Geheimagent auf Luna (The Transposed Man) von Dwight V. Swain Übersetzung aus dem Amerikanischen von Peter H. Sendung
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Geheimagent auf Luna (The Transposed Man) von Dwight V. Swain Übersetzung aus dem Amerikanischen von Peter H. Sendung
1. Kapitel „Name?“ „Robert Travis.“ „Beruf?“ „Bergwerksingenieur.“ „Ihr Arbeitsort?“ „Siebente Basis – Entwicklungs-Einheit Jupiter auf Ganymed.“ „Zweck Ihres Besuches auf Luna?“ „Ich habe die Leistungen der neuen Dahlmeyer-Aggregate in den Mare-Nubium-Feldern zu untersuchen. Es ist unsere Absicht, dieselbe Methode vielleicht auf unserem Trendart-Feld auf Ganymed anzuwenden.“ „Verstehe.“ Der Flughafeninspektor knurrte vor sich hin und wühlte in meinen Papieren. „Und wo befindet sich Ihre Elementar-Analyse?“ „Was soll ich mit einem solchen Papier?“ Nachlässig hob ich die Schultern, „Ich bin Ingenieur und kein Bürokrat.“ Ich hatte meinen Worten absichtlich einen Ausdruck hilfloser Komik verliehen, doch der Inspektor sah sich weiter meine Ausweise an. „Nach einer jüngst erlassenen Verfügung muß jeder Einreisende im Besitz dieses Dokumentes sein.“ „Hier habe ich doch meine Verzollungsurkunde!“ „Die kann ich nicht gebrauchen. Zoll- und Passagierausweise sind für ungültig erklärt worden.“ Er reichte mir meine Papiere 3
und warf einen Blick über seine Schulter. „Gehen Sie an den letzten Schalter; dort wird man Ihnen die Analyse ausstellen.“ Ich begab mich an den Schalter und sah zu, wie zwei in weiße Kittel gekleidete Männer durch eine Art Teleskop den Rücken einer traurig blickenden Frau mittleren Alters betrachteten. Dann ging die Frau, und ich war an der Reihe. Der jüngere der beiden Männer richtete den langen, fernrohrartigen Stab auf meinen Hals. „Was ist denn los?“ fragte ich. Er grinste. „Eine ganz dumme Sache. Irgend jemand hat angeblich gehört, daß die Mechanikergruppe einen Agenten nach Luna schicken will, und jetzt soll aus Sicherheitsgründen jeder Eintreffende der Elementar-Analyse unterworfen werden. Meiner Ansicht nach ist das alles nur Zeitverschwendung. Wenn die verdammten ‚Meks’ schon einen Burschen nach hier schicken, wird er gewiß nicht unter seinem eigenen Namen kommen und sich entsprechend verkleiden. Aber das darf man der Sicherheitspolizei ja nicht sagen.“ Er holte eine Karte aus dem Apparat. „Gedulden Sie sich einen Augenblick; es wird nicht lange dauern.“ Ich lehnte mich an die Wand. Der Raumhafen sah noch genauso aus, wie ich ihn von früher her in Erinnerung hatte. Allenfalls war er etwas älter und schmutziger geworden. Zwei weitere „Aurora“-Passagiere tauchten in der Nähe des Schalters auf, um sich ihre Papiere ausstellen zu lassen. Sie machten einen recht nervösen Eindruck, ebenso die in einer langen Reihe anstehenden Männer und Frauen, die warteten, bis der Inspektor mit der Prüfung ihrer Papiere begann. Leise pfiff ich vor mich hin. Ich hatte nicht den geringsten Grund, unruhig zu sein. Hier gab es keinen, der mich als den „Mek“-Agenten Alan Lord identifizieren konnte. Lord hielt sich ganz offiziell oben in der Zentrale auf; hier aber stand 4
Robert Travis, Bergwerksingenieur, der auf ordnungsgemäßem Wege von Ganymed nach Luna gekommen war, um einige Geschäfte zu erledigen, die völlig in Ordnung und ungefährlich waren. Mein Ellenbogen berührte das Neurotrongerät, das an meinen Rippen klebte. Eine wunderbare, kleine Erfindung, dieses Neurotron. Mit ihm und mit meinem Pulsator würde ich überall durchkommen. Der junge Mann im weißen Kittel kam zurück. „Mr. Travis …“ Ich drehte mich um. „Hier,“ „Alles in Ordnung.“ Er händigte mir das Papier aus. „Gehen Sie jetzt bitte durch diese Tür, um Ihr Gepäck durchsuchen zu lassen.“ Nebenan entdeckte ich die Frau mit dem betrübten Gesicht. Sie stand vor mir, und einer der Zollbeamten hatte ihre ganzen Sachen auf dem Tisch ausgebreitet. Eine würfelförmige Metallschachtel von etwa zwanzig Zentimeter Breite, Höhe und Länge stand in der Mitte. Der Zöllner betastete sie vorsichtig und schüttelte den Kopf. Ich hörte, wie er sagte: „… aber das ist doch Eigentum des ‚Fed Gov’ (Federal Government – Bundesregierung); Sie dürfen das auf keinen Fall mitnehmen. Dazu benötigen Sie eine Sondergenehmigung.“ Das Gesicht der Frau wurde schneeweiß. „Aber das ist doch alles, was mir geblieben ist“, flüsterte sie heiser. „Mein Mann ist tot; oben auf Ceres kam er ums Leben. Ein Angehöriger der Suchmannschaft brachte mir dieses Astronometer und sagte, daß er es in der Hand gehalten habe, als …“ Sie schwieg, ließ den Kopf auf die Brust sinken und begann, leise zu schluchzen. Als ich die Frau anblickte, sah ich in Gedanken Maurine vor mir – Maurine, die in jener so lange zurückliegenden Nacht so geweint hatte … Maurine … Meine Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet. 5
Der Zollinspektor sah an der Frau vorbei auf mich. Er hob die Hände in einer hilflos anmutenden Bewegung. „Es tut mir leid, gnädige Frau, glauben Sie es mir. Selbst, wenn ich die Augen zudrücken und Ihnen das Astronometer lassen wollte, würde man es bei der Durchleuchtung finden und Ihnen abnehmen.“ Bei diesen Worten fuhr ich zusammen und blickte mich hastig um. In einer kleinen Entfernung sah ich den Durchleuchtungsapparat stehen. Jede Person mußte durch seinen Strahlenbereich gehen. Mein Neurotron würde natürlich unbemerkt durchkommen und auch der Pulsator. Aber ich hatte noch ein Funksprechgerät, das „Com-Set“. „Es tut mir leid, meine Dame“, wiederholte der Zollbeamte. Er legte das Eigentum der Frau in die Koffer zurück. „Glauben Sie mir, es tut mir wirklich leid.“ Er nahm das Astronometer und steckte es unter den Tisch. Ich warf einen schnellen Blick in alle Richtungen. Niemand war in der Nähe. Aus der Tasche holte ich den in einem kleinen Etui verborgenen Pulsator und drückte auf den Knopf. Noch ehe der Zöllner auf mich aufmerksam werden konnte, beugte ich mich über den Tisch und berührte seine Schulter mit dem Apparat. Der Mann stieß einen leisen Schrei aus und fiel zu Boden. Ich sprang hinter den Tisch, kniete mich neben den Besinnungslosen und zog bei dieser Gelegenheit eine der Blusen der Frau herab. Die anderen Zollbeamten wurden aufmerksam. „Herzanfall!“ rief ich. „Rasch, holen Sie einen Arzt.“ Ich legte den Bewußtlosen bequem auf den Rücken und knöpfte ihm den Rock auf. So verloren mich die anderen aus den Augen, und ich kam in die Griffweite des Astronometers. Rasch öffnete ich die Kassette, legte mein „Com-Set“ hinein, schloß sie wieder und wickelte den Kasten dann in die Bluse. 6
Zwei Männer eilten herbei und bemühten sich um mein Opfer. Ich stand auf und reichte der Frau das eingewickelte Instrument. „Das gehört wohl Ihnen; er hat es fallen lassen, Fräulein …“ Ich warf einen Blick in ihre auf dem Tisch liegenden Papiere. „Verzeihung, Frau Nordstrom. Ich hoffe, daß nichts zerbrochen ist.“ Die blauen Augen der Frau weiteten sich im plötzlichen Verstehen. Hastig schob sie das Astronometer in eines ihrer Gepäckstücke. Ich wandte mich an den nächststehenden Beamten. „Der Gatte der armen Frau ist erst vor kurzem auf Ceres verunglückt. Können Sie sie nicht hinausbringen? Dieser Mann“, mit dem Kopf deutete ich auf den Bewußtlosen, „hatte alle Formalitäten beendet und war eben dabei, ihre Sachen wieder einzupacken, als er zusammenbrach.“ Der Beamte wandte sich an die Frau. „Es tut mir sehr leid, gnädige Frau“, sagte er. „Natürlich können Sie gehen.“ Er wandte sich wieder seinem ohnmächtigen Kollegen zu. „Wo ist Wasser?“ fragte ich erregt, bahnte mir einen Weg durch die herumstehenden Inspektoren und lief wie zufällig auf den Tisch zu, in dessen Nähe das Strahlengerät stand. Unauffällig konnte ich den Griff erfassen. Ich schaltete den Apparat ab und kehrte zurück. „Kein Wasser aufzutreiben“, keuchte ich sehr aufgeregt. Endlich achtete einer der Männer auf mich. „Was ist denn mit Ihnen los?“ fragte er. „Was machen Sie überhaupt hinter dem Tisch?“ „Man wird einem Menschen doch noch helfen dürfen …“ Ich tat beleidigt. „Doch wenn Sie die Dinge so sehen“ „Ja, so sehe ich sie“, nickte jener hart. „Gehen Sie auf die Seite, die dem Publikum vorbehalten ist.“ Die Ohren des Inspektors hatten sich gerötet. „Wo ist Ihr Gepäck? Ich werde mich selbst darum kümmern.“ 7
Durch einen unauffälligen Blick konnte ich feststellen, wie Frau Nordstrom vor dem Strahlengerät unmerklich zögerte, dann aber auf das Flugfeld hinausging. „Was ist nun mit Ihnen?“ knurrte der Inspektor mich an. Ich sah auf den Bewußtlosen, der eben einen Schlag durch meinen Pulsator erhalten hatte. Er öffnete den Mund und stieß zischend die Luft aus. In fünf Minuten würde er sich wieder wohl fühlen wie ein Fisch im Wasser. „Na, wird’s bald?“ drängte der bissige Inspektor. „Gleich hinter Ihnen stehen meine Koffer!“ Ich deutete auf das Gepäck von Robert Travis.
2. Kapitel Der Mann, an den ich mich zu wenden hatte, hieß Raines, John Raines. Von einem der großen Hafenhotels aus rief ich ihn an. „Hallo“, antwortete mir eine müde und gleichgültige Stimme. „Ist Herr Raines am Apparat?“ „Gewiß – und wer spricht dort?“ „Robert Travis, Herr Raines. Ich komme aus beruflichen Gründen nach hier. Unser Herr Azlon hat mir aufgetragen, Sie aufzusuchen und einige der technischen Einzelheiten mit Ihnen zu besprechen.“ „Azlon? Sagten Sie Azlon?“ Ich buchstabierte den Namen und wartete dann eine Weile. „Oh“, sagte der andere. „Ich befinde mich im Hafenhotel III, Zimmer 19“, erläuterte ich. „Mein Beruf wird mich in Kürze auf die Mare-NubiumFelder führen, weshalb es mir sehr angenehm wäre, wenn wir uns gleich treffen könnten.“ „Ach …“ Raines’ Stimme war trotz dieser lakonischen Äußerung nicht mehr ganz so müde und gleichgültig wie zuvor. 8
Sie hörte sich an wie die Stimme eines Mannes, der sich gern aus einer unangenehmen Lage befreien möchte und nicht recht weiß, wie er es beginnen soll. „Warum kommen Sie nicht auf ein paar Drinks herüber, Herr Raines?“ fuhr ich fort. „Unsere Unterhaltung braucht ja nicht trocken zu verlaufen, selbst wenn sie sich um so trockene Dinge, wie technische Probleme, dreht.“ „Nun, ich …“ Langsam wurde ich ungeduldig. Deshalb zeigte ich mich kurz angebunden und wartete nicht, bis er irgendwelche Entschuldigungsgründe gefunden hatte. „Sie wissen ja, wie Azlon ist und was uns bevorsteht, wenn wir uns nicht treffen.“ „Na – na – natürlich.“ „Schön denn; ich erwarte Sie also.“ Ich hängte ab und beendete damit das recht einseitige Gespräch. Dann griff ich nach dem Teilnehmerverzeichnis und durchblätterte es, bis ich den Namen Nordstrom, Helmar gefunden hatte. Die Adresse war dieselbe, die ich bereits den Papieren der Frau am Flughafen entnommen hatte. Ich wählte ihre Nummer und wartete, bis sich nach einer Weile eine Frau meldete. Ohne ein Wort zu sagen, legte ich den Hörer wieder auf und ging langsam an das Fenster. Es war eines der üblichen Fenster aus einer Kunststoffmasse, die zwar durchsichtig war, die man aber so verschieben konnte, daß das Licht abgesperrt wurde, sofern man Lust zum Schlafen verspürte. Das Schlafen auf Luna war ein besonders schwieriges Problem, weil hier die Tage ewig zu währen schienen. Ich warf einen Blick hinaus. Unter mir jagten Autotrams über die künstlichen Straßen. Die Fahrbahn säumten große Gebäude, und über diesen Gebäuden wölbte sich der durchsichtige Himmel, der die künstlich geschaffene Atmosphäre zusammenhielt und den Menschen Leben und Atmen erlaubte. In nicht 9
allzuweiter Entfernung lag der Hafen, der von silbernen Raumschiffen geradezu wimmelte. In größerer Entfernung schimmerte etwas Grünes – die Hydroponischen Gärten. Und über ihnen … Ich blickte hinauf. Da schwebte Terra – Terra, meine Heimat, ein großer, grüner Ball, der unablässig am Himmel Lunas dahinzuziehen schien. Dort befand sich auch Maurine Dorsetts Heimatstadt. Terra und Maurine waren für mich ein Begriff. Insgeheim stellte ich mir die Frage, ob ich eine von den beiden jemals wiedersehen würde. Ich war froh, als die Glocke anschlug und mich aus meinen Gedanken riß. Der eintretende Mann war kurz und fett. Auf seinen Zügen lag ein Lächeln, das geradezu eingefroren schien. „Travis.“ Ich bat ihn, einzutreten und schloß hinter ihm die Tür. „Setzen Sie sich bitte. Was trinken Sie?“ „Raines ist mein Name“, stellte er sich vor. Ich reichte ihm ein Glas. „Wir wollen gleich mit der Besprechung beginnen“, sagte ich. „Zwei Gründe haben mich veranlaßt, nach hier zu kommen. Es handelt sich einmal um Aneidos Besuch, und sodann um die ‚Stockungen’!“ Zum erstenmal blickte er mich richtig an. „Stockungen?“ „So nennen wir es!“ Jetzt drehte ich mein Glas hin und her. „Sie wissen wahrscheinlich, daß unsere Laboratorien ein Schildsystem entwickelt haben; es beruht auf der Voraussetzung, daß jedes menschliche Gehirn gleichzeitig eine Art organischer Rechner und Radiosender ist.“ „Das weiß ich.“ „Unser Schildsystem arbeitet ebenfalls elektrisch und ist derselben Wellenfrequenz angepaßt, auf der das menschliche Gehirn arbeitet. Wenn jemand nun in den Bereich der von dem ‚Schild’ ausgesandten Strahlen kommt, wird er schwer getrof10
fen. Er starbt zwar nicht, aber seine Gehirnfunktionen sind ganz einfach unterbrochen.“ „Für immer unterbrochen?“ „Für immer“, antwortete ich, und Raines erschauerte. „Natürlich ist es schlimm“, gab ich zu. „Zero liebt es genausowenig wie Sie oder ich. Aber wir müssen gewisse Vorsichtsmaßnahmen treffen, um die Geheimnisse unserer Laboratorien zu schützen. Wenn Sie das nicht begreifen, sind Sie auch kein echter Mechaniker.“ Raines blickte in sein Glas und sagte kein Wort. Sein Gesicht hatte eine aschgraue Farbe angenommen, während sich um seine Augen und Mundwinkel Falten zogen. „Wichtig ist nun“, fuhr ich fort, „daß die Leute, die einen solchen Elektroschock bekamen, weiter am Leben bleiben. Lediglich ihre Erinnerung ist ausgelöscht, so daß sie uns nicht verraten können. Die meisten von ihnen werden ja früher oder später von den Behörden entdeckt. Deshalb auch zermartern sich die Beamten vom ‚Fed Gov’ seit Jahren die Köpfe, um herauszufinden, was eigentlich mit diesen Leuten geschah. Bis heute aber haben sie es noch nicht entdecken können.“ „Ja, und warum …“, begann Raines. Ich beugte mich vor. „Nun aber ist etwas eingetreten, das uns beunruhigt und über dessen Hintergründe die Gesellschaft rasch unterrichtet werden muß. Plötzlich, sozusagen aus blauem Himmel heraus, wurden vom ‚Fed Gov’ Maßnahmen getroffen, nach denen alle elektroschockkranken Menschen sofort in die Menschlichen Forschungsanstalten hier auf Luna zu bringen sind. Das ist natürlich ungeheuer wichtig, weshalb die Zentrale mir den Befehl erteilt hat, sofort mit Ihnen Verbindung aufzunehmen.“ Durchdringend sah ich ihn an. „Was ist mit diesen Menschen geschehen?“ Raines zuckte bei dieser direkten Frage zusammen. „Es scheint ein geheimer Plan vorzuliegen.“ 11
„Wollen Sie mir etwa ausweichen?“ Ich kam näher und beugte mich über ihn. „Glauben Sie mir, Raines, Hinweise auf geheime Pläne würde Zero niemals als ausreichende Erklärung betrachten.“ „Aber ich weiß wirklich nicht, um was es sich handelt.“ Seine Stimme klang schrill, und er warf sich geradezu in seinem Sessel zurück. Er schwitzte ungeheuerlich. „Ich habe mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun. Sie wird von Testing bearbeitet – von Testing und Doktor Burton.“ „Kennen Sie Burton?“ „Natürlich.“ „In Ordnung.“ Ich setzte mich wieder hin. „Und jetzt die zweite Angelegenheit. Es handelt sich um Aneidos Besuch.“ „Sprechen Sie von General Aneido, dem Chef der Sicherheitspolizei?“ „Von wem sollte ich sonst wohl sprechen?“ „Ich – ich wußte nicht einmal, daß er sich hier befindet.“ „Aber Sie wissen doch wohl, wo er sich aufhält, wenn er nach Luna kommt?“ Wieder einmal sah ich ihn durchdringend an. „Die Dienststellen der Sicherheitspolizei haben sicher schon ihre Vorbereitungen getroffen?“ Raines schluckte einige Male, zog dann ein schmutziges Taschentuch hervor und wischte sich damit das Gesicht ab. „Soviel ich weiß, hat man für ihn eine Wohnung reserviert – drüben im großen Gebäude des Quivema-Blocks. Im Nebenappartement haben wir bereits einen unserer Leute untergebracht, einen gewissen Heffner.“ „Gut.“ Ich stand auf und griff nach meinem Mantel. „Es wird Zeit, daß wir an die Arbeit gehen. Zunächst möchte ich mit Doktor Burton zusammentreffen.“ Geräuschvoll stellte Raines sein Glas auf den Tisch. „Kommen Sie bitte“, forderte ich ihn auf. Er blieb einfach sitzen. Absichtlich sagte ich nichts und er12
kannte deutlich, wie unangenehm ihm mein Schweigen war. Dann stand er langsam auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Herr Travis …“ Ich antwortete ihm nicht. „Herr Travis, sind Sie sich überhaupt klar darüber, was Sie von mir verlangen?“ Er sprudelte die Worte nur so hervor und machte dabei weitausholende, hilflose Handbewegungen. „Welche Ausrede können Sie schon benutzen, um bei Doktor Burton eingeführt zu werden? Und wenn Sie wirklich empfangen würden, könnte es Ihnen gar nichts nützen. Sie würde Ihnen nichts berichten können.“ „Sie …?“ unterbrach ich ihn. „Doktor Burton ist eine Frau!“ Wieder wurde es still zwischen uns beiden. „Außerdem weiß die Sicherheitspolizei längst, daß ein ‚Somex’-Agent eintreffen soll. Und wenn man mich ertappt, wenn man herausfindet, daß ich Sie dort eingeführt habe … Eigentlich dürfte ich mich nicht einmal in diesem Raum aufhalten.“ „Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Mich wird niemand erwischen.“ „Aber …“ Ärgerlich drehte ich mich um. „Seien Sie endlich ruhig“, sagte ich ihm. „Ich habe meine Ansicht und meinen Plan geändert. Sie brauchen mich nicht zu begleiten.“ „Herr Travis …“ Er raffte sich aus seinem Sessel auf, und sein Gesicht glänzte vor Dankbarkeit. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie verbunden ich Ihnen bin.“ „Reden Sie nicht davon!“ wies ich ihn ab. Ich berührte den Knopf des Pulsators, als ich ihn an die Tür führte. Raines griff nach der Klinke, und im gleichen Augenblick drückte ich den Pulsator gegen seinen Hals. Er erstarrte und fiel zu Boden. Rasch fing ich ihn auf und 13
legte ihn mit dem Gesicht nach unten auf das Bett. Raines rührte sich nicht. Aus meinem Koffer holte ich zwei hauchdünne Elektroden und drückte sie leicht hinter seine beiden Ohren. Sie fuhren glatt und schmerzlos in die Haut, und nicht einmal ein Arzt hätte entdeckt, daß hier ein Eingriff vorgenommen worden war, es sei denn, er hätte eine außergewöhnlich starke Lupe benutzt. Dann streifte ich Raines Mantel und Anzug ab, holte das an meiner Haut klebende Neurotron hervor und legte es auf seinen Rücken. Raines warf sich unruhig hin und her. Ich legte mich neben ihn und verband das Neurotron mit meinem Körper. Sekundenlang erfüllte mich ein dunkles Chaos; ich konnte weder sehen noch hören und sprechen. Dann hatte ich das mir bereits bekannte Gefühl, in zwei Teile gespalten zu sein. Es kostete mich große Mühe, den Kontakt des Neurotrons ganz zu öffnen; doch dann verschwand das Unbehagen. Steif drehte ich mich um und setzte mich schließlich auf. Robert Travis lag jetzt neben mir auf dem Bett. Sein Atem ging wild und heftig. Doch das war alles, was auf ein Ereignis besonderer Art schließen ließ. Er sah genauso aus, wie er in jeder Nacht auf dem Mars ausgesehen hatte, als ich ihn erstmals traf. Ich lachte leise vor mich hin und wünschte mir, sein Gesicht im Augenblick seines Erwachens zu sehen, wenn er entdecken würde, daß er sich in einem Hotel auf Luna befand. Ich stand auf, stellte mich vor den Spiegel und sah mich an. Ich hatte Travis’ Körper verlassen und von John Raines Besitz ergriffen. Langsam ging ich ins Badezimmer und versuchte, den Schmutz, der an Raines’ Körper klebte’ der nun mein eigener war, wenigstens notdürftig abzuwaschen. Dann zog ich seinen Anzug an und streifte seinen Mantel über, den ich erst gründlich untersuchte. Rasch hatte ich festgestellt, daß drei aus 14
Kunststoff bestehende Streifen in den Stoff eingenäht waren, von denen einer blau, die beiden anderen grün waren. Ich nahm Robert Travis’ Pulsator und Neurotron und verließ als Raines das Hotel.
3. Kapitel Im Gebäude der wissenschaftlichen Forschungsanstalt zeigte mir eine Tafel, daß John Raines und Doktor Burton ihre Büros im Flügel B hatten. Dr. Burtons Büro war verschlossen. Ich klopfte an. Sekundenlang war alles still. Dann ertönten gedämpfte Tritte, die Tür öffnete sich, und ein Mann blickte heraus. Er mochte vielleicht 35 Jahre alt sein, groß und gut gebaut. „Ich möchte gern Doktor Burton sprechen“, sagte ich. Sein Kinn schob sich vor. „Es ist nur die Frage, ob sie auch Sie sehen möchte.“ Er wendete den Kopf und rief über die Schulter nach innen: „Maurine, der fette Kerl ist wieder da. Soll ich ihn hereinlassen?“ Eine Frau rief: „Was, Fred? Nein, ich komme selbst zur Tür.“ Unwillkürlich runzelte ich die Stirn und trat einen Schritt zurück. In mir erwachte plötzlich ein höchst eigenartiges Gefühl. Diese Stimme hatte ich schon einmal irgendwo gehört. Wieder wurde das Geräusch rasch herbeieilender Schritte laut, der Mann trat zur Seite, und neben ihm in der Tür erschien eine Frau. Mir stockte der Atem. Vor mir stand Maurine Dorsett. Die Jahre schienen spurlos an ihr vorübergegangen zu sein. Sie war vom Mädchen zur Frau gereift, war aber noch immer schlank und hübsch. Die Bewegung, mit der sie ihr im Nacken hängendes, offenes, schwarzes Haar zurückstrich, war die von früher und mir noch so vertraut, als ob ich sie gestern zuletzt gesehen hätte. 15
„Nun?“ Ihre dunklen Augen musterten mich kalt. „Ich“, brummte ich, „ich – ich hätte noch eine Frage wegen Ihrer Pläne.“ Der neben Maurine stehende Mann lachte spöttisch auf. „Ich war der Meinung, Sie würden sich jetzt, am Ende des Arbeitsprozesses, allein zurechtfinden.“ Beruhigend legte sie ihre Hand auf seinen Arm. „Alle Fragen, die meine Pläne und Projekte betreffen, sind an die Sicherheitspolizei zu richten, Herr Raines. Das sollten Sie übrigens längst begriffen haben!“ Ihre Stimme war ebenso kühl wie ihre Augen. Verlegen griff ich an meinen Hals. „Es – es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.“ „Es wird Ihnen noch viel mehr leid tun, wenn ich Sie noch einmal dabei erwische, Doktor Burton zu belästigen“, sagte der Mann und trat rasch einen Schritt vorwärts. Er packte mich beim Mantel und zog mich an sich heran. „Merken Sie sich das, Raines! Wenn ich Sie hier noch einmal erwische, werde ich Sie in die Kur nehmen, verstanden!“ „Fred!“ Maurines Stimme klang scharf wie ein Peitschenschlag. Das Gesicht des Mannes hatte sich verfinstert. Er wandte sich ab. „Wahrscheinlich dürfte es Ihnen klar geworden sein“, sagte Maurine, „daß ich mit Ihnen nicht das geringste zu tun haben möchte. Wenn Sie künftig Arbeiten zu erledigen haben, die meine Stellungnahme erfordern, dann bitte ich Sie, sich schriftlich an mich zu wenden!“ Nach dieser scharfen Bemerkung drehte sie sich um und kehrte in ihr Büro zurück. Der Mann warf mir noch einen haßerfüllten Blick zu und folgte ihr. Krachend fiel die Tür ins Schloß. Wie benommen drehte ich mich um und ging den Korridor hinab. 16
Nachdenklich verließ ich das Gebäude, setzte mich in die erste, vorbeifahrende Autotram und ließ mich auf dem kürzesten Wege zu dem Gebäude bringen, in dem Helmar Nordstrom zu Lebzeiten gewohnt hatte. Dort betrat ich die Büros des Managers, ließ mir von einer Sekretärin Papier, Schreibzeug und einen Umschlag geben, setzte mich und schrieb auf den Bogen: „Anbei erstatte ich Ihnen den Betrag zurück, den mir Ihr Gatte vor langer Zeit einmal geliehen hat.“ Auf eine Unterschrift verzichtete ich, faltete das Blatt und legte eine Fünfziger-Banknote bei. Den Umschlag adressierte ich an Frau Nordstrom und wählte dann ihre Nummer über den „Voco“. Viermal erklang das Rufzeichen, ehe sie antwortete. „Hier ist das Geschäftsbüro, Frau Nordstrom“, sagte ich. „Können Sie auf einen Augenblick herunterkommen? Wir hätten etwas mit Ihnen zu besprechen.“ Einen Augenblick lang zögerte sie, um dann mit müder Stimme zu antworten: „Aber natürlich doch. Ich komme sogleich.“ „Danke schön“, sagte ich und schaltete ab. Den Umschlag mit dem Geld gab ich der Sekretärin und bat sie, das Schreiben der Empfängerin auszuhändigen. Dann verließ ich das Büro. Die Wohnung der Nordstroms befand sich im dritten Stockwerk. Der Lift brachte mich nach oben. Am unteren Ende des Ganges schloß Frau Nordstrom eben ihre Wohnungstür. Ohne mich zu beachten, schritt sie an mir vorbei. Ich sah zu, wie sie den Lift bestieg und nach unten fuhr. Rasch eilte ich auf die Tür zu und hatte sie in kaum 30 Sekunden geöffnet. Hinter mir schloß ich ab. In einer Ecke des Wohnzimmers stand auf einem kleinen, schmucken Tischchen aus Venusholz das Astronometer. Über ihm, an der Wand, hing das dreidimensionale Bild eines Mannes in der Uniform eines Raumoffiziers. 17
Ich öffnete das Astronometer, holte mein „Com-Set“ heraus und verließ die Wohnung durch die Hintertür – gerade in dem Augenblick, da Frau Nordstrom wieder eintrat. Auf der Straße angelangt, ließ ich mir erneut eine Autotram kommen. Als ich Platz genommen und mein Ziel eingestellt hatte, holte ich das „Com-Set“ – einen interplanetarischen Fernsprechapparat – aus der Tasche und drückte auf den Rufknopf. „Wer spricht dort? Erkennungszeichen?“ meldete sich eine harte, männliche Stimme. Ich lehnte mich weit zurück und hielt den Fernsprecher dicht an meinen Mund. „Hier ist 4/4. Ich wiederhole: Hier ruft 4/4. Die Sache ist äußerst dringend. Ich möchte Zero sprechen.“ „Ausgerechnet Zero …“ In die Stimme trat ein Zögern. „Sie wissen doch genau, daß es unmöglich ist. Ich habe nicht die Erlaubnis …“ „Zum Teufel mit Ihrer Erlaubnis! Ich muß Zero sprechen, und zwar sofort. Es handelt sich um das Projekt X.“ Gemurmel war zu vernehmen, und dann wurde es eine Weile still. Schließlich hörte ich, wie die Verbindung zu einem anderen Sender aufgenommen wurde, und dann ertönte die barsche Stimme von Zero. „Was ist denn los, 4/4?“ „Mein hiesiger Vertrauens- und Kontaktmann hat mich im Stich gelassen. Ich mußte ihn mit dem Neurotron behandeln.“ „Mit dem Neuroton …?“ Die Stimme wurde eisig. „Sie wissen genau, 4/4, daß dies gegen die Anordnungen verstößt!“ „Auch wenn er doppeltes Spiel trieb und nach zwei Seiten arbeitete?“ „Als Doppelagent?“ „Es läßt sich leider nicht bezweifeln.“ „Ich verstehe nicht recht …“ Die Stimme Zeros schwand sekundenlang, war gleich darauf aber wieder hart und scharf zu 18
vernehmen: „Sie sind also restlos überzeugt, daß er sich mit der Sicherheitspolizei eingelassen hat?“ „Einen Beweis besitze ich nicht“, mußte ich zugeben, „zumindest keinen überzeugenden Beweis. Aber er war weit über das normale Maß hinaus ängstlich; außerdem habe ich herausgefunden, daß er mit mindestens zwei Frauen in Verbindung steht.“ „Wer sind diese Frauen?“ „Die eine ist seine Sekretärin. Die andere …“ „Keine Namen!“ tönte es mir entgegen. „Keine Angst“, knurrte ich zurück, „ich kenne die Spielregeln.“ „Wissen Sie, welchem Teil des Projektes die Leute zugeteilt sind, A oder B?“ „Unbedingt A. Ich hatte noch nicht die Zeit, etwas absolut Zuverlässiges über B zu erfahren.“ „Und der Vertrauensmann?“ „Gehört gleichfalls zu A.“ „Überzeugende Beweise können Sie also nicht gegen ihn anführen?“ Die. Stimme Zeros wurde immer eisiger. „Da ist noch etwas.“ Ich erzählte von den eigenartigen Kunststoffstreifen, die ich in Raines’ Mantel entdeckt hatte und beschrieb die Einzelheiten. „Das könnte vielleicht eine neue Art von Suchapparat sein, den die Sicherheitspolizei entwickelt hat“, meinte Zero nachdenklich. „Es wäre gut, wenn Sie den Mantel mitbringen würden; möglicherweise können unsere Leute etwas entdecken. Und in Zukunft“, die Stimme wurde wieder scharf, „beachten Sie freundlichst etwas besser die Vorschriften, 4/4!“ Zero hüstelte. „Ich kenne Ihre Qualitäten und weiß, was Sie bereits geleistet haben. Doch Sie besitzen auch einen unvorstellbaren Dickschädel, und das wissen wir alle beide. Um mir das zu melden, was Sie eben durchgegeben haben, war es nicht erforderlich, den Mann mit dem Neurotron zu behandeln.“ 19
Ich blieb stumm. „Gibt es sonst noch etwas?“ fragte Zero. „Allerdings.“ „Dann machen Sie rasch!“ Mein Atem flog. „Ich möchte um meine Entlassung bitten.“ „Was?“ Die Stimme des Mannes schnappte fast über. „Sie sind wohl verrückt geworden? Was soll dieser ausgemachte Unsinn?“ Ich führte das Gerät noch dichter an meinen Mund. „Es ist kein Unsinn. Ich stelle hiermit ganz offiziell meinen Antrag auf Entlassung – aus persönlichen Gründen.“ Einige Sekunden lang war nur ein schweres Atmen zu vernehmen. Dann erwiderte Zero: „Der Antrag ist abgelehnt!“ Ich schwieg. Nach einer Weile fuhr Zero fort: „Die Gesellschaft der Mechaniker erwartet von ihren Angehörigen die Bewahrung strengster Disziplin, 4/4. Für einen Agenten aber, der mit einer so wichtigen Mission betraut wurde, wie es bei Ihnen der Fall ist, wird die Disziplin noch um ein Vielfaches verschärft. Übrigens wissen Sie darüber ja sehr genau Bescheid.“ Ich dachte nicht daran, ihm zu antworten. „Welche persönlichen Gründe zwingen Sie denn, Ihren Dienst zu quittieren?“ fragte die Stimme weiter und klang jetzt nicht mehr ganz so eisig. „Es handelt sich um eine ganz persönliche und private Angelegenheit“, antwortete ich. „Persönlich und privat …“ Zero wurde immer unruhiger. „Wie lange kenne ich Sie jetzt schon, 4/4?“ „Seit zehn Jahren.“ „Zehn Jahre …“ Man hörte ihm an, daß er dieses Jahrzehnt als sehr lange Zeit empfand. „Zehn Jahre also, 4/4. Und in dieser Zeit haben Sie niemals versucht, mir etwas zu verheimlichen.“ Wieder blieb ich still. 20
„Zehn Jahre … Ist vielleicht bei einer Frau der Schlüssel zu dem Geheimnis zu suchen?“ Meine Hand war plötzlich feucht geworden. Ich wischte mir den Schweiß an der Hose ab. „Ich weiß, daß Sie einmal eine Frau liebten – etwa vor zwölf Jahren, ehe ich Sie kennenlernte …“ Eine Pause, und dann: „Wo ist sie heute, 4/4? Könnte sie sich vielleicht auf Luna befinden?“ „So halten Sie doch den Mund! Ich bin doch auch nur ein Mensch! Lassen Sie mich frei; lassen Sie mich doch tun, was ich verlange! Bitte, entlassen sie mich!“ „Aus persönlichen Gründen – ja, ich weiß es. Glauben Sie mir, 4/4, ich verstehe Sie, ich verstehe Sie vollkommen.“ „Dann aber …“ „Nein!“ Ich konnte mir ausgezeichnet vorstellen, wie er jetzt den Kopf schüttelte. „Sie behaupten, daß Sie ein Mensch seien, 4/4. Aber das stimmt nicht. Sie sind kein Mensch, sondern ein Mechaniker. Die Aufgaben und Sorgen der Gesellschaft müssen Ihnen mehr, sehr viel mehr bedeuten als die eigenen Gefühle. Wir können es uns nicht leisten, diese Angelegenheit einfach aufzugeben. Sie werden Ihren Auftrag durchführen, wie es geplant war.“ „Aber …“ „Gesuch abgelehnt!“ Verbindung war unterbrochen.
4. Kapitel Das Lokal’ nannte sich „Mondraum“. An der sternenstrahlenden Decke hing eine Nachahmung von Luna, wie sie von der Erde aus zu sehen war, und stach als goldener Halbmond vom tiefen Blau des künstlichen Himmels ab. Eine traurige Melodie erfüllte den Raum. Ich kippte einen 21
Drink hinunter und bestellte mir anschließend ein Fleischgericht und dazu einen Marssalat und Gemüse von verschiedenen Planeten. Es war wirklich ein gutes Essen. Das Fleisch war dick, rosafarben und so zart, daß es auf der Zunge geradezu zerging. Es schmeckte ausgezeichnet, und ich genoß jeden Bissen. Danach trank ich dicken, würzigen Venuskaffee und ließ mir noch einen Drink kommen, den ich diesmal allerdings nicht durch die Kehle jagte, sondern langsam und mit Genuß schlürfte. Eine Arbeitsschicht war vorüber und langsam begann sich das Lokal mit Leuten, meist Paaren, zu füllen. Ich lehnte mich bequem zurück, drehte das Glas spielerisch hin und her und beobachtete die Gäste. Nach einer Weile sah ich eine Frau, die sekundenlang zögernd stehenblieb. Sie war größer als die meisten Frauen und trug die Haare auf ungewöhnliche Art hochgekämmt, wie ich es noch niemals gesehen hatte. Sie warf einen prüfenden Blick in alle Richtungen und ging wieder hinaus, während ich dem Kellner winkte und auf mein leeres Glas deutete. Er nickte und ging zur Bar. In diesem Augenblick wurde mein Arm von einer Hand berührt. Ich fuhr zusammen und wandte mich um. Hinter mir stand das Mädchen mit der seltsamen Frisur; sie mußte das Lokal unauffällig wieder betreten haben. Ohne meine Einladung abzuwarten, setzte sie sich neben mich und fragte: „Habe ich Sie erschreckt, mein Lieber? Es würde mir wirklich leid tun.“ Freundlich lächelte sie mich an und rückte etwas näher. „Verzeihen Sie bitte meine Verspätung; unweit meiner Wohnung wurden neue Haarspangen verkauft, und da konnte ich einfach nicht widerstehen. Sie wissen doch, daß ich solche Dinge liebe. Schauen Sie einmal den Clip an, den ich gekauft habe; es sind echte Rubine darin.“ 22
Sie nahm die Brosche aus dem Haar und drückte sie mir in die Hand. „Wunderschön“, sagte ich. Das ganze Ding bestand aus ineinander verschlungenen Nullen. Ein Kennzeichen Zeros! „Wollen wir gehen?“ Ich schob meinen Stuhl zurück. „Kann ich vorher nicht einen Drink bekommen?“ Das Mädchen lächelte mich an. Es war wirklich sehr hübsch. In diesem Augenblick kehrte der Kellner zurück und stellte mein Glas vor mich hin. Ich schob es vor das Mädchen. Lächelnd schluckte sie das Getränk hinunter, und ich mußte dabei an Maurine denken. „Wir wollen uns beeilen“, sagte ich schließlich. „Es ist bereits spät geworden.“ Mit einer graziösen Bewegung leerte sie das Glas und erhob sich. Wir verließen das Lokal. Die Straße war eng, und die Häuser reckten sich hoch in den Himmel, daß unten alles im tiefen Schatten lag. Die Atmosphäre war schwer und drückend. Das Mädchen sah mich an. „Welchen Weg sollen wir einschlagen?“ Ihre Augen waren weit geöffnet, und ihre Mundwinkel zuckten, als ob sie Mühe habe, nicht loszulachen. „Zum Quiverna“, sagte ich. Sie ging langsam vorwärts. „Warum sind Sie gekommen und nicht Heffner?“ erkundigte ich mich. „Er wollte nicht; außerdem nimmt er augenblicklich an einer Konferenz teil.“ „Warum hat er dann überhaupt jemand geschickt? Ich hätte mein Ziel auch ohne ihn gefunden.“ Sie warf mir einen schiefen Blick zu. „Aber nicht im Quiverna. So ohne weitere Formalitäten kommt man dort nicht hinein. Nur wichtige Leute haben Zutritt. Sie müssen sich also in Begleitung einer dort wohnenden Person befinden, um das Gebäude überhaupt betreten zu können.“ „Ich verstehe“, nickte ich. Wir gingen weiter. Das Mädchen 23
beschleunigte ihre Schritte, warf mir einen erneuten Seitenblick zu und sagte dann: „Sie haben mir noch nicht erzählt, wer Sie sind und warum es für Sie so wesentlich ist, Herrn Heffners Wohnung zu betreten.“ „Sie stellen wirklich die seltsamsten Fragen.“ Ihre Lippen verzogen sich. „Wie heißen Sie überhaupt?“ fragte sie weiter. „Mir können Sie es doch sagen.“ Ich warf ihr einen eiskalten Blick zu. „Grundbedingung für alle Angehörigen der Gesellschaft ist, einem anderen niemals seinen Namen zu verraten.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Dann werde ich Sie eben ‚He, Sie’ nennen.“ Plötzlich blieb sie stehen und deutete auf ein Schaufenster. „Schauen Sie sich doch einmal dieses Kleid an; ist es nicht entzückend?“ „All diese Kleider sind entzückend“, stellte ich trocken fest, „und deshalb sind sie auch so teuer. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß ich ein Ziel vor mir habe, das ich gern heute noch erreichen möchte!“ „Natürlich, Herr He-Sie.“ Ich zog sie vom Schaufenster fort, und sie hängte sich an meinen Arm. „Sind die Sterne dort oben nicht wundervoll?“ fragte sie und deutete nach oben. „Glauben Sie, daß wir sie jemals erreichen werden? Selbst mit diesen neuentwickelten Raumschiffen scheinen sie noch so unendlich weit entfernt.“ „Man sollte Sie auf einem solchen Raumschiff in das weite All hinausjagen“, knurrte ich sie an. „Kommen Sie doch endlich weiter!“ „Aber es ist doch noch so früh. Wir können uns noch eine Weile die Sterne ansehen.“ „Zum Teufel mit Ihren Sternen!“ Endlich erreichten wir den chromblitzenden Eingang des Quiverna. Das Mädchen schob eine Ausweiskarte in einen 24
schmalen Schlitz der äußeren Tür, die sich geräuschlos öffnete. Die vor uns liegende Halle war hell erleuchtet. „Guten Abend, Fräulein Cherritt“, sagte eine Stimme. „Bringen Sie einen Gast mit?“ „Ja.“ Sie wandte sich mir zu. In ihren Augen tanzten tausend mutwillige Flämmchen. „Es ist Herr …“ „Raines“, sagte ich hastig. „John Raines von der Wissenschaftlichen Forschungsanstalt.“ „Natürlich, Herr Raines.“ Die Stimme klang ebenso höflich wir zuvor. „Würden Sie bitte so nett sein und zum Registratur kommen? Die Sicherheitspolizei zwingt uns, alle Besucher aufzunehmen.“ Ein Teil der Wand schob sich zur Seite, und ich sah mich den üblichen großen Linsen gegenüber. Wie gewohnt, stellte ich mich mit dem Nacken dagegen. „Vielen Dank, Herr Raines. Läuten Sie bitte, wenn Sie Ihren Besuch beendet haben und wieder hinauswollen.“ Während der ganzen Zeit hatte ich den Sprecher nicht zu Gesicht bekommen. Ich hörte das Klicken eines Aufzugs, eine Tür öffnete sich, und ich folgte Fräulein Cherritt in den Lift. „Zum siebzigsten Stockwerk, Herr He-Sie.“ Ich stieß einen leisen Fluch aus. Wir fuhren hinauf und gingen durch einen langen und ruhigen Korridor, auf dessen Boden ein schöner, dunkelroter Samtteppich ausgebreitet lag, bis wir an die Tür 733 kamen, hinter der sich Heffners Wohnung befand. Das Mädchen wollte läuten, doch ich streckte meine Hand aus. Erschreckt sah sie mich an, und das Lachen verschwand aus ihren Augen. „Sie gehen jetzt schön nach Hause, mein Kind.“ „Und Herr Heffner …“ „Zum Teufel mit Heffner.“ Ich ergriff ihre Handgelenke. 25
„Sie bilden sich wohl ein, daß dies alles ein Spiel sei, ein erregendes und interessantes Spiel, nicht wahr? Das haben Sie sich doch gedacht?“ „Ja, davon war ich früher einmal überzeugt.“ Ihre Lippen begannen zu zittern. „Sie tun mir weh …“ Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Ich will Ihnen etwas sagen, das Ihnen vielleicht helfen wird, die Sachlage klar zu erkennen.“ Ich musterte sie durchdringend, während sie die Augen schloß und ihr Gesicht sich verzerrte. „Sie sind ein Mensch. Sie freuen sich, wenn Sie lachen können und sich über etwas vergnügen dürfen. Vielleicht werden Sie sich eines Tages verlieben. Mechaniker hingegen sind keine Menschen. Sie sind da, um sich selbst und andere in Stücke reißen zu lassen, wenn die Pflicht es von ihnen verlangt. Diese Mechaniker haben vergessen, welche Gefühle einen bewegen, wenn man lacht; Freude hingegen kennen sie nur aus den Erzählungen anderer Leute.“ Ich sprach schnell und hastig. Dann ließ ich sie so plötzlich los, daß sie zurücktaumelte. „Gehen Sie jetzt heim, Sie verrückte junge Närrin; gehen Sie heim in Ihre teure Wohnung und vergessen Sie, daß es so etwas wie die Gesellschaft der Mechaniker gibt!“ Ihr Mund öffnete sich, als ob sie mir etwas sagen wollte, brachte aber kein Wort über die Lippen. Schweigend wandte sie sich um und eilte den Gang entlang. Mir war, als ob sie weinte. Ich drückte auf den Klingelknopf. Die Tür öffnete sich, und ein dunkles Auge sah mich fragend an. „Heffner?“ Die Tür wurde weiter aufgestoßen, ein blasses Gesicht wandte sich mir zu, sah mich aus schwarzen Augen erst unsicher an und blickte dann den Gang entlang. Der Mann war offenbar sehr nervös. „Sie ist fort“, sagte ich beruhigend. „Ich habe sie nach Hause 26
geschickt. Solche Dinge dürfen nicht vor anderen Leuten verhandelt werden.“ „O …“ Es war mehr ein krächzendes Stöhnen als eine Bestätigung. Die Tür wurde ganz aufgestoßen, und ich trat ein. Hinter mir schloß Heffner ab. Er war ein kleiner, gebückt gehender und spindeldürrer Mann. Seine Züge waren faltenreich; die Hautfarbe ungesund. Seine Hände zitterten so sehr, daß er Mühe hatte, die Tür zu verschließen. „Ich – ich bin nicht an diese Art Arbeit gewöhnt“, stotterte er. „Ich hätte niemals erwartet …“ „Wahrscheinlich haben Sie niemals erwartet, daß Sie einmal reden und handeln müssen!“ Prüfend sah ich mich in dem Raum um, in den er mich geführt hatte und der einen luxuriösen Eindruck machte. „Offenbar waren Sie der Meinung, die Gesellschaft würde Ihnen ein teures Leben bezahlen. Merken Sie sich aber, wir sind kein Wohlfahrtsinstitut!“ Heffner lehnte sich gegen einen Sessel. Seine Augen waren weit geöffnet. „Junger Mann …“, begann er. Ich beachtete seine Worte nicht, sondern fuhr fort: „Waren Sie etwa der Meinung, daß sich unsere ganze Arbeit auf lächerliches Geschwätz beschränkt?“ Seine Lippen preßten sich aufeinander. Er zitterte nicht mehr. „Nur zu viele Leute, die sich der Gesellschaft anschließen, vergessen, daß sie eines Tages aufgefordert werden, Leistungen zu vollbringen. Heute ist Ihr Tag gekommen, und Sie müssen diese Tatsache mit Fassung tragen!“ „Was wollen Sie von mir?“ Hart und abgehackt stieß er die Worte hervor. „Ich möchte einen Blick in die Nachbarwohnung werfen, die die Sicherheitspolizei für besondere Zwecke hat reservieren lassen.“ Er nickte steif. „Folgen Sie mir!“ 27
Ich folgte ihm an eine andere Tür, die er öffnete. Wir kamen in ein Schlafzimmer, und dort deutete er auf eine Wand. „Das Wohnzimmer befindet sich gleich nebenan. Wir haben ein Perceptoskop aufgestellt.“ „Gut.“ Ich wartete, während er das Instrument aus dem Wandschrank holte. „Sie können sich jetzt wieder nach nebenan begeben.“ Seine Nasenflügel begannen zu zittern. Wütend stampfte er hinaus und ließ mich allein. Ich schloß hinter ihm die Tür, legte das Kabel des Perceptoskops gegen die Wand und drehte den Schalter. Ebenso langsam, wie die Röhren sich erwärmten, zeichnete sich auf dem Bildschirm der nebenan liegende Raum ab. Das Bild wurde immer schärfer, und schließlich war es, als ob ich durch ein Fenster in den Nebenraum blickte. Abgesehen von einigen Kleinigkeiten war dieser Raum ebenso elegant eingerichtet wie Heffners Wohnzimmer. Rote Teppiche bedeckten den Boden; es gab Wandbehänge und chromblitzende Bodenbeschläge. Während ich noch stand und die Einrichtung betrachtete, erschien ein untersetzter, kräftiger Mann mittleren Alters in einer Fed-Gov-Uniform. Er bewegte sich wie ein schwerfälliger Bär. Drei Streifen kennzeichneten ihn als General, während sich auf seinen Schultern das silberne Schild mit dem schwarzen Dolch der Sicherheitsbehörde befand. In der Mitte des Raumes blieb er stehen und warf einen Blick auf eine in der Nähe angebrachte Uhr. Dabei drehte er sich so, daß ich endlich sein Gesicht erkennen konnte. Vor mir stand Aneido, General Carl Aneido, Chef des gesamten Fed-Gov-Sicherheitssystems. Vor Erregung begannen meine Hände zu schwitzen. Aneido blickte wieder auf die Uhr, runzelte die Stirn und fuhr sich dann mit dicken, kurzen Fingern durch sein schwarzes Haar. Plötzlich zuckte er zusammen. Sein energisches Kinn und seine har28
ten Züge schienen wie in Stein gemeißelt, während die nun keineswegs mehr schläfrigen Augen auf einen Punkt blickten, den ich nicht erkennen konnte. Rasch schaltete ich das Mikrophon ein und sah, wie Aneido sich erhob und einige Schritte tat, so daß er meinem Blickfeld entschwand. Gleichzeitig hörte ich, wie eine Tür geöffnet wurde. „Fein, Doktor, daß Sie die Zeit für einen Besuch fanden“, sagte die Stimme eines Mannes. Die Worte waren äußerst freundlich und höflich gemeint, konnten aber einen Unterton eiserner Strenge nicht verbergen. Eine Antwort war nicht zu vernehmen, nur das Geräusch einer sich schließenden Tür. Aneido tauchte wieder auf dem Bildschirm auf. „Kommen Sie, Doktor“, sagte er. „Wir haben uns über vieles zu unterhalten.“ Er kicherte leise. Jetzt war eine Frau auf dem Bildschirm zu erkennen, eine schöne, schlanke Frau mit schwarzem Haar. Es war Maurine. Ohne ein Wort zu reden, setzte sie sich auf den Stuhl, auf den der General gedeutet hatte. „Ich stehe Ihnen sogleich zur Verfügung“, fuhr Aneido fort. „Gedulden Sie sich bitte noch einen Augenblick.“ Er verschwand, kehrte aber gleich darauf zurück und trug in der Hand ein dunkles, metallisches Kästchen, an dessen Seite sich ein einzelner Schalter befand. Maurine sah erst das ihr offenbar unbekannte Instrument und dann Aneido an. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Sie sollten nicht so überrascht sein, meine Liebe“, lachte Aneido. „Die Dinge liegen eben so, daß wir kein Risiko eingehen dürfen.“ Er warf einen Blick auf das Kästchen. „Dieses Instrument sichert uns vor möglichen Lauschern.“ „Vor Lauschern?“ Es war das erste Wort, das Maurine sprach. Ihre Stimme klang angespannt und nervös. „Vor einem sehr gefährlich Horcher, Doktor.“ Aneido nickte 29
einige Male bekräftigend, beugte sich etwas nach vorn, und seine Pupillen schienen immer größer zu werden. „Antworten Sie mir bitte: Sagt Ihnen die Zahl 4/4 etwas?“ „4/4?“ Nachdenklich strich Maurine mit der behandschuhten Hand über das Kleid. „Ich fürchte, daß ich Sie nicht recht verstehe, General.“ Ich war geradezu erstarrt. „Ich freue mich über Ihre Worte, Doktor. 4/4 nämlich ist der Deckname des ersten und besten Spions der ‚Mek’-Organisation.“ Aneidos Kopf schien geradezu zwischen den mächtigen Schultern zu versinken. „Er befindet sich gegenwärtig auf Luna!“ „Auf Luna?“ Maurine sah ihn erstaunt an. „Ich war immer der Meinung, daß alle Eintreffenden genauestens untersucht und überprüft würden.“ „Ach“, der General lachte leise, „alle Vorsichtsmaßnahmen haben nichts genützt. Man soll einen Gegner eben niemals unterschätzen. Dieser Mann ist schlauer als alle anderen und hat zudem eine mächtige Organisation hinter sich. Soviel wir bis jetzt in Erfahrung bringen konnten, ist er als angeblicher Robert Travis in der Eigenschaft eines Bergwerksingenieurs nach hier gekommen. Ebenso ist es möglich, daß er sich hinter und in der Person einer gewissen Frau Nordstorm verbirgt, die hier als die Witwe eines Raumkapitäns gilt. Wie er es fertigbrachte, nach hier zu kommen, wissen wir noch nicht.“ „Ich verstehe“, nickte Maurine. „Er ist nicht einmal, sondern viele hundert Male durch alle von uns ausgelegten Netze geschlüpft. Seinetwegen habe ich Sie gebeten, heute abend nach hier zu kommen, Doktor.“ Er beugte sich weiter vor und legte einen Arm auf Maurines Stuhllehne. „Zusammen werden Sie und ich ihn fangen.“ Maurine beugte sich etwas zur Seite, als ob sie seinem Arm entgehen wollte. „Und wie soll das geschehen?“ 30
Aneido lachte auf. „Darüber reden wir später, meine Liebe. Erst will Ich einmal dieses Ding da einschalten.“ Er. drehte an dem Schalter, mein Gerät gab einige krächzende Töne von sich, das Bild wurde immer undeutlicher und verschwand schließlich ganz. Fluchend stellte ich den Apparat ab. . Aneido besaß ein besseres Gerät als ich; außerdem hatte er diesmal unverschämtes Glück gehabt.
5. Kapitel Dem Quiverna gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich ein Konfektionsgeschäft. Dort kaufte ich mir neue Kleider, legte sie an, zog John Raines’ Mantel darüber und nahm das Paket mit den abgelegten Sachen mit mir. Dann fuhr ich durch die Stadt in jene Gegend, in der Maurine Dorsett alias Burton lebte. Wie ich bei einer vorher eingezogenen Erkundigung erfahren hatte, lag das Gebäude in dem ältesten Teil dieses Viertels. Es war noch aus Steinen und anderem veralteten Material, nicht aber aus Kunststoff erbaut, so daß es unter den anderen Häusern leicht zu erkennen war. Ein Schild gab Auskunft, daß Dr. M. Burton in der Wohnung IV D lebte. Ich stellte mich hinter die Haustür und wartete. Nach einer Weile geduldigen Wartens hörte ich eine Autotram heranfahren. Ich preßte mich gegen die Wand, hob die alten Kleider und warf sie der überraschten Eintretenden über den Kopf. Maurine trat um sich, wehrte sich und kratzte; aber ich war stärker als sie. Ich entriß ihr die Handtasche, wickelte sie in das Kleiderbündel und verschwand im Schatten des nächsten Gebäudes. In dem Täschchen befand sich neben dem üblichen Geld ein kleines Notizbuch mit Adressen. Hastig überflog ich die hier 31
verzeichneten Namen. Der einzige Fred, den ich entdecken konnte, führte den Nachnamen Caudel und wohnte in nicht allzu großer Entfernung von hier. So machte ich mich denn auf den Weg, bis ich mich unweit von Freds Wohnung befand. Sein Haus sah etwas besser aus als das, in dem Maurine wohnte. Noch ehe ich das Haus hätte betreten können, öffnete sich die Tür, und heraus trat ein Mann. Es war der gleiche, großgebaute junge Mann, den ich bereits in Maurines Arbeitszimmer gesehen und den sie Fred genannt hatte. Mit weitausholenden Schritten ging Fred die Straße hinab. Ich wartete, bis er etwa hundert Meter Vorsprung haben mochte und folgte ihm dann. Zwei Häuserblocks weiter bog er plötzlich in eine schmale Straße ein, die in die Altstadt in der Nähe des Hafens führte. Hier sah es wie auf einem Jahrmarkt aus: Trinkhallen mit leuchtenden Reklamen wurden von Verkaufsbuden aller Art abgelöst. Seltsame Gerüche erfüllten die Luft, und das Ganze machte auf mich einen faszinierenden, erregenden Eindruck. Hier befand ich mich in einer Gegend, in der man die Spur eines Verfolgten ungemein rasch verlieren konnte. Ein ungewohntes metallisches Geräusch wurde laut. Dem vor mir gehenden Mann folgend, beschleunigte auch ich meine Schritte. Unser Weg führte um eine Ecke bis an einen riesigen Bau, den der Mann betrat. In fast mannshohen Leuchtbuchstaben stand das Wort „Schreckenskabinett“ über dem Eingang; zugleich wurde angekündigt, daß man in dieser Schaubude schreckliche Wesen und andere Lebensformen von fremden Welten sehen konnte. Langsam überquerte ich die Straße und stellte mich in den Eingang. Drinnen gingen Leute hin und her; ich sah auch Fred Caudel, der am anderen Ende der Eingangshalle eine enge Treppe hinaufstieg. 32
Eine Frau, offenbar eine Angestellte, kam auf mich zu. Sie hatte rotes Haar und einen hübschen Mund. „Treten Sie doch ein, mein Herr“, sagte sie freundlich. „Es ist gar nicht teuer. Hier haben wir Dinge, die Sie sonst nirgendwo auf Luna, selbst nicht auf Terra zu sehen bekommen. Sie sehen Transmi von der Venus, einen Dotol vom Mars und Lebewesen von anderen Satellitensternen. So wie dieses hier!“ Sie deutete auf einen jonischen Quontab, der an einen Eisenstab gekettet war und mit seinen Schwingen gegen das Gitter schlug. Das erzeugte das vorhin vernommene seltsame Dröhnen. „Es ist gar nicht teuer“, wiederholte die Frau mit lauter Stimme. Ein Matrose von der Fed-Gov-Raummarine schob sich mit seinem Mädchen an mir vorbei. Die Frau mit dem roten Haar kam näher auf mich zu. „Treten Sie doch ein“, drängte sie und lächelte mich verheißungsvoll an. „Der Vortrag beginnt in einer Minute …“ Ich legte ein Geldstück in ihre Hand und trat ein. Scharfe Düfte stiegen mir in die Nase, Düfte undefinierbaren Ursprungs, von denen keiner sonderlich angenehm war. Ich kam an Glaskästen und Käfigen vorüber. In ihnen befanden sich die seltsamsten und schrecklichsten Lebewesen aller Planeten. Augen bewegten sich hinter Kunststoffwänden, schrille Schreie und dumpfes Brüllen ertönte – und viele Menschen sprangen bei den gräßlichen Schreien wie auch beim Anblick der Wesen entsetzt zur Seite. Ich entdeckte sogar ein Exemplar des so furchtbaren und giftigen Zanats, das mit seinen großen Saugarmen in einem Ammoniakbehälter herumschwamm. Langsam ging ich weiter bis zum Fuß der Treppe, die Fred Caudel vorhin hinaufgestiegen war. In der Ausstellungshalle hatte sich inzwischen eine große Menschenmenge angesammelt. Die rothaarige Frau hatte mich aus den Augen verloren. 33
Noch einmal sah ich mich prüfend um und jagte dann die Treppe hinauf. Die Stufen endeten vor einer halbgeöffneten Tür, die in ein kleines, leeres Büro führte. Dem Eingang gegenüber befand sich eine zweite Tür, die ich leise öffnete, nachdem ich meinen Pulsator aus der Tasche gezogen hatte. Wieder gelangte ich in einen menschenleeren, großen Raum – ein Wohnzimmer, das erstaunlich elegant eingerichtet war. Ich trat ein und schloß hinter mir die Tür. In der Nähe hörte ich das Rauschen fließenden Wassers. Ich lehnte mich neben der Tür an die Wand und wartete. Nach einer Weile vernahm ich Schritte, und dann tauchte der große Mann auf, den Maurine Fred genannt hatte. Noch ehe er sich meiner Anwesenheit bewußt geworden war, hatte ich ihn mit dem Pulsator berührt, und er brach zusammen. Dann nahm ich die erforderlichen Manipulationen mit dem Neurotron vor, und zwei Minuten später steckte ich selbst in Fred Caudels Körper und blickte durch seine Augen hinab auf den fetten und bewußtlosen Körper von John Raines. Und in diesem Augenblick wurde die Tür zum Büro draußen geöffnet. Ich steckte den Pulsator ein und eilte hastig auf die Tür zu. In ihr erschien das rothaarige Mädchen, das ich am Eingang gesehen hatte. „Fred“, sagte sie, „da war ein Bursche, der …“ „War es dieser hier?“ fragte ich und öffnete die Tür so weit, daß sie Raines sehen konnte. „Ja.“ Sie schlüpfte herein und sah mich an, während sie vor Erregung hastig atmete. „Wer ist es, Fred? Kennst du ihn?“ „Allerdings. Er gehört zur Wissenschaftlichen Forschungsabteilung.“ „Gütiger Himmel! Willst du dich mit der Sicherheitspolizei verfeinden?“ Sie hatte Angst. „Werden wir verfolgt?“ 34
Ich schüttelte den Kopf. Unruhig sah sie mich an. „Was will er denn hier? Ist er hinter uns her?“ Wieder verneinte ich es. „Das halte ich für unwahrscheinlich.“ „Aber warum denn nur?“ „Warum kann so ein Bursche schon herumschnüffeln?“ Ich zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich wollte er im trüben fischen und ist deshalb auf gut Glück losgezogen. Vielleicht hatte er irgend eine unklare Idee im Kopf und wollte diese nun verwirklichen.“ „Ich wünschte, ich wäre von seiner Harmlosigkeit ebenso überzeugt wie du“, sagte sie nach einer Weile. Forschend blickte sie mich an. Ohne die allzu dick aufgelegte Schminke wäre sie bildhübsch gewesen. „Wie lange wird es denn noch dauern, Fred, bis du den Rest von dieser Burton bekommst? Du hattest mir versprochen, daß noch ein bis zwei Tage vergehen würden. Ist es morgen endlich soweit?“ „Vielleicht“, antwortete ich. „Du mußt dich gedulden.“ „Und dann kannst du es dieser niederträchtigen ‚Mek’-Bande verkaufen!“ Die Frau schauderte plötzlich und lehnte sich wie schutzsuchend an mich. „Fred, ich habe Angst. Hoffentlich war das alles auch die Anstrengung wert. Wenn etwas mißlingen sollte …“ „Es wird nichts mißlingen“, erklärte ich, löste mich aus ihrem Griff und kniete mich neben Raines. „Bring mir doch bitte eine Binde.“ „Eine Binde?“ „Ja, für seine Augen.“ Sie ging hinaus und kam nach einer Weile mit einem Leinwandstreifen zurück. Ich begann, Raines die Augen zu verbinden. „Wenn ich daran denke, daß es um eine Million geht … Glaubst du wirklich, daß sie zahlen werden? Selbst die ‚Meks’ 35
überlegen es sich gewöhnlich erst zehnmal, ehe sie einen so hohen Betrag herausrücken.“ „Selbstverständlich werden sie zahlen“, umging ich diese schwierige Frage. Ich fesselte Raines’ Hände mit seinem Gürtel. „Für diesen Preis werden sie es sogar noch billig bekommen.“ „Hoffentlich hast du recht. Ach“, seufzte sie, „wenn es doch schon morgen wäre. Wir könnten dann verschwinden, könnten diese Leute und vor allem die furchtbaren Geschöpfe da unten vergessen!“ Sie deutete auf den Fußboden. „Diese Bestien ekeln mich entsetzlich an, sie stinken wie die Pest – und dann ihre schauerlichen Augen, die einem bei jedem Schritt folgen. Manchmal glaube ich, daß ich es einfach nicht länger ertragen kann.“ Ihre Stimme brach, und sie räusperte sich, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Dann trat sie auf Raines zu. „Was ist eigentlich mit ihm geschehen?“ Ich war eben dabei, ihm mit einem Streifen seines Hemdes die Füße zu fesseln. „Er wurde von mir für nur kurze Zeit außer Gefecht gesetzt.“ „Doch wohl nicht für immer?“ „Keineswegs, sofern nicht etwas Unerwartetes geschieht,“ Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Einen Mord könnte ich einfach nicht ertragen“, flüsterte sie heiser. Meine Arbeit war beendet, und ich stand wieder auf. „Vergiß das alles“, bat ich. Sie hängte sich an meinen Arm. „Ich kann nicht; ich kann es nicht vergessen. Ich bin so grenzenlos erschöpft, daß ich fast nicht mehr Herr meiner Handlungen bin.“ Beruhigend drückte ich sie an mich. „Du hast doch wirklich keinen Grund zur Beunruhigung.“ „Es ist diese ganze Angelegenheit.“ Wieder schauderte sie. „Was mag in dem Kopf dieser Frau, dieser Burton-Schlange, wohl vorgehen? Und dann dieses Projektoskop – es ist einfach zu furchtbar! Wenn ich mir vorstelle, daß man damit in den 36
Kopf eines Menschen gelangen und ihm die Gedanken rauben kann … Wenn ich nur daran denke, wird mir übel!“ Ich stand sehr still und überlegte rasch. In den Kopf eines Menschen gelangen und ihm die Gedanken rauben … „Kein Wunder, daß die Sicherheitsbehörden auf den Besitz eines solchen Instruments großen Wert legen“, fuhr die Frau flüsternd fort. „Überleg’ nur einmal, was es bedeutet! Wenn man einen ‚Mek’ erwischt, hat man es nicht mehr nötig, ihn lange zu verhören; man wird ihm mit Leichtigkeit jeden Gedanken aus dem Kopf holen. Was werden wir dann noch für Chancen haben?“ Sie zitterte, und beruhigend streichelte ich ihr Haar. „Schon gut, Kleines“, sagte ich tröstend, „Du darfst dich nicht so aufregen.“
6. Kapitel Frühzeitig beim nächsten Schichtwechsel betrat ich Maurine Dorsetts alias Dr. Burtons Büro. Ich nahm mir nicht die Mühe, anzuklopfen. Maurine stand neben dem Schreibtisch und betrachtete ein Bild, das sie bei meinem Eintritt schnell, vielleicht etwas zu schnell, umgekehrt auf die Tischplatte legte. Dann blickte sie auf. „Fred!“ Ihre Augen waren gerötet. „Guten Morgen!“ sagte ich. Ich zog meine Brieftasche heraus und wühlte in den darin steckenden Papieren herum. Schließlich hatte ich das erforderliche Dokument gefunden. Ich reichte es ihr. „Hier werden Sie sehen“, sagte ich, „daß ich, Fred Caudel, für die Elektro-NeuralVersuche Ihnen als Techniker zugeteilt bin.“ „Aber nicht bei diesem Vorhaben hier.“ Sie nahm das Bild und steckte es in den Schreibtisch. Dann zog sie die Brauen zusammen und runzelte die Stirn. 37
„Sie scheinen nicht zu verstehen, daß meine Arbeit höchstes Staatsgeheimnis ist. Wenn Sie von der Sicherheitspolizei hier gefunden würden …“ „… säßen wir beide in der Tinte“, warf ich ein. „Unangenehm für Sie ist nur die Tatsache, daß Sie sich schon jetzt in Schwierigkeiten befinden, dies aber nicht zugeben wollen. Damit nämlich meine ich diese Schwierigkeiten …“ Ungeniert beugte ich mich nach vorn, öffnete die Schreibtischlade und holte das Bild hervor. Es war die Fotografie eines Mannes mit kühnen Augen und hoher Stirn, dessen Schläfen bereits grau zu werden begannen. Maurines Wangen röteten sich. Sie riß mir das Bild aus der Hand und legte es in die Schublade zurück. „Manchmal erinnern Sie mich an John Raines, Fred“, sagte sie. „Und das ist kein Kompliment für Sie. Eine Witwe muß etwas haben, an das sie sich klammern, an das sie sich halten kann, Fred.“ Zuletzt war sie ins Stottern geraten. Rasch beugte sie sich über den Schreibtisch und nahm einige Papiere auf, die sie so dicht vor ihr Gesicht hielt, daß ich ihre Augen nicht sehen konnte. Ich wischte meine feuchte Hand an der Hose ab. „Wie geht die Arbeit denn voran?“ fragte ich. Sie hielt ihr Gesicht noch immer abgewandt. Als sie antwortete, klang ihre Stimme schwach und gequält: „Manchmal ist etwas Seltsames an Ihnen, Fred, als ob Sie die Sicherheitsbehörden herausfordern wollten.“ Ich schwieg. Nach einer Weile fuhr sie tonlos fort: „Sie erinnern mich an einen anderen Mann, den ich vor Jahren einmal kannte. Er hieß Alan Lord. Er handelte und bewegte sich ebenso wie Sie; auch er liebte die Aufregungen und Abenteuer.“ Ich verschränkte die Arme. Unwillkürlich stützte ich mich gegen den Schreibtisch. „Was ist denn aus ihm geworden?“ fragte ich heiser. „Er – er wurde ein ‚Mechaniker’. Er tat es hauptsächlich we38
gen seiner eben erwähnten Vorliebe für Abenteuer, wozu noch eine seltsame Art von Idealismus kam. Ich glaube, daß er von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war, daß er aufrichtigen Herzens glaubte, diese Wissenschaft und die Gesellschaft der ‚Mechaniker’ bedeute ihm alles.“ Ein seltsamer Ton klang aus ihrer Stimme. „Ich habe versucht, ihm klarzulegen, daß eine unumschränkte Herrschaft dieser Techniker, für die der maschinelle Fortschritt alles, das Leben nichts bedeutet, zu einer Tyrannei ausarten könnte von einem Ausmaß, das sich keiner träumen lassen würde. Er ließ sich jedoch nicht überzeugen; es war mir unmöglich, ihn zu meiner Ansicht zu bekehren. So trennten wir uns, und jeder ging seinen eigenen Weg.“ „Haben Sie ihn – geliebt?“ Die Papiere raschelten. „Beantworten Sie meine Frage bitte nicht, Maurine“, fuhr ich etwas beschämt und hastig fort. „Nur so ein dummer Kerl wie ich kann eine solche Frage stellen. Lassen Sie uns lieber über Ihre Arbeit sprechen.“ „Die Dinge entwickeln sich zur Zufriedenheit.“ „Haben Sie noch etwas von der Sicherheitspolizei gehört?“ Maurine warf die Papiere auf den Schreibtisch zurück. „Sie haben wohl unbedingt die Absicht, sich in Schwierigkeiten zu bringen, nicht wahr?“ Ich hob leicht die Arme. „Wenn Sie mich auffordern, zu gehen, werde ich sofort verschwinden.“ „Nein!“ Sie richtete sich auf und blickte mir in die Augen. „Vielleicht ist es das, was ich selbst suche. Vielleicht sehne ich mich sogar nach Schwierigkeiten.“ „Nach Schwierigkeiten mit den Sicherheitsbehörden?“ „Mit irgend jemand. Um wen es sich dabei handelt, ist mir vollkommen gleichgültig.“ Sie drehte sich um. „Ich beginne jetzt damit, über einen neuen Fall von heute morgen einen Test anzustellen. Wenn Sie Lust haben, können Sie mir helfen.“ 39
Ich folgte ihr in das hinter dem Büro gelegene Laboratorium. Die Wände waren blauweiß gekachelt und ziemlich kahl, so daß der Raum einen etwas kalten Eindruck vermittelte. Die gesamte Einrichtung bestand aus einem Tisch und zwei Stühlen. Auf dem Tisch stand ein seltsamer Apparat, durch den ein Ton- oder Bildband lief. Außerdem erkannte ich eine Mattscheibe. Maurine drückte auf einen Knopf. Bereits Sekunden später trat ein Assistent ein und führte einen schwankenden, bleichen Mann am Arm. Dieser hatte den verzogenen Mund und die matten Augen eines Menschen, der eben von einer Gehirnbearbeitung aus einem „Somex“-Laboratorium kam. Maurine deutete auf den Stuhl, der sich der Mattscheibe gegenüber befand. „Er soll sich hierhin setzen“, sagte sie dem Assistenten. Sie wartete, bis der Bleichgesichtige Platz genommen hatte, und fuhr dann, zu dem Assistenten gewandt, fort: „Sie können wieder gehen. Sollte ich Sie brauchen, werde ich läuten.“ Der andere nickte und verließ den Raum. Maurine reichte mir ein Glas, in dem sich eine Flüssigkeit befand. „Bitte, färben Sie ihm die Schläfen grau.“ Ich gehorchte. Inzwischen holte Maurine ein helmähnliches Instrument aus einer Kiste und begann, daran herumzuschrauben. Ohne diese Arbeit zu unterbrechen, sagte sie dabei: „Jetzt machen Sie noch einen grauen Streifen hinter die Ohren, und einen zweiten über die Stirn bis an die Nasenwurzel.“ Schweigend kam ich auch dieser Aufforderung nach. Zustimmend nickte Maurine, als ich mein Werk beendet hatte, um dann zu sagen: „Jetzt ist er bereit für den Helm.“ Ich sah mir die eigenartige Kappe an und stellte fest, daß sie im Inneren kleine, elektrische Pole enthielt, die an jenen Stellen endeten, an denen ich die Farbe aufgetragen hatte. Mühelos setzte ich dem Mann den Helm auf den Kopf und ordnete die Kontakte. 40
„Vergessen Sie bitte nicht, auch Beine und Arme zu befestigen“, fuhr Maurine fort. „Unter dem ersten Impuls haben die Leute manchmal den Wunsch, aufzuspringen.“ Ich warf einen Blick hinter den Apparat und fand dort einen zweiten Helm und einige Lederriemen. Binnen weniger Minuten hatte ich den Mann gefesselt. Inzwischen hatte Maurine ihren Kopf mit der grauen Farbe bearbeitet, setzte den zweiten Helm auf und drückte mir zwei Kabel in die Hand, die mit dem auf dem Tisch stehenden Apparate verbunden waren. „Sie können die Verbindung herstellen“, sagte sie. Ich erriet, was sie von mir erwartete, und steckte je ein Kabel in die Helme. Maurine begab sich anschließend an die Schalttafel des Apparates und legte dort einen kleinen Hebel herum. Dann begann sie, intensiv an einer Reihe von Schaltern zu arbeiten, wobei sie aufmerksam einige Kontrolluhren beobachtete. Ein leises Summen wurde vernehmlich. Sie richtete sich auf. „Ich bin soweit“, sagte sie. „Sprechen Sie jetzt kein Wort.“ Sie drehte an einem Knopf. Der bleichgesichtige Mann richtete sich etwas auf und warf ihr einen erstaunten Blick zu. Maurine stellte sich neben mich vor den Bildschirm und hielt eine steife, weiße Karte in die Höhe. „Hund“, sagte sie. Keine Reaktion. „Mutter!“ Auf der Mattscheibe war ein seltsames Flirren zu sehen, ein Aufleuchten und Verschwinden eigenartiger Schatten. „Haß.“ Die Schatten verschwanden. „Somex.“ Keine Reaktion. „Frau.“ Erneute Schatten, die etwas stärker waren als diejenigen der Antwort auf das Wort Mutter. „Tinte.“ 41
Ein weißer Schirm. Nichts war zu sehen. „Messer.“ Nichts. „Kuß.“ Ein rasches Vorüberglitzern. Maurine ging an das Kontrollbrett und drehte einen anderen Knopf herum. „Haben Sie gesehen?“ Die kalte Schönheit ihres Gesichtes war getrübt. Mit einer mir vertrauten Handbewegung warf sie eine Strähne schwarzen Haares zurück. „Auf die meisten Fragen gibt es keine Antwort. Auch die Fragen, welche die nächsten persönlichen Beziehungen betreffen, werden – nur durch schattenhafte Bilder beantwortet.“ Ich nickte langsam. „Das wurde absichtlich herbeigeführt, Fred. Sein Gedächtnis erhielt eine Art Sperre; es wurde ein Block davor gelegt, so daß er sich an nichts mehr erinnern kann. Das ist die einzige Erklärung. Hier“, sie reichte mir die weiße Karte, „versuchen Sie es einmal mit mir, damit Sie den Unterschied kennenlernen.“ Ich nahm die Karte entgegen, während Maurine wieder an einem Knopf drehte. Ich warf einen Blick auf die Karte und las das erste Wort. „Hund.“ Auf dem Bildschirm erschien ein brauner Hund, der über die Mattscheibe trollte und dann verschwand. „Mutter.“ Es erschien das Bild einer weißhaarigen Frau, die sich plötzlich veränderte. Bedeutend jünger stand sie neben einem Tisch und hielt einen Geburtstagskuchen in der Hand. Im nächsten Augenblick lag sie mit eingesunkenen Wangen und Augen im Bett. „Haß.“ Auf der Mattscheibe zeigten sich aufblitzend ganz unzusammenhängende Bilder. „Verstehen Sie“, bemerkte Maurine, „Haß ist ein abstrakter 42
Begriff, für den man kaum ein klares Bild bekommen kann. Eine Ausnahme machen lediglich Paranoiakranke.“ Ich nickte und las das nächste Wort: „Somex.“ Mein eigenes Gesicht tauchte auf. Es war nicht etwa das Gesicht von Fred Caudel, sondern mein echtes, mein natürliches Gesicht, so wie Alan Lord vor zwölf Jahren ausgesehen hatte. Der Knopf an dem Schalter klickte, und der Bildschirm wurde dunkel. „Damit soll es genug sein“, sagte Maurine. „Wir wollen jetzt wieder zu unserem Fall zurückkehren.“ Ihr Gesicht war blaß, während ihre Augen unsicher auf den Apparat gerichtet waren. Wortlos, durch eine Kopfbewegung stimmte ich zu. „Jetzt werde ich die ganze Wortliste verlesen und versuchen, aus etwaigen Bruchstücken etwas Wissenswertes herauszuholen.“ Sie war jetzt wieder Dr. Burton, kalt, geschäftig und wissenschaftlich interessiert. „Ich habe es Ihnen zwar niemals gesagt“, fuhr sie fort, „aber ich habe meine eigene Theorie über all diese Fälle.“ Fast herausfordernd sah sie mich an. „Und diese Ansicht wird nicht länger Theorie bleiben, wenn sich der Test so entwickelt, wie ich will.“ Mit anscheinendem Interesse betrachtete ich die Anschlüsse an den Helmen. „Und wie lautet diese Theorie?“ fragte ich. Plötzlich wurde sie ernst, und ihre Finger trommelten nervös auf die Tischplatte. „Sie wissen vermutlich, nehme ich an, daß das menschliche Gehirn so etwas wie eine elektro-chemische Rechenmaschine ist?“ Ich nickte, und sie begann mit einer komplizierten Erklärung, die mich verstehen lassen sollte, wie die menschlichen Kopfnerven ihr zu gewissen, neuartigen Erkenntnissen verholfen hatten. Sie endete schließlich mit der Bemerkung, daß sie ihren Versuch an dem unglücklichen, neben uns sitzenden Mann fortsetzen wollte. 43
Nachdenklich hockte ich mich auf die Tischkante. „Das ist wirklich eine ausgezeichnete, eine hervorragende Theorie“, sagte ich, „aber ich weiß nicht, wie Sie ihre Richtigkeit beweisen wollen.“ „Ich werde es fertigbringen“, behauptete sie fest. „Mit meiner Apparatur kann ich alle ‚Somex’-Zentren auf jedem Planeten entdecken, mögen sie auch noch so verborgen sein. Selbst solche Leute, die ihre Köpfe hinter einer elektrischen Schutzschicht verbergen.“ Ich verzog meinen Mund zu einem ungläubigen Lächeln. „Das alles ist doch Unsinn!“ rief ich aus. „Wie wollen Sie beweisen, daß …“ „Warten Sie!“ Ihr hübsches Gesicht war plötzlich hart geworden, und et war, als ob sich über ihre Züge eine Maske gelegt habe. „Geben Sie mir bitte die Wortkarte. Wir werden einen neuen Test versuchen. Sie können das Ergebnis aufzeichnen; Schreibutensilien finden Sie in der Schublade.“ „Und wer hat ihm die Erlaubnis dazu gegeben?“ fragte plötzlich eine tiefe Stimme hinter uns. Ich fuhr herum. Im Eingang zum Büro stand General Aneido mit steifem Hals und grimmigverbissenem Gesicht. Zwei kalt aussehende Posten der Sicherheitspolizei mit gleichgültigen, unbewegten Mienen traten neben ihn. „Ich habe eine Frage gestellt, Doktor“, stieß Aneido wütend hervor. „Was sucht dieser Mann hier?“ Maurine war kühl, während ihre Gestalt sich etwas gestrafft hatte. Sie war blaß geworden. „Ich habe ihn um seine Unterstützung gebeten“, entgegnete sie. „Sie haben ihn um Unterstützung gebeten, ohne die primitivsten Sicherheitsvorschriften unserer Organisation zu beachten?! Dabei habe ich Sie vor nicht ganz vierundzwanzig Stunden genau und eingehend unterrichtet, daß Ihre Arbeit unter dem Siegel größter Verschwiegenheit durchzuführen sei!“ 44
Maurines Gesichtsausdruck änderte sich nicht. „Er ist von Ihrem eigenen Stab durchsucht und überprüft worden, ehe man ihn der hiesigen Dienststelle überwiesen und angegliedert hat!“ „Er ist aber nicht für dieses Vorhaben hier angestellt worden“, bellte der General. Er trat in den Raum. Sein Gesicht lief rot an, während seine Kaumuskeln zuckten. „Ich bin es nicht gewohnt, daß meine Befehle in dieser Weise mißachtet werden, Doktor!“ Ich unterbrach ihn. „Es war meine Schuld, Genera!“, sagte ich. „Ich war daran interessiert, daß …“ „Wie haben Sie überhaupt von diesen Versuchen erfahren?“ unterbrach er mich. „Was konnte Ihr Interesse erwecken?.“ „Ich –“ „Ruhig, Fred!“ Maurine legte ihre Hand auf das Projektoskop. „General Aneido, ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, daß dieser Apparat meine eigene Schöpfung ist, daß ich ihn entdeckt und entwickelt habe? Daß ich Jahre an ihm arbeitete und mit meinen Berufskollegen über ihn sprach, lange, ehe Sie von dem Vorhandensein dieses Instruments etwas ahnten? Sicherheitspolizei oder nicht – ich brauchte ganz einfach seine Hilfe als Wissenschaftler!“ Plötzlich hob Aneido seine große, breite Hand. „Es ist genug, Doktor Burton. Über Ihren Verstoß gegen meine Anordnungen werden wir uns später noch unterhalten. Jetzt möchte ich einmal sehen, ob dieser Apparat tatsächlich so funktioniert, wie Sie es mir gegenüber behauptet haben.“ „Gewiß doch.“ Maurine setzte den Metallhelm wieder auf. „Die Theorie ist ganz einfach. Sie stützt sich auf die Tatsache, daß jedes menschliche Gehirn elektrische Wellen ausstrahlt, die sich zu Bildern wandeln und entsprechend aufzeichnen lassen, sobald die erforderlichen Apparate erbaut und mit Filmstreifen versehen sind.“ „Können Sie das nicht etwas einfacher sagen, Doktor?“ fragte der General. 45
„Ich will es versuchen. Die Dinge liegen so, daß jeder Ihrer Gedanken sich in Bilder verwandelt, gleichgültig, ob Sie sich dieser Tatsache bewußt sind oder nicht.“ „Ich verstehe.“ „Diese Bilder werden nun durch meinen Apparat auf diese Mattscheibe geworfen.“ Sie begann jetzt mit einer ausführlichen Erklärung, die das genaue Funktionieren des Apparates verständlich machen sollte. Schließlich hob der ungeduldig gewordene Aneido eine Hand. „Technische Einzelheiten interessieren mich nicht, Doktor Burton. Wie ich Ihnen schon sagte, hat lediglich die praktische Seite Interesse für mich. Wenn dieser Apparat tatsächlich die geheimsten Gedanken eines Menschen im Bilde aufzeichnet, so daß ich jeden ‚Mek’-Agenten ausfindig machen kann, bin ich zufrieden. Und jetzt möchte ich einen Versuch sehen.“ „Aber gern.“ Maurine deutete auf die beiden Geheimpolizisten. „Wenn einer dieser Herren sich zur Verfügung stellen wollte …“ „Nein!“ sprach Aneido barsch. „Und wen soll ich nehmen?“ Der General deutete mit dem Zeigefinger auf mich. „Sie werden diesen Mann hier testen. Sie behaupten, daß er in Ordnung sei und nichts zu verbergen habe. Das werden wir jetzt rasch herausgefunden haben.“ Ich zuckte die Achseln und griff in die Tasche. „Ganz, wie Sie wünschen, General.“ Bei diesen Worten betasteten meine Finger den Pulsator. „Ganz, wie Sie wünschen“, sagte auch Maurine und führte mich an den leeren Stuhl. „Setzen Sie sich, Fred.“ Ich gehorchte. Schnell, mit geübten Bewegungen, färbte sie meinen Kopf und setzte mir dann den Helm auf. „Für den Anfang verwende ich ein bestimmtes Wortsystem, Genera!“, sagte sie dazu. „Jedes Wort, das dem Getesteten vorgelesen wird, muß 46
irgendeine Reaktion hervorrufen. Die im Kopf entstehenden Bilder werden auf der Mattscheibe zu sehen sein und müssen dann nur noch ausgelegt werden.“ „Verstanden“, nickte Aneido grimmig. „Geben Sie mir Ihre Wortliste.“ „Wie bitte?“ „Ich werde die Worte selbst vorlesen, und zwar in einer vor mir gewünschten Reihenfolge.“ Die Lippen des Generals verzogen sich zu einem Grinsen und ließen seine Zähne erkennen. „Sie sehen“, sagte er offen, „ich traue Ihnen nicht. Ich traue ihnen nicht mehr, seit ich diesen Mann hier vorgefunden habe. Ich nehme nicht das geringste Risiko eines Verrats auf mich!“ „Aha, ich begreife.“ Ein Ausdruck von Müdigkeit zeichnete sich auf Maurines Zügen ab. „Geben Sie mir die Karte, Doktor.“ „Gern.“ Sie überreichte ihm die Karte, und mir war, als ob ihre Hände zitterten. Ich griff nach dem Pulsator. „Ich bin bereit, Doktor.“ Ein boshaftes Leuchten war in Aneidos Augen. „Sehr gut.“ Maurines Blick ruhte jetzt auf dem Kontrollbrett des Schalters. Sie drehte an einem Knopf, und mir war, als ob mir jemand einen Schlag auf den Kopf versetzt habe. Es war jedoch eher betäubend als schmerzhaft. Meine Schläfen begannen zu hämmern. „Mutter“, las Aneido. Das Gesicht einer weißhaarigen Frau erschien auf dem Bildschirm. Es war dasselbe Gesicht, das ich bereits gesehen hatte, als ich vorhin Maurine testete. Fassungslos sah ich die Bilder an mir vorüberhuschen. Dann erhob ich mich etwa und warf einen Blick auf die Schalter. Maurine hatte sich nicht gerührt. Ihre Hand lag noch immer auf den Schaltern, und nur durch gründliche Beobachtung wurde mir klar, daß sie sich selbst mit dem Apparat verbunden hatte. 47
7. Kapitel Von Fred Caudels Wohnung aus warf ich einen Blick durch das Fenster hinab auf die Straße, wo der übliche Verkehr zu sehen war. Dem Haus gegenüber stand ein Angehöriger der Sicherheitspolizei, lehnte sich gleichgültig an eine Wand und säuberte die Fingernägel, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt zu tun gäbe. Ich wandte meinen Kopf nach links. Ein zweiter Mann, der unsichtbar das Kennzeichen „Sicherheitspolizei“ auf sich zu tragen schien, stand vor einem Zeitungsstand und betrachtete scheinbar hingebungsvoll die ausgestellten Blätter. Mir wurde mehr und mehr klar, daß die Tage Fred Caudels gezählt waren. Ich nahm ein Bad und zog mich um. Anschließend ging ich in die Küche, aß dort rasch einige appetitlich belegte Brötchen und trank dazu eine Flasche angenehm schmeckendes, rotes Venusbier. Als ich meine Mahlzeit beendet hatte und mich wieder an das Fenster stellte, war ein dritter Sicherheitsmann eingetroffen, der sich angeregt mit dem ersten unterhielt. So verließ ich die Wohnung und stieg die Treppe hinab, um einen Blick auf den hinteren Ausgang zu werfen. Auch der war durch einen Angehörigen der Sicherheitspolizei überwacht. Deshalb schritt ich weiter und folgte einer Treppe in den Keller, bis ich die Klimaanlage erreicht hatte. Dort saß ein junger Bursche auf einem Hocker, hatte eine große, gestreifte Katze auf dem Schoß und blickte erstaunt auf, als ich eintrat. „Hallo, Herr Caudel!“ rief er mir zu. „Hallo“, grinste ich zurück. „Hören Sie, mein Lieber, einer meiner Freunde von der Sicherheitspolizei hat mich gebeten, hier eine kleine Untersuchung anzustellen. Wo befindet sich eigentlich die Falltür, die nach unten führt?“ 48
Fassungslos sah der Bursche mich an. „Die Falltür?“ „Natürlich. All diese alten Gebäude haben Notausgänge, die hinab in die Sicherheitstunnels führen. Von dort aus kommt man in die Bunker. Sie wurden errichtet, als man noch Angst vor dem Chaos hatte und befürchtete, der auf der Erde wütende Atomkrieg könnte sich auch auf Luna ausbreiten.“ „Ach …“ Der Mann, der wahrscheinlich den Titel Hausmeister führte, streichelte wie abwesend den Kopf seiner Katze. „Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.“ Er stand auf, setzte das Tier auf den Boden und führte mich zurück zur Treppe. „Hier dürfte sich befinden, was Sie suchen.“ Im Fußboden hinter der Treppe entdeckte ich eine kleine Vertiefung. Mit einer Fußspitze folgte ich der kaum erkenntlichen Rille. „Ich will doch einmal sehen, ob ich den Ring nicht finden kann.“ „Das ist nicht schwer; hier ist ja der Ring.“ Er bückte sich und zog keuchend an dem Stahl. Langsam hob sich der Deckel. Ich blickte hinab in die sich ausdehnende Dunkelheit. Die Wand entlang lief eine metallische Leiter und führte in die Tiefe. „Das ist alles; ich danke Ihnen.“ Ich nickte ihm anerkennend zu. „Haben Sie nicht Lust, mit in meine Wohnung hinaufzukommen, um einen Drink zu nehmen? Den Deckel können Sie später ja immer noch zuklappen.“ „Aber gern, Herr Caudel.“ Er folgte mir die Treppe hinauf, und im Gehen zog ich meinen Pulsator hervor. Als der junge Mann die Tür durchschritt, berührte ich ihn damit. Fünf Minuten später stand ich wieder vor dem Loch – diesmal ein junger Bursche mit einem zernarbten Gesicht. Fred Caudel lag schnarchend auf seinem eigenen Bett. Ich ließ mich in die Tiefe gleiten und dann den Deckel über mir zufallen. An der Metalleiter kletterte ich nach unten. Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Schließlich war ich am Boden angelangt und tastete mich langsam bis zu der mäch49
tigen Tür vor. Wie ich erwartet hatte, war sie unverschlossen. Sie besaß keinen komplizierten Türknopf, sondern eine ganz bescheidene Klinke, die ich einfach herunterdrückte. Dann befand ich mich in einem weiten Gang, der von einer Radiationslampe grünlich erhellt war. In der Ferne sah ich weitere Lampen leuchten. Der Gang, ein Überrest aus längst vergangenen Schreckenszeiten, erstreckte sich in zwei Richtungen. Ich schlug auf gut Glück den Weg linker Hand ein und marschierte so lange, bis meine Füße schmerzten. Dann holte ich mein „Com-Set“ aus der Tasche und setzte mich unter eine der Lampen. Diesmal verband mich der diensttuende Mann ohne jeden Widerspruch mit Zero. „Was wünschen Sie, 4/4?“ „Schwierigkeiten machen sich bemerkbar“, erwiderte ich. „Und wenn ich Schwierigkeiten sage, dann meine ich damit echte und wahre Unannehmlichkeiten.“ „Was wollen Sie andeuten, 4/4?“ Die Worte klangen ruhig, aber in Zeros Stimme lag ein erregter Unterton. „Sie dürften sich entsinnen, daß eine Frau wahrscheinlich so etwas wie den Schlüssel zum Unternehmen X darstellt, und zwar zu beiden Teilen, zu A wie auch zu B!“ „Das weiß ich.“ „Diese Frau hat einen Apparat entwickelt, der jedem Menschen ganz einfach Gedanken und Überlegungen aus dem Gehirn holen kann. Der Apparat reagiert ebenso spontan und sicher wie das menschliche Gehirn selbst.“ „Ist die Sicherheitspolizei darüber unterrichtet?“ „Aneido selbst überwacht die Forschungsarbeiten. Deshalb ist der General auch nach Luna gekommen. Er hätte mich mit Gewißheit schon längst festgenommen, wenn die Frau mir nicht geholfen und ihn irregeführt hätte.“ 50
„Sie – hat ihn irregeführt?“ „Das sagte ich bereits.“ „Warum? Aus welchem Grunde?“ „Das weiß ich wirklich nicht.“ Einen Augenblick lang war es still. Dann fragte Zero: „Könnte es möglich sein, daß sie mit uns sympathisiert?“ „Nein“, antwortete ich, „das halte ich für ganz ausgeschlossen.“ „Vielleicht aber weiß sie etwas über die Persönlichkeit, die Sie augenblicklich darstellen“, sprach Zero dann nachdenklich, „und hat sich um diesen Mann geängstigt. Wahrscheinlich hätte Aneido mancherlei Unangenehmes entdeckt.“ „Das könnte sein …“ Erneutes Schweigen. „Es gibt übrigens noch mehr“, fuhr ich dann fort. „Sie hat herausgefunden, was mit all den Leuten geschah, die ihr Gedächtnis verloren haben. Man hat ihnen, erklärte sie offen, einfach einen Erinnerungsblock aufgezwungen.“ Ich hörte deutlich, wie Zero erregt atmete. „Und jetzt, 4/4, was sollen wir tun? Was raten Sie mir?“ Ich knurrte etwas vor mich hin. „Ich befürchte, daß heute nicht mein Tag ist, Ratschläge zu erteilen“, entgegnete ich schließlich. „Im Augenblick sehe ich nicht den geringsten Anhaltspunkt zum Weiterkommen.“ „Hören Sie einmal, 4/4 …“ Er unterbrach sich plötzlich, und ich wartete. „Können Sie diese Frau nicht zur Zentrale bringen?“ fragte er. „Vielleicht am Ende der nächsten Arbeitsschicht?“ „Was?!“ Ich fuhr zusammen. Zeros Stimme wurde plötzlich wild und gefühllos. „Ich weiß, daß dieser Auftrag ungewöhnlich ist. Doch wir scheinen einer Krise entgegenzugehen; da gibt es nur eine Lösung: Wir müssen unbedingt so handeln, wie die Umstände es erfordern. 51
Wenn wir die Frau bei uns hätten, wäre das für uns bereits ein großer Schritt vorwärts.“ Mein Atem flog immer rascher. „Was sollte das schon helfen? Die Pläne für diesen Apparat dürften sich wahrscheinlich an Dutzenden verschiedener Stellen befinden, und alle werden wir kaum bekommen. Was ist denn mit Aneido?“ „Aneido stellt gegenwärtig die kleinste unserer Sorgen dar“, unterbrach mich Zero. Nach einer Weile fuhr er fort: „Übrigens sind die Tests für den Prozeß Q bereits fertiggestellt. Die Sache ist gebrauchsfertig.“ „Prozeß Q?“ Ich runzelte die Stirn und fuhr mit dem Daumen über das „Com-Set“. „Das Wort ist mir neu. Was bedeutet es denn?“ Zero kicherte leise. Seine Stimme hatte etwas von ihrer Spannung verloren. „Das ist unser Weg zur Macht, 4/4. Vorerst noch allergrößtes Geheimnis.“ „Aber was …“ „Es wird den General ersetzen!“ Unwillkürlich umklammerte ich das „Com-Set“. „Zero! Soll das ein Witz sein?“ „Keineswegs.“ Er ließ das Wort förmlich auf der Zunge zergehen. „Wir haben keine andere Wahl mehr, 4/4, zumindest nicht nach dem, was Sie mir eben mitgeteilt haben. Folglich müssen wir General Aneido durch Prozeß Q behandeln. Er wird unser erstes Objekt sein, allerdings kein Versuchsobjekt!“ Wieder kicherte er. Ich suchte nach Worten. „Aber wie …“ „Sie wissen doch, wo er sich befindet?“ unterbrach er mich. „Natürlich. Neben seinem Appartement haben wir eine eigene Wohnung gemietet, von der aus wir ihn überwachen.“ „Gut. Dort kann man die Apparatur dann abstellen. Wir werden 9/7 nach Luna abkommandieren, damit er die technischen 52
Einzelheiten durchführt. Sie können ihn an unserer Geheimstation abholen.“ Ich ließ mich gegen die Wand zurücksinken. Jedes weitere Sprechen dünkte mir plötzlich als Zeitverschwendung. „Anschließend haben Sie den General ebenfalls zur Zentrale zu bringen“, fuhr Zero in seinen Anordnungen fort. „Seinetwegen möchte ich auch die Frau dort haben. Sie kann uns ihre Erfindung dann an ihm vorführen. Um unseren Plan durchzuführen, brauchen wir unendlich viele Informationen, und die meisten werden wir Aneido entziehen können. Außerdem, 4/4 …“ „Bitte?“ Zeros Stimme wurde plötzlich etwas menschlicher. „Diese Frau … Habe ich recht, wenn ich vermute, daß Sie sie schon früher einmal gekannt haben?“ Wieder fuhr ich zusammen. „Macht das denn etwas aus?“ „Ich glaube schon.“ Plötzlich war Zero nicht mehr mein harter Vorgesetzter, sondern mein Freund. Nichts mehr an ihm erinnerte an den unpersönlichen und harten, geschäftstüchtigen und intelligenten Zero, der die Angelegenheiten der Meks auf sämtlichen Planeten kontrollierte. „Wir brauchen Sie, 4/4, wir brauchen Sie leider, und zwar in ganz dringender Weise. Und ich weiß, 4/4, daß Sie sie noch immer lieben – und deshalb befinden Sie sich in Gefahr, fühlen Sie sich einer Versuchung ausgesetzt!“ Ich starrte das „Com-Set“ an, als ob ich den anderen vor mir habe. „Sie kennen mich offenbar sehr gut, Zero?“ „Ja, ich kenne Sie“, sprach er beinahe traurig. „Ich kenne Sie, weil ich mich selbst so gut kenne. Es war Ihr so ruheloser, abenteuerlustiger und doch so hartnäckiger Charakter, der uns beide zusammengebracht hat.“ „Das habe ich aber bis heute noch nicht bemerkt“, stellte ich trocken fest. 53
„Und doch ist es der Fall, 4/4. Deshalb möchte ich nicht nur befehlen, sondern Sie auch bitten, Ihre Aufgabe zu erfüllen. Wir können uns keinen Ausfall leisten – nicht jetzt, da wir uns dem Siege so nahe befinden.“ Er räusperte sich, und seine Stimme wurde noch freundlicher. „Die Arbeit, die Sie für die Gesellschaft leisteten, wird Ihnen niemals vergessen werden. Und wenn diese Frau, Ihre Liebe, sich hier befindet, hindert Sie nichts, immer bei ihr zu bleiben. – Damit ist also alles erledigt, 4/4, nicht wahr?“ fuhr Zero fort. „Der Prozeß Q wird bei General Aneido angewandt Anschließend haben Sie ihn und die Frau zum Hauptquartier zu bringen!“ Sein Ton war wieder barsch und befehlend geworden. Ich blickte in die Tiefe des Ganges und folgte mit den Augen der endlosen Reihe von Lichtern. Die Stille wurde mir langsam unheimlich. Das „Com-Set“ summte. „Ist alles klar, 4/4?“ fragte Zero. „In Ordnung“, antwortete ich einfach. Noch lange blieb ich sitzen und starrte wie gebannt auf die grünen Lampen.
8. Kapitel Eine Zahnradbahn donnerte in das Stationsgebäude. Die Räder ratterten, und die Gitter senkten sich nach unten. Lachend, einander fröhliche Worte zurufend, verließen die Bergleute ihre Fahrzeuge. Es waren breitschultrige, starke Männer, die sich nach der Schicht hier im Bahnhofsrestaurant zusammengefunden hatten. Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Die Züge rasten zu den Mare-Nubium-Feldern und den Leibnitzbergen oder kamen von dort zurück; sie jagten in die Schickard-Gegend und auch nach Süden in das Gebiet des Lacus Somniorum. Ich lehnte mich auf meinem Sitz etwas zurück und streckte 54
meine Glieder. Dabei beobachtete ich unauffällig den Straßenausgang D. Kein Mensch beachtete mich. Blaue Narben im Gesicht und Arbeitskleidung waren viel zu alltäglich, um hier irgendwie aufzufallen. Neue Menschen erschienen auf den Straßen. Vor allem waren es Bergarbeiter, die zur Arbeit fuhren, Mädchen, die aus den Geschäften kamen, und ein oder zwei Raumfahrer. Eines der Mädchen löste sich aus der Menge und blieb eine Weile stehen, um sich prüfend umzublicken. Es war ein großes Mädchen mit lohfarbenem Haar. Ich erhob mich und ging langsam auf sie zu. Es war Narla Cherritt. Stirnrunzelnd blickte sie auf die Passanten, während ich mich neben sie stellte, als ob ich gleichfalls jemand erwarte. Sie warf mir einen raschen Blick zu und trat dann einen Schritt zur Seite. „Zero!“ sagte ich sehr leise. Wie gebannt umklammerten ihre Hände die kleine Tasche. Das war ihre einzige Reaktion. Sie warf mir nicht einmal einen Blick zu. „Wen suchen Sie?“ erkundigte ich mich. „Einen – einen dicken Mann – untersetzt und mit wässrigen Augen!“ „Meinen Sie John Raines?“ „Ja.“ Ihre Lippen bebten. „Wo ist er? Ich muß ihn unbedingt finden.“ „Warum denn?“ „Er – er soll hier meinen Verbindungsmann treffen!“ „Hat dieser Mann Sie an seiner Stelle geschickt?“ „Nein; er weiß nicht einmal, daß ich mich hier befinde.“ „Was?!“ „Ich sage die Wahrheit, wirklich! Raines, John Raines, hat einmal versucht, mir zu helfen – und nun …“ 55
Sie unterbrach sich, und ihr Mund verzog sich in stummer Verzweiflung. Ihre Hände waren schneeweiß, während sie ihr Handtäschchen hin- und herzerrte. „Raines ist bis jetzt nicht eingetroffen“, antwortete ich ruhig. „Wenn etwas nicht in Ordnung sein sollte, sagen Sie es mir ruhig.“ Endlich wandte sich ihr Kopf mir zu. Sie sah mich an – mit einem langen, fragenden Blick. Sie war so blaß, daß ich fürchtete, sie würde ohnmächtig werden. Sie flüsterte: „Mein Verbindungsmann hat Raines bei der Sicherheitspolizei angezeigt. Die Leute müssen jeden Augenblick hier sein!“ „Und Sie sind ein ‚Mek’“, sagte ich bitter. „Auch wenn Heffner uns verrät, werden Sie die Dinge immer noch zugunsten der Gesellschaft erledigen!“ „Nein! Das ist es nicht!“ Tränen traten in ihre Augen, und sie senkte rasch den Kopf. „Ich bin kein ‚Mechaniker’. Jetzt nicht mehr. Das alles tue ich nur für Herrn Raines, denn er hat mir einmal geholfen. Wenn Heffner das alles herausfinden sollte, werde ich erst recht in Schwierigkeiten geraten.“ Ich antwortete nichts und konnte es auch gar nicht. Ich dachte nur an diesen komischen, kleinen und fetten Mann, der mir einmal gesagt hatte, daß er nicht gleichzeitig ein „Mechaniker“ und ein Mensch sein könnte. Plötzlich erkannte ich, daß er recht hatte. Man konnte nicht gleichzeitig die Ziele der „Gesellschaft“ und der Menschlichkeit verfolgen. Schließlich begann ich zu sprechen. „Ich werde Raines berichten, daß …“ Ich unterbrach mich, denn das Mädchen hielt den Atem an. Ich wandte mich und folgte mit den Augen ihrem Blick. Wie gebannt starrte sie auf uniformierte Sicherheitspolizisten, die durch den Ausgang in die Station kamen. „Haben Sie doch keine Angst“, sprach ich beruhigend. „Sie 56
suchen nach einem kleinen und fetten Mann namens Raines. Um uns werden sie sich nicht kümmern!“ Die uniformierten Männer besetzten sämtliche Aus- und Eingänge und bildeten eine Kette. Gleichzeitig wurde über die Lautsprecher eine Anordnung durchgegeben: „Achtung, Achtung! Wir bitten alle Anwesenden, ihre gegenwärtigen Plätze nicht zu verlassen und sich für eine Personalienkontrolle bereitzumachen.“ Das Mädchen warf mir einen bangenden Blick zu. „Vor Beendigung der Kontrolle hat keiner die Station zu verlassen“, fuhr der Lautsprecher fort. Ich durchsuchte die Taschen meines Arbeitsanzuges. Ich fand ein Taschentuch, ein Messer, einen Bleistiftstummel und einige zerknitterte Banknoten und verschiedene Münzen, doch kein einziges Ausweispapier. Die Männer der Sicherheitspolizei begannen, die Leute in kleine Gruppen einzuteilen. Auf uns kam ein Korporal zu, der von zwei Uniformierten begleitet war. Rasch wandte ich mich Narla Cherritt zu. Ohne die Lippen zu bewegen, fragte ich fast lautlos: „Sagen Sie mir rasch, ob Heffner Ihr einziger Verbindungsmann war, oder gab es noch einen anderen, der wußte, daß Sie eine ‚Mek’ sind?“ Ihre Lippen waren vollkommen farblos, als sie antwortete: „Nein, Heffner, war der einzige, der Bescheid wußte.“ „Dann überlassen Sie alles mir; geben Sie nichts zu!“ flüsterte ich. Inzwischen waren die Leute der Sicherheitspolizei näher gekommen. Der Korporal zischte uns an: „Los, ihr beiden! Zeigt eure Papiere!“ Während Narla in ihrem Handtäschchen herumsuchte, trat ich einen Schritt zurück und stellte mich empört. „Was ist denn eigentlich los? Darf man sich denn nicht einmal mehr mit einem Mädchen verabreden, ohne daß ihr gleich dazwischentretet und euch einmischt?“ 57
„Erzähle keinen Blödsinn!“ erwiderte der Korporal und griff nach meiner Hand, während die beiden anderen mich durchsuchten. „Du hast also keine Papiere?“ fragten sie dann höhnisch. „Nehmt ihn mit!“ befahl ihr Vorgesetzter, nachdem er mich ohne Erfolg abgetastet hatte. „Und was ist mit dem Mädchen?“ fragte einer der beiden. „Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein.“ „Sie befand sich doch in seiner Gesellschaft, nicht wahr? Also kommt sie mit!“ „Bitte, nur einen Augenblick“, hatte ich einzuwenden und versuchte, mich aus dem harten Griff der Polizisten zu befreien. Doch der Korporal versetzte mir einen Faustschlag, daß ich gefallen wäre, wenn seine beiden Begleiter mich nicht gehalten hätten. „Los!“ sagte er einfach, und man führte uns durch die Absperrung, bis wir schließlich eine Stelle erreichten, an der eine ganze Reihe schwerer Gefangenenwagen parkte – es war in unmittelbarer Nähe der Haltestelle für Bahnfahrzeuge. In dem Wagen wartete bereits ein gutes Dutzend Leute mit traurigen Gesichtern – Diebe und Spitzbuben wahrscheinlich, die bei der Razzia ertappt worden waren und nun mehr als bestürzt der Zukunft entgegensahen. „Zwängt euch zwischen dieses Gesindel!“ fuhr einer der Polizisten mich an. „Los!“ Ich griff in meine Tasche, holte ein Tuch hervor und wischte über die schweißnasse Stirn. „Wollen Sie jetzt endlich machen, daß …“ „Ich gehe ja schon.“ Ich steckte das Taschentuch zurück, drängte mich unter die anderen Gefangenen, und gleichzeitig sagte ein Offizier: „Das genügt für diese Ladung. Fahrt los, Jungens!“ Er warf uns Gefangenen einen drohenden Blick zu. „Daß mir keiner von euch Burschen Dummheiten macht!“ warnte er. „Oben auf dem Dach befindet sich ein Wächter, der bei jedem Fluchtversuch ohne Anruf schießen wird.“ 58
Er sprang ab, und die Tür schloß sich mit einem Knall. Mühelos preßte ich mich durch die Leute, bis ich das Mädchen erreicht hatte. „Hat er Ihren Ausweis behalten?“ fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Dann halten Sie sich bereit.“ Langsam fuhr unser Wagen an; gleichzeitig hörte ich, wie sich nebenan auch ein Zug in Bewegung setzte. Ich holte mein Taschenmesser hervor und öffnete die kleine Klinge. Dann trat ich auf unseren Wächter zu, der an der Tür lehnte. „Was ist denn eigentlich los?“ fragte ich, während ich unauffällig die Messerklinge in den Türspalt schob. Ich hegte nur den einzigen Wunsch, daß mein Plan sich verwirklichen lasse. „Es scheint Schwierigkeiten zu geben“, antwortete der Mann, „und wenn mich nicht alles täuscht, kommen sie von den ‚Meks’.“ „Aber wir sind doch keine ‚Meks’!“ behauptete ich. „Das brauchen Sie nicht mir zu sagen; besser wäre es, wenn Sie es im Hauptquartier beweisen könnten.“ Ich fühlte, wie mein Messer auf Widerstand stieß, verstärkte den Druck – und dann sprang der Riegel zurück. Mein Atem ging schwer, aber durch das Rattern des nebenan fahrenden Zuges war das von mir verursachte Geräusch nicht zu vernehmen. „Narla!“ Sie sah mich an, und ich warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann gab ich der Tür einen heftigen Tritt. Sie sprang auf, und der an ihr lehnende Wächter stürzte schreiend hinaus. Noch ehe er sich bewußt geworden war, was eigentlich geschah, war ich ihm nachgesprungen. Er versuchte, sich zu erheben, doch durch einen heftigen Schwinger warf ich ihn zurück. Dann sah ich mich um. Narla Cherritt hatte gleichfalls die Gelegenheit wahrgenommen und war abgesprungen. Neben uns fuhr der Zug – nicht allzu schnell, so daß wir die Möglichkeit hatten, uns auf seine 59
Lokomotive zu schwingen. Der auf dem Dach des verlassenen Wagens stehende Wachmann wußte nicht, was er tun sollte; alle Gefangenen nahmen die Gelegenheit wahr, die Flucht zu ergreifen. Dazwischen befanden sich einige Wächter; wenn er geschossen hätte, wären seine Kameraden ebenso gefährdet gewesen wie die Fliehenden. Fassungslos hatte der Lokomotivführer von seinem Sitz aus der Szene zugesehen. Mit drohend geschwungenem Taschenmesser trat ich auf ihn zu. „Mit dieser langsamen Spazierfahrt ist es jetzt vorbei“, warnte ich. „Geben Sie Volldampf, aber schnell!“ Der Mann gehorchte, wir jagten davon, hielten es an der nächsten Kurve aber für besser, abzuspringen. Mühelos erreichten wir die Straße, benutzten dann hintereinander verschiedene Autotrams und fühlten uns erst sicher, als wir das Quiverna erreicht hatten. Narla Cherritts Gesicht war blaß und müde. Sie sah das Gebäude an, als ob es das Paradies sei. Schließlich sagte sie hastig und ein wenig stotternd: „Ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll …“ „Seien Sie ganz still!“ bat ich und öffnete die Tür des Autotrams. „Für mich wird es jetzt Zeit, daß ich mir eine andere Beschäftigung suche.“ „Der Meinung bin ich auch.“ Sie verließ hastig das Fahrzeug. „Noch eines möchte ich sagen“, bemerkte ich. „Machen Sie sich Heffners wegen keine Sorgen. Er wird Sie niemals mehr belästigen.“ Sie sah aus, als ob Tränen in ihren Augen ständen, doch das Licht konnte mich getäuscht haben. Ich fuhr weiter. Am nächsten öffentlichen Fernsprecher unterbrach ich die Fahrt und wählte Heffners Nummer. Bereits nach wenigen Sekunden war er am Apparat. 60
„Hören Sie, Herr Heffner, hier ist das Hauptquartier der Sicherheitspolizei“, sagte ich. „Dieser Raines ist uns ins Netz gegangen. Kommen Sie doch bitte gleich vorbei, um ihn zu identifizieren!“ Eilig hängte er auf. Im Autotram fuhr ich zur QuivernaHaltestelle und ließ dort das Fahrzeug stehen, während ich mich selbst in meinen eigenen Wagen setzte, den ich kürzlich nach dem Kleiderkauf hier untergestellt hatte. Zwei Minuten später tauchte Heffner auf und setzte sich in den Autotram, den ich eben verlassen hatte. Ich wartete, bis er Platz genommen hatte, und rollte dabei den Pulsator in meinen Händen hin und her. Heffner warf mir nicht einmal einen Blick zu. Er wollte eben starten, als ich hastig auf ihn zueilte. Erstaunt sah er mich an. „Was ist denn los?“ fragte er. Ich drängte mich einfach neben ihn und sah, wie er erschrak. „Ich bringe Ihnen ein kleines Geschenk von Narla Cherritt“, erklärte ich, wartete, bis die Angst aus seinen Augen leuchtete, und drückte dann den Pulsator gegen ihn.
9. Kapitel „Wir sind bereit, Herr Heffner“, sagte 9/7. Im Spiegel betrachtete ich mein neues Gesicht. Es war Heffners Gesicht: derselbe kahle Kopf, die kleinen schwarzen Augen und die müden, faltigen Züge. Dieses Gesicht gehörte nun mir, zumindest für eine Weile. 9/7 räusperte sich. „Herr Heffner …“ „Ja, ich habe gehört.“ Müde grinste ich mich im Spiegel an und wandte mich dann den zahlreichen Apparaten zu, die in Heffners Schlafzimmer aufgestellt waren. Die Möbel hatten wir zurück an die Wand geschoben, um dafür einem etwa sieben Fuß langen Tank und einer Reihe klei61
nerer Kasten und Dosen Platz zu machen, die mit dem ersten in Verbindung standen. Neben den vielgestaltigen Geräten stand eine metallische Kiste, die irgendwie an einen Sarg aus dem 20. Jahrhundert erinnerte. Die Wand, die an Aneidos Schlafzimmer grenzte, war jetzt mit einer Vielzahl von Hebeln und Griffen versehen, deren Bedeutung mir unbekannt war. Außerdem waren so viele Drähte aufgespannt, daß wir mit ihnen hätten mühelos das ganze Haus umwickeln können. „Ich weiß natürlich“, sagte ich, „daß die technische Seite dieser ganzen Angelegenheit nicht zu meinem Sachgebiet gehört; außerdem gebe ich gern zu, daß ich nicht das geringste davon verstehe. Trotzdem hätte ich gern gewußt, wie die Dinge sich abspielen sollen.“ Der Mund von 9/7 verzog sich etwas, als ob er ein leichtes Lächeln andeuten wollte. „Aber gern, Herr Heffner. Wenn wir soweit sind, will ich Ihnen die erforderlichen Erklärungen geben.“ Er handhabte die Drähte mit unvorstellbarer Sicherheit, und es war ihm anzusehen, daß er zuvor sehr eingehend unterrichtet worden war. Dabei war es ein Vergnügen, ihm zuzuschauen. Obwohl er unablässig in Bewegung war, blieb sein Anzug korrekt und ordentlich; jedes einzelne Haar seiner Frisur befand sich an seinem Platz. „Zunächst haben wir hier einen Hypnojector“, begann er zu sprechen. „Haben Sie ihn jemals in Ihrem Leben benutzt?“ Ich verneinte. „Sie werden die Sache mit Leichtigkeit verstehen.“ Er begab sich an einen Schalter und drehte ihn um. Der Bildschirm des Perceptoskops erhellte sich. Wieder sah man in das Nebenzimmer. General Aneido saß auf demselben Stuhl, den er bereits benutzt hatte, als ich seine Unterhaltung mit Maurine belauschte. 62
9/7 trat an den anderen Apparat. „Seien Sie jetzt bitte ganz stil!“, bat er. Er legte einen Hebel herum, und ein leises Brummen wurde laut. „Wir müssen ganz vorsichtig sein“, flüsterte 9/7 mir zu, „weil er sonst aufmerksam wird.“ Ich nickte. Auf dem Bildschirm sah ich Aneido, der sich in die Lektüre irgendeines Dokumentes vertieft hatte. 9/7 drehte an einem weiteren Griff, und ein weiterer Bildschirm leuchtete auf. Ich blinzelte. Zunächst war nichts zu erkennen; dann war etwas Flimmerndes, Unklares zu erblicken. 9/7 deutete lächelnd auf den ersten Bildschirm. Aneido zwinkerte und rieb sich die Augen. Wieder drehte 9/7 an einem Schalter, und das Brummen wurde lauter. Aneidos Augen zuckten, und er schüttelte den Kopf. Dann senkten sich seine Lider und blieben geschlossen, Langsam sank sein schweres Kinn auf die Brust. 9/7 drehte an einem weiteren Knopf, hob einen Griff und flüsterte dann in eine Art Mikrophon: „Schlafen Sie, Aneido! Schlafen Sie! Schlafen! Ein Schlaf überkommt Sie, ein Schlaf, der so tief ist, daß Sie nicht aufwachen können!“ Ich starrte auf den Bildschirm. Der General schien sich geradezu in seinen Stuhl zu verkriechen. 9/7 sprach unbeirrt weiter: „Sie können nicht aufwachen, Aneido. Sie können ganz einfach nicht. Sie haben noch niemals so tief geschlafen. Jetzt können Sie nicht einmal mehr die Hand heben. Versuchen Sie, eine Hand zu heben!“ Die rechte Hand des Generals zuckte. Sein Körper krümmte sich, aber er hob die Hand nicht hoch. „Ein so tiefer Schlaf“, murmelte 9/7 weiter. „So tief, so tief. Ihre Muskeln sind wie Wasser.“ Aneidos Kopf legte sich auf eine Seite. Sein schwerer Körper sah beinahe komisch aus. „Versuchen Sie doch, die Hand zu heben, Aneido! Versuchen Sie es, geben Sie sich Mühe! Jetzt aber können Sie es!“ 63
Ich sah, wie Schweißbäche über die Stirn des schweren Mannes liefen. Sein Körper taumelte. Dann hob er langsam die rechte Hand. „Versuchen Sie, aufzustehen, Aneido! Versuchen Sie es!“ Aneido preßte sich gegen die Rückenlehne. Seine Backenknochen zeichneten sich scharf ab. Wie eine zum Leben erwachende Statue erhob er sich vom Stuhl, um dann schwankend stehenzubleiben. „Öffnen Sie die Augen, Aneido!“ Die schweren Lider hoben sich. Die Augen sahen glasig ins Leere. „Aneido, Hören Sie aufmerksam zu!“ 9/7 sprach sehr eindringlich. „Die ‚Somex’ hat einen neuen Plan ausgearbeitet, den Sie so leicht nicht zerschlagen können. Im nächsten Appartement aber befindet sich jemand, der Ihnen darüber Auskunft geben und Ihnen helfen kann. Gehen Sie hin zu ihm! Hören Sie ihm genau zu und befolgen Sie seine Befehle. Begeben Sie sich sofort in die nebenan liegende Wohnung 733. Wenn Sie diesem Befehl nachkommen, können Sie die ‚Mechaniker’ für immer vernichten.“ 9/7 warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, sprach aber weiter: „Sie werden mächtig sein, mächtiger, als Sie es sich jemals erträumt haben. Gehen Sie, gehen Sie in das Appartement 733. Die Tür ist geöffnet.“ Aneido bewegte sich bereits. Schnaufend, mit glänzenden Augen, den Kopf zwischen die schweren Schultern gezogen, stampfte er der Tür seiner Wohnung zu. 9/7 fuhr herum. „Rasch, öffnen Sie die Tür!“ Ich eilte in das Wohnzimmer, öffnete die Tür und stellte mich hinter sie. Ich sah Aneido in der Halle erscheinen. Mit automatenhaften Schritten ging er an mir vorbei in die Wohnung. „Hierher, Aneido“, sagte 9/7 ruhig. Er deutete auf das Schlafzimmer. „Hierher!“ 64
Wie ein Hund gehorchte ihm der General. 9/7 erreichte den Metallsarg und hob dessen Deckel. „Legen Sie sich hier hinein!“ Schwankend blieb Aneido unter der Tür stehen. Sein schwerer Kopf bewegte sich hin und her. „Nach hier, Aneido!“ sagte 9/7 scharf. „Vorwärts!“ Plötzlich richtete Aneido sich auf, das Schwanken hörte auf, und der Kopf warf sich etwas zurück. Er hob die rechte Hand. „Ein andermal, Mek, ein andermal!“ antwortete er höhnend. Er sagte es ganz ruhig, mit derselben ruhigen Stimme, die ich bereits kannte. Aus ihr klang eiserner Wille. Ich hatte es nicht nötig, sein Gesicht zu sehen oder die Pistole, die er in der Hand hielt. Diese Stimme und die plötzlich grauwerdenden Lippen von 9/7 sagten mir genug. „Ja, diese Meks!“ spottete Aneido. „Das sind Leute …“ Der Adamsapfel von 9/7 stieg auf und ab. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Ich holte meinen Pulsator aus der Tasche und trat leise hinter der Tür hervor. Dabei bemühte ich mich, nicht zu laut zu atmen. „Die Sicherheitsbehörden kennen diese hypnotischen Methoden schon seit Jahresfrist“, sagte der General. „Wir haben uns das alles vordemonstrieren und uns so behandeln lassen, daß wir bereits im Schlaf wußten, wie wir gegebenenfalls zu reagieren hatten.“ Die Augen von 9/7 flackerten. „Ich glaube, mir wird übel“, sagte er und lehnte sich an den Metallkasten. Unhörbar huschte ich nach vorn. Aneido warf 9/7 einen prüfenden Blick zu. „Sie sind doch Gervault, nicht wahr? Doktor Hercule Gervault, der einmal bekannt war als der größte Biochemiker der Venuskolonie – bis er dann spurlos verschwand?“ Er schüttelte den massigen Kopf. „Es ist mir unverständlich, wie diese blödsinnige Gesellschaft der Mechaniker es fertigbringen kann, Männer Ihrer Art zu veranlassen, ihr Leben einfach wegzuwerfen.“ 65
Das Gesicht von 9/7 war grau wie das einer Maske. „Um Himmels willen“, begann er, wurde aber von Aneido sofort unterbrochen. „Lassen Sie den Himmel aus dem Spiel“, sagte er scharf. „Die Mechaniker glauben doch nicht an Gott!“ Ich machte einen weiteren Schritt nach vorn. Ich befand mich Aneido nun schon sehr nahe, fast nahe genug. „Sie haben Angst, Gervault, und das ist falsch. Als freier und lebender Mensch können Sie mir bedeutend mehr nützen als in einer Zelle, Sie müssen sich nur entschließen, mir alles zu sagen.“ Wieder machte ich einen Schritt. „Auch Ihr Freund hinter mir könnte seinen Hals retten, Gervault“, sagte Aneido. „Ein Platz bei mir ist immer noch besser als ein Grab.“ Meine Muskeln zogen sich zusammen. Aneido sprang plötzlich zur Seite und drehte sich um. Er handelte bedeutend schneller, als ich es von einem Koloß seiner Art erwartet hätte. Seine Pistole bedrohte jetzt auch mich. Blitzschnell begann ich zu überlegen. Und in diesem Augenblick ließ 9/7 den Deckel des Metallsarges krachend niederfallen. Hierdurch entstand ein so plötzlicher und unerwarteter Lärm, daß Aneido zusammenzuckte und herumfuhr. Diese sekundenlange Unachtsamkeit aber genügte. Ich berührte ihn mit dem Pulsator. Er fiel um wie ein gefällter Baum. Mit zitternden Knien lehnte ich mich gegen die Tür. Ich war so erregt, daß mir um ein Haar der Pulsator zu Boden gefallen wäre. 9/7 raste ins Badezimmer. Er hatte nicht übertrieben, als er erklärte, daß ihm übel werde. Als er zurückkehrte, sah er ebenso ordentlich und sauber aus wie immer. Nichts von der vergangenen Erregung war ihm mehr anzusehen. Er sah auf Aneido hinab, als ob dieser eine biologische Seltenheit sei. 66
„Das hätten Sie lieber nicht tun sollen, 4/4“, tadelte er schließlich. Ich musterte ihn erstaunt. „Was hätte ich nicht tun sollen?“ „Sie hätten auf die Benutzung des Pulsators verzichten müssen. Ich weiß nicht, welche Auswirkung diese Behandlung auf den Prozeß Q haben wird.“ Ich konnte ihn nur anstarren, doch er tat, als ob er meine Erregung nicht bemerke. „Wir wollen uns jetzt an die Arbeit begeben. Schließen Sie zunächst einmal die Außentür!“ Ich gehorchte. Als ich zurückkehrte, war er eben dabei, Aneido zu fesseln. Gemeinsam legten wir den Mann in die Metallkiste. 9/7 gab ihm die erforderliche Lage, schloß dann den Deckel und begann seine Manipulationen an verschiedenen Hebeln und Griffen. „Wissen Sie eigentlich, was ein Storchschnabel ist?“ fragte er. Seine Stimme klang trocken und sachlich. „Handelt es sich um jene Apparate, mit denen man Landkarten vergrößern oder verkleinern kann – durch Reproduktion?“ „Genau das meine ich“, nickte 9/7. „Und diese Maschine ist etwas Ähnliches – mit dem einen Unterschied, daß durch sie Zellen, lebende Zellen reproduziert werden.“ „Das verstehe ich nicht“, gestand ich offen. Er lachte und meinte, daß die Maschine von den meisten Menschen nicht verstanden würde. „Was aber wollen Sie machen?“ erkundigte ich mich. „Ich versuche eben, einen zweiten Aneido herzustellen!“ „Einen zweiten Aneido herzustellen?“ wiederholte ich fassungslos. „Sie sagen es.“ Er deutete auf das große, tankähnliche Instrument. „Damit wird es möglich sein.“ Ich sah erst den Tank und dann wieder 9/7 an. Dann ging ich an ein Bett und ließ mich einfach niederfallen. „Kronkites Theorie stellt so etwas wie den Schlüssel zu dem 67
Experiment dar“, begann 9/7 und ließ eine lange, biologische Erklärung vom Stapel. Nach einer Weile unterbrach er sich und fragte: „Können Sie mir folgen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich verstehe kein Wort, aber fahren Sie ruhig fort. Das alles hört sich sehr eindrucksvoll an.“ 9/7 preßte ärgerlich die Lippen aufeinander und begann, am Deckel des Metallsarges zu arbeiten. Dabei sprach er weiter, aber nach seinem Gesichtsausdruck schien er verstimmt zu sein. Doch er redete verbissen weiter. Schließlich unterbrach ich ihn. „Das, was ich Ihnen jetzt sagen möchte“, warf ich ein, „dürfte Sie überraschen. Zunächst glaube ich, Sie verstanden zu haben, zumindest in den gröbsten Zügen. Und deshalb will ich eine Frage stellen: Was wollen Sie mit einer Kopie des Generals beginnen, wenn dieser laienhafte Ausdruck angemessen ist? Ein Aneido ist nach meiner Überzeugung schon schlimm genug. Wozu brauchen wir einen zweiten?“ 9/7 lehnte sich zurück und wandte sich mir wieder zu. „Würde es Sie beruhigen, wenn ich Ihnen versichere, daß die Kopie nicht in jeder Beziehung dem Original entspricht?“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Gegenwärtig gibt es in Aneidos Kopf bestimmte Zellen, die uns und unseren Bestrebungen abgeneigt sind, und einige wenige, die ihnen zustimmen.“ „Vermutlich“, nickte ich. 9/7 verzog die Mundwinkel spöttisch, doch er brachte kein richtiges Lächeln zustande. Seine Stimme klang nun erregt. „Wir werden unserer Kopie durch ein bestimmtes Verfahren das Gehirn eines ‚Mechanikers’ geben. Diese Kopie wird Aneidos ganze Persönlichkeit und seinen Charakter besitzen, doch mit seinen Sympathien wird er auf der Seite unserer Gesellschaft stehen.“ Eine lange Zeit blieb ich schweigend sitzen. Das Zimmer 68
schien mich zu erdrücken, die Drähte verwirrten mich, und das grelle Licht störte meine Augen. Ich hörte kaum zu, als 9/7 wieder zu sprechen begann: „Überlegen Sie das einmal, Herr Heffner, bedenken Sie bitte: der oberste Chef der Sicherheitspolizei als Mitglied der ‚Mechaniker-Gesellschaft’!“ Er nickte bekräftigend. „Und das soll erst der erste Schritt sein. Nach und nach aber werden wir in alle Schlüsselstellungen eindringen und die dort tätigen Persönlichkeiten durch unsere eigenen Leute ersetzen.“ „Womit das Ende der menschlichen Rasse gekommen sein dürfte“, warf ich düster ein. „Wie bitte?“ 9/7 fuhr zurück, als ob ich ihm einen Schlag versetzt hätte. Ich wiederholte meine Worte. „Das ist es, wovon Aneido und alle Tyrannen der Welt von Anbeginn geträumt haben. Diese Erfindung hier“, ich deutete auf den Apparat, „ist noch schlimmer als Maurines Instrument. Durch dieses werden nur die Gedanken gezeigt; Ihr Apparat aber tötet diese, noch ehe sie geboren wurden.“ 9/7 hatte sich steif aufgerichtet, Auf seinen Wangen zeichneten sich rote Flecken ab, die seinen Ärger erkennen ließen. „Ich glaube nicht, daß Zero über Ihre Worte sehr erfreut wäre, Herr Heffner“, sprach er leise. „Sie kennen doch die Gegnerschaft, die zwischen den beiden Machtgruppen der Welt seit unendlich langer Zeit besteht: die Gesellschaft der Mechaniker widmet sich allein der Wissenschaft und Forschung, während Regierung und Behörden das Verbreiten des Wissens verhindern – mit Unterstützung des plumpen Pöbels. Und aus diesem fortwährenden Kampf muß eine Partei einmal als Sieger hervorgehen, und daß wir diese Sieger sind, dürfte Ihnen doch klar sein.“ Ich stand auf und ging auf die Tür zu. „Sie brauchen es gar nicht versuchen, mich zu überzeugen“, brummte ich. 69
Die Nasenflügel von 9/7 zitterten. „Wenn Sie sich mir nicht mit ganzer Kraft als Mitarbeiter zur Verfügung stellen, wird Zero noch davon zu hören bekommen!“ drohte er. Ich sah ihn ruhig an. „Fahren Sie ruhig fort. Sobald wir das Hauptquartier erreicht haben, wird Zero noch mehr von mir zu hören bekommen, als ihm wahrscheinlich lieb sein dürfte. Halten Sie sich also an Ihre Arbeit. Je rascher wir fertig sind, um so schneller können wir starten. Außerdem benötige ich meine Zeit, um Doktor Burton zu holen.“
10. Kapitel Ich rückte mein Glas auf dem Bartisch hin und her – so lange, bis ich es dicht vor mich hingeschoben hatte. Dann nahm ich einen Schluck und begann dasselbe Spiel von neuem. Jemand warf ein Geldstück in den Musikautomaten. Eine Frauenstimme begann, ein Lied zu singen und wurde von einem Chor begleitet. „Es gibt eine Frau für jeden Mann …“ sang die Stimme. „Das ist es, was Sie brauchen, mein Freund“, sagte ein neben mir stehender Gast. „Sie sollten sich eine Freundin suchen!“ „Halt doch den Mund!“ mischte sich der Bartender in das Gespräch. „Dieser Herr hier hat Unannehmlichkeiten gehabt. Darf ich noch einmal einschenken?“ wandte er sich an mich, und ich nickte mit schwerem Kopf. Der Mixer füllte mein Glas und sagte dazu: „Wenn Sie sich einer Frau wegen Sorgen machen, Herr, dann lassen Sie sich sagen, daß sie es gewiß nicht wert ist. Keine Frau ist es wert, daß ein Mann sich ihretwegen den Kopf zerbricht. Glauben Sie mir, ich bin ein erfahrener Bursche.“ „Sie haben recht, verflucht noch mal!“ knurrte ich. „Sie trinken zu schnell!“, mahnte jener. Er entfernte sich, um einen anderen Gast zu bedienen. Ich sah auf die Uhr. In zwei 70
Stunden sollten wir uns ins Hauptquartier begeben. Wieder einmal versuchte ich, Maurine durch einen Anruf zu erreichen, doch es war vergeblich. Dann telefonierte ich mit ihrem Büro. Dort antwortete eine männliche Stimme: „Ihre Arbeitsschicht ist zu Ende; vielleicht versuchen Sie einmal, Doktor Burton in der Wohnung anzurufen.“ Wütend knallte ich den Hörer auf und verlangte einen neuen Drink. Der Bartender behauptete, daß ich genug habe, und weigerte sich, mich zu bedienen. Mit einem Fluch verließ ich das Lokal. An der nächsten Straßenecke befand sich eine Fernsprechkabine. Vielleicht zum zwölften Male verband ich mich mit Maurines Wohnung. Diesmal antwortete eine Männerstimme in einem sehr amtlichen Tonfall. „Wer spricht denn da?“ Ich legte den Hörer einfach auf und eilte zum nächsten Autotram. Wenige Minuten später hatte ich Maurines Haus erreicht. Vor diesem standen Fahrzeuge mit Angehörigen der Sicherheitspolizei. Ich stand noch da und überlegte meine nächsten Schritte, als ich sah, wie zwei Polizisten kamen. Caudel ging zwischen ihnen. Einer der Sicherheitsmänner sagte: „Ich bin jetzt beinahe sicher, daß sie eine ‚Mek’ ist. Er befand sich doch oben in ihrer Wohnung.“ Erst, als Caudel eifrig nickte, merkte ich, daß sie nicht über ihn, sondern von Raines sprachen. „Ich hegte schon längst diesen Verdacht“, behauptete Fred Caudel. „Sicher aber wurde ich, als ich sie mit diesem Raines zusammen sah.“ „Sie können wetten, daß sie eine ‚Mek’ ist!“ rief aus Maurines Wohnung eine schrille Frauenstimme. „Sie steckt mit diesem verteufelten Raines unter einer Decke. Monatelang haben die beiden mit uns gespielt.“ 71
Ich ging kühn und in stiller Selbstverständlichkeit an Maurines Wohnung vorbei und warf einen Blick durch die geöffnete Tür. Die wütende Stimme gehörte Raines’ Sekretärin. Ein Mann von der Sicherheitsbehörde fuhr sie gerade an: „Jetzt habe ich aber genug von Ihrem Gekeife. Wir werden Sie später noch verhören; im Augenblick aber interessiert uns nur diese Burton. Wir wollen einen Fahndungsbefehl erlassen.“ Ich stieg die Treppe wieder hinab, suchte mir einen Fernsprechapparat und rief von dort aus 9/7 an. „Wo bleiben Sie denn, 4/4?“ fragte er wütend. „Es ist gleich soweit.“ „Die Frau befindet sich in Schwierigkeiten“, berichtete ich ihm. „Jemand hat sie bei der Sicherheitspolizei denunziert – als eine von uns.“ „Aber sie gehört doch gar nicht zu uns!“ „Diese Tatsache hat die Polizei nicht daran hindern können, einen Steckbrief hinter ihr loszulassen. Sie behaupten, daß sie mit einem unserer Leute, einem dicken Mann namens Raines, davongelaufen sei.“ „Ach, 4/4 …“ „Sie sagten?“ „Vielleicht ist sie das auch.“ „Das möchte ich doch sehr bezweifeln.“ „Aber es wäre immerhin möglich?“ „Glauben Sie? Hören Sie mich an: Zunächst einmal verachtet sie diesen Raines. Außerdem habe ich den Mann vor nicht zu langer Zeit in einem leeren Tank zurückgelassen!“ Ich nickte heftig, als ob er mich sehen könnte. „Soviel ich weiß, kann er sich von dort so leicht nicht befreien.“ 9/7 schien zu überlegen. Dann fragte er: „Was schlagen Sie denn vor, 4/4?“ „Ich habe meine Anordnungen erhalten. Zero will, daß ich sie zu ihm bringe – und ich werde sie ihm bringen!“ 72
„Hören Sie, 4/4, Zero hat mir von Ihren Beziehungen zu dieser Frau erzählt.“ Ich blieb stumm. „Außerdem hat Zero mich darauf hingewiesen, daß Sie außerordentlich dickköpfig seien.“ „Das hat er schon gewußt, ehe er mich anstellte.“ „Hingegen konnte er nicht ahnen, wie sich die Dinge hier entwickeln würden. Wenn wir hier bleiben, kann das ganze Projekt gefährdet werden.“ „Ich habe meine Befehle erhalten!“ „Ich glaube nicht, daß Sie die Befehle auch noch in der gegenwärtigen Lage befolgen müssen. Wenn es not tut, können wir auch ohne diese Frau abfahren. Sie setzen jetzt nur Ihren Dickkopf auf – aus rein gefühlsmäßigen Gründen.“ „Meinetwegen nennen Sie es so.“ „Wir müssen jedenfalls schnellstens aufbrechen!“ „Zum Teufel!“ brüllte ich ihn an. Vielleicht war es der Alkohol, der aus mir sprach. „Und zum Teufel vor allem mit Ihnen! Packen Sie Ihren Aneido ein und verschwinden Sie! Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen.“ Wütend hängte ich ab und ging wieder hinaus. Als ich vor Maurines Haus kam, sah ich dort noch immer die Wagen der Sicherheitspolizei stehen. Rasch schlug ich die entgegengesetzte Richtung ein. bis ich ein Autotram traf. In ihm fuhr ich bis in das Viertel des Alten Hafens – vor jenes Haus, in dem sich die Schreckenskammer befand, in der ich Raines zurückgelassen hatte. Das Ionische Tier, das ich damals gesehen hatte, schlug noch immer oder vielleicht schon wieder mit seinen Flügeln um sich. Das Mädchen mit dem roten Haar stand an der Tür, pries die ausgestellten Tiere an und kassierte das Geld. Der Schreckenskammer gegenüber war eine Bar. Ich trat ein und wandte mich an eine Kellnerin. Ich bestellte einen 73
Drink, nahm bedeutungsvoll eine größere Banknote in die Hand, deutete mit dem Kopf durch die offene Tür auf das rothaarige Mädchen auf der anderen Straßenseite und fragte: „Kennen Sie sie?“ „Die Rothaarige?“ Das Mädchen blickte mich verwundert an. „Natürlich kenne ich sie.“ „Kann man sie anrufen?“ „Ich denke doch.“ Ich lehnte mich gegen die Theke und legte die Banknote vor mich hin. „Sie ist eine alte Bekannte von mir“, sagte ich. „Ich möchte ihr gern einen kleinen Streich spielen. Würden Sie mir dabei behilflich sein?“ Wie gebannt starrte das Mädchen auf die Banknote. „Was hätte ich denn zu tun?“ „Sie sollen sie nur anrufen und ihr wörtlich sagen: ‚Hören Sie, liebes Kind, zwischen Ihrem Fred und dieser Burton bestehen doch engere Verbindungen, als Sie angenommen haben. Ich kann die beiden von hier aus sehen’!“ „Ist das alles?“ „Das ist alles. Wenn Sie das gesagt haben, dann hängen Sie einfach ab.“ Das Mädchen griff nach der Banknote und lachte vergnügt. Ich folgte ihr. Die auf der anderen Straßenseite stehende rothaarige Frau schien das Läuten des Apparates zu hören. Sie verschwand in das Innere des Gebäudes, und kurz darauf begann die Barkellnerin zu sprechen. Sie wiederholte getreu meine Worte und fügte ihnen sogar noch einen langen, bedeutungsvollen Pfiff hinzu. Dann kehrten wir in die Bar zurück, wo ich noch einen Drink bestellte und die Schreckenskammer dabei im Auge behielt. Die Besucher begannen, das Haus zu verlassen, und nach einer Weile tauchte auch die rothaarige Frau wieder auf. Sie griff nach dem zur Reklame vor der Tür stehenden Quon74
tab, trug ihn hinein, kam wieder heraus und schloß die Tür hinter sich ab. Sie trug jetzt Straßenkleider und entfernte sich rasch. Unauffällig ging ich ihr nach. Sie schritt dem eigentlichen Flughafen zu, der längst nicht mehr benutzt war. und dadurch einen verlassenen, menschenleeren und fast trostlosen Eindruck machte. Dort stand ein alter, ruinenähnlicher Turm. Sie öffnete die Tür und trat ein. Ich wartete, bis sie verschwunden war, huschte dann selbst bis an den Turm und drängte mich dort in eine Nische. Nach einer Weile erschien die Rothaarige wieder und ging auf dem gleichen Weg zurück. Diesmal machte sie einen recht nervösen Eindruck. Als sie nicht mehr zu sehen war, verließ ich mein Versteck und begab mich an die Tür, die nicht verschlossen war. Den Pulsator in der Hand, trat ich ein. Es war viel zu dunkel, um etwas zu erkennen. Direkt vor mir in der Finsternis sehe ich sechs glühende Augen, die mir so nahe waren, daß ich sie hätte berühren können, wenn ich nur die Hand ausgestreckt hätte. Ich trat einen Schritt zurück und stieß die Tür auf, so daß Licht einströmte und ich sehen konnte. Das fensterlose Zimmer war lang und schmal. In unmittelbarer Nähe der Tür stand ein Käfig, und in ihm befand sich ein Dotol vom Mars, dessen sechs Augen mich eben so unheimlich angeglüht hatten. Die Bestie streckte gierig ihre Fangarme aus, konnte mich zum Glück aber nicht erreichen. Unter dem Käfig befand sich eine Art Vertiefung, und in ihr lag – offenbar besinnungslos – John Raines. Dahinter stand ein neuer Käfig, in dem sich ein Tier befand, das ich noch niemals gesehen hatte. Hinter dem Käfig, dicht an die Wand gepreßt, stand Maurine und schien wie erstarrt vor Entsetzen. Vor Angst konnte sie offenbar keinen Ton hervorbringen. 75
In meiner Ecke standen die Reste eines zerbrochenen Stuhles. Ich griff nach dem Holzgestell und warf ihn auf den Dotol, der das Holz sofort gierig mit seinen Fangarmen umklammerte. Ich zerrte an dem Stuhl, der Dotol hielt fest, und so bewegte ich den Käfig vorwärts. Dieser begann plötzlich zu rollen, die Tür öffnete sich – und der Dotol fiel ins Freie. Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Kein Dotol hielt es länger als ein paar Minuten im grellen Lichte Lunas aus. Ich wandte mich wieder um und beugte mich über John Raines. Er sah sehr mitgenommen aus. Ich zog ihn aus der Bodenvertiefung, stützte ihn gegen die Wand und schritt auf den Käfig des anderen Tieres zu. „Gehen Sie weiter, Heffner, immer weiter!“ sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Wie aus dem Boden aufgetaucht, stand Fred Caudel vor mir und bedrohte mich mit einer Schußwaffe. „Dieser Trick mit dem Anruf war gut ausgedacht, aber nicht schlau genug für mich“, sagte er ruhig. „Ich weiß, daß die Sicherheitsbehörden hinter mir her sind, aber ich habe noch Zeit genug, meine Gefangene abzuholen und mit ihr zu verschwinden. Und jetzt“, seine Stimme wurde metallisch hart, „gehen Sie bis an den Käfig, damit das Tier Sie erreichen kann. Sie ebenfalls, Raines!“ Raines war inzwischen wieder zu Bewußtsein gekommen. „Los!“ Hinter mir bewegte sich das Ungeheuer. Ich rührte mich nicht. „Sie sollen gehen, Raines!“ befahl Caudel. Raines warf dem unbekannten Tier einen schaudernden Blick zu und ging dann mit festem Schritt auf Caudel zu. Dieser schoß, doch schon hatte Raines ihn umfaßt und riß ihn mit sich zu Boden. Beide rollten hinaus und wurden sofort von den Fangarmen des Dotol umschlungen. Ich riß Caudels Pistole an 76
mich und feuerte einige Kugeln auf die Bestie. Doch es war bereits zu spät. Das Gift des Ungetüms hatte beide getötet. Ich wandte mich um und erledigte das andere Tier durch einige Schüsse, Dann trat ich auf Maurine zu. Sie preßte sich noch immer gegen die Wand und schien von der Tragödie, die sich hier abgespielt hatte, nicht das geringste bemerkt zu haben. Ich mußte sie heftig schütteln, ehe sie mir einen verständnislosen Blick zuwarf. Dann begann sie zu schluchzen. So nahm ich sie auf den Arm und trug sie davon. Wir standen, eng in eine Ecke gedrückt, im Schatten der ersten Häuser, als die Fahrzeuge der Sicherheitspolizei mit Sirenengeheul angebraust kamen. In diesem Augenblick wünschte ich mir, einen guten Schluck nehmen zu können. Dann, als die Gefahr vorüber war, eilten wir an jene Stelle, an der ich mich mit 9/7 verabredet hatte – und das Fahrzeug wartete noch immer. Eine Minute später waren wir unterwegs.
11. Kapitel Eine ganze Zeit lag ich bewegungslos auf dem Bett und sah mich selbst musternd an. Der Pfleger grinste. „Was, Herr Lord, das tut gut, endlich wieder einmal in seiner eigenen Haut zu stecken?“ „Da sprechen Sie ein wahres Wort gelassen aus.“ Ich betastete meine Glieder. „Jedenfalls habe ich alles getan, um Sie wieder in eine gute Verfassung zu bringen“, fuhr der Mann fort. Meine Muskeln waren geschmeidig, und mein Fleisch fest. „Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet“, sagte ich anerkennend. „Danke, Herr Lord.“ Der Pfleger holte meine Kleider heraus. „Ich wollte Sie eigentlich noch nicht wecken“, sprach er dabei, 77
„aber Zero selbst hat den Befehl gegeben. Es handelt sich um eine Besprechung, an der Sie unbedingt teilnehmen müssen!“ „Das habe ich geahnt.“ Ich stand auf und nahm ein Bad. Dabei verlor sich die letzte Steifheit meines Körpers. Dann zog ich frische Wäsche und neue Kleider an und ging zum Lift. Der Fahrstuhlführer nickte mir freundlich zu. „Herzlich willkommen, Herr Lord! Sie werden heute in einem der Privaträume frühstücken müssen.“ „Mit anderen Worten: Zero will nicht, daß ich mit jemand anderem zusammentreffe, ehe ich ihn gesprochen habe!“ „Das weiß ich nicht.“ Er blickte auf das Schaltbrett und brachte mich in den Speiseraum. Der Kellner war ungemein höflich. Während ich frühstückte, sah ich auf jene Gebäude hinaus, die wir unser Hauptquartier nannten. Aus einem Gefühl des Unbehagens heraus stieß ich einen Fluch aus, ehe ich begann, das wirklich ausgezeichnete Essen zu verzehren. Noch ehe ich fertig war, wurde ich angerufen und hörte Zeros Stimme: „Alan?“ „Ich komme sofort“, kündete ich an, trank den Kaffee aus, wischte mir den Mund ab und ging in das Konferenzzimmer. Dort saßen drei Mitglieder des Rates und neben ihnen Heffner und 9/7. Sie machten ärgerliche Gesichter. Zero hatte den Platz am Kopf des Tisches eingenommen. Er war der einzige, der mir grüßend zunickte. „Setzen Sie sich, Alan!“ Er deutete auf einen an seiner, Seite stehenden Stuhl. „Danke, ich möchte lieber stehen“, lehnte ich ab. „Was soll das alles überhaupt bedeuten?“ Zero fuhr mit einer Hand durch sein kurzes, graues Haar. „Wir haben nur ein paar Fragen zu stellen, Alan.“ „Fragen?!“ Ich lachte laut auf. „Sie meinen wohl Anklagen?“ „Aber Alan …“ „Machen Sie mir doch nichts vor! Und wenn ich mir vorstelle, daß ein Mann wie dieser Heffner es wagt, Beschuldigungen 78
auszusprechen … Wissen Sie, daß dieser Bursche es fertigbrachte, mich der Sicherheitspolizei zu übergeben – nur, um seine eigene Haut zu retten?“ Wütend sah ich mich um. „Und dann 9/7 oder Gervault, wie er vielleicht heißen mag. Er machte mir Vorwürfe, weil ich es wagte, den Pulsator bei Aneido anzuwenden.“ „Alan!“ „Zum Teufel! Mir hängt das alles hier zum Halse heraus. Wenn es irgendwo eine Schmutzarbeit zu verrichten gibt, dann schreit alles nach mir; wenn ich diese aber durchführe, wie ich es für richtig halte, dann beschimpft man mich und nennt mich steifnackig oder starrköpfig. Ich bin also ein Dickkopf – und manchmal vergesse ich sogar, daß ich ein Mechaniker bin, und handle statt dessen wie ein Mensch. Ich habe mich in die Körper von zwei Mitgliedern unserer Gesellschaft versetzt und dabei festgestellt, daß beide Verräter waren. Unter ihnen befand sich sogar dieser eine, der noch immer hier am Tisch sitzt. Jedenfalls habe ich jede Einzelheit meines Auftrages ausgeführt – selbst auf die Gefahr hin, mich dabei ins eigene Fleisch zu schneiden.“ „Bitte, Alan, ich bitte Sie!“ „Halten Sie den Mund!“ rief ich zurück. „Sie haben Aneido, Sie haben Burton, Sie haben die Kunststoffstreifen aus Raines’ Mantel. Wollen Sie vielleicht noch mehr? Meinetwegen, aber nicht von mir. Und wenn Sie einen Narren haben wollen, der Ihnen auf Ihre Fragen antwortet, dann suchen Sie sich einen anderen. Ich jedenfalls lehne es ab, mich hier verhören zu lassen!“ Damit drehte ich mich einfach um und ging hinaus, das Stimmengewirr hinter mir gar nicht beachtend. Doch Zero eilte mir nach und griff nach meinem Arm. „Alan!“ Ich riß mich los. „Lassen Sie mich!“ „Nein!“ Er drehte mich einfach um. „Unserer Liebe zu Terra wegen, Alan, hören Sie mich an! Das, was Sie da tun, bringt Sie ja nur in größere Schwierigkeiten.“ 79
„Also sprechen Sie“, knurrte ich. „Diese ganzen Beschuldigungen sind natürlich sinnlos. Sie bedeuten nichts, gar nichts. Ich werde sie schon erledigen. Das wirklich ernste Problem wird uns durch Aneido gestellt.“ „Durch Aneido?“ „Wirklich, Alan.“ Zero schüttelte müde seinen grauen Kopf. „Doktor Burton untersucht ihn mit ihrem Apparat, aber sie kommt zu keinem vernünftigen Resultat.“ „Was macht das denn schon aus? Sie haben doch einen ‚Mek’ an seine Stelle gesetzt.“ Zero runzelte die Stirn. „9/7 hat mir gesagt, wie Sie darüber denken.“ „Hat er Ihnen auch erklärt, daß Ihr Vorgehen früher oder später ein Ende der menschlichen Rasse bedeuten wird?“ „So hat er gesagt – und wenn unser Wissen in die falschen Hände gerät, ist Ihre Überzeugung auch richtig. Doch wir werden schon vernünftig handeln.“ Er legte einen Arm um meine Schultern. „Deshalb halte ich doch immer noch zu Ihnen, Alan, weil Sie nämlich die Dinge etwas klarer sehen. Wir brauchen ganz einfach Männer, die auch etwas menschliches Verständnis und Gefühl besitzen und nicht nur wissenschaftliche Urteilskraft.“ „Deswegen werden Sie ja doch immer wieder den Prozeß Q anwenden.“ „Hier handelt es sich um die Waffe, die uns zur Macht verhelfen wird.“ „Also werden Sie dieselbe weiter gebrauchen!“ „Würden Sie eine solche Möglichkeit aufgeben – heute, nachdem wir in den Jahren angestrengter Arbeit so viele Menschenleben haben opfern müssen?“ Ich antwortete nicht. „Sie sollten den Apparat des Mädchens einmal untersuchen“, fuhr Zero fort. „Sie hat uns alle Einzelheiten ihrer Erfindung in 80
der Hypnose verraten, so daß wir ihn genau nachkonstruieren konnten. Doch jetzt, da sie sich in einem normalen Zustand befindet, könnte es sein, daß sie den Apparat absichtlich nicht richtig handhabt.“ „Wo ist sie denn?“ „Unten im Laboratorium 10.“ Als ich gehen wollte, griff Zero mich noch einmal beim Arm. „Die Frau wird am Leben bleiben, um dir zu danken“, sagte er leise und mich plötzlich duzend. „Und auch die kommenden Generationen werden dir noch dankbar sein.“ „Hoffentlich haben Sie recht“, antwortete ich ebenso leise und blickte auf meine geballten Fäuste. „Ich bin überzeugt davon, Alan. Und nun viel Glück!“ Ich ging den Korridor entlang, bestieg den Lift und ließ mich ins Laboratorium 10 bringen. Als ich auf die Tür zuging, trat ein mir bekannter Mechaniker heraus. „Hoffentlich finden Sie sich da drin besser zurecht als ich, Lord“, sagte er seufzend. „Und diese Kunststoffstreifen sind noch schlimmer.“ „Was stimmt denn nicht?“ „Es stimmt überhaupt nichts mehr. Wir haben alle erdenklichen Versuche angestellt, wissen aber noch immer nicht, warum diese Streifen in den Mantel eingenäht waren.“ „Und bei Aneido hat sich auch kein Erfolg gezeigt?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Meiner Meinung nach ist diese Frau verrückt, wenn nicht Aneido selbst den Verstand verloren hat. Und wenn man uns noch einige Aufträge dieser Art gibt, werden auch wir närrisch werden.“ Ich verabschiedete mich von ihm und betrat das Laboratorium. In dem großen Raum standen Maurine, Aneido und ein Wächter, Maurine und Aneido trugen Helme. Maurine sah sehr müde und mitgenommen aus. Als ich eintrat, blickte sie mich entsetzt an. Dann griff sie an ihren Hals und wurde blaß. 81
„Es ist lange Zeit vergangen, seit wir uns sahen, was, Maurine?“ fragte ich. Sekundenlang war es totenstill. Dann wandte sie sich Aneido zu, ohne eine Antwort zu geben. „Wir wollen es noch einmal versuchen, Genera!“, sagte sie. Sie drehte den Kopf, jedoch nach links, so daß ihre Gedanken auf dem Bildschirm erscheinen mußten. „Mutter“, sagte ich. Auf dem Schirm zeichnete sich das mir bereits bekannte Bild einer weißhaarigen Frau ab. Es war dasselbe Bild, das sich bei mir und Maurine bereits auf Luna gezeigt hatte. „Sie haben uns mißverstanden, Maurine“, sagte ich sanft. „Wir testen den General und nicht Sie. Drehen Sie den Knopf doch bitte nach rechts.“ Ihre Hände zuckten hin und her, während der Bildschirm weiß wurde. „Du …“, flüsterte sie. „Du …“ Ich nickte. „Du mußt wissen“, sagte ich leise, „für ganz kurze Zeit war ich Fred Caudel. Da gibt es nämlich ein Instrument, das wir Neurotron nennen.“ „Entschuldigen Sie“, wurde ich von Aneido unterbrochen, „mir ist viel zu heiß, und ich bin der Meinung, daß der gegenwärtige Zeitpunkt denkbar schlecht geeignet ist für persönliche Unterhaltungen.“ Er nahm den Helm ab und stand auf. Sein Gesicht war gleichgültig und uninteressiert. Ich setzte mich auf seinen Stuhl. „Maurine …“ Langsam und leise sagte sie: „Ich verabscheue dich, Alan Lord. Ich verabscheue dich, wie ich nie zuvor einen Menschen verabscheut habe. So lange Jahre habe ich auf dich gewartet – und nun hast du mir das angetan!“ Versonnen spielte sie mit dem Stoff ihrer Bluse. Ich griff nach ihrer Hand. „Bitte, Maurine …“ Sie warf mir nur einen Blick zu, und das war schlimmer, als 82
wenn sie mich fortgestoßen hätte. Rasch sagte, ich: „Maurine, so kann es nicht weitergehen. Bald kommt das Ende der Sicherheitspolizei, dieser unvorstellbar niederträchtigen Tyrannen, und es wird die Wissenschaft triumphieren. Dann werden wir beide glücklich sein.“ „Glücklich – mit dir?“ „Die Wissenschaft wird herrschen!“ Verächtlich verzog sie die Mundwinkel. „Was wißt ihr ‚Meks’ denn schon von der Wissenschaft? Sie ist nur ein leerer Begriff für euch. Wenn ihr Erfolg haben wollt, müßt ihr die menschliche Rasse nach euren Wünschen formen!“ Sie unterbrach sich und setzte den Helm ab. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und begann, ihr schwarzes Haar zu richten. „Ich habe dich einmal geliebt, Alan“, fuhr sie dann fort. „Ich habe davon geträumt, dich irgendwann und irgendwo wieder einmal lieben zu können. Heute aber weiß ich, daß du ein richtiger ‚Mek’ geworden bist. Alles, was besteht, siehst du nur vom Standpunkt deiner Gesellschaft aus – selbst das Schicksal und die Liebe!“ Vom Fenster her warf Aneido ein: „Da gibt es noch etwas anderes, Lord, das Sie hätten erwägen müssen. Nicht die ganze Wissenschaft befindet sich in Ihren Händen!“ Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. „Was wollen Sie sagen?“ Er trat an den Tisch. „Ihr ‚Meks’ seid nicht die einzigen, die einen denkenden Kopf besitzen. Beispielsweise …“ Er hob einen der Helme hoch. „Sehen Sie?“ „Was soll ich sehen?“ Stirnrunzelnd beugte ich mich vor. „Das hier!“ Der General fuhr herum und schlug den Helm dem Wächter an den Kopf. Dann fuhr eine harte Faust gegen mein Kinn. Ich 83
stürzte, und ehe ich mir klargeworden wäre über den überraschenden Ablauf der Ereignisse, hatte Aneido sich über mich gebeugt und hielt die Waffe des Wächters in der Hand. „Wir gehen jetzt“, sagte er. „Und damit Sie unterrichtet sind: diese Streifen aus Kunststoff sind eine neue Methode, Hauptquartiere der ‚Meks’ zu entdecken. Wenn Sie einen Blick durch das Fenster werfen, werden Sie rasch festgestellt haben, daß diese Methode ungemein wirksam ist!“ Er ließ mich liegen und ging zur Tür. Maurine folgte ihm. Ich sprang auf und eilte an das Fenster. Rötlich umstrahlt, tauchten große Regierungsraumschiffe in der Ferne auf und näherten sich blitzschnell. Eines der Fahrzeuge setzte bereits zur Landung an. Der Wächter hatte sich inzwischen erholt, nach seinem Gewehr gegriffen und es in Anschlag gebracht. Kaltblütig, als ob er sich auf dem Schießplatz befinde, drückte er ab. Aneido brach zusammen. Unbeirrt zielte der Mann jetzt auf Maurine. Wie lange mag wohl der Bruchteil einer Sekunde dauern? fragte ich mich. Mir kam ins Gedächtnis, was Zero und Maurine mir gesagt hatten; gleichzeitig stürzte ich mich auf den bewaffneten Mann. Er wollte eben abdrücken. Was ich auch immer unternahm, es konnte keinen Sieg für mich geben. Maurine würde sterben, und die Menschheit würde zu Grunde gehen. Ich versetzte dem Schützen rasch einen Kinnhaken – im gleichen Augenblick, da der Wachhabende das Wachlokal verließ. Auch ihn schlug ich nieder und rannte Maurine nach. Eine Waffe in der Hand, eilte sie auf das Raumschiff zu. In diesem Augenblick kamen von allen Seiten Wächter herbeigestürzt, die sich gleichzeitig auf mich und Maurine warfen.
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12. Kapitel Man brachte uns beide in Zeros Arbeitszimmer – einen weißgestrichenen, kahlen Raum, dessen Wände nicht einmal einen Fensterschlitz besaßen. Dort stand ich mit Maurine nun vor dem Mann, der bis vor kurzer Zeit mein Chef gewesen war. In mir erwachte ein höchst seltsames Gefühl. Auf Zeros Befehl zogen sich die Wächter zurück. Hinter ihnen schloß sich die schwere Tür, so daß wir drei allein waren. Eine Weile blieb alles still. Dann sagte Zero: „Es tut mir leid, Alan, aber diesmal sind Sie zu weit gegangen!“ „Vergessen Sie es!“ sagte ich schnell. „Meinen größten Fehler beging ich bereits vor langer Zeit, nämlich damals vor zwölf Jahren, als ich mich Ihnen zur Verfügung stellte.“ Seine Augen schienen mich förmlich zu durchbohren. „Ist das Ihr Ernst, Alan?“ fragte er. Ich warf Maurine einen Blick zu, und sie sah zurück. „Ich bin jedenfalls davon überzeugt“, antwortete ich. „Aber warum nur, warum?“ Zero rang die Hände in einer geradezu verzweifelt anmutenden Gebärde. „Warum wollen Sie alles wegwerfen?“ Verständnislos schüttelte er den Kopf. „Sie könnten alles haben, wirklich alles!“ „Alles“, nickte ich, „ausgenommen das Recht, Fehler zu begehen.“ Ich stützte mich gegen seinen Schreibtisch. „Das eben ist das unvorstellbar Gräßliche, Zero, das kein einziger echter Mechaniker jemals verstehen kann. Die ganze Menschheit besitzt das Recht, auch Fehler zu begehen, nur einem ‚Mek’ hat man dieses Recht abgesprochen. Doch nur durch Irrtümer und Fehler ist diese Menschheit zu dem geworden, was sie heute darstellt. Denn Irren ist so unvorstellbar menschlich.“ „Gewiß, und es ist auch logisch.“ Er lächelte müde, und sein Gesicht verdüsterte sich. „Ich habe Sie ungemein hoch geschätzt“, sagte er dann. „Vielleicht hätte man Sie sogar zu mei85
nem Nachfolger ernannt – besonders jetzt, da es uns gelungen ist, den Prozeß Q zu entwickeln.“ „Vorerst aber werden wir noch von den Raumschiffen der Regierung belagert.“ „In dieser Hinsicht hege ich keine Befürchtungen“, gab Zero bekannt. „Da ist doch noch immer unser eigener Aneido, an dessen Werden Sie so tatkräftig mitgearbeitet haben. Sobald wir ihn erreichen können, wird er die Schiffe zurückrufen.“ „Und bis dahin?“ „Bis dahin halten wir durch. Unser Hauptquartier wurde ja zu Verteidigungszwecken erbaut. Es würde jeden Fremden bereits unvorstellbare Mühe kosten, nur in dieses Büro einzudringen – und noch stärker sind diese ganzen Gebäude. Sollten wir hier aber eine Niederlage erleiden, bleibt noch immer ein Fluchtweg ins Freie …“ Er deutete auf eine kaum erkennbare Tür, die hinter seinem Schreibtisch in die Wand eingelassen war. Spielerisch griff Zero nach dem dolchähnlichen Brieföffner, der auf seinem Schreibtisch lag. „Es gäbe also eine Möglichkeit für Sie, am Leben zu bleiben, Alan“, erklärte er, „wenn Sie nicht gar so starrköpfig wären. Sie wissen ja, welchen Einfluß ich auf den Rat habe.“ „Sie verschwenden nur Ihre Zeit.“ „Dann werden Sie, befürchte ich, die Konsequenzen tragen müssen, Alan.“ Er legte den Brieföffner zurück. „Das Urteil lautet natürlich auf Todesstrafe für beide.“ Das alles kam mir plötzlich unnatürlich und wie ein böser Traum vor. Den Tod fürchtete ich nicht, doch der Gedanke, daß ich sterben sollte, weil ich einem Menschen geholfen hatte, ließ in mir ein unbeschreibliches Ekelgefühl erwachen. Es war alles so sinnlos. Zero drückte auf einen Knopf. Die Tür öffnete sich, und ein Wächter trat ein. „Bring sie fort!“ befahl er. Der Wachmann trat 86
auf uns zu, wurde aber durch eine Handbewegung Zeros aufgehalten. „Eine Minute noch“, sagte er, griff nach dem Fernsprechhörer und fragte: „Sind wir schon bis zu Aneido durchgedrungen?“ „Noch nicht, Herr, aber jemand ruft sie vom Raumschiff aus an!“ „Geben Sie mir die Verbindung.“ Es ertönte ein Knacken, und dann wurde eine tiefe Stimme laut: „Hier spricht Aneido, Zero! Ich fordere Sie zur Übergabe auf!“ Zero beugte sich etwas nach vorn. „Und hier ist Zero“, sprach er drängend. „Verstehen Sie denn nicht, Aneido, Zero spricht zu Ihnen – Zero!“ Die tiefe Stimme lachte kurz und rauh auf. „Ausgezeichnet, Zero, und hier ist Aneido. Der richtige General Aneido und nicht etwa Ihre billige Nachahmung!“ Ich fühlte, wie Maurine sich gegen mich preßte. Neben mir hatte der Wächter seine Augen weit aufgerissen. Sein Atem ging stoßweise. Zeros behandschuhte Hand trommelte nervös auf die Schreibtischplatte. „Sie haben ja den Verstand verloren!“ rief er aus. „Aneido ist tot!“ Der andere lachte auf. „Haben Sie mich tatsächlich für so unvernünftig gehalten, daß ich meinen eigenen Hals auf Luna riskieren würde?“ fragte die tiefe Stimme. „Nein, Zero, ich habe einfach ein Double geschickt, einen menschlichen Doppelgänger. Was immer Sie taten, taten Sie ihm und nicht mir an. Doch ich will großzügig sein und schenke Ihnen diesen Burschen.“ Schweigend blickten wir uns an. Wir waren geradezu zu Statuen erstarrt. Dann sah ich klar. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Nicht für mich; dafür war es zu spät. Aber Maurine sollte weiterleben. 87
Ich trat rasch zur Seite, gab dem Wächter einen Tritt gegen die Schienbeine und knallte ihm dann, als er vor Schmerz aufschrie, einen Haken gegen das Kinn. Als er fiel, rief ich aus: „Rasch, Maurine! Da ist die Tür!“ Zero sprang auf. Der scharfe Brieföffner funkelte in seiner Hand. „Verdammt, Alan“, rief er wütend, „das geht doch wirklich zu weit!“ Da schlug ich zu. Er stürzte zu Boden, während der Brieföffner auf den Boden fiel. „Maurine!“ keuchte ich. Sie drehte sich um. „Keine Sorge“, sprach sie beruhigend, „ich habe den Riegel vorgeschoben.“ „Großartig“, nickte ich. „Du wirst hier sicher sein, bis Aneido dich befreit hat.“ Lange sah sie mich an, bis sie fragte: „Und was wird aus dir?“ Ich lachte auf, verspürte aber, daß dieses Lachen unrichtig klang. „Bleibt mir denn noch eine Wahl?“ fragte ich rauh. „Ich werde geduldig warten, bis die Regierungsleute mich gefangen und zum Tode verurteilt haben.“ „Alan!“ stöhnte sie leise. Sie war schneeweiß. „Man muß den Tatsachen ins Auge sehen“, stellte ich mit harter Stimme fest. „Für die Regierung bleibe ich nach wie vor Alan Lord, der Hauptagent der ‚Meks’. Mit dieser Tatsache habe ich mich bereits abgefunden.“ Plötzlich wurde durch das Fernsprechgerät eine tiefe Stimme laut: „Was ich eben durch mein Zuhören über Sie und von Ihnen erfahren habe, Lord, macht mich bereit, Sie unserem Freund Zero abzukaufen. Ich kann Sie ausgezeichnet gebrauchen. Sie werden bei mir wichtige Aufgaben zu erfüllen haben. Gedulden Sie sich noch fünf Minuten; bis dahin bin ich bei Ihnen!“ 88
Ich wußte nicht, ob ich lachen, weinen oder schreien sollte. Plötzlich aber vergaß ich alles. Maurine war ganz dicht bei mir. –Ende–
UTOPIA-KLEINBAND 76 bringt:
STERN DER DÄMONEN Von James Norton Eine weltumspannende Wirtschaftsorganisation entsendet eine mächtige Raumflotte zur Venus, um die sagenhaften Schätze des Planeten zu erschließen. Feindselig ist der Empfang in der fremden Welt. Ungeachtet aller Warnungen dringt eine wohlausgerüstete Expedition in die Dschungellandschaft vor. Die Teilnehmer vertrauen, auf die Überlegenheit ihrer technischen, Hilfsmittel – doch die Natur des unerforschten Planeten ist stärker. Rätselhafte Abenteuer aller Art und unerklärliche Katastrophen bringen das kühne Unternehmen rasch an den Rand des Abgrunds.
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