-Tunnel hatte auch mich verschluckt. Der Tunnel! Man konnte den Begriff so stehen lassen. Er war etwas Besonderes, nicht allein wegen seiner Länge, sondern auch wegen der Vorfälle, die sich in ihm abgespielt hatten, und zwar immer an einer bestimmten Stelle. Nicht einmal sehr weit von der Einfahrt entfernt, wenn man von der Zentralschweiz kam. In Höhe von Kilometer drei. Dort waren dann die Leute durchgedreht. Es gab welche, die einfach anhielten, aus dem Fahrzeug sprangen, sich an den schmalen Randstein hockten und ihre Verpflegung auspackten, um ein Picknick zu machen. Andere wiederum waren schreiend weggerannt, voller Panik und Angst. Wieder andere hatten gestoppt und einfach nur dagesessen, dumpf und apathisch, mit dem Grauen in den Augen, als hätten sie etwas besonders Scheußliches gesehen. Man war dem Phänomen auf den Grund gegangen. Vielmehr, man hatte es versucht. An dieser Stelle waren Messungen vorgenommen worden, die jedoch zu keinem Ergebnis geführt hatten. Dennoch hielt sich die Mär, daß die Geister der beim Bau umgekommenen Arbeiter in der Röhre spuken sollten. Gerüchte, mehr nicht. Ich folgte meinem Vordermann, einem Lastwagen, der ziemlich langsam fuhr. Überholen war trotzdem nicht drin. Hätte ich es versucht, wäre ich in die heranhuschenden Lichter des Gegenverkehrs hineingerast, denn nur zwei Fahrbahnen durchzogen den Tunnel. Ich schielte nach rechts durch das Seitenfenster des Leihwagens, erkannte die Lichtflecken der Lampen oder die Signale der SOSLeuchten. In bestimmten Abständen waren Nischen gebaut worden, wo Fahrzeuge abgestellt werden konnten, die eine Panne gehabt hatten. Ich fuhr weiter. Im Schatten des Lastwagens, der mir seine giftigen Auspuffgase entgegenstieß. Kilometer drei! Ich sah die Markierung, ich erinnerte mich wieder und lauerte darauf, daß etwas geschah.
Fs passierte nichts. Wir rollten weiter mit Tempo 60. Der LKW vor mir blies mir weiterhin seine schmutzigen Abgase entgegen, das war alles. Keine Geister, keine Zombies, kein Durchdrehen der Fahrer, der Tunnel hatte seine Schrecken nicht gezeigt. Glatt und sicher kam ich weiter. Siebzehn Kilometer. Eigentlich eine Kleinigkeit, ein Klacks, eine Strecke, über die man kein Aufsehen macht, über die man nicht einmal redet. Anders im Tunnel. Da wurden die Kilometer lang, und die Luft verschlechterte sich spürbar. Die Klarheit verschwand, die roten Augen der Heckleuchten vor mir wirkten verwaschen, wie im Nebel. Die Sicht wurde noch schlechter. Dumpfe, schwere Schatten füllten die enge Röhre aus, durch die Fahrzeuge auf beiden Fahrbahnen rollten. Ihre eingeschalteten Scheinwerfer sahen aus wie stumpfe Augen. Ich hatte das Gebläse abgeschaltet, weil ich nicht den Auspuffqualm im Wagen haben wollte. Die Temperatur stieg. Ich geriet ins Schwitzen. Einige Male schimpfte ich leise vor mich hin. Dann kurbelte ich das Fenster nach unten. Frische Luft drang nicht in den Wagen, dafür etwas kältere, was für den Moment angenehm war. Ich dachte auch nicht mehr an den Tunnel und an die Fahrerei, sondern erinnerte mich daran, weshalb ich überhaupt in dieser Röhre steckte und nicht in London hockte. Fs war ein Wunsch meines Chefs, Sir James Powell, gewesen. Er hatte mich vor kurzem in sein Büro geholt und mich so harmlos angesehen, wie ich es schon von anderen Fällen her kannte. Er wußte nie so recht, wie er ein Gespräch beginnen sollte. Auch in meinem Fall hatte er wieder so harmlos angefangen. »Sie mögen doch die Schweiz, John, nicht?« »Natürlich.« k »Dann holen Sie dieses Mädchen aus einem Internat in Ascona, direkt am Lago Maggiore.« Ich bekam das Bild eines wunderschönen Mädchens gereicht. Die Kleine mochte um die Zwanzig sein und hieß Angel, also Engel. »Was hat sie getan?« fragte ich. Sir James ließ sich Zeit mit der Antwort und druckste ein wenig herum. »Sie nichts, doch ihr Vater ist ein hohes Tier in unserer Regierung. Er fürchtet uin das Leben seiner Tochter. Genauer gesagt, er hat Angst vor einem Attentat. Er will den besten Schutz für seine Tochter. Sie können bis Zürich fliegen, sich dort einen Leihwagen nehmen, na ja, den Rest der Strecke genießen Sie als Urlaub.« »Wie schön, Sir James. Nur eben nicht glaubwürdig. Ist sonst noch etwas vorgefallen?« »Wie meinen Sie?« »Mit Angel.«
»Nein, John, nicht mit ihr. Eine Mitschülerin wurde ermordet. Die Mädchen in der Schule haben Angst. Ihnen sitzt der Alp im Nacken. Sie fürchten, daß der Killer wieder zuschlagen könnte.« Ich hob die Schultern. »Was sagt die Polizei?« »Die ist machtlos, wie ich weiß. Sie können sich selbst erkundigen. Es gibt da einen Kollegen von ihnen, einen gewissen Leutnant Tenero. Er kann Ihnen mehr sagen.« »Auch über den Mörder, Sir?« »Nein. Sie haben dem Killer jedoch einen Namen gegeben. Er ist das Phantom. Er taucht auf, mordet und verschwindet, und er hinterläßt keine Spuren.« »Dann soll ich nicht nur dieses Mädchen heil nach London bringen, sondern auch ein Mord-Phantom fangen?« »Das wäre optimal.« Über den Schreibtisch hinweg hatte er mir die Hand gereicht. »Ich verlasse mich auf Sie, John.« »Danke für das Vertrauen, Sir.« Ein heller Streifen erschien an den Wänden. Nicht verursacht durch Scheinwerfer, es war die Helligkeit des Ausgangs, die mir Sekunden später entgegenflutete. Auch verbreiterten sich die Fahrbahnen. Endlich, der Tunnel lag hinter mir. Ich setzte die Sonnenbrille auf, öffnete wieder das Fenster und ließ die herrliche Luft des Tessins in den Wagen strömen. Airolo hieß der erste Ort hinter dem Tunnel. Die Autobahn führte hindurch und weiter, immer weiter und tiefer in die Landschaft der mächtigen, grauen Steine hinein. In den Wald, in die Hitze und auch hin zu den Flüssen, die zu Tal flössen und in die beiden großen Seen, den Lago Maggiore und den Lago Lugano, mündeten. Airolo lag rasch hinter mir. Ich wollte zwar zeitig an meinem Ziel in Ascona eintreffen, dennoch spielte ich nicht den Raser. Auf der rechten Spur rollte ich im 100-Kilometer-Tempo dahin und hatte Zeit genug, die Landschaft zu genießen. Den herrlichen Himmel mit seinem samtenen Blau, in das die Wolken wie hineingezeichnet wirkten. Steil reckten sich die Hänge dem Blau entgegen. Bewachsen mit dichten Laubbäumen, deren Grün hin und wieder durch kleine Dörfer unterbrochen war, die wie Nester an den Felsen klebten. Graue Häuser, Stein war auf Stein gelegt worden, in mühevoller Arbeit dem Berg abgerungen. Kirchtürme lugten über den flachen Dächern hervor. Die Häuser besaßen kleine Fenster. Man wollte sich gegen die sengenden Strahlen der Sonne schützen. Die Temperatur stieg. Im Süden des Tessins herrscht Mittelmeerklima, das stellte auch ich fest, als die warme Luft durch die offenen Fenster in meinen Leihwagen blies und mit den Haaren spielte.
Mein nächstes Ftappenziel hieß Bellinzona, die Hauptstadt des Tessins. Nur auf diesen Namen schaute ich, wenn mein Blick über die Schilder streifte. Als die ersten Palmen und Agaven erschienen, war es nicht mehr weit. In Bellinzona Nord verließ ich die Autobahn, die weiter nach Lugano führte, bei Chiasso die Grenze nach Italien überwand und in Richtung Mailand weite rfü h rte. Auf einer gut ausgebauten Straße rollte ich an Bellinzona vorbei. Locarno und damit der Lago Maggiore lockten. Kurz vordem Ort, auf der linken Seite, lag grün und ruhig der Lago. Erste kleine Staus entstanden. Ich sah abermals die typischen Tessiner Steinhäuser. Viele waren versteckt hinter Gärten. In Locarno kam ich für eine Weile nicht weiter. Dann im Schrittempo, rollte ich am See entlang, wo sich auch die >Grande Piazza< befand, und sah das Wort Ascona auf die Straße gepinselt. Über eine Umgehungsstraße erreichte ich den weltbekannten, wunderschönen und ziemlich kleinen Ort am Lago Maggiore. Kurz hinter der Einfahrt fiel mir auf der rechten Seite eine Kirche auf, um die herum ein Friedhof angelegt worden war. Nicht weit entfernt, auf der anderen Straßenseite leuchtete das Schild mit der Aufschrift Polizia. Mir fiel wieder dieser Leutnant Tenero ein, und ich beschloß, vor meiner Weiterfahrt zum Internat, mit ihm zu reden. Auf dem kleinen Platz vor dem Gebäude hielt ich den BMW an. Ich stieg aus und merkte die heißen Strahlen der Sonne erst richtig. Auch in Ascona herrschte viel Betrieb. Sommerlich gekleidete Menschen flanierten über die Gehsteige und genossen das südliche Flair. Ich stieß eine schmale Tür auf. Der Flur war kühl und lag im Halbdunkel. Die zweite, dunkel gestrichene Tür befand sich an der rechten Seite. Ich klopfte an, öffnete, betrat das Dienstzimmer und schaute in die fragenden, dunklen Augen eines Polizisten, der am Schreibtisch saß und gegen einen sich schnell drehenden Ventilator schaute. »Gott zum Gruße«, sagte er und schaute mich fast schon vernichtend an. Wahrscheinlich hatte ich ihn in seiner Mittagsruhe gestört. Ich sprach ein paar Brocken italienisch, deutsch besser und erkundigte mich bei dem Beamten, ob er diese Sprache beherrschte. »Si, ein wenig nur.« »Das ist gut.« Ich stellte mich vor und fragte gleich nach Leutnant Tenero. Auf dem Gesicht des etwas dicklichen Polizisten ging zwar nicht die Sonne auf, aber er lächelte. »Signore Sinclair, ja, wir haben Sie erwartet. Das ist gut.« »Danke.« »Setzen Sie sich doch.« »Eigentlich wollte ich sofort weiter. Nur Leutnant Tenero . . .«
Er winkte ab. »Der ist nicht da. Er ist bei einer Beerdigung. Ein Mädchen aus dem Internat. . .« »Sie meinen — wieder ein Opfer?« »Ja, eine Claudine. Sie ist die dritte Tote.« »Wann?« »Vor zwei Tagen.« Der Mann verzog das Gesicht und wischte über das schweißnasse Haar. »Es ist schlimm, ich weiß, aber wir konnten nichts tun, leider nicht.« »Sie haben keine Spur von dem Mörder?« »No, Signore.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Der ist wie ein Phantom, er ist der Teufel, das Böse, wenn Sie verstehen. Ich . . . ich kann es auch nicht fassen.« »Ist der Leutnant bei der Beerdigung?« »Si, er will schauen.« Mir fiel der Friedhof ein, an dem ich kurz hinter dem Ortseingang vorbeigefahren war. Ich erkundigte mich, ob dort die Beerdigung stattfand. Sie fand dort statt, wie mir der Beamte versicherte. »Dann werde ich hingehen. Kann ich mein Auto solange bei Ihnen stehenlassen?« »Sie können.« »Gracias.« Eine halbe Minute später stand ich wieder im grellen Licht der Sonne und spürte bald die ersten Schweißperlen auf meiner Stirn. Mit dem Wagen hatte ich den Weg vielleicht innerhalb von zwei Minuten zurückgelegt, zu Fuß brauchte ich länger. Gern hätte ich mein helles Leinenjackett ausgezogen; ich behielt es sicherheitshalber an, um meine Pistole verdecken zu können. Über dem See, dem Tal, der Stadt stand die Sonne scheinbar unbeweglich. Sie knallte auf Menschen und Gebäude nieder, gerade um diese Mittagszeit, wo sie am höchsten stand. Trotzdem herrschte keine spanische Siesta-Atmosphäre in Ascona, das Leben lief weiter, bunt und quirlig. Die Restaurants und Hotels waren geöffnet, sie warteten auf ihre Gäste. Ich kannte den Friedhof, sah die Kirche und hörte das dünne Bimmeln der Glocke. Ein Ton, der mir entgegenschwang und mir durch und durch ging. Er war trotz des Verkehrsflusses und der Hektik zu hören, so daß er mir wie eine Botschaft vorkam, geschickt von den Toten an die Lebenden, um sie zu warnen. Der Straßenlärm floß am Friedhof vorbei, den ich noch nicht betreten konnte, weil der kleine Kirchplatz und die Kirche selbst davorlagen. Hinter dem Bauwerk mußten sich die Menschen zur Beerdigung versammelt haben. Kaum hatte ich einen Fuß auf das Gelände gesetzt und sah vor mir die sandfarbenen Mauern der Kirche, da überkam mich der Eindruck, in einer anderen Welt zu sein.
Die Mauern des Gotteshauses schluckten den Lärm und die Hektik. Beides blieb dumpf und leicht brausend hinter mir zurück. Der Weg teilte sich. Er war mit großen, quadratischen Platten belegt. Als breiter Streifen führte er auf den Kircheneingang zu. Ich nahm die linke Abzweigung. Im Schatten dicht beieinander stehender Zypressen ging ich weiter, schlug einen Bogen und erreichte das Gelände des kleinen Friedhofs, wo die Gräber geordnet angelegt worden waren und die Grabsteine sowie Kreuze vom Licht der Sonne beschienen wurden. Am Rand des Friedhofs stoppte ich meinen Schritt und schaute über das Gelände hinweg bis hoch zum Hang, wo die zahlreichen Hotels und Häuser ihre Plätze gefunden hatten. In der Regel umrahmt von tropischen Gewächsen, die mit ihren breiten Blättern einen Schutz gegen die Hitze bildeten. Die Gruppe der Menschen hatte bereits die kleine Leichenhalle verlassen und gruppierte sich um ein Grab an der Ostseite des Friedhofs, nicht weit von der Steinmauer entfernt. Ich veränderte meinen Beobachtungsplatz nicht und ließ mir Zeit, um mir die Menschen anzuschauen. Junge Menschen waren es in der Regel. Schülerinnen, die ihrer Klassenkameradin das letzte Geleit gaben. Bei diesem Wetter mußte man eigentlich davon ausgehen, daß die Menschen sommerlich gekleidet gingen, was hier nicht der Fall war. Sie hatten Trauerkleidung übergestreift. Ein Priester stand am Grab und hielt eine Predigt. Seine Worte schwangen über die Gräber hinweg. Ich merkte, daß es ihm schwerfiel, die passenden Sätze zu finden. Einen Mord wie an diesem Mädchen namens Claudine kann man kaum kommentieren. Hin und wieder trug der sanfte Wind das Schluchzen der Schülerinnen an meine Ohren. Auch mir ging die Szene durch und durch. Sie paßte irgendwie nicht zu dieser Stadt, in der das Leben mit einer prallen Fülle ablief und sich immer stärker ausbreitete. Im Schatten der Kirchenwand bewegte ich mich auf die Trauergruppe zu. Die Schülerinnen hatten sich um das Grab des Mädchens versammelt, zusammen mit den Eltern und den Verwandten der Toten. Die jungen Gesichter verschwanden manchmal hinter den dunklen Schleiern. Da wurden Worte geflüstert, die wie ein Aufschluchzen klangen, und so manches Mädchen drehte den Kopf zur Seite. Auch Lehrerinnen und Lehrer waren zugegen. Eine Frau fiel mir besonders auf. Sie stand nahe der Schülerinnen, war hochgewachsen, trug einen mantilla-ähnliches Trauertuch um den Kopf, das ihre roten, lockigen Haare ungewöhnlich düster aussehen ließ. Ich sah sie nur im Profil und erkannte schon jetzt, daß sie eine gewisse Strenge ausstrahlte, obwohl ihr Gesicht einen weichen Zug nicht verleugnen konnte.
Diese Frau mußte in dem Internat eine besondere Stellung einnehmen, das spürte ich sofort. Die Person, auf die es mir ankam, hieß Angel Tor-ham. Ich hatte ein Bild von ihr gesehen und versuchte nun, sie ausfindig zu machen. Es war nicht einfach, da die um das Grab herumstehenden Mädchen durch ihre Kleidung uniform wirkten. Angel war blond, das wußte ich. Ich wußte auch, daß ihr Gesicht etwas Engelhaftes besaß. Sie entdeckte ich nicht, dafür einen Mann, der irgendwie nicht in die Gruppe hineinpaßte. Er war dunkelhaarig, trug eine Sonnenbrille, und sein beiger Leinenanzug zeigte Knitterfalten. Der Mann war kleiner als ich, dafür breiter in den Schultern. Er hielt sich im Hintergrund auf und tat so, als würde ihn die Beerdigung nichts angehen, aber er drehte jetzt den Kopf und schaute mich direkt an. Ich wich seinem Blick nicht aus. Der andere, es konnte nur Leutnant Tonero sein, erstarrte für einen Moment. Er wußte mich nicht einzuordnen, dachte nach und hob die Hand, als wollte er mich grüßen. Ich winkte kurz zurück. Der Mann hatte mich verstanden. Er kam mit langsamen Schritten auf mich zu. »Sie sind Mr. Sinclair?« sprach er mich in meiner Heimatsprache an. »Ja.« »Tenero.« Wir reichten uns die Hand. Sein Druck war kräftig, er strahlte direkt Energie aus. »Die dritte Tote, nicht wahr?« fragte ich leise. Tenero nickte. »Leider, und wir haben nicht die geringste Spur von dem Mörder.« »Auch keinen Verdacht.« Er verzog die schmalen Lippen. »Was heißt Verdacht, Mr. Sinclair? Es gibt einen und es gibt doch keinen, wenn Sie verstehen. Wahrscheinlich nicht«, redete er weiter. »Wissen Sie, die Mädchen haben auch nachgedacht und finden, daß es ein Phantom gewesen ist, daß ihre drei Mitschülerinnen getötet hat. Sie können sich vorstellen, was im Internat los ist. Die Angst geht um. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Beginn der Ferien. Man überlegt, ob die Schule früher geschlossen werden soll.« »Das wäre am besten.« »Vielleicht wird in den nächsten beiden Tagen Schluß sein, aber das hat die Direktorin zu bestimmen.« »Ist es die rothaarige Frau?« Tenero lächelte anerkennend. »Sie haben einen guten Blick, Mr. Sinclair.« »Irgendwie macht sie auf mich einen respektgebietenden Eindruck, wenn Sie verstehen.«
»Natürlich. Sie heißt übrigens Madame Sousa.« »Französin?« »Nein, Schweizerin. Madame Sousa stammt aus dem Gebiet des Lac Leman.« »Genfer See?« »Richtig. Sie leitet das Internat mit ihrer bekannten Strenge und nach den alten Werten. Die Schülerinnen müssen kuschen, selbst die alteren.« Tenero hob die Schultern. »Für meine Tochter wäre es nichts, die ist freier erzogen worden.« »Was sagen die Eltern der Toten?« »Die sind fertig, aber einen Verdacht haben sie auch nicht.« Tenero legte den Kopf schief. »Sie sind also hergekommen, um ein Mädchen abzuholen, dessen Vater eine wichtige Persönlichkeit in ihrem Land ist, wenn ich mich nicht irre.« »So ist es.« Er räusperte sich. »Wollen Sie mir nicht dabei helfen, den Killer zu fangen?« Ich lächelte. »Es wäre toll, wenn wir es schaffen würden. Aber das ist Ihre Sache. Ihre Dienststelle hat bei uns nicht offiziell um Amtshilfe gebeten. Ich bin mehr privat in Ascona, wenn Sie verstehen.« »Das ist klar.« Tenero knetete sein Kinn. »Wissen Sie, wir sind dabei, eine Sonderkommission aufzustellen. Die dritte, schreckliche Tat hat nicht nur die Kantonshauptstadt Bellinzona aufgeschreckt, es hat sich bis Bern herumgesprochen, was geschehen ist.« Erhob die Schultern. »Nun ja, wir werden sehen.« »Das Internat liegt etwas außerhalb, nicht wahr?« »Ja, allerdings am See. Umgeben von einem riesigen Park, was auch so sein muß. Wenn der Lago Hochwasser führt, reichen die Fluten oft bis dicht an die Mauern heran.« »Sie haben nichts Negatives über die Schule gehört?« »Nein, Mr. Sinclair. Das Internat wird bei den Schülerinnen das Castello genannt, weil es schloßartig gebaut worden ist. Allerdings nicht wuchtig, sondern klein, irgendwie geduckt. Es paßt sich der Gegend hervorragend an und ist kaum zu entdecken, weil auch alter Baumbestand das Grundstück umgibt.« »Kennen Sie alle Schülerinnen?« »Mittlerweile schon.« »Wer ist Angel Torham? Sie ist mir bisher nur vom Bild bekannt. In natura habe ich sie noch nicht gesehen.« Tenero mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Mädchen in der Gruppe ausmachen zu können. Er krauste dabei die Stirn. »Die sehen ziemlich gleich aus, ich kann sie nicht erkennen, glaube allerdings, daß sie ziemlich weit vorne steht.« Ich kam wieder auf die Morde zu sprechen. »Drei Tote, Leutnant, das sind drei zuviel. Wir sollten versuchen, einen vierten Mord zu verhindern.«
»Richtig, aber wie?« Ich breitete die Arme aus. »Ich habe keine Lösung. Eigentlich besteht meine Aufgabe nur darin, Angel mit nach London zu nehmen.« »Heute schon?« »Nein, eine Nacht werde ich bleiben. Ich habe noch kein Zimmer, nehme allerdings an, daß man mir im Castello einen Gästeraum reserviert hat. Mr. Torham wollte dafür sorgen.« »Bestimmt.« »Wissen Sie, wie es nach der Beerdigung weitergeht?« »Nein, es wird wohl keinen Leichenschmaus geben, wenn Sie das meinen. Die Schülerinnen und auch das Lehrpersonal sind zu geschockt. Man wird zurück ins Castello fahren.« »Und auf die nächste Nacht warten, wie?« »Sie sind ein Zyniker, Mr. Sinclair.« »Nein, Realist. Line andere Frage, Leutnant. Haben Sie Männer abkommandiert, um das Gebäude zu bewachen?« »Das würde ich gern, aber woher nehmen und nicht stehlen? Wir sind hier nicht so reich gesegnet. Ich sage Ihnen, im Castello sind die Mädchen sicher.« »Wie kommen Sie darauf?« »Weil die Mädchen allesamt draußen ermordet wurden. Eins fanden wir am See. Das zweite Opfer lag in einem alten Kahn; Claudine im Garten direkt am Hang.« »Wieso am Hang? Liegt die Schule nicht direkt am Wasser?« »Schon, aber Claudine nahm eine Abkürzung, um das Castello zu erreichen. Es sind Wege, die nur die Einheimischen kennen.« Mehr konnte mir Teneroauch nicht sagen. Mein Blick glitt wieder hinüber zu der kleinen Gruppe der Trauernden; sie umstanden das Grab. Der Priester hatte seine kurze Predigt beendet, der Sarg wurde in die Tiefe gelassen, das Weinen nahm zu. »Es ist die erste Beerdigung hier auf dem Friedhof. Bei den anderen Opfern verlangten die Eltern eine Überführung«, flüsterte Tonero. Ich nickte und fragte: »Wie genau kamen sie um?« »Durch Messerstiche.« »Alle drei?« »Ja, leider.« »Und Sie haben keine Spuren entdeckt?« Tenero verzog gequält das Gesicht. Nicht einmal Fußspuren. Es war so, als wären die drei von einem Geist umgebracht worden. Von einem Phantomkiller. Ich weiß, Sie werden jetzt sagen, der spinnt, aber das stimmt nicht. Wir haben alles untersucht, es gab keine Hinweise, nur eben die Stichwunden, die die Klinge hinterlassen hat.«
Ich runzelte die Stirn. »Was war es für ein Messer? Breit, schmal? Beidseitig geschliffen . . .?« »Sehr breit.« »Hat jemand ein derartiges Messer vermißt? Sind Sie vielleicht da auf Hinweise gestoßen?« »Nein, überhaupt nichts.« Er hob die Schultern. »Ich sagte Ihnen doch, der Killer muß ein Phantom gewesen sein. So etwas ist mir noch nie vorgekommen. Keine Spuren, nichts.« Die Schülerinnen warfen Blumengebinde in das Grab. Manche versuchten, noch einen letzten Gruß zu sprechen. Ihre Stimmen allerdings erstickten im Schluchzen. Auch mir gingen die Szenen durch und durch. So etwas wie ein wahnsinniger Zorn erfaßte mich. Allmählich dachte ich daran, meinen Plan zu ändern, hierzubleiben und mitzuhelfen, den Killer zu suchen. Der Leutnant hatte von einem Geist oder einem Phantom gesprochen. Ich war zwar Polizist, beschäftigte mich allerdings mit okkulten und unglaublichen Fällen. Mit Geistern, Gespenstern und anderen Dämonen hatte ich so meine Erfahrungen sammeln können, auch mit Mordphantomen.« Ich sah Teneros skeptischen Blick, denn er hatte seine Sonnenbrille abgenommen. »Sie trauen uns nicht — oder?« »Das will ich nicht sagen, aber es ist schon seltsam, daß Sie überhaupt keine Spuren fanden.« »Der Killer kannte oder kennt sich eben gut aus.« »Wer sagt Ihnen eigentlich, daß er von außen gekommen ist?« Tenero, der seine Sonnenbrille aufsetzen wollte, hielt überrascht inne. »Moment mal, Mr. Sinclair. Soll das heißen, daß Sie damit rechnen, der Mörder könnte...?« »Ja, sich auch im Castello befinden.« »Im . . . im . . .«, er nickte dazu, »Internat?« »Korrekt.« Tenero holte pfeifend Luft. »Verdammt noch mal, dann wären ja alle verdächtig. Nur behaupten Sie damit indirekt, daß eventuell auch eine Schülerin der Täter sein könnte.« »Man sollte alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« »Das ist harter Tobak, verdammt harter sogar.« Er strich durch sein dichtes Haar. »Wenn ich das so sehe, kann ich nur sagen . . .« Tenero schüttelte den Kopf, »nichts werde ich sagen, überhaupt nichts.« Er blickte auf die Gruppe der Trauernden, die sich auflöste. Die Sargträger hatten sich bereits zurückgezogen, nun folgten die anderen. An der Spitze ging die rothaarige Frau, Madame Sousa. Sie sah uns und zögerte unmerklich.
Ich hatte es trotzdem mitbekommen und ging auf die Frau zu. Madame Sousa war über mein Kommen unterrichtet worden. Ich wollte mich vorstellen und mit ihr reden. Sie aber drehte ab und ging hastig weg, als hätte sie etwas zu verbergen gehabt. Ich lief ihr nicht nach, sondern schaute mir die Mädchen an. Endlich entdeckte ich Angel Torham. Sie befand sich unter den letzten. Eine schmale Person, die ebenfalls einen Schleier trug. Durch das dünne Gewebe schimmerte ihr blondes Haar. Es wuchs lang und war an verschiedenen Stellen zu Locken gedreht. Den Blick hielt sie gesenkt. Der Schleier bewegte sich im leichten Wind, so daß ich von ihrem Gesicht kaum etwas erkennen konnte. Die Trauergäste nahmen nicht den normalen Ausgang, sie schritten auf eine kleine Seitenpforte zu. Dahinter befand sich ein schmaler Parkstreifen, auf dem auch ein Bus im Licht der Sonne stand. Mit ihm fuhren die Schülerinnen wieder zurück. »Und Sie«, fragte Tenero, »was haben Sie vor, Mr. Sinclair?« Ich lächelte. »Das ist ganz einfach, Leutnant. Ich werde mir ein Bild machen und dem Castello einen Besuch abstatten. Schließlich hat man dort ein Zimmer für mich reserviert.« »Da haben Sie recht. Wo steht Ihr Wagen?« »An ihrem Büro.« »Dann können wir zusammen gehen.« Als letzte verließen wir den kleinen Friedhof und traten wieder hinein in die normale, laute Welt, wo uns der Verkehrslärm umfing, der Trubel, die Hektik. Zurück ließen wir den Friedhof und drei unaufgeklärte, schreckliche Morde... *** Angel Torham saß im Bus vorn und direkt neben Madame Sousa. Es war kein Zufall, daß sie diesen Platz eingenommen hatte, die Direktorin hatte es so gewollt. Noch schwieg sie, und auch das junge Mädchen sprach kein Wort. Von der Seite her schielte es die ältere Frau an. Auf den Stirnen der beiden lagen Schweißperlen. Im Bus war es warm, eine Klimaanlage gab es nicht. Der Fahrer saß geduckt hinter dem Lenkrad. Beide starrten auf seinen breiten Rücken. »Sind alle da?« fragte der Mann, wobei er sich umdrehte. »Ja, sie können fahren.« Madame Sousa hatte die Antwort gegeben. Ihre Stimme klang nicht schrill, jedoch hart. Sie besaß dabei einen Unterton, der jeglichen Widerspruch erstickte. Fs gab im Internat niemanden, der offiziell anderer Meinung war als sie.
Der Fahrer grinste unter seinem dichten Schnauzer. »Bin ich froh, daß ich hier wegkomme. Da läuft man ja aus.« Er startete den Motor. Durch den Bus, er gehörte nicht eben zu den neuesten Modellen, lief ein Ruck. Langsam setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Sein Start war auch das Zeichen für Madame Sousa, sich Angel zuzuwenden. »Ich möchte dich fragen, ob du Angst hast, Angel?« Das blonde Mädchen hob die Schultern. »Ich glaube, daß jede von uns Angst hat. Sie auch, Madame.« Die Frau nickte. Ihre Hände lagen aufeinander. Dünn schob sich die Haut über die Knochen. »Ja«, gab sie zu, »auch ich habe Angst. Schreckliche Angst sogar.« »Das kann ich mir denken.« Die Rektorin räusperte sich. »Wie ich hörte, hat dein Vater jemand aus London geschickt, um dich abzuholen.« »Das ist richtig, Madame. Es ist ein gewisser Mr. Sinclair. Ich glaube, ihn schon gesehen zu haben.« »Wo?« »Auf dem Friedhof. Er stand dort neben Leutnant Tenero.« »Ah ja, stimmt.« Madame legte eine Pause ein und betrachtete ihre hell lackierten Fingernägel. »Wirst du fahren, Angel? Willst du mit?« »Natürlich. Außerdem hat es mein Vater so gesagt. Ich muß ihm gehorchen, wirklich.« »Das ist gut.« »Alle werden das Castello verlassen, Madame, alle. Das müssen Sie mir glauben. Die Angst ist einfach zu stark. Sie umfängt uns wie eine Stahlklammer. Wir können nicht mehr atmen. Manchmal kommt es uns vor, als würden die Mauern das Grauen abstrahlen. Das ... das Böse lauert an jeder Ecke, in jeder Wand, es wartet nur darauf, aus dem Gestein herauskriechen zu können.« »Ist das nicht etwas übertrieben?« »Nein, wir denken so.« Madame Sousa schaute aus dem Fenster. Der Fahrer hatte die Küstenstraße genommen. Links lag der See, rechts reihten sich die zahlreichen Lokale und Geschäfte nebeneinander auf. Breite Markisen hingen vor den Restaurants und gaben Sonnenschutz. Der Lago selbst schimmerte in einem tiefen Blaugrün. Nur in Ufernähe, wo die Bootsverleiher ihre Plätze hatten, liefen die Wellen aus und hinterließen Schaumstreifen. Auf dem Wasser bildeten die Tret-, Elektro- und Motorboote bunte, hüpfende Farbtupfer. In der Ferne, schon fast am gegenüberliegenden Ufer, zog ein helles Passagierschiff seine Bahn. Die Bänke am Seeufer waren besetzt. Rucksack-Touristen, meist jüngere Leute, hatten es sich dort bequem gemacht und verspeisten die leckeren Baguettes, Sandwiches und Brötchen, die sie in den umliegenden Geschäften gekauft hatten. Auf dem roten Pflaster strahlten die gelben Fahrbahnmarkierungen, als wären sie angeleuchtet worden.
Der Fahrer konnte noch nicht fahren, da sich vor ihm eine Schlange gebildet hatte. Die Motoren der Autos waren abgestellt, man schonte die Umwelt. »Willst du denn sofort zurück, wenn dieser Mr. Sinclair mit dir gesprochen hat, Angel?« Das Mädchen hob die Schultern. Es strich sich gleichzeitig ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. »Ich weiß es noch nicht. Ich weiß es wirklich nicht, was ich mache, denn es kommt einzig und allein auf ihn an, verstehen Sie? Wenn er will, okay, sonst bleibe ich noch eine Nacht oder zwei.« »Ohne oder mit Angst?« »Die werde ich auch weiterhin haben. Da unterscheide ich mich nicht von den anderen Schülerinnen.« »Hast du denn einen Verdacht, Angel?« »Ja und nein.« Die Augenbrauen der Frau zogen sich zusammen. »Das verstehe ich nicht. Was heißt das?« »Es kann jeder gewesen sein . ..« Madame Sousa setzte sich kerzengerade auf. »Du bist wahnsinnig. Wieso jeder? Auch wir?« »Möglich, aber ich denke da weiter. Ich meine, es könnte auch ein Geist oder ein Phantom . . .« »Nein, überhaupt nicht.« Madame Sousa lachte auf. So hatte Angel die Frau noch nie gehört. »Das ist doch der blanke Unsinn, Mädchen. Das stimmt nicht.« Wieder lachte sie. »Ein Geist, ein Gespenst, so etwas gibt es nicht.« Sie krallte sich fest. »So etwas kann es nicht geben, verstehst du das, Angel?« Die Schülerin spürte den Druck der Finger. Sie empfand ihn als zu hart. »Ich weiß, was Sie meinen, Madame, aber es ist so, daß wir denken, es könnte ein Geist getan haben. Einer, der überall ist, der vielleicht aus dem Wasser steigt oder so.« »Ja, Angel, oder so.« Die Rektorin schüttelte den Kopf. »Nein und abermals nein, das kommt nicht in Frage. Ich lasse derartige Bemerkungen erst gar nicht zu, verstehst du das? Damit kannst du mir nicht kommen, das ist verrückt, und ich will nichts mehr davon hören. Kein Wort zu den anderen, dann wird alles um so schlimmer. Das gibt Ärger, das ist ein permanenter Unruheherd im Castello. Ich bitte dich nur um eines, Angel: Fahr rasch zurück nach London. Wir werden das Internat räumen. Bis die Ferien vorbei sind, sieht alles anders aus. Dann wird die Polizei den Täter geschnappt haben, glaube ich.« Angel Torham hob nur die Schultern, ansonsten enthielt sie sich eines Kommentars. Sie wollte der Frau ihre wahre Meinung nicht sagen. Es gab eben Dinge, für die eine Person wie Madame Sousa kein Verständnis hatte.
Für sie war das Thema zudem erledigt. Alle im Bus atmeten auf, als das Castello in Sicht kam. Der Bus fuhr dicht an den Eingang und stoppte dort. »So, meine Damen«, sagte der Fahrer. »Jetzt können Sie aussteigen.« Schweigend verließen die Schülerinnen das Fahrzeug. Mit ihren Gedanken waren sie noch bei der Beerdigung. Einige Mädchen weinten. Angel gehörte zu den ersten, die hinter den dicken Mauern verschwanden und aufs Zimmer gingen. Dort warf sie sich auf das Bett und drückte das Gesicht in die Kissen. Wie sollte es weitergehen - wie nur...? *** Leutnant Tenero hatte mir den Weg zum Castello genau beschrieben, so daß ich ihn eigentlich nicht verfehlen konnte. Ich mußte um Ascona herumfahren. Der Verkehr hielt sich in Grenzen, denn in dieser Gegend gab es kaum Restaurants oder die berühmten Grottos, die kleinen, oft in Felsen gebaute Lokale, in denen man so herrlich essen und einen wirklich fabelhaften Wein trinken konnte. Häuser, höchstens zweistöckig, versteckten sich hinter Palmen, Agaven und dichten, mit Blüten übersäten Büschen. Der Oleander roch ebenso wie der blühende Hibiskus. Manchmal sah ich auch den See. Sein Ufer wurde oft genug durch die Kronen der mächtigen Bäume abgeschirmt. Über allem schien die Sonne. Sie breitete fast fächerartig ihren prächtigen Schein aus, sie begoß uns mit ihrer Wärme, so daß zwangsläufig das Gefühl von Urlaub aufkam. Die Gegend wirkte sehr gepflegt. Kein Schmutz lag auf der Straße, eine herrliche Ruhe, in der der Gesang der Vögel überhaupt nicht störend wirkte. Alles paßte zusammen. Bis auf den blauen Schatten! Plötzlich war er da. Er schien aus dem See gestiegen zu sein, jedenfalls kam er aus dieser Richtung. Er huschte heran, auf meinen Wagen zu, materialisierte sich, und im gleichen Augenblick spürte ich nicht nur die Gefahr, mir standen auch die Haare zu Berge... *** Und wieder schaute der frisch angespitzte Bleistift aus den Fingern hervor. Er war wie eine Nadel, und er glitt gedankenschnell über das Papier. Abermals zeigte es sich, welch ein Meister seines Fachs der Zeichner war. Umrisse entstanden und verdichteten sich zu einem Bild, das zunächst viel Landschaft zeigte.
Bäume, Büsche, die Andeutung eines Ufers. Vor der Bepflanzung eine Straße. Sie war nur angedeutet und schien in die Unendlichkeit hineinzuführen. An der rechten Seite wuchsen die grauen Mauern hoch. Stein lag auf Stein, um später eine Einheit zu bilden. Büsche wuchsen über die Mauer hinweg, sehr genau, an einigen Stellen beinahe schon filigran gezeichnet. Noch war die Straße leer. Das änderte sich bald, denn vom See her zog eine dunkle Wolke herauf. Zunächst nur in der Andeutung zu erkennen, dann deutlicher. Die Hand hielt den Bleistift plötzlich schräg, damit sie schraffieren konnte und der Wolke im Innern ein gewisses Leben gab. Der Zeichner ließ sie weiterwandern. Die Wolke veränderte sich, sie nahm eine längliche Form an, bekam gleichzeitig auch ein monströses Aussehen. Ein Mutant wurde unter den Strichen des Zeichenstiftes geboren. Eine Mischung aus Mensch, Tier und Monster. Schrecklich anzusehen, denn das Wesen war bewaffnet. Mittelalterliche Waffen, grausame Instrumente, um töten zu können, und es stand plötzlich als gezeichnetes Wesen mitten auf der gezeichneten Straße und vor dem ebenfalls gezeichneten Auto mit den Umrissen des Fahrers hinter der Scheibe. Schrecklich — die Vision, die keine mehr blieb, das wußte der Künstler auch, denn er lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer auf den Lippen zurück... *** Ich nagelte das Bremspedal nach unten und hörte, wie sich die Reifen protestierend meldeten, denn eine Vollbremsung war auch bei geringem Tempo nicht so einfach wegzustecken. Was da plötzlich vor mir stand, schien einem Alptraum entsprungen zu sein. Ein monströses Gebilde mit dem Körper eines Menschen und dem Schädel eines Drachen, auf dem lange Borsten wuchsen, die sich verteilten wie ein Kamm. Ich sah Augen, eine angedeutete Nase, ein breites Fischmaul, aber mich interessierten mehr die Waffen, die das Monstrum in seinen riesigen Pranken hielt. Zum einen ein langes Messer mit einer sehr breiten, pechschwarzen Klinge. Mir fiel ein, daß die drei Mädchen durch eben ein derartiges Messer umgebracht worden waren. Mit der Linken umklammerte das Gebilde den Stiel einer Axt. Beidseitig geschliffen war das Eisen. Es reflektierte das Sonnenlicht.
Das Monstrum kam näher. Es bewegte sich auf stempelartigen Beinen, die ebenso Schuppen aufwiesen wie der übrige Körper. Die Augen sahen aus wie die von Fischen. Da schien tatsächlich ein Seemonstrum dem Lago entstiegen zu sein. Blitzschnell hatte ich den Gurt gelöst, und ebenso blitzartig war ich aus dem Wagen. Als das Monstrum seinen axtbewehrten Arm hob, um mit der Schneide meinen Leihwagen zu zerhämmern, lag die mit geweihten Silberkugeln geladene Beretta bereits in meiner Hand. Das Echo des Schusses zerriß die Stille, und die Kugel traf das Wesen genau in die breite Brust. Es kam nicht mehr dazu, die Axt niedersausen zu lassen, denn die Kraft des geweihten Silbers sorgte für eine Verpuffung. Einen anderen Begriff fand ich nicht dafür. Das Wesen wurde in mehrere Teile zerrissen, die vor meinen Augen in verschiedene Richtungen wegrasten und sich auflösten. Ich sah nichts mehr, nur einen hellen, sich ausbreitenden Fleck, denn genau an der Stelle traf der Sonnenstrahl das Pflaster. Ich stand neben meinem Wagen, wischte mir über die Augen und kam mir ziemlich dumm vor. Hatte ich das alles nur geträumt? Ohne Grund zog ich keine Waffe und schoß sie zudem noch ab. Hinter mir erklang ein kurzes Hupsignal. Ich drehte mich um und sah einen schweren, stahlblauen Mercedes, dessen Fahrer vorbei wollte und nicht konnte, da mein BMW schräg stand und einen Großteil der Fahrbahn einnahm. Ich winkte dem Mann zu, der plötzlich aus dem Wagen sprang und auf meine Waffe zeigte. »Hören Sie, was soll das? Wird man jetzt auf offener Straße überfallen?« Ich ließ die Beretta schnell verschwinden. »Nein, nein, ich .. .« »Da hat jemand geschossen, da hat jemand geschossen!« Eine schrille Frauenstimme rief etwas in französischer Sprache. Die blondgefärbte Person stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wies mit dem Finger auf mich. »Madame, sehen Sie eine Waffe?« »Nein, aber da war jemand!« »Wer denn?« »Ich weiß es auch nicht, aber es stimmt.« »Wollen Sie nicht endlich Platz machen?« kam mir der Fahrer indirekt zu Hilfe. Ich nickte. »Natürlich, entschuldigen Sie, aber mir wurde plötzlich etwas schwindlig. Da hielt ich es für besser, anzuhalten.« »Dann fahren Sie demnächst an den Straßenrand.« »Bestimmt.« »Und der hat doch geschossen!« rief die Blondgefärbte. »Ich habe es genau gehört.« Was sie gehört oder nicht gehört hatte, war mir egal.
Ich setzte mich in den BMW und startete wieder. Die Frau dachte nicht daran, zur Seite zu gehen. Das heißt, zunächst ging sie, so daß ich den Wagen an den rechten Fahrbahnrand lenken konnte. Der Mercedes rollte vorbei. Ich wollte ihm folgen, als die Platinblonde reagierte. Blitzschnell sprang sie auf die Fahrbahn und breitete die Arme aus, als wollte sie mich aufhalten. Das war nicht normal, so überreizt reagierte kein Mensch. Ich wußte nicht, weshalb die Person mich daran hindern wollte, meinen Weg fortzusetzen. Getan hatte ich ihr nichts. Mein Blick traf ihr Gesicht. Sie war doch älter, als ihre Frisur vermuten ließ. Unter dem blond gefärbten Haar leuchtete die Haut in einem hellen Rot. Jedenfalls stach sie von der Haarpracht in ihrem farblichen Kontrast ungewöhnlich ab. Was wollte sie? Zunächst beugte sie den Oberkörper vor und über die Kühlerhaube hinweg. Ihr Gesicht verzog sich. Der Mund sah aus, als hätte ihn jemand an den beiden Enden in die Breite gezogen. Mich interessierten ihre Augen. Sie traten aus den Höhlen, wurden sehr groß, und plötzlich schob sich ihre Zungenspitze zwischen die Lippen. Dann bewegte sie sich. Leider nicht von meinem Wagen weg. Sie schritt an der linken Seite der Kühlerhaube entlang, ohne die Hände vom Blech wegzunehmen. Beide Handflächen glitten darüber hinweg, als wollten sie sich daran abstützen. Ihr Blick blieb auf mich gerichtet, und ich mußte wieder den Gurt lösen. Diese Frau hatte etwas vor. Ich fragte mich natürlich, ob sie ebenso wirklich-unwirklieh war wie das Monstrum. Eine Waffe allerdings konnte ich an ihr nicht entdecken. Sie erreichte die Seitenscheibe. Ich sah sie aus unmittelbarer Nähe. Sie drückte den Kopf vor, das Gesicht bekam Kontakt mit der Außenscheibe und auch einen Druck. Die Züge zerflossen. Sie gab ihrem Gesicht Druck, so daß es wie eine rötliche Masse wirkte, wobei die einzelnen Organe sich dermaßen verformten, daß nur ein Fleck zurückblieb. Ein widerlicher Anblick, zudem mußte dieser Druck der Frau starke Schmerzen zufügen, doch ich hörte kein Stöhnen, keinen einzigen Laut. Was wollte sie? Sie legte die Handflächen flach gegen die Scheibe, als wollte sie das harte Glas eindrücken, damit mir die Krümel ins Gesicht flogen. Ich fand den Türhebel und bewegte ihn. Gleichzeitig gab ich der Tür Druck. Die Frau stemmte sich dagegen. Sekundenlang geschah nichts, da schaffte es keiner von uns, den anderen zur Seite zu drücken, bis ich meine Kraft stärker einsetzte.
Die Frau taumelte zurück. Sie hob dabei die Hände und fuhr mit den Fingern durch ihr Haar. Gleichzeitig knurrte sie mich an wie ein lauerndes Raubtier. Diesmal verzichtete ich auf die Beretta und holte so schnell wie möglich mein geweihtes Silberkreuz hervor. Kaum hielt ich der Frau den magischen Talisman entgegen, als sie erstarrte. Mein Kreuz leuchtete plötzlich auf, der silbrige Schein floß ihr entgegen und drang ein in den Schatten, zu dem sie geworden war. Er zerstörte ihn ... Es war mir so, als hätte jemand die Person wegradiert. Wieder lösten sich ihre Konturen auf. Etwas huschte dicht über die Fahrbahn hinweg und zerflatterte. Nichts blieb zurück! Ich spürte den Druck im Magen und in der Kehle. Über meinen Rücken rann ein Schauer. Allmählich kam ich mir vor wie jemand, der an einer langen Leine geführt wurde. Es war mir längst klargeworden, daß mein Gegner — der wahrscheinlich auch der Mörder der Mädchen war — längst wußte, wer sich ihm näherte. Nur wußte ich nicht, um wen es sich bei dieser Person handelte. War es der Satan, ein anderer Dämon aus dessen Dunstkreis - oder der Spuk? Der letzte der Großen Alten, jemand, der über die Schatten regierte, Herrscher im Reich der toten Seelen, ein furchtbarer Dämon, dessen Reich sich immer stärker aufbaute, je mehr vernichtende Dämonen ihre Seelen in seine Welt der Schatten schickten? Einiges deutete darauf hin. Wenn tatsächlich der Spuk dahintersteckte, würde es der Kantonspolizei nie gelingen, den Mörder zu finden. Man konnte keine Schatten jagen. Es sei denn, man besaß gewisse Waffen, wie ich sie bei mir trug. Ein helles Klingeln schreckte mich aus meinen Gedanken. Zwei Jungen hockten auf einem Tandem. Da ich ihnen den Weg versperrte, mußten sie einen Bogen fahren, um an mir vorbeizukommen. »Stellen Sie sich doch auf den Gehsteig!« rief einer der beiden Drahteselbenutzer. »Schon gut, danke für den Rat.« Ich setzte mich abermals in den Leihwagen. Himmel, die Fahrt zu Internat wurde allmählich zu einer Tortur. Ich war gespannt, was mich im Castello noch erwartete. Ich bewegte mich auf flachem Gelände. Felder, auf denen Obst und Wein angebaut wurden, erstreckten sich hinter den herrlichen Häusern. Sie reichten hin bis zum Ufer. Ich mußte nach links abbiegen. Auf einem Schild hatte ich den Namen des Internats gelesen.
Langsam rollte ich in die breite Straße. Vier Tennisplätze stachen mit ihrem roten Untergrund deutlich von der übrigen Landschaft ab. Auf den Plätzen wurde gespielt. Das Internat selbst lag schräg gegenüber. Eine mannshohe Mauer umgab das Gelände, dessen Häuser nicht sehr viel höher ragten, wobei ein kleiner Turm die verwinkelt angebrachten Gebäude wie ein mächtiger Arm überragte. Der Schule gegenüber glänzten die hellen Streifen der Parkbuchten. In eine der Taschen ließ ich meinen Wagen ausrollen. Ich war gespannt, was mich im Internat erwartete. Bevor ich mich näher mit Angel T'orham beschäftigte, wollte ich mit der Direktorin, Madame Sousa, reden. Nach dem Entree, dessen gläserne Bogentüren ich aufdrücken mußte, empfing mich eine ältere Dame, die so etwas wie eine Telefonistin oder Sekretärin war, denn an ihrem Arbeitsplatz stand eine Schreibmaschine. Die Frau lächelte mich abwartend an und wartete auf meine Vorstellung. Die bekam sie geliefert und gleichzeitig meinen Wunsch, daß ich mit Madame Sousa sprechen wollte. »Sie sind angemeldet?« »Indirekt schon. Nennen Sie ihr meinen Namen. Madame wird sich bestimmt an mich erinnern.« »Einen Moment bitte.« Die Frau umfaßte den Hörer mit spitzen Fingern, hob ab und drückte einen Knopf. Ich hörte, wie sie mich anmeldete, auch die Stimme der anderen bekam ich mit. Madame Sousa war bereit, mich zu empfangen. Ich stand in einem Internat, davon allerdings war kaum etwas zu merken. Mir kam diese Schule vor, als wäre sie ein leerstehendes Kloster mit dicken Mauern. Die Stille war bedrückend. Als positiv empfand ich die Kühle, die sich ausgebreitet hatte. Wahrscheinlich standen die Schülerinnen noch unter dem Eindruck der Taten und dem der Beerdigung. Da lief man nicht umher und machte Highlife. So etwas mußte verdaut werden. »Ich werde Sie zu Madame Sousa bringen«, bot sich die Sekretärin an und ging vor. Sie trug ein graues Kleid, das farblich zu ihrem ebenfalls grauen Haar paßte. Die Rektorin saß in einem großen, allerdings abgedunkelten, Büro. Die herabgelassenen Rollos ließen nur Streifenlicht in den Raum, das sich auf dem Teppich verlor. Sie schaute mich an, als ich näher kam. Die Sekretärin zog sich zurück, während ich mich noch einmal vorstellte und Madame Sousa noch einmal betrachtete. Ihr Haar erinnerte mich an helles Kupfer. Es war wohlfrisiert, zeigte zahlreiche Locken und an seinen unteren Enden glatte Strähnen, die hinter die Ohren zurückgekämmt waren.
Die Frau hatte sich umgezogen. Sie trug eine grüne Bluse aus wallendem Stoff. Ein breiter Schalkragen umfloß ihre Gestalt. Der Rock war schwarz, er saß eng. Auf Schmuck hatte sie verzichtet. Nur eine schlichte Perlenkette lag um ihren Hals. Wie viele Rothaarige besaß sie eine helle Haut, sehr glatt allerdings, kaum gepudert, so daß die Person auf mich einen alterslosen Eindruck machte. Ihr Gesicht war streng, zumindest in der unteren Hälfte, der obere Teil besaß etwas Kindliches, wobei ich auch die großen, leicht grünen Augen einschloß, die mich forschend musterten. »Sie also sind Mr. Sinclair.« »So ist es.« »Und Mr. Torham hat sie aus London hergeschickt, damit Sie sich um seine Tochter kümmern?« »Stimmt.« Madame Sousa deutete auf einen gepolsterten Stuhl. Ich nahm Platz. Mir fiel auf, daß sich auf dem Schreibtisch der Frau kein Staubkörnchen verlor. Alles wirkte ungemein sauber, schon steril. Sie hielt einen goldenen Federhalter zwischen den Händen und hatte die Stirn in leichte Falten gelegt. »Sind Sie Privatdetektiv, Mr. Sinclair?« »Sehe ich so aus?« »Eigentlich nicht, aber man kann sich täuschen.« Ich sagte ihr meinen wahren Beruf nicht und erklärte nur, daß ich für Angels Vater tätig war. Sie nickte mir zu. »Auf dem Friedhof habe ich Sie bereits gesehen, Mr. Sinclair.« »Ja, ich war kurz da. Eine schreckliche Angelegenheit.« Madame Sousa nickte wieder. »Schon das dritte Mädchen, das ermordet worden ist.« »Und Sie haben keinen Verdacht, Madame?« »Nein.« Mir gefiel die Antwort nicht, weil sie zu plötzlich gekommen war. »Aber Sie müssen sich doch Gedanken gemacht haben, meine ich.« »Das schon.« »Ist etwas dabei herausgekommen?« Die Frau lehnte sich zurück. »Wissen Sie, Mr. Sinclair, Sie fragen wie ein Polizist. Dabei sollen Sie nur Angel wieder nach London bringen. Mit der Aufklärung der Verbrechen haben Sie doch nichts zu tun. Oder sollte ich mich irren?« »Nein, Sie irren sich nicht. Sie werden auch verstehen, daß Taten wie diese neugierig machen.« »Ja, das verstehe ich.« Sie betrachtete mich aus einer gewissen Distanz und mit Kühle im Blick. »Drei Morde sind viel. Man weiß nicht, wer der Täter ist. Alle haben hier große Angst, sie leiden schrecklich darunter, nur Sie nicht.« »Meinen Sie, ich hätte keine?«
»Ja.« Madame gestattete sich ein schwaches Lächeln. »So kommen Sie mir vor.« »Und wie noch?« »Das will ich Ihnen sagen. Wie jemand, der genau weiß, daß er mir hier eine Komödie vorspielt. Sie, Mr. Sinclair, sind nicht derjenige, für den Sie sich ausgeben.« »Wer bin ich dann?« Sie beugte sich wieder vor. »Das weiß ich nicht. Es ist ein Gefühl, das mich warnt.« Sie stand auf, auch ich erhob mich. »Mal sehen, ob ich noch dahinterkomme. Ich werde die Karten befragen.« »Ach — Sie legen Karten?« »So ist es.« »Bringen Sie das Ihren Schülerinnen auch bei?« Ihr Mund verzog sich in die Breite. »Wenn sie es wollen, ja. Ansonsten lasse ich es bleiben. Man muß schon an gewisse Dinge glauben, falls Sie verstehen.« »Natürlich.« Madame Sousa schritt an mir vorbei zur Tür. Ich nahm ihr Parfüm wahr. Es roch mir persönlich zu süßlich. Es paßte auch nicht besonders zu ihr. Sie erklärte mir während des Wegs zu den Zimmern einiges über das Internat. Es war früher tatsächlich ein Castell gewesen und wurde deshalb nur Castello genannt. Dicke Mauern, errichtet aus dunklen Steinen, aber durch zahlreiche Bilder und Zeichnungen aufgelockert, die samt und sonders von den Schülerinnen stammten. Im Wohntrakt standen uns mehrere Gänge und auch zwei Etagen zur Verfügung. Eine Treppe aus breiten Steinstufen führte hoch. »Die älteren Schüler wohnen in der oberen Etage«, erklärte mir Madame und schaute mich noch immer skeptisch an. »Was gefällt Ihnen nicht an mir?« »Ich werde die Karten befragen«, erwiderte sie doppelsinnig und schritt die Stufen hoch. Wer war diese Frau? Sie umgab sich-mit dem Flair des Geheimnisvollen. Ich konnte mir zudem nicht vorstellen, daß sie Madame Sousa hieß. Möglicherweise nannte sie sich nur so. Ihr wahrer Name war dann ein anderer. Der Flur war breit. Zwei Mädchen standen in der Tür und unterhielten sich leise. Als sie uns sahen, verstummte ihr Flüstern. Sie zogen sich wieder in die Zimmer zurück. Auch hier bestanden die Wände aus grauen Steinen. Zwischen ihnen lag eine Kühle. Ich dachte darüber nach, ob ich Madame von meinen rätselhaften Erlebnissen berichten sollte, ließ es aber bleiben. Ich wollte sie nicht noch mißtrauischer machen. Vor einer der letzten Türen blieb sie stehen. »Die Mädchen bewohnen die Zimmer eigentlich zu zweit«, erklärte sie mir. »Aber Angel lebt allein. Ihre Mitschülerin liegt im Krankenhaus.« »Schwer angeschlagen?«
»Nein, eine Infektion. Sie wurde von einem Insekt gebissen. Damit müssen wir hier leben. Diese Uferregion hier ist als Naturschutzgebiet ausgewiesen worden.« Sie klopfte. Eine Antwort hörten wir nicht, deshalb öffnete Madame Sousa die Tür. Angel lag auf dem Bett. Sie richtete sich träge auf, als wir das Zimmer betraten, schaute uns an und hörte die Stimme ihrer Direktorin. »Darf ich dir John Sinclairvorstellen, den Mann, der von deinem Vater geschickt worden ist, um dich abzuholen?« Angel setzte sich auf. Sie strich ihr Haar zurück, nickte und sagte: »Dann können Sie uns ja allein lassen, Madame, nicht wahr?« »Damit nahm sie mir die Worte aus dem Mund. »Keine Sorge, ich werde schon gehen.« Madame Sousa verschwand und ließ uns allein. *** »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mr. Sinclair. Irgendwo, mir ist das egal.« Sie deutete in die Runde. Das Zimmer sah nicht so aus, wie man sich den Raum einer braven Internatsschülerin vorstellt. Uberall lagen Kissen. Sehr bunt, dazu noch bedruckt. Das neue Filmplakat von Indiana Jones hing neben dem aktuellen Bond-Poster an der Wand. Die Stereo-Anlage zeigte einen leichten Staubfilm. Ich schaute zum Fenster hinaus in einen Innenhof, wo die braunen Stühle verloren herumstanden. Keiner besaß mehr den Nerv, sich dort aufzuhalten. Neben einem mit Büchern gefüllten Regal ließ ich mich nieder. Der Sessel bestand aus Korb. Auf dem Kissen sah ich den Abdruck eines Katzengesichts. Der Korbstuhl knarrte, als ich mich darauf setzte und ihn mit meinem Gewicht nach innen drückte. Angel hockte auf der Couch, die gleichzeitig ihr Bett war und mir schräg gegenüber stand. Sie sah schüchtern aus, wirkte wie verloren. Aus ihren hellen, etwas traurigen Augen schaute sie mich an, ein verlorenes Lächeln in den Mundwinkeln. Ich lächelte ebenfalls. Umgezogen hatte sie sich bereits. Sie trug ein weites T-Shirt und einen langen Wickelrock mit einem roten Blumenmuster auf dem hellen Stoff. Das Oberteil war weiß. Wenn ich mir ihr Gesicht betrachtete, so hatte sie den Namen Angel nicht zu Unrecht bekommen. Sie wirkte tatsächlich wie ein Engel mit ihrer blassen Haut, den ebenfalls farblosen Lippen und den traurigen Augen. Ich schaute auf ihre Hände. Angel besaß sehr schlanke Finger. Ihre Nägel zeigten einen Hauch von Rot. »Mein Vater hat sich Sorgen gemacht, nicht wahr?« sprach sie mich an.
Ich nickte. »Natürlich. Es ist auch verständlich, nach dem, was hier passiert ist.« Sie schaute zur Decke und atmetete tief. »Wir können es alle nicht fassen. Es ist zu schlimm. Niemand weiß, wer es getan hat. Der Mörder ist wie ein Phantom. Schade, daß die Toten nicht mehr reden können, Mr. Sinclair.« »Sagen Sie bitte John.« »Gern.« »Ich habe bereits mit Madame Sousa und auch Leutnant Tenero über den Fall gesprochen. Keiner hat einen Verdacht. Beide stehen vor einem Rätsel. Wie ist es mit Ihnen?« »Ich weiß auch nichts.« »Was spricht man in Schülerkreisen darüber?« »Wir reden, wir haben Angst, doch wir kommen zu keinem Ergebnis. Manchmal habe ich den Eindruck, als würde etwas zwischen den Mauern lauern, verstehen Sie?« Angel legte eine Pause ein. Ich forderte sie auf, weiterzureden. »Nun ja, ich kann es nicht genau erklären. Vielleicht ist es das Böse.« »Wie kommen Sie darauf?« »Gefühl john, reines Gefühl. Das Böse, das in diesem alten Gebäude steckt. Eine grauenhafte Sache . . .« Sie hob den Blick. »Ein Geist?« »Glauben Sie an Geister, Angel?« Sie hob die Schultern. »Manchmal ja. Wenn es dunkel wird und die Nebel über den See treiben, dann kann man schon das Gefühl haben, Geister zu sehen, aber das ist wohl nicht mehr als eine Einbildung, finde ich. Es gibt keine Geister.« Ich hätte ihr glatt das Gegenteil sagen können, behielt es aber für mich. Weshalb sollte ich sie mit Dingen belasten, die in mein Gebiet hineinfielen?« »Wann sollen wir fahren, John?« »Eine gute Frage. Wann wollen Sie?« »Sofort?« Sie hob die Schultern und schaute sich um. »Das wäre schlecht, ich müßte noch packen.« »Dann morgen früh.« »Das bedeutet noch eine Nacht im Castello.« »Fürchten Sie sich davor?« »Nicht direkt, John, aber ich habe erlebt, daß die Nächte gefährlich werden können.« »Dann wollen wir hoffen, daß die nächste ohne Gefahr vorbeigeht. Außerdem bin ich bei Ihnen. Ihr Vater hat mich zu Ihrem Schutz gesandt. Ich werde alles tun, um Ihr Leben zu schützen. Aber etwas anderes, Angel.« Ich beugte mich vor. »Haben Sie eigentlich schon etwas erlebt, das auf einen übersinnlichen Einfluß hindeutet?« »Geister, meinen Sie?«
»Ja, so etwas Ähnliches. Auf jeden Fall Dinge, die man nicht einordnen kann?« Angel überlegte. Um Zeit zu gewinnen, stand sie auf und öffnete eine schmale Tür, die ins Bad führte, wo sich unter anderem auch ein Kühlschrank befand. Aus ihm holte sie eine Flasche Mineralwaser. »Möchten Sie auch einen Schluck?« »Gern.« Sie schenkte zwei Gläser zur Hälfte voll, trank, setzte sich wieder und gab mir eine Antwort. »Nun, es ist nicht leicht, John. Ich meine, daß ich eben die Geister auf dem Wasser gesehen habe.« »Das war Nebel.« »Wenn Sie meinen. Aber andere Geister habe ich nicht gesehen.« »Schlichen vielleicht irgendwelche Gestalten des Nachts hier im Park herum? Ist da mal etwas vorgefallen? Haben Sie was entdeckt?« »Nein, überhaupt nicht. Wir schlafen auch in der Nacht und schauen nicht aus dem Fenster.« »Haben Sie Geräusche gehört? Hat mal jemand versucht, hier ins Castello einzubrechen?« »Nicht daß ich wüßte.« »Es lief alles normal?« »Ja.« Ich leerte das Glas. Es war ein stark kohlensäurehaltiges Wasser, ich mußte aufstoßen. »Und trotzdem sind drei Morde geschehen, Angel. Das ist es, was ich nicht begreife.« »Sie reden wie ein Polizist.« »Vielleicht bin ich so etwas Ähnliches.« »Privatdetektiv?« »Das kann man sagen.« »Mein Vater hat sich wirklich Mühe gegeben, John, aber wie gesagt, ich kann mich an keine außergewöhnlichen Dinge erinnern, so leid es mir tut.« »Nun ja, macht nichts. Wenn Sie morgen erst abreisen wollen, Angel, stellt sich für mich die Frage, wo ich übernachten soll. Es gibt genügend Hotels und Pensionen, aber hier in der Nähe . . .« »Wir haben Gästezimmer«, unterbrach sie mich. »Sogar sehr nett eingerichtet.« »Das wäre natürlich am besten.« »Sie müssen Madame Sousa fragen.« Wie auf ein Stichwort hin klopfte es gegen die Tür. Die Rektorin betrat das Zimmer. Sie hatte sich umgezogen und trug einen dünnen Hosenanzug aus Seide. Darunter malte sich die schwarze Wäsche ab, der Anzug selbst schimmerte in einem dunklen Grau. An den Armnähten war er mit kleinen Perlen bestickt. »Sie werden entschuldigen, Mr.
Sinclair, ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie bereits zu einem Entschluß gekommen sind.« »Inwiefern?« Sie blieb an der Tür stehen. »Wann hatten Sie vor, mit Angel wieder abzureisen?« »Morgen früh.« »Dann bleiben Sie die Nacht über hier?« »So ist es.« »Gut, gut.« Sie nickte. »Wir haben Gästezimmer, auch mit Dusche, falls Sie sich frisch machen wollen.« »Das wäre natürlich wunderbar.« »Kommen Sie jetzt mit? Dann kann ich Ihnen die Räume zeigen.« Ich warf Angel noch einen fragenden Blick zu. Das Mädchen nickte, und so folgte ich Madame Sousa. An der Tür schaute ich noch einmal zurück. Angel saß wieder auf ihrem Platz, ohne sich zu bewegen. »Wir reden noch miteinander.« »Sicher, John sicher.« Die Antwort klang geistesabwesend. Ich schloß die Tür leise. Madame Sousa wartete einige Schritte von mir entfernt. »Ein ungewöhnliches junges Mädchen, finden Sie nicht auch, Mr. Sinclair?« »Ja und nein. Etwas introvertiert*, meine ich.« »Das auch, aber ich sehe es noch anders. Angel ist mehr ein Einzelgänger. Sie geht nicht aus sich heraus.« »Wie sind ihre schulischen Leistungen?« »Wechselhaft.« Während sie sprach, schlenderten wir nebeneinander her. »Sehr wechselhaft, wie ich meine. Die musischen Fächer liegen ihr ausgezeichnet, bei den Naturwissenschaften hat sie ihre Schwierigkeiten, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Manchmal ist sie spitze, dann wieder läßt sie nach. Wir sprechen von einem Kasernierungsprozeß. Irgendwann einmal dreht jeder durch, dann fallen ihm die Mauern entgegen und die Decken auf den Kopf.« »Ich nehme an, daß sie sogar an übersinnliche Dinge glaubt«, sagte ich leise. Die Frau blieb stehen. »An Geister oder so?« »Ja.« Madame Sousa winkte ab. »Ach, das ist so eine Mode. Es gibt einige Mädchen, die einen neuen Weg suchen und sich mit Dingen beschäftigen, die man in Gebiete wie Spiritismus und Okkultismus einordnen kann. Ich halte davon nichts.« »Da sagen Sie nicht ganz die Wahrheit.« »Wieso?« »Denken Sie an die Karten, Madame.«
* nach innen gewandt
Sie lachte auf. »Ja, das stimmt, Sie haben recht. Es ist eine Manie von mir, nichts Ernstes.« »Dann bin ich zufrieden.« »Es gibt Tausende von Personen, die sich die Karten legen. Ein kleines Vergnügen, etwas Spaß und Abwechslung.« »Wenn Sie das sagen.« »So ist es auch.« Wir bogen um eine Ecke und gelangten in den anderen Trakt des Castellos. Mein Blick glitt durch eines der Fenster und schweifte ab bis zum Lido, zum Strand. Hohes Schilf bildete einen dichten Ufergürtel. Die gegenüberliegende Seite verschwamm bereits im leichten Dunst, was auch Madame Sousa gesehen hatte. »Wir werden am Abend Nebel bekommen. Sie nickte zu ihren Worten. »Ich kenne das Wetter.« »Das gibt es auch bei uns in London.« »Dafür ist Ihre Stadt doch berühmt.« »Natürlich. Wissen Sie, was mich wundert, Madame? Man hört hier überhaupt nichts. Weder von draußen noch von innen. Man könnte meinen, in einem verlassenen kleinen Schloß zu sein.« Leise lachend schaute sie auf den kühlen Steinfußboden. »Die Disziplin der Schülerinnen ist in Ordnung, aber ich halte es für übertrieben. Seit diese schrecklichen Verbrechen geschehen sind, da ziehen sich die Mädchen zurück. Unser Haus ist früher oft genug von ihrem fröhlichen Lachen erfüllt gewesen. Das ist nun alles flachgefallen. Es tut mir leid, daß ich daran nichts ändern kann.« »Ich hoffe nur für Sie, daß noch andere Zeiten kommen werden, Madame.« »Ja, das hoffen wir alle.« Wenig später fanden wir uns in einem quadratischen Vorflur am Ende des Ganges wieder. »Sie können unter drei Türen auswählen, Mr. Sinclair. Welches Zimmer wollen Sie nehmen?« »Das linke.« »Gut.« Sie schob sich an mir vorbei und öffnete die Tür. Ich schaute in einen kleinen Raum, bei dem das Fenster offenstand. Ein dünnes Fliegengitter in der Öffnung sorgte dafür, das keine Insekten in den Raum wirbeln konnten. Der Raum war klein. Auf dem Steinboden lag ein Si-salteppich. Eine schmalere Türe führte ins Bad, wo ich eine Dusche fand und ein Handwaschbecken. Dazwischen stand die Toilette. »Nett«, sagte ich. »Das nehme ich. Ich muß nur noch meinen Koffer holen.« Die Frau gab mir den Zimmerschlüssel. »Den Weg zurück kennen Sie, oder soll ich ...?« »Nein, bitte, ich habe mir alles gemerkt.« »Gut. Wann sehen wir uns?«
»Wo kann ich Sie finden?« »Ich gehe am Abend gern noch spazieren.« Sie deutete auf den Park. »Der Weg zum See ist wunderbar. Wenn Sie wollen, können wir dort noch miteinander reden.« »Das wäre nicht schlecht.« Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und einem gleichzeitigen Kopfnicken. Ich schaute ihr nach und dachte daran, daß nicht nur die Schülerin Angel etwas ungewöhnlich war und sich von der Masse der meisten Personen in ihrem Alter abhob. Auch aus Madame Sousa wurde ich nicht schlau. Meiner Ansicht nach verwickelte sie sich in Widersprüche und gab sich gleichzeitig auch opportunistisch. Mal sehen, wie es weiterlief. Ich holte meinen Koffer und zog die verschwitzten Sachen aus. Natürlich dachte ich an meine Erlebnisse und bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich mit Angel abgemacht hatte, schon am nächsten Tag zu fahren. So etwas ging mir gegen den Strich, wenn ich ehrlich war. Einen unaufgeklärten, dreifachen Mord zurückzulassen, das hatte ich noch nie getan. Auch eine erfrischende Dusche konnte die trüben Gedanken nicht fortspülen. Später lag ich auf dem Bett und dachte weiterhin nach. Zu einem Ergebnis kam ich nicht, mein mieses Gefühl wollte auch nicht weichen. Ich glaubte daran, daß ich von Dingen umgeben war, die mich an der langen Leine hielten. Schatten waren erschienen, wurden zu Monstren und wieder zu Schatten. Das war ein Fall für mich. Mein Entschluß stand fest. Ich würde Angel zum Flughafen nach Zürich bringen und anschließend wieder zurückfahren, um den dreifachen Mörder zu stellen. Ja, so mußte es laufen. Wenn ich allein war und freie Hand hatte, brauchte ich auf nichts und niemand Rücksicht zu nehmen. Mit dem Gedanken daran fielen mir die Augen zu, und ich schlief tatsächlich tief und fest ein... *** Madame Sousa fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und schaute auf die Für des Zimmers, in dem sie John Sinclair zurückgelassen hatte. Sie wurde aus dem Mann nicht schlau. Der war nicht derjenige, als der er sich ausgab. Da mußte einfach mehr dahinterstecken. Offen danach zu fragen, hatte sie sich nicht getraut, aber es gab einen anderen Weg, auf dem sie möglicherweise eine Auskunft bekommen konnte. Sie wollte die Karten befragen.
Madame Sousa hatte gelogen, sie gehörte zu den Personen, die sehr wohl an die Karten glaubten. Das ging nur sie persönlich etwas an. Einem Fremden würde sie sich nie derart offenbaren und auch ihren Schülerinnen nicht. Ihr Zimmer lag oben. Damit war der Turm gemeint, wo auch die übrigen Lehrpersonen wohnten. Eine Wendeltreppe führte durch das Gemäuer, das innen breiter war, als es von außen schien. Die Wohnungen waren klein, aber sehr gemütlich; sie besaßen zudem gerade Wände, weil auch der Turm nicht rund war. Den Schlüssel zu ihrer Zimmertür trug sie bei sich und schloß die Für auf. Die Sonne schien geradewegs durch das große Fenster. Um die Karten legen zu können, brauchte Madame Sousa eine gewisse Atmosphäre. Die verschaffte sie sich, indem sie die Vorhänge zuzog. Danach war es fast zu dunkel, deshalb stellte sie eine Lampe auf einen bestimmten Platz des Schreibtisches, wo sie normalerweise Hefte und Arbeiten korrigierte. Nun hatte sie das richtige Licht und die richtige Atmosphäre, um sich die Tarot-Karten legen zu können. Madame Sousa besaß die Karten seit ihrer Jugend. Von ihrer Großmutter hatte sie das Spiel bekommen und hatte ihr das Versprechen abgeben müssen, es wie ihren eigenen Augapfel zu hüten. Aus diesem Grunde schloß sie das Spiel auch stets sorgfältig ein. Aus dem kleinen Wandsafe hatte sie das Paket geholt und legte es auf den Tisch. Schon oft genug hatte sie sich dem Ta rot gewidmet, wenn sie persönlich nicht mehr weiterwußte. Die Karten würden ihr zwar nicht den Namen des Mörders nennen können, doch sie ging davon aus, daß sie ihr Wege wiesen und Strömungen aufzeichneten. Court de Gebelin, einer der großen und mächtigen Symboliker des 18. Jahrhunderts hatte in den Karten einen Schlüssel zu den Mysterien des Mittelalters und der alten Welt gesehen. Er fand in ihnen eine Zusammenfassung zahlreicher Religionen und Weisheiten, wobei sich asiatische, orientalische und auch europäische Mystik miteinander vermischten und Wege aufzeichneten, die sensitive Menschen als Zukunftsdeutungen annahmen. Zu diesen Personen gehörte auch Madame Sousa. Es war ungewöhnlich, daß ihre Finger während des Mischens zitterten. Gaukler, Kaiser, Kaiserin, Hohepriester, Hohepriesterin, die Eiebenden, die Gerechtigkeit, das Glücksrad, der Tod, alle Symbole wurden kräftig gemischt. Dieses Gerippe, das mit einer Sense hantierte. Ein Symbol, vor dem sich die Frau fürchtete, ebenso wie vor dem Motiv des Teufels, der auch der Herr der Nacht oder der Meister des Hexensabbats genannt wurde. Zum Glück hatte sie mit den letzten beiden Karten wenig zu tun gehabt. Nur einmal, als ihre Mutter starb.
Bis auf das Klatschen der Karten beim Mischen war es still in dem Zimmer. Sogar das Atmen der Madame war nicht zu hören. Auf ihrer Stirn lag ein feiner Schweißfilm, als sie die einzelnen Karten verdeckt auf den Schreibtisch legte und sich dabei an die Regeln hielt. Sie wußte genau, wie sie die Karten zu legen hatte. Sie legte mit ihnen ein großes Sechseck, in dessen Innenraum auch noch andere Karten ihren Platz fanden. Erst im Licht der Lampe waren die feinen Linien zu sehen, die auf die Schreibtischplatte eingezeichnet worden waren. Man sah sie als sogenannte Kanäle an, die die einzelnen Karten miteinander verbanden. Madame Sousa lehnte sich zurück. In ihrem Rücken spürte sie den harten Druck des Stuhls. Es war unge-wöhlich, plötzlich fürchtete sie sich davor, die Karten aufzudecken, als könnte sie dadurch etwas Furchtbares erleben. Bevor sie mit dem Aufdecken der Karten begann, holte sie aus einer der Schubladen eine kleine Blechschachtel hervor, öffnete sie und schaute auf die letzten drei dünnen Zigarillos. Sie klaubte einen hervor und zündete ihn an. Nach dem Paffen der ersten drei Wolken, die wie Nebel in den gefächerten Lichtschein drangen, deckte sie die Karten auf. Sie wußte nicht, welches Motiv welchen Kanal verband, aber sie wußte, daß die Karte in der Mitte sehr wichtig war. Ihr Motiv konnte für die Zukunft wichtig werden. Der Reihe nach deckte sie die Karten auf. Sie fing außen an, vor jedem Herumdrehen spürte sie die innere Spannung, um einen Moment später aufzuatmen. Noch sah sie den Tod nicht. Das Risiko, daß diese Karte genau in der Mitte lag, wurde größer. Sie machte weiter. Hastig rauchte sie dabei. Die grauen Qualmwolken wehten in den Lichtschein und füllten zudem den Lampenschirm aus. Die Hohepriesterin schaute sie an, danach den Wagen, die siebte Karte des Tarot. Auf einmal war er da — der Teufel! Sein Motiv sprang sie förmlich an. Er befand sich rechts neben der Sonne, doch sie hatte den Eindruck, als würde er alles verdüstern, auch das Licht des Himmelskörpers. Die nächsten Karten drehte sie herum. Der Tod war nicht dabei. Allmählich näherte sie sich dem Zentrum. Es wurde kritischer, nicht mehr viele Karten waren bisher übriggeblieben. Asche fiel ab und landete auf dem Rock. Madame Sousa kümmerte sich nicht darum. Sie behielt den Zigarillo im Mund, beugte sich ein wenig vor und peilte die mittlere Karte an. Sie konnte die Spannung nicht mehr ertragen. Jetzt mußte sie die Karte aufdecken.
Noch ein schärfere Atemzug zischte aus ihren Nasenlöchern, als die Fingerkuppen die Karte berührten. Es reichte eine kurze Bewegung aus, eine Drehung nur, dann . .. Sie hob die Karte an, hielt sie fest, wartete noch einen Moment — und drehte sie herum. Ein Schrei drang aus ihrem aufgerissenen Mund. Gleichzeitig rutschte ihr der Zigarillo von der Unterlippe und blieb glimmend auf dem Schreibtisch liegen. Die Karte zeigte auf der Vorderseite das Skelett mit der Sense. Es war der Schnitter, der Tod — vor ihm gab es kein Entrinnen. Er hatte bisher noch jeden Menschen bekommen. Madame Sousa stöhnte auf und schlug beide Hände gegen ihr Gesicht. In dieser Haltung blieb sie sitzen... *** Ein anderes Zimmer, aber nicht im Turm des Castello. Eines, wo die Schülerinnen wohnten, zum Beispiel Angel Torham. Seit John Sinclair sie verlassen hatte, war sie auf der Bettkante sitzen geblieben, hatte sich fast nicht gerührt, nur die Tür angestarrt. Sie dachte nach, das heißt, sie wollte es, nur konnte sie die Gedanken nicht ordnen. Sie flogen in verschiedenen Richtungen davon. Sie wollte so vieles auf einmal. Weglaufen, packen, sich duschen, danach schlafen. Nichts von alldem nahm sie in Angriff. Unbeweglich blieb sie sitzen, den Blick auf die Tür gerichtet. Zeit verging. Die Minuten reihten sich aneinander. Die Sonne wanderte weiter, so daß sie ihre Strahlen in einen anderen Winkel in den Raum schickte, wobei auf dem Boden wieder ein eigenes Muster entstand. Obwohl Angel so starr wirkte, bekam sie doch die Geräusche vom Flur her mit. Schritte waren zu hören. Sehr leise zwar und vorsichtig gesetzt, aber nicht so, als wäre eine Person dabei, sich einfach einzuschleichen. Wer da kam, wußte genau, wohin er wollte. Vor Angels Zimmertür verstummten die Schritte. Ein zaghaftes Klopfen folgte. »Ja, bitte.« Die dunkelhaarige Cora Losone öffnete. Sie gehörte zu den Mädchen, mit denen sich Angel am besten verstand. »Darf ich reinkommen?« fragte sie wispernd. »Natürlich — bitte.« Cora schob sich durch die Tür. »Viele beneideten sie um ihr schwarzes, dichtes Haar, das eigentlich nie zu bändigen war. Auch diesmal schaffte es das rote Band kaum, mit dem Cora die Flut im Nacken zusammen-
gebunden hatte. Sie trug dunkle Jeans und ein dünnes Hefcid mit der Aufschrift »Let's Go«. »Wie geht es dir?« Angel hob die Schultern. »Was soll ich sagen? Ich werde morgen abreisen.« »Ist der Mann schon da?« »Ja.« f »Wie sieht er aus?« »Na ja, ziemlich groß, blond, eigentlich nicht schlecht.« Angel räusperte sich. »Aber ich traue ihm nicht.« »Wieso nicht?« Angel schaute in die großen, dunklen Augen der Freundin. Cora besaß ein etwas herbes Gesicht, es zeigte deutlich den romanischen Einschlag. »Ich kann es dir nicht genau sagen, irgendwie glaube ich, daß er nicht der ist, für den er sich ausgibt.« »Wer ist es dann?« »Kann ich dir nicht sagen.« Cora schaute sich um, als könnte sie den Fremden irgendwo entdecken. »Sag mal, Angel, wohnt er denn hier?« »Ja, die Sousa hat ihm ein Zimmer gegeben.« »Dann wird er dich unter Kontrolle halten wollen.« »Nein, das glaube ich nicht. Wir haben uns auch nicht verabredet. Weshalb fragst du?« »Weil ich mit den anderen gesprochen habe und wir unsere Pläne nicht ändern wollen.« »Du meinst die nächtliche Seefahrt?« »Genau.« Angel wischte einen Schweißfilm von ihrer Stirn. Die Augenbrauen hoben und senkten sich, als sie nachdachte. »Das ist natürlich besonders prekär. Denk an den Killer.« »Der hat niemand auf dem Wasser getötet. Das darfst du nicht vergessen. Nur an Land.« »Und ihr habt keine Angst?« Cora hob die Schultern und schaute zur Seite. »Was willst du machen, Angel? Es war für heute vereinbart. Die Nacht ist günstig. Wir werden vielleicht ein Zeichen von ihr bekommen.« »Das hat sie uns bereits gegeben, Cora.« »Wie meinst du das denn?« »Durch die Toten, durch die Morde gab sie uns das Zeichen, daß wir es falsch machen.« Cora Losone wurde nachdenklich. »Wenn man dich so reden hört, könnte man direkt Angst bekommen. Ich glaube es nicht. Sollen wir allein fahren?« Angel dachte nach. »Ich werde es mir überlegen, ja? Finde ich euch in der Laube?« »Ja.« »Ab wann?« »Nach dem Essen.«
»Ich kann nichts zu mir nehmen.« »Wir auch nicht, aber wir müssen.« »Mal sehen.« Cora stand auf, ging zu Angel und hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. »Ich glaube, daß wir es in dieser Nacht schaffen. Wir haben schon das Pulver verbrannt. Sie wird uns die Chance geben, mit den Toten Kontakt aufnehmen zu können.« »Deinen Glauben möchte ich haben.« »Der ist Voraussetzung, Angel.« Sie ging und winkte noch einmal. Angel blieb allein zurück. Wieder mußte sie nachdenken, und diesmal schaffte sie es. Ja, sie war sich sicher, daß es in der Nacht passierte. Sie hatten die Urmutter beschworen, sie buhlten um Liliths teuflische Weiblichkeit. Nur sie konnte ihnen die Wege zum Jenseits eröffnen. Vielleicht schaffte sie es auch, sie vor dem Mörder zu beschützen. Oder war sie, die Urmutter, etwa der Mörder? Bisher waren nur Mädchen umgebracht worden, die nicht zum Kreis der vier gehörten. Angel dachte nicht weiter darüber nach. Sie begann zu packen. Die Nacht würde kurz werden. Sicherlich hatte John vor, sehr früh zu fahren. Da wollte sie nicht erst anfangen. Als die beiden Koffer voll waren, ging sie in die Küche und trank die Flasche mit dem Mineralwasser leer. Irgendwie hatte sie plötzlich das Gefühl, daß sie nie mehr in dieses Internat zurückkehren würde... *** Ich war sauer, als ich die Augen aufschlug und einen Blick auf die Uhr warf. Verdammt, ich hatte den ganzen Nachmittag verschlafen. Fs war schon Abend! So etwas kam selten vor. Es mochte an der Reise und am Wetter gelegen haben, doch Entschuldigungen zählten nicht. Ein Polizist, der im Dienst einschlief, konnte gleich seinen Hut nehmen. Aber auch wir sind keine Übermenschen. Die Luft war stickig geworden. Zwischen den Wänden schien sie zu kleben. Ich hörte vom dünnen Insektengitter her das Brummen und Summen der kleinen Quälgeister. Wie eingepackt fühlte ich mich, dumpf im Kopf und in einem Zustand, bei dem ich am liebsten weitergeschlafen hätte. Es bereitete mir schon Mühe, mich herumzuwälzen und aus dem Bett zu klettern. Wobei es tatsächlich ein Klettern war. Mit müden Schritten schlurfte ich in Richtung Bad. Unter der Dusche ging es mir besser, da wurde der Rest an Mattheit einfach weggeschwemmt.
Aus dem Koffer holte ich die frischen Klamotten und entschied mich für ein leichtes Leinenhemd. Leider mußte ich auch ein Jackett tragen, damit die Beretta nicht auffiel. Ich blickte in den Park. Die Sonne war hinter den Bergen fast verschwunden. Sie leuchtete noch die an manchen Stellen schroff wirkenden Grate an und ließ sie sehr scharf hervortreten. Es sah so aus, als würde auf den Kanten ein gelber Schleier liegen. Der zum Castello gehörende Park war in mattes Licht getaucht. Unter den dicht belaubten Zweigen tanzten unzählige Mücken in dichten Wolken. Vom See her legte sich Dunst über die Uferstreifen. Es ging bereits auf zwanzig Uhr zu. Hunger verspürte ich kaum, nur Durst. Fertig angezogen, verließ ich mein Zimmer. Mir fiel abermals die Ruhe in dem Gebäude auf. Nicht der Klang einer Mädchenstimme hallte durch den Flur. Zwischen den Wänden war alles eingeschlafen. Bevor ich weiterging, kramte ich in meiner Erinnerung nach. Das Castello bestand aus mehreren Trakten mit zahlreichen Gängen. Für einen Fremden war es nicht so einfach, sich zurechtzufinden. Ich wollte auch keinen fragen und schaffte es ohne Hilfe, das Zimmer meines jungen Schützlings zu erreichen. Als ich anklopfte, vernahm ich keine Reaktion. Beim dritten Versuch öffnete ich gleichzeitig die Tür. Im Raum hatte sich nur wenig verändert. Zwei Koffer und eine zur Hälfte gepackte Tasche standen vor dem Bett. Angel Torham hatte sich schon fertig für die Abreise gemacht. Sie selbst befand sich nicht im Raum. Ich ging auch in das Bad, entdeckte sie dort ebenfalls nicht und war nicht beunruhigt. Um diese Zeit wurde vielleicht gegessen. Auf dem Flur traf ich zwei Schülerinnen, die mich erstaunt anblickten und dann Angst bekamen, weil ich fremd und die Erinnerung an die Taten noch zu frisch war. »Keine Panik, Mädels«, sagte ich locker. »Ich suche nur Angel Torham. Wo kann sie sein?« »Wer sind Sie denn?« »Ich bin gekommen, um sie zu holen.« Sie nickten synchron. »Dann sind Sie der Mann aus England. Davon hat Angel erzählt.« »Genau.« Die Mädchen schauten sich an. Sie trugen das Haar hochgesteckt. »Tut uns leid, wir wissen auch nicht, wo sie ist.« »Beim Essen vielleicht?« »Nein, das liegt schon hinter uns.« »Sie kann auch zum See gegangen sein«, meinte die zweite. »Da treffen wir uns oft.«
Da die beiden ihre Scheu überwunden hatten, waren sie redselig geworden. Ich wollte von ihnen wissen, ob es in der Schule immer so ungewöhnlich still war. »Nein, nie.« »Warum jetzt?« »Da sind die unteren Klassen schon in den Ferien. Nur wir, die letzte Klasse, sind noch da. Für uns geht es um die Prüfungen, wir müssen noch etwas tun.« Ich bedankte mich bei den Schülerinnen für die Auskünfte und fragte noch, ob die Mädchen einen bestimmten Platz am See hatten, wo sie sich trafen. »Ja, am oder im Bootshaus. Sie fahren allerdings auch auf das Wasser, wenn es ihnen in den Kopf kommt.« »Hat der Lago nicht gefährliche Strömungen?« »Nicht hier, weiter unten, schon in Italien, vor allem in der Seemitte.« Einigermaßen beruhigt und trotzdem innerlich unruhig trennte ich mich von ihnen. Ich wußte auch nicht, was das sollte. Was konnte ich von Angels Verschwinden halten? Sie und die anderen mußten wissen, daß ein Killer lauerte und sie sich in Gefahr begaben, wenn sie des Nachts unterwegs waren. Für mich zählte auch das Argument nicht, daß sich der Mörder nie auf dem Wasser gezeigt hatte. So etwas konnte sich sehr schnell ändern. Was, zum Henker, trieb die Mädchen aus dem Haus? Ich wollte mit der Schulleitcrin darüber reden, fand sie aber nicht und landete schließlich am Empfang, wo niemand mehr saß. Kopfschüttelnd blieb ich in der Halle stehen. Allmählich kam es mir vor, als hätten alle vor mir Reißaus genommen. Ich schaute durch das Türglas. Nur von den Tennisplätzen hörte ich das typische Klock-Klock, wenn die Bälle auf die Schläger trafen. Aus der Schule war ein Sanatorium geworden. Nein, so ganz traf der Vergleich nicht zu. In einem Sanatorium herrschte eine natürliche Ruhe. Diese hier besaß für mich einen unnatürlichen Ursprung. Sie war künstlich gelegt worden, möglicherweise auch ein Stück Angst. Ich ging nach draußen. Die Luft war wesentlich schwerer und feuchter geworden. Sie drückte, ein regelrechtes Kopfschmerzwetter. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Schleifen. Das Geräusch erzeugte auf meinem Rücken einen Schauer. Ich drehte mich um und schaute in das starre und irgendwie lauernde Gesicht eines gebückt gehenden Mannes, der einen mit Müll gefüllten grünen Plastiksack hinter sich herschleppte. Der Mann kam auf mich zu. Er hatte ein Gesicht zum Fürchten. Zwei breite, tiefrote Narben zeichneten das Gesicht auf beiden Wangen. Die Augen wirkten wie gläserne Kugeln. Wenn der Mann atmete, hörte es sich an, als würde eine Lok schnaufen.
Er blieb stehen, ohne den Plastiksack loszulassen. Über dem sehr eng anliegenden Hemd trug er einen blauen Overall, der schon verwaschen wirkte. Ich sagte nichts, auch er hielt sich zurück, bis ich lächelte und ihm zunickte. »Wer sind Sie?« Ein Knurren bekam ich als Antwort. Dazwischen klangen auch einige italienische Worte durch. Sahen so Mörder aus? Im ersten Augenblick hatte ich tatsächlich daran gedacht, zwang mich jedoch, fair zu bleiben. Man soll einen Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilen. Der Mann kam noch einen Schritt näher und grüßte. Ich grüßte zurück und kramte mein Italienisch zusammen, weil ich wissen wollte, was er hier tat. »Es ist Erwin, unser Faktotum — Mädchen für alles und gleichzeitig Hausmeister.« Die Stimme gehörte Madame Sousa. Ohne daß ich sie bemerkt hatte, war sie erschienen. Ich drehte mich um. Sie ging die letzten beiden Schritte auf mich zu. »Fast hätte ich an etwas anderes gedacht.« »Ich weiß, aber täuschen Sie sich nicht. Erwin kann keiner Fliege etwas zuleide tun.« Madame Sousa ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nicht wahr, mein Freund?« Erwin lächelte und nickte. »Geh du jetzt und räume weiter auf. Und gib auf die Mädchen acht. Du bist der Beschützer.« »Si, si, Madame.« Erwin schlurfte weiter. Ich schaute ihm so lange nach, bis er durch ein kleines Tor verschwunden war. Dann hörte ich die Frage der Frau. »Na und, Mr. Sinclair?« »Nichts und, Madame. Ich denke nur gerade über gewisse Dinge nach. Das Castello kommt mir verlassen vor.« Madame nickte. »Die Mädchen haben sich zurückgezogen. Sie wollen eben kein Risiko eingehen.« »Sind nicht einige von ihnen am See?« »Das kann natürlich sein. Was wollen Sie machen? Verbieten können wir den jungen Damen nichts.« »Und wie werden Sie den Abend verbringen, Madame?« Sie schaute mich überrascht und etwas kokett an. »Finden Sie die Frage nicht zu indiskret?« »So habe ich es nicht gemeint. Ich dachte nur an den Killer, der sich hier breitgemacht hat.« »Nein, ich glaube nicht, daß er sich im Castello zeigen wird. Das stimmt einfach nicht.« »Ist gut. Angel habe ich nicht gefunden. Ihr Zimmer war leer.« »So?«
»Ja, können Sie mir sagen, wo sie sich aufhält? Schließlich fühle ich mich ihr gegenüber verantwortlich. Ihr Vater hat mich beauftragt, sie zu beschützen.« »Schauen Sie am See nach.« »Das werde ich auch.« Madame Sousa sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, blickte aber dann zur Seite. »Stört Sie etwas?« »Nein oder ja.« Sie lächelte knapp. »Wissen Sie, Mr. Sinclair, ich habe ein komisches Gefühl. Es kann mit dem Wetter zusammenhängen, muß aber nicht. Sie schaute gegen den grauschwarzen Himmel. »Da braut sich was zusammen.« »Ein Gewitter?« »Kann sein.« »An was denken Sie noch?« »Ich weiß es nicht. Aber dieser Abend und die folgende Nacht scheinen mir für einen Killer wie geschaffen zu sein. Ich werde den Eindruck nicht los, daß er bereits unterwegs ist.« »Haben Sie Beweise?« »Nein, es ist nur ein Gefühl. Das sind Strömungen, die über meine Arme fließen. Ich kenne die Gegend, drei tote Mädchen habe ich erlebt.« Sie starte mich an. »Ich hoffe, Mr. Sinclair, daß nicht noch ein viertes totes Mädchen hinzukommt.« Bevor ich nach dem Grund fragen konnte, hatte sie sich umgedreht und ging mit schnellen Schritten zurück in die Schule. Kopfschüttelnd schaute ich ihr nach. Aus Madame Sousa wurde ich nicht schlau. Einerseits zeigte sie sich ungewöhnlich beherrscht, andererseits reagierte sie sehr emotional. Wußte sie mehr? Allmählich wurde mir die Schule nicht geheuer. Der Schatten des Mordphantoms hatte sich wie ein Fluch ausgebreitet, der jeden Menschen hier treffen konnte. Auf den Tennisplätzen wurde nicht mehr gespielt. Vier Mädchen in weißer Kleidung verließen die Anlage und gingen durch einen Seiteneingang ins Haus. Den nahm ich auch, gelangte nach dem Gittertor noch nicht in das Innere, sondern dorthin, wo einige Fahrräder unter einem schützenden Wellblechdach standen. Ein schmaler Weg führte an einem der niedrigen Trakte entlang und stach in den Park hinein, wo er auf einer großen Wiese endete, auf der mächtige Laubbäume wie Wächter wuchsen. Ich blieb am Rand der Wiese stehen und schaute geradeaus, wo das Gelände zum Ufer hin auslief. Dort befand sich auch das Bootshaus, in dem sich die Mädchen manchmal trafen. Auch dieses Haus lag im Schatten mächtiger Baumkronen.
Der kleine Streifen Strand mit dem grauen Sand schimmerte wie ein Bart. Auf dem See rührte sich nichts, obwohl es mir vorkam, als würde der sich bewegen, denn über die Oberfläche des Wassers hinweg strichen die Dunstschwaden. Sie waren für meinen Geschmack schon so dicht, daß man sich darin verstecken konnte. Ich wollte hingehen, als ich hinter meinem Rücken wieder die schlurfenden Schritte hörte. Erwin kam an. Wir schauten uns ins Gesicht. Diesmal war er ohne den Plastiksackerschienen. Erzielte mit dem Finger auf mein Gesicht. »Ich weiß, wer du bist, ich weiß es genau«, erklärte er in einem guten Deutsch. »Aber hüte dich, Fremder.« »Vor wem?« »Vor dem Mörder. Er ist wieder unterwegs. Das wird seine Nacht werden, ich weiß es.« »Dann bist du schlauer als ich. Wie kannst du wissen, daß der Killer in dieser Nacht zuschlagen will?« Er strich über seine Narben. »Ich bin ein Gezeichneter, aber ich weiß viel, sehr viel.« »Kennst du ihn, Erwin?« »Nein, niemand kennt ihn. Er ist da, er kommt, er verschwindet, er ist unangreifbar.« »Hast du ihn gesehen?« Erwin schüttelte den Kopf und legte seine Arme um die Schultern, als würde er frieren. »Wer ihn sieht, ist tot. Die Hölle hat ihn entlassen. Niemand wird ihn stoppen. Ich habe das schon oft gesagt, aber man hat nicht auf mich gehört. Wenn das Böse einmal frei ist, breitet es sich aus und sucht nach Opfern.« Ich runzelte die Stirn. Wie dieser Mann sprach, gefiel mir überhaupt nicht. Er redete wie jemand, der eigentlich mehr wissen mußte und es nur nicht preisgeben wollte. Sollte ich mich in Erwin doch getäuscht haben. War er eine geteilte Persönlichkeit? Einmal Hausmeisterund zum anderen Killer? Da er seine Hände bewegte, zog dies meinen Blick an. Die Finger waren sehr lang und gleichzeitig auch kräftig. Damit konnte man einen Menschen umbringen. Waren sie auch in der Lage, ein Messer zu halten?« »Was denken Sie?« Ich atmete tief ein. »Ich weiß nicht, Erwin, was ich noch denken soll. Tut mir leid.« »Sie halten mich für den Mörder.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Doch, ich spüre es. Ich bin sensibel. Ich weiß, ob mich jemand mag oder nicht. Ich mag die Mädchen, und ich will nicht, daß ihnen etwas geschieht, verstehen Sie?«
»Das ist sehr gut gedacht, Erwin. Ich will auch nicht, daß ihnen ein Leid zustößt.« Erwin tippte mich an. »Deshalb werde ich den Mörder jagen. Ja, ich werde ihn jagen. Ich will ihn packen, hier soll Ruhe einkehren, haben Sie gehört? Ruhe.« »Das ist vernünftig. Aber schaffen Sie es auch, ein Phantom zu fangen? Der Mörder hat keine Spuren hinterlassen. Es gibt Leute, die behaupten, daß er nicht einmal ein Mensch ist.« »Das weiß ich.« »Und wie denken Sie?« Plötzlich bekreuzigte er sich, drehte sich um und eilte davon. Im Nu war er hinter einer Hecke verschwunden. Ich folgte ihm nicht, glaubte allerdings daran, daß ich ihn noch einmal wiedertreffen würde. Nachdenklich ging ich weiter und verließ den Schatten der Bäume. Auf der Wiese drehte ich mich um. Hinter den Fensterreihen der Gebäude sah ich kein Gesicht. Alle Mädchen hielten sich zurück. Mir kam es vor, als würden sie in Verstecken hocken. Auch am Bootshaus sah ich keine Bewegung, auf dem Wasser auch nicht. Nur eben die dünnen Schwaden trieben über das Wasser und hatten sich ebenfalls an den Uferregionen ausgebreitet. Der kleine Lido war auch mein Ziel. Ich wollte mir das Bootshaus anschauen und vielleicht auch auf den See hinausrudern, falls es nötig war. Der Weg zum Ufer war ziemlich weit. Ich lief über das dichte Gras und spürte die klebrige Feuchtigkeit, die mir ins Gesicht wehte. Von der Sonne sah ich überhaupt nichts mehr, und die Umrisse der Berge gegenübere waren ebenfalls verschwunden. Auf dem Grasteppich hüpften Vögel und fanden Nahrung genug. Wenn sie hochflatterten, klemmte zwischen ihren Schnabclhälften stets ein kleiner Wurm. Das Bootshaus war nicht mehr als eine einfache Bretterbude, dessen primitive Für offenstand. Ich drückte sie weiter auf und schaute hinein. Ein Tisch, einige Stühle, zwei zusammengeklappte Sonnenschirme und ein ungewöhnlicher Geruch fielen mir auf. Ansonsten war das kleine Haus leer, aber es hatte vor kurzem Besuch gehabt, das konnte ich genau sehen, denn in einem Ascher lagen zwei Zigarettenkippen und kleine, auf dem Tisch stehende Kerzen rochen noch an ihren schwarzen Dochten. Hier hatten Menschen zusammengesessen und irgend etwas im Schein der Kerzen getan. Aber was? Wenn sich Personen im Kerzenschein versammelten, ging es meist um bestimmte Dinge. Man wollte unter sich sein und durch das Kerzenlicht eine besondere Atmosphäre schaffen. Ein Flair des Geheimnisvollen, das geeignet ist, um Beschwörungen durchzuführen.
Nachdenklich durchmaß ich die Hütte. Ich hatte auch mein Kreuz hervorgeholt und wartete auf eine Reaktion von seiner Seite. Da tat sich nichts. Es fand keine Erwärmung statt, es strahlte auch nicht ab. Kühl lag es auf meiner Hand. Ich fand nichts, was auf ein Geheimnis innerhalb der Hütte hingedeutet hätte und verließ sie deshalb wieder. Bis zum See waren es nur ein paar Schritte. Ich ging durch weichen, grauen Sand und stieg auch über Baumwurzeln hinweg, die sich aus dem Boden gedrückt hatten. Dann sah ich das Boot. Ein einfacher Kahn, der auf dem Trockenen lag und von den leise auslaufenden Wellen nicht erreicht wurde. Mir fielen zudem die Schleifspuren auf, die einige Kähne hinterlassen hatten, als sie in Richtung Wasser gezogen worden waren. Weshalb? Ich schaute auf den See hinaus, auch in den Dunst hinein, ohne allerdings etwas erkennen zu können. Oder? Da war ein Licht. Sehr schwach schimmerte es durch die Schwaden. Schwer zu erkennen, wie weit es sich vom Ufer entfernt befand, jedenfalls blieb es nicht an einer Stelle, und es besaß auch nicht die Kraft, um die Schwaden durchsichtiger zu machen. Sogar ein zweites Licht entdeckte ich. Rechts von dem ersten bewegte es sich auf den schwachen Wellen auf und ab. Wenn ich bisher noch gezögert hatte, so stand nun mein Entschluß fest. Ich wollte hinrudern und nachschauen, was sich auf dem Lago abspielte. Bevor ich einen der Kähne ins Wasser schob, überprüfte ich ihn auf seine Tauglichkeit. Ein Leck konnte ich nicht erkennen. Der Kiel schleifte durch den Sand, als ich das Boot gegen die auslaufenden Wellen drückte. Ich bekam beim Einsteigen nasse Füße, stieß mich im flachen Wasser mit den Ruderblättern ab und legte mich in die Riemen. Sehr langsam glitt ich in den geisterhafen Dunst hinein, der alles schützte, auch einen dreifachen Killer... *** Die Hand war wieder da! Sie malte, sie bewegte sich hektisch, als könnte es ihr nicht schnell genug gehen. Es entstanden diesmal keine Menschen, dafür wurde ein Gelände gezeichnet. Berge, die wie steinerne Wellen aussahen. Ein großes Tal fiel auf, das der Zeichner schraffierte und gleichzeitig so zeichnete, daß ein See entstand. Der Lago mit Booten .. .
Sehr Schnell huschte die Spitze des Stifts über das Papier. Die Lippen des Künstlers verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. In den Augen lag ein kalter Mord glänz. Sogar der Schilfgürtel wurde eingezeichnet, in dessen Mitte malte der Zeichner ebenfalls etwas. Einen dunklen Fleck. Schon als Zeichnung böse aussehend. Breit und wolkig. Das Mord-Phantom lauerte ... Die vier Mädchen hatten so lange gewartet, bis sie der Dunst schützte. Dann waren sie auch nicht auf dem direkten Weg zur Hütte gegangen, sondern hatten einen Bogen geschlagen. In Deckung einer Hecke und den zahlreichen dahinter wachsenden Kirschbäumen waren sie geschlichen und trafen im Bootshaus zusammen. Cora Losone war die erste. Sie kam sich etwas komisch vor, so allein in der Stille der Hütte zu stehen. Von draußen drang das Plätschern der Wellen herein, wenn sie gegen das Ufer liefen. Die zweite im Bunde war Marion Killmann. Sie stammte aus Nürnberg, wo ihre Eltern eine Fleischfabrik besaßen. Marion war klein, ziemlich pummelig, hatte aber sehr schöne dunkle Augen, obwohl ihr Haar einen blonden Schimmer besaß. »Wann kommen die anderen beiden?« fragte Cora. »Marietta habe ich gesehen, Angel nicht.« »Sie will aber kommen.« »Klar, Cora, es ist unser letzter gemeinsamer Abend. Morgen ist Angel schon in London.« »Meinst du, daß er uns noch erwischen wird?« fragte Cora. Sie schob sich näher an die Freundin heran. »Nicht, wenn wir zusammenhalten. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Wir müssen eine Einheit bilden. Bisher hat das Phantom keinen aus unserem Kreis bekommen.« »Hast du eine Erklärung?« Marion Killmann hob die Schultern. Sie trug einen dünnen Pullover, unter dessen Stoff sich die Hügel ihrer Brüste deutlich abzeichneten. »Nein, Cora, nein, er wird uns nichts tun, weil wir uns unter den Schutz der Urmutter gestellt haben. Sie hält ihre Hand über uns, davon bin ich fest überzeugt.« »Ich auch.« Beide Mädchen drehten sich um, denn die dritte Person war erschienen. Die kleine, puppenhaft wirkende Marietta Mandoni stand in der Tür. Sie stammte aus Mailand, war die kleinste in der Klasse, trug fast jeden Tag eine Brille mit einem andersfarbigen Gestell. An diesem Abend hatte sie sich für ein dunkelrotes entschieden. »Hast du uns erschreckt!« flüsterte Cora.
»Das wollte ich nicht.« Sie kam ins Zimmer. In ihren Turnschuhen war sie nicht zu hören. Cora ließ ihren schmalen Rucksack von der Schulter gleiten und packte die Kerzen aus, die sie auf dem Tisch verteilte. Es waren besondere Kerzen, die Schülerinnen hatten sie selbst hergestellt. Zwar bestanden sie zum Großteil aus Wachs, doch diese Masse enthielt noch andere Ingredienzien, so daß die Kerzen, wenn sie brannten, einen bestimmten Geruch abgaben. Marietta blieb an der Tür stehen und schaute hinaus. Sie waren bei ihren Treffen immer vorsichtig, weil sie von den anderen Schülerinnen nicht unbedingt gesehen werden wollten. »Sie kommt«, meldete Marietta. »Wunderbar.« Cora stellte die letzte Kerze auf den Tisch, während Marion die Stühle zurechtrückte. Dann erschien Angel Torham. Wie immer sah sie blaß aus. Sie lächelte sparsam und umarmte jede der drei Freundinnen, als wäre es ein Abschied für immer. Das merkte auch Cora Losone. »Was ist los?« wunderte sie sich. »Heute ist unser letztes Zusammensein.« »Na und?« »Es muß uns stark machen«, sagte Angel. »Wegen des Mörders?« »Ja.« »Rechnest du damit, daß er unterwegs ist?« Marietta bekam bei der Frage eine Gänsehaut. »Damit müssen wir immer rechnen«, meinte Marion, »aber wir werden uns zu schützen wissen.« Sie hielt die Schachtel mit den Zündhölzern bereits in der Hand. Erst als Angel nickte, schob sie das kleine Päckchen auf und rieb ein Streichholz an. Um die Dochte zu entzünden, brauchten sie zwei Hölzchen, dann erhellte das flackernde Licht die Blockhütte von innen. Marietta ging hin und zog die Tür so weit wie möglich zu. Keiner von ihnen wollte, daß ein anderer aufmerksam wurde. Sie nahmen auf den Stühlen Platz und breiteten ihre Arme so weit aus, daß sich die Hände berührten. Es drang kein Luftzug in die Hütte. Sehr ruhig brannten die Flammen und malten vier helle Kreise an die Decke. Die Minuten des Schweigens, der Sammlung und der Konzentration folgten. Die Hitze ließ das Wachs schmelzen. Ein ungewöhnlicher Geruch breitete sich aus. Er besaß keine bestimmte Duftnote, die alles überragte; in ihm war einfach alles vorhanden. Eine Mischung aus Kräutern, Essenzen und anderen Zutaten, die gemeinsam derart intensiv waren, daß sie das Denken der vier Mädchen regelrecht betäubten und ihre Hirne gleichzeitig freimachten für andere Dinge. Sie öffneten sich der Urmutter!
Angel war es, die das Wort übernahm. Mit leiser Stimme sprach sie und bat um den Schutz derNaturvor den Kräften des Bösen. Sie schloß alle vier in ihre beschwörend klingenden Worte mit ein, und zum Schluß sich noch einmal selbst, wobei es in ihren Augen anfing zu glitzern und schon sehr bald die ersten Tränen an ihren Wangen cntlangliefen. Es war deutlich zu hören, wie sehr sie unter dem Druck stand, der sich auf die anderen übertrug, denn die Finger der Mädchen begannen zu zittern. In der Hütte geschah nichts. Die Mädchen jedoch glaubten, den Geist der Urmutter zu spüren, der in sie hineingegangen war, um ihnen Schutz vordem Mörder zu geben. »Und so möchten wir auch die letzte Nacht überstehen, auf das niemand uns ein Leid zufügen kann«, beendete Angel ihren Spruch. Stille kehrte ein. Vier Augenpaare starrten in die Flammen. Zwei von ihnen bewegten sich plötzlich. Marietta sah es als Zeichen der Urmutter an, denn sie flüsterte: »Sie hat uns erhört. Ja, sie hat uns erhört. Habt ihr das nicht gesehen?« Die anderen nickten. »Ich glaube«, sagte Cora, »wir haben ihren Schutz bekommen und können uns nun getrost in die Boote setzen.« Niemand widersprach ihr. Wie auf ein Kommando hin schoben die Mädchen die Stühle gleichzeitig nach hinten und standen auf. Keiner von ihnen sprach. Sie bliesen die Kerzen aus, zurück blieben feine Rauchschwaden, die zerflatterten. Cora packte die Kerzen wieder in den Rucksack und verließ die Hütte als letzte. Sie drückte die Tür zu, schaute dabei in Richtung Ufer, wo die Mädchen schon die Boote zu Wasser ließen. Jede von ihnen bekam einen Kahn. Sie wollten auf den See hinausrudem, zu bestimmten Stellen und dort die Kerzen anzünden, damit auch dieses Gebiet durch die Kraft der Urmutter geschützt wurde. Angel wartete noch und ging Marion sowie Marietta zur Hand, damit sie die Boote freibekamen. Als letzte Person stieg Angel in den Kahn. Die anderen waren schon einige Meter hinausgerudert und glitten in den über dem Wasser liegenden Dunst hinein. Sie winkten Angel zu, die einstieg, sich abstieß und den Freundinnen folgte. Zwei Boote blieben leer am Ufer zurück... *** Noch jemand war an diesem Abend unterwegs!
Die Person hatte es ziemlich eilig, als sie über die weite Wiesenfläche dem Ufer entgegenlief. Ihr Herz hämmerte in der Brust. Schweiß strömte über ihr Gesicht. Es lag nicht allein an der feuchten Schwüle, sondern auch daran, was sie beim Legen der Karten erlebt hatte. Das Bild mit dem Tod hatte in der Mitte seinen Platz gefunden. Also würde der Tod auch in dieser Nacht der Mittelpunkt sein. In den letzten Tagen hatte er einen Namen bekommen. Er war zu einem Mordphantom geworden, was Madame Sousa genau wußte, wobei sie trotz allem nichts dagegen unternehmen konnte. Die Mehrzahl der Schülerinnen befand sich in den Zimmern. Kein Mädchen war allein, sie trauten sich auch nicht, die schützenden Mauern zu verlassen. Vier Schülerinnen hatten es dann doch getan. Den scharfen Augen der Rektorin war es nicht entgangen, und sie wußte auch, wohin sie sich gewendet hatten. Zum See hin. Madame Sousa wußte vieles, sie sprach nur nicht darüber. Bevor sie selbst zum Ufer ging, tauchte sie in den Schatten der Bäume und inspizierte das Blockhaus. Sie fand es leer, aber sie roch natürlich den Duft, den die Kerzen hinterlassen hatten. Er gefiel ihr nicht. Mit der Zungenspitze strich sie über die Lippen, als wollte sie ihn dort schmecken. Dabei klopfte ihr Herz abermals stärker, in den Augen spürte sie ein Brennen. Auf den Handflächen bildete sich Schweiß. Wenn die Mädchen nur keinen Unsinn machten und mit Kräften spielten, die sie nicht beherrschten. Madame Sousa wußte von der Einstellung ihrer Schülerinnen. Die vier beschäftigten sich sehr mit der Magie aus der Natur. Sie wollten herausfinden, ob es bestimmte Dinge tatsächlich gab. Außerdem wollten sie gewissen Gesetzen auf den Grund gehen. Ob sie es geschafft hatten, war ihr unbekannt. Sie hatte zudem nie danach gefragt. Sehr langsam schlenderte sie auf den schmalen Strand zu und erschrak, denn nur mehr zwei Boote lagen dort. Die anderen vier waren bereits ins Wasser gelassen worden. Madame Sousa blieb dort stehen, wo die Wellen ausliefen und schaute über den See. Viel konnte sie nicht sehen. Die dunkle Fläche des Wassers, darüber der Dunst, der sich wie lange Fahnenstücke an der Oberfläche festklammerte und sich so gut wie nicht bewegte, da Windstille herrschte. Bei diesem Wetter fuhren kaum noch Boote. Die Ausflugsschiffe hatten jedenfalls angelegt, und der Lago Maggiore glich einem schon toten Meer.
Die Rektorin bückte sich und umklammerte mit beiden Händen das Heck des Kahns. Er war schwerer, als er aussah. Sie hatte schon Mühe, ihn ins Wasser zu lassen. Der Sand war ihr dabei eine Hilfe. Er kratzte über den Kiel wie Scheuerpulver. An den Füßen wurde sie etwas naß, als sie den Kahn enterte. Sie griff nach den beiden Rudern, wollte sie ins Wasser tauchen und warf noch einmal einen Blick zurück. Sie konnte in den Park hineinschauen, wo sich ebenfalls dünne Nebelschleier ausgebreitet hatten. Bewegte sich dort eine Gestalt auf das Ufer zu? Madame Sousa wischte über ihre Augen, schaute wieder hin, da war die Gestalt verschwunden. Wenn sie tatsachlich vorhanden gewesen war, so hatte sie jedenfalls nicht erkennen können, um wen es sich handelte. Allerdings dachte sie dabei an John Sinclair, der schließlich zum Schutz der Angel Torham abgestellt worden war. Aus diesem Mann wurde sie nicht schlau. Sie hatte jedenfalls das Gefühl, von ihm durchschaut worden zu sein. Das war gar nicht gut, fand sie und tauchte die beiden Ruderblätter in das graugrüne Wasser des Lago Maggiore. Auch Madame Sousa ruderte auf den See hinaus und damit in die Schwaden hinein, die ihr vorkamen wie lange, graue Todesschatten, die alles schützten, auch einen dreifachen Killer... *** An diesem Abend war noch jemand unterwegs! Durch den Park hetzte keuchend eine geduckte Gestalt. Ein Mann, der wußte, daß der Tod bereits mit seiner gewaltigen Sense ausgeholt hatte und sie über die Köpfe der Menschen hinwegschwang. Erwin, das Faktotum, der Hausmeister, das Mädchen für alles, der vor allen Dingen von den jüngeren Schülerinnen belächelt wurde. Okay, er gehörte nicht eben zu den großen Geistesleuchten, dafür besaß er etwas anderes: Gespür, Intuition, außerdem liebte er die Menschen. Er wollte auf keinen Fall, daß ihnen ein Leid geschah, wer immer es auch war. An diesem Abend hatte sich alles verdichtet. Er spürte genau die gefährlichen Ströme, die unsichtbar durch die Luft glitten, die das Böse ausgeschickt hatte. An der Rückwand der Hütte blieb er stehen, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Er schielte durch einen Spalt in das Innere, ohne daß er etwas erkennen konnte. Dann ging er zum Ufer. Seine Schuhe schleiften durch den
Sand, und als er dort stehenblieb, wo normalerweise die Boote ihren Platz fanden, drang ein Schluchzlaut aus seinem Mund. Keines war mehr da. Er ballte die Hände, ging nach links, suchte zwischen den Bäumen, sah dort auch nichts und wirkte plötzlich hilflos. Mit der rechten Schulter lehnte er sich gegen einen Baumstamm. In dieser Haltung blieb er für die Dauer einiger Minuten stehen, um auf das Wasser zu starren, wo er sowieso nicht viel erkennen konnte. Doch er sah die Lichter. Weit vom Ufer entfernt bewegten sie sich auf dem See wie geheimnisvolle Botschaften inmitten des gespenstisch anmutenden Nebels. Warum war dies geschehen? Erwin fiel es schwer, nachzudenken, doch er entdeckte, daß die Schülerinnen es trotz der widrigen Umstände gewagt hatten, auf den See hinauszurudern. Das war schlimm. Erwin räusperte sich. Er überlegte verzweifelt, was er tun konnte. Er wollte die Mädchen warnen. Ohne Boot war das schlecht. Ihm blieb nur mehr die Möglichkeit, hinzuschwimmen. Als er diesen Entschluß gefaßt hatte, nickte er. In seinen Augen leuchtete plötzlich der Wille auf. Erwin wußte, daß der See an diesem Ufer erst weit draußen so tief wurde, daß er darin nicht mehr stehen konnte. Wenn er eintauchte, wollte er nicht unbedingt so schnell gesehen werden, also wechselte er den Standort und ging nach links, wo sich der dichte Schilfgürtel befand und dokumentierte, daß hier ein Stück heiler Natur geschützt werden sollte. Der Sand verschwand und schuf einem schwammigen Untergrund Platz. Seine Schuhe hinterließen Abdrücke, vor dem Gesicht tanzten die Mücken. Eibellen schwirrten an ihm vorbei. Dicke Fliegen tanzten über den Rohren. Noch einmal schaute Erwin so gut wie möglich über die Fläche, dann stieg er ins Wasser. War der Boden nahe des Strandes noch steinig, so glitt er an dieser Stelle mehr einem schwammigen Sumpf. Schleim und Schlick bedeckten ihn. Das Zeug drang sehr bald in Erwins Schuhe. Mit der linken Schulter schabte er an den Schilfrohren entlang, zwischen denen sich zudem noch hohes Wassergras hatte ausbreiten können. Kleine Wellen plätscherten ihm entgegen, umspülten seine Hüften und sehr bald seinen Bauch. Die Arme hatte er über Wasser gelassen. Schwerfällig bewegte er sich weiter und war mit den Schatten des dunklen Schilfwaldes verschmolzen.
Die einzelnen Rohre und Gräser wuchsen bereits über seinen Kopf hinweg. Insekten hatten sich sein schweißfeuchtes Gesicht als Landeplatz ausgesucht. Er schlug erst gar nicht nach ihnen und spürte die Stiche und Bisse. In kleinen Wellen plätscherte ihm das Wasser entgegen und umspülte schon sein Kinn. Auf der Oberfläche trieb ein algenähnlicher, grüner Schleim, der sich im Rhythmus der Wellen bewegte. Plötzlich stieß Erwin mit der Brust gegen etwas Hartes. Er hatte es nicht gesehen und schaute erst hin, als er den Gegenstand etwas weiterund schräg in den Schilfwald geschoben hatte. Fr blieb stehen, faßte mit beiden Händen nach und bekam glatte, abgerundete Seitenkanten zwischen die Finger, wie sie nur von einem Surfbrett stammen konnten. Die auslaufenden Wellen drangen auch in den kleinen Schilfwald und bewegten die Rohre. Er griff noch härter zu und zerrte das Surfbrett hervor. Um seinen Mund glitt ein Lächeln. Erwin konnte zwar schwimmen, doch es war bequemer, das Surfbrett zu benutzen. Wenn er sich bäuchlings darauflegte und mit den Armen seitlich ruderte, gelangte er leichter und schneller an sein Ziel. Er zog sich zunächst in flacheres Wasser zurück. Dort würde es ihm besser gelingen, auf das Surfbrett zu klettern. Beim vierten Versuch schaffte er es. Dabei waren seine Haare naß geworden. Flach lag Erwin auf dem Brett. Er tauchte die Arme ins Wasser und brachte sich durch rudernde Bewegungen voran. Am Schilfgürtel glitt er entlang, tickte manchmal dagegen, ruderte sich wieder frei, geriet in Wellen und schluckte Wasser! Erwin spuckte und unterdrückte nur mühsam einen Fluch. So wollte er nicht weiterrudern. Nach einigen Mühen schaffte er es, sich zu setzen. Seine Beine waren bis zu den Knien im Wasser verschwunden. Mit den Händen ruderte er weiter und brauchte jetzt weniger Kraft einzusetzen. Zugleich besaß er einen besseren Überblick. Noch immer begleitete ihn die Wand aus Schilf, allerdings hatte er sehr rasch die Hälfte davon hinter sich gelassen, so daß sein Blick frei auf den Lago fiel. Da wehten die dünnen Schleier, die aber, wenn sie zusammentrafen, sich zu einem Nebel verdichteten, durch den die vier schwachen, geheimnisvollen und geisterhaften Lichter schimmerten. Immer wenn er ruderte, bewegte er sich rhythmisch. Sein Mund stand offen, Erwin atmetete keuchend. Auf der Haut vermischten sich Schweiß und Wasser. Plötzlich spürte er die Gefahr! Er hatte sie nicht gesehen, sie war aber da. Ein sensitiv veranlagter Mensch wie er wußte das genau.
Kalt rann es ihm den Nacken hinab. Erwin bewegte seine Arme nicht mehr. Er blieb auf dem Surfbrett hok-ken, das auf den Wellen schaukelte, die ihm entgegen-flossen. Wo lauerte der Tod? Erwin konnte nicht viel erkennen. Es war zwar nicht dunkel geworden, aber der Dunst und die einbrechende Dämmerung nahmen ihm einen Großteil der Sicht. Auf dem See war es noch ruhig, ließ er die normalen Geräusche dabei außer acht. Dann hörte er etwas anderes. Ein Sprudeln oder Brodeln, das Brett bekam Schwung und schaukelte stärker. Unwillkürlich klammerte er sich an den Seiten fest und drehte den Kopf nach links, denn von dort rollten die für ihn nicht erklärbaren Wellen heran. Er schwang hoch, wieder zurück. Plötzlich bildete sich Schaum neben seinem Surfbrett. »Der Tod!« ächzte Erwin. »Der Tod ist da!« Er wollte weg, da erwischte es ihn. Erwins Schrei erstickte in einem Gurgeln. Etwas unsagbar Hartes umklammerte sein linkes Bein in Höhe der Wade und unterhalb der dunklen Wasserfläche. Der Hausmeister konnte nicht erkennen, was es war, er spürte nur den bösen Schmerz, der sich wie ein Strahl aus Feuer hochfraß und seinen Oberschenkel erreichte. Was geschah mit dem Bein? Wurde es abgerissen? Erwin kippte nach vorn. Im gleichen Augenblick tauchte aus dem Wasser eine Klaue mit langen Nägeln auf. Sie hackte in die Masse des Surfbretts, hielt es fest und wollte auch Erwin an sich ketten. Der Klaue folgte ein Kopf. Riesig war der Schädel, der Ähnlichkeit mit einem gewaltigen Fischmaul aufwies. Eine Mischung aus Hai-und Krokodilschnauze. Schwarzgrün schimmernd und naß. Das Maul schnappte zu. Erwin konnte es nicht glauben, als es vor seinem Gesicht erschien, denn das Monstrum hatte sich abgestoßen. Jetzt sah er auch die andere Klaue. In ihr hielt das Monster ein Messer. Sehr lang und sehr schwarz war die Klinge. Aus dem Vorhang aus Wassertropfen stieß sie zu. Sie fand bei Erwin kaum Widerstand. Er wunderte sich noch, daß er keinen Schmerz mehr spürte, dann kippte er nach rechts weg, rollte über den Rand des Surfbretts in die schaumigen Wellen hinein, in die sich auch sein Blut mischte. Das Wasser packte ihn wie Hände und trug ihn fort. Daß ein Monstrum in der Nähe gelauert hatte, war nicht mehr zu sehen. Nur mehr die hohen Schilfrohre zitterten, aber längst nicht so stark wie das lange Wassergras...
*** Die Lichter kamen einfach nicht näher! Bei diesen Lichtverhältnissen und dem verdammten Dunst war es so gut wie unmöglich, eine Entfernung abzuschätzen. Da verschwamm alles in einem rollenden Grau. Das Wasser roch irgendwie faulig. Als grüne Fläche breitete es sich um mein Boot herum aus. Es wellte nur auf, wenn ich die Ruderblätter ins Wasser tauchte. Bei jedem Schlag der Ruder bewegte auch ich mich und schaute mich so gut wie möglich um. Das hätte ich auch sein lassen können, denn auf der Wasserfläche bewegte sich nur der Dunst. Ansonsten konnte ich nichts erkennen. Auch das Ufer war längst verschwunden. Der Nebel hatte es geschluckt. Nur die in der Nähe stehenden hohen Bäume waren wie Totenschatten zu erkennen. So ruhig der See auch äußerlich dalag, er besaß eine Strömung, was ich merkte, als ich die Ruder einholte. Da wurde ich nämlich abgetrieben und näherte mich einer sehr dunklen Fläche, die wie eine breite Zunge in den Lago hineinwuchs. Es war der Gürtel aus Gräsern und Schilf, der den zahlreichen Insekten einen idealen Platz zur Ausbreitung bot. Auch mich umschwirrten sie. Hin und wieder schlug ich nach ihnen und zerklatschte sie auf meinem Gesicht. Dann entdeckte ich den Schatten. Er bewegte sich nicht weit von mir entfernt über den See. Unwillkürlich duckte ich mich. Wenn mich nicht alles täuschte, hockte eine Frau in einem der Kähne und ruderte auf den See zu. Mir fiel sofort Madame Sousa ein. Unlogisch wäre es nicht gewesen, wenn sie den gleichen Gedanken gehabt hätte wie ich. Ich wollte sie anrufen, als mich etwas ablenkte, das von der anderen Seite her an meine Ohren drang. Ein Gurgeln des Wassers, als würde auf der Oberfläche etwas schäumen. Ich drehte mich etwas zu hastig, so daß der Kahn in heftige Schaukelbewegungen geriet. Hatte jemand geschrien? Er hörte sich so an, als wäre ein Schrei im letzten Augenblick erstickt worden. Allmählich bekam ich Magendrücken. Bevor ich drehen und zu der Stelle hinrudern konnte, waren die Geräusche verklungen.
Ich atmete tief durch und dachte über den Vorfall nach. Normal war er nicht gewesen. Da hatte etwas Fremdes in den Kreislauf des Sees eingegriffen. Aber was? »Mr. Sinclair?« Die Stimme der Frau wehte wie ein Hauch über das Wasser. Ich drehte mich und sah den Schatten des Bootes, das auf mich zugerudert wurde. In der Tat hielt Madame Sousa die beiden Ruder. Demnach hatte ich mich doch nicht getäuscht. »Ja — hier.« Sie lachte leise. Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie es in der Schule nicht aushalten würden.« »Der See gefiel mir besser.« »Tatsächlich?« Die Ruderblätter durchfurchten noch zweimal das Wasser, dann hatte sie mich erreicht, und die beiden Bootskörper schabten gegeneinander. »Wieso gefiel es Ihnen besser?« Ihr Gesicht war schwer zu erkennen. Gern hätte ich den Ausdruck darin gesehen. »Das kann ich Ihnen sagen. Wenn ich mich nicht irre, sind vier Ihrer Schülerinnen auf den See hinausgerudert und haben die schützenden Mauern verlassen.« »Stimmt.« »Weshalb taten sie es?« »Ich müßte lügen, wenn ich nicht den Grund wüßte. Diese vier Mädchen sind etwas Besonderes. Sie haben sich zusammengefunden und versuchen, einer neuen Religion nachzugehen. Sie lieben die Natur und glauben daran, daß sie durch die Naturgeister, insbesondere die Mutter Erde, beschützt werden können.« »Ach, die Urmutter.« »So ist es.« »Wie sehen Sie das?« Madame Sousa hob die Schultern. »Wenn ich von den Tarot-Karten ausgehe, dann meine ich, daß es so etwas gibt. Wissen Sie, ich gehöre zu den Menschen, die gern hinter die Dinge schauen wollen. Sie können das als eine metaphysische Veranlagung bezeichnen, es ist auch so.« »Sehr schön, Madame. Dann sagen Sie mir nur, wie der Mörder in ihr metaphysisches Weltbild hineinpaßt.« Sie nickte bedächtig. »Das frage ich mich auch, Mr. Sinclair, und bin zu keiner Antwort gelangt. Es tut mir leid, ich kann diesen Mörder nicht einordnen.« »Wie auch ich.« »Wer sind Sie denn?« Die Frau war näher an den Bordrand herangerückt, hatte eine Hand ausgestreckt und umklammerte den Rand meines Bootes. »Ich komme aus England.«
»Das weiß ich. Auf mich machen Sie den Eindruck eines Polizisten, den ein geheimnisvolles Flair umgibt, der möglicherweise den Tod mitgebracht hat und . ..« »Wieso den Tod?« »Lassen Sie mich ausreden, Mr. Sinclair. Ich habe die Karten gelegt und als Mittelpunkt den Tod aufgedeckt.« Ihre Stimme hatte einen beschwörenden Klang bekommen. »Verstehen Sie nun, daß ich in großer Sorge bin?« »Das glaube ich Ihnen.« »Mir geht es um die Mädchen. Wenn der Tod, der Mörder, noch einmal zuschlägt, kann alles vorbei sein. Ich würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen.« »Mir erginge es ebenso.« »Dann sind wir uns ja einig. Ich schlage vor, daß wir zu ihnen rudern und sie wegholen. Sie müssen in den Schutz der Castello-Mauern, alles andere könnte tödlich enden.« »Einverstanden. Ich frage mich nur, weshalb sie auf den See gerudert sind.« »Um noch einmal gewisse Geister zu beschwören, bevor es zu einer längeren Trennung kommt.« »Deshalb also.« »Ja, und wir werden sie retten.« Ich hörte nicht mehr hin, denn mir war etwas aufgefallen. Vom Schilfgürtel her trieb etwas Dunkles auf unsere beiden Boote zu. Ich hatte es ebenso wenig erkennen können wie Madame Sousa. Der Gegenstand sah mir sehr nach Umweltverschmutzung aus, irgendein Teil, das jemand ins Wasser geworfen hatte. »Nein«, sagte Madame Sousa leise. »Das ist kein Karton, auch kein Blech oder eine Kiste . . .« Ihre Stimme fror plötzlich ein . . . Ich gab keinen Kommentar, wußte allerdings, daß Madame Sousa nicht gelogen hatte. Nur konnte ich auf einige Erfahrungen zurückblicken, die ihr glücklicherweise erspart geblieben waren. Leider wußte ich zu genau, wie Wasserleichen aussahen. Es war eine Leiche, die an unser Boot herantrieb. Luft hatte sich unter der Kleidung gesammelt und dem Körper etwas Ballonhaftes gegeben, vor allem jedoch Auftrieb. Ich leuchtete ihn mit meiner Bleistiftleuchte an und schaltete sie wieder aus, denn der Strahl hatte das Gesicht getroffen, das so schlimm aussah wie . . . Mir fehlte der Vergleich. »Was ist denn, Mr. Sinclair?« »Bleiben Sie ruhig, Madame«, sagte ich mit kratziger Stimme. »Bleiben Sie bitte ruhig. Es ist ein Toter, der uns da entgegentreibt.« Mit einem Ruderblatt stoppte ich ihn.
»Nein!« Sie schrie das Wort. Dann fragte sie: »Nicht eines der Madchen — oder?« »Aber der Hausmeister.« »Erwin?« Sie sprach den Namen so aus, als wollte sie ihn kaum glauben.« »Ja.« »Mein Gott, das ist. .. das ist. . .« Ich merkte, daß sie sich bewegte, um sich den Toten genauer anzusehen. Mit scharfer Stimme riet ich ihr, nicht hinzuschauen. »Weshalb denn nicht?« »Weil er einfach zu schlimm aussieht. Sein Mörder muß ein furchtbares Wesen sein.« »Der Killer mit dem Messer.« »Bestimmt nicht.« Ich hielt die Leiche noch immer und drehte mich zu der wie festgeklebt im Boot sitzenden Madame Sousa um. »Passen Sie jetzt auf. Rudern Sie bitte so schnell wie möglich zurück zum Ufer und überlassen Sie alles weitere mir.« »Die Mädchen .. .« »Um die kümmere ich mich.« »Was ist mit dem Mörder? Kann er nicht irgendwo in der Tiefe lauern?« »Das ist alles möglich. Deshalb fliehen Sie, Madame!« Endlich hatte sie begriffen. Als sie nach den Rudern griff und Blätter in das Wasser tauchte, schleuderte sie lange Spritzer in die Höhe. Sie war kaum noch in der Lage, das Boot richtig zu führen. Erst nach einigen Sekunden ruderte sie in die angegebene Richtung. Ich kümmerte mich um den Toten. Es war nicht einfach, ihn in das Boot zu hieven. Mit beiden Händen packte ich zu, das Boot bekam eine starke Backbordneigung, schaukelte nach, ich keuchte und strengte mich sehr an. Schließlich hatte ich es geschafft. Der Tote lag vor mir im Boot. Jetzt konnte ich auch seine Beine erkennen. Das linke sah aus, als würde es nur noch an zwei Sehnen hängen. Schrecklich ... Ich war auf Schlimmes gefaßt gewesen. Die Tatsachen aber hatten alles übertroffen. Der Killer — daran gab es für mich keinen Zweifel — war aus dem Wasser gestiegen. Stellte sich nur die Frage, ob es sich bei ihm um die gleiche Person gehandelt hatte, die auch die drei Mädchen getötet hatte. So recht wollte ich daran nicht glauben, denn ich erinnerte mich, was auf meiner Herfahrt geschehen war. Da hatten zwei Monstren versucht, mein Eintreffen im Castello zu verhindern. Möglicherweise arbeitete der Killer nicht allein und hatte eine starke Unterstützung von der Hölle bekommen. Wie die Fäden miteinander verknüpft waren, interessierte mich zunächst nicht. Die Mädchen waren wichtiger. Wenn das Wesen, das sich in den Tiefen des Lago aufhielt, plötzlich bei ihnen erschien, konnte es noch vier Tote geben.
Der Gedanke daran hinterließ in meinem Mund einen bitteren Geschmack. Gleichzeitig beflügelte er mich auch, so daß ich schneller ruderte... *** Sie hatten sich eine bestimmte Stelle auf dem Lago ausgesucht, wo sich die Strömung in Grenzen hielt. So wurden sie, wenn sie nicht mehr ruderten, kaum abgetrieben, konnten in den Booten sitzenbleiben und die Kerzen auf die Ruderbänke stellen. Ruhig brannten auch hier die Lichter. Der Dunst wehte über die Boote hinweg, geriet in den Schein der Kerzen, so daß es aussah, als wollte er sie schlucken. Die Mädchen hockten auf den kleinen Sitzbänken am Heck der Boote. Sie hatten für nichts einen Blick, nur eben für die Lichter vor ihnen. Sie waren angezündet worden, um den Geistern der Tiefe zu zeigen, daß sie auch in der heutigen Zeit noch verehrt wurden. Von einer Nervosität war nichts zu spüren. Selbst die stets ängstliche Marietta Mandoni spürte keine Furcht mehr. Sie lag ruhig mit ausgestreckten Beinen im Boot, schaute gegen die Flamme, deren Widerschein noch Platz in ihren Augen fand und die Pupillen aufleuchten ließ. Auch Cora Losone, Marion Killmann und Angel Tor-ham rührten sich nicht. Sie wußten genau, was sie sich und ihrem Vorhaben schuldig waren. Die heilige Ruhe auf dem Wasser durfte keinesfalls gestört werden. Das konnte einen Kontakt abreißen lassen. In anderen Nächten hatte sich Angel wohler gefühlt. Da war sie innerlich viel ruhiger gewesen. Sie wußte selbst nicht, wie es kam, daß sie die Ruhe nicht mehr fand. Etwas regte sie auf, ließ sich nicht den inneren Frieden finden. Ob es damit zusammenhing, daß sie sich morgen trennen würden und dieser John Sinclair aufgetaucht war? Irgendwie schon. Angel konnte über den Mann nichts Schlechtes sagen, er war ihr auch irgendwo sympathisch, trotzdem hatte er Unruhe gebracht. Es gelang ihr nicht so recht, den gedanklichen Ring zu schließen, der sie mit ihren drei Freundinnen verband. Obwohl sie getrennt in den Booten lagen, hatte sie stets versucht, kraft ihrer Gedanken, eine Verbindung zu bekommen, die durch das geheimnisvoll leuchtende Licht der Kerzen noch verstärkt werden sollte. Heute wollte es nicht klappen. Die Unruhe steigerte sich in den Mädchen. Fast zugleich richteten sie sich auf und begannen mit ihren Booten zu schaukeln. Sehen konnten sie sich nicht. Nur anhand des geisterhaften Kerzenlichtes inmitten des Dunstes wußten sie, wo sie sich befanden.
Angel räusperte sich, um sprechen zu können. »Merkt ihr es auch?« rief sie in den Dunst hinein. »Ja.« Marion antwortete. »Ich kann mich ebenfalls nicht konzentrieren. Sie bekommen die Verbindung nicht.« »Etwas stört«, meldete Cora. »Aber was?« fragte Marietta. Jede verließ sich auf die andere, um eine Antwort zu bekommen. Angel gab sie schließlich. »Es ist einfach ein Fremdkörper, der uns stört«, erklärte sie. »Jemand hat sich zwischen uns geschoben und will nicht, daß wir eine Verbindung zu den Kräften der Natur bekommen. So sehe ich es, so wird es auch sein.« »Aber wer könnte das sein?« fragte Cora. »Jemand, der auch stark ist und etwas Gleichwertiges besitzt wie wir. Er ist noch nicht lange da . . .« »Vielleicht der Mann, der dich holen will, Angel?« Marietta fragte schüchtern an. »Das kann sein.« »Sollen wir wieder zurückrudern?« Angel überlegte, auch die anderen beiden dachten über Mariettas Vorschlag nach. Es wäre sicherlich gut gewesen, denn viel erreichen konnten sie nicht mehr. »Also lösen wir die Kette«, sagte Angel und griff nach den Rudern. »Es ist schade, meine Freundinnen, daß unser letztes Zusammensein so enden muß.« »Da kann man nichts machen«, meldete sich Cora. Auch der Rückweg geschah nach einem bestimmten Ritual. Die Mädchen ruderten gemeinsam los und bewegten sich von vier verschiedenen Seiten aufeinander zu. An einem bestimmten Punkt würden sie sich treffen. Das war schon einstudiert. Wie Gespenster hatten sie im Nebel ihren Auftritt. Mittlerweile war Zeit vergangen. Die Dunkelheit verdrängte die Dämmerung. Der Lago schlief unter einem großen Tuch. Die Lichter auf der anderen Seeseite waren nicht mehr zu erkennen. Die Welt wirkte so, als wäre sie in dünne Watte eingepackt worden. Nur das Klatschen des Wassers war zu hören, als die Mädchen aufeinander zuglitten. Sie trafen an dem bestimmten Punkt zusammen. Die Buge ihrer Boote scheuerten gegeneinander. Wellen waren entstanden und ließen die vier Boote schaukeln. Im gleichen Rhythmus tanzten auch die Kerzenflammen, die ein huschendes Muster über die Gesichter der vier Schülerinnen warfen. Die vier Boote bildeten so etwas wie einen großen Stern. Sie befanden sich nahe beieinander, schauten sich an und konnten sich trotzdem nicht klar und deutlich erkennen.
Sanft wiegten die Boote auf den Wellen. Mal drängten sie auseinander, dann kamen sie wieder zusammen. »Wir werden«, sagte Angel leise, »jetzt einen Schwur ablegen. Gegenseitig müssen wir uns etwas schwören.« »Meinst du?« fragte Cora. »Ja, das will ich so.« »Was sollen wir denn schwören?« fragte Marietta. Sie wischte über die beschlagenen Gläser ihrer Brille. »Daß wir immer zusammenhalten werden. Egal, was auch geschieht und wer uns auseinandertreiben wird. Selbst wenn wir die Schule hinter uns haben, bleiben wir in Kontakt. Denn nur wir vier sind in der Lage, die Kräfte der Natur zu wecken.« Die Stimme des Mädchens klang wie das Murmeln der Wellen und wurde vom Wasser verschluckt. »Schwört ihres?« fragte sie. »Ja!« Drei Stimmen klangen wie eine, und drei Arme reckten sich zum Schwur in die Höhe. Angel war zufrieden. Jedes der Mädchen freute sich. Sie hatten es geschafft und eine Einheit gebildet. Nichts sollte sie stören und lösen können. Die vier Boote schaukelten. Kerzenlicht warf Schatten und ließ Helligkeit über die Ränder hinwegfließen. Angel war die erste, die ihren Arm senkte. Die anderen taten es ihr nach. Stillschweigend hatten sie das zarte blonde Mädchen als Anführerin akzeptiert. Schließlich war sie es gewesen, die sich zuerst mit dem Thema Naturmagie beschäftigt hatte. Angel Torham spürte genau ihre Handfläche, die auf dem rechten Oberschenkel lag. Auf einmal war da noch etwas anderes. Eine Erklärung konnte sie nicht finden, doch da lief ein Strom durch ihre Adern, der das Blut in Wallung brachte. Die Boote und die drei anderen Mitschülerinnen verschwammen vor ihren Augen, als würden sie eintauchen in die schmalen Wellen des Sees. Was war das nur? Angel schüttelte den Kopf. Eine unnatürlich hohe Welle trieb heran, klatschte zwischen die Boote und sorgte dafür, daß die vier Kähne auseinandergetrieben wurden. Zwischen ihnen entstand eine Lücke. Ausgefüllt mit grünem Wasser und Schaum auf der Oberfläche, aber auch von einem dunklen Schatten durchweht. Nur Angel hatte es bisher gesehen, die anderen schauten in verschiedene Richtungen. Im gleichen Moment verlöschte ihre Kerze. »He!« rief Marion, »weshalb hast du sie ausgeblasen? Bitte, warum? Was ist los?«
Sie bekam keine Antwort. Angel Torham saß vornübergebeugt im Boot und starrte die Wasserfläche an. Etwas war dort! Und es schoß hervor. Eingehüllt in einem Schwall Wasser, jagte aus der Tiefe des Lago ein gewaltiges Monstrum. Eine Mischung aus Riesenfisch und Krokodil, dessen Schnauze weit geöffnet war und sich im nächsten Augenblick eines der Mädchen schnappen würde. Cora Lonsone schrie wie am Spieß, denn das Maul senkte sich über ihre Gestalt... *** Ich ruderte, was ich konnte. Verdammt, wie weit war es denn noch bis zu den Booten? Die Schwaden verzerrten die Perspektive. Sie sorgten dafür, daß die Entfernungen nicht stimmten, daß sie kaum schrumpften und ich mich wieder härter in die Riemen legen mußte. Dennoch — ich kam näher, denn die Echos der Mädchenstimmen erreichten meine Ohren. Sie unterhielten sich. Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen. Zudem hatten sie mich auch noch nicht entdeckt, denn ich wurde von ihnen nicht angerufen. Noch einmal zog ich kräftig durch, als ich plötzlich — es war sogar Zufall — das Wasser aufgischten sah. Steuerbord, also rechts von mir, bekam die Oberfläche einen blasigen Schaum. Ich ließ die Ruder los, schaute genauer hin und sah auch, daß der Schaum in eine bestimmte Richtung wanderte. Ausgerechnet dorthin, wo sich die vier Mädchen befanden. Sie schienen noch nichts gesehen zu haben, für mich aber wurde es eng, wenn ich was erreichen wollte. Ich drehte mich um. Die Lichter waren zu erkennen, ebenso die Boote und die vier Umrisse der Schülerinnen. Aber noch etwas sah ich. Den Schaum, der sich zwischen den langsam auseinandertreibenden Kähnen gebildet hatte. Also war das Grauen schon da. Ich ließ die Ruder los, kniete mich hin und zog in dem Augenblick meine Beretta, als das fürchterliche Monstrum aus der Lücke hervorschoß. Sein Maul hatte es weit aufgerissen. Eines der Mädchen schrie gellend auf, weil sich das Monster ihm zuwandte. Dabei drehte es sich so, daß ich in das Maul hineinsehen konnte. Ich schoß. Die geweihten Silberkugeln jagten aus dem Lauf, als wollte die eine die andere einholen. Sie jagten in den geöffneten Rachen hinein. Auf mich
wirkte es so, als hätte das Monstrum nur darauf gewartet, die tödlichen Silberpillen zu schlucken. Noch war die Gefahr nicht gebannt. Auch wenn es erledigt war, konnte es durch sein Gewicht das Mädchen im Boot erschlagen. Das passierte nicht, denn hier war eine andere Magie entstanden, wie ich sehr bald sah. Aus dem Monster wurden Schatten. Wie schon auf der Straße schaffte es die Kraft meiner Kugeln, das Monstrum zu zerreißen. Dicht über die Wasserfläche huschten die Schatten hinweg und waren dann verschwunden, als hätte es sie nie zuvor gegeben. Mein geweihtes Silber hatte mit dem Spuk aufgeräumt. Bei Erwin war es mir leider nicht gelungen, hier hatte ich das Glück gehabt. Die vier Mädchen konnten es nicht fassen, daß sie gerettet waren. Sie hockten in ihren Booten, starrten mich an, als ich auf sie zuruderte und neben Angel anlegte. »Das war's dann wohl«, sagte ich. Sie starrte mich aus gläsern wirkenden Augen an. »Wieso?« hauchte sie. »Wieso kommen Sie . ..?« »Ich bin doch für Sie verantwortlich, Angel«, sagte ich krächzend und dabei verzerrt lächelnd. »Was, so meinen Sie, hätte mir Ihr Vater gesagt, wenn ich es nicht geschafft hätte?« Sie nickte, aber sprechen konnte sie nicht. Dafür redete die blonde Marion Killmann. »Wo ist dieses Wesen?« Sie drehte sich im Boot sitzend um. »Wo ist es geblieben? Kann mir das einer sagen?« »Es hat sich aufgelöst.« Marion schaute auf mich. »Das ... das kann ich nicht verstehen. Das will nicht in meinen Kopf.« »Machen Sie sich keine Gedanken. Die Gefahr ist vorerst gebannt.« »War das der Killer?« hauchte die kleine Marietta. »Möglich«, wich ich aus. »Nein«, flüsterte Angel, »das war er nicht. Ich . . . ich glaube einfach nicht daran.« Ich räusperte mich. »Wäre es nicht besser, wenn wir in der Schule weiterreden.« »Gut.« Ich sorgte dafür, daß die Mädchen vor mir ruderten, weil ich sie im Blick haben wollte. Auch die Wasserfläche ließ ich nicht aus den Augen. Auf den Toten in meinem Boot hatte mich glücklicherweise noch niemand angesprochen. Ich wollte den Girls den Anblick auch ersparen, wenn es eben möglich war. Aus der Rückfahrt wurde ein Wettrudern. Jede wollte die erste am Strand und damit in Sicherheit sein. Die kleinste, Marietta Mandoni,
erreichte das Ufer zuerst. Sie hatte sich fast verausgabt. Der Bug des Bootes schoß förmlich aus dem flachen Wasser hervor und rutschte über den feinen Sand. Ich ließ mich als letzter ans Ufer treiben. Dabei hielt ich Ausschau nach Madame Sousa. Sie war nicht zu sehen. Ob sie ins Castello gegangen war? In der Nähe fand ich eine Plane, die ich über den Toten legte. Ich wollte Leutnant Tenero Bescheid geben, damit er und seine Männer sich um die Leiche kümmerten. Den Kahn zog ich so weit auf das Ufer, daß er von den Wellen nicht mehr weggeholt werden konnte. Als ich mich aufrichtete, stand Angel plötzlich neben mir. »Wieso war es Ihnen möglich, dieses Ungeheuer zu erschießen? Und nicht nur das, es löste sich zu Schattenfetzen auf.« »Manchmal ist es eben gut, eine Waffe bei sich zu tragen.« »Das ist mir zu einfach, John.« »Wieso? Wollen Sie es komplizierter haben?« Angel nagte auf ihrer Unterlippe. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, John, aber es muß etwas anderes d a h i n ters tecken.« Ich legte meinen Arm um ihre gebrechlich wirkende Gestalt. »Sie sollten darüber nicht länger nachdenken, Angel. Seien Sie froh, daß Sie und Ihre Mitschülerinnen noch am Leben sind.« »Ist der Mörder denn jetzt tot?« fragte Madame Sousa, die plötzlich aus dem Schatten der Bäume getreten war. »Ja, die Bestie ist vernichtete.« »Die Erwin getötet hat?« Ich nickte. »Was?« schrie Cora. »Erwin ist tot. Mein Gott...« Sie ging zurück und preßte ihren Handballen gegen die Lippen. »Er starb im Wasser«, erklärte Madame Sousa. »John Sinclair und ich fanden ihn.« Die Mädchen waren schockiert. Sie weinten leise, und die Schulleiterin kam zu mir. »Das war keine korrekte Antwort auf meine Frage, Mr. Sinclair. Ist der Mörder tot?« »Ich weiß selbst nicht, ob das Monster und der dreifache Mädchenmörder identisch sind.« Lauernd schaute sie mich an. »Was glauben Sie denn?« »Ich glaube daran, daß wir alle hier Glück gehabt haben.« »Das ist doch keine konkrete Antwort.« »Die kann ich Ihnen auch nicht geben, sorry.« »Mr. Sinclair, ich traue Ihnen nicht. Es kommt mir vor, als würden Sie Ihr eigenes Spiel in Szene setzen. Nun ja, wir werden uns eben überraschen lassen.« »Das meine ich auch.«
Als ich gehen wollte, hielt sie mich fest. »Was verheimlichen Sie mir, Mr. Sinclair? Ich komme mir vor wie jemand, der lästig geworden ist. Bedenken Sie, daß ich die Leiterin dieses Internats bin. Oder halten Sie mich für den Killer?« »Jeder ist verdächtig.« Sie lachte scharf. »Nur Sie nicht, wie?« »Unverschämt«, flüsterte sie, »das ist einfach unverschämt, wissen Sie das?« »Lassen Sie uns ins Haus gehen, bitte!« Dagegen konnte sie nichts einwenden und wandte sich an ihre Schülerinnen. Wie eine fürsorgliche Mutter ging sie mit den Mädchen um. Ich fragte mich, ob sie es ehrlich meinte oder nur täuschte? Nach wie vor war ich davon überzeugt, daß der eigentliche Mörder noch frei herumlief. Alle anderen Vorgänge waren nur magische Randerscheinungen gewesen. Wir gingen durch den menschenleeren Park. Dunstschwaden begleiteten uns und klammerten sich an der Kleidung fest wie lange, klebrige Finger. Kein Stern war zu sehen, kein Mond, keine Wolke. Über uns lag der dumpfgraue Nachthimmel. An einem der hinteren Eingänge trafen wir wieder zusammen. Madame Sousa drehte sich zu mir um. »Ich meine, es wäre am besten, die Schülerinnen würden wieder in ihre Zimmer gehen.« »Das finde ich auch.« »Nein, Angel ist allein. Ihre Zimmerkameradin ist schon . ..« »Das macht doch nichts, Madame«, flüsterte die junge Engländerin. »Ich kann sehr wohl auf mich selbst achtgeben. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«" »Ich rechne mit allem.« Wir blieben bei den Mädchen, als sie zu ihren Zimmern gingen. Zuletzt lieferte ich Angel ab. »Wohl ist mir dabei nicht«, sagte ich. »Bitte, tun Sie uns und sich selbst nur den Gefallen und schließen Sie die Tür nicht ab. Ich werde hin und wieder einen Blick in IhrZimmer werfen und nachschauen, ob alles in Ordnung ist.« »Damit kannst du bei mir auch rechnen«, sagte die Direktorin. Wir standen im Dämmer des Flures. Ich sah, wie das Mädchen ein Lächeln versuchte, dann reichte sie uns die Hand, um eine gute Nacht zu wünschen. Bevor sie ihren Raum betrat, schaute ich erst nach, ob alles in Ordnung war. Keine Sorge, niemand hielt sich in ihrem Zimmer auf, keiner hatte sich versteckt. »Sie können«, sagte ich. »Und was haben Sie jetzt vor, Mr. Sinclair?« fragte mich Madame Sousa, als ich die Tür zugezogen hatte. »Ich wollte zu Ihnen.« »Wieso?«
»In Ihr Büro. Von dort muß ich Leutnant Tenero anrufen. Fr soll sich um die Leiche kümmern.« »Ja, natürlich.« Nebeneinander schritten wir durch das stille Internat. Madame Sousa räusperte sich einige Male, als wollte sie nur die Stille durchbrechen. Unerwartet stellte sie eine Frage. »Gefällt Ihnen die Ruhe hier?« Ich lachte leise. »Wie meinen Sie das denn?« »Mir gefällt die Stille nicht.« »Und weshalb nicht?« »Sie hat etwas Unnatürliches an sich, verstehen Sie? Die ist nicht normal.« »Ich winkte ab. »Ach, das meinen Sie nur.« »Nein, man kann es spüren.« Die Frau schaute sich um, als würde sie etwas Bestimmtes suchen. »Ich weiß es!« flüsterte sie. »Man kann mir nichts vormachen. Ich möchte auf einen Vergleich hinweisen. Wie die Ruhe vor dem Sturm.« Sie schüttelte ihren rotgelockten Kopf. »Da ist einiges nicht in Ordnung. Es würde mich nicht wundern, wenn der Killer plötzlich in dem Internat erscheint.« »Das hat er noch nie getan!« »Ich weiß. Aber was sollte ihn abhalten?« »DieTüren, die Mauern. Es ist alles verschlossen.« Sie tippte mir einige Male gegen die Brust. »Mr. Sinclair, ich sage Ihnen, daß es für Menschen wie ihn keine Hindernisse gibt. Darauf können Sie sich verlassen.« »Menschen?« fragte ich. Haben Sie nicht gesagt, er wäre ein Phantom? Das ist wenigstens die allgemeine Ansicht.« »Ja, so denkt auch die Polizei.« Das war das Stichwort. Wir hatten ihr Büro erreicht, wo ich die Karte des Kollegen aus der Tasche holte, die er mir gegeben hatte. Eine Vorwahl brauchte ich nicht, ich wählte direkt die Privatnummer. Es meldete sich eine verschlafen klingende Frauenstimme. Mit einigen italienischen Sätzen bat ich, den Leutnant sprechen zu dürfen. Ich mußte mich gedulden, dann hörte ich Teneros Stimme. »Nein, Sinclair, das darf nicht wahr sein.« »Doch, wir haben einen vierten Toten.« »Moment mal, Toten? Kein Mädchen?« »So ist es.« »Wer ist umgekommen?« »Ein gewisser Erwin, Hausmeister und Helfer an der Schule. Er wurde im Lago von einem Monstrum umgebracht, das aus den Fluten gestiegen ist. Ich konnte es dann erledigen.« »Sie . .. Sie sind . . .« »Leutnant, ich bin leider nicht verrückt. Es ist alles so gewesen, wie ich es Ihnen gesagt habe.« »Okay, ich trommle meine Mannschaft zusammen.«
»Noch etwas«, sagte ich, »machen Sie sich auf einen schlimmen Anblick gefaßt. Das Monster war nicht gerade zimperlich.« »Bene, bis gleich.« Als ich auflegte, forderte mich Madame Sousa auf, endlich die Wahrheit zu sagen. »Sie sind kein normaler Leibwächter, Mr. Sinclair. Da können Sie sagen, was Sie wollen.« »Nein, das bin ich nicht.« »Sondern?« »Polizist, Scotland-Yard-Mann.« Sie schaute mich an und wußte zunächst nicht, was sie sagen sollte. Dann ging sie einen Schritt zurück. »Respekt, meinen Respekt.« Sie nickte. »Damit haben Sie selbst mich überrascht.« »Sagen Sie es nicht weiter, der Leutnant weiß übrigens Bescheid. Sie hätten es sowieso erfahren.« »Ja, bestimmt.« Sie lachte auf und schüttelte den Kopf. »Ich kann es noch immer nicht fassen. Da kommt jemand aus London hierher, um eine Schülerin zu beschützen. Aber den echten Killer, den haben Sie noch immer nicht gefangen — wie?« »Es scheint so.« »Und was wollen Sie machen, wenn Sie morgen mit dem Mädchen abgereist sind?« »Wiederkommen, Madame...« *** Zwei Fingergriffen in die kleine, weiche Bleistifttasche und holten den flachen Stift hervor. Der Maler atmete heftig. Es hörte sich schon keuchend an, und er spürte genau, wie ihn Fieberschauer durchtosten. Sein Blut meldete sich oder das andere in seinem Blut. Der andere Teil, dereine Niederlage erlebt hatte. Das sollte sich ändern, das mußte sich ändern. Mit der freien linken Hand strich der Künstler ein Blatt Papier glatt. Wenn er zeichnete, mußte es faltenlos sein. Der Bleistift huschte mit der Spitze über die weiße Fläche. Zunächst nur leicht, fast schattenhaft, dann immer schneller, auch härter drückend, so daß Konturen entstanden. Gänge, Flure, Zimmertüren . .. Wie in einem Hotel oder auch in einem Internat. Genau das war es. Ein Dritter, der sich auskannte, hätte alles sehr genau erkennen können. Was dort auf dem Blatt Papier entstand, war das Innere des Castellos. Sehr gut gezeichnet, von der Perspektive hervorragend angelegt, es fehlten nur noch die Menschen.
Darauf verzichtete der Künstler. Ein Mensch reichte ihm. Die malende Hand setzte genau diesen einen Menschen in die Mitte eines langen Ganges. Er besaß einen wallenden Umriß, als würde er einen dicken Mantel tragen. Das Gesicht blieb frei, ansonsten verbarg eine Kapuze den Kopf der Gestalt. Sie wurde gebückt gemalt, der rechte Arm schwang nach hinten. Aus der geschlossenen Hand wuchs etwas Langes, Dunkles hervor. Die Klinge eines Messers! Jetzt war der Killer nicht mehr draußen, denn er befand sich innerhalb der Mauern... *** Unten am See erlebte ich, daß auch ein altgedienter Leutnant der Schweizer Polizei blaß werden konnte. Ich hatte Tenero vor dem Anblick gewarnt. Wahrscheinlich hatte er mich nicht ernst genommen. Nach einem kurzen Blick auf die Leiche brauchte er einen Schluck Cognac, und auch die anderen Beamten spülten den Schrecken hinunter. Ein jüngerer Kollege übergab sich. Tenero schüttelte den Kopf. »Das hätte ich nicht gedacht«, flüsterte er. »Verdammt noch mal, das will mir nicht in den Sinn. Ich hatte Sie noch für einen Spinner gehalten, Sinclair.« »So kann man sich irren.« »Aber diese Leiche sieht anders aus als die drei Mädchen, die durch Messerstiche getötet wurden.« »Stimmt.« Tenero verengte die Augen. »Das kann also nur bedeuten, daß wir es mit zwei Tätern zu tun haben.« »Nein, mit einem. Bedenken Sie, daß ich das Monstrum erschossen habe.« Tenero gab einen Laut von sich, der wohl ein Lachen sein sollte. Es verunglückte stark. Ich weißes nicht, Mr. Sinclair. Ich kann es nicht glauben, ich kann es nicht fassen. Wir sind in der Schweiz, im Tessin, am Lago Maggiore, nicht in Schottland am Loch Ness. Hier kann und darf es keine Monstren geben, die gibt es bei euch auch nicht; es ist ja alles nur ein Märchen, eine Legende.« »Loch Ness schon.« »Und der Lago Maggiore erst recht!« behauptete Tenero wild. »Mehrere Zeugen und ich haben es anders gesehen.« »Einverstanden, Kollege. Es ist Ihnen doch klar, daß ich diese Zeugen befragen muß.« »Darum bitte ich.« »Und zwar noch jetzt.« »Morgen ginge es auch.« »Nein, das will ich nicht.« »Okay, dann werde ich den Mädchen Bescheid geben. Sie schlafen bestimmt nicht, nach allem, was passiert ist.«
»Das meine ich auch.« Tenero drehte sich um. »Warten Sie bitte auf mich, Mr. Sinclair.« Er ging zu seinen Leuten. Der Tote wurde in eine sargähnliche Wanne gepackt. Noch brannten die Scheinwerfer. Sie Übergossen die Szene mit einem gespenstischen Licht, durch das die Bahnen der Nebelschleier trieben und sich an manchen Stellen zu Wolken verdichteten. Das Castello war nicht zu sehen. Seine Mauern verschwammen in der Ferne im Dunst. Ich dachte daran, daß wir hier regelrecht an der Nase herumgeführt wurden. Wer immer der Mörder auch sein mochte, er war uns stets einen Schritt voraus. »Und wieder keine Spuren?« fragte Tenero, als er zu mir zurückkehrte. »So ist es. Als ich das Monstrum erschoß, zerfiel es in mehrere Schatten, die sich auflösten.« Der Kollege schlug sich mehrmals gegen die Stirn. »Mann, Mann«, sagte er nur. »Sie erzählen mir hier was vom Pferd. Sie können doch keinen alten Mann verarschen.« »Das habe ich nicht vor, Leutnant. Ich halte mich einzig und allein an die Wahrheit!« »Was haben Sie jetzt vor?« »Ich will den Mörder.« »Den wollen wir auch.« »Dann jagen wir ihn gemeinsam.« leñero lachte. »Nichts gegen die Qualitäten der englischen Polizei, aber wir Schweizer sind nicht so langsam, wie man es uns oft nachsagt. Außerdem befinden wir uns hier im Tessin, dieser Menschenschlag ist wieder ganz anders.« »Ich möchte Ihnen keine Lorbeeren wegnehmen, Kollege, ich möchte nur, daß die Bestie gestellt wird. Ich reise morgen früh mit meinem Schützling ab und kehre wieder zurück. Gegen Abend könnte ich von Zürich aus wieder hier sein.« »Dann muß Ihnen der Fall aber im Magen liegen.« »Und wie er das liegt.« Fin Mitarbeiter fragte 'leñero nach den Zeugen, die noch ausgequetscht werden sollten. »Das mache ich allein oder zusammen mit meinem Kollegen. Ihr könnt gehen.« »Gute Nacht.« »Witzbold.« Tenero holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Rauchen wir eine?« »Na ja, meinetwegen.« Ich gab uns Feuer. Sinnierend schaute Tenero auf die dunkle Oberfläche des Sees. »Ein Monster, das aus den Tiefen hervorgekommen ist«, murmelte er. »Ich kann es nicht fassen, es ist einfach unbegreiflich. Jetzt stellen Sie sich mal vor, davon bekäme die
Presse Wind, dann wäre was los. Entweder bleiben die Leute aus Angst weg, oder sie kommen in Scharen. Beides ist nicht gut.« »Von mir erfahren Sie nichts, Leutnant.« »Und von mir auch nicht. Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Sinclair.« »Dann wäre das ja geregelt.« Tenero schaute auf die Uhr. »Noch nicht Mitternacht. Dabei bin ich heute mal früh ins Bett gekommen, wollte durchschlafen. Wieder nichts.« Er winkte ab. »Lassen Sie uns die Zeugenvernehmung hinter uns bringen — okay?« »Gerne.« Über den feuchten Rasen schlenderten wir nebeneinander zum Castello zurück. Wer war der Killer? Ich zermarterte mir mein Gehirn. War es ein Fremder oder jemand, der sogar mit den Mädchen zusammenlebte? War es tatsächlich ein Geist, ein Phantom, eine Seele aus dem Reich des Spuks? Das alles konnte möglich sein, mußte aber nicht. Den Leutnant schienen ähnliche Gedanken zu beschäftigen wie mich, denn auch er kam auf das Thema zu sprechen, brachte aber keine Lösung. Die Hälfte der Strecke hatten wir ungefähr hinter uns, als es selbst der Nebel nicht schaffte, ein bestimmtes Geräusch zu unterdrücken. Es war das Splittern einer Fensterscheibe! Tenero blieb stehen. »Verdammt«, sagte er nur, »verdammt, ich habe das Gefühl, als wäre der Killer im Haus.« »Nicht nur Sie, Kollege, nicht nur Sie...« *** In ihrem Zimmer blieb Madame Sousa vor dem Schreibtisch stehen und schaute auf die Karten, die dort noch immer lagen. Sie sah alle, aber nur eine einzige interessierte sie jetzt. Es war die Karte des Todes! Das Skelett, der Sensenmann, das war genau das Sinnbild, das exakt zutraf. Der Tod hatte sich nicht nur auf der Karte gezeigt, sondern auch in der Realität als gefährliches Monstrum. Sie drehte den Schirm der Lampe etwas zur Seite, damit das Knochengesicht mehr im Schatten lag. Es war ihr nicht mehr möglich, länger auf diese Fratze zu sehen. Der Druck nahm zu, ebenso wie ihr Wissen, denn sie wußte, daß im Castello etwas lauerte. Madame Sousa konnte nicht erklären, was es genau war. Ihr war klar, daß es sich um etwas handelte, das nicht so einfach zu greifen war.
Es war nicht sichtbar, es lauerte in einer anderen Welt, war jedoch in der Lage, Grenzen zu überschreiten. Die Karten hatten nicht gelogen, sie logen nie, sie wiesen ihr immer den Weg. Madame Sousa blieb vordem Fenster stehen. Im Park wehten die dunstigen Schleier. Mörderwetter, dachte sie. Das ist ein verdammtes Mörderwetter. Sie preßte die Hände gegen ihr Gesicht, der Druck in ihrem Magen nahm wieder zu. Killerwetter. . . Der Begriff wollte nicht aus ihrem Kopf. Bisher hatte der Mörder außerhalb zugeschlagen, nun rechnete sie damit, ihm auch innerhalb der Mauern begegnen zu können. Die Polizisten hatten das Castello ebenfalls betreten. John Sinclair, der Mann aus London, war ebenfalls ein Polizist. Madame Sousa hatte sich so etwas gedacht. Von diesem Menschen war etwas ausgegangen, das sofort ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Nur gut, daß sie sich eben auf ihre Gefühle verlassen konnte. Sie griff zu den Zigarillos und rauchte langsam. Eigentlich hätte sie aus dem Raum verschwinden und die anderen Schülerinnen warnen müssen, das wiederum wollte sie noch nicht tun. Sie mußte einfach abwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Außerdem konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, um wen es sich bei dem Killer handelte. Die Person war für sie das Phantom, mehr nicht. Welchen Namen diese Person trug, wie sie aussah, das alles konnte sie nicht wissen. Das Phantom . . . Dunkel, unheimlich, bewaffnet mit einem langen Messer, dessen Klinge so grausam töten konnte. Madame Sousa haßte den Tod. Besonders jetzt, wo sie die Karten aufgedeckt hatte. Das Skelett hatte sie gewarnt. Sein Anblick zeigte ihr, wie weit es schon gekommen war. Der Tod, das Phantom, der Killer — drei Begriffe, die eigentlich nichts miteinander zu tun hatten und trotzdem zusammengehörten. An einen vierten dachte sie ebenfalls. Aus dem Lago war ein Monstrum gestiegen. Eine furchtbare Kreatur, wie sie normalerweise nur in Horror- und SF-Filmen zu sehen war. Dieses Monstrum mußte einfach echt gewesen sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß man irgendwelche ferngelenkten Wesen tief im Lago versteckte und sie dann an die Oberfläche holte, um Menschen zu töten. »Quatsch!« flüsterte sie, »wo denkst du wieder hin!« Einige Male schüttelte sie den Kopf. Die Frau ärgerte sich über sich selbst. Da ging die Phantasie mit ihr durch. Der tote Hausmeister war leider keine Phantasie, sondern verflucht echt. Und die drei ermordeten Mädchen waren es auch. Was lief da verkehrt?
Sie zwinkerte mehrmals, weil Schweißtropfen den Weg in ihre Augen gefunden hatten. Der Rauch breitete sich aus. Ihr gefiel sein Geruch nicht mehr. Madame Sousa drückte den Zigarillo aus. Dann holte sie tief Luft und lehnte sich zurück. Sie dachte darüber nach, ob sie nicht anfangen sollte zu meditieren. Bei großen Problemen hatte ihr die Meditation oft genug geholfen. Die innere Einkehr hatte ihr Ruhe gebracht, und es war ihr zudem gelungen, eine Lösung für die Probleme zu finden. In dieser Nacht wollte es ihr nicht gelingen. Das Meditieren war nicht einfach. Sie mußte sich entspannen, sie brauchte Ruhe, sie durfte keinerlei Probleme haben und . . . Plötzlich horchte sie auf. Draußen hatte sie etwas gehört. Schritte waren an ihrer Tür vorbeigehuscht. Werschlich durch den Gang? Madame Sousa erhob sich. Ihr Gesicht zeigte eine gewisse Härte, die einiges von der Spannung ahnen ließ, die in ihrem Innern steckte. Auf leisen Sohlen näherte sie sich der Tür. Die Frau glaubte nicht daran, daß es eine Schülerin gewesen war, die nahmen auf den Lärmpegel keine übertriebene Rücksicht. Die Polizei mußte sich ebenfalls im Haus befinden, nur hielten die sich in einem anderen Trakt auf. Wenn sie etwas von ihr wollten, konnten sie ihr Bescheid geben. Madame Sousa wollte soeben die Tür öffnen, als das Telefon summte. Auf dem Absatz machte sie kehrt, lief zum Schreibtisch und meldete sich hastiger, als sie eigentlich vorgehabt hatte. »John Sinclair. Wir hätten Sie gern gesprochen, Madame.« »Ja, natürlich. Wo sind Sie jetzt?« »Am Eingang.« »Gut, ich komme.« Madame Sousa legte auf. Sie merkte, daß ihr Herz schneller schlug. Gemächlich drehte sie sich um. Viel würde sie den Polizisten nicht sagen können, höchstens einige Worte über das Seemonster, nicht über das Phantom. Der Hauch strich über ihren Nacken. Als würde jemand dicht hinter ihr ausatmen. Madame Sousa bekam einen Schauer, der förmlich auf ihrem Rücken festfror. Kälte zu dieser Jahreszeit war mehr als ungewöhnlich, die durfte überhaupt nicht vorhanden sein. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollte sie tun, sich umdrehen? Die Kälte blieb. Der Hauch wollte nicht mehr verschwinden, und Madame Sousa drehte sich nicht um. Sie tat das Gegenteil, startete so rasch wie möglich und rannte auf die Tür zu, die sie aufriß, die Klinke festhielt und erst dann herumwirbelte. Im Zimmer stand der Killer! Diesmal das echte Phantom!
Eine blaue, wallende Gestalt, unförmig und gleichzeitig doch irgendwie schlank. Sie sah einen Kopf, aber kein Gesicht. Und sie sah zwei Arme und zwei Hände. In der rechten Hand hielt das Mordphantom ein Messer. Die Klinge war schwarz, sehr lang, sehr tödlich... *** Es hatte sich blitzschnell herumgesprochen, was geschehen war, und es gab wohl keine Schülerin mehr, die jetzt noch schlief. Zwar hielten sich die meisten zurück, doch einige Mutige bewegten sich möglichst lautlos durch die Gänge des Castellos. Ich bedauerte den Leutnant, der sich mit den vier Zeuginnen unterhielt. Er bekam keine vernünftigen Antworten und mußte sich immer wieder eingestehen, daß es das Monstrum gab. »Was sollen wir machen?« wandte ersieh an mich. Er konnte einem schon fast leid tun. »Keine Ahnung, Kollege. Wie Sie wissen, denke ich über gewisse Dinge anders als Sie.« »Sie mit Ihrem Spuk!« »Der manchmal einen sehr ernsten Background haben kann.« Tenero beugte sich nach vorn. Er trank Wasser aus einer Büchse. Dann starrte er auf den Steinboden, als würde ihm dessen Muster eine Lösung verraten. »Haben Sie denn keinen Verdacht, Sinclair, wer dahinterstecken könnte?« »Nein, es gibt ihn nicht.« »Aber es gab das Monster. Das muß irgendwo hergekommen sein. Jemand muß es erschaffen haben.« »Stimmt.« »Wer, zum Henker?« »Fragen Sie mich etwas Leichteres, Kollege. Möglicherweise könnte uns die Rektorin behilflich sein.« »Madame Sousa?« Tenero schüttelte den Kopf. »Was hat sie denn mit der Sache zu tun?« »Vielleicht alles, vielleicht nichts. Jedenfalls ist sie eine sensitive Person, die sich zudem im Tarot auskennt. Sie gehört zu den Frauen, die Karten legen.« »Ach so.« »Sagen Sie es nicht abwertend. Allmählich glaube ich daran, daß es eine Verbindung zwischen ihr und dem Killer gibt. Er muß doch eine Kontaktperson besitzen, um . ..« »Nein, das ist mir zu hoch und unbegreiflich.«
Ich griff zum Telefonhörer. Man konnte auch innerhalb der Schule telefonieren. »Jedenfalls werde ich Madame Sousa anrufen und sie bitten, zu uns zu kommen.« Tenero grinste mich schief an. »Wollen Sie mir sagen, daß Sie diese Person für eine Mörderin halten?« »Nein.« Madame Sousa befand sich in ihrem Zimmer. Die Telefonnummer hatte ich von einem Zettel abgelesen. Madame Sousa zeigte sich sehr kooperativ und versprach, zu uns zu kommen. »Danke sehr.« Der Leutnant schaukelte die Weißblechdose. »Jedenfalls bin ich davon überzeugt, daß der Ursprung oder das eigentliche Motiv der Morde hier in der Schule zu suchen sind.« »Wie kommen Sie darauf?« »Gefühl.« »Dann empfinden wir ungefähr das gleiche. Auch ich gehe mittlerweile davon aus, daß es so ist. Die Schule ist die Quelle. Hier muß das Böse entstanden sein.« »Komisch.« Tenero grinste. »Wie kann es entstehen? Können Sie mir das sagen, Kollege?« »Es kann schon lange hier gelauert haben. Tief in der Erde, denn nicht alles, was sich dort befindet, ist tot und begraben. Hin und wieder kriecht es hervor.« »Da komme ich nicht mit.« Ich lächelte. »Es war auch nur der Versuch einer Erklärung.« »Wie schön. Gibt es noch einen?« »Mehrere.« Ich winkte ab. »So kommen wir nicht weiter. Dieser Killer führt uns an der Nase herum. Wir haben die Scheibe splittern hören, wir haben die Scherben gesehen, und was war? Nichts war. Jemand hat eine Scheibe eingeworfen, aus welchen Gründen auch immer. Daß er sich dabei ein Toilettenfenster ausgesucht hat, war wohl Zufall.« »Da wird eine der Schülerinnen durchgedreht haben. Ist auch kein Wunder bei dem Streß. Jede kann die nächste sein. Der Killer kennt kein Erbarmen. Er ist wirklich ein Phantom und nicht zu fassen. Allmählich glaube ich auch, daß wir es mit einem Geist zu tun haben, obwohl ich es mir nicht vorstellen kann.« Ich runzelte die Stirn. »Es muß eine Verbindung zwischen dem Phantom und dem Castello geben. Davon bin ich einfach überzeugt. Vielleicht kann die Rektorin uns helfen. Sie muß uns alles sagen, was je für das Castello von Wichtigkeit gewesen ist. Dieses Haus hat Geschichte. Möglicherweise sind hier früher Dinge geschehen, die bis in die heutige Zeit hineinspielen. Ich weiß es nicht.« »Sprechen Sie aus Erfahrung?« erkundigte sich Tenero. »Ja.«
Tenero nickte, schaute auf die Uhr und meinte: »Allmählich müßte sie aber kommen.« Ich wußte, daß er Madame Sousa damit meinte. Auch ich war überrascht und verglich die Zeit, die seit meinem Anruf vergangen war. »Sie haben recht, so lang ist der Weg nicht.« »Ob da etwas passiert ist?« Ich schnellte aus dem Sessel. »Kommen Sie mit, Leutnant. Ich weiß, wo sich ihr Arbeitszimmer befindet.« Das Zersplittern der Scheibe hatte nichts gebracht. Es war wohl mehr ein Streich gewesen. Bei Madame Sousa sah es anders aus. Ich spürte irgendwie, daß sich etwas zusammenbraute und zu einer tödlichen Gefahr verdichtete. Und ich sollte mich nicht getäuscht haben. Die Situation änderte sich schlagartig. Das stille Castello verwandelte sich in eine Hölle aus Schreien, Tod und Grauen... *** Sie stand an der Tür und fühlte sich wie eine Figur, aber nicht wie ein Mensch. Die Erlebnisse der letzten Stunden waren wie weggewischt, das Monster aus dem Lago zählte nicht mehr, jetzt sah sie den echten Killer, das Mordphantom. Es stand in ihrem Zimmer! Madame Sousa vergaß die Zeit. Sekundenlang nur hatte sie die Gestalt angestarrt, die sich nicht rührte. In dem Zimmer zeichnete sich der Mörder wie ein Schatten ab, den jemand kurzerhand hineingestellt hatte. Noch hast du Zeit! Noch hast du Zeit! Noch tut er dir nichts! Diese drei Sätze hämmerte sie sich ein und maß dabei die Distanz zwischen sich und dem Mordphantom ab. Sie hatte den Killer nicht gehört. Wahrscheinlich hatte er es geschafft, sich lautlos zu bewegen, eben wie ein Geist. Madame zögerte keine Sekunde länger. Mit einer heftigen Bewegung riß sie die Tür so weit auf, daß sie durch den Spalt huschen konnte. Ob das Phantom sie verfolgte oder nicht, das konnte sie nicht mehr sehen, sie wollte es auch nicht wissen. Im Gang war es düster. In der Nacht brannte nur noch die Notbeleuchtung. Schatten glitten über die Wände, sie hörte ihre Schritte und das Splittern der Fenster. Urplötzlich flogen die Scheiben auseinander. Wahre Splitterregen wirbelten in den Gang. Madame Sousa schrie auf, denn sie konnte nicht allem Glas ausweichen, obgleich sie sich schon geduckt hatte. An der Decke zerplatzten die wenigen Lampen. Weiter vorn tobte ebenfalls das Chaos. Schreie waren zu hören. Zahlreiche Schülerinnen verließen ihre Zimmer, rannten auf den Gang und gerieten ebenfalls in den Splitterregen.
Das Mordphantom spielte seine volle, grausame Kraft aus. Es sorgte für das Chaos und jagte selbst aus dem Zimmer, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Madame Sousa spürte nicht einmal Schmerzen, als sie weiterrannte. Sie trat in die Splitter, sie rutschte aus, fiel gegen die Wand. Blut rann aus ihrem roten Haar über das Gesicht. Eine Schülerin erschien. Das Mädchen schrie wie verrückt und streckte der Rektorin die blutbefleckten Hände entgegen. Madame Sousa schleuderte das Girl zurück. Geduckt hetzte sie weiter. Längst war Glas durch das dünne Leder und Leinen der Schuhe gedrungen und hatte in ihre Füße geschnitten. Auch daran durfte sie sich nicht stören. Sie verbiß sich die Schmerzen, es ging einzig und allein um ihr Leben. Niemals zuvor hatte sie die Länge des Ganges derart intensiv gespürt wie in dieser schrecklichen Nacht. Endlich erreichte sie das Ende. Sie mußte sich nach links wenden, um über einen Quergang zu dem Eingang zu gelangen, wo auch Sinclair wartete. Auch hier zerplatzten Scheiben. Zwei kleine Glasvitrinen, in denen die Mädchen ihre Zeichnungen und handwerklichen Arbeiten ausgestellt hatten, wurden förmlich zerblasen. Madame Sousa drückte sich gegen die Wand, um von den Splittern nicht erneut getroffen zu werden. Sie riß noch die Arme hoch, um das Gesicht zu schützen. Zahlreiche kleine Splitter huschten durch ihre Haare oder kratzten an den Wänden entlang. Die Frau schaute zurück. Der Mörder war nicht da. Nur die Schreie der Schülerinnen hallten durch die Gänge des Internates. Weiter, nur weiter. Sie schaute nach vorn — und erstarrte. Zum Greifen nahe stand das Mordphantom vor ihr. Diesmal sah es nicht so aus, als würde sie der Klinge entwischen... *** Sprechen konnte Madame Sousa nicht. Selbst ein Luftholen schien ihr unmöglich. Sie stand da, Blut rann in Streifen über ihr Gesicht. Die Augen hielt sie weit offen; Angst ließ den Blick gefrieren. Das Messer besaß tatsächlich eine schwarze Klinge. Nur an den Seiten, wo sie geschliffen war, blinkte sie matt. Das Mordphantom besaß noch immer kein Gesicht. Kapuze, Umhang und Gestalt gingen ineinander über. Es gab einfach keine Merkmale, ein düsterer, aus dem Jenseits entlassener Geist, das war es. Sie holte pfeifend Luft. Alles in ihr hatte sich verkrampft. Die Bilder der toten Mädchen entstanden vor ihrem geistigen Auge. Genau die Klinge hatte die drei Schülerinnen getötet.
Das Mordphantom schob sich noch etwas näher an sie heran, als suchte es genau die Distanz, die für einen tödlichen Messerstich am besten war. Madame Sousa hatte sich gegen die Wand gepreßt. Aus ihrem offenen Mund rann der Speichel. Auf dem Kinn vermischte er sich mit den Blutstreifen. »Keine Bewegung!« Die Stimme schien aus einer anderen Welt zu stammen. Madame Sousa hatte sie gehört, nur konnte sie nicht glauben, daß John Sinclair zu ihr gesprochen hatte. Sie sah den Mann nicht. Er mußte sich hinter dem Mordphantom aufhalten. Dort stand ich tatsächlich und hielt mein geweihtes Silberkreuz in der Hand. Leutnant Tenero hielt sich im Hintergrund. Ich hatte ihn darum gebeten, nicht einzugreifen und alles mir zu überlassen. Das Kreuz hatte den bösen Einfluß genau gespürt. Ein Schatten flog darüber hinweg. Blauschwarz, als hätte der Spuk seine >Hände< im Spiel. Ich sah den Killer nur von hinten, aber er hatte einen Arm ausgestreckt, und aus seiner rechten Paust wuchs die Mordklinge. Dann griff ich an. Ich flog auf seinen Kücken zu, hämmerte die Hand mit dem geweihten Silberkreuz hinein, spürte für einen Moment den eisigen Hauch, der über meine Haut glitt, wollte auch die Aktivierungsformel rufen, doch es war nicht mehr nötig. Das Kreuz zerstörte den Mordschatten! Er platzte weg, das Messer zerstrahlte. Ich brauchte nichts zu tun und konnte meinen eigenen Schwung nicht mehr bremsen, so daß ich gegen die Schulleiterin fiel und sie beinahe noch zu Boden gerissen hätte. Ich hörte sie sogar lachen, mehr ein Krächzen, und ich rutschte schließlich auf einer großen Scherbe aus. An der Wand stützte ich mich ab, hörte vor mir das Knirschen, als Glas unter den Tritten der näherkommenden Schülerinnen zerbrach, drehte mich wieder um und sah Leutnant Tenero auf uns zukommen. Dessen Gesicht war nur noch ein einziges Fragezeichen, überzogen mit einer dicken Gänsehaut. »Ist es vernichtet?« fragte er. Ich nickte. »Keine Killer mehr?« »Richtig.« Tenero begann zu lachen, winkelte den Arm an, preßte ihn gegen die Wand und drückte seinen Kopf gegen den Ärmelstoff. »Das darf nicht wahr sein«, keuchte er. »Das ist verrückt, das ist einfach nicht zu fassen. Ich begreife es nicht.« »Und ich auch nicht!« hauchte die Frau, die den ersten Schock überwunden hatte.
Selbst ich, der ich auf viel Erfahrung zurückblicken konnte, war überfordert. Sollte tatsächlich alles so einfach gewesen sein? War dies das Ende? Ja, das Mordphantom existierte nicht mehr. Wie auch immer, mein Kreuz hatte es erwischt. Ich ging auf die Rektorin zu. Sie schrak zusammen, als ich sie anfaßte. »Kommen Sie, Madame, ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer. Sie müssen sich die Splitter aus ihrem Gesicht ziehen, das ist besser.« »Ja,ja . . .« Wie ein kleines Kind ging sie neben mir her. Ich hatte sie an die Hand genommen. Ein sprachloser Leutnant Tenero blieb zurück. In den I'rivaträumen der Schulleiterin begleitete ich sie ins Bad. Wir fanden Pflaster, auch kleine Pinzetten. Ich half ihr dabei, die Splitter herauszuziehen. Danach wollte sie sich waschen. Ich sollte mich in der Zwischenzeit um die Schülerinnen kümmern. Die Mädchen konnten kaum sprechen. Sie hatten minutenlang eine magische Hölle erlebt. Einige von ihnen bluteten aus kleinen Wunden. Schwerer verletzt war glücklicherweise niemand. Auch Angel fand ich. Sie lehnte in der offenen Zimmertür und blickte mich aus großen Augen an. Mein Schützling hatte nichts mitbekommen. Kein Splitter war in ihre glatte Gesichtshaut gedrungen. »Ist es denn vorbei?« erkundigte sie sich mit leiser Stimme und sehr skeptisch. »Ja, es ist vorbei.« »Haben Sie den Killer gefangen?« Ich lächelte. »Gefangen ist gut. Es ist mir gelungen, ihn zu vernichten, Angel.« »Dann brauchen wir keine Furcht mehr zu haben.« »So ist es.« »Danke«, sagte sie, drehte sich um und starrte durch die Fensterscheibe, die in ihrem Zimmer noch heil geblieben war. Die Mädchen halfen sich gegenseitig beim Verbinden und Verpflastern der kleinen Wunden. Mein Weg führte mich wieder zu Madame Sousa. Sie war nicht allein. Leutnant Tenero hatte sich zu ihr gesellt. Er saß, sie lag auf dem Bett und streckte mir die auf dem Handrücken verpflasterte Rechte entgegen, um sich bei mir zu bedanken. »Sie haben uns von einem verdammten Fluch befreit, von einem Mörder, wie es ihn nicht geben durfte. Dafür möchte ich Ihnen danken.« »Schon okay.« Tenero stierte mich an. »Können Sie mir das alles auch erklären, Sinclair?«
»Eine Erklärung?« Ich runzelte die Stirn, hob die Augenbrauen und starrte ins Leere. »Nein, eine Erklärung kann ich Ihnen auch nicht geben, so leid es mir tut.« Tenero stöhnte auf. »Dann wäre das der erste Fall in meiner Laufbahn, der gelöst worden ist, ohne daß ich richtig einen Hintergrund erkannt habe.« Erhob hilflos die Schultern. »Ich muß einen Bericht schreiben. Können Sie mir erklären, wie ich das meinen Vorgesetzten beibringen soll? Ich weiß mir keinen Rat.« »Ist das denn überhaupt wichtig?« meldete sich Madame Sousa. »Es zählt doch eigentlich nur, daß wir den Killerhaben, daß es ihn nicht mehr gibt, daß keiner von uns in Gefahr schwebt. Vier Tote sind genug, finde ich.« »Da haben Sie recht«, stimmte Tenero zu. »Nur — wer garantiert mir, daß so etwas nicht noch einmal passiert. Wir haben das Mordphantom gesehen, wir haben auch ein verfluchtes Monster im Lago gehabt. Wer sagt mir denn, daß nicht noch weitere Kreaturen dieser höllischen Art irgendwo herumlaufen?« Die Rektorin wußte darauf keine Antwort. Ich mußte dem Kollegen leider recht geben. Wir hatten zwar die Wirkung ausgeschaltet, aber wo befand sich die Ursache? Ich wollte einfach nicht daran glauben, daß diese Mörder aus dem Nichts entstanden, wie manchmal plötzlich Regentropfen fallen, auch wenn die Sonne scheint. Bei mir war zumindest ein verdammt schlechter Geschmack zurückgeblieben. Tenero grinste schief. »Sie denken ebenso wie ich, nicht wahr, Mr. Sinclair?« »Ja.« »Was kann man tun?« »Nichts mehr. Uns sind die Hände gebunden. Wenigstens mir. Ich werde in einigen Stunden unterwegs sein .. .« ». . . aber sie wollten zurückkehren. Ist es bei diesem Plan geblieben?« »Nein, ich kann nichts mehr machen. Es ist unmöglich, daß ich warte, bis vielleicht etwas passiert.« »Das stimmt schon.« Tenero nickte. »Dennoch werde ich müde werden, nach einem Motiv zu suchen. Killen wie aus heiterem Himmel. Verdammt noch mal, wo gibt es denn so etwas?« »Das weiß ich auch nicht.« Der Leutnant nickte. »Das Monstrum haben Sie mit geweihten Kugeln vernichtet, wie Sie mir sagten. Das Phantom mit Ihrem Kreuz. Wer sind Sie, Mr. Sinclair?« »Jemand, der sich darauf spezialisiert hat, diese Monstren zu jagen. Sie können mich als einen Geisterjäger bezeichnen. Es ist übrigens ein Zufall, daß ich auf ein übersinnliches Phänomen gestoßen bin. Das war nicht vorgesehen.« »Kann ich mir denken.«
»Und ich habe es gespürt«, meldete sich Madame Sousa. »Ich wußte genau, daß etwas nicht stimmte. Es gibt Situationen, wo man Bescheid weiß. Die Karten haben es mir gesagt. Der Tod, der Sensenmann lag oben. Wissen Sie, was das bedeutet?« »Wir haben es erlebt«, sagte ich. »Eben.« Tenero erhob sich. »Ich werde mal nach den Schülerinnen schauen.« Mit einem Seitenblick auf die Rektorin meinte er: »Sie sollten dafür sorgen, daß hier anständig renoviert wird. « Er winkte mir zu. »Sehen wir uns gleich noch?« »Bestimmt.« Als er das Zimmer verlassen hatte, fragte Madame Sousa: »Was ist mit Angel geschehen?« »Ich kann Sie beruhigen, ihr ist nichts passiert. Nicht eine Verletzung.« Die Rektorin atmete auf. »Dann bin ich zufrieden«, flüsterte sie. »Andersherum wäre es schlimmer gewesen. Ich glaube, daß ich am meisten abbekommen habe.« »Das wird heilen.« »Natürlich, Mr. Sinclair. Es ist gut, es ist wirklich gut, daß es keine weiteren Toten gegeben hat. Ich glaube, ich hätte es nicht verkraftet, nein, das hätte ich nicht.« »Kann ich mir denken.« »Wollen Sie denn noch ruhen?« »Das hatte ich eigentlich vor.« »Können Sie schlafen?« Ich lächelte schmal. »Sagen wir so, ich werde es zumindest versuchen. Oder wollen Sie, daß ich in Ihrer Nähe bleibe?« »Nein, jetzt ist doch alles vorbei.« »Natürlich.« Madame Sousa reichte mir zum Abschied noch einmal die Hand und schaute mir fest in die Augen. »Was hätten wir nur ohne Sie hier gemacht, Mr. Sinclair?« »Daran, meine Liebe, sollten Sie jetzt nicht denken.« »Es wird mir schwerfallen.« Den Satz hörte ich, als ich bereits an der Tür war. Ich traf noch viele Schülerinnen auf den Gängen. In ihren bangen Blicken lagen zahlreiche Fragen, nur traute sich niemand, mich auf irgend etwas hin anzusprechen. Bevor ich meinen Raum betrat, suchte ich Angel auf. Nach dem Anklopfen hörte ich ihr »Come in«. Sie saß im Schein einer kleinen Lampe am Tisch und trank Rotwein. Als sie meinen überraschten Blick bemerkte, hob sie nur die Schultern. »Danach werde ich wohl besser schlafen können, Mr. Sinclair.«
»Das ist möglich.« Ich setzte mich auf den zweiten Stuhl. Über den Tisch hinweg schauten wir uns an. »Haben Sie den Schrecken einigermaßen verkraftet, Angel?« »Etwas. Bleibt es denn bei morgen?« Ich nickte heftig. »Ja, wir werden zurückfahren. In Zürich besteigen wir die Maschine nach London.« »Gut.« »Freuen Sie sich auf London?« »Jetzt ja. Ansonsten habe ich mich im Tessin sehr wohl gefühlt. Das Wetter ist hier wunderbar, einfach phantastisch. Wenn es irgendwie klappt, möchte ich in der Schweiz bleiben und studieren. Ich bin erwachsen, wissen Sie.« »Ihr Vater hat sich trotzdem Sorgen gemacht, als er von den schrecklichen Taten hörte.« »Das haben andere Litern auch. Aber jetzt ist es vorbei.« Sie lächelte verloren und leerte den Rest Wein aus dem Glas. »Endgültig vorbei?« »Sie stellen es als Frage?« »Weil ich mir nicht sicher bin. Wissen Sie, ich kann es kaum glauben, daß es so ist.« »Sie werden sich bestimmt daran gewöhnen, Angel, glauben Sie mir.« Ich erhob mich. »So, jetzt möchte ich für den Rest der Nacht mindestens noch ein Auge zumachen.« »Das haben Sie sich auch verdient.« Auch Angel stand auf und hauchte mir einen Kuß auf die Lippen. »Danke«, flüsterte sie. Lächelnd verließ ich den Raum. Auf dem Flur nahm mein Gesicht wieder einen gespannteren Ausdruck an. Die Mädchen waren dabei, die Scherben zusammenzufegen. Ich hörte auch, wie ein Wagen gestartet wurde und abfuhr. Wahrscheinlich fuhr Leutnant Tenero zurück. Mitternacht war vorbei. Es hatte sich etwas abgekühlt, und im Park hingen noch immer die langen Dunstbahnen. Durch eine Seitentür gelangte ich ins Freie. Die kühle Luft umfächerte mein Gesicht. Ich rauchte eine Zigarette und blies den Qualm in den Nebel hinein. So für mich allein kam auch ich zur Ruhe. Okay, ich hatte allen gesagt, daß es vorbei war. Aber war es wirklich vorbei? Jedenfalls hatte ich noch nie einen Fall erlebt, der mich so wenig zufriedengestellt hatte. Die beiden Mutanten am hellichten lag, das Monster aus der Tiefe, dann der Killer. Sie alle gab es nicht mehr, sie waren vernichtet worden. Alles wunderbar. Doch so etwas entstand nicht aus dem Nichts. Da mußte noch eine Kraft dahinterstecken, die alles gefördert hatte. Und diese Macht oder Kraft war mir noch nicht begegnet. Konnte das Grauen zurückkehren?
Eine Antwort wußte ich nicht. So warf ich die Kippe weg, trat sie aus und legte sie anschließend in einen Papierkorb. Mit ziemlich müden Schritten ging ich zurück zu meinem Zimmer, zog mich aus, duschte noch einmal und legte mich aufs Bett. Auch mein Fenster war noch heil geblieben. Ich hatte es weit geöffnet und starrte gegen das dünnen Fliegengitter. Hinter meiner Stirn bewegten sich die Gedanken. Sie steckten voller Unruhe und Unzufriedenheit und sorgten dafür, daß ich nicht zum Schlafen kam. Schatten erfüllten den Raum. Das Fenster zeichnete sich als schwaches Rechteck ab, hinter dem sich plötzlich etwas bewegte. Zunächst dachte ich an einen Nebelschleier, doch ich irrte mich. Das war keine Nebelbahn, dazu war der Gegenstand zu dunkel. Es war ein Schatten! Wieder ein Mordphantom? Mit diesem Gedanken richtete ich mich auf und verließ das Bett. Kaum stand ich, da drang eine flüsternde Stimme an meine Ohren. »Sinclair, es ist nicht vorbei, hörst du? Es geht noch weiter, verlaß dich darauf. ..« Ich sprang auf das Fenster zu. Da war der Schatten weg. Auch als ich meinen Kopf nach draußen steckte, war er nicht mehr zu sehen. Nur die langen Nebenbahnen trieben durch den Park und sahen so aus, als wollten sie die zahlreichen Baumstämme umklammern. Hatte ich mich getäuscht? Spielten mir die eigenen Nerven bereits einen Streich? Meine Handflächen waren feucht geworden. Mit müden Schritten ging ich zum Bett zurück. Ich hatte vorgehabt, mit Angel Torham zurück nach London zu fliegen. Mittlerweile kamen mir die ersten Zweifel. Wahrscheinlich mußte ich noch einmal zurück... *** Der neue lag, der nächste Morgen! Über dem Lago und den an seinen Ufern liegenden Städten breitete sich strahlender Sonnenschein aus. So herrlich klar, so wunderbar, als hätte es die vergangene nebelige Nacht überhaupt nicht gegeben. Zu meiner Stimmung hätte besser ein anderes Wetter gepaßt. Düster, nebelig, auch kühl. Ich hatte nicht sehr gut geschlafen, war zwischendurch immer aufgewacht und hatte schließlich eine Kanne Kaffee in mich hineingeschüttet. Zum Abschied hatten sich Madame Sousa und auch der Leutnant eingefunden. Unter Teneros Augen lagen ebenfalls dicke Ringe. Er schaute zu, wie ich mein Gepäck in dem Kofferraum verstaute, wo bereits die Koffer der Angel Torham lagen. Sie selbst war noch einmal zu ihren Freundinnen zurückgekehrt, um sich zu verabschieden.
»Na, noch immer frustriert?« fragte Tonero, der am BMW lehnte. Ich haute den Deckel zu. »Ja, noch immer.« »Kann ich mir denken.« Ich sagte ihm nichts von der Warnung, die ich in der Nacht bekommen hatte, sondern sprach das Thema indirekt an. »Hören Sie, Kollege, es wird am besten sein, wenn Sie auch weiterhin mindestens zwei Augen auf das Ctistello werfen.« »Befürchten Sie denn Ärger?« »Man muß mit allem rechnen.« Tenero hatte sich nicht rasiert. Die Bartstoppeln knisterten, als er mit der Hand darüber strich. »Das hört sich an, als wüßten Sie mehr.« »Leider nein.« »Nun ja, die Mädchen fahren in die Ferien, dann hat der Killer kein Opfer.« »Das ist unser Vorteil.« Madame Sousa kam auf uns zu. Noch immer zierten Pflaster und kleine Verbände ihre Haut. Sie wirkte übernächtigt, so, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. »K ann ich noch etwas für Sie tun?« fragte sie mich. »Nein, danke. Geben Sie nur auf das Castello acht.« »Das werde ich.« »Und sollte irgend etwas sein, benachrichtigen Sie mich. Ich bin von London aus schnell hier.« »Klar.« Ich schaute auf die Uhr. Der neue Tag war erst acht Stunden alt, trotzdem knallte die Sonne vom Himmel. Es würde eine heiße Fahrt werden, deshalb wollte ich so früh wie möglich weg. »Wo steckt denn Angel?« »Die verabschiedet sich noch. Soll ich sie holen?« »Nein, lassen Sie mal, Madame. Sie weiß ja, daß wir wegwollen.« Wie auf ein Stichwort kam sie an. Angel trug eine dunkle Flatterbluse und eine helle Hose, die nur bis zu den Knien reichte. Sie lächelte mir zu und nickte. »Fertig?« »Klar.« Sie hob eine Stofftasche mit breiten Riemen an. »Die nehme ich mit in den Wagen.« »Einverstanden.« Madame Sousa kam und umarmte Angel. »Viel Glück, Kind. Und bis in knapp zwei Monaten.« »Ja, natürlich.« Tenero reichte mir die Hand. »Dann machen Sie es mal gut, Kollege. Und grüßen Sie das neblige London.« »Um diese Zeit nicht.« Auch von der Rektorin verabschiedete ich mich, die sich noch einmal für ihre Lebensrettung bei mir bedankte, was mir wiederum ziemlich unangenehm war. Angel saß schon auf dem Beifahrersitz, als ich einstieg, die Tür zuhämmerte, startete und winkende Menschen zurückließ. Auch die Schülerinnen waren gekommen, um uns zu verabschieden.
»So«, sagte ich, als wir um die nächste Kurve verschwunden waren, »ab geht es.« »Das freut Sie, nicht?« Ich hob die Schultern. »Einerseits ja, andererseits nein. Ich bin etwas unbefriedigt.« Ihre Augen wurden groß. »Wie das? Der Mörder ist vernichtet.« »Das schon, aber ... na ja, lassen wir das.« Ich wollte sie nicht mit meinen Problemen belasten. Kurz vor der Umgehungsstraße nach Locarno tankte ich noch einmal voll. Zu den Dreitausendern mußten wir. Dort begann der Tunnel, der uns aus dem Tessin herausführte. Die Sonne brannte mir in den Rücken. Schweiß hatte sich in meinem Nacken gesammelt. Es roch nach Hitze und Benzindämpfen. Angel bat mich, noch eine Dose Wasser zu kaufen. »Mach' ich doch glatt.« Im Kassenhaus nahm ich sie aus dem Kühlfach. Eine halbe Minute später waren wir wieder auf der Bahn, blieben in Locaro stecken, schafften den Morgenverkehr trotzdem, rollten durch das weite Tal in Richtung Bellinzona und gelangten auf die Autobahn. Angel schaute nach rechts, wo die Trasse in Richtung Süden, nach Lugano und Mailand führte. »Möchten Sie jetzt da sein?« fragte ich. »Zu gern. Ich liebe Italien.« »Es ist auch ein herrliches Land.« »Wir rollten in die entgegengesetzte Richtung, nach Norden, immer nur nach Norden und über eine Autobahn, die stetig anstieg, so daß sie irgendwann einmal die sehr warmen Zonen hinter sich gelassen hatte. Durch die spaltbreit geöffneten Seitenscheiben wehte ein kühler Wind. Das St.-Gotthard-Massiv lag breit und wuchtig vor uns. Wer gute Augen hatte, konnte bereits die Schleifen der Paßstraße erkennen, die sich über den Berg wand. Leider ließ es die Zeit nicht zu, die Straße zu fahren. Sie soll wunderbar sein. Noch ein paar Kilometer waren es bis Airolo, der letzten Stadt vor dem Tunnel. Park- und Rastplätze waren angelegt worden, ebenso wie zwei große Tankstellen. »Schaffen wir noch eine Pause?« fragte Angel. »Wann?« »Vor dem Tunnel.« Ich hob die Schultern und huschte an zwei Lastwagen vorbei. »Wenn Sie wollen, ich habe nichts dagegen.« »Einen Kaffee könnte ich vertragen.« Den wollte ich zwar nicht trinken, dafür aber etwas essen, denn ich bekam allmählich Hunger.
Auf der rechten Seite lag die große Raststätte im Schein der blanken Sonne. Weiße Wolken türmten sich vereinzelt am blauen Himmel und schienen die Spitzen der Berge kitzeln zu wollen. Viel Betrieb herrschte nicht, so daß wir uns die Plätze noch aussuchen konnten. Das Wetter war einfach zu schön, um in das Restaurant zu gehen. Deshalb beschlossen wir, im Freien zu bleiben. »Sie entschuldigen mich«, sagte Angel, »ich muß mal zur Toilette.« Sie nahm ihre Stofftasche mit. »Bleibt es beim Kaffee?« »Ja, und ein Croissant dazu, bitte.« »Geht in Ordnung.« Bei einer dunkelhaarigen Kellnerin bestellte ich das Gewünschte und für mich etwas Käse und Parmaschinken sowie ein Brötchen, das ziemlich groß war. Als Angel zurückkam, war der Tisch bereits gedeckt. Das Croissant sah sehr frisch und knusprig aus. Ich trank schon wieder Kaffee, aß zuerst den Schinken, danach den Käse. Angel wollte nichts. Gedankenverloren biß sie in das knisternde Croissant und schaute mit einem melancholischen Blick, wie mir schien, in Richtung Tunnel. »Haben Sie was?« fragte ich. »Ja, ich denke nach.« »Worüber?« »Über den Tunnel. Wissen Sie eigentlich, John, daß es Menschen gibt, die große Angst davor haben, ihn zu du rch fahren?« »Das ist mir bekannt.« »Sie haben keine Angst?« »Nein, obwohl ich diese Geschichten kenne, die sich dort ereignet haben.« »Das ist ebenso ein Spuk wie die Sache im Internat. Auch sie ist doch unerklärbar.« »Im Moment noch«, gab ich zu. »Das hört sich an, als wollten Sie weitermachen.« »Mal sehen. Für mich ist es zunächst wichtig, daß ich Sie sicher nach London bringe. Alles andere wird sich später entscheiden.« Angel goß Kaffee nach. »Oder auch nicht«, meinte sie. »Wieso?« Sie winkte ab. »Ach, nichts.« Dann kam sie wieder auf den Tunnel zu sprechen und meinte, daß sie am liebsten den Paß nehmen würde.« »Die Zeit, Angel.« Ernst blickte sie mir ins Gesicht. Auf ihrer Stirn glitzerten Schweißperlen. »Das können Sie auch als Warnung verstehen, John. Denken Sie mal daran, wenn etwas passiert.«
»Und was — bitte?« »Ein explodierender Tanklastwagen. Da wäre der Gotthard eine Flammenhölle, aus der keiner mehr entkommen kann. Die... die Flammen würden sämtlichen Sauerstoff an sich reißen, die Menschen würden elendig ersticken. Das wäre grauenhaft.« »Noch ist so etwas nicht passiert.« »Es könnte aber passieren.« »Bitte, Angel, die Fahrt dauert fünfzehn Minuten. Sie dürfen daran nicht denken — okay?« »Ich versuche es.« »Noch etwas Kaffee?« »Nein, danke, lassen Sie uns fahren.« Die Bedienung wartete in der Nähe. Auf meinen Wink hin kam sie und kassierte. Angel hatte sich gedreht. Sie blickte in Richtung Autobahn, wo die letzten Schilder als große Plakate vor der Einfahrt in den Tunnel aufgebaut waren. Die Straße war hier sehr breit angelegt worden, im Gegensatz zu den engen Fahrbahnen des Tunnels. »Fertig?« fragte ich. Angel nickte und stand auf. Die Tasche klemmte sie sich unter den Arm wie einen kostbaren Schatz. Ich hatte schon die Tür offen, als sie noch einmal anfing. »Wir könnten es uns überlegen, John!« Über das Wagendach hinweg schaute ich sie an. Die Haut in ihrem Gesicht wirkte noch blasserund dünner. »Nein, Mädchen, wir müssen den kurzen Weg nehmen.« Sie hob die Schultern. »Okay!« Beim Anschnallen fragte ich: »Was ist denn überhaupt los, Angel? Weshalb fürchten Sie sich so?« »Ich mag die Finsternis nicht«, gab sie flüsternd zur Antwort. »Ich finde sie schrecklich.« »Schon immer?« Sie hob die Schultern. »Mitzunehmendem Alter verstärkte sich dieses Gefühl.« Wie es der Zufall wollte, ordnete ich mich hinter einem großen Tanklastzug ein. Angel verkrampfte sich. »Das . .. das ist ein böses Omen«, flüsterte sie. »Wir können uns ja überholen lassen.« »Zu spät.« Sie hatte recht. Der durchgezogene Mittelstreifen durfte nicht überfahren werden. Fast sehnsüchtig schielte sie an mir vorbei auf die andere Seite, wo zahlreiche Wagen den Tunnel verließen. Vor uns verschwand der Tanklaster.
Ein Schlund schien ihn verschluckt zu haben. Noch waren die Bahnen breit, das hörte bereits nach wenigen Metern auf. Da verengten sie sich zu dieser für meinen Geschmack zu schmalen Bahn, die schnurgerade in die dumpfe Düsternis führte. »Jetzt sind wir gefangen!« sagte Angel. Ich lachte leise. »Bitte, Mädchen, machen Sie sich doch nicht selbst verrückt.« »Sie werden es schon sehen, John, glauben Sie mir.« Angel beugte sich im Gurt vor und holte dabei durch die Nase tief Luft. Angestrengt schaute sie nach vorn, wo das rote Muster der Heckleuchten einen glutroten Schein abgab. Als Höchstgeschwindigkeit waren achtzig Stundenkilometer erlaubt. Die jedoch fuhr niemand. Als ich auf den Tacho schielte, zitterte die Nadel bei Tempo sechzig. »Soll ich das Radio einstellen?« Man hatte extra dafür gesorgt, daß auch im Tunnel Musik empfangen werden konnte. »Nein, nicht nötig.« »Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein?« »Nein, es wird schon gehen.« Sie hatte die Stirn gekraust und ein Muster aus Falten produziert. Die Tasche lag auf ihren Oberschenkeln. Ich sah, wie sich ihre Handflächen streichelnd darüber hinwegbewegten. Zwei Kilometer lagen bereits hinter uns, wie ich an den Markierungen ablas. »Es sind nur noch fünfzehn Kilometer«, versuchte ich sie aufzuheitern. »Denken Sie an etwas anderes.« Sie verzog nur die Lippen. Vor uns stieß der Tankwagen eine fette Rauchwolke aus dem Auspuff. Sie quoll uns entgegen und erweckte trübe Erinnerungen. Angel bewegte sich. Sie drehte die Tasche, damit die Öffnung ihr zugewendet lag. Eine Hand verschwand darin. Mit einem Bleistift kam sie wieder zum Vorschein. Sekunden später holte sie noch etwas hervor. Es war ein Zeichenblock! *** Ich bekam es nicht so richtig mit, denn vor mir leuchteten die Bremslichter warnend auf. Das Tempo verringerte sich innerhalb von Sekunden. Die Beleuchtung war mies. Ich konnte mich nur darüber wundern, daß Angel jetzt anfing zu malen. Ich hätte da nicht genug erkennen können. Sie preßte den Atem hervor, als würde sie unter einem schweren Druck stehen. Auf ihrer Stirn glitzerte plötzlich Schweiß, dabei atmete sie mit halb geöffnetem Mund. »Was haben Sie?« »Ich .. . ich möchte malen.«
»Bei dem Licht?« Ich wollte lachen, doch es verging mir, als ich ihre mit völlig fremder Stimme gegebene Antwort hörte. »Es geht nicht anders, ich muß malen.« Verdammt, mit dem Mädchen stimmte etwas nicht. Und auch nicht mit dem Verkehr, denn wieder flackerten die Bremslichter des Tanklastzugs. Er verlor noch mehr Tempo, und auch ich tippte einige Male gegen das Bremspedal. »So habe ich es mir vorgestellt«, sagte Angel leise. »Wir werden bald feststecken.« »Noch läuft der Verkehr.« »Nicht mehr lange.« Sie hatte recht. Nach einigen Sekunden kam der Fluß aus Wagen wenigstens auf unserer Seite zum Erliegen. Wir standen ... »Ich habe es gewußt«, sagte Angel und tippte mit der dünnen Bleistiftspitze in Richtung Frontscheibe. »Ich habe die Katastrophe gefühlt. Ich wußte, daß sie kommen würde.« »Noch ist nichts passiert, Angel. Wir haben nur angehallen. Wahrscheinlich hat jemand eine Panne.« »Nein, das ist es nicht.« »Was denn?« Sie drehte kurz den Kopf und schaute mich an. Ihr Gesicht wirkte im Dämmer des Fahrzeugs ungewöhnlich grau. Dafür waren die Augen heller hervorgetreten. Die Luft stand, sie war stickig geworden und stank auch. Sämtliche Motoren waren abgestellt worden, nur auf der Gegenfahrbahn lief der Verkehr weiter. Als ich die Scheibe ein Stück nach unten drehte, hörten wir die zischenden Geräusche. »Ich habe Sie etwas gefragt, Angel!« Das Mädchen räusperte sich, zog die Beine an und legte den Zeichenblock hochkant auf die Oberschenkel. »Ich spüre es wieder in mir«, sagte sie leise. »Immer wenn ich in die Dunkelheit hineingerate, kommt es auf mich zu.« »Was kommt auf Sie zu?« »Der Schatten, John, der Schatten.« Sie lachte rauh wie ein Mann. »Ja, du hast recht gehabt, es ist nicht nur ein Killer gewesen. Es können hunderte sein, tausende, Monstren, Mutanten. Sie kommen aus anderen Welten, sie entstehen in meinem Hirn. Immer wenn es finster wird, dann werde ich zu einer anderen.« »Jetzt mal genau. Zu wem?« »Zur Sklavin meines zweiten Ichs. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber ich führe eine Doppelexistenz. Mein Vater ist sehr besorgt um mich, das kann ich sogar verstehen. Eltern, die ein Findelkind angenommen haben, lieben es oft mehr als das eigene, wenn du begreifst, was ich meine, John. Verstehst du das?« »Nicht ganz.« »Es muß raus, John Sinclair. Es muß einfach raus. Ich kann es nicht mehr halten.« »Was denn?«
»Meine zweite Existenz, mein Über-Ich. Ich weiß nicht, woher ich kam, wer meine richtigen Eltern waren. Vielleicht hat der Teufel mit einer Hexe gebuhlt, so daß ich als Wechselbalg hervorkam. Vieles ist möglich, und es gibt kein Zurück mehr.« »Himmel, Angel, du .. .« Sie lachte kreischend und warf sich dabei vor und zurück. »Angel, hat man mich genannt — Engel. Ja, ich bin ein Engel, aber ein Todesengel, Johon Sinclair. Ein gefährlicher Todesengel. Ich bringe den Tod, ich habe sie auf dem Gewissen.« »Du bist doch nicht der Killer, Mädchen!« Scharf drehte sie den Kopf und starrte mich an. »Soll ich es dir beweisen?« Ich vertraute auf meine eigene Stärke und nickte. »Dann gib acht.« Sie senkte den rechten Arm, die Hand und damit auch den Bleistift. Was weiterhin in dem Tunnel geschah, kümmerte mich nicht. Angel Tor-ham nahm mich voll und ganz in Anspruch. Daß sie musisch begabt war, hatte ich erfahren und auch behalten. Daß sie jedoch eine perfekte Malerin war, das erkannte ich in den folgenden Sekunden. Die Bleistiftspitze huschte so rasch über das Papier, daß ich ihr mit den Augen kaum folgen konnte. Auf dem hellen Blatt entstand ein düster aussehender Bogen, eine Art von Stollen. Sehr bald erkannte ich, daß es sich dabei um einen Tunnel handelte, um unseren, denn die Umrisse des vor uns stehenden Tanklastwagens konnte ich deutlich erkennen. Sie malte das, was sie sah, brauchte aber nicht aufzuschauen. Wie ein Automat arbeitete sie. Perspektivisch sehr gut in Szene gesetzt, schoben sich auch rechts und links die Wände in die Höhe. Sogar das Muster des Gesteins und auch der glatte Beton waren zu erkennen. »Was soll das?« fragte ich. Angel gab keine Antwort und malte weiter. Die Umgebung der Szene hatte sie fertiggestellt, nun kam sie zu den Einzelheiten. Sie deutete auch unseren Wagen an und bewegte den Bleistift auf die rechte Tunnelseite zu. Dort malte sie weiter. Einen Umriß, sehr dunkel, noch düsterer als der schwach erhellte Tunnel. Was da entstand, war eine Gestalt. Ein Mensch? Von den Umrissen her ja, aber nicht vom Gesicht, denn das wurde eins mit der Gestalt, als hätte sie sich eine schwarze Kapuze übergestreift. Ich wußte Bescheid. Es lag auf der Hand. Sie hatte den Killer gemalt, der im Castello durch mein Kreuz vernichtet worden war.
»Meine Güte, sind Sie verrückt geworden, Angel? Was hast du da getan? Mußt du etwas ausgleichen?« Sie lachte sehr schrill. »Dann schau mal nach rechts, Sinclair. Los, sieh hin!« Ich blickte an ihr vorbei. Bis zur Tunnelwand war es nicht weit. Etwas nach vorn versetzt öffnete sich eine der Ausweichlücken. Das alles war uninteressant geworden, ich hatte nur Augen für die pechschwarze Gestalt, die nicht nur auf dem Papier bestand, sondern sich als dämonisches Wesen zwischen Wand und Wagen materialisiert hatte. Angel Torham war noch nicht fertig. Sie zeichnete in diesem Moment das letzte Detail. Ein schwarzes Messer! *** Genau in dieser Sekunde wußte ich, was die Stunde geschlagen hatte. Wo immer Angel ihre Fähigkeiten herhaben mochte, sie hatte sie wahrlich teuflisch eingesetzt. »Er wird dich erstechen!« sagte sie. Ihre Stimme klang jetzt völlig anders. Überhaupt nicht mehr weich und mädchenhaft, dafür hart, grausam, bis an die Grenze des Erträglichen gehend. Ich schlug auf den Gurtlöser, als sich der Killer in Bewegung setzte. Sofort zog ich die Beretta und hörte Angels Lachen. »Willst du einen Schatten erschießen?« Das war mir egal. Nur kam ich nicht dazu, die Wagentür aufzustoßen, denn der Schatten huschte in den BMW hinein. Er kam aus dem Fond, wo er selbst durch die Tür kein Hindernis fand. Plötzlich war er da! Ich spürte die Kälte im Nacken, schoß einfach nach hinten — eine Seitenscheibe zerkrümelte —, dann warf ich mich vor, denn ich hatte Angels leisen Schrei gehört. Die Klinge hätte mich im Nacken treffen sollen und wäre bei ihrer Länge bestimmt vorn aus der Kehle herausgestoßen. Sie erwischte mich nicht. Dafür riß sie den oberen Rückenlehnenrand ein, traf den Lenkradring und schlug dort etwas Lack ab. Mit einer Kugel konnte ich nichts anrichten. Also mußte ich es anders versuchen. Bevor das Messer ein zweitesmal nach unten rasen konnte, hatte ich die Fahrertür aufgedrückt und rollte mich aus dem Wagen. Ich durfte mir dabei nicht zuviel Schwung geben, sonst wäre ich auf der Gegenfahrbahn gelandet. Ich hatte Glück, die anderen Fahrzeuge
huschten dicht an mir vorbei, und ich stellte mich in dem Augenblick wieder hin, als das Mordphantom den Wagen verließ. Es quoll wie eine Wolke aus dem Dach. Der Kopf, die Schultern, die Arme, die Waffe. Aus dem Handgelenk schleuderte ich dem Schattenkiller mein Kreuz entgegen. Ich hatte die Silberkette an ihrem Ende festgehalten. Die Distanz war so günstig, daß mein geweihtes Kreuz den verfluchten Schattenkiller erwischte. Wieder wurde er durch die weiße Magie zerrissen. Als Fetzen jagten die einzelnen Teile davon, als wären die Wände breite Magnete, die nur auf die Schatten gelauert hatten. Noch immer stand der Verkehr auf unserer Seite, was gut war, denn so konnte ich mich um Angel kümmern. Sie hatte ihren Platz nicht verlassen. Ich tauchte wieder in den BMW und sah, daß sie zeichnete. »Was malst du denn da?« fragte ich. »Feuer!« Die Antwort schockte mich. Ich starrte das Papier an und sah schon die Flammen, die sich zwischen uns und dem Tankwagen befanden, um eine fürchterliche Hölle zu entfachen. Sie wollte, daß der Alptraum eines brennenden Tunnels grausame Wirklichkeit wurde . . . Mir blieb so gut wie keine Zeit, um über eine Lösung nachzudenken. Löschen mußte ich das Feuer, und ich tat es auf meine Art und Weise. Angel wollte noch eine weitere Flammenzunge zeichnen, ich aber war schneller und griff blitzschnell zu. Ich riß am Block und bekam dabei das oberste Blatt zu fassen. Sie knurrte wütend, holte mit dem rechten Arm aus und wollte mir den Bleistift ins Gesicht stoßen. Ich blockte den Armstoß ab, riß noch einmal an dem Blatt, bekam es zu packen und zerfetzte es. Angel sah das. Als > Antwort« verzerrte sich ihr Gesicht. Sie schrie mir ein Schimpfwort entgegen und drehte durch. Im engen Bereich der Sitze fing sie an zu kämpfen. Sie wollte mir wiederden Stift ins Gesicht rammen, traf nur die Schulter. Der Bleistift brach ab, das machte sie noch wütender und fast zu einer Katze. Gekrümmte Finger, spitze Nägel, die Kraft und Wucht ihres Körpers, all das legte sie in den Angriff hinein. Ich hörte ihr Schreien, ihr Keuchen, vor dem Mund sprühte der Speichel. Sie traf das Lenkrad, den Dachhimmel, Knöchel schrammten über das Armaturenbrett hinweg, sie heulte dabei auf, dann erwischte ich sie. Ich hatte die Hand nicht zur Faust geschlossen. Mochte Angel sein, wie sie wollte, ich brachte es einfach nicht fertig, meine Faust in das blasse Gesicht zu schlagen. Die flache Hand erwischte sie an der Stirn,
schleuderte Angel zurück, wobei sie die Beine anzog und die Füße sofort auf mich zuschleuderte. Ich bekam den rechten Fuß am Knöchel zu packen. Sie aber zerrte, trampelte, dann hielt ich plötzlich den Schuh fest, und Angel bewies, wie gelenkig sie war. Das Mädchen drehte sich auf dem schmalen Sitz herum. Es wollte zur Tür gelangen. Ein Griff reichte aus, um sie zu öffnen. Dann katapultierte sie sich aus dem Wagen, kam mit dem Rücken auf, hatte ihre Tasche noch mitgerissen, und als ich mich vorbeugte, um sie zu fassen, hatte sich Angel bereits herumgerollt. Auf einmal stand sie wieder. Genau in dem Moment, als ich mich aus dem Wagen drückte. Der Rundschlag war auf mich gezielt. Ausweichen konnte ich nicht mehr. Angel hämmerte mir ihre Tasche um die Ohren. Leider befand sich darin ein ziemlich harter Gegenstand. Eine Schmerzwelle schoß durch meinen Kopf. Sie lenkte mich von der eigentlichen Aufgabe ab. Angel bekam die Chance, mit einem Tritt nachzusetzen, der mich an der Wange erwischte. Dann rannte sie weg. Im Laufen schleuderte sie auch den zweiten Schuh vom Fuß. Während ich mich hochrappelte, tauchte sie bereits in die stickige Dunkelheit hinein. Natürlich waren wir beobachtet worden. Ein Beifahrer öffnete seine Tür, rief dem Mädchen etwas zu, das sich darum nicht kümmerte und dichtan der Wand entlang weiterrannte. Schattenhaft glitt sie unter den Leuchten hinweg, die Tasche noch immer festhaltend, dann sprang sie nach rechts und verschwand in einer der Ausweichnischen. Für mich stand fest, daß die Gefahr noch längst nicht gebannt war. Angel kam gegen ihre zweite Existenz nicht mehr an. Diese dämonische Kraft hielt sie in den Klauen und sorgte dafür, daß der Tod etwas Normales wurde. Angel wollte das Chaos, den Mord, das Feuer, und sie wollte, daß aus dem Tunnel eine Feuerhölle wurde. Auch ich hatte die Nische erreicht. Sie befand sich noch in der Höhe des Tanklastzuges, hinter dem die Flammen nicht tanzten, weil ich das Blatt zerrissen hatte. »Was ist denn los?« brüllte der Fahrer aus dem offenen Fenster des Führerhauses. Er bekam von mir keine Antwort. Ich mußte das Mädchen fassen, alles andere interessierte nicht. Die Nische war leer. Auf dem Boden schimmerten die eingezeichneten Striche der Parktasche. Eine Lampe warf ihren matten Schein von oben her gegen das Rechteck einer Tür.
Dahinter mußte sie stecken. Ich sprang über eine öllache hinweg auf die Tür zu und hatte meine Hand auf die Klinke gelegt, als ich mit einem Schrei auf den Lippen zurückfuhr. Das Metall war plötzlich heiß geworden. Ich sah, wie es vor meinen Augen zerschmolz und hörte hinter der Tür die Stimme des Mädchens, die voller Haß steckte und beinahe überkippte. »Der Tunnel soll brennen, Sinclair! Der ganze, verdammte Tunnel soll brennen. Er muß zu einer Feuerhölle werden. Ich will Tote sehen, ich will die Menschen schreien hören. Brennen, nur brennen!« »Angel!« schrie ich dagegen. »Du bist wahnsinnig! Hör auf, bitte! Mach dich nicht unglücklich!« Sie lachte schrill. »Ich und unglücklich? Das glaubt man nicht, Sinclair! Nein, ich bin nicht unglücklich! Ich bin verdammt glücklich, daß ich es erkannt habe, weißt du!« »Angel, bitte!« »Brennen, Sinclair, brennen!« Sie war wie von Sinnen. Hinter der Tür mußte sie stecken und zeichnen. Ich konnte nur hoffen, daß nicht auch andere Fahrer auf die Idee kamen und ihre Wagen verließen, um nachzuschauen, was sich abspielte. Die Nischen dienten als Notausgänge. Hinter den Türen lagen die Schächte und Treppen, die den Tunnel mit der Außenwelt verbanden. Kein Problem, sie zu erreichen, wenn Angel, dieser verfluchte Feuerteufel, nicht gewesen wäre. Sie spielte mit dem Feuer, sie hatte es entstehen lassen, denn die Tür veränderte sich. Das Metall bekam in der oberen Hälfte Druck. Es wellte sich mir entgegen und einen Moment später konnte es den magischen Kräften nicht mehr standhalten. Vor meinen Augen platzte es auf. Ein Loch entstand, an den Rändern gezackt, aufgerissen, einfach zerfetzt. Aus ihm kroch ein Untier. Ein schlangenähnliches Wesen, so dick wie zwei normale Männerarme. Es gelang mir noch für einen Moment durch die Öffnung in den Schacht zu schauen, wo ich Angel sah, die aus ihrer Tasche den Zeichenblock geholt hatte und den Bleistift über das Papier wandern ließ. Sie hatte das Monstrum gezeichnet, das dann auch in der Realität entstanden war. Ich schoß. Die Silberkugel schlug schräg in den Schlangenschädel hinein. Der Körper zuckte noch einmal hoch, dann jagte er in zahlreichen Schattenteilen davon. Hatte ich freie Bahn? Angel sah ich nicht mehr. Sie mußte sich bis auf die Treppe zurückgezogen haben. Ich war sehr vorsichtig, da ich mit einer neuerlichen Teufelei rechnete.
Hinter mir hörte ich Stimmen. Meine Aktivitäten waren nicht unbeobachtet geblieben. Zum Glück traute sich niemand in meine Nähe, doch ich mußte Angel kriegen. Ich wollte es trotz der großen Gefahr versuchen, als sie mich überraschte. »Jetzt!« Ihren Schrei hörte ich noch. Im nächsten Augenblick aber fegte die Tür aus dem Rahmen, um mir entgegen-zuwirbeln. Ich hechtete bis in die Parktasche hinein und konnte mir gratulieren, nicht erwischt worden zu sein. Mit der Beretta in der Hand drehte ich mich herum und mußte erkennen, daß mein Reden nichts genutzt hatte. Angel Torham wollte das Chaos. Sie liebte das Feuer und schickte es als gewaltigen Flammensturm durch die Öffnung. Der Tunnel sollte brennen! *** Im ersten Moment war ich so geschockt, daß ich nicht wußte, was ich machen sollte. Es war für mich unmöglich, das Feuer zu löschen. Okay, an den Wänden hingen rote Feuerlöscher, doch gegen diesen gewaltigen Sturm richtete ich nichts aus. »Feuer!« Ein gellender Schrei erreichte mich. Alarmsirenen klingelten, das Chaos würde innerhalb von Sekunden perfekt sein, und ich sah inmitten der Flammen Angel Torham stehen, wie sie einen Zeichenblock in den Händen hielt und malte. Das Feuer machte ihr nichts aus. War das die Chance? Wurden die Flammen durch Schwarze Magie genährt? Für einen Beobachter mußte es wie der reine Wahnsinn aussehen, was ich tat. Mit einem Satz sprang ich in die Flammenhölle hinein, hielt mein Kreuz in der rechten Hand und brüllte die Aktivierungsformel, so laut ich konnte. »Terra pestem teneto — Salus hic maneto!« Ich vertraute dabei auf die Kraft des Kreuzes, die es einfach schaffen mußte, die Flammen zu löschen. Sie fielen über mir zusammen. Ein wütender Schrei erreichte meine Ohren, mich umgab ein strahlend heller Schein, der bei meinem Kreuz seinen Ursprung hatte. Der Schein schützte mich. Er umgab meinen Körper wie eine wundersame Aura, die von den Feuerzungen nicht durchdrungen werden konnte. Damit hatte Angel nicht gerechnet und auch nicht mit einem Zusammenbruch der Flammen. Plötzlich hatte ich freie Bahn!
Angel stand auf der nach oben führenden Treppe. Ihr Gesicht wirkte dabei selbst wie eine verzerrt gezeichnete Fratze. Die Augen waren weit geöffnet, der Mund zuckte, als wollte sie mir etwas sagen. Mit der Linken hielt sie den Zeichenblock, mit der Rechten den Bleistift. Wenn mich nicht alles täuschte, waren ihre Augen direkt auf mein Kreuz gerichtet, das die Gefahr gebannt hatte. Angel!« sprach ich sie an. »Es hat keinen Sinn, es hat wirklich keinen Sinn. Sieh ein, daß mein Kreuz stärker ist. Damit kann ich das Böse überwinden!« Ich hörte sie atmen, und sie knurrte dabei. Die Geräusche hätten besser zu einem Tier gepaßt als zu einem Menschen. War sie noch ein Mensch? Sie sah zwar so aus, doch in ihr hauste eine furchtbare Macht, die sämtliche Kontrolle über sie bekommen hatte. Ein grausames Etwas, geboren in einer fremden Dimension. Sie starrte mich wieder an. Im Licht der Notbeleuchtung wirkte ihre Haut auch jetzt äußerst dünn, als hätte man sie mit einer Nudelrolle in die Breite gezerrt. Wahrscheinlich blieb ihr nichts anderes übrig, als aufzugeben. Ich zumindest hätte so gehandelt, Angel tat es nicht. Sie konnte nicht aufgeben, denn sie drehte sich auf der Stufe herum und hetzte mit langen Sätzen die Treppe hoch. Für mich war es nach wie vor ein Rätsel, woher sie die Kraft nahm, das alles zu überstehen. Angel nahm drei, manchmal vier Stufen auf einmal. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen und dabei noch schneller zu sein als sie. Sehr hoch war die Treppe nicht mehr. Sie endete vor einer schräg in den Berg gebauten Tür, die so aussah, als würde sie dem Ankömmling entgegenkippen. Auch diese Tür war nicht verschlossen. Die Fluchtwege mußten freigehalten werden. Angel stürmte als erste ins Freie — und auch hinein in das helle, blendende Licht des Tages. Wir befanden uns inmitten der Berge, eingebettet in eine schmale Senke, die von einem schmalen Pfad durchzogen wurde. Zur linken Hand kippte eine Felswand ab. Sie endete dort, wo sich Cletscherwasser als wilder Gebirgsbach einen Weg durch die Tiefe der Schlucht bahnte, bin alles Holzgeländer sicherte den Pfad an der Steilwand nur notdürftig ab. Angel Torham stand vor dem Geländer und schaute mir entgegen. Den Zeichenstift und das Papier hielt sie auch jetzt noch fest. Diesmal wirkte es so, als wären beide Dinge für sie Fremdkörper. Sie sah so aus, als wüßte sie nichts damit anzufangen. Ich ging auf Angel zu, hätte nun mit einem Angriff ihrerseits rechnen müssen, doch sie tat nichts.
Stumm schaute sie mir entgegen. Nicht einmal ein Lächeln glitt über ihre Lippen. In diesem Augenblick fiel es mir ein. Angel selbst hatte von der Dunkelheit erzählt, die so gefährlich war. Nur in der Finsternis kehrte die Kraft des Bösen zurück. Da wurde ihre normale Existenz von der dämonischen verdrängt. »Hallo, John«, sagte sie und lächelte, wobei sie sich eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht zurückstrich. Ich blieb stehen und hob den Arm. »Angel — du weißt, was geschehen ist?« »Nein, ich . . .« Sie räusperte sich. »Da war die Dunkelheit, die alles zunichte machte. Ich ... ich komme mir vor, als wäre ich aus einem tiefen Tunnel aufgetaucht.« »Ja, der Tunnel. Wir fuhren hinein. Du wolltest ihn brennen sehen. Du wolltest das Grauen, den Tod und das Chaos, wenn du verstehst, was ich meine.« »Nein, nicht. Es ist alles vorbei. Es ist so tief vergraben, verstehst du?« »Natürlich, Angel. Doch weißt du auch, wer du wirklich bist? Weißt du das?« »Ich kenne meinen Namen.« »Dein Schicksal ebenfalls?« »Wie meinst du das, John?« »Ich will ehrlich zu dir sein, Angel. Du bist ein Mensch mit einer gespaltenen Persönlichkeit. In deiner Brust existieren zwei Seelen, die eine davon positiv, die andere nicht. Das Gute und das Böse vereinigen sich. In der Nacht oder der Dunkelheit kommt deine zweite Seele hervor; dann schafft es das Böse, die Uberhand zu bekommen. Es erdrückt dich. Du weißt nicht, wer deine richtigen Eltern sind, hast du mir gesagt. Die Torhams haben dich als Findelkind bekommen. Deine Geschichte klingt wie ein Märchen, das in meinen Augen leider keines ist, sondern eine böse Legende, eine dämonische Urkraft, die es immer wieder schafft, dich zu beherrschen. Wenn die Nacht den Tag verdrängt hat, ist auch die Zeit des Bösen gekommen, das ist leider so. Und du bist zu einem Opfer geworden, Angel.« Sie hatte mir zugehört und einen staunenden Gesichtsausdruck bekommen, als hätte ich ihr etwas völlig Neues berichtet. Angel drehte den Kopf und schaute über das Holzgatter hinweg in die Schlucht, als könnte sie dort unten eine Antwort finden. »Du solltest über meine Worte nachdenken«, sagte ich leise. »Ja, natürlich, aber ich suche nach einer Lösung. Verstehst du das? Was kann ich machen? Wer bin ich wirklich? Bin ich denn eine Mörderin, wenn das andere über mich kommt?« »Zumindest eine indirekte. Du sitzt und zeichnest deine grausamen Phantasien auf, für die du nichts kannst. Was du auf deinem
Zeichenblock entwirfst nimmt leider eine grausame Realität an. Deine Monstren werden lebendig. Deine furchtbare, dämonische Phantasie füllt sie mit Leben aus. Ob du nun das Mordphantom gezeichnet hast, das Feuer oder das Monstrum aus dem Lago, immer wieder bist du diejenige Person gewesen, die den Anstoß für das Grauen gab. Vielleicht hast du es bewußt nicht erlebt, du wirst auch nicht die gesamte Nacht über in deiner zweiten Existenz gefangen gewesen sein, sondern nur etappenweise, aber ich will dir eines sagen, daß du zu den Verfluchten gehörst, die den Tod in die Welt bringen. Man hat dich unter Kontrolle. Andere Kräfte haben sich deiner bemächtigt.« Angel nickte mir zu. »Ja«, sagte sie, »du hast recht. Manchmal habe ich es sehr deutlich bemerkt. Es war einfach grauenhaft, ich konnte dagegen nichts machen. Alles lief so verkehrt. Ich habe es immer gemerkt, wenn das andere in mir hochstieg. Auch bevor wir in den Tunnel fuhren — erinnerst du dich?« »Sicher.« »Ich wollte nicht hineinfahren. Die Dunkelheit . . .«, sie schluckte. »Als ich sie sah, lebte sie plötzlich. Sie erschien mir prall gefüllt mit Geistern zu sein. Es kam in mir hoch, vieles wurde in mir regelrecht zerstört.« Sie schüttelte sich, als hätte ich Wasser über sie gegossen. »So war es.« »Wir sollten es ändern, Angel.« »Und wie?« »Ich bin nicht umsonst angetreten, um das Grauen zu stoppen. Ich kämpfe gegen Dämonen, gegen die Wesen aus anderen Welten, und ich hoffe, daß ich es schaffe.« Angel nickte. »Ich möchte es auch, John«, gab sie mit leiser Stimme zu. »Ja, ich möchte es, aber ich frage mich, wie du es schaffen willst, mich zu erlösen. Ich muß die zweite Existenz loswerden. Sie darf sich nicht mehr länger in mir ausbreiten.« »Stimmt, Angel. Vor allen Dingen muß sie erst einmal dasein, wenn du verstehst.« »Nein!« »Ich kann erst dann etwas unternehmen, wenn die zweite Existenz in dir zum Vorschein kommt und die erste wieder verdrängt. So müßte es eigentlich gehen.« Angel war nicht dumm, was sie mir bewies. »Es wäre bei mir eine Art von Exorzismus, eine Teufelsaustreibung, nicht wahr?« »Stimmt.« Sie senkte den Blick. Viel Zeit hatten wir nicht. Ich konnte mir gut vorstellen, daß gleich Polizisten auftauchen würden, denn Zeugen für das Chaos hatte es genügend gegeben. »Nun?« Angel nickte. »Ja, ich habe mich entschieden. Ich will wieder ein normaler Mensch werden.« »Wunderbar, dann . ..«
Die weiteren Worte wurden mir von den Lippen gerissen, denn hinter mir flog die Tür auf. Ich sah Angels erschrecktes Gesicht, drehte mich um und erkannte die vier bewaffneten Polizisten, die uns anfuhren. »Heben Sie die Hände und keine Bewegung!« Ich hob die Arme und atmete gleichzeitig aus. Zudem machte ich mir Vorwürfe. Ich hätte nicht so lange mit Angel reden dürfen und schon vorher alles klären müssen. Es den Schweizer Polizisten zu erklären, kam nicht in Frage. Noch zwei Männer erschienen, älter als die anderen vier. Wahrscheinlich hatten sie etwas zu sagen. »Das wird Sie teuer zu stehen kommen!« wurde mir gesagt. »Feuer im Tunnel ist unser Trauma, wissen Sie?« »Wer sind Sie eigentlich?« Der Beamte rückte seine Mütze zurecht. »Mein Name ist Urs Valeri. Ich bin Hauptmann und . . .« »Ich heiße John Sinclair.« »Engländer?« »Ja und Kollege.« Valeri zuckte zurück. »Was erzählen Sie mir? Sie wollen ein Kollege sein?« »Scotland Yard.« »Das möchte ich sehen. Und sie?« »Ist mein Schützling. Ich habe sie aus Ascona geholt, um sie nach London zu bringen.« Valeri schüttelte den Kopf. »So dumme Ausreden habe ich noch nie gehört. Nun ja, wir werden sehen. Sie kommen auf jeden Fall mit, und hüten Sie sich vor einem Fluchtversuch!« Zwei Bewaffnete näherten sich Angel, die plötzlich einen panikhaften Blick bekam. Den Grund kannte ich. Wenn die Polizisten sie wieder in den Tunnel zurückführten, würde ihre zweite Existenz die erste verdrängen. Dann konnte für nichts garantiert werden. Mit noch immer erhobenen Händen wandte ich mich an den Hauptmann Valeri. »Hören Sie, Kollege, auf keinen Fall dürfen Sie uns in den Tunnel hineinführen. Bitte . . .« »Was soll das?« »Dann könnte es zu einer richtigen Panik kommen. Bis jetzt ist noch keiner gestorben — oder?« »Nein.« »Gehen Sie mit uns in den Tunnel, garantiere ich, daß es Tote gibt, Hauptmann.« Er schaute mich an, als hätte er einen Verrückten vor sich. Dann faßte er sich an die Stirn. »Sagen Sie mal, sind Sie noch ganz intakt?« »Und wie.« »Schafft sie in den Tunnel.« »Nein!« schrie ich. »Halten Sie den Mund!« fuhr Valeri mich an!
Sein Befehl wurde von einem anderen Schrei bei weitem übertont. Angel hatte ihn ausgestoßen. »Rühren Sie mich nicht an!« kreischte sie los. »Faßt mich nicht an.« Die Polizisten hatten sich dermaßen erschreckt, daß sie sogar gehorchten. Angel hatte die Arme ausgebreitet, den Kopf vorgeschoben. »John, sie sollen mich nicht anfassen. Ich will nicht zurück in den Tunnel. Mach es ihnen begreiflich, was geschehen kann. Wenn der zweite Geist in mir hochkommt, wird es viele Tote geben. Sag ihnen das.« »Natürlich, Angel. Ich hoffe, daß die Leute es begreifen.« Ich setzte mich in Bewegung und ging auf Angel zu. »Davon habe ich nichts gesagt!« rief Valeri hinter mir. »Hören Sie auf, hier geht es um andere Dinge!« Ich war wütend und mußte aus diesem verdammten Kreislauf heraus. Leider sah ich nicht, was hinter mir geschah. Hauptmann Valeri gab seinen Leuten einen Wink. »John, Vorsicht!« schrie Angel. Da traf mich schon der Schlag mit dem Gewehrlauf. Der uniformierte Kollege hatte in meine Kniekehlen geschlagen. Beim Gehen noch sackte ich zusammen, fiel auf die Knie, stützte mich ab und spürte den Druck der Mündung im Nacken. »Bewegen Sie sich nicht!« »Jetzt nehmt sie!« befahl Valeri. Ich wollte protestieren, ich wollte gleichzeitig Angel sagen, daß sie es darauf ankommen lassen sollte, das alles schaffte ich nicht mehr, denn in den folgenden Sekunden überstürzten sich die Ereignisse. Angel Torham wählte genau den Weg den ich befürchtet hatte... *** Bevor die Männer zugreifen konnten, warf sie sich nach hinten. Ich kam mir dabei vor wie ein Zuschauer in einem Film, der die schlimmsten Szenen in Zeitlupe erlebt. Selbst die Beamten schrien auf, als Angel mit dem Rücken gegen das brüchige Gitter prallte. Ihr Kopf flog dabei zurück. Es sah so aus, als wollte sie noch ein letztes Mal die Sonne sehen. Mit den Armen ruderte sie, schlug gegen die brüchigen Gitterstücke, die sie umflogen, schrie auf und kippte in die Tiefe. Die Männer sprangen zurück, sie wurden bleich, denn auch sie hörten den Schrei, der aus der Schlucht über den Rand hinweghallte und uns erreichte. Langgezogen, furchtbar Lind schrecklich . . . Dann verstummte es. Wir hörten das Rauschen des Wassers, das war alles. Tritte knirschten, verstummten neben mir. Die Mündung verschwand von meinem Nacken.
Ich stand auf. In den Kniekehlen zitterte ich. Dann warf ich einen Blick nach rechts, wo Valeri stand und sich Schweißtropfen von der Stirn wischte. »Das wird für Sie noch ein Nachspiel haben!« flüsterte ich. »Darauf können Sie sich verlassen.« »Wie konnte ich wissen . . .?« »Ich habe es Ihnen gesagt, verdammt.« Ohne ihn anzuschauen, ging ich dem Rand der Schlucht entgegen, blickte in die Tiefe und sah das grüne, schaumige Gletscherwasser, wie es als Fluß zwischen den eng zusammenstehenden Felsen toste. Von Angel Torham konnte ich nichts mehr sehen. Ihre Leiche war mitgerissen worden. Keiner sprach mich an. Die Männer fühlten wohl, daß sie sich geirrt hatten und die Wahrheit bei mir lag. In meiner Kehle stieg es rauh und trocken hoch. Ich hatte Mühe, mich zu beherrschen. Als ich mich umdrehte, sprach mich Valeri an. »Sind Sie tatsächlich ein Kollege?« »Ja, verdammt!« Ich riß den Ausweis hervor und hätte ihn ihm am liebsten vor die Füße geschleudert. So hielt ich die Hülle dem Hauptmann nur vor das Gesicht. »Ja, ja, es stimmt.« »Wie schön, daß Sie lesen können. Gehört haben Sie ja nicht auf mich. Da sind Sie wohl taub.« »Wie konnten wir denn wissen, nach dem, was passiert ist, daß hier Dinge ablaufen, die . ..?« »Vergessen Sie es, Hauptmann. Vergessen Sie es ganz schnell. Fs hat alles keinen Sinn mehr. Ich hoffe nur, daß Sie ein Gewissen haben, das sich bei Ihnen melden wird. Den Tod des Mädchens haben Sie zu verantworten, ich wollte es retten.« Mehr sagte ich nicht. Zornig und gleichzeitig traurig ging ich auf die Tunneltür zu. Fin schlimmer Fall lag hinter mir. Angel und ich hatten es mit einem Märchen verglichen. Nur enden nicht alle Märchen gut. Für das Gegenteil hatten wir den Beweis angetreten... *** Wir waren wieder zurück nach Airólo gefahren. Von dort rief ich in London an und redete auch nicht um den heißen Brei herum. Sir James, mein Chef, war geschockt. Er tat mir jedoch den Gefallen, selbst mit Mr. Torham zu sprechen und ihn über das Schicksal seiner Tochter aufzuklären. Einzelheiten sollte ich bei meiner Rückkehr berichten. Noch immer deprimiert legte ich auf und starrte durch die breite Scheibe des Fensters. Mein Blick fiel auf die
Tunneleinfahrt. Viel war über den St. Gotthard geschrieben worden, der Tunnel hatte seine Schauergeschichten. In ihm war einiges passiert, und jetzt kam noch ein neuer Fall hinzu. Wann immer ich durch den Tunnel fahren würde, die Erinnerung an Angel würde nie verlöschen. Und auch nicht das Wissen darum, daß ich hier eine meiner bittersten Niederlagen erlitten hatte...
ENDE